Carlo Lucarelli
Schutzengel
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Carlo Lucarelli
Schutzengel
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Coliandro und Nikita, der Polizist und das Punkmädchen – ein hinreißendes, liebenswürdig chaotisches Paar tritt an gegen den Rest der Welt: Als Nikita ein Päckchen mit 200 Millionen Lire in die Hände fällt, hat das eigenartige Gespann schon bald einen Schutzengel bitter nötig, denn das Geld war eigentlich für die Mafia gedacht. ISBN: 3-7701-5240-9 Original: Il giorno del lupo Aus dem Italienischen von Peter Klöss Verlag: DuMont Erscheinungsjahr: Erste Auflage 2001 Umschlaggestaltung: Groothuis & Consorten
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Buch Coliandro und Nikita, der Polizist und das Punkmädchen – hinreißend chaotisch gegen alle. In ›Schutzengel‹ tritt zum ersten Mal das unterhaltsamste ungleiche Paar der jungen italienischen Kriminalliteratur auf. Und wie in seinem Erfolgsbuch ›Der grüne Leguan‹ ist für Carlo Lucarelli Bologna die Bühne seines literarischen Thrillers: ein Meisterwerk der Einfühlung, der witzigen Dialoge und überraschenden Wendungen. Die junge, hübsche und anarchische Nikita, die als Moped-Kurierfahrerin ein rätselhaftes Päckchen durch einen dummen Zufall nicht ausliefern kann, sucht Rat und gerät an ihren alten Bekannten Coliandro. Der wäre so gerne ein Clint-Eastwood-Inspektor; hat aber nur einen ruhmlosen Abstieg vom Streifenwagen in die Kantinenbeschaffung hinter sich.
Autor Carlo Lucarelli, geboren 1960 in Parma, lebt in Mordano bei Bologna. Er ist Mitbegründer des literarischen Zirkels Gruppo 13 und hat zahlreiche, in mehrere Sprachen übersetzte Romane veröffentlicht.
Prolog Die erste Salve bekam Rocco Carnevale ab, der mit der Espressotasse in der Hand unter den Arkaden vor der Bar stand. Er machte einen Satz nach hinten, die weiße Untertasse mit dem roten Segafredo-Logo flog durch die Luft, und Matteo Parisi, der daneben stand, sah ihr instinktiv hinterher, bevor im nächsten Augenblick sein Kopf von einem Weichmantelgeschoß Kaliber Neun, das das Kinn glatt abtrennte, gewaltsam zur Seite auf die Schulter gerissen wurde. Die dritte Salve, die den Plastikbeutel am Abzug der Maschinenpistole mit glühenden Hülsen füllte, traf Romano Del Bianco auf Höhe der Taille und wirbelte ihn in einer rasanten Pirouette durch die schmierigen grünen Plastikstreifen vor dem Eingang zur Bar. Dann wurde der kurze Lauf der Uzi durch das Seitenfenster zurückgezogen, das Auto bog mit quietschenden Reifen rechts ab, schoß bei Rot über die Ringe und verschwand mit heulendem Motor jenseits der San-Donato-Brücke.
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Kapitel 1 Erstens: Von Warenrechnungen verstehe ich nicht die Bohne. Okay, ich habe eine Ausbildung als Buchhalter, aber den Abschluß habe ich mit Vier minus gemacht, und in der Prüfung habe ich von Bresciani abgeschrieben, der eine Bank vor mir saß. Und erwischt wurde ich auch noch, schöne Scheiße. Zweitens: Ich hasse diesen Drecksjob als Leiter der Kantinenbeschaffung des Polizeipräsidiums von ganzem Herzen. Ich bin Polizist, verdammt, ich habe sieben Dienstjahre auf dem Buckel, dauernd passiert irgendwo was, Schießereien auf offener Straße, killende Bankräuber, als wäre Bologna die Hauptstadt von Bosnien … und deshalb wäre mein Platz eigentlich in der Einsatzzentrale, in einem Streifenwagen oder beim Rauschgiftdezernat, verdammt noch mal, und statt dessen verbringe ich den lieben langen Tag zwischen Bestandslisten und Lieferscheinen, wie ein Wurstverkäufer. Polizeipräsidium, daß ich nicht lache, da kann ich ja gleich im Supermarkt anfangen! Okay, verdammt, in Ordnung … Letztes Jahr habe ich Mist gebaut, und dieser Arsch von Polizeichef, der mich haßt – ich weiß genau, daß er mich haßt, der Arsch –, hat mich in die Kantinenbeschaffung strafversetzt, und da der Polizeichef nun mal Polizeichef ist und ich nur ein kleiner Sovrintendente, muß ich mich fügen, das Maul halten und mich damit abfinden. Wenn ein Mann mit einem Gewehr auf einen Mann mit einer Pistole trifft, dann ist der Mann mit Pistole ein toter Mann, sagt Clint Eastwood in Für eine Handvoll Dollar, tierisch. Der Arsch hat das Gewehr, ich die Pistole. Ich bin der tote Mann. Und hänge in der Kantinenbeschaffung rum, schöne Scheiße. All das geht mir durch den Kopf, während ich den Packen Rechnungen zusammenrolle und in die Tasche stecke, den ich 5
zum Abzeichnen in die Verwaltung gebracht habe – seit ich aus Versehen zehntausend Becher Blaubeerjoghurt bestellt habe, prüft nämlich ein eigens dafür eingeteilter Inspektor sämtliche Zahlen nach –, und ich bin so sickig, daß mir wirklich nicht danach ist, mich am Aufzug anzustellen. Statt dessen nehme ich die Treppe, irre mich in der Tür, biege links ab und gehe wie jedesmal nicht durch den Ausgang, sondern lande wieder einmal bei der Kripo. Wo ich schon mal hier bin, drehe ich eine Runde durch den Flur, schiebe mich an Leuten vorbei, die in Grüppchen an der cremefarbenen Wand lehnen, der Kripoflur ist nämlich eng wie ein Schlauch. Ich kenne hier keinen mehr, und ein junger Beamter glotzt mich auch gleich befremdet an, als wollte er mich fragen, was ich hier zu suchen habe, aber ich gehe entschlossen an ihm vorbei und betrete ein Büro, das letzte rechts. Ich hoffe, daß Trombetti noch da sitzt und nicht irgend so ein Funktionär, womöglich Dr. Corbella, der die Zentrale leitet und mich fast noch mehr haßt als der Polizeichef. Schwein gehabt, Trombetti sitzt noch da. »He, Coliandro … was machst du denn hier? Sitzt du nicht mehr … wo bist du noch mal?« »Beschaffung«, knurre ich, und er macht ein überraschtes Gesicht. »Ach, im Rauschgiftdezernat?« Ja, klar, im Rauschgiftdezernat … Erst denke ich, der will mich verarschen, aber dann fällt mir ein, daß Trombetti den niedrigsten Intelligenzquotienten des gesamten Polizeipräsidiums von Bologna hat, also zucke ich mit den Schultern und sage nichts. Er beugt sich über den Schreibtisch, an dem er sitzt, und schüttelt mir die Hand. »Glückwunsch, und welcome back … schön, hier mal ein bekanntes Gesicht zu sehen. In letzter Zeit wurden die Leute hier so oft befördert und degradiert, daß einem angst und bange 6
wurde. Vom Vizekommissar abwärts haben sie fast alle in die Wüste geschickt … frag nur Marani, falls du in nächster Zeit mal nach Taranto kommst. Da schau mal. Damit müssen wir vom Raubdezernat uns herumschlagen …« Er sammelt einen Packen Schwarzweißfotos ein, die auf dem Tisch verstreut liegen, und hält sie mir hin, dann macht er jemandem, der kurz in der Tür aufgetaucht ist und den ich auf die Schnelle nicht erkannt habe, rasch ein Zeichen. »Komme sofort …«, und dann zu mir: »Entschuldige mich einen Moment …«, und dann wieder: »Komme sofort …«, und dann stürzt er aus dem Büro und läßt mich allein mit den Fotos in der Hand, ich bin ganz verdattert. Ich betrachte die Fotos. Es sind Einzelaufnahmen eines Banküberfalls, aufgenommen von den Überwachungskameras, und wie sie so der Reihe nach daliegen, ein jedes mit der aufgedruckten Uhrzeit in einer Ecke, sehen sie tatsächlich aus wie ein von oben aufgenommener Schwarzweißfilm. 16 Uhr, 21 Minuten und 4 Sekunden: Drei Kerle mit maskierten Gesichtern in der Schalterhalle der Bank, die ihre Pistolen auf die Kunden und den Kassierer hinter dem Sicherheitsglas richten. 16 Uhr, 21 Minuten und 57 Sekunden: Einer der drei Bankräuber hat einem Kunden die Pistole in den Mund gesteckt, der Kassierer öffnet die Panzertür zu den Büros, um die anderen beiden hereinzulassen. 16 Uhr, 22 Minuten und 10 Sekunden: Da ist jetzt ein zweiter Kassierer mit erhobenen Händen und einer Pistole an der Schläfe, während der erste auf dem Boden kniet und den Tresor öffnet … Ich an seiner Stelle würde mich hüten, das zu tun, man weiß doch, daß die nie schießen. Aber von wegen, verdammt … 16 Uhr, 22 Minuten und 15 Sekunden: Einer der Banditen schießt auf den ersten Kassierer, dessen Kopf so schnell seitlich abknickt, daß er unscharf wirkt, während der zweite hinter einem dunklen Nebel verschwunden ist, der das Sicherheitsglas hinter ihm bespritzt hat und verdammt nach Blut aussieht … nach seinem Blut. Schöne 7
Scheiße. Ich lasse die Fotos auf den Schreibtisch fallen und ziehe die Nase hoch, weil, es macht mir wirklich nichts aus, Blut zu sehen, Scheiße, nein … ich bin Polizist und habe sieben Dienstjahre auf dem Buckel, das wäre ja noch schöner … aber na ja, wahrscheinlich habe ich in der Kantine was gegessen, das mir nicht bekommen ist, ein bißchen frische Luft kann nicht schaden. Ich öffne das Fenster, lockere mir die Krawatte, stecke den Kopf raus und atme die Abgase eines Busses ein, der in diesem Augenblick über den Platz fährt. Ich frage mich gerade, was ich eigentlich noch in diesem Büro verloren habe, als zwei kurze Schläge an der Tür mich veranlassen, den Kopf einzuziehen, straußenmäßig. »Darf ich? Ich wollte mich erkundigen …« Ich erkenne sie sofort, obwohl es über ein Jahr her ist und sie sich ziemlich verändert hat. Sie trägt noch immer die Boots und sieht auch jetzt noch komisch aus, sie hat sich ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden, das ihre Haare bis auf eine glatte Strähne über dem rasierten Nacken fast ganz bedeckt, sie trägt einen Haufen Ohrringe und eine offene phosphoreszierende Jacke mit der Aufschrift »Moped« auf der einen Seite und »Kurier« auf der anderen. Wenigstens trägt sie nicht mehr die nuttigen Netzstrümpfe mit Löchern wie damals, als wir uns kennenlernten. Am Gürtel hängt ein Funkgerät, und in der Hand hält sie einen roten Helm, in dem ein Umschlag liegt. Auch sie erkennt mich offenbar sofort, denn sie macht ein Gesicht … ich weiß selbst nicht, wie ich es beschreiben soll. Sie zieht die Mundwinkel ein bißchen nach unten und sieht sich verstohlen um, rasch, als wollte sie am liebsten abhauen, dann schluckt sie und lächelt. Ein Lächeln, das ein bißchen schief ist, okay … aber was heißt das schon? Das wird die Überraschung sein, logisch … »Sieh mal einer an …«, murmelt sie. »Ist eine Weile her, daß wir uns gesehen haben, stimmt’s?« »Stimmt«, sage ich schwungvoll, dann drücke ich auf die 8
Bremse. Ich lehne mich mit dem Rücken ans Fenster und verschränke die Arme vor der Brust. »Meine Schuld«, seufze ich, »ich wollte dich anrufen, aber weißt du … Verpflichtungen, die Arbeit …« Ich deute mit dem Kinn auf Trombettis Büro, und dabei fällt mir wieder ein, daß ich doch jedesmal meinen Namen hinterlassen habe, wenn ich sie bei ihrer Mutter anrief und sie nie da war … »Wie geht’s dir, Simona?« frage ich schnell, um das Thema zu wechseln. »Du hast dich gar nicht verändert …« Sie zuckt mit den Schultern, zieht die Unterlippe zu einer Grimasse und legt den Kopf etwas schief. Hübsch ist Simona, immer noch die Alte … schöne schlanke Beine, trotz der blöden Boots, schöner Mund, schöner Arsch unter dem Jackenrand … allerdings immer noch ein bißchen flachbrüstig. Sie schließt die Jacke, und das hysterische Ziepen des Reißverschlusses gibt mir zu verstehen, daß sie mich, wie immer, auch diesmal beim Glotzen erwischt hat, Mist, verdammter. Ich werde rot wie eine Ampel auf den Ringen, wenn man’s eilig hat. »Du hast dich auch nicht verändert«, sagt sie, ein bißchen hart, »du trägst immer noch helle Krawatten zu dunklen Hemden und eine zu enge Jacke, damit man die Pistole unter der Achsel sieht. Und nenn mich nicht Simona, nenn mich Nikita, wie alle. Ich brauche eine Information. Ich suche einen Polizisten, den ich kenne. Er heißt …«, sie nimmt den Umschlag aus dem Helm, dreht ihn um und liest auf einer Ecke nach, »Marani. Assistente Alfredo Marani, Kriminalpolizei …« »Hat sich mit Marani«, sage ich. »Ist nach Taranto versetzt worden. Wenn ich dir …« Ich unterbreche mich, weil Simona … beziehungsweise Nikita aufschaut und mich mit so verzweifeltem Gesichtsausdruck ansieht, daß ich fast Angst kriege. »Was ist los?« frage ich. »Was ist mit dir?« 9
Sie schüttelt den Kopf und beißt sich auf die Unterlippe. Dann bläst sie die Backen zu einer genervten Grimasse auf und schnaubt »Nichts, es ist nur, es geht um etwas Bestimmtes … das heißt, ich muß es wirklich mit ihm besprechen, weil … Scheiße, das ist ein Chaos, echt …« »Dann sag’s doch mir … ich kümmere mich drum.« Ich breite die Arme aus und lächele väterlich. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter und nicke sogar, wie John Wayne in Brannigan – ein Mann aus Stahl, tierisch. »Du kannst mir vertrauen«, füge ich hinzu, »nach allem, was zwischen uns war …« Sie zieht die Schulter unter meiner Hand weg und weicht einen Schritt zurück. »He«, sagt sie, »Moment mal … ich weiß nicht, wie du das siehst, aber zwischen uns war wirklich überhaupt nichts. Es war … so eine Sache eben, wir hatten doch gesagt, daß wir Freunde bleiben, Freunde und sonst nichts.« »Sicher, na klar … Freunde, Freunde und sonst nichts, das meinte ich ja. Und unter Freunden hilft man sich, oder?« »Hör zu, die Sache ist ziemlich heikel, und du … ich weiß nicht, ich finde nicht die richtigen Worte, ich habe Angst, daß du wütend wirst, wenn ich dir sage, warum ich es dir nicht sagen will …« »Spuck’s aus, kein Problem.« »Du wirst bestimmt nicht wütend?« »Ich werde nicht wütend, nein.« »Schwörst du?« »Ich schwöre.« »Also … ich habe kein besonderes Vertrauen in dich als Polizisten.« Mann, ich werde wütend wie ein Panther. Ich spüre, wie die Wut aus meinem Magen aufsteigt und ich die Zähne aufeinanderpresse, daß das Knirschen in meinem Hirn dröhnt … aber ich lasse es mir nicht anmerken. Denke ich wenigstens, 10
denn Nikita ist noch mal einen Schritt zurückgewichen und preßt den Helm wie einen Schild gegen die Brust. »Okay«, sage ich, »kein Problem. Setz dich in den Zug und fahr zu Marani nach Taranto, wenn du nur ihm vertraust …« Ich drehe ihr den Rücken zu und gehe ans Fenster zurück. »Ciao«, knurre ich, aber sie antwortet nicht. Ich höre, wie sie sich windet, unentschlossen. »Also … eigentlich kenne ich diesen Marani gar nicht …«, murmelt sie, »mein Fr … ich meine, ein Freund von mir kennt ihn. Und außerdem, verdammt … wenn du auch hier bist, dann mußt du ja auch etwas zählen, oder? Das ist doch ein Büro der Kriminalpolizei, oder?« Ohne etwas zu sagen, drehe ich mich um. In der Tat, das ist ein Büro der Kriminalpolizei. Nur, daß es nicht meins ist. Nikita kommt näher, legt den Helm auf den Schreibtisch und zeigt mir den Umschlag, den sie fest in der Hand hält, so fest, daß die Ränder schon ganz zerknittert sind. Ich hoffe, Trombetti kommt nicht ausgerechnet jetzt zurück, denn abgesehen davon, daß ich dann echt blöd dastehen würde, werde ich allmählich wirklich neugierig. »Also«, erklärt Nikita, »ich habe jetzt einen Job bei einem Kurierdienst, für den ich Sendungen ausliefere, und vor ein paar Tagen bin ich mit dem Moped von einem Auto angefahren worden …« »Mensch, Nikita …«, seufze ich und richte den Blick zur Decke, »die ganze Geheimniskrämerei wegen einem Unfall! Was ist, bist du nicht versichert?« Sie wirft mir einen derart harten Blick zu, daß es mir eiskalt den Rücken herunterläuft und ich den Kopf einziehe, ich habe nämlich die deutliche Vorahnung, daß sie mich gleich beißt. »Ich liefere für einen Kurierdienst Sendungen aus«, beginnt sie frostig von neuem, »und vor ein paar Tagen bin ich von einem Auto angefahren worden. Ich fuhr unter den Arkaden 11
lang, und da kam so ein Dämel aus einer Seitenstraße, ohne zu schauen, und hat mich am Hinterrad erwischt …« »Du bist mit dem Moped unter den Arkaden gefahren?« frage ich, und wieder stoppt mich ihr Blick. »Sag mal, bist du bei der Verkehrspolizei? Vergessen wir mal, wie es passiert ist, das ist unwichtig … jedenfalls, ich schlittere hin und tue mir nichts, nur eine Schürfwunde am Arm, dafür fliegen mir die ganzen Sendungen mitten auf die Straße, und eine platzt an der Seite auf. Ich stecke den Umschlag unter die Jacke, damit er nicht ganz kaputt geht, fahre meine Tour zu Ende, und als ich nach Hause komme, merke ich, daß er immer noch da steckt und ich vergessen habe, ihn abzuliefern. Kann passieren, Mann, ich war durcheinander wegen dem Arsch mit dem Auto …« Ich sage nichts. Ich zucke mit den Schultern und höre geduldig zu. »Zu Hause hole ich den Umschlag hervor, und während ich überlege, wie ich es in der Firma am besten sage, ohne daß es Ärger gibt, platzt das Ding ganz auf, und der Inhalt liegt überall im Flur verstreut. Das hier war drin …« Sie kramt in dem Umschlag und reicht mir erst eine SonyKassette ohne Etikett und dann eine schwarze ComputerDiskette, die sie mir hinhält wie eine heiße Kartoffel, und deshalb fasse auch ich sie nur an einer Ecke an, behutsam, mit Zeigefinger und Daumen. »Okay«, sage ich. »Und weiter?« »Warte doch … das ist noch nicht alles. Das hier war auch noch drin.« Sie öffnet den Umschlag und hält ihn mir unter die Nase. Darin sind lauter Zettel, die bündelweise abgepackt sind und von verschiedenfarbigen Gummis zusammengehalten werden. Die Gummis ziehen im ersten Augenblick meine Aufmerksamkeit auf sich, es dauert ein paar Sekunden, bis ich 12
merke, daß das gar keine Zettel sind. »Du kannst dir das Nachzählen sparen«, sagt Nikita. »Es sind fast zweihundert Millionen.«
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Polizeipräsidium Bologna, Einsatzzentrale Bericht Nr. 1234 Der Unterzeichnete Assistente Nicola Alfano, Besatzungsführer von Wagen 3, sagt übereinstimmend mit Agente Michele De Zan aus, daß er am 18.04.1994 um 3.15 Uhr gemäß der Anweisung der Einsatzzentrale in die Via Viadagola Nummer 1546 fuhr, wo er die verkohlten Reste eines Fiat Uno mit unlesbarem, weil ebenfalls verkohltem, Kennzeichen vorfand. Als er sich dem Fahrzeug näherte, bemerkte Agente De Zan, daß der Kofferraum des Uno einen Spalt offenstand und darin ein gekrümmter Gegenstand zu erkennen war, dessen Identifikation sich als schwierig erwies. In diesem Augenblick mußte Agente De Zan aufgrund von plötzlichem Unwohlsein den Tatort verlassen, während der Unterzeichnete die Identifizierung eines menschlichen Arms vornahm, der zu einer vollständig verkohlten Leiche gehörte. Hände, Füße und Hals waren so zusammengebunden, daß das Opfer sich selbst stranguliert hatte. [ … ]
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Kapitel 2 »Ich habe immer noch nicht kapiert, warum wir nicht den Computer in deinem Büro benutzen können …« »Weil … weil … weil er kaputt ist. Und außerdem ist der hier besser.« Tatsache ist, daß ich verdammt noch mal keinen Schimmer habe, wie man Trombettis Computer einschaltet. Ich kenne nur den von der Paßstelle, wo ich eine Weile gearbeitet und eine Menge Sachen gelöscht habe, und wenn die das irgendwann mal spitzkriegen, dann gute Nacht … ansonsten kenne ich noch den aus der Beschaffung, weil Kollege Gargiulo und ich da Rechnungen, Lieferscheine und den ganzen anderen Blödsinn eingeben, bei dem ich graue Haare kriege. Ich gebe zu, daß ich von diesen Maschinen noch nie was verstanden habe. Ich weiß nur, daß man hinten auf den Schalter drückt, wartet, dann den Pfeil nach da unten schiebt, auf die Maus klickt, und normalerweise erscheint dann ein weißes Fensterchen, das dir sagt, was du tun sollst. Normalerweise … denn manchmal gibt’s Chaos und der Schirm bleibt pechschwarz, in dem Fall mache ich alles aus und warte auf Gargiulo, und wenn der dann das Ding benutzen will, schiebe ich alles auf ihn und gebe ihm einen Anschiß. Aber jetzt und hier im Büro der Kantinenbeschaffung starrt Nikita auf den erleuchteten Schirm, und ich kann nur den Atem anhalten und warten und hoffen, daß er funktioniert. »Ist gleich soweit«, murmele ich, »ich hoffe nur, daß Gargiulo mit dem Computer keinen Mist gebaut hat, sonst …« Schwein gehabt, da ist das Fensterchen. »Womit arbeitet ihr denn so?« fragt Nikita, während sie sich mit dem Arm auf meine Schulter stützt, um noch näher am Bildschirm zu sein. 15
»Na, mit so Zeug wie dem hier …«, sage ich und deute auf die Blätter und Kartonstapel, die die Tische im Raum bedecken, »Rechnungen, Lieferscheine und Wollmäuse …« Mit dem Ellbogen stupst sie meinen Kopf an. »Quatschkopf … laß die Scherze. Mit welchem Betriebssystem ihr arbeitet, meine ich … Aha, Windows, sehr gut. Los, tu die Diskette rein.« Ich tu die Diskette rein und klicke mit der Maus auf A:. Nikita beugt sich über mich, und ich rieche ihren leicht säuerlichen Geruch unter der kühlen Jacke. Ich spüre die Rundung ihres Busens auf der Schulter und rutsche auf dem Stuhl hin und her, während ich unauffällig eine Hand in die Tasche zu stecken versuche, um in der Hose Ordnung zu schaffen. Sie merkt nichts, sie achtet nur auf den Bildschirm, auf dem jetzt die ersten Schriftzeilen erscheinen. Muß wohl ein Scherz sein, denn ich kann gerade eine halbe Seite mit weißen Totenköpfen erkennen, als etwas Seltsames passiert. Der erste Totenkopf rechts löst sich aus der Zeile und gleitet den Bildschirm hinunter, titscht unten auf, kehrt um und stößt oben die anderen Totenköpfe an, womit er ein heilloses Durcheinander auslöst. Es sieht aus wie ein Spiel, und dazu ertönt auch ein lächerliches Gedudel, wie im Spielsalon. »Guck mal, Nikita … guck mal wie hübsch«, sage ich, aber sie reißt die Augen auf und fängt an zu brüllen. »Ein Virus! Mach aus! Mach alles aus, verdammt, beeil dich!« Hastig mache ich alles aus, wobei ich mit den Fingerknöcheln gegen die Tischkante schlage, das Tock hallt unheilvoll zum ersterbenden Brummen des Computers. Mist, ein Virus! Und wenn er auch den Buchhaltungskram befallen hat, was dann? Ich spüre, wie es mir eiskalt den Rücken runterläuft, und bevor Nikita eingreifen kann, schalte ich den Computer wieder ein. Auf dem Schirm sieht man wieder die Seite von eben, einschließlich Gedudel und Regen aus weißen Totenköpfen, der 16
munter weiterfällt, und diesmal beugt sich Nikita über den Schreibtisch und schaltet alles aus. »Wenn du ihn anmachst, wird’s noch schlimmer, verdammt …«, sagt sie, holt die Diskette aus dem Computer und steckt sie in die Jackentasche. Ich bin noch ganz belämmert und kann keinen klaren Gedanken fassen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich überall lachende weiße Totenköpfe. Scheiße, ein Virus … wenn der mir die Rechnungen durcheinandergebracht hat, bin ich tot, Mann, tot … »Eine gesicherte Diskette …«, sagt Nikita, und dabei kaut sie auf der Backe, wie immer, wenn sie nachdenkt. »Offensichtlich ist da was Wichtiges drauf, bei dem vielen Geld, aber … Mist, ich habe es nicht rechtzeitig lesen können. Das wäre ein Fall für Ivan …« »Und wer ist Ivan? Hat der dir den Umschlag gegeben?« »A’-’a’ …«, sagt sie, weil sie weiter auf der Backe kaut, aber ich verstehe es trotzdem: »Ach was … ich habe dir doch erzählt, wie es gelaufen ist. Die haben über Funk eine Gegend angefragt, und ich habe Gatto Gatto geantwortet …« »Gatto Gatto?« »Das ist mein Erkennungscode … das bedeutet, daß ich es mitgekriegt habe, in der Gegend bin und die Fahrt übernehmen kann. Ich bin also zu der Adresse gefahren, die sie mir durchgegeben haben, aber ich hätte mir gleich denken können, daß was nicht stimmte, das war nämlich keine Firma, sondern ein ganz gewöhnliches Wohnhaus, und der Typ stand schon auf der Straße und wartete mit dem Umschlag in der Hand. Ein Pickelface, mit Losergesicht …« Ich zucke mit den Schultern. »Bestimmt eine falsche Adresse … Aber sag mal … meinst du, der Virus hat den ganzen Computer lahmgelegt?« Ich habe noch immer diesen bescheuerten Dudelmarsch im Ohr und eine Gänsehaut auf dem Rücken, aber Nikita hört mir 17
nicht zu. Immer tiefer runzelt sie die Stirn und drückt mit dem Finger die Backe gegen die Zähne, als ob sie ein Loch reinbohren wollte. »Und was ist auf der Kassette?« frage ich. Sie kramt in der Jackentasche und zieht die etikettlose Sony-Kassette hervor. Sie schaut sich um, dann entdeckt sie Gargiulos Radiorecorder, eine schwarze Kiste, die auf einem Stapel Rechnungen thront. »Der ist ja museumsreif …«, murmelt sie, während sie die Tasten drückt und versucht, ihn aufzukriegen, »sag mal, habt ihr den beim Marokkaner gekauft?« Nein, wir haben ihn beim Marokkaner beschlagnahmt … sozusagen. Ich muß dauernd an die Totenköpfe denken. Mist. »Da, da … hör dir das an.« Aus den Boxen des Recorders dringt ein Geräusch, als würde jemand ganz schnell durch die Nase und mit vollem Mund flüstern: namiorenghienchiò namiorenghienchiò namiorenghienchiò … hört sich an wie singende Chinesen. »Das hat nichts damit zu tun … da hat Massimo aus Versehen was von sich aufgenommen …« Massimo? Wer zum Henker … »Da! Das ist es!« Ich höre ein schrilles Tschirlitschip, wie aus den Funkgeräten bei uns im Streifenwagen … und wirklich, es ist ein Streifenwagen, da krächzt nämlich eine Stimme: Siena-Monza 51 bitte kommen … »Das ist eine Funkstreife …«, sage ich, aber Nikita winkt ab, ich soll still sein. Die Stimme aus der Einsatzzentrale wird plötzlich unterbrochen, statt dessen wieder eine Salve namiorenghienchio, die sofort abbricht. Ein leises, dichtes Rauschen, dann zwei deutliche Stimmen mit süditalienischem Akzent: »Peppino aus Capri.« »Ja, leck mich am Arsch, das sagst du einfach so?« 18
»Ach weißt du, ist doch eh … wer soll uns denn hören, Mann?« Die Chinesen heben wieder an, Nikita stoppt den Recorder und holt die Kassette raus. Sie wirft mir einen fragenden Blick zu, ich werfe zurück. Ich kapiere überhaupt nichts mehr. »Lassen wir das Tape hier mal beiseite …«, murmelt Nikita vor sich hin, wobei sie so intensiv auf eine Stelle meines Hemds starrt, daß ich ebenfalls hinschaue, »wegen der gesicherten Diskette und dem Geld kam mir der Gedanke, da will bestimmt jemand das Finanzamt betrügen. Ich bin sogar zu der Adresse gefahren, die als Empfänger draufstand, aber es ist eine Villa in den Hügeln, wo nie einer aufmacht … deshalb bin ich zu euch gekommen, wär ja möglich, daß ihr mehr wißt …« »Und wo ist diese Villa in den Hügeln?« Nikita öffnet schon den Mund und will etwas sagen, als so ein Hornochse von Agente, der glaube ich Pinelli heißt, mit einer Kiste unterm Arm hereinkommt. Darauf liegt ein Packen Lieferscheine, den er mit dem Kinn festklemmt. »Schon wieder, Sovrintendente …«, sagt er, bevor ich ihn bremsen kann, »Sie haben aus Versehen schon wieder Joghurts bestellt, diesmal allerdings mit Banane und nur Tausendfünfhundert. Der Rest steht unten, und der Chef sagt, wenn er kein Zwischenlager dafür findet, dann stellt er sie alle hier in Ihrem Büro unter …« Schöne Scheiße. Aber ich habe nicht mal Zeit, das zu sagen, ich kann es nur denken, denn Nikita blitzt mich erst mit einem Blick an, daß mir das idiotische Lächeln, das ich aufsetzen will, auf den Lippen gefriert, und schnellt dann nach vorn, greift nach dem Umschlag mit dem Geld und schießt unter einer Art Wutgeheul aus dem Büro. Als ich mich endlich aufgerafft habe und die Treppe erreiche, muß sie schon auf die Straße gerannt sein, denn ich sehe sie nicht mehr. Und da sie vorhin mit mir reingekommen ist, muß die Wache sie ohne großes Tamtam 19
durchgelassen haben, also bin ich angearscht, die hole ich nie mehr ein. »Komme ich vielleicht ungelegen?« stammelt Pinelli, als ich ins Büro zurückkomme, und da er mich verlegen ansieht und lächelt, der Trottel, belasse ich es dabei und zucke nur mit den Schultern, soll er doch denken, was er will. »Typisch Frau«, sage ich, »wenn die ihre Geschichten haben, kommt man nicht mehr mit.« »Das stimmt«, sagt er. »Jedenfalls, sehr hübsch war sie, Sovrintendente … gratuliere.« »Ja«, nicke ich mit gleichgültiger Miene, »bumsbar, ja. Und jetzt raus, ich habe zu tun.« Als ich auf die Kiste Joghurt blicke, stellen sich mir die Haare zu Berge. Der Umschlag, das Geld, die Diskette, die singenden Chinesen, Peppino aus Capri … ich habe kein bißchen von dem kapiert, was passiert ist, aber egal, sobald ich Zeit habe, rufe ich Nikita an und lasse mir den Rest erzählen, und wenn ich sie von hier bis Casalecchio in den Arsch treten muß. Vorläufig habe ich ein größeres Problem zu lösen, und das merke ich, als ich den Computer einschalte, um nachzusehen, wo ich die Joghurts verschwinden lassen kann. Die beschissenen Totenköpfe füllen sofort den Bildschirm, nicht mal der Pfeil der Maus läßt sich bewegen. Also schalte ich alles aus, setze mich möglichst weit weg vom Computer, tue so, als würde ich einen Packen Rechnungen prüfen, und warte ab. Diesmal kriegt Gargiulo einen Anschiß, daß er nicht mehr weiß, wo rechts und links ist.
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»Der Sonnabend« – Wochenblatt für den Kreis Imola BLUT AUF DER AUTOBAHN (Bericht von Carlo Lucarelli auf Seite 21-22) Castel San Pietro. – »Ich habe dem Mann drei Sandwiches und drei Dosenbier gebont, und dann habe ich gehört, wie er sich mit dem Barmann gestritten hat, weil die Brötchen nicht warm waren. Er war ein ganz normaler Kunde, überhaupt nicht auffällig, wirklich.« In der Bar der Raststätte Sillaro, Autobahn Imola-Bologna, sind sich die Zeugen einig: Pietro Giaccalone, 42 Jahre, aus Catania, war ein Durchschnittstyp, der nicht auffiel. Aber warum ist dann passiert, was passiert ist? »Er ist zu einem Wagen gegangen, der neben der Telefonzelle stand. Drin saß noch ein zweiter Mann, der laut Radio hörte … und da ich am Telefonieren war, habe ich ihn gebeten, leiser zu machen, aber der Mann hat nur eine unanständige Geste gemacht, so …« Der zweite Zeuge, der seinen Namen nicht genannt haben möchte, legt die Hand in die Ellenbeuge und läßt den Unterarm nach oben schnellen. Auch die Ehefrau, die auf dem Mäuerchen vor der Raststätte saß, hat die Geste bemerkt: »Ich erinnere mich, daß ich noch gedacht habe: Also, der ist aber wirklich ungezogen, als auch schon dieser Typ im braunen Mantel an mir vorbeiging. Er fiel mir auf, weil so ein Mantel, zu dieser Jahreszeit … und dann hat er sich genau vor mich hingestellt, zwischen mich und das Auto mit den beiden Ignoranten …« Auch der dritte Zeuge möchte uns seine Personalien nicht nennen. Sichtlich erschüttert, spricht er hastig, bevor er mit einem Polizeibeamten davongeht. »Nein, ich habe nichts mitbekommen, und wenn Enrico nicht gesagt hätte: Papa, ist das da ein Gewehr?, dann wäre ich mitten reingeraten in die Sache. Da stand nämlich ein großer Kerl im Mantel, mit Hakennase und dickem Pferdeschwanz und einer Pumpgun in 21
der Hand. Ich konnte gerade noch den Kopf heben, da hat es BUMM-BUMM! gemacht, zwei Schüsse auf die Windschutzscheibe des Wagens da. Sämtliche Scheiben sind kaputtgegangen, und einer der beiden, die drin saßen, ist halb durch das offene Seitenfenster geflogen … mein Gott, es war schrecklich! Ich will gar nicht daran denken …« Giaccalone war der Polizei wegen zahlreicher Vorstrafen im Zusammenhang mit Rauschgiftdelikten bekannt. Der andere hingegen, Arturo Lanfranco, 33 Jahre, aus Bologna, war unbescholten. Nicht berücksichtigen wollen die Ermittler offenbar die Aussage von Enrico, dem elfjährigen Sohn des letzten Zeugen, der sagt, er habe in der Nähe des beschossenen Wagens einen dritten Mann gesehen, der hastig in einen parkenden Lastwagen gestiegen und schnell davongefahren sei. […]
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Kapitel 3 Scheißmorgen, Scheißtag. Seit fast einer Viertelstunde starre ich auf ein dickes gelbes Kotelett, das mittlerweile wahrscheinlich so kalt ist wie der blaue Resopaltisch in der Kantine, an dem ich sitze. Alles kotzt mich an, selbst die Stimmen der Kollegen neben mir, die gerade ihre Schicht im Streifenwagen beendet haben und reden und reden und reden … In mir spüre ich etwas, einen angebrannten Klumpen, der zwischen Magen und Herz steckengeblieben ist. Sind das vielleicht die Penne al burro, die ich mühsam runtergewürgt habe? Ich drehe das Kotelett um, es ist genauso hart und an den Rändern angebrannt wie der Klumpen, den ich in mir spüre. Ich bin sauer über das Wiedersehen mit Nikita … mit Simona. Sie hat mich … also, sie hat mich daran erinnert … Scheiße, ich weiß nicht, was sie mit mir angestellt hat. Ich weiß nur, daß ich genervt bin. Nachdem sie abgehauen ist, habe ich natürlich versucht, sie aufzutreiben, aber Fehlanzeige. Ich rufe bei ihr zu Hause an, und ihre Mutter sagt, sie sei nicht da. Sie ist bei Massimo, erzählt sie und gibt mir die Nummer. Massimo? Wer zum Henker … okay, ich rufe auch da an, und auf dem Anrufbeantworter meldet sich ein Kerl mit softem R, leicht schwul, was mir sofort auf den Zeiger geht. Wir sind nicht zu Hause und so weiter und so fort … hinterlassen Sie eine Nachricht. Vor dem Piep lege ich auf, und die Sache macht mich erstens: neugierig, zweitens: neugierig und ein bißchen sauer. Wer, bitte, ist dieser Massimo? Und was zum Henker hat er mit Nikita zu tun? Wir sind nicht zu Hause … wer ist wir? Geht mich nichts an, sage ich mir knallhart, ich muß mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, angefangen bei den tausendfünfhundert Joghurts, für die ich noch kein Zwischenlager gefunden habe. Wißt ihr was, ihr könnt mich alle mal, Nikita und ihr Schwuler inklusive, geht mir bloß nicht auf die Eier. 23
»Was ist los, Coliandro, mögen Sie das Kotelett nicht? Was denn, Sie arbeiten hier und wissen nicht, daß man donnerstags Perlhuhn nehmen muß?« Ich würde ihr gerne das Passende sagen, der Kollegin, die mir gegenüber sitzt, aber als ich den Kopf hebe, merke ich sofort, daß sie Inspektor ist und im Büro des Polizeichefs arbeitet. Und abgesehen von der bekannten Story von dem Mann mit Pistole und dem mit Gewehr, nach der ich sowieso wieder der tote Mann bin, ist sie dafür, daß sie eine Frau ist, ziemlich auf Zack. Vor ein paar Jahren hat sie sogar mal meinen Arsch gerettet, als ich Dienst im Streifenwagen schob und auf dem Weg zu einem Banküberfall das Blaulicht nicht richtig am Dach festgemacht hatte, so daß es in der ersten scharfen Kurve ins Schaufenster einer Parfümerie flog, schöne Scheiße. Also zucke ich mit den Achseln und antworte nicht. »Vielleicht hat er sich mit seiner Verlobten gestritten …«, schaltet sich eine Kollegin in Uniform ein, die neben mir sitzt, und obwohl ich sie nicht anschaue, höre ich ihrer Stimme an, daß sie lächelt. »Unmöglich …«, sagt die Inspektorin, »Coliandro ist doch ein notorischer Single …« »Aber nein … Pinelli hat gesagt, er habe ihn mit einer jungen Frau im Büro überrascht, hübsch soll sie gewesen sein …« »Ist das wahr? Coliandro, da bricht für mich ja eine Welt zusammen … Sie ist doch nicht etwa Polizistin? Machen Sie nicht den Fehler, sich mit einer Kollegin zusammenzutun, wie all die anderen … Sehen Sie sich die Zeani an. Sie ist gerade zwei Tage aus den Flitterwochen zurück, da wird sie dem Personenschutz zugeteilt. Und wissen Sie, wen sie beschützen soll?« Interessiert mich nicht die Bohne. »Ausgerechnet Malerba von der Antimafia, und was das heißt, können Sie sich ja ausmalen … Ohne Vorankündigung muß man los und bleibt tagelang fort. Vor einer Woche war ihr Mann 24
zum Mittagessen mit ihr verabredet, sie hat ihn angerufen und gesagt, es würde später, und seitdem hat er sie nicht mehr gesehen. Zum Glück ist er ebenfalls Polizist und hat Verständnis für die dienstlichen Erfordernisse, wie es so schön heißt.« Weibergequatsche. Würde die Alte zu Hause die Ehefrau spielen und den Mann arbeiten gehen lassen, gäbe es solche Probleme überhaupt nicht. Aber was ich über Frauen bei der Polizei denke, das werde ich bestimmt nicht sagen, und schon gar nicht den beiden hier. Wenn die mich noch mal in die Mangel nehmen wie eben, dann geht’s mir aber schlecht, Mann, das sehe ich denen an. Also tu ich so, als wäre ich vollauf damit beschäftigt, das Kotelett zu schneiden, und versuche derweil, das Thema zu wechseln, denn jedesmal, wenn von Personenschutz die Rede ist, kommt unweigerlich die Geschichte, als es nach einem Konzert im Sportpalast mal zu einem Gerangel kam und ich versehentlich Lucio Dalla eine verpaßt habe. »Mal abgesehen von den Dienstzeiten«, sage ich, »auf Malerba aufzupassen ist auch nicht ganz ungefährlich …« Ein zäher Bursche, dieser Staatsanwalt Malerba, jung und knallhart obendrein. In Catania versucht die Mafia ihn durch einen Heckenschützen auf dem Dach kaltzumachen, aber sie schafft es nicht, daraufhin wird er sicherheitshalber nach Bologna versetzt, aber er gibt nicht auf und läßt sich ausgerechnet der Antimafia zuteilen. Ich muß immer an das Foto im »Carlino« denken, an das ich mich so gut erinnere, weil auf der Rückseite die Gedenkanzeige meines Pappis mit Foto in Uniform abgedruckt war, es jährte sich nämlich zum sechsten Mal der Tag, an dem er in Palermo mit seinem Richter in die Luft geflogen war. Auf dem Foto auf Seite eins saß Malerba auf dem Boden, gegen die Tür des gepanzerten Wagens gelehnt, er hielt den Polizisten im Arm, den sie an seiner Statt getötet hatten, und weinte wie ein Brunnen, mit offenem Mund und geschlossenen Augen … aber man sah, daß er vor Wut heulte und nicht aus Angst. 25
»Kennen Sie Staatsanwalt Malerba gut?« fragt mich die Inspektorin, und ich ziehe mit gleichgültigem Gesichtsausdruck die Schultern hoch. »Wir sind so …«, sage ich und deute mit verschlungenem Zeige- und Mittelfinger an, wie dicke Freunde wir sind, obwohl ich ihn in Wahrheit nur ein einziges Mal gesehen habe, vor Jahren, als er zum Begräbnis meines armen Pappis kam und mir die Hand schüttelte. Ich will noch etwas hinzufügen, nur so, als ein Mädchen mit weißer Schürze und diesem bescheuerten Serviererinnenhäubchen auf dem Kopf auftaucht. Sie schlurft in ihren Holzpantinen herbei, das laute Klock-Klock dröhnt durch die mittlerweile fast leere Kantine, und ich erwarte, daß sie uns auffordert zu gehen, aber nein, da ist ein Anruf für mich. Eine Frau. »Dann gibt es diese Verlobte ja wirklich …«, sagt die Kollegin in Uniform und klopft mir auf die Schulter, aber ich werfe ihr nur ein knurriges Lächeln hin und denke: Von wegen Frau, das ist dieses Sackgesicht von Pinelli, der mich verarschen will. Wenn jetzt noch mehr Joghurts angeliefert worden sind, dann ziehe ich Pinelli auch noch in das Desaster mit dem Virus hinein, Ehrenwort. »Schieß los, Arschloch«, zische ich in den Hörer des Küchentelefons, »du hast wohl vergessen, daß ich Sovrintendente bin und du nur ein einfacher Agente?« »Scheiß auf den einfachen Agente. Hier ist Nikita. Via del Passero Nummer 21, in zehn Minuten. Eine Sekunde später, und ich bin weg.« Eingehängt, schöne Scheiße.
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TG3-Regionalnachrichten. 19. April, 14.30 Uhr »Und hier noch eine Meldung vom Tage. Der Brand, bei dem in der vergangenen Nacht im Stadtteil Bolognina die Pizzeria Bella Napoli völlig zerstört wurde, ist möglicherweise vorsätzlich gelegt worden. Der Eigentümer der Pizzeria bestreitet dies allerdings: Er vermutet die Brandursache in einem Kurzschluß, der durch den schlechten Zustand der Hauselektrik verursacht worden sei. Die beiden Benzinkanister, die in der Gasse neben dem Hinterausgang gefunden wurden, hätten nichts mit der Sache zu tun. Unterdessen ist der Zustand des tunesischen Kellners, der in den Küchenräumen schlief, als das Feuer ausbrach, nach wie vor äußerst ernst [ … ]«
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Kapitel 4 Die Via del Passero liegt in den Hügeln, und obwohl ich einen GT Turbo 16-Ventiler unter dem Arsch habe und, was Autos angeht, bei aller Bescheidenheit wenn nicht Gott, so doch sein kleiner Bruder bin, brauche ich länger als zehn Minuten. Ich umdribble die Autos auf den Ringen wie Maradona beim Grand Prix von Monaco, lehne mich sogar aus dem Fenster und schlage mit der Dienstkelle auf die Motorhaube von so einem Trottel im Punto, der an der Ampel auf Grün wartet Trotzdem, als ich dröhnend die Steigung zu Nummer 21 hochrase, bin ich eine Viertelstunde zu spät, Nikita kann ich abschreiben, schätze ich. Aber nein, sie ist noch da, sie kommt hinter einem Müllcontainer hervor, tritt auf die Straße und macht mir Zeichen, ich soll langsamer fahren und weniger Aufstand machen. »Mensch, Coliandro! Mach doch nächstens die Sirene an, dann hört man dich nicht so! Park den Wagen und steig aus, los.« Ich parke den Wagen und steige aus, los … obwohl ich echt schon auf hundertneunzig bin, es paßt mir nämlich nicht, von einer Tussi Befehle entgegenzunehmen, als wäre sie der Vize vom Polizeichef. Aber ich verschiebe den Wutanfall auf später, jetzt interessiert mich nämlich erst mal, was sie will, und außerdem … okay, ich freue mich, sie wiederzusehen. Nikita wartet auf der anderen Straßenseite, neben dem Müllcontainer, an den sie ihr Moped gelehnt hat. Sie trägt immer noch das Kopftuch, die Kurierfahrerjacke und die blöden Boots, und sie hat sogar wieder die Netzstrümpfe mit den Löchern an, die knapp zwei Fingerbreit unter dem Jackenrand aus einem superkurzen engen Mini hervorschauen. »Hör auf, meine Beine anzuglotzen. Hör dir den Plan an … hier sind das Geld, das Tape und die Diskette …«, sie macht den Reißverschluß auf und zieht den Umschlag hervor, der ihr 28
Möpse wie Pamela Anderson gemacht hat, »und das ist die Adresse, wo ich sie vorgestern hätte abliefern sollen.« Mit dem Kinn deutet sie über die Straße auf eine kleine, weiße, viereckige Villa, die auf einer umzäunten Rasenfläche steht. An den eisernen Gitterstäben hängt ein rotweißes Schild, und ich brauche keine Adleraugen, um zu lesen, was dort in riesigen Buchstaben steht, neben einem Hund, der aussieht wie Terminator Zwo, tierisch. »VORSICHT: HIER WACHE ICH!« lese ich leise. »Alles klar … und wie sollen wir deiner Meinung nach da reinkommen?« Sie sieht mich an, dann schüttelt sie den Kopf. »Du hast mal wieder gar nichts kapiert. Ich gehe rein und klingele ganz normal, und du wartest draußen auf mich. Ich will nur dieses Zeug hier abgeben, und dann Auf Wiedersehen.« »Du bist verrückt …« »Nein, du bist verrückt! Und ich bin blöd, weil ich euch unbedingt alles erzählen und mich in die Scheiße reiten mußte. Ich bin Kurierfahrer, verdammt, kein Polizist … wenn die Villa vorgestern nicht verrammelt und verlassen gewesen wäre, hätte ich es längst getan!« »Wieso, ist denn jetzt jemand da?« »Pff! Ich beobachte das Haus schon den ganzen Vormittag … ein Typ mit Pferdeschwanz ist aufgetaucht, reingegangen und dann sofort wieder weg, aber jetzt hat es den Anschein, als wäre Leben in der Bude. Und weißt du, was ich deshalb mache?« »Was machst du?« Sie hält mir den Umschlag unter die Nase, so nah, daß ich fast den Kopf zurückziehe. »Auf dem Umschlag steht Herrn Buchhalter Federico Maltoni, und deshalb gehe ich da rein und gebe ihn dem Herrn Buchhalter Federico Maltoni, ich denk mir irgendeine Story wegen der Verzögerung aus und tschüß, ich will nicht mal 29
Trinkgeld von ihm …« »Und ich?« »Du bleibst draußen, auf der anderen Seite vom Haus, da steht ein Fenster offen, habe ich gesehen. Für den Fall, daß die Sache schlecht läuft, sage ich dem Buchhalter, er soll mal nach draußen gucken, und dann sieht er, daß ich einen Freund dabei habe, dem man den Bull … Polizisten an der Nasenspitze ansieht, und läßt mich wenigstens gehen. Und falls alles glatt geht, Amen, dann kriegt er von dir gar nichts mit.« Ich flippe nur deshalb nicht aus, weil sie statt Bulle gerade noch Polizist gesagt hat, was bei Nikita, nervös wie sie im Moment ist, ziemlich bemerkenswert ist. Und außerdem ist mir eine Idee gekommen … »Einverstanden«, sage ich. Sie runzelt die Stirn. »Wie, einverstanden?« »Einverstanden … was soll ich sagen? Okay, ich tu’s …« »Einfach so? Ohne Heckmeck?« Sie kaut auf der Backe und starrt mich nachdenklich an, ich lächele verlegen. Nikita legt man nicht so leicht aufs Kreuz … Schließlich schüttelt sie den Kopf, immer noch ernst, und schließt die Jacke wieder über den Möpsen. Sie macht einen Schritt auf die Straße, aber dann bleibt sie stehen und sieht mich noch einmal an, vor lauter Backenkauen ist ihr Mund ganz entstellt. Sie hat Angst, man sieht es ihren Augen an. Sie packt mich am Jackenkragen, zieht mich zu sich hin und raunt mir zu: »Bau keinen Mist, Coliandro, bitte«, dann drückt sie mir einen schnellen Kuß auf die Lippen und rennt zum Gartentor. Ich gehe um das Haus herum, mit einem flauen Gefühl im Magen. Bau keinen Mist, hat sie gesagt … Das, was ich vorhabe, ist kein Mist, da bin ich mir todsicher. Ich habe vor, mich von hinten in das Haus zu schleichen, dem Herrn Buchhalter Maltoni Pistole und Dienstausweis unter die Nase zu 30
halten und ihm ein paar Fragen über die Herkunft des Geldes zu stellen. Dann rufe ich die Abteilung Steuerdelikte an, übergebe ihnen zweihundert Mios, eine Diskette und einen auf frischer Tat ertappten Buchhalter, und dann sollen die sich um alles Weitere kümmern, ich habe meinen Teil getan. Probleme: Nikita und die Hunde. Das erste ist schnell gelöst, ich sage einfach, sie hätte bei den Ermittlungen aktiv mitgearbeitet, dann steht sie sogar noch gut da. Die Hunde könnten Ärger machen … aber wenn es klingelt, laufen sie bestimmt alle Mann nach vorn, und ich habe freie Bahn. Bau keinen Mist, hat sie gesagt … was soll daran Mist sein? Der Plan ist perfekt … Tatsächlich ertönt beim ersten Anzeichen eines Klingeins im Haus, buchstäblich beim d von dring, ein orkanartiges Gebell, als wären da mindestens zweihundert durchgeknallte Hunde. Es sind aber nur drei, ich sehe sie hinter den efeubewachsenen Gitterstäben, die den Garten einzäunen: drei gedrungene schwarze Köter, die aus einem offenen Fenster im Erdgeschoß springen und um die Ecke zum Eingang der Villa flitzen, wobei sie auf dem Rasen eine Spur aus weißem, ekelhaftem Geifer hinterlassen. Flink packe ich die Eisenstäbe, stütze mich mit einem Fuß auf einer Efeuranke ab und ziehe mich hoch, doch ausgerechnet, als ich über die gewundenen Spitzen der Stäbe steigen will, gibt die Ranke nach, und es ergeht mir wie seinerzeit Ivo Bertaccini, als wir Kirschen klauen gingen und er mit dem Hosenboden hängenblieb. Und, schöne Scheiße, als ich mich wie Ivo Bertaccini nach unten fallen lasse, macht der Stoff Kraack, was mir ein fast körperliches Unwohlsein bereitet, am liebsten würde ich fluchen, aber ich kann nicht, weil mir in dem Moment, als ich mit Händen und Knien den Boden berühre und den Kopf hebe, nur ein Gedanke durchs Hirn schießt und alle anderen verbrennt. »Scheiße, die Hunde!« Die Drecksviecher kommen so schnell angerannt, fast ohne den Boden zu berühren, daß ich denke, sie fliegen durch die 31
Luft. Ich halte mich nicht lange damit auf, die aufgerissenen Mäuler und weißen Killeraugen zu betrachten, ich fege mit den Sohlen über den Rasen, grapsche mit den Fingern, bis ich Halt finde, und schieße auf das offene Fenster zu. Ich springe hinein, fliege über einen kleinen Tisch und lande mit dem Gesicht voraus in etwas Weichem, das mich davor bewahrt, mir die Nase auf dem Fußboden einzuschlagen. Ich drehe mich um, und einer von den gedrungenen, tollwütigen Bastarden ist schon fast auf dem Fensterbrett, der Schwarzenegger der Hunde, schöne Scheiße, halb draußen und halb drinnen, er windet sich und macht einen Buckel im Versuch, hereinzukommen. Ich rapple mich auf die Knie und verpasse ihm eine kurze Gerade. Er klappt das Maul zu, schaut mich ein bißchen benommen an und kippt dann nach hinten, wie ein Mensch. Ich schließe das Fenster, schon knallt der zweite mit der feuchten Nase gegen die Scheibe. Ich stehe auf, bemerke den eigenartigen süßen Geruch im Zimmer, schaue nach unten und stoße einen der schrillsten Schreie in meinem ganzen Leben aus. Vor mir auf dem Boden liegt ein blutüberströmter Mann. Er hat kein Gesicht mehr, wenn man mal von einem Ohr, das an einem Hautfetzen baumelt, und von einem runden, weißen Auge, das vollkommen frei liegt und mich anstarrt, absieht. Ich falle nach hinten, gegen das Fenster, aber der Krach der Hunde, die das Glas hinter mir anbellen, jagt mich wieder nach vorn. Da verliere ich die Beherrschung, ziehe die Pistole und gebe wie ein Trottel einen Schuß in die Luft ab. Der Knall, der durch das Zimmer hallt, beruhigt absurderweise schlagartig meine Nerven, und anscheinend bewirkt er dasselbe bei den Hunden, die innehalten und ein paar Sekunden mit halb geschlossenem Maul die Luft beschnüffeln. Plötzlich schießen sie wie die Raketen um die Hausecke, und ich höre einen Hagel dumpfer Schläge, die offenbar von der Eingangstür kommen. Ich stelle eine Verbindung zwischen beidem her, fliege aus dem Zimmer in den Eingangsflur und schaffe es gerade noch, die Tür 32
zu öffnen und Nikita hereinzulassen, bevor sie von den Hunden aufgefressen wird. Sie ist so verschreckt, daß sie jetzt mich mit Fäusten traktiert, als würde sie noch gegen die Tür schlagen, aber schließlich gelingt es mir, sie zu umklammern und ihre Arme festzuhalten. »Mensch, Coliandro!« kreischt sie hysterisch. »Was soll der Mist? Als ich sah, wie die Hunde wegrannten, habe ich mir schon gedacht, daß du reingegangen bist, und da das Tor offen war, bin ich auch rein, und wegen dir wäre ich um ein Haar bei lebendigem Leib aufgefressen worden, Mann … Was ist das eigentlich für ein Geruch? Riecht wie Marmelade.« »Das ist der Herr Buchhalter Maltoni«, sage ich und zwinge mich, nicht an dieses Gesicht zu denken, denn ich spüre schon, wie meine Beine zittern und sich mein Magen vor Übelkeit zusammenzieht. Der Schlag soll mich treffen, wenn dieses Massaker nicht das Werk der drei sabbernden Hurensöhne ist. »Tot?« fragt sie eine Spur schriller. »Wenn’s nur das wäre … nein, geh da nicht rein …«, halte ich sie mit dem freien Arm, dem ohne Pistole, zurück, »sein Gesicht ist ganz … also, er hat gar kein Gesicht mehr.« Na bravo, ich habe es gesagt, und schon fühle ich mich mies. Ich taumele gegen die Wand, lehne mich mit der Stirn an und würde bestimmt gleich loskotzen, wäre da nicht plötzlich dieser Krach in dem Zimmer, aus dem ich vorhin gekommen bin. Splitterndes Glas. Das splitternde Glas eines Fensters. Das splitternde Glas eines Fensters, das von drei tollwütigen Hunden eingedrückt worden ist. Nikitas Schrei läßt mich auffahren wie ein Klappmesser, instinktiv hebe ich den Arm mit der Pistole und gebe fast ohne hinzuschauen einen Hagel von dreizehn 9 x 19-mm-Kugeln ab, das ganze Magazin abzüglich der einen Kugel, die ich vorhin verschossen habe. Als der Verschluß in hinterster Stellung gefangen bleibt und der Abzug sich nicht mehr bewegen läßt, ist 33
das Zimmer in hellblauen Nebel gehüllt, und es riecht so scharf nach Kordit, daß sogar ein Feuerwerksfabrikant ohnmächtig würde. Zwischen den Türpfosten, die aussehen, als wären sie von schwerer Flak beschossen worden, liegen drei tote Hunde. In den fiependen, vom Widerhall der Explosionen betäubten Ohren höre ich fern, ganz fern ein leises Rauschen. Es ist Nikita, die hysterisch schreit, was ihre Lunge hergibt.
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Carabinieri, Sonderkommission BETREFF: Abhörvorgang Nr. 45 vom 19.04.94, Wohnung von Salvatore Literno, genannt Totò U’Tizzune (Personalien siehe Akten). Genehmigung durch StA Dr. Malerba (Antimafia, Bezirksbüro Bologna) Salvatore Literno: »Mit diesen Wilden verhandele ich nicht … was glauben die eigentlich, wer sie sind, he? Seit eh und je hat es für solche Sachen immer Regeln gegeben … ja, wer sind wir denn? Streunende Hunde oder Wölfe, oder was? Mach das Fernsehen an, jetzt kommen Nachrichten …« [ABHÖRVORGANG UNTERBROCHEN WG. VERZERRUNG DURCH EINSCHALTEN DES FERNSEHERS] Unbekannte Stimme [LAUT GUTACHTEN CATANISCHER AKZENT]: »Für mich sind das eher Hyänen … die Typen haben offenbar noch nicht kapiert, daß bestimmte Dinge in diesem Gebiet nicht laufen …« Salvatore Literno: »Die Typen haben noch nicht kapiert, daß die in diesem Gebiet ganz und gar nichts verloren haben! Der Markt und die Raststätten waren schon immer im Besitz unserer Familie … iddu gran curnutu du pigghianculu! Giaccalone war für mich wie ein Sohn! Iddu [UNVERSTÄNDLICH WG. INTERFERENZEN MIT FERNSEHER. LAUT GUTACHTEN TYPISCHE OBSZÖNE BESCHIMPFUNG DER PROVINZ CATANIA] … aber wir sind selbst dran schuld, wir und Don Masino, wir haben ihn überhaupt erst so groß werden lassen!« Unbekannte Stimme: »Groß, groß … das ist ja das Unglück, Totò! Die sind doch wie kleine Kinder! Die spielen, aber erwachsen werden die nie!« Salvatore Literno: »Mit denen verhandele ich auf keinen Fall! Tot will ich sie sehen! Da, die Nachrichten, mach den Fernseher lauter …« [ABHÖRVORGANG UNTERBROCHEN] 35
Kapitel 5 »Ich kann immer noch nicht glauben, daß ich das fertig gebracht habe …« »Auf drei Hunde zu schießen?« »Blödsinn! Wen interessieren denn die Hunde, die wollten mich fressen, verdammte Scheiße … Abzuhauen, ohne die Polizei zu rufen, meine ich! Die machen mir hier so die Hölle heiß, daß … verdammt, ich mag gar nicht dran denken!« Ich schüttele den Kopf, meine Hände zittern immer noch ein bißchen. Ich hänge in einem absurden, ganz nach hinten gekippten Korbsessel, ein rundes Kissen im Nacken, und bin tierisch genervt. Jedesmal wenn ich von dem Whisky trinken will, den Nikita mir in ein Longdrink-Glas gegossen hat, erwürge ich mich fast. Nikita, die mit angewinkelten Beinen auf einem niedrigen Sofa kauert, trinkt ebenfalls was. Wäre sie nicht unter Schock aus der Villa gerannt, um mit dem Moped auf und davon zu fahren, hätte ich die 113 angerufen und dort gewartet, ganz nach Vorschrift, aber ich wollte sie nicht noch mal verlieren. Und so sind wir hier gelandet, in einer unsichtbaren Seitenstraße der Via Saragozza, in einer Zwei-ZimmerDachwohnung, in der es aussieht wie in einem China-Shop. Es riecht nach Leder, Räucherstäbchen und Pfeffer, überall liegt orientalischer Plunder herum. Auf einem Zwergentischchen steht ein roter Miniaturtempel, und über dem Türchen hängt ein röhrenförmiges Glöcklein, das seit unserer Ankunft nicht aufhört zu bimmeln. Nikita hat die Boots ausgezogen, das Tuch vom Kopf gestreift und die Haare gelöst, sie sind länger als damals, als wir uns kennenlernten, und fallen ihr wie ein kleiner Helm über die Ohren. Sie wirkt jetzt vollkommen ruhig, und wie immer, wenn sie nachdenkt, verzieht sie den Mund. 36
»Hübsch hier«, sage ich, obwohl ich das gar nicht finde. »Ich wußte gar nicht, daß du eine eigene Wohnung hast.« »Die Wohnung gehört nicht mir«, sagt sie abwesend, »sie gehört Massimo.« »Massimo? Ach, ja … die Schwuchtel mit dem soften R.« Sie schaut auf und sieht mich einen Augenblick lang an. »Schwuchtel? Was faselst du denn da … du hast ja keine Ahnung …« Wie, keine Ahnung? Ich runzle die Stirn, dann nehme ich Haltung an und trinke noch einen Schluck Whisky. Also, was mich angeht … obwohl, eigentlich geht mich das nun wirklich nichts an, Mist. »Und wo treibt er sich jetzt rum, dieser Massimo?« »Er ist ein paar Tage weggefahren … er ist bei seinem Lehrer.« »Geht er noch zur Schule?« »Du kapierst auch gar nichts … Massimo ist Buddhist, er besucht einen Freund, der mehr Erfahrung hat, und will ihn um Rat Fragen. Wir … Er hat da ein Problem.« »Aha.« Buddhist. Pff … Ich merke, daß Nikita mich anstarrt. »Was ist?« frage ich. »Wir müssen rauskriegen, wem das Geld ist«, sagt sie und deutet auf den Umschlag, der neben ihr auf dem Sofa liegt. »Wir müssen herausfinden, wem das Geld und die Diskette gehören, und dann …« »O nein, Moment mal, Mädchen … Polizist spielen ist eine feine Sache, aber überlaß die Angelegenheit lieber denen, die sich damit auskennen …« Sie trinkt einen Schluck, und dabei zieht sie die Augenbraue hoch und sieht mich über den Rand des Glases hinweg an. Ich spüre einen Stich in der Magengrube, erstens weil sie 37
unglaublich hübsch ist, wenn sie so guckt, zweitens weil ich sofort merke, daß sie mich verarschen will. »Genau«, sagt sie, »überlassen wir die Angelegenheit den echten Polizisten …« Ich ignoriere sie einfach, ich werde rot und kriege einen Schluck Whisky in den falschen Hals, aber ich gehe nicht darauf ein. »Na schön, wir machen folgendes: Wir nehmen Geld, Diskette und Kassette, gehen zur Abteilung Steuerdelikte und erzählen denen von einem Herrn Buchhalter Maltoni, der von seinen eigenen Hunden aufgefressen wurde … Scheiße, Nikita, wegen dir habe ich heute morgen mindestens zehnmal gegen das Gesetz verstoßen, von der nicht angezeigten Leiche bis …« Irgendwie paßt da was nicht zusammen. Besser gesagt, eine ganze Menge. Den Marmeladengestank, den ich in der Villa gerochen habe, den kenne ich nämlich schon so zur Genüge, daß ich noch schnell einen Schluck Whisky trinken muß, damit mir nicht wieder schlecht wird. Wie letztes Jahr, als so ein Arschloch sich mit einer Schrotflinte den Kopf weggeblasen hat und gut anderthalb Wochen in seiner Wohnung lag, bevor jemand was gemerkt hat. Der gleiche süßliche Gestank, der einem die Kehle zuschnürt und der mich damals, als ich die Wohnung betrat, in Null Komma nichts ausgeknockt hat. Im Fallen habe ich mir sogar an der Tischkante einen Zahn angeschlagen, aber natürlich wurde das nicht als Dienstunfall anerkannt, wie üblich. Jedenfalls, bei dem Geruch muß der Herr Buchhalter Maltoni schon eine Weile da gelegen haben, schon lange bevor Pferdeschwanz eintraf, der außerdem rein- und rausgegangen ist, ohne sich von den Hunden auffressen zu lassen. Was ein Chaos … Nikita hat oberhalb des Knöchels einen Finger in ein Strumpfhosenloch gesteckt, und während sie mit einer Masche spielt, sieht sie mich ernst an. Scheinbar ahnt sie, was ich denke, denn sie schüttelt entschieden den Kopf. »Jetzt hör mir mal zu, Inspektor Callaghan … mich interessiert 38
einen Scheiß, was hinter dieser Geschichte steckt. Ich weiß nur, daß sie mir nicht gefällt, daß ich Angst habe und keinem traue. Alles, was ich will, ist, dieses Geld zurückgeben, und wenn ich gewußt hätte, wem es gehört, hätte ich es sofort getan … aber die einzige echte Adresse, die ich hatte, gehört einem Buchhalter, der tot ist. Hätte ich das gewußt, hätte ich es dem Typ mit dem Pferdeschwanz gegeben, aber er sah aus wie Zanardi und hat mir Angst eingejagt …« »Zanardi? Wer ist denn Zanardi? Ein Bekannter von dir?« »Wie kommst du denn darauf … Zanardi ist eine Figur von Pazienza …« Ich ziehe die Augenbraue hoch, und sie weiß sofort, was ich fragen will. Ich glaube langsam, sie liest in meinen Gedanken, die Kleine. »Pazienza ist ein Comiczeichner … wie Manara, Catacchio, Hugo Pratt … nie gehört, was?« Ich sage nichts. Scheiß auf Comics … ich habe nur die Pornoheftchen gelesen, die ich beim Militär in Ventimiglia aus Nencionis Spind geklaut habe. Ich schlürfe die letzten Tropfen Whisky, dann halte ich Nikita das Glas hin. »Willst du dich betrinken?« »Red keinen Stuß, Mädchen … Ich habe das Zeug schon getrunken, da hast du noch an der Mutterbrust genuckelt.« »Dann gieß dir selber ein.« Ich hole Schwung und entreiße mich diesem beschissenen Stuhl, gieße das Glas halbvoll und kippe es in einem Schluck runter, damit sie sieht, wer hier die Hosen anhat. Dann drehe ich mich zum Fenster um, sie soll nicht mitkriegen, daß mir Tränen in den Augen stehen. »Also, entweder bleibst du bei mir und hilfst mir, den Besitzer des Geldes ausfindig zu machen«, fährt sie fort, »oder, falls du das nicht übers Herz bringst, du gehst, als wäre nichts gewesen, 39
und sprichst mit keinem darüber. Das ist alles, worum ich dich bitte … wenn dir etwas an mir liegt, wenn du mich ein bißchen gern hast, bitte … bring mich nicht in Schwierigkeiten.« Ich stütze mich mit der Hand an der Fensterscheibe ab und drehe ihr den Rücken zu. Deshalb sehe ich sie nicht, aber ich höre, daß sie schluchzt, ganz leise, und die Nase hochzieht. Ich drehe mich um und sehe, daß sie wie ein kleines Mädchen die Mundwinkel herunterzieht und die Lippen vorschiebt, während ihr Tränen über die Wangen laufen. Ich möchte sagen: »Was soll der Scheiß?«, aber ich bin noch außer Atem wegen der Überdosis Whisky, und deshalb gebe ich ebenfalls eine Art heiseres Schluchzen von mir, das zusammen mit den Tränen von eben Nikita glauben macht, ich würde auch weinen. Also springt sie vom Sofa, rennt auf mich zu, umarmt mich so fest, daß sie mich fast erdrückt und ins Wanken bringt, und vergräbt das Gesicht in meiner Schulter. »Ruhig, Mädchen …«, hauche ich rauchzart, mehr ist wirklich nicht drin, »ruhig … ich bin ja da. Ich lasse dich nicht allein.« Schöne Scheiße.
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»Der Sonnabend« – Wochenblatt für den Kreis Imola GROSSE WÄSCHE IM MÜNZSALON (Bericht von Carlo Lucarelli auf Seite 21-22) Daß der Süden kein Monopol mehr auf die Mafia hat, ist inzwischen für jedermann offensichtlich. Genauso offensichtlich ist, daß die organisierte Kriminalität auch im Norden und in der Emilia Romagna tiefe Wurzeln geschlafen hat: Von Modena bis Cattolica sind praktisch alle vertreten, Mafia, Camorra, ’Ndrangheta, Sacra Corona Unita und dazu noch die neuen, unabhängigen Banden von Rimini und Bologna. Es geht um Drogen- und Warengeschäfte, doch vor allem darum, die Gewinne aus den schmutzigen Geschäften zu waschen. Und so kommt es, daß die Emilia Romagna mit ihren Pizzerien, die sich über Wasser halten, obwohl sie nur einen Kunden pro Woche haben, mit ihren Schuh- und Bekleidungsgeschäften, die nichts verkaufen und trotzdem Gewinn machen, mit ihren zuvorkommenden Kleinbanken und aufgrund der Nähe zu San Marino, unserer Privat-Schweiz, zunehmend zu einem »Waschsalon mit Münzbetrieb« verkommt – nur daß hier nicht die Wäsche gewaschen wird, sondern die Münze. [ … ]
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Kapitel 6 Ich ziehe die Hand durchs Seitenfenster zurück und winke mit dem gestreckten Zeigefinger ab, aber er kommt trotzdem näher. Ich habe extra ein Stück vor der Ampel angehalten und mindestens zwei Wagenlängen Abstand zum Vordermann gelassen, damit der Scheibenputzer nicht herkommt und mir auf den Sack geht, aber so ein Mist, er stellt sich stur, taucht seinen Kratzer in den Eimer und kommt mit dem Schwamm in der Hand angerannt. Muß ein Albaner sein oder ein Slawe, dunkle Haut, lange Haare, zerfetzte Hose, ein Adidas-T-Shirt mit Seifenflecken und dieses Arschgesicht, das nur die haben. »Nein! Nein!« rufe ich. »Nein!« Als er mir den Schwamm auf der Windschutzscheibe auswringt, drücke ich auf den Knopf der Waschanlage und schalte den Scheibenwischer ein. Der Typ macht einen Satz nach hinten und zieht hastig die Hand vor den Wischerblättern zurück, dann zeigt er mir einen pechschwarzen Finger, womit er wohl zum Ausdruck bringen will, daß ich mich ins Knie ficken soll. »Diese Stadt kommt immer mehr auf den Hund …«, knurre ich zwischen den Zähnen. Nikita sitzt neben mir und kauert sich an die Tür. Wir fahren raus, Richtung San Lazzaro, an einen Ort, den sie kennt, zu einem Typen, den sie kennt. Auch wenn mir das alles ziemlich auf die Eier geht, mache ich mit, vielleicht kapiere ich dann ja, worum’s geht. Vorhin, als sie die Treppe runtergeflitzt ist und ich sie gefragt habe, wo zum Henker wir hinfahren, hat sie gesagt: »Zu einem Cyberkiller.« Cyber … was? Aber sie nur wieder: »Einem Cyberkiller«, und schon war sie draußen, unter den Arkaden. »Das stimmt doch gar nicht«, sagt sie nach einer ganzen Weile, so daß ich erst gar nicht weiß, worauf sie sich bezieht. 42
»Diese Stadt ist wunderschön.« Ich lächele und schüttele den Kopf. Sobald die Ampel auf Grün umspringt, hupe ich meinen Vordermann an. »Na klar … sie ist wunderschön. Geh mal nachts über den Bahnhofsplatz und schau dir die schönen tunesischen Dealer an, das ist nämlich ihr Gebiet … Nur zu, fahr mal nach zehn in Pilastro vorbei und versuch, heil wieder nach Hause zu kommen.« »Blödsinn … Ich bin oft in Pilastro, und mir passiert gar nichts. Ich weiß schon, du bist einer von diesen Paranoikern, die meinen, vor dreißig Jahren sei Bologna was ganz anderes gewesen … du bist ein Nostalgiker …« »Mann, woher soll ich denn wissen, wie Bologna vor dreißig Jahren war? Ich bin siebenundzwanzig und sehe Bologna, wie es jetzt ist. Ich bin viel unterwegs und weiß, wie es hier nachts ist …« »Ich bin auch nachts unterwegs … und ich habe meinen Spaß. Nachts ist Bologna sehr schön.« »Leck mich am Arsch …«, ich hupe noch mal, denn gerade als ich ihn überholen wollte, hat der Typ vor mir plötzlich gebremst, und ich wäre ihm fast draufgefahren. Ich will auf die Busspur wechseln, aber da kommt ein Bus, und ich bremse so stark, daß Nikita auf ihrem Sitz zusammenzuckt. »Ja, klar …«, sage ich, »jetzt bist du aber nostalgisch. Bologna und seine Osterien …« »Wen interessieren denn die Osterien …« »Bologna ist ein Scheißhaufen, sage ich dir … die Transvestiten am Messegelände, die Fixer auf den Ringen, die Nigerianerinnen, die Österreicherinnen, die albanischen Stricher am Busbahnhof … und diese bescheuerten Bürger, die sich erst aufregen, weil die Brasilianer vor ihrem Haus Lärm machen, und die sich dann, wenn du Streife fährst, um Präsenz zu zeigen, 43
wieder aufregen, weil sie nicht in Frieden zu den Nutten gehen können. Bologna ist heuchlerisch.« »Hm, das stimmt …«, murmelt Nikita, »das war schon immer so. Bologna ist eine elitäre Stadt, und wenn du nicht in gewissen Kreisen verkehrst, hast du keinen Zutritt. Diese Stadt hat für jeden ein Lächeln übrig, aber tief im Innern will sie keinen, die Studenten zum Beispiel …« »Jetzt mach aber mal einen Punkt … ich finde Bologna eher viel zu tolerant …« Der Wichser vor mir bremst schon wieder und schaltet den Warnblinker ein. Ich drücke mit der flachen Hand zweimal fest auf die Hupe. »Da, schau …«, sagt Nikita und zeigt auf mich, »von wegen tolerant. Du willst mir doch nicht erzählen, daß es hier Solidarität gibt. Daß man hier nur zu fragen braucht, und schon findet man eine bezahlbare Wohnung … Weißt du eigentlich, was ein Bett in einem Viermannzimmer kostet? Wenn man eine Wohnung will, muß man sie besetzen …« »Das stimmt doch gar nicht … es gibt viel zuviel Solidarität. Guck doch, wie viele Marokkaner hier rumlaufen …« Der Vordermann steigt aus, steckt den Arm durch das offene Seitenfenster und fängt an zu schieben. Er macht mir Zeichen, ich soll aussteigen und ihm helfen. Da hat er sich aber geschnitten. Ich fahre auf den Bürgersteig, denn die Straße ist eng, schalte ebenfalls den Warnblinker an und mache den Autos hinter mir Zeichen, daß sie vorfahren sollen. Sollen die ihm doch helfen, dem Loser. »Wenn’s dir hier nicht gefällt, warum gehst du dann nicht woanders hin?« sage ich zu Nikita, während ich den Motor ausmache. »Wer sagt denn, daß es mir hier nicht gefällt? Du hast doch gesagt, hier sei alles Scheiße …« 44
Tja, da hat sie recht. Nikita lächelt herausfordernd. Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür und legt die Füße aufs Armaturenbrett. Ich werfe ihr einen bösen Blick zu, und sie zieht sie weg, aber erst nach kurzem Zögern, als wollte sie mir zu verstehen geben, daß sie das nur tut, weil sie es will, die blöde Kuh. »Weißt du, was du bist?« fragt sie mich. Wenn sie jetzt sagt, du bist ein Loser, dann klebe ich ihr eine, Ehrenwort. »Was bin ich denn?« frage ich schlagfertig, mir kribbelt es schon in der Hand. »Du bist ein Faschist.« »Ach hör doch auf!« »Doch, doch … ein Riesenfaschist, echt.« »Was soll der Unsinn? Mein Vater war seit den sechziger Jahren in der KPI, er hat sogar Schwierigkeiten bekommen, weil er bei der Polizei war. Und ich, Baby, ich … du warst noch gar nicht geboren, da habe ich meiner Mutter schon geholfen, die Tortellini für die Festa dell’Unità zu machen.« Nikita sieht mich mit einer komischen Grimasse an, dann verzieht sie die Lippen, schließt die Augen und schüttet sich aus vor Lachen. Ein schrilles, genüßliches Lachen, das ihr die Tränen in die Augen treibt und in einem Seufzer endet. »O Gott …«, keucht sie, »du warst ja fast ein Terrorist, Mann …« Sie lacht wieder, heiser diesmal, aus der Kehle. Ich beiße die Zähne zusammen und schnaube durch die Nase, ich bin stinksauer. »Bist du jetzt fertig?« frage ich finster. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich auslacht. Nikita seufzt, dann überkommt es sie noch mal, aber sie hat sich gleich wieder in der Gewalt. Sie schaut mich an, streckt die Hand aus und berührt mit den Fingerspitzen meine Backe, was so tierisch kitzelt, daß ich den 45
Kopf wegziehe. »Manchmal bist du wirklich süß«, sagt sie. »Leck mich am Arsch«, sage ich. Ich starte den Motor, obwohl das Auto des Trottels immer noch an der Ampel steht. Es pöttert wie blöd und nebelt die vier Loser, die ihm schieben geholfen haben, in schwarzen Qualm ein. Ich fahre aber nicht los, sondern lege die Hände aufs Lenkrad und starre stinkwütend durch die Windschutzscheibe. Bis zum Beweis des Gegenteils bin ich hier der Polizist und sie nur ein kleines Mädchen, das sich für Inspektor Derrick hält. Ehe ich nicht weiß, was hier abgeht, rühre ich mich nicht von der Stelle. »Okay«, sagt Nikita, »ich erklär’s dir. Was haben wir in der Hand? Einen Buchhalter, der tot ist, also können wir die Spur des Empfängers ein für allemal abhaken. Wir haben einen Absender mit falschem Namen … also Fehlanzeige auch hier. Und wir haben eine gesicherte Diskette … ja, und deshalb fahren wir zu jemandem, der in der Lage ist, diese ScheißDiskette zu lesen.« »Du hast die Kassette vergessen …« »Nein, die Kassette habe ich nicht vergessen … aber abgesehen davon, daß sie halb gelöscht ist, beweist sie nur, daß es jemanden gibt, dem es Spaß macht, Unterhaltungen über Peppino aus Capri und den Polizeifunk abzuhören … kannst du mir sagen, warum?« Nein, kann ich nicht. Also lege ich den Gang ein und fahre los.
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Funkmeßdienst Bologna Hiermit setzen wir die zuständige Stelle davon in Kenntnis, daß im Zuge einer Hausdurchsuchung in der Wohnung von Balducci, Walter, 19 Jahre, wohnhaft in Bologna, Stadtteil Barca, ein illegales Hochfrequenzabhörgerät (»scanner«) sichergestellt wurde. Besagter Balducci, der, als er ertappt wurde, den Apparat unerlaubterweise auf die Frequenz des Polizeifunks eingestellt hatte, ist dieser Dienststelle bekannt, da er mehrfach private Gespräche über Sip-Funkverbindungen oder per Mobiltelefon gestört hat. Eine Kopie dieser Anzeige geht der zuständigen AntimafiaBehörde zu, da besagter Walter Balducci entfernt mit Onofrio, Germano, genannt O.G., verwandt ist, einem mutmaßlichen Mitglied des organisierten Verbrechens. Walter Balducci, der bei der Präfektur bereits als Konsument von Aufputschmitteln aktenkundig ist, ist bekannt unter dem Spitznamen Psycho. [ … ]
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Kapitel 7 Das Haus ist riesig, niedrig und lang, eine gelbe Mietskaserne mit grünen Fenstern und vier Reihen Klingeln an der Sprechanlage. Ansonsten ist es fast dunkel, man kann die Namen auf den Schildchen kaum entziffern. »Wie heißt denn der Typ, den wir suchen?« frage ich, während ich die Klingelschildchen studiere. »Hier wohnt ja halb Bologna … stell dir mal vor, hier eine Hausdurchsuchung …« »Ivan«, sagt Nikita. »Ivan, und wie weiter?« »Weiß ich nicht.« »Scheiße, Nikita! Und wie sollen wir diesen Ivan finden? Hier leben hunderttausend Leute!« Sie hört mir überhaupt nicht zu. Mit der ganzen Hand patscht sie auf eine Klingelreihe und wartet, bis jemand aufdrückt. Sie geht durch das Gittertor, über dem sich ein Betonbogen spannt, und ich folge ihr zahm wie ein Hündchen. Sie steuert auf ein Fenster zu, das einen knappen halben Meter aus dem Boden ragt. Davor hängt ein Metallgitter, in den feinen Maschen steckt ein Bleistift. Nikita nimmt den Stift an der Spitze und schlägt gegen das blöde Glas, tock tock tock. Das Fenster öffnet sich, hinter dem Gitter erkenne ich undeutlich das Gesicht eines Typen. »Wer ist da? Ach, du bist es … komm rein.« Wir betreten das Haus durch die Glastür zum Treppenhaus. Ich nehme die Treppe nach oben, aber nach ein paar Stufen merke ich, daß Nikita mir nicht folgt. Sie ist nach unten gegangen, ohne etwas zu sagen, die blöde Kuh, und jetzt muß ich ihr hinterherrennen. Am Ende eines verdammt engen Flurs mit gelber Neonleuchte erwartet uns der Typ vom Gitterfenster. Er 48
ist großgewachsen und schlank und trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Cyberpunk«. Er hält eine graue Metalltür auf, hinter der ein roter Vorhang hängt. »Wenn du mich blamierst und sagst, daß du bei der Polizei bist, erwürge ich dich«, flüstert Nikita mir über die Schulter zu. Wir betreten einen winzigen Keller. Die Decke ist so niedrig, daß ich mich automatisch bücke, als ich durch die Tür gehe. Der Lange macht hinter mir zu. Ich denke, ich bin in einem Raumschiff. Überall sind Bildschirme, Tastaturen und Kabel, Diskettenschachteln und zerlegte Computer, die mit anderen zerlegten Computern verbunden sind. Wenn man genauer hinsieht, ist der Keller gar nicht so klein, tatsächlich ist er mit allerlei Krempel zugemüllt, inklusive zwei oder drei Monsterpostern, einem weißen Aschenbecher in Kobraform und einem Sofa, auf dem ein Kerl sitzt. »Das ist ein Freund von mir«, sagt Nikita und zeigt mit dem Daumen auf mich, aber mich beachtet sowieso keiner. Der Kerl auf dem Sofa, ein Typ mit fliehendem Kinn, einer Tolle in der Stirn und spitz zulaufenden Koteletten, hält Nikita die Hand hin. »Ciao, Simona.« »Ciao, Vopo.« Er zieht sie zu sich auf das Sofa. Ich bleibe wie ein Trottel mitten im Zimmer stehen, ein bißchen geduckt wegen der unheimlichen Decke, komme mir lächerlich vor und habe keinen blassen Schimmer, was ich tun soll. »Mein Freund hier hat ein Problem«, sagt Nikita zu Cyberpunk, der sich auf einen Hocker setzt, vor ein Terminal mit eingeschaltetem Bildschirm. »Er ist Vertreter einer Firma, jemand hat ihm mit einem Virus das Buchhaltungsprogramm ruiniert.« Sie zieht die Diskette hervor und gibt sie Cyberpunk, der sie in die Hand nimmt, erst sie ansieht und dann mich. »Was für eine Firma?« fragt er. 49
»Joghurt«, sage ich so dahin, etwas Besseres fallt mir auf die Schnelle nicht ein. »Verstehe.« Cyberpunk sieht mich an. Ich sehe ihn an. Vopo sieht uns an. »Gegen Bezahlung, versteht sich«, sagt Nikita. »Versteht sich«, sagt Cyberpunk und sieht mich an. Gute Güte … gleich fange ich an zu schreien. »Wieviel?« frage ich einfach, um das Schweigen zu brechen. »Wieviel?« fragt Cyberpunk. O Herr Jesus Christus … »Zweihunderttausend«, sagt Nikita. Ich öffne den Mund, um zu protestieren, aber der Lange kommt mir zuvor. »Okay«, sagt er schnell, »die Sache läuft.« Er rotiert auf dem Hocker und steckt die Diskette in den Computer, dann huschen seine Finger in aberwitzigem Tempo über die Tastatur. Der Bildschirm füllt sich mit Buchstaben und Zahlen, die in zwei Spalten unterteilt sind, Cyberpunk beugt sich so weit vor, daß seine Nasenspitze fast den Bildschirm berührt, der in der Mitte ein wenig beschlägt. »Cyberninja«, sagt er. »Das ist einer der übelsten und hartnäckigsten Viren, die im Umlauf sind. Ich weiß, wer ihn designt hat.« »Ah, gut …«, sage ich, »dann ist es ja leicht …« »Von wegen leicht … aber keine Sorge, nur ein Cyberkiller kann einen anderen Cyberkiller aufs Kreuz legen, und in meinem Fach bin ich der beste von allen, also … wenn du herausfindest, wer dir diesen Streich gespielt hat, und es ihm heimzahlen willst, gebe ich dir für dreihundert Scheine einen Virus, der noch schwerer zu knacken ist. Jedenfalls, du hast Glück … bis vor zwei Wochen gab es noch kein Gegenmittel, aber jetzt habe ich einen Dreh entdeckt. Nimm dir einen Stuhl und setz dich.« Ich führe den Befehl aus und setze mich neben den Langen. 50
Der Kerl auf dem Sofa sagt Nikita was ins Ohr, sie lacht. Ich höre sie tuscheln, aber sie sitzen in meinem Rücken, ich kann sie nicht sehen. »Ich reinige jetzt die Diskette mit einem Antivirenprogramm«, sagt Cyberpunk wie ein Chirurg im OP. »Da, bitte … scheinbar alles in Ordnung, aber denkste, Cyberninja verfügt nämlich über eine Reserveinstruktion, die noch rattenmieser ist als die anderen. Wenn du jetzt versuchst reinzukommen, stürzt dir alles ab …« Ich verstehe kein Wort. Ich schaue zu und warte, wie ein Trottel. Vopo und Nikita scheinen auch nicht zuzuhören. Ich höre sie wieder lachen, dann riecht es plötzlich komisch, streng und süßlich. Der Lange tippt eine Reihe von Zahlen ein, die auf dem Bildschirm erscheinen, dann ein paar Wörter, wartet, bis zwei Spalten mit Buchstaben über den Bildschirm laufen, und dreht sich auf seinem Hocker zu mir hin. »Jetzt heißt es ein bißchen warten«, sagt er und streckt die Hand zur Seite aus. Vom Sofa reicht Vopo ihm eine Papiertüte, die Cyberpunk am Rand anleckt und zu Ende rollt. Nikita sieht mich an und lächelt boshaft. Jesus. Der Lange zündet an, zieht ein bißchen, stößt einen Mundvoll Rauch aus und reicht die Tüte mit der Glut oben an Nikita weiter. »Ladies first«, sagt er zu mir. O ja, Ladies first … Rotzbengel. Wenn ich nicht unbedingt wissen wollte, was auf der Diskette ist, hätte ich sie schon längst alle miteinander verhaftet, Nikita inklusive. Auf dem Bildschirm verschwinden die Buchstaben, und Cyberpunk rotiert auf seinem Hocker, die Finger schon bereit. »Aha …«, erklärt er mir, »gleich ist es soweit …« Ich verstehe immer noch kein Wort, aber ich habe den Eindruck, als wären wir so weit wie am Anfang. Die wollen mich wohl verarschen. Cyberpunk greift nach der Tüte und nimmt zischend einen Zug. Er behält den Rauch eine Weile in 51
den aufgeblasenen Backen, bevor er ihn ausstößt. Ich bin kurz davor aufzustehen, mir Nikita zu schnappen und mit ihr abzuhauen, weil es mir gehörig auf den Sack geht, daß ich hier meine Zeit verliere, und deshalb gebe ich die Tüte direkt an Vopo weiter, ohne etwas zu sagen. Doch da beugt sich Cyberpunk eilig wieder über die Tastatur. Er drückt zwei Tasten gleichzeitig, der Bildschirm erlischt, dann leuchtet er wieder auf. »Jetzt … das ist der spannende Moment. Wenn es geklappt hat, kommen wir ins Programm rein, wenn nicht: Auf Wiedersehen, dann knallt’s, und wir sind am Arsch …« Er hält den Atem an, und ich halte ihn auch an, obwohl mir auf der Zunge liegt zu fragen: Wie, dann knallt’s? Von hinten lacht Nikita leise, aber ich achte gar nicht darauf. »Lauf!« brüllt Cyberpunk und reckt die geballte Faust, wie im Stadion. »Da, er läßt uns rein! Wir haben’s geschafft!« Auf dem Bildschirm erscheint die Programmaske, ohne Totenköpfe und ohne das bescheuerte Gedudel. Cyberpunk holt sich von Vopo die Tüte, nimmt einen tiefen Zug und reicht sie mir. Ich bin so aufgeregt, daß ich auch einen Zug nehme, aber ich kriege ihn in den falschen Hals und muß husten. »Gib mir das Password«, sagt der Lange. »Das was?« »Den Schlüssel, den Zugangscode … Weißt du, ohne wird’s echt knifflig, in ein Programm wie das da reinzukommen … es ist ein Satz mit drei Wörtern …« »Peppino aus Capri«, sagt Nikita. Ich muß lächeln, aber der Lange bleibt ernst und nickt. »Tatsächlich … das nenne ich Phantasie, Leute … hereinspaziert.« Peppino, Scheiße … was soll das heißen? Okay, ich werde Nikita fragen, nachher … vorläufig schaue ich auf den Bildschirm und sehe ein Buchhaltungsprogramm, genauso eins 52
wie in der Kantinenbeschaffung, mit doppelter Buchführung, Kontonummern und allem Drum und Dran. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine ganz gewöhnliche Bilanz aus mehreren geschäftlichen Aktivitäten zu handeln, ein paar Pizzerien und ein Schuhgeschäft, aber etwas an der Sache ist faul. »Ach, das Bella Napoli …«, murmelt der Lange, »ist das nicht die Pizzeria, die neulich abgebrannt ist? Junge, Junge, die hat ja dreihundert Prozent Profit abgeworfen … Sag mal, was tust du eigentlich in deine Joghurts rein? Und zum Schluß kommt auch noch raus, daß du Verlust gemacht hast. Gratuliere, du hast die dreifache Buchführung erfunden …« Er bemerkt meinen Blick und hebt die Hand. »Geht mich natürlich nichts an«, murmelt er. Dann dreht er sich auf dem Hocker, wendet dem Bildschirm den Rücken zu und saugt zischend an der Tüte. In Wirklichkeit hat mein Blick gar nicht ihm gegolten, obwohl ich wirklich ein komisches Gesicht gemacht haben muß. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Es gibt nämlich nur eins, was dreihundert Prozent Profit abwirft: Kokain. Und es gibt nur eine Aktivität, die, nachdem sie so viel eingebracht hat, mit einem Verlust abschließen kann: die Geldwäsche aus dem Kokaingeschäft. Und es gibt nur eine Organisation, die Kokaingeld wäscht. Die Mafia. Schöne Scheiße. Ich werfe Nikita einen Blick zu, weil ich sie nicht mehr lachen höre, aber sie schaut in eine andere Richtung, während Vopo ihr etwas ins Ohr flüstert, offenbar hat sie gar nichts mitgekriegt. Wenn sie nur eine Ahnung hätte, was möglicherweise hinter dieser Sache steckt, würde sie einen Aufstand machen, daß ich gar nicht daran denken mag. Aber offensichtlich hat sie anderes im Kopf. »Sag mal, Ivan …«, sagt sie, »wer ist eigentlich der Kerl, der Cyberninja entwickelt hat?« »Er wird Psycho genannt … Er wohnt in der Bolognina. Du 53
kennst doch Acido, den Freund von Neuro? Also, Psycho ist der Einzelgänger, der immer mit Acidos Bruder rumhängt …« »Anfe?« »Bravo, den meine ich …« »Hör mal … Vor uns ist doch noch keiner zu dir gekommen und hat dich gebeten, den Virus auszuschalten, oder? Also muß Psycho ihn designt haben, oder? Wäre Psycho denn ohne Password in die Diskette reingekommen?« »Nein, das hätte er nicht geschafft. Entweder kannte er es, oder er hat es irgendwie rausgekriegt, vielleicht hat er es bei jemandem aufgeschnappt …« Der Lange reckt sich. »Kann man die zweihundert Scheine mal sehen?« fragt er mich, als würden wir pokern. Ich stecke die Hand in die Gesäßtasche und fummele nach dem Geldbeutel. Nikita lächelt Vopo an und sagt: »Benimm dich, ja«, dann steht sie auf und fragt, wo das Klo ist. Ich sage: »Da sind die zweihundert Scheine«, und ziehe das Geld hervor, während Nikita sich, bevor sie hinausgeht, mit einer Hand auf meinem Knie aufstützt und mir zuflüstert: »Sei brav«, ein warmer Hauch an meinem Hals, der mich zusammenknüllt wie ein trockenes Blatt. Der Lange sagt: »Danke«, und ich: »Diskette, bitte«, aber angeschissen: Die Diskette ist nicht mehr da. Auch Nikita ist nicht mehr da. Verdammte Drecksmisthurenkacke. Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf und stoße dabei den Stuhl um. Cyberpunk schnellt von seinem Hocker, Vopo stößt sich vom Sofa ab und baut sich vor der Tür auf, wo der rote Vorhang noch hin und her schwingt, Nikita ist ja erst vor einer Sekunde durchgegangen. Erst jetzt bemerke ich, wie kräftig dieser Vopo ist, er hat den aufgepumpten Brustkorb eines Bodybuilders, die kurzen Ärmel des T-Shirts spannen über den Bizepsen. »Verpiß dich«, knurre ich ihm ins Gesicht. »Sonst tust du dir noch weh.« 54
Vopo, das Arschloch, lächelt. »Wieso«, zischt er, »hast du den schwarzen Gürtel in Judo?« Nein, ich habe nicht mal den weißen Gürtel … den Kurs habe ich nach der dritten Stunde geschmissen, weil ich mir die Schulter ausgerenkt habe. Aber was soll’s? Ich habe eine Pistole: Mit einem Ruck, daß das Halfter knirscht, reiße ich die Jacke auf und zeige sie ihm. »Mann, der hat eine Knarre!« ächzt Vopo und tritt sofort zur Seite. Cyberpunk quetscht sich an die Wand und hält mir die zwei Hunderttausender hin, aber die interessieren mich einen Scheiß, mit dem Gesicht voran stürme ich durch den Vorhang, flitze den Gang entlang und dann die Treppe hoch und raus auf die Straße, wo, wie zu erwarten, weit und breit kein Mensch zu sehen ist, nur ein Pinscher, der gegen ein Rad meines Wagens pißt. Ich stehe da wie ein Trottel, zu spät, um Nikita hinterherzurennen, zu spät, um mir die zweihundert Scheine zurückzuholen, der Lange ist bestimmt schon über alle Berge, und zu spät auch, um dem Hund in den Arsch zu treten, der seelenruhig den Bürgersteig entlangtrabt, verdammte Drecksmisthurenkacke. Und das gilt diesmal Nikita.
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Zollfahndung, Ermittlungsabteilung BETR.: Fernabhörung per Richtmikrophon Nr. 5 vom 20.04.94, Objekt: Calandra, Tommaso, genannt Don Masino (Personalien siehe Akten), und Ventimiglia, Anna Maria (Personalien werden überprüft), auf einer Parkbank in den Giardini Margherita. Autorisierung durch StA Dr. Niguastro (Antimafia, Bezirksbüro Bologna). Tommaso Calandra: »Also, was hat uns die ganze Angelegenheit bis jetzt gekostet?« Anna Maria Ventimiglia: »Einschließlich der gewaschenen Gelder, die uns entweder verlorengegangen sind, eingefroren wurden oder nicht mehr abgesichert sein dürften, sind zwanzig Milliarden blockiert, das macht an Zinsen …« Tommaso Calandra: »Schon gut, schon gut … sagen Sie’s mir nicht. Das kann ich mir selber ausmalen. Wie viele Aktivitäten hat der Buchhalter betreut?« Anna Maria Ventimiglia: »Maltoni? Mal sehen … Ich sehe gleich mal in den Unterlagen nach, dann kann ich’s Ihnen sagen … ach Gott, jetzt ist mir alles runtergefallen …« Tommaso Calandra: »Lassen Sie, lassen Sie … ich mache das …« Anna Maria Ventimiglia: »Danke, Don Masino, Sie sind ein echter Kavalier. Also, der arme Maltoni hatte …« Unbekannte Stimme: »Echt? Und seit wann? Weiß Paolo davon? So ein Mist … jetzt muß er auch einen Test machen …« [ABHÖRVORGANG UNTERBROCHEN WG. AUSSENSTEHENDER PERSONEN VOR MIKROPHON. ABHÖRVORGANG WIEDERAUFGENOMMEN NACH WEGGANG AUSSENSTEHENDER PERSONEN.] Tommaso Calandra: »Und derweil ist alles blockiert, und die 56
Zinsen gehen uns flöten … Nein, ich hab’s mir anders überlegt, sagen Sie mir, was uns diese Geschichte kostet …« [EMPFANGSSTÖRUNG; SÄNGER JOVANOTTI]: »Affacciati alla finestra amore mio …« [ABHÖRVORGANG WIEDERAUFGENOMMEN, NACHDEM AUSSENSTEHENDE PERSON MIT WALKMAN SICH ENTFERNT HAT] Anna Maria Ventimiglia: »… illiarden, über den Daumen gepeilt. Sollen wir die gesondert buchen?« Tommaso Calandra: »Nein, nein … Ich schätze, wir müssen uns ein neues Gebiet suchen … alles nach Modena verlagern, und dann Adieu Bologna … Wir machen auch in der Provinz Schluß, Medicina, Costel San Pietro … wenn ich nur begreifen würde, was zum Henker passiert ist. Bei der Familie aus der Barca verschwinden plötzlich zweihundert Millionen. Wild, wie sie sind, bringen sie den Kassierer um, den armen Maltoni, und liquidieren sogar die Angestellten von der Bank, dann finden sie heraus, daß der Buchhalter nichts damit zu tun hat, und denken, die Familie aus der Bolognina steckt dahinter, und so bricht zwischen den Mazzarà aus der Barca und den Cataniern, die den Obst- und Gemüsemarkt kontrollieren, ein Krieg aus, und dieser fanatische U’Tizzune fängt auch noch an, rumzuballern und Pizzerien niederzubrennen. Wenn ich bloß wüßte, wer sich denn nun diese zweihundert Millionen unter den Nagel gerissen hat … ehrlich gesagt, ich glaube …« [ABHÖRVORGANG ABGEBROCHEN WG. SPANNUNGSABFALL MIKROPHONBATTERIEN]
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Kapitel 8 Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger weiß ich, was zum Henker ich tun soll. Seit fast zwanzig Minuten stehe ich hier im Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes, stocksteif wie ein Wachsoldat, ich mußte schon einen Marokkaner mit pockennarbigem Gesicht, einen Fixer mit faulen Zähnen und einen vertrottelten Alten verjagen, die mich nach irgendwelchen Amtsstuben fragten. Den Alten hätte fast der Schlag getroffen, er ist so ausgerastet, daß ich zurückgebrüllt und ihm meinen Dienstausweis unter die Nase gehalten habe, und da hat er einen Stift gezückt und sich meinen Namen notiert. Und was wollen Sie jetzt machen, habe ich gesagt, einen Leserbrief an den »Carlino« schreiben? Warum bleiben Sie nicht zu Hause und genießen Ihre Rente, statt der arbeitenden Bevölkerung auf die Eier zu gehen? Weil ich noch fünf Jahre bis zu meiner Pensionierung habe, hat er gesagt, und statt an den »Carlino« zu schreiben, rufe ich direkt beim Polizeipräsidenten an: Ich bin Oberst der Carabinieri. Mist, verdammter. Scheißtag. Hätte ich heute nacht schlafen können, wäre ich morgens bestimmt mit Alpträumen aufgewacht, aber ich habe kein Auge zugekriegt. Heute nacht. Von Nikita, logisch, keine Spur, weder bei ihr zu Hause noch bei der Anrufbeantworter-Schwuchtel mit dem soften R, aber das hatte ich erwartet. Sie muß mitbekommen haben, daß es auf der Diskette um eine große Sache ging, und hat es mit der Angst gekriegt, die Kleine. Wenn ich sie mir vorstelle, irgendwo ganz allein und verängstigt, regt sich was bei mir, eine Regung Marke Hunger, nur ein Stückchen unterhalb des Magens. Wie dem auch sei, sie hat nicht ganz unrecht, es mit der Angst zu kriegen. Ich verwette den Arsch meiner heiligen Mutter, daß das Geld aus schmutzigen Geschäften 58
stammt. Sogar den GT, der gerade in der Werkstatt war, würde ich darauf verwetten, daß das organisierte Verbrechen seine Finger im Spiel hat. Die Mafia, verdammt … bis vier Uhr morgens liege ich wach, ich denke, daß diese Sache der Job meines Lebens werden könnte, der Job, der mich geradewegs aus der Kantinenbeschaffung zurück in den aktiven Dienst befördert, und wenn sich dieses Arschgesicht von Polizeichef auf den Kopf stellt … und ich bin so wibbelig, daß ich nicht still im Bett liegen kann, ich muß aufstehen und ins Bad, pissen. Aber dort verläßt mich der Mut schon wieder. Wie stelle ich mir das eigentlich vor, soll ich zum Polizeichef gehen und sagen, daß ich zufällig auf einen Sprung in den Diensträumen der Kripo war und von einem Verbrechen Kenntnis bekommen habe, von dem ich aber keinem was gesagt habe? Und das ist noch nicht alles: Ich habe auch noch einen Zeugen mit zweihundert Millionen Beweisen entwischen lassen, habe den Computer der Verwaltung zum Absturz gebracht und bin entgegen der Dienstvorschrift in ein Haus eingedrungen, wo ich drei Hunde gekillt habe … Wenn ich nur daran denke, läuft es mir eiskalt den Rücken runter, ich bin so angespannt, daß mir der Gummi der Unterhose, den ich beim Pissen mit dem Daumen runterhalte, wegflitscht und wie eine Peitsche auf die Schwanzspitze knallt, was mir das letzte Mal als kleiner Junge passiert ist. Deprimiert und mit einem tauben Gefühl gehe ich zurück ins Bett und denke wieder an Nikita, die jetzt irgendwo verängstigt hockt, und an ihren komischen Freund mit dem soften R, der Gott weiß wer ist, und dann wieder an Nikita, die Gott weiß wo ist, und in diesem Augenblick, während ich einzuschlafen versuche, fällt mir ein, zu wem ich gehen könnte. Malerba, Mensch, der Held der Antimafia. Die Hierarchie überspringen und direkt zum Staatsanwalt gehen und dann auch noch den Mut aufbringen, ihm alles zu erzählen … Mich schaudert so sehr, daß ich fast glaube, ich schwebe über den Laken. Könnte natürlich sein, daß der Staatsanwalt sauer wird 59
und mich an den Polizeichef verweist, und dann bringt der mich erst um und begräbt mich anschließend für den Rest meines Lebens in der Kantinenbeschaffung. Aber nicht in der Verwaltung … in einem Kühlraum, zusammen mit elftausendfünfhundert Bechern Blaubeerjoghurt. Aber das wird Malerba nicht tun, Mann, der nicht. Ich sehe wieder sein Gesicht von damals vor mir, als er mir auf der Beerdigung meines armen Pappis die Hand gedrückt hat, ich war noch ein Junge, erst fünfzehn. Ich erinnere mich nicht mehr, was er zu mir gesagt hat, aber an das Gesicht schon, und ob. Knallhart. Also denke ich: Leck mich, morgen gehe ich zu ihm, und das gibt mir so viel Sicherheit, daß ich die Augen schließe und genau in dem Moment einschlafe, als der Radiowecker sich mit den SiebenUhr-Nachrichten einschaltet. Doch jetzt, in der Halle des Gerichtsgebäudes, mache ich mir in die Hose und weiß nicht, was ich tun soll. Einen Augenblick lang denke ich, ich sollte alles abblasen, in meine Kantinenbeschaffung zurückgehen, wo Gargiulo inzwischen das Buchhaltungsarchiv bestimmt schon wieder in Ordnung gebracht hat, ihm den gebotenen Anschiß verpassen und die ganze Sache vergessen … Einen Augenblick lang, einen Augenblick, der zwanzig Minuten dauert. Wenn ich zum Staatsanwalt gehe, sage ich mir, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder er glaubt mir und vertraut mir den Fall an, oder er glaubt mir nicht und schickt mich zum Teufel. Oder er glaubt mir und betraut jemand anderen mit dem Fall, was das Beste wäre. Oder er glaubt mir nicht und strengt ein Disziplinarverfahren gegen mich an. Oder er glaubt mir und … Scheiß drauf, es gibt viele Möglichkeiten. Schließlich raffe ich mich auf, denke daran, wie Malerba auf dem Foto im »Carlino« weint, denke an Papas Gedenkanzeige und auch an Nikita, sage noch mal: Scheiß drauf, und stürme, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hoch. Da, man sieht es schon an seiner Sekretärin, daß dieser Staatsanwalt Mumm hat, verdammt. Das 60
ist aber auch ein klasse Schuß, blond, lange Haare, Nickelbrille und graues Jäckchen mit nichts drunter, Typ sexy Sekretärin. Zu allem Überfluß ertappe ich sie auch noch im Büro des Staatsanwalts, auf seinem Stuhl, was mir sagt, daß sie im Büro vom Boß sozusagen zu Hause ist, die Schlampe. Ich male mir schon aus, wie sie unter dem Tisch herumkriecht, und lächele ihr zu, während sie die Beine vom Tisch nimmt und sich anständig hinzusetzen versucht. »Im Vorzimmer war keiner«, sage ich, »deshalb bin ich rein. Keine Sorge, ich verrat’s dem Doktor nicht, daß du dich auf seinen Platz setzt, wenn er nicht da ist. Wo ist er? Kommt er bald wieder?« Sie kneift die Lippen zusammen, die für meinen Geschmack ein bißchen zu schmal sind, und starrt mich durch die runden Gläser an. Sie hat grüne Augen. »Wo ist wer?« fragt sie. »Der Doktor.« »Und wer sind Sie?« »Sovrintendente Coliandro«, knurre ich, weil sie mir langsam auf die Eier geht, die Kleine, mit ihrem Superschußgetue. »Staatspolizei. Und wer bist du?« »Der Doktor. Stefania Longhi, Staatsanwältin der Republik Italien.« Ach du Scheiße, ein weiblicher Staatsanwalt … wer hätte das gedacht, so schön … Ich schlucke und bin total verlegen, weil sie mich ansieht wie einen, der in der Rangfolge gleich nach Hundescheiße kommt. »Ahm … also …«, stammele ich, »ich muß mich im Büro geirrt haben … ich wollte zu Dr. Malerba vom AntimafiaBezirksbüro, und wahrscheinlich …« »Das ist das Büro von Dr. Malerba, und wahrscheinlich haben Sie mich mit seiner Sekretärin verwechselt …« 61
»I wo, was sagen Sie da, ich …«, beginne ich, während ich denke, Scheiße aber auch, für eine Frau ist die ganz schön auf Zack, aber sie bohrt weiter mit ihrem Hundescheißeblick, und ich kriege kein Wort mehr heraus. »Doktor Malerba ist dienstlich unterwegs und könnte genauso gut heute nachmittag oder in einer Woche zurückkommen. Deshalb vertrete ich ihn. Sagen Sie mir bitte noch mal Ihren Namen?« »Ja, wenn das so ist … vielleicht komme ich besser ein andermal wieder …« Sie runzelt die Stirn und kneift die Lippen noch mehr zusammen. »Coliandro, haben Sie gesagt, Coliandro … Vor längerer Zeit habe ich mal ein Verfahren geleitet, es ging um einen gewissen … Amadei? Amidei? Ich erinnere mich nicht mehr.« Amidei, ich erinnere mich nämlich sehr gut. Ein Assistente im Streifendienst, der auf seinen Runden den Nutten Geld abknöpfte. Eines abends waren wir zu dritt im Streifenwagen, Amidei, ein kleiner Wichser von Agente, der noch keinen Monat dabei war, und ich, ich hatte zwar dienstfrei, war aber trotzdem mitgefahren, weil ich zu Hause nicht schlafen konnte. Amidei hat sich mit einer Nutte um das Geld gestritten, der kleine Wichser hat das mitgekriegt und ihn angezeigt. »Ihr Bericht damals war reichlich wirr … widersprüchlich, würde ich sagen.« »Ja … das heißt, nein … es ist nur, ich habe doch geschlafen, als der kleine Wichs … der Agente, wollte ich sagen, den Vorfall bemerkte.« Ich verpfeife keinen Kollegen. Amidei war ein Arschgesicht, aber ich mache bei Kollegen nicht den Spitzel. Wozu auch? Amidei war seinen Job los, und der Wichser wurde mit einem Schulterklopfen in die Paßstelle versetzt. Und die Nutte steht immer noch da, hinterm Bahnhof. 62
»Ich verstehe«, sagt Frau Dr. und fixiert mich, was ich mitbekomme, obwohl ich auf den Schreibtisch starre. Ich muß rot geworden sein, mein Gesicht steht in Flammen. Sie legt den Kopf auf die Seite und fixiert mich weiter, wobei sie eine Locke um den Finger wickelt. »Besser gesagt, ich verstehe nicht … das Ganze gefällt mir nicht. Mir gefällt dieser Polizistenschlag nicht. Aber das ist unwichtig. Wollen Sie vielleicht mir sagen, weshalb Sie Dr. Malerba suchen?« Nein, will ich nicht. Ich würde dieser Nervtante am liebsten die Fresse polieren, und ich hätte es auch schon längst getan, wenn sie nicht eine Frau und vor allem Staatsanwältin wäre, schöne Scheiße. Aber weil ich keine Lust habe, daß man mich für einen hält, der den Nutten Geld abknöpft, stütze ich mich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab wie Clint Eastwood in Dirty Harry, tierisch, und während ich ihr direkt in die grünen Augen schaue, knalle ich ihr meine ganze Geschichte vor den Latz, inklusive Psycho, Peppino aus Capri und namiorenghienchiòChinesensingsang. Nur das Detail mit dem Virus im Computer der Kantinenbeschaffung lasse ich aus. Und die Schießerei mit den Hunden. Und die Leiche in der Villa … auf halber Strecke komme ich deshalb ein bißchen ins Schleudern, aber dann halte ich bis zum Ende durch. Sie zuckt mit keiner Wimper. »Wie heißt das Mädchen?« fragt sie. »Nikita. Das heißt, Simona Stanzani …« »Und wo ist sie jetzt?« »Also, das weiß ich nicht, ich glaube …« »Und wie heißt der Absender des Umschlags?« »Also, das weiß ich nicht, aber ich denke …« »Und wo soll dieser Umschlag jetzt sein?« »Das kann ich nicht mit Gewißheit sagen, aber …« »Mal abgesehen von der Tatsache, daß Sie einen Haufen Geld 63
aus der Hand gegeben haben, Sovrintendente, gibt es überhaupt etwas, das Sie wissen?« »Ja«, murmele ich, »ich weiß, daß ich eigentlich in der Kantinenbeschaffung sein und die Lieferscheine von vier Kartons Girella Dreifachgeschmack verbuchen sollte.« Sie nickt und schießt einen grünen Blitz durch die Augenschlitze. Dann lehnt sie sich zurück und legt die Beine wieder auf den Schreibtisch, die Schlampe, als wäre ich gar nicht vorhanden. »Machen wir es so«, sagt sie, »ich schreibe einen Vermerk und stelle ein paar Nachforschungen an … Falls dabei außer Ihren Ichweißnichts etwas herauskommt, gebe ich es an Dr. Malerba weiter, sobald er zurück ist. Vorläufig ist es besser, niemandem ein Wort davon zu sagen, meinen Sie nicht?« Ich bin so sauer, daß ich nicht mal auf ihre Beine gucken kann. Ich starre auf einen Fleck am Fußboden und nicke. »Guten Tag, Sovrintendente«, sagt sie. »Guten Tag, Frau Doktor«, sage ich. Draußen, auf dem Gang, bleibe ich vor der Tür stehen, die ich gerade hinter mir zugemacht habe, und denke: Ihr könnt mich alle mal, und das denke ich so laut, daß ich sogar die Lippen bewege, IHR KÖNNT MICH ALLE MAL, ein stummes Rauschen. Scheiß auf Nikita, die Staatsanwaltsschlampe, die toten Hunde, Peppino aus Capri und alles übrige. Das ist das zweite Mal, daß ich mir das sage, aber diesmal meine ich es ernst, verdammt. Ehrenwort. Ja, denkste. Kurz darauf passieren nämlich zwei Dinge, die mich veranlassen, meine Meinung zu ändern.
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Neugierige Privatperson Zufälliges Abhören von Mobiltelefongesprächen zwischen Unbekannten mittels eines Scanners. Keine Autorisierung (strafbar lt. gesetzl. Bestimmungen). »O. G.? Hör gut zu, ich muß dir was erzählen … Sagt dir der Name Psycho was?«
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Kapitel 9 Erstens: Ich bin in einer Videothek auf der Strada Maggiore und warte darauf, daß die Zicke mit Brille ihren Platz an der Kasse dem rothaarigen Tumben überläßt. Ich habe nämlich vergessen, daß ich letzte Woche eine tierische Lorenzo-Llamas-Kassette ausgeliehen hatte, und wenn die Zicke im Computer die Rückgabefrist überprüft, kann ich ganz schön blechen. Der Tumbe dagegen sieht nie nach, weshalb ich, während er eine Blonde im Minirock bedient, die an der Theke lehnt, so tue, als würde ich die leeren Hüllen an den Wänden nach Nachschub durchforsten. Leider ist die Blonde affenscharf und hat den Tumben um Rat gefragt, welchen Film sie nehmen soll, und so wie’s aussieht, nach dem Blick zu urteilen, mit dem er auf ihre Titten glotzt, steht zu fürchten, daß er für die Antwort einen Monat braucht. Ich verstecke mich hinter einem der beiden Ständer in der Mitte des Raums, denn die Zicke hat schon die Hände auf die Tastatur gelegt und schaut zu mir hin, und da sie jetzt auch noch den Hals reckt, um mich besser mustern zu können, verziehe ich mich in den zweiten Raum, wo die alten Schinken und die öden Kennerfilme stehen. Der Himmel über Berlin, Die Legende vom heiligen Trinker, Das große Fressen, Ein Engel an meiner Tafel, Naked Lunch … ja geht’s da eigentlich nur ums Essen? Eine gespaltene Seele, wow, muß ja die Härte sein … Wilde Nächte … wilde Nächte? Hallihallo! Aber Pustekuchen, ein Film über Aids, schöne Scheiße, ich klopfe schnell auf Holz … Der Riesenkürbis, was über behinderte Kinder, verdammt … Nebenan befindet sich noch ein kleinerer Raum, er ist durch einen Vorhang aus roten Plastikstreifen abgetrennt, davor hängt ein Schild: Für Minderjährige verboten. Durch die Plastikstreifen erkenne ich ein Paar gigantische Brüste, verlegen sehe ich mich um, ich bin unentschlossen, ob ich 66
reingehen soll oder nicht. Ich weiß nicht, warum, aber Nikita kommt mir in den Sinn, und – noch einmal – ich weiß nicht, warum, aber bei dem Gedanken schäme ich mich … Ich schaue zu der Zicke, die immer noch am Computer an der Kasse sitzt und den Hals reckt, ich schaue zu dem Tumben, der immer noch um die Blonde herumscharwenzelt, dann tue ich so, als würde ich mich auf eine Kassette genau neben der Tür konzentrieren, und mit einem Satz schlüpfe ich in die Pornostube. Mannomann … Lippen in Wallung, Animal Anal I und II, Supersex Hardcore, Die Pornobikerin, Durchgefickt im sadoperversen Frauenknast … Nicht, daß mich Pornos besonders anmachen würden … nach all den Filmen, die ich mir als Rekrut zusammen mit Sturlese angesehen habe, habe ich mir drei oder vier, vielleicht auch fünf oder sechs, maximal sieben Filme ausgeliehen, ich erinnere mich nicht mehr … trotzdem, jedesmal, wenn ich hierher komme, schwirrt mir der Kopf, und ich muß die Hand in die Hosentasche stecken, um die Dinge wieder zurechtzurücken, wobei ich die Titten einer gewissen Mercedes Ambrus nicht aus den Augen lasse. Ich bin gerade damit fertig, als ein ziemlich kurz geratener Typ mit Schnauzer und schwarzer Lederjacke reinkommt. Ich setze ein Gesicht Marke ›Typ, du nervst‹ auf, ändere aber sofort die Strategie, denn er ist in Begleitung eines hübschen Mädels gekommen, groß, kurze Haare, und das macht mich verlegen. Irgendwie benehmen sich die beiden komisch. Das Mädchen bleibt an der Tür stehen und sieht nach draußen statt nach drinnen, und während ich noch überlege, ob sie sich vielleicht schämt, streift der Typ mit dem Schnauzer an den Kassetten entlang und stellt sich vor mich hin. Dann dreht er sich um, geht an mir vorbei und verschwindet. Das erste, was ich spüre, ist, daß ich einen Schmerz spüre. Das zweite ist der Ruck, als er das Messer herauszieht, ein sehr heftiger Ruck, der mich einen Meter nach vorn reißt. Das dritte ist eine ziemliche Wärme am Bauch, eine nasse Wärme, die sich 67
ausdehnt und aufsteigt, und das vierte, was ich spüre, sind die Beine, die sich verabschieden. Ich falle mit den Knien auf den Teppichboden, der Aufprall durchfährt den ganzen Körper, wie ein Stromschlag. Mit einer Hand stütze ich mich an den Kassetten ab und sperre den Mund auf, aber ich bringe keinen Schrei heraus. Ich denke Mist und Verdammt und Hurenkacke und würde das am liebsten auch sagen, aber es ist, als hätte ich einen Knoten im Hals. Ich presse die Hand gegen das klatschnasse Hemd, bringe aber nicht den Mut auf, hinzuschauen, dann muß ich husten, verdammte Scheiße, das Stechen zerreißt mir die Eingeweide. Ich falle vornüber, fege mit der freien Hand alle Kassetten von der Wand und knalle mit dem Gesicht voll auf den Boden. Das letzte, was ich sehe, bevor ich ohnmächtig werde, ist ein in Leder gekleideter Schwulenarsch, der sich gegen meine Nase quetscht. Ich denke an Simona, und, warum auch immer, ich schäme mich schon wieder.
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Kapitel 10 Zweitens: Ich werde verhaftet. Ich liege in einem Krankenhausbett und vermeide jeden Blick auf die Infusion, denn bei der Vorstellung, daß ich eine Nadel in der Vene habe, schüttelt es mich. Ich habe ein Loch im Bauch, darüber liegt eine Mullbinde mit Pflaster, die jedesmal, wenn ich atme, unter dem Unterhemd raschelt. Es tut nicht weh. Wie’s aussieht, verdanke ich mein Leben zwei Jungs von der Steuerfahndung, die reinkamen, um die Kassenbons zu kontrollieren. Die Frau am Eingang zur Pornostube hat sie gesehen und den Typ mit dem Schnauzer gewarnt, der Muffe bekam und verduftet ist, bevor er mich ganz erledigen konnte. Puh, verdammt. Erzählt bekomme ich das alles von Dr. Longhi, der sexy Staatsanwältin, die mich durch die runden Gläser ihrer Brille fixiert. Sie sitzt schräg auf einem Stuhl neben dem Bett, ein Sonnenstrahl, der durchs Fenster einfallt, verschleiert die Gläser. Kälter als ein Eiszapfen ist sie, die Staatsanwältin. Sie könnte die Rolle des Nazis in einem KZ-Film spielen, wären da nicht die schwarzen Strümpfe, die ihre übereinandergeschlagenen Beine verhüllen, und der Rand aus Spitze, ebenfalls schwarz, der kaum sichtbar unter dem Aufschlag des grauen Blazers hervorschaut. »Tja«, sagt sie, »man hat Sie auf dem Boden der Pornofilmabteilung mit einer Stichwunde im Bauch, inneren Blutungen und Verdacht auf Schädigung des Bauchfells gefunden, aber die Verletzungen konnten erfolgreich behandelt werden. Sie haben Glück gehabt, Sovrintendente, in diesem Separee mit den Pornovideos.« Sie reitet immer weiter darauf rum, die Kuh. Ich will die Schultern zucken, aber ich habe Angst vor den Schmerzen im Bauch. Sie kramt in der Handtasche, die sie umgehängt hat, und 69
zieht einen verschlossenen gelben Briefumschlag hervor, auf dem meine Adresse steht. »Hier«, sagt sie und legt ihn aufs Bett, genau auf die Wunde, »der ist für Sie.« »Was ist das?« frage ich, »eine Belobigung?« »Nein. Ein Ermittlungsbescheid.« »Wegen der Pornovideos?« »Wegen Mordes.« »Hä?« Ich will mich aufsetzen, aber sobald ich nur daran denke, die Bauchmuskeln anzuspannen, tut es weh, also bleibe ich liegen. Ich kann nicht mal mehr sprechen, ich öffne den Mund, aber es kommt nichts heraus. Schöne Scheiße. Sie zieht den Stuhl näher ans Bett und beugt sich über mich, Auge in Auge, als ob sie mich küssen wollte. Sie sieht mir in die Augen und flüstert mir etwas zu, ihre Lippen bewegen sich kaum. »Ich habe Vorbeugehaft für Sie angeordnet, Sovrintendente. Sie werden hier im Krankenhaus von Carabinieri bewacht, und sobald Sie rauskommen, werde ich Sie verhaften. Gegen Sie wird wegen Mordes, Beihilfe, Hehlerei und Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt.« Was zum Henker … Sie setzt sich auf, lehnt sich zurück und fangt an, sich die Haare um den Finger zu wickeln. »Im Zeitraum zwischen dem 18. und 20. April – die Ergebnisse der Autopsie sind leider nicht präziser, aber da baue ich ganz auf Sie, Sovrintendente – irgendwann in diesem Zeitraum sind Sie in eine Privatwohnung in der Via del Passero Nummer 21 eingedrungen, wo Sie fünfzehn Schüsse aus Ihrer Dienstwaffe abgegeben und drei Wachhunde sowie den Besitzer des Hauses, den Buchhalter Federico Maltoni, getötet haben.« »Nein!« Jetzt kann ich wieder reden, beziehungsweise brüllen. »Das ist nicht wahr! Die Hunde haben den Buchhalter getötet!« 70
Sie lächelt, und die Art, wie sie es tut, jagt mir Schauder über den Rücken. »Ich bezweifle, daß ein Rottweiler, so hochgezüchtet und abgerichtet er auch sein mag, imstande ist, sein Herrchen zu fesseln und ihm eine 9x19-mm-Kugel ins Genick zu jagen. Finden Sie nicht?« Scheiße. Unmöglich … und doch, es könnte was dran sein, ich habe nur das zerfressene Gesicht des Buchhalters gesehen, und das hat mir gereicht. Er lag halb unter dem Bett, und den Rest, die Arme, habe ich nicht gesehen … Aber was zum Henker habe ich damit zu tun? »Wir haben fünfzehn Hülsen aus Ihrer Pistole gefunden, Sovrintendente. Der Erkennungsdienst hat die Systemspuren untersucht, es besteht kein Zweifel …« »Ja, ich gebe zu, ich habe auf die Hunde geschossen, aber …« »Wir haben die Projektile eingesammelt und werden auch diese untersuchen, seien Sie unbesorgt. Wir überlassen nichts dem Zufall, Sovrintendente.« Ich schnappe nach Luft, aber ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll, obwohl ich einiges zu sagen hätte. Hehlerei? Bildung einer kriminellen Vereinigung? Ich? Sag mal, hat die eigentlich den Arsch auf? Die Kuh kommt wieder näher. Der Blazer geht ein bißchen auf, ich hätte freie Sicht auf ihre Titten, aber in diesem Augenblick interessiert mich das einen Scheiß, Ehrenwort. »Verstehen Sie mich recht, das hier ist kein Verhör«, zischt sie eiskalt, »ich möchte nicht, daß Sie das, was Sie mir jetzt sagen könnten, mit der Entschuldigung entkräften, Sie hätten phantasiert oder Ihr Anwalt sei nicht dabeigewesen. Ich setze Sie nur davon in Kenntnis, daß ich gegen Sie ermittle und daß bis zu Ihrer Entlassung zwei Carabinieri vor der Tür stehen werden. Danach werden Sie verhaftet.« 71
Sie steht auf, zieht mit einem Zzzzz den Rock über den Strümpfen glatt und hängt die Tasche um. »Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Sovrintendente. Ich mag einen bestimmten Polizistenschlag nicht. Ihren Polizistenschlag.« Mit einem schlanken Finger, der so gerade ist wie ein Schwert, zeigt sie auf mich, dann geht sie und läßt mich allein. Oh, Scheiße. Oh, Scheiße. Gott weiß wie lange habe ich an nichts anderes denken können, glaube ich, Stunden vielleicht, während ich an die weiße Decke starrte und es immer düsterer wurde, im Hintergrund das stetige Plick-Plick der Infusion. Oh, Scheiße … und ich denke das immer noch, als ich auf dem Gang Schritte höre, ganz ganz leise, klar: bestimmt haben sie mich in eine Isolierstation gesteckt. Aber es sind komische Schritte, nicht das Tack-Tack der Lederschuhe der Carabinieri … eher das TonfTonf der Stiefel aus meiner Militärzeit. Sag bloß, ich bin so gefährlich, daß man Soldaten zu meiner Bewachung abgestellt hat? Ich höre, daß die Tür geöffnet wird, und drehe das Gesicht zur Seite, aufs Kissen. In dieser Stellung kann ich den Fußboden sehen, die Kante der sich öffnenden Tür, den Lichtstreifen, der sich auf den grauen Fliesen breitmacht, und die blöden Boots, die hereinkommen. Die blöden Boots von Nikita. »Was machst du denn hier?« frage ich. »Sag lieber, was du hier machst …« Sie setzt sich auf die Bettkante, und ich sage: »He, paß auf«, weil sich die Bettdecke unter ihrem Gewicht spannt und auf die Wunde drückt. Nikita beugt sich über mich und kämmt mir mit den Fingern die Haare aus der Stirn. Ihre Finger sind warm, und für einen Augenblick vergesse ich alles andere. »Ich habe in der Zeitung gelesen, daß sie dich abgestochen haben«, sagt sie, »also wollte ich mal nachsehen, wie es dir geht. Wie geht’s dir?« »Es ist nichts«, sage ich mit einer Grimasse, »nur ein Kratzer. 72
Bin ich gewöhnt. Wo zum Henker bist du gewesen?« »Ich habe mich versteckt. Ich verstecke mich noch immer, keine Sorge. Ich verwahre den Umschlag mit dem Geld und dem übrigen Zeug an einem sicheren Ort, da kommst du nie drauf.« »Simona …« »Nein, weißt du … ich mache lieber alles allein, ist besser so. Ich habe diesen Psycho noch nicht gefunden, weil er sich buchstäblich in Luft aufgelöst hat, aber du wirst sehen, früher oder später treibe ich ihn auf. Ich wollte nur mal nachsehen, ob du noch lebst, ich verschwinde gleich wieder, du kannst mir sowieso nicht hinterherlaufen.« Sie beugt sich wieder nach vorn, die Decke spannt sich, was mir höllische Schmerzen bereitet, und drückt die Lippen auf meine Stirn. Auch ihre Lippen sind warm. »Wieso liegst du eigentlich in der Abteilung für ansteckende Krankheiten?« fragt sie mich, während sie aufsteht, »hat man dich mit einer Spritze abgestochen?« »Blöde Kuh. Ich bin hier, weil ich unter Bewachung stehe. Apropos, wie bist du eigentlich an den Carabinieri vorbeigekommen?« »Welche Carabinieri?« Vielleicht ist es die Art, wie sie das sagt, vielleicht ist es das Geräusch des Aufzugs, draußen auf dem Gang, der mich an einen Film erinnert … Ein eisiger Schauder durchfährt meinen Körper wie ein Stromschlag, es kommt mir vor, als würden sich sogar die Nähte an der Wunde kräuseln. »Wieso … stehen denn keine Carabinieri vor der Tür?« »Ich hab keinen gesehen … Besser gesagt, da ist keiner. Es ist sieben Uhr, jetzt ist keine Besuchszeit, deshalb bin ich ja gerade jetzt – gekommen. Was haben die Carabinieri damit zu tun?« Wahrscheinlich liegt es an meinem Gesichtsausdruck, jedenfalls erschrickt sie sich auch. Ich verschwende keinen 73
Gedanken daran, daß die Longhi leere Drohungen ausgestoßen oder vergessen hat, ihre Leute zu postieren. Wenn die Brüder nicht da sind oder nicht mehr da sind, muß es einen Grund dafür geben. Still sehen Nikita und ich uns an, so still, daß wir wieder das Plick-Plick aus der Infusion und die Schritte auf dem Gang hören. Immer noch nicht das Tack-Tack der Carabinieri-Schuhe. Nikita schnellt wie eine Feder hoch, geht zur Tür und öffnet sie einen Spaltbreit. Als sie sie wieder zumacht, ist sie kreidebleich im Gesicht, ihre Augen sind vor Schreck geweitet. »Zanardi!« sagt sie. »Auf dem Gang ist dieser Brutalo mit dem Pferdeschwanz. Er kommt hierher!« Ach du Scheiße. Ohne zweimal zu überlegen, springe ich aus dem Bett, ich habe viel zu viel Angst, um Schmerzen zu spüren. Ich frage mich nicht, wer zum Henker Pferdeschwanz ist und was zum Henker er hier will … statt dessen suche ich im Schrank nach der Pistole, aber natürlich hat die blöde Kuh sie beschlagnahmt, nur das leere Halfter baumelt an einer Krücke. »Laß uns abhauen!« flüstert Nikita. Sie steht in der Tür zum Klo, und als sie sieht, daß ich mich nicht rühre, kommt sie angelaufen und klemmt sich meine Kleider unter den Arm. Sie schleift mich an einem Träger meines Unterhemds hinter sich her ins Klo, wodurch sie mich fast auszieht. Kaum haben wir uns eingeschlossen, geht die Tür zum Zimmer auf. Wir hocken beide auf der Kloschüssel, ich oben, Nikita unten, und halten die Luft an. In dem weiß gekachelten Quadratmeter riecht es nach Chlorbleiche und Desinfektionsmittel. Hinter der dünnen Plastiktür, deren Schloß aus einem Barbie-Haus stammen könnte, ist kein Laut zu hören. Dann ein Seufzer, das Rascheln von Stoff, das Quietschen der Schranktür, die ganz geöffnet wird … und das Kla-klack einer Waffe, die durchgeladen wird. Scheiße. Langsam senkt sich der Griff der Klotür. Scheiße Scheiße. Erst einmal, sachte, dann zweimal, heftiger, dann dreimal, viermal, mit solcher Gewalt, daß die ganze Tür wackelt. Nikita schubst mich von ihren Knien, knallt mir die 74
Kleider vor die Brust und steigt auf die Kloschüssel. Oben ist ein Fenster, groß genug für einen Menschen, und während ich auf das Plastiktürchen schaue, das sich unter einem Hagel von schweren Schlägen, die eher Tritte sein dürften, rings um das Schloß krümmt, reißt sie das Fenster auf. »Los, Mann!« Nikita ist schon draußen, ich folge ihr. Mit dem Brustkorb lege ich mich auf das Fensterbrett, um mich auf das Sims zu ziehen, und die Wunde tut so höllisch weh, daß ich es bis in die Fingerspitzen spüre. Trotzdem, ich schaffe es nach draußen und liege jetzt auf der Fensterbank wie eine Eidechse. Schuhe und Hose kann ich retten, dafür verliere ich die Socken und mein Hemd, das im Nichts hin und her wogt wie eine Möwe und fünf Stockwerke tiefer auf dem Beton im Hof landet. Nikita schaut mich an, auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck Marke ›Und was jetzt?‹ Wir sind nämlich nicht auf einem Sims, sondern auf einem langen, schmalen Vorsprung, der die Fenster von Klo und Zimmer verbindet. Dort ist Pferdeschwanz gerade damit beschäftigt, die Plastiktür einzutreten, mit mindestens einer Kanone in der Hand und der Kugel im Lauf. Diesmal bin ich es, dem die richtige Idee kommt. Den Schuh in der Hand, krieche ich an Nikita vorbei zum Fenster meines Zimmers, warte, bis Pferdeschwanz die Tür zertrümmert hat und ins Klo poltert, und schlage dann die Scheibe ein. In dem Moment, als Pferdeschwanz durch das Klofenster schaut, springen wir ins Zimmer und hechten auf den Gang. Schwein gehabt, der Aufzug steht offen. Wir stürmen rein und knallen vor lauter Schwung gegen den Spiegel. Nikita drückt auf den Knopf für das oberste Stockwerk. Der Aufzug schließt sich vor Pferdeschwanz’ Gesicht, das einen Augenblick lang in dem schmalen Spalt zwischen den Türen erscheint. Ich sehe nur ein Auge, dann geht es aufwärts, aber dieses Auge jagt mir panische Angst ein. Nikita drückt auf den HALT-Knopf, ich zucke zusammen und verliere fast das Gleichgewicht, weil ich mir gerade die Hose 75
anziehe und nur auf einem Bein stehe. Sie drückt auf Erdgeschoß, wartet ein paar Sekunden und drückt dann wieder auf das letzte Stockwerk. Sinnlos, denn Pferdeschwanz mag sich von diesem Auf und Ab ein wenig verwirren lassen, aber früher oder später wird er kapieren, wohin wir wollen, und uns am Ausgang erwarten. Denkste. Nikita wartet, bis wir an der Tür des dritten Stocks vorbeifahren, stoppt den Aufzug und macht sich an den Schiebetüren zu schaffen. Mit vereinten Kräften kriegen wir sie auf, öffnen die Etagentür und rennen die Treppe runter. Pferdeschwanz, das hören wir ganz deutlich, ist ebenfalls im Treppenhaus, aber er rennt nach oben, der Trottel. Draußen, in der Halle des Krankenhauses, sehe ich mich um, ich weiß nicht, was wir tun sollen. Hinter den heruntergelassenen Rollgittern des Zeitungskiosks erkenne ich die Lichter eines Polizeireviers, aber Nikita rennt in die entgegengesetzte Richtung, zum Ausgang. Ich mache einen Schritt hierhin und einen dahin, dann mache ich auf dem Absatz kehrt und folge Nikita. Als ich auf den Parkplatz gerannt komme, steigt sie gerade in eine blaue Ente, stotternd springt der Motor an. Ich springe zu ihr in das Auto, knalle die Tür zu, lehne mich im Sitz zurück und seufze, dann taste ich mit der Hand nach meinem Bauch, spüre, daß alles klatschnaß ist, und werde ohnmächtig.
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Staatspolizei, Abteilung Organisierte Kriminalität BETREFF: Abhörvorgang Telefon Nr. 235 vom 22.04.94, Gespräch zwischen Mazzarà, Michele (Personalien in den Akten), und Onofrio, Germano (ebd.). Autorisierung durch StA. Dr. Lanzano (Antimafia, Bezirksbüro Bologna). Mazzarà, Michele: »Hallo? Man versteht kein Wort bei diesem Telefon … Oggi, bist du da?« Onofrio, Germano: »Ja doch, ja … schrei nicht so, ich höre dich …« Mazzarà, Michele: »Welcher Idiot hat da Scheiße gebaut? Wenn ich rauskriege, wer das war!« Onofrio, Germano: »Der Buchhalter ist an allem schuld, das Arschgesicht hat den Code für sein Buchhaltungsprogramm per Handy durchgegeben. Zig Scanner-Freaks haben ihn abgehört, und einer davon war mein Cousin Psycho. Er hat die Stimme des Buchhalters wiedererkannt, hat seinen Computer geknackt und die Abrechnung kopiert …« Mazzarà, Michele: »Ein Irrenhaus! Das reinste Irrenhaus!« Onofrio, Germano: »Tja … aber ich werde den Irren schon kurieren, Miché, keine Sorge … er sitzt nämlich schon im Irrenhaus, sozusagen. Jedenfalls, der kleine Psycho hat unsere zweihundert Millionen vom Girokonto des Bella Napoli abgezweigt und sich unter den Nagel gerissen … Dann, als er gemerkt hat, was für ein Chaos er damit angerichtet hat, hat er sich in die Hose gemacht und wollte das Geld auf die dämlichste Weise zurückgeben, die es gibt … per Kurier.« Mazzarà, Michele: »Für die Dämlichen ist nichts dämlich genug … Oggí, verdammt noch mal, ich hör nichts mehr, du mußt lauter sprechen …« 77
Onofrio, Germano: »Ich hab gesagt, und jetzt? Was sollen wir jetzt machen?« Mazzarà, Michele: »Was zum Teufel willst du denn machen? Don Masino will ein Treffen aller Beteiligten, um alles zu besprechen, sagt er …« Onofrio, Germano: »Blödsinn. Ich sage dir, die Sache ist nicht mehr zu stoppen … Früher oder später wäre das sowieso passiert, das bißchen Koks, das im Viertel im Umlauf ist, hat uns sowieso nicht mehr gereicht, das weißt du doch selbst … Also laß uns die Catanier vertreiben, solange wir noch unseren Schutzengel da oben haben, und dann übernehmen wir die ganze Ware, die die Laster auf den Raststätten laden und zum Obst- und Gemüsemarkt bringen.« Mazzarà, Michele: »Ja, bravo … und Don Masino?« Onofrio, Germano: »Um den und die Corleonesen kümmern wir uns später …« Mazzarà, Michele: »Natürlich … kümmer dich lieber darum, die Sache mit diesem Scheißbullen zu erledigen und dir von dem Mädchen das Geld zurückzuholen … He, was ist denn mit diesem Telefon los, warum rauscht das denn die ganze Zeit! Ich versteh kein Wort mehr …« ABHÖRVORGANG UNTERBROCHEN. UMGEHEND WEITERLEITEN AN DR. LANZANO, SOBALD ZURÜCK AUS OSTERFERIEN.
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Kapitel 11 Mein Bauch brennt. Alles klebt, mein Gesicht ist schmierig und verschwitzt, als hätte ich geschlafen. »Ich muß geschlafen haben …« »Du hast nicht geschlafen, du warst ohnmächtig.« Nikita fährt mit durchgedrückten Armen, sie sieht starr auf die Straße und macht ein konzentriertes Gesicht. Jedesmal, wenn sie schaltet, knirscht es, ist ja auch nicht leicht, bei einer Ente. »Hm …«, sage ich, »ist doch normal, wenn man ein Loch im Bauch hat.« »Das ist kein Loch. Ich habe vorhin kurz angehalten, um dich zu verbinden, und nachgesehen … Du hattest recht, es ist nur ein Kratzer.« Von wegen Kratzer, ein Messerstich ist das. Wie dem auch sei, ich fahre mit der Hand unter das Unterhemd. Über der Wunde liegt ein gefaltetes Taschentuch, aber hinschauen tue ich lieber nicht, wenn ich nur daran denke, fängt die Luft drumrum an zu brennen. Alles nur Einbildung, in Wahrheit tut es gar nicht mehr so weh. Ich schaue aus dem Fenster, die Strahler des Autobahnrings ziehen an uns vorbei und färben sich langsam gelb, es ist fast Abend. »Wohin fahren wir?« frage ich. »Zu Massimo.« Massimo? Ach ja, die Schwuchtel … Von wegen Schwuchtel. »Hör zu, Simona … Nikita … darf ich dich was Persönliches fragen?« »Nein.« »Hey … was ist denn jetzt los? Bist du sauer?« »Sauer?« schreit sie, um den Motor zu übertönen, der auf 79
vollen Touren jault. »Sauer? Ist dir eigentlich klar, in welcher Lage wir uns befinden? Los, sag schon, ist dir das klar?« Schlagartig wird es mir klar. Vielleicht liegt es an dem entspannten Gefühl nach dem Aufwachen oder daran, daß die Wunde nicht mehr so weh tut, jedenfalls habe ich bis zu diesem Augenblick nicht daran gedacht. Verdammt: Ich bin abgehauen! Ich bin zwar eigentlich vor Pferdeschwanz abgehauen, aber damit auch vor der Longhi, und jetzt bin ich auf der Flucht, verdammte Scheiße! Ich! Ich, ein Sovrintendente der Staatspolizei … ich, der ich all die Jahre damit verbracht habe, mir in Gesellschaft von Fixern, Marokkanern, Transvestiten, Nutten und Blaubeerjoghurts den Arsch aufzureißen … ich bin auf der Flucht, Drecksmisthurenkacke, EIN ENTFLOHENER STRÄFLING, Mann! Das ist nicht möglich … das ist nicht fair … »Die Alte hängt mich an den Eiern auf …«, stöhne ich. »Hör bitte damit auf …« Ich … weiß nicht mehr weiter. Ich fühle mich verloren. Ich fühle mich geradezu elend. Ich bin ein Polizist, Gott im Himmel, ein Polizist … ich verfolge, ich fliehe nicht. »Nein, ehrlich, die Alte hängt mich an den Eiern auf …« »Jetzt reicht’s aber, verdammt noch mal! Du hast also immer noch nichts kapiert! Du denkst nur an dich selbst, merkst du eigentlich nicht, daß wir in der Scheiße sitzen? Wenn sie jemanden geschickt haben, dich umzubringen, heißt das, daß sie alles über den Umschlag mit dem Geld wissen, sie wissen alles über dich, und über mich auch, verdammt! Und woher wissen sie das alles? Ich hab keinem was gesagt!« »Ich auch nicht …«, beginne ich, aber ich unterbreche mich sofort. Es stimmt nicht, daß ich keinem was gesagt hätte. Diese Schlampe von Longhi. Mich überfallt plötzlich eine solche Kälte, daß ich den Kopf einziehe. Das ist nicht möglich, eine von der Justiz, Mann, eine Staatsanwältin, eine Vertreterin des Staates, okay, eine Frau, aber … und der Messerstich in den 80
Bauch, den ich mir eingefangen habe? Direkt im Anschluß an unser Gespräch … leck mich am Arsch, wahrscheinlich gibt es irgendwo eine undichte Stelle. Und die Carabinieri? Die Brüder, die auf mich aufpassen sollten und nicht da waren? Wer hat sie abgezogen? Drecksmisthurenkacke … ich bin so verwirrt, daß ich Nikita alles erzähle, in einem Zug, ohne die geringste Vorwarnung. Sie tritt so heftig auf die Bremse, daß ich mich mit den Händen am Armaturenbrett abstützen muß, um nicht mit der Nase gegen die Windschutzscheibe zu knallen. Während die Ente noch mit blockierenden Reifen und quietschenden Bremsen über die Straße schliddert, dreht sie sich zu mir hin und hebt die Faust. Ich halte die Hände vor meinen Bauch, denn an ihrem Blick glaube ich zu erkennen, daß sie auf die Wunde zielt, aber sie überlegt es sich anders, winkelt den Ellbogen an und haut mir damit eins in die Schnauze. Dann sieht sie mich an, zieht die Mundwinkel nach unten, schiebt die Unterlippe vor, legt die Stirn aufs Lenkrad und fängt an zu weinen. Ich schlucke ein bißchen mit Blut versüßte Spucke runter und befühle mit der Zungenspitze mein Zahnfleisch. »Komm schon, Simona … du hast mir nicht weh getan … fast nicht.« »Leck mich am Arsch …«, schluchzt sie, »ich weine nicht wegen dir, ich weine wegen mir … wenn ich könnte, würde ich dich erschießen, Mann! Du hast ihr alles erzählt! Auch von mir!« »Herrgott noch mal, Simona … das war eine Staatsanwältin! Ich kann’s immer noch nicht glauben, daß …« »Bravo, dann glaub’s eben nicht! Frag doch Zanardi, sobald er uns gefunden hat, wer ihm den Tip gegeben hat! Scheiße, ich wußte, daß es ein Fehler war, zur Polizei zu gehen! Dieser Arsch von Massimo, verdammt! Ich verfluche den Tag, an dem ich ihn kennengelernt habe!« Sie schaut nach vorne, bei jedem Atemzug blähen sich ihre Backen, wie bei einem kleinen Mädchen. »Alles 81
was ich will, ist, das Geld zurückzugeben. Sag mir, wem ich es geben soll, und ich geb’s ihm.« »Simona … Nikita, denk doch mal einen Augenblick nach …« »Nein«, schüttelt sie den Kopf, die Augen zusammengekniffen, ein ganz kleines Mädchen, »nein, ich will nicht nachdenken. Das Geld gehört der Mafia, also gebe ich es der Mafia.« Ich strecke die Hand aus, um ihren Rücken zu streicheln: »Hör zu, Simona …«, aber sie schnellt herum, als ob sie mich beißen wollte. »Faß mich nicht an! Und nenn mich Nikita! Und sag mir endlich, wem ich das Geld geben soll!« »Woher soll ich das denn wissen?!? Der Mafia, der Mafia … Mann, was glaubst du denn, wer die Mafia ist? Einer, der gemütlich in seinem Sessel sitzt und darauf wartet, daß du anrufst? Wie willst du einen Mafioso finden? Indem du eine Anzeige in die ›Bo‹ setzt, Hallohallo, Mafiosi gesucht? Und überhaupt, welche Mafiosi? Die aus Corleone? Die Catanier? Die neuen Banden aus Pilastro oder der Barca? Die Camorra? Hm?« Ich habe ebenfalls gebrüllt, ich merke es an der trockenen Kehle. Und das war gut so, denn Nikita sieht mich finster an, böse, aber ein bißchen ruhiger. »Das mußt du mir sagen. Du bist doch Polizist, oder?« Ich seufze und zucke mit den Schultern. »Ja, sicher … aber seit anderthalb Jahren bin ich in der Kantinenbeschaffung. Und vorher, da habe ich auch nicht gerade viel von der Organisierten Kriminalität mitgekriegt …« Nikita nickt und lächelt resigniert. Sie legt den ersten Gang ein, es kratzt. »Na dann«, murmelt sie, »Glück muß man haben. Ausgerechnet an dich bin ich geraten, den schlechtinformiertesten Polizisten von ganz Bologna. Und wenn du versuchst, dich zu informieren, wirst du auch noch verhaftet. Glückwunsch, 82
Simona, echt …« Ich sage nichts, denn sie hat recht. Ich kauere mich auf dem Beifahrersitz zusammen, halte den Mund und sage nur: »Paß auf, da ist ein Stoppschild«, ich habe nämlich das Gefühl, daß sie den Bremsweg unterschätzt. Typisch Frau am Steuer …
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Neugierige Privatperson Zufälliger Abhörvorgang von Mobiltelefongesprächen zwischen Unbekannten mittels Scanner. Keine Autorisierung (strafbar lt. gesetzl. Bestimmungen). A: »Ich weiß nur, was der Polizist gesagt hat, mehr nicht … Das Mädchen hat das verschwundene Geld und eine Diskette, die angeblich alles erklärt. Sie zu finden ist eure Sache … ich habe alles getan, um euch die Aufgabe zu erleichtern, ich habe sogar die Carabinieri aus dem Krankenhaus abgezogen …« B: »Ich habe sie ja auch gefunden, aber sie sind abgehauen. Gib mir noch mal die Adresse …« A: »Das ist jetzt das zweite Mal, O. G., ruf mich nicht mehr an.« B: »Ich rufe an, sooft es mir paßt. Du rufst ja auch ständig an, wenn du das Zeug brauchst.« A: »Leck mich … schreib auf: Simona Stanzani, Via Calvart 21, und Marco Coliandro, Via Lanzarini 8. Das Mädchen wurde eine Zeitlang überwacht, es ging um Haschisch, eine Lappalie, aber daher wissen wir, daß sie eine blaue Ente mit dem Kennzeichen BO 457832 fährt. Und daß sie oft bei einem Freund übernachtet, Massimo Rouagnati. Die Adresse kannst du dir auch notieren: Via XXI Aprile 4. Reicht dir das jetzt?«
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Kapitel 12 »Hier sind wir wenigstens sicher und haben ein Dach überm Kopf.« Nikita öffnet die Tür der Ente, dann dreht sie sich um und sieht mich an, weil ich mich nicht von meinem Sitz rühre. Da ich auf dem Krankenhaussims einen Teil meiner Garderobe verloren habe, trage ich die Jacke über dem Unterhemd und Schuhe ohne Strümpfe, und es geht mir ein bißchen gegen den Strich, wie ein Albaner durch die Gegend zu laufen. Nicht, daß es mir viel ausmachen würde, aber da meine Wenigkeit aller Wahrscheinlichkeit nach mit Haftbefehl gesucht wird, ist es besser, wenn ich nicht auffalle. Auf der Straße ist nämlich ganz schön was los … Der Gemüsehändler steht auf der Schwelle seines Ladens, zwei Damen warten auf den Bus, und zwanzig Meter den Bürgersteig runter lehnt ein Typ am Hinterteil eines Honda Civic und liest Zeitung. »Park weiter hinten«, sage ich, »direkt vor der Tür ist was frei.« »Nee, die Lücke ist zu eng, ich kann nicht so gut einparken. Komm schon, es sieht dich doch keiner …« Ich seufze, rutsche auf den Fahrersitz und schlage mir, als ich zu verhindern versuche, daß sich der Schaltknüppel in meinen Arsch schiebt, den Kopf am Dach an. Ich höre, wie Nikita etwas durch die Zähne murmelt. »Vielleicht hast du recht … die Alte aus dem ersten Stock steht am Fenster, und die steckt ihre Nase immer in fremde Angelegenheiten.« So auch diesmal, tatsächlich, denn während ich den Schlüssel ins Zündschloß stecke, hebe ich den Kopf, und durch den Spalt im Verdeck, das ich mit dem Kopfstoß von eben geöffnet habe, 85
sehe ich am Fenster eine alte Schabracke. »Guten Abend, Simona, wie geht es Ihnen?« »Ausgezeichnet …«, brummt Nikita, ohne zu ihr hinzuschauen, weil die Alte sonst wahrscheinlich von ihrem Rückenleiden anfangen würde. Ich drehe den Schlüssel, und die Ente hustet, tru-tru-tru, sie braucht ein bißchen, bis sie anspringt. »Sie werden schon erwartet …«, sagt die Alte. Ich drehe den Schlüssel noch einmal, tru-tru-tru … dann macht es klick, und ich halte inne. »Die Herren haben gefragt, wo Sie wohnen, und sind nach oben gegangen«, höre ich sie sagen, »die Carabinieri … die sind auch nicht mehr, was sie mal waren, nicht? Kommen in Zivil, mit Ohrring und Pferdeschwanz …« Nikita ist wie erstarrt, ihre Hand liegt immer noch auf der Wagentür, mir geht es nicht anders, meine Finger halten den Schlüssel umklammert. Der einzige, der sich bewegt hat, ist der Typ mit der Zeitung, er hat sie sinken lassen und die Hand in die Jacke gesteckt … Zufall? Nein, verdammt, er hat eine Pistole. Tru-tru-tru-wruuum … Mit einem Ruck des Handgelenks, daß sich der Zündschlüssel verbiegt, starte ich den Motor, drücke aufs Gaspedal und schieße los. Der Typ schaut noch immer auf Nikita und will gerade die Pistole heben, als ich ihn über den Haufen fahre und gegen den Honda quetsche wie Clint Eastwood in Dirty Harry 5 – Das Todesspiel, tierisch. Ich habe nur wenig Anlauf, aber es reicht, die Frontpartie der Ente quetscht die Beine des Typen ein, der brüllt und sich über die Motorhaube beugt, während ich zur Abwechslung mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe knalle. Halb belämmert springe ich aus dem Auto und ziehe Nikita hoch; als ich losgebrettert bin, hielt sie sich noch immer an der Tür fest, der Ruck hat sie zu Boden geschleudert. »Los, los …«, brülle ich, »wir müssen hier weg!« Die Ente ist hinüber, der Typ mit der Zeitung vielleicht auch, 86
er bewegt sich nicht mehr. Ich halte mich nicht lange damit auf, denn auf der Straße schreien alle durcheinander, Gemüsehändler, wartende Damen und die alte Schabracke am Fenster. Der Honda ist nur hinten ein bißchen eingedellt, durch den Aufprall ist eine Tür aufgesprungen. Ich stopfe Nikita auf den Beifahrersitz, indem ich ihren Kopf nach unten drücke wie bei einem Verhafteten, den man in den Streifenwagen packt, und steige ebenfalls ein. Wenn der Wagen offen war, dann steckt vielleicht auch der Schlüssel, deshalb fahre ich mit der Hand unter das Lenkrad, und Schwein ge … Schweinemist, kein Schlüssel da. »Scheiße«, knurre ich. Nikita kapiert sofort, sie wirft sich über meine Knie, wobei sie mir einen Ellbogen in die Eier rammt, und reißt die Kabel unter dem Lenkrad raus. »Gib Gas, gib Gas …«, schreit sie. Ich gebe Gas, verdammt, und fahre genau in dem Moment los, als dieser Bastard mit Pferdeschwanz auf die Straße gerannt kommt. Der Wichser hat eine Pistole und richtet sie auf uns, ich denke, der kann doch nicht so blöd sein und einfach schießen, am hellichten Tag und mitten im Zentrum von Bologna, und siehe da, er ist nicht blöd, er ist verrückt, denn er feuert eine ganze Salve ab, die die Heckscheibe zertrümmert. Ich spüre, wie eine Kugel die Spitze meines Ohrs streift, heiß und summend, bevor sie ein sauberes rundes Loch vorne in die Scheibe macht. Mit dem Arm zwinge ich Nikita auf meine Oberschenkel, drücke so fest es geht aufs Gaspedal und biege in die nächste Seitenstraße, um nicht noch eine Salve von diesem Hurensohn abzukriegen. Die nächste Seitenstraße ist eine superschmale Einbahnstraße, und ich muß auf den Bürgersteig, um nicht an einem BMW zu zerschellen, der uns entgegen kommt. Ich bleibe auf dem Bürgersteig, lasse notgedrungen einen Volvo Kombi und dann noch einen Espace vorbei, alles dicke Karren, schöne Scheiße … aber als nächstes kommt ein Apecar, ich fahre wieder auf die Straße und lasse das Dreirad in ein Haustor krachen. Am Ende der Straße kreuze ich 87
bei Rot die Ringe und biege in die Via Emilia ein, hinter mir das Gejaule von mindestens einem Dutzend Hupen. Ich bin gefahren wie Holer Togni auf der Motorshow, wow! Nikita stöhnt, ich spüre, wie sie sich auf meinen Beinen windet. »Simona, verdammt … haben die dich erwischt?« »Nein, du Idiot, es ist wegen dir … nimm den Arm weg, ich krieg keine Luft mehr.« Sie richtet sich auf und massiert sich unterm Kinn. »Jetzt sitzen wir wirklich in der Scheiße«, murmelt sie, und ich denke: Wieso, vorher etwa nicht? Außerdem wird es langsam ziemlich dunkel, und ob es nun am Streß liegt oder an der Wunde, jedenfalls fühle ich mich schlagartig müde. Ich habe Mühe, die Augen offen zu halten. »Wohin fahren wir?« fragt Nikita. »Geradeaus«, sage ich, »solange, bis uns was Besseres einfällt.« Sie hat nichts dagegen einzuwenden, und das deutet darauf hin, daß sie mindestens ebenso kaputt sein muß wie ich. Unterdessen fahre ich am Polenfriedhof vorbei und bremse ab, weil auf unserer Straßenseite eine Carabinieri-Streife steht und es wirklich verdammtes Pech wäre, wenn die Brüder uns ausgerechnet jetzt verhaften würden. Der Brigadiere schaut mich an, die Kelle schlägt nervös gegen die Stiefel, aber sie bleibt unten. Ein Glück, daß er die zertrümmerte Heckscheibe nicht bemerkt. Durch den Rückspiegel betrachtet, scheinen die strahlenförmigen Glaszacken zu lächeln wie ein zahnloser Mund, der gähnt. Ich gähne ebenfalls, und Nikita fällt sofort ein, Gähnen steckt an. »Wir müssen uns verstecken«, sage ich. »Hier werden wir entweder angehalten oder wir knallen gegen einen Baum, ich schlafe nämlich gleich ein.« »Super Idee … und wohin fahren wir? Zu dir nach Hause?« »Nein, verdammt … da warten doch schon alle.« 88
»So ist es … bei mir und Massimo auch. Hast du einen Freund, dem man vertrauen kann?« »Ja … das heißt, nein … ich meine, alle, die ich kenne, sind bei der Polizei, und ich bin auf der Flucht. Ich weiß nicht, wie sie reagieren würden.« »Ich habe zwar Freunde, aber wer weiß, vielleicht werden sie überwacht … So ein Mist, die Typen, die hinter uns her sind, scheinen über alles Bescheid zu wissen. Ein Hotel … aber kein normales Hotel, eins für die Nutten, wo sie nicht nach dem Ausweis fragen …« Ich lächele und werfe ihr einen raschen Blick zu. »Mensch, das gibt es doch nur im Film, daß die den Ausweis nicht sehen wollen … außerdem sind es immer genau die, die solche Loser wie uns verpfeifen.« Loser, das ist genau das richtige Wort. Und ich … ich werde auch noch gesucht, ich bin unbewaffnet und sitze wie ein Albaner gekleidet in einem Honda Civic ohne Heckscheibe, dessen Motor so gut zieht, daß er bestimmt frisiert ist, aber damit wir nicht angehalten werden, muß ich die ganze Zeit fünfzig fahren. Nein, in ganz Italien gibt es nur einen Menschen, der uns helfen kann, und ich hätte von Anfang an gut daran getan, auf seine Rückkehr zu warten, statt mich in die Scheiße zu reiten. Obwohl kein Schwein weiß, wo dieser Mensch sich gerade aufhält. »Dr. Malerba, der Staatsanwalt von der Antimafia«, sage ich, als würde ich Selbstgespräche fuhren. »Der würde uns zuhören, uns glauben und sich um alles kümmern.« »Ja, wie Gott … wenn du zu ihm willst, nur zu. Ich verstecke mich, du gehst zu ihm, und wenn du lebendig wieder rauskommst, hol mich ab. Nein, hör zu, wir können nicht so weiterfahren … ich bin so müde, daß ich nicht mehr denken kann. Da – bieg ab da.« Da ist nichts, nur ein Sträßchen, das am baumbestandenen 89
Park einer Villa entlangfuhrt, aber ich biege trotzdem ein, instinktiv, ohne zu blinken. Man kommt sich vor wie auf dem Land, denn das Sträßchen wird zu einem zugewachsenen Feldweg, der an einen Weinberg grenzt. Ich halte an, es ist still und fast völlig dunkel, bis Nikita die Hand hebt und die Innenbeleuchtung des Wagens einschaltet. »Und jetzt?« frage ich. »Nichts jetzt«, sagt sie. »Wir klappen die Sitze nach hinten und schlafen. Hast du noch nie im Auto geschlafen?« Natürlich nicht, aber ich sage trotzdem ja, obwohl mir die Sache nicht geheuer ist. Nikita indes winkelt schon die Beine an und schnürt ihre blöden Boots auf. »Wie damals«, sagt sie fröhlich, »als wir im Sommer nach Rimini gefahren sind und uns eine Dreitagedröhnung Plegine gegeben haben, und als wir wieder runterkamen, haben wir uns in Vopos Golf schlafen gelegt. Geschlafen habe ich da manchmal … besser als zu Hause.« Sie zieht die Boots aus und wirft sie hinten auf die Ablage, dann klappt sie den Sitz zurück und legt sich hin. Ich rühre mich noch immer nicht und lasse die Hände am Lenkrad. Ich merke, daß sie mich ansieht. »Was ist?« fragt sie. »Brauchst du eine Extraeinladung?« Dann runzelt sie die Stirn und stützt sich auf den Ellbogen. »He …«, sagt sie hart, »damit wir uns verstehen: Ich will schlafen. Komm bloß nicht auf komische Ideen …« »Red keinen Scheiß, was für Ideen denn … ich doch nicht! Du liebe Güte …« Ohne sie anzuschauen, drehe ich am Rad des Liegesitzes und lege mich ebenfalls hin, auf den Rücken. Sie hebt ein Bein und löscht mit einem Zeh das Licht. »Gute Nacht«, sagt sie. »Gute Nacht«, sage ich. Ich höre, daß sie sich auf eine Seite 90
dreht, dann auf die andere, dann sehe ich, wie ihr dunkler Umriß sich erneut auf den Ellbogen stützt. »In Kleidern kann ich nicht einschlafen«, sagt sie, »konnte ich schon damals nicht.« »Dann zieh dich doch aus«, sage ich, ein bißchen heiser. »Versprichst du mir …« »Ja, ja, ich versprech’s dir, aber hör bloß auf, mir auf die Eier zu gehen. Ich will auch schlafen, verdammt.« Sie sagt mm-mm, nicht sehr überzeugt, trotzdem setzt sie sich auf, kreuzt die Arme vor der Brust und streift den Pullover über den Kopf. Ich liege stocksteif da und starre an die Decke, doch aus den Augenwinkeln sehe ich den dunklen Schatten des Büstenhalters auf ihrer Haut, die von dem bißchen Mondschein draußen erhellt wird. Nikita zögert, seufzt, dann geht sie ins Hohlkreuz, hebt den Hintern und strampelt mit den Beinen, um sich von Rock und Netzstrümpfen zu befreien. Ich erkenne den schwarzen Strich des Slips, immer noch aus den Augenwinkeln. Noch ein bißchen länger, und mein Sehnerv reißt und ich schiele bis an mein Lebensende. »Bist du soweit?« frage ich, weil sie sich nicht entschließen kann, sich hinzulegen. Mit den Händen bedeckt sie die Schultern. »Nein, ich bin nicht soweit«, sagt sie, »so nackt und ohne Heckscheibe ist es höllisch kalt.« Ich öffne die Arme. »Komm her.« »Du bist verrückt.« »Nein«, sage ich, »mir ist immer warm, ich bin schlimmer als ein Heizkörper. Komm her, wir nehmen uns in den Arm und schlafen wie liebe … Freunde.« Das »Freunde« kommt ein bißchen verquer heraus, ich muß mich räuspern, bevor ich: »Ach, mach doch, was du willst«, sagen kann, ohne wie ein 91
Werwolf zu klingen. »Du behältst deine Hände bei dir?« fragt sie. »Leck mich am Arsch«, sage ich. »Keine komischen Ideen?« »Leck mich am Arsch.« »Dann zieh deine Jacke aus, die nehmen wir als Decke.« Seufzend ziehe ich die Jacke aus, Nikita schlüpft in meine Arme, mit ihrem süßen und kräftigen Geruch, der glatten und frischen Haut an den Beinen, die über meine Socken streift, dem rauhen Träger des Büstenhalters, der mein Kinn berührt, ihren warmen Lippen, die mir ins Ohr hauchen … o Mann. Ich liege da wie ein Stockfisch, mit der Jacke in der Hand. »Was ist das?« fragt sie und geht abrupt auf Distanz. »Das ist der Gürtel …« »Nein, das ist nicht der Gürtel, o nein … ich will sofort zurück auf meinen Sitz!« »Scheiße, Nikita, okay … ich bin ja nicht aus Stein. Das ist eine physiologische Reaktion, Mensch! Aber ich bin kein Tier, ich habe dir gesagt, daß ich mich zurückhalten werde, also halte ich mich zurück. Haben wir vorhin gesagt, wir sind Freunde und sonst nichts? Dann sind wir auch Freunde … und sonst nichts.« Scheiße. Sie murmelt: »Entschuldige«, und lehnt sich mit dem Kopf an meine Schulter, während ich die Jacke über ihren nackten Rücken breite. Sie winkelt ein Bein an, damit es unter dem Stoff liegt. Ich nutze den Umstand aus, daß sie dabei die Wunde berührt, um eine Hand nach unten zu bugsieren und alles zurechtzurücken, allerdings weiter unten. Nikita hebt das Kinn, gibt mir einen Kuß auf die Backe und flüstert: »Gute Nacht, Inspektor Callaghan.« Sie drückt mich kurz, dann entspannt sie sich und schließt mit einem Seufzer die Augen. Die ganze Nacht schläft sie wie ein Stein, die blöde Kuh. Ich nicht.
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»Der Sonnabend« – Wochenblatt für den Kreis Imola DER TAG DES WOLFES – INTERVIEW MIT DON TOMMASO CALANDRA von Carlo Lucarelli (Fortsetzung siehe Vermischtes, Seite 21-22) Das Haus von Don Masino könnte eins der vielen Anwesen in der Ebene von Bologna sein, halb Villa, halb Bauernhaus, mit Gartenzwergen und Wagenrädern auf der Gartenmauer … säße da nicht ein Mann am Eingangstor, auf dessen Knien ein Walkie-Talkie liegt. Er gibt meinen Namen durch und öffnet das Tor, ich parke auf dem ehemaligen Dreschplatz, wo ein Hund sich fast mit seiner Kette erwürgt, um mein Auto zu beschnüffeln – typisch für die Pointermischlinge dieser Gegend. Nur, daß dieser hier ein Dobermann ist. »Don Masino erwartet Sie auf der Veranda«, sagt ein junger Mann in Anzug und Krawatte zu mir. Ich will ihm mein Aufnahmegerät geben, weil ich erwartet habe, durchsucht zu werden, aber das ist nicht der Fall, also behalte ich den Recorder in der Tasche und schalte ihn sogar ein. »Es ist nicht mehr so kühl, man kann draußen sitzen. Hier ist es im Frühjahr wärmer als bei uns.« »Stimmt«, sage ich, während ich an den Artikel denken muß, den ich letztes Jahr geschrieben habe und den ich auch dieses Jahr schreiben werde, »im Sommer fängt sogar das Stroh Feuer, so heiß ist es.« »Das kommt vor, wenn man sich nicht an die Regeln hält.« »Welche Regeln?« »Die Regeln der Landwirtschaft. Die lernt man sogar auf der Universität.« Um die Ecke, unter einer von Wein bewachsenen Pergola, sitzt auf einem Strohstuhl ein alter Mann in Schlappen, der 93
geradewegs einer sizilianischen Szene des Paten entsprungen scheint. Der große junge Mann muß meinen Blick bemerkt haben, denn er sagt: »Das ist der Hausherr, er ist in Medicina geboren und hat immer hier gelebt. Ah, da kommt Don Masino, darf ich vorstellen …« Ich hatte den Mann nicht bemerkt, der aus dem Haus getreten ist, athletisch und braungebrannt, im Polohemd, das graue Haar zur Bürste frisiert. Er wirkt eher wie ein Manager der Fininvest als wie ein Mafioso, doch Don Masino, das ist mir bekannt, ist der Sohn von Don Gaetano, der seinerseits Cousin von Totò Riina ist, mit anderen Worten: vor mir steht der Referent der Corleonesen für die Emilia Romagna. Ich korrigiere mich: der mutmaßliche Referent der Corleonesen. Mit festem Sportlergriff, der meine Finger knacken läßt, drückt Don Masino meine Hand. »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Signor Lucarelli. Sie haben doch bestimmt noch nicht gefrühstückt, oder? Nehmen Sie ein Stück von dem Rosinenkuchen, ich bekomme ihn direkt aus meinem Dorf … ich mag das Zeug nicht, aber ich empfehle es Ihnen. Tee oder Kaffee?« »Kaffee, danke.« »Sie sehen aus, als ob Sie den nötig hätten. Salvatore sagt, Sie hätten ferngesehen, als er anrief, um das Treffen zu bestätigen, ich muß mich noch einmal für die späte Stunde entschuldigen. Was gab es denn Schönes?« »Einen Film, im Dritten. Der Tag der Eule.« Don Masino lächelt, während er dem jungen Mann Zeichen macht, mir Kaffee einzugießen. »Das stimmt nicht, das sagen Sie, um mich zu provozieren. Gestern abend lief Weihnachtsferien Zwo, ich war nämlich auch noch wach. Aber Sie haben recht, ich hätte auch lieber Der Tag der Eule gesehen. Ein großartiger Film … aber leider übertrieben. Wissen Sie noch? Menschen, Menschlein, Quakfrösche … all das gibt es doch gar nicht.« 94
»Ebensowenig wie die Mafia?« »O nein, um Gottes willen … das behaupten nicht einmal mehr die Mafiosi. Die Mafia existiert, sicher … nur daß sie nicht mehr die von einst ist. Heutzutage ist das ein ganz anderer Schlag von Mafiosi …« »Die aussehen wie Geschäftsleute.« Don Masino lächelt wieder, ein Zeichen, daß er mir auch diese Bemerkung durchgehen läßt. »Wenn es die nur gäbe. Geschäfte sind gut für Italien, man müßte sowieso mehr über Arbeit und weniger über die Mafia sprechen, wie der Bürgermeister von Mailand ganz richtig gesagt hat. Nein, heutzutage haben wir es mit Wölfen zu tun … selbst Menschlein und Quakfrösche haben Zähne bekommen und ballern wild durch die Gegend. Tja, wenn er sein Buch heute schreiben würde, müßte der gute Sciasela es Der Tag des Wolfes nennen, von wegen Eule. Diese Leute haben nicht den leisesten Sinn …« »Für Ehre?« Don Masino lächelt nicht mehr. Es ist an der Zeit, die Sticheleien zu lassen und zuzuhören. »Für Diskretion. Banditen, Gangster, die ihren Mangel an Professionalität und Organisation durch Grausamkeit wettmachen und auf die wundersame Straffreiheit vertrauen, die ihnen bisher beigestanden hat. Leute, die für ein paar Krümel schießen, die alles wollen und das sofort, und die vor niemandem Respekt haben. Wölfe … mehr nicht. Wissen Sie, warum ich dem Interview mit Ihnen zugestimmt habe?« »Warum?« »Weil Sie mir ein junger Mann zu sein scheinen, der versteht und weiß, was man schreibt und was nicht. Und weil ich eine Provinzzeitung für das beste Medium halte, gewisse Botschaften zu lancieren, ohne den Journalisten der Versuchung eines 95
großen Aufmachers auszusetzen. Ich werde also nicht um den heißen Brei herumreden, ich werde Ihnen eine offizielle Erklärung abgeben, wobei Sie das ›offiziell‹ in Anführungsstriche setzen können, und dann noch eine offiziöse … Ihre Aufgabe wird es sein, diese Erklärung in die richtigen Worten zu kleiden, als wären Sie von allein darauf gekommen. Hier also die offizielle Erklärung: Ich liebe diese Gegend, ich liebe die Menschen hier, ich bin ein Unternehmer, der arbeitet, ich zahle meine Steuern, und alle Gerüchte über mich, die mich mit der Mafia in Verbindung bringen, sind Verleumdungen. Und nun die offiziöse Erklärung: Sie werden bemerkt haben, daß Krieg herrscht, aber kein Krieg zwischen Staaten, an dem die Industrie verdient … ein Bürgerkrieg. Und Bürgerkriege sind schlecht fürs Geschäft. Besser man trifft sich und redet miteinander, denn wenn man für eine derartige Situation keine Lösung findet, könnten möglicherweise ein paar Gerüchte entstehen, die einen gewissen Schutzengel betreffen, einen Schutzengel mit Robe. Verstehen Sie, was ich meine?« »Nein.« »Macht nichts. Die es betrifft, werden schon verstehen. Trinken Sie Ihren Kaffee nicht? Da haben Sie recht. Orangensaft am Morgen, kein Kaffee. Sie sollten Tennis spielen, wie ich, und Diät halten. Frohes Schaffen, Herr Journalist. Sie wissen ja, was Sie schreiben sollen.« Natürlich, Don Masino. Und um sicherzugehen, daß ich nichts vergesse, habe ich alles genauso aufgeschrieben, wie Sie es gesagt haben. Ist Ihnen das recht?
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Kapitel 13 Wenn ich aufwache, bedeutet das, daß ich zumindest fünf Minuten geschlafen haben muß. Könnte auch weniger gewesen sein, so beschissen wie ich mich fühle. Schlagartig öffne ich die Augen, aber nicht wegen der Sonne, die inzwischen hoch am Himmel steht und den Wagen mit ihrem Licht durchflutet. Nikita ist nicht mehr da. Als ich die Arme bewegen will, verheddern sie sich in der Jacke, die uns als Decke gedient hat. Ich versuche aufzustehen, aber mein Rücken hat sich der Form des Sitzes angepaßt, ich schaffe es nicht. Ich kann nicht mal sprechen, meine Lippen sind trocken, und in meiner Kehle hängt offensichtlich ein Betonblock quer. »Mama ist nicht da, die ist zu Hause. Dafür bin ich hier.« Nikita steckt den Kopf durchs Seitenfenster und beugt sich über mich. Mir ist nicht bewußt, daß ich irgendwas gesagt hätte. Habe ich wirklich Mama gesagt? »Dein Gesicht sieht grauslich aus«, sagt Nikita, und ich antworte: »Deins auch«, aber das stimmt nicht. Sie ist zerzaust und ungekämmt, aber ihre Augen sind klar und ihre Haut ist frisch wie nach neun Stunden Schlaf, wahrscheinlich hat sie wirklich so lange geschlafen, neun ganze Stunden, die blöde Kuh. Ich höre ein düsteres, böses Knurren, das mich vom Sitz auffahren läßt, trotz meines Buckels. Mir stehen die Haare zu Berge, das Knurren erinnert mich nämlich an die Hunde des Buchhalters. Nikita lächelt, kaum sichtbar verzieht sie den Mundwinkel. »Das ist kein Tier, das bin ich. Beziehungsweise mein Magen. Ich habe einen Mordshunger.« »Laß uns frühstücken gehen.« 97
»Und womit? Du hast alles in allem zweitausend Lire und eine Telefonkarte in der Brieftasche … das reicht nicht mal für zwei Kaffee.« Tatsächlich, auf dem Beifahrersitz liegt offen meine Brieftasche, aus dem Plastikfensterchen schaut mich mein Polizeiausweisgesicht schlecht gelaunt an. Ich habe es in einem Fotoautomaten gemacht, ich weiß noch, daß ich dabei gedacht habe: Na los, laß dich abknallen, wie Clint Eastwood, tierisch. »Ich mag es nicht, wenn du in meinen Taschen kramst …«, beginne ich, aber sie zuckt nur mit den Schultern. »Wenn du Geld gehabt hättest, wäre ich jetzt schon mit ein paar Hörnchen zurück, und erzähl mir bloß nicht, du hättest was dagegen gehabt. Aber nein …« Ich strecke mich, es tut weh. Die Wunde klebt am Unterhemd und zieht, und offenbar hat in der Nacht jemand zum Spaß alle meine Rückenmuskeln verknotet. Ich habe ebenfalls einen Mordshunger, deshalb sehe ich mich mal im Wagen um. Ich klappe die Sonnenblende herunter, manchmal vergißt man da ein bißchen Kleingeld, aber denkste. Im leeren Schacht des Autoradios … nur ein Stück zusammengeknülltes Cellophanpapier, offenbar die Verpackung eines Brötchens, das nicht mehr ist, Scheiße. In meinem Magen rumort es noch lauter als bei Nikita. »Wir sind echte Pechvögel«, murmelt sie, »könnten wir nicht auch mal ein bißchen Glück haben?« Und das sagt sie so traurig, die Kleine, daß es mir auch gleich ganz mies geht. Ich versuche, das Handschuhfach zu öffnen, aber es ist abgeschlossen. »Da habe ich es gerade versucht, als du aufgewacht bist«, sagt Nikita und hält mir ein Klappmesser hin, das so lang ist wie ein Bajonett. »Das habe ich im Seitenfach der Tür gefunden. Hast du die angekokelte Spitze gesehen? Der Wagenbesitzer dreht sich ab und zu einen Joint …« Interessiert mich einen Dreck. Ich setze das Messer im Schlitz 98
des Handschuhfachs an und drücke einmal kurz und kräftig. Hab ich ja schon immer vermutet, daß der Civic nicht so solide ist, wie er aussieht … Ein Scharnier löst sich, die Klappe springt glatt auf, und die Innenbeleuchtung blendet mich eine Sekunde lang wie ein Blitzlicht. Eine Sekunde, nicht länger. »Scheiße.« »Was ist los?« Nikita beugt sich mit dem halben Oberkörper durchs Fenster und stützt sich auf meine Schulter. Was los ist? Das ist los, im Handschuhfach liegt die größte Kanone, die ich je gesehen habe, den Dimensionen nach ein Colt 45 Grizzly, die mächtigste Pistole der Welt. »Verdammter Mist«, murmele ich und hole sie hervor, »von wegen Joints, der Autotyp …« Doch während Nikita an meiner Schulter rüttelt und sagt: »Scheiß auf die Pistole, such Geld, ich hab Hunger«, fällt mir etwas ein. Was wetten wir, daß wir ausgerechnet den Wagen von Pferdeschwanz erwischt haben? Der Kerl mit der Zeitung hat sich da angelehnt, okay, aber … ich drehe die Knarre hin und her und begutachte das verchromte Gehäuse. Keine Registriernummer, nur ein hellerer Streifen, der beweist, daß diese Pistole keinem anständigen Bürger gehört, der sich für Ordnung und Selbstschutz begeistert. Und wenn man mal voraussetzt, daß es in der Via XXI Aprile in Bologna nicht schlimmer ist als in der Bronx, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich in derselben Straße zufällig zwei bewaffnete Kriminelle aufhalten, äußerst gering. Ich stecke die Pistole in den Gürtel und ziehe blitzartig den Bauch ein, als das kalte Metall meine Wunde berührt. Ich krame im Handschuhfach und lege alles, was ich hervorziehe, auf den Sitz … Mautquittungen, Kleinscheiß, einen Stadtplan von Bologna, ein Stanniolkügelchen … und die Wagenpapiere. »He, das ist Dope!« ruft Nikita und zeigt auf das Kügelchen, das über den Sitz kullert, »das können wir verkaufen!« »Vergiß das Dope«, sage ich, »das ist der Wagen von 99
Pferdeschwanz. Die Pistole hat keine Registriernummer, und die Wahrscheinlichkeit …« »Mist, das stimmt!« sagt Nikita, die schon vollkommen verstanden hat. Dann schüttelt sie den Kopf. »Das ist nicht der Wagen von Pferdeschwanz … das ist der Wagen, den Pferdeschwanz benutzt. Wem er den wohl geklaut hat …« Verdammt, sie hat recht. Ich werfe einen Blick in die Papiere, da steht die Adresse einer Dame aus Bologna, die der Straße nach zu urteilen in der Barca wohnen muß. Zaira Negroni … sie wird froh sein, wenn sie ihren Wagen zurückbekommt. Nein, Augenblick mal … geboren in San Giovanni in Persiceto am 26.03.1913. Er mag ja auf Madame Zaira zugelassen sein, aber mit 81 Jahren fährt die den Wagen bestimmt nicht mehr. »Und was, wenn es wirklich der von Pferdeschwanz wäre?« murmele ich, wobei ich mir mit den Papieren auf die Lippen klopfe. »Es wäre nicht das erste Mal … denk nur an den Loser, der sich eine Kugel in der Stirn eingefangen hat, weil er sich während eines Banküberfalls das Kennzeichen notieren wollte. Und außerdem … das Handschuhfach war abgeschlossen, und Zündschlüssel sind etwas so Idiotisches, daß normalerweise nur der Besitzer des Wagens welche hat …« Nikita lockert den Griff um meine Schulter. Ihr Gesicht ist ganz nah an meinem Kopf, fast am Ohr, ich höre das feuchte Geräusch ihrer Backe, die sie mit den Zähnen malträtiert. »Vielleicht hast du recht. Ein wirklich guter Gedanke … mich wundert, daß er dir gekommen ist.« »Ja, das wundert mich auch«, sage ich instinktiv, dann werde ich sauer, aber ich sage nichts. Ich berühre die Pistole, und, verdammt, ich mag in Unterhemd und ohne Socken und mit so schmierigem Gesicht durch die Gegend laufen, daß ich aussehe wie ein paniertes Schnitzel, aber was soll’s, ich habe eine Grizzly im Gürtel, und … Scheiße, Mann, mir geht’s schon viel besser. 100
»Jetzt sind wir dran«, sage ich, »wir können zu Pferdeschwanz nach Hause fahren und ihn so lange am Ohrläppchen ziehen, bis er uns verrät, was zum Henker eigentlich los ist.« »Du bist bekloppt …« »Nein«, sage ich, »ich bin böse, sauer und müde«, und das knurre ich genauso tonlos wie Clint in Heartbreak Ridge, tierisch. Nikita zieht den Kopf zurück, einen Augenblick lang wirkt sie betroffen, fast erschrocken. Dann verdreht sie die Augen und seufzt. »Du bist bekloppt«, sagt sie, »laß uns das Dope verkaufen und frühstücken, los.«
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Von: SISDE-Nachrichtendienst – Außenstelle (Bologna), an: SISDE – Zentrale (Rom) Streng vertraulich. BETREFF: Wörtliche Abschrift der Tonbandaufzeichnung der Aussage von Salvatore Literno, genannt Totò U’Tizzune, gegenüber einem SISDE-Mitarbeiter am 22.05.94 in der Ambulanz des Städtischen Krankenhauses Modena. »Dieser Dreckskerl! Diese gehörnte Sau! Michele Mazzarà! In den Bauch schießt der mir! Dieser Hurensohn von einem Hosenscheißer! Wollte mich abmurksen!« »Ogottogott … hören Sie, ich bin hier nur der Krankenpfleger … wenn uns jemand sieht, bin ich meinen Job los …« »Lassen Sie mich arbeiten und mischen Sie sich nicht ein … ich habe Ihnen einen Haufen Geld für das hier gegeben, oder? Sie haben gesagt, es dauert mindestens eine Minute, bis der Operationssaal geräumt wird und der Doktor kommt … gehen Sie eine Minute spazieren, und wenn Sie zurückkommen, bin ich nicht mehr da, Sie werden sehen. Totò … sag’s mir, Totò, sag mir, was passiert ist …« »Dieser Dreckskerl! Diese dreckige gehörnte Riesensau … Don Masino hat gesagt, daß wir uns auf neutralem Gebiet in Modena bei Don Gaetano treffen könnten und daß diese gehörnte Sau von Mazzarà einverstanden wäre und daß wir alles klären könnten, und deshalb bin ich hingefahren, ich verfluchter Hornochse, und hab nur Raffaele mitgenommen, weil wenn Don Masino, der verfluchte Hornochse, sagt, es geht in Ordnung, dann geht es für mich auch in Ordnung …« »Und dann? Was ist passiert, Totò, sag’s mir, los, sag …« »Dann haben wir geredet, und ich sage zu Mazzarà, daß ich ihn von [Auslassung] und von Cavaliere [Auslassung] grüßen soll, weil ich Eindruck bei ihm schinden will, und ich sage zu 102
ihm: Die Dinge haben sich nicht geändert, im Gegenteil, jeder soll sich in seinem Gebiet um seinen eigenen Kram kümmern, und da sagt er: Warum habt ihr euch das Geld von Martini unter den Nagel gerissen, das war unseres, und ich sage: Red keinen Scheiß, ihr seid doch in mein Gebiet eingedrungen und habt meine Leute abgemurkst, und er sagt: Red du keinen Scheiß, ihr habt doch eine von unseren Pizzerien angesteckt, und … heilige Muttergottes, mein Bauch brennt, der hat mich abgemurkst!« »Ruhig, Totò, ruhig, gleich kommt der Doktor … Und dann? Red weiter …« »Und dann, ja, werde ich langsam sauer, und Don Gaetano sagt: Immer mit der Ruhe, ihr seid in meinem Haus, aber der Kerl sagt: Ich scheiß drauf, ob wir in deinem Haus sind, und dann hat diese gehörnte Sau gepfiffen und diese zwei Typen sind aufgetaucht und dieser Hurensohn von Pferdeschwanz hat Raffaele in den Mund geschossen, daß sein Blut mich vollgespritzt hat, ich spür’s jetzt noch im Gesicht, heilige Muttergottes, und dann hat er auch noch auf Don Gaetano geschossen, und ich bin durchs Fenster in den Garten gesprungen und über Mimmo gestolpert, den Patensohn von Don Tano, dem sie die Kehle durchgeschnitten hatten, und als ich wieder aufgestanden bin, hat diese gehörnte Sau von Mazzarà mir in den Bauch geschossen, aber ich hab ihn angeschmiert, ich hab’s auf die Straße geschafft und die Carabinieri-Streife angehalten …« »Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was ist das für ein Aufnahmegerät? Sagen Sie mal, sehen Sie eigentlich nicht, daß der Mann Schmerzen hat? Verschwinden Sie auf der Stelle, oder ich rufe die Polizei und lasse Sie achtkantig rauswerfen …«
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Sehr geehrter Herr Direktor, was sollen wir tun? Sollen um die Abschrift an die zuständige Staatsanwaltschaft weiterleiten? Hochachtungsvoll, C. L. Von: SISDE – Zentrale (Rom), an: SISDE -Außenstelle (Bologna) Negativ. Gruß, L.B.
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Kapitel 14 Ich sitze auf einer Kiste an einer Ecke der Kreuzung, mit gesenktem Kopf, hängenden Schultern und den Ellbogen auf den Knien. Ich habe die Hände vors Gesicht geschlagen, als würde ich mich schämen, aus zwei Gründen. Erstens: weil ich so durch die Finger hindurch die Passanten beobachten kann, ohne von Pferdeschwanz gesehen zu werden; er hat mich zwar nur einmal flüchtig gesehen, genauso wie ich ihn nur einmal flüchtig gesehen habe, aber möglicherweise erkennt er mich ebenfalls wieder. Zweitens: weil ich mich wirklich schäme wie ein Dieb. Neben mir, Hurenkacke, steht ein beschissenes Schild aus Pappe, die ich aus einer Mülltonne gefischt habe. Nikita hat mit schwarzem Filzstift darauf geschrieben: ICH KOMMEN BOSNIEN MEINE KINDER HUNGER KEINE ARBEIT DANKE … Wir haben den Civic auf einem Parkplatz am Rand der Barca stehengelassen, weil er ohne Heckscheibe effektiv ein bißchen auffiel, und sind zu Fuß ins Viertel gegangen. Nikita hat sich in einem kleinen Park auf eine Bank gesetzt, ihr Blick geht ins Leere, wie eine Fixerin starrt sie auf eine blaue Mietskaserne. In diesem Haus wohnt die Signora Zaira Negroni, genau an der Straßenkreuzung, wo meine Wenigkeit, als gebeutelter Slawe verkleidet, sitzt und an einem Vormittag sieben ehrenvolle Dienstjahre bei der Polizei in den Dreck zieht. Ich kann nur hoffen, daß keiner von der Ausländerpolizei vorbeikommt. Aber es kommt überhaupt keiner vorbei, jedenfalls niemand Interessantes, und damit meine ich Pferdeschwanz oder den Typ mit Schnauzer. Nur alte Frauen, die in die Messe gehen, Kinder, die in die Schule gehen, Männer, die zur Arbeit gehen, und Frauen, die einkaufen gehen. Mit den Händen vorm Gesicht warte ich, und dabei fällt mir ein, was mir ein Kollege von der 105
Kripo mal erzählt hat, daß sich nämlich vor halb zwölf kein Verbrecher auf den Straßen des Viertels sehen läßt – als Dealer, Dieb und Zuhälter geht man gewöhnlich spät zu Bett. Und wirklich, gerade schlägt es halb zwölf, als ein Kerl mit Zigeunervisage am Bürgersteig anhält, das Seitenfenster seines Mercedes herunterläßt und zu mir sagt, daß er am Abend noch mal vorbeischauen würde, um seine zehn Prozent von meinen Einnahmen zu kassieren, und falls ich nicht mehr da wäre, würde er mir beide Beine brechen. Wichser. Bei Pferdeschwanz muß es gestern abend sehr spät geworden sein, denn er tritt erst um eins aus dem Haus. Ich starre gerade auf die fünftausend Lire Kleingeld, die auf meinem Pappdeckel liegen, und überlege, ob ich Nikita rufen soll, damit sie etwas in dem Milchgeschäft gegenüber kaufen geht, als ich von hinten aus dem Park ihren Pfiff höre. Ich hebe den Kopf und sehe den Bastard, der gerade unter den Arkaden hervorkommt und den Schlüssel in einen schwarzen Clio steckt. Er sieht ein bißchen säuerlich drein, vielleicht hat er schlecht geschlafen, der Wichser … Der Plan ist, ihn anzuhalten, ihm die Grizzly in den Mund zu schieben und mit ihm zu verduften. Und wirklich, als ich mich zum Park umdrehe, ist Nikita nicht mehr da: Sie hat sich auf der Straße postiert, kurz vor der Kreuzung, hält den Daumen in die Luft und guckt so nuttenmäßig, daß sogar ich anhalten würde, verdammt. Nur Pferdeschwanz nicht, schöne Scheiße, er beachtet sie gar nicht und fährt mit einem Dröhnen, das sich anhört wie ein Mundfurz, einfach weiter. Nikita wirft mir einen wütenden und verzweifelten Blick zu. Ich will schon mit den Schultern zucken, aber ich bremse mich, weil der Clio von Pferdeschwanz in diesem Augenblick neben mir anhält, ohne Grund … dann fällt mir ein, daß hier ja eine Kreuzung ist, ich sehe, daß Rot ist und aus der anderen Richtung ein Bus kommt. Da habe ich einen Geistesblitz: Ich rücke die Pistole unter der Jacke zurecht, ziehe ein Taschentuch hervor und flitze auf den Clio zu. Durch die Scheibe sehe ich, daß Pferdeschwanz 106
mit dem Finger abwinkt, doch ich lächle nur und stürze mich auf sein Auto. Pferdeschwanz wird stinkig und wedelt ungestüm mit dem Finger durch die Luft, aber ich bürste trotzdem mit dem Taschentuch seine Windschutzscheibe und verschmiere sie ihm, da ich kein Wasser habe, mit Staub, Taubenscheiße und toten Mücken. Pferdeschwanz verliert die Nerven und läßt stinksauer das Fenster herunter. Ich stecke die Hände hinein, packe ihn an den Haaren und drücke ihm die Grizzly in die Backe. »Na los«, knurre ich, »laß dich abknallen …«, wie Clint, o wow, tierisch, mich schaudert so, daß mir richtig kalt wird. Pferdeschwanz keucht, aber er kann nichts sagen mit seinem aufgerissenen Mund. Ich sehe, wie ihm unter der Mündung das Blut aus der Backe spritzt, aber ich lasse nicht eher locker, bis Nikita in den Wagen gestiegen ist und ihm die Pistole abgenommen hat, die er unter der Jacke trägt. Es ist eine Automatik, und wenn keine Kugel im Lauf ist, ist eine Automatik für Leute wie Nikita, die nicht damit umgehen können, nur ein Stück Eisen. Aber das kann Blondi nicht wissen, und tatsächlich läßt er ganz brav die Hände auf dem Lenkrad liegen, bis ich auf den Rücksitz gesprungen bin und ihm die Grizzly unters Kinn halte. »Raus aus der Barca«, sage ich zu ihm, »immer hübsch langsam bis zum Nordpark, wie auf einem Familienausflug. Eine schnelle Bewegung, und dein Kopf fliegt aus dem Fenster. Kapiert?« »Ihr seid tot«, murmelt Pferdeschwanz. Da er sich nicht rührt, drücke ich ihm die Pistole in den Hals, daß er husten muß. »Ob du kapiert hast? Sag, daß du kapiert hast …«, zische ich. »Ich habe kapiert, Arschloch«, sagt er, »ich warte nur, daß Grün wird. Und ihr seid trotzdem tot.«
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Neugierige Privatperson Zufälliger Abhörvorgang von Mobiltelefongesprächen zwischen Unbekannten mittels Scanner. Keine Autorisierung (strafbar lt. gesetzl. Bestimmungen). »Raffaele? Wie geht’s Totò? Kann er sprechen?« »Totò geht’s gut, Don Masino, er ist operiert morden und noch ein bißchen hinüber von der Narkose, aber es geht ihm gut. Wenn Sie wollen, gebe ich ihn Ihnen.« »Raffaè … du bist noch jung, aber das nächste Mal, wenn du mich am Telefon mit Namen ansprichst, geht’s dir schlecht. Hast du mich verstanden?« »Ja, Don Ma … Herr. Ich geb Ihnen To … ich geb ihn Ihnen.« »Totò? Totò, hörst du mich?« »Ja, ja … ich höre dich.« »Totò … Totò, du mußt den Singvogel machen.« »Verdammt, nein … lieber kratz ich ab!« »Totò … du weißt, daß du das sofort haben kannst, stimmt’s?« »Ich weiß, ich weiß … zur Hölle mit dieser gehörnten Sau …« »Der kommt schon in die Hölle, keine Sorge. Wir haben uns beraten und beschlossen, daß dieses Gebiet zu wichtig ist, um daraus ein zweites Bosnien zu machen und Krieg gegen diese Wilden zu führen. Deshalb mußt du den Singvogel machen. Tut mir leid, aber es ist nicht zu ändern … du hast keine Wahl.« »Verdammt …« »Es ist schon alles geplant, den richtigen Staatsanwalt haben wir auch.« »Verdammte Scheiße …« »Holt die Ohren steif, Totò. Sobald es dir besser geht, schicke ich dir von dem Rosinenkuchen aus meinem Dorf …« 108
Oberste Justizverwaltungsbehörde. BETREFF: Empfehlung an Leitung Antimafia-Bezirksbüro zur Aufnahme von Ermittlungen wg. Verdachts auf geheime Absprachen mit der Mafia. [Auszug] … weshalb wir die Auffassung vertreten, daß die Erklärung des Kronzeugen – dessen Namen wir verschweigen, wobei wir uns allerdings vorbehalten, ihn den Anlagen beizufügen – als vertrauenswürdig einzustufen und einer eingehenden Überprüfung wert ist. Die Hypothese, in der Bologneser Staatsanwaltschaft und paradoxerweise ausgerechnet im Antimafia-Bezirksbüro arbeite ein noch nicht identifizierter Staatsanwalt mit dem organisierten Verbrechen zusammen, erscheint begründet und im Licht verschiedener Ereignisse aus jüngster Zeit wahrscheinlich. Deshalb empfehlen wir dem Oberstaatsanwalt, die Ermittlungen persönlich durchzuführen … Staatsanwaltschaft Bologna – Antimafia, Bezirksbüro BETREFF: Aufnahme von Ermittlungen wg. Verdachts auf geheime Absprachen mit der Mafia innerhalb der Antimafia, Bezirksbüro Bologna. [Auszug] … weshalb wir die Auffassung vertreten, daß die direkte Durchführung der Ermittlungen durch den Oberstaatsanwalt Verdacht erregen und dem Fortgang der Untersuchung eher hinderlich sein könnte. Aus diesem Grund beabsichtigen wir, sofern dem keine schwerwiegenden Vorbehalte entgegenstehen, die Ermittlungen einer brillanten jungen Mitarbeiterin anzuvertrauen, die bei der Bewältigung ihrer Aufgaben bereits große Professionalität, Engagement und Gespür sowie beispielhafte moralische Qualitäten gezeigt hat: Staatsanwältin Dr. Stefania Longhi … 109
Kapitel 15 »Er hat’s nicht geschluckt.« »So ein Mist, Nikita … und warum nicht, verdammt noch mal?« Nikita breitet die Arme aus und bringt damit die Schwingtüren der Telefonzelle, an die sie sich mit dem Rücken gelehnt hat, zum Knarren. Wahrscheinlich ist das die einzige Zelle im ganzen Nordpark, deren Türen noch intakt sind und bei der vor allem das Telefon funktioniert. Ich habe diese blöden Handys immer gehaßt, aber jetzt könnte ich gut eins gebrauchen. Wir sind die ganze Gegend abgefahren, bis wir eine geeignete Zelle gefunden haben, die abgelegen genug und zugleich nah genug an der Straße steht, damit wir das Auto im Auge behalten können. Weniger wegen dem Clio, der kümmert mich einen Dreck, als wegen Pferdeschwanz, der im Kofferraum eingeschlossen ist, zusammengerollt wie eine Python. »Hast du ihm gesagt, was ich dir gesagt habe?« »Leck mich, Coliandro, ich bin ja nicht blöd. Natürlich habe ich’s ihm gesagt …« Seit ich Pferdeschwanz die Pistole unter das Kinn gehalten habe, hat er kein Wort mehr gesagt: Darüber, was uns bisher passiert ist, über das Warum und Weshalb wissen Nikita und ich genausoviel wie vorher, nämlich einen Dreck. Aber das ist uninteressant, oder wenigstens interessiert es mich nicht … den Staatsanwalt, dem ich ihn übergeben will, also Malerba, wird es schon interessieren. Leider hat die Sache einen Haken, beziehungsweise zwei: erstens Nikita und zweitens natürlich den Staatsanwalt. Sobald das Wort Staatsanwaltschaft fiel, hat Nikita angefangen zu brüllen, lieber würde sie Pferdeschwanz eigenhändig erschießen und in einen Graben werfen, aber sie hat 110
natürlich genau gewußt, daß uns das nicht weiterbringen würde, denn nur weil Pferdeschwanz tot wäre, hätte sich die Sache längst noch nicht erledigt. Und als sie ihm sagte, sie wolle nur wissen, wem das Geld und die Diskette gehören, damit sie sie zurückgeben kann, hat Pferdeschwanz sie mit einem so bösen Lächeln angesehen, daß sie ihm instinktiv eine runtergehauen hat, und dann hat sie angefangen zu weinen. So ist auch sie zu der Überzeugung gekommen, daß uns nur eins übrig bleibt, nämlich die ganze Angelegenheit jemandem zu übergeben, der mehr Mittel und mehr Durchblick hat als wir, um Ordnung in das Chaos zu bringen – mit anderen Worten, einem Staatsanwalt … Obwohl, irgendwie hat sie das alles ein bißchen schnell eingesehen und der Ton, in dem sie mir recht gegeben hat, war ein bißchen zu freundlich, um nicht mißtrauisch zu machen. Jedenfalls kommt hier das zweite Problem ins Spiel: der Staatsanwalt. Angesichts der Tatsache, daß im Gericht die Schlampe mit den schwarzen Strümpfen ihr Unwesen treibt, vertraue ich einzig und allein Malerba. Nur, Malerba ist dienstlich unterwegs, wie zum Henker ihn auftreiben? Da kam mir eine Idee … Nikita sollte bei der Abteilung Personenschutz anrufen und sagen, sie sei die Zeani, die Polizistin, die Malerba beschützen soll, und daß sie die Handynummer ihres Staatsanwalts brauche, weil sie ihn aus irgendeinem Grund aus den Augen verloren hat und nicht weiß, wie sie sich mit ihm in Verbindung setzen soll. »Der Plan war Scheiße, wie alle Pläne, die du ausheckst, aber er hat funktioniert … vielleicht wegen dem toskanischen Dialekt, den ich vorgetäuscht habe, oder weil ich ihren Namen genannt habe, jedenfalls ist der Sovrintendente darauf reingefallen.« »Ja, und? Wo ist das Problem? Er hat dir bestimmt die Hölle heiß gemacht, weil du deinen Staatsanwalt allein gelassen hast, und da hast du dich verhaspelt …« »Nein, der Staatsanwalt war ihm scheißegal … nur, er hat mich was wegen der Tagegelder gefragt, wir wären ja erst 111
Montag von dem Auftrag zurückgekehrt, und jetzt ging’s um irgendwelche tarifliche Mindestzulagen, und da habe ich mich natürlich voll verhaspelt.« Nikita kreuzt die Arme vor der Brust und schnaubt, während ich die Augen verdrehe, weil: Wie zum Henker sollen wir jetzt die Nummer eines schwerstbewachten Antimafia-Staatsanwalts herausfinden, im Telefonbuch steht die bestimmt nicht … Ich taumele, mache zwei Schritte zurück, um nicht unter der Wucht des Stoßes hinzufallen, den Nikita mir plötzlich versetzt. »Wir Hornochsen! Alle beide, Mensch … Was sind wir für Hornochsen! Wenn die Frau den Staatsanwalt auf Schritt und Tritt begleitet und seit Montag wieder in Bologna ist, dann muß er doch auch seit Montag wieder da sein!« Hurenmist … daran hatte ich nicht gedacht. Malerba ist in Bologna, schöne Scheiße … im Gericht! Wir müssen nur die 12 wählen und ihn anrufen, verdammt, nichts leichter als das. Nikita reißt die Schwingtüren auf und betritt die Kabine. Die Türen können gerade einmal knarren, da ist sie schon wieder halb draußen, mit blitzenden Augen. »Mist. Dieses Scheißtelefon hat die Telefonkarte eingesackt!«
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Staatspolizei – Präsidium Bologna BETREFF: Abhörvorgang Telefon Nr. 12, Dienstapparat Dr. Giovanni Malerba. Autorisierung durch StA Dr. Longhi (in besonderem Auftrag). Unverzüglich weiterleiten an Staatsanwältin Longhi. »Büro Dr. Malerba … einen Augenblick, ich verbinde.« »Hier Malerba, wer spricht?« »Malerba, Mann, endlich, ich kann’s nicht glauben, Scheiße, entschuldigen Sie, ich wollte sagen, das heißt, wir sind hier, und jetzt, wo wir Pferdeschwanz haben …« »Moment, Moment … ich habe kein Wort verstanden. Fangen wir noch mal von vorn an: Wer sind Sie überhaupt?« »Sie haben recht, Scheiße … ich meine, entschuldigen Sie … ich heiße Coliandro, ich bin Sovrintendente bei der Polizei, Sie werden sich nicht daran erinnern, aber …« »Und ob ich mich erinnere, ich erinnere mich sehr gut. Und ich kenne Sie, Coliandro, ich weiß über alles Bescheid, was vorgefallen ist …« »Ich habe den Buchhalter nicht umgebracht! Ich habe nichts damit zu tun! Nikita kam mit dem Geld und der Diskette, und da haben wir …« »Ich weiß, ich weiß … Sie haben nichts mit dieser Geschichte zu tun, ich weiß. Nein, warten Sie, sagen Sie nichts … ich werde sprechen. Hier in der Staatsanwaltschaft geht es drunter und drüber, und Sie und das Mädchen sind die Leidtragenden. Hören Sie zu: Tun Sie nichts, rühren Sie sich nicht von der Stelle. Sagen Sie mir, wo Sie sind, ich hole Sie ab.« »Wir sind im Nordpark, in der Telefonzelle hinter der Bar an der Straße, gleich nach der Tankstelle … wo die Zigeuner sind, wissen Sie, wo ich meine?« »Nein, aber ich finde Sie schon, keine Sorge. Coliandro … 113
rühren Sie sich nicht von der Stelle. Ich komme Sie jetzt abholen, und ich garantiere Ihnen, daß wir die Angelegenheit im Nu klären werden.« »Verdammt … entschuldigen Sie, ich wollte sagen … ich hab’s ja gewußt, daß Sie auf Zack sind, Papa hat das auch immer gesagt, Ehrenwort, dieser kleine Staatsanwalt da, hat er gesagt, der ist ein Mordskerl und …« »Lassen Sie’s gut sein, Coliandro, jetzt ist keine Zeit. Ich bin schon unterwegs.«
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Kapitel 16 »Atmet er noch? Hör mal, ob er atmet, ich höre ihn nicht mehr …« Ich klopfe auf den Kofferraum des Clio, denn Pferdeschwanz rührt sich schon eine Weile nicht mehr, und es wäre doch zu blöd, wenn er uns ausgerechnet jetzt abkratzen würde, wo der Herr StA kommt. Pferdeschwanz antwortet nicht, aber ich traue mich nicht zu öffnen, weil dieser Hurensohn, ich habe es ja schon erlebt, gefährlicher ist als Van Damme und Terminator Zwo zusammen, tierisch. Nikita legt das Ohr an den Kofferraum und macht mir Zeichen, ich soll stillhalten, dann hebt sie den Kopf und nickt. »Er hat gehustet. Leise, damit man es nicht hört, aber er hat gehustet. Dem Wichser geht’s prächtig.« Wir steigen in den Wagen, denn auf der Straße sind zwei Transvestiten mit Gesichtern wie Madonna und Beinen wie Totò Schillaci aufgetaucht und werfen Nikita böse Blicke zu, weil das nicht ihr Gebiet und sie obendrein noch eine Frau ist. Ich überlege, ob wir den Wagen nicht besser hinter der Telefonzelle parken sollten, zwischen einem Lieferwagen und der Mauer eines leerstehenden Hauses, aber ich lasse es sein. Am Ende sieht Malerba uns nicht und fährt weiter. Und außerdem, wenn die beiden Transen herkommen und Gezeter machen, dann stecke ich ihnen die Grizzly in die Silikontitten, aber hallo. Nikitas ausgestreckter Arm fährt an meinem Gesicht vorbei, sie reckt sich und stößt ein ausgiebiges Mmmmm durch die Nase aus. Seufzend läßt sie sich in den Sitz sinken und schaut mich an, weich und fast schmachtend. »Meinst du, es ist wirklich vorbei?« fragt sie mich, und so, wie sie das fragt, weiß ich auch schon, welche Antwort sie hören 115
will. »Ja«, sage ich und nicke entschieden. »Keine Sorge, Mädchen … es ist vorbei.« Sie hat die Hand aufs Knie gelegt, über das Netz der Strümpfe, und ich möchte sie berühren, verdammt, aber ich habe nicht den Mut dazu. Ich strecke den Arm aus, halte aber auf halber Strecke inne, am Schaltknüppel, und trommele mit den Fingern auf den Knauf, ich will abwarten, was sie macht. Sie rührt sich nicht, also ziehe ich den Arm zurück, tue so, als würde er abrutschen, und streife wie zufällig ihren Handrücken. Sie dreht die Hand um, greift nach meiner und verschränkt die Finger mit meinen. O Mann. Ich drehe das Kinn auf die Schulter und schaue sie an, hübsch ist sie, ihre Augen sind geschlossen, ihr Nacken lehnt an der Kopfstütze, die Lippen sind halb geöffnet. Es sieht aus, als würde sie schlafen, aber sie drückt meine Hand so fest, daß meine Finger langsam kalt werden. Und was jetzt, soll ich sie küssen? Oder soll ich besser etwas sagen? Ich küsse sie … nein, ich sage was. »Hör zu, Nikita … Simona. Wenn das alles vorbei ist und Malerba alles geregelt hat, dann … dann möchte ich dich wiedersehen. Immer, wenn wir uns begegnet sind, war es chaotisch, und ich möchte … daß wir uns besser kennenlernen. Was meinst du?« »Nein.« »Nein?« »Nein, ich weiß nämlich, was du im Sinn hast … und das ist nicht möglich. Wir haben doch schon einmal erlebt, daß es nicht funktioniert. Außerdem bist du nicht mein Typ, da fehlt das gewisse Etwas, das … jedenfalls, du gefällst mir nicht. Und ich gefalle dir auch nicht … du klammerst dich doch nur an mich, weil du keine Frau hast, hättest du eine, dann hättest du mich schon längst vergessen …« »Nein, nein, nein … schau mal, du hast das falsch verstanden 116
… ich wollte etwas anderes sagen, als Freunde, meinte ich …« Ich will meine Hand zurückziehen, aber sie läßt mich nicht los. Sie spricht weiter, immer noch mit geschlossenen Augen. »Und außerdem …«, sagt sie, »außerdem ist da noch Massimo.« »Ach ja, die Schwuchtel …«, sage ich boshaft, sie lächelt. »Siehst du, daß ich richtig verstanden habe?« Mist. »Ich weiß nicht, ob er der Richtige ist, aber … mit Massimo fühle ich mich wohl, meistens jedenfalls, und außerdem … ich erwarte ein Kind.« Ich lasse die Hand los, als würde sie brennen, und ihre gespreizten Finger bleiben auf den Strümpfen zurück wie die Beine einer Spinne, die rücklings auf ihrem Netz liegt. Sie öffnet die Augen und sieht mich an. »Ich habe nicht gesagt, daß ich HIV-positiv bin, ich habe gesagt, daß ich schwanger bin«, murmelt sie. »Entschuldige … es ist nur … Scheiße!« Wir schweigen eine Weile, während ich im Rückspiegel einen Transvestiten beobachte, der um unserem Wagen herumschleicht und versucht, einen Blick ins Innere zu werfen. Ein Mercedes hält an, die schwule Sau verpißt sich und wackelt ihm entgegen. »Dann heiratest du also«, sage ich ein bißchen heiser. »Ach was, das hat doch damit nichts zu tun … ich weiß noch gar nicht, ob ich es überhaupt behalte … und außerdem, wer weiß, was er vorhat, wenn er von seinem Orientierungsseminar zurückkommt. Aber das Wissen, daß es da ist, bringt uns im Moment nahe. Verstehst du?« Ich zucke mit den Schultern, schiebe den Kiefer vor und rücke die Pistole im Gürtel zurecht. »Klar verstehe ich dich …«, sage ich, »du hast mich doch 117
falsch verstanden. Ich meinte wirklich, daß wir Freunde bleiben, Freunde und sonst nichts. Was hast du denn gedacht … jedenfalls ist jetzt nicht der geeignete Augenblick für solche Gespräche. Wir müssen noch einen Job zu Ende bringen. Wo bleibt bloß dieser Staatsanwalt, verdammt?« Da kommt er, der Staatsanwalt. Ein BMW fährt auf uns zu, blinkt mit der Lichthupe und hält zehn Meter vor dem Clio am Bürgersteig an. Ich kneife die Augen zusammen, Malerba fährt wirklich wie ein Staatsanwalt, der sich normalerweise chauffieren läßt, und das heißt konkret, daß er mit den Reifen am Bordstein entlangschrammt und das Fernlicht eingeschaltet läßt Aber als ich nach oben schaue, werfe ich zufällig einen Blick in den Rückspiegel, und … da stimmt doch was nicht. Der Mercedes steht immer noch hinter uns, aber die Transvestiten, Scheiße, die sind verschwunden. »Moment mal …«, murmele ich und lege die Hand an die Pistole, aber plötzlich zucke ich auf meinem Sitz zusammen, weil Nikita brüllt: »Coliandro!«, und ihre erstickte Stimme schnürt auch mir die Kehle zu. Jetzt geht alles blitzschnell. Ich drehe mich um und sehe, wie ein Kerl sich halb ins Fenster hängt und Nikita am Hals packt, ich habe schon die Pistole in der Hand, um dem Bastard den Kopf wegzublasen, als jemand mich an den Schultern packt und aus dem Wagen zieht, schöne Scheiße. Ich schleife mit dem Rücken über den Asphalt, und obwohl ich mich wie eine Katze winde, komme ich einfach nicht auf die Füße, jemand rammt mir nämlich sein Knie in die Rippen, daß ich zusammenklappe und gegen den Wagen fliege. Dann werde ich auf die Motorhaube geworfen, jemand biegt meinen Kopf nach hinten und drückt mir eine Pistole aufs Auge, was höllisch weh tut. Mit dem anderen, aufgerissenen Auge sehe ich einen Himmel voller schmerzhafter Sterne und den Typ mit Schnauzer, der mir seinerzeit das Messer in den Bauch gestoßen hat. Schöne Scheiße. Schnauzer reißt mich hoch, zahm wie ein Lämmchen gehorche 118
ich und hebe auch noch die Hände über den Kopf. Nikita kniet auf dem Boden und weint, obwohl sie ihr offenbar nichts getan haben. Pferdeschwanz, der soeben dem Kofferraum entstiegen ist, geht es da schon schlechter, er verzieht das Gesicht, massiert sich den Rücken und hat Mühe, gerade zu stehen. Ich frage mich, wie zum Henker diese Schlampe von Longhi rausgekriegt hat, daß wir hier sind, und als beim BMW das Fernlicht ausgeschaltet wird, drehe ich mich zu ihr hin, weil ich dieser hinterhältigen Sau wenigstens ins Gesicht sehen und wenn möglich auch spucken will, Drecksmisthurenfotze, aber sie sieht mich nur durch die Windschutzscheibe an, starrt mich an, mit seltsamem Blick … nur, daß das gar nicht die Longhi ist. Das ist Malerba. O Kacke. Eine Sekunde später baut sich Pferdeschwanz vor mir auf, und mit knackenden Gelenken verpaßt er mir einen Tritt in die Eier, der mich umstandslos zu Boden schickt.
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Staatsanwaltschaft Bologna.
Stenographische Abschrift vom Band »Ich bin Staatsanwältin Stefania Longhi, Staatsanwaltschaft Bologna, heute ist der 22. April 1994, 18.00 Uhr, und dies ist die Aufzeichnung einer freiwilligen Erklärung, die Salvatore Literno, genannt Totò U’Tizzune, in seinem Zimmer im Städtischen Krankenhaus von Modena abgeben will. Als Zeugen anwesend sind Sovrintendente Pasquarella und Vizekommissar Matrone. Bestätigen Sie das, Signor Literno?« »Natürlich …« »Antworten Sie mit ja oder nein, bitte …« »Ja, ich bestätige, ja …« »Signor Literno, Sie haben mir mitteilen lassen, daß Sie beabsichtigen, bezüglich Ihrer Verbindungen zum organisierten Verbrechen mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Ist dem so?« »Natürlich … das heißt, entschuldigen Sie, ja, so ist es. Ich will Ihnen alles über die Pilastro-Bande und diese gehörnte Sau von Mazzarà sagen.« »Signor Literno, nach meinen Informationen gehören Sie zur Familie von Vittorio, einem Boß aus Catania …« »Kenne ich nicht, hab nie jemanden gekannt, der Vittorio heißt, das schwöre ich bei meiner Seele.« »Signor Literno …« »Frau Staatsanwalt, Sie sind sehr schön, aber ich frage mich, ob Sie auch sehr intelligent sind … ich möchte nämlich, daß Sie mich recht verstehen: Ich kann Ihnen die ganze Pilastro-Bande ans Messer liefern, diese gehörnte Sau und seine ganze Brut und dazu noch einen Ihrer Kollegen von der Antimafia, das heißt, ich biete Ihnen einen solchen Knüller, daß man Sie mindestens zum Justizminister macht. Aber wenn Sie mich nach diesem Don 120
Vittorio fragen, den ich nicht kenne, dann mache ich nicht mehr mit. Was meinen Sie, Frau Staatsanwalt, sollen wir erst mal vertraulich ein paar Takte über die richtigen Fragen plaudern, oder wollen Sie, daß ich jetzt gleich in das Gerät sage, daß es mir nicht gut geht und ich mich an nichts erinnere?« »Nein. Matrone, schalten Sie das Gerät ab. Und gehen Sie mit dem Sovrintendente einen Kaffee trinken, bitte.«
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Kapitel 17 Mir tun die Eier weh. Und am liebsten würde ich kotzen. Und ich weiß verdammt noch mal nicht, wo ich bin, denn es ist dunkel. Nein, es ist nicht dunkel, mir sind die Augen verbunden, so fest, daß ich die Lider unter der Binde nicht bewegen kann. Das Brummen in meinen Ohren sagt mir, daß ich in einem Auto sitze. Der Geruch neben mir sagt mir, daß Nikita auch hier ist. Und der Geruch auf der anderen Seite sagt mir, daß da einer sitzt, der normalerweise Zigarre raucht. »Wieso muß ich auch mitkommen?« Die Stimme gehört Malerba, er ist der Mann, der normalerweise Zigarre raucht. »Darum. Weil du in letzter Zeit komisch drauf bist und weil ich will, daß du wieder vernünftig wirst. Nimm, Besseres gibt es nicht.« Die Stimme gehört Pferdeschwanz, dem größten Wichser der Welt, der wohl auf dem Beifahrersitz sitzt. Neben mir zieht jemand Luft durch die Nase ein, ein halbes Niesen. »Mannomann … wirklich gut, das Zeug. Aber wieso muß ich auch mitkommen?« »Hurensohn …«, murmele ich, und Paff! schleudert eine Ohrfeige mein Gesicht gegen die Rückbank. Der Richtung nach zu urteilen, kam sie entweder von Nikita oder von Pferdeschwanz. Von Pferdeschwanz, würde ich sagen. »Sie verstehen das nicht …«, sagt Malerba, und ich sage noch mal: »Hurensohn.« Paff!, noch eine Ohrfeige. »Halt die Klappe, Coliandro, bitte …«, stöhnt Nikita. »Sie begreifen das nicht, Sovrintendente … wie soll ich Ihnen das erklären? Sie begreifen das nicht …« jammert der Staatsanwalt, und fast denkt man, er weint. 122
»Das Foto im ›Carlino‹«, sage ich, »der junge Mann, der in Ihren Armen gestorben ist, Scheiße, und Sie haben geweint …« Ich halte den Atem an, weil ich auf die nächste Ohrfeige warte. Sag bloß, sie kommt nicht? Doch, doch, sie kommt … Paff! »Verstehen Sie denn nicht? Das ist es doch genau, dieser junge Mann … Himmelherrgott, Sovrintendente, was sollte ich denn tun? Ich hatte Personenschutz, ich wurde bewacht wie die Bank von Italien, Mensch, ich dachte, sie könnten mich höchstens durch eine Bombe auf der Autobahn töten, und was ist schon eine Bombe auf der Autobahn? Eine Stichflamme, ein Krater und dann Leb wohl … ein Held mehr. Aber Mensch, an dem Tag, Sovrintendente … an dem Tag haben diese Kerle aus siebenhundert Metern geschossen und den Jungen genau in die Leiste getroffen, genau unterhalb der kugelsicheren Weste! Die Kupferspitze der Kugel hat ihm die Oberschenkelarterie durchtrennt, er ist in weniger als einer Minute verblutet, in meinen Armen! Verdammt noch mal, Sovrintendente, können Sie sich das vorstellen?« »Das Foto im ›Carlino‹ … Sie haben geweint … Scheiße, Sie haben vor Zorn geweint!« Noch eine? Nein, diesmal nicht. Von wegen … da ist sie: Paff! »Natürlich habe ich geweint, aber ich habe vor Angst geweint! Ich hielt den Tod im Arm, Sovrintendente, meinen Tod, sie haben auf ihn geschossen, um mich zu treffen!« Er brüllt, und ich brülle zurück, es ist mir scheißegal, ob ich mir noch eine Ohrfeige einfange. »Sie waren auf Pappis Begräbnis! Pappi ist in Palermo mit Richter Micalis in die Luft geflogen, dabei hatte er gar keinen Dienst, er war nur dabei, weil ein Kollege von ihm geheiratet hat! Aber mein Vater war nicht ein Held mehr, er war nur mein Pappi, und er war tot!« Ich weine, da, ich spüre die Tränen unter der Binde. Scheiße. Ich weine auch, weil wie gewöhnlich alles meine Schuld ist … 123
Ich hätte es mir denken müssen, ich hätte zwei und zwei zusammenzählen müssen, als Nikita gesagt hat, Malerba sei seit Montag zurück. Montag war nämlich der Tag, an dem ich der Longhi alles erzählt habe, und die Longhi mag ja eine Schlampe sein, aber sie ist gewissenhaft und hat ihrem offiziellen Vorgesetzten nur berichtet, was sie wußte – in den Arsch gefickt hat der uns. Malerba weint ebenfalls, er winselt wie ein geprügelter Hund, und dabei murmelt er: »Ich hatte Angst, Mensch, also begann ich zu sniffen, und dann sind die gekommen und haben verlangt, ich solle eine Sache decken und dann noch eine, und ich hatte Angst …« Ein stetiges Gewinsel, das kurz von einem leisen Schniefen unterbrochen wird. »Mach langsam mit dem Zeug«, sagt Pferdeschwanz seelenruhig, »das brennt dir das Hirn weg. Und hör auf, Scheiße zu reden, du bist jetzt einer von uns. Du sollst heute abend zuschauen, damit du lernst, was passiert, wenn man Mist baut.« Und noch ein Paff! für meine Wenigkeit. Wo ich doch überhaupt nichts damit zu tun habe.
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Kapitel 18 Es riecht nach Mehl, Tomate und Verbranntem. Ich bewege die Finger und spüre etwas Kaltes und Glattes. Dann strecke ich die Arme aus, ich bin nicht gefesselt. Ich hebe die Hände Richtung Gesicht, aber ein Fausthieb in den Magen stoppt mich. »Herzlich willkommen«, sagt jemand. »Du kannst die Binde jetzt abnehmen.« Vielen Dank, du Arschloch … genau das wollte ich eben tun. Ich mache die Augen auf und sehe, daß ich in einer Küche bin, der Küche einer Pizzeria, zumindest dem Ofen nach zu urteilen, der hinter dem Nebelschleier vor meinen Augen flackert. Es ist wie in einem alten Schwarzweißfilm, wenn jemand träumt und die Ränder unscharf flimmern. Nur, falls das hier ein Traum ist, dann aber ein echter Scheißtraum. Nikita lehnt an der Wand, ihre Augen sind gerötet, Tränen laufen ihr über die Wangen, ich sitze auf einem Tisch und lehne mit dem Rücken am Ofen, und zwischen uns steht Pferdeschwanz, die Pistole im Gürtel. Auf einer Seite des Raums sitzt ein junger Mann in schwarzem Pullover und völlig zerrissenen Jeans auf einem Stuhl, die Arme sind an die Lehne gebunden. Das Kinn liegt auf der Brust, deshalb kann ich sein Gesicht nicht sehen, es wird von einem dichten Schopf abstehender Haare verdeckt, die sich jedesmal, wenn er atmet, langsam auf und ab bewegen, ganz langsam, als würde er schlafen. Auf der anderen Seite, auf der Bartheke, sitzt dieser Wichser von Schnauzer, er läßt die Füße gegen das Holz baumeln und hat meine Grizzly in der Hand. Neben ihm ist Malerba damit beschäftigt, mit dem Finger ein paar Mehlkörnchen auf der polierten Messingfläche zusammenzuschieben, er reibt sie sich unter die Lippen, dann zieht er die Nase hoch, seine Augen funkeln. Ich glaube, das ist eher doch kein Mehl. 125
»Warum muß ich auch dabeisein?« fragt Malerba. »Warum?« Pferdeschwanz wirft ihm einen bösen Blick zu, legt einen Finger vor die Nase und zischt: Psssttt. Dann baut er sich vor mir auf, sein Gesicht klebt fast an meinem, die Hakennase streift mich. »Wo sind das Geld und die Diskette?« fragt er, wobei er jede Silbe betont und mir direkt in die Augen schaut. »Ich weiß es nicht«, sage ich kaum hörbar. »Warum darf ich nicht gehen?« fragt Malerba. »Warum muß ich auch hierbleiben?« »Halt’s Maul. Wo sind … das Geld … und … die Diskette?« Clint Eastwood, tierisch, der würde jetzt im gleichen Tonfall sagen: ich … weiß … es … nicht …, und er würde sich noch einen Fausthieb einfangen. Ich habe nicht den Mut dazu, deshalb lächele ich, zucke mit den Schultern und sage: »Tja …«. Pferdeschwanz starrt mich lange an, ziemlich lange, verdammt, dann steht er auf. »Der will nicht reden«, sagt er kopfschüttelnd. Wie er darauf kommt, weiß ich nicht, denn ich mache mir in die Hose vor Angst, und wenn ich wüßte, wo das Geld ist, würde ich es ihm auf der Stelle sagen, Ehrenwort … Mann, solange es um ein paar Ohrfeigen geht, das halte ich aus, glaube ich, aber wenn es um Folter Marke Messer in die Augen oder in den Bauchnabel oder, au weia, noch weiter unten geht, dann nicht mit mir, o nein, verdammt … Aber selbst wenn ich wollte, was zum Henker sollte ich sagen? »Ich hau ab …«, miaut Malerba, aber er rührt sich nicht. Pferdeschwanz geht zu Nikita und lächelt sie an. Er hebt die Hand und wischt ihr eine Träne von der Backe, dann macht er blitzschnell eine Faust und drischt ihr in den Magen, daß sie zusammenklappt und mit einem so schrillen Zischen, daß es bestimmt nur Hunde hören können, alle Luft ausstößt, die sie in der Lunge hat. 126
»He, du Arschgesicht!« sage ich und springe vom Tisch, aber Pferdeschwanz wirbelt auf einem Bein herum und trifft mich mit der Ferse unter dem Ohr, so daß ich gegen die Bar geschleudert werde, Schnauzer direkt vor die Füße. Der springt von der Theke und kniet sich auf meinen Rücken. »Ich will gehen …«, stöhnt Malerba, und ich höre ihn wieder sniffen, den Wichser, es klingt wie der verstopfte Abfluß eines Klos. Pferdeschwanz tritt Nikita in den Hintern, was sie auf mich drauf befördert, dann reißt er sie an den Haaren wieder hoch. Nikita schreit, und ich schreie auch, Hurenkacke, aber ich werde mit dem Gesicht auf den Boden gequetscht und kann nichts tun. »Noch ein paar solcher Schläge, und das Gesicht deiner Freundin sieht aus wie eine Quattro Stagioni«, knurrt Pferdeschwanz, »und danach stecke ich sie zusammen mit dir in den Ofen. Dir liegt doch was an deiner Nutte, oder? Soll ich sie so zurichten wie meinen Cousin Psycho, diesen Trottel? Ich binde sie am Stuhl fest und hab ein bißchen Spaß … oder soll ich lieber das hier machen?« Ich kann Nikita nicht sehen, aber ich höre wieder dieses Zischen, das zu einem kehligen Würgen wird. »Ich weiß nicht, wo das Geld ist, verdammt! Ich kann’s dir nicht sagen!« »Schick mich weg, bitte, schick mich weg …« Noch ein Zischen, nicht ganz so lang, gefolgt von einem abgehackten Schlucken, als wenn man keine Luft kriegt. »Ich weiß es nicht, verdammte Scheiße, ich weiß es nicht! Sie hat es versteckt! Sie hat mir nicht gesagt, wo sie es versteckt hat!« Schweigen. Dann das Stöhnen von Nikita, die zu Boden fällt, als ihre Handflächen auf den Fliesen aufschlagen, macht es Tschak-Tschak. Ich sehe die Cowboystiefel von Pferdeschwanz, dann seine Beine und den Rest, ganz schnell, denn Schnauzer 127
reißt mich an den Haaren hoch. Pferdeschwanz starrt mir in die Augen, dann nickt er wieder. »Ich glaube dir«, sagt er, »du kannst gar nicht lügen. Dann machen wir jetzt mal ein bißchen sauber … den da brauchen wir nicht mehr.« Er zieht die Pistole aus dem Gürtel, hebt den Arm und gibt, fast ohne hinzuschauen, einen Schuß auf den gefesselten Jungen ab. Psychos Kopf schnellt nach hinten, ein Blutstrahl schießt aus der Schläfe. Der Stuhl kippt erst auf die Hinterbeine und dann zurück nach vorn, Psycho schaukelt mit. Nikita stößt einen Schrei aus, Malerba kreischt schrill, und ich spüre, wie meine Beine schlaff werden, aber dafür ist jetzt keine Zeit, denn Pferdeschwanz dreht sich um und deutet mit dem Kinn auf mich. »Schnapp dir den da und erledige ihn.« Einen Augenblick lang denke ich, daß er mit mir spricht, weil er mir die ganze Zeit in die Augen schaut, dann brüllt Nikita plötzlich: Neiiin, ich verliere das Gleichgewicht, weil Schnauzer mich am Kragen packt und wegschleift, und da wird auch mir klar, daß Pferdeschwanz nicht mit mir, sondern über mich gesprochen hat. Schöne Scheiße. Ich fliege gegen eine Tür, die krachend aufgeht, und finde mich in einem Gang mit lauter leeren Flaschen wieder, auf dem Boden kniend. Mit hysterischen, schnellen Schritten hastet Malerba an mir vorbei auf eine Tür am anderen Ende des Gangs zu. »He, Richter …«, knurrt Schnauzer, »wo zum Henker willst du hin?« »Ich hau ab, ich hau ab!« schreit Malerba und ballt die Fäuste wie ein Kind. Ich checke die Flaschen, Mist, verdammter, sie sind alle aus Plastik, Evian und so Zeugs, alle, verdammt, aber dann finde ich doch eine aus Glas und drehe mich mit erhobenem Arm um. »Schluß jetzt, du Held«, zischt Schnauzer und richtet die 128
Pistole auf mich, »was willst du denn mit der blöden Flasche? Wenn ein Mann mit Flasche auf einen Mann mit Pistole trifft, ist der Mann mit der Flasche ein toter Mann …« Und dann drückt Schnauzer ab. Möglich, daß dieser Satz ihn inspiriert hat, jedenfalls zielt er wie Tex Willer auf die Flasche, die mir in der Hand zerspringt und ein Gefühl erzeugt, als wären meine Finger in alle Richtungen auseinandergeflogen. Wenn jemand mit einer Grizzly in einem Flur rumballert, ist die Wirkung absolut tierisch, Ehrenwort. Meine Ohren sind durch den Knall wie zugestöpselt, und der stechende Schmerz ist fast schlimmer als der in der Hand. Von fern höre ich ein Winseln, hinter mir, als würde ein Hund vom Auto überfahren. Schnauzer schaut mit aufgerissenen Augen über meinen Kopf hinweg, während das Gewinsel anschwillt, zu einem schrillen Stöhnen und dann zu einem Schrei wird, dem ohrenbetäubenden Gebrüll einer tollwütigen Bestie. Malerba stürmt vorbei, ich werde gegen die Wand geschleudert, er stürzt auf die Küchentür zu und reißt auch Schnauzer mit, der das Gleichgewicht verliert und die Pistole fallen läßt. Ich krieche über den Fußboden und greife danach, aber Schnauzer kickt sie mit dem Fuß weg. Ich komme auf die Knie, packe mit beiden Händen, der heilen und der blutenden, seine Eier und drücke mit aller Kraft zu. Schnauzer stößt einen heiseren Schrei aus und schlägt die Hände vors Gesicht, ich lasse ihn los, und er knallt gegen die Wand. Auf allen vieren wie eine Katze stürze ich mich auf die Grizzly, schnappe sie mir, drehe mich um und schieße, ohne hinzuschauen, ich mache die Augen sogar absichtlich zu, während der Rückstoß mich nach hinten reißt. Als ich die Augen wieder öffne, rutscht Schnauzer gerade mit ausgebreiteten Armen auf den Hosenboden, und auf der Wand bleibt ein breiter Blutstreifen zurück, der mindestens einen halben Meter weiter oben ansetzt, dort, wo ihn meine Kanonade erwischt haben muß. Während ich mich vergewissere, daß meine Ohren noch funktionieren und meine Finger, obwohl sie so höllisch weh tun, 129
daß sie mindestens gebrochen sind, noch alle dran sind, höre ich plötzlich hinter der Tür ein tonloses, nasales Knurren und eine Stimme, die so angsterfüllt ist, daß sie auch mir Angst einjagt, denn ich erkenne sie sofort, es ist Nikitas Stimme. Mit einem Tritt stoße ich die Tür auf, reiße die Pistole hoch und ziele beidhändig, Daumen auf Daumen, schulmäßig, aber ich bringe es nicht über mich abzudrücken. Auf einem Tisch krümmt sich Nikita wie ein Fötus, sie umklammert die Knie und schreit. Auf der Ablage vor dem Ofen sind Malerba und Pferdeschwanz ineinander verkeilt. Malerba liegt oben, zu einer Kugel gekrümmt, und stemmt den anderen nach hinten. Unter seinem Körper schauen die Arme von Pferdeschwanz hervor, die Finger der einen Hand versuchen die Pistole festzuhalten, die ihnen zu entgleiten droht, während die Finger der anderen Hand an Malerbas Haaren reißen, im Nacken, und die ganze Zeit hört man dieses nasale Knurren, das sich mit einem erstickten Gurgeln mischt. Schließlich öffnen sich die Finger um die Pistole, der andere Arm rutscht zur Seite. Malerba hebt den Kopf und dreht sich zu mir um, die aufgerissenen Augen sehen aus wie weiße Kugeln, sein Mund steht offen, weißer Schaum und Blut aus Pferdeschwanz’ Kehle rinnen rechts und links aufs Kinn herunter. Eine gute Minute knurrt er weiter, der Staatsanwalt, sein Hals ist vor Anstrengung völlig angespannt, dann spuckt er einen roten Strahl Blut aus und brüllt, mein Gott, wie der brüllt.
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»Il Resto del Carlino«, Sonntag, 23.04.94 RAZZIA IN DER BARCA Es war kurz nach zwei Uhr morgens, als die blauen Blitze der Streifenwagen die noch frische und leicht neblige Luft des Arbeiterviertels Barca durchzuckten [ … ] »La Repubblica«, Sonntag, 23.04.94 VERHAFTUNGSWELLE IN BOLOGNA Fast fünfhundert Carabinieri, Polizisten und Steuerfahnder haben gestern morgen die größte Razzia der letzten Jahre durchgeführt und mehr als zweihundert Verhaftungen vorgenommen. Neben dem mutmaßlichen Boß Michele Mazzarà und seinem Bruder Alfredo gingen der Justiz zahlreiche Exponenten des Organisierten Verbrechens von Bologna, Modena, Imola und Rimini ins Netz [ … ] TG3 – Regionalnachrichten, 23. April, 14.30 Uhr »Die Blitzaktion von Samstag morgen, bei der Polizei und Carabinieri gegen die Mafiafamilien der Barca vorgingen, wurde offenbar durch die Enthüllungen eines Kronzeugen aus Mafiakreisen ausgelöst. Staatsanwältin Longhi, die die Ermittlungen brillant koordiniert hat, hüllt sich allerdings noch immer in Schweigen. ›Es ist noch zu früh, um Namen zu nennen … ich kann Ihnen nur soviel sagen: Wenn man professionell und effizient und in enger Kooperation mit den Polizeikräften vorgeht und nicht ständig auf die Öffentlichkeit schielt, dann kommt man auch zu Ergebnissen …‹ 131
Staatsanwältin Longhi wird in Bälde Dr. Malerba ablösen, der aus gesundheitlichen Gründen aus der SoKo Organisierte Kriminalität in Bologna ausscheidet. Über eine eventuelle Kandidatur bei den anstehenden Wahlen will sich Dottoressa Longhi allerdings nicht äußern.« [ … ] »Der Sonnabend« -Wochenblatt für den Kreis Imola REDAKTIONSKOLLEGE SCHWER VERUNGLÜCKT Bein, Arm und einen Finger der linken Hand gebrochen – so lautet der Befund für Carlo Lucarelli, der dieser Tage zu Hause auf der Treppe gestürzt ist. »Ich weiß, daß es nur drei Stufen sind und daß unten eine Wiese ist«, sagt Lucarelli in seinem Bett im Ospedale Nuovo von Imola, »aber offensichtlich bin ich unglücklich gefallen. Ich muß mir auch den Kopf angeschlagen haben, denn ich erinnere mich an nichts. Bitte keine weiteren Fragen. Ich bin die Treppe runtergefallen, basta.« Die ganze Redaktion wünscht Lucarelli baldige Genesung.
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Kapitell 19 »In seiner Freizeit, mit Opfermut und unter Einsatz seines Lebens …« In seiner Freizeit … So beginnen alle Belobigungen. Würden die Leute so etwas lesen, würde mancher glauben, Polizisten täten nichts im Dienst, sondern nur, wenn sie Feierabend haben … Wie dem auch sei, da es sich um meine Belobigung handelt und ich, weil flüchtig, tatsächlich nicht im Dienst war, pfeife ich drauf und nehme es, wie es kommt, inklusive Shakehands mit dem Präfekten, Polizeikapelle und Uniformjacke, die tierisch warm und dazu auch noch zu eng ist, schöne Scheiße. Nachdem der ganze Rummel vorbei ist, vertraue ich im Hof des Präsidiums meine gerührte Mama der Verwandtschaft aus Lecce an und verziehe mich in eine Toreinfahrt, um mir die Jacke aufzuknöpfen und diese bescheuerte Mütze abzusetzen, von der ich schon Kopfweh gekriegt habe. Aber denkste, darauf hat die Longhi nur gewartet, sie hängt sich bei mir ein und schleift mich vor eine Kamera der Regionalnachrichten im Dritten, wobei sie sich freundlich und lächelnd an mir reibt, als ob sie mit mir bumsen will. Aber nur, solange die Kamera da ist, denn sobald der Scheinwerfer ausgeht und Paola Rubbi das Mikrophon sinken läßt, rückt die Schlampe von mir ab und schaut mich mit dem gewohnten Blick an, mit anderen Worten, als ob ich ein Stück Scheiße wäre. »Soso, man hat Sie also zum Inspektor befördert …«, sagt sie, um irgendwas zu sagen. »Tja«, sage ich, ebenfalls um irgendwas zu sagen. »Na, das haben Sie sich auch verdient … wenn Sie nicht gehandelt hätten, hätten wir die Diskette mit der gesamten Geldwäscheorganisation der Mazzarà-Bande nie in die Hand 133
bekommen. In den letzten Jahren hat Malerba mit seinen Finten und Manövern doch sämtliche Ermittlungen blockiert. Sicher, es gab Verdachtsmomente, aber wer hätte ausgerechnet an ihn gedacht?« »Sie bestimmt nicht, wo Sie ihm doch gleich brühwarm weitererzählt haben, was ich Ihnen gesagt hatte.« Sie kneift die Augen zusammen und fixiert mich mit diesem grünen Strahl, der Löcher in ihre Brille zu brennen scheint »Und das ist noch nicht alles …«, sagt sie, »ich habe Malerba auch blind vertraut, als er mir suggerierte, die Kugel im Kopf des Buchhalters stamme aus Ihrer Pistole, und ich habe Sie noch vor dem Gutachten verhaften lassen, das er dann gefälscht hat. Aber wo wir schon bei Fehlern sind …« Wieder dieser tiefgrüne Blitz hinter dem weißen Reflex der Sonne auf den Gläsern. »Darf ich Sie etwas fragen, Inspektor?« »Bitte …« »Wieviel haben Sie eigentlich von dieser Geschichte begriffen?« Nicht die Bohne. Aber das sage ich nicht, ich zucke mit den Schultern und sage: »Wenig«. Es ist, als wäre alles an mir vorbeigerauscht, während ich mich an das geklammert habe, womit ich meine Haut retten konnte. »Aha. Dann beschränken Sie sich bitte auf Ihren Part und überlassen Sie alles übrige denen, die qua Amt dafür zuständig sind.« Sie lächelt, die Schlampe, und geht. Qua Amt, denke ich, und während ich ihrem Hintern hinterherschaue, der unter der engen Robe davonwackelt, frage ich mich, was zum Henker das bedeutet. »Oh, jetzt bist du wirklich Inspektor Callaghan …« Nikita ist fast wie eine Frau angezogen, keine Boots und Netzstrümpfe, dafür ein etwas knappes Kostüm, dauernd zieht sie den Rock herunter und streicht ihn über den Beinen glatt. Ich lächele, aber nur einen Augenblick, denn neben ihr steht ein 134
Lulatsch von Blödmann mit Loservisage, Nickelbrille und indischer Weste, der an ihrem Arm hängt wie eine Handtasche. Obwohl er nichts sagt, kann ich mir schon denken, daß er das R soft ausspricht, die Schwuchtel. »Ich habe dich gar nicht gesehen«, sage ich. Sie senkt den Kopf und zuckt mit den Schultern. »Ich war hinten.« Mit der Schuhspitze gräbt sie im Kies, ich stelle fest, daß sie sogar hohe Absätze trägt. »Steht dir gut, die Uniform«, sagt sie. »Wirklich?« »Nein … zum Lachen. Na ja, du ziehst sie sowieso nie an. Du bist also befördert worden …« »Stimmt … und versetzt. Ich bin nicht mehr in der Kantinenbeschaffung, ich bin jetzt wieder bei den Streifenwagen …« »Das ist ja toll …« O ja, genau das habe ich auch gesagt, als der Polizeichef mir mitteilte, daß er mich, den Helden des Tages, leider nicht nach Catanzaro versetzen könne. Mann, habe ich gedacht, endlich wieder im Streifenwagen! Ja ja, von wegen Streifenwagen … Fuhrpark, Abteilung Ersatzteilbeschaffung, schöne Scheiße … »Tja«, sagt Nikita, »dann sage ich mal tschüß …« »Ja«, sage ich, »wir sehen uns …« Sie seufzt, zieht den Rock herunter, murmelt: »Gott, ist das ätzend, dieses Kostüm«, dann verschränkt sie die Arme, seufzt noch einmal und wendet sich an die Schwuchtel. »Massimo … sei so lieb und geh ein bißchen spazieren.« Sie sieht wieder mich an, macht den Mund auf und will etwas sagen, aber sie bringt kein Wort heraus. Sie preßt die Lippen zusammen und kaut auf der Backe herum. Ich setze die Mütze ab und lasse sie ein bißchen auf dem Finger kreisen. Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll … ich möchte ihr vieles sagen, aber es ist höllisch heiß, die Jacke zwickt, die Schwuchtel wirft 135
mir schiefe Blicke zu, und sie, Nikita, steht mindestens zwei Schritt entfernt, wenn ich die Hand ausstrecken würde, könnte ich sie nicht mal berühren. Deshalb fange ich die Mütze, die mir vom Finger gesegelt ist, im Flug auf und setze sie wieder auf. »Wie willst du das Baby nennen?« frage ich, und sie kapiert sofort, daß ich nur das Thema wechseln will. »Ich weiß noch gar nicht, ob ich es behalte … aber vielleicht behalte ich’s. Tja …« Die Schwuchtel wedelt mit den Armen, Nikita nickt. Ich möchte sie berühren, aber sie ist noch einen Schritt zurückgewichen. »Ciao«, sagt sie. »Ciao«, sage ich. »Meld dich, wenn du dich wieder in die Scheiße geritten hast.« »Du spinnst wohl … das nächste Mal gehe ich zu den Carabinieri.« »Geh, die Schwu … ich meine, Massimo wartet auf dich.« »Könnte eine Szene aus Casablanca sein.« »Kenne ich nicht … mit wem ist der, Chuck Norris?« »Nein, mit Van Damme.« »Oh, dann hole ich ihn mir heute abend auf Video.« Sie lacht, ein bißchen schrill, geht zu dem Blödmann und nimmt seine Hand. Sie geht ein paar Schritte auf die Leute zu, die sich am Hoftor knubbeln, aber plötzlich bleibt sie stehen, kommt zurück, stellt sich auf die Zehenspitzen und küßt mich rasch auf den Mund. »Ciao, Inspektor Callaghan«, sagt sie, und dann: »Ätzend, dieser Rock …«, und während sie den Stoff über den Beinen glattstreicht, sagt sie mit leicht zitternder Stimme noch mal: »Gott, wie ätzend …« Dann verschwindet sie in der Menge, und ich verliere sie aus den Augen. Schöne Scheiße. 136