Geister-
Krimi � Nr. 40 � 40
Gill McBain �
Sinfonie des � Todesgeigers �
2 �
Der Abendhimmel war verhangen. Nur h...
162 downloads
503 Views
737KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Geister-
Krimi � Nr. 40 � 40
Gill McBain �
Sinfonie des � Todesgeigers �
2 �
Der Abendhimmel war verhangen. Nur hin und wieder gab er die blasse Mondsichel frei, dann, wenn der schneidende Herbstwind für kurze Zeit die Wolkenberge vor dem Trabanten auseinander schob. Böen blähten die Gardinen hinter der Terrassentür auf. Den schlanken Mann, der im Salon des viktorianischen Herrensitzes vor dem Konzertflügel saß, störte es nicht. Robert Mispertons Blick war durch dicke Brillengläser auf einen imaginären Punkt im Raum fixiert. Er hob die feingliedrigen Finger, ließ sie mit faszinierender Leichtigkeit über die Tasten gleiten er spielte auswendig. Ein Konzertpianist wie Misperton benötigte keine Notenblätter, sondern nur die Inspiration einer Stunde wie dieser, um Beethovens »Mondscheinserenade« zu intonieren. Die Klangfolgen des Adagio flossen wie perlendes Silber in den Raum. Akkorde schwebten breit über dem Instrument und verdrängten die Stille des Hauses, ertönten über die Terrasse bis weit in den Park hinaus, der die Residenz umschloß. Plötzlich aber wurde die Musik von einem neuen Geräusch übertönt. Ein Singen war in der Luft. Misperton hob etwas den Kopf, zog die Augenbrauen hoch. Etwas irritiert setzte er sein Spiel fort. Das Singen schwoll an. Es handelte sich um ein abstoßendes Geräusch, das hoch und schrill von irgendwoher auf Misperton zuzufliegen schien. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Vibrieren eines elektronisch erzeugten Tones, mit Sphärenmusik. Mispertons Ohren fühlten sich verletzt. Er brach die Interpretation mit einem Mißakkord ab und stand auf, um auf die Terrasse zu treten und nach der Ursache der Störung Ausschau zu halten. Seine Finger teilten die Vorhänge. 3 �
Ungehalten scheuchte er eine große Mücke fort, die auf der Gardine saß. Das Insekt wirbelte hoch, setzte sich aber sofort wieder auf die rechte Hand des Pianisten. Er betrachtete sie jetzt mit einer Mischung aus Abscheu und Interesse. Wirklich, es handelte sich um ein ungewöhnliches Exemplar, groß wie das Ziffernblatt einer Herrenarmbanduhr, wobei den meisten Raum die sechs dünnen Beine und die Flügel, nicht aber der eigentliche Körper einnahmen. Vielleicht eine der Schnaken aus den Sumpfgebieten der schottischen Seen? Was tat sie hier in den Highlands? Täuschte sich Misperton, oder schaute ihn das Tier aus bösartig funkelnden Netzaugen an? »Unsinn«, flüsterte er. Mit einer gedankenschnellen Bewegung schleuderte er die Mücke von der Hand auf den Boden und trat mit dem Schuh darauf. Ein Blutfleck blieb auf der Türschwelle zurück. Der Körper des toten Insekts hing an der Sohle Mispertons, als er jetzt ein paar Schritte ins Freie trat. Das Sirren hatte wieder zugenommen. Eigentlich war der Pianist geneigt, es nun mehr als ein enormes Sirren zu bezeichnen. Ganz sicher war er sich über die Definition nicht, denn er konnte sich weder den Ursprung noch die Bedeutung des Geräusches erklären. Der kalte Wind stellte seine Haare auf. »Wahrscheinlich ein Unwetter«, murmelte er. »Irgend etwas braut sich zusammen. Ich sollte die Terrassentür schließen und Dolours und Vance in den Salon herunterrufen…« Er stockte und wandte seinen Blick nach oben. Die Mondsichel war wieder für einen Augenblick zwischen den Wolken zu sehen. Aber ihre Lichtstreifen wurden durch eine Art Schleier getrübt. Ein Netz, das sich in stetiger, unkontrollierbarer Bewegung befand. Misperton strengte seine Augen an, bis er begriff, um was es sich bei dieser Erscheinung handelte. Aber da war es 4 �
schon zu spät. Plötzlich keilten sie ihn ein. Große schwirrende Mücken von der gleichen Spezies, wie Misperton sie totgetreten hatte. Der Schwarm hatte sich wie ein Nebelfeld über ihn gesenkt es mußten Hunderte, nein, Tausende von Insekten sein. Das Geräusch, das sie verursachten, hatte, sich zu einem nervenzerfetzenden Schrillen entwickelt. Robert Misperton wußte nicht, was ihm in diesen Sekunden mehr zu schaffen machte: Der Lärm oder der Wirrwarr der Tiere, die ihn in immer dichterem Verbund umflogen. Ja, sie bedrängten ihn! Zuerst riß er instinktiv die Arme hoch. Er schlug nach ihnen, erwischte aber nur zwei oder drei, die sich schwerfällig aus seiner Reichweite entfernten. Als er erkannte, daß er gegen die Übermacht nichts ausrichten konnte, duckte er sich und wollte zur Terrassentür zurücklaufen. Die Mücken formierten sich zu einer undurchdringbaren Mauer. Misperton streckte die Hände aus und stieß wie ein Schwimmer in die zitternde Barriere. Aber sie wehrten ihn ab, setzten sich auf seinen Händen und Armen, auf dem Gesicht und dem ganzen Körper fest. Sie gebärdeten sich dermaßen wild, daß er das Gleichgewicht verlor und mit ihnen auf die Terrassenplatten fiel. Misperton war ein sensibler Mann, neigte aber nicht zur Hysterie. Lange Wanderungen durch die Highland-Umgebung hatten ihn zu einem ausgesprochenen Naturfreund gemacht, hatten ihm Entspannung und seelisches Gleichgewicht vermittelt. Er hatte eine normale Beziehung zu Tieren. Deswegen geriet er nicht sofort in Panik, sobald die dünnbeinigen Insekten auf ihm herumkrabbelten. Einem anderen an seiner Stelle, vor allem aber einer Frau, wäre vor Abscheu das Grauen gekommen. Der Pianist wälzte sich auf dem Boden. Er versuchte, die großen Mücken systematisch abzuschütteln. 5 �
Er näherte sich den Fenstern des Salons und damit dem Licht, das ins Freie fiel. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er seine Arme, schaute auf seine Brust hinab. Da packte ihn das Entsetzen. Die Insekten hielten eine fürchterliche Mahlzeit. Die, die ihn als erste erreicht hatten, hatten ihre Saugrüssel in seine Haut versenkt und sich mit Blut voll gepumpt, um jetzt fett und behäbig wieder von ihm abzufallen. Aber damit nicht genug! In ihrer Gier hatten sie mit dem Herausziehen der Nahrungswerkzeuge auch Hautfetzen und teilweise wirklich kleine Fleischlappen losgerissen. Der schlanke Mann war über und über mit Blut besudelt. In dichteren Gruppen stürzten sie sich jetzt auf ihn. Er fühlte nicht nur am Körper, sondern auch im Gesicht schmerzhaftes Brennen, ein Stechen, als habe man ihn überall akupunktiert. »Nein«, gurgelte Misperton, »um Himmels willen, nein!« Wütend hieb er um sich. Einzelne Mücken klaubte er mit den Händen von der Haut er pflückte sie ab wie reife Birnen, schleuderte sie fort. Aber damit erreichte er nichts. Sie hatten sich wie ein Volk angreifender Hornissen über ihn hergemacht. So dicht waren sie auf und um ihn, daß er kaum noch zu atmen vermochte. Sie saßen unter seinen Nasenlöchern und schnellten in seinen Mund, wenn er ihn öffnete. Misperton hustete und spuckte. Trotz des kalten Windes war ihm heiß. Fort, hämmerte es in ihm. Soweit reichten seine Reflexe noch. Er schlug wieder wie verrückt nach den mörderischen Biestern, heftiger diesmal, in kürzeren Zeitabständen. Für einen Moment bekam er Luft. Er schaffte eine Bresche und rappelte sich auf, um vor ihnen davonzulaufen. Den Fluchtweg ins Haus hatten sie abgeriegelt. Misperton blieb nur die Strecke über die Terrassentreppe in den Park hinaus. Er lief, so schnell ihn seine Beine trugen. 6 �
Für Sekunden schüttelte er den tückischen Schwärm ab. Dann aber waren sie wieder mit zornigem Schrillen bei ihm. Kurz darauf hatten sie sich auf ihm festgeklammert. Alle! Misperton hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt. Eher mit einem zottigen Tier, denn die Insekten machten sich auf seinem Leib wie ein Pelz aus. Er riß die Zähne auseinander. Die Mücken krochen über seine Zunge in den Hals und erstickten seinen entsetzlichen Schrei in der Kehle. Er torkelte über die Rasenfläche. Blind vor Qual stolperte er auf den Swimmingpool zu, den er hier hatte zementieren lassen. Kleine Wellen kräuselten sich unter dem Wind auf der Wasseroberfläche des imposanten Beckens, Mondlicht fiel wieder fragmentarisch durch ein Wolkenloch und ließ die Flüssigkeit blinken. Robert Misperton nahm es nicht wahr. Er wußte nicht, wohin er sich bewegte. Die grässlichen Mücken hatten ihn so zerstochen, daß er nicht einmal mehr die Augen aufbekam. Er hakte mit der Schuhspitze hinter eine der Platten, die den Pool umrahmten. Er strauchelte, stieß sich das Knie am Beckenrand und stürzte mit dem Kopf zuerst ins Wasser. Das nasse Element füllte seine Atemwege aber Misperton ertrank nicht. Er war bereits tot, als er in den Pool tauchte. Misperton hörte nicht mehr die Rufe, die vom Haus herüberhallten, sah nicht mehr die Gestalten, die vom Salon aus auf die Terrasse gestürzt kamen: Dolours, seine Frau, ihr Bruder Vance und der Butler Angus. Fassungslos starrten sie auf die leere Terrasse und in den düsteren Park hinaus. Vance Seymoure bemerkte die Blutspur auf der Türschwelle. »Angus, holen Sie eine Taschenlampe«, bat er den Livrierten. Er schob die Unterlippe vor und sah dem Butler nach, der hastig 7 �
und Unverständliches murmelnd im Salon verschwand. »Robert«, riet Dolours Misperton, »Robert! Mein Gott, wo steckst du?« »Warte. Laufe nicht in den Park«, hielt ihr Bruder sie zurück. »Was ist geschehen, Vance?« »Ich weiß es nicht. Wir müssen die Umgebung absuchen.« Angus kehrte mit einer starken Lampe zurück. Vance Seymoure ließ den Leuchtfinger über die Terrasse geistern und auf den Blutspuren und Mückenleichen verharren. Dolours preßte die Knöchel gegen den Mund. »Vance, ich flehe dich an, erkläre mir, was das zu bedeuten hat.« Ihr Bruder gab keine Antwort. Er lief die Treppe hinunter, suchte mühselig den Rasen ab, gab Angus neue Anweisungen. Erst als der Butler mit einer Bockflinte anrückte, wagten sich die beiden Männer bis zum Swimmingpool vor, auf dessen Rand zu die Blutmale führten. Angus wandte sich mit kalkweißem Gesicht ab, denn er konnte den Anblick der Leiche nicht ertragen. »Das darf nicht wahr sein«, flüsterte Vance Seymoure. Er war auf Urlaub zu seinem Schwager gekommen, hatte frische Erinnerungen aus Nordirland mitgebracht, wo er als Bildberichterstatter für UPI sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Blut hatte er fließen, Menschen sterben sehen, aber was sich hier seinem Auge bot, übertraf an Grässlichkeit alles Erlebte. Robert Mispertons Leib war nur noch eine einzige rotglänzende, gesichtslose Masse. Vance rannte Dolours entgegen, um sie vor dem Anblick zu bewahren. * Oft hatte er sich vorzustellen versucht, wie es vor sich gehen � 8 �
möge. Ein Mann wie Robert Misperton trug sich verständlicherweise mit solchen Gedanken, auch wenn er erst 38 Jahre alt war und auf dem Höhepunkt einer glänzenden Karriere als Pianist stand: Einmal mußte es vorüber sein, und der Sprung über die dunkle Schwelle konnte ganz unvermittelt durch ein Unglück oder eine Krankheit einsetzen. Er hatte es hinter sich. Alles war ganz anders verlaufen, als er es sich jemals ausgemalt hatte. Am glücklichsten war er darüber, daß die Schmerzen vorübergegangen Waren. Sein Geist funktionierte klar und logisch. Trotzdem hatte er keine Verbindung mehr zu den Menschen, obwohl er sie beobachten und ihre Reaktionen studieren konnte. Er erkannte Dolours, Vance und den Butler Angus; verfolgte, wie sie sich grämten und wie Dolours zusammenbrach aber er hatte kein Mitleid und keinerlei Mitgefühl. Er war einfach ein Außenstehender, schwebte gleichmütig über ihnen. Dabei hatte er sich vor Minuten noch in ihrer Welt befunden und das mit ihnen geteilt, was man Glück, Freude, Liebe, Furcht und Sorge nannte. Misperton vernahm wieder das Singen. Er fühlte sich hochgehoben und fortgetragen. Das intensive Geräusch raffte ihn mit aller Macht fort, unter den Wolkenbänken hindurch in die tintenschwarze Nacht. Die ganze Zeit über war ihm bewußt, daß es ein Ziel für ihn gab, eine Aufgabe, die auf ihn wartete. Dann verwandelte sich das Singen in eine Melodie. Von der Monotonität wechselte das Geräusch in ein farbiges Klangbild über. Misperton hatte den Kontakt zur Welt der Lebenden verloren, aber er kannte sich nach wie vor in deren Begriffswelt aus. So klassifizierte er die Herkunft der getragenen, etwas weinerlichen Tonfolge rasch: eine Violine. Jemand spielte auf einer Geige, meisterhaft gekonnt, bezaubernd schön, unendlich traurig. 9 �
Misperton wurde von einem Sog gefangengenommen. Er riß ihn mit sich in die Tiefe. Es gab keine Möglichkeit mehr, die Umgebung zu erkennen. Er befand sich im Trichter eines Strudels, dessen Farben eine Mischung aus Blau und Schwarz zu sein schienen. Die Geigenmelodie steigerte sich zu einem teuflisch schnellen Allegro Fuocoso, schraubte sich in die Höhen der Virtuosität hinauf. Plötzlich löste sich die Wahrnehmung auf. Misperton spürte, wie es ruhig um ihn wurde der betäubende Wirbel hatte nachgelassen. Zu seinem Erstaunen fand er sich in einem großen Kaminzimmer wieder. Er hockte auf einem muffigen Ledersessel. Aber er fühlte die Berührung mit der Materie nicht. Die Klänge tanzten jetzt leise im Raum. Misperton schaute sich um. Er erblickte den wirren Haarschopf einer Gestalt. Weitere Einzelheiten des Wesens waren nicht auszumachen, weil es in einem Ohrensessel saß. An dem rhythmischen Zucken des schwarzen Haares erkannte Misperton jedoch, daß dessen Besitzer der Geiger war. Die Melodie brach ab. Der Geiger richtete sich auf, baute sich vor Robert Misperton auf und breitete die Arme aus. Es war ein hagerer, mittelgroßer Mann, in dessen Pupillenschächten ein unwirkliches Feuer loderte. Die Wangenknochen traten scharf unter seiner Pergamenthaut hervor, überhaupt besaß er die scharfgeschnittenen Züge eines Adlers. Die Violine hielt er in der linken, den Bogen dazu in der rechten Hand. »Gefällt dir mein Vortrag, Robert?« erkundigte er sich leise. Misperton betrachtete seine Kleidung. Ja, dieser Mann trug wirklich einen Smoking, und es schien, als habe er sich eigens für ihn so ausstaffiert. »Kompliment«, hörte Misperton sich sagen, »in Technik und 10 �
Ausdruckskraft halten Sie durchaus den Vergleich mit den großen Paganini-Interpreten aus, Sir.« Der Geiger kicherte. »Nun, Robert, ich will dich nicht lange auf die Folter spannen. Mein Name ist Henry Maguire.« »Maguire der unvergessene Dirigent?« »Sehr richtig. Du wirst mich von nun an nur noch mit Meister anreden, denn auch von Seiten eines Pianisten wie dir gebührt mir Respekt. Ich habe dich geholt, Robert.« Maguire atmete tief durch und verlieh damit seinen Worten bewußt den nötigen Nachdruck. »Ich habe dich geholt, weil ich nur die besten Musiker um mich versammeln will. Du tust gut daran, dich nicht aufzulehnen, sondern Kompromisslos zu gehorchen. Du bist klinisch tot; nur dein Geist lebt und geht um du bist ein Gespenst, Robert. Du kannst dich nicht im Spiegel sehen, aber wenn du es könntest, würdest du vor dir selbst erschrecken. Die Wunden, die dir meine kleinen Lieblinge zugefügt haben, sind nicht mehr zu erkennen. Doch du hast dich in ein zahnloses maskenbleiches Ungeheuer verwandelt. Zu niemanden könntest du mehr Verbindung aufnehmen außer zu mir, deinem Meister.« »Ich verstehe«, entgegnete der tote Pianist. Er wunderte sich selbst über seine Fähigkeit, sprechen zu können. »Verlassen Sie sich bitte ruhig auf mich. Ich werde keinen Anlass haben, zu rebellieren Meister.« Maguire legte die Geige und den Bogen fort. Er rieb sich die Hände, lief im Raum auf und ab und hörte nicht auf, den Geist des toten Misperton anzustarren. »Es hat geklappt«, flüsterte er immer wieder, »es hat besser funktioniert, als ich mir ausgemalt hatte. Von jetzt an wird es kein hochintelligentes Wesen geben, das sich meinen magischen Kräften auf die Dauer widersetzen kann vorausgesetzt, es handelt sich um einen in der Musik orientierten Menschen. Ich kann es noch gar nicht fassen…« Misperton setzte sich auf. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, daß 11 �
sein linker Arm ohne weiteres die Sessellehne durchkreuzen konnte. Er vollzog das Experiment noch einmal es ließ sich wieder ohne Schwierigkeiten durchführen. Henry Maguire lachte auf. Seine schadhaften Zähne waren zu erkennen. »Das ist noch nicht alles, Robert. Du bist in der Lage, durch Wände und Mauern zu gehen. Du bist unverwundbar. Wenn ich es dir befehle, kannst du aber auch die Tastatur eines Klaviers bedienen. Komm.« Misperton stand auf und folgte ihm. Der Mann mit den langen schwarzen Haaren führte ihn in einen durch Kerzen erleuchteten Raum, der größer war als das Kaminzimmer. Alles schien mit Sorgfalt vorbereitet worden zu sein: die Anordnung des wertvollen Konzertflügels, die Ausrichtung der Notenständer und Stühle für die Mitglieder eines Kammerorchesters. Über knarrende Holzdielen traten Maguire und Misperton auf den Flügel zu. »Noch sind wir zu zweit«, versetzte der Geiger, bemüht, seiner Stimme einen geheimnisvollen Klang zu verleihen, »aber bald werden wir komplett sein, um das von mir komponierte Werk einzuüben.« Misperton blickte auf das Notenblatt, das auf dem Flügel stand. »Du hast Zeit genug«, raunte Maguire, »am besten aber, du beginnst gleich.« Der Geist des Pianisten setzte sich auf den Klavierhocker. Probeweise breitete er die Finger über den Tasten aus. Wirklich, die Kuppen berührten das Elfenbein-Furnier und setzten die mit Filz belegten Hämmerchen in Bewegung, die die Saiten anschlugen. Misperton versuchte die ersten Akkorde und Melodieläufe des ihm unbekannten Werkes, dann sah er den Schwarzhaarigen an: »Ich danke Ihnen, Meister. Sie haben mir ein ewiges Geschenk 12 �
bereitet. Darf ich fragen, wie die Komposition heißt? Der Titel steht nicht auf dem Notenblatt.« Maguire leckte sich die Lippen, bevor er sprach: »Ich habe sie ›Sinfonie des Teufelsgeigers‹ genannt.« * Spencer Laine wohnte in den Außenbezirken von Glasgow. Sein eigenwillig konstruiertes Haus lag abseits der Gegend, in denen die Pendler ihre schmucken Einfamilienhäuser hatten, aber auch fern der Villen und Bungalows der Industriemagnaten und Prominenten. Laine hatte sich das Grundstück mit einer bescheidenen Erbschaft kaufen können. Das Haus aus rotem Klinker hatte er selbst errichtet. Es besaß einen rundum verlaufenden Balkon, großzügige Vorbauten und eine Menge Erker dem Stil der Bauten aus den US-Südstaaten nachempfunden, denn Spencer Laine war zwar der Sohn einer schottischen Mutter, aber von seinem aus Louisiana gebürtigen Vater in den Staaten erzogen und ausgebildet worden. Wer diesen hochgewachsenen blonden 30jährigen nur oberflächlich betrachtete, hielt ihn bestimmt für einen amerikanischen Playboy. Spencer trug gern verwaschene Jeans und TShirts, fuhr aber einen 1937er Rolls Royce mit sieben Sitzplätzen und der klassischen Trennscheibe. Alles in allem machte er mit seinen hellgrauen vergnügt funkelnden Augen den Eindruck eines smarten, aber unbedarften jungen Mannes. Nur wenige der entfernten Nachbarn wußten, daß Spencer sich sein Brot als Privatdetektiv verdiente. Zutritt zu seinem Allerheiligsten hatte eigentlich nur ein Mensch: Pearl Evans, Spencers reizende Freundin. Das brünette Girl war schon seit zwei Jahren mit ihm zusammen. »Pearl«, sagte Spencer Laine an diesem Morgen am Früh13 �
stückstisch, »die finanzielle Lage ist gut, der Herbst fegt übers Land und kündigt den Winter an es wird Zeit, daß wir Urlaubspläne machen. Ich habe an Sizilien gedacht. Nichts geht über das Erlebnis, einmal zu Weihnachten bei der Zitronenernte zuzuschauen. Höchstens eine Sache ist noch schöner, nämlich das, was zwischen uns…« Sie unterbrach ihn durch silberhelles Lachen. »Schon gut, Spencer, ich habe dich verstanden.«Sie warf ihre Haare mit einer Kopfbewegung über die Schultern zurück. Ihr hübsches Gesicht zeigte einen amüsierten Ausdruck, als sie fortfuhr. »Ich hoffe, dieses Mal meinst du es ernst. Letztes Jahr haben wir die Ferien wegen der Falschgeldgeschichte in Edinburgh verschoben, im Jahr davor war es der Fall mit den Rauschgiftschmugglern von Blackpool, der uns alles versalzen hat.« Er beugte sich vor und küsste sie. »Darling, es gibt nichts, das uns aufhalten kann. Weißt du was? Wir packen die Koffer gleich heute früh.« Das Telefon im Office schlug an. Spencer seufzte, stand auf und lief in sein Arbeitszimmer hinüber. Ungefähr eine Minute später erschien er wieder in der Küche. Seine Miene hatte sich gewandelt. Sie war hart, sehr hart. »Zitronen, adieu«, sagte Pearl. »Man hat dir einen Auftrag erteilt, stimmt's?« »Ja. Es ist einer meiner alten Freunde. Er heißt Vance Seymoure und hält sich zur Zeit in der Nähe von Balmoral auf. Am besten erkläre ich dir alles übrige während der Fahrt.« Kurze Zeit später rollte der silbergraue Rolls Royce über den Motor Way in Richtung Perth. Pearl Evans erfuhr, daß Spencer den Bildreporter Vance Seymoure in den Staaten kennen gelernt hatte, daß sie sich jedoch seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Nun sei auf dem mondänen Herrensitz des Pianisten Robert Misperton Grauenhaftes vorgefallen. Als der Privatdetektiv schilderte, wie Misperton ums Leben gekommen war, blickte 14 �
das Girl ihn aus entsetzt aufgerissenen Augen an. Um neun Uhr hatten sie den Wohnsitz der Mispertons erreicht. Spencer stellte den Rolls Royce auf dem geräumigen Parkplatz ab. Butler Angus trat ihnen im Foyer mit versteinerter Miene entgegen Pearl fühlte sich mit einem Mal nicht mehr wohl in ihrem kecken hellen Leinenkostüm und dem Nostalgie-Hut. Zwei Männer erschienen. Vance Seymoure, der breitschultrige Bruder der Witwe. Sein Begleiter war ein Leptosome mit säuerlichem Gesichtsausdruck. Laine wußte, daß er seine Züge nicht nur in Situationen wie dieser dergestalt verzerrte, sondern daß es die Merkmale eines berufsmäßig bedingten Magenleidens waren. »Detektiv-Inspektor Tate?« fragte der Privatdetektiv erstaunt. »Seit wann gehört Balmoral zu Ihrem Zuständigkeitsbereich?« »Ich vertrete den Kollegen aus Dundee«, gab der Kripomann zurück, »der Einsatzwagen der Mordkommission steht im Park. Wir haben die Leiche bereits aus dem Pool geholt und abtransportieren lassen. Der Doc sagt, der arme Teufel sei tatsächlich an den Folgen des Angriffs durch die Mücken gestorben. Dennoch habe ich vorsorglich eine Autopsie angeordnet mit Einwilligung der Witwe Misperton natürlich. Ich weiß nicht, was Sie hier verloren haben, Laine.« Aus seinen Worten sprachen Argwohn und Ablehnung. Dem Detektiv-Inspektor Tate war Spencer Laine äußerst unsympathisch. Er hielt den Freiberufler für einen hoffnungslosen Spinner. Dahinter verbarg sich allerdings eine gehörige Portion Neid, denn Laine hatte schon einige Fälle aufgeklärt, an denen der Kripomann sich fast die Zähne ausgebissen hatte. Vance Seymoure trat auf den Freund zu, drückte ihm die Hand. »Spencer und ich, wir kennen uns gut, Inspektor«, sagte er. »Sie können es mir nicht übel nehmen, daß ich ihn hinzuge15 �
zogen habe. Es war eine spontane Reaktion, die nichts mit mangelndem Vertrauen zu Ihrer Behörde zu tun hat.« »Schon recht«, winkte Tate ab. Spencer stellte Seymoure seine Freundin vor. Der Inspektor kannte die hübsche Brünette bereits, er nickte ihr zu und zwang sich zu einem müden Lächeln. »Tut mir leid, daß wir uns unter so tragischen Umständen zum ersten Mal sehen, Miß Pearl«, meinte Vance Seymoure. »Ich wundere mich selbst, daß ich noch so ruhig bin. Dolours erlitt einen Zusammenbruch. Der Hausarzt ist seit zwei Uhr bei ihr, er mußte ihr mehrere Spritzen geben. Ich begreife nicht, wie das geschehen konnte.« »Wann ereignete sich das Unglück?« erkundigte sich Pearl vorsichtig. »Um 23 Uhr.« »Warum hast du mich nicht sofort angerufen, Vance?« wollte Spencer wissen. Tate schnaufte entrüstet. »Mr. Seymoure hat es für notwendiger gehalten, zunächst den Bereitschaftsdienst in Dundee und dann den Hausarzt der Mispertons in Balmoral zu alarmieren. Wir sind seit Mitternacht hier, werter Laine.« »Ich habe mich einfach erst heute früh daran erinnert, daß du dich in Schottland aufhältst«, meinte der Bildreporter und zuckte die breiten Schultern. »Ich war viel zu fertig, um logische Überlegungen anzustellen. Spencer, wenn du ihn gesehen hättest…« »Ich würde mir gern den Pool anschauen. Kannst du uns hinführen?« fragte Spencer. »Selbstverständlich. So sehr bin ich doch noch nicht mit den Nerven herunter.« Inspektor Tate blieb im Haus zurück, weil er die Aussage des Butlers zu Protokoll nehmen wollte. Seymoure, Laine und das 16 �
Girl durchquerten den Park von der Terrasse aus. Die Terrasse war bereits abgeräumt worden, aber am Swimmingpool werkelten noch die Spurensicherungsexperten der Mordkommission. Sie hatten das Tageslicht abgewartet, um den Platz auch ohne Blitzlicht fotografieren zu können und die Abmessungen zu prüfen, die sie im Dunkeln vorgenommen hatten. Am Rand des Beckens leuchtete ein weißer Kreidestrich dort war Robert Misperton ins Wasser gestürzt. Die sechs Beamten, die ihre Arbeit routinemäßig und mit unbeteiligten Mienen erledigten, hatten nur die Leiche aus dem nassen Element geholt und alles andere gelassen, wie es in der Sterbeminute des Pianisten gewesen war: die Blutlache hatte die Flüssigkeit rosarot gefärbt, auf den winzigen Wellen schaukelten die toten Mücken. »Es sind etwa zweitausend«, erklärte der Bruder von Dolours Misperton gepresst. »Der Inspektor hat sie zählen lassen. Die Biester haben Robert förmlich zerfleischt, Spencer…« Der Privatdetektiv erwiderte nichts. Er ging zum Kastenwagen der Homicide Division. Die Tür des Fahrzeugs stand weit offen, auf der Ladefläche war der käseglockenartige Behälter abgesetzt worden, in dem die Beamten die auf der Terrasse gefundenen großen Insekten aufgespießt haben. Pearl und Vance Seymoure folgten Spencer. Das Girl schaute über die Schulter seines blonden Freundes und erschauerte. »Ich habe noch nie so riesige Mücken gesehen«, hauchte sie. »Es sind Schnaken«, meinte der Bildreporter. Spencer hob den Kopf. »Wir können sie als Mücken bezeichnen. Ich habe über die Art gelesen. Sie ist auf unerklärlichen Wegen von Südeuropa in unsere Gefilde gekommen und lebt vorwiegend in den Sumpfgebieten des nördlichen Loch Lomond. Den Biologen an der Uni von Glasgow ist es ein Rätsel, wie die Viecher in unserem Klima überleben können. Auf jeden Fall wurde nachgewiesen, daß sie keine Krankheitsüberträger 17 �
sind. Man vermied eine Ausrottungsaktion.« »Sie hätten die Biester besser umgebracht«, zischte Seymoure. »Was hältst du von der schaurigen Angelegenheit?« wandte sich Pearl an Laine. »Ich meine es ist doch eigenartig, daß ausgerechnet Mücken sich so verhalten. Wenn mich meine Schulweisheit nicht täuscht, treten Insekten wie diese nie so aggressiv auf. Natürlich kann ich mit meiner Überzeugung danebenliegen, ich bin ja nicht vom Fach.« Das hübsche Girl mit den neckischen Sommersprossen an den Nasenflügeln hatte als Hotelsekretärin gejobbt bis Spencer sie in London kennen gelernt hatte. »Ich gehöre auch nicht zu den Experten«, erwiderte der Privatdetektiv langsam und versonnen. »Aber du hast bestimmt recht. Es kann nur einen sehr mysteriösen Grund dafür geben, warum der Mückenschwarm über deinen Schwager hergefallen ist, Vance.« »Wie meinst du das?« horchte Seymoure auf. »Konkret kann ich mich nicht ausdrücken, denn mir fehlen die Beweise. Aber ich bin sicher, daß die Tiere nicht aus eigenem Antrieb handelten.« »Wer könnte sie beeinflussen?« »Vielleicht ein Mensch.« »Aber wie, Spencer wie?« »Parapsychologie und Okkultismus sind in unserem Land von jeher ernster genommen worden als in anderen Staaten, Vance. Aus den Wurzeln von Geisterglauben und Superstition sind gerade in den letzten Jahren neue Erkenntnisse erwachsen, die von manchen Leuten skrupellos ausgenutzt werden. Beispielsweise gibt es sogenannte Radiästheten, die ihre sensitive Strahlungsfähigkeit für kriminelle Zwecke in Anwendung bringen.« »Fängst du schon wieder damit an.« Pearl rümpfte die Nase. »Wie kann ein aufgeklärter Europäer, der zudem noch ein Bündel amerikanischer Kultur mit sich herumträgt, an so einen Blöd18 �
sinn glauben? Entschuldige, Darling ich bin nun einmal nicht für solchen Humbug.« Der Berichterstatter hatte nicht auf ihre Worte geachtet. Vielmehr starrte er den Freund plötzlich aus engen Augenschlitzen an. »Angenommen, deine Theorie stimmt. Das würde bedeuten: jemand hat Robert vorsätzlich umbringen wollen.« »Möglich. Hatte er Feinde?« »Nicht, daß ich wüsste. Er war empfindlich und zurückhaltend und legte sich nie mit Leuten an.« »Vance, du solltest darüber nachdenken, wie Mispertons Stimmung kurz vor dem Ereignis war, was für Wetter herrschte, und ob ihr irgendwelche außergewöhnlichen Wahrnehmungen hattet«, sagte der blonde Privatdetektiv. Er zog eine Packung Zigaretten aus der Jeanstasche. Sie war total zerknittert. Seymoure nahm gern eine der verbeulten Filterlosen an. Pearl lehnte ab und beschränkte sich darauf, ihrem Freund einen verständnislosen Blick zuzuwerfen. »Eine Stunde nach dem Nachtessen zog Robert sich in den Salon zurück«, erinnerte sich der Breitschultrige. »Dolours und ich plauderten über meine Erlebnisse in Nordirland, und Robert setzte sich unten an den Flügel. Er tat das gern und oft. Die Nacht inspirierte ihn. Wir vernahmen die Klaviermusik, später ein feines, hohes Singen, das immer mehr zunahm wir waren überzeugt, es sei der Wind. Als wir meinen Schwager schreien hörten und nach unten rannten, war es schon zu spät.« »Beschreibe mir dieses Singen genauer«, bohrte Laine. Seymoure tat ihm den Gefallen. »Ich habe dem Inspektor das Erlebte in den gleichen Worten geschildert. Glaubst du, er denkt über den Fall wie du?« »Nein«, brummte Spencer. »Die Mordkommission, die bei jedem ungewöhnlichen Todesfall automatisch auf der Bildfläche erscheint, hat kein offenes Ohr für solche und ähnliche Darstel19 �
lungen. Überdies ist Tate ein Mann, der hartnäckig gegen jeden Gespensterglauben kämpft. Er wird die Geschichte als Unglücksfall zu den Akten legen.« »Das lasse ich nicht zu!« erregte sich der Bildreporter. »Wenn es einen Mörder gibt, Spencer, dann müssen wir ihn finden. Was verlangst du als Honorar? Nimmst du den Auftrag überhaupt an? Können wir nicht zusammen Nachforschungen anstellen?« »Langsam, langsam.« Laine hob die Hände. »Über Geld wollen wir nicht sprechen. Ich beginne sofort mit den Ermittlungen, jedoch gehört es zu meinen Prinzipien, bei Freunden keine Honorarforderungen zu stellen. Ich rate dir also, das Thema gar nicht erst wieder auf den Tisch zu bringen. Was die Zusammenarbeit betrifft: Ich bin ein Dickschädel und tüftele auf meine Weise vor mich hin, wobei mir nur Pearl zur Seite steht. Sorry, Vance. Im übrigen nehme ich an, daß deine Schwester deinen Beistand dringender braucht als wir.« Eine Stunde später kreuzten Spencer und Pearl bei Inspektor George Tate in dessen Dienstgebäude in Dundee auf. »Ich habe es mir gedacht«, polterte Tate, »Sie sind wie ein übler Keuchhusten, Laine. Man wird Sie nicht wieder los, wenn Sie einem einmal auf dem Pelz sitzen.« »Galant sind Sie nicht Sir«, versetzte Pearl schnippisch. Tate kapitulierte vor ihren typisch weiblichen Kampfmitteln. Er schaute das gutgebaute Girl an, wurde etwas rot und bot beiden schließlich einen Stuhl an. »Was hat die Autopsie ergeben?« fragte Spencer geradeheraus. »Das, was ich schon sagte.« »Die Mücken haben Misperton gekillt?« »Nennen Sie es doch nicht gekillt.« »Ein Unglücksfall, nicht wahr, werter Inspektor?« Tates Augen funkelten erbost. »Ich habe es nicht nötig, mich verhören zu lassen. Der Doc hat auch nach der Leichenöffnung 20 �
unterstrichen, daß der Blutverlust und die hohe Dosis an Mückengift die Ursache für den Tod des Pianisten waren. Es gibt keinen Dritten in diesem Fall, Laine es gibt keinen Fall, damit Sie Bescheid wissen. Wir werden allerdings eine Expertenkommission von der University of Edinburgh damit beauftragen, das eigenartige Verhalten der Insekten zu analysieren. Damit haben wir mehr als unsere Pflicht getan.« Er zerrte die Schublade des Schreibtisches auf, und legte dem Privatdetektiv einen Stapel frischer Fotos vor. »Sehen Sie sich die Leiche an. Miß Evans, schauen Sie bitte nicht auf die Vergrößerungen. Ich möchte nicht, daß Sie einen Schock erleiden.« Pearl guckte dennoch neugierig und wandte sich entsetzt ab. »Danke«, reichte Spencer die Bilder zurück, »Ich sehe auch jetzt meine Theorie nur bestätigt.« »Darf man wissen, wie die lautet?« »Leider nein. Sie wiesen mich wiederholt darauf hin, daß Sie für meine Hirngespinste kein Verständnis haben, Inspektor.« »Sie denken an Magie, an Spuk, an Spiritismus?« »Vielleicht.« »Goodbye, Laine. Miß Evans, entschuldigen Sie mich. Ich habe zu tun.« Er richtete sich umständlich auf. Erst als ein lächelnder Spencer Laine und eine strafend blickende Pearl Evans sein Office verlassen hatten, ließ er sich in den Dienststuhl zurücksinken und murmelte: »Schlimmer als ein Keuchhusten! Er wird nicht lockerlassen.« * Blackpool gilt als Englands exklusiver Badeort. Natürlich ist der Strand im Herbst wie leergefegt, schließlich bewegen sich die Tagestemperaturen dann kaum noch über 50 Grad Fahrenheit das entspricht zehn Grad Celsius und die Irische See schwillt unter Sturmböen und weit außen tobenden Orkanen auch am 21 �
Ufer an, um sich in rauschender Brandung auf den grauen Sand zu ergießen. Margret Adamton liebte die Temperamentausbrüche der See. Sie hatte sich eine Eigentumswohnung im zweiten Stock eines hochmodernen Apartmenthauses gekauft mit acht Zimmern, vergoldeten Wasserhähnen und Fußböden aus echtem italienischen Travertin. Diesen Luxus konnte sie sich ebenso leisten wie die morgendlichen Touren zum Strand, die sie in einer dunkelblauen Jaguar-XJ-12-Limousine mit Chauffeur unternahm. Margret Adamton war als einer der begabtesten KoloraturSoprane Großbritanniens bekannt. Das schlug sich in den Angeboten nieder: Die üppige, aber attraktive Mittdreißigerin mit den roten Lockenhaaren war fast das ganze Jahr über auf Tournee. Sie hatte Auftritte in der ganzen Welt hinter sich, sogar in Sydney und Seoul. Trotzdem sie hatte keinen Platz gefunden, an dem sie sich wohler fühlte als in Backpool. Hier lebte sie die meiste Zeit allein. Männer hielten es an ihrer Seite nur für Wochen, höchstens ein paar Monate aus. Die Adamton besaß ein egozentrisches Gemüt. Sie duldete keine Vorschriften, nicht einmal Ratschläge, und wurde der Gesichter schnell überdrüssig. An diesem Morgen ließ sie wie gewohnt den Chauffeur vom Motor Way abbiegen und auf der menschenleeren Nebenstraße stoppen. Ein Trampelpfad führte auf die Uferböschung, und gleich dahinter begann das Stückchen verlassenen Strandes, auf dem sie so gern spazieren ging. »Machen Sie es sich bequem, Paul«, sagte sie dem Driver. »Vor einer Stunde bin ich bestimmt nicht zurück.« »Sehr wohl, Madam«, gab er devot zurück. Paul war ein athletisch gebauter Mann, der sich vor allem bewährt hatte, wenn Madam ein Rudel Fotografen abgewimmelt hatte haben wollen. Er hatte über den Führerschein hinaus die Qualitäten und das 22 �
Gehalt eines Leibwächters. Margret Adamton wanderte über den Rand der Böschung auf den grauen Sand hinab. Ein blauer Hosenanzug umschloß ihren Körper. Vorteilhaft, obwohl es schwierig für den Sopran war, stets die richtige Kleidung aufzutreiben, und sie Hunderte von Pfund pro Woche in Blackpools Boutiquen ließ, um ihrem ausgefallenen Geschmack Rechnung zu tragen. Die Adamton strebte auf die Brandung zu. Ihre Schuhe hinterließen Spuren im feuchten Sand. In der Nacht hatte eine Sturmflut mittlerer Stärke die Küste gepeitscht. Jetzt war das Meer immer noch unruhig. Gischt spritzte hoch auf, bevor die Wellen auf dem Strand zerflossen. Die Frau lächelte. Sie knöpfte ihre Bluse etwas auf, so daß ihre vollen Brüste nur noch ungenügend bedeckt waren und aus den Dessous zu quellen schienen. Jeder Mann hätte etwas um diesen Anblick gegeben aber es gab keine Zuschauer, hier, fünf Meilen nördlich von Blackpool. Sie atmete tief durch. Margret Adamton wußte, daß jodhaltige Meeresluft so etwas wie Medizin für ihre Lunge und die Stimmbänder bedeutete. Konzentriert öffnete sie die Lippen. Sie stimmte einen Ton an. Glockenklar schwang das »Mi« der donnernden Brandung entgegen, gefolgt von einer halben Tonleiter, die mit dem hohen C endete. Sie begann zu singen. Sie war überzeugt, daß sie den Hauptteil ihres Erfolges dem regelmäßigen Üben in der Seeluft zu verdanken hatte. Kein Klima war besser geeignet, Reinheit und Umfang der Stimme aufzubauen und zu erhalten. Margret Adamton blickte über die Brandung hinaus. Düstere Wolkengebilde wurden vom Wind über die Wogen gejagt. Unvermittelt aber richteten sich ihre Augen auf den feinen Nebel, der von Südosten her direkt auf sie zutrieb. Das war 23 �
keine Wolke. Es handelte sich um ein flirrendes, feines Gebilde, das von einem eigenartigen Geräusch begleitet wurde ja, jetzt vernahm sie es deutlich! Das Singen besaß keinerlei Ähnlichkeit mit ihren Stimmübungen. Vielmehr war es ein hässlicher, aufdringlicher Ton, der die üppige Rothaarige abbrechen und ärgerlich die Augenbrauen zusammenziehen ließ. Der Laut nahm an Volumen zu. Überhaupt fand die Sängerin es erstaunlich, daß sie das nervtötende Sirren durch das Brüllen der Brandung hindurch vernehmen konnte. Sie schrak zusammen, machte unwillkürlich einen Schritt zurück. »Eine Windhose«, sagte sie sich, »es ist ein kleiner Wirbelwind, der sich irgendwo unter den Wolken gebildet hat und gleich über den Strand rasen wird.« Das Gebilde hielt immer noch auf sie zu. »Es ist besser, zum Wagen zurückzukehren«, meinte sie. Sie drehte sich um und marschierte verdrossen in Richtung Uferböschung. Das Sirren entwickelte sich zu einem Heulen. Margret Adamton warf den Kopf herum und bemerkte die vermeintliche Windhose über der Gischt. Mit jeder Sekunde rückte sie ungefähr einen Yard näher. Die Rothaarige stellte nun fest, daß sie einem Irrtum erlegen war. Deutlich hoben sich die Konturen der großen Insekten gegen den Himmel ab. Wie Derwische zuckten sie in hektischen Tanzbewegungen durch die Luft hinter der Gehenden her. »Mücken?« wunderte die Adamton sich. »Um diese Jahreszeit?« Zu weiteren Überlegungen, etwa, woher die Tiere kamen und wie viele es waren, blieb der Sängerin keine Zeit. Die Wolke summte auf sie zu. Sie mußte laufen. Sie stieß einen Schrei aus. 24 �
Margret Adamton blieb mit dem linken Schuh unglücklich im feuchten Sand haften, stolperte, fiel. Ihr Hosenanzug wurde beschmutzt, sie verlor den Schuh. Aber darauf achtete sie jetzt nicht mehr. Kreischend rappelte sie sich auf, um dem über ihr bebenden Mückenschwarm zu entkommen. Einzelne Insekten berührten sie schon. Sie rannte los, von Ekel und Panik geschüttelt. Ihre großen Brüste wippten heftig, und sie versuchte vergeblich, ihre Bluse zuzuknöpfen. Die Mücken fegten über ihren Kopf hinweg. Als lebende Mauer schnitten sie ihr plötzlich den Weg ab. Die Adamton schluchzte, wich aus. Sie versuchte, einen Haken um die Biester zu schlagen, wurde aber vollends von ihnen eingekesselt. »Paul«, brüllte sie, »Paul, zu Hilfe!« Dann schlug sie mit, den Armen um sich. Die Mücken hatten sich jetzt wie Zecken auf ihrem Körper festgesetzt, krabbelten überall hin. Margret Adamton glaubte, es keine Sekunden ertragen zu können. Aber sie blieb bei Bewußtsein und mußte mit ansehen, wie die widerlichen Insekten ihr Blut saugten. »Meine Güte, nein!« jammerte sie. Aber es nützte ihr nichts. Die Mücken ergriffen nur die Möglichkeit, um nun auch über ihre Lippen in den Mund zu schnellen. Die Adamton riß sich mit letzter Kraft das Oberteil des Hosenanzugs vom Körper. Immer noch spürte sie dieses schauderhafte Krabbeln auf sich sie zerrte auch die Bluse los, warf sie in den tobenden Schwarm hinein. Nur noch mit Hose und BH gekleidet, stand sie da; ein schreiendes und kämpfendes Bündel Mensch. Paul, der Chauffeur, sprang heran. Er hatte erst die letzten Schreie richtig wahrgenommen. Eine handliche Beretta 6,35 in der Faust, stürmte er über den Rand der Böschung hinweg, und glitt aus. Sobald er begriff, mit was 25 �
für Gegnern die Sängerin es zu tun hatte, steckte er die automatische Pistole zurück in die Schulterhalfter. Paul fluchte. Im Rennen zog er seine Dienstjacke aus, damit er sie seiner Brötchengeberin überwerfen konnte. Soweit kam er nicht. Er hatte in den nächsten Sekunden alle Hände voll zu tun, sich die tückischen Insekten vom Leib zu halten. Nur ein kleiner Teil, vielleicht hundert, sonderte sich von der Hauptwolke ab und zitterte auf den bärenstarken Mann zu. Paul ruderte mit den Armen, bekam ein paar Mücken in der Luft zu fassen. Er zerquetschte sie wütend. Er handelte nicht nur wegen seines guten Gehalts so engagiert er hatte auch ein persönliches Interesse daran, die Adamton zu retten. Für die Rothaarige, die ihm nie ihre Gunst gezeigt hatte, empfand er eine kompromisslose Hörigkeit. »Verdammtes Mistvolk«, brüllte er. Die Insekten saßen auf ihm fest wie Fliegen auf dem Leim. Er rupfte sie von der Haut ab, tötete sie auch dort, wo sie sein Hemd durchstochen hatten. Ungeahnte Schnelligkeit entwickelte er. Die Hilferufe der Frau wurden immer gellender, immer unmenschlicher. Paul schaffte es. Er schlug, trat und drückte kaputt, was ihm mit boshaftem Brummen auf den Leib gerückt war. Schaudernd stellte er fest, daß die Mücken ihm fürchterliche Wunden zugefügt hatten aber deswegen steckte Paul nicht auf. Benommen von dem schmerzhaften Beißen auf seiner Haut wankte er auf Margret Adamton zu. Ihr Leib war nicht mehr zu erkennen. Sie bewegte sich nur noch im Zeitlupentempo unter den mordenden Insekten. Paul packte die Frau an den Armen. Er zog sie zu sich heran, stieß Verwünschungen gegen die sirrenden Mücken aus, trieb sie fort. Er leistete Erstaunliches. Obwohl er selbst blutüberströmt war, schleifte er die Rothaarige vom Strand. Hunderte von Insektenleichen blieben zurück. 26 �
Paul keuchte die Böschung hinauf. Er erreichte den Trampelpfad. Bis zum dunkelblauen Jaguar XJ 12 waren es höchstens noch zwanzig Yard. Der Chauffeur mit der athletischen Gestalt kümmerte sich nicht um die widerlichen Insektenleiber er nahm die über und über mit Tieren bedeckte Frau auf die Arme und trug sie der Limousine entgegen. Kurz vor dem Wagen fielen die Mücken plötzlich von ihr ab. Erstaunt verfolgte Paul, wie sie einen Belag auf dem Pfad bildeten. Sie hatten sich gehörig voll gesogen, aber in keinem der Biester steckte auch nur noch ein Fünkchen Leben. Der Driver wollte schon auflachen. Da bemerkte er, daß er eine Tote in den Armen hielt. Er blieb stehen, ließ sie zu Boden gleiten. Aschfahl im Gesicht, beugte er sich über Margret Adamton über das, was von ihr übrig geblieben war. Paul riß den Mund auf, grub die Fingernägel in seine Wangen und gab einen kaum zu vernehmenden Klagelaut von sich. Erst dann liefen ihm die Tränen aus den Augen. Er faßte sich. Mit laschen Bewegungen hob er sie auf, brachte sie zum Wagen und legte sie auf den Rücksitz. Er schaffte es, sich hinter das Steuer zu klemmen, brachte es fertig, den Wagen zu starten und auf den Motor Way zu fahren. Ein mit Blut besudelter Mann, vor Schmerz und Hass halb ohnmächtig, brachte, die Leiche des Opernsoprans Margret Adamton nach Blackpool. * Ungefähr zu der gleichen Zeit tupfte Spencer Laine auf das Bremspedal seines silbergrauen Rolls-Royce-Veteranen, sprang ins Freie und lief um die Schnauze des Wagens herum, um Pearl galant den Schlag zu öffnen. Er tat dies mit sichtlicher Übertrei27 �
bung. Was zur Folge hatte, daß das Girl wie über jeden seiner Scherze herzhaft lachte. Sie liefen vom Fahrbahnrand durch einen kurzen Waldstreifen zum Seeufer. Der Rolls Royce stand auf der schmalen Landstraße, die die Ortschaften Bailoch und Rowardennan am östlichen Rand des Loch Lomond miteinander verband. Das Ziel des Paares war eine Bootsvermietung. Von hier aus waren es nur noch sechs Meilen bis Rowardennan – aber dort endete die Straße, und man machte eigentlich einen Umweg, um in die Sümpfe zu gelangen. Der Privatdetektiv nahm deshalb am Bootsverleih eine schmucke Polyester-Schaluppe mit 20-PSAußenborder, die sie in gerader Richtung dem Ziel entgegentrug. »Im Grunde ist mir nicht zum Lachen zumute«, rief Spencer, während er über die Spitze des Bugs hinaus auf das tiefblaue Seewasser schaute. »Wenn ich an das unselige Ende des armen Misperton denke, komme ich zu der Feststellung, daß wir reichlich pietätlos sind.« Pearl nickte ernst. »Ich gebe dir recht. Sag' mal, versprichst du dir eigentlich sehr viel von unserem Ausflug?« »Mindestens Aufschluss darüber, ob die große Mückensorte sich noch in dieser Gegend aufhält.« Das hübsche Mädchen lehnte sich auf dem Bootssitz zurück. Es ließ seinen Blick über die Wasserfläche schweifen. Pearl kannte den Loch Lomond von gemeinsamen Wochenendaufenthalten her, aber sie hatte ihn bisher nur bei Sonnenschein gesehen. An einem bedeckten und stürmischen Tag wie heute schlug der sonst freundliche Ausdruck des Panoramas ins Gegenteil um. Drohend wuchsen die Hänge des Hochlandes hinter den Ufern empor, rieben ihre Kuppen an den Unterseiten der Wolken. Die Fluten zeigten Wellenbildung, wurden vom Bug des Bootes kra28 �
chend zerteilt. Pearl fröstelte bei dem Gedanken, der Kahn könne umschlagen, und sie beide in das kalte Wasser kippen. Sie erreichten unversehrt den nördlichen Teil des Lochs. Lockere Schilfgruppen kündigten die Nähe des Sumpfes an Rowardennan, die letzte Siedlung vor dem Einsetzen absoluter Einsamkeit, lag meilenweit hinter ihnen, war nur noch ein flacher roter Streifen am Ufer. Das Schilfgestrüpp wurde dichter. Spencer konnte nicht mehr nach Belieben durch das flache Wasser steuern. Er mußte sich an den Verlauf der Kanäle halten, die die Anwohner geschaffen hatten. Außer den Jägern hatten sich an dieser Arbeit die Torfbauern beteiligt, die an freundlicheren Tagen mit ihren Schaluppen bis in das zwischen Loch Lomond und Loch Katrine liegende Moor vorstießen. »Die Jagd auf Enten und Teichhühner ist geschlossen«, erklärte der allseits bewanderte Laine seiner Freundin. »Wir sind mutterseelenallein, Darling.« »Du willst mir hoffentlich keine Angst machen!« »Natürlich nicht. Ich versuche nur, dir auseinanderzusetzen, daß wir als einzige Störenfriede in dieser feuchten Landschaft das Phänomen unweigerlich aufstöbern müßten.« »Falls es eines gibt.« »Hast du immer noch Zweifel?« »Ich bin ein schwerer Fall«, erwiderte sie lächelnd. »Du bringst mich wohl nie auf den Trichter mit der Mystik und den Ghouls.« »Warte die Zeit ab. Ich wünschte, du hättest recht, Pearl. Leider muß ich das bestreiten. Seitdem ich mich hinreichend über dieses Gebiet informiert habe, habe ich mich dem Kampf gegen Dämonen und Satansdiener verschrieben.« Er zog das Ruder herum, steuerte das Boot in einen engeren Seitenkanal. Es roch modrig. Vor dem Geknatter des Außenborders stob protestierend eine Familie Blesshühner davon. 29 �
»Wie groß ist das Areal?« wollte das Girl wissen. »Die Grundfläche würde wahrscheinlich Bailoch und Rowardennan schlucken. Man kann einen ganzen Tag hier herumkurven, ohne jemals den gleichen Punkt zu passieren, und sich dabei auch noch in dem Labyrinth von Kanälen verirren«, sagte er. »Ich bin das erste Mal hier. Kennst du dich auch zur Genüge aus, Darling?« »Kriegst du es wirklich mit der Angst zu tun?« »Ach, Unsinn.« Sie schob sich zwei Zigaretten in den Mund und zündete sie an. Eines der Stäbchen reichte sie ihm. Bis Spencer den Motor abstellte, wechselten sie kein Wort mehr miteinander. Ungefähr eine Meile weit lenkte er das Boot in den Sumpf hinein. Dann drosselte er die Geschwindigkeit und ließ schließlich das Motorengeräusch ganz ersterben. Blubbernd hörte der Kolben auf, im Zylinder zu drehen. Stille umgab sie. Gelegentlich war nur das Knarzen eines Sumpfhuhns oder das Quaken eines Frosches zu hören. Die Schilfhalme bogen sich im Wind, rieben mit eigentümlichem Geräusch gegeneinander. Diese Laute klangen jedoch nur unterschwellig durch, nahmen sich nicht sonderbar in der Abgeschiedenheit der Landschaft aus. Spencer legte plötzlich die Hand auf Pearls Arm. »Hörst du?« »Was?« »Ein Singen so, wie Vance Seymoure es beschrieben hat.« »Tut mir leid, Spencer. Vielleicht bin ich taub. Aber ich habe es wirklich nicht mitbekommen.« »Warte, es wurde unterbrochen nein, da ist es wieder!« Pearls Stirn wurde von steilen Falten gezeichnet. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Du verbindest das komische Geräusch 30 �
also mit den Killerinsekten? Spencer Laine, willst du mir allen Ernstes weismachen, daß hier mitten im kältesten Herbst die Mücken tanzen?« »Warum nicht?« Er löste die Notruder aus der Vertäuung, legte sie in die Halterungen und bedeutete dem Girl, auf der Heckbank Platz zu nehmen. Der blonde Mann spannte seine Muskeln an, als er die Riemen ins Wasser tunkte. Er vermied es, Geräusche zu erzeugen. Mühselig arbeitete er sich durch den schmalen Kanal. Immer wieder stießen die Ruderblätter gegen die Ufer und brachten den Kahn von der Richtung ab. »Jetzt höre ich es auch«, meinte das hübsche Mädchen unvermittelt. »Endlich.« »Es kommt aus der Richtung.« Pearl zeigte die Herkunft des Singens mit dem Finger in die Luft. »Steuerbord voraus«, präzisierte der Privatdetektiv den Kurs. »Wir werden also bei der nächsten Gelegenheit entsprechend abbiegen.« Die Möglichkeit bot sich am Querkanal, auf den sie nach einer lang gezogenen Kurve stießen. Sie bewegten sich im rechten Winkel zu ihrem bisherigen Weg fort und rückten jetzt. mit größerem Tempo dem unheimlichen Laut näher, der mit jedem Yard an Volumen zunahm. Als Ruderer saß Spencer Laine zwangsläufig mit dem Rücken zum Bug. So war es Pearl, die als erste die Beobachtung machte. »Ich sehe sie«, flüsterte sie gebannt, »halt an!« Spencer hielt in der Bewegung inne. Er drehte sich um und sah ebenfalls die staubähnliche Wolke, die sich über dem Schilfgestrüpp hin- und herbewegte. Fasziniert ließ er die Rudergriffe los. Der gewaltige Mückenschwarm wagte sich nicht über eine 31 �
bestimmte Flughöhe hinaus. Immer nur drei bis vier Yard zuckten die Biester über die Sumpfpflanzen hinweg, um in Intervallen wieder in das alles verdeckende Dickicht zurückzufallen. »Unfassbar«, hauchte die Brünette. »Es müssen Millionen sein.« »Hörst du das Singen es hat sich verändert, nicht wahr?« Spencer legte den Zeigefinger gegen die Lippen. Angestrengt lauschte er. Ja, das hässliche monotone Geräusch war einem weinerlichen Klang gewichen. Und einem genauen Beobachter wie dem Privatdetektiv konnte nicht entgehen, daß die Mücken in rhythmischen Bewegungen entsprechend dem Verlauf der Melodie tanzten. Die Tonfolge wurde von einem Instrument erzeugt, einem Saiteninstrument… »Eine Violine«, sagte Laine. »Ich möchte wissen, wer in dieser unfreundlichen Umgebung Konzerte gibt«, versetzte Pearl betont ironisch. Sie war froh, daß Spencer nichts von dem kalten Schauer bemerken konnte, der ihr jetzt den Rücken hinabrieselte. »Die Melodie kommt nicht aus dem Sumpf, sondern von den Hängen«, meinte er. »Der Schall wird hier sehr weit getragen, weil rundum Wasser steht und auch dort, wo See und Sumpf aufhören, noch Feuchtigkeit herrscht. Pearl, wir machen jetzt ein Experiment. Ich möchte wissen, was geschieht, wenn ich auf die Mücken zufahre.« »Tu's nicht. Sie werden uns angreifen.« Er lachte grimmig. »Lassen wir es darauf ankommen. Lege dich flach auf den Boden. Ich stelle den Außenborder auf die Höchstgeschwindigkeit, dann entwischen wir ihnen in jedem Fall.« »Spencer…« »Darling, habe ich jemals unsere Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt?« 32 �
»Natürlich nicht, aber…« »Du kannst mir vertrauen. Es passiert schon nichts.« Er legte die Reißleine in die Keilscheibe des Anlassers, zog heftig daran. Beim zweiten Versuch kam die Maschine mit einem Patscher. Spencer übernahm wieder Steuerung, nachdem er die Ruder festgemacht hatte. Das Heck des Kahns senkte sich tief ins Wasser. Der Bug ragte speerähnlich aus dem Nass, und das Boot zog so temperamentvoll durch das Wasser, daß der Detektiv aufpassen mußte, nicht durch eine ungeschickte Lenkbewegung gegen das rechte oder linke Ufer zu prallen. Er folgte dem Verlauf des Wasserwegs. Sie schossen genau auf den enormen Mückenschwarm zu. Zunächst war das Greinen der Violine unter dem Bullern des Außenborders erstickt. Jetzt jedoch erreichte es ungeahnte Lautstärke, übertönte den Maschinenlärm. Spencer preßte die Lippen aufeinander. Ganz wohl war ihm doch nicht, als er die gigantische Schar der außergewöhnlich großen Insekten näher rücken sah. Gruslig mutete es an, wie die Flügeltiere hochschwangen, sich zu einem Klumpen konzentrierten, jäh beschleunigend auf den Sumpf zurückstießen. Sie verschwanden. Sie tauchten in das Schilfdickicht und ließen sich nicht mehr sehen, als das Boot vorüberjagte. Spencer Laine stoppte ab, wendete an einer Kanalkreuzung, kehrte zu dem Schauplatz des Insektentanzes zurück. Nichts. Sie waren wie vom Sumpf verschluckt. Der blonde Mann stellte den Außenborder ab auch die Geigenmusik war verstummt. »Aha«, sagte er nur. »Was soll das heißen aha?« Pearl reckte ihren Kopf hoch. »Hast du wieder ein Argument für deine abstruse Theorie gefunden?« 33 �
»Allerdings. Überleg' doch mal! Das Violinenkonzert, die Tatsache, daß sie nicht über uns hergefallen sind sagt dir das nichts?« Er wartete vergebens auf ihre Entgegnung. »Pearl, die Mücken killen nicht aus eigenem Antrieb. Der auslösende Prozess für ihre Aggression ist die Geigenmelodie. Wir müssen den Burschen finden, der das Instrument spielt, dann haben wir den Schuldigen.« Nachdenklich blickte er zu den düsteren Hügelkuppen hinauf. »Es wäre zu gefährlich, weiterzufahren und irgendwo an Land zu gehen. Wir haben keine Gummistiefel dabei. Am Rand des Sumpfgebietes gibt es immer noch genügend Wasserlöcher, in die man tapsen kann. Man versinkt günstigenfalls bis zum Hals darin.« »Dann kann ich mir ja ausrechnen, was die ungünstigste Aussicht ist«, gab Pearl Evans zurück. »Nehmen wir Kurs auf den See, ja? Es ist Mittag. Bis wir die nächste Kneipe erreichen, steht die Uhr auf halb zwei. Dabei habe ich schon jetzt mächtigen Appetit.« »Dein Wort sei mir Befehl«, grinste Spencer und hantierte am Anlasser des Motors. Die Zeitrechnung des berückenden Girls erwies sich als richtig. Kurz vor zwei Uhr suchten sie den Pub auf, der sich am Rand von Rowardennan etwas oberhalb des Youth Hotels befand. Außer ein paar Hundezüchtern, die ihre Pointer auf dem nahe gelegenen Trainingsfeld für die Eröffnung der Jagdsaison getrimmt hatten und praktischerweise gleich mit in die Kneipe genommen hatten, befand sich niemand an den Mittagstischen. Der Lärm, den das halbe Dutzend Züchter veranstaltete, reichte allerdings bereits für Pearls Geschmack. Schotten gaben sich gern laut. Das Paar konnte kaum der Radiomusik lauschen, die der Wirt in den Gästeraum tönen ließ. Spencer bestellte Steaks mit grünen Bohnen und zwei Krüge Bitter-Bier. 34 �
Um 14.00 Uhr wurden die Nachrichten im Radio übertragen. Die zweite Meldung lautete: »Ein tragischer Unglücksfall ereignete sich am Vormittag unweit von Blackpool. Der weltberühmte Opernstar Margret Adamton wurde laut Aussage ihres Chauffeurs von einem Schwärm überdurchschnittlich großer Mücken überfallen und zu Tode gestochen. Der Driver, einziger Zeuge des Geschehens, wurde ebenfalls von den Insekten attackiert. Schwerverletzt erreichte er mit dem Leichnam der bedauernswerten Sängerin im Wagen die Stadt, wo er zusammenbrach. Den Ärzten des Pennine-Krankenhauses, in dem der Mann behandelt wird, ist das grauenhafte Ereignis ein Rätsel…« Der Privatdetektiv hörte den Rest der Notiz nicht mehr. Er stieß den Teller von sich und sprang auf. Er bekam keinen Bissen mehr herunter. Sein einziger Gedanke war, zum Wirt zu laufen, nach dem Telefon zu fragen, und sich in die winzige Kabine neben dem Küchendurchgang zu verziehen. Die Blicke der verdutzten Hundezüchter hafteten auf ihm, als er die Nummer der Mordkommission Dundee wählte. Spencer Laine ließ sich mit Inspektor Tate verbinden. »Sind Sie immer noch der Meinung, es handle sich um ein rein biologisches Rätsel, nachdem auch Margret Adamton umgebracht wurde?« erkundigte er sich. »Inspektor, die Sache stinkt doch geradezu nach Verbrechen. Geht das nicht in Ihr Hirn?« Tate schnaufte verhalten. »Werter Laine«, antwortete er, »erstens entzieht sich der Fall Adamton meinem Zuständigkeitsbereich, zweitens halte ich an dem Ergebnis meiner Ermittlungen im Fall Misperton fest, und drittens rate ich Ihnen dringend, sich von einem Psychiater untersuchen zu lassen.« »Bürokratenseele«, schimpfte Laine, nachdem er eingehängt hatte. »Dann machen wir eben allein weiter.« 35 �
*
Die Dämmerung breitete sich wie ein Trauerschleier über der Landschaft aus. Je dunkler es wurde, desto kälter wurde der ohnehin schon scharf über die Hänge streichende Wind. Spencer hatte sich trotz Pearls hartnäckigem Protest allein auf den Weg gemacht. Er wußte nicht, was ihn im Hochland jenseits des Sumpfes erwartete. Deshalb wollte er es nicht riskieren, das Girl mitzunehmen, zumal es keine Straßen gab, und man sich zu Fuß fortbewegen mußte. Der Privatdetektiv hatte die hübsche Brünette samt dem Rolls Royce an der Jugendherberge Rowardennan zurückgelassen. Dort hatte er sich auch mit dem Nötigen ausgerüstet, um in seiner Rolle als Wanderer glaubhaft zu wirken: schwere Lederstiefel mit Gummisohlen, Kordhosen, Pullover, Windjacke, Fernglas, Rucksack. Seit über zwei Stunden streifte er kreuz und quer durch die Gegend. Er hatte sich in der Jugendherberge erkundigt: Von einem in der Einsamkeit der Highlands lebenden Geigenspieler war dort nichts bekannt. Im Gegenteil, man hatte ihn sogar merkwürdig angesehen. Spencer blieb nichts übrig, als auf sein Glück zu hoffen. Bisher hatte er nur ein paar verlassene Köhlerhütten gefunden. Er hatte sich soweit über die Hügelkuppen entfernt, daß er weder den See noch die aufglimmenden Lichter von Rowardennan oder Bailoch erkennen konnte. »Eine Meile höchstens noch«, meinte er im Selbstgespräch. »Danach muß ich umkehren, wenn ich nicht den Weg aus den Augen verlieren will.« Er holte kräftiger aus. Der Pfad führte ihn an umzäuntem Weidegelände vorüber. Hier grasten während der Sommermonate die zottigen Hochlandrinder, die nur am Ende der warmen Saison von ihren Besit36 �
zern besucht wurden, dann nämlich, wenn sie nach Balloch gebracht werden sollten, um unter den Pistolen der SchlachthofArbeiter zusammenzubrechen. Spencer gelangte an einen Laubwald. Krähen erhoben sich zeternd von einer Weide, flatterten in den Abendhimmel hinein, zeichneten sich nur schemenhaft als schwarze Schatten gegen das bläuliche Dunkel ab. Im Wald ließ eine Eule ihren klagenden Ruf hören. Der blonde Mann stapfte entschlossen in den Wald. Furcht verspürte er nicht. Er kannte die Gefahren der Natur. Außerdem trug er einen geladenen Webley-and-Scott-Revolver im Schulterhalfter. Wenn es etwas gab, das ihm leises Unbehagen verschaffte, so war es der Gedanke an die verborgenen Mächte, die auch mit Projektilen des Kaliber 380 nicht zu bannen waren… Da war es plötzlich! Das Geräusch hob gänzlich unvermittelt an, bohrte sich in seine Gehörgänge. Spencer erkannte nicht nur den wehleidigen Laut der Violine wieder er erinnerte sich auch an die Melodie. Es war die gleiche, die er mit Pearl im Sumpf von Loch Lomond vernommen hatte! Der Geiger mußte sich in der Nähe befinden. Daß der Privatdetektiv nicht eher auf ihn gestoßen war, war dem Umstand zuzuschreiben, daß der Fremde sein Instrument seit dem Intermezzo am Mittag hatte schweigen lassen. Spencer Laine ging dem Ton nach. Er war kein musikalisches Genie. Immerhin hatte er aber zu Zeiten der großen Rock-and-Roll-Welle als Tenorsaxophonist in einer Band mitgewirkt, als Amateur natürlich, ohne große theoretische Vorbereitung. Aus diesem Grund fiel es dem blonden Mann leicht, das Können des Unbekannten einzustufen: Der Mann war ein Virtuose. Oder handelte es sich um eine Frau? Er verharrte. 37 �
Das Klagen der Violine hatte einen Beiklang gefunden. Jemand begleitete den unheimlichen Solisten auf dem Klavier! Spencer konnte es schlecht verhindern, daß sich ihm die Nackenhaare sträubten. Nicht wegen der wilden Kadenzen dieser Komposition. Er dachte vielmehr an die Mücken, an Mispertons grausiges Ende, an den nicht weniger scheußlichen Tod der Sängerin… Misperton war Konzertpianist gewesen. Spencer Laine gab sich einen Ruck, eilte den Klängen entgegen. Er war sicher, der Lösung des Rätsels auf der Spur zu sein. Hinter den Baumstämmen war schwacher Lichtschein auszumachen. Der Privatdetektiv geriet an den Rand einer ausgedehnten Lichtung, in deren Zentrum sich die Mauern eines Hauses in die Höhe reckten. Ein rustikales Gebäude aus groben Bruchsteinquadern, mit Kamin und Schindeldach war es, das mindestens fünf Jahrzehnte überdauert hatte. Spencer erkannte in der Konstruktionsweise das typische schottische Bauernhaus der vergangenen Epoche wieder. Daß das Gemäuer nun nicht mehr von Landwirten bewohnt war, verriet allein die Tatsache, daß die Stallungen niedergerissen worden waren. Ihre an das Haupthaus grenzenden Fundamente waren noch zu erkennen. Hier gackerte kein Huhn, schlug kein Wachhund an. Die Umgebung wirkte tot, bis auf die flackernden Lichtstreifen, und die jetzt im Piano klingende Musik. Spencer huschte auf die kleinen erleuchteten Fenster zu. Es waren zwei und lagen an der Rückseite des Hauses. Er wurde von niemandem aufgehalten. Trotzdem mußte er sich enttäuscht abwenden. Die Fenster waren von innen mit grobem Vorhangtuch verschlossen. Nicht einmal eine Ritze zwischen den Streifen erlaubte einen Durchblick. Die einfachen Gardinen bewirkten, daß man nichts von den Vorgängen im Gebäude erkennen konnte, und daß das offensichtlich von Kerzen erzeugte Licht nur stark geschwächt 38 �
nach außen drang. Der blonde Mann schlich an der Seite des Hauses entlang. Die Stimme, die jäh die Laute von Violine und Klavier überschallte, ließ ihn erstarren. Es war eine Frau, die dort sang, ein Sopran! Spencer hätte allerdings nicht schwören mögen, daß es sich um Margret Adamton handelte, denn er hatte nie einen Auftritt der berühmten Rothaarigen verfolgt. Laine hatte den Eingang erreicht eine grob gezimmerte Eichenholztür. Rasch wog er seine Möglichkeiten ab. Er konnte heimlich in das Gemäuer eindringen, das war zwar riskant und in keiner Weise zu legitimieren, falls man ihn ertappte. Er konnte sich mittels seiner Lizenz als Privatdetektiv ausgeben, aber welche konkreten Anhaltspunkte hatte er schon, um dem oder den Bewohnern Fragen stellen zu können, eine Durchsuchung zu rechtfertigen. Also blieb ihm nur, den müden Wanderer zu spielen. Spencer klopfte vernehmlich gegen die Türbohlen. Die Musik riß ab, Schritte schlurften heran, eine Stimme knarrte: »Wer da? Was gibt es?« Es war die Stimme eines Mannes. »Verzeihen Sie, Sir, ich möchte Sie nur um einen Gefallen bitten«, antwortete Spencer. »Ich bin von der Dunkelheit überrascht worden und habe nicht den Abstieg zur Jugendherberge gefunden. Bitte helfen Sie mir!« Ein Riegel wurde zur Seite geschoben. Quietschend schwang die Tür auf die Mündungen einer doppelläufigen Schrotflinte blitzten Laine an. Über dem Kolben der Waffe glühten die Augen eines hageren, pergamenthäutigen Mannes. Mit den wirren langen Haaren wirkte er wie die Totenmaske des Maestros Paganini. »Wer sind Sie?« knurrte der Mann. Er trug einen dunklen Anzug. Ja, tatsächlich einen piekfeinen Anzug, mit dem er abge39 �
sehen von seinem häßlichen Gesicht in die Highlands paßte wie ein Pfau in eine Geierkolonie. »Harold Miller«, log Spencer. »Ich bin seit dem frühen Morgen von Ben Lawers nach Rowardennan unterwegs und habe den Weg zur Jugendherberge verfehlt. Wenn ich Sie um einen Teller Suppe und ein Nachtlager bitten dürfte, Mister…« Der Hagere senkte die Flinte. Aber nur, um die Linke vom Schaft zu nehmen und hektisch mit der Hand zu wedeln. »Gewäsch, Miller! Das Youth Hotel ist keine fünf Meilen entfernt. Sie haben gut und gern dreißig Meilen hinter sich, da wird Ihnen die kurze Strecke auch nichts mehr ausmachen. Scheren Sie sich fort. Ich nehme keine Vagabunden und Strolche auf.« »All right«, spielte Spencer die nicht aus dem Gleichgewicht zu bringende Frohnatur, »vielleicht zeigen Sie mir wenigstens die Richtung, Mister…« Der Pergamenthäutige überhörte die versteckte Frage wieder. »Meinetwegen, Miller. Wie sind Sie eigentlich auf mein Anwesen gestoßen?« »Ich habe die Musik gehört.« »Verflixt, ich habe zu laut aufgedreht, scheint mir.« »Spielen Sie ein Instrument?« »Ich sagte doch: aufgedreht«, versetzte der Bursche mit der Schrotflinte in schrillem Tonfall. Er rückte etwas an die Seite, damit Spencer einen Blick in den hinter der Tür liegenden Raum werfen konnte. Er war nur schwach erleuchtet. Aber man konnte die Schellack-Platte erkennen, die sich unter einem abgehobenen Tonarm und dem Schalltrichter drehte. »Sehen Sie den Apparat, Miller?« fuhr der Bewaffnete den blonden Mann an. »Ich liebe klassische Musik, und ich stelle immer auf volle Lautstärke, weil man hier oben sonst vor Einsamkeit verrückt wird. Packen Sie sich endlich. Kehren Sie auf den Weg zurück. Wenn Sie sich nach Süden wenden und sich hinter den Kuhweiden an dem 40 �
Mond orientieren, können Sie den Loch Lomond gar nicht verfehlen.« »Danke«, meinte Spencer. Er machte auf dem Absatz kehrt und schritt gemächlich davon. »Fort, Miller, oder Sie kriegen noch eine Ladung Schrot verpasst«, keifte die Stimme des Hausherrn hinter ihm her. Der Privatdetektiv kehrte nach Rowardennan zurück. Bevor er sich Zugang zu dem geheimnisvollen Haus verschaffte, wollte er einige Informationen über den Pergamenthäutigen sammeln. * Pearl war heilfroh, als ihr Freund in der Jugendherberge auftauchte. Spencer Laine nahm sich nicht einmal die Zeit, seine Kluft abzulegen. Sofort schwang er sich mit dem Girl in den Rolls Royce. Sie rollten Bailoch entgegen. Es war nach 20.00 Uhr, als sie den Ort erreichten. Der Detektiv fuhr in die Mezzrow Street. Dort lag die Redaktion der lokalen Tageszeitung »Balloch Gazette«, und ein Bekannter von Spencer gab gerade Spiegel und Texte für seine Seiten in den Umbruch, nämlich Jim Metealf, beleibter Chefredakteur des Blättchens. »Gehen wir in mein Office«, rief er nach einer stürmischen Begrüßung. »Bei einem Gläschen Zehnjährigen spricht es sich besser.« Er lotste das Paar in seinen mit Fotos und Artikeln tapezierten Arbeitsraum, baggerte Scotch und Gläser aus dem untersten Schreibtischfach herauf ließ von einem Volontär Stühle hereinbringen. Erst, als Spencer und Pearl mit ihm angestoßen hatten, drehte er sein Vollmondgesicht dem blonden Mann zu Und fragte ernst: »Wo drückt dich der Schuh?« »Fünf Meilen von der Jugendherberge entfernt gibt es ein altes Bauernhaus im Hochland«, begann Spencer. »Jim, ich muß wissen, wer der Kerl ist, der dort lebt. Die Leute in der Jugendher41 �
berge wollen nichts über ihn preisgeben, obwohl man seine Geige auf den Hängen und bis in den Sumpf hinein vernehmen kann.« »Henry Maguire«, sagte Metealf schweratmig. »Der Dirigent, den man vor zwei Jahren unehrenhaft aus dem Sinfonieorchester von Edinburgh entlassen hat?« hakte Pearl Evans nach. »Stimmt. Was hat man Ihnen noch über ihn erzählt, Miß Evans?« »Nichts. Ich las es in der Zeitung.« »Es hieß, Maguire habe die Arbeit im Orchester stark vernachlässigt, aber das wurde später von der Verwaltungsbehörde und den Konzertdirektoren daraufhin abgebogen, daß er sich infolge einer schweren Krankheit habe zurückziehen müssen«, schnaufte der Redakteur. »Die Presse lügt eben immer mit, Kinder, das ist ein altes Übel. Ich habe Henry Maguire ein paar Mal aufsuchen wollen. Jedes Mal bedrohte er mich mit einer Schrotflinte.« »Mich auch«, sagte Laine. Metealf machte eine verächtliche Handbewegung. »Ich habe auch so die Wahrheit herausbekommen. Maguire hat sich zu lebhaft für Parapsychologie und Okkultismus engagiert. Das wirkte sich nachteilig auf die Orchesterproben aus, aber vor allem warf es ein schlechtes Licht auf das Image der Edinburgher Oper. Darum mußte der Mann gehen. Ich habe gehört, er habe bittere Rache geschworen. Die Leute von Rowardennan sind sicher, er könne mit seiner Geige zaubern…« »Warum schweigen sie dann?« wunderte sich Pearl. »Sie haben Angst«, erwiderte ihr Freund. »Sehr richtig«, pflichtete der Beleibte ihm bei. »Die Menschen sind abergläubisch und furchtsam. Die denken noch wie im Mittelalter und meinen, solange sie ihn in Ruhe lassen, krümmt er 42 �
ihnen auch kein Haar. Spencer, ich bin überzeugt, er hat auch dir das Märchen mit dem Grammophon aufgetischt. Siehst du! Der alte Lügenbold beherrscht die Violine virtuos, nur ist es selbst den meisten Kennern seiner Dirigentenkarriere verborgen geblieben, daß er ganz nebenbei ein Instrument spielen gelernt hatte.« »Kannst du dir vorstellen, daß er mit der Geige einen verheerenden Einfluß auf die großen Stechmücken vom Loch-LomondSumpf ausübt?« beugte sich Spencer vor. »Kannst du das beweisen?« Metealf wollten die Augen aus dem Kopf quellen. »Sag bloß, du spielst auf den Tod von Misperton und Margret Adamton an. Mann, Spencer, das wäre der Knüller des Jahrhunderts!« »Nur keine Aufregung«, erwiderte der Privatdetektiv. »Bislang habe ich keinerlei Indizien gegen den Mann, Jim. Man müßte unter einem Vorwand in seine Behausung eindringen können. Anders kommt man nicht hinter die Lösung des Rätsels. Maguire würde das, was er zu verbergen hat, vor jedem Menschen zu verstecken wissen, der auch nur das Aussehen eines Spitzels hat.« »Hm«, machte der Redakteur, und kurz darauf meinte er: »Tja, Maguire gab vor zwei Wochen eine Anzeige auf. Per Post. Er suchte eine Haushaltshilfe. Auf die Annonce meldete sich selbstverständlich kein Girl aus der Umgebung. In den Städten wird die ›Gazette‹ nicht gelesen, also nehme ich an, daß der Kamerad sich die Suppe nach wie vor selbst kochen muß.« Pearl stand auf. »Dann werde ich mich eben um den Job bewerben.« »Darling, das lasse ich nicht zu.« Der Detektiv vollführte eine abweisende Geste. »Ich kann dich nicht mutterseelenallein in die Höhle des Löwen schicken und abwarten, was passiert.« »Du könntest mich aus einiger Entfernung bewachen. Spencer, 43 �
wir leben im Zeitalter der Emanzipation.« »Um Himmels willen…« »Ich habe ein Recht darauf, zur Klärung des Falles beizutragen«, fuhr die hübsche Brünette unbeirrt fort. »Außerdem gibt es keinen besseren Weg, um diesem Geheimnistuer Maguire ein Schnippchen zu schlagen, und schließlich werde ich die Gelegenheit nutzen, um klarzustellen, daß alles eine natürliche, sachliche Erklärung hat sofern der abgetakelte Dirigent überhaupt in die Geschichte verwickelt ist. Sag nicht, daß du nicht einverstanden bist, Darling.« Laine verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. »Lassen wir uns keine grauen Haare über die Entscheidung wachsen. Ich stimme zu. Aber ich werde deinen Schatten spielen. Ich glaube nämlich, du unterschätzt die Gefahr, die in dem alten Bauernhaus lauert, um ein Vielfaches.« Metealf schenkte Whisky nach. »Übrigens, der Bau heißt ›Donan House‹. Die Bürger von Rowardennan sagen, auf seinen Mauern laste ein Fluch. Brat Donan, der das Häuschen vor sechzig Jahren errichtete, kam im Sumpf ums Leben. Angeblich, weil er die Moorgeister verhöhnt hatte.« »So ein Quatsch«, meinte Pearl Evans amüsiert. * Das hübsche Girl mit den Sommersprossen an den Nasenflügeln hatte hautenge weiße Jeans über die atemberaubend geformten Schenkel gestreift. Dazu trug es einen grobgehäkelten Pullover, und darüber einen Pelzmantel. Wohlgemerkt: Einen Mantel aus Schafsfell, dessen Wollseite als Futter nach innen gekehrt, und dessen Außenfläche mit Stickmustern versehen war. Pearl Evans durfte auf keinen Fall elegant aussehen – aber auch nicht wie die Unschuld vom Lande. 44 �
In der Nacht waren sie in Spencers Wohnhaus zurückgekehrt, damit sie sich entsprechend ausstaffieren konnte. Jetzt war es acht Uhr morgens. Um sieben Uhr war sie in Doune in den roten Überland-Bus gestiegen. Nach fünfzig Minuten Fahrt war sie an einer gottverlassenen Haltestelle ausgestiegen, um die vier Meilen bis Donan House zu Fuß zurückzulegen. Wie gesagt, es gab keine Straße zu dem Laubwald, auf dessen Lichtung das Refugium von Henry Maguire stand. Pearl war das Mädchen aus Perth, das Elternhaus und Lehrstelle satt hatte, dank Volljährigkeit jederzeit seiner Wege gehen konnte, aber nicht über genügend Geld verfügte, um sich länger als eine Woche über Wasser zu halten. Pearl hatte mit Spencer sämtliche Erklärungen ausgetüftelt, die sie bereithielt, um den garantiert argwöhnischen Fragen des Dirigenten zu begegnen. Ihren Namen brauchte sie nicht zu ändern. Im Gegensatz zu ihrem blonden Freund war sie in Rowardennan und am ganzen Loch Lomond kaum jemandem bekannt. Es bestand also nicht die Gefahr, daß der eremitierende Pergamenthäutige jemals von ihr gehört hatte. Spencer hatte sich in Doune von ihr getrennt. Er war nach Rowardennan gefahren, hatte den Rolls Royce am Youth Hotel zurückgelassen und mußte sich in diesem Moment bereits in dem flachen Heuschober befinden, den er am Abend als Versteck ausgekundschaftet hatte. Der Schober stand auf der am Wald am nächsten liegenden Rinderweide. Es existierte eine Schneise, durch die der blonde Mann mittels seines Feldstechers bis Donan House blicken konnte, ohne seinerseits Gefahr zu laufen, von Maguire entdeckt zu werden. Pearl hatte den Bus benutzt, um jedes Verdachtsmoment auszuräumen. Sollte Maguire sie zufällig beobachten – sie wanderte tatsächlich über den Trampelpfad, der die weitab liegende Bushaltestelle mit dem Laubwald verband. 45 �
Forsch trippelte sie vom Pfad auf den Laubteppich, der den Raum zwischen den Baumstämmen ausfüllte. Die roten, gelben, braunen Blätter knisterten unter ihren Füßen. Spencer hatte ihr die Richtung genau beschrieben. Nach ungefähr zehn Minuten Marsch unter Eichen und Espen erreichte Pearl Donan House. Sie lächelte. Das Gebäude aus Bruchsteinquadern machte eher einen gemütlichen als unheimlichen Eindruck. Sie konnte sich einfach nicht mit der Vorstellung vertraut machen, daß ihr Freund hier einen Magier, eine Zaubergeige, Geister wissen wollte… Die Tür schwang jaulend auf. Maguire zeigte sein Raubvogelhaupt. Er hatte die Schrotflinte schon im Anschlag, ließ sie aber sinken, als er das Girl ausmachte. »Was wollen Sie?« herrschte er sie an. »Machen Sie, daß Sie fortkommen! Dieses hier ist ein Privatgrundstück.« »Befinde ich mich vor Donan House?« fragte Pearl unbeeindruckt. »Und wenn es so wäre?« »Ich habe eine Anzeige in der ›Bailoch Gazette‹ gelesen. Es war nicht einfach, Sie zu finden, das kann ich Ihnen sagen. Ich möchte mich vorstellen und um den Job als Haushaltshilfe bewerben, Mister…« »Treten Sie näher«, schnarrte Maguire. Er hielt den Kopf gebeugt und warf ihr lauernde Blicke entgegen, als sie leichtfüßig auf ihn zustolziert kam. Seine Prüfung schien positiv auszufallen, denn er befleißigte sich nun zu einem Lächeln. »Es ist schon ein paar Tage her, daß Sie annonciert haben«, versetzte sie entschuldigend, »aber in Doune, meinem Wohnort, wird die ›Gazette‹ nicht regelmäßig ausgetragen. Außerdem war ich nicht sofort frei.« »Wie haben Sie den Pfad gefunden?« forschte er. »Der Busfahrer wußte, wo Donan House hegt.« 46 �
Das erschien dem Pergamenthäutigen glaubhaft. Er nickte und kicherte. »Ich lebe völlig zurückgezogen. Ich habe lange überlegt, bevor ich mich zu der Anzeige entschlossen habe. Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden, kein Girl für die Arbeiten zu finden, die ich nur ungern selbst erledige. Fein, daß Sie da sind. Machen Sie sich eines klar: Ich zahle keine Almosen, sondern erwarte, daß für den Lohn etwas getan wird. Sind Sie immer noch gewillt, anzufangen?« »Aber sicher«, rief Pearl aus und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich heiße Pearl Evans.« »Henry Maguire«, erwiderte der hagere Mann, nachdem er ihre Hand erstaunlich kraftvoll gedrückt hatte. »Ich zahle fünfzig Pfund pro Monat, gewähre Kost und Logis, stelle aber folgende Bedingungen: Sie haben sich ausschließlich um Ihre Arbeit zu kümmern und Ihre Nase nicht in Dinge zu stecken, die Sie nichts angehen. So etwas liebe ich nicht. Sollte ich Sie beim Schnüffeln erwischen…« Pearl unterbrach seinen Redefluss. »Schon gut, Mr. Maguire. Ich bin nicht der Typ, der in fremde Töpfe guckt. Verlassen Sie sich auf mich.« Maguire machte eine linkische Handbewegung, mit der er sie ins Haus einlud. »Übrigens, Sie haben mich ab sofort Meister zu nennen. Ich war eine Kapazität in meinem Fach als Dirigent und verdiene Respekt.« Das Girl hatte keine Einwände. Überhaupt, Pearl hielt den Pergamenthäutigen zwar für einen kauzigen Burschen, mit dem gelegentlich nicht gut Kirschen essen war aber in der Rolle eines mörderischen Teufelsgeigers konnte sie sich ihn nicht vorstellen. Pearl bekam von Maguire ihr Zimmer zugeteilt. Es lag in dem ausgebauten Dachgeschoß des Hauses, roch muffig, genau wie alle anderen Räume. Der »Meister« hauste in einem altmodischen, verstaubten Gemäuer. Kaum ein Möbel schien benutzt zu 47 �
werden. Auch gab es keinen Fernseher, kein Radio, kein Telefon. In der Küche türmte sich ungewaschenes Geschirr. Der Herd mußte umständlich mit Holz und Kohle angefeuert werden, elektrische Geräte existierten nicht. Das Grammophon in der Diele wurde per Handkurbel aufgezogen. Maguire legte demonstrativ eine Schellack-Platte auf, bevor er Pearl ihren Arbeitsbereich zeigte und beschrieb. Sie hatte morgens um sieben Uhr aufzustehen, Frühstück zu bereiten, die Schlafräume, Diele, Küche und Kaminzimmer zu putzen. Nach dem Mittagessen und am Abend hatte sie sich nur in ihrem Zimmer oder in der Küche aufzuhalten. Den Raum hinter dem Kaminzimmer machte der Mann mit den langen schwarzen Haaren ihr überhaupt nicht auf. »Wagen Sie es nicht, jemals hineinzusehen«, flüsterte er. Das Girl zuckte die Achseln und machte sich an die Arbeit. Den Vormittag über hatte es alle Hände voll zu tun, die Bauernkate einigermaßen auf Vordermann zu bringen. Essenbereitung und Küchenputz verlangten ihr nicht minder viel Mühe ab. Die Stunden verstrichen wie im Flug. Am Abend gab die hübsche Brünette nicht nur Müdigkeit vor, sie fühlte sich tatsächlich zum Umfallen schläfrig. Nachdem sie dem jetzt schweigsamen Maguire eine enorme Portion Bratkartoffeln mit Schinken und Ei vorgesetzt hatte und selbst ihr Abendbrot in der Küche eingenommen hatte, zog sie sich über die Holztreppe in ihre Kemenate zurück. Vor dem Einschlafen dachte sie noch: Komisch, er verspeist ungeheure Mahlzeiten und es fällt immer mehr Geschirr an, als ein einzelner Mann benutzen kann. Dann fielen ihr die Augen zu. Pearl Evans wurde durch gravitätische Klänge geweckt. Verwirrt richtete sie sich auf ihrem muffigen Bettlager auf, schaute auf die Armbanduhr: Es war kurz vor 21.00 Uhr. 48 �
Klavierakkorde hallten durch die Räume. Eine Violine wurde dazu in getragenen Läufen gestrichen, klagend überlagerte eine hohe Frauenstimme das ohnehin schon traurige Adagio. Pearl setzte sich auf. Man mußte kein Experte sein, um die Musik von den krächzenden Lauten des Grammophons unterscheiden zu können. Also hatte Spencer doch recht gehabt: In diesem Haus wurde konzertiert, und das kräftig und ausdauernd. Das Girl wartete ungefähr eine halbe Stunde im Bett. Aber das Spiel riß nicht für eine Sekunde ab. »Das bedeutet noch lange nicht, daß Maguire etwas mit den Mücken und Morden zu tun hat«, murmelte sie beharrlich. »Jedem Menschen steht es schließlich frei, Kammermusik zu machen.« Die weibliche Neugier und der Auftrag, den sie hatte, siegten über die Ermahnungen, die der ehemalige Dirigent ihr gegeben hatte. Pearl stand auf, raffte ihr Nachthemd und schlich auf nackten Fußsohlen die Treppe hinab. Das nahm viel Zeit in Anspruch, denn wenn sie nicht höllisch aufpasste, konnte die eine oder andere Stufe knarren und sie verraten. Sie schaffte es. Vorsichtig glitt sie über den düsteren Flur, der von der Diele aus an Küche und Speiseraum vorüber ins Kaminzimmer führte. Die Tür zu Maguires Schlafzimmer war nur angelehnt. Pearl riskierte einen Blick der Meister lag nicht in seinem Bett. Es war deutlich zu erkennen, denn auf seinem Nachtschrank brannte eine große Kerze. Das hübsche Mädchen pirschte sich ins Kaminzimmer, sorgfältig nach allen Seiten Ausschau haltend. Erst als sie völlig sicher war, daß niemand in den Sesseln vor der zuckenden Glut saß, durchquerte sie auch diesen Raum und preßte ihren Körper gegen die Wand, in der sich die Verbindungstür zu dem verbotenen Zimmer befand. 49 �
Die Musik drang aus diesem Raum an ihre Ohren. Vehement jetzt, in heftig vorangetriebenem Presto. Aufschieben konnte sie die Tür nicht. Unmöglich. Sie wollte es nicht einmal wagen, die Klinke herunterzudrücken, um zu prüfen, ob der Riegel vorgeschoben war oder nicht. Dazu hatte sie doch zuviel Angst vor dem Pergamenthäutigen. Pearl bückte sich. Daraufhin hatte sie wenigstens die Möglichkeit, durch das Schlüsselloch zu spähen. Der Schlüssel war abgezogen worden. So lag der größte Teil des ausgedehnten Raumes in ihrem Sichtbereich. Plötzlich schnürte sich ihr die Kehle zusammen. Maguire hockte krumm auf einem Stuhl und führte den Bogen in wüsten Bewegungen über die vier Saiten seines Instrumentes, das Gesicht mal zur verzückten Miene, mal zur Fratze verzerrt. Aber das war es nicht, was die Brünette erstarren ließ. Hinter dem Meister saß Robert Misperton am Konzertflügel. Er hatte ein maskenhaft bleiches eingefallenes Gesicht ohne Zähne. Er sah schrecklich aus. Pearl erkannte ihn auch nicht an seinem Gesicht das hatte sie nie gesehen, weil der Tote auf den Fotos der Mordkommission nicht zu identifizieren gewesen war. Nein, sie erinnerte sich an die Beschreibung, die Vance Seymoure von der Kleidung seines Schwagers geliefert hatte. Ein maßgeschneiderter dunkelblauer Anzug, ein weißes Hemd, das jetzt weit offen stand kein Zweifel, er mußte es sein! Pearl preßte die Hand vor den Mund. Wer war die Frau am äußeren Rand des Flügels? Sie präsentierte sich halbnackt. Ihre schweren Brüste waren unbedeckt, hoben und senkten sich unter den Koloraturen, die ihre Lippen formten. Auch sie zeigte diese entsetzliche Blässe und eine Physiognomie, die nur noch einstige Attraktivität vermuten ließ. Es war, als sei das Fleisch von ihren Wangen gefallen. Ihre Augen quollen fast aus den Höhlen sie sah aus wie eine wandelnde Leiche. 50 �
Robert Misperton und Margret Adamton? Aber die sind doch tot, hämmerte es in Pearls Hirn. Es wollte ihr einfach nicht einleuchten. Wie konnten diese Menschen existieren, dazu noch in so monsterhafter Erscheinung? Verwirrt kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Sie grübelte, bis sie einschlief. Kurz bevor die Träume sie gefangen nahmen, kam sie zu der Einsicht, daß die Müdigkeit ihr Trugbilder vorgegaukelt haben mußte. Wahrscheinlich, so nahm sie an, sind die Sängerin und der Pianist ganz normale Menschen aus Fleisch und Blut, die nur wegen des ungünstigen Lichteinfalls der Kerzen so unheimlich aussahen. Und die Ähnlichkeit? Viele Menschen können einen blauen Anzug tragen, sagte sie sich, es ist ja nicht verboten, und die Adamton habe ich nur einige Male in den Illustrierten abgebildet gesehen, Schön, die Frau dort unten hat rote Haare, das scheint aber auch die einzige Übereinstimmung zu sein. Trotzdem. Pearl beschloß, Spencer am frühen Morgen heimlich aufzusuchen und ihm ihre Beobachtung mitzuteilen. * South Shields. Festbeleuchtung erhellte den Konzertsaal, in dem David Burns auf seiner Bachtrompete spielte. Mehr als tausend Menschen waren an diesem Abend in die Royal Festival Hall geströmt, um der meisterhaften Darbietung zu lauschen. Burns interpretierte, vom Birmingham Philharmonie Orchestra begleitet, Auszüge aus den »Brandenburgischen Konzerten«. David Burns stand neben dem Dirigenten. Geduldig wartete er das Intermezzo ab, um das zierliche 51 �
Instrument von neuem an die Lippen zu setzen, als der Orchesterleiter ihm das Zeichen dazu gab. Der Klang der Trompete war gestochen rein. Es gab keinen Zuhörer, der nicht den Atem anhielt, als der stämmiggebaute Solist die Töne in schneller Folge bis zum berühmten hohen G hinaufschraubte. Ein Fotograf bemühte sich von einer der Logen aus, die eindrucksvollsten Phasen mit seiner Spiegelreflexkamera festzuhalten. Ohne Blitzlicht, denn das hätte David Burns irritiert, wie er ausdrücklich vor Beginn der Veranstaltung erklärt hatte. Das Drama setzte um kurz nach 21.30 Uhr ein. * Zu Hunderten quollen sie durch den Spalt! Mücken über Mücken, große Biester, die teils an den Fenstern saßen, teils unter der weißen Saaldecke hin- und herirrten. Ihr Strom riß nicht ab. Innerhalb von Sekunden verdunkelte sich das Weiß des Deckenanstrichs. So etwas hatte der Fotograf noch nicht erlebt. Er drückte in rascher Folge auf den Auslöser, jagte einen ganzen Film durch und nahm zuletzt die Zweitkamera zur Hand. Sie war mit einem 400-Millimeter-Teleobjektiv ausgerüstet, und so hielt er für seinen Auftraggeber fest, wie groß die Insekten genau waren, welcher Beschaffenheit ihre Gliedmaßen waren, und mit welcher Absicht sie in die Royal Festival Hall eingedrungen waren. Bald war die Oberseite des Saales schwarz vor Mücken. Unruhe breitete sich unter den Besuchern aus. Die uniformierten Aufseher gaben sich Zeichen. Einer von ihnen eilte zum Hauptausgang, offensichtlich mit dem Vorhaben, die Direktion von dem Zwischenfall in Kenntnis zu setzen. Eine Frau verließ ebenfalls den Saal. David Burns hatte die Tiere ebenfalls bemerkt. Der Fotograf 52 �
hielt ihn in dem Augenblick auf dem Zelluloidstreifen fest, als er zur Decke schaute, ohne die Trompete abzusetzen stirnrunzelnd, verwundert, tadelnd. Auch der Dirigent wandte sich um und sandte dem Publikum einen zurechtweisenden Blick zu. Seiner Miene nach zu urteilen war er gewillt, das Konzert jeden Moment abzubrechen. Der Stimmenlärm schwoll an. Zur Eskalation kam es erst, als sich die Hauptmasse der Mücken von der Decke löste und in Bewegung setzte. Gleichzeitig hob das nervenzerreibende Singen an. Es kaschierte die Darbietung des Philharmonie Orchesters und des Bach-Trompeters. Der Dirigent ließ die Arme sinken. Die Musik brach ab. Burns zog ärgerlich das Mundstück von den Lippen. Alle Interpreten starrten plötzlich der bebenden Wolke entgegen, die direkt auf sie zugerast kam. Es war eine Frage von Sekunden, dann hüllten die Insekten das Orchester ein, versenkten ihre gierigen Saugrüssel in Hautpartikel, verbreiteten Panik. Der Fotograf konnte nicht so schnell die Bilder schießen, wie die Szenerie wechselte. Geiger sprangen auf, prallten mit Kollegen zusammen, ein Cello fiel polternd zu Boden. Die weiter hinten sitzenden Blasmusiker fanden als erste den Weg zum Bühnenausgang. Der Dirigent schrie immer wieder die gleichen Worte heraus: »Die Ruhe bewahren, Gentlemen, die Ruhe!« Ein vielstimmiger Schrei gellte durch den Saal. Jäh hatte sich der Angriff der Mücken auf den Solisten des Abends konzentriert. David Burns, dieser muskulöse Mittvierziger mit dem lichten Haupthaar, kämpfte verzweifelt gegen die Stechmücken. Einige beherzte Kollegen und der Dirigent eilten ihm sofort zu Hilfe. Aber sie schafften es nicht, die erbarmungslos zustoßenden Biester von ihm fernzuhalten. Schon hafteten sie als dichte, wimmelnde Masse auf ihm. Immer, wenn einer der Helfer ein 53 �
Tier mit den Fingern zu fassen bekam und losriss, gab es einen roten Fleck auf Burns' Hemd, Hals oder Händen. Die Mücken waren wie Egel, die, einmal festgesaugt, als Schmarotzer an ihren Opfern hingen und sie nicht wieder losließen. Dem Fotografen wurde beinahe schlecht. Aber er spulte weiter seinen Film ab, dachte an die Bombenhonorare, die die Regenbogenpresse für diese sensationellen und exklusiven Aufnahmen zahlen würde… Der Bach-Trompeter taumelte vorwärts. Das Publikum hielt seinen Anblick nicht aus: Brüllend und tobend drängten die Menschen zurück, verkeilten sich ineinander, strömten den Notausgängen zu. In ihrer Angst behinderten sie sich gegenseitig. Die Aufseher versuchten vergeblich, die Panikstimmung zu unterdrücken. Sie wollten die Saalräumung durch einen rasch entworfenen und in die Tat umgesetzten Notstandsplan organisieren sie wurden einfach auf die Seite gedrückt, niedergetrampelt. Burns stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Die Reaktion der Konzertgäste bestand darin, daß sie völlig durchdrehten. Sie rempelten sich an, arbeiteten mit Händen und Füßen, ja, schlugen sich sogar, um Vorsprünge zu ergattern. Dem Fotografen, der als einsamer Beobachter hinter der Balustrade seiner Loge kauerte, war es schleierhaft, wie das Benehmen dieser zivilisierten und auf Etikette bedachten Gesellschaft so blitzartig ins Vulgäre umschlagen konnte. Er hielt auch das auf den letzten Bildern fest: wie Frauen und Männer sich an den Notausgängen balgten und die Türen verbarrikadierten, weil sie durch die Nachdrängenden bald an jeder Bewegung gehindert wurden. Der Trompeter stolperte über das Dirigentenpult. Schwer schlug er zu Boden und wälzte sich. Wenn den Fotografen bis jetzt noch nicht das Grauen ergriffen hatte, er lernte das Gruseln, 54 �
als er durch den Kamerasucher verfolgte, wie die entsetzlichen Insekten in Burns' Nasenlöcher, in den Mund und in die Ohren krochen. Die bis zum Platzen mit Blut voll gepumpten Biester fielen von dem stämmigen Mann ab tot. Aber immer wieder krabbelten neue Exemplare an ihre Plätze. »Mein Gott sie bringen ihn um«, stammelte der Fotograf. Die Aufseher hatten sich neu gruppiert. In gedankenschneller Initiative stürmten zwei von ihnen zum Feuerlöschkasten, hebelten ihn auf, holten den Wasserschlauch hervor. Sie rollten ihn ab. In Sekundenschnelle erreichten sie das leergefegte Orchesterpodium. Man sah, daß sie diesen Einsatz oftmals geprobt hatten, für den Katastrophenfall. Wasser spritzte Burns entgegen. Der Strahl war stark und hart, rieb über seinen lädierten Körper und rollte ihn sogar ein Stückchen fort. Aber die Mücken waren zählebig. Einzelne wurden fortgeschleudert, doch sie kehrten immer wieder zu dem Unglücklichen zurück. Die Flüssigkeit wusch das Blut von Burns' Leib ab, legte seine Kleidung offen und gab erst richtig preis, was für grauenhafte Wunden die Insekten dem Mann zugefügt hatten. Der Fotograf, der mittels des Teleobjektives alles wie zum Greifen vor Augen hatte, hielt es nicht mehr aus. Er mußte die Kamera fortlegen und sich übergeben. Knapp zehn Sekunden später starb David Burns unter unbeschreiblichen Qualen. * Pearl Evans erwachte schweißgebadet. Wieder blickte sie auf die Uhr. Zu ihrem Erstaunen hatte sie keine Stunde geschlafen. Es war jetzt 22.05 Uhr. Unter dem Dach des alten Bauernhauses war es drückend warm und vor allen 55 �
Dingen feucht. Kaum zu glauben, daß ein schneidender Wind über die Schindeln pfiff! Das brünette Girl kroch aus den Federn. Es fühlte sich wie gerädert. Durst, pochte es in seinem Schädel. Unwillig warf Pearl die Locken über die Schultern zurück. Verflixt, sie hatte den Eindruck, daß sie in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden würde. Ihre Zunge lag dick und klebrig im Mund, außerdem musizierten die drei Menschen dort unten im Erdgeschoß immer noch wie besessen. Sie machte sich auf den Weg in die Küche. Kaum drückte sie die Tür ihrer Kemenate auf, wehten die Klänge ihr verstärkt entgegen, und als sie über die Treppenstufen in die unteren Räume tapste, wurden die Töne aufdringlich laut. Jäh blieb sie wie festgenagelt stehen. Bei dem, was Pearl Evans jetzt verfolgen mußte, vergingen ihr sowohl der Durst als auch der ewige Spott über Magie und Geisterglauben. Lautlos kam es durch die Eingangstür. Es floß wie zäher Nebel, zersetzte sich und fügte sich vor den hölzernen Bohlen wieder zu einem Ganzen zusammen. Hölzern strich es grinsend auf das Kaminzimmer zu und hob die Hand, um stumm gegen die Verbindungstür zu pochen und gleich darauf auch durch diese Barriere zu wandeln ein Gespenst. Eine männliche Gestalt von stämmiger Statur, mit lichten Haaren und totenähnlich eingefallenen Zügen. Blutfragmente schienen auf seiner Haut zu kleben aber es hatte ja keine Haut, dieses Schreckenswesen! Pearl mußte sich Mühe geben, um nicht zu schreien. Spencer! dachte sie. Ihr nach und nach wieder folgerichtig arbeitendes Hirn signalisierte ihr, auf dem schnellsten Weg das Haus zu verlassen, um 56 �
zu dem Freund zu laufen, und ihm alles zu berichten. Jetzt verspürte sie Furcht! Wirklich, sie hatte die Lage unterschätzt, wie Spencer ihr hatte beibringen wollen. Geschockt tastete sie sich bis zur Diele vor. Es war ein kleines Wunder, daß die scheußliche Erscheinung sie nicht bemerkt hatte. Nun, die Mauerecke, die den Treppenflur von der Diele trennte, hatte sie zur Hälfte verdeckt, und im übrigen hatte sie sich so hoch auf den Stufen befunden. Der Geist war viel zu beschäftigt gewesen, so rasch wie möglich in das verbotene Zimmer zu gelangen. Die Musik brach ab. Pearl war fast in der Diele, hörte aber noch die begeistert ausgestoßenen Worte von Henry Maguire: »David Burns, mein Guter! Hast du endlich den Weg zu deinem wahren Meister gefunden! Ich bin entzückt!« »Entzückt, entzückt«, echote eine Frauenstimme schrill. Mit zitternden Fingern griff Pearl nach der Türklinke. Es kostete sie enormen Aufwand an Selbstbeherrschung, nicht einfach den Riegel zurückzureißen und in die Nacht hinauszustürmen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß die Geister sie eingeholt hätten. Sie mußte leise sein, durfte kein verdächtiges Geräusch verursachen. Ja, sie hatte begriffen. Auch der Pianist und die Sängerin waren Gespenster. Auch hatte sie keine Zweifel mehr, daß es sich um die bedauernswerten Seelen von Robert Misperton und Margret Adamton handelte. Das Girl zog die Tür auf. Im Zeitlupentempo. Kaum merklich quietschten die Angeln. Pearl hielt inne, ließ den Atem stocken horchte. Nichts deutete darauf hin, daß der Meister und seine grausigen Musiker etwas bemerkt hatten. Die Stimmen tönten nach wie vor in verschiedenen Tonlagen, drangen fetzenweise an die Ohren der hübschen 57 �
Kleinen. Sie brachte die Tür so weit auf, daß sie sich durch den Spalt drücken konnte. Dann duckte sie sich und begann zu laufen, erst auf den Zehenspitzen, kurz darauf auf den ganzen nackten Fußsohlen, immer schneller, schneller. Das Herbstlaub raschelte unter ihren Füßen. Pearl orientierte sich nur vage am Stand des Mondes, der in dieser Nacht voller und unbehindert durch Wolken am Himmel stand. Weißgelbes Licht goss er über der Landschaft aus. Das Mädchen war heilfroh, als es den Waldrand erreicht hatte. Fast hätte es vor Freude gelacht. Der flache Heuschober stand nicht weit entfernt. Das nannte man wirklich Glück! Pearl Evans spurtete auf das Gebäude zu. Das starke Herzklopfen nahm etwas ab, sobald sie den Schlag der kleinen Scheune aufschwingen ließ. Aber im Inneren wartete eine Enttäuschung. Spencer Laine war nicht da! »Himmel«, flüsterte sie, »wo mag er bloß stecken?« Mit fliegenden Händen untersuchte sie die Umgebung. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Schnell entdeckte sie den Zettel, den Kugelschreiber und die Taschenlampe. Sie ließ den Lichtkegel der Lampe auf die Notiz fallen, die der blonde Mann für sie hinterlassen hatte: Darling! Habe eine Erscheinung über dem Wald wahrgenommen. Bin für eine halbe Stunde unterwegs, um der Sache auf den Grund zu gehen. Warte auf mich, falls du kommen solltest. Bye, Spencer. Im Schein der Lampe kritzelte Pearl einige Sätze auf die Rückseite des Papieres. Sie legte Stift und Zettel an den Platz zurück, an dem sie sie gefunden hatte und placierte die Lampe darauf. Plötzlich hielt sie es nicht mehr in dem Schober aus. Sie mußte ins Freie und Spencer suchen! Pearl fühlte, daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb, bis der unheimliche Maguire ihr Feh58 �
len feststellte und ihr nachspürte… Das Girl schlüpfte nach draußen. Es hastete bis zum Waldrand, weil es sich im Schutz der Bäume sicher vor etwaigen Beobachtern fühlte. Pearl Evans' Zähne schlugen in flinkem Rhythmus aufeinander. Sie wußte nur nicht, ob das ihrer Angst oder der Tatsache zuzuschreiben war, daß sie im Nachthemd durch die kalte schottische Landschaft irrte. Eine eisige Hand legte sich auf ihren Arm. Pearl riß den Mund zum Schrei auf. Aber eine zweite Hand, nicht weniger kalt, preßte sich auf ihre Lippen und erstickte den verzweifelten Laut. Sie fühlte sich zu Boden gerissen. »Packt sie«, hechelte Maguires Stimme. Da waren sie plötzlich über ihr, die drei schauderhaften Gestalten. Misperton faßte ihr unter die Schenkel, die Adamton bekam sie an der Hüfte zu fassen, Burns' Finger krallten sich in den Arm, den der Meister ihm überlassen hatte. Maguire stopfte ihr ein ekelhaft riechendes Stück Tuch in den Mund, als Knebel. Dann setzte sich die Rotte mit ihrer Beute in Bewegung. Unglaublich schnell huschten sie durch den Wald und Donan House kam wieder in Sicht. Die Adamton lachte die ganze Zeit über glucksend, auch noch, als der Pergamenthäutige Pearl in dem Kaminzimmer zu Boden werfen ließ. Seine Hand traf zweimal Pearls Gesicht. Sie bäumte sich unter den Ohrfeigen auf. »Miststück«, knurrte er, »wie gut, daß David dich bemerkt hat und so klug war, dich zu täuschen. Du wirst es noch bitter bereuen, mir nachspioniert zu haben.« Das Girl schüttelte den Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen. »So, du lügst auch noch, willst mir weismachen, du hättest nichts gesehen und gehört?« keifte Maguire. »Es nützt dir nichts, du Luder. Du bist schlau genug, um begriffen zu haben, was in 59 �
diesem Gemäuer vor sich geht. Ich kann es nicht riskieren, dich jemals wieder loszulassen.« Er schob einen Teppich beiseite. Staub wirbelte hoch. Unter dem Bodenbelag zeichneten sich die Fugen einer Luke ab, die Pearl bei ihrem Hausputz tatsächlich entgangen waren. »Werft sie ins Verlies«, kommandierte der Meister,»sie wird einen schrecklichen Tod sterben.« Pearl wurde es schwarz vor Augen. Vor Furcht und Abscheu wurde sie ohnmächtig. * Als Spencer Laine zu dem Schober zurückkehrte und die Nachricht seiner Freundin entdeckte, nahm er natürlich an, daß sie sich freiwillig zurück nach Donan House begeben hatte. Der Privatdetektiv war der festen Überzeugung, daß Pearl die Rolle der Haushaltshilfe weiterspielte, um Henry Maguire in Sicherheit zu wiegen. Aus dem Text des Zettels ging nichts unmittelbar Alarmierendes hervor: Maguire musiziert mit den Geistern von Misperton, Margret Adamton und David Burns. Habe mich unbemerkt entfernen können. Pearl. Laine grinste. Das hübsche Girl hatte allem Anschein nach eingesehen, daß seine Ansicht über Parapsychologie und Übersinnliches doch nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Somit war sie Zeugin von Maguires düsteren Geschäften geworden. Man brauchte nur noch in Donan-House einzudringen, den Mann zu stellen und die Gespenster zu fassen, den unheilvollen Zauber zu bannen. Nur mit dem Webley-and-Scott-Revolver konnte Spencer nicht viel ausrichten. Er brauchte den Ratschlag eines kompetenten 60 �
Mannes. Es galt, eine magische Formel oder ein anderes Mittel gegen den Spuk zu finden. Bei dieser Gelegenheit gab es noch etwas zu klären. Burns. Wer war dieser Burns? Im Moment wußte der Detektiv beim besten Willen nicht, aus welcher Schublade seines Gedächtnisses er den Namen fischen sollte, um zu wissen, um wen es sich handelte. Spencer nahm Lampe und Feldstecher an sich. Er kehrte im Laufschritt zur Jugendherberge von Rowardennan zurück, überzeugt, daß Pearl noch bis zum Morgen in dem Geister haus ausharren konnte. Vom Youth Hotel aus läutete er telefonisch bei DetektivInspektor George Täte in Dundee an. »Dies ist mein letzter Versuch«, erklärte er dem Kripomann. »Pearl Evans kann jederzeit aussagen, was sie in Donan House beobachtet hat. Henry Maguire gibt Teufelskonzerte! Er ist es, der die Mücken auf Misperton und die Adamton gehetzt hat. Wollen Sie endlich vernünftig werden, Inspektor?« Tates Stimme klang gereizt, abgekämpft. »Werter Laine, verschonen Sie mich endlich mit Ihrem Gewäsch, Ich habe Überstunden abgerissen, es ist bereits nach zehn Uhr. Wollen Sie die freundliche Güte haben, mich nach Hause zu entlassen?« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Sagen Sie, wer ist David Burns?« Widerwillig sagte Tate es ihm. Er fügte hinzu: »Burns starb vor einer Stunde bei einem Konzert in der Royal Festival Hall von South Shields. Ja, ja, Mann, um Ihrer Frage gleich zu begegnen: es waren wieder die Mücken. Und obwohl ich auch für South Shields nicht zuständig bin, habe ich beim Gesundheitsamt von Edinburgh eine Untersuchung und eventuelle Ausrottungsaktion in den Sumpfgebieten beantragt. Wenn alles klappt, beginnen die Leute gleich morgen früh mit dem Loch Lomond.« 61 �
»Sie Narr«, versetzte der blonde Mann erschüttert. »Wie bitte?« »Vergessen Sie's, Inspektor. Ich werde alles Menschenmögliche unternehmen, um weitere Morde zu verhindern. Gehen Sie derweil ruhig Ihrem wohlverdienten Schlaf nach!« Er legte auf, zahlte dem Herbergsväter, was er schuldig war, setzte sich in seinen Rolls-Royce-Veteranen und fuhr ab. Der Herbergsvater war darüber, froh, denn er hatte das Gespräch belauscht. Spencer Laine raste nach Glasgow. Die Scheinwerfer des silbergrauen Wagens bohrten tiefe Lichtstollen in die Dunkelheit. Er hatte die Limousine stets in Schuß gehalten, nicht mit Geld gespart, und das machte sich in Situationen wie dieser bezahlt. Die Maschine schnurrte bei 110 Meilen Geschwindigkeit satt vor sich hin. Auch in kniffligen Kurven hielten die Reifen und die schon 1937 fortschrittlich konzipierten Radaufhängungen das Fahrzeug wie eine Klette auf dem Asphalt. Spencer passierte Bailoch. Die Peripherie von Glasgow sah er nach weiteren zwanzig Minuten auftauchen. Er bog vom Motor Way ab und suchte die Adresse im Stadtteil Paisley auf. Balmaha Street Nummer 203. Hier wohnte in einem biederen schottischen Backsteinbau Dr. Woodrow Kyle. Er war Dozent für Psychologie und Psychopathologie an der Uni Edinburgh, beschäftigte sich aber privat mit den Erkenntnissen der Parapsychologie. Der blonde Mann hatte sich das meiste Wissen über die Mystik und deren Nebengebiete bei Dr. Kyle angeeignet. Sie hatten die Übereinkunft getroffen, sich im Notfall zu jeder Stunde konsultieren zu können. Die gegenseitige Vereinbarung haperte nur an der Tatsache, daß der Dozent über keinen Telefonanschluß verfügte. Spencer versenkte das Bremspedal im Bodenblech des Wagens. Er sprang ins Freie, drückte den Klingelknopf unter dem Briefkasten und eilte durch den Vorgarten, nachdem Dr. Kyle ihm die 62 �
Pforte per elektrischem Öffner geöffnet hatte. Dr. Woodrow Kyle erschien in dem hell ausgeleuchteten Rechteck des Eingangs. Ein dünner Mann mit Glatze, nachlässig gekleidet, über fünfzig auf den ersten Blick wirkte er nicht wie ein Gelehrter, sondern eher wie ein pensionsreifer Realschullehrer. Erst, wer in seinen ausdrucksvollen blauen Augen las und sich von Kyles Blicken förmlich durchleuchtet fühlte, konnte seine Kapazitäten in etwa abwägen. »Meine Frau ist auch noch auf. Sie sitzt mit meiner ältesten Tochter im Livingroom und diskutiert über Generationsprobleme«, lächelte der Dozent. »Schade, daß Sie Pearl nicht mitgebracht haben, Spencer. Sie hätte sich bestimmt gern an dem Gespräch beteiligt.« Der Privatdetektiv drückte ihm die Hand. Dann meinte er: »Das eine schließt das andere aus, Dr. Kyle. Lassen Sie sich die Lage erklären.« Er begann mit einer Schilderung im superkurzen Stil und endete, als sie gemeinsam das Arbeitszimmer des Psychologen im Obergeschoß betraten. »Ich verstehe«, sagte Dr. Kyle langsam und akzentuiert, »nach allem, was ich Ihren knappen Worten entnehmen kann, handelt es sich tatsächlich um einen Fall von Radiasthesie.« Was kann ich tun, um den Bann der unheilvollen Strahlen zu brechen?« Der Mann mit der Glatze hob fast beschwörend die Hand. »Nicht so schnell, Spencer. Lassen Sie mich einen Augenblick rekapitulieren. Von Henry Maguire habe ich gehört und gelesen. Ihre Version über den Bruch mit der Oper von Edinburgh war mir allerdings neu. Nun gut, setzen wir als bekannt voraus, daß der Mann aus Rachemotiven mordet, beziehungsweise morden läßt. Was ist der Kernpunkt dieser Verbrechensserie, das charakteristische Moment für alle seine Handlungen? Ich glaube, wir sollten die großen Stechmücken nicht vorrangig betrachten.« 63 �
»Die Geige«, warf Spencer ein. »Es ist doch offensichtlich, daß der verletzte Künstler Vergeltung übt, indem er Großbritanniens Musikwelt schadet, daß er mit den Geistern der inzwischen drei Gekillten ein Kammerorchester aufzieht. Ich halte es für wahrscheinlich, daß Maguire mit Hilfe dieser gerufenen und behexten Knechte etwas Ungeheuerliches inszenieren will, etwas, das alles Gewesene noch übertrifft.« »Das bedeutet konkret?« »Ich tappe noch im dunklen, Dr. Kyle.« Der Wissenschaftler setzte sich auf die Schreibtischkante. In seinem Arbeitszimmer türmten sich die Bücher und Manuskripte, mischten sich Tabakduft, Teedunst und Foliantenmief zu einer anheimelnden Geruchsmischung. Spencer Laine hielt sich gern in diesen vier Wänden auf. Stundenlang, wenn er Zeit hatte. Heute war er jedoch in Eile. Fast nervte ihn die Bedächtigkeit des Psychologen. Dr. Kyle schenkte guten schottischen Whisky in schmale Gläser und lud den Privatdetektiv zum Anstoßen ein. »Ich finde, wir sollten eine Weile bei den Persönlichkeiten der ermordeten drei verweilen, mein lieber Freund. Sie waren ausnahmslos profilierte Künstler, oder besser, Virtuosen. Maguire wird diese Ebene nicht verlassen, wenn er wirklich…« »… weiterkillt«, ergänzte Spencer. »Soweit bin ich auch. Man muß alle berühmten und fähigen Interpreten beschützen und zwar schnell!« »Nicht nur die lebenden unter ihnen«, knüpfte der Mann mit der Glatze an, »auch die toten Musiker. Soweit ich die Arbeitsweise des Mannes beurteilen kann, hat er alle Voraussetzungen, sich auch die Geister edler Verstorbenen zu holen. Wir haben es mit einer höchst sensitiven Strahlenwirkung zutun.« »Also schön«, stieß der Blonde entschlossen aus, »ich habe nicht vor, herumzustehen und zu warten, daß er seinen nächsten 64 �
Coup landet. Entschuldigen Sie, Dr. Kyle, wenn ich dränge. Was schlagen Sie vor? Womit kann ich mir Maguire, seinen Gespenster und seinen ganzen unseligen Einfluß vom Leib halten?« »Gehen wir auf den Dachboden«, meinte sein Gegenüber. Zwei Minuten später wühlte Dr. Woodrow Kyle im Schein einer trüben Glühbirne in staubigen Regalen. Unter den Dachplatten seines Hauses gab es einen großen Bodenraum, in dessen heillosem Durcheinander er sich offenbar nicht einmal selbst zurechtfand. »Man muß eine durchdringende akustische Störung erzeugen. Die musikalischen Produkte Maguires, und die dadurch gesteuerten Mücken sind dagegen sehr empfindlich«, dozierte der Mann mit der Glatze. »Es kommt nun darauf an, das richtige Mittel zu finden. Was halten Sie davon, wenn ich Sie begleite, Spencer?« »Sie kennen meine Prinzipien.« »Meinetwegen, begeben Sie sich allein in die Höhle des Löwen. Aber bringen Sie um Himmels willen Pearl in Sicherheit, bevor Sie es mit dem Teufelsgeiger aufnehmen. Was ich Ihnen gebe, ist nach meinem Dafürhalten vortrefflich geeignet. Aber ich kann keine Garantie für die hundertprozentige Wirkung übernehmen.« »Niemand erwartet das, Dr. Kyle.« »Ich würde es aber gern zusichern können.« Der Wissenschaftler zog mit energischem Ruck eine flache Schachtel aus einem Stoß grauer Schatullen hervor. Staub puffte hoch. Er hustete protestierend. Spencer nahm die Schachtel entgegen. »Was ist das?« »Sehen Sie selbst nach.« Der blonde Mann klappte den Behälter auf, beförderte eine eigentümlich geformte Flöte zutage. »Wenn mich nicht alles täuscht, handelt es sich um das mittelalterliche Instrument der Schafhirten, aus dem später der Dudelsack entstanden ist!« 65 �
»Richtig. Allerdings haben Sie kein Original, sondern eine Nachbildung in Händen. Versuchen Sie doch, darauf zu blasen.« Spencer Laine entlockte der Flöte einige unschöne Laute. Er fand sich aber schnell zurecht nicht umsonst hatte er Saxophon gespielt. Er deckte die sieben Löcher des Musikrohres vollständig mit den Fingerkuppen ab und formte eine Tonleiter, indem er Atemluft hineinströmen ließ, und die Löcher Finger für Finger wieder freigab. Die Laute waren dem eines Dudelsacks nicht unähnlich. Grell und quäkend breiteten sie sich im Raum aus. »Großartig«, kommentierte der Wissenschaftler. »Ich glaube, Sie werden es schaffen!« * Die Kirchturmuhr schlug nur einmal, denn es war 22.30 Uhr. Schwer hallte der Klang vom gotischen Gotteshaus in Paisley herüber und schwebte über die Friedhofshecke und die Grabsteine hinweg. Peter McBland fühlte sich von einem heftigen Schluckauf geplagt. Hinzu kam, daß er nur mühsam das Gleichgewicht halten konnte. Dreimal war er schon gegen die Hecke getorkelt, fast zwischen knorrigem Astwerk und Blättern hindurch auf das Cemetery-Gelände gestürzt. Kurzum: Peter McBland war stockbetrunken. Sein Heimweg hatte eine Länge von nicht viel mehr als einer Meile. McBland, der autolose Psychologie-Student, legte diese Strecke immer zu Fuß zurück, wenn es bei seinem Kommilitonen Harry in der Marble Street eine der schon traditionellen Partys gegeben hatte. Heute hatte Peter früh passen müssen. Aus einem ihm völlig unverständlichem Grund brachte er nicht die Fitness und das Fassungsvermögen auf, die zu einer Feier im 66 �
schottischen Stil nun eben notwendig waren. »Verdammt verdammte Feten«, gurgelte McBland, »Nie wieder trinke ich Alkohol – o Vater, ist mir schlecht…« Die Hecke verfügte über eine nahezu magische Anziehungskraft. Der Student bekam wieder Schlagseite, krängte nach rechts über und fiel durch das struppige Buschwerk. Diesmal konnte er sich nicht fangen. Er schlug zu Boden. Doch er hatte das Glück, das man bekanntlich nur Kindern und Betrunkenen zusprach: er verletzte sich nicht. Keinen Kratzer trug er davon, und auch seine Brille saß noch heil auf der Nase, lediglich seine Kordjacke wurde schmutzig. McBland lag, nur noch die Füße in der Hecke, auf modrig riechendem Untergrund wie geplättet. Er hatte Mühe, sich aufzurappeln. »Mutterboden«, faselte er, »gute, schottische Heimaterde, wie hab' ich dich…« Er brach ab. Er versuchte nicht mehr, auf die Beine zu kommen, sondern lauschte plötzlich angestrengt. Schön, er war mächtig berauscht, aber seine Sinnesorgane funktionieren doch noch so weit, daß er Wirklichkeit von der Einbildung unterscheiden konnte. Das, was erst leise und dann ständig zunehmend in seine Gehörgänge trat, war gewiß nicht die Geburt seiner whiskygeschwängerten Phantasie. Ein Singen war in der Luft! Peter McBland war kein Angsthase, und ganz abgesehen von der Tatsache, daß Volltrunkene überdies in den meisten Fällen eine fast unheimliche Courage an den Tag legen der Student verspürte Fachinteresse. Er besaß einen Hang zur Parapsychologie. Gerade deshalb wanderte er oft und gern am Friedhof vorüber, in der stetigen Hoffnung, es würde sich etwas Mystisches ereignen. Jetzt schien es soweit zu sein! Der eigentümlich aufdringliche 67 �
Laut befand sich direkt über den Gräberzeilen, die in Peter McBlands Sichtfeld lagen. Der Student sperrte die Augen auf. Das teuflische Geräusch entwickelte sich in Sekundenschnelle zu einem Brausen, in dem Moment, als sich etwas schwer Definierbares auf eines der Gräber senkte. McBland war mit einem Schlag nüchtern. Alles, was er hervorbrachte, war: »Das, das gibt es doch nicht!« Unter den schalen Lichtstreifen des Mondes bewegte sich eine gigantische Wolke. Woraus sie bestand und welche Bedeutung sie hatte, wußte Peter McBland in diesem Augenblick nicht. Er stellte lediglich verblüfft fest, daß der auf- und abwallende Nebel zeitweise das Grabmal völlig einhüllte und seiner Sicht entzog. Dann begann das eigentliche grausige Geschehen. Die Wolke bildete einen Wirbel, eine Art Strudel. Unter dem immer noch zunehmenden Sirren und Brausen schraubte sich dessen Zentrum auf den Grabhügel hinab. Erdklumpen und ganze Grassoden wurden losgerissen, die Brocken flogen in hohen Bogen über den Cemetery. McBland war wie benommen, weil es den Anschein hatte, als reiße eine unsichtbare Maschine das Grab auf. Ein großes Loch gähnte im Erdboden, und noch immer tobte die unheimliche Erscheinung, schaufelte, baggerte fauligriechendes Erdreich, durchsetzt von Würmern, herauf. Der Student fragte sich, was ein anderer an seiner Stelle getan hätte. Der Friedhofswärter oder eine der gefürchteten Klatschbasen aus Paisley, aber auch eines der modebewussten Girls, ein Boy, oder ein ausgewachsener Mann gleich wer, er hätte die Beine in die Hand genommen. Wer nicht gerade ein ernsthaftes Interesse an okkulten Dingen hatte, der ließ sich vom Aberglauben treiben. Die meisten Schotten lebten mit der ständigen Furcht, irgendwann verhext zu werden. 68 �
McBland hingegen wußte, daß er es mit Spuk zu tun hatte, fühlte sich aber auf seinem Beobachterposten sicher. Hätte der Einsatz der düsteren Wolke ihm gegolten, so hätte er jetzt bereits nicht mehr diesseits der Hecke gelegen. Plötzlich zuckte das Teufelsgebilde wieder in die Höhe. Merkwürdig für den Studenten schien es, daß das Brausen abnahm, und daß statt seiner klagende Musik ertönte. Ja, tatsächlich wehten die Töne eines Trauermarsches über den Cemetery. Er glaubte, die Instrumente herauszuhören: Klavier, Violine, Trompete. Als auch noch die Sopranstimme einsetzte, rieselte Peter McBland ein Schauer über den Rücken. Er fragte sich, welches der Zweck dieser okkulten Schau sein sollte. Gleich darauf erhielt er die Antwort. Eine Knochenhand schob sich aus dem Erdloch. Der Hand folgte ein weißlich leuchtender Arm, ein zweiter Arm, Rippen, auf denen ein schauriger Totenschädel saß. Ein Skelett kroch aus dem geöffneten Grab. Die Reste des Menschen, der dort begraben lag, waren von der Geisterwolke zu neuem Leben erweckt worden! McBland schluckte erregt. Es war erstaunlich, wie rasch die Wirkung des Kommilitonen-Whiskys verdrängt worden war. Ihm war nicht einmal mehr schlecht. Höchstens hatte sich seine Gesichtsfarbe von Grau in Kalkweiß verwandelt, aber nicht wegen der Promille, sondern wegen des Knochenwesens. Das Skelett war jetzt frei. Es hatte sich vollständig aus seiner ursprünglich für die Ewigkeit bestimmten Grube geschoben. Jetzt richtete es sich auf. Es schwankte, hielt aber das Gleichgewicht, unternahm einen schüchternen Gehversuch. Zwei, drei Schritte fort vom Rand des Erdloches. Tapsig bewegte sich die Knochengestalt. Sie kam direkt auf Peter McBland zu! Dies war der Moment, in dem Studenten das 69 �
Herz endgültig in die Hosentasche rutschte, und er sich fragte, ob er nicht doch lieber sein Heil in der Flucht versuchen wollte. Zu spät. Die Musik schwoll an. Schrill peitschte die Gesangstimme der Frau nun auf das wandelnde Skelett herunter. Täuschte sich McBland, oder duckte sich die lebende Leiche tatsächlich unter dieser schaurigen Weise? Der junge Mann mit der Brille zog sich mit unendlich langsamen Bewegungen in die Hecke zurück. Da! Die Wolke schwebte über dem Skelett, schwang in die Tiefe, nebelte es, ein. McBland meinte nun zu erkennen, daß es sich um Tiere, Insekten, handelte. Sicher war er aber immer noch nicht. Erst innerhalb der nächsten Sekunden machte ihm der Fortgang des Geschehens deutlich, daß er einen aus Tausenden von Schmarotzern bestehenden Schwarm vor sich hatte. Angetrieben offenbar von der Musik, packten die Biester den Knochenmann. Wirklich, packen war der richtige Ausdruck. Sie kesselten ihn ein, klebten sich plötzlich an ihm fest und ließen ihn nicht mehr los. Der Kieferknochen des Skeletts klappte zu einem lautlosen Schrei herunter… Dann wurde die Schauergestalt von den Killerinsekten geschüttelt. McBland erlebte, wie ein Mensch zum zweiten Mal starb. Saugen, Schmatzen die Biester verzehrten den Fleischlosen, bis von seinen bleichen Knochen nur noch Fragmente übrig waren, die in grotesken Gesten auf dem Untergrund zuckten. Ein jäher Akkord in dem trägen Fluss der Trauermusik und die Insekten lösten sich von dem Gepeinigten. Fühlte er Schmerz? McBland wußte es nicht, mochte es sich auch nicht ausmalen. Die Wolke fiel in sich zusammen. Das zersetzte Skelett erhob sich zu einer letzten Kraftanstrengung. Es hob die zerfressenen Arme und schlug damit. Dann wankte es voran, wieder näher an den versteckten Studenten 70 �
heran. Bevor sein Fuß hinter einen flachen Grabstein haken konnte, kippte es schon wieder in sich zusammen, um sich nicht mehr zu rühren. McBland war sicher, das Klappern der Knochen vernommen zu haben. Der Trauermarsch verebbte mit schrägem Klang… Minuten brauchte der Student Peter McBland, um sich einigermaßen von dem Gesehenen zu erholen. Jetzt bewies er, daß er nicht nur ein durch Sonderlektionen geschulter Theoretiker, sondern ein entschlossener Pragmatiker war, der der Ursache der Dinge auf den Grund gehen wollte. Obgleich schaudernd, schritt er tapfer auf die schreckliche Knochengestalt zu. Zerbröckelt lag das Skelett dort McBland bemerkte zu seiner Verwunderung, daß die bösartigen Angreifer ebenfalls ohne Leben waren. Sie bildeten einen leise knisternden Teppich, über den der Student nun auf den Grabstein hinter ein Erdloch zustelzte. Er bückte sich und las den eingemeißelten Namen: »John Illingworth; Anno 1964 von Gottes Gnaden hingeraffter Meistergitarrist.« Der junge Mann mit der Brille merkte sich die Eintragung gut. Er klaubte mit spitzen Fingern eine der großen Stechmücken auf, schaute sie fröstelnd an, und steckte sie in die Tasche der Kordjacke. Dann machte er sich auf den Weg. Er hielt einen Wagen an. Er mußte sofort seinen Dozenten aufsuchen, ihn um Rat und Erklärung bitten. Die Adresse lautete Balmaha Street Nummer 203. * Spencer Laine stand schon auf der Treppe vor dem Eingang und � wollte sich von Dr. Woodrow Kyle verabschieden, als der � Wagen vorfuhr. Der Schlag schwang auf und spuckte die Gestalt � 71 �
des Bebrillten aus. Das Auto, ein 1800er Austin, rollte wieder an. »Peter McBland«, zog Kyle die Augenbrauen hoch, »was führt Sie zu mir, mein lieber Freund? Sie machen einen nicht gerade gesunden Eindruck.« Der Student kletterte einfach über den flachen Gartenzaun, lief bis zur Treppe und stellte einen Fuß auf die erste Stufe. »Dr. Kyle, wer ist der Mann? Kann ich frei sprechen?« »Spencer Laine genießt mein absolutes Vertrauen. Er ist Privatdetektiv«, erwiderte der Gelehrte. Seine kristallblauen Augen waren auf das Gesicht des Studenten gerichtet, dessen Züge Erregung und Verwirrung spiegelten. McBland zog die Mücke aus der Jackentasche. »Eines von Henry Maguires Killertieren«, sagte Laine. »Wo haben Sie es gefunden, Peter?« Der junge Mann mit der Brille redete sich von der Seele, was er erlebt und noch nicht richtig verdaut hatte. Der Wissenschaftler und der Privatdetektiv führten ihn daraufhin in das Arbeitszimmer. Kyles Frau und Tochter, die immer noch im Livingroom plauderten, wollten sie mit ihren Erörterungen nicht beunruhigen. »Was Sie brauchen, ist ein Nervenberuhigungsmittel, Peter«, meinte der blonde Mann. »Sorry, aber ich sehe Ihnen an, daß Sie ziemlich getankt haben.« »Das beeinträchtigt aber nicht meine Beobachtungsgabe«, erklärte McBland rasch. Kyle lächelte, während er sich zu der an sein Arbeitszimmer grenzenden kleinen Teeküche in Bewegung setzte. »Peter gehört zu meinen besten Schülern. Ich denke nicht, daß wir an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln sollten. Ich bereite eine Kanne Wachmacher zu ich glaube, wir können ihn alle gebrauchen.« »Ach was, ich halte ihre Darstellung nicht für ein PhantasieGespinst«, wandte sich Spencer wieder dem Studenten zu. »Die 72 �
tote Mücke allein beweist, daß sich wirklich ereignet hat, was Dr. Kyle bereits vorausgesehen hatte: Maguire, der Teufelsgeiger, holt sich auch die Geister bereits Verstorbener.« »Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie sich etwas klarer ausdrücken würden«, gab McBland gepresst zurück. »Mir ist die ganze Geschichte noch ein Buch mit sieben Siegeln.« Spencer spulte einen kurzen Bericht ab, in dessen Verlauf der junge Mann den Mund zu einem O formte. »Unfassbar«, ächzte er zum Schluß. »Es ist fast 23 Uhr«, versetzte der Privatdetektiv. »Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Maguire hat in dieser Nacht bereits zweimal zugeschlagen. Ich schließe nicht aus, daß er noch einen Mord oder eine Grabesleerung inszeniert.« Der glatzköpfige Gelehrte kehrte aus der kleinen Küche zurück. Er brachte ein Tablett mit einer dampfenden Teekanne und drei Tassen. »Haben Sie darüber nachgedacht, wer das nächste Opfer sein könnte, Spencer?« »Natürlich. Ich gehe davon aus, daß Maguire eine Art Kammerorchester zusammenstellen will.« »Ausgezeichnet.« Kyle schenkte den Tee ein und würfelte Kandis in die Tassen. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter. Ich weiß, daß Sie den Faden noch weitergesponnen haben.« »Also schön: Die Gespenster-Gruppe besteht nunmehr aus Geige, Klavier, Trompete, Gitarre und Sopranstimme, übrigens galt Illingworth als einer der besten klassischen Gitarristen nach Segovia, Maguire bewegt sich also immer auf der gleichen Rangebene, wie vermutet. Was könnte ihm jetzt noch für ein Instrument fehlen? Ich habe Musik nicht studiert. Aber Sie können von folgendem ausgehen: Die Art der Komposition, wie ich sie einmal im Sumpf des Loch Lomond und dann vor Donan House gehört habe, läßt schließen, daß sie wahrscheinlich aus Maguires eigener Feder stammt.« 73 �
»Eine sehr hypothetische Theorie«, warf Kyle ein. »Zugegeben. Aber das ist letztlich nicht ausschlaggebend. Ich bin der Meinung, daß das Geisterquintett zu einem Sextett ausgeweitet wird. Das nächste Opfer wird sicherlich kein Sänger sein. Die Stimme der Adamton ist durchdringend genug, um diese Funktion allein zu erfüllen. Was bleibt? Ein Begleitinstrument? Konzertflügel und Gitarre genügen vollends. Ein weiterer Bläser? Nein, der würde die ohnehin schon verblassende Violinstimme zu sehr überlagern und da sind wir auch schon bei der Lösung. Maguire wird sich an einen Streicher, wahrscheinlich einen zweiten Geiger halten, um die Melodiesektion zu verstärken.« Spencer schlürfte hastig seinen Tee. Als er McBland aufgeregt gestikulieren sah, setzte er die Tasse ab. »Nur die besten Musiker, sagten Sie, nicht wahr?« »Richtig.« »Wissen Sie, was mir auffällt?« »Lassen Sie es sich nicht aus der Nase ziehen.« »Misperton, Burns und Illingworth und auch die Adamton spielten regelmäßig oder in sporadischen Zeitabständen mit dem Sinfonieorchester von Edinburgh.« Der Student setzte sich auf. »Spencer, ich habe das noch frisch aus dem Musikunterricht in Erinnerung. Was liegt denn näher als die Annahme, dieser Maguire werde sich einen Violinisten aussuchen, der ebenfalls mit den Sinfonikern auftrat, deren Leitung er jahrelang hatte?« »Verflixt, Sie haben recht«, gab der Blonde zu. »Schwach, daß wir nicht schon darauf gekommen sind«, murmelte Kyle. Der Detektiv zündete sich eine Zigarette an. »Wer ist der fähigste Geiger, der heute oder vor Jahren in Edinburgh musiziert hat?« »Stan Cowan«, antwortete McBland wie aus der Pistole geschossen. »Zweifellos war er ein Solist, wie ihn das Orchester nicht wie74 �
der hervorgebracht hat«, fügte der Wissenschaftler hinzu. »Cowan erreichte legendären Ruhm als Paganini-Interpret. Er starb vor 26 Jahren.« »Das liegt etwas weit zurück«, wandte Spencer ein. »Für Maguire wäre es kein Problem.« »Gents, vergessen Sie nicht, daß Cowan ganz in der Nähe begraben liegt«, rief der Student aus. »Auf dem Friedhof von Greenock. Ich würde wenigstens versuchen…»Er kaute plötzlich auf der Unterlippe herum, denn was Spencer eigentlich versuchen sollte, war ihm auch nicht ganz klar. »Danke für die Unterstützung«, grinste der Blonde grimmig. »Ich habe die Hirtenflöte bei mir. Bevor ich nach Donan House zurückkehre, unternehme ich einen Abstecher nach Greenock, es liegt auf dem Weg. Es wäre schon ein Riesengewinn, wenn ich nur den Mückenschwarm indigen könnte.« »Ich drücke die Daumen, daß wir mit dieser Mutmaßung richtig liegen«, sagte der Gelehrte. »Nehmen Sie mich mit, Spencer«, rang der Student auf. »Auf keinen Fall. Ich dulde nur eine Helferin an meiner Seite – ich muß Pearl schnell wie möglich aus Donan House fortholen und kann mich dabei nur auf mich verlassen;« Er schritt auf die Tür zu, machte sie auf, drehte sich unter der Füllung aber noch einmal um, um zu McBland zu sagen: »Sie können froh sein, daß Sie den Cemetery unverletzt verlassen haben.« * Es war fast Mitternacht, als Spencer Laine den etwas abseits der Hauptverkehrsstraße liegenden Friedhof von Greenock erreichte. Er stieg aus dem Rolls Royce und ging auf das Hauptportal zu. Der Wind hatte sich gelegt. Man konnte die schaurigen Rufe 75 �
der Eulen und Käuzchen vernehmen, die in den Bäumen des Cemeterys wohnten. Diese Laute, und die verständlicherweise bedrückende Stimmung, die die Grabsteine und Kreuze hinter dem Portal vermittelten, waren aber auch das einzige, was Zartbesaitete beunruhigen konnte. Spencer zog das Eisenportal auf. Es knarrte vernehmlich in den Angeln. Ruhig drückte er es wieder hinter sich zu. Als er zwischen den Gräbern entlangging, knirschte der Kies unter seinen Schuhsohlen. Er hatte die Stablampe aus dem Wagen mitgebracht. Ihr starker Lichtstrahl erfasste nach und nach sämtliche Grabinschriften. Spencer mußte einige Zeit suchen, um die Ruhestätte des berühmten Geigers zu entdecken. Sie lag etwa in der Mitte des Cemeterys, der eine Fläche von schätzungsweise zwanzig Acres bedeckte. Stan Cowan schlief unter einer gewaltigen Marmorplatte für die Ewigkeit. Es war schwarzer Marmor. Am Kopfende der Platte rankte Efeu empor. Der Privatdetektiv schüttelte den Kopf. »Ruhen Sie in Frieden, Sir«, sagte er leise, »es sieht nicht so aus, als sei der Teufelsgeiger an Ihnen interessiert. Ich schätze, sonst hätte er längst seine Stechmücken nach Ihnen ausgeschickt.« Laine lauschte noch eine Weile, suchte die Umgebung des Grabes ab und kehrte schließlich zu der großen Marmorplatte zurück. Eigentlich hielt er es für übertrieben. Aber er machte sich die Mühe, noch einmal die gesamte Grabstätte abzuleuchten. »Hölle und Teufel«, kam es plötzlich brüchig über seine Lippen. Da waren sie wieder. Aber sie schwebten nicht in der Luft, verbreiteten ihr widerwärtiges Singen und Brausen nein, sie saßen. Auf dem Efeu und von der Stirnseite des Marmors aus bis über 76 �
den Weg zu den südlich liegenden Grabhügeln hin hatten sie sich niedergelassen. Wie hatte Spencer sie übersehen können? Sie müssen sich kriechend genähert haben, als ich die andere Seite absuchte, schoß es ihm durch den Kopf. Die Stechmücken erschienen ihm größer denn je. Das mochte eine optische Täuschung sein. Besonders bei Nacht warf man Proportionen manchmal ein bißchen durcheinander. Es war aber nicht dies oder die Tatsache, daß die Biester ihn aus richtig bösartig funkelnden Augen anstarrten. Was den blonden Mann erschauern ließ, war die Zahl. In solcher Masse waren sie nie aufgetreten. Ein Meer von Insektenleibern spannte sich über den Friedhofsboden. Spencer preßte die Lippen aufeinander, ließ den Strahl der Lampe weitergleiten und machte zu seinem Entsetzen aus, daß aus der Hecke immer mehr Exemplare hinzukamen. Es mußten Millionen sein, die sich inzwischen hier versammelt hatten. Wenn sie hochstoben, bildeten sie keine Wolke, wie sie etwa der Student McBland beobachtet hatte, sondern ein den ganzen Friedhof bedeckendes, alles erstickendes Zelt. Spencer Laine wich zurück. Einzelne Mücken schwirrten hoch, setzten sich aber wieder. Die Stille war unerträglich. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Falls sie jetzt ausbrachen, war er geliefert. Er mußte wenigstens einige Yard Distanz zwischen sie und sich bringen, um die Hirtenflöte aus der Jacke ziehen und an die Lippen setzen zu können. Klappte es nämlich nicht, was Dr. Woodrow Kyle ihm als Mittel gegen die Teufelsmacht mitgegeben hatte, so mußte ihm zumindest die Möglichkeit bleiben, sich zum Wagen zu retten. Er mußte Herr der Situation werden. Nicht nur seiner selbst wegen. Spencer dachte vor allem an Pearl und an die Menschen, deren Schicksal besiegelt war, wenn er nicht noch in dieser Nacht handelte. 77 �
Sehr vorsichtig schob er sich rückwärts. Seine Finger tasteten über den Stoff des T-Shirt, fanden sich am Jackensaum zurecht. Spencer nahm nicht einmal den Blick von den Insekten, während er die Flöte hervorzog. Er fragte sich, ob die Lampe einen positiven oder negativen Einfluß auf die Biester ausübte. Reizte sie das Licht? Zog es sie an? Hatten sie noch die Instinkte ihrer normalen Artgenossen? Auf jeden Fall hatte es keinen Zweck, die Lampe zu löschen. Der Privatdetektiv mußte die Reaktionen des Feindes studieren können. Dazu war das Licht unerlässlich, denn unter dem schalen Schein des Mondes konnte man die Heerscharen von Mücken nicht mehr sehen. Er dachte noch: Ich schaffe es. Schon wollte er die Flöte ansetzen. Da schwirrten sie los. Auf ihn zu. Rasend schnell ging das, ließ sich nicht abwägen in der einzigen Sekunde oder dem Bruchteil einer Sekunde, den sie ihm für gedankenschnelles Handeln gewährten. Spencer Laine brachte die Hand mit der Flöte hoch – aber da saßen sie ihm schon im Gesicht. Eines durfte er auf keinen Fall: den Mund aufmachen. Er dachte nicht daran, ihnen die Chance zu lassen, in seine Kehle zu kriechen. Er knipste das Licht aus. Der blonde Mann taumelte rückwärts. Ihr Angriff war vehement geführt, warf ihn mit Macht zurück, obwohl er sich dagegen wehrte. Laine war kein Schwächling. Er trainierte regelmäßig, beherrschte die japanischen Kampfsportarten, aber die Biester waren ihm einfach überlegen. Wahrscheinlich hätte er sich geduckt und verzweifelt gekämpft – wäre nicht die Grabeinfriedung gewesen. Er stolperte darüber und stürzte. Nur unterbewußt nahm er wahr, daß seit ihrem Aufbruch Maguires Sinfonie über dem Cemetery hallte, daß das Flügelschwirren der Tiere von einer traurigen Melodie begleitet 78 �
wurde, von einer verderblichen tristen Melodie. Laine fühlte sie saugen. Er wehrte sich verbissen und zwang sich gleichzeitig mit allen Mitteln der Selbstkontrolle, nicht die Nerven zu verlieren. Noch war nicht alles aus. Er mußte die Hirtenflöte fortstecken, um die rechte Hand freizubekommen. Er schaffte es. Sodann riß er sich die ekelhaften Leiber von der Haut. Auf seiner Brust hatten sie besonders leichtes Spiel. Das T-Shirt war nicht schwer zu durchdringen. Spencer hielt die Augen geschlossen und pflückte wahllos die Tiere von sich ab, formte die Lippen zu einem Strich, ließ sich von dem quälenden Beißen auf der Haut nicht aus dem seelischen Gleichgewicht bringen. Unterschwellig drang ein enormes Schaben herauf, aber er hatte nicht die Gelegenheit, die Herkunft dieses Geräusches zu untersuchen. Er durfte die Augen nicht öffnen, sonst blendeten ihn die Stechmücken mit ihren fürchterlich ausgebildeten Nährwerkzeugen. Soweit ihm die Situation es noch gestattete, durfte er sich nur um sich selbst kümmern. Etwas Luft bekam er wieder. Es gelang ihm, in einer blitzschnellen Attacke gleich ein Dutzend oder mehr Biester fortzuschleudern. Jetzt hatte er wenigstens den Kopf frei, konnte einmal tief durchatmen. Spencer drückte sich hoch, versetzte seinen Körper in Drehbewegungen um die eigene Achse und wälzte sich auf dem Weg jenseits Stan Cowans Grab. Er rollte sich mit dem Mut des Mannes ab, der alles auf eine Karte setzte, denn hier hieß es: gefressen werden – oder mit ein paar üblen Wunden überleben! Spencer fühlte, wie sich einige Insekten regelrecht in ihm festbohrten. Dabei unterstützte er sie noch durch den Druck, mit dem sein Leib sie gegen den feuchten Untergrund preßte. Aber dies war die einzige Möglichkeit, sich aus der Gefahrenzone zu bringen! Der Privatdetektiv schüttelte einen Schwung Mücken von den 79 �
Beinen. Es gelang ihm, hochzukommen. Er rannte. Aber er wußte nicht, wohin ihn sein Sprint führte. Die Augen hielt er nach wie vor fest zugepresst, aus Furcht, sie würden ihn zum Blinden machen. Er streckte die Hände vor. Plötzlich bekam er Widerstand unter die Finger. Eben konnte er sich noch bremsen, um nicht heftig gegen diese harte Barriere zu prallen. Er rutschte nur aus und blieb gebückt davor stehen. Prüfend tastete er. Eine Mauer. Er glitt weiter, stieß auf eine Tür. Rasch suchte und fand er die Klinke, stieß sie herunter ja, er hatte Glück, sie war nicht verschlossen. Spencer sprang förmlich gegen die Tür und brachte sich auf diese Weise in das Gebäude, knallte die Verriegelung zu. Er rupfte sich die Insekten ab. Da keine neuen mehr nachstoßen konnten, mußten sie nach und nach zerquetscht werden oder von sich aus tot zu Boden fallen, weil sie restlos voll gesogen waren. Endlich riß der Blonde die Augen auf. Es war stockdunkel. Er wagte es, den elektrischen Lichtschalter zu betätigen, um die Beleuchtung kurz aufflammen zu lassen. Er befand sich im Aufenthaltsraum des Friedhofswärters. Penetranter Geruch verriet, daß die Leichenhalle nicht weit war oder direkt an dieses Zimmer grenzte. Spencer war es egal. Er war heilfroh, den Satansbiestern entwischt zu sein. Es gab einen Spiegel und ein Waschbecken in dem kleinen Raum. Laine betrachtete sich. Er bot zwar einen wüsten Anblick, war blutbesudelt. Doch die Verletzungen waren nicht so schlimm ausgefallen, wie er zunächst angenommen hatte. Natürlich gab er sich keinen Illusionen hin: Er hatte dies nur dem Umstand zuzuschreiben, daß der Angriff der Stechmücken nicht ihm direkt gegolten hatte. Sie hatten ihn nur fortdrängen wollen, um ungestört arbeiten zu können. Es stand außer Frage, 80 �
daß sie das Skelett des Geigenvirtuosen Cowan wollten. Spencer knipste die Deckenlampe wieder aus. Seinen Handscheinwerfer hatte er im Kampfgetümmel verloren. So sehr er seine Augen auch anstrengte, er sah durch das Fenster nichts als tintenschwarze Finsternis, höchstens vielleicht noch ein Zittern und Wabern in der Luft. Die Erklärung lag auf der Hand: Die Millionen Insekten hatten den mondbestrahlten Nachthimmel vollständig verdunkelt. Unter den Derwischklängen der Musik des Teufelsgeigers führten sie jetzt aus, was er ihnen durch seine Strahlenbotschaft befohlen hatte. Laine klaubte die Flöte aus der Jackentasche. Seine Finger waren klebrig vor Blut. Aber das hinderte ihn nicht daran, das Instrument an den Mund zu führen. Die quäkenden Laute erfüllten den Raum. Der blonde Mann spielte nicht schön, aber laut und ausdauernd nach den Tönen einer schottischen Volksweise, die er sich rasch zurechtgelegt hatte. Wenigstens ein Teil der Laute mußte nach außen dringen. Er wagte nicht, das Fenster aufzustoßen, jedoch hoffte er, auch durch eine gedämpfte Geräuschattacke etwas zu erreichen. Er hatte Erfolg. Der Himmel über ihm wurde klarer, Sterne waren zu sehen. Der Rand des in der Insektenmasse klaffenden Loches zitterte wie Götterspeise. Sie hingen immer noch drohend über ihm und dem Friedhofsgebäude aber er riskierte es jetzt. Er riegelte das kleine Fenster auf. Ungehindert flossen die aufdringlichen Laute des Hirteninstrumentes durch die Nacht. Spencers Herz begann vor Emotion stärker zu schlagen, als die lebende Mauer der Killertiere weiter zurückprellte, als er sich bewußt wurde, daß sie einen überstürzten Rückzug antraten. Hunderte, oder sogar Tausende brachte er zu Fall. Sie stürzten in solchen Mengen zu Boden, daß ihr Pras81 �
seln zu vernehmen war. Überdies nahm der Klang der Sinfonie jetzt ab. Dissonanzen bildeten sich. Die Musik endete in kläglichen Missharmonien. Spencer spielte weiter. Immer die gleiche Melodie. Jetzt hielt er nur noch die fünf Finger der linken Hand auf der Flöte, mit der Rechten zog er die Tür auf, dann drehte er sich und hob das Instrument, um auf diese Art in den Teil des Himmels hinter sich zu schauen. Er konnte beruhigt sein, aus dem Hinterhalt drohte ihm kein Angriff. Er stieg über einen Belag aus Insektenleichen. Die Taschenlampe fand er wieder. Immer noch die Volksweise intonierend, griff er sie auf, schuf Licht. Rundum, das wurde im Leuchtkegel deutlich, befand sich keine lebende Mücke mehr. Spencer Laine hatte zu Tausenden auch die, die nicht unmittelbar an der Graböffnung beteiligt gewesen und damit nicht zum Sterben verurteilt gewesen waren, vernichtet. Nur klein konnte die Zahl des Schwarms sein, der die Flucht angetreten hatte. Trotzdem. Sie hatten ihr Ziel erreicht. So unglaublich es klang, sie hatten die schwarze Marmorplatte vom Grab des Stan Cowan gerückt. Dann waren sie wie auf dem Paisley-Friedhof verfahren. Sie hatten die Ruhestätte regelrecht aufgebaggert, das Skelett herauskommen lassen. Cowans Totengestalt, nach 26 Jahren von Maguires unheilvollen Strahlen zu frischer Bewegung erweckt, lag zerstört vor dem Erdloch. Die Biester hatten auch dieses Skelett zernagt, um den Geist frei werden zu lassen. Der Student Peter McBland hatte mit seiner Vermutung recht behalten. »Also hat Maguire nun doch ein Sextett«, brummte Spencer verdrossen. »Nun, dem Herrn Kammermusiker wird noch Hören und Sehen vergehen.« * 82 �
Ein Uhr. Spencer Laine hatte sich im Aufenthaltsraum des Friedhofs Wärters von Greenock gewaschen. Zu seiner Freude hatte er auch einen Erste-Hilfe-Kasten entdeckt. Mit medizinischem Alkohol hatte er seine Wunden gesäubert und anschließend verpflastert. Er war also wieder fit, als er in Rowardennan eintraf und sich zum Anstieg in die Highlands bereitmachte. In der Jugendherberge brannte kein Licht mehr. Der Privatdetektiv hatte ohnehin nicht die Absicht, den verunsicherten Leiter erneut zu stören. Er stellte den 1937er Rolls Royce in die Nähe eines Gebüsches ab. Als er die fünf Meilen Fußmarsch hinter sich brachte, bewies sich seine eiserne Kondition. Ein nicht trainierter Mann hätte Pausen einlegen müssen, um Kopfschmerzen oder einen Schwächeanfall zu überstehen. Spencer fühlte nichts mehr von dem Kampf mit den Stechmücken. Er hatte jetzt nur noch einen Gedanken Henry Maguire das Handwerk zu legen. Er gelangte an den Schober. Von Pearl war keine Spur zu sehen. Auch kein neuer Zettel von ihr ließ sich auftreiben. Natürlich redete sich Laine ein, daß es in Donan House keine Neuigkeiten gegeben hatte, und das Girl daher keinen Anlass gesehen hatte, noch einmal die Behausung ihres »Arbeitgebers« zu verlassen. Doch trotzdem verspürte er Unbehagen. Er machte sich Sorgen. Langsam keimte in ihm der Verdacht auf, die Dinge könnten sich doch anders verhalten, als er angenommen hatte, Seine Befürchtungen wurden von der Gewissheit genährt, daß Maguire und seine Geister schnell und erzschlau agierten. Er mußte eiskalt und gelassen bleiben. So sehr schwer ihm das fiel schließlich war Pearl Evans nicht irgend jemand, sondern ein Girl, sein Girl, das er bald heiraten wollte… 83 �
Er schlich durch den Wald. Unterwegs überlegte er ohne Pause. Einen direkten Angriff konnte Maguire mittels seiner radiästhetischen Macht nicht auf ihn unternehmen, falls er ihn entdeckte. Der teuflische Meister hatte immer ein Medium nötig, um seine Strahlen wirken zu lassen. In seinem Fall waren diese Medien die Mücken. Die drei Morde und die Befreiung der beiden Toten hatten bewiesen, daß der Zauber nicht unmittelbar wirkte. Sonst hätte Maguire sich nicht der Insekten zu bedienen brauchen. Blieb die körperliche Auseinandersetzung. Maguire war kein Gegner für Spencer. Den Webley-and-Scott-Revolver würde er sicher nicht einsetzen zu brauchen. Falls der Pergamenthäutige tatsächlich mit blanken Fäusten auf ihn losging, genügte ein Hieb und… … und die fünf Geister? Sie standen unter der Fuchtel des Verbrechers. Mit der Anlockung ihrer unglücklichen Seelen hatte er sich zum Herrn über ihre Willen gemacht, daran gab es nichts zu rütteln. Hier lag die größte Gefahr. Spencer wußte ja noch nicht, ob die Hirtenflöte auch gegen die Spukgestalten eingesetzt werden konnte. Er erreichte die Lichtung. Die Vorsicht gebot ihm, Donan House ein paar Mal zu umschleichen, bevor er weiter vordrang. Im Schutz der Laubbaumstämme betrachtete er die Bruchsteinquader und die hellen hohen Rechtecke, die aus der rückwärtigen Mauer hervorstachen. Immer noch musizierte das Gespenster-Orchester! Aber aus der Art, wie sie immer wieder abbrachen und neu ansetzten, folgerte der Detektiv, daß es sich um Proben handelte. Maguire drillte seine Knechte. Wofür? Was war, wenn sie die Sinfonie perfekt beherrschten? Der blonde Mann wagte es. Er pirschte sich an. Offenbar wurde er nicht beobachtet. Für den Fall, daß man ihn dennoch 84 �
von irgendwoher im Visier hatte, hielt er schon die Flöte bereit. Er kam bis zur Seitenfront. Hier verharrte er für einen Augenblick, um seine nächste Aktion zu durchdenken. Er wußte nicht, wo Pearl sich aufhielt. Er konnte es nur ahnen: Wenn dieses Gebäude wie alle alten schottischen Bauernhäuser konstruiert war, so befanden sich die Räume für das Hauspersonal oder Gesinde im Obergeschoß. Schließlich setzte Spencer voraus, daß Donan House keine Ausnahme für diese Regel bildete. Er schaute empor. Es gab einen Holzbalkon. Wenn er es geschickt genug anstellte, konnte er ihn kletternd erreichen. Er lag nicht sehr hoch, dieser Balkon, und die Fugen zwischen den Bruchsteinquadern waren breit genug, um Halt für Hände und Schuhe zu bieten. Spencer Laine zögerte nicht länger. Er kletterte katzengewandt nach oben. Einmal rutschte er mit der Linken ab, konnte sich aber noch an einem Mauervorsprung festhalten. Dies blieb der einzige Zwischenfall. Er gelangte heil und ohne Geräusche verursacht zu haben auf dem Holzbalkon an. Er spürte Bohlen unter seinen Füßen und mußte sehr behutsam auftreten, vor allen Dingen immer wieder vor jedem Schritt prüfen, um kein Knarren hervorzurufen. Der Riegel der Balkontür war kein Hindernis für ihn. Spencer führte für solche Zwecke ein Mehrzweckgerät mit sich, das er beliebig in einen Dietrich mit variablen Zähnen oder eine Sonde verwandeln konnte. In diesem Fall setzte er die Sonde an, führte sie durch die Türritze ein entschlossener Ruck, und der Riegel schwang hoch. Dabei gab es ein Kratzen. Laine hoffte inständig, nicht gehört worden zu sein. Er hatte die Taschenlampe mitgenommen. Sie baumelte mittels einer Öse an seinen Jeans. Aber er riskierte es nicht, ihr Licht im Obergeschoß des Spukhauses aufflammen zu lassen. Lieber wartete er, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten 85 �
und das wenige fahle Mondlicht voll auszunutzen wußten, das durch ein Fenster hereindrang. Spencer setzte Fuß vor Fuß. Jäh verharrte er, zuckte zurück. Aber er konnte es nicht mehr verhindern. Obwohl seine Reaktion blitzartig erfolgt war, wurde er in die Tiefe gerissen. Er war auf eine Falltür getappt. Sein Sturz endete auf harten Holzbohlen. Spencer hatte klugerweise den Kopf eingezogen. Jetzt schlug er mit den Armen zuerst auf, rollte sich ab und kam wieder auf die Beine. Er spürte zwar Schmerzen in den Knochen, aber er war durchaus noch einsatzbereit. Das Schlimme war: er hatte die Flöte verloren. Er sah das Hirteninstrument. Es lag zwei Schritt entfernt, unterhalb der lockeren Fußleiste des Raumes, in dem er sich befand. Aber er kam nicht mehr dazu, es sich wiederzuholen. Von drei Seiten stürmten sie auf ihn ein. Sie schlugen nach ihm, traten und kratzten ihn. Er wehrte sich. Er hatte Bärenkräfte, die ihnen gegenüber jedoch gleichsam vergeudet waren, denn er hatte es mit den Geistern zu tun. Ja, fünf Gestalten hatten sich im flackernden Schein der Kerzen über ihn hergemacht. Er wußte, welche der schaurigen bleichen Gestalten Robert Misperton sein mußte. Er sah, wie Margret Adamton, die einzige Frau, mit wild wippenden Brüsten um ihn herumhüpfte. Der Stämmigste von allen konnte nur der Bach-Trompeter David Burns sein. Blieben noch die beiden skeletthaften Erscheinungen. Ihre Knochen waren von einer spinnenwebähnlichen Substanz überzogen wie mit Leichenhemden bekleidete Totengestalten sahen sie aus. John Illingworth und Stan Cowan, der erst vor einer Stunde aus dem Grab geholt worden war. Den brutalsten Schlag führte Burns. Eine fatale Lage! Spencer konnte abblocken und zurückschlagen, so oft er wollte. Er traf sie nicht. Er hieb einfach durch die 86 �
verschwommenen Figuren der Geister hindurch. Das Verblüffende war, daß sie ihrerseits sehr materielle Konsistenz hatten und ihn prügeln konnten, bis er vor ihnen am Boden lag. Sie hielten ihn fest. Die Adamton beugte sich über ihn. Sie kicherte. »Fort«, sagte Spencer, »fort mit euch, ihr Narren! Merkt ihr nicht, daß Maguire euch an der Nase herumführt? Er hat euch umgebracht oder aus eurer Ruhe geweckt ihr seid dazu verdammt, ihm ewig zu folgen und von ihm gequält zu werden. Kehrt um! Hört auf mich, ich will euch nur helfen. Misperton, Ihr Schwager Vance Seymoure hat mich beauftragt!« Der Konzertpianist blickte verständnislos. Burns, Illingworth und Cowan knurrten unwillig. Die Adamton spuckte auch wütend, während sie ihn mit ihren Fingern abtastete. Es war ekelhaft, sie ließ keine Körperpartie aus. Sie hatte knochige, feuchte Finger. Endlich hatte sie den Revolver im Schulterhalfter entdeckt und riß ihn heraus, um ihn zischend in eine Ecke zu feuern. Die Geister stimmten ein schauriges Geheul an. Wild überschlugen sich ihre Stimmen. »Schlagt ihn tot!« »Brecht ihm das Genick!« »Er soll für seine Dreistigkeit büßen!« Mispertons gespensterhafte Erscheinung fand als erste die Ruhe wieder. »Wir können den Meister wieder hereinrufen. Die Gefahr ist gebannt. Dieser Wurm wird keinen Schaden mehr anrichten. Soll der Meister entscheiden, was mit ihm geschieht.« Die halbnackte Sopranistin wieselte eilfertig los, der Aufforderung nachzukommen. In diesen Sekunden hatte der zerschundene Spencer wenigstens die Gelegenheit, seine Umgebung zu mustern. Er lag in einem großen Raum, in dem vier oder fünf große Kerzenleuchter 87 �
aufgestellt waren. Konzertflügel, Violinen, Trompete und Gitarre, hinter den aufgeschlagenen Notenblättern ruhend, schienen eben erst abgelegt und verlassen worden zu sein, obwohl sie von seiner Ankunft gewußt und auf ihn gewartet hatten zum Schein hatte Maguire die Geister weiterspielen lassen. Der Privatdetektiv befand sich in dem Konzertzimmer neben dem Kaminraum, aber das wurde ihm erst später deutlich, als er den Grundriss des Donan Houses näher kennen lernte. Henry Maguire kam. Hinter der lachenden Adamton betrat er den Raum. Seine Bewegungen waren gravitätisch, genau bemessen. Nicht von Hass waren seine Züge verzerrt, eher guckte er den Gefangenen mit der Strenge eines unzufriedenen Lehrherrn an. »Pearl hat es mir erzählen müssen Miller«, versetzte er hämisch. »Ich hätte sie sofort umbringen lassen, die Schnüfflerin, wenn sie mir nicht von ihrem lieben Freund Spencer Laine in allen Details berichtet hätte. Ich hatte Zeit genug, die Fallen zu überprüfen, die ich in diesem Haus angebracht habe. Du musstest in eine laufen. Ich bin froh, daß wir dich haben. Du warst bewaffnet, wie ich sehe. Da ich der einzige Verletzbare in dieser Runde bin, war ich durch eine Kugel aus deinem Schießeisen gefährdet und habe mich rechtzeitig entfernt, als Margret deine Ankunft meldete.« Spencer mußte die Augen schließen, um die Neuigkeit überwinden zu können. Pearl in den Händen dieses Lumpen! Er hatte einen Riesenfehler begangen, als er auf ihren Vorschlag eingegangen war. Sie hätte niemals den Job als Haushaltshilfe antreten dürfen. Hätte. »Er muß sterben, Meister«, hechelte der Geist von David Burns. »Er hat es verdient, der Dreckskerl.« 88 �
»Ja zur Hölle mit ihm«, flüsterten die anderen im Chor. Der Pergamenthäutige hob die Hände. Er spielte den Gerührten. »Meine Lieben, es freut mich, daß ihr mir so ergebene Diener seid. Ich habe mich schon entschieden, und zwar für die grässlichste Todesart. Wir werfen ihn in die Mückengrube. Trotzdem kommt ihr nicht zu kurz. Euch bleibt das Mädchen!« »Nein«, brüllte Spencer. Er griff nach den Beinen des Teufelsgeigers. Er schaffte es auch, ihn umzureißen. Aber dann waren die Gespenster schon wieder über ihm. Sie fluchten, keuchten und hieben auf ihn ein, bis er halb ohnmächtig und blutend dalag. »Genug«, rief Maguire. Er hatte sich aufgerappelt. »Schafft ihn fort!« »Maguire«, ächzte der Privatdetektiv. Die Antwort war ein Tritt in die Seite. Er schmerzte höllisch, denn der Teufelsgeiger trug spitze Schuhe. »Was willst du noch?« höhnte Maguire. »Verrate mir, was du planst. Ich bin ohnehin verloren und kann mein Wissen nicht mehr verwenden«, brachte Spencer hervor. »Erfülle mir diesen Wunsch bis es aus mit mir ist.« »Nun gut, deine Neugier soll befriedigt sein.« Maguires Stimme klang schrill, triumphierend. »Meine Sinfonie wird sämtliche Stechmücken aus dem Sumpf locken und über das Land treiben, sobald mein Kammerorchester sie perfekt beherrscht. Das ist die Voraussetzung: Nur eine meisterhafte Interpretation kann die nötigen Strahlen schaffen, um die lieben Tierchen bis nach London zu jagen. Wir haben es fast geschafft, Laine, und es sind noch genug Insekten übrig geblieben sie werden Großbritanniens Musikwelt zunichte machen. Das ist meine Rache für das, was man mir angetan hat. Alles Geschehene war nur der Auftakt. Noch heute früh wird die Generalprobe für die Sinfonie des Teufelsgeigers stattfinden, und danach danach…« 89 �
Er brach ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Greift ihn und werft ihn in die Mückengrube! Ich kann ihn nicht mehr ertragen, diesen Hund!« Spencer fühlte sich hochgehoben und in rasendem Tempo aus dem Zimmer gebracht, sah zuckendes Kaminfeuer, dann hörte er eine Stimme, dumpf, wie aus der Tiefe: »Spencer, Spencer!« »Pearl! »Pearl, halte durch«, schrie er. »Mache dir keine Sorgen um mich, hörst du, Darling…« Weiter kam er nicht. Margret Adamton schlug ihm auf den Mund und preßte die Krallenhand gegen seine Lippen. Laine brachte keinen Laut mehr heraus. * Sie ließen ihn einfach los. Er fiel durch Buschwerk, Laub, schätzungsweise anderthalb Yard tief. Dann landete er schmerzhaft auf dem Rücken, daß er sich aufbäumte. Blutige Nebel zuckten vor seinen Augen. Spencer Laine fühlte sich schon halbwegs in den düsteren Abgrund sinken, der ihn in die tiefe Bewusstlosigkeit führte… Nein! signalisierte sein Hirn. Er mußte wach bleiben. Unter Aufbietung aller Kräfte setzte er sich auf, tastete sich ab. Er merkte jetzt, daß er sich inmitten krabbelnder, knisternder Insektenleiber befand. Aber er behielt wie durch ein Wunder die Ruhe. Er wußte genau, was ihm blühte, aber er blieb eiskalt, solange die Biester nicht über ihn herfielen. Ein Blick nach oben die Mückengrube war mit Astwerk zugedeckt, wie sich gegen das Mondlicht feststellen ließ. Wahrscheinlich gehörte sie auch zu den Fallen, die sich Henry Maguire für 90 �
seine Widersacher ausgedacht hatte. Es war purer Zufall, daß der Blonde oder Pearl bis jetzt noch nicht hineingetappt waren, hatten sie doch ahnungslos den Laubwald durchquert. Spencer schloß, daß sich die Grube südlich von Donan House befinden mußte. Im Norden lag der Pfad, über den man hergelangte, im Nordwesten der Heuschober und die Rinderweiden. Spencer atmete etwas auf. Die Taschenlampe hatten sie ihm gelassen. Wahrscheinlich hielt Maguire das Ding, das an der Hüfte des Detektivs baumelte, für so harmlos, daß er auf seine Entfernung keinen Wert gelegt hatte. Spencer horchte. Die Geister hatten sich schnatternd entfernt. Er wartete noch, bis er in einiger Entfernung eine Tür knarren und ins Schloß fallen hörte. Dann entschloß er sich, die Lampe anzuknipsen. Der Schein streifte die widerwärtigen Tierleiber. Oder nein, man sollte besser sagen: Die Stechmücken hätten trotz ihrer ungewöhnlichen Größe unter normalen Umständen nicht ekelhaft wirken können, denn anders als Schaben, Wanzen oder Asseln boten sie keinen ausgesprochen unästhetischen Anblick. Nur wer an ihre vernichtenden Saugrüssel und Nagewerkzeuge dachte, an das Blut, das sie zu trinken imstande waren, bekam das Grauen. Der blonde Mann war hart angeschlagen. Das kratzte auch an seinen Nerven. Er mußte sich beherrschen, um nicht aufzuspringen und zu schreien. Er hasste hysterische Ausbrüche. Daher brachte er es fertig, mit eiserner Ruhe inmitten der gewaltigen Insektenschar zu hocken. Die Grundfläche der Grube mochte etwa zwei mal zwei Yard sein. Das reichte, um sich darin ausstrecken zu können. Spencer konnte sich nicht langmachen, denn der gesamte Boden war mit Mücken bedeckt. Er saß auf Mücken! 91 �
Er sah ein, daß er auf dem Friedhof von Greenock wirklich nur einen winzigen Teil erledigt hatte. Henry Maguires Sammlung an »kleinen Lieblingen«, wie er sie nannte, mußte schier unerschöpflich sein. Kein Zweifel, die Teufelsmusiker würden gleich wieder mit ihrem entsetzlichen Konzert beginnen. Maguire würde seine telepathischen Anstrengungen auf die Mückengrube konzentrieren die Biester würden den Blonden zerrupfen, ein Blutbad anrichten. Dann hat es einen Privatdetektiv Spencer Laine gegeben und Inspektor George Tate hat seine Ruhe, dachte er verbittert. Nur wer keinen Lebenswillen hat, läßt sich widerstandslos abschlachten, lautete seine nächste Überlegung. Er richtete sich unendlich langsam auf. Wenn er handeln wollte, dann mußte es jetzt geschehen. Sofort. Bevor die Sinfonie herübertönte. Die Lampe! Fühlten sich Mücken nicht vom Licht angezogen, solange ihre Urinstinkte funktionierten? Der blonde Mann fackelte nicht lange, opferte die Lichtquelle. Er legte sie auf den Boden, in eine Ecke der Grube, wo die Gruppierung der kleinen Scheusale am konzentriertesten war. Und wirklich! Die übrigen krochen darauf zu. Was unter und auf dem Detektiv gesessen hatte, setzte sich eilfertig in Bewegung, um sich von dem Strom der anderen mitreißen zu lassen. Vor dem Glas der Lampe bildeten sich Tierklumpen, die immer wieder von Nachdrängenden beiseite geschoben wurden. Einige Insekten schwirrten hoch. Laine mußte aufpassen. Er durfte nicht nach ihnen schlagen. Er wagte nicht einmal zu husten, obwohl ihm danach zumute war. Er hangelte am Grubenrand empor. Aber es war nicht leicht. Er konnte nicht je einen Fuß in zwei 92 �
gegenüberliegende Wände stemmen und wie ein erfahrener Kanalarbeiter in Richtung Freiheit vorstoßen. Mit zwei Yard war die Todesgrube dafür zu breit. Spencer konnte sich also nur darauf verlassen, daß die Baumwurzeln, die aus dem Erdreich ragten, und an denen er sich festklammerte, nicht nachgaben. Sekunden verstrichen wie eine Ewigkeit. Ja, er brachte es fertig, sich bis an den Rand zu arbeiten, die Finger in Buschwerk zu krallen, sich bis auf den sicheren Untergrund zu ziehen. Aber damit war er noch nicht außer Gefahr. Wenn die Musik jetzt einsetzte… Natürlich, die Mücken waren fähig gewesen, sich bis nach Balmoral und Blackpool und South Shields leiten zu lassen, um zu töten. Der Blonde, der nun direkt über ihnen stand, war ein leicht gefundenes Fressen für sie. Nur der Befehl des Meisters fehlte noch… Spencer, von dieser Einsicht beflügelt, hetzte auf Donan House zu. Seine einzige Rettung lag in der Höhle des Löwen. Dort hinein konnten die Insekten nicht gelangen. Die Fenster waren alle geschlossen, soweit er es erkundet hatte. Laine raste durch den Wald und steuerte direkt auf die Eingangstür zu. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Der Verzweiflung nahe, aber er hoffte immer noch, daß ihn keiner der Geister oder gar Maguire selbst in diesem Moment beobachteten. * Er bekam die Tür auf. Nur spaltbreit. Er sah, daß sie sonst knarren würde, keine Holztür mit so verrosteten Angeln konnte geräuschlos um neunzig Grad geöffnet werden er mußte sich mit einer Lücke zufrieden geben. Sie war gerade breit genug, um ihn hindurchzulas93 �
sen. Erleichtert zog er die Tür hinter sich zu. Was immer geschehen mochte, vor den Killermücken war er zunächst bewahrt. Spencer schlich langsam voran. Er hatte nur eine Chance, den mörderischen Kampf gegen den Spuk noch zu gewinnen. Er mußte die Flöte wiederhaben. Falls sie gegen die Gespenster funktionierte, und er sie tatsächlich in die Finger bekam, hatte er gewonnen. Aber Pearl? Was war mit ihr? Lebte sie noch? Ihm wurde schwindlig bei diesem Gedanken. Er wischte ihn fort. Er zwang sich, daran zu glauben, daß sie noch lebte. Plötzlich hörte er ihre Stimme. Richtig, das konnte nur sein hübsches brünettes Girl sein! Die Adamton hatte ein höheres Organ und sprach einen völlig anderen Akzent. Pearl rief verzweifelt. Sie lebte, aber sie befand sich in einer lebensgefährlichen Lage. Niemals sonst hätte sie solch klagende, wehleidige Laute von sich gegeben! Und, das dämmerte dem blonden Mann erst jetzt, vielleicht war ausgerechnet sie der Grund dafür, warum das Teufels-Kammerorchester noch nicht mit seinem Spiel begonnen hatte. Unbewußt hatte sie ihm das Leben gerettet! Aber über diese Erkenntnis konnte er sich kaum freuen. Laine beschleunigte seinen Schritt, benahm sich fast unvorsichtig. Er drang bis ins Kaminzimmer vor. Hier beugte er sich zu dem Schlüsselloch der Verbindungstür hinab, um die Situation auszukundschaften. Pearl war an einen Stuhl gefesselt! Die schaurige Gestalt des Geistes von Stan Cowan stand hinter ihr. Cowan hatte etwas in der Hand, das wie eine Schnüre aussah eine Saite, eine Saite von seiner Violine. Was er damit vorhatte, war offensichtlich. Er hielt sie schon so, daß er nur noch 94 �
die Hände zu senken brauchte, um die Schlinge aus Katzendarm um den Hals des Girls zu legen. Er wollte sie als eine Art Garotte benutzen, um das nur mit seinem Nachthemd bekleidete Mädchen zu erdrosseln. Wut packte Spencer. »Bist du bereit, Stan?« klirrten Maguires Worte in die Stille. »Bereit. Meister.« »Sobald wir beginnen, wirst du sie würgen. Sie soll es mit Musik haben, das ist unterhaltsamer.« Er lachte irre. »Töte sie nicht gleich, Stan, denn Robert, Margret, David und John wollen es auch noch genießen, ihr die Gurgel zuzuziehen, dieser erbärmlichen Spionin!« »Bettle um dein Leben, Früchtchen«, hetzte die Adamton. Aber da hatte sie sich in Pearl Evans getäuscht. Die Brünette hatte sich wieder gefaßt. Kein Wehlaut kam jetzt mehr über ihre Lippen, nur noch die kalt gesprochenen Worte: »Der Richter wartet auf Sie, Maguire. Sie werden Ihrer Strafe nicht entkommen.« Der Meister stieß eine lästerliche Verwünschung aus. Die Geister fielen mit Flüchen und Gezeter ein. Die schlimmsten Schimpfworte prasselten auf Pearl nieder. Diese kurze Verwirrung nutzte der Privatdetektiv. Er steppte zwei Schritte zurück, duckte sich und rannte vor. Unter dem harten Aufprall seiner Schulter riß der Riegel aus der morschen Eichenholztür, diese flog so weit auf, daß sie gegen die Wand knallte. Spencer konnte Stan Cowan ohne die Hirtenflöte nichts anhaben, aber die Saite konnte er greifen die war aus normalem Material. Er packte sie und schleuderte sie zu Boden. Merkwürdigerweise stürzte das Gespenst des vor 26 Jahren gestorbenen Virtuosen ebenfalls. Wahrscheinlich deshalb, weil es die Saite mit verkrampften Knochenhänden hielt und einfach nicht in der 95 �
Lage war, so reaktionsschnell loszulassen. Maguire sprang auf. Die Geister kreischten. Spencer rollte sich am Boden ab. Als seine Finger unter die Fußleiste rutschten, bekamen sie ein paar Splitter ab. Aber die nahm der blonde Mann gern in Kauf. Das Instrument lag nämlich noch dort, wo er es zuletzt gesehen hatte. Damit hatte Maguire seinen zweiten entscheidenden Fehler begangen. Der Meister und seine schauerlichen Knechte stürmten auf Laine zu. Er schaffte es aber, noch vor ihnen bei Pearl zu sein und das weinende Girl fortzuziehen. Er mußte es mitsamt dem Stuhl in Sicherheit bringen, denn die Fesseln konnte er so schnell nicht lösen. Die Hauptsache war ihm, sich vor seine Freundin zu stellen und blitzschnell die Flöte an die Lippen zu setzen. Die quäkenden Töne hallten der Spukbande entgegen. Die Geister prallten zurück. Sie legten die Hände vor die Gesichter, krümmten sich wie geprügelte Hunde. Dr. Kyle hatte nicht zuviel versprochen: die Schauergestalten, die ja Produkte der Geigenklänge und ihrer Strahlenwirkung waren, zeigten höchst empfindliche Reaktionen gegenüber der akustischen Störung. Maguire blieb ebenfalls stehen. Nicht, weil er die Töne der Flöte nicht aushalten konnte er hatte ganz einfach Angst vor der körperlichen Kraft seines Gegners. »Gib die Flöte her«, schrie er. Der Privatdetektiv spielte weiter. Immer lauter ließ er die Melodie des schottischen Volksliedes klingen. Der gestrauchelte Geist von Cowan zuckte hoch, eilte bebend zu seinen Genossen. Die Spukgestalten ergriffen die Flucht. Es blieb dem Meister nichts übrig, als ihnen zu folgen. Mit hasserfüllt funkelnden Augen warf er sich herum, fuchtelte mit den Armen und stürmte in Richtung Konzertflügel. Es gab dort eine zweite Tür, die 96 �
offensichtlich direkt nach außen führte. Laine rannte ihm nach. Plötzlich riß Maguire zwei der Kerzenlüster um, die in der Mitte des Raumes standen. Spencer sah sich plötzlich einer Feuerbarriere gegenüber, denn die Flammen hatten mit verblüffender Geschwindigkeit Nahrung gefunden oder vielmehr waren sie derart schnell hochgepufft, daß der Detektiv nur wieder eine Falle dahinter vermuten konnte. Das »war es! Maguire hatte für alle Fälle den Fußboden mit Petroleum, Kerosin oder Benzin getränkt, so daß sich die Feuersbrunst nun rasend flink ausbreiten konnte. Pearl war in Gefahr! Spencer kümmerte sich nicht mehr um den wild lachenden Meister, er hastete zu der hüflosen Brünetten hinüber. Es gab nur ein Mittel. Er mußte sie hochheben und vor den tobenden Feuerzungen aus den Raum tragen. Er wollte sie durch das Kaminzimmer retten, aber auch hier zuckten Flammen. Maguire mußte das Fenster von außen aufgestoßen und eine Kerze hineingeworfen haben. Der Fußboden brannte lichterloh. »Wir sind eingeschlossen«, rief Pearl. * Spencer warf den Kopf herum. Es war aussichtslos. Er konnte nicht mit Pearl in den Konzertraum zurückkehren, denn dort schlugen die Flammen schon mannshoch. Ihnen blieb nur die Flucht nach vorn. Das hieß: durch das Feuer laufen. Der blonde Mann zögerte nicht. Lieber nahm er ein paar Verbrennungen in Kauf, als einen elenden Tod zu sterben außerdem hatte er noch die Aussicht, zumindest seine Freundin unverletzt aus dem Brandherd zu retten. 97 �
»Pearl, sei tapfer«, schrie er ihr zu. Dann lud er sich den Stuhl mit der gefesselten Brünetten auf den Rücken, und begann zu sprinten. Er hielt Pearl festgeklammert. In diesen höllischen Sekunden kannte er nur den einen Gedanken sie nicht in die Glut kippen zu lassen. So sprang er über die erste Flammenwand hinweg, drehte sich und hetzte auf die Stelle zu, an der er den Flur wußte. Wieder mußte er wie ein Hürdenläufer über Feuer hinwegsetzen. Spencer Laine wußte, daß seine Hosenbeine brannten. Er brauchte nicht hinzusehen er spürte es. Pearl hatte sich wieder einmal als ein Prachtgirl erwiesen. Auch in diesem fürchterlichen Moment hatte sie nicht zu schreien begonnen, hatte die Ruhe bewahrt. Mehr noch, sie war auf eine Idee gekommen, die dem Blonden aus seiner Lage helfen konnte: »In die Küche«, rief sie ihm zu, »dort steht ein Waschzuber!« Spencer lief, die gierigen Flammen an seiner Kleidung, die Feuersbrunst im Rücken. Es würde nur noch Sekunden dauern, dann hatte der Brand auch den vorderen Part des Donan Houses erreicht. Zwar waren die Außenmauern aus Bruchsteinquadern gefertigt, aber Fußböden, Fenster, Türen und Raumdecken bestanden aus Holz und boten den Flammen vorzügliche Nahrung. »Nach rechts«, ertönte wieder Pearls gellende Stimme. Rechtzeitig hatte sie sich daran erinnert, daß ihr Freund ja nicht wußte, wo die Küche lag. Laine stoppte gerade rechtzeitig ab, um mit der rechten Körperseite gegen die Tür stoßen um in den Raum eindringen zu können, an dessen steinernem Waschbecken die Brünette am Nachmittag einen Riesenhaufen schmutziger Wäsche eingeweicht hatte, um sie am Morgen reinigen zu können. Sie hatte das Spülwasser im Zuber vergessen glücklicherweise. 98 �
Der Zuber stand neben dem Spülbecken. Spencer setzte den Stuhl mit seiner gefesselten Freundin ab. Dann sprang er mit beiden Beinen gleichzeitig in den großen Holzbehälter. Zischend machte die Flüssigkeit den leckenden Feuerzungen den Garaus. Dampf stieg auf, hüllte den Privatdetektiv ein. Pearl blickte ihn aus ihren großen, entsetzt aufgerissenen Augen an. Endlich erkannte sie, daß er grinste. »Die Jeans sind hin«, meinte Spencer und machte ihr wieder einmal klar, was für Stahlnerven er besaß. »Darling, noch ein paar Sekunden mehr, und die Flammen hätten die Beinhaut erreicht.« »Wir müssen hier 'raus, Spencer.« »Warte, ich schneide dir die Fesseln auf.« »Wo sind Maguire und die Geister?« »Unter Garantie getürmt.« »Spencer, was ist das für eine Flöte, auf der du gespielt hast? Wer hat sie dir gegeben?« Er erklärte es ihr, während er aus dem Zuber jumpte, sich ein breites Küchenmesser griff und die Stricke aufsäbelte, die tief in ihr Fleisch schnitten. Schon sahen sie wieder den Feuerschein er näherte sich über den Flur wie die leibhaftige Verdammnis, die das Paar nicht mehr entweichen lassen wollte, nachdem sie es einmal geschmeckt hatte. Pearl Evans war frei. Der Blonde massierte ihr die Handgelenke und die Knöchel, damit sie keine Schwierigkeiten beim Laufen hatte. Sie fiel ihm um den Hals und schluchzte trocken auf. Spencer riß das Fenster auf. Durch die Eingangstür konnten sie nicht mehr aus dem Gebäude entkommen, weil die Flammen bereits den gesamten Flur bestrichen. Plötzlich zuckte er zurück. 99 �
Er hatte die Bewegung deutlich wahrgenommen. Und ihm blieb nur noch die Zeit, Pearl blitzschnell zu Boden zu reißen, sie mit seinem Körper zu schützen und das Mundstück der Hirtenflöte an seine Lippen zu setzen. Da waren sie schon über ihnen! Die Mücken aus der Grube hagelten in die Küche. Ihr Flug wurde begleitet von dem immer lauter wallenden Greinen der Teufelsgeige. Maguire hatte die Geistesgegenwart besessen, sein Instrument an sich zu reißen und mit auf die Flucht zu nehmen. Sobald der Detektiv zwangsläufig die Flöte hatte verstummen lassen müssen, hatte der Pergamenthäutige ein Gegenkonzert begonnen. Sie hatten es nur nicht gehört, weil das Prasseln der Flammen und das Knacken berstenden Holzes die Töne überlagert hatte. Spencer blies in die Flöte. Jammernd wehten die Klänge der Volksweise hoch. Die großen Insekten klebten in Gruppen bereits auf ihnen aber jetzt wichen sie vor der Störung zurück. Sie kehrten zu ihren Artgenossen unter die Zimmerdecke zurück, dorthin, wo sich jetzt ein wild zitternder Klumpen Leben gebildet hatte. Die Flötenmusik irritierte die Biester so stark, daß sie die Orientierung verloren. Sie schwangen in Richtung Fenster, wieder zurück, dann zum Flur. Spencer begriff den Vorteil, sprang auf, und ließ die Melodie noch kräftiger auf sie zurollen. Die Killermücken prallten vor ihm zurück. Sie hatten keine Wahl mehr. Spencer Laine befand sich zwischen ihnen und der rettenden Nachtluft. Aber sie schafften es nicht, über ihn hinwegzusirren. Sie konnten nur noch in die Flammen torkeln, die bis zur Decke des Flures loderten, schmatzend, alles verschlingend. Das Feuer fraß sie. Pearl schlug bei diesem Anblick die Hände vor die Augen. 100 �
Infernalischer Gestank breitete sich aus. Das Girl fühlte die Hand des Freundes, ließ sich hochziehen und zum Fenster führen. Er setzte nicht ab. Eine Hand genügte ihm, um die Tonfolge fortzuführen, und die gesamte Mückenbrut in den Tod zu jagen. Unterdessen kletterte Pearl über die Fensterbank nach außen, hielt sich schluckend an dem hölzernen Rahmen fest. Sie hatte Angst, in irgendeine neue Falle zu tappen, wenn sie auch nur noch einen Yard in die Nacht hinausging. Die quäkenden Laute verstummten. »Sie haben ihr Inferno gefunden«, versetzte der Detektiv. »Es ist keine übrig geblieben. Maguire hat jetzt nur noch Reserven im Sumpf, aber das heißt noch lange nicht, daß er aufstecken wird. Wir müssen ihn finden, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen kann.« Er schwang sich durch das Fenster ins Freie. Hier faßte er sein Mädchen unter. Gemeinsam liefen sie zum Rand der Lichtung. Spencer hielt die Augen offen. Er war jetzt wie ein lauernder Wolf, bereit, jeder drohenden Gefahr sofort die Stirn zu bieten. Es blieb ruhig. Sie verharrten unter den Bäumen und drehten sich um. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie Donan House unter den Flammen zerstört wurde. Zunächst stürzten die Decken ein man konnte das Krachen der verkohlten Stützbalken vernehmen, das Knacken und Poltern der Bohlen. Dann wurde auch der Dachstuhl von der Glut verzehrt. Er gab nach, die Schindeln drückten ihn ein, prasselten in das Innere des Gebäudes hinab. An den Bruchsteinquadern kapitulierte die Feuersbrunst. Es war abzusehen, daß eine schwärzliche, noch lange schwelende Ruine übrig bleiben würde. Spencer küsste Pearl auf die Stirn, dann auf den Mund. »Darling, über dem Haus hing wirklich ein Fluch. Henry Maguire hat das gewußt, als er sich von Edinburgh aus in die Einsamkeit 101 �
zurückzog. Er konnte hier beruhigt seine verhängnisvollen Studien treiben. Niemand störte ihn.« »Ich habe mein Urteil revidiert.« »Du glaubst an Übersinnliches? Mädchen, es tut mir leid, daß du dich auf so dramatische Art von den Dingen überzeugen musstest. Hoffentlich hörst du das nächste Mal auf meinen Rat.« »O ja«, erwiderte sie schnell, »in der Beziehung brauchst du keine Bedenken mehr zu haben. Ich habe Lehrgeld bezahlt.« Sie berichtete, was sie alles erlebt hatte. Spencer teilte ihr daraufhin mit, was in Paisley und Greenock geschehen war und was der Teufelsgeiger ihm über sein Vorhaben erzählt hatte, die Killermücken bis nach London zu schicken. »Er wird es nicht schaffen«, zweifelte Pearl. »Schön, seine Violine hat er vor den Flammen gerettet aber die Gespenster sind ohne Instrumente. Selbst wenn sie nicht in panischer Angst geflohen wären, den Konzertflügel hätten sie niemals fortschaffen können.« Spencer schob seine Unterlippe vor und blickte nachdenklich auf die Flöte, bevor er antwortete. »Darling, ich weiß, daß Maguire ein verschlagener und eiskalt berechnender Verbrecher ist. Er hatte viel Zeit, sich auf seinen Mördercoup vorzubereiten. So, wie er mit Akribie die Fallen eingerichtet hat, wird er auch in jeder anderen Beziehung an den Eventualfall gedacht haben.« »Du meinst, er hat noch ein Versteck?« »Oder etwas Ähnliches. Wir müssen ihn finden. Der Spuk muß endgültig vernichtet werden.« * Es war drei Uhr. Der Wind hatte wieder zugenommen, strich pfeifend über das Hochland und trieb Gewitterwolken vor den Mond. Die düste102 �
ren Gebilde ballten sich und tauchten Rowardennan und den ganzen Loch Lomond in tiefste Finsternis. In der Ferne zuckten Blitze. Donnergrollen tönte herauf. Der Platz lag hoch über dem See sechs Meilen von Donan House entfernt. Die Strecke direkt bis zur Jugendherberge von Rowardennan hinab betrug allerdings nur drei Meilen. Klägliche Reste einer mittelalterlichen Anlage hoben sich als Silhouette gegen das Licht der Blitze ab. Ihre Anordnung hatte Hufeisenform. Der einzige noch halbwegs heile Bestandteil war der Turm mit der quadratischen Grundfläche im Norden Zahnruinen auf dem aufgeklappten Unterkiefer eines Totenschädels so muteten die Mauerstummel an. Wer ihre Geschichte kannte, konnte berichten, daß sie aus dem Jahre 885 stammten, eine bewegte Geschichte hatten, und daß sie den Counts und Earls, die seinerzeit das Land beherrscht hatten, als Auditorium für festliche Darbietungen gedient hatten. Jetzt nützten sie nur noch Henry Maguire. Der pergamenthäutige Teufelsgeiger stand im Zentrum des Hufeisens. Die Geige und den Bogen hatte er fortgelegt. Statt dessen hielt er eine Peitsche in der Faust, die er aus dem Turm geholt hatte, in den sich außer ihm schon seit Jahren kein Mensch mehr gewagt hatte. Seine Stimme klirrte auf die fünf Geistergestalten nieder. Ja, er hatte ihre Flucht bremsen können und sie wieder in seinen Bann gezogen. Robert Misperton, Margret Adamton, David Bums, John Illingworth und Stan Cowan sie standen mit gesenkten Köpfen vor ihrem Meister. »Büßen sollt ihr«, schrillte er. »Ihr habt Ungehorsam bewiesen, habt mich im Stich gelassen. Was fällt euch ein? Ist das eine Art, einem Gebieter schützend und helfend zur Seite zu stehen?« »Erbarmen«, hauchte der Opernsopran. »Wir bessern uns«, flehte Misperton. 103 �
Maguire lachte grausam auf. Er schwang die Peitsche, sie sauste durch die Luft, und ihre Lederschnüre landeten klatschend auf den fürchterlichen Wesen. Wenn der Meister sie züchtigte, dann spürten sie die Schläge. Er als ihr Schöpfer, war der einzige, der ihnen gegenüber handgreiflich werden konnte. Die Adamton schrie spitz. Sofort warf sie sich auf den Boden und wälzte sich demonstrativ, um Schlimmeres abzuwenden. Aber der Teufelsgeiger ließ sich nicht blenden. Er hieb zu, wieder und wieder. Sie entkamen ihm nicht, denn er hielt sie im Bann. Unter Jammern und Heulen mußten sie die peinigenden Lederstreifen ertragen. Sie hatten nur eine Wahl. In vielstimmigem Lamento ließen sie sich zu Boden gleiten und deckten ihre schaurigen Schädel mit den Knochenhänden ab. Blut trat aus den Striemen, die Maguire ihnen beigefügt hatte. Tatsächlich, die Geister litten wie Menschen! Der Meister mit dem Adlergesicht und den langen schwarzen Haaren hielt inne. Er keuchte. Die Züchtigung hatte ihn angestrengt. Er mußte verschnaufen, sich den Schweiß aus dem Gesicht wischen. Margret Adamton bewegte sich. Ihr üppiger Leib kam auf Maguire zugekrochen, ihre Hände schlossen sich um sein Bein. Er grinste zufrieden, als sie ihre Lippen auf seinen Schuh drückte. »Gnade, Meister«, wisperte sie. Er setzte eine herablassende Miene auf. »Nun denn steht auf. Laßt es euch eine Lehre sein.« Sie rappelten sich auf, umtanzten den hageren Mann und bedankten sich in hündischer Hingebung. Henry Maguires Züge waren von Stolz gezeichnet. Er schöpfte wieder Mut, um seinen Plan durchzusetzen. »Packt euch«, rief er ungehalten, »wir haben nicht viel Zeit zu 104 �
verberen. Lauft zum Turm!« Sie hüpften von ihm fort. Ihre Bewegungen waren grotesk. Niemand, der sie jetzt gesehen hätte, hätte vermutet, daß diese Horrorgestalten aus den Leichen von fünf namhaften Interpreten klassischer Musik gekrochen waren. Maguire schritt ihnen nach. Am Turm angelangt, klatschte er in die Hände und sagte: »Nehmt euch in acht. Das Gemäuer ist wacklig und es besteht die Gefahr, daß es einstürzt. Darum hat sich niemand mehr hineingewagt, und ich wählte es aus diesem Grund als Versteck. Sollten die Wände durch eure Unvorsichtigkeit brechen und zusammensacken, bekommt ihr wieder die Peitsche! Bedenkt, daß ihr unsterblich seid!« »Ja, Meister«, katzbuckelten sie. Sie mußten die große Holztür aufstoßen. Maguire hatte Zündhölzer bei sich. Er gab sie der Adam ton, damit sie eine im Inneren des Turmes angebrachte Pechfackel entzünden konnte. Im zuckenden Feuerschein gewahrte der Meister, daß die Gegenstände, die er hierher geschafft hatte, unberührt und in bestem Zustand waren: Drei schwarze Koffer, in denen eine Geige, eine Bachtrompete und eine Gitarre ruhten und ein riesiger Konzertflügel. Die Geister holten zunächst die kleinen Instrumente. Es gab ein halbes Dutzend Klappstühle, die der Pergamenthäutige ebenfalls hier untergebracht hatte. Sie wurden mit den Koffern zur Mitte des Festplatzes getragen. Maguire eilte neben den Gespenstern her, um ihre Gesten mit kritischen Bemerkungen zu verfolgen. Besondere Obacht widmete er der Teufelsgeige, die nur er vom Boden aufklauben durfte, die nur er vorsichtig auf einen der Stühle legen durfte. »Jetzt den Flügel«, befahl er. Sie hasteten zum Turm zurück, die unglücklichen Gestalten, 105 �
gruppierten sich tuschelnd um das Instrument. Sie berieten, wie sie es am besten packen und heben konnten. »Nicht rollen«, keifte Maguire, »die Erschütterung würde zum Einsturz führen. Wenn der Flügel in die Brüche geht, blüht euch Fürchterliches!« Er hielt die Peitsche schon wieder in der Faust. Die Geister stierten entsetzt auf die Lederschnüre. Geschäftig legten sie ihre dürren Finger auf das Holz des Flügels es war ein schönes und teures Instrument. Misperton streichelte den Deckel, der die Tasten verdeckte, liebevoll mit der Hand er würde darauf spielen und die einzige Freude auskosten können, die ihm nach seinem Tod noch geblieben war. Sie hoben an. Sicher brachten sie den Flügel bis zur Tür. Sie hatten übernatürliche Kräfte, brauchten sich nicht einmal sonderlich anzustrengen, um die Arbeit zu erledigen. Nur an der Tür gab es Schwierigkeiten. Das Rieseninstrument wollte nicht durch die Füllung passen. »Es muß gehen«, schnaufte der Meister. »Ich habe ihn hineingebracht, also muß er auch wieder ins Freie bugsiert werden können.« Um den Flügel in die Highlands zu transportieren, hatte er sich der Hilfe einiger zwielichtiger Gestalten aus Glasgow bedient, die gegen entsprechende Bezahlung absolutes Schweigen über ihren Job bewahrten. Und Maguire hatte sie gut entlohnt. »Drehen! Ihr müßt ihn drehen«, sagte er ungeduldig. Durch Handzeichen gab er ihnen zu verstehen, wie sie ihre Last zu kanten und zu wenden hatten, um sie endlich aus dem mittelalterlichen Gemäuer zu holen. Die Geister nickten ehrerbietig. Zoll für Zoll hievten sie den schweren Flügel über die Schwelle. Nur einmal schabte seine Flanke am Mauerwerk entlang Maguire hob sofort die Peitsche und stieß einen drohenden Laut aus. Seine Knechte duckten sich, als hätten sie die Prügel 106 �
bereits bezogen, die er ankündigte. Schnatternd vor Aufregung schufteten sie weiter. Endlich stand das Instrument im Freien. Misperton lächelte glückselig. »Ihr braucht euch nichts darauf einzubilden«, ätzte die Stimme des Meisters. Ein Blitz teilte die Schwärze der Nacht, diesmal näher, und leuchtete sein Raubvogelgesicht an. »Beeilt euch! Rollt ihn jetzt meinetwegen, aber gebt acht, daß die Beine nirgends anstoßen.« Die unheimlichen Gestalten legten von neuem übertriebenen Fleiß an den Tag. Mit dem Gebaren von Psychopathen rückten sie den Flügel auf seinen endgültigen Platz: in der Mitte des Festzirkels. Halb schoben sie ihn, halb hoben sie ihn an, um die Erdbuckel zu vermeiden, die unter der Grasfläche lauerten und Schaden verursachen konnten frischer Grund für den Meister, die Peitsche tanzen zu lassen. »Nicht so, mehr nach links«, wetterte Maguire, und dann: »Klappt ihn auf nun arbeitet schon, oder wollt ihr, daß ich euch Beine mache?« Robert Mispertons Geist war es, der den Schalldeckel des Flügels nach oben stemmte und feststellte. Gleich darauf legte er die Tastatur frei und griff sich einen der Stühle, um vor dem Instrument Platz zu nehmen und die Knochenfinger probeweise über das Elfenbein- und Ebenholzfurnier gleiten zu lassen. Er schlug einen Akkord, formte eine Melodie, die Introduktion der »Sinfonie des Teufelsgeigers«. Das machte einen guten Eindruck auf den Meister. Er rieb sich die Hände, tigerte auf und ab und stieß immer wieder »ausgezeichnet, ausgezeichnet« aus. Schließlich blieb er stehen. Rasch griff er seine Violine auf. Mit der Holzseite des Bogens klopfte er gegen den Konzertflügel die alte Angewohnheit des Dirigenten sein Orchester zur Ordnung aufzufordern. 107 �
Burns, Illingworth und Cowan hatten die Instrumente ausgepackt. Sie hockten sich artig auf ihre Stühle. So leise wie möglich probten sie auf der Geige, der Bachtrompete und der Gitarre. Sie stimmten sie auf die A-Note des Pianos ein. Die Adamton suchte summend nach der richtigen Tonhöhe. Es war eine kleine Gruppe. Aber ihre Kläglichkeit existierte nur zum Schein. Mehr als jedes andere Kammer- oder Sinfonieorchester der Welt waren die Geister imstande, ein ganzes Land und darüber hinaus vielleicht einen kompletten Kontinent in Aufruhr zu versetzen. Maguires Strahlenmacht kannte nur Ausweitung und Verbesserung, keine gegenteilige Wirkung. Auch der Pergamenthäutige stimmte seine Violine. Dann ließ er wieder den Bogen gegen Holz schlagen. Das Tongewirr verebbte. »Wir haben keine Notenblätter mehr«, flüsterte Henry Maguire, und seine Augen glühten vor Hass gegen Spencer Laine. »Mein Haus ist zerstört. Aber wir brauchen weder das eine noch das andere, um uns zu Bezwingern über die restliche Welt zu erheben. Inzwischen könnt ihr die Sinfonie auswendig. Wir setzen zur Generalprobe an.« Donnergrollen wälzte sich vom Loch Lomond aus über die Highlands, brach sich an den höher liegenden Hängen. Ein Kugelblitz zuckte wie eine Lanze herab, sein Krachen verkündete, daß er ein Ziel, wahrscheinlich einen Schober oder eine Scheune gefunden hatte. »Die Natur hilft uns«, grinste Maguire. »Dank des Windes und des aufziehenden Gewitters wird niemand unsere Klänge hören. Laine, diese Missgeburt von einem Privatdetektiv, kann uns einfach nicht finden. Dennoch müssen wir uns beeilen. Unser endgültiges Konzert muß stattfinden, bevor der Regen kommt und die Instrumente unbrauchbar macht.« Er gab das Zeichen. 108 �
Misperton und Illingworth begannen die Einleitung. Es folgten Burns und Cowan und danach die halbnackte Margret Adamton mit einem exzentrischen, schwer verständlichen Singsang. Als sie wieder absetzte, war Maguire mit seinem Teufelssolo an der Reihe. »Ich rufe meine kleinen Lieblinge«, hauchte er. Er riß die Rechte mit dem Geigenbogen hoch. Hart griffen die mit Kolophonium eingeriebenen Pferdehaare die Saiten an. Maguire führte ein akrobatisches Stakkato vor, das in eine nicht enden wollende rasende Tonfolge zwischen höchster und tiefer Note überging. Es gab keinen Zweifel, der Mann mit den langen schwarzen Haaren konnte phantastisch spielen. Er war ein Meister. Der Meister des Grauens. * Spencer Laine machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Nicht, weil sie über eine Strecke von mehr als fünf Meilen durch die Nacht geirrt waren, weil er Schmerzen in Rücken und Beinen verspürte, weil er Pearl am Arm hinter sich herziehen und zuletzt fast tragen mußte nein, der einzige Grund war die erfolglos verlaufene Suche nach dem Teufelsgeiger und seinen Ausgeburten der Hölle. Der blonde Mann wußte keinen Ausweg. Eine Lampe hatte er nicht mehr, und in die Mückengrube hatte er nicht noch einmal zurückklettern wollen. Jegliche Ausrüstung fehlte ihm, um auf den Highlands nach den geflohenen Gestalten zu forschen. Auf wessen Unterstützung sollte er hoffen? Inspektor George Tate hatte ihn zu einem hoffnungslosen Spinner abgestempelt die Kripo würde ihm einfach nicht glauben, wenn er jetzt in Dundee oder Glasgow anrief. Mit den Bewohnern von Rowardennan oder Bailoch konnte er 109 �
überhaupt nicht rechnen. Der Redakteur Jim Metealf war ein feiner Kerl aber ein Suchkommando konnte er deswegen auch nicht aus dem Boden stampfen. Blieb noch die Kommission aus Edinburgh, die am Morgen mit der Ausrottung der großen Stechmücken beginnen sollte. Aber die würde frühestens um sieben Uhr eintreffen. Jetzt war es drei Uhr. »Es ist zum Verzweifeln«, meinte Spencer verdrossen. »Darling, lass' uns eine Erfrischung nehmen«, sagte das hübsche brünette Girl. »Schau mal, in der Jugendherberge brennt Licht. Vielleicht macht uns der Leiter einen Tee, wenn ich ihn darum bitte.« »All right«, meinte er, »mir ist zwar nicht nach dem sauren Gesicht des Herbergsvaters zumute. Aber eine Aufmunterung können wir beide gut vertragen. Möglich, daß uns dabei die Lösung für unser Problem einfällt.« Sie verließen den Pfad und liefen in direkter Richtung auf das Youth Hotel zu. Spencer kam es eigenartig vor, daß die Leute in dem Gebäude auf den Beinen waren, während sie zwei Stunden zuvor doch offenbar den Schlaf der Gerechten gehalten hatten. Im gleißenden Licht des ziemlich nahe herunterschwänzelnden Blitzes erkannte der Blonde seinen 1937er Rolls Royce. Ihm schien, als gäbe es am Ufer oder auf dem See ein zweites, größeres Fahrzeug, aber das konnte er in dem Sekundenbruchteil nicht genau ausmachen. In der Herberge klärte sich dann auf, warum der Leiter seine Nachtruhe hatte unterbrechen müssen. Dr. Woodrow Kyle war zur Stelle. Mit schwerem karierten Mantel, Knickerbockerhosen und einer Art Südwester. Es war eine unmögliche Zusammenstellung, doch der schlechte Geschmack gehörte zu dem Gelehrten wie Pfeffer auf ein Steak. Er stand unverbindlich lächelnd neben dem mürrischen Herbergsvater, stellte Fragen, zeigte viel 110 �
Geduld. Als er das Paar in der Tür gewahrte, stieß er einen begeisterten Ruf aus und breitete die Arme aus. »Spencer, Pearl, laßt euch ansehen! Wie ist es gelaufen?« »Schlecht! Maguire und seine Geisterbande sind entkommen«, erwiderte Laine mit matten Grinsen. Das Girl fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, zog die Stirn in Falten. »Dr. Kyle, er untertreibt maßlos. Es grenzt an ein Wunder, daß wir noch leben und diese Tatsache haben wir nur Spencers tollkühnem Einsatz zu verdanken.« »Spencer, sie Wunderknabe.« Kyle klopfte ihm auf die Schulter. »Nehmen Sie mit uns einen Tee und einen Whisky, ja? Danach können wir aufbrechen, um den Teufelsgeiger und seine bedauernswerten Diener zu fassen falls Sie meine Unterstützung nicht wieder ablehnen.« »Wie kommen Sie eigentlich hierher?« wunderte sich Laine. »Nichts einfacher als das…« »Also, den Tee serviere ich noch, weil Sie bezahlt haben«, quetschte der Herbergsvater hervor, »dann gehen Sie aber bitte. Ich habe genug von diesem Mummenschanz, verdammt noch mal! Ich glaube, ich werde das alles der Polizei erzählen und…« »Tun Sie's«, empfahl Spencer. »Ich gebe Ihnen die Telefonnummer. Am besten, Sie wenden sich gleich direkt an DetektivInspektor George Tate. Der wird Ihnen am meisten Glauben schenken, Sir. Im übrigen danke ich Ihnen für Ihre einsam heldenmütige Einstellung.« Pearl legte ihm die Hand auf den Arm. »Nimm es ihm doch nicht übel.« Der Wissenschaftler fuhr fort, sobald der übellaunige Mann sich abwandte und in die Küche schlurfte. »Spencer, ich habe den guten Peter McBland in meinem Mini nach Hause gebracht. Er hatte Schlaf dringend nötig. Anschließend habe ich meine Beziehungen ein wenig spielen lassen. Mitten in der Nacht habe 111 �
ich durch einen Freund aus dem technischen Forschungsinstitut in Glasgow einen Helikopter aufgetrieben. Ja, Sie haben sich nicht verhört.« Der Privatdetektiv richtete sich auf. »Das ist es also! Mir war doch, als hätte ich etwas am Seeufer bemerkt.« Er nahm genau wie Pearl eine Tasse mit dampfendem Tee aus der Hand des inzwischen zurückgekehrten Youth-Hotel-Leiters entgegen. »Dr. Kyle, haben Sie etwa noch mehr gelungene Überraschungen versteckt?« »Schon. Brechen Sie Ihr Prinzip?« »Ausnahmsweise«, lachte Spencer zufrieden. »Wann starten wir?« »Sofort natürlich. Pearl, du kannst hier bleiben oder?« Sie nickte. »Ich komme mit, Sweetheart. Sorry, aber ich fühle mich nur noch in deiner Nähe sicher.« »Keine Einwände«, meinte der glatzköpfige Gelehrte, während sie zum Seeufer liefen. »Wir haben vier Plätze. Es gibt nur einen Grund, warum ich nicht direkt in die Highlands hinaufgeflogen bin, ich bin nicht so mit der Steuerung vertraut, daß ich eine Nachtreise über die Hänge wagen könnte. Von Paisley bis hierher bin ich praktisch stur der Straße gefolgt.« »Dann kann ich also den Steuerknüppel übernehmen?« fragte Laine. »Ich bitte darum.« Der Hubschrauber glich einer gigantischen Wanze. Groß war er nicht, aber kompakt gebaut. Neben der breiten gläsernen Kanzel stand auf dem beige gestrichen Rumpfblech das Kennzeichen geschrieben. Die beiden Männer und das Girl kletterten ins Cockpit. Spencer zeigte seiner Freundin, wie sie sich anzuschnallen hatte. Der Gelehrte nahm auf dem Sitz des Copiloten Platz. »Es handelt sich um eine deutsche Maschine, die erst seit einigen Monaten bei uns erprobt wird«, erklärte Kyle, als Spencer neben ihm auf den Pilotensitz kroch. 112 �
»Ein Bo 105. Er hat keine Schlag- und Schwenkgelenke und keine Schwenkdämpfer, Ausgleichseile und Abstandsstreben wie alle herkömmlichen Helikopter. Darum und wegen seiner zwei Triebwerke ist seine Steuerfolgsamkeit so verblüffend.« Der Wissenschaftler war wirklich verblüfft. »Sie sind, was man im Volksmund ein Fass nennt«, sagte er. »Spencer, ich habe eine chemische Substanz an Bord genommen, die uns von großer Hilfe sein könnte. Ich habe auch Waffen dabei, aber die werden uns nichts nützen. Wenn Sie sich zutrauen, bis in den Sumpf zu fliegen, könnten wir die Chemikalie verstreuen. Sie sind nicht giftig.« »Wozu dient sie?« »Ich will mich nicht mit der Formel aufhalten im Grunde ist es eine Art Farbstoff, der auf Insektenleibern haften bleibt und durch ihre Körperausdünstungen zum Fluoreszieren gebracht wird. Sie wirken dann wie Glühwürmchen.« »Ich verstehe«, entgegnete der blonde Mann. »Falls wir noch rechtzeitig kommen, könnten wir die Biester benutzen, um uns zu Maguire zu bringen. Es steht wohl außer Frage, daß er sie wieder zu sich holen wird, seine kleinen Lieblinge.« Pearl schüttelte sich. »Hoffentlich stürzen wir nicht über dem Sumpf ab. Das Gewitter kommt immer näher.« »Es ist wie in einem Auto«, lächelte Kyle. »Wir befinden uns in einer Art Faradayschen Käfig, meine Liebe. Sicherer als hier können wir vor Blitzschlag nicht sein.« Spencer ließ den Rotor anlaufen. Erst war das typische träge Klatschen der Blätter zu vernehmen, dann, bei größerer Drehzahl nur noch ein sattes Brummen. »Um die Ausrüstung komplett aufzuzählen«, rief der Wissenschaftler gegen das Geräusch an. »Wir sind auch mit Scheinwerfern, Lampen und Fackeln versehen. Ich habe mir gedacht, man kann nie genügend Lichtquellen mitnehmen, wenn man nachts 113 �
unterwegs ist.« »Mit den Fackeln haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen.« »Wie meinen Sie das, Spencer?« »Würden Sie mir eine der Fackeln zustecken? Es könnte sein, daß ich sie gegen die Geister einsetze.« Mehr wollte Laine nicht sagen. Der Gelehrte und das Mädchen bedrängten ihn nicht mit weiteren Fragen, sondern richteten ihr Augenmerk auf das, was außerhalb der Hubschrauberkanzel vor sich ging. Sie hatten kaum merklich abgehoben. Es war erstaunlich, wie gut der Bo 105 dem starken Wind trotzte. »Bis zum Sumpf sind es zwei Meilen Luftlinie«, sagte Kyle. Der Detektiv hielt sich präzise an diese Angabe. Er konnte nicht nach Sicht fliegen, denn die vereinzelt aufglimmenden Blitze reichten als Beleuchtung nicht aus. Spencer war wieder einmal froh, nicht nur seinen Flugschein auf Sportflugzeug und Helikopter gemacht zu haben, sondern auch über die nötige Routine für einen Instrumentenflug zu verfügen. Nur zwei Minuten verstrichen, dann sagte er: »Wir müßten über dem Sumpf sein. Ich halte noch für etwa eine Meile geradeaus. Pearl, erinnerst du dich? Wir haben die Mücken etwa eine halbe Meile westlich des Zentrums gesichtet.« »Meinst du, sie sind immer noch dort?« »Hoffen wir's.« »Der Farbstoff reicht jedenfalls aus, um die gesamte Schilffläche damit zu bestreichen«, äußerte der Gelehrte zuversichtlich. »In der Beziehung brauchen wir keine Bedenken zu haben.« Laine stoppte den Drehflügler in der Luft. Geschickt ließ er ihn tiefer sinken, bis auf vierzig Fuß Höhe. Gleich danach schaltete er den Suchscheinwerfer ein, Er war an der Bauchseite des Hubschraubers installiert und ließ sich über Fernlenkung bedienen. Sein Strahl bohrte einen tiefen Stollen in die Finsternis, verweilte auf dicken Büscheln Schilfdickicht, glitt weiter, erfasste einen der 114 �
Kanäle, wie sie der Blonde und das Girl am Vormittag benutzt hatten. »Wir können beginnen«, meinte Spencer und drehte Dr. Kyle den Kopf zu. Der Wissenschaftler beugte sich vor, preßte den Daumen gegen einen Knopf auf dem Armaturenbrett. »Die Auslösung erfolgt elektronisch«, versetzte er. »In diesem Augenblick rieseln Milliarden mikroskopisch kleiner Staubpartikel auf den Sumpf nieder für das menschliche Auge nicht sichtbar. Fliegen Sie in langsam größer werdenden Schleifen weiter, Spencer. In einigen Minuten spätestens müßten wir die Killerinsekten erkennen.« »Gebe Gott, daß Sie recht behalten«, ließ Pearl ihre Stimme hören. * Spencer hatte den Leuchtkegel des Suchscheinwerfers im Blickfeld. Er ließ das beleuchtete Schilfgestrüpp nicht aus den Augen. Das Lenken des Helikopters fiel ihm nicht schwer, er hatte sich inzwischen genügend mit den Eigenheiten der Maschine vertraut gemacht. Der Bo 105 folgte jeder Bewegung des Steuerknüppel bereitwillig, ließ sich ausgezeichnet dirigieren. »Da«, stieß der blonde Mann plötzlich aus. Kyle heftete seinen Blick ebenfalls auf die angestrahlte Fläche unter der Kanzel. Er war der zweite, der die Erscheinung sichtete. Pearl wurde sie als letzte gewahr und meldete sich mit einem verdutzten Laut. Sie schwärmten direkt unter ihnen aus Mücken, zu Tausenden von Exemplaren zusammengeschart. Ohne die chemische Spezial-Substanz wären sie niemals zu erkennen gewesen, trotz des Lichtes. Ihre Körper hätten sich gegen den Hintergrund des Wassers und der Sumpfpflanzen einfach nicht deutlich genug 115 �
abgehoben. So aber funkelten sie wie Glühwürmchen Kyles Definition stimmte haargenau. Als Laine den Lichtfinger wieder ausschwenken ließ, wurden sie sich der realen Größe des Insektenheeres bewußt. Das gesamte Areal, das sie bis jetzt passiert hatten, war mit glimmenden Punkten überzogen – und es wurden immer mehr, je weiter sie kamen und das fluoreszierende Pulver verstreuten. »Es sind mehr als auf dem Friedhof Greenock«, sagte Laine. Er hatte dem Wissenschaftler inzwischen mitgeteilt, was sich seit seiner Abfahrt aus Paisley ereignet hatte. »Ich weiß nicht, wie viele Millionen. Aber es müssen alle Stechmücken sein, die in dieser Landschaft ihre Schlupfwinkel haben. »Sie formieren sich«, stellte Kyle fasziniert fest. »Spencer, sie wollen auskeilen«, bemerkte das hübsche Girl. »Sieh' doch, sie bewegen sich mit großer Geschwindigkeit in Richtung Seeufer davon!« »Entkommen können sie uns nicht«, meinte der Blonde grimmig. Er veränderte etwas die Lage des Helikopters, ließ ihn einen Schwenk vollführen und glitt über den Strom der Mücken hinweg. Rasch pendelte er den Drehflügler auf die entsprechende Richtung ein: Das Meer glitzernder Tierleiber befand sich nun genau unter ihnen. »Sie fliegen nördlich an Rowardennan vorüber und ins Hochland hinauf«, gab Spencer zu verstehen. »Das heißt, der Teufelsgeiger lauert irgendwo dort oben. Jetzt möchte ich nur noch wissen, ob er allein ist, oder ob die Geister mit ihm musizieren.« »Woher sollten sie die neuen Instrumente haben?« wollte Kyle wissen. »Die Frage hätte ich auch gern beantwortet.« »Spencer glaubt, Maguire sei gerissen genug, auch an ein Zweitversteck gedacht zu haben«, fügte Pearl erläuternd hinzu. »Durchaus möglich«, stimmte der Wissenschaftler zu, 116 �
»schauen Sie, die lieben Tierchen gewinnen an Höhe.« Innerhalb der nächsten halben Minute schaltete Spencer Laine den Suchscheinwerfer aus. »Wir sehen die Biester auch so«, sagte er. »Wir dürfen uns nicht frühzeitig verraten.« »Und der Rotorenlärm?« beugte sich Pearl vor. »Wird durch das Donnern des Gewitters kaschiert. Das Heulen des Windes tut ein übriges«, erwiderte er und wußte nicht, wie sehr diese Worte einem Satz glichen, den Henry Maguire ausgesprochen hatte. Die Killermücken tanzten nun als wirbelndes, ständig in seinen Dimensionen variierendes Leuchtfeld vor ihren Augen. Spencer hielt etwas mehr Abstand. Er wartete, bis die Millionen sich den höher liegenden Kuppen der Highlands näherten, um dann in einer weit gezogenen Schleife wieder zu ihnen zu stoßen, sich von Westen her zu nähern. Ein weit verzweigter Blitz erhellte die Landschaft. »Da, die Ruine«, streckte Pearl den Zeigefinger vor. »Es kann sich nur um den alten Festplatz handeln«, erkannte der Blonde an der Silhouette des Turmes und den an Zahnstummel erinnernden Mauerresten. »Jetzt wird mir einiges klar. Maguire hat sich nach dort oben verzogen, weil er offensichtlich wußte, daß auch jener Ort von den Leuten gemieden wird.« »Die Menschen hier haben verflixt viel Angst«, brummte Kyle. »Ja, aber in diesem Fall hat das ganz nüchterne Gründe, denn der Turm könnte einstürzen. Die Gemeinde Rowardennan hat bisher nicht die Mittel für eine Restaurierung aufgebracht, und so haben sich die Bürger auf das Aufstellen einiger Warntafeln beschränkt.« »Was tun wir jetzt, Spencer?« »Dr. Kyle, ich lande. Bleiben Sie bitte bei Pearl. Sie beide dürfen sich nicht vom Fleck rühren. Nur, wenn die Geister herüberkommen, müssen Sie unverzüglich starten. Versprechen Sie mir 117 �
das?« »Ich… Natürlich.« Der Gelehrte zuckte die Achseln. »Ich würde Sie gern begleiten, aber ich sehe die Notwendigkeit ein, Pearl zu schützen. Ein echter schottischer Gentleman hat in so einem Fall keine Wahl.« Das Girl brachte sogar ein Lachen zustande. Spencer ließ die Maschine tiefer sinken. Als die Kufen Berührung mit dem Untergrund fanden, nahm er den Steuerknüppel wieder etwas zurück. Er stellte kurz den Suchscheinwerfer an, um die Beschaffenheit des Landeplatzes zu testen. Er hatte eine gute Wahl getroffen: Unter ihnen dehnte sich eine kleine Terrasse aus, auf deren Grasnarbe der Bo 105 bequem Platz hatte. Laine setzte die Maschine endgültig auf. Blubbernd erstarb das Rotorengeräusch. Pearl Evans legte ihm die Hände auf die Schultern. »Darling, wäre es nicht besser, wenn wir gemeinsam gingen? Können wir dir nicht irgend wie behilflich sein?« »Ausgeschlossen.« »Bei genügender Vorsicht…« »Pearl, denke nur an die Vorfälle in Donan House! Ich werde weder deines noch das Leben von Dr. Kyle aufs Spiel setzen. Was jetzt getan werden muß, ist eine Sache, die ich nur im Alleingang leisten kann. Bitte sieh' das ein.« Seine Stimme hatte einen festen Klang, der jeden Kompromiss ausschloss. »Wenn ich dich verliere, nehme ich mir auch das Leben«, gab sie zu bedenken. Der Privatdetektiv küsste sie. »Sei doch keine Pessimistin. Siehst du diese Flöte? Du hast beobachten können, welche Wirkung sie besitzt. Keine Geistermacht wird mich überwältigen, solange ich darauf spiele.« »In Ordnung.« Sie senkte den Kopf. »Ich halte dir die Daumen, Darling.« »Ich auch«, fügte der Gelehrte mit schiefem Lächeln hinzu. 118 �
Spencer Laine jumpte ins Freie. Er hatte das schottische Hirteninstrument in der linken Jackentasche, in der rechten steckte eine der Pechfackeln, die Dr. Woodrow Kyle mitgebracht hatte. Das Schulterhalfter war leer, seitdem er Donan House verlassen hatte. Zwar hatte Spencer einen Ersatzrevolver in seinem silbergrauen Rolls Royce er hätte nur das Handschuhfach zu öffnen brauchen. Aber mit der Waffe konnte er nichts beginnen. Der einzige Mensch, der sich davor fürchtete, war Henry Maguire. Mit gutem Grund, denn nur er konnte durch eine Kugel verletzt oder getötet werden. Aber Laine wollte den teuflischen Geiger nicht verwundet oder als Leichnam. Leben sollte er, damit er vor ein Gericht gestellt werden konnte. Spencer lief den Hang hinauf. Donnergrollen begleitete seinen Weg, mindestens viermal zuckten Blitze in weniger als einer halben Meile Entfernung nieder. Jedes Mal konnte er die mittelalterliche Ruine näher vor sich erkennen. Und über dem Turm tanzte der gigantische Mückenschwarm! Noch zwei bis dreihundert Yards. Jetzt vernahm er die Musik. Es war, wie er vermutet hatte. Nicht nur Maguire brachte die Sinfonie auf seiner Violine zum Klingen, nein, es war das komplette Sextett, das die Insekten in Bewegung versetzt hatte. Nur noch eine Frage von Sekunden war es, bis die Biester losrasen würden, um das Land zu verseuchen und den Tod zu verbreiten… Laine stieß gegen einen Zaun, den er an dieser Stelle nicht vermutet hatte. Zum Glück war er nicht aus Stacheldraht, sondern aus Latten. Schnell flankte er darüber hinweg, hastete weiter. Dann befand er sich unterhalb der Ruinen. Eine Art Böschung führte zu dem brüchigen Mauerwerk hinauf, sie war steil. Spencer machte sich an den Anstieg. Er riß zwar ganze Grassoden mit den Händen los und rutschte mehrmals aus. Aber das 119 �
störte ihn nicht. Hören konnte man ihn ohnehin nicht. Dazu war die Geräuschkulisse zu stark. Die Sinfonie tönte in temperamentvollem Presto. Dazu kam die Stimme der Adamton, diese wahnsinnigen Kadenzen, das Rumoren des heraufziehenden Unwetters die Stimmung gedieh zu einem infernalischen Theaterspiel. Und doch war alles real. Spencer konnte sie sehen, als er den Kopf vorsichtig über die Mauerkante schob: Maguire und Stan Cowan, dahinter Robert Misperton und David Burns und John Illingworth, schließlich die halbnackte Margret Adamton, deren schwere Brüste sich bei jedem Atemzug hoben. Er konnte sie so deutlich sehen, weil die mit Farbpulver bestäubten Mücken direkt über ihnen schwebten und genügend Licht verbreiteten. Maguire stierte zu ihnen hoch. Hatte er begriffen, daß etwas nicht stimmte? Daß Gefahr für ihn heraufzog? Oder hielt er den fluoreszierenden Effekt für ein Produkt seiner ständig wachsenden Strahlen-Sendefähigkeit? Möglich, daß die Radiästhesie auch dazu imstande war. Immerhin hockte der Meister noch auf seinem Stuhl und bearbeitete mit nervigen Fingern die Geige. Laine durfte nicht warten. Er startete einen Frontalangriff. Er mußte Maguire und seinen dämonischen Helfern zuvorkommen. Das konnte er nur, indem er die Hirtenflöte hervorholte und an die Lippen setzte. Es genügte nicht, die schottische Volksweise zu spielen. Er mußte sich ihnen nähern, sich direkt unter sie begeben, um die Wirkung der quäkenden Töne voll ausnutzen zu können. Es kam darauf an, die Gespenstermusiker an Lautstärke zu übertrumpfen. Wie war einem Mann zumute, der über eine flache Mauer sprang, um sich auf einen Hexer, fünf scheußliche Geistergestalten und ein zum Aufbruch bereites Riesenheer von Killerinsek120 �
ten zu bewegen? Der blonde Mann mußte sein ganzes Maß an Verwegenheit aufbieten, um nicht aus der Fassung zu geraten und eiskalt zu dem Orchester des Schreckens zu marschieren. Maguire entdeckte ihn als erster. Er brüllte etwas Unverständliches, fiedelte aber wie besessen weiter. Misperton schlug kräftiger auf die Tasten. Die Adamton sang lauter, David Burns ließ die Trompete greller schallen, John Illingworth griff heftiger in die Saiten, und Stan Cowan strich die Violine, als wolle er sie zersägen, Sie wollten den Gegner übertönen. Die Mücken senkten sich bedrohlich nahe auf Spencer Laines Gestalt. * Spencer hob die Flöte etwas die Insekten wichen wieder zurück. Unbeirrt schritt er weiter. Er verfolgte, wie der Meister aufsprang, wie er einen Yard zurückwich. Das übte keinen vorteilhaften Einfluß auf die Gespenster aus: Die Adamton verfehlte die richtige Tonlage, Missakkorde wurden laut, Unruhe breitete sich aus. Der Privatdetektiv verharrte. Er klaubte die Fackel hervor. Behutsam legte er sie auf die Erde, immer darauf bedacht, die Hirtenflöte nicht für eine Sekunde verstummen zu lassen. Natürlich konnte er das Volkslied mit einer Hand nur unvollständig spielen. Aber das machte nichts aus. Die Wirkung blieb die gleiche. Die Geister wagten nicht, ihn anzugreifen. Das Verhältnis der Klänge zueinander war ungefähr wie das zwischen einer bellenden Hundemeute und ihrem Herrn, der sich einer Ultraschall-Pfeife bedient: So 121 �
groß das Gekläffe auch war, der beißende Ton erreichte die Ohren des Rudels immer. Spencer hatte ein Feuerzeug. Das fischte er jetzt aus der Innentasche der Kordjacke und ließ es aufflammen. Die Pechfackel nahm das Feuer an. Binnen Sekunden verbreitete sie zuckenden Glanz. »Nein«, brüllte Maguire. Er legte die Geige und den Bogen fort und sprang vor. Vor der Flöte hatte er keine Furcht. Aber so gern er den Todfeind niedergemacht hätte, er hatte keine Chance dazu. Als er Spencer entgegenrannte, die wildesten Verwünschungen im Mund, genügte es dem Blonden, die Fackel einmal vorzuschwingen. Der Teufelsgeiger brüllte, schüttelte sein Geierhaupt und torkelte entsetzt zurück. Die Flamme hatte seine Haare angesengt. Und Spencer Laine setzte seinen Weg fort. Maguire stolperte ihm nach, bemüht, sich an ihm festzukrallen, und ihn zu Boden zu reißen. Der Privatdetektiv drehte sich gedankenschnell um. Diesmal trat er mit dem Fuß zu. Er traf den Pergamenthäutigen genau vor die Brust. Er mußte den Solarplexus erwischt haben, denn Maguire ging zu Boden und rang nach Atem. Die Geister ließen ihre Instrumente im Stich. Ja, sie rückten ab und machten grauslige Mienen. Sie jammerten und wimmerten, und ihnen war anzusehen, daß sie jeden Augenblick die Flucht ergreifen wollten. »Zurück«, schrie Maguire. Er hatte sich aufgerappelt. Jetzt angelte er sich einen Gegenstand von seinem Stuhl. Die Peitsche. Zunächst ließ er sie ins Leere klatschen, um die Gespenster zurückzukommandieren. Als das nichts half, weil sie ihm einfach nicht gehorchten, wandte er sich erneut dem Privatdetektiv zu. Aber Spencer hatte den Konzertflügel erreicht. Er versenkte die 122 �
Pechfackel in dem Klangkörper, beobachtete, wie das Holz Feuer fing. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, um Maguires nächsten Angriff abzuwehren. Das verzerrte Gesicht tauchte vor ihm auf. Nein, Maguire zeigte nur noch eine Fratze. Sein Oberkörper pendelte hin und her, die Augen, in deren Pupillenschächten Funken glommen, traten unnatürlich weit aus den Höhlen hervor. Speichel lief über seine Lippen, bildete Blasen, die zerplatzten. »Schluß, Maguire«, rief Spencer, »das Spiel ist aus. Die Sinfonie des Teufelsgeigers findet nicht statt!« »Verrecke«, keifte er. Dann schlug er zu. Der blonde Mann wich geschickt aus. Die Lederstreifen der Peitsche wickelten sich wie Würmer um den Haltestreben für den Deckel des Flügels wild, wie Henry Maguire daran riß, konnte der Streben nur brechen und den bereits brennenden Deckel herunterkrachen lassen. Spencer ließ sich fallen. Der fallende Deckel erzeugte eine flammengeschwängerte Druckwelle. Sie lief genau auf den Pergamenthäutigen zu. Maguire spürte Feuerzungen über sein Gesicht lecken, bevor er sich in Sicherheit bringen konnte. Er heulte vor Wut und Schmerz. Er ging in die Knie und schlug sich die Hand vor die Augen. Laine hatte Gelegenheit, die Gitarre und die zweite Geige in Brand zu setzen. Auch die Stühle verschonte er nicht. Und immer setzte er die Melodie auf der Flöte fort, seine einzige Waffe gegen wabernde Mücken und brüllende Geister. Maguire sah, was geschah. Er lief los. Er schaffte es, seinen Stuhl zu erreichen, die Violine hochzureißen. Auch den Bogen bekam er mit, bevor Spencer bei ihm war und die Fackel herabsausen ließ. Der Teufelsgeiger entkam. Er hatte zwar eine Brandwunde im Gesicht, aber die machte ihm offenbar nicht mehr sehr 123 �
zu schaffen. Spencer warf die Bachtrompete zu Boden. Maguire rannte hinter seinen Schauergestalten her. Er schlug mit der Peitsche nach ihnen. Doch sie wichen ihm immer wieder aus. Er konnte fluchen, so viel er wollte, die Macht der Flöte war größer als sein Einfluß auf die Scheusale, die er gerufen hatte. Spencer sprintete hinter ihm her. Er war schneller, und das trotz Fackel und Flöte. Raffiniert schnitt er dem Teufelsgeiger den Weg ab. Maguire schlug einen Haken, versuchte, sich in eine andere Richtung zu retten. Aber wieder war der blonde Mann vor ihm, ehe er über die Mauerruine setzen konnte. Die Geister, verwirrt und eingeschüchtert, huschten winselnd auf den Turm zu. Maguire hetzte ihnen nach, als er keinen Ausweg mehr wußte. Seine Gestalt, dieser hagere Leib mit dem grotesk wirkenden dunklen Smoking, entzog sich Spencers Blick. »Maguire«, brüllte er, »komm zurück. Der Turm könnte einstürzen!« Die Antwort war das höhnische Gelächter des Pergamenthäutigen. * Spencer Laine dachte nicht daran, ebenfalls in den Turm mit der quadratischen Grundfläche zu rennen. Der Fluchtweg des Teufelsgeigers war begrenzt. Hier gab es keine unterirdischen Gänge, das wußte der Privatdetektiv genau, weil er mehr als eine Führung über den Festplatz mitgemacht hatte. Wohin also wollte sich Maguire wenden? Er konnte nur die Treppe hinauflaufen. Und dann? Laine kam nicht dazu, den Faden weiterzuspinnen, eine logische Schlussfolgerung zu ziehen. Der Schattenriss des Mannes 124 �
erschien über der Brüstung des Turmes dort oben gab es eine Plattform. Das Betreten war streng verboten. Unter dem Zucken der Blitze machte Spencer auch die fünf Geister aus, die sich um ihren Meister gruppiert hatten. Maguire prügelte mit der Peitsche auf sie ein, seine Flüche waren zu hören: »Dreckskerle! Fahrt zur Hölle! Ich will euch nicht mehr sehen, ihr Missgeburten!« Fast konnten sie dem blonden Mann leid tun. Er überlegte, wie er Maguire Einhalt gebieten konnte. Es war ein Wunder, daß er es überhaupt bis auf die Plattform geschafft hatte. Auf keinen Fall wollte er hinterher, denn die Einsturzgefahr war zu groß. Blieb nur, den Hubschrauber zu holen. Und wenn der Kerl in der Zwischenzeit unbeschadet wieder nach außen gelangte und das Weite suchte? Spencer preßte die Zähne aufeinander. Plötzlich hallten die Klänge der Teufelsgeige zu ihm herunter. Und schon gerieten die Mücken in Wallung. Ein Teil des Schwarms war unter den Tönen der Hirtenflöte gefallen oder ausgewichen. Aber die Hauptmenge war noch da und schwang auf den Blonden zu, um ihn zu vernichten. Schnell klemmte sich Spencer wieder das Mundstück seines Instrumentes zwischen die Lippen. Er spielte schneller und lauter als vorher. Er bot Maguire einsame Konkurrenz. Es war ein Kesseltreiben auf Leben und Tod: Wenn der Meister, gestärkt durch die Tatsache, daß er nun über seinen »Lieblingen« stand und praktisch auf sie herabmusizierte, die Oberhand gewann, war es mit Laine aus. Endgültig. Er sah sie vor sich hin- und herflirren, die tückischen Biester. Zum Glück hatte er eine gute Kontrolle über sie, da sie ja leuchteten. In einem blitzschnell gefassten Entschluß sprang er mitten unter die Mutigen, die sich bis zu ihm vorgewagt hatten. Sie fielen ab, sanken auf den Boden. 125 �
Die, die nachstoßen wollten, kehrten ab, sirrten nach allen Seiten vor dem gräulich quäkenden Instrument davon. Spencer hatte noch Angstschweiß auf der Stirn, aber innerlich frohlockte er bereits wieder. Er hatte eine neue Feuerprobe bestanden. Dann schlugen die Dinge ins Gegenteil um. Laine konnte dafür keine Erklärung finden. Die Flöte hatte die Strahlenwirkung der Geige nicht nur zerbröckeln lassen sie hatten eine Konversion erzeugt. Urplötzlich strömte die Masse von Insekten nach oben fort, ballte sich und schoß in dichter Formation auf die Plattform des Turmes zu. Spencer sprang vor, um sehen zu können, was sich ereignete. Henry Maguire stieß einen entsetzlichen Schrei aus. Die Mücken hatten sich auf ihm festgesetzt und nahm nun an ihm vor, was er mit Misperton, der Adamton, Burns und den Leichen von Illingworth und Cowan hatte machen lassen. Sie saugten ihm das Blut aus den Adern. Sie zerfleischten ihn. Die Geige segelte zu Laine herunter. Dicht vor ihm zerschlug sie. Wohin der Bogen gefallen war, hatte er nicht verfolgen können. Spencer setzte die Flöte ab. Er wollte Maguire lebend! Aber die Insekten ließen nicht mehr von ihrer Beute ab. Kein einziger glitzernder Punkt befand sich mehr am Nachthimmel alle hafteten an dem Teufelsgeiger. Laine war erschüttert. Eine solche Wende hatte er nicht vorausgesehen, nie ausgemalt. Er mußte dastehen und zusehen, wie Maguire einen fürchterlichen Tod starb. Der Turm bebte. Spencer begann zu laufen. Er ahnte, daß der Moment gekommen war, in dem das Gemäuer nicht mehr standhielt. Und richtig, mit unterschwelligem Rumpeln barst der Turm zunächst in der Mitte. Gleich darauf rutschte der obere Teil nach unten, um 126 �
die Plattform, Henry Maguire und die Mücken mitzunehmen auch die Geister. Donnernd schlugen die Steine auf die Fundamente nieder. Der Detektiv mußte sich flach hinwerfen, um nicht von einem der umherfliegenden Brocken getroffen zu werden. Er hatte Glück. Der Lärm ließ nach. Spencer kehrte zu den Trümmern des Turmes zurück. Er war erschüttert. Nicht, weil es Maguire schlecht ergangen war. Das, was er verfolgt hatte, war vielmehr so unfassbar, daß er eine Weile brauchte, um es zu verarbeiten. Er leuchtete mit der Fackel den Staub und die Steinhaufen an, aus denen er hervorstieg. Unvermittelt gab es wieder eine Bewegung. Die fünf Gespenster! Sie wehten förmlich aus der Ruine hervor. Aber statt zu schreien, zu laufen oder den Blonden anzugreifen, huschten sie wie katapultierte Nebel nach oben fort in die tintenschwarze Finsternis hinein. Lautlos. Die Seelen der Unglücklichen hatten wieder ihre Ruhe. Donner grollte. Dann setzte prasselnder Regen ein. Die dicken Tropfen löschten schnell die Flammen, die noch aus dem Konzertflügel hochloderten. Spencer Laine schritt an dem verkohlten Instrument vorüber. Er ging langsam. Als er wieder bei dem Hubschrauber war, hatte der Gewitterguss ihn völlig durchweicht. Es störte ihn nicht. Er genoß es, Pearl in die Arme zu nehmen und innig zu küssen »Verzeihung«, räusperte sich Dr. Woodrow Kyle, »könnte man erfahren, welchen Verlauf die Angelegenheit genommen hat?« Endlich konnte Spencer wieder lachen. »Dr. Kyle, ich danke Ihnen. Ich werde Ihnen jetzt in allen Einzelheiten berichten. Nur um eines bitte ich Sie: Geben Sie es nicht gleich heute morgen an einen gewissen Inspektor George Tate weiter, der am Loch Lomond mit einer Ausrottungs-Kommission für Stechmücken 127 �
eintrifft.« »Verstehe. Spannen wir ihn ruhig ein wenig auf die Folter.« »Habt doch Erbarmen«, wandte die hübsche Brünette ein. Der Blonde schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Darling. Tate muß einen Denkzettel haben. Vielleicht behandelt er dann in Zukunft Fälle wie diesen mit mehr Sorgfalt. Je mehr Menschen gegen die unheilvollen Auswirkungen von Okkultismus, Magie und Strahlensendung kämpfen, desto weniger arme Teufel wie Misperton und dessen Musikerkollegen müssen in den kommenden Zeiten ihr Leben lassen. Verbrechen wie die Tat des Teufelsgeigers Maguire mehren sich. Diese Entwicklung müssen wir aufhalten. Meinst du nicht auch?« »Ja«, erwiderte sie ernst, »jetzt meine ich es auch.« ENDE
128 �