Chad Taylor
Shirker
Roman
»Ich habe seine Leiche gesehen. Ich weiß, daß er in den Durchgang geschleppt, ausgezogen un...
85 downloads
436 Views
733KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Chad Taylor
Shirker
Roman
»Ich habe seine Leiche gesehen. Ich weiß, daß er in den Durchgang geschleppt, ausgezogen und in den Container gesteckt wurde. Von einem, der ihn aufschlitzen und für immer zum Schweigen bringen wollte.« Wer ist das Opfer? Wie kam es zu diesem Mord? Ellerslie Penrose ist von der Vorstellung besessen, mehr über den Toten zu erfahren. Bei seiner Suche findet er ein Tagebuch, in dem von Ungeheuerlichem die Rede ist. Die ersten Eintragungen liegen weit über 100 Jahre zurück. Allmählich beginnt er das Ausmaß des Bösen zu erahnen, mit dem er es hier zu tun hat ...
Chad Taylor
Shirker Roman Deutsch von Chris Hirte
Deutscher Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Januar 2002
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 2000 Chad Taylor Titel der englischen Originalausgabe: >Shirker< (Canongate Books Ltd., Edinburgh) © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagfoto: © Katja Nitsche Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Gesetzt aus der Caslon Adobe 10,5/13,25' (QuarkXPress) Druck und Bindung: Kösel, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany • ISBN 3-423-24289-2
Für Debra
To shirk (engl.) : sich entziehen; ausweichen: sich vor etwas drücken
Als ich zur Welt kam, war der Himmel noch groß — im Jahr des Herrn 1865. Damals gehörten die Jahre dem Herrn, und Er gehörte uns. Noch waren nicht alle Planeten entdeckt. Der Neptun war achtundzwanzig Jahre alt, der Mars war neuerdings von Kanälen durchzogen. Die funkelnde Schwärze zwischen den Gaslaternen: euer Himmel ist klein geworden, seiner Weite und seines Geheimnisses beraubt. Blickt ihr zu ihm auf, seht ihr weniger Rätsel. Ich gebe zu, auch ich habe mich verändert. Auch ich bin geschrumpft — vom Helden zur Witzfigur. Für euch bin ich tollkühn und lächerlich; meine Geschichte wird, wenn sie sich vollendet, Kindern und Narren zur Belustigung dienen. Das ficht mich nicht an. Wo die Kinder und die Narren in der neuen Ordnung stehen, ist kaum auszumachen. Mich dünkt, sie säßen euch alle im Nacken. Ihre Wünsche sind ohne Maß. Sie tyrannisieren euch, überschwemmen alles mit ihrem glitzerbunten Spielkram, ihre Musik hämmert in den Wänden. Ich habe eure Gier nach Farben satt: Haut, Haar, Kleider, Häuser, Tapeten, Hüllen — alles ist neuerdings zinnoberrot und von hysterischer Vielfalt. Der ans Bett gefesselte Matisse benutzte ein Zeichenpapier, das so leuchtete, daß die Ärzte um sein Augenlicht fürchteten. Er starb, bevor er erblinden konnte. — Ihr seid es, die eure Sehkraft verloren habt. Ihr seid geblendet von eurer Gier nach glitzernden Dingen. Verzeiht, meine Gedanken schweifen ab. Die Luft der Großstadt hat meinen Geruchssinn zerstört, doch ich rieche noch den Lack und die Möbelpolitur. Meine trüben Augen unterscheiden die feinsten Einzelheiten. Ich habe viel Zeit damit verbracht, alt zu werden, und auf all das verzichtet, was der Jugend unentbehrlich scheint. Daher sind meine Erinnerungen lebendig und klar, wenn sie mich heimsuchen. Ein Nachklang, der wie ein da capo scheint. Ich kam mit einem Pappkoffer und einem Sack voll Banknoten, Münzen, Schmuck an. Alltagsdinge haben sich angesammelt zu einem Besitz, der weit wertvoller ist, als sie einst vermuten ließen. Ich kann kein System darin entdecken. Das eine Jahrzehnt sammelt Porzellan, das andere technische Geräte, dann wieder sind es Plaketten. Wie auch immer: Die Umstände zwingen mich, diese Sammlung fortzusetzen. Ein einsamer Mann umgibt sich mit vielen Dingen, um nicht zu frieren.
Ich glaube, ich habe Hunger. Das Essen ist überfeinert und prätentiös. Niemand kommt. Ich spreche in einen Kasten. In den Wochen, seit ich hier liege, habe ich mich mit dem Ding befreundet. Es bleibt geduldig bei mir am Bett, es ist eine eurer besseren Erfindungen. Wenn er zuhört — und das tut er, sobald ich den Mund aufmache —, schnurrt er leise und läßt ein rotes Lämpchen leuchten. Ich wache im Dunklen auf und stelle ihn auf die Probe: Ich huste oder räuspere mich. Und schon glimmt das Lämpchen. Er ist immer dienstbereit. Die Tage sind sich alle gleich. Eine endlose Wiederkehr von Kissen, Plastikbechern, steifen Bewegungen, Schmerzen. Einer wie der andere.
1
Der jüngere der zwei Polizisten bückte sich und zog mir die Uhr vom leblosen Handgelenk. Er hielt sie in die Höhe und las ab, wann sie stehengeblieben war. »Fünf Uhr fünfzehn«, sagte er. »Schätze, da hat es ihn erwischt.« Die weit verstreuten Glassplitter zeugten davon, mit welcher Wucht meine achtzig Kilo durchs oberste Fenster gekracht und auf der Straße aufgeschlagen waren. »Wie soll man das nennen?« fragte er seinen Kollegen, steckte meine Uhr in einen Plastikbeutel und versenkte ihn in seiner Tasche. »Zeit des Aufpralls oder so ähnlich?« Er blickte auf meine Füße. »Schöne Schuhe«, sagte er. Darauf reduziert sich nun ein Leben, nach etwas über dreißig Jahren. Mit schönen Schuhen fängt es an, mit schönen Schuhen hört es auf. Die Schritte, die ich in ihnen gemacht habe, die Orte, die ich mit ihnen betreten habe. Ich könnte alles auf ein Paar brauner Halbschuhe mit Lochmuster schieben, ziemlich schlicht und dank dem Hotel mit neuen Schnürsenkeln versehen. Zweimal neu besohlt, die Spitzen mit Halbmonden aus Stahl versehen. Ein Mann namens Bob Cleft hat sie für mich gemacht. Ich hatte mir immer geschworen, irgendwann nur noch handgemachte Schuhe zu kaufen — nach den gräßlichen Dingern, die ich als Kind tragen mußte. Die Abgelatschten von den großen Brüdern. Sie passen nie. Sie verderben dir den Gang. Bobs Werkstatt habe ich in einer der Nebengassen gefunden, die sich durch die Altstadt zogen. Aber das ist lange her, lange bevor sie anfingen, das ganze Zentrum von Auckland abzureißen und leere Glastürme hinzupflanzen. Die feuchte Straße mit den bemoosten Steinmauern erinnerte an das Gefängnis und die Richtstätte, die sich dort lange vor meiner Zeit befunden hatten. Bobs Ladentür war massiv und mit Blech beschlagen, drinnen roch es nach Sägemehl und Maschinenöl. Auf der Werkbank aus schmutzigweißem Kiefernholz stapelten sich Lederflicken und Schnittformen aus Pappe. In der hinteren Werkstatt stand eine schwarze Nähmaschine, die Trennwand aus nikotingefärbten Regalen steckte voller Holzfüße, der
Hinterlassenschaft der Kunden aus vielen Jahren. Manche Paare waren in alte Lappen gewickelt, andere mit morschem Isolierband zusammengeklebt, Kinderfüße steckten in vergilbtem Zeitungspapier. Andere lagen lose da, bedeckt von Sägemehl und Lederresten. Bob trug eine Halbrahmenbrille mit dicken Bifokalgläsern. Wenn er sich konzentrierte, spitzte er den Mund mit der feuchten Selbstgedrehten darin. Ich solle die Socken anbehalten und mich auf den Hocker setzen, sagte er. Dann kniete er sich hin, stellte meinen Fuß auf seine Lederschürze und nahm mit dem Maßband fünf oder sechs verschiedene Maße ab. Er schrieb die Zahlen mit einem Zimmermannsstift auf eine blau linierte Karteikarte. Nach einer Woche sollte ich wiederkommen. Bis dahin hatte er meine Füße aus Holz gemacht. Sie standen auf der Werkbank. Mein Name war mit Wachsstift auf das frische Holz geschrieben. Als die Schuhe fertig waren, landeten die Füße im Regal und streckten die Sohlen dem trüben Lampenlicht entgegen. Bei der ersten Anprobe goß er sich und mir Tee aus einer geblümten Aluminiumkanne ein, während ich die halbfertigen Schuhe anzog. Ich nahm Aufstellung, er setzte die Tasse auf dem Fenstersims ab, bückte sich und malte Kreidemarkierungen aufs Leder. Dann mußte ich sie wieder ausziehen, damit er die Maße überprüfen konnte, wozu er jeden Schuh mit spitzen Fingern in die Höhe hielt. Schließlich sagte er abrupt: »Ich rufe an, wenn sie fertig sind.« Ich mußte ein weiteres Mal kommen, zu einer weiteren Tasse Tee. Jedes Paar Schuhe brachte zwei Anproben mit sich, zwei Tassen Tee, zwei Makronen vom dargebotenen Teller. Seine Stimme habe ich noch im Ohr – im Hintergrund der vom Nieselregen gedämpfte Verkehrslärm; der untere Teil der Scheibe war vom Dampf der Teetasse beschlagen. Heutzutage kümmern sich die Leute nicht mehr um ihre Schuhe, sagte er gern. Oder: Früher haben wir von den Fußballschuhen die Stollen abgeschraubt und sind mit den Schuhen zur Arbeit gegangen; ich hatte mal eine Box mit einem perfekten Objektiv; Autofahren habe ich mit vierzehn gelernt. Das erste Paar, das ich bei ihm machen ließ, waren schwarze Schuhe mit Schnallen. Er hatte sie mit einer speziellen Zwischensohle verstärkt und mit feinem Leder gefüttert. Die Schuhe, die ich im Moment trage, sind aus braunem Boxkalf mit verstärkten Ösen. Für ein zweites Paar hat er grünes Wildleder genommen, und in beide Paare sowie in die schwarzen
Boxkalf-Halbstiefel hat er Stahlkappen eingesetzt, aber nicht aus militanten Gründen. Die Kappen dienen dazu, daß die Spitzen ihre Form bewahren. Bei der letzten Anprobe schnürte ich dann die Schuhe richtig zu und drehte den Fuß bewundernd hin und her, während Bob daneben stand. Ich erhob mich und spürte, wie sich die Sohle gegen mein Fußgewölbe preßte, wie sich meine Ferse ins Lederfutter schmiegte. Meine korrigierte Haltung brachte alte Schäden an den Tag, ich konnte einen leichten Schmerz in den Schultern lokalisieren, ein Knirschen im Kreuz. Ich ging auf und ab und genoß die Festigkeit meiner Schritte. Ich fühlte mich wieder sicher. Bob trank seinen Tee aus und schüttelte die Teeblätter, die im Tassengrund zurückgeblieben waren. »Ich will Sie nicht aufhalten«, sagte er. Das war das Signal, daß ich bezahlen und verschwinden sollte. Ich zahlte bar, fünfhundert Dollar pro Paar. Er verdiente nicht schlecht. Einmal fragte ich ihn nach der Miete. Bob hatte drei Täcks zwischen den Lippen und zuckte nur die Schultern. Mit kreisender Bewegung hämmerte er auf die Sohle ein. Er wußte, daß die Werkstatt wie vieles in der Gegend zum Abriß oder zumindest für eine grundlegende Sanierung vorgesehen war. Vielleicht hatte ich, wenn ich ihm das Bündel Scheine reichte, jeden Auftrag unbewußt als den letzten betrachtet. Jedenfalls hätte ich nicht so überrascht sein dürfen, als ich eines Tages zur Werkstatt kam und das Schild GESCHLOSSEN vorfand. Ich drückte das Gesicht an die Scheibe. Die Räume waren leer. Die Werkbank lag auf dem Rücken und streckte die Beine in die Luft, die abgeräumten Fußformen hatten Lücken im Staub der leeren Regale hinterlassen. Ich stand auf der Eingangsstufe und tat überrumpelt, aber natürlich hatte ich es kommen sehen. Bei jedem Besuch waren die Straßen verstopfter gewesen, die Läden der Umgebung verschwanden allmählich, hier ein schlechtgehendes Restaurant, dort ein ungenutzter Parkplatz. Ich wußte, daß irgendwann auch ihn der Strudel erfassen würde. Seitdem habe ich mir Hunderte von Straßen in seinen Schuhen erwandert. Ich bin Yards und Meter, Meilen und Kilometer gelaufen, habe damit im Regen gestanden, das Gaspedal heruntergedrückt und trotz bester Vorsätze gegen Rippen und Schienbeine getreten. Die Schuhe haben ihre Form behalten. Ich habe keine Plattfüße bekommen, mein Rücken tut nicht weh. Ich habe schlechte Zeiten durchgestanden. Und in den
guten Zeiten habe ich sie angezogen und bin mit ihnen losmarschiert. Gute Schuhe machen jeden Schritt zu einem sicheren Schritt. Kinder fallen oft hin, doch der Boden wird immer härter, je älter man wird. Man kommt nicht mehr so leicht auf die Füße. Wie oft ich das erfahren mußte, kann ich nicht zählen. Aber die anderen Dinge behalte ich im Auge. Bob Cleft zum Beispiel. An den denke ich ständig. Ich dachte an ihn, als meine Füße in der Luft strampelten und durch die Turbulenzen meines Sturzes nach oben gerieten. Ich starrte auf meine Schuhe über mir, während ich kopfunter in den Abgrund sauste, mit den Armen ruderte und überlegte, welche Art zu fallen die besten Überlebenschancen bot. Während ich fiel, streckte sich die Stadt nach mir aus, um mich aufzufangen, um mich als ihr Eigentum zu reklamieren. Die Tatsachen meines Lebens zogen an mir vorbei — mit der Gewißheit und Härte des bevorstehenden Aufpralls. Im Fallen sah ich es mit nüchternem Blick. Statt dranzubleiben am Wesentlichen und mich als vielbeschäftigter Mann auf die wirklich wichtigen Aufgaben zu konzentrieren, hatte ich alles schleifen lassen, bis es zu spät war. Erst in meinem letzten Augenblick wurde mir diese Erkenntnis zuteil. Der Fenstersturz dauerte nur Sekunden. Die Kette meiner Fehlentscheidungen — mein eigentlicher Absturz — begann viel früher. An jenem Morgen erwachte ich in dem dunklen Loch neben meinem Büro, das ich als Schlafzimmer bezeichnen möchte. Ich hustete und tastete nach der Uhr. Drei Uhr: Es wurde immer schlimmer. Ich lag noch eine Weile wach, dann stand ich auf und machte mir Tee. Die Tasse in der Hand, schaute ich hinaus in die Nacht. Ich zählte die Autos, die vorbeikamen, die Leute, die am Imbiß stehenblieben. Ich beobachtete die Putzleute im Büroblock gegenüber. Sie fingen im Obergeschoß an und arbeiteten sich allmählich tiefer. Es waren drei: Einer hatte den Wagen mit Besen und Wischmops, zwei gingen mit Säcken voraus. Sie leerten die Papierkörbe und machten das nächste Büro zum Wischen bereit. Der Wischmann war langsamer. Sie trafen sich in einem unteren Stockwerk und aßen ihre Brote an einem Konferenztisch. Sie schwatzten, erzählten sich Witze, tauschten Zeitungsseiten. Jede Nacht zwanzig Stockwerke, mit Schrubbern, Eimern und Stullenpaketen. Die Reinigung schien der eigentliche Arbeitsvorgang zu sein, der sich dort drüben
abspielte. Tagsüber kamen dann die Leute, die alles eindreckten. Normalerweise ist diese Nachtzeit zum Nachdenken ideal. Die Stille fördert den Gedankenfluß, das Telefon schweigt, man kann alles in Ruhe sortieren. Man kann einen ganzen Katalog von Menschen durchblättern, die man nie wiedersehen wird, von Orten, die man nie besuchen wird, man kann von einem Beifall träumen, den man nie erhalten wird. Das zweite Viertel des Zifferblatts kann sehr aufbauend sein. Ich machte noch eine Kanne Tee und schnitt mir ein wenig Blaukäse ab, der krümelnd am Messer klebenblieb. Der Morgen war so still, daß ich ihn nicht kommen hörte. Ich wischte mir gerade die Hände ab, als ich merkte, daß die Dämmerung mich eingeholt hatte. Das Zimmer war in Sepiatöne getaucht. Die Schatten waren lang und dunkel und ohne Kontur, die hellen Kanten wie bronziert. Die Einrichtung hätte von einem anderen stammen können. Die Papiere, die abgeschabten Büromöbel, alles war anders geworden, seit ich das Büro das letzte Mal in Augenschein genommen hatte. Plötzlich erinnerte es an ein Bühnenbild. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, im Kino aufzuwachen, mitten im Film. So habe ich es empfunden. Begünstigt und zugleich behindert durch die Rückschau eines Toten glaube ich auch, daß es wirklich so war. Mit diesem Sonnenaufgang war die Welt eine andere geworden. Ich duschte und zog meinen guten Anzug an. Ich hatte einen frühen Termin bei einem Nadelstreifentyp der Firma Brands. Sie residierte in einem lavendelgetönten Glasturm, und der Nadelstreifentyp wollte von mir wissen, was sie mit ihrem vielen Geld anstellen sollten. Ich handle mit Futures – ein Witz, wenn man es bedenkt. Ich entwerfe Investmentpläne und Ertragskalkulationen, ich bin Anlageberater für die experimentelle Achterbahn des Freihandels, zu der Neuseeland geworden ist. Mit anderen Worten, ich verkaufe Tips und hoffe, daß es die richtigen sind. Intuition ist meine Spezialität, womit sich auch erklärt, warum ich Gespenster in den Ecken lauern sehe, wenn ich diese vergangenen Szenen betrachte. Alles in allem ein öder Job, der mich nicht wirklich beschäftigt, aber meine Zeit in Anspruch nimmt — und das Vertrauen anderer Leute. Kurz vor acht ging ich los. Die City bereitete sich auf die Arbeitswoche vor, tauschte Wochenendgeschichten aus und faßte wieder Tritt. In den Bürofenstern blitzten weiße Hemden zwischen Raumteilern, Gummibäumen und überfüllten Schreibtischen auf. Jede Straßenecke, jede freie Fläche war mit
Werbung für den Mardi Gras zugepflastert. Die große Parade, die in ein paar Tagen stattfinden sollte. Mardi Gras, es lebe der Frühling. Sponsorenfinanzierte TV-Spots baten um Verständnis für Verkehrsstörungen. Blaßblaue Transparente hingen an den Straßenlampen und leuchteten in der Morgensonne. Mardi Gras, Mardi Gras, die große Parade. Alle wollten zur großen Parade. Die Parkplätze waren schon voll, die Fahrer, die vor den Einfahrten auf einen freiwerdenden Platz warteten, hatten die Motoren abgestellt, sich in ihre Zeitungen vergraben, die Fenster geöffnet, den Sitz zurückgeklappt. Sie hörten Radio, starrten in den Plastikhimmel oder glotzten mir nach und fragten sich, ob ich was mit den Polizeiautos von vorhin zu tun hatte. Hatte ich aber nicht. Mir blieb eine Stunde Zeit zum Frühstücken, die wollte ich im Apollo vertrödeln. Das Apollo ist ein winziges Café in Chrom und Edelfurnier, zwei Straßen von Brands entfernt in der Vulcan Lane. Im Sommer stülpte es sein Inneres nach außen, blockierte den Fußgängerverkehr mit Tischen und Stühlen, die Tür wurde von einer Tafel mit der Aufschrift FRÜHSTÜCK — LUNCH — SÄFTE offengehalten. In der Ecke stand ein Spielautomat. Einmal habe ich ihn ausprobiert, zwanzig Cent eingeworfen und mit der kleinen Kanone am unteren Bildrand auf Pucks, Zahlen und Serviettenringe geschossen, die in immer neuen Rudeln auf mich zuflogen — traurig und albern. Vier Leben hatte ich. Keine Minute, und sie waren vorbei. Heute morgen bin ich vielleicht besser, dachte ich. Der Chef des Apollo hieß Lee, er trug eine Hornbrille und ein Tattoo auf der Schulter. Lee war Surfer, und ich fragte mich, was im Sommer aus dem Frühstücksmenü werden sollte. Ich dachte auch an meine Hose und ihren leichten Faltenwurf bei jedem Schritt, ich dachte an den schlechten Geschmack in meinem Mund. Irgend etwas staute sich in mir. Ich hätte es auf den Wechsel der Jahreszeit geschoben, aber die Jahreszeiten wechselten ständig. Man könnte überlegen, ob mich mitten in der Nacht vielleicht eine telepathische Botschaft des Mannes geweckt hatte, auf dessen Leiche ich bald stoßen würde, aber wahrscheinlich handelte es sich wie mit dem Frühling nur um ein zufälliges Zusammentreffen. Dort auf der Straße wußte ich nicht, daß der Mann schon fünf Stunden tot war, ich kannte nicht seinen Namen. Ich wußte nicht einmal, daß es ihn gab, bis ich um die Ecke bog und die Menschenmenge sah.
Das einzige Geräusch waren Schritte, das Jaulen eines vorbeifahrenden Busses und meine wirren Gedanken, die völlig irrelevant waren, wie sich bald herausstellte. Es gab kein Fenster hoch oben, keine vergiftete Schirmspitze oder einen Schuß von irgendwoher. Alles, was ich sah, war die Straße und ein Menschenauflauf. Und das war mein Fehler. Dort, im Angesicht der fremden Leute, die, wie ich erst jetzt begreife, Bescheid wußten, begann mein Sturz.
2 Sie drängten sich am Zugang zur Insurance Alley, einem zwei Meter breiten Durchgang zwischen zwei Bürokomplexen der Shortland Street. Die Mauern zu beiden Seiten waren fensterlos und fünf Stockwerke hoch, Feuerleitern senkten sich im Zickzack bis auf den mit Gerümpel verstellten Asphalt hinab. Nachts war die Einmündung durch die Neonreklame einer Versicherung beleuchtet. Das andere Ende führte auf die Shortland Street, war aber blockiert durch einen großen Bruchglascontainer. Wer den Durchgang nach Dunkelwerden betrat, wurde unsichtbar – ideal für einen Joint vor der Kneipentour oder einen Fünfundzwanzig-Dollar-Quickie. Die Leute, die da jetzt standen, wären weder für das eine noch für das andere zu haben gewesen. Die meisten waren Pendler, sie drängten sich um einen Polizisten, der ihnen mit ausgestreckter Hand etwas erklärte. Der Durchgang selbst war mit einem Plastikband abgesperrt, auf dem in geschwätziger Wiederholung POLIZEISPERRE BETRETEN VERBOTEN stand. Ich blieb stehen und hörte dem Polizisten zu, der monoton wiederholte, daß die Leute an ihre Arbeit gehen sollten oder sonstwohin, wenn sie keine hätten, weil es nichts zu sehen gäbe oder ganz bestimmt nichts, was man gerne sähe. Er hatte denselben starren Ausdruck wie die Autofahrer, die auf einen Parkplatz warteten. Um einen Blick zu erhaschen, schob ich mich zwischen die Leute. Als ich nach unten schaute, sah ich etwas zwischen ihren Füßen: ein schwarzes Viereck. Eine Brieftasche. Ich hob sie auf und schüttelte sie. Sie war feucht. Ich hielt sie in die Höhe und machte mich bemerkbar. »Entschuldigung«, sagte ich, drängte mich zu dem Polizisten durch und streckte ihm die Brieftasche entgegen. »Morgen.« Er lächelte verkniffen und hob das Absperrband mit dem Daumen hoch. Seine Geste kam so automatisch, daß ich schon durch die Sperre war, bevor ich seinen Irrtum bemerkte. »Danke«, sagte ich, und stand in der Insurance Alley. Drüben auf der Shortland Street blinkten die Blaulichter mehrerer Polizeiautos. Sie mußten schon eine Weile dort stehen. Auf dem
Weg durch die Stadt hatte ich sie nicht gehört. Der Polizist zurrte das Absperrband fest und wandte sich wieder der Menge zu. Wenn ich den Irrtum aufklären wollte, mußte ich ihm auf die Schulter tippen und mich vor allen Leuten lächerlich machen. Ich suchte noch nach Worten, da fing er an zu reden. »Spricht sich langsam rum«, sagte er, als wäre es jeden Tag das gleiche. »Wird Zeit, daß ihr ihn wegschafft.« »Wie lange liegt er schon da?« Jetzt blickte er sich um, die Sonne beleuchtete sein Profil. »Seit drei Uhr früh«, sagte er, als würde ihn meine Vergeßlichkeit wundern. »War ein schöner Morgen um drei Uhr früh.« »Da war ich noch nicht auf«, erwiderte er, ohne sich seine Zweifel anmerken zu lassen. »Sie sind doch von der Zentrale, oder?« Jetzt war es am einfachsten, weiterzugehen und vielleicht noch einmal die Brieftasche zu schwenken. Außerdem konnte ich dann sehen, was sich dort tat. Das interessierte mich. »Stimmt«, sagte ich, steckte die Brieftasche ein und ging los. »Danke für die Unterstützung.« Im Durchgang war es kühl, es roch nach Urin und Moder. Der Kontrast zu dem hellen Streifen Morgenhimmel über mir war so stark, daß ich die Hände über die Augen legen mußte, um überhaupt etwas zu sehen, und ich zog automatisch die Ellbogen ein, um die Gestalten nicht zu streifen, die ich nun wie Wachposten in der Dunkelheit stehen sah. Es waren sechs oder sieben Polizisten, vier weitere befanden sich draußen bei den Wagen. Niemand sprach, der Polizeifunk krächzte unbeachtet vor sich hin. Vor und hinter dem Stahlcontainer standen sich zwei Polizisten gegenüber. Als ich näher kam, hörte ich sie reden, blieb stehen und musterte die Wand, als gäbe es dort etwas zu sehen. Sie stritten sich, ob sie den Container öffnen sollten oder nicht. Der Mann im Durchgang schwenkte eine schwarze Stablampe und sagte, nein, so geht das nicht, wir müssen erst auf den Fotografen warten, außerdem ist das städtisches Eigentum. Der Mann auf der Seite der Shortland Street hatte die Hände in die Hüften gestemmt und brüllte etwas von Routine und Polizeibefugnissen. Jedesmal, wenn er einen Befehl gab, widersprach ihm sein Gegenüber stur. Der Polizist auf der Straße schien ranghöher zu sein, aber seine Kollegen im Durchgang hatten offenbar, weil sie die »Drecksarbeit« machten, eine besondere Autorität, die er nicht aushebeln konnte. Der Dialog war
feindselig und lustvoll zugleich, die Männer zogen ihr Ritual genüßlich durch. Sie wollten Zeit schinden, und ich verstand nicht warum, bis ich begriff, daß jeder versuchte, dem anderen die Verantwortung zuzuschieben. Ich ging näher heran. Der Mann vor dem Container sagte, nein, kommt nicht in Frage, nicht ohne schriftliche Weisung. Der Mann hinter dem Container hob genervt die Arme und drehte sich hilfesuchend zu seinen Kollegen auf der Straße um. Der Mann vor dem Container schlug die Stablampe gegen seinen Oberschenkel. Der Container brütete schmierig vor sich hin. Ich nahm das rostige und glitschige Ding in Augenschein. An einer Ecke, auf die das Sonnenlicht fiel, zog sich ein feuchter roter Streifen hinab. Mir wurde etwas mulmig. Das Patt wurde durch ein dumpfes Rumpeln beendet, das näher kam und mit hydraulischem Zischen erstarb. Ich blickte auf und sah, ein wenig schwindlig, einen gelben RecyclingTruck, dessen Fahrer irritiert aus der Kabine schaute. »Endlich«, meinte der Polizist, der mit dem Rücken zu mir stand. Er klatschte sich die Stablampe in die offene Hand wie einen Baseballschläger. »Hoffentlich hat er sein Werkzeug dabei.« »Oder den richtigen Schlüssel«, sagte ich, um den schlechten Geschmack im Hals loszuwerden. »Für das gibt es keinen.« Er richtete die Lampe auf den Deckel. Der Deckel war mit einem mehrfach verknoteten Stromkabel verschlossen. Als ich die Hand ausstreckte, hielt er meinen Arm mit der Taschenlampe zurück. »He, Fingerabdrücke.« Der Polizist auf der Straße rief den Fahrer heraus und erklärte ihm etwas. Der hörte zu und ruckte nervös mit dem Kopf. »Mann, wie lange dauert das denn noch?« fragte der Polizist vor mir. Er ließ die beiden Männer nicht aus den Augen, bis der Fahrer in seine Kabine stieg und mit einem großen blauen Bolzenschneider zurückkam. »Na endlich«, sagte der Polizist, seine Erleichterung pflanzte sich nach hinten fort. Dort tat sich etwas, es näherten sich Schritte. Ich gab mich geschäftig und verschanzte mich hinter dem Irrtum, der mich bis hierher gebracht hatte. Der Fahrer hielt den Bolzenschneider über den Kopf; als er sich durch die schmale Lücke zwischen Hauswand und Container zwängte, zog den Bauch ein und reckte sich auf die Zehenspitzen. Der Polizist drehte sich um. »Okay, zurück jetzt, Jungs.« Aber alles kam näher, um etwas zu sehen. Auch auf der anderen Seite tauchten immer mehr Uniformen auf. Der
Fahrer sah sich das Kabel an, sagte »Kein Problem«, spreizte ächzend die Griffe des Bolzenschneiders und setzte den Papageienschnabel an. »Zurück, sagte ich«, rief der Polizist schon wieder, und ich war der einzige, der gehorchte. Ich stieß gegen einen Mann im dunkelgrauen Anzug, der mir die Hand auf die Schulter legte und mich ein wenig nach unten zog. »Tangiers mein Name«, flüsterte er. »Und ich bin von der Zentrale.« Er drehte mich in seine Blickrichtung und fuhr mit der Zunge an den Zähnen entlang. »Der Kollege hinten sagte, Sie wären von der Zentrale.« »Da hat er sich geirrt«, sagte ich gelassen. Der Papageienschnabel schnappte zu, das Kabel löste sich und fiel zu Boden. Tangiers behielt mich im Griff, schaute aber an mir vorbei. Der Polizist vorm Container versuchte immer noch, die anderen Polizisten zu verscheuchen. Ein Mann im Parka drückte sich vorbei, hockte sich vor das heruntergefallene Kabel und zog Gummihandschuhe über. Ein anderer machte Blitzlichtfotos. Von der Straße her hoben mehrere Polizisten den Deckel. Sie stemmten sich dagegen und schoben, bis der Deckel auf- und dann mit einem Knall nach unten schwenkte. Eine Wolke von Staub und Fliegen wirbelte hoch ins Sonnenlicht, ein süßlicher Gestank machte sich breit. Nach kurzem Zögern blitzte der Fotograf weiter, und alles starrte auf die Zeichen, die mit groben roten Strichen auf die Unterseite des Deckels geschmiert waren — Blut. Der Truckfahrer neigte den Kopf, um sie zu entziffern, aber er wurde weggeschickt. Der Polizist vor mir im Durchgang nahm die Mütze ab und beugte sich über den Rand des Containers. Ruckartig preßte er die Hand vor den Mund und blickte himmelwärts. Als er sich wieder zum Hinsehen zwang, drehte er den Kopf mit gerümpfter Nase nach links, dann nach rechts. Er rieb sich die Augen, trat einen Schritt vom Container zurück, krümmte sich zur Seite und erbrach sich, daß es auf den Asphalt klatschte. Plötzlich löste sich die Spannung, als hätte er stellvertretend für alle anderen die Nerven verloren. Gelassen zerstreute sich die Ansammlung von Polizisten. Es gab keinen Grund zur Eile mehr. Um den Container entwickelte sich Geschäftigkeit. Fotos, Vermessungen, Notizen. Alle, die sich da betätigten, sprachen sich mit Tangiers ab, kamen mit ihren Fragen und Formularen zu ihm, blieben neben mir stehen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich wartete; ich wußte, ich konnte ohne seine Erlaubnis nicht weg. Je länger ich wartete, um so mehr würden
sich die Dinge normalisieren, um so weniger würde meine Übertretung ins Gewicht fallen – hoffte ich. Tangiers war entweder sehr vernünftig oder zu beschäftigt. Er hatte meine Schulter losgelassen. Er griff sich beim Zuhören ans Kinn und zielte beim Antworten mit dem Finger wie mit einer Pistole. Ich stand so unauffällig daneben, wie es nur ging. Sir, wir hatten einen anonymen Notruf. Der Mann sagte, wir sollen in den Container schauen. —War das ein Spinner? — Nein, der Mann klang sehr konkret. — Noch was? — Eine Anzeige. Raubüberfall im Park um die Ecke. Täter floh über den angrenzenden Parkplatz. – Wo ist der Polizeibericht? – Wird besorgt, Sir. – Täterbeschreibung? – Nein, Sir. – Verwertbare Hinweise? – Nichts. Wann können wir den rausholen? – Wo steckt der Gerichtsmediziner? – Ist benachrichtigt. Müßte bald hier sein. »Was heißt bald?« Tangiers wurde laut. »Wie lange ist bald?« Keiner antwortete. Ich starrte auf das verschmierte Blut am Containerdeckel. Tangiers folgte meinem Blick. »Wie heißen Sie doch gleich?« fragte er mich. Es war ihm wieder eingefallen. »Ellerslie Penrose«, sagte ich kleinlaut. »Penrose also.« Er zeigte auf den Container. »Haben Sie eine Ahnung, was die Zeichen bedeuten?« Ich zuckte die Schultern. »Nein.« »Kommen mir wie Buchstaben vor. Immer derselbe Buchstabe.« Er zeichnete ihn mit einem schwarzgeränderten Fingernagel in der Luft nach. »Das könnte ein P sein. Was meinen Sie?« Er starrte angestrengt auf die blutigen Lettern. »P wie Penrose.« Dann schob er die Hand in die Hosentasche und musterte mich. »Wäre ein bißchen zu schön, um wahr zu sein, oder?« »Allerdings.« »Also, P — Penrose, wie erklären Sie sich das?« »Vermutlich ...« Ich blickte auf die Blutspur an der Containerkante. »Wenn man's bedenkt, passiert sowieso immer alles mögliche gleichzeitig.« Er wartete. »Das heißt, es ist normal, daß manche Sachen zur gleichen Zeit passieren. Manchmal haben sie miteinander zu tun, manchmal nicht. Da könnte ein Zusammenhang sein, aber nicht unbedingt ein kausaler.« »Sie meinen also, Zufall.«
»Ja.« Ein Polizist mit dicken Gummihandschuhen ließ sein Funkgerät sinken und hob den Daumen. »Wir haben seine Sachen«, sagte er. »Irgendwelche Papiere?« fragte Tangiers. »Die Brieftasche fehlt.« Ich erstarrte. Amtsanmaßung, Unterschlagung von Beweismitteln. Und mein Name fing mit einem verdammten P an. Tangiers' Lippen machten ein schmatzendes Geräusch, als er mich angrinste. »Also«, sagte er. »Wollen wir mal reinschauen?« Ich sagte nichts. »Das gehört zu meinem Job. Wenn Sie mir den abnehmen wollen, müssen Sie ein bißchen besser Bescheid wissen.« »Ich will Ihren Job nicht«, sagte ich und versuchte die Nerven zu behalten. »Geben Sie sich öfter als Polizist aus?« »Ich hab das nicht gesagt. Der Polizist an der Absperrung hat mich aus Versehen durchgelassen. Ich gebe mich nicht als Polizist aus.« Tangiers schob die Unterlippe vor und legte die Stirn in Falten wie ein großer Hund. »Er hat mich durchgelassen, ohne zu fragen, wer ich bin. Ich dachte, der Durchgang ist frei. Ich wollte die Abkürzung nehmen. Eigentlich war ich auf dem Weg zum Frühstück. Ich frühstücke fast jeden Morgen im Apollo. Ich hab keine Ahnung, was hier los ist. Wenn jemand was falsch gemacht hat, dann nicht ich. Einer von Ihren Polizisten war das. Ich kann nichts dafür, wenn er Mist baut.« Wieder das schmatzende Grinsen. »Gucken Sie trotzdem rein.« »Was?« Er wies mit dem Kopf auf den Container. Mit verschlagenem Blick. »Sie müssen ja nicht.« »Ich würde aber gern.« »Und warum?« »Aus Neugier.« Sieh da, sieh da, sagte sein Gesicht. »Sie sind also neugierig.« »Sie wollen mich nur provozieren.« »Wie kommen Sie darauf?« »Das läuft bei mir nicht.« »Verstehe. Sie sind viel schlauer als ich. Und ich glaube ...« Als ich ihn mitten im Satz stehen ließ, wirkte er doch überrascht. Ich ging an den Container, blickte stur geradeaus und
ignorierte den Gestank. Als ich dicht davorstand, wurde es so schlimm, daß mir die Augen tränten. Ich atmete tief durch und inhalierte den Gestank in seiner ganzen Fülle. Scheiße, Pisse, ranziges Öl, faules Fleisch. Schmorgeruch von den Blitzlampen. Schweiß, Nylonjacken, Aftershave. Und dann blickte ich hinein. Es war nicht so schlimm, weil ich nicht auf Anhieb erkannte, was ich da sah. Tausend Einzelheiten ohne eine Ordnung, ein dünner Sonnenstrahl tauchte alles in Licht und Schatten. Aber allmählich, während ich umherblickte — und dabei, wie mir auffiel, die Mimik meines Vorgängers kopierte —, fügten sich die Teile zu einem Ganzen, zu der Botschaft nämlich, daß ich sehen sollte, was da vor mir lag. Wie die Ereignisse des Morgens hatte dieses Etwas nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um für mich erkennbar zu werden. Es war ein nackter Mann, der sich noch immer, obwohl er seit Stunden tot war, Mühe gab, aufrecht zu sitzen. Die Flaschenscherben hatten ihn aufgeschlitzt und ausbluten lassen. Sein Todeskampf hatte die Zahl der Schnittwunden nur vermehrt, bis zum Eintritt des Todes hatte er sich bei lebendigem Leibe gehäutet, Muskeln waren bis auf den blanken Knochen zertrennt, aus seinem rosigen Bauch quollen tiefrote Eingeweide, die Brust-und Schultermuskulatur war übersät mit tiefen, schärfer definierten Einschnitten. Er mußte den Moment erlebt haben, als ihn Erschöpfung und unvorstellbare Schmerzen zum Stillhalten nötigten, aber er hatte um sich geschlagen, bis der Tod eintrat und er in das Bett aus tausend gläsernen Skalpellen sank. Seine Schädeldecke war abgepellt wie eine Orange. Langes graues Haar wucherte aus verbliebenen Hautinseln und gelblichem Fett. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht mit offenem Mund nach oben gerichtet. Die Totenstarre hatte die letzten Zuckungen seiner Muskeln konserviert. Ein Opossum in der Falle beißt sich das gefangene Bein ab. Ein Mensch wird versuchen, aus einem Glascontainer herauszuklettern, selbst wenn er sich dabei immer mehr verletzt. Seine Hände griffen mit nach oben gekehrten Handflächen nach dem Deckel. Um dagegenzudrücken. Um ihn zu beschmieren. Mit dem eigenen Blut. Der Gestank überwältigte mich. Ich taumelte rückwärts wie vorher der Polizist, krümmte mich gegen die Hauswand und sah unter mir sein Erbrochenes. Ich würgte Schleim, spuckte aus und richtete mich wieder auf, entschlossen, die Übelkeit abzuwehren. Mir war schwindlig, ich holte zitternd Luft.
»Mein Gott«, sagte Tangiers, der nun am Container stand. »So ein Schlamassel.« Er bewegte den Kopf hin und her, um den Anblick abzuschütteln. »War es das, was Sie sehen wollten?« Meine Augen tränten. Ich sagte nichts. »Das Schlimmste kommt noch. Der Abtransport. Die Leiche da rausziehen. An Händen und Füßen ...« »Oh, Scheiße!« sagte ich. Alles drehte sich. »Hören Sie auf.« »Ich meine ja nur. So wie Ihnen jetzt geht es mir immer. Jedesmal.« Irgendwer hinter uns überlegte laut, wie man die Leiche am besten bergen konnte. »Aber man muß hinsehen. Jeder muß hinsehen. Es ist immer das gleiche. Keiner will hinsehen, und jeder tut es. Genauso wie Sie. Und wissen Sie, warum? Sie wollen alle Gewißheit. Sie wollen sichergehen, daß der Tote wirklich tot ist und keiner aus Versehen begraben wird. Und sie müssen sichergehen, daß sie es nicht selbst sind.« Ich drehte mich um und atmete wieder durch den Mund. Tangiers wartete geduldig. »Meine Theorie, jedenfalls.« Wieder das Grinsen. »Alles in Ordnung?« »Ja.« »Was wollten Sie hier? Warum sind Sie hierhergekommen?« »Jemand sagte, er ist um drei Uhr gestorben.« »Das ist korrekt. Der Tod ist vermutlich um drei Uhr morgens eingetreten. Aber die Beamten sollen solche Informationen nicht weitergeben.« »Ich bin heute morgen um drei aufgewacht. So als hätte ich irgendwas gehört.« Ich hustete. »Ich war zu weit weg, um was zu hören. Aber Sie wissen, was ich meine.« Er ging nicht darauf ein. »Wohnen Sie hier in der Gegend?« »In der Nähe.« »Sie wohnen also hier irgendwo.« »Im Dilworth Building.« »Das sind ja nur ein paar Minuten.« Ich nickte. »Ecke Fort and Customs Street.« »Und Sie wohnen im Dilworth?« »Dort ist mein Büro. Das Dilworth ist kein Wohnhaus.« »Stimmt. Es ist illegal, in Büros zu wohnen.« Er freute sich. Wieder hatte er mich bei etwas Verbotenem ertappt. Er durchbohrte mich mit seinem Blick. »Wissen Sie irgend etwas über diesen Vorfall?« Ich spürte die Brieftasche. »Nein.« »Irgendwas gesehen? Irgendwas gehört?« Das Leder klopfte an meine Brust. »Nichts.« Er nickte. »Sie sind nur aus Neugier gekommen.«
»Ja. Weil ich um diese Zeit wach wurde.« Ich nickte auch, aber er sah zur Seite und winkte einen Uniformierten heran. »Nehmen Sie die Personalien auf«, befahl er, ohne den Blick von mir abzuwenden. »So ein Zufall, das mit dem Buchstaben«, sagte er tonlos. »Davon weiß ich nichts«, erwiderte ich. Er schien nicht überzeugt, weder so noch so. Er starrte mich an, bis er abgelenkt wurde. Der Polizist hatte alles notiert und wartete auf weitere Anweisungen. Tangiers nahm die Hände aus den Taschen und knöpfte sein Jackett zu. »Bringen Sie Mr. Penrose auf die Straße«, sagte er und wandte sich ab. »Danke«, rief ich über die Schulter, folgte dem Polizisten zur Absperrung und setzte meinen Weg fort. Mein Frühstück wartete ungegessen im Apollo, mein Termin bei Brands rückte näher. Er war Teil eines Beratervertrags – leichtverdientes Geld, das ich dringend brauchte. Aber ich ließ mein Frühstück sausen und auch den Zehnuhrtermin. Ich ging zwar durch die Lavendelglastüren ins Brands-Gebäude hinein, für den Fall, daß man mir folgte, hing aber nur ein paar Minuten in der Lobby herum und ging nach einem prüfenden Blick wieder auf die Straße hinaus. Der kalte Schweiß brach mir aus, als ich in die Sonne trat.
3
Ich machte mich auf den Rückweg zum Büro und konnte es nicht glauben. So ein wichtiges Beweisstück vom Schauplatz eines Mordes zu entfernen war ein übler Fehler. Daß ich die Brieftasche einfach mitgenommen hatte, war schon Vorsatz, und mit jeder Sekunde, die ich sie behielt, wurde meine Lage ernster. Nach zehn Minuten Fußweg konnte ich mich als Schwerverbrecher betrachten. Was hatte mich dazu getrieben? Ständig lauerte ich auf Schritte, auf Tangiers' Brüllen, auf Megaphone, die meine Schuld hinausschrien. Als ich den Polizeihubschrauber hörte, der langsam über den Häusern kreiste, drehte sich mein Magen mit. Ich blieb unter einer Markise stehen und lief erst weiter, als das Geräusch verebbte – so hastig, daß ich beinahe in einen Lastwagen gerannt wäre. Er lieferte Grünzeug an ein China-Restaurant, Kohl- und Salatblätter fielen von der Ladefläche. Im letzten Moment blieb ich stehen, der Fahrer lächelte und winkte. Ich starrte ihn an und dachte an die steifen, blutigen Hände des Toten. Als der Lastwagen mit dem Heck vorm Eingang stoppte, umrundete ich ihn vorn, ohne auf den Verkehr zu achten. Jetzt war es nur noch eine Ecke bis zum Büro. Das Dilworth hatte sechs Stockwerke und wurde schon seit Ewigkeiten renoviert. Der Wind peitschte die Planen, die das Gerüst bedeckten, zwischen den Lücken blitzte die Flutlinie der Graffiti auf. Das Erdgeschoß war eine düstere, grüngeflieste Arkade, in der sich lediglich zwei Geschäfte befanden – ein Reisebüro, wo sich zwei Kettenraucher einen vergilbten PC teilten, und ein Antiquariat. Die Türen waren frei, niemand lauerte mir auf. War ich erst drinnen, hatte ich nichts mehr zu befürchten. Der Fahrstuhl wartete mit offener Tür. Ich stieg ein, schob das Gitter zu und drückte auf die Nummer sechs. Die Winde kam in Schwung und ersetzte mein Atemgeräusch durch die beruhigende Stille der leeren Flure, die unter mir zurückblieben. Die Zahlen der Stockwerke wanderten auf einem Perlmuttzifferblatt vorbei. Das Dilworth war voller Art-deco-Ornamente. Früher einmal hatte es als Bürohaus einer Wochenschau gedient, in den folgenden Jahrzehnten hatte sich das Geschäftsleben allmählich in die neue City verlagert. Seit Jahren stand der erste Stock leer, der zweite und der dritte waren als Aktenarchiv
vermietet. Hinter den Türen mit den Milchglasscheiben und den geprägten Namenschildern standen nur lange Reihen von feuersicheren Aktenschränken und sammelten Staub. Nach zwei Jahren wußte ich über die Mieter der beiden Stockwerke mehr als sie über mich. Zweiter Stock: Feckle and Minister; Bounce, Doppel, Roman and Lang; Phillips Heat Brangwyn. Dritter Stock: Feckle and Minister (Kommerzielle Transaktionen); Phillips Heat Brangwyn; Brite & Self. Gelegentlich lief man Zeitkräften oder Studentenaushilfen in die Arme, die staunend durch die Korridore liefen und so taten, als hätten sie sich verirrt. Die leeren Räume des vierten und fünften Stocks wurden für Partyzwecke vermietet, wenn an der Universität die Abschlußfeiern stiegen, dann tummelte sich hier das einschlägige Publikum. Aber im sechsten Stock, wo ich meinen Bürositz hatte, traf ich höchstens das verschlafene Teenagerpärchen, das ich Franny und Zooey nannte und das auf der Westseite des Gebäudes wohnte. Der Fahrstuhl blieb ächzend stehen. Ich lauschte einen Moment, dann zog ich das Gitter auf und betrat das Vestibül. Der abgetretene Läufer zog sich den ganzen Korridor entlang und verschwand um eine Ecke. Ich befand mich im Mittelteil des Gebäudes, hoch über der Stadt mit ihrer Vormittagshitze. Der trüb beleuchtete Korridor roch nach Bohnerwachs und Staub. Als ich sicher war, daß mich nichts erwartete, schloß ich den Aufzug und schickte ihn zurück nach unten. Keine Menschenseele. Das Dilworth hatte immer geschlossen, aber heute war es noch stiller als sonst. Meine Bürotür war unversperrt. Bald nach meinem Einzug hatte ich festgestellt, daß sowieso jeder, der wollte, ohne Mühe hineinkam. Ich machte die Tür hinter mir zu, nahm die Brieftasche heraus und ließ sie auf den Schreibtisch plumpsen. Dann zog ich langsam das Jackett aus. Unter den Achseln war es dunkel durchgeschwitzt. Ich hielt die Jacke hoch und atmete durch die Nase. Alles war noch viel zu frisch. Ich drehte den Stuhl um, legte die Arme auf die Rückenlehne und stützte das Kinn auf. Das schwarze, einst körnige Leder war glatt und abgewetzt. An der leichten Verformung sah man, daß der Eigentümer die Brieftasche in der Gesäßtasche getragen hatte. Mit dem Nagel meines kleinen Fingers klappte ich sie auf Sie hatte kein Plastikfenster, der Inhalt war in den Lederfächern verstaut. Ich wischte mir die Hände ab und hob die Brieftasche mit den Fingerspitzen an wie ein sehr empfindliches Fernglas. Dann
drehte ich sie um und schüttelte alles, was sie enthielt, auf den Schreibtisch. Geld war nicht dabei, nur eine drei Tage alte Quittung vom Geldautomaten über hundert Dollar. Fünf Visitenkarten eines Antiquitätenhändlers – Ash Antiquitäten –, die alle frisch und vorzeigbar aussahen, also vermutlich die eigenen des Brieftaschenbesitzers waren. Die Karten einer Polsterwerkstatt, eines Antiquariats, einer Speditionsfirma und eines »Verlagsberaters« waren deutlich abgenutzt. Die Karte des Spediteurs trug zwei Telefonnummern auf der Rückseite. Dann ein zusammengefalteter Zeitungsausschnitt aus dem Annoncenteil, Rubrik Haushaltsauflösungen. »Ein Trödler«, sagte ich laut. »Du bist ein Trödler.« Ich fand eine kleine runde Blechscheibe mit zwei silberfarbenen Strichen und einem Querstrich – ein Schildchen von einem Choke im Auto. Dann das auf Brieftaschengröße zurechtgeschnittene Foto einer schwarzen Katze, die sich unter einen Couchtisch duckte. Ein paar Briefmarken, die linke obere Ecke einer ausländischen Postkarte, einen Sicherheitsschlüssel, ein Lotterielos mit angegrauten Ecken und ein Sammelbild: Star Trek, The Next Generation (Karte 106: Lieutenant Commander Data). Ich nahm mir die Visitenkarten von Ash Antiquitäten vor. Nur Name und Telefonnummer, keine Adresse. Das Choke-Schildchen konnte bedeuten, daß sein Auto auseinanderfiel. Drei Quittungen aus demselben Café im Shopping Center 246 – dort hatte er wohl gefrühstückt, als er noch am Leben war. Ich nahm den Hörer ab und wählte die Nummern auf den anderen Karten. Im Antiquariat kam ein Faxton. Beim Polsterer nahm niemand ab – wahrscheinlich jagte er den Annoncen in der Zweiten Hand nach. Der Verlagsberater reagierte ebenfalls mit einem quiekenden Faxgeräusch, dann meldete sich eine unwirsche Stimme. Ich nahm den Hörer in die andere Hand und wußte nicht, wie ich beginnen sollte. »Hallo«, rief der Mann ein zweites Mal. »Hier Veale.« »Ich rufe im Auftrag von Mr. Ash an«, sagte ich. »Ja?« Jetzt klang er geschäftsmäßiger. Ich leerte meine Sapporo-Bierbüchse mit Stiften auf den Schreibtisch und suchte nach einem Kugelschreiber. »Es ist wegen ... wegen der Sache, die wir besprochen hatten«, log ich drauflos.
»Ja«, sagte er und wartete. Ich nahm ein frisches Schulheft aus der Schublade, klappte es auf und schrieb Veale? auf die erste Seite. »Ash Antiquitäten. Sie wissen doch, oder?« »Ja. Sie sind ein Partner von Tad, nehme ich an.« »Von Tad Ash?« fragte ich auf gut Glück. »Ja.« Veale überlegte jetzt. Ich schrieb Tad Ash. »Und Ihr Name war?« Ich überging die Frage und suchte etwas Unverfängliches. »Ich wollte fragen, ob es irgendwelche ... Fortschritte gibt.« »Das müßte ja eigentlich klar sein. Solange Mr. Ash seinen Teil der Abmachung nicht erfüllt, läßt sich kaum was machen.« »Stimmt.« »Sie werden entschuldigen. Ich muß Ihren Namen wissen.« »Natürlich. Tad wollte nur eine Bestätigung.« Ich unterstrich den Namen TAD ASH dreimal. Es gab also irgendeine Geschäftsbeziehung zwischen Veale und dem Ermordeten. Schon hatte ich etwas in der Hand. »Kann ich mir nicht vorstellen.« Veale klang jetzt mißtrauisch und ein wenig alarmiert. »Wer ist dort, bitte? Wie heißen Sie?« Ich atmete tief durch. Ich mußte mir etwas ausdenken. Einen Grund für alle, die Tad Ash kannten, mich anzurufen. Ich bin ein alter Freund. Ich arbeite für ihn, ich bin auf der Suche nach ihm, ich habe nie von ihm gehört, ich weiß nicht, wie er aussieht, ich habe seine Leiche gesehen. Ich weiß, daß er in den Durchgang geschleppt, ausgezogen und in den Container gesteckt wurde. Von einem, der ihn mit Glas aufschlitzen und für immer zum Schweigen bringen wollte. Leise rauschend wartete das Telefon. Ich hielt die Sprechmuschel zu und sammelte Mut. Die Fensterseite meines Büros bestand aus einer Glaswand, die das ganze sechste Stockwerk umgab. Im benachbarten Schlafzimmer hatte ich die Scheiben übermalt, aber hier und im Badezimmer waren sie blank. Vom Hotel gegenüber konnte man mich sehen, oder von der Bushaltestelle und sogar von der Kirche aus, wenn man den Hals lang machte. Hier am Schreibtisch war ich weit vom Fenster entfernt. Trotzdem konnte mich jemand beobachten. Beim Einzug hatte es mich kurz gestört, dann nie wieder. Alles kam mir jetzt neu und zugleich sehr alt und vertraut vor. Vielleicht war es einfach nur das Sonnenlicht, das meine Aufmerksamkeit fesselte. Wie gewöhnlich kippelte ich beim Telefonieren mit dem Stuhl. Behutsam setzte ich die Stuhlbeine auf dem Fußboden ab.
»Wer ist dort, bitte?« fragte er wieder. Nervös, während ich ganz ruhig dasaß. Ich habe schon in vielen Büros gearbeitet; in kleinen, die nach Raumspray rochen, in großen, luftigen, die im Winter eiskalt wurden, in sanierten Villen mit gemauerten Kaminen im Foyer und donnernden Wasserleitungen. Ich habe Hinterzimmer gemietet und mir den Küchendienst mit einem Setzer, einem Wettbüro, einem Schnittmusterzeichner und einem Fotografiestudenten geteilt. Vor vier Jahren habe ich in den sauren Apfel gebissen, mir die drei Büroräume zum üblichen Preis gemietet und Regale gebaut. Ich hängte meinen Stadtplan an die Wand und stellte meine Aktenschränke zu beiden Seiten der Tür auf. Die kompletten Ausgaben der Encyclopaedia Britannica der Jahre 1978 bis 1983, angeschafft mit Hilfe von Louise, stapelten sich vor dem Badezimmer. Im Regal meine Notizbücher, meine Skizzen, meine Plattensammlung. Die Stereoanlage hatte einen Ehrenplatz, die Lautsprecher waren auf optimalen Hörgenuß ausgerichtet. Nur der Plattenteller mußte repariert werden, der war beim Einzug kaputtgegangen. Bis jetzt war ich nicht dazu gekommen. Seit Jahren mußte ich die Ablage machen. Sogar einen Computer hatte ich gekauft, um die beinahe exponentiell wachsenden Papiermengen einzudämmen, aber nach einem Monat hatte ich das Interesse verloren. Jetzt stand er neben dem Telefon auf dem Schreibtisch und gammelte vor sich hin. Seine digitale Sprache wurde immer seltener gesprochen. Ich überredete Zooey, sich um ihn zu kümmern. Manchmal machte sie sich mit dem Lötkolben über ihn her. Angefangen hatte es damit, daß ich nachts ab und zu hinüberging und die beiden bat, die Musik leiser zu drehen. Das eine Mal, als sie weggetreten waren und ich einbrechen mußte, um zu ihnen hineinzukommen, hatte ich einen Computer gesehen. Zooey hatte dann meinen Computer mit einem geklauten Modem und einer Software aufgerüstet, die für etwas bestimmt war, was sich Internet nannte und eines Tages angeblich wichtig sein würde. Ich habe Zeit, sagte ich darauf Maschinen kamen selten mit mir zurecht. Ich mußte Papier vor mir haben, um denken zu können. Beim Lesen wollte ich die Wörter am liebsten anfassen. Der Monitor war verschmiert von Fingerabdrücken – Spuren meiner Überlegungen, meiner Selbstzweifel, meines Zögerns. So war es nicht immer. Meine Sorgen hatten sich früher nicht so sehr auf mich konzentriert. Ich lebte gern allein. Aber manch-
mal war mir, als wäre ich nicht allein im Zimmer, als würde ich beobachtet, beim Denken belauscht. Ich schüttelte diese Gedanken ab, nahm die Hand vom Hörer und wollte nach einem Fremden fragen, einem Phantom, einer Horrorgestalt, die mir den Magen umgedreht hatte, so daß ich am Ende stolz war, nicht gekotzt zu haben. Ich mußte ja nicht erzählen, daß ich seine Brieftasche ausgeleert hatte. Ich würde mir eine Rolle ausdenken, die mir erlaubte, anonym zu bleiben. Dann würde ich ein wenig nachforschen, was es mit der Leiche auf sich hatte. »Wer ist dort?« kam es wütend aus dem Hörer. »Wer sind Sie?« »Niemand«, hörte ich mich sagen und konnte es nicht fassen. »Wirklich niemand.« Ich legte auf. Ich klappte das Schreibheft zu und warf es in die Schublade. Dann sammelte ich die Visitenkarten und das andere Zeug ein und steckte es in die Brieftasche zurück. Wenn die Luft rein war, wollte ich sie in der Nähe der Insurance Alley fallen lassen, auf dem Parkplatz oder an sonst einer Stelle, die es glaubhaft machte, daß sie übersehen worden war. Ich hätte sie niemals aufheben dürfen. Mit meiner Stöberei und meinen Anrufen hatte ich wahrscheinlich schon Unheil angerichtet. Jetzt war die Sonne richtig heiß. Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und ging ans Fenster, dann zum Aktenschrank neben der Tür, wo sich der Griff befand, und hebelte die Klappfenster auf. Das Quietschen der Scharniere verschreckte die Möwen, die draußen auf dem Sims hockten. Ich öffnete den Kühlschrank, machte mir einen Krug Eiswasser zurecht und trank die Hälfte aus, noch bevor es richtig kalt war. Ich zog das Hemd aus und warf es in den Wäschekorb, dann streifte ich Schuhe und Strümpfe ab und ging barfuß ins Badezimmer. Meine Pisse sah bräunlich aus. Der Rücken tat mir weh. Ich goß mir noch ein Glas Wasser ein, setzte mich an die Küchentheke und schaute aus dem Fenster. Die Möwen kehrten zu ihrem Platz an der Sonne zurück. Die Kirche war über die Jahre geschrumpft. Ein weißer Klinkerbau, einer der letzten in der Innenstadt, über dem Portal eine Neoninschrift: EKALE OTOPO AIEU. Die Übersetzung kannte ich nicht. Meine nackten Zehen ruhten auf dem dick mit weißer Farbe gestrichenen Fensterrahmen. Der Luftzug von den Klappfenstern strich mir durchs Haar. Die Küchentheke fühlte sich noch kühl an.
Ich duschte und schrubbte mir den eingebildeten oder realen Gestank herunter. Danach öffnete ich das Badezimmerfenster und sah dem Dampf nach, der sich gen Himmel kräuselte. Mein Schlafzimmer lag auf der anderen Seite des Büros, abgeteilt durch ein deckenhohes Bücherregal voller Kunstbücher, Biologielexika, Skizzenbücher, medizinischer Ratgeber und Schnellhefter mit Papieren, die ich erst noch ablegen mußte. Das Schlafzimmer unterschied sich nur durch die schwarzgestrichenen Scheiben von den anderen Räumen. Ich hängte das Handtuch über das Bettende und nahm eine Flasche Eau de Cologne vom Nachttisch, dem einzigen Möbelstück außer dem Bett. Ich spritzte mir etwas auf die Schultern, unter die Arme und auf die Fußsohlen, legte mich hin und zählte die Risse in der schwarzen Farbe, durch die das Sonnenlicht hereindrang. Ich rieb mir noch mehr Eau de Cologne auf die Schultern. Dann legte ich mich wieder zurück, ließ den Alkohol auf der Haut verdunsten und die Stunden seit drei Uhr morgens vorüberziehen. Mein Körper war heiß vor Anspannung und Erschöpfung. Als ich aufwachte, waren die anderen Räume vom weichen Nachmittagslicht durchflutet. Ich stand auf, zog mich vorm Spiegel an, suchte die Manschettenknöpfe und die Uhr und nahm meine Brieftasche heraus, um nachzusehen, wieviel Geld drin war. An der Schlafzimmerwand hing ein Foto, ein einfaches Polaroidfoto. Wer es aufgenommen hatte, wußte ich nicht mehr, aber ich erinnerte mich noch gut an den Anlaß, an die Klaviermusik und das Stimmengewirr der Bar. Ich ging nahe heran, um es anzusehen. Im Vordergrund ich selbst, vom grellen Blitzlicht herausgehoben, aber dahinter, im körnigen Dunkel fast nicht zu erkennen, hatte der Blitz ihr Gesicht eingefangen. Es war einfach nur schön, und ich fragte mich, was andere bei dem Anblick empfinden würden. Ihr sanftes Strahlen, der breite, liebeshungrige Mund. Den wollte ich wiedersehen, genauso wie er auf dem Foto festgehalten war. Ich nahm die Brieftasche, steckte sie ein und zog das Jackett über, dann öffnete ich die Tür. Auf dem Flur stand Tangiers. »Hab ich Sie«, sagte er.
4 Mein erster Impuls war, die Tür zuzuschlagen. Aber er hielt sie fest und war schon drinnen, ehe ich mich versah. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er an meinem Schreibtisch vorbei. Ein anderer Ziviler wartete draußen. »Sie wollen sich ins Nachtleben stürzen?« fragte Tangiers. »Nach diesem anstrengenden Tag? Mit wem sind Sie verabredet?« Er drehte sich auf dem Absatz um und zeigte sein Grinsen. »Mit der Geschichte kaufen Sie sich ein schickes Abendessen, was? Schließlich haben Sie was zu erzählen.« »Hab ich schon erledigt«, sagte ich möglichst cool, um ihm Paroli zu bieten. »Wirklich?« Er wandte sich wieder dem Schreibtisch zu, beäugte die Papiere, die Briefumschläge, den klapprigen Computer. »Sie haben wohl viele Bekannte?« »Ja.« »Kommen die hierher?« »Ja.« »Wie viele?« »Was?« »Letzte Woche. Wie viele?« »Äh, keiner. Aber...« »Die letzten zwei Wochen?« Ich blickte umher. »Na, etwa ...« »Oder letzten Monat? Wie viele Leute?« »Ich weiß nicht mehr.« »Hat Ihre Freundin hier übernachtet?« Was für eine Frage. »Im Moment bin ich Single.« »Aha.« Er stand am Schreibtisch und starrte auf den Stadtplan an der Wand. Ich starrte auf die Brieftasche. Die Brieftasche lag auf dem Schreibtisch direkt unter ihm. Er beugte sich vor, um die Reißzwecken zu untersuchen. »Was haben die zu bedeuten?« Er tippte auf die roten Plastikköpfe. »Grundstücke.« »Ich dachte, Sie wären Finanzexperte.« »Firmen investieren in Grundstücke.« Ich sprach schnell, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln, um zu verhindern, daß er nach unten blickte. »Die mit den Nadeln gekennzeichneten Areale sind Spekulationsobjekte oder könnten es werden.«
»Die mit den Nadeln gekennzeichneten Areale ...« Er nickte. »Sie drücken sich präzise aus. Wie ein Polizist. Oder ein Jurist.« »Ich bin Jurist. Von der Ausbildung her.« »Sie sind Jurist?« »Meinen Abschluß hab ich in Wirtschaft.« »Warum nicht Jura?« »Ich bin zu nett.« Das brachte ihn zum Lachen. »Ha, ha. Sehr gut. Witzig und liebenswert.« Er musterte die Aktenschränke. »Sie wissen, warum ich hier bin. Oder?« »Um Fragen zu stellen?« Er wandte sich vom Schreibtisch ab. Ich atmete auf. »Unter anderem auch das.« Er nickte an mir vorbei, darauf machte der Zivile die Tür von außen zu und ließ uns allein. »Das ist ein vertrauliches Gespräch – wenn Sie nichts dagegen haben. Heute morgen waren Sie sehr kooperativ. Und wie sich zeigt, stimmt sogar Ihre Adresse. Die meisten Verdächtigen lügen.« Ich tat so interessiert, wie ich konnte. »Wirklich?« »Sie geben die Adresse ihrer Eltern an. Oder ihre Nummer bei der Arbeit.« »Meine Eltern sind tot.« »Und das hier ist Ihr Arbeitsplatz? Sieht eher wie eine Wohnung aus.« Ruhe bewahren, sagte ich mir. »Ab und zu übernachte ich hier. Und esse auch hier – deshalb die Küche. In meinem Job kann ich mir keine festen Arbeitszeiten leisten. Ich muß die Überseemärkte verfolgen. Deshalb sieht es hier ein bißchen bewohnt aus.« Er nickte. »Ich kenne Ihren Mietvertrag nicht, Mr. Ellerslie Penrose. Sie haben Jura studiert und verstehen davon wahrscheinlich ohnehin mehr als ich.« »Ich habe nicht Jura studiert. Nur ein paar Arbeiten geschrieben.« »Thema?« Mir blieb der Mund offen stehen. »Handelsrecht, Rechtsgeschichte.« »Wer die Natur interpretieren will, muß so vielseitig sein wie die Natur selbst«, erklärte er. »Studie in Scharlachrot.« »Aha.« »Ich weiß, was Sie denken. Sherlock Holmes. Filme mit Basil Rathbone. Shagpfeife und karierte Mütze.« »Vermutlich.«
»Aber es steckt mehr dahinter.« »Ja.« »Holmes ist eine Quelle der Inspiration.« »Für Sie?« »Für alle, die das Gesetz vertreten.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante, sein breiter Hintern stieß fast gegen die Brieftasche. »Haben Sie gewußt, daß Sherlock Holmes der erste war, der Gipsabdrücke von Fußspuren genommen hat? Der erste! Er war der erste, der den Staub auf Kleidern untersuchte, um Täter zu überführen. Er hat die Asche verschiedener Tabaksorten analysiert – vor ihm hat sich niemand darum geschert. Er hat die Kriminalistik zur Wissenschaft erhoben. In Ägypten und China wurden Holmes' Fälle an den Polizeischulen als Lehrbücher verwendet. Laut Edgar Hoover gehören seine Methoden zum Grundrepertoire des FBI. Das Kriminallabor der Surete in Lyon ist nach Conan Doyle benannt. Holmes' Ausschlußverfahren, die Widerlegung aller hypothetischen Tathergänge, bis der einzig mögliche Tatverlauf übrigbleibt, und mag er noch so unwahrscheinlich sein – dieses Ausschlußverfahren ist die Grundlage der modernen Kriminalistik. Deshalb bin ich hier. Sie gestatten?« Er machte drei flinke Schritte auf mich zu, bis sein Grinsen nur noch ein paar Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war, packte mein linkes Handgelenk, drehte sich ruckartig nach rechts und preßte mir den linken Ellbogen gegen die Kehle. Ich fluchte und zappelte, aber er behielt mich im Griff, jede Gegenwehr hätte mir den Arm ausgerenkt. »He!« rief ich sinnloserweise, und schon lag ich mit dem Rücken auf dem Schreibtisch. Tangiers fummelte an meinem linken Manschettenknopf herum. Er schob die Ärmel von Hemd und Jacke hoch bis über die Ellenbeuge und drehte meinen Arm zum Licht, ohne Rücksicht darauf, daß er mir fast die Schulter ausrenkte. Dann, genauso abrupt, ließ er mich los. »Fleckenlos rein«, sagte er. Ich ergriff wieder Besitz von meinem Arm und richtete mich benommen auf. Aber statt beiseite zu treten, packte er meinen Kopf mit beiden Händen und drückte meine Lider mit den Daumen nach oben. Wieder griff er so fest zu, daß Gegenwehr zwecklos war. Ich stand nach hinten gebeugt, während er meine Augen untersuchte. »Clean!« rief er und ließ mich zum zweiten Mal los. »Sie hängen nicht an der Nadel.«
»Ach, wirklich?« Ich trat einen Schritt zurück und schüttelte meine Ärmel herunter. Ich kochte vor Wut. »Das hätte ich Ihnen gleich sagen können!« »Insurance Alley ist ein Umschlagplatz für Drogen. Der Mann, den wir heute gefunden haben, war abhängig. Voller Einstichnarben.« Ich atmete schwer. »Wie interessant.« Mein Arm tat weh. »Ja. Der Alte war durchlöchert bis zum Stehkragen. Ich vermute, er wollte dort was kaufen. Von Ihnen, hatte ich mir so gedacht. Aber Sie haben ein legales Einkommen, wie unsere Nachforschungen ergaben. Dann dachte ich, Sie sind vielleicht auch ein Junkie. Aber Fehlanzeige. Also, Watson.« Wieder das Grinsen. »>Ich streiche diese Hypothesen aus der Reihe der möglichen Tathergänge.