Maria Erlenberger
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Maria Erlenberger
Singende Erde Ein utopischer Roman 1. Auflage März 1981 Copyright (c) 1980 by Rowohlt Verlag GmbH Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 3 498 01620 2 Singende Erde [7] Die riesige Klinke des großen schmiedeeisernen Tores hat mattgraue samtige Flecken. Es scheint mir, daß sie selten benützt wird. Ich denke, daß das Tor, wenn ich es öffnen wollte, sehr schwer aufgehen müßte und dabei sicher kreischen würde. Aber will ich es aufmachen? Ich lege die Hand auf das kalte Metall, drücke kräftig hinunter und bin überrascht, wie leicht und lautlos der mächtige Flügel aufschwingt und damit meine eigene Bewegung in Gang setzt - hinaus - mit einem ebenso lautlosen Schritt. Ich atme tief ein. Ich spüre auf der Haut, daß die Luft hier draußen eine andere ist, obwohl sie doch durch das Tor weht. Meine Beine gehen wie von selbst. Ich öffne die Augen weit, zwinkere ein paarmal absichtlich mit den Lidern und schaue im Gehen meine linke Hand an. Mit der Rechten streiche ich leicht darüber. Meine Hand ist warm und weich. Ich fühle mich gut in meinem Körper. Nach und nach gewöhne ich mich an die Art meines festen, aber so leichten Schrittes. Mein Atem geht gleichmäßig und locker. Auf eine breite Straße bin ich da geraten. Fast will ich mich umdrehen, mein Schritt wird von innen heraus langsamer, zögernder, aber nicht zaghaft. Er wird fragend. Ich weiß, daß ich diese Frage durch ein Umdrehen und durch einen Rückblick nicht lösen könnte und auch nicht wollte. Diese Einsicht macht, daß, wenn mich jemand beobachtete, er auch keine Änderung in meinem Schritt wahrgenommen hätte. Wahrscheinlich nicht. Hier beobachtet mich allerdings niemand. Glaube ich. Mir rollt die Straße unter den Füßen ab. Ich trage leichte, weiche Schuhe, flache, wie aus Handschuhleder. Ich merke, daß ich jetzt mit Genuß die Füße abrolle auf dieser breiten Straße unter mir. Ein breites Band. Das mich führt, oder das ich begehe, jetzt kommen Häuser, ich nähere mich einem großen Platz. In der Mitte steht ein Denkmal. Ein Pferd mit einem Reiter, es kann ein Ritter oder ein Feldherr sein. Seine rechte Seite ist abgeschlagen. Der Bruch ist nicht frisch, sondern grau wie die ganze Figur. Dem Pferd fehlt der Schwanz und ein Vorderbein.[8] Ich halte an einer Glashütte, oder ist es eine aus Plastik, es stehen eigentlich nur mehr die Eisenträger, und die nur teilweise, eine Bank ist da, auf die ich mich aber nicht setze. Die mächtigen Ahornbäume allerdings, die den Gehsteig von der Straße trennen, die ste-
hen vollständig da. Die Rinden sind gefleckt. Ich bin nur langsam, fast mühsam zum Stehen gekommen. Mein Rollen war so unaufhaltsam, als würde mich etwas treiben. Es ist nicht viel Verkehr hier und auch nicht viel Lärm. Es ist ein großer Platz. Es wäre hier Raum für viel Getriebe, aber eigentlich, und dieser Gedanke wirbelt in meinem Kopf, der sich zum ganzen Platz aufblähen will, eigentlich ist es hier sehr still. Ob mich diese Stille treibt und mich nicht sitzenläßt? Vor den Eisenträgern, auf einem hängt ein verbeulter Hut, ist der Gehsteig zu Ende, und Schienen, allerdings in ihrem weiteren Verlauf schadhafte, laufen jeweils an den Straßenrändern entlang. Hier fährt nichts - hier läuft nichts -, ob hier jemals etwas für mich kommen kann? Ich gehe vor bis an den Rinnstein und schaue nach links und rechts, während ich ein zugleich ängstliches und belustigtes Lächeln in mir bemerke. Das Geräusch des Aufschlagens eines schweren Stoffs hinter mir reißt mich aus meiner Verwirrung. Ich sehe eine Frau, die aus einem dieser großen Fenster der palastähnlich wirkenden Gebäude eine Decke ausstaubt. Sie bleibt kurz am Fenster stehen und spricht in den Raum zurück. Ich kann allerdings nicht verstehen, was sie sagt. Dann verschwindet sie wieder samt der Decke. «Bank» kann ich in großer noch klarer Schrift lesen, über dem großen Eingang an dem Gebäude, aus dem heraus die Frau die Decke geschlagen hat. Von Bankbetrieb ist allerdings keine Rede, wie hier überhaupt nicht viel Rede herrscht. Bis jetzt war mein eigener Schritt der Hauptrhythmus in meinem Kopf gewesen, obwohl meine Sohlen keinen Lärm machen und ich spüre, daß ich schon ziemlich lange gegangen sein muß, ohne aus meinem Treiben herauszusteigen, ohne zu bemerken, was ich tat und wo ich war. Ich setze mich endlich doch auf diese Bank mit dem Blick mitten in den Platz hinein, und ich fühle müde, ziemlich erschöpft, wie mein Schritthämmern im Kopf sich legt. Mein Herzschlag allein vermag mir den ganzen Platz zum Pulsieren zu bringen in Ermangelung von Bewegung und Lärm auf diesem Gelände.[9] Ich kann noch nichts davon sehen, aber aus der Seitenstraße kommt Hufgeklapper näher, das Rollen von Rädern und Lachen von Menschen. Helles Kinderlachen, jetzt eine sattere Stimme, die zum Halten auffordert. «Da beim Eingang!» «Jetzt holen wir zuerst die Wurst und das Brot!» Ein blau-rot bemalter Wagen mit einem Pferd davor taucht auf. Ein etwa siebenjähriges Mädchen kutschiert. Neben ihr ein junger Mann mit nacktem Oberkörper und einem breiten Hut, hinten zwei ältere Buben, möglicherweise ist der eine davon ein Mädchen. Noch in der Fahrt springen sie und der Mann seitlich heraus. «Wo sind die Säcke?» will das Mädchen wissen, das jetzt auch abgestiegen ist. «Die sind wahrscheinlich drinnen», ruft der eine Bub, der sich in der Stimme als männlich ausweist und als offenbar älter, als ich vermutete. Er hat langes, schönes Haar und trägt einen bequemen Overall. Sie sind bereits im Eingang des Bankgebäudes verschwunden, und ich kann nur mehr den bunten Wagen sehen mit dem geduldigen Braunen davor. Über der Mitte des Platzes hängt eine Straßenampel. Ihr Licht würde durch den Staub auf dem Glas dringen, ich sage allerdings nicht, daß sie nicht mehr betriebsfähig wäre, das möchte ich ihr nicht nachsagen, ich kenne sie ja nicht. Irgend etwas jedoch stimmt mit ihren Drähten, mit den Oberleitungen nicht, die über dem Platz verlaufen. Verbindungen zu den Häusern hin fehlen überhaupt. Eine verdorrte Straßenbahnoberleitung läuft eine kurze Strecke weit und ist dann fein säuberlich um einen Mast gerollt. Gefahr scheint durch sie nicht zu bestehen. Sicher allerdings fühle ich mich nicht. Mir wird die Bank unterm Hintern hart, und ich weiß nicht, ob meine Hände zittern, oder ob sie besonders ruhig in meinen Manteltaschen
liegen. Ob ich angespannt bin oder besonders entspannt - ich kann nur sitzen und würde mich genauso schwer erheben, wie ich mich vorher niederlassen konnte. Ein großer Hund läuft an der Ecke des Restaurants, das dem Gesicht des Reiters zugekehrt ist, hin und her. Er schnüffelt, bleibt stehen, hebt das Bein, pißt kurz, läuft ein Stück abseits zu einer Eisenstange, die ein Brettergestell trägt, auf dem Plakate aufgeklebt sind, allerdings nicht sehr reklamewirksam. Ich kann das aus der [10] Entfernung nicht genau erkennen. Es könnte sich auch um Malereien von Kindern oder irgendwelcher anderer Wesen handeln. Sehr geworben soll anscheinend nicht werden. Der Hund hebt auch dort das Bein und verschwindet dann im Restauranteingang. Eine Frau kommt mit ihm wieder heraus, wirft einen Papiersack in den Holzkasten, der sich jetzt als Papierkorb erweist und geht mit dem Tier wieder ruhigen Schrittes in das Restaurant hinein, den Hund am Kopf tätschelnd. Viele Kunden scheinen dort drüben nicht aus und ein zu gehen, wenn es überhaupt welche gibt. Die Scheiben sind aus Glas, und ich müßte Bewegung sehen, wenn Gäste da wären, und außerdem müßten sie doch drinnen Papierkörbe haben. Das eine bemerke ich allerdings, schmutzig sind die Straßen nicht. Mir fallt das angesichts der Leere und der Weite des Ortes auf. Ein Fenster geht in einem der oberen Stockwerke über dem Restaurant auf. Ein Mann streckt sich, so als wäre er eben erwacht, in einem weißen ärmellosen Unterhemd. Er stützt sich kurz auf das Fensterbrett, aber nicht um hinauszusehen und nach Neuem zu gucken, sondern eher um die Arme fest auszuspannen und sich die Schlafstarre aus den Gliedern zu strecken. Er fahrt sich durch die Haare und verschwindet in den Raum hinein. «Die Molle bäckt die Brote immer dunkel.» Ich sehe die Leute wieder aus dem Bankgebäude herauskommen, mit zwei weißen Säcken. Der Mann aus dem bunten Wagen trägt einen, das Mädchen und ein Junge tragen zusammen den anderen. Jeder an einem Ende. Der Mann hat den Hut abgenommen, er hat kurzes, dichtes Haar. Die beiden Buben haben unter den Overalls keine Unterhemden, und mir fällt auf, daß es hier warm ist. Ich habe das bis jetzt nicht beachtet, und mir wird mit einemmal so heiß, fast panisch wallt mir die Hitze auf. Ungeduldig zerre ich mir den Mantel von den Schultern, ohnehin nur einer von diesen leichten, hellen Staubmänteln, die man gern überzieht, wenn man sich des Wetters nicht ganz sicher ist. Meine Hast, meine Bewegung erregt scheinbar die Aufmerksamkeit der kleinen Gesellschaft, die die Säcke im Wagen verstaut. Das Mädchen, welches kutschiert hat, sieht her. Sie ist zu weit entfernt, daß es ein anderer Kontakt sein könnte als dieses Aufmerken. Sie tut das in einer ruhigen Art, die ihren Blick noch etwas vertiefter und sorgloser erscheinen läßt. [11] Die Buben lachen über irgendeine Auffälligkeit an den Säcken. Ein dritter Sack, den der eine Junge allein trägt, taschenähnlich an Henkeln über der Schulter, erweist sich als Wurstbeutel. Er greift hinein und holt eine lange Stange Wurst heraus. Jeder reißt sich ein schönes Stück ab, und noch im Kauen beginnen sie wieder langsam anzurollen. Diesmal hält der Mann die Zügel. Der Braune trabt gleichmäßig hinein in eine Seitenfahrbahn. Bei einem Haustor kommt ein Mann, es ist der vom Fenster, wieder nur mit dem Unterhemd und einer lockeren, hellen Hose bekleidet, heraus. Das Tor ist groß und reich mit Schnitz werk verziert, der Mann wirkt fast klein unter dem stattlichen Gebäudeeingang, aber nicht so, als könnte ihm diese ganze prächtige Front, die schon sehr abgeblättert ist, nicht gehören. Der schadhafte Verputz läßt Wolkenbilder aufscheinen, die das starre Gebäude zum Leben erwecken. Der Mann schlendert weg von mir, weiter hinein in die Straße. Die Hausmauern, alle rund um mich, das Pflaster des Gehsteigs und der Straße, die Tore und Türen, die Fenster, die Bogen, die Ebenen und Ecken, die Rundungen und Verstrebungen, die Zapfen und Vorsprünge, die Figuren und Vertiefungen, die Flächen und
Räume, die Einbuchtungen und Gruben, die Mauern alle um mich herum, sind von diesen riesigen, selbständig wirkenden abgebröckelten Flecken belebt, die wie Wolkenformen aussehen. Kulissenhaft stehen die Fronten vor dem, was sie zum Leben erweckt. Sprünge streben in Risse über, auf einer Fensterbank schimmern rot Ziegel aus altem Weiß heraus, Stuckfiguren sind noch teilweise sichtbar unter den Fensterbrettern des Bankgebäudes. Von den vier mächtigen Blöcken, die den Platz bilden, der eine Straßenkreuzung umfaßt, mit dem Denkmal in der Mitte, ist das dritte einem Hotel ähnlich. Ein alter roter Teppich liegt vor dem Portal. Auf den Stufen sehe ich zwei kleine Kinder sitzen. Sie spielen auf dem Teppich mit Figuren. Sie müssen schon länger dort sitzen, obwohl sie mir noch gar nicht aufgefallen sind. Schon länger - wie lang das wohl sein kann -, es tut sich hier so wenig mitten am Tag, Nacht ist es nicht, es ist hell, und ich hätte diese Kinder schon längst sehen müssen, ich war ja mit nichts beschäftigt auf dieser Bank als mit meiner Erschöpfung von meinen eigenen Schritten im Kopf und meiner pulsenden Erwärmung unter meinem Mantel, der jetzt neben mir liegt wie eine schlafende Katze. [12] Ich kehre aus meinem großen Um-mich-Schauen etwas zu mir zurück. Meine Augen fühlen weit offen in dieses Gebiet einer Stadt, die mir neu ist, aber in ihrer Stille vertraut. Ich dehne meine Beine, ich strecke mich im Rücken durch, ich löse mich aus einer Verkrampfung, in der ich mich befunden haben muß. Ein Haar weht mir im leichten Luftzug am linken Auge vorbei. Es bleibt immer dicht an meinem Auge, ein einzelnes meiner Haare, ohne daß es mich stören würde. Es bleibt da bei mir. Das Verharren des Haars in der freien Luft ermöglicht mir eine innige Sammlung zu mir selbst, weil ich weiß, daß es mein Haar ist, das ich mitgebracht haben muß auf meinem Weg hierher. Seine sanfte Bewegung ist wie ein Streicheln, und ich verharre in Ruhe, den Blick neben meinem Haar auf das Pflaster vor mir gerichtet. Kleine Grashalme wachsen aus den Ritzen des Asphalts. Ich gehe mit den Augen den Boden um mich ab. Mitten in der Stadt wachsen kleine genügsame bunte Blümchen aus den Ritzen neben längeren Halmen. Moos plustert sich bescheiden, aber hartnäckig an den Rissen, wo sich die blanke Erde zeigt und wächst auch die Häuserspalten hinauf, ohne daß hier irgend jemand diesem Treiben Einhalt gebieten würde. Auch die Vögel nicht, obwohl sie an den Gräsern picken. Hier sind nicht einmal die Vögel sehr laut. Mir fällt auf, daß ich sie schon die ganze Zeit im Ohr gehabt habe. Ihr Zwitschern und Singen war mir allerdings nicht ein Klang von außen, sondern ich hatte dieses Tönen für meinen eigenen Hirnton gehalten, so als würde es aus mir selbst kommen, vertraut in seinem Auf und Ab, in seinem Sich-Verwirren und wieder Lösen, Laute aus meiner Einsamkeit heraus, wie mein Herzschlag und mein Schritt, mein Atem. Ich merke, daß ich manchmal willentlich meine Zunge vom Gaumen löse, weil sie etwas klebt, und das macht ein weiches, intimes Geräusch. Ich muß an diese Wurst denken, welche die Leute in dem Pferdewagen aßen. Ob im Bankgebäude noch Wurst sein könnte? Lächerlich - lechzerlich Ich taste nach meiner Stoffkatze neben mir, ob ich die noch mitnehmen soll. Wohin eigentlich? Warm genug wäre mir in meinen Jeans, dem Hemd und den weichen Schuhen. Ich habe es gar nicht gehört. Hinter mir auf dem Gehsteig kommt ein alter Mann auf einem Fahrrad gefahren, er pedalt ruhig an mir vorbei. Alt, ist er alt gewesen? Ich sehe nur mehr seinen Rücken. Er [13] hätte doch auf der Straße genug Platz gehabt - oder zwischen den Schienen. Jetzt ruckt er über den Randstein da vorne hinab, und da scheint mir seine, den Prall abfangende Bewegung gar nicht die eines so alten Mannes zu sein. Sein Gesicht, das er kurz zu mir herwandte, war aber von Falten geprägt, viel mehr konnte ich nicht sehen, denn er hat einen dichten grauen Bart. Ob alte Männer noch einen so dichten Bartwuchs haben? In seinen Augen war keine Frage. Er sah mich, aber er nahm kein Spiel mit mir auf, und das machte ihn mir wahrscheinlich auch so altersunbestimmt auf seinem Fahrrad, so leise.
So weit wirkt dieser Platz vor mir, in mir, so leer und still, wie aufgeklappt, einfach da. Der Übergang von meiner Gedankenleere in die Gelöstheit der Tatsache, mich auf der Bank zu befinden, unter dem verfallenden Wartehaus zu einer nie eintreffenden Bahn, gibt mir einen Schwung von innen heraus, der in mir geschlummert hat, und ich nehme in meinem Erwachen den Stoffmantel in meine Hand, schwinge ihn mir über die Schulter, ungeachtet der Frage, ob ich ihn wohl hier brauchen werde, und ich mache neuerlich einen weichen Schritt, mit weit offenen Augen und einem freien Atem. Die Luft fließt leichter durch die Nasenlöcher als sonst. Meine Nase ist in Ordnung, da kann eigentlich nur die Luft hier noch mehr in Ordnung sein, als ich es gewöhnt bin. Es lastet nichts auf der Leere. Frisch bewegt, fließt hier der Strom ohne Hindernisse, erschreckend leicht rinnt mir der Strom durchs Gehirn, durchscheinend, drohend still und verhalten, beklemmend in seiner sorglosen Bewegung, endgültig. Ich kann mich hier nirgends festhalten. Die Leere wird nur tropfenweise belebt, nichts wendet sich gegen mich, nichts an mich, ich habe kein Gegenüber, verloren in der unbekannten Freiheit dieser Stadt, die mir wie ein großes Geheimnis aufblüht. Die mir meinen Schritt prägt, der von Beharrlichkeit, Neugier und tiefem Vertrauen zu meiner eigenen Herkunft kündet. Und mich mit neuerlicher Energie in die Straße zwischen der Bank und der Seitenfront des Hotels mit dem roten Teppich, weg von dem großen Platz, mehr hinein in den Stadtkern zieht, wo ich mehr Leben vermute. Die Kinder sitzen nicht mehr auf dem Teppich. Sie müssen hineingegangen sein mit ihren Spielfiguren. Eine prachtvolle Agave steht an der Hausecke. Ein majestätisches Gewächs, das eigentlich vor den Hoteleingang gehören würde, aber es [14] grünt hier, wo es schon lange seinen Platz haben muß. Wer die Agave pflegt? Vielleicht die Frau mit der Decke? Ich gehe an dem Bankgebäude vorbei. Tische stehen drin herum, teilweise aufeinandergestellt, Stühle dazwischen, so als würden sie dann und wann schon benützt, aber nicht regelmäßig. Die Marmorwände prangen in stiller Härte, unbeschädigt und nicht so abgeblättert wie die Hausfassaden. Ein riesiger Lüster hängt von der Decke herunter, er sitzt fast am Boden auf. Von Wurst und Gebäck, auch nicht von stark gebräuntem, kann ich keine Spur sehen. Ich getraue mich nicht, eine der Glastüren zu benützen. Ob hier offen ist? Und wenn, mit welchen Gefahren? Da, eine schwarze Katze unter einem der gepolsterten Stühle. Sie putzt sich seelenruhig, wie ich es an Katzen kenne. Das wiederum würde auf ein vergangenes Mahl hinweisen. Eine säuberliche Waschung nach dem Verzehr von einem ordentlichen Happen Wurst, in der Bank ... Ich gehe endgültig weiter, mit der Hand in den Stoff des Mantels fassend. Die Häuser rücken näher zusammen, die Straßen werden schmaler. Es bleibt weiterhin sauber von Lebensresten, aber die Gebäude sind noch abgebröckelter und verwackelter als auf dem großen Platz. Hier, ein Haus ganz ohne Fensterscheiben. Keine Glassplitter, sondern ganz ohne Scheiben. Drinnen flattert etwas. Es ist im oberen Stockwerk. Rasches, regelmäßiges und ruhiges Flattern. Ein Vogel? Da wäre er, wenn er in einer Klemme steckte, viel zu sorglos. Oder sind die Vögel hier so geartet? Mich beunruhigt dieses Geräusch. Vielleicht erinnert mich die Vorstellung an meine eigene Lage. Noch mehr beunruhigt mich meine Idee, daß ich mich mitten in einer Stadt befinden soll, als ein vermutlich gefangener Vogel. Doch hier ist gar niemand, der mich fangen, der mich beachten oder auch nur ansehen würde, daß ich wenigstens einen Augenblick lang im Spiegel einer Pupille mich selbst sehen könnte. Eben das ist es, was mich bange macht. Ich hätte, glaube ich, auch die Freiheit, stracks in dieses Haus einzutreten. Es wäre sicher nicht verschlossen, niemand würde mich zurückhalten, ich könnte ungehindert nachsehen und dem Geheimnis auf die Spur kommen, niemand würde mich dabei beachten, auch der Vogel nicht. Vielleicht wollte er gar nicht befreit werden. In meinen Gedankenkampf versunken, gehe ich an einem Geschäft vorbei, in dem vier Männer Karten spielen. Einer drischt eine Karte auf den Tisch, ein anderer erregt sich und
haut eine drauf, ein dritter [15] blickt suchend in sein Blatt und kann etwas Bestimmtes nicht finden, während der vierte zum Abheben auffordert, weil er anscheinend überhaupt nicht mehr mitkann. Der eine streift die Karten ein, die auf dem Tisch geblieben waren. Ich weiß, daß von ihnen niemand so bald auf mich achten wird. Einerseits suche ich den Schutz des Unbeobachtetseins und andererseits beunruhigt mich das Desinteresse der Menschen an mir. «Reisebüro» kann ich in verstaubten Buchstaben über dem Geschäft lesen. Ich will nicht zu weit zurücktreten, um genauer nachzusehen, weil ich durch allzuviel Bewegung die Aufmerksamkeit dieser Gruppe vielleicht doch auf mich ziehen würde. Sie spielen zwar Karten, wie das Männer tun, aber ich weiß ja von meiner Seite aus nicht, ob es hier üblich ist, Karten spielende Männer in einem Reisebüro durch die Fensterscheiben zu beobachten. Große Gläser sind es, von denen allerdings das letzte fehlt. Immer wenn hier Scheiben fehlen, sind sie nicht erneuert, sondern fein säuberlich herausgebrochen, so daß keine Verletzungsgefahr besteht. Aus der letzten offenen Auslage kann ich sie auch hören: «Du spielst aus!» «Zwei weiter!» «Ich kann nichts!» - «Abheben.» Abheben, weiß ich, das sagt man immer beim Quartett, und auch abgeblitzt und so. Das spielen sie aber eindeutig nicht. Die Stimmen sind normal. Nur eines fällt mir auf, sehr ereifert geben sich diese vier nicht. Sie sind konzentriert, aber zu übermäßigen Ausbrüchen der Freude oder des Spotts oder der Wut gelangen sie nicht. Sie schieben ruhig Karten, entspannt und bewegt, nicht so, als hätten sie nur eine Stunde Mittagspause, nicht so, als würden sie genießen müssen. Um Himmels willen - einer steht auf und kommt zum Ausgang, das hätte ich jetzt gerade nicht erwartet, mitten aus dem Reisebüro heraus, der soll mich ja nicht fragen, ob ich Geld zum Verreisen habe. Ich kneife meine Popobacken zusammen, beiße mir auf die Unterlippe und gehe an der offenen Scheibe vorbei, die Gasse weiter hinauf, als hätte ich dort etwas zu tun. Das ist es eben, hier bewegt sich niemand so, als hätte er etwas zu tun. Ich gebärde mich da geradezu auffällig. Die Männer haben nicht wie Beamte ausgesehen, sie waren eher in Arbeitsmontur gekleidet, aber sie waren nicht schmutzig und nicht verschwitzt. Du liebe Güte, ich hätte nicht gedacht, daß ich noch einmal so in [16] Verwirrung mit meiner Sicherheit und meiner Gelassenheit, meinem selbstverständlichen Auftreten und, ja, ich will es genau sagen, mit meiner Angst komme. Hier schon wieder das Geschäft an der Ecke. Diesmal keine Karten spielende Männer drinnen. Diese Bude ist noch so eingerichtet, wie ich Geschäfte kenne. Ein Pult, Stühle, vereinzelte Plakate, aber sonst leer. Ich bleibe vor dem Fenster wieder stehen, so als würde ich, falls jemand hinter mir herkäme, meiner Angst vor ihm irgendeinen Sinn geben. Ich konstruiere mein Verhalten so, daß es locker erscheinen soll, und drehe mich um, leicht zurück, während ich vorgebe, in die Auslage zu sehen und bemerke, daß mir niemand folgt. Wie viele Menschen gibt es hier? Die Größenverhältnisse flirren mir im Hirn. Ich gehe weiter und höre Geräusche aus einer Nebengasse. Ein Schallplattengeschäft ist weiter unten, aus dem Musik kommt, Gitarrenklänge. Eine Straße, die keine Gehsteige hat, eine Fläche zwischen Häusern, in der Mitte Bäume. Um die Bäume runde Bänke. Einige besetzt. Menschen bewegen sich auch auf dieser Straße, vereinzelt, in Grüppchen oder zu zweit. Drei Kinder laufen um die Bänke. Die Blätter der Bäume sind gesund und kräftig, die Rinden saftig, der Asphalt rissig. Wie auf dem großen Platz kriecht Moos in Mustern über die Fläche, besänftigt den Blick, gliedert das Grau. Ein Bub erklettert einen der Bäume, eine Frau hilft ihm dabei, während andere zusehen. Ein Kleidergeschäft. Da hängen wirklich Kleider drin, daneben liegen Puppen. Ein Mädchen macht Musik auf
einer Gitarre vor einem Haus. Einige Personen sitzen vor den Häusern, so als würden sie da wohnen und wollten die Sonne genießen. Es ist für mich leicht, mich hier zu bewegen. Der Rhythmus ist ein Stillhalten bis Schlendern, niemand läuft, außer den Kindern, die spielen. Ein Sich-Setzen und Erheben, ein Dehnen und Sich-Bewegen, auch ein Vorbeigehen, ein Wohin-Gehen, ein Ankommen und Verlassen, ein Ziehen, ein Lächeln, ein Verweilen und ein Sich-Abwenden, Verschwinden und Auftauchen, aber vereinzelt, so alle paar Takte einmal, ein Aufflackern, eine Bewegung, eine Wortfolge, ein Miteinander, ein Aufkeimen zu einem Ausschwingen, ein gezeitenartiger Klang in meinem Kopf, eins mit dem Bild von gedämpft fließenden Farben, ein Bach bis zum Fluß, eine Abzweigung zu mir. Ich habe mich auch auf eine dieser runden Bänke niedergelassen, wo sonst niemand sitzt. Die Menschen tragen wenig bei sich. Leichte Taschen sehe ich an [17] den Vorübergehenden, Beutel aus Stoff und weniger Aufbewahrungshüllen für Mode. Überhaupt sind die Menschen locker gekleidet. Nicht unhübsch oder allzu schlampig, obwohl der Lässigkeit, die keine gezielte ist, freier Raum bleibt zu allen Möglichkeiten, die aber anscheinend nicht besonders gesucht werden, um einen eigenen Stil abzugeben. Hier kommt ein Bursche in einem Blechhemd, wie es die Ritter als Rüstung getragen haben, und unten trägt er eine von den amerikanischen Männerunterhosen mit Muster, die an den Oberschenkeln so schwabbeln, daß man immer Angst haben muß, die Eier würden ihm herausfallen. Der hat offenbar keine Angst. Er macht auch niemandem Angst, er wird gar nicht sehr beachtet. Ein Bub allerdings läuft jetzt zu ihm hin und betastet die Blechplättchen und streicht ihm über die Brust, was einen seltsam hellen Klang gibt. Ein Springbrunnen plätschert. Der Mann mit der Rüstung trinkt Wasser. Verdammt, ich habe Durst! Das ist ja kein Wunder. Schon beim Sitzen auf der Stationsbank hatte ich Trockenheitsgefühle zwischen Gaumen und Zunge, und ich habe schon lange nichts mehr getrunken. Zu dem Brunnen zu gehen hieße, mich schutzlos unter das Volk zu begeben, mich ihren Blicken auszusetzen und möglicherweise etwas zu bemerken, was mir bis jetzt verborgen war und was mich vielleicht so sehr erschrecken könnte, daß ich nicht mehr zum Trinken käme. Dabei habe ich jetzt genauso großen Durst wie ich Angst habe. Möglicherweise ist er ein Teil meiner Angst, jetzt, da er mir bekannt geworden ist. Vielleicht würde ich mich herübertrinken in diese mir so bekannte, aber in mir verlorene Welt, daß ich verwandelt würde in eine kleine Steinfigur am Brunnen, von denen dort einige zu sehen sind. Allerdings sind sie beschädigt und abgeschlagen, so wie der Reiter am Platz mit seinem Pferd ohne Schwanz. Ich gehe trinken. Niemand ist jetzt an der Wasserröhre. Ich vergesse mich über dem perlenden Wasser, das ich zuerst über die Hand rinnen lasse, bis ich es in der Höhlung auffange. So vertraut ist mir das Rinnen wie mein eigener Gedankenfluß, mein eigener Saft in den Adern, und ich trinke und meine, ich würde nie mehr aufhören wollen. Ich kriege keine Luft mehr, und da bin ich auch schon fürs erste fertig, um nach einem Verschnaufen noch ein paar Schlucke zu nehmen. Ich erhebe mich, blicke nach oben und sehe ein Kleinkind mitten in einem Fenster stehen, im zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses. Der Kleine [18]richtet sich zu voller Größe auf. Er trägt ein kurzes Hemdchen und sonst nichts. Steht stolz da oben und hat scheinbar das Gefühl, etwas geschafft zu haben, weil er lacht, herzlich herunterlacht zu den Menschen. Nicht daß ich allein diese Entdeckung gemacht hätte, alle haben es schon bemerkt, wahrscheinlich schon, als ich noch ins Wassertrinken versunken gewesen sein muß. «Jetzt öffnet er schon das Fenster, dabei hätte ich geglaubt, er erreicht den Riegel noch nicht. - Geh wieder hinein! Schön langsam, steig wieder hinunter und komm lieber über die Stiegen zu uns her, ich warte hier auf dich.» Ich sehe in die Augen einer Frau, die diese Worte ruft, wende den Blick von dem Kind,
das Schwierigkeiten hat, vom Fenster auf der richtigen Seite herunterzuklettern, ich bleibe verloren in diesen Augen, die da hinaufgerichtet sind. Mich zwingt ein gedämpfter Schrecken, in mir oder in den Wellen zwischen mir und der Frau und dem Kind am Fenster hoch oben. Sind diese Augen tot, daß da ein ganzes Leben hineinfallen kann, vielleicht ihr eigen Fleisch und Blut? Daß sie das so geschehen lassen kann, ohne sich zu schützen durch Angst und Panik? Die Augen sind sanft und lebendig wie die des Kindes. Augen sind das, die sehen, was geschieht. Scheinbar sieht diese Frau anders als ich, sie denkt sich anderes beim Sehen, oder sie sieht besser als ich. Hinein in eine Tiefe führt dieses Auge, zu einem Tiefpunkt, wo die Flüssigkeiten der Brunnen und des Bluts glänzen. Sie kann dem Kind ruhig zusehen, wie es wieder vom Fensterbrett heruntersteigt, innen verschwindet und dann außen herausläuft, unten beim Tor, noch immer im Hemdchen, lachend und seiner Mutter zulaufend, die es glücklich in die Arme schließt und hochnimmt. Diese Augen sind jetzt genauso erlöst wie die meinen, von diesem fernen Blick, in dem ich mich gefangen hatte, weil er auch ein Teil meiner Art zu sehen ist. Die kleine Gruppe unterhält sich wieder. Ich trinke nicht mehr. Ich gehe weiter. Meinen Mantel habe ich auf der Bank vergessen. Es fällt mir auf, daß ich die Hand nach unten hängen lasse, die vorher in den Stoff gegriffen hat. Ich habe nichts mehr zu tragen. Ich hole den Mantel auch nicht. Ich will nicht noch einmal an den Menschen hier vorbei. Oder vielleicht nicht gleich wieder. «Julia, komm wieder - vergessen - Juliaa ...» [19] Ein Betrunkener torkelt grölend quer über die Straße. Es sieht fast so aus, als würde er gezogen. Er hebt die Flasche bei mir wie zum Zutrunk in die Höhe und nimmt einen kräftigen Schluck, um dann wieder taumelnd, aber auf einem Fleck verharrend, blöde vor sich hin stierend sein Lied anzufangen: «Julia, komm vergessen - komm wieder, Julia», und dabei sieht er mich an, wieder gerade mich. Ich lächle ihm zu und eile vorbei. Er ist so laut, er ist hier der Lauteste und Auffälligste von allen, aber niemand kümmert sich um ihn. Man dreht sich nicht einmal nach ihm um und hat auch keinen mitleidigen oder verständnisvollen Blick für ihn, auch angewidert zeigt sich niemand. Es ist sich scheinbar jeder zu stolz, ihn zu beachten, es bilden sich keine Gedanken um ihn und keine Vorstellungen, aber es ist auch nicht so, als hätte er keinen Platz in der Allgemeinheit. Links ein Lebensmittelgeschäft und rechts ein Schuhladen, in dem allerdings lauter kleine Tiere zwischen vielen Pflanzen sich tummeln. Schuhe sind nur außen als Bilder an die Mauer geklebt, und über dem Eingang hängt ein riesiger Schuh. Weiter rechts eine Bude mit Getränken. Ein fahrbares kleines Wägelchen mit einem großen Faß, aus dem der Verkäufer Saft rinnen läßt, aus einem Hahn, den er immer wieder zudreht, wenn ein Glas gefüllt ist. Der Durstige trinkt, und eine kleine Frau wäscht das Glas aus, stellt es wieder hin für den nächsten. Es sind nur vier bis fünf Gläser im Umlauf, und die Sache funktioniert geordnet und still. Oder doch nicht - «Du hast schon zweimal gehabt!» Ein Junge wird von einem Mädchen aus der Gruppe hinausgedrängt, und er geht weg, er hat keinen Durst mehr. Links ist der Lebensmittelladen, und ich gehe jetzt endgültig hin. Nur hin, denn da ist nichts drin. Da ist keine Geschäftszeit. Nur das Schild prangt groß und deutlich über dem schönen Eingang. Sogar die große Auslagenscheibe fehlt. Ich hätte ungehindert hineingehen können in das Geschäft, aber es ist völlig verkommen. Ein riesiger Sandhaufen füllt den Laden, Spuren sind darauf eingetreten, und daneben liegen kleine Werkzeuge, wie sie Kinder zum Graben und zum Bauen verwenden. In meinem Magen befindet sich eine frisch ausgehobene Grube, nur mit Wasser gefüllt, und das macht mich hungrig nach einer Veränderung, nach einer verwertbaren Veränderung dieser Straße für mich und meine Bedürfnisse. Dieses abwartende, [20] suchende Gefühl macht mich auch ein wenig frecher und weniger scheu den Menschen gegenüber. Ich versuche irgendwie an sie heranzugera-
ten, und zugleich fällt mir etwas sehr Peinliches ein, nämlich daß das Geld, welches ich bei mit hatte, in der Manteltasche oben an der runden Bank geblieben ist und vielleicht gar nicht mehr aufzufinden wäre. Eine junge Frau, etwa so alt wie ich selbst, legt mir meinen Mantel über die Schulter und geht weiter mit weichen Schritten, hinein in eine Seitengasse. Ihre Augen werden mir erst jetzt im nachhinein deutlich, und ihre Stimme klingt erst jetzt an mein Ohr, als ich ihr nachsehe. Ein rötlich schimmernder Anzug, ähnlich einem Trainingskleid, aber viel fallender, hängt locker über die Taille herunter in weite Hosenbeine, die an den Knöcheln einen Gummizug haben. So hat sie mich angeblickt, weich und zugleich bedacht, wofür sie für mich gut sein könnte, ohne aber Güte in den Augen oder in der Stimme zu haben. Mir gibt das Vertrauen zu meinem eigenen Zustand, und die Straße öffnet sich vor mir wie in einem neuen Blickfeld, das mir neu, aber um eine Spur vertrauter ist. Wer kennt mich hier - wer beachtet mich hier? Ein goldenes Täfelchen hängt schief, nur an einem Nagel befestigt, neben einem Torbogen, der nur einen Flügel hat. «Dr Bühler -Fachar», und unten kommt ein Stück «Mo-Fr 15-17 Uhr» heraus. Einen Arzt brauche ich jetzt ohnehin nicht, sondern viel einfachere Dinge. Fahrräder klingeln hinter mir. Zwei Frauen fahren vorbei. Die eine trägt auch so einen von diesen leichten Anzügen, wie ich ihn vorher an der jungen Frau bewundert hatte, nur etwas mehr in Gelb gehalten. Bequem muß das sein, so ein weiches Kleidungsstück. Sie muß das Hosenbein aufstülpen, wegen der Fahrradkette. «Friseur». Wieder keiner drinnen. Niemand läßt sich hier frisieren, nicht aufkämmen, nicht abstriegeln. Ein paar Perücken sitzen schief auf Kunstköpfen wie zur Wahrung des Ansehens ihrer Hohlheit aus Styropor, und dahinter ist ein Tisch zu sehen, und darauf, ganz hinten im Geschäft, das den Blick freiläßt in einen Garten hinein, der hier überall hinter den Häuserfronten zu grünen scheint, liegen Brote und Kuchen. Ich kann nicht sehen, ob sie besonders braun sind, wie die von der Molle, aber das ist eindeutig Gebäck, und es liegt dort in großer Menge. Diese Auslagenscheibe ist vollständig vorhanden. Ich [21] spüre das Wasser, welches mir das Anschauen dieses Essens in den Mund treibt. Ich trete noch einmal zurück und betrachte auffällig die Geschäftsfront des Friseurs, so als wollte ich irgend etwas gefragt werden. Diesmal will ich gern beachtet werden. Ich habe gar keine Angst mehr vor Männern, die in Reisebüros Karten spielen, ich wäre so gern angesprochen worden, um vielleicht fragen zu können, ob man da hineindürfe und ob das Gebäck zum Verkauf frei sei. Ich bin hier nicht vertraut mit dem Essen in den Friseurläden und den Tieren zwischen den Pflanzen und den Müttern, die gelassen ihre Kinder aus dem zweiten Stock fallen sehen können. Man sollte nicht mißtrauisch sein, aber Hunger verspüre ich auch hier und sofort, doch mich spricht niemand an, und mich beachtet niemand. Da sehe ich in meiner Ratlosigkeit und in meinem Zweifel, ob soviel Vorsicht überhaupt gut und notwendig ist, im Hof gegenüber eine Frau stehen und Teig kneten. Das Tor, das sonst bei den meisten Häusern geschlossen ist, steht hier weit offen, und so, wie ich schon bei dem Friseurgeschäft vermutet habe, liegt hinter dem Haus ein Garten und noch ein Haus, das ist wild bewachsen mit Ranken. Die Frau steht mitten im offenen Tor und knetet und walkt. Sie schiebt auch immer herum an einem Brett, das hinter dem Türstock halb verborgen ist, und ich gehe näher, schaue hinein und kann es jetzt auch riechen, das frische Gebackene. Hinein mit mir. Die Tür ist ja offen, und das Geld fühle ich in der Tasche meines Mantels über der Schulter. Das Geld ist meine Waffe. «Kann ich etwas Brot kaufen, ich weiß nicht, wo hier Geschäfte sind, ich kenne mich nicht so aus?» «Nein, ich backe nur für uns, ich kann eigentlich nichts abgeben. Wir essen am liebsten
das eigene. Ich mache diese Arbeit gern. Mehr zu backen wäre mir zuviel.» Kaum daß sie aufgesehen hat, drückt sie nach den paar Worten auch schon wieder eifrig in ihren Teig. Sie hat starke Arme und ein kräftiges Gesicht, aber nicht derb, eben sehr beschäftigt und angestrengt, denn Brot kneten ist keine Kleinigkeit. Noch dazu mit der Hand. Wer knetet und rührt denn mitten in einem Hof in der Stadt seinen Teig für die Familie? Ich stehe da und tue jetzt mehr so, als interessierte ich mich für ihre Tätigkeit, um nicht als Zudringling, als bloßer Bittsack aufzufallen. Ich weiß gar nicht, was ich fragen sollte, da ich ja eigentlich [22] verletzt bin von ihrer Ablehnung. Sie sieht nicht auf und ist offenbar von der Ablehnung nicht so gefangen wie ich. «Eine Woche mache ich sie mit Kümmel und eine Woche mit Zimt.» Schöne Geschichte, jetzt fangt sie noch an, mir vorzuschwärmen von ihrem Angebot, das sie mir nicht machen will. Sie weiß jedenfalls, daß ich noch dastehe, oder vielleicht kann man hier mit sich selbst sprechen, ohne unangenehm aufzufallen. «Gut riecht das ...» sind meine unpassenden, aber ehrlichen Abschiedsworte, die es mir möglich machen, meine Beine und mein Mundwerk zu bewegen. Ich will abtreten. «Vielleicht die Frau Frohner gegenüber, die bäckt auch selbst, und noch mehr, weil ihr die Töchter helfen. Ihr Bub ist in der Wasserturmgruppe, die schickt oft ganze Laibe hinaus ...» Ich drehe mich noch einmal rasch um bei ihren unvermutet freundlichen Worten. Sie hat die Hände aus dem Teig herausgezogen und ist ganz Auskunft, sie steht voll und freundlich mit ihrer Ablehnung da, etwas breit auch im Gesicht, vermehlt, mit großen Augen, die, wie ich es schon manchmal hier bemerken konnte, einen weiten Blick haben, einen längeren, einen leereren Blick, einen, in den man so leicht hineinfallen kann, ohne daß er zuklappen würde, denn er will nicht fangen, nicht fragen. «Danke - kann ich hineingehen dort drüben?» «Ja, warum nicht», und sie geht wieder an die Arbeit, als hätte sie sie für mich nie unterbrochen. Da raunt etwas auf. Draußen, als ich wieder auf die Straße komme. Es erweist sich bald als ein tiefes, durchdringendes Dröhnen, das in regelmäßigen Zeitabständen wiederkehrt. Es ist ein Geräusch, das vom Einschmeichelnden bis zum Entsetzenden geht. Ich will mich verstecken. Ich merke, hier tun das alle. Mir bebt das Herz bis in den Hals. Ich bin diesem Dröhnen schon lange nicht mehr begegnet. Ich hätte nicht mit ihm hier gerechnet. Ich stehe wie angewurzelt. Das Anschwellen des Geräusches lahmt mir die Glieder. Es gurgelt auf, etwa dort in dieser Gasse muß es sich zusammenballen, dorther tönt es, weit ist die Entfernung noch. Es schwillt an, reißt langsam ein in meine Hirnhaut und schwellt sie auf im gleichen verfänglichen Rhythmus, der mir angst macht und mich lahmt. Diese Töne zwischen Hinsummen und Explodieren, so bedrohlich, entfernen sich etwas, [23] werden schwächer. Das ist der Zeitpunkt, ein Versteck zu suchen, bevor es wieder anschwillt. Alle Verstecke sind gut genug. Es müssen keine besonders raffinierten sein. Laternenpfähle würden genügen, alles genügt, um wenigstens so zu tun, als könnte man sich verstecken. Das Geräusch ist nicht mit Klugheit zu schlagen. Das Spiel besteht scheinbar darin, sich zu verstecken und das Wesen nie zu Gesicht zu bekommen, das da geräuschvoll anschwillt und sich hineinfrißt in die Angstschnecke des Gehirns. Es flammt dröhnend wieder auf, dort an der Hausecke, unsichtbar nähert es sich. Eine Frau und ich hocken hinter einer der runden Bänke. Jeder könnte unsere Beine sehen, aber wir sind darum nicht bange, wir sind versteckt. Alle sind hinter irgendein Hindernis getreten, aber ich kann in meiner Panik noch bemerken, daß sie das wie mechanisch tun, als seien sie das gewöhnt, als würden sie sich schnell vor dem Platzregen schützen und wissen, daß es in ein paar Minuten vorbei ist. Todsicher vorbei. Es wird lauter, hallender, ein Echo in allen fremden Ecken einer Welt, die jetzt nieder-
gewalzt werden soll mit diesem ungeheuerlichen Machtbrüllen. Hinter mir da gilt nichts, nur vorne droht die Gefahr, erfaßt zu werden von dem Unbekannten, ein Schlund aus maschinellem Brüllen, ein Gurgeln, das sich wie körperhaft wieder etwas entfernt, leiser wird und schließlich abebbt im Nachlassen des Schreckens. Die Menschen erheben sich wieder, kommen hervor, wenn sie versteckt waren. Mein Herzschlag wird mir wieder spürbar. Noch einmal rollt es in der Ferne auf, aber niemand nimmt mehr Notiz davon. Fast wie gewaschen und erfrischt kommen sie wieder hervor, die wenigen, die hier die Szene bilden. Ich war eine von ihnen, ich fühle mich so. Die Frau, mit der ich hinter der Bank gehockt habe, sie hat mich angelächelt während der Schreckenssekunden. Sie war mir nahe, die Fremde im gleichen Versteck, nahe in der Notwendigkeit, sich verstecken zu müssen. Daß die das hier auch tun - das macht die Kluft menschlicher und mich mutiger und frischer. Daß bald etwas passieren könnte, das habe ich gewußt, aber daß es mir so bekannt sein würde, damit habe ich nicht gerechnet. Ich möchte mich vorerst wieder ein wenig fassen und nicht gleich so aufgelöst zu der Frau hineingehen in den Friseurladen, wer weiß, [24] was sich da wieder abspielen würde, und ich setze mich ohne viel zu suchen neuerlich auf eine dieser runden Bänke. So als sei die Sitzfläche elektrisiert, erhebe ich mich wieder. Ich kann das sitzend nicht ansehen, dazu bringe ich die Ruhe nicht auf: Um die Ecke biegt ein Menschenaffe, ein behaarter, und an seinem Bauch liegt ein Menschenbaby, ein angezogenes. Der Affe greift links leicht auf den Boden auf, er hat lange Arme, so wie Affen eben sind. Das Baby hängt in seinen Haaren, aber rechts stützt er es mit einer Handfläche ab, um es zu sichern. Eindeutig ist dieses Bild, und niemandem außer mir scheint es unbekannt in dieser Straße zu sein. Eines der Häuser trägt noch Bestandteile eines Balkons. Traversen hängen auf die Straße, und ein wenig ist auch noch von einem kunstvoll geformten Gitter erhalten. Der Affe schwingt sich mitsamt dem Baby von einer der runden Bänke über einen Baum auf den verfallenen Balkon, ganz mühelos mit einem Atemzug, so als wäre diese Bewegung für ihn wie für mich das Öffnen eines Fensters. Dort bleibt er sitzen auf einer frei hängenden Traverse, während das Kind auf dem erhaltenen Balkonstück herumkriecht, abgegrenzt von der breiten Seite des Tiers. Ein Bild voll harmloser Fürsorge, so als sei das die Tagesrunde der beiden Geschöpfe. Ich glaube, ich brauche endlich doch was zum Essen. Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt noch setzen soll, oder ob ich gleich so hineingehen kann in das Haus. Unter dem Affen mag ich nicht sitzen, das ist mir wenigstens klar. Ich werfe noch einen Blick hinauf, greife mir leicht über die Stirn, dann reiße ich mich los von diesem Bild und blicke wieder in die Friseurauslagen mit den Perücken. Alles noch wie vorher. Hinten der Tisch mit dem Gebäck. Eigentlich habe ich jetzt gar nicht mehr so einen heftigen Appetit. Das passiert manchmal, daß er sich bei allzu langem Hinausschieben des Essens in einen schalen Magen- und Mundgeschmack verwandelt, in Ermattung und Überdruß. In diesem Fall bin ich allerdings unschuldig, weil mich die Umstände hier andauernd hindern, meinem Bedürfnis zu gehorchen. Ich merke, daß sich die Tür aufdrücken läßt, einfach anstoßen genügt, da ist nur mehr ein Rest von einem Schloß. Im Friseurladen ist es dämmriger, als ich es von draußen vermutet hätte und stiller, noch stiller als draußen, aber es riecht viel mehr nach Bäcker, als ich ahnen konnte, und das macht mir wieder Mut und Appetit. Ich gehe in diesen Garten hinein, der hinter dem Laden liegt, nicht ohne einen gierigen [25] Blick auf das Gebäck und die Brote zu werfen, die da hoch aufgetürmt sind. Das muß die Frau sein. Sie liegt da in einem weichen Stuhl und tut nichts, sie ist nicht einmal mit Aufräumen oder Backen beschäftigt. Im Hof ist es blitzblank, und auch hier ranken sich Blätter und Gewächse die Mauer hinauf. Ein friedliches Bild. Wie war doch ihr Name, mir fällt das nicht mehr ein. «Nimm dir nur so viel du brauchst, es ist noch ganz frisch!» Mich laust der Affe, die hat so eingeschlafen gewirkt, und sie hat ja nicht einmal zu mir
hergesehen. Sollte vielleicht die andere Bäckerin von gegenüber ... aber Blödsinn, die hat mich ja nicht einmal richtig beachtet. Jetzt kann ich das erkennen, die Frau sieht sehr wohl zu mir her, nur macht sie das nicht mir so viel Aufwand, wie ich es einem Eindringling gegenüber vermutet hätte. Sie nimmt mir das Gefühl, so einer zu sein, sanft und bestimmt ab. Sie ist jünger, als ich erwartet habe und hat nichts Bäckerinnenhaftes an sich wie die Frau von gegenüber. Vielleicht ist sie sogar jünger als ich selbst. Und die kann schon so schönes Brot backen? Vielleicht ist das eine von den Töchtern. Mir steigt Angst auf, ob sie auch wirklich die Hauptzuständige für das Verteilen des Essens ist, oder ob mir dann das Erworbene vielleicht wieder weggenommen werden könnnte. In meiner Ratlosigkeit und wie zur Festigung meines Anspruchs aufs Überleben suche ich nach den Münzen in meinem Mantelsack. «Ich habe es selbst gebacken, du kannst nehmen!» Wie zum Nachdruck ihrer Aufforderung hebt sich die Frau ein wenig mir zu, aus dem Stuhl, und ich spüre genau, sie würde dieses Angebot nicht mehr oft wiederholen, wenn ich nicht imstande wäre, davon Gebrauch zu machen. «Ja, wieviel kostet es?» Ich trete zu ihrem Sessel hin, die Münzen in der flachen Hand und bleibe so einige Sekunden stehen, gebannt von ihrem Lächeln, das sie mit keinem Wort erklärt und das sie mir auch nicht ansprechbarer macht, aber ich verstehe, daß da mit Geld nichts zu wollen ist. «Danke vielmals, ich nehme drei Stück von den größeren runden Stollen - danke.» Ich gehe lieber wieder, um mich nicht in irgendeine Ungeschicktheit zu verfangen, nehme drei Runde, die sich weich anfühlen, sehe noch einmal kurz zum Stuhl hin, auf dem die Frau wieder friedlich mit [26] nichts beschäftigt liegt, als sie noch einmal, ohne sich durch Lautstärke besonders anzustrengen, unerwartet sagt: «Ich glaube, sie sind jetzt schon ausgekühlt. Ich selbst vertrage die warmen nicht, du wirst ja sehen.» «Danke!» rufe ich noch einmal, sichtlich zu laut für die Verhältnisse. Die Brote sind nicht mehr warm, sie sind braun wie die von der Molle. Frohner, so war der Name dieser Frau, jetzt weiß ich es wieder. Der Affe ist nicht mehr da, ich könnte mich getrost auf diese Bank hier setzen und schmausen. Ich gehe allerdings wieder ein Stück zurück, näher zu dem Brunnen hin, wo ich Wasser getrunken habe, da nach dem Essen mein Durst sich wieder melden könnte. Da fällt mir auch das Wägelchen mit dem Saft wieder ein. Sehen kann ich es nicht mehr. Es muß weitergezogen sein. Ich beiße in das Brot hinein, und das schmeckt wie überall zu allen Zeitrechnungen in fernen und nahen Weltregionen. «Ich habe den Wagen nicht gefahren und Toller auch nicht, das weiß ich genau. Wie ich ihn zuletzt gesehen habe, war der Boden schon völlig durchgebrochen. Du hättest nichts mehr transportieren können!» «Ich wollte ihn hinausfahren und dort eingraben, wo er früher gewohnt hat, aber wahrscheinlich ist das ohnehin eine Sache, die ich bleiben lassen kann. Wo der Elektrowagen aber sein kann? Er hat ihn ein Leben lang gefahren bis zuletzt, als schon kein Mensch mehr an einem Wagen gehangen ist. Er war ganz nützlich, denn manchmal mußten wir doch etwas Schweres transportieren.» Der eine ist etwas erregt, so als beschuldigte man ihn, den Wagen genommen zu haben oder ihn wenigstens zu verbergen, er gestikuliert auffällig und erhebt seine Stimme, während der andere, der Ältere, resigniert erscheint. Sie sind vorübergegangen an meiner Bank, auf der ich esse und sind jetzt sogar stehengeblieben, weil sie nicht handelseins werden können. «Du wirst doch nicht glauben, daß ich diesen alten Wagen versteckt halte. Wer hängt
noch an so einem Blech!» «Das habe ich ja nicht behauptet!» Und der Ältere legt die Hand auf seine Brust, so als wollte er sich vor dem anderen schützen und zugleich seine Wehrlosigkeit beteuern. Plötzlich reißt er die Hand von der Brust weg und schreit den anderen an: «Wie sollte ich denn ahnen, daß der Junge stirbt!» [27] «Ja - so meinst du das -, na klar, Alter. Du kannst ihn auch ruhig bei mir im Garten eingraben. Er war immer gern bei mir. So ist das in Ordnung. Vielleicht hat Luisa den Wagen ...» und sie ziehen ab, vielleicht ist ihnen das schon gar nicht mehr so wichtig, jedenfalls sehe ich, wie sie wieder kurz stehenbleiben und über irgendeine Sache kurz lachen, viellleicht über die Luisa. Ich esse die letzten Brocken des zweiten Brots schon etwas langsamer. Ich bin eigentlich satt. Das dritte Brot stecke ich in meine Manteltasche. Jetzt habe ich in einer die Münzen und in der anderen das Brot. Ich habe alles. Sogar trinken kann ich noch einmal aus dem Brunnen. Dann bleibe ich noch ein wenig sitzen. Das Treiben ist noch etwas lockerer geworden. Die Grüppchen werden weniger. Jetzt gehen mehr einzelne an mir vorbei, in beiden Richtungen. Sie ziehen irgendwohin, nicht schnell, aber sie haben anscheinend ein Ziel. Manche streifen mich mit einem Blick, die meisten nicht. Wenn mich aber ein Blick erfaßt, dann tut er das ganz erwartungslos, soll ich sagen hoffnungslos ... Nicht daß sie traurig aussehen, die Menschen, das nicht. So weit sind diese Blicke, schonungslos, aber nie verletzend oder gar aufdringlich, so wie von ungefähr - verwunschen - geht einer in den anderen über. Mir macht diese Erscheinung etwas Angst, mir ist das irgendwie zuviel, so daß ich es manchmal als eine Macht empfinde, wenn ich mit ihnen in Verbindung trete. Ich ziehe mich zurück, während ich voll Neugier vorstoßen möchte, wofür sie scheinbar überhaupt kein Verständnis haben. Es gleitet an ihnen ab, sie sind glatt, wie vorhin die Frau, die mir das Brot geschenkt hat. Im stillen habe ich vermutet, daß sie vielleicht mit mir sprechen, mir irgend etwas erklären würde, aber mitten in ihrem freundlichen Lachen habe ich am deutlichsten gespürt, daß da nichts abläuft, kein Hin und Her, kein Ich und Du. Auch das Lächeln der Frau, mit der ich hinter der Bank gehockt habe, das war fern, dennoch voll Freundlichkeit für mich und unser Entsetzen. Angenehm war sie schon. Etwas neigt sich hier, etwas verändert sich langsam, aber stetig, auch das Licht wird anders, wenngleich noch nichts von Dunkelheit zu bemerken ist. Die Blätter über mir an dem Baum wirken satt und groß, schützend wie ein Dach. Darum scheint es hier zu gehen, zumindest mir, die gewöhnt ist, des Nachts unterzuschlüpfen. Auch hier scheint das so Brauch zu sein, weil schon bald niemand mehr auftaucht. [28] Von Ferne höre ich Hufeklappern. Näher kommt es, ziemlich rasch, und noch rascher galoppiert die Frage in mir auf: Was tun? Müde bin ich, aber hell ist es doch, satt bin ich, doch das Klappern dröhnt so an den Häuserfronten und fängt sich zwischen den Mauern. Es schlägt wie meine Erwartung, denn ich kann noch nichts sehen und will mich nicht bewegen, denn ich glaube mich hier auf dieser Bank am sichersten. Ich ziehe die Beine hoch und will sogar für einen Augenblick den Mantel um mich raffen, so als würde mich der schützen. Hinter mir trabt ein Pferd auf meinen Weg ein, ein schönes Tier, obenauf zwei Kinder, ein Mädchen mit Zöpfen und ein Junge mit langem wallendem Haar. Sie reiten vorbei, waghalsig und ohne Angst. Sie schmiegen sich auf den Pferderücken und zugleich aneinander und fliegen durch die Gasse ohne Halt, weiter und weiter, bis das Hufeklappern langsam abklingt. Oben sieht eine Frau aus dem Fenster, offensichtlich angelockt von dem mächtigen Geräusch. Sie stellt bunte Blumen aufs Fensterbrett und beginnt sie zu betasten, abzuputzen und fester in die Erde der Töpfe zu drücken. Ich schaue nicht lange hinauf, ich gehe lieber. Wieder vorbei an dem Geschäft mit dem Sandhaufen, vorbei an den beiden «Bäckerläden», an einigen Häusern entlang, und da öffnet sich vor mir ein Freiraum in der
Mitte, eine Kirche mit hohen Türmen, die wie Raketen in den Himmel zeigen. Allerdings ist einer von ihnen abgebrochen, was wie ein eigener Stil wirkt. Mächtig ist dieses Gebäude aus hellen Platten, mit einem bunten Dach, das glitzert, auf der einen Seitenfront bewachsen. Der Eingang ist zugewuchert, aber das sieht nur so aus. Die Pflanzen hängen nur so drüber, man kann sie einfach wegheben. Ich habe es gesehen, wie vorhin ein alter Mann mit einem Stock hinein verschwunden ist, wie in ein Märchenschloß mit Rosen vor dem Eingang. Er hat die Blätter mit seinem Stock nur geteilt wie mit Zauberhand und konnte durch. Im Augenblick kann ich überhaupt niemanden sehen. Nur dort drüben, mir scheint fast, als könnten das zwei große Motorräder sein, an die diese Menschen dort gelehnt sind. Wenn ich mir den Lärm vorstelle, den diese Gefährte machen können, paßt er gar nicht in dieses Lebensbild, obwohl natürlich die Kinder mit dem Pferd auch nicht leise waren. Und das Dröhnen? Möglich wäre es, daß ich vorhin auf einer der Bänke vor Müdigkeit eingesunken bin in den Bereich, der den Untergrund des Wachens bildet, um dort ein wenig mein [29] Hirnwasser wogen zu lassen, meinen Bereich der Gedankenmöglichkeiten auszudehnen für das Wachsein, denn der weite Raum des Traums verschwindet im Wachen nicht. In manchen Menschen tritt er am Tage überhaupt nicht die Nachtwache an, sondern trägt nur ein anderes Kleid. In manchen Menschen hat der Traum am Tage keine Hellebarde, nicht weil diese Faulpelze Tag und Nacht schliefen, sondern weil ihnen das Gefühlsleben übergegangen ist von hier nach da und sie an die Fakten des Wachens genausowenig glauben wie an den Schein des Traums, denn Glaube ist ein Aberglaube mit Logik. Ich will dem alten Herrn folgen, der mich eigentlich gar nicht so sehr interessiert, aber Kirchen haben einen gewissen Schutzcharakter, schon allein, weil sie frei zugänglich sind, weil sie so groß sind und weil sich niemand erkundigt, warum man eine Kirche betritt. Die Menschen haben immer schon viele Motive gehabt, diese Gebäude aufzusuchen, besonders die Ermüdeten und die Frierenden, die Obdachlosen wurden hier nicht nach ihrer Schuld gefragt. Was allerdings, und das denke ich trotz meiner steigenden Müdigkeit, bevor ich durch dieses Blättertor gehe, nur auf die bloßen Mauern und das Dach dieses Bauwerks zutrifft. Es ist nun Abend geworden. Auch hier wird es zur Nacht dunkler. Ich komme nicht darauf, ob ich an meiner Obdachlosigkeit schuld bin oder nicht. Noch während ich die Ranken hebe und mich in den Anblick der Blätter, die efeuartige Dreiecke bilden, mit weißen Adern drin, fallen lasse, denke ich, daß ich doch vorher auch irgendwo geschlafen haben muß, daß ich doch irgendwo gewesen sein muß, wo ich geträumt und gegessen habe und wach war, denn ich kann mich erinnern an meine Gedanken als Kind, aber mir will nicht eingehen, wie ich die Verbindung herstellen soll zu meinem heutigen Weg durch diese Stadt, die mir gar nicht so unbekannt ist in ihrer Anlage, aber so fern in ihrer Art. Ich nehme den Mantel von der Schulter, um besser an den Blättern vorbeizustreifen, und da klimpern die Münzen in der Tasche. Woher habe ich denn die? Ich weiß gar nicht mehr, ob die hier von Nutzen oder vielleicht sogar von Schaden sind. Ich kann diesen Bogen nicht in meinem Bewußtsein ziehen, ich bin gegangen und auf diesen großen Platz gelangt, habe auf der Wartehausbank gesessen. Gekommen bin ich eine breite Straße entlang, aber von wo und wieso ... Ich greife das Brot in meiner anderen Tasche an, und das reißt mich [30] aus meinem Sinnen wieder heraus in die Bereiche des Körpers. Ich trete ein in ein Vorhaus, ein mächtiges Gewölbe, enthoben des drückenden Gewichts durch das schimmernde Glas, das hier herinnen sich öffnet in vielfältig bunte Lichtbrechungen dem Himmel zu. Das Langhaus ist oben nicht rund, sondern bildet der Mitte zu ein Grat, wie eine scharfe Linie hinaus in das Universum, ein Pfeil, der erglänzt in Glas, vor dem Abflug in sich verharrend, in den Türmen seine vermutliche Richtung nehmend, gegen den Himmel. Nur der eine abgebrochene Turm, der erscheint wie ein Rauchfang.
Herunten am Boden, na ja, sehr kirchlich sieht es eigentlich da nicht aus. Ich merke, daß ich mich schon ein wenig eingefühlt haben muß in die Überraschungen dieser Stadt, oder vielleicht wird das Erstaunen dumpfer mit der zunehmenden Müdigkeit. Bänke sind da wenige. Im Vorhaus spielen drei Kinder Ball. Wer einen Fehler beim Fangen macht, muß auf einem Bein stehen. Das ist ein altes Spiel, ein Mädchen möchte allerdings Zehner spielen, nur weiß es nicht, wie das Vierer geht. «Jetzt machen wir weiter im Kreis. Wir haben ja schon vorhin Zehner gespielt. Hier fällt immer die Mauer herunter, ich bin schon ganz weiß. Der Staub beißt so», äußert sich der Junge ungeduldig. Er steht schlecht, weil er nur auf einem Bein stehen darf. Schade, ich hätte ihnen zeigen können, wie das Vierer geht. Unterm rechten Bein durch, soviel ich mich erinnern kann. Aber vielleicht ist es besser, sich nicht in ihre Sachen einzumischen, wer weiß, was die für Regeln haben für Besserwisser. Möglicherweise hätte ich mich aber mühelos ins Spiel mischen können, um endlich einmal hier mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Licht ist hier noch mehr, als ich vermutet hätte. Ein Licht, das dazu geeignet ist, Gefühle zu Wesen werden zu lassen. Ein Mädchen liegt auf einer Decke und wird von einem Burschen massiert. Langsam und bedächtig von den Schulterblättern über das Rückgrat. Ein heilsames Bild für meinen müden Rücken. Ich spüre ihn jetzt langsam. Ich muß weit gegangen sein, schon von dort her, wo ich aufgebrochen war. Lichtbrechungen unter einem unbekannten, riesigen Dach. Bekannte Lichtspiele aus einer bekannten Zeit, die das Mal der Unkenntlichkeit angenommen haben, wie eine geheimnisvolle Blume, um sie an das Herz zu stecken, um das Herz zu stechen ... etwas Herzstechen [31] kann ich spüren. Ob da Ruhe angebracht ist? Was mache ich denn sonst immer mit meinem Herz, wenn es sich rührt? Fast glaube ich, daß es sich schon lang nicht mehr gerührt haben muß, mein Herz. Ich gehe langsam vor zu einem Zentrum des Schiffs. Es muß ein Altar dort gewesen sein. Leute sitzen am Boden. Da - neben einem Mann liegt ein ausgewachsener mächtiger Löwe. Nicht aus Stein, keine Statue, kein Heiliger mit seinem heiligen Tier, ein richtiger Löwe, wie er in Afrika sich dehnt, wie er dort brüllt und die Mähne schüttelt. Dieser allerdings, der liegt eher so da wie die Gesellen in den Tiergärten. Still, satt und gedämpft, aber in seiner Verhaltenheit nicht weniger bedrohlich, in seiner Einsamkeit mächtig. Mir scheint fast, er lehnt den riesigen Schädel etwas an den Arm des Mannes, nicht um sich zu schützen, sondern um seine Zugehörigkeit zu zeigen und selbst eine zu fühlen. Dieser kleine Berührungspunkt an der Haut der beiden, diese kleine Stelle ist es, die mich diesem Bild gegenüber ruhig bleiben läßt, obwohl ich es nicht selbstverständlich finde. Das Gefühl, das in Prickeln und Wärme zu einer Empfindung wird zwischen zwei einander berührenden Hautstellen getrennter Teile, ist das Gefühl der Einigkeit, der Zusammengehörigkeit von allen erdenklichen Verschiedenheiten. Die Berührung der beiden Wesen greift über auf meines, das in Vertrauen mitspielt, so wie es mitgespielt hat bei der Vorstellung der Berührung des jungen Mannes mit der Haut des Mädchens, was auch mir in Gedanken das müde Kreuz massiert hat. Den alten Mann sehe ich auch wieder, er sitzt da in der Runde. Fleischreste liegen etwas seitlich bei einem Pfeiler. Der Löwe scheint wirklich sattgefressen zu sein. Gott sei Dank. Schließlich befinden wir uns ja auch in einer Kirche. Ich muß kurz an den Menschenaffen denken auf dem Balkon. Der ist ja kein Fleischfresser, soviel ich weiß. Ob die Menschen hier Fleischfresser sind oder Vegetarier? Die Frage ist aktuell, weil ich etwas weiter hinten einen Kessel sehen kann, aus dem es dampft. Der Topf steht unter dem Kirchenrauchfangturm. Sehr geschickt. Feuer sehe ich allerdings keines, obwohl Aschenreste um den Kessel verstreut sind und Holz in einer Ecke gestapelt liegt. Ist es nach einer Mahlzeit? Oder noch nicht? Ich fühle wieder an mein Brot in der Tasche, aber ich will damit nicht auffallen, hier ißt jetzt niemand.
Die Runde, das zusammengerückte Menschenfeld, es sind etwa zehn, die da beisammmensitzen auf den Stufen des Altars oder an die Wand gelehnt, irgendwie abgestützt, bequem gemacht, auch der [32] Löwe, aber den habe ich bei den Menschen nicht mitgerechnet. Hoffentlich ist er mir darüber nicht gram. Vom Altar ist nichts mehr vorhanden als ein wunderschön geschnitzter Stuhl, auf dem ein kleiner Junge sich breitgemacht hat. Das muß für einen Bischof oder für einen Kardinal gewesen sein, weil roter Samt die Flächen und die Armlehnen überzieht. Vermutlich würde ich aber auf diesem Stuhl mein Kreuz gar nicht besonders gut ausgeruht haben. Solche Stühle haben Tücken. Den drei Kindern ist der Ball weggerollt. Sie laufen näher und klappern arg auf den Kacheln. In einer Vertiefung in diesem schadhaften Boden bleibt der Ball liegen. Er rollt aus in einer immer rascher werdenden Bewegung, um dann still liegen zu bleiben. Erschöpft. Der kleine Junge im Kardinalsstuhl ist das nicht, er springt auf, holt den Ball und läuft mit den drei Kindern zum Vorhaus zurück. Eine Überwachheit hat sich meiner bemächtigt, die ich mit Anspannung aufrechterhalte. Offenbar möchte ich sie nicht aufgeben, um mich hier in diesen unbekannten Zonen nicht dem Schlaf oder der Ohnmacht auszuliefern. Die Ungewisse Angst befiehlt mir, Beherrschung zu bewahren. Ich kann dafür nicht mehr tun, als zumindest die Bilder und Eindrücke, die sich mir bieten, zu bemerken, zu reflektieren und vielleicht nicht zu verlieren. Jeder Mensch weiß, was das für ein aussichtsloses Unterfangen ist. Die Kirchenwände sind eigentlich ganz abgeräumt. Nackt sind sie. Die rohen Steine tun meinem heißen Hirn wohl, so als würden sie es in ihrer Einfachheit kühlen. Sie geben mir keine Rätsel auf, wenngleich vielleicht sie es sind, auf die wohl alle Rätsel hinauslaufen. Vorne sind jetzt keine Leute mehr zu sehen, außer die Kinder und das Paar, das sich jetzt mehr in eine Ecke gedrückt hat, als wollten sie von dort für heute nicht mehr aufbrechen. So ruhig, wie ich hier beobachte, Stück für Stück, so gefaßt bin ich eigentlich nur mehr an der Oberfläche. Ich rutsche mit dem Rücken einen Pfeiler langsam hinunter und setze mich, mit einem innerlichen Aufschluchzen, nicht direkt in die Runde, aber doch mehr oder weniger zu der Gruppe. Vor allem mit dem Blick auf den Löwen, der noch immer in leiser Berührung mit seinem Herrn in derselben Stellung ruht. «Der Junge vom Fred ist vorgestern gestorben. Er ist eine ganze Woche krank gewesen. Es war schwere Blutvergiftung.» [33] Ein hellblonder Mann mit auffallend dichtem Haar und einem Gesicht, das eine Spur zu freundlich aussieht, als daß es mich nicht bedenklich stimmen würde, sagt das so dahin, in einer kleineren Gruppe von vieren, die aber zu den anderen dazugehört. Auch die übrigen horchen auf. «Diese Schnittwunde? Ich habe sie gesehen, als er das letzte Mal hier war. Bös hat das ausgesehen», sagt der Mann neben dem Herrn des Löwen. «Du hast es auch gesehen, Mirja - wolltest du nicht irgendwie versuchen ...» «Ja, ich habe kurz daran gedacht, die Wunde auszusaugen, aber das hilft ja nur bei Bissen. Pero wollte gar nicht, er klagte nicht einmal über die Schmerzen, obwohl er ja kaum noch gehen konnte», sagte eine Frau in mittlerem Alter, rötlich, kräftig im Gesicht und in der Haltung. Sie gefällt mir, sie bewegt sich mit so einem bescheidenen Stolz. Sehr zugänglich und warm mutet sie mich trotzdem nicht an. Wahrscheinlich ist es die Diskrepanz von Bescheidenheit und Stolz, die ihr eine kleine Ecke in die Kräftigkeit schlägt. Der blonde Mann weiß noch zu berichten, obwohl er nicht als ein besonders Betroffener oder Eingeweihter erscheint: «Fred hat kurz daran gedacht zu schneiden, aber er wollte eigentlich nicht recht, und Pero schon gar nicht. Er meinte, er würde noch selbst aufs <Sanatorium> hinaufgehen,
obwohl er ja gar nicht mehr konnte. Er war tapfer, der Bub, was hätte er denn im Sanatorium tun sollen. Ist ja ein Witz, er hat es einige Tage vorher schon genau gewußt.» Mirja wendet sich jetzt direkt an den alten Herrn mit dem Stock, der gut für mich sichtbar ist, auf dem obersten Absatz der Stufen bei dem Kessel, aus dem es jetzt nicht mehr raucht. Er ist eigentlich im Gesicht noch gar nicht so alt, vielleicht an die Sechzig. Graues Haar fällt ihm strähnig ins Gesicht, er ist aufgedunsen und schlaff zugleich, mit einem schweren Körper. Von der Ferne draußen hatte der Mann etwas Herrenhaftes gehabt, was ich hier nicht mehr ganz in dieser Form finden kann, obwohl der ausgeronnene Leib eine gewisse Würde hat. Ich habe Vertrauen zu diesem Menschen, der nicht so künstlich wie der freundliche Sprecher wirkt. Der Alte kommt meiner eigenen Müdigkeit nahe. «Wolltest du nicht auch aufs Sanatorium? Du hast vor einiger Zeit so etwas gesagt?» [34] Der alte Herr, und jetzt, in seiner Überlegenheit vor dem Sprechen, ist er wieder ganz so einer geworden, dehnt sich etwas und rückt sein Bein, das er nicht mehr ohne die Hilfe seiner Hand zum Körper herziehen kann, näher zu sich und spricht langsam, so als würde er das mit sich auch oft in derselben Art tun: «Ja, ich denke schon längere Zeit daran. Es ist nicht nur des Beins wegen, mein Herz macht auch Seitensprünge, manchmal setzt es überhaupt aus, nachts, wenn ich allein liege. Ich denke manchmal, daß es mir leichter wäre, mit den anderen zusammen, obwohl ich da gar nicht so sicher bin. Ich komme seit langer Zeit allein gut zurecht, mir ist das Leben allein angenehm geworden. Nur jetzt, wo die Schmerzen so oft auftreten, möchte ich eigentlich nicht mehr so recht, und das habe ich mir immer als ein Zeichen einprägen wolllen, dann langsam dran zu denken, daß es aus sein darf.» Er ist immer bedächtiger geworden, aber in sich sicherer und bestimmter. Er hat sich während seiner Rede auch körperlich aufgerichtet und strahlt jetzt fast eine Heiterkeit aus, die auf die anderen übergreift, wie das so geschehen kann, wenn einer imstande ist, in tiefster Ruhe sich selbst achtend inmitten seiner Zwiespälte zu leben, die er als menschliche erkannt hat. Der junge blonde Mann ist über der Rede des Alten ganz ernst geworden. «Ich nehme mir nicht vor zu gehen, vielleicht geschieht es hier. Jedenfalls, wenn ich hier sterben sollte, begrabt mich irgendwo, damit ich nicht zu sehr stinke.» Die Leute lachen. Ich nicht, aber mich löst diese Stimmung von meiner Müdigkeit, und ich richte mich etwas auf und rücke näher zu dem Blonden hin. Der macht sogar ein wenig Platz und sieht mich an, ohne sich zu wundern, daß ich hier bin. «Ist im Kessel noch was drin? Wir sollten es essen. Morgen ist das Gemüse wieder ganz ausgelaugt», gibt der Mann neben Mirja zu bedenken. Er ist nicht freßsüchtig, er ist sogar ausgesprochen mager. Ausgehöhlt wirkt er, aber nicht ungesund. Vielleicht kann er sich seiner Knöchernheit wegen leisten, so ruhig neben dem Herrn des Löwen zu lehnen. Gefräßigkeit hat allerdings nicht jedesmal mit dem Körpergewicht zu tun. Der Löwe liegt noch immer sehr gewichtig in der alten Lage. Das Löwenherrchen ist eigentlich ein Riesenmannsbild mit einer Mähne ähnlich der seines Schützlings. Ob diese Machtverhältnisse [35] hier zutreffen, weiß ich eigentlich nicht, jedenfalls sagt er mit tiefer Stimme: «Morgen wird es aber wahrscheinlich kein frisches Wurzelwerk geben, auch Fleisch nicht. Ich bekomme nur die Reste für ihn», und er nimmt an, daß jeder weiß, wer der Ihn ist. Mir ist auch recht, wenn dieser Ihn sein Fleisch bekommt, solange ich mich hier befinde. Mirja erkundigt sich etwas klagend: «Läßt der Rosner jetzt auch schon das Rübenfeld auf? Jetzt hat er erst das große verwahrlosen lassen, und dann gibt es nicht einmal mehr Karotten. Wir werden mehr Kartoffeln verwenden, das macht die Suppe dick und nahrhaft. Kartoffeln haben Vitamine, genauso wie die anderen Gemüse, das geht auch. Brot haben wir heute keines mehr, aber die Suppe sollten wir nicht aufheben, auch wenn es
morgen keine geben wird.» Ich denke an mein Brot in der Tasche, aber ich lasse es drinnnen, weil es ja für alle zu wenig wäre. «Ich wärme sie jetzt nicht mehr. Ich krieg das Feuer nicht mehr hin», sagt ein Mann mit einer Mütze über kohlrabenschwarzem schulterlangem Haar. Er trägt so einen Anzug, wie ich ihn bisher nur an Frauen bewundert habe, einen von diesen weichen. Es ist allerdings eindeutig ein Kleidungsstück wie für ihn geschnitten, auch in schwarz. Irgendwie sieht das eitel aus, aber nicht unangenehm. «Kalte Suppe, nein, mir nicht», regt sich der Blonde neben mir auf, geht zum Kessel und beschäftigt sich dort mit dem Holz. Eine Lücke klafft neben mir, und ich falle allen auf als eine, die noch nie da war. Niemand fragt mich aber. Ich zupfe ein wenig an dem Schlafsack, der da liegt, nur um meine Augen hinunterwenden zu können. Ich fühle mich nicht ganz wohl. Außerdem müßte ich pinkeln, mich drückt die Blase, aber ich will jetzt nicht weg, ich könnte mich dann nicht mehr so mühelos hier eingliedern. Zu allem Überfluß an aufkeimender Unruhe regt sich jetzt der Löwe, verändert seine Lage, vermutlich, denn ich sehe mit Absicht nicht auf. «Verdammt, ich krieg das Feuer auch nicht mehr hin», schreit der Blonde dort hinten, und ich erschrecke nun völlig bis in meine pralle Blase hinein, denn ich habe die Vermutung, daß diese überraschende Änderung der gewohnten Lautstärke der Gruppe den Löwen aufschreckt, was sich allerdings als falsche Befürchtung erweist. «Essen wir sie eben doch kalt», weiß einer ordnend einzuwerfen, und alle erheben sich, um näher zum Kessel zu gelangen. So als hätte ich gar keine andere Möglichkeit offen, ziehe ich mit. Die Gruppe ist [36] zusammengerückt kleiner, als ich vorher übersehen konnte. Der Löwe trottet mit. Ich weiß nicht, ob der seine schlappige Zunge in den Kessel tauchen wird, oder ob er nicht gewöhnt ist mitzuschmausen. Wie es sich erweist, ist die Sache aber gar nicht so primitiv, wie ich sie erwartet habe. Hinten aus dem Rest eines Altarkämmerchens holt der mit der Mütze Teller und Löffel hervor. Er teilt sie aus, und mir schwappt die Blase vor Rührung fast über, wie selbstverständlich gibt er auch mir einen Teller und einen Löffel. Er muß mich im Geiste mitgezählt haben, er muß mich gesehen haben und mich angenommen haben, ohne mich zu fragen, ob ich auch berechtigt sei, da zu sein auf dieser Welt. So machen das vielleicht auch alle anderen hier schon die ganze Zeit, und ich kämpfte mit meiner vermeintlichen Ausgeschlossenheit. Ich ziehe mein Brot hervor, reiße es auseinander und gebe den Brocken weiter. So klein ist es eigentlich gar nicht. «Sie hat Brot von der Frau Frohner!» Der Blonde erkennt es. «Die macht es immer ganz besonders knusprig», und er beißt herzhaft in seinen Teil hinein und ist wieder erlöst von seinem Ungeschick mit dem Feuer. Jeder bekommt mit einem großen Schöpfer einen Tellervoll, es handelt sich um eine Art von Gemüsesuppe. Auch Fleisch muß mitgekocht haben, nur kann ich keines finden. Wahrscheinlich haben sie das zu Mittag schon rausgefischt. «Sollen wir nicht noch die Kinder rufen, bevor nichts mehr da ist?» gibt der Schwarze zu bedenken. «Laß sie, außerdem sind sie gar nicht mehr da. Die haben sich ohnehin schon vorher vollgegessen. Wenn sie nur nicht wieder zu diesen Motorrädern gehen, eine gräßliche Sache, daß die gerade hier ihr Unwesen treiben müssen. Wenn ich nur wüßte, wo die den Treibstoff noch auftreiben, ich würde es auf mich nehmen, ihnen total den Hahn abzudrehen, selbst wenn es zur Gewalttätigkeit kommen würde. Ich kann diese Typen nicht ausstehen!» Der Magere ist ganz aufgeregt, sein Gesicht schimmert rötlich, er kniet jetzt und fuchtelt während seiner Haßbeteuerung mit dem Löffel in der Luft herum, so daß ich wieder ein wenig den Löwenhorror kriege. Fast knie auch ich schon, mit Wachsamkeit
allerdings. «Laß nur, iß lieber. Wenn die überall anecken, werden auch sie weniger. Langsam eben nur. Diese Haltungen lösen sich nur nach und nach auf. Mit Gewalt ist da nichts. Ich bin froh, daß wir alle Kontrollbehörden [37] endlich los sind. Es hat ohnehin lang gedauert, bis die letzten aufgehört haben zu glauben, sie wären dazu berufen, Ordnung zu schaffen. In den Menschen können diese Zwänge so eingefressen sein, als sei es ihr ganzes Leben», meint ein junger Mann, den ich bereits kenne und der ganz leicht in die ihm offenbar bekannte Gruppe hineingleitet, genauso wie er sich in das Gespräch eingefügt hat. Es ist dieser Mann mit dem Overall aus dem Pferdewagen, den ich mit den Kindern an der Bank gesehen habe. «Ist es auch», sagt der alte Herr bedächtig, während er ein hartes Wurzelstück aus dem Mund nimmt und genau besieht. «Was ist auch?» erkundigt sich neugierig das Mädchen, welches nun auch hier ankommmt, hinter sich einen der großen Säcke ziehend, die sie aus dem Bankgebäude geholt hatten. Sie war es auch, die mich aus der Ferne so angesehen hatte. Die beiden setzen sich in die Runde dazu. Der Sack bleibt an eine Säule gelehnt. «Ihr ganzes Leben ist das. Manche glauben, Arbeit sei das Ganze. Je mehr arbeiten - um so weniger sterben, weil, da denkt man nicht daran. Es ist erstaunlich, daß noch immer solche Vibrationen in der Luft liegen», vervollständigt Mirja die Überlegung des Alten. Der Blonde meint: «Wo ist denn heute Pollux? Auch schon abgegangen ins Sanatorium?» Die Teller und die Löffel klappern. Tief und guttural, so als sei er selbst ein Tier, kommt es dem Löwenmann aus der Kehle: «Der ist von dem Kleinen nicht loszukriegen. Er trägt ihn den ganzen Tag spazieren. Der Kleine hängt auch an ihm.» «Daß Kate das so will. Ich glaube, ich wäre da schon ein wenig ängstlich», meint Mirja, während sie und auch die anderen langsam das Mahl beenden. Der Schwarze sammelt die Teller und Löffel ein. Er stellt sie inzwischen außerhalb der Runde ab. Der Magere sieht den Rauchfang hinauf. Niemand sagt etwas, aber ich weiß, daß er die Dunkelheit meint, die langsam herniedersinken will. Es wird allerdings nicht kälter, daher stört sie auch nicht. Man kann immer noch genug sehen. Seinem Blick folgend, habe ich an einigen Säulen etwas Kienspanartiges entdeckt, und auch Kerzen stehen herum, jedoch denkt niemand daran, Lichter anzuzünden. Mir ist das auch lieber so. Der Löwe regt sich wieder. Ich hatte ihn fast vergessen. Möglicherweise [38] war ich so in eine Beruhigung versunken, wie ich sie nach dem heutigen Tag verdient zu haben scheine, daß ich jetzt wieder aufschrecke. Auch die anderen richten sich wieder hoch. Der Löwenmann legt die Hand besänftigend auf den Schädel des Tiers. Mich beruhigt diese Bewegung kaum. Ich würde auch jemanden brauchen, der mir die Hand auflegt. Langsam um sich schauend, den mächtigen Hals umwendend, sich in der Mähne leicht schüttelnd, erhebt sich der König auf die großen Tatzen, die trotz ihrer Wuchtigkeit etwas Sanftes haben. Sein Körper ist überraschend schmal im Gegensatz zur Mähne und zu seinem Kopf. Ich habe noch nie bemerkt, daß Löwen, deren Mähne wie ein dichter Haarschopf prangt, mehr etwas Menschenähnliches im Gesicht haben als etwas Hauskatzenähnliches. Bei allen großen Wildkatzen kann man sich auch ein kleines Kätzchen daraus zimmern, falls es sich hinter Gittern befindet. Dieser Löwe aber wird mir vor den Augen zu einem Menschen, und zwar genau zu demjenigen seines Wärters. Die Krallen kratzen leicht auf dem harten Boden, als er sich jetzt bedächtig umwendet und zielsicher zu den Fleischresten hin bewegt. Dort hockt er sich auf den Hintern und
beißt, reißt und kracht. Manchmal nimmt er die Pfoten zum Maul und leckt sie. So genau kann ich das aber nicht sehen, weil er ja mit dem Rücken zu mir sitzt. Ich sehe den Schwanz mit der Quaste zucken. An seine Augen kann ich mich gar nicht mehr erinnern, ich glaube, sie waren ziemlich verdeckt von dem Wuschelhaar. «Was hast du denn eigentlich mit den Giftschlangen gemacht, die hast du doch zuletzt so schwer losgekriegt?» fragt der Schwarze den Löwenmann. Der braucht immer so lang, bis er sich zu Worten entschließt. Er fährt sich mit der großen Pranke durch seine Mähne und artikuliert wieder tief hinten: «Die hat einer vom Süden genommen. Er züchtet sie. Er wohnt allein draußen ... Ich werde mit den Tieren auch gehen. Ich habe mir das Gelände schon angesehen. Am Fuß der Berge. Dort ist es für die beiden besser. Hier hätten sie ja gleich im Tiergarten bleiben können. Tiere gehören nicht zwischen Häuser. Die Menschen haben auch kein Vertrauen zu ihnen, ich muß immer wieder bemerken, daß wir Unruhe stiften. Es sagt niemand etwas, aber ich kann das spüren.» Soviel hat dieser Mann vielleicht seit langem nicht mehr [39] hervorgebracht, soviel Zusammenhängendes in Worten. Auch die anderen haben aufgemerkt. Ungewohnt scheint ihnen seine Ausführungsfreudigkeit. «Aber es kann dir doch niemand etwas vorschreiben. Keine Instanz kann dich nötigen. Du hast ja immer hier in der Stadt gelebt. Den Tiergarten hättest du nicht mehr weiterführen können, wer sollte denn das organisieren, nachdem niemand mehr mitgetan hat. Der Affe ist ja beinahe nützlich, an den hat sich doch jetzt schon ein jeder gewöhnt», meint der Blonde. «Nein, ich hätte den Tiergarten auch selbst nicht mehr weitermachen wollen. Ich hätte gar nicht genug Fressen für die Tiere gehabt, und dann auch, für mich war es schwer, ich habe bis zuletzt geglaubt, daß ich meine Arbeit jeden Tag zur selben Zeit gern mache, aber eigentlich war das gar nicht so, ich habe mir das genau überlegt, ich werde dort draußen mit ihnen wohnen.» Das Tier schleckt sich geräuschvoll das Maul, sucht noch einmal an den Knochen herum und kommt dann wieder zu seinem Herrn, legt sich wie zuvor und nimmt wieder diese Berührungsstellung ein, die ich als beruhigend empfinde. Der Schwarze verschwindet hinter dem improvisierten Geschirrschrank, und ich höre, wie dort eine Tür aufknarrt. Mirja erinnert sich: «Elmar hat, glaube ich, noch am längsten gearbeitet in seinem Werk. Es hat sich dann verhältnismäßig locker aufgelöst, aber das ging nicht so von heute auf morgen. Die Leute sind gehangen wie mit Eisenklammern an ihrer regelmäßigen Tätigkeit, obwohl schon nichts mehr gebraucht wurde von dem Zeug. Viel böses Blut hat das aufgewirbelt, noch lang nachdem äußerlich alles zusammengebrochen ist. Die Rulla kennt das gar nicht mehr.» Mirja sieht zu dem Mädchen hin und lächelt. «Der Sack mit dem Brot ist voll. Wir haben auch Wurst, aber die bringe ich erst morgen», erklärt das Mädchen, und dabei sieht sie wieder zu mir her, genauso wie auf der Straße, ungehindert in mich hinein, nur näher diesmal, viel näher. «Na also, sind wir morgen wieder gerettet und versorgt», tröstet der Schwarze, der jetzt zurückkommt. Er muß die Worte des Mädchens noch gehört haben. Mit der Tür hat er allerdings diesmal nicht geknarrt. Er richtet sich das Gewand, so als sei er auf dem Klo gewesen. Wunderbar! [40] «Ich werde vielleicht die Späne anzünden, damit es nicht so dunkel ist», sagt er. «Ich mach schon», sagt Mirja, während draußen ein Brummen, das sich rasch in höhere Tonlagen schraubt, ertönt, zeitweise aufbrüllt, um wieder gleichmäßig vor sich hinzudröhnen. Es kommt näher, während sich der Magere aufrichtet, zugleich mit dem Löwen. Jetzt ist mir die Dunkelheit ein Druck auf meine Gelassenheit, und meine Angst, die ich
den ganzen Tag in der Kehle gespürt habe, schwillt wieder im Hals hoch. Auch die anderen gehen in Hockstellung über, aber mehr so, als wollten sie den Mann beruhigen, falls er es nötig hätte. Das Dröhnen ist eindeutiger Herkunft und, wenn ich recht hinhorche, sicher nicht das von nur zwei Maschinen, die ich vorher gesehen habe, sondern mindestens von vier oder fünf Stück, es dringt wie ein Bohrer von oben durch den rauchfangähnlichen Turm herein, um sich im Kirchengewölbe wie ein Orgelklang auszudehnen und alle Luftteile in Schwingung zu versetzen. Das teilweise schadhafte Glas klirrt auf, aber man kann nicht orten, an welchen Stellen. Der Löwe beginnt zu rollen, aus seinem Inneren heraus, er sitzt jetzt hoch aufgerichtet, ohne seinen Herrn zu berühren. Der Magere schreit in das Brausen hinein, das offenbar nicht abebben kann, weil es um die Kirche kreist und überall ein Motor brüllt. «Licht, macht endlich Licht!» Er ist aufgesprungen und reißt jetzt dem Mädchen etwas aus der Hand, während er dicht an dem Tier vorüberrennt. Der Wärter legt beruhigend seine Hand in die Mähne des Tiers, will auf es einsprechen, doch da ist nichts zu hören. Der Löwe ist auch nicht bereit, sich wieder zu legen, er bewegt sein Knurren schon im Maul, braut es zusammen, um dem Brüllen der Rasenden zu antworten, da reißt er in einem plötzlichen Anfall von Geschwindigkeit und Kraft seinen Körper herum, der wendiger ist als dieser mähnenträchtige Schädel, dann fetzt er mit der Pranke durch die Luft und erwischt die rechte Kopfseite des Mageren, gerade als Mir ja einen Kienspan entzündet hat und dabei einen Funken auf den Rücken des Tiers gebracht haben muß. Nichts brennt, nur der Span, aber der Konflikt in Form von reißender Bedrohung flammt auf als Übergang zu dem Abflauen des Dröhnens von außen. Der Löwenmann schmeißt sich vor sein Tier, direkt vor das Maul in die Pranken hinein, so liegt er da, für einen Augenblick vor dem verharrenden, schwer beunruhigten König, während mit [41] einemmal Stille herrscht, nur in der Ferne ist das Motorengeräusch noch zu hören. «Ich habe immer schon Angst gehabt, daß einmal so etwas passieren könnte», sagt der Blonde neben mir jetzt leise, während der Löwe sich zu seinem Herrn hinunterbeugt und langsam dessen Arm zu lecken beginnt, während er jedoch immer wieder aufsieht und beunruhigt lauscht. Das Bündel unter der Säule bewegt sich, während es aufstöhnt, es ist der verletzte Magere, der nun hocken bleibt, sich die Hände an die Kopfseite preßt, in brennendem Schmerz gebannt, sich tonlos nur dann und wann innerlich schüttelnd. «Ihr könnt schon herkommen», meint der Wärter, während er vor dem Tier noch liegen bleibt. Mirja und der Schwarze bewegen sich langsam mit dem Licht zu dem Verletzten hin. Stille breitet sich über die Spannung, die wie aufrecht steht, umflackert von einem Kienspan. Mirja wischt sorgsam, der Verletzte will abwehren, aber er läßt sich dann besehen, während er immer wieder seine Hand unter Stöhnen auf sein Ohr pressen will. Der Schwarze hält ihn sachte zurück, und Mirja meint: «Es scheint nur die Muschel gerissen zu sein, das Ohr selbst ist heil, soviel ich bei dem Blut sehen kann, außerdem ist hier zuwenig Licht, Rulla, mach doch einen Span an und bring ihn her, aber paß um Himmels willen auf das Vieh auf!» Der Löwenmann erhebt sich, mit ihm das Tier. Sie bleiben kurz stehen, aufgerichtet, höher als die Knienden, beide mächtig in ihrem Schädel, nehmen wieder diese sachte Berührung auf, diesmal ist es die Hand auf dem Rücken des Königs, und trotten tonlos und langsam dem Kirchenausgang zu. Eine Wolke an Bedrohung hebt sich mit ihnen hinweg. Rulla leuchtet. Sie meint, sich selbst beruhigend: «An der Ohrmuschel ist nicht so viel Blut, es ist weniger, als ich gedacht habe.»
«Es ist doch besser, wenn sie weggehen. Es wird ihm ein Anlaß sein, den Entschluß zu treffen. Auch der Affe hätte ja gefährlich werden können. Mir ist im Grunde nie ganz wohl gewesen bei seinem Auftauchen. Den Löwen habe ich da noch weniger gefürchtet», sagt der Mann im Overall. Man stimmt ihm durch Murmeln zu, nickt, und die [42] Stille tritt wieder ein, während sich die beiden noch immer um den Mageren bemühen, der jetzt schon imstande ist zu stammeln: «Der Löwe, der war es gar nicht, diese Idioten mit den Motoren ...» Rulla stößt mit einem Lachen hervor: «Der Löwe war es schon. Die Frau Frohner hat so Blätter, die sie auflegt auf Wunden, soll ich welche holen?» Ihre Frage geht unter in einem ungehemmten Schmerzgeheul des Mageren. Mirja hört auf zu hantieren, so als könnte sie nicht mehr für die Heilung des Ohrs tun. Ich sehe jetzt erst, daß sie den Schädel des Mannes mit einem weißen Tuchstreifen verbunden hat. Er bleibt an die Säule gelehnt, während die beiden Helfer wieder zur Runde zurückkommen. «Er sollte vielleicht heute nicht hierbleiben. Er muß das aber selbst noch beurteilen. Vielleicht ist die Sache nicht so schmerzhaft auf die Dauer. Desinfizieren könnten wir noch, sonst weiß ich eigentlich nichts. Die Muschel müßte wieder anheilen, das Ohr scheint innen wirklich nicht beschädigt zu sein. Er muß ihm mit der Pranke nur einen kleinen Wischer gegeben haben, und das im Umdrehen und nicht im Angriff, denn sonst hätte die Sache anders ausgesehen», urteilt der Schwarze. Mir ist die Ordnung dieses Stützpunktes hier nicht ganz durchsichtig. Da gibt es Schlafsäcke und Menschen, die immer wieder auf ein und demselben sitzen und sich dorthin wie zu einem eigenen Platz begeben. Möglicherweise ist da auch so etwas wie ein Klo, denn der Blonde ist auch schon einmal in dieser knarrenden Tür verschwunden und bald wieder zurückgekommen. «Ich lege die Teller ins Wasser, dann krusten sie nicht an», meint der Schwarze umsichtig und macht sich hinten in der Dunkelheit zu schaffen. Eigentlich eine ordentliche Gesellschaft, trotz der Unübersichtlichkeit. Mich hält es jetzt nicht mehr. Die Ordnung in meinem Körper verlangt einen Abfluß, nachdem ich lang nicht gepinkelt habe. Ich bewege mich so unauffällig wie möglich auch nach hinten zu dieser Tür. Ich hoffe im geheimen, daß der Schwarze, der da noch in einem Schaff werkt, für mich dieselbe Aufmerksamkeit entwickeln würde, wie schon beim Austeilen der Teller, falls ich in meiner Annahme, dort hinten ein Klo zu finden, falsch ginge. Und wirklich, er deutet mir unverkennbar mit der Hand die Richtung und nickt dazu, so als würde er meine unausgesprochene Frage bestätigen. Er [43] muß Platz in seinem Ich haben zu bemerken, daß ich noch nie auf diesem Klo gewesen sein kann. Diesen Freiplatz, den er mir in seinem Bewußtsein schenkt, fülle ich mit Vertrauen, und das er mich nichts fragt, macht ihn mir beruhigend und angenehm. Selbst die Mütze, die ich am Anfang etwas lächerlich gefunden habe und die er bis jetzt nicht abgenommen hat, stört mich nicht mehr. Die Tür knarrt. Dahinter ist ein Raum mit einem Wasserbehälter, so einem ähnlichen, wie er als Geschirrschaff dient, nur etwas kleiner. Eine andere Tür führt zu einem Brett, auf das man sich setzen kann oder vielleicht sich lieber nicht setzen sollte, und unten ist eine Grube. An der Wand kann ich aber genau erkennen, daß hier ein Spülkasten gehangen haben muß. Die Befestigungshaken sind noch zu sehen, und die Wand zeigt die Randspuren des Kastens. Ein kleines Fensterchen führt auf die Straße. Es ist offen. Es ist höher oben gelegen, und ich kann nichts sehen, es scheint schon recht dunkel draußen zu sein. In der Erledigung meines Geschäfts bin ich ganz eins mit diesen Umständen hier und mit meiner eigenen Lage, denn wenn man schon so sehr mußte wie ich, scheint Pissen und Kacken die Erlösung von allen Übeln dieser Welt zu sein. Wieder in dem Vorraum, sehe ich jetzt eine emaillierte Klomuschel in einer Ecke liegen, abmontiert, nicht mehr vonnöten, weil keine Spülung vorhanden ist. Ich benütze auch das vergilbte Papier, von dem ein Packen daliegt. Ich überlege kurz, wasche mir aber dann doch die Hände. Beim
Hinausgehen knarrt die Tür nicht. Wieder zurück, sehe ich bereits die Menschen erhoben, einige wollen gehen. Wo werde ich bleiben? Kann ich bleiben, und wo? Ich habe mich so sehr in die Gruppe hineingelebt, daß ich mich geborgen in ihr fühle, obwohl ich keine Ahnung habe, wer diese Menschen sind, und jetzt, da sie vielleicht aufbrechen wollen, wer weiß wohin, bin ich wieder in meine schutzlose, mir selbst so fragliche Lage zurückversetzt. Fast gestoßen fühle ich mich. Ich kann nur hier stehen und mit einem letzten immer dünner werdenden Hoffnungsfaden auf irgendeine Klärung oder zumindest auf eine Möglichkeit warten. Eben dieser Gedanke breitet sich in meinem Kopf aus, bringt mir meine eigene Körperwärme wieder etwas ins Wallen. Ich kann ja hierbleiben, über Nacht in der Kirche, irgendwo, und schlafen. Das ist immer noch besser als draußen. Es ist meine Sache, ob ich fortkomme oder hierbleibe. Ich muß ja [44] nicht weg, fürs erste zumindest nicht. Zumindest - zumindest, und das bleibt in mir hängen, als würde ich an diesem Wort vor Müdigkeit anfrieren. Meinen Mantel habe ich ja auch noch, jetzt ist es gut, daß ihn mir die Frau wiedergebracht hat. Ich sehe, daß es noch um den Verletzten geht, der allerdings schon steht. «Gehen wir zur alten Erwa, die hat Mittel, den Schmerz zu lindern. Die gibt es nicht auf, immer wieder hinauszuziehen und Kräuter zu sammeln. Manchmal ist es von Nutzen. Kannst du dich bewegen?» fragt Mirja. Er gibt keine Antwort, er fängt zu gehen an, sich immer noch die eine Schädelseite haltend. «Wir gehen mit. Schläfst du heute hier?» fragt sie den Blonden. «Nein, ich werde nicht bleiben», überlegt er kurz, während er schon die Antwort gibt. Alle gehen eigentlich jetzt, der Schwarze und Mirja, der Magere und der Blonde, der Löwe und sein Herr sind schon weg, das Mädchen Rulla und der Mann im Overall gehen auch. «Ich werde heute hierbleiben. Mir ist vom Herzen nicht gut. Vielleicht war die Geschichte für einen alten Mann wie mich doch ein wenig zu aufregend. Bis morgen habe ich mich schon wieder erholt. Ich möchte jetzt nicht mehr durch die Straßen. Ich sehe in der Dunkelheit nicht mehr so gut. Ihr habt ja noch Augen wie die Katzen», meint der Alte. «Heute ist's genug mit Katzen», lacht Mirja. Ich sehe sie aufrecht stehen im Schein des Lichts und erkenne, daß sie wohl gar nicht mehr so jung ist. Sie kann schon über vierzig sein. Irgendwie kann man bei diesen Menschen hier das Lebensalter nicht leicht schätzen. Ihre Art zu atmen, ihre Bewegungen wirken meist jünger als ihre Gesichter und ihre Gestalt in Ruhe. Nur der alte Herr, der erschien mir bei seinem Eintritt in das Gebäude noch älter als jetzt, selbst wenn er über Schmerzen klagt. «Ihr könnt euch die Schlafsäcke nehmen, es wird in der Nacht kühl», bietet der Schwarze an, und ich weiß jetzt schon, daß er sowohl den Alten meint als auch mich. Meine Nacht wird eine gute sein, nur deswegen, weil ich auf eine Reaktion gestoßen bin, die ursprünglicher ist als eine äußere Ordnung oder eine sichernde Klarstellung von Lebenslagen. Mirja tritt noch einmal heran, um die beiden Säcke aufzufalten und [45] sie etwas zu rücken, sie lächelt noch kurz und geht mit den anderen. Die Bewegung scheint dem Verletzten mehr Mühe zu machen, als anzunehmen war. Man kann auch vor Schmerz ohnmächtig werden. Das scheint es nicht zu sein. Aber vorne beim Eingang höre ich ihn noch einmal aufstöhnen, und dann wird es leiser. Mit dem alten Herrn im Gewölbe allein fällt meine ganze Unsicherheit schwerer auf mich zurück. Sie tritt so deutlich in diesem Gewölbe heraus, sie tritt auf, und ich kann sie nicht verbergen, weil es so hallend leer ist. Die Schmerzenslaute hängen noch so sehr in der Halle zwischen uns, tiefer in uns, als die eigene Angst. Ich kann nur hilfesuchend den
Alten ansehen und eine Ausrede gebrauchen, sie ist meine einzige Rettung vor dem Nichts im Dunkel: «Kann denn kein Arzt ihm helfen? Man müßte doch da irgend etwas tun können ...?» Der Herr, der sich gerade anschicken wollte, mit seinem Stock den einen Schlafsack noch breiter auszulegen, sieht mich an, in meine Erschöpfung, in meine Verlorenheit, in die Nacht meiner Erinnerung und in meine Frage hinein, die ein Ausweg sein soll. So gibt er mir die Möglichkeit, die Augen nicht wieder abwenden zu müssen. Da antwortet er: «Das ist hier schon länger verlorengegangen, aber ich kann mich noch erinnern. Die Ärzte sind überflüssig geworden. Sie können das Leben nicht heilen und auch nicht erträglicher machen. Leben ist eine einzige Wunde. Wunden sind nicht ungesund.» «Aber man könnte den Schmerz doch nehmen, diesem Mann zum Beispiel helfen, der kann es doch kaum aushaken?» Der Mann sagt länger nichts, anscheinend ist die Sache nicht ganz klar, oder vielleicht bin ich so unsicher in den Gedanken, denn es graut mir in der Vorstellung, mich ohne Hoffnung auf menschliche Macht dem Schmerz der Natur ausgeliefert zu fühlen. Ich blicke den Mann wieder an, irgendeine Antwort erwartend, denn ich bemerke, daß er sehr wohl mit mir in Kontakt ist, aber er hält es aus zu schweigen und mich denken zu lassen, mitten in meiner Ungewißheit ... spüre ich - spüre ich, wie ich ausgeliefert bin, jetzt meinem Denken, und dann überall im Leben und im Schlaf in mir selbst und in den anderen, im Ableben und in meiner Mühe, die Natur zu bewältigen, während ich mir vorstellle, was sie wohl für eine Macht über mich hat und woher sie diese wohl nimmt, und ob das vielleicht [46] ein ganz irriger Denkausgangspunkt von mir ist zu glauben, daß irgend etwas vor etwas zu retten wäre. Der Blick des Alten ist wie mein Denken selbst, möglich in sich, eine eigene Natur, die keine Macht ausübt, sondern die Gewalt losläßt, mit der ich eine Lösung finden will aus der Qual heraus, die das Leben bringen kann. «Leben heißt nicht Leben erhalten, nicht Schmerz und nicht Glück, Leben ist nicht bleiben und denken, nicht denken über das Denken. Die Erwa wird schon etwas haben für ihn, wenn er sich zu sehr gegen den Schmerz wehrt. Ich weiß selbst, daß es nicht leicht ist, obwohl, ich muß sagen, mein Herz hat sich wieder etwas beruhigt. Es ist gut, daß ich dageblieben bin, ich bin noch immer erstaunt, wenn unverhoffte Besserung eintritt. Über das Auftreten des Schmerzes bin ich nie so überrascht.» Er ist jetzt wieder recht bewegt und nicht mehr so gesammelt in seine Gedanken, die meine waren, oder waren es seine Worte über mich? Mir verschwimmt das in der Vorstellung, ich habe nur den Eindruck, daß er irgendwie nichts getan hat, um mich denken zu lassen, aber ich könnte auch nicht sagen, daß er daran unbeteiligt gewesen wäre. Hat er meine Gedanken gesammelt? Eigentlich weiß ich nicht einmal mehr, was in mir da aufgeleuchtet hat für einen Moment. In Worten liegt das nicht und nicht in meinem Bemühen, es wiederzufinden, es muß in einem Tun liegen. «Die Ärzte fühlen sich nicht mehr berufen zu heilen, es gibt keine Zwangsgerüste mehr, die ihnen das Verarzten als eigene Hilfe zum Überleben notwendig machen würden. Dieses Zusammenspiel von der Aufrechterhaltung des Überlebens ist zusammengebrochen. Der Zwang, der Lebenszwang, der Erinnerungszwang, der Denkzwang ...» Die einzelnen Worte des Alten, der jetzt in sich versunken scheint, als hätte er in sich lautlos geruht, lassen mich wieder aufsitzen auf dem Schlafsack und in das Gewölbe schauen, als fühlte ich mich da mit einemmal beruhigt. Vorhin habe ich bei mir selbst etwas gedacht, das mich an diese Gedanken des Alten erinnert, etwas von einer Möglichkeit zu leben, wenn ich mich auch nur am Übergang befinde von einer Unklarheit in eine andere, daß aber diese Möglichkeit des Verbleibens eben hier in dieser Halle in dieser Nacht bis zu einem anderen Tag Klarheit genug wäre für ein ganzes Leben. Eigentlich quält es mich gar nicht zu sehr, daß ich nicht recht weiß, wie ich hergekommen bin, [47]
eigentlich, wenn ich ehrlich sein will, ist mir nur der Gedanke an die Notwendigkeit einer Lösung so anstrengend, die Tatsache selbst, die kann ich leicht ertragen. Ich habe heute so viel erlebt. Ich vermisse eigentlich nichts, oder vielleicht bin ich schon zu müde. «Der Zwang, an leere Systeme zu glauben, ist ein qualvoller, langsamer Tod, ein zeitlupenähnlicher Selbstmord, gegen den ein umwerfender Schmerz eben nur ein Schmerz ist, der vielleicht das Leben kostet. Und deine Münzen kannst du dir aufheben als Hosenknöpfe, mit denen wirst du nichts mehr kaufen können.» Jetzt lacht der Alte, und auch ich will lachen. Ich möchte bloß wissen, wieso der weiß, daß ich Geld in der Manteltasche habe. Ich habe von dem Alten gelernt. Wissenwollen ist ein großes Hindernis für die Erfahrung. Ich bin ein weiser Knopf für diese Nacht, und der Alte verschwindet noch aufs Örtchen, während ich allein mit mir dableibe wie unter Sternen. Und wahrhaftig, da ist dieser fremde Himmel über mir, von dem ich nicht einmal weiß, ob er mein Sternsystem ist, ob er der Himmel über meinem Stern ist oder ein anderer. Dieser Himmel über dem Rauchfang der Kirche trägt Sterne, vereinzelt, so wie hier die Menschen vereinzelt auftauchen. «Ich werde eine gute Nacht haben, ich spüre das», sagt der alte Herr. Er ist ohne Stock auf dem Klo gewesen, sehe ich jetzt. Warum so weise Menschen auch schlechte Nächte haben müssen. Er könnte es doch machen, daß sie nicht schlecht sind, seine Tage und seine Nächte. Warum er seine Weisheit nicht benützen kann für sein Leben? Für seines wenigstens? «Wollte ich das tun, so wäre ich es nicht.» Jetzt hab ich's wieder, er liest in meinen Gedanken, und mir macht das nichts, daß dieser Mensch vielleicht mehr über mich weiß als ich selbst. «Falls wir uns nicht wiedersehen, noch eine gute Reise. Ich stehe immer früh auf. Ich liege nicht mehr so lang, besonders hier auf dem Boden. Du schläfst sicher noch länger.» Und damit kriecht er vollends in seinen Sack, und ich tue das auch, während ich noch einen Gedanken an den Kienspan verwende. Kann man den so lassen, der brennt ja noch. Ich sollte ihn irgendwie zum Erlöschen bringen. Aufstehen sollte ich noch einmal, mich noch schnell erheben, um ja sicher zu sein, daß nicht vielleicht ein Wind ihn zum Aufflammen bringen könnte, neuerlich, neuerlich ... [48] Ich sollte noch aufstehen, solange ich dazu imstande bin, denn sonst ist es vielleicht zu spät ... aber der alte Herr würde sicher sagen, daß es für nichts jemals zu spät sei, und außerdem sollte ich aufstehen, bevor ich völlig hinübergetaucht bin. Ich reiße noch einmal die Augen auf, starre in das Gewölbe hinein und will wach sein, allzu rasch will mich der Schlaf jetzt hinwegtragen, ich wäre noch gern ein wenig so gelegen und hätte das Hinübergleiten länger genossen, an der Schwelle in den Bildern meines Grenzlebens, und außerdem sollte ich mich wirklich um den Kienspan kümmern. Ob das praktisch ist? Ich habe immer Lichtschalter benutzt, seit ich mich erinnern kann. Ein Klick und es ist Tagwache, ein Klack und es ist Nachtträumen, hier macht alles die Natur, wieder die Natur. Ich will ausschalten, aber der Löwe liegt auf dem Schalter. Ich kann unmöglich herangelangen. Vielleicht hat der Herr doch recht, vielleicht ist das natürliche Licht besser, weil ich dann nicht so viel Angst vor dem Tier haben muß. Der Herr, der schläft ja gar nicht, er badet in dem Kochkessel und fühlt sich sichtlich wohl. Er sagt es nicht, aber an mich dringt heran, daß er meint, Suppe, das sei die beste Medizin gegen Herzschmerzen, nur muß man in dieses Badegebräu unbedingt Wasser aus dem Vorraum zum Klo gießen, in dem ich mich gewaschen habe, und zwar müßte man das mit der alten Emailmuschel machen, sonst würde die Flüssigkeit auf das Herz nicht wirken. Die Erwa hätte ihm das empfohlen. Er gehe aber jetzt nicht mehr zu ihr, weil er nicht mehr mit ihr schlafen könne, und das mache ihm manchmal ein wenig Sorgen. Ich denke mir wieder, wieso sich der Herr noch Sorgen machen muß in diesem Leben, wo er doch die Suppe entdeckt hat, und ich
habe fast einen bildlichen Zweifel, daß die Lebensart dieser Menschen hier funktioniert. Das Bild kann nicht erscheinen, das mir von meinem Zweifel vorschwebt, weil der Kameramann, der wie der Schwarze aussieht, sagt, daß das eine Störung sei, die vielleicht immer dauern könnte. Wir sind aber alle einig, daß uns das im Grunde nicht viel ausmacht, und wir lachen und spielen mit meinen Münzen Zielschießen auf den leicht glimmmenden Kienspan. Eine Münze prallt mir an das Herz zurück, und ich verspüre einen Druck, der sich nicht mehr legen will, ich kann nicht mehr mit den anderen mitlachen und falle zurück in einen kahlen Raum, der vergittert ist mit den Resten des Balkonschmiedeeisens, auf dem der Affe mit dem Kind gehockt hat. [49] Der Druck wird so stark, daß ich davon kurz erwache und feststelle, daß ich wahrscheinlich echt Herzdrücken habe, deswegen, weil der alte Herr es nicht hat. Ich sinke aber gleich wieder hinweg ins Herz und denke mir, daß ich mir daraus nichts machen sollte. Es seien alles nur eingebildete Schmerzen, und Schmerz ist ein Spielzeug des Menschen, das er sich aufnimmt, wenn er die Sendepausen nicht mehr aushält. Entschuldigen Sie bitte die Störung - wir schauen alle in den alten Altarschrein, wo das Geschirr untergebracht war, dort soll das Bild auftauchen, das mich von meinem Druck erlösen könnte. Körperlicher Schmerz sei seine Angst davor, und Tod sei die Angst vor dem Leben, sagt eine Stimme im Kasten in Reklametonlage. Wenn man die künstlichen Gewürze nicht mehr verwenden würde, sondern das weiße Pulver Sauerstoff, das man neuerdings anpreist, indem man nicht mehr davon spricht und nicht mehr daran denkt, würde die Angst vor dem Leben ohne Systeme und ohne Ordnungen möglich sein, ebenso würde die Sucht nach der retttenden Zivilisation abfallen wie ein Druck auf das Herz, der Angst vor dem Tod heißt. Nur weil die Menschen nicht zu denken aufhören können über das Denken, deswegen herrrschten noch immer die Sorgen mit den wilden Motorradrowdies. Ich höre nur, aber das Bild ist noch immer nicht sichtbar, obwohl jetzt im Takt von Pferdegalopp ein riesiges, blutendes Ohr immer näher kommt, immer näher auf die Bildfläche, immer näher immer näher immer näher. Ich fühle es als steigende Angst, als immer pressendere Panik steigt es in mir hoch gegen das Herankommen dieses Ohrs aus dem Kasten, bedrohlich sich nähernd, meinen Schrei in mir zuschraubend, noch bevor etwas passieren kann, möchte ich noch schnell leise in die wartende Runde etwas hineinflüstern, die da scheinbar so seelenruhig sitzt und auf das Bild wartet ... es funktioniert doch bei euch auch nicht, ihr seid doch auch nicht besser dran, ihr habt doch auch Schmerzen und Sorgen, wieso darf ich dann keine Angst vor dem Sterben haben, wovon erlöst mich die Auflösung der Abhängigkeit von der Zivilisation ... Ich bin von meinem Flüstern, das niemand gehört zu haben scheint, ausgepumpt, und da erscheint der alte Herr im Bild und sagt, indem er mir wie aus der Ferne wieder Luft gibt und mein Herzdruck sich hebt: «Du kannst gehen, mein Kind, dein Herz funktioniert auch, wenn du im Schmerz vor der Sorge umkommst, daß es nicht mehr gehen könnte. Wenn es tot ist, ist es dasselbe Herz wie das lebende», und er lacht wie vor dem Einschlafen, [50] als er den Witz mit den Münzen und den Hosenknöpfen gemacht hat. Ich erwache mit erhitztem Gesicht. Es ist noch stockdunkel. So verwirrt mein Traum war, so lückenlos finde ich in meine Lage zurück, obwohl ich mich eher zerschlagen fühle als ausgeruht. Die Nacht scheint noch nicht vorüber zu sein. Ich wollte, ich könnte es vermeiden, wieder in diese Turbulenz des Träumens zu verfallen und versuche ein wenig wachzubleiben, aber es will mir nicht gelingen. In neuerlichem Übergleiten höre ich noch, wie der alte Herr einmal ein wenig im Schlaf schnauft und sich kurz bewegt. Seine Atemzüge sind regelmäßig, eigentlich nur bei genauem Hinhören merkbar. Die Regelmäßigkeit atmet mich in ruhigere Zonen eines neuerlichen Traumgeschehens. Ich gehe aus einem Tor hinaus, und draußen ist wieder der Kameramann mit dem Interviewer, allerdings sind sie von einem anderen Sender, und ich kenne sie diesmal nicht. Sie entschuldigen sich für ihre Zumutung, aber die Zuseher möchten gern wissen, ob ich mit meinem Traum einverstanden sei. Ich bin so unsicher, ob sie jetzt diesen eben abge-
träumten meinen oder schon wieder diesen neuen, und ich sehe die beiden abgrundtief ratlos an, weil ich mich im Auseinanderhalten der Träume verloren habe, und sie bedanken sich über diesen Blick mit tiefen Verbeugungen und meinen, die Menschen in der Kirche warten auf die Botschaft. Hoffentlich haben sie aus dem Tabernakel die Teller genommen, damit wir das Bild senden können. Sie schenken mir zum Abschied eine Fiole mit Suppe und eben dieses weiße Pulver, das man nicht denken soll, in einer Geschenkpackung. Das ist die Erlösung von den Schmerzen des Denkens, daß der Schmerz so arg werden könnnte, immer ärger und immer ärger und er nie mehr aufhören würde, auch wenn das Universum schon lange geplatzt wäre. Dieser Schmerz ist Gott, sehe ich in dem Glas schimmern, wie in einer Zauberkugel, in die der böse Wolf als Wahrsagerin verkleidet hineinsieht, während die dicken Schweinchen sich von ihm wahrsagen lassen, daß ein böser Wolf sofort kommen würde, um sie von hinten zu packen. Gegen den Schmerz hat sich Gott die Menschen gemacht, und ihre Zivilisation ist seine Angst vor der Sehnsucht nach seinem Zustand, bevor er noch das Universum geschaffen hat. Ich gehe heim, ich werde nicht ewig für dich beten. - Mit diesem Gedanken oder mit diesem Bild oder mit dem Verlust [51] des Traumdenkens gleite ich ganz deutlich aus meinem Schlaf heraus, so langsam und sanft, so sicher und wohlig, wie man sonst meist nur hineingleitet, und ich sehe noch, wie der alte Herr das Vorhaus langsam verläßt, mit seinem Stock die Blätter zur Seite hält und verschwindet. Draußen ist es noch ganz still, und ich höre leise das Klopfen des Stocks, regelmäßig, immer ferner. Ich bin jetzt nicht mehr so zerschlagen wie bei meinem Erwachen in der Nacht, ich fühle mich verhältnismäßig gut und ausgeruht, obwohl mir der Boden jetzt härter erscheint als am Vortag. Es stärkt mich, daß ich solche Nächte gut überstehe. Ich liege noch ein wenig da, die Arme unter dem Kopf verschränkt, den Blick in den offenen Rauchfangturm hinein, wo die Helligkeit schon deutlich die Oberhand hat. Ich wundere mich, wieso ich so ruhig vor mich hinliegen kann, ohne zu wissen, was da kommmen soll. Ich spüre einfach keinen Zwang, mich über den Tag zu bedenken, etwas zu planen oder mich zu wundern. Ein Wunder, sonst neige ich zu solchen Vorstellungen in bezug auf meinen Verbleib und meine Einteilung. Was habe ich denn sonst immer gemacht? Das «sonst immer» quält mich im Augenblick nicht sehr. Es ist niemand hier, ich habe auch das Gefühl, als würde nicht allzu bald einer auftauchen. Außerdem, und das empfinde ich als sehr angenehm, habe ich auch gar nicht das Verlangen, auf irgendeinen zu warten oder jemanden etwas fragen zu müssen über mein weiteres Fortkommen. Das ruht in mir, und ich möchte das auch als meine Eigenständigkeit bewahren, wenngleich mich leises Prickeln erfaßt beim Gedanken, wieder Neuem und noch Unbekanntem da draußen zu begegnen. Diese halb süße, halb beängstigende Ahnung spannt mich und läßt mich nicht mehr ruhig liegen. Ich krabble wie ein Käfer aus dem Sack und kratze mir den Kopf. Es ist heller Tag. Ich kenne das Örtchen, so als sei ich hier zu Hause, und gehe getrost hin, während ich meine Haare frisiere. In der hinteren Tasche der Hose habe ich das Stück eines Hornkamms. Ich kenne auch genau das Gefühl, mich jeden Tag mit diesem Stück gekämmt zu haben und noch dazu meist vor einem Spiegel, allerdings wo sich dieser Luxus befunden haben soll ist mir momentan undurchsichtig. Da sehe ich, wie der junge Mann des Pärchens, das sich gestern in die andere Ecke dort verkrochen und nicht mehr bemerkbar gemacht hat, zwei kleine Brote aus [52] einem Sack nimmt, der an der Säule lehnt. Er nickt mir freundlich zu und macht eine Geste, die heißen soll: Nimm dir nur! Dann geht er wieder zu seiner Freundin zurück. Ich fühle, daß der Bursche die ganze Last dieses Eigentums leicht zu seinem eigenen Besitz macht, solange er es braucht, und daß seine Freiheit so weit reicht, daß er mir erlauben kann zu nehmen und mir damit die ganze Schuld nimmt, falls ich mich an diesem Essen unrechtmäßig vergehen sollte. Er trägt seine eigene Schuld mit Souveränität und Reinheit, falls jemand eine an ihm finden wollte. Jedenfalls nehme ich zwei Brote. Eines
esse ich gleich und eines stecke ich wieder in die Manteltasche. Als ich bei dem Paar vorbeigehe, das auch friedlich schmaust, hebe ich kurz mein Brot zum Gruß und gehe durch das Vorhaus. Die Pflanzen hebe ich wie einen Vorhang und trete auf die Straße hinaus. Ich könnte lang rätseln, wohin ich mich jetzt wenden soll, aber mein Weg führt hinein in eine Seitenbiegung der Gehsteigzone, die ich gestern begangen habe, gerade von der Kirche weg, gefühlsmäßig in dieselbe Richtung wie diese breite Straße, auf der ich gekommen war. Ich gehe weichen Schritts, fest entschlossen, so als sei das meine Richtung. Ich hätte auch nach unten gehen können, da ist ein Abgang unter der Erde, unter die Kirche, vielleicht unter diesen ganzen Kirchenplatz, überhaupt unter die ganze absonderlich unbekannte Bekanntheit dieser Stadt, aber ich bin nicht ganz unvertraut mit den Möglichkeiten, die sich mir da unten bieten würden. Ich vermute hier den Abgang zu einer Bahn, die unter der ganzen Siedlung ihre verästelten Arme ausbreitet. Mit dem Zustand der Bahnen hier bin ich mir allerdings schon ein wenig im klaren, falls ich mich nicht total irre. Mich zieht es weiter, vorbei an einer verkrüppelten Telefonzelle, neben der ein noch verkrüppelterer Baumstrunk mit unzählig vielen Nägeln drin in die Hausecke eingelassen ist. Das Telefon bezeichne ich als verkrüppelt, weil alle festen Teile aus dem Apparat herausgebogen sind, so daß er wie ein ausgemurxter kleiner Körper erscheint. Der Strunk ist ja geradezu voll edler Haltung dagegen. Die Telefonzelle scheint abgebrannt zu sein. Als ob Plastik gebügelt worden wäre, biegen sich die Stützen noch aufgedunsen, zusammengeronnen herunter. Ich kann mich an solche Zellen erinnern, sie sind unten ohne Boden gebaut worden, damit nicht immer hineingepinkelt werden [53] kann. Jetzt telefoniert niemand mehr, weil es ja kein Geld mehr geben soll, das man hineinschmeißen kann, damit es unten gleich wieder herausfällt, oder vielleicht nicht einmal herausfällt, ohne daß eine Verbindung zustande gekommen wäre. Oft hat das Zeug nicht funktioniert, manchmal war es ärgerlich. Ob überhaupt nicht mehr zu telefonieren den Ärger vermindert? Vielleicht wird man dann nicht so rasch magenkrank. Dieser Gedanke gibt mir eine kleine Aufgabe auf, die mich vage an das Gespräch mit dem alten Herrn erinnert. Ob bei Verminderung der Anlässe zu Ärger und Sorge die Sorgen weniger werden? Logisch wäre das, aber ich glaube, Logik wäre hier zu billig. Und hier pflegt ja überhaupt anscheinend nichts mehr was zu kosten. Alles kostet nichts. Ob es vielleicht einen anderen Preis hat, sich nicht mehr ärgern zu können über nebensächliche Sachen, wie nicht zustande kommende Telefongespräche? Vielleicht kostet es die Hoffnung, einmal ruhig über alle Unannehmlichkeiten hinwegzuleben. Vielleicht kostet es ein Ziel, es kostet den Glauben an die Täuschung, indem es die Wahrheit übrigläßt. So könnte es sein, denn es mutet mich nicht unmöglich an, daß die Wahrheit nichts mit Sorglosigkeit, nichts mit Glück zu tun hat, sondern höchstens mit dem Leben. Vielleicht mit so einem Leben, wie ich es hier vorfinde. Mit einem ohne Telefonverbindung, weil es wenig zu sagen gibt? Das geht mir irgendwie auf, und ich neige meinen Kopf zu mir selbst, denn es ist ja sonst niemand da, und ich bin erstaunt, was ich nicht alles zu bedenken habe seit neuem. Ich vergesse ganz, mein kleines Brot aufzuessen, und habe angefangen, Kugeln zu drehen aus dem Weichen. Meine Weltkugeln aus Brot, das stimmt auf jeden Fall. Hier sieht mich ja niemand, hier kann ich auch mit mir sprechen. In einer Seitenstraße sehe ich allerdings kurz einen Karren fahren, ähnlich einer Rikscha. Ich kann bemerken, daß, wenn ich diese Straße entlangsehe, die Häuser nach und nach zerstörter wirken, oft bis zur Hälfte wie abgeschnitten, einige dem Himmel zu offen. Ganze Glasscheiben gibt es überhaupt nicht mehr. Auch nicht vor diesem Juwelierladen, der da offen steht. Plakate, auf denen noch einige Schmuckstücke prangen, verstaubt und verblaßt, lächerlich in ihrer Aufmachung. Am Boden des Geschäfts liegen Glitzerstücke herum, so als hätten Kinder .damit gespielt. Vielleicht waren es die drei aus der Kirche, oder die zwei auf [54] dem roten Teppich vor dem Hotel, oder vielleicht der Händler selbst, der den Entschluß gefaßt hat, lieber mit seinem Gut zu spielen als sich mit dem
Absatz abzurackern, nur damit er sich die Rüben für die Suppe noch leisten kann, während die anderen bereits Kartoffeln essen müssen. Es ist ja immer noch die Frage, ob Karotten im Rang vor Kartoffeln oder umgekehrt kommen. Die Rangordnungen scheinen hier nicht sehr ausgeprägt zu sein. Auch die meiner Gedanken nicht, während ich eine Hausruine betrachte. Bin ich eigentlich ein Tourist oder eine Verlorene oder eine Irrende ... eine Reisende wahrscheinlich, ohne Paß, ein blinder Wanderer, ein Taucher, mit dem Gesichtssinn außerhalb seines Körpers liegend, mit einem Instinkt unter dem verschwindenden Kometenschweif scharf vorbei an der Hirnhalbkugel. Mein Essen ist fertig, ich putze mir die Brösel vom Hemd. Besonders heikel muß ich hier mit Abfällen nicht sein, denn so sauber die Stadt am Anfang meines Weges war, so sehr läßt sie hier, noch gar nicht so weit entfernt von meinem Ausgangspunkt, in dieser Hinsicht zu wünschen übrig. Es ist kein menschlicher Abfall, der hier faulen würde, sondern es ist etwas mir nicht ganz Durchschaubares, das auch als sonderbarer Geruch in der Luft hängt. Es kann ja nur ein weiter Bogen in den Stadtkern herein sein, den ich gemacht habe. Auch die gute Luft, die mir gestern so wohlgetan hat in den Straßen, die ist hier irgendwie durchzogen von Ausdünstungen, allerdings nicht von Abgasen, wie sie in Städten hängen können als Lungennetze. Habe ich vorne bei der Kirche noch da und dort eine Fenster gesehen, mit Vorhängen oder einem Blumengarten am Fensterbrett, dann und wann auch einen Menschen dahinter, aber wirklich nur wenige, so scheinen die Häuser, sofern sie nicht nach oben zu verfallen sind, überhaupt leerzustehen. Auch Fußgänger oder kleine Gruppen, wie sie mir gestern begegnet sind, tauchen nicht auf, obwohl ich diesen Umstand jetzt nicht mehr der frühen Tagesstunde zumessen kann. Aber dort unten, in dieser Gegend, wo ich den Wagen erspäht habe, gehen ein paar. Vier sind es, und Gelächterfetzen dringen an mein Ohr. Der letzte oder die letzte muß ein alter Mensch sein, den die anderen dann und wann stützen, aber immer wieder vorlaufen, weil dieser nicht so rasch weiterkommt. Kinder scheinen das aber nicht zu sein. Plötzlich biegen vier Gefährte auf einmal direkt in meine Straße ein. [55] So viele habe ich hier noch nie gesichtet. Es sind leise dahinziehende Wagen, so wie sie Gepäckträger auf Bahnhöfen verwenden. Mit Fahrradreifen, aber vorne fest verschlossen mit einer richtigen Motorhaube, dahinter sitzt etwas erhöht der Fahrer, und anschließend ist eine große Fläche für Güter. Hier handelt es sich allerdings um Fahrerinnen und einen Jungen, die lenken. Große Säcke, und auch Kisten werden befördert, Schachteln und auch Stoffballen, möglicherweise sind das Decken. Im letzten Wagen sitzen zwischen solchen Ballen einige Kleinkinder, die jedenfalls schon selbständig sitzen können. Sie fuchteln belustigt mit den Armen, als winkten sie, was ich allerdings nicht als Zeichen nur für mich erkennen kann, obwohl sonst niemand da ist. Jedenfalls winke ich zurück, weil es mir selbst wohltut, irgendeinen Kontakt aufzunehmen, wenn es auch vielleicht gar keiner ist. Vorne, ganz am Ende dieser Straße, da kann ich einen mächtigen Schatten erkennen. Es kann kein Bauwerk sein. Es ist dunkel in sich und riesig. Das bleibt dort - ich bleibe da und sehe das an, als würde ich überlegen, ob ich meinen Weg weiterwandern soll oder vielleicht da hinunterbiegen, wo ich die Karren vorhin gesichtet habe. Das Monster bewegt sich nicht. Die dunkle Fläche saugt meinen Blick ein, und während ich stehe und unentschlossen bin, kriecht es mir von den Beinen hoch, wieder so ein erkaltendes Rinnen wie gestern, und die Wärme, die ich im Umgang mit den Menschen bei Nacht gespeichert habe, weicht aus mir. Zurück kehrt die Erkenntnis, daß ich hier eine Fremde bin, die mit den Gefahren dieser Stadt nicht vertraut ist, daß ich allein und abgeschnitten von meiner Vergangenheit, gestoßen in eine unberechenbare Zukunft bin, die in meinem Fall nur aus dem Augenblick besteht. Das fordert mich stark, und ich kämpfe mit meiner plötzlichen Schwäche, die sich in Mutlosigkeit äußert und einem Nachlassen an Neugier. Ich stehe, während ich immer noch auf diesen dunklen Schatten da vorne starre. Ich könnte gar nicht
sagen, ob es sich bewegt hat, dieses Ding da vorne, denn es war mir mehr so, als würde ich in meinen eigenen dunklen Abgrund starren und nicht wissen, ob ich da hinein soll, oder wohin sonst. Ausweglos - egal wo ich mich jetzt noch hinwenden würde, ich könnte diesen Schatten nie vergessen, ich könnte mich nicht mehr beruhigen. Ich gehe näher, ich bin so ein Mensch, vielleicht ist dort gar nichts Schreckliches, vielleicht bin ich nur von dieser Luft hier so [56] empfindlich gemacht. Süßlich und schleierhaft legt sie sich an mich, die nichts mehr von dieser Ungewissen Freiheit drängt, sondern die beengt ist. Linien, Kreidestriche ziehen hier immer zahlreicher über das schadhafte Pflaster. Manchmal viele nebeneinander in einer Art Sperrlinie dem Schatten zu. Oft vereinzelt und auch verspielt. Dazwischen erkenne ich auch eindeutig Kinderzeichnungen. Männchen und Tiere, Gesichter, und an einem der Häuser, das noch den Verputz einigermaßen behalten hat, kriechen die Zeichnungen hoch bis in Kindergröße. Die Malereien werden immer dichter und fesseln meine Aufmerksamkeit, so daß ich fast vergesse, den Schatten vor mir zu beobachten, um nötigenfalls rasch zurückzurennen. Tatsächlich spüre ich aber genau, daß mir Fliehen nichts nützen würde, hier handelt sich um etwas, das nichts mit Schnelligkeit zu tun hat, hier geht es um eine Macht, die mit anderen Mitteln eingreift als mit den Beinen, und die mir mehr herausreißt als bloß meine Ruhe auf meinem Reiseweg. Die Zeichen kreisen mich ein, sie bannen mich, es ist so, als würde ich mich in Schnüren verfangen, die gar nicht da sind. Hier eine Fratze mit riesigen Augenhöhlen, dort ein leerer, gierig klaffender Mund, ein Fischmaul, so weit aufgerissen, daß es nicht das eines Fisches bleiben kann - Striche, Sperren, hakenschlagende Pfeile, die anziehen wie eine Kraft, eine magische Macht, und Spiralen, Kreise, die meinen Blick in ihren Sog reißen, ich kann nicht mehr auskommen aus diesen Schlangenlinien, ich kann keinen Ausgang mehr finden aus meiner Gebanntheit auf diesem Boden, hinein hinunter in sich zieht mich dieses Geflecht wie in die Adern und Windungen meines eigenen Schädels, tiefer und tiefer in seinen Abgrund, feucht beginnen die Mäander anzulaufen, glasig bis hell blutig, und langsam mischt sich Farbe in dieses reißende Spiel am Boden, in das ich mich verstrickt habe mit all meinen Fasern gefesselt in den Wechsel der Magie von Augen und Windungen, Höhlen und Abgründen. Ein Laut wie von einem bremsenden Gefährt reißt mich aus meinem Bann, und ich kann den Blick vom Boden lösen. Es saust ein Karren vorbei. Ich atme ein - oder atme ich aus, ich weiß nicht, ich glaube, ich habe die ganze Zeit während dieser Hirnhatz nicht geatmet, und ich habe völlig verloren, wie lang das gedauert haben kann. Ich erhebe meine Augen zu den Häusern und sehe höher hinauf, als wollte ich es um jeden Preis vermeiden, wieder nach unten zu blicken. [57] Geradeaus vor mir erkenne ich wieder diesen Schatten, und er erscheint mir jetzt weniger bedrohlich als meine Lage, in der ich mich befinde. Ich weiß, ich muß hier heraus aus dem Bannkreis, ich muß hierhin oder dorthin. Zurück will ich nicht, weil ich wieder da über diesen Wall von Ängsten hätte ziehen müssen. Ich merke, ich bin schweißnaß, mir rinnt das Wasser aus den Achselhöhlen beim Ärmel heraus. Auf der Stirn stehen mir die Perlen und rinnen mir in die Augen hinein. Meine säubernde Bewegung nimmt meinen Schritt mit, und ich gehe dem Schatten noch mehr zu, denn dort kann ich nur mehr vereinzelte Kreidestriche sehen, die langsam auslaufen, sich noch immer zu Bannlinien ballend, dem Berg zu, der da vorne droht, aber sie können sich meiner nicht mehr ganz bemächtigen. Ich stehe in Angst und lähmender Anspannung, aber ich fühle mich für den Augenblick der Gefahr entronnen. Wenn ich nur freier atmen könnte in dieser Luft. Die Häuser verfallen hier noch merklicher, und Geröll häuft sich nach und nach mitten auf dem Weg. Hier wird nicht mehr geräumt, hier müht sich kein Mensch mehr ab, um zu ordnen. Bin ich ausgezogen, Abenteuer zu suchen, oder bin ich gegangen, eine Stadt zu besichtigen, oder Menschen zu treffen? Wollte ich das? Ich wollte doch eher nachsehen, wohin ich mich begeben könnte, nachdem ich weggegangen bin von irgendwo - irgendwohin.
Muß denn das so aussehen? War das mein Plan? Ist das meine Pflicht? Wie soll ich denn dazu stehen. Ich möchte ja nichts, als ruhig auf diesem Stern einen kleinen Platz finden. Wenn ich mich nur auskennen würde. Wenn ich wüßte, woher ich komme, und wenn ich wüßte, warum und wie ich von dort komme, dann könnte ich mir all diese Angst und diese Gefahren ersparen. Verdammt noch einmal, ich wüßte gern, wo ich hier bin! Das beruhigt mich etwas und gibt mir mehr Luft. Ob diese Menschen das für sich schon herausgefunden haben, die ich gestern so angenehm empfunden habe? Sicher, aber sie haben auch noch Sorgen. Der alte Herr, der weiß das sicher, aber er hat auch Herzbeschwerden. Warum sollte er eigentlich keine haben. Er darf ja. Heißt Erkenntnis Macht? Erkenntnis heißt ja auch nicht Veränderung, vielleicht gibt sie einen anderen Standpunkt, von dem aus alles ein wenig anders aussieht? Ich sollte lieber mein nacktes Leben retten. Ob diese Gedanken mein Leben sind? Solange ich nicht nackt bin. Ist man nackt, so fürchtet man sich nicht mehr, nackt zu werden, zumindest [58] kann man sich dann nicht verbergen, auch nicht vor sich selbst. Das ist irgend etwas, so etwas schwingt hier in dieser Gesellschaft, die mir so ähnlich ist, aber doch eine Kluft aufreißt in einen Flugraum hinein, wo diese meine Gedanken Fleisch werden könnnen und lebendig werden in der Art des Lebens dieser Menschen. Sollte ich noch nicht geflogen sein, ist es dieses Erlebnis, das mich trennt von ihnen, was mir angst macht. Geflogen in eine Hirnzone hinein, wo es möglich ist, im luftleeren Raum zu gehen und zu atmen? Ich spüre das alles, aber ich kann es doch nicht fassen, nicht anwenden auf mein Leben. Ich bin es nicht, ich spüre das genau, wenn ich hier stehe und Angst habe vor meiner Angst. Der Weg wird noch erdiger, sandiger, schotteriger. Brocken, die von den Häusern abgefallen sind, versperren mir den Weg, ich muß ausweichen. Sand gerät in meine Schuhe, die ich wegen ihrer Weichheit so schätze. Arme Sohlen, ist das 7er Sand oder schon 12er, Terranovaanstriche sind das auf den Häusern jedenfalls nicht. Ich stürze, bin ausgerutscht an einem Steinhaufen, mein Mantel fällt in den Dreck. Wieso ich den noch immer mitschleppe. Das Brot ist drin und die Münzen, den Kamm habe ich in meiner Hosentasche, mein Gott, muß ich hier gehen, wo ich doch so schön in der Stadtmitte lustwandeln könnnte, da war mir ja der Affe noch lieber. Erde, Schotter, diese Furche führt geradezu in den Berg dort vorne. Ein riesiger Haufen, der mitten über der Straße liegt und mir das Dahinter versperrt. Seltsam durchfressen und durchhöhlt scheint diese Aufwerfung, so als würde sie mich mit tausend verletzten Augen ansehen. Ebenso sind die Sockel der Häuser, sofern sie noch stehen, durchhöhlt. Spuren von irgend etwas. Neben dem Haufen ist eine Lücke in die Häuserspur gerissen. Das rechte Gebäude ist in sich zusammengefallen, und ich habe einen kleinen Blick frei in das Gelände dahinter, das mehr ein zerklüftetes weites Gebiet ist, übersät mit Mauerresten und Haufen von Geröll. Ganz weit draußen, fast schon außerhalb meiner Sichtweite, erspähe ich so etwas wie einen Wolkenkratzer. Ich kann sogar die Fenster blinken sehen, wenn ich meinen Blick auf diese Entfernung einstelle. Der allein reißt seine Nadel dort in die Höhe und steht kerzengerade, unbeschädigt in dem Trümmerfeld. Ich habe mein Auge so auf die Ferne konzentriert, daß ich jetzt erschrokken bin über etwas im Erdwall direkt vor mir. Ein Kreischen aus der linken unteren Seite des Walls, der unmittelbar [59] wie eine Mauer an die noch aufrecht stehende Häuserfront anschließt. Mehr ein Fauchen ist es, von mehreren Quellen ausgestoßen, nicht von einer einzigen. Ich erstarre, zugleich fängt mein Hirn wie fiebernd zu arbeiten an. Es hat auch, während ich mich nicht rühren konnte, die Lautstärke und die Möglichkeit der Ursachen festgestellt, bis es meinem Körper das Kommando zur Flucht gibt. Noch bevor ich mich wenden kann, kriechen ein, zwei, drei Tiere, behaarte große Viecher aus einer Lücke bei dem Haus. Sie wenden ihr Fauchen eindeutig gegen mich. Die Zähne spitz, wie verfaulende Hauer in ihren Mäulern, verquollen mit Schmutz und Schorf. Die kurzen Pelzhaare gesträubt, mit nackten Schwänzen hinter den aufgedunsenen Körpern, scheinen sie mich zu warnen, trotzdem treffen sie mich mit
ihrem Dunst, den sie verbreiten, und ihrer Häßlichkeit, die sie verströmen. Mir fliegt der Schrei in meiner Kehle in die Füße, anstatt beim Mund heraus: Ratten! Ratten! Das Schreien hätte mir wahrscheinlich nichts genützt, aber das Laufen, das ist das einzig richtige, was ich jetzt tun kann. Ratten, riesige Rattenviecher, so groß wie Hunde, ich weiß gar nicht, ob sie an sich so groß sind oder nur so gedunsen. Sie sind geisterhaft in ihrer Aufgeblasenheit, in der ich das Gas vermute, das hier überall in der Luft hängt. Die Flucht wird in diesem schrundigen Gelände äußerst schwierig. Ich komme nicht weiter, die Beine sind so behindert. Ich will nicht zurücksehen und kann nicht recht vorwärts kommen, ich klebe fast und hänge wie an einer zähen Masse. Außerdem müßte sich dort vorne wieder dieser Wald von magischen Bildern ausbreiten, ich muß aber zurück, dort der Kirche zu, dorthin zurück, wo die Menschen waren, die ich kenne, und zurück, dorthin, von wo ich komme. Es ist wie im Traum, wenn man um sein Leben laufen muß und nicht weiterkommen kann. Ich träume aber jetzt nicht, jedenfalls ist das in meinem Zustand völlig unwichtig, weil mein Leben im Traum dasselbe ist wie im Wachen, es geht um dasselbe. Diese Fixierbilder kreisen mich diesmal nicht ein, sie scheinen mir gar nicht so arg zu sein in meinem Hasten über das Pflaster, meine Angst muß stärker sein als ihre Macht, es wird wieder freier, die Erdbrocken liegen vereinzelter, für einen Augenblick glaube ich zu fallen. Ich laufe schneller als mein Körper auf den Beinen bleiben kann. Das Mißverhältnis zwischen meinem Tempo und meinem Körper renkt sich wieder ein, während [60] ich spüre, wie mir die Luft immer knapper wird. Mich brennt es in der Lunge, ich renne in die Seitengasse hinein, dort ist eine Baugrube oder so etwas. Von dort her tönt menschliches Lachen und ein Wortwechsel, ich laufe der Sprache entgegen und sehe in der Grube Menschen, viellleicht fünf, die da hocken. Drei scheinen schon wieder Karten zu spielen. Ich werfe mich mit letzter Kraft in diese Grube hinein und bleibe liegen neben dem kleinen Tischchen, auf dem die Karten liegen. «Na, was ist denn hier los, warum so schnell. Du bringst uns ja die Karten durcheinander, verflixt», regt sich einer auf, aber weniger im Ernst, eher in guter Laune. Ich kann mich kaum erheben, ich stütze mich auf einen Ellbogen und reiße meine andere Hand in die Richtung, von wo die Ratten kommen müßten. Während ich «Ratten! Riesige Ratten!» schreie, reiße ich meinen Körper wieder hoch, weil mir einfällt, wie dumm es eigentlich von mir war, mich hier selbst in die Falle zu begeben, nur weil ich menschliche Stimmen gehört habe. Die können mir ja nicht helfen, die sind ja selbst in Gefahr. Es ging mir gar nicht darum, sie zu warnen, so viel Umsicht läßt mir die Lage gar nicht. Ich hätte nicht gedacht, daß ich selbst so blöd handeln würde, ich hatte immer den Eindruck, einen recht gesunden Instinkt zu besitzen. Jetzt kann ich aber aus dieser verdammten Grube auch nicht mehr heraus. «Reg dich nicht so auf, was gehst du denn auch hin. Hast du nicht die Mauer gesehen - wir halten uns alle daran. Bringst uns wieder Unordnung. Die längste Zeit war jetzt Ruhe. Wir sind ohnehin nur mehr so wenige in der Stadt. Mach keine Geschichten und sei ruhig. Sie kommen jetzt nicht, ich weiß das, sie haben dich wahrscheinlich nur gewarnt, aber geh nie mehr hin.» So weist mich ein Mann, der einen Bauch und eine glänzende Glatze hat, zurecht. Er ist gutmütig und überlegen, er wirkt beruhigend auf mich, obwohl er mich auch zurechtweist. Eine kleine Predigt ist heilsam für jemand, der sich schuldig fühlt für seine Neugier. Ob ich mich schuldig gefühlt habe, als ich so allein dem Erdwall zuging, kann ich jetzt allerdings nicht mehr recht nachvollziehen, jedenfalls redete er mir jetzt eine Schuld ein, die in meiner Unvorsichtigkeit gelegen haben mag, für die ich allerdings nichts kann, weil ich ja mit den seltsamen Zuständen dieser Stadt nicht vertraut bin. Das weiß der Dicke allerdings nicht, und ich sage auch nichts, weil ich fürs erste froh bin, ein wenig verschnaufen zu können unter menschlicher Obhut, und zwar einer, die sich hier auskennt. [61] «Da, hast einen Schluck Bier, du bist ja ganz weiß», bietet mir eine Frau an, und ich trinke ordentlich.
«Spielen wir weiter, wer war dran?» Die Frau sieht noch einmal zu mir her, wie um sich zu vergewissern, daß ich da sitzen bleiben werde und stillhalte, und sie vertieft sich wieder in das Spiel. Ich schaue mich um, so als würde da viel zu sehen sein, zumindest ein geheimnisvoller Höhleneingang oder etwas Ähnliches. Ich bin aber im Grunde froh, daß mich nur Erde umgibt und keine neuerlichen Rätsel oder Gefahren. Mir tut das satte Braun gut, es dämpft mich. Ich vertiefe meine Augen in den Anblick der kleinen Steinchen hinein, die das Erdige durchbrechen und lebendig machen. Sie treten in größeren und kleineren Bildern auf, eng nebeneinander und wieder weiter voneinander entfernt, Straßen ziehend, Verbindungen bildend, in denen sich mein unruhiger Blick in einem entspannenden Starren beruhigen kann, wenngleich es mir völlig klar ist, daß es sich hier um ganz gewöhnliche glanzlose Kiesel und Pflastersteinsplitter handelt. Trotzdem bin ich kindhaft glücklich verloren in diese Teilchen, so als sei ich froh, daß sie da sind und daß ich sie noch ansehen kann. In mir schwebt eine Erleichterung von jeder Vernunft, denn an sich ist es idiotisch, sich gerührt zu zeigen über Steinchen und über Muster, die sie bilden. Diese Haltung weist mich aber stark darauf hin, daß ich mich einer Lebensgefahr entronnen fühle. Einer, ein Jüngerer, sitzt auf einem schiefen Schemel neben dem Tischchen und sieht den anderen ins Blatt. Es scheint sich hier um ein lustigeres Spiel zu handeln, als um herkömmmliches Kartenschlagen. Dem Dicken fällt eine Karte unter den Tisch. Er hat Mühe, sie wiederzufinden. «Mein Gott, bist du wieder ungeschickt, spielst wieder unter dem Tisch», mault die Frau belustigt, während der Dicke noch immer unten sucht. Ich bin erstaunt, daß man mit ihm schelten kann, wo er doch mir gegenüber so streng aufgetreten ist. Das macht mich noch lockerer, und ich strecke mich nach der Karte, die ich leicht fassen kann. Sie zeigt ein Ornament, oben, und unten stehen Zahlen und Buchstaben in verwirrender Anordnung. Ich gebe die Karte zurück, was mir einen neuen Schluck Bier einträgt. Das Getränk scheint sehr leicht zu sein und nicht viel Alkohol zu enthalten. Es schäumt aber wie Bier. Die Flasche sieht allerdings eher wie eine übergroße Milchflasche aus. [62] Ich setze mich, da ich jetzt ohnehin schon näher gerückt bin, neben den beobachtenden Mann, der ebenfalls aus dieser Flasche einen Schluck genommen hat, und fische mein Brot aus dem Mantel. Völlig verknautscht ist das Kleidungsstück schon, und es hat in sich so viele Falten, die schon wieder zu Bildern und einem bewegten Spiel vor meinen Augen aufleuchten wollen, aber ich lasse das jetzt. Gern nimmt der Mann ein Stück Brot. Zum Bier schmeckt das besonders gut. Mich muß das Rennen und die Angst völlig entkräftet und ausgesogen haben, ich bemerke erst jetzt meinen total geschwächten Zustand. Ich bin ehrlich froh, daß ich mich hier anlehnen kann an ein Brett, das in der Erde steckt. «Wir gehen besser nicht mehr hin zu ihnen. Wir lassen sie in Ruhe, und seit längerer Zeit sind sie auch friedlich. Keine zeigt sich mehr in der Stadt. Es war ohnehin langsam Zeit, denn es sind ja schon so viele weggezogen. Es ist fast niemand mehr hiergeblieben», berichtet mir der junge Mann, als wüßte er, daß ich eine Fremde bin. Ich sehe ihn interessiert an, damit er erkennen soll, daß ich überhaupt nicht unterrichtet bin. Ich komme leicht in Verwirrung mit meinen Bedenken, die ich habe, diese Menschen wissen zu lassen, daß ich hier so völlig danebenstehe. Ich kann ja eigentlich nichts dafür, daß ich hier so hineingestoßen bin, aber irgendwie möchte ich das nicht allzu deutlich aufkommen lassen, da es vielleicht alarmierend auf die Einheimischen wirken könnte, und sie nicht mehr so offenherzig zu mir wären. Ich gebe mich ganz interessiert und rege durch meine Begeisterung beim Zuhören den Sprecher zu weiteren Ausführungen an. Ich sehe, daß der Junge weitersprechen will, und zwar gar nicht ungern. Ein mir an die-
sen Menschen bis jetzt nicht bekannter Eifer erfaßt ihn. Trotzdem scheint er sich irgendwie gebremst zu fühlen, und das im besonderen durch seine älteren Kameraden am Kartentisch. Während seiner Schilderung vorhin haben die anderen im Spiel etwas gestockt, und die Frau hat hergeschaut. Es wurde aber dann wieder weitergespielt, als würden sie sich wortlos darüber einig sein, daß der Junge erzählen dürfe, was er wolle. Sie scheinen nicht böse zu sein, aber vielleicht etwas beunruhigt. «Es war ziemlich schrecklich, es hätte auch das Ende sein können, so seltsam das klingt. Wir waren ganz in ihrer Macht, wir konnten uns nicht mehr verbergen. Sie konnten überall durch. Nur im Schlaf haben [63] sie uns zu Beginn angefallen. Es war zermürbend, so lange Zeit nicht ruhig schlafen zu können.» Er versinkt etwas in seine Erinnerungen. Er spricht so, als sei es ihm ein Anliegen, es einmal jemandem zu erzählen, der es noch nicht kennt. Das passiert hier selten. Fast scheint es, als wolle er ausprobieren, ob es erzählbar sei, ohne daß irgendeine Katastrophe hereinbrechen würde. Als würde er eine unsichtbare Denkmaschine beschwören, die ihn dafür bestrafen könne, wenn sie nicht einverstanden sei mit seiner Wahrheit. Es ist ihm klar, daß ich von der Sache nichts weiß und daß er das benützen muß. «Als dieser Stadtteil schon völlig zerstört war», und er weist dorthin, von wo ich geflüchtet bin, «sind sie abgezogen in unübersehbaren Massen. Wir haben gar nicht gewußt, daß es so viele Ratten in der Stadt gegeben hat und wo die alle versteckt waren. Es war nie eine Plage gewesen. Ratten hat es ja immer schon gegeben. Wie sich bewegende Geschwüre sind sie ausgezogen, zusammengedrängt haben sie sich, wie riesige Schwaden weg bewegt und sind draußen verschwunden. Niemand ist ihnen gefolgt. Wir haben geglaubt, daß sie eben weggezogen sind, wie das so ist bei Ratten, wenn sie nicht mehr genug zu fressen haben. Die bewohnbaren Teile der Stadt sind ja nur mehr auf ein kleines Gebiet konzentriert, und die Menschen selbst sind schon hinausgezogen ins freie Land. Einige Zeit nach diesem Auszug der Ratten war Ruhe. Aber dann sind mitten im Stadtkern wieder welche aufgetaucht. Meistens nachts. Sie waren lästig, kaum zu verscheuchen, haben sich auf alles gestürzt, auf das Essen, und haben ihre Scheiße und ihren Gestank zurückgelassen. Langsam sind die zurückgebliebenen Ratten zu einer richtigen Gefahr geworden, sie wurden immer frecher. Gift haben sie nicht angerührt, und wir konnnten es auch nicht überall streuen. Erstaunlich war aber, daß sie nicht mehr wurden. Sie wurden zudringlicher, aber sie nahmen in ihrer Anzahl nicht zu. Es waren damals noch Ratten in normaler Größe. Angst haben wir erst richtig bekommen, als sie anfingen, den Kindern aufzulauern. An ihre bloße Anwesenheit hätten wir uns fast gewöhnen können, wenngleich es natürlich sehr unangenehm war, daß sie uns die Nahrungsmittel verschlepppten, wovon wir damals ohnehin nur sehr wenig besaßen. Sie begannen, die schwächeren Menschen anzufallen und ihnen Wunden zu nagen. Sie fraßen immer das Hirn heraus, selbst wenn der Betreffende noch im Todeskampf lag. Unheimlich rasch ging das. Sie entwickelten eine immer geschicktere [64] Angriffstechnik. Wir konnten niemandem helfen, denn wir wären selbst in Gefahr geraten. Schußwaffen sind nicht mehr da, schon seit einiger Zeit nicht mehr, und es wäre auch die Frage gewesen, ob es geholfen hätte, denn die Viecher griffen immer überlegter an. Außerdem ging alles in solcher Schnelligkeit vor sich. Die Lage spitzte sich innerhalb von nur ein paar Tagen zu, so daß wir gar nicht Zeit hattten, uns zu wehren oder irgendwelche Gegenmittel zu finden. Fast wäre in der Auseinandersetzung mit dieser Plage in einigen von den alten Wissenschaftlern wieder die alte Energie zu Erfindungen ausgebrochen», und jetzt lächelt der Mann ein wenig, nur ganz flüchtig, um sich gleich wieder auf seine Erzählung einzulassen. Auch die anderen haben aufgehört zu spielen und horchen jetzt, nicken manchmal und sind jedenfalls nicht mehr abgeneigt, den Ausführungen des jungen Mannes zu folgen. «Wie gesagt, es war überhaupt keine Zeit dazu. Selbst zur Flucht war keine Zeit. Die Viecher fraßen sich bereits in jeden hinein, der sein Versteck verließ, und auch dort drangen sie oft ein. Von den Nahrungsmitteln, die wir selbst aßen, rührten sie nun überhaupt
nichts mehr an. Sie wurden wie süchtig auf ihre neue Nahrung, und mit diesem Genuß veränderten sie auch ihre Gestalt. Sie wurden dicker und aufgeblasener. Von den Körperteilen der Opfer nahmen sie überhaupt nichts mehr, sie wollten nur mehr das Hirn ausfressen aus den Schädeln. Wir sahen alles mit an, die wir versteckt blieben, die wir in so geschützten Gebäuden lebten, daß sie noch nicht eindringen konnten. Wie lange unsere Mauern aber standhalten würden, war unsicher, und noch dazu ging uns allen in den Häusern langsam die eigene Nahrung aus. Wir konnten keine neue beschaffen. Viele, die es nicht aushielten, fielen den Bestien zum Opfer. Wir beobachteten, daß die Tiere einander selbst angriffen und töteten, wenn zu viele über ein einziges Opfer herfielen. Von uns waren es nur wenige, die sich noch nach draußen wagten. Es haben sich oft grausige Kämpfe abgespielt, zwischen den Ratten selbst. Ihre Hirne ließen sie aber unberührt. Die angenagten Menschenleichen lagen neben den Rattenresten. Die Schädel der Menschen waren leergefressen. Fünf oder sechs Tage dauerte das alles nur, da wurde unter uns irgendwie laut, daß bloße Kreidestriche sie abhalten könnten. Kreide ist ein altes Mittel gegen Schrecken aller Art, aber niemand hätte gedacht, daß auch in diesem Fall die Lösung so einfach sein [65] könnte. Durch Zufall ist das aufgekommen, als sie in ein Gebäude eindringen wollten, wo ein Kind mit Kreide malte, auf den Stiegen des Treppenhauses, wohin es unerlaubterweise ausgerückt war. Aus den Fenstern haben wir uns die Neuigkeit zugebrüllt, nicht jeder hatte Kreide im Haus. Damals haben wir die Auflassung unserer Telefonleitungen fast bereut. Wir hätten diese Verständigungsmöglichkeit gebrauchen können.» Er hält wieder ein wenig inne und bemerkt mich wieder, als hätte er vergessen, daß ich der Anlaß zu seiner Erzählung sei. «So war es doch?» wendet er sich in Gedanken zu den anderen hin, die genauso verloren nicken, halb erleichtert, halb ergeben dem Entschluß des Jungen, diese Geschichte zu erzählen. «Ja, dann kam, daß der Kretter, der in der Stadt als ein kluger Kopf bekannt war, er ist einer der ersten gewesen, der beigetragen hatte, daß wir es als Erleichterung empfunden haben, als vieles aufgelöst wurde, ganz einfach auf die Straße ging, mit einem Haufen Kreide, und rund um sich Kreise und Striche zog, und die Ratten, die sich vorerst auch auf ihn stürzen wollten, langsam zurücktrieb. Sie wichen und wichen. Sie sammelten sich in einem Haufen, sie rückten zusammen, von allen Seiten her. Wir hatten das Gefühl, daß alle auf Raub aus waren und keine versteckt blieben. Es handelte sich damals nur noch um einige in verschiedenen Größen, gräßlich aufgedunsen und stinkend. Der Kretter kroch weiter über die Straßen, und dort vorne machte er diese wilden Zeichnungen, eine breite Zone, die die Ungeheuer bis jetzt nicht mehr übertreten haben. Kretter sagt, daß sie im Aussterben sind, und daß sie außerdem wieder kleiner werden. Das Gas weicht langsam aus ihnen, und diese Tiere verenden dann.» Er scheint etwas erschöpft von seiner Erinnerung zu sein und schaut hilfesuchend zu den Leuten auf an dem Tischchen. Die Frau springt für ihn ein und beendet die Geschichte: «Sie haben damals angefangen, diesen Schuttwall zu besiedeln. Seitdem kommen sie fast nicht mehr herüber. Ich glaube, Kretter hat recht, die sterben aus, ich habe das so im Gefühl, als würde das Leben dort drüben langsam leiser. Ich kann es natürlich nicht genau sagen. Wir sehen nicht nach. Viele von uns, die noch in der Stadt geblieben waren, sind damals auch noch weggezogen, überstürzt hinausgefahren, und seitdem sind sie nicht wieder zurückgekommen. Die Leute bleiben jetzt draußen, dort [66] scheint es doch recht angenehm zu sein. Es ist ja niemand gebunden an die Stadt. Ich glaube, ich bleibe noch hier. Mir gefällt es da in den alten Häusern, die noch stehen. Ich habe immer schon gern in der Stadt gelebt, und schon damals, als sie angefangen haben hinauszuziehen, habe ich immer gewußt, daß ich für mich diese Veränderung gar nicht anstrebe. Jetzt mag ich überhaupt gern hierbleiben, was soll ich mich verändern ...» «Ja, du hast recht, mir geht es auch so», meint einer der Männer, der bis jetzt noch
nichts gesagt hat. Ruhig hat er diese Feststellung von sich gegeben, wie eine Botschaft, die in sich ruhen kann. Der Bericht hat uns nachdenklich gemacht, wie wenn vom Krieg erzählt wird. Die Stimmung ist eher gelöst, und ich habe mich, wie schon gestern in der Kirche, eingegliedert in diese lockere Gemeinschaft. Es muß Mittag sein, es ist recht warm, und die Sonne brennt ein wenig. «Geh, zieh das Dach aus», bittet die Frau den Jungen. Es könnte seine Mutter sein, aber ich glaube das eigentlich nicht. Er rollt ganz einfach ein etwas zerknittertes Sonnendach aus einem Behälter heraus, am Rand der Grube, und dann hängt er es auf der anderen Seite in ein aus der Erde ragendes dünnes Rohr ein, das ein Loch hat, um den Haken zu halten. Schön schattig ist es jetzt und geschützt. «Wir sollten was essen, wir haben noch allerhand», bedenkt der Dicke, der mich vorhin gescholten hat. Mein Brot halte ich noch halb angefangen in der Hand. Ich beiße wieder, so als hätte ich gerade eben erst geschluckt, hinein, und es gibt Bier, wieder einen Schluck für mich. Der Dicke hat Wurst. Eine, die so aussieht wie die von gestern, die die Leute aus der Bank gebracht haben. Ich vermute, daß die Nahrungsmittel von wenigen in der Stadt bereitet werden, die alle Menschen hier damit versorgen. Wurst, für jeden einen ordentlichen Happen! Ich merke, daß ich schon großen Mangel an Salz gehabt haben muß, denn die gewürzte Wurst gibt mir Kraft zurück. Sie haben auch Obst. Grüne Äpfel und eine birnengroße Frucht, die ich nicht kenne, die mir aber auch nicht sehr schmeckt. Ich frage nicht danach. Ich lasse das auch in diesem Fall lieber sein. Es herrscht Ruhe, anscheinend wurde mehr erzählt, als hier üblich ist, und das genügt den Leuten. «Ich glaub, ich geh jetzt, ich möcht hinterm Haus noch die Pflänzchen umsetzen. Ich muß sie vereinzeln, sonst wachsen sie mir wieder in [67] diesen wirren Büscheln heraus wie im Vorjahr. Das mindert die Qualität.» Die Frau lacht über ihr Fachwissen. Sie steckt den letzten Bissen hinein, nimmt noch einen Schluck aus der großen Flasche, die alle benützt haben, und rastet einen Augenblick, satt vor sich hin schauend. «Ich geh auch», sagt der Dicke. Der Junge zieht das Sonnendach ein und dreht den Schemel um, auf dem er gesessen hat. Der entpuppt sich nun als eine Treppe mit drei Stufen, über die man leicht den Rand der Grube erklimmen kann. «Wer nimmt die Flasche mit?» erkundigt sich der junge Mann. «Gib sie her», erklärt sich der Dicke bereit, «ich hab noch genug zu Hause, ich füll sie wieder.» Einer nach dem anderen steigt heraus aus der Grube. Ich natürlich auch. Ich wollte nicht allein hier drin bleiben, auch wenn die Ratten momentan nicht angriffslustig sein sollen. Ich greife mir an die Stirn und denke, daß es ja noch allerhand andere Schrecken hier geben könnte. Wir stehen noch eine Weile herum. Alle dehnen die Glieder. Diese Menschen haben es nicht eilig. Welcher Tag mag heute sein? Keine Ahnung. Ich habe fast das Gefühl, daß ich mit dieser Frage arg angeeckt wäre. Vielleicht hätten sie mich ausgelacht, oder hätten sie es mir auch sagen können? Ich stehe auch so herum und tue, als hätte ich nichts zu tun. Das stimmt natürlich, aber meine Untätigkeit unterscheidet sich wohl etwas von der Ruhe der Umstehenden. Die Stoffsäckchen, in denen das Essen verpackt war, werden hier sorgsam gehütet. Jeder hat seines zusammengelegt, weiß sind sie alle und sauber. Genauso als würden sie immer wieder gewaschen werden. Anderes Gepäck kann ich an diesen Leuten hier ebensowenig entdecken, wie schon bei meinem gestrigen Gang durch die Stadt. Ich stehe neben der Frau, die ein Kleidungsstück trägt, das mich an ein anderes Gewand erinnert. Es ist weiß wie die Essenssäckchen, aus grobem Stoff und besteht aus einer losen Jacke. Ein starker Gürtel hält alles zusammen. Unten eine Hose im selben Material, lok-
ker, an den Knien leicht ausgebeult und nicht bis auf den Boden reichend. Sie trägt keine Schuhe. Barfuß ist allerdings hier nicht die Regel. Die Männer wenden sich zur Kirche zurück. Der Dicke und derjenige, der nur so wenig gesagt hat, umarmen einander kurz, als machte ihnen diese Bewegung den Abgang leichter. Ich selbst hatte eigentlich das Gefühl, dort hinunterziehen zu wollen, dorthin, wo ich wieder [68] diese breite Straße vermute. Ich habe das Bedürfnis, die Orientierung nicht ganz zu verlieren. Die Frau allerdings wendet sich in die Gegenrichtung, dorthin, wo es hinausgeht aus den Häusern. Ich vermute das Trümmerfeld auf ihrem Weg, und dort möchte ich nicht hingehen. Sie sagt aber: «Gehst du auch da?» Ich stehe zu meinem Reflex, und ich antworte: «Ja, ich gehe auch da.» Sie wäre allein sicher genausogut gegangen, aber ich hatte in ihrer Stimme so etwas schwingen gehört, was bedeuten könnte, daß sie froh wäre, wenn ich auch da ginge, und das ist bei dieser Schweigsamkeit und Eigenständigkeit der Menschen hier etwas Einladendes. Ich kann ja wieder zurückgehen und mich dann hinunterwenden zur Straße. «Ich glaube, die Freunde werden schon viel gemacht haben. Das Feld trägt heuer sehr gut. Im vorigen Jahr war es viel schlechter, die Rüben waren wurmstichig und die Kartoffeln voller Käfer. Salat habe ich im Vorjahr keinen gehabt, da war der Rosner noch voll am Zug.» Sie lacht und wirft eine Hand heiter und gelassen in die Luft, auch schütttelt sie die Haare ein wenig, und das macht sie jung. «Der kann sich ja gar nicht sattarbeiten, der Mann, ich glaube, er bestellt seine Felder noch, wenn kein Mensch mehr da ist, der sie braucht.» Sie beruhigt sich in ihrem kleinen Ausbruch wieder. Sonst macht sie beim Reden wenig Bewegungen. Sie hat es nicht nötig, ihre Sprache zu unterstützen oder durch die Hände zu rechtfertigen. Ihr Wort ist ruhig und klar. Sie sieht mich an, sie ist in sich bewegt durch ihr Plaudern, aber im tieferen Bereich still, fast unbeteiligt. Sie könnte jederzeit das Reden abbrechen und würde dabei nicht verlegen sein. Vielleicht mag sie an die Vierzig sein -, oder noch älter. Es ist schwierig, sie zu schätzen, so wie die Mirja in der Kirche. Auch sie ist kräftig, aber nicht so von innen heraus wie diese rötliche Frau es war. Sie ist feiner, auch ihr Haar ist fein und glatt, naturbelassen. Ein wenig Grau kann ich darin sehen. Die Augen sind weich und groß. Sie sind den offenen Blick gewöhnt, der ein wenig von dieser verlorenen Verwunschenheit trägt, wie ich es hier schon öfter an den Menschen erkennen konnte. Mild strahlende Ergebenheit, die aber der Bewegung und Heiterkeit im Augenblick nicht entbehrt. Sie macht sich wieder über den Rosner lustig, den hier alle zu kennen scheinen. «Ja, wenn er das so will, er fühlt sich bei der Arbeit gut, sie hält ihn [69] gesund, sagt er. Heuer mußte er aber einige Felder lassen, es wird auch für ihn schon mühsam. So viele helfen ihm ja auch nicht mehr. Und wenn, dann nur sporadisch. Bei mir sind sie recht fleißig. Da muß niemand viel mehr machen, als ihm lieb wäre, es geht immer so aus, ohne daß man Bedenken haben müßte.» Sie hält wieder ein wenig ein in ihrem Sprechen. Es ist ein milder Tonfall in meinem Ohr. Bewegt in den Höhen und Tiefen, aber im Grundton eher satt und gedämpft. Sie geht auch so. Langsam und wiegend im Schritt. Man merkt nicht, daß sie keine Schuhe trägt, sie geht wie auf Ledersohlen, so sicher. Sie scheint anzunehmen, daß ich fremd bin, sonst könnte sie mir nicht so berichten, denn hier im Umkreis scheint das alles bekannt zu sein. Vom Rosner habe ich ja auch in der Kirche schon gehört, wenn ich mich recht erinnere. Ich weiß nicht, kennen sich die alle im Umkreis? Möglich wäre das. Es ist uns die ganze Zeit niemand begegnet, und auch jetzt ist niemand in Sicht. Wir wandern im Schatten der Häuser, die auch hier verfallen erscheinen und wahrscheinlich unbewohnt sind. «Einige Zeit haben wir angenommen, daß wir überhaupt nur mehr von Pflanzen leben könnten. Es ging auch gut, recht lang. Wir haben nur Früchte und Gemüse gegessen, wir waren froh, daß die Schlachthäuser geschlossen waren, wer hätte denn auch noch die Tiere reingeführt, nur um sie zu morden. Es wären schon welche dazu bereit gewesen, aber die
sind alle aus der Stadt gezogen, schon ganz am Anfang, die konnten sich mit der stillen Art des Lebens nicht zurechtfinden. Für kurze Zeit hat es so ausgesehen, als wollten sie Gewalt anwenden und uns alle unterdrücken. Das war damals eine sehr unruhige Zeit, in der auch viele von uns mitten auf der Straße niedergeschlagen worden sind, viele sind gestorben, richtig ermordet mitten am Tag, obwohl sie nichts taten. Das war es ja, was die anderen anfangs nicht ertragen konnten. Die Rohen hätten uns schon die Ochsen und die Schweine erschlagen, aber sie sind dann nach und nach weggegangen, und bei uns ist es ruhiger geworden. Wir haben Gemüse gegessen und Obst ...» In ihr steigt wieder die Heiterkeit in die Höhe, und die Hand fährt durchs Haar. «Dann hat sich aber doch einer endlich zu sagen getraut, daß er Lust auf ein ordentliches Stück Fleisch hätte, und wir haben uns ausgemalt, wie wir das zubereiten könnten und wie es aussehen würde und wie es schmecken müßte!» [70] Kindlich ist sie in ihrer Naivität, aber nicht kindisch, ich kann mir das alles recht gut vorstellen. Während sie jetzt in ihrer Erinnerung wieder in sich zurücksinkt und in einen leiseren Ton fallen will, blickt sie mich plötzlich ganz gerade an, legt mir, so als wollte sie vertrauliche und wichtige Dinge sagen, ihre rechte Hand auf meinen nackten Arm und berührt ihn für eine kleine Weile warm und weich, um ihre Hand dann wieder wegzunehmen und in ihren Gürtel zu hängen. «Da hat sich damals der Leister dazu durchgerungen, wieder einige Tiere zu schlachten und Fleisch auszuteilen. Er züchtet jetzt wieder draußen am Stadtrand die Pferde und die Rinder. Seine Frau hält Hühner. Er macht besonders gute Wurst. Viel Fleisch haben wir ja nicht, aber genug, gerade so, daß, wenn man Lust darauf hat und etwas besonders Kräftiges braucht, man es auch haben kann. Allerdings kann es auch einmal aus sein, aber dann würde vielleicht ein anderer einspringen.» Mit einem kurzen Lacher, bei dem sie stehenbleibt, meint sie: «Ich würde es selbst machen, wenn es notwendig wäre!» «Du mußt ja auf die Felder sehen», höre ich mich sachverständig sagen und trete damit aus meinem Schweigen heraus. «Ja, wenn ich schon auf dieser Welt bin, mache ich auch irgend etwas. Wenn es mit meinen Feldern schiefgeht oder es mir zuviel wird, kann ich ja jederzeit alles stehen- und liegenlassen, zu verlieren ist hier nichts. Gerade weil ich das weiß, und weil ich es auch schon gemacht habe, ist mir die Arbeit eher angenehm als eine Last. Manche machen auch wirklich gar nichts. Die haben einfach keine Lust dazu, und die kommt bei denen auch nicht mehr. So viele sind das aber gar nicht, die kann man leicht miternähren. Wenn man niemanden dazu zwingt, ist die Bereitschaft viel größer, als man annehmen wollte, weil der Wille dann den Raum ausfüllt, der vom Zwang besetzt war. Auch bei den Kindern zeigt sich das. Die werken besonders eifrig und gern. Man muß sich nur trauen, einmal alles falllenzulassen. Allerdings war das sehr schwer für viele. Wenn einige erst gemault haben und immer alles schwarz gesehen haben, schadenfroh waren sie, wenn etwas nicht funktionieren wollte. Aber wir waren im Grunde froh, daß wir noch am Leben waren. Alle, auch die Nörgler. Als neue Einführung allein wäre nie alles so geworden. Von selbst hätten wir uns nicht lösen können. Wir mußten herausgerissen werden aus dem Glauben. Eine Ideologie oder eine Lehre hätte nicht genügt. Solche Beine sind die [71] schwächsten, mit denen kann man nicht laufen, die dienen nur zum Denken über das Laufen.» Ich staune über ihren gekonnten und geordneten Ton, den sie bei der Ausführung dieser Gedanken angenommen hat. Sie hat diesmal weder die Hände noch die Augen, noch die Haare viel bewegt, sie war ganz Erinnerung. Vielleicht ist sie doch älter als ich annehme, oder vielleicht hat das nichts mit dem Alter zu tun. Mich reißt ein Schatten an der Häuserfront aus meiner Ergebenheit in ihre Worte. In einem Haustor, jetzt direkt neben mir, hängt ein Mann an einem Strick. Ich schrecke zusammen und ergreife jetzt meinerseits ihren Arm, aber nicht in freundlicher Berührung,
sondern weil ich eine Stütze brauche. Wir sind beide kurz still, ich für meinen Teil bin erstarrt, bis sie sagt: «Ja, das kommt immer wieder vor. Er hat es nicht aushalten können. Warum sollte er auch. Wenn er nicht mehr will, er wird schon gewußt haben warum», und setzt sie in ihrer ruhigen Rede, die so ein Gegensatz zu meiner Erregung ist, noch hinzu: «Vielleicht hat er es auch nicht gewußt. Jedenfalls tut ihm nichts mehr weh. Oder er war sehr krank und hat die Schmerzen nicht mehr ausgehalten. Man kann das nicht recht sehen.» Sie überlegt ein wenig, während ich noch einmal einen verstörten Blick auf diese herausgeplatzte Zunge werfen muß. Ich fühle mich einfach gezwungen dazu, so gräßlich es mir ist, und auch in diese herausquellenden Augen muß ich starren, als könnte ich mir diesen Anblick nicht ersparen. So am Ende zu sein, daß einem das Leben so herausdringen kann aus dem Gesicht, ich hätte gar nicht geglaubt, was normalerweise alles so sehr drinnnen geborgen ist. Hängen, total hängen lassen, sich selbst hängen lassen in der Luft, mit der Luft sich hängen lassen, nicht einmal die mehr nehmen wollen, wenn schon sonst nichts. Soviel ich mich erinnern kann, habe ich noch nie einen solchen gesehen. Ich glaube, das würde selbst aus meiner Erinnerungslosigkeit herausspringen als Einzelbild. Gegen dieses Hängen ist die befreiteste Lockerheit eines Lebenden eine unbeugsame Verkrampfung, und auch wieder nicht, denn der Tote scheint schon steif zu sein. «Der hängt wahrscheinlich schon länger da. Ich werde es dem Exl sagen, der ist, glaube ich, heute ohnehin am Acker. Er nimmt sie herunter und begräbt sie. Auch die von der Straße nimmt er auf.» [72] Wir gehen langsam weiter, und sie spricht so wie vorher. Der Anblick hat nur ihr Thema beeinflußt, nicht ihre Stimmung. Sie hängt ihre Hand wieder mit dem Daumen in den Gürtel. «Mancher legt sich auf die Straße oder auf eine Bank, mancher bleibt im Haus. Es wolllen nicht alle aufs Sanatorium hinauf. Oft allerdings erwischt es sie am Weg dahin. Der Exl hat noch einen alten elektrischen Wagen. Er fährt sie hinauf, beim Sanatorium ist ein Friedhof. Er war früher Totengräber, und er macht das auch noch heute. Meistens ist es ein Gebrechen im Körper, das einen sterben läßt, das macht dann alt.» Erstmals merke ich in einer anderen Art auf, als bei ihren bisherigen Worten und Bewegungen. Sie streicht sich so sinnend durch das Haar, in dem ich diese grauen Fäden erkennen kann, die mich ihr Alter so schwer erraten lassen. Auch die Falten um ihre Augen werden etwas mehr, als sie zu sich selbst sagt: «Es geht niemand gern, aber wenn es nicht mehr sein kann, alt und gebrechlich werden und dauernd Schmerzen haben, das ist ja nicht das Richtige. Unzählige Operationen und Blut und Nadeln und Wasser und Gestank, das hat ja mit dem Leben nur wenig zu tun. Schwer ist es natürlich für einen jeden, weil man so allein gehen muß, aber viele sind hier schon ruhig hinübergegangen ohne diese üble Schneiderei und Zapferei von Innereien. Viele Ärzte haben von selbst ihr Handwerk gelasssen. Der eine, den du gesehen hast, vorhin am Kartentisch, ist ein Arzt gewesen.» Sie hat sich in den letzten Ausführungen etwas erregt und ist härter geworden, aber jetzt fließt sie wieder in ihre sanfte Art über. «Krankheit ist eben das Leben. Wir werden hier ja ohnehin nicht sehr alt. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben soll jeder nur schön aufgeben.» Sie lacht wieder, aber so, als verstünde sie das aus tiefstem Herzen selbst und lebte, was sie sagt. «Im Sanatorium tun sie sich manchmal leichter. Da sind sie beisammen und wissen, daß jeder dort dasselbe vorhat, und das macht oft, daß sie noch einige Zeit heiter dahinleben, die Jungen mit den Alten, so als sei kein Unterschied. Wenn die Jungen dort sehr krank sind, sind sie oft schlechter dran als die Alten. Die helfen ihnen dann ein wenig, nur indem sie da sind und auch dableiben, im selben Sinne wie die Sterbenden. Wer will sich denn schon helfen lassen von jemandem, der mitleidig tut und dann wieder gesund auf die Straße läuft. Soviel ich weiß, ist noch keiner wieder vom Sanatorium heruntergegangen,
[73] ohne den letzten Ausgang zu nehmen. Es geht auch ziemlich schnell. Wenn sie es vorhaben, braucht das Sterben nicht so lang, und es ist immer genug Platz da oben. Essen tun die ja kaum noch, das fällt nicht ins Gewicht. Sie kommen auch von draußen, nicht nur von hier. Sonst haben wir ja kaum Kontakt mit den anderen Gemeinschaften.» Wir gehen den letzten Häusern zu. Weiter unten öffnet sich das Gelände zu einigen Feldern und Gärten, geht über in Wiesen, und ganz weit dahinter kann ich einen Wald erkennen, der sich lang dahinstreckt. «Wo liegt das Sanatorium?» getraue ich mich, sie zu fragen. Sie muß ohnehin sehr genau wissen, daß ich mich nicht auskenne, vielleicht macht ihr das gar nichts. Jedenfalls habe ich das Gefühl, daß diese Frau nicht immer so viel erzählt, und irgendwie vermute ich, daß ihr das guttut, daß ich so fremd bin. Ihr Kontakt bleibt aber immer ganz lose und hakt nie in mich ein, als sei sie ihrerseits nicht neugierig, über mich etwas zu erfahren. Sie plaudert auf dem Weg nach Hause genauso, wie sie auch still gehen könnte, und jetzt scheint sie aber auch schon ganz andere Vorhaben im Kopf zu haben. Wahrscheinlich ihre Felder und Pflanzen. Sie hebt die Hand und zeigt auf eines der letzten Häuser, wortlos, nur zum Übergang in ihre Gedanken. Sie wendet sich zu mir und fragt lachend: «Wieso, willst du vielleicht hin, aufs Sanatorium?» «Nein, ich wollte nur die Richtung wissen.» Sie sieht mich bedächtig an, als würde sie sehen statt sagen, und wissen statt suchen und weist dann mit der Hand in eine Richtung, wo ich Erhebungen erkennen kann. Hügel, keine richtigen Berge und eigentlich auch nicht so weit entfernt. Eine Straße führt hin, genau dorthin, wo das Sanatorium und der Friedhof gelegen sein muß. Sie sagt nichts mehr, sondern berührt mich nur noch einmal kurz am Arm, so wie sie es vorhin getan hat, lächelt mir zu und biegt in den Vorgarten zu einem Haus ein, während ich weitergehe und so tue, als sei das mein Weg. Sie hat keine Zweifel gezeigt, daß ich da irgendwohin kommmen könnte. Sie hat sich nicht gewundert, daß ich da weitergehe, also scheint das vielleicht gar nicht so dumm zu sein. Ich wende mich noch einmal zurück zu dem Haus, in dem sie verschwunden ist. Ein langgezogener Bau ohne Stockwerke, gelblich, etwas abgeblättert, aber mit Blumen an den Fenstern und einem grünen Tor sieht es freundlich aus, so wie sie selbst. [74] Ich wollte ja eigentlich wieder zu der breiten Straße zurück, aber ich bin in diesem freien Gelände nun heimisch geworden. Es ist, als hätte sie mir eine Richtung gewiesen im Unbekannten, und das ist für mich mehr, als es eine Einladung ins Haus gewesen wäre, denn sie ermöglicht mir damit eine Selbsttätigkeit und macht mich weniger abhängig. Zu der Straße hätte ich ja auch nur wieder gewollt, um mich im bekannten Raum zu bewegen, in dem Stadtteil, den ich schon kenne. Ich habe aber jetzt Lust, mehr kennenzulernen und mich hinauszubewegen aus meinem Rahmen. Diese Straße zum Sanatorium, die will ich jedenfalls jetzt nicht nehmen, ich gehe den geraden Weg weiter. Der Belag ist nicht mehr asphaltiert. Es staubt aber nicht, sondern es herrscht Erde vor, die satt und braun am Boden haftet. Weich ist es, hier zu gehen. Es ist nicht mehr so heiß. Linker Hand kann ich im Dunst wieder diesen Wolkenkratzer erkennnen in dem Trümmerfeld, aber auch dieser zieht mich nicht sehr an. Ich wandere geradeaus weiter. Wir sind recht lang gegangen bis da heraus an den Stadtrand. Es muß schon Nachmittag sein, die Sonne hat die Mitte des Himmels schon verlassen. Ich gehe leicht dahin und lächle. Mir ist wohl, so allein auf diesem Weg. Diese Einsicht läßt mich etwas innehalten. Ich spüre meine Einsamkeit, indem ich um mich horche und schaue. Ich bleibe stehen, da sind Felder und Wiesen. Weiter hinten, dort, wo ich schon vorbeigegangen bin, sehe ich jetzt einige Menschen auf einem Acker. Das sind vielleicht die Arbeitenden bei dieser Frau. Möglicherweise ist sie auch eine von diesen Gestalten. In mir selbst aber ist sie ganz nahe.
Ihr Wesen ist bei mir geblieben, in mich eingegangen. Die meisten Felder hier sind unbestellt. Sie scheinen schon längere Zeit brach zu liegen. Ein verrottetes Maisfeld mit ein paar bräunlichen Kolben liegt zu meiner rechten Seite. Ich kauere mich da hinein und lasse unter mir das Bier ausrinnen. Das ist außerordentlich angenehm, und ich bleibe ein wenig im Gestrüpp hocken wie ein Tier. Ganz versteck bin ich, heimelig ist es hier im Geheimnis, und ich fühle mich wie ein Maiskolben. Da ist ein verdorrter Zapfen mit einem mächtigen Haarbüschel am Ende, es sieht fast so aus, als hätte er innen noch genießbare Körner. Ich schäle ihn leicht auf, und wirklich, innen ist noch Weißes zu sehen, nicht mehr ganz milchig und jung, aber immerhin. Ein wenig zäh wird das Zeug sein, aber ich stecke es zu mir. Ich habe noch keinen Hunger. [75] Ich bewege mich weiter und denke, daß ich bis jetzt eigentlich immer etwas zum Essen gehabt habe. Irgend etwas, und sogar immer ein Stück Brot im Vorrat. Ich fühle meinen Kamm in der Hosentasche und fahre mir dann damit über den Kopf. Meine Haare sind wie die der Frau ohne Locken, aber ich vermute ohne graue Fäden. Gemacht hätte es aber nichts. Vorne rennt ein Hase, er läuft gar nicht sehr schnell, er ist nicht sehr von Angst geplagt, aber er rennt zur Vorsicht trotzdem weg. Er verliert sich zwischen den Kamillen am Wegrand, zwischen dem verblühten Mohn und den kleinen gelben Blümchen. Klee blüht rot gesprenkelt. Eine große Pflanze wächst dazwischen, die ich allerdings nicht kenne. Sie trägt oben große rote geschlossene Blütenkugeln und wächst besonders hoch. Ich merke, daß ich stehengeblieben bin, ohne es willentlich zu tun. Ich verharre mit einem Blick nach innen, suchend und verloren über einem Gedanken in ein weites Nichts, das in mir nicht schweigt, aber das keine Sprache spricht. Es schwingt nur, und ich fühle, während ich wieder weitermarschiere, daß es nicht beängstigend ist, sondern nur ohne Halt und ohne Anfang. Und wieder merke ich, daß es mir gar nicht so sehr abgeht, das Erinnern. Es fehlt eben, aber ich fehle nicht, das erscheint mir belustigend. Es beschwingt mich für eine kleine Weile, und diese Herausgehobenheit ist mir nicht wie ein Glück, keine Beruhigung, kein Schmerz, keine Angst, keine Erkenntnis, keine Freiheit, keine Stütze und keine Erklärung, sondern nur eine Losgelöstheit von meinem Ich, ein Zustand, in dem alles sein darf und mir nichts seltsam vorkommt. Ich mir selbst nicht. Vorne taucht ein Punkt auf, noch vor dem Waldstreifen. Die Landschaft ist grün bewachsen, erdig durchfleckt. Steine, schartige Erde auf Äckern, die schon lange rasten und ineinander überlaufen, dann und wann ragen hohe Pflanzen aus ihnen heraus, vereinzelte Bäume und kleinere Baumgruppen, die sich in der Landschaft zusammenhocken wie Wesen einer menschlichen Art. Sie stehen und berühren einander an den Zweigen. Wolken ziehen, sie drohen nicht, gehen ineinander über und verebben, um an einer anderen Stelle wieder zusammenzufluten. Vögel kreischen, sie singen in meinem Kopf ein schrilles Lied, dem ich nicht entkommen kann. Es gehört zu meiner Natur so wie die Vögel am Himmel. Eine Lerche steht in der Luft und [76] singt meinen Ton, ihn unaufhörlich vor sich hin rollend. Der Vogel bleibt immer da über mir und scheint sich nicht zu bewegen, obwohl ich vorwärts gehe. Auch das vor mir wird deutlicher. Es handelt sich eindeutig um ein Haus. Ein verfallenes, niedriges, mit einem abgestürzten Dach, teilweise zumindest, und um einen Anbau. Die Waldfläche dahinter dehnt sich weiter aus, zieht einen breiten Streifen in das ebene Land im Gegensatz zu den Hügeln auf der anderen Seite. Die Straße führt weiter, an dem Haus vorbei. Einerseits würde ich es gern sehen, wenn das Haus bewohnt wäre. Das hieße Schutz, vielleicht einen Schlafplatz, Sicherheit und auch etwas zum Essen. Mein Kolben wird nicht lang reichen. Zugleich weiß ich aber, daß es sich ja nicht um so freundliche Umstände handeln muß, selbst wenn die Bude bewohnt wäre. Wer weiß, wer da haust. Immer näher komme ich, und mir wird ziemlich mulmig. Ich kann mich nicht einmal mehr irgendwo
verbergen. Zurück will ich nicht mehr, der Weg wäre zu weit, vorbeizugehen ist genauso schwierig wie anzuhalten. Ich achte darauf, daß mein Schritt unverändert bleibt und sicher aussieht, falls mich jemand dort vorne beobachtet. Vergebens versuche ich, das Vertrauen, das mich nach dem Gespräch mit der Frau beseelt hat, wiederzufinden, es verwandelt sich aber sofort in Bange und Kraftlosigkeit. Einmal Angst, einmal Zuversicht, hinten und vorne dasselbe. Macht ja nichts - nur weiter -, nur noch, so geht mir der ängstliche Blödsinn, der mich beruhigen soll, in Form von immer wiederkehrenden Worten im Schädel herum. Das Haus erweist sich verfallener, als ich von der Ferne annehmen wolllte. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß da niemand drinnen sein kann. Zumindest kein Lebendiger, kein Mensch. Das erleichtert mich fürs erste, aber macht mich zugleich noch zögernder, weil jetzt alle Möglichkeiten offenstehen. Nichts - alles still. Vorne ein Brunnen. Es gibt Wasser, und das ist gar nicht zu schmutzig. Die Fenster sind wider Erwarten fast alle ganz, auch die Tür ist in den Angeln. Die Fensterladen aber hängen schief. Das Dach hängt herunter, so als hätte es ein Sturm eingedrückt. Unten ein Sockel aus den großen Steinen, wie ich sie auf meinem Weg in den Äckern vereinzelt bemerken konnte, und oben Holz. Sogar verblaßte Farbe ist noch zu erkennen. Es muß hellblau gewesen sein. Ich getraue mich in die Nähe eines der Fenster. Ich sehe nicht wirklich hinein, sondern gehe so vorbei, als sei mein Nahen ein Zufall. [77] Mir ist mein ängstliches Verhalten völllig bewußt. Ich reiße mich ein wenig zusammen und spähe durch die Scheibe. Hinter Staubkrusten und Spinnennetzen kann ich nur eine verfallene Inneneinrichtung sehen, ein Tisch, zwei Sessel, einer gebrochen, hinten einen alten Herd. Da ist jedenfalls niemand drin. Ich gehe auf den Schuppen zu, drehe aber dann noch einmal um und probiere an der Tür. Die ist verschlossen. Die Lerche hängt noch immer über mir und schmettert vor sich hin. Fast hätte ich mich an der Verschlossenheit der Bude schon beruhigt. Das Offenstehen der Schuppentür regt mich neuerlich an. Ich muß einfach hinein. Das bin ich mir schuldig. Die Tür rutscht fast heraus, aber ich kann sie in der Erde einrasten lassen. Sie fällt nicht. Ich mache einen Schritt hinein. Vom Schuppen kommt man direkt in diesen Wohnraum, in den ich schon gesehen habe. Ein beißender Geruch hängt in der Luft. Es ist Benzin oder Lack, irgend so ein Zeug, gar nicht besonders stark, aber doch den Raum durchziehend, in alle Winkel dringend. Ich kann aber nichts sehen, weder Kanister noch Flaschen oder sonstige Behälter, die solche riechenden Mittel enthalten könnten. Soll dieser Geruch meine Mahlzeit sein? Mich drückt schon der Hunger. Wenn er mich allzu stark befällt, bin ich nie wählerisch. Mein Kolben muß herhalten, ich merke es schon, den kann ich mir nicht mehr aufsparen. Jedenfalls werde ich das Wasser draußen begutachten. Während ich wieder aus dem Türrahmen hinaussteige, reiße ich den Mais auf und sehe zu meiner Enttäuschung, daß er nur an der Spitze genießbar erscheint und nach unten zu verfault und zerfallen ist. Ich könnte auf diesen Feldern vielleicht nach alten Rüben suchen, aber die würden vielleicht genauso aussehen wie der Mais. Ich bin mutlos und aufgewühlt zugleich. Ich schaue die Straße entlang und überlege, ob ich vielleicht weitergehen sollte, wer sagt, daß das hier mein Nachtlager bleiben muß. Es ist zwar noch recht hell, aber ich vermute, daß sich dieser Zustand bald ins Dämmern verwandeln würde, und im Dunkeln ein Lager oder Essen zu finden, wäre ohnehin unmöglich. Ich sollte für dieses Dach, unter dem mich kaum jemand stören würde, so hoffe ich, dankbar sein. Ob dieser Geruch eine ganze Nacht lang gesund ist? Vielleicht vertreibt er mir den Hunger. Ich hänge mich über den Brunnenrand und wasche mir in dem Kübel, der drin hängt, die Hände. Das Wasser ist gut, und ich wasche mir auch das Gesicht. [78] Während ich noch über dem Behälter hänge, höre ich fernes, dumpfes Brummen. Ich meine mich zu irren, aber langsam erweist sich das Geräusch als neu in diesem Tönen hier, und noch dazu kommt es stetig näher. Es hält gleichmäßig an, als würde sich etwas heranwälzen mit Macht, aber nicht ohne Mühe.
In mir steigt die nun schon etwas abgenützte Angst vor der Unbekanntheit des Gebäudes neuerlich höher, dem Hals zu, den ich tropfnaß starr halte, um das Geräusch zu orten. Da sehe ich aus meinen wässerigen Augen, die ich mir mit dem Ärmel abwische, etwas aus der Richtung, aus der ich gekommen bin, sich nähern. Das Geräusch wird mir immer bekannter, das trägt jedoch nicht zu meiner Beruhigung bei. Motorräder sind es, die sich da herangraben. Schwere Maschinen, drei hintereinander. Trotz der schlechten Fahrverhältnisse sind sie schnell. Ich weiß nicht, wie ich diese Gefahr einschätzen soll. Ich habe ja gestern schon eine ungefähre Begegnung mit diesen Burschen gehabt, als sie hartnäckig und verbissen um die Kirche gekreist sind. Ich sollte lieber verschwinden, aber ein plötzlicher Gedanke an den Geruch im Haus warnt mich davor hineinzulaufen, denn ich vermute, daß diese Gesellschaft etwas mit der Hütte zu tun hat. Wenn ich wegrenne, könnten sie mich auch sehen. Ich stehe da noch immer naß am Brunnen und weiß nicht wohin, während die drei jetzt noch rascher, da das Stück Straße besser zu werden scheint, näher rasen. Sie müssen es aus irgendeinem Grund besonders eilig haben. Der letzte Fahrer allerdings bleibt zurück, irgend etwas ist mit ihm. Es ist nichts mehr zu machen, sie müssen mich schon gesehen haben, denke ich, während ich aber doch noch hinter die Hütte laufe, das sofort bereue, weil ich mich damit als Ängstliche ausgeliefert habe. Ich habe mich damit schuldig gemacht an einem etwaigen Angriff auf mich. Sie müssen schon ganz nahe sein, da stockt das mächtige Rollen. Ich höre bereits sehr deutlich die rauhen Stimmen: «Mach schon weiter, du kannst doch hier nicht schlappmachen! Es ist eine Katastrophe, wenn wir wegen dir keinen Sprit kriegen. Das heißt Monate ohne Eisen. Dann kannst du dir deinen Arsch am Ofen wärmen!» Sie bleiben abseits stehen, noch etwas entfernt, und ich getraue mich, um die Ecke zu schauen. Das sieht vielleicht recht kindlich aus, mir ist meine Lage aber bewußt, und ich finde es gefährlich, daß ich da so versteckt um die Ecke luge. [79] Zwei Burschen, der eine bärig im Rücken, ganz in Leder, und der andere langhaarig in Jeans, haben ihre Maschinen abgestellt und nesteln am Kopf des dritten herum, der da auf seiner anscheinend etwas leichteren Geländemaschine hängt. «Bis zum Lager da wirst du doch wenigstens noch kommen, dann schnauf dich aus. Aber nicht lang. Wir müssen unbedingt bis zum Zweier, verstehst du, und das mit drei Maschinen, du Sack. Hast du das verstanden! Verdammt noch einmal! Was läßt du dir denn von dem Hund eine über die Glatze brennen. Ich hab immer schon gesagt, daß du nicht genug Härte hast!» So braust der lederne Bär auf, während der andere noch immer am Kopf des letzten herumtut. Er bindet ihm einen Schal um den Schädel. «Den haben sie wirklich zur Sau gemacht, wie das da ausschaut - kannst du noch bis da vor?» erkundigt sich der zweite jetzt und steigt, ohne die Antwort abzuwarten, wieder auf, ebenso der in Leder, und sie tuckern die letzten Meter noch heran und halten am Brunnen. Das dritte Motorrad kommt nur langsam näher, und am Brunnen scheint es auf die Seite zu stürzen, weil der Fahrer es nicht mehr halten kann, um es abzustellen. «Das ist wirklich das letzte. Der Scheißer vermasselt uns noch die ganze Tour. Wir sind auf dich angewiesen. Deine Maschine muß unbedingt als dritte dabeisein, wenn wir Treibstoff fassen. Der Typ glaubt sonst, daß wir ihn bescheißen wollen. Mit dem kann man nicht so umspringen. Der läßt uns dann einfach auf dem trockenen sitzen. Eine neue Quelle reißen wir in dieser verdammten Gegend nicht noch einmal auf!» stößt der Bär vor Ungeduld und Ärger hervor. Er brüllt dann den Verletzten an: «Geh schon, du Idiot, wasch dich da, das Blut rinnt dir ja schon ins Hemd. Ich kann das nicht mehr anschaun. Mit diesen Hosenscheißern soll man sich besser nicht einlassen.»
Ich höre ihn auf der Stelle trampeln. An seinem Gewand rasselt eine Kette. «Wo hat denn der Ringo den Schnaps versteckt? Ein ordentlicher Zug würde ihn viellleicht wieder auf die Beine bringen. Wir könnten auch die Wunde auswaschen», ruft der mit den Jeans. «Was weiß ich, der versteckt seinen Fusel immer woanders, weil ihm der Zande alles aussäuft. Ich schau drinnen. Ich nehm gleich noch zwei von den leeren Kanistern mit.» «Unter der letzten Bodensparre ist noch ein kleiner Tank. Er muß [80] halbvoll sein», kommt eine gequälte Stimme, die sich der Verletzte abringt, wie um nicht ganz in Ungnade zu fallen. «Nicht viel, es reicht für dich ein ganzes Jahr, damit du den Wurzelzwergen davonfahren kannst, die dir den Schädel einschlagen wollen. Ich kann's nicht fassen, dieser Lahmarsch von einem Kotzbeutel!» Schimpfend verschwindet der Lederne im Haus und rumort drinnen herum. «Kein Schnaps da! Schau draußen hinterm Haus. Einmal war er unterm Fensterbrett in dem Riß versteckt!» brüllt er heraus. Ich reiße mich von der Bretterwand los, an die ich gedrückt war, aber es leuchtet mir ein, daß jede Richtung ins Verderben führen würde. Ich stehe wie zur Flucht, aber gebannt in Aussichtslosigkeit. Irgendwie komisch muß ich aussehen in meiner Haltung. Der in den Jeans kommt um die Ecke und ist sichtlich belustigt in seiner Überraschung. «Ja, gibt dir das einmal, Hecko, komm her! Ich hab eine Krankenschwester gefunden für unseren Kleinen. Schnell, das mußt du dir ansehen!» Er verschwindet, um dann gleich wieder mit dem ledernen Bären um die Ecke zu kommmen. Ich habe dazwischen Zeit gehabt, meine lächerliche Erstarrung zu lösen und eine mir in solchen Situationen eigene Sorglosigkeit einzunehmen, obwohl mir das Herz im Mund schlägt. Ich trete ihnen langsam entgegen und schaue sie an. «Die hat noch gefehlt. So was können wir hier überhaupt nicht brauchen. Was schnüfffelst du da herum!» brüllt mich der Bär an und springt auf mich zu, reißt mir die Oberarme am Rücken zusammen und hält mich fest mit dem Griff seiner Tatzen. Als ich mich dehnen will im Schmerz der unmöglichen Körperlage, preßt er noch stärker zu. Dann schleudert er mich auf den Boden, und ich radiere mit dem Gesicht über die Erde, weil ich die Hände nicht schnell genug nach vorn kriege. Das ist weniger schrecklich als es aussieht, denn die Erde ist hier weich und feucht, nicht steinig. Ich halte meinen Arm schützend über mein Gesicht, als ich sehe, wie er die Kette aus dem Gewand reißt. «Halt einmal, Alter, brems dich ein!» fährt ihm der andere dazwischen. Und vom Brunnen her höre ich den dritten rufen: «Schau einmal, vielleicht ist sie vorher noch zu gebrauchen!» «Dafür bist du gesund genug, du Arschloch, du! Das war das letzte [81] Mal, daß ich dich mit anfassen lasse. Mir den Sprit wegnehmen!» und damit wendet er seine Wut dem mit der Kopfwunde zu. Der Langhaarige in den Jeans zieht sofort mit. Ich erhebe mich und putze in meinem Gesicht herum. Eigentlich verschmiere ich nur den Dreck, und sehe, wie der Bulle den Verletzten hochreißt und ihn anschreit: «Jetzt steig auf deine Maschine, und wir fahren noch ein letztes Mal mit dir zum Sprit, dort kannst du mitfassen und dann zisch ab und laß dich bei mir nicht mehr sehen! Wir brauchen dein Eisen noch einmal, ein einziges Mal, damit der Eiser sieht, daß wir noch drei sind und die Ration beziehen können.» Während er den Blutenden hochhält wie einen nassen Fetzen, weist er den anderen an: «Der Tittensau da brenn eins über, die kann uns noch alles schmeißen.» Er blickt wieder auf mich und läßt den anderen los. Der sackt zusammen. Der Bulle
bleibt zwischen uns stehen, unschlüssig, wen er zuerst in der Luft zerreißen soll. Der Blutende stöhnt und hält sich den Schädel, ich zucke wieder zusammen und will den Arm hochnehmen vors Gesicht, tue es aber nur im Ansatz, weil ich eine Möglichkeit wittere, hier rauszukommen. Sie ist mir aber selbst noch nicht ganz formulierbar in dieser vor unbeherrschter Gewalt zitternden Luft, und ich muß erst einmal einatmen. Inzwischen gibt der Langhaarige zu bedenken, daß der Verletzte eigentlich nicht mehr die Maschine fahren kann: «Schau dir den an, wie stellst du dir denn das weiter vor. Der kann ja nicht einmal mehr allein auf den Beinen stehen. Können wir nicht doch bis morgen warten?» «Unmöglich, der Eiser ist höchstens noch eine Stunde im Lager, der wartet nicht auf uns. Ich hab dir schon gesagt, mit dem ist nicht Kugelspielen, verdammt noch einmal, versteht ihr Trottel denn alle nicht, worum es geht!» «Ich könnte vielleicht die Maschine fahren, ich hab so was schon gemacht. Einer von euch müßte ihn aber hinten raufnehmen.» Es ist ein wenig still und alle Möglichkeiten hängen in der Luft, ebenso bleibt mir die Luft weg. Wenn ich über mein Angebot nachdenke, kann ich mich plötzlich genau daran erinnern, daß ich schon allein Motorrad gefahren bin. Ich warte ihre Äußerungen nicht ab, sondern gehe zum umgestürzten Fahrzeug und hebe es hoch. Es ist leichter als ich dachte, und ich raste den Ständer ein. Dann bleibe ich [82] stehen mit meinem schmutzigen Gesicht und warte auf mein Schicksal. Der Bär hat während seines Schweigens die Segel um hundertachtzig Grad herumgerissen, er schreit: «Dann nichts wie rauf und weg mit uns!» und er fängt schon an, zu seiner Maschine zu gehen. «Halt einmal jetzt, warte doch. Wer weiß, geht das? Wer nimmt denn den hinten rauf. Denk doch, Mensch, einmal, ein einziges Mal wenigstens!» ereifert sich jetzt der andere voller Ärger über den Bären. «Ich nehm ihn schon. Herauf mit dir, Kleiner, und paß auf, daß du mir nicht wegfliegst.» Er will schon zu starten beginnen, während der Verletzte noch am Boden liegt und eben damit beginnt, sich ächzend hochzurappeln. «Was ist jetzt mit dem Schnaps? Ich wollte doch eben nachschauen», erinnert sich der in den Jeans und rennt wieder dorthin, wo er mich entdeckt hat. Er ruft noch wie im Scherz zurück: «Nicht daß ihr die Kuh jetzt legt, und ich komm nicht mehr zurecht!» Dann verschwindet er hinter dem Haus. Der Verletzte sinkt wieder zurück. Blut rinnt aus seinem Mundwinkel in den Staub, und er legt den Kopf mit einem gurgelnden Laut auf den Boden. Mit seinem Aufgeben steigt auch in mir plötzlich eine Erschöpfung auf. Der Bär startet nicht. Mit der blinden Entschlossenheit, mit der er aufsteigen wollte, wendet er sich zurück, mit einemmal steht er vor mir, packt mich am Oberarm und schleift mich einfach hin zum Eingang und wirft mich mit dem Rücken gegen die Holzwand. Es ist, als hätte er seine ganze Wut, die er an den mißlichen Umständen aufgestaut hat, in einem sich selbst übertreffenden Überdruß auf mich konzentriert. Ich spüre einen stechenden Schmerz an der Schulter. Ich muß meine Augen geschlossen haben für den Augenblick des Anpralls, ganz kurz. Erstarrt, aber seltsam gefaßt sehe ich, wie der Bär sich die Hose aufmacht, sie herunterreißt mit einem wütenden Knurren, das mir lächerlich vorkommt. Dabei habe ich das glasklare Gefühl, daß auch ihm dieses Spiel lächerlich erscheinen muß, und langsam kommt die Dämmerung hinter diesem Tier im Ledergewand. Ich habe den überaus sachlichen Gedanken, daß es wohl endgültig bald Nacht würde für den heutigen Tag. Zwischen den behaarten Schenkeln des Bären steht ein mächtiges, hochaufgerichtetes rotes Glied, an dem die Vorhaut leicht zurückgezogen [83] ist, und das an der Spitze glänzt. Während ich mich noch immer über meine wachsame Ruhe wundere, die ich in dieser Situation aufbringe, zieht mir der Lederne die Hose und die Unterhose mit einem Griff
herunter und drückt mir das Knie zwischen die Schenkel, daß sie sich öffnen müssen und preßt dann energisch seinen harten Schwanz von unten an meine Scheide. Ich bin aber ganz trocken, und das große Ding geht nicht hinein. Ich habe auch die Muskeln instinktiv angespannt, um es ihm zu erschweren. Da packt er mich unter den nackten Hinterbacken, hebt mich hoch und setzt mich auf den Boden, dann kniet er sich zwischen meine Schenkel, die er wieder auseinanderzwängt und wirft sich mit aller Wucht auf mich drauf, so als wäre ich ein Hase, der noch wegrennen könnte, wenn er schon angeschossen ist. Die Eisenkette, die er schräg über seiner Lederjacke hängen hat, rasselt nieder auf meine Brust. Mit einem unverständlichen Fluch, der nach Leder und Knoblauch riecht, stößt er mir sein hartes Glied rein, daß mir die Luft wegbleibt. Nicht so meine Fassung und meine Gedanken, ich weiß, der ist viel zu schwer, der macht sich viel zu schwer, und mit meinem ersten Schnaufer höre ich mich ächzend herausstoßen: «Paß doch auf, so geht das nicht, mach dich nicht so schwer!» Sein Oberkörper hebt sich für einen Augenblick lederknarrend, ein Alpdruck von meiner Brust, so daß ich wieder einmal ordentlich nach Luft schnappen kann. Der Bär brummt verärgert in seinen Bart, welcher schorfig über mein Gesicht reibt. Der beißende Geruch steigt mir wie eine betäubende Wolke zu Kopf, während der Besessene jetzt wie wild seinen Schwanz in meiner Scheide zu wetzen beginnt. Ich halte mich steif wie ein Stock, mir tut meine eigene Verkrampfung weh. Ich beiße meine Zähne aufeinander in dieser aussichtslosen Lage, die mir so idiotisch, dreckverschmiert und vor Dummheit grölend wie eine Fratze aufsteigt und bemerke, daß ich wieder ruhig und sachlich denken kann, sogar vernünftig. Er wälzt sich hart in mich hinein, er flucht unartikuliert über meinem Gesicht, dann reißt er seinen Unterkörper noch einmal hoch. Meine Hose muß irgendwo gerissen sein, sie beengt mich stark an den Knöcheln. Im nachhinein fällt mir unter Atemringen ein, wie lächerlich er ausgesehen hat mit seiner halb heruntergezerrten ledernen Hose. Der Bursche wetzt so ungeschickt und hart an meiner Scheide herum, daß mir dieser Bereich in der Reibung wie eine Wunde aufbrennt. [84] Ich habe Angst, daß sein Schwanz wie ein Brecheisen wirken würde, aber zugleich habe ich den Verdacht, daß er ihm gar nicht mehr so mächtig steht, sondern daß er sich durch seine mühsam aufrechterhaltene Wut und durch das irre Schaben weiter in Gang halten will. Ich glaube, er hält in seiner Wut nicht durch, vielleicht reicht sie nicht. Wenn er nur oben nicht so massig, sein Körper nicht so schwer und ledern wäre, wenn ich nur Luft hätte, und wenn er nicht so scharf rumpeln würde da unten, hielte ich das schon aus. Der Idiot, ich soll doch dann noch die Maschine fahren, ich werde nicht sitzen können. Als würde er meine zweifelnden Gedanken hören, zieht er Rotz durch die Nase, legt seinen Kopf stachelig für einen kurzen Augenblick wie erschöpft an mein Gesicht und setzt noch einmal zu einigen raschen aufeinanderfolgenden, schnaufenden Stößen an. Ich spüre nicht mehr viel, aber meine Unterseite ist aufgerieben und brennt, so daß ich mir, als er anscheinend doch noch spritzt, wie ein in den Boden gewetztes Loch vorkomme und mich nicht erheben kann. Er allerdings springt auf, zieht sich die Hose hinauf und will laufen. «Na, und jetzt? Soll sie jetzt da so liegen bleiben? Ich hab geglaubt, sie soll die Maschine fahren», ertönt die belustigte Stimme des Langhaarigen, der mit der Flasche Schnaps lässsig an die Hausecke gelehnt steht. Der Bär wendet sich zurück: «Verdammt, jetzt komm schon! So schlimm war es ja wieder auch nicht.» Er beugt sich sogar herunter und will mir meine Hose wieder über den Hintern zerren. Ich wehre aber ab und versuche, mich langsam hochzurappeln. Ich spüre Schmerz in meinem Unterleib, aber keinen bestimmten, nur wie eine Druckstelle. Ich stehe schwankend
und schaue in die noch weiter fortgeschrittene Dämmerung, dann ziehe ich meine Hose mit der Unterwäsche langsam hoch. Ein Knopf ist abgerissen. «Na geh schon, vorwärts, hast dich ohnehin nur lustig gemacht über mich», setzt der Lederne hinzu und rückt an seiner Kette. Ich spüre ein verschwollenes Lachen über mein Gesicht gleiten. «Sehr lustig!» sage ich und fahre mir mit der Hand über meinen Unterbauch. Es ist jetzt auch naß zwischen meinen Beinen. «Jetzt nichts wie weiter, der Kleine kann es schon nicht mehr erwarten», drängt der Langhaarige und rennt vor, während der Bär sich zur Seite dreht und umständlich und verstohlen etwas aus seinem [85] Hosensack kramt. Rasch, so daß es niemand sehen soll, steckt er mir wortlos ein paar zusammengeklebte Karamelbonbons zu und läuft selbst zu seiner Maschine, auf der der Verletzte bereits vornübergebeugt liegt. Der kann sich nicht mehr allein aufrecht halten. Als sich der Bär hinaufschwingt und ihn dann zum Aufsetzen zwingt, rinnt dem Verletzten wieder Blut aus dem Mund. Ich stecke die Bonbons in meine Hosentasche und laufe selbst zu meiner Maschine. Da hält der Langhaarige noch einmal inne und gibt zu bedenken: «Was wird denn der Typ draußen sagen, wenn wir mit diesem Gespann ansurren?» «Das ist dem Eiser ganz scheißegal, Hauptsache, er sieht drei Eisen, dann spurt er schon. Der fragt nie viel! Also los jetzt - halt dich an, Blutsack, das mußt du selbst besorgen. Beiß in mein Leder hinein, dann fliegst du schon nicht weg!» Er startet bereits. Der Langhaarige treibt mich: «Geh, Kleine, spritz an und fahr vor, damit ich sehen kann, daß du die Karre halten kannst. Du fährst dann dem Hecko nach. Es ist nicht weit. Paß auf die Spuren auf, daß sie dich nicht verreißen. Der Weg wird jetzt hier ohnehin härter, da hast du's leichter. Ich bleib hinter dir. Los!» Bevor er startet, sieht er mir noch zu, wie ich den Ständer löse, antrete, es nicht gleich schaffe, mir den Dreck noch einmal im Gesicht verschmiere, und dann stark hineintrete, es zu dröhnen beginnt, während ich am Gas drehe und wieder lockere, um mich in das Lied der Fahrt einzustimmen. Ich setze mich auf den Sattel. Die Maschine ist hoch, während ich das noch feststelle und um mein Gleichgewicht bangen will, brüllt er von hinten: «Jetzt Gas und los!» Dieses Einstiegsmanöver in die Fahrt habe ich eigentlich nur wie zufällig geschafft, aber einmal oben, ist es nicht mehr so unmöglich, das Gleichgewicht zu halten, weil ja das Tempo ein Umstürzen fast aufhebt in ein Darüberhingleiten, und nach geht es dem Vordermann, der schon ziemlich weit abgerückt ist. Der Verletzte hängt schief auf dem Sozius. Wenn der jetzt runterfällt, würde ich ihn über den Haufen fahren. Meine Fahrt geht in einen Flug über, der das Denken überrollt, der mein Nachdenken über meine Vergangenheit einfach überfliegt, weil mir klar ist, daß ich schon einige Male mit so einem Eisen gefahren sein muß, und alle Griffe gehen wie von selbst ein in mein Handeln. [86] Ich habe die Maschine jetzt unter Kontrolle und werde sie sicher dort hinbringen, wo sie hin soll. Sie bringt mich, wo sie hin will - in das Hinüberröhren hinein, in die Geschwindigkeit von Zeiträumen über den Besenstiel gebrochen zum Quadrat mal Energie durch den Nenner im Denken ist die Wurzel aus Sprit mal Rückstoß aus einer Rakete hinein ins Sonnensystem hinweg über die Bedenken der bremsenden Spuren in der Erde nur immer darüber hin knapp über dem Boden eine Stahlfeder gegen den Wind geschnellt durch die Luft, der einsame Flug unter dem Abendhimmel. Das Bremsen wird mir schwer. Ich muß das Manöver bald beginnen, weil der Bär vor mir schon langsam wird. Ich habe die Hütte gar nicht gesehen, die jetzt dasteht. Davor
einige Motorräder. Ich schaffe es, scharf und noch im letzten Augenblick, fast geschockt durch den plötzlichen Stillstand, kann ich jetzt nur straucheln, aber ich fange die Maschine gerade noch ab, indem ich mich schräg gegen ihr Stürzen stemme. Ich lache vor Anstrengung und Erleichterung und stelle die Maschine ab. Mir brennen die Handflächen. Der Langhaarige klopft mir auf die Schulter und weist mich an, ein wenig still stehenzubleiben, bis sie den Handel getätigt hätten. Dem Verletzten befiehlt er: «Bleib da bei ihr stehen und halt dich so gut es geht, Mensch, daß dich der Eiser nicht so sieht!» Mit Befehlen ist aber da anscheinend nicht mehr viel auszurichten. Der Verletzte sinkt von seinem Sitz herunter, weich und geschmeidig, ergeben in diesen Sturz. In der stetig wachsenden Dämmerung vereinigt sich sein Körper mit dem Staub und der Erde. Noch einmal zuckt er auf wie der verlorene letzte Sonnenstrahl, der sich beeilen muß, um den anderen zu folgen. Noch einmal dieses Gurgeln aus der Lunge heraus, dann ist es still. Hecko steht über ihm und läßt die Arme blöde hängen. Ich streiche mir über den Unterbauch, die aufgeriebene Stelle brennt. Harte Schritte kommen aus dem Haus. Es könnte einmal eine Werkstätte mit Tankstelle gewesen sein. Obwohl es schon so düster ist, erkenne ich einen narbigen, fast kahlen Schädel über einer derben, gedrungenen Gestalt, die breitbeinig vor der Tür des verkommmenen Gebäudes in einer Lederbundhose, Stiefeln und einer verschmierten losen Jacke steht. Über der linken Schulter hängt ihm ein abgesägtes Schrotgewehr mit einem Doppellauf, und am rechten [87] Oberschenkel sehe ich ein schweres Bajonett in einem Schaft stecken. Der in den Jeans macht eine erste Bewegung, er hebt den Arm und sucht nach Worten, aber dem Mann in der Tür muß man nichts erklären. «Für den gibt's nichts mehr!» entscheidet er mit rauher Stimme. Hecko richtet sich auf, holt tief Luft, deutet in meine Richtung und meint energisch, aber nicht ganz wie sonst: «Wieso - sie ist doch gefahren!» Mit seiner Handbewegung richtet sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich, abwartend, bedrohlich wie eine unbekannte Waffe, und wieder spüre ich wie schon vorhin im unmittelbaren Angriff eine ruhige Spur in mir ablaufen, die ich langsam und beinahe besinnlich verfolgen kann, jenseits meiner aufschießenden Angst. Ich sehe, wie die Sonne absinkt und nur mehr als kleiner oranger Bogen am Horizont steht. Die Finsternis breitet sich langsam über uns aus, wie die Stille, die über mir lauert. Eiser hat seinen Blick auf mir, ein dumpfes, gefährliches Starren. «Halt einmal - ihr kriegt überhaupt nichts, alle kriegt ihr nichts, bevor ich nicht eine Runde auf der Hur geritten bin!» Mit diesen Worten tritt er näher an uns heran, derb und unbeugsam. Eine Narbe an seiner Stirn glimmt auf. Sie tritt hervor wie das Mal einer grausamen Zeit. Ich weiche einen Schritt zurück, da steht Hecko plötzlich neben mir, hebt den Kopf mit einer respekteinflößenden Entschlossenheit und entscheidet nun seinerseits: «Dann gib eben nur für zwei, aber sie laß in Ruh!» Der Zwiespalt brennt auf, die Gefahr erhebt sich nun erst wirklich aus dem Dämmerstreifen zwischen dem Eiser und uns, indem der Narbige, so als wäre diese Geste sein Denken, langsam an seine Flinte greift und sie ein wenig hochhebt, als wollte er drohend an sie erinnern. Dabei zieht ein hämisches Lächeln langsam über sein Gesicht, indem die Narbe eine andere Form annimmt und noch unheimlicher anzuwachsen scheint. Während ich meinen Blick davon gefesselt fühle, springt Hecko plötzlich rasch und unerwartet, als sei er vom Motor einer Maschine geschleudert, nach vorn, in das Grinsen hinein, und er reißt mit einem Ruck am Riemen der Flinte, so daß sich dieser vom Schaft löst. Der Eiser verliert das Gleichgewicht durch den unerwarteten Riß und fällt nach hinten, während Hecko nun das [88] Gewehr hat und auf ihn zielt. Zugleich sehe ich Leute
aus dem Haus treten. «He - ihr Idioten!» schreit einer scharf. Sie bleiben aber beim Haus. Während Eiser noch nicht einmal am Boden aufgeprallt ist, erkenne ich schon, wie sich dieser breite Körper unerwartet katzenhaft noch im Sturz wieder aufrichten will, blitzartig das Bajonett hervorreißend - aber da drückt Hecko ab. Mit einem betäubend lauten Knall fetzt das halbe Gesicht Eisers weg, mitten in der Narbe. Rot spritzt es auf, während Hecko schon wieder anlegt. Für einen Augenblick bin ich in die Wunde, die wie ein blutiges Maul zu klaffen scheint, gefangen. Sie atmet, das Fleisch will ausrinnen. Die Bewegung, die jetzt beim Haus entsteht, löst mich aus meiner Erstarrung und blitzartig fährt es mir wie mit einem Schuß ins Gehirn, daß ich jetzt rennen muß, und während mir dieser Gedanke aufleuchtet, finde ich die Bewegung und laufe und haste blind, ich rase weg, weg von der Stelle, weg, und weiter hinein in die Dunkelheit, über die brockige Erde, und immer weiter. Hinter mir knallt noch ein Schuß, darauf eine kleine Explosion, und noch verbissener haste ich über das Feld, ohne mich umzuwenden. Ich muß wohl so an die fünfzig Meter gelaufen sein, da trete ich ins Leere und falle, ich lande in einem tiefen Graben. Noch im Sprung, noch im Fallen, erschüttert eine ohrenbetäubende neuerliche Explosion den Raum. Ich kauere mich instinktiv zusammen, das Gesicht auf die Knie gedrückt, die Arme um meinen Körper gepreßt, ein Brausen im Schädel, gefühllos von dem Dröhnen, das in der Luft und in der Erde bebt. Geröll fliegt in die Grube herein, Erde und Sand bedeckt mich. Trotz allem erkenne ich, wie auch ein großer Gegenstand bei der Grube aufgeprallt sein muß. Ich hocke so in mich verkrampft eine ganze Weile, bis sich die Erschütterung in meinem Schädel beruhigt hat und ich wieder einigermaßen hören kann. Langsam bewege ich meine Glieder und Muskeln, noch immer in der Kauerhaltung verharrend. Mein Hirn steht still, so als sei mein Denken mein Handeln. Langsam richte ich mich auf. Mehr Erde stürzt von oben auf mich herunter, Sand knirscht mir zwischen den Zähnen. Ich recke meinen Kopf vorsichtig über den Rand des Grabens und sehe eine helle, hohe Flamme vor dem dunklen Himmel aufsteigen und ein Loch, wo vorhin noch das Haus gestanden hat. [89] Die Gestalt des Lichtscheins, mein Starren dort hinein, nimmt meine Gedanken, meine Empfindung, meine Verlassenheit und meine Erschöpfung auf, und es bleibt ein neues Aufglimmen in mir zurück, ein stilles Vertrauen in mich, mitten in der Fremde. Ich stehe im Graben, die Arme unter meinem Kopf verschränkt und beobachte die kleiner werdenden Flammen, als würden sie wie selbstverständlich zu meinem Leben gehören. Dann bohre ich die Finger energisch in meine Ohren, um sie endgültig freizulegen für die Stille der Nacht, taste mir über eine wehe Stelle am Arm, putze Erde von meinem Gewand, und noch bevor der Gedanke aufglimmen könnte, was ich jetzt tun sollte, sinke ich in meine Erschöpfung, und mir ist klar, daß ich für heute kaum noch zu laufen imstande wäre. Die Beine sind heiß und zugleich starr, die Arme hängen bloß noch an meinen Schultern. Das Sausen im Kopf löst sich nicht so rasch, ich sinke mit diesen Tönen zurück in den Graben, hinüber in einen tiefen Schlaf der Überanstrengung, zusammengekauert wie vorhin in der Gefahr. Am Morgen steige ich wieder heraus. Neben der Grube liegt eine morsche Tür, sie muß wohl zu dem Haus gehört haben, von dem nichts mehr zu sehen ist. Nichts mehr ist da, nur ein tiefes schwarzes Loch sehe ich aus der Entfernung. Ich wende mich davon ab, befühle noch einmal meinen Arm, der nur einen blauen Fleck hat, massiere ein wenig an meiner linken Schulter, richte meine Hose und putze mich sauber, so gut ich es kann. Nur in den Ohren liegt mir noch ein unbestimmbarer Druck. Manchmal knackst es. Ich frisiere mein Haar, stecke den Kamm wieder ein und wende mich, so wie ich es vorhatte, ent-
schieden weg von der Stadt, weiter hinein ins Land, auf der Straße weiter, die ich gekommmen war. Ich habe nichts mehr zu tragen, den Mantel habe ich schon bei dem Haus gelasssen, wo ich auf die Maschine gestiegen bin, meine Arme sind frei. Ein Lüftchen weht, meine Haare bewegen sich im Wind, und wieder fliegt ein einzelnes vor meinem linken Auge wie ein Zeichen meiner Einsamkeit, das ich wahrnehme als eine Botschaft meines Selbst, das jenseits des Bewußtseins seine Natur hat. Eine Lerche hängt wieder über mir, während ich weitergehe. Möglicherweise ist es die von gestern. Auf dem freien Feld gewinnt der Wind eine Herrschaft, die er ungebrochen ausspielt. Er kann nicht erklingen, sich nicht brechen an [90] Mauern und in Ecken und Winkeln, aber auch hier draußen spricht er eine unverkennbare Sprache. Ein Rauschen und Wischen in den vereinzelten Bäumen. Streifen über Samt im Gras und Huschen in den Binsen auf den verlassenen Äckern. Stöbern durch die Erde, leise, stetig, manchmal ein Wirbel wie in geliebtem Haar, und dann streicht er wieder sanft über das Land und über mich, bis er mich gefügig gemacht hat für sein Lied und für den Gesang seiner Spielgefährten. Ein Orgeln im Boden, wie ein geheimer Saft, der anschwillt, ein Lebenselixier, ein Todestrank, ein Wesenszug im Blut des Planeten. Der Weg ist weich geworden und wäre für ein Motorrad ungünstig zu befahren. Weiche Erde unter mir und ich auf ihr, aber es ist eindeutig ein Weg zwischen Feldern und Bäumen. Der Waldstreifen wird deutlich, und die Hügel linker Hand sind etwas bergiger geworden. Einer zieht scharf herüber, meinem ebenen Mittelweg zu und bildet dort einen Bergfuß, einen Übergang von der Ebene zum Anstieg. Dieses Rauschen und Brausen kann nicht allein der Wind sein, es trifft sich mit einem anderen Lied, das stetiger und ungebrochener tönt als es selbst, ein starkes Klingen ist es in mir, das der Kraft des Windes an Energie nicht unterlegen ist. Dort vorne läuft ein Bach. Er muß von den Bergen herkommen. Der macht eine kleine Biegung in meine Richtung, und wir wandern miteinander weiter, so als hätte er sich entschieden, jetzt, eben jetzt mit mir zu gehen in meiner Weise. Aber vielleicht ist es auch so, daß ich meine Richtung dem Bach untergeordnet habe, vielleicht übt sein Rauschen und das Orgeln des Windes eine geheime Macht auf mich aus und lenkt meine Schritte, meine Gedanken, und ich Märchenkind glaube, diese Gewalten richten sich nach mir. Und dabei muß ich erfahren, daß diese Mächte meine bescheidenen Bedenken völlig über den Haufen spülen, mir die Gedankenhaube vom Schädel heben und einen Choral anstimmen, der mir jede willkürliche Ordnung mit Energie durchdringt, die man so schwer benützen kann, weil wir nicht mehr die Freunde des Windes sind und nicht mehr die Brüder des Wassers und nicht mehr die Genossen der Lava und nicht mehr die Kinder der Sterne, denn wir wollen uns erheben zu Herren der Zeit, obwohl es diese gar nicht geben muß. Ein aussichtsloser Absturz der menschlichen Weisheit mitten in einen Kuhdreck hinein. Ob es hier Kühe gibt? Ich sehe nur Kuhfladen. [91] Der Bach sprudelt vor sich hin und genügt sich darin, daß ich seine Sprache lernen müsse, und er nicht die meine. Er weist mir in seinem Fließen aber eine Richtung, in der ich ganz weit vorne wieder so etwas wie Felder, aber solche, die bebaut sind, erkennen kann. Ich versuche meine Schuhe von der Kuhscheiße zu reinigen und muß mir die Haare immer wieder aus dem Gesicht wischen, die der Wind sich hier draußen so frei hernimmt. Er trocknet mich ein wenig aus und fegt mir die Vernunft aus dem Schädel. Ich beuge mich über den Bach und wasche mir die Hände, dann das Gesicht und die Arme bis hinauf, so als hätte ich mich schon lange nach sauberem Wasser gesehnt. Ich trinke es, und ich gurgle damit. Ich habe Vertrauen zu diesem Naß, wesentlich mehr als zu dem in dem Brunnen beim Haus. Ich stehe bis zu den Knien im Wasser und lasse es ungehindert in das Hemd hineinrinnen, das ich nicht ausgezogen habe. Ich kann nur den blauen Fleck am Oberarm entdecken, alle anderen Flecken erweisen sich bloß als Schmutz. Die Schulter schmerzt noch ein wenig. Im Unterleib ist so etwas wie ein leichter Muskelkater zu spüren, aber sonst bin ich heil. Ich lege mich ins
Gras und überlasse mich dem Schwingen der Töne in meinem erfrischten Sinn. Zwei Schmetterlinge sind hintereinander her, dicht bleiben sie einer hinter dem anderen, auf und nieder, ich liege und habe diesen Anblick auch im Gehör, so als wären sie das Zwitschern der Vögel. Durchdringend ist das unaufhörliche Plappern dieser Himmelsgeschöpfe, unentrinnbar wie das eigene Denken. Die Fliegen und Mücken surren, entfernen sich, um wieder anzubrausen, das Gras kitzelt mich an der Wange, und dieses kleine Gefühl wird wie ein Griff an mein Gesicht, scharf ist die Oberfläche der Natur sowie auch samtig und bröselig, zersplissen und porös sowie glatt und rund, gläsern wie Kristall und spitz und wieder durchlöchert von Poren, jede ein Krater in das Geheimnis hinein, das sich innen austobt, oder ist das Geheimnis das Äußere des Planeten, ist es das Samenkorn dieser Blume, die sich da an den Erdboden schmiegt, viele zugleich, wie Polster, auf denen man liegen kann. Es streichelt der Wind über sie hinweg, die Feuchtigkeit aufsaugend, die an ihnen haftet und sie so wuchern läßt wie eine wunderschöne Krankheit, wie das Leben selbst. Ein Geschwür, zu einer Blume erblüht, ist der Gedanke an den eigenen Tod im Wind am Wasser unter der Orgel des Himmels, die Wolken sind ein Atem derer, die die Welt erschaffen, während sie leben, und die nicht nach einem [92] Schöpfer kramen in ihren Hirnwucherungen, um ein früheres oder zukünftiges Leben ringend. Mein eigenes Herz - eine Windmühle, Energie meiner eigenen Nahrung, die Grenzen überlieferter Lebensarten werden zu neuen Energiequellen direkt aus dem Schwung selbst, den ich über mein eigenes Gehirn mache - mitten hinein in das Liegen auf der Wiese, ein Tönen im Reigen der Sprachen belebter und unbelebter Natur. Schlagen und Schwingen, Klirren nach Zittern, Dehnen bis zum Reißen, der Anschlag einer Glocke, ein endloser Gong der ganzen Erde, sie selbst ist der Klöppel. Die Hirnsprache, nicht die Menschensprache, die Baumsprache und die Steinsprache, die Blumensprache und die Wettersprache, die Wasserlieder und die Wolkensprache, die Ameisensprache und der Bienengesang, ein Rutschen von Kiesel, ein Gurgeln im Bach, ein stetiges Rinnen, unaufhörlich quellend über das Gesicht des Erdballs kühl und eisig. Ob Fische im Bach sind? Ich habe keine gesehen. Sie sprechen aber auch, wenn sie nicht da sein sollten, denn Anwesenheit beweist nichts. Spült hinweg die Vernunft, aus den Zellen rinnt es hinunter, gräbt heraus, stetig und sicher, den logischen Geist, der Grenzen zieht, zwischen Verstand und zwischen Geburt, zwischen lebendig und tot, zwischen Mensch und Tier, zwischen Gott und dem Menschen, zwischen Krieg und dem Frieden, zwischen einst und heute und dann und nimmer, ewig und nie. Zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen Mein und Dein. Die Logik ist die Grenze, die nichts vereint, wenn man sie aufhebt, aber das erlöst vom Glauben an eine andere Welt. Die Hirnsprache und auch die Menschensprache, eine Möglichkeit, sich freizulassen in die Wesenheit jenseits von tot und lebendig? Flötentöne klingen an mein Ohr. Solche wie sie Weidenpfeifen machen. Mir klingt der Kopf. Diese Töne sind aber genau zu bestimmen. Die Quelle dieses Lieds ist eine ganz sichtbare. Ein Kind spielt auf so einer Pfeife. Es muß die ganze Zeit da vorne gesessen haben, wahrscheinlich lag es so wie ich, und deshalb konnte ich es vorher nicht bemerken. Ich weiß nicht, ob es mich sieht, jedenfalls dreht es mir den Rücken zu und entfernt sich langsam, seinen Weg immer wieder unterbrechend, wie das Kinderart ist, sich bückend nach einem Kiesel und dann wieder laufend, bewegt es sich weiter den Weg entlang, stetig wie der Bach. Ich bleibe noch sitzen, auf die Arme gestützt und schaue immer wieder, ob das Kind schon verschwunden [93] ist. Irgendwohin muß es wohl gehen. Wohin führt sein Weg? Meinen Weg? Muß ich weiter? Wie das Wasser? Das Sinnen und Trachten der gesamten Menschheit schmilzt aus diesem Zusammenklang und wird selbst nur zu einem winzigen Wassertropfen, dessen Glanz sich kaum unterscheidet vom Schimmer der vielen Wirbel, die da aufblinken im Schaum der Gedanken über die Steine. Seit wann bezeichnet sich die Bewegung als Mensch, seit wann hebt die Sammlung von energischen Teilchen eine Hand aus dem Wasser und sagt, hier komme ich, aber ich weiß nicht recht, wie ich
mich über Wasser halten soll. Das Kind ist schon ziemlich weit entfernt, und ich muß mich erheben, um es nicht aus den Augen zu verlieren oder zumindest die Richtung, in der es läuft. Rette sich wer kann im Wind am Wasser auf einem glühenden Ball, verloren im Universum ohne Erinnerung. Rette sich wer kann vor der verderblichen Energie, sich hier verschanzen zu wollen hinter dem Aberglauben der Vernunft und aus Trotz und aus Ohnmacht, aus Angst vor dem Tod. Ich nehme wieder den Weg auf, zu dem sich die Straße langsam gebildet hat. Ein Feldweg neben dem Bach. Weiden grinsen wie Gnome zu mir her, und Dotterblumen, große, saftige leuchten. Von der Ferne sehe ich Gebilde, aber das wechselt sein Bild. Hohe Stäbe kann ich erkennen und ein graues oder grünliches Ding, aber es tritt nicht klar genug hervor. Es liegt nicht immer nur an der Entfernung des Objekts, sondern auch an der Beschaffenheit meiner Spuren, die mich führen könnten. Ich folge dem Kind, das noch immer pfeift, weiter und weiter. Es hat sich eigentlich sehr von seinem Wohnort entfernt, das Kleine, so allein. Es scheint mit der Natur hier vertraut zu sein. Die Hügel ziehen steil herunter von der linken Seite, diesem grauen Stück zu. Mit dem Eintreffen des Bachs ist mir die Orientierung zur Stadt, an der ich so verbisssen gehangen habe, etwas verlorengegangen. Ich kann nur mehr sagen, daß ich von dort hinten gekommen bin. Ich habe mich so weit von meinen Erkennungspunkten entfernt, daß ich nichts mehr von einer Stadt sehe, auch nichts mehr von dem Wolkenkratzer. Hinter mir liegt ein Bild, das mir ähnlich wie der Blickausschnitt vor mir erscheint, obwohl ich nicht den Eindruck habe, den einen Hügel erklommen zu haben, der da hinten liegt, und auch nicht die Biegung getan zu haben, die der Weg so deutlich macht. Und ich nehme immer an, ich verfolgte alles so genau, und [94] glaube, daß sich Bäche in meine Richtung wenden müßten, und dann stehe ich nur da. Ich kann natürlich mein Erstaunen auch in Energie zum Weiterwandern verwandeln, sonst entwischt mir das Kleine noch. Jetzt allerdings nähere ich mich schon den Menschen, die vorne auf den Feldern arbeiten. Sie bücken sich und nehmen etwas aus der Erde. Es sind sechs oder sieben. Sie haben wenig an. Ein Tuch um die Hüften, zwei sind nackt. Einer trägt eine lange Hose und einen Sonnenhut. Männer und Frauen. Ich erkenne endlich mehr da vorne. Es ist eine Windmühle. Sie dreht sich jetzt. Ein hohes, leichtes Triebwerk, das wie im Spiel arbeitet. Mein Weg geht nicht direkt an den Feldern vorbei, auf denen gearbeitet wird. Die Leute beachten mich nicht, obwohl sie mich gesehen haben müssen, da jetzt vier von ihnen eine Pause einlegen und sich unter eine Baumgruppe setzen. Sie trinken aus einem Krug. Ein Gebäude liegt unten an einem Hügel, halb hineingewendet in den Hang, und während ich jetzt den Weg entlang etwas nach links einbiege, dreht es mir sein Gesicht zu, und ich habe das Gefühl, ich erkenne es wieder, ohne es vorher gesehen zu haben. Es liegt am Wasser. Der Bach fließt an seinen Körper. Tiefe Augen hat das Haus unter einer knöchernen Stirn, einem Totenschädel gleich prangt es vor mir wie die Bestätigung meiner eigenen Phantasie. Ich habe vorher noch kein Gebäude gesehen, das einem menschlichen Kopf so ähnlich gewesen wäre, nicht nur in seinem Äußeren, sondern auch in seinen Hohlräumen, die ein inneres Geheimnis vermuten lassen, das dem menschlichen sehr nahe sein muß. Es handelt sich hier nicht um leere Kunst, sondern um einen zweckmäßigen Bau. Das Kind verschwindet dort unter den Säulen des Mundes. Ein schwarzes Loch, das dauernd spricht, ohne eine Sprache zu benötigen, ohne auf- und zuzugehen. Das Mauerwerk ist unten mit Blättern bewachsen, die die Starrheit lebendig machen und Schatten aufwerfen, um sie gleich wieder zu schließen. Der Wind sorgt für die Bewegung. Er sorgt draußen für die Bewegung der Windmühle, und das Wasser sorgt für die Bewegung des Wasserrads, das sich an einer Seite dieses Steinwesens dreht. Um den Turm stehen Bäume. Ich habe auch noch nie so viele verschiedene Arten von Bäumen gesammmelt auf einem Fleck beobachtet. Föhren neben Buchen, Kastanien neben Tannen, Birken
zwischen Ahorn und Pflaumen bei Äpfeln. Diese Baumsammlung [95] bildet sich aber nur an einem verhältnismäßig kleinen Platz hinten und an der Seite des Haus-Gesichts. Niemanden kann ich dort sehen. Mich befällt die Angst heute nicht, wie ich sie bei meiner Annäherung an das unbewohnte Haus hatte, obwohl dieses Bauwerk hier wesentlich beunruhigender aussieht. Ich gehe ihm neugierig, ohne Gedanken an einen möglichen Rückzug, entgegen, was immer mir in seinem Inneren auch begegnen wird. Sein Aussehen stimmt mich ein auf Ruhe. Möglicherweise beruhigen mich aber auch die Spur des Kindes und diese arbeitenden Menschen am Feld, die anscheinend hier ihre Heimstätte haben. Ich bin ganz nahe herangekommen. Ein monotoner Takt schlägt hölzern. Einige Schritte habe ich noch bis zu dem Loch durch den Mund, der ein großes Tor in das Innere des Schädels ist. Die schwarzen Augen sind nicht nur Fenster, sondern auch Öffnungen zu Arkadengängen im oberen Stockwerk, sie sehen bereits über mich hinweg, weil ich schon unter ihnen bin. Das Gebäude verliert auch bei der Annäherung nicht seinen Charakter. Es begegnet mir nicht als unpersönliches Gespenst, sondern es lebt als eigenes Wesen, das mich nicht ängstigt. Ich werfe noch einmal einen Blick auf die Arbeitenden zurück. Recht weit entfernt sind sie jetzt wieder, aber noch gut zu erkennen. Sonst ist niemand hier. Das Kind ist in diesem Schlund verschwunden. Jetzt erst kann ich mein Erstaunen über etwas Sonderbares an den Mauern richtig benennen. Die Blätter sind es, die sich hier ranken. Sie sind ganz besonders dick und stark durchpulst mit Saft. Ihre Adern treten hervor. Die Stämme sind dick, schlangenartig, lianenhaft gefasert, wie das bei Kletterpflanzen üblich ist, aber viel kräftiger und lebendiger. In sich selbst grün leuchtend, da und dort hell schimmernd. Sie bewegen sich ruhig im Wind, schmiegen sich aber fest an die Mauer, wenngleich ich den Eindruck habe, daß diese Pflanzen keinen Schutz brauchen, sondern daß sie imstande wären, Wände niederzureißen. Ich bin gar nicht so sicher, daß sie mich da ungehindert durchlassen werden. Jedenfalls ändern sie ihre Stellung nicht, als ich durch das Gewölbe gehe, das den Eingang bildet. Eine riesige Dogge taucht vorn im Innenhof auf. Die bringt mich augenblicklich zum Stehen. Ich lächle nicht über meine Bedenken. Dazu ist dieser kalbsgroße Hund zu ungewöhnlich, als daß man sich das Einhalten zwischen Erstaunen, Schrecken und Erwartung nicht verzeihen könnte. Der rührt sich [96] nicht vom Fleck. Denkmal ist er keines. Ich rühre mich auch nicht. So stehen wir Aug in Aug, ich bin wie gebannt. Würde ich dem Tier so auf der Straße begegnen, wäre ich auch befangen, aber nicht so in die Enge getrieben, denn hier bin ich ja sozusagen ein Eindringling. Die Dogge wird mit mir kein Wortspiel anfangen, aus dem ich mich erklären oder mein Unwissen entschuldigen könnte. Wie schon öfter kann ich aber auch nicht mehr zurück, denn dann würde ich nicht sehen, was sie hinter meinem Rücken macht. Die wirft mich total nieder, wenn die mich anspringt, das spüre ich, aber zugleich habe ich den hoffnungsvollen Verdacht, daß sie das gar nicht tun will. Sie kommt nicht näher, sie entfernt sich auf einmal hinein in den Innenhof und verschwindet dort. Sie gibt die Bahn frei. Sie hat nichts zu verteidigen, auch sich selbst nicht. Während ich gebannt vom Blick des Tiers dastand, hielt mich nicht nur diese Lage fest, es klang etwas Ungewöhnliches mitten hinein, das mich zugleich auch horchen und abschätzen ließ, wenngleich ich meine Erstarrung erst nur der Anwesenheit der Dogge zusprach. Ich bewege mich hinein in einen Klangkörper. Der Wind bläst durch die Löcher, im oberen Bereich singt er ein Lied in den Blättern, die auch hier innen in derselben Form weiterwuchern. Rauscht hinein in ihren Wuchs und bewegt Metallstäbe, die herumhängen. Sie schlagen einander, leicht und verhalten, um wieder erneut aufzutreffen, kurze, hell klingende Stäbe und lange, schlanke, die in ihrer Anordnung in den Blättern vom Gewölbe herunterhängend selbst wie Pflanzen wirken. Auch Gläser läuten auf, erklingen in derselben Anordnung wie die Metallstäbe, noch heller, noch durchsichtiger. In den höchsten Lagen sind sie für mich wahrscheinlich kaum noch hörbar. Tongefäße stehen am Rand des Innenhofs und fangen das Wehen röhrend auf. Manche Gefäße hängen frei und bewegen
sich dabei, in ihnen schwingt der Ton, den die Luft erzeugt, auf- und abschwellend in einem beruhigenden Schaukellied. Irgendwo pfeift es durch eine Röhre. Sie mag aus Holz sein. Ich kann sie nicht sehen, aber ich höre den dumpfen, waldhornartigen Blaslaut. Daran, wie ich das Holzrohr ahne, kann ich erkennen, daß es mir nicht schwerfällt, mich in die Einfachheit und Klarheit dieser Körper zu versetzen. Die Geräusche sind aber nicht laut, sie bilden einen akustischen Hintergrund, der nach einiger Zeit ins Vergessen einsinkt. Es befremden mich die Pflanzen, die drinnen beinahe noch körperharter [97] aufragen als an der Außenmauer. Hier wachsen sie auch aus der Erde in der Mitte des Hofs. Sie bilden eine mächtige Gewächskuppel, und ich kann eigentlich gar nicht sehen, ob es sich hier nur um ein Pflanzendach oder auch um ein Steindach handelt. Das Licht ist oftmals gebrochen wie die Töne, fein und sirenenhaft. Da sind Drähte von einer Pflanze zu einer Liane gespannt. Eine große, aber scheinbar sehr dünne Metallplatte, rund und glänzend, bewegt sich frei in den Hof herunter, fest hängend, ungehindert im Schwung. Ihr Schweben erzeugt ein Zittern der Blätter. Die Pflanzen bilden an ihren Enden teilweise große Trichter mit einem sanften Pelz. Ich kann nicht sagen, daß sie sich für mich sichtbar bewegen, aber im Wind jedenfalls neigen sie sich und drehen sich und sehen zu mir her. Auch bei diesen Wesen möchte ich fast meinen, daß sie mir nicht böse gesinnt sind. Sie hätten gefährlich genug werden können, aber sie leben vor sich hin, wie es eigentlich alle Pflanzen tun, nur treten diese so wesenhaft deutlich hervor. Ein menschlicher Laut läßt mich in meinem stillen Rundgang aufhorchen. Eindeutiges Kindergreinen ist zu hören. Es kommt aus dem Arkadengang, der von einer großen Trompetenpflanze bewacht wird. Ich nähere mich dem Babyschreien und sehe einen Säugling in einer Art Wiege liegen. Bei näherer Betrachtung allerdings erkenne ich, daß das Kind im starken Blattgewirr der Pflanze eingebettet ist wie in einer Mulde. Es weint so, als sei es zu früh aus dem Mittagsschlaf erwacht. Ein wenig gespenstisch finde ich es, daß die Pflanze sich in sich zu wiegen beginnt, wie um das Kleine wieder in Schlummer zu versetzen. Ich suche plötzlich nach Augen in dem Gewächs. Hätte ich einen Blickkontakt mit einem Wesen herstellen können, wäre mir leichter gewesen, aber so kann ich nur in diese unzähligen Ästchen und Blätter schauen, wo ich bis zu handtellergroße Auswüchse, ein wunderbar verästeltes Aderspiel erkenne. Ich kann nicht sehen, wie das vor sich geht, ich kann die Intelligenz dieses Wesens nicht ausmachen, mit der es imstande wäre, das Richtige zu tun. Ich fühle mich ein wenig bedroht davon, aber zugleich besänftigt mich auch die Tätigkeit der Pflanze. Das Baby beruhigt sich, steckt den Daumen in den Mund und gleitet wieder in ein schläfriges Saugen hinüber. Die Pflanze stellt ihr Schaukeln langsam ein und steht wieder still, nur im Wind ein wenig bewegt, als Wiege für ein Menschenkind. Das Kleine hat ein Hemdchen an, aber keine Windelhose. Anscheinend darf es in diese Wiege machen. [98] Dort hängen ausgehöhlte trockene Früchte herunter. Löcher sind hineingebohrt. Sie schlagen satt aneinander, nicht hohl. Durch die Löcher bläst die Luft. Ein kleines Windrad aus Papier steckt in der Erde am Fuß einer großblättrigen Blume, die ich schon als Baum bezeichnen möchte. In den Arkaden zur anderen Seite klappert Holz. Nicht so, als würde es der Wind tun, aber auch nicht in der Art eines Schritts, und wenn, dann muß es ein Mensch sein, der Zeit hat. Es kommt auch ein anheimelnd würziger Geruch von dort drüben her. Ich sehe eine große Öffnung in der Mauer, und da geht es ein wenig hinunter, von dorther dampft es. Es riecht so menschlich, und das löst mich herüber aus der sanften Verzauberung durch dieses Reich, die mir auch ein wenig kalt unter die Haut kriecht, weil es mir so nahe kommt. Ich hänge an meiner Menschlichkeit. Und hier leben sicher auch andere. Die Dogge liegt an einer Steinmauer. Sie frißt aus einem Holznapf. Ziemlich groß ist das Gefäß. Ich werfe einen Blick in das Untergeschoß, das sich aber nur zur Hälfte unterhalb befindet, weil es die Decke über meinem Niveau hat, und ich sehe da einen Mann kochen.
Er rührt in Töpfen, er ist es, der mit Holztellern klappert und sich mitten in der Zubereitung einer Mahlzeit befindet, die aus einem Kessel herausdampft und so verführerisch duftet. Stark muß diese Speise sein, aber ich vermute eine durchaus herkömmliche Art der Zutaten. Pflanzlich riecht es. Mein Hunger beginnt sich stark zu regen. Außerdem duftet es hier auch nach Kuhstall. An manchen Pflanzenstämmen kann ich frischen Mist aufgehäuft sehen. Der allein ist es nicht, der so an Kuh erinnert. Die Dogge trabt eben dort hinten hinein, in einen Trakt der Gemäuer, die sich vom Innenhof nach außen zu aufspalten und Abteilungen bilden. Dort scharrt etwas auf Heu. Dort dumpft es vor sich hin. Dort wird wiedergekäut. Dort ist Kuh. Wie viele, sehe ich allerdings nicht. Warum die bei dem schönen Wetter nicht draußen sind? Aus dem Kuhstall tönt jetzt eine Weidenpfeife. Ich setze mich unter einen dieser baumartigen Blätterriesen. Bevor ich mich an den starken Stamm lehne, schaue ich noch einmal prüfend in die Höhe, um Zeit für etwaige Mißtrauenskundgebungen zu lassen. Ich bin aber scheinbar nicht unwillkommen und lehne meinen Rücken an die faserige Rinde. In meinem Rücken löst das ein lebendiges Prickeln aus, so als würde ich mich an einen menschlichen Rücken lehnen. Eine Berührung [99] unbekannter Menschlichkeit ist aufregend. Jedenfalls ist in mir ein Gefühl für die Lebendigkeit und die Wachheit von Dingen aufgeflammt, die mich ihrerseits um eine Dimension wacher machen für mein eigenes Hineingeratensein in die Umstände. Mein Weg hat sich verändert, seit ich auf dem großen Platz gestanden bin, vor dem steinernen Reiter. Ich greife mit der Hand leicht über ein großes Blatt, das an meinem Arm liegt. Es reibt sich sanft an meiner Haut und meine Haut an seiner Oberfläche. Sie ist glatt, aber doch mit ganz feinen Härchen überzogen. Feiner als es meine Haare am Arm sind. Die Beschaffenheit der Oberfläche dieser Pflanze ist mir nicht unähnlich, auch ihre Beweglichkeit nicht und auch ihr Stamm nicht. Nur ist dieser wahrscheinlich stärker als mein eigener. Er bildet einen Körper aus sich selbst wachsend, eine Stille in sich bergend, die nicht wesenlos ist, vielleicht nicht einmal sprachlos. Daß ich so viel Aufmerksamkeit für diesen grünen Leib aufbringen kann, das läßt mich etwas vermuten, was ich in meinen eigenen Wurzeln weiß, immer gewußt habe. Das gibt mir eine Antwort auf eine Frage, aber nicht im benutzbaren Sinn. Das deckt meine Unwissenheit über meine Herkunft, über meinen Eintritt in dieses Land nicht auf, aber es läßt auch nichts ganz im Dunkeln. Eine andere Möglichkeit der Einsicht, der Einigung mit meiner Wunde der Fremdheit, breitet sich mir sanft über die Haut und verschmilzt zu der Ähnlichkeit in der Struktur aller Zellen. Eine Glocke lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf den Koch, denn von dort her klingt es. Unmittelbar danach kommt ein Junge mit der Weidenpfeife aus dem Geschoß, wo er gespielt hat. Er trägt eine Trommel unter dem Arm und setzt sich auf eine Stufe nicht unweit von meinem Platz. Er muß mich gesehen haben. Auch die Dogge folgt ihm und läßt sich dort nieder. Der Kleine wirbelt Töne auf, die ich nicht erwartet hätte. Er schlägt in die Trommel, gefühlvoll und weich, verhalten und wieder stark, so als würde er kein leeres vorgegebenes Trommelkommando wiederholen, als würde das Echo der Trommel sein Schlagen erst formen. Es ist ein Spiel von Geben und Nehmen, ein Aufschwirren und wieder Einhalten, um die Energie gegenseitig ausschwingen zu lassen. Eine Sprache besonderer Art, die wie Regen klingt, die mit dem Wasser fällt, die mit dem Bach plätschert und die sich wie die Betonung einer Aufforderung gestaltet. Denn tatsächlich [100] trommelt er nicht den Regen herbei, obwohl ich ihm das sofort zubilligen würde, sondern er ruft die Arbeiter nach Hause zum Essen. Dann hält er plötzlich ein, unterbricht wie mitten im Satz mitten im Rhythmus, und von den Feldern her ertönt es wie ein Echo. Von dort her schließt sich der Takt und erfüllt die Erwartungen dieser Atemsprache mit einem Aushauchen, einem Verständnis für das Atmen des Lebens. Es trommelt noch weiter aus der Ferne, kommt aber näher und näher, bis es verstummt. Bevor der kleine Junge, der mit einer groben Leinenhose bekleidet ist
und flachsblondes, schulterlanges Haar hat, wieder wegrennen möchte, wendet er sich kurz zu mir her, sieht mich länger an und stellt mir dann die Trommel vor die Füße, während er in der Richtung des Babys davonläuft. Es muß wach sein, da ich Gluckslaute und Lallversuche vernehme. Ich greife nun das Instrument scheu an. Es handelt sich um eine gewöhnliche, offenbar selbstgebaute Trommel mit einer Tierblase oben straff bespannt. Der Körper besteht aus Ton. Verzierungen kann ich nicht erkennen. Jetzt sitzt der Kleine an der Wiege des Kindes und macht mit ihm «Brrrr» und «Pfffff-bbbb-blblblbl». Ich nehme die Trommel unter den Arm und gehe hinüber zu den beiden, oder muß ich in diesem Fall sagen zu den dreien, oder wer weiß, wie viele hier dazuzählen mögen, und sehe mir das Spiel aus der Nähe an, ohne mitzutun. Das Baby ist über mein Gesicht, das sich über die Wiege beugt, nicht entsetzt, sondern billigt es so wie der kleine Junge, der mich auch in seinen Blick einbezieht. Aus dem Küchengeschoß kommt der Mann herauf, den ich vorher kochen sah. Er schüttet einen Eimer aus bei einigen der Pflanzen. Während er das tut, sieht er sie an, so als wüßte er, daß ihnen das wohl tut. Aus der Küche duftet es heraus. Wie Kondensmilch riecht das Gebräu, oder wie Muttermilch? Nach dem Gießen greift er nach einigen Blättern und streift über manchen Stamm. Er tut das nicht so, als berührte er Schwaches oder Schonbedürftiges, sondern er greift mit sicherem Griff in die Gewächse hinein, so als hätte er es mit Körperhaftem zu tun, mit dem er vertraut ist. Er sieht auch einmal zu uns herüber, kommt aber nicht her, und er gießt auch diese Pflanze nicht, welche die Wiege bildet. Auch er müßte mich bemerkt haben. Es geschieht nichts, und das beruhigt mich einerseits und macht mich auch ein wenig fragend. Ich versuche mich in diese unberechenbaren Verhältnisse still einzuordnen. [101] Die vielen Pflanzen machen eine andere Luft. Sie ist gesättigt mit einem Stoff, der hier überreich vorhanden ist und der auf die Dauer einen Schwebezustand erzeugt, in dem man sich draußen nicht befindet. So als sei man selbst gesättigt mit diesem weißen Dicksaft, besonders empfindlich und wach, stark und bereit für alle Botschaften aus anderen Bereichen des Lebens. Sie kommen. Vom Eingang her erkenne ich Bewegungen. Laut sind die Leute allerdings nicht. Ich glaube, die haben Samtpfoten. Ich bleibe an meinem Platz, aber ich richte mich ein wenig auf, halte mich bereit, falls eine Änderung meiner Haltung notwendig sein würde. Die Dogge läuft auf das Eingangsgewölbe zu. Der Anblick ihrer Freudenshaltung wäre allein schon umwerfend. Auch der Junge rennt zum Eingang und läßt das Baby allein. Es gurgelt weiter, und ich greife mit Absicht nicht in die Wiege und beuge mich nicht hinein, da ich nicht den Anschein erwecken will, hier bereits besonders heimisch zu sein und ein Vertrauen zu beanspruchen, das mir noch niemand entgegenbringen kann. Selbst das Baby nicht. Sie tragen volle Körbe und Säcke. Gemüse und Obst bringen sie heran. Zwei haben einen riesigen Stofffleck in der Mitte hängen, den sie wie eine Bahre tragen. Darin sind Gras und Disteln. Eine junge nackte Frau trägt einen Krug auf dem Kopf. Sie scheint diese Kunst erst erlernt zu haben und ist noch selber ganz begeistert von ihrem Geschick. Mit einemmal herrscht hier viel Bewegung, eine Wallung erfüllt die Blätterkuppel, aber eines fällt mir auf: Diese Menschen sind leise. Sie haben wahrhaftig Samtpfoten. Nicht daß sich einer von ihnen zurückhielte oder absichtlich versuchte, möglichst wenig aufzuwirbeln, überhaupt nicht, sie bewegen sich großzügig und ruhig, verrichten ihre Tätigkeiten mit einer Umsicht, die ein geräuschvolles Auftreten unnötig macht. Bewegung herrscht eher im Bereich des Atems, im Bereich der Luft, die jetzt zu schwingen beginnt, sich mit dem Aufatmen der Pflanze vermengt, in der Bewegung der Instrumente, in dem Anschwellen der gläsernen Töne und dem Klingen von Metall. Alles gerät in Leben und löst sich aus einem Dösen. Die brütende Tropenhausatmosphäre faltet sich auf in menschliches Miteinander, das aber seinerseits
nicht ganz menschlich wirkt, da die herkömmlichen Töne, Rufe und Fragen, eher in den Dingen erklingen, sich selbst beantworten und weitertragen zum nächsten Körper. Ein Summen hängt in der Luft, ähnlich dem von Bienen. [102] Ohne Hast, aber gezielt wird gearbeitet, keiner schmeißt sich ermattet hin, die Menschen scheinen von der Feldarbeit nicht erschöpft zu sein. Es findet ein Austausch statt, einer mit den Pflanzen, einer untereinander, einer mit den Instrumenten, alle mit sich und jedem, da tut sich etwas, und nur wenige Worte klingen an mein Ohr. Die Sprache scheint für sie kein alleiniges Verständigungsmittel zu sein. Kräftig sind diese Leute, groß, aufrecht und anscheinend besonders gesund. Sie tragen so etwas in sich Leuchtendes wie Bernsteinfarbe, aber das mag auch nur in diesem Licht unter den Blättern so erscheinen. Die nackte junge Frau nimmt das Baby aus der Wiege und freut sich über sein Gurgeln. Sie wirft es in die Luft und bewegt sich sichtlich so gern wie das Kleine selbst. Sie hat einen festen Körper, eher rundlich. Sie greift auch in die Blätter des Baums, der ihr die Wiege macht, genauso verständnisvoll wie vorher der Koch. Während sie das Baby hält, tastet sie die Erde unten am Stamm ab, so als wolle sie prüfen, wie feucht sie noch sei. Dann nimmt sie das Baby unter den Arm wie ein Paket und geht mit ihm in die Küche. Ein alter Mann, und der scheint eindeutig müde zu sein, obwohl er auch noch kräftig und gesund wirkt, lehnt an einem Pfeiler der Arkaden und beginnt jetzt, langsame Töne auf einer glänzenden Querflöte zu blasen, die im ruhigen Takt der Heimkehrer, die noch Arbeiten verrichten, wieder zurückwellen. Ein anderer Mann schaukelt zwei Eimer in den Händen, mit denen er im Kuhstall verschwindet. Das Muhen der Tiere kann ich jetzt immer stärker vernehmen. Sie müssen schon volle Euter haben. Eine Ziege steht mit einemmal mitten auf dem Platz. Eine weiße saubere. Sie frißt das kurze Gras vom Boden. Zwischen den Steinen rupft sie es heraus. Die Blätterriesen berührt sie nicht. Der kleine Junge lacht auf, selbst wie eine Glocke. Er freut sich, daß die Gesellschaft wieder beisammen ist. Er bringt zwei Häschen aus dem Kuhstall. Sie müssen noch jung sein. Hinter ihm kommen noch zwei ausgewachsene gehoppelt. Er setzt sich mitten hinein in einen Rübenhaufen, den drei Leute sortieren. Zwillinge müssen diese beiden Männer sein, fünfzigjährige etwa, sie streifen die kleinen Hasen energisch von der Decke, auf der sie die schöneren von den weniger guten Rüben auseinanderhalten. Eine alte Frau hilft ihnen. Nicht eigentlich sehr alt, hier kommen auch die Alten nicht gebrechlich heraus, aber jung ist sie nicht mehr. [103] Drahtig und stark wirken auch die älteren Menschen. Die Häschen sind hartnäckig und nagen am Rand des Rübenberges weiter. Ein kleines nacktes Mädchen kreist um eine besonders große Pflanze. Wo das mit einemmal hergekommen ist - ich habe es in der Heimkehrergruppe nicht gesehen. Das Mädchen hat eine Glatze. Vielleicht hatte sie Ungeziefer erwischt. Steht ihr aber gut. Sie ist ja überhaupt nackt, warum sollte die dann Haare haben. Der alte Mann allerdings, der mit der Flöte, der hat hinten einen langen Zopf hängen. Grau und nicht sehr dicht. Sein Haaransatz ist aber noch unverrückt und fest wie auch sein grauer Bart. In allen bewegt sich etwas Stilles, Kräftiges, Pflanzenhaftes. Einer, der durch besondere Größe auffällt, macht sich an den faserigen Stämmen zu schaffen. Dabei sucht er auch sorgfältig den Boden ab und nimmt alle abgefallenen Blätter auf. Er läßt kein einziges liegen. Diese trägt er dann weg, nicht bevor er jeden Stamm begriffen hat, geprüft hat, sehr aufmerksam mit den Handflächen über die Blätter gefahren ist, dabei wie in ein stilles Beobachten versunken. Die allgemeine Bewegung regt ein Klingen an, eines das andere, und die menschliche Energie leitet sich in natürliches Klingen ab, wird zu einem begleitenden Geräusch, für jedermann hörbar und spürbar und bleibt nicht in den Adern der Arbeitenden hängen. Sollte ich mich getäuscht haben, aber manche Pflanzen nehmen jetzt eine andere Haltung ein. Oder bin ich es, die anders sieht. Es kann sich nur um eine geringe Bewegung handeln, aber die Blätter scheinen jetzt reger zu werden. Vielleicht ist es auch nur der Wind, der ein wenig zunimmt. Der Kleine läuft mit seiner Weidenpfeife heran. Er hält sie vor sich hin-
gestreckt, und hinterher kommt das kleine nackte Mädchen, ebenfalls laufend. Er trompetet ein triumphierendes «E E E EHE EH EHE», so zieht er seine Runde, während sie mit «Usch Usch sch schschsch» hinter ihm herrennt. Der große Mann kommt eben aus der Küche, wo er einen Topf abstellt, er fängt den Kleinen im Spaß auf, nimmt ihm die Pfeife weg und bläst nun selbst ein Lied. Dann gibt er das Instrument an die Kleine weiter. Eine andere nackte junge Frau mit einem fuchsigen Roßschwanz, der hoch oben in Scheitelhöhe festgebunden ist, hilft jetzt, die Milchkübel aus dem Stall tragen. Sie ist ebenfalls kräftig und schafft das leicht, wenngleich sie ganz rot im Gesicht anläuft. Das gibt ihr etwas Ulkiges, was mich fast dazu gebracht hätte, ihr zu helfen, aber wer [104] weiß, ob ich dieses Gewicht schleppen könnte. Nicht auszudenken, wenn ich die Milch verschütten würde. Ich habe mich aber schon aus meiner Ungeweglichkeit erhoben und ziehe hinüber zu den Zwillingen und der Alten. Dort hocke ich mich nieder und sortiere mit. «Die Schönen da her und die Unscheinbaren auf den Boden», erklärt mir einer der Männer. Ich bin froh, daß sie auch sprechen können. Das nimmt ihnen das urwüchsig Pflanzenhafte, was mich auf die Dauer fast schon bedrückt hat. Doch das Gespräch wird nicht weitergeführt. Die Erregung im Blattgewirr und in den Luftgefäßen hält unvermindert an und beherrscht die Szene ebenso wie diese Innigkeit, die aus den Menschen nicht weicht, die sie den Pflanzen so verwandt macht. Die Glocke von vorhin ertönt wieder aus dem Küchengeschoß. Der Lange, der seine Latzhose mit einem großen Tuch vertauscht hat, das seine Beine bedeckt, während der Oberkörper frei bleibt, trägt mit dem Koch einen dampfenden Kessel mitten auf den Platz. Die Kinder bringen eine Schüssel mit flachen, dunklen Broten. Die Mutter mit dem Baby, das sie jetzt in einer Stoffschlinge an der Hüfte trägt, bringt Holzteller und Löffel. Die Ziege reibt sich die Hörner am Kessel und wird weggeschoben. Die ist störrisch und kommt gleich wieder. Sie hat sich gar nicht recht wegschieben lassen. Die Dogge legt sich lang und mächtig beim Kessel nieder. Die Kinder sitzen schon da. Sie tauchen die Fingerspitzen in die Brühe und schreien, weil es ihnen noch zu heiß erscheint. Der Kleine wirft sich vor Lachen über die Ziege und hängt auf ihr wie ein Sack. Das Vieh läßt das ruhig zu und kratzt sich weiter sein Gehörn. Das Mädchen will dem Tier unbedingt etwas von seinem Finger schlecken lassen, aber das vertreibt sie endlich, während der Kleine herunterfällt. Er spielt tot und bewegt sich nicht. Sie steckt ihm den Finger mit Brühe in den Mund, er springt gespielt-gekräftigt hoch und beginnt einen Lauf um den Kessel herum. Dabei johlt er ein uriges Lied: «SSSASSSASSSALA-MMMDAMMMDAMMMDALASSSSA-SSSSA-SSSSALA MMMDAMMMDAMMMDLA . . .» Er löst sich aus diesem Rütmus nicht mehr, er hält ihn und verwandelt nur die Zungenschläge in die Artikulation anderer Buchstaben. Der Alte, der noch immer die Flöte bläst, nimmt jetzt diesen Rhythmus auf, nach und nach bewegt sich die Beschäftigung dem Kessel zu, wie in einem Sammellied, das von selbst entstanden ist. Wir vier lassen jetzt die Rüben und setzen uns auch in den Kreis um den Kessel. Der [105] Alte setzt sich, noch immer die Flöte spielend, der Koch kommt auch, ebenso die Frau mit dem Baby und der mit dem langen Beinkleid, sie wachsen langsam heran, ihre letzten Handgriffe beendend. Ein Kübel mit Milch wird noch herausgestellt vom Melker, und ein kleiner Krug kommt daneben. Im letzten Moment rennt ein junger, etwas kleinerer Mann mit einem Leiterwagen beim Tor herein. Er macht einmal einen richtigen Wirbel mit seinem Karren, der ächzt und quietscht. Er erregt in allen ein gemeinsames Wissen, das sie zum Lachen bringt, und er fügt sich nun ebenfalls lachend in den Kreis. Das nackte Roßschwanzmädchen zwängt sich zwischen mich und die Alte, neben der ich zu sitzen komme. Ich weiß nicht, vielleicht möchte sie neben mir sitzen. Oder vielleicht ist das ihr Platz und sie gibt ihn nicht auf, aber sie läßt mir meinen auch. Jedenfalls lacht sie mich fröhlich an, mit weißen Zähnen. Alle haben sie kräftige Zähne, so wie sie selbst kräftig sind. Aufrechte Geschöpfe, die wenig sprechen, wenngleich sie genug Bewegung erzeugen. Es setzt sich. Es setzt sich langsam alles. Auch in den Pflanzen setzt sich etwas. Eine
Übereinstimmung nimmt den Grundton an, in allem, sogar im Wind glaube ich das zu fühlen, der nicht schwächer oder stärker wird, aber ein gleichmäßiges Atmen annimmt. Hier handelt es sich um eine vertiefte Bewegung, in der es aber eigentlich nicht ruhiger zugeht als sonst, nur ist die Qualität der Erregung eine andere, spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Ich kann die Beruhigung gut fühlen, es muß allerhand in Aufruhr gewesen sein. Sie haben ja auch inzwischen viel getan. Der Alte stellt sein Flötenspiel ein. Niemand faßt noch zu. Man hockt da, die meisten auf den Knien. Manche, die jüngeren vor allem, haben die Beine links und rechts am Boden liegen, aber angelegt. Die älteren sitzen meist nur auf den Fersen. Auch ich mache es so, denn es ist mir zu anstrengend, die Beine nach außen zu halten. Mir sperrt es das Blut ab. Ein leises, gleichmäßiges Schlagen dringt von außen her, hart und immer wieder, ein Treiben und Drehen voll Kraft. «Milko, hast du das Rad nicht abgestellt? Für heute ist genug gegossen. Auch die Mühle kann man heute abkoppeln, aber die vordere Welle soll vielleicht laufen. Sie geht jetzt wieder reibungsloser, vielleicht können wir sie erhalten», stellt der auffallend große Mann fest, während er zu dem kleinen hinsieht, der zuletzt mit dem Wagen angerannt gekommen ist. [106] «Ich habe gedacht, wir zwei gehen vielleicht noch einmal hinaus. Ich hätte dir gern die Felderde an der Südzone gezeigt, sie kommt mir nicht sehr schön vor. Sie ist so grau überzogen», sagt der dunkelhaarige Kleine. Der Große nickt nur verständnisvoll, und das Wasserrad schlägt weiter. Die Kleinen streiten um den Löffel. Er will den, den sie schon hat. Sie macht ein böses Gesicht und gibt ihn nicht her. Ein Kampf scheint sich anzubahnen. Die beiden sind verbissen still, pressen die Lippen aufeinander, bis der Kleine mit einem wilden, kurzen Schrei über das Mädchen herfällt. Dem einen Zwilling ist das zu viel. Er sitzt neben dem Jungen. Er hält ihn am Hosenbund fest. Das läßt sich der Kleine nicht bieten und schlägt ihn mit dem Ellbogen in die Seite. Gar nicht schwach, doch der alte Zwilling faßt den Jungen am Oberarm und schleudert ihn mit einem kurzen Ruf ganz einfach aus der Runde hinaus. Der Junge landet auf der Rübendecke mitten in den schlechteren Rüben und bleibt dort beleidigt hocken. «Was für einen Honigtopf hast du verwendet?» fragt der graubärtige Alte den Koch. «Ich nehme jetzt den Blütenhonig. Ich will die neuen Töpfe noch nicht öffnen, bevor wir die anderen nicht fertig haben», sagt der Koch. «Mir ist der ohnehin lieber. Der Safran ist heuer ganz besonders fett. Früh ist er dran», singt die junge Frau mit dem Baby. Sie singt natürlich kein Lied, sie hat so eine beschwingte Stimme. «Die Bärle schaut schon wieder so! Ich glaub, sie will fasten. Sie ißt draußen immer so viel von den Früchten, daß sie dann nicht mehr kann», bemerkt sie dann halb singend, spöttisch, aber auch verständnisvoll zu dem Mädchen herüber, das neben mir kauert. «Nein, ich mag nicht mehr. Ich hab keinen Hunger. Eßt nur. Ich rieche es gern, und ich schau gern zu», meint sie. Sie stellt ihre Unvernunft fest und löst sie damit auf. Nicht ganz so überzeugt scheint die alte Rübensortiererin zu sein: «Du solltest schon ein wenig essen. Es macht stark. Du brauchst das.» Auch der Koch fordert sie auf zu essen, indem er ihr einen Teller füllt und hinhält. «Aber laßt sie, sie weiß schon, was sie will», beendet der große Junge die Debatte und langt sich selbst den Teller, den der Koch bereithält. Das ist ein Zeichen für alle, sich die Teller zu füllen. [107] Manche machen es selbst mit einem großen Schöpfer, der in der Brühe hängt, manche lassen sich von den anderen auffüllen. Die Schüssel mit den Brotfladen geht im Kreis, und
alle nehmen sich. Von hinten, vom Rübenhaufen her tönt jetzt tragend die Flöte, die der Alte vorhin gespielt hat. Der dreht sich um und greift neben sich: «Der Bengel hat sie schon wieder!» «Aber er spielt schon so wie du», bemerkt der Koch. «Ja, ja», stellt der Alte in Gedanken fest und starrt in seinen Teller, bevor er wieder weiter ißt. Er taucht das Brot in die Brühe und saugt und beißt, bricht es auseinander, dann läßt er es in großen Brocken hineinfallen, um es genußvoll herauszulöffeln. Es handelt sich um eine Speise zwischen würziger Suppe und milchigem Brei, etwas gelblich dick, fast harzig rinnend. Eine ungewohnte Essenz ist da beigefügt, die rätselhaft auf der Zunge zerfließt, obwohl sie eher keinen eigenen Geschmack gibt, aber doch die Hauptkraft in diesem Essen ist. Fruchtig, obgleich nicht süß. Wenn ich die Saftigkeit der Blätter über mir betrachte, dann scheint das in meinem Teller damit etwas zu tun zu haben. Es schmeckt mir sehr und sättigt ungeheuer. Heiß brodelt es noch immer im Kessel, dann und wann rührt einer um, nimmt sich nach oder gibt einem anderen. Alle sind jetzt mit der Mahlzeit beschäftigt. «Wenigstens ein wenig Honigmilch solltest du trinken», fordert die Alte wieder das Mädchen neben mir sanft besorgt auf. Sie reicht ihr den Krug, der die Runde macht. «Milch, Milch, damit ich stark werde», spöttelt das Mädchen, gibt mir den Krug und wendet sich jetzt überhaupt an mich, indem sie ganz nahe heranrückt und leise, aber für die stille Runde hörbar, weiterhin wie spottend über die Speise berichtet: «Milch, viel weiße Milch in den Topf, schneeweiße dicke Milch, und das erhitzen», sie macht eine Pause und setzt sich in Pose fest auf die Fersen, sie entpuppt sich als eine Komödiantin, die ihre dramatischen Verse rhythmisiert und verhält, dann wieder mit magischer Gebärde untermalt: «Dann Honig eingerührt, gelber Honig, nicht zuviel, aber stetig einfließen lassen, immer langsam im Rühren und Rühren, und nichts gesprochen. Nur singen darfst du in die Brühe hinein, damit sie immer heißer blubbert, hineinsprechen mußt du deinen Zauber in die Suppe ...» und sie wird ganz leise und geht an mein Ohr: «Dann Safran, ein wenig Safran oder mehr», säuselt sie [108] geheimnisvoll, um sich wieder dramatisch aufzurichten und allgemein vernehmbar zu posaunen: «Den Hopfen nicht vergessen, der macht so stark, und rühren und brodeln und rühren, immer wieder ohne Ende sachte rühren ...» Sie bewegt sich monoton hin und her wie ein Elefant im Käfig. «Und immer wieder hineinsummen in den Brei, denn das will er, so lange, bis du Blattpulver dazumengen darfst.» Sie bricht plötzlich ab und wendet sich mit sachlichem Ton, der nichts Herausforderndes hat, an den Koch: «Ich finde, daß das in letzter Zeit einen anderen Geschmack hat. Es ist herber geworden.» «Da könntest du recht haben, aber es ist gehaltvoller geworden», antwortet nicht der Koch, sondern der große Mann, der vorhin so sorgfältig die Pflanzen kontrolliert hat. Während er spricht, schaut er hinauf zu ihnen, so als würde der Grund dazu dort oben stehen, in den Kronen der Pflanzen. «Und wenn du sie nicht ißt, dann wirst du sie nicht hören», wendet sich das Mädchen wieder an mich, wie befehlend, halb in Spott und in Rätsel. Man ist ihr wegen des Theaters nicht böse, sie scheint öfter solche Anwandlungen zu haben. «Du mußt uns wieder einmal ein Singspiel geben, Bärle. Ich kann mich an das letzte noch genau erinnern. Du bist da eine Meisterin», lobt sie der Alte und wischt sich etwas Brühe aus dem Bart. Keine Muttermilch, denke ich, während ich Mühe habe, meinen Teller leerzuessen. Es scheint sich um normale Kuhmilch zu handeln. Irgendwelche Gewürze müssen aber da noch enthalten sein, die mir das Mädchen in der Aufzählung vorenthalten hat.
«Die Zutaten gebe ich nach Wahl. Sie sind es eigentlich, die den Geschmack ändern und Abwechslung in die Mahlzeiten bringen. Heute habe ich Ingwer und Kümmel genommen», klärt mich der Koch freundlich auf, obwohl ich ihn nicht gefragt habe, «die abgefallenen Blätter der großen Pflanzen werden getrocknet und dann zu Pulver zerstoßen.» Das also gibt den harzigen, geheimnisvollen Beigeschmack, den die Bärle im Gesang in den Trank gemischt hat, so als wäre es ein Zaubertrank. Ich jedenfalls bin restlos satt. Die Speise legt sich warm und wohlig an die Magenwände an, wärmt von innen heraus und nährt die Nerven, die in meinem Fall in letzter Zeit sehr in Schwingung versetzt worden sind. Mir wird ruhig, etwas gedämpft, aber [109] nicht müde. Es steigt eine Kraft hoch im Herzen und in den Adern, die wach macht. Die Brotreste werden in der Schüssel gesammelt, als könnten sie noch verwendet werden. Ein allgemeines Zurücksinken erfolgt, ohne daß man von Übersättigung oder Erschöpfung geschlagen wäre. Fast wie nach gutem Schlaf in frischer Luft, als hätte man Sauerstoff gegessen, fühlt sich alles an. Ja, das Bild fühlt sich an, und das Bild erklingt auch. Diese Stimmung drängt sich mir nicht auf, sie hängt einfach da in der Luft, zwischen den Blättern und den Menschen, zwischen den leisen Tönen und den hellen Klängen. Wer will, kann sich dieses Gefühl pflücken. Von den Tellern ist alles aufgegessen worden, aber im Kessel ist noch allerhand drinnnen. So sahnig wie die Brühe ist die Wohligkeit, die uns hier befällt. Die meisten legen sich auf den Rücken und schauen in das Blätterdach hinauf. Was sollte man sich erzählen, wenn alle dasselbe Wohlgefühl empfinden? Die nackte Bärle legt sich ganz nahe an mich heran. Sie berührt meinen Arm mit dem ihren und legt ein Bein an meinen Unterschenkel, so als würde sie zu mir gehören, als würde sie das immer getan haben. Niemand findet das seltsam, auch ich nicht, unter diesen Pflanzen, mit dieser Pflanzenbrühe im Adergewirr löst sich so ein Verhalten als natürlich auf. Das Wasserrad draußen hält noch immer seinen Rhythmus. Alle hören es und horchen hinein in den Abstand zwischen den leisen Schlägen, das in ein verhaltenes Ziehen übergeht, bis es wieder aufschlägt, eine Schaufel auf die Wasserfläche. Immer im selben Takt. Anscheinend wollen die Männer es jetzt noch nicht abstellen, und sie wollen auch nicht nach der Erde sehen. Sie haben Zeit, und sie wollen vielleicht auch noch das Rad hören. Auch sie liegen im Gras, das mit kleineren und größeren Steinen durchsetzt ist, und sind sehr wach, während sie sich die Müdigkeit der Feldarbeit aus den Gliedern ruhen. Der Kleine spielt wieder die Flöte auf dem Rübenhaufen. Schön schwingt es zum Takt des Rads über dem dauernden Klangvorhang. Die Ziege kratzt ihr Fell an einer Säule. Es ist genau zu hören. Kein ähnliches Geräusch ist im Raum. Die Laute unterscheiden sich so deutlich. Auch wenn es ganz bescheidene Laute sind, kann man sie vernehmen. Ein allgemeines Horchen, die Bereitschaft stillzuhalten, prägt die Ruhe nach dem Essen. Auch Bärle hält sich ruhig an meiner [110] Seite, sie guckt nur manchmal in mein Gesicht, das ich in das Gewölbe gerichtet habe. Mein Kopf liegt auf den gekreuzten Armen. Da legt sie den Kopf auf einen ihrer Oberarme und dreht mir die Augen zu. Dann liegt sie wieder da, eine Handfläche unter dem Hinterkopf, und blickt in dasselbe Dach wie ich. Das Baby greint ein wenig, und die Mutter scheint es wieder in die Wiege des Baums zu legen. Ich richte mich auf und will das sehen. Zuerst erblicke ich aber die Dogge, die an der Wiege sitzt. Vielleicht ist sie schon vorher dorthin gewandert. Ich habe sie nicht gehört, obwohl sie so mächtig ist. Das Kind liegt und kann den Schlaf nicht finden. Das leise Weinen scheint ein Mittel zu sein, leichter dorthinzugelangen. Die Mutter geht hinüber zu dem Honigtopf, der bei der Milch steht, die wir aus dem Krug getrunken haben, und taucht den Finger ein wenig ein. Sie steigt über ein paar Leute drüber, die da ebenso liegen wie wir, und gibt dem Baby Honig zu schlecken. Es saugt. Und wieder beginnt der Baum
sich zu bewegen, hin und her und so sachte, daß ich selbst eine tiefe Beruhigung empfinde. Die Mutter lehnt sich an den Stamm des Baums und schließt die Augen. Ihre Hand streicht leicht über die faserige Rinde, so als würde sie etwas fühlen und etwas zurückgeben mit ihrer Bewegung. Das Baby schläft ein, bis in den Schlaf hinein den Mund bewegend, als wären noch Honigreste an den kleinen Lippen. Bärle merkt, daß ich in dieses Schauspiel vertieft bin, sie hebt ihren Kopf und stützt ihn auf ihre Hand. «Sie singen oft die ganze Nacht lang, hast du das schon gehört?» Bärle spricht leise und geheimnisvoll. Sie wendet sich jetzt nur an mich in ihrer Innigkeit. Allerdings weiß ich nicht genau, ob sie damit nur mich meint oder ob der Gedanke an die Pflanzen sie so stimmt. «Man kann nie voraussagen, wann sie das tun. Zuerst haben wir geglaubt, bei Neumond, aber sie haben keine bevorzugten Zeiten. Wenn man ganz still ist, dann kann man sie ja immer hören und mit ihnen sprechen, aber daß sie zusammen singen, das geschieht nicht immer. Sie können richtig verführen, wie die Sirenen locken, sie nehmen einen ganz gefangen. Sie haben etwas Stärkeres als Menschen. Wenn wir nicht so behutsam mit ihnen umgehen würden, wären sie vielleicht auch gefährlich.» Halb in Naivität und halb geschlagen mit ernster Erfahrung raunt mir dieses junge Geschöpf diese Geheimnisse zu, als ginge man solche Bereiche gefühlsmäßig eher sachte an. [111] «Bewegen sie sich auch von selbst? Ich glaube, ich habe so etwas bemerkt. Nur weiß ich nicht, ob es nicht der Wind war?» «Natürlich bewegen sie sich, sie wenden die Blätter, wenn sie wohlig angegriffen werden und streicheln ihrerseits über unsere Haut, sie greifen auch zu mit ihren Blattarmen und schlingen sich um eine Hand. Sie lassen aber immer gleich los, wenn sie merken, daß man nicht still genug ist, mit ihnen zu sprechen. Die Bewegungen sind merklich, aber so leicht und rasch, daß man sie kaum beobachten kann, während sie geschehen. Wenn man länger mit ihnen beisammen ist, versteht man das besser.» Ich starre hinauf zu den Kronen und suche wieder in den großen Tellern der Blätter nach Augen. Die Adern da oben sind wie ein fixiertes Mienenspiel für mich. Bärle drückt ihren Roßschwanz, und sie löst den starken Halm, mit dem das Haar gebunden war. Dann schüttelt sie es ein wenig. Sie hängen jetzt bis auf die Schultern und sind eigentlich mehr rotblond und nicht mehr so fuchsig. Während des Gesprächs mit ihr war ich ganz konzentriert, obwohl mir die Aufmerksamkeit für die anderen nicht abhanden gekommen ist. Ich bin so wach, daß ich auf vielen Ebenen etwas erfassen und beobachten kann. Die Kinder haben Instrumente herbeigebracht, die sie jetzt verstreuen, sie ausprobieren, so als würde alles allen gehören, und jeder dürfte tun, was er will. Trommeln, Flöten, seltsame Körper, die ich noch nicht kenne, Tongefäße und Rasseln. Milko, der kleine dunkle Mann, erhebt sich zum Sitzen und greift in eine festgespannte Darmsaite an einem hölzernen Bogen, die er mit den Fingern schlägt. Er wollte doch noch nach dem Land und der Erde sehen, er wollte doch noch die Mühlen abstellen, und jetzt spielt er da so einsame Klänge. Die Saite schwingt in verschiedenen Lagen, auch die Lautstärke ist verschieden. Die Einfachheit des Klangs geht rund und rund, sie kann den ganzen Hof erfüllen, wie die Stimme aus dem Inneren eines Körpers, die den Umweg über die Sprache nicht macht. Manchmal ein Schwingen hoch im Kopf und ein dumpfes Zurren, das lange tönt und nicht aufhört. Es gibt keine Melodie, sondern wie ein geistiger Laut ist es, der sich bewegt und in sich aufwirft, in der Überdeckung der verschiedenen Tonlagen aneinanderreiht und übergeht und sich verliert. Die Alte nimmt ein ähnliches Instrument zur Hand. Sie setzt sich im Türkensitz auf und beginnt allerdings die Saite mit einem Bogen zu [112] streichen. Jetzt singt die Saite. Mich
wundert das, denn sie hat gar keinen Klangkörper, in dem der Ton schwingen könnte. Letztlich weiß ich nicht mehr recht, ob das allein ihr Instrument ist, denn zwei von den Leuten beginnen jetzt auch zu musizieren. Die Zwillinge sind es. Einer hat ein gitarrenartiges Ding, allerdings ohne Saiten. Er schlägt leicht auf das Holz, welches zu klingen beginnt, zum fernen Rauschen des Wasserrads in die Kuppel dringt, wie stetige wechselnde Schritte, wie ein Tanz in Tönen. Der andere Zwilling singt ergreifende Töne, tief aus seinem Körper, die er nicht nur im Mund bildet, die aber dennoch frei schwingend herauskommen. Rhythmus und Melodie vereinigen sich zu einem Spiel, das etwas hörbar macht, was in uns ist, was auch in den Pflanzen sein muß, auch in der Ziege und auch in der Erde. Mich rührt das Tönen tiefer, als Worte es tun würden. Es nimmt einen Körper an, es formt sich, und es ist unberechenbar, wohin es sich wenden wird. Nach und nach wird das Spiel sogar ein wenig beängstigend für mich, weil es mich so sehr an der Hirnrinde kratzt, daß ich mich nach einem herkömmlichen Ton und nicht nach so allzu nahen und eingreifenden Klängen sehne. Bärle hilft mir. Sie nimmt sich eine von den Holzflöten aus der Mitte und bläst ein kleines Lied, mit dem sie auch imstande ist, die hirnschabenden Klänge zu zerstreuen, weil jetzt die anderen in einen fröhlichen Gesang einstimmen, der hoch aus den Herzen kommt und alle etwas fröhlicher stimmt. Beim Ausschwingen, beim Zusammentreffen aller Stimmen löst sich die Musik in ein Gelächter auf, das offenbar irgendeinen Grund hat. So als würde sich die Gesellschaft verstehen auf einer anderen als der Wortebene. «Bevor du sie nicht singen gehört hast, kannst du sie schwer verstehen. Die Zwillinge haben ihre Frauen verloren. Die sind weggegangen, zu den Bäumen. Die Etta auch. Komm, ich geh mit dir ein wenig hinaus, wenn du willst!» Bärle springt so behende auf, daß die Brüste wackeln und hält mir die Hand hin, als sollte ich ihr folgen. «Ich könnte dir allerhand zeigen, bevor es noch dunkel wird.» Ich bin nicht so rasch, aber ich folge ihr immerhin zum Gewölbe hinaus. Die Dogge kommt her und läuft kurz mit, bleibt aber dann vor dem Tor stehen. Bärle schaut sie an, als warte sie, ob sie nun mitkommt. «Er will nicht», meint das Mädchen kurz, und wir gehen hinaus. Einige Schritte vor dem Bau drehe ich mich um und blicke noch [113] einmal in das Gesicht des Hauses. Von außen sieht man nicht, was man da für ein Pflanzenschloß betritt. Der Totenschädel birgt sie wie ein Gehirn hinter den schwarzen Augen. Ich kann mich aber erinnern, daß mir auch bei meiner Ankunft dieses Gesicht nicht erschreckend erschienen ist, als könnte man von außen ahnen, was innen für Wunder wachsen. Und jetzt finde ich den Bau eher ulkig. «Es ist ein alter Wasserturm. Ich bin nicht hier geboren. Wir sind schon vor langer Zeit hier eingezogen. Wir haben alle gleich gewußt, daß wir da bleiben werden. Die Kleinen sind hier zur Welt gekommen. In der Stadt war es nicht so schön. Wir mußten ja auch weg. Hast du die Schafe schon gesehen?» Die Lebenskraft dieses nackten Menschenwesens übertrifft meine in jeder Hinsicht. Sonst fühle ich mich immer jung, auch wenn ich manchmal die Ältere bin. Hier allerdings komme ich mir etwas behäbig und schwerfällig vor. Sie ist aber so mitreißend, daß ich keine Zeit finde, mich zu bedenken, denn ich bin ja auch froh, daß sich einmal ein Mensch um mich kümmert, hier in diesen Zonen. Ich möchte diesen Anschluß um keinen Preis verlieren, ist er für mich doch eine Möglichkeit, klarer zu werden in meinem Verlust, falls es sich um so einen überhaupt handelt. «Da, siehst du sie?» Etwa zwanzig Schafe bewegen sich auf der Wiese hinter dem Gebäude, blöken und grasen. Einige liegen faul auf einem Haufen zusammengedrängt. «Laufen die nicht weg?» frage ich, denn ich kann keinen Schäfer sehen. «Nein. Am Abend treibt sie Urga zusammen, falls sie sich voneinander entfernt haben,
und in der Nacht bleiben sie sowieso auf einem Haufen. Über den Bach gehen sie nicht. Sie sammeln sich schon für die Nacht.» «Wer ist Urga?» «Na, der Hund, den mußt du aber schon gesehen haben», lacht sie über mein Unwissen. «Und hier sind die Bienen.» Ich würde erwarten, daß sie um meinen Kopf schwirren. Sie tun das aber nicht. Ich hätte mir riesige Bienen mit fleischigen Körpern erwartet, aber nichts dergleichen. Ein paar ganz gewöhnliche Bienchen summen dort bei den Eingängen zu den Stöcken herum. «Kommen sie nicht hinein in den Turm zu den Pflanzen?» «Nein, die machen das nicht, die gehen nur auf die Pflanzen hier [114] draußen», berichtet Bärle kundig und rege. «Die Pflanzen drinnen, die werden nicht von Bienen bestäubt. Weißt du, sie vermehren sich auch nicht.» Bärle wird mehr besinnlich, so als würde sie in einen Hohlraum in sich selbst fallen. Trotzdem spricht sie dann weiter, langsam und leiser, während sie ihre Schritte wiederaufnimmt und weitergeht. «Sie wachsen zwar und werden immer dichter und größer, aber sie werden aussterben. Tonio meint, sie wollen das so. Möglicherweise können sie uralt werden, aber einmal werden sie weg sein und keine neuen werden mehr kommen. Hühner haben wir nicht viele, die gedeihen bei uns nicht recht.» Sie zeigt in einen Verschlag abseits an der Turmmauer. «Wir haben zwar die Eier gern, in der Brühe sind immer welche dabei, aber nicht viele. Wir brauchen sie aber auch nicht unbedingt, bei uns gedeiht das Getreide und das Obst und das Gemüse so gut, daß wir Essen genug haben. Die Milch der Kühe ist reichlich, und manchmal fangen wir Forellen aus dem Bach. Nicht oft, aber wir braten sie dann am Feuer», und dabei gerät sie wieder in Eifer und hat ihre Traurigkeit überwunden. Sie hat gar keine Kraftbrühe gegessen und ist so viel lebendiger als ich. Wie alt sie sein kann, das ist wiederum sehr schwierig zu erraten, ich denke sicher noch unter zwanzig, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre. Sie nimmt mich bei der Hand und geht der Baumgruppe zu, die mir bei meinem Kommen in ihrer Verschiedenartigkeit so aufgefallen ist. «Ißt du nie von der Brühe?» «Aber ja», lacht sie, «sie schmeckt mir ohnehin, aber ich kann es nur nicht ausstehen, wenn sie immer so tun, als sei unsere Suppe etwas ganz Besonderes. Weil bei uns die Pflanzen so gesund sind, meinen sie, wir seien auserwählt. Ich möchte bloß wissen, von wem.» Wieder lacht sie, und ihre Zähne glänzen. «Die Bianca spinnt wunderbare Wolle, sag ich dir. Ich kann es auch schon. Wir weben uns Stoffe. Ich brauche die aber eigentlich nicht. Mir ist das zu umständlich. Nur wenn es kühler ist, dann ziehe ich sie auch an. Bianca meint, wenn es mich einmal in den Gliedern reißt, werde ich schon froh sein, daß ich etwas überziehen kann. Sie hat manchmal arge Schmerzen und kann dann nicht auf dem Feld helfen. Sie spinnt dann eben, und das ist für alle gut. Jetzt geht es ihr wieder besser. Das schwankt so.» «Habt ihr alles selbst, oder bekommt ihr auch von anderswo noch [115] Nahrung oder Waren?» frage ich sie. Ein wenig unberechenbar ist das Mädchen in ihrer regen Art schon. Sie könnte ja plötzlich wegrennen und mich hier stehen lassen mit all diesen angerissenen Ahnungen. Ich gerate selbst ein wenig in ihren Sprudel des Denkens. «Nein, wir bekommen nichts. Hier haben alle ihr Auskommen, oder eben manchmal auch nicht. Dann sind sie eben ganz arm. Das gibt es oft. Aber so genau weiß ich das eigentlich nicht. Wir kümmern uns wenig um andere, und es kommt auch selten jemand zu uns. Ich weiß das nur von der Bianca, die erzählt oft beim Spinnen so vor sich hin, daß wir es hier besonders gut haben. Wir arbeiten alle auf den Feldern, und was jeder arbeitet, das ißt er auch. Mehr haben wir nicht, und mehr machen wir auch nicht. Wir sind ja nicht viele, obwohl wir, sagt die Bianca, ohnehin eine große Gruppe sein sollen. Unsere Felder
erlauben das. Die Kleinen helfen auch schon, und sie essen ja auch nicht so viel.» «Sorgt ihr gar nicht ein wenig vor, falls die Gruppe einmal größer wird, da braucht ihr doch mehr, und das geht dann doch nicht nur mit der Hände Arbeit. Man könnte doch etwas organisieren, damit man sich die Arbeit teilt, so daß jeder das macht, was er möchte und besonders gut kann, und dafür wieder andere für ihn etwas machen.» Da lacht sie hellauf: «Das haben wir doch schon früher gehabt. Die Maschinen und das ganze Zeug in den Fabriken und die großen Spezialisten, die für alle entschieden haben. Keiner hat selbst mehr gewußt, was eigentlich los ist, wer er selbst ist und was er tun muß, um zu leben. Ein Ordnungschaos, unheimlich verwickelt und jedem fremd. Bianca sagt, man mußte arbeiten an Dingen, von denen man gar nicht gewußt hat, was sie sein sollen und wem sie gehören. So ein Blödsinn.» Sie lacht wieder und nimmt mir mein Besserwissertum offensichtlich nicht übel. Ich bin heilfroh darüber, weil ich mir in meiner Rolle ohnehin nicht ganz geheuer vorgekommen bin. «Alle mußten an etwas arbeiten, das sie nicht wollten, jeden Tag dasselbe am selben Ort zur selben Zeit. Und stell dir vor, die haben das auch alle gemacht, weil sie Angst gehabt haben, daß sie sonst nicht überleben könnten. Daß alles durcheinandergeraten könnte, obwohl ohnehin schon alles durcheinander war.» Sie lehnt sich an den Stamm einer Buche. Ihre Augen ähneln einem geschliffenen Stein, der aus sich leuchtet. Es sind die Augen, die so [116] strahlen, aber es ist nur ihr Licht, ihre Farbe ist es nicht. Sie haben eigentlich keine genaue Farbe. Wenngleich ich jetzt beurteilen kann, daß dieses Licht so sehr im Gegensatz zu ihrem sprudeligen Wesen steht. Bernsteinartig, so wie ich vorhin auch die Körper der Leute gesehen habe, so leuchtet es aus ihrem Inneren, und das ist das Erregende und zugleich so ruhig Schwimmende. Nichts von Sprunghaftigkeit. Ihre Hände sind sehr klein und kräftig. Sie streicht oft über ihre rechte Augenbraue, wie zur Überbrückung mancher Worte, denn aus ihrem Sprachtaumel kann ich genau heraushören, daß sie sonst weniger sprechen kann, als sie vielleicht gern möchte. «Hier sind die Bäume so verschieden, wieso?» «Die sind gewachsen, seitdem wir hier wohnen. Rascher und schöner, höher und mächtiger. Genauso wie die Pflanzen drinnen im Turm. Die Blätterranken waren schon vorher da. Niemand von uns hat sie gepflanzt, und im Umkreis kommen viele von den Sorten, die hier wachsen, gar nicht vor. Sie müssen sich hier versammelt haben, aus irgendeinem Grund. Sie vermehren sich nicht mehr, obwohl die übrigen Pflanzen in der Umgebung wuchern. Die Vögel setzen sich kaum auf sie. Auch im Turm haben wir fast nie Vögel», berichtet sie, während sie mit der Handfläche über die Rinde streicht, die ganze Zeit hat sie auch auf die Rinde und nicht auf mich gesehen. Jetzt blickt sie mich wieder an, nimmt meine Hand und führt mich langsam zu einer Bank am Rand dieses Waldstücks. Sie setzt sich oben auf die Lehne und stellt die Füße auf die Sitzfläche, während ich ordentlich Platz nehme. Sie rückt heran, daß ihr Oberschenkel fast meine Wange berührt. Ihre Hand liegt auf meiner Schulter. Sie zeigt nach vorn ins Land hinein, in die Ebene, so als wollte sie, daß ich es genau ansehen soll. Dort sind drei mächtige Bäume zu sehen. Weit im Umkreis rundum erhebt sich kein Gebüsch, nicht einmal ein Strauch. Die Bäume ragen souverän aus dem Erdboden hervor. Bärle zeigt und starrt in diese Richtung. Sie hält die Hand weiterhin erhoben dorthin, sie ändert ihren Blick nicht. Sie tut das lange, ohne ein Wort zu sprechen. Gerade als ich unruhig werden will und sie fragen möchte, mich aber nicht getraue, da mir ihr Verhalten so sonderbar erscheint, da verstehe ich. Sie nimmt die Hand herunter. Wasser Wind bewegt rinnt eine Wurzel klemmt immer Erde überall vom Himmel Regen berührt [117] Blätter weht mein Gewicht wachsen Zeiten dehnt meine Kraft schwer im
Boden alles biegen meine Arme weit hinaus dehne berühre den Wind schwarz ein Blick immer zur Rinde hinüber ein Ranken und ich denke mit den Bäumen zusammen Wurzeln im Boden Erde ein Körper Staub im Wind Himmel in Erde ein totes Leben verweht im Ursprung dasselbe Wachsen immer ... Und die Äste beben einander zu, verspielen ihre Richtung und dehnen aus, die Kraft, eine Energie im Stand, eine Masse in bewegter Ruhe und Gleichmut. Sie berühren einander in den Wurzeln und in der Krone, sagen einander das Dasein in den Blättern, beben und stehen wieder beruhigt im beweglichen Boden. Selbst so beweglich wie ein Vogel in der Wurzel, selbst ein Gehirn im Stamm so tief wie das des Menschen ein Baum im Austausch mit dem anderen über die Gründe im Ursprung der Energie. «Auch wenn man Bäume beschneidet, wollen sie immer wieder in derselben Form herauswachsen. Ihr Wesen nimmt immer wieder seine ureigenen Form an, und keiner sonst hat dieselbe. In den Wurzeln sowie im Gehirn sind sie angelegt als eine Persönlichkeit.» Bärle setzt sich jetzt zu mir herunter auf die Bank und meint: «Es wird langsam dunkel, wir können wieder zurückgehen.» Sie hat das Sprunghafte etwas abgestreift und bewegt sich ruhiger. Vielleicht ist auch sie jetzt schon ein wenig müde, meine weise junge Lehrerin. Sie hat heute sicher lange auf dem Feld gearbeitet. Wir gehen langsam, sie nimmt meine Hand. Dann wendet sie sich noch einmal nach den Bäumen um und berichtet: «Etta und die beiden Frauen, die mit den Zwillingen zusammen gelebt haben, die sind zu den Bäumen gegangen. Ich glaube, nicht zu diesen dort, aber solche könnten es sein. Der Kleine soll sie einmal gesehen haben. Wir suchen sie nicht. Wenn sie weggehen, so lasssen wir sie, denn dann wären sie nicht mehr gut mit uns zusammen. Sie sind schon, lange bevor sie gegangen sind, oft draußen gewesen und haben gesessen und sie angesehen, langmächtig. Sie waren ganz verloren in die Gedanken der Bäume, sie konnten und wollten sich nicht mehr lösen. Es hat ihnen die größten Schwierigkeiten bereitet, noch aufs Feld zu gehen. Sie wollten auch gar nicht mehr essen. Sie haben [118] nichts mehr mit uns gesprochen, sind immer starrer geworden, nur im Wind, da haben sie sich wohl gefühlt. Musizieren konnten sie dann auch nicht mehr. Wir sprechen ja auch nicht viel, aber wir spielen die Musik und sagen so, was wir spüren, oder sprechen so mit den Pflanzen, wenn wir sie stark hören. Aber die drei sind dann überhaupt weggeblieben. Der Kleine meint, aber dem kann man da nicht ganz glauben, er flunkert manchmal, daß er gesehen hat, daß die eine von ihnen nur mehr abgefallene Blätter gekaut hat, Flüssigkeit wäre da genug drin, aber lange werden sie nicht mehr so als Menschen leben können.» Ihre Bernsteine leuchten in einem Geheimnis, das sie jedermann erzählen darf, aber sie kann es sonst nie, weil es hier keine Geheimnisse gibt. Diesmal bin ich das Geheimnis, und das regt diese Augen so zum Leuchten an, denn das ist ihr neu. Sie hält die Hand an die Braue. «Irgendwo, dort, in dieser Richtung, muß es aber sein.» Sie zeigt noch einmal zurück, indem sie die Hand endgültig von der Braue nimmt und wird wieder die lustige Alte. «Willst du vielleicht noch mit mir baden im Bach? Es erfrischt ungeheuer. Die Zwillinge baden jetzt auch immer, weil ich ihnen gesagt habe, daß das so lustig macht. Sie lassen es sich ja nicht anmerken, aber daß die Frauen weg sind, ist ihnen ein wenig schwer geworden. Es lebt ja eigentlich niemand so ausschließlich mit den anderen. Nur die Bianca und der Philo sind schon früher zusammen gewesen. Die sind jetzt schon alt. Sie werden bald sterben, wahrscheinlich. Bianca zumindest weiß das schon, daß es nicht mehr lange dauern wird. Man kann sich auf sie verlassen. Dann ist noch eine Frau weniger. Bei uns sind so viele Männer. Das soll nicht überall so sein. Im Gegenteil», sie lacht wieder über eine Gedankenverbindung, die ihr Spaß macht. «Die drei Frauen sind auch weg, du siehst,
unsere Gruppe kann gar nicht groß werden. Wir sind nicht interessiert daran. Die Pflanzen drinnen vermehren sich ja auch nicht, und sind die schönsten und saftigsten.» Irgendwie findet sie ihre Worte aber komisch und kichert in sich hinein. Sie weiß genau, daß sie jetzt ein Geheimnis macht. Wir schlenkern mit den Armen, die wir noch immer gefaßt halten, und wandern dem Turm zu. Von drinnen klingt es noch immer heraus oder schon wieder. Klangfetzen, die metallenen Querflöten tragen die Töne am weitesten heraus. Oben aus dem Schädel dröhnt dumpf ein Trommelschlag [119] zu uns her, als wäre es der Herzton dieses Wesens, sein gleichmäßiger Puls mitten in der Landschaft. Ein lebendiger Stein. Sollte ich von den Steinen noch etwas lernen? Plötzlich steht das Wasserrad still. Ich merke jetzt erst, wie dominierend dieses andauernde Schlagen die ganze Zeit war, immer und immer wieder war es eine große Kraft, die alles Klingen untermauert hatte. Nicht mit einem Schlag ist das Rad still, ich habe es nur mit einemmal bemerkt, was sich da verändert hat. Dann verschwinden zwei Leute hinter dem Turm. Es müssen Milko und Tonio sein, die noch nach dem Feld sehen wollen. Mitten in einen fast unertragbar scheinenden langen Flötenton bemerkt Bärle: «Milko ist wirklich viel kleiner als wir alle hier. Möglicherweise wachsen wir von der Brühe doch mehr als die anderen.» «Ißt er keine?» «Ja schon, viel sogar, aber er ist noch nicht so lange bei uns. Der hat die Suse auf dem Feld überfallen. Immer wieder kommt so etwas vor. Immer wieder zünden sie etwas an oder zerstören etwas, manchmal sind es Gruppen, meistens tun sie es aber allein. Philo sagt, das hat es immer schon gegeben, und es ist ganz natürlich, daß einige mit den Umständen an sich nicht einverstanden sind. Dabei kommt es nicht auf die Art der Ordnung oder der Unordnung an. Ich war damals nicht dabei. Suse soll zuerst gestanden und geschaut haben, dann hat sie der Milko niedergeschmissen. Die anderen waren ein wenig abseits bei dem Flachsfeld. Das Baby hat der Philo in einem Korb bei sich stehen gehabt.» Bärle richtet sich mir gegenüber auf einmal auf wie ein Grizzly und bleibt wankend stehen wie auf den Hinterbeinen und reißt den Mund schrecklich auf. Dann lacht sie über mein Zurückweichen. «So soll die Suse dann mit einemmal dem Bären, nein, dem Milko, gegenübergestanden haben, und aus ihrer Kehle soll ein ungeheuerliches Fauchen gekommen sein, das unmenschlich geklungen hat. Gerade daß sie nicht Feuer gespuckt hat. Milko war wie gelähmt und ist weggelaufen. In den nächsten Tagen ist er immer wieder um den Turm gestreift, hat niemandem was getan, er hat sogar ein Schaf gerettet und sich nützlich gemacht. Philo hat ihn dann aufgefordert hereinzukommen, und seitdem ist er bei uns, spielt sein Instrument und ist ein guter Bursche.» «Immer wird das aber sicher nicht so abgehen. Wer sorgt denn sonst für Ordnung?» [120] «Immer nur die Betroffenen selbst.» «Und wenn sie sich nicht helfen können?» «Dann können sie sich nicht helfen», stellt sie strikt fest, und mir scheint fast so, als würde sie zu dieser Erkenntnis stehen bis unters Messer eines Mörders. Sie rennt vor und taucht in einem Wasserstau unter, der sich bei dem Wasserrad bildet. Ich bin noch etwas in meine Schutzlosigkeit vertieft, der ich hier in diesem Gebiet ausgeliefert sein soll, und ich denke an die Motorradmenschen. Beim Wasser weiß ich nicht recht, ob ich mich nur waschen oder ob ich mich auch ausziehen soll. Ich probiere es vorerst einmal mit den Händen und Füßen an einer seichteren Stelle. Ich lasse mir das Wasser um die heißen Füße spülen, habe die Hände in die Hüfte
gestemmt, vielleicht um meine Wehrhaftigkeit hervorzukehren, von der ich gar nicht sehr überzeugt bin. In mir steckt vielleicht kein Grizzly. Die Dämmerung kommt immer tiefer herunter. Es ist jetzt still geworden, auch die Musik höre ich kaum mehr. Das Wasserrad steht wie eine verhaltene Kraft. Ich scheue mich, zu nahe heranzugehen, weil ich denke, jemand könnte es vielleicht wieder plötzlich absenken, wenn ich ganz nahe bin. Nur Bärle gluckst da an dieser tieferen Stelle vor mir herum. Sie ist pudelnaß bis zu den Haaren. So warm ist es eigentlich jetzt gar nicht mehr. Ich lasse meine Kleider lieber an, nur die Schuhe, die werde ich in der Hand tragen. Ich wasche mir die Beine, dann die Arme und das Gesicht, und das ist auch erfrischend. Dann pisse ich noch hinter einen Busch. Ich glaube, eine Portion Schlaf würde mir guttun. Ich wende mich zurück, dorthin, wo mein Weg am Bach entlanggekommen ist. Dort sind die Felder, und dort muß mir der Junge mit der Weidenpfeife aufgefallen sein. Es dringt Muhen aus dem Gewölbe. Jetzt auf einmal, die ganze Zeit über habe ich es nicht gehört. Ich finde es freundlich von Bärle, daß sie mich nicht drängt, mit ihr im Tiefen zu baden. Vielleicht ist das aber auch keine Rücksichtnahme, sondern eben ihr Wesen, einen anderen nicht zu seinem Glück zwingen zu wollen, weil sie niemanden braucht, um an seinem Unglück ihr eigenes aufzubessern. Möglicherweise denkt sie nicht in der Glücksund Unglücksdimension, möglicherweise ist sie nicht gefangen auf der Todes- und Lebensebene, sondern badet eben, weil sie das tut. Erfrischt steigt sie heraus, streckt sich und schüttelt sich dann wie ein nasser Hund. Sie hat festes Fleisch, [121] ist aber eher rundlich wie die nackte Suse mit dem Baby. Nur scheint sie jünger zu sein. Noch einmal streckt sie sich durch, und diese Bewegung sieht wahrhaft tierisch aus, ohne jede menschliche Hemmung. Anscheinend hat sie damit Luft geholt, mit der sie jetzt ein langes, tragendes Singen, tief von innen heraus, beginnt. Zuerst leise, fast so, als könnte es jederzeit wieder verebben. Es bleibt aber da wie eine Vibration aus dem Herzen, färbt sich wieder mehr mit einem Klingen und wird einem Gesang ähnlicher, menschlicher, um wieder in so einen Erdton zurückzufallen. Sie bewegt sich zu einem starken Ast, der ein Hauptträger der Efeuranke ist, die die Außenmauer des Turms bewächst. Den umfaßt sie mit ihren Händen langsam und sinnlich, versunken in ihr Vibrieren, das wieder herausquillt, heller wird aus ihrem Mund, ein Gesang, wie ihn das Schilf macht, wie ihn die Blätter im Wind machen, und wie ich ihn vielleicht nicht hervorbringen könnte. Bärle hat auch während ihres Spiels nicht vergessen, daß ich da bin, weil sie mir nun die eine Hand zustreckt, wie um mich näher zu holen. Ich komme nur langsam. Sie legt ihren Körper an die Ranken an, sachte, schlangenhaft windet sie sich um die Zweige zwischen die saftigen Blätter, verharrt, und legt jetzt die Kehle an den starken, faserigen Stamm. Die Hände greifen weiterhin in die kleineren Äste stark hinein, als Antwort auf eine Bewegung in der Rinde des Astes. Sie schließt die Augen und bleibt so einige Zeit in einem Austausch mit der Pflanze verbunden, immer noch in die tiefen Töne einer sonderbaren Sprache versunken, die dem Fluß des Blutes entspricht und der Erde unter ihr. Dann löst sie ihr Schauspiel wieder langsam auf, geht weiter und spricht nicht. So als hätte sie diese Kenntnis bei der Pflanze gelassen. Sie geht mit mir und fühlt meine Anwesenheit, aber sie hat die Ebene des Gesprächs mit einem Schweigen vertauscht, das ich nicht gewöhnt bin, so zu hören. Sie ist in das Schweigen gefallen wie in eine alte Gewohnheit. Mich beänstigt sie nicht, und ich mache mich bemerkbar, mit der Stimme, um sie wieder auf diese Ebene zu locken. «Diese Pflanze war schon vorher da, als ihr hergekommen seid?» Mühelos findet sie die Sprache wieder. «Ja, die war schon da, aber sie ist seit unserer Anwesenheit auch viel stärker und dikker geworden. Tell gießt sie oft, auch Kuhmist bekommt sie regelmäßig.» [122]
Bärle bleibt jetzt wieder stehen und holt aus ihrem Leben für mich eine Erfahrung hervor, keine Lehre, kein Weisheit. Die Art, in der sie das tut, ist rührend sanft, weil sie Platz für jedes Anderssein läßt, wenngleich sie genau ausdrücken kann, was sie spürt. Sie legt nichts fest, sie besteht nicht auf ihrer Kenntnis, sondern bläst sie in den Wind wie einen Samen auf das Feld. «Die Pflanzen gedeihen bei uns vielleicht so gut, weil wir die Musik machen. Auf Worte hören sie nicht, sie verstehen sie nicht. Sie haben ja keine Ohren. Sie spüren das Vibrieren in allen Lagen. Deshalb sind sie auch mit den Tieren besser bekannt als mit den Menschen. Die menschliche Stimme vibriert auch, aber in den Tonlagen der Sprache sind die Vibrationen zu verhalten, so daß sie nicht übergehen können in den Lebensbereich der Pflanze. Ein anderer Denkrhythmus ist das. Ihr Denken geht langsam. Unser Leben ist viel bewegter und viel schneller. Atmen tun sie eigentlich langsam, wenn man genau schaut, kann man das sehen in der Bewegung der Adern. Leider ist es jetzt schon ein wenig dunkel, aber fühle einmal.» Sie geht mit mir zu einem besonders großen Rankenblatt. Sie nimmt es sachte, aber bestimmt in die Hände, hält es wie wärmend zwischen den Handflächen und gibt es dann mir. «Lege es auf deinen Puls oder gib es an deine Kehle, irgendwo spürst du es. Manchmal muß man auch lange warten, bis man zu einem Gleichklang kommt, und oft geht es gar nicht.» Sie selbst legt sich eines der Blätter an die Kehle. Sie reißt nie eines ab, aber faßt doch immer recht bestimmt zu. Wieder vibriert sie vom Kehlkopf her so tief. Ich mache das nicht nach, sondern halte ein Blatt auf meinen Puls. Dieses Spiel regt mich ein wenig auf, mich beschämt es irgendwie vor Bärle oder vor sonst irgend jemandem oder vielleicht gar vor den Pflanzen. Wer weiß, was die alles so an mir durchleuchten, zumindest meine Peinlichkeit diesem Spiel gegenüber, und wenn jemand die Pein sieht, so ist das noch viel peinlicher. Ich spüre eigentlich nur meinen eigenen schnellen Puls, nehme mir aber vor, einmal allein ruhig diese Sache auszuprobieren. Ich bin froh, daß Bärle keinen Lehrgang aus dieser Probe machen will, sondern wieder weitergeht. Sie lehrt nicht, offenbar ist auch sie nicht gelehrt worden. Nur manchmal, wenn sie von Bianca spricht, [123] kommt der fürsorgliche Ton zutage, den diese, wie ich ja selbst schon gehört habe, gern anwendet. «Mit den Pflanzen, da geht es um Einfacheres als in der Menschensprache, da braucht es nicht so viele Umwege, um zu sagen und zu hören. Es geht um Schmerz oder um Wohlgefühl. Diese Unterschiede sind leicht herauszuhören, um Erregung oder um Ruhe, um Zuneigung und Abneigung. Auch bei den Menschen geht es um nichts anderes. Suse zum Beispiel verträgt sich mit diesem Stamm hier nicht sehr gut, obwohl sie die Pflanzen drinnen besser versteht als ich. Sie gibt sich mit der hier nicht sehr viel ab. Sie wird sie aber durchlassen, denn Suse tut ihr nicht weh.» Während wir jetzt durchs Tor ziehen, versuche ich schnell die Gefahrenzone zu durchschreiten, und Bärle lacht, denn sie weiß, was ich denke. Es klingt alles wie ein Spaß, aber gerade solche Späße sind die Eckpfeiler einer Wirklichkeit, die wir für einen Traum halten, vor dem wir uns geschützt glauben. «Die Musik bewegt sie, die spüren sie von den Wurzeln bis in die Krone. Das ist ein Teil ihres Denkens, das in der Energie besteht, die wieder uns zum Spielen bewegt», spricht Bärle in das Raunen einer Okarina hinein. Irgend jemand spielt auf diesem hohlen Tongefäß dort oben, fast auf dem Dach des Turms. Es klingt wie das Gemäuer selbst, erdig und voll. Es ist dunkel, und ich kann nicht sehen, wer da spielt. «Erik spielt nie mit uns, er bläst immer nur am Abend die Okarina da oben, wenn er die Kühe fertig hat.»
Der Klang hat auch etwas von der dumpfen Ruhe dieser Tiere. Der Innenhof ist eingetaucht in eine verschwommene Finsternis. Die Pflanzen lauern über mir. Ist jetzt ihre Zeit? «Ihre Zeit ist der Tag. Sie brauchen ja das Licht. Nur wenn sie singen, dann ziehen sie die Nacht vor», beruhigt mich Bärle, obwohl ich sie gar nicht gefragt habe. Im Hof bewegt es sich. Es müssen die Menschen sein, die sich zur Ruhe begeben. Ich kann nicht mehr beobachten, wie sie das tun. Beleuchtung ist keine da und dringt auch nicht aus den Mauerritzen. Ich hätte gern gesehen, wer hier mit wem beisammen wohnt und wie die Gesellschaft aufgeteilt ist. Sie haben sich zurückgezogen in die Abteilungen, die den Hof in das Gebäude übergehen läßt. Dort lacht eine Stimme auf, und in der Küche rumort es noch. Es raschelt. Ich [124] erkenne Urga. Die Dogge hat unter dem Blattdach gelegen. Suse sitzt auf der Stufe zu ihrer Zelle und füttert das Baby noch einmal. Das sehe ich gut. Sie hat da eine birnenartige, getrocknete Frucht, in der etwas drinnen ist. Oben am engen Rand ist sie mit einem Stoffknebel zugestopft. Der tränkt sich mit Flüssigkeit, die das Baby heraussaugt. Wahrscheinlich wieder die Brühe. Ich selbst habe keinen Hunger mehr. Bärle löst mich aus meinem Lauschen in den tönenden Hohlraum des Hofs. Klingende Luft, leicht schwingend zur Okarina wie ein Rascheln in gläsernen Blättern. Sie führt mich an der Hand, denn ich kann kaum noch die Schritte vor mich setzen in der unbekannten Umgebung. Die ganze Zeit über habe ich nicht daran gedacht, wie ich die heutige Nacht verbringen würde, als sei ich sicher gewesen, daß Bärle mir das sagen wird. So hätte das ja nicht sein müssen, aber es zeigt sich, daß es für sie selbstverständlich ist, mich mit auf ihr Lager zu nehmen. «Ich kann auch Licht machen, wenn du willst. Wir haben drüben im Kuhstall ein Licht mit Öl, dort kann ich einen Span entzünden und die Fackel hier anbrennen.» «Mach so, wie du es immer tust.» «Dann laß ich es lieber, ich finde mich leicht im Dunkeln zurecht, ich kann sogar teilweise sehen, und außerdem ist mir hier ja alles vertraut. Ich mag die Dunkelheit. Ich habe einen Strohsack, der ist groß genug für uns beide. Etta hat manchmal früher mit mir hier geschlafen.» Das letzte sagte sie leise, so als hätte sie es vielleicht lieber wieder zurückgenommen. Ich erinnere mich, daß sie diesen Namen gebraucht hat, als sie von den drei Frauen berichtete, die zu den Bäumen gegangen sind. Zu zart besaitet ist Bärle aber nicht, sie bleibt nicht hängen. Sie will nichts weiter sagen, oder vielleicht hat sie es schon vergessen. Ich greife in eine Wand und fasse in Pflanzen. Ich ziehe die Hand schnell wieder zurück. Bärle bemerkt das. «Die eine Seite ist eine Pflanzenmauer und die andere ist eine Steinmauer. Willst du an der Wand liegen?» «Ich möchte lieber an der Steinmauer liegen, bitte.» «Gut, nebenan ist Suse mit dem Kleinen. In der Nacht nimmt sie das Baby immer zu sich, aber bei Tag läßt sie es lieber in der Pflanzenwiege, seit damals draußen am Feld das mit Milko war. Die Übeltäter [125] kommen, wie sie wollen, und nehmen, was sie finden, das ist nicht aufzuhalten, selbst wenn man sie dafür bestrafen würde. Philo meint, die Strafe sei ja das, was sie wollen. Selbst wenn es die Todesstrafe wäre, würde sie das nur noch mehr anziehen, sich in diese Lage zu bringen. Sie sind vielleicht zu feige, um sich selbst den Tod zu geben, daher wollen sie es anderen antun. Wenn sie dann noch in den Genuß kommen, selbst dafür getötet zu werden, dann haben sie überhaupt gewonnen. Muß man es ihnen auch lassen», meint sie leise kichernd, schon auf die Matratze gefallen. Sie scheint auf dem Bauch zu liegen und die Hände aufzustützen. Während ich versuche, mich mit ihrer seltsamen Denkschlange mitzuwinden, aber den Anfang verliere und das Ende nicht finden kann, ziehe ich meine Hose aus und auch mein Hemd. Die Schuhe habe
ich draußen am Bach vergessen. Ob Diebe kommen? Sicher, hier kommt alles vor. Jetzt würde ich nicht mehr hinausgehen wollen. Im Hosensack spüre ich etwas Hartes. Ich greife und finde noch zwei von den Kararnelbonbons, die mir der Lederne geschenkt hat. «Magst du ein Bonbon?» Ich sage nicht, von wem ich es bekommen habe. «Ja, gern. Wir machen öfters welche, aber jetzt haben wir schon lange keine mehr gehabt.» «Gerade so eines ist das.» Sie muß lachen. «Wo hast du deinen Mund?» frage ich. Eine Hand greift nach mir, trifft meinen Arm, so als hätte diese Hand meinen Arm im Dunkeln gesehen. Sie führt meine Finger mit dem Bonbon in ihren Mund und schmatzt genüßlich. «Schmeckt gut! Tell hat jetzt endlich herausgefunden, wie er Salz aus der Erde gewinnnen kann. Der hat da eine ungeheure Geduld. Überhaupt ist er am liebsten mit der Bereitung von Mahlzeiten beschäftigt, mit der Art, zu würzen und zu rühren. Er singt in seine Töpfe hinein und meint, das seien die Pflanzen persönlich.» Sie lacht unterm Lutschen. «Das schmeckt aber ganz besonders süß. Tell könnte sicher auch Salzbonbons machen.» Ich krabble auf den Bettsack. Das Stroh knistert und raschelt. Es sticht ein wenig auf der nackten Haut. «Da, kriech nach hinten, wenn du lieber an der Wand liegst.» [126] Ich turne über sie drüber, unsere glatte Nacktheit wird mir ein wenig seltsam, wenngleich ich dieses Gefühl auch angenehm finde. Der Schutz, den ich durch Bärles Gastfreundschaft genießen kann, ist mir viel wert. Dabei legt das Mädchen eine derartige Selbstverständlichkeit in der Berührung unserer nackten Körper an den Tag, daß ich meine eigene Befangenheit wieder vergesse. Heute lastet die Müdigkeit schon schwer auf mir. Bärle dreht sich wieder auf den Bauch und stützt den Kopf auf ihre Hände: «Ich hätte doch die Brühe essen sollen, jetzt kriege ich auf einmal Hunger», jammert sie in gespielter Qual. «Ob ich noch in die Küche gehen soll? Willst du auch was?» «Nein, wirklich nicht, mir bring nichts mehr. Ich bin auch schon so müde.» «Ich werde es vielleicht auch lieber lassen, der Tell hat das nicht gern. Mit seinen Nahrungsmitteln ist er heikel. Er hat da eine strenge Ordnung. Er würde wieder lange herumrumoren und mir etwas geben, was er will und nicht, was ich will. Er schläft in der Küche. Ich werd es schon aushalten», beendet sie ihre Überlegung und legt sich wieder auf den Rücken. «Wart, ich komme gleich.» Auf einmal ist sie verschwunden. So ein Überraschungsbeutel wie der Wind ist die. Ich denke, sie muß wohl schnell noch. Ich weiß gar nicht, wo man da hingeht. Ich bleibe jetzt da und rühre mich nicht von dem Strohsack. Der raschelt und raunt unter meinen Ohren, ein stetiges Knistern geht durch ihn, auch wenn ich ganz still liege. Bärle huscht lautlos wieder herein. «Das Baby hat noch was im Fläschchen gehabt. Suse stellt es immer auf der Stufe ab.» Eine Kuh setzt noch zu einem Laut an, bricht aber dann gleich wieder ab, ohne ihre Stimme richtig zu erheben. Es raschelt in den Blättern. Die Kammer ist nur zur Hälfte an unserem Kopfende vermauert, der andere Teil ist dem Hof zu offen und nur durch ein Blattgewirr verhängt. Wie Kojen erscheinen die einzelnen Schlafräume. Am Tag habe ich
diese Anlagen von außen gesehen, konnte mir aber kein rechtes Bild über ihre Beschaffenheit machen. Die Kammern werden alle nicht viel größer sein als die von Bärle, denn so weitläufig ist das Gebäude gar nicht. Den meisten Raum nimmt ja schon der Innenhof ein. Die Küche war groß, das habe ich gesehen. «Morgen zeige ich dir das Kleid, das ich gewebt habe, du kannst es [127] auch probieren, wenn du willst», verspricht mir das Mädchen, während sie sich mit der Vorderseite zu mir dreht. Es ist stockdunkel, aber man spürt genau ihre Atemrichtung. Bärles Atem riecht nach Milch. Sie bewegt sich näher an mich heran und schmiegt sich an meine Seite. Den Kopf legt sie in den Freiraum zwischen meiner Schulter und meinem Kopf. Den rechten Arm steckt sie unter ihrem Körper durch, und den linken legt sie vertraulich über meinen nackten Bauch. Eines ihrer Beine liegt an meinem. Ich fühle mich in dieser Stellung ein wenig gefangen, weil ich mich jetzt nicht mehr bewegen kann. Zugleich bin ich aber so müde, daß ich auch gar nicht sehr das Bedürfnis zum Bewegen habe. Dem Schlaf bereits um einige Atemzüge näher gerückt, spüre ich, wie das Mädchen immer mehr die Bauchlage an meiner linken Körperseite einnimmt und das Bein, welches meines nur leicht bedeckt hat, mehr herüberstreckt zwischen meine Beine, so daß sie ihre Scheide an meiner Hüfte reiben kann. Sie tut das langsam und schmiegt sich wärmer und enger an mich, führt ihre Hand, die über meiner Mitte gelegen war, zu meiner Brust und streicht darüber. Leicht und bestimmt, so wie sie die Pflanzen begriffen hat. Trotz aller Müdigkeit und vielleicht gerade deshalb, bin ich bereit, in mir den Drang zu verspüren, sie in ihrer Stellung näher an mich zu drücken, sie spüren zu lassen, daß mir ihre Berührung angenehm ist. Wie eine Pflanze schlingt sie sich um meine Hüfte und reibt ihr Geschlecht fest an meinem Fleisch, an dem rundlichen Bogen in einem gleichmäßig werdenden Rhythmus, aber im Druck immer fester und gezielter. Ihr Kopf bewegt sich tief in unseren Abstand hinein, näher meinem Hals zu, und ihr Atem wird heißer. Sie sucht auf einmal mit ihrer Zunge nach meinen Lippen, findet sie, und dann dringt sie leicht in meinen Mund. Dort begegne ich ihr überrascht mit meiner Zunge, auf einmal wach und elektrisiert. Ich drücke meine Lippen ganz auf die ihren, und wir lassen unsere Zungen übereinandergleiten. Ich ergreife sie mit meiner freien rechten Hand an den Hinterbacken und bewege nun auch mich in dem Rhythmus, den sie durch ihr Reiben zum herrschenden macht. Sie ist frisch, drängend in ihrer Ungezwungenheit, einsam regierend, und ihre Entschiedenheit in der Zuwendung nimmt mir jede Hemmung. Ich drehe mich nun mit meinem ganzen Leib auf sie. Dabei fasse ich mit meiner Rechten leicht zwischen ihre Beine. Als ich unter den fest gekräuselten Haaren das feuchte, warme Fleisch antaste, kommt sie mir unter einem Aufstöhnen mit ihrem [128] Unterleib ganz entgegen und drückt dabei meine Hand mit dieser Bewegung in ihre nasse Scheide hinein. Ich lasse meinen Zeigefinger rasch von ihrem tiefen Loch nach vorn zu ihrer Klitoris gleiten und nehme diese Bewegung zügig auf. Da packt sie mich mit beiden Armen, wirft mich herum und liegt nun auf mir. Sie fährt mir mit dem Mittelfinger tief in meine Scheide. Ich habe sie bei der Bewegung nicht ausgelassen, und wir geben uns jetzt beide das gleiche glitschige Reiben. Ich spüre, wie die heiße Lust sich in meinem Becken in einem Punkt sammeln will und stöhne auf, als ich meine Lippen kurz von den ihren löse. Meine Linke faßt von hinten über ihre glatten Popobacken auch zwischen ihre Beine, und ich dringe mit meinem Mittelfinger in ihr nasses Scheidenloch ein. Sie hebt sich ein wenig zitternd mit ihrem Oberkörper über mir und streicht mit ihren nun steifen Brustwarzen über meine Brüste, deren Mittelpunkte sich nun ebenfalls erheben. Die ganze Haut meines Körpers beginnt Lust zu verstrahlen, und ich werde ein wenig schneller in dem Reiben in ihrer Scheide, die nun so naß ist, daß sich Schleim über unsere nackten Bäuche verschmiert. Sie gibt mir durch einen ziehenden Druck in meiner Scheide nach vorn zu ein Zeichen, daß es jetzt kommt. Ich verstehe sofort und reibe ihr stetig und sachte die glitschige Klitoris, wobei ich ihr den anderen Mittelfinger tief ins Loch hineinstoße. Ein Schauer beginnt mich zu erfassen, der so beglückend körperlich ist. Ich spüre ihr Fleisch, ihren Leib, ihren Mund, ihre Brüste, ihre schlüpfrige Scheide in meinen Händen, und
zugleich fühle ich mich unter ihren Fingern genauso in Lust aufbäumend. Sie drückt sich ganz fest an mich, und dann fließen wir wie von selbst auf einmal aus, ganz in einer tiefen Lust, in einem einzigen Orgasmus, der aus unseren verschlungenen Körpern gemeinsam aufstrahlt und dann wohlig verklingt. Wir beginnen uns wieder langsam zu lösen und zu entspannen, die Beine, die Hände und den Atem, der wieder einsetzt, um in ein befreites Lachen überzugehen, leise und erfrischt. Sie bleibt in der Stellung liegen wie zuvor, aber sie preßt sich nicht mehr so eng an mich, und ich fühle mich selbst frei in ihrer Umarmung. Die Ziege meckert draußen. Jetzt in der Nacht? Ich sinke langsam endgültig aus dieser wohligen Zwischenstation hinüber in einen tiefen Schlaf. Im Erwachen höre ich in das fröhliche Vibrieren einer Maultrommel [129] hinein, die laut das ganze Gewölbe erfüllt. Souverän federnd geht der Klang da draußen um und läßt sich bei der Stufe zu meiner Koje nieder, stiller ausklingend, um den Ton an eine Flöte abzugeben, die von der gegenüberliegenden Seite herüberdringt, wie um die Maultrommel zum Gespräch aufzufordern. Eine fragende Tonfolge hebt an, wird wiederholt im Gleichklang mit einem Streichinstrument zu einem eigenen Melodienbogen, der anschwilllt, und in den jetzt eine Trommel einfällt, um den Rhythmus zu untermauern. Stark reißt das Gleichmaß des Schlags die Melodie an, sie wird immer voller, weil noch andere Blasinstrumente und auch ein gitarreartiges Zupfen einsteigen. Auch Bärle, die auf der Stufe zu unserer Koje sitzt und die die geheimnisvolle Maultrommelspielerin ist, fällt wieder in den Reigen ein und macht den Klang zu einem endgültig fröhlichen, indem sie die Schläge weit ausschwingen läßt, sie zurückhält, um sie schwirren zu lassen, hinein in die Harmonien, die, von Disharmonien unterbrochen, wieder zusammenfinden. Ihre Maultrommel nimmt einen neuen Anlauf, ich höre das ganz nahe und deutlich. Sie hat einige Atemzüge lang angehalten, um jetzt leise in einer anderen Art hervorzuvibrieren. Sie arbeitet nicht gegen die anderen Instrumente, sondern sie lockt sie leise, nur mit ihrem bescheidenden Klangkörper. Ich bin vertieft in ihre lockere, aber stetige Werbung in einen neuen Rhythmus hinein, obwohl alle anderen Instrumente noch im alten Schwung vereint sind. Ich liege noch immer mit geschlossenen Augen. Ich bin bereits hellwach, aber ich will mich nicht rühren, ich bin gebannt von der Möglichkeit, einen neuen Klangknoten erstehen zu fühlen, der nur von einer Maultrommel gebunden wird. Leise und stetig hält Bärle ihre bescheidene einsame Melodie, nur drei Töne sind es, wie eine beantwortete Frage stehen die in der Luft, wie das Bild einer Erkenntnis in Tönen. Klar zeichnen sich diese Töne durch, und immer hörbarer kristallisieren sie sich aus dem Zusammenspiel heraus, werden unmißverständlich für die anderen Instrumente, gehen in sie über, klingen auch drüben auf, durch andere Klangkörper erzeugt, nehmen immer mehr Gestalt an und färben letztlich die neue Harmonie. Diese leuchtet auf wie ein gefundenes Gefühl. Eine klare Männerstimme nimmt den Ton wie ein Instrument her, und langsam fließt das Klingen in diese Stimme über, die alle Töne sammelt in der menschlichen, einfachen, die dann leise ausklingt wie eine Beruhigung an diesem Morgen. Noch [130] vor dem Abebben der Stimme bin ich auch zum Eingang gegangen, um mir anzusehen, wer da so singen kann mit seinem Resonanzkörper, tief wie aus Holz. Ruhig, auf den Stufen der gegenüberliegenden Hofseite, sitzt Philo und singt ohne Mühe aus sich heraus oder auch in sich hinein. Das Verblüffende ist die Einfachheit und Mühelosigkeit, mit der der alte Mann diese jungen Töne hervordringen läßt. Alle sitzen da draußen verstreut und auch einige zusammengerückt. Sie bevölkern den Innenhof und lassen ihn erklingen, so als wären sie viel mehr. Instrumente liegen herum, Bianca hat dieses gitarreartige Instrument im Schoß liegen. Sie sitzt ein wenig weiter weg von Philo, und ich sehe mir die beiden genau an. Sie sind alt, Bärle hat da schon recht, aber sie sehen nicht gebrechlich aus, und zum Sterben schon gar nicht. Vielleicht gehört die
hoffnungslose Abgenütztheit und Verfallenheit hier nicht zum Sterben. Vielleicht ist sterben hier nicht die letzte Aussichtslosigkeit, sondern eine Möglichkeit der Wahl. Bärle wendet sich vertraut an mich: «Du hast sicher schon Hunger. Ich hab heute schon ordentlich gegessen. Milch und drei Brote mit Honig und Butter. Dort hast du den Topf. In der Früh nimmt sich jeder, wann er will. Wir wachen nicht alle zugleich auf.» Ich verschwinde wieder in der Kammer und ziehe meine Kleider an. Ich wende den Blick nicht von ihr ab, beeile mich sehr. «Gehst du mit mir hinüber?» Ich möchte nicht allein über den Hof zum Essen gehen. Sie spürt das und lacht wieder so verständnisvoll spöttisch, nimmt mich beim Arm und zieht mit mir an die Öffnung zur Küche, wo der Topf, die Teller und das Brot stehen. Ich nehme mir ordentlich, meinem Hunger angemessen, und wundere mich, daß die Menschen da so herumsitzen und Musik machen und singen, schon in aller Frühe, und keinerlei Hast des Aufbruchs auf die Felder zur Arbeit zu bemerken ist. Die Arbeit ist doch das Essen für die Runde, das müßte sie doch in Unruhe versetzen und zur Tätigkeit antreiben. Ich löfffle und verspüre wieder, wie sich die Speise so köstlich im Magen anlegt. «Gehst du heute nicht hinaus zur Arbeit?» «Ich muß nicht jeden Tag gehen. Manchmal gehen wir alle nicht, wenn wir besonders gern Musik machen oder etwas anderes zu tun haben. Wir beginnen unseren Tag meist so, dann zeigt es sich schon, [131] wie es weitergeht», erklärt Bärle, ohne durch ihre Sorglosigkeit gefallen zu wollen. Sie ist so. Die Ziege kommt wieder aus dem Stall. Der kleine Junge läuft ihr nach. Er will, daß sie vor ihm weglaufen soll, aber sie grast lieber zwischen den wenigen Steinen am Boden. Die großen Pflanzen rührt sie nicht an. Heute ist auch der Junge nackt. «Meine Schuhe habe ich gestern draußen am Bach gelassen, außerdem müßte ich einmal», sage ich während meiner letzten Bissen. Tonio, der bei Urga sitzt und mit ihm spielt, nachdem er die Trommel neben sich abgestellt hat, tritt auf einmal heran. In der Hand hält er meine Schuhe. «Ich habe sie gestern noch gefunden. In der Dunkelheit habe ich zuerst ein kleines Tier vermutet. Ich nehme an, daß sie dir gehören, weil wir hier alle nicht so schöne Schuhe haben.» «Ich habe überhaupt keine. Hast du noch welche?» fragt ihn Bärle. «Ja, so schwere Schuhe habe ich, aus Rindsleder. Sie sind nicht sehr bequem, ich gehe auch lieber barfuß.» Er lacht aus dem blonden Bart heraus, aus dem die weißen Zähne leuchten. Entwaffnend ist die Größe und die Gesundheit dieses Burschen. Seine Aufgerichtetheit geht über menschliche Maße hinaus und kommt mir, da er jetzt so nahe steht, ein wenig unmenschlich vor. So etwas wie in Urgas Mächtigkeit liegt auch in ihm. Er geht wieder zurück zu dem Hund und legt seine Hand zwischen dessen Ohren. Von dort sieht er noch einmal her, und ich kann ihm jetzt erst, wie in einem späten Dank, zulächeln, während ich meine Schuhe wieder anziehe. Bärle steht auf und will mich führen. «Komm, jetzt gehen wir in den Kuhstall, dort ist auch das Klo.» Sie rennt schon weg, als sei ich ihr zu langsam. Ich frisiere meine Haare mit meinem Kamm. Als sie das von vorn sieht, kommt sie begeistert zu mir zurückgerannt wie ein kleines Kind und bewundert mein Werkzeug, dieses abgebrochene Hornstück. «So etwas hat hier niemand. Ich habe keinen. Nur eine alte rauhe Bürste habe ich. Bianca, glaube ich, hat noch einen groben Kamm, sonst aber keiner.» Ich gebe ihr das Stück, und sie kämmt sich auf der Stelle, lange und sorgsam wie in der
Freude am Frisieren versunken. Schönes Haar hat sie, ganz glatt. Dann geht sie zu Tonio, der ihr am nächsten sitzt, und [132] frisiert ihn genauso sorgfältig. Am liebsten möchte ich ihr den Kamm schenken, aber ich halte mir diese Freude selbst noch für ein andermal zurück. «Komm, jetzt sieh dir einmal diese Pflanze an. Erik geht jetzt hinein zu den Tieren. Sie werden auf die Weide gelassen.» Während sie mich zum Stall hinzieht, ruft sie: «Erik, bitte, gib das Zeichen, damit sie es sehen kann.» Er weiß zwar, worum es sich handelt, aber ihm ist der Akt des Vorführens nicht so geläufig wie der Komödiantin Bärle. Etwas mürrisch, aber nicht eigentlich unwillig, bleibt er einige Schritte vor der großen Pflanze stehen, die über ein Tor hängt, das nur durch Lederscharniere locker und federnd im Rahmen hängt. Eine starke Astranke hängt quer über diese Tür. Erik stößt ein ganz rasches Zungenschnalzen aus dem Mund, so als würde er es richtig ausspucken. Ich könnte nie so oft und so rasch hintereinander diese Laute artikulieren. Er setzt zwei-, dreimal neu zu einer Schnalzkette an, während Bärle meinen Arm ergreift, um mich in Aufmerksamkeit zu halten, bis sich dieses Rätsel eröffnen würde. Es geschieht so leise und kriechend, daß es mir vorerst gar nicht auffällt, wo der Ansatz zu einer Veränderung zu suchen ist. Bärle zeigt auf die Ranke, und ich sehe jetzt, wie sie sich langsam nach vorne biegt bei der Öffnungskante des Flügels, dort ist sie eingehakt. Während ich noch in dieses Beobachten vertieft bin, läßt Erik noch einmal sein Schnalzen ertönen, und da öffnet sich auch schon der Türflügel ganz weit. Die Ranke bleibt weiterhin in den Holzrand wie verkrallt, und wir können durchgehen. «Schließen kann sie nicht von selbst, da muß Erik dann wieder zumachen. Sie tut das nur bei ihm und nur auf dieses spezielle Zeichen hin. Aus Zufall ist er daraufgekommen. Nur diese Pflanze macht das. Erik kann sich selbst nicht mehr ganz genau erinnern, wie es das erste Mal war, jedenfalls machte er so ähnliche Töne, nur aus Spaß, weil er ein Instrument nachahmen wollte. Die Ranke war im Rahmen verhaftet und begann sich zu bewegen. Sie ließ das Tor nicht los, und dann öffnete es sich. Erik hat sich das gemerkt, Suse hat es auch einmal probiert, aber ihr gelang es nicht. Sie macht auch die Töne anders. Seither hat es, soviel ich weiß, niemand versucht, und eigentlich gehört diese Sache auch nur dem Erik. Es ist genug, daß diese Pflanze das immer wieder macht. Manchmal allerdings tut sie es auch bei Erik nicht.» [133] Mir erscheint das nicht ungeheuerlich, sondern lustig. Ich hätte es gern noch einmal gesehen, aber ich spüre, daß man hier keine Publikumsattraktion aus dieser Sache machen will. Ich denke, hier wollen sie kein Publikum, aber sie sind Gästen nicht abgeneigt, die sich ruhig einleben wollen. Nur Bärle ist in ihrer Lebendigkeit eine kleine Ausnahme, die mir zugute kommt. Sie wird in der Gruppe auch ein wenig als liebenswerter Sonderling behandelt, allerdings nie ohne Achtung. Ihr Wesen räumt ihr sogar eine besondere Stellung ein, die jeder zu verstehen scheint und gelten läßt. «Vom Stall können wir direkt hinaufgehen, die Treppe auf das Dach. Dort geh hinein, ich helfe inzwischen dem Erik, die Kühe hinauszutreiben.» Ich trete in ein sauberes Senkgrubenklo und höre, wie ein anderes Tor, das hinaus auf die Wiese führt, dort wo die Schafe sind, geöffnet wird, schwer und groß muß es sein. «So, hinaus, komm, Hulla, geh», höre ich Bärle sanft befehlen, und eine dumpfe Gruppe trampelt hinaus. Rasch geht das. Als ich zurückkomme, sind sie schon alle draußen, und ich sehe nur mehr die leeren Kojen. Bärle kommt zurück und läuft rasch eine Wendeltreppe hinauf, immer höher, bis sie oben steht und auf mich wartet. Ihre Popobacken hüpfen vor mir her wie Bälle, und ich komme, außer Atem, lachend über dieses bewegte Bild, oben an. Ich gebe ihr einen Klaps drauf, und sie versteht, wieso ich mich dazu angeregt fühle. Wir lachen schon wieder, und ich glaube, daß ich schon lange nicht mehr soviel zum Lachen gehabt habe, was mich neuerlich fröhlich stimmt. Der Anblick von hier oben allerdings macht mich wieder still.
Grüne, weiche Hügel dehnen sich hinter dem Schädelturm ins Land hinein. Einer geht in den anderen über, wie Musik von Höhen in die Tiefe zieht, sich verdichtet in der Bewaldung und wieder ebnet in ein grünes Feld. Äcker, teilweise bestellt, die meisten liegen brach. Die Wiesen sind duftig grün und bilden Flecken in den verschiedenen Abstufungen zu ihrer Grundfarbe. Braun dämpft das helle Goldgelb der Getreidefelder, weiß leuchten Blumen aus den Futterwiesen. Unter uns weiden die Kühe und die Schafe, Urga hält sie zusammen. Daß Landschaften so offenherzig blicken können - wie ein Auge in ein Spiegelbild. Es bildet sich ein Rundgang um die Kuppel, die das Schädeldach bildet. Der Turm, der ja eigentlich gar nicht so hoch ist [134] und vielleicht eher als Haus bezeichnet werden könnte, ist oben nicht ganz geschlossen. Seitlich kann Licht genug herein, was ich ja in der Helligkeit des Hofs schon von unten gesehen habe. Die Pflanzenkuppel schließt sich schon etwas früher als das eigentliche Dach. Ich kann von hier aus hinunter sehen, wo Philo, die Zwillinge und Tonio gerade damit beschäftigt sind, aufs Feld hinauszuwandern. Sie tragen wieder Geräte und Körbe. Suse bleibt da. Sie spricht mit Tell an der Küchenöffnung. Auch Erik und Milko bleiben heute anscheinend da. Er zupft wieder seine Violine. «Schau, nach dieser Seite kannst du die Stadt weit in der Ferne sehen.» «Ja dort, von dort bin ich gekommen. Und da ist auch der Wolkenkratzer, ganz weit weg.» «Dort am Hügel liegt das Sanatorium.» Ich weiß jetzt schon Bescheid darüber und gehe noch einmal rundherum. Da fällt mir ein heller Fleck auf, zwischen den Hügeln, da ganz hinten. Ich zeige hin, wie eine Frage: «Tonio sagt, das sei ein See. Ich selbst war noch nie dort. Ich gehe auch nicht hin. Niemand zieht hier viel herum. Tonio hat gehört, daß dort nur Kinder wohnen sollen, am Strand. Sie lassen keine Erwachsenen in ihr Gebiet.» Sie lacht und zuckt die Achseln. «Komm, gehen wir hinunter, ein paar Stufen auf den Balkon. Er liegt in der Höhe der Pflanzenkuppel. Da sind sie besonders schön und stark. Eine hat farblose Blätter. Sie ist fast wie ein Baum so stark.» Bärle läuft schon wieder vor mir her, hinunter, und betritt dann einen balkonartigen Rundgang, etwa in Augenhöhe des Steinkopfes, ein Stockwerk über dem Hof. «Schau da, greif, wie stark dieser Ast ist, auf dem die Blüten stehen.» Sie beugt sich weit hinaus, um an die Gabelung des Zweigs zu gelangen, an der sie entlangfühlt und eins der Blätter zu uns herüberdreht, damit ich sie besser betrachten kann. Sie hält mir den Ast hin, und ich beuge mich ebenso weit hinaus wie sie. Ich fühle eines der riesigen Blätter und denke an ihre Erklärung von gestern, mit der sie mir das Atmen der Pflanze zeigen wollte. Das glaube ich heute wohl schon besser zu verstehen. Ich lehne über das etwa unter dem Bauch abschließende Geländer und will versuchen, ob ich etwas spüren kann. Ich möchte es nicht nur aus eigenem Interesse, sondern ich will Bärle auch zeigen, daß ich mir ihre «Lehren» sehr wohl gemerkt habe. Von [135] unten ruft eine Kinderstimme herauf, eines von den beiden muß uns hier oben entdeckt haben: «Ich komme!» Ich beuge mich noch weiter hinaus, um zu winken. Da reiße ich, ohne es zu beabsichtigen, das Blatt ab, an dem ich mich anhalten will. Plötzlich schlägt mich ein Ast in den Rücken, und ich stürze nach außen hinunter, immer noch das Blatt krampfhaft umklammmernd. Ein dumpfer Prall füllt meinen Kopf. Die Erschütterung geht durch mich wie ein Lebensgefühl, in dem ich nicht mächtig bin, an die Oberfläche zu tauchen. Die Stimme Bärles hängt als ein Schrei in der Luft. Mir wird schwarz und leer. Bald aber höre ich neben mir jemand sprechen. Sehen kann ich nichts. «Sie ist übergekippt und hat das Blatt abgerissen. Die Ranke hat sich kurz aufgeschnell-
lt, ich habe das selbst noch nie gesehen, und hat sie damit dann hinuntergeschmissen. Sie ist aber in der weichen Erde gelandet, nur mit der Schläfe ist sie auf einen Stein gefallen.» «Gebrochen scheint nichts zu sein, aber das kann man erst sagen, wenn sie wieder zu sich kommt.» Ich verstehe das und möchte alles tun, um aller meiner Sinne wieder mächtig zu werden, schon allein, um die Erwartung dieser Stimme zu erfüllen. Ich möchte meine Augen öffnen und mich bewegen, aber das schaffe ich nicht. Ich bin von der Angst gelähmt, daß die Leute hier böse auf mich sein könnten, weil ich der Pflanze das Blatt abgerissen habe. Ich fürchte, daß man mich ausstoßen könnte, und ich möchte das so gern erklären, ich will unbedingt meine Unschuld beweisen. Quälend ist dieses Bohren, der Schmerz in meinem Kopf. Zugleich weist die besorgte Stimme Bärles und die beruhigende andere darauf hin, daß sie mir sehr wohl Zeit lassen würden, mich wieder zu fangen und endlich aufzutauchen aus meiner Ohnmacht. «Auf die Wunde lege Arnika. Ich habe drüben beim Spinnrad Leinenflecke, da kannst du einen damit einstreichen und auflegen. Auf die eine Schulter werden wir Harz geben, aber frage lieber noch Tell, der weiß da besser Bescheid. Wipfelsirup soll gut sein, wenn jemand Knochenschmerzen hat.» Eine große kühle Hand, sehr fleischig und stark, greift über meinen Arm. Ich weiß, daß das nicht Bärles Hand sein kann. Ich öffne mühsam ein Auge, ganz klein nur. Das andere hat sehr weh getan, als [136] ich es automatisch mitöffnen wollte. Ich erkenne Bianca, die auf dem Strohsack in Bärles Kammer sitzt, nahe bei mir. Ihr Gesicht ist sonnenfaltig und braun, stark und kühl wie ihre Hand. Ich sehe in dunkle Augen, die an den Lidern schon etwas verhangen sind und greife nach der Hand. Biancas Hand ist mir vertraut, obwohl ich sie noch nie gehalten habe. Ihr Druck gibt mir die körperliche Kraft zurück, die völlig ausgeflossen schien. «Ich kann nichts dafür, das Blatt habe ich gerade gehalten, ich wollte es loslassen, aber es ging alles so schnell, es war nicht möglich», stammle ich gepreßt heraus, um mich von meiner drückenden Sorge zu erleichtern und noch rechtzeitig alles gutzumachen. «Ja, das kann immer passieren, die Pflanze hat es auch überstanden», lacht Bärle und hockt sich, selbst erleichtert über meine wiedergewonnene Sprache, an mein Kopfende. «Und was sagen die anderen?» «Gar nichts sagen die, quäl dich jetzt nicht mit solchen Bedenken. Wir leben zwar mit den Pflanzen, aber wir leben auch, wenn sie nicht leben. Unser eigenes Leben hat für uns nicht so eine große Bedeutung, warum sollten wir dann den Pflanzen eine größere Bedeutung geben.» Damit erhebt sich die Frau, streicht mir noch einmal über die Stirn und meint: «Bärle wird dir da etwas auflegen, das heilt.» Sie ist wie eine kühle Wolke, die beruhigt. Für mich hat sie den besorgten Ton nicht, den sie manchmal Bärle gegenüber anschlägt. «Magst du vielleicht etwas Honigmilch?» fragt das Mädchen. «Nein, nur Wasser. Ich bin ganz benommen. War das lange, daß ich da gelegen bin?» «Na ja, du hast dich dazwischen immer wieder bewegt. Von Milko wolltest du dich nicht recht tragen lassen. Du mußt ihn schon bemerkt haben, aber dann bist du wieder still gelegen und hast ein wenig gewimmert, als würdest du etwas träumen. Einmal bist du dir an die Wunde gefahren. Gesprochen hast du jetzt erst, als Bianca vom Feld gekommen ist.» «Und die Pflanze, was ist mit der?» «Nichts, was soll sein. Wenn man ihr ein Blatt abreißt, tut ihr das weh, aber sie lebt weiter. Daß sie so reagieren würde, hätte ich nicht gedacht, die hat dich richtig gestoßen. Tell
kann die Pflanzen hören, manchmal, der Hund hört sie auch. Eigentlich vernehmen wir sie, weil sich die Schwingungen übertragen auf die für uns hörbaren Klangkörper. [137] Manchmal, da liegt etwas in der Luft, eine Unruhe, eine Nervosität, die wir nicht orten können, aber die uns verwirrt. Wir haben auch deswegen diese Klangkörper aufgehängt. Nicht nur, weil sie schön aussehen und ein wenig kling-klang machen. Sie leiten die unhörbaren Wellen ab, indem sie sie hörbar machen.» Ich greife mir wieder an die Stirn, der dumpfe Schmerz verwandelt sich, je länger ich bei Bewußtsein bin, in einen stechenden, der dann und wann besonders stark aufflammt. Ich muß die Augen wieder schließen. Das Licht, welches auch bei Tag in der Kammer gedämpft ist, tut mir im Kopf weh. «Was ist mit dem anderen Auge?» Ich zeige behutsam auf das unbrauchbare. Meine Hand will ich aber nicht zu nahe an dieses Auge lassen, daher deute ich irgendwie in die Luft. Bärle muß darüber wieder lachen und sagt: «Das ist ganz verschwollen. Die Wunde läuft da aus, aber das Auge selbst nicht. Ich hole dir jetzt Wasser aus der Quelle, das ist nicht weit, und die Salbe.» Sie springt hinaus und kommt gleich wieder herein. «Soll ich dir Urga zum Aufpassen geben? Er sitzt gerade da auf den Stufen.» Ich will diesem mächtigen Schicksal entgehen, denn ich möchte mich sammeln und den Grad meiner Beschädigung feststellen, aber ich bin zu zerschlagen in all diesen Bemühungen und kann Urga nicht abweisen. Ich muß mich in all meinen Ängsten vor dem Leben geschlagen geben, ich habe keine Kraft, mich zu wehren, ich liefere mich aus. Urga tritt an mein Bett. Der Hund ist so hoch wie ein Tisch. Er bewegt seinen Kopf schnüffelnd über meinem Körper, und ich drücke mich, so gut ich kann, tief hinein in den Sack. Dann setzt er sich daneben hin, ich blinzle, und das Tier schaut bedächtig in der Kammer herum. Alles an ihm ist so weitläufig und überdimensional, aber proportioniert. Es stimmt in einer anderen Dimension, und jetzt legt er sich hin. Ich entspanne mich nach und nach mehr. Ich wage nicht, mich zuviel zu rühren, wegen des Hundes und auch wegen der Schmerzen. Ich kann den Impuls zur Bewegung meiner Glieder auch gar nicht geben, oder gibt das sonst jemand anderes. Urga bewegt sich wieder, erhebt sich groß und mächtig. Draußen erklingt ein Instrument. Es muß ein größeres sein und dringt von oben herunter. Leise, aber stark wie orgelnd, vielleicht wie ein Dudelsack? Urga geht langsam hinaus. Mir ist das recht, aber dann [138] auch nicht, weil ich jetzt nicht weiß, ob er nicht von selbst wieder unverhofft hereinkommen wird. Aber es erscheint Bärle, außer Atem, mit einem Leinenfleck und einem Krug Wasser. «So, jetzt das auf die Wunde. Es blutet nicht mehr. Obwohl - Blut ist gut. Und dann trinken, das wird dich erfrischen. Ich mußte das Wasser nicht von draußen holen. Teil hat gerade frisches hereingebracht.» Sie legt mir den Fleck auf. Das brennt. Ich kneife die Augen zu, und das tut in dem einen verschwollenen sehr weh, was mir aber möglich macht, es zu bewegen. Ich habe den Ansatzpunkt dazu gespürt, und ich versuche es trotz des Schmerzes aufzukriegen. Es gelingt eigentlich nicht und muß komisch aussehen, weil Bärle darauf das Gesicht zu einer Grimasse verzieht, wie um mich ein wenig zu hänseln. Trotz allem habe ich wieder ein Gefühl im Auge, was allerdings bei jeder Bewegung noch größere Schmerzen verursacht. «Die Zwillinge sind schon zurück. Breda meint, ob du nicht vielleicht eine eigene Kammer willst, wenn du doch jetzt so zerschlagen bist. Es stehen Kojen leer. Auch einen Strohsack kannst du haben.» «Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich heute gern dableiben. Morgen können wir ja sehen, wie ich beisammen bin.» «Das finde ich auch am besten so», und Bärle hockt sich wieder neben mein Kopfende
und sieht mich so lieb an, daß sie mir ein mühsames Lächeln entlockt. Sie hat nichts von einer bejammernden Fürsorge an sich und belastet mich auch nicht mit Mitleid. Ebenso hat sie nicht das geringste Schuldgefühl, daß sie mich in diese Lage gebracht hat, so daß mir ihre Frische auch Mut macht. «Wenn du ausgeruht bist, könnten wir einmal nachsehen, was du noch alles bewegen kannst. Philo meint, es könnte ja auch etwas gebrochen sein.» Ich erinnere mich, daß ich gestern das Gefühl hatte, die Sprunghaftigkeit dieses Mädchens würde sie leicht zu einem unberechenbaren Charakter machen, vielleicht zu einem treulosen. Ich merke aber, daß ihre Zuwendung eine viel grundlosere und wertfreiere ist, als es Treue oder Verläßlichkeit sind. Sie bleibt still sitzen, und ich schließe die Augen. «Ich könnte dir so ein Babyfläschchen zum Trinken geben. Wir verwenden die getrokkenten Zerbesfrüchte», sagt sie. «Nein, nein, ich kann schon trinken. Gib einen Becher her. Dort hast du einen stehen.» [139] Sie hebt mich ein wenig an in den Schultern. Die Wunde sticht wieder auf, aber ich kann meine linke Hand besser zum Stützen verwenden, als ich erhofft hatte. Die rechte Hand ist fast so gefühllos, wie es das Auge zuerst war. Meine rechte Seite ist überhaupt nicht mehr da und wenn, dann höchstens als ein geschwollenes Feld, das allerdings unter der Geschwulst noch allerhand Schmerzüberraschungen bergen könnte. Ich liege auf meiner linken Seite. Auch das linke Bein kann ich rühren und als Stütze verwenden. Meine Lippen müssen dick sein. Ich merke es am Rand des Bechers. Ich kann trinken, und das Wasser erfrischt mich. Bärle läßt mich langsam wieder hinunter. Ich schlafe viel in dieser folgenden Zeit. Ich schlafe eine Erschütterung aus meinem Kopf, die nicht nur durch den Aufprall auf die Erde entstanden ist. Eine hoffnungslose Klarheit beseelt die Zeit meiner Genesung. Die Kraftlosigkeit des Körpers, der alle Energie zur Heilung der Wunde und der starken Seitenprellung braucht, ist mir fast eine willkommene Dämpfung. Mein Wissensdurst, meine Unrast und mein unaufhörliches Denken ist mir keine zwingende Hirnklammer mehr. Die Wunde am Kopf ist bereits wieder am Abheilen. Eine schorfige Kruste ist geblieben, die nur mehr bei fester Berührung schmerzt. Das Auge habe ich wieder zur Verfügung. Bärle hat ein Stück Spiegel aufgetrieben, ein Scherben ist es nur, gerade groß genug, daß ich meine Wunde in ihrer Heilung verfolgen kann. Außerdem frisiert sich Bärle täglich mit meinem Kamm und sieht sich dann auch im Spiegel an. Meine rechte Körperseite behindert mich allerdings in der Bewegung sehr. Große blaue Färbungen masern meine Hüfte und meinen Oberschenkel, lassen auch Adern aus dem Bein hervorleuchten, die vorher unsichtbar waren. Den Arm selbst trage ich in der Schlinge. Wenn ich ihn bewege, schmerzt er. Es handelt sich jedoch um eine Prellung und keinen Bruch. Das Bein kann ich benützen, aber nicht viel länger als eine Runde um den Hof. Die Sache sieht häßlicher aus, als sie ist, da die Blutergüsse nicht nur blau, sondern auch gelblich und rotviolett aufschimmern. Tagelang beobachte ich, selbst zur Untätigkeit verurteilt, das gelassene Treiben der Menschen um mich. Mir tut das gut, wenn ich sehe, wie sie auf die Felder hinausgehen, ohne Hast, wie sie sich sammeln zu den musikalischen Gesprächen ihrer Art. Ich kann keine genaue [140] Regelmäßigkeit in ihrem Lebensablauf beobachten, aber er ist von einem Rhythmus geprägt, stärker als jede willkürlich eingehaltene Ordnung. Sie haben zur selben Zeit Hunger, und Tell ist mit dem Essen immer fertig, wenn sie vom Feld wiederkommen. Dabei sehe ich ihn oft lange Zeit bei den Pflanzen hocken und sie gießen, während er murmelt und dann abgefallene Blätter aufhebt. Seit zwei Tagen schnitzt er auch an einer Flöte für mich, die ich nur mit der linken Hand bedienen muß. Er macht ein Gestell,
das er unter meinen linken Arm klemmt und auf dem ich das Instrument aufstützen kann. Bianca hat versucht, mir das Spinnen zu erklären. Ich verstünde es ja, aber es gelingt ohne die zweite Hand nicht. «Wenn du wieder gesund bist, kannst du spinnen», meint sie tröstend, und Bärle sagt: «Wenn du wieder gesund bist, gehst du mit uns auf das Feld, dort ist es zwar manchmal heiß, aber gar nicht so schlecht. Die Früchte draußen, frisch vom Baum, die mußt du probieren. Dann brauchst du keine Brühe mehr zu essen.» Mir allerdings tut dieses Gebräu außerordentlich gut. Es ist, als würde mich diese Art von Ernährung genesen lassen, als würde die Milch und der Honig in meinem Kopf eine Reinheit schaffen, die er sich bis jetzt nicht erlaubt hat. Eine Wunschlosigkeit ohne Glücksstrahlung. Eine Fraglosigkeit, ohne das als Mangel zu verspüren. Einen Kameraden habe ich mir erarbeitet, der noch stiller ist als die Menschen hier. Erarbeitet deswegen, weil es mich Überwindung gekostet hat, Urgas Mächtigkeit zu vertrauen und sie nicht als unberechenbare Bedrohung zu empfinden. Er tut eigentlich nichts anderes als mich wahrzunehmen. Er streift viel draußen herum, und wenn er wieder kommt, wirft er sich nicht irgendwo zur Ruhe hin, sich selbst genügend, sondern legt sich zu mir, einfach zu mir. Ich sitze irgendwo, auf den Stufen oder unter den Pflanzen, manchmal an der Küchenöffnung oder bei der großen Trommel, die ihren festen Standplatz vor der Koje der Zwillinge hat. Ich spiele sie mit der linken Hand nicht zu schlecht. Ich glaube manchmal, ich müßte meinen kranken Arm langsam trainieren, daß er nicht verkümmmert, aber Philo meint, es handle sich um eine Prellung und keine Lähmung. Diese Art von Beschädigung brauche Ruhe und kein Training. Urga spitzt die Ohren, wenn ich trommle. Er horcht. Auch Tell horcht mir zu, wenn ich auf der Trommel spreche. Und auch Milko, denn er geht nicht immer aufs Feld. Er kümmert sich um das Wasserrad mit besonderer Genauigkeit. [141] Ich bewundere immer wieder die Sorgfalt dieser Menschen, die sie in die geringsten Tätigkeiten legen. Sie haben Zeit, obwohl sie eigentlich viel zu tun haben. Sie haben die Ruhe, auch während sie auf den Feldern arbeiten. Sie legen keine großen Vorräte an. Kalte Winter sind hier anscheinend leicht zu überbrücken, und zu große Aufstapelungen von Lebensmitteln würden gestohlen werden, berichtet Milko, der da recht gut Bescheid weiß: «Nicht in allen Gemeinschaften herrscht soviel Überfluß an Nahrung, manche sind nicht gut versorgt. Viele hungern oder schränken sich zumindest ein, aber einige wollen das nicht. Ein Übermaß an Vorräten würde nur die Räuber anlocken. Die treiben ohnedies ihr Unwesen. Vor nicht allzu langer Zeit sind uns drei Kühe zerstückelt worden. Sie haben sie weggetrieben, alle sieben, weit hinein ins Land, in der Nacht. Urga hat sie wiedergefunden. Drei waren geschlachtet worden. Seitdem treiben wir sie am Abend immer in den Stall. Die Schafe sind bis jetzt noch verschont geblieben.» «Könnt ihr nicht etwas freiwillig abgeben an die Ärmeren? Das würde vielleicht diese Kriege überflüssig machen.» «Organisation!? - Wo denkst du hin», sagt er in einer resignierenden, ruhigen Art, immer den Blick in seine Hände gerichtet, die einander streifen. Er spricht mit dieser Bewegung, als sei das eine Voraussetzung für das Funktionieren seiner Stimmbänder. «Da wo Frieden ist, ist ein Krieg. Besonders wenn man den Krieg vermeiden will, durch berechnende, komplizierte Schachzüge, dort ist er oft schlimmer als dort, wo er ausbricht. Die dauernde Drohung ist vernichtender als der Ausbruch selbst. Dort, wo man Hilfe gibt, um sich selbst vor Gefahr zu schützen, schlägt sie zurück. Organisation ist ein Weg, der, wenn er sich verselbständigt, alles von innen auffrißt. Es ist ja gleichgültig, wie gut oder wie schlecht es geht, aber wer sagt im Angesicht des Todes, was einem gleichgültig ist. Ich kenne das. Es ist wie eine Sucht nach einem Ende. Man muß die Verbindungen abbrechen können zu seinem eigenen Gehirn, dann lösen sich die Gedankenverbindungen von Not und Reichtum, von Gewalt und Frieden auf, in nichts, aber das kann man nicht lehren,
weil es ja auch keine Bedeutung hat. Außerdem kann man das nicht tun, sondern das muß geschehen.» Daß Ackerbauern so weise sein können, das macht mir meine eigene Rolle sichtbarer, und, so gedämpft ich in diesen Tagen herumgehe, [142] so rege ist mein Spüren für jede innere Bewegung. Wenn ich die Hand auf Urgas Kopf lege, beruhigt mich das noch mehr als die Milchbrühe und das Wohlwollen meiner Gastgeber, die mich schon als eine von ihnen betrachten. Ich allerdings lege immer Wert darauf, die Gastrolle hervorzukehren, schon allein, weil ich mir alle Wege offenhalten möchte. Die Menschen berührt das allerdings nicht, da sie keine Wünsche an mich haben. Ich merke nur, daß sie mich mögen und daß ich sie nicht störe. Ich kann haben, so viel ich will, und ich habe nicht den Eindruck, als würde ich ihnen etwas wegessen. Auch beneiden sie mich nicht um meine Untätigkeit, weil sie ja selbst untätig sein könnten und es auch oft genug sind. Sie haben nicht die Ruhe weg, weil sie wenig Arbeit haben, sondern weil sie die Arbeit nicht brauchen, um das Leben auszuhalten. Das wiederum gibt ihnen kein Glück oder keine Besserstellung, sondern macht sie nur zu diesen Menschen, die sie sind. Dummerweise habe ich jetzt auch meine Regel bekommen, aber Bärle gibt mir ein langes zusammengedrehtes Leinenstück, das ich mir um die Hüften wickle und dann zwischen den Beinen durchstecke. Das wasche ich oft, wobei ich ein zweites umnehme. Bärle hat knapp nach mir auch ihre Blutung, sie sieht lustig aus, nur mit dem schmalen Leinen bekleidet. Wenn Tonio nach Hause kommt, geht Urga zu ihm und weicht nur selten von seiner Seite. Dann nimmt Bärle oder sonst jemand einen Platz an meiner Seite ein. Bärle erzählt immer. Sie weiß oft etwas Neues zu berichten. Philo spielt neben mir meist Flöte. Ich habe mit ihm bisher vielleicht nicht mehr als zehn Worte gewechselt. Neuerdings nehme ich das Baby oft auf den Arm. Das kann ich erst seit kurzer Zeit. Suse nimmt wenig Notiz von mir. Sie lächelt zwar und vertraut mir das Kind an, aber sie weicht mir eher aus. Wenn ich recht beobachte, hält sie das aber auch mit den anderen in ähnlicher Weise. Ich brauche den Spiegel nicht mehr. Die Wunde erscheint noch immer leicht rosafarbig von meiner Stirn, aber sie ist bereits vollständig mit neuem Fleisch überzogen. Auch das Auge ist wieder wie das linke zu gebrauchen. Die starke Färbung an der rechten Körperseite klingt ins Gelbliche hinüber und wird immer heller. Die Hand allerdings kann ich nicht ohne leise Schmerzen bewegen. Ich trage sie zwar nicht mehr in der Schlinge, aber plötzliche, unkontrollierte Ausschwünge schmerzen noch wie zu Beginn der Verletzung. Auch habe [143] ich in diesem Arm nicht viel Kraft. Meist halte ich ihn an meinen Körper, um ihn zu schützen. Ich verwende die Rechte nur, um Instrumente zu bedienen, die sie unentbehrlich machen. Da ich es aber auf meiner neuen «linkshändigen» Flöte zu einer gewissen Meisterschaft gebracht habe, was kein Wunder ist, denn ich konnte ja vorher schon Flöte spielen, bevorzuge ich dieses Instrument. Ein Getreidefeld wurde in der Zwischenzeit abgemäht. Ich war mit draußen. Sie verwenden Sensen und Sicheln. Die Zwillinge sind die geschicktesten Mäher. Sie machen ihre Bewegungen genau in derselben Art, aufs Haar ähnlich, rasch und zügig. Sie scheinen dieser Tätigkeit verfallen, wenn sie nebeneinander im Gleichschritt die Sensen durchziehen. Bärle mäht nicht, sie sträubt sich dagegen, wie manchmal gegen die Brühe. Sie ist allerdings wieder besonders flink im Strohbinden. Es handelt sich nicht nur um eine beschwerliche, schweißige Bauernarbeit, sondern sie holen auch hier draußen ihre Instrumente hervor, und einer läßt sie oft zu den Streichen der Sense klingen. Bianca schwingt die Sichel nur im strengen Rhythmus. Sie sagt, daß das ihre einzige Möglichkeit ist, bei der Stange zu bleiben. Sie arbeitet sich richtig hinein in die Halme. Eins, und und und weg, und und eins, und und und weg, und ... Wenn sie das nicht so macht und womöglich nicht noch in einen Singsang einkleidet, steht sie zu oft auf, weil ihr der Rücken weh tut, je öfter sie sich erhebt, um so schlechter wird es.
Philo ist überhaupt ein müder Arbeiter. Oft liegt er lange im Bach, pudelnackt, und läßt sich der Länge nach vom kalten Wasser umspülen. Dann lacht er immer, wenn er wiederkommt, er lacht sonst selten. Ich glaube, er arbeitet am wenigsten von allen. Ich habe bemerkt, daß es auch gar nicht darauf ankommt, daß jeder gleich viel arbeitet und sich ordentlich anstrengt und verausgabt. Die Zusammenhilfe besteht eher in der Gemeinsamkeit des Standhaltens, in der Dynamik des täglichen Auszugs zur Arbeit, und in der Sache, die eben geschafft worden ist, und nicht darin, welches Pensum man sich vorgenommen hat. Es wird kein Leistungslimit gesteckt, aber es geschieht immer etwas. Nie kommen sie ohne Nahrung zurück, und wenn gesät werden soll, so kommen sie nie mit dem Saatgut zurück. Die Zwillinge sind es, die miteinander bestimmen, wann wo am besten gearbeitet wird. Sie kennen sich da genau aus. Die anderen kehren nie die Könnerrolle hervor. Besonders Philo benimmt sich am Acker eher [144] kindisch, so abgeklärt und weise er in der Heimstätte hervortritt. Heute sind fast alle dageblieben. Vormittags hat es geregnet. Nur die Zwillinge und Milko sind auf den Feldern. Tonio ist mit Bärle an einen nahen Baumplatz gewandert, wo sie die Rinde untersuchen wollen. Urga ist nicht mit ihnen gegangen. Die Bäume dort sollen ein besonders heilkräftiges Harz für Biancas Gliederschmerzen enthalten. Sie war schon tagelang nicht mehr auf den Feldern. Sie sitzt starr und aufrecht bei ihrem Spinnrad. In dieser Versteifung kann sie es aushalten. Ich trage Bärles selbstgewebtes Kleid. Ich habe es schon einige Male angehabt. Es paßt mir sehr gut. Bippa, das kleine Mädchen, bringt mir von draußen einen Kranz aus Feldblumen. Sie hat das sehr schön gemacht. Sie krönt mich und fühlt sich dabei eigentlich selbst als Königin. Die Luft ist durch den Regen feucht und aromatisch. Die Pflanzen tropfen in großen schillernden Perlen. Trotzdem hängt noch immer Schwüle in der Luft. Philo bläst wieder seine schlanke, metallene Querflöte. Der kleine Knabe ist nicht da, er streift mit Vorliebe draußen herum. Er ist der einzige, der sich weit von der Behausung entfernt und den Umkreis erkundet. Tell warnt ihn oft, wegen der Menschen, die die Gegend unsicher machen, aber den Knaben schreckt das nicht ab. Die Haare Bippas sind nachgewachsen und stehen wie ein Stoppelfeld von ihrem Kopf ab. Der Kranz würde nicht gut auf ihrem Haar halten. Die Klangkörper zeigen jede größere Veränderung in der Luftschwingung an. Wie in leichte Aufregung geraten die Stäbe, wenn etwas im Anzug ist. Die Gesellschaft befindet sich dann bereits in stiller Aufmerksamkeit, fährt in ihrer Tätigkeit fort, aber ist hellwach für jede mögliche Veränderung. In der Schweigsamkeit der Gruppe, in der Spannung ihrer Nerven liegt eine gemeinsame Kraft, ein Verständnis für eine gemeinsame Einsamkeit gegenüber allen Schicksalsschlägen. Kleine Schritte, viel rascher, als sie hier üblich sind, nähern sich dem Eingang. Ein aufgeregter Lauf, die Klangkörper beben leicht auf, so als würde sich die Erde rascher bewegen. Der Junge rennt herein. Er ist völlig außer Atem. Er muß von weit gekommen sein. Mit letzter Kraft stößt er hervor: «Urga ist erstochen - und liegt dort hinter dem Wald!» Niemand sagt etwas. Die Menschen halten still. Die Bewegung in [145] den Instrumenten und in den Blättern legt sich fast. In der Luft hängen die Gedanken, die sich für jeden mit dieser Tatsache verbinden. Sie sind spürbar, fast greifbar. Eine Bewegung in jedermanns eigenem Lebensfeld, das durch dieses Geschehen aufgestört wird wie in einem Wind des Schicksals. Nach einer Weile bewegt sich Teil an der Küchenöffnung, wo er Körner sortiert hat. «Ich hole Urga herein.» Erik schließt sich ihm sofort an. Er verschwindet im Stall und holt eine Bahre. Ein Geflecht aus Stroh, an zwei Stäbe gespannt. Sie verschwinden mit dem Jungen beim Gewölbe hinaus, und wortlos nehmen die Menschen hier wieder ihre unterbrochenen
Tätigkeiten auf. Philo bläst die Flöte, Bianca spinnt, Bippa sieht mich aus großen Augen an und legt dann den Kopf in meinen Schoß, so als sei sie müde vom Blumenwinden. Nach einiger Zeit kommt Suse mit dem Baby herüber zu der Stufe, auf der ich sitze, und fragt mich: «Hat Bärle irgend etwas zu dir gesagt?» Ich kann mir nur vorstellen, daß sie über deren Rückkehr von dem kleinen Ausflug zu den Bäumen mit dem Harz spricht. Ich zucke die Schultern. Da klingt Biancas Stimme vom Spinnrad her: «Sie müssen bald zurück sein. Die Baumgruppe ist ja nicht weit.» Daraufhin erhebt sich Bippa und sagt leise, schon im Gehen: «Ich warte draußen auf die beiden.» Niemand wird sie zurückhalten. Jeder weiß, daß sie irgendeinem von ihnen eine schwere Aufgabe abnehmen wird. Philo setzt sich mit seiner Flöte zu Bianca ans Spinnrad. Er spielt einfache Töne, der Monotonie des Rads gleich, aber in verschiedenen Tonlagen. Eine immerwährende Wiederkehr desselben auf einer anderen Stufe, einem Faden gleich, den man zurückwandert, bis ihn das Rad aufgesogen hat. Ich erhebe mich und gehe im Hof umher. Ich bin nicht eigentlich unruhig, aber ich finde die Ruhe zum Stillsitzen nicht mehr. Die Nachricht hat in mir etwas geweckt, das ich die vielen Tage über verspürt habe. Ich fühle mich ein wenig in die Lage von damals versetzt, als ich hierhergekommen bin, dasselbe Gefühl steigt in mir wieder hoch. Ich hätte eine starke Veränderung meines Gemüts gar nicht feststellen können, seit meiner Ankunft, aber jetzt merke ich, daß ich ein eigenes Leben habe, ein eigenes Suchen, das mir als meine Sehnsucht wiederkehrt. Fast mit einer Art Rührung empfange ich [146] dieses Gefühl wieder. Diese innere Bewegung ist es, die den Tod des Tiers gelten läßt und nicht als unsinniges Schicksal abweist. Inmitten der eigenen Erschütterung über sich selbst hat der Tod seinen Platz, gehört dahin wie das Leben. Ich gehe um das Gebäude herum. Ich könnte auch Bärle und Tonio begegnen und ihnen ruhig ins Auge sehen. Ihr Schrecken würde mich nicht tiefer treffen als mein eigener, indem ich imstande bin, zu verweilen und zu leben, zumindest jetzt, solange diese Erfahrung noch so tief in mir hängt. Bippa treibt sich hier herum, sie wartet auf die beiden. Ich streiche über die Blätter der Außenranken. Ich fühle hinein in das Fleisch der Gewächse. Wie eine Ader selbst sind sie geschwollen, und wieder glatt am Rand, wo sie schmal nach außen zu auslaufen. Ich brauche mich nicht zu bemühen, ihren Aderschlag zu spüren. In meinem Griff liegt das leise Beben meines eigenen Bluts. Eine Sprache, die mit dem Verstand nichts zu tun hat. Der hemmt die Einheit, wenn er glaubt, verstehen, das heißt für ihn herrschen zu müssen. In der Erschütterung herrscht niemand, da darf sich das Belebte mit dem Unbelebten vereinen, da wird die Trennung durch die verschiedenartigen Lebensformen unwichtig. Nur der Puls geht gleichmäßig im Fluß, in der Pflanze anders als im Körper. Eine Frage erhebt sich nicht. Die Tatsache wird zur Antwort. Die Tatsache, daß ich das Blatt fühle, die Tatsache, daß ich die Hand auf Urgas Kopf legte und mit ihm war. Ein Mensch wie ein Tier, lebendig oder tot. Tell und Erik kommen mit der Bahre. Der Knabe geht neben ihnen her. Bärle und Tonio kommen gerade mit dem Mädchen von der anderen Seite her. Tonio schickt Bippa hinein, um etwas zu holen. Teil und Erik legen die Bahre mit dem toten Urga mitten in der Wiese ab. Bippa kommt mit einer großen Schaufel aus dem Gewölbe gelaufen. Rasch und zügig hebt Tonio in der Wiese eine Grube aus. Die Erde scheint hart zu sein. Erik löst ihn beim Graben ab. Bippa setzt sich zu dem Knaben an das Kopfende Urgas. Die Kinder sehen ihn an, und der Kleine zeigt in die Wunden. Zwei Einstiche sind es, einer am Hals und einer an der linken Seite. Das Blut ist im Fell geronnen. «War er weit weg?» fragt Tonio den Knaben. «Fast so weit wie die Kühe damals waren. Er muß mit den Wunden noch ein Stück gelaufen sein, weil Blutspuren im Gras waren.»
«Ich habe so etwas vermutet», sagt Tonio in Gedanken. «Er war heute nacht nicht da, das war selten der Fall.» [147] Die Grube ist tief genug. Tonio und Tell nehmen das schwere Tier und betten es hinein. Die Kraft des Geschöpfes hat nichts verloren. Die Berührungspunkte, die jeder im Leben mit diesem Tier gehabt hat, bestehen weiter für ihn in seiner Persönlichkeit, sie bringen das eigene Ableben um eine Möglichkeit näher, aber machen noch einsamer auf dem Weg. Die Einsamkeit war Urgas Macht, die er immer ausgestrahlt hat in seiner Größe. Und die war keine andere als die meine oder die der Kinder und aller. Die Grube wird zugeschüttet, die Bahre und die Schaufel mitgenommen. Wir ziehen uns zurück zu den anderen, die zwar nicht in der Runde, aber nicht minder anwesend waren. «Ob das eine Warnung gewesen sein soll? Ich möchte die Kühe in den nächsten Tagen nicht aus dem Stall lassen. Zu den Schafen werde ich mich jetzt immer selber setzen», bestimmt Erik. «Du kannst mich das auch machen lassen», meint der Kleine wacker. Diesmal hat sich Suse um die Bereitung der Brühe gekümmert. Sie hat den Topf schon auf den Platz herausgetragen und rührt noch etwas hinein und gießt und schmeckt ab. Teil gesellt sich zu ihr. Er ist gar nicht böse, daß er sich einmal überraschen lassen darf. Er kostet und scheint Geschmack an der Zubereitungsart der Mahlzeit zu finden. Ich sehe, daß sie sich über seine Anerkennung freut, das tut sie selten. Oder vielleicht zeigt sie es nicht so wie Bärle oder die Kinder. Der Kleine bringt diese Trommel, die ich bei meiner Ankunft bewundert habe, und beginnt die Zwillinge und Milko vom Feld zu trommeln. Wieder ertönt das Echo. Etwas früher scheint es heute zu sein. Hier hat niemand eine Uhr. Das Ereignis verschiebt den Zeitplan. An so einem Tag wird anscheinend besonderer Wert auf eine gemeinsame Mahlzeit gelegt, als wolle man sich damit stumm einigen über den Ausschlag des Schicksals. Niemand spricht von Gefahr, und es herrscht auch keine bestimmte, aber jedermann fühlt sie. Die Gruppe ist bewegter als sonst. Die Unruhe macht sich in einer gewissen Zeichenhaftigkeit bemerkbar, auf die man achtet. Aufmerksam sitzen wir und warten auf die Heimkehrer. Der Kleine geht ihnen entgegen. Philo spielt seine Flöte einmal nicht. Ich sehe zum erstenmal, daß er Bianca von den Stufen herunterhilft. Er stützt sie leicht. Am Boden sitzt sie dann wieder aufrecht. Heute werden die Teller ausgeteilt und nicht weitergereicht. Suse stellt vor jeden einen hin und legt einen [148] Löffel dazu. Die Brotschüssel kreist, jeder nimmt sich, aber noch wird mit dem Essen auf die drei und den Kleinen gewartet. Ich lehne mich zurück, stütze die Hände hinter mir auf und schaue hinauf in die Pflanzen. Sie stehen in unveränderter Pracht. Der untere Teil der Ranke, welche mich zu Boden geworfen hat, hängt über dem Kopf Biancas, die ruhig vor sich auf den Boden sieht. Ein kräftiger Ast, mit dem ich keine besondere Gemütsregung verbinde. Ich habe bei der Rückkehr in das Gebäude Bärles Kleid ausgezogen und wieder meine Hose angelegt. Ich weiß nicht, warum ich das tun wollte, aber es war mir ein Bedürfnis. Ich habe es in Bärles Kammer gelegt. Dorthin gehört es. Die ganze Zeit über haben wir zusammen in der Koje gewohnt. Ich habe nie eine eigene bezogen, sie hatte nur eine Matte neben den Strohsack gebreitet, damit das Bett breiter wurde. Zu Beginn meiner Verletzung hat sie da geschlafen, aber als die Wunde abgeklungen ist und die Seite besser war, hat sie wieder neben mir auf dem Strohsack gelegen. Und jetzt kommt Bärle in ihrem Kleid aus der Koje. Sie trägt es zum erstenmal. Sonst war sie immer nackt. Alle bemerken es, aber niemand sagt etwas. Und das erste Mal seit meines Einzugs setzt sie sich nicht neben mich, sondern neben Tonio, der seinen alten Platz hält. Ich lasse die Tatsachen als Zeichen gelten, die alle verstehen. Es ist eine Sprache der Taten, ähnlich der Sprache der Musik. Die Feldarbeiter kommen und setzen sich ruhig um den Kessel. Die Brühe wird einge-
schöpft, und alle essen stumm. Tell lobt noch einmal Suses Zubereitung. Es schmeckt wirklich anders, aber nicht minder gut. Herber, vielleicht hat sie mehr Essenz hineingegeben. «Die Bäume draußen sind trocken, die geben kaum noch etwas her», klärt Tonio Bianca auf. «Da kann man nichts machen», antwortet sie und wischt mit ihrem Löffel durch die Luft, wie um einen Strich unter die Sache zu ziehen. Es wird wohl geschmeckt haben, aber heute nimmt sich keiner mehr nach. Bärle hat ordentlich mitgegessen. «Vielleicht sollte heute nacht einer aufbleiben und vom Balkon Ausschau halten», meint Milko. «Ich mache das schon, ich kann ohnehin schlecht schlafen», stellt Bianca fest, und das in einem Ton, der bestimmt, was sie vorschlägt. «Sie können schon lange wieder weitergezogen sein, aber daß sie so nahe herankommmen, ist schon Warnung genug. Sie wissen, daß der [149] Hund jede Kleinigkeit bemerkt hat. Ich glaube nicht, daß sie die Schafe angehen wollen. Die bringen ihnen zu wenig. Geschoren wurden sie erst, und Fleisch haben die nicht soviel», sinniert Milko. Die anderen beteiligen sich nicht an seinen Überlegungen. Philo nimmt wieder die Flöte zur Hand und Tonio die Trommel. Ich hole meine «Linkshändige» und gehe Philos Tönen nach. Seinem Rhythmus, der von Tonio ausgefaltet wird in ein immer wiederkehrendes Herzschlagen mit Unregelmäßigkeiten, die erfrischen, um wieder in ein Gleichmaß überzugehen, über das sich die Flöten schwingen wie Vögel über das Wasser. Ich spiele gedankenlos, aber anscheinend so melodiös und ausdrucksvoll wie nie. In mir wandert etwas hin, ich kann es nicht als etwas Bestimmtes erkennen. Diese magische Kraft habe ich in all den Tagen nie gespürt, obwohl ich diesen Zug an mir kenne. Ich war so gedämpft und schwach gewesen. Jetzt, sich im Spiel noch steigernd, ersteht eine Geistergestalt vor mir mit meinen eigenen Zügen. In ihr liegen alle meine Gefühle, ich selbst bin wie leer und lasse die Töne in meinen Hohlraum perlen. Die anderen haben aufgehört zu spielen und horchen mir zu. Ob ich von etwas spreche, was sie verloren haben oder dem sie nicht mehr nachgehen? Ich fühle mich von einer Unruhe beseelt, ein Rollen in der Ferne mischt sich in meinen inneren Aufbruch. «Jetzt scheint das Gewitter zu kommen, das schon am Morgen in der Luft lag», bemerkt einer der Zwillinge. «Gut, daß wir das eine Feld fertig haben.» Ich habe aufgehört. Die anderen bleiben sitzen und spielen weiter, als hätten sie nicht innegehalten. Noch regnet es nicht. Es kündigt sich nur an. Ich steige hinauf auf das Dach, wo man weithin in die Hügel sehen kann. Dort in der Ferne der See. Über ihm hängt eine dicke schwarze Wolke. Der Weg, der mich hierhergeführt hat, zieht weiter in die Hügel hinein und verschwindet in einem Wald. Ich beobachte das Gelände, auf dem das Unglück mit Urga passiert sein muß. Weiden und Felder, unbebaut. Eine harmlose Gegend. Die Hügel falten sich so lieblich auf. «Ich komme mit dir mit», ertönt eine Stimme. Ich habe den Kleinen nicht heraufsteigen sehen. Er steht an meiner Seite und horcht auch hinunter. Dann beugt er sich in die Pflanzen hinein, um ein Blatt zu greifen. Ich ziehe ihn sanft zurück und schaue mit ihm auf der anderen Seite in die Landschaft. [150] «Nein, ich gehe allein. Ich habe das von Anfang an so gewollt», sagt meine Stimme, als sei es die meiner geisterhaften Sehnsucht. Kein Trost liegt für das Kind darin. Auch für mich nicht, denn ich habe keinen. «Okay», meint der Kleine, «jetzt wo es vielleicht wieder einen Überfall gibt, möchte ich ohnehin nicht recht weg. Glaubst du, kommen sie?» fragt er mich unsicher. «Ich weiß das nicht. Aber ich weiß, daß überall Gefahr droht, wenn man ihr auszuwei-
chen trachtet.» Daß ich so gern spreche, ist ein Zug an mir, den ich hier gelernt haben muß. Ich lache darüber, und der Kleine lacht mit. Woher weiß er eigentlich, daß ich weg will? Die Tatsache, daß er mir das eben jetzt erst klargemacht hat, läßt mich wieder kleinlaut werden, und ich lasse meine weisen Worte noch einmal an mir vorüberziehen. Daß ich gerade jetzt weggehen will, wo vielleicht Mörder im Anzug sind. Obwohl ich natürlich hier nicht helfen könnte. Vielleicht helfe ich mir damit. Ein Rückzug in meine Einsamkeit und zugleich ein Vorstoß in die Unsicherheit, denn mein Weg würde mich dorthin führen. Ein Donner reißt mich aus meinem Sinnen. Ich habe den Blitz nicht gesehen. Wir laufen hinunter. Die ersten schweren Regentropfen fallen. Dem Kleinen macht das Spaß. «Vor dem Gewitter habe ich keine Angst, aber vor den Viehdieben schon.» Ich beachte seine Ehrlichkeit, und unsere Rückkehr ist den anderen ein Anlaß, sich aus dem schweren Regen in die gedeckten Bereiche des Gebäudes zu begeben, an die Eingänge zu den Kojen. Bärle und ich sitzen an unserem Eingang. Der Regen prasselt so laut auf die großen Blätter, daß diese Musik lauter ist, als wir sie machen könnten. Ich frage mich allerdings, ob es sich hier nur um die Musik des Regens handelt. Ein Rauschen schwingt mit, das immer ärger wird. Einzelne Klänge sind in dem anschwellenden Brausen herauszuhören. Ein rollender Donner erschüttert das Gewölbe. Das Beben allerdings läßt nicht nach. Auch als der Donner sich verzogen hat, hält etwas den Atem an und bringt den ganzen Körper in Vibration. Die Metallplatte, die meist nur leicht schwingend von einer Holztraverse in den Hof hängt, gerät in unaufhörliches Tönen wie ein chinesischer Gong. Bewegte Rhythmen, Glocken und Lautkaskaden erschüttern die Gewölbe, obwohl der Regen nachgelassen hat, so als müßte er sein Spiel [151] verlorengeben in Anbetracht dieser Musik. Die anderen sitzen und sind genauso getroffen wie ich, obwohl ihnen das Spiel keine Neuigkeit zu sein scheint. Wie nach einer kunstvollen Massage regt sich der Körper wieder, während die Musik leiser wird und unvermutet ausschwingt und dann verebbt wie sie angefangen hat. Bärle flüstert, als würde sie ihrer Stimme jetzt nicht ganz vertrauen: «Die Zwillinge spielen gern die Orgel zum Gewitter.» «Wo ist die, die habe ich nie gesehen!» Sie zeigt hinauf auf den Balkon: «Dort hinter einem Verschlag. Sie ist in die Mauer eingelassen, wir legen sonst immer Holz davor. Ich hätte sie dir damals sicher gezeigt, aber ich bin nicht mehr dazu gekommen, wegen deines Unfalls, und dann habe ich es irgendwie vergessen. Dafür warst du jetzt überrascht.» Sie lacht und erhebt sich. Auch die anderen bewegen sich wieder in den Hof hinein. Bärle und die Kinder strecken die Arme in die Höhe und tanzen singend in der erfrischten Luft, die nichts mehr von Schwüle hat. Sie kommt wieder zu mir und schmiegt sich an meinen Arm, als sei auch in ihr ein schwüler Bann gebrochen. «Wenn ihr aber so laut spielt, wird das die Leute nur anlocken. Diese Musik muß man doch weithin ins Land hören.» «Die wissen ohnehin, daß wir da sind. Sich still zu verhalten, würde uns vor ihnen nicht schützen. Dem Feind muß man ins Auge sehen.» Sie lacht wieder. «Die Zwillinge haben die Orgel selbst gebaut. Aus Holz, selbst die Pfeifen sind aus Holz. Philo und Bianca spielen sie, und ich auch.» «Das würde ich gern einmal hören!» «Dieses Instrument bedienen wir selten. Du hast schon recht», und sie greift sich wieder an die Braue. «Wir spielen sie so selten, weil sie so weithin strahlt. Die Zwillinge müsssen sich etwas gedacht haben, daß sie gerade jetzt georgelt haben. Die haben ein feines Spüren für die Zusammenhänge in Gefahrensituationen.» Sie denkt vor sich hin, bis sie die Hand wieder von der Braue nimmt und meint: «Die armen Schafe, die werden ganz naß
geworden sein.» «Glaubst du, hat das Wetter viel Schaden auf den Feldern angerichtet?» «Ja, sicher, aber die Pflanzen halten mehr aus, als man annimmt. Das eine Feld ist gemäht. Die Ernte ist hinter dem Stall untergebracht. Die Zwillinge dreschen immer schon am Feld draußen. Wir haben [152] eigentlich genug, auch wenn das andere Feld beschädigt wäre. Rüben und Kartoffeln sind ja von einem Wetter nicht unterzukriegen.» «Was werdet ihr denn machen, wenn ein Überfall stattfindet?» «Nichts, was sollen wir machen? Glaubst du, wir schießen mit Kanonen?» Daß sie angesichts dieser Gedanken noch immer lachen kann. «Wir schließen höchstens das Tor draußen und den Stall. Dann setzen wir uns hin und spielen Musik. Aber wenn es sein muß, kämpfen wir auch. Wenn es einem an den Kragen geht, so wird er sich bis aufs Messer wehren. Sofern ich kann, bringe ich jeden um, der mir ans Leben will. So hält es hier jeder für sich selbst.» «Magst du den Kamm? Ich schenke ihn dir. Ich habe meine Flöte, die möchte ich gern mitnehmen. Ich kann sie jetzt mit beiden Händen benützen.» Während meiner Worte krame ich den Kamm hervor und muß sie nicht ansehen. Sie nimmt ihn in die Hand und lächelt, dann fällt sie mir um den Hals und hält mich ein wenig. Sie lacht einmal nicht, aber sie tut auch sonst nichts, läßt mich dann wieder los und meint: «Du weißt, was du tust. Ich habe gewußt, daß du nicht hierbleiben wirst.» Und jetzt lächelt sie. Ihre Worte entlasten mich, denn es war mir nicht leicht, davon anzufangen. «Ich gehe morgen früh, sag du es den anderen, wenn sie fragen sollten.» «Zuerst iß aber noch ordentlich von der Brühe, die hält lange den Hunger ab. Komm, wir gehen in die Küche. Du kriegst eine Extraportion.» Tell gibt mir eine besonders dicke Milchsahne-Butter-Honig-Eiweiß-Harz-ExtraktElexier-Gewürzkraftsuppe und ein Brot. Ein anderes Brot wandert in eine kleine Leinentasche. Sie ist ganz ausgebeult davon und von der Flöte. Er fragt nichts. Er weiß sicher alles. Somit wäre ich fertig und könnte gleich abhauen. Soll ich? «Eigentlich ist das gefährlich, was du tust, obwohl man natürlich nicht absehen kann, was jetzt gefährlicher ist. Du wirst sicher dort in den Wald hinaufgehen?» «Ja, ich denke, dort führt mein Weg weiter.» «Im Wald bist du zwar geschützt, und du hast auch nichts, was sie brauchen würden. Dein kleines Brot lockt sie nicht an.» «Wenn mir jemand etwas tun will, mach ich den Grizzly!» [153] Ob das ein Grund zum Lachen ist? Jedenfalls tun wir es, weil wir vielleicht ahnen, daß es in nächster Zeit nicht viel zum Lachen geben könnte. Tatsache ist, daß die Bedrohung immer in der Luft hängt und daß man sie immer spürt und davon bewegt ist. Ein Zeichen allein beweist noch nichts, außer daß es auf einen Dauerzustand hinweist, in dem man sich immer befindet. Ich bin voll Unruhe. Fast will ich die Nacht nicht mehr hier zubringen. Die anderen halten ihr Leben wie immer und lassen sich nichts anmerken. In der Nacht schlafe ich schlecht, und die rechte Seite tut mir wieder weh. Jetzt, da ich gedacht habe, schon gesund zu sein. Mein Kopf schmerzt dort, wo er es nach der Erschütterung getan hat. Bärle merkt es und legt sich auf die Matte, um mir mehr Platz zu lassen oder um selbst besser schlafen zu können. Sie liegt ruhig und scheint weder von Träumen noch von Ängsten und Schmerzen geplagt zu sein. So sehr ich am Tage von meiner aufgeflammten Sehnsucht beglückt war, so tief falle ich jetzt in eine kraftlose Leere angesichts meines Entschlusses. Habe ich meinen Aufschwung zum Weiterziehen erst willkommen geheißen, so horche ich
jetzt voll Neid auf die ruhig atmende Bärle. Ich bin ratlos, wo ich den Mut anpflanzen soll zum Ausharren oder zum Weiterziehen, und schließlich komme ich dazu, daß es um Mut überhaupt nicht geht. Ich schlafe ein, reiße mich wieder hoch, um in einen leichten Schlummer zu verfallen. Beim ersten Morgengrauen ziehe ich mich an. Es ist noch niemand wach. Das ist mir recht. Es ist kühl und feucht draußen. Meine Glieder sind ungelenkig, und ich zittere ein wenig. Ich marschiere beim Gewölbe hinaus unter den Pflanzen. Ich habe Sehnsucht nach der Wärme der Sonne. Auf die muß ich noch warten, obwohl ich ihre Strahlen schon leicht ahne. Das Regenwasser ist bereits im Boden versickert, aber die Erde ist feucht und dunkel. Das Gras ist noch tropfnaß. Ich gehe am Bach entlang, weiter meinen Weg. Das Wasser ist gestiegen und murmelt bewegt zwischen den großen Steinen, die das Bachbett gliedern. Das Wasser rollt mit einem glucksenden Aufwallen über die abgerundeten und ausgeschwemmten Steinköpfe, auf denen teilweise Moos wächst. Meine Schuhspitzen sind ganz dunkel von der Feuchtigkeit. Das Land ist gewaschen und staublos. Es rückt wie in einem gereinigten Licht näher heran, ist weithin zu übersehen, so als sei es auf mein Maß [154] zusammengerückt. Je heller es wird, desto mehr hebt sich die Landschaft in den Bereich der Wirklichkeit. Die Bewegung erwärmt mich und mein Vorhaben. Ich habe jetzt keine Schmerzen mehr. Den Arm allerdings halte ich gewohnheitsmäßig an meinen Körper heran. Die Schafe verteilen sich über die Weide. Sie sind bereits beim Frühstück. Einige liegen noch beisammen, so wie sie die Nacht verbracht haben. Niemand bewacht sie. Sie zeigen keine Unruhe und sind, soweit ich übersehen kann, vollzählig vorhanden. Eine Herde von zwanzig Stück. Hier das Schwarze, ein auffallend Graues, die anderen sind weiß. Während ich an ihnen vorbeigehe, fällt mir ein, daß Bianca und vielleicht auch Suse auf dem Dach sitzen müßten, um zu wachen. Ich drehe mich nicht um. Der Weg führt weiter über einen wackligen Steg an das andere Ufer des Bachs. Dort verläßt er das Wasser und führt einen Hügel hinan. Am Fuß des Hügels dehnen sich vorerst noch Wiesen, die dann waldiger werden, bis sie in einen dichten, dunklen Nadelwald übergehen. Das unermüdliche Geplätscher des Wassers ist hier nur mehr schwach zu vernehmen. Ich empfinde die Stille als Erholung, weil es mich nicht mehr so antreibt. Ich steige langsam den Weg hinauf, der anfangs noch weit außen verläuft, so daß mein Blick noch immer frei über die Felder und auch zurück zum Turm streifen kann. Ich blicke mich einmal um, bevor der Wald mich aufnimmt. Es ist noch heller geworden, aber nach wie vor hängt ein leichter Schleier des Schlafs über dem Land. Ein Tauschleier, der Schlafwind der Landschaft, der Hauch der Nacht. Ich bleibe stehen. Vereinzelte Vogelstimmen sind zu vernehmen. Ein starkes Trällern schwirrt immer wieder auf. Ein Warnlaut, den die Vögel verstehen? Ist es meinetwegen, oder lauert eine andere Gefahr? Vielleicht lauert mir etwas auf? Eben möchte ich schnell dort oben zwischen den dichten Bäumen verschwinden, da sehe ich einige Reiter unten auf dem ebenen Feld. Jenseits des Bachufers, eigentlich so weit entfernt, daß sie mich nicht sehen können. Meine erhöhte Lage gibt den Blick frei bis zum Turm. Wäre die Luft trokken gewesen, hätte sich Staub gebildet und ich hätte die Wolke schon länger sehen müsssen, aber so treten die Gestalten mit einemmal klar hervor, plötzlich in der reinen Landschaft. Ich ducke mich unwillkürlich nieder, da ich mich ja noch in der baumlosen Zone bewege. Wenn ich einige Meter weiterkrabbeln [155] könnte, mich tief am Boden haltend, würde ich ungesehen die Bäume erreichen, an die ich mich schmiegen könnte, ohne als besondere Erhebung hervorzutreten. Ich möchte keinesfalls die weiteren Unternehmungen der drei Reiter unbeobachtet lassen. Ihr Anhalten jedoch gibt mir Zeit, mein Vorhaben in Blitzesschnelle durchzuführen. Ich stehe jetzt hinter einer dicken Tanne und lausche.
Ich kann nur Sprachfetzen vernehmen, deren Inhalt ich nicht verbinden kann. Die Männer sprechen auch nicht laut, sie stehen dicht beisammen und scheinen etwas auszuhandeln. Sie müssen in Eile sein, das kann ich an ihren unruhigen Gesten erkennen. Die Pferde reißen am Halfter. Die Kleidung der Burschen ist verwahrlost, aber sie tragen alle drei großkrempige Hüte. «Schon früher ... doch nicht ... mit euch ist ...» solche Worte dringen zu mir herüber, und die kann ich nur mit höchster Konzentration erhaschen. Ich vertraue lieber meinen Augen, die aus dem langwierigen Verhandeln mehr erkennen als an den kurzen Worten. Die Uneinigkeit wird zu einem überstürzten Antrieb. Der eine mit einem hellen Halstuch spornt jetzt zum Sturm an. Ich presse mich an den Stamm und drücke ihn fest, so als sei das mein Ausweg. Ich fühle mich gefesselt, obwohl ich frei bin in meinem Versteck. Mir ist, als sei ich in dem Turm zurückgeblieben, zumindest ein Teil von mir. Der Abstand zwischen den Schafen und den dahinpreschenden Reitern vermindert sich schnell. Noch einmal halten sie an, bevor die Herde unruhig wird und die Bewegung auf sich beziehen kann. An dem Handgelenk des einen blinkt ein Metall. Es ist vollends hell geworden, und die Sonne beginnt bereits ihren Anstieg. Mir glüht der Kopf wie in der Mittagshitze, ein Ausruf steckt mir in der Kehle. Mit einemmal reißen die Reiter die Pferde herum. Zerfahren geht die Jagd durch die Schafe. Die Tiere stieben auseinander, rennen panisch umher. Ein Grüppchen sammelt sich am Bachufer. Sie kauern sich dort zusammmen und halten vor Schrecken still. Die anderen, etwa die Hälfte der Herde, verteilen sich immer mehr, flitzen hierhin und dorthin. Zwei der Reiter versuchen sie zusammenzutreiben. Mit tölpelhafter Lautstärke und mörderischen Schlägen wollen sie die Tiere in eine Richtung treiben. Es kann sich hier in keinem Fall um routinierte Viehdiebe handeln. Sie haben auch Peitschen zur Hand, die sie auf die Rücken der Tiere niederdreschen. Der dritte Mann ist zum Turm [156] geritten. Der mit dem dunklen Hut. Er verhält sich überlegter. Zuerst untersucht er die Stalltür. Die ist geschlossen. Er bewegt sich, als wolle er eher etwas erkunden und nicht einen Überfall durchführen. Er reitet auf die andere Seite des Bauwerks. Die beiden Schläger haben die Schafe doch mühsam in eine Richtung gebracht, aber anscheinend wenigere, als sie vorhatten. Sie wechseln wieder Streitworte über die aufgewühlte Herde hinweg, brüllen so unartikuliert, daß es sich auch um eine andere Sprache handeln könnte, und drängen die kleine Herde mit Schlägen endgültig ab. Zwei weiße Schafe bewegen sich noch frei hin- und herstiebend, so als wüßten sie nicht, wohin sie sich wenden sollten. Mein ganzes Bangen konzentriert sich auf das Treiben dieser beiden Tiere. Die Männer haben keine Zeit mehr, sich um Außenseiter zu kümmern. Die zwei Schafe sind so verstört, daß sie nicht einfach zu der anderen Gruppe am Bach zurückfinden. Sie irren wie blödsinnig umher. Wenn sie sich nur still verhielten. Der drittte Reiter erscheint jetzt wieder an der anderen Seite des Turms in gezügeltem Ritt, und er hält vor dem Eingang des Gewölbes. Das Tor war ja offen gewesen, als ich durchging. Und die Schafe waren unbewacht draußen geblieben, ob das Absicht gewesen ist? Plötzlich treibt der Reiter sein Pferd an, geht über in einen Galopp und rast den beiden Männern und der Herde nach. Die beiden verirrten Schafe fühlen sich von seinem Heranpreschen gehetzt und rennen endgültig in die Richtung der Abgetriebenen, um dort in der Herde einzutauchen, die stetig weiterläuft, vor den Männern her, die sie jetzt von drei Seiten zusammenhalten. Ich fühle mich selbst wie ein Schaf und kauere mich wie geschlagen am Baumstamm nieder. Ich senke meinen Blick zu den Tannennadeln, die die Erde bedecken. Meine Handflächen, in die das Muster der Baumrinde eingekerbt ist, und die weiche weiße Innenseite meiner Arme sind mit Maserungen überzogen. Ich setze mich. Die Erde ist hier trocken. Die Sonne dringt durch zu meinem Platz. Ich fühle mich sehr müde, so als sei ich
selbst gelaufen wie die Schafe. Ich verharre an meinem Platz, bis mich eine Bewegung beim Turm wieder aufrichtet. Der Kleine rennt heraus, hinter ihm kommt Erik. Sie bewegen sich zu dem Grüppchen am Bach, das sich noch immer verschreckt aneinanderdrängt. Der Kleine streichelt die Tiere und krabbelt zwischen ihnen umher. [157] Am Tor erscheint Milko, er sieht zu dem Kundschafter hin. Erik gibt ihm ein Zeichen mit der Hand, und Milko verschwindet wieder im Gewölbe. Langsam beginnen die Schafe wieder zu grasen und verteilen sich auf der Weide. So wenige sind es jetzt, wie eine Wolke, die mit einemmal aufgerissen ist. Ich strecke mich am Boden aus und bleibe liegen, mit dem Blick in den Himmel. Ich kaue an meinem Brot herum, aber ich habe keinen richtigen Hunger. Ich werde es später schon noch brauchen können. Die Wolken ziehen langsam über mir in den Tag hinein. Sie beruhigen mich. Ihre Helligkeit zieht mir durch das erregte Gemüt. Mich kitzelt etwas im Hosenbein. Es krabbbelt arg, und ich verfolge den Störenfried, bevor er in meinem Gewand vollends verschwindet. Ein kleiner schwarzer Käfer ist es. Ich halte ihn zwischen meinen Fingern und versuche ihm nicht weh zu tun. Er sieht gar nicht so zerbrechlich aus. Seit ich mich den Pflanzen so nahe gefühlt habe, sehe ich auch die Tiere anders an. Sie stehen mir näher. Sie sind mir ähnlicher. Ich bedarf keiner logischen Umwege zu ihrem Lebensgeist. Er rührt sich in meiner Hand. Ich setze ihn wieder ins Gras, und er erhebt sich zu meinem Erstaunen in die Luft. Seine Flügel glänzen in einem Sonnenstrahl auf. Das Summen verliert sich zwischen anderen Summern und Krabbeltieren, die hier den Boden bevölkern. Stille Wesen voller Bewegung und Suchen. Ich schaue zum Turm hinüber. Der Kleine ist über ein Lamm gebeugt. Er betastet es und streicht über einen Fleck in seinem Fell. Er scheint auf das Tier einzusprechen. Dann nimmt er es auf seine kleinen Arme und schleppt es mühsam in den Turm hinein. Erik bleibt bei der Herde. Ich stecke mein Brot und die Flöte wieder in die Umhängetasche. Die Gedanken zerlaufen mir, während ich mich mühsam vom Boden erhebe, noch immer verloren in den Steinschädel starrend, mich willentlich losreiße und den Weg hinansteige, in den Wald hinein. Ich trete ein wie in ein samtiges Gewölbe. Die alten gelbbraunen Nadeln liegen dicht wie ein Teppich. Ich versuche ganz leise zu bleiben wie ein Tier. Dünne Spinnweben hängen sich immer wieder über mein Gesicht und über meine Arme. Anfangs bleibe ich immer stehen und entferne sie, aber ich gewöhne mich an diese Fäden. Wie verschluckt fühle ich mich von einem tiefen Atmen, in dem ich schwebe, weich und ganz leise. [158] Die Luft zieht tief durch meine Lungen wie ein harziger, heilender Wind. Der Weg führt weiter hinan. Deutlich schlängelt er sich zwischen den Baumriesen hin, immer nur in kurzen Abschnitten vor mir sichtbar. Flechten wellen sich an den Stämmen hoch. Moos bedeckt die Rinden und polstert sanft ihre rauhen Risse. Es riecht nach Pilzen. Man sieht sie nur mit wachem Auge. Sie schmiegen sich an die Stämme heran, halb bedeckt mit Nadeln. Klebrig fassen sich ihre Hüte an und duften moderig und süßlich. Sie kuscheln sich in Gruppen zusammen, kleine und große, ausgewachsene und auch wurmige, winzige und nahrhafte, bescheidene und prächtige. Der Duft haftet an meinen Händen wie Hautgeruch selbst. Ich schnüffle an meinen Fingern, als sei der Geruch eine Erklärung für mein Befinden. Ich greife in die Rinde der Bäume hinein. Da meine ich zu spüren, wie ein starkes Kreisen von der Erde in die Wurzeln zieht und hinauf in die Krone und wieder zurück in den Boden, es belebt mich, ich selbst bin aus diesem Holz, kein totes Stück. Der Weg steigt steiler an, als ich beim Anblick des Hügels vermutet hätte. Ich ziehe meine Luft kräftig durch die Lungen. Nach all der Ruhe bei den Menschen im Turm bin ich solche Wanderungen nicht mehr gewöhnt. Ich spüre ein leichtes Stechen in meiner
rechten Seite. Die Würze der Luft allerdings gleicht die Atemlosigkeit wie von selbst aus, so daß ich zwar angestrengt, aber nicht erschöpft bin. Meine Sinne sind wach für das grüne Bild zwischen den lautlosen Riesen. Ich muß schon lange so gewandert sein. Ein Felsen erregt meine Aufmerksamkeit. Er hängt über ein Steilstück und bildet den Eingang zu einer Erdhöhle. Wäre mir die Graufärbung des Steins nicht aufgefallen, die Einbuchtung in die Erde wäre verborgen geblieben. Ich bin schon öfter auf Steine und Felsbrocken gestoßen und an ihren Anblick gewöhnt. Die Höhle ist mir nur aufgefallen, weil sie meinem Bedürfnis nach einem geschützten Mittagsplatz so sehr entspricht. Die Sonne blinkt nun strichweise und schatttenhaft durch die Tannen, plötzlich steigt Licht auf, geisterhaft, elfengleich, um der tiefen Sattheit der Bäume wieder zu weichen. Es ist nicht eigentlich finster im Wald, aber gedämpft. Ich bin froh, daß ich so etwas wie Zeitlosigkeit für mich finde. Ob ich mich im Wald so geschützt fühle, ob ich das Verweilen in meinem Unternehmen von Bärle und den anderen gelernt habe, oder ob ich die Angst selbst geworden bin, ich will eine Weile rasten. Trotz allem hält mich etwas zurück, frisch unter diesen Felsen [159] einzusteigen, als sei es meiner. Ich habe etwas gespürt. Nicht als einen Laut, aber als eine Bewegung. Es ist so still hier, daß alles Ungewohnte spürbar wird. Ich bin wachsam. Zuerst mache ich eine kleine Runde um den Felsen und besehe ihn mir von der anderen Seite. Dort ist er nicht mehr auszumachen, sondern der Erdboden geht direkt in den Hügel über. Der Felsen bildet somit nur das Dach, während die Höhle selbst in den Hügel hineintaucht. Da kommt auf einmal ein Wesen, selbst so dunkel und erdfarben wie der Wald, den Weg herunter. Ich ducke mich zusammen an den Eingang der Höhle. Es ist eindeutig ein Mensch, aber er ist so langsam, wie sich so einer normalerweise nicht bewegt. Jeder Schritt scheint ein Stillstand in sich zu sein. Er kommt vielleicht schon lange den Weg herunter, und er rührt sich erst jetzt wieder. Er hat mich sicher schon beobachtet, als ich ihn viellleicht noch als Baum vermutet habe. Eine dunkle, sackartige Kutte hängt an seinem Körper. Ein schütterer Bart zeigt den Menschen als Mann. Einzig vertraueneinflößend erscheinen mir der Korb mit den Pilzen, den er hält. Ein paar große Wurzeln hat er in seinen Gürtel gesteckt, und in einem Holzbehälter muß Wasser sein. Der Mann ist schwer beladen, und man würde annehmen, daß er seine Last rasch loswerden will, aber er bewegt sich wie in einer anderen Zeit und in einem anderen Anspruch an die Zusammenhänge der Welt. Von Ansprechen kann nicht die Rede sein. Seine Verhaltenheit ist mir unheimlich. Seine Gestalt und sein Gesicht selbst stoßen mich nicht ab. Noch gar nicht so alt erscheinen mir diese Züge. Die Augen bewegen sich überhaupt nicht. Sie wissen offenbar jede Bewegung und kennen jeden Schritt ohne hinzusehen. Die Pilze und die Wurzeln muß er aber doch angesehen haben. Besonders bei diesen Gewächsen sollte man Vorsicht walten lassen. Er scheint eher von Einsicht gezeichnet zu sein. Die Stirn, die schon ziemlich weit hinaufreicht und großflächig leuchtet, ist hell in diesem Wald. Sie mutet mich menschlich an und gibt mir etwas Vertrauen. Die Haare bilden eine Welle in der Mitte des Kopfes und fallen auf die Schultern. Das Gesicht ist mager, die Wangen hohl und der Mund schmal, das Kinn vermute ich unter dem Bart kantig. Die Langsamkeit der Bewegung zieht meinen Blick magisch an. Sein Zeitmaß übt einen Bann auf mich aus, der aus seinen blicklosen braunen Augen [160] dringt. Sein langsames Kommen führt ihn bis an den Eingang der Höhle zu mir her. Wie einen ganzen Tag lang hat er sich genähert, aber er ist eingetroffen, genauso als sei er schon gestern dagewesen, wenn er sich mehr beeilt hätte. Ich weiß nicht recht, ob er seine Verlangsamung noch steigern will, oder ob er am Eingang wartet. Jedenfalls tut er jetzt überhaupt nichts mehr. Er geht weder herein, noch stellt er die Last ab. Nur in seinen Augen hat sich etwas verändert. Die haben für kurze Zeit, und diese Spanne ist schwer
festzuhalten in den vielen Zeitmaßen, in denen wir uns zugleich befinden, so geschaut wie Menschenaugen, und fast war es mir, als hätten sie zu mir hergesehen, dann aber wieder abgeblinkt in ein inneres Licht hinein. Am liebsten möchte ich mich in die Erde hinein verkriechen und nicht mehr da sein. Wenn es wenigstens gefährlich wäre. Es ist so beschämend, vielleicht schon lange entdeck zu sein und so zu tun, als wüßte man das nicht. Ich empfinde eine erstickende Bangigkeit im Herzen, in diesen Abgrund der hallenden Verhaltenheit zu stürzen, mitzustürzen, und in diesem ewigen Zeitmaß meine Realität zu vergessen, mich selbst zu verlieren. Ich möchte weg, nichts wie weg, aber ich bin gefesselt. Der würde alles bemerken, und er wäre keinesfalls zu langsam, um mir mein ganzes Vorhaben, mein ganzes Leben zu nehmen. Ich fühle das als Angst in mir aufflammen, wenngleich ich natürlich nicht wüßte, was er für einen Anspruch an mich zu stellen hätte. Einen geheimnisvollen, einen, den ich viel mehr stelle als er, aber von dem ich vielleicht nichts Genaues weiß und der mir daher diese Angst bereitet. Er steht noch immer da und schaut in sich, aber so, als würde er andauernd ins Leere fallen. Er scheint zu warten, auf etwas, auf jemanden, auf sich oder auf mich? Ich spüre, er wartet ewig, der hält das hier länger aus als ich in meinem Versteck, das nicht einmal ein gutes ist. Mir tut schon alles weh, und ich möchte mein Gesicht in die Erde drücken, um nichts mehr zu sehen und zu wissen. Der Gedanke, daß ja auch ich eine Gefahr für ihn sein könnte, reißt mich aus meiner Verzweiflung heraus. Der würde auch im Angesicht der Gefahr so stehen. Vielleicht glaubt er sich in einer zu befinden, wer weiß, was er sich denkt, oder denkt er nichts mehr? Ich hebe meinen Kopf, diesmal ein wenig höher, ich raschle sogar mit einem Blatt, ich will mich endgültig bemerkbar machen, um dieser stehenden Situation zu entkommen. [161] Ich würde alle Verschlechterungen meiner Lage als Verbesserung empfinden. Die Qual des Wartens ist mir zuviel. Er reagiert auch auf meine Bewegung nicht, er braucht das nicht, er macht mit mir kein Versteckspiel. Er sucht mich nicht, aber er wartet. Soll er doch hineingehen, ich werde meinen Weg weiterziehen und gut so. Ich werde mein Tempo fortführen, und er wird langsam sein, soll er. In diesem Warten liegt aber eine Aufforderung für mich, eine zutiefst menschliche Möglichkeit, mit diesem Wesen einen Kontakt entstehen zu lassen, eine vielleicht nicht zu verachtende Verbindung herzustellen, zwischen mir und meiner Zeit und ihm und seiner Ebene. Ich erhebe mich endgültig und putze, um eine besonders menschliche Verhaltensform hervorzukehren, an meinem erdigen Hemd herum. Wenn er wenigstens jetzt etwas gesagt oder getan hätte, aber er bleibt weiterhin stehen und sieht mir nun genau in meine Augen. Er zielt da hinein wie in eigene. Vielleicht ist er blind, erwacht in mir die Möglichkeit eines Verständnisses. Es geht ein starker Kräuter- und Pilzgeruch von ihm aus. Und jetzt, wie selbstverständlich, als hätte es sich nur um die Zeit zwischen zwei Schritten gehandelt, bewegt er sich zum Eingang. Mit Moos belegt und mit Zweigen verhangen, kann man das Holzgestell, das er jetzt langsam öffnet, kaum als Tür erkennen. Ich bin eindeutig eingeladen. Ich getraue mich, ihm das Holzgefäß mit dem Wasser abzunehmen, während er mich eintreten läßt und die Tür hinter mir wieder schließt. An ihm vorbeitretend, blicke ich kurz in diese Augen hinein, schnell nur, um nicht eingefangen zu werden, und da ist mir, als blitzten sie kurz zu einem Lächeln auf, um dann wieder zu versinken. In der Hütte ist es überraschenderweise nicht viel dunkler als im Wald selbst. Der Felsen bildet zwar ein festes Dach, aber eine breite Erdspalte an den Seiten läßt Licht herein. Auch über der Tür ist eine Öffnung, die von außen nicht auffällt. Der Geruch der Pilze und der trockenen Blätter ist hier drinnen noch stärker. Überall liegen Pilze, und Wurzeln sind an der Decke aufgehängt. Der Boden ist mit Moos belegt. Es ist trocken. Ein Holzklotz bildet einen Tisch, und so etwas wie ein Hocker steht auch da. Im Pflanzenhaus hat sich das
meiste auf dem Boden abgespielt. In der Ecke liegt ein zusammengebundener Haufen Blätter, anscheinend eine Bettstatt. [162] Ich bleibe in der ängstlichen Überlegung hängen, daß er wahrscheinlich noch immer mit dem Schließen der Tür beschäftigt sein wird, während ich mit einem raschen Blick die Örtlichkeit aufnehme, doch es ist eine Wandlung in ihm vorgegangen, so übergangslos und leicht, daß ich den Unterschied jetzt wiederum gar nicht so gewaltig finde. Er bewegt sich weiterhin bedächtig, aber ohne diese aufwühlende Geisterhaftigkeit, die mir das Gefühl für die Zeit unter den Füßen weggezogen hat. Ob er mich in sein Maß gehext hat, und ich es nicht mehr auffällig finde? Er legt die Pilze in einer Ecke fein säuberlich auf einen liegenden Baumstamm, der auch als Bank dienen könnte. Jedes Gewächs dreht er oftmals herum und hält es nahe an seine Augen. Er riecht auch genau und ausgiebig daran, als könnte er damit nicht nur ihre Art oder ihre Genießbarkeit feststellen, sondern auch noch andere Kriterien herausfinden, die ihm wichtig sind und wonach er sie sortiert. Ich setze mich auf den Hocker an den Tisch, weil ich glaube, so am wenigsten zu stören. Er murmelt etwas, so als sei er sich über einen Pilz nicht recht im klaren. Er vertieft sich in seinen Duft. Dann kommt er zu meinem Tisch und hält ihn mir vor die Augen. «Kannst du sehen, ob er an der Unterseite mehr bläulich oder mehr violett schimmert?» fragt er mit klarer, angenehmer Stimme in normalem Tempo. Der Ton ist jugendlicher und frischer, als ich angenommen hätte. Von dieser freudigen Überraschung erregt, verkünde ich nun meinerseits voll Eifer: «Der Stamm ist bräunlich und läuft an der Unterseite ins Bläuliche über. Aber am äußersten Rand wird sie aber wieder braun wie der Stamm. Violett ist da gar nichts.» So kläre ich ihn sorgfältig auf, dankbar für sein Vertrauen, das er mir schenkt. «Sehr seltsam», meint er, während er schon wieder in seinen Blick nach innen fällt und lange so verharrt. Ich befürchte etwas Schlimmes, aber er wendet sich schon wieder seinem Pilz zu. «Diese Art ist mir noch nie untergekommen. Hast du schon einmal so etwas gesehen?» Er sieht mich das erste Mal direkt an, mit großen braunen Augen, und ich habe den Eindruck, als sei er wirklich daran interessiert und habe diese Frage nicht nur gestellt, um irgend etwas zu sagen. «Ich kenne mich da nicht genau aus. Diese Färbung da unten stimmt mich bedenklich.» [163] «Früher habe ich diese Gewächse auch nicht auseinanderhalten können. Erst seitdem ich hier lebe, kenne ich mich in ihnen aus», berichtet er vertraulich, sehr menschlich und sogar etwas kontaktfreudig. «Ich beschäftige mich mit ihnen, so als hätte ich sie selbst gepflanzt.» Er wandert wieder hinüber zu der Pilzsammlung und richtet etwas an den Wurzeln, die da herunterhängen. Skurrile Gebilde, so wie er selbst. Irgend etwas in seinem Bericht läßt mich vermuten, daß er noch nicht zu lange hier als Waldmensch lebt und zumindest hier nicht geboren wurde, obwohl er so erscheint, als würde er vielleicht wie ein Pilz aus der Erde wachsen. «Ich weiß genau, ich sollte die Beschäftigung mit den Pilzen auch langsam abstellen. Sie sind meine letzte Möglichkeit, mich in einer Anordnung zu sammeln. Ich würde mich verlieren, ich wäre überhaupt nicht da, wenn ich nicht manchmal einen absichtlichen Schritt in meinem Leben setze oder eine Bewegung hineinbringe, die mich Überwindung kostet.» Er kommt wieder zu mir her, diesmal die Hände an den Flächen ruhig aneinandergelegt, so als sei er in reiner Besinnung mit sich selbst beschäftigt. Er sieht mich aufrichtig an, wie bei einem Geständnis.
«Ich bin in die Einsamkeit gegangen, weil ich allein sein wollte. Ich habe angefangen, Tiere zu halten und mir Geräte zu bauen und mich immer besser einzurichten, um mich zu schützen vor der Natur. Alles Unternehmungen, die dazu gut waren, mir Begleiter zu schaffen, in denen ich mir eine Ordnung erhalten kann, die mir ein Spiegel sind.» Er bricht ab, fast etwas in Aufregung geraten. Ich bin verwundert über die beherrschte Ausführung seiner Gedanken. Nicht daß ich Dummheit oder ähnliches an ihm vermutet hätte, aber doch mehr Verschrobenheit und Abgeschiedenheit. Er steht am Tisch, die Hände auf einige Pilze legend, die da herumliegen. «Mein Zeitmaß dann und wann willentlich zu wechseln und das durchzuhalten, ist mir eine Abwechslung, die mich erfrischt. Fast wie ein Kontakt mit einem Menschen ist es. Es ist ein letzter Austausch mit mir selbst, eine Kommunikation mit meinen Möglichkeiten. Der innere Dialog stirbt dir hier ab, langsam und stetig, so daß du ganz einfach weg bist. Du hast kein Bild mehr von dir.» Jetzt sieht er so drein, als sei er in einer Sackgasse, wüßte aber, daß das nichts Schlimmes ist, und lächelt ein wenig in den Augen über [164] seine Verzweiflung. Er setzt sich schräg auf den Tisch und hängt da so ein wenig im Anlehnen. «Und doch weiß ich genau, daß ich hergekommen bin, um mich zu verlieren. So leicht ist das nicht.» Er lacht über seine Bedenken mit einem unerwartet hohen Ton. «Hilfst du mir, die Wurzeln da schneiden? Sie müssen ganz dünn gespalten werden, damit ich an das Innere gelangen kann.» Er zeigt mir genau, wie er sie zuerst schält und dann das Weichere mit einem geschliffenen Holzstab schneidet. Er holt sich noch so einen Hocker zum Sitzen unter dem Blätterhaufen hervor und setzt sich zu mir. Wir arbeiten sorgfältig und still. Dann lege ich die Flöte sowie das Brot auf den Tisch. Beim Anblick des Gebäcks macht er große Augen. Mit meinem Brot kann ich schon allerhand Aufsehen erregen. «Iß nur. Du hast hier sicher so etwas nicht.» «Wie sollte ich. Ich esse nur Pilze und Wurzeln. Wasser habe ich aus der Quelle. Tee bereite ich aus Blüten.» Er nimmt das Brot ehrfurchtsvoll in die Hand, riecht daran wie vorhin an den Schwämmen und reißt sich dann ein bescheidenes Teilchen heraus, das er langsam kaut. Er ist vertieft in das Schmecken, und es macht mir Spaß, ihn dabei anzusehen. Er läßt mich ohne Zurückhaltung an seiner Freude über das Essen teilnehmen. Noch im Kauen sagt er amüsiert zu seinen Mutmaßungen über das Leben: «Ich bin ausgezogen, um mich noch einmal selbst zu machen, und dann habe ich lauter Sachen gemacht, damit ich nicht so allein sein muß.» Das belustigt ihn, und diese Möglichkeit allein finde ich schon weise. «Selbst sein wie Gott. Aber Gott hat sich das Universum geschaffen, um nicht allein zu sein, um nicht überhaupt nicht aufzuscheinen. So sein wie Gott, bevor er noch das Universum geschaffen hat ...» sinniert er vor sich hin und wendet sich einem einzelnen größeren Pilz zu, in dessen Anblick er sich vertieft. Dann wischt er sich den Bart. Er zeigt auf den Hut des Pilzes und schaut mich an, ob ich auch bereit bin, seinen Gedanken zu folgen. Daran scheint ihm zu liegen, und gerade das ist ein Zug, den ich an einem überzeugten Einsiedler nicht vermutet hätte. «Ein kleines, ein kleinstes Teilchen da unter diesem Hut, das kleinste Teilchen von diesem Teilchen - wiederum das kleinste», er hält ein, sieht mich scharf an und zeigt mit dem Finger genau auf einen Punkt [165] unter dem Hut, «das erschafft das ganze Universum. Jetzt, eben jetzt, während es eben jetzt schon wieder untergeht. So nebensächlich, so bedeutungslos ist der Bestand der ganzen Menschheit. Raum und Zeit sind nur Sonderformen eines Ablaufs, in dem diese Kriterien überhaupt keine Rolle spielen. Die scheinbare Stabilität unseres Standorts und wir selbst sind nur eine Illusion. Ein winziges
Aufflackern in einem Geschehen, das aber ebenfalls nur aufflackert in einer Illusion von Stabilität einer Wirklichkeit. Die illusionäre Wirklichkeit!» Damit beißt er den ganzen Pilzkopf einfach ab und schluckt ihn. «Da ist er nicht mehr, einfach weg, obwohl er so stabil gewirkt hat, der Pilz. Du weißt aber genau, daß er nicht einfach weg ist, sondern nur woanders, in einer anderen Form. Du siehst ihn nicht mehr, hast ihn aber als stabilen Gegenstand in Erinnerung und denkst jetzt in diesem Bild verhaftet. Du könntest auch beweisen, daß dieser Pilz hier war, hier in meiner Hand, denn ich halte ja sogar noch den Stiel da. Pilze wachsen auf Stengeln. Wer sagt aber, daß es nicht auch nur Stengel gibt, die keine Hüte tragen.» Er kaut seinen Pilz vollends hinunter und fährt sich wieder durch den Bart. «Ich werde vielleicht eine Wurzelsuppe bringen. Möchtest du Selchkresse oder Kuhschleie?» «Ich kenne beides nicht, mach, wie du meinst. Wir können das Brot dazu essen. Einen von den Tees würde ich gern kosten. Die Kräuter riechen ja ganz verlockend.» Ich erhebe mich und strecke mich zu den gebündelten Sträußen über dem Tisch. Ich erkenne Salbei und Kamille, Kümmel und Fenchel. Er hantiert dort bei der Bank. In seiner Arbeit einhaltend, beendet er noch seine Ausführungen, über die er anscheinend im stillen jetzt noch einmal nachgedacht hat. «Daß ich das ganze Leben in seiner Bedeutungslosigkeit gefunden habe war mir eine große Erleichterung, da es mich von Verantwortung im herkömmlichen Sinn und von dem verbissenen Ernst befreit hat, aber frei vom Denken hat es mich nicht gemacht. Alle Forschung und Wissenschaft ist letztlich ins Leere gefallen. Beweise aufzustellen und mit ihnen zu arbeiten, ist eine Fessel, die nie zu einer Lösung führt. Wissenschaft darf auch nie zu Lösungen gelangen, da sie sich ja sonst aufhebt. Namen zu geben und mit ihnen zu operieren ist ein Versteckspiel vor der Namenlosigkeit, die Angst macht. Auch mir Angst macht. Alles Forschen ist, daß man eigentlich nur sein eigenes Denken erforschen will.» [166] Er wendet sich wieder dem Gefäß zu, in dem er die Wurzeln wendet und preßt. «Dein Erscheinen macht mich wieder stark auf mein Denken aufmerksam. Ich habe lange keinen Menschen mehr gesehen. Du bringst in mir wieder einen Prozeß ins Rollen, den ich schon lange an seinem Ende vermutet habe. Das ist gut so, es muß sich bewegen, sonst erstarrt die Form, und die drückt wie ein übermenschliches Gewicht.» Ich schneide eifrig an den Wurzeln herum. Zäh sind diese Dinger, aber saftig. Eine klebrige Schicht überzieht meine Finger. «Jetzt hab ich erst wenig Wurzeln geschnitten, weil ich immer zugehört habe. Sollen die auch in den Topf?» «Nein, nein, die trockne ich. Hier habe ich schon genug. Ich finde diese Art nicht zu jeder Jahreszeit, da sammle ich immer ein wenig. Trocken kann man die essen wie Brot. Mit allen Wurzeln geht das nicht so, weil sie holzig werden.» Ich stehe auf und gucke, was er rührt. Pilze und Wurzelstücke schwimmen in einer Flüssigkeit, dunkel und dick. Die Sache macht nicht den Eindruck eines dünnen Aufgusses, der Geruch allein ist schon kräftigend. Ich kann mir nicht helfen, aber es riecht nach Wild wie Beize, wie würzige Wildsauce, wenngleich ich weiß, daß da drinnen kein Fleisch sein kann. «Hast du nie Feuer?» «Schon manchmal», antwortet er, während er noch immer mischt. «Ich habe im Wald das Feuer gar nicht so gern. Ich habe bemerkt, daß die Ernährung auch so funktioniert. Diese Art von Nahrung, wie ich sie verwende, ist ja rein. Die Natur ist für den menschlichen Organismus nicht gefährlich, wenn man nicht gegen sie arbeitet. Man gewöhnt sich. Mein Magen war zu Beginn auch nicht immer ganz glücklich mit den Kräutern und Gewächsen, aber jetzt ...»
Ich greife mir an den Bauch. Ich habe mich auf einen Tee gefreut, weil ich in letzter Zeit immer Milch getrunken habe, aber wenn er kalt ist? Tell hat schon Feuer gehabt unter dem Kessel. Ich setze mich wieder und ordne meine Arbeit. Schön alles auf ein Häufchen, den Abfall auf ein anderes. Die paar Pilze lege ich auch zusammen. Ein saftiger ragt aus allen heraus. Ich nehme ihn und betrachte ihn einmal ganz genau, so wie der Einsiedler es selbst tut, und zugleich steigen in mir Fragen auf, die ich auch verschlucken könnte, aber sie sind mir etwas zu roh, zu unverdaulich. Er murmelt da drüben zwischen seinen Alraunen und scheint sowohl das Essen wie auch mich vergessen zu [167] haben. Mehr wie zu mir selbst, mit der geheimen Hoffnung, daß er mich hören würde, vollziehe ich ihn nach: «So ein kleines Teilchen, hier unter dem Pilz oder auch irgendwo sonst, schafft dieses Universum jetzt, während es zugleich schon untergeht ... ?» Und ob er mich hört, er scheint selbst in diesem Gedankengespinst verstrickt zu sein, und ich habe gedacht, er murmelt mit seinen Wurzeln. Wie aus seinen eigenen Überlegungen fällt er in meine: «Nicht irgendein Teil ist es, sondern wir selbst sind es. Ein beweglicher Teil von dir schafft es. Nur unser eigenes Denken trennt uns von unserem Schöpfungsakt, denn tatsächlich ist da überhaupt nichts Dramatisches daran, eben das Leben, wie es erscheint.» Er sitzt jetzt auf der Bank mitten in den Wurzeln. «Wieso kannst du das sagen? Sagen kann man es schon, aber wie kannst du das beweisen», kommt meine Rede mit etwas Mißtrauen heraus. «Ich bin ein Beweis. Du bist ein Beweis. Allerdings sind Beweise auch nur vorübergehende Stabilitätserscheinungen, die nichts und alles mit der zu beweisenden Sache, die ebenfalls dauernd in Bewegung ist und sogar durch den Beweisakt selbst verändert wird, zu tun haben. Beweise sind eigene Theorien, die geschaffen werden, um zu vertuschen, daß die Sache selbst unverständlich bleibt. Zu beweisen ist alles, und es stimmt auch immer alles, aber ein Beweis schließt einen anderen nicht aus, der genauso berechtigt wäre. Die Beweise sind untereinander auswechselbar und immer noch richtig, aber bedeuten tun sie noch lange nichts, weil ja die zu beweisende Sache jenseits jeder logischen Beweiskette liegt. Mit den Regeln deiner Gedanken an deine eigene Schöpfungsfunktion heranzugehen ist völlig absurd.» Der Mann schlägt sich auf die Schenkel und lacht wieder in diesen hohen Tönen. Ich weiß nicht recht, ob ich mitlachen soll, fühle ich mich doch ein wenig ausgelacht, aber ich spüre, daß er sich befreit fühlt und mich nicht verspottet, und wenn, dann auch gleich sich selbst mit. Er wird ernst und kehrt wieder ein in seine Ideen. Ich beginne Geschmack an seinen Gedanken zu finden. Sie sind nicht kalt, sie wecken etwas in mir. Er sieht in sich hinein, die Hände in ganz leichter Berührung aneinandergelegt. «Wir, eine geballte Masse. Wir erscheinen uns in einer Sammlung zu einem Zeit-RaumSystem, während wir zerfallen. Wir selbst bilden [168] das Nichts, das wir uns nicht vorstellen können. Wir sind jetzt das, was war, bevor etwas geworden ist - eben wieder nichts.» Er macht eine Pause und schaut in seine Handflächen. Ich sehe auch in meine Handflächen und überlege dann laut: «Das heißt, daß es immer so war und ein Zustand vor der Schöpfung gar nicht zu suchen ist, genausowenig wie jetzt etwas zu finden ist. Heute ist genauso nichts wie vorher, und vorher war dasselbe wie jetzt. Einen eigentlichen Schöpfungsakt dieser Erscheinung zu suchen, kann man sich damit überhaupt sparen, weil er jetzt passiert - wie er nie passiert ist.» Er hat mir genau zugehört und kommt wieder an den Tisch heran. Ein Knie legt er auf die Sitzfläche seines Hockers. Dann beugt er sich vor und nimmt meine Flöte in die Hand und hält sie dort wie einen heiligen Gegenstand. Er spricht langsam, den Blick auf die Flöte gerichtet.
«Die Zeit ist ein Akt des Denkens. Es trennt uns ab. Denken ist ein Bollwerk des Menschen, ein Schutz vor dem Sturz in das Nichts, das er selbst ist. Denken handelt mit Beweisen, und gerade die hindern die Einheit mit dem Universum, weil sie etwas verstehen wollen, wo nichts zu verstehen ist. Der Intellekt ist eine Spielform der Energieknotenpunkte, selbst im Entstehen und Zerfallen, während er benützt wird, völlig nebensächlich. Nichts ist im Universum hauptsächlich. Diese Art des Denkens zeichnet den Menschen als Art, macht ihn zum Wesen.» Er streicht leicht über das Instrument, legt es wieder sacht auf den Tisch und sieht mich an, durch seinen Bart streichend. Es ist kaum vorstellbar, aber er erinnert mich jetzt an Bärle, wenn sie besonders lieb geschaut hat. Sie muß in diesem Augenblick genauso weise gewesen sein wie er, nur auf eine ganz andere Art. Urga war sicher auch weise. «Und du meinst, damit wären alle Rätsel gelöst?» frage ich, während ich nun meinerseits die Flöte nehme und sie betrachte. «Rätsel gibt es überhaupt nicht. Nur das Denken will Rätsel, weil das die Art des Gehirns ist, sich zu bewegen.» Und damit geht er in einem plötzlichen Entschluß endgültig zu seiner Bank hinüber, um das Essen aufzutragen. Er bringt eine Holzschüssel, in der er gerührt hat, und zwei Löffel. Ebenfalls in einer Holzschale glänzt köstlich reines Wasser. Ich nehme das restliche Brot [169] her und breche es auseinander. Ich habe ordentlichen Hunger. Ein Schluck von dem Wasser erfrischt mich wie nach langem Dursten, obwohl ich mich gar nicht ausgetrockne gefühlt habe. «Nimm lieber diesen Löffel, den verwende ich schon lange. Der hier ist erst neu geschnitzt, der kann noch Späne haben. Die Hölzer brauchen immer eine Weile, um sich vollends abzuschleifen. Unlängst habe ich mein Messer verloren, im Wald, und konnte nicht mehr schnitzen. Ich besitze nur mehr dieses eine. Ich habe es aber wiedergefunden. Ich sehe schon schlecht. Es lag am Dach, am Felsen, wo ich es schleifen wollte.» Ich tauche meinen Löffel vorsichtig in die Suppe. Sie duftet noch immer so nach Wild. Ich rieche und koste dann von der Löffelspitze. Es schmeckt würzig, nicht roh oder hart. Es nährt mehr durch seine Essenz als durch die Menge. Außerordentlich stärkend wirkt das Essen, und während ich weitere Löffel nehme, gewinne ich auch Vertrauen in diese Speise. Die dicke Milchbrühe war für jedermann leicht verdaulich, rein und einfach in ihrer Zusammensetzung, wenngleich Tell seine Künste spielen ließ. Die Erdfrüchte hier sind in ihrem Ursprung genauso natürlich, aber ich weiß nicht, ob sie so menschlich sind wie die Milch. «Viel muß man davon nicht essen. Ich tue das auch nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, immer nur kleine Mengen zu nehmen. Die Kraft dieser Speise steigt mit der Lagerung. Ich habe immer welche angesetzt. Der Saft muß durchdringen, dann macht er diesen Geschmack. Ich habe auch schon daran gedacht, nur diesen Saft zu mir zu nehmen, denn viele Nährstoffe sind darin enthalten, die Pilze selbst und die Wurzelrückstände, die da noch drinnen sind, enthalten eigentlich nicht mehr, außer daß es für die Zähne gut ist, wenn sie kauen. Ich bin dazu gekommen, daß ich gern beiße und mir dadurch der Grad der Sättigung höher erscheint.» Er gräbt seine Zähne genüßlich in das Brot, und ich halte mich an meines. Mit Wasser und dem würzigen Saft, den ich mit dem Löffel übergieße, schmeckt das einzigartig. Die Wurzeln kann ich nicht recht kauen, und der Einsiedler ist darüber auch nicht böse. Er nagt selbst lange an seinen herum. Nicht so, als sei ihm das lästig, sondern eher mit Genuß und in Selbstvergessenheit. Im Kauen meint er jetzt, seine Augen in die Ferne gerichtet: «Daß ich dir das so ausführlich erkläre, sagt mir, daß ich selbst noch [170] nicht ganz daran glaube, und das wiederum bedeutet, daß ich im Denken verhaftet bin.» Er nimmt einen kleinen Schluck aus dem Becher, ohne seinen Blick zu bewegen, und spricht dann
weiter: «Mein Trachten, es loszuwerden, ist das größte Hindernis, daß es geschieht.» Eine gewisse Erregung färbt sein Bedauern, das seinerseits eine eigene Erkenntnis bildet. Er sieht mich plötzlich an und spricht wie in einem fast geilen Ansinnen: «Stell dir vor, wie heimisch man sich mit diesem Bewußtsein im Leben und im Tod und im Sterben befinden könnte, inmitten der belebten und unbelebten Natur, die man selbst schafft.» Er sinkt wieder in sich zurück und besänftigt seine Vorstellung wie in Reue: «Zu gewinnen ist da nichts. Die Hoffnung auf einen Nutzen, den Weisheit einbringen könnte, die scheidet schmerzlich ab von der Natur. Dieser Bruch erfolgt durch das Denken, das logisch vor sich geht. Das Universum ist nicht logisch. Das Menschsein kann man sich durch nichts ersparen. Man kann nur dahin kommen, daß man es als solches annimmt.» Müde kommt er mir nach diesen Worten vor. Wir haben das Mahl beendet. Es ist dunkler geworden. «Bevor es finster wird, mache ich noch Tee. Er zieht auch im Kalten.» Er nimmt ein bläuliches Bündel herunter und streut davon ins Wasser. Einige Blüten schwimmen ruhig an der Oberfläche, während andere versinken. Das Blau wird dunkel und breitet sich aus. Eine Tiefe schimmert auf, die einen Abgrund vermuten läßt. Eine sichtbare Verlorenheit, ein Ausrinnen, eine Ausbreitung von Verlusten in einen Sichtpunkt hinein, der das Verlieren erlaubt. Der als Auge aufleuchtet in einem solchen Licht, wie es manchmal aus Menschenaugen kommt, innig und verloren, lieb wie das eigene Auge manchmal sehen kann. Einen Moment ruht dieses Auge in sich wie die zufällig still geneigte Haltung des Kopfes eines Menschen, der zur Offenbarung wird, wenn er nicht weiß, daß man ihn sieht. Der Einsiedler bewegt das Gefäß. Dann schöpft er mit dem Stiel des Löffels die Blätter heraus und legt sie auf den Tisch. Ich mache ein Spiel daraus und lege ein Muster. Wir trinken vom Tee. Er schmeckt nicht stark, aber merklich nach Blüten. Eine Blume hier, eine da, ein ganzes Muster liegt auf dem Tisch. Er legt eine dorthin, während ich hier rücke, er bewegt diese, und ich lege jene weg. Ein Spiel ohne Regeln, ein Gewinn wie ein Verlust, ein einsames Spiel für zwei, die für heute genug gedacht haben. Ein unlogisches Spiel, ein sinnloses [171] Bewegen von Rückständen, während die Dunkelheit langsam alles zu schlucken beginnt. Unsere Hände sind fast unsichtbar geworden, die Blüten kann ich nur mehr fühlen. Außerdem sind sie ganz weich und lassen sich nicht mehr leicht verschieben. Meine Hand streift wie zufällig mein Instrument. Es ist ganz still im Raum, nur draußen raunen die Nadelbäume, manchmal wallen sie vom Wind bewegt stärker auf. Irgendwo tropft etwas regelmäßig und leise. Ich will einige Töne auf der Flöte blasen, aber die Stille hält mich davor zurück. Als hätte sie so viele Töne, daß ich meinen nicht noch einmischen muß. Einzelne Ränder des Holzes im Haus sind noch sichtbar. In den Linien sammelt sich das letzte Licht, sie gliedern den Raum in gerade und senkrechte, schräge und gewinkelte, aber die Flächen dazwischen sind schwarz. Ein Loch im Blick. Manchmal rieselt es im Erdwerk hinten an der Wand in den Hügel hinein. Es ist, als würde ich mich in der Stille und Dunkelheit aus mir herausheben, ohne Mühe aus mir heraustreten, hinein in den unbestimmbaren Lebensraum, der nicht Raum, sondern wie Schall ist. Zeitschwellig kehre ich da hinüber, wenngleich dieses Heraustreten auch wie Schlaf erscheinen kann. Ich kehre wieder zurück und erinnere mich an meine Lage und an meine Umgebung. Dann denke ich in meinem Kopf. Das Blut in meinem Hirn kreist und saust mir hinter der Stirn. Das Essen war schwerer, als ich es beim Verzehren gespürt habe. Mein Kopf wird groß in der Finsternis, er schwillt an wie zum ganzen Raum. Aus seiner Mitte rollen Kreise auf, bunte Spiralen, die sich nach außen bewegen, um dort auszulaufen. Sie beginnen aneinander zu klingen, im Ton selbst aufschwellend und meinen ganzen Schädel erfüllend, in einer bewegten Bild-Ton-Verbindung. Ich kann diese beiden Sinne nicht mehr voneinander scheiden, sie sind in mir verschmolzen zu meinem riesigen Kopf, in dem der Einsiedler sitzt, am Tisch allein, und ich nicht mehr anders vorhanden bin, als in einer
wellenartigen Bewegung. Die Farben spielen übereinander wie in unzähligen Regenbogen. Das Spiel fließt aber auch zurück, gleichzeitig sich wegbewegend und wiederkehrend. Dies macht in meiner Haut ein waches Gefühl, so als sei sie übermäßig vorhanden. Ich lege die Flöte weg. Es war mir eine geistige Anstrengung, diesen Schritt zu tun. Hundert Gedanken heften sich an dieses Unternehmen des Weglegens, als sei eine Bedeutung für mein ganzes Leben damit verbunden. Symbolhafte [172] Gedankenklötze türmen sich vor mir auf und belasten meine Unbekümmertheit. Wie endlos dauert dieses Ringen, aus dem ich nie herauskommen werde, weil ich nirgendwo drinnen bin, bis eine leise Bewegung des Einsiedlers mich einfach zurückruft in den Augenblick, der mir plötzlich einfach erscheint. «Leg dich dort in die Blätter, ich gehe heute hinaus. Ich bin des Nachts öfter im Wald.» Doch ein echter Einsiedler, denke ich. Dabei steigt in mir eine Frage auf, ob ich nicht vielleicht in sein Reich eingedrungen bin und jetzt lästig seine Hütte bevölkere. Meine Unternehmung, über den Moosboden auf das Blätterlager zu gelangen, beschäftigt mich aber wieder schon so stark, daß die anderen Bedenken zusammenfallen. Ich kenne die Richtung, ich fühle sie. Ich ziehe meine Schuhe aus, weil ich um jeden Preis barfuß über das Moos gehen will. Dieses Anliegen ist mir im Augenblick sehr wichtig. Die Fußsohlen wachsen zu riesigen Flächen an, selbst so groß und weich wie das Moos. Obwohl ich die Polster unter mir fühle, scheint auch jedes einzelne Pflänzchen auf meine Sohle aufzutrefffen, und ich bewege mich über eine ebene Fläche, die zugleich wie ein mich überragendes Gräserfeld ist. Klein, im Moos, wie ein winziges Kerlchen, lebe ich, kichernd über meine Unsichtbarkeit, in der Natur. Für einen Augenblick will ich einhalten, weil mir nicht ganz klar ist, ob der Einsiedler noch im Raum oder schon draußen ist. Eine Frage stellt sich mir bei dieser Einkehr in meine scheinbaren Realitätsverhältnisse: Ob ich jetzt wirklich gekichert habe oder nur in Gedanken. Ich falle in die Blätter wie auf einen Sack, selbst wie ein Sack. Es stellt sich heraus, daß die gar nicht so weich sind. Sie rascheln noch mehr als Bärles Strohsack. Orchester brausen dabei an mein Ohr und lassen sich nicht beruhigen. Ich würde gern ruhig schlafen. Einfach einschlafen und ruhig werden. Ich sehne mich nach der Auflösung dieser vielen wechselnden Bilder in meinem Hirn, die zugleich ineinander übergehen, in verschiedene Zeiträume mich verstricken und wieder hinausschleudern. Ein Wald taucht vor meinen Gedanken auf, einer, in dem ich öfter gegangen sein muß, bevor ich hierherkam. Mehr weiß ich davon nicht, aber in diesem Wald, der eben jetzt vor meinen Augen sich abgespielt hat, bin ich einmal gegangen, wirklich gegangen. Mich belasten die Wirklichkeitsschwellen über die Vorstellungskuppen in ein Realitätstal, das genauso sprunghaft seine Haltbarkeit ändert wie die Visionen. Ich [173] sehne mich auf den Strohsack von Bärle zurück und nach der reinen weißen Milch. In meinem Magen drück etwas. Das wohlige Prickeln und Rieseln in der Haut ist einem Ziehen gewichen, das mich ausdehnt. Es fällt etwas von der Wand. Ich befinde mich in einem fremden Raum in der Dunkelheit. Wie in schärfster Klarheit weiß ich, daß es das Kamillenbündel über dem Tisch ist. Ich weiß, daß das überhaupt nicht beunruhigend sein muß, und ich vollziehe auch, daß ich darüber hätte erschrecken können. Die Tatsache, daß ich das aber nicht nötig habe, flößt mir Vertrauen zu meiner Verlorenheit ein, und ich bewege mich lockerer im Wechsel der Denk-Gezeiten. An der Sicherheit nagend, auf der ich mich nicht ausruhen kann, ohne in neue Beunruhigung zu verfallen, ist mir dieses Erlebnis ein Ruhepol, mit dem ich in die Nacht schlafend oder wachend oder träumend oder lebend einfalle, auf ihren Ebenen kreise, dort, wo ich mich zuletzt verloren habe, wie um mich zur Ruhe zu bringen. Ich erwache allerdings erst, als der Einsiedler zur Tür hereinkommt. Er hat keinen Laut gemacht, da bin ich sicher, aber ich schlage die Augen auf. Er sagt nichts. Er geht zum Tisch und räumt die Reste von gestern weg. Dann hängt er das Kamillenbündel wieder auf, das auf dem Tisch liegt. Mir tut meine rechte Seite weh. Ich habe schlecht daraufgelegen. Ich fühle mich überhaupt sehr zerlegen, wenngleich ich nicht über richtige Müdigkeit klagen könnte. Ich befinde mich nach wie vor in einem sehr
wachen Zustand, der mich zu allen möglichen Taten veranlassen könnte. Ich fühle genug Antrieb. «Wo hast du eigentlich die Blätter her, wenn es doch nur Nadelbäume hier gibt?» «Sind ja weiter hinten genug Laubbäume», antwortet der Einsiedler kurz, nicht eigentlich ungehalten, aber auch nicht mehr in dem einladenden Ton, der mich gestern so verwundert hat. Ich krabble hoch, schlüpfe in meine Schuhe und dehne mich ein wenig. Mit der Änderung der Magenlage löst sich in mir etwas auf. Ein Druck erlischt langsam in meiner Mitte, sacht und sanft, so als sei das Stehen für meine Gedärme angenehmer. Ich bemerke, daß ich mich in einem körperlichen Wohlgefühl befinde, das ich die ganze Zeit im Liegen vermißt habe. Ich fühle Kraft in den Gliedern und eine derartige Lockerheit für mein Unternehmen, daß ich das sonderbar finde, besonders in Anbetracht [174] der merklichen Abwendung meines Gastgebers. Es ist nicht so, als sei er über irgend etwas betroffen oder verstimmt, sondern ich spüre eine Unsicherheit an ihm, die gestern nicht da war. So als könnte er keinen rechten Kontakt mehr herstellen zu mir, und hauptsächlich zu sich selbst nicht. Mir steigt meine Gelassenheit als innere Stille und Ruhe auf. Ein Selbstgefühl gibt mir die Möglichkeit, seinen Zustand nicht zu bewerten und mit meinem nicht zu vergleichen, aber ich sehe klar, daß er über meine Anwesenheit heute nicht so froh ist wie gestern. Es handelt sich eben doch um einen Einsiedler. Wenn ich mir recht vorstelle, daß ich hier allein in der Erde hausen müßte, dann wäre mir das für meine momentan beflügelte Haltung eher behinderlich. «Das Wetter ist gut», erwähnt er, während er noch immer räumt. «Ja, ich werde dann wieder aufbrechen, ich bin froh, daß ich schönes Wetter habe.» Meine Worte gefallen ihm. Er beugt sich über den Tisch, und ich merke in seinem Rücken eine Entspannung, sonst läßt er nichts erkennen. Er richtet sich langsam auf, dreht sich zu mir her und schaut mich lange an. Seine Augen üben wieder den Bann aus, den sie gestern auf mich gelegt haben, aber nicht zwingend ist sein Blick, sondern eher gewinnend. In seiner Gestalt erscheint er mir heute älter und gebeugter. Er fährt durch seinen schütteren Bart. «Ich weiß gar nicht recht, ob das Einsiedeln für mich das letzte sein muß. Deine Anwesenheit hat mich aufmerksam gemacht.» «Das wollte ich wirklich nicht tun, ich habe ja ...» Er unterbricht mich, indem er näher an mich herantritt: «Das solltest du tun, das war deine Aufgabe. Ich möchte mich bewegen, auch wenn es oft schmerzlich ist. Du bist schon richtig», ist seine Rede, und er blickt wieder sinnend in die Ferne. «Ich bin das Alleinsein gewöhnt, ich kann mich gar nicht so rasch umstellen auf Kontakt», bringt er dann wie als Entschuldigung für sein Verhalten vor, das jetzt in der neuerlich versprochenen Einsamkeit wieder freundlich und aufgeschlossen ist. «Ich will ja weiter. Komme ich den Weg entlang wieder hinunter?» «Natürlich, geh nur weiter, der Weg steigt an und fällt dann am Rand des Hügels wieder ab zum Bach.» Ich stecke meine Flöte zu mir. Ein Abschiedszeichen ist unvorstellbar, aber vonnöten. Wir stehen beide da, mitten im Raum. Dann geht [175] er zur Tür und öffnet sie langsam, wieder sehr langsam. Sein Blick fällt nach innen, aber nicht ohne am Wendepunkt in einem Lächeln aufzuleuchten, das mir wie eine Hand über das nackte Herz streicht. Meine Bewegung darüber beruht auf der Tatsache, daß dieses Gefühl nichts Unangenehmes in sich birgt. Mich befreit es von der Vorstellung, daß etwas unmöglich wäre. Während ich aus der Hütte trete, weiß ich, daß ich jetzt nie hierbleiben und verweilen könnte, aber daß
eine Möglichkeit in mir liegt, genausogut zu bleiben wie weiterzuziehen. Der Waldweg führt in eine noch dunklere Dichte. Ich steige dort an, wo der Einsiedler so langsam heruntergekommen ist. Die Dunkelheit bedrückt mich nicht, sondern legt meine Lebendigkeit in Samt, macht sie mir zu einer Kostbarkeit. Die Gedämpftheit nimmt meinem Aufbruch den Triumph, den ich aus irgendeinem Grund verspüre. Nicht über den Einsiedler und nicht über mich. Über etwas viel Einfacheres fühle ich mich wie im Übermut. Meine zügigen Schritte kreuzen die verlangsamte Bewegungsfolge des Einsiedlers von gestern. Hier muß sein Schritt verlaufen sein, heute so wie gestern, sichtbar sowie unsichtbar, verschoben in mein Jetzt. Diese imaginäre Berührung unserer Bewegungen bleibt in der Luft stehen wie ein Lachen in meinem Inneren. Verborgen, niemanden verlachend, sondern ein Zeichen für mich selbst. Im Ausschreiten nehme ich die Flöte aus der Tasche. Ich trage sie in der Hand. Mein Magen ist ganz in Ordnung. Es fällt mir nur auf, daß ich ein Hungergefühl nicht feststellen kann. Was er wohl im Winter macht? Das hätte ich ihn gern gefragt. Mein Atem wird bald langsamer und schwerer. Die Steigung ist stark, und der Weg ist nicht mehr so weich mit Tannennadeln gepolstert. Er wird steiniger, und oben lichten sich die Bäume. Es wird helller, und ich beschleunige meinen Schritt noch mehr, obwohl ich schon ziemlich knapp mit Luft bin. Ich erreiche eine Lichtung, die den Blick auf das Tal freigibt. Noch entfernt, aber deutlich sichtbar, erscheint ein kleines Dorf mit drei größeren Gehöften und einigen kleineren Häuschen. Der Bach fließt mitten durch und bildet in der Mitte einen Teich. Obstbäume und Felder säumen die kleine Siedlung. Vom Pflanzenturm aus konnte ich dieses Dorf nicht sehen. Von hier aus kann ich den Turm nicht mehr erblicken. Mein Weg hat sich gedreht, so daß ein anderer Hügel dazwischenliegt. [176] Ich setze mich in der ungewohnten Helligkeit. Hier draußen ist das Lied der Vögel wie das Rauschen im Wald. Ich lasse mich gern von ihrer Lebendigkeit beherrschen, lege mich hin und atme ordentlich durch, bis ich meine Lungen vom Anstieg wieder beruhigt habe. Heiß ist es. Es kann nicht mehr früh sein. Beim Erwachen hätte ich geschworen, daß es ganz zeitig am Morgen gewesen sein müßte. Ich beginne eine Melodie auf meiner Flöte. Mir schwirren die Töne fröhlich aus dem Rohr. Ich freue mich, daß ich ohne Zuhörer so in Begeisterung geraten kann, nur aus mir selbst und für mich selbst. Das Lied macht sich selbständig und fliegt über die kleine Lichtung wie ein aufgeklärtes Irrlicht. Die Frage nach meiner Herkunft ist mir gegenwärtig, aber sie beherrscht mich nicht. Sie beflügelt mich eher als Geheimnis und gibt mir Kraft weiterzuziehen. Soviel ist mir seit meinem Einzug auf den großen Platz schon begegnet, aber nicht so, als würde ich in völllig neue Bereiche stoßen. Mir ist, als würde ich zurückgeführt, an meiner eigenen Neugier, aus meinem eigenen Antrieb, in einen einsamen Weg, den ich selbst gehe, aber der mich führt, indem ich ihn finde. Ich erhebe mich wieder, stecke die Flöte ein und steige ab. Beschwerlich war es hinauf, es ist nicht leichter, hinabzugelangen. Die Art der Anstrengung ändert sich nur. War das Hinauf mehr eine Lungenarbeit, so ist das Hinunter eine Beinstrapaze, an der man genauso zum Keuchen kommt. Mich stört das wenig. Selbst im Abstieg schwitze ich. Die Sonne brennt heiß. Das Lüftchen, welches hin und wieder aufweht, kühlt mir das Wasser am Körper. Ich empfinde meinen eigenen Schweiß als einen Teil meiner selbst und fühle ihn wie reines Wasser, das erfrischt. Würde er nicht fließen, könnte ich wahrscheinlich gar nicht weiter. Innen aufgelöst, angenehm durchgearbeitet, komme ich unten beim Bach an. Ich lege mich auf den Bauch, halte die Arme und das Gesicht hinein. Ich pruste vor Lust das Wasser aus, drehe mich auf den Rücken herum und lasse dann die Beine bis zu den Knien im Bach hängen. Mein Körper streckt sich durch im saftigen Gras. Die Glieder sind alle wieder in Ordnung. Ich taste leicht über die Verletzungsstelle an der Stirn. Ich kann sie noch spüren. Das Fleisch fühlt sich dort zarter und glatter an. Ich setze mich auf und
sehe unter meinem Hemd nach, ob meine rechte Körperseite noch Flecken zeigt. An der Hüfte schimmert es kaum sichtbar. [177] Ich richte meine Augen zu den ersten Häusern da vorn. Klein sind die noch, aber weit kann es nicht mehr sein. Ist es eine Stimmung, die mir von dorther entgegenströmt, oder schicke ich mein Wohlgefühl voraus. In dieser Länge des Wegs liegt eine Spannung, die mich beschwingt. Aber mir fällt ein, daß ich ja schon zu Beginn meiner heutigen Wanderung so ein Gefühl verspürt habe, noch bevor ich die Häuser sehen konnte. Der Hunger schleicht sich ebenfalls langsam in meine Eingeweide. So ein richtiger Hunger. Möglicherweise werden meine kulinarischen Visionen von der Landschaft angeregt. Das Wasser läuft jetzt auch in meinem Mund. Obstbäume kann ich dort vorn erkennen. Ich erhebe mich, lasse die Füße abtropfen und will dann wieder die Schuhe überziehen, aber ich gehe noch mit feuchten Füßen, die Schuhe unter dem Arm, am Bach weiter. Wiesen, fette Futterweiden, Ziegen sehe ich, liegende und grasende. Andere Tiere, kleinere, bewegen sich zwischen ihnen. Ein Hund muß da sein, der rennt mitten in der Herde herum, die sich aber nicht aus der Ruhe bringen läßt. Nur wenige Felder sind bebaut. Die brachliegenden erkenne ich an der braunen Brockigkeit. Dort, wo der nächste Hügel aufsteigt, am Hang, das muß Wein sein. In schönen Linien verlaufen die Rebenreihen bis hoch in den Hügel. Auf einem Feld kann ich Menschen erkennen, es müssen fünf oder sechs sein. Manche sind gebückt. Auch auf einem Feld jenseits des Bachufers sehe ich Arbeitende. Und dort grasen zwei Pferde. Das eine beginnt einen Trab und jagt übermütig über die Wiese, um dann wieder bei dem anderen zu rasten und mit ihm zu weiden. Es trabt wieder weg, so als wollte es das andere locken. Die Mähne weht. Ein erregender Flug hängt in der Luft. Stark ist das Pferd und groß. Das stille ist kleiner und untersetzt. Es handelt sich um eine andere Rasse. Das kleinere ist fast blond, und das andere ist dunkler. Mein eigener Körper und mein Gemüt ist beeinflußbar von der Fruchtbarkeit eines Landes. Schwer liegt das Gelb und das Grün auf der Erde, als könnte man die Farben ernten. Es kann wie ein Glück sein, auf fruchtbarem Boden inmitten der Nahrung zu leben. Wie eine Versicherung, wie eine Bejahung des Atems ist die Frische dieser Vielfalt. Zwei Windmühlen ragen etwa in der Mitte der Ansiedlung auf. Ich erkenne sie von Ferne. Sie strahlen so etwas wie Kultur oder Pflege des Lebens aus, eine gewisse Heimeligkeit. Dort, wo Windmühlen sich drehen, bewegt sich das Leben. Im Wind - im Wind. Um [178] mich stehen jetzt lauter Apfelbäume, die Früchte sind allerdings noch nicht ganz reif. Ich gehe zu einem Baum und fasse eine Frucht an. Noch etwas grün, verspricht sie eine saftige Herbheit im ausgereiften Zustand. Die bleiben wohl immer grünlich. Kleine, knorrige Bäume sind es, fast so wie das kleine Pferd. Ob sie dieselbe Rasse haben? Sie wachsen so niedrig, daß ich kaum unten durch kann. Ich wende mich wieder dem Wasserweg zu. Mein Blick findet die Pferde wieder. Sie müssen mit mir etwas vor gewandert sein. Das große hat es endlich geschafft. Es springt dem Kleinen mit den Vorderbeinen hinten auf, streckt sich und geht zugleich mit den Hinterbeinen seltsam in die Knie. Es ist aufgeregt. Das Kleinere tut eigentlich gar nichts, es scheint weder abgeneigt noch begeistert zu sein, aber es hält. Mit den Hinterbeinen tänzelnd, fährt der Dunkle dem Weibchen mit dem riesigen, steif wackelnden Schwanz ins Loch hinein. Der Roßschwanz hält wie im Krampf still. Länger als ich vermuten würde, bleibt der Hengst oben. Er ruckt jetzt und scheint sich in seiner Mächtigkeit sehr abzumühen. Die Stute will sich schon wieder entfernen, einmal bewegt sie sich, aber der Obere läßt das nicht zu, er drängt nach und bringt sein Anliegen mit einer sichtbaren Anspannung im riesigen Rücken zu Ende. Dann dreht er sich herunter, sein immer noch riesiges Glied tropft. Jetzt stehen sie wieder da und haben scheinbar wenig miteinander zu tun. Die Stute beginnt zu grasen, und der Hengst schaut unbeteiligt in die Gegend. Sie trennen sich aber nicht, er läuft nicht mehr umher, sondern beginnt auch zu grasen. Ihre großen Köpfe mit den weichen Lippen fassen dicht nebeneinander in das Gras, und jetzt berühren sich ihre Schädel ein wenig. Ein Kätzchen huscht über meinen Weg. Es duckt sich, spannt sich in
Körperkonzentration und springt in das Feld hinein. Ich wollte stehenbleiben, um es nicht zu erschrecken, aber es ist Menschen gewöhnt. Aus dem Fang ist nichts geworden, es schleicht weiter dicht am Boden, eine angezurrte Wachsamkeit voll Jagdfieber. An den Menschen ziehe ich jetzt vorbei. Sie schauen her, einer winkt. Sie sind hier alle nackt, braun gebrannt und rege. Sie tragen Heu zusammen. Dort vorn liegen Körbe und Bündel, ein großer Krug aus Ton steht mächtig da, etwas in die Erde gemauert. Ich will absichtlich nicht allzu neugierig in die Vorräte der Feldarbeiter starren, weil sie sonst vielleicht das Vertrauen zu mir verlieren könnten. Ich bin fast sicher, daß ich ihnen wieder begegnen werde. [179] Mir ist das Lied des Bachs jetzt schon zu meiner Gedankenmelodie geworden, ich höre und fühle in dieser Flüssigkeit, sie bestimmt meinen Schritt und beeinflußt meine Kraft. Trotz allem wird mein Schritt, je näher ich an die ersten Häuser herankomme, wachsamer und verhaltener. Die Wolken hängen wie Freundlichkeit über dieser Oase. Das Land ist überall grün und frisch, wie in einer Art von Aktivität, die die Erde bei guter Laune hält. Ein Klingen kommt von vorn her, etwa aus der Mitte des Dorfs. Wo die Windmühlen sind, dort hängt eine Lebensglocke über dem sonst recht stillen und verfallenen Dörfchen. An dem ersten Haus sehe ich, daß es schon lang verlassen sein muß. Auch das nächste, das eine kleine Scheune hinten angebaut hat, ist verfallen und leer. Das Feld dahinter wird wieder nach außen zu von Obstgärten abgelöst. Pfirsiche hängen an den Bäumen, viele liegen unten. Einen esse ich. Es sind solche von der härteren Sorte, die keine Pflege brauchen und auch nicht so schnell von Ungeziefer befallen werden. Für mich ist diese Frucht eine Wohltat, gerade dieser Pfirsich ist mir lieb. Ich streiche ihm erst ein wenig über das Fell, bevor ich hineinbeiße. Ich treffe aufs Harte und rumple mit meinen Zähnen darüber. Ich lasse den Kern im Mund und sauge an ihm weiter. Das nächste Gehöft ist größer angelegt und befindet sich etwas abseits des Weges, aber es erscheint ebenso verfallen und unbewohnt wie die Häuser vorher. Am Giebel sitzen zwei Turteltauben und gurren. Sie wenden das Köpfchen einander zu und legen es auf die Seite, sie rücken näher und entfernen sich wieder, trippeln am Dachrand hin und her. Mir reißt es den rechten Fuß hoch in einem plötzlichen Schmerzreflex. Ich hocke mich nieder und finde einen spitzen kleinen Stein in meiner weichen Fußsohle stecken. Ich wundere mich jetzt, daß ich die ganze Zeit so ohne Zwischenfälle barfuß wandern konnte. Ich hatte meine nackten Füße ganz vergessen. Ich kühle die Sohlen im Wasser. Sie sind ganz heiß geworden. Jetzt kann ich auch die kleinen Tiere erkennen. Federvieh scharrt zwischen den Ziegen, die meisten Hühner halten sich mehr zusammen an einem Misthaufen. Ein Hahnenschrei steigt auf. Er wird wieder schreien. Mich schreckt eine Gestalt, die den Weg entlangkommt. Eine nackte Frau, nicht mehr jung. Sie trägt einen kleinen Bottich auf der Schulter. Die Hände halten das Gefäß außen fest. Auch ihr rinnt der [180] Schweiß über die Stirn, und unter ihren Brüsten glänzt er hervor. Sie trägt ihn so stattlich und selbstverständlich, wie sie ihren Bottich und ihre Brüste, ihren Kopf und ihren Bauch trägt. Sie läßt den Schweiß rinnen und fühlt sich sichtlich trotz des Schwitzens nicht ermattet. Der Körper ist braun und fest, aber zeigt gewisse Wülste an den Hüften, am Bauch und an den Oberschenkeln sowie an den Armen. Die Muskeln sind angespannt zum Tragen. Die Brüste sind groß und fest. Wenn sie die Arme herunterläßt, werden die Brüste ihrem Alter und ihrer Statur angemessen etwas schwerer nach unten sinken. Ich habe das Gefühl, daß sie sie auch getrost sinken lassen würde. Ihr Haar ist dunkel und hängt unkompliziert knapp auf die Schultern. Sie ist mir schon so nahe, daß ich mich meinem Fuß zuwende und meinen Blick dorthin rette, um sie nicht mit den Augen so lange erwarten zu müssen. Ihr Tritt ist fest, aber er rollt in den Sohlen weich ab. Ich fühle ihren Blick auf mir, so wie ich sie vorher betrachtet habe. Man kann spüren, wie man von jemandem betrachtet wird. Sie gibt mir ihre Neugierde ohne Scham und fühlt sich nicht veranlaßt wegzusehen. Sie ist so weit herangekommen, daß es unfreundlich von mir wäre,
nicht aufzublicken. Sie tritt leise, obwohl sie ganz schön Gewicht hat. Ich hebe meine Augen und bleibe an ihren Schamhaaren hängen, die dunkel und dicht unter dem Bauch wachsen. Ich hebe meinen Kopf absichtlich weiter hoch, damit sie nicht glaubt, ich betrachtete sie unbedingt nur dort unten. In ihrer Selbstverständlichkeit, mit der sie daherwogt, nimmt sie mir die Befangenheit aber auch gleich wieder ab, bevor diese aufkeimen kann. Die Frau bleibt bei mir stehen und sieht mich an. Sie nimmt den Bottich nicht ab, aber sie stützt das eine Bein so, daß sie eine Raststellung einnimmt und in der Hüfte einsinkt. Ihre Augen sind dunkel und stehen klar und offen in ihrem großflächigen, gebräunten Gesicht. Sie strahlen in größerer Lebendigkeit, als sie oft in jugendlicheren Körpern und Gesichtern zu finden ist. Sie bekennt sich wortlos zu ihrer Betrachtung meiner Person. Ich selbst bin auch nicht zu einer Grußformulierung gekommen. Sie hat das durch ihren Blick unnötig gemacht. Ich bin nur imstande, sie anzusehen, voll Aufmerksamkeit für ihre Erscheinung. «Dir wird heiß sein, und sicher hast du auch Hunger. Komm nur bei uns herein. Vorn dieses große Gehöft. Du kannst es nicht verfehlen, es ist das einzig bewohnte hier», spricht sie mit einer tiefen, [181] wohligen Stimme und deutet mit ihrem Kopf in die Richtung dem Bach entlang. Dann sieht sie mich noch einmal an, legt den Kopf etwas schief zwischen ihren erhobenen Armen, richtet sich wieder zum Gehen und lächelt kurz und einladend. Ihre Stimme ist fast männlich, die Vibration im Ton weiblich, Kopfneigung und Lächeln wirken jugendlich verspielt. Sie wartet meine Antwort nicht ab, sondern geht weiter und wiegt dabei in den Hüften, sie federt das Gewicht des Gefäßes ab. Ihre Hinterbacken sind schon ein wenig schlaff, die Taille aber von hinten überraschend schlank. Auch ihre Beine sind, so wulstig sie an den Oberschenkeln hervorquellen, nach unten zu gerade geformt und muskulös. Ich bin ganz verloren in die Bewegung dieser Frau. Sie hat so einen beruhigenden Rhythmus und ein Gefüge, daß sie meinen Blick festhält und mich angenehm gedankenlos macht. Weiter vorn, wo der Bach eine kleine Biegung macht, bleibt sie stehen und schaut ins Gras. Sie scheint über etwas belustigt zu sein und ruft in ihrer tiefen Stimme auch etwas, es klingt wie ein Ratschlag. Sie zeigt mit der Fußspitze auf etwas und geht dann langsam weiter. Das Gras ist dort höher gewachsen, und ich kann eine Bewegung wahrnehmen, aber nicht sehen, was sich abspielt. Ich bin neugierig und wandere barfuß weiter. Da erhebt sich ein Kind aus dem Gras. Es steht da, nackt mit kurzem Haar. Es mag etwa acht Jahre sein. Es hält seine Hände über die Genitalien und tritt von einem Bein aufs andere. Ungeduldig, so als müßte es schon dringend pissen. Den Blick immer auf eine Stelle gerichtet, wo sich das Gras jetzt bewegt. Dann stemmt es die Arme in die Hüften und blickt gelangweilt gegen den Himmel, wie um kundzutun, daß es des Wartens schon langsam müde sei. Es ist ein Junge. Ich bin so nahe herangekommen, daß ich zwei andere Kinder im Gras ausnehmen kann. Der Unbeschäftigte sieht mir entgegen und dann wieder auf die im Gras, etwas resigniert ist seine Wendung nach unten. Ich sehe einen Jungen, es muß ein älterer sein, der begeistert und anscheinend ohne Ende in ein Mädchen hineinfikkt. Schnell macht er das, wie ein Karnickel. Das Mädchen sieht mich von unten her mit einem grasverhangenen, verschwitzten und offenherzigen Lächeln an. Sie hat die Beine angewinkelt. Sie hält sich still und greift dem Jungen an die Hinterbacken, aber sie scheint des Spiels selbst schon etwas müde zu sein. Sie ist nicht mehr recht bei der Sache. [182] «Jetzt laß mich schon einmal, verdammt», ereifert sich der Kleinere und fängt wieder an, von einem Bein auf das andere zu treten. Er hat einen Kleinen stehen - wie ein Stift. Dann greift er sich wieder an die Genitalien. An seiner Stimme kann ich hören, daß er selbst weiß, daß seine ungeduldigen Aufforderungen nicht beachtet werden. «Ich geh jetzt in den Teich, mir ist heiß. Mich sticht das Gras schon überall», verkündet das Mädchen mit Selbstsicherheit. Dabei sieht sie mich an, denn ich bin wie die Frau
stehengeblieben, aber eher aus Staunen. Sie taucht den Jungen ganz einfach mit einer sicheren Bewegung herunter und richtet sich auf. Sie ist vielleicht zehn, hat langes blondes Haar und einen kräftigen Mädchenkörper. Ihre Haltung ist aufrecht. Ihr Busen zeigt sich im Ansatz, aber eher nur aus den sich aufwerfenden Knöpfen bestehend. Sie beginnt einen leichtfüßigen Lauf, ohne wegzurennen, aber doch mit dem Bewußtsein, daß ihr die Jungen folgen werden. Der Kleine schusselt hinter ihr her, und der Ältere verfolgt sie mit einer etwas beleidigten, aber nicht sehr verletzten Miene. Er murmelt etwas. Seine Haare sind dunkel und hängen dicht auf die Schultern, sein Körper schlank, aber mit einem Anflug von beginnender Massigkeit, auch seine Größe überragt die beiden. Er hat unten schon ein paar Haare und auch einen Roten stehen. Der Junge kann nicht viel kleiner sein als ich. Sie laufen den Weg entlang und verschwinden vorn in dem großen Gehöft, wo die Windmühlen stehen. Von dort her tönt es, dort schwingt Lebendiges, dort spielt sich etwas ab. Die Windmühlen bewegen sich, obwohl kaum Wind zu spüren ist. Die Hitze brütet so, daß das Lüftchen als die Hitze selbst erscheint. Ich höre Wasser platschen und spritzen, Kindergeschrei, fröhliche Stimmen. Lachen aus einer tiefen Männerkehle. Zwei kleine Kinder zappeln aus dem Tor heraus, und wieseln ein Stück den Bach entlang. Sie halten einander an den Händen. Sie scheinen etwas vorzuhaben, verlieren ihr Interesse aber daran, weil sie von einem Käfer gebannt sind, der am Weg liegt. Sie hocken mit ihren nakkten Popos auf dem sandigen Weg und sind nur mehr für den Käfer da. Sie beachten mich nicht. Dann scheint ihnen allerdings etwas an mir aufzufallen. Sie gucken selbst an ihren kleinen Körpern hinunter. Eine hochschwangere Frau tritt aus dem Tor. Sie schaut hinüber zu dem Feld, auf dem die Menschen arbeiten. Sie legt die Hand an die Stirn, um die Sonne abzuschirmen und stützt die andere Hand fest in [183] die Hüfte. Der Bauch tritt weit hervor. Ein fester großer Hügel, der fast etwas spitz zuläuft. Sie ist jung und sonst schlank. Ihre Haare sind zu einem kurzen Schwanz gebunden, ähnlich wie bei Bärle, nur nicht so hoch am Kopf. Ihre Haut ist braun, wie die der anderen. Sie macht keinen unbeholfenen Eindruck, aber sie bewegt sich betont bedächtig. Während ich an das Tor herankomme, wendet sie sich mir zu. Die Hand läßt sie in der Hüfte und die andere legt sie auf ihren Bauch. «Ruth hat schon gesagt, daß du kommen würdest.» Sie nimmt mich leicht am Ellbogen, wie um mich einzuladen. Ihre Berührung ist angenehm. Ich drehe mich noch einmal nach den Kleinen um, weil ich ihren Blick darauf lenken will, falls sie sie dort am Weg noch nicht gesehen hat. «Die kommen schon wieder. Der Bach ist hier nicht tief.» Im Hof drinnen führt sie mich aber dann nicht mehr und gibt kein Zeichen, daß sie sich für mein Wohlergehen verantwortlich fühlt. Ich stehe in einem Vierkanthof. In der Mitte ein Taubenschlag und ein Brunnen. Eine Seite des Gebäudes ist in den Mauern teilweise eingebrochen, aber überdacht. Unter dem Dach fließt der Bach, der sich an dieser Stelle wie ein Teich ausbuchtet. Kinder planschen drinnen und spritzen bis zu mir her. Sie balgen sich mit einem Hund. Er ist über und über mit Zotteln bedeckt, und ich kann nicht recht erkennen, wo bei ihm vorn und hinten ist. Er will lieber wieder aus dem Wasser, schafft es und schüttelt sich. Noch ein Hund ist da. Ein Schäfer. Er liegt geruhsam im Schatten eines mächtigen Maulbeerbaumes. Der Geruch ist süßlich. Rund um den Baum färbt sich der Boden schwarzblau von zertretenen Früchten. Aus der Scheune kommen zwei Frauen, sie laufen und lachen. Die eine ist die Schwangere von vorhin. Sie läuft schwerer, aber noch belustigter als die andere, die ein gerupftes Huhn am Hals vor sich herhält. Sie schauen immer wieder zurück. Ein dicker Mann kommt aus der Scheune, er lacht mit dieser tiefen Stimme, die mir vorhin aufgefalllen ist. Sein Bauch wackelt. Ungelenkig ist er trotz aller Schwerfälligkeit nicht. Er rennt
den beiden nach. Die eine verschwindet mit dem Huhn in einer Tür des Wohntrakts. Mit der Schwangeren allein macht ihm die Verfolgung nicht soviel Spaß, und er läßt sich zu den Kindern in den Teich plumpsen. Er liegt auf der Wasseroberfläche, und die Kleinen zausen ihm den schwarzen, dichten Bart. Sie fummeln ihm an den Genitalien herum und bemühen sich, ihm im [184] Wasser einen hochzurubbeln. Sie treiben es allzu arg, und er wischt sie mit einer Handbewegung weg. Er steigt aus dem Teich, reibt sich die Augen und schüttelt das Wasser aus den Ohren, indem er auf einem Bein hüpft und den Kopf schräg hält. Dann das andere Ohr. Die Kinder folgen und machen das Spiel nach. Ich erkenne das blonde Mädchen wieder, das im Gras gelegen hat. Sie steht still und sieht auf mich. Sie kommt her, sagt kein Wort, und nimmt meinen Arm. Sie befühlt ihn und legt dann ihre Hand in die meine. Ihre blauen Augen sind stetig in neugieriger Anmut auf mich gerichtet. Die Kinder werden aufmerksam und belagern mich. Ein kleines Krabbelkind zieht sich an meinen Beinen hoch. Ein größerer Junge nimmt die Flöte aus meinem Sack und beginnt ungeniert darauf zu pfeifen. Ich fühle mich ein wenig überrumpelt und weiß nicht recht, wie ich dem Ausdruck geben soll, ohne mich lächerlich zu machen. Ich bleibe still, nehme die Hand des Kleinsten und gehe mit ihm dem Wohnhaus zu. «Sie kommen!» tönt es vom Tor her. Die Kinder sind mit einemmal alle am Eingang und begrüßen die Heimkehrer vom Feld. Die sind etwas verstaubt und verschwitzt. Sie stellen die Körbe und Bündel zum Brunnen und legen die Heuballen vor das Scheunentor. Ruth kommt aus dem Haus und nimmt die Obstladungen in Empfang. Die Arbeiter schmeißen sich mit Wonne in den Teich und planschen dort wie Kinder die Müdigkeit aus ihren Knochen. Unter dem Dach sehe ich eine große Weinpresse. Der Kleine zieht mich hierhin und dorthin, so als wollte er mir schon allerhand zeigen. Er lallt vor sich hin. Auf einer Maulbeere rutscht er aus und schlägt hin. Ich habe ihn zu locker gehalten. Er weint. Ich hocke mich zu ihm und tätschle ihm den Kopf. Die Kinder sind hinausgelaufen, ich höre sie dort toben. Die Badenden kriechen wieder aus dem Wasser und legen sich in den Schatten unter die Bäume und Sträucher, die den Hof säumen. Einige verschwinden im Wohntrakt. Maisbündel hängen von den Holzbalken. Der Bau ist notdürftig instand gehalten. Die Blumen an den Fenstern zeigen aber doch eine gewisse Sorgfalt, eine Kultur, die das Zusammenleben hier entwickelt. Ruth ordnet etwas am Fenster. Sie zupft an den Pflanzen. Sie sieht mich und bedeutet mir an der Tür, doch herzukommen. Der Kleine will sitzen bleiben, er hat aufgehört zu weinen und zerquetscht mit Lust Maulbeeren in der Hand. Während ich hinübergehe, flitzt ein [185] Fohlen über meinen Weg, dann läuft es wieder zu seinem Muttertier auf die Weide. Fast hätte es mich umgerannt. Ruth lacht mit ihrer tiefen Stimme, aber doch sanft darüber. «Da mußt du aufpassen, es ist noch übermütiger als die Kinder.» Sie nimmt mich wieder am Arm, in so einer Berührung, wie es die Schwangere und das Mädchen getan haben. Sicher, ohne daß diese Vertrautheit unabsichtlich wirken könnte, aber kurz, so daß ich jederzeit Gelegenheit hätte, mich zu befreien. Sie führt mich in eine Halle. So heimelig dieser Trakt von außen mit den Blumen erschienen ist, erweist er sich von drinnen als riesengroß, als ein einziger Raum. Ich kann aber eine gewisse Wohnlichkeit auch auf dieser unerwarteten Fläche spüren. Ich bin von der weiten Räumlichkeit überrascht und finde mich etwas verloren. Ein Drinnen, das so weitläufig ist wie ein Draußen und doch Mauern hat wie ein Wohnraum. Ein riesiger Holztisch, an dem mindestens zwanzig Leute Platz haben, steht an einer Seite mit Stühlen rundherum. Das verwandelt die Halle in einen Burgsaal, zu dem aber die Holzwände nicht passen, die mit alten gemaserten Sparren wie Bilder heruntersehen. Licht durchflutet den Raum. An der hinteren Seite sind niedrige Podeste errichtet. Eine große Fläche unten und darüber noch eine Etage. Ich erkenne an den Matten und den
Strohsäcken, daß es sich dabei um Schlafplätze handelt. Ein riesiger Kachelofen prangt an der Seite des Raums, gefügt aus großen Platten. Um dieses Zentrum liegt der Küchenplatz. In dem angebauten Herd flackert Feuer. Ruth wendet sich einem Kessel zu und rührt mit Andacht eine Soße auf. Ich gucke in den Topf und rieche hinein. Ich tauche in den Inbegriff von Geruch, von Saft und Würze, von Gemüse und Fleisch, von Wärme und Behagen. «Es wird schon weich, das kann nicht mehr lange dauern. Magst du inzwischen etwas Obst?» fragt Ruth und ist weiterhin eifrig am Herd beschäftigt. Der Raum ist so weitläufig, daß ich erst gar nicht gesehen habe, ob noch andere Menschen in ihm sind. Eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, kommt jetzt her und gibt mir einen von den pelzigen Pfirsichen. Sie schaut mich mit Augen an, die mich erschrecken. Sie sind wie durchscheinend. Heller als weiß erscheint ihr Blau, das Schwarze im Auge kann ich vorerst gar nicht ausmachen, obwohl es vorhanden ist. Ein kaltes Geheimnis liegt in diesem Blick. [186] Sie ist außerordentlich zart. Ihr nackter Körper erscheint makellos, so tritt sie auf, sie überstülpt mich mit diesem Eindruck, so daß Einzelheiten unwichtig werden. Sie macht mir ein wenig Angst, und ich nehme schnell die Frucht an mich. Ich hätte nicht gern, daß sie mich berührt. Die Bräune in ihrem Gesicht steht im Kontrast zu diesen Augen. Klar ist das Gesicht gezeichnet, die Nase zart, aber energisch in einem schönen Schwung gebildet, eine hohe Stirn, schmale Wangen und auch ein schmaler Mund. Das Haar ist stark, sattbraun und hängt in natürlichen, leichten Locken über die Schultern. Sie bewegt sich flink, aber voll Beherrschtheit. Sie gibt mir kein Zeichen außer der Frucht und wendet sich gleich wieder ab, der Frau zu, die das Huhn fertig rupft. Diese tut das mit Sorgfalt und sichtlich ohne die geringste Abneigung. Sie überträgt diese Konsequenz ihrer Arbeit auf mich. Ich finde weder das nackte Huhn noch die abgeschnittenen Teile der Flügel, noch die blutigen Innereien, die in einer Holzschüssel liegen, abstoßend. Sie hätte mich - nur durch ihr Selbstverständnis - ohne weiteres dazu bringen können, ihr bei der Arbeit zu helfen. Ein Gequengel dringt an mein Ohr. Es kommt aus der Ecke des unteren Podiums. Ich erspähe ganz hinten ein Nest, in dem kleine nackte Füßchen zappeln. Vom oberen Podium schwingt sich der Junge, den ich über dem blonden Mädchen im Gras vorgefunden hatte, mit akrobatischer Sicherheit an den Armen herunter und macht sich an dem Nest zu schaffen. Er murmelt zu dem Baby hinein, kuschelt seinen haarigen Kopf an das kleine Leben, deckt es mit seiner nackten Körperwärme und beruhigt es. Er bleibt neben dem Kind auf dem Rücken liegen und starrt an die Holzbretter über sich. Die eine Hand bleibt dem Baby nahe, so daß es ihn jederzeit spüren kann. Ruth nimmt Holzteller und noch einen schwärzlich angekohlten Topf von der Wand, an der die Kochgeräte aufgehängt sind, und wendet sich kurz dem Vorfall in der Ecke zu. Sie verharrt einen Augenblick in ihrer Beschäftigung, in die sie so innig vertieft ist und lächelt hinüber. Ein Strahlen geht über ihr Gesicht und birgt eine Stille, die sie auch mir, die ich am Kachelofen lehne und die Frucht esse, mit einem Blick anvertraut. Dann wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Gefäße sind groß, und das Rücken der Töpfe ist schwer. Niemand hat es mir gesagt, aber ich weiß, daß sie wohl auch verantwortlich ist für die Sauberkeit des Bodens. Die Bretter sind mit [187] auffallender Sorgfalt glatt geschrubbt. Schön ist das gemaserte Holz am Boden. Wie ein Himmel nach unten. Die Sonne fällt an den Fensteröffnungen herein und hat Platz genug, auf dem freien Bretterfeld Striche und Muster zu ziehen wie in einer Landschaft. Ja, wie eine Landschaft ist dieser Raum, groß und frei, aber auch gegliedert in eine zweckmäßige Wohnanlage. Auf der anderen Seite des Kachelofens steht ein mächtiger Trog mit Teig drinnen. Glatt und hell, liegt er schwer im Holz, vorbereitet zur weiteren Verarbeitung. Ein Mann kommt herein. Sein Gesicht ist glatt rasiert. Hier tragen sonst alle die Bärte, wie sie eben wachsen. Er zeigt ein Gesicht, in dem etwas lauert und das zugleich in sich
gebrochen erscheint. Er mag über fünfzig sein. Sein Körper ist wuchtig, aber nicht fett, knochig in der Masse, eine urwüchsige Wildheit paart sich mit menschlicher Anfälligkeit. Im Gesicht zeichnet sich eine faltige, runenhafte Derbheit, die aber durch ein gewisses Ebenmaß gefügt erscheint und eine innere Sammlung darstellt. Wie innere Disziplin, die damit arbeitet, daß sie jederzeit zerfallen kann. Dieses Spiel ergibt auch den Anschein einer geistigen Geilheit. Sein Haar fällt wie bei dem Jungen auf die Schultern, dicht und dunkel, nur am Ansatz weiter zurückgetreten. Massig ruht die Stirn über dem Gesicht. Bei seinem Eintritt zieht er die wulstigen Lippen breit, so daß sein Mund zur ganzen unteren Hälfte seines Gesichts wird. Er öffnet sich so, als könnte er alles verschlingen in Hohn und Ironie, bleibt aber an der Schwelle der Zuwendung haften, die wiederum so menschlich aussieht, daß seine Erscheinung etwas Verströmendes hat. Ich bin fasziniert von ihm, auch wenn dieser Mensch dazu geeignet ist, mir Angst zu machen. Mich zieht diese Angst an und wird in mir ein Spiel der Erregung innerhalb meiner Grenzen, an die ich gern gelange. Mit einer ausladenden Bewegung bleibt er vor mir stehen, die Augen dramatisch aufgerissen, fixiert er mich wie in einem Spiel von Komik und Einfachheit, das auch einer gewissen Grausamkeit nicht entbehrt. Es reißt an meinen Möglichkeiten. Ohne weiteren Kommentar bringt er seine Erstarrung wieder in Bewegung und ruft laut, aus dem Zwerchfell heraus: «Na du?» Dann geht er auf die Ecke zu, in der das Baby schläft. «Sei doch still, du weckst es wieder auf!» besänftigt ihn Ruth in einem erregten Flüsterton, über ihren Befehl auch lächelnd. Er reißt [188] sich mit großartiger Geste herum und bewegt sich auf betont leisen Sohlen, komisch auf die Frauen zu. Plötzlich schwingt sich das blonde Mädchen von der oberen Etage herunter in eben so einem kühnen, geübten Schwung wie der Junge vorher. Ihre Haare sind fast trocken und hängen ihr ruppig über die Schultern. Sie wischt an dem Mann vorbei, knapp, so als hätte sie draußen etwas vor. Er gibt ihr im Vorüberstreifen einen Klaps auf den Nackten. Sie nimmt diese Berührung nicht zur Kenntnis, aber ich sehe von vorn, daß ein kleines Lachen in ihren Mundwinkeln ansetzt. Sie streicht am Herd vorbei, guckt in einen Topf, steckt im Vorübergehen den Finger hinein und schleckt daran. Sie wendet sich in einer kurzen Drehung des Kopfes und des Oberkörpers dem Mann zu, der noch immer dasteht und ihr mit den Augen folgt. Ruth reicht mir mit einem verschmitzten Ausdruck ein Stück Fladenbrot: «Iß, es dauert noch ein wenig.» Sie selbst kaut vertieft an dem anderen Stück, den Kochlöffel in der Hand, immer bereit aufzurühren und die Speisen zu beobachten. Der Junge erhebt sich vorsichtig aus seiner Ecke, um das Baby nicht aufzustören. Der Mann tritt ihm in den Weg und umarmt ihn gewaltig, gespielt einerseits, aber auch so, als sei das die einzige Möglichkeit für ihn, jemandem nahezukommen und sich auszudrücke in seinem Verlangen nach Zuneigung. Der Junge läßt es lachend geschehen, wendet sich aber doch zum Gehen. «Laß den Jungen nur. Auf ihn müssen wir jetzt achtgeben. Er ist in einem Alter, wo sie gern alles verlassen», sagt Ruth. Sie spricht im Scherz und nicht in wirklicher Sorge. Sie hat überhaupt nicht die Züge vorwurfsvoller Mütterlichkeit, obwohl sie dominiert. Die Verbindungen zwischen den Menschen sind hier so sichtbar, aber von vielen leisen Unterschieden und Auffälligkeiten für mich gezeichnet, daß es erregend ist, mich dem Fühlen der Vibrationen hinzugeben. Meine geistige Wachsamkeit erotisiert mich selbst. Es ist mir eine Lust, die Reibungen dieser Menschen zu beobachten und für mich zu klären. Ruth zieht nun ihrerseits den freigelassenen Jüngling sacht, ohne von ihm Besitz zu ergreifen, an die nackte Brust, wie um ihm den Durchgang zur Tür zu ermöglichen, damit der Mann endlich Frieden gebe. Der Junge, der sie schon leicht an Größe überragt, beißt
sie kurz in die Schulter und knurrt dazu wie ein junger Löwe. Ruth lacht auf. Er verschwindet in der Tür, langsam und eitel in der Haltung, als sei [189] er sich seiner Bedeutung bewußt. Er hält in der Tür kurz an und streift in einer kameradschaftlichen Bewegung, die fast herzlich seine gezwungene Haltung auflöst, einen blonden jungen Mann, der eben eintritt. Neben dessen Füßen huschen zwei kleine Kätzchen mit herein. Sie hüpfen in die Ecke unter den Tisch. An einem Tischbein kauert eine Tigerkatze. Die Kleinen turnen an ihr herum. Ein Schälchen Milch steht daneben. Die Alte schüttelt die Kätzchen ab und schlappt daraus. Der blonde Mann hat ähnliche Haare wie das Mädchen. Lang und stark, sein Bart wächst dicht, etwas ins Rötliche schimmernd. Er hat in seiner Figur etwas Jungenhaftes, auch in seiner Bewegung, sie ist locker und leise, fast unauffällig. Ruhig überschaut er die Runde. Er sieht auch mich. Er verwirrt mich nicht durch sonderbare Überraschungskundgebungen. Sein Blick bleibt an der Ecke der oberen Etage hängen, so als sei dort noch jemand, den ich bis jetzt noch gar nicht bemerkt habe. Dann streicht er um den Herd, guckt in die Töpfe, faßt Ruth um die Schulter, wie um sie in ihrer Kunst zu bestätigen. Sie beachtet sein Interesse wortlos, aber mit Aufmerksamkeit. Als er an mir vorbeigeht, um sich zu der kleinen Gruppe, wo das Huhn fertig ausgenommen wird, zu setzen, nimmt er mir das Stück Brot aus der Hand, an dem ich herumnage, und beißt ein Stück ab. Er gibt es mir wortlos zurück und setzt sich zu den anderen. Ruth entwickelt inzwischen einen neuerlichen Arbeitseifer, da das Fleisch nun endlich gar sein muß. Sie rührt noch einmal auf, schmeckt ab und streut kleine Mengen von Gewürzen dazu, nimmt Holzschüsseln von der Wand und leert den Inhalt eines Gefäßes in ein anderes um. Während sie Obst in eine große Schüssel legt, höre ich Rumpeln und Keuchgeräusche von der oberen Etage her. Jetzt lacht eine Männerstimme, und hinterher kichert eine Frau. Ein Stöhnen und Klatschen steigt auf, das die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Die kleine Gruppe um das Huhn war gar nicht laut, sie haben nur manchmal gelacht oder einen leisen Wortwechsel geführt. Die Arbeit hat sie wahrscheinlich müde gemacht. Jetzt verstummen sie vollends, und der ältere rasierte Mann ruft lachend zu dem anschwellenden Geräusch hinauf: «Aufpassen, daß der Apparat nicht abstürzt, ihr zerquetscht das Baby!» Oben rumpelt es weiter. Ein Arm taucht auf, ein Bein, ein Mädchenkopf [190] hebt sich aus einem Haufen von Gliedern. Ein nacktes junges Mädchen, sie kann nicht älter als viellleicht zwölf Jahre sein, steht jetzt aufrecht oben. Sie hat noch genug Platz bis zum Giebel. Sie ist ganz aufgelöst und verschwitzt. «Mit der Terry ist das schwer, denn ihr Bauch ist schon so dick, und der Ingo stinkt schon wieder entsetzlich nach Jauche.» Sie lacht und hält sich die Nase zu. Dann haut sie sich wieder auf das Gliederbündel drauf und schlägt irgend jemand mit klatschenden Bewegungen auf die nackte Haut, aber nicht mehr so vertieft in das Spiel da oben. Jetzt setzt sich die Schwangere auf, die ich schon kenne, mit zerzaustem Haar und roten Flecken im Gesicht. Sie lacht wie außer Atem und hält sich den dicken Bauch zusammen. Auf allen vieren kriecht sie umständlich über jemanden rüber, der Leiter am Seitenende der Etage zu. Das Mädchen ist vor ihr da. Es hängt sich mit den Händen an der Kante des Holzes fest und läßt sich langsam, ohne die Sprossen zu benützen, hinunter. Es ist mollig und klein von Wuchs, ihr Haar ist unter den Ohren gerade abgeschnitten. Sie hüpft in kindlicher Bewegungsfreude in die untere Ecke zu dem Baby, nimmt es zärtlich aus dem Nest und hält es über ihren Kopf. Sie lallt ihm Babyworte entgegen, freut sich über das Kleine und nimmt es dann sachgerecht in den Arm. Sie wandert mit dem Bündel zu den Katzen und setzt sich zu ihnen unter den Tisch. «Vorsicht, die Terry bricht uns mit ihrem Gewicht die Sprossen ab», warnt scherzend die Frau, die das Huhn im Schoß liegen hat, und zeigt auf die krabbelnde, schwitzende Schwangere.
«Hebt sie doch herunter!» «Her da mit dir, daß du uns nicht noch abstürzt», ruft dramatisch der Glattrasierte und hebt die Arme hinauf. Terry läßt sich kichernd hineinplumpsen. Er bricht fast in die Knie unter ihrem Gewicht. Sie lacht noch immer und schätzt gar nicht ab, daß sie, wenn er sie nicht mit aller Kraft gehalten hätte, auf den Bretterboden gestürzt wäre. Sie hat sich allzu sorglos und ungeschickt in seine Arme plumpsen lassen. «Rosto, du bist stark», lobt sie den nachträglich zu Boden gegangenen Mann und schlägt ihm anerkennend auf die Schulter. Oben erhebt sich noch einer zum Sitzen und posaunt: «Wer bringt mir den Teich herein!» «Niemand, Ingo!» ertönt es im Chor. Rosto erhebt sich wieder. Der blonde Mann tritt nun auch hinzu, [191] und die beiden holen den Ingo herunter, der sich wie ein Mehlsack, obwohl er gar nicht dick ist, auf den Boden legen läßt. Die Kätzchen huschen herzu und kriechen auf ihm herum. Plötzlich trabt etwas mit harten, kurzen Tritten auf dem Bretterboden auf. Das Fohlen dreht eine Runde bei dem Kachelofen und hätte mich schon wieder beinahe gerammt. Ich habe es nicht auftauchen sehen, weil ich ganz in Anspruch genommen war von dem Treiben der nackten Gesellschaft. Ruth wogt hinaus mit einem Stapel Teller und einem Krug. Rosto tritt an den Herd, nascht herum und sieht mich wieder theatralisch an, langsam von oben bis unten, so als könnte ihm jetzt alles einfallen, was er noch nicht berechnet hat in seinem Leben, und er sagt dann, aber eher freundlich: «Geh, zieh das Gewand aus. Es muß dir ja heiß sein.» Ich bin irritiert und weiß nicht gleich, wie ich mich verhalten soll. Einfach das Gewand ausziehen wäre mir zu einfach, als daß ich es rasch tun könnte, und ich bleibe hilfesuchend an seinen fremden Augen hängen und taste nach einem Licht, das mir bekannt ist und mir jetzt schnell helfen soll. Er wendet sich wieder der Tür zu und belästigt mich nicht länger mit seinem ohnehin sehr vernünftigen Ansinnen. «Komm, zieh dich aus und gib mir die Kleider, ich leg sie wo ab, daß sie nicht verkommmen können. Du kannst sie jederzeit wieder nehmen, wenn du sie willst. Okay?» Der blonde Mann ist nahe an mich herangetreten und spricht mit mir, als wollte er ein kleines Abkommen mit mir treffen, sanft und verständnisvoll. Ich fühle mich plötzlich in der Lage, alles abzulegen, locker und ohne Angst schlüpfe ich aus den Sachen, rolle sie zusammen und gebe ihm das Bündel in die aufmerksamen Hände. Er trägt es zu einer Holzverschalung in der Wand, die sich als kleiner Schrank erweist. «Du hast gesehen, wo es ist.» Damit beendet er die Prozedur. Ruth kommt wieder herein. «Sam, bitte, füll etwas Wein ab. Der Hahn tropft schon wieder. Ich weiß nicht, drehen die Kinder immer daran herum oder ist das Zeug noch immer undicht.» Wegen meiner Kleidergeschichte habe ich nicht bemerkt, daß fast alle hinausgegangen sind. Jetzt ist nur mehr die beschäftigte Ruth und das Mädchen mit den Eisaugen drinnnen. Auch das Mädchen mit dem Baby hockt nicht mehr da, ja, auch die kleinen Kätzchen sind nicht [192] mehr hier, sondern nur mehr die Alte, die jetzt wieder döst. Eine Ziege steckt den eckigen Schädel bei der Tür herein, schabt sich den Hals am Pfosten und verschwindet wieder. Ruth werkt noch immer am Herd. «Wann gibt es denn wieder gebratene Tauben?» fragt das schöne kühle Mädchen. «Jetzt jedenfalls nicht, mein Täubchen», antwortet Ruth vertieft. «Seid so lieb und tragt das Brot und das Obst hinaus.» Das Mädchen gibt mir den Brotkorb in die Hand, mit ihrem hellblauen Blick, und nimmt selbst die Pfirsiche auf.
«Stanza, schau, daß die Tiere nicht an das Essen gehen, letzthin hat das Fohlen den ganzen Reis ausgestreut», ruft Ruth der mit dem eisblauen Blick noch zu. Der Dicke kommt schnaubend herein, füllt die ganze Tür und prustet: «Was ist, ich brauch schon was in den Bauch!» Stanza drängt ihn aus der Türfüllung, indem sie ihn mit dem spitzen Ellbogen in den Bauch drückt: «Du wirst schon noch genug kriegen. Geduld mit Eile. Hilf lieber bei den schweren Töpfen, du starker Mann», befiehlt sie mit klarer Stimme, aber nicht ohne einen belustigten Unterton. Lachen habe ich sie allerdings noch nicht sehen. Er muß uns durchlassen, und wir wandern hinüber unter das Dach beim Teich. Neben der Weinpresse stehen Schüsseln und Essensutensilien. Einige Menschen sitzen schon in der Runde. Andere bilden noch eine kleine Gruppe unter einem Holunderstrauch. Ich fühle mich nackt unter den nackten Menschen wesentlich wohler. Ich dusche mir die Arme und die Beine, das Gesicht und das Genick am Teich ab. Unter dem Dach ist es schattig. Niemand ist im Wasser. Ich kann bis auf den Grund sehen. Es ist nicht tief. Ich gehe hin zu denen unter dem Strauch. Wenn jemand lacht, regt das zu neuerlicher Belustigung an. Es handelt sich eher um kindliche Heiterkeitsanfälle oder vielleicht kindische, aber hier treffen sich die Gruppen nicht nach dem Alter. Junge liegen neben Älteren, Behäbigen, und die wirken in ihrem Gehaben selbst oft wie Kinder. Sie kommen mir aber nicht blödsinnig vor, sondern erfrischend und überzeugt von ihrer heiteren Art des Lebens. Sie machen diese Möglichkeit glaubhaft. Ein schwangeres Mädchen, fast noch ein Kind, steht am Rand der Gruppe und hat mit einem irgendwelche Händel, die scherzhaft abgewickelt werden. Sie setzt zum Wegrennen an und läuft einem [193] etwa sechzigjährigen Mann in die Arme, der sich gerade der Gruppe nähert. «Na, Mädchen, was macht der Bauch?» Er neigt sein Ohr hinunter und horcht konzentriert daran. Die anderen sind mit einemmal still und verhalten sich so, als würden sie mithorchen. Er hält sie zärtlich um die Schulter, und sie nimmt sein Interesse ernst. Er kitzelt sie, und sie platzt lachend heraus. «Siehst du, es lacht schon.» Dann setzen sie sich beide in die kleine Runde, und sie bleibt auf seinen Schenkeln liegen, die Hände über dem Bauch gefaltet. Kleine Kinderhände, noch unausgeprägt und rund in den Fingern. Sie sieht ausgesprochen gesund aus und ist vielleicht etwas jünger als die mit dem Baby. Dunkelhaarig, sehnig, aber doch mit spitzen, weiblichen Brustansätzen und ein wenig Fett um die Hüften und Schenkel. Irgendwie erinnert sie mich an Ruth. Ich glaube, in den wachen Augen und in der Haltung ist die Ähnlichkeit. Vielleicht macht sie auch ihr Zustand so weich. Sie fährt über ihren Bauch, langsam und zärtlich, so als sei sie froh über ihr Schicksal. Der alte Mann spielt an ihrer kleinen Brust, während er mit seinem Nachbarn etwas bespricht. Der kleine Junge, der auf dem Feld so vergeblich warten mußte, sitzt auch in der Gesellschaft. Er reicht mir einen Krug. Die Augen der Leute richten sich auf mich. Ich stehe und trinke, während die anderen alle sitzen oder liegen. Das fällt auf. Bis jetzt habe ich mich bei den Büschen gehalten, und niemand hat mich besonders beachtet, weil sie nach den Lachanfällen zu Gesprächen über die Ernte übergegangen sind. Ich trinke den leichten, etwas säuerlichen, aber köstlichen Wein. Während ich den Krug absetze, kann ich ein erfrischtes Aufleuchten nicht verhehlen. Sie sehen, daß ich mich freue, wenngleich mir das allgemeine Gehabe hier doch etwas seltsam vorkommt, so daß ich mich eher abwartend als allzu anbiedernd verhalten möchte. Ich gebe den Krug an den älteren Mann weiter, der noch immer den Kopf der Schwangeren auf den Knien hält. Er nimmt das Gefäß, die eine Hand von den Brüsten des Kindes lösend, und trinkt mir zu. Der halbwüchsige Bursche läuft johlend über den Hof: «Hunger, Hunger!»
«Krishan wächst sich gut aus. Wie wohl sein Bruder jetzt aussieht, der ist ja schon lange weg», sagt eine Frau. Es ist die, welche das Huhn gerupft hat. Neuerlicher Lärm lenkt sie ab. Beim Tor herein kommen [194] jetzt erst die beiden Kleinen, rufen ebenfalls «Hunger», so laut sie können, und fuchteln mit den Armen. Der eine fällt hin, rappelt sich wieder auf und rennt weiter hinter dem großen Krishan her, der in dem Scheunentrakt verschwunden ist. Ganz hinterdrein allerdings kommt noch ein Kind. Es kann nicht so schnell wie die anderen. Es hinkt, hat einen verkrüppelten Fuß und fuchtelt in krampfhaften Bewegungen mit den Armen vor sich herum, so als ließen die vorgestreckten Hände es schneller fortkommen. Auch dieses lallt etwas vor sich hin, was ich aber nicht verstehen kann. Es hat einen Kahlkopf wie Bippa ihn eine Zeitlang gehabt hat, nur ist sein Schädel übermäßig groß und verbaut. Nach dem Geschlechtsteil ist es ein Junge. Das Alter ist nicht zu bestimmen. Der Größe nach könnte es fünf Jahre sein. Langsam, ruckartig, aber stetig, hampelt es über den Hof, um hinter den anderen in der Scheune zu verschwinden. «Vielleicht kommt er wieder. Ich habe da so ein Gefühl dafür», sinniert die Frau weiter, nachdem sich der Lärm wieder gelegt hat. Sie blickt auf die Schwangere, die mich am Tor begrüßt hat, und meint: «Stanza und Ingo sind auch wiedergekommen, damals.» «Ich bin froh, daß ich dageblieben bin», platzt die junge Frau aus einem mir unbekannnten Grund heraus. Sie greift sich an den Roßschwanz und streicht von seiner Wurzel bis ans dünne Ende, wieder und wieder. Dabei wölbt sich ihr Bauch, und die eine Brust hebt sich frei nach oben. Während sie diese Bewegung macht, denkt sie an etwas. «Ich bin neugierig, wer die Terry das nächste Mal retten wird», spottet der Mann, auf dessen Knien das schwangere Kind liegt. Der kleine Junge hat einen stehen und legt sich flink auf den freien Bauch der Frau. Ihre Bewegung war so einladend und auffordernd offen gewesen, obwohl sie eigentlich wie in Gedanken verloren automatisch sich so angeboten hat. Sie lacht jetzt mit dem Kleinen am Bauch, muß ihren Roßschwanz loslassen und sich bereiten lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Kleine einen Scherz macht oder ob er sie wirklich fickt. Er hat sein kleines Glied jedoch ganz bei ihr drinstecken. Vielleicht kommt er noch zu einem späten Erfolg nach der vergeblichen Liebesmüh auf dem Feld. «Bernie rettet sie!» ruft einer, und das ist wiederum ein Grund zur allgemeinen Heiterkeit. Ich lache nicht mit, weil ich etwas irritiert bin von der Tatsache, daß [195] hier jeder jedem sofort aufreiten kann. Ich empfinde das als unsichtbare Gefahr. Trotzdem bleibe ich und lasse mir nichts anmerken, weil ich das Interesse nicht auf mich lenken möchte. Sonst kommt am Ende noch der Ziegenbock über mich, der dort am Brunnen ruhig grast und vor sich hin stinkt, und das vielleicht ohne mich zu fragen, zur allgemeinen Erheiterung der Runde. Der Kleine gerät in Fahrt. Er rubbelt und zuckt sich auf dem schwangeren Hügel ab wie auf einer Bergtour. Für Terry scheint sein Schwänzchen etwas zu klein zu sein, als daß es ihr besondere Lust bereiten würde. Sie lacht eher gutmütig und hilft dem Kleinen, indem sie ihn am Po hinten fest packt und rhythmisch hineindrückt. Es ist anscheinend schwer, das kleine Ding in dem großen Eingang zu bewegen, ohne daß es herausschlüpft. Wenn wenigstens der Bauch nicht wäre. Ingo kommt mit einem Strohballen vorbei, bleibt in der Betrachtung der Angelegenheit belustigt stehen, läßt das Stroh fallen und ruft: «So helft ihm doch!» Der Kleine ist wirklich ganz außer sich geraten von seiner Lust, die ihn aber immer ungeduldiger macht, so daß eine nahe Befriedigung nicht abzusehen ist. Ingo hält ihm nun das Schwänzchen mit zwei Fingern und hilft ihm. Zugleich fährt er mit der anderen Hand über Terries Klitoris, so daß sie jetzt auch ernsthaft von der Lust gepackt wird. Sie stützt sich mit den Armen hinter den Schultern auf, läßt den Kopf nach hinten hängen, so daß das Haar den Boden streift und stöhnt sich in das Reiben an Ingos Handrücken hinein. Einmal hebt sie den Kopf und sieht zwischen ihre Beine, aber nur kurz, schließt die Augen, um dann dem Orgasmus entgegenzuziehen, schneller im Gesäß ruckend. Wie das mit dem
Kleinen ist, kann ich nicht recht durchschauen, ich glaube, der will anscheinend überhaupt nicht mehr aufhören. Sie preßt den Höhepunkt auch in der Kehle durch und richtet sich dann auf, indem sie ein wenig faucht - wie nach der Überwindung einer Anstrengung. Bernie hängt noch immer an ihr. Er muß schon vorher gekommen sein. Sie nimmt ihn energisch an den Schultern, und er ist wütend, weil er anscheinend noch einmal will. Der blonde Sam kommt über den Hof und sieht das Strohbündel liegen. Er nimmt es auf und trägt es in die Scheune. Ich habe die ganze Zeit über schon einen Grund gesucht, mich zu entfernen, wollte aber einerseits nicht auffallen und war andererseits in meinem Unterbauch gereizt von der kleinen Szene, die den anderen nicht so besonders [196] erschienen ist, aber die sie auch erregt hat. Ich spüre die willkommene Möglichkeit, jetzt aufzustehen und über den Hof zu gehen. Ohne daß ich es bewußt anstrebe, zieht es mich zur Scheune hin, in der Sam mit dem Stroh verschwunden ist. Ich putze über meinen nackten Po. Der Boden ist weiches, saftiges Gras, aber dazwischen liegen große, glatte, warme Steine. Moos und auch Blumen kriechen neben den Steinen hervor, sofern sie die Ziegen noch nicht abgenagt haben. Ich gucke in die Scheune. Drinnen ist es dunkler. Es duftet nach Heu, zugleich frisch, warm und heimelig. Hier haben auch die Ziegen ihren Stall, aber ihre Plätze sind jetzt leer. Kätzchen huschen im Heu, rascheln geheimnisvoll nach Mäusen oder nach den Spielkameraden. Ich kann niemanden sehen, aber aus einer kleinen Tür tönen Kinderstimmen und auch die Stimme Sams. Bei der Tür kommt allerdings Krishan heraus und brummt: «Jetzt möcht ich doch aber wirklich wissen, wann wir endlich einmal essen.» Er dampft an mir vorbei, voll Ärger und Ungeduld, aber nicht ohne mich schnell scherzhaft in die Hinterbacke zu zwicken, bevor er in die Küche rennt. Ich höre ihn dort drinnen maulen und sehe dann, wie er mit dem Dicken den großen Kessel mit dem Saftfleisch herausträgt, unter das Dach bei der Weinpresse. Ruth wogt hinterher, noch eine dampfende Schüssel in den starken Armen. Ein kleines Zicklein rennt ihr nach und rammt sie in den nackten Hintern. Ruth hält die Schüssel mühsam vor sich hoch, um ja nichts zu verschütten. Sie wehrt das Tier durch abschreckendes Zischen ab, lacht aber zugleich immer wieder auf, so als machte ihr das Spaß, auch wenn die Schüssel samt Inhalt in Gefahr ist. Sie gerät so ins Lachen, daß ich hinzuspringe und ihr die heiße Schüssel abnehme. Sie überläßt sie mir dankbar, und ich wundere mich, daß sie so viel Hitze in den Händen aushalten kann. Ich bringe das Ding gerade noch heil neben den Kessel. Dabei muß ich die Hinterbacken schon ordentlich zusammenzwicken, um nicht aufzujaulen. Ich blase in meine Handflächen. Das blonde Mädchen sitzt schon da und kommt zu mir her. Sie besieht sich meine Haut und bläst auch ein wenig. Der Schmerz läßt nach, und wir sehen einander an. Eine Hand hält sie am Rücken versteckt, und eine Frage tritt in ihre Augen. Sie blickt auf den Boden und holt dann meine Flöte hinter dem Rücken hervor. «Darf ich sie ein wenig behalten? Ich werd aufpassen. Ich hab einen [197] Platz, wo ich sie sicher verstecken kann. Ich kann es schon ein wenig. Ich mach es dir aber lieber vor, wenn wir einmal allein sind.» «Du kannst sie einstweilen haben, nur naß soll sie nicht werden, und die Kleinen laß nicht hineinspucken», entgegne ich genauso geheimnisvoll und leise wie sie. Sie erhebt sich und verschwindet mit der Flöte hinter dem Haus. Aus der Scheune kommt Sam mit einem uralten Mann. Gebeugt und hager hängt er am Arm des jungen Mannes. Die kleinen Kinder, auch das Dummerchen, hängen sich wie die Bienen an den Alten, obwohl er sich selbst nicht mehr gerade halten kann. Ruth übernimmt es, ihn auf einen Pfosten zu setzen. Er murmelt unverständliche Worte vor sich hin. «Ist schon gut, jetzt kriegst du was zu essen», tröstet sie ihn, während sie ihn sorgfältig zurechtrückt.
«Anja, Anja!» höre ich aus seinem Gestammel heraus. Langsam fühle ich mich in seine verwachsene Sprache ein. «Anja hat mir versprochen, sie wird ihn mir lutschen! Die Anja ist nicht gekommen. Sie hat mir's versprochen», erregt er sich über dieses Versäumnis. «Laß die Anja nur, die weiß schon, was sie will», stoppt ihn Ruth etwas rauh und setzt sich dann neben ihn. Das blonde Mädchen kommt wieder und nimmt neben mir Platz. Sie hat die Flöte nicht mehr. Sie sieht mich bedeutungsvoll an, und ich nicke ihr zu. «Anja, du hast mir versprochen ...» ereifert sich der Alte wieder und will sich erheben. Er deutet herüber zu dem Mädchen an meiner Seite. Sie lacht, und Ruth beruhigt den Alten wieder. Er grummelt weiter in sich hinein. «Dich werden sie im Sanatorium nicht gebrauchen können. Was glaubst du, wenn die dort alle so starrköpfig wären», spöttelt Krishan, der neben Rosto hingestreut liegt wie eine Skulptur. «Ich ins Sanatorium?» ereifert sich der Alte voll Entrüstung. «Ich brauche so etwas nicht. Du wirst sehen, ich sterbe in einem Orgasmus, so ganz einfach, aber genußvoll!» Er spitzt die Lippen zu einem lächerlichen Mardergesicht, während er fast abrutscht und umzufallen droht. Anja lacht hell auf, die anderen verdrehen die Augen und schmunzeln. Ich wundere mich, daß der Alte mit einemmal doch so klar [198] artikulieren kann, aber anscheinend will er das nur unter starken Gemütsanforderungen. Es kommt ihm etwas zugute bei der Aussprache, was anderen alten Menschen fehlt. Er hat noch Zähne im Mund. Auch bei den anderen sehe ich es meist prächtig weiß aus den braunen Gesichtern leuchten. «Es sollte wieder einmal regnen», bemerkt der Sechzigjährige mit einem Blick in den Himmel. Das schwangere Mädchen ist an seiner Seite geblieben. Sie nimmt den Türkensitz ein und hält die Hände wie eine Ablagefläche für ihren Bauch gefaltet. Ihr Blick ruht verloren am Boden, und erst die Worte ihres Nachbarn wecken sie auf. Sie wird rege und ungeduldig: «Was ist? Worauf warten wir denn noch?» «Marga! Die Schöpfkelle! Wir warten!» schreit Krishan. «Was soll das heißen, du Kerl, ich habe deine Schöpfkelle nicht gefressen!» schreit das Mädchen mit dem Baby am Arm, während sie aus der Scheune tritt und in der Runde Platz nimmt. Sie gibt das Kleine dem Rosto in die Arme. Der reißt die Augen entsetzt auf, macht sogar vor dem Kind sein Theater und legt es dann auf den Boden, so als könnte er sich überhaupt nicht einverstanden erklären, das Baby zu halten. Er legt es so sanft und vorsichtig ins Gras, daß ich gar nicht glaube, daß er damit nicht umgehen kann, aber diese Art von Komik ist seine Art. Der Dicke nimmt nun den Wurm an seinen wabbeligen Bauch und kost mit ihm. Das Kleine kräht voll Lust. Das Dummerchen hat sich, so unauffällig es das eben schafft, aus dem Kreis erhoben, krampft sich zum Wohntrakt hin und kommt bald darauf wieder mit der Schöpfkelle. Es steht da mit einem grausig anmutenden Lachen, die Kelle vor sich hin windend. In dieser abstoßenden Haltung liegt aber zugleich auch ein Reiz, es lieb zu haben in seiner Häßlichkeit. Das schwangere Mädchen nimmt ihm lachend das Gerät ab und kriecht zum Kessel, füllt sich eine der Schüsseln, die dort aufgestapelt stehen und noch eine für die Mißgeburt, die jetzt neben ihr sitzt, grinsend und aus dem Mund tropfend. Tauben flattern auf ihrem Turm in der Mitte des Hofs. Drei wunderschöne weiße kommen herangetrippelt und fliegen dann auf die Weinpresse, um dort zu gurren. Die Hunde verhalten sich stiller und nicht so gierig, wie ich es erwarte. Der Zottel liegt ruhig neben Sam. Der Schäfer döst neben Anja. Er ist recht nahe bei mir, wäre mir aber gar nicht aufgefallen, wenn ich ihn nicht gesucht hätte. Ich betrachte ihn, und Anja legt ihre Hand auf seinen schönen Kopf. Sie sagt nichts, [199] aber sie sieht mich stolz an. Auch der Hund schaut kurz auf mich mit einem uninteressierten, vielleicht sogar hochmütigen Blick, den
er gleich wieder abwendet, indem er den Kopf auf die Pfoten legt. Eine Taube fliegt weg und so nahe an meinem Kopf vorbei, daß der Luftzug meine alte Wunde am Kopf streift. Jedenfalls fällt sie mir wieder ein, und ich taste kurz darüber. Sie ist noch empfindlich, aber sie schmerzt überhaupt nicht mehr. Fast alle haben sich schon eingeschöpft und beginnen bereits zu löffeln. Langsam, denn Ruth scheint heiß zu kochen. Nur Anja und ich haben noch nichts. Sam hat seine Schüssel gerade gefüllt. Ich habe ihm zugesehen, wie ruhig er das abwickelt. Ohne viel in der Soße herumzusuchen, schöpft er mit sicherem Griff ein großes Stück Fleisch heraus und reicht mir die Schüssel. Sein Blick ist klar in meinen gerichtet, auch wenn ich ihn nicht hätte annehmen wollen. Ich nehme die Schüssel genauso selbstverständlich, wie sie mir angeboten wird. Sam gibt den Schöpfer an Anja weiter. Dann sitzt er wieder da neben Terry. Die beiden lehnen sich jetzt mit den Rücken aneinander. Diese Haltung ergibt eine Stütze, die es möglich macht, die Schüssel auf den angezogenen Knien zu halten und in Ruhe zu essen. Ich sehe mir das an und finde es gut, diese Art der Haltung, will aber doch nicht zu auffällig gucken und schaue wieder in meine Schüssel. Die Soße schmeckt, wie ich vermutet habe, nur das Fleisch ist härter, aber trotzdem sehr schmackhaft. Ich bemerke, daß die anderen manchmal ungeniert ein Fleischstück aus dem Mund nehmen und es konzentriert und voll Eifer mit den Zähnen klein reißen. Das sieht nicht unappetitlich aus. Nur das Geknautsche des Alten stört mich. Es scheint auch Ruth zu stören. Sie gibt ihm mehr Kartoffeln in die Schüssel: «Komm, iß lieber das Weiche und den Saft, das ist besser für dich.» «Nein, alles, ich esse alles, gib mir noch nach», schmatzt er gierig und zittert mit der Schüssel vor Ruths Kopf herum. «Iß jetzt einmal auf und laß mich», beendet sie die Debatte energisch, indem sie fortfährt, gemächlich und voll innerer Zuspräche im Einverständnis mit sich selbst zu essen. Ihr Anblick müßte jedermann Appetit machen. Ich bedarf dieser Anregung nicht, weil ich mich ausgehungert fühle und die Stärkung schon nach den ersten Löffeln in meinem Körper spüre. [200] «Rüben haben wir nicht viel. Nur ein kleines Feld. Aber ich esse ohnehin lieber das Brot», läßt sich Anja neben mir vernehmen, indem sie eine Schüssel davon weitergibt. Ich nehme einen Löffel voll und gebe an Ingo weiter. Er stinkt gar nicht nach Jauche. Es folgt ein Brotkorb, und davon nehme ich ein schönes Stück, es sind solche Fladen, wie ich sie im Schädelturm gegessen habe, nur etwas dicker. «Dieses Brot hat Rosto gebacken. Er macht das manchmal, und dann wird es besonders gut.» Anja taucht einen Happen davon in die Soße und gibt ihn dem Schäfer ins Maul. Er nimmt das an, leckt aber nur den Saft ab. «Sie haben immer schon gefressen, bevor wir essen. Sie sind satt. Das ist viel besser so, weil sie sonst aus dem Kessel schlecken. Das Fohlen und die Ziegen sperren wir beim Essen in die Scheune, weil sie sonst keine Ruhe geben», erklärt sie, während sie besonders dem Brot und dem Saft zuspricht. Sie nimmt das Fleisch nicht aus dem Mund. Ich selbst mache das schon. Es handelt sich um Sehnenstücke, die aber doch weich genug sind, daß man sie langsam zernagen und schlucken kann. Nicht alle Teile sind so, aber viele. «Weißt du, das mit dem Fleisch ist so, weil es getrocknet ist. Wir haben momentan kein frisches. Ich mag das gar nicht so gern. Wenn wir schlachten, dann haben wir herrliches Fleisch. Da machen wir hier ein offenes Feuer und braten es. Das riecht wunderbar. So viele Tiere haben wir aber nicht, daß wir das allzuoft tun können.» Sie wird immer reger in ihren Ausführungen. Vielleicht macht sie auch der Wein gesprächig, obwohl er nicht stark ist. Der Krug kreist und wird wieder gefüllt, wenn er leer ist. Der ältere Mann neben dem schwangeren Kind füllt ihn immer wieder. Hinter ihm steht ein rundes, dickes Weinfaß. Man ist im Essen versunken, und Blicke der Zustimmung gehen in der Runde.
«Wir essen nur einmal am Tag miteinander. Öfter wird nicht gekocht. Sonst gibt es Brot, Butter und Milch oder Obst. Da kümmert sich jeder um sich selbst. Nur am Morgen, da macht immer irgendeiner heiße Würzmilch, meist ist es ja Ruth, die dafür sorgt. Sie macht das am besten. Wir loben die Milch immer recht, dann macht sie es viel lieber. Da brauchst du gar nichts dazu zu essen, die ist wie Essen und Trinken auf einmal. Die füllt dir den ganzen Vormittag den Magen aus», fährt Anja in ihrer Erklärung fort, und ich muß an die Milchbrühe bei Bärle denken. Anja ist anders als Bärle. Sie ist mehr Kind, [201] aber in ihrer Kindhaftigkeit schon voll erwachsen und selbständig. Sie wirkt fast noch ernster als die viel ältere Bärle. Sie wird schon zehn sein. Eine einsame Energie führt sie, wenngleich sie auch verspielt ist. «Wo ist denn eigentlich Bernie abgeblieben?» fragt Terry. «Ist der noch immer beleidigt?» Sie löst sich von Sams Rücken und löffelt ihre Schüssel aus. «Laß ihn nur, der kommt schon wieder», rät Ruth. Sie sieht, ins Essen vertieft, auf den Dicken hinüber, der auch das Baby von dem Saft schlecken läßt, den er auf seinem Finger hat. Das schwangere Mädchen füttert das Dummerchen. Es hat eine eigene Schüssel, aber es fuchtelt mit dem Löffel immer so krampfig in der Luft herum, daß es alles vollplatzt. Seine Zunge kriecht beim Schlucken immer wieder aus dem Mund. Sie macht sich selbständig wie ein vom Kind unabhängig funktionierender Körperteil. Die beiden Kleinen sind schon lange fertig und wollen das Dummerchen auch füttern. Der ganz Kleine ist ein Junge. Er konnte selbst essen, aber beim Füttern trifft er nicht in den sich wälzenden Mund des Behinderten. Das Größere ist ein Mädchen und schafft diese Arbeit schon recht gut. Ich esse selbst konzentriert, aber ich habe dabei immer einen beobachtenden Blick in die Runde. Daß Anja manchmal etwas zu mir sagt ist mir angenehm. Die Blicke sind hier so ungeniert sprechend. Sie flitzen von hier nach da und von dem zu jenem. Auch zu mir, und jedes Auge nimmt eine Offenbarung auf und schließt eine Kundgebung ab. Ein grausames Spiel scheint mir das zu sein, in das ich verstrickt bin, weil ich diese Sprache nicht kenne. Ich bin aber so gefaßt, daß ich auch damit rechne, mir das nur einzubilden. Vor allem aber fasziniert mich diese zwingende Offenheit, ganz gleich, ob sich das nun als Bedrohung oder als angenehme Erregung erweisen sollte. Ob ich die Erregung der Sinne vielleicht als Bedrohung empfinde? Krishan ist satt und rekelt sich neben Rosto, der sich mit der Hand lang über das glattte Gesicht streicht. Ruth blitzt herüber: «Na, heute schon rasiert?» Rosto findet es nicht der Mühe wert, etwas darauf zu sagen, sondern nimmt jetzt von selbst dem Dicken das Baby ab und spielt mit ihm, indem er es auf seine gefalteten Beine bettet. Der Dicke nimmt die Befreiung wahr, um seinen schweren Kopf in den Schoß der Frau zu [202] legen, die das Huhn gerupft hat. Er rülpst und klopft sich den vollen Bauch. Die Frau lacht. Hier rückt etwas zusammen. Wie ein Schwert hängt es über der Gesellschaft, und ich kann nicht berechnen, ob es mich treffen wird. Mich lockt es an, mich fordert ein Angebot. Ich spüre eine Gelegenheit, die mir meine Kontrolle über mich selbst nehmen würde. Die Gesellschaft sitzt weiterhin ruhig da. Entspannt sich und bietet ein friedliches Bild für einen Unempfindlichen. Harmlos sieht das Verhalten dieser Menschen aus, und ich möchte mir diese Sicht gern bewahren, wenngleich ich innerlich spüre, daß sich eine Energie zusammenballt, in diesem Vibrieren zwischen den Leibern. Zwei Gesichter in einem Blick, zielsicher das Wesen treffend, sich seines eigenen bewußt, nur eines: Es ist nicht zu fassen. Während ich das denke, bemerke ich, daß ich Sam ansehe, der seinerseits im Blick mit Rosto ist, und ich schüttle das Gefühl einer magischen Lähmung ab, indem ich auf den Schäferhund schaue. Stanza, die auf seiner anderen Seite sitzt, hat die Hand auf seinem Rücken liegen, ganz
ruhig und starr. Sie brennt ihre Augen in einen anderen Blick, aber ich will dort nicht hineinsehen, weil ich fürchte, davon getroffen zu werden. Ausgeschlossen zu werden, herausgeschleudert aus dem Augenblick, aus der Zugehörigkeit zur Menschheit. Mir schwirrt der Schädel, und ich starre auf den Boden unter mir. Selbst das Gras scheint zu glühen und kann mich nicht kühlen. Erst das Lachen von Ruth entspannt mich ein wenig, und ich getraue mich aufzuschauen. Der Anblick ist ja eigentlich nicht sehr tröstend, aber man wendet sich allgemein dem Gebot des Augenblicks zu, und da weiß ich wenigstens, woran ich bin. Das kleine Mädchen, es mag höchstens vier Jahre sein, hat es sich hartnäckig zur Aufgabe gestellt, zu den Männern hinzukriechen und ihnen den Schwanz zu schälen. Sie tut das so ungeschickt, daß es eher unangenehm zu sein scheint, und man versucht, sie mehr loszuwerden, als sie in ihrem Unternehmen zu unterstützen. «Jetzt fängt sie schon wieder damit an», klagt Krishan, indem er sich aufrichtet und an den Kopf greift. Er erhebt sich und verschwindet im Wohntrakt. Ruth nimmt die Kleine an sich und neckt mit ihr herum und erlöst damit die Gesellschaft von dem kleinen Quälgeist. Jedenfalls hat diese Sache zu meiner eigenen Entspannung beigetragen, weil die Runde jetzt aus ihrem magischen Lauern aufwacht und [203] wieder menschlicher wird. Der Dicke wirft sich über seine Nachbarin, und die beiden rollen lachend über das Gras. Stanza wendet sich ab und läßt ihren eisigen Blick in der Runde kreisen wie den einer Schlange. Dann reißt sie ihr Schauen rasch zu mir her, und ich bin wieder in einem Bann, den ich schon für aufgelöst gehalten habe. Ich kann die Augen nicht abwenden, will es auch gar nicht. Anja lenkt uns ab, indem sie sich vor dem Schäfer aufkniet und somit unseren Blick trennt. Sie streichelt ihm langsam und betont innig den Kopf. Die Runde hat sich mir wesentlich genähert. Nicht körperlich, aber so verloren ich vorher in ihrer Zahl und ihrer wechselnden Bewegung war, so sehr bemerke ich, daß ich den Grundstock der Gesellschaft bereits kenne. Es sind nicht mehr als etwa zwanzig Erwachsene und vielleicht zehn jüngere Menschen. Bernie fehlt noch immer. Mir ist die Gruppe übersichtlich geworden, aber ich kann die Verbindungen nicht alle erkennen, die Fäden, die hier gesponnen werden. Ich vermute eine starke Beweglichkeit. Eine, die ich bei den Menschen im Turm nicht so zu spüren bekam, als Erregung, Spannung und Lockerung. Mir pflanzt sich diese Energie im Unterbauch an, als ein Zeichen meiner Angst vor den Möglichkeiten, mich zu verlieren. Ich bin in das Spinnwebennetz, das vor mein Bühnenbild gespannt ist, verstrickt. Ich suche im Augenblick mehr denn je nach dem Anfang, da ich fühle, es könnte mir hier und jetzt zerrissen werden, schneller als ich es geahnt hätte; ich will ewig weiterleben im Nebel, aber ich will nicht dastehen müssen vor einer leeren Bühne. Bis jetzt hatte ich das Geheimnis, dem ich auf die Spur kommen wollte, und das war mein Selbstschutz, meine Aufgabe, mein Trieb, aber hier geht es um einen anderen Trieb, einen, der mir den Schutz nicht läßt, einen, der mich der Hoffnung entkleidet und sie damit auflöst in ein Nichts, das ich selbst bin. Hier hängt eine letzte Gier in der Luft, ein grausames Klammern am Körper als letzte Stätte vor dem lockenden, endgültigen Verlust. Dieses Drama wälzt und wogt in meinem Kopf, während um mich alles unverändert ist. Kann ein sichtbares Bild so viel schwächer wirken als ein unsichtbares Vibrieren? Der Anschein kann mich nicht mehr trügen, ich bin in einen Hexenkessel geraten, der so harmlos dreinsieht und in seiner Tiefe brodelt. Der Dicke fickt noch immer mit seiner Gefährtin. Sam sitzt, ruhig vor sich auf den Boden blickend, eine Hand im Fell des zotteligen Hundes. Soll mich dieser Anblick aufrichten, mir in meinem inneren [204] Weggleiten einen Halt geben? Ich bin so weit verloren, daß ich den Blick nicht mehr abwende, weil ich nach einem Rettungsanker vor meiner eingebildeten Seelenpanik suche. Mir lauert so etwas wie ein Gespenst vor meinem Herzen, und das läßt sich mit
Vernunft nicht mehr wegzaubern. Habe ich es hingezaubert, ich selbst, damit ich eine Möglichkeit habe, mich einmal retten zu lassen, so verloren zu sein, daß ich mich aufgreifen lasse, ohne zu bedenken und zu berechnen? Glasklar flitzen diese Gedanken durch mein Gehirn, während ich nichts damit anfangen kann und sie mich nicht halten können. Ich könnte ja einfach sagen, daß mir das Treiben hier unangenehm ist, und vielleicht könnnte ich auch einfach gehen, es hält mich niemand, aber das wäre schon lange nicht mehr möglich, weil ich in meine eigene Panik gebannt bin, gelockt und erregt von einer Möglichkeit zu mir selbst. Sam, dieser Mann spricht wortlos für mich. Einsam. Sollte es so sein, daß er sich in mein Denken eingelotst hat, während er so ungezwungen und still dasitzt? Sollte er der Hexer sein, der mir diese wilde Regung meiner Angstlust erzeugt? Wer macht mir diese Angst, wenn ich sie nicht nähre? Und jetzt geht mir eine Antwort auf. Sam erhebt sich, nimmt die Hand vom Zottel und setzt sich neben mich, einfach neben mich. Meine Gedanken waren mein Werk, und sie haben gesprochen, in einen Leerraum hinein, in den aller Menschen Gedanken und Nichtgedanken zusammenfallen, und von dort hat er sich erhoben und kommt einfach hierher. Er macht, was ich mir nur denken konnte, und das ist mir die Eröffnung einer menschlichen Möglichkeit, die mich begeistert, so als könnte ich sie von ihm lernen. Aber ich weiß, das muß jetzt geschehen, das kann ich nicht verschieben. Der Mann braucht mich nicht zu seiner Einsamkeit, wenn ich etwas will, so muß ich alles wagen, und kann mich nicht auf Spiele einlassen, kann mich nicht in Phantasien baden, um irgendwann vor der Enthüllung meiner selbst zu kneifen. Hier muß ich auf den Grund gehen und darf auf keine Rettung sinnen. Unsere Annäherung beginnt dort, wo sie sonst zu enden pflegt. Er weiß, und denkt nicht, tut es, und wünscht es nicht, auch wenn sich das höchste als das reine Nichts erweist. Mit nur einer Bewegung reißt er mir das Schutzgewebe ein, erlöst mich von meiner Vision, daß ich mich gegen meinen Körper wehren [205] müßte, so lange bis mir bewußt wäre, was ich mit ihm tun soll. Ich versinke in Sams unaufdringlicher, zurückhaltender Umarmung, die mir jederzeit den Rückzug frei läßt. Er sieht mich an, und in diesem Schauen fließt eine Leichtigkeit durch die Herzen. Ein Gefühl der Zeitlosigkeit breitet sich ruhig über unsere erste Berührung, der wir gemeinsam zugegangen sein müssen. Dieses Vertrauen muß durch nichts mehr getrübt werden, nie mehr, nicht durch Haß und nicht durch Verlassen, nicht durch den Tod und nicht durch die Belanglosigkeiten eines Alltags und nicht durch meine eigene Hemmung. Anja sieht uns so sitzen. Sam hat den Arm um mich gelegt und hält mich sanft in der Hüfte. Seine Hand erhitzt mich auf der Haut, ich genieße das Verhalten und die beherrrschte Ruhe, mit der wir hier sitzen bleiben. Der Zottel hat sich herüberbegeben an die andere Seite von Sam, schüttelt sich und sucht am Boden herum. Er schnüffelt beim Schäfer, der sich allerdings nicht sehr um ihn kümmert. Anja drückt ihr Gesicht an den Kopf des Schäfers, dann sagt sie mir leise ins Ohr, nachdem ich sie in ihrem Treiben lieb angesehen habe: «Ich gehe ein wenig Flöte blasen.» Sie lächelt. Die Hunde trotten hinter ihr her. Zuerst der Schäfer und dann der Zottel. Die Runde löst sich langsam auf. Es ist nicht mehr ganz so heiß, aber schwül genug. Ich glaube auch, daß einmal Regen kommen sollte. Mir ist allerdings jetzt jedes Wetter ein Segen, wir sprechen nichts, es wäre überflüssige Liebesmüh, wir machen uns keine Mühe zu lieben. Eine kleine Gruppe steht an der Ecke der Scheune. Ich höre es meckern. Jemand muß die Ziege wieder nach dem Essen herausgelassen haben. Wir können nicht sehen, was sich
abspielt. Alle lachen über etwas. In einem plötzlichen, fröhlichen Impuls, unsere Lage zu verändern, laufen Sam und ich hin und sehen, wie Bernie eine Ziege ficken möchte. Er steht auf einem Schemel, krampft sich in ihr Fell, liegt halb auf ihrem Rücken und trifft nicht in das Loch hinein. Er hängt zu weit vorn. Setzt er aber weiter hinten an, so muß er zu sehr in die Knie gehen und findet mit den Armen keinen Halt. Er kann seinen Schwanz nicht unterbringen. Das Lachen der anderen macht ihn nervös. Mich wundert, daß die Ziege nicht einfach auf- und davongeht, mit dem Bernie auf dem Rücken. Sie hält zwar nicht still, aber sie rennt auch nicht weg. Sie könnte gar nicht, weil sie eingekreist ist von den [206] Zuschauern. Ich sehe gar nicht recht, wo die Ziege ihr Loch hat, Bernie weiß da anscheinend besser Bescheid. Ich bücke mich leicht und schaue nach, wie das hinter dem rosabräunlich gefleckten Euter aussieht. Bernie hat es geschafft, ins Loch zu treffen. Er fickt flink hin und her. Plötzlich schreit er: «Es kommt mir!» Alle applaudieren. Dabei hängt er so verkrampft im Fell der Geiß, daß sie aufspringt und sich schüttelt. Sie springt wild herum, und der Bub hängt auf ihr wie ein Rodeoreiter in den letzten Zügen. Die Runde öffnet sich, und die Ziege saust los, rund um den Brunnen. Ich habe nicht viel Hoffnung, daß Bernie dieses Tier zureiten wird. Ob ihm diese Mißerfolge gut bekommen werden? Er hat jetzt schon etwas Gehetztes im Wesen, womit er sich und andere gern quält. Er stürzt nun endgültig ab. Bernie bleibt auf dem Bauch liegen. Die Gesellschaft zerstreut sich wieder. Der Bub hebt den Kopf, er sieht, daß ich ihn beobachte, streckt mir die Zunge heraus und läuft dann zum Tor hinaus. «Seine Schwester ist da nicht so. Wie sich die über das Baby freut, und das schon die ganze Zeit», erzählt Sam. Er hält mich um die Schulter, und wir spazieren langsam über den Hof, so als sei das eine liebe alte Gewohnheit von uns. «Die Marga, das ist die Mutter von dem Neugeborenen.» «Wie alt kann die denn sein?» frage ich. «Ja, so genau verfolgen wir das nicht, aber ich denke, sie wird so zwölf sein.» Ich sehe ihm ins Gesicht, ohne Kommentar zu der Geschichte, denn eigentlich scheint sie kein Problem zu sein. Die Augen des Mannes blicken mich mit so viel Zärtlichkeit an, als sei mein Gesicht ihm so lieb wie mir seines. Das Gesicht und die Bewegung könnten die eines Jungen sein, aber mit Falten um die Augen, welche zugleich tiefernst und lachend strahlen, es sind die eines erwachsenen Menschen, der damit schon allerhand gesehen hat. Nicht daß ich ähnlich aussehen würde, aber ich fühle mich ihm ähnlich, auch in den Falten und in den Augen, jedoch nicht in dem dichten Bart und nicht in den starken Haaren, die sein Gesicht hell umrahmen. Die Männer hier tragen sonst nicht so langes Haar, auch ich habe das nicht. Seine Stirn ist glatt und frei, meine Stirn zeigt seit jeher eine kleine Falte in der Mitte. Er fährt mit seinem Zeigefinger langsam über diese Kerbe, drückt dann an meine Stirn und reibt in einem kleinen Kreis einen Konzentrationspunkt [207] in die Mitte. Wir sind stehengeblieben. Die andere Hand hält mich immer noch um die Schulter. Sein Gesicht ist mir nahe gekommen, sein Blick taucht in meinen. Seine Haare breiten sich an den Seiten wie ein Kranz aus, durch den das Licht dringt. Dann löst er den Druckpunkt plötzlich wieder. Ich fühle meine Stirn. Ich kann spüren, ob ich die Falte mache oder ob ich sie nicht mache. Ich wiederhole dieses Faltenspiel ein paarmal bewußt. Wir lachen und spazieren weiter. Marga kommt langsam um die Ecke der Scheune. Sie hat ihr Kind auf der Hüfte sitzen, hält es mit einer Hand und plappert vor sich hin, wie Kinder manchmal zu sich selbst reden, in einer Phantasie versunken. Sie raunt in das Baby hinein, gestikuliert mit der freien Hand, legt ihre Wange auf den noch recht kahlen Kopf des Kleinen und murmelt ganz versunken weiter. Das Kleine lallt und spuckt die ersten Laute aus, zappelt mit den Beinen und fuchtelt mit den Händchen. Marga bemerkt uns gar nicht. Sie ziehen langsam dahin, jeder beschäftigt mit einer Vorstellung von einem Leben, das sie einander naheb-
ringt, weil sie einander nahe sind. Der Hof ist fast leer. Die meisten haben sich zurückgezogen. Eine dunkle Wolke wälzt sich auf und bleibt über dem Haus hängen. Hinter dem Wohntrakt sehe ich Anja laufen, die Hunde hinter ihr her. Zuerst der Schäfer und dann der Zottel. Ich glaube, sie hält die Flöte in einer Hand. Anja wirft sich auf den Boden, und die Hunde über sie drüber. Sie geben sie aber gleich wieder frei, weil sie auf eine neue Jagd warten. Da stehen sie dann lauernd und trippelnd, bis sie wieder wegläuft und das Spiel von neuem beginnt. Sam ist in diesen Anblick vertieft. Ich glaube zu bemerken, daß ihn diese Szene befriedigt oder zumindest erheitert. Wir schauen in den Brunnen. Unten glänzt die Wasseroberfläche. Unsere Gesichter sind nur verschwommen zu sehen. Unsere Köpfe halten sich nahe aneinander und ein Gesicht fließt in das andere über. Uns läuft jede unserer Berührungen wie ein Schauer über die Haut. Sind wir bis jetzt ziellos umhergewandert, so merke ich einen sanften Druck an meiner Schulter, der zur Scheune lenkt. Wir lachen einander ins Gesicht, aber lautlos, so als hätten wir ein Geheimnis. In der Scheune ist es heimelig, und es duftet nach Abenteuer. Niemand ist zu sehen. Die Tür des Alten ist geschlossen, und kein Laut dringt heraus. Sam führt mich ganz nach hinten, an die Leiter, wo [208] es zum Heuboden geht, und wir klettern hinauf. Er beißt mich wie im Spiel in die Hinterbacke. Zwei Kätzchen rascheln davon. Wir schmeißen uns in ihre Kuschelgrube. Unsere Körper sind entbrannt. Nicht immer wird man von der Berührung einer anderen Haut und eines anderen Bluts so hineingerissen in ein inneres Feuer. Es zieht von der Zehenspitze bis in die letzte Haarwurzel, eine einzige Flammenbewegung, die sich selbst und den anderen verzehren möchte. Die Augen glühen die ganze Lust aus, hinein in die des anderen, in einem wilden Spiel der Sinne. Jede kleine Berührung, jedes geringe Streicheln erregt eine Welle, die im ganzen Körper ihre Fortsetzung findet. Die Bewegung zueinander wird zu einer Kraft. Als sein Mund zart mein Gesicht berührt, benetzt, in derselben Sehnsucht wie ich, leuchtet meine eigene Lust an meiner Körperinnenseite auf, der andere Leib drängt auf mich, ein Gefühl, als seien unsere empfindlichen weichen Teile flüssig geworden und wollten ineinander übergehen. Seine weiche Zunge sucht meine in einem Kuß, der alles verschlingt, was wieder in die Zeit zurückkehren will, was zaudern will vor dem Sturz in die Unendlichkeit der Lust. Sam streicht langsam über meine Brust und über meinen Bauch. Ich fühle mein Verlangen. Mir drängt es das Blut in den Unterleib, der sich in pulsender Energie spannt und dehnt, als wollte er Sam dort aufsaugen. Er tastet mit seinen Lippen über den Bauch, netzt meine elektrisierten Lenden, kniet sich schließlich zwischen meine weit gespreizten Beine, die auch in den Oberschenkeln gespannt sind zu einem energischen Muskelspiel, und auf einmal schleckt er mit seiner weichen Zunge durch die Scheide. Mich zuckt es auf, ich krampfe meine Hände in seine Schultern und in seine Haare. Ich bewege meine Scheide an seinem weichen, schleimigen Widerstand, der klug bis in die geheimsten Spalten meiner Seele dringt. Langsam und stetig über meine Klitoris hinweg, nach hinten in den dumpferen Teil meiner Spalte, in den Ansatz des Lochs hinein. Bevor mir die Seele aus dem Leib kommt, ziehe ich mit letzter Gier seinen Körper, der auch mein eigener geworden ist, über mich, ich presse uns zusammen, es fügt sich ineinander, sacht, indem er das harte Glied in meine feuchte Scheide gleiten läßt und wir in gesammelter Energie aufbrennen, und eine stetige Bewegung beginnt, regelmäßig und tief hinein in die Zeitalter der Räume, einem Brennpunkt zu, der mit Macht diese Stöße rascher werden läßt, einander zurasend, sein Stamm in mein Loch hinein, in [209] dem die Lust nun vollends aufglüht, platzend, verströmend, sich in einen tierischen Schrei der Erkenntnis verwandelnd, der in seinem Nachhall wieder das Menschsein erfaßt. Wir liegen da, noch im Dämmer versunken an diese gemeinsame Reise. Unsere weichen Innenseiten dampfen aneinander. Alles ist naß von Schweiß und Ficke, die unter meine Hinterbacken rinnt, dick und klebrig, nahrhaft und weiß. Wir lösen uns voneinander und lachen und freuen uns über unsere Lust.
«Wenn ich drinnen bin, frage ich mich immer, warum ich nicht Tag und Nacht ficke», sagt Sam, indem er sich schnaufend auf den Rücken dreht. Die helle Brühe steht noch in Spuren an seinem Glied und glänzt an den Hoden. Ich streiche mit dem Finger drüber und lecke an der rotglänzenden Spitze des Schwanzes, der mir solche Lust bereitet hat. Der König der kosmischen Späße, das ist der Fick, im freien Flug durch die körperliche Seelenstraße. Eine Wasserstraße, eine Himmelsstraße, ein Höllensteig, ein Überhang, ein Bach, ein Strom, ein Meer. Die kleinen Kätzchen rascheln wieder im Heu. Sie sind gar nicht verschwunden. Sam hat den einen Arm unter meinem Kopf liegen, und wir gucken an die Decke. Alte Sparren, bedrohlich morsch. Mit einemmal prasselt es naß herunter. An meiner Schulter wird es feucht, es regnet herein, und wir müssen unser Bett an einen sichereren, trockeneren Platz im Heu verlegen. Wir robben zu einer Luke hin, von wo wir auf dem Bauch liegend hinaussehen können, in den Hof hinein. Das Heu stichelt hier an dieser Stelle mehr durch die Decke. Vielleicht ist aber auch die Bauchseite empfindlicher. Meine Haut zeigt Rötungsstellen, an denen die Halme gekratzt haben. Es juckt ein wenig. Wir liegen da, eng beieinander und schauen aus einer kleinen dreieckigen Öffnung, so als hätten wir die Welt noch nie gesehen. Der Bildausschnitt packt uns wie ein spannendes Stück. Es geht noch gar nichts vor. Möglicherweise wird sich die Szene nicht ändern, aber uns genügt es, in den prasselnden Regen hinauszustaunen, der so stark ist, daß die Tropfen, wenn sie auf den Boden auftreffen, wieder geteilt in die Höhe hüpfen. Ein Strich neben dem anderen, es fällt und fällt. «Das ist nur ein Wolkenbruch, der dauert nicht lange. Er ist gut für die Erde, die kann das schon wieder einmal gebrauchen. Nur hageln soll es nicht», sagt Sam. «Mußt du nicht hinunter zu den anderen und irgend etwas tun? Vermissen die dich nicht?» [210] «Ich vermisse ja die anderen auch nicht, oder glaubst du das?» neckt mich Sam, indem er mit seiner Nase an meine herankommt und sie anstößt. «Nein, ist mir ja recht», reagiere ich froh. «Wann mußt du denn morgen aufs Feld?» «Ich muß überhaupt nicht aufs Feld, ich muß nur mit dir. Er dreht sich auf den Rücken und hebt mich mit einem kleinen Schwung auf seine Bauchseite und knabbert verspielt in meinem Gesicht und an meinem Hals herum, bis ich vor Lachen und Mich-Wehren seinen Kopf halte und ihm den Mund mit meinem banne. Wir werden von einem schallenden, hohen Gelächter aufgeschreckt, das aus dem Hof heraufdringt. Ich sehe nach. Der Regen muß, kaum aufgerauscht, seinen Guß entleert haben, es tropft jetzt nur mehr vereinzelt. Wir sehen, wie das schwangere Kind auf der Schulter Rostos sitzt und wie er im Galopp mit ihr eine Runde um den Brunnen dreht. Die Szene da unten ist für mich nicht so selbstverständlich wie für Sam. Das Mädchen wetzt sich die Scheide an Rostos Nacken und schreit, vor Lust ganz außer sich. Sie reitet wie auf einem Pferd. Ihr schwangerer Bauch steht auf Rostos Hinterkopf. Er muß sehr stark sein, weil er sie so lange da oben aushält. Sie wippt wilder und reißt ihn an den Haaren. Zum Glück hat er keinen Bart, in den sie sich krallen könnte. Sie reißt ihren Kopf zurück und öffnet den Mund weit. Von hier oben sehen wir ihr direkt ins ekstatisch verzerrte Gesicht. Sie reitet noch einmal mit weit gespreizten Beinen wild zu, so daß die Gefahr des Absturzes oder eines Straucheins ihres Reittiers fast unvermeidlich scheint. Sie verhält dann den Ton im aufgerissenen Maul, so als müßte er sich sammeln, bevor sie ihn ausspeien könnte, und dann brüllt sie, ohne Zügel und Hemmung, dann leiser werdend, langsamer in ihrem Reiben, sich mehr nach vorn legend, in sich zusammensinkend, die Hände aus Rostos Haaren lösend und ihren Kopf auf seinen legend. Er ist am Ende seiner Kräfte und sackt mit ihr ins nasse Gras. Es hat zu regnen aufgehört, und die Ziegen springen wieder herum, froh über die erfrischte Luft. Ihre kleinen Hufe trappen über die Steine in einem unbestimmbaren
Rhythmus. Eine Ziege leckt an den beiden nackten Menschen herum, die noch immer im Gras liegen und reden, so als sei ihnen etwas wichtig. Langsam bewegen sich auch die anderen heraus in die frische Luft. [211] Plötzlich kommt Ruth wütend mit den Holztellern aus dem Haus, schmeißt sie schräg über den Boden, daß sie in einer seltsam gelungenen lockeren Reihe fast bis zu den beiden Figuren im Gras schlittern. Dann meint sie entrüstet: «Ich werd überhaupt nicht mehr kochen. Immer dasselbe. Alles bleibt stehen. Ich mach das nicht!» Das schreit sie in einer Lautstärke, die mich richtig erschreckt. Ihre Stimme ist angenehm, aber wenn sie schreit, wird sie ungeheuerlich und fremd. Rosto, vor dem der letzte Teller gelandet ist, läßt sich hintenüber ins Gras plumpsen und liegt da wie ein Getroffener. Das Mädchen neben ihm lacht und schickt sich an, die Teller einzusammeln. Terry und der Dicke helfen dabei. Sie stellen das Geschirr beim Brunnen ab. «Der Alte liegt auch noch immer da. Der hat sich in diesem Regen sicher den Tod geholt. Ihr wißt doch, daß der nicht viel Wein verträgt!» tobt Ruth weiter und stampft zwischen dem Brunnen und der Tür hin und her, daß ihr Speck wackelt. «Die hat wieder einmal den Rappel. Es war ohnehin fällig», stellt Sam ungerührt fest, als kennte er das schon. «Muß sie denn alles allein machen?» «Aber nein, sie wäscht nie das schmutzige Geschirr ab. Sie kocht nur am besten und vor allem auch am liebsten. Sie macht das richtig gern und betont das auch immer wieder. Manchmal tut es auch ein anderer. Sie muß sich auch dann und wann aufregen dürfen, das dauert nie lange bei ihr.» «Ist die Arbeit nicht irgendwie eingeteilt. Habt ihr da keinen Plan?» «Nein. Einen Plan einzuhalten wäre viel belastender, als manchmal die Wut von irgendeinem über sich ergehen zu lassen. Wir haben ja nicht den Ehrgeiz, in einer reibungslos funktionierenden Gemeinschaft zu leben. Wäre ja völlig unnatürlich und auch ungesund», meint er wie nebensächlich und zeigt dann mit aufleuchtenden Augen hinunter, wo Krishan sich an die dampfende Ruth schmiegt, sie umarmt und in sie hineinflüstert ganz nah an ihrem Ohr. «Der Junge versteht das schon recht gut. Die macht das Theater, nur damit sie beachtet wird.» Die anderen sind inzwischen rege geworden. An den Brunnen wird ein Rohr aus Holz befestigt, und der Dicke pumpt aus Leibeskräften. Ein starker Strahl spült über die Teller, die Terry und das schwangere Mädchen mit der Hand abschrubben. Rosto ist wieder von den Toten [212] auferstanden, er hockt da und sammelt mit großartiger Geste die Teller und stapelt sie vor sich aufeinander. Vorher schwenkt er sie durch die Luft und bläst drauf, so als würde sie das trocknen. Ingo bringt die paar Sachen vom Eßplatz herzu. Einige Reste mampft er noch schnell in seinen Mund. Die Hühnerfrau und Stanza schleppen den Alten ins Wohnhaus. Rosto unterbricht seine Arbeit und schaut gespannt auf Krishan und Ruth, die an der Hausmauer stehen. Ruth, an die Wand gelehnt, und Krishan, ihrem Körper sehr nahe gerückt, die Arme an die Wand gestemmt. Die Oberschenkel berühren einander. Ruth faßt mit ihren Händen leicht um die Hüfte des Burschen und zieht ihn sacht näher an ihren Körper heran. Sie entwickelt in ihrer Bewegung, die vorher so massig und plump gewirkt hat, eine elegante, überaus samtige Weichheit, von der die Wirkung ausgeht, sich diesem weichen Leben zu ergeben. War Ruth vorher die Getröstete, so wird sie jetzt zu einer Zwingenden. Sie ist sich ihrer Sache sicher und in ihrer Erregung ruhig gestimmt. Sie verströmt und saugt an, zugleich, in einem tiefen Atem. Sie streicht dem Jungen sanft über den Rücken und schmiegt ihre großen Brüste an seinen Oberkörper. Dabei muß er ihn ihr hineingedrückt haben. Er legt seinen Kopf an ihre Schulter und lockert die stützenden
Arme, weil er dort seinen Halt nicht mehr sucht. Er packt sie an der fleischigen Hüfte. Ruth ist stark genug, ihn auf sich ruhen zu lassen. Er ruht natürlich nicht, sondern beginnt eine rasche Fickbewegung im Stehen. Rosto erhebt sich und bewegt sich langsam zu den beiden hin. «Ruth steht irrsinnig auf den Krishan, alle Weiber sind ganz wild auf ihn. Der ist umwerfend, kaum hat er abgespritzt, kann er schon wieder. In dem Alter ist man wie eine Maschine, ich kenne das», meint Sam und lacht über den heranrückenden Rosto. «Er hat den Jungen selber gern in den Fingern. Der erinnert ihn an seine eigene Jugend. Rosto ist nicht mehr der Jüngste. Er hängt sich an die Agilität des Burschen und will sie nie gern teilen. Der Junge macht ohnehin, was er will», sagt Sam. Er dreht sich mir halb zu, aber ich kann es nicht lassen, dort hinunterzuschauen. Anja kommt jetzt auch mit den Hunden um die Hausecke, und die Kleinen trippeln hinter ihr her. Die Flöte hat sie nicht bei sich. Sie stehen da und verfolgen die Szene genau wie ich. Nur die Kleinen, die hocken beim Tisch und bauen kleine Hügel aus [213] Schlamm. Dann setzen sie sich in den Schlick hinein und beschmieren sich gegenseitig damit, worauf sie sich johlend ins Wasser stürzen. Danach fangen sie dasselbe wieder von vorn an. Sie sind arg dreckig. Nur das Dummerchen steht da mit rollender Zunge und fuchtelnden Armen, weil es nicht zur Ruhe kommen kann. Rosto stellt sich jetzt an die Rückseite von Krishan, genauso wie Ruth das vorn tut. Sie mag das aber nicht dulden und zischt aufgebracht. Krishan ist wahrscheinlich schon gekommen und gibt die Stellung auf, greift sich mit derselben Geste an die Stirn, wie er es getan hat, als das kleine Mädchen die Runde unter den Männern antreten wollte. Ruth schlägt Rosto die flache Hand auf die Brust, daß es nur so klatscht. Ein roter Fleck zeigt sich, und er weist empört darauf hin, wie sehr er verwundet worden ist. Er rückt ihr näher, dramatisch auf seine Brust weisend, so als sei da ein riesiges Loch entstanden. Er bedrängt sie von allen Seiten. Sie will weggehen, aber er kreist sie ein, in einer übertrieben anmutenden Geste verharrend, bis Ruth lachen muß über den alten Komiker, der in seiner überzogenen Art fast lieb ist. Auch ich merke, daß mich dieses Theater zum Lachen bringt. Sam liegt immer noch auf der Seite, den Blick in meinem Gesicht, als wolle er es ganz genau sehen. Unten entsteht ein Raunen und eine Bewegung. Wir sehen wieder nach, und da liegen sie alle auf dem Boden. Das heißt, ich sehe das Fleisch von Ruth, den Körper von Rosto und von Krishan den Kopf, von Terry den Bauch, und der Dicke bearbeitet die Brüste von Ruth. Ein Massenfick. Man lacht und ächzt und jault und stöhnt. Mich wundert, daß die Hunde nicht auch drübergehen. Es handelt sich um einen bunten Haufen, den ich nicht in seinen Einzelheiten auseinanderhalten kann. Anja steht noch immer da, der Zottel schmiegt sich an ihr Bein. Die Kleinen spielen nach wie vor ungerührt im Sand, und das Dummerchen rollt mit der Zunge und zappelt neben der beweglichen Masse. «Ich möchte wissen, ob es Anja mit dem Zottel auch schon einmal versucht hat, mit dem wird das etwas schwieriger sein als mit dem Schäfer», sagt Sam wie im Scherz. Ich schaue ihm ins Gesicht und wundere mich wortlos über seine Phantasien. Wenn er das nicht sagen würde, hätte ich das nicht gern hören wollen. Anja hat dieselben Haare wie er. Nur etwas feiner, aber genauso lang und hell. «Gehört der Zottel dir?» frage ich. [214] «Nein, er gehört mir nicht, aber er hält sich am liebsten an mich», gibt er sachlich Auskunft. Krishan steckt seinen Schwanz Rosto hinten hinein, der wiederum drückt seinen in Ruth, die die Arme um beide gepreßt hält. Ihre Reichweite würde noch mehr fassen könnnen. Der Dicke fummelt an Terries Busen, die schon davon geil aufschreit, während er selbst nun sich an irgendeinem Fuß das Glied reibt. Terry krampft ihre Arme in die
Hinterbacken von Krishan, dem das Spaß zu machen scheint, weil er wie irre in den Rosto hineinhaut. Stanza rennt aus dem Wohnhaus heraus, hinter ihr der Ingo und dahinter noch der ältere Mann, der sich so um das schwangere Mädchen gekümmert hat. Die drei wälzen sich jetzt ebenfalls im Gras. Stanza kniet breit, wie eine Herrscherin mit ihrem eisblauen Blick über den beiden, und Ingo drückt ihr sein Glied zwischen die klaffenden Schenkel in ihre Scheide, während sie sich jetzt nach vorn beugt und mit ihrem Mund den Steifen des anderen Mannes aufnimmt. Die Männer lachen, und auch Stanza lacht jetzt prustend, den Mund voll Ficke, alle lachen über diesen lauten Unsinn. Auch Sam lacht, nur ich bin etwas erstaunt, wie das Ganze zugleich einfach und kompliziert aussieht. Sam wendet sich mir überraschend zu und hebt mich wieder mit dieser geschickten Bewegung auf sich drauf, er blickt mir in die Augen, daß ich es nicht fasse, wie er lacht und im gleichen Augenblick so innig und lieb dreinschauen kann. Ich halte mich etwas zurück und frage unsicher: «Möchtest du nicht lieber da unten mit denen mittun?» Er wird ernst: «Möchtest du lieber da unten mittun?» «Nein, eigentlich nicht», sage ich langsam. «Dann möchte ich auch nicht da unten mittun», stellt er bestimmt, aber mich in meiner Unsicherheit neckend, fest. Sollten in meine Augen schon Fragen treten? Sollte in meinem Hirn schon ein Gedanke wuchern, der sich wie ein Geschwür ausbreitet, zu einem Denken, zu einem Suchen nach Vernunft? Wie soll ich mein Zagen vertreiben? Warum soll ich es vertreiben. Vielleicht ist das mein Name, vielleicht ist das meine Erinnerung. Aber noch vermisse ich sie nicht wieder. Die Sicherheit Sams seinen Wünschen gegenüber ist für mich soviel wie jede Erinnerung an mich selbst. Ich vermisse nichts, wenn ich ihn nicht vermissen muß. Mir fehlt keine Erinnerung, weil [215] die Vergangenheit und die Zukunft zum Augenblick verschmolzen sind. «Als ich aus der Stadt draußen war, haben mich die Motorradmenschen überfallen. Einer hat mich vergewaltigt», berichte ich, auf Sams Bauchseite liegend. «Diese Deppen, die sind wirklich bös. Bei uns tauchen sie auch dann und wann auf und machen die Gegend unsicher. Was hast du getan?» «Nichts, was hätte ich tun sollen. Ich hab mich nicht sehr gewehrt, und die Sache ist rasch abgelaufen. Spaß hat es mir keinen gemacht.» «Das habe ich mir von dir gedacht, daß du dich so verhalten würdest. Ich habe das an dir gesehen», sagt er, ernst an meinem Bericht Anteil nehmend. «Schlafen wir hier oben, ja?» «Da könnte ich dich aber vergewaltigen und das macht dir doch so gar keinen Spaß», sagt er lustig, und dann fragt er noch einmal interessiert: «Bist du dann gut weggekommmen?» «Ich weiß gar nicht genau, wie es denen ergangen ist. Jedenfalls bin ich in einem Graben gelegen, und das ganze Benzinlager ist in die Luft geflogen.» «Du bist mir eine rechte Abenteurerin, ich habe dafür einen Blick», reagiert er halb ernst, halb im Spaß auf meine Ausführungen, und dabei wendet er seine Augen nicht von mir ab. Die sind so abgrundtief ernst, aber zugleich so offenherzig, was sie in diesem Widerspruch so faszinierend macht. «Bleiben wir immer hier oben, ich möchte gar nicht mehr hinunter», schlage ich im Scherz wie im Ernst vor. Da lacht er laut: «Ich möchte das nicht. Wenn ich Hunger kriege, muß ich was essen. Soll ich Mäuse fressen oder vielleicht dich?» Er beißt schon wieder
wild an mir herum. Ich möchte mich gern ergeben, aber mich drückt erst eine Frage: «Sag, wieso sind alle denn hier so geil. Das ist doch nicht überall so», bringe ich mein Anliegen schnell hervor. Er überlegt ein wenig und sieht in mich hinein, es dauert eine ganze Weile. Seine Augen nehmen mich auf, in einer tiefen Sehnsucht nach dem Leben, die weit über jedes körperliche Verlangen hinausgeht, machen sich mir verständlich, indem sie in mir eine Saite berühren, die alle Menschen haben und die uns verbindet. Ich lege meinen Mund auf sein Gesicht und seine sich schließenden Augenabgründe. Eine tiefe Zärtlichkeit steigt mir aus meinem Inneren, Hingabe, wie ich sie noch nie so sehr an mir [216] gespürt haben kann. Ich bin beseelt von dem Bewußtsein, daß ich etwas geben kann, weil sich jemand vor mir gezeigt hat in seiner Einsamkeit, die jene der Menschheit ist. Unsere Körper wärmen einander in ihrem Verstehen und die Gedanken lösen sich auf in einer neuerlichen Lust an der Vereinigung. Es wird schon dunkel, draußen ist es still geworden. Ich kann nicht mehr recht sehen, wer hier noch herumgeht. «Sticht es dich nicht zuviel?» fragt Sam fürsorglich und beseitigt die gröbsten Halme aus meinem Körperfeld. «Nein, nein, gar nicht, es gefällt mir hier.» Wir fühlen uns beide schon etwas müde. So anregend das Heu gerochen hat, so einschläfernd wirkt sein Geruch jetzt. Wie eine Wolke liegt der Duft über uns. Ein Frieden voll erregender Schlafbilder an der Schwelle zum Erwachen, und dieses Wachsein ist traumhaft erregend im Bewußtsein einer neuen Liebe. Unter uns in der Scheune rührt sich noch etwas. Ich schrecke auf, weil ich befürchte, jemand könnte unseren Platz hier entdecken, und ich möchte ihn um alles in der Welt geheimhalten. «Rosto läßt die Ziegen und das Fohlen herein. Er gibt sie in der Nacht immer in die Scheune, wenn das Wetter unsicher ist», flüstert mir Sam zu. Die Tiere scharren noch eine Weile herum und legen sich dann auch zur Ruhe. Unten schlurft Rosto über den Hof zum Wohnhaus hinüber. Er geht langsam, und sein Schritt ist schwer. Trotz der bloßen Füße kann ich das heraushören. An diesem Schritt würde man nicht die Lebendigkeit an ihm vermuten, die er am Tag gezeigt hat. In der Nacht wachen wir einmal kurz auf, noch enger einanderrückend. Ich juble in meinem Inneren auf über diesen schlafschweren Körper neben mir, der mich an sich drückt in einer kurzen Erregung über unser Einverständnis und zum Zeichen unserer Geborgenheit. Auch im Schlaf hat er mich nicht vergessen. Ich bin gegenwärtig auf allen Ebenen seines Bewußtseins, und das läßt mich einige Augenblicke mit geöffneten Augen in die Schwärze schauen, als könnte ich da alles sehen, was ich zu meinem Frieden brauche, und ich versinke mit diesem Gefühl wieder in Schlaf. Am Morgen weckt uns das Licht. Unten tut sich schon allerhand. Ruth stellt einen Topf mit weißer, dicker Milch heraus. Ingo und [217] Marga stehen da und trinken aus Bechern langsam die warme Speise in sich hinein. Marga gibt auch dem Baby aus einem ähnlichen Gefäß wie es Suse für ihr Kind verwendet hat. Ein Kleines kriecht ihr an den Beinen hoch und will auch aus dem Sauger trinken, wenngleich es bereits einen eigenen Becher hat, den es selbst halten kann. Stanza kommt heraus und streckt ihren schlanken Körper durch, fährt sich mit den Fingern durch die Haare, die sofort so schön daliegen, als hätte sie einen Kamm verwendet. Sie ist so elastisch, daß ich gar kein Menschengerüst in ihr vermuten mag. Die Vollkommenheit ihrer Gestalt wirkt fast unnatürlich. In den Beinen und in den Hüften wippend, bewegt sie sich zum Teich und springt dort hinein. Sie spritzt sich kühles Wasser auf die Haut und steigt wie die Venus selbst heraus. Diese Erfrischungsszene scheint Sam anzuregen, unseren am Morgen schon dampfenden Platz mit der kühleren Luft draußen einzutauschen. Er rekelt sich die letzten Schlaffetzen aus den Gliedern, lacht mich an und läßt sich einfach vom Heuboden in den Stall hin-
unterfallen. Auch an der Absturzstelle liegt Heu aufgeschichtet, so als müßte dieses erst noch nach oben befördert werden. Er steht unten und hält die Arme hoch, um mich aufzufangen. Ich fühle mich nicht recht lustig. Ich möchte noch nicht wach erscheinen, ich möchte noch verschlafen spielen, nicht weil ich es etwa bin, sondern weil ich gar nicht da hinaus will. Es ist mir, als würden sie nicht zu mir gehören. Ich will nicht, daß sie zu mir gehören sollen. Wäre ich hier allein, so würde ich nicht zu ihnen gehören müssen. Jetzt aber habe ich meine Einsamkeit eingetauscht gegen eine Zweisamkeit und muß die Vielheit ertragen, noch dazu mich zwingen, sie gutzuheißen, um meine Zweisamkeit zu erhalten. Mit dieser Lüge im Herzen falle ich Sam in die Arme. Er trägt mich bis zur Scheunentür, dann setzt er mich wieder ab, und wir gehen zum Wohnhaus hinüber. Der Kleine watschelt mir entgegen und hält sich an meinem Bein fest, so wie bei meiner Ankunft. Ich nehme seine kleine Hand und brauche sie jetzt sehr. Er muß das spüren, weil er sie warm in meine drückt und nicht mehr losläßt. Er möchte mich herumführen, wahrscheinlich zum Maulbeerbaum, um wieder Früchte zu zerquetschen, aber ich kann nicht, Kleiner, ich kann mich jetzt nicht mit solchen Kindereien abgeben. Ich habe einfach keinen Kopf dazu, denke ich, in [218] mir selbst gefangen. Ich ziehe ihn ein wenig in meine Richtung, doch das will er nicht. Er löst nun seine Hand und geht seiner eigenen Wege. Er kann ja auch allein Früchte zerquetschen. Ich will unbedingt sehen, was Sam da drinnen im Haus tut. Ruth steht am Herd und rückt etwas herum. Stanza holt einen leeren Korb vom Tisch, streift im Eingang kurz an Sam vorbei und schlingt ihre Hand im Vorübergehen um seine Mitte, wie zufällig, und verschwindet dann wieder nach draußen, als sei sie beschäftigt. Er nimmt sich einen Becher von der Wand, gibt mir auch einen, und wir schöpfen uns heiße Brühe aus dem Topf. Ich erinnere mich an Anjas Worte über die Güte dieser Mischung, zugleich denke ich an Bärle und die Milchsuppe. Ich sauge das Heiße in mich hinein, als könnte es mir diesen Druck in der Kehle wegschwemmen, der da sitzt. Ruth kommt herzu, sieht mich aufmerksam an, lächelt und drückt mich wortlos an ihre weiche, kühle Schulter. Da spüre ich diesen Pfropfen ein wenig hochsteigen, als würde diese Beschaffenheit des Berührungsfeldes oder diese Haltung den Knödel besonders zum Steigen erregen, aber sie drückt mich nur kurz, und ich schlucke meine Aufregung wieder hinunter. Ist es die Erregung des Glücks? Was ist das für ein Würgen im Glück? Würge ich an meinem plötzlichen Glück? Sam ist fröhlich. Besonders fröhlich, als sei er glücklich. Ich vermute sehr, daß er diesen Pfropfen im Hals nicht hat. Er legt seinen Arm wieder um mich und trinkt genüßlich und langsam. Der Zottel rennt zu ihm. Er hetzt mit ihm durch den Hof. Anja kommt gelaufen: «Ich hab heute schon gespielt, es geht immer besser!» berichtet sie begeistert, sie nimmt meine Hände und wippt mit unseren Armen. Sam boxt sich kameradschaftlich mit Krishan, der hinter dem Fohlen her war. Heute kommt mir der Junge kindlicher vor als gestern. Das beruhigt mich wieder etwas, wenngleich ich nicht sagen könnte, was mich eigentlich so drückt. Es liegt eine Anspannung auf mir, die ich in dieser Form schon seit langem nicht mehr gespürt habe, genauso wie ich so viel Liebe seit langem nicht mehr gefühlt habe. Ich bin mir dessen voll bewußt. «Sam!» ruft es von drinnen. Er hört es gar nicht gleich, weil die Stimme etwas schwach klingt, ich allerdings, ich bin heute hellhörig für alle Stimmen, die nach Sam rufen, und mache ihn darauf aufmerksam. «Kannst du nicht einmal herkommen, ich bin nicht imstande aufzustehen», [219] kommt die schwache Stimme Rostos von der unteren Etage her, wo er ermattet auf einem Strohsack liegt. Wir gehen beide hinein und setzen uns auf die Holzkante, auch Ruth kommt und bleibt am Fußende stehen. «Er hat wieder diese Herzschmerzen. Sein linker Arm tut ihm weh. Er soll unbedingt liegen bleiben», stellt sie sachlich fest. «Jetzt ist es schon wieder einige Zeit her, daß er das
gehabt hat. Wir haben fast vergessen, daß Rosto schon einmal recht schlecht beisammen war. Er erholt sich immer so schnell wieder», berichtet sie ohne den geringsten Beilaut eines Jammers. Rosto liegt müde da. Sein knochenstarker Körper kommt mir heute durchsichtiger in derselben Massigkeit vor. Aus dem Gesicht sprießen schwarze Stoppeln und legen sich über dessen theatralische Glattheit, wodurch jedes zwielichtige Verhalten für heute ausgeschlossen ist. Er hält den linken Arm an den Körper gepreßt und streckt den rechten Sam entgegen, so als wolle er ihn zum Zuhören anhalten, da er seiner Stimme nicht ganz zu vertrauen scheint. Diese klingt allerdings klar, nur etwas matter und leiser ohne alle Überraschungen in der Betonung. «Geh du vielleicht heute hinaus an das linke Ufer. Ich hab dort gestern ein Ungeziefer gesehen, das mir neu ist. Es sind nur wenige. Die Erbsen sind aber fast alle wurmig und angefressen. Schau dir das vielleicht an, die Marga und die Stanza kennen sich da nicht so aus. Sie werden dir sicher helfen, die übrigen Stauden auszunehmen. Wenn alles so befalllen ist, brennen wir das Feld dort ab. Wir brauchen es ja nicht und sparen uns die Mühe, dort wieder zu pflanzen.» Es muß ihn recht angestrengt haben, das so geordnet herauszubringen, es wichtig genug erscheinen zu lassen. Seine Hand sinkt schlapp auf den Strohsack, und er schließt die Augen. Sam berührt ihn leicht, so als würde er sein Anliegen aufnehmen. «Wird gemacht», sagt er und wendet sich dann wieder hinaus in den Hof. Ich weiß es wie in einem letzten Trotz, daß ich da nicht mit will. Ich habe gehofft, Sam würde heute nicht aufs Feld hinausgehen. Diese Felder sind nicht mein Problem. Ich bin einzig und allein mein eigenes Anliegen. Ich habe mit der Sache nichts zu tun, durchdringt es mich wie mit Nadeln, aber ich mache ein freundliches Gesicht. «Ich bleib heute da», stellt Anja fest und trollt sich. Sie geht zum Teich und legt sich daneben nieder. [220] «Ich sehe die Wasserrinnen nach beim Feld, die sind bei dem Regen sicher eingebrochen», kündigt Ingo an. «Ich geh mit», bestimmt Marga und hebt ihr Baby in die Hüfte. «Laß doch das Kleine da, draußen ist es wieder so heiß», rät Krishan und nimmt ihr den Wurm ab. «Du läßt es wieder schreien», sagt Marga mit einer Falte auf der Stirn. «Ach was, wenn ich draußen bin, hört es schon die Ruth oder sonst wer.» «Du könntest doch überhaupt mitkommen und die letzten Kartoffeln ausnehmen, es sind nicht mehr viele Stauden», meint Terry, aber Krishan geht und macht damit seinen Entschluß fest. Niemand hat mehr etwas darüber zu sagen. Seltsam, wie die das machen. Wer schafft hier an? Wer ist hier eigentlich eine Autorität? Ist das Sam oder ist das Ruth? Ist das Rosto? Aber der liegt drinnen und geht niemandem ab, beim Einteilen oder Entscheiden. «Wer zeigt mir diese Käfer, die das Feld am anderen Ufer befallen haben sollen? Rosto kann heute nicht raus», meint Sam, und Stanza steht schon da, noch immer mit dem leeren Korb. Natürlich, sie ist ja schon lange dafür hergerichtet, und für sie besteht keine Frage, was sie tun will. «Ich schau mir das auch an», sagt Terry interessiert. Du liebe Zeit, dieses geile Weibsstück muß auch dabei sein, geht mir durch den Kopf, und ich wundere mich nicht einmal über meine Eifersucht, sondern ich koste sie in ihrer ganzen hämmernden Blödheit aus. «Rolf ist mit Rosa und Irmi zum Fischen gegangen, an den Fluß, Bernie ist mit», berich-
tet Ruth, während sie aus der Tür kommt. Diese Leute kenne ich noch gar nicht, denke ich. Krishan gibt Ruth das Baby und legt sich neben Anja an den Teich. Ich warte schon die ganze Zeit auf ein kleines Zeichen von Sam, das mich aus dem Krampf meiner quälenden Gedanken befreien könnte, um doch ungeachtet meines Trotzes fröhlich mit ihm aufs Feld zu ziehen. Wo ist nur mein Bewußtsein von gestern, das mich über mich selbst hinausgehoben hat, hinweggetragen über diese vertrackten Verknüpfungspunkte meines verbohrten Hirns, das mir das Fühlen so einengt. Aber ich mache ja noch ein freundliches Gesicht, so schlimm kann das Ganze nicht sein, beruhige ich mich selbst. [221] «Kommst du mit?» fragt Sam endlich, schon in der Wendung zum Tor. «Nein, ich bleibe da, ich werde mich schon beschäftigen. Ich möchte mich einmal hier ein wenig umsehen», lüge ich mit einem aufgesetzten Lächeln. Zugleich fällt mir ein, daß er vielleicht darauf gewartet hat, daß ich mich frei zum Mitgehen entscheiden würde, viellleicht hätte es ihn gefreut. Er hält nur kurz inne, abwartend und meine gespielte Ruhe erkennend. Ich sehe in diesem kurzen Moment des Stillstands, daß alle Möglichkeiten zu mir selbst darin gelegen hatten, ich sehe, daß Sam alles weiß, was mich in diesem Augenblick bedrückt, und ich bedaure meine Worte schon, während sie noch herauskommen. Ich bewundere seine entschiedene Haltung, mich nicht zu animieren, sondern mich auf meiner Tapferkeit, von der er gestern gesprochen hat, sitzenzulassen, mit dem Schuldgefühl zurückzulassen, daß ich seinen Erwartungen nicht entsprechen konnte. Ganz einfach kann er das, genauso einfach wie er gestern an meine Seite gefunden hat und ganz anwesend war, genauso einfach wie er mit mir den Fick angefangen hat und ich geworden ist, genauso einfach geht er jetzt, als er mich in voller Entmutigung zurücklassend. In seiner Entschiedenheit liegt ein Charakter, der mehr Verständnis für mich zeigt, als ich mir wünschen könnte. Vielleicht wünsche ich zu wenig. Die drei wandern voller Tatkraft dem Tor zu, und die anderen Gruppen ziehen mit, ihrem gewohnten Tagesablauf entgegen. Ingo klatscht Marga auf den Nackten, und sie flüchtet voraus. Ich möchte allein sein und mich irgendwo verkriechen. Ich denke daran, wieder heimlich auf den Heuboden hinaufzuklettern, aber Ruth lenkt mich ab. «Kannst du mir die Becher wieder aufhängen? Ich hab heute ein wenig Schmerzen im Rücken, da tut mir das Strecken weh.» Ich bin dankbar für ihre Beachtung und tue alles genau, wie sie sagt. Anja kommt herein und stellt sich mit der Hand auf dem Rücken vor mir auf. «Kann ich dann?» Sie ist sich so sicher, daß ich in ihren Gedanken lese. Diese Sicherheit bringt mich auch wirklich sofort auf ihr Anliegen. «Ich bin gleich soweit, dann spiel mir was vor», sage ich, hänge schnell die Becher auf und laufe mit ihr hinters Haus. Dort setzen wir uns auf einen abgerundeten großen Stein. Das Laufen mit dem Kind [222] hat mich erfrischt und im Durchatmen ein wenig von dem Seelendruck befreit. Sie wartet, bis ich ganz konzentriert bin. Ich bemühe mich, so sachlich wie möglich zu erscheinen. Das Kind hilft mir in seiner Unbekümmertheit. Ich horche. Sie deckt die Löcher nicht ganz sauber ab, die Töne kommen manchmal unrein heraus. Dennoch hat sie eine Ungeniertheit im Umgang mit der Tonfolge und im Rhythmus, daß es mich wundern würde, wenn sie noch nie Flöte gespielt hätte. «Du hast das aber schon vorher gekonnt?» «Nicht richtig. Der Larry hat eine Flöte gehabt, auf der habe ich manchmal probiert, aber jetzt ist er schon lange weg mitsamt der Flöte. Rosa meint, daß er wiederkommen wird. Da können wir dann zusammen spielen.» Sie spricht begeistert. «Du solltest nur die Löcher sorgfältiger abdecken», rate ich.
«Ja, ich weiß, das macht dieses Sausen und Quietschen», kichert sie, die Nase kraus ziehend. «Man kann natürlich auch sausen und quietschen», schlage ich vor und halte das Fenster der Vorderseite zu und blase leise hinein, indem ich die Öffnung freigebe und wieder zudecke. Anja legt nun ihre hohle Hand an die Lippen und bläst damit unheimliche Töne, die denen einer Flöte ähnlich sind. «Das hat mir Rolf gezeigt. Der weiß viele solche Sachen.» «Spiel einmal richtig», schlägt sie vor, und ich gebe eine kleine Melodie, aber ich spüre schon, die will traurig werden. «Du kannst das», sagt sie anerkennend. «Wer ist denn Larry?» «Ja, das ist der Bruder von Krishan. Er ist in die Kindergemeinschaft gegangen. Stanza und Ingo waren auch dort.» Sie überlegt kurz und streicht über die Fläche eines Steins. «Vielleicht gehe ich auch. Krishan hat da unlängst so eine Idee gehabt», sagt sie. «Du kannst so einfach gehen? Sagt da niemand etwas zu dir?» frage ich. «Wie meinst du?» überlegt sie, mich aufmerksam ansehend. Ich kenne diese Art von Aufmerksamkeit, es ist eine umfassende, die tiefer eintaucht in die Frage als nur in ihre Formulierung. «Ja, bist du da ganz allein, oder hast du nicht eine Mutter oder wenigstens einen Vater da?» erkläre ich mich näher und finde das [223] ziemlich komisch, daß wir uns so wenig verstehen in dieser einfachen Angelegenheit, denn unser tieferes Verständnis scheint davon überhaupt nicht getrübt zu sein. «Nein», meint sie dann breit. «Ich kann machen, was ich will. Ich muß machen, was ich will. Wer soll mir etwas sagen? Meine Mutter ist schon lange gestorben, und Sam, der läßt mich alles tun.» Ich horche auf. «Wie war das mit deiner Mutter?» «Na ja, sie hat irgendeine Krankheit gehabt. Das kommt ja öfter vor. Sie ist draußen bei dem Feld eingegraben. Aber das ist schon lange her. Ich kann mich kaum mehr erinnern. Ich war noch recht klein. Sam war schon größer damals, aber er hat das sicher auch schon vergessen.» «Deshalb hast du dieselben Haare sie Sam», sage ich und weiß nicht recht, ob ich das erfreulich finden soll oder nicht. «Ja, der ist mein Bruder, und der Larry ist der Bruder vom Krishan, und deren Mutter ist die Rosa, und die Ruth ist die Mutter von der Irmi und vom Zuckel ...» sie hält ein und möchte ihre begeisterte Litanei weiterführen, findet aber nicht gleich den Anschluß. Anscheinend ist das Denken in Familienbeziehungen eine Besonderheit für sie, weil sie ganz wirr geworden ist von diesem Aufzählen. «Was - Zuckel?» «Na, Zuckel eben», meint sie erstaunt über mein Nichtwissen und macht unverkennbar das Dummerchen in den Zungen- und Armbewegungen nach. Dann lacht sie. «Und dein Vater?» «Ja, was weiß ich, hier weiß fast niemand seinen Vater», spuckt sie belustigt heraus und sieht mir dann wie lauernd in die Augen: «Oder denkst du?» Ich denke mir so allerhand auf einmal im Kopf, und bin ein wenig von meinem persönlichen Gram erlöst durch ihre Lebendigkeit. «Hat dir die Stanza was erzählt von der Kindergemeinschaft?» frage ich, und kann an mir einen ebenso lauernden Tonfall erkennen, wie ich ihn eben an Anja bemerkt habe.
«Nein, sie tut das nicht. Ich habe sie gefragt, aber sie sagt darüber nichts. Auch Ingo sagt nichts, die scheinen da irgendeinen Grund zum Stillschweigen zu haben. Frag du sie einmal, vielleicht sagt sie dir was.» «Vielleicht», meine ich und weiß nicht recht, was ich jetzt mit diesen [224] Auskünften anfangen soll. Sie ist Sams Schwester, warum nicht. Wer hier die Gesellschaft anführt, weiß ich allerdings noch immer nicht. Kommt das nicht heraus? Ich blase wieder ein wenig die Flöte vor mich hin. Anja lauscht andächtig. Ihre Innigkeit im Hören ist mir so beruhigend und hilft mir, mich meinem Spiel und damit mir selbst hinzugeben. Ihre Ungebundenheit, ihre Ausschließlichkeit des Interesses gibt ihr einen Schein von Treue, dem ich voll traue. So wie ich Bärle getraut habe. Und so wie ich vielleicht Sam traue, ohne es recht zu wisssen. So wie ich mir selbst traue, ohne mich zu kennen. Sie scheint nicht nur zugehorcht, sondern auch über ihre Worte nachgedacht zu haben. «Die Rosa würde allerdings auch zu Krishan nichts sagen, wenn er wegginge, sie hat auch zu Larry nichts gesagt, und - und», sie wedelt schwungvoll belustigt durch die Luft, weil sie jetzt heraus hat, daß sie immer wieder diese Litanei beginnen könnte. «Ich frage mich nur manchmal, ob der Hund mit mir zu den Kindern an den See ginge.» Dabei sieht sie sich nach ihm um. Er ist nicht zu finden. «Du meinst den Schäfer?» «Ja, den, der Zottel hält sich ja immer an Sam. Ich werde sehen, wenn er mitgeht, ist es gut, wenn nicht, soll es mir auch recht sein», spricht sie jetzt so ganz sicher über ihren Auszug, mit oder ohne Hund. Sie scheint sich weder auf ihn noch auf die Gesellschaft von Krishan zu stützen. Langsam gewinne ich Einblick in die Namen, wenigstens in diese. Die Rosa wird wohl die Frau mit dem Huhn sein, und der Rolf ist der ältere Herr, und Irmi wiederum wird das schwangere Mädchen sein, die mit fischen ist. Die Kleinen rennen um die Ecke, und Zuckel hinterher. Das behinderte Kind findet etwas am Boden, wofür es sich begeistert, und dann wälzt es sich mit dem Zottel, der den Kindern gefolgt ist, im Gras. «Ich geb die Flöte wieder da hinein», zeigt mir Anja. Sie steckt sie in eine Mauerspalte, die von einem kleinen Brett überdacht ist. Der Schäfer springt herzu und richtet sich an Anja mit den Vorderpfoten auf. «Ihr seid schon zurück?» freut sich das Mädchen. Auch das Fohlen rennt jetzt wieder im Hof umher, und die Ziegen sind auch da. Der Dicke bringt sie von draußen herein. «Na, Mädchen!» ruft er begeistert, so daß ich seinen Ausruf kaum auf mich bezogen habe, doch er wabbelt auf mich zu, hebt mich [225] plötzlich hoch in die Luft und rennt mit mir zur Haustür. Mir bleibt die Luft weg, aber ich rapple mich von seinen Armen herunter, stelle mich energisch auf den Boden, gehe hinein in die Wohnhalle und fange an, beim Herd zu schauen, ob man da wohl etwas arbeiten könne. Ruth drückt mir auch gleich einen von diesen Maiskolbenballen in die Hand, und ich fange an, wild zu putzen. Der Dicke rollt sich herein und faßt mich an der Schulter. «Geh, Fredo, laß sie doch, gib einmal Frieden. Mach's mit den Kühen auf der Weide oder sonstwie. Es muß ja nicht jeder immer für dich aufgelegt sein», springt mir Ruth bei. Fredo scheint zerknirscht, als könnte er das gar nicht verstehen, und läßt sich dumpf auf einen Schemel neben den Herd fallen. Mich rührt das ein wenig, und ich streiche ihm kurz über den Kopf. Er schaut auf und lacht wieder. Ein einfacher Bursche. «Anja sagt, daß ihre Mutter an einer Krankheit gestorben ist», bemerke ich so beiläufig zu Ruth, die Kartoffeln schneidet. Sie blickt auf und hält im Schneiden inne. «Daß die sich daran noch erinnern kann? Die Kleine ist wirklich helle, genau wie ihr Bruder.» Dann schneidet sie weiter, wischt sich manchmal die Schweißtropfen mit dem
Handrücken von der Stirn und rubbelt über ihre Nase. Bei ihr sieht das alles kulinarisch aus, als gehörte das zum Kochen dazu. Auch daß sie jetzt schweigt, gehört dazu, obwohl ich doch so gehofft habe, daß sie etwas darüber erzählen würde. Krishan tritt ein und stellt sich neben Ruth an den Herd. Sie lächelt ihm aufmunternd zu, weil sie erkennt, daß er ein Anliegen hat. Sie ist von seinen Wünschen genauso eingenommen wie von seinem Körper. «Soll ich die zweite Windmühle wieder in Betrieb nehmen?» will Krishan wissen und möchte am liebsten gleich ans Werk gehen. «Ja, Junge, da fragst du besser den Rolf. Wart noch ein wenig, die werden bald vom Fischen kommen.» «Gibt es heute Fisch?» frohlockt Krishan. «Das kommt darauf an, ob sie viel gefangen haben. Ihr könnt euch ja ein paar Kleine am Feuer braten. Sag, wo ist denn das Baby geblieben?» «Die Anja hat es genommen, es schläft jetzt», gibt er Auskunft und zwickt den Fredo, der noch immer dasitzt, zum Spaß in den Bauch, [226] und geht dann leise zu Rosto nach hinten. Er bleibt am Rand des Lagers stehen und schaut auf den Kranken nieder. Den Rolf also soll er fragen. Ob der hier anschafft? Der geht fischen und läßt den Laden hier allein. Das ist mir vielleicht ein Organisator. Wenn er wenigstens mit aufs Feld gegangen wäre und aufgepaßt hätte, daß Stanza den Sam nicht verführt, dann hätte ich ihm jeden Schlendrian verziehen. Krishan kommt wieder leise herzu: «Der Rosto hat so trockene Lippen. Er hat die Augen zu. Manchmal macht er mit dem Mund so, als wollte er trinken.» Ruth gibt mir kurzerhand einen Becher mit Wasser und meint anscheinend, daß ich für den Kranken sorgen soll. Krishan selbst geht hinaus und denkt nicht daran, mich zu entlasten. Vor Ruth möchte ich mich nicht gern ungeschickt zeigen. Allerdings, wenn sie hier nicht befiehlt? Es ist aber sicher, daß sie viel Einfluß hat, wer auch immer der Anführer sein mag. Ich nähere mich scheu dem Lager des kranken Mannes. Dessen Schmerzen flößen mir Zurückhaltung ein und machen mich unsicher. Er hat die Augen geschlossen. Sein Gesicht ist fast grau. Der Mund eingefallen. Auf der Stirn steht Schweiß. Die Haare fallen naß über den Strohsack. Rosto sieht viel schlechter aus als am Vormittag, sogar erschreckend. Er hat mich immer erschreckt, aber eher durch sein Leben, durch seine zwitterige Art, mich in meine eigenen Zwischenräume fallen zu lassen, durch seine teuflisch-göttliche Menschlichkeit, die er wechseln ließ wie ein Kartenaufleger, der einem Toten den Tod verspricht, als besonderes Glück. Jetzt erschreckt er mich dadurch, daß er aussieht wie der tote Kartenkünstler, der dem Tod das Leben verspricht, als besonderen Tod. Rosto ist sehr krank, das sehe ich. Er hat eine stille Erregung in sich, die mich erkennt, obwohl er gar nicht aufschaut, und mich vielleicht gar nicht als mich erkennt, aber mein Wesen, mein Verlangen und meine Angst. Die Ironie ist aus seinem Gesicht verschwunden, und das macht ihn trotz seines ungesunden Aussehens lebendiger und wacher als vordem. Er hat sich freigegeben, ohne daß es weh getan hätte, und das macht ihn seinen jetzigen Schmerzen gegenüber stiller, das strengt ihn nicht so sehr an wie die Lebensspannung. Er sieht nicht auf, aber er hebt matt seine Hand und greift nach meiner. Ich gebe sie in seine. Es ist eine große, trockene Hand, nicht so schweißig wie die Stirn. Ein riesiges Gewebe [227] voller Erfahrung. Rosto braucht sich den Schmerz nicht mehr selbst zu geben, in dauernde Anforderung verstrikkt, ihn nicht zu verlieren, es geschieht jetzt schon von selbst. Rosto arbeitet nicht mehr an sich selbst, und das macht diese Hand so kühl, und meine Aufgabe wird zu einem Anliegen, das ich nicht mehr notgedrungen ausführe.
Er öffnet leicht die Augen. Sie sind klar und still. In seiner Hand ist eine Bewegung zu verspüren, als würde er sie ein wenig drücken. Er ist gestern noch so kräftig durch den Hof gerannt. Die Zeit hat keine Bedeutung an einem Körper. Eine körperlose Zeit ist das. Ein zeitloser Körper ist die Vorstellung vom Leben und seiner Vergänglichkeit. Die Angst verwandelt sich in Stille, in der alle Motive zur Angst einkehren und einmal Rast machen von ihrer ewigen Hetzjagd der Gefühle und Gedanken. Alles, was ich sagen könnte, rinnt in seine Augen hinein, die es schon verstehen, bevor ich es noch im Ansatz formen kann. Aber nur kurz öffnet Rosto die Augen, dann drückt er sie wieder zu wie in einem zehrenden Krampf. Meine Hand wird nun naß, und die Aufregung kehrt in mich wie ein Blutstrom zurück. Ich warte seinen Krampfanfall ab, den er leise mit sich selbst ausficht, und in dem ich abseits stehen muß, verstrickt in meine eigene Angst vor meiner Todessehnsucht. Diese Gedanken gehen ungestaltet durch mich hin und wühlen im Schädel, und auch in Rosto haben sie noch keinen endgültigen Frieden gefunden. Sein altes, bekanntes Gesicht kehrt wieder für einen Augenblick, wie ein nasses Abziehbild, das eben reißt, aufwellend wie ein Strudel in einem Wasserlauf. Ein aufblitzender Mäander in der Lebenslinie, der sich langsam wieder ebnet und beruhigt, zusammmenfließt mit einem Glucksen über einen Stein. Rosto hat aufgestöhnt, so als würde in ihm eine Tür aufgezwungen werden, und dann sich wieder beruhigt, indem er tief in das Stroh einsinkt, sich schwer fallen lassend, obwohl er sich gar nicht stark aufgebäumt hat. Die linke Hand liegt an die Brust gepreßt. Sie ist das einzig Gespannte an seinem Körper. Er öffnet wieder die Augen und sieht das Wasser. Ich hebe ihn im Genick ein wenig an, aber das hält er nicht aus. So tauche ich den Finger ins Wasser und mache seine Lippen naß. Immer wieder und immer wieder. Er nimmt es auf wie ein Verdurstender. Sein Atem allerdings, der geht schwerer. Er zieht ihn mit Macht durch die Lungen, und das strengt ihn sehr an. Ich fürchte, der Atem könnte nicht weiterziehen, er könnte dieses Leben nicht [228] mehr ziehen, und lasse das mit dem Wasser. Rosto liegt wieder ruhiger da. Die Hand gebe ich wieder in seine. Er erkennt sie und nimmt sie. Ich habe es gern, wenn er meine Hand will. Er hat in seinem Leben alles gewollt, aber nicht die Hand. Die Hand ist das ganze Leben. Mein ganzes Leben, das so aufgerührt werden muß, um wieder einmal zur Besinnung zu kommen. Ich bin hineingerissen in das Leben. Manchmal läuft es neben mir ab und berührt mich gar nicht. Ein nebelhaftes Schattendasein ist es dann, vielleicht, ich kann mich dann nicht einmal an Angst erinnern, ich muß total geschützt gewesen sein vor dem Leben und den Gefühlen, vor den Gefahren und vor der Liebe, vor dem Haß und vor der Leere, vor mir selbst. Eingebacken in eine Ordnung, die heißt Abwehr des Todes, das ist ihr Name, und dazu ist sie gut. Eine Droge gegen die innere Bewegung. Ich spüre mich jetzt etwas leichter als den ganzen Tag über. Die Erschütterung hat meinen Nebel gelichtet. Ich wollte mir im Geiste mit Sam einen neuen Schutzdamm errichten vor meinen eigenen schmerzhaften Wandlungen, so wie das Menschenart ist. Ich wollte ihn auffressen, um nicht von seiner Freiheit bedroht zu sein, die mir fehlt. Die Liebe ist ein reißendes Spiel. Ob Rosto mich mit der ganzen Gemeinschaft mehr verbunden hat? Ob sein Darniederliegen mir den Sinn für den Sinn der anderen geöffnet hat? Mich verbindet jetzt etwas mit ihnen, eine einsame Erschütterung meiner eigenen Starrheit. Es schmilzt etwas in mir, aber ich weiß, ich weiß genau, wie flatterhaft Erkenntnisse sind. Gefühle lassen sich nicht halten, die vergehen wie sie entstehen, um wieder aufzutauchen, aber nicht dann, wenn man sie braucht und ruft. Ich weiß, daß ich noch unendlich oft zurückfallen kann in den Krampf meiner Gier, mich zu bewahren, und daß ich keinen Thronsessel in der Halle der Erleuchtung beanspruchen kann, weil da eben gar nicht geherrscht wird. Dort leuchtet es nicht einmal auf. Der allzu rasche Wechsel meines Zustands gemahnt mich allerdings daran, daß ich mich in einer starken, inneren Bewegung befinde. Das ist eine Erfahrung, die ich gelten lasse, aber die mir nicht hilft. Ruth kommt auf Samtpfoten heran und bringt einen Becher mit einem schnabelartigen
Ausgießer. Ihre praktische Art ist wohltuend. Sie hat, soviel ich weiß, gar nicht gesehen, daß sich Rosto und ich mit dem Trinken schwer getan haben. Vielleicht hat doch sie hier unterschwellig die Weisheit. Nicht aber, daß sie die Tätigkeit an sich reißt oder sich als besondere Helferin aufspielt, sie will mich auch gar nicht [229] für ein Unvermögen tadeln, sie gibt mir das neue Gefäß mit Wasser, nimmt mir das alte ab und geht wieder, leise, ohne Worte. Das Gefäß erweist sich wirklich als gut für seinen Zweck. Rosto kann trinken, ohne daß ich ihn anheben muß, und er fühlt sich sichtlich erfrischt von der größeren Menge Flüssigkeit, die er jetzt aufnehmen kann. Er atmet auch nicht mehr ganz so schwer. Er setzt an zu einem Wort, hält ein und bringt es dann fast locker heraus: «Es war schon so ...» und dann lächelt er aus seinem stoppeligen, fahlen Gesicht, als dürfte er ein wenig kindlicher sein, ein wenig weiter zurück, ein wenig besser, ein wenig glücklicher, ein wenig stiller, ein wenig mehr am Anfang eines Erkennens. Über diese Erlaubnis zu sich selbst ist er beinahe erleichtert und jung. Auch ein Schalk sitzt in seinen Gesichtszügen, die nie so rein herausgekommen sind, die nie so gelassen, nur liebenswürdig sein durften. Draußen höre ich Kinderjohlen. Ein wenig Aufregung, eine Freude über etwas, ein Staunen. Auch Rosto spürt die Veränderung. Bis jetzt war es rundum ziemlich still. Er nimmt seine Hand aus der meinen, leicht und locker, schließt die Augen und gibt mir, indem er mich leicht von sich wegdrückt, kund, daß er mich jetzt nicht braucht. Ich staune, daß er die Vorgänge und Spannungen um sich noch so klar verfolgt. Die Fischer sind eingetroffen. Bernie hebt einen großen Fisch hoch und schwenkt ihn in der Luft. Er hält ihn Ruth vor die Nase. Die tut ihn ungerührt wieder in ein Wassergefäß und geht damit in die Küche. «Rolf!» rufen Irmi und Rosa, er faßt sie um die Schultern und hängt sich an, läßt sich immer tiefer hängen, so daß ihn die beiden schließlich tragen müssen wie eine Hängematte. Für Irmi wird das nicht sehr gut sein, denke ich. Sie merkt das selbst und läßt los. Die Gesellschaft gibt sich so, als hätte sie einen schönen gemeinsamen Tag gehabt, der sie irgendwie verbindet. Es macht sie fröhlich, als sei das Fischen ein Erlebnis. Krishan kommt heran. Er hat sein Anliegen nicht vergessen. Ich merke das an seiner Annäherung. Man würde nicht vermuten, daß Rosa seine Mutter ist. Sie haben keinen ausgelaugten gespielt-vertraulichen Familienton. Man vermutet diese Beziehung nicht, und möglicherweise besteht sie auch gar nicht, außer vielleicht in der Tatsache, daß Krishan Rosas Sohn ist. Allerdings handelt es sich nicht um eine verdrängte Sache, denn Rosa berichtet Ruth, innerlich aufgerührt, daß [230] sie Larry gesehen hätten, am anderen Flußufer. Sie wüßten es nicht ganz genau, aber er hätte ihm sehr geähnelt, und außerdem war da eine Flöte zu hören gewesen. «Ich bin mir nicht sicher. Die Flöte klang wie seine. Wir haben auch bemerkt, daß er gar nicht sehr darauf aus war, jemanden anzutreffen. Er ist dann in den Wald abgezogen, als wollte er den Kontakt nicht. Das andere Ufer ist zu weit entfernt gewesen, als daß ich Genaueres hätte erkennen können», meint sie erregt und schließt dann in Gedanken an, so wie ich es schon einmal gehört habe: «Ich habe das vermutet.» Krishan ist klug. Er wartet lange, bis er es an der Zeit findet zu fragen. «Wie ist das mit der zweiten Windmühle? Kann ich die in Betrieb nehmen?» wendet er sich an Rolf. «Ja, wie soll ich das wissen, was du vorhast», lacht er den Krishan an, als hätte der ihn gefragt, ob er zum Mond fliegen solle, und setzt sich damit völlig von seiner Kompetenz für Windmühlen und Zustimmungen ab. Er ist im Gras sitzen geblieben, wo ihn die Frauen abgeladen haben und blickt ratlos-belustigt in das Gesicht des Jungen. «Ich glaube, er kann sie nicht in Gang bringen, man müßte ihm das zeigen», assistiert
Ruth ihrem Liebling. «Ach so, darum handelt es sich», dehnt Rolf seine Worte zu einer spöttischen Bemerkung aus. «Sam wird es dir zeigen - oder Rosa, die ist damit sehr geschickt.» «Ich zeige dir's dann, ich helfe nur Ruth zuerst bei den Fischen. Es kann allerdings sein, daß jetzt zuwenig Wind ist», bemerkt Rosa, und ich nehme das für meine Forschung nach den hiesigen Autoritätsverhältnissen, die mir immer mehr durcheinandergeraten, statt daß ich sie klären könnte. Rolf ist kein Anführer, der liegt wie ein Sack im Gras. Säcke entscheiden nicht. Nach dem Prinzip des Alters scheint hier der Betrieb nicht zu laufen, denn der Alte, der ganz Alte, der mir jetzt das erste Mal fehlt, der hat sicher keine Führungsposition. Anja sitzt an der Hausmauer und füttert das Baby mit diesem seltsamen Fläschchen. So eines wäre vielleicht jetzt für Rosto auch gut. Beim Tor kommen Stanza und Marga herein. Sie tragen schwere Körbe, zwei an jedem Arm. Gute Arbeiterinnen müssen das sein. Erbsen, Mais und Kartoffeln bringen sie, allerdings nicht den Sam. Auch Terry ist nicht dabei, die Gruppen müssen sich verändert haben. [231] Oder vielleicht war das gar nicht so festgefügt, als sie am Vormittag ausgezogen sind. Ich glaube, ich muß hinsichtlich der Einteilung dieser Gruppen wesentlich lockerer werden in meinen Annahmen. Vielleicht sollte ich hier überhaupt nichts annehmen, weder für mich noch für die anderen. Ich hake mich mit meinem Blick und mit meinen Gedanken in einen Fisch hinein. «Köstlich, diese Fische!» höre ich Stanzas Stimme in der Küche. Ich gehe hinein, denn ich bin auf das Mädchen jetzt nicht schlecht zu sprechen, weil sie anscheinend gar nicht mit Sam auf dem Feld war. Ich bin froh darüber, daß sie da ist. Ich frohlocke über eine gespensterhafte Plage in meinem Hirn, die ich mir heute schon etliche Male ausgerissen habe, die zeitweilig zur Ruhe gekommen ist und immer wieder auftaucht wie ein Irrlicht. Stanza hebt einen Fisch aus dem Wasser und läßt ihn über sich zappeln. Ich bin darauf gefaßt, daß sie ihn sich in den Mund stecken wird, wie er so nackt und bebend schwingt. Sie reckt ihn mit einer überraschenden Bewegung zu mir herüber und nähert ihn langsam meinem Körper. Ich bin wie gebannt von dieser Annäherung. Ich kann nicht weg. Der Fisch wippt in Todesqualen. Er kommt meinem Bauch immer näher. Ich bin wie starr. Eine rasche Bewegung reißt mir den Schrecken von meiner bloßen Haut, Anja hat den Fisch gepackt und ins Wasser zurückgeworfen. Sie hält mit der Linken das Baby noch immer auf dem Arm. Marga steht daneben, aber sie nimmt ihr Kind nicht. Anja mag das Kleine genauso wie Marga. Sie ist nicht dazu verpflichtet, es zu mögen, sie muß es auch nicht jeden Tag mögen. Anja geht wieder hinaus und wandert mit dem Kind über den Hof. Sie tut es ähnlich, wie Marga es gestern getan hat, sie redet in das Kleine hinein und wispert ihm Geheimnisse zu, kindliche Geheimnisse oder menschliche Geheimnisse? Ihre Reaktion vorhin allerdings war das Präzisionswerk einer fragelosen Tatkraft gewesen, die jede weitere Verwicklung verhindert hat. Auch ich selbst hänge nicht mehr in dem Schrecken von vorhin, wie weggeblasen ist der Ekel. Stanza geht zum Teich und läßt sich hineinfallen. Zuckel steht am Rand, sie hebt ihn hinein und spritzt mit ihm herum. Fredo gesellt sich hinzu und hebt die Wasseroberfläche um etliche Zentimeter. Lärm dringt von außen herein. Mir ist, als sei es gestern und ich diejenige, die ankommmt. Dieses Bild der Erinnerung wird in mir so [232] lebendig und stark, daß es nicht weiter von mir entfernt ist, als ich mir jetzt selbst im Hof hier drinnen. So als würde ich um mein Gestern bereichert, oder würde es jetzt erst erkennen in seiner ganzen Folgeträchtigkeit. Das Bild der Verhältnisse und Erlebnisse vereinfacht sich damit, nähert sich und fügt sich. Ingo wird von Terry verfolgt. Sie hängt ihren Korb Sam, der gerade den Hof betritt, an
den Arm, als er mit Krishan und Rosa zu sprechen beginnt. Die waren anscheinend bei der Windmühle. Ingo rennt ins Wasser, und Terry, sich den Bauch haltend, hinterdrein. Sie quiekt wie ein Schwein. Ich gehe zu den dreien hin, die in ein Gespräch vertieft sind. «Es ist nicht nötig, die Körner zu sortieren, die Rückstände fallen von selbst aus», erklärt Rosa sachkundig. «Das Brot backe ich aber dann selbst», bestimmt Krishan begeistert. Ich habe Sam einen Korb abgenommen, er hat mich, ohne sein Interesse von seinen Begleitern abzuwenden, in einer Armbewegung um die Schultern mit einbezogen, ganz selbstverständlich und mühelos mir seine Zuneigung wieder geschenkt, die er mir vielleicht nie entzogen hat. Mich verblüfft seine Einfachheit von neuem und klärt meine inneren Zerwürfnisse mit einem kühlen Streichen über meine Stirn. Nahtlos zieht Klarheit durch meine Gedanken, überschreitet Zeiten und Brücken, die gebrochen waren in mir während einer kurzen Zeit, wie ein ewiger Prozeß der Annäherung zweier Menschen. Oder geht es nicht nur um zwei? Ich bin ein lebendiger Zweifel, ich bin ein lebendiger Mensch, und das ist gut so, das darf sein. Wer gibt mir das ein, wer sieht mich da an, mit ruhigem Blick, und löst in mir eine Freiheit aus? Wer will mir meinen Anspruch rauben, wer will mir sagen, daß ich mich überhaupt nicht mit einem Anspruch quälen soll, sondern daß ein direkter Weg besteht in mein Hirn hinein, ohne Worte ohne Worte ohne Worte ohne Form ohne Halten ohne Drängen und Versuchen, eine einzige Tat. Die einzige Tat ist die Vereinigung der Körper, und die kann man sich sparen, weil sie nichts tut, als neue Körper erzeugen, die dasselbe tun. Weil man es aber lassen kann, deshalb kann man es tun, und Sam rangelt jetzt mit Ingo, der wieder aus dem Wasser gekommen ist und erfrischt in die Runde läuft. Eben ist Sam noch so tief in meine Gedanken gedrungen, aber ich denke anscheinend zu langsam, ich stehe jetzt ganz begossen da, [233] während die beiden auf dem Boden rolllen und fröhlich sind. Dieser Wechsel der Verhältnisse sind mir eine Leistungsanforderung, sollte ich sie verstehen wollen? Und schon wieder ist Sam an meiner Seite, er nimmt mich in die Arme und trägt mich wirbelnd durch den Hof. Etwas läßt ihn innehalten. Er schnuppert und setzt mich ab. Wir gehen in die Küche hinein, und da liegen Fischgräten herum, Flossenteilchen und gallertige Innereien, alles riecht nach den Fischen, die gerade gekocht werden. «Wer hat denn dem Alten schon wieder Wein gegeben. Der ist ja stockbesoffen», wetttert Ruth und zerrt ihn auf die Etage, wo er liegen bleibt wie ein Toter. Ich denke an Rosto und schaue kurz auf den Körperhügel, will aber jetzt nicht hingehen, weil ich zu aufgeregt bin von dem Gewirbel. «Ich hab ihm gerade zu trinken gegeben», sagt Ruth beruhigend zu uns, als wolle sie mich von einer Sorge befreien. Sam guckt auf die Fische und auf die Unordnung am Herd, er drängt wieder hinaus. «Ich hab schon solchen Hunger», meint er und kriecht mir mit seinem Gesicht in den Raum zwischen meinem Kopf und der Schulter, so als wäre er schutzbedürftig. Er wird mit einemmal todernst und streicht mir über die Wange, als hätte ich ihm etwas gegeben, was er gern mag. Ich komme da nicht recht dahinter, ich bin heute etwas verwirrter in unserem Verhältnis, als hätte ich mir mit vielen Gedanken bei Tag etwas zugezogen, was wie ein Schleier zwischen uns aufweht. «Weißt du, was wir machen?» sagt er begeistert. Er nimmt mich beim Arm und zieht mich wieder in die Küche. Er geht durch das Getümmel und durch die Fleischteilchen, nimmt knuspriges Brot vom Wandbrett, einen Krug Wein, Butter und Früchte, drückt mir einiges davon in die Hand, und wir rennen wieder hinaus. Aufatmend, so als hätte er die ganze Zeit keine Luft geholt, lacht er und wendet sich der Scheune zu, in der wir uns wieder das Nest machen und unser Mahl halten. Nach all den blutigen Fischteilen und glit-
schigen Schuppen, den gewundenen und gedunsenen Gedärmen und glasig schillernden Häuten, ist das würzige Brot eine Wohltat für meinen Magen. Ich mag nicht einmal Butter, sondern genieße es so, weil es mir wie die reine Pflanze vorkommt. Ich nehme einen Schluck aus dem Krug, schmatze und wische mir den Mund. «Wie ist das, wenn du gingest, würde dann die Gemeinschaft hier zerfallen?» [234] Ich bin selbst etwas überrascht von meiner im Scherz vorgebrachten riskanten Frage, und noch dazu habe ich gar keine komische Miene dabei zustande gebracht. Ich fürchte mich fast vor Sams Antwort, ich will sie am liebsten nicht hören, aber ich habe mich jetzt schon einmal gefangen. Ich versuche ihm wacker ins Gesicht zu schauen, mehr um mich selbst zu überwinden. Er erträgt die seltsame Unterstellung mit ungerührter Miene, aber so liebenswürdig wie immer. «Die Gemeinschaft wäre ohne mich dieselbe, aber ich weiß gar nicht, wohin ich gehen sollte und warum. Sie zerfällt ohnehin andauernd, auch wenn ich da bin, und sie baute sich wieder auf, wenn ich weg wäre. Ich denke überhaupt nicht daran zu gehen, aber nicht, weil das für die Gemeinschaft etwas bedeuten würde oder für mich.» Dann sagt er nichts mehr, aber sein fester Blick macht mich unsicher. «Na ja, ich habe das ja auch nur so gemeint, weil ich nicht herausbekommen kann, wer hier den Laden eigentlich schmeißt.» «Wir machen ja keine Geschäfte hier. Am wenigsten mit Gefühlen», schmatzt er zwischen zwei Bissen heraus, und diese Form ist mir recht, denn sie nimmt den Gedanken die Spitze, obwohl sie sich für mich schon zugespitzt gehabt hatten. Sam hat diesen versonnenen Blick in die Ferne, er bleibt in all seinen Überlegungen und Äußerungen in nackter Konsequenz bei mir sitzen und steht zu jedem seiner Worte, so wie sie herauskommen. Er trifft immer ins Schwarze, nicht weil er so geschickt scheint, sondern weil er dieses Schwarze immer erst schafft, bevor er es trifft. Das Geheimnis ist sein eigenes Werk, in das er zielt, wenn er es lüftet. Darum sind seine Wahrheiten befreiende Möglichkeiten. «Ich will nichts vermeiden, ich bekämpfe mich nicht, ich bin nicht mein eigener Herr, ich wüßte ja nicht, was ich mir befehlen sollte», so spricht er deutlich, aber mit einem Schmunzeln. «Oder willst du mir etwas befehlen?» «Um Himmels willen», wehre ich entrüstet ab und schmeiße dabei fast den Krug um. «Ja, es könnte ruhig sein, ich bin bereit für alle Wandlungen in meinem Leben», beendet er jetzt, einmal gar nicht wie im Scherz, sein Angebot. Ich sitze wieder mit nacktem Gehirn da und kann seine Worte nicht bewerten. Ich zupfe an meinem Brot herum. «Autoritäten haben keinen Wert, und meine Worte haben keinen Wert, der bestimmbar wäre oder sich festhalten ließe. Ein Herr ist ein [235] leerer Sack, und selbst in meinem sind ein paar Körner drinnen, die zwar die Menschheit, aber sonst nichts bedeuten. Wertlose Substanz, aber wohl das ganze Universum. Das hat aber keinen anderen Führer als dich, und du lehnst es ab, die Verantwortung dafür zu übernehmen, also stehe dann auch dazu und laß dich von klugen Burschen wie mich nicht verwirren, steck dir deinen eigenen klugen Zeigefinger, der dich maßregelt und zum Verstehen zwingt, zu innerer Ordnung und Disziplin, lieber in den Arsch. Er hält dich nur davor zurück, mich einfach lieb zu haben, und das zurückzuhalten, das gestatte ich ganz einfach nicht.» Er lacht, mich aus einer noch größeren Verwirrung mit einer einzigen wilden Umarmung erlösend. Ich lache über meine eigene Kompliziertheit. Wir schieben die Speisereste beiseite, und Sam fragt mich dabei: «Was ist mit Rosto?» «Er sieht nicht gut aus. Viel schlechter als am Vormittag. Er ist doch noch herumgelaufen wie der kräftigste Mensch, daß sich ein Zustand so rapide verändern kann.» «Rosto ist schon lange herzkrank. Er hat schon öfter arge Anfälle gehabt.»
«Und da verausgabt er sich noch so hemmungslos?» «Ja, das ist seine Art, was würde er gewinnen, wenn er seine Art leugnete, nur um sich vor dem Tod zu schützen. Noch dazu, wo er ihn nicht einmal aufheben könnte, sondern vielleicht nur hinausschieben, und das ist nicht sicher.» Ich weiß darauf nichts zu sagen. Zwei Tauben setzen sich auf den Giebel des Fensterchens. Ihr Gurren ist von drinnen verstärkt zu hören, wie in einem Resonanzkörper, als säße man in der Gurgel der Tiere. Sie vibrieren so wie Bärle mit der Kehle an den Pflanzen. Unten sammeln sich die Fischbegeisterten um einen Topf, in dem die einzelnen Teile gekocht schwimmen. Sehr viel kann das nicht sein. Sie haben aber einen Berg Brot dabei, falls das Fleisch zu wenig werden sollte. Zottel schnüffelt im Hof umher. Er setzt sich heute nicht in die Runde. Die Kleinen sind noch immer mit dem Auflegen von Fischschuppen beschäftigt, und Marga trägt wieder das Baby herum. Sam streichelt mein Gesicht. Er liegt auf dem Rücken, und ich schaue hinaus, nicht weil mich die Szene so interessierte, aber weil ich nachdenklich bin von seinen oder meinen Worten, von den vielen Eindrücken, den Möglichkeiten, die sich mir bieten und die ich nicht [236] zu fassen kriegen kann. Sam sieht meine Gedanken ziehen, und er läßt sie, er läßt auch mich, er würde mich nicht zwingen, zu irgendwelchen Liebeskundgebungen. Dann und wann schaue ich ihn an, als hätte ich heute eine Scheu, mich hemmungslos zu geben, und ich darf auch so sein. Ich suche nach etwas, was mir über meine Gedankenklippen hilft. Sam gibt mir die Hilfe nicht, obwohl er sicher imstande dazu wäre. Er lacht nur, weil wir auch ohne Worte wissen, wie es mit mir steht. Das Einverständnis besteht nach wie vor, aber auf einer anderen Ebene. Er findet das lustig, aber ich nicht, und das erfüllt mich nun mit Zorn über mich selbst. Ich will ihm meinen Gram nicht anhängen, ihn nicht dafür verantwortlich machen, und so nage ich an den stummen Sekunden und Minuten, an der ganzen Zeitrechnung, mit der die Gefühle gestundet werden. Unten rührt sich etwas. Ich schrecke auf und weiß mit einemmal, wie gern ich es hätte, wenn wir nicht gestört würden in unserer zwiespältigen Harmonie, die ich ja nur dazu aufteile, damit sie in einer Vereinigung wieder zusammenwächst. Als hätte ich heute den ganzen Tag den eifersüchtigen Gram in mir genährt, um jetzt einen Grund zu haben, mich mir und Sam wieder zu fügen, als sei das nicht in jedem Fall mein Wunsch gewesen. Ich bin in meinen Wünschen hängengeblieben. Das Rascheln und Flüstern hält an, jemand kommt die Leiter herauf. «Da seid ihr ja, ich hab mir das so gedacht.» Es ist Stanzas spitze Stimme. Mir bricht mein ganzes Lust-Qualgebäude zusammen, an dem ich mühevoll gebaut habe. Ich richte mich wie ertappt auf und werde rot im Gesicht, weniger aus Scham, sondern aus Wehrlosigkeit diesem Menschen gegenüber. Sie hemmt mich im Hirn und auf meiner Haut, in meiner Bewegung und in meinen Handlungen, mit ihrer verdammten Vollkommenheit. Hinter ihr kommen jetzt auch noch Terry und Ingo. Ich bin mir nicht sicher, ob das Auftauchen dieser beiden mich erleichtert oder mein Befinden noch mehr verschlechtert. Ein Druck kriecht mir in der Kehle hoch. Sie hocken sich zu uns ins Heu. Sam legt seinen Kopf auf meinen Schoß und streckt sich gemütlich aus. Ihn scheint die Anwesenheit der drei nicht zu stören. Er muß wissen, wie mir zumute ist, aber er setzt sich darüber einfach hinweg. «Ihr habt schon gegessen?» fragt Ingo. Terry sticht Stanza mit einem Halm in die Seite und wartet auf ihre [237] Reaktion. Die Terry ist immer ein wenig kindisch, finde ich. Jetzt allerdings kommt mir ihre Annäherung eher bedrohlich vor. Sie kichert in sich hinein. Stanza sagt nichts und rührt sich nicht, obwohl sie das Gesicht wie von einem unterdrückten Lachen verzerrt. Sie sieht sogar mit dieser Grimasse noch perfekt aus, die Nase geschwungen und der Mund schön geschnittten, die Brauen geschweift und die Augen wie immer hellblaues Eis.
Gerade sie, niemand sonst hier erregt meine Abwehr so vehement. Plötzlich, wie sie das gern tut, wirft sie sich knurrend verspielt auf Terry und beißt sie in den schwangeren Bauch. Ingo platzt, sie noch anfeuernd, heraus und schlägt sich auf die Schenkel. Sam stützt seinen Arm auf, legt seinen Kopf drauf und schaut interessiert auf das Balgen der beiden. Heu fliegt auf. Terry prustet und wirft sich auf die zarte Stanza, die aber nicht schwach zu sein scheint, weil sie sie jetzt ihrerseits festhält und an den Schultern ins Heu drückt, immer tiefer, bis Terry die Gegenwehr aufgibt. Es entsteht eine für mich sehr peinliche Stille, und ich rücke etwas weiter ab, so als würde mich etwas stechen und ich müßte unter meinen Beinen nachsehen. Da läßt Stanza Terry los und wendet sich blitzartig wie ein Tier meinem Rascheln zu, wie immer sie das ausgelegt haben muß, und starrt mich weiß gleißend an, lauernd wie ein unbekanntes Wesen, das in ihrem Körper steckt, das aber mit jedem Augenblick herausfahren kann, um mich allein durch seinen Anblick zu Stein erstarren zu lassen. Heu fliegt auf meinen Kopf und auf meine nackten Schultern. Ich weiß genau, daß es Terry geworfen hat, die jetzt wippend auf ihren Knien sitzt und ungeduldig in die Hände klatscht wie ein kleines Kind. Ich aber schmeiße mich unter einem Knurren, von dem ich bis in den Bauch erbebe, mit aller Wucht auf Stanza. Ich presse sie nieder, knie mich auf sie und dresche mit meinen Fäusten erst auf ihren Oberkörper und dann auf ihr Gesicht ein. Ich stoße dabei ein gepreßtes Stöhnen aus, ein kaum noch menschliches Ächzen, das sich, indem es sich steigert, selbst anfeuert. Ich versinke wie in einem Sog, wie in einem nimmer-enden-könnenden Feuer. Die Hiebe sind eigentlich mein eigenes Händeringen nach einem Halt aus dem Sog heraus, der in meiner Ohnmacht besteht, wieder aufzuhören. Hineingerissen in einen Angriff prasselnder Bewegungen, mich selbst und das Mädchen verschlingend in einem Krampf, der mich blind niederdreschen läßt. [238] Stanza macht eine Anstrengung hochzukommen nach den ersten Schlägen in ihr schönes Gesicht. Sie ist erst einmal überrascht gewesen, ich habe das mit eigenen Fäusten gespürt. Bald allerdings, mit ihrer eigenen Wendigkeit, schlängelt sie sich aus meinem wütenden Hämmern und läßt sich auf den Heuballen hinunterfallen, der immer noch unten liegt. Ich speie ihr noch ein Ächzen nach, mit einem letzten Ausschluchzen meiner Angriffslust, die sich augenblicklich in schale Leere verwandelt, auf die ich jetzt sinke, am Grunde dieses Sogs, gegen den ich mich so sehr gewehrt hatte. Ich liege auf dem Bauch, das Gesicht ins Heu vergraben und rühre mich nicht. Einerseits liege ich unter meiner Geistesoberfläche vergraben, aber auf der anderen Seite kann ich das Geschehen in mir und um mich herum genau verfolgen, sachlich und ungerührt, so als hätte alles mit mir nichts zu tun. «Was ist?» ruft Sam hinunter und dreht sich rasch an den Rand der Zwischendecke, wo Stanza abgesaust ist. Unten bleibt es eine Weile still, dann raschelt es leicht, und ein Blasen und Schnaufen ist zu vernehmen. Ingo und Terry gucken ebenfalls hinunter. «Die schlägt ja richtig zu!» ruft Ingo begeistert und haut sich mit der Faust in den Handballen, daß es dumpf klatscht. Er ist gar nicht empört oder geängstigt. Der Idiot findet mich noch gut in meiner Schande. «He, lebst du noch?» ruft jetzt Terry hinunter. «Laßt mich in Ruh, ihr verdammten Arschlöcher», kommt es leise zurück, so als würde sie sich erst aus dem Stroh herausrappeln müssen. Ich hebe den Kopf, schaue über die Kante und starre in ein rotes, geschwollenes Gesicht, das aber noch immer hellblau aus den Augen blitzt und trotz der Schwellungen nach wie vor ebenmäßig und vollkommen ist. «Was ist denn hier für ein Wirbel», möchte Ruth wissen, die neugierig den Kopf beim Tor hereinstreckt.
«Eine kleine Meinungsverschiedenheit, nichts weiter», klärt sie Sam auf. «Geh, wasch dem Mädchen das Gesicht mit kaltem Wasser und schau, ob sie was Ärgeres abgekriegt hat.» «Was ihr immer für Geschichten macht, wenn der Tag lang ist. Komm her da!» Sie streicht Stanza das Haar aus der Stirn, fühlt über ihre Wange und putzt an der aufgeplatzten Lippe herum. «Komm waschen, dann ist es wieder besser, das kühlt.» [239] Stanza läßt sich das alles gefallen wie ein kleines Kind. Sie schmiegt sich an Ruth und wankt mit ihr hinaus. Das erste Mal flößt sie mir keinen Schrecken mehr ein, sondern rührt mich mit ihrem schönen, unverletzten Rücken. «Da ist Stanza an die Richtige geraten», meint Sam, während er mir mit ungetrübter Liebenswürdigkeit die Stirn abwischt und meine Hände, die noch immer zu Fäusten geballt sind, gefühlvoll löst. «Ja, das war toll. Das tut der Stanza sicher gut», erheitert sich Ingo. Er gerät in Begeisterung und haut sich auf Sam drauf und bearbeitet ihn zum Schein mit verzerrtem Gesicht mit den Fäusten. Terry und ich, wir platzen heraus, weil er so blödsinnig komisch aussieht. Aus lauter Eifer tritt er Sam in die Hoden, der jault auf und brüllt: «Paß doch auf!» Ingo hält sofort ein und bedauert sein ungestümes Treiben. Er macht ein sorgenvolles Gesicht und wartet, bis sich Sam wieder beruhigt hat. Terry schmiegt sich an Sams Schulter und preßt ihren Leib sanft an seine Seite. Er lächelt wieder spitzbübisch und streichelt Terrys Wange, blickt aber in mein Gesicht. Seine Augen sind ernst, trotz seines Schalks. Ich bin auch irgendwie erlöst, daß die Wut aus meinem Leib fahren konnte, und noch erlöster bin ich dadurch, daß mich niemand meiner Unbeherrschtheit wegen verachtet oder mir böse ist. Ich bin recht erschöpft. Terry reibt sich immer mehr an Sams Körper heran und faßt ihn am Glied, das sich gleich versteift. Sie gleitet an seinem Oberkörper weich hinunter und schmiegt ihr Gesicht in seine Lenden, faßt seinen Schwanz und reibt ihn versunken, die Augen geschlossen, als würde sie durch ihre eigene Scheide streichen und ihre gleichmäßige, langsame Bewegung sich selbst zur Lust bereiten. Ingo legt sich an ihre Beine an und benetzt die Innenseiten mit seiner Zunge, sie bewegt die Schenkel leicht, zieht ihre Beine an und wippt von außen nach innen, während Ingo sich aufkniet und mit seinem Mund an ihre Scheide bläst, leicht und ohne die Spalte noch zu öffnen. Terrys Gesicht ist versonnen, so ruhig, daß ich nicht mehr an das dumme Kichern denke, das mich oft an ihr störte. Sie wirkt gar nicht mehr so jung, und sie erscheint mir jetzt wieder so wie seinerzeit am Tor, als sie mich empfangen hat. Sie neigt ihr Gesicht über Sams Glied und nimmt es in den Mund, macht es naß und läßt es wieder heraus, ringelt die Lippen [240] im Kreis um die rötliche Spitze und gleitet wieder leicht dahin, immer langsam von außen nach innen, wie in einem Rhythmus des Herzens. Sam läßt das geschehen und sieht mich immer noch an. Er legt die eine Hand zu mir herüber, mit der Innenfläche nach oben, so als wolle er mich spüren, ganz nahe bei sich. Ich lege ohne viel zu denken meine Hand auf die seine, die er dann langsam über meinen Unterarm streicheln läßt. Ich spüre auf einmal, was ich schon beinahe vergessen hatte. Ich bin nackt. Und neben mir liegen zwei nackte Burschen und ein nacktes Mädchen. Ich starrre auf Ingos steifes, pulsendes Glied, das etwas schlanker ist als das von Sam, welches von Terry bearbeitet wird. Ich spüre auf einmal eine bedingungslos einfache Lust in meinem Unterbauch. Sam beginnt mir leicht über die Brüste zu streichen. Da dreht sich Ingo herum, ohne ganz von Terry zu lassen, er hat jetzt ihre Scheide in der Linken. Mit der Rechten greift er zart und wissend zwischen meine Beine, trifft in meinen Schlitz, der schon leicht feucht ist, und er läßt seinen Zeigefinger von vorn nach hinten und zurück gleiten.
Jetzt dreht er sich ganz herüber, und auf einmal liegt er quer über mir, und ich spüre sein schlankes Glied zwischen meine Schenkel tasten. Es muß vorn naß sein, das spüre ich. Plötzlich gleitet es wie von selbst in meine Scheide hinein. Ich habe wie unwillkürlich eine Bewegung gemacht, bei der es hineingeschlüpft ist. Sam dreht sich auch seitlich über mich und küßt mich. Mit meiner linken Hand spüre ich jetzt die Brüste von Terry, und mit meiner Rechten habe ich das Glied von Sam erfaßt, das naß und schlaff ist. Ingo hat sich ein wenig gedreht, ich fasse ihn nun um die Hinterbacken und ziehe ihn vor, auf mich drauf, und er stößt mir dabei sein Glied tief hinein, daß ich aufstöhne. Er ist jetzt voll in die Fickbewegung eingestiegen, die ich mit meinem Becken im Rhythmus mitsteuere. Sam meint auf einmal: «Moment!» Ich öffne die Augen und sehe, wie er mit einem schon wieder Steifen sich aufkniet, den Ingo sanft aus mir herauszieht und ihn dann auf den Rücken legt. Daraufhin nimmt er sich eine Handvoll Spucke, klatscht mir die an das Poloch und fährt mir mit einem Finger in den Arsch. Ich bin überrascht, daß mir das auch Lust bereitet, weil ich schon fast am Kommen war. Nun nimmt mich Sam und legt mich mit dem Rücken auf Ingo drauf. Er drückt meine Schenkel weit auseinander. Dabei führt Ingo sein nasses Glied in mein Arschloch hinein, was nicht ganz mühelos geht und auch ein bißchen sticht. Er hält mich dabei mit [241] beiden Händen an den Schultern. In diesem Moment kniet sich Sam über uns beide drüber und schiebt seinen steifen Schwanz von vorn in meine Scheide. Ich stöhne auf, mich drückt und reißt es, aber im selben Moment erfahre ich auch eine Lust, in die der Schmerz einfach hinüberkippt. Mein ganzer Unterleib ist erfüllt von heißem Fleisch und von heißer Lust. Ganz sachte und gleichzeitig läuft die Fickbewegung von uns dreien ab. Da greift Sam noch mit seiner Hand auf meinen Bauch und fährt mit dem Daumen von oben hinunter und reibt dabei meine empfindliche Luststelle. Auf einmal spüre ich, wie sich die schwangere Terry von oben mit dem Po über mein Gesicht legt, bis ihre Scheide offen über meinem Mund klafft. Ich sauge diese mit meinen Lippen an und lasse meine Zunge dabei über ihren kleinen, versteiften Kitzler gleiten. Sie stöhnt leise, um mir zu zeigen, welche Lust ich ihr bereite. Auch diese Bewegung geht ein in unseren gesamten Fick, der sich jetzt im Tempo zu steigern beginnt. Ich spüre auch genau, daß die beiden Jünglinge ihre Glieder auch aneinander reiben müssen, weil sie ja nur durch eine dünne Haut zwischen After und Scheide getrennt sind. Auch schlagen sie bei jeder Bewegung mit ihren Eiern aufeinander. Der Ingo scheint jeden Moment zu kommen. Sam wird auf einmal noch schneller, und Terry schreit jetzt laut: «Ahhh ...» Da spritzt Ingo tief und fest in mich hinein, während Terry mein ganzes Gesicht mit ihrer nassen, klaffenden Scheide reibt und schreit, als ich mit meiner Zunge immer wieder ihre Klitoris wetze. Ingo hat seinen Schwanz noch hinten in mir stecken, als Sam zu kommen scheint. In diesem Moment, der die ganze aufgestaute Lust von vier Menschen in meinem Unterleib vereinigt, strömt mir ein unbändiger Orgasmus durch die Scheide und über meinen ganzen Bauch, über meine ganze Haut. Terry drückt jetzt mit einem quetschenden Geräusch ihren nassen Orgasmus über mein Gesicht. Ingo ist mit seinem Schwanz herausgeglitten, Terry hat sich vornübergerollt, und Sam ist auf mich draufgesunken, er liegt der Länge nach auf mir. Die zwei anderen legen sich links und rechts hin, und Sam umfaßt uns mit seinen Armen. Wir sind schweißgebadet und glitschig. Mir ist auf einmal ganz leicht, aber auch ein wenig müde. Ingo und Terry lösen sich langsam und klettern hinunter. Als ich die Augen öffne, schaut mich Sam an, er hält mich an den Schultern fest. Wie sachlich, aber dabei offen und freundlich sagt er: «Du kannst es.» [242] «Was?» «Sein wie du bist und dich nicht zurückzuhalten.» Seine langsamen Worte sind mir wie eine Lösung, eine Möglichkeit, eine Hand, eine
offene Hand, meine offene Hand, die nimmt und nicht mehr geben muß, um zu bekommmen, die still daliegt, wenn sie nicht berührt wird. Sie hält das aus, sie macht sich keinen neuen Menschen mehr aus Erde oder aus Staub, um nicht mehr allein zu sein, sie ist das Allein. Sanft und zugleich präzise hart leuchtet in mir eine Chance auf: Die Möglichkeit, selbst zu sein unter anderen, still zu sein neben ihren Regungen, die ich als meine erkennne, und trotzdem allein zu bleiben. Dieses Aushauchen einer verwirrenden, hetzenden Sehnsucht wird zu einer eisigen Wolke, die sich zu einem Kristall wandelt. Ich frage Sam: «Warum gibst du dich eigentlich so viel mit mir ab, wo ich doch so wenig locker bin und dir Mühe bereite mit meinen Schwierigkeiten. Du könntest es doch viel einfacher hier haben?» Diesmal wartet er ein wenig mit seiner Antwort, bringt sie dann langsam und bedacht, aber genauso undramatisch wie alles Vorherige heraus: «Du hast eine Ähnlichkeit mit mir. Du bist eine der Möglichkeiten, die ich auch habe, aber die ich nicht gegangen bin.» «Aber du siehst, ich schaffe das nicht immer so», sage ich. «Du darfst schwach sein, und du mußt nichts aushalten. Du wirst mich finden, dort, wo du mich vergißt.» Ich bin aufgerührt von der Tatsache, daß sich ein Mensch vor dem anderen so wenig schützt, sich ihm ausliefert. «Hast du noch Hunger? Essen wir den Rest, sonst kommen die Mäuse», meint Sam, und wir lassen das Stück Brot, den Wein und auch die Pfirsiche noch im Bauch verschwinden. Ich bin jetzt schwer und ermattet. Heute schaffen Marga und Krishan die Ziegen und das Fohlen in die Scheune. Die zwei Pferde bleiben immer auf der Weide, wenn es warm ist. Die Kleinen laufen noch im Dunkeln unten herum. «Wer sind eigentlich die Mütter von den kleinen Kindern?» «Das eine ist von Terry, und das andere haben wir gefunden. Jemand hat es vor das Tor gelegt.» «Und die Mutter von Bernie?» «Die ist nicht dageblieben, die ist mit einem der Motorradmenschen weggefahren und nicht mehr zurückgekommen.» Wir kuscheln uns wieder eng aneinander. Ich bin das Heu auf der Decke schon gewöhnt, und es juckt mich nicht mehr. [243] «Vielleicht gehe ich morgen mit auf das Feld.» «Schaden kann das nicht.» Sam dreht sich zu mir herüber, hält meinen Kopf in seinem Arm und schläft ein wie ein Kind, ruhig und schnell. Ich bin da nicht ganz so rasch, aber langsam dämmere ich hinüber in den Schlaf. Am anderen Tag läßt Krishan die Tiere aus der Scheune. Sie wecken uns mit ihren geschäftigen Hufen, die voll Bewegungsfreude über den Hof trommeln. Zuckel kreischt auf, weil ihm Bernie mit einem Korb auf dem Kopf nachläuft. Der Tolpatsch ängstigt sich nicht wirklich, obwohl man das nicht so genau feststellen kann, jedenfalls rappelt er sich wie in einer Flucht durch den Hof, Bernie fällt der Länge nach hin. Er bleibt starr liegen, Zuckel kommt zurück und versucht ihn wieder aufzuwecken. Die Zunge rollt vor Anstrengung durch seinen Mund, quillt heraus und schlüpft wieder hinein. Plötzlich springt Bernie auf, und Zuckel ist ganz betroffen. Die Tür ins Wohnhaus ist offen, drinnen sind schon viele wach, ich sehe sie umhergehen, aber niemand kommt heraus. Ruth stellt zwar jetzt die dicke Milch auf die Bank unter das Fenster, doch die Leute gehen mit den vollen Bechern wieder hinein. Sie richten sich heute nicht zur Feldarbeit her. Stanza kommt heraus mit ihrem verschwollenen Gesicht
und holt sich auch das Frühstück. Sam ist jetzt völlig erwacht und schaut mit mir hinunter. «Ich glaube, wir gehen, sie versammeln sich in der Wohnhalle», sagt er, so als wüßte er, worum es sich handelt, und daß es sich überhaupt um etwas handelt. Auf der unteren Bettetage liegt Rosto, in die Mitte gerückt. Um ihn sitzen sie herum, auf den Knien und im Türkensitz, einer neben dem anderen. Nicht daß man sich nicht gerührt hätte, auch trinken sie noch aus ihren Bechern die Frühstücksmilch, aber sie sammeln sich um ihn, wie in sich selbst. Ruth kommt herzu, sie hat am Herd gekramt. Rosto sieht fast besser aus als gestern, nicht so hineingerissen in den Schmerz. Er hat die Augen offen und blickt klar, aber er schaut nicht, er wendet sich nicht an etwas, er hat Zeit, und sie quält ihn nicht. Jetzt nicht, ich sehe ihn an und warte, daß sich etwas zeigen würde, eine Veränderung an ihm oder an den Menschen um mich herum. Ich bin ratlos, aber ich empfinde diesen Zustand nicht als Qual. Ich suche in seinem Gesicht nach einem Zeichen, das mir erklären würde, wie ich alles verstehen soll. Eine wie zufällige, gemeinsame kleine Wellenbewegung entsteht, indem man sich an den Händen faßt, locker sitzen [244] bleibt, die Augen auf den Mann in der Mitte gerichtet, genauso versunken wie er in der Helligkeit des Bewußtseins, das sich zu einem einzigen Augenpaar im Raum vereinigt, mit dem von Rosto. Mir steht das Hirn. Jedem geht es so, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt. Der Herd, die Katzen, der Tisch, die Fenster, die Blumen davor, und das Tummeln der Kinder im Hof, die Hände Rostos und die Sparren über uns, die Haut des nächsten, der blaue Fleck auf Stanzas Arm, die Fliege an der Wand, der kleine Heuballen auf dem Boden rücken zusammen in der Bedeutung ihres Scheins. Vereinigt ohne Folgen, so als sei immer alles zusammengewesen und hätte hier gesessen, an Rostos Lager, ohne sich jemals bewegt oder unterschieden zu haben. Die Zeit ist immer, sie steht da als Atemluft. Rosto beginnt schwerer zu atmen, etwas hängt in ihm. Seine Augen pressen sich zu, sein Gesicht gerät in Bewegung, es zuckt kurz in seinen Zügen auf. Durch seine Hände geht ein Zittern. Marga sitzt an einer Seite Rostos. Sie legt ihre freie Hand auf ihn. Er bewegt seine eigene wie auf der Suche. Marga gibt ihre Hand in die seine. Ich bin im Bann mit dem Mann in der Mitte, dem Tode verwandt, so als wäre ich Rosto selbst, der da liegt. Sein eigener Tod ist jeder selbst, und mir schwindet dieses Selbst im Anblick des Sterbenden, der es mit sich nimmt, als wäre ihm das leicht. Leichter, wenn es geschieht, als wenn man es sich vorstellt, so als wäre ich immer schon da, wo Rosto hingeht. Anjas Hand liegt in meiner und Sams in meiner anderen. Rosto bewegt die Augen. Er läßt die Hand von der Brust sinken, locker, aber völlig entkräftet. Rolf nimmt sie, wir halten einander jetzt alle an den Händen, und er schließt den Kreis der Lebenden und des Sterbenden. Rosto will in die Runde sehen. Sein Kopf liegt zu niedrig. Marga schiebt ihm noch ein dickes Bündel unter den Kopf und schließt dann wieder das Band der Energie. Etwas regt sich im Kreis, Rosto sieht uns an. Er erkennt uns als die Erscheinungen, die sich von ihm abtrennen und sich so leicht wieder verbinden können. Er schaut auf Ruth, sie bewegt sich und drückt die Hände fester und sieht Marga an. Die lächelt ruhig und schick einen Blick zu Rolf herüber. Ohne Scham, ohne Scheu vor dem Zustand, der das ganze Leben zu einem röchelnden Treibhaus macht, treffen sich Blicke des Lebens und des Sterbens wie in alltäglicher Verbindung von Arbeit, Lust und Ruhe. Terry löst sich aus meinen Augen, und Rosto bleibt an mir haften, und [245] ich weiß, daß ich nicht so locker hier sitzen könnte, wenn ich das nicht jetzt von ihm hätte annehmen wollen, obwohl er nichts tut, außer zu sterben. Die drei Kleinsten trappeln herein. Sie klettern auf die Etage und machen sich breit. Sie legen sich hin, wie Rosto liegt, und machen die Augen zu. Die Bewegung rührt noch einmal an dem Sterbenden, er preßt die Hände im Krampf eines Schmerzes, sein Gesichtsausdruck fällt nach innen, als hätte er ihn solange noch an einem Lebensfaden gehalten. Mit ihm sinkt der gemeinsame Atem tiefer. Jeder schaut wieder ruhig vor sich hin und wartet auf sein eigenes Ableben. Die Kleinen rappeln sich wieder hoch. Sie wollen nicht so lange daliegen. Sie wollen auch die Hände geben, und man reiht
sie ein. Reden tun sie nicht, obwohl sie sonst viel plappern. Nur Zuckel wälzt die Zunge und macht Schleckgeräusche. Es ist still, nur Zuckel schleckt. Wieder kommt jemand herein. Ich blicke zur Tür, und da ist ein junger Mann, der mir noch nicht zu Gesicht gekommen ist, aber ich weiß sofort, daß es sich um Larry handeln muß. Mit einem bescheidenen, aber souveränen Blick übersieht er die Lage und reiht sich in die Kette ein, so als sei er immer hiergewesen und es gäbe keine Zeit dazwischen. Ein kleines Aufmerken geht durch die Hände zur Begrüßung des Heimkehrers. Er wird nicht anders empfangen als sie Rosto empfangen, indem sie ihr Leben darstellen im Tod. Rosto hat nichts von Larry bemerkt. Er öffnet zwar die Augen noch einmal und sieht in die nahe Ferne, aber dann verliert er sich irgendwo. Ich hätte es nicht erkannt, aber Rolf drückt ihm nun die Augen zu, Bewegung entsteht wieder in der Runde. Die Kleinen rennnen hinaus. Ruth bringt Larry einen Becher Milch, und Anja will von ihm wissen, ob er die Flöte mitgebracht hat. Sie zieht ihn hinaus und will ihm anscheinend ihre Künste vormachen. Bernie bringt eine Schaufel herein. Er schleppt schwer an dem Ding und läßt sie nicht mehr aus der Hand. «Ich mache das, ich kann das ganz allein», erklärt er trotzig und schleppt sie wieder hinaus. «Laß dir doch wenigstens sagen wo!» ruft Rolf ihm nach. Das beginnende Treiben fällt nicht aus der Stille heraus, die vorher geherrscht hat, sie war wie ein Ausatmen zwischen dem Einatmen, und so tonlos wie das Leben selbst hinter seinem Wirbeln, jeder Laut schwingt aus ins Nichts, und das ist laut sowie still zugleich. «Laß ihn, wenn er nicht mehr weiterkann, müssen wir ohnehin helfen. Ich zeig ihm schon die Stelle», schaltet sich Sam ein. Der Tote [246] bleibt einfach da liegen, während sich einige mit den Geräten für die Feldarbeit ausrüsten. Sam und ich gehen nun aus dem Hof hinaus auf einen Acker abseits der Gehöfte. Bernie stapft da herum, sticht die Erde an und sucht eine weiche Stelle. «Da ist es besser», rät Sam, und Bernie beginnt mühsam zu graben, während wir in der Nähe auf- und abspazieren. Ich will über den Toten nichts sprechen, weil in mir eine alte Scheu zurückgekehrt ist, die während der Zeit in der Runde wie weggewischt war. Die selbstverständliche Beachtung, die man hier dem Sterben gibt, und wie man dann übergangslos wieder in das alltägliche Leben zurückkehrt, schreckt mich ein wenig. «Meine Mutter ist auch hier begraben», erzählt Sam und löst meine Spannungen. «Wo genau?» «Ja, da irgendwo, wir bezeichnen die Gruben nicht für die einzelnen, aber hier ist jedenfalls der Friedhof, und überall, wo so ein Stein liegt, da ist einer eingegraben. Da legen wir keinen zweiten dazu. Wir könnten ja auch alle in eine Grube geben, aber das hat sich so eingeführt.» Weiter oben arbeiten schon drei am Weinberg. Ich glaube, es ist Ingo, und zwei Frauen sind dabei. Wenige Felder sind bebaut. Es weht kein Lüftchen. Kein Wunder, daß sich Krishans Windmühle nicht dreht. Er sitzt dort ganz allein unter dem Rad. Er kritzelt etwas mit einem Stock in den Boden. Er ist in Gedanken, er bemerkt uns nicht einmal, die wir in einiger Entfernung an ihm vorbeispazieren. Das Land brütet vor sich hin. Die Erde muß innen noch feucht sein vom Regen, aber an der Oberfläche ist sie schon wieder trocken. «Kann man denn nicht etwas mit der Mühle machen? Einen Motor anhängen und Strom erzeugen?» «Nein, Mädchen, das ist eine Schnapsidee», wehrt Sam belustigt ab, «jetzt sind wir endlich den Drang los, immer mehr Produkte mit besseren Maschinen zu erzeugen und noch
bessere und noch mehr und immer noch mehr, so viele, so daß keiner mehr weiß, was er tut, weil der Bewertungsmaßstab im Hirn zerbrochen ist vor lauter Streben, und du willst jetzt die Maschinenherrschaft wieder einführen. Die Windmühle hat Brunnenwasser gepumpt, als sie noch ging, aber wir schöpfen es auch mit dem Eimer herauf. Wenn Krishan sie unbedingt reparieren will, habe ich nichts dagegen. Du darfst auch einen Motor [247] an die Mühle setzen, aber ich helfe dir dabei nicht, denn ich lege mich schön brav in die Grube, wenn es mit mir soweit ist, und warte dort auf dich.» Ich muß über dieses Bild lachen, aber eigentlich verstehe ich doch nicht ganz, was Sam da so einfach mit einem Witz abgetan hat. Ich weiß nicht recht, wie er zu so einer Einstellung gelangen kann. Vielleicht noch, wie man es sich denken kann, aber nicht, das endgültig so einfach durchzuführen. Kann man mit einemmal alles lassen, den ganzen Fortschritt und die mühsam errungenen Ergebnisse der Forschung beiseite schieben, das Streben nach Zivilisation einstellen wie mit einem Hebelgriff, die Kappe nehmen und einfach gehen? Ich sehe nicht, woher der Entschluß zu dieser Einstellung stammt. War er plötzlich da, oder war dazu eine lange Zeit nötig ... Ich bin in ein Bohren meiner Gedanken verfallen. Wie soll ich ihm erklären, daß ich nicht verstehe, wieso er über einen Motor lächelt. Ich brauche den ja auch nicht, aber mir fehlt der Zusammenhang von der funktionslosen Windmühle zu den aufsteigenden Gedanken an Flugzeuge und Wolkenkratzer, Müllschlucker und Kaugummiautomaten, hier in diesen mir so über alles bekannten Augen von Sam. Ich kann nicht abmessen, wie weit dieser Abgrund zwischen mir und dem nahen Unvertrauten ist. Ich kann nicht spüren, ob das eine Gefahr für mich bedeutet, ich kann nicht sagen, wie lange ich gegangen bin, bevor ich hierhergekommen bin. Aber etwas ist geschehen, was ist mit mir geschehen? Mich quält diese Frage nicht mehr so sehr wie bei meinem Einzug, aber sie interessiert mich noch immer brennend. Mir hat sich meine Angst verwandelt in eine Energie, die mich stärker treibt als sonst etwas. Meine Wanderung hat mich einer Antwort nicht näher gebracht, aber sie hat mein Suchen zu einem Sinn in meiner Verlorenheit werden lassen. Sam sieht, daß ich mühsam denke und streicht über meine Stirnfalte, aber er kann das Lachen über meine Anstrengung auch nicht lassen. Während er mich erheitert an sich drückt, schwindet jegliche Fremdheit in mir und verwandelt sich in Gedankenschnelle zu noch größerer Vertrautheit und Nähe, weil ich wie in meinen Abgrund falle und plötzlich mit Flügeln über die Klippen meines Verstands segle. «Du mit deinem Motor», neckt mich Sam, «wir könnten uns überhaupt alle Mühe sparen. Ein Knopfdruck und Nahrung kommt aus [248] einem kleinen Kasten, so klein, daß du ihn überall mitnehmen kannst. Da würde alles funktionieren, du müßtest nicht einmal ein Tischchen mittragen, das auf deinen Befehl die wunderbarsten Speisen aufträgt. Alles ganz einfach. Nahrung aus dem Sack, so einfach wäre alles», sagt Sam eifrig und hängt dann noch an: «Die Windmühle ist aber noch besser, vor allem dann, wenn sie gar nicht läuft.» Er verwirrt mich wieder mit seinem Lachen. Bernie werkt noch immer angestrengt in der Erde. Wir nähern uns dem Friedhof, und ich wälze wieder meine Gedanken: «Weißt du, ich verstehe das alles hier sehr gut, und ich kann da mitziehen, ich kann das begreifen, aber ich bin es nicht selbst aus ganzer Seele. Ich falle immer wieder ab und rudere in einer Distanz herum, die mich von den anderen abtrennt. Für mich ist das viel Anstrengung, mich da zu halten. Ich habe Angst, daß ich, kaum auf dem Trockenen, gleich wieder absaufen könnte. Das hemmt mein Vergnügen etwas, auch mein Gleichgewicht und meine Möglichkeit, dich immer zu verstehen und dich so zu nehmen, wie du bist.» Während meiner Erklärung bin ich stehengeblieben. Diese Mitteilung ist mir sehr ernst, ich möchte mich Sam unbedingt begreiflich machen. Ich bin vor lauter Mitteilsamkeit ins Schwitzen geraten, und Sam wischt mir mit einer liebevoll sicheren Handbewegung den
Schweiß von der Stirn. Bernie kann nicht mehr weiter. «Geh und hol den Rosto, es hilft dir schon jemand dabei. Ich grabe inzwischen fertig», entscheidet Sam, indem er die Schaufel nimmt und rascher als der Junge vorankommt. Ich setze mich daneben und schaue ihm von unten ins Gesicht. Er arbeitet konzentriert, schnell und ernst. Seine Augen könnten jederzeit zu mir herblitzen mit diesem Ulk in den Winkeln, und während ich darauf warte, weiß ich gar nicht, ob Sam mich nicht ohnehin ansieht oder ob er den Blick in die Erde gerichtet hat. Wenn man den Menschen von unten her ins Gesicht schaut, sehen sie meist verändert aus. Sam sieht aber aus wie immer. Ich schaukle leicht in meiner Hocke und verliere mich in dieser Entspannungshaltung, bis er mir schwitzend die Schaufel in die Hand drückt und meint: «So, jetzt kommst du, ich bin am Ende.» Die Grube ist schon tief genug, nur muß sie noch ein wenig rechteckiger und breiter werden. Ich arbeite, so gut ich kann. Dann [249] kommen Rolf und Ruth mit dem Toten vom Gehöft her. Ruth trägt an den Beinen und Rolf am Kopfende. Bernie stützt in der Mitte. «Ich hab gar nicht gewußt, daß er so schwer ist», stöhnt Ruth, und Sam nimmt ihr die Leiche ab und bettet sie mit Rolfs Hilfe in das Grab. Ich muß an Urga denken. Rostos Körper hat nichts von einer abgemergelten Leiche. Er ist kräftig wie im Leben, und das Gesicht liegt in klarer Endgültigkeit da, als ob es unter die Schwelle des Wachens geglitten wäre. Kein Bedauern erregt dieser Tote. Niemand hätte die Todeskrankheit in diesem kräftigen Körper vermutet. Sam greift sich an das Schulterblatt, er hat sich beim Heben verrenkt. Er reibt an der Stelle und schüttet dann mit Ruth Erde auf den Toten. Auch Krishan kommt jetzt von der Mühle her. Die Erdstelle wird beebnet und ein großer Stein an Rostos Kopfende gelegt. Bernie kann es nicht lassen, die Stelle noch besonders sorgfältig zu glätten und läuft uns dann nach. Krishan ist in Gedanken, er umfaßt Ruth an den Schultern, aber fast scheint es, als würde er mehr an ihr hängen als sie umfassen. «Na, Junge», gibt sie ihm einen leichten, aufmunternden Schlag, «was ist?» «Ich glaube, ich werde dann einmal zu der Kindergemeinschaft hinübergehen, ich habe mir das so in den letzten Tagen überlegt. Jetzt ist Larry gekommen, und das ist für mich ein Zeichen, ich werde gehen», bringt er seine bedächtige Überlegung zu Ende und umarmt Ruth dann. «Jetzt willst du? Du bist ja fast schon ein wenig zu alt dazu, die meisten gehen schon früher, aber das hat sicher auch etwas auf sich», meint Ruth und umarmt ihn jetzt ihrerseits im Spaß, wie um seinen Entschluß zu würdigen. «Das ist gut, dann treffe ich dich dort, wenn ich hingehe», fällt Bernie in die Begeisterung ein. «Geh doch gleich mit, wer weiß, ob du allein hinfindest, du Fliegenpilz», neckt ihn Krishan, beginnt zu laufen, und Bernie jagt mit ihm über das Feld. Sie verschwinden lange vor uns im Tor. Sam reibt sich noch einmal die Schulter. «Rosto war schwer», sagt Rolf, der die Schaufel schleppt. «Ich glaub, ich hab mir das schon vorher verrenkt, beim Graben», stellt Sam fest, Rolf wirft seine Schaufel auf einmal weg und befiehlt: «Nieder auf den Bauch, und leg dich!» [250] Sam geht wie der Blitz zur Erde und liegt stramm da. Rolf setzt sich auf sein Hinterteil und beginnt Sams Schulterblatt langsam und bedächtig zu massieren. Er versinkt voll Andacht in die streichenden und klopfenden Bewegungen und wirkt so, als würde sein eigener Rücken geheilt. Sam findet das genauso angenehm wie Rolf und entspannt seinen
Körper der Länge nach mitten auf dem Feld. Ruth hockt sich jetzt in ihrer ganzen Massigkeit neben die beiden hin und schaut verloren in das Spiel der Haut und der Muskeln, als würde sie das ewig ansehen wollen. Ein kleiner erheiterter Zuruf an uns kommt vom Hofeingang her. Ich gehe schon vor und schaue. Bernie steht dort am Maulbeerbaum, und Krishan sitzt am Boden, auf etwas starrend. Ich folge seinem Blick und sehe Anja, das Gesicht von den Haaren verdeckt, daliegen und sich an den Schäferhund schmiegen. Er liegt auf der Seite, wie zufällig in der Hitze hingegossen. Die nackte Anja liegt auch auf der Seite, ganz nahe an seinen Bauch gedrängt. Sie nähert sich ihm mehr und mehr, sie greift nicht mit den Händen an das Tier, sie berührt es nur durch ihre Körpernäherung, drängt zu ihm hin mit ihrer Bauchwärme und berührt jetzt wirklich das Fell des Hundes, leicht und stetig streifend. Jetzt legt sie sich ganz an das Tier an, seinen Bauch zu sich, immer mehr durch ihr Wippen und ihr Drängen den Hund erregend. Der schaut still vor sich hin, hat aber bereits Feuer gefangen. Sie greift seitlich mit den Fingern an sein Geschlecht, schält es heraus, und sein dünnes Glied beginnt rötlich aufzuleuchten. Anja ist selbst wie ein Tier. Sie bewegt sich so, daß sie den Hund nicht aufscheucht durch ein allzu menschliches Besitzergreifen. Jetzt allerdings legt sie die eine Hand ganz um das entblößte Geschlechtsteil des Hundes und reibt es zart. Krishan und Bernie sind ganz still geworden. Ich hocke mich ebenfalls nieder, auch ich finde Anja in diesem Treiben gar nicht abstoßend. Ich bin selbst gefesselt von ihrem schlangenhaften Andringen an die Weichen des schönen Hundes und der steigenden Erregung in Tier und Mensch. Das Mädchen hat sich jetzt geschickt auf den Rücken gedreht und den Schäfer zwischen ihre gespreizten Beine gezogen, während sie immer noch sein Genital in den Fingern hält. Ihre kleinen Brustansätze, die fast nur in ihren aufgewölbten Empfindlichkeitsspitzen bestehen, streichen wohlig an dem Fell, ihre Lust anregend, was sie näher in das Tier preßt, sich immer mehr mit ihrer geschlossenen, unbehaarten Scheide seinem [251] fiebrigen Glied nähernd, das schon allein durch seinen Anblick in seiner blutigen Fleischlichkeit die Lust zu einem abgründigen Verlangen reizt. Diese Kraft sitzt auch tief in meinem Unterleib, wie ein lauerndes Auge, voll Gier, ein Tier zu sein. Der Schwanz des Hundes ist nicht sehr groß, aber darauf kommt es Anja nicht an. Sie drängt auf den Hund in ihrer ganzen Länge zu und klemmt sein zuckendes Glied zwischen ihre Beine und in ihre Scheide. Sie steckt es nicht ganz hinein, sie entzündet sich an dem jetzt losrasenden Reiben des glühenden Schwanzes, der ihr unter ihrem Finger in der Scheide entlangfährt, dort, wo ihr Kitzler sein muß. Der Schäfer behält weiterhin dabei einen gelassenen Gesichtsausdruck, aber ich sehe, er würde jetzt nicht mehr wegspringen, auch ich nicht, denn mir brennt es zwischen den Beinen ebenso wie Anja. Noch einige kommen im Hof an und nähern sich, angelockt von dem Schauspiel. Krishan robbt an Ruth heran und beklettert sie wie ein Affe, wonach er sie ganz einfach in die Wiese legt. Er vergräbt sich in ihrem Fleischberg, immer wieder aufsehend und an dem Schauspiel sich entzündend. Anja gibt nun ein leises Stöhnen von sich, sie preßt den ruckenden Unterleib des Tiers ganz fest an sich und drückt nun, während es ihr kommt, das spitze Glied tief in ihr Scheidenloch hinein. Dann läßt sie los. Der Hund macht noch von selbst einige Stöße und springt dann, als sei nichts gewesen, ab und trollt sich. Auf einmal habe ich mitten im Hof Sams Schwanz in mir drin stecken, und er fickt schon los. Ich verliere den Überblick, ob ich jetzt der Hund bin oder er, oder er die Anja über mir, was mit meinem Schwanz ist, ob ich seinen Schwanz habe und er mir ein Loch für meinen Schwanz bildet. Jedenfalls geht es schnell, und danach springe ich fröhlich auf die Beine wie ein junger Hund und renne glücklich zu dem Brunnen. Ich bin gewaschen, zumindest für den Augenblick, und ich habe einen großen Hunger nach etwas zum Essen. Ruth geht nach ihrem Fick singend in die Küche ab. Sam bürstet das Fohlen, und ich
sitze am Brunnenrand und sehe zu. Das Kleine hält sich wider Erwarten, es hat das Striegeln gern. Seine weichen Nüstern blähen sich in Wohlbefinden, und ich kann es verstehen. «Ich hab so einen Hunger», meint Sam. «Die Milch am Vormittag [252] war etwas wenig heute. Wir sind recht lange bei Rosto gesessen. Man merkt das gar nicht.» «Könnt ihr mir helfen? Krapfen müssen ausgestochen werden!» ruft Ruth. Bei dem Wort Krapfen bin ich gleich in der Küche und ganz bei der Sache. Ruth erklärt, daß sie Pflanzenöl zum Backen verwendet. Später kommen die Arbeiter heim, vielleicht haben sie die Krapfen gerochen. Nicht nur ich bin so begeistert von ihrer Schmackhaftigkeit. Heute wird kein Gelage unter dem Dach veranstaltet, weil niemand die Geduld hat. Heute hockt man sich einfach in der Küche nieder, wo Ruth die frischen Kugeln aus dem Fett fischt und gleich dem gierigen Krishan in die Hände spielt, der zuerst eine Weile auf der Stelle tanzt, das Leckerstück von einer Hand in die andere jongliert, die Zunge zwischen den Zähnen, und lustige Sprünge macht, um die anderen an Komik noch zu übertreffen, die bereits mampfend und lachend am Boden sitzen und ein rötliches Mus in die Mitte der Krapfen patzen. Immer wieder wird nachgeholt, niemand will den letzten Krapfen gegessen haben, jeder will wieder hüpfen und Grimassen schneiden. Das Lachen will kein Ende nehmen, und ich bin mitgerissen von der kindischen, aber so wohltuenden Ausgelassenheit unserer Runde. Ich beiße auch mit Genuß hinein. Es gibt kühle Milch dazu. Mich wundert, daß Ruth noch immer Teig hat. Sie selbst beteiligt sich ebenfalls wacker an dem Schmaus. Ich glaube, sie hätte noch immer Nachschub gehabt, aber das Toben wird langsam leiser, niemand kann sich mehr erheben, um sich neue Krapfen zu holen, das Wechseln von Kommen und Gehen, von Bringen und Holen läßt nach. Fredo sinkt hintenüber und hält sich den Bauch. Ruth läßt sich, noch an ihren letzten Bissen kauend, ebenfalls auf dem Boden nieder, schluckt noch einmal, wischt sich langsam den Mund mit dem Handrücken und besiegelt die eintretende gesättigte Stille mit einem appetitlichen Rülpser tief aus der Seele heraus. Die Bäuche sind schwer, der Geist ist in den Magen gewandert, wo er zum Verdauen gut ist, die Augen fallen mir zu, ich ergebe mich meinem Verdauungsakt genauso wie dem Essen selbst. Im Magen herrscht Bewegung. Die Bewegung aller zugleich, erregt durch die gemeinsame Speise. Dann und wann rückt einer, bringt die Energie auf, sich zu kratzen, ändert die Lage, scharrt mit dem Bein, jedes kleinste Geräusch wird ein Klang aus der Tiefe, eine Botschaft [253] aus dem unwegsamen Dschungel der Genüsse. Jemand wischt Brösel unter der Haut weg, leckt noch einmal über die Lippen, die Zunge streicht über die Zähne, saugt Reste aus den Zahnspalten, käut wieder und atmet tief durch. Es setzt sich - es nimmt seinen Lauf - Energie - Körper an Körper - Haut an Haut geschlossene Augen - dumpfes Gefühl der Nähe. Ein nacktes Bein klatscht auf einen Leib, man schaut nicht auf, jeder sieht in seine Geistesverlorenheit, ein Räuspern, noch ein Zungenschlecken, ein Atmen. Haare streichen an meine Lenden. Eine leise Bewegung, eine sanfte Energie aus dem Dösen, ein Rühren aus der Ermattung, ein stilles, wohliges Regen. Zärtlichkeit aus der Mitte heraus, wie aus tiefer Ruhe kommt der Antrieb, zu berühren, zu spüren. Die Sättigung dämpft, aber es beginnt zugleich ein neugieriges Erwachen, ein Ziehen in die Regionen einer neuerlichen Erschöpfung. Eine Bewegung über einen anderen Körper, ein Streichen, ein Schaben, ein Wälzen von Leibern zueinander - ich höre -, ich öffne die Augen nicht, ich steige ein in die Näherung, und es erschreckt mich nicht. Nicht mehr. Ich höre ohne Scheu, ich fühle Haut, ich rieche Menschenhaut, ich selbst rieche genauso, ich bin ein Wesen mitten unter den anderen, ich lehne mich an einen Körper neben mir, schmiege meine Bauchseite an einen Rücken und streiche sanft über einen Arm. Eine andere Hand von drüben fährt mir sachte über die Schulter, ich steige ein in diese gemeinsame Bewegung. Ich bin nur ein unbedeutender Teil, nicht vonnöten, aber ange-
nehm für das Zusammenrücken der Körper, warm und weich, ein Raum im Raum, ein Leib im All ohne den strengen Vorsatz zu lieben oder Genuß empfinden zu müssen. Ein Reiben - ein Klatschen - ein Stöhnen - Lippen an meinen Lenden, eine feuchte Zunge an meinem Schenkel - Weiches an meinem Bauch - ein Aufwallen - ein Zusammenspiel, eine Vereinigung zurück in den Schoß der Vorgeburt. Haar über meiner Brust, ein feuchtes Glied streicht an meinem Oberschenkel herauf und regt sich an meine Schamlippen, eine Hand über meinem Mund, in die ich beiße, ein Stöhnen zu meinen Füßen. Mein linker Arm schlägt etwas hart an einen Körper neben mir, ich schaue kurz auf und finde Fredo mit dem Rücken zu mir gewandt, er liegt unter Rosa und Rolf. Ich sehe kurz Krishans Gesicht in fanatischem Aufleuchten aus dem Leiberhaufen auftauchen - ein wohliger Schrei -, ein Lecken, ein wildes Wippen, ein rasendes Einverständnis. Ich finde eine zarte Haut [254] - einen weichen Bauch - ein Atmen meiner Hand entgegen, die in Schamhaare trifft, leicht und locker in eine feuchte Scheide gleitet - ein Drängen des Körpers zu mir ein Stöhnen - weiches Haar trifft mich an meinen eigenen Lenden. Ein feuchter Schwanz hat in meine Scheide gefunden, und ich strebe zu und zu - immer rascher, während Hände meine Brüste wippen und aneinanderschlagen und ich mit der Hand in einer Scheide reibe, die mir entgegenkommt, die sich wölbt und hebt und zugleich mit mir ausfließt über einem unbekannten Fleisch, ich öffne die Augen und sehe Stanza, die eben jetzt auch gerade aufschaut. Ich merke, daß ich in ihrer Scheide meine Hand gehabt habe. Unsere Augen kommen einander ganz nah wie unsere Lust. Gedankenverbindung Stanza - so nahe - und schon wieder sind wir in das Berührungsspiel einbezogen, das mich trifft - ein Arm, ein Mund, eine Zunge an meiner Brust - ein fester Griff an meine Popobacken - ein Glied über mir, hart und feucht, ein Atmen ein Suchen eine Bewegung ein Stöhnen - eine Lust im Blindflug, ein warmes, wohliges Fleisch-Bad, über dem die Lust der Berührung aufsteigt wie Dunst, ein Duft von frischem Blut - ein Gesang der Natur in und über uns, und ebbt langsam wieder ab, noch einmal strömt ein Glied in mir aus, ich komme noch einmal, und sanft wie der Tanz begonnen hat, legt er sich wieder. «Wir haben den Alten vergessen!» erinnert sich Rosa und ruft ein Lachen hervor. Ich erhebe mich mühsam vom Boden und erkläre mich bereit, ihn mit Essen zu versorgen. Ich bin dankbar für den Grund, mich zu erheben, weil ich trotz Wohlbefindens Bewegung in meinem Darm verspüre. «Er ist drüben in der Scheune in dem kleinen Trakt, aber bring ihm keine Krapfen, die blähen ihn nur. Brot und Milch ist besser für ihn. Gib etwas von dem Mus aufs Brot, das mag er gern. Mach das bitte, ich kann heute kein Essen mehr sehen», unterweist mich Ruth. «Ich komm mit dir», prustet Anja, rappelt sich hoch und ist schon an meiner Seite. Die frische Luft tut gut. Ich merke, daß ich Anja genauso lieb finde wie vor ihrer Vorstellung mit dem Hund. Dieses Bild hat meine Beziehung zu ihr nicht getrübt, im Gegenteil, ich fühle mich ihr herzlicher verbunden und empfinde schwesterlicher für sie. Ich fühle mich ihr gegenüber gleich jung, obwohl sie noch [255] ein Kind ist und ich keines mehr bin. So scheint es zumindest äußerlich. «Stell dir vor, Larry hat einen Mann mit einem Löwen und einem großen Affen auf seinem Weg hierher getroffen», berichtet sie. Ich bleibe an der Scheunentür stehen. Ich könnnte Anja, gerade Anja, gern erzählen von meinem damaligen Erlebnis in der Kirche, aber ich höre sie nur an und schweige lächelnd. Wir tragen dem Alten das Essen hinein. Er döst auf einem Lager in der Ecke und scheint gar keinen Hunger zu haben. Er ist von dem Treiben drüben unbeleckt geblieben, und Anja sagt: «Ich werde mein Versprechen einlösen und ihm noch schnell einen lutschen, warte hier.» Nach einigen Minuten kommt sie heraus, lacht, verdreht die Augen, und wir gehen in den Hof.
«Die Flöte hat Larry im Wald gelassen am Fluß. Ich verstehe gar nicht, warum er das gemacht hat. Er hat Krishan und mir den Platz aber genau bezeichnet», sagt sie nach einer Weile, «er hätte sie lieber mitbringen sollen. Wir hätten zusammen spielen können.» Sie schweigt wieder, aber so, als würde noch etwas in ihr stecken. «Wir gehen morgen weg, der Krishan und ich. Wir werden die Flöte auf den Weg mitnehmen.» «Was, ihr geht schon?» «Ja, zu den Kindern an den See.» «Jetzt auf einmal?» Sie lacht auf: «Krishan ist ein Spinner, er meint, er sei sonst zu alt und sie würden ihn nicht mehr hineinlassen. Jetzt auf einmal, wer ihm wohl diesen Floh ins Ohr gesetzt hat.» Sie lacht noch einmal. «Ja dann», füge ich hinzu, «dann wird es wohl schon richtig sein, wenn ihr geht. Nimmst du den Hund mit?» «Das kann ich ja nicht sagen, das liegt bei ihm. Wenn er sich morgen anschließt, geht er mit. Wenn nicht, sucht er mich vielleicht später.» Für sie ist das eine klare Sache. Ich trete vom Weg in das hohe Gras hinein und hocke mich nieder, um zu kacken. Anja kommt mir nach und hockt sich neben mich. Schweigend drücken wir beide ein Häufchen hin, die Gerüche mischen sich seltsam, und schließlich lassen wir noch einen kräftigen Strahl Pisse drüber. Anja lacht, als wir uns mit einem Büschel Gras auswischen. Beim Teich waschen wir uns die Hände. [256] «Ich gebe dir deine Flöte dann morgen zurück», meint sie pflichtbewußt. «Ja, ist schon recht», sage ich vor mich hin. Ich kann diese Färbung meines noch schatttenhaften Gefühls genau erkennen, ich begrüße das, ich finde mich wieder nach all der Wirrnis, der Liebe und des Hasses. Mir kehrt etwas zurück, ein Gefühl meiner Energie zu mir selbst. Wir treten wieder in die Wohnhalle. Sam liegt immer noch auf dem Boden. Einige lagern da, so wie wir sie verlassen haben, einige haben sich auf die Etage zurückgezogen. Der Boden ist hart, und auf der Etage möchte ich jetzt nicht liegen. Ich flüstere in Sams Ohr. Ich möchte ihn dazu bewegen, mit mir wieder im Heu zu schlafen. Hätte ich mich nicht von diesem jungen Selbstgefühl geflügelt und gestärkt gefühlt, hätte ich mich nicht getraut, ihn wissentlich von der Gemeinschaft abzufordern, sozusagen für mich selbst. Jetzt aber fühle ich mich stark genug dazu. Ich würde auch eine Ablehnung ertragen und allein im Heu schlafen. «Nur wenn du mich trägst», meint er. Ich rolle ihn sachte weiter, ziehe ihn mühevoll schnaufend an den Armen bei der Tür hinaus. Das Fohlen trabt daher und stubst seine weiche Nase in seinen Bart. Er erhebt sich und streckt sich, bleibt stehen, die frische Luft atmend: «Schon wieder ein guter Einfall von dir. Nicht schlecht!» Er zieht die Luft durch die Nase. «Komm, nehmen wir die Tiere gleich in den Stall. Heute würde sich keiner mehr um sie kümmern. Ich kenne das, nach den Krapfen ist das immer so.» Wir treiben die Ziegen zusammen, und Sam erklärt: «Die Viecher können auch gestohlen werden, das ist nicht so ausgeschlossen.» Ich verrate nicht, daß ich das alles sehr gut weiß, sondern schweige für mich, so wie ich es Anja gegenüber getan habe. Oben fallen wir ins Heu wie satte Schweine. «Geh, bring noch ein paar Krapfen zum Drüberstreuen!» ächzt Sam und hält sich seinen Leib. «Heut krieg ich keinen mehr hoch, das schwör ich dir», lacht er, und mir ist das
recht, weil ich mich selbst schon ziemlich ermattet fühle. «Träum was Schönes von mir», sagt Sam, kuschelt sich an meine Seite, schon halb im schweren Schlaf, in den ich ihm sogleich folge. In der Nacht habe ich wohl einen geilen Traum, aber ich glaube nicht, daß Sam damit auf der Realitätsebene etwas zu tun gehabt hat, ich [257] glaube eher, daß er denselben Traum hatte - oder einen ähnlichen vielleicht. Vor Tagesanbruch, früher als man sich hier zu erheben pflegt, kriecht etwas neben mir im Heu herum. Es ist Anja, die mir die Flöte bringt. Sie flüstert, um Sam nicht zu wecken: «Der Krishan hält es nicht mehr aus, er will schon gehen. Ich leg dir die Flöte da her.» Sie streicht mir über den Arm. Ich richte mich auf und fühle mich verwirrt. Ich weiß nicht, ob ich aufstehen soll, um die beiden zum Tor zu begleiten. Anja allerdings erwartet kein großes Getue, sie zwinkert mir zu und kriecht die Leiter wieder hinunter. Ich schaue bei dem dreieckigen Fensterchen hinaus und sehe Krishan beim Brunnen stehen, mit Bernie im Handel. Krishan gestikuliert und redet auf den Kleinen leise ein, wie um ihn zu ermutigen und zu begeistern. Anja gesellt sich zu ihnen und macht der Diskussion ein Ende, indem sie den Älteren an der Hand nimmt und zum Tor zieht. Dann sagt sie noch endgültig etwas zu Bernie, der darüber von seiner Frage erlöst zu sein scheint und erleichtert in die Wohnhalle zurückkehrt. Ich recke mich, um den Hof zu überblicken, ich möchte gern sehen, ob der Schäfer irgendwo liegt. Meist hält er sich, wenn er nicht herumstreunt, unter dem Maulbeerbaum auf, aber dort sehe ich ihn nicht. Auch Anja schaut, bevor sie durch das Tor gehen, noch einmal zurück, jedenfalls halten sie sich nicht mehr auf und verschwinden einfach. Sam regt sich, weil ich im Heu geraschelt habe. Er murmelt etwas und drückt sich dann näher heran, um weiterzuschlafen. Mir ist das recht so, weil ich, jetzt selbst völlig erwacht, gern noch in Gedanken den beiden gefolgt wäre. Ihr Auszug regt in mir die eigene Sehnsucht nach Wanderung an und rückt sie mir mit jedem Atemzug klarer vor Augen. Was vorerst nur als Möglichkeit aufgeleuchtet hat, erstrahlt langsam zu einem unumstößlichen Vorhaben. Es ist mir bewußt, wie ausweglos und eigentlich unmenschlich dieser Drang ist, habe ich doch den liebenswertesten Menschen hier neben mir. Wer trennt sich da, wenn er nur ein wenig Vernunft im Leib hat, wer geht, wenn er gefunden hat, was ihm das Bleiben erlauben würde ...? Mir ist in letzter Zeit die Möglichkeit erwachsen, daß man sich an etwas Gefundenes nicht ketten muß, um es nicht wieder zu verlieren. Ich möchte diese Erfahrung für mich erproben, mit ihr leben. Daß ich [258] etwas erproben will, zeigt mir allerdings, daß ich in dieser Hinsicht nicht recht an mich glaube, und mir ist ja auch bewußt, wie schwer ich irritiert sein kann von meinem Unverständnis gegenüber manchen Erscheinungen. Ich suche immer noch nach meiner Identität, in die ich in der letzten Zeit oft unvermutet hineingepurzelt bin. Mir ist dieser Drang willkommen, ich möchte wissen, was es für eine Bewandtnis hat mit diesem Land, ich möchte erfahren, wie ich meine Erfahrung für mich anwenden muß, um mich selbst besser zu verstehen. Wenn ich gehe, weiß ich jedenfalls, daß ich das allein tun möchte. Weder mit Krishan noch mit Anja, noch mit Sam. Allein, so wie ich gekommen bin. Sam dreht sich mit einemmal auf den Bauch und stützt den Kopf in die Hände. Nicht so, als müßte er langsam erwachen, er muß wach gewesen sein. «Hast du Anja bemerkt?» frage ich ihn. «Ja, so im Halbschlaf, sie ist wohl gegangen, auch der Krishan?» «Hast du das schon vorher gewußt?» «Ruth hat gestern etwas gesagt, wegen Anja, aber ich habe nicht gewußt, daß sie jetzt schon gehen wird.» Er sieht zu mir her - wieder mit dem Schalk in den Augen.
«Und du?» fragt er. Ich schaue aus dem Fenster und sage dann langsam: «Ja, ich werde gehen, aber ich will die beiden vorankommen lassen und lieber allein weiterziehen.» «Du triffst sie nicht, wenn du den Bach entlanggehst. Beim Fluß biegen sie ab, und du kannst dort weitergehen.» Ich möchte keinesfalls, daß Sam glauben soll, ich hätte einen bestimmten Grund, jetzt zu gehen. «Ich hoffe, daß du das verstehst, ich kann das so schwer ...» Da nimmt er mich ganz einfach und hält mich fest, schaut mich an und enthebt mich jeder Bemühung, mich in Worten zu erklären. «Ich werde dich aber nicht vergessen können.» «Warum auch?» scherzt er. «Und kann ich wiederkommen, wenn ich will?» «Wie immer du willst. Zum Gehen und zum Wiederkommen bedarf es keines Anlasses und keines Grundes, keiner Frage und keiner Erklärung. Es entscheidet nur das, was man tut.» Ich überlege und hänge mit meinem Blick in seinen Augen. [259] «Es wird mir aber doch schwer sein, so ohne dich.» «Dort, wo du mich vergißt, dort wirst du mich finden.» Das klang todernst. Unten regen sich die anderen. Bernie springt ausgelassen herum, als sei er über sein neu gewonnenes Heimatglück besonders fröhlich. Mir ist die Tatenlust hingegen wieder etwas geschwunden, aber ich weiß, ich werde es tun. «Ich gehe heute mit den anderen aufs Feld, und du bleibst da. Wenn ich zurückkommme, bist du entweder noch hier oder nicht mehr, dann kenne ich mich aus», hilft mir Sam, und wir klettern hinunter. Die Flöte nehme ich mit. Anja hat ein Lederband darangebunden. Fredo besetzt übermäßig lange das Bretterklo hinter dem Haus. Die anderen müssen heute auf den Luxus einer derartigen Anlage verzichten und ins Freie scheißen. Larry und Rosa hocken nebeneinander und unterhalten sich. Stanza kommt zu mir und sagt: «Anja und Krishan sind gegangen, heute früh.» «Ja, ich weiß, ich habe es von oben gesehen.» «Hmm», meint sie und nickt, als würde sie das als einzige hier berühren. Ihre Nachdenklichkeit gibt ihr wieder dieses irritierende Licht, in dem sie so perfekt erscheint. Sie hat noch immer den blauen Fleck am Oberarm, auch ein Auge und der Wangenbogen sind blau angeschwollen. Ich streiche ihr leicht über diese Erhebung, und sie fragt wie bitttend: «Aber du gehst nicht?» Ich wundere mich über ihre Gefühls Sicherheit, denn ich habe außer zu Sam nichts davon verlauten lassen, war ich mir doch selbst nicht sicher. «Ja, aber ich gehe allein», füge ich hart hinzu, um jede Möglichkeit eines möglichen Anschlusses von vornherein zu verhindern. «Hmm», meint sie wieder und geht dann. Sie nimmt einen Korb und schließt sich schweigend den anderen an, die nach und nach aus dem Tor verschwinden. Der Zottel kreist um Sam, den Schäfer kann ich allerdings noch immer nicht entdecken. Ich halte mich in einiger Entfernung und höre, wie Sam noch etwas mit Ruth ausmacht wegen irgendeiner Frucht, die gesetzt werden soll. Beim Aufbruch schaut er noch einmal zu mir
her und geht dann mit Rolf, Rosa und Larry beim Tor hinaus. Sein Bild bleibt vor meinem Auge stehen, so als würde es nie mehr weggehen. Ich fühle keinen Abschied, ich fühle kein auffallendes Glück und auch kein Leid, ich fühle nur meinen Drang, [260] weiterzusuchen nach einer Möglichkeit, meine Erinnerungslosigkeit zu vergessen. Ich sehe mich um, gehe im stillen Hof umher, um vielleicht noch etwas zu finden, irgend etwas, das mich halten könnte, das mir ein Zeichen sein könnte zum Verweilen, aber ich bewege mich in Gedanken schon weit weg. Der Hof ist leer, auch beim Haus regt sich nichts mehr. Mir fallen die Kleider ein. Ich habe vergessen, Sam darum zu bitten. Schlecht ist das, es wird aber auch unangenehm sein, sie wieder anzuziehen, ich habe mich der Kleider entwöhnt, ich werde sie als unnötige Belastung in dieser Hitze empfinden. Ich trete in die Wohnhalle und gehe zu dem Wandschrank. Irgend jemand hat daran gewerkt. Der alte Schlüssel steckt schief im Schloß. Ich öffne, und da liegt mein Hemd, meine Hose, meine weichen Schuhe, und oben drauf ein Brot und ein Pfirsich. Mir kriecht es warm durch das Gemüt, ich schlüpfe in die Sachen, sie sind gar nicht unangenehm. Der Hosenbund ist etwas eng, und ich lasse den Knopf oben offen. Die Flöte binde ich mit dem Lederriemen an der Gürtelschlaufe fest, so daß sie an meiner Seite baumelt, und den Pfirsich esse ich gleich. Vom Brot beiße ich ab. Ich schöpfe mir noch ein wenig von der Milch aus dem Topf, der da auf dem Herd steht. Dick und süß ist sie, ich schlürfe bedächtig und schaue hinauf zu dem kleinen dreieckigen Scheunenfenster. In mir rührt sich kein Bedauern, kein Aufflackern von Trauer, ich bin in mir erstarrt zu meinem Entschluß. Ich stelle den Becher ab, stecke das flache Brot unter das Hemd und gehe beim Tor hinaus. Ich nehme den Weg am Bach entlang, weiter dem Fluß zu. Nahe an der Hofmauer sehe ich Ruth, wie sie etwas aus der Erde zupft und in einen kleinen Korb legt. Das Küchengemüse wächst dort. Die Sonne brennt ihr auf die nackte, braune, glatte Haut, und sie wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sie hält die Hand über die Augen und sieht mich gehen. Sie winkt mir nicht, aber sie schaut mir eine Weile nach, um sich dann wieder ihrem Gemüse zuzuwenden. Ich bin entschlossen. Mein Schritt ist zügig und leicht. Ich genieße es sogar, wieder einmal in Schuhen zu gehen. Dabei weiß ich gar nicht, wozu ich entschlossen bin. Ich kann nichts anderes tun, als einen Schritt vor den anderen setzen und meinen Weg entlangziehen, falls ich überhaupt einen habe. Noch ist da das Wasser, welches ich verfolge. Mir ist, als wandere ich einem ganz bestimmten Ziel zu, das mich in die richtige Richtung treibt. So als wäre das eine Aufgabe, als [261] hätte das irgendeinen Sinn, der sich mir eröffnen wird. Ich fühle mich aktiv, mein Leben leitend, obwohl es eigentlich die ganze Zeit über mich führt. Das Wasser wird etwas breiter und rascher strömend. Das Raunen wird zum Rauschen und begleitet mich wie mein Blutstrom. Einige verlassene kleine Häuser stehen noch herum, verloren in der Gegend, so wie sie am Anfang des Dorfs gestanden haben. Leer und verfallen, sehen sie aus wie Naturerscheinungen, die gewachsen sind. Ich spüre meine Kraft in den Schenkeln, ich habe in letzter Zeit gesund gelebt, und mein Körper zeigt das an. Mir tut das Alleinsein gut. Ich bin froh, daß nicht jeden Augenblick jemand auftauchen kann, der mir durch seinen bloßen Körper und durch seine Seelenvibration in den Weg tritt. Mit dem ich mich in irgendeiner Weise verbinden müßte, auch wenn mich niemand dazu gezwungen hat. Der Zwang der Begegnung arbeitet da für sich allein. Ich bin voll mit den Menschen, die meine letzten Tage bevölkert haben, ich stimmte ihnen zu, aber ich stimme nicht ganz mit ihnen überein, das spüre ich genau. Wie Sam das aushält? Trotz dieser Frage fühle ich mich ihm verbunden wie mir selbst. Ich schaue mich um und bleibe noch einmal stehen. Von diesem Hügel bin ich heruntergekommen. Ich verstehe den Einsiedler, dem schon allein meine Anwesenheit zuviel war. Meine Erinnerung schweift zurück, ich sehe die Frau vor mir, die mich aus der Stadt begleitet hat, ich habe ihre Augen noch genau vor mir, sie sind mir gegenwärtig wie die Bank, auf der ich gesessen habe, und wie der Stock des alten Herrn in der Kirche. Ich lasse
Bilder vor mir aufleuchten wie sie kommen, und die Erinnerung ist so lebendig wie die Gegenwart. Ich habe das Gefühl, daß ich in meine Erinnerung hineingehe wie in eine Zukunft. Die letzte Stunde ist mir nicht näher als der Anfang meiner Wanderung, nur, ob der Beginn auch der Beginn war? Auf der einen Bachseite erheben sich wieder die Hügel, auf der anderen breitet sich ein Wald aus, in dem wohl Krishan und Anja verschwunden sein müßten. Mir wird heiß, und ich ziehe mich ohne Zögern aus und lege mich in den Bach, der hier schon tiefer ist und mich rein und kalt umspült. Mir ist die Nacktheit zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die mir nicht mehr auffällt. Es gibt hier große Fische, die um mich herumstehen und schauen und gar nicht wegschwimmen. Ich liege im Wasser, selbst wie ein Tier. Forellen müssen [262] das sein. Ich strample mit den Beinen, und weg sind sie wie die Pfeile. Ich spüle mir Wasser über das Gesicht und steige dann wieder heraus, um am Ufer weiterzugehen. Ich trockne gern im Luftzug, die Kleider unter dem Arm. Der Himmel ist wolkenlos wie in den letzten Tagen. Die Forellen im Wasser neben mir sind sofort wieder da, als hätten sie sich nur hinter einem Stein versteckt. Sie ziehen mit, wie die Gedanken stehen sie im Wasser und flitzen weg, um wieder aufzutauchen. Ich wandere dahin und vergesse, mich wieder anzuziehen. Ich spüre so einen lebendigen Zug in den Beinen. Dann schlüpfe ich schnell wieder in mein Gewand. Ich habe das Gefühl, daß es angebrachter ist, bekleidet zu sein, wenn man nicht weiß, was einem begegnen wird. Es muß schon Nachmittag geworden sein. In der Ferne kann ich das Sanatorium hell auf einem grünen Berg sehen. Eigentlich muß es recht unpraktisch für die Alten sein, wenn sie dort noch hinaufkriechen müssen, zu ihrer letzten Station. Der Bach mündet jetzt in ein breiteres Wasser, ich glaube, daß es sich hier schon um den Fluß handelt. Ich müßte ordentlich schwimmen, wollte ich das Wasser überqueren. Vorn taucht am Ufer ein kleines Häuschen auf. Ich kann Fenster blinken sehen und ein flaches Dach. Das Haus ist ganz an den Fluß herangerückt. Ich gehe noch einige Schritte und werde langsamer, um vorerst einmal zu beobachten, wie das wohl gemeint ist. Das Holzhaus steht auf Pfählen vorn direkt im Wasser, und ein Netz hängt an einer Stange seicht in den Fluß. Ich gehe noch näher. Zwei kleine Gestalten laufen hinter der Hütte über den Weg. Es müssen Kinder sein. Sie tragen Kleider. Ich bleibe stehen, die Augen immer auf dieses Geschehen dort gerichtet. Aus dem Haus kommt jetzt eine erwachsene Person. Ich setze mich ans Ufer, um nicht die Blicke auf mich zu lenken. Im hohen Gras und zwischen den Steinen kann mich sicher niemand erkennen. Die Person trägt einen Kittel und ist eine Frau. Auf dem Kopf hat sie ein Tuch. Sie wendet ihre Stimme an das eine, kleinere Kind. Ich kann nichts hören, weil der Fluß zu laut rauscht, aber sie ist mit dem Kleinen anscheinend nicht einverstanden, sie zerrt es am Arm weg. Das Kind sträubt sich. Sie klopft ihm eins auf den Hintern und zieht es am Arm weiter, während sie noch einmal hinhaut, mit lockerer, gewohnter Hand. Das Kind hält sich den Po und läßt sich dann weinend hineinzerren. Das andere Kind erhebt sich jetzt vom Boden. Es hat ein Röckchen an. Die Haare sind zu Zöpfen geflochten. Es gestikuliert [263] mit sich selbst, hebt etwas vom Boden auf und verschwindet dann auch im Haus. Ich bleibe vorerst einmal da sitzen. Ich ziehe mein Brot unter dem Hemd hervor und esse langsam und andächtig. Ob Sam schon vom Feld zurück ist? Ein unverändert inniges Gefühl durchströmt mich. Ich weiß, Sam ist mit mir. Es riecht hier nach Fisch und nach Tang, nach feuchter Erde. Das Netz wird jetzt hochgezogen. Ich kann niemanden sehen. Es bleibt aber hängen, ohne daß ich jemanden bei der Arbeit entdecken könnte. Immer wieder schaue ich hin in der Hoffnung, die Frau oder sonst wen zu erspähen. Bevor ich dort auftauche, möchte ich ein wenig Einblick gewinnen, und zumindest ahnen, woran ich bin. Ich werfe wieder einen Blick auf das Haus. Das Netz wird ins Wasser zurückgelassen. Ich gehe langsam weiter. Das Häuschen wächst immer deutlicher vor mir an, obwohl es
im Grunde herzlich klein bleibt. Ein ruhiges Plätzchen ist das, am rauschenden Wasser, weit und breit allein, so heimelig und klein, sauber und braun. Ein kleiner barfüßiger Junge, etwa vier Jahre, kommt auf den Weg herausgelaufen. Der muß es gewesen sein, der vorhin die Schläge gekriegt hat. Als er mich sieht, bleibt er wie angewurzelt stehen und rennt dann hinein. Er hat eine kleine Latzhose an. Ich gehe noch langsamer weiter, weil ich niemanden erschrecken möchte, um nicht am Ende selbst erschreckt zu werden. Gut, ich habe keinen Spiegel gehabt, aber ich bin nicht zu schmutzig und zerzaust, ich fühle mich recht ordentlich, und außerdem habe ich ja auch etwas an. Ich muß mich noch einmal vergewissern, weil ich mich nackt nicht anders fühlen würde als bekleidet. Alles da. Jetzt gucken zwei kleine Köpfe um die Ecke, der eine trägt Zöpfe. Sie halten sich versteckt, immer wieder vorrückend und darauf sich zurückziehend, sie tuscheln und sind sichtlich aufgeregt. Dann verschwinden sie wieder drin, und als ich schon fast beim Eingang der Hütte angelangt bin, kommen sie mit der Frau wieder heraus. Sie hängen an ihrem Kittel, und die Frau selbst sieht so aus, als würde sie auch lieber heimlich um die Ecke lugen, als mir so einfach gegenübertreten, aber ich bin schon zu nahe für dieses Spiel. Sie sieht mich groß an, das nackte Mißtrauen in den weiten Augen. Aber sie ist auch neugierig und setzt ein unsicheres Lächeln auf. In diesen Zwiespalt hinein sagt sie die mir schon lange nicht mehr begegneten Worte: «Guten Tag.» [264] Ich grüße ebenso, auch etwas verwirrt. Eine Vergangenheit wird in mir angerührt, die mich lockt, aber auch unangenehm durchrieselt, so wie der Fischgeruch, der hier noch stärker hängt als den ganzen Fluß entlang. Unser Verhältnis steht in der Luft und kann fallen wie es möchte. Recht mager sind diese Menschen, aber sie sehen nicht ungesund aus. So als sei ihr Leben mühsam, aber nicht erfolglos, hart, aber nicht unwillkommen. Das kleine Mädchen durchbricht die Verlegenheit, indem sie auch «Guten Tag» sagt, und sich ein wenig von der Mutter löst. Ich lächle sie an, froh darüber, daß sie den Vorstoß wagt, und das wiederum beruhigt die Frau, und ihre Neugierde überwiegt das Mißtrauen. «Na, gebt der Tante schön die Hand, du auch, Hansi, grüß schön.» Sie schiebt den Kleinen mit Druck etwas von sich ab. Er kommt verlegen her und streckt mir das Händchen kurz hin, um es dann schnell wieder zurückzunehmen hinter seinen Rücken. Er versteckt sich aber nicht mehr bei der Mutter. Das Mädchen ist schon älter, etwa sieben, und verhält sich tapferer. Auch die Frau schickt sich an, mir die Hand zu reichen. Vorher wischt sie sich noch einmal die Innenflächen an dem Kittel ab, kurz von der Hüfte über die Oberschenkel, und drückt meine Rechte dann recht warm und kräftig. Sie macht jetzt ein freundliches Gesicht und meint auf einmal überraschend mutig: «Unsere Hütte ist bescheiden, aber immer offen für einen Besuch. Macht Platz, Kinder!» Sie macht eine einladende Geste. Neben der Hütte ist ein freies Wiesenstück, auf dem eine Ziege angebunden ist. Außerhalb der Reichweite des Tiers wachsen ein wenig Gemüse und ein paar Kräuter. «Das ist mein kleines Heiligtum», erklärt die Frau und entschuldigt sich dann für desssen Bescheidenheit. Vor dem Haus hängt das Netz ins Wasser. Ein anderes Netz bauscht sich mächtig an einer Stange im Trockenen neben der Hütte. Ich sehe mich aufmerksam, aber nicht aufdringlich um. Die Frau mag es, wenn ich neugierig bin. «Die Kinder sind halt ein wenig scheu, es kommt ja hier kaum jemand vorbei, sie sind das nicht gewöhnt, wissen Sie», und sie drückt den Kleinen fürsorglich an ihr Bein, an das er sich schmiegt. Sie ist groß und hager mit harten Backenknochen, knochigen Armen und Händen. Die Haare sind dunkel und liegen etwas fettig glatt am Kopf an. Sie sind unter den Ohren gerade abgeschnitten, so ähnlich wie Marga die Haare trug, aber bei ihr hat das nicht so streng ausgesehen [265] wie bei dieser Frau. Sie streicht sich die kurzen Seitenhaare immer wieder glatt hinter die Ohrmuschel, daß nur ja alles schön anliegt. Die Nase ist hart und energisch, der Mund allerdings hat eine gewisse Weichheit, und auch die
Augen blitzen manchmal lebendig auf. Sie haben über den Wangenknochen etwas leicht Geschlitztes, wenn sie spricht, obwohl sie rund sind, wenn die Frau schweigt. So etwas wie pflichtvolle Güte kann ich darin sehen - oder Fürsorge. Ich bin sofort bereit zu glauben, daß sie diejenige ist, die den Kleinen drischt, aber sie ist auch diejenige, die ihn warm an sich drückt. Ein Mädchen hat sich wieder einmal in meine Flöte verschaut, die mir seitlich herunterbaumelt. Es tritt näher und sieht sich das genau an. «Erna, das tut man nicht», weist sie die Mutter zurecht. Erna läßt ihre Neugier gleich fahren und steht brav da. «Da hast du, schau dir's nur an», sage ich und reiche ihr das Instrument. Die Kleine sieht ihrer Mutter ähnlich, aber sie ist heller und weicher, obwohl auch sie auffallend mager ist. Ihre Zöpfe sind dünn, die Augen dunkel und schreckhaft, können aber recht lustig und interessiert dreinschauen. Sie hat die Haare anscheinend etwas gewellt, so daß die Enden ihrer Zöpfe sich von selbst einringeln und zusammenhalten. Der Kleine begutachtet mit ihr die Flöte. «Nur herein in die gute Stube», lädt mich die Frau endgültig ein. «Wenn ich gewußt hätte, daß wir Besuch bekommen, hätte ich besser aufgeräumt.» Sie putzt noch schnell herum und schiebt Sachen zurecht. Der Fischgeruch umfängt mich wie eine Wolke, aber mit einem Beigeschmack, der die Sache etwas lindert, es ist wie ein starkes Gewürz, das mir den Geruch erträglich macht. Sie weist mir einen Stuhl an und streicht, bevor ich mich setze, noch mit der nackten Handfläche über die abgenützte Tischplatte. Diese Hand wischt sie sich dann wieder im Kittel ab. «Ich weiß gar nicht, was ich Ihnen aufwarten soll», jammert sie ratlos und blickt suchend im Raum umher. «Lassen Sie nur, ich habe gerade gegessen, ich bin wirklich satt», beruhige ich sie, meine Hand leicht auf ihren Arm legend. «Na, Sie essen dann später mit uns, wenn mein Mann nach Hause kommt.» Ich sehe mich in der Stube um. In der Ecke steht ein Herd. Darüber Wandbretter, mit einfachem Geschirr belegt und behängt. Daneben ein Kasten, hier der Tisch und [266] vier Stühle. An der Wand hängt eine Tranleuchte. In der anderen Ecke steht ein Bett, und darüber hängt noch eine kleine Holzverschalung mit einem Strohsack. An der Breitseite des Betts schließt eine Bank an, auf der ebenfalls ein Strohsack liegt. «Es ist halt recht eng bei uns. Für die Kinder ist das da oben. Jetzt allerdings liegt der Bub auf der Bank, weil die Großmutter weg ist.» Ich sehe sie aufmerksam an, und sie erklärt: «Ich bin froh, daß sie gegangen ist, mit ihr war es schon recht schwierig, sie war schon so sonderbar, und mit ihrer Gesundheit war es auch schon nicht mehr weit her. Sie muß irgendeine Darmgeschichte gehabt haben. Mit den Kindern war das nicht das Rechte. Mein Mann hat sie ins Sanatorium begleitet, sie wollte selbst da hin. Wir haben uns über ihre Einsicht gewundert, sie war sonst so starrköpfig und schrullig.» Sie sieht wieder zweifelnd im Raum umher und sagt in teils stolzem und teils geschlagenem Tonfall: «Ich versuche immer alles sauber zu halten und ordentlich, aber wenn es so eng und klein ist, fällt das schwer. Wir haben ja nicht viel, aber selbst das ist hier nicht leicht unterzubringen.» Dann wendet sie sich abrupt von ihren Bedenken über ihr Haus ab, lächelt und fragt, sich zu mir an den Tisch setzend, etwas vorgebeugt über die Platte: «Und wo kommen Sie her?» Ich werde etwas verlegen. Wenn ich das wüßte, aber das kann ich ihr ja nicht sagen, und ich mag ihr auch nicht sagen, daß ich von den nackten Wilden komme, sie würde das sicher nicht gern hören. Das heißt, hören vielleicht schon, aber ich würde sie damit nicht
für mich einnehmen. Ein Geraunze von draußen kommt mir recht gelegen. «Die Erni, Mama, die gibt mir das nicht, Mama, ich will auch einmal...» Die Frau läuft hinaus und schreit: «Was ist denn jetzt schon wieder los, immer diese Streitereien!» Ich höre Erni klagen: «Er bläst immer hinein, er kann nicht damit umgehen, er paßt nicht auf.» Ich trete kurz hinaus und sehe nach meinem Streitobjekt. «Das gehört ja zum Blasen», erkläre ich und zeige den Kindern, wie man die Löcher zuhalten muß. Das Mädchen kann das recht gut. Er hat zu kleine Fingerkuppen, und ich halte ihm die Löcher zu, während [267] er pfeift. Viel zu stark bläst er hinein, und es braucht einige Zeit, bis er den richtigen Druck heraushat. Er spuckt mir zuviel, und ich nehme das Instrument kurzerhand wieder an mich. «Geh, Erni, hilf mir das Netz wieder heraufzuziehen», bittet die Mutter. «Ich halte die Kinder auch schon zur Arbeit an. Arbeit hat noch niemandem geschadet, und wenn man mit der Nase draufgestoßen werden muß», meint sie. Sie hilft jetzt dem Mädchen, das Netz vollends heraufzukurbeln. Sie benützt dazu eine Winde, die an der Hauswand angebracht ist. Das Netz wird herüber an den Steg geschwenkt, der unmittelbar vor der Eingangstür über den Fluß ragt. «So, die Fische kannst du jetzt selbst herausnehmen, gib sie in den zweiten Kübel.» Dabei zeigt sie auf Gefäße, in denen sich größere und kleinere Fische befinden. Drinnen lebt es so entsetzlich weich und schlüpfrig. Ich bin froh, daß ich die Flöte an mich genommen habe. Ich halte die Hand drauf, so als sei sie mir ein Freund in all dieser Fischlichkeit. Ich wische mir selbst die eine Hand am Hosenbein ab, weil ich eine feine Fettschicht, die hier alles überzieht, an ihr spüre, aber das kann auch nur Einbildung sein. Ein Kätzchen streicht um meine Beine, und ich spiele mit ihm, während die Mutter der Erni doch ein wenig an die Hand geht. Ich bin so froh, daß die Katze einen Pelz hat. Weich ist das und warm. Die Mutter kommt wieder, außer Atem vor Tätigkeit, wischt sich wieder die Hände am Kleid und entschuldigt sich untertänig: «Ich mußte doch ein wenig helfen. Es ist nicht leicht mit dem Netz. Dabei fangen wir gar nicht viel in letzter Zeit, das schwankt immer.» Sie geleitet mich wieder hinein an den Tisch. Die Katze kommt mit und legt sich an meine Beine. «Fisch gibt es trotz allem genug für uns und auch für sie», tröstet sich die Frau selbst mit einem Blick auf das Tier. «Ich habe genug getrocknet, wir könnten eine lange Zeit überdauern mit unseren Fischvorräten», lacht sie beruhigt. «Mein Mann hat einen Salzfelsen entdeckt, dort schwemmen wir Salz aus.» Sie wird nachdenklich und meint dann begeistert: «Wenn ich nicht so einen guten Mann hätte, wir wären verloren. Er arbeitet den ganzen Tag, müht sich mit den Netzen ab, und in letzter Zeit hat er auch noch auf dem Kartoffelacker zu tun gehabt.» Sie tritt einen Schritt aus der Tür und zeigt auf eine etwas abgelegenere [268] Stelle. «Die Kartoffeln sind eben sehr wichtig für uns, weil wir ja kein Mehl haben.» «Fertig - fertig!» - schreit draußen die Knabenstimme. «Ja sag einmal, jetzt bist du schon so groß und kannst dir den Hintern immer noch nicht allein auswischen!» ruft die Frau ihrerseits zurück und verschwindet dann mit einem entschuldigenden Lächeln, die Augen gegen den Himmel drehend. Ich muß daran denken, wer wohl den Kleinen bei Ruth den Popo ausgewischt hat. Ich habe es nie getan, aber vielleicht Fredo, oder vielleicht haben sie sich ihn selbst gewischt,
jedenfalls waren sie meistens sauber. Ich lehne mich zurück, das Bein an das Kätzchen gedrückt und erhole mich ein wenig von all der Höflichkeit und Gastfreundschaft. Hier sind nur so wenige Leute, aber es geht eigentlich nicht ruhiger zu als bei den vielen. Mich strengt das bereits an. Ich bin froh, daß ein wenig Ruhe eingetreten ist. Ich bücke mich und streichle über das Tier, es schnurrt und fühlt sich wohl. Wenn sich das Kätzchen hier so wohl fühlt, kann es nun aber auch wieder nicht so schrecklich sein, denke ich und lehne mich zurück. Ein kleines Tongefäß mit Blumen steht auf dem Fensterbrett. Solche kurze Blütenstengel, wie sie Kinder mit den ungeschickten Händen abreißen. An der Wand über dem Bett hängt ein Holzstück, in welches mit einem spitzen Gegenstand Muster eingekerbt sind, Ornamente, liebevoll nebeneinandergesetzt, wie die Wellen des Wassers, mäanderartig gezeichnet, und rechts unten, das könnte ein Fisch sein. Ich stehe auf, um es besser zu sehen. Die Frau kommt wieder und meint: «Die Großmutter hat das gemacht, die hat sich mit solchen Sachen abgegeben, auch wenn sie sonst weniger geduldig war.» Sie betrachtet selbst das Bild, als hätte sie es noch nie richtig angesehen. «Jetzt haben Sie mir noch immer nicht erzählt, von wo Sie kommen», sagt sie dann. Ich begebe mich wieder bedächtig zu meinem Sessel und sage dann so beiläufig, daß es nicht so wichtig genommen werden soll: «Ja, ich komme von der Stadt her.» «Da schau dich einer an. Von dort sind wir auch gekommen, aber das ist jetzt schon wieder eine Ewigkeit her. Die Erna habe ich noch im Wickelpolster gehabt, und von dem Kleinen war ja noch überhaupt keine Rede.» [269] Ich horche auf, weil ich hoffe, Näheres über diese Stadt zu hören, aber sie hat schon wieder etwas an den Kindern herumzunörgeln, die bei der Tür auftauchen. «Jetzt wird nicht genascht, vor dem Essen gibt es das nicht», fährt sie den Kleinen an, der ein paar Beeren in der Hand hält. Sie will sie dem Jungen wegnehmen, aber das Mädchen meint beschwichtigend: «Er will sie ja nur der Tante bringen.» Das beruhigt die Frau, und er kommt her zu mir, sieht mich lieb an und drückt mir die halbzerquetschten Früchte in die Hand. Ich nehme ihn auf den Schoß und esse mit Genuß. Dem Kind gefällt das, und es schaukelt auf meinen Knien. «Geh, mach die Tante nicht schmutzig, Hansi, sei nicht so wild, sie ist sicher müde.» Sie freut sich aber auch über das Wohlbefinden ihres Sprößlings. «Macht es Ihnen wirklich nichts aus?» fragt sie, und ich winke ab. «Wenn ihr euch so gut unterhaltet, kann ich ja einstweilen das Essen vorbereiten. Wenn mein Mann nach Hause kommt, muß alles fertig sein. Das halten wir so», erklärt sie und beginnt am Herd zu werken. Das Mädchen drückt sich neben mich und bohrt in der Nase. Ich wundere mich, wie schnell diese scheuen Kinder Feuer fangen. «Wann kommt denn der Papa?» fragt das Mädchen. «Wirst du aufhören, in der Nase zu bohren!» fährt sie die Mutter, kurz von ihrer Arbeit aufblickend, an. «Schämen muß man sich für euch. Geh und pflock die Ziege ein Stückchen weiter, aber paß auf, daß sie nicht zum Gemüse kommen kann!» befiehlt sie dem Mädchen. «Wir machen das schon», melde ich mich gehorsam, um den Befehlen ein vorläufiges Ende zu setzen. Wir spazieren hinaus. Die Ziege hat im Umkreis schon alles abgefressen, und Erna tut sehr geschäftig und geschickt. Sie will mir unbedingt beweisen, daß sie mit dem Tier gut umgehen kann. «Fein machst du das», höre ich auf einmal eine tiefe Männerstimme vom Weg her. Ich
kann ihn noch nicht sehen. Die Frau drinnen muß den Mann vom Fenster aus bemerkt haben, sie saust heraus und empfängt ihn schon vorn an der Ecke, noch bevor er mich sehen kann, was mir wiederum recht angenehm ist. «Jetzt kommst du schon, damit habe ich noch gar nicht gerechnet. Ich bin noch nicht fertig mit dem Essen», spricht sie vorwurfsvoll und jammernd. Sie wischt sich schon wieder die Hände am Kleid. [270] «Wir haben nämlich heute einen Gast», bereitet sie ihren Mann auf den seltenen Anblick vor. «Einen Gast?» meint er wie ungläubig, aber auch leicht abwehrend. Das ist ein Zeichen für mich, hinter dem Haus hervorzutreten, in das Gesichtsfeld des Mannes. Ich lächle und sehe auf eine ebenso magere Gestalt wie die der anderen Bewohner. Ein schwarzer kurzer Stoppelbart bedeckt sein Gesicht. Die Augen sind dunkel, die Haare abgeschnitten und braun. Er stellt einen Eimer umständlich auf dem Boden ab, lehnt eine Angelrute an das Haus und kommt mir entgegen, die Hand vorstreckend. Ich gehe zu ihm und reiche ihm meine. Er sieht mich etwas verwirrt, aber nicht unfreundlich an. Er grüßt nicht mit Worten. Die Kinder haben sich an ihn gehängt, und er läßt sie gutmütig gewähren. Den Kleinen muß er sogar aufnehmen, während die Frau und das Mädchen die Geräte wegräumen. «Die Tante hat ein Bffbff», berichtet Hansi aufgeregt und wird vom Vater wieder hinuntergestellt. «Ich muß mich erst waschen, bei der Arbeit wird man nicht sauberer, selbst wenn man mit Waser zu tun hat», wendet er sich entschuldigend an mich. Er lächelt unter seinem Bart ein wenig hervor. Die Frau ist schon wieder beim Herd. Zwischendurch stellt sie ein kleines Schaff mit Wasser vor die Tür und rät mir, mich noch ein wenig zu gedulden und wieder Platz zu nehmen. Der Mann zieht sich das Unterhemd aus und wäscht sich, geräuschvoll durch die Nase blasend, mit großer Energie den Oberkörper, so als wolle er alle Arbeit loswerden mit dieser Waschung. Mich wundert, daß er sich nicht gleich im Fluß wäscht, das wäre doch viel naheliegender, und ich frage: «Können die Kinder hier baden, das wäre im Sommer ja recht praktisch?» Während er sich energisch in ein Tuch abwischt, antwortet er: «Vorm Haus können sie nicht, da vertreiben sie mir die Fische.» Er trocknet sich das Gesicht und fügt dann noch hinzu: «Wenn man so unmittelbar am Wasser wohnt, ist man gar nicht so wild auf das Baden.» Seine Stimme ist tief rollend. Mich wundert auch bei ihm, daß er so rasch vertraut ist, aber trotzdem die Formen des Umgangs beibehält. Oder vielleicht ermöglichen es ihm die Formen, locker zu erscheinen. Seine Arme sind braun gebrannt, aber sein Körper ist weiß. Anscheinend zieht er das Unterhemd beim Fischen [271] nicht aus. Auch jetzt schlüpft er wieder hinein. Die Frau tritt herzu, wischt sich wieder die kurzen Haare hinter die Ohren und fragt: «Soll ich dir was Frisches geben?» «Ist nicht nötig, aber unserem Gast könntest du inzwischen etwas anbieten», und dabei zwinkert er ihr mit einem Blick an die Wand, wo ein Schränkchen hängt, zu. «Wer weiß, will sie so etwas. Das Zeug ist ja ungeheuer scharf. Mein Mann hat einen Kartoffelschnaps gebrannt, nur ganz wenig, er trinkt nur manchmal ein Schlückchen», wendet sie sich jetzt erklärend an mich. Er nimmt eine kleine Tonflasche heraus, stellt sie sorgsam auf den Tisch, und die Frau bringt zwei Becher. «Ich möcht kosten», drängt sich Hansi zwischen die Knie des Vaters. «Nur einen eingetauchten Finger voll ablutschen kannst du, sonst gehst du im Kreis.»
«Gib dem Kleinen ja nicht zuviel. Und du selbst nicht zuviel, du weißt!» beendet sie halb im Scherz und halb drohend. Er lacht ausgelassen in der Vorfreude auf den Genuß und gießt uns ein. Ich glaube, er freut sich, daß ich gekommen bin, weil ich ein Anlaß zum Trinken bin. Er ist froh, daß ich nicht ablehne und er sich nicht zurückhalten muß, ich bin eine Entschuldigung für ihn und seine Ausgelassenheit. Der Schnaps ist stark, aber gut. Mir brennt es den Schlund hinunter, und während des Rinnens schauen wir uns wie alte Saufbrüder ungehemmt in die Augen. Wenn ich gewußt hätte, daß der so gern trinkt, hätte ich ihm Wein mitbringen können. Aber mit seiner Frau hätte ich es mir wahrscheinlich verscherzt, da wäre der Laden zusammengebrochen, da wäre nichts mit Freundlichkeit und mit einem warmen Essen gewesen. «Komm, Alte, kost auch einmal», wirbt der Fischer für seinen Trank und geht sogar zum Herd, nimmt die Frau um die magere Hüfte und meint: «Das wird dir nicht schaden.» Sie wehrt seine Liebenswürdigkeit und seine körperliche Annäherung ab, muß aber doch über den Mann lachen, und sie trinkt dann auch ein klein wenig. Er guckt in den Topf und in die Pfanne, er schnuppert, und die Kleinen kommen herzu und machen das genauso auffällig. «Genug mit dem Unsinn», schilt die Frau und schiebt alle drei beiseite. [272] «Für unseren Gast hättest du aber schon die Goldbarsche nehmen können», murmelt der Fischer, indem er sich wieder setzt. «Ich hab absichtlich den Karpfen genommen, weil der schon hergerichtet war. Ich wolllte nicht mit der Patzerei anfangen vor dem Besuch, du weißt ja, wie lange das bei den Barschen immer dauert», verteidigt sich die Frau. «Mir ist das schon recht, es riecht ja schon ganz köstlich», füge ich mich nun auch in diesen Umgangsstil ein. Ich finde es auch recht lustig, wie der Vater da mit seinen zwei Sprößlingen auf dem Schoß dasitzt und sie ein wenig kitzelt, und wie der Kleine in seinen Stoppelbart fährt und rupft. «Schluß jetzt, Erna, deck die Teller auf. Die Kartoffeln kannst du auch schon auf den Tisch stellen», weist die Frau die Tochter an. «Die Erna ist ja schon so geschickt, das Mädchen macht sich», berichtet der Vater stolz, und die Kleine beginnt mit der Zunge zwischen den Lippen zu werken. Die Frau unterbricht kurz ihre Arbeit und bemerkt: «Die Kinder sind ja sein ein und alles, für die würde er alles tun, ich bin da gar nicht so wichtig.» Sie lacht darüber und dreht noch einmal die Fische auf die andere Seite. Sie brät sie knusprig an. «Das sagt sie immer, das Leben ist nicht leicht», seufzt der Mann. Er nimmt noch einen Schluck und läßt ihn sichtbar die magere Gurgel hinuntergleiten. «Wenn man als Fischer tagein und tagaus am Wasser sitzt, kommen einem so die verschiedensten Gedanken.» Er beugt sich zu mir vor und sagt leise: «Das Wasser fließt einem durch das Hirn.» Ich verstehe das sehr genau, mir ist auch schon allerhand durchgeflosssen. «Die Frau kommt aus der Stadt», erwähnt die Mutter, indem sie sich schon wieder die Haare hinter die Ohren klebt. Er nimmt einen sinnenden Fernblick an und sagt: «Ja, das ist dort alles zerfallen, jetzt denke ich mir manchmal so am Wasser, wenn ich allein bin, daß das vielleicht etwas Gutes hat ...» Die Frau stellt die Pfanne mit den Fischen mit energischem Druck auf die Tischplatte und stützt die Hände in die Hüften: «Aber du wirst doch nicht sagen wollen, daß es gut ist, wenn sie alle auf einem Haufen zusammenkollern.» Sie nimmt die Flasche mit einem
Ruck weg und verstaut sie wieder in dem Wandkasten. Der Mann rappelt sich aus seiner Philosophie heraus und gibt sich wieder sachlich und gastfreundlich. [273] «Greifen Sie zu. Es ist bescheiden, aber mit eigener Hand gepflückt.» Das Mädchen lacht über diese Formulierung und kichert mir zu. Der Kleine fängt auch zu glucksen an, ich falle mit ein, und der Mann grinst zu seiner Frau hin, die ihr Gesicht ebenfalls zu einem Lächeln lichten muß. Ich greife zu, nehme mir Kartoffeln und ein Stück Fisch, und dann nimmt sich der Vater. Die Mutter gibt den Kindern. Dem Kleinen zerteilt sie die Kartoffeln. «Noch mehr!» giert der Bub und bewegt die Hände von der Pfanne zu seinem Holzteller, als wolle er alles auf einmal haben. «Iß erst einmal, was du auf dem Teller hast. Ich bin schon froh, wenn du das aufißt. Die Augen sind immer viel größer als der Mund», stoppt ihn die Mutter und schiebt ihm eine Kartoffel hinein. «Heiß!» schreit er auf und spuckt das Stück wieder zurück. «Mann, schau dir den Jungen an, wie sich der aufführt und noch dazu vor dem Besuch», empört sie sich, und der Vater meint mit einem Seitenblick auf mich: «Wenn du ihm auch die heiße Kartoffel hineinschiebst. Laß ihn allein essen, er macht das schon.» Jetzt erst bemerke ich, daß die Mutter steht und weder einen Sessel hat, noch etwas ißt. Sie hat auch keinen Teller und keinen Löffel. «Ich nehme Ihnen wohl den Stuhl weg», schalte ich mich ein. Mir ist das wirklich unangenehm, und ich erhebe mich ein wenig. «Bleiben Sie nur, sie ißt fast nie mit uns. Ich habe das schon oft bekrittelt, aber sie ist da nicht zu ändern», bedauert der Mann, indem er mich leicht am Arm wieder niederdrückt. Ich esse langsam weiter und schaue forschend zu der Frau hin, die noch immer zwischen den Kindern steht und aufpaßt, daß sie brav essen. «Ich hab immer wenig Appetit, er vergeht mir immer schon beim Kochen. Ich esse gern die Reste, die müssen ja auch wegkommen», erklärt sie mit einem unsicheren Lächeln. «Lassen Sie es sich nur schmecken», rät sie mir aufrichtig, und das ist mir recht so. Der Fisch ist grätenlos zubereitet, schön durchgebraten, und die Kartoffeln passen herrlich dazu. Auch sie sind angebraten. Auch daß es stark gesalzen ist, schmeckt mir gut. «Sie haben eigene Kartoffeln angebaut?» wende ich mich an den Vater. «Ja, die Arbeit auf dem Acker macht zum größten Teil meine Frau, aber wir helfen zusammen», meint er mit einem verbindenden Blick zu seiner Frau. [274] «Mir bitte noch Kartoffeln», regt sich das Mädchen, vielleicht auch, um die Mutter wohl zu stimmen. Ich überlege, ob ich nicht vielleicht auch nachverlangen soll, aber ich habe noch etwas, und es wäre vielleicht unhöflich gewesen. Das hätte sie vielleicht beleidigt. Wir essen still weiter, man hört die Löffel an den Holztellern schaben, die Mundgeräusche, das Schlucken und das Auflöffeln. «Ich kann nicht mehr», raunzt der Kleine und lehnt sich müde, den Löffel in der Hand hängen lassend, an den Tisch. Die Frau hat inzwischen am Herd gewerkt und kommt wieder herzu. Sie hat sich anscheinend in der Stille irgend etwas überlegt, jedenfalls ist sie überraschend mild und meint entschuldigend: «Der Hansi wird schon müde sein, er hat Mittag nicht geschlafen. Er macht mir jetzt immer solche Geschichten.» Sie nimmt den Hansi auf den Arm und trägt ihn zum Bett. Sie zieht ihm das Höschen aus und wäscht ihn in einem Schaff, in dem sich der Mann gewaschen hat, während ich mit Erna den Tisch abräume. Der Vater will mithelfen, aber er bleibt dann brummelnd am
Tisch sitzen. Niemand unterbindet meine Räumarbeiten. Hansi lehnt an der Mutter, den Daumen im Mund, den einen Arm um ihren Hals gelegt, schon mit kleinen Augen. Sie tätschelt ihn wieder liebevoll, legt ihn dann in das große untere Bett hinein und deckt ihn mit einer grobgewebten Decke zu. «War doch ein wenig viel heute für ihn. Soviel Neues», meint die Mutter noch mit einem Blick auf das Kind. Draußen ist es schon dunkel geworden. Der Vater entzündet mit einem Span vom Herd die Tranleuchte. Ich setze mich mit Erna auf den Türstaffel, und sie rückt ganz nah an mich heran. Wir schauen in die ersten schwach aufdämmernden Sterne. Hinter uns wird geredet und gerichtet, etwas leiser, damit der Kleine nicht gestört ist, und die Mißstimmung rückt wieder ein wenig an das Gefühl von Geborgenheit heran, während ich auf das Wasser und die Lichter darüber blicke. Wie überall wechselt die Stimmung der Verlorenheit und der Haltlosigkeit mit der Erscheinung von Ordnung und Geborgenheit, wechselt das Verstehen mit dem Mißverständnis, wie die Wellen unter dem Steg schlagen und aussetzen, unregelmäßig getrieben und ohne daß man die Ursache festhalten müßte. Die Eltern haben aufgebettet, nur ein paar leichte Tücher und ein Polster, und vor allem haben sie sich geeinigt über einen mir selbst langsam wichtig werdenden Punkt. [275] «Sie schlafen hier auf der Bank. Der Kleine schläft bei uns und Erna oben», sagt die Frau, so als sei das eine beschlossene Sache. Ich bin über diese Lösung, die sie so sicher anbieten, erstaunt. Vielleicht hat die Verlegenheit aber auch nur darin bestanden, daß man nachgedacht hat, wie man mich unterbringen könnte, und ich habe geglaubt, sie wollten mich schon draußen haben. Die Kleine hüpft an mir hinauf und ruft: «Du bleibst da, das ist fein. Du bleibst immer da, ja?» Nun bin ich es, die sie energisch zur Ruhe mahnt mit einem Fingerzeig auf den bereits schlummernden Hansi. Er öffnet bei Ernas Ruf noch einmal kurz die Augen und dreht sich dann, geräuschvoll am Daumen nuckelnd, auf die andere Seite. «Ich bleibe nicht immer da», sage ich leise zu ihr, meinen Zeigefinger auf ihre Nasenspitze tippend, aber eigentlich mehr für die Eltern zur Beruhigung. «Wenn ich aber heute nacht hier sein könnte, wäre ich sehr froh», wende ich mich an die beiden Erwachsenen, die nun recht vertraut nebeneinander stehen. «Das ist doch selbstverständlich. Der Strohsack ist ganz gut, aber die Decke ist rauh», sagt die Frau und zieht sie ein wenig zurück, um die Bank noch einladender erscheinen zu lassen. Der Mann sagt: «Wir sind gewöhnt, früh schlafen zu gehen, schon wegen der Kinder, und ich selbst bin auch immer schon müde. Ich muß ja schon früh hinaus ins Salz.» Ich gehe zu dem Waschschaff und tauche meine Hände ein. Die Frau eilt herzu und schilt mich: «Sie werden sich doch nicht in dem schmutzigen Wasser waschen. Ich bringe frisches.» «Wo ist denn das Klo?» frage ich sie noch, und sie zeigt um die Ecke. Ein kleiner Verschlag steht da, in dem das Bretterklo untergebracht ist. Ich setze mich und genieße die Einsamkeit. Ich will den Menschen drinnen auch ein wenig Zeit für sich geben und bleibe länger hocken, als es nötig wäre. Nie habe ich bei Ruth länger im Klo sitzen müssen, um der Gesellschaft drinnen Zeit für sich zu geben. Die haben immer Zeit für sich gehabt, mit mir und ohne mich. Ob die auch schon schlafen? Und wie schon vorher einmal, als ich mit der Katze allein im Raum war, fühle ich mich hier entlastet. Ich bin neugierig, wer mich auswischen wird. Es hängen große trockene Blätter da. Ganz versunken sitze ich auf dem Brett und fühle mich, als hätte ich diese Erholung verdient. [276]
Draußen schaue ich wieder hinauf zu den Sternen. Sie rufen mich. Sie rufen mich bei Tag mit ihrer Unsichtbarkeit und des Nachts mit ihrem Licht. Bei Tag möchte ich meiner Ahnung Gewißheit verschaffen, sie trotz ihrer Unsichtbarkeit auffinden zu können, und in der Nacht zieht mich ihr Glanz magisch an, weiter und weiter, immer näher an den Übergang von Sichtbarkeit zur Unsichtbarkeit heran, dort wo ich finden kann, was ich vergesssen habe. Hier in der Hütte mag es zeitweise geborgen sein, aber hier leuchtet mein Stern nicht mit voller Kraft, er ist zu hell für den kleinen Raum, ich halte mein Licht bei mir. Müßte ich es noch länger an mich halten, so wäre mir das nicht angenehm, das spüre ich eindeutig, aber ich bin doch dankbar für mein Lager. Ich wasche mir die Hände in dem frischen Wasser, das mir die Frau hergerichtet hat. Ihre Fürsorge fällt mir auf, aber sie rührt mich nicht, sie beunruhigt mich eher. Ich werde die Familie nicht länger mit mir beunruhigen, das hat sie nicht verdient. Drinnen liegt Erna bereits oben und beugt sich zu mir herunter. Ihr Haar ist aufgelöst und hängt frei. Sie ist ein hübsches Mädchen, nur nicht annähernd so klar wie Anja. Ich fühle, daß es hier nicht ganz angebracht wäre, mir die Kleider auszuziehen. Ich bin froh, daß ich mich auch anpassen kann. Ich fühle mich in mir selbst so geborgen und still, daß ich die Mühe der Menschen hier, die eigene Sicherheit aufrechtzuerhalten, als glanzloses Bemühen empfinde. Ich schäme mich meiner Verachtung nicht. Ich bekenne mich zu ihr, und sie stört mein Verhältnis zu den Menschen nicht. Dann lege ich mich ruhig hin, mit einem milden Aufseufzen der Entspannung und lächle der Frau in der Dämmerung dankbar zu, die bereits in einem lockeren Nachtkittel dasteht, mit dem Tranlicht in der Hand. Die Haare hängen jetzt leicht über die Ohren, sie sieht jünger aus, sie sieht ihrer Tochter ähnlicher. Sie schaut länger auf mich herunter, als es ihre Vernunft erlauben kann, sie leistet sich das einmal in der Dämmerung, sie strahlt einmal andere Möglichkeiten aus, indem sie sich in meiner Freiheit sieht, in meiner Unabhängigkeit, in meinem Stern. «Und Sie gehen da so allein?» sagt sie ohne Neugier, ohne Frage, ohne Neid, ohne eine Antwort zu erwarten, ohne Teilnahme und endlich einmal ohne Fürsorge. Sie weiß es, wie ich das mache, und ich antworte nicht, sondern sehe sie nur an, und sie deckt mich zu, ohne daß sie damit für sich eine Tat gesetzt hätte, einfach gedankenlos. [277] Dann bläst sie den Span aus und legt sich selbst auf ihr Lager. «Wo hast du die Flöte hingelegt?» wispert die Kleine noch herunter. «Neben mich auf den Boden», gebe ich leise zurück und drehe mich dann auf die Seite. Wo das Kätzchen schläft? Sicher draußen. Ich dämmere rascher hinüber, als ich es gedacht hätte. Die Frau höre ich noch unruhig hin- und herrücken. Das Stroh raschelt arg. Der Mann schnarcht schon ungehemmt im Schlaf. Fischen soll gesund sein, es beruhigt die Nerven. Am Morgen erwache ich kurz, als der Fischer aufbricht, schlafe dann aber wieder ein, weil sich auch die Frau noch einmal hinlegt, nachdem sie die Tür hinter ihm geschlossen hat. Ich konnte sehen, daß sie ihm ein Paket in die Hand gedrückt hat, anscheinend sein Essen für den Tag. Es wird jetzt rasch heller. Die Ziege meckert. Ich habe mich an das Schlagen des Wassers schon so gewöhnt, daß ich das Geräusch zu meinem gemacht habe. Der Kleine nuckelt im Halbschlaf, und Erni beugt sich jetzt leise zu mir herunter, um mich nicht zu wecken, falls ich noch im Traumland bin. Ich spüre, wie sie über meine Anwesenheit an diesem Morgen erregt ist, so als fiele dieser Tag aus allen ihren vergangenen heraus. Sie brennt darauf, ihn mit mir zu verbringen, aber ich weiß, daß ich ihr diese Freude nicht bereiten kann. Die Mutter erhebt sich bald. Ich lasse sie zuerst ihr Kleid anziehen und noch ein wenig herumkramen. Sie ist leise und versucht Rücksicht auf mich zu nehmen. Ich enthebe sie bald dieser Bemühung, indem ich selbst aufstehe und das Bett ein wenig ordne. «Gut geschlafen?» fragt sie besorgt und öffnet die Tür nach außen. Das Wasser rauscht in einem anderen Ton, heller und unmittelbar.
«Sehr gut, danke», antworte ich und strecke mich. Erni läßt sich von mir herunterheben. Die Mutter flicht ihr die Zöpfe, und das Mädchen will sich gar nicht ruhig halten. Die Frau reißt sie ein wenig an den Haaren. «Glaube du nur nicht, weil heute Besuch da ist, kannst du unartig sein, nein, das führen wir uns gar nicht ein!» fährt sie die Mutter an und fragt mich fast im selben Atemzug, ob ich zum Frühstück einen Becher Ziegenmilch wolle. Ich bejahe das, und sie verschwindet mit einem Topf nach draußen. Die Ziege meckert voll Sehnsucht, ihr volles Euter loszuwerden. Erni zieht mich wieder herunter an den [278] Türstaffel. Sie will anscheinend in einer lieben Erinnerung an gestern mit mir wieder da sitzen. Der Kleine wird wach und kommt herangewatschelt. Er ist noch ganz verschlafen und traumverloren. Erni nimmt eine beleidigte Miene an und dreht den Kopf auf die andere Seite, als sei sie böse über das Auftauchen ihres Bruders. Nicht angenehm für mich, dieses Spiel. Die Milch spritzt in einem scharfen Zischlaut in den Topf. Ich höre die Art der Frau zu melken. «So, meine Lieben, da gibt es gute Milch für jeden. Das stärkt. Viel hat sie ja nicht, die Ziege, aber es reicht für jeden Tag aus. Wir haben ja auch die Wasserquelle. Den Hansi habe ich hauptsächlich mit Ziegenmilch aufgezogen, weil ich wenig Milch gehabt habe», erzählt sie mir und füllt die Becher. «Ein wenig Röstkartoffeln werden vielleicht gut sein, das hält lange vor», bietet sie mir an, und ich stimme zu. «Geht, Kinder, geht spielen, macht nicht immer so einen Wirbel hier herinnen, ich muß für die Tante noch rasch etwas kochen», weist sie die Kinder an, die gar nicht laut waren, aber sie ist irgendwie nervös. Erni ist beleidigt, und Hansi rennt noch immer ohne Hose herum. «Geh, zieh dem Kleinen die Hose an», ruft sie dem Mädchen zu. «Heut komm ich wieder zu gar nichts.» «Wo führt denn dieser Weg hin, hier weiter?» frage ich sie. Sie wird rege und arbeitet gezielter am Herd, rührt die Kartoffeln auf, die sie klein zerhackt hat. Ein knuspriger Haufen geht in der Pfanne auf, und sie berichtet eifrig: «Ja, der Weg am Fluß weiter verläuft sich dann vorn, dort ist es nicht ratsam weiterzugehen, aber ein schöner Weg geht auf den Hügel hinauf, da kommt man in den Wald und weiter dann aufs Sanatorium.» Sie zeigt mir die Richtung durch das Fenster und lacht dann im Scherz zu mir, weil sie das Sanatorium erwähnt hat. Sie rechnet nicht damit, daß mich so eine Einrichtung interessieren könnte. Das ist wahrscheinlich der Unterschied zwischen uns beiden. Wenn er allerdings mit einem Lächeln zu überbrücken ist, kann er nicht von zu großer Bedeutung sein. Mir ist das sehr recht, und ich greife um so lieber zu und lasse mir die Kartoffeln schmecken. Die Kleinen kommen wieder an die Tür, sich vorsichtig vergewissernd, ob die Mutter jetzt wieder besserer Laune sei. Sie ist es, und die Kinder essen sogar ein wenig mit mir aus meinem Teller. «Bei mir essen sie nie etwas am Morgen, da muß ich froh sein, wenn sie einen Schluck Milch hinunterbringen», lacht sie jetzt, und ist gar [279] nicht mehr böse zu den Kindern. Wir putzen den Teller noch sorgfältig aus, und diesmal erhebe ich mich gleich und lasse keinen Höflichkeitsabstand, denn diesmal beruht mein Feingefühl auf einem baldigen Abgang. Ich trete zur Tür hinaus und stehe wieder an der Hausecke, wo mich die drei begrüßt haben. Erni hängt sich an mich. «Ich muß jetzt gehen», sage ich. «Und einen herzlichen Dank für die Gastfreundschaft und auch noch Grüße an Ihren Mann.» Ich drücke die Hand der Frau und sehe ihr in die Augen. Sie schaut mich an, und ich merke mit Erstaunen, daß ich diesen Abschied gelten lassen kann und daß ich zu ihm stehe wie ich zu allen Abschieden stehe, zu den wortlosen, zu den hastigen, zu den überstürzten und den vorhergeahnten und zu den nie vollzogenen. Hier lasse ich eine Formel zurück, beim Einsiedler habe ich eine Bewegung zurückgelassen, und mich selbst habe ich dazuge-
wonnen, wie auch immer ich mich verabschiedet habe. Erni gebe ich einen kameradschaftlichen Klaps auf die Wange. Der Kleine ist überhaupt nicht so sehr versessen auf mich, und das ist mir recht. «Grüßt doch, die Tante geht schon», nötigt die Mutter sie noch einmal. Ich hoffe, daß es das letzte Mal gewesen sein muß, daß sie die Kinder meinetwegen zurechtweist. Ich gehe den Weg entlang, die Hand wieder an meiner Flöte und blicke nicht mehr zurück. Ich will Erni nicht winken und dann mich wieder umdrehen müssen. Ich gehe weiter, noch ein Stück am Fluß entlang unter der hellen Sonne, die nun schon so viele Tage über mir steht. Der Weg trennt sich vom Fluß ab und steigt etwas an, leicht nur, es macht keine Mühe weiterzukommen. Das Rauschen wird leiser, fällt ab und sickert langsam aus meinem Kopf, Welle für Welle. Ein ruhiges Summen bleibt zurück, so als sei etwas ausgeleert worden. Die Vögel zwitschern wieder, ein Salamander sonnt sich auf einem Stein. Der Weg wird nicht steiler, nur etwas breiter und straßenähnlicher. Er schlängelt sich in weiten Serpentinen sanft den Berg hinauf. Mischwald säumt die Straße. Manchmal wirft er Schatten auf die Steine, manchmal brennt die Sonne auf meine Haut. Nach einiger Zeit taucht immer wieder das Sanatorium auf der Anhöhe auf. Der Bau ist terrassenförmig angelegt. Ein großer klarer Block unten, ein kleinerer in der Mitte, zurückversetzt, und ein noch kleinerer Block obenauf. Weite Grasflächen, oder möglicherweise auch nur [280] Maueraussparungen, lassen die einzelnen Etagen offen und luftig erscheinen. Das Bauwerk selbst wird durch mächtige Pfeiler getragen. Noch ein Salamander, was die für eine Ruhe haben beim Sonnen, die schauen nicht einmal auf. Steine, Erdflächen, kleine Pflanzen und Gräser, die Straße, eine Landschaft, eine Welt lebt da am Boden unter mir. Die Weltkugel dreht sich, und ich stehe still, nur meine Beine treten immer weiter, wie die eines Riesen, und ich lebe mit meinem Zwergengehirn da unten im Staub, in jedem Körnchen, verloren unter der Sonne, zwischen den Käfern und den kleinen Würmern, die rasch in die Erde verschwinden, wenn mein Schritt daherdonnert, wo ich doch ohnehin so weich in meinen Schuhen bin. Ein Schmetterling flattert um meine Haare, ein gelber, er glaubt, ich sei auch ein Schmetterling, dabei bin ich ein kleiner Käfer, der da glänzt auf einem großen Stein. Ein Glassplitter und daneben so ein brauner Hügel, wie sie die Ameisen bauen, eine große Glockenblume, die man fast läuten hören kann, und wieder so viel Straße und Schotter und Kiesel und Staub und Erde und Sonne und Schatten und Verlieren in Gedanken unter meinem Weg, der geht und zieht an einer Schnur unter mir weg, unter meinen Beinen durch, die wieder einmal anhalten an der Biegung, daß ich auf das nun schon größer gewordene Gebäude blicken kann. In luftiger Mächtigkeit steht es da. Wenn ich bedenke, daß es eine letzte Stätte sein soll, so liegt in seiner Offenheit und Freizügigkeit eine Diskrepanz zu seinem Zweck. Ich würde da oben eher eine Pflanzenzucht an der Sonne anlegen oder ein Maleratelier. Die Zeit, die Zeit, die hängt mir im Kopf, möglicherweise ist es auch die Sonne, die das letzte Wegstück wieder arg und ungehemmt auf mich niedergebrannt hat. Ich sehe vorn eine Gestalt auftauchen. Ein Mensch geht langsam, sehr mühsam, hinan, bleibt nach fünf, sechs Schritten stehen und versucht es dann wieder. Ich halte an und beobachte das Spiel vor mir. Sehr viel Energie scheint dieser Mensch nicht mehr zu haben. Es ist ein Mann, sehe ich jetzt, er trägt eine lockere, überweite Hose an Hosenträgern, sonst nichts. Sehr alt kommt der mir gar nicht vor, aber er tut sich mit dem Atmen schwer. Ich sehe schon, ich muß an ihm vorbei, und das bald, weil er immer langsamer wird, immer öfter stehenbleibt, bis er sich überhaupt ins Gras an den Wegesrand setzt und dort sitzen bleibt. Als ich schon ganz nahe bei ihm bin, blickt er aus wässerigen Augen auf, mit einem [281] Gesicht, das eine erhitzte, fleckige Rötung in einer gefährlichen Blässe zeigt. Dazu macht er aber eine heitere Miene und sagt heiser, leicht kichernd:
«Jetzt geht's nimmer, ich schaff s nicht mehr, ich merk das schon.» Die paar Worte haben ihn wieder außer Atem gebracht, und er hält sich die blau durchäderte Hand ans Herz. Er reißt tief atmend Luft in sich hinein, so als sollte eine Verklemmung im Herzen beseitigt werden. Er ist nicht alt, vielleicht über vierzig, mager am Körper, sonnenbraun und noch glatt auf der Haut. Die Haare und der Bart sind schon schütter und werden an den Enden sehr dünn. Die Hosenträger schneiden ihn an den Schultern ein, oder vielleicht sieht das so aus, weil die Haut dort weiß geblieben ist. Ich finde seinen Zustand außerordentlich alarmierend, ich bin beunruhigt, aber ich zeige das nicht so und setze mich selbst auf einen Stein. «Ich bin auch schon recht müde, der Weg ist weit hier herauf», gebe ich mit einem Seufzer kund und schließe dann gleich wieder wie gekräftigt an: «Vielleicht versuchen wir's dann miteinander noch ein Stück, es ist ja nicht mehr weit.» Auch ihm ist es keine Frage, wohin ich will, obwohl das bei mir ja nicht so offensichtlich ist. Er winkt ab und krächzt: «Aber nein, es muß ja nicht sein. Warum soll ich da noch hinaufklettern und mir die Mühe machen - daß ich dann eine bessere Luft zum Sterben habe?» Er winkt mich zu sich her und will mir etwas ins Ohr sagen. Ich tue ihm den Willen in besorgter Eile. «Weißt du, ich verrate dir etwas, die Luft ist dort oben nicht ein Grad besser als hier, es ist dieselbe», flüstert er mir zu, indem er seine Hand wie eine Muschel vor seinen Mund hält. Er zieht dann wieder rasselnd Luft durch die Lungen, auf das Herz hält er sich die Hand, noch mehr ergrauend im Gesicht, besonders um die Nase. Der macht vielleicht Späße, denke ich, und zugleich geht mir auch durch den Sinn, was ich wohl mit ihm machte, wenn er mitten am Weg stürbe, falls ich ihn zum Weitergehen animieren könnte. Zugleich ist mir aber bewußt, daß er nicht mir, sondern selbst sterben würde, und ich keine Verantwortung für den Ort seines Todes habe. Mir leuchtet dann selbst ein, daß es gleich ist, ob es ihn hier trifft oder einige Meter weiter oben. «Ich meine aber, man könnte dir da oben noch helfen, wenn du es [282] schaffst, viellleicht daß du nicht solche Atemnot hast und nicht solche Herzschmerzen. Geh, komm, ein Stückchen noch, ich stütz dich auf der einen Seite», bitte ich ihn, schon allein für mich, damit ich nicht zusehen muß, wenn er da stirbt oder daß ich nicht das Gefühl haben muß, kaltblütig an ihm vorbeigegangen zu sein. Ich kann ihm anscheinend nur helfen, indem ich ihn weiterplage, und ich muß mich jetzt mit ihm plagen, das spüre ich. Und wirklich, er versucht sich murmelnd aufzurappeln, fast folgsam und viel rascher, als ich mir das vorgestellt hätte. «Bitte, wenn du unbedingt willst, ein paar Meter vielleicht, wenn dir damit gedient ist. Ich bin ja sonst nicht so ein guter Mensch gewesen, aber jetzt kann ich schon einmal eine gute Tat tun», stößt er mit letzter Kraft hervor, während ich ihn hochziehe, und er dann wankend dasteht, die Augen im Schwindel verdrehend. Zitternd streckt er die Hand aus und weist an einen nicht allzu weit entfernten Baumstamm, der quer über der Straße liegt: «Bis dorthin, einverstanden, und dann läßt du mich liegen und gehst schön weiter, ja?» «Gut, bis dort hin einmal, dann werden wir schon weitersehen», gebe ich mich zufrieden, und wir fangen an, Schritt für Schritt zu gehen, langsam wankend, weil er das Gleichgewicht schwer halten kann. Er ist größer als ich und trotz seiner Magerkeit schwerer, ich muß mich arg gegen ihn anstemmen, um ihn zu sichern. In den Beinen selbst ist er ja noch nicht so schlecht. Sein Atem macht mir das Gehen am schwersten, sein Gewicht wäre es nicht so sehr gewesen. Ich übertrage sein Ziehen auf mich selbst und spüre mein eigenes Herz wie ein Hammerwerk. Mir wird selbst ganz taumelig, aber ich halte mich und ihn eisern, während ich flattere, denn ich will ja da hinauf, ich will mir das ansehen, mich treibt etwas, aber ihn anscheinend nicht, denn er läßt sich schon ein gutes Stück vor dem
Baumstamm mit einem Aufseufzen der Erleichterung niederfallen, nicht ungeschickt, weich in die Wiese hinein, und dort bleibt er liegen, die Augen weit in den Himmel gerichtet, er schnauft noch ein paarmal durch und sagt dann mit klarerer Stimme: «Die Käfer sind wie die Steine.» Er hat sich so überraschend hinsinken lassen, daß ich auf einmal ganz leer dastehe, selbst noch wankend. Ich beuge mich zu ihm hinunter, und er meint mit einer zitternd einladenden Handbewegung: [283] «Komm, setz dich in Ruhe her, wozu willst du dich abstrampeln, ich für meinen Teil habe in meinem Leben Bewegung genug gemacht.» Er hält ächzend inne und fügt dann hinzu: «Wir haben eine wunderbare Akrobatengruppe gebildet, das war eine Sache, Türme haben wir gebaut, jeden Tag, wir konnten lange so stehen und mußten nicht einmal das Bein wechseln.» Ich hätte gar nicht erwartet, daß er jetzt noch so intensiv in sein Leben einsteigt, und ich bestärke ihn in seiner Erzählung, weil sie mir wie ein neuerlicher Kraftanstoß erscheint. Er sinkt aber jetzt wieder in sich zusammen, und ich muß schnell eine Frage stellen, sonst redet er vielleicht nicht mehr: «Und warum bist du nicht bei der Gruppe geblieben?» «Na, glaubst du, daß ich noch ein guter Akrobat bin?» meint er lachend, rasselnd, stützt sich auf einen Ellbogen und sieht mich mit einem komisch entgeisterten Blick an. Das Lachen löst einen Hustenanfall aus, von dem er sich nur langsam erholt. Mitten im Krampf ersucht er mich, ihm auf den Rücken zu schlagen. Ich weiß nicht recht, ob das in diesem Fall noch hilft, aber klopfe ihm doch sachte drauf. «Nur zu, ich halte das schon aus», lacht er schon wieder, und ich verliere langsam dem Maßstab, wie ich seinen Zustand nun eigentlich beurteilen soll. «Warum bist du denn nicht in der Gruppe geblieben, bis du dich wieder etwas erholt hast?» «Ich erhole mich doch nicht mehr, ich bin sterbenskrank, siehst du das denn nicht?» Und jetzt fängt er auch noch an, absichtlich schwer zu atmen, daß ich seinen Tod hören soll, der schon ganz vorn in ihm sitzt oder ganz drinnen. «Na, die hätten dich doch sicher auch so in der Gruppe behalten, so werden die doch nicht sein», bedenke ich, ihn fast etwas scheltend, seiner Unvorsichtigkeit wegen. Da überlegt er eine Weile und legt sich wieder zurück. Er macht die Augen zu und ist so still, er atmet auch nicht mehr schwer. Ich kenne mich nicht aus, denkt er so lange nach, geht es schon zu Ende, vielleicht ist es schon soweit oder hat er mich vergessen? Ich bewege mich etwas, ihn anstoßend, und da blickt er wieder auf, so als sei nichts gewesen, und ich frage noch einmal: «Müssen da alle weg, wenn sie nicht mehr können?» «Nein», meint er langsam und wie beiläufig. «Aber ich fühle mich nicht mehr recht zugehörig, die Akrobatik ist unsere gemeinsame [284] Begeisterung gewesen, die hat uns verbunden, selbst wenn sie bloß aus der Gewohnheit bestand, die Muskeln zu beherrschen, aber jetzt hält mich nichts mehr dort.» Das letzte sagte er mit einem bedeutsamen Blick auf seinen Körper. «Wo seid ihr denn aufgetreten?» «Aufgetreten?» meint er erstaunt. «Aufgetreten sind wir nirgends, wir haben kein Publikum gehabt, wir haben das für uns selbst gemacht, zwischen den Mahlzeiten und dem sonstigen Kram, den Menschen so machen», sagt er selbstverständlich und gerät dann in ein angeregteres Mitteilungsbedürfnis: «Ja, früher, ich war noch ein Junge, da sind wir in einem Varieté aufgetreten, aber die meisten, die da mit von der Partie waren, sind schon lange gestorben.» Damit legt er sich
wieder lang. «Und jetzt würdest du dich bei dieser Gruppe da oben besser fühlen?» Er bleibt diesmal gleich liegen und dreht nur den Kopf auf die Seite, um sich nicht beim Sprechen zu verschlucken: «Was heißt besser, ich fühle mich ja nicht schlecht, aber du mußt doch selbst sagen, daß ich eher zu einer Sterbegruppe gehöre als in eine Akrobatengruppe.» «Na ja, dann gehen wir aber auch dahin, wenn du das meinst. Dieses Stück wirst du doch noch schaffen», flehe ich ihn an und finde mich in meinem Drängen selbst schon komisch. «Du kannst ja gehen, Kleine, aber laß du mich gefälligst da sterben, ich will nicht mehr hinauf, mir ist das einfach zu weit, ich sehe nicht ein, warum du mich nicht liegen lassen kannst?» Jetzt ist er fast ein wenig böse. «Tu es mir zuliebe, wenn du es schon nicht für dich tust», setze ich schon die letzten Seelendrücker an, die mir einfallen. Er rappelt sich zum Sitzen auf, fahrt sich durch die Haare und meint: «Wünsche hast du vielleicht, was du dir da so ausdenkst, vielleicht hat dir die Sonne nicht gutgetan?» Jetzt macht er mich noch blöd, und sich zum Gesunden, aber ich erhebe mich, als ich sehe, daß er die Hosenträger wie in einem letzten Aufschwung auf seine Schultern schnalzen läßt und sich mühselig aufrichtet. «Jetzt trägst mich aber, weil - ich kann nicht mehr.» «Nein, nein, ein Stück geht es schon noch.» Wir wandern und wanken, taumeln und schnaufen und bleiben stehen, um nicht mehr [285] weiterzuwollen, gehen wieder und kommen immer näher, langsam wäre es ein Hohn auf unseren Entschluß und unsere Bemühungen, wenn wir jetzt noch nachließen. Das letzte Stück geht es wieder besser, ich kann meine Stütze verringern und selbst ein wenig verschnaufen. Wir sind in der gemeinsamen Anstrengung aneinander gewachsen, für nichts und wieder nichts, ohne etwas zu klären, anzufangen oder zu beenden, wir sind da. Unmittelbar vor dem Gebäude breitet sich eine Wiese aus, eine weit ausladende Kuppe bildend, rund und grün. Kühe weiden auf einem der sanften Hänge. Das Gras läuft bis zum Wald, der wie ein zweiter konzentrischer Kreis eine Grenze rund um das Gelände bildet. Oben am Dach auf einem spitz zulaufenden Stahlgerüst saust ein großes Windrad mit einer Richtungsflosse. Vorn ist ein Bassin in den Beton eingelassen, in welchem Seerosenblätter schwimmen und Algen, lauter grüne Wunderlichkeiten, die von selbst wachsen, wenn man solche Anlagen nicht pflegt. Die Wände bestehen tatsächlich zur Hauptsache aus Glas, nur da und dort ist eine Front zerbrochen oder fehlt überhaupt, doch dann sind Bretter eingesetzt. Ein riesiges Glashaus auf Betonpfeilern, durchsichtig, spiegelnd. Meine Sicht ist verzerrrt. Irre ich oder schweben da eine Unzahl von totenbleichen Gesichern, die auf mich herunterstarren, hinter Glas, auf mich zeigend, mich erwartend, mich lockend, in einer geilen Erregung, so daß ich die Augen zukneife und Genaueres sehen will. Ein Trugbild? Jetzt geht ein älterer Mann dort an der Baumgruppe vorbei, langsam und bedächtig, still in sich gekehrt. Er hat keine Fratze, er hat ein altes, müdes Gesicht, seine Haltung ist nicht geisterhaft, er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein neuerlicher, mißtrauischer Blick an die Scheiben, drinnen herrscht Ruhe, kleine Gruppen wandern dahin, manchmal humpelt einer schneller daher, steif und ungelenk. Aber jetzt, für einen Augenblick, da war es wieder, dieses Gesicht am Fenster, wie ein riesiges geiles Maul, aber nicht so wie bei Ruth die Leute waren, sondern anders, viel ärger, viel zwingender und viel endgültiger. Dabei ist das Gebäude so durchsichtig und klar angelegt, so offen und frei. Die Nebenfronten wirken
wie Hauptfronten, ich bin gar nicht sicher, wo der Haupteingang ist, weil es viele Eingänge gibt. Ein kleines Mädchen geht langsam an mir vorüber, ich kann meine Augen nicht von ihm abwenden. Es ist mager und bleich, in einem [286] weißen kurzen Hemdchen. Es ist krank und geht hier mit einem alten Gesicht gelassen spazieren. Sie sieht mich mit einem abseitigen Blick an, den ich nicht mehr loskriege, der klebt an mir, aber sie ist es nicht, was so starrt, ich bin es, ich kann mich nicht lösen, sie selbst geht langsam weiter. Ein hohler Engel. Mein Begleiter ist da nicht so entgeistert, dem ist jetzt fast wohler als mir. Er hält mich am Arm zurück, weil da vier Leute kommen, die einen Menschen auf einer Bahre tragen. Das Mädchen bleibt auch stehen, um die Träger vorbeizulassen. Zwei Frauen und zwei Männer, aber selbst auch behindert. Die eine Frau hat ein krankes Bein mit dicken Tüchern umwickelt und sollte selbst besser auf der Bahre liegen. Sie lacht ihrem Nachbarn zu, der jünger ist und kein sichtbares Gebrechen hat: «Bin neugierig, wie weit der Alfons es schafft!» Einer der vorderen schnauft, in sich hineinkichernd, und fängt an, mit seinen mageren Beinchen wie im letzten Rennen noch zu laufen und zugleich immer mehr einzuknicken, bis er ins Gras sackt und nach Atem ringen muß, die Bahre plumpst ins Gras, und auch die anderen drei setzen sich hin. Die Frau erklärt triumphierend: «Ich hab's ja gesagt, wir schaffen's mit dem Alfons nicht weit. Die Tote muß wohl allein auf den Friedhof gehen, die wird's schon treffen.» Die vier sind heiter über diese Worte, und der gebrechliche vordere Träger kann sich kaum halten vor Kichern, mitten in seinem Asthmaanfall. Er deutet uns mit seinem abgemagerten Arm, so als könnten wir ruhig weitergehen, es würde mit ihm noch eine Zeitlang brauchen. Beim Vorbeigehen schaue ich auf die Bahre. Eine Frau liegt da drauf, nackt, sie hat die Augen geschlossen, sie ist tot. Wieder hebe ich meinen Blick zu den Glasfronten hinauf, im Zweifel, ob ich da wohl hineingehen kann und soll, und ob ich überhaupt will. Diesmal sehe ich wieder nur einige dieser flatternden Gestalten dahinhuschen, als würde trotz aller Ermattung irgendein erregender Geist herrschen, eine interessierte Erwartung trotz der Krankheit, aber so als wäre denen das eine Lust. Ein erregendes Summen, ein Raunen der Erwartung. Ich suche wie zum Schutz nach meinem Begleiter, aber der hat sich anscheinend in Krankheitssympathie zu dem Abgesackten gesetzt, und sie reden nun stoßweise hustend und krächzend, einander auf den Rücken schlagend, über ihre Anfälle. Ich möchte mich da nicht dazusetzen, ich fühle mich eigentlich nicht zugehörig. [287] Die zweite Frau dieser Gruppe ist noch ziemlich jung und macht keinen sehr kranken Eindruck, sie hebt sich etwas auf die Knie und ruft mir mit heiserer Stimme zu: «Du wirst verschwitzt sein. Kannst unten baden. Laß dir Wasser in eine Wanne ein.» Ich bedanke mich mit einem Nicken für diesen vertrauenerweckenden Vorschlag und bewege mich etwas mutiger weiter, immer näher an das Glashaus heran. Am Teich steht ein Mann, von oben bis unten in weiße Tücher eingehüllt, die eng am Leib anliegen. Um den Kopf hat er eine Binde. Er stützt sich auf einen Stock. Er bewegt sich zu mir her und muß an einem Busch vorbei, welcher saftige blaue Blüten trägt. Kurz bevor er ganz verschwindet, ist mir für einen Augenblick, als streckte er seinen Kopf von hinten durch den einen, jetzt in die Hüfte gestemmten Arm durch, um mich von dort unten her anzusehen. Die ganze Zeit über habe ich keine Augen an ihm bemerkt, aber dieses Licht eines Blicks war so klar auf einmal, wenn auch nur kurz. Als er wieder hervorkommmt, ist seine Gestalt wie immer gebrechlich weiß und krank, aber normal. Bei einer Glastür kommen jetzt drei Menschen heraus, langsam, sie stützen eine von ihnen, die nur schwer weiterkommt. Die Frau hat kein sichtbares Gebrechen, aber sie braucht die beiden anderen, um sich fest in sie einzuhängen. Nur der Auszug durch die Tür
war so umständlich, jetzt gehen sie recht fröhlich einher. Zwei Frauen und ein Mann, miteinander plaudernd, manchmal innehaltend im Gehen und auch im Sprachfluß und dann wieder bewegt, so als spazierten sie in einem Park. Und tatsächlich, sie ziehen da zur Wiese hin, auf der Kühe friedlich weiden. Sie steuern auf eine Bank zu, die an einem dicken Baumstamm steht. Ich greife zufällig an meine Flöte und behalte sie ein wenig in meiner Hand, fühle ihr Holz und freue mich, daß ich kein Gespenst bin. Ich drücke dieselbe Glastür auf, welche die drei benützt haben, und komme in eine gekachelte Halle. War es von außen das Glas, das meinen Blick im Zerrspiegel irritierte, so ist es hier der Ton, der sich in der Halle bricht, an die Wände stößt und zu mir zurükkrollt, ein Echo von vielen Stimmen, die ich nicht sehen kann und die auch nicht eigentlich laut sind, aber sie sind da. Ich schaue nach oben und erkenne, daß die Halle nicht nur dieses eine Stockwerk umfaßt, sondern [288] bis hinauf in den letzten Block reicht. An den Seiten zwischen den Glaswänden ist sie offen bis obenhin. Die obere Zwischendecke steht auf Beton, weil auch hier drinnen mächtige Pfeiler alles stützen. Die Treppen verlaufen frei aufgehängt bis hinauf. Ein Freiluftdom, ein Glasfreihaus, und die Stimmen sind deswegen so lebendig, weil sie von allen drei Etagen zusammenkommen, aus allen Richtungen sich in unzähligen Winkeln treffen, zu Wellen vereinigen und an die nächste Wand geraten, die das Echo weitergibt an mich, und zurück an die Menschen, die wie die Vögel hier herumtappen. Schattenhafte Gestalten, aber erregt über ihr letztes Flattern vor dem endgültigen Abflug. Der Übergang macht sie lebendiger, als es die Lebenden sind. Macht sie glasiger und wandlungsfähiger, als es die Toten sind, macht sie zu Gespenstern, obwohl sie nur kranke Menschen sind. Ihre Haltung erschreckt mich, ihr Verweilen vor dem Abgang, obwohl sie schon am Ende sind. Vier Menschen sind mit dem Bereiten eines Breis beschäftigt. Einer schält umständlich Kartoffeln, schaut nach jedem Schalenabzug verloren in die Runde und wäre nie fertig geworden, wenn nicht die beiden Nebenmänner schneller gearbeitet hätten. Der eine hat keine Beine mehr, aber dafür um so flinkere Hände. Er schält und schnattert dabei erregt auf den Langsamen ein: «Kartoffelbrei ist überhaupt das einzige, was ich noch essen soll. Die Milch wäre auch genug, ich wäre überhaupt dafür, daß wir das Essen lassen -» Da kippt demjenigen, der die Kartoffeln in der Milch zerstampfen will, der riesige Kessel um, und das halbfertige Püree rinnt sachte und wellig auf den Kachelboden. Mit letzter Kraft hat er gestampft, ich glaube, er hätte sich zu Tode gestampft, in die Kartoffeln hinein, und jetzt rinnt das Essen für die Kranken da über den Boden. Viele kommen herzugehumpelt, gegangen, gestützt, gelaufen und gehaspelt, und sie lachen herzlich über dieses Bild. Zwei fangen an, auf dem Brei zu schlittern, aber sie sind zu schwach, um es lange zu treiben. Eine noch recht kräftige Frau trägt ächzend einen neuen kleinen Topf Kartoffeln herbei und meint in Atemnot: «Milch haben wir halt heute nur mehr wenig.» «Es geht schon so, Heli hat ja überhaupt gesagt, daß wir nichts mehr essen sollen.» «Die kriegst du auch ohne Zähne klein, du mußt sie nur zerdrücken.» [289] Und der mit den Stümpfen zeigt, wie man essen muß, wenn man keine Zähne mehr im Mund hat. Die Runde verläuft sich wieder langsam, teilt sich in die Stockwerke auf. Einige sind auch nur an den Brüstungen gestanden und haben heruntergeschaut. An den Treppen hängen einige Kranke wie die Fliegen, und das surrende Raunen verteilt sich wieder, geheimnisvoll sich brechend, über das ganze Glasgebäude. Niemand denkt daran, die Bescherung wegzuputzen, sie arbeiten ruhig weiter an einer neuerlichen Essenszubereitung einfachster Art. Eine nackte alte Frau geht an mir vorbei. Sie ist fülliger als die meisten anderen, sie blinzelt mir freundlich zu und kommt nahe an mich heran:
«Geh am besten hinauf, du findest sicher irgendwo ein freies Bett.» Dann wackelt sie langsam weiter in den Garten hinaus. Sie ist ein wenig wie Ruth, aber älter und sehr blaß, besonders an den Wangen. Zwei Kinder sitzen auf der Treppe. Das eine ist verkrüppelt. Es lehnt wie aufgestützt an einer Stufe, aber ich kann erkennen, daß es auf einer Körperseite ganz einfach kürzer geraten ist. Sonst sieht es gesund aus, ein liebes Gesicht hat es, die neugierigen Augen auf mich gerichtet, solche lebendigen Augen, wie sie Anja gehabt hat. Das andere Kind ist etwas älter und hat keinen Körperschaden, aber um seine Augen liegen tiefe Schatten, und seine Haut ist etwas bläulich angelaufen. Wie von innen her dumpf bestrahlt sieht es aus und befremdet mich, aber es macht mir freundlich Platz, rückt auf die Seite und wendet sich dann wieder den Steinchen zu, welche die beiden da auf der Treppe liegen haben. Im oberen Stockwerk hängen Trennwände frei herunter von der hohen Decke, an Schienen befestigt und am Boden nur locker eingerastet. Ich gehe an den Abteilungen vorbei, die sich auf diese Art bilden. Drinnen sehe ich überall Betten und Tische, Menschen sitzen und liegen, leise sprechend oder still vor sich hin schauend. Ich taste an eine Wand, sie ist leicht wie Schaumstoff. Türen gibt es keine. Ich möchte gern die Bildausschnitte, die sich hier bieten, wie ein gewöhnliches Krankenlager sehen, aber es ist doch anders, es hängt hier etwas genauso frei wie diese leichten Wände, die so massiv aussehen, eine endgültige Fröhlichkeit glimmt in den Sälen, etwas, das jenseits von Krankheit und Siechtum liegt, wie ein Friede, wie eine Vibration, die auch hier oben aufraunt, ihre Wellen schlägt und dann als Erregungsschauer [290] die getrennte, aber in sich offene Halle durchdringt und abhebt mit den Glasfenstern mitsamt meinem Druck in den Ohren. Ich halte sie mir einen Augenblick zu, nicht weil mir etwas zu laut wäre, sondern weil da eine Frequenz schwingt, die mir nicht vertraut ist, die mich allzu sehr bannt, so daß mich das Suchen nach dem Ursprung dieses Gefühls erschöpft. Ich weiß nicht, ob es in mir oder außerhalb von mir gelegen ist. Ich fühle mich ermüdet. Die Röstkartoffeln haben doch nicht so lange vorgehalten. Hier jedenfalls muß ich einmal haltmachen, schon meinem Zustand zuliebe, und ich gucke in eines der Abteile. Aus dem Nebenraum tragen zwei Frauen gerade einen Mann heraus. Die eine ruft hinunter in die Eingangshalle: «Geh, bring eine Bahre!» Zu der zweiten Trägerin sagt sie erheitert: «Ich hab überhaupt nichts gemerkt. Er war ja oft ganz still, aber diesmal hat er uns wahrhaftig hereingelegt!» Sie lachen und warten geduldig. Sie legen den Toten einstweilen sanft auf den Boden. Ich weiß nicht, ob ich ins Nebenabteil gehen könnte, denn da wäre das Bett des Toten sicher frei, aber ein alter Herr mit einem langen grauen Bart tritt aus dem vorderen Teil auf mich zu und nimmt mich einfach bei der Hand. Er hat gütige Falten um die Augen und schaut überhaupt außerordentlich vertrauenerweckend drein. Er geleitet mich zu einem Bett, ganz außen an der Glasfront, von wo aus ich ins Land hinaussehen kann, wenn ich mich etwas aufsetze, und meint: «Dieses ist frei.» Er läßt mich allein und geht ruhigen Schritts hinaus. Ich bleibe zuerst auf der Bettkante sitzen, mir ist etwas schwindlig. Es sind nicht viele in diesem Abteil, vielleicht fünf oder sechs. Ich lege mich zurück, und vor mir dreht sich alles. Ich muß doch zuviel Sonne erwischt haben. Mein Kopf ist wie mit Luft gefüllt, und es ist gut, daß ich den Schwindel hier ruhig abklingen lassen kann. Ich bin so angenehm ermüdet, und ich möchte hier liegen bleiben, daliegen und nicht mehr aufstehen müssen. Mein Körper ist schwer, der Kopf ist leer. Der Taumel legt sich, und ich schaue auf die anderen. Neben mir ruht eine Frau auf der rauhen Matratze. Sie liegt auf dem Rücken, die Arme links und rechts von sich gestreckt, ebenso hält sie die Beine, und den Kopf hat sie gerade an die Decke gerichtet. Die [291] Augen hält sie offen, leicht und unverkrampft, manch-
mal zwinkert sie auch mit den Lidern. Sie trägt ein schürzenartiges Kleid, hat graues Haar und ist vielleicht fünfzig Jahre. Sehr kräftig sieht sie nicht aus. Mich drückt meine Flöte an der Seite. Ich mache sie los und lege sie an mein Kopfende. Nur manche Betten haben ein kleines Nachtkästchen, einige haben bloß ein Polster. Ich richte mich auf und stütze meine Arme hinter dem Rücken ab. Ich selbst habe ein Polster und einen leinernen Überzug über die Matratze, aber auch das haben nicht alle. An der anderen Seite liegt ein zusammengekrümmter Mann. Er schnarcht leicht. Im Nebenbett sitzt eine Frau, vielleicht so alt wie ich. Sie lächelt mir kurz zu, sie ist mit einem Fadenspiel beschäftigt, nicht besonders konzentriert, nur so zum Zeitvertreib. Manchmal legt sie es auch in den Schoß und sieht zum Fenster hinaus, dann zieht sie wieder die Fäden durch ihre Finger, bildet Muster und Formen und legt das Spiel wieder hin. Gegenüber von meinem Bett steht ein runder Tisch mit einigen Stühlen. Ich habe mich an das auf- und abschwellende Raunen im Haus gewöhnt, auch an meine noch immer andauernde Schwäche, die ich gern als meinen derzeitigen Zustand akzeptieren will, weil ich sonst keine Schmerzen oder schwerwiegende Bedenken gegenüber meiner Gesundheit habe, auch gegenüber dem Raum und den Menschen um mich nicht, so daß ich mich jetzt, diesmal erleichtert, aufseufzend zurücklege, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Der Schnarcher zieht einmal stark Luft durch und ändert seinen Schnarchrhythmus. Ob ich nicht schon einmal so gelegen habe? In einem Bett neben einem anderen Bett? Ich bin matt, und die Frage quält mich nicht besonders. Die Luft ist gut hier, besonders weil die eine Scheibe vor meinem Bett, dort außen an der Glaswand, eine Ventilatoröffnung hat, wo gute Luft von draußen hereindringen kann. Ein Geruch nach Milch und Essen steigt mir jetzt in die Nase. Einerseits empfinde ich Hunger, aber ich kann keinen rechten Appetit verspüren. Ich sollte mich stärken, aber ich mag eigentlich nicht weggehen. Da kommt dieser alte Mann mit dem Bart, einem Teller in der Hand, wieder herein. Ich mache die Augen schnell noch einmal zu und stelle mich schlafend. Er kommt ausgerechnet zu meinem Bett her und stupst mich an. «Iß ein wenig, das tut den Nerven gut.» Ich richte mich auf. «Setz dich an den Tisch, wenn du kannst.» [292] Die Frau gegenüber, die das Fadenspiel gemacht hat, steht jetzt auch auf und geht hinaus. Ich setze mich und beginne langsam zu essen. Brei, einfacher Kartoffelbrei, wie sie ihn unten gemacht haben. Frisch oder auf den Boden geronnen, jedenfalls kann ich nach den ersten Bissen fühlen, daß ich doch großen Hunger habe. Ich bin froh, daß die Speise so leicht und bekömmlich ist, obwohl Bröckchen drinnen sind, die in einen sorgfältig zubereiteten Brei nicht gehören. Da kommt die junge Frau wieder herein. Ich sehe jetzt erst, sie hinkt ein wenig und hält sich überhaupt recht vorsichtig. Sie hat auch einen Teller mit diesem Kartoffelbrei und setzt sich damit wieder an ihr Bett. Sie ißt geistesabwesend, als würde sie noch immer ihre Schnüre wickeln, mit dem Blick aus dem Fenster. Unten schlitttert jemand über den Boden. Ein dumpfer Fall. Die Frau wendet den Blick vom Fenster in ihren Teller hinein. Sie bleibt sitzen. Ich habe bereits ausgelöffelt. Mich zieht es zum Ausgang, weil ich sehen möchte, was da los ist. Ich nehme meinen Teller mit, in der Hoffnung, ihn irgendwo abgeben zu können, und sehe gerade noch, wie ein älterer Mann eine Frau in das Nebenabteil hineinzieht. Ihre Füße schleifen am Boden. «Hättest mich liegen lassen sollen, das tut ja weh», jammert sie. Ich stelle meinen Teller kurzerhand auf den Boden, packe sie an den Füßen, und wir tragen sie auf ihr Bett. Sie stöhnt auf und greift sich an die Seite, sie verzieht ihr Gesicht im Schmerz und läßt dann langsam locker, dreht sich schwer in die Matratze, und ihr Gesicht glättet sich wieder. Der Mann ist gleich wieder hinausgegangen, ohne sich weiter um sie zu bemühen, aber ich bleibe da sitzen an ihrem Bett, weil ich sie nicht so zurücklassen möchte in ihrer Qual. «Du sitzt noch immer da? Immer wieder wird mir so plötzlich schwindlig, ich sollte besser gar nicht mehr aufstehen. Es ist mir schon oft passiert. Gar nicht mehr aufstehen.
Das wird das beste sein.» Sie lächelt mich an und blickt dann zugleich mit mir auf den Mann im Nebenbett, der leise vor sich hin röchelt, so als wollte er keine anderen Atemzüge mehr machen. Er hat die Augen geschlossen, den Mund eingefallen und ein aschgraues Gesicht, aber sein Körper ist nicht alt. Seine Arme ragen noch recht kräftig aus der dünnen Decke heraus. Er ringt mit einemmal nach Luft, als hätte sich innen in der Lunge etwas verklemmt. Er bäumt sich ein wenig hoch, als könnte er so die Luft erhaschen. Ich stehe auf und greife ihm in den nackten Rücken, um ihn wenigstens zu stützen. Er beruhigt sich langsam und [293] atmet wieder leichter. Er schließt die Augen, die er während seiner Atemnot aufgerissen hat, und legt sich, meine Hand als Sicherung im Rücken, langsam wieder hin. «Es wird nicht mehr lange dauern mit dem Tom, er sagt das auch selbst. Man spürt das genau», meint die Frau. Sie nimmt mich an der Hand und hält mich da, nicht weil sie mich braucht oder weil sie sich stützen möchte, sie lacht mich an und hat jetzt ein fröhliches Gesicht, sie ist über irgend etwas besonders erleichtert, und das legt sie in den Händedruck hinein. Ich setze mich wieder auf ihre Bettkante. Ich sehe zu dem Nachbarn hin und fragte: «Kann man ihm nicht irgendwie helfen in den Anfällen?» «Du hast ihm ja geholfen», meint sie, indem sie die Augenbrauen hebt. «Ja, ich meine besser helfen, so daß er vielleicht noch ein wenig leben kann, er ist ja noch nicht so alt, glaube ich?» «Nein, das machen wir eigentlich nicht. Wenn ein Körper so krank wird, daß er so daliegt, so will er auch nicht mehr leben. Nein, nein», schüttelt sie dabei immer wieder den Kopf und zieht die Brauen hoch, noch immer meine Hand haltend. Da rührt sich der Mann und schickt einen kleinen kurzen Wischer mit der Hand zu mir herüber, als wolle er abwinken und zugleich die Worte der Frau bestätigen. Die Handbewegung ist seltsam und kann vieles bedeuten, aber ich merke, er kriegt unser Gespräch irgendwie mit. «Stell dir die Schwierigkeiten vor, die so ein Bemühen mit sich brächte. Diese Mühsal, die verbunden wäre mit dem Aufrechterhalten, mich würde das echt krank machen, mir würde das Sterben vergällt sein. Du dürftest nicht einmal gehen, wenn du nicht mehr willlst. Selbst als ich noch gesund im Leben gestanden habe, hätte ich nicht gewollt, daß ich mich abmühen muß für meine Gesundheit oder mein Wohlergehen, ich war es eben, und jetzt ist mein Körper abgenützt.» Sie hält inne und läßt meine Hand los, weil sie sich am Kopf kratzen will. «Ich hätte nicht Schwierigkeiten haben wollen, um Schwierigkeiten zu vermeiden, das hätte mich krank gemacht, schon viel früher als jetzt», lacht sie über ihren Einfall und schließt dann noch an: «Ich hab jetzt einen richtigen Hunger gekriegt, wer weiß, wie oft ich noch esse», und sie will sich aufrichten. [294] «Bleib liegen, ich bringe dir das Essen, du sollst ja nicht aufstehen.» Ich erhebe mich. «Geh, wer wird mir das Essen bringen, so lange ich noch Hunger verspüre, muß ich es mir auch allein holen können.» «Mir hat man auch das Essen ans Bett gebracht», beteuere ich, und sie meint zweifelnd: «Dir hat man was gebracht? Na ja, dann bin ich ja froh, sonst legt mich der nächste Anfall gleich wieder hin.» Ich nehme meinen eigenen Teller auf, der noch immer am Boden steht, und gehe dorthin, wo sie den Brei gemacht haben. Viele Leute sind mit Tellern unterwegs, mit einem leeren hinab, mit einem vollen hinauf, ziehen sie sich geduldig das Geländer entlang. Die meisten bleiben aber doch unten in der Halle auf dem Boden sitzen oder auf den untersten Stufen und essen gleich dort. Über die letzten Stufen muß ich hinwegturnen, weil sie
besetzt sind. «Geh, bring mir den Teller mit, ich halt das Stehen schon wieder nicht aus», stupst eine Frau vor mir einen Mann an, während sie sich wie ein Plumpsack auf den Steinblock fallen läßt, der den Seitenabschluß zur Treppe bildet. Sie hält sich die Hand vors Gesicht, krampft sich zusammen, mit der anderen in ihren Bauch drückend. Einer klopft ihr auf die Schulter mit den Worten: «Na, einmal tief durchgeatmet. Es dauert sicher nicht mehr lange.» Sie löst sich aus ihrem Krampf, und in ihr weißes Gesicht tritt wieder Farbe. Pfiffig, noch halb verzerrt, als wollte sie über ihren Schmerz lachen, während der aber noch immer wütet, gibt sie dem Zuredner einen kleinen Stoß und beginnt sich den Bauch zu massieren. Dem Mann vor mir bedeutet sie, kein Essen zu bringen. Sie macht eine saure Miene, so als könnte sie jetzt nicht, und er nimmt das wortlos zur Kenntnis, läßt sich aber trotzdem zwei Teller von dem Beinlosen füllen und balanciert sie über die Sitzenden hinauf. Er ist kahl und hat lauter helle Flecken am Körper und am Kopf. Ich schaue ihm nach und bemerke gar nicht, daß ich schon dran bin. «Na, bist du auch schon soweit?» fragt mich ein junger Mann neben dem Beinlosen, der mir jetzt Brei auf den Teller gießt. «Wo sitzt es denn?» Ich lache ihn an, und er lacht zurück. «Bei mir ist es im Kopf, ich habe zeitweise solche Schmerzen, daß ich glaube, ich berste», antwortet er. [295] Er kommt sogar zu mir her und geht ein Stück mit mir zur Treppe zurück. Ich höre ihm aufmerksam zu. «Ich spüre das genau, lange dauert das nicht mehr, ich möchte das nicht mehr aushalten. Ich bin auch sonst immer erschöpft, auch wenn ich die Schmerzen einmal nicht so arg spüre. Ich garantiere dir, in kurzer Zeit sind sie wieder da», stellt er mit großer Sicherheit fest. Eine Frau, die neben uns gestanden hat, meint dazu: «Bei solchen Kopfschmerzen kannnst du sicher sein, die treiben den Kopf von innen her auf, das Geschwür verdrängt dir das Hirn, und dann ist es aus.» Er wird von ihr weiter in die Krankengeschichte verwickelt. Ich will mit meinem Teller hinauf, muß aber zu dem Glastor hinsehen, wo ein Junge zusammenbricht. Er ist gegen die Scheibe gefallen, die sehr stark zu sein scheint. An ihr rutscht er ab, so als sei er dran festgeklebt, und das Quietschen hat mich eigentlich erst aufmerksam gemacht. Er gleitet langsam herunter, fällt hin und bleibt liegen. Die Gruppe auf der Treppe schaut kurz auf. Zwei gehen näher und geben einem Dritten, der mit einer Bahre kommt, ein Zeichen. Sie legen den Jungen drauf und tragen ihn hinaus. Ich steige endgültig mit dem Brei die Treppen hinauf. Eine Frau hängt am Geländer und erheitert sich über das bläuliche Kind, das mir bei meinem Eintritt schon aufgefallen ist, weil es die Steinchen mit den Zehen aufnehmen will und das nicht so leicht schafft. Die Frau löst sich jetzt von ihrer Stütze, ich sehe, sie tut sich schwer beim Gehen. Sie läßt sich umständlich auf den Boden nieder und versucht nun ihrerseits, ein Steinchen mit den Zehen zu fischen. Die Treppe ist hoch, und ich muß oben nach Luft ringen. Daß ich selbst so ermattet bin? Ich bin wirklich erschöpft von meiner Reise. Meinen Begleiter von der Straße habe ich völlig aus den Augen verloren. Hier sind so viele, hier summt es wie von lauter Bienen vor dem Abflug, so daß ich keine Hoffnung habe, ihn ohne Mühe zu entdecken. Die Frau liegt still und lächelt mir zu, während ich mich wieder auf den Bettrand setze und ihr den Teller reiche. Ich spüre in der Bewegung wieder das leichte Dehnen in meiner rechten Seite und einen kurzen Stich in der Hüfte. Ich greife mir an die Schläfe und frage: «Wer gibt denen zu essen, die nicht aus dem Bett können oder wollen?»
Zwischen zwei Löffeln sagt die Frau: «Ja, wenn man schon einmal gar nicht mehr kann, will man meist auch nicht mehr essen. Solange [296] einer noch Hunger verspürt, kriegt er schon, da bringt es ihm einer mit, so wie du mir», und sie guckt mich an, als sei das sonnenklar. In der anderen Bettreihe plagt sich ein dickerer Mann, seine Füße in ein kleines Schaff zu stecken. Ich helfe ihm, die Beine sicher hineinzubringen. Er tut sich in den Gelenken sehr schwer. Er ächzt vor Anstrengung, der Schweiß steht ihm auf der Stirn, aber er lacht gutmütig über sich selbst: «Ich würde mir die Mühe ohnehin nicht machen, wenn mir das warme Wasser nicht so angenehm wäre. Ich lasse es mir auch in meinem letzten Lebenseckchen nicht an Annehmlichkeit fehlen. Ich gehe sicher mit den Füßen im Wasser hinweg, das stelle ich mir angenehmer vor», seufzt er wohlig, während er sich von mir die Zehen massieren läßt. Er blickt mich wie in einem aufblühenden Leiden an, das sterben darf, mit oder ohne Besitzer, und ich bereite ihm gern eine Wohltat. Vorn kracht etwas, ich gehe in die Höhe, bereit zu jeder Hilfestellung. Der vordere Abschlußrahmen am Bettgestell ist bei Tom herausgefallen. Ihn stört das wenig, er röchelt nur einmal auf. Sein Bett steht ja noch, aber ich bemühe mich, das Stück wieder anzudrücken. Der Eisenpfropfen ist in seinem Gegenstück locker geworden. Ich drücke ihn mit Kraft hinein, und es gelingt. Ich nehme der grauhaarigen Frau den leeren Teller ab und setze die Fußwaschung fort. «Ja, Mädchen, tut dir denn gar nichts weh, du schießt ja herum, als wolltest du eher leben als sterben», lacht die Frau und verständigt sich mit einer, die in der Ecke sitzt, mit einem stillen, spöttischen, aber auch gutmütigen Blick, der besagt, daß sie meinen Eifer ziemlich ulkig finden. Ich will dem Mann das Wasserbecken schon wegnehmen, aber er winkt entschieden ab: «Nicht, laß, ich will die Füße noch lange da drinnen haben.» «Und wer trägt dir das Wasser wieder weg?» «Ich mach schon, oder vielleicht findet sich jemand, oder weißt du was, vielleicht lasse ich es auch unter meinem Bett stehen», neckt er mich. «Es ist hier niemand verantwortlich, es geschieht schon alles irgendwie, besonders das Sterben, und das ist ja hier die Hauptsache», tönt jetzt eine Stimme vom Eingang her, eine, die ich schon kenne. Es ist der alte Mann von vorhin, der mir das Bett gezeigt hat. Er lächelt mir sanft zu, sich durch den Bart streichend, und dann streckt er mir [297] die Hand entgegen, wie um mich von meiner Arbeit abzuholen. Ich gehe ihm zu, er nimmt mich leicht am Arm, und wir verlassen die Abteilung. «Hilft man denen denn gar nicht?» frage ich ungläubig. «Wer sollte besser das Leben verlassen können als die, welche es gelebt haben. Sie machen es sich so leicht wie das Leben. Mehr Organisation würde hier fremd sein und stören, die wäre ein Geschwür innerhalb der Sehnsucht nach dem Sterben, eine zusätzliche Last, die mitgeschleppt werden müßte. Das schaffen diese Kranken hier nicht mehr», spricht er voll Gleichmut und voll Verständnis für meine Suche nach einem Zusammenhang in diesem morbiden Gefüge. Aus meiner Abteilung klingt eine Flöte herüber. Der Mann horcht auf, wie ein Schleier weht es über sein Gesicht, wie eine dünne Wolke, von der ich nicht recht weiß, ob sie sein Gesicht wehmütig oder fröhlich gemacht hat. Er hat mich für einen Augenblick am Arm festgehalten, denn ihm ist das Geräusch anscheinend nicht so selbstverständlich wie mir. Wir treten in mein Zimmer, und da sitzt die junge Frau, die die Schnüre geschlungen hat, auf meinem Bett, mit dem Rücken zu mir und mit dem Blick aus dem Fenster. Sie spielt, als hätte sie das schon oft getan. Ich setze mich leise zu ihr, und da hört sie auf zu spielen und legt die Flöte wieder an mein Kopfende. Sie erhebt sich steif von meinem Bett, aber nicht so unbeholfen, daß ich sie stützen wollte.
«Spiel nur immer, wenn du willst, ich lasse sie da am Kopfende liegen», biete ich ihr an. Sie geht weiter und dreht sich dann noch einmal um. «Vielleicht werde ich nicht mehr lange da sein, ich bin etwas unschlüssig», spricht sie mit klarer, aber sehr leiser Stimme. Sie setzt ihre Worte, als würde sie nicht vom Sterben sprechen, sie hat diese heitere Abschiedssicherheit nicht im Ton, wie ich das schon bei einigen hier angetroffen habe. Ich warte und schaue sie weiterhin gespannt an, ich will, daß sie bemerken soll, wie sehr mich das interessiert. Ihr Blick ist aber so abwesend, man kann sie schwer halten. «Setz dich doch noch ein wenig, das Stehen wird dir anstrengend werden», fordere ich sie auf, aber sie wehrt ab und fährt sich mit der Hand ans Rückgrat. «Nein, ich soll mir sogar Bewegung machen, ich spüre das», sagt sie etwas angeregter und sieht mich mit braunen Augen an. «Ich habe [298] keine Schmerzen mehr, und ich merke, daß sich auch die Steifheit gibt, es wird immer besser mit mir, und deswegen bin ich ja unsicher geworden.» Sie blickt schon wieder hinaus, spricht aber weiter: «Ich bin von einem Dach heruntergefallen und habe mir das Rückgrat arg verletzt. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und nichts mehr machen, die Schmerzen sind immer ärger geworden. Ich wollte, daß sie mich hierherbringen. Alle haben gemeint, ich soll doch in der Gruppe bleiben, aber mir war das lieber so, und ich überlege jetzt, ob ich nicht wieder gehen soll, ich bin noch steif, aber ohne Schmerzen. Ich hätte nicht gedacht, daß das noch einmal gut werden könnte.» «Na, findest du das schlecht?» frage ich sie. Sie blickt mich wieder an, hat ein kleines Lächeln in den Augenwinkeln und hält ihre Hände in einer ergebenen Geste mit den Handflächen nach oben vor sich, den Kopf etwas auf die Seite geneigt, nimmt dann die Hände wieder an sich und legt sie über ihrem Bauch zusammen. Wenn sie meine Frage auch nicht endgültig beantwortet hat, so hat diese anscheinend in ihr etwas angeregt, etwas gezeigt, was vorher verhangen war, und sie bewegt sich rege und schon recht locker zu ihrem Bett hin. Sie sucht unter ihrem Polster. Draußen ertönt ein Schmerzensschrei, ich trete hinaus, und da rennt ein Mann, die Hände in seinen Bauch gepreßt, wie ein Wilder auf und ab. Noch einmal stößt er so einen Schrei aus. Man guckt aus dem Abteil heraus, aus dem er in seiner Qual aufgebrochen sein muß. Ein dürrer Alter fängt jetzt an, mit dem Rasenden mitzulaufen. Der Alte steckt in einer kurzen Hose, und die dünnen Beinchen stelzen unter ihm her, als würden sie nicht zu ihm gehören. Er hechelt neben dem Verbissenen her und versucht im Lauf, in dem sie wegen der Begrenztheit des Raums dauernd kehrtmachen müssen, ihm von unten her ins Gesicht zu sehen. Einmal strauchelt der Alte, aber er fängt sich wieder. Er fällt im Lauf und läuft im Fall, es steht alles in der Luft, hin und her geht das, ohne Ende und ohne Verringerung der Geschwindigkeit, zackig laufen die Kertwendungen und Bewegungen ab, es ist kein Ende abzusehen. Es ist nicht mehr zu erkennen, wer da die Hauptperson ist, wer jetzt die Schmerzen hat, ob überhaupt einer, denn auch die Menschen beim Abteilungseingang beginnen, dann und wann in solche Schreie auszubrechen, zwischendurch lachen sie auf, und [299] schauen dann wieder gespannt zu. Auf einmal hält der eine, der dieses Rennen begonnen hat, inne und stürzt hin. Wie mitten im Lauf gleitet er auf dem glatten Boden dahin und steht nicht mehr auf. Der Alte kniet nieder, robbt zu ihm hin, horcht an seiner Brust und drückt ihm die Augen endgültig zu. Ruhe tritt wieder ein, rasch und ohne nachträgliche Auseinandersetzungen über diesen Vorfall. Ich gehe wieder hinein und lege mich auf mein Bett. Ich will die Augen schließen und mich ein wenig erholen, ich selbst bin außer Atem wie von vielem Wenden und Rennen. Die Frau, die unten die Kartoffeln gebracht hat, nachdem der Brei verschüttet worden war, guckt kurz herein und fragt, wer noch Milch haben wolle oder Tee. Die junge Frau will Milch, und ich will Tee, die anderen wollen nichts.
Es dämmert schon. Ich liege und kann noch hinausschauen, wenn ich mich auf die Seite drehe. Dann wende ich mich wieder herum, ich muß sehen, was die Frau neben mir macht, die hat sich ja überhaupt nicht gerührt. Sie liegt nach wie vor mit offenen Augen da. Der andere schnarcht noch immer, wenn er so gut schläft, wird er noch keinen Hunger haben. Ein Bett ist frei und noch eins ist leer. Ich schaue über die Bäume draußen hin, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Ich fühle eine Bewegung in mir zu ihnen hin, zu den Tieren draußen, zu den Blättern im Wind, zur Erde und zu den Wolken, die langsam tieferkommen. Ich überlege, ob ich vielleicht noch einmal hinausgehen sollte, vor das Haus, an diesen kleinen Teich und vielleicht zu den Kühen oder zu der Bank vor dem riesigen Baum, aber ich verschiebe meinen Gang auf morgen. Ich fühle mich müde und muß einmal kurz durchhusten. Gespenster würde ich jetzt nicht mehr sehen, aber die Hustengeister, die Zwickmännchen und die Gedankenschleier, die würden sich an den Scheiben zeigen wie Kobolde hinter meinem Hirnspiegel und wieder verschwinden. Wie das Leben aufflammt, indem es schon wieder untergeht, während ich so verloren und müde da hinausschaue, wie um meinen Blick und meine Gefühle bei den sich bewegenden Blättern einzutauschen für eine lebendige Gedankenlosigkeit. Ich streife auch an die Augen der jungen Frau gegenüber. Sie muß mich beobachtet haben. Sie lächelt wieder in den Augenwinkeln. Am Gangende steht ein Wasserklo offen da. Ich benütze es und wasche mich dann mit der Hand hinten aus, so wie es die anderen tun. Daneben ist ein Waschbecken mit grober Seife. Die Frau mit dem Tee kommt herein. Sie gibt ihn mir in die Hand, [300] er ist warm, die junge Frau erhebt sich und holt sich die Milch selbst. Draußen kann ich ein Wägelchen erkennen, auf dem die Getränke stehen. Die junge Frau stellt auch meiner Nachbarin eine Milch auf das Kästchen, obwohl die keine verlangt hat und auch jetzt ihre Lage nicht verändert. Das Austeilen der Becher, das Hinstellen, das Reichen, die Hand, ja, gerade die Hand der Frau, die mir den Becher gebracht hat, und gerade diese Stellung, in der die Hand war, als sie sie wieder zurücknahm, die steht mir als Fixbild vor den Augen, taucht immer wieder auf, verglimmt und wird wieder stärker, ich kann nicht drauf kommen, was es ist, ich will dieses Bild nicht verscheuchen, bis es von selbst verschwimmt. Der Tee ist gut, er macht meinen Magen wach, das hätte er nicht tun sollen, der Gute, ich habe schon wieder Hunger. Die Kranken essen wahrscheinlich nicht so viel wie ich, die sind auch heute nicht den Berg heraufgestiegen, und außerdem wollen sie ihr Leben nicht weiternähren, denn das haben sie ja nicht mehr vor. Ich muß das aushalten, außerdem bin ich ohnehin ganz müde. Die draußen liegende Finsternis dämpft mein lebendiges Aufflammen wieder, und ich lege mich auch auf den Rücken wie die Frau neben mir, genauso mache ich es, und da richtet sie sich langsam auf und beginnt ihre Milch zu trinken, so als sei das ohnehin ihr Plan gewesen. Ich bleibe liegen. Ich will sie nicht stören, wenn sie so ein Dämmervogel ist. Der Schnarcher allerdings ändert sein Verhalten nicht. Das Licht geht aus, nicht mit einem Schlag, sondern die elektrische Beleuchtung verglimmt langsam. Worte, ein kurzes Schreien, ein Kichern, das sich wie eine Luftwelle fortpflanzt und wieder abbricht, und ein Hinüberfließen in Ruhe. Mich erfüllt die Stimmung aber mit einer leisen Unruhe, die mir im Wachzustand wie ein dünner Faden durch die Traumsphäre schneidet, ein feiner Schnitt, kaum sichtbar in meine Erinnerung hinein. An der Schwelle zum Schlaf hängt überall so ein Faden wie aus Glas. Noch einmal horche ich auf, als sich jemand schon in der Dunkelheit auf dieses eine freie Bett legt, um sofort in Ruhe einzutauchen und nicht mehr aufzufallen, sie nicht zu stören, die Annäherung der Sterbenden an ihren Ausgang. Am Morgen weckt mich die junge Frau mit einem Besen in der Hand. Sie kehrt den Kachelboden und hat an meine Bettfüße angeschlagen. Der metallische Klang hat mich aus meinem Traum geweckt, aber er gehört zu meinem Traum, wenngleich ich ihn jetzt [301] nicht mehr nach vollziehen kann, auch jetzt befinde ich mich in einem schwebenden Zustand, der sein Zentrum in meinem Kopf hat. Es ist kein Schmerz, der dort hängt, aber
ein etwas gestörtes Druckverhältnis, das mich anscheinend so leicht macht, mir mein Gewicht der Gedanken anhebt, über eine Realität hinaus, die mir nicht abgeht, aber die mir deshalb auffällt. «Ich werde dich ablösen, für dich wird das doch zu schwer sein», sage ich, mir die Augen reibend. «Nein, ich mach das schon, ich will das tun, mir stärkt das die Muskeln, und außerdem verspüre ich Lust an der Betätigung», wendet sie heute wesentlich eifriger und angeregter ein. Sie hält einen Augenblick inne und stützt sich am Besenstiel auf. Sie sieht mich nachdenklich an und sagt dann: «Wenn du Lust hast, etwas zu tun, kannst du ja hinuntergehen und sehen, ob jemand den Brei zubereitet oder ob die Milch schon abgefüllt ist. Es findet sich nicht immer jemand, der dafür sorgt.» Ich erhebe mich und trete an sie heran: «Und was ist dann? Wieso hat es gestern etwas gegeben?» «Ja, wenn mehrere so wie ich gern etwas machen wollen und daran denken, dann läuft der Laden schon», lacht sie jetzt sogar, «aber üblich ist es ja nicht, daß man hier wieder geht.» Sie schaut sich im Raum um. «Und die, welche da sind, um zu sterben, die machen sich kein Essen, die wollen ja nicht mehr, sie nehmen es, wenn man es ihnen gibt, aber sonst ...» Sie beginnt wieder zu kehren und nähert sich dem Ausgang der Abteilung. «Immer Kartoffeln und Milch», spricht jetzt eine Stimme hinter mir. Es ist die Frau, die gestern so starr dagelegen ist. Sie liegt heute auf der Seite, mit dem Gesicht zu uns her. Sie sagt das, dreht sich dann wieder auf den Rücken und nimmt ihre alte Stellung ein. «Ja, die Kartoffeln sind genügsam, die wachsen von selbst, und die Kühe kann auch immer jemand melken, zu mehr kommt es eigentlich nicht», erklärt die junge Frau, während sie schon draußen steht. «Das genügt auch für uns», lacht die eine jetzt an die Decke und wendet sich nicht ab von ihrem Bild da oben. Draußen sitzt eine Frau an der Wand und blickt ständig auf ihren Oberschenkel. Sie verzerrt das Gesicht wie eine Wunde, sie gibt mit ihrem Mienenspiel die Vorgänge im Fleisch wieder, als könnte sie den Schmerz sichtbar machen. Ihr Verhalten hat so etwas Anziehendes an [302] sich, daß ich näher gehe und jetzt oben an ihrem Schenkel ein bläulich überwuchertes Geschwür erkennen kann, in das sie hineinstarrt wie in einen Brunnen. Ich sehe weg, weil es mir eklig aussieht. Da erkenne ich in der Kopfwendung den alten Mann mit dem grauen Bart, der auf mich zukommt. Ich bin jetzt gar nicht bereit, mich über seine Anwesenheit zu freuen, weil es mir Pein bereitet, mit ihm hier an dieser Wundstelle zusammenzukommen. Er stellt sich neben mich, und ich treffe seine Augen mit meinen. Ich falle da hinein, wie um seine Hilfe suchend. «Wie hält sie das aus?» erlöst mich meine Frage von meinem Krampf. Er tritt nahe an die Frau heran und blickt in die Wunde hinein, sie läßt das geschehen und schaut dann auf in seine Augen. Ich trete näher, und er macht mir Platz, so als sollte ich auch da hineinsehen, in das offene bläuliche Fleisch. So als wollte er das als eine Lösung anbieten für mich oder für die Frau, und ich schaue in diesen Abgrund von Zellen und Fasern und gestokktem Blut, von Lappen und Haut-wülsten, von schorfigen Ansammlungen exkrementhafter Ablagerungen, mit einem glänzenden Film überzogen, ein Gemälde von Leben und Tod, von Spiegelungen und Träumen, Schmerzen und Lüsten, und dann schaue ich auf und treffe nun meinerseits auf die Augen der Besitzerin, der Erzeugerin, der Dulderin dieser ganzen Welt da drinnen mit diesem zeitlosen Wühlen und Sprengen, Aufbrechen und
Untergehen. In ihren Augen ist dasselbe Bild wie in der Wunde, dasselbe, nur in einem anderen Licht, dieselbe Landschaft, nur im Blick erstarrt. Sie fängt wieder an, das Gesicht zu verzerren, in dieser Sprache mit sich selbst und ihrem gequälten Leben verbunden. «Sie muß es ja nicht aushalten», beantwortet der Alte jetzt erst meine Frage. «Es muß nicht schneller gehen, als es das tut. Aushalten hat ja nichts mit dem bloßen Schmerz zu tun, sondern dann hält man das Leben im Zusammenhang mit diesem Schmerz nicht aus, und das Leben erweist sich als panischer Griff nach dem Willen. Nicht der Schmerz allein ist der Peiniger. Wenn man sich nicht verkrampft und es läßt, wenn man nichts zurückhält, kippt man hinüber wie von selbst, so wie man es steuert. Sterben ist wie Leben, das macht man selbst. Wenn man in die Sterbegruppe hierhergeht, ist man ganz darauf eingestellt, da will man nirgendwo anders mehr hin, man strebt darauf zu. Sonst ist nichts mehr da, man kümmert sich auch nicht mehr um die Nahrung, so wie [303] man im Leben nicht mit dem Ableben beschäftigt ist», beendet der Alte seine Überlegung, während er sich wieder vom Geländer aufrichtet, auf das er sich gestützt hat. Wir haben dabei in die große Halle hinuntergeschaut. Eine Dampfwolke schlägt aus einer der unteren Türen. Es riecht nach heißem Wasser, und ich muß mich an die Worte der Frau bei meiner Ankunft erinnern. Ich würde gern baden. Der alte Herr geht selbst die Stiegen hinunter, aber ich halte noch einmal bei der Abteilung, wo ich gestern dem Dicken die Füße gebadet habe und wo ich die Frau schon kenne. Ich will sehen, ob Toms Bett noch steht. Unsere Wege trennen sich wie von selbst. Der alte Herr winkt mir zu, als sei er sicher, daß wir einander noch öfter begegnen würden, aber er lacht dabei so spitzbübisch und jugendlich, daß ich vermute, daß ihm das selbst Vergnügen bereitet. Bis auf leichte Kopfschmerzen fühle ich mich gut inmitten der Sterbenden, ich fühle mich ihnen sehr verbunden und ähnlich, aber eben nur ähnlich. Ich greife an Toms Bettgestell und prüfe, ob es noch halten wird. Die Frau setzt sich auf und guckt mich vertraut an. Sie versinkt in diesem sanften Sehen und plaudert nicht so drauflos wie gestern. Heute ist sie still und versonnen. Der Fußbader winkt mir schwach mit der Hand, er will keine Dienste. Vielleicht werden die erst am Abend lebendiger. Ich will wieder weiter, da winkt mich die Frau an ihre Seite. «Du gehst schon wieder? Es ist ja noch früh. In der Nacht, da war es viel klarer vor meinen Augen», sagt sie genauso sanft, wie sie mich ansieht. Sie hat eine kühle Hand und nimmt meine in die ihre. Wie in ein Einverständnis, ohne Klärung des Inhalts und Zwecks, so als sei die Offenheit ihr Traum. Ein Einverständnis mit diesem Handschlag an der Schwelle ... Tom schnauft tieft auf, er atmet nun weiter, ohne zu röcheln. Er macht die Augen auf, und ich denke, er wird wieder in einen Hustenkrampf verfallen, trete hinzu und halte ihn am Rücken nach meiner gestrigen Erfahrung. Er stützt sich selbst mit den Händen auf, blickt klar um sich, lehnt sich leicht an meinen Arm, atmet wieder tief und ohne Nebengeräusche, in eine innere Bahn geklärt, findet er die Sprache, ohne sie zu suchen: [304] «Es geht so drüber hin.» Seine Stimme ist weich und locker, sie hat einen erotisierenden Unterton, der mir in den Körper trifft, tief hinein in meine Energie, mit der ich ihn stütze. Dann sinkt er, schmiegt sich an meinen Arm und liegt da, endgültig ganz ruhig. Ich weiß, daß er tot ist. Ich fühle mich beseelt von seiner sanften Wandlung, ich bin selbst wie eine tote Lebende, kundig, wechselnd von hier nach da und von da nach dort. Ich lege ihn auf sein Polster zurück und drücke ihm die Augen zu. Ich gehe hinaus und sehe mich nach einer Bahre um, auf der Tom zum Friedhof getragen werden könnte. Unten beim Eingang kommen gerade zwei Männer herein, die so eine tragen. «Kann mir jemand helfen? Oben liegt ein Toter!» «Wo denn, wir machen das schon», bieten sie sich an. «In der zweiten Abteilung», zeige
ich, und die beiden holen Tom. Ich überlege, ob ich ihn vielleicht selbst gern auf den Friedhof getragen hätte, aber so war die Botschaft seines Abgangs nicht. Abschiede gibt es nicht, weder von hier noch von da. Verbindungen gibt es so wenig wie Trennung. Es ist nicht wichtig, ihn selbst zu begraben. Ich sollte lieber baden, wenn ich schon da unten bin, oder mich vielleicht umsehen, ob ich bei der Zubereitung des Essens helfen könnte. Die Kacheln, auf denen sich der Brei ausgebreitet hat, sind noch immer leicht klebrig. «Bad» steht da an der Tür. Ich könnte ja einfach hineingehen, aber ich bin ein wenig irritiert von der Abgeschlossenheit des Raums. Sonst sind hier fast keine abweisenden Türen anzutreffen. Entweder sie stehen offen, oder sie sind gar nicht eingebaut. Auf Türen wird hier nur mehr wenig Wert gelegt. Das fällt mir allerdings jetzt erst so richtig auf, als ich vor dieser hier stehe. Sie flößt mir Respekt ein. Das Unbekannte stört mich schon, ich weiß ja, ich könnte einfach die Klinke drücken. Ein junges Mädchen kommt mir zuvor. Sie trägt nur eine kurze Hose und ein Hemd. Irgendwie wirkt sie sehr flott, aber in ihrer Haltung hängt auch etwas Gebrochenes, etwas Zitterndes, sie ist ja noch so jung. Sie drückt leise die Tür auf und verschwindet. Wie weggezaubert ist sie mit einemmal. Während sie für einen Augenblick offen war, drang feuchte Luft und ein seltsames, tiefes Summen heraus. Die Wolke verschlug mir kurz den Atem und nahm mir die Sicht, scharf zog es durch meine Nase hinauf ins Hirn. Ein Geruch, der mich noch mehr anzieht, mich an diese Tür fesselt, [305] die so rasch wieder geschlossen wurde, lautlos von innen, dort, wo etwas gebraut wird, was so scharf riecht. Wer da wohl badet? Die Frau hat bei meiner Ankunft gemeint, ich könnte ruhig hineingehen und ein Bad nehmen, sie hat nicht so getan, als müßte ich da unschlüssig vor der Tür stehen. Ich trete näher und nehme die Klinke in die Hand. Ich horche ein wenig. Bevor ich den Entschluß zum Drücken fasse, halte ich ein Ohr näher heran und höre es wieder, dieses kehlige Brummen, von tief unten, so als handelte es sich um einen Grundton meines eigenen Innenraums. Ein Mann geht durch die Halle. Er schleift ein Bein nach, er sieht mich hier stehen, und er findet das nicht aufregend, mich bestärkt seine Gleichgültigkeit, und ich drücke, öffne etwas, um nötigenfalls die Tür schnell wieder schließen zu können. Eine scharfe, überaus würzige Feuchtigkeit schlägt mir in die Lunge, eine Dampfwelle hüllt mich ein. Ich sehe überhaupt nichts, aber gerade diese Blindheit lockt mich wie ein Schicksal. Auch ich war leise wie das Mädchen, schnell habe ich wieder geschlossen, und jetzt lehne ich, nach Atem ringend, an der Innenseite der Tür. Hier ist mit Alkohol aufgegossen, mit Kräutern und Tannennadeln gemischt worden, die dringen stechend in mich ein, während der Rauch in Schwaden verschiedene Schichten von Klarheit in mir freilegt. Es plätschert Wasser, menschliche Stimmen klingen in wohliger Tiefe, die jene der Erde ist, an und an, halten, überspannen Abgründe der Blindheit, beruhigen mich in meiner Atemnot, Erdtöne singen durch meinen Unterleib in meinen Körper hinein und steigen langsam, während sich meine Augen langsam klären, einkehren in diesen Bereich, zu sein in der Feuchtigkeit, wie unter Wasser. Atmen unter Wasser. Jetzt sehe ich das Mädchen auch wieder. Es kniet unbekleidet am Boden, die Arme auf eine Holzpritsche gestützt. Langsam erkenne ich nackte Gestalten, die da liegen oder sitzen. Ich löse mich von der Tür, ziehe mich rasch aus und lasse mich selbst nieder auf eine dieser Pritschen. Meine Augen haben sich etwas an den Nebel gewöhnt. Die Schärfe des Geruchs hat mein Denken mit einer beizenden Lösung durchgezogen und geklärt. Die Menschen hier machen diese tiefen Töne aus ihrer inneren Konzentration heraus, so als sei es eine Sprache in sich, die Sprache des Nichtsagens, der Ton der Entkrampfung, denn das Sterben ist kein Kraftakt, und das Leben müßte keiner [306] sein. Auch den alten Herrn mit dem Bart sehe ich dort an der Wand sitzen. Er ist versunken in seinen inneren Klang. Er hält die Augen auf eine große Badewanne
gerichtet. Nicht so, als sähe er dort etwas, sondern so, als ruhte dort sein Blick aus von allem Zwang und von dem Los der eigenen Sichtbarkeit. Alle sehen dorthin. Auch ich schaue dorthin, und mein Denken will sich auflösen zu diesem Blick. Nur das tiefe «Mmm-Mmm-Mmm» schwingt, der Atem aller Worte, die Beschreibung dessen, was von der Beschreibung erlöst. Sie sitzt in der Wanne, die Haare aufgebunden, die Haut in einem matten Schimmer. Ihre Oberfläche, ihre Erscheinung, ist ein einziges erregendes Atmen. Sie ringt nicht, sie zerfließt vor mir, langsam verschwimmt sie, so wie meine eigene Haut zu leben anfängt, als wechselte sie ihr Element, feucht und durchblutet atmen wir einander zu, wohlig in demselben Blutpulsen der Menschen, die Frau in der Badewanne und ich hier unter den anderen, die gleichen Sinnes sind mit mir. Der Sinn ist hier die Feuchtigkeit der Luft, die raunt in ihrem Grundton aus den Lungen heraus, denn auch Fische können reden in ihrem Sinn. Locker und hingegossen, ergeben der süßen Last des Lebens, trete ich in das Raunen der Menschen mit ein, angesogen, hinein in die Tiefe am Übergang zum Aushauchen der Stimmen, die vom Menschen erzählen, wo man ihn vergessen kann. Ein Licht brennt da im Raum. Meine Augen oder ihre? Sie richtet sich jetzt mehr zum Sitzen auf, plätschert wieder ein wenig. Sie mag vielleicht fünfzig Jahre alt sein, eine Frau mit Falten im Gesicht und an den Armen. Ihre Augen sind weit geöffnet, wie samtige, dunkle Höhlen, aus denen diese tönende Stille dringt, die im Raum hängt, die den Raum bildet. «Mmmmmmm - Mmmmmmm», ich stimme mit ein, so als läge im Aushauchen die Lust des Leibes, die sich mit der Lust der Seele paart, sich endgültig zu finden in einer ewigen Annäherung an einen bevorstehenden Orgasmus. Ihre Haut, ihre alte Haut scheint zu lächeln, oder bin ich es, die das tut, oder ist es ihr Gesicht, das so schonungslos geöffnet ist zu jedem Alter? Verzaubern mich diese Augen, dieses jugendlich hochgesteckte Haar, ist es der Nebel, der auf ihrer Brust zu schimmern beginnt wie das Licht eines frühen Tages? Ich verspüre in mir eine Zärtlichkeit und Innigkeit, die mich so erfrischt wie das SichRegen der Zellen, die sich beleben, indem sie ausschwitzen. Die [307] Augen der Frau leben in Sattheit, ohne noch Hunger zu erwarten, sie hat keinen Hunger mehr nach diesem Leben. Endgültig am Ende. Ein Mann gießt warmes Wasser in ihre Wanne nach. Sie lächelt ein wenig, wie eine menschliche Pflanze. Schön ist sie, sie ist ein Bild ihrer gesamten Entwicklung und wie die Schwaden im Raum, spiegelt das Gesicht transparent übereinander alle ihre Ebenen, ihr Wachstum zum Menschen, den sie erreicht hat, weil sie ihn ausläßt, wie eine Mutter ihre Kinder lassen kann, wenn sie ein Selbst geworden sind. Sie kann sich lösen, ich merke, sie hat das endgültig vor. Die Augen sind in einem toten Traum verloren, erwacht zum Ableben. Sie richtet sich ein wenig empor und stürzt die welken Arme am Rand der Wanne auf. Sie ist unbeugsam in ihrem Entschluß. Sie hat sich gebeugt, ihrem Willen, und an diesem blüht sie auf zur Zeitlosigkeit, indem sie lockerläßt. Sterben ist nicht schwer, das Verlassen dieser Welt ist möglich, wenn man es tut. Eine Bewegung geht durch die Menschen, die so wie ich hier um die Wanne sitzen, versunken in einen erregten Atem der Entspannung. Man ändert die Sitzhaltung, irgend etwas steht bevor. Das Mädchen faßt eine Hand des Nebenmannes, dort halten sich noch zwei an den Händen. Die Dampfwolke lichtet sich ein wenig, oder vielleicht haben sich nur meine Augen daran gewöhnt, durch die Schleier zu sehen. Die Atemzüge steigen an, werden hörbarer, heben sich mehr an die Oberfläche, die Tonlage des Summens hebt sich, und von hinten her singt eine Männerstimme deutlich in das Summen hinein, in an- und absteigenden Tönen, ruhig und klar in den Abstufungen. Schritt für Schritt hebt sich der Ton, steigt die Richtung des Augenblicks, aus sich selbst hinaus, einer Entscheidung zu, eine lebendige Energie, eine Tat.
Der Mann, welcher das Wasser nachgegossen hat, nimmt aus einem Kästchen an der Wand einen Teller aus mattem Silber, auf dem kleine Tropfen stehen, auf dem etwas aufblinkt, eine harte Kostbarkeit. Die Bewegungen sind ruhig und sicher. So als wüßten sie, was sie zu tun hätten, um alles zum Ende zu wandeln, halten diese Hände den Teller am Wannenrand, bereit für den Griff der Frau, die jetzt nach dem Blitzen faßt, mit ihrer weichen Hand. In dieser Hand hält sie eine Klinge. Ich richte mich auf, mich spannt eine Schnittfläche auf ihren Grat, ich fühle, wie mein Blut mir zum Kopf treibt, wie es pulst. Jeder Schlag ist mein Leben, richtet mich auf zur vollen Größe des Schauspiels, [308] dessen Atem ich bin, dessen Blutstrom ich bin, desssen Herzschlag ich bin, dessen Augenblick ich bin, hinein in die Tat der Frau, als sie klar vor sich hinsieht. Ich kann den Blick nicht abwenden, ich will den Blick nicht abwenden, ich bin dazu da, um hineinzusehen, in dieses Augenlicht, das erlöschen möchte. Wie werde ich es ertragen, wenn es ausgeht, wie werde ich über diesen Punkt kommen, wo sich das Licht verwandelt, wie werde ich diese Trennung ertragen an der Schwelle, wenn die Gestalt entschwindet, aber noch immer da ist, wie werde ich diesen Riß im Sinn überstehen, von einem Diesseits ins Jenseits, noch dazu, wo ich es nicht bin, die geht, noch dazu, wo ich noch nicht gehen will, aber mir angesichts dieser Ausgeburt meines Willens die Schärfe der Entlassung mich stählt zum Augenblick der Tat. Sterben ist kein Kraftakt, Leben muß keiner sein. Der Ton steht still, die Luft steht still, der Atem steht still, der Tod steht still, das Blut steht still, das Hirn schreit ins Nichts. Und da schneidet sie, so als würde sie es mit den Augen in meine hineintun, mit einem tiefen, zielstrebigen Schnitt in ihr Handgelenk. Sie hält dann mit der blutenden Rechten die Klinge an ihre linke Pulsader, sie verharrt dort in Spannung zu mir und zu sich, ich schlucke für sie, als wollte ich ihr die Erinnerung wieder zurückrufen, die Erinnerung an einen Schmerz, meine Erinnerung an einen Schnitt durch das Bewußtsein, und dann drückt sie die Klinge mit einemmal fest und endgültig der Länge nach in ihr Handgelenk hinein, in diese Verästelung des Lebensbaums. Der Schnitt dauert an, er hört nie auf, sie macht den Schnitt als eine menschliche letzte Tat, und der Stahl trifft sich mit dem Fluß des Bluts, das rotsahnig und lebendig aus ihr heraustritt, so als sei es die Gestalt der Seele. Wie flüssige Erde, hinter allen Vorstellungen. Die Tat stellt alle Bilder in den Schatten, die man sich vom Unvorstellbaren machen kann, einfach ist sie, klar und reinigend, namenlos einzig wie die Geburt, die auch eben jetzt unzählige Male stattfindet ... Und wieder und wieder Tiere, Menschen, Wesen, Luft, Samen, Körner, Wind und Blut. Und wieder und wieder. Sie hat ihre Augen noch immer ruhig vor sich hin gerichtet, sie regt ihren Blick nicht, ihr Dasein ist in der Hand und in die Nerven zu diesem Schnitt gewandt, dort hinein hat sie mich gesogen mit ihrer ganzen Liebe, die sie im Leben gefunden hat. [309] Mir schauert der Körper ein wenig, so als würde ich damit in mich selbst zurückkehren. Das Summen kommt wieder, stärker, wird lebendiger. Während der Schnitte war es ganz still. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, ich fühle mich frisch, wie neu geboren, meine Bewegung sagt mir, daß ich lebe, daß ich ich bin, daß ich richtig bin und daß sie richtig ist, die noch immer in der Wanne sitzt, warm und wohlig ausrinnend badet sie in ihrem Blut. Der Mann nimmt ihr die Klinge aus der Hand, sie lächelt ihn an. Sie muß die Brücken nicht abbrechen. Diese Brücke bricht nie. Ich erhebe mich, ich will näher hin zu diesen Augen, in diese Augen hinein, mit, mit ... Auch das junge Mädchen erhebt sich und setzt sich jetzt auf den Boden neben die Wanne, die Arme auf den Rand gelegt, eine Hand ins Wasser reichend. Sie ergreift die ausblutende Hand der Sterbenden, während an der Seite drüben der Mann die andere nimmt, wir haben den Kreis der Hände geschlossen.
Sie lebt an der Grenze auf, die ist ihre Schwelle von einem ins andere, von ihr zu mir. Sie hält ihre ausrinnenden Arme offen am Beckenrand, diese Hände leben, während die Frau mich ansieht wie das Einatmen selbst. Sie ist ich selbst, während sie aus diesem Dasein fließt, freiwillig ein Mensch am Übergang, so wie wir alle. Der Halt ihrer Hand läßt nach, sie sinkt ein wenig tiefer, das Wasser ist dunkelrot, ihre Augen werden kleiner, als betrete sie langsam eine andere Bewußtseinsebene, als könnte sie vergessen, warum sie gelebt hat, und daß sie das Leben genannt hat und nicht anders. Ihre Bereiche werden weitläufiger, auf einmal - auf einmal - alle Möglichkeiten ein Mensch zu sein, kein Mensch bleiben zu müssen, sie schmilzt hinüber in einen Bereich, der mir nicht verschlossen ist, wo ich nur die Klinke drücken muß, um hineinzugelangen. «Ich bin schon da», leise, sie bewegt ihre Lippen, das Fleisch lebt noch an ihnen, dort vergeht das letzte Atmen, die Augen sehen nach innen, der Mund tönt noch herüber, langsam weicht das Leben aus ihr, ist vollbracht. Das Wasser fließt ab, das Blut in den Abfluß hinein, zurück in die Erde. Der Mann hat den Stöpsel herausgezogen. Sie hat mich mitgenommen in ihre Verwandlung, sie wollte das so. Nun löse ich auch meine Hände aus den anderen. Der Blutspiegel sinkt ab, stetig und immer rascher, ich stehe auf und sehe mich noch einmal im Raum um. Nicht mehr alle sitzen da im [310] Nebel des Wasserdampfs. Sieben Menschen auf den Holzpritschen, ermattet, aber erregt. Sie sprechen etwas, einer lacht, sie leben noch, aber sie werden bald gehen. Nicht jeder macht es so wie sie hier. Es ist jedermanns Sache, wie er sich wandelt. Ich fühle kein Bedürfnis zum Baden mehr, heute nicht, mich zieht es hinaus ins Freie, an die frische Luft der Lebendigkeit, genau der menschlichen Art, wie ich eine bin, gesund und auf der Suche nach dem Leben, während ich mich mehr und mehr entferne aus dem Zwang. Sie hat mir geholfen. Ich habe sie gesehen. Ich nehme wie ein anderer einen weißen Bademantel um, meine Kleider hänge ich außen auf eine Stange zum Trocknen. Durch die Halle gehe ich noch mit verhangenem Blick, meine Haut fühlt sich an wie neu, der Druck im Kopf ist weg, ich schreite leicht und beschwingt, als hätte ich meinen Körper da drinnen gelassen, als wäre er auch durch den Ausguß geflossen. Meine Wangen sind gerötet, und auch meine Augen, wie von innen heraus erhitzt. Die Luft draußen streicht über mich hin, ich fühle sie viel voller auftreffen, an mir zur Seite weichen und sich wieder hinter mir schließen. Ein Meer von Luft, von Waldluft, Wiesenduft und Kuhmist. Ich wende meinen Schritt zur Bank hin, die unter dem alten Baum steht. Die Kühe liegen da und käuen wieder. Ein gehbehinderter Mann und eine unmäßig dicke, schwitzende Frau schleifen mühsam einen Sack hinter sich her. Es werden Kartoffeln sein. Ein Sack voll Essen. Durst habe ich jetzt, der Hunger ist mit ausgeschwitzt. Das ganze Bassin könnte ich aussaufen, wenn nicht diese fauligen Algen da drin wären. Die Seerosen darauf sind schön, so rein weiß, wie ich mich selbst fühle. So einfach wie ich selbst bin, so einfach wie das Totsein, so einfach, wie das Leben. Das Leben ist der Tod? Ich bin mein Denken? Ich denke mich mir immerwährend aus und kann es nicht ausschwitzen, meiner Seel, wenn das Denken nur ein Gefühl wäre wie das Wohlbefinden oder eine zeitweise auftretende Nervosität. Wie, wenn ich das Denken einfach vergessen könnte, und wenn es auftauchte, ich mit ihm spielen könnte wie mit einem jungen Stier. So viel ich sehen kann, handelt es sich hier nur um Kühe, sie lassen sich nicht stören von mir. Wenn ich so glotzen würde, in die Welt hinein, wie die Köpfe der mächtigen Leiber da. Ich fasse mir an die Augen und reibe sie ein wenig. Ich sehe Sterne und lasse mich auf die Bank nieder. Mein Hirn ist der Sternenhimmel, auf dem Kühe weiden [311] und mir Milch geben. Heilige Kuh, ich bin ganz ausgeronnen, ob sie die Klinge wieder aufgehoben
haben? «Das logische Denken, das haftet wie Pech, denn das versucht den Tod zu begreifen mit den eigenen Regeln, das versucht das Leben zu erfassen mit den eigenen Regeln, und das macht den Denkschmerz, weil die Logik zu klein ist, um das Universum zu erfassen.» In meinen Augensternen sehe ich den alten Mann auf mich zukommen. Er muß hinter mir gegangen sein. Ich rubble mir die Augen, so als sei ich gerade aufgewacht. Da setzt er sich zu mir. Er ist in meine Gedanken gesunken, er ist selbst versunken in den seinen, die auch meine sind. Er streicht sich durch den Bart. Seine Bedächtigkeit in seinen Bewegungen beruhigt mich, sein langsames, liebevolles Denken, sein Verweilen mitten in einem Denkvorgang, den er offensichtlich auch ruhig verlieren könnte, gefällt mir. Er hat keine Angst vor sich selber. Er hält die Hand noch immer im Bart. «Es ist möglich, das logische Denken zu benützen, es kann zeitweilig recht praktisch sein, damit umzugehen, aber wenn es allein herrschen soll, ist es ein Qualinstrument für den Benutzer und für die anderen. Ein kleiner Hautsack ist es, in den die ganze Welt passsen soll, das tut weh.» Vom Haus her kommen vier Männer, sie tragen eine Bahre zum Friedhof und gehen an uns vorüber. Ich sehe die tote Frau darauf. Ihr Haar liegt jetzt frei um ihr Gesicht. Ihre Haut zeigt einen ungewohnten hellen Schimmer. Sie ist wie durchleuchtetes Wachs. Die Haut der anderen Toten schien mir matter zu sein. Vielleicht könnte mir der alte Herr das Gegenteil beweisen. Aber er will mir nichts beweisen, so viel fühle ich, und das macht mir seine Anwesenheit so angenehm. Ich schaue der Bahre nach. «Sie hat die Schmerzen nicht mehr ausgehalten, sie wollte nicht mehr warten. Für manche ist eine Art Genuß, noch zu verweilen und den Tod kommen zu fühlen, aber wenn es zu arg im Körper wühlt, findet man den Entschluß rasch, ein Ende zu machen. Immer wieder kommt es vor.» «Habt ihr keine schmerzstillenden Mittel oder ähnliches, die Wissenschaft ist doch da sicher weit vorgedrungen?» Meine Frage kommt mir irgendwie zu harmlos vor, ich fühle, daß meine Worte nicht genau ausdrücken, was ich eigentlich rätselhaft finde, es liegt viel tiefer, was ich erkunden möchte, und zugleich ist es [312] mir keine Frage, weil ich es weiß, ich weiß alles, aber die Zusammenhänge sind mir unkontrollierbar, ich kann sie gedanklich nicht umfassen. Ich versuche einen neuen Ansatz für meine Frage zu finden, öffne den Mund, bevor ich etwas sage, und da legt mir der Herr seine Hand auf meine drauf, lächelt und spricht, wie für mich: «Logisch kannst du das nicht erfassen, quäl dich damit nicht, ich verstehe dich auch so. Der Wissenschaft liegt logisches Denken zugrunde. Logisches Denken ist wissenschaftliches Denken.» Er hält inne und schaut auf die Wange nieder, wo er anscheinend seine weiteren Gedanken herauslesen kann. Auch ich sehe auf den Boden, denn es ist nicht so sicher, daß er noch etwas sagen wird, wenngleich ich das hoffe. Vielleicht ist es auch an mir, da zu lesen, auch für mich ist da etwas zum Denken auf dem Boden in der Erde, aber logisch wird es nicht sein, das weiß ich jetzt schon. «Wie soll es aber dann sein?» «Viel einfacher ist es», sagt der alte Herr. «Die Wissenschaft war an eine Denkgrenze gestoßen, an die Grenze der Logik, und zwar ohne Absicht, durch die Produkte der Logik, von dort ab hat sie sich eigentlich nur mehr mit der Funktion des Denkens befassen könnnen, das ist aber nicht analytisch zu erreichen. Die Beweise sind zerfallen. Wenn du etwas genau andenkst, zerfällt es dir vor den Gedanken, und du kannst nicht mehr eines mit dem anderen erklären, da hängt nicht mehr eines vom anderen ab, da schließt ein Beweis den anderen nicht aus, da bedeuten Erkenntnisse und Errungenschaften nichts mehr, weil sich das Feld der Möglichkeiten ins Unermeßliche erweitert. Im sogenannten Universum geht
es nicht um Erklärungen mit logischen Mitteln. Dem Universum geht es überhaupt um nichts, und wie willst du das Nichts mit Logik wissenschaftlich öffnen. Du kannst nicht einen großen Topf in einen kleineren pressen, ohne ihn zu zerbrechen.» Er faltet seine Hände ineinander und schweigt, nachdem er sich kaum merklich erregt hat an diesen letzten Gedanken. Ich sehe es auch daran, daß ihm die alten Augen wässerig werden. Er muß sich ein wenig die Augenwinkel wischen. Ich sehe ihm ungeniert ins Gesicht, ich will, daß er weiterdenkt, er soll meine Anteilnahme merken. «Mit der Logik kannst du gehen bis an die Grenze, und dort kannst du dein Denken hinüberlassen über den Zaun. Mit dieser Wissenschaft kannst du ziehen bis an die Schwelle der Begreifbarkeit, aber die [313] Beweise werden immer dünner und fadenscheiniger, je tiefer du in den subatomaren Bereich eindringen willst. Die Techniken sind dort auf sich zurückgeworfen, die Logik ist dem Nichts nicht gewachsen, weil das viel einfacher funktioniert als das Denken. Dem Universum kannst du alles nachweisen, da kannnst du dir die unmöglichste Denkspirale ausklügeln, alles paßt, alles stimmt, es ist nicht herauszufordern, alle deine Gedanken sind drin enthalten und nichts bietet dir einen Aufschluß. Du kannst das Nichts, auch praktisch, sehr wohl beweisen, aber das bedeutet nichts.» Der alte Herr läßt sein Ohr los, das er ein wenig gerieben hat, während er sich über seine letzten Worte eher erheitert zeigt. Er wendet sich mir voll zu und sagt: «Nur eines ist zu erkennen, daß es überflüssig ist, Wissenschaft zu betreiben, selbst eine diesen Gedanken angepaßte, daß es idiotisch ist, die Logik als einen führenden Denkanspruch zu bewahren. Zuwenig, viel zuwenig ist das. Die Wissenschaft hatte alles gefunden, was sie umreißen kann, sie hatte Gott selbst gefunden, sie kann ein neues Universum schaffen. Denkmaschinen können alles Erdenkliche zustande bringen, sie können selbst Menschenunmögliches leisten, aber da bleiben wir auf der Strecke, was soll uns das sein - wir blieben mit unserem Gehirn zurück und konnten es nicht verwenden, weil Maschinen für uns lebten. Wir hatten uns überrundet, wir hatten uns zu Gott gemacht und konnten unser Menschsein damit wegwerfen - aber wir müssen es nicht, jetzt gerade nicht!» Er lacht über seine Worte und bückt sich nach einer kleinen blassen Blume, faßt sie an, so als ob er sie spüren wollte, er reißt sie nicht aus. Es muß irgendein Knollenkraut sein. Ein kleiner widerstandfähiger Körper. «Stell dir vor, du kannst ewig leben, alles ist möglich, stell dir vor, es wäre leicht zu machen, daß du immer hier auf der Bank sitzen bleibst. Stell dir vor, die Wissenschaft hat alle Möglichkeiten, sie hat alles gefunden und sie geht noch weiter und noch viel weiter, aber die Weite ist nichts als Weite und dort ist alles zu Hause, du, ich, die Kühe, die Blume, die Logik, die Chemikalien, dein Hirn, ein Hase, ein Haus, die Luft, der Tod, dein Bemühen, dein Schmerz, dein Glück und das Jetzt. Da lebt es oder stirbt es, da ist alles daheim, da ist alles losgelöst vom anderen und alles vereint.» Er bückt sich noch einmal, und jetzt pflückt er die Blume wirklich. [314] Ich nehme sie ihm wie in einem glücklichen Impuls einfach aus der Hand und lasse sie in meiner eigenen liegen. Ich muß sie nicht halten, sie bleibt da von selbst. «Wenn ich eine Möglichkeit habe, immer auf dieser Welt bleiben zu können, kann ich auch gehen, sie ist mir keine Herausforderung mehr, sie strengt mich nicht mehr so an, sie ist ein blumiges Feld, sie ist ein grausames Feld, sie ist ein Lebensfeld, sie ist ein Gedankenfeld, aber wahrhaftig nicht das einzige Feld, wenngleich die Felder einander alle ähneln. Spürst du, was leicht wird, wenn du immer dasein könntest als deine eigene atmende Mumie? Spürst du, was geht, spürst du, was du da auflösen kannst, was sich da von selbst löst, weil du dir keinen Zwang mehr antun mußt, spüre einmal, was da passieren darf, fühle, was du dir da erleichtern kannst, denke mit dem Denken bis an die Grenze und dann lasse es aus, hinüber über den Zaun, spürst du dann, was ich an dir sehe und was
ich in mir sehe?» Ich starre auf meine Blume und möchte mich dem Zwang, antworten oder denken zu müssen, entziehen, ich möchte nicht gefordert werden und geprüft werden, ich möchte zuhören und mit den Gedanken schwingen, ich möchte nicht logisch erklären müssen, was ich bin - aber nicht erklären kann, weil das nicht notwendig ist, weil es mit meinem Hochgefühl inmitten der Überlegungen des Alten nichts zu tun hat, weil es eine kleine staubige Pflicht darstellt, und ich fühle mich unverstanden und hereingelegt, ich drücke die Hand zu, aber da lacht der Alte glucksend wie ein Kobold, streicht sich erregt über den Bart, nimmt mir die kleine Blume aus der Hand und steckt sie mir ins Haar. Ich bin ehrlich erleichtert und nehme ihm seinen Witz nicht übel. Ich mag den alten Kobold. Er darf meine Verwirrung sehen. Ich bin ein offenes Blatt. «Die innerste Substanz der Materie ist von alogischer Struktur!» doziert er wie im Spaß und greift sich an das abstehende linke Ohr. Das Licht scheint durch, es ist rosa wie von einem Tier. Er verharrt in dieser Pose, und ich muß herauslachen über soviel komischen Ernst. Mich erleichtert etwas an seinen Überlegungen. Je länger und komplizierter sein Gedankenbau wird, um so mehr trägt er sich auch selbst ab und wird mir immer ähnlicher, ich bin damit einverstanden, ich höre das gern. Ich ziehe mir energisch den weißen Bademantel zusammen. «Die Substanz der Materie ist alogischer Struktur», wiederhole ich für mich selbst. [315] «Das hat die Wissenschaft herausgefunden, eigentlich beachtlich, und sie kann auch ewiges Leben machen, was kann sie noch? Eben nichts, sie hat sich selbst ins Nichts aufgelöst, das logische Denken hat seinen Führungsanspruch verloren und ist ein benutzbarer, aber unwichtiger Teilmechanismus im menschlichen Hirn, so wie die Rechtshändigkeit», beendet er meine Überlegung. «Sind wir jetzt logisch?» muß ich fragen. «Wenn du nicht willst, kannst du ja aussteigen. Ich bediene mich gern der Logik, und ich spreche gern mit dir. Unser Verhältnis ist unlogisch, du wirst nicht ganz erklären könnnen, warum ich mit dir so viel spreche und warum du mir so gern zuhörst. Und zwar deswegen, weil alles viel einfacher liegt, als du es dir zurechtlegen könntest, weil unsere gemeinsame Energie viel stärker, ist als jede rationelle Überlegung. Wir sind einander viel ähnlicher, als wir noch werden könnten, durch das Denken, und selbst meine Worte sind total überflüssig. Du weißt alles, du weißt alles selbst.» Er hält inne, irgend etwas rührt den Mann in seiner Abgeklärtheit auf, etwas hemmt ihn, Bedeutungsloses zu tun, er hört auf, er sagt nichts mehr, er schwimmt weg oder her, ist ihm etwas nicht angenehm, oder geht er jetzt für immer hinüber, ist er am Ende, oder ist es für mich ein Anfang, er gibt mir alles, er überläßt alles mir, er überläßt sich mir mit einemmal, wo er mich vorher doch getragen hat, auf seinen Gedankenschwingen, mag er nicht mehr? «Du mußt mich nicht verehren, du mußt dich nicht an meine Gedanken hängen. Alles was dich bedroht, was du nicht ganz verstehen kannst, das verehrst du. If you can't beat 'em, join 'em, wenn du sie nicht schlagen kannst, schließe dich ihnen an - das ist die faule Wurzel der Heiligenverehrung.» Plötzlich legt sich der alte Mann vor mich in die Wiese platt auf den Rücken, wendig ist er für sein Alter. Er liegt da und sieht mich von unten her an. Ich muß lachen über seine Einfälle. «Du lachst über mich», er lächelt selbst und stützt sich wieder etwas auf die Unterarme, verhält eine Weile in meinem Blick und meint dann: «Daß du lachst, ist ein Zeichen, daß du mich verstehst, ohne daß ich mich dir erkläre.
Du könntest mich zu schlagen versuchen, Gedanken wollen immer geschlagen sein, denn dazu sind sie ausgedacht. Ich [316] denke mir die Worte aus, damit du mich schlagen sollltest. Lach mich aus, meiner Worte wegen, aber bitte verbrüdere dich nicht mit mir, verehre mich nicht, denn dann wäre ich mir eine eigene Bedrohung durch dich geworden, und ich alter Affe hätte mich hereingelegt. So lange habe ich mit niemandem mehr gesprochen, weil es sich erübrigt hat, zu jemandem so zu sprechen, aber mich hat das wieder ein wenig jung gemacht», brummelt er jetzt, während er sich wieder in der Wiese langlegt und ich mich zu ihm hinuntersetze. Er nagt an einem Grashalm. «Herr zu sein über Leben und Tod, das haben sie sich immer gewünscht, die Menschen, und dahin sind wir gekommen, das sind wir», sagt er. «Jetzt ist alles ausgedacht, was es zu denken gibt, ausgeleert ist das Hirn, es ist zur absurden Struktur geworden, du hast schon recht, wenn du darüber lachst. Wir können es sehr wohl gebrauchen und benützen, aber die Wichtigkeit des Gehirns ist zerplatzt. Niemand braucht es mehr, um dem Tod zu entgehen, wir könnten ihm leicht Einhalt gebieten, wir haben alle Mittel dazu. Mit dieser Möglichkeit ist die Angst vor ihm zerfallen, wir müssen ihn nicht mehr bannen, indem wir eine komplizierte Zivilisation aufbauen, die uns vor ihm schützen soll.» Ich horche auf, da ist etwas, das trifft in mein eigenes Erinnerungsloch, da hinein möchte ich nicht fallen, und doch lockt mich dieser Abgrund. Ich habe mich immer schon gefragt, warum die Menschen hier ihre Erkenntnisse nicht benützen. Sie hätten alle Mittel, aber sie streben keinen Fortschritt an. Irgendwo bin ich da verwickelt in meiner eigenen Entwicklung, ich ahne, wie es war, was ich war, aber ich habe die Zeit verloren, die Zwischenzeit. Auch mit mir ist das passiert, ich fühle mich nicht so, als sei ich nicht am rechten Ort, ich spüre genau, ich ziehe heimwärts, aber ich suche etwas, das mir genügen könnte, meine Lücke zu füllen. Keiner konnte mich bis jetzt zurückhalten, keiner wollte es tun, ich bin so freigelassen. Sie sind hier so fraglos, so grenzenlos offen für ihr Schicksal, niemand will mir das erklären. Vielleicht wissen sie auch nichts von ihrem Glück, oder vielleicht ist das gar kein Glück. Vielleicht kann der Alte benennen, was mich treibt. Er sagt, sie haben alle Mittel, alles könnte ich herstellen, alles, was ich mir ausdenken könnte, aber ich spüre, das Ausdenken ist nicht mein Wunsch. [317] Das Denken ist nicht mein Streben, aber immer tue ich es, das Leben ist meine Lust, und das habe ich, das bin ich. Wenn ich dabei noch denken kann, ist das sicher gut. Er hat schon recht, der Alte, verstehe ich ihn? Die Kühe erheben sich, langsam, eine nach der anderen, als hätten sie das so vereinbart. Sie senken die riesigen Mäuler ins Gras und rupfen appetitlich dran. Das malmende Geräusch ist in seiner Gleichmäßigkeit beruhigend, die Größe der Tiere ist wie hohl, aber in dieser Höhle vermute ich eine Seele, die der meinen sehr ähnlich sein dürfte. Ich gleite in ihre fressende Trägheit hinüber, in die viereckigen Schädel über dem Erdboden, sie haben weiche Zungen und harte Stirnschalen, dicke Euter und große Kuhaugen. Der Alte nimmt seinen Grashalm aus dem Mund, dreht sich auf den Bauch und meint: «Mit der Annahme des persönlichen Todes zerfällt der Zivilisationsanspruch.» Die Kühe grasen weiter. Ich streiche mit meiner Handfläche über das grüne Gras. Die einzelnen Worte des Alten laufen da zwischen den Halmen spazieren, hoffentlich frißt sie keine Kuh auf, bevor ich sie richtig mitgekriegt habe. Ich sehe sein Gesicht ganz nahe neben mir. Fröhlich blitzende blaue Augen, langsam spricht er weiter, nicht so, als wollte er mir etwas erklären, sondern eher, als würde er für sich selbst sprechen oder für die Kühe oder für das Gras: «Die Zivilisationsverehrung war die Abwehr gegen den Tod. Ein zermürbender Krieg,
an dem alles zugrunde gehen kann. An dem sich der Mensch vergißt als Einfachheit, als Leben. Was dich bedroht, das banne, indem du es verehrst. Was du nicht bekämpfen kannnst, dem verbinde dich, indem du ihm eine Gestalt gibst, die du selbst ausgedacht hast. Zivilisation ist der Tod selbst. Eine Form, die die Menschen anbeten können, eine, der die Menschen verfallen konnten mit Leib und Seele. Langsam hat sie das Zivilisationsstreben ausgehöhlt, und langsam sind sie gestorben, aber nach ihrer Art, ohne es zuzugeben. Abgegeben haben sie Stück für Stück an diesen Moloch, der aus ihnen qualvoll Stück für Stück herausgefressen hat, Zeit für Zeit, während sie auf den Knien lagen vor dem Phantom der Erhaltung des Lebens. Ausgetauscht haben sie sich in entfremdete Funktionen, langsam sind sie gestorben wie die Märtyrer, aber unfreiwillig freiwillig, obwohl der Tod ohne Umwege viel leichter gewesen wäre. Religionen [318] haben sie gegründet, um einen Gott verehren zu können, weil sie sich mit ihm nicht verbinden wolllten, denn auch er ist der Tod. Es ist nur zu verständlich, daß einer, der als tiefste Botschaft das Sterbenkönnen unter Schmerzen hinterlassen hat, abgewehrt wird dadurch, daß man ihn in Holz schnitzt, vergoldet und anbetet! Anbeten ist schlimmer als umbringen! Religion ist die Abwehr des Todes, indem das Jenseits verherrlicht wird, und Philosophie ist die Abwehr des Lebens.» Da erhebt sich der Alte plötzlich auflachend, als sei er jetzt am Ende mit seinen Ausführungen, und setzt sich schnell wieder auf die Bank, während er sich kurz ans Herz greift. Er ist zu schnell aufgestanden. «Ich habe zuviel philosophiert, da sticht es mich manchmal.» Er lacht noch immer. «Ob das logisch ist?» frage ich, indem ich mich wieder zu ihm setze. «Die Logik beten wir heute nicht mehr an, keiner glaubt mehr an sie als Haltegriff, mit dem Wissen ist aufgeräumt worden, da kräht kein Hahn mehr danach. Eine Erlösung im wahrsten Sinne des Wortes, das kannst du mir glauben, ich bin schon alt.» Ich sehe ihn gespannt an. Ich will nichts fragen, aber er weiß, ich tue es mehr als mit Worten. «Ich bin damals hierhergekommen, weil ich sehr krank war. Ich habe geglaubt, daß ich sterben möchte, und dann wurde ich wieder besser.» Er schweigt und hält seine adrige Hand im Bart und schaut wieder in die Wiese. «Heute bin ich noch immer da und fühle mich gut. Ich lebe gern. Als Lebendiger unter den Toten denke ich mehr als die meisten, weil ich eine Sonderstellung einnehme. Die Menschen hier wissen alles, sie sind so geworden, nicht von heute auf morgen und nicht, daß sie von ihrem Wandel in Einzelheiten wüßten, es interessiert sie auch nicht besonders, das Leben ist viel mehr als seine Geschichte. Da freue ich mich, wenn ich jemanden trefffe, der mit mir denkt und hören will, was mir einfällt. Ich bin eben schon alt. Vielleicht kann ich nicht sterben, vielleicht will ich nicht, vielleicht lerne ich von den anderen hier, aber jetzt bin ich schon so lange da ...» Er ist über sein Geständnis nicht betrübt, ihn erheitert das eher. Er greift sich diesmal nicht ans Herz, sondern an die Magengegend. Wir sind beide wortlos einer Meinung. «Immer Kartoffelbrei ist für einen gesunden Menschen nicht unbedingt das Richtige. Eine Zeitlang habe ich darunter ein wenig gelitten, [319] aber dann ist mir die Jahre über hin dieses Essen doch zum liebsten geworden. Ich brauche ja hier nicht viel Kraft. Ich vertrage schärferes Essen auch gar nicht mehr recht. Ich bin es nicht gewöhnt.» Wir machen uns langsam auf den Weg zurück ins Haus. Ein Umweg führt uns dicht am Wald vorbei. «Dann und wann bringt irgend jemand etwas Besonderes mit. Meist sind es Menschen, die Kranke aus der Gruppe heraufführen, da komme ich manchmal zu einem Stück Wurst oder zu einem Kuchen, aber ich muß sagen, daß ich dann immer wieder gern zum Kartoffelbrei zurückfinde. Eine Frau war einmal da, die hat bis zu ihrem Tod darauf bestanden, Kuchen zu backen. Eine Stunde vorher hat sie noch den letzten übers Feuer
geschoben. So etwas ist allerdings äußerst selten. Die Sterbenden interessiert das Essen kaum noch, und in gewissem Sinn bin ja auch ich ein Sterbender, vielleicht noch viel mehr, als alle anderen zusammen», lacht er wieder in seiner koboldigen Art. Er ist kleiner als ich, weil er im Rücken schon ein wenig gebeugt ist. Seine Augen blinken unter den hängenden Lidern hervor. Etwas Tierhaftes, aber mit einem sanften Licht, strahlt da heraus. Er hält mich am Arm zurück, bleibt stehen und zeigt in eine kleine Lichtung. Eine Reihe Bäume verdeckt etwas den Blick, aber ich folge seiner Hand durch das Blattgewirr und sehe einen Hirsch mit einem mächtigen Geweih im Gras liegen. Das Geäst über seinem Haupt ist königlich. Er neigt seinen Kopf so bedenklich, er atmet schwer, er kann das Haupt nicht mehr halten, er muß es nicht, seine Nüstern beben leicht, der Kopf sinkt tiefer und tiefer, als wollte er einnicken, zusammensinken. Die Haut zuckt an einzelnen Stellen auf, manchmal reißt es den ganzen Leib zusammen. Er beruhigt sich wieder, legt den Kopf endgültig auf den Boden und dreht seinen Körper auf die Seite. Er spreizt die dünnen, aber starken Beine von sich, zuckt noch weiter, hebt zum letztenmal den Schädel, die Augen treten hervor, große dunkle Kugeln wie die Erde selbst, und dann bleibt das Tier ausgestreckt liegen, mit diesem offenen, großen, weiten Blick. Wir bewegen uns wieder. Ich schaue den Alten an im Gefühl, die Augen des Tiers zu haben, so ruhig und glänzend, erloschen. «Hierher kommen öfter Tiere zum Sterben. Ich habe das schon manchmal beobachtet. Etwas zieht sie hierher an diese Lichtung.» Schweigend gehen wir weiter. Oben am Hügel angelangt, sehen wir hinunter ins andere Tal. Der Wolkenkratzer in der Ferne steht dort [320] unten wie ein einsames Grabmal inmitten eines Trümmerhaufens hinter den Wiesen und Feldern. Ich wende meinen Blick hinüber, dort, wo ich die Stadt vermute, wo meine Wanderung begonnen hat, und da kann ich ganz verschwommen in der Ferne so etwas wie Häuser und vielleicht auch einen Kirchturm ausnehmen. Ich sehe den Alten an und sage nichts, und er nickt, so als wüßte er, was mir ein Geheimnis ist. Im Haus sind dieselben Leute wie bei meiner Ankunft mit der Bereitung des Breis beschäftigt. Die Frau bringt schon den ersten heißen Kessel. Einige stehen da und warten auf das Essen. Oder vielleicht auch nicht, sie sind weder gierig noch hungrig darauf, aber sie nehmen es, solange sie noch leben. «Die Teller sind nicht gewaschen. Sie sind nur eingeweicht. Niemand hat sich um sie gekümmert», berichtet die Frau, ohne jemanden zu beschuldigen oder betrübt darüber zu sein. Der Alte deutet mit dem Kopf nach der Küche, als sei er nach unserem Gespräch sicher, ich würde ihn nicht allein Teller waschen lassen. Er verzieht das Gesicht zu einer ergebenen Grimasse: «Ich mache es ohnehin fast nie», meint er dazu. Der Mann mit dem Kopftumor schließt sich uns an. Sehr nach Küche sieht es hier nicht aus, der Raum lädt nicht zum Kochen ein. Für einen kurzen Augenblick, noch bevor ich diese kahle Halle betreten habe, hatte ich daran gedacht, vielleicht selbst etwas auf die Beine zu stellen, was den Sterbenden einmal so richtig in die mürben Knochen fahren könnte, aber dieser Gedanke stirbt mir ab. Eine Abwäsche hängt aus der Wand heraus, und aus einem Leitungsrohr rinnt auch Wasser. Die Teller liegen da drinnen mit schrundigen Resten. Das kalte Wasser ist voll Kartoffelbrei, der aufgeweicht und schleimig im Wasser schwimmt. «Was ist mit warmem Wasser, mit dem hier ist nichts mehr zu wollen», rufe ich voll Kartoffelgrausen. Dabei habe ich so einen Hunger auf Kartoffelbrei. «Ich weiß nicht, die Sally hat heute so viel heißes Wasser zum Sterben gebraucht, man muß nachsehen, ob noch welches im Kessel übrig ist», ruft die Frau von der Halle herein. Der Tumormann schleppt schon einen Eimer heran, stellt ihn auf den Boden und hält sich
dann den Kopf. «Das Heben halte ich nicht mehr aus», jammert er mit verdrehten Augen und setzt sich auf eine dieser Badepritschen, die mitten in der [321] Küche stehen. Er läßt sich auf einen halbvollen Kartoffelsack sinken, der da liegt. Ihm ist schwindlig geworden. Vielleicht ist es heilsam, mit einem Tumor auf rohen, harten Kartoffelknollen zu liegen, denn er erholt sich rasch wieder und hilft uns, die beschmierten Teller vorerst grob unter kaltem Wasser zu spülen und dann im warmen sauberzumachen. Wir lassen sie abtropfen, gewischt wird hier nicht. «Na, das habt ihr aber sauber hingekriegt. Wenn ihr noch so kräftig seid, könntet ihr ja auch ein wenig Obst pflücken. Die drei Pflaumenbäume hinten bei der Ausfahrt, die tragen schon reife Früchte», schlägt eine Frau vor, während sie hereinkommt. Ich lasse meinen Teller in meiner Hand trocknen, ich will, daß das meiner ist, von dem ich weiß, daß ich ihn gewaschen habe. Daß ich auf einmal so heikel bin? Vielleicht habe ich Angst, daß das Sterben ansteckt. «Von den Pflaumen kriegen hier viele Bauchweh. Die ständige Verstopfung ist günstiger und auch viel praktischer, weil die Klos nicht mehr reibungslos funktionieren. Seit Ulf tot ist, haut das mit den Abflüssen nicht mehr hin. Wir werden auch zu diesen Gruben übergehen müssen», stellt der Kopfkranke fest. «Ich gehe immer in den Wald», sagt der Alte und hält auch einen Teller in der Hand. Ich möchte diese Küche lieber verlassen. Ich krieche mit den Augen noch einmal die kahlen Wände hoch, kein Regal, kein einziges Gewürz, kein kleinster Maiskolben, keine Zwiebelchen und kein Geruch nach Safran und Zimt von Tell, kein Fleischbrocken von Ruth und Buchten schon gar nicht, nur von den Kartoffeln übriggebliebener erdiger Staub, vier Milchkannen und ein Herd in der Ecke. Ich könnte allerdings nicht sagen, daß mir der Brei nicht schmeckte, den mir der Einbeinige auf den Teller klatscht. Besonders viel, wie mir scheint. Heute schmeckt es auch viel besser. Anscheinend weil mehr Milch drin ist. Ich sitze auf den Stufen und mampfe mitten unter den anderen. Einer balanciert den Löffel auf dem Handrücken. Er sollte lieber essen, er sieht schon ganz gelb aus. Aber vielleicht kann er das mit essen nicht mehr wegkriegen. Als ich mich erhebe, sehe ich die Frau aus meinem Abteil an der Glasfront beim Ausgang. Ich strecke instinktiv die Hand hoch, um sie zu grüßen. Sie erwidert meine Geste. Dann läßt sie die Hand sinken und schaut mich noch eine Weile verloren an, von Ferne, aber so ganz nahe hergerückt ist mir ihr inneres Licht, es flackert ein wenig, ich weiß, daß sie geht, und ich [322] weiß auch, daß sie unsicher ist. Sie macht es nicht so wie der Alte. Es gibt viele Möglichkeiten, und keine schließt eine andere aus. Den Alten habe ich in der Menge verloren. Auch ich fühle mich da mit meinem leergegessenen Teller unter den Gerippen verloren. Ich könnte mich hinlegen. Ein Bett habe ich ja. Meine Flöte besetzt es. Bevor ich die Stufen hinaufsteige, nehme ich noch einen Kartoffelteller für die Frau mit, der ich auch gestern etwas gebracht habe. Ich nehme gleich meinen Teller, ich habe ihn ja schön abgeputzt, sie wird es nicht beklagen. Die hygienischen Verhältnisse sind hier ohnehin total nebensächlich. Alle sind von der letzten Krankheit befallen, niemand hat Angst vor Ansteckung. Ein Hund läuft mir zwischen die Beine. Ich habe gedacht, die Tiere machen es draußen auf der Lichtung ab. Er bellt an der Glasfront, er will hinaus. Sein Bellen fliegt durch das Glashaus in vieldimensionalen Tonlagen, kurz schlägt es an, da, dort, von oben herunter, zurück in die Halle, hinein in sein Ohr, und wieder meldet er seinen Wunsch: Hinaus, hinaus! Diese ungewohnte Sprache läßt das Glas erschallen. Mir ist dieser Wechsel im Tonfall recht, ich höre das gern. Das Gesumm der Gespenster um mich ermüdet mich etwas, wenngleich ich mich gut fühle. Die Nahrung hat mich gestärkt, aber ich möchte mich trotzdem gern ein wenig hinlegen. Wie ein Frieden steigt es in mir auf, daß ich das auch wirklich tun kann. So einfach ist mein Wunsch, der einzige, den ich verspüre.
Die Frau, der ich das Essen bringen möchte, liegt auf der Seite, mit dem Gesicht zum Fenster hin. Sie rührt sich nicht. Sie atmet, ich sehe es. Wahrscheinlich schläft sie, ich will sie nicht wecken. «Sie schläft heute schon den ganzen Tag. Seit Tom weg ist, ist sie wie verändert, dabei haben die beiden nie viel miteinander zu tun gehabt», berichtet der dicke Mann gegenüber, dem ich die Füße gewaschen habe. «Gib mir den Brei, sie ißt ohnehin nicht. Vorhin wollte ihr jemand etwas bringen, und da hat sie sich auch nicht gerührt.» «Du Gieriger, du! Du bist nur auszuhalten, wenn du satt bist. Ich habe ja gewußt, daß sie kommen wird», grummelt die Alte jetzt, indem sie sich mühevoll zu mir herwendet. «Irgendwie geht es rascher, als ich angenommen hätte, ich merke das. Seit Tom weg ist, zieht es auf mich zu. Ich habe es gewußt, aber geglaubt habe ich es noch immer nicht», lacht sie. [323] «Gib ihm das Essen, ich mag nicht mehr recht. Ich krieg heute nichts hinunter.» «Mir soll auch einmal jemand das Essen bringen», schmollt er und drückt mir einen saftigen Kuß auf die Wange, als ich ihm den Teller reiche. «Ich habe den Teller nicht abgewaschen. Vorher habe ich draus gegessen», sage ich noch dazu, aber er meint schmatzend: «Da schmeckt es mir ja noch besser.» «Der Mann ist mein Ende, aber er schafft es und weckt mich wieder», kichert sie nun. «Möchtest du vielleicht ein paar Pflaumen, ich könnte sie dir von draußen holen, sie sollen schon reif sein», biete ich ihr an. «Nein, das ist lieb von dir, aber ich mag nicht mehr, es würde mir wieder Schmerzen im Bauch bereiten. Wenn ich so ruhig liege, fühle ich mich ganz gut, ich habe keinen Wunsch, ich fühle mich so satt. Mir ist gut so», und dabei seufzt sie von tief innen heraus auf, fast ist ein erlösendes Aufschluchzen dabei, und über ihr altes Gesicht breitet sich eine Erleichterung, nie mehr essen zu müssen, nie mehr nach einem Bedürfnis zu fragen. Ich bleibe an ihrem Gesicht hängen und weiß, daß sie im selben Atemzug auch wieder mit dem Dicken zanken könnte, und das macht in mir selbst etwas leicht und möglich. Logisch ist das nicht, aber möglich. Es ist wahr. Ich gehe in meine Abteilung hinüber. Wie immer heißt mich ein Schnarchen willkommmen. Mir fällt ein, daß mich das Geräusch in der Nacht nicht im geringsten gestört hat. Die Frau liegt wieder mit dem Rücken auf dem Bett, aber diesmal wendet sie die Augen kurz zu mir her. Nur rasch und kurz, fast weiß ich nicht, ob ich mich nicht getäuscht habe. Neben meiner Flöte am Kopfende liegt das Fadenspiel. Ich nehme die bunten Schnüre in die Hand, spanne sie um den Handteller, ebenso auf den anderen und mache das Musterziehen, wie es Menschen zu allen Zeiten besser oder weniger gut gekonnt haben. Draußen wird wieder jemand auf eine Bahre gelegt, ich höre das jetzt schon an dem Klappern der Holzstäbe. Ich gehe nicht mehr nachsehen, ich bin jetzt kein Neuling mehr. Ich lege mich hin und verschränke die Arme unter meinem Kopf. Ich schaue an dieselbe Decke wie meine Nachbarin. Da oben sieht man alles, was es zu sehen gibt, da stimmme ich mit ihr überein, nur wird sie [324] am Abend Milch trinken, und ich werde Tee trinken. Der Hirsch hebt sein Haupt in einem Wachschlafbild an der Decke, das Geweih zieht sich über den ganzen Zimmerplafond hin, und wieder fühle ich seine sterbenden, offenen Augen, so als seien es meine, nur Augen, ein offener Blick. Ein offenes Hirn inmittten meiner Zeit. «Ein neuer Schacht wird ausgehoben! Ein neuer Schacht ...!» Eine Stimme versucht sich zu einer Verlautbarung zu erheben, manchmal bricht sie und versackt, einmal schnalzt sie über, aber jedenfalls versteht jeder, der hören kann, den Aufruf. Die Architektur kommt
dem kläglichen Rufer zugute. Seine Stimme dringt aus der Halle bis zum Dach. Es hallt überall wider. Ich kann jetzt schon erkennen, von wo ein Geräusch ausgeht. Ich drehe mich zur Seite und schließe die Augen. Ich fühle mich nicht nach Schwerarbeit, ich habe schon mitgeholfen, Rostos Grab zu schaufeln. Ich tue alles, ich wasche Teller, ich würde sogar die Kloabflüsse reinigen, ich würde Kartoffeln stampfen, ich mache, was auch für mich nötig ist, aber bitte, einen Schacht brauche ich noch nicht, ich habe keine Lust, mich schon eingraben zu lassen. Falls es soweit sein sollte, bin ich fast sicher, daß ich, falls ich noch irgendwie in der Lage wäre, mir mein Grab selber schaufeln würde, aber jetzt nicht. Ich höre, wie sich Stimmen in der Halle versammeln zu einem gemeinsamen Murmeln, wie in einem Gebet, und dann beim Tor hinaustönen, langsam verebbend. Mit einemmal interessiert es mich, wie viele das wohl gewesen sein können. Ich lächle selbst über dieses Interesse, aber ich betrachte es als eine innere Pflicht, mich nicht der Trägheit hinzugeben, wenn ich sehen möchte, wie viele es sind. Ich trete aus meiner Abteilung und will zur Glasfront hin, die gegen den Friedhof liegt. Zwei Leute, eine Frau und ein Mann, kreuzen mit einer der bekannten Bahren meinen raschen Weg. Ich bremse mein Vorhaben und sehe auf der Bahre eine weite Hose mit Hosenträgern, drin einen Mann mit schütterem Bart, wenig Haaren, geschlossenen Augen und einem nackten sonnenverbrannten Oberkörper. Meine Hände gehen wie von selbst zu einem Falten zusammen, und ich neige meinen Kopf, während die Trage an mir vorbeizieht. Ich verharre so in einem Gedankenwirbel, der einem inneren Lichtspiel gleicht, das aber auch tiefe Ruhe und volles Einverständnis mit mir selbst bedeutet. Auf der Treppe sehe ich wieder die beiden Kinder, das mit dem [325] lieben, gesunden Gesicht und das bläuliche. Ich hole das Fadenspiel und gebe es ihnen. Sie können das bessser als ich. Sie spielen es miteinander. Eines schlingt, und das andere hebt ab, eines läßt aus, und das andere greift zu. Eine Frau kommt die Treppe herauf. Sie blickt suchend um sich, ich sehe, sie war noch nicht da, sie kennt sich nicht aus, sie sucht ein Bett. «Ein Stockwerk höher, im vorletzten Abteil, dort ist das Bett neben dem Tisch frei, nimm es nur», biete ich ihr an. Sie sagt nichts, aber sie nickt ernst. Dann tritt sie nahe an mich heran und zeigt auf ihre Ohren und ihren Mund. Sie haucht aus ihrem Mund, zeigt auf meinen und nickt wieder. Die Kinder finden das ulkig und machen sie nach, hauchen und zeigen in den Mund. Das blaue Kind stiert in den aufgerissenen Mund des anderen und beginnt dann, mit den Fingern in den Ohren von einer Treppenstufe auf die andere zu tanzen. Ich nehme die Frau am Arm und führe sie zu dem freien Bett. Sie setzt sich erschöpft nieder und packt aus einem kleinen Stoffbeutel etwas aus. Sie deutet mir zu warten und breitet dann ein Tuch aus, mit herrlichen Bäckereien, lustig geformten Teiggebilden, knusprig gebacken. Ihr Gesicht geht auf über diesen Köstlichkeiten und lächelt frei, erwartungsvoll und stumm. Mich rührt das, und ich setze mich zu ihr aufs Bett, nehme ein Teigwerk nach dem anderen in die Hand und schaue sie an wie lauter kleine Kunstwerke. Nach jeder Betrachtung beugt sie ihr Gesicht ein wenig unter das meine, damit ich sie ansehen soll. Ich nicke begeistert, und ihre Augen strahlen, mich beglückt diese stumme Kindhaftigkeit. Sie ist viel älter als ich. Sie weist mich an zu essen. Ich bringe das nicht recht übers Herz, aber sie nimmt selbst ein Lebkuchenmännchen in den Mund und beißt ihm den Kopf ab, einfach ab. Sie steckt mir einen Fisch in den Mund, und ich heiße ihm den Schwanz ab. Köstlich sind die Bäckereien. Wir sitzen stumm am Bettrand und lächeln einander kauend in die Augen. Sie gibt mir einige Bäckereien in die hohle Hand, deutet hinaus auf den Gang und macht eine Geste mit ihrer Hand vor sich hin, klein, zeigt sie, so klein, und dann macht sie die Bewegung des Essens und reißt den Mund wieder auf. Ich ziehe mit den Bäckereien ab und verstehe nicht ganz, warum diese Rotznasen für ihren Spott auch noch Süßes bekommen sollen. Vorher lege ich meiner Nachbarin, die wie-
der auf dem Rücken liegt, aber diesmal mit geschlossenen Augen, noch einen Stern auf das Nachtkästchen. Sie atmet. [326] Die Kinder sind nicht mehr da. So ein Glück. Ich schätze meinen Reichtum ab. Acht Leckerstücke, und alle gehören mir. Ich stehe da und sehe in meine volle Hand wie in eine Schatzkiste. Ein Reh, die Augen der Frau waren rehbraun. Ein Mond, ein Männchen, ein Haus, eine Katze, noch eine Katze und noch ein Stern und noch etwas, das kann ich nicht erkennen. Das esse ich noch. Ich schließe meine Hände wieder über meinen Schätzen und will ins Freie. Es beginnt schon ein wenig zu dämmern. Der Alte kommt beim Tor herein. Er hat kein Hemd an, die Hose hängt recht locker um seinen Bauch. Ich sage nichts, aber ich tue erstaunt, und er lacht. «Ich habe mein Hemd gewaschen. Das muß auch einmal sein. Draußen hängt es zum Trocknen.» Er sieht so jugendlich beschwingt aus. Ich glaube, er hat sich auch das Haar gewaschen. Ich mache es wie die Stumme und lasse ihn in meine Schätze schauen. Er fragt nicht lange, zieht mich in die Küche, nimmt zwei Schalen und füllt sie aus den Kannen mit Milch. Dann ziehen wir hinaus in die Dämmerung und feiern unseren Geburtstag im Sterbehaus. Das Backwerk macht uns stumm. Angenehm still, wie wenn alles gesagt worden ist. Der Wind rauscht in den Nadeln. Es riecht nach Harz. Das Hemd flattert auf einem Ast. Der Einsiedler lebt in seinem Erdhaus. Ob ich lieber unter den Sterbenden weile oder als Einsame leben möchte? Es ist dasselbe. Ich würde dieselbe sein. Eine Sterbende bin ich überall und in jedem Alter. Wir sind Sterbende, hier zusammen auf der Wiese. Gar nicht unangenehm, das Gefühl. Es ist nichts Hinfälliges, sondern etwas Lebendiges. Der Abendwind wird schon recht kühl. Eine Katze habe ich noch. Vielleicht hebe ich sie auf, falls ich einmal zu einsam sein sollte. Der Alte trägt die Schalen in die Küche. «Ich würde das Hemd lieber hereinnehmen, vielleicht kommt Regen», rate ich. Er stimmt mir zu und holt es. Draußen bleibt er im Gespräch mit einem jungen Mann, der Krücken hat, stehen. Ich gehe endgültig hinauf. Ich hätte vielleicht noch in den Wald zum Kacken gehen sollen, aber ich kann nicht recht. Der Kartoffelbrei stopft. Morgen wird es vielleicht gehen. Oben teilt die Frau wieder Tee und Milch aus. Ich komme gerade dazu, wie sie an meiner Abteilung hält. Ich nehme eine Milch für meine Nachbarin und einen Tee. Die stumme Bäckerin sitzt im Bett. Ich glaube, sie ist glücklich über diese Heimstatt. Sie fühlt sich schon zu Hause. Meine Nachbarin setzt sich [327] auf, als ich ihr die Milch hinstelle. Sie greift wie selbstverständlich nach dem Keksstern und ißt ihn dazu, nicht ohne der Stummen mit der Bäckerei vorher zuzuwinken. Sie liegt immer so starr, aber sie hört alles, sie weiß alles. Sie genießt den Stern, und ich lege meine Katze noch dazu. «Miau», meint sie ernst. Ich lache laut heraus, mitten in das ernste Gesicht hinein. Sie prustet auf, daß die Milch nur so spritzt und lacht wie ein Mensch, der in seiner Seele heiter ist. Ich stelle den restlichen Tee der Stummen auf das Kästchen und lege mich auf mein Bett. Jetzt sind an der Decke auch noch Katzen und Fische zu sehen, Männchen und Häuser. Recht lebendig, hier könnte ich bleiben. Hier wäre ich auf jeden Fall richtig, egal wie lange es immer dauert. Ich könnte mir alle Umwege sparen. Zugleich finde ich aber, daß mir die Wege noch Spaß machen würden und daß ich noch kräftig genug dazu bin, in mir ist ein Antrieb, der noch weiter will. Nicht nur, weil es Spaß macht, nein, ich spüre das arg in den Knochen, mich zieht etwas, gerade jetzt, da ich auch bleiben könnte. Mitten in meine Ruhe schwingt sich die Unruhe wie eine Himmelsschaukel, und da steige ich mit auf, da gehöre ich hinein. Ich bin nicht dazu da, die Ruhe zu erreichen und mich darin aufzuhalten, sie ermöglicht mir das Wandern erst, sie läßt mich erst die Bewegung genießen, und ich bin froh, daß ich noch in der Lage bin, mich meinem Drang hingeben zu können. Ich möchte noch leben, das spüre ich hier mehr denn je, hier, wo es nur mehr um das Ableben geht, ich kann noch nicht sterben, ich will noch nicht, ich habe noch aller-
hand vor mir, eine Wandlung, eine Wende, einen Austausch mit mir selbst, gerade da, wo ich mich so eins fühle mit mir und meinem Verweilen. Jetzt erst wird alles möglich, jetzt, wo ich mich als Sterbende gefunden habe, jetzt will ich als eben diese noch leben. Sei es mit Erinnerung, sei es ohne, mit Vergangenheit in der Zukunft oder dem Verlust des Dann angesichts der Alogik. Um das geht es jetzt nicht mehr, das fühle ich, das gibt keinen Aufschluß, denn es ist nichts aufzuschließen und nichts zu erforschen außerhalb des Triebs danach. Und der bin ich selbst, das ist mein Leben, meine Hirnstruktur, mein Menschsein. Denken - ein Gefühl wie Wärme oder Eis, zerflossen zueinander. Es ist schon dunkel geworden. Das Licht wird abgedreht. Einer kommt noch herein. Er hält ein helles Stoffding in der Hand und hängt es an das Bettende. Ich habe gar nicht gewußt, daß er in meinem [328] Zimmer schläft. Morgen wird das Hemd trocken sein. Ich drehe mich hinüber und blicke in die dunkle Scheibe. Ich sehe den Wald in meinem Kopf, den Wind und die Jahre, die Nacht und meinen Traum. Einmal zwickt es mich noch im Bauch, aber dann schlafe ich ein wie der Hirsch, wie der Fisch, wie mein Hirn. Daß ein Mensch so einfach sein kann ... Wer sagt das? Mitten in der Nacht hinter Glas im Sterbepalast. Jemand, der es ist, dem würde doch das nie auffallen. Ich erwache früh. Ich habe trotz allem Wohlbefinden nicht sehr gut geschlafen. Vielleicht lag es am Bauch oder am Kopf. Heute morgen finde ich zum erstenmal die Luft im Zimmer nicht gut. Mich drängt es hinaus ins Freie. Der Alte ist gar nicht mehr da. Ob ihm die Luft auch zu schlecht war? Noch einmal gehe ich zurück zu meinem Bett und nehme die Flöte an mich. Drei Männer stehen am Geländer, vielleicht haben sie die ganze Nacht da verbracht. Wie die Schwalben auf den Drähten vor dem großen Abzug. Irgendwo schreit jemand auf. Ob in der Nacht auch viele sterben? Man findet sie schon. In der Küche werkt jemand. Ich bin noch immer in den weißen Bademantel gehüllt. Meine Kleider sind getrocknet, ich ziehe sie wieder an und versuche sie am Körper zu glätten. Ich will nichts essen, und baden mag ich auch nicht, ich will hinaus. Mit dem ersten Atem im Freien kommt mir die Kraft in die Beine, Leben in die Glieder, eigenes Leben. Ich habe Sehnsucht, allein zu leben und allein zu sterben, nicht hier in diesem Haus, nicht bevor ich müde bin, nicht solange ich diese Kraft verspüre. Ich weiß, es hat mich niemand gezwungen, hier zu sein, aber das Klima da drinnen ist so zwingend, daß ich mich lösen möchte. Ich muß meinen aufflackernden Antrieb benützen, es ist immer möglich, daß der Tod nicht das einzige ist, was ein Mensch finden kann, ich ergebe mich nicht dieser Erkenntnis, denn es ist nicht meine. Zumindest ist es nicht mein Tod, nicht mein Freund, nicht meine Liebe, nicht meine Gestalt, die hier warten würde auf das Ableben, ich möchte meinen eigenen Tod finden, ich möchte ihn erkennen, ich möchte ihn gehen, und dazu habe ich noch einen Weg zu wandern in diesem Land, wo man das Leben nicht mehr verehrt und auch die Kühe nicht verehrt. Sie liegen im tauigen Gras und käuen wieder. Ob sie schon gegrast haben oder ob sie noch an den Resten von gestern kauen ... Ich bin frei, ich brauche nichts mehr zu finden, um den Tod zu bannen, ich brauche keine Geheimnisse zu lüften, ich brauche keine [329] Entdeckungen zu machen, ich will nur leben, hier, noch eine Weile verweilen, auch ohne Erinnerung, auch ohne Bewußtsein, denn der Tod ist mir sicher, aber ich möchte er sein, ich möchte es selbst sein, die heimwärts geht und sich dabei in seine Gestalt verwandelt. Verwandle ich mich in mein Leben? Neben der Lichtung führt ein kleiner Weg durch den Wald. Bevor ich dort eintauche, schaue ich noch einmal auf das Sanatorium zurück. Der Alte ist schon ein Teil von mir, der findet mich auch im Geiste, der vermißt mich nicht. Ich vermisse viel, und das ist mir eine Energie zum Leben. Wieder spiegelt sich das Licht, das erste Sonnenlicht des Tages in der Glasfront. An einem Punkt trifft es auf, als wolle es das Haus schmelzen, ein gleißender Strahl brennt aus dem Glas. Dann wieder diese Spiegelung, das gespenstische Wischen über das Ganze, wie eine beleuchtete Hand, und dazwischen unzählige Gesichter, die auftauchen und, noch bevor sie erkennbar werden, wieder wechseln an einen anderen Platz, der nie zum Fixpunkt wird. Es muß der Staub auf dem Glas sein im Licht. Das Licht steht
nie still. Die Blätter rascheln wie Glas im Wind. Nach den Nadelbäumen kommen Laubbäume und niedrige Büsche. Bunte Kugeln sitzen auf den Sträuchern, kleine saftige Knollen, weiß, rot und blau. Ich hätte sie gegessen, wenn es genießbare gewesen wären. Mein Mund ist etwas trocken. Nun erst merke ich, daß ich sehr früh aufgestanden sein muß. Ich war so beflügelt von einer inneren Unruhe. Jetzt bewegen sich meine Glieder etwas steifer. Im Wald ist es auch noch recht kühl. Die Feuchtigkeit steht auf den Blättern und tränkt den Boden. Meine Entschlossenheit und das klare Licht in meinen Gedanken vernebeln sich etwas, und fast möchte ich zweifeln an meinem Entschluß, aus der geschützten Lage aufzubrechen. Ich fühle genau, daß ich mich in meinem Weiterziehen nicht von meinem Zusammenbruch entferne, sondern ihm unwiderruflich entgegengehe, welcher Art dieser auch sein mag. Ob ich seine Ankunft überhaupt bemerken kann? Vielleicht fällt sie mir nicht auf. Sollte ich den Ort kennen, dem ich zugehe? Ein Ziel habe ich, das liegt mir im Mark. Das Ziel, den Faden aufzurollen, mich an ihm zurückzugeleiten. Dieses Gedankenbild wird in mir immer stärker, mein Sinn wird mir immer sichtbarer, aber zugleich wird das auch unwichtiger, verströmt vor mir wie ein Atemzug. [330] Ein Eichelhäher schlägt an. Irgendwo knackt es laut auf, als sei etwas gebrochen. Ich bleibe stehen. Ein kleiner Schreck fährt mir in die Eingeweide. Es geschieht nichts. Der Schreck genügt, er bewegt meinen Bauchinhalt, und dafür bin ich dankbar. Ich schaue mich nach einem geeigneten Hockplatz um. Es soll nicht zu stichelig sein. Ich mache es mir ganz komfortabel und hänge mich über einen ausgehöhlten Baumstumpf. Seine Höhe ist wie geschaffen für mein Werk, ich kann meine Hände sogar an seinen Rändern stützen. Versonnen und gedankenlos kauere ich am Waldboden wie ein Tier mitten in den Blättern, selbst ein geheimnisvolles Rascheln in meiner Verborgenheit, eine entlastende Entleerung meines Hirns in meinem Bauch, ein Waldgespenst voller Wünsche, Sommer über dem Baumstrunk, eine Konzentration der freien Energie, die ich sammle, um sie wieder aus mir herauszulassen - angenehm: Erde zu Dreck, Dreck zum Leben. Mit nacktem Hinterteil hopple ich hin zu einem großen weichen Blatt. Das muß genügen, das gelingt. Wo der Bach fließen mag? Oder der Fluß? Wenn ich recht überlege, müßte der dort drüben liegen, der Weg führt aber an der anderen Seite des Hügels hinunter. Ein gelbes Blatt fällt langsam vor meinen Augen, es gleitet, es steht in der Luft. Seine Adern leben, wie ein Flügel ist es durchblutet, es fliegt wie Licht vor mir, es senkt sich langsam wie eine Melodie und landet still in einem Blätterhaufen am Wegesrand. Der Wald lichtet sich. Ich sehe unten eine Wiese. Die Sonnenstrahlen brechen durch das Blättergewirr. Helle Streifen zielen in den Wald herein. Strahlenbündel von Energie. Daß die Blätter nicht zu glosen anfangen in dieser Leuchtkraft. Sie brennen in Licht, gelb, rötlich grün, ocker aderig, bläulich und braun, Schicht über Schicht, eine die andere überdeckend, sie beschattend, feucht-moderig steigt der stille Walddampf als Genosse des Lichts auf, Elemente zum Bild aus Teilen des Gefühls. Ich bücke mich nach einer Waldpflanze. Sind es Walderdbeeren? Sie schimmern mir zu bläulich. Ich drehe die kleine Frucht zwischen meinen Fingern, aber ich koste nicht. Die Nüßchen an der Außenseite sind hart, die Kernchen sind paarig angeordnet. Ordentlich sind die Beeren, aber ich glaube, nicht genießbar. Ob Sam Brot und Wein für mich hätte? Ich werfe die Beere mit einem Seufzer zurück auf den Boden, greife an meine Flöte an der Hosenseite und ziehe weiter, den Blick am Boden, ich suche etwas, ich suche sehr. Wenn ich doch wenigstens die kleine Kekskatze noch behalten hätte oder den Mond [331] oder vielleicht den Fisch. Fisch wäre gut. Alles wäre gut. Bärle würde die Beeren kennen, die da jetzt immer häufiger wachsen. Kartoffelbrei oder vielleicht die Pflaumen hinter dem Sanatorium! Anstatt so überstürzt rasch abzuziehen, hätte ich mir ruhig einige pflücken können. Vielleicht hätte ich dort auch den Alten noch getroffen. Hoffentlich ist sein Hemd trocken geworden. Wenn er es noch feucht angezogen hat, holt er sich sicher eine Lungenentzündung.
Mit einemmale bricht der Wald ab, und die Wiese führt steil hinunter. Ein alter verfalllener Kinderspielplatz liegt da, mit großen Schaukeln, allerdings sind die Schnüre abgerisssen. Ich hätte jetzt auch nicht schaukeln wollen. Für meinen hohlen Bauch ist das jetzt nichts. Ein Fitnesspfad führt rund um den Waldhügel. Reckstangen und Ringe müssen das gewesen sein. Einige Stücke liegen am Boden. Niemand will sich mehr fit halten. Ich bin ohnehin fit, aber dafür hungrig. Hunger ist eine eigene Art von Fitness und Widerstandskraft. Hunger ist keine Kraft, sondern die Aufhebung der Last. Ich lasse es laufen, ich lasse mich laufen, den Hügel hinunter, ich bin leicht, weil ich nicht weiß, wo ich hinrenne. Zum Glück fällt mir noch rechtzeitig auf, daß ich meine Flöte verloren habe, ich finde sie wieder und setze mich ins Gras. Dort unten liegt, etwas in einer Biegung verschwindend, der Wolkenkratzer. Am Ende der Wiese geht es eben dahin, Steinblöcke liegen herum und Schutt. Dem Wolkenkratzer zu wird das Landschaftsbild ein Trümmerhaufen. Ruinenhafte Reste von Häusern ragen auf, versperren den Weg. Die Fenster spiegeln unbeschädigt vom untersten Stock bis oben hinauf. Kein Loch klafft, der Riese steht unbehelligt da, mitten in der Verwüstung. Ein Eisblock an Unberührbarkeit, eine Insel, als Fragezeichen inmitten der Trümmer einer Zivilisation. Der hält sich wie die Giraffe in der Steppe, ein Wirbelknochen, ohne Mark, aber er steht. Woher will ich wissen, daß der kein Mark in sich hat? Mark aus Knochen ziehen, kräftiges Gelee heraussaugen, Marksuppe, Markklöße ... Wenn es das dort nicht gäbe, wäre das Gebäude, auch wenn es durch irgendeinen mir unerklärlichen Umstand unbeschädigt geblieben wäre, doch nicht so sauber und instand gehalten. Eisig sieht es aus, aber nicht unbelebt. Wer weiß, vielleicht kann man im Eis leben, vielleicht ist es drinnen sogar warm. Es müßten doch wenigstens Scheiben zerbrochen sein oder Mauerplatten abfallen, zumindest [332] schief hängen oder sonst ein Merkmal der Verlassenheit haben. Die Trümmer rundherum sind verlassen. Trümmer sind ja nur neue Anfänge, aus ihnen kann vieles entstehen, was aus Häusern nicht hätte werden können. Ich steige über die ersten Steinbrocken. Der Boden ist voll Schutt und Kiesel, Sand und Eisenstücken. Einen Weg kann ich nicht mehr erkennen, aber mein Ziel ist ja nicht zu verfehlen. Es steht so groß und deutlich da. In der Luftlinie scheint es nur einer Bewegung zu bedürfen und ich wäre da. Am Boden aber, da verlegen Hindernisse meine Richtung, der Gang wird zu einer ständigen Bemühung. Umwege muß ich machen, Mauern umkreisen, ein Labyrinth von kleinen, aber mir doch unüberwindbaren Sperren umgehen, wie ein Hirn ist dieser Weg, wie das Denken, wie das Verstehen meines Vorhabens selbst, wie das Erkennen von Unverkennbarem, und dazwischen liegt die Zeit wie ein leerer Raum, in dem mein Hunger schreit. Ein riesiges, geschnitztes Tor steckt vor meinen Füßen, direkt in die Erde hinein, umgefallen, aus der Angel gerissen, Möbel liegen herum, Holzmehl kriecht darüber. Eine Glocke liegt auf einem Erdhaufen. Ich läute sie nicht, ich habe keine Zeit. Da liegt eine große Uhr ohne Zeiger. Wessen Zeit zeigt sie an? Meine oder die zukünftige, oder ist die meine eine zukünftig vergangene, mitten in diesem Hof hier, der von drei Seiten gebildet ist, Arkaden steigen vor mir auf, Wandelgänge der Zeitgeister. Die eingestürzte Wand führt eine kleine Gasse entlang, an der die Hausmauern noch etwa bis zu meiner Hüfte stehengeblieben sind. Ein Haufen rutscht plötzlich hinter mir ab, mir nach, und ich fange zu laufen an, so als wollte mich die Vergangenheit einholen, als könnte sie mich ersticken. Mir fällt wieder ein, daß ich mich nicht so zu eilen brauche, und ich klettere weiter. Ein sausendes Windrad steckt in einem Erdhaufen. Es beschwingt mich und wandelt meine Verbissenheit. Ich sehe auf, und der Wolkenfreund ist mir schon ganz nahe. In meinen Gedanken war er so weit entfernt wie ich mir vorhin selbst. Ich schnaufe ein wenig und muß lachen über mich und meine Eile, wo doch vielleicht jetzt gar niemand da ist. Was soll ich in diesem Riesengrabstein. Hinter diesen Fenstern sehe ich nicht einmal
Geister flirren und Fratzen grinsen. Auch hier sind die Glasflächen großzügig angelegt, etwas goldgetönt und sauber, ordentlich steht der Riese da. Ich stehe da, den Kopf im [333] Genick und warte, ob sich etwas ereignen würde. Ich fange oben zu zählen an: 1,2,3,4,5,6,7,8,9,9,9 geirrt - ich fange unten an: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25 - 25 Stockwerke, wenn ich mich nicht verzählt habe. Als ich den Kopf wieder einziehe und zur Entspannung das Genick nach unten durchstrecke, fällt mein Blick auf meine Hosenbeine und auf meine Schuhe. Recht arg sieht das alles schon aus. Verbeult und fleckig wie die Natur selbst, die weichen Schuhe ganz vertreten. Mir ist das bis jetzt nie aufgefallen, weil um mich alles so natürlich mit dem Staub und mit der Abnützung des Lebens versehen war. Ich war eine aus Erde und Staub, eine aus dem Universum, eine, die sich hier sehr wohl anpassen kann. Der Riese da ist sehr gepflegt, daß ich vor ihm anfange, an meinem Hemd herumzuputzen. Er spricht, er hat Töne! Mein Kopf schwingt wieder hoch, von oben her klingt ein Instrument heraus. Es ist Klaviermusik. Ich stehe und lausche mit offenem Mund, als sei die Musik Essen für meinen Magen. An der gläsernen Schwungtür, zu der einige Marmortreppen hinaufführen, rührt sich etwas. Auch hier sind die Scheiben matt gehalten, und ich kann in dem gedämpften Licht dahinter eine Gestalt erkennen, die sich mit einem Topfbaum beschäftigt. Kurz entschlossen steige ich die Treppen hinauf, fasse wie automatisch an meine Flöte, und auf einmal fliegt das Tor auf. Ich stehe einem jungen Mann gegenüber, der eine schöne Blattpflanze gießt. Er ist groß und kräftig, sein blondes Haar halblang und gepflegt, ebenso der Schnurrbart, dicht und blond, die Brillengläser getönt wie die Scheiben des Gebäudes. «Komm nur weiter!» begrüßt er mich mit einer freundlichen Geste ungezwungen und nett, während er seine Arbeit an der Pflanze beendet. Seine Hose ist weich und hellgrau, sie sitzt wunderbar, das lockere Hemd ist aus grobem, sauberem Leinen. Er trägt es außen, es schimmert ein wenig ins bräunliche. An seinem linken Handgelenk sehe ich eine Armbanduhr aufblitzen. «Was hat denn dich hierher verschlagen?» fragt er, nicht eigentlich, als wolle er eine Antwort hören, aber in sehr aufmerksamem Ton. Ich trete an die Marmorwand heran und streiche mit der Handfläche über die spiegelnde Glätte, während ich mich zu einer Antwort entschließe: [334] «Der Weg hat mich an den Rand des Trümmerfeldes geführt und weiter hat mich der Hunger geleitet.» Dazu lache ich ihn an und fahre mir durchs zerzauste Haar. «Der Hunger! Das kann doch nicht wahr sein!» lacht er nun seinerseits, nimmt mich leicht am Arm und sagt freudig erregt: «Na, da werd ich dir einmal etwas zeigen. Du mußt ja einen besonderen Engel haben, der dich gerade hierher führt.» Ich bin ein besonderer Engel, mein Herr, denke ich und greife wieder an meine Posaune, während ich unauffällig schnuppere. Sein Gewand riecht so frisch, so gewaschen, so gepflegt. «Komm einmal mit, ich muß ohnehin etwas holen, wir brauchen Spargel und ein paar Steaks.» Wir steigen in einen Aufzug. Ich stehe auf einem weichen Teppich. Der kleine Innenraum ist seitlich mit Samt ausgelegt, bläulich, so weich wie Daunenpolster und überall hängt dieser leicht erfrischende Geruch, kaum merklich, aber ich habe ihn draußen nie angetroffen. Menschengeruch ist es nicht, auch kein Stoffgeruch, es ist ein künstlicher Duft. Hinter mir ist ein Spiegel mit goldenem Rahmen eingelassen. Während sich nach dem jungen Mann die Aufzugstür leise schließt, drehe ich mich um und sehe hinein in dieses Spiegelbild. Ich neige mein Gesicht auf die rechte Seite und schaue nach, ob von der
Schläfennarbe noch etwas zu sehen ist. Nichts. Mein Gesicht ist braun gebrannt, die Augen gucken mir hell und lebendig entgegen, als seien sie zwei Botschaften aus meinem Inneren, aus meiner Vorstellung von mir selbst. Die Stirn und die Haut um die Augen sind etwas durchzeichnet. Der Mund ist voll und gesund. Ich habe mich nicht ganz so natürlich frisch im Gefühl gehabt, nicht ganz so kräftig im Ausdruck, wenngleich ich den immer gespürt habe. Mein Bild von mir erregt mich. In den Zähnen steckt ein schwarzer Punkt. Ich wische ihn heraus, und auch an der Stirn ist ein Fleck, den ich wegputzen kann. Das Haar hängt wahrhaft struppig über meine Ohren, aber es ist nicht ohne Glanz, es lebt. Ich bemerke jetzt erst, daß wir schon lange da sind, und der Mann nur aus Höflichkeit auf mich wartet. Er steht neben mir und macht ein ernstes Gesicht. «Meine Frau steht auch stundenlang vor dem Spiegel, aber da kann ich nicht zusehen. Das schaffe ich einfach nicht. Wenn du das machst, komme ich richtig ins Denken», meint er, reißt sich dann wieder zusammen und führt mich voll Begeisterung in eine riesige Halle, in [335] der lauter Tiefkühltruhen stehen, Regale mit Dosen und Flaschen, Säcken und Tüten, bunten Behältern, großen und kleineren Tonnen, geschlossenen und offenen Schränken. Wir stehen etwas erhöht an einem Geländer und sehen hinunter auf ein riesiges Warenlager von gekühlten Fleischsorten und Gemüsepaketen. Ganze Säue hängen gefroren hinter einer Glaswand wie in einem Kasten die Kleider, eingewickelt in durchsichtigen Folien. Appetitlich und steril ist das alles, aber wunderbar, einfach erstaunlich, wenn ich an Tells ohnehin schon so komfortable Küche oder an Ruths Herd denke. Hier gibt es den Braten sicher eingefroren und fix und fertig schon in der Sauce schwimmend. Herrliches Edelobst leuchtet mich aus einem Regal an, sauber verpackt, aber sichtbar für mein hungriges Auge. Ich will mich voll Ehrfurcht diesen Schätzen nähern, während der Mann mit den Händen an die kostbaren Hosenbeine schlägt und sich über mein Staunen freut. Diese Schätze, die erregen ihn selbst nicht mehr. Eine Sperre hemmt den Zutritt. «Wart ein wenig, so einfach geht das nicht», wendet er ein, und tritt an einen Automaten, der zwei leuchtende Punkte hat wie Augen, eines grün und eines rot, darunter sind Zahlen. Er drückt einen Knopf und noch einen, das grüne Auge leuchtet auf, und aus dem Mund des Stahlgesichts, das seine Klappe öffnet, kommt eine Karte. Darauf steht etwas gedruckt. Das kann man nicht essen, aber die Karte wird jetzt daneben in ein kleineres Gesicht gehalten. Es ist nur eine Miniaturausgabe des Stahlgeistes, ein Junges wahrscheinlich, und das beißt auf die Karte. Zugleich springt die Sperre auf, es gibt einen kleinen Klick, und ich weiß jetzt nicht recht, ob der große oder der kleine Mann geöffnet hat, jedenfalls weist der junge Mann zuvorkommend auf die Schranke und läßt mich eintreten. «Also, such dir aus, was du willst. Es ist alles für dich da!» bietet er mir die Köstlichkeiten mit einer weit ausholenden Geste an. «Hier hast du die Fleischabteilung und die Wurstwaren. Drüben ist das Gemüse eingefroren. Du kannst überall hineinschauen. Die Bambusschößlinge würde ich dir sehr empfehlen, meine Frau ißt sie mit besonderer Vorliebe. Ich bin froh, daß sie wieder so weit in Ordnung ist. Sie hat eine Zeitlang überhaupt nichts mehr zu sich nehmen wollen, es hat ihr vor den Speisen derart geekelt, daß sie richtig krank davon war. Der Arzt hat ihr dann eine Medizin bereitet, die wirklich hervorragend ist», erzählt er, während er mich durch die Reihen der [336] Backwaren begleitet. An jeder neuen Reihe, die wir betreten, geht automatisch zusätzliches Licht an, direkt unter den Regalblenden, und wieder aus, wenn wir am Ende des Gangs sind. Torten, verziert, mit Schriften geschmückt und mit Glasuren versehen, Kuchen in verschiedenfarbigen Schichten, Bäckereien und Kekse, Schokoladen, alles in jeder Menge. Ich schaue, ob ich Fische und Monde und Katzen finden kann. Ich entdecke ein paar Packungen, die ähnliche Keksfiguren enthalten. «Wenn du etwas Bestimmtes suchst, können wir auch noch in den anliegenden Lagern suchen.» Er zeigt zu Türen an der Wand, die mir gar nicht auffielen, weil sie wie die Wände selbst gekachelt sind. Ich schaue ihn fragend an, und er drückt auf einen Knopf unter einem Pult.
«Auch hinter den Regalen sind noch Lager, diese Halle ist nur der Raum, aus dem wir unseren laufenden Bedarf decken», erklärt er, während die Wand zur Seite schwenkt und den Blick auf eine weitere Halle freigibt, die voller Flaschen mit Getränken und Salatgläsern ist. Ich trete etwas zurück und sage: «Nein, soviel Hunger habe ich eigentlich doch nicht.» Er lacht, die Wand schließt sich wieder, und wir gehen zur Rindfleischabteilung, von wo er aus einem Kühlfach riesige hartgefrorene Steaks herausnimmt. «Ist dir das recht?» fragt er mich, und ich strahle ihn an. Er vergißt nicht, seine Karte in ein kleines Gesicht zu drücken, das an der Seite des Fleischregals wartet. Es klickt drei, vier-, fünf-, sechsmal, die Karte, die er herauszieht ist aber unversehrt. Sechs Steaks hat er in der Hand. Er legt sie in ein Plastiksäckchen, das er von einem Stapel nimmt. Alle schön geordnet. Für das Säckchen muß er anscheinend nichts auf die Karte drücken. In der anderen Warenreihe ertönen Schritte. An der Regalkreuzung begegnet uns noch ein Mann, auch er hat ein Säckchen. «Hallo, Paul», grüßt mein Begleiter den anderen. Ich nicke auch. «Die Zählanlage drüben bei den Südfrüchten ist ausgefallen, der automatische Störanzeiger hat es aber nicht registriert», erwähnt der andere und zeigt hinüber. «Kannst du es dem Tilo persönlich melden, oder soll ich es in den Reparaturspeicher eingeben?» «Ich sag's ihm schon, ich vergesse es nicht», versichert mein Begleiter, und wir gehen weiter zum Gemüse. Spargel, Erbsen, Bohnen, [337] lauchartige Früchte, alles in Plastikfolien, in Truhen hängend. Er sucht einige aus und läßt das Männchen wieder auf sein Blatt beißen, während ich an ein ungeheures Rohr, das durch die Mitte der Halle nach oben führt, herangehe. Drinnen saust etwas, nicht unangenehm laut, aber ich habe dieses Wehen schon die ganze Zeit über vernommen. Außen sind Knöpfe, Hebel und mehrere Fernsehschirme angebracht, Lichtpunkte und Schalter. Etwas erhöht ist ein Fenster, durch das man ins Rohr hineinsehen kann, aber es steht keine Treppe und auch keine Stiege da, auf die ich steigen könnte, um hineinzusehen. «Das ist ein Energieverteiler, da drinnen ist die ganze Kraft, meine Liebe, das zahlt sich aus. So lange können wir alle gar nicht leben, bis das zu Ende geht. Bis zum Dach zieht dieser Strang, wir haben direkten Erdwärmeanschluß.» «Wo sind wir?» frage ich um mich blickend. «Wir - wir sind unter der Erde», unterrichtet er mich und ist belustigt über mein Erstaunen, denn ich habe bei der Aufzugsfahrt die Richtung gar nicht mitgekriegt. Ich wäre mit meinem Spiegelbild überall hingefahren. Langsam versteht er, daß ich keine Ahnung von meinem Aufenthaltsort habe und erzählt mir angeregt Neuigkeiten, die für ihn schon Selbstverständlichkeiten sind. «Es handelt sich hier um ein Warenlager, das für die ganze Provinz berechnet war. Wegen des darunter liegenden Energieanschlusses sind die Kühlanlagen hier am besten untergebracht, von hier aus sind alle Kreiskühlhäuser beliefert worden. Die Vorräte dieser Zentrale reichen für uns bis in unendliche Zeiten», dehnt er seine Worte zu einer lässigen Geste mit seiner Hand, verharrt dann etwas, schaut in der Halle umher und macht ein Gesicht, das mir seine Lebenshaltung vermitteln soll. Die Augen blicken verzweifelt gerätselt und auch humorvoll gerundet, der Mund unter dem Bart wird kaum sichtbar, die Schnurrbarthaare hängen so gepflegt traurig, aber doch flott gemacht herunter, seine Stirn glänzt in ratloser Einsamkeit, eine gerade Nase sitzt mitten in dem jungen Gesicht. Und das alles hinter den getönten Brillengläsern. Ich verstehe, junger Mann. Das Gesicht verstehe ich, wenn auch nicht die Geheimnisse der Technik um mich. «Von hier aus ist die ganze Provinz verwaltet worden. Es hat sich gut getroffen, weil auch das Lager hier war. Die mittleren Stockwerke sind für die Verwaltung ausgerüstet. Wir haben einige Computer, die [338] sich sehen lassen können, das Personal bestand aus
hervorragenden Wissenschaftlern. Du mußt die noch übriggebliebenen kennenlernen, sie machen die irrsten Sachen mit den Computern. Jetzt allerdings spielen sie nur mehr damit. Was sollten sie schon noch verwalten und ausdenken, heute ...» hält er auf diesem letzten Wort inne, und es gelingt ihm, mich an das Trümmerfeld draußen zu erinnern. «O je, ich langweile dich da mit diesem Kram», ruft er aus, faßt seine Sachen fester und meint dann sachlich: «Du hast Hunger, jetzt hast du dir noch immer nichts ausgesucht!» Ich schaue mich ratlos um und meine: «Ja, schon, aber mir wäre alles recht. Ich habe die letzten Tage fast nur von Kartoffeln gelebt.» «Ich lade dich ein. Meine Frau wird sich freuen, wieder einmal einen Gast zu haben. Wir sind ja hier nicht eigentlich allein, aber sie würde sicher gern wieder ein neues Gesicht sehen. Es wäre alles da», weist er auf das Lager und bedauert etwas, aber er faßt sich und führt mich zum Ausgang, selbst erfreut über seine seltene Rolle. Noch einmal drehe ich mich nach den Lebensmittelbergen um, und so sehr ich davon angetan bin, erinnern sie mich an die Schutthalden, durch die ich mich kämpfen mußte, bevor ich zu diesen Köstlichkeiten durchgedrungen bin. Es ist mir einfach zuviel, einfach viel zuviel. Das wäre nicht nötig gewesen zu meinem Glück, das nicht. Während ich in den Anblick versinke, steckt mein Gastgeber das Kärtchen in ein Loch, wo es endgültig verschwindet. Wir treten wieder in den weichen blauen Wolkenzug und fahren hinauf. Mein leerer Magen hebt sich leicht. Während ich dieses Gefühl erst in seinem Ansatz beobachten kann, bleiben wir stehen. Eine Frau steigt zu. Sie hat kunstvoll hochgestecktes Haar, und auf ihrer Stirn prangt ein roter Punkt. Sie bewegt sich wie eine Schlange und redet so viel in einer Sprache, die ich nicht verstehen kann. Sie redet zu allem Überfluß auch auf mich ein und hält mir andauernd ein Bild dicht vor die Nase. «Du kannst normal sprechen, sie versteht dich schon», meint der junge Mann. «Aber du läßt sie besser fürs erste einmal in Ruh, sie ist hungrig, sie ist weit gewandert und wird sich ausruhen wollen, bevor sie an andere Dinge denkt», fügt er noch hinzu, nicht unfreundlich, aber entschieden. Ich bin ihm dankbar und atme wieder etwas freier. «Ich habe nur gedacht», sagt die Frau resignierend und kleinlaut. Sie läßt ihr Bild sinken wie eine ausgelesene Zeitung und rührt mich [339] in ihrer Traurigkeit. Mit einemmmal ist sie nicht mehr die Dame im Sari aus Seide, sondern eine Frau, die sich einen roten Punkt auf die Stirn gemalt hat, für den sie sich fast ein wenig schämt. Sie steigt aus. Während sie hinaustritt, meint sie, sich wieder fassend: «Vielleicht können sie mein Bild im Verwaltungsbüro brauchen. Dort habe ich allerdings schon vorige Woche eines aufgehängt.» Der junge Mann hebt ratlos die Schultern, und wir fahren weiter. «Im siebzehnten und achtzehnten Stockwerk wohnen Künstler. Sie sind rührend mit ihren Angeboten und freuen sich so sehr, wenn man sie anerkennt, aber mir gelingt das nicht mehr ganz. Was soll das Theater schon. Ich habe in meinem Leben mit mir genug zu tun, ich kann nicht auch noch die sublimierten Sorgen der anderen bewundern.» 22. Stockwerk. «Jetzt werden wir meine Frau überraschen, die wird Augen machen», freut er sich. Der Gang ist wieder mit Marmor verkleidet. Die Türen sind ohne Übergang in das kostbare Material eingelassen. Nur bei genauerer Beobachtung kann man kleine Nummern aus Gold in der Maserung des Steins sehen. Ich gehe zu einer Goldzahl hin und greife sie mit den Fingern an wie eine Blinde. Er lacht: «Laß mich mal, das ist auf Fingerabdrücke programmiert.» Er legt den Daumen auf das Gold, und dabei gleitet der Stein zur Seite. «Von innen geht es mit einem Trittkontakt auf», erklärt er weiter.
Der Mann freut sich wieder über meine Aufmerksamkeit für diese Raffinessen und ruft: «Hallo, Schatz, ich bringe dir jemand mit!» Ich trete in ein Labyrinth von Wohnecken, Benützungsflächen und Blumenranken, welche Wände bilden, und Möbelteilen, die einen Bereich vom anderen trennen, ohne ihn abzuschließen. Ein Freiraumkäfig, geschaffen zu unzähligen Beschäftigungsmöglichkeiten. Ein Hirnkästchen in das andere geschachtelt, eine chaotische Ordnung, eine Landschaft zum Wohnen. Mitten aus einer Teppichwolke hebt sich jetzt der Schatz selbst wie ein geschmeidiges Möbelstück. Sie trägt einen schwarzen, eng anliegenden Anzug aus weichem Leder, an den Füßen rote Stiefelchen, das nußbraune Haar lang, schwer und glänzend fallend, die Figur ist ganz schlank in der zweiten Haut. Sie streicht sich die Haare lässig aus der [340] Stirn, was sich allerdings als eine ewig erfolglose Geste erweist, da das Haar immer wieder wie ein Vorhang links und rechts ins Gesicht fallt. Sie bewegt sich locker, fast verspielt hinfälllig, sieht mir entgegen und sagt zu ihrem Mann in einem trägen Tonfall: «Ich hab gedacht, du hättest mich schon vergessen.» Sie schließt meine rechte Hand in ihre beiden kühlen, glatten Hände. Sie faßt sie an und hält sie etwas fest. «Unser Gast ist müde. Sie ist weit gegangen, und außerdem hat sie Hunger - was sagst du», unterrichtet er seine Frau von meinem Zustand, wie er ihn sieht. Natürlich bin ich es, aber mir bedeutet das nicht so viel wie ihm, und darin liegt ein Unterschied. «Ich habe ihr die Vorräte gezeigt, nur die in der kleinen Halle.» Er trägt das Plastiksäckchen in einen anderen Bereich des Raums, bleibt aber als Schatten anwesend und als Stimme gegenwärtig. Sie nimmt mich fein, aber wie beherrschend um die Schulter, und bewegt sich mit mir seiner Stimme nach. «Und was hat Paul von dir gewollt?» «Also, du hast wieder spioniert - ich sag dir, sie läßt mich keinen Schritt aus der Wohnung», klagt er im Scherz. «Sie kann das ganze Haus überblicken, sie kann mir überall hin folgen, wenn sie will», und er zeigt auf einen kleinen Fernsehschirm, der unauffälllig in der Mauer eingelassen ist. «Doch auch ich kann das, meine Gute, du weißt aber genau, daß ich das aufgegeben habe. Wir haben das mehr oder minder ausgemacht, daß wir dieses elende Spiel lassen wollen, du bist manchmal wie ein Kind. Und ich hätte mich so gefreut, wenn ich dir einmal eine Überraschung hätte bereiten können», schmollt er und öffnet die Wand, in der ein Kühlraum aufleuchtet, legt das Fleisch hinein und überlegt: «Sollen wir nicht vorher einen kleinen Imbiß nehmen und etwas trinken, sie wird viellleicht ein Bad nehmen wollen.» Irgendwo habe ich den Eindruck, daß ich hier das Kind abgeben soll und wehre mich dagegen. «Ich würde gern etwas essen, aber so viele Umstände bin ich nicht gewöhnt.» «Deswegen macht es uns ja solchen Spaß, dich einzuladen, verstehst du das denn nicht?» fragt mich die Frau und drückt mich an sich heran. Sie ist sicher jünger als ich. «Mir einen Wodka», entscheidet sie. [341] «Der Arzt hat dir doch abgeraten, während der Medikamentenkur solche Sachen zu nehmen», sagt der junge Mann, während er mir ein Glas Fruchtsaft und ihr das Gewünschte gibt. «Heute haben wir einen Gast, da vergesse ich einmal den Doktor. Mir geht es ja auch schon wieder herrlich, vergiß das nicht. Hast du mir übrigens die Pillen mitgebracht?» «Du hättest es ja sehen müssen, daß ich vorher bei Doktor Karlmann war, wenn du
mich schon überwachst.» «Ich hab euch ja erst in der Halle gefunden. Und es war auch nur, weil du so lange wegggeblieben bist, laß es doch jetzt gut sein und sei wieder lieb, ja?» Dabei sieht sie allerdings wieder mich an, während sie ihr Glas nach dem ersten Schluck absetzt. Sie gibt mir eine Schüssel mit Keksen. Ich sehe mich in der Küche um. «Fühl dich wie zu Hause, du kannst alles benützen», bietet sie mir an und streicht wieder ihr schweres Haar zurück. «Wie ist es mit Musik, hast du einen bestimmten Wunsch?» fragt er. «Spiel nur irgend etwas, ich lasse mich gern überraschen.» Er guckt auf meine Flöte. «Ich sehe, du spielst selbst ein Instrument, vielleicht gefällt dir Flötenmusik, ich habe da ein Band von einer ganz guten Gruppe, sie haben einige Zeit im unteren Stock gewohnt, aber sie sind dann bald wieder abgehauen.» «Wie könnte es anders sein», pflichtet die Frau resignierend bei. «Der eine Typ hat ganz wunderbar Flöte geblasen, wir konnten ihm stundenlang zuhören, kannst du dich noch erinnern, Bille?» «Ja, das ist eben schon lange her», und sie nimmt mich wie in träumerischem Angedenken wieder um die Schulter und geht mit mir an einer Blumenranke vorbei aus der Küche, die selbst ein gemütlicher Wohnraum ist, in dunklem Holzton, ein zivilisierter Wald. Wir treten in ein weiches Wohnfeld. Der Teppich auf dem Stufenboden ist zugleich die Sitzbank, eines geht ins andere über, auch die Farben fließen sanft von Braun ins Gelbliche über Rötlich und zurück ins Gelb-Naturfarbene. Wie auf der Wiese ist es hier. Die höheren Möbelteile stehen als Trennmarken zwischen den Räumen, die Wände sind mit Stoff bezogen. Ein einziges Bett ist diese Wohnung, so wie der Heuboden bei Sam. Eine locker schwingende Musik klingt an. Wir sitzen weich, Bille zu meinen Füßen, noch immer das Glas in der Hand. Vielleicht hat sie keine zweite Haut mehr unter dem Leder und hält mit [342] dem Gewand ihr Gewebe zusammen. Ein Papagei krächzt auf, er spricht etwas, die Sprache des Paars, ich kann ihn nicht sehen, er muß hinter der Bücherwand in einem anderen Wohnbereich sitzen. «Adolf regt sich schon wieder auf», lacht die Frau. «Er ist so ruhelos, er fragt immer nach der Zeit», unterrichtet mich der Mann und schaut dabei auf seine Armbanduhr. «Schon so spät. Ich werd ihm sein Futter geben», entscheidet er. «Komm, wir haben ganz vergessen, daß du dich waschen wolltest», fällt es Bille jetzt ein. «Ich möchte vorher gern den Papagei sehen.» «Siehst du, das gefällt mir», findet der Mann, und wir gehen durch einen offenen Bogen in einen Raum mit vielen Büchern und Bildern, einem Klavier und einem riesigen Stuhl, der auf einer Spirale gedreht werden kann. Die Musik dringt auch in diesem Raum aus den Ecken. Ein großes getöntes Fenster steht halb aufgekippt. Das Zimmer sieht an der einen Wand wie ein Pflanzenhaus aus. Der große Käfig in der Mitte umschließt einen Baum, der seine Zweige und Blätter herausstreckt und auch wild über die Decke wächst. Im Käfig hockt der Adolf und hat Hunger. Ein buntes Tier mit mächtigem Schnabel, glänzenden Flügeln, schwarzen Knopfaugen und einem mißtrauischen Blick. Seine Krallen sind scharf. Er ist aber nicht nur arrogant, er ist auch neugierig, und das wiederum macht ihn mir sympathisch. Sein Gefieder schimmert bläulich, der Kopf ist ganz tiefblau. Er legt ihn schief, und ich lege den Kopf auch schief. Er macht einen Augenaufschlag und guckt, ich blinzle und gucke. Er nubbert leicht mit dem Schnabel, das kann ich nicht, er kracht. Das Krachen
geht in ein leises Krächzen über. Sein rechter Flügel raschelt in einer kaum merklichen Bewegung. Wie der Wind in den Blättern klingt das. Die Flöte schwingt sich auf zu unzähligen Vogelstimmen. Tief aus der rauhen Kehle des Tiers kommt ein menschenähnlich artikulierter Laut: «Adolf hie Hause, Aolf een, ut een.» «Schau, er mag sie!» ruft der Mann aus. «Sonst würde er nicht so ungeniert sprechen.» Er gibt ihm Körner in ein kleines Schüsselchen und dicke Dolden. Der Käfig ist ein Kunstwerk, schön anzusehen in seiner Schattenbildung der Stäbe, die ineinanderwirken wie ein Gewebe. Das Licht ist hell und flutend, aber zugleich verhalten und liegt wie schonend auf den Dingen. [343] Der Mann holt frisches Wasser in einem Gefäß aus einer Nische, in der ein Springbrunnen plätschert wie Musik. Der Brunnen ist von unten her grünlich beleuchtet. Ich wandere mit meinen Augen den Ranken nach, und die Frau meint: «Reino arbeitet immer hier. Eigentlich war es nicht als Arbeitsraum vorgesehen, aber er fühlt sich hier am wohlsten.» «Was arbeitest du?» frage ich neugierig, weil ich auf meinem Weg bisher kaum jemand gefunden habe, der seine Beschäftigung als Arbeit bezeichnet hätte. Auf meine Frage sehen die beiden einander an, das erste Mal richtig an, ohne etwas zu sagen, sie verharren in einer gemeinsam zu findenden Erklärung, Feststellung oder Rechtfertigung, aber es wird nichts Rechtes draus, sie beginnen zu kichern und endlich zu lachen. «Na ja, es ist nicht eigentlich nötig», wird er wieder ernst. Er bricht sein Lachen allzu schnell ab, so als sei es ihm jetzt nicht mehr recht, daß er darüber gelacht hat. «Ich helfe bei den Berechnungen der Verwaltung, und manchmal fülle ich für die Computer Tabellen aus.» Er winkt ab und wendet sich wieder dem Tier zu. «Komm ins Bad, damit du dich frisch machen kannst», fordert mich Bille auf und geht vor mir her, an einer Aquariumwand vorüber, hinter der das Bad ist. Die Blätterranken wachsen vom anderen Raum herüber und bilden die Gegenwand zum beleuchteten Aquarium, in dem sich die buntesten Fische tummeln. Eine Seitenwand hat Löcher zum Dampfabzug, und der Eingang wird durch hängende, bunte Schnüre gebildet, die lustig rascheln, wenn man sie teilt. Die Wanne ist wie ein kleiner Teich angelegt. Alles ist wieder bläulich gehalten, was in geheimnisvollem Kontrast zu den Blättern und dem grünlichen Aquarium leuchtet. Das Licht kommt von oben her hinter den Pflanzen heraus. Auch hier klingt Musik aus der Wand. Die Decke ist ein riesiger Spiegel. Auf dem Wannenrand, der sich zu einem Podium verbreitert, liegen dicke, wollige Tücher und ein weicher Bademantel, auch Bürsten, und über einem kleinen Becken stehen duftende Dinge, Flaschen und Fläschchen, Öle und Essenzen, Cremes und Wässerchen. Lauter Schönheit steht da. Ich bin etwas betört von dem Duft und der inselhaften spiegelnden Frische hier und setze mich auf das Podium. Ich merke, daß Bille genau beobachtet, wie ich mich zu diesem Anblick verhalte. Sie müßte mit diesen Wunderlichkeiten schon lange [344] vertraut sein, ihr müßte das doch alles schon unter die Haut gedrungen sein. «Weißt du, ich wäre froh, wenn du dich hier ein wenig wohl fühlen könntest», bringt sie diesmal in weniger routinierter Weise heraus. Wir sind jetzt allein und das drängt sie, mir, die ich erst ganz kurze Zeit Gast in ihrem Zuhause bin, etwas klarzumachen. Sie bringt es nicht in Worten heraus. Sie fährt sich zwei-, dreimal rasch durchs Haar, blickt kurz beunruhigt im Raum herum und bleibt dann an meinem Blick hängen, der so ruhig in dieser ungewohnten Umgebung lebt wie im Wald, wie im Heu oder wie auf meinem ganzen Weg. «Du sollst nicht mißtrauisch sein, wenn ich dich sofort vertraulich angehe, aber ich habe nicht immer die Gelegenheit, mich in jemandem zu sehen, ich bin manchmal ganz verwirrrt. Ich habe alles, was ich mir ausdenken kann», sprudelt sie heraus und greift sich an die Kehle. Dann lacht sie wieder hell auf und weist auf die Dinge, die da herumstehen.
«Bitte, bedien dich, entspann dich und denk dir nichts bei meinen Reden, falls du doch baden willst, hier hast du Öl, das schäumt und pflegt zugleich, laß dir Wasser ein. Ich werde mich einstweilen mit Reino um das Essen kümmern. Magst du Rotwein oder Weißwein?» geht sie in Sachlichkeit über. «Rotwein», entscheide ich kurzerhand, nicht weil er mir lieber ist, sondern weil die Farbe gut in den Baderaum passen würde. «Sie hat Geschmack, Reino, sie will Rotwein zum Steak», verkündet sie laut, indem sie abgeht und ich mir ein wenig wie ein zurückgelassener Papagei vorkomme. Soviel ich weiß, baden diese Viecher nicht richtig so in Schaum und Seife und Duft und Wolken, aber vielleicht könnte ich das einmal wagen, es wird meiner Haut schon nicht schaden. Ich erhebe mich mit einem Ruck und nehme mir in einem Gedankenstoß vor, hier einmal wirklich alles zu benützen, was mir zur Verfügung steht. Ich bleibe an den Tinkturen hängen, denn ich weiß nicht, was ich mit diesen vielen Möglichkeiten anfangen soll, meine Bedürfnisse sind nicht darauf trainiert. Ich mache es mir einfach innerhalb des verwirrenden Angebots, gieße etwas von dem nächststehenden Öl in die Wanne, lasse Wasser draufrinnen und staune über die Schaumkraft der Lösung, die da aufsteigt. Ich ziehe mein Hemd aus. Ich rieche ein wenig daran, und die ganze Würze meiner Lebensenergie strömt mir als Heimat in die [345] Nase und ins Gehirn. Ich lächle in meine Augen hinein im Spiegel und weiß, ich habe ein Geheimnis mit mir selbst, und das macht mich reich, das macht mich so zu Hause, das bin ich selbst. Jetzt drehe ich am Wasserhahn. Ich lasse die Hose fallen. Sie steht schon beinahe von selbst am Boden. Ich steige in das Becken, es ist etwas zu heiß, und ich lasse kalt nach. Das Wasser netzt meine Haut langsam und zieht sich wohlig warm in meine Poren, als würden sie wieder einmal trinken. Weich schmiegt sich der Schaum an meine Haut, und ich schiebe ihn wie ein Spiel über meine Glieder. Ich spüre, ich habe einen kräftigen Körper bekommen, einen gesunden, ich fühle jeden Muskel mit Genuß. Der warme Dampf steigt mir wie Ruhe, wie ein sanfter Schlummer im Wachen auf über die Brust zum Hals über das Gesicht. Ich tauche meinen Kopf unter und wasche gleich mit diesem Schaum das Haar. Einige Haare gehen mir aus, das muß ich bemerken. Ich halte sie zwischen den Fingern, nachdem ich mit dem Rubbeln aufgehört habe. Ob ich immer schon so ein gesundes Körpergefühl gehabt habe? Wie habe ich mich früher gefühlt? Vielleicht war mir das nicht wichtig und ist mir nicht aufgefallen. Mir muß überhaupt wenig aufgefallen sein, stelle ich lächelnd fest. Ich spiele mit dem Widerstand des Wassers zwischen meinen Fingern. Ich lege meinen Kopf an den Rand und spüle meine Gedanken dahin. Ich habe mit einemmale den Geschmack der Krapfen auf der Zunge, die ich bei Sam gegessen habe, und auch die dicke Milch steigt mir in die Nase, als würde ich darin baden. Ich hatte noch nie bemerkt, daß ich Geruchsvorstellungen willentlich herstellen kann. Irgend etwas macht mich mißtrauisch an diesen Menschen da. Daß mich die mir nichts dir nichts so rasch aufnehmen, mir das ganze Lager zeigen, als wäre ich nicht auch eine kleine Gefahr. Es ist mir nicht ganz recht, wenn man mich so übergeht. Es beunruhigt mich ein wenig. Die müssen sich doch wohl ein wenig schützen, mitten unter diesen Schätzen, wo in der Umgebung nicht alle in solchem Überfluß leben. Daß sich die nicht in acht nehmen vor Räubern, die mir ja schon begegnet sind. Ich könnte doch auch so eine sein, wer weiß. «Na, wie ist es?» tönt Billes Stimme von draußen herein. Sie guckt durch den Schnurvorhang, und ich lache ihr in äußerstem Wohlgefühl zu. Sie ist ganz hingerissen und ruft: «Reino, komm einmal her, das mußt du dir ansehen. Da kannst du [346] etwas lernen. Schau, wie sie sich wohl fühlt, nur weil sie ein Bad nehmen kann.» Reino kommt mit einem kleinen Tablett, auf dem ein Glas steht und ein kleiner
Schinkentoast liegt. Er gibt es Bille, die stellt es mir an den Beckenrand und tut wiederum ganz entzückt. Dann sagt sie aber in einem ungekünstelten Tonfall, den Blick direkt zu Reino: «Weißt du, ich sehe das gern, wenn sich jemand an unseren Sachen freuen kann, das ist so, als würde ich sehen können, was wir alles haben. Mir kommt das manchmal so abhanden. Ich habe das auch letztlich mit Dr. Karlmann besprochen, er sieht dieses Problem sehr genau.» Ihr Mann hört ihr aufmerksam zu, als sei eine Hoffnung aufgeblüht mit ihren Worten, und eine Verständigung möglich geworden durch meine Anwesenheit. «Ja, für uns ist das alles ein wenig schwieriger hier. Wir sind so eine Insel. Wir haben alles zum Leben, aber eigentlich sind wir manchmal wie tot. Gerade da wäre eine gute Partnerschaft so wichtig», fügt er voll Vertrauen hinzu. Ich bin wieder etwas erstaunt über diese Ehrlichkeit, die ihnen fürs erste recht wohlzutun scheint, weil der Tonfall zwischen ihnen viel sanfter geworden ist. Es geht ihnen also gar nicht um mich, das ist mir recht. Ob im Tod Partnerschaft wichtig ist, das bezweifle ich, aber ich behalte das für mich. Ich für meinen Teil kann mich höchstens auf den Tod als Partner einlassen. Wenn ihr wüßtet, wen ihr da in eurem Becken baden laßt, denke ich in den Schaum hinein, den ich noch einmal über mein Gesicht gleiten lasse. Bille braust mir mit einem kräftigen Schauer die Haare ab, schwemmt sie ordentlich durch und bindet sie dann gekonnt mit einem Handtuch hoch. Ich beiße von meinem Happen ab und schlinge gleich den ganzen Belag hinein, weil ich ihn nicht ordentlich durchgebissen habe. Die beiden erheitert meine Gier, ich trinke einen Schluck Saft nach und will zum Reden ansetzen. «Hast du noch einen Wunsch?» zeigt sich Reino beflissen. «Mich stört es etwas, daß ihr mich so überaus vertrauensseelig behandelt. Ich nehme doch nicht an, daß hier jedermann so einfach das Lebensmittellager sehen kann und ihr da so sorglos seid. Ihr lebt ja mitten im Essen, und hier haben nicht alle genug davon, habt ihr da nicht auch Schwierigkeiten?» Ich merke genau, wie Reino aufhorcht, er ist wachsam, trotz seiner [347] Gastfreundschaft, und auch Bille nimmt für einen Augenblick die Haltung einer Geheimpolizistin im Einsatz ein. Sie sind für einige Atemzüge still. Die ganze Spannung im Verhältnis zu ihrem Besitz zurrt auf, der sie anschirrt an Regeln und Umgangsformen. Zugleich bricht auch die Unverbindlichkeit zusammen, denn meine Frage war anscheinend zu rundheraus. Die beiden sehen einander in vollendeter Partnerschaft kurz an, und ich spüre, sie einigen sich diesmal einstimmig auf Ehrlichkeit. «Ja, natürlich kennen wir Schwierigkeiten, und es ist schön von dir, daß du so fragst. Die unteren Stockwerke sind mit direkten Schußausgängen ins Freie ausgestattet. Bei uns hat keiner eine Chance. Damals, als die Verwaltungszentrale hier gebaut worden war, mußte für Abwehrmöglichkeit gesorgt sein. Die Nahrung und auch die wissenschaftlichen Daten zu einer Unzahl von Erfindungen, zu komplizierten soziologischen Berechnungen, die unsere Zivilisation funktionieren ließen, waren hier gelagert. Von hier aus hätte alles passieren können.» Er sinkt in ein Grübeln ab und nimmt wieder diesen resignierenden Gesichtsausdruck an, bei dem die Schnurrbarthaare doppelt so lang erscheinen, welche sonst kräftig und fest um seinen Mund stehen. «Auch haben wir Waffen. Die Fenster sind kugelsicher. In der Nacht wird der Eingang durch eine Stahlplatte verschlossen, um den ganzen unteren Bereich schließt sich die Steinmauer. Die Schutzvorkehrungen werden auch heute noch gewissenhaft beibehalten. Die Versorgung des Gebäudes funktioniert in Schichtarbeit. Jeder kommt irgendwann dran, alle übernehmen natürlich Verantwortung», klärt mich Bille auf. «Heutzutage mutet es natürlich etwas komisch an, wir wissen das ja selbst, aber wir wollen uns nicht von dieser Pflicht lösen. Auch Dr. Karlmann meint, daß wir das nicht
unbedingt müssen», wendet Reino in lockerem Tonfall ein, aber Bille unterbricht ihn: «Wenn jemand kommt und Essen braucht, dann kann er haben, so viel er will, ganze Gruppen sind schon vorbeigezogen und haben sich mit Vorräten eingedeckt, die können viel haben, aber stehlen kann man bei uns nichts, das spielt sich nicht ab, da würde ich mich bis zum letzten verteidigen. Alle schaffen es in irgendeiner Art hier. Wenn dieses Leben draußen auch nicht mein Stil ist, so achte ich es, nur für die Räuber, für die habe ich nichts übrig», beendet sie mit einer [348] entschiedenen Handbewegung ihre Rede und fährt sich wieder vergeblich durchs Haar. «Bille ist immer so strikt, da kennt sie nichts», neckt sie Reino und tritt an sie heran, legt seinen Arm um ihre Schulter und hebt die schwere Haarpracht, um sie dann wieder locker fallen zu lassen. Ich hätte erwartet, daß der Fall klingen müßte. Ich trinke meinen Saft aus und steige aus der Wanne. «Komm, nimm diese Milch zum Eincremen, die zieht in die Haut ein wie Balsam. Soll ich mit deinem Haar etwas machen?» «Nein, ich lasse es trocknen, und dann kannst du es frisieren, wenn du willst», lache ich, als sei das ein Scherz, mir fällt ein, wie mich Bärle frisiert hat. «Gib ihr ein Badetuch oder einen Mantel», schlägt Reino vor, während er mich von oben bis unten ansieht. «Ich gehe zum Grill, das Essen müßte bald fertig sein.» «Wir verwenden immer noch den alten Griller. Eine Zeitlang haben wir vom Fertigkostlager gelebt, aber wir sind wieder zur Zubereitung der Lebensmittel zurückgekehrt. Es hat uns gefehlt, kann ich dir sagen. Man ißt die Arbeit mit, die man sich macht mit dem Zubereiten, das ist auch ein lebenswichtiger Nährstoff», ereifert sich Bille. «Komm, nimm den Mantel, ich zeig dir meine Kleider. Such dir etwas aus, ja?» Ich gehe, nicht bevor ich meine steife Hose und mein Hemd zusammengepackt habe, auch die Flöte nehme ich an mich. «Die Wäsche waschen wir im Automat, ja?» schlägt Bille vor, nimmt meine schmutzigen Kleider und steckt sie in einen Plastiksack hinter einem Vorhang. Ich trenne mich nicht gern von ihnen. Ich kann mich erinnern, daß ich sie Sam wesentlich lieber gegeben habe. Aber sie hat ja recht. Meine Flöte lasse ich nicht waschen, die nehme ich mit. Bille macht einen gönnerhaften Bogen mit ihrem Arm in die Luft, und dann öffnet sich ein ganzer Laden von Stoffen, Kleidern, Wäsche, Hosen, Pullovern und Schuhen, da glänzt es matt und hell, ein bunter, geordneter Haufen von Möglichkeiten, sich zu verkleiden. Ein ewiger Fasching. Ich trete vor den großen Spiegel, der bis auf den Boden reicht und gefallle mir schon in dem weichen Bademantel unheimlich gut. «Schau, dieses Kleid vielleicht, das würde dir gut stehen.» Bille legt mir ein langes, weißes, vorn besticktes Tuch an. Sie nimmt [349] es wieder weg, bevor sie noch recht gesehen haben kann, ob mir das passen würde, und reißt wieder ein anderes heraus, ein silbern schimmerndes, das mir aber nicht so gefällt wie das erste. Außerdem ist es enger geschnitten, und ich bin stärker als Bille, sie wirkt in ihrer Lederhaut auch zerbrechlicher. In der Länge könnte das Zeug passen. Bille befällt eine wahre Wut, Kleidungsstücke herauszufetzen und sie sorglos auf den Teppich zu werfen. Mich befremdet das, und ich versuche, das Kleidertheater nicht zu übertreiben, wenngleich ich sehr gern gekramt und mich ein wenig vor dem Spiegel gedreht hätte, aber mit ihr nicht, das merke ich schon. Ich lege den Mantel ab und suche einen Verschluß in dem weißen Kleid. Bille unterbricht ihr Wühlen und sieht mich an. «Du bist recht kräftig, gesund schaut das bei dir alles aus.» «Ja, das Leben in der Natur hat mir gutgetan, ich habe es jetzt in der Badewanne auch bemerkt. Die frische Luft stärkt das Gewebe, und die Bewegung macht viel aus.»
«Wir haben einen Fitnessraum und eine Sauna, aber ich kann mich nicht dazu überwinden, da herumzuturnen, mir ist das langweilig.» Sie seufzt auf. «Und was werde ich anziehen?» Sie öffnet mit einem einzigen Griff ihre Haut und schlüpft heraus. Ich habe es geahnt, sie ist unterhalb nicht so glatt wie in dem Leder. Ihre weiße blasse Haut ist irgendwie matt, zu fein, aber nicht sehr fest, empfindlich, aber eindeutig nicht so schön wie die von der älteren Ruth oder wie die von Bärle. «Willst du auch Unterwäsche haben?» «Ja, gern, meine ist irgendwo abhanden gekommen.» Bille zieht ein gestreiftes Kleid an und gefällt mir jetzt wiederum sehr gut, auch ich bin schön. Die Haare werden gefönt und von Bille gekämmt. Wir stehen noch mitten in dem Wäschehaufen, als ein kleines Mädchen eintritt. Sie wirft sich mit einem Aufjauchzen in den Kleiderberg und beginnt zu graben wie ein Maulwurf. Dazwischen stößt sie begeisterte Quieklaute aus, als sei sie ein kleines Schweinchen. «Nein, Kitty, laß das!» schreit Bille auf und versucht die Kleine zu fassen. Dabei fällt sie auch in den Haufen. «Essen!» ruft Reino, und ich gehe hinaus. Ich lege meine Flöte in eine kleine Mauernische, in der ein goldener Buddha sitzt. [350] Reino bleibt bei meinem Anblick still und etwas verwirrt stehen, sagt dann aber nichts weiter, und ich helfe ihm, den Tisch decken, der vorher gar nicht da war. Wie aus der Wand gezaubert ist diese Platte. Aus dem Küchenraum reicht er Teller und Schüsseln, die Gläser und den Wein durch. Ich stelle alles auf. «Muß das sein, mit der Kleinen, gerade heute?» fragt Bille gequält. «Sie ist von selbst gekommen», meint Reino, die Achseln zuckend. «Geh, Kitty, wir haben heute einen Gast. Heute, nur heute haben wir einmal keine Zeit, ja? Versteh das doch, sie ist müde, sie ist weit gegangen und möchte sicher nicht so einen Trubel haben», versucht Bille das Mädchen zum Gehen zu überreden. Kitty sieht mich an, und ich sehe sie an. Das Mädchen runzelt die Stirn und schneidet eine Grimasse. Ich sage noch immer nichts, was soll ich sagen, ich weiß gar nicht, ob mir ihre Anwesenheit angenehm oder unangenehm ist. Wir stehen da, mit einemmal ist die Selbstverständlichkeit zusammengebrochen, ein Bewußtsein schleicht sich über die Schwelle, von dem man nicht weiß, was es ist, meine Herkunft, die Bewandtnis mit dem Kind und die Verlegenheit der Gastgeber, die Erwartungen an die Zeit, die Hoffnung in der Verlorenheit, die Grausamkeit der Zufälle steht da, nur weiß man nicht, ob es ich bin oder Reino oder Bille. Das Mädchen jedenfallls meint leise: «Ich gehe schon, ich werde überhaupt bald gehen, hier ist es ja kaum auszuhalten.» Sie sagt das ohne Leidenschaft, ohne Hoffnung, ohne Erwartung und ohne Grausamkeit, sie meint, was sie sagt, sie tut, was sie sagt. Sie geht. Bille tritt ans Fenster und schaut durch die geschlossene Scheibe, Reino läßt die Arme hängen, blickt über den halb gedeckten Tisch, auf dem das Essen so köstlich riecht, und ich stehe dabei, unbeteiligt, unbetroffen, aber selbst gefangen in der Klemme der unbestimmbaren Angst, die sich hier aufgetan hat. Auch ich kann da nicht willentlich herausssteigen, aber ich weiß, daß ich da verweilen kann, ich halte das aus. Es ist nichts mehr zu ändern. Wir sind eindeutig Menschen. Auch das kleine Mädchen ist ein Mensch. «Du wirst sehen, in Kürze sind die Kinder alle weg. Sie dürfen im ganzen Haus herumwandern, bleiben, bei wem sie wollen, sie können alles haben, alle sind ihnen wie Eltern,
man bemüht sich so sehr um sie, [351] in den anderen Gruppen macht man nicht so ein Theater mit ihnen, und gerade uns verlassen sie, eines nach dem anderen», sagt Bille vor sich hin. «Ich verstehe ja, daß die jungen Menschen eigene Bereiche erschließen wollen, aber was habe ich denn schon verlangt?» fragt sie verzweifelt und dreht sich um. «Ich möchte doch wirklich nur ein wenig Ruhe haben, das wird man sich doch noch ausbitten können.» Sie hebt ihre Stimme und beherrscht sich, indem sie meint: «Ich für meinen Teil bin froh, daß wir keine eigenen Kinder in die Welt gesetzt haben, und ich habe auch nicht vor, das zu tun.» Sie ordnet geschäftig am Tisch herum und bittet uns dann, Platz zu nehmen. «Lassen wir uns das Essen nicht vermiesen», murmelt Reino. Wir setzen uns, und Bille meint, mit einemmale angeregt denkend: «Uns müßte das doch eigentlich überhaupt nichts ausmachen, wir sind ja nicht abhängig von den anderen, wir haben alles, wir müßten uns doch nicht darum scheren, ob man bei uns bleiben will oder nicht.» «Ja, aber es macht mich unsicher, wenn es jemanden wegzieht, so als gäbe es draußen etwas, das es bei uns nicht geben kann, weil es bei uns alles gibt, verstehst du?» ereifert er sich. «Aber da kann man doch deswegen nicht mit einemmal alles verlassen, aber bitte, wenn du willst, du kannst ja», regt sich Bille auf und reißt sich die Serviette auf den Schoß und ordnet ihr Besteck. «Ich kann eben nicht!» schreit Reino und schaut Bille mit einem aufgerissenen Blick an und legt sich die linke Hand aufs Herz, nicht so, als hätte er Schmerzen, sondern so, als würde da der Grund für sein Dableiben liegen. Die beiden verharren so einen Augenblick in Spannung, lassen das aber gleich wieder, weil sie das anscheinend schon zu gut kennen, daß es ihnen nicht schon selbst lächerlich erschiene. Bille legt mir die Hand auf den Arm und lächelt. «Vergiß das, immer wieder passiert so was, das darfst du nicht so wichtig nehmen.» «Nein, auch wir nehmen es nicht mehr so wichtig, aber wir können da anscheinend nicht heraus. Dabei weiß ich gar nicht, in was wir da drin sind. Ist es nur das Leben, das wir hier führen, oder ist es, weil es uns viel besser geht als den anderen», rätselt Reino. «Ja, die anderen vermissen anscheinend nichts, die sind da hineingeraten, gerade so, als hätte ihnen das wohlgetan, und wir, die wir hier geschützt sind und für die sich nichts verändert hat, die leiden jetzt [352] darunter», ereifert sich Bille und beginnt Bouillon in die Teller zu verteilen. Reino löffelt wie ich die Suppe. Dann blickt er an die Decke, unterbricht seine Mahlzeit und meint verloren: «Es kann nur ein kleiner Gedankensprung sein, es dreht sich nur um einen kleinen inneren Schritt, aber der ist mir zu groß, daß ich ihn so einfach machen könnte.» Er kommt wieder von der Decke herunter, schüttelt seine Philosophie ab und ißt eifrig weiter. Bille unterbricht jetzt ihrerseits das Essen und meint ebenso versunken: «Es gibt Dinge, die man weiß, die einem ganz klar sind, aber man kann sie nicht machen.» Dann sieht sie mich mit einemmal ganz offen an, ohne Umschweife, ohne das Gästespiel, ohne einen Rückhalt, mit der ganzen Gier, jetzt von mir zu erfahren, was ich in der Welt erlebt habe. Ich muß lachen über ihre gierige Verzweiflung. Sie erkennt unsere Verwandtschaft nicht, was mir allerdings als ein Zeichen aufleuchtet. Ich bin auch klug genug, meiner Erscheinung keine feste Form zu geben. Ich sage gar nichts, esse und sehe die beiden zufrieden an. Bille macht den Teller nicht leer. «Ich darf nicht so viel essen, besonders Flüssigkeit macht dick, das schwemmt auf», fällt
sie in den alten Plauderton zurück. «Es ist schade, daß es nicht mehr so ist wie früher, bei uns hier bedauern das alle, aber wir tun nichts, um die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Ich kann mich nicht darüber hinwegsetzen», will Reino seine Gedanken beenden. «Worüber kannst du dich nicht so hinwegsetzen», frage ich ihn. «Ja, über alles hier, über die ganzen Verhältnisse, darüber, daß die Kinder schon in jungem Alter abwandern und auch nicht mehr wiederkommen, darüber, daß wir hier wie Übriggebliebene im Reichtum schwelgen, über alles einfach, auch darüber, daß ich alles genau weiß, aber daß ich nichts dagegen tun kann, über mich einfach», antwortet er ein wenig erbost über meine Frage und sinkt dann in sich zusammen. «Komm, iß, Schätzchen», meint Bille und legt ihm ein schönes Steak auf den Teller, noch bevor sie mich bedient, und Spargel, sie schiebt ihm den Salat hin und gibt dann mir. Sie selbst nimmt sich wenig. «Wir vergessen ganz anzustoßen, vor lauter Denken und Bedauern, mir passiert das immer, wenn jemand da ist, gerade dann, wenn ich jemandem angenehm sein möchte, drehe ich völlig durch!» bekennt er. [353] «Dann soll das wohl ein Zeichen für mich sein, daß du mir meist angenehm sein möchtest», ätzt Bille und hält Reino ihr Glas hin. Er lacht verzweifelt, stellt die Flasche wieder auf den Tisch und bedeckt mit der Hand sein Gesicht, dann schenkt er uns ein. Wir stoßen an, und Bille sagt: «Wissen schützt nicht vor dem Unglück, hat mich Dr. Karlmann gelehrt.» «Unglück ist erlaubt», füge ich noch hinzu und versenke mich dann in meine Mahlzeit, in eine, wie sie mir schon lange nicht mehr beschieden war, und das, gerade das macht ja ein Glück aus. Ich esse langsam, obwohl ich solchen Hunger habe, genieße die Ordnung auf dem Tisch und halte sie in meinem Teller und in meinem Eßtempo, ich habe es leicht, ich spüre, ich habe es ja leicht. Zumindest jetzt. Noch einmal verharrt Reino in seiner Mahlzeit und schickt seinen Blick an die Decke: «Weißt du, es ist - wir fühlen uns irgendwie müde.» Bille nickt still in ihren Teller hinein, während sie im Essen herumstochert. «Es ist ja nichts mehr aufzurichten, da ist etwas gebrochen in der Welt, und nicht nur hier bei uns. Aber anscheinend sind wir hier die einzigen, die das bedauern. Wenn ich auszöge, um zu suchen, was mir fehlt, weiß ich genau, daß ich nichts finden würde, weil mir auch nichts Bestimmtes fehlt, ich habe eher in irgendeiner Weise zuviel. Dieses Bewußtsein hilft mir nicht wirklich, ich hänge da fest. Es ist keine Erneuerung mehr und auch kein Kampf mehr möglich, es hat sich das Auseinandersetzungsfeld aufgelöst, so als hätte sich das Leben selbst aufgelöst. Wir sind noch jung, aber die Kinder ziehen davon und kommmen nicht mehr wieder, als sei es anderswo erträglicher, wir sterben hier langsam aus in diesem Turm.» Er legt sein Besteck weg und meint: «Eigentlich sind wir schon tot.» Es ist still. Ich fühle mich gestärkt, ich selbst habe aufgegessen, nur die beiden sind von ihrem Essen weniger angetan als von ihren Gedanken, sie lassen es stehen. «Nicht nur ihr hier seid tot, alle sind tot, nur bleiben sie noch, weil es nicht unangenehm sein muß, tot zu sein, auch damit kann man leben», eröffne ich, nachdem ich den letzten Bissen hinuntergeschluckt habe, und ich lege das Besteck fein säuberlich zusammen. Niemand sagt etwas, aber die beiden sehen auf meinen Teller und dann auf ihren, und Reino bietet mir noch Wein an, aber ich habe genug nach zwei Gläsern. Er und Bille schenken sich noch nach. [354] «Glaubst du, soll ich nach Kitty sehen?» fragt Bille unsicher.
«Nein, auf keinen Fall, die weiß schon, was sie macht, die hält das aus, verstehst du, die schon, aber wir nicht, wir sind da so empfindlich, du hast ganz richtig gehandelt, du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.» Bille steht auf und beschäftigt sich mit dem Geschirr, sie hat nicht viel zu tun, sie stellt es auf ein Band neben dem Tisch, und das Geschirr wandert von selbst ab in die Küche, direkt in den Spülkasten hinein. Der Tisch zieht sich in die Wand zurück, wir hocken wieder in der weichen Wohnwelt auf den Polstern, und Reino bringt noch Kaffee, Bäckereien und Obst. Ich strecke mich genüßlich hin, weil mir mein Vorsatz, alles zu benützen, wieder eingefallen ist. Ich lache die beiden an, und sie setzen sich zu mir, als sei ich ein kleines Wunder an Kindlichkeit. Ich fühle, daß ich vorsichtig sein muß, eher still und nicht zu begeistert, das wäre nicht am Platz, das könnte mich in Schwierigkeiten bringen, weil es ihnen auf die Dauer weh getan hätte. Aber dazu haben sie mich ja eigentlich eingeladen. Reino schaltet einen Bildschirm ein, der an der Wand groß aufleuchtet. Ein Kino läuft an, ein Krieg flammt auf, Blut fließt, und Frieden kehrt schließlich wieder ein. Die beiden sind nicht sehr angetan von dem Film. «Geh, vielleicht interessiert sie das gar nicht, gerade diesen Film hast du drinnen? Der ist ja schrecklich», findet Bille und blättert dabei in einem kleinen Buch. «Hast du überhaupt hedacht, daß du morgen Überprüfungsdienst hast, Reino?» «Um Himmels willen, bin ich schon wieder dran, das darf doch nicht wahr sein. Da muß ich ja schon früh raus», gibt er sich verzweifelt. «Na, tu nicht so, du weißt, daß wir oft recht dankbar sind für die Möglichkeit, uns sinnnvoll zu betätigen.» «Ja, schon, aber doch nur dann, wenn ich will, und nicht dann, wenn es der Dienst vorschreibt», lacht Reino gequält. «Wir müssen organisieren, wenn man mit mehreren Menschen im Haus zusammenwohnt, da wirst du nicht drum herumkommen, mein Lieber. Nimm unseren Gast mit, vielleicht interessiert sie sich für die Computerarbeit von Mark. Das ist irre, was der so alles herausbringt aus diesem Gehirn, wenn der Tag lang ist», lacht Bille. «Na ja, wenn das so ist, würde ich etwas lieber gehen», befreundet [355] sich Reino mit dem Gedanken. Er trinkt noch ein Glas grünen Likör, ich nehme auch eines, und Bille möchte noch einen Wodka. «Ah, du möchtest wohl immer so eine liebe Gesellschaft, dann würdest du schon deine Pflicht tun, wie?» scherzt Bille. Reino erinnert sich, daß er auch noch die Botschaft von Paul an den richtigen Mann weitergeben muß und daß die eine Scheibe rechts unten am Eingang beschädigt ist. «Ich habe das heute erst bemerkt. Ein kleiner Riß im Glas. Wie der zustande gekommmen sein kann, ist mir ein Rätsel. Das muß Herr Elme morgen unbedingt ausbessern.» «Die Fassade müßte auch wieder einmal gereinigt werden, sag ihm das gleich dazu», bedenkt Bille, noch immer in dem kleinen Notizbuch blätternd. Die Sonne geht im Film auf, und ein Mädchen läuft über eine Wiese, hinterher ein Mann mit einem Gewehr. Er ist verwundet, aber er verfolgt sie. Er stürzt hin. Ein feiner Schnarrton ist zu hören. Bille hebt einen Hörer an ihr Ohr, der neben ihrem Sitzpolster gelegen hat, horcht hinein, blickt an die Decke und dann auf Reino, sie sagt: «Nein, heute nicht mehr, er muß früh raus, und außerdem haben wir Besuch.» Sie horcht wieder, lächelt und meint: «Das weiß ich nicht, das ist ja ihre Sache.» Sie will schon das Gespräch beenden, aber der andere redet weiter, worauf sie dann noch sagt: «Nein, es ist gar nichts vorgefallen, ich wollte nur nicht, daß sie unseren Besuch vertreibt, du weißt, wie selten unsereiner zu so einem Vergnügen kommt.»
«Tu nicht so», hält Reino die Hand abwehrend vor sich hin. «Wir sind froh, daß wir hier wenigstens noch unseresgleichen haben, wir sollten eher zusammenhalten, als uns gegenseitig auszuschimpfen.» «Ich wollte das ja auch gar nicht tun», wendet sie schnippisch ein. «Zeig unserem Gast lieber das Zimmer», sagt Reino. «Oder soll ich das tun?» «Du bist ja schon wieder total betrunken, lieber Mann. Was tätest du, wenn du nicht das Glück hättest, regelmäßig deinen Tropfen heraufholen zu können», hänselt ihn Bille, und ich denke an die Leute bei Ruth, die haben auch regelmäßig ihren Wein gehabt, aber sie haben sich, soviel ich weiß, nicht gefragt, was sie tun würden, wenn sie ihn nicht mehr hätten. Der Verwundete stirbt auf der Wiese, während ein wahres Flammenmeer [356] in der Ferne aufgeht und sich das Mädchen zu Boden wirft. Dann blinkt der Film mit einemmal aus. Ich hätte noch gern gesehen, was da läuft, aber Bille kann das nicht mehr mitansehen und nimmt auch automatisch an, daß mir das unangenehm ist, sie wollte ja diesen Film gar nicht. Bille führt mich in einen kleinen Raum, den man durch die stoffbezogene Tür in der Wand erreichen kann, die mir gar nicht aufgefallen ist. Er ist so groß wie ihr Ankleideboudoir, das ja ohnehin wie ein Zimmer ist. Ich bin froh über diese Anlage. Ein dicker Teppich überzieht den Boden, und eine riesige Bettstatt, nur eine Handbreit über dem Boden, ist mit einem wunderbar weißen Fell bedeckt. An den Wänden hängen Bilder, am Boden stehen zwei kräftige Pflanzenbäume und überdachen die Liege und die Hälfte des Raums. Bücher gibt es da, auch ein Schaukelpferd und eine Puppe, einen roten Morgenmantel und ein gemustertes, langes Seidennachthemd. «Ich habe dir schon alles hergerichtet», sagt Bille. «Kannst du so schlafen, oder willst du vielleicht eine Pille?» «Nein, ich brauche keine, ich schlafe auch so, und wenn nicht, dann schlafe ich eben nicht», gebe ich keck zurück, weiß aber, daß ich sehr wohl gleich hinübersinken werde, weil mir die Müdigkeit schon tief in den Knochen sitzt und der Wein im Hirn. Ich werfe mich auf das Lager. «Was ist das für ein Tier?» «Ein Bärenfell, glaube ich, es riecht nicht, du mußt keine Angst haben», beruhigt mich die junge Frau. Bille verschwindet wieder: «Ich hol dir noch einen Saft für die Nacht.» Auf manchen Bildern handelt es sich wohl um Reino, als er noch ein Kind gewesen sein muß. Er steht in einem Garten an einen Baum gelehnt, und da ist noch eine Frau in einem kurzen Rock und einer Bluse, die an den Schultern überhängt. Auf einem anderen Bild steht Reino unter einem riesigen Rad, mit einer Kamera in der Hand, er hält sie so, als würde er mich fotografieren. Ich schaue aus dem Fenster. Ich sehe aber nichts, draußen ist es stockdunkel. Kein Licht, nicht das kleinste, auch das Haus ist nicht beleuchtet. Ein feines Surren hängt in der Luft, es könnte allerdings auch in meinem Kopf sein. Es bleibt immer gleich stark und entfällt [357] mir, wenn ich mich nicht darauf konzentriere. Ich gehe einmal ganz nah mit dem Gesicht an die Scheibe, aber es ist schwarz, so kann doch die Nacht gar nicht sein, ich kenne doch die Nächte, die sind überhaupt nicht schwarz. «Du wirst nichts sehen, in der Nacht sind wir verdunkelt. Da dringt kein Licht hinaus. Vor Flugzeugen brauchen wir uns heutzutage nicht mehr zu schützen. Früher sind sie sogar auf dem Dach gelandet. Aber heute ... da ist es besser, man sieht uns nur bei Tag», klärt
mich Bille auf, die mit einem Glas zurückkommt. Ich hätte gern die Trümmer gesehen, fast habe ich mich danach gesehnt, sie vor dem Schlafen noch einmal anzuschauen. Ich ziehe mein kostbares Hemd über. Bille bindet mir die Masche auf dem Bauch, und deckt mich mit einem leichten Überwurf zu. Das Fell gehört nicht zum Zudecken, es wäre viel zu heiß, hier ist die Temperatur geregelt und immer gleich. An der Tapetentür bleibt sie noch einmal stehen. «Da ist ein Schalter, und bei deinem Bett ist eine Stelle markiert, dort brauchst du nur den Finger draufzuhalten, und das Licht geht aus. Auch Musik kannst du dort heraushören. Da gehst du ins Klo, du hast ein eigenes», zeigt sie eine Tür. Sie steht noch etwas verlegen da. Für diesen Zustand gibt es noch keinen Schalter, mit dem man ihn regulieren könnte. «Bitte, bleib ein wenig bei uns, wenn du kannst», bringt sie leise heraus. Sie fährt sich wieder durch die Haare, zum erstenmal gehorchen sie ihr und geben die Stirn frei. Ein paar feine Falten ziehen quer darüber hin. «Manchmal ist es hier wie in einem Sarg. Ersticken könnte man da drin.» Aber dann lacht sie fast über ihre Darstellung, und die Haare fallen wieder schwer herunter. Sie winkt mir noch einmal zu und verschwindet. Ich probiere das Klo gleich aus. Dann liege ich mit großen Augen da in dem kostbaren Raum. Ich war schon so müde, und jetzt in der Einsamkeit fängt der Kopf wieder zu surrren an. Ich öffne die Masche auf meinem Bauch, sie beklemmt mich. Ich bin gespannt, ob ich morgen werde hinaussehen können. Ich trinke noch von dem süßen Saft. Ich bin begeistert von den Speisen hier, wenn ich lange daran denke, kriege ich gleich wieder Hunger. Ich muß ein Nahrungsdefizit haben, kein Wunder nach der Kost im Sanatorium. Hier kann ich mich [358] ordentlich auffuttern, ich werde mich nicht bitten lassen. Ich freue mich schon sehr aufs Frühstück. Dann lege ich meinen Finger auf den markierten Punkt, und es wird dunkel. Ein kleines, kaum sichtbares blaues Licht bleibt über der Tür leuchten. Das fesselt meinen Blick und meine Gedanken. Irgendwie kenne ich so etwas. Es ist mir nicht unangenehm. Ich kann mich nicht eigentlich an einen Traum erinnern, aber ich war von einem Gedanken beherrscht, der hieß: «Augen offen lassen beim Schlafen, aber trotzdem seelenruhig ausruhen.» Nicht daß ich die Augen aufreißen wollte, nicht so ein Traum war es. Ich wußte genau, daß ich ruhig schlafen konnte, wollte, und das auch tat, aber es war wie eine sanfte Information für mich gedacht, für mich an mich, mehr wie im Scherz, aber wohl sehr ernst zu nehmen. Am Morgen klingt Musik an mein Ohr, und eine heitere Bille guckt zu mir herein, selbst noch im Morgenrock. Hinter ihr Reino. «Gut geschlafen?» fragen sie im gleichen Tonfall. Ich rapple mich hoch, und mein erster Blick geht ans Fenster, wo ich jetzt zu meiner Beruhigung Wolken ausnehmen kann. Bille dreht sich kurz weg und nimmt anscheinend das bereits vorbereitete Frühstückstablett und bringt es an mein Bett. «Ich habe vergessen, dich zu fragen, ob du lieber Kaffee oder Tee oder etwas anderes willst. Ich habe Kaffee genommen, und da dachte ich -» «Ist mir alles sehr recht, ich habe mich schon am Abend auf das Frühstück gefreut», bestätigte ich ihr Bemühen und mache mich über Schinken, Brötchen, Butter und Marmelade her. Mir fällt ein, wie ich die Menschen mit dem seltsamen Gefährt in der Bank das Brot holen sah, und wie wir in der Kirche das Brot gegessen haben, das von der Frau in dem Lehnstuhl. Dieses hier ist weicher und weißer. «Kommst du dann mit mir?» fragt Reino mit einem lockenden Unterton.
«Ja, ich komm schon mit», antworte ich mampfend. «Was willst du denn anziehen?» sagt jetzt wieder Bille. «Laß sie doch einmal in Ruhe essen», murrt Reino, aber Bille läßt sich nicht von ihrem Bemühen abbringen, mir Kleider anzupreisen. «Ich gehe so wie gestern», entschließe ich mich und verschwinde in meinem Klo. Ich habe da auch ein eigenes Waschbecken und Seife, ein [359] Handtuch, eine Cremesammlung und eine Zahnbürste, ich habe alles für mich allein, allen Luxus, und ich mache mich fertig. Ich trete an das Fenster und sehe aufatmend hinunter. Alles ist noch da. Der ganze Zerfall breitet sich vor mir aus wie ein Bekenntnis zu meinem Glauben an mich selbst. Meine Welt. «Ich werde vielleicht zu Dr. Karlmann hinuntergehen. Ich möchte ihm von meiner Besserung berichten», verabschiedet sich Bille in einem angeregten Tonfall von uns. Sie zupft mir noch hinten etwas am Kleid zurecht, Reino und ich fahren im Wolkenzug einige Stockwerke hinunter. «Ich bin froh, daß du da bist», stößt Reino während der kurzen Fahrt heraus. Sein Seufzer klingt so ehrlich, daß er mich berührt, aber nur einen Augenblick, dann treten wir in einen Raum, in dem vier Menschen an Schreibtischen sitzen. Sie blicken kurz von ihren Arbeiten auf und versenken sich dann wieder eifrig in ihr Tun. Einer blättert wie wild in einer Lade, die Faltblätter beinhaltet. Er knabbert mit seinen Fingerspitzen kribbelig an den Blätterrändern, er will rasch sein, dann und wann verweilt er in einem und klappt etwas heraus. Er zwängt seine Zunge zwischen die Lippen. Zuletzt fährt er über eine Reihe von dichtgestapelten Kärtchen, als sei das Musik für ihn. Er zückt seinen Stift und fängt an, auf manchen von den heraussortierten Karten Zeichen zu machen. Dann und wann vollführt er mit dem Stift einen kleinen Schwung durch die Luft. Jetzt schaut er auf und scheint über etwas nachzudenken, verliert aber den Zusammenhang mit dessen Wichtigkeit und sieht uns an. Reino tritt zum Tisch einer älteren Frau. Sie ist gepflegt und glatt, sie reicht ihm aus einer Mappe einen Papierbogen, und Reino setzt sich damit auf eine weiche Polsterbank. Ich gucke in sein Blatt, aber da stehen nur kleine Zahlen drauf, es sieht so ähnlich aus wie die Einkaufskarte, nur größer. «Die Akten müssen wieder einmal nach einem neuen System geordnet werden, es ist sicher zu verbessern. Ordnung, Ordnung ist das einzige, was hier zählt», doziert ein Mann mit Brille und glatt zurückgekämmtem Haar genießerisch, so als wollte er etwas essen, was er der Unordnung wegen nicht finden kann. Er blättert schwungvoll in Magnetscheiben, er stapelt sie großzügig, schachtelt daran herum, tut alles so lautstark und beflissen, daß ihm ein ganzer Stapel auf den Boden fällt. [360] Der Kartensucher lacht auf und zeigt, sich den Bauch haltend, auf den bestreuten Boden. Der Mann mit dem glatten Haar steht betroffen da. «Ich kann darüber nicht lachen», sagt er weinerlich beleidigt zu dem Belustigten, während ein Telefon auf seinem Tisch klingelt. Er stürmt beflissen darauf zu, horcht kurz und verzieht sein Gesicht: «Nein, nein, keine Plastik hier, keine mehr, wir haben schon genug davon! - Die Sorgen der Künstler möchte ich haben», endet er und wendet sich wieder seinem Haufen auf dem Boden zu. Er kniet sich hin und sortiert wieder. «1, 2 ... 3», unter seiner Ordnertätigkeit vergißt er anscheinend, daß es ein ärgerlicher und zeitraubender Job ist, ein Mißgeschick wiedergutmachen zu müssen, und er geht ganz begeistert in seinem Ordnen auf. Der andere, der gelacht hat, beginnt jetzt wie wild zu suchen. Er räumt in den Blättern
mit enormer Energie herum und reißt alles in Windeseile zu sich her und stößt es wieder weg, er hat da Routine, ich staune über sein Geschick. Eine Uhr an der Wand neben einer seltsamen Skulptur schlägt. Die Tür geht auf, und eine junge Frau kommt herein, sie schwebt mit ihren fliegenden Zetteln voll Betriebsamkeit daher, wendet sich der Frau zu und meint: «Die Berechnungen sind fertig.» Dabei sieht sie zu mir herüber und begutachtet mich. «Bitte, nehmen Sie bei mir Platz», sagt der Karteikastenordner. Er sieht mich an, ich sehe ihn wieder an und bemerke jetzt erst, daß er mich meint. Ich bleibe sitzen, und Reino zwinkert mir zu, schubst mich ein wenig im Rücken. Ich setze mich zu dem Ordner in den weichen Stuhl. «Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Erfassungsnummer ...» rattert er herunter und zückt schon den Stift. Ich setze mich ein wenig zurecht in meinem Stuhl und sehe ihn groß an. Ich entschließe mich, das Maul zu halten und bin Reino ein wenig böse, daß er mich da hineingehetzt hat. Der Ordner merkt, daß ich nicht so leicht auszuquetschen bin. Er verwandelt seinen Blick langsam und stetig in eine immer kläglicher werdende Miene, so als hätte ich ihn um seine Daten gefragt und nicht er mich. «Aber meine Liebe, ich habe doch so sorgfältig eine Karte für Sie herausgesucht, ich habe schon alles vorbereitet, können Sie nicht [361] irgendwie ...» dann neigt er den Kopf zu mir her und macht mit der Hand eine Muschel und raunt mir mit einem Zwinkern zu: «Sag irgendwas, es ist ja nur für den Zettel da.» Wir nehmen unsere sachlichen Stellungen wieder ein, und ich sage deutlich: «Maria Erlenberger.» Er sieht mich groß an, als sei das ein Wunder. Er wiederholt noch einmal leise den Namen und sagt dann auflachend: «Unser Bürgermeister hat Erlkönig geheißen, seltsam, Sie haben nicht vielleicht irgend etwas mit ihm zu tun?» Ich winke ab, und er steigert seine Begeisterung: «Kommen Sie, ich zeige Ihnen sein ehemaliges Zimmer.» Er will mich eifrig am Arm nehmen, aber da kommt ein kleiner Junge zur Tür herein, setzt sich auf seinen Platz und beginnt begeistert zu sortieren. «Junge, laß das doch, du machst mir da alles durcheinander, das kann ich dir nicht erlauben, schau dir das an. Nimm dir wenigstens andere Blätter. Nicht die hier, die sind gezählt. Der Junge macht mich ganz wahnsinnig.» Er fährt sich an den Schöpf. «Laß doch das Kind. Sei nicht so», beruhigt ihn jetzt der am Boden Sitzende und macht eine abwinkende Bewegung mit der Hand, während er die Augen kurz schließt, als sei das ja alles nicht so wichtig. «Aber mein Arbeitszeug!» braust der andere wieder auf. «Sei nicht so verrückt», läßt sich jetzt Reino von der Polsterbank vernehmen und lacht. «Ach was, mach, was du willst», endet der Ausgelachte, nimmt mich am Arm und geleitet mich hinaus, um mir das Bürgermeisteramt zu zeigen. Er vergißt seine Probleme überrraschend schnell, finde ich. Ich stehe im Bürgermeisterraum. Es ist eigentlich kein Zimmer, eher ein kühler Salon. Rundum Marmorwände wie in den Gängen des Wolkenkratzers, ein mit Leder überzogener Schreibtisch und ein Ledersessel, vor dem Schreibtisch ein kleiner Tisch, auch mit einem Lederstuhl, ein feiner, bunter Teppich, Gold glänzt auf, als Verbrämungen an Bilderrahmen und an den Kanten der Regale, die in die Wand eingelassen sind. Eine opalglänzende, nackte Leuchte kommt von oben herunter. Mit einem Wort, ein noch besondereres Zimmer, als es die übrigen ohnehin in ihrer Ausstattung schon sind. «Das ist der Herr Bürgermeister gewesen», weist mein Führer stolz auf ein Bild. Ich gehe
näher. Ich finde diese Bilder alle nicht besonders [362] gut, auch die in Reinos Papageienraum nicht, und auch die in der Kanzlei vorhin nicht, sie sind wie in Hast hingemalt, in Panik, ohne viel Liebe, nur der Tätigkeit wegen abgewerkt, sie stellen eine Art Verzweiflung dar, gegenständlicher oder ungegenständlicher Natur, die aber keine Gestalt annehmen kann. Wesenlos sind die Kunstwerke. Aber nicht befreit von dem Bewußtsein ihres Wesens. Auch das Bild des Bürgermeisters ist nicht viel anders, aber ich gucke drauf und frage dann: «Und was ist mit dem Bürgermeister, wo ist er jetzt?» Mein Begleiter zuckt die Achseln. «Ich weiß es nicht», sagt er. «Vielleicht ist er tot, vielleicht lebt er nackt in einer Gruppe in einer Erdhöhle oder unter Wasser. Hier jedenfalls ist er nicht mehr. Wir könnten es schon herausfinden, wenn wir wollten, unser Computer schafft das schon, der macht allerhand Kunststücke», und dabei wackelt er halb belustigt und halb bedrohlich mit der Hand in einer vagen Geste und fährt dann fort in einem beiläufigen Ton: «Aber wozu, was soll er denn noch verwalten?» Dabei weist er wie triumphierend, aber auch beleidigt, aus dem Fenster auf die Trümmer hinaus. «Was es hier noch zu verwalten gibt, das machen wir schon selbst», wird er jetzt wieder rege. «Wir kontrollieren alles, wir führen Buch über die kleinsten Dinge, wir haben alles im Griff. Für die Energieverwaltung führen wir ein eigenes Büro. Du kannst fragen, was du willst, ich kann dir über alles Auskunft geben!» Er wird ganz feurig über der Aussicht, daß ich mich für seine Ordnung interessieren könnte, und hält mich fester am Arm, als es ihm vielleicht bewußt ist. «Manche Dinge habe ich auch im Kopf.» Er strebt wieder mit mir zurück in den Kanzleiraum, wo er seine Akten stehen hat. Plötzlich hält er aber im Schritt inne und meint mit runden, gierigen Augen: «Frag etwas, irgend etwas, was du wissen möchtest, ich werde dir antworten.» Ich bin etwas vor den Kopf gestoßen, ich weiß gar nicht, auf welchem Feld sein Wissen liegen mag und kann auch nicht so schnell herausklügeln, was man in so einer Wohnanlage eigentlich verwalten könnte. Ihm dauert mein Zögern zu lange, und er schlägt vor: «Frag mich zum Beispiel, wieviel Stück Seife im letzten Vierteljahr von der Marke <Soft> verwendet wurden, hier in unserem Haus.» Er wartet in Spannung auf meine Reaktion. [363] «Seid ihr schon so knapp damit?» «Aber nein, überhaupt nicht, wir haben Seife für Jahrhunderte, und wir haben Eier für eine Ewigkeit, und wir haben Fleisch für ganze Heerscharen, darum geht es nicht, wir stecken im Überfluß, aber frag das mit der Seife, bitte!» fügt er kläglich hinzu, weil er fühlt, daß ich nicht richtig mitspiele. «Also wieviel?» Er richtet den Blick kurz an die Decke, so als müßte er sich konzentrieren und platzt dann heraus: «63 Stück!» «Und was sagt das? Warum berechnet ihr das?» Er macht ein harmloses Gesicht und rückt an seiner Brille: «Warum, was heißt warum, so eben, warum ist ja doch nicht wichtig. Was du willst, kannst du erfahren. Wieviel Energie in welchem Stockwerk an diesem Tag zu dieser Stunde verbraucht wird, wie es mit dem Verbrauch von Lebensmitteln steht und was repariert worden ist, was ausgebessert werden muß, alles hat seine Ordnung bei uns.» In einem Raum klappert etwas. Als wir an der offenen Tür vorbeigehen, verdreht er die Augen: «Die Adelheid druckt schon wieder ihre Geschichten, die kann das nicht lassen, es liest sie ohnehin keiner.» «Nur immer herein, meine Herrschaften, ich stelle die Maschine sofort ab», meldet sich
eine junge Stimme, und das Geräusch klingt langsam ab. Ein Mädchen kommt heraus, mit etwas verwirrtem Haar und gerötetem Gesicht. Sie ist salopp angezogen, ein wenig schwarz verschmiert. «Kommt nur herein, ich bin zwar mitten in der Druckarbeit, aber ich lasse mich gern stören.» Der Herr raunt mir etwas zu und verschwindet auf leisen Sohlen in der Kanzlei, ich trete in den Druckraum. «Ich sag dir, die Geschichte wird herrlich. Wenn ich nur nicht diese leidige Arbeit hier machen müßte, aber welcher Schriftsteller will nicht sein Buch gedruckt und gebunden sehen, sag mir das einmal?» meint sie herausfordernd komisch, die Hände in die Hüften stemmend. Ein lustiger Schwanz baumelt ihr vom Hinterkopf, eine Brille steckt oben auf ihrer Stirn. «Bei drei Werken habe ich das jetzt schon so gehalten. Vom Schreiben bis zum Binden mache ich alles, und dann trage ich es noch jedem persönlich hin und schreibe jedem eine Widmung hinein. Das heiße [364] ich ganze Arbeit!» ruft sie aus, aber fügt dann kleinlaut hinzu: «Anders geht es ja heute nicht mehr.» Sie setzt sich erschöpft auf einen Stuhl und bietet mir einen anderen an. Sie zupft und wischt an ihrer fleckigen Hose herum. «Ich halte die Geschichten für recht amüsant, die hier sollten froh sein, wenn sich noch irgend jemand kreativ zu beschäftigen weiß, hier stirbt ja alles ab. Kein Wunder, es läuft nichts, man ist nicht mehr richtig bewegt, verstehst du?» meint sie etwas verzweifelt. «Um so schwieriger, wenn sich dann einige noch etwas heraussaugen und zu Kunst verarbeiten wollen. Aber ich muß dankbar sein», richtet sie jetzt ihre Stimme und ihre Haltung wieder auf, «draußen bei den anderen Menschen wäre ich mit meinem Bemühen ganz verloren, die leben ja überhaupt nur mehr so dahin.» «Aber die leben vielleicht gar nicht so schlecht», kann ich mir einen kleinen Einwand nicht verkneifen. Sie sieht mich vorerst haßerfüllt, dann milder werdend, und letztlich voll verlorener Sehnsucht in den Augen an, setzt sich die Brille auf die Nase und sagt: «Wozu soll ich mich noch verändern, wozu schreibe ich? Es ist das einzige, was mir noch wie eine Wirklichkeit geblieben ist. Ich weiß, ich spinne total, aber ich müßte verrrückt werden, wenn ich nichts tun könnte in dieser Welt, als nur vor mich hinleben. Für mich ist diese Arbeit noch wie ein Sinn. Das wenigstens.» Sie schweigt eine Weile und rappelt sich dann wieder hoch: «Ich bin bald fertig mit dem Band, ich wäre interessiert zu hören, was du dazu sagst», schlüpft sie jetzt wieder rasch in ihre Geschäftigkeit hinein, so als wolle sie sich nicht zuviel Zeit zum Denken gönnen. «Ich bring das Buch hinauf, wenn es fertig ist, ja? Du bist bei Reino und Bille, was? Die haben allerhand von mir, borge es dir, vielleicht erheitert es dich ein wenig, hier ist ja alles so öde, ich gehe besser wieder an die Arbeit, damit ich weiterkomme.» Sie beginnt schon wieder zu klappern, und ich trete auf den Gang hinaus. Überall diese Bilder. Eine ganze Skulpturengruppe steht da. Ein Hut hängt auf dem Arm einer Frau aus Stein. Sehr liebevoll geht man mit den Kunstwerken nicht um. Diese Disziplin kann anscheinend nur dort gedeihen, wo man nichts zu disziplinieren hat. Entweder, es macht das ganze Leben aus, wie bei Bärle die Musik, aber dort spricht [365] niemand von Kunst, das wäre lächerlich. Kunst ist hier lächerlich, im freien Fall zerstiebt sie in lauter Bestandteile zu nichts. Ich blicke an meinem langen Kleid hinunter, eine metallene Platte an der Wand ist mir ein Spiegel. Vielleicht das Kunstwerk eines Spiegels. Funktioniert gut das Ding. Ich bin froh, daß ich mich einmal allein betrachten kann in meiner frischen Sauberkeit, in meinem lockeren, frischgewaschenen Haargefühl. Ich schüttle den Kopf wie ein Baum im Wind die
Blätter, ich gefalle mir in dem Engelsgewand. Ein besseres hätte Bille nicht heraussuchen können. Das Kleid bei Bärle war viel gröber. Hier spiegelt alles so. Die Luft macht meine Haut etwas sperriger als die frische draußen, das kann ich bemängeln, aber es stört mich kaum. Ich habe mir die Haut eingecremt, das macht sie künstlich feucht. Reino tritt aus der Tür der Kanzlei. «Ah, da bist du ja. Na, war es auszuhalten? Du mußt bedenken, die sind stolz auf ihre Ordnung, das ist ihnen ein Lebensinhalt, das letzte, was ihnen noch irgendeinen Sinn gibt», meint er entschuldigend über die anderen. «Aber was rede ich, ich bin ja genauso, ich ertrage das ja auch nicht, ohne mich anzuschirren an irgendeine blinde Idee. Ich helfe auch mit bei der Energieberechnung und bei solchem Kram. Ich weiß andauernd, daß es völlig idiotisch ist, diesbezüglich so ernsthaft zu tun, aber ich kann da nicht los, vor allem weiß ich nicht, was sonst da wäre, es gibt einfach nichts Besseres. Ich könnte mir nichts eintauschen, ich könnte mich in nichts verwandeln», winkt dann aber kurz entschlossen ab und sagt: «Ich habe jetzt noch unten in der Lebensmittelhalle etwas aufzunehmen, und dann muß ich die Liste bei Mark in der Computerabteilung abgeben, willst du vielleicht inzwischen dort auf mich warten? Es ist nicht uninteressant da drinnen, außerdem sind die beiden nette Burschen, wir sind öfter mit ihnen beisammen.» Er führt mich zu einer Tür, die sich wie von selbst lautlos seitlich öffnet. Ich trete in einen Raum, der in seinem schmucklosen, metallenen Glanz wie ein leer tönender Saal erscheint. Er rückt sich lautlos und souverän in mein Bewußtsein, ich gleite in ihn hinein wie in eine bekannte Halle ohne Fenster. Sie ist von hellem Licht durchflutet. In der Mitte allerdings trifft ein scharfer Lichtkegel auf eine glatte, spiegelnde, etwa zehn Zentimeter dicke Metallplatte auf einem ebenfalls metallenen Sockel. Ihre Fläche breitet sich etwas über meiner Hüfthöhe spiegelnd aus, als markanter Sammelpunkt aller [366] Bewegungen im Raum, ein Zentrum. An den vier Wänden führt durchgehend ein Metallpult entlang, nur der Raum der Tür ist ausgespart. Drei Stühle, lederbezogen, weich und drehbar, stehen an dem Pult. Die Decke bildet ein großzügiges Wabenmuster. Ein jüngerer Mann sitzt auf einem dieser Stühle und bewegt sich anscheinend wie auf Schienen von einem Ende zum anderen des Pults. Rasch läuft das. Ein älterer Mann steht an einer Tastatur, ähnlich der einer Schreibmaschine. Er liest etwas von einem kleinen Bildschirm auf dem Pult ab, wendet sich aber dann mir zu. Auch der Jüngere erhebt sich jetzt von seinem wunderlichen Sessel und nimmt mich locker und selbstverständlich in seine Aufmerksamkeit auf, aber doch mit einer prüfenden Wachsamkeit, einer Zuwendung, die mir schon längere Zeit in dieser Art nicht entgegengebracht wurde. Er behandelt mich als seinesgleichen, er hat Achtung vor mir, er nimmt etwas an meiner Anwesenheit und meiner Erscheinung ernst. «Maria interessiert sich für eure Arbeit. Ich habe noch zu tun. Ich hole sie dann ab. Langweilt mir die Frau nicht, sie ist unser lieber Gast», führt mich Reino ein, und der jüngere Mann stellt sich mir mit einer kleinen unverkrampften Verbeugung vor: «Mark», dann weist er auf den anderen: «Urs.» Urs trägt einen schon etwas silbrig glänzenden kräftigen Bart, und Marks Gesicht ist glatt, aber nicht von dieser auffälligen Gepflegtheit, sondern natürlicher. Sein Haar ist hinten kurz geschnitten, vorn etwas länger, ein kräftiger Schöpf hängt in seine Stirn, er macht den Eindruck eines durchgeistigten Menschen. Etwas Frisches ist an ihm, das immer frisch erscheinen wird, auch wenn es mit ihm alt werden sollte. Seine Haut ist gebräunt, und der Haarschopf gibt ihm etwas Improvisiertes, Wandlungsfähiges. Urs ist schon ein wenig in die Breite gegangen, aber sympathisch in seiner regen Art. So viel Ruhe in den Augen habe ich hier noch nicht antreffen können. Wenn das der Computer in der Mitte sein soll, so hat er wenige Knöpfe und Lichtsignale, er fasziniert mich durch seine Einfachheit, er will mich nicht verwirren mit unzähligen Schaltern und Hebeln, Armaturen oder Bildschirmen. Ich gleite hinein in sei-
nen tiefen Glanz, mich saugt dieses Glatte ein wie in einer freiwilligen Hypnose, und die Männer kommunizieren mit mir über diese Konzentration [367] in diesen Schein. Auch sie stehen da an seinem Rand und schauen hinein in das Reflektieren. Ein geebnetes Hirn, materialisiertes Denken. Jetzt allerdings verschiebt sich ein kleiner Metallteil in der linken Ecke lautlos, in seinem neuerlichen Einrasten als vergangene Bewegung bemerkbar. Wie ein schwingend gefaßtes Wahrnehmen, eine Tat ohne Aufwand, ruhig und souverän. Zugleich klickt etwas an einem Teil des Pults auf, und drei kurze, leise tönende Signale klingen an. Auch das Pult an den Wänden herum ist von glatter Fläche, nur unterbrochen von einem Lichtpunkt hinter einem offenen Schieber, einem Schalter oder einem kleinen Bildschirm. Mark wendet sich dem Signal auf dem Pult zu. Er setzt sich in einen der wendigen Stühle und dreht einen Schalter, dann blickt er wieder zu uns her. Während des kurzen Augenblicks der Erwartung, die jetzt in der Luft steht, bis irgend etwas geschehen könnte, eine neuerliche Bewegung, schiebt sich ein glänzender Teil wieder in eine andere Position. Etwas verharrt in Beweglichkeit, die mich an Zauberkunst unbestimmbarer Herkunft erinnert, aber auch an ein magisches Kraftfeld in Erregung gemahnt, an das ich angeschlossen bin. Ich fühle mich mit diesen beiden Menschen im Bunde durch etwas Geheimnisvolles. Hier hält etwas die Spannung, hier muß sie nicht erzeugt werden. Mark greift sich an die Stirn und reibt sich die Augen, dann verharrt er längere Zeit mit der Hand in seinem Schopf und blickt wieder ruckartig auf. Er sieht jetzt irgendwie müde aus. Er weist mit der Hand auf einen der anderen Sessel, bittet mich, Platz zu nehmen, und Urs setzt sich in den dritten Stuhl. Ich rolle etwas näher zu den beiden hin. Mein Stuhl läuft lautlos und wie selbstverständlich in die Richtung, die ich ihm gebe. Das geschieht so von selbst, daß ich nicht einmal darüber staune. Die beiden Männer sehen einander kurz an. Ich richte mich in meinem Sitz auf, die Atmosphäre hier strafft meinen Zustand, ich fühle mich im Unbekannten zu Hause. Ich lebe jetzt schon lange genug damit, ich bin da so sicher, wie der Metallkörper selbst. Die Männer sehen auf meine Stille, sie sind gewöhnt, mit glänzenden Gehirnen zu verkehren, sie sind Gedankenspieler, aber ich bin ein Leben und kein Gedanke. Das muß ihnen aufffallen, und Mark reibt [368] sich noch einmal müde das Gesicht, als erlaubte er es sich vor mir, die Maske fallen zu lassen. «Vielleicht kannst du uns helfen. Du kommst von draußen, du hast eine frischere Seelenformation, ich sehe das», spricht Mark mit belegter Stimme und wendet sich wieder kurz an Urs, als wolle er diesen in seinen Eindruck wortlos miteinschließen. Dann lacht er aber auf und verkündet wie einen kleinen Witz: «Mit <Eins> ist das nicht so einfach.» Er nimmt an, ich weiß über Computertechnik so viel wie er selbst, und fast fühle ich mich auch so, zumindest weiß ich sofort, worum es sich mit der Bezeichnung «Eins» handelt. Es mischt sich Heiterkeit mit einer ebenso tiefen Beunruhigung über denselben Punkt in ihrem Leben. Sie sehen mich an, und dann blicken sie auf «Eins», auf diese spiegelnde Fläche, die sich jetzt schon längere Zeit still verhält. Zumindest ist mir keine Bewegung aufgefallen. «Er hat so seine Tücken», berichtet Mark, immer noch den Blick in dem Spiegel. «Er ist gefüttert mit allen Daten, die es gibt, er weiß alles, was wir wissen. Alles, was wir damals gebraucht haben, um die Zivilisation unter Kontrolle zu halten und sie auch zu bilden. Aber es hat sich in gleichem Maß alles erübrigt. Wir haben das irgendwann einsehen müssen», fährt er fort und richtet sich dann wieder auf, weist mit der Hand vorwurfsvoll auf «Eins» und blickt dabei, wie um Bestätigung heischend, auf Urs: «Aber er will das nicht einsehen, er will das nicht begreifen.» Dann fährt er sich wieder in den Schopf:
«Es ist daran nichts mehr zu ändern, und es ist da nichts mehr zu finden. Er hat alles Punkt für Punkt selbst durchgearbeitet. Es gibt keinen Ausweg, aber ...» und Mark führt eine abfällige, hoffnungslose Handbewegung in Richtung Computer, erhebt sich dann, streckt sich durch und macht ein pfiffiges Gesicht, das etwas im Gegensatz zu seiner Verzweiflung steht. In derselben Lockerheit fährt er fort, während er sich mit der Hüfte an die Metallplatte lehnt und mit den Fingerspitzen leicht die glänzende Fläche berührt: «Wir sind einfach am Ende. Er hat selbst jeden Beweis erbracht. Und jeder Beweis gilt -» erhebt er jetzt seine Stimme, als könnte er diese Absurdität nicht glauben und greift sich an die Stirn, den Blick auf Urs gerichtet, der resignierend lächelnd in seinem Stuhl zusammengesunken sitzt. [369] «Jedes Gegenteil kann man genauso durchziehen, keines schließt das andere aus. Alle Theorien stimmen, alles ist möglich und auch nachweisbar!» «Weil es nicht logisch funktioniert», beendet Urs leise die erregte Ausführung des Kameraden. «Eins» läßt sich wieder durch eine Verschiebung in seinen Bestandteilen vernehmen, mitten in die Stille hinein. Ein Metallteil aus der Mitte bewegt sich in stiller stählerner Selbstverständlichkeit an einen Platz am Rand und rastet dort zielsicher ein, am Pult leuchtet ein Licht auf, und drei kleine Metallteilchen fallen unten aus dem Rahmen heraus. «Sieh dir das an, der spinnt total, wir müssen sehr aufpassen, der baut und baut. Er versucht es immer wieder, überall legt er seine Teile an», wettert Mark, bückt sich nach den Stücken und hält sie mir zum Ansehen hin. An dem anderen Ende des Pults schnarrt es auf, geht in ein Klirren über, als sei irgend etwas zerbrochen. Mark geht dem voll erregter Aufmerksamkeit nach, und Urs drückt einen Knopf, sieht dabei auf die Platte, wo sich eine Klappe hebt und wieder ruhig senkt wie ein Augendeckel. «Laß, Mark, es ist nichts, er schaltet manchmal mit Absicht auf Durchdrehen, er glaubt, er könnte uns damit aus der Fassung bringen», erklärt Urs. Ich fahre über meine hellen Knie, das Kleid fällt locker auf den Boden hinunter. Ich streiche über meine rechte Schläfe, wo ich die Wunde immer noch leicht als Narbe spüren kann, ich werde sie immer spüren. Mein weiter Ärmel rutscht bis zum Ellbogen zurück. Ich stütze mich an der Lehne ab und bin ganz konzentriert. Ich bin selbst von dem unsichtbaren Schauspiel gefesselt, so daß sich mein Gehirn wie ein Diamant in meinem Schädel fühlt. «Es ist kein Halt. Wir sind auf das Motiv unserer Fragestellung zurückgefallen», verkündet Urs in undramatischem klarem Tonfall, so als hätte er die Endgültigkeit des Lebens erfahren. Seine Hände liegen ruhig auf den Lehnen des Stuhls. «Man ist daraufgekommen, auf das Geheimnis des Universums.» «Eine Antwort, vor der man sich immer gefürchtet hat», setzt nun Mark hinzu und läßt sich wieder in seinen Stuhl fallen. «Die Antwort war ein Zurückwerfen der Frage mit vollem Gewicht», eröffnet Urs, und Mark schließt wieder leise an: [370] «Das hat die Wissenschaft eigentlich gewollt, wir haben ja selbst alles angefangen.» Es tritt wieder Stille ein, und daraus erhebe ich mich jetzt, trete an die Metallplatte und halte meine Hand glatt auf der Oberfläche, als könnte ich da etwas spüren von mir selbst und der Bedeutung meiner inneren Erregung durch den kalten Stahl. Ich fühle meine Augen so unerhört offen, sollte es dieses Licht hier sein? Es durchleuchtet jedes Geheimnis in seiner Helle und läßt es zu Eis erstarren. Ein Hirn aus Eis in einem Eispalast. Eine Welt von Spiegeln. Den Männern muß mein stilles Geheimnis aufleuchten, sie glauben, keines mehr finden zu können. Ich kenne mein Geheimnis in der Eiswüste, sie ist meine Heimat, und ich bin erstarrt in der Suche nach einer Wandlung meiner Erkenntnis. Ich kann dort
stehen, wo die Suche haltmachen muß, mich bewegen im gefrorenen Zustand. Ich habe das noch nie so genau spüren können, weil an mich die Frage nach mir selbst noch nie so deutlich gestellt worden ist. Ich bin eine Fremde in dieser Welt, ein Wanderer, aber ich kann leben, wo es für die beiden nicht mehr weitergeht. Ich vermute, ich konnte das immer schon. Ich fühle hier eine Aufgabe auf mich zukommen, eine, an der ich mich erkennen kann in meiner Einsamkeit. Ich bin wie aufgerichtet an mir selbst. Mark wendet sich in einer Art belustigten Verzweiflung direkt an mich: «Wir können alles wegschmeißen. Das logische Denken ist einfach ein Mißverständnis, ein Abfallprodukt. Es hat nur irgendeine Rolle, die unter dem Instinkt des Tiers zu bewerten wäre, vielleicht!» Urs spricht jetzt in Marks Tonfall weiter: «Die ersten Wissenschaftler, die das glauben mußten, haben Selbstmord begangen oder zumindest ihre Arbeit niedergelegt.» Sie verharren wieder kurz in innerer Verlorenheit, und Urs doziert mit Aussichtslosigkeit in der Stimme: «Die Substanz der Materie ist von alogischer Struktur.» Ich verlagere mein Standbein, mühe mich aus meiner geistigen Starrheit zurück in ein menschliches Regen und horche auf. Das habe ich schon gehört, da muß etwas dran sein. Nur erregt mich die Vorstellung dieser Theorie nicht im mindesten so wie diese Menschen hier, und das macht wahrscheinlich mein menschliches Geheimnis aus, welches die Männer hier so ausführlich angehen, als sei ich eine andere, als würde ich etwas vermögen, als würde ich etwas vom Computer verstehen. Ich bekenne mich dazu, wahrhaftig, ich bekenne [371] mich zu meiner Geisterhaftigkeit in diesem Engelsgewand, ich wäre es auch in meiner dreckverschmierten steifen Hose, die Bille hoffentlich schon gewaschen hat. Noch nie ist mir meine eigene Souveränität so klar im Körper gesessen, seit ich mich hier in diesem Land bewege. Wie ein reiner, weicher Glanz ist es, ein ähnlicher, wie er auf der Platte liegt. «Ist es nicht möglich, mit diesem Bewußtsein zu leben? Ist es nicht möglich, ohne Bewußtsein zu leben?» frage ich die Männer, während ich mich wieder in meinen Stuhl zu ihnen setze. Sie schweigen und sehen vor sich hin, und Mark meint dann wie enttäuscht: «Mir jedenfalls nicht.» Er wartet und fügt, als hätte er sich das noch einmal durch den Kopf gehen lassen, hinzu: «Uns hier zumindest nicht, ohne daran irrsinnig zu werden.» Und Urs schließt an: «Du mußt verstehen, wir haben dafür gelebt, für die Wissenschaft und für die Logik. Als dann in diesem interdisziplinären Forschungsprojekt damals zufälllig herausgekommen ist, daß zwei Grundlagenstudien des Materieaufbaus mit völlig gegensätzlichen und einander sogar ausschließenden Ausgangspunkten», er schaut bedeutungsvoll zu Mark hinüber und starrt dann wieder auf den Boden. «Also, daß sie beide in der Praxis funktioniert haben, und man erst nicht wußte, wo man ansetzen soll, um das zu verstehen ... Da hat sich dann schließlich herausgestellt, daß man in diesem innersten Bereich der Materie alles mögliche aufstellen kann, es wird meistens funktionieren, man kann also alles machen, was man will. Die vorher so groß gesehene Schwierigkeit der einheitlichen Feldtheorie -» er schaut mich fragend an. «Du weißt, Schwerkraft, und alle anderen Kräfte in eine einzige Formel zu bringen, also diese Schwierigkeit erwies sich als Witz gegenüber dieser neuen, sozusagen durch den praktischen Versuch aufgezeigten, ich sage immer der Unbestimmtheitsrelation. Jetzt wirst du sagen, warum hat denn die Leute das so beunruhigt, vielleicht geht das nur die Wissenschaftler etwas an. Und das haben die auch erst gedacht, aber es ist keine Kleinigkeit, die sichere unterste Vorstellungsbasis, auf die sich alle Menschen immer geeinigt hatten, umgestoßen zu sehen. Und zwar nicht durch Theorien, sondern in einer Wirklichkeit ...» [372]
Jetzt ist er still. Die beiden sind irgendwie zusammengebrochen, sie haben den Hoffnungsschimmer und ihre Energie verloren, sie stieren vor sich hin und haben mich anscheinend vergessen. Ich kann damit leben, daß sie mich vergessen, daß ich ihren Erwartungen nicht entspreche, daß ich mir selbst nicht entspreche, mir leuchtet darin mein Leben auf, darin lebe ich erst, und ich richte mich wieder in ihren Blickpunkt, indem ich eine Bewegung gemacht haben muß, mit dem weißen Arm. Sie wollen es mir unbedingt klarmachen, daß das nicht so einfach sei, und nicht nur das, sondern daß überhaupt alles aus sei. «Was ist eigentlich aus?» frage ich einmal einfach genug, daß es sogar in wissenschaftliche Gehirne Einzug nehmen könnte, ich muß ein wenig lachen in meinen Worten, und sie nehmen diese Stimmung gern auf, aber Mark verharrt trotzdem auf seiner Beteuerung: «Der ganze Kulturantrieb ist zusammengebrochen - alles ist zusammengebrochen und zugrunde gegangen. Wir können höchstens noch Schachspielen mit der Maschine, aber wenn es wenigstens nur das wäre ...» läßt er seine Worte in der Luft hängen. Urs sagt tief und ernst: «Übrig bleibt ein Mensch, der das Vertrauen in sein eigenes Gehirn verloren hat.» Ich fühle, daß sie recht haben, ich will ihnen recht geben, sie wollen aber nicht, daß das recht sei, und mir selbst geht wie ein transparentes Schichtdenken die Möglichkeit zur Unmöglichkeit über die Stirn, über die Haut, wie ein Gefühl vom Übergang in einen anderen, aber nicht weniger sichtbaren anwesenden Wesensbereich, der uns nicht näher und nicht ferner sitzt als die Logik. Ich kann nicht verständlich machen, was trotzdem jeder weiß. «Und was sagt er dazu?» wende ich mich an das stählerne Gehirn und streiche wieder mit der Hand darüber, nachdem eine neuerliche kleine Verschiebung an der unbeweglich erscheinenden Oberfläche stattgefunden hat. Sie ist so glatt, daß ich nicht einmal sagen kann, ob die Spiegelung nicht andauernd in Bewegung ist wie ein unsichtbares Gleiten. «Er - er ist der einzige, der noch ungehemmt in seinem logischen Denken verharrt», lacht Mark spöttisch und tritt an die andere Seite. Er greift sich wie verlegen an die Stirn und gibt zu: «Du mußt verstehen, er ist für uns der letzte normale Mensch, für den die Welt noch in Ordnung ist. Wir hängen auch irgendwie an ihm. [373] Er konnte sich bereits alles selbst erarbeiten», spricht er in den Raum und streicht wie ich über die Metallfläche. «Er ist der erste und letzte Computer, der gescheiter ist als seine Erzeuger», ruft Urs fast stolz und fügt dann leise hinzu: «Wir hatten sie alle zusammengeschaltet, und jetzt macht er solche Geschichten.» An einem Bildschirn am Pult leuchten Nummern auf, dazu blinkt ein rotes Licht, und drei Schnarrlaute ertönen wieder zugleich mit einer großen Verschiebung unmittelbar an meiner Seite des Metallkörpers. Die beiden gehen der Bewegung nach, aber sie können die Aussage nicht deuten. «Völlig undurchschaubar, was er da macht. Er verstellt sich, er verstellt sich selbst und macht Schaltungen, die wir ihm nie eingegeben haben, da, sieh dir das an, weißt du, was das soll?» Mark reicht mir ein Blatt, darauf sind Punkte zu sehen und Nummern in einer seltsamen Anordnung, ähnlich einem Bild, wie ich es im Bürgermeisterzimmer sehen konnnte. Mark nimmt an, ich wüßte da Bescheid und könnte heraussehen, daß man in diesem Fall nicht Bescheid wissen kann als geübter Computertechniker. Ich sage nichts, sehe die beiden mit ungebrochener Aufmerksamkeit an, und Mark beginnt nun, nicht nur, um es mir zu erklären, sondern um an sich selbst noch einmal alles vorbeiziehen zu lassen, konzentriert auszuführen: «Zuerst hat man Computer erfunden, die genauso komplizierte Computer nachbauen, nachkonstruieren konnten, und dann hat man welche erfunden, die von einer gegebenen
Startinformation an Computer weiterentwickeln konnten. Ein Computer», sinniert er weiter, sich mit Absicht einfach ausdrückend, die rechte Hand im Tonfall mitbewegend, «besteht aus nur einem Archivimpuls für nur eine Sache. Da gibt es nur Ja oder Nein, Erinnerungsfeld besetzt oder unbesetzt. Der Computer funktioniert in einer logischen Denkweise.» «Ja, wie der Mensch», hänselt ihn Urs, der nun auch von seinem Stuhl steigt und unruhig auf und ab geht. Mark muß jetzt über seine verbissene Darstellungsart lachen und setzt sich nun seinerseits wie gespielt erschöpft auf Urs' Sessel. Unsere Situation lockert sich etwas, und ich kann gar nicht sehen, wieso diese Menschen auf einmal nicht mehr leben könnten, sie tun es ja, sie sind sogar irgendwie heiter dabei, was will man mehr. [374] Urs spricht im Gehen weiter, die Hände auf dem Rücken zusammengefaltet: «Er hat keine neuen Qualitäten an sich bekommen, aber er hat sich selbst weiterentwickelt, er hat sich eine eigene Persönlichkeit erarbeitet. Er hat seine Denkstruktur auf der logischen Ebene weitergeführt in Bereiche, wohin Logik führen kann, aber die für die menschliche Logik vielleicht undurchschaubar bleibt.» Urs verharrt in seinem Wandern und in seiner Erklärung und stellt sich wie geschlagen vor den Metallblock: «Er nimmt eine mitleidige Stellung zu uns ein - er schaut auf uns herab.» «Man kann bei ihm nie wissen, man kann nie sicher sein, er verstellt sich», regt sich Mark nun wieder auf und rutscht aufgeregt auf seinem Stuhl umher, springt dann auf, völllig die Fassung verlierend. «Siehst du, er rührt sich nicht, wenn er sich so lange nicht rührt, ist das immer ein beunruhigendes Zeichen.» Seine Stimme schnappt über. Der leise Humor von vorhin ist wie weggewischt, und auch Urs wird von dieser Panik angesteckt, bleibt im Ton aber ruhig und sagt mit Grabesstimme: «Er will uns alle umbringen, der macht vor nichts halt.» Nun muß ich aber aus tiefster Seele lachen, obwohl ich mir des Grausens, das in diesen beiden Männern lebt, bewußt bin. Sie sind auf so eine Reaktion nicht gefaßt und empfinden sie als ulkig. Sie sehen mich an, als sei ich ein fremdes Wesen im All, und beginnen, von meiner einsamen Leichtigkeit angesteckt, selbst wieder zu schmunzeln. Die Unmöglichkeit der Situation hängt als Scherz in der Luft, und Urs wischt seine Dramatik mit einer gleichgültigen Handbewegung weg: «Wenn schon sonst nichts, etwas hat sich in diesem Zusammenbruch ergeben: Mehr Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber.» Ich könnte einwenden, daß es Menschen draußen gibt, die noch viel gleichgültiger sind, nicht nur dem Leben, auch dem Tod gegenüber, aber ich behalte das als Erfahrung für mich, weil ich ja keine Mission erfüllen muß. Weisheit kann man nie weitergeben, so wie man sie für sich selbst nicht benützen kann, sie ist der freieste Vogel unter dem Gedankenzelt, sie ist weg, während du sie ansiehst. «Was macht er denn eigentlich?» frage ich naiv, noch immer in heiterem Ton. [375] «Was macht er», regt sich Mark auf und kommt nahe zu mir heran, blickt mir in die Augen, daß ich endlich die ganze Tragweite des Geschehens begreifen soll. In seinem Blick zittert ein erregter Zweifel an mir und an ihm: «Er versucht dauernd, Materie herzustellen. Er will eigentlich neue Universen schaffen, er ist ganz versessen darauf, dabei ist das völlig idiotisch und auch total uninteressant nach den letzten wissenschaftlichen Erkenntnissen», wendet er sich wieder von mir ab, wie entttäuscht. «Wir haben ihm deswegen alle Anschlüsse zu dem Zentrum, womit er früher Computer erzeugen sollte, abgetrennt, aber er versucht jetzt, die Anschlüsse mit allen Mitteln wieder-
herzustellen», kommt Mark jetzt wieder sprühend auf mich zu. «Er stellt sich nur so dumm, ich sag dir, er ist unberechenbar bis dorthinaus, er ist kaum zu kontrollieren. Immer wieder fallen Teilchen heraus. In den Heizungsrohren haben wir sie in rauhen Mengen gefunden, in den Leitungen der Wand, überall wächst er hinein, überall stoßen wir auf Ansätze zu seinen Konstruktionsversuchen. Ach, was soll's», winkt er nach einer kleinen Pause ab und fährt in Gedanken mit dem Zeigefinger auf der glattten Fläche hin und her. Leise sagt er: «Wir wollen ihn eben nicht vernichten, weil wir an ihm hängen. Er ist uns eine Art Wirklichkeit, eine Aufgabe, so wie er seine Aufgabe hat. Uns ist sonst nichts geblieben.» Ruckartig hebt er den Blick in meine Augen, als sei ich ein wenig daran schuld, aber auch so, als hätte er ein großes Vertrauen zu meinem Verständnis für sein Verhalten und seine Verzweiflung. Wir verharren einige Zeit in diesem Kontakt, und ich fühle, er hat recht, dort liegt ein Impuls zu meiner Wanderung, dort ist ein Motiv zu meiner Energie. Urs wendet ein: «Du darfst nicht vergessen, er durchschaut auch unsere Vernichtungsversuche, genauso wie wir die seinen. Ein sportlich spannender Wettkampf ist uns geblieben», scherzt Urs weiter und schlägt sich auf die Stirn mit einem hörbaren Klatschen. «Wir haben die Kühlanlage und die Heizung, das Lebensmittellager und die Schutz- und Verteidigungs vorrichtungen auf Kleinmaschinen und Handbetrieb stellen müssen. Wir mußten ihm diese Anschlüsse alle abzwicken, aber je mehr wir ihn beschneiden, um so mehr Energie [376] entwickelt er zu seinen Bestrebungen», berichtet Mark nun. Er steht mit hängenden Schultern da und macht den Eindruck eines alten Mannes, dem man das Alter nicht glauben kann. «Eins» regt sich wieder. Metallteilchen fallen diesmal aus der Platte. Größere und kleinere, fast neben meine Füße auf den Boden. Ich hebe eines auf und drehe es zwischen meinen Fingern wie einen Gedanken. «Eine Art logischer Gott», wirft Urs ein, sozusagen als Erklärung für meine Betrachtung. Dann setzt er sich auf den Sessel und rollt zu einer der Tastaturen. Mark sieht das und stellt sich daneben, den Arm zu mir herstreckend, wie, um mich an ihre Seite zu rufen. «Ich geb ihm jetzt etwas ein», setzt sich Urs zurecht und beginnt schon zu drücken. Mark übersetzt laut: «Das Universum wird geschaffen, während es untergeht. Es vergeht, während es besteht.» Wir warten, während «Eins» an der Platte schiebt, einmal, es leuchtet ein Licht auf dem Pult auf und ein Flimmern ist auf dem Bildschirm, dann kommt ein Schnarrton und daraufhin eine seltsam angenehme Stimme, deren Ausgangsort ich nicht recht lokalisieren kann, sie ertönt im Raum, tief, überaus klar, aber wie ohne Atemluft gesprochen: «Hört auf mit diesem Blödsinn.» Urs zieht einen Zettel, der gleichzeitig mit der Stimme ausgeworfen wurde, von einem Schlitz des Pults ab und liest vor: «Eingabeirrtum. Beweis: Sonst wäre ich nicht da.» «Na, hör dir das an», sagt Mark abschätzig, während er sich wegdreht und wieder aufund abzuwandern beginnt. «Er glaubt ewig daran, daß das Universum begreifbar und endlich ist. Er hat wahrhaftig vor, das ganze All, alles, einfach alles mit viereckigen Metallstücken zu überziehen, alles damit anzufüllen, den luftleeren Raum, und hinaus über das Universum, alles damit zu übersäen. Das ist seine Aufgabe, so sieht er das», schließt Mark. Es herrscht Stille. Auch
«Eins» regt sich nicht. Ich fühle meine weiße Gestalt, ich bewege mich ein wenig, ich fühle mich eingeschlosssen in meiner Einsamkeit diesem Problem gegenüber. Ich stehe im Raum wie eine wesenhafte Leere, aber ich bin ein Mensch, und das können die Männer erkennen. Das kann auch «Eins» erkennen. Mir ist, als würde der Glanz auf der Platte in diese Stille [377] hineinwachsen, sich ausbreiten und durch mich hindurch zurückkehren in eine einfache Darstellungsmöglichkeit der Unmöglichkeit, mit dem Denken an das Denken heranzugehen, so als sei ich es selbst. Ich sehe die Männer wie von fernher an, und Mark meint leise, die Augen auf mich gerichtet: «Gib du ihm eine Frage.» Auch Urs richtet sich darauf ein, er strafft sich wie in Erwartung. «Vielleicht kannst du es. Wir sind zu allem bereit», sagt er fast tonlos. «Du mußt es nicht mit geschriebenen Worten tun», erklärt Mark. <Eins> kann gesprochene Worte auch verstehen und sogar Gedanken lesen. Wir haben hier den Analysator.» Mit einem Knopfdruck schiebt er an der Seitenwand eine Platte weg, und es kommt ein Gerät heraus, das mich an eine Haube zum Haaretrocknen erinnert. Sie ist ganz aus helllem Metall und läßt kaum das Gesicht frei. Hinten hängt sie an einer dicken Schiebestange. «Es funktioniert ungefähr so», sagt Mark, «stell dir vor, in der Haube wären viele Sensorpunkte, die wie ein dreidimensionale Raster immer mit ihren Gegenpunkten in elektromagnetischem Kontakt sind. Wenn du denkst, läuft ein Hirnstrom durch deine Gehirnzellen und deine Denkzentren, was bei einer gewissen Basisinformation einen Denkablauf in diesem Raster lesbar macht. So ist auch die Computerentwicklung weitergetrieben worden, er hat die Kapazität und die logische Funktionsweise des menschlichen Gehirns fast analysieren können. Aber irgendwie ist er anders als ein Mensch geblieben, ich weiß auch nicht genau wie. Die Möglichkeit, sich selbst weiterzubauen, mußten wir ihm nur ansetzen, damit hört er nicht mehr auf, er nimmt sogar seine eigenen Bestandteile dazu, seit er von seinem Fabrikationszentrum abgeschweißt wurde. Die Frage ist nun: Kann er besser denken als du oder ich?» Mark ist jetzt so in sein Lebenswerk vertieft, daß er gar nicht mehr zu mir spricht, sondern vor sich hin. Mit kommt eine Idee wie ein unbestimmtes Gefühl. «Setzt mir die Haube auf», sage ich, und Urs beeilt sich, mich in den Stuhl, den er zu dem Gerät gefahren hat, zu setzen. Beide schauen mich gebannt an. Urs kippt mir das Ding über den Kopf. Herrje - funktioniert diese Maschine in beiden Richtungen, kann sie auch senden? Davon haben mir die zwei nichts gesagt. Ich glaube [378] zu spüren, wie irgendwie irgend etwas an meine Gedanken faßt, während sie gerade entstehen. Ich fühle, als wollte mir gerade dieser Gedanke schlüpfrig entgleiten, und wie eine elektrische Lähmung, eine Ohnmacht, mich einklammern, da bin ich plötzlich ganz locker, und der Zwang weicht spurlos. Ich versuche es wieder. Ein konkreter Gedanke: «2x2 = 4» -und die eiserne Klammer krampft mir ins Denken, ich verliere beinahe den Halt in mir selbst. Ich weiß auf einmal, daß es ernst ist, tödlich ernst. Der Computer namens «Eins» hat mein Denken aufgenommen, er hat es mit meinem Denken aufgenommen. Er will es ganz. Er soll es bekommen! Hier kann ich meinen Verstand oder mein Leben verlieren. Aber dabei erahne ich auch, ohne mich irgendwo festzuhalten, wie diese Sache ablaufen könnte, worauf es ankommt. Mit einer einfachen Denkbewegung löse ich mich von einem konkreten Gedanken - und ich lasse aus. Ich lasse mein Denken aus, während ich aber denke. Ich fühle mich ganz tief in mich sinken, dann plötzlich wieder aus mir, aus meinem Kopf aufstrahlend, daß ich denken kann, ohne einen bestimmten Gedanken zu
verfolgen. Jetzt habe ich Blut geleckt. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um keine Kraft zu haben. Das wird viel einfacher, als ich gehofft hatte, es ist bitter und endgültig geworden. Ich weiß, daß die Maschine mitdenkt, voll gefordert ist, und einen Weg sucht, Gedanken, die keine logische Struktur, aber irgendeinen Sinn, also doch vielleicht eine Struktur (denkt die Maschine) haben müßte, zu analysieren. Ich bin ganz Strahlung. Mein Gehirn könnte ich als Ganzes nicht einfacher mit den Händen umfassen unter der Schädeldecke, als jetzt mit meinem Denken. Ich bin mit dem Bewußtsein zugleich in mehreren Denkbereichen. Ja, richtig, mein Ich muß mir dabei flötengegangen sein, aber das macht nichts - das macht nichts? Ich gehe noch weiter in diese Richtung. Mein Körper verschwindet auch aus mir, ich bleibe als Strahlung, die sich irgendwo im Nichts zusammenballt, da. Und nun - lasse ich diese Strahlung stetig und sicher aus, in dieses Nichts hinein, wo sie wie für immer verschwindet. Jetzt ist überhaupt nichts mehr da. [379] So bleibe ich, ich weiß nicht, wie lange. Da höre ich, wie jemand etwas von meinem Kopf nimmt. Lebe ich? Ich will die Augen aufmachen, da merke ich, daß sie offen sind. Ich schaue die Männer an. Mark und Urs starren auf mich wie auf eine Erscheinung. Ich lege die Hände nieder, und wir warten eine Weile, im selben Atem verwoben. Wir sind wach wie die Unendlichkeit selbst. «Eins» schiebt einen Metallteil an der glänzenden Fläche auf, noch einen, einige Lichter flackern, und am Bildschirm flirrt es wie irrsinnig in einer auf- und abgleitenden Wellenbewegung, dann ertönt ein mechanischer Brummton, und in seinem Absaufen platzt der Bildschirm mit einem Knall, das Flackerlicht versackt, Reino kommt zur Tür herein und bleibt dort wie angenagelt stehen. Aus der Metallfläche steigt Rauch auf und Funken sprühen über die Platte hin. Eine Drahtspirale zurrt aus der Mitte heraus, und zugleich beginnt es zu zischen, als hätte jemand Wasser ausgeschüttet. Dann und wann klickt es noch, knarrt in einem Teil, der Rauch qualmt in die Höhe und steht in kleinen Wölkchen über der Platte. Wir atmen wieder, und Reino bewegt sich, wir sitzen da, einer neben dem anderen, den Blick auf die Platte gerichtet, die jetzt in der Mitte einen Riß aufweist, von einem Ende zum anderen, gerade durch. Es riecht nach verbranntem Kabel. Dann gehen mit einemmal die meisten Metallschiebetüren an den Seitenwänden auf, und ein bestialisch lähmender Gestank dringt mit einer Qualmwolke heraus, worauf dunkler, feiner Schaum folgt. Reino greift sich an den Kopf. Mark erhebt sich und nimmt ihn um die Schulter, wie um ihn oder sich selbst zu beruhigen. Ich spüre mit einem leisen Zittern die Anspannung aus meinem Körper weichen. In der Luft hängt der Brandgeruch und macht das Atmen schwer. Hier gibt es kein Fenster, das man einfach öffnen könnte. Urs faßt sich am raschesten, er schraubt noch einige Verschlüsse auf und gibt kund: «Alles durchgeschmort, aus, total ausgebrannt. Ein Wunder, daß nicht das ganze Haus brennt.» Wir gehen eilig aus dem Raum. Urs fügt noch hinzu: «Die automatischen Schaumlöscher sind noch angesprungen, sonst ...» Reino wendet jetzt ein: «Na und, was hat das zu bedeuten?» Wir sehen ihn an, und Urs kratzt sich mit dem Schraubenzieher im Bart. [380] «Ja, eigentlich nichts», überlegt er dann und tritt an eine Tastatur an der Tür. Er gibt etwas ein und wartet auf Antwort, aber es bleibt still, er versucht es noch einmal, nichts. «Eins» rührt sich nicht mehr.
«Na ja, wer weiß, er verstellt sich vielleicht nur, man kann nie wissen», sagt Mark und versucht mit Urs, den Zustand des Computers zu diagnostizieren. Sie probieren herum, aber «Eins» rührt sich nicht mehr. Ein totes Ding. «Maria hat den Helm genommen, und daraufhin ist er durchgeschmort», wiederholt Urs noch einmal und schaut Mark an, als würden sie zusammen alle Erfahrungen vorbeiziehen lassen, die sie mit der Maschine gemacht haben. «Einfach durchgebrannt», ziehen sie das Resümee. Ich für meinen Teil denke, daß «Eins» Selbstmord begangen haben muß, seine Art Selbstmord. Ich drehe mich um und gehe, nachdem ich mich noch einmal Urs und Mark zuwende, und eine kleine, kaum merkliche Verbeugung zu den beiden Männern und vielleicht auch zu der qualmenden Türöffnung gemacht habe, mit Reino weg. Er ruft noch zurück: «Wir sehen uns», und es tönt ihm bestätigend und freundlich nach. «Du mußt entschuldigen, daß ich dich so lange warten ließ, ich bin mit meiner Arbeit nicht so rasch vorangekommen, wie ich angenommen habe», entschuldigt sich Reino mit einem scheuen Seitenblick. Er tarnt hinter diesem Einwand seine Verlegenheit, denn er weiß nicht genau, wie er sich zu dieser Sache mit dem Computer verhalten soll. Etwas macht ihn unsicher und wachsam mir gegenüber. Vielleicht ist es meine Haltung, mein weißes Kleid oder meine noch anhaltende Erregung über diesen Vorfall. Wir kommen wieder an der Druckerei von Adelheid vorbei, und sie winkt mir heraus. «Ich bring dir eins, okay? Es geht voran.» Ich lache ihr zu, und das beruhigt Reino. «Die kennst du auch schon? Wir haben ein ganzes Bücherbord voll mit ihren Geschichten, aber ...» lacht er verzeihend, aber skeptisch. Ich halte noch immer ein Metallteilchen von «Eins» in der Hand, es ist noch warm, und ich lege es jetzt an den Fuß einer Skulptur, als lockere Draufgabe. Auf der Treppe sitzt Kitty mit einem noch jüngeren Mädchen. Sie redet auf das andere Kind ein, dieses lacht auf vor Begeisterung über Kitties Schilderungen. Sie zeigt etwas in die Luft, einen Weg [381] oder etwas ähnliches. Ich bleibe stehen, auch Reino verharrt, wir hören: «Das liegt ganz bei uns, das ist allein unsere Angelegenheit.» Reino geht die Nottreppe hoch, ungewöhnlicherweise, denn sonst fährt er immer mit dem Aufzug. Wir müssen an den Kindern vorbei, und Kitty schaut mich offen, fast kameradschaftlich verbunden an, als wüßte ich alles über sie. Dabei war ich gar nicht sicher, ob sie nicht in einer Art Mißverständnis damals meinetwegen aus der Wohnung ging. Ich winke ihr zu, und Reino steigt mit mir einige Treppenabsätze hinauf. Wir sind jetzt irgendwie fröhlich und laufen ein Stück. Auch Reino ist locker und klagt nicht, so kenne ich ihn noch gar nicht. «Hast du auch so einen Hunger?» fragt er lachend und außer Atem. Ich bestätige mit einem Nicken, wobei ich diesen Appetit jetzt erst spüre, aber dafür mit voller Kraft voraus. «Hier ist der Dr. Karlmann», zeigt Reino auf eine Tür. «Die neun nächsten Stockwerke sind unbenutzt. Sie sind zwar klimatisiert, aber ungepflegt.» «Bitte, steigen wir da doch hinauf», fordere ich sanft. «Das willst du sehen?» lacht er. «Du hast seltsame Wünsche.» Wir steigen über Gerumpel, Spinnweben hängen herunter. Wir sind still. Die Fäden bewegen sich leicht in einem Luftzug. «Ich bin schon lange nicht mehr so hoch gestiegen, jetzt nehmen wir aber den Aufzug. Bille wird schon spioniert haben, wir sind ja schon eine Ewigkeit aus. Sonst brauche ich
nie so lange.» Wir steigen in die Wolkenschaukel ein, und drinnen im Samthäuschen gesteht Reino: «Weißt du, das mit dem Computer, das ist für uns alle irgendwie wichtig, wir waren ja alle hier betroffen von seiner Macht. Eine unsichere Geschichte war das, aber wir haben uns die Jahre über so daran gewöhnt, daß wir nicht mehr an ihn dachten als eine Quelle für unsere Angst. Jetzt erst geht mir das so richtig auf. Mark und Urs waren geradezu gefesselt an ihn, weil sie ihn doch dauernd beobachten mußten. Mir ist richtig leichter». Er sieht mich noch einmal von der Seite an, irgend etwas ist ihm unklar an mir oder geheimnisvoll, aber ich belasse das nicht ungern dabei. Ich fühle allerdings selbst, daß ich als eine leicht Gewandelte oder zumindest Bewegte über die Schwelle trete. Auch für mich bin ich ein wenig deutlicher geworden, keine andere, sondern noch mehr ich selbst. «Ja, was ist denn mit euch los», empfängt uns Bille wohlgemut, aber [382] wachsam. Ich spüre, auch sie weiß etwas, sie weiß schon alles, aber sie verbirgt es noch. Reino drück ihr einen Schmatz auf die Wange und geht sofort in die Küche ab. «Alles okay», ruft er. «Nur einen mächtigen Hunger!» Er kommt zurück und stopft Bille und mir pikante Bissen mit Schinken hinein. Mit volllem Mund gurgelt Bille aufgeregt heraus: «Nicht soviel essen, sonst haben wir dann keinen Appetit mehr, Mark und Urs geben heute ein Fest, wegen des Computers.» Sie rudert mit den Armen, um sich verständlicher zu machen. «Ich könnte heute einen ganzen Ochsen essen, ich schaffe das schon mit dem Appetit», gibt Reino zurück, dann wird er still, streicht sich den Schnurrbart zurecht und fragt: «Ah, du weißt schon alles?» Sie schweigt eine Weile, und in dieser Frist kommt sie mir auf einmal schön und geschlossen vor, so wie ihre eigene geträumte Vollkommenheit, dann streicht sie sich wieder einmal die Haare zurück und sagt: «Ja, Mark hat es mir durchgesagt, und auch das mit dem Fest. Alle werden da sein. Unten im kleinen Saal, am Abend.» Dann sieht mich Bille an, offen, aber zugleich voll ängstlicher Abwehr in den runden Augen, sie berührt mich wie ehrfurchtsvoll an der Schulter und geht mit mir in das Wohnfeld hinein, weiß aber dann nicht mehr, was sie wollte, stürmt in ihre Kleiderkammer, und ruft zurück: «Was wirst denn du zum Fest anziehen?» Ich lasse mich in die weichen Polster fallen und brülle entschieden zurück: «Nichts anderes, auf keinen Fall, ich gehe in dem Weißen hier!» Ich will auch für mich selbst dieses Kleid tragen, es ist meines geworden. Jetzt im Sitzen spüre ich erst die innere Anstrengung, es ist etwas geschehen, meine Müdigkeit ist mir jetzt ein sehr angenehmes Gefühl. Reino bringt mir noch ein belegtes Brot und etwas Bier zum Trinken. «Ich habe dir deine Flöte in dein Zimmer gelegt», sagt Bille, die in der Kleiderkammer werkt. «Schau, diese Sandalen könntest du doch anziehen», kommt sie jetzt mit einer Modeneuheit. Ich finde diese Dinger wirklich schön. Sie sind klar und einfach in ihrer Form. Die Schuhe, die sie mir geliehen hatte, drücken mich ohnehin etwas an der Ferse, und ich schlüpfe in die leichten Sandalen. Bille hilft mir dabei, sie hockt sich auf den Boden. [383] «Vier Stunden sind noch Zeit, vielleicht solltest du dich einstweilen etwas ausruhen», schlägt sie vor. Ich finde diese Idee gut, aber Adolf lenkt mein Interesse auf sich. Ich nehme die Flöte von dem Bärenfell und gehe hinüber. Ich setze mich in diesen ungeheuerlichen
Drehsessel, und der Vogel sieht mit schräggelegtem Kopf stumm auf mich herunter. In seinem Schnabel krackt dann und wann etwas, ohne daß er ihn bewegt. Lange sitzt er so da in derselben Stellung. Wir halten das schon aus. Ich beginne zu spielen. Lange habe ich mein Flötenspiel nicht mehr gehört. Der Vogel entspannt sich nach und nach, leichter wird seine Haltung, er hält den Kopf weiterhin schräg, aber nicht mißtrauisch, sondern als horchte er auf die Töne und machte sie zu den seinen. In diesem Raum klingt das Flötenspiel gedämpft, aber warm und innig, ein Lied für mich selbst mitten in einem riesigen Grabstein. Ich muß in dem Stuhl eingeschlafen sein. Ich war in einem weiten weißen Kleid mitten in einem geschmiedeten Vogelkäfig, und Adolf war mit Knöpfen und Platten ausgestattet und mit einem Bildschirm auf der glänzenden Brust. Die Tür des Käfigs war aber offen, und ich konnte da mühelos hinaus und wieder aufwachen, fast so, als hätte ich mir das vorgenommen, so als sei das mein Plan gewesen. Daß man das Leben zu seinem Werk machen kann? So übereinstimmen kann mit den Zufällen der Fügungen? «Du hast einen gesegneten Schlaf», bewundert mich Bille und hebt mir die Flöte auf, die auf den Teppich gefallen ist. Sie steht vor mir und betrachtet mich. Sie ist selbst fein herausgeputzt, aber doch einfach, ohne viel Schmuck, fast als hätte sie meinen Geschmack treffen wollen. Der schwarze, weite Samtanzug kleidet sie perfekt. Ein wenig erinnert mich das Kleidungsstück an diese Hosenanzüge, wie ich sie öfter bei den Menschen in der Stadt angetroffen hatte. Fast wie Trainingsgewänder, aber weich und locker, in den verschiedensten Farben. Die Stille wird ihr ein wenig zuviel, ihre Augen fangen zu flackern an, ich reibe mir die meinen. Sie verfällt wieder in ihre Geschäftigkeit: «Mach dich noch ein wenig zurecht, dann gehen wir.» Reino ist schon fertig. Ich verschwinde in meinem persönlichen Badezimmer, benütze die Zahnbürste, die Seife und die Hautcreme. Ich habe so etwas nicht immer. Ich verachte solchen Luxus ja nicht, aber daß mich Bille jetzt so anschaut wie ein wunderliches Tier, ist mir gar nicht nur angenehm. Wenn sie sich nicht so viel um mich kümmern [384] würde, wäre mir das lieber. Ob die Trümmer noch draußen liegen? Ich eile noch schnell zum Fenster, als wolle ich das vor den beiden verbergen, und schaue hinunter in das letzte Licht des Tages. Es liegt auf den Steinbrocken wie ein edler Glanz, eine Krönung des Verfalls und meines Lebens. Ob ich die Perfektion hier drinnen für immer aushalten würde? Bille blickt auf ihre Uhr: «Es ist schon spät, wir werden die letzten sein», kichert sie nervös. Licht, Musik, würziger Tabak, eine schwelende Erregung, die Musik ist nicht laut, sie kommt wie aus den Menschen heraus, die zusammenstehen, sitzen oder in kleinen Gruppen gehen. Ein erregtes Licht von innen, heraus aus dem menschlichen, ewig glimmmenden Scheiterhaufen. Auf einmal eine Fackel, eine Entscheidung, miteinander zu sein, eine Bereitschaft zur festlichen Gegnerschaft, Geplauder, hohes Lachen und tiefes Übereinstimmen, Kinder tollen dazwischen. Ich kann nur kleinere Kinder sehen. Auch ein Hündchen, das unerschrocken durch die Menge schnüffelt. Eine riesige Tafel zieht sich an der Längswand des Raums hin, darauf die auserlesensten Delikatessen. Glänzende Gläser, Menschen, die mich verstohlen anschauen, als ich mit meinen beiden Begleitern eintrete. Es ist mir, als würde das Geplauder für eine kurze Zeit zurückschwellen, nur kurz, solange die Augen auf mir liegen, als sei das eine andere Art des Sprechens, dann scherzt man weiter, wendet sich einem anderen zu, bleibt locker und genießt eine Möglichkeit zum Zusammensein. Heute hat man einen Grund dazu, da ist das nicht schwierig. Die Gruppe ist ja nicht groß angesichts des Riesengemäuers. Wenn das alle sind, handelt es sich nicht um mehr als vierzig Menschen, die von dem unermeßlichen Lebensmittellager zehren. Vierzig ohne Sorge, vierzig, die mitten im Essen leben, für vierzig auf immer. Heute sind sie fröhlich. In kostbaren Kleidern und samtigen Anzügen, eini-
ge Kinder haben Masken auf. Weich ist alles, hell und so aufregend konfliktlos. Bille hält ihren Arm um meine Schulter und geht mit mir einmal im Kreis, um mich diesem und jenem vorzustellen, hier dem Herrn Elme, der für die Reparaturen zuständig ist; dann einem Dicken in einer weißen Smokingjacke, es ist Herr Heli, der Koch, dort Dr. Karlmann. Der nickt bedeutsam zu uns her. Mir kommt es so vor, als sei alles irgendwie ausgemacht und als stünde das Fest ganz auf meinen Beinen oder [385] meinem Kopf. An den Seitenwänden sind verzierte Polster, dicke, kostbare Sitzgelegenheiten aufgereiht. Einige sitzen da gemütlich und rauchen an die Wand gelehnt, der leisen Schwingung im Raum ergeben, einer Art Beherrschung zur Festlichkeit. Nicht daß ich einen Anlaß bemerkt hätte, aber nach und nach ziehen sich alle auf diese Polster zurück. Die Kostbarkeit der Qualität paßt zu dem dicken roten Teppichboden, und auch mein weißes Kleid ist im Stil richtig für diese Gesellschaft hier. Riesige Hummerscheren ragen über dem Tisch und ziehen meinen Blick immer wieder an. Ich wünsche mir für einen Augenblick, ich könnte diese Stimmung mehr in den Griff kriegen, ihrem Wesen näher rücken, aber ich vermute, da ist keines. Die Menschen sind hier so gelassen und gut gelaunt, aber immer noch so unerhört gefaßt, als sei das Fest auch wiederum ihr Alltag. Eine etwas träge Sättigung liegt über der Erregung, die aber nicht imstande ist, sich ermüdet zu legen, sondern die immer wieder aufstößt, aus Haltung und Bildung dieser Gesellschaft. Ich lasse das Wogen an mir vorüberziehen, ich kann meine Position gegenüber diesen Menschen nicht feststellen. Vielleicht sind sie unberührbar. Sie werden zu ihren Kleidern, sie selbst sind gar nicht mehr da. Sie verschwinden als bloße Stützen unter den auserlesenen Stoffen. Sie gleiten mir weg unter meinem Blick, ich kann an ihnen nichts herauslesen an Lesenswertem, aber sie sind nicht unangenehm in ihrem Summen und ihrer gesättigten Gelassenheit. Eine große Frau lacht laut auf. Dottergelber Samt bis auf den Boden. Brokat glitzert, eine junge Frau in weiten Seidenhosen. Eine Dame in pelzverbrämtem Kleid mit einer langen Zigarre. Einer mit Zylinder, ein Mann in einer bestickten Toga. Hier trägt man alles, ohne es zu bewundern. Hier ist die äußerliche Kostbarkeit zu Hause, aber sie wird mit Gemütlichkeit getragen, sie fordert mich nicht. Daß mich hier so gar nichts fordert? Fast alle haben jetzt an den Seitenwänden Platz genommen, einige stehen noch herum, Mark stützt sich auf eine Tischkante, fährt sich durch den Schopf und beginnt zu reden: «Ihr wißt alle, daß ich kein Meister der Worte bin, und die interessieren uns auch eigentlich nicht. Ich möchte aber doch für alle, denen noch irgend etwas unklar sein sollte, berichten, daß der Computer «Eins» heute sein Wesen auffallend geändert hat. Ich bin noch nicht in der Lage, Genaueres darüber zu sagen, es scheint mir aber doch ein wesentlicher Punkt in unserer Gruppe hier zu sein, daß wir vielleicht [386] künftighin nicht mehr von seinen Lebensversuchen behelligt sein werden. Trotzdem möchte ich nicht ganz außer acht lassen, daß die Denkmaschine eine eigene Persönlichkeit ist und unter Umständen auch einen raffinierten Tarnakt gesetzt hat. Wir werden ihn in nächster Zeit noch im Auge behalten. Dieser jungen Dame», und Mark weist in seinem monoton und sachlich, fast unwillig gesprochenen Vortrag, mit einer noblen Geste auf mich, «haben wir es anscheinend zu verdanken, daß wir eine Möglichkeit gefunden haben, in das Gehirn der Maschine einzugreifen.» Alle Augen wenden sich kurz auf mich, Kitty schlüpft ungeniert an meine Seite und lagert sich bei mir hin. «Was immer das für uns zu bedeuten hat, es soll uns Anlaß für ein Fest sein», entschuldigt sich Mark fast, daß er nicht mehr begeistert sein kann über seine Botschaft. «Mir ist es recht», stöhnt Kitty gespielt altklug neben mir. «Das macht das Leben auch nicht anders, die gehen nie aus sich heraus.» Dann sieht sie mich aber mit einem uner-
warteten, fröhlichen Gesicht an. Es leuchtet mir entgegen, und ich habe fast das Gefühl, als könnte ich darin das Fest noch irgendwie erhaschen, das mir so breiig zerrinnt. Sie hat schon recht, die gehen nie aus sich heraus, oder vielleicht sind sie da ohnehin heraus. Es ist ohnehin alles heraus. Nachdem Mark alles gesagt hat und alle einmal einen Blick auf mich geworfen hatten, kümmert sich keiner mehr im besonderen um mich. Allerdings tritt jetzt einer aus der Künstlerkolonie an mich heran und hält mir eine kleine Frauenplastik vor die Nase. Er ist nicht so festlich gekleidet wie die anderen, trägt einen Overall und wartet auf meine Bewunderung über die kleine Statue. Ich habe keine Bewunderung, hier kommt so etwas nicht richtig zustande. Ich nehme allerdings das Ding in die Hand und berühre es sorgfältig an den glatten und an den rauheren Stellen. Das Hündchen führt sich wieder ganz wild auf, springt an mir vorbei hinter zwei kleinen Kindern drein. Kitty läßt sich verlocken und rennt mit, zwischen den Leuten hindurch. Ich gebe dem Künstler sein Werk zurück. Ich schaue ihn nur an, aber ich bin nicht bereit, etwas zu sagen. Adelheid grüßt mich wieder, sie schwelgt in dem Kontakt, den sie mit mir aufgenommen hat, so als sei ich ihre Anhängerin. «Es ist noch immer nicht ganz fertig im Druck, aber wie versprochen ...» [387] unterbricht sie ein Gespräch mit einer älteren Dame im Pelzcape. Einer steht in der Mitte und hält einen Zettel, er zählt. Er zählt die Menschen und schreibt etwas auf, vergleicht und zählt noch einmal. Sie lachen, und es ist wieder nicht klar, ob sie jetzt belastet oder ohnehin unbelastet sind, und ob sie so sein wollen, wie sie sind. Eine Frau meint heiter zu Bille, die schon längere Zeit mit ihr im Gespräch ist: «Auch jetzt werden nicht mehr zu uns herkommen, das ist schon unser Schicksal. Schau dir das an, nur ein paar kleine Kinder, kein einziger halbwüchsiger Mensch. Warum halten die das nicht aus?» Mich wundert, daß sie angesichts dieser Worte auch noch lacht, aber sie kann das, doch ich sehe, sie bedauert auch wirklich. «Weil ihr so klammert!» wirft Kitty energisch ein, die lautlos wieder an meine Seite gekommen ist und die letzten Worte des Gesprächs mitgekriegt haben muß. Die Frau lacht wieder, aber Bille schaut Kitty traurig und vorwurfsvoll an, nimmt mich dann am Arm und geht mit mir als ihren Besitz an den Tisch, wo sich jetzt zwanglose Gruppen bilden, die das Speiseangebot begutachten und dies oder das anpreisen, als Kenner auftreten, und sich anderes empfehlen lassen. Kitty bleibt an meiner Seite. Reino ist mit Paul im Gespräch, den wir im Lebensmittellager angetroffen hatten. Reino zwinkert mir zu: «Hast du noch Hunger?» Ich lächle etwas unschlüssig angesichts des glänzenden Hummers, der vor mir liegt, lasse dann meinen Blick über die Tafel hinweggrasen und finde wunderbaren Beinschinken, feinsten Gewürzkäse, die verschiedensten Brotsorten, delikate Salate in kleinen Schüsselchen, auch Fische aller Art. Meine Augen treffen in die von Mark, der noch immer an die Tischkante gelehnt, sinnend dasteht, als sei sein kurzer Vortrag für ihn noch lange nicht zu Ende, als hätte er nur kurz unterbrochen, aber die Gesellschaft hat sich bereits wieder selbständig gemacht in einer inneren Fühllosigkeit für seine Art, etwas auszuführen. Urs pufft ihn in die Seite. Mark wendet die Augen nicht von mir ab, wenngleich ich nicht den Eindruck habe, er würde mich wirklich ansehen. «Kühl ist es hier», meint Kitty und ribbelt sich die Hände. «Iß etwas, dann wird dir schon warm, mein Kind», rät ihr die Frau an Billes Seite. Auch ich merke jetzt, daß mir nicht warm ist in meinem Kleid. Der Herr, der am Morgen meinen Namen aufnehmen wollte, zählt jetzt etwas auf der Tafel, trägt es in seine Liste ein, ist geschäftig [388] und nascht zwischendurch von einem Fleischsalat. Kitty beginnt ihre Hände in Billes Samtanzug zu verwickeln, als wolle sie sich da wärmen, aber die verscheucht sie unwillig. «Ich geh ohnehin», erklärt die Kleine, aber wiederum eher belustigt als beleidigt. Zu mir
sagt sie sachlich: «Morgen früh, heute ist mein letzter Tag hier.» Ich schaue sie an und weiß, daß sie dazu stehen wird und reibe nun meinerseits ihre Hände, und wir lachen über dieses Spiel auf dem Fest. Wir fühlen uns wie verbündet gegen den keimenden Frost, wenngleich er nirgends zu sehen ist, aber er ist es, der mir ins Herz gekrochen sein muß unter all diesem Licht und dieser Gelassenheit und dieser gekonnten Beredsamkeit. Ein Schicksal, die Frau hat schon recht. Kitty bricht mit ihrem Schicksal, das macht mich mit ihr einig. Woher die Kinder diese Möglichkeit zum Ausbruch nehmen? An dem einen Ende der Tafel stehen Teller, jeder nimmt sich einen und lädt sich auf, was ihm gefällt. Manche Speisen sehen aus wie die Bilder, die an den Wänden hängen, eines neben dem anderen. «Wenn nur alles arg genug wäre für mich», meint Mark, der mit einemmal neben mir steht, auch mit einem Teller, und den Blick über den Tisch schweifen läßt. «Für mich ist es das», gibt Kitty keck zurück. «Ich denke mir das manchmal, die Kleinen schaffen es noch, sich herauszuhauen und einfach zu gehen», überlegt er, indem er gedankenverloren ein Ei auf seinen Teller legt, geräucherten Schinken und ein wenig von dem Salat, von dem auch ich nehme. Bille wird aufmerksam, sie läßt ihre Gesprächspartnerin links liegen und wendet sich sofort wieder mir zu, rückt zwischen Mark und mich, und ergeht sich über die Köstlichkeit der Muscheln: «Du mußt sie zumindest probieren», meint sie kennerisch und legt mir so ein Ding auf den Teller. Sie selbst schlürft eine aus der Schale und zeigt ihren Genuß in großen runden Augen. «Ich esse keine Muscheln», stellt Kitty fest, «draußen bei den Kindern krieg ich auch nicht solche Sachen.» «Du solltest dir unbedingt etwas mitnehmen. Wenn ich wegginge, ich würde mir einen ganzen Sack vollfüllen mit den köstlichsten Vorräten, und wenn das alle wäre, würde ich ganz einfach wiederkommen», lacht mich Bille an, als hätte sie etwas ganz Kluges von sich gegeben. Mark ereifert sich: [389] «Ihr versteht das alle nicht, darum geht es ja gerade, darum, daß es hier alles gibt, und darum, daß man einmal total auf dem Arsch sitzen möchte, um zu sehen, was überhaupt mit einem selbst läuft. Hier kann das keiner sehen, hier wird nie etwas sichtbar, hier schwimmt jeder in seinem eigenen Hirnabfluß.» Kitty findet das komisch, sie nimmt die Erregung Marks nicht ernst. Sie hat es leicht, sie macht es sich leicht. «Kannst du dich noch erinnern, als die Gruppe mit der Musik bei uns gelebt hat? Ich war die ganze Zeit bei ihnen oben. Oder kannst du dich noch erinnern, als die gekommmen sind, denen das Haus abgebrannt ist», spricht Kitty mitten im Essen. Sie lädt sich noch von dem Eis auf, sie schleckt nur Eis, bunte Kugeln. «Mit denen hättest du gleich mitgehen sollen, Mark, die waren doch okay, oder vielleicht nicht? Die haben ordentlich Wind in die Bude gebracht, ich habe eigentlich damals schon gewußt, daß ich nicht mehr lange bleiben möchte. Der eine Typ, der hat mir da sehr ins Gewissen geredet und gemeint, ich solle mich nicht fangen lassen, sonst sei es zu spät.» «Ja, damals, ich kann mich erinnern, aber da war ich ja hier noch so wichtig wegen des Computers», sagt Mark und ist jetzt ganz auf einer Wellenlänge mit dem Kind. Bille wendet sich ab und schmollt: «Das ist immer so, da kommen einmal Menschen ins Haus, die nett sind und mit denen man Spaß hat, aber man darf sich gar nicht darüber freuen, weil sie einem die Kinder total verwirren.» Sie läßt aber die Mundwinkel nicht lange hängen, sondern kippt mir eine ganz beson-
dere Sojasauce auf den Teller, die mir meinen Hühnersalat zum Teil zudeckt, und ich muß mir die schönen Stückchen Fleisch mühsam wieder herausfischen. Ich esse mit immer mehr Freude an den verschiedensten Happen. Ich habe keine Lust, mich mit Marks Seelengrummel auseinanderzusetzen. Der Listenführer wandert schon wieder die Tafel entlang und schreibt etwas ein, immer wieder von den Speisen naschend. Ein Mann beginnt Essen aufzubauen und wunderlich aufeinanderzuschichten, zu Rosetten zu ordnen und in verschiedenen Farben zusammenzulegen. Alle plaudern angeregt, haben die Augen nur für die Speisen geweitet, schützen eine Art geschäftige Aufmerksamkeit und sprühende Gedankentätigkeit vor, die sich aber mehr zwischen Teller und Glas bewegt als in der Vertiefung ins Thema. Es fließt Wein, [390] Sektpfropfen springen hoch, Gelächter erschallt, und die Musik wird lauter. Ich habe mich von den mir bekannten Menschen ein wenig abgesondert, so gut ich das kann, denn sowohl Bille als auch Kitty sind immer hinter mir her. Mark steht da und schaut mit traumverklemmten Augen blind vor sich hin. In seiner Computerresidenz ist er mir reger erschienen. Mark mißfällt mir eigentlich nicht, denke ich mit einem Blick auf meinen Teller, über dem ich die Augen genauso gierig aufreiße wie alle anderen, aber er ist so verloren. Er hätte nie die innere Möglichkeit, einfach mit mir in einem der unzähligen Räume des Gebäudes zu verschwinden, ich hätte das vielleicht gemacht. Vorhin hat mir Urs Sekt angeboten, und ich habe den hinuntergeleert, dann hat mir eine Künstlerin eingeschenkt, und ich habe das Glas ausgetrunken. Mir wird schon wärmer, ich fühle das aus der Körpermitte heraus. Überall, wo ich mich durch eine kleine Gruppe zu einer bestimmten Speise hindurchzwängen muß, macht man mir bereitwillig und respektvoll lächelnd Platz, hebt das Glas zu meinem Wohl und trinkt, während ich ebenfalls lächle und mir den Happen lange. Ich höre ein wenig wie aus der Ferne, so als sei ich etwas abgerückt: «Bei uns sein ... behalten ... wäre wirklich schön, sollte ...» Ich weiß, die sprechen über mich. Ich trinke noch einen Schluck, den mir ein kleiner Junge anbietet, natürlich ebenfalls Sekt. Eine neue Fontäne sprüht neben mir auf, alle johlen, ich johle auch, meine Wangen sind heiß geworden und mich schwindelt schon etwas. Ich fühle, mit dem Essen schaffe ich das nicht mehr lange, aber es ist noch so viel da, und alles sieht so schön aus und muß da liegen bleiben und ist für nichts gut, man kann es nicht einmal aufheben, denn es ist ja noch alles voll der köstlichsten Vorräte, es ist einfach ein Jammer, daß ich nicht mehr kann. Mir graust schon, mit Verlaub. Neben mir wird getanzt. Nicht richtig, sondern nur so im Scherz, die machen solche Sachen nur im Scherz. Nur die Kleinen, die drehen sich in einer Art Polka, bärenernst. Kitty ist wieder an meiner Seite, sie drängt mich, sie wird von einem Beschwipsten angestoßen, und von der anderen Seite tanzen Leute auf mich zu. Ich bin froh, daß Reino und Paul herkommen. Dr. Karlmann tritt mir in den Weg, ich weiß nicht recht, ob mit Absicht oder ob sich das nur so ergeben hat. Er weicht auffällig aus, macht eine strenge Verbeugung, [391] sieht mir aber nicht in die Augen, als könnte er das nicht aushalten. Eine klägliche bis theatralisch komische Geste. Ich höre Reino zu Paul sagen: «Sie bleibt jetzt bei uns», und dabei sieht er mich an, als sei ich ein alter, wiedergefundener Familienbesitz. «Wir lassen sie nicht mehr weg», und er legt seinen Arm vertraulich um meine Schultern, hängt sich aber ein wenig an, weil er schon schwer geladen hat. Ich lasse ihn einsinken, weil ich mich über diese Worte plötzlich wie erwacht fühle, ich möchte weg, zumindest an den Rand dort zu den Polstern hin. Das hätte ich vielleicht von Bille, aber nicht von Reino erwartet, so plumpe Feststellungen. Irgend etwas Unnatürliches schwelt hier drinnen, das Bild der Gesellschaft wird immer kulissenhafter und abgestorbener,
obwohl ich jetzt innerlich dampfe. Alle sind schon satt, die Polster sind ziemlich besetzt. Mir wird sofort Platz gemacht, und Bille und Kitty rutschen wieder wie selbstverständlich an meine beiden Seiten. Ich halte mir ein wenig das Bäuchlein und schließe die Augen. Die Gesellschaft ist jetzt nicht mehr so undurchschaubar sachlich und ernst in ihrem Auftritt. Die kleineren Grüppchen sind anscheinend solche, die zusammen in einem Stockwerk wohnen und ohnehin dauernd Kontakt haben. Man kauert, ohne sich um Knitterfalten zu kümmern, in den Polstern, einige rauchen. Da höre ich draußen eine Sirene. Mein Blick trifft mit dem von Mark zusammen, wie zufällig, und ich sehe, wie ihn dieser Ton innerlich mit einer einzigen Bewegung strafft zu dem Mann, den ich kennengelernt habe. Nichts Weinerliches ist mehr an ihm. Er geht ruhig, Panik vermeidend, zur Tür. Alle haben jetzt den Alarm vernommen. Über der Tür blinkt auch ein kleines Flackerlicht auf. «Das Stahltor ist vorgelassen? Alles in Ordnung, die werden sich die Lanzen ordentlich abstoßen», höre ich jemand sagen. «Kein Grund zur Aufregung», vernehme ich nun. Die Menschen sind auch nicht sehr geängstigt, aber manche erheben sich. Auch Bille steht auf, ich selbst spüre meinen Körper mit einemmal wieder voll Kraft und Standhaftigkeit. Ich fühle mich in Spannung, gefordert, und das Fest schließt sich für mich langsam zur Erfüllung meiner Erwartungen. «Immer wieder versuchen sie das, zu blöd, gerade heute, jetzt kann ich vielleicht morgen nicht weg», ärgert sich die kleine Kitty. Mark kommt herein und ordnet gefaßt an: [392] «Alle hier beisammen bleiben, die Schutzvorkehrungen sind getroffen, es besteht kein Grund zur Beunruhigung, aber Disziplin ist jetzt wichtig.» Ein anderer Mann erscheint hinter Mark in der Tür und berichtet: «Soviel wir bis jetzt beobachten können, handelt es sich um fünf berittene, abgerissene Burschen. Sie sind anscheinend noch nicht vertraut mit unseren Schutzvorkehrungen, weil sie jetzt da unten stehen und beratschlagen, es kann schon sein, daß sie der Hunger herverschlagen hat.» «Dann gebt ihnen doch etwas, und sie sollen wieder abziehen», schlägt eine Frau vor. «Ja, sprecht doch zuerst mit ihnen, bevor wir sie abwehren, vielleicht ist die Sache friedlich abzumachen», tritt jetzt eine andere vor Mark. «Wenn ihr wollt, ich gehe hinaus, ich mache das», erglüht die zweite jüngere Frau in einem lichten Samtkostüm, herrlich blauschwarzen Haaren und ohne Schuhe an den Füßen. Sie hält diese in der Hand und schlüpft rasch balancierend hinein und will schon bei der Tür hinaus. «Halt, bleib da!» ruft ein Mann. «So rasch geht das nicht, wart ab.» Und Urs, der gerade hereinkommt, drängt die Frau wieder zurück. «Nur keine Aufregung, wir machen das schon, es ist ja nicht das erste Mal, das ein Überfall stattfindet.» «Ich möchte aber unbedingt mit dabei sein, egal wie man mit ihnen fertig wird», läßt sich die junge Frau wieder vernehmen. «Am besten, alle setzen sich wieder. Kommt, Leute!» schallt Urs' tiefe, ruhige Stimme über die Gruppe hin, und es bedarf keiner großen Mühe, sie wieder alle auf die Polster zu bringen. Dann fragt er: «Wer fühlt sich bereit und nötigenfalls auch imstande zu schießen, wer geht mit uns an die Planstellen? Ich sage aber sofort dazu, das allein ist nicht so wichtig, jeder, der hier bleibt und die Ruhe behält, ist uns auch recht.» Sehr unruhig sind die Menschen gar nicht, fast so, als sei ein aufregendes Spiel im Rahmen des Festes im Gang, und ich mit meinem alkoholaktivierten Gehirn denke daran,
ob es sich nicht vielleicht um einen kleinen Scherz handelt. Ich falle aber in einen ängstlichen Blick, in kugelrunde, kleine, aufgerissene Augen in einem starr erhobenen Kopf. Es sind Dr. Karlmanns Augen. Reino tritt an unsere Seite, ruhig und gelassen, Bille hingegen ist Feuer und Flamme: [393] «Ich will unbedingt mitmachen», ruft sie und hebt ihre Hand hoch. Jetzt gehen drei, fünf, etwa zehn Hände hoch, die sowohl Frauen als auch Männern gehören. «Aber bitte, wie gesagt, versucht mit ihnen noch zu sprechen», regt sich jemand in einer kleinen Gruppe, und beginnt dann wieder ein leises Gespräch mit den anderen zu führen. Ich kann jetzt überhaupt bemerken, daß die Grüppchen näher zusammenrücken, anscheinend besteht diese Gemeinschaft im Haus aus etwa sieben Untergruppen. Einer, der mit der Liste, zählt etwas, ordnet und nimmt auf, anscheinend hat diese Aufstellung etwas mit dem Überfall zu tun. Das Hündchen sitzt mitten auf dem Tisch und frißt Fische, hinter ihm sitzen drei Kleinkinder in den Resten von Torten. Eines hält sich dabei zwei Hummerscheren über den Kopf und guckt aufmerksam in die Runde. Reino und Bille rücken nahe an mich heran, auch Paul und seine Familie gehören in diesen Kreis. Ein Paar und ein älterer Mann sind anscheinend Kittys Leute, zu denen sie sich aber nicht eigentlich bekennt, denn sie hält sich weiterhin an mich. Sie ist noch immer ärgerlich. Die Menschen sind sehr diszipliniert. Bille sagt: «Ich gehe hinaus, du bleibst hier bei Reino», aber der stößt sie in die Seite und herrscht sie an: «Sie kann machen, wie es ihr beliebt, ein für allemal, und außerdem gehe ich auch mit hinaus!» Es ist soweit, Urs öffnet die Tür weit, und etwa zehn Leute, unter ihnen ich, treten hinaus auf den Marmorgang. Hier ist es still, es hängt etwas in der Luft, auch draußen ist es ruhig. Urs fährt mit uns in das erste Stockwerk. Fünf Frauen sind wir und fünf Männer. Niemand spricht etwas. Mir ist, als sei ich von einem bereits geübten Spiel ein Teil. Bille legt ihre gespielte Weibchenhaftigkeit ab und ist auch ein stiller gefaßter Soldat, wenn es darauf ankommt. Reino geht nach oben zu Mark und den anderen. Ich fühle mich mit einemmal viel freier, als wir da so dahinsteigen und uns in Unsicherheit über die kommenden Ereignisse bewegen. Ich habe zwar das unterschwellige Gefühl, daß mir eigentlich nichts passieren kann, aber die Vielfalt der Möglichkeiten dieser Aktion erregt mich wie ein Prickeln in meinem Körper und im Gemüt. Ich weiß nicht, ob es in Ordnung ist, daß ich diese Gefahr als vermißtes eigentliches Leben entdecke, aber ich stehe dazu. Mein Blut kreist wieder in natürlichen Bahnen, und die Übersättigung löst sich wie von selbst, indem der Blutstrom schneller fließt. [394] Dann öffnet Urs eine Metalltür und nimmt Gewehre heraus, er reicht sie weiter, es meldet sich sein Taschenfunkgerät: «Achtung Urs, hier Mark - die haben anscheinend überhaupt keine Ahnung, die trommmeln mit Holzstöcken an dem Stahl vor dem Tor. Ich weiß nicht, ob man sich mit denen auf ein Gespräch einlassen kann.» Urs legt noch einige Gewehre auf die Treppe heraus und schließt die Kammer wieder, bevor er antwortet. Ich nehme mir kein Gewehr. Bevor er geschlossen hat, habe ich noch eine Menge von gefährlich schimmernden Waffen da drin gesehen, und auch geheimnisvolle Geräte. «Wir haben noch andere Abwehrmittel», unterweist mich Bille sachlich. Ich hätte ihr nicht diese kühle Lust an der Aktion zugetraut, aber ich erinnere mich jetzt an ihr Gesicht und ihren Tonfall, als ich bei meiner Ankunft gebadet habe und sie auf meine Frage über ihr Vertrauen mir gegenüber vom Schießen gesprochen hat. «Wir hätten ganz andere Waffen auf Lager, meine Liebe», fügt sie noch leise hinzu, «Geräte, mit denen wir von hier aus mit einem Knopfdruck alles im Umkreis erledigen
könnten», und ihre Augen blitzen mit einemmal auf. Sie kramt ein Gummiband aus einem ihrer kleinen Samttäschchen, die am Anzug aufgenäht sind, und bindet sich die Haare mit einem kundigen Griff hinten zusammen. Sie ist plötzlich jünger, zugleich viel lebendiger, viel aggressiver. Sie sieht, daß mir das auffällt, und nimmt für einen Augenblick ihre eitle Kopfhaltung ein, die jetzt nicht mehr recht stimmen will, und das macht sie wiederum lächerlich. Sie schaltet daraufhin an ihrem Gewehr herum. Urs gibt durch den Funk bekannt: «Wir werden die Lage von hier einmal begutachten und dann entscheiden.» Er tritt mit uns an die drei Fenster an der Frontseite. Das Licht erlischt im Stiegenhaus, und wir sehen hinaus. Das Auge gewöhnt sich rasch an die Nacht, außerdem gehen draußen jetzt starke Scheinwerfer an, welche die Berittenen in ihrem Kegel halten. Die Burschen preschen zurück und wollen dem Licht ausweichen, aber der Lichtbereich reicht zu weit. Ich erkenne keinen der mir bereits bekannten Typen. Diese hier haben keine Hüte auf, es sind fünf Männer auf ruppigen Pferden. Sie sind uneinig. Sie fuchteln mit den Armen in der Luft. Einer trinkt aus einem seltsamen Schlauch und will sich fast absondern, bleibt aber dann bei der Gruppe. Sie stoßen mit ihren eisenbeschlagenen Holzknüppeln [395] in die Luft. Ein großer Bärtiger hat ein Gewehr, der führt die anderen anscheinend. Für kurze Zeit sieht es so aus, als wollten drei der Männer aufgeben, sie wenden ihre Tiere immer wieder zur Flucht, aber etwas hält sie zurück, endgültig abzuziehen. Urs öffnet lautlos das Fenster, es gleitet seitlich in die Wand, und frische Luft strömt herein, kühle Nachtluft, und mit ihr die Stimmen der Gesellen. Sie haben keine Ahnung, daß wir sie von hier aus beobachten. «Die haben alles voller Fressen, diese Schweine, die soll man nicht schonen, voll drauf», regt sich einer auf, und der andere herrscht ihn an: «Du Idiot, wie willst du voll drauf, hast du den Stahl gespürt!» «Vielleicht warten wir auf den Tag, da ist es leichter, die werden doch nicht immer alles so verbarrikadiert haben wie in einem Grab. Das hält ja niemand aus. Ich nicht, nicht einmal, wenn ich im Fressen schlafen könnte.» Er macht ein Speigeräusch. Ein großer aufrecht sitzender Mann sagt: «Wir müssen jetzt anders vorgehen, wer denkt denn, daß die so ausgestattet sind, ich sag euch, nehmt das nicht so auf die leichte Schulter. Wir können hier so nah dran aus dem Licht nicht raus. Nur wegen der Fresserei!» «Die Landgruppe auszunehmen war ein ganz anderer Job, als hier die Tiefkühltruhen zu knacken», resigniert der erste. «Keine Rücksicht, ihr Jammerlappen, stellt euch vor, wir können uns hier eindecken, und ihr laßt euch von einem eisernen Tor aufhalten», fährt der eine jetzt auf. Er reißt ein Gewehr von der Schulter, was als Kommando für die übrigen gilt, die Knüppel zu schwingen, und mit einemmal steht der unschlüssige Haufen da, als verwegene Schar, der im nächsten Augenblick alles Erdenkliche einfallen kann. Urs spricht in sein Funkgerät, während er uns zu ducken bedeutet. «Keinesfalls hinausgehen oder öffnen, die Burschen sind ratlose Amateure, denen alles zuzutrauen ist. Ihre Unkenntnis macht sie unberechenbar. Ich werde über den Lautsprecher mit ihnen zu verhandeln versuchen.» In diesem Augenblick aber lösen sich drei von den Männern und sprengen nach den Seiten des Gebäudes weg. Zwei bleiben stehen, und der eine hebt das Gewehr, zielt auf die Fenster. Er schießt einmal ab, und sie preschen dann, als sie feststellen, daß es sich um kugelsicheres [396] Glas handelt, zurück. Sie sind wütend, sie verlieren ihren letzten strategischen Zusammenhalt, und rennen dann wie blind gegen das Tor an, auf das sie losdreschen.
Urs gibt durch den Funk: «Den ganzen Umkreis ausleuchten, eine Gruppe ist an den Seitenfronten.» Ich selbst hätte jetzt kein Gespräch mit den Leuten angesetzt, mitten in ihrer Besinnungslosigkeit, aber Urs macht vielleicht auch einmal einen Fehler. Er will über eine Lautsprecheranlage hinausreden, er holt ein Mikrofon aus einem Kasten in der Wand. Wir sind geduckt, aber unsere Nasen gucken leicht über den Rahmen der unteren Fensterabgrenzung, und wir können noch immer alles beobachten. Mitten im Ernst der Lage sehe ich unsere Nasenspitzen über die Rahmen lugen und finde das erheiternd und harmlos putzig angesichts der Gefahr, die ich nicht recht abmessen kann. Bille kniet angespannt und wachsam neben mir, sie wendet kein Auge von den Männern da draußen. Urs' Stimme tönt wie Gottes Tonfall weithin über den Trümmerhaufen: «Wenn es sich bei dem Angriff nur um Essen handelt, sind wir bereit, euch eine Menge herauszugeben. Ihr könnt eine Liste aufstellen von Dingen, die gebraucht werden. Wenn es euch allerdings um etwas anderes geht, warnen wir euch. Wir sind mit den besten Waffen ausgerüstet und bereit, sie nötigenfalls auch zu benützen!» Die zwei Männer unten halten ein in ihrem blinden Wüten. Sie reißen die Pferde herum, rennen ihnen die Absätze grob in die Seiten, äußerst zornig. Ich kann einzelne Worte vernehmen: «Die haben rein alles. Der Scheißverein ... sollte man einfach vernichten ...» Die drei Reiter kommen wieder heran. Zwei von ihnen transportieren trotz des wilden Tempos eine roh 'gefertigte, hohe Leiter, an der mit Draht und Lederriemen improvisierte Sprossen montiert sind. Sie müssen dieses Gerät in der Eile gebastelt haben, aus den Trümmern da draußen, es sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus. Aber hoch genug ist das Ding, um bis zu unserem Fenster heraufzureichen. Sie fackeln nicht lange, sie sind entschlossener in ihrer blinden Angriffswut, als es schien. In Blitzeseile stellen sie die Leiter auf, gerade an dieses offene Fenster, an dem Bille, ich und noch ein Mann hocken. Wir fahren ein wenig mit unseren Nasen zurück, wir können jetzt nicht mehr sehen, was sich unten eng an der Mauer tut. Selbst wenn das panzerfeste Glas zwischen uns wäre, möchte ich den [397] wilden Männern nicht so unmittelbar in die mordgierigen Augen sehen müssen, zumindest nicht so unvorbereitet. Da allerdings erweist sich Urs als der Richtige, er beugt sich hinaus und schreit hinunter: «Leute, wir warnen euch noch einmal, wenn ihr Essen wollt, ihr könnt genug davon haben, sofort, wenn ihr euch aber nicht vernünftig mit uns einigt, geht es euch schlecht, dann sehen wir keine andere Möglichkeit, als uns zu verteidigen!» Urs ruft schnell, sein Gesicht gespannt vor Tatkraft, er erinnert an eine Maschine, präzis und zielsicher, hart und konsequent. Mit einemmal hat er nichts mehr von der bauchigen Gemütlichkeit an sich, aber er bleibt ruhig, er ist noch viel gefaßter als vor dem Computer. Er verwandelt die Ruhe zu Tatkraft, die bei ihm bleibt, wie ein Abbild seines Wesens. Ich wende keinen Blick von ihm. Mark läßt sich wieder aufgeregt im Funk vernehmen: «Achtung, Urs, einer klettert hinauf, wirf die Leiter um, wenn du kannst. Wir kommmen!» Ich nehme nun selbst eines von den Gewehren, die da liegen, in die Hand, ich habe es, ohne daß ich darin geübt wäre, sofort richtig im Griff. Ich spüre, daß eine Kraft von diesem Gerät auf mich übergeht, eine Art Brutalität, in der ich mich ertappe, als ich die Augen ein wenig zu Schlitzen zusammenpresse. Die Bewegungen aller werden zackiger, fester und knapper, wir begeben uns in eine Art Lauerstellung. Bille und ich stehen jetzt etwas weiter hinter der Öffnung. Die anderen geschlossenen Fenster bleiben von Posten besetzt. Wir sind alle ein einziges Auge, ein einziger Sinn, eine erregte Haltung, in Spannung verharrrend. Noch während ich mich so lauernd zusammenducke, weiß ich, daß eigentlich nicht viel
passieren kann, aber daß diese Menschen draußen so einen blindwütigen Angriff durchführen, obwohl sie keinerlei Chance haben, erschüttert mein Gefühl der Gelassenheit. Es scheint mir eine Ungeheuerlichkeit zu sein, von unserer Seite aus zu schießen, wo uns doch niemand etwas anhaben kann, aber die Tatsache, daß die Bedrohung offensichtlich nicht wegzuleugnen ist und auch kein Ende nehmen kann, wenn man nicht seine Macht ins Spiel bringt, steigert diese Situation zu einer harten Herausforderung. Vom Gang her tönt wieder Musik. Auf einmal springt Urs zu unserem Fenster her und läßt es aufsausen. Mark ruft vom Eingang her: [398] «Du hast alles gesagt, tu es, du hast sie gewarnt!» Da beugt sich Urs hinaus und kippt die Enden der Leiter mit einem angestrengten Ruck von der Wand weg. Ich sehe vom nächsten geschlossenen Fenster aus, an das ich mit Bille getreten bin, die Enden der beiden Streben für einen Augenblick in der Schwebe stehen, während Urs die eine Hand noch draußen hat. Die Leiter fällt langsam zurück. Mark und ein anderer Mann sind im Schließen des Fensters zu eifrig, und der Mechanismus schlägt Urs beim Zurückziehen den Flügel mit aller Macht in das Handgelenk. Er reißt seinen freien Arm hoch, packt das Gelenk und hält es für einen Augenblick mit schmerzerstarrtem Gesicht fest. Dann höre ich draußen einen zugleich dumpfen und scheppernden Aufprall. Wir stürzen ans wieder aufgleitende Fenster zu Urs. Die Leiter liegt auf dem Boden, lang hingeschmissen, und ein Mann darunter, er rührt sich nicht. Urs stöhnt jetzt erst laut auf und löst seinen starren Gesichtsausdruck, er hat den ersten Schmerzanprall überwunden. Jetzt hält er sich das blutende Gelenk. Zwei Männer bemühen sich unten um den Gestürzten, lassen ihn aber dann liegen. Die Angreifer zeigen sich nur noch erregter und schwingen ihre Knüppel. «Ihr Mörder, wir werden euch geben, ihr Schweine!» und sie drohen wieder, richten die Leiter in Windeseile wieder auf, und die beiden Enden klappen hörbar unter dem Rand des offenen Fensters an die Wand. Urs wird verbunden und scherzt: «Könnt ihr euch erinnern, als wir einmal bei einem Angriff im letzten Augenblick das Stahltor einrasten ließen, bevor sie hereinkommen konnten, und wie es den ersten von den Angreifern in der Mitte entzweigedrückt hat, einfach durch.» Er erwartet keine Reaktion auf seine Schilderung, vielleicht hat er das auch nur als Aufmunterung geschildert, denn er schaut jetzt Mark an, dann den einen Mann, der neben mir steht, dann Bille und mich. Mark gibt über den Außenlautsprecher durch: «Wir schießen jetzt!» Er wendet sich dann um, zu mir her, und meint: «Das muß sein, sonst hätten wir sie in Kürze wieder am Hals. Wir müssen unser Haus schützen, denn sonst könnte es uns an den Kragen gehen.» Mehrere Fenster werden einen Spalt breit geöffnet, und die Gewehre [399]eingerichtet. Bille tritt auch ans Fenster, ebenso der ältere Mann, der neben mir gestanden hat, alle machen sich bereit. Urs, mit seiner verbundenen Hand, nimmt auch ein Gewehr. Ich schaue hinunter, mit meiner Waffe am Unterarm stehe ich hinter ihm. Alle vier sind noch da unten und können sich nicht einigen, wer die Leiter diesmal besteigen soll. Zwei halten ihr Pferd am Zügel. Mark ruft: «Die ersten drei Schüsse von mir!» Zugleich klackt es dreimal. Ich bin erstaunt, weil die Schüsse so leise waren, aber ich denke, daß es sich um schallgedämpfte Waffen handeln muß. Ein Roß fällt unten getrofffen zu Boden. Es ist das des Abgestürzten. Die vier Männer sind unverletzt. Die anderen Pferde können nur mit Mühe gebändigt werden. Die Kerle geben nicht auf und die zwei zu Pferd stürmen neuerlich auf das Tor zu, wie von verwirrter Panik besessen, die eisenbeschlagenen Knüppel schwingend. Mark gibt mit leiser Stimme einen weiteren Befehl:
«Alle schießen auf die Reiter, ohne Rücksicht - Feuer!» Ich habe meinen Respektsabstand zu den Gewehren nicht genügend eingehalten und mich, um besser zu sehen, über Urs gebeugt, der, während er abdrückt, im Rückstoß mit der Oberkante des Kolbens voll auf meinen angewinkelten Arm schlägt. Ich denke daran, wie Urs bloß schießen konnte mit seiner Verwundung, und zugleich sehe ich, wie die zwei Männer mitten im wütenden Ritt herunterstürzen und liegen bleiben. Der eine umklammmert sein Gewehr. Der andere wälzt sich noch einmal mit offenem Mund, aber lautlos herum, Blut quillt ihm heraus, auf dem Rücken bleibt er dann endgültig liegen. Die Leute an der Fensterrampe entspannen sich wieder, Bille fährt sich durchs Haar in ihrer altvertrauten Geste und denkt nicht daran, daß sie ja die Haare zusammengebunden hat. Ich presse meinen Arm an mich, es ist wieder der rechte. Ein stechender Schmerz ist darin, rührt sich aber bei Ruhelage des Arms nicht mehr. Mein Gewehr liegt auf dem Boden. Ich habe es vorhin bloß in der Linken gehalten. Der Stoß war wie ein Schuß selbst. Die beiden Männer unten überlegen jetzt nicht mehr, sie schwingen sich auf die Rösser und verschwinden aus dem Lichtkegel, hinterdrein die zwei herrenlosen Pferde. «Schönes Fest!» meint Urs und hält sich wieder sein verbundenes Gelenk. Meine Verletzung ist niemandem aufgefallen. [400] «Jetzt haben wir die Toten vor dem Tor liegen», sagt Mark mit müdem Gesicht. Nach und nach kommen alle aus dem Saal, dann stehen sie da auf der Treppe und lasssen sich erzählen, wie sich die Sache abgespielt hat. Kitty ist wieder an meiner Seite und will sich einhängen, ich fahre zusammen, und sie erkennt, daß ich Schmerzen haben muß. Sie guckt mich ratlos an, sagt aber nichts. Dann tritt sie ans Fenster, und ich sehe, daß sie überlegt, ob sie wohl morgen da hinaus soll. Einer der Maler steht fasziniert am Fenster. Er ist in den Anblick des toten Pferdes vertieft: «Das muß ich sofort zu Papier bringen», meint er hektisch und reckt seine Finger wie in einem Jucken. Der Listenführer allerdings, der hat schon wieder etwas aufzunehmen. Er schwänzelt um die Gewehre herum, notiert ihre Nummern, schätzt den Kugelverbrauch, steckt sich den Schreibstift hinters Ohr, um ihn gleich wieder herunterzunehmen, und notiert, so als würde er jetzt den Angriff erst abwehren. Langsam beginnen alle mit dem Aufzug wieder hinaufzufahren, in die oberen Wohngefilde. «Warum nicht», murmelt ein Mann, «heute war was los, das Fest ist total gelungen», und er hängt sich schon ziemlich müde an seine Frau. Reino hilft noch, die Waffen in die Kammer zu tragen, und dann fahren auch wir hinauf. Das Licht am Vorplatz ist erloschen. «Ich hätte heute gern bei dir im Zimmer geschlafen, aber wenn du eine wehe Hand hast», sagt Kitty und macht ein trauriges Gesicht. «Wie, was ist mit der Hand?» fragt Bille, die ihr Haar aufgemacht hat und jetzt wieder ganz die alte ist. «Sie hat einen Augenblick gestochen, aber jetzt hat sie sich wieder beruhigt. Ich muß mich im Kampfgetümmel gestoßen haben», berichte ich kurz, um den langen Besorgnisvorkehrungen meiner Gastgeber zu entkommen. Aber es gelingt mir nicht ganz, Reino sowie Bille sind dafür, daß ich, wenn nicht gleich, so doch morgen zu Dr. Karlmann gehen soll. «Geh zum Arzt. Anders kannst du das nicht verantworten», meint Bille fast streng und greift mir ein wenig am Arm herum. Wenn ich an die erschrockenen Augen von Dr. Karlmann denke, sticht es mich gleich wieder. Stechende Schmerzen bedeuten meist einen Knochenbruch, aber ich kann nicht recht glauben, daß da etwas gebrochen sein [401] soll.
Ich winke Kitty kurz zu, die mit ihren Leuten verschwindet. In der Wohnung legt mir Bille den Arm nach dem Ausziehen in eine Schlinge. Sie ist nicht ungeschickt. «So ein Fest, daß das gerade heute passieren mußte», bedauert Reino und läßt sich neben mich in die Wohnzimmerpolster fallen. «Aber findest du nicht, Bille», erregt er sich trotz der allgemeinen Müdigkeit noch einmal, «ich meine, daß uns das irgendwie unheimlich verbunden hat. Mir ist, als sei sie immer schon bei uns gewesen, als würden wir zusammengehören.» Bille fährt sich durchs Haar, sagt aber nichts, sondern schaut mein weißes Kleid an, das einige Flecken aufweist. Ich höre gern, wenn sich jemand mit mir verbunden fühlt, aber irgend etwas an Reinos Worten stört mich, er stellt gar nicht in Betracht, daß ich vielleicht anders darüber denken könnte oder daß ich vielleicht etwas hätte, wozu ich allein sein wollte, er sieht mich, wie er sich selbst sieht, und das kann ich ihm ja nicht verübeln, aber das ist mir nicht genug. «Mein Gewand ist auch ganz zerknautscht», meint Bille, und zieht ihren Anzug aus. «Was soll ich dir denn für morgen richten?» «Bitte, wieder meine eigenen Sachen», entscheide ich. Ich denke an meine alte Hose wie an eine kleine Heimat. Bille schaut mich groß an und zuckt die Achseln. «Es ist alles sauber hier am Haken. Ich habe auch ein schönes Tuch dazugehängt, wenn du es willst.» In demselben Tonfall meint sie noch: «Heute nacht werd ich dir aber doch eine Pille geben, vielleicht etwas Schmerzstillendes, falls der Arm sich in der Nacht meldet.» «Nein, laß bitte, ich möchte ja spüren, ob er weh tut oder nicht.» «Aber zum Arzt gehst du auf jeden Fall, das mußt du versprechen», wendet jetzt Reino wieder ein. «Ich glaube, ich lege mich jetzt hin», beende ich die Pflichtvorstellung. Ich grüße noch kurz mit der heilen Hand und drücke die Tür hinter mir zu. Ich habe gesehen, wie Bille nachkommen wollte, aber Reino hat ihr abgewinkt, so als würde er irgend etwas verstehen. Draußen vor dem Haus ist es wieder dunkel, aber ich stehe am Fenster, als würden in der Schwärze die aufregendsten Farben vor meinem Blick tanzen, als würde sich in der Blindheit das Leben abspielen und keiner schaffte es, blind zu werden, weil blind sein nicht gesund sein soll. In der Finsternis ist die Wirklichkeit zu Hause, dort spielt sich das Leben ab, dort gehöre ich hin, dorthin geht meine [402] Sehnsucht. Die größten Gefahren werden hinter diesen Fenstern zu einem willkommenen Schauspiel gegen dieses Abbild einer verschwommenen Möglichkeit, zu atmen hier drinnen. Mein Arm sticht wieder im Ellbogen, zur Achsel hinauf. Ich halte ihn an mich. Immer muß es der Rechte sein. Aber er hält das schon aus, der Gute. Ich habe einen schlechten Geschmack im Mund, so abgestanden nach Alkohol, Rauch und Essen, ich putze mir mit der linken Hand die Zähne und wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Ich nehme meinen Arm vorsichtig aus der Schlinge und prüfe, wie weit er noch zu gebrauchen ist. Am Ellbogen schwillt er ein wenig an, aber es ist nicht sehr schlimm, gebrochen ist er jedenfalls nicht. Diese Diagnose stelle ich mir. Ich gebe ihn aber doch vorsichtshalber wieder in die Schlinge und lege mich hin. Die Dunkelheit im Raum tut mir gut. Meine Beine sind schwer, mein ganzer Körper sinkt in die weiche Matratze, und ich selbst schlafe ein wie ein Klotz, ohne Gedanken und ohne Träume. Mein Arm schläft ruhig mit. Am Morgen merke ich, daß ich ihn instinktiv gut gehalten haben muß, weil er sich in derselben schonenden Lage befindet. Meine Augen sind verklebt, und mein Kopf ist schwer, im Magen ist es säuerlich, und sehr ausgeschlafen fühle ich mich nicht, aber zum Schlafen habe ich auch keinen Anlaß mehr. Ich bin unruhig. Der Arm läßt sich bewegen, ist am Ellbogen noch dicker geworden, aber er schmerzt nicht sehr.
Draußen rührt sich noch nichts. Vielleicht erregt mich so, daß ich nun meine Hose und das Hemd wieder anziehen kann. Sauber und duftend sind die Kleidungsstücke. Die beiden Gastgeber schlafen noch, ich wasche mich flüchtig, dann stehe ich fertig da, noch immer die Hand in der Schlinge, und überlege kurz, ob ich nicht einfach abhauen sollte, aber diese Idee kommt mir in ihrer Überstürztheit noch etwas rauschhaft vor. Ich zwinge mich zur Ruhe und setze mich mittten in den Wohnraum auf den weichen Teppich. Hier ist es so gemütlich, daß ich mich wirklich nicht beklagen kann, allein fände ich es hier auch zum Aushalten. Ich würde unter Umständen auch Adolf behalten. Mit dem Essen im Keller würde ich schon fertig werden. Irgendwann einmal, in einigen Jahrhunderten, ich würde fertig werden damit und auch mit den Getränken, auch mit all den Kleidern, mit den Möbeln und dem Luxus, auch mit dem ganzen [403] Grabmal da über oder unter mir. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es machen soll, aufessen oder vernichten, vergessen oder verlassen, es ist gar nicht so einfach, diese Gefängnisstäbe aus Zucker zu brechen. Zucker ist nicht zum Zerbrechen da, sondern zum Genießen. Ich hole mir ein Glas Orangensaft aus dem Kühlfach, als Bille aus dem Schlafgemach kommt. Ich habe gar nicht gern, wenn sie sieht, wie ich mich hier schon wohl fühle und auskenne. Sie schaut heute ein wenig zerquetscht aus den Augen. Ich habe sie noch nie ohne Make-up zu Gesicht bekommen. Der Unterschied ist gar nicht so groß, aber doch ein Anblick tiefer hinein in sie. Es muß sich um eine ganze Dimension handeln. So als sei Bille nackt und müßte sich rasch anziehen. Bevor sie sich noch die Gelegenheit zum Schämen gibt, dreht sie sich wieder um und ruft zurück: «Ich mache mich nur rasch fertig, ich konnte ja nicht wissen, daß du schon auf bist.» Schöne Geschichte, wenn sich meine Gastgeber jetzt nach mir richten müssen, wann sie sich schämen dürfen. Daß ich so wichtig bin, das ist mir eine Last. Da trüge ich lieber auch noch die linke Hand in der Schlinge. Ich tröste mich mit meinem Saft, ich hätte ihn lieber im geheimen getrunken. Er ist ganz gelb. «Also, meine Liebe», kommt Reino noch im Schlafrock auf mich zugerauscht, «was macht der Arm, laß einmal sehen.» Er faßt mich ganz ungeniert an, und ich ziehe meinen Arm zurück. Ich lasse mich von jedermann anfassen, aber nicht, wenn er dazu meine Schmerzen zum Vorwand braucht. Reino war doch am Anfang ein recht gemütlicher Mensch, außer daß er gern geklagt hat. Mein Zurückziehen führt er auf Schmerzen zurück und teilt mich ohne die geringste Frage zum Doktor ein: «Ich rufe jetzt den Karlmann an und sage, daß du innerhalb der nächsten Stunde bei ihm sein wirst.» Ich kann noch ein kleines Frühstück nehmen und werde dann an der Tür der kleinen Klinik abgesetzt. Erstaunlicherweise darf ich allein hineingehen. Ich könnte nicht einmal türmen, weil ich meine Flöte oben gelassen habe. Ich betrete einen kleinen Vorraum mit einem Fenster und schaue hinunter auf die Trümmer, keine Toten, kein Roß, und auch die Leiter ist nicht mehr zu sehen. Hinter den Häuserresten dehnt sich die Landschaft hin. Weit kann ich das Land überblicken. Es ist nicht mehr [404] so frisch und saftig, es ist satt und reif. Im Anblick dieses Bildes beruhigt sich meine Seele, und ich kehre zurück in meine Einfachheit, die nichts braucht, um bei sich zu sein. Außer den Wechsel. Daß hier nicht mehr Patienten sind? Bille tut so, als ginge sie mindestens jeden zweiten Tag hierher. Eine Tür springt auf.
«Bitte, nur herein, ich habe schon gerechnet mit Ihnen», sagt der Doktor in undeutlichem, raschem Ton und kommt mir mit einer kleinen Verbeugung entgegen. Wieder sieht er mich nicht an, sondern flackert mit seinem Blick um meine Augen herum. Er hat aufffallend blonde Wimpern. Auch seine Haare sind sehr hell, vorn fehlen sie schon, hinten hängen sie lang und dünn in den Kragen. Wenn ich nur einen Blick unter diese borstigen Wimpern erhaschen könnte. Ich merke, daß sich der Arzt, auch nachdem er mir die kalte Hand gereicht hat, nicht ganz aufrichtet, wenngleich er nicht verbaut wirkt. Er geht ganz in Weiß, in einem durchgehenden Leinenanzug, um die Mitte einen Gürtel. Das Kleidungsstück könnte ungemein flott sein, aber das ist Herr Dr. Karlmann nicht. Er ist sehr glatt rasiert. Man versinkt hier nicht in den Möbeln. Wenn ich auch so weit entfernt und klein aussehe für den Arzt wie er für mich, so wird er meinen Arm nicht gut untersuchen können. Eine Tür geht auf, und seine Assistentin fragt: «Herr Diederich möchte wissen, wann es recht ist?» «Jetzt habe ich zu tun. Wir werden den Herrn Diederich verständigen, wenn es soweit ist», befiehlt er, wieder in diesem raschen Tonfall, aber ich verstehe ihn jetzt schon besser. Seine Artikulation steht mit seiner Atmung in einem Verhältnis, das man nicht eigentlich als unvereinbar bezeichnen kann, aber doch als etwas sonderbar. Gestern bei dem Überfall, in diesem erschrockenen Blick, müssen doch diese Wimpern auch irgendwo gewesen sein. Da hatten sie seine Augen freigegeben. Rasch wendet er sich mir zu, allerdings mit verhangenem Blick, und greift sich an die Stirnglatze. «Sie müssen mir vertrauen. Ich habe alle Medikamente. Aber erfahrungsgemäß sind so viele Mittel gar nicht notwendig. Drogen sind Mittelsmänner von mir zu ihnen, unser Verhältnis soll keine Notdurft sein, sondern ein freiwilliger Kontakt.» Er macht eine Pause nach seinem Wortschwall, den ich instinktiv [405] verstehe, aber der mir zu aufwendig für mein Leiden erscheint. Er nimmt die Hand von der Stirn und spricht weiter in einem Tonfall von Routine und Unbeteiligtheit, aber auch fast wie in Meditation, abwesend und aus einem anderen Raum heraus wiederum anwesend. Es hängt etwas nervös Religiöses an ihm, und ein wenig hat seine Blickverhangenheit mit der unverschämten Distanz eines Beichtvaters, den umwerfendsten Sünden gegenüber, zu tun. «Man muß herausfinden, was der Grund für die individuelle Heilungssehnsucht ist. Der Wunsch ist es nicht, der macht nicht krank, die Sehnsucht ist das Leiden. An sich ist niemand krank und auch nicht gesund. Die Unterordnung, die Anpassung macht erst krank, die Norm macht krank, nicht der Wahnsinn ist der Richter. Man selbst ist es.» Er taucht wieder auf aus seiner Besinnung. Ich rege etwas meinen Arm, ich richte ihn in der Schlinge zurecht, ich versuche ihn ins Feld der Aufmerksamkeit zu rücken. Reino wird doch wohl gesagt haben, worum es geht. Oder vielleicht weiß der Doktor gar nicht, daß ich nicht aus dem Wolkenkratzer, sondern von woanders herkomme. Ich möchte ihn nicht fragen. Ein großes Bett mit einer Genickrolle steht hinter dem tiefen Polsterstuhl des Arztes. Daneben sind Bücherwände sowie ein Medikamentenschrank über die ganze Front hin und davor ein durchsichtiges großes Menschenmodell, welches besonders das Gehirn fein, in vielfach übereinanderlaufenden Streben strukturiert, zeigt. Ein schönes, edles, glänzendes Ding, daneben noch ein Glaskasten mit medizinischen Geräten, dann eine Glastür, die den Blick auf ein Labor freigibt. Die Tür, welche von der Frau geöffnet wurde, und die Eingangstür sind hinter mir. Es ist für eine kurze Zeit still zwischen uns, aber nicht vertrauenerweckend ruhig, mir ist, als würde der Arzt mich von unten her durch die Wimpern hindurch beobachten, als wolle er prüfen, wie ich auf seine Ausführungen reagiere. Ich glaube, es beunruhigt ihn,
daß ich nichts sage. Zwischen uns lauert etwas Unbestimmbares. Er lehnt sich vor, um mir wenigstens so näher zu kommen und rattert: «Meine Liebe, ich weiß alles!» Dann lehnt er sich noch weiter vor, und da treffen mich mit einemmal seine Augen mit einem geweiteten, ausgewaschenen Blick, ähnlich wie gestern bei dem Angriff, und er sagt, diesmal etwas langsamer: «Und wissen Sie, worüber ich am meisten weiß?» [406] Ich bin ganz Ohr und vergesse meinen Arm. «Über mich!» Ich schaue in die schwimmenden Augen, und mir zerläuft der Zusammenhang, während ich da hineinsehe, ob er nun sich selbst gemeint hat oder vielleicht mich. Ich beginne auch, leicht zu rätseln, ob ich hier überhaupt in die richtige Tür gegangen bin, aber das ist der Doktor, ohne Zweifel, das muß ein Arzt sein. «Und wissen Sie, was mir das alles nützt?» Während dieser Worte lehnt er sich wieder zurück und sein Wimpernvorhang senkt sich. «Gar nichts!» Er versinkt so verzweifelt in seinem Stuhl, und ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Position zu einem raffinierten Heilungsspiel für mich vorgegeben sein soll, sie scheint so echt, er wirkt wie am Boden zerstört. Er nimmt jetzt mein Interesse ganz in Anspruch, und ich sehe mich genötigt zu fragen: «Was haben Sie denn?» «Mich, meine Liebe, mich», murmelt er fast unverständlich. Er stößt mich jetzt gar nicht mehr so ab, seine Lippen haben etwas Weiches angenommen, da, wo sie mir vorher als Mund gar nicht zu Bewußtsein gekommen sind. Er reißt sich aber wieder hoch, als würde ihm seine verrückte Lage, in der er sich als Arzt befindet, auffallen. Im großen Stuhl ist er immer noch klein und verloren. Er scheint mich unter den Wimpern wieder zu beobachten, und wieder ist dieses Lauern zu verspüren. «Jetzt werde ich mich aber um Ihren Arm kümmern müssen. Legen Sie sich bitte auf das Bett.» Während ich seinem Wunsch Folge leiste, spricht er wieder schnell: «Ich praktiziere das immer so, der Patient kann nur über die Probleme des Arztes geheilt werden.» Er setzt sich nahe zu mir auf einen etwas erhöhten, drehbaren Stuhl und sieht mich jetzt von oben her an, aber wieder kann ich nicht hinter diese Lider sehen. «Glauben Sie, daß Sie verrückt sind?» fragt er mich, so als wolle er mich mit dieser Frage überfallen. Ich sehe ihn groß an und greife dann wieder als leichte Gedächtnisstütze, falls er überhaupt darüber Bescheid wissen sollte, an meinen Arm. Er muß doch die Schlinge sehen, das muß ihm doch wenigstens auffallen als Arzt. [407] «Ich bin es, meine Liebe, ich bin es», verharrt er weiterhin in seinem Problem. «Ja, das sehe ich», kommt es ehrlich und wohlgemeint über meine Lippen. Da reißt der Mann wieder die Augen auf, blickt mich an, wird ganz erregt und fragt mich fast voll Freude in der Stimme: «Wie - was sehen Sie da - was - das mußt du mir sagen!» Er faßt an meinen wehen Arm, aber nicht um ihn zu heilen, sondern wie in bittendem Vertrauen: «Drücke dich aus, das hilft wenigstens, du hast es auch bei dem Computer zustande gebracht, sag es mir!» sagt er hastig.
Wem das wohl helfen kann, ich merke schon, wie der Hase läuft. Der Computer hat mich nicht so hergenommen wie dieser Mann. Jetzt legt er mir auch noch die Hand aufs Gesicht. Eine kalte Hand und glatt. Ob mich Reino und Bille absichtlich hier eingeschleust haben? «Gib deine Krankheit an mich ab, an meine Hand ab», spricht er monoton, verweilt kurz und nimmt sie dann wieder langsam weg. Ich lasse die Augen geschlossen. «So ist es recht. Laß die Worte einziehen. Ich kann heilen», kommt es von ihm in einem tiefen, gleichmäßigen Tonfall, er kippt dann aber unvermutet wieder in sein schnelles, unruhiges Sprechen, rückt auf dem Stuhl herum, ergreift wieder meinen wehen Arm wie einen Rettungsring und stößt hervor: «Das ist es ja, ich kann alles heilen, aber das ist meine Krankheit. Ich weiß alles, ich habe alles erforscht, ich weiß genau Bescheid über die Funktion meines Gehirns, über die Funktion der einzelnen Schichten, über das Unbewußte, aber ich kann diese Erkenntnisse alle nicht benützen, weil ich verloren habe, einfach verloren, ohne Problem zu leben. Alles, was ich neuerlich herausforsche, ist mir ein neu zu heilendes Feld. Ich müßte für mich dauernd neue Mittel und Drogen erfinden, weil ich immer neue Bereiche finde, die nach Heilung verlangen. Ich kann meine Gesundheit nicht ertragen», bricht er nach seiner Erregung wieder ab und läßt meinen Arm endlich los. Der kann wirklich nicht sehr beschädigt sein, ich spüre weder ein Stechen, noch schmerzt er bei der Berührung. Einmal hat mich der Arzt sogar ziemlich stark gedrückt in seiner Verzweiflung, aber es tat kaum weh. [408] «Das Problematisieren ist ein Inhalt selbst geworden, das stärkste von allen Mitteln, sich innerhalb des Lebens lebendig zu fühlen, als leidende Existenz, aber wenigstens als eine Art von Leben», spinnt er weiter. «Alles was ich neu entdecke, ist im Grunde zu nichts nütze. Das Zusammenspiel der Bereiche ist unberechenbar, weil es keine Bedeutung hat, weil es kein Zusammenspiel sucht, um etwas zu erreichen. So kann ich aber nicht leben. Meine Kenntnisse verwirren mich immer mehr, je mehr ich ihre Bedeutungslosigkeit erkennen muß. Das, was mich so leidend macht, ist mein Gehirn, das, gerade das ist ein Organ, das mir überhaupt nichts Böses will, es hat nicht das geringste Interesse, es mir schwer zu machen, mich krank zu machen, wovon ich mich heilen könnte. Dieser Gegner ist überhaupt kein Feind, mit dem man spielen könnte, den läßt alles kalt, der geht total an mir vorbei», regt er sich auf. «Das schmerzt, meine Liebe, «das schmerzt, dieses Übergangenwerden von meiner obersten Instanz, ich bin verloren, ich habe mein Vertrauen verloren», dabei senkt er die Stimme immer weiter ab, bis er still dasitzt. «Soviel wissen», grundelt er in unteren Tonlagen herum, «soviel wissen, ich bin unfrei geworden, in eine gefährliche Abhängigkeit geraten», erregt er sich wieder, «abhängig von meiner eigenen Kontrollinstanz, die zu nichts nütze ist, weil das Kontrollieren und Wissen nichts bedeutet, weil ich nicht mehr von meinem zwanghaften Fragen loskommen kann, ob es verrückt macht.» Er springt auf und ist mit einem tierartigen Satz bei dem Menschengerüst. «Ein leeres Gerippe zeigt sich hinter meinen Theorien, es ist alles so transparent geworden, so ungeheuer durchsichtig. Ich kann alles heilen, aber ich kann mich nicht heilen von meiner Angst davor, daß die Angst unbedeutend sein könnte. Mit der Angst und mit der vorübergehenden Beruhigung arbeite ich bei meinen Patienten mit Erfolg, aber bei mir wirkt sie nicht, ich kenne sie zu genau, als daß ich ihr eine Bedeutung geben könnte. Ich kann sie aber auch nicht loswerden, ich kann sie nicht mehr auslassen.» Er steht jetzt neben seinem Gerippe wie ein geprügelter Hund. Ich setze mich endgültig auf und will diesem Spiel ein Ende machen. «Und da kannst du keine Droge dagegen entwickeln?» frage ich spöttisch. Ich könnte
ihm erzählen von der Sally, die in der Badewanne [409] verblutet ist, oder von Tom, oder meinem Begleiter mit den Hosenträgern, oder von Rosto, oder von «Eins», oder von Urga, oder von all denen, die im Sanatorium leicht das Leben aus der Hand geben. Weiß denn der Mann überhaupt nicht, was in diesem Land läuft, ich, die ich hier eine Fremde bin, ich soll ihm das sagen, aber ich spüre, er will das nicht hören, er kann überhaupt nicht hören. Auf meine Frage mit der Droge braust er auf: «Das ist es ja, das Erfinden der Drogen macht mich ja so verrückt. Ich kann keine Droge gegen die Zeit finden, weil ich sie brauche, um mich kontrollieren zu können. Ich würde auch als Toter noch finden müssen, ich habe überhaupt kein Ende, ich kann nie ruhen, ich kann nie sterben als meine menschliche Persönlichkeit.» Er wird wieder ruhiger und setzt sich zurück auf seinen Drehstuhl. «Davor graut mir, daß das Leben ohne Bedeutung sein könnte für die Medizin, für mich, der das Leben heilen will von seinem Ableben. Ich bin wehrlos, ich darf mich nie ergeben, mein Wissen erlaubt mir die Ergebung nicht, ich bin ein Gefangener.» Sehr peinlich, vielleicht kann ich ihn doch noch mit meiner Hand aufrichten. Ich weise jetzt nochmals auffallend auf meinen Grund zu diesem Besuch hin, indem ich die Schlinge entferne und meinen Arm dem Arzt ganz einfach unter die Nase halte. «Ach so», meint er wie beiläufig, nimmt mich kurz am Gelenk, dreht ein wenig, macht eine Beugebewegung mit meinem Arm, und meint dann: «Ach, das wird schon wieder, da ist nichts Arges dran.» Ich schlüpfe wieder in meine Schlinge zurück. Es scheinen alle hier im Haus ziemlich eingemauert in den Wänden der Existenz zu sein. Das Essen ist wohl ein starker Kleister in den Zwischenwänden. Die Assistentin sieht wieder vorsichtig bei der Tür herein und will zu ihrer Frage ansetzen. Der Doktor brüllt: «Raus!» Gleich darauf schreit er noch lauter: «Rein! - Was soll das! Ich habe zu tun, ich habe keine Zeit! Es ist zu spät!» In demselben blindwütigen Tonfall wendet er sich jetzt an mich. Er reißt die Augen nun zu schwellender Nacktheit auf: «Was hast du da in den Computer eingegeben, wieso kommst du darauf, wieso hast du dich das getraut, wie hast du das herausgefunden?!» Er erhebt sich wie ein Affe in einem weißen Anzug, steht drohend gekrümmt vor mir, während ich instinktiv von dem Bett herunterrutsche. [410] Als er sich auf mich stürzen will, husche ich geschickt an seiner Seite vorbei und flüchte zur Tür, durch die ich hereingekommen bin. Von der Seite kann ich noch erkennen, wie er eine zackige, monsterartig aufgezogene Bewegung nach mir macht, wie einen blinden Griff, und dann über seinen Drehstuhl stolpert. Ich schlage die Tür hinter mir zu und will durch den kleinen Raum hinaus auf den Gang. Da schaut die Frau bei einer anderen Tür heraus und macht eine beruhigende Handbewegung zu mir, so als sollte ich mich nicht ängstigen und nicht zuviel darüber nachdenken. Ich springe auf den Trittkontakt, und die Schiebetür saust auf. Ich laufe ein paar Treppen hinunter. Ich merke, daß er mir nicht folgt, nichts rührt sich, und ich verlangsame mein Tempo. Der Anblick des Stiegenhauses ist mir vertraut, und ich kriege meine Panik einigermaßen in den Griff. Ich will nichts wie weg, aber ich möchte auf jeden Fall meine Flöte noch mitnehmen. Mir ist, als hätte ich ihr gegenüber eine Verpflichtung, sie aus diesem verrückten Haus hinauszutragen. Wenn der Doktor aber dort oben angerufen hat, wenn die unter einer Decke stecken? Ich riskiere es. Ich steige weiter hinunter, bis zur nächsten Aufzugstür. Ich fahre hinauf. Bille öffnet. Ich gehe schnurstracks in mein Zimmer und hole das Instrument.
«Was ist, was hast du denn mit einemmal», läuft Bille jammernd hinter mir her. «Der ist ja verrückt», gebe ich kurz von mir. «Ich weiß, ja, ich weiß», gibt sie kleinlaut zu. «Und da schickst du mich hin?» «Wir müssen, wir müssen alle, wir haben da keine andere Wahl!» schreit Bille auf einmal genauso verrückt wie der Arzt und macht auch eine affenartige Imponiergeste, wie um mich zurückzuhalten, doch da bin ich schon bei der Tür draußen. Hinter mir drängt ein böser Traum. Ich will weg, ich muß da auf dem schnellsten Weg hinunter. Ich rase zum Aufzug, ich steige ein, die Tür schließt sich so langsam hinter mir, viel zu langsam für mich, ich drücke auf Parterre und fahre los. Ich bin mir in dieser Maschine noch nie so ausgeliefert vorgekommen. Ich hätte doch laufen sollen. Wenn sie mich fangen wollten, könnten sie sicher den Fahrstuhl abstellen und mitten im Schacht stehenlassen, ich will, daß es schneller gehen soll, viel schneller, ich möchte aus diesem ungeheuerlichen Turm [411] hinaus, ich möchte nichts wie weg. Unten angekommen, schwinge ich das Eingangstor auf, und hinunter die paar Marmortreppen, hinein in das Trümmerfeld. Ich habe das Gefühl, als folgten mir vierzig Klammeraffen mit entnervendem Grunzen, verfaultes Essen zwischen den Zähnen herausspuckend. Ich spüre wieder den Kies unter mir, es knirscht, ich fühle meine Kraft in den Beinen, ich sehe mich rasch um, niemand folgt mir, niemand schießt, aber der riesige Wolkenkratzer steht da. Ich halte nicht ein, ich laufe weiter, auf einem offenen Schotterfeld, ich fühle mich frei. Ich gehe über in einen leichten Lauf, so als hätte ich mich atmend noch einmal geboren, indem ich mich vor dieser Art von Leben gerettet habe. Ich achte auf meinen Atem. Ich kann ihn regelmäßig locker lassen. Ich kann ihn beobachten, während ich ihn vergesse. Ich bewege mich auf eine baumlose, steppenartige Heide zu, hinter der wieder die Hügel ansteigen. Ich habe den Arm schon lange aus der Schlinge befreit, er schwingt locker angewinkelt an meiner Seite, ich halte meine Flöte fest in der Hand. Der Lauf saugt jede Vernunft aus meinem Körper, ich laufe, sonst tue ich nichts, ich vergesse, ich laufe wie von selbst. Einmal ist mir, als könnte ich nicht weiter, aber nur einen Augenblick der Überwindung kostet es, eine Wendung über einen schier unüberwindlichen Hemmungsberg, aber rasch ist der genommen, wie durch Zufall übersprungen, und weiter geht es in neuerlicher Frische in dem beherrschenden Unbewußten, mich überwunden zu haben für nichts, einfach für nichts. Mir leuchtet diese Sinnlosigkeit wie ein verlorenes Herz weit vor mir, da irgendwo bei den Bergen. Ich laufe nicht weg, ich laufe zurück, wohin immer ich mich wende. Lange bevor ich zusammenbrechen könnte, bleibe ich stehen, langsam und freiwillig stehen. Ich sehe um mich, in meinem Hirn rauschen alle Wasser und Winde, alles Atmen der Menschen, das ewige Sausen. Meine Haut prickelt, jede Pore eine eigene Lunge, ich atme tief, vor meinen Augen ist die Landschaft wie hingemalt, wie neu belebt, wie jetzt, eben jetzt erst zu Leben gehaucht, es flimmert mir vorm Hirn, es ist alles in Bewegung und doch so unverrückbar still. Ich setze mich ins hohe gelbliche Gras, büschelartige Binsen stehen um mich herum. Jetzt erst ringe ich nach Luft, und der Speichel steht [412] mir am Gaumen. In mir schlägt eine Erregung. Der Wolkenkratzer liegt schon weit entfernt, ein wenig von einem Bergfuß verdeckt. Etwas baumelt um meinen Hals. Ein schönes Tuch hat Bille mir da gegeben, ich werde das aufheben. Jetzt, wo das Blut so durch meine Adern rast, spüre ich die Geschwulst im Ellbogen schlagen, es trommelt da drinnen, aber es tut nicht eigentlich weh.
Ich lege mich auf den Rücken und schließe die Augen. Es flimmert bunt. Bin ich einem bösen Traum entkommen? Wo fangen denn meine Träume an. Mir ist das Leben bei Bärle oder der Tag beim Einsiedler, mir ist alles schon so viel wie ein Traum, selbst Sam ist ein Traum, und ich bin ein Traum. Mir ist, als sei ich schon ein ganzes Leben lang auf dem Weg, und mir ist fast so, als sei ich ein ganzes Leben lang so gelaufen wie jetzt. Es ist mir eigentlich keine richtige Frage mehr, was vorher war, vorher, bevor ich mich erinnern kann. Ich habe kein besonderes Vertrauen zu meiner Erinnerung, auch sie steigt empor wie ein Traum, und dieser ist mir eine Wirklichkeit, aber keine Wichtigkeit. Vorher war ich vielleicht gar nicht ich, bevor ich in dieses Land gekommen bin. Oder noch vorher? Kein Ich? Ich könnte nicht sagen, daß ich jetzt ein Ich bin. Was sollte ich damit anfangen, hier in dieser Steppe. Ich setze mich auf. Mein Atem hat sich ganz beruhigt. Ob Kitty sich auf den Weg gemacht hat? Ich stehe wieder auf und schlendere weiter. Viele Steine liegen hier herum, größere, abgeschliffene, es kann sich nicht mehr um Mauerreste handeln, hier ist keine Siedlung mehr gewesen, wild wachsen die Grasbüschel aus der Erde. Der Boden ist hart und krustig. Eine Hirnlandschaft ist mir das, hin bis zu den Hügeln, die dort grün und weiter entfernt in bläulichem Licht aufsteigen, teilweise mit dunklen Waldstreifen gemasert. Hier ist eine Ebene, eine, deren Ausmaß man schwer abschätzen kann. Ich habe keine Ahnung, ob es weit bis zu den Hügeln ist, diese Fläche kann sich lang hinziehen, die Abstände unterliegen den menschlichen Maßschätzungen nicht. Hier trügt die Entfernung, hier ist die Zeit kein Maß. Hier bin ich selbst niemand. Ein Rascheln in den Binsen. Die Mäuse und das Kleingetier hausen da, die, welche man nicht leicht zu Gesicht bekommen kann, weil sie so flink sind und so erdfarben. Hier ist niemand zu Hause, hier ist keine Zeit zu Hause, hier muß ich meine Richtigkeit und meine Zeit selbst bestimmen. Nur für [413] mich, aber sie hat keine Bedeutung, hier auf diesem Feld. Trostlos, wenn ich eine gebraucht hätte. Jetzt erst geht mir auf, daß ich noch nie eine gefunden habe und auch gar nicht wüßte, was ich an mir trösten sollte. Meine Existenz - wer tröstet mich, daß ich auf der Welt zu sein scheine? Die Vögel kreischen da und dort, sie krächzen hier in einem harten Gesang. Mein Schlendern ist in einen regelmäßigen, monotonen Gang gewechselt. Wie von selbst ziehe ich dahin. Mich belebt nichts. Ich lebe gar nicht, ich muß mich doch etwas ausgeschöpft haben bei meinem Laufen. Ich habe Durst, in der Kehle klebt es. Bis zu den Hügeln möchte ich noch kommen. Was mich treibt? Ich habe dort nichts zu erwarten, mich erwartet dort niemand außer meine Erwartung. Ob ich mit der Erwartung noch lange leben kann? Sie zeichnet meinen Weg, ich weiß, auch wenn ich Durst habe, daß ich auf dem rechten Weg bin, ich fühle das mitten in der Steppe, es ist mein einziger Weg, auf dem ich die Zeit verloren habe. Ob ich auch mich verlieren möchte, ich wüßte nicht, was ich an mir hätte, außer mein Leben. Mein Hirn beginnt unter der Sonne zu kreisen, und ich versuche es rinnen zu lassen, aber es hakt immer wieder ein. Ich muß schon viele Stunden gegangen sein. Mir fehlt das Maß. Ich denke an die Köstlichkeiten im Hochhaus. Die Landschaft geht in mich über, zieht ein in mich, ganz herankommend, während ich stillzustehen scheine, ein automatisches Ziehen, so als würde sie in mich hineinfließen wie ein Band und hinter mir würde alles abbrechen, einfach aus sein. Weiter und weiter. Würde ich mein Gehirn nicht so kennen, so ausgelaugt und ermüdet, ich müßte in Sorge über seine Funktionstüchtigkeit geraten, aber ich kenne es, mein Weg führt schon lange genug durch dieses Land, ich weiß, daß die Essenz aller Genüsse in die-
ser Kargheit liegt, und ich weiß, daß ich mich danach gesehnt habe. Nur ist der eigentliche Durchzug immer schärfer als die Vorstellung, um eine Schicht nackter, um eine Klinge schärfer, um eine Kehle trockener, um einen Herzschlag näher dem Tod. Man ist ihm nahe, ich fühle seine Nähe stark, aber die hat mit der Zeit nichts zu schaffen. Hier lebt er, gerade hier in diesen Zonen, da steht er mir nahe, so nahe wie mein Leben selbst. Der Übergang ist es, ich bin am Übergang von der Steppe in die Berge, aber solange ich nicht dort bin, solange es mich noch hinzieht, bin ich nicht tot. Noch zieht es mich, noch möchte ich [414] etwas erreichen, und wenn es die Hügel sind, nur die Hügel noch, denn ich fürchte den Schmerz, ich fürchte den Zusammenbruch, mir graut vor dem rohen Fleisch meiner Organe, meiner Fasern, meines schlagenden Herzens, das nur aus diesem nebulosen, luftartigen Pochen besteht, das ein leerer Lappen wäre, wenn es nicht mehr pumpen könnte. Wie es das so tut, ich schaffe das gar nicht, ich mache gar nichts, und es schlägt, eine ungeheuerliche Vorstellung vom Leben, das nur aus diesem Pochen bestehen soll und sonst nichts, ohne Bedeutung, ohne Ziel, einfach ein Pochen, ein Pumpen, ich spüre es jetzt so stark, es schlägt bis ins Hirn hinauf, dort hängt es, daß ich es nicht loslassen kann, das Pochen. Soviel Angst um mich, Gefäß für das leere Schlagen. Die Angst muß meine Pumpe sein, meine Energie muß eine Angst sein, mein Schlagen muß ich sein. Wild ist es geworden in meinem Herzen, wild, am Leben verwildert zu einer neuen Heimat hinein in ein totes Leben. Alles ist möglich geworden. Jetzt ist alles möglich, jeder Traum ist eine Wirklichkeit, und jedes Vergessen eine Lösung, aber noch stehe ich nicht da, immer noch zieht es mich hin zu den Hügeln, mein Wollen ist sanfter geworden, ich kann verweilen im Zwischenraum, ich hänge immer im Zwischenraum, ich kann verweilen in der Angst, sie gehört zu mir, ich bin es. Mehr Zeit für nichts. Die Jagd ist besinnlicher geworden, aber treffsicherer fliegt mein Pfeil. Es ist nicht mehr so viel Aufwand und Verwirrung vonnöten, wenngleich ich mich noch brauche, ich denke, ich will mich noch, auf diesem Weg, der sich immer schärfer herausbildet, aber sich immer mehr in seiner Bedeutung auflöst, verliert, während ich ihn gehe. Richtig heiß ist die Sonne nicht mehr, aber sie sticht wie mit langen Nadeln. Ich binde mir das Tuch von Bille um den Kopf als einen Turban, ich hätte schon früher daran denken sollen. Ein Vogel steht in der Luft und stößt in einem Fall herunter, in einen Busch hinein. Immer häufiger treffe ich jetzt auf diese stacheligen Büsche, auf denen kleine Kugeln sitzen wie Beeren. Sie riechen herb und eigenwillig, unnahbar, ich zerquetsche eine zwischen meinen Fingern und sauge den Duft ein. Wildnis der Gefühle, ein Geruch von Blut, bittere Natur, schöne Geschichte, ich habe schon ganz schön Kohldampf. Aber noch mehr Durst. Ich würde jetzt sogar Champagner trinken, [415] aus den Kellern des Wolkenkratzers, aber Wasser wäre mir noch lieber, und ich werde es finden. Dort vorn wird das Land wieder grün, dort muß Wasser sein. Die Ebene zieht dahin, und die Hügel erscheinen kaum näher gerückt. Ich habe das gewußt, aber ich habe es doch nicht erwartet. Ich muß schon über einen halben Tag gegangen sein. Ich kann es an der Sonne sehen, sie neigt sich über die zweite Hälfte. Aushalten ist keine Frage, wenn man es tun muß. Rechter Hand zieht sich eine Buschreihe mit einer Hecke hin, da sind auch mir bekannte Früchte. Ich glaube, Himbeeren oder Brombeeren an ihrem Wuchs zu erkennen, und ich lenke meine Schritte rascher dorthin, ich gehe schneller, und mit einemmal laufe ich wieder, so als seien die Beerenstauden das Ziel meines Lebens gewesen. So kurz ist mein Weg mit einemmal, ich atme auf in innerem Vertrauen auf meine Ahnung vom Leben und vom Tod, das sind Brombeerbüsche, noch etwas zu rötlich sind die Früchte, aber ich kann auch einige tiefschwarze entdecken. Zuerst esse ich sie gierig in mich hinein und trinke den Saft aus den von der Zunge zerquetschten Früchten, dann sammle ich noch welche in meine Hand, gehe weiter und esse gemächlich eine Beere nach der anderen. Ein ganzes Kühlhaus voller Nahrungsmittel, nur in dieser Hand. Mir steigt die Einfachheit des Überlebens wie ein Scherz in die Kehle, und ich wandere frohen Schrittes weiter.
Es ist kühler geworden, ich nehme meinen Turban wieder ab, ich mag es, wenn die Haare frei im Wind fliegen. Ich sehe zurück und bemerke, daß ich schon weit gezogen bin. Hinter mir eine schier unübersehbare Ebene, und vorn die Hügel, ganz nahe und frisch. Ich gehe aber ziemlich lange dieser Frische zu, die ich schon glaubte mit der Hand berühren zu können. Die Müdigkeit schleicht sich von den Fußsohlen her über die Knöchel in die Knie, und im Nacken hänge ich schon ein wenig. Meine Haltung sinkt langsam ein, meine Haltung meinem Unternehmen gegenüber - nur bis zum Waldstreifen, dort hinauf will ich noch, und dort buddle ich mich vielleicht ins Unterholz, ich könnte dort schlafen. Ich will nichts wie schlafen. Es rächt sich jetzt, daß ich gedacht habe, schon angelangt zu sein, jetzt schlägt die Hoffnung zurück. Hoffnungen schlagen immer zurück. Sie sind dazu da, um zu schlagen, aber ich brauche das anscheinend, wie ein müdes Roß. Ein fliegendes Pferd mit einem lahmen Flügel, ist das wenigstens noch ein Pferd? Der Saft der Beeren stößt mir bitter in die [416] Kehle auf. Das Kreischen eines Habichts in der Luft kratzt an mein Ohr. Wie, wenn ich dort nichts finde? Menschenskind, was tue ich hier eigentlich in diesem gottverlassenen Gebiet? Zum Stehenbleiben und zum Überlegen nehme ich mir aber jetzt keine Zeit mehr, denn es wird dunkler. Ich möchte unbedingt vor dem Einbruch der Finsternis unter den Bäumen sein. Ich wollte die Nacht nicht unter dem freien Himmel des Habichts verbringen. Mir schwebt eine einfache Frage als Zweifel im Kopf. Suche ich Menschen, oder suche ich, allein zu sein? Wohin soll das, was soll das? So beseelt war ich noch vor kurzer Zeit von meinem Gefühl für die Richtung, und jetzt weiß ich nicht einmal mehr, wie mein Bild von mir aussieht, weil ich es da irgendwo auf der Ebene verloren haben muß. Dennoch will ich mich auf mich besinnen, ich weiß, ich muß da irgendwo sein, weit kann ich von meiner Bestimmung nicht abgetrieben sein, es ist die Anstrengung, die Müdigkeit. Ich bleibe stehen und versuche den Blick zur Ruhe zu bringen, meinen Geist zusammmenzuhalten in dieser Erschöpfung. Ich glaube, auf der einen Seite des Berges, auf der unbewaldeten, ein Gebäude zu erkennen. Ich senke den Kopf, schließe die Augen, aber das Flimmern setzt sofort wieder ein. Wenn ich den Blick konzentrieren will, da zerläuft es mir vor den Augen. Ich muß weiter, ich muß schneller gehen, ich muß sehen, ob sich mein Sinn so täuschen kann. Ich überwinde noch einmal so einen Berg der scheinbaren Erschlaffung und setze noch einmal Frische zu, neues Blut und letzten Saft. Der Körper gehorcht, aber die Vernunft bleibt durchscheinend in meinem Sinn. Ich entschließe mich dazu, meinen Augen zu vertrauen. Das ist ein Haus, ein recht großes sogar. Es steht an den Abhang geschmiegt. Daneben kann ich einen klobigen, turmartigen Aufbau erkennen. Hinter dem Fuß des Berges auf der anderen Seite laufen einige Felder aus. Sie scheinen schon abgeerntet zu sein. Langsam sinkt ein Schleier über das Licht. Ich bin erregt in dieser Gedämpftheit, ich ziehe rasch auf den Hang zu. Säulen kann ich an dem Gebäude erkennen. Schon steigt der Weg an, das Steppengras und die Sträucher weichen zurück, Moos bedeckt wieder den Boden und Nadelbäume beginnen den schmalen Weg zu säumen. Den dichten Wald jedoch, den strebe ich jetzt nicht mehr an, [417] ich will dort hinüber an den kahlen Abhang, aber weil ich da keinen Weg erkennen kann, gehe ich schräg über eine steile, karge Wiese. Es tut richtig weh, die Knöchel dauernd seitlich zu belasten. Ein Reh schreckt vor mir hoch und läuft zu dem Wald hinüber. Ich bleibe stehen. Vor mir ruht das mächtige steinerne Gewölbe. Arkaden durchbrechen die Dunkelheit der Gebäudefassade, sie geben luftigen Freiraum, bilden Wandelgänge um die geschlossenen Räume im Inneren. Zwei Stockwerke hoch erhebt es sich, schon reichlich beschädigt an den kostbaren Säulenrippen, am Geländer, an den Mauerbogen und an den feinen Ornamenten, die unter den Arkadengängen zu erkennen sind. Es ist auch schon zu dunkel, um mehr auszunehmen. Die hintere Hälfte des Baues scheint auch in seinen Mauern schon verfallen, aber die vordere Seite steht da wie ein Fels, lautlos in sich geschlossen und
zugleich offen in den Säulenhallen. Blattwerk hängt dicht und schwer über die Brüstungen. Ich steige hinauf bis in den Innenhof. Ein großer kunstvoll gemeißelter Brunnen zieht mein Interesse auf sich. Auch er ist schon beschädigt, aber der Zinnkrug an seinem Rand müßte bedeuten, daß er Wasser für mich enthält. Ich kann mich in meiner Gier gerade noch zurückhalten und gehe, den Blick auf die blattbeschwerten Arkaden gerichtet, horchend und witternd über das Steinpflaster bis zum Brunnenrand. Unten der Spiegel einer Wasserfläche. Ich nehme den Krug vorsichtig in die Hand, er scheint sauber zu sein, und ich trinke tief und innig in mich hinein. Ich blicke einmal auf, und mir ist, als hätte sich an den Ranken etwas bewegt. Ich trinke noch einmal, und während ich wieder aufschaue, jetzt mit klareren und gelasseneren Sinnen, jede Gefahr erwartend, sehe ich eine dunkle Gestalt vor einer Säule. Sie muß mich beobachtet haben und war vielleicht schon bei meinem Eintritt in dieser Stellung vor der langen Blattranke im Schatten der immer tiefer sinkenden Dämmerung. Ich stehe wie gebannt. Die Gestalt ist dunkel in ein langes, durchgehendes Gewand gehüllt. Der Kopf ist kahl, und die Augen brennen wie am hellichten Tag, wie von innen her, in einem unheimlichen Licht. Die Gestalt nimmt nun die Arme aus den Ärmeln, und der Anblick von menschlichen Händen nimmt mir das erste Grauen über die Brennkraft dieser Augen. Es ist wie ein lebendiger Toter, ausgebranntes Leben, ein kahler Schädel, und ich kann mich [418] während meiner Bewegungslosigkeit daran erinnern, daß mir vor den Toten im Sanatorium nicht gegraut hat und auch nicht vor den Sterbenden. Dieser Mensch steht auf irgendeinem Messer, seine Bewegung zu mir her, zu der er jetzt ansetzt, ist lautlos. «Bei uns trinkt man nur dreimal am Tag, und man ißt nur einmal am Tag», sagt er in satt klingendem Ton. Weiter spricht er nichts mehr zu mir, aber er macht eine Geste, die bedeuten könnte, daß ich ihm folgen soll, falls mir danach ist. Er betritt den unteren Arkadengang und sieht sich, als er ruhigen Schrittes ihn entlanggeht, nicht mehr nach mir um, aber ich habe das Gefühl, daß er mich hinter sich spürt. Während des Gangs begegnet uns noch so eine Gestalt, die allerdings eine Kapuze aufhat. Auch sie wandelt lautlos dahin, langsam, den Kopf gesenkt, die Arme in den Ärmeln und nimmt nicht die geringste Notiz von uns. Es könnte sich auch um einen wandelnden Sack handeln, ich habe kein Stückchen Haut gesehen. Sprechen dringt mit einemmal an mein Ohr. Ein erregtes Gespräch, ich hätte das in diesem stillen Gebäude nicht vermutet. Die Worte hallen vom Stein. Zwischendurch mengen sich die Stimmen zu einem Murmeln, und dann erklingen wieder einzelne, deutlich vernehmbar. Sie scheinen über etwas Bestimmtes zu sprechen. Besonders eine Stimme klingt klar und eindringlich an mein Ohr. Ich kann die Worte «Disziplin» ... «Verehrung» ... «Körper und Geist» heraushören. Auf diesen Wörtern ruht die Stimme. Das Seltsame daran aber ist, daß ich nicht heraushören kann, ob es sich um eine weibliche oder männliche Stimme handelt. Beides wäre möglich. Unser Gang endet in einem runden Vorplatz. Auch er ist überdacht und von mächtigen Säulen begrenzt. Hier ist es, genau hier, da sitzt eine Menge von diesen Gestalten in solchen Kutten, und sie reden über ein ernsthaftes Thema, sie klären etwas. Ihre kahlen Schädel schwanken in der Erörterung eines Problems. Sie nehmen keine Notiz von mir. Ich setze mich, ohne von meinem Führer aufgefordert zu sein, an den Rand der Runde. Ich weiß gar nicht, ob er mich eigentlich hierhergeführt hat oder ob ich ihm bloß nachgegangen bin. Die Menschen sitzen am Boden mit übereinandergeschlagenen Beinen, einige knien. Sie reihen sich um einen niedrigen, viereckigen, langen Tisch, auf dem jeder von den Anwesenden einen [419] Zinnbecher vor sich hat. In der Mitte des Tischs steht ein großer Krug. Viele Augen sind jetzt auf einen gerichtet, der an der Breitseite des Tischs hockt und
zuletzt gesprochen haben muß. Einige allerdings sehen sinnend auf den Boden nieder, sie scheinen in Gedanken versunken zu sein, aber sie gehören zur Runde, sie machen nicht den Eindruck, als hätten sie sich abgesondert. Etwa 25 Menschen sitzen da. Zwischen zwei Säulen geht die Sonne endgültig unter. Ein roter Schein ist noch von ihr zu sehen, der die Runde wie von unten her noch einmal aufglühen läßt wie in feuriger Konzentration, die sich in den Augen aller widerspiegelt. Augen wie jenseits des Lebens. Die Gesichter sind hohl und weiß, nackt, Ausgeburten einer übriggebliebenen Glut. Wie menschliche Schatten mit innerem Erdanschluß. «Welches Wesen schaffen wir, welches neue Wesen soll das werden? Damit schaffen wir uns doch wieder einen neuerlichen Tod, ein neuerliches Leben, an das wir uns hängen werden», spricht einer von ihnen. Seine Stimme klingt jung und zweifelnd. «Dieses Wesen ist der Geist unserer Askese, denn sie allein wäre völlig unbedeutend, ein verkommenes Tier, selbst ein Ausbund an menschlichem Versagen. Sie ist nur die Kehrseite des Genusses, und somit nichts anderes. Meditieren und Kommunizieren macht die Entsagung erst zu einer Seele», redet darauf ein anderer. An der Schmalseite sitzt eine Gestalt, die mir in ihrer Haltung und in ihren Augen anders erscheint als die meisten. Sie fällt mir auf, und jetzt spricht sie mit dieser Stimme, die ich vorhin schon tönen hörte. «Es ist wahr, daß wir nach all den Zeiten immer wieder auf uns zurückkommen und daß sich besonders in fruchtbaren Gesprächen die komplexen Ideen auf unser Motiv zu diesem Vorhaben zurückziehen. Dorthin, wo der Kern unserer Aufgabe liegt, dort, wo er sich in Bedeutungslosigkeit auflöst.» Alle schauen auf. Ich kann an den Augen und auch an den Bewegungen der Hände erkennen, daß es sich hier um eine weibliche Person handeln muß. Unter langen Wimpern läßt sie den Blick strahlen. Der Schädel ist ebenmäßig, aber kantig, die Nase leicht geschwungen und stark. Der Mund schmal und die Wangen eingefallen wie bei allen hier. Trotzdem erkenne ich eine Weichheit unter den Augen, unter der Nase und im Tonfall, nicht in der Stimme selbst, die ist tief und klar. Das Gesicht zeigt keine Falten, es scheint über den Knochen [420] gar keine Haut mehr zu liegen. Eine Narbe verläuft an der rechten Schläfe, die wie das Auge aufleuchtet. Sie legt ihre Hand aus dem Kuttenärmel für einen Augenblick auf den Tisch und sieht darauf hinunter, zieht sie dann wieder in den Stoff zurück und spricht weiter: «Das zeigt mir, daß wir auf irgendeinem Weg sind. Es muß möglich sein, sich trotz übersinnlicher Ausweitung der Gedanken immer wieder auf das Motiv zurückzuziehen und dieses zu umkreisen, es langsam aufzulösen, aber es nie zu schlagen, um sich selbst langsam davon auflösen zu lassen. Wir stehen hier in einem Prozeß, den wir in Askese durchwandern. Sie allein wäre nur ein Bekenntnis zur Angst vor dem Leben. Sich willentlich entziehen, heißt genausoviel, wie sich hemmungslos dem Genuß hingeben.» «Genauso sehe ich das, so als könnten wir uns mit der Askese den Genuß noch aufsparen», wendet jetzt ein junger Kopf wie verzweifelt ein. «Genuß ist in tiefster Seele nichts anderes als die Entsagung, die Befriedigung ist dieselbe», spricht eine Stimme aus der Runde. Diese Stimme ist weiblich, eindeutig, eine helle junge Sprache. Ich beuge mich vor, weil ich sehen will, wer das gewesen sein könnte, aber ich kann mir nur den Tonfall behalten. «Man spürt das genau. Der Schlag der Energie ist derselbe. Der Gefühlsschlag ist eine Art Herzschlag», setzt einer, der die Kapuze locker am Hinterkopf trägt, hinzu. «Politik, Religion und Philosophie sind eine Art Disziplin. Beherrschungsformeln des unfaßlichen Geistes, aber die Askese ist unsere einzige Tatkraft, ist das einzig Faßbare, mit dem wir herangehen können an nichtmaterielle Substanz, die aber noch stärker ist als jede veränderbare Struktur. Religion, Philosophie und Politik sind Formen von Energien zu den
Stoffen, die jede Gestalt haben könnten», spricht wieder die Frau an der Spitze der Runde, oder ist sie die am Ende, jedenfalls ist sie einer der zentralen Punkte hier. Nach ihren Worten setzt niemand mehr zum Sprechen an. Sie hat nichts Dozierendes im Ton, sie holt die Rede unmittelbar im Augenblick aus sich heraus, so als habe sie sie gerade erst gefunden. Die Sonne ist untergegangen. Es ist dunkel in der Säulenhalle. Man sinkt in sich zurück. Die Frau trinkt aus ihrem Becher, und nach und nach trinken auch die anderen noch einmal, dann stehen sie auf, langsam, ohne Gruß und ohne Worte. Sie verschwinden als Schatten [421] im Inneren des Gemäuers, jeder für sich. Jeder still und so, als seien sie nicht eben noch so angeregt miteinander beschäftigt gewesen. Eine der letzten Gestalten bleibt bei mir stehen, sie sagt nichts, die Augen kann ich nur mehr ahnen, sie fordert mich nicht auf, aber es ist wie bei meinem Eintritt, als würde mir eine Möglichkeit zum Anschluß geöffnet. Ich ziehe hinter der Kutte her. Wir gehen mit einigen anderen hinauf in einen höher gelegenen Trakt mit lauter Türen an den Seitenwänden. Die Gestalt zeigt mit einer knappen Handbewegung auf eine davon und geht dann weiter. Ich betrete eine kleine Zelle. Ich drehe mich noch einmal um und sehe, daß sie alle ihre Türen hinter sich schließen, und so mache ich das auch. Es ist ziemlich finster, aber durch ein kleines Fensterchen dringt Mondlicht von draußen herein. Ich schaue hinaus und erkenne dieses kleine Plateau mit den Säulen wieder, wo wir vorhin gesessen haben. Der niedrige Tisch steht da, und im glasigen Schein der hereinbrechenden Nacht kann ich noch auf die Landschaft jenseits des Hügels sehen. Es müssen diese Felder sein, die ich schon von der Ebene aus erkannt habe, und da ist auch dieser niedrige Turm, eine Art Silo, denke ich. Es ist still, die Menschen in den Zellen machen keine Geräusche, nur ein Nachtvogel singt ein trocken-monoton überirdisches Lied. Es klingt nicht. Da regt sich etwas an einer Säule unten, ein Schatten in einer Kutte bewegt sich langsam zurück in das Gebäude. Hände greifen nach der Kapuze und stülpen sie energisch über das kahle Haupt. An der einen der kahlen Steinwände in der Zelle erkenne ich eine niedrige Pritsche. Sonst befindet sich nichts im Raum. Ich lege mich hin. Zu meinen Füßen raschelt etwas. Es ist Stroh, aber bloß ein kleines Büschel. Die Holzunterlage ist hart, ich gebe meinen Arm unter meinen Kopf. Er ist weich. Die Flöte lege ich auf den Boden. Das Strohbündel nehme ich unter den Kopf. Ein Lichtpunkt steht auf einer der rostigen Türangeln, das abgebröckelte Mauerwerk bildet einen Fleck, der wie ein Antlitz auf mich herunterschaut. Ein Schauer überläuft meine nackte Haut an den Armen. Ich erinnere mich, daß ich einmal einen Mantel gehabt habe. Ich versuche meine Augen, die vor Müdigkeit schon brennnen, zu schließen, aber ich sehe immer wieder diesen Helligkeitsbereich an der Angel. Ob dort meine Heimat ist? Etwas strömt davon in mich über. Es ist ein Antlitz oder eine Landschaft, [422] ein karger Schatten, eine ausgebrannte Bewegung, ein letzter Rest vom Übergang in ein erkennbares Gesicht, das Gesicht eines Wesens mit einer Kapuze? Ich erkenne mein Gesicht an der Angel, während ich unter diesen Gedanken hinübergleite in einen Schlaf der Erschöpfung. Noch einmal erwache ich, als mein Kopf hart auf das Holz auffällt, weil er vom Stroh heruntergerollt ist. Ich lege mich auf die Seite, den abgewinkelten Arm als Polster benutzend. Hier endet mein Bereich der Klage, hier habe ich keinen Zwischenraum mehr bis zu meiner eigenen Nacktheit. Ob es hier zu Ende ist? Habe ich das gesucht? Ich wende mich noch einmal zu diesem Gesicht an der Wand, und diesmal ist mir, als würde es lächeln. Ich erwache auf dem Bauch liegend. Mein Kopf ist im Stroh, und Halme hängen in meinen Haaren. Ich putze sie sorgfältig heraus und schaue dabei an die Wand. Ich kann noch genau erkennen, welcher Fleck es gewesen sein muß, an der oberen Türangel, ich sehe seine Konturen, ich erkenne mit Anstrengung das Gesicht wieder, nur sieht es jetzt flach
aus und nicht wie im Traum leuchtend. Meine Hüftknochen sind ein wenig steif in den Gelenken, weil ich hart auf ihnen gelegen habe, aber ich fühle mich ausgeruht, ich muß tief geschlafen haben. Mein Arm macht keine Beschwerden mehr. Es ist in irgendeiner Weise gesund für den Körper, so hart zu ruhen. Was der so alles gutheißt. Ich habe in Billes Bett mit dem Bärenfell nicht besser geschlafen. Ich blicke mich noch einmal in der Zelle um. Vier kahle Wände, eine Tür, ein kleines Fenster, eine Pritsche, sonst wirklich nichts. Auch der Boden ist aus Stein. Draußen ist es schon sonnenhell. Der Platz unten mit dem Tisch kommt mir heute freundlicher vor. Das Land dehnt sich friedlich hin über die Hügelkante. Unten schreitet einer dieser Kapuzenmönche, er trägt etwas in einem großen Topf. Ich gehe hinaus auf den Gang. Überall Stein, schmucklose schöne Wände. In dieser Einfachheit liegt etwas Erregendes. Niemand ist zu sehen, anscheinend bin ich die letzte. Ich fühle diese Kargheit in meinen tiefsten Schichten, dort greift sie an, dort berührt sie etwas in mir, rührt die Essenz meines ganzen Lebens auf. Hier treffen sich Lähmung und Belebung. Hier bin ich mir nahe, hier findet sich mein Stillstand mit meiner Bewegung, meine Trauer mit meiner Freude, meine Neugier mit meiner Gleichgültigkeit. Ist das ein Mittelpunkt in meinem Streben? Ich steige gern hier [423] ein in das Spiel, was immer sie da eigentlich tun. Ihre Art bewegt mich, ich spüre, die trifft ins Herz. Ich trete an ein Fenster bei den Stufen, die hinunterführen, und schaue auf den Brunnen. Etwa zehn Gestalten stehen da unten. Einige rasieren sich selbst den Kopf, der nur mit Wasser benetzt wird, und einige machen das gegenseitig. Man hält still, so als sei das eine alltägliche Übung, als sei es wie Waschen oder Essen. Einige scheren auch im Gesicht herum, bei einem fließt Blut über die Wange. Er wischt es mit Wasser weg. Wenn ein Kopf abgegrast ist, wird er mit kaltem Wasser übergössen, das Messer wird am Brunnenrand geschärft und weitergegeben. Ich greife an mein Haar, fische noch einen Halm heraus und denke daran, mich erst später zu waschen, wenn sie den Brunnen freigegeben haben. Auch die Augenbrauen rasieren sie sich. Jetzt fällt mir auf, daß es die rasierten Brauen sind, welche die Gesichter so unheimlich erscheinen lassen, nicht die kahlen Köpfe. Das Bemerkenswerteste an dieser Frau, die am Tischende gesessen hat, waren eigentlich die feinen Bogen über den Augen, ohne Haarwuchs daran, aber sie waren da, zeichnend und charakterisierend. Keiner entfernt sich, bevor nicht alle fertig sind. Man verweilt bei der Beschäftigung wie in einer Art Gebet, still mit gesenktem Kopf, als sei es ein Liebesdienst, dem anderen bei dieser Tätigkeit Gesellschaft zu leisten. Ich blicke noch einmal auf meine Zellentür zurück, damit ich auch wieder zurückfinde. Es steht hier eine ähnliche Tür neben der anderen. Meine ist die zweite links. Während ich die Treppen hinuntersteige, begegnet mir ein Bursche. Er hat wie ich Haare auf dem Kopf, und auch er trägt gewöhnliche Kleider. Sein Blick hellt sich für einen Moment auf, dann wird er aber wieder ernst. «Ich habe dich gestern schon gesehen. Heute bekommst du einen eigenen Becher und einen eigenen Napf.» Er weist auf ein kleines Holzgefäß, das an seinem Hosenbund baumelt. «Warst du auch in der Runde am Abend?» frage ich ihn, weil er mir doch aufgefallen sein müßte. «Ich habe gestern den ganzen Tag in meiner Zelle gefastet, ich habe auch nicht getrunken, ich habe mir das zur Aufgabe gestellt. Vielleicht bekomme ich in den nächsten Tagen die Kutte und werde geschoren. Man muß einige Zeit da sein, um eingegliedert zu werden», antwortet er. [424] Seine Augen nehmen nicht mehr dieses Aufblitzen an, sie sind ohne Rückhalt auf mich gerichtet, in einer Art Starrheit, die mir nicht angenehm ist. Ich spüre auch, daß er gar nicht begeistert ist über mein Eintreffen hier, als würde ich ihn irgendwie beirren.
«Es ist gut, daß du gekommen bist, es ist mir eine Auseinandersetzung, eine innere Hürde, die ich überschreiten werde», meint er jetzt. «Hier ist es nicht so ohne. Die essen nur einmal im Tag, zu Mittag aufgeweichte Körner, und sie trinken dreimal am Tag Wasser. Wenn du das selber machst, ist das anders, als wenn man davon spricht. Einer fastet hier schon einige Zeit total. Er sitzt immer an der ersten Säule und schaut ins Land hinunter.» Der Blick des Neulings verliert sich jetzt selbst in der Ferne. Er macht einen gerätselten Eindruck, so als wolle er etwas herausbringen und sei nicht imstande dazu. Wir sind während unseres Gesprächs in den Arkadengang gelangt, und einige Gestalten kommen jetzt heran. Sie streben dem Vorplatz zu, wo wir gestern schon gesessen haben. Die Frau ist unter ihnen, und ich blicke sie verstohlen neugierig an. Sie bleibt bei mir stehen. Nur bei mir, es geht ihr anscheinend um mich. Ich sage nichts, und auch sie sagt nichts, sie nimmt mich mit einem stillen Blick zur Kenntnis. Sie hat nicht diese Starrheit, obwohl sie einen brennenden Ernst ausstrahlt. Ich will meine Augen schon abwenden, tue es aber nicht, denn ich merke, daß sie Wert auf diese Art der Kommunikation legt, sie zwingt mich nicht, aber ich selbst will sehen, ich selbst habe sie doch gestern schon so neugierig beobachtet, und mir geht auf, daß ich zu dieser Neugier stehen darf, daß ich meine Energie im Augenblick benützen muß, und ich verweile in ihren Augen, in ihrem Hirn, während ich diesen Energieschwall erleide oder ihn erzeuge, ihn gebäre oder sterbe, ich erkenne meine eigenen Möglichkeiten, ich beuge mich nicht meiner ersten Anwandlung, mich vor diesem Blick zu schützen, ihm auszuweichen, und das spüren ihre Augen, das ist ihr eigener Hirnschlag, der mir als lautes Echo in die Eingeweide fährt wie eine Erschütterung, wie ein Schreck und sein Nachlassen zugleich. Ich habe in mir etwas aufgerichtet, mich, in Nacktheit, im Einverständnis mit meiner Neugier nach mir selbst. Ich weiß nicht, wie lange unsere Augen ineinandergehangen sind in einem Auf- und Abwallen der Energien, bis zum Zerrinnen jeglicher Kraft, nur mehr in uns leuchtend, und da ist mir fast, als hätte sie gelächelt, und ihr Gesicht, [425] das ich als Formation vor meinen Augen verloren habe, tritt wieder in mein Bewußtsein. Sie geht weiter, zu ihrem Platz an der Schmalseite des Tischs und läßt sich dort auf den Boden nieder. Die Gesellschaft sitzt schon da, und einer hebt einen Becher zu mir, als sei das meiner, und so, als sei da mein Platz, falls ich ihn einnehmen wollte. Ich setze mich. Auch ein Napf steht da, mit einer Schnur in einem Loch oben an der Seite. «Es ist Morgen», verkündet die Frau, hebt den Krug hoch, der vor ihr steht, und gießt sich Wasser in den Becher. Dann füllen sich die anderen reihum das Gefäß, und als der letzte damit fertig ist, heben alle den Becher und sprechen im Chor: «Es ist Morgen.» Dann trinken sie. Einige wenden sich zu der großen Säule. Ich strecke mich etwas und sehe da einen sitzen, den Blick hinaus über das Land gerichtet. Das wird wohl der Hungernde sein, und auch diesmal nimmt er kein Wasser. Niemand sagt etwas, nur ein Murmeln zieht durch die Reihen, man blickt einander an. Mich regt diese Gestalt zu einer kleinen Denkaufgabe an, die sich mir merkwürdigerweise bis jetzt noch nicht gestellt hat. Ich habe seit dem Frühstück im Wolkenkratzer und seit den paar Beeren eigentlich nichts mehr gegessen. Trotzdem verspüre ich keinen Hunger. Mein Körper fühlt sich gespannt und frisch, eigentlich sehr kräftig. Ich fühle mich außerordentlich angeregt, als würde meine Lust unter die gewohnte Befriedigungsoberfläche greifen und dort nach etwas besonders Leckerem langen. Ich spanne meine Muskeln für einen Augenblick an, sie haben in ihrer Zähigkeit eine vertrauenerweckende, fast genüßliche Kraft. Ich spüre meinen Körper, ich bin eins mit ihm. Ich sehe auch den Jungen in der Runde sitzen. Die Augen der Menschen richten sich jetzt auf einen Älteren, der auch an der oberen Hälfte des Tischs seinen Platz hat. «Ich bin dafür, daß sich eine kleinere Gruppe hier mit der Stellung der Askese als Kult
und ihrer Vereinbarkeit mit Meditation und Kommunikation beschäftigen soll. Es hat sich gestern herausgestellt, daß wir immer wieder auf die Grundfrage der Askese zurückfallen, obwohl man doch annehmen müßte, daß sie als Basis unserer Tätigkeit gilt und jedem klarsein müßte, wie es um sie steht. Aber auch LE hat», und er weist kurz auf die Frau an der Breitseite des Tischs, «gestern dafür gesprochen, daß wir immer wieder zu dem Kern [426] unserer Bestrebungen zurückkehren müssen. Jeder, der das braucht, kann daran teilnehmen. Besonders denen unter uns, die noch nicht allzu lange zu unserer Gemeinschaft gehören, würde ich die Anwesenheit bei diesen Gesprächen empfehlen. Alle übrigen werden heute noch einmal im Kornspeicher gebraucht. Der letzte Schub Getreide soll noch gedroschen werden, dann sind wir wieder für lange Zeit fertig mit diesen Arbeiten.» Der Alte bleibt sitzen, auch LE, der Junge und noch eine Gestalt bleiben am Platz. Ein Gesicht, das noch nicht so abgemagert ist wie das der anderen Asketen, ich glaube sogar einen sanften Wangenansatz zu erkennen. Es hängt eine Neugier an ihr, sie schaut, wer sich zur Arbeit einsetzt, und wer hierbleibt, um zu diskutieren, sie blickt auch einmal zu mir her und bleibt kurz an mir haften. Sieben Menschen sind wir beim Tisch. Wir rücken zusammen, mehr an das obere Ende. Stille tritt ein. LE sieht mit weiten Augen in die kleine Gesellschaft. Man erwartet etwas von ihr, oder erwarten wir einen Anfang von dem Älteren? Niemand beginnt. Alle ungesagten Worte hängen über unseren Köpfen und in unseren Herzen. Ob es nötig ist, etwas zu sagen? Ob es hilft zu diskutieren, gegen diesen Druck der Erwartung einer Lösung? Diese weiche Gestalt macht eine Handbewegung und aller Augen richten sich auf sie, sie setzt zum Sprechen an, überdenkt aber noch einmal sorglich das erste Wort, indem sie sich in das Bedürfnis zu sprechen versenkt. Sie holt die Worte von tief innen heraus: «Geistige Tätigkeit ist unumgänglich so wie Bewegung des Körpers unumgänglich ist. Der Inbegriff der Lebendigkeit. An manche geistige Probleme kommt man nur durch den Körper näher heran. Man löst sie, indem man sich körperlich löst vom Zwang der herrschenden Lebensbedürfnisse.» Unverkennbar weiblich ist diese Stimme. Sie setzt einen Augenblick ab, überlegt noch einmal, es ist auch möglich, daß sie sich verloren hat in ihrem Vortrag, aber sie spricht noch weiter: «Die Befreiung von Körperbedürfnissen ermöglicht einen Zugang in geistige Bereiche, die man unter normalen Lebensumständen nicht begehen kann.» Ein Mann mit kleinen, etwas schräggestellten Augen und einem schön geschwungenen Mund fällt ihr fast ins Wort: «Von welchen Problemen, von welchen geistigen Problemen [427] sprichst du, die existieren ja nicht von selbst, die haben wir uns doch nur ausgedacht.» «Ich denke an Politik ...» antwortet sie sanft in seine Worte hinein, obwohl er, glaube ich, das gar nicht erfragen wollte. Er denkt einen Augenblick nach und scheint sich zu besinnen, daß er etwas bedachter verfahren will. Dann sagt er: «Politik ist der Versuch, das Leben zu ordnen, sie ist aus der Praxis des Zusammenlebens entstanden. Philosophie ist die Auseinandersetzung mit den unsichtbaren Wirklichkeiten. Und Religion ist das praktische Bedürfnis der Menschen, die unsichtbare Wirklichkeit zu bannen, indem sie verehren, was sie nicht in den Griff kriegen könnnen. Aber auch diese Bereiche entspringen den Gedanken wie ein Bedürfnis und bestehen nicht als ursprüngliches Problem», endet er, scheint aber nicht ganz zufrieden mit seiner Ausführung, denn er bohrt seinen Blick in die Tischfläche, als stünde da noch etwas Wichtiges. «Ich verstehe, NA meint, wir könnten diese Veranlagung zu eben diesen genannten geistigen Problemen auch als ein Bedürfnis wie Luxus oder Besitz oder die Befriedigung des Hungers sehen», lenkt der Alte ein.
«NA stellt, wenn ich das recht verstehe, unsere ganze Tätigkeit hier in Frage», meint ein Hagerer darauf. NA fährt sich mit der schönen Hand über den kahlen Kopf und schaut ernst in die Runde, drückt dann seine schrägen Augen etwas zusammen, was wie ein kurzes Lächeln wirkt, und geht von seinem Zweifel nicht ab: «Diese Begriffe sind weitergegeben worden, sind zu Realitäten geworden, mit denen wir uns hier auseinandersetzen, die wir vereinen wollen, aber eigentlich besteht ja dieser Bereich gar nicht im Ursprung.» Er überlegt und setzt dann rasch hinzu: «Wir lehnen es ab, uns an alte Vorbilder des Denkens zu halten, wir orientieren uns nicht an den hergebrachten Ideen, sondern wollen etwas Neues für uns schöpfen, aber benützen weiterhin die alten Denkbereiche, bleiben in dem Rahmen der bisherigen Erfahrungen haften. Das zeigt ja schon, daß wir die alten Namen noch benützen, daß wir uns gar keine Möglichkeit geben, wirklich Neues zu schaffen.» Er schließt mit Nachdruck und ist jetzt anscheinend befriedigt von seiner Formulierung. Gegen Ende seiner Rede hat er den Blick auf LE gerichtet, die seine Ausführung aufmerksam verfolgt hat. [428] Sie zieht die rasierte rechte Braue, deren Bogen dadurch noch sichtbarer wird, etwas hoch. Es macht sich anders als bei Bärle, erinnert mich aber stark daran, obwohl keinerlei Ähnlichkeit in dieser Form des Bogens liegt. Bärles Braue konnte ich sehen, weil sie mit kleinen Härchen bewachsen war. LEs Augenbrauen sehe ich nicht, sie beschwingen aber ihr ganzes Gesicht mit der unsichtbaren Hoheit zweier Flügel, welche in Ewigkeit zum Flug ansetzen. LE nickt gegen Ende der Rede, sie blickt NA an. «Was meinst du dazu, SU?» fragt jetzt der Alte die Frau, welche zu sprechen begonnen hat, nicht so, als wolle er sie prüfen, eher so, als würde ihm selbst ein Gedanke aufsteigen, den er nicht recht in den Griff bekommen kann. SU zuckt die Achseln, gibt aber dann sanft zu: «Ich kann das schon nachvollziehen. Er meint, in der Anlage ist dieses geistige Problem im Menschen verhaftet, aber nicht in dieser bestimmten Form. So gesehen wäre die Aufgabe, die wir uns hier stellen, nämlich Religion, Philosophie und Politik in ein Wirkungsfeld zu vereinen, der Ausdruck unserer eingefrorenen Sichtweite.» «Es würde sich darum handeln, den gemeinsamen Ursprung dieser Gedankenbereiche zu finden. Wären andere Probleme dann aufgelöst?» wendet der Alte ein. «Sie wären vereint», sagt LE kurz, fast schroff. «Wie, wenn wir überhaupt neu beginnnen würden, und alle Formen außer acht lassen könnten?» erregt sich NA noch einmal an seinem Zweifel. Es rührt sich noch einer, der ein wenig abgerückt von NA sitzt. Er hat ein gnomenhaftes Aussehen, eine Knollennase und abstehende Ohren, er wirkt neben diesen asketischen Typen etwas kleiner und breiter, nichtsdestoweniger ist auch er mager. Seine Haut ist braun gegerbt und seine Hände, die er jetzt aus den Ärmeln herausläßt, sind kräftig und breit. Wenn mich nicht alles täuscht, bildet sein Rücken einen kleinen Höcker. Er schaut ruhig in die Runde und spricht in besonders tiefem Tonfall: «Wir haben neu begonnen. Wir haben die Begriffe losgelassen. Wir beginnen jedes Gespräch von neuem. Die Askese ist uns ein Zeichen, ist dieses Grundniveau, von dem wir ausgehen. Sie ist eine Beherrschung der Urkraft, welche als ursprüngliche Energie rein ist. In der Askese sind wir ein körperlicher Geist. Wir sind an diesem Ursprung, [429] wir sind dieser selbst, weil wir uns vom Problem der Selbsterhaltung gelöst haben.» Da wendet der Junge zaghaft, aber voll von innerem Drang, seinen Gedanken Ausdruck zu geben, ein: «Aber auch die Askese will ja etwas erhalten, eben die Askese.» Er spricht schnell, als müßte er seinen Mut ausnützen, bevor ihn dieser wieder verlassen könnte. LE hört auf den Neuling und spricht jetzt, seinen Gedanken aufnehmend: «Wie, wenn
wir nicht vom Herrschen, vom Beherrschen ausgingen, sondern vom Zusammenbruch aller Bedürfnisse, vom Zusammenbruch der Regeln des Gehirns. Vom Zusammenbruch der Herrschaft des Denkens?» Dann sagt sie noch wie zu sich selbst: «Du trägst auch dann schon das Mal, die Narbe des Bruchs.» Ich weiß nicht recht, wie ich LEs Sinn in den letzten Worten verstehen soll. Ist das ein Denkanstoß oder eine persönliche Resignation? NA setzt fort: «Es wird doch niemand annehmen, daß der Ursprung sich aus Askese entfaltet. Askese ist doch nur ein Mittel zum Zweck, aber doch keine Ausgangsbasis.» Da lenkt der Alte rasch ein: «Ein Zusammenziehen bewirkt ein Sich-Ausdehnen. Einatmen heißt zugleich Ausatmen, Entsagen heißt In-der-Tiefe-Sprechen, Sich-Entziehen, heißt mit doppelter Kraft voraus, hinein in den Kern.» Da sagt NA resignierend leise, wie in einer traurigen Erkenntnis: «Wir sparen uns die Lust auf für bessere Zeiten. Wir sparen uns das Leben, weil wir wissen, daß wir es nicht ertragen könnten.» «Ich hätte nicht erwartet, daß wir noch so ringen am Ursprung unserer Bemühungen», spricht der Alte erstaunt und ein wenig verletzt. Für einen Augenblick ist mir so, als würde LE neben ihm in sich hineinlächeln über diese Wendung des Gesprächs. Ich erinnere mich an die Worte des Alten im Sanatorium - oder war es der Einsiedler? Daß der Ursprung nicht beginnt, sondern sich jetzt vollzieht, während er jetzt versiegt. Daß es nie angefangen hat, sondern immer anfängt, so wie es immer endet, aber das wisssen die hier auch schon, denn der mit dem Höcker meint: «Wir sind diejenigen, die jetzt schaffen, die sich selbst jetzt schöpfen, aber das ist ein Gedanke, welcher durchs Hirn gleitet wie ein Nebel, den man nicht benützen kann, um besser zu sehen. Das Bewußtsein ist ein Licht, aber dieser Bereich ist zugleich der Schatten [430] davor. Die Askese ist eine Form der Vereinigung», und er verharrt wieder, «der körperliche direkte Weg an das unkörperliche Bewußtsein. Es nimmt eine Form an. Unser Streben in der Form der Entsagung macht uns erst lebendig. Während wir vor Hunger sterben, lebt der Geist auf.» NA lacht über diese letzten Worte, nicht eigentlich spöttisch, aber doch mit einer gewisssen Herablassung: «Es erweist sich, daß wir, wenn wir auch nur einmal am Tag ein paar Körner essen, recht lang leben und daß man lange braucht, bis der Körper stirbt. Der Körper paßt sich an, der macht alles mit.» «Das könnte bei dir leicht möglich sein, NA, wir haben schon einmal den Verdacht vor dir geäußert, daß du vielleicht nicht ganz nach unseren Regeln lebst. Es ist mir ein Zeichen, daß die Sprache heute wieder daraufkommt, du selbst weist uns durch deine Äußerungen wieder auf diese Angelegenheit hin», spricht der Alte streng und ohne die Bereitschaft, darüber zu diskutieren. «Denke noch einmal eingehend über deine Stellung zu unseren Regeln nach und berichte mir dann darüber. Man wird gemeinsam entscheiden, wie man über deinen Verbleib in der Gruppe denkt.» NA senkt den Blick auf den Tisch. Es tritt Stille ein, in die LE die Frage setzt, ohne noch weiter über den Vorfall zu sprechen: «Entsagung bedeutet eigentlich ‹nichts sagen›. Wie steht das nun mit der Kommunikation in Verbindung, die wir pflegen?» SU spinnt diesen Gedanken ohne Übergang weiter, in denselben Ton verfallend, in dem LE begonnen hat: «Eine Form der Sprache finden, die keine mehr ist. Die Form der Sprache ist Philosophie, Religion, ist Politik.» Der Bursche fällt ihr ins Wort: «Aber diese Bereiche sind ja eigentlich tot, keiner braucht
sie mehr, warum sorgen wir uns hier um die Kommunikation, über abgestorbene Bereiche, gerade wir?» Da hebt LE für einen Augenblick die rechte Hand, hält sie in der Luft wie ein bedeutsames Zeichen, waagerecht, und sie spricht: «Vergiß es - vergiß es - vergiß es.» Ihre Stimme hängt noch als Echo im Raum, während sie in die Schwingungen hinein sagt: «Es ist gleich, worüber man lebt und was man zum Leben erklärt. Wir leben nicht. Ich erkläre es hier zum Tod. Es besteht keine [431] Möglichkeit zum Überblick, keine Klarheit, wir schaffen nichts, aber wir atmen.» Ihr Blick ist in eine Ferne gerichtet, aus der er scheinbar nie mehr zurückkommen wird. «Was hier gespielt wird, ist Religion, die, etwas praktischer gefaßt, Philosophie wird, und dann, noch praktischer, zu Politik. Wir machen sie hier. Wir sind sie selbst. Die Askese ist die Beherrschung dieser Bereiche, ihre Vereinigung, ihre sichtbare Einheit», erklärt der Bucklige nach einiger Zeit. Noch einmal setzt NA zum Reden an, ich merke, er riskiert alles für seinen Zweifel. Er macht die Augen noch schmaler: «Beherrschen sich die anderen Gruppen nicht? Sie setzen sich dem Zwiespalt der Natur wild aus. Besteht denn kein natürliches Gleichgewicht?» Ich blicke auf und kann NA mit einemmal sehr gut verstehen. Er setzt noch hinzu, wie in einer unumgänglichen Verzweiflung gefangen: «Ich suche diese Natur. Ich habe mich daran verloren. Ich hänge nicht in der Askese, sonst wäre ich tot.» Er wendet seine Augen direkt auf LE, als wolle er sie zu einem persönlichen Rat aufffordern. Alle Augen richten sich auf LE. Sie blickt einen jeden an, ruhig und gelassen, schweigt und spricht auch nicht, nachdem sie in ihrem Sehen reihum gegangen ist, sie schaut wieder in die Ferne und schweigt. Dann steht sie auf, verneigt sich kurz, wartet, bis sich auch die anderen erhoben haben und geht dann weg, am Säulengang entlang. Auch die anderen entfernen sich nach und nach. Ich binde wie alle meinen Napf mit der Schnur an meinen Hosenbund. Nur der Bursche sitzt noch am Tisch und denkt vor sich hin. Er ist vertieft und sieht wie ertappt auf, als ich mich bewege. Er setzt wie zu einer Äußerung an, verschluckt sie aber dann und geht rasch weg. Ich bin ganz allein hier zurückgeblieben. Mir gefällt dieser Blick auf die Ebene hinunter. Ich weiß nicht, ob man hier allein sitzen soll, ich befinde mich ja schließlich nicht in einem Gasthausgarten. Ob man hier immer so sitzen darf, ohne etwas beizutragen? Ich fühle mich doch etwas beunruhigt und erhebe mich. Da sehe ich den Hungernden an der Säule. Er muß die ganze Zeit hier gesessen haben. Ich schaue ihn scheu an. Er ist fahl und grau, aber seine lehnende Stellung zeigt [432] eine eigene Haltung, in der er verharrt. Diese Haltung ist nicht starr, und auch sein Schweigen hat nichts, was man im besonderen als eine Entsagung bezeichnen könnte. Er drückt keine Mühe in seinem Dasitzen aus, keine Zeit und keinen Willen, er könnte sich auch eben erst hingesetzt haben. Ich will mich schon entfernen, aber ich wage es doch, mich in sein Gesichtsfeld zu begeben. Mich interessiert sein Blick ungemein, wenngleich ich mich auch ein wenig davor fürchte. Ich steige von der hohen Steinstufe hinunter, auf der er sitzt, und gehe unten im Gras entlang. Somit trete ich etwas unterhalb seiner Sichtlinie in sein Blickfeld. Er sieht über mich hinweg. Die Augen sind dunkel wie Pupillen. Sein Kopf muß voller Licht sein, weil es so ungehindert eindringen kann. Jetzt allerdings senkt er seinen Blick wie selbstverständlich auf mich und sieht mich genauso an, als würde er in die Ferne sehen. Er schaut in mich, er sieht mich, er weiß sicher von mir, aber er rührt sich nicht, er rührt mich
nicht an, obwohl ich bewegt bin von seiner Durchsicht. Ich gerate in ein wechselndes Gefühlsspiel von besonderer Nähe zu ihm, rücke zugleich auch weit ab, so weit, als sei ich selbst nicht da. Ich bin nicht gefangen von seinen Augen, aber ich gehe nicht weg, ich kann mich selbst nicht entlassen aus seinem Sehen, ich bin ein Teil davon geworden, ich gehöre dahin, er hat mit mir zu tun, er wendet sich nicht ab, ich bin froh, daß ich mich getraut habe, ihn anzuschauen. Ich hätte ja so tun können, als würde mich das nicht weiter interessieren, aber in diesem Blick denke ich wieder daran, wie vorhin bei LE, daß ich hier bin, um mich zu interessieren, hier bin, um zu sehen und nicht, um mich zu scheuen. Ich nehme mein eigenes Anliegen ernst, ich lebe dafür, ich trete dafür ein, und in dieser Erkenntnis, die mir wie eine tiefe Überzeugung erstrahlt, kann ich mich auch wieder von ihm lösen. Ich gehe noch ein Stück über die Wiese. Noch nie habe ich so sehr diese einsame Entschlossenheit gespürt wie in dieser kurzen Zeit, seit ich aus dem Wolkenkratzer fortgerannt bin. Als sei das Wesen meiner Suche näher gerückt, und ein Teil dieses Wesens ist es, alles zu wagen und keinen Überlegungen zu trauen, nicht nur es zu überdenken, sondern es zu tun. Ein starker, lautloser Zug geht von meinem Suchen aus, der stärker ist als meine Vernunft und meine Gedanken und Ordnungen im Kopf. Ich spüre, daß ich hier an einen wichtigen Platz für mich gekommen [433] bin. Hier fühle ich etwas in mir gefordert, was ich selbst von mir fordere. Einen totalen Einsatz mit meinem Körper und mit meinem Geist. Allerdings nicht um einer bestimmten Sache wegen, sondern für mich, allein für mich, falls ich nicht diese Sache sein sollte. Ich könnte mich hier auf einem persönlichen Befriedigungspostament ausruhen, denn ich spüre genau, in mir ringt es nicht so wie in den anderen hier, in mir ruht etwas, wovon ich nicht sagen könnte, was es ist, andererseits aber bin ich von den Gedanken dieser Gemeinschaft sehr bewegt, ihre Art des Ausdrucks, ihre Intensität und Energie, die sie einbringen, imponiert mir. Über eben diese Sache bin ich mir aber noch nicht recht im klaren. Wenn ich auch etwas dazu sagen müßte, wenn sie mich in irgendeiner Weise prüfen würden, wäre das beunruhigend für mich. Ich fühle mich aber aufgefordert mitzuarbeiten, ich fühle mich angeregt, das erste Mal verlangt hier jemand etwas von mir, das erste Mal kann ich wirklich einer von ihnen werden. Ich bin in Gedanken auf der Wiese sitzen geblieben und rolle einen Halm verloren zwischen den Fingern. Von unten her kommen die anderen von der Arbeit zurück. Sie diskutieren in einzelnen Gruppen mitten auf dem steilen Weg. Sie erglühen für eine Sache. So als würden sie davon ihren Körper ernähren. Oder vielleicht ist es ihr Zehren, das ihr Hirn so ankurbelt? Ich gehe mit ihnen hinauf in den Säulengang. «Jedes Dogma ist Mystizismus. Das Haften an den Dogmen ist wie das Kleben an einem Geist, der sich längst verwandelt hat. Und Mystik ist nur ein kleines Gefäß, in das wir Unfaßbares eingeben und somit für unser Unvermögen einen Namen haben», ereifert sich einer laut, und man nickt ihm bekräftigend zu. Zwei von ihnen tragen jeder einen großen Sack, und ich wundere mich, wie kräftig die noch sind. Dem einen ist der Ärmel zurückgerutscht, und ein dürrer, abgezehrter Arm, an dem die Adern und Sehnen heraustreten, schimmert braun gebrannt. Ich selbst empfinde noch immer keinen Hunger. Mich wundert das. Vielleicht ist Hunger eine Einstellung. In meinem Körper verspüre ich eher eine Straffung, eine aufrechte Haltung im Rückgrat. Wenn ich darauf achte, fühle ich eine deutliche Muskelarbeit in meinen Gliedern, die in sich selbst wie eine Massage wirkt. Ich komme mir größer vor, und ich halte meinen Kopf gerade. Ich sinke mehr ein in den Augenblick jeder unbedeutenden Handlung, und sie wird an sich zu [434] einer Bedeutung. Ich bin mir als Körper spürbarer, so als würde ich von mir selbst essen und mich zugleich austauschen. Mich fasziniert dieses Gefühl. In mir keimt ein Wille auf, welcher der Energie der Menschen ähnlich sein muß.
Wieder versammeln sich alle um den Tisch auf dem Vorplatz. Mit mir 25 Menschen, es sind keine mehr dazugekommen. Unten am Säulenfuß sitzt der 26., der Hungernde. Wenn man es als solches sehen will, ist die Abwesenheit von Gier ein genauso angenehmer Zustand wie die erwartungsvolle Freude am Essen, aber man braucht diese innere Einstellung dazu. Einem gierig Zufassenden wird man mit dieser Theorie nicht kommen können. In der Mitte des Tischs stehen zwei Schüsseln. In der einen schimmert es bräunlichgelb. Die andere ist leer. Es glänzt über den Körnern, etwas schleimig verspricht diese Speise zu werden. Ich bin neugierig, sie zu kosten, und ich freue mich, in den Kreis der Asketen zu gehören, aber ich habe nicht das Gefühl, mich an dieser Speise endlich sättigen zu wollen. Auch ein Krug steht wieder da, und jeder hat seinen Becher vor sich stehen. Die Becher trägt man nicht mit sich. Die Eßbehälter werden heraufgestellt und bleiben dabei an den Schnüren hängen. Es wird jetzt nicht diskutiert, die Köpfe sind gesenkt. LE schenkt sich Wasser ein, hebt den Becher und sagt: «Es ist Mittag.» Der Krug macht die Runde. Während des allgemeinen Einschenkens tut der Alte mit der Hand etwas von dem Körnerbrei in LEs Gefäß. Sie gibt ebenso etwas aus der großen Schüssel in die Schale ihres nächsten, und dann wird die Schüssel weitergereicht, hinter dem Krug Wasser her, und jeder gibt dem nächsten ein wenig von den Körnern. Diese Handlung spielt sich still ab. Man beobachtet das Verteilen wie in einem stillen Gebet. Einer deckt die Hand über die Schale, er ißt nicht, aber er gibt seinem nächsten. Ein leises Murmeln erhebt sich, man hat bemerkt, daß jemand fasten will. Es muß ein Zeichen sein für alle, und derjenige, welcher ihm geben wollte, ist nicht beleidigt, sondern eher geehrt. Mir gibt jemand etwas in meine Schale, und ich gebe meinem Nebenmann, inzwischen hat sich auch jeder selbst Wasser eingeschenkt. Wir heben die Becher und sagen im Chor: «Es ist Mittag.» Dann trinken wir. Das Wasser ist gut und kühl aus dem Brunnen, [435] ich spüre, es würde vollauf genügen zur Erfrischung meiner Lebensgeister. Ich gucke, wie sich die anderen mit dem Brei anstellen. Sie greifen mit der Hand in die Schale, heben etwas von der dicklichen Masse an den zusammengefügten Fingerspitzen heraus und führen das zum Mund. So mache ich es auch. Ich erkenne mit der Zunge die verschiedenartigsten Getreidekörner, die noch etwas fest sind, aber sie scheinen so lange in Wasser gelegen zu haben, daß sich ihr Mark mit der Flüssigkeit vermengt und als halbfeste, kräftigende Schicht beim Kauen beinahe einen Brei bildet. Gekocht ist daran nichts, das spüre ich. Kleie, Samenhüllen, Kerne, Früchte der einfachsten Art, eine ursprüngliche Nahrung, die Substanz des Körpers sind die Samen, und die Frucht ist ihr Wille, der Samen selbst eine Frucht aus dem Willen, die Pflanze im Menschen kehrt zurück in das Reich der Minerale, langsam, immer weniger zu sich nehmend, immer weniger, so als sei es seine Sehnsucht, sich zu reduzieren, nur mehr von sich selbst zu essen, so als sei es ein Glück, bei sich zu bleiben, so lange der Vorrat reicht, und sich dann wieder zu verwandeln in einen Stein, in den Stein der Weisen. Die Sehnsucht nach dem natürlichen Wachsen, die Sehnsucht nach sich selbst, die Sehnsucht nach seiner eigenen einfachen Natur, zurück zum Genuß in sich selbst, zurück zum Atmen, zurück zum Sehen, zurück zum Bewegen, zurück zum bloßen Dasein. Ob das schwer ist? Ich spüre, diese Speise ist ein Elixier der Einfachheit und des Verzichts, ist eine Einstiegsmöglichkeit, sich das Hirn zu reinigen vom Aufstau der Vermessenheit. In diesen Körnern steckt die Sucht nach nichts mehr, so als sei das eine Möglichkeit des Abgangs. Die gewaltlose Methode. Eine Möglichkeit ist es, das kann ich bereits erkennen. In der strengen Zügelung der Lebensgeister aber sitzt die Berechnung, sitzt ein neuerliches Maß, sitzt ein Kobold, der sich die Lippen leckt über dem genüßlichen Darben. Es ist eine Möglichkeit, durch
Reduzierung der Nahrung auf die Grundform des eigenen Bestands eine Erregung des Geistes herbeizuführen, die einen Genuß besonderer Art, die eben den Genuß des Geistes schafft. Aber ich spüre auch die Abhängigkeit, ich spüre die Sucht, die geile Lust an diesem Unternehmen, die über diesem Tisch hängt, die sich als meine eigene über meine Schüssel hängt, deren Inhalt ich nicht aufgegessen habe, ich sehe hinein in den Rest der Körner, aber ich bedarf keiner Nahrung mehr, ich bin [436] gesättigt von meiner Reflexion über den Verzicht, der bereitet mir mehr Lust als das Essen. Ich ahne etwas, jetzt hier an diesem Mittag, ich ahne jetzt schon alles, aber ich weiß, ich muß den Weg gehen, ich bin hierhergekommen, um diesen Weg zu gehen, ich bin entschlossen, ich habe einen Willen gefunden und einen Bereich, an dem ich diesen Willen einmal ermessen kann, hier greift er fühlbar ein, hier wird er sich zeigen, derjenige, der immer wirkt, aber der sich nicht sichtbar macht, und von dem man nicht weiß, wie weit er zu benützen ist. Mich beschleicht eine magische Ruhe, sie senkt sich tief in mich ein, ich bin beseelt von meinem Vorhaben, ich weiß, es geht um mich selbst. Jetzt kreist die zweite Schüssel, und in die gibt jeder den Rest seines Essens zurück, das er glaubt, nicht mehr nötig zu haben. Alle putzen sorgfältig das Gefäß mit dem Finger aus und lassen es wieder an der Kutte verschwinden. Die Befriedigung besteht im Zurückgeben, im Bestimmen des Maßes für sich selbst. Das erregt die Geister. Noch einmal wird Wasser getrunken. Die Becher werden zusammengestellt, auch die beiden Schüsseln und der Wasserkrug, und einer trägt die Sachen weg. Wir sitzen wieder am blanken Tisch. Ich richte mich auf, lasse mich auf meine Knie nieder und verharre so. Die mageren Gesichter werden wie durchsichtig vor meinen Augen. Fast habe ich den Eindruck, ich würde jetzt erst wieder, nach einem begeisterten inneren Dialog, heraussteigen aus meiner eigenen Hirnhöhle, in der ich mit dem Feuer gespielt habe, mit meinem eigenen Feuer, und jetzt hier eintreten in das allgemeine Zusammenspiel von Sehnsucht, Ordnung und Regel. Der Alte beginnt zu sprechen, langsam und bedacht: «Ich würde vorschlagen, daß wir uns einmal zurückbegeben auf unsere ursprünglichen Interessen, an denen wir uns als Gemeinschaft gebildet haben. Es ist möglich, daß wir einen Punkt erreicht haben, alle Anzeichen in den letzten Tagen weisen darauf hin, man denke an die kleinen Zwistigkeiten, an die Verschiedenheiten der Meinungen, an der wir nach langer geistiger Arbeit unsere Kernbereiche so weit eingekreist haben, daß wir sie wieder von Grund auf tiefer sehen können. Daß wir uns eine Art Sicht erarbeitet haben, von wo aus wir eine Dimension tiefer an die Behandlung unserer Anliegen herangehen können. Wir stehen in einem Prozeß, der nur für uns hier Geltung hat. Wir behalten die Regeln bei: [437] Wir schreiben nichts auf, wir wollen nichts hinterlassen, wir wollen niemanden überzeugen, jeder kann sich an unserer Arbeit beteiligen, wenn er sich an die Regeln der Gemeinschaft hält. Wir arbeiten an einem unsichtbaren Wesen, der Vereinigung geistiger Inhalte, das allein durch die asketische Lebensform sichtbar wird. Wir kämpfen nicht mit Gewalt für eine neue Bildung der geistigen Zusammengehörigkeit der Menschen, aber wir glauben daran. Wir glauben, indem wir für uns die Suche verwirklichen und sichtbar machen, indem wir verzichten.» Fast alle senken die Köpfe. Während der Alte gesprochen hat, habe ich LE beobachtet, die in derselben Kniestellung wie ich gesessen hat, ein Schädel wie aus hellem Holz geschnitzt, mit großen lebenden Augen, die sie vor sich hin gerichtet hat. Einmal war mir, als hätte diese Narbe an der Schläfe wie von selbst aufgezuckt. Die Köpfe scheinen hier alle auf den ersten Blick unpersönlich glatt, nur in den brennnenden Augen liegt Leben, das wird sichtbar in ihrem Licht. Der Mann gegenüber hat grüne Punkte, die in sich leben, als würden sie sich dauernd neu einfärben. Sein Nebenmann hat braune Lichter, die einen kristallartigen Schimmer, ein stetiges Lichtspiel zeigen, das nicht aufhört, das nie zur Ruhe kommt, wenngleich er still dasitzt. Aber auch
in den Stirnformen unterscheiden sich die Menschen. Wenn man länger schaut, merkt man, die Stirn lebt wie das Auge. Einer hat eine breite, flächige Partie, unendlich weit, wenn man lange den Blick darauf richtet, eine Ebene über den hellen blauen Augen. NAs Augen fallen mir besonders auf. Sein Charakter liegt nicht in den Augensternen, sondern in der Schrägstellung der Augenhöhlen, die aber nichts Schlitzhaftes haben. Seine Nase ist fein geschnitten, und der Mund zeichnet sich in geistiger Sinnlichkeit, ein einsames Mal, wie eine wunderschöne Narbe über einer Seele, die nie gefunden werden kann. SU kann ich nicht gut sehen, sie sitzt in derselben Seitenfront wie ich. Aber von ihr geht etwas aus, das jenseits ihres Aussehens wirkt. In ihrem Umkreis bewegt es sich, sie lebt körperlich stärker als die anderen, sie bewegt sich mehr, sie sitzt nicht so still, sie ändert öfter ihre Sitzhaltung, während die anderen lange in der gleichen Stellung verharren. Die beiden Menschen neben mir sind mir in ihrer Körperlichkeit nicht näher als die anderen. Sie strömen nicht die geringste Wärme und auch fast keinen Geruch aus. [438] Der Alte hebt wieder den Kopf und spricht: «Mir scheint es wichtig zu sagen, daß sich heute in einem kleinen Gespräch über die Bedeutung der Askese ein Zweifel an den weiteren Gebrauch der Namen unserer Kerninteressen aufgeworfen hat. Die Beibehaltung der Benennung Philosophie, Religion und Politik soll uns keine Regel sein, wenn diese ein Problem darstellt, um sich von der alten Form dieser Themen zu befreien. Ich kenne KO als einen Meister der Meditation über die Grundschwingungen des allgemein philosophischen Denkens, ich bitte ihn, uns seine Gedanken darüber zu berichten.» Nichts rührt sich, ich kann nicht erkennen, welcher KO ist. Hoffentlich bin ich das nicht. Da beginnt der Mann neben mir zu sprechen, mit einemmal. Ich bin fast erschrokken, weil ich damit überhaupt nicht gerechnet habe. Ich hätte doch irgendeine Regung an meiner rechten Seite verspüren müssen, zumindest eine innere Sammlung, eine Konzentration, aber KO hat das ganz ohne äußere Erscheinung mit sich abgemacht, viellleicht war sein Zeichen der Vorbereitung mein Bemerken, daß er mir nicht näher ist als die anderen. Jetzt allerdings, als er zu sprechen beginnt, sehr leise, aber klar, so daß gerade dieser Tonfall wie ein weich werdender Kristall in seiner Diskrepanz als ein Bild über seinen Gedanken schwebt, wie ein Sinnbild zu seinen Worten, jetzt allerdings rückt er mir nahe, jetzt rieche ich auch seine Nachbarschaft. Seine Kutte ist etwas dunkler als die der anderen, es scheint ein Zufall zu sein, das Gewebe ist rauh, auch sein Gesicht ist gebräunter als das der anderen. Ich sehe seine Poren in der Haut. Seine Nase ist etwas unförmig, seine Augen sind mir in der Seitenansicht verborgen. Es geht etwas tief Menschliches von ihm aus. Sein Gesicht weist trotz der Magerkeit eine Weichheit auf, die in seiner Unebenmäßigkeit besteht, er könnte fast als häßlich gelten, aber es kann nicht gelingen, bei dieser Meinung zu verbleiben, denn seine Haltung löst den Begriff auf. Daß ich seine Poren so genau beobachten kann, macht ihn nackt, ist ein Einblick in seine gebrechliche Lebendigkeit, als würde er durch mich hindurchatmen, um mir zu beweisen, wie sehr er mir nahe sein kann. Ob ich mit Absicht diesen Platz neben ihm bekommen habe? Mitten in seine Worte hinein sehe ich eine Bedeutung aufblitzen, daß ich ihm heute die Eßschale gefüllt und nicht gewußt habe, daß KO mein Nachbar ist, aber zugleich fällt mir auf, daß dieses Empfinden einer besonderen Bedeutsamkeit ein übertriebenes Hirngespinst sein kann [439] und ich weiß nicht recht, ob ich darüber in diesem Kreis schmunzeln darf. «Weisheit existiert nicht. Aber es besteht eine Sehnsucht nach einer Vollendung des geistigen Umgangs mit sich selbst, mit den anderen und mit dem Universum. Ich erkenne Philosophie als Zusammenkrampfung in einem bewegten Streben nach einer Vereinigung der Teilbewegungen geistiger Bereiche zu ihrem Ursprung. Sie kann sich lösen im Einsinken ins gemeinsame Motiv aller menschlichen Denkbereiche. Meditation ist das absichtliche Einsinken in die Unabsichtlichkeit. Da ein Motiv ein Antrieb ist, der im
Denken so funktioniert, daß es bei seiner Auffindung immer eine andere Gestalt annimmmt, und zwar meistens die, die es am besten schützt, wird es unauffindbar bleiben. Bei jedem Versuch einer Analyse zur Auffindung von tieferliegenden Motiven im Denken ist die gefundene Lösung eigentlich die sich verkleidende ursprüngliche Fragestellung. Besonders verdächtig ist, wenn sie logisch gut funktioniert. Es ist möglich, daß ganze Kulturen eben Manifestationen dieser Prozesse sind. Und dahinter? Ist Instinkt der Herrscher und die menschliche Denkfähigkeit ein unbedeutender kleiner Nebenast irgendeines Instinkts? Wo führt die Spur hin? Wie wäre vorzugehen? Bis zum Abend nehmen wir uns Zeit zu persönlicher Meditation», endet KO. Die meisten begeben sich in ihre Zellen. Einige streifen in der Umgebung umher. Anscheinend kann man sich den Aufenthaltsort bis zum Abend aussuchen. Ich gehe noch einmal über den Platz vor dem Brunnen und noch weiter hinaus, von wo ich hierhergekommen bin, in den Wald, wohin das Reh verschwunden ist. Ich fühle mich wie ausgetauscht an den alten Erinnerungen, die nur von gestern stammen, aber mir ist, als sei ich um Schritte näher an sie herangelangt, an die Erinnerungen selbst, als würden sie jetzt erst erblühen in einem klaren Sinn. Ich wandle voll innerer Ruhe über die Wiese, ich fühle mich hier so zuständig, so richtig am Platz. Von mir ist jedes Streben nach einem Ausweg, nach einem weiteren Weg wie gewichen, wie abgewaschen, wie ausgeschwitzt. Mir ist leicht, ich gehe aufrecht, und mein Körper ist ohne Bedürfnis. Wie ein Korn im Wind, wie ein Mensch auf einer Wiese, so problemlos, so lückenlos, so rein in sich schwingend transparent in den verschiedenen Schichten des Übergangs der Gefühle. [440] Zugleich schleicht sich aber auch noch ein Gefühl ein, eines, das mich aufhorchen läßt, das mich meinem augenblicklichen Zustand mißtrauen läßt, mich irritiert es, daß mir meine Klarheit so auffällt als etwas Besonderes. Die Herausgehobenheit aus meinem vertrauten Gefühl, aus mir selbst, die ist mir etwas zu gleißend, ob das gesund ist? Und da türmt sich ein Zweifel mit derselben Gefühlsgewalt wie die vorherige Klarheit auf. Diese Wandlung, diese feine Wendung ist so rasch geschehen, ist scheinbar gleichzeitig erfolgt, daß ich, noch ganz beseelt von meiner Erleuchtung, mich schon wieder gezwungen fühle, zurück zu den anderen zu gehen, weil ich den Eindruck habe, ich brauche ihre Unterstützung, um mich über dem Wasser der Klarheit zu halten. Oder brauche ich ihre Bestätigung für mein erhebendes Gefühl? Jedenfalls verliere ich an dieser Abhängigkeit meine gelassene Einsamkeit, die ich eben so sehr an mir geschätzt habe. Ich bin ein wenig verwirrt von diesen feinziselierten Gefühlsumschwüngen. Daß das Fühlen so gläsern zerbrechlich werden kann, wenn man es allzu wichtig nimmt? Ich habe jetzt aber keine Möglichkeit, mich nicht wichtig zu nehmen. Es ist ein Zeichen der Askese, daß man sich selbst nicht gleichgültig gegenüberstehen kann. Ich nähere mich dem Hungernden und begebe mich wieder etwas unter seine Sicht. Diesmal finde ich kein zaghaftes Beobachten, kein kindhaftes Zurückschrecken mehr in mir, ich habe einen reißenden Willen zu sehen, ihn zumindest anzuschauen, ihn ohne Worte zu fragen, was er da tut, und ob er noch lebt. Meine Gelöstheit verwandelt sich im Handumdrehen in Verbissenheit und wieder zurück, anstrengend ist dieses Spiel. Er sitzt noch immer in der alten Haltung da, er sieht diesmal nicht auf mich herunter, er blickt weiterhin starr in die Ferne. Ich bin nun keine Neugierige mehr, ich bin ihm verfallen. Wieso ihm? Ich muß auch wieder lächeln, was soll das sein, bin ich verrückt geworden, ich bin doch noch die alte Wanderin, ich wende mich von ihm ab und versuche meine Gedanken zu mäßigen. Aber ich bin ruhelos bis zur nächsten Versammlung, als würde diese allein meine Intensivstimmung rechtfertigen, als sei hier der Grund für mein inneres Aufflammen im Wechsel der Gefühle gelegen. KO blickt mich beim Niedersetzen an, ich merke an ihm ein Lächeln, das von innen herauskommt, er schenkt es mir, und ich bin so gerührt davon, daß ich am liebsten an seine Kutte gesunken wäre [441] und geweint hätte. Mit meinem Gefühlshaushalt ist irgend etwas nicht in Ordnung.
Beim Trinken überlege ich kurz, wie es nun eigentlich mit meinem Ernährungszustand bestellt sein mag. Seit dem kleinen Frühstück gestern am Morgen und den paar Körnern heute zu Mittag habe ich außer Wasser nichts mehr genossen. Ja, die Beeren darf ich nicht vergessen. Ich fühle mich aber weiterhin stark, und zu essen gäbe es jetzt ohnehin nichts. Ich schreibe meine Gefühlslabilität dem Entzug der Nahrung zu, aber ich habe nun einmal an meinem Mark zu kratzen begonnen, ich will über diese Hürde, vielleicht muß ich in sie hinein, ich fühle eine ungemeine Lust am Abenteuer zu mir selbst. Ich gehe in meinen Raum hinauf und schlafe sofort ein. Am nächsten Mittag, als LE ihn in der alten Weise erklärt hat, decke ich meine Schale mit der Hand. Ich treffe in Augen neben mir. Es sind helle, runde Augen, die Stirn ist ebenmäßig, an den Lidern stehen feine Wimpern, die Nase ist klein und etwas geschwungen, eher keck, und der Mund steht schmal über einem spitz hervortretenden, aber ebenfalls kleinen Kinn. Schön ist die Frau nicht, aber Härte liegt auch nicht in diesem Kopf. Als sie merkt, daß ich nichts nehme, schaut sie mich bedeutsam an, mit einem kleinen Kopfnicken, und ich gebe KO eine Handvoll in seine Schale. Diesmal habe nur ich die Schale zugehalten. Alle haben es bemerkt. Mir ist das recht. Mir bedeutet das etwas. Der Mann von gestern ißt heute wieder. Auch am nächsten Tag decke ich meine Schale ab. In die hellen Augen meiner Nachbarin kommt ein Blitz, aber sie verzieht keine Miene, wieder murmelt man am Tisch. Ich hungere. Ich habe mir eine Einsamkeit errungen, ganz einfach ist das. Ich habe ja keinen Hunger nach Essen. Mich stillt mein Wille, mich abzusondern. Ich lebe von der Energie meines Willens, der seinerseits als Energie frei wird. Und das ist mein Wille. Ist das meine Freiheit? Ich empfinde es als sanfte Entlassung aus den Zwängen der Welt, als Befriedigung, als Verabschiedung von den quälenden Sehnsüchten, die man nie recht bestimmen und festhalten kann in ihrer Richtung. Ich fühle es einfach, so klar ist es. Die anderen essen, und ich sehe ihnen zu. Ich kenne die Befriedigung durch die Nahrungsaufnahme, ich weiß, was mitschwingt beim Essen, ich weiß, was genährt wird beim Essen. Der Hunger wird genährt, und ich bin glücklich, meinen zu verspüren. Ich gönne jedem [442] das Spiel des Essens, ich habe die Ruhe zuzusehen, ich kann auch sehen, wie sie die Reste in die zweite Schüssel streichen, ich nehme alles an, ich esse jede Minute und jeder Bewegung der anderen. Die erste Verwirrung am Beginn des Fastens ist von mir gewichen. Ich kenne die Intensivbilder und Kristallgefühle, die ein Spektrum der Leuchtkraft in der Dämmerung meines Körpers sind und mein Hirn spiegeln. Der Verzicht ist eine Wohltat, eine Sache der Sanftmut, eine Freiwilligkeit, die Gestalt annimmt. Die Gestalt KOs, der ruhig neben mir sitzt und mich dabei nie ansieht. Aber von seiner Kutte geht eine menschliche Wärme aus, eine wohlige Weisheit, die keiner Verständigung bedarf und die in nichts näher sein könnte als im Schweigen. Ich gehöre hierher zu ihm und zu unserer Stille. Ich habe den Eindruck, er würde sich gern von mir seine Schale füllen lassen. Auch seitdem ich faste, hat sich sein Verhalten hierin nicht geändert. Die Frau neben mir sieht mich seit neuem etwas herausfordernd an, aber sie selbst nimmt keinen Kontakt auf. Es ist hier nicht üblich, mit Geplauder zu beginnen, man ist ganz der intellektuellen Sache ergeben und körperlich dem Verzicht verfallen. Es ist aber auch nicht so, daß sich alle rege an der geistigen Auseinandersetzung beteiligen. So mancher hat noch nie einen Beitrag geleistet. Auch die Frau neben mir hat in der Runde noch nie etwas zum besten gegeben. SU allerdings zeigt in der letzten Zeit Neugier an meiner Person, sie kommt oft verdächtig nahe an mich heran und hat etwas vertraut Unsicheres in ihrem Verhalten, als könnte sie sich nicht entschließen und getraute sich auch nicht, mit mir über Alltäglichkeiten zu spreche. Sie beherrscht eine Technik, so als sei alles klar und als würde sie sich geistig nicht im besonderen für mich interessieren. Mein helles Auge, das seit dem Fasten besonders durchblickend geworden ist, weil es so viel Zeit hat und so viele Möglichkeiten der reinen Reflexion, weil ich nicht nach dem Essen, nicht nach meiner
Erhaltung jagen muß, dieses Auge merkt, daß hinter der geistigen Maske sehnsüchtige Menschen wohnen. Ich spreche eigentlich nur von Zeit zu Zeit mit dem Jungen. Er ringt mit sich, er sagt, daß er irgendwo knapp dran sei, daß er nur einen kleinen Zug machen müsse, um dorthin zu gelangen, aber sehr viel spricht er nicht mit mir, besonders seitdem ich nichts mehr esse. Das macht ihn zusehends scheuer. Nur mit dem Hungernden, mit dem führe ich seit einigen Tagen ein [443] lautloses Gespräch über nichts. Ich stehe auf der Wiese unter seiner Sichtlinie, ich trete in sein Blickfeld und es ist, als ob ich in einen luftleeren Raum, der strahlenförmig auseinanderläuft und sich hinter mir verflüchtigt, hineinatme, als sei hier eine stillere Atmung als die in der Welt vonnöten, als sei sie hier erst möglich. Er verändert sich von Tag zu Tag, aber er wird dem ersten Eindruck immer ähnlicher, den ich von ihm hatte, in meine Scheu hinein, mit der ich ihn das erste Mal betrachtet habe. Ausgewichen, weggewischt, ich, wo ich bin, wo er sich befindet. Ein Übergang wie ein Abgrund und kein Sturz, keine Sehnsucht nach einem Ufer von ihm zu mir, eine Lichtlinie ohne Ende durchdringt mein Hirn und brennt die vernünftigen Gedanken aus, von ihm zu mir ein Traum voll - eine Wüste voll Ende - gültig - ist das Spiel, so vollendet, daß es keinen Platz zum Denken gibt - ausgefüllt - durch die Leermachung erfüllt - ein notwendiges Spiel bis an den Abgrund und schon drüben - noch im Aufleuchten meiner Betrachtung, ein Licht, das nicht mehr zurückgeleitet, kein Weg führt mehr zurück, es ist geschehen, als sei die Wiese, auf der ich stehe, ein letztes Aufschluchzen, als würde sie sich unter mir bewegen, als sei das ihre Sprache, als könnte sie für den Hungernden sprechen, um mich mir in Erinnerung zu bringen, mich wieder zu Bewegung anregen. Zu welcher Bewegung? Ich weiß nie, wie lange ich so im Gespräch mit ihm verbringe. Ich selbst setze mich immer an den Tisch mit den anderen und halte meinen Tagesablauf mit ihnen. Sie gehören zu meinem Vorhaben, das noch immer als Entschluß blüht, obwohl ich schon lange über diese Linie getreten bin, etwas dafür tun zu müssen. Ich tue nichts. Ich müßte eher einen Akt der Anstrengung setzen, wenn ich jetzt mit einemmal wieder essen wollte. Ich gehe auch öfter hinaus auf die Wiese vor dem Bau, wo ich das Reh gesehen habe. Seither war keines mehr zu beobachten. Ich suche kein Reh. Ich suche auch nicht nach meiner Erinnerung, ich suche auch nicht, von hier weiterzuziehen, ich stehe nur da und schaue in mich hinein oder aus mir heraus, ich habe keine Sehnsucht, und auch die Verwirrung meiner Gedanken hat sich geglättet, möglicherweise bin ich aber auch schon gewöhnt an die Labilität meines Gefühls. Es ist ein Ausatmen geworden, mein Fühlen, und ich könnte mich auch als gestorben bezeichnen. Ich strebe keine Formation meiner Gedanken [444] an, mir steigen keine Rätsel auf. Ich bin hier angelangt, habe hier einen Raum gefunden, in dem ich mir eine Möglichkeit zum Verlust meines Treibens gestatten kann, und ich denke nicht an andere Möglichkeiten des Lebens. Vielleicht bin ich zur Ruhe gekommen, vielleicht ist diese Ruhe meine Möglichkeit des Verweilens, ich denke nicht daran, wie es werden könnte, und auch nicht, wie es war, wenngleich meine Erinnerungen blühender und konzentrierter werden als zu Beginn dieser Hungerzeit. Es könnte sein, daß ich hier an einem Ende stehe, daß ich hierher gesteuert habe, aber es entbehrt der Wichtigkeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich steige vielmehr in die geistigen Probleme meiner Mitbewohner ein, mit denen ich wenig zu tun habe, aber mit denen ich mich in der Askese und in der Beschäftigung mit den geistigen Rätseln, mit den konstruierten Rätseln, mehr treffe als in Alltäglichem. Ich spüre, ich gleite so langsam immer mehr und mehr in ihren Problemkreis hinein, wenngleich ich keine Weisheiten in der Runde zum besten gebe. Ich trage noch immer meine Kleider und habe noch immer meine Haare auf dem Kopf. Der Junge sagt, bevor man nicht mindestens zwei Wochen hier ist, wird man nicht in die äußeren Zeichen aufgenommen, aber man muß sich an die Regeln halten. Ich halte mich sehr wohl. Auch der Junge hat noch nicht die Kutte. Ich weiß nicht, wie lange er schon da ist. Wenn ich jetzt so recht darüber denke, liegt mir eigentlich nichts an der Kutte. Dieser
Gedanke ist ein kleiner Haken in meinem Hirn, aber ich nehme ihn nicht sehr wichtig. Des Nachts schlafe ich weniger. Ich liege lange auf meiner Pritsche wach und denke, während mir die Gedanken zerrinnen. Manchmal gerate ich in Unruhe, und mein Körper beginnt so rege zu werden, als wollte er lieber hinausgehen und auf dem Brunnenrand in den Mond sehen oder zum Hungernden hingehen und ihm in die nachtschwarzen Sinne schauen. Mein Körper ist aufrecht und zäh, wenngleich ich bemerke, daß ich immer öfter nur stehe oder sitze, mich jedenfalls in Ruhestellung verhalte. Allzuviel Bewegung und Anstrengung ist mir kein Verlangen. In der Nacht empfinde ich die Pflicht, in der Zelle zu verweilen, manchmal als Druck. Dann verwirren sich meine Gedanken auch und eine Art Unlust steigt auf. Am Tage kenne ich das wenig, aber ich weiß, daß ich gern dem Abend zustrebe, als sei das ein Punkt, an dem ich gern angelangt bin, ein besonderer Ruhepunkt. Heute morgen treffe ich mit LE im Arkadengang zusammen, bevor [445] wir uns zur morgendlichen Versammmlung um den Tisch finden. Sie verlangsamt ihren aufrechten Schritt und bleibt bei mir stehen. Sie hebt die Stirn. Ihre Augen sind ausgeglüht, etwas Helles ist zurückgeblieben. Sie sieht müde aus. Alle sehen hier aus wie Gespenster mit ihren kahlen Schädeln, aber niemand wirkt so menschlich, daß er krank aussehen könnnte. LE kommt mir heute wie ein Mensch aus Fleisch und Blut entgegen. Sie hat in ihren Augen etwas ganz Vertrauliches, was ich noch nie an ihr auch nur geahnt hätte, irgend etwas bricht zusammen, ich weiß nur nicht, ob sich das in mir oder in ihr vollzieht. Etwas sinkt ein und etwas Neues entsteht in unserem Blick. Es ist so etwas Weiches wie ein Mensch. Bin ich es, oder ist sie es? Dieses Wesen hängt zwischen uns, und ich höre mich in abwesend fernem Tonfall wie von selbst sagen, so als hätte sie diesen Ton mir eingegeben: «Um dieses Wesen ist es, das ist es. Es ist da.» Sie senkt den Kopf und wendet sich zum Weitergehen, aber dabei tut sie etwas, was sie in ihrer unantastbaren Einsamkeit wahrscheinlich selbst nie für möglich gehalten hätte. Sie nimmt mich mit ihrer Hand am Gelenk. Diese Berührung ist für mich wie ein Weckruf aus meinem Tal, in das ich geraten bin, eine menschliche Berührung. Ihre Hand ist nicht kalt, sie ist warm und fest. Sie nimmt mich und geht in dieser Haltung mit mir an den Tisch. Dort läßt sie mich los, begibt sich an ihren Platz, und ich nehme meinen ein. Bereits sitzend, schaut sie wieder zu mir her, still und sinnend, ein Mensch, der einfach über das Leben sinnt oder über sich selbst. Alle haben das kleine Schauspiel beobachtet. KO setzt sich neben mich und blickt mich das erste Mal richtig an, so als würde er unsere Nachbarschaft ehren, als gäbe ihm das einen besonderen Sinn. Er hat aber nichts Unterwürfiges, sondern er ersteht durch diese Hinwendung selbst zu einem verehrungswürdigen Wesen. Es ist wieder Mittag. LE verkündet ihn in ungebrochenem, gleich schwingendem klaren Tonfall, aber nie zu laut, sie ist nicht laut, und sie spricht auch sonst nicht viel. Sie verharrt zumeist in einer unnahbaren Hoheit, sie ißt immer wenig, aber regelmäßig ihre Mittagskörner. Sie tut das so, als würde sie denken, ihr Essen habe nichts mit Nahrungsaufnahme zu tun. Nur sieht man auch ihr Denken nicht. LE ist eine Unsichtbare, die in den Zwischenräumen sichtbar wird, und da ist sie schön, gläsern und über allen Dingen. Sie tut nichts dazu, sich [446] ins Licht zu rücken, sie ist ein Licht, das manchmal aufscheint, und ich habe den Verdacht, daß sie dieses Licht nicht willentlich einschalten kann. An so einem Mittag ist es, als die Frau neben mir ihre Hand in die Körner senken will, um mir zu geben, und wie immer wartet sie darauf, daß ich meine Hand darüberdecke - in diesem Augenblick gerade, da gibt es einen dumpfen Fall, nur kurz und weich, wie wenn ein Leben gestürzt wäre, sanft, aber tief und sicher auf Stein. Ein Leben aus Stein. Alle halten in der Bewegung inne, die Tafelrunde verwandelt sich selbst für einen Augenblick zu Stein, vielleicht gerade zu diesem Stein, auf den das Leben gefallen ist, keiner der anderen sieht sich um, keiner regt sich, aber jeder weiß, daß der Hungernde tot ist.
Auch ich verharre in meinem Zudecken der Schale, meine Hand liegt auf der Öffnung, und zugleich ist mein Auge in das von LE gefallen, so als sei zwischen dem Verhungerten, zwischen der Erstarrung, zwischen LE und mir und meiner Hand irgendein Zusammenhang, der sich jetzt bewegen könnte, der erstmals sichtbar werden könnte. LE tut etwas Merkwürdiges, sie rührt sich willentlich und zwingt sich aus meinen Augen, die wie unbedeutend locker in den ihren gelegen haben, wie zufällig. «Tragt ihn nach der Mahlzeit weg», beordert sie einen dürren Alten. Dann schaut sie zu mir her und sagt: «Du geh mit.» In ihren Worten allerdings löst sich die Sonderbarkeit des Ereignisses, es wird zu einem gewöhnlichen Befehl, und die anderen beginnen wieder ihr Tun, als sei es alltäglich, daß einer umfällt und daß ihn zwei wegtragen. Ich fülle KO die Schale, er neigt sich zu mir her, als sei es ihm angenehm, daß ich täglich diese Rolle gut erfülle, und die Schüssel geht weiter die Runde. Ich sitze still bei Tisch und sehe zu, wie die anderen langsam essen, mir kommt es vor, als würden sie alle immer langsamer und immer weniger zu sich nehmen. Das Essen ist eher eine Zeremonie und hat mit dem Leben wenig zu tun. Alle leben sie aber. Nur der Verhungerte nicht. Mich beeindruckt sein Hinscheiden nicht. Er war für mich ohnehin ein Schatten, und ich habe mich mit ihm wie über die Schwelle des Lebensraums hinweg verständigt, ich verspüre keinen Unterschied zwischen hüben und drüben, aber eine kleine Regung darüber kann ich an mir beobachten. Es verdorrt etwas in mir, als [447] ginge eine Spannung mit einemmal verloren, als sei der Pol, zu dem ich gespannt war, in sich selbst gefallen, und meine Gedankenschnur flattert frei im Wind des Atems. Wessen Atem das ist, weiß ich nicht, ob meiner oder LEs oder der Hauch des Todes, oder vielleicht ist es der des guten KO neben mir. Ich kann nicht einmal sagen, ob mich dieses Gefühl befreit und mir angenehm ist oder ob mich das in einen Bereich stürzt, den ich bis jetzt noch nicht durchwandert habe. Mir ist das Gefühl für angenehm und unangenehm gleichgültig, ich habe etwas verloren, was ich bis jetzt noch hatte, woran ich mich halten und orientieren konnte. Blaß ist etwas geworden, jemand hat ein Licht abgedreht. Mir fällt es auf als neue Denkanregung, während ich lahm dem Drang gegenüberstehe, darüber etwas herauszufinden. Es beschleicht mich eine Art Trauer, die jedoch mit dem Toten wenig zu tun hat. Hier kümmert man sich wenig um Gestorbene. Nach der Mahlzeit ziehen sich alle zur Meditation zurück, sie verschwinden in den Arkaden so wie immer. Der magere Alte nimmt den Verhungerten an den Armen. Ich nehme ihn an den Beinen. Er ist leicht wie ein Vogel, aber auch ich bin leicht und nicht sehr kräftig. Ich bin nur kräftig genug, um mich selbst aufrecht zu halten, in einer stillen, unbeugsamen Stellung, aber der Tote hängt sich mir schwer in die Gelenke. Der Alte hält die Leiche hinter sich und schreitet gar nicht langsam einen Abhang hinter dem Gebäude hinauf, den ich bis jetzt noch nicht begangen habe. Der Kopf des Verhungerten hängt zwischen seinen Armen wie die Kapuze. Einmal legen wir den Toten ab, weil wir außer Atem sind. Auch der Alte muß verschnaufen. So sehr alt kann der Mann gar nicht sein, er wirkt noch aufrecht, hat seltsame braune Flecken auf der gespannten Haut über den Knochen. Greisenhaft macht ihn anscheinend, daß er nur mehr wenige Zähne im Mund hat. Trotzdem zeigt er nichts von nahem Verfall, im Gegenteil, sein Gesicht ist streng und besonders beherrscht. Er blickt starr auf die Bäume und auf die Wiese, er gibt nicht vor, die Natur zu betrachten. «Geht es wieder?» fragt er in einem unerwartet rücksichtsvollen Ton, und ich nicke eifrig, damit ich ihm meine Dankbarkeit für seine Rücksicht irgendwie deutlich machen kann. Er gibt mir damit mehr Vertrauen und Geborgenheit, als ich in letzter Zeit genosssen habe, und mich rührt seine Frage, zumal ich diese Gefühle eigentlich nicht vermißt habe. Niemand hat mir meine Einsamkeit erleichtert in diesem [448] Land, ich war immer
allein auf mich gestellt, ich war wie ein Tier, ich konnte mir gar keine Unselbständigkeit leisten, ich war immer der erste und einzige Mensch für mich. Selbst Sam hat mich mir nicht abgenommen. Auch der Alte nimmt mir nichts ab, aber gerade weil ich an ihm nicht einmal Freundlichkeit vermutet hätte, verspüre ich diese als besondere Wohltat auf meiner erkalteten Seele. Anscheinend regt das Hungern die Gefühle an, treibt sie auf, aber läßt sie zugleich auch verarmen. Die Wärme durchschleicht mich wie ein verlorener Freund, während wir den Toten bis an einen Abgrund schleppen, wo ihm der Alte die Kutte auszieht. Der Leichnam ist gelblich, nur Knochen, mit unförmigen Gelenken. Seine Genitalien sehen überproportioniert groß aus. Der Dürre bedeutet mir, die Beine zu ergreifen, die Haut zieht sich zähfaltig in meinen Händen, dann beginnt er den Toten, den er an den Armen hält, zu schwingen, ich tue mit, und auf einmal läßt er ihn los, was ich im selben Moment wie auf Kommando auch mache. Wir haben ihn einfach hinuntergekippt über die Gesteinshalde. Wir gehen schon wieder zurück, da kommt mir erst richtig zu Bewußtsein, daß wir den Toten so mir nichts dir nichts ohne das geringste Angedenken da hinuntergeschmissen haben, und ich schaue den Alten mit einem Ruck an und bleibe stehen. Er schenkt mir seine Aufmerksamkeit und bleibt ebenfalls stehen. «Das war ein weiser Mann. So einfach hinunterschmeißen ...» sage ich und weiß zugleich, daß der Tote ja ohnehin nichts mehr von sich hätte geben können. Ich überlege kurz und setze fort: «Hat er nicht vorher wenigstens etwas geäußert, erinnert sich da keiner mehr? Vergißt man das einfach?» Er spürt genau, wohin meine Frage zielt, er richtet seine etwas verschwommenen hellen Augen auf mich und antwortet wiederum in freundlichem Ton: «Zu hungern war sein Leben und zu sterben war seine Weisheit, das hat ein jeder von uns aufgenommen, solange er noch gelebt hat, jetzt ist das vorbei. Er hat alles gegeben, was er gehabt hat.» Er setzt fort, als hätte er in seinen Worten an mich gespürt, daß es nicht unangenehm ist, mit mir zu sprechen: «Wir suchen nicht in der Vergangenheit, wir hängen auch nicht an einer geistigen Zukunftsreform, und wir wollen auch nichts für eine spätere Welt erhalten, das ist nicht unser Streben. Wir suchen nur für [449] uns hier eine Form der Regelung dieses Lebens, welche vielleicht auch für die ganze Welt funktionieren könnte, aber darum geht es uns nicht.» Das sagt er wie ein verständiger Lehrer und fügt dann aber leiser, wie zu sich selbst, hinzu: «Wir beschäftigen uns, solange wir noch leben, auf eine unseren Interessen angemessene Form. Wir leben hier eben etwas sonderbar, und jeder, der sich dazu berufen fühlt, ähnlich zu leben, ist bei uns aufgenommen.» Und noch leiser, so als würde er gar nicht mehr bemerken, daß ich lausche, schon wieder im Weitergehen, schließt er nach einer kleinen Pause an: «Wir können eben nicht anders, jeder wie er kann.» Diese letzten Worte sind ihm nicht ganz recht, sie sind ihm herausgeschlüpft, und er richtet sich jetzt wieder auf, streicht sich mit der schmalen Hand über den kahlen Schädel, weiß aber anscheinend nichts Passendes mehr zu sagen, was die kühle Haltung wieder aufrichten könnte. Daran wird er so verlegen, daß ihm die ganze Hoheit und Strenge zusammmenbricht. Er bleibt wieder stehen und schaut mich groß und etwas ratlos an. «Sonst trage ich nie die Toten weg, das tun immer andere. Daß LE mich mit dir hierhergeschickt hat, soll irgendeinen Sinn haben. Sie hat immer solche Botschaften, die ich selbst nicht immer recht durchschauen kann. Ein seltsames Wesen ist diese Frau», sinniert
er, geht langsam weiter und hat anscheinend vergessen, vor mir eine herrschende Rolle zu spielen. Ein liebenswerter alter Mann geht da vor mir, die Kutte des Toten unter dem Arm, in sich hineinmurmelnd. Unten angekommen, ist er noch nicht so außer Atem wie ich. Wir richten uns beide wieder hoch auf, und fast war es, als hätten wir diesen Ruck der Beherrschung gemeinsam getan und könnten sogar ein wenig darüber lachen, aber wir tun es doch nicht. Unsere Wege trennen sich in unbeteiligter Menschlichkeit aneinander, so wie wir weggegangen sind mit unserer Last. Die Last ist aber leicht geworden, gerade um einen verhungerten Toten leichter. Eine Gruppe von fünf Leuten wandert zum Kornspeicher hinunter. Drei haben leere Säcke in der Hand und zwei tragen Schaufeln auf der Schulter. SU ist unter ihnen. Ich nehme ihr einige Säcke ab und [450] schließe mich der Gesellschaft an. Vorn läuft eine Diskussion über den Denkzwang: «Dieses Rad kannst du nie abstellen, aber du kannst es beeinflussen in seinem Lauf. Die Ernährung ist ein unmittelbarer Hebel ins Gehirn. Die körperliche Beherrschung ist eine Möglichkeit, das Denken in Bahnen zu lenken, die es von selbst nie erreichen würde. Das Streben in bestimmte Denkrichtungen ist fast wie ein körperlicher Weg. Eines funktioniert ohne das andere nicht», meint ein Langer. «Ich empfinde unsere Askese hier als einen tollen körperlicheren Weg, als ihn die anderen gehen. Ich finde auch einen irren Genuß dabei, mich zu beherrschen, mein Leben in einen Rahmen zu passen, den ich mir immer mehr selbst ausgestalten kann, nach einem persönlichen Empfinden», spinnt ein anderer den Faden weiter, und ich wundere mich über seine Schmissigkeit. Sonst sind die Worte hier immer sehr abgemessen und sparsam in ihrer verhaltenen Weisheit. Der Lange bleibt stehen und redet den kleineren direkt an: «Wo entdeckst du hier eine Persönlichkeit? Hier handelt es sich um die Auflösung der Persönlichkeit. Wir sind eine Gruppe, die sich einen gemeinsamen Rahmen gestaltet und hart daran arbeitet. Jeder Genuß ist uns verboten. Wir haben uns hier an Regeln zu halten, die in keinem Vergleich zu den übrigen Gruppen stehen», weist er den lockeren Redner zurecht. Der Gescholtene senkt den Blick auf den Weg. SU geht neben mir und verwendet das begonnene Thema, um mit mir ins Gespräch zu kommen: «Es ist erstaunlich, daß die einfache Art der Speise so kräftig und gesund macht, als sei diese Kost den Hirnzellen besonders bekömmlich und auch anregend für das Denken. Mir bedeutet die geistige Auseinandersetzung mehr als ein unbestimmtes, ungeordnetes Leben, in dem ich mich schwimmend herumbewege, zwischen Ordnung und Zerfall. Die Regel des Geistes, eine Disziplin, ist wichtig, um zu einem erfüllten Leben zu gelangen», sagt sie vorsichtig. «Seid ihr hier auf ein erfülltes Leben aus?» frage ich und wundere mich dabei, daß ich mich außerhalb der Gruppe gestellt habe durch meine Formulierung. «Sehr wohl, wir suchen nach einer allgemeingültigen umfassenden Regelung des Zusammenlebens, nach einer möglichen Art, den alltäglichen Problemen mit einem geistigen Überblick gewachsen zu sein. Wenn auch andere diese Regeln annehmen können, sind wir nicht [451] abgeneigt, aber wir tragen unsere Weisheiten nicht im Land umher und nötigen sie niemandem auf.» «Ihr wißt ja dann gar nicht, ob die Ideen weiter anwendbar sind und ob sie funktionieren?» sage ich. Wir sind beim Kornspeicher angelangt. Der Weg war steil, die Gesellschaft ist noch kräftig, ich bin schon ziemlich erschöpft und lasse mich auf einen Strohhaufen fallen. Eine große Katze liegt in einer Mulde. Ihr Blick bleibt unbeirrt, unrührbar. Ich beginne mit ihr im Katzenmiau zu sprechen. Ich bin voll beschäftigt damit, mich in eine Katze zu verwandeln, mich der Katze in ihrer eigenen Sprache vertraut zu machen. SU steht mit den Säcken
neben mir und meint: «Wir brauchen sie wegen der vielen Mäuse im Getreide. Nach oben zum Gebäude kommen die Katzen aber fast nie.» Kaum hat sie das gesagt, wendet sie sich ihrer Arbeit zu, als sei es unter ihrer Würde, über Katzen zu sprechen. Sie beginnt das Stroh mit einer Mistgabel zu wenden. Ich gehe hinein zu den anderen. Sie füllen verschiedene Körner mit den Schaufeln in die Säcke ab. Die Ernte muß gut gewesen sein. Hier liegen helle Körner, da dunkle, hier kleine und dort liegen noch Ähren, dazwischen springen Katzen. Alle sind sie groß und fleischig, sie sehen fast wie Raubtiere aus. Einer der Arbeitenden stützt sich auf die Schaufel und meint, so als sei das Arbeiten nur eine Nebensache für ihn: «Psychologie ist Persönlichkeitspolitik. Die Beschäftigung mit sich selbst ist Politik mit sich selbst. Ob man politisch bleibt, wenn man sich mit einer bestimmten Sache beschäftigt und nicht mehr mit sich selbst?» «Die gemeinsame Sache ist zu einer höheren Persönlichkeit geworden, einer transformierten Möglichkeit, nicht in sich verhaftet zu bleiben, sondern sich zu vervielfältigen, sich aufzuteilen in seine unzähligen Charaktereigenschaften, während man sich von sich selbst löst», antwortet ein anderer, ebenfalls in seinem Schaufeln innehaltend. SU muß schon während des Gesprächs hinter mich getreten sein, denn nun beginnt sie wieder: «So sehe ich das, wenn du zu fasten beginnst. Du mußt bedenken, daß das für uns alle etwas bedeutet. Du bist hier nicht mehr eine persönliche Sehnsucht, sondern ein Teil von uns allen.» Sie stochert mit ihrer Gabel in den Körnern. Eine Katze springt [452] hoch auf und jagt einer Mauerlücke zu. Ich gehe einem Schaufler an die Hand, der Körner in einen Sack fülllen will. Zusammen sind wir geschickter. Er lächelt mich ungehemmt an, über unsere Möglichkeit der Zusammenarbeit. Er löst für mich damit die Spannung, die nach SUs Worten in der Luft gelegen hat. Denn einerseits hat sie etwas sehr Schönes gesagt, aber andererseits hat in ihrem Tonfall auch eine leise Warnung, fast eine Drohung gelegen, mit der auch sie selbst und die anderen nicht recht einverstanden waren. Drei Säcke tragen wir gemeinsam hinauf. Ich nehme einen mit SU. Ich lächle sie an, so wie mich vorher der Mann, aber sie blickt verlegen weg, wenngleich ich nicht glaube, daß es ihr unangenehm ist. Oben angelangt, sehe ich, wie KO den Steinboden fegt. Ich finde das ulkig und schaue ihm zu, während die anderen das Getreide versorgen. Diese menschlichen Tätigkeiten, die mir für einige Zeit an den übrigen gar nicht aufgefallen sind, in meiner Beschäftigung mit dem Fasten, berühren mich wie eine längst verlorene Natur, wie ein Hauch von würzigem Beerenduft, und ich fühle mich eine Gedankenwolke lang wieder wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, schnappe aber dann sofort wieder in die Hungerstarre über. Dieses Gefühl der Beherrschung ist mir ein genauso mächtiges geworden, wie ich meine Rolle als suchender Mensch beherrscht habe. Es bedurfte ja keiner Regelung der Gefühle. Als Menschenwesen ist mir jede Regung recht, jede Reaktion erlaubt, da kann ich nie gegen meine Innerlichkeit verstoßen. Es konnte nur passieren, daß ich mich in unangenehme Situationen manövriert habe und dann dort gesteckt bin. Ob ich nicht auch hier mehr stecke als ich frei hänge? KO stützt sich auf seinen Besenstiel und schaut mich an. Das ganze Geheimnis unserer schweigenden täglichen Nachbarschaft steht in dieser Haltung. Wir sind noch nie so direkt aufeinandergetroffen, unser Schweigen mußte sich noch nie so ausbreiten und beredt werden, wir haben immer voll Wohlbefinden den anderen an der Seite gespürt, und mit einemmal taucht in mir auf, daß das ja auch nur meine persönliche Empfindung sein könnte. KO hat sich mir noch nie in einer besonderen Sache zugewandt, unser Kontakt schien immer nur ein zufälliger zu sein, und ich spüre mit einemmal eine Bange aufsteigen über
dieser unwiderruflichen Nähe, als könnte ich eine Enttäuschung erleben, als könnte KO nicht dieser Rolle entsprechen, die ich ihm für mich zugeteilt habe. Er ist für mich eine sichernde, stille [453] Figur, die mir hilft, die mir ein Medium für mein Fastenunternehmen ist. Ich weiß gar nicht, ob KO weiß, wie wichtig er mir ist, und selbst mir geht das erst jetzt auf, wo er noch immer auf seinem Besen lehnt und mich betrachtet, als sei ich ein Gedanke auf seinem Weg. Ich wollte eigentlich nichts von ihm, ich wollte nur zusehen und mich wohl fühlen in dem Anblick seiner Arbeit, die mir so einen warmen Strom über die Seele gehaucht hat. Oder wollte ich doch etwas von ihm? Ich gebe mir einen Ruck, denn ich bin hier, um alles zu wagen. Daß ich immer wieder in diese Schutzstellung kriechen muß, in diese Harmlosigkeit meinem eigenen Wahnsinn gegenüber. Ich bin eine Rasende und kein kleines Vögelchen, obwohl ich nicht einmal so viel esse wie diese kleinen Tiere. «Bist du für mich derjenige, als den ich dich sehe?» Er beginnt wieder zu kehren und antwortet: «Du siehst dich, ich sehe mich, wir sind beide blind. Wenn wir beide unserer Blindheit ansichtig werden, bist du für mich, was ich in mir sehe.» Ich denke einen Augenblick nach, fühle sein Wohlwollen in der Stimme, nehme ihm den Besen aus der Hand und kehre für ihn weiter. Da hat er mit einemmal noch so einen Besen, und er kehrt zusammen mit mir die Arkaden entlang. Ich setze einen Augenblick erstaunt ab und frage: «Wo hast du denn jetzt so schnell den zweiten Besen her?» Da lacht er wie ein Märchenphilosoph, belustigt und voller wunderlicher Geheimnisse. Es ist das erste Mal, daß er hier richtig lacht, und ich bin glücklich, weil ich weiß, daß KO meine Erwartungen übertroffen hat. Er ist mir noch viel näher, als ich mir selbst war. Ich habe ihn zum Lachen gebracht, und ich erinnere mich, ich erinnere mich, ich erinnere mich, daß ich schon lange nicht mehr gelacht habe. Während wir noch so vereint arbeiten und heitere Miene machen, sehe ich, wie LE still im Hof vorüberwandelt. Sie hat die Kapuze auf, und ich kann sie jetzt erst an ihrer Haltung erkennen. Sie schaut einen Augenblick aus ihrer Meditation zu uns herüber, wandert aber wieder ruhig weiter. Ich habe jetzt schon Tage nichts mehr gegessen. Nur getrunken habe ich dreimal am Tag, so wie alle anderen. Ich trete als Besonderheit [454] in die Gruppe ein und zugleich aus ihr heraus. Man beginnt, sich mit mir im stillen zu beschäftigen. Ich merke, daß Augen verstohlen auf mir ruhen und weggewendet werden, wenn ich den Blick treffen könnte. «Du bist noch so neu hier und erfüllst das ganze Verlangen der Gruppe so ohne Umstände, wie du das machst», redet mich der Junge, der so wie ich noch immer in den normalen Kleidern geht, ohne Umschweife an, nachdem er mich eine Zeitlang auffällig gemieden hat. Ich habe keine Erklärung für meine Stellung, ich könnte mich selbst nur wundern, wenn ich wollte. Ich greife wie zur Bestätigung seiner Feststellung an meine Wangen und fühle, wie sie schmaler werden, wie die Haut darüber spannt. Ich sage zu ihm, ohne viel zu überlegen: «Es hat keine Bedeutung, das Fasten, es ist unwichtig.» Er wehrt dramatisch ab: «Also das glaube ich einfach nicht, hier geht es um diese Disziplin, und du bist die einzige, die sagt, daß es unwichtig sein soll.» Er ist fast empört. Ich lasse ihn stehen, mich beschäftigt meine instinktive Antwort mit einemmal, ich habe mich etwas sagen hören, und ich weiß, daß ich wahrgesagt habe. Wie sollte diese Wahrheit aber dann mit meinem Drang, mir den Zwang des Hungerns aufzuerlegen, übereinstimmmen? Ich fühle auch diesen Willen als Wahrheit in mir herrschen, und doch widersprechen sich diese Bekenntnisse. Ob der Widerspruch eine Wahrheit in sich darstellt? Ob Wahrheit
keine Lösung hat, sondern die Verquickung aller Möglichkeiten zum Leben ist? Eigentlich ist es mir keine Frage. Ich habe keine Fragen. Ich bin mir auch im Widerspruch klar, aber doch ringe ich damit, so als hätte ich mir ein Feld zum inneren Kampf erobert. Ich könnte LE fragen, aber sie würde sofort erkennen, daß ich die Frage nur als Vorwand stelle, um an sie heranzukommen. Habe ich mir deswegen diesen Widerspruch geschaffen? Ich könnnte doch auch so an sie herangelangen. Ich könnte einfach vor sie hintreten und nichts tun, nichts fragen und nichts wollen. Aber warum sollte ich das wiederum tun, ich habe eigentlich auch an LE keine Frage, sie ist mir klar, aber doch zieht sie mich an, in einer Art, wie ich selbst von mir fasziniert bin. Vielleicht hat dieses Verlangen nichts mit Fragen zu tun, sondern nur mit Antworten, jenseits von Fragen. Ich spüre es so, als sei ich nicht allein diese Energie, die mich zieht, [455] ich kann in den letzten Tagen immer öfter LEs Blick auf mir ruhen finden, sie ist stark in ihrem Schweigen, sie ruft mich, ihre Kraft geht nicht von ihren Worten aus. Mich erregt diese Beziehung, sie läßt eine Spannung aufsteigen, die ich in ähnlicher Form schon kennengelernt habe, aber noch nie in dieser geheimnisvollen, schweigenden Weise. Ich lasse diese Spannung noch reifen, sie soll noch spürbarer werden, sie soll sich von selbst zeigen. Sie hat mit meinem Hungern zu tun. So als läge da ein Ziel, das mit LE unmittelbar in Verbindung steht, ich möchte es fortsetzen bis zu einem Punkt, der mir noch als geheimnisvolle Wahrheit vor den Sinnen glimmt. Ob diese Vorstellung eine Übertreibung meines heißen, wundgeschabten Gehirns ist? Ich bin sicher, bald ereignet sich etwas, das meine Phantasien in den Schatten stellt, und ein ganz anderer Weg eröffnet sich mir vielleicht. Ich liege wach und fixiere das Bild an der Türangel, welches mich in all den Nächten nie verlassen hat. Seltsamerweise bleibt dieser kleine helle Fleck. Vorerst dachte ich, es müßte sich um das Mondlicht handeln, aber es blieb immer an derselben Stelle und in derselben Leuchtkraft erhalten, so daß es sich wohl um eine andere Erhellung handelt. Im Haus hier gibt es kein Licht, nicht einmal das von Kerzen oder Kienspänen. Das Gesicht selbst, das hat schon vielerlei Gestalten und Formen angenommen. Zerronnen ist es, in ein Meer von Tränen hat es sich aufgelöst, während die Konturen neu hervorgetreten sind, transparent in sich schwimmend, eine Ebene über der anderen, eine Bewegung der Luft, ein Licht in den Augen, eine Veränderung am Mund, eine Formung der Gesichtskonturen zu einem mir noch unbekannten Ausdruck, ein Film an der Wand, ein Spiegel ohne Licht, ein Fleck in meinem Herzen, trägt es mein ganzes Gemüt in seinem Wandel und Wechsel zurück zu sich selbst, ein Schrecken, eine Fratze, ein Ungeheuer, ich sitze aufrecht in meinem Bett und starre das Ding an, während es wieder zu einem Fleck an der Türangel wird, ein wahnsinniges Sinnenspiel meiner eingebildeten Realitätsbegriffe, die mich immer wieder daran mahnen, daß es keine Gespenster gibt, während ich sie doch sehe. Immer wieder dieses Spiel, ich verfalle in oberflächenartige Träume, sie gehen nicht tief, ich schlafe nicht mehr tief, ich wache eigentlich immer, nur manchmal verrinne ich so unter meine Denkhaut [456] in heiße, gleißende Bilder, die meine Gefühle als Zeichen erscheinen lassen. Sie werden sichtbar, die Regungen, die fiebernden, die irrsinnigen und die lokkeren, kühlen, sie spielen ein farbiges Bild vor mir, mein eigenes Träumen vom Leben. Manchmal setze ich mich schweißnaß auf, und bin zu erschöpft, um mich aufzurichten. Nicht daß ich am Tage nicht mehr zu Bewegung fähig wäre, ich fühle mich gesund, aber des Nachts schlägt das Hungern erst zu, und dann ist es wie siedendes Wasser auf ein glühendes Hirn, ich bin das Organ geworden, ein nacktes Organ, das einen Wechsel vom Menschenwesen in eine andere Art vollzieht, langsam, langsam, aber stetig. So tritt LE auf einmal in die Tür, sie ist nackt, sie hat grünes Fleisch und wunderbare glatte, dunkle Haare, lang bis auf den Boden. Sie schleppt die Kutte hinter sich her und will, daß ich ihr Gewand tragen soll. Mir graut aber vor der grünen Haut, und ich wollte
diesen Stoff nie auf meinen Körper legen. Ich befinde mich in äußerster Seelennot, weil ich ihr nicht sagen kann, daß ich sie nicht ertragen würde, diese Berührung der Kutte, ihrer Kutte, ich bin eingeklemmt, ich ringe nach Luft, das Herz schlägt mir heiß und rasch, immer stärker hinauf in den Hals, im Brustkorb rast es wie ein Trommelwirbel, ich ersticke fast an dem Suchen nach einem Ausdruck meiner Abneigung, denn ich liebe diese Frau und möchte sie nicht verletzen. Ich weiß, sie würde sterben, wenn ich ihr die Wahrheit sagte, und ich selbst würde es dabei auch müssen. Die Klippen wachsen hinter LE empor, der Felsen, über den wir den Verhungerten geschmissen hatten. Die Gesteinsschichten wallen hinter ihrem nackten grünen Leib auf, der immer schillernder wird, wie Wolken wellen die Felsen sich hoch auf, wie zu einem Gewitter sich ballend, und mit einem schmerzenden Herzschlag und einem fliegenden Atemzug reiße ich meinen Körper zum Wachen hoch und starre in den Fleck an der Wand, wo sich die Verputzreste wie Schichten aneinanderfügen. Ich stelle meine Beine auf den Boden. Die Berührung meiner nackten Füße mit dem kalten Stein kühlt mich und mein Gemüt etwas ab. Ich drücke die Hand auf mein Herz, es schmerzt nicht, aber es hämmert wild, und auch mein Atem geht noch schnell und laut, so als sei er nicht mein eigener. Irgend etwas ist gerissen in mir, und ich kann noch nicht sagen, ob das ein angenehmes oder ein unangenehmes Vorzeichen ist oder schon die Tat selbst. Ich trete an das kleine Fenster, welches immer offen steht, und schaue in die Nacht hinaus. [457] Die Nacht ist nicht schwarz, die Nacht ist meine Nacht, sie ist mein Leben, und zwar nur meines. Ich setze mich auf das morsche Brett und lehne mich an die Gitterstäbe, als würde da draußen meine jenseitige Heimat liegen. Mir steigt eine Sehnsucht auf, von der ich weiß, daß sie in meiner Macht liegt, sie ist meine Macht selbst, und wenn ich mich jetzt nicht für sie einsetze, wenn ich jetzt nicht reagiere, wenn ich jetzt nicht höre und tue, was ich von mir verlange, wenn ich nicht meinen Ruf höre, aus diesem Abgrund heraus, in dem ich mich seit einiger Zeit bewege - wird zugeschüttet, einfach zugeschüttet, und niemand wird eine Anstandsfrist abwarten, ich kann mir dann nichts mehr überlegen, ich habe keine Freiheit mehr. Ich blicke zurück auf den Fleck an der Wand und erkenne das Gesicht, es ist das meiner Freiheit, welches sich immer verwandelt, aber immer besteht, welches immer wahr ist, wie auch immer es sich formt. Ich habe mich befreit vom Zwang zu essen, ich bin frei vom Hunger, aber nicht frei von meinem Willen zu leben. Denn das ist kein Wille, sondern ein Loslassen des Willens. Ich kann mit meinem Willen umgehen wie mit einem Arm oder Bein, aber ich brauche meinen Arm und mein Bein nicht unbedingt zum Leben. Ich kann ihn benützen, ich könnte ihn zumindest nehmen, er ist sichtbar geworden als böser Traum, als Fliegen im Herzen, als Ersticken in der Lunge, der Wille ist eine Form einer Teilwahrheit, aber ich will ganz leben. Ich will nicht hungern, ich will mich der Natur ergeben, sie ist mein Wesen jenseits von Willen und Beherrschung. Ich bin nicht in der Welt, um jemanden zu beherrschen, nicht da, um mich zu beherrschen, sondern um zu atmen, in Not und in Glück, ohne Regelung meiner Stellung zur Natur. Ich sitze da am Gitter und fühle mich wie in einer Waage schwingend auf dem schmalen Fensterbrett. Etwas hat sich gewandelt. Eine Wahrheit hat ein neues Gesicht angenommen. Meines, mein einfaches Gesicht, das mager geworden ist. Ich greife über die Wangen, sie fühlen sich trocken an, fast wie Papier. Ich selbst fühle mich aber stark, und so dunkel die Nacht ist, so farbig und zärtlich streicht sie zu mir herein in die Zelle. Ich spüre genau die Einschnitte der Fesseln, die ich mir angelegt hatte, um mich selbst zu befreien. Sie brennen wie kostbare Narben in meinem Fleisch. Ich lege mich noch einmal auf meine Pritsche und warte das erste Licht ab. Ich schlafe nicht mehr ein. Eigentlich habe ich auch jetzt keinen Hunger, aber ich weiß, er wird wieder aufkeimen, wenn ich [458] ihm das gestatte, er ist ein gesunder Bursche, ein Kobold unter seinen Brüdern, selbst ein Mönch unter den Bedürfnissen des Lebens, die sich wandeln und wenden im Fluß des Herzens. Das Herz hat sich wieder beruhigt und seinen Takt
wiedergefunden, aber ein leichtes Stechen und Drücken verspüre ich noch, als sei es in letzter Zeit zu sehr beansprucht worden. Es mußte arbeiten ohne Nahrung. Ich habe ein gutes Herz, es hält aus, es hält stand, es geht mit mir die verschlungenen Wege des Gehirns. Ich höre draußen auf dem Gang eine kleine Bewegung, es ist sonst immer sehr still im Gewölbe, und ich öffne meine Tür. Ich sehe, wie ein Mann einen anderen aus dessen Zelle schleppt. Die Beine schleifen am Boden. «Was ist los?» frage ich, erstaunt hinzutretend. «Er ist tot. Hilfst du mir, ihn zu den Klippen zu bringen?» «Wieso tot, ich kenne ihn gar nicht, ich habe ihn noch nie gesehen in der Runde, ist er auch verhungert?» frage ich hastig. «Nein, eigentlich nicht, er war krank, und ich habe ihm immer die Körner in die Zelle gebracht, in der letzten Zeit allerdings konnte er nichts mehr zu sich nehmen», berichtet er und steht schon da, die Schultern des Toten umfassend, und wartet, daß ich endlich mit anpacke, damit wir gehen können. Wir schleppen ihn die Stufen hinunter und nehmen denselben Weg, den ich damals mit dem dünnen Alten gegangen bin. «Daß ich gar nichts davon bemerkt habe», sage ich im Gehen. Und der Kahle meint: «Niemand außer mir hat es gemerkt, ich war sein Zellennachbar ...» «Liegt vielleicht noch jemand krank in einer Zelle?» erkundige ich mich. «Soviel ich weiß, momentan nicht.» «Sterben oft welche weg?» «Nicht häufiger als anderswo. Im Gegenteil, die Art der Ernährung bei uns härtet den Körper eher und macht ihn widerstandsfähig», erklärt er und geht weiter, er denkt nicht daran zu rasten. Am Abgrund angekommen, zieht er dem Toten die Kutte aus. Darunter ist der völlig gelb und ausgemergelt. Er scheppert direkt, als er hinunterfällt über die Klippen. Stein und Geröll schlagen ihm nach, dann ist es still. Der Kahle rollt die Kutte zusammen, und wir steigen wieder hinunter. [459] «Was geschieht mit der Kutte?» frage ich. «Na, die brauchen wir ja, wo glaubst du, daß wir die Kutten für die Neuen herkriegen», meint er fast belustigt. Er ist ein kleiner Mann mit äußerst zarten Händen, auch sein Gesicht ist fein geschnitten. Seine Augen blitzen dunkel und klar, aber irgendein Schalk hängt dem Mann im kahlen Schädel. «Was macht ihr eigentlich im Winter, wenn es kalt ist?» frage ich weiter, weil ich schon einmal diese Rolle eingenommen habe. «Nichts, was sollten wir da tun? Wir verlegen nur unsere Versammlungen ins Gewölbe, aber sonst ist alles wie immer.» «Habt ihr da auch nicht mehr zum Anziehen?» «Nein, im Winter ist es im Gemäuer recht erträglich. Die Wände saugen im Sommer so viel Wärme in sich auf, daß sie nie ganz auskühlen. Wir leben in einem Kachelofen, könnnte man fast sagen», erklärt er mir bereitwillig und gibt mir dann die Kutte zum Angreifen. «Da, fühle, dieser Stoff ist sogar recht warm, da dringt keine Kälte durch und auch wenig Hitze. Und wenn, so müssen wir das aushalten wie alles andere auch. Das ist ja unsere Aufgabe, das ist ja unser Sinn, den wir uns hier zur Regel gemacht haben», unterweist er mich angeregt. Er legt sich die Kutte an, läßt sie frei herunterhängen. Der Tote war länger als er, und die Kutte schleift am Boden. Auch ich bin größer als er, und diese Kutte würde bei mir nicht am Boden streifen. Ich dränge aber zum Weitergehen und frage rasch:
«Kommen viele neue Leute zu euch?» «Du siehst es ja», redet er unterm Weitergehen, etwas enttäuscht, daß ich so wenig Aufmerksamkeit für die Kutte habe. «Zuerst ist der Junge gekommen und gleich darauf du. Es ist verschieden, manchmal kommt lange niemand und dann gleich wieder zwei oder drei.» «Bleiben alle da oder kann man auch wieder gehen, wenn man schon die Kutte hat und geschoren ist?» Er wundert sich, daß ich das alles noch nicht weiß und fühlt sich anscheinend geehrt, daß er mir das erklären darf. «Jeder kann gehen, jederzeit, aber die Kutte muß er dalassen. Es geht aber eigentlich kaum jemand freiwillig weg. Manchmal wird einer ausgewiesen, wenn er sich nicht an die Regeln hält. Auch das ist selten der Fall. Die Kutte bekommt man, wenn LE es für angebracht hält, und dann wird man auch geschoren.» [460] Wir sind wieder beim Gebäude angekommen. Es ist noch früh. Wir kommen zur täglichen Zeremonie des Scherens zurecht. Ich bleibe ein wenig abseits stehen, ich gehe nie gern hin, wenn sie sich abrasieren. Sie schneiden sich manchmal tief ins Fleisch mit dem Rasiermesser, auch an der Kopfhaut. Sie wischen das Blut einfach mit Wasser weg und bleiben am Brunnen sitzen, bis es versiegt und stockt. Niemand setzt sich an den Tisch, bevor nicht alle diese Prozedur hinter sich haben. NA hatte, nach der scharfen Auseinandersetzung damals, als man ihm gedroht hat, eine tiefe Wunde unter dem Ohr, zum Kinn zu. Diese hat tagelang entzündet ausgesehen. Er hat sie einfach gar nicht beachtet. Es ist nicht zu einer neuerlichen Diskussion über seine Zweifel gekommen, aber er ist seitdem stiller und beteiligt sich nicht mehr so rege. Ich habe damals vom Gangfenster aus der Rasur zugesehen. Ich beobachtete NA genauer, weil ich sehen wollte, ob er irgendetwas in seinem Verhalten zeigen würde wegen der Rüge. Ich sah, wie er sich den Kopf rasierte und dann im Übergang unter dem Ohr sich in einem jähen Ruck scheinbar mit Absicht diese Wunde zufügte. Er drängte das Messer tief ins Fleisch hinein. LE erklärt jetzt den Morgen, und wir trinken das Wasser. Ich fühle es wie einen reinigenden Regen in meine Eingeweide rinnen. Ich habe zwar immer Wasser getrunken, aber diesmal erkenne ich es wieder als Nahrung, als Erfrischung meines Körpers, und ich freue mich auf den Mittag, an dem ich die Körner essen werde. Freiwillig essen, freiwillig leben. Eine einfache Freude, ein kindlicher Genuß. Ein Weg von außen nach innen. Dieser Weg ist die Aufnahme der Nahrung und das Ausscheiden der Rückstände. Der direkte Weg zum Leben. Von Ausscheidung war bei mir in letzter Zeit wenig zu bemerken, ich habe mich nicht ausgetauscht von innen nach außen. Ich vermute, ich habe mich gar nicht sehr verändert, obwohl etwas mit mir vorgefallen ist. Bei der Ernährung mit den Körnern funktioniert die Verdauung allerdings überraschend gut, weil diese Samen viel Kleie enthalten, welche den Durchgang der Nahrung in den Gedärmen gewährleistet und sogar beschleunigt, wurde mir berichtet. Ich trinke noch einmal aus meinem Becher und überlege, ob ich vielleicht einmal Urlaub von der geistigen Arbeit nehmen und vor dem Mittag zu den Beerensträuchern laufen sollte, wo ich mich schon einmal gelabt habe, aber ich verwerfe dann diese Idee, weil es wahrscheinlich zu weit wäre. [461] Ich habe so lange ausgehalten, ich würde auch die Mahlzeit erwarten können. Außerdem weiß ich nicht recht, wie es sich hier mit dem Urlaub verhält. Ich habe es nicht nötig, jetzt noch gegen die Regeln zu verstoßen. Ich muß das nicht tun, es würde mir keinen zusätzlichen Genuß einbringen. Ich jage nicht nach dem Genuß, sondern ich lebe einfach. Es könnte allerdings sein, daß mich die Regeln an meinem natürlichen Leben hindern, das müßte sich noch herausstellen. Ich stehe so einem Gedanken frei und locker
gegenüber. Zu Mittag macht die Schüssel ihre Runde, ich sitze aufrecht, ich bin von einer kindhaften Heiterkeit erfüllt, aber ich kehre sie nicht nach außen, dieses Bedürfnis habe ich nicht. Meine Nachbarin hat das Verharren in der Darreichung der Speise an mich schon so in sich aufgenommen, daß sie voll Erstaunen noch einmal zur Bewegung des Einfassens in die Schüssel ansetzen muß und mir dann zögernd ein wenig gibt. Sie vergißt, mir die Schüssel für KA weiterzureichen, ich muß sie selbst nehmen und gebe ihm eine große Portion in seine Schale. Seine großen Poren blicken wie lauter Augen aus seinem Gesicht, sein Mund öffnet sich zu einem fast erlösten Zug, und als er die Schüssel an sich nimmt, berührt seine Hand leicht die meine. Mich macht das glücklich. Alle haben mein Essen bemerkt. Es ist mir nicht so wichtig wie die Beachtung meines Hungerns. Die Körner sinken breiig in meinen Magen hinein. Sie machen ihn warm und wohlig, ich esse meine eigene Freiheit. Rasch bin ich satt, muß jedoch nichts in die Restschüssel zurückgeben. Ich muß meinen Magen erst langsam an die Nahrungsaufnahme gewöhnen. KA allerdings ißt die große Portion auf, die ich ihm hineingetan habe. Als ich ihm die Restschüssel weitergebe, stellt er sie auffällig zu seinem Nebenmann hin. Ich trinke Wasser nach und fühle mich angenehm gestärkt. Ich habe nun einige Tage wieder regelmäßig zu Mittag gegessen und fühle meinen Körper wieder kräftiger werden. Die empfindlich glatte Härte der gespannten Nervenstränge klingt nicht mehr so gläsern an, ich fühle mich nicht mehr jeder nervlichen Regung so ausgeliefert, sondern gehe gesättigter und ruhiger durchs Leben. Es erstaunt mich, daß schon diese geringe Menge von Nahrung, denn eigentlich handelt es sich ja weiterhin beinahe um ein Fasten, einem Menschen wieder ruhigen Schlaf und Kraft in den Knochen geben kann. Eigentlich genügt es, da ich zu keinen körperlichen Anstrengungen [462] genötigt bin. Ich helfe nur manchmal beim Strohbinden oder Körnerabfüllen. Auch die anderen haben nicht mehr zu tun. In die geistigen Sphären, welche das eigentliche Betätigungsfeld der Leute sind, dringe ich immer tiefer ein, denke mit und meditiere selbst im stillen über ein auftauchendes Problem, kann aber doch nicht recht in den verbissenen Ernst der Menschen hier einsteigen. Manchmal muß ich bei mir selbst lachen, wie sie diese oder jene Formulierung wichtig nehmen und ins kleinste zerpflücken. Sie sind fanatische Irre im Bereich ihrer geistigen Welt, die sie sich geschaffen haben, um dort zu leben. Sie tun es. Mir selbst ist dieser Bereich etwas zu eng, ich schweife in Gedanken oft ab in sehr weltliche Gefilde. Ich denke an Bärle und an Sam, an die Tiere und auch manchmal an die guten Krapfen, an Anja und an den Einsiedler, an mich und an meinen abenteuerlichen Weg, der mich hierhergeführt hat, ich denke an den Menschenaffen und an meine Möglichkeiten, die mich reizen würden, sie zu vollziehen. Ich hänge nicht mehr in meiner verlorenen Erinnerung an das Vorher, ich habe aber auch nicht vergessen, daß sie mir abgeht. Vielmehr habe ich das Gefühl, daß sich mein Verlust von einer anderen Seite auflösen könnte, als von der Erinnerung. Ich denke fast, die Erinnerung liegt vor mir und nicht hinter mir. Ich habe mir eine lockere Möglichkeit zu eigen gemacht, sie ist mir vielmehr wie von selbst erblüht, meine Vergangenheit im Augenblick zu leben und sie weniger aufzusuchen und zu vermissen. Ich fühle, ich habe alle Bestandteile dieser Vergangenheit zur Verfügung. Ich vermisse kein Bewußtsein im Augenblick, selbst dann nicht, wenn ich in einem Moment hänge, der mir nicht angenehm ist oder mir ungeklärt oder unbefriedigend erscheint. Ich bin näher herangeraten an mein ursprüngliches Motiv, mich genau erinnern zu wollen, das scheint das Klaffen im Hirnbereich eigentlich auszumachen, nicht die Sehnsucht nach der genauen Rekapitulation der Vorkommnisse ist es, die einen Verlustschmerz erzeugt. Trotzdem habe ich das prickelnde Gefühl, daß mir noch alles aufgehen könnte über mein Früher, aber ich dränge nicht danach. Ich lebe genau nach den Regeln des Ordens. Ich muß dazu nichts Besonderes tun. Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, Asketenregeln einzuhalten. Ich habe das Gefühl, ich
könnte sie jederzeit aufgeben und die Stätte verlassen. Ich fühle mich hier mit einem Gefühl von [463] Freiwilligkeit wie zu Hause. Ich bin einen harten Weg der Wandlung, der Befreiung vom Genuß - zum Zwang der Askese - und wieder zurück zum natürlichen Leben gegangen und fühle, als sei ich hier angelangt. Die Natur tritt wieder an mich heran. Auch meine Blutung habe ich wieder bekommen. Ich bin mir selbst dankbar für meine Wendung. Ich habe meine Einsamkeit wiedergefunden, inmitten der Einfachheit des Lebensstils. Allerdings weiß ich, daß mein Wohlbefinden stark darauf beruht, daß niemand an mich herantritt, um mich mit Haut, Haar und Kutte an den Orden zu fesseln. LE beobachtet mich weiterhin mit fast noch zunehmender Intensität, aber sie fordert von mir nichts, sie scheint sogar jedem aufkeimenden näheren Kontakt direkt aus dem Wege zu gehen. Auch die anderen haben diesbezüglich kein Verlangen, zumindest scheint es so. Andererseits halte ich mich an ihre obersten Gebote, an mir gibt es nichts auszusetzen. Der Junge lebt noch immer in seinen Haaren und Kleidern dahin. Einmal sagt er fast vorwurfsvoll: «Ich weiß nicht, ich glaube, du hemmst mich hier irgendwie am Eintritt in den Orden. Ich will dir keinen Vorwurf machen, verstehe das recht, aber ich muß das einmal aussprechen können. Wärest du nicht du, sondern irgendein anderer Mensch, so wäre ich nicht so gehemmt. Ich kann mich nicht so recht entfalten. Wärest du nicht so knapp hinter mir gekommen und wäre ich vielleicht schon eingekleidet gewesen, aber so ...» Er setzt hinzu: «RÜ sagt aber, daß viele Mönche erst nach längerer Zeit voll in den Orden aufgenommmen werden.» Dann fragt er noch rasch und so, als würde er das gar nicht gern tun: «Wirst du bleiben?» «Ich weiß es nicht», antworte ich. Der Junge zeigt sich über meine Lockerheit in diesem Punkt erstaunt. Er sagt nichts mehr, aber er verläßt mich mit einem schmissig wirkenden Wink der Hand, einer sehr weltlichen Geste. Am Morgen, als ich aus meiner Zelle auf den Gang trete, höre ich vom Hof, vom Brunnen herauf durch das offene Fenster ein scharfes Schlagen, regelmäßig und hart. Ein schneidendes Peitschen ist es. Ich trete an das Fenster und sehe, wie unten eine nackte, dürre Gestalt mit kahlem Kopf auf den Brunnenrand gestützt steht. Den Kopf zwischen die Arme verkrampft, die Hände an den Stein gepreßt. [464] Die Hüften ragen spitz aus dem skelettartigen Gestell heraus, die Schultern bilden ebenfalls harte Ecken. Geschlechtsmerkmale kann ich nicht erkennen, weder Brüste noch ein männliches Glied. Es könnte sich um eine Frau handeln, die da unten von einem Dürren mit einem dicken Strick hart auf den Rücken geschlagen wird. Jeder Hieb hinterläßt auf dem rippigen Rücken eine weiße Spur, die sich aber bis zum nächsten Schlag rot färbt, wohinein wieder der nächste Schlag schneidet. Ich bin von diesem Anblick selbst getroffen und renne unüberlegt hinunter, dränge mich zwischen die anderen, die rund um den Brunnen stehen und dem Schauspiel folgen. Ich sehe jetzt genau, daß es sich um eine Frau handelt, sie hat kleine verkümmerte Brüste, sie hält ihr Gesicht nach unten gedrückt, Blut rinnt über ihren Rücken. Der Schlagende haut mit gefaßtem Gesicht unbeteiligt auf die Frau ein, so als würde er von keinem Gefühl bewegt sein, diesen Akt zu vollbringen. Ihre Kutte liegt am Boden. Bei jedem Hieb bebt die magere Frau und könnte, würde sie sich nicht so abstützen, umgeworfen werden. Ich schaue mich unter den anderen um, die alldem in einer ähnlich unbeteiligten Sachlichkeit folgen, ich selbst nehme eine gespannte Haltung ein, aber die still ergebenen, verschlossenen Blicke um mich halten mich davor zurück, mich auf den Schlagenden zu stürzen. Die eine, welche immer neben mir in der Tischrunde sitzt, unterrichtet mich: «Sie hat von Waldfrüchten genascht. Das ist uns verboten.» «Das ist die einzige Möglichkeit der Wiedergutmachung?» frage ich, noch immer auf
dem Sprung. «Sie hat das so gewünscht. Wir haben ja nicht gesehen, wie sie gegen die Regel verstoßen hat. Sie hat es hier am Morgen bei der Rasur vorgebracht und diese Buße gewünscht. Sie hätte uns auch verlassen können, und nichts wäre ihr angetan worden.» «Wegen ein paar Waldfrüchten muß man schon alles verlassen?» frage ich ungläubig. «Natürlich muß man das. Bei uns herrscht Disziplin. Das ist eine Pflicht den anderen gegenüber, an der gemeinsamen geistigen Sache. Sie hat die Möglichkeit der Buße. Jetzt kann sie noch einmal probieren, ob sie es schafft», berichtet die Frau sogar etwas empört, daß ich die Notwendigkeit dieser Härte anzweifle. Ich [465] will mich schon aus dem Kreis zurückziehen, da sagt sie noch streng: «Du kannst ruhig dableiben, unsereiner muß diesen Anblick aushalten können. Fünfundzwanzig Schläge, neunzehn sind es schon!» Der zwanzigste saust über den Rücken nieder, und bei diesem Schlag schaue ich die Frau an, welche mich zum Bleiben auffordert, welche mich an die Regeln des Ordens zwingen will. Ich trete mit einem Schritt aus der Menge, die mir den Weg freimacht, als sei ich eine Autorität. Dann durchschneide ich den offenen Kreis mit einigen Schritten, trete ohne hinzusehen an den beiden Hauptfiguren vorbei und verlasse den Schauplatz. Ich spüre die Augen der Zuschauer auf meinem Rücken, während die letzten Schläge klatschen. Ich gehe hinaus auf die Wiese und setze mich ins Gras. Es ist noch taufeucht. Ein Reh zeigt sich wieder am Waldrand. Es blickt auf, es lauscht, und dann verschwindet es. Ich rupfe einen Grashalm aus, sehe ihn an und stopfe ihn kurzerhand in den Mund. Ich fühle mich zu dieser Tat gezwungen, als Antwort auf das Erlebnis. Ich denke auch daran, noch eine Handvoll Erde zu fressen, aber ich lache schon über meine Regung und streue mir die Erde von einer Hand in die andere. Ich verharre in diesem verlorenen Spiel. Ich fühle kein rechtes Verlangen zurückzugehen. Das erste Mal ist es, daß ich das Tor von außen genau anblicke und mich so fühle, als müßte oder wollte ich nicht zurück. Die Selbstverständlichkeit ist von mir gewichen, mit der ich hier eingekehrt war. Einige ziehen zum Kornspeicher hinunter, ich gehe nicht mit. Ich vermisse sie nicht, meine Begeisterung an meinem Leben. Ich bin zu manchen Zeiten alles andere als begeistert oder neugierig, dann bin ich eben in einem anderen Gefühl zu Hause. Mir ist das Ringen nach einer Freude verlorengegangen, ich bin erlöst, ich bewege mich in den Zwischenzeiten der Atmung und der Klarheit genauso locker und weich wie in Hochstimmung oder Schmerz. Einige sitzen um den Tisch und reden. «Das Erschütternde an diesem Mann war, daß er sich kreuzigen hat lassen. Es ist ihm ohnehin schwer genug gefallen, aber es ist doch passiert, und er hat es mitgemacht. Das war es, was die Menschen ins Herz traf, das war mit Vernunft nicht zu bewältigen. Das rationale Bewußtsein ist selbst zur Gänze so etwas wie ein irrationaler Rest des [466] Gefühlshaushalts», ereifert sich NA, obwohl er lange in der Gesprächsrunde geschwiegen hatte. Der zarte Mann, der mit mir den letzten Toten hinuntergeworfen hat, hebt nun den Kopf und sagt: «Diese Tat stellte eine direkte Bedrohung für die Menschen dar, denn sie besagt, daß man den Tod und den Schmerz annehmen kann, daß das möglich ist für einen jeden. Diese Möglichkeit wurde zu einer gefährlichen Seelenbombe, die in Form von Religion heruntergespielt wird. Eine Abwehr der Bedrohung durch diesen Menschen, eine Abwehr seines Geistes, eine Abwehr seiner Sickermacht in das eigene Gehirn in Form der Verehrung. In den Schwächen liegt das Mark der Geschichte. In den Gewebsschwächen liegt die Möglichkeit zur Wandlung der Arten und zur Wandlung des Geistes. Wir haben es erlebt, aber beobachten können wir es erst jetzt.»
«Sehr richtig! Man kann sagen, daß wir hier über abgelaufene Handlungen sprechen, aber jetzt erst kann man sie beobachten. Erst dann, wenn eine Entwicklung sich ganz volllzogen hat, kann man die Knotenpunkte erkennen, die sich als Geistesfossil abgedrückt haben. Ich sehe uns als besonders empfindsames Gestein, das die Abdrücke in sich bewahrt hat, und es könnte sein, daß die Art unseres Lebens uns für dieses Empfinden so wach und bereithält», sagt NA darauf und bekennt sich damit zaghaft, aber doch merklich wieder zur Askese, an der er einmal zweifeln wollte. Gespräche dieser Art betrachte ich als etwas zu weit vom Stamm gegriffen. Denken heißt für mich Leben und Tun, auch ich spinne vor mich hin, oft sehr gern, aber heute macht mir das keinen Spaß. Ich wandere im Gemäuer umher und sehe mich in diesen Hallen um. Ich höre nichts, es ist totenstill, aber dann ist es trotz meiner weichen Sohlen, als würden meine Schritte hallen. Jetzt bin ich schon so lange hier, aber ich habe das Haus noch nie ganz begangen. Das Wetter war schön, und das Leben spielte sich draußen ab. Stein, graue Mauern, in sich schattiert, Fresken der Gezeiten, Löcher, die wie Augen auf mich herunterblicken, Anordnungen von Verfärbungen. Vereinzelt liegen schöne Fliesen am Boden, manchmal sind die erhaltenen Flächen so groß, daß man Ornamente erkennen kann. Ich trete langsam von Stein zu Stein und vollziehe die Musterungen nach, aber immer wieder verlieren sie sich, sind ausgebrochen, und sandiges Material füllt die Gruben im Boden. Ich gucke in andere [467] Zellen hinein, dort wo die Türen offenstehen. Eine ist wie die andere, alle so wie meine. Nirgendwo liegt persönliches Gut oder etwas herum, woran man individuelles Leben in diesen Mauern erkennen könnte. Auf manchen Pritschen ist mehr Stroh. Ich gucke aus Gedankenlosigkeit auch in meine Zelle, so als sei es eine von den anderen, und sehe meine Flöte am Kopfende liegen. Ich bin zuerst erstaunt und muß dann lachen über meine Verlorenheit. Ich schließe meine Tür und trete an den Treppenabsatz. Nach oben zu ist eine Absperrung. Ich erkenne, daß die Decke im Obergeschoß teilweise eingebrochen ist. Ich gehe in den unteren Trakt. Riesige Kojen liegen da, eine neben der anderen, es sieht so aus wie eine Stallung. Manche Wände sind schon umgefallen. Weiter vorn muß eine Werkstatt gewesen sein. Eisenzeug liegt herum, alte, verrostete Geräte, eine Feuerstelle kann ich erkennen, mit einem Abzug nach oben und einem riesigen Amboß. Ein Eisenstück liegt daneben und auch ein Hammer. Schmiedeeisenteile hängen an den Wänden. Sie sehen alle so aus wie die am Tor draußen, welches schon halb aus den Angeln hängt. Durch zwei kleine Fenster kommt wenig Licht herein. Ob dem Schmied das Feuer genug Licht gegeben hat bei der Arbeit? Eine andere Tür scheint verschlossen, aber ich zerre ein wenig an der Klinke, ich sehe einen starken Spalt klaffen, sie klemmt nur. Betäubend muffiger Geruch strömt mir entgegen und nimmt mir fast den Atem. Ich trete in eine kleine Kapelle. Vom Altar geht dieser Geruch aus. Spinnweben überziehen den Aufbau, heilige Gesichter scheinen durch die Schleier. Abgebrochene Statuenteile liegen auf staubbedecktem Boden. Ein Sarg steht neben dem Altar. Der Deckel ist offen. Eine bemalte, eingewickelte Figur liegt drin wie eine Puppe. Sie ist heil, kein Glied fehlt, sie starrt wie ein Gespenst aus dem Sarg. Ein Teil der Holzverschalung des Gewölbes liegt unten. Gebetsbänke reihen sich hintereinander, da sehe ich noch ein altes Buch neben einer eingebrochenen Knieleiste. Ich hebe es auf, und es bröselt mir wie Staub aus den Fingern. Dieses Gefühl erschreckt mich, ich habe erwartet, etwas zu greifen. Es ist, als ob ein menschlicher Körper bei meiner Berührung zerfalllen sei, so als sei ich der Anlaß für seine Wandlung. Ich gehe wieder hinaus, ohne mich noch einmal umzusehen, und schließe die Tür wieder hinter mir. Durch ein kleines Gitterfenster kommt warmes, freundliches Sonnenlicht, ich denke daran, meine Entdeckungsunternehmen abzubrechen und lieber wieder in [468] den Tag hinauszugehen. Eine große Flügeltür fällt mir am Ende des Gangs hinter dem Treppenabsatz noch auf, ich trete hin und öffne sie, um kurz hineinzusehen. Ein langer, schöner Saal nimmt mich zu meiner Überraschung auf. Sein Gemäuer ist völlig unbeschädigt, eine kostbar geschnitzte Decke krönt den riesigen Raum, der durch
einige größere Fenster Licht einläßt. Ein Strahlenbündel trifft scharf auf den eingelegten Holzboden. In der Mitte des Raums steht ein langer Tisch aus schwerem, dunklem Holz mit Stühlen rundherum. Die Mauern sind auch hier aus blankem Stein, aber im Verein mit dem Holz erscheint mir dieses Bild wie eine riesige Gedankenkammer. An den Wänden verläuft rundum eine lange, schmale Sitzbank. Das Gewölbe lebt, als sei es beseelt vom Geist des ganzen Gebäudes. Ich betrete den Raum vorsichtig, voll Ehrfurcht und Staunen. Mir fällt ein, daß jemand von einem Saal gesprochen hat, in dem sie im Winter die Diskussionen abhalten. Dort, wo das Licht nicht mehr recht hinreichen kann, in der Ecke der schmalen Sitzbank an der Wand, erkenne ich einen dunklen Körper. Zugleich mit meinem Blick, noch bevor ich genauer sehen kann, um wen es sich handelt, ertönt eine Stimme: «Ich erwarte dich schon lange, ich wollte aber deinem Bedürfnis nicht vorgreifen.» Das Blut schießt mir zu Kopf. Ich habe alles innerhalb eines Atemzugs in mein Bewußtsein aufgenommen. Während ich den Schatten entdeckte und mich ihm zuwandte, hat er sich bewegt, und zugleich ist mir die bekannte Stimme entgegengedrungen. LE erhebt sich und streift die Kapuze vom Kopf. Noch während des Blutandrangs will ich mich innerlich ermahnen, daß ich doch ruhig reagieren könne, ich empfinde es sogar als angenehm, daß ich von LE entdeckt worden bin. Gerade von ihr. Oder wer hat hier eigentlich wen entdeckt? Ich bin nahe dran zu sagen, daß es nur ein bloßer Zufall sei, daß ich hier hereingeschaut habe, aber, noch immer in derselben Regung gefangen, weiß ich auch, daß geheime Fäden dort wirken, wo man gerade Zufälle verantwortlich machen möchte, und ich verharre in meiner Erstarrung, die tatsächlich nur ganz kurz gedauert hat und nicht eigentlich sichtbar geworden ist. Ich löse mich wieder aus meinem Schrecken. Er klingt aus in einer verhaltenen Freude darüber, daß ich LE nun endlich gegenüberstehe, so als sei eine Zeit reif geworden, von der ich nicht sicher war, ob es [469] sie gäbe. Ich muß vor LE nichts verbergen. Ich fühle mich vor einer weisen Meisterin meines eigenen Weges. Sie sieht durch mich hindurch, und das gibt mir Vertrauen, das löst meine geheime Spannung zur Freiheit, hier in diesem stehenden Augenblick im Saal. LE hat für mich nichts mit den Regeln und Ordnungen des Ordens zu tun, sie steht losgelöst von diesen Äußerlichkeiten vor mir. Es ist geschehen, wir sind einander begegnet, und ich fühle erregte Freude darüber, aber auch eine Gefangennahme meiner Sinne. Ich habe nichts zu sagen, aber der Augenblick fordert etwas von mir, eine Regung, ein Zeichen, daß ich nicht tot bin, und auch wenn ich es wäre, hätte ich reagieren müssen auf diese geistige Fessel der Sehnsucht nach einer Erschütterung. Ich selbst bin es nicht allein, die dieses Schweigen im Saal zum Schwingen bringt. LE empfindet genauso und sendet auf verschlungenen Wegen des Gehirns in diese Höhle hinein, in der das Echo der Wesenhaftigkeit aufschreit. «Ich kann nirgendwohin ausweichen. So ist das gekommen», sage ich in den Saal, in unser gemeinsames Hirn hinein, leere Worte des Verlustes einer Fassung. Ich empfinde zugleich mit ihrem Ertönen, daß es bloß Worte sind. Ich müßte still bleiben. Meine innere Erregung ist voll ungerichteter Natur. «Deine Verwirrung ist die richtige, ich erkenne sie wieder», meint LE, aber zugleich ist es so, als hätte sie den Mund nicht geöffnet. Eine tiefe Armut liegt um sie, welche selbst Stolz und Hoheit in den Schatten stellt. Ein Schein von Göttlichkeit um ihre Stirn. Ich sehe aber auch so etwas wie Rührung um ihren schmalen Mund. Dieser macht sie zu einem Menschen. Sie scheint zu strahlen, von innen heraus. Ich spüre, ich bin hier nicht allein. Sie verschränkt die Arme in der Kutte und wandert auf dem Holzboden auf und ab, dann bleibt sie plötzlich stehen und fragt, mehr im Tonfall einer Feststellung: «Willst du etwas sagen.»
Ich erhebe mich zu allen Möglichkeiten, die so ein Zusammentreffen aufscheinen lasssen kann, und spreche: «Ich will nichts sagen, aber ich will hören, was ich nicht sagen will.» «Du kennst deinen Willen. Er ist ein Weg aus der Verwirrung. Findest du, daß es der richtige Wille auf dem Weg ist?» LEs Stimme ist klar und fordernd. «Ich halte meinen Willen nicht für so ausschlaggebend in meinem [470] Leben», antworte ich genauso sicher. Ich spreche, wovon ich weiß. LE beginnt ihre Wanderung wieder. Dann fährt sie sich mit dem langen Zeigefinger über die Narbe an der Schläfe, bleibt wieder stehen und fragt das erste Mal so, als würde es sich wirklich um eine Frage handeln: «Was gibt dir einen Grund?» «Ich spüre einen Drang, und zugleich tue ich ihn. Die Tat der Sehnsucht ist die Erfüllung und ein dauernder Sturz in mich selbst. Mein Leben eben, so mache ich es», setze ich noch einfach hinter die Worte hinzu. Mir scheint jetzt wieder alles klar, was mich allerdings auch alarmiert. Ich beginne meinerseits im Saal zu wandern. Zugleich mit meiner Aussage ist ein Problem gewachsen, hat sich unsichtbar zwischen uns aufgerichtet, wo vorher der Geistesraum frei war zu jeder Ausformung oder zu keiner. Vielleicht ist dieses Problem auch nur in mir selbst erstanden. Bin ich hier nun geprüft oder was? Ich habe wirklich keine Frage und auch nichts weiter zu sagen, hadere ich mit mir im stillen über meine Ungeduld und meine Angst davor, einfach zu schweigen? Aber auch das wäre nicht genug gewesen. LE verharrt in ihrer konzentrierten Stellung, richtet den Blick auf den Sonnenstrahl und beginnt in einem leiseren Tonfall zu sprechen: «Wer wehrt in sich etwas ab, was er nicht fassen kann. Wer härtet sich selbst im Wissen vor der Angst, nicht wandelbar zu sein, sondern immer verhaftet in seinem Wesen. Wer wehrt ab, was ihm ans Herz gehen könnte in einem Schmerz der Ausgeschlossenheit.» Sie fragt mich nicht, sie fragt niemanden, auch sich nicht. Sie stellt nur fest, so als würde sie etwas aus einer Schrift herauslesen. «Niemand ist ausgeschlossen vom Nichts», sage ich, «das ist die einzige Stätte, an der alles möglich ist und alles richtig sein darf.» Ich spüre ein Rollen meiner lauten Gedanken, die sich wie von selbst in meinem Mund formen. Ich muß diesen Zwiespalt für den richtigen ansehen. Im geheimen lache ich über mein eigenes Beharren auf gerade diesen Lösungen, die ich ausspreche. Ich könnte sie nicht äußern, wenn ich sie nicht vollziehen würde und nur ein Opfer ihrer Funktion wäre. Mir drängen sich aber noch die Worte auf: «Ich ziehe es aber vor zu leben und nicht nur über das Leben zu denken, wenngleich das Leben nichts bedeutet. Es stürzt oft heran mit feurigem Atem, und oft bewegt es sich gar nicht, und ich bin tot.» Sie sieht mich an und fragt: «Was hast du vor?» [471] «Was soll ich noch vorhaben, wenn ich tot bin - alles habe ich vor, was sich ergibt!» antworte ich und beginne zugleich rege in mir selbst zu denken. LE gibt mir einen Anstoß zu meinem weiteren Verhalten, bläst mein Gefühl der schwelenden Ruhe zu Getriebenheit auf, aber nicht so, als sei sie darüber erhaben, sondern eher voll Anteilnahme und Neugier. Dann sagt sie, den Kopf noch immer gehoben: «Es ergibt sich die Grausamkeit der Zwischenzeiten und der Zwischenräume, die Diskrepanz zwischen den Ängsten und den anderen Gefühlen, in sich selbst und unter den Menschen, ein Benützen der Armut des anderen, um sich selbst und die eigene Persönlichkeit aufzubauen.»
Sie bringt das nicht als Klage, sondern als vollwertige Erkenntnis. Ich schließe mich ihren Gedanken an: «Das ist eine Möglichkeit, ich nehme sie an. Es ergibt sich.» Ich bin stehengeblieben im Bekenntnis zur Wehrlosigkeit in meinem Stillstand, in der triebhaften Bewegung meines Bluts. LE hat diese Gedanken aufgedeckt, sie hilft mir. «Ich kann mir helfen lassen», erkenne ich strahlend und stelle damit für LE eine einfache Wirklichkeit auf die Beine, die sie unter ihrem edlen Gesicht erschüttert. Sie kann ihr persönliches Leid tragen, sie löst sich nicht, sie erblüht aus ihrer Starre und spricht: «Die Wirklichkeiten sind verschieden in ihrer Gestalt und so gleich in ihrem Ton.» Sie lächelt verloren, empfindlich, kehrt in Realität zurück und fragt: «Wohin gehst du?» «Ich bleibe, ich bin immer geblieben, ich kann nur bleiben in meiner Bewegung.» «Was forderst du?» Ich horche auf. «Nichts.» «Entwirfst du neue Regeln?» «Ich bin der Wandlung meiner Regeln ergeben, sie sind meine Liebe. Ich kann sie mit niemandem teilen, weil sie nicht mitteilbar sind. Wer sie nicht in sich hat, für den leben sie nicht. Niemand ist ein Teil von mir, weil es nur alle sein können. Meine Regel ist meine Einsamkeit, ich bin allein.» Ich sehe mich vor mir erstehen, mit einer göttlichen Stirn und einem menschlichen Zug um den Mund, einem ergebenen Wechsel - mein Gesicht, eine Landschaft ewiger Bewegung zwischen Weiten und [472] Abgründen, Mißverständnissen und Klarheiten, ein Erdball im Feuerschein der Sonne. Ich trete von LE ab, ich löse mich von ihrer Gottheit und bleibe wie ich bin, eine Armut diesseits von Stolz und Hochmut. «Du nimmst mich nicht in deine Regel auf?» Ihre Augen haben sich gewandelt wie in eine tiefe Unterwerfung. Sie ist wie in seelischer Panik, aber sie bewahrt ihre Haltung. Dieser Zwiespalt erscheint erschütternd und bedrohlich. «Du hast deine eigene.» Sie wendet ihre geweiteten Augen ab und starrt auf den Boden. «Ich habe die meine nie gefunden, die goldene Regel», sagt sie leise, gebrochen an ihrer Weisheit und Macht über sich selbst. Ihre scheinbare Selbstaufgabe erwächst mir als Aufgabe. Ich muß sie ertragen. Sie ist mir selbst ein körperlicher Schmerz, ein goldener Schnitt in meine eigene wunde Hirnspalte. Das pulsende Blut in unserer Unmöglichkeit zu vereinen, was nie getrennt war, lebt im Raum als eigenes einsames Wesen. Ein namenloses Menschenwesen auf dem Weg zu sich selbst. Ich fasse meine Vernunft zusammen wie einen Rettungsring um meine Stirn. Das schweigende Wesen zerstiebt in unendlich viele Teilchen und senkt sich in uns wie eine Erinnerung an eine unwirkliche Möglichkeit zu halten, was sich nicht beherrschen läßt. «Ich gehe wieder. Mich zieht es hinaus. Es ist noch warm, die Sonne macht mich rege, ich fühle mich so richtig», löse ich mich zu Vernunft und Körperlichkeit und bin dankbar, daß ich diesen Teil an mir habe. Auch LE begibt sich auf die Verstandesebene und nimmt wieder ihre Hoheit ein, aber der vertraute weiche Zug um den Mund bleibt da. Er ist für mich. «Dann muß ich wohl bleiben», meint sie wie zerstört, aber doch dankbar, genauso dankbar, wie ich für mein Körpergefühl bin. Ein kleines Lächeln geht zugleich über unse-
re Gesichter, oder war es der Sonnenstrahl? Ich wende mich zur Tür, LE stülpt sich die Kapuze auf, sie schreitet voran und öffnet mir. Ich gehe hinaus, ohne mich noch einmal umzusehen. Sie schließt wieder hinter mir. Ich steige zu meiner Zelle hinauf, hole meine Flöte und verlasse das Gebäude durch das Tor, durch welches ich hereingekommen bin. Ich gehe einen Weg entlang, irgendeinen, ich weiß nicht einmal, ob [473] es einer ist, für mich ist jeder Schritt der richtige. Ich spüre einzig die Lust an der Bewegung, sonst fühle ich mich wie aus Draht. Ich bin durchdrungen von meiner Tätigkeit weiterzuziehen, aber sonst bin ich gedankenleer. Ich hätte ja nicht müssen, ich hätte gleich hierbleiben können, hier in diesem Wald und mir in der Erde eine Höhle bauen oder doch bei den Asketen bleiben können. Lieber allerdings ist mir die Einsamkeit, das muß ich schon bemerken. Es wäre mir schon eine Last, mich immer an diese Regeln halten zu müssen, und selbst wenn ich meine eigenen zu den herrschenden gemacht hätte, wäre mir das unangenehm gewesen, dann erst recht. Ich bin da, um meine Regeln zu brechen, das verlange ich sogar von mir, aber nicht unbedingt, nicht um etwas zu bewirken. Einsiedeln? Warum sollte ich mich hier wie ein Maulwurf verkriechen, ich bin da, um zu wandern, ich fühle mich dabei menschlich wie mein Geist, wie die Luft selbst. Ich hätte es schon ausgehalten zu verweilen, absolut, aber ich bin jetzt schon ein ganzes Stück weitergekommen. Ich stehe auf einer Lichtung und kann von hier aus einen großen Teil der Landschaft überschauen. Ich sehe auch den Fluß wieder. Von dort muß ich gekommmen sein, dort, weit weg, muß der Wasserturm liegen. Und da drüben müssen irgendwo Ruth und auch Sam zu Hause sein. Ich könnte zu ihnen zurückkehren, es ist ja nicht so, daß ich keine Freunde in der Welt hätte, sie ziehen schon die ganze Zeit mit mir mit, sie sind bei mir, ich fühle mich mit ihnen vereint, ich könnte wirklich zu ihnen zurückkehren, ich habe nichts vor, ich suche keine Erlebnisse, die mich mir sichtbar machen müßten, ich bin alle meine erlebten und nicht erlebten Leben. Die verschiedenen Möglichkeiten sind zu mir selbst verwachsen. Ich habe es leicht, aber ich habe es nicht leichter als jedes Menschenwesen, das den Anschein des Lebens aufrechterhält. Ich müßte auch das nicht, aber ich tue es einfach. Ich ziehe ein Stück weiter in die Richtung des Flusses und denke, daß ein wenig Essen für mich recht gut wäre. Ich fühle mir über das Gesicht und finde mich recht schmal, soweit ich das im Griff feststellen kann. Ich fahre mit meinen Fingerspitzen durch die Haare, schüttle sie, spanne die Muskeln an, um mich zu erproben, ich weiß aber eigentlich nicht recht, nach welchen Regeln oder Vorbildern ich mich da richten soll, weil ich den weiteren Verwendungszweck für meinen Körper nicht absehen kann. Eigentlich ist alles ziemlich egal, gesund [474] fühle ich mich, welchen Erwartungen sollte ich entsprechen, und wozu. Die Vögel zwitschern recht freundlich auf mich herunter, und die Fliegen verachten mich auch nicht. Ich selbst bin jetzt gut im Schritt. Mir wäre Askese viel zuviel, um nichts zu sein, zugleich ist mir das auch zuwenig - mir ist das einfach nicht genug, um nichts zu sein. Sam hat schon gewußt, wovon er redet. Ich komme ihm immer näher, mir leuchtet alles immer mehr ein. Ein Zusammensein wird unbedeutend. Würde ich dafür etwas tun, so würde ich diese Selbstverständlichkeit der Verbindung sogar verlassen. Gutes Essen wäre wohl ein Grund, sich dafür auf eine weite Reise zu begeben, ich würde das jetzt nicht verachten, es wäre mir ein wichtiger, vielleicht sogar ein einziger Grund, aber selbst der ist mir nicht genug, um zurückzukehren, dorthin, von wo ich ausgezogen bin, um meine Bedürfnisse zu finden. Mir ist etwas zu einer vollwertigen Lebensqualität erwachsen, was vordem Schwierigkeiten erzeugt hat, es anzunehmen. Ich lebe im Zwiespalt, im Zweifel, in der Frage, im Problem genauso wie in der Klarheit und in der Sicherheit. Die Zwischenräume und die Zwischenzeiten, in die ich oft so schwer hineingefallen bin, sind mir zu einem lockeren Flug geworden, aus dem ich nicht stürze, ich gleite schon recht
gut durch den Himmel des inneren Raums. Da ist gut sein, da ist es nicht beklemmend, oder ist die Beklemmung zwischen den Gefühlsausschlägen zu einem anerkannten Gefühl geworden, sie bleiben näher bei mir, sie reißen mich nicht herum, sie sind Wesen meiner Wandlung, die in nichts anderem besteht, als in der Nähe zu meiner Abwesenheit von mir selbst. Das ist kein Glück und keine Freude, das ist kein Leid und keine Weisheit, aber bemerken kann ich es, wie einen Atem leicht, wie eine kleine Wendung meines Kopfes in jede Richtung, die mir erscheint. Der Fluß schlängelt sich weit ins Land hinein wie meine ungerufenen Gedanken über meinen Atem, er durchfließt die Gegend, ein Strom der Energie in meine richtungslose Bewegung, ich entschließe mich, mit ihm zu ziehen. Dort hinein in das Land, wo ich nun am Horizont eine große Fläche aufleuchten sehe. Von Bärles Turm aus haben wir einen fernen See gesehen, es könnte dieser sein. Jedenfalls steige ich den Berg hinunter und verfolge den Weg am Fluß entlang. Das Drängen des Wassers, mein Fluß im Hirn, meine Verlorenheit im Auge, meine Bewegung im Wasser, mein Atem im Gang, mein [475] Leben ohne Sinn, das sind die Schritte auf diesem Weg. Ein Fisch springt auf, es zischt, eine Welle bricht an meinem Schritt im Wasser. Ich gehe wie der Fluß, mein Blut ist ein Gedanke, ein Wesen voll Erinnerung an seinen Trieb, am Leben zu bleiben. Eine Verzweiflung, Glück, ein Aufwallen, ein Zeichen meiner Bewegung, im Fluß, der seine Sprache mir gibt, ein Strom der Erde. Keiner hört mich denken, keiner nimmt das, keiner ist da, und ich will auch keinen. Ich suche keinen. Mich wird keiner erwarten. Am Flußufer ziehe ich zwischen Büschen dahin, da und dort taucht eine Weide auf, Gestein wölbt sich und geht in Sand über. Die Sonne steht schon hoch am Himmel, ich bin ausgedörrt, neben dem Fluß, er zieht ewig dahin, und mein Blut fließt noch durch den Körper. Ich schöpfe mir mit der Hand das schnellfließende Naß in den Mund. Eine kühle Zufriedenheit erfüllt mich zuerst. Dann denke ich an Nahrung. Ich habe keine Körner, weder eingeweichte noch in frischem Zustand. Der Hunger weckt mich aus meinem gleichmäßigen Gedankenstrom. Ich bin dankbar für den Hunger, er erweckt mich zu neuerlichem Leben. Ich sehe mich um, ob sich vielleicht abseits des Flusses etwas Eßbares finden ließe, aber diese Breiten hier sind unwegsam und unbebaut. Nur hohes Gestrüpp und ein leiser Windhauch. Ich habe das Hungern gelernt, aber das heißt nicht, daß er nicht mit aller Gewalt zubeißt, er bohrt in meinem Magen, er fordert - wie ein Herr der Sinne. Ich tauche in einen monotonen Irrsinn wie in die Wellen einer kommenden Erinnerung, einer Station an meinem verflossenen Weg. Ich gehe Wege, die ich schon lange hinter mir habe, die ich schon einmal gegangen sein muß, ich tauche ein, ich leide mein Leiden mit der Not eines Menschen. Ich komme voran, ich bewege mich mit den Wellen der Atmung, ich komme. Eine Sinnlosigkeit zum Leben erblüht, ein Aushalten ohne den Glauben, etwas zu gewinnen. Nichts lohnt mir den Weg, aber ich gehe, ich harre aus. Ich sehe durch ein Auge, das ich noch nie benützt habe, ich bin dieses dritte Auge für nichts. Ein Auge, das nicht zum Sehen geeignet ist, weil es nichts zu sehen gibt, aber ein Auge, welches die Blindheit durchleuchtet. Ich habe keinen Glauben, ich habe nur Hunger. Vorn tauchen viele Sonnenblumen auf, etwas abseits vom Flußbett gelegen. Ich ziehe querfeldein zu diesem Feld hin. Es sind Kerne dran, sie liegen auch am Boden rundum, überall Kerne für mich, gute, reife, mit einer dünnen Schale. Die Früchte sind nicht groß, innen frisch, [476] manche sind hart, aber viele haben schon dieses Aroma, das so sehr nach Gehirn schmeckt. Ich setze mich unter die Sonnenblumen und hole eine Blüte zu mir herunter. Ich knacke die Samen mit den Zähnen auf und spucke die Schalen aus. Ich spüre, davon kann man satt werden. Vielleicht bin ich wegen der Sonnenblumen so weit hierhergegangen, vielleicht um wieder Vertrauen in die Sonne zu gewinnen. Ich lege mich hin und schaue durch die gelben Blätter. Ich bin so schwer und müde. Ich bin die viele
Bewegung nicht mehr gewohnt, ich könnte schlafen, hier unter den Blumen. Ich könnte hierbleiben und davon leben. Ich erhebe mich aber schließlich doch, dränge meinen Körper hoch, von einer unsinnigen Kraft angeregt, ich spüre, er ist jetzt wieder hochzureißen für nichts, etwas will weiter. Es sind meine Augen, die ich ausgetauscht habe für einen Sinn, neben dem Strom des Bluts einherzuwandern mit dem blinden Blick nach einem Innen, welches außen ist. Ich bin müde, ich darf es sein, ich treibe noch immer. Ich gehe noch ein Stück weiter, die Sonne kommt rasch tiefer und geht unter. Ich verkrieche mich in das Gestrüpp und sinke weg wie ein erschöpfter Kranker, der sich nur mehr seinem Fallen ergeben kann. In der Nacht fahre ich aus einem totenähnlichen Schlaf. Ich reiße in die Welt herüber, mich friert, das Gestrüpp sticht. Die kleinen Steinchen drücken sich in mein Fleisch, als wollten sie hineinwachsen. Mein Ellbogen tut mir wieder weh, ich muß ihn schlecht belastet haben. Zugleich erinnere ich mich, daß es kein angenehmer Schlaf war, einer, in dem es genauso kalt und dunkel war wie jetzt im Wachen. Es scheint mir überhaupt unmöglich, hier in der Kälte liegen zu bleiben. Feuchtigkeit steht auf dem Gras, die Erde ist hart, in meinem Magen liegt es wie die Erde, auf der ich laste. Ich rolle mich zusammen wie ein kleines Tier und will mich in meiner Beuge schützen und wärmen, aber es ist ausgeschlossen, denn die, welche ich schützen will, ist die Beschützerin und ist der feuchten Nachtluft ausgesetzt in jeder Stellung. Ich denke auch kurz daran, ob ich mich nicht vielleicht in einem bösen Traum befinde und plötzlich erwachen könnte auf einem raschelnden Strohsack oder im Heu, auf dem Bett im Sanatorium oder auf der Pritsche in der Zelle. Alle meine geborgenen, geschützten Schlafstätten ziehen an mir vorüber wie Himmelbetten. Wenn ich wenigstens meinen Mantel noch hätte, der wäre genug gewesen, wenn es nicht von unten her so kalt wäre. Mir liegt es auch wie ein Eisklotz [477] im Bauch. Ob das Wasser mir nicht gutgetan hat? Liege ich hier im Fieber? Ich greife mir an die Stirn, aber ich bin ausgekühlt, da ist keine Wärme. Ich muß das kalte Fieber haben, ich schaudere zusammen. Ein Vogel kreischt auf. Das Wasser rauscht wie am Tage, und ich überlege, ob ich nicht an seinem Ufer weiterziehen soll. Die Bewegung würde mich vielleicht wieder zur Wärme erwecken. Der Gedanke, in der Finsternis dahinzuwandern, ohne Ziel und Zweck, schlägt mir ins Hirn. Es gibt keine Möglichkeit, gar keine, es ist alles aus. Ich verfalle in eine Starre. Ich kann nichts tun, ich bin hier in der Nacht allein auf dem naßkalten Boden und weiß nicht, was ich auf dieser Welt tun will. Ich habe keinen Ausweg. Ich denke an den Athleten, der mir auf dem Weg zum Sanatorium hinauf begegnet ist, und an die vielen, die ich schon sterben gesehen habe. Vielleicht sollte ich mich hinunterschleppen zum Fluß und mich dort hineinkippen. Ich muß aber über diesen Gedanken lachen. Meine Verzweiflung und meine Not werden weicher, sie haben sich abgenützt, ich habe mich meiner Lage ergeben, ich kann mich in meine kalte Einsamkeit finden, und im Rauschen des Flusses muß ich noch einmal zu einem schöneren Schlaf hinübergeglitten sein, ohne daß ich das erwartet oder herbeigesehnt hätte. Die Sonne steht schon am Himmel, als ich erwache. Meine Gelenke sind steif, mich fröstelt. Ich strecke mich aus, dehne mich unter den warmen Strahlen und probiere meine Glieder. Ich bin ganz zerlegen, aber bald fühle ich mich sogar recht wohl. Aus irgendeinem Grund bin ich fröhlich, wahrscheinlich weil ich so überhaupt keinen Grund habe, es zu sein oder vielleicht, weil ich die Nacht so gut überlebt habe. Ich strahle in einem Vertrauen zu mir und meinem Körper, der so überleben kann wie von selbst. Mich erleichtert, daß ich wie ein Tier funktioniere, und dieser Gedanke spült mir alle menschlichen Knoten aus dem Hirn, ich fühle mich frei, ich stehe und strecke mich. Ich habe nichts zu denken, und ich lebe noch, das ist das einzige, was ich habe, aber ich versuche es nicht zu halten, es besteht aus nichts, nur aus meinem Atem und meinem warmen Gefühl auf der Haut und aus meiner Bewegung. Daß in dieser Kälte so eine Wandlung mit mir vorgegangen ist. Vielleicht sehe ich gar nicht mehr aus wie ein Mensch? Vielleicht bin ich ein Maulwurf
oder ein Erdhörnchen geworden. Ich fühle an meiner Gestalt: noch ganz menschlich, und ich bin [478] froh darüber. Einfach froh wegen des Tages, und ich ziehe mit dem Rauschen des Flusses weiter. Die Sonne ist warm, aber sie brennt und brütet nicht mehr so wie früher. Sie erschöpft nicht mehr. Ich muß mich in dieser unmenschlichen Nacht irgendwie erneuert haben, wie gehäutet fühle ich mich. Ich bewege mich schon so lange in der freien Natur, mehr oder weniger ungeschützt, und jetzt erst bin ich ein Stück Natur geworden, jetzt erst ist es mir eine Heimat geworden, dieses Leben? Jetzt, wo ich so überhaupt nichts mehr im Schädel habe, keinen Wunsch, keine Erinnerung, keine Hoffnung, jetzt erst bin ich ein Mensch, oder bin ich Tier oder Pflanze oder Stein? Immer noch kann ich mit meinen Gedanken spielen, so als seien sie nicht an mich gewachsen. Ich atme sie aus und ein. Ich lebe mit ihnen, aber ich muß sie nicht maßregeln, sie sind meine Haare, meine Poren, meine Zähne, meine Nägel. Ich gehe lange dahin. Ich spüre keine Müdigkeit. Ich habe einen gleichmäßigen Schritt, ich weiß gar nicht, ob ich sehe oder höre oder denke, ich beachte nichts im besonderen, ich bin übergegangen in ein Gleichmaß mit dem Wasser neben mir und der Luft in meinen Haaren. Ich bin allein und die ganze Welt - und zugleich überhaupt nicht vorhanden. Einmal trete ich auf einen großen glatten Stein und rutsche ab. Ich bleibe sitzen und drehe meinen Fuß im Gelenk. Ich blicke auf und schaue auf den Fluß, die Bäume, die Wiesen und den Himmel. Ich lege mich hin und raste. Die Sonne hat ihren Höhepunkt schon überschritten. Ich hatte die Augen und das Hirn offen, ich habe alles wahrgenommen, aber ich war mit meinen Sinnen nicht ganz dabei. Mir ist alles gleichbedeutend, diese Landschaft ist mir keine andere als die vorherige und die nächste oder alle zugleich. Ich suche nichts im Gras und in den Blättern und nichts in der Luft. Jetzt allerdings ist meine menschliche Beobachtung wieder eingerastet, und ich erkenne hohe, schlanke Bäume, Pappeln sind es. Eine Allee ist da vorn und kreuzt meinen Weg, eine eingestürzte Brücke hängt in den Fluß. Über der Brücke liegt ein langer Stamm. Er soll die Brücke reparieren, hängt aber selbst schon halb im Wasser. Sanft, wellig verläuft das Land. Das Gras ist bräunlich und trocken. In der Ferne sehe ich noch diesen Berg, von dem ich heruntergekommen sein muß. Der Fluß ist hier nicht mehr so wild. Er spricht nicht mehr so laut, oder ist mir sein Fließen schon so eingegangen? Ich höre es nicht mehr, aber es ist da. [479] Vorn im Dunst, der sich über einer weiten Fläche erhebt, baut sich etwas auf, es sieht aus wie eine Hausmauer, weiß, aber noch ganz verschleiert. Ich erhebe mich wieder und gehe in diese Richtung. Es muß noch weit sein, vor mir wird nichts klarer, es rückt fast noch mehr in die Ferne. Über das Steppengras flirren Mücken und Heuschrecken, ein Ziehbrunnen steht mitten im Feld. Eine weite Ebene breitet sich vor mir aus, ähnlich der, die ich schon einmal erlebt habe, bevor ich auf den Berg kam. Ich bin jetzt wach, ich beobachte mit allen Sinnen. Dort vorn ist anscheinend eine Siedlung. Noch immer liegt das Gemäuer im Dunst. Ich erkenne jetzt auch eine spiegelnde schier unendliche Fläche hinter den Mauern, die selbst noch nicht klar auszunehmen und abzugrenzen sind. Diese schimmernde Fläche ist kein Land, das ist nicht die Ebene aus Erde, es muß der See sein, der dort geheimnisvoll aufglitzert, sich mächtig dehnt. Gefährlich mutet mich dieses Wasser an, weich und endgültig in seiner Stille. Ich komme bald näher heran. Noch eine Brücke führt über den Fluß. Diese scheint intakt zu sein. Sehr vertrauenerweckend sieht sie auch nicht aus, aber ich gelange heil hinüber. Maisfelder liegen jenseits des Flusses. Schließlich lange ich bei den ersten Gebäuden an. Weinblätter hängen über eine weiße, abgebröckelte Mauer, die den Weg in eine schmale, ausgespülte Gasse bildet. Kleine Gemäuer ducken sich in Erdwälle mit großen verfallenen Flügeltoren. Manche Erdaufschüttungen sind eingebrochen. Einen sanften Hügel führt diese Gasse hinauf. Nichts rührt sich, nur die Blätter schwanken im Wind. Eine Katze
springt von einem Erdwall hinein in ein Gewölbe. Ich gehe weiter der Siedlung zu. Sechs, sieben kleine Höfe, weiß, nicht eigentlich sauber, liegen dort vorn, mit Hofmauern aneinandergebaut. Ich habe den Eindruck eines kleinen Dorfes. Mist liegt auf den Feldern, Fliegen surren. Dieses Surren hängt auch dort vorn über den Gehöften, aber ich kann kein menschliches Leben entdecken. Ich spüre es, aber es läßt sich nicht sehen. Es schwirrt über den Innenhöfen, ich bin wachsam, denn es kommt mir seltsam vor, daß ich das Leben so sehr fühle, es sich aber nicht blicken läßt. Vielleicht ist es der Gegensatz zu dem stillen See, der hinter den Mauern glitzert. Plötzlich höre ich einen hohen, gellenden Laut, wie einen Tierschrei, ein Signal. Ich verlangsame meinen Schritt. Noch einmal dieses schrille Geräusch. Es könnte auch ein Vogel gewesen sein, aber es war [480] dafür etwas zu laut. Die Mauern der Häuser sind teilweise bunt verziert an den Giebeln, an den Fensterstöcken leuchten kunstvoll gemalte Schnörkel auf. Ansonsten wirken die Anwesen eher verwahrlost. Fensterflügel hängen aus den Angeln, Dachsparren klaffen, Rauchfänge sind eingebrochen. Ein Hund rennt über die schotterige Straße, die in die Mitte des kleinen Dorfes führt. Wieder dieser markerschütternde Schrei, der mich bannt. Ich sehe gerade noch, wie einige wendige Gestalten, teilweise bekleidet oder nackt, hintereinander über eine Mauer verschwinden. Es könnten Kinder gewesen sein. Raubtierhafte Warnung, ein Auftauchen im Verschwinden hinter weißen Mauern, ein Aufschreien wie ein getroffenes Urtier. Getroffen von welcher Macht? Wen trifft es? So freundlich sehen diese Gewölbe aus, mit den Ranken, die über die Mauern fallen. Ich wittere selbst wie ein Tier, ich nähere mich dem Wasser. Es glitzert verlockend. Da zischt es durch die Luft, ich schrecke zusammen, ich zucke in meinen linken Oberschenkel hinein, ein Stich reißt die Aufmerksamkeit meines Gehirns an einen Punkt zusammen. In meinem Schenkel steckt ein Pfeil, er wippt noch leicht, bebt in meinem Fleisch. Die Reaktion auf den Schmerz ist ein Hinfassen, und ich merke, daß der Pfeil mit seiner hölzernen Spitze nicht tief eingedrungen ist. Er hängt jetzt nur mehr an meiner Hose, sie hat seine Wucht aufgehalten, an ihr ist er hängengeblieben. Ein kleiner Riß klafft im Stoff, ich reiße ihn etwas weiter und sehe eine schmale Wunde im Schenkel, einen tiefen Kratzer, der Pfeil ist zu schräg eingedrungen, um mich ernsthaft zu verletzen. So rasch ich zusammengezuckt bin in meine Wunde, so unvermittelt richte ich mich wieder auf, den Pfeil noch in der Hand, und sehe ratlos-beunruhigt um mich. Vielleicht jagt jemand. Es muß ein Irrtum irgendeiner Art sein. Ich blicke auf den Pfeil in meiner Hand und denke, daß er doch recht gefährlich aussieht. Da kommt ein braungebrannter Junge mit zerzaustem, schulterlangem Haar hervor. Er rennt aus dem Gestrüpp des Flusses auf mich zu. Er macht mit der Hand rasche Bewegungen. Er deutet mir etwas an. Quer über seinen Oberkörper hängt ein Band mit einem Köcher, in dem Pfeile sichtbar sind, ein Lederband liegt um seine Stirn. Um die Hüften trägt er einen Gürtel mit einem Messer an der Seite. Vorn ist ein etwa handbreiter Lendenschurz, der sich aber verschoben hat. Sonst ist er nackt. Im Laufen baumelt sein kleiner Pimmel hin und her. [481] Er deutet wieder mit dem Arm, im Rennen blickt er ein-, zweimal zurück. Er mag etwa zehn Jahre alt sein. Obwohl er diese Waffen trägt, habe ich nicht den Eindruck, daß er geschossen hat. Er ruft aufgeregt: «So komm doch, schnell!» Er läuft die Straße hinauf und fordert mich in Panik auf zu folgen, ich schließe mich ihm langsam an, mehr um ihm nachzugehen, weil er sich so aufgeregt zeigt. Ich bin zu langsam. «So komm schneller, die holen nur Verstärkung, ich habe es beobachtet, geh schon, wir stehen mit ihnen im Krieg, sie haben unsere Katze umgebracht!» schreit er außer Atem. Die Wunde im Schenkel ist doch schmerzhafter, als ich geglaubt habe. Ich bleibe stehen und schaue auf mein Bein durch den Riß in der Hose. Der Junge kommt zurück, faßt meinen Arm und zerrt mich weiter im Lauf.
«Komm jetzt, renn! Sonst ist es zu spät. Ich wollte Rache nehmen, mit denen ist nicht zu spaßen!» Ich schaue im Laufen auf ihn hinunter. Er hat tiefblaue Augen unter den blonden, sonnnengebleichten Haaren. Er stößt hervor: «Es geht auf Leben und Tod!» In seinem Blick scheint selbst ein Pfeil zu hängen. Ich sehe, es ist ernst, ich nehme meine Kraft zusammen und renne hinter dem Jungen her, in einen Hof und hinein in ein Haus. Wir atmen schwer, vor meinen Augen flimmert es, ich schlucke ein paarmal. Den Pfeil halte ich noch immer in der Hand. Ich stehe erschöpft mitten in einem großen weißgetünchten Raum. Um mich herum stehen etwa fünfzehn Kinder, halbnackt und abgerissen, alle etwa um die zehn Jahre alt. Ein etwas älteres Mädchen, sie wird vielleicht schon zwölf sein, mit Lendenschurz, aber festen, freien kleinen Brustansätzen, tritt an mich heran. Es ist ein Zeichen für alle anderen, sich noch dichter um mich zu scharen. Jemand reißt mir den Pfeil mit einem Ruck aus der Hand. «Strick bei der Hand, fesseln!» befiehlt sie mit derselben Entschiedenheit wie sie mir den Pfeil aus der Hand gerissen hat. Sie steht breitbeinig vor mir, die Daumen in ihren Gürtel gehängt, sie ist fast so groß wie ich. Ihr Haar ist dunkel und glatt, unter den Ohren gerade abgeschnitten. Ein breites, verziertes Lederband läuft um ihre Stirn. Die Schultern und Hüften sind schon stark. Während mir ein kleiner [482] Junge und noch ein kleines Mädchen die Arme hinter dem Rücken zusammenreißen und in der Hand des Jungen ein langer Strick auftaucht, sehe ich dieses Mädchen an, um mich zu orientieren, was das Theater wohl zu bedeuten hat. Die Kinder fesseln mich grob an einen Holzpfeiler, der den Träger zu einer Treppe, die nach oben führt, bildet. Mein Ellbogen schlägt hart auf das Holz, ein Schmerz geht durch meinen Körper, wie wenn man dicht neben dem Ellbogen ins Weiche getroffen wird. Ich verzerre mein Gesicht einen Augenblick. Ein grausamer Zug, ein verächtliches Senken der Mundwinkel kommt über das Gesicht des Mädchens und die anderen lachen. Ihr linkes Augenlid hängt etwas herunter. Mit diesem Auge blick sie starr, das andere allerdings flammt in kindhaftem Eifer, rege und beteiligt an der allgemeinen Aufregung. Die Fesseln schneiden in meine Gelenke. Maiskolben hängen von der Decke, es riecht nach geröstetem Mais. Weintrauben liegen auf einem Tisch, der mitten im Raum etwas schief dasteht. Ein bunter Teppich hängt an einer Wand, die Fensterflügel stehen schräg in den Angeln. Ein Junge hält mir einen gebratenen Maiskolben unter die Nase und riecht selbst genüßlich daran. Ich lächle ihm schwach zu, ich weiß nicht recht, was ich von der Geschichte halten soll. Eine verfaulte Tomate fliegt mir an den Kopf und platscht dann bei meinen Füßen auf. Alle biegen sich vor Lachen. Noch eine Tomate fliegt mir an die Stirn, roter Saft rinnt mir über die Nase, ich reiße an meinen Fesseln, um mir das Rinnen abzuwischen, in mir schwillt ein Zorn an. Das Mädchen steht überheblich lächelnd vor mir, immer in derselben Stellung, die Hände am Gürtel, breit, sie selbst beteiligt sich nicht an dem Spiel, hat aber sichtlich auch ihr Vergnügen daran. Zwei Kinder springen vor mir herum und kratzen sich unter den Achselhöhlen, tun wie die Affen, strecken ihre Zungen heraus. Noch einer beginnt dieses Spiel, springt mich an, ergreift mich an den Armen, als wollte er meine Muskeln probieren. Ich sehe angeekelt auf sein Spiel hinunter und neige meinen Kopf zurück so weit ich kann. Langsam steigt mir die Galle hoch über diese frechen Fratzen. Die Anführerin schaut einmal aus dem Fenster, als wolle sie noch immer nach Verfolgern sehen. Ein Größerer springt an mich heran, reißt kurz vor meinem Gesicht das Bein hoch in die Luft und stoppt seinen Schlag im letzten Augenblick ab, ich zucke zusammen, der Luftzug, den seine Bewegung erzeugt, verwirrt mich. Ein Mädchen [483] nützt mein nervöses Blinzeln, kommt nahe heran und wackelt knapp vor meinen Augen mit der Hand, so daß ich aufschreien möchte vor Wehrlosigkeit und Wut. Jemand zwickt
mich in die Brust, kitzelt mich von hinten an den Seiten, ich reiße an meinen Fesseln, ein Schrei kommt mir aus der Kehle, sie torkeln nun vor mir herum wie trunken von der Möglichkeit, mit mir zu spielen. Ich glaube nicht mehr recht an einen harmlosen Kinderscherz, ich bin aufgewühlt vor Angst. «An der ist aber viel dran», bemerkt der Junge kichernd, der mich an der Brust gekitzelt hat, und ein anderer fühlt wieder zwischen meinen Rippen und reißt mir die Hose etwas auf. Ein Mädchen bringt einen großen verkrusteten Topf und ein riesiges, blitzendes Messer. Sie klemmt sich das Messer zwischen die Zähne und tanzt schweißglänzend um das Gefäß herum. Mir schwirren die Sinne, und ich lache gequält auf, als müßte sich doch noch alles als gespielter Übermut erweisen. Ich will ja niemandem seinen Spaß verderben. Ich lache und hoffe, daß dieses Zeichen eine Verständigungsmöglichkeit mit ihnen darstellen könnte, ich will ihnen ja nichts Böses, ich verstehe ja, daß Kinder spielen wollen, um Himmels willen, ich mache ja mit, ich bin ja zu jedem Scherz bereit, ich will ihnen ja nichts verbieten, ich will, ich kann ihnen nichts verbieten. Ist denn da niemand, der dem Treiben Einhalt gebieten könnte? Es ist schon viel zuviel, um noch lustig zu sein. Das darf doch nicht sein, brodelt es in meinen Gedanken durcheinander, vor Verständnislosigkeit, in meinen Stricken. Ein Mädchen setzt mir am Oberarm den Brennesselgriff an. «Die hat doch nicht viel Fleisch dran, die muß gefastet haben!» Es macht ihr gar keinen Spaß, meinen Arm zu quetschen, dafür kommt sie nun ihrerseits mit einem duftenden Maiskolben und führt einen Tanz vor mir auf mit diesem Ding. Sie schneidet Grimassen und steckt sich zuletzt den Kukeruz hinten in den Arsch, dann preßt sie mir den Kolben an den Mund und zwingt mich abzubeißen. Die Tränen rinnen mir über die Wangen, ich kaue an dem stinkenden Stück herum, nachdem ich es ausspucken wollte und sie es mir wieder hineingestopft hat. Die Kinder toben, sie geraten außer Rand und Band. Die Anführerin tritt wieder an den Ausguck, dann wendet sie sich an den Jungen, der mich hergebracht hat. Er hat die ganze Zeit über an der Tür gestanden, er hat sich nicht an dem Treiben beteiligt. «Was ist jetzt mit deiner Heldentat?» fragt sie ihn, und die anderen wenden sich alle ihm zu. Ihm schwirrt ein Maiskolben am Schädel [484] vorbei, aber er kümmert sich nicht darum. Er antwortet mit einem Kopfdeuten auf mich: «Ich wollte mich rächen wegen der Katze, da hat sie ein Pfeil getroffen. Ich konnte alles beobachten, sie haben Verstärkung geholt, und da habe ich sie schnell hergeschleppt. Ist das nicht genug?» So fragt er lässig, aber doch mit einem gewissen wachsamen Unterton, als ginge es um etwas Wichtiges in seinem Leben. Die anderen grölen und beginnen wieder ihren Tanz. Eine Handbewegung der Anführerin bringt sie zum Schweigen. «Zu verachten ist diese Tat ja nicht, wir haben schon längere Zeit kein Fleisch zwischen den Zähnen gehabt.» Die Schwitzende mit dem Messer beginnt wieder um den Topf zu springen. Ein Junge holt von einem Wandbrett einen blanken Totenschädel ohne Unterkiefer herunter, den er mir vor die Augen hält. Ich sehe noch einen großen dort oben liegen, daneben zwei kleinere. Ein Hund stürmt in den Raum, er wedelt zwischen den Kindern herum, springt an ihnen hoch, reißt das Maul auf und schlägt mit dem Schwanz. Man gibt ihm den Schädel zum Spielen, und er rollt ihn durch den Raum. «Hast du uns gar nichts mitgebracht?» Einer reißt mir die Hosentaschen heraus, dann hält er mir die Faust unters Kinn. Das Spiel will von neuem beginnen, da sehe ich im Nebel meiner ausweglosen Wut, die eigentlich schon lange gebrochen ist, Anja neben die Anführerin treten. Mich durchzuckt ein Hoffnungsstrahl, ich richte mich, so gut es unter dem Druck der Fesseln geht, auf. Also doch noch eine Erklärung, eine Lösung, ich setze zu einem Ton an, ihr Name geht über
meine Lippen, aber meine Stimme versagt. Ich versuche es noch einmal: «Anja!» Ich schrecke dabei zusammen, ich höre meine Verzweiflung und meine Hoffnung. Wenn Anja nicht reagiert, bin ich verloren, denke ich fieberhaft. Wo war sie nur die ganze Zeit? Ich habe sie nicht unter den Quälern gesehen. Ich bemerke ein kurzes Aufflackern in ihren Augen, eine kurze Zuckung ihres Körpers zu mir her, sie weiß alles, aber sofort ändert sich ihre Haltung wieder, so als hätte sie die Verbindung abgerissen. Die Anführerin nimmt Anja fest um die Schultern, die beiden stehen aneinandergelehnt und sehen sich das Schauspiel an, als sei das ein Lustspiel. [485] Der kleine Junge zerrt jetzt meine Flöte aus der Schlaufe, wirbelt das Instrument in die Luft, bläst einen schrillen Pfiff hinein, schleudert sie wieder in die Luft, fängt sie geschick auf und setzt dann zu einem Schlag über das Knie an, so als wollte er sie brechen wie ein Stück Brennholz, aber dann wirft er sie auf den Boden. In diesem Augenblick löst sich Anja von der Anführerin und nimmt die Flöte, dann tritt sie an ihre große Freundin heran und sagt ihr etwas ins Ohr. Dabei schaut sie mich an. Mitten in Anjas Worte, die sie ruhig, aber mit einem inneren Eifer hervorbringt, wie eine Beschwörung an die Große, sieht diese sie mit einem ungläubigen Lächeln an, als könnte sie den Ausführungen nicht folgen, fände aber doch irgendeinen Gefallen daran. Sie stoppt den Radau mit einer großen Handbewegung und einem lauten «Ruhe!» und horcht noch einmal auf Anja. Sie winkt nun die übrigen zu sich, und es wird geflüstert und getuschelt. Anja macht eine sanfte, liebe Geste mit dem Kopf, sie senkt ihr Gesicht für einen Augenblick auf die Schulter des wilden Mädchens, das eine streichelnde Handbewegung über Anjas Haar macht. Dieses Bild hat nur kurz gedauert, aber es war so voll Reinheit und Natürlichkeit, daß es mir meine Vorstellung von dieser brutalen Gruppe ins Wanken bringt. Ich hoffe wieder. Einer von den Kleinen lacht auf, schlägt sich auf die Knie. Andere stimmen ein, einige überlegen stumm und ernst. Ich starre voll Erregung auf die Verhandlung der Kinder, in ihren Gesichtern lebt, selbst wenn sie lachen, ein Ernst auf, den ich während ihrer Gemeinheiten nicht beachten konnte. Mir ist, als könnten diese kleinen Menschen, die mir meist bloß bis an die Schulter reichen, sehr wohl über mich entscheiden, und fast habe ich den Eindruck, als sei ihre Brutalität eine Notwendigkeit für sie, ein Schutz vor mir. Einige sehen her, abschätzend, nicht unbedingt abwertend, ich lese mit Hochspannung in den Kinderaugen die ganze Gerechtigkeit der Natur, zugleich bebe ich in Angst vor ihnen, und es bleibt mir noch immer ein Gefühl der Unmöglichkeit, in so eine Lage geraten zu sein. Diese kleinen Geschöpfe müßte man doch irgendwie in die Gewalt bekommen können. Ihre ernsthafte Beratung aber gemahnt mich wieder an meine Wehrlosigkeit. Die Häuptlingin macht ein verschmitztes Gesicht und meint so, daß ich es auch vernehmen kann: «Aber wer soll sie denn nehmen?» [486] Wieder ein Gelächter unter den Kindern, dann Stille, einer sieht den anderen an. «Ja, ich könnte sie schon nehmen, ich habe sie schließlich gefunden», erklärt der blonde Junge in einem bestimmten und deutlichen Ton. «Du, ?» raunt es durch die Gruppe, zuerst leise, dann immer vernehmlicher, wieder ist es ein Anlaß zum allgemeinen Spaß. « will sie nehmen! , du bist ein Held!» Sie nehmen den Jungen auf die Schultern und wollen ihn durchs Zimmer tragen. Er wehrt sich und springt wieder herunter, ihm ist das Getue unangenehm, aber ich kann auch ein wenig Stolz in seinem Gesicht erkennen, daß sie seinen Mut preisen und ihn eigentlich nicht lächerlich finden, wenngleich sie lachen.
«Na gut!» meint die Anführerin, sich aus dem Kreis erhebend und selbst mit einem Lächeln. Sie müssen irgend etwas ausgeklügelt haben, was ihnen wegen der Sonderbarkeit des Entschlusses einen ganz besonderen Spaß bereitet. Die Anführerin tritt wieder vor mich hin, schaut mich belustigt an, und meint: «Kind ist sie ja keines, das könnte man wirklich nicht sagen.» Ich bin so unsicher, fast habe ich das Gefühl, daß sich meine Sache in irgendeiner Weise gewendet hat, zugleich weiß ich aber auch nicht genau, wie es vorher wirklich stand, wie gefährlich meine Lage war. Mein Instinkt sagt mir, daß vielleicht noch alles gut werden könnte. Die Anführerin spricht in ernstem Ton wie über die Gesetze eines Landes, wie über ihre ganze Lebensordnung: «Sollen wir dich also nicht umbringen?» Noch immer steht eine Frage in ihrem Gesicht. Anja blickt auf die Flöte und reinigt etwas an dem Schaft mit ihrer bloßen Hand. Ich weiß, diese Frage ist nicht an mich gerichtet. «Bei uns werden die Erwachsenen getötet, das ist die Regel. Dann werden sie aufgegesssen!» Niemand lacht, es handelt sich um ein Gesetz. Sie kommt mir mit einemmal grausam weise vor, wie sie da steht, mit dem hängenden Augenlid. Ich bin ausgehöhlt von der Klarheit, die sie mir aufgibt, ich habe kein Zittern mehr. Im Moment weiß ich, daß das keine gierigen Kinder sind, sondern ein Gesetz der Natur, gerade in diesem Augenblick weiß ich es, als ich meine Chance zu überleben erkenne. [487] «Pfeil-bricht-ab», sie weist auf den Jungen, «würde dich nehmen, als Kind, als seine Gefährtin. Wir leben hier zwei und zwei zusammen, es ist notwendig, daß du einen eigenen Freund in der Gruppe hast, um aufgenommen zu werden. Wir halten das alle so.» Anja tritt zu ihr, und wieder nimmt die Anführerin sie um die Schulter. Stille tritt ein. Man sieht einander an, noch einmal rauscht mir die Spannung in den Ohren auf. Was ist jetzt? Ist jetzt alles gut oder war das ein neuer Scherz? Ich kann kaum noch denken, ich möchte nicht einmal mehr schreien, ich könnte es nicht mehr, ich hänge nur in einer erschöpften Verwirrung. Ich weiß nur eines, daß ich nicht getötet werden möchte, nicht jetzt, hier. Mir gerät meine Vernunft mit meinem Instinkt und mit meinem Blut in Verwirrung, welches mir im Kopf zu sieden scheint. Der Junge, welcher mich gefesselt hat, springt an mich heran, ich zucke wieder zusammmen, er wartet auf ein Zeichen der Häuptlingin, dann löst er mir die Schnüre. Ich spüre meine Gelenke nicht mehr, wenngleich ich irgendwo auch merke, daß die Einschnittstellen brennen. Rot werden die Striche, dort wo sie vorher weiß waren, ich presse abwechselnd meine erstarrten Finger auf die Einkerbungen und wanke etwas vor dem Pfeiler, an den ich mich aber wieder lehnen muß. Ich lächle, nicht für meine gnädigen Retter, sondern für mich, vielleicht auch ein wenig für Anja. Mitten in meine Wiederauffindung ruft die Anführerin mit dramatischer Stimme: «Die Gasse!» Ich schaue ungläubig auf die Bewegung der Kinder, die sich rasch, so als hätten sie diesbezüglich Disziplin geübt, in zwei Reihen, einander gegenüber, aufstellen. Ohne ein Wort zieht mir der Junge, welcher mich entfesselt hat, die Hose mit einem Ruck herunter und reißt mir auch das Hemd über den Kopf, indem er mich zu sich herunterzerrt. Ich komme gar nicht dazu, mich zu wehren. Seine Bewegungsfolge ist kräftig, entschieden und flink. Die anderen Buben stehen in Sprungstellung vor mir und würden sofort eingreifen, wenn ich mich wehren wollte. Ich habe gedacht, nun könnte ich mich endlich ausruhen von der Verwirrung und vom Schmerz, aber jetzt beginnt das Spiel von neuem. Noch einmal flirrt in mir der Gedanke
auf, dieser kleinen Ungeheuer doch irgendwie Herr werden zu können. Wenn wenigstens die Tür offenstünde und ich fliehen könnte oder sich sonst ein [488] vernünftiger Ausweg zeigte. Es ist nicht zu fassen, diese Zwerge stehen da wie die Soldaten, einer neben dem anderen, die machen mit mir, was sie wollen. In meinem Kopf wirft diese Tatsache eine Woge auf, die das letzte Aufflackern einer Erwachsenenrolle hinwegspült. Nackt stehe ich da, jemand bindet mir schon wieder die Hände am Rücken, aber diesmal etwas lockerer. Zwei beginnen die Fensterladen zu schließen. Es wird dunkler, nur mehr ein Laden steht offen. Messer werden aus einer Truhe geholt, einige werden von der Wand genommen, wo sie in Lederköchern stecken. Jedes Kind nimmt eines dieser scharfen Dinger an sich. Ein Tanz der schneidenden Gefahr beginnt. Am Kopf der Doppelreihe steht die Anführerin, selbst einen Dolch in der Hand. Sie streicht gelassen mit der Schneide über die Innenfläche ihrer Hand. Ich werfe einen fragend-getroffenen Blick auf Anja, die am Ende der Reihe dem blonden Jungen gegenübersteht. Sie sieht mir gerade, aber nicht unfreundlich in die Augen, als sei alles klar und richtig. Fast bin ich bereit, diese stumme Tatsache auch zu meiner zu machen, soll es sein, soll es sein, wenn es nicht hier passiert, wäre es vielleicht schon woanders passiert oder kommt es später, mir ist alles recht, ich kann nichts tun, mir ist alles klar, mir ist es möglich. Spiel - Unglauben - Ernst und Wahrheit - Endgültigkeit und Ausweg Leben und Tod liegen so eng und unvermittelt nebeneinander. «Seht noch einmal nach, ob alles ruhig ist!» befiehlt die Anführerin und wendet sich mir dann mit einem sachlichen Ernst zu, der mich zum Aufmerken zwingt. «Diese Prüfung müssen alle ablegen, die in unsere Gruppe aufgenommen werden wolllen. Es wird völlig finster sein. Du mußt langsam durch diese Gasse gehen. Jeder, der etwas gegen deine Aufnahme in die Gruppe hat, wird zustechen. Wenn du rennst, vergibst du jede Chance.» Ich habe genau verstanden, viel genauer, als ich gedacht hätte. Trotzdem bin ich in eine Gedankenverwicklung geraten, die mir befiehlt, noch irgend etwas auszumachen oder zu klären, irgend etwas meinerseits zum Gesetz oder zum Gebot zu erheben, irgendeine Wahrheit oder eine Verständigungsmöglichkeit, ich ringe mit den Gedankenansätzen zu dieser Prüfung, aber zugleich spüre ich, daß da keine Möglichkeit offen ist, ich habe nur eine einzige, die hier durch [489] diese Gasse führt, im Dunkeln, unter scharfen Messern in unberechenbaren Händen. Jetzt legen die Kinder alle Lendenschurze ab, sie stehen splitternackt und entschlossen mit ihren Messern da und starren mich an. Mir tritt der kalte Schweiß aus, ich ringe mit meinem Atem. Der letzte Fensterflügel wird geschlossen. Völlige Stille tritt ein. Es riecht nur mehr nach Schweiß. Ich schwimme weg in der Dunkelheit, bin aber von meiner Angst aufrechtgehalten, gespannt wie eine Schnur aus meinem eigenen Gedärm. Mein ganzes Leben steckt mir in der Kehle wie ein blutiges Gehirn, ich fühle meine Glieder wie Eisenstangen. Mir weicht das Fleisch aus meinem Seinsgefühl, ich erstarre zu einer kalten Panik, die ich nicht in Bewegung bringen kann. Kein Laut, kein Zeichen, keine Erklärung, nur ich und meine Aufgabe, die ich kenne. Ich stehe da, mit Beinen, die nicht mehr zu mir gehören, die ich nicht bewegen kann. Ich habe keine Verbindung mehr dazu. Ich bin verloren in meinem Stand, ich bin verwurzelt in meiner Angst. Nicht einmal den Hund kann ich hören. Wo kann der hingekommen sein? Mir kommt der Gedanke, daß es hoffnungslos verrückt ist, jetzt an den Hund zu denken, er hat mit meiner Situation überhaupt nichts zu tun. Fast will ich darüber lachen. Da kriege ich von hinten her einen harten Stoß in den Rücken. Mir rauscht eine Endgültigkeit auf, mir fährt das Blut mit einem Schuß in die Glieder, zugleich aber kann ich spüren, daß das kein Messerhieb gewesen sein kann. Ich bin sicher, jemand hat mich gestoßen. Halb im Schwung des Schlags und auch aus neuem inneren Antrieb, bewege ich meine Beine selbständig ein Stück weiter. Ich bleibe wieder stehen, während mir der
Gedanke durch den Körper fährt, doch rasch zu rennen. Mir wird doppelt schwarz vor den Augen, auch von innen her, völlig eingeschlossen erstarre ich von neuem unter den Händen mit den Messern. Plötzlich bewege ich meine Beine von selbst vorwärts, ein kleines Stück, ein größeres, eine Möglichkeit, in eine Bewegung hineinzugelangen, die ich steuern kann. Der Boden knarrt unter meinem Fuß. Ich schaudere, als würde eine Bestie unter mir knurren, die unsichtbaren Gestalten dringen an mich heran, die Kinderhände, die Kindergefühle saugen sich unter meine Haut, sie sammeln sich da zu einer nie geahnten Nähe. Jeder Arm mit jedem Messer, jeder Gedanke, jeder Atemzug, jede Erinnerung, jede einzelne Minute aller Zeiten dieser Kinder und mir selbst im Schliff der Messer, wandert [490] mir übers Herz. So nahe ist mir die Todeswunde - hinter mir eine Bewegung. Ich taumle, ich horche, ich bin daran vorbei, ich bin an einem Fallbeil vorüber, ich habe einen kleinen Weg gemacht, nach vorn in die Dunkelheit. Sie hängt über mir wie Blut. Meine Haarwurzeln regen sich. Ich mache wieder einen Schritt und wundere mich zugleich sachlichen Sinnes, woher ich den Antrieb nehme. Es leuchtet mir mit einemmal auf in der Finsternis, als eine natürliche Richtung, und wieder wage ich den nächsten Schritt. Ich befinde mich unter neuen Messern, die selbständig werden können, Metall in Mutwillen gepackt, meine Spannung verflattert und baut sich neu auf im nächsten Schritt. Nur jetzt, nur in diesem Augenblick liegt der Sinn, es wird nie ein Ende nehmen, es hat kein Ende unter den Messern in der Finsternis - Willkür der Entscheidung -ein Kinderwerk. Wieder eine Bewegung, und ich mache ein, zwei rasche Schritte, denke sofort, daß ich zu schnell gewesen sein muß, ich wollte nicht fliehen - ich will es, ich kann meine Bewegung nicht unter Kontrolle halten. Dabei richte ich mich auf, so als hätte ich etwas gelernt in diesem schwarzen Engpaß, und mache noch zwei weitere Schritte. Vielleicht bin ich schon lange getroffen und zerfleischt, vielleicht ist schon alles geschehen, und ich merke es gar nicht, ich richte mich stolz auf, ich weiß, woher diese Lockerung kommt. Die Stille ist zu meinem Leben geworden, ich lebe mit ihr unter den Messern. Schneide - Schnitte - Stöße - Blut - Risse - Kerben - Denken - Hirnsaft - fransiges Fleisch - brennender Tod - Wälzen im Blut - Schreien in der Nacht der Vernunft - und alles wegen eines Kindermessers. Ich mache noch einen Schritt. Ich muß doch bald am Ende der Gasse sein? Ich werde das Ende nicht finden, ich werde es gar nicht erkennen, vielleicht sind sie alle lange woanders, sind in die Ecken des Raums gekrochen, wer sagt mir, daß diese Kinder bei der Stange bleiben und ihren tödlichen Hokuspokus durchhalten, wer garantiert mir für diese Kinder, die lachen sich vielleicht ins Fäustchen und sitzen vielleicht still mit ihren Messern am Boden. Ich fände das entwürdigend. Ich will wissen, ob sie mich ihres Angriffs für würdig halten, ich will nicht betrogen werden und gehänselt als blödsinniger, ängstlicher Erwachsener. Ich möchte es wissen, und wieder mache ich einige Schritte. Ich fröstle über meine eigene Frechheit und fahre zu einem [491] Schrei auf, der allerdings nur heiser herauskrächzt, als mich etwas Kaltes an der Hüfte faßt. Da wird ein Laden geöffnet, Licht dringt herein, ich stehe knapp vor dem Auge der Anführerin, und der Junge hält mich mit kalten Händen um die Mitte. Ich verharre so, einige erschöpfte, hellwache Sekunden im Blick mit dem großen Kind. Ihre einsame Natur, ihre Menschhaftigkeit springt mir mit der Gewalt der Kreatur in die Seele. Ihr rechtes totes Auge sieht mich an, ich kann seine Blindheit erkennen. Meine Erstarrung lockert sich wieder, der Junge hält mich weiterhin umfaßt. Seine Fingerspitzen werden wärmer. Ich blicke mich um. Einige haben sich bereits aus der Gasse gelöst, öffnen die Laden, aber die übrigen stehen noch da, teilweise mit ernsten Gesichtern. Ich muß ihre Disziplin achten, sie haben das durchgehalten, sie sind die ganze Zeit ruhig gestanden mit den Messern in der Hand, einsam ihrer Entscheidung ausgesetzt. «Es ist nicht nur dein Leben, es ist auch unser Leben, wenn wir dich aufnehmen», sagt Anja und schaut mir in einer harten, aber sehr klaren Weise ins Gesicht.
«Wir müssen uns vor den Erwachsenen schützen, wir können sie hier nicht gebrauchen! Aber auch ich mußte diese Prüfung machen, ein jeder muß das hier.» Diesmal fummeln gleich ein paar Kinder an meinen Fesseln herum. Das Aufknoten geht nur langsam. Der mich vorher gebunden hat, muß ein Fachmann gewesen sein. Pfeilbricht-ab beendet schließlich meine Befreiung, und ich sehe auf meine Gelenke, auf meine toten Hände, als seien sie Relikte einer vergessenen Zeit. Besonders an einer Sehne ist die Haut aufgerieben. Hätte ich nicht so gezerrt, wäre ich nicht verletzt. Es hat mir nichts genützt. Es ist ohnehin alles so gekommen, wie es konnte. Wer soll da nicht zerren dürfen in so einer Lage? Ich, einfach ich, ich hätte es lassen können, aber das sagt man im nachhhinein leicht, denke ich, mich in diesen Gedanken ölend, wie ein schwachsinnig Glaubender, der seine Vernunft verloren hat, aber jetzt noch immer glaubt, nicht an seine Vernunft, sondern an neuerliche Anstrengungen. Es ist nicht zu fassen, anscheinend ist meine Aufgabe noch immer nicht beendet. Langsam nehme ich an, es wird immer so weitergehen, bis ich aufgebraucht bin, einfach aufgelassen als Mensch, weggegeben [492] an eine andere Materie. Die Kinder schleppen einen Teppich heran, nicht diesen von der Wand, sondern einen weichen, auch sehr kunstvoll gewebten bunten, einer Decke gleich. Den legen sie auf den Boden. Der blonde Junge hält sich an mich, er faßt mich immer wieder leicht um die Hüfte. Er kann diese Stellung gut halten, sie entspricht seiner Größe. Bis an die Schulter reicht er mir. Nicht daß er mir in seinem Griff unangenehm wäre, er hat jetzt warme Hände, seine Haut ist glatt, gesund, sonnenbraun, sauber ist er allerdings nicht. Dazu muß ich aber bemerken, daß das wahrscheinlich auch ich nicht bin. Seine konsequente Annäherung ist es, die mir seltsam vorkommt, etwas Zartes, aber auch Forderndes, etwas Bestimmtes liegt in seiner Haltung, in seiner Körpernähe. «Du mußt jetzt mit ihm ficken, das ist die Regel bei uns zum Einstand», spricht die Anführerin und weist mit einer Bewegung auf den schönen Teppich. Alle scharen sich rund um das Stück. Die Gruppe ist angeregt, lacht wieder, hoppt um den Teppich herum, einer macht meine Busen nach, indem er imaginäre Säcke hochhebt, jemand klatscht mit den Händen laut aufeinander, Gelächter, aber fast habe ich den Eindruck, als sei das keine persönliche Anspielung auf diese Situation, sondern ein Theater, das sie bei solchen Zeremonien abziehen, welches es mir möglich macht, auf diesen Teppich zu treten und mich hinzulegen. Ich fühle mich wie aus Pappe, als hätte ich einen faserigen Stoff zwischen den Zähnen, etwas Ausgetrocknetes. Nicht daß man mir jetzt noch drohen würde, aber ich fühle genau, diese Aufgabe muß ich noch durchstehen, vorerst einmal, wer weiß, was noch nachkommt, ich bin noch nicht akzeptiert, etwas fehlt noch, sie würden mich auch jetzt noch ohne Hemmungen auffressen können, wenn ich nicht mit dem Kleinen da übereinkomme. Weit hab ich's gebracht. Irgend etwas macht mir die Unmöglichkeit möglicher, als ich es annehme, noch während ich glaube, daß ich das nicht über die Seele bringen kann, geht eigentlich schon alles los. Die Kinder handeln für mich, sie verlangen es von mir, sie haben vergessen, wer ich bin, es kümmert sie nicht, und das hilft mir. Der Teppich unter mir ist weich. Hätte ich im Freien in der Nacht so einen Teppich gehabt, ich hätte auch mit dem Jungen drauf geschlafen - in der Nacht - mit dem Jungen auf dem Teppich - meine Gedanken kreisen sinnlos um einen Punkt. Ich erinnere mich an Sam [493] und an Ruth. Jetzt leuchtet mir etwas auf. Sie hilft mir. Heilige Ruth, sie steht wie eine Göttin über meinem gequälten Geist, sie ist bei mir, sie konnte das schon, sie hätte das vielleicht sogar angenehm gefunden, sicherlich sogar, ich schaue neugierig auf den nackten Jungen mit dem Stirnband. Es ist ein schönes Band mit einem Ornament vorn, wie ein Auge blickt dieses Mal, es ist aber etwas aus der Mitte verrutscht. Ich wende meine Augen wieder an die Decke. Vielleicht ist es auch schwierig, weil ich schon länger nicht mehr gefickt habe. Wo denn schon, bei den Asketen oder vielleicht im Sanatorium oder mit dem Computer - das wäre noch schwieriger gewesen als hier mit dem kleinen Jungen.
Während ich mir Gedanken aufwühle, legt sich der Bub sanft auf mich drauf, fast ist es, als würde mich sein Körper schützen, er drückt nicht, gar nichts bedrückt mich. Noch einmal richtet er sich auf und guckt auf sein Schwänzchen. Ich schaue auch, recht klein ist es noch, aber auch nicht unscheinbar. Es steht ihm fest am nackten Bauch entlang wie ein Finger. Dann richtet der Junge, indem er sich wieder auf mich legt, seine Augen kurz in meine, blau leuchtend im braungebrannten Gesicht, ohne Botschaft, ohne Entschuldigung, ohne mich, und das ist mir angenehm. Die anderen rundum lachen weiter, sehen zu, aber greifen nicht ein, sie klatschen in die Hände, sie geben den Takt an, an den sich der Junge hält. Er drängt sein hartes kleines Glied an meine Scheide, ich nehme die Schenkel auseinander, auf einmal schlüpft es hinein, ich muß auch schon feucht geworden sein. Es kitzelt mich gar nicht unangenehm. Er ruckt auf mir herum, er verschwindet auf mir, obwohl der Größenunterschied nun auch wieder nicht so groß ist. Ich bin eigentlich dankbar, daß er ein Kind ist und kein Mann. Wie ein Blitz geht mir das auf und klärt in mir etwas, was unsichtbar rumort hat in meinen Eingeweidegedanken, ich bin froh, daß er sich nichts antut, ich bin froh, daß er nichts erwartet, ich bin froh, daß er sich selber auf mir zurechtrückt, er kümmert sich um seine Aufgabe, ich glaube nicht einmal, daß er das gern oder ungern macht, er nimmt mich als Seinesgleichen, und das ist für mich wie eine mächtige Hand des Gebots, die sich von mir hebt, selbst entdeckt, mich, unter dem Jungen, mitten unter den lachenden Kindern, die uns noch immer anfeuern, mit Klatschen und rhythmischem Singsang, als ginge es um einen Wettlauf. Die Anführerin sitzt seitlich an unserem Kopfende mit Anja, sie lachen auch. [494] Mein Blick hängt jetzt in dem Auge auf dem Stirnband des Jungen, ich verliere dort meine Gedanken hinein, es erinnert mich an das Gesicht über der Türangel in der Zelle, es ist diesem Antlitz sehr ähnlich, ich versinke in dieser Leere, der Körper des Jungen hat eine feine Haut, Gesundheit liegt auf mir, ich spüre seinen lockeren Druck. Sein Gewicht ist gerade recht für meine Haut, die regt das an, die beginnt selbst zu leben. Ich hebe mich in meinen Hüften leicht an, ich kann den Körper des Kindes hochnehmen, mit mir hochheben, ihn tragen, es ist, als würde ich mich selbst heben können, heraus. Als ob ich die Augen geschlossen hätte und das Fühlen öffnen könnte. Der Bub regt sich katzenhaft und sanft in meiner weichen Innenseite. Ich spüre sie, ich spüre ein rieseliges Wandern auf meiner Haut, ein Streichen über meine Einsamkeit, eine Annäherung an ein Lustgefühl. Das blonde Kind bewegt sein kleines Glied in meiner Scheide, es regt sich, es gräbt sich in mich hinein, als könnte ich ihm eine Zuflucht sein, er ist wie ein glattes Tier, er kuschelt sich in meine Empfindlichkeit, mir leuchtet es auf in den Lenden, mir regt sich ein Verständnis für mich selbst, ich bin angesteckt von seinem lockeren Spiel auf mir, er preßt mich mit einemmal an den Schultern, die er leicht in den Griff genommen hat wie Spielsachen, wie sich selbst, wie den Morgen oder die Luft und das Wasser, ich meine fast, er könnte in mir verschwinden, ich öffne mich seinem Sinken, er will das, ich spüre, es macht ihm Vergnügen, ihm ist das keine Aufgabe, ihm ist es Lust, er hält einen Augenblick inne, und ich spüre es zart in mich rinnen, er zuckt sanft zusammen, ein erster Körper bei der Geburt, ein Lebensstoß ins Wasser. Die nackten Kinder sind angeregt, sie erheben sich, sie freuen sich über etwas. Alle Buben haben einen stehen. Alle kuscheln sich aneinander, eines mit dem anderen, auf dem Teppich. Ich habe jetzt erst begriffen, daß der blonde Junge schon gekommen sein muß, obwohl ich noch immer mit ihm ficke. Er legt seinen Kopf auf meine Brust und tut einen Augenblick so, als würde er sich ausruhen oder würde mir Zeit für meine Besinnung oder Besinnungslosigkeit lassen, dann sieht er mich lachend an und entbindet mich von jeglicher Befangenheit, auch ich lache ihm ins Gesicht, und er schlängelt sein sanftes Gewicht wieder über meinen Körper, frisch und neu geboren, eine erste Bewegung über mein freudiges Herz. Ich schließe die Augen und gebe mich dem lockeren Werben hin, genauso leicht, wie es mir [495] gemacht wird, er drückt sein Unterteil in meines, reibt seinen kleinen, nun weichen Schwanz wieder in meine Scheide hinein, naß und feucht, mit süßem Geruch mengt er sich in meine wachsende Erregung. Sein Oberkörper streicht über meine Brüste.
Er liegt gar nicht mehr auf mir, er schwebt mir in meine Erregung hinein wie ein Engel über der Erde, sein Schwänzchen wird stärker und ist fest genug, um mir einen angenehmen Widerstand in der Scheide zu geben, an dem ich mich jetzt selbst reiben kann in sicherer Zuwendung einem bestimmten Punkt zu, sein Glied schlüpft feucht in mein Loch hinein, gleitet aber auch wieder heraus, weil es zu kurz ist, um sich dort festzuhaken, es tanzt zielsicher, von mir mit meiner Beckenbewegung geführt, über meine Lustspalte in selbstverständlicher Lebendigkeit, er wird hastiger, preßt sich ganz in mich, in meine erhitzte Scheide, ich packe ihn an den Popobacken, ihn reibend zwischen meine Schenkel. Ich halte den schlanken Körper weiterhin an mich, presse ihn wie in Freude über unsere Lust, und es regt sich der Knabe über mir, tanzt sich in einen Wirbel des Bluts hinein, ohne besonderen Kraftaufwand, ohne Gedanken, ohne Zwiespalt. Der einzige Spalt bin ich. Auch die anderen liegen übereinander und aufeinander, verloren in das ewige Spiel der Lust. Die Anführerin leckt kniend in Anjas Scheide. Mir flammt das Auge auf dem Stirnband des Knaben entgegen, ich gehe ihm zu, ich verliere mich in ihm, ich steigere mich, ich nähere mich, ich vergesse mich, ich verschlinge mich in einem Aufatmen der Lust, zu der mich der Tanz des Kindes gebracht hat. Ich muß am Ende selbst ganz versunken in das Fickspiel gewesen sein, weil ich bemerke, daß es zur Ruhe kommt, wir kleben aufeinander wie im Schlaf, wie auch die anderen. Sie liegen am Boden, einander noch still berührend. Der Junge auf mir erhebt sich wieder, dann wirft er mir meine Kleider zu, er hat seine Augen wie selbstverständlich auf mich gerichtet. Er denkt daran, mir meine Kleider zu geben, mich freut das, und ich ziehe mich rasch an. Man räumt den Teppich wieder weg. Anscheinend hüten sie den, sie rollen ihn zusammen und stellen ihn in eine Ecke des Raums. Ich tauche auf aus meinem Prozeß der Einkehr und schließe meine Hose. Ich schaue wach um mich, ich beobachte meine Umwelt, ich bin auf alles gefaßt, ich traue dem Frieden nicht. Man kümmert sich nicht mehr um mich, das heißt, der Junge tut das sehr wohl, aber ich fürchte die Aufgaben, die ich jetzt noch zu bestehen hätte. [496] Die Kinder nehmen wieder ihre Gürtel mit den Lendenschurzen um. Zwei tragen einen Haufen Maiskolben ins Zimmer herein und legen sie vor dem Ofen ab. Ein Mädchen ist damit beschäftigt, Feuer zu machen. Sie reibt dürres Holz mit einem Bogenquirl, zwei hocken dabei und verfolgen voll Spannung das Gelingen. Wie verspielte Brandstifter haben sie die Zungenspitzen zwischen den Lippen, sie freuen sich und springen hoch, als das Laub aufflammt. Hell ist der Schein. Der Herd ist nicht ganz geschlossen, sondern vorn offen in der Art eines Kamins. Seine Hinterfront ist aber ein alter Blechofen. Noch andere kuscheln sich zum Feuer, man rückt zusammen, der Hund wird wieder hereingelassen. Er war draußen während der Zeremonien. Anja hebt die Flöte hoch und zeigt sie mir wie in stummem Einverständnis unserer gemeinsamen Erinnerung. Ich stehe und reibe an meinen Gelenken herum und freue mich über Anjas Zeichen. Der blonde Junge kommt her, bläst mir auf die Druckstellen der Haut, geht mit mir zum Feuer, denn hier drinnen wird es langsam dunkler. Das Feuer gibt ein heimeliges Licht. Er besieht sich die Stellen genau, indem er meine Hände in den seinen hält, er bläst wieder und sieht mich an, er sagt nichts. Seine Augen sind weit und hängen in keiner Bedeutung als der, welche sie haben. Er will mir nichts erklären, mich nicht trösten. Er bedauert mich nicht, er sagt einfach nichts. Er zieht mich ein wenig hinter sich her, ich folge ihm, und er klettert eine wackelige Leiter auf die Schlafetage hinauf. Dort oben liegen Strohsäcke und Decken. Er schüttelt eine sorgfältig auf, rückt einen Strohsack zurecht und glättet ihn voll Eifer. «Das ist unser Bett, merk dir's gut. Den Strohsack hab ich selbst gefüllt, er sticht nicht sehr, du wirst gut schlafen.» Dann lacht er mich an, so ungeniert und lustig unverfänglich, ich lasse mich von ihm so anlachen, ich genieße diese Fröhlichkeit, ich glaube ihr, ich glaube wieder an etwas, nicht
weil ich mich dafür entschieden habe, sondern weil ich dazu verführt werde, durch das Lachen eines anderen. Wir klettern wieder hinunter und setzen uns auch ans Feuer. Es wärmt. Am Abend ist es nicht mehr so warm wie vorher. Wie lange habe ich mich nicht mehr warm gefühlt. Eine Tomate fliegt an meinem Ohr vorbei und trifft einen Jungen mitten aufs Kinn, sie hat diesmal nicht mir gegolten, auch die anderen werden beworfen, nicht nur ich, mir tut das gut, und ich lache mit über den Treffer. [497] Die Anführerin streckt sich, sie ist noch immer nicht angezogen. Sie hat unten am Bauch Haare, ziemlich dunkle, aber unter den Achseln sind sie hell wie ihre Haut. Sie schlüpft nun in einen blauen alten Overall. Jemand hat ihr die Träger zusammengeknotet, sie flucht, während sich die Täter kichernd auf die Schenkel schlagen. Ein Mädchen wischt sich die Tränen vor Lachen. Ein Junge verbrennt sich an der Flamme. Er hat einen Maiskolben zu nah hingehalten. In einem Holzbottich steht ein seltsames körniges Pulver. Ein Mädchen vermengt es mit Wasser und knetet es zu einem Teig. Sie wird von Anja abgelöst, die Arbeit ist gar nicht leicht. Ich löse Anja im Kneten ab, obwohl ich nicht recht weiß, was da draus werden soll. Von hinten trifft mich ein Stoß, ich fahre zusammen, aber bemerke, daß ich nur aus Zufall bei einer kleinen Keilerei etwas abgekriegt habe. An meinem Schrecken kann ich aber meine anhaltende Anspannung erkennen. «Die haben anscheinend den Angriff aufgegeben», bemerkt die Häuptlingin, noch einen Blick aus dem Fenster werfend. «Tapferer Pfeil - schau noch einmal kurz draußen nach!» gebietet sie meinem Beschützer. Nicht nur mir ist die neue Formulierung seines Namens aufgefallen, sie hat es deutlich ausgesprochen. Die anderen fallen begeistert in die Erneuerung des Namens ein: «Pfeil - Tapferer Pfeil - Tapferer Pfeil!» rufen sie laut. Ihn hemmt das nicht in seiner Freude, in seinen Augen leuchtet es auf, er wird fast um einen halben Kopf größer und verschwindet nach draußen. Man schließt die Laden, und jemand zündet zwei Kienspäne an, die an der Wand stecken. Das Mädchen, welches den Teig angesetzt hat, meint: «Der ist aber jetzt schon ordentlich, je fester er geknetet ist, um so besser werden die Fladen.» Sie formt handtellergroße Scheiben und legt diese auf ein Blech, welches sie direkt über die Flamme schiebt. Man rückt noch näher, einer bringt Wasser in einem Krug, und wir trinken reihum daraus. «Hunger!» tönt es von draußen herein. Tapferer Pfeil kommt wieder, außer Atem. «Hunger!» schreit er, und alle fallen in sein Gebrüll ein. «Draußen rührt sich nichts, sie haben den lachenden Mond aufgesteckt!» ruft er in das Brüllen und nimmt einen ordentlichen Schluck Wasser. Er setzt sich neben mich, als hätte er das immer schon getan. Ein Maiskolben ist schon fertig. Er macht die Runde, alle sind gierig, [498] und mein anderer Nachbar reißt mir den Kolben schon aus der Hand, bevor ich mich noch an seine Hitze gewöhnen konnte. «Du kriegst noch genug, keine Sorge», tröstet mich Pfeil. Die ersten Fladen sind heiß. Ich kann den Kindern ja nicht sagen, was ich eigentlich für einen Hunger habe. Mit der ersten Flade zwischen den Fingern stellt sich mir ein Bär in den Eingeweiden auf, und ich koste mit ganzer Wucht aus, wie gewaltig ich meinen Heißhunger die letzte Zeit unterdrückt habe, zugunsten eines geistigen Gespenstes oder Gespinstes, ich habe eigentlich die Natur unterdrückt. Jedenfalls beiße ich herzhaft in den heißen Fladen und trinke Wasser nach. Jeder bekommt jetzt auch noch einen Löffel voll warmer Gemüsesoße auf Tomatenbasis über die Fladen, die ungeheuer gut und kräftigend schmeckt. Die Kinder sind sorgsame Köche, sie machen das mit Liebe und Aufmerksamkeit. Das Feuer glüht, und ich glühe auch in Wohlbefinden. Es liegt wie ein erregender, aber zugleich beruhigen-
der Schein über der seltsamen Gesellschaft. Sie wird beim Essen etwas ruhiger. Man stopft ungeniert hinein, schiebt die Fladen mit der anderen Hand nach, so manches Kindergesicht lächelt mir im Eifer zu, voll Wohlwollen und Genuß. Sie freuen sich, daß es auch mir so gut mundet, sie verstehen das. Ich habe schon mehrere Fladen mit viel Soße gegessen. Was die da für ein Mahl auftischen, geht eigentlich über meine Erwartungen. «Habt ihr immer solches Essen?» frage ich Pfeil. Er sieht mich mit staunenden Augen an und meint ganz harmlos, als würde er sich wundern: «Immer, manchmal haben wir noch viel besseres», und er schiebt sich ein Stück Flade nach, das nicht hineinwill. Einer balanciert einen abgenagten Maiskolben auf dem Kopf. Der purzelt herunter und platscht ausgerechnet in den Krug. Wir platzen alle heraus aus unseren mampfenden Mündern, das Essen spritzt nur so herum, was zu neuerlichem Lachen Anlaß gibt. Ich bin selbst in einen Kicheranfall verwickelt und muß mir die Seiten halten. Der unglückliche Jongleur fischt den Kolben heraus und wirft ihn mit achtloser Miene fort, er landet auf der Schlafetage, alle Augen gehen gespannt nach oben. Da plumpst das Ding herunter, mitten in die Runde, und diesmal nimmt das Lachen fast kein Ende. Der Hund liegt unter dem Tisch und frißt ebenfalls Maisfladen. Langsam wird das Feuer kleiner, auch die Augen der Kinder werden kleiner. Ein Mädchen sammelt Reste ein. [499] Sie stellt noch eine Schüssel voll praller roter Trauben in die Mitte, man greift noch zu, aber die meisten liegen auf den Boden hingestreckt, die Augen aufs Feuer gerichtet. Pfeil legt seinen Kopf auf meine Knie, er hält sich den Bauch und rülpst, worauf auch ich rülpse. Es erhebt sich nun ein mutwilliges Rülpskonzert, bis langsam die Müdigkeit über uns kommt. Ich richte mich noch einmal auf in mir selbst und gemahne mich, wachsam zu sein, aber ich weiß nicht recht warum, ich kann diese Vorsicht nicht aufrechthalten, auch mir fallen die Augen fast zu, ich bin rettungslos müde. Tapferer Pfeil klettert auf die Etage, ich folge ihm, und auch die anderen legen sich auf die Strohsäcke. Jemand bläst die Kienspäne aus, es riecht nachher rauchig, nur mehr das Feuer glost leicht. Der Hund liegt neben dem Ofen wie ein stiller Wächter. Ich schaue noch einmal hinunter auf die Glut und krieche dann zum Tapferen Pfeil unter die Decke. Er dreht sich auf die Seite, und ich lege mich in derselben Richtung an ihn. Ich fühle ihn gern, den kleinen Körper, ich spüre ihn wie ein Stück Gesundheit meiner Seele. Ich kann nichts mehr überlegen, ich brauche das nicht zum Einschlafen. In der Nacht erwache ich nicht ein einziges Mal, obwohl ich das Gefühl habe, nicht eine Sekunde zu vergessen, wo ich bin und unter welchen Umständen ich hier bin. Es ist, als hätte ich tief und erholsam, aber mit offenen Augen geschlafen. Ich habe den Jungen neben mir gespürt und immer gewußt, wie ich zu ihm gekommen bin. Am Morgen sind zu meinem Erstaunen schon alle ausgeflogen. Der Platz neben mir ist leer, und auch die anderen Schlafstellen sind schon verlassen. Ich setze mich auf, so allein auf der Etage, die Hände auf die Knie gestützt, die Finger in den Haaren. Wenn ich mich kratze, tun mir die Gelenke noch weh, ich massiere sie abwechselnd. Unten schnüffelt der Hund herum. Es ist ein Wolfshund, aber mit kurzen Beinen, er ist nicht wie der Schäfer, den Ruth gehabt hat. Auf einem Balken liegt eine Tigerkatze mit gelben Augen, ein Bild stolzer Einsamkeit. Ich sinke noch einmal zurück und starre in die Dachbalken, so als könnte ich dort sehen, ob mein Leben noch irgendwo faßbar ist als eine Wahrheit am Weg oder eine Wirklichkeit am Abweg. Während ich in die Maserung des alten Holzes eintauche, steigt mir auf, daß es mir überhaupt keine ernsthafte Frage ist, wie ich mich und wo ich mich verhalte, daß diese Erörterung keinerlei Sinn hat, daß mir das Festhalten einer Erkenntnis nichts nützen kann, weil ich gar keinen [500] Vergleich habe. Je länger ich mich damit beschäftige, um so mehr zeigt es sich, daß mein Leben immer schon so irritierend abgelaufen ist, daß ich es wohl als meines erkennen muß. Ich lache kurz und heimlich auf, erschrecke aber über
diesen Laut, weil er hier so geisterhaft klingt, so jenseitig vertraut. Ich lausche noch einmal in das Gebälk - nichts - ich muß gedacht haben. Mein Mund lacht aber noch. Von draußen dringen Kinderlachen und Radau herein. Sie müssen im Hof sein. Ich fahre langsam über mein Gesicht, drücke mit den Handballen ein wenig in die Augen und schaue dann auf meine Innenflächen der Hände. Da drin liegt mein Gesicht, ein Spiegel, den ich immer mit mir habe, meine Eitelkeit, meine Eigenart, ich bin daran, sie zu verlieren, ich spüre das. Worauf soll ich dann noch wachsam sein? Ich klettere die Leiter hinunter. Zwei mittlere Sprossen sind abgebrochen. Die Asche ist grau und kalt, jedoch die Sonne scheint warm beim Fenster herein. Das Mädchen, welches die Fladen gebacken hat, begegnet mir in der Tür. In der Enge nimmt sie mich kurz um die Hüfte, streift mich kameradschaftlich, ohne Verwunderung und auch ohne besonders Notiz von mir zu nehmen, wie selbstverständlich. Tapferer Pfeil sitzt am Brunnenrand im Hof und schnitzt an einem Holz herum. Er ist ganz bei der Sache, die Zunge zwischen den Lippen. Mir ist, als hätte ich ihn immer schon gekannt, nahe und fern zugleich, wie ich mir selbst ein Wesen im Wechsel der Entfernungen zu seiner Identität. Würde jeder Tag so beginnen? Vielleicht hat jeder Tag so begonnen, so unverdorben und neu mit der eifrigen Zunge zwischen den Lippen. Er wischt sich die Nase mit dem Handrücken. Er hat schon feine Muskeln an seinem mageren Arm. Die Anführerin sitzt auf einer Tonne und langt sich eine frische Traube von den Sparren herunter, die den Hof zum Teil überdachen. Lauter Weinlaub mit blauroten Trauben. Sie ist wählerisch, sie nimmt nicht jede Dolde. Sie erblickt mich in der Tür und deutet auf die Früchte, wie um mich auch zum Essen einzuladen. Tapferer Pfeil kommt hergelaufen, mit einem begeisterten Lachen im Gesicht. Er hält mir das Schnitzwerk entgegen: «Es wird ein Löffel. Wenn du willst, mach ich dir auch einen. Meinen hat Stinkender Bock abgebrochen.» Er gibt einem dicklichen Jungen, der eben an uns vorbeischlendert, einen Tritt in den Hintern, behält aber dabei seinen freundlichen [501] Gesichtsausdruck bei. Stinkender Bock murmelt etwas, setzt sich aber seelenruhig auf die Treppe und beginnt ebenfalls an einer Traube zu essen. Die Anführerin reicht mir wortlos eine von ihrer Tonne herunter und zieht sich dann wieder auf ihren Hochsitz zurück. «Stolzes Auge ist aber freundlich zu dir, das sollte mir einmal passieren», mault Stinkender Bock. «Du wirst es schon sehen, wenn du wieder mit ihr schlafen mußt - jeden zweiten Neumond müssen wir mit ihr», sagt Tapferer Pfeil, nun zu mir gewendet. Ich schlendere essend ans Tor. Es steht nur angelehnt. «Ich würde an deiner Stelle nicht hinausgehen, sie kennen dich noch nicht, und du kennst ihre Regeln nicht. Du solltest fürs erste nur mit uns gehen, außer du willst dich massakrieren lassen», warnt mich Stolzes Auge träge. Ich horche auf und verstehe sofort, daß das ernst gemeint ist. Ich setze mich zum Stinkenden Bock auf die Stufen und zupfe weiter an meiner Traube. Wir spucken die Kerne weit von uns. Der dicke Junge guckt mich von unten her an und sagt nichts, aber er spuck kräftig mit mir. Stolzes Auge sitzt lässig auf der Tonne und kaut an der Haut der Früchte. Sie scheint schon satt zu sein. Sie hat den Blick gesenkt, aber ich habe immer das Gefühl, daß sie um sich wittert. Etwas Lauerndes ist in ihr, etwas Träges, etwas Überreifes. Sie ist nicht so fröhlich wie Tapferer Pfeil, sie ersetzt ihre Kindlichkeit eher durch Klugheit. Stinkender Bock ist recht schmutzig. Dicke Ränder überziehen seine Beine. Er trägt einen Schurz aus speckigem Leder. Von Stinken kann ich eigentlich nichts bemerken. Nicht alle Kinder sind schmutzig. Neben dem Brunnen baden zwei Mädchen in einem Trog. Sie tauchen immer wieder unter und prüfen, wer länger den Kopf unter Wasser halten kann,
spritzen und kreischen. Einer bekommt Wasser in die Nase, sie bläst es heraus und hält sich den Kopf. «Ihr habt doch den See? Warum badet ihr nicht dort?» frage ich, während ich an den Bottich trete. Sie halten kurz in ihrem Spiel inne, so als müßten sie überlegen, ob sie meinen Einwand als Störung empfinden sollen. Ich selbst finde meine Frage jetzt erst unpasssend. «Das verstehst du nicht», meint die eine kurz angebunden, und die andere spritzt mir eine ordentliche Ladung Wasser hinauf. «Wasch dich erst selber einmal!» schreit mir die andere nach. [502] «Reißende Muschel kommt! Sie hat einen Korb voll Beeren!» ruft das Mädchen, welches gekocht hat. Stolzes Auge steigt auf die Mauer und guckt aus. Sie läßt einen Laut los, der ähnlich dem Tierschrei ist, der mich bei meiner Ankunft so irritiert hat. Ein durchdringendes Gellen, aber diesmal nicht so kriegerisch. Von draußen ertönt derselbe Ruf als Antwort. Die weißen Mauern bilden ein großes Viereck, welches das Territorium des Hauses einschließt. Ranken hängen über die Wände, große Flecken blühen auf, schadhafter Verputz, an einer Stelle ist die Mauer zusammengebrochen, einige Ziegel sind nur locker aufgestellt und schließen den Spalt. Eine Scheune steht offen. Die Wände des Schuppens und auch der Boden sind mit großen Zeichen bemalt. Tempel sind aufgezeichnet zum Hüpfen, mit Männchen und Tieren. Gesägtes Holz liegt aufgestapelt an der Hauswand, und ein Besen lehnt in der Ecke. Anja kommt beim Tor herein, sie trägt einen Korb mit Beeren. Die Kinder stürzen sich auf sie. Ihr Haar ist noch prachtvoller geworden. Der Korb wird auf den Brunnenrand gestellt und alle schmausen. Auch Stolzes Auge beteiligt sich lachend daran. Reißende Muschel hat ein Stirnband um, ein buntes sogar. Heute steckt eine Blume drin. Tapferer Pfeil schlüpft wieder an meine Seite: «Ich borg die den Löffel, bis ich dir einen eigenen gemacht hab. Gib acht, das frische Holz läßt noch Fasern.» Die Kinder strecken einander, die blauroten Zungen heraus. Es sieht recht gespenstisch aus. «Eßt nur, es sind noch viele dort», beruhigt uns Reißende Muschel und stopft sich selbst eine Handvoll in ihren Mund hinein. «Zeig», fordert mich Tapferer Pfeil auch zum Zungenzeigen. Ich reiße das Maul auf, und er lacht mir hinein, als sei meine Mundhöhle etwas Besonderes. Gleich nach den ersten paar Beeren spüre ich eine starke Regung in meinen Gedärmen. Sie reißen so durch. Die große Menge Essen von gestern drängt nach außen. Ich hab ja schon lange nicht mehr so viel gegessen. Ich greife mir an den Magen und ziehe mich unauffällig etwas zurück. «Was ist?» fragt Reißende Muschel. «Ist was?» stimmen die anderen ein und schauen in komisch gespielter Manier in die Runde. Ich fühle mich überrascht durch die scharfe Beobachtungsgabe der Kinder. Sollten die mich strenger beobachten, [503] als ich vermute? Sie lachen und halten sich die Nasen zu, einer tut, als würde er ohnmächtig umfallen. «Mir blähen die Beeren auch ein wenig den Bauch, vielleicht essen wir doch nicht zuviel auf einmal, bist du sicher, daß die auch gut sind?» fragt ein schwarzhaariges Mädchen, das vorhin in dem Schaff gebadet hat. «Die sind alle giftig! Giftbeeren - Hmmm, hmmm», schmatzt Stinkender Bock und hält eine Beere über seinem geöffneten Mund und läßt sie dann hineinfallen. Er schielt furchterregend, während er die Beere langsam zwischen der Zunge und dem Gaumen zerdrükkt.
«Die sind alle in Ordnung, ich kenne mich da aus», verteidigt sich Reißende Muschel, hält sich aber mit einemmal selbst den Bauch. Sie rennt hinters Haus, ich laufe mit ihr und noch jemand schließt sich an. Wir hocken uns auf einen Balken über einem Wassergraben und scheißen lautstark in wohlig entlastender Verlorenheit hinunter. Die anderen stellen sich jetzt an, so als sei es allen plötzlich eine Notwendigkeit, sie drängen sich wie im Scherz und boxen um die nächsten Plätze. Einige große Blätter hängen in Reichweite an einem rostigen Nagel, mit denen man sich den Hintern putzen kann. Indem Reißende Muschel sorgfältig damit beschäftigt ist, sieht sie mich an und meint: «Willst du baden? Das Wasser im See ist noch recht warm.» Ich bejahe ebenso begeistert, und sie trötet, noch halb am Balken hängend: «Wer geht mit zum Baden?» «Wir gehen baden!» ertönt es durch die drängende Schlange, und sie löst sich so schnell auf, wie sie sich gebildet hat. Keiner muß mehr, alle rennen zum Tor. Da erschallt ein kurzer Warnruf, ein schrilles, unüberhörbares Aufbrüllen von Stolzem Auge, und die Schar hält am Eingang an. «Alles mit der Ruhe. Wir gehen geschlossen hinaus, und außerdem soll die Hälfte hier zurückbleiben. Wir müssen noch vorsichtig sein, wegen gestern und auch ihretwegen.» Sie zeigt auf mich. «Man weiß nicht, wie die anderen reagieren auf ihre Größe.» «Okay, wir bleiben da», melden sich einige freiwillig. «Wir geben Zeichen, wenn was los ist.» «Ich gehe auf jeden Fall mit, ich will dir alles zeigen», bestimmt [504] Tapferer Pfeil für sich selbst und pflanzt sich neben mir auf, nun wieder mit seinem Köcher bewaffnet. Ich sehe noch, wie ein zurückbleibender Junge ein großes schweres Steinrad aus dem Schuppen zerrt und beim Brunnen aufstellt. Zwei Mädchen schütten aus einem Sack Maiskörner in einen großen Trichter, der über dem Rad befestigt ist. Der Junge beginnt an einer Kurbel zu drehen. Wir machen uns schon auf den Weg, und ich kann den weiteren Verlauf dieser Tätigkeit nicht mehr verfolgen. «Was machen die da?» frage ich meinen Begleiter. «Sie reiben Maismehl, aus dem machen wir mit Wasser den Teig für die Fladen.» Ich bin dankbar für meinen Lehrer, er weicht nicht von meiner Seite. Wir ziehen über den Platz des kleinen Dorfes. Die Häuser stehen mit den Hofmauern aneinander, zum See hin mit einem Zaun abgegrenzt. Alle sehen so desolat aus wie das, in dem ich wohne, aber alle sind sie weiß und in irgendeiner Art gemütlich. Überall hängen Trauben an den Wänden, und Ornamente schlingen sich um die Fensterladen. Weiße, verblaßte Gemäuer schließen die Höfe ab. Auf einer Mauer erscheinen Kinder. Vier, fünf, noch mehr klettern behende hinaus und hocken dort oben wie Vögel, die Haare verwildert, sorglos bekleidet oder nackt, wie die Kinder meiner eigenen Gruppe, nur sind mir die schon vertrauter in ihrer Wildheit. Ich sehe etwas besorgt hin, und Tapferer Pfeil erklärt mir: «Vier der Häuser sind bewohnt. In dem da wohnen die Ältesten, dort dann diejenigen, die nur etwas älter sind als wir», zeigt er genau und bleibt dabei stehen. «Wir sind die Jüngsten», fügt er noch hinzu, stolz auf diesen Stand. «Wir bleiben immer eher eng beisammen, man kann nie wissen. Als Gruppe fühlen wir uns besser in Zeiten der Unruhe und erscheinen den anderen auch gefährlicher», erklärt er, während wir locker laufen, um die übrigen einzuholen. Wir trotten einen Feldweg entlang zum See. Die fröhliche Gesellschaft bewegt sich vor mir her, plaudert und schnattert, läuft weg und kommt wieder, boxt und scherzt, aber bleibt beisammen. Stolzes Auge hält Reißende Muschel wieder um die Schulter gefaßt, sie tuscheln erregt, die Große spricht auf die Kleinere ein, dann lachen sie hellauf. Tapferer Pfeil bleibt stehen und zeigt auf einen Heuschober.
«Dort wohnen seit einiger Zeit vier oder fünf, die werden vielleicht [505] eine neue Gruppe bilden, wenn sie stark genug sind. Es stehen ja noch einige Häuser leer.» Ich sehe Maisfelder und auch rote Tomaten auf Stauden. Auf einem Maisfeld sind vier größere Kinder damit beschäftigt, Kolben abzureißen. Ein Mädchen hat ein Tuch auf den Rücken gebunden, in dem sich etwas regt. Ich hebe meine Hand gegen die Sonne und schirme meine Augen ab. «Hat die da ein kleines Kind?» «Ja, von den größeren Mädchen haben schon mehrere Kinder, und dort drüben ist unser Maisfeld, da holen wir die Kolben her. Wir haben noch eines weiter hinten, auch Kartoffeln wachsen dort», fährt der Junge in seiner Erklärung fort und zeigt mir die Richtung. «Wer kümmert sich denn um die Felder?» «Ja, eigentlich niemand, das wächst von selbst. Manchmal wächst auch wenig.» Wir müssen wieder hinter den anderen herlaufen. Er wendet noch ein: «Einige kennen sich schon aus mit den Äckern, viel machen wir aber nicht.» Er hält inne, nimmt mich am Arm und zeigt in die Luft auf einen Vogel, der dort oben steht. «Wir schießen auch Vögel und gehen auf die Jagd, wir haben genug zu essen», er zeigt dabei auf sich. «Wir holen die Eier aus den Nestern und die Fische aus dem See, die sind besonders gut. Auch im Winter fischen wir. Das Eis läßt sich aufhacken, und darunter wimmelt es nur so, wenn du einen Köder aushängst», sprudelt er hervor. Ich bleibe etwas zurück und sehe ihn an, wie er mich so eifrig unterrichtet, in Sorglosigkeit und Zuversicht, er sprüht vor Lockerheit und Frohsinn, er lebt, er macht das spielend, er erweckt in mir einen Sinn für die Sorglosigkeit. Ich muß lachen über seine liebe, blonde Wildheit, die mir so überlegen ist in ihrer Erfahrung der Natur. Er bemerkt, daß ich ihn betrachte und mir etwas denke. Ihn verwirrt das nicht, er lacht, kommt zurück, nimmt mich bei der Hand und läuft mit mir weiter, den anderen nach. An einer Wegkreuzung begegnet uns ein etwa sechzehnjähriger Junge auf einem Pferd. Er bleibt in einiger Entfernung stehen und beobachtet uns reserviert. Er ist schwarzhaarig und hat etwas ungemein [506] Kräftiges in seiner noch knabenhaften Gestalt. Er trägt einen Bogen und eine Menge Pfeile über der Schulter. In seiner Satteltasche steckt ein Gewehr. «Das ist Feuernder Schrecken», erklärt mein Begleiter leise und bewegt sich zügig hinter der Gruppe her. «Er gehört zu den Ältesten. Das Roß gehört ihm, manchmal läßt er auch andere reiten. Sein Gewehr schießt nicht mehr, ich glaube, er hat keine Munition. Beim letzten Überfall haben wir alle verjagt, einer ist getötet worden, das Pferd ist verletzt am Boden liegen geblieben. Das Tier ist wieder gesund, er hält es gut.» Noch einmal blicken wir zu dem Reiter zurück, der noch immer dasteht und uns nachschaut. Dann reißt er sein Roß herum und galoppiert davon, daß die langen schwarzen Haare fliegen. Der Feldweg geht in Sand über. Ich bin barfuß und lasse ihn zwischen meinen Zehen herausquellen. Warm und rieselig ist der Boden. Die Kinder streifen sich am Wasser die wenigen Kleidungsstücke vom Körper, werfen sie auf einen Haufen zusammen und rennnen johlend ins Wasser hinein. «Können alle schwimmen?» frage ich. «Nicht alle, aber der See ist hier nicht tief, da kannst du weit hineingehen.» Pfeil läuft vor, macht sich seinen Gürtel auf und legt seine Waffen ab. Einige der Kinder hatten
Bogen, Tomahawks und Pfeile umgehängt. Er kommt wieder zu mir zurückgewirbelt, schleudert den Sand auf und fliegt mir an den Körper. Ich falle rücklings ins Weiche. Er lacht und schüttet mir Sand über die Beine. Er gräbt sie ein. Während dieser Beschäftigung, die er sehr ernst zu nehmen scheint, unterbricht er sich und zeigt auf die Boote, die am Ufer liegen. «Das Große ist das der Ältesten, das mit dem Kopf vorn dran ist unseres. Ich habe den Kopf selbst geschnitzt. Ich kann das schon recht gut jetzt, die anderen finden das auch», sagt er etwas leiser. Er läßt sein Graben bleiben und legt sich neben mich auf den Bauch, den Blick auf das Wasser gerichtet. «Weißt du, ich habe es schwer gehabt mit dem Schnitzen, meine Pfeilspitzen sind oft abgebrochen. Die anderen haben darüber gelacht. Mich hat das geärgert, und ich hab das geübt, ich konnte nicht den richtigen Schnitt herauskriegen, das ist gar nicht so leicht. Ich konnte nie was treffen mit diesen Scheißpfeilen. Jetzt kann ich's, aber diesen Kopf am Boot hab ich schon vorher gemacht, der sieht recht schrecklich [507] aus. Wir verwenden die Boote zum Fischen und auch zum Spaß. Einmal haben uns die Maulaffen das Boot wegggetragen, weil sie gefunden haben, daß wir zu viele Fische fangen und sie keine. Wir waren damals lange im Kampf miteinander.» «Wer sind die Maulaffen?» «Na, die auf der Mauer gehockt sind und gegafft haben. Die sind arg neugierig, die wissen alles. Wir halten uns da immer zurück. Man fährt ganz gut, wenn man nicht in alles verwickelt ist. Wir mischen uns auch nicht drein, wenn die anderen miteinander kämpfen, das ist ihre Sache.» «Seid ihr denn so oft im Kampf?» frage ich interessiert mit einem bangen Blick zurück auf das Dorf. Der Junge läßt Sand durch die Finger rinnen und sagt: «Nicht dauernd, aber es ergibt sich immer wieder.» Er tut so, als würde er sich Beispiele ausdenken, blickt mich dann aber voll Angriffslust von unten her an. Seine kecke Wildheit fährt mir wie ein Überraschungspfeil durch. Sie ist eine Herausforderung an sich, ich habe ihm gar keinen Grund gegeben, sein wechselndes Wesen ist die Natur. Ich lache auf und wundere mich, ich spüre eine gesunde Kraft zur Aggression. Er fängt wieder an, mich mit Sand zu beschmeißen. Er ist wie ein Kind verspielt, er erinnert mich daran, daß er ein Kind ist, ich habe das die ganze Zeit über vergessen. Ich weiß aber nicht recht, was es ausmacht. Einige kommen aus dem Wasser gelaufen und rufen uns zu: «Kommt auch rein! Geht schon oder seid ihr wasserscheu?» Das läßt sich der Junge nicht sagen, er rennt voraus, das Wasser spritzt hoch, und er schmeißt sich hinein. Jetzt erkenne ich das Kind wieder, welches uns da auffordert, doch endlich hineinzukommen. Das Mädchen, das gekocht hat, ist ein Junge, ich sehe es jetzt genau, gestern ist mir das in dem allgemeinen Tumult nicht aufgefallen. Die Haare hängen fast allen über die Schultern. Die Geschlechter der Kinder kann ich auf den ersten Blick nicht immer unterscheiden, wenn sie die Schurze umhaben. Tapferer Pfeil jedenfalls ist eindeutig ein Junge, die Anführerin ist ein Mädchen und Reißende Muschel auch. So an die fünfzehn Kinder werden es insgesamt sein, überlege ich, während ich meine Kleider ausziehe, auf den Haufen werfe und in etwas gemäßigterem Tempo ins Wasser folge. Kaum stehe ich im Wasser, stürzen sich fünf von den Knirpsen auf [508] mich, reißen mich um, ich schlucke Wasser, ringe nach Luft, will mich wieder erheben, sie reißen mich wieder um, und mich befällt mit einemmal die alte Panik. Ich fühle mich wieder in der Gewalt des wilden Kindervolkes und spüre noch einmal, daß ich keine Chance habe, mich ihrer zu erwehren. «Dort schwimmt etwas!» ertönt es, und da lassen mich die Kinder los, als sei ich gar nicht so wichtig gewesen. Ich stehe und atme ein paarmal durch. Ich gehe, durchs seichte
Wasser tretend, zu dem Boot mit dem geschnitzten Schädel. Die Kinder werfen einander das Ding zu, das sie gefunden haben, sie fangen es und schleudern es weiter. Tapferer Pfeil erwischt es und gibt es an den Jungen ab, der die Fladen gemacht hat. Jetzt aus der Ferne sieht der wieder wie ein Mädchen aus. Er bewegt sich so ebenmäßig und rund. Sein Kopf und sein Gesicht sind rund, obwohl die Kinder am Körper alle mager sind, außer Stinkender Bock, aber der ist im Hof zurückgeblieben. Nicht so abgezehrt wie die Asketen sind sie, aber auch sie haben das Drahtige und gespannt Gesunde. Stolzes Auge hält sich abseits und spült sich Wasser über den Kopf. Dann erhebt sie sich mit einemmal. Ihr Körper steht nur bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Ich bin überrascht von ihrer Körpergröße. Wieder wundere ich mich über ihre Kräftigkeit um die Hüften. Sie hebt die Hand an die Augen und schaut zu mir her, fängt aber dann das Ding auf, das ihr zufliegt, und spielt mit. Ich bin froh, daß ich ein wenig abseits des Treibens verschnaufen kann. Die Sache am Ende des Boots ist wirklich sehr kunstvoll geschnitzt, sieht meinem kleinen Freund sogar irgendwie ähnlich. Ich bleibe da stehen und sehe auf das Spiel. So sehr ich mich hierher zurückziehen wollte, so gern würde ich jetzt mit ihnen mittun. Ich könnte ihre Wildheit schon ertragen, vielleicht bin auch ich so wild und merke es nur nicht. In einem plötzlichen Entschluß renne ich zurück zu ihnen, als ginge es um einen großen Aufschwung, als ginge es um einen Freistoß ins Vergessen. Ich spüre meinen Anlauf in den Beinen genauso stark, wie ich die Gedankenläufe spüren kann, die ich in Wirklichkeit verwandle. Mein ganzer Körper bewegt sich zu meinen neuen Freunden zurück, ich habe nichts mit mir und meiner Einsamkeit zu klären, ich bedarf der Ruhe gar nicht, in die ich mich flüchten wollte. Ein schwammigweiches Gebilde fliegt mir zu, ich fange es auf und werfe es weiter in die aufgehaltenen Hände hinein, die sich mir entgegenstrecken, ich [509] gebe es gern weiter, man verlangt danach, ich bekomme es wieder, es ist spannend, wenn es wiederkommt, und ich beobachte genau, wohin der Schwamm fliegt, wer ihn nimmt und wohin der Blick des Werfenden sich richtet, ich schreie mit den Kindern, ich strecke die Arme hoch, falle ins Wasser und rapple mich wieder auf, ich vergesse, daß es hier um ein Spiel geht, es ist kein Spiel, es ist das Leben, ein Wurf, eine Bewegung, ein Warten, ein Beobachten, ein Schnaufen, ein Sich-Recken, ein Erhaschen oder Verlieren, ich spritze Wasser um mich. Ich verfange mich mit meinem Handgelenk in einer Schlingpflanze. Ich halte inne und greife mir an den Knöchel an der Hand und merke, daß ich im Gesicht glühe und außer Atem bin, ein Lachen um den Mund, trotz des leichten Schmerzes. Ich stehe da und fühle mich so durchlebt und frei. Noch einmal tauche ich ganz unter und gehe dann dem Ufer zu. Die Schar hinter mir wird stiller, sie lassen ihr Spiel ausklingen. Sie haben ohne mich angefangen, jetzt hören sie mit mir auf. Mir fällt das auf. Aber ich bemerke auch, daß ich froh bin über meinen Entschluß, einfach mitzutun. Daß das so schwer ist? Zu spielen ist nicht schwer, man vergißt es nur leicht. Ich trockne im Wind, obwohl wenig weht. Ich ziehe meine Kleider wieder an. Die anderen kommen auch heraus, und wir formieren uns bald wieder so locker, wie wir hergezogen sind. Tapferer Pfeil kommt an meine Seite, während er sich den Köcher umhängt. Noch außer Atem prustet er: «Du hast dir den geschnitzten Kopf angeschaut!» «Ja, er gefällt mir sehr, der sieht dir ähnlich.» Er macht darauf eine häßliche Grimasse und sieht noch viel eher aus wie der Kopf am Boot. Reißende Muschel fegt an mich heran. «Na, das ist doch gut gewesen?» Ich wundere mich, daß sie noch so vernünftig zurückverfolgt, wie die Reihenfolge zu diesem Spaß abgelaufen ist, sie erinnert sich an alles, sie weiß sehr wohl, wie es läuft, aber ich glaube nicht, daß sie sich das zu einer bewußten Aufgabe macht. Sie ist ein waches Wesen. Sie hat wieder diesen Ernst im Gesicht, den ich noch von damals her so genau in Erinnerung habe. Sie geht schweigend neben Pfeil und mir her. Dann schaut sie mich an,
so als würde sie sich eben jetzt an ihren früheren Namen erinnern, an ihre Herkunft und an die Zusammenhänge ihres Weges. [510] «Wie war das eigentlich mit dem Hund, ist der mit dir gegangen?» Ich bin nicht sicher, ob ich sie das fragen soll, aber sie enthebt mich dieses Zweifels, indem sie sich mir in stilller Begeisterung zuwendet. Sie ist dankbar für meine Frage. Sie strahlt in kindlicher Erinnerung. Ich erwarte ein glückliches Ende dieser Geschichte. «Nein, er ist sicher bei Zottel geblieben. Ich habe noch ein paarmal zurückgeschaut, aber Hunde wissen schon, was sie wollen, es ist ja nicht wichtig.» Ich schweige einige Schritte lang, dann fügt sie noch hinzu: «Auch die Flöte haben wir nicht gefunden.» «Und Krishan?» erkundige ich mich. Mit demselben sachlichen Ton erklärt sie: «Krishan ist bei der Einstandsprüfung in der Gruppe der Ältesten getötet worden. Ein Pfeil hat ihn durchbohrt. Es soll ihn ganz aus der Nähe getroffen haben. Krishan war zu langsam», endet sie, als sei diese Erklärung genug, um vernünftig zu sein. «Wieso mit einem Pfeil?» frage ich irritiert. Tapferer Pfeil schaltet sich jetzt ein: «In der Gruppe der Ältesten haben sie nicht unsere Gasse. Dort muß der Neue eine Strecke lang durch den Wald laufen. Wenn jemand etwas gegen seine Aufnahme hat, darf er einen Pfeil abschießen. Je schneller und wendiger der Läufer ist, um so eher kommt er heil ans Ziel.» Ich stehe wieder einen Augenblick in der dunklen Gasse meiner Vorstellungen von Natur, finde mich aber überraschend leicht in mein eigenes Abenteuerfeld wieder zurück und frage nichts mehr. «Ich habe gesehen, wie sie ihn in der Mitte des Sees versenkt haben», erinnert sich Reißende Muschel und richtet sich das Stirnband gerade, sie schüttelt ihr Haar. «Diejenigen, welche die Prüfung nicht schaffen, werden im See versenkt, die anderen, welche nur so sterben, werden eingegraben.» Wir nähern uns schon wieder dem Dorf. Reißende Muschel bleibt zurück, sie schließt sich wieder ihrer großen Freundin an, die mit einem Jungen im Gehen Fingerhaken spielt. Sie ist stark. Die Maulaffen hocken wieder auf der Mauer. «Was ist denn das dort für ein rundes Zeichen auf dem Dach?» frage ich Pfeil. «Das ist ein lachender Mond, der bedeutet Frieden», erklärt mir mein Begleiter. [511] Die anderen sind diesmal hinter uns. Die Sonne steht über dem See. Wir gucken zurück. Tapferer Pfeil geht auf einmal rückwärts. Zwei in der Gruppe haben Händel, sie boxen wild aufeinander ein. Ich folge Pfeils Beispiel und bewege mich ebenfalls rückwärts. Ich finde die Verkehrtheit zwar anstrengend, aber sie gewährt mir einen neuen Blickpunkt, eine gewendete Ausschau zurück, so als sei ich das Land und würde mich an meinem Hirn vorbeiziehen. Ich schließe die Augen zu schmalen Schlitzen, die Sonne hängt über der Kindergruppe, sie bewegt sich unter den Strahlen wie in einem verwandelten Licht, als seien sie das Licht, welches so strahlt aus ihrer sinnlosen Einsamkeit auf diesem sich drehenden Ball. Eine Bewegung in meinem Herzen, ein Zusammenbewegen, ein Zusammenleben ohne Schutz vor der Sonne. Ich atme durch dieses Lichtbild hinter mir vor mir - ein Gefühl - eine Sammlung meiner wechselnden Erscheinungen zu meinem ganzen Leben - eine Erinnerung in Licht - ein Strahlen der Bewegung - ein Wechsel der Strahlung im Tanz der Gestalten - wie Geister einer möglichen Wiederfindung des Körpers, nachdem er sich in Licht aufgelöst hat. Tapferer Pfeil dreht sich wieder um, ich folge, und unsere Augen lachen einander an im Augenblick der Wendung.
Zwei Ziegen sind an einem Pflock angebunden, vor dem Haus der Maulaffen. Sie grasen. Vor dem Haus einer anderen Gruppe liegen Schafe. Auch dort stehen einige Kinder vor dem Tor. Sie sind etwas größer als die aus meiner Gruppe, etwa zwölf bis dreizehn Jahre. Sie rufen etwas, ich kann es nicht verstehen, und die Kleinen geben ebensolche Rufe zurück, die nicht eigentlich kämpferisch klingen, aber wenig mit herkömmlichen Worten zu tun haben. Scharfe Laute, die einander abwechseln. Wie «Sollo-sollo-sollo», und die Kleinen geben zurück: «Pan-pan-pan.» Noch einmal diese Wechselrede: «Sollo!» und «Pan!» Die Laute gellen kurz und durchdringend. Auch Tapferer Pfeil ruft. Er sieht ernst dabei aus. Vor dem Dorfbrunnen überholen uns einige aus unserer Gruppe, sie laufen dem Wohnhaus zu, schreien voll Lust, wieder nach Hause zu kommen, sie rufen: «Hunger, Hunger!» Wir schließen uns der Raserei an, laufen in den Hof hinein, in dem es schon verlocken nach Essen riecht. Diesmal brennt draußen ein lustiges Feuer unter einem Blechrost, auf dem wieder diese köstlichen Fladen liegen. In einer Holzschüsse [512] dampft eine nach Fleisch riechende Sauce. Wir hocken uns auf den Boden um das Feuer, Pfeil taucht den Finger in die Brühe und läßt mich schlecken. Etwas scharf schmeckt es. «Wild!» meint Pfeil und leckt an seinem Finger, «Reh!» Wir lassen uns das Mahl schmecken. Es gibt Traubenmost. Das Fleisch ist zäh, aber es ist gut gewürzt. Wir essen und trinken, bis wir wie die Säue am Trog umfallen. Die Hauswand bietet Schatten. Am Morgen stand noch die Sonne darauf. «Schillernde Wolke liegt drinnen, sie ißt nichts, sie kann nicht aufstehen, sie hat wieder dieses Brennen im Rücken, sie rührt sich gar nicht vom Fleck. Sie redet überhaupt nichts mehr», berichtet ein Mädchen, das aus dem Haus kommt. Sie trägt eine Flade in der Hand. Ich horche auf und spüre, als müßte ich sofort aufstehen und nach dem Kind sehen, aber etwas hält mich vor diesem geschäftigen Schritt zurück. Niemand nimmt besondere Notiz von der Nachricht, wenngleich es alle gehört haben, denn sie nicken stumm vor sich hin, als wüßten sie Bescheid. Ich sehe Tapferen Pfeil an, und er sagt beiläufig: «Sie hat schon öfter dieses Brennen gehabt, manchmal hat sie dabei ganz gräßlich geschrien und sich am Boden gewälzt, geschwitzt und die Augen aufgerissen, sie hat das auch schon gehabt, bevor sie zu uns gekommen ist. Man hat ihr dort geraten, gar nicht wegzugehen, aber sie ist doch hergekommen. Sonst ist sie eine wackere Person, da gibt es nichts zu sagen, die zeigt oft eine derartige Treffsicherheit beim Pfeilschießen, aber manchmal, da ist sie hinüber, da ist ihr Blick glasig und abwesend, da liegt sie nur da und ißt nichts. Sie wird aber immer wieder.» Pfeil hält inne und schwenkt dann in einen anderen, begeisterten Tonfall über: «Gehst du mit mir in das Gewölbe? Ich zeig dir dort die behauenen Steine, es ist nicht weit.» Eigentlich fühle ich mich müde, ich hab nicht die Absicht gehabt, gleich wieder aufzubrechen. Pfeils Augen sind so entflammt von seiner Idee, er nimmt schon die Hockhaltung zum Absprung ein, so daß ich gar keine Chance habe, mich meiner Trägheit hinzugeben. Ich bin selbst angesteckt von seiner Verführungskunst. Er lockt mich in das Reich der Neugierde und des Spiels. Bin ich selbst ein Kind? Ich hätte gedacht, daß ich ein Erwachsener sei. Sollte es sich da um ein Mißverständnis handeln? Um ein weltweites Mißverständnis von Kind und Nicht-mehr-Kind. [513] «Aber vielleicht ist das zu gefährlich, wir sollten vielleicht nicht allein ...» wende ich zögernd ein, aber Pfeil rennt schon zum Tor. Ich sehe kurz auf die Gruppe zurück, niemand nimmt Notiz von unserem Vorhaben, vielleicht ist das nicht so arg, wenn man die Gefahren auf sich nimmt. Ich habe nicht vergessen, wie infernalisch hier vorgegangen werden kann, ich bin voll Unentschlossenheit. Hier bin ich nicht geborgen vor der Natur, am
ehesten hilft mir noch mein kleiner Freund aus der Unbekanntheit der Gefahren, und ich verschwinde mit ihm durch das Tor hinaus. «Wir können gleich über die Böschung durch den kleinen Waldstreifen gehen, du mußt nur über einen tiefen Graben springen!» ruft Pfeil zurück und rennt schon voran mit seinen sehnigen, dünnen Beinen. Sein Körper vibriert vor Energie und bewegt sich zügig vor mir her. Ich setze alle meine Ausdauer und Kraft ein, ich folge, ich trete über Wurzeln und Grasbüschel, weiche Holzstößen aus und stolpere über einen Dreckhaufen, ich laufe ihm nach, der vor mir fröhlich dahingaloppiert wie ein losgelassenes Fohlen, ich bin von seiner sorglosen Freiheit angesteckt. Die Blätter rauschen an meinem Lauf vorbei. Der Knabe wartet am Graben, bevor er springt. Breit ist es nicht, aber tief, und drüben ist der Boden uneben und abschüssig. Ich darf nicht zögern, ich möchte dieses Kind nicht enttäuschen, ich möchte es nicht verlieren, es hat mich gewählt, es hat mich gerettet, es hat mich zum Leben erweckt, es hat die Augen offen für mich und meine Angst, es ist mein Teil der Raserei über den Mut, über den Unsinn, über die Vernunft, es ist mein Triumph über die Unmöglichkeit zu leben, ein Sprung ins Leere, ein Schritt aus mir heraus, ein Blick zurück, hinein in meinen Abgrund - und noch im Lauf springe ich weg über den Graben, ich komme drüben auf, ich rutsche einen stockenden Herzschlag lang zurück auf dem abschüssigen Boden, kralle mich mit den Fingern in die Erde und bleibe auf dem Bauch liegen. Pfeil schreit begeistert hinter mir auf, ich drehe mich nach ihm um. Er nimmt einen Anlauf, macht die Augen eines wilden Tiers in Konzentration, schleudert sich selbst über den Abgrund und landet neben mir, ebenfalls auf dem Bauch. Zu dem Gewölbe gehen wir Hand in Hand. Es sind nur noch ein paar Schritte. Da ist eines dieser Kellergewölbe, die in die Erde eingefügt sind, am Rand der schmalen, holprigen Gasse. Es riecht [514] moderig, würzig, alt und verlassen. Wir kriechen durch eine Mauerspalte in den Bau. Pfeil verstopft den Eingang wieder hinter uns mit einem dürren Busch. Die Decke ist halb eingebrochen, und es dringt Licht herein. Ein großer schwarzer Käfer flüchtet unter einen Stein. Die Erde ist warm hier drinnen, so als würde sie gären. «Schau, da!» Pfeil gibt mir grobbehauene Steine in die Hand. Ich erkenne einen Tierkopf, den einer Katze. Eine kleine Figur liegt in meiner anderen Hand. Ein Wesen, das ein genau eingezeichnetes Gesicht hat. Ich trete mehr ans Licht und staune über die einfache Fröhlichkeit, die in dieser Haltung aufscheint und die in den wenigen Strichen im Gesicht sich wiederfindet. Eine Befreiung von der Form, ein Weglassen der Gestalt läßt diese Offenheit im Gegenstand übrig, die aber eindeutig eine fliegende, eine laufende Kindergestalt darstellt. Pfeil gibt mir noch eine kleine Schüssel in die Hand und sagt dabei eifrig: «Das habe ich alles mit einem alten Werkzeug gemacht. Der Stein ist weich, man kann ihn ohne weiteres bearbeiten.» Ich hocke zwischen den Schätzen. Pfeil hat sein Gesicht dicht neben meinem. Seine Augen leuchten im Erdlicht auf wie Geheimnisse einer verlorenen Welt der Besinnung zum Leben. Die Haare stehen wild um seinen Kopf, das Stirnband prangt wie eine Krone. «Fühl, wie glatt.» Er fährt mir mit einem Stein leicht über die Wange und schaut mich dabei genauso durchdringend an, wie ich den Körper des Minerals auf meiner Haut fühle. Körpereigen, wie mein eigenes Fleisch, aber ein eigenes Gefüge. Ich nehme den Stein in die Hand und streiche noch einmal in der Rundung daran. Meinen Fingerspitzen tut die Glätte gut, sie ist warm. Pfeils Arm berührt mich an der Seite, als er mir die Technik des Schleifens zeigt. Er hält inne, seine Augen richten sich ohne Rückhalt in meine, er kennt nicht den verhangenen Blick zwischen Wegsehen und verlegenem Anschauen, er schützt sich nicht vor meinen Augen, und er gewährt mir keinen Rückzug in meine Dunkelkammern der Scheu vor den auftauchenden Gedanken. Er faßt meinen Arm und hält ihn mit derselben kindlichen Freude an sein Gesicht wie den Stein vorhin, dann kuschelt er sich verspielt und unver-
mutet in meinem Schoß zusammen. Er macht sich klein, ganz klein, er bewegt sich dort wie ein Tier in gedankenverlorenem Hineinkriechen. Ich beuge mich über ihn und mache mich selbst klein, wir rücken [515] zusammen, eng aneinandergedrückt, wir drängen unsere Arme in der Mitte aneinander, kuscheln uns ineinander hinein, nur unsere Augen haben einen Abstand zueinander. Sie leuchten in dieser Höhle wie geheime Lichtgänge ins Hirn hinein, hinein in unsere verborgenen Wesen, bevor wir noch als Menschen auf die Welt gekommen sind, verwandt aus demselben Blutfluß, herausgeschwemmt aus der Wildnis der Natur - entferntes Erinnern an ein Leben, körperlos ineinandersinkend, geisterhaft schimmernd, im Glanz der Iris, ein Ahnen unserer ersten Bewegung zur Energie, ein Kind, Mensch, eine Haltung zueinander, eine Freiheit ohne Willen, eine Fügung der Atome zum Zufall einer Einheit, hier in der kleinen Atemhöhle zwischen unseren Gesichtern, verborgen, eine Heimat in der Erde, eine Zuflucht in uns selbst. Pfeil guckt aus dem schweigenden Spiel der Verständigung auf und drückt mich dann wie in sportlichem Wettkampf spielerisch nieder. Er ist kräftig. Er öffnet meine Hose und zieht sie mir flugs vom Hintern. Er legt seinen Kopf auf meinen Bauch. Ohne Umstände, ohne Worte. Ich wehre mich nicht, ich finde mich drein, ich finde mich einfach. Er begutachtet meine Haut und wühlt in meinen Schamhaaren. Er lacht und zaust drin herum, dann fährt er mit seinem Finger über die Linie des Nabels hinauf über meinen Magen, langsam, vertieft in seine Bewegung. Er deckt meinen Busen auf und legt seinen Kopf zwischen meine Brüste. Er drückt sie mit den Händen an sein Gesicht. Er schnurrt in der Geborgenheit des Fleisches. Ich habe meine Hände unter dem Kopf verschränkt und schaue ihm zu. Sein Interesse ist mir angenehm, mir prickelt das auf dem Fleisch bis in die Hirnhaut. Das Licht scheint über seine Blondheit. Seine Zähne sind weiß und ziemlich groß. Sein Mund ist voll, die Nase und das Kinn sind kräftig angelegt, geben dem Gesicht einen eigenen Charakter, obwohl sie noch kindlich erscheinen. Unter seinen Augen und auf den schmalen Wangen ist die Haut fein und verletzlich. Seine Wimpern und seine Brauen sind dunkler als sein Haar. Er streift sich flink den Gürtel herunter, er strampelt ihn von den Beinen. Ich mache es ebenso mit meiner Hose, es geht leicht. Auch das Hemd ziehe ich aus. Einige scharfe Steinchen fege ich unter mir weg. «Warte, ich hab einen alten Sack da», sagt er und holt einen großen Fetzen hervor. Ich lege mich drauf. Der Junge drückt sich nun wieder [516] auf mich. Seine Haut ist mir vertraut wie meine eigene, obwohl ich meine eigene ja nie anspüren kann. Ich empfinde einen Schauder der Berührung, der Nähe und des Abstands zugleich. Die Getrenntheit von Vertrauen ist der Reiz zwischen den weichen Körperteilen. Er liegt ruhig auf mir, das Gesicht auf die Seite gedreht. In seinem Stillhalten liegt eine starke Bewegung verborgen, da staut sich die Energie zwischen zwei Körpern. Er richtet sich auf, setzt sich neben mich und guckt mich wieder an. «Eigentlich ist gar kein Unterschied zwischen dir und den kleinen Mädchen, nur ist alles viel größer. Ich finde das gut», überlegt er sachlich. Mich erheitern seine Gedanken, und ich wühle ihm locker durchs Haar. Er kuschelt sich wieder auf mich drauf. Er ist leicht und so beweglich über mir, mich regt seine Wendigkeit sehr an, mit der er sich an meine warme Bauchseite drückt, ohne mich zu belasten, ich kann mich selbst bewegen, wie ich es will, und er geht mit. Unser Körperspiel ist dauernd in eigener Bewegung, aber verbohrt sich nie bloß in seine eigene Lust. Ich fahre ihm mit den Fingerspitzen meiner Hände leicht über den Rücken hinauf zu den Haaren, und er schaudert zusammen und knurrt verhalten auf, er schnurrt dann wie eine kleine Katze, er klammert sich in mein Fleisch mit leichten Fingerspitzen und beißt ein bißchen auf mich ein, er wühlt seinen Kopf wieder in den Spalt zwischen meinen Brüsten, sein Haar kitzelt mich an den Brustspitzen, und ich rege meinen Unterkörper stark, er nimmt das Spiel auf und drückt sein erregtes kleines Glied an meine Scheide, ohne daß es eindringen würde.
Es schleift leicht über meine innere glatte, feuchte Weichheit, ich rege mich in mir selbst und fühle mich stark atmen, er hält etwas ein und sieht mich an. Ich merke es jetzt erst, ich muß die Augen geschlossen gehabt haben. Ich fühle mich voll entfacht, und mir kommt in diesem Feuer des Körpers zu Bewußtsein, daß spätestens hier, an diesem Punkt der Erregung, der Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem völlig aufgelöst ist. Ich richte mich auf, nehme ihn vor mich zwischen meine Beine, und wir schauen beide auf sein erregtes Geschlechtsteil. Ich führe meine Hand langsam über seinen Bauch an den schmalen Lenden entlang. Sein Körper ist zart, aber in der Verletzlichkeit des Fleisches liegt eine empfindliche Frische, die auf jede meiner Bewegungen reagiert. Er schaut mich an, während ich ihm langsam über den Oberschenkel streiche zu seiner Erregung, er [517] wendet die Augen nicht ab, er ist voll Lust in der Erlaubnis zu dem Fühlen, er nähert sein Gesicht dem meinen, sein Kindermund berührt meine Lippen. Ich setze mich auf. Er kniet vor mir. Ich streife mit der Hand über sein Glied. Ich möchte es sehen. Wir sind beide in diesen Anblick versunken. Es ist klein und schlank, aber in seiner Erregung stark und voll, an der Spitze wölbt es sich glatt und durchpulst. Ich ziehe die Haut von der empfindlichen Kuppe, er beugt sich zurück und stützt die Arme hinten auf, schaut mir aber genau zu, ich ziehe die Haut ganz herunter, und heraus tritt die empfindliche bläulich rote, glänzende Eichel, seine kleinen Hoden ziehen sich an den haarlosen Bauch, und der kleine Sack macht dabei viele Falten. Ich beuge mich vor und nehme sein Glied, nachdem ich etwas Spucke draufgetan habe, ganz in die Hand, gleite über seine Spitze, ich reibe glatt an der Unterseite seines Pimmels, wo ein Häutchen spannt, das die Vorhaut hält. Dabei greife ich ihm zart auf seine kleinen gleitenden Hoden in dem Säckchen. Er macht eine stoßende Bewegung in meine Hand, ich halte ihn aber an den Hinterbacken ruhig und drehe nun mit meinen Fingern um seine pulsierende Eichel. Und ganz ohne Vorwarnung, ganz selbstverständlich und locker ergießt sich etwas Flüssigkeit in meine Hand. Er zuckt dabei ein-, zweimal stoßend zusammen und löst sich wieder zu altbekannter Fröhlichkeit. Ich gebe sein Glied frei, nehme etwas von der klebrigen Ficke zwischen meine Finger. Sie ist durchsichtig, nicht weiß, aber sonst in derselben Konsistenz wie bei einem erwachsenen Mann. Wir sehen uns das im Licht an und lachen einander wieder ungeniert entgegen. «Wundert dich das?» fragt Pfeil neugierig. «Nein, aber ich denke nur, was eigentlich der Unterschied sein mag zwischen dem Fühlen von Erwachsenen und von Kindern bei der körperlichen Lust. Du hast noch keinen Samen in dem Saft, aber sonst gefällt mir das besonders gut», lache ich, stupse ihn mit meiner Nase an und wippe mit meinem Schenkel, auf den er sich jetzt setzt. Da lacht auch der Junge mit einem unverkennbar geilen Unterton auf und legt mich wieder auf den Rücken, so als sei ich sein Raufkumpan. Er schnuppert an meinem Gesicht herum und rückt dann neuerlich erregt hinunter, wieder in den Bereich meiner Empfindlichkeit. Er knabbert erst leicht an meiner Brustwarze, er saugt daran, er wippt mit den Händen leicht an den weichen Brüsten und verliert sich in dem Saugen, was mich immer mehr entzündet. Jetzt rutscht er mit seinem [518] Glied immer tiefer, er erreicht mit seiner Spitze meine Lustspalte, er dringt damit in sie ein. Er sucht das Loch am Ende, aber ich gebe ihm mit einer Beckenbewegung ein Zeichen, am Anfang des Schlitzes bei meinem erhitzten Kitzler zu verharren. Er scheint zu verstehen, ich decke die Finger darüber, und er nimmt eine zügige Fickbewegung auf, die ich auch mitsteuere. Ich spüre meinen ganzen Unterleib vor Lust glühen, er merkt das, und das erregt ihn auch, er macht weiter, auch zur eigenen Lustbefriedigung. Auf einmal kommt es mir mit einem gewaltigen Stöhnen, das ihn dazu bringt, jetzt mit dem ganzen Schwanz in meine nasse Scheide zu fahren. Ich presse auf einmal den Unterleib zusammen und fühle eine so tiefe Lust, daß ich schreien muß. Er setzt sich auf und schaut auf mich nieder, als ich die Augen öffne. Mit seinem nach wie vor versteiften Glied gleitet er wieder ganz langsam in meine feuchte Schamspalte und bewegt sich dann wild, als sei die Erregung unseres Bluts hier zusammmengedrungen. Ich wippe auf in meinen Hüften, und mir schießt wieder die Lust ein, er
tanzt in mir, pressend und zerrend, es ist eine rasende Verständigung. Sein Schwanz gleitet in das große tiefe Loch hinein, schlüpft aber manchmal heraus. Ich spüre sein Reiben, ein Schwelen vor dem Entbrennen, ich drücke ihn fest an den Schultern, er preßt sich noch mehr in mich hinein und drückt seinen Körper an mich, ich nehme ihn an den Popobacken und knete sie in fliegender Hast, mir flackert das Feuer des Orgasmus an, will schon abbrennen, noch einmal fällt es zurück, ich fasse den Jungen stärker an seinem Hinterteil, und jetzt fährt mir wieder eine atemlose Erlösung durch meine Adern. Eine Spirale von Lust geht durch meine Scheide, und zugleich fließt der Junge in mich hinein, preßt seine fröhliche Wildheit aus, die sich unversehens wieder in lockere Zuwendung verwandelt. Ich bin außer Atem - daß dieses Kind mich so erregen kann in meinen Genitalien. Der Lustbogen von Kindern und Erwachsenen ist vollkommen gleich. Ich nehme sein Gesicht zwischen meine Hände und küsse ihn wild. Ich habe etwas gefunden. Habe ich? Meine Fröhlichkeit oder meine Ungezwungenheit oder meine Gelassenheit oder meine Lust, meinen Wahnsinn oder eine Raserei oder ein Lachen oder meine Freiheit, meinen Tag oder meinen Körper, ein Kind oder einen Freund ... Ich schlüpfe in die Kleidungsstücke, er nimmt seinen Gürtel wieder um, und wir kletttern wieder ans Tageslicht. Die Luft ist rein und frisch. Wir schlendern die Kellergasse hinunter. [519] «Wie ist eigentlich Reißende Muschel zu ihrem Namen gekommen?» frage ich. «Weißt du, das war so», antwortet Pfeil, «sie hat Stinkenden Bock als Partner bekommmen, dem seine Gefährtin ist ertrunken, aber beim Einstandsfick hat ihm Reißende Muschel den Pimmel absichtlich fast abgezwickt, weil sie ihn nicht wollte. Danach hat Stolzes Auge, deren Gefährte abgewandert war, sie genommen.» Wir kommen nun an kleinen knorrigen Pflaumenbäumen vorbei. «Die sind arg süß!» ruft Pfeil und langt sich einige herunter. Er gibt mir welche in die Hand, und wir nehmen sie wie eine Flüssigkeit in uns auf. Wie der reine Zucker schmecken sie. Sie haben verhältnismäßig große Kerne, die an den Kanten recht scharf sind. «Ich spucke in dieses Mauerloch, wetten?» fordert mich Pfeil heraus. «Ich treffe auch hinein!» nehme ich den Kampf auf. Er spuckt und trifft wie ich knapp daneben. «Noch einmal!» ruft er unbefriedigt. Diesmal trifft der Junge hinein, und ich komme wieder an dieselbe Stelle wie vorher. «Gewonnen!» freut er sich. Ab jetzt spucken wir im Gehen wild um uns. «Ob ich in deinen Mund treffe?» schlägt er vor, verwirft aber sein Vorhaben wieder, noch ehe er damit angefangen hat, und beginnt am Boden herumzusuchen. Ich sehe ihm zu und merke, daß die Sonne schon recht tief steht. Es muß ganz schön Zeit vergangen sein, seit unserem Aufbruch in den Keller. Ich entdecke einen alten Leiterwagen und setze mich drauf, er knarrt. Ich bin ein wenig müde in den Beinen, meine Handgelenke sind jedoch nicht mehr angeschwollen. An einer Stelle zeigt sich eine aufgeriebene Wunde. Daß die beim Baden gar nicht gebrannt hat. Der Junge hat eine Handvoll Kerne gesammelt und kommt jetzt wieder dahergelaufen, mit wehenden Haaren. Er ist wie der Wind selbst. Seine Bewegung ist so leicht, er scheint zu fliegen. Auch im Gehen nimmt er manchmal dieses Schweben an, es hat nicht allein mit seiner Schnelligkeit zu tun. «Schau, wir legen uns die Kerne auf, schön nebeneinander, nicht zu eng, aber auch nicht zu weit entfernt. Jeder macht einen Kreis.» Dann holt er zwei kleine Steine und beginnt sie im Kreis zu rollen. [520] «Man darf immer nur einen einzigen Kern treffen. Wenn man noch einen berührt, gehört er dem anderen.»
Er trifft zwei Kerne und gibt mir einen. Ich treffe drei Kerne und muß ihm zwei geben. Er konzentriert sich, er kneift die Augen zu, er wägt ab, er übt seine Geschicklichkeit, er schaut oft erfreut auf, strahlt unter seiner Mähne hervor. Einmal vergesse ich zu rollen und bleibe an seinem Blick hängen, der eben wieder begeistert aufleuchtet, weil er keinen Stein abtreten muß. Ich verharre, diese Augen leuchten mir wie eigene entgegen, ihr Licht verändert sich übereinanderspiegelnd im Spiel, Energie, die in den Augen des Kindes Leben annimmt. «Was ist, du kommst dran!» ruft er und lacht, dreht sich ein paarmal ungeduldig im Kreis und wackelt mit den Armen. Ich erwache aus meinem kurzen Stocken und werfe, ich treffe nur einen, ich bin überhaupt gut in diesem Spiel. Ich gewinne, denn am Schluß habe ich noch zwei Kerne da liegen, während er alle abgegeben hat. «Wirklich Spitze bist du!» lobt er mich. «Komm, ich zieh dich auf dem Wagen nach Hause.» Als er aber den Karren mühsam anzerrt, bricht dieser vollends zusammen. Pfeil preßt im Spiel die Hände an die Ohren, reißt die Augen auf und fällt zusammen wie der Wagen selbst, bleibt am Boden hingestreckt, dann springt er unvermutet auf und tut, als sei nichts gewesen. Wir halten einander wieder an den Händen, schlenkern und wandern weiter. Am Ende der Gasse leuchtet ein Feuerschein auf. Wir hören Stimmen und stocken gleichzeitig in unserer sorglosen Schlenkerbewegung, verharren im Schritt und horchen. Ich sehe Pfeil ratlos an. Er nimmt diesen konzentrierten, etwas wilden Blick an. «Gehen wir einfach weiter, sie müssen von einer anderen Gruppe sein», meint er leise und zuckt dann die Achseln, als sei wenig dabei, an ihnen vorüberzugehen. «Es ist ohnehin gut, wenn sie sich langsam an deinen Anblick gewöhnen, dann wissen wir wenigstens, wie sie sich dazu stellen», bemerkt er noch gefaßt. Ich wundere mich, daß er meine Hand weiterhin festhält, er nimmt sie beinahe noch bestimmter in die seine, aber nicht so, als würde er sich festhalten müssen. Neben der Mauer des letzten Kellergewölbes im Windschatten flackert das Feuer und rundherum sitzen wilde Burschen und auch [521] Mädchen, mit Pfeilen und Schleudern bewaffnet. Sie halten im Lachen und Plaudern inne, als sie uns sehen und richten die Augen stumm auf uns. Sie sind stark, ihre Körper sind voll ausgebildet, und ihre Gesichter haben nicht mehr das Kindhafte, wie ich es aus meiner Gruppe kenne. Ein Bursche rührt an seine Schleuder, holt sie aber nicht hervor. Finster sind ihre Mienen, eigentlich nicht böse und auch nicht brutal, aber mißtrauisch und wachsam. Ich zweifle nicht daran, daß sie sich auf mich stürzen würden, wenn ich eine Bewegung machte, die ihr Mißfallen erregt. Ich fühle einen Augenblick, als würde ich vor meinesgleichen stehen, ich löse meine Hand sanft aus Pfeils Griff, er läßt sofort los. Ich spüre, hier muß ich für mich stehen, auch dann, wenn alles schiefläuft, ich habe das Verlangen, mich ihnen preiszugeben, allein, ungeschützt, falls sie Anstoß an mir nehmen würden. Ich starre auf die gefährlichen Pfeile, stehe voll aufgerichtet vor der Gruppe, ohne mich ihnen mehr zu nähern, aber ich drehe mich ihnen zu, ich stehe offen da. Ich bin gespannt bis ins Mark wie ein Bogen, von dem der Pfeil jeden Augenblick abzurren kann, selbst eine Waffe, meine eigene Wehr der Offenheit und Wehrlosigkeit. Ich weiß, daß ich nicht mit Vernunft rechnen kann und nicht mit Verständnis. Die unberechenbare Natur ist hier auf dem Sprung. Meine einzige Reaktionsmöglichkeit darauf ist, mich in schutzloser Ehrlichkeit zu stellen, zu zeigen, daß ich hier stehe, aber auch, daß ich mich traue, daß ich bereit bin, jederzeit ins Herz getrofffen zu werden. Während ich Aug in Aug mit der wachsamen Schar bin, stehe ich völlig in der Luft, ich bin schon getroffen wie getötet, wie entlassen und zur Kenntnis genommen, ich entwerfe eine neue Regel für mich im Zusammenleben mit dieser Horde, ich gebäre ein Gesetz, ich stelle mich, allen, ich möchte nicht nur von den Kleinen anerkannt sein, mir genügt das
nicht. Ich glaube, ich muß in diesem Moment genauso wild und entschlossen ausgesehen haben wie die Leute vor mir, ich habe mit dem Kopf eine kleine geringfügige Verbeugung gemacht, als ich mich seelenruhig umdrehe und ihnen den Rücken zukehre. Pfeil steckt seine kalte Hand wieder in meine, und wir gehen schweigend den Weg bis an sein Ende. Hinter uns rührt sich nichts, wir schauen nicht zurück, aber nach einer Weile hören wir, wie sie wieder sprechen und sich miteinander zu schaffen machen. Ich schlukke hinunter und atme leise aus. Ich bin aus einer Einsamkeit zurückgekehrt und halte die kleine Hand meines Freundes um so [522] wärmer und dankbarer umschlossen. Er sagt nichts und drückt die meine ein wenig. In unserem Hof ist es schon ruhig. Es dämmert bereits. Alle sind schon im Haus. Über dem Eingang hängt ein wunderschön gewundener Kranz aus Blättern, Beeren, Hagebutten, Feldkraut und Schafgarben. Die Schar blickt bei unserem Eintritt nur kurz auf. Heute abend haben nicht alle den Lendenschurz um, einige tragen alte, meist zu weite Hosen und Jacken oder auch ein Tuch um die Schulter. Sie liegen am Boden herum oder sitzen beim Tisch. Vier machen ein ähnliches Spiel wie wir vorher mit den Kernen. Alte Kastanien liegen auf dem Boden verstreut. Das gehört zu dem Spiel. Wir müssen vorsichtig über diese steigen, damit wir nichts zerstören. Reißende Muschel spielt auf der Flöte. Sie sitzt auf der oberen Bettetage und läßt die Beine herunterbaumeln. Stolzes Auge schlägt den Takt auf zwei Holzstäben dazu und Stinkender Bock bewegt sich im Rhythmus am Boden wie ein musikalischer Elefant. Er trötet durch die hohle Faust. «Spiel du!» ruft Reißende Muschel und springt mit einem Satz herunter. Ich hocke mich auf den Tisch, hole tief Luft und blase los. Die Kinder horchen auf. Die Gesichter leuchten auf, sie steigen ein in meinen Takt, sie unterbrechen ihre Spiele und werden immer bewegter, sie beginnen in kurzen Tönen zu singen, rufen sich Signale zu in der Art, wie ich das am Weg vom See her gehört habe. Stolzes Auge beginnt in einem verlorenen Wiegen, die Augen geschlossen, auf ihren Stäben zu schlagen, ich fühle einen Zug, eine Stärke in diesen Tönen, ich merke, daß vor diesen Kindern zu spielen anders ist, als mit Bärle oder Philo oder Bianca zu spielen. Eine leise Macht geht von meinem Instrument aus, und wie ich das bemerke, lasse ich die Töne ausklingen, nicht weil ich nicht weiterspielen könnte, nicht weil ich es nicht ertragen hätte, sie zu dirigieren, nicht weil ich mich nicht gut dabei gefühlt hätte, ich höre eben auf zu spielen und gebe die Flöte wieder an Reißende Muschel weiter, die sie still in der Hand behält. So rasch sich die Erregung aufgebaut hat, so schnell kehren sie wieder in ihre Spiele zurück. Das Mädchen, welches am Vormittag so eifrig im Schaff gebadet hat, beginnt ein anderes zu kämmen, mit einem schadhaften Rest von einem Kamm. Ich trete aus Versehen in ein Spiel auf dem Boden [523] hinein und verliere fast das Gleichgewicht. Ein Junge springt hoch, erfaßt mich roh am Arm und brüllt mich an: «Paß doch auf, schau dir das jetzt an!» Er schlägt mich hart über den Unterarm und hockt sich dann sofort wieder neben seine Spielgenossen. Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen, wo ich die Beine von mir strecken kann, ohne jemanden zu stören. Ich beobachte die kleine Frisierende. Sie ist hingebungsvoll mit dem Kämmen beschäftigt und glüht vor Sorgfalt. Jede einzelne Strähne legt sie zurecht, rückt den Sitz der Frisur, tritt immer wieder zurück, kneift die Augen zusammen und prüft ihr Werk. Das andere Mädchen hat Naturwellen. Möglicherweise ist es aber ein Junge. Die Nase steht keck aus dem sommersprossigen Gesicht. Mit einer Engelsgeduld läßt sich das Kind die schönen Locken frisieren, die immer wieder fallen, wie es ihnen die Natur gebietet. Die Friseuse ändert den Strich der Frisur wieder um und beginnt die Haare noch einmal zu legen. Ernst
sind die Gesichter der beiden. Das letzte Licht fällt auf das schöne Haar. Zart streicht das Kind über die Haare des anderen. Die Bewegungen des Mädchens scheinen schattenhaft verschwommen in meinem konzentrierten Blick, ich lebe mit der Hingabe der Spielenden, mit der Geduld der Gekämmten. «Du kommst auch noch dran, mach dich gefaßt», prophezeit mir Stinkender Bock und hopst schadenfroh vor mir herum. «Wir sind schon durch», meint er und glättet in komischer Eitelkeit sein gekämmtes Haar. Jetzt erst bemerke ich, daß alle ein wenig gestriegelt aussehen, nur Pfeils Haare stehen noch nach allen Richtungen. Ich fahre kurz über meinen Kopf. Das Wasser am Vormittag hat die Haare gewaschen und sie fühlen sich locker an. «Sie ist ohnehin schön», bestimmt Reißende Muschel und drückt mir einen dieser wilden Kränze ins Haar, sie tritt einen Schritt zurück und rückt noch einmal an dem Schmuck, dann ist sie zufrieden. «Ich mach dir ein Stirnband aus Leder. Du kannst dir das Ornament aussuchen», entscheidet der Junge, der mich vorhin so unsanft angefahren hat. Nicht daß er sich entschuldigen will, er bestimmt sein Vorhaben in derselben rauhen Art wie er vorher gegen mich vorgegangen ist. Er sieht auch so rauh aus, grob und etwas uneben im Gesicht, er hat braune Knopfaugen, die wie verschwollen im Gesicht liegen. Ein wenig anmaßend kommt er daher, aber das Stirnband [524] werde ich annehmen. Ich lächle ihm still zu, nicke auf sein Angebot, und da lacht er. In dieser Stimmung ebnet sich sein Gesicht wieder und bekommt einen ulkigen Anstrich. Draußen nähert sich Hufgeklapper in wildem Galopp. Die Kinder halten inne, lauschen, jedes mit einem eigenen konzentrierten Blick, wie Tiere an der Tränke, die Gefahr wittern, dunkel in die eigene Angst gekehrt. Auch ich halte still und fühle mein Herz höherschlagen, es steigt in den Hufschlag ein, der vor unserem Hof etwas langsamer wird. Für einige Augenblicke verstummt die Bewegung draußen, der Atem aller steht still, und dann wird das Klappern wieder schneller, in wildem Galopp entfernt sich der Reiter. Die Kinder gehen wortlos wieder in ihr Tun über, ich merke, daß sie nicht besonders beunruhigt waren, sondern daß sie von Natur aus so wachsam sind für Geräusche, die nicht von ihnen selbst stammen. Der Hund knabbert an kleinen Knochenresten, die vor dem Ofen liegen. Heute ist die Asche kalt. Abgenagte Maiskolben liegen herum, auch angegessene Traubenstengel. Anscheinend haben die anderen schon gegessen. Ich habe keinen Hunger mehr. Ich kaue noch an den Pflaumenschalen herum, die zwischen meinen Zähnen stecken. Ich strecke mich und fühle meinen Körper kräftig und gesund, so als hätten mich die wenigen, aber reichhaltigen Mahlzeiten schon wieder viel stärker gemacht. Jemand brennt einen Kienspan an. Die Laden werden geschlossen. Mais hängt an einer Schnur mitten durchs Zimmer wie eine Girlande. Ein Mädchen reiht die Kastanien, welche vorher zum Spielen verwendet worden sind, auf einen dünnen Darmfaden auf. Sie legt die Kette immer wieder um ihren Hals und mißt, ob sie schon lang genug ist. Sie bewegt dabei die Lippen, als spräche sie mit sich selbst. Sie kommt mir einsam und sanft in ihrer Beschäftigung vor, sehr aufrecht in ihrer Verlorenheit. Ihre Lider mit den langen Wimpern senken sich wie schützende Schatten. «Schillernde Wolke hat Wasser getrunken», sagt der Junge mit dem runden, mädchenhaften Gesicht und reicht einen Becher an Stinkenden Bock weiter, der ihn auf einem Wandbrett abstellt. «Vielleicht sollten wir etwas von dem fiebersenkenden Kraut aufkochen», sagt der Junge, aber Stinkender Bock winkt ab: «Laß sie es kauen, das genügt, der Ofen ist kalt.» Ich nähere mich der unteren Etage des Schlafbretts. In der Ecke [525] liegt das kranke Mädchen unter einer Decke. Schwacher, flackernder Lichtschein fällt auf sie. Ich nehme
ihre Hand, die wie leblos neben der Decke liegt. Heiß schlägt es mir entgegen. Auf ihrer Stirn liegt ein Lappen, er ist schon trocken. Ich nehme ihn weg. Jemand faßt es so auf, als solle er das Tuch neu einkühlen, und es geschieht, ohne daß ich den Rat erteilen müßte. Ihre Stirn glüht. Sie hat die Augen geschlossen, öffnet sie aber immer wieder leicht in innerer Erregung. Da wühlt etwas in ihr, sie ist in einer inneren Panik, ein Kampf spielt sich ab unter den Augendeckeln. Ich lege ihr das kalte Tuch wieder auf die Stirn und drücke ein wenig an ihrer Nasenwurzel, als könnte ich ihr Leiden dahin konzentrieren, damit es nicht so im ganzen Körper wühlt. Als könnte ich mich über diesen Punkt mit ihren inneren Unruhegeistern in Verbindung setzen. Sie beruhigt sich wahrhaftig etwas. Ich setze mich neben sie und lasse meine Hand auf ihrer Stirn. Sie öffnet die Augen und blickt mich fiebrig, traumverschreckt an. Sie bewegt die Lippen, sie beben, sie schließt die Augendeckel wieder, bewegt aber die Augäpfel unruhig unter der dünnen Haut. «Nicht - nicht - nicht», kommt es hervor. Es ist, als müßte sie noch etwas anschließen: «Nicht -» Der mädchenhafte Junge nähert sich uns, er setzt sich auch an das Bett. Ich weiß nicht, ob er zu Schillernde Wolke gehört, fast habe ich das Gefühl, er ist mit diesem Mädchen im Bunde, das so eifrig an der Kette fädelt. So genau treten die Beziehungen hier nicht immer zutage. Ich glaube, manchmal fehlen sie auch überhaupt. «Nicht essen», bringt Schillernde Wolke jetzt hervor, und der Junge lacht und posaunt den anderen zu: «Sie will nicht, daß wir sie essen!» Die anderen sammeln sich vor dem Krankenlager, lachen, boxen sich in die Seiten, sind aber aufrichtig bereit, sie nicht zu verspeisen. «Niemand wird dich essen, da kannst du sicher sein», bestimmt Stolzes Auge ernst, und dieses Wort gilt. Die Kranke beruhigt sich etwas, und fast ist es mir, als sei sie jetzt nur mehr halb so heiß und erregt. Ich habe keine Ahnung, was ich in so einem Fall tun kann. Was ich geraten hätte, machen die Kinder von selbst. Stinkender Bock und der Junge mit dem ulkigen Gesicht, der mir das Stirnband versprochen hat, wickeln ihr jetzt die Füße in kalte Lappen, wir wechseln noch [526] einmal den Kopfumschlag. Auch ich kann mich nur zur Ruhe begeben wie alle anderen, ich könnte nur besorgter erscheinen, aber ob das dem Mädchen helfen würde, bezweifle ich. Ich will mich schon neben Pfeil hinkuscheln, da nimmt er mir lachend den Kranz vom Kopf, ich habe ihn gar nicht mehr gespürt. Er legt ihn sorgfältig an das Kopfende unserer Liegestatt. «Den kannst du morgen wieder aufsetzen, das paßt dir gut!» Er gluckert erheitert in sich hinein und klatscht sich dabei auf die Stirn. Er kommt mir manchmal so clownhaft komisch vor, berechnend ist seine Scherzhaftigkeit aber nicht. Was sollte er auch berechnen. Auch ich habe nicht damit gerechnet, daß mich die Kinder heute so selbstverständlich einbeziehen würden in ihre Gemeinschaft wie ihresgleichen. Die sehen mich so, bin ich so? Leben ist ein Kinderspiel. Habe ich die Chance, noch einmal zu leben? In mir ist etwas geweckt, jetzt, da ich müde bin, es wird über meinen Schlaf wachen, ein junger Schlaf ist es, mein Kinderschlaf an der Seite von Tapferem Pfeil. Heimlich und still ist es unter unserer Decke. Reißende Muschel und Stolzes Auge krabbeln zu ihrem Schlafplatz über uns drüber. Sie liegen ganz außen an der Wand. Die beiden halten bei uns an, und Stolzes Auge fragt mich: «Ihr habt die Großen getroffen?» Ich denke, Pfeil muß es berichtet haben, und nicke bedächtig.
«Sind sie denn so schrecklich?» frage ich. Stolzes Auge verzieht das Gesicht zu einer abwägenden Grimasse und läßt ihr blindes Auge ein wenig herunterhängen. Reißende Muschel erklärt ernst: «Sie sind nicht schrecklich, aber sie sind eindeutig stärker als wir.» In diesem Augenblick erinnert mich ihre Haltung, ihre Miene und ihr Ton an Sam. Ich muß lächeln, still über mein Geheimnis, ich nehme Tapferen Pfeil in meine Armbeuge und fühle mich so nahe dem Land, das meine Fremde ist, das ich ergründen möchte. Fast ist es mir, als würde ich keine Mühe damit haben, sondern einfach leben, leben und in den Schlaf sinken wie Tapferer Pfeil oder wie Reißende Muschel, wie Stinkender Bock oder wie Feuernder Schrecken. Am nächsten Tag ist es kühl. Stolzes Auge steht auf der Mauer und schaut ins Land. Sie hat eine der Decken um die Schultern gelegt. Ich steige zu ihr auf die Mauer. Draußen auf den Feldern, wo der Mais [527] steht, tummeln sich die Kinder. Es müssen so an die vierzig sein. Sie sammeln die Maiskolben, stopfen sie in Säcke und Körbe und schleppen sie an den Wegrand. Feuernder Schrecken prescht mit seinem Roß durch die Schar, wirft Erde auf und galoppiert dann wild in den Ackerfurchen lang. «Soll ich vielleicht auch hinausgehen?» frage ich unsicher. «Warum, ich bin ja auch hier. Es muß auch jemand hierbleiben», meint sie schroff, und wie zu sich selbst fügt sie hinzu: «Es wird Regen kommen. Der Mais darf sich nicht vollsaugen, sonst fault er.» Ihre Stimme ist so träge wie ihre Haltung. Eine verborgene Kraft lauert dahinter. Aus einem der Häuser kommt eine seltsame Gestalt. Sie bückt sich unter dem Tor tief hinunter und richtet sich draußen hoch auf, ragt über alle hinweg, ein spinnenbeiniges Ungeheuer. Ich zeige entgeistert hin, und Stolzes Auge unterrichtet mich ohne das geringste Anzeichen von Erheiterung oder Urteil: «Die geht immer auf Stelzen. Ich glaube, die kann sich gar nicht mehr anders bewegen. Sie schläft vielleicht auch mit den Dingern.» Geschickt stolziert das Wesen, welches Hosenbeine über den Stelzen trägt, über die unebenen Wege und stakst dort mitten unter den Kindern auf dem Acker herum, stolpert und fängt sich wieder, steht still und macht schnelle, hölzerne Schritte, ein vages Spiel volller Unsicherheit und Komik durch die Verzerrung des normalen Bewegungsablaufs, aber niemand nimmt dort draußen besondere Notiz davon. «So viele ...» rede ich vor mich hin, und Stolzes Auge sagt, diesmal etwas angeregter: «Das sind noch lange nicht alle. Was glaubst denn du?» Sie schaut mich an, als müßte ich das wissen. Im Schuppen hinter uns rumort etwas, dann tritt der Junge mit dem mädchenhaften Gesicht heraus, einen Bogen umgehängt, eine Schleuder im Gürtel und Pfeile im Köcher, ein Messer in der Hand und eine Feder hinten im Stirnband über dem weichen Haar. «Sanfter Falke begibt sich auf die Vogeljagd», verkündet er strahlend. «Hot-Jo! Hot-Jo!» brüllt Stolzes Auge mit einemmal auch begeistert und lacht ihm zu. Ihr Körper richtet sich hoch auf bei ihrem Ruf. Jetzt kommt über dieses Mädchen etwas kindhaft Begeistertes. Ihr [528] Ruf ist weithin vorgedrungen, und ich höre von den Feldern her denselben zurück. Einige der Kinder halten inne, legen die Hände an den Mund und rufen: «Hot-Jo! Hot-Jo!» Sanfter Falke macht sich auf den Weg. Ich bezweifle keinen Augenblick, daß er Erfolg auf seiner Jagd haben wird. Die Zuversicht liegt in seiner Bewegung. «Helft ihr im Winter zusammen? Wie ist denn das mit der Ernte eingeteilt?» frage ich so beiläufig.
«Jeder hat genug», brummt sie vor sich hin und schaut beobachtend in den Himmel, an dem sich große Wolken aufbauen. «Wird die Ernte gleichmäßig verteilt oder nach den Bedürfnissen der einzelnen Gruppen?» frage ich hartnäckig weiter. Keine Antwort. Ich kann in dieser Erntetätigkeit dort draußen keine Ordnung erkennen, alle raffen ohne besondere Hast und Gier den Mais in Säcken zusammen. Die ersten beginnen ihn schon in die Häuser zu tagen. «Bist du sicher, daß das Essen gerecht verteilt ist?» frage ich noch einmal, denn mir kommt es so vor, als nähmen sich die größten viel mehr Mais. Tapferer Pfeil hat einmal erwähnt, es gehörten bestimmte Felder zu einer bestimmten Gruppe, aber ich kann diese Einteilung jetzt nicht erkennen. «Was heißt gerecht. Jeder nimmt sich seinen Teil in den Hof und basta!» sagt Stolzes Auge mit Nachdruck, blickt mich dann einen Augenblick lang forschend an und sagt: «Das verstehst du nicht.» Die dunklen Wolken sinken schon ziemlich tief. Draußen sehe ich, wie jemand mit einer riesigen Sonnenblume umherläuft, auch Mais rupft, aber die Blume nicht aus der Hand läßt. Das Kind streckt die Blume dem Stelzenmenschen an die Nase, der riecht theatralich daran und niest erschüttert, wackelt bedrohlich auf seinen Stelzen, fängt sich wieder und macht den Spaß noch einmal. Stolzes Auge weist mit dem Zeigefinger an das Ende der Dorfstraße, wo eine Gestalt langsam mit einem Bündel auf dem Rücken und einer Decke darunter dahinzieht. «Da geht wieder eine mit einem Kleinen», sagt sie in Gedanken und schaut mich diesmal mit klarem Blick an. Auch ihr blindes Auge ist geöffnet und sieht dem gesunden fast gleich, so daß ich jetzt gar nicht [529] mehr weiß, ob dieses eine Auge krank ist. Ich sehe wieder auf diese Gestalt draußen und verstehe jetzt erst. «Gerade bei diesem Wetter?» bedenke ich. «Ich finde das auch seltsam», stimmt sie mir zu. «Sie wird schon ihre Gründe haben», sage ich diesmal lakonisch. Stolzes Auge ist in den Anblick versunken, sie hat eine weichere Stimme, als sie sagt: «Der wird das Baby noch krank werden, die spinnt.» Ich frage: «Gehen alle weg, wenn sie Kinder haben?» Mit einemmal ist das Mädchen viel lockerer, etwas hat sie gelöst. Sie sieht mich wieder an und antwortet bereitwillig, aber langsam: «Ja, die meisten. Es gehen ja überhaupt alle, sie können ja hingehen, wo sie wollen. Meistens aber geht man dorthin, wo man hergekommen ist.» Sie sagt diese Sätze so bedacht, daß ich einen Augenblick überlege, was daran so klug klingt, merke aber, daß es nicht die Worte sind, sondern der Ausdruck, mit dem sie etwas fühlt. Sie will mir mitteilen, was sie nicht sagt, ich spüre das, ich muß ihr helfen, indem ich diesen Faden nicht abreißen lasse, indem ich jetzt nicht Rache nehme für ihre Brummigkeit von vorhin. Es liegt in ihrer Stimme und in ihren Augen, diese Bitte, die sie nie aussprechen würde in ihrer Härte sich selbst gegenüber. Sie ist wahrhaft stolz. «Kommen alle Kinder hierher?» frage ich für mich und für sie zugleich. «Nein, wirklich nicht. Du siehst ja», und sie weist auf die Felder, «das können doch nicht alle sein, selbst wenn noch einmal so viele in den Häusern geblieben oder auf der Jagd sind.» «Und was ist mit dem Vater des Kindes, geht der nicht mit?» «Wer weiß, wer das ist? Vielleicht weiß sie es selbst nicht, einen festen Partner braucht
man nur zur Aufnahme, dann kann man auch wechseln», sagt das Mädchen sachlich. Sie fügt noch hinzu: «Manchmal gehen aber beide mit dem Kleinen weg. Drei sind schon seit der Geburt da.» Sie weist mit dem Kopf in die Richtung der anderen Häuser, als seien diese in den anderen Gruppen. «Da sind die Mütter gestorben und konnten nicht mehr mit ihnen weg. Meistens aber gehen sie schon, wenn sie schwanger sind», sagt sie klar und deutlich, als sei es ihr mit einemmal ein Bedürfnis, mir das alles zu erklären. Ein Blitz zuckt auf in der Ferne. [530] «Es ist gut, bei diesem Wetter zu jagen», meint sie und schaut in die Richtung, wo unser Jäger verschwunden ist. «Sanfter Falke ist da ein Meister.» Langsam kommen die Arbeiter zurück. Eine Gruppe transportiert die Säcke auf einem wackligen Karren. Andere ziehen sie hinter sich her. Nicht einmal im vollen Arbeitseinsatz stockt das Laufen und Treiben, das Fangen, Boxen und Lachen. Die Sonnenblume läuft voran. Ich kenne sie. Das Geplapper wird lauter, die Scharen verteilen sich und ziehen mit der Ernte den eigenen Höfen zu. Stolzes Auge bleibt neben mir, die Hände in den Gürtel gehakt, sie drückt ihren breiten Unterkörper vor, sie steht wie ein Pfeiler, den Kopf hat sie erhoben, sie blickt starr auf die Kommenden. Ich schaue sie von der Seite an, die Decke ist etwas von ihrer Schulter gerutscht, auf ihrer Oberlippe sehe ich einen feinen, dunklen Flaum, ihr Mund ist zusammengepreßt, aber nicht verbissen, ihr hängendes Auge ist geöfffnet. Ob man Blindheit von Sehkraft als Außenstehender überhaupt unterscheiden kann? Ich überlege, ob sie auf diesem Auge wirklich blind ist. Das Mädchen hat auch jetzt noch in ihrem Schweigen und in dieser Haltung etwas Abwartendes, ein Anliegen an mich, und ich fühle, es soll zur Sprache kommen, bevor die alle zurück sind, bevor das Wetter niederkommt oder bevor sonst eine Chance verpaßt ist, jedenfalls frage ich, während ich wieder an den bedrohlichen Himmel sehe: «Und du? Du bist doch größer als die Kleinen hier, bleibst du noch?» Das muß es sein, ich muß es richtig getroffen haben, weil mich Stolzes Auge mit einemmal wie ein Kind ansieht. Ich könnte nicht sagen, was es ist, das sie jetzt zu einem eindeutigen Kind macht, es ist nicht weniger Stolz, nicht weniger Würde, es ist überhaupt an nichts weniger, es ist auch nicht kleiner, es liegt nicht in einem Unterschied, ja, es liegt gerade dort, wo kein Unterschied ist, dort steht das Kind auf der einsamen Mauer, von der aus sie nichts überspringen kann. Nicht abgeschieden, keine Bemühung, keine Hoffnung, kein Weg, nichts mehr. Ich weiß nicht, ob das ein Leid darstellt oder ein Glück. Diese Frage, die keine ist, steht in des Mädchens geöffnetem blindem Auge. Sie fährt sich mit dem Daumenballen von unten her über die Nase und meint: «Noch bin ich hier.» Tapferer Pfeil tritt ins Tor mit der Sonnenblume. Ich springe von [531] der Mauer herunter. Er kommt auf mich zu und macht einige Schritte vor mir eine gekonnte Verbeugung, schaut blitzenden Auges auf und fliegt mir dann in die Arme. Ich drücke mein Gesicht in sein Haar und fühle seine Wärme auf meiner Haut. Er hat mich wieder gewonnen, für heute gewonnen. Er muß das wollen. Wir hängen den Mais an die Decke im Haus und legen ihn überall hin, wo sich eine leere Fläche bietet, auf der er trocknen kann. Die Blume steckt in einem Wandspalt. Blitze zucken nacheinander auf, Donner rollt über das Haus hinweg, Wind kommt auf, die Fensterladen schlagen, es wird düster. Ich sehe nach dem kranken Mädchen. Es liegt mit geöffneten Augen da. Sie kann kein Fieber haben, sie ist ausgekühlt, ihre Glieder sind schlaff und ihre Haut zieht sich bei Berührung seltsam zusammen. Ich fühle ihren Puls und kann überhaupt nichts spüren. Ich lege mein Ohr an ihr Herz. Sie läßt alles mit sich geschehen und schaut nur still vor sich hin. Ich horche noch einmal an ihrer Brust, und jetzt kann ich einige Schläge vernehmen. Langsame, kaum spürbare Bewegungen, dann einige schnellere und wieder lange nichts. Das kann nicht gut sein, sie läßt ihre Hand teilnahmslos fallen, wenn man sie hebt, als gehörte sie nicht mehr zu ihr. Ich beuge mich dicht
über ihr Gesicht, weil ich sehen will, ob sie auf meine Augen reagiert. Wie Wasser sind sie, ich kann nicht sagen, ob sie mich sehen. Fast ist es so, als sei sie schon tot, aber würde noch sehen. Ein Blitz, unmittelbar darauf ein Donner. Der Schlag erschüttert die Kinder, sie rücken zusammen hier an diesem Bettende. Nicht daß sie zittern, aber sie fühlen sich anscheinend besser, wenn sie einander berühren. Es ist ihnen kein Geheimnis, daß sie sich ängstigen, sie können mit Angst leben, sie ist auch ihr Leben. Nur Stolzes Auge steht noch am Fenster und schaut unruhig hinaus. Dann rennt sie zur Tür, reißt sie auf, und Sanfter Falke kommt hereingerauscht, lacht erlöst und wirft drei Vögel auf den Zimmerboden. Einen Fasan kann ich erkennen. Wieder ein Blitz. Er erleuchtet das Lager des kranken Kindes, wir warten auf den Donner, er kommt nicht gleich, Stolzes Auge und Sanfter Falke drängen sich zu den anderen, jetzt erst rollt er heran, ein langes Getöse wie etwas in den Adern Gestautes, das heraus will, ein Pressen, aus Verhalten und Brechen, ein Schlagen und noch einmal, hart, wie direkt unter dem Zimmerboden. Die Kinder schaudern in [532] Angstlust auf, stecken die Köpfe zusammen und atmen in ihre Mitte hinein. Ich blicke auf Schillernde Wolke nieder, so gut ich sie in diesem dumpfen Licht erkennnen kann. Das Gesicht liegt weiß da, und die Augen schauen noch immer ungerührt vor sich hin, wie das Licht an sich, das von den wildesten Donnerschlägen nicht verletzt werden kann. Der Wind reißt am Dach, irgend etwas hat sich dort oben losgerissen. Stolzes Auge zeigt an die Decke und setzt zu einem Wort an, wird aber durch ein neuerliches Krachen übertönt. Die Kinder ducken sich wieder zusammen und überdauern so geborgen den krachenden Donner, bis der nächste folgt. Mitten im Schlag rühren sich die Augen des kranken Mädchens, ich fasse ihre kalte Hand, sie hält den Kopf weiterhin nach oben gerichtet, aber sie bewegt die Lippen. Ich kann nicht hören, was sie murmelt, und beuge mich zu ihr hinunter. Gerade da zuckt wieder ein Blitz auf, worauf diesmal gleich der Donner folgt. Jetzt aber, seltsamerweise jetzt, verstehe ich: «Die Flöte . . . blas Flöte.» Mir kommt der Wunsch recht unsinnig vor, jetzt in diesem Getöse Flöte zu blasen, aber ich betrachte es als den besonderen Wunsch eines kranken Menschen. Die Kinder haben verfolgt, wie ich in Schillernde Wolke hineingehorcht habe, und sind neugierig, ob ich etwas berichten werde. Mitten im nächsten Schlag bedeute ich Reißender Muschel, mir die Flöte zu holen. Sie versteht sofort und bringt das Instrument vom Schlafplatz herunter. Ich setze das Holz behutsam an die Lippen, wieder ein Donner, ich beginne, ich lasse mich nicht beirren, ich spiele mitten hinein in das Grollen. Ich höre, ich singe für die Geister, ich spüre nur, ich fühle die Töne in meinen Gliedern, ich weiß nicht, was ich hervorbringe, aber ich merke, die Schwingungen müssen besonders stark sein, ein Geisterflug über uns Kindern. Der Donner kommt und entfernt sich, mein Lied taucht aus einem Bersten hervor wie ein Gesang aus der Mitte des Alls, kristallklar taucht die Melodie heraus, wie ein langsam schwebender Pfeil, der kein Ziel hat außer seinen Flug. Alle rücken näher an mich heran. Sie haben sich voneinander gelöst, aber sie halten sich noch an den Händen. Wie Wasser fließt die Musik über uns herein, und ich selbst bin mitgenommen von der Einfachheit meines Lieds, das wie warmes Blut aus einem Menschenherzen quillt, um sich mit der Natur zu versöhnen. Draußen beginnt der Regen auf das Dach zu prasseln. Die Kinder [533] heben die Gesichter, als säßen sie im Freien und könnten sich den Tropfen entgegenhalten, sie wiegen sich mit den Schultern aneinander in meiner Melodie, sie haben Donner und Blitz vergessen. Nur mehr selten zuckt das Licht auf, und das Rollen geht in die Ferne. Der Regen fällt gleichmäßig auf das Haus, in dem wir geschützt sind. Er löst mein Lied ab, und ich schaue wieder auf das Kind, als sei ich aus einem anderen Bereich zurückgekommen. Es starrt vor sich hin, das Gesicht ist weiß und sieht fast so aus wie vorhin, nur etwas anders.
In mir ist etwas anders, ich bin um ein Gefühl reicher, aber in der Brust von Schillernder Wolke hörte etwas auf zu schlagen. Ich sehe in die Runde. Die Kinder sitzen noch immer da und halten sich an den Händen. Sanfter Falke löst sich aus dem Kreis und schaut auf Schillernde Wolke hinunter, dann drückt er ihr die Augen zu. «Ich habe etwas gehört, es war wie ein Singen in der Erde - wie singende Erde!» läßt sich das Mädchen, welches so eifrig an der Kette gefädelt hat, vernehmen. Es ist, als würde sie mit sich flüstern, aber alle können sie hören. Die Gesichter bleiben ernst und zeigen noch immer die Erschütterung, das Gewitter, den Tod, mein Spiel oder die Natur, aufgeschlossen für diese Geister der Erde, die das Mädchen gehört hat. «Nicht in der Erde singt es», sagt Reißende Muschel und lacht über die Verlorenheit der anderen. «Sie singt!» und dabei wendet sie den Kopf zu mir her. Einen Augenblick ist es still, als erwartete man noch einen Einwand aus der Geisterwelt, und dann platzt tapferer Pfeil heraus: «Singende Erde - Singende Erde, so heißt sie!» «Singende Erde!» tönt es durch die Schar, die jetzt umhertanzt, als sei ein Schatz gefunden. Sie ziehen mich hoch von dem Totenbett und beginnen mich zu drehen, bis mir ganz schwindlig ist, sie lachen und tanzen wild und johlen um mich herum. Beinahe wäre ich auf den toten Fasan getreten, der da noch immer liegt. «Rupfen wir ihn lieber, wir wollen heute einen ordentlichen Braten haben!» Die kleinen Gesellen lecken sich nun die Mäuler und reiben sich die Bäuche. «Wenn der Regen aufhört, graben wir sie draußen ein», entscheidet ein Mädchen. [534] Ich trete ans Fenster und schaue in den Regen hinaus. Die Tropfen rinnen über das Glas. Was gewesen ist - an mir vorbeigezogen, so als sei ich nicht ich gewesen - körperlos wie die einzelnen Wasserperlen, bevor sie noch die Tropfen bilden, bevor sie noch zum Rinnen kommen - bevor ich noch eine Bestimmung ahnen konnte von meiner Energie - her von dorther, wo ich hingehe - durch die Wildnis der Gestalten - durch das Loch der Einfalt eine Fahrt durch die Kindheit - ein Kinderweg - mein Weg zurück - über das Rauschen des Regens. Ein Auge bildet sich an der nassen Scheibe, ein blinder Schein, durch den ich wie aus der Ferne das Toben vernehme, wie ein Feuer leckt es an meiner Kälte, an meinem eisigen Wissen. Die Sonnenblume aus Eis ist mein Wappen. Eine kleine warme Hand schiebt sich in die meine. Ich brauche nicht hinzuschauen, ich fühle die fröhlichen Augen, ich weiß, daß sie meine Verlorenheit kennen. Pfeil drückt sich an mich. Er kuschelt sich in meine Achsel hinein, dabei nimmt er mich um die Mitte, reibt sich an meiner Hüfte und gluckst schnurrend. Er legt seinen Mund an meine Brust und atmet heiß in sie hinein. Ich drücke seinen Kopf an mich, er versteht mein Zeichen der Entzündung und schaut mich an. Ich erschrecke einen Moment, es liegt die volle, gierige Lust eines Menschenwesens in dem blauen Kinderblick, unverborgen offen, ungeschützt. Die Natürlichkeit seiner Lust reißt in mir eine Spalte von Gier auf, die mich verschlingen möchte. Er greift mir an den Unterbauch, wo ich das Traumgefühl so wahr werden fühle und es auch an ihm angreifen möchte, daß es nicht wieder verfliegt, und Pfeil zieht mich hinauf auf die Schlafetage. Sein Lendenschurz steht ein wenig weg. Wir purzeln über zwei Buben, die einander eifrig die erregten Schwänze mit der Hand reiben. Pfeil schmeißt sich auf unserem Strohsack über mich, er macht einen waghalsigen Satz, die Etage zittert wie ein Schiff, und unsere wilde Lust verwandelt sich in einen sprühenden Lachanfall, in dem wir uns die Seiten haltend herumwälzen. Jedesmal wenn ich mir wieder vorstelle, wie der Junge durch die Luft geflogen kam, um mich zu decken, beginne ich von neuem mit dem Gelächter, dem ich genauso verfallen zu sein scheine wie mein kleiner Freund. Die anderen werden aufmerksam und fangen an mitzukichern, sie gucken über die Holzetage, und machen nun komische Gesichter, was uns noch mehr zum Lachen bringt. Dann liegen Pfeil
und ich nebeneinander und schauen [535] von der Etage hinunter auf die anderen. Unsere anfängliche Ficklust hat sich ein wenig im Lachanfall gelegt. Wir gucken uns von oben an, wie die Tiere ausgenommen werden. Reißende Muschel hält einen Vogel am Hals hoch, während die anderen beiden Tiere schon gerupft werden. Die Federn fliegen wild herum. Mit einem unerwarteten Ruck schneidet Stinkender Bock durch den Hals des Vogels von Reißender Muschel, und der Körper plumpst auf den Boden. Die Rupfer halten kurz inne, dann wird in neuerlichem, übertriebenem Eifer weitergefiedert. Stinkender Bock hebt das tote Tier auf. Blut fließt über seine Hände. Er will ein kleines Mädchen mit seinen blutigen Händen liebkosen, sie hascht sich den Vogel, faßt in eine Schüssel hinein und wirft Stinkendem Bock Darmteile ins Gesicht. «Paß auf!» schaltet sich Stolzes Auge scheltend ein. «Die Galle, daß du die nicht zerdrückst, das schmeckt dann elend.» Sie nimmt selbst das Vieh in die Hand, öffnet es und räumt es vollends aus. Stinkender Bock steht da mit den roten Händen, einigen Gedärmen über seiner Schulter, er beginnt zu tanzen, er wabbelt in sich selbst wie ein Blutpudding. Das Darmzeug wippt an seinem Hals wie ein seltsamer Schmuck. Die Kinder klatschen in die Hände. Das Mädchen von vorhin nimmt den abgeschnittenen Kopf des Vogels und macht mit dem Schnabel happende Bewegungen nach Stinkendem Bock, der so tut, als würde er zurückzucken, während die Gedärmteile langsam an ihm heruntergleiten. Ein Junge kann sich mit diesem Spektakel nicht ganz anfreunden und will hinausgehen. «Dageblieben», wirft sich das Mädchen mit einemmal auf ihn, sie ist stärker, als man annehmen könnte, sie balgt mit dem Jungen mitten in den blutigen Lappen und Federn. Er schreit gellend auf und strampelt wie in Grauen, sie ist verbissen damit beschäftigt, ihm Vogelteile in den Mund zu stopfen. Das Mädchen ist so zart, ich weiß nicht, wo sie die Energie hernimmt, den kräftigen Jungen am Boden zu halten. «Iß du sie lieber!» wirft sich Reißende Muschel auf die beiden und beginnt nun ihrerseits, das Mädchen mit den glitschigen Innereien zu attakieren. Der Junge erhebt sich rot und verschmutzt und setzt sich in eine Ecke. Ein anderes Mädchen setzt sich an seine Seite und putzt ihm den Dreck ab, sie umsorgt ihn, bemitleidet ihn aber nicht. Sie guckt weiterhin auf das Treiben in der Mitte und nimmt regen Anteil daran. [536] «Glaubt ihr, ich trau mich nicht!» ruft das kleine zarte Mädchen jetzt und reißt den Mund auf. Reißende Muschel und Stolzes Auge füttern sie daraufhin ungerührt mit dem roten Zeug. Ein langer Darm will nicht auseinander, er ist zu elastisch. Reißende Muschel zieht da und Stolzes Auge dort, einige hängen sich mit an und zerren an den Enden. Der Darm scheint immer länger zu werden. Ich schaue Tapferen Pfeil neben mir an, ich bin dankbar, daß er hier oben bleibt, und kuschle mich etwas an ihn heran, er steckt seinen Kopf wieder unter meine Achsel und guckt da hervor. Der Junge, der vorhin so verschreckt war, zerrt nun eifrig an einem Darm mit. Mich freut es, daß er wieder lacht, mich erlöst das, und ich ziehe mich, satt von dem Schauspiel, wieder auf den Strohsack zurück. Pfeil kommt sofort gekrochen und schmiegt sich an meinen Bauch, er hält mich mit den Armen umschlossen und bleibt da für eine Weile still liegen, als fühlte er meine Wärme gern. Ich streichle über sein Haar, er drückt sich noch mehr in mich, und wir verwachsen hier heroben zu einer gemeinsamen Einsamkeit. Unten ebbt das Treiben langsam ab. Sanfter Falke ruft: «Her jetzt mit den Vögeln, sonst sind sie noch ganz zerfleddert, bevor wir sie essen können. Die Spieße brauche ich, und etwas zum Zusammenbinden!» Ich höre einen Besen über den Boden kehren. «Wir sollten das Grab schaufeln, aber es regnet noch immer», bedenkt Stinkender Bock. Tapferer Pfeil rührt sich wieder, er guckt frisch und lustig auf. Ich verharre eine Weile in seinem Blick, weil mir der in seiner Klarheit angenehm ist. Ich fahre mit meinem Finger
über seine Stirn, über seinen Nasenrücken und seine Oberlippe. Da schnappt Pfeil und beißt zu. Seine Zunge leckt an meinem Knöchel. Er schließt die Augen. Nicht daß meine Finger so erregbar wären, aber die Hingabe des Kindes rührt wieder dieses Gefühl der Lust in mir, welches vorher durch die komische Situation unterbrochen war. Pfeil leckt an meinem Arm hinauf, seine Zunge ist rosa, warm und beweglich, ein flinkes Leben ist dieses Stück Menschenfleisch. Jeder Teil Haut, an dem er verharrt, regt sich, wird eigene Lust, wird als selbständiger Bereich zum Leben erweckt. Die Hände des Kindes greifen unter mein Hemd und streichen mir fest über die Haut. Ich nehme seine Hände in die meinen und fahre mit meinen Fingerspitzen leicht an ihren Innenseiten hinauf. Pfeil überläßt sich mir, ich führe meine Bewegung über seinen [537] Oberkörper, er legt sich auf den Rücken und gibt sich seinem Prickeln hin, er bekommt dabei eine leichte Gänsehaut. Er kann horchen auf meine Zeichen, er spürt, wie sachte das gehen muß. Ich setze mich über seine Knie und senke mein Gesicht auf seines. Ich mache das alles ganz ruhig ohne reißende Bewegungen. Ich ziehe mein Oberteil aus und lege mich mit meiner Brust auf seinen Körper, er regt selbst seine Hände und streicht sachte über meinen Rücken, er macht das ohne fahrige Bewegungen, und ich spüre, er hat bemerkt, was ich mir und ihm zeigen wolllte, er benützt seine Erfahrung, er fühlt sich nicht belehrt, ich senke mich tief auf ihn herunter und reibe meine Brustwarzen an seiner glatten, zarten Haut. Ich verfalle diesem Spiel und errege mich damit selbst immer mehr. Er kann erkennen, welche Punkte es an meinem Körper sind, die mich zum Glühen bringen, er faßt nach meinen Brüsten und knetet sie sanft, aber stetig, ich richte meinen Oberkörper auf, streiche seine Hüften hinunter, während er weiter meine Brüste bearbeitet. Sein Gürtel gleitet wie von selbst herunter, und ich ziehe mein Streichen seinem steifen Glied zu. Er läßt mich los und bäumt sich etwas in der Hüfte auf, wie ein Zeichen fiebert sein Geschlecht einem Ziel zu. Sein Verlangen ist mir ein stetiger Antrieb, ein zunehmendes Prickeln auf meiner ganzen Körperoberfläche, ich verschmelze die Hingabe mit der Lust, die Gier mit der Liebe, den Geist mit dem Mund, den ich nun über sein Glied stülpe, und leicht an dessen Kuppe mit der Zunge kreise, so als wäre es meine eigene Klitoris, die ich zwischen den Lippen habe, ich gehe über in seine Lust, die Wellen vereinigen sich in einem einzigen Gewässer, meine Hände liegen an seinen Lenden und die Finger greifen um seine Popobacken. Er ist so schmal, daß meine Hände ausreichen, ihn zu umfassen, während ich meine Zunge spielen lasse, immer schneller, bis ein dicklicher Saft in meinen Mund spritzt. Pfeil wölbt seinen Körper durch, zuckt ein paarmal zusammen, während ich die Flüssigkeit schlucke. Sie schmeckt wie farbloser Pudding. Er schaut mit weiten Augen auf und hält mich mit unvermuteter Energie fest, so als würde er dieses Spiel auf keinen Fall jetzt auslaufen lassen wollen, er drückt mich mit erhitztem Gesicht und glühenden Augen auf die Matratze nieder und leckt an meiner Brust wie ohne Übergang weiter, als sei er jetzt erst richtig bei der Sache. Er zieht mich rasch ganz nackt aus. Er legt sich zwischen meine Beine, hält das Gesicht über meine Spalte und schaut noch einmal mit großen Augen zu mir herauf. Ich muß mitten [538] in meiner Erregung ein wenig lachen, auch bei ihm blitzt diese Verständigung auf, er verschwindet aber gleich wieder, indem er seinen Mund über meine Scheide legt. Die Haare irritieren ihn irgendwie, und er taucht noch einmal auf, streicht mit der Hand durch den Pelz, wie um sich Platz zu machen für seine Zunge. «Innen sind keine Haare», sage ich scherzhaft. Er ist unschlüssig, aber ich sehe, er hat diesen Liebesdienst unbedingt vor, er wäre verletzt, wenn ich ihn jetzt sein Vorhaben nicht durchführen ließe. Unser Fick ist das letzte Mal wie von selbst abgelaufen, aber heute nehmen wir uns Zeit. Pfeil will alles in Ruhe und mit viel Sorgfalt machen. «Mach den Spalt mit der Hand ein wenig auf, ganz sachte, und tauch deine Zunge ein, leicht wie in etwas Weiches, wie in Wasser, wie eine Katze, die Wasser schleckt.» Er findet diesen Vergleich anregend und hat keine Schwierigkeit, sich in diese Lage zu versetzen. Ich öffne ein wenig meine Schamlippen mit meiner eigenen Hand und lasse sie noch da, bis ich spüre, daß seine Zunge sich da drinnen zurechtfindet. Er macht es ein
wenig zu fest und zu unregelmäßig, er wechselt auch immer wieder den Standort in meinem Schlitz, der mir unter dieser kleinen Kinderzunge unendlich weitläufig erscheint, wie ein langmächtiger Felsspalt, in dem kein Mensch Anfang und Ende finden kann. Ich rutsche etwas hinauf, ich gebe seinem starken Druck nach, und er versteht, daß er sanfter vorgehen soll. Er schaut wieder auf wie aus einem Untergrund und macht ein /ragendes Gesicht. «Ist schon gut, nur nicht so fest, du kannst auch ruhig etwas rascher.» Ich merke, daß er diese Unterweisungen sucht, und erkläre mich noch näher. Ich sehe auch, daß die zwei nackten Knaben, die vorhin miteinander beschäftigt gewesen sind, jetzt nebeneinander liegen und auch neugierig herüberhorchen. «Zuerst ist es gut, wenn du vorn an der Klitoris, das ist diese ausgebuchtete kleine Stelle, leicht schleckst, immer wieder drüber hinfährst, und darauf kann die Zunge auch weiter hinein in den Spalt gleiten, nach hinten, dann ist das auch dort angenehm, wenn vorn das Gewebe stark erregt ist. Meine Lust zieht sich von vorn nach hinten. Wenn du nicht zuerst die Klitoris erregst, rührt sich hinten im Loch und dazwischen gar nichts.» [539] Ich halte ein und sehe mit Erstaunen, daß der Junge voll auf meine Belehrungen einsteigt. Er ist wesentlich weniger gierig auf seinen eigenen Lustgewinn als auf das Verstehen meiner Worte, als würde ihm das genauso viel Spaß machen wie das Picken selber. Am Ende will er aber dann nur noch darüber reden und es nicht mehr tun, da wäre mir selbst die ungeschickteste Zunge lieber, obwohl ich da bei genauer Überlegung gar nicht so sicher bin. Ich füge noch hinzu: «Wenn vorn der Bereich warmgelaufen ist, das merkst du schon an meinen Bewegungen, da habe ich es gern, wenn du die Zunge langsam nach hinten führst, an diesem Bogen, dort, wo es in das Loch hineingeht, dort ist es gegen Ende der Bewegung sehr empfindlich, und dann habe ich es auch gern, wenn du dort die Zunge hast, die kann dann ruhig fester schlecken, das ist angenehm, nur am Anfang soll es leicht sein. Und nicht zerdrücken, nie so fest werden, daß du das Gewebe drückst, das hat es nicht gern. Du merkst an meinen Bewegungen, wann es schneller werden soll. Wenn ich komme, kannst du ganz schnell sein, so schnell deine Zunge das eben macht, du mußt sie nie zu Sachen veranlasssen, die sie nicht von selbst leicht machen will, denn dann kann es nur falsch sein für uns beide.» Er lacht mir fröhlich gespannt zu und erlöst mich damit von meiner so weisen, seltsamen Rolle. «Am Ende, wenn ich gekommen bin, aufhören, wenn ich zurückziehe, aus, das ist dann nicht mehr unbedingt angenehm», füge ich noch hinzu, weil ich mich schon einmal auf das Erklären eingelassen habe. Hoffentlich nimmt der Junge das nicht alles zu ernst, denke ich, und lege mich wieder zurück, während Pfeil seine Hände sacht auf meine Lenden legt und seinen Mund in meine Spalte fügt. Ich spüre sofort, daß ich mich durch nichts gehemmt habe, ich erlaube mir, in meine eigene Lust doppelt einzusteigen, als hätte ich meine Gedanken und Worte in ein Gefühl verwandelt, das mir jetzt zugute kommt. Der Junge macht das so, wie ich es erklärt habe, so als hätte er ohnehin alles gewußt und wollte nur meine Bestätigung für sein natürliches Empfinden. Ich schaue hinunter. Mir leuchtet mein eigenes rosa Fleisch in der Scheide entgegen. Das Gewebe prickelt heiß, es ist von pulsierenden Adern durchzittert, die bei jeder Berührung der kleinen Zunge, die aus demselben Fleisch ist, aufflammen wie in andauernder Erfüllung des letzten Wunsches. Noch bevor mich die Zunge des Jungen meinem Höhepunkt nähert, fliegt das Auflodern vielfach an und steht [540] schon in hellem Leuchten, bevor es noch abbrennt. Diese kleine Zunge, die schafft das, die bewegt sich sanft und stetig, immer schneller werdend, über meine innere gespannte Weichheit von vorn, nach hinten, über den angezurrten Hautbogen an die Wölbung, über die er mit stärkerem Druck fährt. Ich kann mit meinem Unterleib die Stärke selbst regulieren, ich kann mich selbst mit Pfeils Zunge in eine Flamme hineinar-
beiten, die jetzt zu einem brennenden Wasserfall wird, der durch meinen Körper rauscht. Ich wölbe meinen Leib durch und stöhne laut und lange auf. Pfeil versteht diese Sprache, wird langsamer mit seiner Zunge und taucht dann wieder zwischen meinen Beinen auf wie ein großes Neugeborenes. Er schaut fragend erhitzt drein, sein Mund ist naß, und ich drücke ihn lachend an mich. Er kichert und schlägt sich mit den Fäusten wie ein Schimpanse an die Brust. Als wir uns wieder dem Treiben im Raum zuwenden, sehen wir nicht nur die Jungen, sondern auch zwei Mädchen am Rand der Etage sitzen. Sie lachen uns zu, ebenso unbefangen wie Pfeil selbst, sie müssen uns schon längere Zeit beobachtet haben. Sie sind in ein reges Tuscheln miteinander vertieft, und die Mädchen ziehen sich nun auch ganz aus und legen sich zu den nackten Knaben. Diese senken beide ihre Köpfe zwischen die weit gespreizten Schenkel und machen das, was sie eben gesehen haben, genau nach. Dabei kichern sie allerdings oft. Unten ist wieder alles ziemlich saubergemacht. Die Vögel stecken ordentlich gerupft auf den Spießen. Sanfter Falke knetet Maisteig, und Stinkender Bock ist damit beschäftigt, Feuer anzufachen. Ich ziehe mich an, auch Pfeil schlüpft in eine zerrissene Hose, und wir lassen uns von der Etage heruntergleiten. «Du bist nicht schwer, ich kann dich tragen», meint er ächzend und besteht darauf, mich bis zur Tür hinzuschleppen. Er schafft es mit viel Mühe. Stinkender Bock unterbricht das wichtige Amt am Feuer und will ebenfalls beweisen, daß er mich tragen kann. Auch er kann es, sogar besser als Pfeil. Ich bin dankbar, daß mich der Junge, welcher mir das Stirnband angeboten hat, zu einer kleinen Werkbank führt, auf der Lederzeug und Schnüre, scharfe Messer und Drahtklammern herumliegen. «Was für ein Muster soll ich dir vorn draufmachen?» interessiert er sich ernst und legt mir, während ich überlege, ein schmales, helles Band um die Stirn, mißt ab und markiert sich die nötige Länge. [541] «Kannst du so etwas wie eine Blume oder eine Sonne fertigbringen», rege ich seine Vorstellung an, ohne zu viele Ansprüche stellen zu wollen. «Eine Sonnenblume meinst du, natürlich kann ich das», erkennt er meinen Wunsch und beginnt sofort mit dem Werk. Er ritzt mit einem spitzen Schaber die Konturen des Ornaments vorn ein und schneidet dann geschickt einzelne Schichten heraus. Er ist ganz vertieft in seine Arbeit, und ich greife mir schon an die Stirn, weil ich fühlen möchte, wie es sein wird, so ein Band zu tragen. «Er ist raus, er ist raus!» jubelt das eine Mädchen, diesmal nicht flüsternd. Sie tanzt in der Mitte des Zimmers und hält einen kleinen Gegenstand zwischen den Fingern in die Luft. Ich interessiere mich für das Ding und erkenne einen kleinen blutigen Stockzahn. Sie zeigt mir die Lücke. Vorn hat sie schon überall neue Zähne, alle Kinder hier haben gute Zähne. Ich gucke auch in Pfeils Mund, auch bei ihm wackelt hinten einer. «Die stellen sich blöd an! Jetzt ist ihnen Schillernde Wolke aus der Decke herausgefalllen», stöhnt Stolzes Auge, die außer Atem bei der Tür hereinkommt. Dann lacht sie aber über das Ungeschick und hilft Stinkendem Bock, die Flamme hochzupusten. Pfeil und ich gehen hinaus. Der Regen hat aufgehört. Die Luft ist rein und klar, aber kühl ist es, wir reiben uns die Arme und springen auf die Mauer. Von oben sehen wir, wie vier von den Kindern die Tote in einer Decke liegen haben, die sie an den vier Zipfeln zwischen sich herschleppen. Manchmal schleift der Körper des Mädchens auf der Erde. Die Kinder mühen sich ab, legen sich dann auf die Erde und graben noch ein wenig an dem Loch herum, das bereits ausgeschaufelt war. Sie buddeln und kichern dabei, sie springen herum, weil ihnen kalt ist. Dann können sie die Tote hineinrollen, indem sie zwei von den Zipfeln auslassen. Pfeil meint: «Eigentlich ist das gar nicht der Platz, wo wir die Toten begraben, der ist
viel weiter draußen.» Er zeigt zum See hinunter. «Die haben sich's wieder bequem gemacht», meint er, winkt aber dann mit der Hand ab, als sei das nicht so wichtig. Er schüttelt sich durch, reibt seine Hände an meinen, wir frösteln uns ordentlich ab, so als wäre das gesund und auch eine Art Lust. Dann rennen wir voll Wonne ins Warme hinein, ans Feuer, wo die Vögel schon brutzeln. Mein Stirnband wird noch einmal angelegt und das Maß geprüft. [542] Ich zeige meine Begeisterung an der einfachen Ausdruckskraft der Blume, die vorn wie eine Sonne prangt. Das Gesicht des derben Jungen verwandelt sich unter meiner Beachtung in ein heiteres, charaktervolles Antlitz, in dem das Lachen genauso seinen Platz hat. Die Vögel müssen noch braten. Wir knabbern an gekochten Maiskolben herum, und Sanfter Falke dreht immer wieder das Fleisch auf den Spießen, Sorgfalt und Liebe zu seinem Werk auf dem Gesicht. Stolzes Auge sitzt mir gegenüber in der Runde. Sie denkt über etwas nach. Sie verliert ihren Blick, kneift die Augen leicht zusammen und verschwindet irgendwohin in einen Gedankenraum. Ich habe die Kinder immer tobend im Gefühl, bemerke aber jetzt, daß diese Einstellung wahrscheinlich mehr aus meiner Vorstellung stammt und wenig mit dem wahrhaftigen Bild zu tun hat. Sie sind eher still in sich verloren oder beschäftigen sich mit kleinen Momentspielen. Die Flammen knistern dann und wann auf, etwas tropft in die Hitze und prasselt. An der Wand hängt der Mais, die Kolben stehen vor meinen Augen, auch wenn ich sie schließe. Ich habe Bilder vor dem stillen Blick in mir, außer mir, in den Flammen, ich habe die Flammen in mir, die Lebensgeister des Feuers, der Erde und der Luft. Wir sind hier lebendig begraben in der Höhle einer Möglichkeit, die jeden Augenblick zerfallen kann. Meine linke Körperseite wird ganz heiß von der Glut. Sanfter Falke dreht wieder an den Spießen . Reißende Muschel bringt einige kleine Dosen. Sie taucht den Finger ein und kniet sich vor ihre große Freundin auf den Boden. Sie überlegt einen Augenblick, dann zieht sie ihr einen Strich von der Nasenwurzel über die rechte Braue. Eine dicke rote Linie, dann macht sie noch einen Strich über die andere Gesichtshälfte. Stolzes Auge legt sich rücklings auf den Fußboden. Sie hat nur einen Lendenschurz um. Reißende Muschel zieht sorgfältig bunte Linien über ihre Haut. Dazwischen malt sie weiß und randet die Flächen schwarz ein. Die Hingabe und Sicherheit, mit der Reißende Muschel mit den Erdtönen auf der Haut ihrer Freundin zeichnet, ist mir ein Akt der Liebe zur Zwischenzeit, ein Erkennen der Weile in der Beziehung des Lebens, eine Geduld zu nichts, eine Freude an der Möglichkeit, etwas zu tun, für sich und die anderen, weil sonst nichts zu tun ist. Stolzes Auge sieht jetzt erschreckend maskenhaft, aber sich selbst ähnlicher, aus. Eine sichtbare Annäherung an das Unsichtbare. Reißende [543] Muschel kneift die Augen immer wieder zu und fügt hier und dort noch ein Zeichen zur Vollendung. Mich macht ihre Geduld ruhig in meiner Mitte. Von dort her steigt mir eine Wärme auf für dieses Leben im Kreis des Chaos, für die unberechenbare Chance zu leben, während man stirbt. Reißende Muschel hält etwas fest, sie hält das Wesen, während es sich verändert, sie verändert ihren Strich, indem sie ihn zieht. Ihre langsamen, bedachten Bewegungen zerstreuen sich vor meinen Augen zu Himmelslinien über unserer kleinen Gesellschaft, die die einzige für mich darstellt, jetzt in diesem Augenblick der einsamen Besinnung zu einer Zusammengehörigkeit von nichts. Fast habe ich die gebratenen Vögel vergessen, fast habe ich meinen Hunger vergessen. Auch die anderen sind eingekehrt in einen seltsamen Bereich. Ob er allen sichtbar geworden ist? Stolzes Auge ist voll bemalt, ein Geist der Zeichnung einer Persönlichkeit, und Reißende Muschel ist zufrieden. Sie hat uns mit ihrem Akt gebannt, sie muß es gewesen sein, die unsere Geister gezaubert hat in die Zeichen auf der Haut von Stolzem Auge Hirnhaut - Struktur - ein sehendes Hirn - ein stolzes Hirn - ein Menschenhirn.
Sanfter Falke zerteilt das Geflügel, auch er hat Andacht zu diesem Werk, er zelebriert seine Religion wie Reißende Muschel, er hält seinen Gottesdienst mit gebratenem Fleisch, ein Gott der Einkehr in die Mitte des Körpers, wir sind gebannt auch von seinem Zauber. Magie liegt über dem Warten, über den Flammen und in unseren Herzen über der Verlorenheit des Denkens. «Was ist? Kommst du nicht auch?» ruft das stille Mädchen den Jungen an der Werkbank, der mir jetzt erst dort auffällt. Er hat die ganze Zeit an meinem Band gearbeitet und darüber sogar das Essen vergessen. Ob Besessenheit eine Form der Einkehr ist? Ich überlege einen Augenblick, ob ich wohl auch eine Besessene bin, ich kann es aber nicht recht herauskriegen. Pfeil steckt mir ein Stück Fleisch in den Mund, während der Handwerker mir das Stirnband anlegt. Ich halte es, und er bindet es hinten mit feinen Lederschüren fest. Ich greife danach, es sitzt fest wie eine Krone, vorn das gelbe Mal der Sonnenblume eingraviert. Es ist angenehm zu tragen, es hält mir meinen wahnsinnigen Kopf zusammen. Ich muß lachen über diesen Gedanken, und die Kinder sind begeistert. «Singende Erde», höre ich, und für einen Augenblick ist mir, als [544] würde sich die wildbemalte Anführerin geisterhaft ein wenig verbeugen. Das Fleisch ist zäh durchgebraten, innen saftig, aber es ist für jeden nur ein Happen da. Der Krug mit dem Wasser geht die Runde, und auch viele Fladen mit Gemüsesauce werden verzehrt. Die zwei Paare, die Pfeil und mich auf der Schlafetage beobachtet hatten, sehe ich tuscheln, sie schauen dann und wann neugierig zu uns her und lachen mir zu, während sie sich das Essen in den Mund schieben. Diesmal schlafen Pfeil und ich gleich unten beim Feuer ein. Satt legt er sich auf meine Schenkel. Er muß da hinübergeglitten sein in den Schlaf. Ich habe noch lange in die Flammen geschaut, aber ich weiß nicht mehr, wann ich dabei eingeschlafen bin. Es gibt die Zeit nicht, aber es ist Morgen und dann Abend, es gibt die Nacht und den Tag. Mein Dasein hat den Charakter einer endgültigen Ergebung an die Natur angenommen. Ich lebe in einer tiefen Neigung zur chaotisch brutalen Erscheinungsform des Atems. Das Wetter ist wieder schöner geworden, die kurze Regenperiode ist vorüber, die strategische Lage zwischen den einzelnen Gruppen verhält sich einigermaßen ruhig, aber das Verhältnis ist immer gespannt. Auch mein Frieden ist in Erregung. Pfeil sitzt auf der Mauer und hält die Hände unter das Kinn gestützt, seine Ellbogen sind auf die Knie gestemmt. Er baumelt leicht mit den Beinen und hat die Augen in die Ferne gerichtet. Ich setze mich neben ihn. Er schaut nicht auf, obwohl ich weiß, daß er mich bemerkt hat. Er hat ein wenig in den Mundwinkeln gelächelt, aber das ist wieder verschwunden wie die Sonne hinter den Wolken. Eine Helligkeit liegt auf seiner Stirn und auf seinem Mund. Aber daß er so erstarrt ist? Ich schaue selbst in die Ferne und spüre, es ist ein Strahl aus der Mitte des Gehirns und aus dem Nabel zum Stand der Sonne. Dort, wo sich diese Linien in unendliche Ferne treffen, dort ist dieser Punkt, der Pfeil bannt. «Bist du traurig?» frage ich naiv und muß dann über diese Formulierung lachen. Pfeil lacht nicht. «Du hast das auch - das hat ein jeder», tönt seine Stimme wie die eines Geistes, aber genau wie die des Geistes von Tapferem Pfeil. Ich erkenne die Stimme, aber sie ist weit abgerückt, wie ein Echo seiner Anwesenheit. «Was habe ich auch?» frage ich neugierig. [545] «Na, daß du manchmal so aus dir heraussteigst, dann bin ich nicht unglücklich, aber dann bin ich auch nicht fröhlich», erklärt der Junge klar und sicher. Ich richte selbst meine Augen hinaus und fühle mich dem Jungen so verbunden in einem Raum, der nicht an
menschliche Gefühle gefesselt ist. Zugleich schlägt die Nähe in mein Herz, die Annäherung an die Begegnung im Nichts, und es ist, als würde eine Träne mir zu Eis werden, sich dann in einen Diamant verwandeln, und der fliegt die ewige Himmelslinie hinüber in diesen Raum. Tapferer Pfeil rückt näher an mich heran, die Körper berühren einander, und wir schauen in die Ferne wie in uns selbst hinein. Am Nachmittag schaukeln wir im Boot auf dem See. Wir haben schon ganz schön viele Fische gefangen. Stinkender Bock zieht noch einmal seine Angel herauf. Ein besonders großer Fisch hängt dran. Er schillert. «Schau dir diesen Brocken an. Den werd ich trocknen und als Kopfschmuck tragen», scherzt Bock und löst das zappelnde Tier sorgfältig von der Angel. Pfeil taucht das Ruder ins Wasser und manövriert das Boot dem Ufer zu. Wir sind lange damit im Wasser gelegen. Der geschnitzte Kopf des Kahns durchschneidet sacht die glatte Fläche des Wassers. Die hölzernen Ruderlaute, das Plätschern der Wellen am Bootskörper verklingen in der freien Weitläufigkeit des Sees. Pfeil ist geschickt mit seinem Ruder. Die feinen Muskeln an seinen Armen und an seinem Rücken geben ein kindliches Spiel, das den Reiz eines ausgewachsenen Körpers in sich birgt, in geheimnisvoller Ahnung einer Erfüllung der Form, die zerfallen wird, wenn sie erreicht ist. Die Tropfen zerstäuben unter dem Ruder wie unsere Gedanken in der Sonne. Das Licht trifft auf die Haut des Kindes. Pfeil läßt sich finden, es vergeht kaum ein Tag, an dem wir unsere Körper nicht in der alten Weise der Wandlung zur Lust entdeckten. Sein Haar wird in seinem Wuchs anscheinend noch stärker und kerniger. Gesund wie er selbst ist es. Ich fühle mich auch gut unter dieser Sonne. Ein Fisch hüpft auf und erregt die Wasseroberfläche. Pfeil macht noch einige starke Ruderzüge, unter uns knirscht es, Stinkender Bock springt hinaus und zieht das Boot an Land. Ich trage einen Eimer, und Bock trägt auch einen. Pfeil kümmert sich um die Geräte. «Diese Schramme hat aber keiner von uns gemacht», weist Bock auf einen argen Kratzer vorn am Bug. [546] «Das kann man nicht wissen», bedenkt Pfeil. «Wir müßten genauer beobachten, wer das Boot benützt. Auch Stolzes Auge hat es schon beschädigt.» «Keiner darf da ran!» regt sich der Stinkende Bock auf und wird ganz rot im Gesicht. «Da hat überhaupt niemand was zu schaffen, mit unserem Boot!» «Ihr müßt eben eine Kontrolle einführen», schlage ich vor. «Ach was, wie soll denn das gehen», verwirft Bock meine Idee. Auch Pfeil meint: «So geht das nicht, wir halten uns nur an große Regeln, solche Kleinigkeiten sind Ungagungalomarex! Mfft!» «Wenn es ohnehin solche Mfftige Kleinigkeiten sind, braucht sich ja auch keiner aufzuregen», bleibe ich auf meinem Gedanken sitzen und wabble etwas von dem Fischwasser über mein Bein, das ich im Schleppen verschüttet habe. Pfeil ergreift Bocks andere Kübelhälfte, sie tragen gemeinsam und ziehen fröhlich vor sich hin pfeifend, demonstrativ schnell vor mir her. Ein wilder, reißender Schrei gellt auf. Ein Schmerz, eine Wut steht für einen Augenblick als Laut in der Luft. Wir halten wie angenagelt. Aus dem großen Heuschober, einige Schritte von einem der Höfe entfernt, kriecht ein nackter Bursche. Er rappelt sich gebück einige Schritte über den Boden. Die Hände preßt er an seinen Unterleib. Er bleibt noch einmal stehen, stöhnt in der Bewegung in sich hinein. Hinter ihm tauchen Kinder aus dem Schober auf. Eines davon ist ein Mädchen. Es ist mollig, gut entwickelt und hat schon starke Brüste. Die anderen Kinder drohen dem Burschen nach, einer schwingt ein Messer in der Luft. Sie sind aus irgendeinem Grund ungeheuer zornig auf den Burschen, der jetzt weiterhin die Hände an seine Genitalien gepreßt, gebückt und verkrümmt weiterläuft, sei-
nem Hof zu. Blut rinnt über seine Beine. Er wankt und zittert in seinen Schmerz hinein, der seine Quelle dort im Unterleib haben muß. Vor seinem Haus bricht er zusammen und wird von den Kameraden hineingetragen. Tapferer Pfeil nimmt mich an der Hand und drängt mich. «Komm weiter, gehen wir lieber. Das ist kein Scherz, das hat Folgen, und da ist es bessser, wenn wir nicht auf der Bildfläche erscheinen.» Ich stehe entgeistert da und möchte irgendeine Klarheit in diesen Vorgang bringen. Der tierische Schrei hängt mir noch im Ohr. Stinkender [547] Bock hat trotz seiner Last ein beachtliches Tempo vorgelegt und ruft zurück: «Kommt, sonst schneiden sie uns auch noch den Schwanz ab!» «Das hat Folgen, das hat Folgen», sagt Pfeil noch einmal in warnendem Ton und geht jetzt weiter, versucht aber nicht mehr, mich zur Eile zu überreden. Ich verstehe das, wenngleich ich mich noch immer nicht auskenne, aber ich renne, den Eimer hinter mir her schleppend, den beiden nach. «Was soll das? Warum machen die so was?» frage ich außer Atem und stelle die Last mitten im Hof ab. «Sie können einem den Schwanz abschneiden, wenn man es mit dem persönlichen Gefährten des Häuptlings treibt», erklärt Pfeil. «Wie ist das jetzt - gibt es da ein Gesetz, ist jetzt Gefahr, haben die anderen ein Recht auf Rache?» frage ich, außer mir vor Ratlosigkeit. «Ja, das Gesetz -» zieht Stolzes Auge das Wort lang hin, und dann bezieht sie ihren Ausguck auf der Tonne. «Bis auf weiteres niemand mehr hinausgehen! Am besten, wir bleiben alle im eigenen Bereich!» befiehlt Stolzes Auge lautstark. «Die großen Fische zum Trocknen herrichten und die kleinen spießen», kommandiert Sanfter Falke in bewährter Tonart, so daß sich seine Umsicht wie ein erfolgversprechendes Spiel anhört. Ein Junge steckt einem Mädchen einen kleinen lebendigen Fisch zwischen die Beine, sie beginnt ihrerseits zu zappeln wie das Fischlein, reißt sich den Schurz los und wirft sich über den Jungen. Sie rollen über den Boden und stürzen grunzend und prustend übereinander her. Unter dem Tisch kommt das erregte Paket dann zu konzentrierterem gegenseitigem Spaß. Die Kleinen sind immer recht bald fertig, fast wie die Karnickel. «Der Totenschädel - auf dem Haus der Großen!» ruft jemand laut. Wir lassen alles liegen und nehmen Ausguck an der Mauer. Allerdings steigt diesmal niemand hinauf, wir bleiben auf dem aufgeschichteten Holz stehen, so daß nur unsere Augen über die Mauer lugen. Pfeil drängt sich neben mich und zeigt stumm noch einmal auf den Schädel. Kein lachender Mond, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch der Schädel lacht. «Was soll das?» frage ich. [548] «Das heißt, daß die Großen Rache an denen nehmen, welche die Bluttat verübt haben», erklärt Pfeil, sichtlich aufgeregt. «Ist denn ein Geschlechtsakt eine Blutschande?» stelle ich mich naiv. «Von Schande ist gar nicht die Rede, es geht nur um die Tat in einer anderen Gruppe», wirft Pfeil ungeduldig ein und erklärt dann noch: «Jedenfalls fühlen sich die Großen durch das Abschneiden in ein größeres Unrecht gesetzt als da, wo sie gegen eine Regel verstoßen haben.» «Vielleicht war es gar nicht der Partner des Anführers», bedenkt ein Mädchen. «Vielleicht hat sich das Mädchen auch einverstanden erklärt mit dem Schwanz des gro-
ßen Jungen», ziehe ich hartnäckig in Betracht, obwohl mir eigentlich langsam verlorengeht, wen ich nun eigentlich wegen welcher Tat verteidigen will. Mir schwirrt das Gesetz über das Recht, die Verteidigung über die Anklage, der Ernst über die Gerichtsbarkeit, mir rinnt das ganze Verfahren durch die Finger. «Aber was!» beendet Stolzes Auge die Debatte. «Bei den ist der Gefährte des Anführers überhaupt ein Junge.» Mich nimmt die abgezirkelt funktionierende Aktion gefangen. Strategisch exakt gehen die Großen vor. Zügig beginnt der Angriff, gespannt verfolgen wir die Etappen des Vorgangs. Sieben von den Großen, Burschen und Mädchen, bewaffnet mit Pfeilen und Messern, nehmen Aufstellung rund um den Hof der «Hirnspalter». Mir fällt ein bemalter Bursche und ein schwarzhaariges Mädchen auf. Auch Feuernder Schrecken ist unter ihnen. Als sie feste Position eingenommen haben, rennen etwa weitere acht oder zehn zum Tor der kleineren Gruppe. Es ist geschlossen, und sie springen über die Mauer, sich gegenseitig die Räuberleiter haltend. Flink und ruhig spielt sich das ab. Drinnen erhebt sich kurzer Tumult, ein Schrei, Pfeile flirren hoch, dann tritt Stille ein. Im offenen Tor beim Hof der Großen tauchen die Zurückgebliebenen auf. Ein paar Burschen und auch zwei Mädchen mit Kindern auf dem Rücken. Ein kleines Kind krabbbelt auf der Erde herum. Es wird zurückgeholt, wenn es sich zu weit vorwagt. Die kleine Gruppe steht gespannt da, einige strecken die Arme hoch und deuten etwas mit den Fingern an. Erst der Daumen - eins, dann zwei der Zeigefinger, dann drei der Mittelfinger, sie öffnen auch die Münder, bleiben aber still. [549] Wieder erhebt sich im Hof der Hirnspalter Tumult, der rasch erneut unterdrückt wird. Niemand von den Hirnspaltern, die etwa dreizehn bis vierzehn Jahre alt sind, wird sichtbar. «Gegen diese wilden Lackel wehrst du dich nicht», murmelt Reißende Muschel. Stolzes Auge verpaßt ihr einen Rippenstoß und hält ihr die Hand kurz auf den Mund, ohne die Augen von der Szene abzuwenden. Ich sehe, wie über dem Dach der Hirnspalter ebenfallls ein Schädel an einem Stab auftauchen will. Er hat ein Messer in der Naht stecken. Dieses Vorhaben wird von den Großen vereitelt, weil der Stab, sofort nachdem ich das Zeichen erkennen konnte, wieder fällt. «Hamm-Tat! Hamm-Tat! Hamm-Tat!» klingt drinnen ein Kampfschrei an, bricht aber wieder ab. «Das sind die Hirnspalter», flüstert mir Pfeil zu. Jetzt brechen die Großen aus ihrem verhaltenen Rhythmus, recken die Arme hoch und feuern ihre Kämpfer an: «Assa - Asso - Assu!» und dazu machen sie dieses bannende Fingerspiel. «Assa - Asso - Assu!» Zwei der sichernden Kämpfer vor der Mauer gehen in eine gespannte Stellung. Die Körper straffen sich, die wilden Haare stehen ihnen auf den Schädeln. Pfeil schaut mich kurz an. In seinem Gesicht glüht ein Kampffeuer. So habe ich ihn noch nie gesehen. Ich bin von seinem magischen Flackern in den Augen angesogen und vergessse für einen Augenblick, auf die Szene zu schauen. In mir bricht etwas - mein Glaube an die Lust am Frieden. Ich bin ungeheuer angeregt, ich erkenne dieses Gesicht, es muß auch meines sein. Ein nacktes Geschöpf wird von den Angreifern aus dem Hof der Hirnspalter herausgeschleppt, es ist dieses mollige Mädchen, welches wir im Schober gesehen haben. Die Wachen nehmen eine noch bedrohlichere Haltung ein, sie halten die Pfeile schußbereit. Hinter dem Mädchen wird das Tor von innen sofort wieder geschlossen. In der Platzmitte steht ein Pfahl. Ich habe ihn schon öfter gesehen, aber ihm nie irgendeine Bedeutung zugemessen. Das Mädchen wehrt sich und zerrt an den Griffen der zwei Burschen, die sie mit
Gewalt an diesen Pfahl fesseln. Einmal gebunden, läßt sie sich erschöpft mit gesenktem Blick in die Schnüre fallen. [550] «Assa - Asso - Assu! Assa - Asso - Assu!» ertönte es wieder, die Stimmung anheizend, vom Tor der Großen. Die Krieger vor der Mauer fallen in die Schreie mit ein, und auch von drinnen ertönt dieser Ruf. Das Tor öffnet sich wieder, dieses schwarzhaarige Mädchen kommt heraus mit einem großen Messer, und hinter ihr erscheint der grellbemalte Bursche im Lendenschurz, voll bewaffnet. Er steht wie ein Kunstwerk, wie geschnitzt. Ein zum Leben erwecktes Ornament, bewegt er sich zusammen mit dem Mädchen langsam vor den Pfahl, an dem die Gefangene hängt. Das große schwarzhaarige Mädchen ist nur im Gesicht bemalt. Ihr Haar ist lang und glatt. «Assa - Asso - Assu!» tönt es wieder wie zur Bestätigung der beiden Gestalten. Das gefesselte Mädchen beginnt sich wieder zu winden, sie stöhnt, ich kann es sehen und fühlen, ihre Qual überträgt sich bis zu uns herein in den Hof. Plötzlich springen zwei von den Hirnspaltern über die Mauer. Der eine schwingt ein langes Messer. «Hamm - Tat! Hamm - Tat!» ertönt es kurz hinter der Mauer, und auch die beiden stimmen mit ein. Während sie dicht nebeneinander behende von der Mauer springen, flitzt ein Pfeil zwischen ihnen durch und bleibt auf dem Dach der Hirnspalter hängen. Noch ehe sich die beiden vom Boden wegheben können, liegen schon drei von den Wachen über ihnen und überwältigen sie unter den anfeuernden Rufen der Großen. Sie werden blitzschnell aneinandergebunden und in den Hof der Älteren geschleppt. «Assa - Asso - Assu!» «Allo Pan - Allo Pan - Allo Pan», flüstert Sanfter Falke erregt. Die anderen stimmen in sein verhaltenes Rufen ein, machen die Augen schmal, ducken die Körper in Angriffshaltung und schlagen den Rhythmus mit den Händen auf der Mauer. Sie sind Krieger, ebensolche wie die dort draußen, sie sind es, ich bin mitten unter ihnen. Ich befinde mich mitten unter möglichen Mördern, und auch ich bin ein Mörder. Bedeutet das etwas ... Auch ich kneife in höchster Konzentration die Augen zusammen, ich bin voll angespannt in meinem Gedankenkörper. «Allo Pan - Allo Pan!» raunt es entlang unserer Linie. Die beiden Akteure bleiben vor dem sich windenden Mädchen stehen. Die Große erhebt das Messer. So verharrt sie. Der bemalte [551] Bursche richtet sich zu voller Größe auf. Er bewegt sich elastisch, er hebt sein Haupt, auf dem die Haare wild und hell leben. Das Mädchen am Pfahl richtet sich auch auf, starrt wie in stürzender Panik auf den großen Jungen. Sie tut es voll Angst. Ich sehe, sie windet sich aus Lust und Grauen, aus Angst und Qual, aus Zusammenbruch, Blut und Vergehen - in den Abgrund -, und von dort hebt sich jetzt ein schneidender Schrei des Bemalten, in den seine ganze Gruppe miteinstimmt, wie durch die Mauern dringt der Schwall der Stimmen. Der Junge, der immer mehr von den schneidenden Tönen herausreißt, bis er zurückgebeugt verharrt, er hat einen stehen, ein Körperschrei, ein Hirnschrei bäumt sich auf und bricht ab, hängt für einen Augenblick in der Luft und endet dann. Der Junge fällt rücklings zu Boden, und wir hier hinter unserer Mauer sinken in uns zusammen, die wir uns mit ihm unwillkürlich vereint haben. Die Gefangene reißt wieder an den Stricken und brüllt auf wie ein geschlagenes Tier in dieser Stille, aber gegen den vorherigen Lärm klingt das beinahe verhalten. «Assa - Asso - Assu!» geht es nun wieder, und hinter der Mauer des anderen Hofs kommt das «Hamm Tat - Hamm Tat» der Hirnspalter sporadisch hervor. Das Mädchen mit dem schwarzen Haar hält jetzt einen Gegenstand in der linken Hand und hebt ihn vor der Gefesselten hoch, diese reißt ihr Gesicht von einer Seite auf die andere.
«Das Glied», flüstert Pfeil und rückt näher an mich heran. Mit einer Handbewegung stopft die Schwarzhaarige dem molligen Mädchen Fleisch in den Mund und hält ihn ihr mit eisernem Griff zu. Die Gemarterte windet sich. Der schlanke, am Boden liegende Bursche richtet sich mit unverminderter Kraft auf und nimmt ihre Hand vom Mund der Gefangenen, die schnaubt auf und spuckt das Stück Fleisch von sich. «Assa - Asso - Assu! Assa - Asso - Assu!» erhebt sich die Spannung wieder zu voller Lautstärke. «Hätte sie's doch geschluckt!» preßt Reißende Muschel hervor, während sie sich selbst die Hände an den Mund drückt. Ihre Fingerspitzen sind ganz weiß von der Anstrengung. Pfeil sieht mich wieder an, aber diesmal ist sein Blick nicht mehr so glühend. Der schlanke, bemalte Bursche nimmt jetzt das blitzende Messer aus der Hand seiner Begleiterin, das mollige Mädchen reißt an den [552] Stricken, daß sich das Holz bewegt. Mit der Waffe tritt er nahe an sie heran, berührt sie mit seinem Körper, sie hält wie getrofffen in ihrer Abwehr inne, und mit einem einzigen Schnitt, mitten in die gebannte Stille hinein, schneidet er ihr eine der jungen, festen Brüste ab. Sie brüllt auf, wund, getroffen, so wie der Junge im Schober, und die Hirnspalter fallen in dieses Schmerzschreien ein. Ein blutiges Mal leuchtet auf der Vorderseite der Gefangenen. Sie wird nun losgeschnitten, so als würde es sich dabei um eine unwichtige Kleinigkeit handeln. Dann fällt sie am Fuße des Pfahls in sich zusammen. «Assa - Asso - Assu!» tönt es noch einmal, und die Krieger, welche im Hof die Hirnspalter in Schach gehalten haben, springen über die Mauer und verschanzen sich in ihrem Haus. Zuletzt verlassen die Verteidiger außen ihre Posten, nachdem sie noch einige Pfeile abgegeben haben, und verschwinden hinter ihrem Tor. Zwei der Hirnspalter kommen herausgelaufen und schleppen die Ohnmächtige hinter ihre Mauern. Ob sie die Brust mitnehmen, kann ich nicht sehen. Wir lösen uns von unserer Mauer, still gehen wir zurück und wenden uns wieder den Fischen zu. Einige sind aus dem Wasser herausgesprungen und liegen verendet mit offenen Mäulern am Boden. Auch in den nächsten Tagen bleibt der Totenschädel auf dem Dach der Großen, und die Hirnspalter haben den ihren mit dem Messer in der Naht auf dem Dach stehen. Wir verhalten uns vorsichtig und verlassen nur in Gruppen den Hof, sonst geht alles seinen gewohnten Weg. Was ist los, die ganze Gesellschaft rennt heute nackt herum. Quer durch den Hof ist ein Strick gespannt, auf dem Kleidungsstücke flattern. Reißende Muschel, das wispernde Mädchen und noch zwei von den Jungen waschen die Wäsche, daß es nur so spritzt. In einem riesigen Trog bürsten und rumpeln sie die Kleider über eine halb zerlegte Blechwelle. Ulkig sieht es heute morgen im Hof aus. Der Overall von Stolzem Auge muß von zwei Leuten gewrungen werden, weil er so steif und groß wie ein nasses Brett aus dem Wasser kommt. Stinkender Bock verschwindet hinter den Wäschestücken, versteckt sich vor den Wäschern, die ihm, wenn sie ihn erblicken, jeweils eine Ladung Wasser ins Gesicht planschen. Er allein ist angezogen, weil sein Lederschurz nicht zum Waschen geeignet ist. [553] «Gib her!» entscheidet Tapferer Pfeil und zieht mir ohne Umschweife meine Hose vom Hintern, mein Hemd über den Kopf und wirft sie in den Trog. Die anderen stürzen sich über meine Sachen. Hoffentlich bleiben die ganz. Meine Hose ist an einer Stelle schon ziemlich aufgewetzt, und das Hemd hat Löcher unterm Arm. Pfeil benützt meine plötzliche Nacktheit und wirft sich von hinten auf mich drauf. Wir fallen hin, ich liege unten, mit dem Bauch am Boden, kleine Kiesel pieksen mich. Er hält mich und steigt nicht ab. Ein kräftiger, braungebrannter Junge stürzt sich über ihn, und ich bin unter dem Gewicht der beiden ganz schön niedergepreßt. Tapferer Pfeil rückt auf mir
herum und drückt mir seinen steifen Schwanz ins hintere Loch hinein. «He, du bist daneben!» ruft er dabei dem Oberen zu. Der klammert sich um Pfeil herum an meine Brüste, reibt sich und kichert, bis auch er anscheinend seinen Schwanz in Pfeils hinteres Loch getroffen hat. Die Menschenpyramide kippt um, wir kollern auf die Wäsche, stoßen an den Trog, der fast von dem Schemel gefallen wäre. Ich schlage mir einen Hüftknochen an, außerdem reibt mir Pfeils Schwanz im Loch so trocken, daß er sticht. Die Jungen stecken selbst nicht ganz ineinander. Ich muß sagen, ich bin nicht sehr begeistert von diesem Treiben und grunze unmutig. Mit einem entscheidenden Ruck wälze ich die wilde Gesellschaft von mir herunter und halte mir für einen Augenblick den Hintern. Die zwei Wilden rollen noch immer am Boden herum, aber es macht ihnen selbst keinen rechten Spaß mehr. Pfeil meint mit hochgezogenen Nasenflügeln: «Das sticht aber ordentlich!» «Wo sticht's - vorn oder hinten?» frage ich, mir die Steinchen vom Bauch streifend. «Ist dein hinteres Loch soviel enger als das in der Mitte?» «Anscheinend», muß ich feststellen, und wir sind uns für dieses Mal zumindest einig, daß es nicht angenehmer ist, einen Schwanz hinten drin zu haben. Wir hängen daraufhin ein großes Tuch auf, das manchmal auf dem Tisch aufgelegt wird, wenn es jemandem einfällt. Ich fühle mich nackt in der Sonne gut, ich strecke mich durch, denke daran, wie ich bei Ruth und Sam immer nur ohne Kleider gelaufen bin, und steige auf den Holzstoß an der Mauer, verschränke die Arme und lege meinen Kopf drauf. Es muß damals heißer gewesen sein. Auch jetzt scheint die Sonne noch wunderbar warm, es ist [554] angenehm, so dazuliegen und nicht nur am Körper, sondern auch an der Seele nackt zu sein. Noch stehen die Gefahrensignale auf den Dächern. Wir bewegen uns aber schon wieder ungezwungener draußen, allerdings nie allein. Auch die anderen zeigen sich wieder, man ist wachsam, aber die Lage ist nicht mehr bedrohlich gespannt. Ich spüre mein Gesicht auf meinen Armen, mir ist das eine eigene Zärtlichkeit, die Sonne macht mich weich. Ich erinnere mich. Es ist mir nicht mehr so ein Bedürfnis, meinen Weg zu verfolgen, es ist mir nicht so notwendig, mich zu kontrollieren und etwas daraus zu lernen. Dieser Prozeß ist mir irgendwie in die Tiefe gerutscht, ich zerre nicht alles an die Oberfläche, ich habe keine Angst, daß ich mich nicht richtig verhalten würde. Mir ist so etwas wie ein todsicherer Instinkt erblüht. Hier lebt alles im Augenblick. Es wäre auch viel zu gefährlich, sich selbstvergessen lang zu bedenken. Hast du nicht geschaut, flitzt ein Pfeil in deinen Kopf, du hast eine Brust weniger oder dir steckt ein Schwanz vorn drin oder im Arschloch. Die Suche löst sich von selbst auf in der Gemeinschaft und in der Brutalität des Augenblicks. Ich habe nicht mehr solche Sehnsucht nach Besinnung, ich bin es. Mein Lebensinstinkt funktioniert blitzartig und unbekümmert, schont niemanden und auch mich nicht, verletzt aber nie aus Mutwillen. Ich sehe drüben eine kleine Gruppe zum See wandern. Sie sehen alle ganz vernünftig und menschlich aus, aus der Ferne zumindest, es müßte vielleicht irgendeinen Weg geben, diese Wilden zu einer weniger harten Ordnung zu bringen. Diese ewige Gefahr eines Zwists, eines Kriegs müßte doch nicht sein ... Noch dazu ist nicht geregelt, was die Regel ist. Es gibt viele Gesetze, aber sie sind weder festgehalten noch eindeutig formuliert, man kann sich nicht auf sie stützen, sie sind eher ein Punkt der Verwirrung. Man müßte doch eine sanftere Lebensweise in den wilden Haufen bringen können, denke ich vor mich hin. Vielleicht könnte man eine Gruppe gründen, die einen allgemeinen Anführer wählt und die ein einfaches politisches System ausarbeitet. Jede Gruppe könnte Vertreter abordnen. Ich würde da schon helfend an die Hand gehen, ich fühle mich diesbezüglich nicht ratlos. Außerdem sind diese Kinder hier vernünftige Wesen, sie handeln oft außerordentlich umsichtig und erstaunlich weise, man müßte [555] diesen ewig lauernden Krieg doch irgendwie in den Griff kriegen und eine friedliche Gruppe aus dem kleinen Dorf machen
können. Ich träume so vor mich hin, mich erregt dieser Gedanke, und ich nehme mir vor, mich ein wenig intensiver mit dieser Frage zu beschäftigen, aber verspreche mir selbst, daß ich diese Idee streng bei mir behalten will. Auch Tapferer Pfeil soll nichts davon erfahren. Zugleich muß ich aber auch daran denken, was die anderen Gruppen wohl dazu sagen würden. Die Kleinen hier, die sind schon recht vertraut mit meiner Art, obwohl ich auch bei ihnen immer wieder wachsam sein muß. Die anderen haben sich an meinen Anblick gewöhnt, aber sie sind nicht besonders freundlich zu mir. Außerordentlich mißtrauisch sind sie sogar und zu einem vertrauensvollen Kontakt kaum bereit. Bestenfalls würden sie sagen: «Das verstehst du nicht!», und damit müßte ich schon zufrieden sein. Manchmal akzeptieren sie mich als Kind unter den anderen Kindern, würde ich mir aber nur das geringste zuschulden kommen lassen, könnte ich auch mein Leben verlieren. Es hängt alles in der Luft. Vielleicht ist es gerade diese Situation, die mich vom Druck meines Geistes befreit, viellleicht ist es gerade diese Unsicherheit, die ich nicht verlieren möchte. Entwickle ich diese geheimen Befriedungspläne nur, weil ich mein Leben hier nicht verlieren will? Nein, ich will dableiben, ich möchte hier nicht mehr weg. Mich zieht es nicht weiter, ich merke das genauso, wie ich immer gewußt habe, wann ich gehen wollte. Wenn aber diese Gefahr es ist, die mich so frisch erhält, und ich das Leben hier politisch regeln könnte, würde ich mir ja zugleich etwas nehmen, überlege ich. Ich merke schon, diesmal ist mir ein Problem erwachsen, hier hängt irgend etwas, und ich nehme mir vor, in diesen Hirnknoten einzudringen, ich habe schon lang keinen mehr verspürt, es reizt mich, daran zu arbeiten. Ich wiege mich auf einem lockeren, runden Holzstamm, schließe die Augen und halte das Gesicht in die Sonne. Wärme dringt durch mich, durch meine Haut, durch meinen Körper, durch mein Hirn. Sehnsucht nach anderen Abenteuern habe ich hier nicht, es ist alles spannend genug. Vielleicht ist es auch diese unsichere Situation, die mein Verhältnis mit Pfeil so frisch erhält. Manchmal ist es mir, als wäre ich eben erst hergekommen. Da war ich noch nie, so eine lose Heimat habe ich noch nie gefunden. Ich habe sie immer gehabt, dieser Freiraum [556] war immer vorhanden, nur konnte ich ihn nie so ungehindert begehen. Ich schaue wieder hinüber zum See. Von hier aus kann man nur eine kleine spiegelnde Ecke davon sehen und die Sandfläche davor. Kürzlich habe ich am Ufer mit einem größeren Mädchen gesprochen. Ich erinnere mich noch genau an ihr großflächiges, sommersprossiges Gesicht. Fast übergroß hat sie auf mich gewirkt, weil ich täglich mit Kleineren Umgang habe, auch ihre Hände und ihr Körper waren groß, allerdings nicht dicklich, weich war sie und auch nicht unkindlich. Nicht daß sie das Gespräch mit Absicht auf diesen Punkt gebracht hätte, aber es kam heraus, daß sie sich mir gegenüber verpflichtet fühlte zu erklären, daß die erwachsen Gewordenen hier immer weggingen. Wenn einer zu alt wird, weiß er, was er zu tun hat, und wenn er es nicht wissen sollte, würde ihm das schon klargemacht. Das sei hier nun einmal so. Es gäbe ja noch andere Gruppen, und außerdem, meinte sie, wolle sich doch ein jeder auch draußen ausprobieren. Die Gruppen würden immer zusammen älter und lösten sich dann auf, wenn aber ein Teil der Gruppe zusammmenbleiben möchte, sei das deren Sache, es soll schon vorgekommen sein, aber da würden die Nachkommenden schon dafür sorgen, daß sie auszögen. Einmal soll eine kleine Restgruppe, die sich nicht auflösen wollte, auf Tod und Leben verjagt worden sein von den Jüngeren. Es klang wie eine Warnung aus dem Mund des Mädchens. Sie fügte noch an: «Hier ist das eben so, wer weiß, wie es woanders ist, es muß ja nicht überall so sein, viellleicht gibt es noch mehr Seen, an denen Kinder hausen.» Stolzes Auge hebt mich vom Holzstoß herunter. Sie ist stark. Ich bin nicht mager, habe trotz des reichlichen Essens aber auch kein Fett angesetzt, das ist hier in dieser urig gefähr-
lichen Lebenssituation kaum möglich. Ich wundere mich, wie Stinkender Bock das schaffft. «Ist nicht einmal ein kleines rothaariges Mädchen bei euch vorbeigekommen, mit einem Roßschwanz?» frage ich die Anführerin. «Nein, nicht daß ich wüßte. Vor dir ist ein Junge gekommen. Nach ihm kamen nur Größere zu den anderen Gruppen», überlegt sie: Stolzes Auge hat selbst ein unausgesprochenes Anliegen. Immer wenn sie mit sich selbst beschäftigt ist und sich an mich heranmacht, öffnet sie ihr blindes Auge voll. Sie macht das bei niemandem sonst, da läßt sie ihr linkes Auge halb geschlossen. Nur wenn sie sich intensiv mit [557] Reißender Muschel abgibt, öffnet sie es auch. Sie läßt ihren Arm auf meiner Schulter liegen, und wir schauen auf die flatternden Wäschestücke. Ich warte, ich veranlasse sie nicht zum Reden. «Ich bleibe noch», bringt sie kurz hervor, so als würde sie jetzt die Antwort auf eine lange vorher gestellte Frage geben. «Und du?» fragt sie dann,, während sie ihre Hand von meiner Schulter nimmt. Ihr gesundes Auge blickt klar, ich schaue hinein und antworte nicht. Ich denke an mein Geheimnis, das sich eben in mir gebildet hat, ich fühle mich gut in meinem Schweigen, aber ich bin auch wachsam. Stolzes Auge hat sich noch nie so eindeutig nach meinen Plänen erkundigt. Sie senkt ihr Auge wieder. Vielleicht ist es ihr gar nicht in erster Linie um diese Frage gegangen, denn sie kommt jetzt mit einem neuen Anliegen: «Hast du auch schon diese Berittenen gesichtet? Ich habe sie in den letzten Tagen von der Mauer aus einmal hinten an der Kellergasse beim Graben gesehen und einmal abseits des Hofs der Maulaffen. Fünf Mann waren es. Sie haben sich etwas außerhalb, zumindest am Rand unseres Geländes bewegt», sagt sie und legt den Finger auf ihren zugespitzten Mund. Dann stemmt sie ihre Arme energisch in die nackten Hüften und schaut finster vor sich hin. Gefährlich sieht sie aus in dieser Stellung, als Nackte noch mehr als in dem Overall. «Wir können solche Schnüffler nicht gebrauchen! Ich habe mich schon mit dem Anführer der Hirnspalter beraten, die haben sie noch nicht gesichtet. Auch Sanfter Falke glaubt, die Männer unabhängig von mir einmal bei der Jagd gehört zu haben, sehen konnnte er aber nichts. Die Hufspuren konnte er allerdings entdecken», sagt sie noch, bevor sie weggeht. Tapferer Pfeil drängt sich an mich und hält mich in der Mitte umschlungen. Er ist nie aufdringlich, aber er bemerkt immer, wenn ich mich zu lange mit anderen abgebe. Ich habe dieses Spiel schon öfter entdeckt, und es freut mich, es liegt ihm daran, daß ich seine Freundin bin. Es gelingt ihm jeden Tag, mich von neuem für seine Fröhlichkeit zu begeistern, die bei ihm nicht nur so darüber hinfliegt, er ist eine zwingende Natur, die mich ohne besondere Verführungskünste erregen kann. Seine Frische ist eine körperliche Eigenschaft. Es beweist sich unsere natürliche Zusammengehörigkeit jeden Tag, immer wieder sprüht der Funke auf, der uns füreinander in den [558] Bereich der wachsamen Sinnlichkeit lockt. Ich greife in sein Haar und wühle ein wenig drin. «Hast du Berittene beobachtet?» frage ich ihn. Er horcht auf. «Eigentlich nicht.» Wir greifen an die Wäsche, sie ist schon fast trocken. Im Rahmen des nun schon einmal ausgebrochenen Putzfimmels wird gleich das ganze Haus gereinigt. Es geschieht ja nicht oft. Alle arbeiten. Reißende Muschel schrubbt den Boden, Stolzes Auge dreht die Strohsäcke um, Sanfter Falke reinigt den Ofen und gerät mit Reißender Muschel in Streit, weil er Asche auf dem sauberen Boden verliert. Stinkender Bock macht sich an den Fensterscheiben zu schaffen. Nachdem aber eine lockere Scheibe herausgefallen ist und ein ganzer Flügel in den Angeln bricht, läßt er das lieber bleiben und wischt mit uns auf den
Wandbrettern herum. Es ist nicht leicht, weil überall Mais aufgelegt ist. Einige machen sich über das wenige Geschirr her. «Ein kleiner Trupp vom Nachbarhof nähert sich unserem Tor! Sie tragen den lachenden Mond vor sich her!» tönt es durch unseren Eifer. Wir gehen wieder in den Hof, legen Kleider und Schürze an und erwarten die sechs Boten unter den noch vereinzelt hängenden Wäschestücken. Sie halten den Mond hoch, daß ja keine Unklarheit auftreten kann über die Gesinnung ihres Anliegens. Ich spüre, daß die Gemüter ruhig atmen, aber zugleich bemerke ich an dem Verhalten meiner Gruppe, daß sie trotz allem angespannt und wachsam sind. Dem Vertrauen ist nie zu vertrauen, aber es besteht, das kann ich erkennen. Pfeil bleibt bei mir, und Reißende Muschel geht an die Seite von Stolzem Auge, alle haben einen Platz, man nimmt eine ungezwungene Stellung ein, eine Wachstellung, keine Kampfstellung. «Es ist wegen der Berittenen, die einige von uns in den letzten Tagen beobachtet haben», setzt einer der Knaben zu einer Erklärung an. Er ist dunkel und bullig, gar nicht viel größer als die Kinder unserer Gruppe, aber um drei oder vier Jahre älter. Er wirkt finster, etwas einfältig und grob, aber im Sprechen erweist er sich als vorsichtig und wach. Er ist ein sachlicher Mensch. Ich sehe für ihn eine gute Einsatzmöglichkeit in meiner aufkeimenden Gedankenverwaltung zu diesem Staat. «Fünf Mann sind es, sie streunen nahe an unserem Territorium herum. Sie tun an den Booten herum und essen von unseren Pflaumen. [559] Sie haben sonst noch nichts getan, aber ihr wißt, es genügt, daß sie uns ausspionieren!» Die anderen fünf Kinder treten näher an ihn heran, als wollten sie schon wieder gehen, aber er setzt noch hinzu, während er auf unsere Wäsche starrt: «Wir müssen jetzt wachsam sein, ja nicht allein angreifen, melden, wenn Vorkommnisse sind - keine Gruppenfehden jetzt -, zusammenhalten!» Dabei heben alle, auch die Unseren, die Arme, machen eine Faust und wippen einmal damit kräftig in die Luft. Ich kenne das noch nicht. Der fremde Junge starrt nun kurz auf mich wie vorhin auf die Wäsche. Während er mit seinen Begleitern wieder zum Tor geht, ruft ein Mädchen von ihnen noch zurück: «Bei Sonnenuntergang ist jeden Abend eine Versammlung für die Anführer und ihre Partner, wenn sie etwas zu melden haben. Unten beim Boot der Großen.» Der lachende Mond entfernt sich wieder, und ich wundere mich, wieso Stolzes Auge nichts von ihrer Beobachtung berichtet hat. Es scheint hier ohnehin alles mehr geregelt und organisiert zu sein, als ich es mir vorgestellt hatte. Stolzes Auge wird schon wissen, warum sie so handelt. «Waschen die nie ihre Wäsche?» frage ich unmutig, weil ich mich an den Blick erinnere, mit dem der Junge darauf gestarrt hat. «Keine Kommentare über die anderen», herrscht mich einer an, und ich bin sofort still, weil ich spüre, daß ich vielleicht etwas nicht verstehe. Ich möchte nicht mit einemmal alle gegen mich haben und zu den Berittenen gerechnet werden. Tapferer Pfeil zeigt über die Mauer, und wir sehen, daß die beiden Zeichen auf den Nachbarhöfen eingezogen werden. Wie verabredet erfolgt diese Veränderung auf den Dächern. In den nächsten Tagen sehe ich Stolzes Auge und auch andere öfter auf der Mauer am Ausguck, oder manchmal kommt einer vom Dach herunter und berichtet, daß nichts Verdächtiges zu sehen sei. Auch bei den abendlichen Treffen am See wird nichts Neues gemeldet. Wir warten geduldig auf Stolzes Auge und Reißende Muschel. Sie kommen immer bald zurück und sind sichtlich froh, wieder in ihrer Gemeinschaft zu sein. Pfeil und ich treiben uns nahe an unserer Hofmauer herum. Wir [560] haben da schon öfter Krauter gefunden, aus denen man schmackhaften Tee bereiten kann. Wir sehen eine
größere unbekannte Gestalt am Hauptweg des Dorfes. Pfeil spannt den Bogen. Er zielt, verharrt aber, wartet noch ab, bis die Figur sich nähert. Er kneift die Augen zusammen und läßt die Waffe wieder sinken: «Es ist ein Kind», bemerkt er. «Abwarten, wie es sich verhält», setzt er hinzu. Ich pflücke weiter im Gras herum, und Pfeil lehnt sich lässig an seinen Bogen. Es ist ein Junge, älter als Pfeil, etwa dreizehn Jahre. Er nähert sich uns zuversichtlich und locker. Er gefallt mir. «Der ist nicht für uns, der soll zu den Maulaffen», stellt Pfeil fest. Ich richte mich nun ebenfalls auf. Noch bevor der Neue zu einer Frage oder zu einem Gruß ansetzen kann, streckt Pfeil wortlos, mit wilden Augen, den Arm in die Richtung des Hofs der Maulaffen. Der Junge will zu einem Wort ansetzen, aber Pfeil macht seine Augen noch wilder und reißt seine Hand mit noch mehr Nachdruck in die Richtung, so daß der Junge seine Worte verschluckt und den gewiesenen Weg einschlägt. Er zuckt die Achseln, gibt sich aber nicht verwirrt. «Warum bist du denn so schroff zu ihm?» frage ich belustigt, aber auch ein wenig verblüfft. «Der soll sich nur daran gewöhnen. Der wird noch allerhand erleben, bevor er hierhergehört.» «Wieso, was haben sie denn bei den Maulaffen für eine Prüfung?» interessiere ich mich, während ich an einer der Blüten koste. «Meine Liebe, das zahlt sich aus. Zuerst kriegt er einmal drei Tage nichts zu essen. Nichts - überhaupt nichts. Er muß aber immer dabei sein, wenn die anderen essen, außerdem darf er zwei Nächte nicht schlafen und an den Tagen natürlich auch nicht. In der Nacht sorgen sie im Schichtdienst dafür. Am dritten Tag, falls er das überhaupt aushalten kann, muß er sich selbst eine Wunde am Arm zufügen, die genug Blut gibt, daß die Gruppe ihre Messerspitzen darin rot färben kann. Und dann wird er an eine Holzwand gestellt und jeder muß einmal sein Messer nach ihm werfen!» Ich schaue dem Jungen nach und lasse mein Kraut sinken. Er verschwindet gerade hinter einer Mauer beim Maulaffenhof. Ich sehe Tapferen Pfeil an, der alles so begeistert und lüstern geschildert hat, ich erkenne für einen Augenblick dieses Kampfflimmern in seinen Augen. Während ich das sehe, wandelt es sich aber sofort wieder in den fröhlichen Blick meines kleinen Freundes. Langsam wird mir klar, [561] daß Pfeil viele Augenblicke hat, und ich muß erkennen, daß ich alle an ihm liebe, daß ich auch von seiner brutalen Wildheit fasziniert bin. «Gar nichts essen?» sage ich, und in mir lächelt ein Licht auf, es zwinkert mir zu. «Trinken aber schon», setze ich hinzu. «Ja, trinken schon, einmal am Tag ein paar Schlucke», antwortet Pfeil. Dann bleibt er stehen und meint, den Blick in die Ferne gerichtet: «Na ja, so arg ist das auch nicht. Auch wir haben schon einmal längere Zeit fast gar nichts zum Essen gehabt. Die Felder haben damals wegen der Witterung nichts getragen, das passiert nicht oft. Wir haben eben nichts gegessen, wir haben das schon ausgehalten», lächelt er. An einem der nächsten Abende berichten Stolzes Auge und Reißende Muschel vom neuerlichen Auftauchen der Bande. «Es war in der Nacht. Das Pferd von Feuerndem Schrecken und der Hund der Maulaffen sind ganz unruhig geworden. Diese Arschgesichter haben sich am Vorratsschuppen der Maulaffen zu schaffen gemacht, sind aber dann wieder abgezogen», berichtet Reißende Muschel. «Wenn sie sich jetzt auch schon in der Nacht herumtreiben und an unsere Fressalien
heranmachen, ist das eine eindeutige Situation für uns», fügt Stolzes Auge hinzu und macht dann klar: «Wie jemand in unserem Bereich die Arschgesichter sieht, sofort Alarm schlagen - wir sammeln uns in Gruppen und greifen an! Klar -» Als Antwort schießen die Fäuste hoch und schlagen einmal in die Luft. «Allo Pan - Allo Pan!» ertönt es zweimal im Chor. Pfeil erklärt noch für mich: «Die Maulaffen sind die einzigen, die einen Vorratsschuppen außerhalb des Hofs haben. Sie besitzen das kleinste Haus und die meisten Vorräte. Sie lagern sogar etwas Weizen und Roggen, außerdem viel getrocknetes Obst. Einige sind dort in der Gruppe, die sich gut mit der Landwirtschaft auskennen, die machen das auch gern und regelmäßig. Bei denen gedeiht alles herrlich. Ich kann dir sagen, da war ein Mädchen bei denen, die hat mir öfter soo große Äpfel geschenkt.» Er machte runde Augen und zeigt mit den Händen mindestens eine Melone. «Aber sie ist dann wieder gegangen. Die war geschickt, sie konnte auf einem Seil gehen und drei Überschläge hintereinander machen. Sie hat von einer Akrobatengruppe gehört, und die wollte sie aufsuchen.» [562] «Ich habe auch schon von Akrobaten gehört», sage ich, «ich habe einmal einen dieser Männer auf der Straße getroffen.» «Und - hat er dir was vorgezeigt?» «Nein, der konnte nichts mehr zeigen, der wollte nicht einmal mehr gut die Straße hinaufgehen», lache ich. «Vielleicht wäre es gegangen, wenn er es auf den Händen versucht hätte», sagt Pfeil und lutscht an einem Maiskolben herum. «Ja, an so was habe ich damals nicht gedacht, da hätte ich dich gebraucht.» Dann nehme ich ihm den Mais weg und nage selbst daran. Zwei weitere Sprossen zur Leiter der Schlafetage sind herausgebrochen. Wer geschickt ist, macht den Felgeaufschwung, und wer es nicht schafft, schläft unten oder wird per Räuberleiter hinaufbugsiert. Stinkender Bock wird von vieren gestemmt, die dann theatralisch am Boden zusammenbrechen. Ich gehe in den Schuppen, um dort Werkzeug und geeignetes Holz für die Reparatur zu suchen. Schon an der Tür zum Schuppen höre ich eine mir bekannte Stimme: «Du mußt die Beine weiter auseinander geben, sonst kann ich doch nicht ordentlich dazu. Bei dir fühlt sich das nicht so deutlich an, du mußt mehr mitgehen, daß ich spüren kann, wie du's willst!» Ich sehe in der Ecke des Schuppens auf einer alten zerrissenen Matratze eines der Mädchen liegen, welches damals so neugierig geguckt hat, als ich Pfeil das Schlecken beschrieben habe. Daneben hockt die andere und schaut konzentriert auf die Scheide, in die Tapferer Pfeil nun seine Ratschläge hineinspricht, anstatt sie einfach zu tun. Während dieses Bild in mich einschießt, erstarre ich in der Bewegung. Ich sollte weggehen, ohne daß sie von meiner Beobachtung wüßten, ich selbst sollte gehen und so tun, als hätte ich nichts gesehen, andererseits würde es ja überhaupt nichts ausmachen, ich könnte mein Werkzeug nehmen, oder ich könnte vielleicht sogar kleine unaufdringliche Ratschläge erteilen ... diese Gedanken gehen durch meinen Kopf, dann finde ich meine Bewegung wieder, atme wieder, ich nehme einen Hammer, der da liegt, und gehe schnell wieder hinaus. Ich habe weder Nägel noch Holz gefunden, ich weiß nicht, ob sie mich bemerkt haben. Ich verschiebe meine Arbeit an der Leiter, schlendere zum Holzstoß, stütze meine Ellbogen auf die Mauer und lege mein Kinn drauf, meine Fingerspitzen stehen angewinkelt an den Backen, die Zähne sind zusammengebissen. Ich spüre, wie sich [563] etwas auflöst, so als hätte ich nicht tief genug geatmet. Etwas schmilzt in mir, ganz von selbst, jetzt mit einemmal, obwohl ich in Gedanken über dieses haarfeine Gefühl noch ratlos bin. Die Erstarrung wandelt sich, jetzt merke ich erst den Druck, den sie ausgeübt haben muß. Ein
samtiges Gefühl steigt auf, ich löse meinen Biß der Zähne und hebe mein Gesicht. Ich fühle mich einsam wie ein Stern am Morgen. Es hat sich ergeben, daß ich Pfeil gesehen habe, wie er mit seiner eigenen Einsamkeit umgeht, ich achte das an ihm, er hilft mir, ohne es zu wissen, meine lastende Persönlichkeit noch mehr aufzulösen. Wir setzen uns zur Mahlzeit an den Ofen. Pfeil rückt an meine Seite. Er gibt mir eine Flade in die Hand und sieht mich dabei an. Ich bemerke es, er weiß - er weiß ... Er rückt nahe an meinen Körper und legt kurz seinen Kopf an meine Schulter, dann sagt er leise: «Ich wollte es auch ausprobieren, wie das bei einer anderen wirkt.» Er spricht wahr, ich fühle das, und in dieser Wahrheit leuchtet unser Verhältnis wie ein Zwillingsstern in seinen hellen Augen, jedes einsam für sich, beide in einem Gesicht. Nach dem Essen repariere ich, meinem Vorhaben getreu, noch die Leiter. Bevor ich das letzte Stück einsetze, steigt mir auf einmal wie im Halten der Bewegung vor dem letzten Schlag ganz unerwartet mit außerordentlicher Bildkraft ein Gedanke auf, ich kann ihn genau vor mir sehen und stehe da, den Hammer in der Hand, den Arm auf eine Sprosse gestützt, das Holz zwischen den Fingern - dieses System der Sicherheit, die Einführung eines Friedens im Kinderstaat ist hirnverbrannt. Ich muß völlig vorbeigesehen haben an der eigentlichen Funktion dieser Gemeinschaft. Ein kleinlicher, ängstlicher Wunsch, eine bloß ausgedachte Position nicht zu verlieren, muß das gewesen sein, was mir die Sucht nach Ordnung und Regelung aufgeworfen hat. Ich würde alles umbringen und selbst davon zerschlagen werden. Eine intellektuelle Konstruktion wäre ein Zwang, unter dem der Funke Leben verglimmen müßte. Und zwar genau dann, wenn es äußerlich funktionierte, so weit, daß man glauben könnte, der Zwang wäre der gute Kern. Aber diese Zivilisation müßte dann Dinge hervorbringen, scheinbar ohne Zusammenhang mit der Unterdrückung der Ursprünglichkeit, die als Technik Waffen und Geräte bauen würde, welche ihre eigenen Schöpfer ohne deren Willen umbrächte. [564] Kein Kampf zwischen Menschen, wo sie doch Tiere sind? Die Natur ist ein Kampf und zugleich seine Lösung - zu einem neuerlichen Kampf und seiner Lösung. Diese Ordnung werde ich nie zwingen können in die Ordnung der Vernunft, weil diese nicht dem Leben entspricht. Das allerblödeste aber wäre, den Kampf nun als eine logische Überordnung, als ein menschliches Auslesesystem zu sehen. Er bedeutet nichts, wenn man ihn aber einspannnt, wird er zu etwas anderem, da wird dann aus «dem Kampf» - «mein Kampf». Chaos ist die ursprünglichste Denkstruktur unter der Ordnung. Jeder mutwillig übervernünftige Schritt wäre eine Gewalttat. Wir würden uns in der Natur fremd, was wir an ihr verlieren, könnten wir nie wieder künstlich herstellen, sondern wir würden uns bloß künstliches Leiden schaffen, an dem man sich selbst langsam ständig und qualvoll tötet. Mit dem natürlichen Leiden kann man leben, es löst, es ist beweglich, mit dem kann man umgehen und auch sterben, es erspart nichts, es ist nichts, es darf nichts bedeuten. Ich drücke das letzte Stück ein und prüfe den Sitz der Sprosse. Im Morgengrauen fährt ein gellender Schrei auf. Der Ton verwandelt sich, während er noch in der Luft steht, unmittelbar in unsere Bewegung. Drei weitere Schreie folgen, kurz aufeinander im Stakkatoton, noch einmal lauter und voller, als würden es mehrere Stimmen sein. Bevor der letzte Warnschrei ausklingt, haben alle die bereit liegenden Waffen umgenommen und beziehen Stellung an der Mauer. Der Hund bellt wütend am Platz. Noch bevor ich die Szene klar ausnehmen kann, verstummt das Bellen. Meine Augen sind so weit an die Dämmerung gewöhnt, daß ich einen Mann auf einem Pferd sehe, der die Maulaffen hinter ihrer Mauer mit einem geschwungenen Knüppel in Schach hält, während vier Männer versuchen, die Scheunentür einzutreten. Der erschlagene Hund liegt zwischen dem Hof und dem Mann. Die Scheune ist etwa fünfzig Schritte vom Hof entfernt. Ein Pfeil flirrt auf und bleibt über den vier Männern, die es gerade geschafft haben, in die Scheune einzu-
dringen, vibrierend im Holz stecken. Die vier Pferde, welche beim Schuppen angehängt sind, bäumen sich auf und schnauben. Ein Stein schlägt dem einen auf dem Pferd an die linke Schulter. Der kleine Krieger, welcher den Wurf aus der Schleuder abgegeben hat, taucht mit dem Kopf hoch, wie im Ausschwingen der Anspannung. Der Mann fährt sich an die Schulter. Indem er den Arm hochnimmt, wirft er eine kleine Axt ab. Der Kopf [565] des Kindes reißt getroffen zurück. Wieder ertönen diese drei lauten Stakkatosignale, ein Pfeil flitzt über die Mauer und bohrt sich im Absinken in den Hals des Reiters. Noch während er stürzt, beobachte ich, wie die Großen, deren Hof neben dem der Maulaffen liegt, geduckt aus ihrem Tor schleichen, flink und lautlos wie die Tiere hinten herumrennen und den Eindringlingen den Weg zum Gatter absperren. Die Diebe haben bemerkt, daß die Sache nicht so ungefährlich ist, wie sie vielleicht angenommen hatten. Es sind große bärtige Männer, breitschultrig und mit dunklem Leder grob bekleidet. Sie tragen jeder Messer im Gürtel, eine lange eisenbeschlagene Keule und auch kurze Äxte hängen am Sattel. Nun schleppen sie einige Säcke an den Eingang der Scheune, ergreifen ihre Waffen und nehmen Deckung hinter dem Holztor. Sie scheinen zu beraten, wie sie aus dieser mißlichen Lage mit heiler Haut entkommen könnten. Dann treten sie die Säcke aus dem Weg, sie sind ihnen mit einemmal nicht mehr so wichtig. Ich greife nach dem Beil, das ich bekommen habe, fasse es fester. Die Kinder stehen unbeweglich da, gespannt und bereit, sofort zu agieren. Stolzes Auge faucht uns an: «Stillhalten, bis wir an der Reihe sind. Nur wenn sie hier vorbeiwollen, schießen wir!» Ich sehe die Gesichter der Krieger neben mir, die Entschlossenheit der Kämpfer, ihre Atmung geht regelmäßig und leise in der Nacht. Wie ein Stein trifft es mich, was mir noch nie so klargewesen ist, in welchem Raum ich mich unter diesen wilden Kindern befinde. Wie nie zuvor sehe ich, daß sie ohne Umschweife entschlossen sind, Erwachsene umzubringen, die in ihren Bereich treten. Ohne Frage und ohne Skrupel. Ich greife wieder an mein Beil und stehe gespannt. Rauhe Schreie. Die Feinde haben sich zu einer überstürzten Flucht entschlossen. Sie rennen zu ihren Pferden und schwingen sich hinauf. Noch im Aufsteigen saust ein Pfeil einem der Rosse tief in den Bauch, es bäumt sich hoch, wirft den Reiter wieder ab, schlägt dann mächtig auf den Boden auf, der Tierkörper erbebt in einem wiehernden Heulen. Der Abgeworfene springt zu dem Pferd des vorhin Getroffenen, wirft sich hinauf und folgt mit wildem Reißen an dem ihm fremden Roß den anderen, die eben jetzt auf die gestaffelte Meute der Ältesten treffen. Wildes Geschrei erhebt sich, die Großen brechen todesmutig vor, [566] sie schießen dabei einen Pfeil nach dem anderen ab. Ein Hieb mit der Keule verletzt ein kräftiges Mädchen an der Seite. Sie bleibt gekrümmt liegen. Das getroffene Pferd hebt sich noch einmal auf und röchelt. Die Männer haben verstanden, daß sie dort keinen Ausweg haben, sie reißen ihre Pferde herum und reiten in unsere Richtung. Wir fassen unseren Mut zusammen, mir liegt eine Atemnot in der Brust, ich fange noch einen entschlossenen Blick von Tapferem Pfeil auf. Einen der Männer trifft es im wilden Ritt, so als sei diese Kraft der Ritt selbst, dringt ein Pfeil in seine Brust ein, und er trägt ihn mit. Der Getroffene bleibt erst auf dem Pferd sitzen, aufrecht in der Waage, dann wankend im Lauf, sinkt er auf eine Seite, hängt dann hinunter in einem Bügel und schleift an der Seite des Tiers mit. Stolzes Auge schickt den nächsten Pfeil ab, sicher und ruhig. Die drei Räuber halten ein, so rasch es ihnen ihr Ritt erlaubt, sie sind eingekreist. Auf der einen Seite läuft der Holzzaun mit den ältesten Kämpfern davor, dort wäre der Weg zum See. Hinter ihnen liegen die drei Höfe. Die schmale Gasse an der Scheune, wo sie eingedrungen sind, ist jetzt auch schon durch ein hohes Tor verschlossen. Sie reißen ratlos herum, schwingen wütend ihre Waffen, sammeln sich wieder. Die Pferde bäumen sich auf, der Tote hängt noch immer
an dem einen. Für einen Augenblick denke ich: Lassen wir sie doch hinaus, sollen sie doch rennen, sie haben ohnehin nichts stehlen können. Aber das wird hier nicht gespielt. Hier setzt man das Leben ein, hier geht es einfach darum, die Erwachsenen umzubringen, damit die Kinder leben können. «Jetzt nicht schießen!» befiehlt Stolzes Auge, wobei sie den Bogen stark gespannt hält. «Asso - Assa - Assu!» «Hamm - Tatt!» Die kurzen Schreie ertönen abwechselnd über das ratlose Kreisen der Bärtigen auf dem kleinen Platz hinweg. Wild heulen diese Stimmen auf und erschrecken die Feinde. Ein schwarzhaariger, derber Geselle reitet nun zu unserer Mauer her. Er hat die Keule hoch erhoben und drischt sie brutal auf die vordersten Kämpfer nieder. Instinktiv zucken wir zurück, aber Sanfter Falke bleibt oben und schießt scharf einen Pfeil ab, gerade in den Brustkorb des Mannes, der dicht vor ihm zuschlägt. Neben Stolzem [567] Auge fällt der Schütze mit einem eingeschlagenen Schädeldach vom Holzstoß herunter, während der Pfeil, den er noch abgegeben hat, den Reiter vom Pferd reißt. Einer von uns gibt jetzt noch einen ab, der knapp an dem nächsten Herankommenden vorbeiwischt, dann schwirren noch mehr Pfeile auf. Die Wilden neben mir halten die Deckung nicht mehr, sie stehen weit über die Mauer gebeugt und schreien: «Allo Pan - Allo Pan!» Das wispernde Mädchen sinkt zum Sanften Falken hinunter, ein Messer steckt ihr mittten im Auge. Ich ziehe meine Hand wie zufällig zurück, da pfeift ein Beil dicht an mir vorbei und knallt an unseren Schuppen. Ein Pfeil ritzt ein Pferd am Hals, schlitzt ihm das Fell auf. Es reißt herum und rennt im Kreis. Auf einmal kommt ein zügig entschlossener Galopp vom Hof der Großen her. Ich sehe noch einen Pfeil in den Unterarm eines Eindringlings sausen, der bleibt ächzend oben sitzen, und heranprescht - unter dem langsamen Verstummen der Rufe - Feuernder Schrecken auf seinem Roß. Mit wildentschlossenem Gesicht sprengt er heran, auf die zwei Reiter zu, winkt ihnen mit dem Arm und ruft: «Kommt mit! Wenn ihr leben wollt!» Ob sie so schnell reagieren oder ob die Pferde dem gezügelten Roß, das nun im Trab dem Ausweg zustrebt, instinkthaft folgen - jedenfalls verschwinden die drei Reiter durch das Tor, das Flammender Schrecken ihnen vorher geöffnet haben muß, in die enge Gasse. Ich höre noch die Hufe schlagen, während der Morgen anbricht. Wir nehmen unsere beiden Toten auf und legen sie nebeneinander vor unser Haus. «Am Abend begraben wir sie alle zusammen beim Feuerplatz», sagt Stolzes Auge den Brauch und legt ihre Waffen ab. Tapferer Pfeil steht neben mir, ich fasse ihn nicht an, ich empfinde etwas wie ehrfürchtigen Abstand vor seiner Anwesenheit, weil ich weiß, daß er jetzt genausogut tot sein könnte. «Glaubst du, sollen wir auch ein paar von den Fladen mit hinausnehmen? Wir könnten sie vorher schon kneten und draußen backen», wendet sich Reißende Muschel unschlüsssig an mich. Ich zucke die Achseln. Ein Trommelschlag ertönt im Schuppen. Das Instrument ist verstaubt, die Bespannung ist viel zu locker, sie hängt durch. Stolzes Auge müht sich damit ab, den Ton wieder heller zu treiben. [568] «Gib her», sage ich. «Ja, mach du das, wir brauchen sie heute», antwortet Stolzes Auge erregt und fügt schon im Hinausgehen hinzu: «Wir müssen auch noch den Mond am Dach montieren.»
«Da bist du ja, ich muß dich noch bemalen», sagt Pfeil geschäftig und will gleich damit anfangen, während ich noch das Instrument repariere. Eine Trommel klingt vom See her, noch eine, ich halte die eben erst ausgebesserte zwischen den Knien und höre das dumpfe, stetige Locken im Schlag. Ich trete an die Mauer, die Finger leicht an der Spannung der festen Haut bewegend. Die Großen schleppen Holz an den See, die Maulaffen tragen eine Kiste mit Obst aus diesem Schuppen, um den es heute gegangen ist. Eine Flöte trillert auf, jemand von den Hirnspaltern spielt in hellen, lustigen Tönen. Auf unserem Dach knackt es, ein Mond wird am Rauchfang befestigt. Ich trommle leise an mein Instrument, ich fühle mich bereits angesteckt von dem Treiben. Ich spüre schon, heute ist nicht wie jeder Tag, das Heute hat ein Ziel. «Komm, faß mit an!» mahnt mich Stinkender Bock und nimmt den Sanften Falken an den Beinen. Ich reagiere langsam. Pfeil packt statt mir die Schultern vom toten Falken, und ich nehme allein die tote Wispernde über. Das Messer hat Bock schon herausgezogen. Sie ist nicht schwer. Wir marschieren hinaus, dorthin, wo eine große Grube ausgehoben wird. Auf allen Dächern stehen jetzt die lachenden Monde. Eine Glocke schwingt und schlägt zweimal an und hallt lange nach. Zu einer festlichen Zeit? Ich jedenfalls bin wachsam und etwas mißtrauisch dem Treiben gegenüber. Ich muß die Tote noch einmal auf die andere Schulter legen. Auch die anderen tragen ihre Toten zu der Grube. «Bring du auch deine Flöte mit, okay?» wendet sich einer der Großen an mich. Ich bin erstaunt und antworte nicht, keine der anderen Gruppen hat sich jemals um mein Flötenspiel gekümmert, woher die überhaupt davon wissen? Die Sonne sinkt schon. Wir sollen wieder zurücklaufen, drängt Pfeil, weil wir noch die Malaktion vor uns haben. Die Trommelschläge takten leise und stetig dazu. Zwei Kinder, die in den Booten sitzen, geben ohne Unterlaß diesen Rhythmus der gemeinsamen Bewegung, die das kleine Dorf erregt. [569] Pfeil tanzt um mich herum, und Stinkender Bock stampft in den Boden, mich macht das etwas nervös, wenngleich ich auch lachen muß über die Quirligkeit meiner Freunde. Einige Kinder schleppen die drei toten Feinde an den See, dort, wo das Holz aufgeschichtet wird. Sie ziehen ihnen die Kleider von den Leibern. Ein Junge probiert ein Paar Stiefel, sie sind ihm viel zu groß, aber er stolziert damit durch den Sand. Wieder zu Hause, muß ich mich auf den Boden legen, und Pfeil zieht bedächtig Farblinien über mein Gesicht, Reißende Muschel steckt mir eine Feder in das Stirnband. Auch die anderen schmücken und bemalen einander. Pfeil macht seine Arbeit sorgfältig und bedacht, nun ganz ohne diese Aufgewühltheit, so daß ich mich unter seinen geschikkten Händen beruhige. Er arbeitet sorgfältig an mir, wie sonst an seinem Schnitzwerk, er folgt meinem Antlitz, er will es nicht verändern, er gibt ihm nach und zeichnet es aus, nach seinem Gefühl, das er für mich empfindet, er bildet sich selbst ab in mein Gesicht. Er macht das mit einer Andacht, die mich rührt und mich seine Anerkennung spüren läßt. Ich spüre seine Arbeit wie ein Streicheln auf meiner Seele, er kann das. Und mitten in diese liebevolle Berührung hinein, mitten in einer Zeichenführung auf meiner Stirn unter dem Band mit der Sonnenblume, überkommt mich, wie alle Farben zugleich ausgeschüttet, die grausame Vision eines Mißtrauens zu dieser festlichen Stimmung. Es muß die ganze Zeit schon in mir gearbeitet haben, jetzt erst trifft es mich, fährt mir ins Hirn, wo ich so ruhig daliege unter dieser liebevollen Hand, die sich mit einemmal in meinen Sinnen zu einer teuflischen Pfote verwandelt. In einer einzigen Wendung der Lage denke ich, daß meine ganze Zeit hier eine kurzfristige Verblendung gewesen sein könnte, nur ein kurzes Auflachen in der Kammer vor der Hölle. Alles ist anders, alles muß ich neu betrachten, jetzt wird es vorbereitet, jetzt wollen sie mich verbraten, wie sie es die ganze Zeit schon vorhatten, sie haben sich nur ein genüßliches Spiel daraus gemacht, mich aufzusparen, jetzt ist es Zeit geworden.
Ich liege nach wie vor unter Pfeils Händen, ich bin starr in meinen Gedanken, die sich fortwährend drehen, ich zucke mit keiner Wimper, mein ganzes Leben dreht sich um seine Achse, ich bin ruhig wie ein Stein. Pfeil sagt allerdings etwas irritiert: «He, was ist?» und malt dann weiter. Daß er das bemerken kann, [570] fühlen kann? Er weiß alles, er hat immer alles gewußt, er kommt in diesem teuflischen Spiel der Verwirrung als der pfiffigste von den Geistern der Hölle hervor, alle sind dämonenhaft, in diesem Licht gesehen. Alle Zuwendung und Anerkennung, die mir entgegengebracht worden sind, nehmen eine elende Fratze an. Das Haus erhebt sich über mir zu einem geisterhaften Hohlraum. «So, fertig!» jubelt Pfeil, und ich setze mich auf wie in einem gewichtigen, aber zugleich schwerelosen Schwappen einer Gehirnwoge. In mir sitzt das Gewicht der Furcht, ich schaue um mich, wie technisch aufgezogen, wie starr und zugleich beweglich, bloß durch ein inneres Kommando gesteuert. «So, jetzt mußt du mich noch anmalen!» ruft Pfeil und legt sich neben mich. Ich nehme wie ein automatischer Stahlarm die Farben an mich. Sollten die das hier gar nicht wissen, was ich bemerke? Sollten die hier meinen Eintritt in eine neue Ebene nicht mitvollziehen, das müßten sie eigentlich können, wenn sie wären, wofür ich sie halte. Ich führe meinen Finger über Pfeils Gesicht, langsam rinnt wieder etwas von meinem warmen Blut in meine erstarrte Hand, auch ins Hirn steigt wieder ein wenig Wärme, in meine Sinne drängt sich ein Auflachen, eines von den vertrauten alten Gefühlen, daß ich vielleicht bloß spinne und das Spiel nicht so grausam ist, wie es mir erscheint, daß vielleicht etwas Wahres daran ist, aber daß die Grausamkeit des Schicksals doch nicht mit dieser Ausschließlichkeit auf mich zielt. Ich wärme mich an diesem Empfinden und staune, wie sich so viele verschiedene Gedanken in meinem Hirn zu einer lebensfähigen Einheit verbinden können, nebeneinander bestehen, ohne einander auszuschließen. Mein Körper funktioniert klar, möglicherweise noch viel ruhiger, konzentrierter und wacher als vordem. Etwas ist in mir geschehen, aber ich leide eigentlich nicht darunter, ich bin wie zuvor meiner Sinne mächtig. Meine Träume bestehen aus diesem Material, mein Tod besteht daraus. Mit meiner Hand ziehe ich Linien über Pfeils helles Antlitz, über dieses Gesicht, welches Gewalt und Sanftheit, Haß und Liebe in einer einzigen noch unausgebildeten Lachfalte gesammelt hat, zu einem Wesen, zu einem Lachen, zu einer Liebe, zu jedem Mord und zu aller Fröhlichkeit der Welt. Ich habe mich in meine innere Bewegung hineingelebt, ich finde mich da zurecht und atme dabei tief und ruhig, aber dieses Licht der Endgültigkeit hebt sich nicht mehr von mir, ich selbst strahle es aus. [571] Ich bin bereit zu allen Wahrheiten, die mir begegnen werden, auch wenn sie mir den Tod bescheren, sie werden es, dessen bin ich sicher, nur wann und wie, das weiß ich nicht, aber damit kann ich leben. Wenn die Kinder meine Mörder sind - damit kann ich leben und damit kann ich lieben. «Fertig!» Ich streiche noch einmal an der Wange etwas in die Breite, verwische eine Linie zu einer Fläche und begutachte mein Bild. So wollte ich es. Das ist Pfeil, Ein Schrecken der Liebe, ein Teufel voll Inbrunst, ein Kind, ein Gespenst, ein Mensch. Ich muß besonders schön gemalt haben, die Kinder staunen über ihren Kameraden. Ich sehe nach der Sonne, sie versinkt langsam. Die Trommeln halten noch immer den Rhythmus. Sie schlagen wie aus meinem eigenen Hirn, ich nehme eine Trommel auf und beginne selbst einzukehren in einen regelmäßigen Schlag. Reißende Muschel steckt mir die Flöte zu. Ich denke, daß sie das doch nicht tun würde, wenn sie mich jetzt braten wollten, da würde doch die Pfeife mitverbrennen, und Reißende Muschel hat sie doch gern, das
wäre doch unklug von ihr, und ich kenne diese Kinder nicht als dumm in diesen Belangen. Wieder verwische ich meine Gedanken. Ich fühle mich beinahe fröhlich, als wir alle mit den Sachen bepackt dem See zuwandern. Von allen Höfen kommen die Kinder mit brennenden Fackeln, Decken tragen sie auch mit. Blumenkränze schmücken viele Köpfe, alle sind entweder bemalt oder irgendwie herausgesputzt. Ich gehe voran, die Finger an der Trommel. Hinter mir die anderen. Reißende Muschel hat einige Fladen mit, und Getränke werden in Krügen auf dem Kopf getragen. Ich gehe voran, gerade ich, aber die Kleinen wollen das sogar so, und die Kinder der anderen Gruppen sind meiner Stellung anscheinend wohlgesinnt. Heute sind überhaupt alle wohlgesinnt. Ich könnte nicht sagen, daß dieses Spiel nicht angenehm und locker vor sich geht, ich vibriere in meinem Trommelschlag und dränge das Mißtrauen aus meinem Hirnfeld. Es löst sich, aber ich vergesse nicht, daß es wiederkommen kann. Pfeil bleibt nahe bei mir, er gefällt mir, ich habe in seiner Bemalung ausgedrückt, was ich an ihm fühle, ich konnte es für mich sichtbar werden lassen, weil er so still gehalten hat, weil ich an meiner Erschütterung nicht vorbeigegangen bin. [572] Das Holz ist hoch aufgeschichtet. Das Grab ist geschaufelt. Die toten Freunde liegen da. Sanfter Falke, das flüsternde Mädchen, der Hund, ein großes Mädchen und zwei Jungen. Die Gruppe der Hirnspalter singt eine gleichmäßige, eindringliche Melodie, sie sind mit besonders vielen Instrumenten ausgerüstet, Glocken, Holzstäben, die sie aneinanderschlagen, Dosen, auf die sie hämmern und rasseln, Ratschen, die sie drehen. Sie haben viele Fackeln angezündet. Wie eine Prozession wandern sie von ihrem Hof herüber zum Feuerplatz. Wir gruppieren uns um den großen Holzhaufen. Eines der fremden Kinder steckt mir eine prächtige Feder in mein Stirnband zu der anderen dazu. Der Rhythmus des Trommelns ist nicht mehr verhalten, sondern bereits ein wechselhaftes Schlagen geworden, welches von drei Kindern bestimmt wird, die einander versunken zutrommeln. Pfeil klatscht in die Hände und schlägt seinen eigenen Rhythmus. Der Gesang der Hirnspalter wird von melodischen Rufen der anderen Gruppen aufgenommen, klingt über dem Scheiterhaufen, eine Bewegung zueinander kommt auf. Wir verfallen in einen inneren Schlag, stampfen den Sand und regen die Körper in der Musik. Sind die Kinder einer Macht entkommen, eine eigene Macht geworden? Selbst jetzt denke ich noch über diese Kobolde auf meinem Wanderweg, als wäre ich nicht lange ein Teil von ihnen, so als gäbe es noch einen Gedanken nach all den vielen. Ein Fleisch gewordener Gedanke - ich für mich, unter der sinkenden Sonne - im Takt der Kinder - ein Gebot des Augenblicks - ein zwingender Rhythmus der Vereinigung von wechselnden Ängsten und Bildern, von meiner eigenen Lust an der Bewegung getrieben, wie Pfeil, der abwechselnd sein Gesicht hebt und wieder senkt, seine Arme dem Himmel zustreckt und sie wieder fallen läßt. Sein Gesicht flammt mir bunt entgegen und taucht wieder unter den Haarschopf, ein ständiger Wechsel in der tanzenden Vision. Plötzlich springt ein Mädchen auf den Holzhaufen, eine brennende Fackel in der Hand, sie hält sie hoch gegen den Himmel, die Instrumente verstummen, die Sänger und Tänzer stehen still, das Mädchen zieht einen langsamen, weiten Kreis mit der Flamme über den dunklen Himmel. Dann wirft sie die Fackel mit Wucht unten an den Holzstoß und springt herunter. Es beginnt zu krachen und zu leben in dem Stoß, die Flammen greifen im Flug über, zischen auf und branden einander zu wie wilde [573] rotgelbe Wasser, die Glut flirrt auf und erleuchtet diesen Platz am See. Die Wärme vibriert und leckt über den Sand. Der Hund und die Toten werden in die Grube etwas oberhalb geworfen. Die Erde kommt wieder darüber. Die Totengräber sind flink und geschickt. Dann hocken wir uns um das Feuer herum. Ein Junge und ein Mädchen, es sind die zwei, welche die Zeremonie am Pfahl angeführt haben, machen sich mit großen Messern über die drei ausgezogenen Räuber her. Als der Junge den ersten Toten berührt, erhebt noch einmal jede Gruppe ihren
Kampfschrei, die Fäuste fahren in die Luft, und dann schneidet der Junge zu. Erst trennt er den Kopf ab. «Der wird gekocht und blank gemacht», flüstert mir Pfeil zu. Dann zieht er die Klinge durch die Teile, die besonders fleischig aussehen. Er weiß da Bescheid, ich sehe, der macht das nicht zum erstenmal. Pfeil rückt wieder an mich heran, sein Gesicht glüht in Eifer unter der Bemalung. Auch das Mädchen macht sich ans Werk. Die anderen sind still, kein Lied und kein Instrument tönt, aber die erste Anspannung läßt bald nach, man ist daran gewöhnt, daß hier die Leichen angeschnitten werden. Ich sehe mit gemischten Gefühlen, wie sie in die Rückenpartien, auch die Hinterseite und vor allem die Schenkel schneiden und das Fleisch geschickt herauslösen. Es ist eigentlich kein sehr blutiger Akt, die Toten müssen vorher ausgeblutet worden sein. Die beiden Fleischer schneiden auch besondere Stücke, die Leber und das Herz heraus. Ob sie mein Hirn essen würden, wenn sie auch mich drannähmen? Ich habe diese Möglichkeit nicht vergessen, aber ich lebe damit, und ich merke, daß es mein Verhältnis zu den Kindern nicht zu ändern imstande ist. Die natürliche, unbekümmerte, völlig unverkleidete Art der Begegnung ist durch keine Gedanken zu erschüttern. Sie muß aus Erde gemacht sein. Ich fühle, alles, was kommt, und wenn es noch so unbegreifbar ist, kann nur stimmen. Diese Erkenntnis ist es, die mich erregt, die ich in solcher endgültigen Schwerelosigkeit noch nicht kannte. Es ist nicht mehr ein mögliches Flammenschicksal, das mich erschreckt. Das könnte mein Los sein, als erwachsenes Wesen aufgefressen zu werden. Ich bemerke den Jungen wieder unter den Maulaffen, der erst unlängst hier angekommmen ist, er sieht gut aus, er fühlt sich hier zu Hause, er muß alles überstanden haben. Das Mädchen ist mit dem Auslösen fertig. Zwei Jungen schmeißen die Reste zur Seite, wo sich die Hunde gierig darüber hermachen. Die [574] anderen Fleischteile werden fein säuberlich gespießt und zu den Fladen geklemmt. Das meiste Fleisch, das da zubereitet wird, stammt allerdings von dem Pferd, welches schon vorher zerlegt worden sein muß. Ein großes Rost ist aufgestellt, auf dem die Speisen langsam braten können. Ein Krug Most geht herum. Heute trinken alle aus einem Krug, heute macht er die große Runde, heute sind die lachenden Monde am Dach. Ich schaue auf die dunklen Häuser zurück, sie sind kaum noch zu sehen in der Finsternis. Sie wachen hinter uns wie heimelige Fuchsbaue. Diese Menschen sind zugänglich, es ist einfach, mit ihnen umzugehen, nur darf ich nie vergessen, daß sie auch bereit sind, mich umzubringen. Wenn sie sich hier auf mich stürzten, ich hätte keine Chance, mich zu wehren. Ich darf nie vergessen, daß ich kein Kind bin, oder vielleicht ist diese Annahme nicht wahr, vielleicht liegt das Mißverständnis bei mir. Ich greife unauffällig an meinem Körper hinunter, so als könnte ich das Kindsein fühlen. Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Mit den Räubern habe ich mich nicht sehr verwandt gefühlt. Die Fleischteile sind schon schön angeröstet. Es sieht eigentlich recht appetitlich aus. Ein Junge probiert, ob das Fleisch schon durch ist. Viel ist es. Sie haben es auch mit Kräuterwürze eingerieben. Einige Stücke sind schon fertig. Pfeil bringt einen gespießten Bissen. Wir nagen daran herum. Ich glaube, es muß ein Stück Menschenschinken sein. Unsere Gesichter kommen einander ganz nahe über dem Fleischstück. Wir lachen einander in die Augen. Pfeil strahlt hell aus seinem bunten Teufelsgesicht heraus. Eine Welle von Frohsinn springt auf mich über. Seine weißen Zähne beißen zu, meine tun dasselbe. Es schmeckt außen angebrannt, innen ziemlich fade, aber saftig und abolut nicht ungenießbar. «Das letzte war besser!» stellt Pfeil unterm Kauen sachlich fest und fügt schluckend hinzu: «Vielleicht weil es eine Frau war.» Ich drücke meinen Bissen hinunter, und noch einmal kommen sich unsere Gesichter so nahe beim Abbeißen. Pfeil stupst mich mit seiner Nase an. Er rückt ganz nahe an meinen Körper und faßt mich an den Händen. Sie sind warm und fettig, es sind diese lieben, kleinen, starken Hände, die ich so oft auf meinem Körper gespürt habe. Ich zweifle nicht einen Augenblick daran, daß Pfeil mich essen könn-
nte. Auch ich würde mich essen. [575] Ich habe den Eindruck, daß auch die anderen die Sache sowohl als symbolischen Akt wie auch als Sättigungsmöglichkeit auffassen. Nachher essen wir von dem Pferdefleisch. Wenn sonst Tiere erlegt wurden, gab es immer nur ein kleines Stück für jeden. Heute ist für alle viel Fleisch da. Von der Gruppe der Maulaffen fliegt mir ein riesiger angebratener Apfel zu. Ich fange ihn geschickt auf. «Siehst du!» meint Pfeil und macht diese riesenhafte Handbewegung. Er ist wirklich sehr groß, der Apfel, und er riecht köstlich. Ein paar kleinere Früchte liegen jetzt auch auf dem Rost zum Braten. Sie machen einen herrlichen Duft über dem Feuerplatz. Ich freue mich über die Aufmerksamkeit der anderen. Sollten die wirklich nichts gegen mich haben? Es ist aber doch bedenklich, daß sie mich so beachten. Ich esse den Apfel und teile mit meinem kleinen Freund. Der Saft rinnt uns über das Kinn. Die Farben zerrinnen unter dem Mund. Wir nehmen einen ordentlichen Schluck Most aus einem der Krüge. Es wird Holz nachgeworfen, die Flammen rauschen noch einmal auf. Wieder erklingt Musik. Ich bleibe mit meinem Blick im Feuer. Ich versuche die Erinnerung nachzuvollziehen: Ich bin gelegen, und Pfeil hat mein Gesicht bemalt, ich fühlte mich so ruhig unter seiner Hand. Noch immer kann alles geschehen. Warum sollten die bei mir, gerade bei mir eine Ausnahme machen, aber auch die ist möglich. Hier herrscht Wildheit auf allen Ebenen. Hier lebt das Chaos mit allen Konsequenzen. Hier herrscht das Chaos als Funktion. Ich begreife - es muß nicht so eine einfache Lösung wie der Flammentod sein, den das Gesetz der Kinder für mich vorgesehen hat. Sollte mein inneres Gesetz vielleicht noch stärker sein als das der Wilden? Ich habe mich von der Idee, sie zu befrieden und zu vereinen, abgesetzt, ich kann mich noch genau an die Gedankenfolge erinnern, mit der ich diesen Willen ein für allemal verworfen habe, als Mißverständnis meiner Rolle für mich selbst. Welches ist mein inneres Gesetz nun eigentlich? Die Musik wird eindringlicher. Einige stehen wieder auf und beginnen sich im Rhythmus zu bewegen, noch an den Obststücken knabbernd. Reißende Muschel nimmt meine Flöte und gibt sie mir in die Hand. Ich setze nicht sofort an, sondern will mich erst ein wenig in die Musikanten einhören, ich wippe mit, muß aber feststellen, daß sie [576] leiser werden und aufhorchen, was nun aus meiner Kunst werden soll. Mich versetzt das in eine auffällige Rolle, die mir gar nicht recht ist, fast ist es mir, als müßte ich mich hier beweisen, als müßte ich mir vielleicht mein Leben erspielen und verdienen. Während ich das noch denke und nicht recht weiß, ob mir das unangenehm ist oder mich ehrt, setze ich einen langen, tiefen Ton an. Die anderen Instrumente verstummen völlig, die Kinder setzen sich. Das Feuer prasselt auf, hinein in mein Schwingen. Ich halte den Ton, ich atme hinein, ich habe mich entschieden, ich werde in dieser Flöte für mich spielen, ich werde für mein Leben spielen, auch dann, wenn es gar nicht in Gefahr sein sollte. Ich setze noch einmal zu einem langen Ton an und hebe mich dann auf andere über, ich dränge mich in ihre Zwischenbereiche, ich lasse die Hirntöne schreien, überhöhte Laute aufkreischen, ich scheue mich nicht, die Ohren zu quälen, bis in die Schnecke hinein. Mit gleiten die klaren Töne in die zersprengten, ich rase auf der Luftsäule wie der irrlichternde Flammenschein und ruhe dann aus in angenehm klaren Tonbildern, die wie Kinderlieder anklingen und in denen die Wilden sich wiegen und mitsummen, erfaßt in einem Winkel ihrer Seelen. Ich nehme keine Rücksicht auf die Harmonie, ich spiele keine vor, ich weiß, daß sie nicht harmlos ist, sie existiert, aber sie ist nicht festzuhalten, und sie ist nicht zu erzeugen, mit ihr ist nicht zu spielen, denn sie ist Chaos des Atems, sie ist ein reißendes Ungeheuer. Lange halte ich aus, ich zeige laut den Wechsel von Wohlklang ins Grauen. Ich fordere die Kinder, ich bin außerordentlich unberechenbar, ich bin gut, ich bin kindlich und grausam. Ich selbst fordere mich und setze alles
ins Spiel, ich reiße diese Menschen in einem Bereich der Töne an mich, wo ihre Brutalität und ihre Liebe herkommt, dort, wo alle Wirklichkeiten auf einmal flammen, die vorgestellten, die erscheinenden und die unsichtbaren, alle sind sie geweckt und beben über dem Feuer wie ein Tongemälde zu einem Leben. Sie erheben sich, ich fühle ihre Augen auf mir, ich fühle, sie sind Menschenfresser, aber für diesmal haben wir die Rollen gewechselt, diesmal habe ich die Macht an mich genommen, ich spiele sie, ich spiele mit ihr, sie kommt aus meinem Instrument, sie kommt aus der Luft. Es ist nur die Luft, die mir diese Möglichkeit des Wahnsinns gibt, sonst nichts, es ist einfach, sie sind alle in meinem Bann und das nur durch meinen Atem, den ich nicht schone, ich reiße die letzten [577] Züge aus mir heraus, ich verwandle all meine Gefühle, meine Erkenntnisse, meine Freude, meine Furcht, meine Todesangst in diese Laute, sie umschwirren mich in einem Tanz, den ich will. Ich muß nichts mehr vereinen, ich habe auch den Willen verspielt, er hilft mir hier nicht mehr, ich setze alles ein, was in der Luft liegt, mir ist alles recht, und den Kindern ist das recht, sie sind gebannt, sie gehen mit mir mit, sie, die letzten Wilden, die ersten Götter, die hören, was ich da spiele, sie fliegen mir zu, ich sauge sie in mein Spiel. Es löst sich meine Frage, ob ich ein Kind oder ein Erwachsener bin, ein Wesen erklingt über dem langsam sinkenden Feuer, es ist meine überirdische Erscheinungsform, die jenseits von Gewalt ersteht, obwohl sie sich ihrer bedient. Wieder klingt darauf eines von den alten Liedern an, und die Krieger klatschen mit, sie wiegen sich und nehmen nun selbst den Rhythmus mit ihren Trommeln und Instrumenten auf. Sie vereinen sich mit mir. Jetzt hätte ich einen Ansatzpunkt, um sie anzupacken, jetzt wäre der Augenblick, sie zu töten, jetzt vielleicht könnte ich sie mit meiner Macht bezwingen und ihnen Ordnung und Friedensbeschlüsse aufdrängen, vielleicht ginge das, aber während mir dieser Gedanke aufblitzt, setze ich ihn in eine neuerlich zerstiebende Tonfolge um, ich spiele ihn und zersprenge ihn zu unzähligen Ascheteilchen, die sich langsam um den Scheiterhaufen senken. Ich schwitze am ganzen Körper, und Farbe tropft von meinem Gesicht. Sie gehen mit in den kreischenden Bereich der Töne, sie schreien und stampfen den Boden, sie erheben ihre Stimmen laut über den See, helle, irrsinnige Kinderstimmen schallen über das Wasser wie Lustschreie im Untergang. Ich setze die Flöte ab und schreie mit den Kindern mit, wir klatschen einander in die Hände, wir bilden einen Kreis und tanzen um das Feuer herum. Die Finsternis senkt sich langsam über uns, das Feuer fallt zusammen, glost aber noch stark. Pfeils Hand liegt heiß in meiner, der Atem dampft uns aus den Mündern, der Tanz wird langsam, das Singen verstummt. Ich setze mich an die Spitze einer Menschenschlange und ziehe mit den Kindern zum Haus der Hirnspalter. Dort verschwinden diese hinter ihrer Mauer, dann trotten wir hinüber zu den Maulaffen und zuletzt ketten sich die Großen ab, sie entzünden noch einige Fackeln, um uns heimzuleuchten. Wir wandern still ineinander verschlungen durch die flackernd erleuchtete Nacht. [578] Für diesmal habe ich sie gewonnen, diesmal habe ich mich gerettet, diesmal war ich mein eigenes Gesetz und mein eigener Herr. Auch die Natur läßt sich bannen, ich fühle eine tiefe Ruhe in mir, die sich für den Tod noch leichter entscheiden würde als vorher. Ich bin dem Gedanken, daß es nirgends eine Sicherheit geben kann, näher als je zuvor. Mit Stolzem Auge an einer Seite und Tapferem Pfeil an der anderen, gehen wir, die Arme ineinander verschlungen in einer Kette in die Dunkelheit hinein - in die eigentliche Klarheit meiner Vision. Nicht plötzlich, nicht erschreckend, sondern weich und wie selbstverständlich geht mir auf, was ich mir eigentlich sagen wollte, was ich von mir verlange. Ich kann es hören, es trifft mich nicht unvermutet. Der Kern meiner Erschütterung war schon richtig, nur die Gestalt der Wirklichkeit erweist sich als eine andere: Die Kinder würden mich nicht aufffressen.
Wenn die Kinder in meinem Fall die Gesetze mißachteten, so werde ich selbst das nicht tun. Auch wenn dieses Gesetz keinen Sinn haben sollte, werde ich ihm einen geben. Das ist mein inneres Gesetz. Es soll für mich noch mehr gelten als für die Kinder. Soll ich noch mehr ein Kind sein, als die Kinder selbst? Ich selbst, ich akzeptiere mich hier nicht länger, auch wenn die anderen es tun. Scharf beißt dieser Gedanke, schärfer als die Kinderzähne gewesen wären. Er beißt in meine Seele, denn ich verlange mich selbst. Ich habe hier eine Heimat gefunden, ich habe hier die Möglichkeit der Erlösung von meinem eigenen quälenden Ich, meiner gemachten Persönlichkeit gefunden, ich habe hier gelebt und so gern gelebt, mein müdes Gehirn hat sich hier verwandelt, in einen Anbeginn meiner Entwicklung. Aufgerollt ist mein Faden des Lebens, und mich quälen keine verlorenen Erinnerungen mehr. Ich bin geworden, ich habe mich gefunden. Pfeil legt seinen Kopf an meine Schulter und summt vor sich hin. Stolzes Auge drückt ein wenig stärker, weil die Schlange ins Wanken gekommen ist. Ich habe die Liebe gefunden, und jetzt soll ich gehen? Was soll ich jetzt noch beginnen, als was für ein Wesen soll ich mich jetzt noch weiterbewegen, mich treibt nichts, mich hält es hier, ich habe nichts zu suchen, warum soll ich jetzt noch einmal auf diesen Wanderweg ... Die Frage stellt sich mir nicht, Fragen haben jetzt keine Bedeutung [579] mehr, sie sind verbrannt. Es bleibt eine sich sanft ergebene Erschütterung, die genügt, um mich von neuem zu bewegen. Im Hof bleibe ich noch einen Augenblick zurück und schaue über die Mauer hinüber zu der noch leicht glosenden Feuerstelle. Alle gehen ins Haus. Ich spüre, daß hinter mir aber noch jemand steht. Ich drehe mich um, und Stolzes Auge tritt neben mich. Sie sieht auf das Glimmen wie ich. Jetzt erst habe ich das Gefühl, als wäre sie immer viel mehr ein Teil von mir gewesen, als ich es die ganze Zeit über bemerkt habe. Sie hat sich mit mir beschäftigt. Jetzt erst rückt die Gemeinsamkeit wie selbstverständlich an meine Seite. «Es ist besser so ...» sagt sie. «Ich werde auch nicht mehr lange bleiben.» Mit einemmal fröstelt es sie zusammen. Wir gehen hinein. Ich weiß, es ist das letzte Mal. Das letzte Mal lieben, am Anfang von einem neuerlichen Tod. Ich kann das letzte Mal ertragen. Ich spüre sein ganzes Gewicht im Augenblick. Es ist so leicht wie eine Dimension ohne Ich. Es ist die Auflösung der Wirklichkeit in einen Bereich jenseits der Vorstellungen, Gedanken und Worte. Ein letzter Blick in Pfeils helle Lichter, die mir im schwachen Schein eines heruntergebrannten Kienspans von der Schlafetage entgegenleuchten. Die Farben in seinem Gesicht sind verwischt. Sie machen eher ein Clownsgesicht aus dem Dämonen. Ich ziehe mein Hemd aus und wische ihm mit einem Zipfel das Gesicht ab. Es kommt hervor in seiner bekannten Klarheit. Es ist, als würde ich es für mich jetzt entdecken, hinter der karikierten Geisterhaftigkeit - das Geistige ist menschlich -, einfach menschlich, es bedarf keiner ausgetüftelten Unterstreichung der Person, sie ist deutlich, sie ist nicht wichtig. Er nimmt nun seinerseits den Ärmel und reinigt mir das Gesicht. Ich fühle mich endgültig entlarvt. Er ist sorgfältig und wischt so liebevoll, wie er die Farben draufgemalt hat. Schön schaut das Hemd jetzt aus. Wir sehen auf die Bescherung hinunter. Im Aufschauen treffen sich unsere Blicke wieder und verharren still. Die Stille ist die Verständigung. Ich höre sie. Pfeil spricht in ihren Tönen, sie dringen an mein Hirn. Er weiß es - er hat es immer gewußt. Er ist mir gefolgt, er hat mich aufgenommen. Ich brauche ihm nicht zu sagen, was er ohne mich tun soll. Ich denke an die Worte, die Sam zu mir beim Abschied gesagt hat. «Dort, wo du mich vergißt, dort wirst du mich finden.» Pfeil kann das. [580]
Er lacht und stupst mich mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. Wir kuscheln uns ein letztes Mal unter die Decke. Es ist dieses Mal - wie ein erstes Mal - ein ewiges Einmal -, daß sich unsere nackten Körper wieder vereinen. Am Morgen schlafen alle lange. Ich erwache früh. Ich bin ausgeruht. Ich erhebe mich leise und ziehe mich an. Die Flöte lege ich an das Kopfende von Reißender Muschel, und das Stirnband lasse ich auf meinem Platz liegen. Tapferer Pfeil bewegt im Schlaf den Arm und rollt sich etwas hinüber. Ich lasse mich leise mit einer zügigen Bewegung von der Schlafetage hinunter und gehe hinaus in den frühen, kühlen Morgen. Hinaus aus dem Dorf, auf demselben Weg, wie ich hereingekommen bin, den Fluß hinauf. Das Wasser rauscht in meine Ohren hinein, es zieht wieder ein in meinen Kopf, verschluckt mich wieder, wo es mich ausgespuckt hat. Übergangslos schlappe ich in das Rauschen hinein, als sei keine Zeit vergangen, als hätte ich nur einen Augenblick am Ufer gesessen. Ich fühle mich gesund und stark, aber steif und kalt. Es ist noch kühler geworden, seit ich mich zuletzt auf Wanderschaft befunden habe. Einmal hatte ich einen Mantel - damals -, ich erinnere mich, als ich in dieses Land eingetreten war wie in das Rauschen eines Stroms. Die verfallene Brücke scheint noch mehr eingestürzt zu sein als bei meiner Ankunft. Das Unwetter muß sie endgültig aus dem Halt gerissen haben. Die Ebene ist noch bräunlicher und kahler geworden. Das sperrige Gras ist naß. Die Tropfen reihen sich an den Halmen wie auf glänzenden Messerschneiden. Der Himmel ist hell, aber grau und silbern wie Stahl. Er wölbt sich in Makellosigkeit wie eine Eisfläche über mir. Der Weg ist steinig. Meine Schuhe zeigen vorn einen kleinen klaffenden Spalt. Ich verschränke die Arme vor der Brust, ich habe nichts mehr zu tragen, ich packe mich selbst in ein Paket gegen den Luftzug, der mir leicht um die Ohren weht. Meine Haare auf den nackten Armen stehen auf. Ich habe gar nicht gewußt, daß ich so viele Haare auf der Haut habe und noch dazu so lange. Auch Pfeil hat solche Haare auf den Armen und Beinen gehabt, ganz blond, aber kurz. Ich bin eigentlich auf dem Weg zurück. Ich atme in den Luftzug hinein, dem ich entgegenwirken muß. Am Auslauf der Ebene erhebt sich jenseits des Flusses wieder der Berg, auf dem das Gebäude der Asketen liegt. Ich will nicht wieder dorthin. Weiter vorn stehen ebenfalls Hügel und gehen in eine größere Erhebung über. Gegen die [581] Strömung zu gehen ist nicht so angenehm wie mit ihr zu wandern. Das Wasser bricht sich an einem hohen Steinwall. Es fällt und braust zu Blasen auf. Am Rand kann ich klare Stellen erkennnen, auf deren Grund reiner Kies liegt. Still steht das Wasser in diesen kleinen Teichen, neben den reißenden Strömungen des Flusses. Ich sehe einige Flußfische. Ich bemerke sie eigentlich nur an ihren unruhigen, zackigen Bewegungen, mit denen sie sich nach langem Stillstand an einen anderen Standort schleudern. Ihre Jagd - ihr Leben - ihre Bewegung ihr Element. Ich drehe mich um und gehe rückwärts, das Rauschen dringt an mein anderes Ohr. Die Sonne wird ein wenig wärmer, aber die Strahlen haben nicht mehr viel Kraft. Ich stecke die Hände in die Hosentaschen, drehe mich wieder um und komme so wieder besser vorwärts. Ich wandere noch immer zurück, mich macht diese Richtung ratlos, sie belustigt mich ein wenig. Ich komme ja von nirgendwo. Den Luftzug spüre ich stark auf der freien Stirn. Ich war schon daran gewöhnt, das Stirnband zu tragen, und jetzt wehen die Haare so über meinen Kopf weg. Einerseits ist es angenehm, aber manchmal greife ich an meine Stirn und suche dort einen verlorenen Zusammenhalt. Am Fuß des Berges zieht sich ein kleiner Waldstreifen hin. Er streckt sich ein Stück weit herüber, fast bis an den Rand meines Weges. Ich bleibe mit einemmal stehen, ich höre hinter den Bäumen Kläffen und Bellen, es kommt näher. Ich bin wach wie ein Tier, ich habe es gelernt. Die Ohren habe ich in die Richtung des Geräuschs gerichtet. Doch während ich erkenne, daß es sich um einen Dackel handeln muß, kommt der schon auf den kurzen
Beinen aus dem Wald herausgeschossen. Trotz seines fliegenden Laufs wackelt er so drolllig auf seiner Jagd, daß ich meine Spannung lockere, mich ein wenig tiefer beuge, um auf dieselbe Höhe mit ihm zu kommen. Seine Ohren wehen im Laufwind, eines legt sich um und bleibt schräg auf seinem Kopf, bis es sich wieder löst und mit dem anderen mitwakkelt. Zwischen Komik und beunruhigender Sturheit nähert er sich schnaubend und kläfffend, rauh und entschlossen, bleibt dann kurz stehen und bellt scharf. Aus dem Wald kommt ein wildes Bellen und wird lauter. Es schallt aus dem Wald heraus, und da fliegen schon die nächsten Hunde der Meute heran. Der Dackel setzt sich wieder in Bewegung, sie rasen alle auf mich zu, jetzt ein Boxer mit weitaufgerissenem Rachen voran, [582] die Zähne stehen ihm wie Hauer aus dem Maul. Ich sehe ein hungriges Hundemaul geweitert auf mich zurennend, ich habe mich von dem liebenswürdigen Dackel tödlich bluffen lasssen, die wilde Horde frißt mich mit Haut und Haar, da bin ich sicher, ihr hungrig blutgieriger Atem kläfft mir entgegen. Auch ich bin ein wildes Tier geworden, ich weiß, daß mir Rennen jetzt nichts nützen würde, einen Baum kann ich auch nicht mehr erreichen. Die ausgemergelten Tierkörper fliegen mit aufgerichteten Schwänzen über den Boden. Ich setze meine Erstarrung selbst in eine fliegende Bewegung um und stolpere dann in den eiskalten Fluß hinein. Am Rand ist es seicht, ich springe über die Steine. Das Rauschen verstärkt sich, vereint mit dem mörderischen Heulen und Knurren, ich stehe an der Stelle, wo ich den Grund des Flusses nicht mehr sehen kann, ich drehe mich noch einmal um, voran ist der Boxer, hinter ihm ein riesiger Schäferhund, auch ein Collie saust mit voran. Der Boxer springt mir nach, die anderen stehen kläffend am Ufer. Dicht vor mir schnappt das riesige Maul der nassen Bestie ins Leere. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich werfe mich voll ins Wasser. Der Hund treibt ab. Die Strömung erfaßt mich sofort. Ich arbeite mit aller Kraft, sie reißt mich mit sich wie eine leere Hülle, ich rudere blindlings in eine Richtung, ich wehre mich gegen den Strom mit meinem ganzen Überlebensinstinkt, ich schlucke Wasser, ich ringe nach Luft und schwimme weiter. Bald fasse ich Boden und bemerke, daß der Fluß nicht so tief ist, wie ich angenommen habe, aber reißender. Ich fühle mich viel schwächer. Wieder zerrt es mir die Beine vom Grund, und ich treibe mit. Ich pralle auf einen Stein auf, er ist groß und fest, ich klammere mich an ihm fest und orientiere mich, so gut ich das außer Atem und mit verschwommenem Blick tun kann, das andere Ufer ist näher, als ich dachte. Ich sehe eine Reihe dieser großen Steine, an denen ich mich, falls sie fest genug verankert sind, bis ins Seichte arbeiten könnte. In meinem Kopf tobt es wie ein Wasserfall. Ich krieche an den Steinen entlang mit letzter Kraft hinaus und schaue mit ausgewaschenem Blick zurück auf die wilde Meute. Sie können mir nicht folgen. Sie sind am Ufer mit mir flußabwärts gelaufen und brüllen ihre Wut herüber. Ich schluchze vor Erschöpfung und Erlösung auf, ich kenne dieses Geräusch nicht, fast klingt es wie der traumverwandte Kehllaut eines Hundes in mir. Es kommt so tief von unten herauf, ich atme ein paarmal kräftig ein und aus, ich raffe mich hoch und steige einen Weg [583] hinauf, ich will bis zu den Bäumen, ich will aus der Hör- und Sichtweite der Tiere, ich will weg, ich will sie nicht mehr hören, ich kann sie nicht mehr sehen, wie sie da noch immer in blindwütiger Angriffsstellung am Flußufer stehen und die Mäuler aufreißen. Erst als ihr Bellen und das Rauschen des Flusses langsam aus meinem Kopf weicht, sich sanft herauslöst wie ein böser Traum aus meinem erschöpften Gehör, setze ich mich an den Wegesrand. Ich plumpse hin und lege mich auf den Rücken. Da erst dringt mir die Tatsache meiner kalten, nassen Kleider in die Glieder. Die Hose hängt triefend an meinen Beinen, und das Hemd legt sich an wie eine nasse, fremde Haut. Ich ziehe die Kleidungsstücke aus und lege sie in die spärlichen Sonnenstrahlen zum Trocknen aus. Noch während ich das tue, scheint mir dieses Unterfangen ziemlich unsinnig zu sein. Das Zeug kann hier nie trocknen, ich kauere mich neben meinen Sachen zusammen, die Knie angezogen und die Arme um sie herumgelegt, den Kopf ziehe ich zwischen die Schultern und senke mein Gesicht. Ich hauche hinein, aber das wärmt nicht sehr. Ich möchte vor
Kalte in mich hineinkriechen. Ich stehe dann auf und lasse die schwache Sonne auf meinen Körper treffen. Ich lausche wieder, mir war, als sei das Kläffen noch einmal zu vernehmen, aber ich muß mich getäuscht haben. Ich hüpfe und schwenke meine Arme, aber mir bleibt kalt. Hoffnungslos ist das, wie ich hier auf diesem Stern herumturne, tropfnaß und frierend. Ich selbst bin aber trotz allem bald abgetrocknet. Ich überlege, ob ich die Kleider in der Hand tragen, sie anziehen oder gar liegen lassen soll. Dann schlüpfe ich wieder in das Zeug hinein. Es sträubt sich gegen meinen gewaltsamen Versuch, es überzuziehen. Die Hose spannt wie eine eisige Klammer um meine Hüften. Ich versuche mit den Armen so wenig wie möglich mit der Feuchtigkeit in Berührung zu kommen, aber das ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich gehe weiter, einfach weiter hinauf. Im Gehen merke ich, daß ich es sehr wohl ertrage, die nassen Kleider erwärmen sich etwas, der Wind ist im Nadelgehölz still, es ist hier überhaupt still. Ich halte das schon aus, aber ich sehne mich nach einem Unterschlupf. Wenn ich die Nacht hier draußen verbringen müßte, wäre mir das zu viel. Ich würde es vielleicht auch ertragen, aber ich will es nicht, so spielen meine Gedanken müde in meinem Hirn. Daß sich so leicht wieder eine Sehnsucht einschleichen kann, wenn man glaubt, am Ende aller erdenklichen Wünsche angelangt zu sein ... [584] Die Nadelhölzer riechen würzig und wild, sie rauschen über mir. Harz steht kalt an den rissigen Rinden. Der Wind raunt wie das Blut, ein Lied von den Jahreszeiten und dem Wechsel von Sonne und Schatten, ein lebendiges Knistern und Wehen, eine Bewegung aus der Erde, eine Sprache des Herbstes geht in den Föhren hin, ein einsamer Gesang der Kälte, in der sie immer aushalten und keine Hoffnung haben, einen Unterschlupf zu finden. Ich lehne mich an einen der Stämme und möchte so stehenbleiben, so einfach zu einem Baum werden, der das aushält, der seine Wärme und seine Nahrung direkt aus der Erde aufnimmt, ich fühle mich abgenabelt von der Natur, und eigentlich, denke ich, wäre es genug, wenigstens unter den Bäumen zu stehen und noch zu atmen, mich an den Stamm zu lehnen und langsam Wurzeln zu schlagen. Ich lege mein Gesicht an das Holz. In seinem Inneren singt es von Höhlen, von Nestern und warmen Händen, ich drücke meine Stirn in die Rinde und presse die Augen zu, sie brennen. In meinen Ohren schlagen die Zweige aneinander wie Glas, und Nadeln fallen auf mich herunter wie unzählige Eissplitter. Ich fröstle, meinen Körper schüttelt es, ich tauche wieder auf aus meiner Verkrampfung, an den Stamm gelehnt, und wische mir über die Augen, wieder so ein erschöpftes Würgen in der Kehle. Ich gebe einen Laut von mir, einen hauchenden, rauhen Kehllaut, ähnlich wie unten am Flußufer, und wieder ist mir so, als sei der nicht von mir gekommen. Ich habe eine innere Sprache der Erschütterung, die mich selbst erschreckt. Ich ducke mich in ein stacheliges Gebüsch und probiere, wie es sich da drinnen verweilen ließe für eine Nacht. Aber der Gedanke, daß es ja nicht nur um eine Nacht geht, sondern um mein ganzes kommendes Schicksal, hetzt mich wieder hoch, und ich wandere einfach weiter, weil ich nichts Besseres tun kann. Der Wind fährt durch die Stämme. Zumindest bis meine Sachen trocken sind, muß ich noch gehen, diese Frist gebe ich mir, ich soll ja nur mein Leben überdauern, sonst muß ich ja nichts von mir verlangen - und wieder vernehme ich dieses ungesteuerte, kehlige Schluchzen aus mir. Ich erlaube es mir, ich wische mir die Augen, es ist, als hätten mich diese paar Tränen wärmer gemacht. Ich habe schon lange nicht mehr geweint. Als könnte ich mit der Verzweiflung weiterziehen, schreite ich mit neuer Kraft rascher aus. Ich glaube, vorn eine Lichtung zu erkennen, es scheint heller zu werden, aber ich spüre, daß meine gereizten Sinne an dem Punkt angelangt sind, wo sie sich leicht [585] narren lassen. Ich vergesse meine Feuchtigkeit und mein Schluchzen, ich schreite fest aus. Es ist wahr, es wird lichter, ich nähere mich einem freien Platz. Zwischen den hohen Baumstämmen erkenne ich ein schräg stehendes aufrechtes Ding. Schließlich steigt ein kleines, windschiefes, verkommenes Holzhaus in mein Blickfeld mit eben diesem schrägen, verwehten Rauchfang, der mir zwischen den Bäumen entgegengeleuchtet hat. Die Entdeckung ist wie die Erfüllung meiner Wünsche, wie eine
Verständigung mit der Natur. Rund um die Hütte ist der Boden aufgewühlt, die Erde bildet einen großen Kreis um das Häuschen, die Bäume sind abgeholzt im Umkreis. Das Gebäude steht klein hingeduckt, mitten auf einer Erdscholle. Nicht daß dieser Garten rundherum gepflegt aussehen würde, aber ich bemerke, da muß einmal viel gewachsen sein. Kartoffeln und Rüben, einige davon liegen an der Erdoberfläche, sie wachsen noch spärlich, Weintrauben sehe ich an der Ranke, die sich an einer Seite der Hütte hinaufschlingt. An den Tomatenstöcken leuchten Früchte rot zu mir her. Ein verwahrloster Garten mit verkommenen Gewächsen, die in eigener Eingebung immer wieder Früchte auswerfen, wilde Knollen und Wurzeln, welche wie ein ganzer Berg von Nahrung vor meinen Augen aufsteigen, wie ein Segen über meiner Not. Ich halte mich noch an den Schatten der Bäume, wenn ich erst einmal über diesen Feldboden gehe, bin ich völlig ungeschützt. Es sieht aber wahrhaftig nicht so aus, als sei diese Hütte bewohnt. Die Laden sind geschlossen. Trotz des Freiraums, in den sich das Haus hier duckt, ist die Gegend so einsam und verlassen, daß es niemandem auffallen würde, der nicht so wie ich nach einem Nest sucht. Wanderer sind hier nicht üblich, das kenne ich schon, die Menschen haben ihre Gruppen, die suchen nichts. Selbst die Vögel sind in dem Föhrenrauschen kaum zu vernehmen. Nur manchmal schlägt einer an, scharf und spitz wie die Nadeln des Waldes selbst. Ich steige über die Schollen. Hart ist der Boden und krustig. Das Gemüse ist ausgewachsen, aber genießbar, stelle ich an einer Mohrrübe fest, die ich in die Hand nehme und erst koste, dann aber heißhungrig verschlinge. Auch ein wenig Kohl und Kraut stehen noch mit verwitterten Köpfen auf der Erde. Die Kartoffeln sind überhaupt in Ordnung. Die Knollen sind glatt und von einer feinen Art, nur viele sind es nicht. Ich bremse mein Interesse, weil mir zu Bewußtsein [586] kommt, daß das Haus trotz allem bewohnt sein könnte. Ich nasche noch eine der kleinen Trauben, sie sind süß, aber die meisten sind schon vertrocknet. Hinter dem Haus sehe ich jetzt erst ein hölzernes Rohr aus dem Hang ragen, aus dem es hervorrieselt, darunter steht ein moderiger Trog. Klein und dünn ist der Strahl aus dem Berg, aber ich weiß, was er bedeutet. Es ist frisches, reines Wasser. Ich trinke gierig aus meiner Hand. Köstlich! Auch an der Hinterseite der Hütte kann ich kein Zeichen erkennen, das auf Bewohner hinweisen würde. Ein eingestürzter Karren drückt an die hölzerne Hauswand, die selbst schief und locker in ihren Eckpfeilern hängt. Ich bewege an der Frontseite die äußeren Laden. Sie sind offen, obwohl sie eine Vorrichtung zum Schließen haben. Sie sind nicht mit Absicht verschlossen worden, sie müssen im Wind zugefallen sein. Die Scheiben sind verstaubt, völlig blind von innen und außen, Sprünge ziehen über das Glas hin, es ist nicht möglich, drinnen etwas zu erspähen. Die Tür hängt schief, die Klinke ist aus grobem Holz und so groß, daß sie kaum in meine Hand paßt. Ich drücke sie, die Tür schnappt aus dem verrosteten Schloß, als hätte sie schon lange auf diese Bewegung gewartet. Richtig öffnen läßt sie sich allerdings nicht leicht. Ich muß ziehen und zerren, sie klemmt. Ich hebe sie etwas über den Boden, auf dem sie schleift, und schaue vorsichtig hinein, bevor ich eintrete. Meine Augen können vorerst gar nichts sehen, es riecht moderig, nach feuchtem Holz und Staub, auch nach getrockneten Pilzen und Kräutern, auch ein wenig süßlich wie nach Weihrauch. Jetzt können meine Augen einen Leuchter erkennen, der mitten in dem kleinen Raum tief herunterhängt. Dahinter eine Feuerstelle. Spinnweben überziehen die Decke, einzelne Fäden hängen lang mitten durch den Raum, alles ist bedeckt mit einer Staubschicht, so als seien die Dinge mitten in der Verwandlung in ihr ursprüngliches Element. Ich behalte die Tür zur Vorsicht in der Hand, trete aber näher und lasse ein wenig Licht eindringen, damit ich mich besser zurechtfinden kann. Ich sehe einen Tisch, einen Napf drauf, ein Stuhl lehnt an dem Tisch. An der Feuerstelle steht ein Kessel auf einem Rost, Krüge und ein paar Töpfe befinden sich auf einem Wandbrett. Am Boden sind getrocknete Pilze ausgebreitet. Auch Kräuter liegen da, sie scheinen noch verwendbar. Ich rieche an einem Stengel. Er duftet wie in immer-
währender Kraft. In einer Ecke steht ein rostiges Bett. Es ist eines von der [587] eisernen Art, wie ich es im Sanatorium angetroffen habe. Es sieht nicht so gebrechlich aus wie die übrigen Möbel. Eine Decke liegt darauf, sorgsam zusammengelegt. Aber auch sie ist von einer grauen Schicht überzogen. Der Boden knarrt, ich lausche, ich reibe meine Arme, ich habe unter der Spannung der Entdeckung fast meine Feuchtigkeit vergessen. Meine eigene Bewegung klingt, als geschähe sie unter der Erde, dumpf und mit einem weichen Echo. Hohl, wie in der Erde fühle ich mich hier. Ein Holzstoß ist neben der Feuerstelle aufgeschichtet, auch kleinere Ästchen liegen da, und Laub. Diese Hütte ist eindeutig nicht bewohnt. Bei dem Napf am Tisch liegt ein hölzerner Löffel. An einer kleinen Sparre hängt ein Kranz aus Misteln. Es ist jetzt gar nicht mehr so dunkel für meine Augen, langsam tritt mir der Raum ins Bewußtsein, er ist gut, er ist sehr gut für mich. Es ist alles da. Draußen rinnt Wasser und wächst Nahrung, drinnen ist es geschützt, sogar Geschirr gibt es und ein Bett. Der Wind zieht durch die Ritzen, er pfeift durch den Kamin. Ich schließe die Eingangstür mit viel Mühe. An einer Wand ist noch eine Tür. Sie steht halb offen. Ich stecke vorerst nur meinen Kopf hinein, schrecke zusammen, so als würde das Herz fallen, ich rühre mich aber nicht. Ich stehe wie angewurzelt, den Körper hinter der Tür und den Kopf vorgestreckt, im Bann einer Gestalt, die bekleidet in einem Schaukelstuhl sitzt. Eine Lederjacke, darunter eine Hose und große Filzpantoffeln an den Füßen. Eine schiefe Kappe keck auf dem Schädel über den großen Augenlöchern. Das Totengesicht hängt wie eine Maske vor der Knochenhöhle, in dem sich Spinnenvolk einen Lebensraum geschafffen hat. Die skelettierten Hände ruhen wie in angenehmem Ruhezustand auf der Lehne, eine Pfeife liegt im Schoß der leeren Hose. Ich finde meine Fassung wieder und trete mit einer kleinen instinktiven Verbeugung ein. Das Holz des Stuhls und die Kleider meines Gastgebers sind über und über mit Löchern versehen, total zerfressen. Jetzt allerdings regt sich nichts mehr, außer den Spinnen, aber die sind still, die lauern, die sind nicht laut und auch nicht emsig, die fressen nicht an dem Herrn, die wohnen nur in seinem Schädel. Das Nasenloch klafft groß wie ein drittes Auge. Ich verschränke meine Arme wieder. Ich trete in seine Nähe, damit ich fühlen kann, ob ihm meine Anwesenheit angenehm ist. Auch hier drinnen hängt der Modergeruch, wieder durchzogen von diesem süßlichen Weihrauchduft, der [588] der Armseligkeit und dem Verfall der Dinge eine edle Aura verleiht. Ich will, daß er weiß von meinem Mißtrauen, ich möchte ihm nicht die kaltblütige Besitzergreiferin seines Anwesens vorspielen, ich will ehrlich zu ihm sein, das würde mich selbst beruhigen. Ich trete zurück an einen Schrank. Die Tür geht mit einem Knarren auf, ich blicke auf das Gerippe zurück, und dann geht ein neuerlicher Schauer über meine Haut. Im Schrank sehe ich einige Kleider. Sie sind recht ordentlich und auch nicht unsauber. Sie stinken stark nach Alter, aber sie sind nicht angefressen oder durchlöchert. Einige Hosen kann ich erkennen, Jacken und einen Mantel, einen langen Ledermantel mit dunklem Pelz an der Innenseite. Beim Hinausgehen wende ich mich noch einmal nach meinem Hausgenossen um, rasch, aber er sitzt nach wie vor in seiner alten Stellung da. Ich lasse die Tür zu dem Nebenzimmer einen Spalt offen, so daß er sich nicht ausgeschlossen fühlt. Ich werde viellleicht einen lachenden Mond aufziehen, er würde das Zeichen sicher verstehen. Mich schüttelt es wieder. Ich fange an, ein wenig aufzuräumen, rücke hier und lege dort etwas zusammen. Ich probiere den Stuhl und den Tisch aus. Sie sind widerstandsfähiger, als es schien, sie tragen mich ohne weiteres. Die Decke vom Bett schüttle ich zum Fenster hinaus. Eine Wolke von Dreck steigt auf. Mit einem alten Schwamm putze ich über die Jahresringe des Staubs, aber ich lasse das bald bleiben, weil mir der aufgewirbelte Staub den Atem nimmt. Ich huste und spüre in meiner Lunge ein Nebengeräusch. Da unten bewegt sich etwas, fast war es wie ein Schmerz. Ich weiß nicht, ob ich es gehört oder nur gespürt habe. Trotzdem gerate ich in eine Geschäftigkeit, ich will hier wohnen, und ich tue das bereits aus voller Kraft, ich singe sogar leise vor mich hin, vielleicht singe ich für den
Toten. Ich habe eine lange Zeit nur mit vielen Stimmen und Leibern zusammen gelebt, ich genieße mein eigenes Reich. Ich begutachte den Kamin. Oben, wo er zum Dach hinausgeht, hängt ein Ziegel locker in der Wand, ich sollte ihn fester einfügen, bevor ich hier Feuer mache. Ich wackle ein wenig daran, aber ich reiche kaum hinauf, ich berühre ihn leicht, er kommt nicht herunter, es wird schon nichts schiefgehen. Ein ordentliches Feuer würde ich brauchen. Am Rand des Kamins liegen zwei Steine, ich erkenne sie sofort als Feuersteine. Auch bei den Kindern haben wir welche benützt neben dem Feuerbogen, nur war [589] ich nie sehr geschickt im Feuermachen, jetzt würde ich den Sanften Falken brauchen, der war darin ein Meister. Ich schichte Holz auf, zuerst die Blätter, dann das kleine Geäst und größere Scheite. Daraufhin schlage ich Funken ins dürre Laub. Ich treffe erst meinen Daumen, dann gelingt es. Ein Funke liegt glosend auf einem Blatt. Ich blase fest zu. Es flammt sofort auf. Dieses Zeug brennt gut. Es prasselt, ich halte meine Hände an die Flammen und wärme mir dann meine Rückenpartie. Der kleine Raum wird mir zu einer Heimat. So einfach ist es. Damals beim Einsiedler konnte ich mir noch nicht recht vorstellen, daß ich allein leben wollte, aber jetzt ist es mir so selbstverständlich wie mein Denken, wie meine Herkunft und mein Abgang. Einfach dasein und vor mich hinleben. Mit allen Mängeln, mit allen Erfüllungen, mit nichts und für nichts, selbst für mich nicht, denn ich werde zerfallen wie mein Freund nebenan. Ich ziehe endlich meine feuchten Sachen aus und hänge sie auf die Stuhllehne neben das Feuer. Wieder muß ich husten, auch in meinem Kopf spüre ich einen Druck, aber ich denke, das wird von dem vielen Staub sein, den ich eingeatmet habe. Ich stakse frech wieder in das Nebenzimmer, splitternackt, und beäuge den Mantel im Kasten genauer. Es ist wirklich ein kostbares Stück, das mir gute Dienste leisten kann. Ich schüttle ihn, er ist nicht einmal sehr staubig, und werfe noch einen Blick auf meinen Genossen. Ob ich ihn wohl auch zum Feuer mit hinausnehmen soll? Aber ich weiß, wenn ich ihn anrühre, zerfällt er sofort. Er soll so bleiben, wie er ist, solange ich hier lebe. Ich sehe noch einmal nach der schadhaften Stelle am Kamin, sie hält. Immer wenn ich den Kopf in die Höhe recke, spüre ich diese Druckstelle im Kopf. Mir rinnt die Nase. Ich wickle mich in den Mantel und bleibe am Feuer sitzen. Der Schein der Flammen schlägt mir ins Herz, es ist mein eigenes Feuer, ich kann leben, und dazu brauche ich wenig. So viel Anstrengung im Leben, um so wenig zu finden, das genügt. Ich fühle mich ruhig in meinen Gedanken, ich kenne diese Gespenster, ich bin ihr Freund und Feind zugleich, ich habe lange gebraucht, um sie in ihrer Form anzunehmen, um meine Unruhe und meine Ruhe zur Kenntnis zu nehmen, um die Zwischenzeit zu ertragen, die unbestimmte Zeit, das Fremde, das Abwesende, den Sinn im Wahnsinn, die Leere im Sinn, das Nichts von allem, mich selbst. Ich verbrenne da wie in [590] meinen eigenen Flammen. Wenn nur dieser Druck nicht wäre, über der Nasenwurzel, und dieses Rinnen der Nase, aber ich weiß, daß ich auch damit auskommen kann, ich muß. Über diesen Gedanken bin ich etwas eingedöst in der Wärme, ich reiße mich dann hoch wie aus einem Fiebertraum. Sofort sehe ich wieder nach der Stelle im Kamin, aber der Stein hält sich nach wie vor. Im Hinaufrichten des Kopfes wird mir schwindlig, und ich muß dieses Wanken erst zur Ruhe kommen lassen. Vor meinen Augen flimmert es. Mein Gesicht ist heiß, meine Hände sind es auch. Das Feuer ist schon ziemlich heruntergebrannt. Daß ich mit einemmmal so schwach bin? Ich werde Hunger haben - ich werde Hunger haben, sage ich mir einige Male vor, ich bewege die Lippen, ich werde Hunger haben, und dann geht mir auf, daß ich ja auch etwas dafür tun muß, um diesem Mangel abzuhelfen. Ich rapple mich hoch, wieder muß ich husten. Ich lege noch einige Scheite nach und nehme zwei Töpfe vom Wandbrett. Den Mantel ziehe ich eng um mich. In der Seitentasche steckt ein Gürtel, den ich mir umbinde. Ich trete hinaus in den Garten. Die Luft fahrt scharf in meine Lunge, und wieder reizt mich ein Hustenanfall, auch in der Kehle fühlt es sich rauh an. Ich rupfe einige Rüben aus und
nehme Kartoffeln, auch einige von den roten Tomaten. Als ich mich so aus der Hocke wieder zum Stehen aufrichte, kommt ein neuerlicher Schwindelanfall über mich. Ich spüre, ich will mich schnell irgendwo niederlassen, ich kann nicht länger stehen, ich bin zu schwach. Ich trage die Sachen mit letzter Beherrschung zu der kleinen Quelle, setze mich dort auf den Boden und lehne mich mit dem Rücken an den Bottich. Es wird mir schwarz vor den Augen, in meinen Ohren beginnt es bedrohlich zu sausen, es wird lauter und will über meinen Kopf hinwegschwappen, das Rauschen vereint sich mit der Schwärze vor meinen Augen in glimmerndes, kristalliges Weiß, ich fühle mich schwerelos, trete weg in einen Raum der ohnmächtigen Geborgenheit des Herzens und des Hirns. Ich weiß nicht, wie lange ich so sitze, mir zerfällt die Wirklichkeit in unzählige Splitter, Spiegel meiner selbst. Dann spüre ich mich in meinem starken Herzschlag wieder, ich sammle mich zu meiner alten Form und tauche langsam wieder aus dem rauschenden Raum zurück an die Quelle. Fast ist es wie ein ungeahntes Wohlgefühl, so unendlich matt und gleichgültig nach der Ohnmacht. Ich stehe zu meinem Zustand, aber zugleich schießt es mir durch den Kopf: Jetzt nicht krank werden - [591] jetzt nicht - um Himmels willen - jetzt, wo ich alles gefunden habe, was ich mir wünschte. Ich spüre, wie das Fieber in mir aufsteigt. Ich greife mir an die Stirn und starre in die Bäume. Sie rauschen wie die Gedanken in meinem Kopf. Ich bröckle ein wenig mit der Hand in der Erde herum, es muß gute Erde sein, kräftiger Boden, aber selbst diese Bewegung ist mir zu viel Anstrengung. Ich kann doch hier jetzt nicht zusammenklappen. Hier ist keine Bärle, die mich pflegt, hier ist keine Ruth und kein Sam, hier ist kein alter Herr und keine Bianca, hier ist kein Tapferer Pfeil, der mich rettet, und keine Reißende Muschel, die sich an mich erinnert, hier bin nur ich. Ich habe nur mich, endlich nur mich, und ich möchte nichts weiter. Ich schaue zum Himmel hinauf. Ich möchte nichts, als nur noch ein wenig hier leben, atmen und vor mich hinschauen. Ich rapple mich hoch, wasche zuerst die Töpfe, so gut es in dem dünnen Wasserstrahl gelingt, und dann das Gemüse. Ich lasse es im Wasser schwimmen und schleppe mich hinein in die Stube. Ich lege besondere Sorgfalt darauf, daß die Tür gut geschlossen ist, stellle den Topf auf das Rost über das Feuer, tue noch eine Handvoll der Krauter hinein und lasse mich dann auf das Bett fallen mitsamt meinem Mantel. Ich bin zu schwach zu allem. Ich schließe die Augen, und aus meiner Stirnhöhle schwirren bunte Kreise auf. Die Müdigkeit schlägt wie ein Stein auf meinen Körper und drückt mir das Bewußtsein weg. Ich reiße meine Augen mit eisernem Willen auf, sehe noch einmal zum Feuer hin, es brennt ruhig, das Gemüse kocht, ich kann es einfach nicht mehr abwarten, ich raffe mich auf, taumle hin und schöpfe zitternd mit dem Holzlöffel Brühe heraus, sie brennt viel zu heiß in meinem Mund, aber ich schlucke sie und nehme einen Löffel nach dem anderen, wobei ich vorher draufblase. Ich bin dabei gänzlich erschöpft, aber von innen her gewärmt. Dann wanke ich wieder zum Bett und lege mich hinein. Ich krieche in den Kragen und ziehe die Beine an mich. Dann decke ich mich zu. Ich habe trotz aller Schwäche einen Willen, ich will dieses Fieber durchstehen, ich will es unterkriegen, ich will mich hier nicht einfach überrumpeln lassen, das ist das einzige, was ich weiß und woran ich noch hänge, ich will nicht krank werden, ich werde mich im Schlaf ausheilen, es einfach wegschlafen, selbst wenn ich wegsterben sollte wie mein Freund nebenan, aber nur nicht krank und schwach sein, hier in meinem neuen Haus. Diese anstrengende Überlegung rieselt als fiebriger Gedanke in mir hoch [592] und setzt sich an der Spitze um in eine weiche Ergebenheit, ich muß trotz der Schwäche und des Halbdusels auch in mich hineinlachen, ich weiß doch schon lange, daß mit dem Willen da nichts auszurichten ist, daß er eine Stichflamme gegen einen Wasserfall ist, mächtig, aber nichts gegen die Natur. Der Wille ist eine natürliche Krankheit im Leben, ein Diktator, wenn ich mich von ihm blufffen lasse und ihn zum Alleinherrscher erkläre. Ich ergebe mich meiner Weisheit, die so brüchig ist, daß sie zerfällt und von ihr als Abdruck nur mehr das Lächeln auf meinen fiebrigen Lippen bleibt, als ich in den Schlaf hinüberatme. Ich muß auch meine Krankheit hinnehmen, ich darf schwach sein, wenig-
stens für mich. Ich bin bereit dazu, ich werde liegen und mit glänzenden, geweiteten Augen an die Decke schauen und warten, bis mein Körper im Fieber wegschmilzt, sich ausgetobt hat und wieder leben will. Ich muß ihm Zeit geben in seinem Kampf. Ich muß ihm helfen und ihn nicht zwingen wollen, ich bin das einzige, was er hat. Diese Hingabe an meinen Zustand ist schon die erste kühlende Geste auf mein inneres Schlachtfeld, und ich tauche ein. Plötzlich höre ich die Hunde in meiner Brust schnauben, aber das Gerippe verscheucht sie mit der kecken Mütze. Es bietet mir darauf einen Lederhelm zu dem Mantel an, wirft ihn aber dann ins Feuer, welches im Fluß lodert, weil ich so unentschlossen im Zugreifen bin. Einmal erwache ich, weil ich eine Bewegung mit meiner Hand gemacht habe und an eine eiserne Sparre des Bettgestells schlage. Ich atme unregelmäßig und schwer, meine Nase ist verlegt, im Hals kratzt es. Das Feuer ist fast ganz heruntergebrannt, aber es ist warm im Raum. Ich lege mich auf den Rücken, strecke mich aus und beruhige mein Herz, indem ich langsam und beherrscht atme, und jetzt fühle ich, wie ich in einen ruhigen Schlaf eintauche. Ich erwache mit wehen Gliedern, einem ausgetrockneten Mund und einem schmerzenden Kopf. Die Nase ist gänzlich verstopft, und im Hals fühlt es sich an wie Glaspapier, aber ich habe nicht mehr dieses unausgegorene Toben im Körper, das mich so beunruhigt hat. Ich bin merklich geschwächt, aber mein Leiden schwebt nicht an dieser fiebrigen Ohnmachtsgrenze. Ich werde viel liegen. Ich werde meinem Körper nachgeben und tun, was er verlangt. Ich verordne mir Geduld und Ruhe, ich habe sie. Die Bereitschaft zum Zusammenbruch ist meine Liebe für mich, ich habe sie, und nichts weiter. [593] Ich krabbble auf, schniefe durch die Nase und summe einmal kräftig in meinen Gaumen hinein. Die Stimme klingt tief, rauh und verändert. Ich nehme den Topf vom Feuer und setze mich wieder auf meine Bettstatt. Die Suppe ist kalt, aber das Gemüse ist weich. Die Karotten sind gut, und die Kartoffeln kann ich gleich mit der dünnen Schale verzehren. Manchmal knirscht noch ein Rest von Erde und Sand zwischen meinen Zähnen, ich spucke ihn aus. Ich schmecke nicht viel, der Schnupfen erlaubt es nicht, aber die Kräuter spüre ich doch durch. Im Gemüse ist genug Flüssigkeit vorhanden für diesmal, aber ich nehme mir vor, frisches Trinkwasser hereinzutragen. Ich plane ein wenig, welchen Topf ich zum Kochen und welchen ich zum Wasserholen verwenden werde, viel Auswahl habe ich nicht. Einer hat ein Loch, den müßte ich reparieren, und auch den Kamin müßte ich genauer ansehen, wenn ich wieder gesund bin. Im Garten müßte ich arbeiten und vielleicht die Früchte ernten, die ich im Haus lagern sollte. Auch nach Kräutern könnte ich suchen und mir Tee daraus machen. Eine ganze Menge wartet auf mich, aber jetzt nicht, ich lege mich zurück, ich fühle mich schon wieder sehr müde, ich weiß, wie ich mich da zu verhalten habe, ich lächle in meiner Zuversicht. Es genügt, ich fühle mich lebendig genug, um noch ein wenig dazusein, und wieder schlafe ich ein, ich habe Vertrauen zu meinem Schlaf, ich weiß, wie heilsam er sein kann, wenn man ihn begrüßt. Es ist alles möglich, wenn alles gleich gut ist. Es ist möglich zu schlafen. In der Dämmerung erwache ich wieder. Ich fühle mich unverändert. Ich zünde wieder ein Feuer an und wärme den Rest der Suppe auf. Meine Kleider sind fast trocken. Diese wenigen Tätigkeiten erschöpfen mich derart, daß ich schon wieder müde zu werden beginne. Mein Kopf ist nicht mehr so heiß. Ich gucke noch einmal nach meinem Genossen im Nebenzimmer. Heute scheint er mir schon sehr vertraut, so als sei ich ihm im Fieber wesentlich nähergerückt. Am Boden vor dem Kasten sehe ich im Dämmerlicht ein pelziges Ding, das mir vorher nicht aufgefallen war. Ich bücke mich schwerfällig danach und erkenne eine lederne Haube zu diesem Mantel, der mir schon so gutgetan hat. Ich drehe das Ding in meinen Händen und schaue den Gevatter an, er gibt kein Zeichen, aber ich kenne ihn schon, der macht das so. Das Feuer erhellt den Raum nur schwach, die Suppe ist warm, und [594]
ich esse den Rest, noch immer mit wenig Geschmackssinn, aber ich denke, es muß gegessen werden, auch wenn ich keinen rechten Appetit habe. Meine Kraft reicht noch, um einmal in die Nacht hineinzugehen. Ich pinkle an die Ecke der Außenwand. Der Mond hängt über meinem Haus in einer schmalen Sichel, die Sterne flimmern nur fein, der Himmel ist verhangen und die Bäume rauschen ohne Unterlaß. Ich krieche wieder in meinen Mantel und sehe noch ein wenig ins verendende Feuer. Ich bin erschöpft, und meine Gedanken sind wie ein Nebelhauch, leicht und windverweht, sie hängen sich nirgendwo fest, sie schweben dahin und Verblasen auch die Angst, die aus dem Denken sich erheben könnte, ich dämmere an einem Grat von Traum und Wachen entlang, hier hält sich nichts, hier greift kein Mangel, hier steht kein Glück, es ist alles nicht notwendig, nur der Schlaf, der rafft mich wieder hinweg, und ich verbringe die Nacht im Schlummer. Als ich wieder erwache, fühle ich das Bedürfnis, mich zu strecken und zu gähnen. Ich mache es leise und besinne mich dann, daß ich ja laut gähnen kann, wie mir der Schnabel gewachsen ist, es gehört ja alles mir, die Erde gehört mir und das ganze Universum dazu. Aber dieses Bewußtsein enthebt mich der rücksichtslosen Benützung meiner Freiheit. Sie schmilzt als Qualität dahin wie ein Seidenfaden zurück in die Raupe. Ich spanne meine Muskeln an, ich spüre, sie sind nicht recht intakt, etwas verkümmert, sie erschlaffen, bevor sie noch durchpulst sind. Ich stehe auf und ziehe den Mantel aus. Dann schlüpfe ich in meine alten Kleider. Das Wetter ist besser geworden. Die Sonne scheint, aber es ist kühl, es wird nicht mehr viel wärmer werden. Die Luft ist klar und herb. Das Weinlaub fällt schon ab. Ich trinke aus der Quelle, und das Wasser holt mich endgültig zu den Lebenden herüber. Ich setze mich wieder auf die Erde neben den Trog und genieße das Gefühl der Klarheit im Kopf. Er ist schwer, aber ich habe die Schwäche überwunden, ich halte ein Nasenloch zu und ziehe durch, jetzt ist das andere verstopft. Im Hals ist es rauh. Ich denke an die Krankheit bei Bärle. So ähnlich muß ich mich damals bei meiner Genesung gefühlt haben. Mit fällt jetzt erst richtig auf, wie bereitwillig ich auf meinen Zustand eingegangen bin. Ich wäre an einer bloßen Verkühlung gestorben. Ich weiß, daß ich auch dicht daran war, mich in Angst und Panik zu verheddern, ich spürte die Ansätze dazu, aber sie haben sich aufgelöst, indem ich angenommen [595] habe, in einem schlimmmen Zustand zu sein. Nicht daß ich das bewußt mit mir abgemacht hätte, es hätte nie als Benützung einer Weisheitsregel funktionieren können, aber jetzt kann ich es nach vollziehen, und meine Angst vor der Krankheit fällt nun wie ein erlösender warmer Regen auf mich herunter in meinen ausgetrockneten Hals, in meine Besinnung an der Quelle. Es ist mir ein Wunder, daß ich hier sitze. Es dringt zu mir wie eine Botschaft von mir, am Leben bleiben zu wollen, hier in diesem Haus, mit meinen Weisheiten und Dummheiten. Ich fühle, daß ich richtig gegangen, blind, aber wahr gewandert bin. Ich fasse wieder in die Erde, meine Augen und Ohren verlieren sich in dem Rauschen des Windes im Wald. Tief dringt diese Stimme an mein eigenes Schweigen, nichts habe ich dazuzugeben. Das Rauschen höhlt die Vernunft, die Gedanken verfärben sich wie die Blätter des Weinstocks, werden brüchig und zerfallen zu Erde. Ich bekenne mich zu meinem Zerfall. Ich hole die drei benutzbaren Töpfe und wasche sie an der Quelle. Ich trage frisches Trinkwasser in die Stube. Ich bewege mich langsam, ich merke, daß mich die Tätigkeit mehr stärkt als schwächt. Ich vollziehe jede meiner Bewegungen mit, ich freue mich über meinen Körper, ich gewinne neues Vertrauen zu ihm. Richtiges Hungergefühl erhebt sich in meinen Eingeweiden, ich schnuppere an den Rüben und an den erdigen Kartoffeln, die Nase beginnt schon wieder zu riechen. Einige Stücke lege ich sorgfältig in den Topf, wasche das Gemüse und bereite es zum Kochen vor. In einem kleinen Verschlag an der Außenseite der Hütte finde ich verrostete Fallen und ein Paar Stiefel, sie sind völlig verrrottet. Auch altes Werkzeug, zum Teil noch benutzbar, liegt da herum. Ein großes Stück Tuch liegt im Schmutz, es ist weicher, guter Stoff. Ich reiße einen großen Fleck davon her-
aus, nehme einen Eimer Wasser und fange an, die Stube mit dem nassen Lappen zu wischen. Beim Trog findet sich ein abgenützter Reißbesen, mit dem ich den Boden kehre, während die Suppe brodelt. Mein Kamerad, der hat einfach alles gehabt. Der muß gut gelebt haben mit seinem Pfeifchen und den warmen Pantoffeln. Obwohl ich ordentlich gelüftet habe, hängt noch immer der feine Weihrauch in der Stube. Diesmal mache ich mir das Essen gemütlicher, ich setze mich an den Tisch. Das warme Essen schmeckt mir und tut mir gut. Ich fühle mich [596] zwar nicht nach Schlaf, aber ich lege mich trotzdem noch hin und döse auch wirklich ein. Ich lebe in dem kleinen Haus, das ich schon recht sauber und ordentlich gekriegt habe. Die Tür schließt wieder, die Laden hängen wieder in den Angeln, aber ich mache sie nur zur, wenn Sturm aufkommt. Meine Nase ist frei, und im Hals kratzt es nicht mehr. Ich habe noch ein Kartoffelfeld entdeckt, meine Nahrung reicht. Vieles habe ich schon gelagert, einiges wächst noch im Garten. Dort, wo schon abgeerntet ist, habe ich mit einer großen Schaufel die Erde umgestochen und aufgeworfen. Ich bereite mein Essen verschiedenartig zu, aber es besteht immer aus denselben Sachen. Mit ist das recht so. Ich habe zu jedem Handgriff Zeit, ich kann langsam sein. Nur den Rauchfang, den habe ich noch nicht gerichtet. An den Abenden ist es schon kalt, und das Feuer ist angenehm. An den Mantel habe ich mir die Kapuze geknöpft, die ist warm, aber an den Füßen ist mir oft kalt. Ich reiße mir aus dem weichen Stofffleck große Streifen heraus und wickle sie um meine Füße, darüber binde ich ein Lederstück. Meine Stiefel gehen bis an die Hälfte der Waden, manchmal rutschen sie, ansonsten sind sie wunderbar warm. Meine Blutung hat sich auch wieder eingestellt. Wenn ich mit meinem Kräuterkorb im Wald umherwandere, schließe ich die Tür besonders sorgfältig ab. Manchmal spreche ich mit mir selbst, manchmal rede ich auch mit meinem Hausgenossen, der noch immer seelenruhig im Nebenraum sitzt. Ich schaue auf den Boden, ich spähe unter die Nadeln, ich habe ein gutes Auge für die versteckten Dinge, die im Wald wachsen, wenn ich auch nur wenig davon verwende. Manchmal finde ich noch Beeren, es scheint keine gute Pilzzeit mehr zu sein. Ich fühle mich wie der Einsiedler, zumindest äußerlich. Das Fühlen ist wie das Denken, meine Erinnerungen blühen farbig, wenn ich sie herauskrame, aber ich benütze sie wenig. Mein Denken ist reduziert. Ich habe es jederzeit parat, aber es liegt ruhig auf dem Grund meines Gehirns. Ich bin nicht eigentlich konfliktlos, selten schwingt sich mein Gefühl zu etwas Derartigem auf. Mir ist nichts nah und nichts fern, die Hirnfunktionen stellen sich weder gerufen noch ungerufen ein, sie sind ein wenig vertrocknet wie meine Kräuter. Mein Denken ist wie das Riechen oder Schmecken oder die Bewegung geworden, langsam und ohne eine [597] bestimmte Richtung, ohne Weisheit und ohne Sehnsucht nach einer Veränderung. Eingegangen in meine selbstverständliche Nichtigkeit, ich funktioniere wieder gut, mit meinem Hunger, der Lust an der Bewegung, dem Stuhlgang und dem Wasserlassen und dem Bedürfnis nach Schlaf. Nicht daß ich keine Lust hätte, oh, ich habe viel davon, ich habe alles, ich funktioniere haarscharf und präzise. Wenn die Bedürfnisse so gering und einfach sind, spürt man sie wie eine Uhr, dann werden sie eine Art Zeit, sie sind genau und unverrückbar, sie teilen mein Leben in Lust und Unlust. Ich tauche ein in den Wechsel meiner Zeiten, ich bin ein Freund meiner Bedürfnisse, und ich lebe dafür und damit, ich reguliere daran den inneren Haushalt meiner Seele, sie ist nicht gestorben, sie ist fröhlich und auch traurig, sie ist wütend und auch belustigt, aber sie macht kein großes Aufheben von ihrer Existenz, sie nimmt sich nicht so wichtig, die Gute. Sie steht still wie ein Zeichen auf meinem Dach, sie taucht nicht auf, sie hat es nicht nötig, es kommt ja niemand, nie kommt hier jemand vorüber, auch nur wenige Tiere konnnte ich bis jetzt beobachten. Ich habe keine Sehnsucht nach Menschen. Sie existieren für mich hier nicht. Sie spielen keine Rolle in meinem Leben. Aber ich habe nicht vergessen, daß es sie gibt auf diesem Stern. Nicht daß ich nicht diesen Standpunkt der inneren
Beobachtung einnehmen könnte, aber ich überdenke mein Leben nicht, es lebt sich selbst, meine Gedanken sind Gefühle, die auftauchen, und die ich wieder vergesse, wenn sie sich gemeldet haben. Manchmal, wenn ich mit meinem Kameraden rede, da sage ich du und ich, manchmal rede ich mit mir, und da sage ich du und ich, und manchmal rede ich auch mit einem Tier, und da sage ich auch du und ich, aber das bedeutet nichts. Sonst bin ich eigentlich nicht, wenngleich ich mich jederzeit hervorholen kann. Ich habe eine Haarbürste gefunden und benütze sie auch dann und wann. Sie hat nur mehr wenige Borsten, und die sind nicht sehr hart. Auch habe ich mir öfter schon viel Wasser gewärmt und mich ordentlich gewaschen. Wenn es recht warm wird und ich beim Feuer sitze, überkommt mich manchmal ein unmißverständliches Ziehen im Unterbauch. Ich betrachte es als Zeichen meiner Gesundheit und rubble mir mit den Fingern die Lust herunter, so wie ich das Gemüse putze und den Garten pflege. Auch diese Gelüste sind nicht mit mehr Bedeutung belegt, als alle anderen, ich dehne die Szene nie besonders aus, genieße aber das Spiel nach wie vor. [598] Ich versuche eine Leiste an der Kante des Dachs zu montieren, sie soll das Abrutschen des äußeren Balkens verhindern. Ich werke ohne Erfolg daran herum, die Nägel sind alle verbogen und rostig, das Zeug will nicht halten. Ich werfe das Stück Holz hin und stampfe knurrend durch den Wald, in meinen Mantel gehüllt, dann muß ich über mich lachen, weil ich noch wütend sein kann. Ich halte es eher für gesund, daß ich noch Gründe finde, mich über Dinge aufzuregen und sie hinzuschmeißen, um es sicher noch einmal zu probieren. Mich erheitert das, es erwärmt mir die Seele. Ich singe vor mich hin. Gestern habe ich mir heiße Suppe über die Hand gegossen, ich war verbrannt, und die Suppe war weg, ich war wütend wie ein Affe ohne Baum und hatte mir damit auch wieder einen Grund zum Lachen geschaffen. Über mich lachen, das kann ich noch, aber ich lache nicht nur, wenn mir Mißgeschicke passieren. Ich ziehe meinen Mantel jetzt gar nicht mehr aus, nur drinnen, wenn das Feuer besonders heiß wird. Auch in der Nacht ist er gut, er liegt als zweite Bettdecke auf mir. Das Feuer ist heute wieder besonders schnell angebrannt. Ich habe die Kartoffeln geschabt, ich werde sie mit der Kresse überstreuen, die an der Ecke des Gartens gedeiht. Die Petersilie ist ausgewachsen und schmeckt bereits bitter. Ein wenig habe ich davon getrocknet, aber damit gehe ich sparsam um. Ich koche nur einmal am Tag, sonst esse ich das Gemüse kalt. Das Wasser brodelt ein heimeliges Lied im Topf. Ich war heute lange im Wald. Schon vor Tagen habe ich einen Dachsbau gefunden, in dem sich aber nichts gerührt hat. Heute erschien mir die Erde vor dem Bau aufgewühlt und verändert. Ich habe lange auf den Dachs gewartet, aber er ist nicht gekommen. Es war so still im Wald, und ich wollte eigentlich nur so dastehen und atmen wie die Bäume, ich war mit dem Boden verwachsen, ich hätte mich nie mehr rühren müssen, ich hatte kein Verlangen danach und keinen Grund. Dann dachte ich aber, daß der Dachs vielleicht nicht in seinen Bau geht, weil ich hier herumstehe, somit habe ich mich selbst wieder in meine Hütte verkrochen. Er hat ja recht, ich bin kein Baum, in der Wärme fühle ich mich doch wesentlich wohler. Das Föhrenholz brennt besonders gut, der Duft zieht durch das Gebälk, zieht durch meine Hirnsparren wie ein Füllhorn voll Liebkosungen der Mutter Natur. Ich rühre in den Kartoffeln, sie brauchen immer so ihre Zeit zum [599] Weichwerden. Meist wandere ich im Raum auf und ab, die Hände auf den Rücken ineinandergehängt. Ich spüre das Garen der Nahrung in meinem Gewebe, ich bin diesbezüglich sehr wach, ich erwische sie meist ganz genau an ihrem Punkt von weich zum Zerfallen. Ich summe mit dem Brodeln des Wassers und sehe den Dampf feenhaft hochsteigen, sanfte Wolken, Schleier, in denen sich Gesichter aus meiner Erinnerung zeigen, Gespenster meines Bewußtseins, sie bilden sich, während sie schon wieder eine andere Form annehmen. Plötzlich fluscht es auf, es knallt, und eine dunkle, stinkende Wolke bildet sich an der Stelle, wo der Kamin beim Dach hinausgeht. Ich trete rasch zurück. Noch einmal knallt
es, ich kneife die Augen zu und reiße das Fenster auf. Ich lasse frische Luft ein. Das Feuer brennt nach wie vor, aber es stinkt, ich Öffne auch die Tür und gehe hinaus. Da sehe ich oben auf dem Dach einige Schindeln, die am Rauchfang anliegen, brennen. Jetzt erst gerate ich in arge Unruhe. Ich müßte das Feuer löschen, aber es ist schon ziemlich groß, es prasselt hemmungslos weiter. Wie kriegt man ein solches Feuerwerk klein? Ich habe nur einen Eimer Wasser. Mit dem dünnen Wasserstrahl aus der Quelle ist da nichts zu wollen. Ich bleibe in der Nähe der Tür stehen, raffe meinen Mantel an mich. Innen brennt es noch nicht arg, nur der Qualm hängt drohend an der Decke des Raums. Ich denke aus irgendeinem Grund an das Gerippe nebenan. Da fährt eine Stichflamme herunter, eine Knallkette birst auf, will das Dach schier zersprengen. Die ganze Hütte erbebt in dieser Erschütterung. Es prasselt und knackt, ein Mauerteil bricht bröselnd in den Kamin hinein. Es zischt, das Feuer preßt sich hartnäcki über den Mauerbrocken und züngelt nach dem Holz, das neben dem Ofen liegt. Es beginnt sofort zu knistern und brennt. Es knarrt und knackt, beginnt zu brüllen, in Hitze aufzuschreien, die Flammen züngeln über den Boden zu mir her. Ich springe zurück. Hitze flimmert hoch und erhebt das ganze Haus in ein geisterhaftes Schmelzen, das in den Himmel aufsteigt. Ich bin gebannt von dem Schauspiel und denke dabei versonnen, daß so ein Brand viel schneller um sich greift, als man das mitdenken kann, und ich bin mir klar, daß ich nichts dagegen tun kann. Ich überlege das nacheinander und trete Schritt für Schritt weiter zurück, mit großen Augen in die Flammenzungen gebannt. Der Kamin bricht [600] völlig zusammen, das Dach fallt ein, eine neuerliche Flammenschwade lebt auf, hoch in den Himmel, das Ganze gerät in eine leuchtende, züngelnde Bewegung. Glutstücke regnen auf mich hinunter, meine Haare werden angesengt. Ich renne weg, schnell und zügig, als gerade die ganze Hütte einstürzt, weg - hin zu den Bäumen des Waldes. Dort bleibe ich noch einmal, einen Stamm umfassend, stehen und schaue auf die Riesenfackel zurück. Über die frische Erde leckt das Feuer nicht mehr so leicht, die Kartoffelstauden fangen zu glosen an, aber sie sind kein gutes Futter für die Glut. Die Hitze flimmert auf der Lichtung. Ich weiß nicht, ob der Brand auf den Wald übergreifen wird, oder ob die Gartenfläche groß genug ist, um dem Feuer Einhalt zu gebieten. Meine Augen brennen, die Flammen lodern an der rückwärtigen Felswand hinauf. Eine Hölle von Hitze und Tosen, ich muß laufen, damit es mich nicht einholt, noch hat das Brennen nicht auf den Wald übergegriffen, aber falls es das will, wird es hinter mir herlaufen mit ungeheuren Schritten. Ich reiße mich von dem Schauspiel los und renne den Weg hinauf. Ich schaue zurück, das Feuer verfolgt mich nicht, aber ich höre es immer noch krachen, es kann noch kommen. Ich raffe meinen langen Mantel zusammen und laufe immer weiter. Auf einer kleinen Anhöhe lasse ich mich auf den Boden fallen, spucke kräftig den Speichel aus und ringe nach Luft. Ich kann keine Flamme mehr erspähen. Ich weiß nicht, ob ich aus Angst oder aus Lust gelaufen bin, ich merke kein Bedauern, ich fühle nur meinen fliegenden Atem und die reine Luft. Ich habe mein Haus verloren und meinen Platz, an dem ich gelebt habe, an dem ich auch gestorben wäre. In dem ich gestorben bin. Wenn die Flammen über den Wald kommen, hoch über die Bäume hergeflogen, stecken sie das ganze Firmament an, dann bin auch ich ein Teil von ihnen, heiße Glut, ein feuriger Gedankenball. Der Weg führt mich weiter an den anderen Hang des Berges. Ich schlüpfe mit meinen Armen in die pelzigen Ärmel und setze mir die Kapuze zurecht. Noch einmal horche ich in den Wald hinein. Es ist windstill, aber die Luft beißt kalt in mein erhitztes Gesicht. Auf dieser Seite des Berges lichtet sich der Wald langsam, das Gelände fällt stufenförmig ab. Nebel hängt über dem Talkessel. Ich gehe am Grat entlang. Ich habe eine eigene Hütte in meinem Mantel. Warm ist er. Die Bäume zur linken Seite werden zu Laubwald. Rechts fällt der Berg ab, von wenigen niedrigen Büschen und vertrocknetem Gras [601] bewachsen. Laub liegt am Weg in lockeren Haufen herum, schmiegt sich an Baumstämme, häuft sich auf zu Hügeln,
die auseinanderstieben, wenn sie doch in Bewegung geraten. Die Blätter tanzen vor mir her wie die wilden Kinder des Waldes, sie wälzen sich übereinander, die gelben und die braunen, die rostroten und die noch grünen. Manche sind nur mehr ein äderiges Gerippe. Ich hebe eines auf und befühle es zwischen kalten Fingern. Ich gehe weiter und schaufle das Laub vor meinen Füßen her. Die Äste recken ihre Nacktheit gegen den Himmel und einander zu. Sie verlieren den letzten Anschein von Fruchtbarkeit, Blatt für Blatt, diese gleiten herunter, mir zu Füßen, eine ganze Jahreszeit. Mir ist dieses Bild tröstlich, es ist mir verwandt. Die Äste der Bäume zeigen mir in meiner ziellosen Bewegung - eine Richtung - eine - überall hin - und zurück in die Erde. Ich halte wieder ein und versuche unter der Nebeldecke im Tal etwas zu erkennen. Dicht ist der Schleier, Fetzen der Wirklichkeit meiner Sinne. Was soll ich jetzt noch suchen. Ich fasse mit der Hand in die Luft, ich kann es nicht greifen, meine Bewegung schmilzt in sich zusammen, während ich sie vollziehe, war es feiner weißer Sträub? Wieder treibt das Weiße vor meinen Augen, sinkt auf den Boden und vergeht. Dann und wann, verteilt, fallen vereinzelte Schneeflocken. Zarte weiße Linien bilden sich am Rand mancher Laubhaufen, sammeln sich zu einer ersten Zuflucht, schmiegen sich aneinander. Ich fasse wieder nach einer Flocke - eine vergessene Erinnerung lang -, dann ist sie nicht mehr als solche zu erkennen. Zerronnen auf meinem Schicksal. Ich hocke am Boden und schaue hoch wie der erste Schneehase. Die Dämmerung sinkt herunter, kommt sacht über mich. Ich werde da schlafen müssen unter den Sternboten einer eisigen Zeit. Ich schaue noch einmal mit zusammengekniffenen Augen hinunter ins Tal. Bis dahin kann es noch ungeheuer weit sein, und wer sagt, daß es da unten besser ist. Ich habe auf dem Weg hier schon öfter trichterartige Gruben gesehen, in denen sich das Laub häuft. Es sammelt sich dort zu einer Decke für mich. Das nächste Loch nehme ich. Ich krieche hinein, lege mich auf die dicke Laubschicht und decke Blätter über mich. Ich richte mich noch einmal auf und scharre das umliegende Laub zu einer dickeren Decke zusammen, kuschle mich in das lockere Rascheln hinein, es raunt mir etwas ins Ohr, von Tieren und von [602] Wärme, von Erde und Wind, von Heimat und Tod. Ich richte noch einmal meine verrutschten Fußlappen, ziehe die Beine an, verschränke die Arme unter dem Kopf und schaue an den stetig dunkler, fast violett werdenden Himmel wie an die Decke in meiner Hütte. Das Laub lebt unter mir, es ist in Bewegung, es zerfällt, stirbt und atmet in meiner Wärme. Die Schneeflocken waren nur die ersten Schleier des Winters, noch ist es fast zu früh zum Schneien, aber wer will der Natur gebieten. Mein Herz arbeitet, es zuckt merklich, ich will hinfassen, um es ein wenig zu beruhigen, noch einmal regt es sich, aber ich bleibe liegen, ich fasse nicht hin, es ist ein herabgefallenes Blatt, es wird schlagen oder verstummen, es hat ein Recht, sich zu regen und sich einmal gegen meinen Blutstrom zu stelllen. Es löst nichts mehr aus, es ist schon so lose in mir, es ist verloren im Laub. Ein Vogel pfeift in seinem Schlafbaum. Wie sich die Gesellen plustern und zusammendrängen mit ihren Herzen, eine Handvoll Herz, ein Pulsschlag vor dem Einschlafen. An einem Baumstamm raschelt es. Ein kleines Tier wird sich verkriechen, es macht das so wie ich. Die Dunkelheit deckt sich über uns, sie sinkt herunter, taucht in das Licht ein wie Wasser in die Erde. Sickert über mir zusammen und rafft meinen Tag hinweg, der in die Erde gurgelt zu neuem Leben. Träume in der Erde, ein Wehen in der Kruste, eine Bewegung des Balls, eine Drehung hinüber in den Tag, an dem ich wieder erwachen könnte. Als es hell wird, raschle ich wieder aus meinem Bett hervor. Es war warm und trocken, obwohl die Luft kühl und windig weht. Mehr von dem Schnee ist nicht gefallen. Ich rücke an meinem Gewand herum, wie um mich neu einzukleiden, pinkle zum Abschied an den Rand meines Laubbetts und wandere weiter. Ich hätte auch liegen bleiben können, ich staune fast, daß ich nicht daran gedacht habe, mich nicht mehr weiterzubewegen, aber ich fühle mich frisch, ich rege mich gern, es entspricht meinem Bedürfnis. Ich fühle mich gelöst von allen Überlegungen vernünftiger und unvernünftiger Art. Aber ich behalte einen
gewissen Zug in mir, von dem ich allerdings nicht sagen kann, ob er irgendeinem Maß entsprechen würde. Ich selbst habe nur meine Bedürfnisse als Weg, wobei ich nicht weiß, ob mich die ins Leben oder unmittelbar in den Tod führen. Mein Wunsch ist in dieser Hinsicht sehr verwischt, und außerdem [603] gleichen sich diese beiden Spuren so sehr, daß sie in meinem Hirn zusammenfallen. Ich weiß, daß ich irgendwo ankommen werde und trotzdem an keinem Ende sein werde. Für mich bedeutet Ankunft kein Ziel, weil die Ziele selbst nichts bedeuten. Ich bin lose wie ein Blatt, aber einen Signalpunkt kann ich spüren, einen sehr lebendigen Punkt, eine Stelle, die mich als Leben ausmacht, eine Stelle, die überhaupt mein Leben ist. Ich begrüße meinen Freund und meinen Peiniger, meinen Herrn und meinen Schöpfer, ich muß lächeln über seine unbeirrbare Allgegenwart, er treibt mich, er hat mich schon oft gerettet oder auch beinahe getötet. Der Hunger ist mein Begleiter, er hat mich noch nie im Stich gelassen, manchmal ist er meine einzige Freude und ein gieriger Sinn. Ich war zuletzt gewöhnt, regelmäßig meine Suppe zu essen, ich höre es in meinen Eingeweiden schreien und ziehe weiter in der Triebkraft meines Mangels. Hunger ist das Leben, Hunger ist die Vernunft, die einzige Form eines Plans, der dem Wahnsinn des Zerfalls standhalten will. Hunger ist meine Gesundheit. Ich hebe die Hand an die Augen und versuche noch einmal in dem Talkessel etwas zu erspähen. Der Grat führt leicht bergab. Der Himmel ist wieder schneewolkenverhangen, aber das hat noch Zeit, der kommt noch nicht. Ich greife mir ans Gesicht unter der pelzigen Lederhaube, ich habe kalte Backen, ich fühle mir langsam an die Augen und über die Linie der Brauen, unter den Augen ist die Haut empfindlich und fein, die Lippen sind voll und etwas rauh. Ich spüre meine Hände wie eine lange vergessene Zärtlichkeit. Möchte ich mich fühlen unter meinen Händen? Ich bin noch da, ich bin stark und kühl, ich bin ein lebendiger Geist im Ableben der Zeit, ich bin ein Zeitgeist. Mein liebes Gesicht in meinen alten Händen, es ist meines, ich bin so weit mit ihm gegangen, es war immer schon bei mir, es ist immer mitgewesen, es war dabei am Anfang von dort, woher ich komme, es spricht nicht die Sprache der Worte, meine Haut atmet aber, sie sagt, daß ich schon dagewesen bin, sie lebt es, sie kennt es. Sie macht es daß ich mir eine Erinnerung vom Boden aufnehme, einen Blick unter meine Füße, von dort, unter dem Nebel meiner Sinne, von dort her schlägt mir eine Erinnerung, und ich greife mir ans pochende Herz. Es signalisiert aus der Wüste, es meldet mich. [604] An einem Baum erkenne ich verwischte Markierungen. Die Farben sind nicht erkennbar, sie hätten mir auch nichts bedeuten können. Eine Tafel liegt im Laub unter dem Baum, sie ist gebrochen und vermodert. Ich wende mich den Hang hinunter, die Sonne dringt einen kurzen Moment durch die Wolkendecke. Ich gehe weiter, wenn ich mich nicht bewegen würde, müßte ich frieren. Mein Magen meldet stärker sein Begehren. Wind fährt auf, ich krieche tiefer in meine Haube hinein. Der Weg fällt weiter ab und schlängelt sich dann eine Strecke eben auf einem trassenartigen Weg weiter. Ich ziehe dahin und verliere meine Gedanken, ich gehe, ich erstarre innerlich, so als sei dieses Verhalten ein Schutz gegen die Kälte. Nur die Beine, die bewegen sich automatisch. So kalt war es am Morgen noch nicht. Ich war in einer windgeschützten Zone gewandert, hier jedenfalls dringt die Kälte bis in mein Gemüt. Sie friert mich ein mitsamt meinen Sinnen. Ich stolpere und bleibe, aufmerksam geworden, in meinem mechanischen Gang stehen. In der Ferne, weit oben, auf einer Kuppe, kann ich ein Gebäude erkennen, das mir bekannt vorkommt. Ein gläserner, weitläufiger Bau, ein Block aus mehreren Stücken gefügt, wie eine Spiegelung der Luft. Dorthin komme ich nicht leicht von hier, mein Weg führt abwärts. Ich blicke hinunter ins Tal. Aus dem Nebel der Tiefe taucht etwas auf, ein bekannter Atem, unvermutet - nur einen Augenblick - erscheint eine Stadt. Der Gratweg steigt noch entschiedener bergab und läuft in eine breite, geschotterte Straße aus.
Eine Haarsträhne löst sich aus meiner Haube, sie weht frei im Wind dahin, ein Haar bleibt in einer Wimper hängen, es streicht mir über die Haut, es ist mir nahe, es löst einen Bann, es gehört zu mir, auch jetzt, wo es sich löst und frei weht, bis ich es wieder in die Kapuze stopfe. Ich bin lange gewandert, und es beginnt schon zu dämmern. Hier findet sich kein Laub mehr, aber auch hier könnte ich vielleicht Unterschlupf finden. Wenn ich mich in einem Winkel zusammenkauerte, wäre das Unterschlupf genug, aber ich will noch weitergehen. Mein Magen kann noch lange knurren. Mein Schritt wird langsamer, zögernder, aber nicht zaghaft. Er wird fragend. Ich weiß, daß ich diese Frage durch ein Umdrehen und einen Rückblick nicht lösen könnte und auch nicht wollte. Diese Einsicht macht, daß, wenn mich jemand beobachtet hätte, er keine Änderung in meinem Schritt wahrgenommen hätte. Hier beobachtet [605] mich allerdings niemand. Wahrscheinlich nicht. Mir rollt die Straße unter den Füßen ab. Wieder stehen diese Flocken in der Luft, mit einemmal. Ich ziehe meinen Mantel noch enger um mich. Sie fliegen an mir vorüber, ich sehe ihnen nach, ich wende mich zurück, ich bin so leicht und verweht wie sie. Ich drehe mich langsam und sinnverloren um mich selbst, die Hand ausgestreckt, dem Flug der winzigen weißen Flocken folgend, wie sie niedersinken und vor mir auf der Straße schmelzen. Ein Windstoß drängt an mich, ich stemme mich im Stehen erst gegen seine Kraft, dann lasse ich ihn in meinen Rücken drücken. Mich treibt der Sturm um so beharrrlicher in die eingeschlagene Richtung. Ich habe Vertrauen zu meiner Bewegung, gerade jetzt. Vor mir am Weg, noch über der Stadt, taucht ein Gebäude auf, rundherum steht ein hoher Schmiedeeisenzaun, ein großes Gittertor bildet den Eingang. Ob es offen sein wird? Ich möchte da hin. Mein ganzes Denken drückt mit auf die riesige Klinke dieses Tors, ich fasse sie an, sie liegt in meiner Hand wie ein überdimensionaler Nabel aus Eisen, ich drücke hinunter, und der Torflügel schwingt mir entgegen, gibt den Weg frei in den Garten hinein, in dem die Irrlichter zu flimmern scheinen. Knirschen über den Kies, körnig mein Schritt, die Hände schwingen über den Schatten. Ich mache den Mund weit auf und atme hinein mit offenen Augen - das Tor fällt hinter mir ins Schloß. Könnte ich es auch wieder aufmachen? Ja, das Tor ließe sich wieder öffnen. Aber ich kann es freiwillig geschlossen lassen. Ich bin offen, ich kann frei atmen. Ein Licht dringt aus dem Fenster des dunklen Hauses vor mir. Wie von fern schlägt ein Laut in ein Segment der Wirklichkeit. Schritte kommen auf mich zu über den Kies in der Dunkelheit unter dem erleuchteten Fenster, regelmäßege Laute, schwer in der Bedeutung und nah und lieb in einem vertrauten Schritt. Wie mein eigener Schritt. Ein Mann geht im Garten, langsam, in einen dicken, langen Mantel mit einem großen Pelzkragen gehüllt. Das Haar zurückfrisiert, an der Stirn schon etwas gelichtet, weise Augen hinter klaren Brillengläsern. Nahe vor mir murmelt er mit leichtem Kopfnicken: «Was ist mit dir?» Es beruhigt mich, es streift mich sein weises Gemurmel wie ein bestätigendes Streicheln, eine Anerkennung meines Zustands, eine [606] Einkehr in eine Möglichkeit. Er bewegt sich weiter in den Abend hinein unter den kahlen Bäumen. Ein Bote, eine Zustimmung, eine Ankunft meines Sturzes in den Abrund, wenn ich auch nur ruhig dastehe und mir die Bewegung denke. Ich sammle mich, ich ziehe mich zusammen. Ich gehe zum Haus. Das Leder meines Mantels ist wie ein Panzer meiner Haut, mein Schutz. Die Wärme schlägt mir mit Licht aus der Tür entgegen, die ich öffne, vorsichtig, wie zu einem Geheimnis. Entgegen tönt mir sanftes Klappern von Tellern und Löffeln. Eine
Musik der Heimlichkeit, der Geborgenheit. Ich verweile und nehme die Düfte in mich auf, lasse das sanfte Licht in mich hineinstrahlen, voll lächelnder Lust auf der Waage des Entschlusses, hineinzugehen oder nicht, hier muß sich nichts erweisen und nichts ergeben, ich lehne am Türstock und genieße das wohlige Geräusch des Klapperns von Bestecken an Tellern, den Dampf, der über dem Topf aufsteigt zu einer zärtlichen Berührung meiner Erinnerung. Zu Hause in einer Bewegung des Herzens, das denen zufliegt, die da auf ihren Betten sitzen und löffeln. Die Bescheidenheit strahlt königlichen Stolz aus. Mir fällt der Mantel von den Schultern wie ein Cape aus Hermelin, ich stehe in einfacher Würde da. Langsam steht alles still - still. Die Menschen halten ein, in mich gerichtete Augen sind Gefühle, jeder sieht sich selbst, ich bin sie alle. Jemand hebt meinen Mantel auf und hängt ihn an einen Haken. «Da bist du ja.» Ich befreie mich von meiner Fußbekleidung und schlüpfe in Pantoffeln, die da stehen und mir irgendwie bekannt vorkommen. Ich richte mich auf, die kalten Hände reibend, meine Haut atmet Wärme, eine Kraft liegt in ihrem Prickeln. Ich halte die Finger ineinander und schaue ins Zimmer. Ein erlösender Laut ringt sich mir aus der Kehle, aus dem Hirn, aus dem Herzen. Ich spüre meine Zunge im Mund wie eine Kostbarkeit, ihre weiche, unsichtbare Innenseite, die so sanft nach außen dringt. Alles kehrt zu mir zurück - ich schreibe es mit meinen Gedanken in den Raum, wie in einem weiten Bogen über das All. Ich, ein Magnet, so dreht sich das Universum um mich, es zieht sich zusammen und verwächst mit mir. Weiß sind die Betten, weiß die Wände. Eine Frau mit einem weichen Gesicht und einem Bernsteinblick bringt mir einen Teller voll Essen. Sie hat große Brüste, runde [607] Formen. Sie weiß, daß sie mir gibt, wonach ich verlange. Sie gibt mir Essen, das ist alles, was ich brauche, um zu leben, bis ich sterbe. Ich setze mich mit meinem Teller auf eines der weißen Betten, das ich finde wie von selbst, ich tauche den Löffel in den Reis. Ein warmes Häufchen von nährenden Zellen, ein einfaches Mahl, warm und körnig. Weiche Körner, weiße Früchte. Dazu rinnt Tee mit feinem Zitronengeschmack aus einer dickwandigen weißen Tasse über meine Zunge. Ob sie sich löst? Wie eine Kuh malme ich in mich hinein, esse meine eigenen Gefühle auf, die Gestalt angenommen haben in der Nahrung. Sie hat mir gegeben, ich habe genommen. Warm legt sich der Brei in mein Inneres, und ich dampfe in wohliger Müdigkeit. Dabei werde ich immer langsamer. Die Teller werden zusammengestellt. Die Sättigung im Magen nährt mein glimmendes Denken, ich lege mich zurück, sinke ein in ein Kaleidoskop, in dem sich bunte Rosetten aufstülpen in einem Wechselspiel von Farbbaldachinen über meiner heiligen Einfachheit. «Wir haben noch Früchte aus dem Garten.» Eine helle Stimme wie Holz im Feuer. Ihr Haar ist glatt und weich, eine lockende Form von Natürlichkeit, es ist hell wie ihr Blick, es wippt in gesunder Kraft um ihr Gesicht, eine verspielte Bewegung im Antlitz, die sich über den Körper ausbreitet, der energisch wendig ist, aber auch weich wie eine Weidenrute. Sie hat die Energie für ihr Spiel in der Mitte, eine stille Kraft liegt in ihrer Lockerheit, wie bei einem Tier in der Jugend. Sie tritt an mein Bett: «Magst du einen Apfel?» Meine Zuwendung ist die Antwort. Lauernde Sanftheit, tiefes Verständnis im Koppeln der verwandten Züge. Ich beiße in den Apfel, daß er aufsprüht an meinem Gaumen. Die Schale platzt auf unter meinen scharfen Zähnen. Das weibliche Wesen mit den energisch schönen Zügen sitzt am Bettende. Ich komme nie mehr los von diesem hellen Mädchen, wie soll ich das anstellen. Vielleicht kann ich bleiben, wer weiß. Festgefroren in einem Bild - bis jemand das Fenster
öffnet und ein klarer, kalter Hauch ins Zimmer dringt. «Vor dem Schlafen lüften», klingt es durch den Raum an mein Ohr wie eine frohe Botschaft aus den äußeren Gefilden der Glückseligkeit. Frische Luft kommt wie ein Schauer über uns beide. [608] «Badet noch jemand?» «Ja, ich bade noch», sagt eine Stimme aus mir, und ich richte mich langsam auf, wie zu einem weltbewegenden Schritt über die Meere. «Da hast du ein Hemd.» Weißes Linnen duftet auf meinen Knien. Allein der Gedanke an ein Bad ist mir schon wie die Erfrischung aller Körperzellen. «Das Wasser ist schon in der Wanne.» Die Frau mit den großen Brüsten zeigt mir den Weg. Ich wandere mit meinem Hemd in der Hand ins Bad, und ich staune, da sitzt schon jemand von den Göttern im Wasser. Darf das sein? Der Dampf steigt hoch bei den wachen Augen. Braungrün glänzende Lichter, eine Farbe aus dem Bereich der Erde, ein leuchtender Ulk ruht in dem Blick wie jugendliche Weisheit. Als sei die Gestalt schon geboren mit der ruhigen Verlorenheit im Blick, einem zärtlichen Lachen in den Falten um die Augen. Ein rotbackiger Apfel liegt neben der Wanne auf einem Stuhl. Ich lasse die Kleider fallen, hänge sie an den Wandhaken und trete unter die Dusche daneben. Sie sprüht warm auf meine Haut, ein Strom von lachend gewordenen Tränen perlt über mein Gesicht, meinen Körper, nimmt mir den Atem, ich schnappe nach dem Vergnügen. Ich bin schon ganz aufgeweicht, mir strömen alle Wasser über das Gesicht, als wollten sie nie mehr aufhören zu fließen, ich will nicht aufhören, unter diesem Wasser zu stehen. Aber irgend jemand dreht den Hahn ab, und es ist so, als müßte ich wie ein Fisch auf dem Trocken weiter schnappen. Aber die Gestalt lacht mir nackt und wohlbeleibt zu: «Vergiß es.» Die Blonde kommt, bringt mir ein Handtuch, zieht ihr Hemd aus, setzt sich nun ebenfalls in die Wanne. Zwei in meinem Wasser, das darf schon sein, wenn es nur noch warm ist. Ich rubble auf mir herum, in Gedanken verloren, und reibe mir vielleicht noch die ganze Haut weg. Ich steige in das Hemd wie in eine Robe. Ich stehe da im nassen Bad, die Haare feucht, die Arme kommen wie von ferne aus den weiten Ärmeln heraus. Meine Arme sind mir wie neue Anhangstücke in meinem neuen Leben ohne Wasser. Fremde Vertraulichkeiten, ohne daß ich davon Besitz ergreifen müßte. Ich werde zum stillen Verehrer meiner Arme, die vor sich hinpulsieren wie eigenes Leben. Ich greife damit an mein Gesicht, es fühlt sich fest an zwischen meinen Händen. [609] Meine Haut auf meiner Haut, voller Wirklichkeit, eine Begegnung im Zerfall. Ich sehe an meinen Beinen hinunter wie in die Abgründe der Hufbildung im Übergang zum Flossengänger und muß dabei lachen über die putzige Aneinanderreihung meiner Zehen. Meine Füße sind Hände, aber dieser Gedanke ist nicht mehr als eine lachende Grimasse um meine ernsten Augen. Auf meinem Rückweg ersteht ein Fenster vor mir, ein Rahmen in der Luft wie der Einblick in einen Dom. Hoch ragt es auf, wächst wie ein Turm in den Himmel hinein, ein gläsern schimmerndes Leuchten blinkt in unzähligen, verschiedenfarbigen Glasteilchen auf, eine buntstrahlende Fläche, von der anderen Seite beleuchtet, ein Eingang in das Schloß der Rätsel. Tief beglückt von dem Glanz der schimmernden Schönheit, wird mir das Bild selbst ein Himmelsschrei des Farbenspiels über die Schichten der Gefühle, transparenter Schein meiner Einkehr in die Aufsplitterung der Ebenen, gesammelt in dieser Erscheinung. Als ich wieder meinen Schritt aufnehme, fällt das geisterhafte Leuchten in ein holzgerahmtes
Fenster am Ende des Gangs zusammen, verdorrt in seiner holzigen Wurmstichigkeit hängt es nun trüb an der abgebröckelten Mauer, mit einer nackten Glühbirne dahinter. Ich selbst bin auf einmal ein eingedörrter Wurm meiner Gefühle und ziehe mich in ungezählte Falten meines genarrten Hirns zusammen. Wieder aufschauend, ersteht das Fenster neuerlich in seiner Pracht, und ich erblühe in der Weisheit über die Vielschichtigkeit des Wahnsinns, obwohl er weitab von der Bedeutung einer Weisheit seinen Fluß nimmt, am Grund meines Ursprungs. Die Erkenntnisse selbst, die als Weisheiten erstehen, zerfallen in unzählige Möglichkeiten eines Scheins und rinnen wie aus einem Füllhorn voll goldflüssiger Scheiße vor mir her. Ich bleibe stehen, auch das Hirn steht still. Im Raum liegen sie alle schon. «Da bist du ja! Laß dich einmal anschauen.» Ich habe vergessen, wie jung er noch ist. Er kann nicht mit mir gealtert sein. Eine kräftige weißgekleidete Gestalt, seine Energie setze ich sofort in meine um, setze sie in Jugend um, ich bin es, ich fühle frisch und kräftig die Bewegung, mein ganzes Blut strömt auf ihn zu, ich gebe ihm gern meine Zeit, die Zeit ist unser schwebendes Verhältnis, das nie zu einer Form gelangt ist und das [610] nur in meinem Gefühl der Jugend, das ich an ihm vermutet habe, besteht. «Laß einmal sehen.» Er nimmt meine Hand und fühlt die Schläge des Herzens. Dabei schauen seine Augen wie die eines zahmen Tiers aus dem Käfig heraus. «Zeig einmal deine rechte Seite.» Ich ziehe mein Nachthemd hoch. Für einen Moment haben seine Augen jetzt so ausgesehen, als würden sie ihm über die Wangen ausrinnen. Er nickt, dann bewegt er meinen Arm sacht und liebevoll im Gelenk, fahrt mit seiner Hand über meine Schläfe, an der etwas noch leicht zu spüren ist, nickt anerkennend und geht allzuschnell weiter. Ich kauere mich auf meinem Lager zusammen und lege den Kopf auf die Knie. In dieser Lage rastet ein Hirnmuster ein, in dem ich mich klar und deutlich an Erlebnisse erinnnern kann, ich kehre dahin zurück mit meiner ganzen Erscheinung. In ein Haus, auf einen Weg über die Blätter, an den Rand der breiten Straße, über den großen Platz, wo ein Mann aus dem Fenster schaut, ein Raum, wo eine in der Badewanne blutet, wo Urga begraben wird und ich hinunterfalle. Ändere ich meine Haltung, so fallen die Steinchen in meinem Hirn in eine andere Stellung und ich sitze wieder hier auf dem Bett. Ich ändere meine Spiegel einer Wirklichkeit, wie ich will oder wie ich kann, denn ich kehre nur zurück, wenn meine Gedankenstellung sich verändert, ich lebe hier, ich bin es, und manchmal tauche ich ganz auf, hebe den Kopf heraus aus dem Wechsel der Erscheinugen, selbst jetzt noch eine Bewegung von einer Ebene in die andere, höchstens zum Lachen gut, aber ich nehme das ernst und bin mein Opfer in der Gefangenschaft der jeweiligen Sphäre, ich kann mich mit diesem Bewußtsein nicht retten vor der Auslieferung an den Zwischenbereich. Das muß das Leben sein. Ich lege mich auf den Rücken und blicke mit weit geöffneten Augen an die Decke. Die Splitter fallen jetzt locker, gleiten übereinander, bilden dann einen Schacht, in den ich einschwebe, hinüber in ein Meer der Glätte meines Urgefühls für das Sein, entfernt von meinen bewußten Flackerbereichen, nichts hält mich, eine Schwingung führt in die Leere, ein Ausfließen des Gehirns zu meiner ursprünglichen Struktur aus nichts, an das ich fassen müßte. [611] Ich gehe über ein Entfernen von mir selbst, es leckt noch einmal ein Erinnern an den Begriff ICH, dann verliere ich mein Rauschen einer Lösung von mir, mein Körper sinkt schwer davon, fällt zurück, rücklings im schwebenden Sturz mit einem letzten ausgeflosssenen Schrei in ein Meer von Blut, in das sich beim Aufprall ein Strudel dreht, bestehend aus toten Bildern meiner bekannten Erinnerung, ein Ornament in zufälliger
Wirbelbildung, ich schaue mir gleichzeitig wie unbeteiligt von hoch oben zu. Unter dem Meeresspiegel aus rotem Blut schwimmt meine Hirnstruktur, während sie sich wiederbildet in derjenigen Form, die ich als meine erkenne, mein Lebensgefühl, klar und still, das Bild meiner Zellen, als zusammengesetztes Puzzle, mein Spiel, das sich immer wieder in dieser Art zusammenfügt, locker und leise, ein verhaltenes Klirren nasser Kristalle, wie zufällig, immer wieder in meine Form, in die ich einkehre und mich dabei auflöse. Die Lösung der Möglichkeiten, in Einheit mit meinem Atem, schwebend in der Mitte der Himmelsbahn, da lehnt eine Leiter, die hinunter zu meinem Denken führt. Ich bin so frei und nehme mir einen Keks, der auf meinem Nachtkästchen liegt. Da kommt auch eine Gestalt von dort zurück, bleibt an der Tür stehen, wie ein Wanderer über die Sphären jenseits des Denkens, das Handtuch über der Schulter, die Augen ernst und gefaßt im Blues über sich selbst. Die Bedeutungslosigkeit erschüttert schal die Erscheinungen des verflogenen Glanzes. Wie ein Teufel Hörner und Zunge, so streckt das Hirn seine Windungen heraus. Genug - einfach genug des Gaukelns, es ist ja nicht notwendig, es ist ja nur Not, was wäre, wenn die Not nicht heimleuchten würde. Wer hilft wem über diese Klippe am Abgrund. Die verdunkelt auch mir den Sinn. Müssen alle Körper so schwer sein, muß sich das Leben so über den Erdboden zerren, eine ausgelaugte Schlange mit vielen blutenden Geschlechtsteilen, mir hängt die Zunge bis auf den erglühenden Boden, die aufgeplatzten Fingernägel eitern, wie komme ich da je wieder heraus, mir wölbt sich Ekel über die Brunst der Gedankengeschwüre, mich reckt es im Bauch, ich speie meine eigene Geburt aus, mein glitschig-klebriges Drängen im ewigen Geschlechtsstöhnen meiner Gedanken, die sich herausquetschen wie stinkende Kackwürste aus dem Gedärm. Die Augen lauern, sie sehen alles, sie sehen mich an, sie sehen mich in meiner Nacktheit, meine Exkremente im Hintern und in der Nase, [612] wie brünstige Tiere belagern die Blicke meinen Umkreis, den ich nicht zerschlagen kann. Ich will weg, mir ist das geheime Brüten zuviel, wohin soll ich? Eine große rothaarige Frau geht durch den Raum. Sie hält sich eine Hand vors Gesicht, nein, sie streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Mein Blick hebt sich, und ich verfolge ruhig, wie sich die Gestalt von vorhin mit dem Handtuch und den lieben humorigen Augen auf ein Bett lagert und knackend in den Apfel beißt. «Vergiß es, laß es sein. Es ist nicht wichtig.» Waren diese Worte für mich? Ein Gesicht guckt lächelnd zu mir herüber, wissend um meine schweigende Pein. Dann legt sich der massige Körper lang. Die Rothhaarige wirft ihre Lockenpracht zurück und bückt sich hinunter. «Es wackelt immer, dieser eine Fuß muß kürzer sein, ich mag es nicht, wenn das Bett wackelt.» «Leg etwas unter», rät ihr die Frau mit den großen Brüsten. Eine Figur, die bis jetzt still im Bett gelegen hat, mit einem schönen Gesicht, das aber diese Gestalt nicht von innen erfüllt, weil es zu trotzig in die eigene einsame Kammer schaut, meint: «Vielleicht könnte man dahin kommen, daß das Wackeln nichts mehr ausmacht, dann wäre das Problem gelöst, ohne daß eine äußere Veränderung vollzogen werden müßte.» Die Figur sinkt in sich zurück. «Es muß doch gelingen, daß diese geringfügige Unebenheit ausgemerzt wird», beharrt die Frau mit dem prächtigen rötlichen Haar. «Vielleicht bedeutet ein geringfügiges Wackeln ein ungeahntes Glück», bedenkt die Gestalt mit den weisen Falten um die jungen Augen und beißt wieder vom Apfel ab. Die
junge mit dem Blondhaar lächelt still vor sich hin und meint dann: «Mein Bett wackelt schon immer.» Die Tür öffnet sich plötzlich wie zu einer unglaublichen Offenbarung. Herein tritt der mit dem langen Mantel und dem Pelzkragen, reibt sich die kalten Hände, begutachtet den ganzen Raum, streicht sich durch den Bart und murmelt, mit dem Kopf nickend, in angenehm beruhigender Tonlage in sich hinein. Er putzt die angelaufene Brille, setzt sie wieder auf und begibt sich wieder hinaus. [613] «Vielleicht legst du dich neben das Bett, wenn es dir zu viel wackelt», schlägt das ernste Gesicht vor. Jetzt lacht die mit den roten Haaren, wirft die Pracht zurück und legt sich einfach hinein in ihr wackelndes Bett. Auch meines wackelt, muß ich feststellen, und ich stimme in ihre Heiterkeit ein. Jeder weiß es. Hier weiß jeder alles, Fragen sind nur dazu da, um gestellt zu werden, aber nicht, um zu verschwinden. Sie sind das Brot des Geistes. Sie sind aus Luft. Meine Begeisterung über die Nichtigkeit der Erscheinungen schmilzt einfach weg. War auch der Urknall nur ein belangloser Rülpser? Ich beuge mich vor, mein Schädel ist oben offen, mein faltiges Hirn fällt in die Klomuschel, ich spüle hinunter, es glutscht fort mit einem letzten Gluckser des Verlöschens einer zufällig aufgeschienenen Hoheit des Geistes. Dann kommt das Gehirn auf einmal wieder aus dem Wasserhahn heraus und kriecht über den Boden, auf das Bett und schließlich mir wieder schleimig in den Schädel. Mir wächst ein inhaltsloser Schrei im Gewebe, einer jenseits eines Ausdrucks dieser Inhalte, die mich ins Verderben gestürzt haben, ich bin allein, ich bin restlos allein gelassen von den Trugbildern meines ureigenen Satans. Mein Mund ist trocken, ich mache die Lippen auf und zu, sie reiben aufeinander, dieses fade Geräusch, das man nicht einmal hören kann, das ist der Abdruck meiner Persönlichkeit. Auf einmal rührt sich etwas, ich höre einen Laut an mein Ohr klingen, es ist alles so fremd, es dreht sich wie ein zungenschlagendes Jodeln, ein Echo meiner Wendung gegen mich selbst, ich kann nirgendwohin, ich kann nie entkommen, ich kann nur den Haß zücken, wenn ich im Verstand verweilen muß, ich bin ermattet an der Mechanik eines geistlosen Menschenwerkels, eine ausgeleierte Maschine, verfangen in den Knochenspeichen, verklebt mit dem Schmierspeichel des Ordnungswillens. Ich drehe mich hinüber und rotte in ein Verdorren hinein. Dörrpflaumen sollen gut schmecken, wenn ich mich recht erinnere. Inmitten meines Wirbels im luftleeren Raum der Erweckung des Todes habe ich Durst. Wasser! Ich will trinken. Ich brauche Wasser! In meinem Körper schreit das Bedürfnis auf. Ich schnappe nach meinem Atem, ich sitze auf meiner Luft, ich hebe mich hoch und stehe auf wackligen Steckenbeinchen, [614] wie Grillen zirpen mir die Knie, ich bin so verloren, meine Beine gehören nicht mir, ich sehe mich fühlen, ich bin ganz durchsichtig. Stöße walllen durch meine gallertige Haut, die so faltig ist, daß ich einem Wurm gleich in Ringe aufgespalten bin. Ein Regenwurm? Ich habe es ja gefühlt, ich brauche Wasser. Wie soll ich mich winden bis zum Wasserfall, ich stehe da und sehe schmutzige Hände der Erinnerung an mein früheres Leben tasten, verstaubt, wo ich doch erst geduscht habe. Ich greife mir an die Kehle, an diese gekerbte Röhre des Wurmgelenks. Rolle einen Regenwurm in ein Handtuch ein und singe: Rolle rolle hin - rolle her, trocken trocken ach so sehr. Ein feines Tuch muß es sein, damit du dem Wurm nicht die Haut abziehst. Die junge Frau mit dem wippenden, energischen Haar setzt sich wieder an mein Bett. Ihr Augenglanz steht wie eine Träne der schwesterlichen Abgeschiedenheit unter einem Aufschlag der langen Wimpern. Auch ihr Augenaufschlag ist beherrscht und vibrierend gezügelt, sie bleibt bei sich, sie rinnt nicht hin vor meiner Annahme, daß auch sie nur aus Wasser besteht. Wir sind die letzten einer Flucht, die Vorboten eines Verlustes der Zeit, die sich noch in die Knöpfe der Mechanismen der Einsamkeit preßt.
Ihre Augen bleiben an meiner Zunge hängen, sie schämt sich deren Nacktheit nicht, und das gibt mir Vertrauen. Das läßt meinen Blick in den ihren fallen wie in eine letzte Rettung vor meinen wechselnden Gefühlen, überschwemmt in einem weiten Glänzen, das mir die rinnenden Gedanken aus dem Hirn säuft, es leer macht, hinüberschmilzt in ein Gegenüber, eine Erlösung des Wandels von Haß in Liebe, von Einsamkeit in Wohlwollen, von Mord in Herzlichkeit und in ein tiefes Verstehen der Beugung vor dem Sinn des anderen, in Demut und Vertrauen, in eine liebende Verbindung zu allen Erscheinungen des Sinnlosen im Spiegel aller Antlitze. Eine weite Reise habe ich gemacht über die Abgründe des Verschwindens und durch die Erscheinungsformen der Erde. Energie im Haar, in der Bewegung, Energie ist die Bewegung, ein Haar ist still, aber drin pulsiert so etwas wie das ganze Weltall. Die Geister schweigen in eben dieser Einsamkeit, sie steht in meinem Kopf, und mein Hirn erstrahlt in ihrem Auge für meine Finsternis, ich kann nicht einsteigen in den Traum, weil ich nicht erwachen kann aus dem Leben, kein Weg, kein Halten, keine Richtung, aber ein Atem. [615] Die Blonde steht auf und sagt: «Komm zum Tisch, wenn du noch Tee willst.» Ich gehe wie ein Automat mit meinen Pantoffeln in meinem Nachthemd mit ihr zum Tisch in der Mitte des Raums. Sie schenkt mir den hellen Tee ein. Sie ist ein Geist der Hingabe und duftet wie nach Honig. Ich trinke einen tiefen Schluck und verschränke meine Arme vor mir am Tisch. Ich tauche ein in die geborgene Rückkehr, in meine Heimat der Sinne. Ich habe Heimat gefunden, ich finde in mich wie ein Samen in das Ei. Ich schaue zum Fenster hinüber. Draußen fällt Schnee in der Dunkelheit, weiß wie in meinem Hirn und wie die Mauern hier drinnen. Überall weiß, einfach ohne Übergang, meine Innenseiten sind wie frischer Schnee, der Rahmen des Fensters ist der Rahmen zu mir selbst, zu drinnen und draußen. Ich habe ihn vernommen, meinen Ruf von innen nach außen, den ich bei der Geburt an mich abgegeben hatte, ich fange ihn wieder im Flug, aufgelöst in die Vereinigung mit meinen gespaltenen Wesenszügen, die sich mir in Gleichheit nähern als Menschen auf dieser Welt. Die junge, helle Frau und die mit den runden Formen sitzen hier mit mir am Tisch in der Mitte des Raums. Sie sind still. Nach und nach setzen sich auch die anderen dazu. Hier spürt man die Wärme auf der Haut, sie dringt ein und verbindet die Sitzenden mit derselben Energie. Die Körper sind nahe gerückt, berühren einander manchmal leicht und schmelzen hinüber, miteinander, als einzelne Wesen, wobei jedes einen eigenen Widerschein hat. Das ist es ... Hat das jemand gesagt? Habe ich das gedacht? Denken es alle zusammen? Haben wir ein gemeinsames Gehirn in unserer lockeren Berührung? Ist es das? Wir sind ein jeder versunken in seinen Flammengrund, aber die Berührungen prickeln wie von selbst, als wollten sie einander entzünden mit den Funken des gemeinsamen Denkens. Er springt über unsere Gemeinsamkeit glüht, ob sie sichtbar ist? Sie lebt, sie läßt sich hören, alle haben dasselbe gemeint, jetzt, hier in diesem Augenblick und immer. Die Ohren hören auch das Unausgesprochene, zu hören ist alles, wenn es zu denken ist. Da ersteht in der Mitte des Tischs eine Bewegung, etwas wird sichtbar, es wächst, ist bewegt, pulsiert, es leuchtet mit einem gleißenden Schein, der jetzt aufstrahlt. Ist es ein Gedanke? Ist es eine Vorstellung? [616] Ist es mein Gedanke oder der eines anderen? Ich kenne es, es war immer gegenwärtig, aber es hat sich noch nie so deutlich herausgebildet vor mir, es rauscht mir im Hirn auf wie eine immerwährende Erkenntnis, daß es das ist, worum sich mein ganzes Leben dreht. Ich begrüße es mit meinem heißen Blut der Sehnsucht und zugleich mit der Gleichgültigkeit der selbstverständlichsten Bewegung.
Der Anblick stülpt mir das Innere nach außen in einer grausigwohligen Wendung. Ich schaue mit großen Augen auf das lebendige Wesen in unserer Mitte, ein sichtbar gewordenes Denken, das aus uns allen genährt für sich ersteht, mein Blick wird größer, es ist da, ich kann es sehen, ich kann es fühlen, es hat eine gestaltlose, aber bestimmte Form, die, so konkret wie noch nie zuvor etwas, vor mir deutlich geworden ist. Es ist die Klarheit selbst, ich weiß das so klar, wie ich denke, es ist das Denken. Eine bestimmte Form, genau die ist es, die ich immer vor mir geahnt habe, jetzt steht sie da. Es ist genau das, was zu klar ist, um es zu erklären, es löst sie auf, die Beschreibung, es löst sie auf, die Erklärung, es ist der Ursprung der Klärung, der Stamm der Rätsel, der Anlaß der ersten Worte, das Motiv des Denkens. Es ist viel tiefer in mir, als daß es mit mir zu vergleichen wäre. Es stellt etwas Genaues dar, so genau, wie noch nie etwas genau erschienen ist, aber es ist zu einfach, als daß es nur in Begriffen sichtbar würde. Es ist so vieles zugleich, wenn ich will, hat es im Nu jede Gestalt angenommen und dazu auch jedes Gesicht, das ich jemals gesehen habe, zugleich auf einmal, aber alle gleichzeitig einzeln voll erkennbar, Tiere, Häuser, Planeten, Gliedmaßen, Farbenschlingen - ist es ALLES? Es wächst noch immer, ein wolkiger, transparenter Schein, in dem alle Dimensionen einer Form zugleich aufleuchten und ineinander übergehen, während sie sich zugleich herausbilden. Die Bewegung ist leicht und körperlos und wird zugleich auch zu einem stahlharten Körper, der Strahlen aussendet, die in Eiseskälte unsere Stirnschalen berühren. In Berührung mit der Haut brennt die Kälte auf zu zischender Hitze, eine Sonne schmilzt in jedem Kopf zu einem Tod, der sprachlos macht und gedankenfrei. Das Wesen zieht sich langsam wieder in sich selbst zurück, so wie es gewachsen ist, das Selbstverständnis unserer gemeinsamen Erscheinung von uns selbst. Nach einer Ewigkeit dieses Augenblicks erhebt sich jemand aus [617] unserer Mitte, so unendlich langsam, wie die Vision vergangen ist. Wir drehen unsere Köpfe zu der Gestalt hin, jeder aus dem Universum zurück und nie angekommen. Diese wendet sich uns zu, stützt die Hand auf die Platte und schaut mit einem Blick, hinter dem kein Gehirn mehr zu vermuten ist, über alle hinweg. «Und jetzt?» Die Worte erregen mein Blut, in mir rührt sich irgend etwas, ist der Anlaß, meine Beine zu belasten und aufzustehen. Meine linke Hand lege ich auf den Tisch. Während ich langsam meine Muskeln ins Spiel bringe, ein Bein auf die Sohle stelle und, mich immer noch stützend, den Sessel zurückschiebe, geht über meinem Gesicht ein breites Grinsen auf, ganz selbstverständlich löst sich mein Antlitz zu dieser Bewegung. Während meine Zeit in dieser Geste stirbt, sage ich: «Wir könnten eigentlich noch etwas essen.»