Tatsachen 299
Detlef Franke
Schneenot
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Tatsachen 299
Detlef Franke
Schneenot
1. Auflage © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) - Berlin, 1986 Lektor: Rosemarie Trebeß Illustrationen: Zentrales Archiv der Volksmarine Umschlag: Karl Fischer
Unerwartet kommt es nicht, die Jahreszeit ist danach. Dennoch, im ersten Augenblick ist man überrascht, erstaunt. Plötzlich, buchstäblich über Nacht, hat sich alles verändert: Straßen und Wege sind spiegelglatt; Wiesen und Felder scheinen mit schlohweißen Laken überzogen, Bäume und Sträucher haben sich herausgeputzt. Ansehnliches und Unansehnliches läßt sich nicht mehr unterscheiden. Der Hochuferweg, der von Saßnitz zum Königsstuhl führt, ist nun noch beschwerlicher geworden. Aber er lohnt die Mühen einer Wanderung. Links breitet sich der verschneite Märchenwald aus, in dem man Rehen, Mufflons und Wildschweinen begegnen kann; rechts unten tobt das Meer. Ein eisiger Nordwest türmt Wellenberge auf, treibt schwere graue Wolken zuhauf, läßt Schneeflocken wirbelnde Tänze vollführen. Die von Wind und Wetter zerklüfteten Kreidefelsen haben ein Schneepaneel bekommen. Verläßt man den schmalen, rutschigen Pfad und wagt sich in einen der Seitenwege, dann glaubt man kaum noch, an der Ostsee zu sein. Diese sanfte Berg-und-Tal-Landschaft gleicht eher den Landstrichen Harz und Thüringen. Man bekommt Lust auf Ski und Rodel. Winter auf Rügen. Die Einheimischen freilich sehen ihn weniger romantisch. Sie haben sich an seine Unbilden gewöhnt, werden damit fertig wie im Sommer mit den Urlaubern. Sie trotzen den bitterkalten Stürmen, die meist von See her kommen, die einem die Sicht nehmen und den Atem und die das Gesicht peinigen, als würde es mit Nadeln zerstochen. Und wieder rücken die Bewohner mit Pflügen, Fräsen und Schippen den Schneemassen auf Straßen, Wegen und an den Schienensträngen zu Leibe. Dieser oft Wochen währende Kampf gegen die Naturgewalten ist in jedem Jahr verbunden mit Schicksalen, mit außergewöhnlichen Ereignissen, mit ernsten und heiteren Episoden. So liefert das Thema Winter schier unerschöpflichen Gesprächsstoff, für die Bauern aus Nipmerow und die Gastwirtsleute in Neddesitz, für die Saßnitzer Fischer und die Bergener Busfahrer, für die Meteorologen, die am Kap Arkona »das Wetter machen«, und für die Matrosen der Volksmarine, die auf Rügen ihren Dienst versehen. Und irgendwann kommen sie alle auf den schneereichen Winter 1978/79 zu sprechen, der in ihrem 3
Gedächtnis unauslöschlich eingefroren ist wie in einem Tiefkühlschrank. Manchmal nehmen sie etwas heraus, tauen es auf; diese oder jene Geschichte kommt dann zum Vorschein. Eine hat sich wohl so zugetragen ... In der Sprechanlage der Flugleitung knackt es, dann ertönt eine ruhige Stimme: »300 für 301 kommen!« »300 empfangsbereit!« »300! Landung auf dem Dänholm unmöglich. Außerdem kommt von dort kein Auto in die Stadt, die Straße ist zu. Erbitte Weisung. Ende!« »300 richtig verstanden! 301 bleiben Sie auf Empfang!« Kurzer fragender Blickwechsel zwischen Fregattenkapitän Günter Leithold, dem Geschwaderkommandeur, und seinem Stellvertreter, Fregattenkapitän Lutz Weibezahl. Wie sollen sie entscheiden? Die Lage ist mehr als ernst, jede Minute kostbar. Im Normalfall hätte sich bei diesem Schneesturm und der schlechten Sicht kein Hubschrauber in die Luft erhoben. Aber von dem Flug hängt das Leben einer werdenden Mutter ab. Jetzt muß dringend ein Landeplatz, möglichst nahe dem Krankenhaus, gefunden werden. Günter Leithold und Lutz Weibezahl haben sich inzwischen verständigt, der Kommandeur greift zum Mikrofon: »301 für 300 kommen!« »301 empfangsbereit!« »301! Suchen Sie selbst einen geeigneten Landeplatz. Sie können das von oben besser beurteilen als wir von hier. Wir organisieren, daß alles zügig vorbereitet wird. Haben Sie richtig verstanden? Kommen!« »301 richtig verstanden. Ende!« Das dreigeschossige Gebäude der Flugleitung steht mitten in einer Flachbaureihe entlang dem Flugfeld. Die vereisten Antennen auf dem Dach ragen wie frostig-weiße ausgestreckte Hände und Finger in den Himmel. Im Parterre des Gebäudes befinden sich unter anderem die Arbeitszimmer und Labors des meteorologischen Dienstes. Die eigentliche Flugleitung sitzt eine Treppe höher. Im Moment ist nur das feine Summen der Funkgeräte zu hören, sonst herrscht Stille. Von hier oben kann man durch die großen Fenster den gesamten
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Flugplatz des Marinefliegergeschwaders »Kurt Barthel« überblicken. Wo man hinschaut Schnee, grell blendend, daß einem die Augen schmerzen. Und nur Eingeweihte wissen, daß sich unter den riesigen Schneehügeln die stählernen »Libellen« verbergen. Im Schneetreiben sind vermummte Gestalten zu erkennen. Mit bewundernswerter Ausdauer schaufeln die Soldaten pausenlos eine Abstellfläche frei, damit wenigstens eine Maschine sofort starten oder landen kann. Techniker und Mechaniker haben einen Helikopter in die Reparaturhalle geschoben, halten ihn flugbereit, denn niemand weiß, weder der Kommandeur noch sein Stellvertreter, wann der nächste Flugauftrag erteilt wird und wie er lautet - ob Lebensmittel zu transportieren sind, ob ein Schwerkranker aus einem eingeschneiten, von der Außenwelt abgeschnittenen Dorf zu holen ist oder eine Frau befördert werden muß, die sehr bald ein Baby erwartet. Hier in der Flugleitung, dem Nervenzentrum, wo all die vielen unsichtbaren Fäden zusammenlaufen, werden jetzt die Sekunden zu Minuten, die Minuten zu Stunden. Die beiden Fregattenkapitäne, beide um die Vierzig, bleiben dennoch ruhig und besonnen. Günter Leithold hat ein breites Gesicht, das leicht gewellte Haar ist zurückgekämmt. Der schwarzhaarige Lutz Weibezahl sieht aus, als säße ihm der Schalk im Nacken. Dabei ist er ein durchaus ernster Mensch. Beide gehen in ihrem Beruf als Offizier auf, hängen mit Leib und Seele an der Fliegerei, fühlen sich beinahe sicherer am Steuerknüppel eines Hubschraubers als am Lenkrad eines Autos. Und der jahrelange gemeinsame Dienst, stets mit einem Berg von Verantwortung, mit vielen Höhen und Tiefen, und auch ihr gemeinsames Studium an der Akademie in der Sowjetunion haben sie Freunde werden lassen. Gestern verbrachten ihre Familien gemeinsam den Silvesterabend. Die ausgelassene Stimmung wurde allerdings etwas getrübt. Mehrmals rief man Genossen Leithold ans Telefon, und es waren keine guten Nachrichten, die ihm der Operative Diensthabende mitzuteilen hatte. Sie waren also über alles informiert, konnten die Wettersituation einigermaßen einschätzen. Ahnend, was auf sie zukommen würde, mieden sie Alkohol und machten sich beizeiten auf den Heimweg. Heute, am Neujahrstag, haben sie sich schon sehr früh bei Sturm und Schnee zur
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Dienststelle durchgeschlagen. Nach kurzer Beratung hat Kommandeur Günter Leithold entschieden, daß er selbst vom Flugplatz aus alle Einsätze führt. Genosse Weibezahl sollte mit dem Staffelkommandeur, Fregattenkapitän Manfred Arndt, eine Besatzung vor allem für Nachtflüge bilden. Beide waren erfahrene Hubschrauberführer, derzeit mit dem besten Ausbildungsstand im Geschwader. Inzwischen gab es die ersten Transportflüge. Im Kernkraftwerk Lubmin war unbedingt der Schichtwechsel zu sichern. Busse, Eisenbahn nichts fuhr. Also wurden die 53 Arbeiter ins Werk geflogen, die anderen mit zurückgenommen. Auf Hiddensee fehlte es an Butter und Brot, an Mehl und Kartoffeln, an Zucker und Salz - an allem, was man unbedingt benötigte. Also wurden 5000 Kilogramm Lebensmittel zur Insel transportiert. Hinzu kam ein Rettungsflug. Eine lebensgefährdete Frau mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Eine Fahrt mit dem Krankenwagen war absolut unmöglich. Deshalb mußte, bei allem Risiko, Korvettenkapitän Fischer mit seinem Hubschrauber diesen Flug übernehmen. Nun hoffen Günter Leithold, Lutz Weibezahl und die anderen Genossen in der Flugleitung, daß Korvettenkapitän Fischer schnell und sicher in der Nähe des Krankenhauses landet. Endlich hören sie das gewohnte Knacken in der Sprechanlage und die ruhige, sachliche Stimme des Korvettenkapitäns. »300 für 301 kommen!« »300 empfangsbereit!« »300! Landung auf dem Parkplatz direkt vor dem Krankenhaus ist möglich. Die Autos müssen verschwinden, der Platz abgesperrt werden. Haben Sie richtig? Kommen!« »301! Habe richtig. Bereiten Sie Landung auf dem Parkplatz vor. Kommen!« »300! Richtig verstanden! Landung auf Parkplatz vorbereiten. Ende!« Sofort wird telefonisch die Kreiskatastrophenkommission verständigt. Sie leitet alles Notwendige in die Wege. Wenig später meldet Korvettenkapitän Fischer, daß er gelandet ist und die Patientin den Ärzten übergeben hat. Der Hubschrauberführer erbittet die Erlaubnis für den Rückflug zum Platz.
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Zu diesem Zeitpunkt wissen Fregattenkapitän Günter Leithold und Fregattenkapitän Lutz Weibezahl noch nicht, wie lebenswichtig im wahrsten Sinne des Wortes der provisorisch als Landefläche hergerichtete Parkplatz vor dem Krankenhaus am Strelasund werden sollte. Rotraud Hoge ist froh, daß Dr. Schulze ihr das Aufstehen erlaubt hat. Im Wohnzimmer ist es warm und gemütlich. Hans-Jürgen, ihr Mann, hat den Ofen gut geheizt, und bei den vielen Menschen, die sich um sie kümmern, fühlt sie sich geborgen. Mit einem Glas Ananassaft darf sie auf das neue Jahr anstoßen. In den Gläsern der anderen perlt Sekt. Die besten Wünsche gelten der hoffentlich baldigen Mutti und dem Kind. Das läßt lange auf sich warten, sehr lange, zu lange. Vor zwei Tagen, nachts, hatte sie ein Ziehen im stark gewölbten Leib verspürt. Tags darauf, um die Mittagszeit, sie war gerade in der Küche beschäftigt, setzten die Wehen ein. Rotraud Hoge wußte, daß es nur die Wehen sein konnten, auch wenn sie darin noch keine Erfahrung besaß. Sie ging zum Telefon, rief, wie ihr geheißen, als sie das letzte Mal dort war, das Kreiskrankenhaus in Bergen an. Ob sie nicht versuchen könnte, irgendwie durchzukommen, fragte man sie am anderen Ende. Durchkommen, irgendwie? Das sollte wohl ein Scherz sein. Da war nichts zu versuchen. Ihr Häuschen steckte bald bis zur Dachrinne im Schnee; Vater und Ehemann hatten ihre liebe Müh' und Not, Türen, Fenster und den Weg zur Straße einigermaßen frei zu halten. Nein, es war absolut nichts zu machen. Ja, dann mußte man sehen, von Bergen aus. Rotraud Hoge, nicht sehr groß, aber stabil und wohlproportioniert, war so schnell nicht unterzukriegen. Das Anwesen, das sie jetzt bewohnten, hatte einst ihren Großeltern gehört. Sie hat die meiste Zeit hier gelebt, hier ihre Kindheit und Jugend verbracht. Eine echte Rügenerin ist sie. Sie gehört zu diesem Land und den Menschen hier, ist an das bisweilen rauhe Klima gewöhnt und überhaupt nicht zimperlich, scheut sich vor keiner Arbeit und kann mit einer Robustheit zupacken, die man ihr auf den ersten Blick nicht zutraut. Aber nun war sie doch ein bißchen in Sorge geraten. Immerhin ist es ihr erstes Kind, mit 25 Jahren. Und die Wehen wurden immer stärker, kamen bald schon alle vier bis
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fünf Minuten. So um die fünfte Nachmittagsstunde klopfte es plötzlich energisch. Vor der Haustür standen zwei winterfest gekleidete Menschen, von Frost und Wind hochrot an den Stellen im Gesicht, die unbedeckt waren. Erika Siebrecht, die Gemeindeschwester aus Zirkow, war gekommen, und ihr Mann hatte sie begleitet. Sie war von Bergen aus angerufen worden, und da hatten sich die beiden gleich auf den Weg gemacht. Das heißt, ein Weg war nicht zu finden. Straßen und Wege, Wiesen und Felder - alles verbarg sich unter einer dicken Schneedecke; ein unendlich scheinendes weißes Land, bei dem man sich beinahe alles vorstellen konnte, Grönland vielleicht, die Arktis oder die Antarktis. Die Siebrechts, jeder das Ende eines Seiles in der Hand, damit sie sich bei dem Sturm und in der Dunkelheit nicht verloren, hatten für die drei Kilometer hierher gut und gern zwei Stunden gebraucht. Rotraud Hoge war froh, erleichtert und beruhigt zugleich, diese große stämmige Frau als fachmännischen Beistand im Hause zu haben. Sie wußte von Erika Siebrecht, die vielleicht acht, neun Jahre älter war als sie, daß sie einen Hebammenlehrgang besucht und schon so manches Baby ans Licht der Welt geholt hatte. Die Gemeindeschwester hielt sich dann auch nicht lange bei der Vorrede auf und begann mit der Untersuchung, zumal die Wehen auf einmal merklich zurückgingen. Sie konsultierte sich an diesem Abend noch mehrmals mit Dr. Süffert im Bergener Krankenhaus. Schließlich kam sie zu der unumstößlichen Erkenntnis: Ein Arzt muß kommen, und zwar schnellstens. Rügen war ohne Strom, die Naturgewalten hatten sich auf die Dauer als stärker erwiesen. An vielen Stellen hingen die Freileitungen wie Zwirnsfäden herunter, als hätte man sie durchgeschnitten. Man saß im Hause Hoge bei Kerzenschein. Zum Glück funktionierte das Telefon, einziger Lebensnerv zur Außenwelt. Am Silvestertag kam ein Anruf aus Bergen: Ein Doktor Heinrichs sei mit einem Schwimmpanzer der Armee unterwegs. Warten, warten, endloses Warten. Kein Schwimmpanzer war zu hören, kein Doktor Heinrichs zu sehen. Erneut klingelte das Telefon: Wiederum meldete sich das Kreiskrankenhaus Bergen. Der Arzt mußte umkehren; selbst mit dem Kettenfahrzeug war die Schneewüste nicht zu bezwingen. Nun
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würde jemand aus Putbus versuchen, sich durchzuschlagen. Die Gelassenheit wich einer etwas bedrückten Stimmung. HansJürgen pendelte zwischen Schneeschippen und Ofenheizen hin und her, sein Schwiegervater half ihm. Die Mutter war mit Kaffee- und Teekochen und mit dem Abendbrot beschäftigt. Rotraud sollte sich schonen, am besten gar nichts tun. Doch so konnte man ihr nicht kommen; Bewegung tat gut und lenkte ab. Sie rief ihren Mann in die Küche. »Geh den Putbusern entgegen«, bestimmte sie. »Bei dem Schneesturm finden sie unser Haus nicht, verbiestern sich und irren umher in der Kälte.« Hans-Jürgen hoste sich wind- und wetterfest an, nahm eine Taschenlampe und machte sich auf den Weg. Nach etwa einer Stunde betraten Dr. Bodo Schulze und Malte Finn, Lehrer und Wohnungsnachbar, das Hogesche Haus, das von außen eher einem Iglu glich. »Einer allein kann sich nicht mehr nach draußen wagen«, erklärte Malte Finn seine Anwesenheit. »Es ist einfach zu gefährlich.« Etwa einen Kilometer vom Haus entfernt waren sie Hans-Jürgen Hoge begegnet, der neben der Straße ging, wo er Acker vermutete. Dort lief es sich noch am besten. »Ihr seht doch das schwache Licht, unsere Hoflampe. Dahin müßt ihr«, hatte er ihnen die Richtung gewiesen und sie dann ziehen lassen. Mit ihren Skiern waren sie schneller. Trotz der unfreiwilligen, anstrengenden Winterwanderung auf Brettern waren die beiden Männer völlig durchgefroren in ihrer kältesteifen Kleidung, die sie wie ein Eispanzer umgab. Rotraud Hoge wurde geschäftig. Nun schien ja alles gut zu werden. Sie holte von ihrem Mann Hosen und Pullover zum Umziehen und kochte Hagebuttentee. Ihre Mutter belegte inzwischen ein paar Schnitten mit Wurst und reichte sie den Ankömmlingen. Dr. Schulze verordnete der jungen Frau zunächst Bettruhe. Als er »aufgetaut« war, vor allem die Hände wieder einigermaßen bewegen konnte, untersuchte er sie gründlich. Danach verständigte er sich kurz mit der Gemeindeschwester, die ihm assistiert hatte. Er konsultierte sich
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noch einmal telefonisch mit den Fachkollegen in Bergen, und die Diagnose stand fest: Ohne operativen Eingriff würde Frau Hoge ihr Kind nicht zur Welt bringen können. Das Wohn- oder Schlafzimmer in einen OP zu verwandeln wäre unmöglich. Außerdem fehlten die notwendigen Instrumente. Trotzdem läßt niemand den Mut sinken. Rotraud Hoge ist froh, daß sie aufstehen durfte. Der Arzt stößt mit ihr auf ein glückliches neues Jahr an, sie mit Ananassaft, er mit Sekt. Seine guten Wünsche für das ersehnte Leben zu dritt stimmen sie zuversichtlich. Dr. Schulze merkt es ihr an, und genau das hat er beabsichtigt, Frau Hoge ahnt nicht, was er weiß: Wenn nicht Hilfe kommt, ist Leben in Gefahr - das dieser kleinen, bescheidenen und doch selbstbewußten Frau, die sich so sehr Mutterglück wünscht, und das des noch ungeborenen Kindes. Noch spielen die beiden Gasturbinen ihre volle Startleistung mit über 2000 kW nicht aus. Die Triebwerke laufen normal. Fregattenkapitän Weibezahl sieht es an - den grünlich fluoreszierenden Instrumenten. Ein Blick noch zu Fregattenkapitän Manfred Arndt, seinem »zweiten Mann« rechts neben ihm, und zu Meister Roland Schön hinter ihm auf dem Klappsitz. Beide nicken. Alles in Ordnung! Lutz Weibezahl holt bei der Flugleitung über Funk Starterlaubnis ein, die ihm sofort erteilt wird. Der Fregattenkapitän steigert die Drehzahl. Die Mi-8 beginnt sich zu schütteln. Der Kommandant zieht sie jetzt senkrecht nach oben. Die fünfblättrige Tragschraube wirbelt den Schnee auf. In zehn, zwanzig Meter Höhe drückt Lutz Weibezahl den Steuerknüppel ein wenig nach vorn, zieht ihn dann wieder zu sich heran. Millimeterarbeit. Der Helikopter senkt seinen Bug, gewinnt an Geschwindigkeit, steigt im Horizontalflug allmählich höher und höher. Für den Bruchteil einer Sekunde ist da plötzlich bei den drei Männern im Cockpit ein Erschrecken. »Seht ihr was?« Die Bordfunk-Frage von Fregattenkapitän Weibezahl an seine beiden Besatzungsmitglieder ist eigentlich überflüssig und wohl nicht ernst gemeint. Was sollen sie denn auch sehen? Himmel, Erde, Meer - grauschwarze Unendlichkeit, keine Konturen, keinen Lichtpunkt. Sie kennen aus der Luft jedes Detail von Rügen, haben die
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Insel schon unzählige Male überflogen, auch nachts, an den Lichtern die Ortschaften erkannt, sich orientiert - hier Putbus, da. Bergen, dort Saßnitz, dazwischen die Dörfer, sie konnten jedes benennen. Doch jetzt: oben, unten, links, rechts - absolute Dunkelheit. Der Flugauftrag lautet, in dieser Finsternis den Raum Neuenkirchen-Trent anfliegen, auf einem hoffentlich vorbereiteten Platz landen, mehrere schwangere Frauen an Bord nehmen und nach Stralsund bringen. Natürlich weiß Fregattenkapitän Weibezahl, der nun schon zehn Jahre Hubschrauberkommandant ist, welchen Kurs er steuern muß. Aber was für die gesamte Fliegerei zutrifft, gilt auch jetzt und besonders für diese Situation: Fliegen heißt landen, und landen heißt sehen. Und nun sieh mal, wenn beim besten Willen nichts zu sehen ist. Lutz Weibezahl bleibt dennoch ruhig. Er fühlt sich sicher, hat den Hubschrauber trotz Windböen sicher in der Gewalt. Fliegen ist ihm noch nie schwergefallen. Damals, vor reichlich vierzehn Jahren, als der eben ernannte Seeoffizier mit seiner Urkunde den Kommandierungsbefehl zu den Luftstreitkräften erhalten hatte, um Marineflieger zu werden, benötigte er nur die erstaunlich kurze Zeit von einem halben Jahr, um die zu dieser Zeit im Truppendienst befindliche Mi-4 zu beherrschen, »im Griff« zu haben. Seither hat er eigentlich immer das notwendige Fingerspitzengefühl für den Steuerknüppel, die ruhige Hand für den Gassteigungshebel und den richtigen Fußdruck für die Pedale gehabt. Der Fregattenkapitän hat den Transporthubschrauber inzwischen auf zweihundert Meter Höhe gebracht. Drei Augenpaare starren angestrengt in die pechschwarze Nacht. Wo sind nur die Leute, die den Hubschrauber dringend erwarten, es müßte doch irgend etwas leuchten, und wenn es eine Taschenlampe ist. Da, voraus, ein flackerndes Lichtkarree. Sie haben es fast gleichzeitig entdeckt. Genosse Weibezahl hält darauf zu, verringert die Geschwindigkeit, läßt den Hubschrauber allmählich sinken. Gute Idee, haben sie nicht schlecht gemacht, denkt er, als er die Maschine unmittelbar über dem spärlich beleuchteten, aber doch einigermaßen auszumachenden Platz in der Standschwebe hält. »Sie wußten sich zu helfen, haben eine brauchbare Befeuerung hinge-
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kriegt, offenbar mit alten Autoreifen und Stroh«, sagt Manfred Arndt. Behutsam, viel langsamer als sich der Fahrstuhl im Berliner Fernsehturm oder in jedem Hochhaus senkt, bringt Lutz Weibezahl den Drehflügler zur Erde und setzt ihn sanft auf. Schnell, mit gewohnten Handgriffen, hat Meister Schön die Tür vom Transportraum geöffnet und das zweistufige Treppchen außen eingehängt. Sofort hilft er den wartenden Frauen beim Einsteigen. Ein Volkspolizist, der Abschnittsbevollmächtigte, meldet sich im Cockpit. »Hier ganz in der Nähe, bei Trent, ist eine schwer herzleidende Frau. Sie muß schnellstens ins Krankenhaus«, erklärt er ein wenig aufgeregt. »Ihr müßt sie unbedingt mitnehmen. Ein Landeplatz ist vorbereitet. Ich weiß Bescheid, wo er ist.« Für Lutz Weibezahl und Manfred Arndt ist augenblicklich klar, daß es kein Zögern gibt, aber sie dürfen auch kein unvertretbares Risiko für die bereits an Bord Befindlichen zulassen. »Wie ist der Zustand der Schwangeren?« will der Kommandant wissen. »Ist medizinisches Personal dabei?« Letzteres bestätigt der ABV und versichert: »Bei den Frauen kein schwerer oder gar lebensbedrohlicher Fall.« »Wenn Sie sich hier so gut auskennen, fliegen Sie am besten gleich mit«, entscheidet Fregattenkapitän Weibezahl. Doch nach dem Start kennt sich der Genosse Volkspolizist überhaupt nicht mehr aus. Er hat die Welt noch nie von so weit oben gesehen. Die beiden Hubschrauberführer und der Bordtechniker wundern sich nicht darüber. Wer noch nie geflogen ist, dem fällt es ohnehin schwer, sich aus der Luft zu orientieren, erst recht bei solch rabenschwarzem, gespenstischem Nachtdunkel. Sie erspähen schnell die neue Landefläche, auch sie wurde von findigen Einwohnern mit Feuern markiert. Genosse Weibezahl hat sofort Verbindung mit der Flugleitung aufgenommen, kurz die neue Situation geschildert und gleich darauf die Weisung erhalten, die kranke Frau aufzunehmen und mit auszufliegen. Dann wiederholt sich beinahe dasselbe wie vor Minuten: Standschwebe, Fregattenkapitän Arndt läßt kein Auge vom provisorischen Landeplatz, versucht bei spärlicher Sicht im Schneesturm Einzelheiten zu erkennen! Fregattenkapitän Weibezahl manövriert den Hubschrauber ganz vorsichtig hinab, stellt ihn behutsam auf den schneeigen, frostharten
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Boden. Es dauert nur wenige Minuten, bis Roland Schön wieder in der Kabinentür erscheint, den Daumen nach oben streckt - das Zeichen, daß alles in Ordnung ist - und wieder gestartet werden kann. Mit dem Gassteigungshebel an seiner linken Seite, der gleichzeitig die Stellung der Rotorblätter verändert, erhöht der Kommandant die Drehzahl der Triebwerke auf Startleistung. Die Tragschraube erzeugt wie jedesmal Schneetreiben, der dem konzentriert arbeitenden Trio zunächst jegliche Sicht nimmt. Es ist, als wären die Kabinenfenster mit einem grauen Tuch verhängt. Nach zehn, zwanzig Meter Aufstieg lichtet sich der Vorhang. Lutz Weibezahl zwingt die Maschine auf Kurs und Höhe. Sie arbeitet sich bis zu dreihundert Meter hinauf. Am Horizont läßt ein schmaler, matter Schimmer Stralsund ahnen. Als Fregattenkapitän Lutz Weibezahl etwa eine halbe Stunde später seine Besatzung in der Flugleitung zurückmeldet, mit erfülltem Auftrag und ohne besondere Vorkommnisse, klingen seine Worte beinahe lakonisch, fast unbeteiligt. Aber das ist er ganz und gar nicht, sein Äußeres täuscht. Alles, was der Marineflieger in seinem bisherigen Leben anpackte, wofür er sich entschied und einsetzte, tat er mit ganzer Kraft. Sein Weg bis zum Hubschrauberführer der Leistungsklasse l und zum stellvertretenden Geschwaderkommandeur verlief keineswegs gerade und eben. Was machte ein Fünfzehnjähriger im Jahre 1956, wenn er in Halle beheimatet war und die achtklassige Grundschule recht ordentlich beendet hatte? Er lernte beispielsweise im VEB Waggonbau Ammendorf, einem renommierten Betrieb, der interessante Arbeit versprach. Und wenn man dort an einen geriet, wie Lehrmeister Kamm einer war, der einem das Schlossern beibrachte, aber einem auch wieder und wieder und mit großer Geduld klarmachte, daß Sozialismus nichts Dahergesagtes ist, sondern gut und nützlich sein kann und sein wird für alle Menschen, die ehrlich arbeiten und in Frieden leben wollen? Dann begriff man früher oder später, daß man diesen Sozialismus mit Worten und Taten unterstützen, schützen, aber auch verteidigen muß, und wenn es sein muß, auch mit Waffen. So jedenfalls begriff es Lutz Weibezahl. An der Saale, auf der Peißnitzinsel, gab es einen Marinestützpunkt der Gesellschaft für Sport und Technik. Dort meldete er sich. Die Ausbildung bewog ihn
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schließlich - gewiß war auch ein bißchen Abenteuerlust und Fernweh dabei -, von Waggons auf Schiffe umzusteigen, auf die der Seestreitkräfte. An der Flottenschule »Walter Steffens« in Stralsund lernte er dann alles, was nötig ist, um von Bord zu Bord Informationen auszutauschen, beispielsweise mit Flaggen, mit Ball und Zylinder, mit Lampen, durch Lichterführung, durch Sirene oder Glocke. Matrose Weibezahl wurde Signalgast auf einem Hafenreedeschutzboot. Später gab man ihm dort das Ruder in die Hand. Zwei Jahre nur wollte er die Uniform tragen. Doch da meinten die Genossen dort, der Blechschlosser habe das Zeug dazu, ein guter Seeoffizier zu werden. Lutz Weibezahl zögerte nicht lange, und er bestieg nach den vierundzwanzig Monaten nicht den Zug zurück in die Salz- und Saalestadt, sondern er blieb am Strelasund. Zunächst mußte er in sechs Monaten das nachholen, was andere ihm voraushatten, den Abschluß der 10. Klasse. Dem in der Praxis bereits erfahrenen Seemann lud man gleich noch einen Seesack voller Pflichten auf: Gruppenführer und FDJSekretär seines Lehrgangs. Genosse sagte man zu ihm nicht nur, weil die Anrede in der Armee so üblich ist; er war inzwischen auch Mitglied unserer Arbeiterpartei geworden. Die Offiziersschule schloß er mit Auszeichnung ab, und damit beendete er sie gleich als Leutnant. Er äußerte den Wunsch, als Offizier auf einem U-Boot-Jagdschiff eingesetzt zu werden. Doch es kam anders als ursprünglich vorgesehen. Künftige Hubschrauberführer wurden gebraucht - speziell für die Marine, auch zur U-Boot-Abwehr. Warum eigentlich nicht? Er war dafür zu begeistern, hatte er doch mal mit der Fliegerei geliebäugelt. So gehörte er zu denen, die, wollten und sollten und konnten. Meister Roland Schön ist nach ihrer Rückkehr am Hubschrauber geblieben. Mit den Mechanikern des Bodenpersonals bereitet er für alle Fälle den nächsten Start vor. Die beiden Fregattenkapitäne halten sich in der Flugleitung auf. Hier erfahren sie aus erster Hand alles Neue und Wichtige über die allgemeine Situation im Land und speziell im Norden, über einen möglichen neuen Einsatz, vor allem jedoch über das Wetter und die meteorologischen Bedingungen im Flugplatzgebiet so-
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wie über die Einsatzbereitschaft der Hubschrauber und die Start- und Landemöglichkeiten. Die mündlichen und schriftlichen Meldungen des Diensthabenden Meteorologen verheißen bis jetzt keine Besserung, jedenfalls nicht für die kommenden Stunden. Demzufolge müssen alle hier im Geschwader Diensttuenden damit rechnen, daß noch in dieser Nacht weitere Rettungs- und Versorgungsflüge notwendig werden. Lutz Weibezahl würde allzugern seine Frau anrufen. Aber sie wird schon schlafen, und außerdem kann er hier auf keinen Fall ein Telefon blockieren. Er könnte zwar in sein Dienstzimmer gehen, doch dann wäre er nicht sofort zur Stelle, wenn er dringend gebraucht würde. Nicht daß Christa Angst hätte. In den über zehn Jahren ihrer Ehe hat sie sich an das Zusammenleben mit einem Flieger gewöhnt. Natürlich das weiß Lutz - wäre sie beruhigter, wenn sie ein Lebenszeichen von ihm bekäme, ein paar Worte darüber hörte, wie die Dinge bei ihm stehen. Er hatte sie eigentlich nie, soweit er das durfte und konnte, aus seinen dienstlichen Angelegenheiten herausgehalten, sondern sie teilhaben lassen an Problemen, die ihn, letztlich aber auch seine Frau, betrafen. Vor vollendete Tatsachen und schnelle Entscheidungen hatte er sie allerdings nicht nur einmal stellen müssen. Wenn er zum Wohnzimmerschrank ging, zwei Kognakschwenker herausnahm und beim Eingießen zu ihr sagte: »Setz dich mal ganz ruhig hin«, dann wußte sie Bescheid. Auf diese Weise hatte er ihr unmittelbar nach seiner Offiziersernennung eröffnet: »Wir werden nicht Seemann, sondern Flieger!« Damit waren ein Lehrgang und wiederum eine Trennung verbunden. Ebenso hatte er das Gespräch darüber begonnen, als es nötig war, sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu entscheiden, ob er an einer sowjetischen Militärakademie studieren wolle - ja oder nein! Einer von den Genossen, die dafür vorgesehen waren - alles ältere und erfahrenere Flieger als Lutz Weibezahl -, fiel aus. Sollte er da nicht die gebotene Gelegenheit beim Schopfe packen, die Chance nutzen? Das bedeutete ein Jahr Vorbereitungslehrgang, beinahe 500 Kilometer von zu Hause entfernt, dabei das Abitur nachholen, und dann vier Jahre Aufenthalt in der Sowjetunion. Für Christa hieß das zunächst, erneut allein zu sein mit Sohn Thomas, sich nicht beraten zu können mit dem Ehemann über familiäre Belange
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oder über ihre Arbeit als Verkäuferin. Fazit dieses »Setz dich mal ganz ruhig hin«: Der junge Oberleutnant Weibezahl reiste zwölf Monate lang zwischen dem Norden und dem Süden unseres Landes hin und her und flog dann nach Moskau. Frau und Sohn folgten später. Aus jener Zeit stammen beispielsweise Christas gute Russischkenntnisse und die noch heute freundschaftlichen Bindungen mit den Pawlows aus Bulgarien. Besonders in komplizierten Situationen wird Lutz Weibezahl immer wieder bewußt, welches Verständnis Christa für seinen oft nicht leichten Dienst, der den größten Teil seines Lebens ausmacht, aufgebracht hat und immer wieder aufbringt. Sie weiß, daß er mit allen und allem hier eng verbunden ist. 1963 wurde diese Einheit als Marinefliegerstaffel gegründet. Drei Jahre später kam er in die Dienststelle. Am 1. März 1969, dem 13. Jahrestag der Nationalen Volksarmee, stand auch Lutz Weibezahl beim feierlichen Appell mit in Reih und Glied, als sie die Truppenfahne erhielten. Kurz danach begann seine Akademiezeit in der Sowjetunion. 1974 von dort zurückgekehrt - ein Diplom mit dem Prädikat »Mit Auszeichnung« in der Tasche -, hörte das Lernen für ihn nicht auf. Er mußte sich in die Aufgaben eines stellvertretenden Staffelkommandeurs hineinfinden. Zwei Jahre später sollte aus der Staffel ein Geschwader werden. Zuerst bekamen sie die Hubschrauber, neue, modernere - eben jene vom Typ Mi-8. Lutz Weibezahl entdeckte immer öfter ihm unbekannte Gesichter. Neue Soldaten, Unteroffiziere, Fähnriche und Offiziere wurden in die Dienststelle versetzt. Fregattenkapitän Weibezahl mußte sich im Dienst und in der Ausbildung mit Problemen auseinandersetzen, vor denen er bisher noch nicht gestanden hatte. So kreuzten häufiger als bisher Schiffe der NATO, besonders der Bundesmarine, unmittelbar vor den Hoheitsgewässern der DDR. Deshalb mußte regelmäßig mindestens eine Hubschrauberbesatzung zur Aufklärung über die Ostsee fliegen. Aus eigener Erfahrung wußte Fregattenkapitän Weibezahl, daß man die Schwierigkeiten einer Seenotrettung - für ein Marinehubschraubergeschwader ein wichtiges Einsatzgebiet - nur durch ständiges Training meistert. Einen im Wasser schwimmenden oder hilflos treibenden Menschen erst einmal zu finden und ihn dann mit Hilfe des Kranes und einer am Stahlseil angebrachten Rettungsschlinge schnell und sicher zu ber-
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gen, das erforderte schon eine eingespielte Besatzung und fliegerisches Geschick. Also setzte Genosse Weibezahl solche Übungen immer wieder auf das Ausbildungsprogramm, vor allem für die jungen Hubschrauberführer. Schließlich waren neue Möglichkeiten herauszufinden und auszuprobieren, wie man mit den Schiffen der Volksmarine besser zusammenwirken konnte, besonders bei der U-Boot-Abwehr. Die vollkommeneren technischen Möglichkeiten - hydroakustische Bojen abwerfen und die Schiffe auf die Signale hin an den Unterwassergegner heranleiten - waren die eine Seite, das fliegerische Vermögen und die taktischen Varianten dafür die andere. Das waren Tage, Wochen, Monate der Bewährung; für Lutz Weibezahl, für alle. Doch jetzt, in diesen Tagen, müssen die Angehörigen des Geschwaders mit einer Situation fertig werden, deren Tragweite sie zwar begriffen haben, deren Ausmaß sie aber im Augenblick noch nicht ahnen können. Eines der Telefone klingelt. Der Flugleiter nimmt ab, meldet sich, übergibt den Hörer mit der Bemerkung »Das Kommando, für Sie!« an den Geschwaderkommandeur. Fregattenkapitän Leithold hört aufmerksam zu, sagt zwei-, dreimal »Verstanden«, legt schließlich auf. »Lutz! Manfred!« wendet er sich an die beiden Fregattenkapitäne und verzichtet auf die im Dienst sonst übliche Anrede mit Dienstgrad und Familiennamen. »Macht euch fertig! Sofort Start, Raum Barth, Schwerkranke. Landeplatz soll vorbereitet sein - Ihr kennt das ja schon. Also beeilt euch. Und guten Flug.« Minuten später ist die Besatzung Weibezahl, Arndt, Schön bereits in der Luft. »Auftrag ausgeführt! Keine Flugvorkommnisse«, meldet Genosse Weibezahl eine knappe Stunde später, als sie wieder die Flugleitung betreten. »Wie war's?« will sein Vorgesetzter wissen. »Bedingungen normal«, antwortet Lutz Weibezahl und lächelt vielsagend dabei. »Was man bei diesen Bedingungen als normal bezeichnen kann.« Lutz Weibezahl kennt die Tücken der Hubschrauberfliegerei. Die Standschwebe gehört zum Abc jedes Hubschrauberführers. Sie verlangt steuertechnische Filigranarbeit. Da kann es bei starkem Wind durchaus passieren, daß es dem Hubschrauberführer Mühe bereitet, den Helikopter genau über dem festgelegten Punkt zu halten, und die Finger seiner rechten
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Hand am Schaft des Steuerknüppels verkrampfen. Fliegen mit Außenlast ist keineswegs einfacher. Beim Aufnehmen und Absetzen der Last und auch bei der Seenotrettung ist der Hubschrauberführer, weil er nicht senkrecht nach unten sehen kann, auf die exakten Kommandos des Mannes an der Luke, des Bordtechnikers, angewiesen. Andere Tücken wiederum hat ein Gruppenflug bei Nacht. Der Hubschrauberführer muß Höhe und Geschwindigkeit halten, den richtigen Abstand zum Vordermann, zum rechten oder linken Nachbarn beachten. Fregattenkapitän Weibezahl hat in all den Jahren ausreichende Erfahrungen sammeln können. Die Leistungsparameter der Mi-8 kann er im Schlaf hersagen: Gipfelhöhe 4500 Meter, Maximalgeschwindigkeit 250 Kilometer in der Stunde, Reisegeschwindigkeit 210, Wetterminimum am Tag 70 Meter Wolkenuntergrenze, 500 Meter Sicht; nachts 100 Meter Wolkenuntergrenze, ein Kilometer Sicht; und so weiter, und so fort... Lutz Weibezahl traut sich manches zu, wagt etwas. An einen Flug aber wird er sich wohl immer erinnern: Sie hatten Informationen erhalten, daß sich ein Spionageschiff vor den Seegrenzen der DDR herumtrieb. Allerdings waren die angegebenen Koordinaten ungenau und das Wetter denkbar ungünstig: starker Wind, schlechte Sicht, Himmel und Meer verschwammen ineinander. Lutz Weibezahl suchte wie ein Spürhund die Ostsee ab, flog auf verschiedenen Kursen, mal im Tiefflug, mal in größerer Höhe. Nichts. Sollte er umkehren, unverrichteter Dinge zurückfliegen, melden: Aufklärungseinsatz erfolglos abgebrochen? Das kam für ihn nicht in Frage. So schnell gab er nicht auf. Er setzte bis an die Grenze des Möglichen alles daran, den Kampfauftrag auszuführen. Sein Ehrgeiz und seine Beharrlichkeit brachten ihm Erfolg. Nach zwei Stunden machte er das Ziel aus, identifizierte die »Trave«, ein sogenanntes Aufklärungsschiff der Bundesmarine. Tage später wurde Oberleutnant Weibezahl zum Chef der Volksmarine befohlen, der ihn mit dem Leistungsabzeichen der Nationalen Volksarmee ehrte. Zu jener Zeit war er Hubschrauberführer der Leistungsklasse III und flog den von einem Kolbenmotor angetriebenen Mehrzweckhubschrauber Mi-4. Jetzt steuerte Lutz Weibezahl den leistungsstärkeren, manövrierfähigeren Turbinen-Hubschrauber Mi-8, und er ist Hubschrauberführer der Leistungsklasse I. Er kann also bei Tag und Nacht unter allen meteorologischen
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Bedingungen fliegen, kann auf begrenzten Plätzen starten und landen, in Spiralen steigen und gleiten, in verschiedenen Geschwindigkeiten manövrieren. Er beherrscht sein Fach. Für diesen Beruf hat er sich entschieden, um so mitzuhelfen, seine Heimat und Freundesländer zu schützen. Dafür ist er bereit, alles einzusetzen - alles, das schließt sein Leben mit ein. Aber wo ist hier und heute die Grenze, fragt sich Lutz Weibezahl nicht nur einmal. In dieser Nacht des neuen Jahres haben sie zu dritt in zwei Flügen geholfen, Menschenleben zu erhalten. Dreimal mußten sie auf unbekannten, notdürftig vorbereiteten Plätzen landen, und jedesmal war in ihnen auch die Sorge um die unerfahrenen Helfer dort unten. Der durch die Tragschraube aufgewirbelte Schnee nahm auch ihnen jegliche Sicht. Eine Unachtsamkeit, eine gutgemeinte Hilfe, aber falsch ausgeführt - ein Unglück hätte geschehen können. Sich über seine Verantwortung jederzeit im klaren zu sein, das schärft die Sinne, mahnt zur Vorsicht. Und noch etwas beschäftigt ihn: Soeben hat er eine Frau geflogen. Sie mußte unbedingt ins Krankenhaus. Mehr weiß er nicht. Nicht, wie sie heißt, was ihr fehlt, wo sie wohnt, wie sie lebt, wer sie ist. Woher auch? Nach der Landung wird das Triebwerk nicht abgestellt, damit sie sofort wieder starten können. Also dürfen Manfred und er den Pilotensitz im Cockpit nicht verlassen. Sie müssen auch im Stand alle Instrumente überwachen, die Anzeigegeräte kontrollieren. Nur Meister Schön steigt aus der Maschine, um den Fluggästen beim Einsteigen behilflich zu sein, für ihre Sicherheit zu sorgen. In diesen paar Minuten bleibt auch ihm keine Zeit, sich zu erkundigen. Der Kontakt zu den Mitfliegenden ist kurz, bleibt auf das Notwendigste beschränkt. Anonyme Flüge gewissermaßen, als wenn sie »blinde Passagiere« beförderten. Das bedrückt sie alle ein wenig. Gern würden sie mehr über die Menschen erfahren, die sie transportieren, sie möchten wissen, ob sich ihr Einsatz gelohnt hat. Und wer weiß, wie viele sie noch aus unfreiwilliger Schneeverbannung befreien werden. Rotraud Hoge liegt inzwischen im Behandlungsraum der Putbuser Ambulanz. Hier, in der medizinischen Einrichtung und unter fachmännischer Obhut, ist sie natürlich besser aufgehoben als zu Hause. Am
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Neujahrsvormittag hatte es mehrere Telefongespräche zwischen Bergen und Putbus gegeben. Man entschied, Rotraud Hoge solle zunächst so schnell und sicher wie möglich nach Putbus gebracht werden. Was jedoch war bei dem nun schon Tage währenden stürmischen Schneetreiben mit Verwehungen bis zu fünf Metern schnell und sicher? Sollten sie unter diesen Umständen vielleicht mit einem Pferdeschlitten fahren? Doch in Posewald gab es keinen. Man hoffte, daß Vater Hoge in Vilmnitz helfen könnte. Hans-Jürgen kümmerte sich sofort darum. Tatsächlich stand nachmittags kurz vor 15.00 Uhr der Schröder-Heinz, LPGBauer aus dem Ort, mit einem Gespann vor der Tür. Unterwegs hatte er Pech gehabt. Der Schlitten war umgekippt und die Deichsel gebrochen. Zum Glück hatte er genügend Stricke mit, um den Schaden einigermaßen zu beheben. Noch andere Helfer waren gekommen; Heinz Siewert, Leiter der HO-Gaststätte in Vilmnitz und dort auch Leiter der Freiwilligen Feuerwehr, hatte einen Trupp von fünfzehn, zwanzig Mann mitgebracht. Die Leute machten sich sofort an die Arbeit, wühlten sich durch das weiße Gebirge, beräumten die Straße Kilometer um Kilometer von den Schneemassen. Sie durften keine Zeit verlieren! Jeder befürchtete, sprach es aber nicht aus, daß die Geburt während der Fahrt beginnen könnte. Dann bestünde Lebensgefahr für Mutter und Kind, weil sie auf keinen Fall normal verlaufen würde. Deshalb verabreichte Dr. Schulze Rotraud Hoge Medikamente, die die Wehen eindämmten. Währenddessen bereiteten die anderen auf dem Schlitten ein weiches, warmes Lager aus Stroh, Matratzen, Decken und Kissen. Sie hatten die junge Frau gerade so gut es ging verpackt und eingemummelt, da tauchte ein zweiter Schlitten auf. Irgend jemand hatte ihn aus Lonvitz geholt. Kurze Debatte: umladen oder nicht? Die Pferde waren leichter, kämen vielleicht besser voran. Der Arzt lehnte kategorisch ab. Keine Verzögerung mehr, keine unnötige Belastung für die Patientin. Sofortiger Aufbruch! Es war schon ein eigenartiger Transport, der sich da in Bewegung setzte, sich in die Schnee-Einöde wagte, von Posewald aus in Richtung Putbus. Er glich beinahe einer Polarexpedition. Voran fuhr der unbeladene Schlitten die Spur in den Schnee, dahinter das Gefährt mit Frau Hoge. Bodo Schulze und Malte Finn liefen auf Skiern nebenher, ließen sie nicht einen Augenblick aus den Augen. Rotrauds Eltern und ihr
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Mann stapften zu Fuß, hielten den Schlitten, damit er nicht umstürzte. Nach vier mühevollen Stunden hatten sie den fünf Kilometer langen, für die Schwangere gefahrvollen Weg bewältigt. Am Zielort war man inzwischen nicht untätig gewesen. Zahnarzt Dr. Schulze und ein Schüler waren im beschwerlichen Skilanglauf auf der Strecke Putbus-BergenPutbus unterwegs gewesen, hatten zusätzliche Medikamente und Instrumente geholt. Marion Jäger, die Hebamme, war mit ihnen zur Ambulanz gekommen. Rotraud Hoge steht nun unter fachlicher Aufsicht; Schwester Inge und Schwester Isolde kümmern sich liebevoll um sie. Dr. Bodo Schulze und Marion Jäger wollen versuchen, doch noch eine normale Geburt herbeizuführen. Dazu müssen die Wehen wieder einsetzen. Die junge Frau kommt an den Tropf. Was aber - und damit müssen Arzt und Hebamme rechnen -, wenn all ihre Bemühungen erfolglos bleiben, ein operativer Eingriff unabänderlich wird? Dann muß Rotraud Hoge ins Krankenhaus nach Bergen oder Stralsund. Auf alle Fälle ist der Weitertransport vorzubereiten. Einer der vielen Helfer äußert den Vorschlag, zwei Schlitten zusammenzubauen, um so ein stabiles, sicheres Gefährt zu haben. Doch der Arzt lehnt ab. Der Weg ist zu weit, und es ist zu kalt. Demnach bleibt nur noch eine einzige Möglichkeit. In der fünften Morgenstunde des zweiten Januar erfährt Rotraud Hoge, daß sie mit einem Hubschrauber nach Stralsund gebracht werden soll. Sie war den Dingen bis jetzt etwas entrückt. Die alles andere als vergnügliche Schlittenfahrt, Medikamente, die nunmehr zehn Stunden am Wehentropf und ihr Zustand natürlich hatten sie ermüdet und an den Kräften gezehrt. Einzelheiten hat sie nicht so richtig wahrgenommen. Auch jetzt ahnt sie mehr, als sie weiß. Angst hat sie nicht. Schwestern sind um sie, die Hebamme, der Arzt. Alle kümmern sich, sorgen für sie, stehen ihr bei. Was also soll ihr passieren? Eines allerdings ist ihr allmählich mehr und mehr bewußt geworden: Die Geburt wird sicherlich nicht normal verlaufen. Aber sie will ihr Kind, ist bereit, alles zu ertragen, wenn das Baby nur gesund zur Welt kommt. Rotraud bittet darum, mit ihrem Mann telefonieren zu dürfen. HansJürgen ist verständlicherweise in großer Sorge. Seine Stimme ist erregt und deprimiert zugleich. Er ist wohl dem Heulen nahe. Da ist es an ihr,
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ihn aufzumuntern, ihm Mut zuzusprechen, wo sie doch selbst tröstende Worte gebrauchen könnte. Aber seltsam, ihre eigenen Worte machen sie ruhiger, zuversichtlicher. »Wir wollen Sie noch einmal untersuchen, Frau Hoge.« Dr. Schulzes Worte klingen fast wie eine Entschuldigung. Der Arzt und die Hebamme stehen an der Liege. Sie machen sich kaum Hoffnungen auf ein anderes Untersuchungsergebnis als bisher. Und es bestätigt sich leider erneut: Das Kind befindet sich in der Querlage, eine Schnittentbindung ist unumgänglich. »Wir leiten jetzt alles in die Wege, damit Sie ins Sund-Krankenhaus gebracht werden können.« Die Hebamme bemüht sich um einen optimistischen, zuversichtlichen Ton, was ihr auch einigermaßen gelingt. Am Telefon, im Gespräch mit dem Mitarbeiter der Katastrophenkommission, ist sie korrekt, sachlich, bestimmt: »Wir bereiten die Patientin für den Abtransport vor. Ich werde selbst mitfahren.« Sie verabschiedet sich von ihrem Partner am anderen Ende, legt auf. Während Schwester Isolde und Schwester Inge Rotraud Hoge fachund wettergerecht auf eine Trage legen, setzt sich in Lauterbach ein Kollege Jordan mit dem Geländewagen der LPG in Richtung Stadt in Bewegung. Gleichzeitig wird die Putbuser Freiwillige Feuerwehr alarmiert. Der erste Auftrag für die Männer lautet: Die Straße vom Ambulatorium zum Sportplatz ist frei zu schaufeln, damit das Fahrzeug einigermaßen durchkommt. Schwester Isolde und Schwester Inge, die Hebamme Marion Jäger und Dr. Bodo Schulze haben alles getan, was in ihren Kräften stand, alles, was sie konnten und was zu tun war. Fregattenkapitän Arndt hat eine Liste auf den Knien, fragt der Reihe nach ab. Fregattenkapitän Weibezahl und Meister Schön betätigen Schalter, Hebel und Knöpfe und quittieren die jeweilige Handlung. »Gleichstromgeneratoren?« »Eingeschaltet!« »Außenbord auf Bordakku?« »Umgeschaltet!« »Netz an Akku?« »Ausgeschaltet!« »Anzeigen der Triebwerksund Kraftübertragungskontrollgeräte?« »Normal!«
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»Schutzautomaten zum Flug?« »Eingeschaltet!« »Funkkompaß?« »Eingeschaltet!« Ein Uneingeweihter würde bei diesem Frage-und-Antwort-Spiel vielleicht annehmen, es handele sich um eine Ausbildungsstunde oder irgendeinen Test. Doch die Flugsicherheit gebietet diese Art Kontrolle vor jedem Start, auch wenn es noch so eilig ist. Zu den ständigen »Bord«-Pflichten des zweiten Hubschrauberführers gehört es, die Checkliste Punkt für Punkt durchzugehen -kein Wort zuviel, keins zuwenig, wie es die Vorschrift verlangt. Der Start steht unmittelbar bevor: »Stellung des Steuerknüppels?« »Neutral!« »Künstlicher Horizont?« »Entarretiert!« »Drehgas?« »Rechts!« »Autopilot?« »Eingeschaltet!« »Anzeigen der Triebwerks- und Kraftübertragungskontrollgeräte?« »Normal!« Lutz Weibezahl drückt auf einen Knopf am Steuerknüppel, unterbricht damit die Bordsprechanlage. Nun kann er sich mit der Flugleitung verständigen. »300! Hier 302! Erlauben Sie Start!« »302! Start erlaubt!« Kaum hat die tonnenschwere Mi-8 vom Boden abgehoben, wird sie von Windböen erfaßt, hin- und hergeschüttelt. Diese Eigenwilligkeiten des Helikopters gleicht Lutz Weibezahl durch geschickte Steuerbewegungen aus. An Bord herrscht wie immer aufmerksame Arbeitsathmosphäre. Dennoch ist jeder von einer inneren Unruhe erfaßt, aber jeder verschweigt sie, läßt sich nichts anmerken. Erst vor Minuten hat sich der frühere Kommandeur, der jetzt im Stab der Volksmarine arbeitet, in der Flugleitzentrale gemeldet. »Wir haben einen Anruf von der Bezirkskatastrophenkommission erhalten. In Putbiss ist eine hochschwangere Frau an Bord zu nehmen. Kurz vor der Entbindung sind Komplikationen aufgetreten, und es besteht Lebensgefahr! Landung auf dem Sportplatz. Zum Krankenhaus nach Stralsund fliegen! Es steht sehr ernst um die Frau«, hatte er noch hinzugefügt. In der Flugleitung war man sich sofort klar, was hier auf dem Spiel stand.
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In aller Eile wurden die notwendigen Vorbereitungen für den Flug getroffen. Normalerweise ist es ein Katzensprung von Stralsund nach Putbus. Start und Landung dauern länger als der eigentliche Flug. Zur Zeit ist jedoch das Unnormale das Normale. Der dritte Einsatz der Besatzung Weibezahl, Arndt und Schön verläuft zunächst nicht anders als der erste und der zweite. Sie fliegen in einer schwarzen Wand, es stürmt und schneit noch immer. Der Funkhöhenmesser hat die 250-Meter-Markierung erreicht. Im Horizontalflug fliegen sie über den Strelasund. Eigentlich müßten sie schon über Putbus sein, aber sie entdecken absolut nichts, woran sie sich orientieren können. Manfred Arndt und Roland Schön starren in die undurchdringliche Dunkelheit. Lutz Weibezahl hat die Instrumente und Skalen im Blick. Die »Aufmerksamkeitsverteilung« ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen: künstlicher Horizont, an dem er die Lage des Hubschraubers in der Luft erkennt; Variometer, das Steigen oder Sinken anzeigt; Kompaß, Geschwindigkeits-, Höhen- und Drehzahlmesser, Anzeigegeräte für die Tragschraube und die Triebwerke. Alles arbeitet normal. Der Kommandant versucht sich zu erinnern, wie Putbus aus der Luft aussieht, um ungefähr die Richtung anzusteuern, in der der Sportplatz liegen könnte. »Irgendetwas zu sehen?« fragt er seine beiden Besatzungsmitglieder. »Bis jetzt nicht«, antworten Arndt und Schön wie aus einem Mund. Sie sprechen nur das Notwendigste an Bord - wichtige Informationen, konkrete Weisungen, kurze Befehle. Sie wissen, was von ihnen abhängt. »Licht! Hier, rechts unten!« meldet Fregattenkapitän Arndt wenig später, und drei Augenpaare durchbohren die Finsternis. Fregattenkapitän Weibezahl nimmt die Drehzahl der Triebwerke etwas zurück. Tatsächlich, zwei leuchtende Punkte dicht nebeneinander, die sich offensichtlich ganz langsam vorwärts bewegen. Ein Auto, das kann nur ein Auto sein! Wer befindet sich schon bei diesem Wetter und zu dieser Zeit auf der Straße? Es wird das Fahrzeug sein, das die Frau zum Sportplatz bringt. Fregattenkapitän Weibezahl drückt den Helikopter immer weiter hinunter, fliegt dabei einen Vollkreis. Die Skalen und Zeiger auf dem
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Armaturenbrett läßt er dabei keine Sekunde aus den Augen. Künstlicher Horizont, Variometer, Kompaß und so weiter. Gleich stimmt der Kurs annähernd mit der Fahrt des Autos überein. Da erblicken sie ein Viereck von Menschen mit flackernden Lichtern in den Händen. Der Sportplatz! Sieht aus wie Glühwürmchen im Schnee, denkt Lutz Weibezahl und stiehlt sich Sekunden für diesen Anblick. Er schaltet die Landescheinwerfer ein. Als sie über dem vorbereiteten Platz sind, beginnt die »Fahrstuhllandung«: dreißig Meter, fünfundzwanzig, zwanzig, fünfzehn, zehn ... Plötzlich sind die Glühwürmchen verschwunden. Dichter Flockenwirbel umhüllt die Kanzel. Auch diesmal nimmt ihnen der von den vier Tragschraubenblättern aufgewirbelte Schnee die Sicht. Der Kommandant hält den Hubschrauber in der Standschwebe. Wie kommen wir am besten runter, und was geschieht dort unten? Ist das Wagnis zu groß? Nochmals anfliegen? Nein, auf keinen Fall! Nur Zeitvergeudung, und es ändert nichts. Hier muß kühn und ohne zu zögern gelandet werden, entscheidet er. »Versucht Hindernisse am Platz auszumachen!« befiehlt er seinen beiden Besatzungsmitgliedern. Fregattenkapitän Arndt öffnet die Tür rechts neben sich. Vielleicht können sie so besser sehen. Mit dem Luftzug strömt Kälte in die Kabine. Die drei spüren sie nicht. »Höhe halten«, dirigiert Manfred Arndt über die Bordsprechanlage. »Jetzt runter, langsam, ganz langsam.« Meter um Meter läßt Fregattenkapitän Weibezahl den Hubschrauber sinken. Ihre Nerven sind gespannt. »Höhe halten! Weiter runter, langsam! Gut so.« Lutz Weibezahl konzentriert sich voll auf die Hinweise seines »Zweiten«. Er hat anstrengende Zentimeterarbeit mit Händen und Füßen zu leisten, muß gefühlvoll Steuerknüppel, Gassteigungshebel und Pedale bewegen, dabei behält er besonders Variometer und Drehzahlmesser im Auge. Gleich - die Fahrwerksräder setzen auf. »Gassteigungshebel ganz langsam nach unten«, sagt Manfred Arndt und ärgert sich im selben Augenblick darüber. Lutz Weibezahl hätte das auch ohne seine Bemerkung getan; sie wäre nicht nötig gewesen, aber bei der Erregung kann so etwas schon passieren. Roland Schön ist bereits im Laderaum, öffnet die Tür nach draußen, springt - und steckt bis zu den Knien im Schnee. Er entdeckt ein Auto,
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sieht Menschen mit einer Trage auf die Einstiegsluke zukommen. Die Männer stapfen mühsam durch den Schnee, versuchen ihre Schrittbewegungen aufeinander abzustimmen, damit die Trage nicht allzusehr schwankt. Hinter den beiden erkennt Roland Schön noch zwei Gestalten. Als sie den Hubschrauber erreicht haben, faßt der Bordmechaniker sofort zu. Gemeinsam bringen sie die Trage mit der Patientin im Transportraum der Maschine unter, sichern sie gegen Stoß und Rutschgefahr. Eine Frau und ein Mann steigen zu - die Hebamme und der Arzt. Nachdem die Begleiter den Hubschrauber verlassen haben, schließt Meister Schön die Tür, schwingt sich im Cockpit wieder auf seinen Klappsitz hinter den beiden Hubschrauberführern, schließt sein Sprechfunkgerät in der ledernen Kopfhaube unter dem orangefarbenen Fliegerhelm an das Bordnetz an und meldet kurz und korrekt: »Die Frau, ein Arzt und die Hebamme an Bord!« Das Schwerste scheint also überstanden, glaubt Lutz Weibezahl. Er erhöht die Drehzahl, kann aber durch den Helm weder das kraftvoll anschwellende Geräusch der Triebwerke noch das typische Peitschen der Tragschraubenblätter hören. An den Instrumenten liest er ab, daß alle Systeme und Aggregate in den vorgeschriebenen Parametern arbeiten. Mühelos löst sich der Hubschrauber vom Boden. Fregattenkapitän Weibezahl geht schnell zum Horizontalflug über, steuert direkt Stralsund an. Dieser Dienstag, der 2. Januar 1979, ist schon über sieben Stunden alt, doch der Tag läßt sich erst ahnen, verbirgt sich noch in der Dunkelheit, die nur ganz allmählich zu weichen beginnt. Die drei Männer erkennen ein Stück Ostsee, das schmale Band des Rügendamms, den Dänholm, den Stralsunder Hafen, die Stadt. Von hier oben sieht das Land aus, als läge es in friedlichem Schlummer, zugedeckt mit riesigen weißen Tüchern. Aber was sich dort unten abspielt, seit Tagen schon ... Lutz Weibezahl ist froh und glücklich darüber, daß er zu jenen gehört, die in diesen schweren Stunden Menschen aus Lebensgefahr retten, ihnen aus der Not helfen. Dennoch ist der Mensch beinahe machtlos gegen die entfesselte Natur. Wann endlich ist dieses Fleckchen Erde dort unten, das aus etwa 200 Meter Höhe wie eine Spielzeuglandschaft aussieht, aus der stürmisch-eisigen Umklammerung befreit? Wann endlich
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beginnt wieder das normale Leben? Doch jetzt geht es erst einmal um das Leben der Frau hinten im Laderaum und ihres noch nicht geborenen Kindes. Der Hubschrauber schwebt über dem ehemaligen Parkplatz vor dem Krankenhaus, der nun schon mehrmals als Landefläche gedient hat. Die Männer im Cockpit entdecken Volkspolizisten, die den Platz absperren, einen Krankenwagen, Frauen und Männer, die über ihren weißen Kittel hastig den Mantel oder den Anorak geworfen haben. Und natürlich stehen wie immer und überall auch hier Schaulustige herum. Meister Schön wartet nicht erst, bis die Mi-8 aufgesetzt hat, er steht schon vorher an der Laderaumtür. Als die stählerne Libelle sicher auf dem einigermaßen vom Schnee gesäuberten Betonplatz steht, vollzieht sich alles schnell und reibungslos und ohne viele Worte. »Guten Morgen« ist das einzige, was gesagt wird, denn alle wissen Bescheid. Geübte Männer bringen die Trage zum Rettungswagen. Der Arzt und die Hebamme klettern aus dem Hubschrauber, begrüßen ihre Kollegen aus dem Krankenhaus und begeben sich umgehend zur nahen Klinik. Roland Schön hakt das Treppchen ab, verstaut es, schließt die Tür, begibt sich auf seinen Platz. Erleichtert atmen die Männer auf, denn unter den derzeitigen Bedingungen war dieser Auftrag durchaus kein alltäglicher. Fregattenkapitän Weibezahl ruft wie nach jedem Einsatz die Flugleitung. »300 für 302 kommen!« »300 empfangsbereit!« »300! Auftrag ausgeführt! Gestatten Sie Rückflug zum Platz. Bitte um Landeerlaubnis.« »302! Rückkehr zum Platz genehmigt. Landeerlaubnis erteilt.« Als Lutz Weibezahl, Manfred Arndt und Roland Schön zu ihrem Flugplatz zurückkehren, ist dort reges Leben und Treiben. Die Soldaten des Fliegertechnischen Bataillons sind mit Schaufeln und Schneefräsen emsig dabei, Wege zu den Maschinen zu räumen, damit Tank- und Anlaßwagen sowie andere zum Flugbetrieb erforderliche Fahrzeuge ungehindert zu den Hubschraubern fahren können. Die Techniker und Mechaniker des Fliegeringenieurdienstes machen sich an den »Hornissen« zu schaffen. Wahrlich kein Vergnügen bei Kälte, Wind und Schnee, wenn die Finger klamm und steif werden, weil man nicht bei allen Ar-
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beiten Handschuhe tragen kann. Fregattenkapitän Weibezahl bringt diesen Männern Achtung entgegen. Das Fliegen ist die eine Seite, aber kein Hubschrauber kann und darf starten, bevor er nicht technisch genau überprüft und vorbereitet wurde. Das muß gerade jetzt mit äußerster Sorgfalt erfolgen, denn die Helikopter sind bei diesen extremen Witterungsbedingungen größten Belastungen ausgesetzt. Besonders die zwölf Meter langen Tragschraubenblätter aus glasfaserverstärktem Duraluminium müssen eisfrei gehalten werden. Während des Fluges sorgen Thermo-Elemente an den Kanten für die Enteisung. Sie werden von einem mit den Triebwerken gekoppelten Generator beheizt. Vor dem Start jedoch müssen die schmalen elastischen Blätter Meter für Meter mit einem Vorwärmgerät, bei dem Kerosin verbrannt wird und aus dem dann ähnlich wie bei einem Fön Heißluft ausströmt, bearbeitet werden. Fregattenkapitän Weibezahl weiß, welche Mühe es bei diesem Wetter kostet, die Tragschraube, die Triebwerkseinläufe und das Fahrwerk schnee- und eisfrei zu halten. Als stellvertretender Geschwaderkommandeur ist er zwar verantwortlich; dennoch - und das steht für ihn fest - wird er den Vorschlag unterbreiten, daß die Leistungen dieser Genossen gewürdigt werden. Der Hubschrauberkommandant meldet die Besatzung bei seinem Vorgesetzten zurück und berichtet kurz. Eigentlich erwartet er einen neuen Einsatzbefehl. Statt dessen befiehlt Fregattenkapitän Leithold einige Stunden Schlaf. Aber noch am selben Tag beginnt auch für Lutz Weibezahl und seine Männer erneut das winterharte Fliegerleben. In der Flugchronik werden die Ereignisse dieser Tage wie folgt vermerkt werden: 2. Januar: Vier schwangere Frauen, bei denen Komplikationen bei der Entbindung zu erwarten sind, werden von Putbus, Lohme und Zarrendorf, Kreis Grimmen, ins Stralsunder Krankenhaus gebracht. Hubschrauber des Marinefliegergeschwaders transportieren 60 Faß Dieselkraftstoff mit je 200 Litern zur Seefunkdienststelle Rügen-Radio in Lohme und ebenfalls Lebensmittel für den Ort. Zwei Schwerkranke werden vom Seebad Baabe nach Stralsund geflogen. - Zwölf Einsätze insgesamt. 3. Januar: Versorgungsflüge nach Zudar, Rappin, Ummanz, Fernlütkewitz und Trent. Zur Insel Hiddensee werden Medikamente transpor-
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tiert. Eine Frau in anderen Umständen aus Fern-Lütkewitz und zwei erkrankte Personen aus Schapprode und Trent werden in die Klinik am Sund überführt. - Alles in allem neun Einsätze. Postskriptum zu diesem Tag: Außerordentliches vollbrachte die Hubschrauberbesatzung von Korvettenkapitän Köhler. In der Luft erhielt sie den Auftrag, einen schwerkranken achtjährigen Jungen aus Trent auszufliegen. Er konnte jedoch nicht an den vereinbarten Ort gebracht werden; die Hilfskolonne kämpfte sich noch durch den Schnee zum Wohnort des Jungen. Kurz entschlossen starteten die Marineflieger wieder, nahmen Kurs auf die kleine Ansiedlung Freesen, brachten das Kind an Bord, transportierten es wohlbehalten ins Krankenhaus nach Stralsund, retteten ihm so das Leben. 4. Januar: Versorgungsgüter werden nach Ummanz und Poseritz transportiert. Weiterhin starten die Besatzungen der VolksmarineHubschrauber zu Informationsflügen. In der Nacht geht es noch einmal um Leben und Tod. Ein Wolgaster Bürger hat sich erhebliche Verbrennungen zugezogen; er muß schnellstens ins Krankenhaus gebracht werden. Noch immer ist schlechtes Wetter, Sturm und Schneetreiben. Geschwaderkommandeur Günter Leithold entschließt sich, unter diesen äußerst komplizierten Bedingungen selbst zu fliegen. Der Transport gelingt; der Schwerverletzte überlebt. Es war der fünfte und letzte Einsatz dieses Tages. 5. Januar: Mit drei Einsätzen nach Poseritz und Ummanz enden die Versorgungsflüge für die Insel Rügen. Bei all diesen Geschehnissen rückte der Flug in den Frühstunden des zweiten Tages im neuen Jahr etwas in den Hintergrund. In Vergessenheit geriet er jedoch nie. Der Flug selbst war nicht der schwierigste. Lutz Weibezahl hatte inzwischen weit risikovollere gemeistert. Aber an keiner Rettungsaktion dieser Tage - das hatte er inzwischen erfahren - waren so viele Menschen beteiligt wie bei dieser Frau, die er schließlich als vorletztes Glied der Kette von Putbus nach Stralsund ins Krankenhaus brachte. Schon längst wollte er sich erkundigen, wie es ihr und dem Kind geht, aber es war zu turbulent zugegangen in den letzten Tagen. Jetzt, Anfang der neuen Woche, da weniger Einsätze zu fliegen sind, etwas mehr Ru-
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he ins Geschwader eingezogen ist, denkt er wieder daran. Natürlich leidet die Republik und auch der Norden noch unter grimmiger Kälte, unter Eis und Schnee. Täglich ist in den Zeitungen zu lesen, was die Kumpel und ihre Helfer in den Braunkohlentagebauen leisten, damit die Kraftwerke Strom für Wohnungen und Fabriken, für Krankenhäuser und Schulen erzeugen können. In den ersten fünf Tagen des Jahres 1979 flogen die Genossen des Geschwaders »Kurt Barthel« 36 Einsätze, davon 13 Rettungsflüge, bis auf drei alle nachts. Die Marineflieger transportierten 8 schwangere Frauen und 11 Schwerkranke, flogen dabei 15 Orte an. Ein Ort von diesen 15 war Putbus und anschließend Stralsund. Und dieser eine Flug ist Lutz Weibezahl mehr als alle anderen in Erinnerung geblieben. Die Ärztin, das Baby auf dem Arm, erscheint zur ungewohnten Zeit im Krankenzimmer. »Frau Hoge, ich bringe Ihnen Ihr Kind. Sie bekommen Besuch«, erklärt sie der jungen Mutter. »Beeilen Sie sich, drei hübsche Männer warten auf Sie.« Rotraud Hoge ertappt sich, wie sie errötet und verlegen wird. Besuch, drei Männer? Jetzt, eine Woche nach der Entbindung. Alle Verwandten und Bekannten haben sie bereits besucht. Wer also könnte das sein? Auch als sich die Tür öffnet und tatsächlich drei Männer eintreten, dunkelblaue Uniformen unter dem weißen Kittel, kann sie sich nicht erinnern, je einen von ihnen schon einmal gesehen zu haben. Nicht einer kommt ihr bekannt vor. Und als die drei sie freundlich begrüßen, ihr Blumen überreichen, sich vorstellen - einer mit Fregattenkapitän Weibezahl -, ist sie vollends durcheinander. Kapitän ..., ein Seemann ..., ein Offizier der Volksmarine - nein, sie kann damit nichts anfangen. Erst als die beiden anderen ihr erklären, daß Fregattenkapitän Weibezahl jener Hubschrauberkommandant ist, der sie von Putbus aus hierher zur Klinik nach Stralsund geflogen hat, dämmert es bei ihr. Viel hat sie damals nicht wahrgenommen. An den Flug kann sie sich kaum erinnern. Gleich nach der Landung wurde sie untersucht und dann sofort in den Operationssaal gefahren. Kaiserschnitt. Mittags, als sie aus der Narkose erwachte, sagte die Schwester zu ihr: »Sie haben ein kleines
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Mädchen«, und legte es der glücklichen Mutter in den Arm. »Wie heißt die Kleine«, will Lutz Weibezahl wissen. »Bettina!« Das Töchterchen ist nun erst einmal Mittelpunkt, wobei die Gäste respektvoll Abstand halten. Rotraud Hoge verwundert es, daß die drei so viele Fragen haben. Wie es ihr geht, was sie arbeitet. Jetzt, da sie alles überstanden hat und das Kind gesund ist, fühlt sie sich glücklich. Sie ist allen Menschen dankbar, die ihr in den schweren Stunden beigestanden und geholfen haben, obwohl sie noch gar nicht weiß, wer alles beteiligt war, sich aufgeopfert hat, damit sie am Leben blieb und die kleine Bettina geboren werden konnte. Was aber soll sie auf die Fragen des Offiziers über Posewald erzählen, dieses Dörfchen mit seinen sechs Häusern und etwa fünfzig Einwohnern, das keinen Konsum hat und keine Gaststätte. Aber einen Bahnhof gibt es in Posewald. Die Kleinbahn, die von Putbus kommt, hält dort. »Und einen Dorfklub gibt es bei uns auch«, berichtet sie nicht ohne Stolz, »da ist oft etwas los.« Die Arbeit als Verkäuferin gefällt ihr, erfahren die Männer, und außerdem macht sie noch die Viehzählung im Dorf. Daheim gibt es auch viel Arbeit. Ihr Häuschen ist gemütlich, vier Zimmer, Küche, Bad, Garten natürlich. Ihr Mann arbeitet als Kraftfahrzeugschlosser in Bergen, und ein Auto haben sie auch. Ihr gefällt vor allem die Ruhe in Posewald und - herrje, was soll sie denn noch alles erzählen? Aber der Kapitän - wie heißt er doch, der ist ihr besonders sympathisch. Er lächelt immer. Mit Armeeleuten hat sie noch nie etwas zu tun gehabt. Auf einmal haben es die Offiziere eilig. Der Dienst rufe, außerdem hätten sie sie lange genug mit ihren Fragen belästigt. Schließlich müsse sie sich noch erholen, von der Operation und den Strapazen. Im Hinausgehen wünschen sie der jungen Frau alles Gute, für sie selbst und die kleine Bettina. Man würde sich ganz bestimmt Wiedersehen. In der »Ostsee-Zeitung« vom 4. Januar 1985 war folgende Meldung zu lesen: »Bereits sechs Jahre währt nunmehr die Ehrenpatenschaft einer Hubschraubereinheit der Volksmarine über Bettina Hoge aus Posewald, die im strengen Winter 1979 unter dramatischen Bedingungen zur Welt
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gekommen war. So gehörten anläßlich des Geburtstages am 2. Januar auch wieder jene Genossen zu den Gästen, die der Mutter damals mit einem Flug zur Entbindungsstation Stralsund >Geburtshilfe< geleistet hatten. Unter ihnen der Kommandant der Maschine, Fregattenkapitän Lutz Weibezahl. Wie immer gab es ein kleines Geschenk sowie 150 Mark für das Sparkassenbuch. Jährlich kommen die Paten dreimal nach Posewald: zum Geburtstag, zum Kindertag und zu Weihnachten. 1985 wird es auch eine vierte Begegnung geben, nämlich zu Bettinas Einschulung am 1. September. Familie Hoge weilte auch schon mehrmals zum Gegenbesuch in der Einheit.« Was hier so sachlich als Nachricht mitgeteilt wird, ist in der Praxis viel herzlicher. Man sagt Rotraud und Lutz zueinander, Christa und Hans-Jürgen. Bettina freut sich jedesmal riesig, wenn ihr »Onkel Lutz« sie besucht: Thomas und Tinko Weibezahl sind für sie beinahe wie Geschwister. Zu festlichen Anlässen, wie dem Jahrestag der Nationalen Volksarmee und dem Geburtstag unserer Republik, ist Bettina mit ihren Eltern beim Appell in der Dienststelle auf der Ehrentribüne zu finden. Die Genossen des Marinefliegergeschwaders »Kurt Barthel« wollen ihr Patenkind auf dem Lebensweg bis hinein ins Berufsleben betreuen. Für ihren selbstlosen Einsatz im stürmischen Schneewinter 1978/1979 wurden viele Matrosen, Unteroffiziere, Fähnriche und Offiziere geehrt Fregattenkapitän Lutz Weibezahl erhielt die »Hufeland-Medaille«. Seit dem 1.März 1983 ist er »Verdienter Militärflieger der DDR«.
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