Bo R. Holmberg
Schneegrab
scanned 12-2006/V1.0
Anundsjö im Jahre 1849. Im ungewöhnlich tiefen Schnee wird eine Leiche...
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Bo R. Holmberg
Schneegrab
scanned 12-2006/V1.0
Anundsjö im Jahre 1849. Im ungewöhnlich tiefen Schnee wird eine Leiche entdeckt, deren Arme senkrecht aus der Schneedecke herausragen. Polizeiamtmann Harald Morell stößt bei seinen Ermittlungen im tiefverschneiten Ångermanland auf Ungeheuerliches. ISBN: 3-45343142-1 Original: SNÖGRAV (2003) Aus dem Schwedischen von Sigrid Engeler Verlag: Wilhelm Heyne Erscheinungsjahr: Deutsche Erstausgabe 09/2005 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Anundsjö im Februar des Jahres 1849. Im ungewöhnlich tiefen Schnee wird eine Leiche gefunden, deren ausgestreckte Arme aus der dichten Schneedecke ragen – seit der Ermordung könnten bereits Tage vergangen sein. Polizeiamtmann Harald Morell macht sich gemeinsam mit seinem jungen Helfer Johan Anundsson auf die Suche nach dem Mörder. Dann wird Greta, die Altenpflegerin des kirchlichen Armenhauses, erstochen aufgefunden. Endlich stößt Morell auf die Spur Grels Perssons, eines kleinen schmächtigen Mannes, der in verschiedenen Gasthäusern unter immer wieder anderem Namen eingekehrt zu sein scheint. Bei einem Einbruch auf einem einsam gelegenen Hof wird Grels schließlich überwältigt und an Morell übergeben. Er gesteht den Mord an Isak, dem Toten im Schnee, bestreitet allerdings standhaft, auch Greta, die Altenpflegerin des kirchlichen Armenhauses, getötet zu haben. Als Morell seine Ermittlungen in der Umgebung des Pfarrhauses fortsetzt, stößt er auf Ungeheuerliches.
Autor Bo R Holmberg wurde 1945 in Ådalen geboren. Er ist heute als Lehrer in Bredbyn im Ångermanland tätig, dort lebt er auch mit seiner Frau Dorotea und seinen drei Kindern. Bo R Holmberg ist mit seinen Kinderbüchern auch in Deutschland sehr erfolgreich. Sein erster Kriminalroman Rabenseelen wurde von der Presse mit Begeisterung aufgenommen und mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet.
Für Alexander
Namenliste Harald Morell, Polizeiamtmann oder Länsman von Anundsjö Helena Morell, seine Frau Gustav, sein Sohn Anna, Magd bei Morell Anund Persson, Landgendarm und Bauer Fjärdingsman von Anundsjö Brita, seine Frau Johan Anundsson, ihr Sohn und Gehilfe Morells Annika Carlsdotter, Magd und Verlobte Johans Daniel Persson, Knecht und ehemaliger Freund Annikas Olof Viberg, Länsman von Arnäs Björn Östensson, Landgendarm von Arnäs Olaus Backäus, Pastor von Anundsjö Erik Sondelius, Hilfspfarrer und Vorsteher des Armenhauses Greta Sigurdsdotter, Armenpflegerin
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Grels Persson, alias Bengt Olsson, Landstreicher Isak Villander, Landstreicher Zackris Olofsson, Bauer Lisbet Zackrisdotter, seine Tochter Kettil Halvarsson, Bauer Ingel Kristoffersson, Bauer Torsten Gustavsson, Knecht Pål Tomasson, Knecht Salmon Andersson, Knecht Geromias Gunnarsson, Armenhäusler Johannes Larsson, Armenhäusler Efraim Isaksson, Armenhäusler Kristoffer, Armenhäusler Sara, Armenhäuslerin Israel Brolin, Henkersknecht und Abdecker, Tattare Antonetta, seine Frau Henning, sein Bruder
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Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde; wasche mich, dass ich schneeweiß werde. Psalm 51.9 Er gibt Schnee wie Wolle, er streut Reif wie Asche. Psalm 147.16
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Die Pfarrei Anundsjö Aus: Abraham Hülphers, Samlingar til en Beskrifning öfwer Norrland Die Pfarrei liegt nördlich von Sidensjö und grenzt im Osten an Själewad. Sie dehnt sich im Westen bis nach Liden und Junsele – im Sprengel Resele gelegen – aus. Im Süden liegt Sidensjö, im Norden und Nordwesten grenzt sie an Åsele, die Lappmark und das so genannte Själewa Fjell. Die Pfarrei ist vor allem im Westen und Norden von dichten Wäldern umgeben. Die besiedelte Fläche ist 30 Kilometer lang und 20 Kilometer breit. Doch die Größe der Pfarrei würde sich mehr als verdoppeln, zählte man den nicht besiedelten Teil hinzu.
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ERSTER TEIL
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1 Es war stockfinster. Den Kleinen hatte Isak an der Straße zurückgelassen und ihm gesagt, er solle dort warten, bis er wiederkomme. Er habe etwas zu erledigen. Anschließend wollten die beiden in Richtung Küste verduften. Bisher war erst wenig Schnee gefallen. Seit sie sich hier im Norden in der Wildnis herumtrieben, hatte es gar nicht mehr geschneit. Und es war auch nicht sonderlich kalt gewesen. Da standen die drei kegelförmigen Lappenkoten. Isak wusste, in welches Zelt er eindringen musste. Denn da drin lag die Kiepe aus Birkenrinde, die ihm auf dem Markt aufgefallen war. Sie war gefüllt mit wertvollen Gegenständen aus Zinn und Silber und Messern mit schönen Einlegearbeiten. Eine Birkenrindenkiepe mit lauter kostbaren Sachen. Das Lappenzelt müsste jetzt eigentlich leer sein, dachte Isak. Er hatte fast den ganzen Nachmittag in der Nähe gelauert. Aus den drei Zelten war Rauch aufgestiegen. Aber jetzt stieg kein Rauch mehr aus dem Zelt auf, aus dem er die Kiepe stehlen wollte. Also musste es leer sein. Isak hob das vorm Eingang hängende Fell an und schlüpfte ins Innere. Sofort umfing ihn Schwärze. Aber er hatte mitbekommen, wo die Kiepe stand. Ein scharfer Geruch nach Erde, Leder und Rauch drang ihm in die Nase. In der Feuerstelle schwelte noch etwas Glut. Er duckte sich und bewegte sich vorsichtig auf die Kiepe zu. Doch da schrie plötzlich jemand und er zuckte heftig zusammen. Im selben Augenblick warf sich ein Mann auf ihn und drückte ihn mit starken Händen zu Boden. Der Lappe stieß Wörter in einer Sprache aus, die Isak nicht verstand. 11
Er schlug um sich, wollte sich befreien. Die Kiepe!, dachte er. Ein Messer! Er war nicht oft bewaffnet, denn meistens reichte seine Kraft. Jetzt brauchte er eins. Ein Messer. Krampfhaft umklammerte er die sich ihm nähernde Hand. Sie hielt ein Messer! Er hörte das Stöhnen des Lappen, sein eigenes Keuchen. Die Hand des Lappen bewegte sich immer weiter auf ihn zu. Isak gelang es, seinem Gegner das Messer aus der Hand zu winden. Doch da versuchte plötzlich eine andere Hand auf ihn einzustechen, auch diese Hand hielt ein Messer. Bald würden die Leute in den anderen Zelten hören, dass hier gekämpft wurde und angerannt kommen. Als die Hand mit dem Messer zustieß, wollte er ausweichen und hob abwehrend eine Hand. Da spürte er am Handgelenk einen Schmerz und wusste, dass ihn das Messer verletzt hatte. Er schlug wild um sich und packte etwas – das ist seine Hüfte, konnte er noch denken – und stieß mit aller Kraft zu. Der Lappe machte torkelnd ein paar Schritte rückwärts. Isak bückte sich nach der Stelle, wo das erste Messer sein musste und tastete verzweifelt und wütend den Boden ab, bis sich seine Finger um einen Messergriff schlossen! Dann, als er den keuchenden Atem des Lappen hörte, zögerte er nicht und warf sich in Richtung des Keuchens. Er spürte, wie das Messer in etwas Weiches eindrang. Der Getroffene schrie dumpf auf und Isak stieß noch einmal zu. Hatte er den Lappen in die Brust getroffen? Er hörte ein Keuchen, ein Gurgeln und dann nichts mehr. Stille. Das Messer ließ er einfach stecken. Er stand auf, spürte in der Hand einen brennenden Schmerz, stolperte über die Feuerstelle, kam aber sofort wieder auf die Füße, schlug das Fell zur Seite und war endlich im Freien. So schnell er konnte, lief er weg, zur Straße, wo er den Kleinen im Dunkeln zurückgelassen hatte. 12
Isak blieb stehen, er wollte sein keuchendes Atmen beruhigen. Aber er musste sich vorbeugen und husten. Sie hatten abgemacht, wo der Kleine warten sollte. Das war aber nicht hier. Und jetzt stand er da, etwa zehn Meter von dem Zelt entfernt. Dieser Zwerg, dessen Name Isak nicht einmal einfiel, den er hier oben im Norden zufällig getroffen hatte. Dieser Kleine, dieser dünne unscheinbare Zwerg. Ganz in der Nähe des Lappenzelts hatte der Gnom gewartet. Hatte er etwa davor gestanden? Hatte er etwas gehört? »Ich habe nichts gefunden«, stieß Isak hervor. »Das Zelt war leer.« Er steckte seine brennende Hand in den Schnee, schaute aufs Handgelenk, wo er den Schnitt des Messers spürte, konnte aber kein Blut sehen. Er starrte eine Weile zu Boden, weil er wieder zu Atem kommen und ruhig werden musste. Der Kleine schaute ihn im Dunkeln an. Er trug ein Kopftuch. »Wir hauen jetzt ab«, sagte Isak. »In Richtung Küste.« Der Kleine nickte zustimmend. »Zuerst nach Anundsjö, wie du gesagt hast?«, fragte er eifrig. »Wir gehen über Solberg. Das dauert nur ein paar Tage. Denn da müssen wir uns versorgen.« »Ist das die nächste Pfarrei?«, fragte Isak. Der Kleine nickte wieder eifrig. »Ja, wir machen uns auf den Weg nach Anundsjö«, sagte Isak. Er warf noch einen Blick zurück. In dem Lappenzelt rührte sich nichts. Aus den anderen Zelten war kein Laut zu hören. Hatte er den Lappen etwa getötet? Bei dem Gedanken schauderte es ihn. Das wäre beinahe übel ausgegangen! Doch der Lappe hätte nicht gezögert, ihn zu töten. Stattdessen hatte er … Wusste der Kleine etwas, hatte er vor dem Zelt gelauscht? 13
Seine Hand brannte, aber der Messerstich hatte ihn nicht ernsthaft verletzt. Und selbst wenn, der Kleine konnte das im Dunkeln nicht sehen. Er betastete noch einmal sein Handgelenk, zog dann den Fäustling an, zog ihn weit nach oben und umfasste mit der anderen Hand noch immer sein Handgelenk. Wenn er den Lappen getötet hatte, gab es vielleicht einen Zeugen. Diesen kleinen Kerl mit dem Kopftuch, den er kaum kannte. Jetzt würden sie sich weit von der Wildnis der Lappmark entfernen. Erst über Solberg nach Anundsjö wandern und dann weiter zur Küste. Und sollte der Kleine etwas wissen, dann musste er sich wohl oder übel bald darum kümmern.
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2 Erik Sondelius lenkte den Rissla-Schlitten selbst. Er saß auf der Bank und hatte das Fell bis weit über die Knie gezogen. Obenauf lagen seine Handschuhe wie zwei Pelztiere. Sie hielten die Zügel. Das Pferd folgte ganz einfach der Straße. Er dachte an seine Kindheit, damals, als er ein kleiner Junge gewesen war und sie auf dem Weg zur Kirche alle zusammen im Pferdeschlitten gesessen hatten, gut eingepackt. Der Schlitten war größer als dieser gewesen. Und er erinnerte sich wehmütig an die Geräusche im Schnee, an den Klang der Kufen auf Schnee und Eis, Geräusche, die Geborgenheit vermittelten. Die Häuslerfamilie hatte ein paar Mal beim Großbauern mitfahren dürfen. Die ganze Kinderschar sowie sein Vater und seine Mutter. Doch wenn er sich an diese Fahrten erinnert, so kommt es ihm wie eine Szene aus einer anderen Welt vor. Denn damals hatte er geglaubt, eines Tages ein Teil dieser Welt zu sein. Und Armut, Schmutz, Elend und Hunger hinter sich zu lassen. Und eigentlich ist es auch so, dachte er. Jetzt schneite es. Die Schneeflocken wirbelten, aber dunkel war es im Februar nachmittags noch nicht. Die Straße war nur zu ahnen und er müsste eigentlich wieder zu Hause sein, ehe die Dunkelheit einbrach, auch wenn das in dieser Jahreszeit sehr früh war. Er spürte, wie Wind und Schnee seinen Bart erstarren ließen, und mit seiner Hand im Handschuh zupfte er daran. Das Pferd wieherte, als halte es diese Bewegung für eine Aufforderung, die Richtung zu ändern. Er ruckte leicht mit den Zügeln, damit das Pferd einfach weitertrabte. Mit Pferden kannte sich Erik Sondelius nicht gut aus. Das gehörte auch nicht zu seinen Aufgaben. Doch wenn es sich ergab, musste er hin und wieder allein fahren, ohne Fuhrknecht. 15
Der Sprengel war groß, jemand hatte ihm einmal erklärt, dass die Pfarrei flächenmäßig dem Landesteil Blekinge vergleichbar sei. Das konnte stimmen. Denn er kannte diesen Sprengel noch nicht richtig, weil er erst seit einem knappen Jahr hier tätig war. Doch die Armut war ihm aufgefallen und für die Armen war er verantwortlich. Erik Sondelius nahm die Zügel in eine Hand. Dann zog er vorsichtig einen Handschuh aus und wischte sich die Nässe von Bart und Kinn. Anschließend packte er die Zügel wieder mit beiden Händen und ruckte einmal kräftig, damit das Pferd schneller trabte, denn er musste noch nach Skalmsjö. Er erinnerte sich an eine andere Fahrt mit dem Schlitten, noch weiter im Norden, wo er früher gelebt hatte. Damals war er ebenfalls allein unterwegs gewesen, doch unter schwierigeren Bedingungen. Aus einer anfänglichen Brise hatte sich binnen kurzem ein stürmischer Wind entwickelt. Aber nicht genug damit. Eine seiner Deichseln brach, sodass er nicht weiterfahren konnte. Werkzeug, um die Deichsel zu reparieren, hatte er keines. Aber Holz. Trockenes Holz lag im Kasten unter dem Sitz, und so hatte er mitten im Wald ein Feuer gemacht, bis ein zufällig vorbeifahrender Mann ihn und sein Pferd gerettet hatte. Erik Sondelius lehnte sich im Schlitten zurück, um sich zu entspannen und zur Ruhe zu zwingen. Holz und Zündhölzer muss man bei solchem Wetter immer bei sich haben, dachte er. Dies hier ist nicht meine eigentliche Aufgabe, meine Berufung, aber ich habe sie trotzdem übernommen. Denn ich tue, was ich nun tun muss für die Pfarrei. Deshalb bin ich hier auf der Straße, die über Myckelgensjö nach Junsele führt, unterwegs. Eine Straße, die das Pferd zu kennen scheint. Er war vom Sitzen ganz steif geworden und streckte sich, schlug leicht mit den Zügeln und dachte, dass es nun nicht mehr sehr weit sei. 16
*
Zackris Olofssons Hemd war mit Erbrochenem bedeckt. Er zitterte von der Anstrengung des Würgens am ganzen Körper. Er röchelte und ein dünner Blutstrahl rann aus seinem Mund. Seine Tochter stand neben seinem Bett. Sie hatte einen Kübel auf den Boden gestellt. Aber es fehlte ihm die Kraft, sich zum Erbrechen aufzurichten. Sein Mageninhalt sprudelte einfach aus seinem Mund. Und dazu all das Blut. Im schwachen Schein des Talglichts, das am Kopfende des Bettes steckte, schaute Lisbet auf ihn hinunter. Sein Gesicht war schmal geworden, seine Augen glänzten und sie dachte, lange macht Vater es nicht mehr. Zwar ging es ihm nicht zum ersten Mal so schlecht, es war bereits das vierte oder fünfte Mal. Anfang des Jahres war das gewesen und ein paar Mal im letzten Winter, sodass sie aufgehört hatte, den Bezirksarzt zu holen. Das half nicht und kostete viel Geld und der Doktor sagte ja doch nur, ihr Vater habe Brustfieber. Lisbet blieb im Schein der Kerze stehen und sah ihren Vater an. Sie allein war übrig geblieben, um sich um ihn zu kümmern. Sie hatte mitansehen müssen, wie er sich verändert hatte, wie er gealtert, wie er schmal geworden war. Wie die Kraft seiner Arme nachgelassen hatte, sein Gang langsamer geworden war. Er war immer weniger geworden. Nun lag er im Sterben. Vielleicht würde er sich doch noch einmal erholen, wie früher schon geschehen. Zwar war seine Kraft nie vollständig zurückgekehrt, aber er hatte immer wieder aufstehen können. Während der langen Wintermonate hatte er am Fenster gesessen und im Sommer auf der Treppe vor dem Haus. Aber so elend war er noch nie gewesen. Das schien ihm bewusst zu sein, denn 17
sonst hätte er nicht um den Besuch des Pfarrers gebeten, auf den sie jetzt warteten. Pfarrer Sondelius kam nicht zum ersten Mal, er war in den letzten Wochen mindestens schon zweimal hier gewesen. Der alte Zackris hustete wieder, als würde ihm etwas im Hals stecken, das ihn zu ersticken drohe. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er blicklos seine Tochter an, schreckensstarr. Und Lisbet faltete die Hände, als fürchte sie, dass sein letztes Stündlein gekommen war. Doch dann schien sich etwas in ihm gelöst zu haben. Als hätte ein Korken in seinem Hals gesteckt, der jetzt herausflog. Er hob den Kopf und erbrach sich vehement. Um nicht von dem Erbrochenen getroffen zu werden, trat Lisbet schnell ein paar Schritte zurück. Dann sank der alte Mann auf sein Lager zurück. Er keuchte angestrengt, doch es dauerte nicht lange und der Schmerz schien abzuebben. »Jetzt fühle ich mich besser«, flüsterte er. »Ich fühle mich besser. Kommt der Pfarrer nicht bald …« Lisbet zog ihrem Vater das Fell weg, trug es hinaus in den Windfang, öffnete die Haustür und warf es in den Schnee. Dann kehrte sie zu ihrem Vater zurück. Mit einem Lappen wischte sie ihm den Mund ab, hob mit einem Arm seinen Kopf und zog ihm mühsam das Hemd aus. Vom Herd holte sie einen neuen Lappen mit warmem Wasser und wusch ihm Gesicht und Brust. »Du erholst dich schon wieder. Du wirst sehen, du schaffst es.« »Ich fühle mich besser«, flüsterte er. »Dann kommt der Pfarrer umsonst und hat den weiten Weg vergebens gemacht.« »Hauptsache, es geht dir besser«, sagte Lisbet beruhigend. »Und der Pfarrer kommt schon noch. Das tut er immer, wenn er’s versprochen hat.« Sie trat wieder an den Herd, tauchte den Lappen in die Schüssel, spülte ihn aus und ging zurück zu ihrem Vater. Dann 18
nahm sie die Kerze aus dem Halter und hielt sie dicht vor sein Gesicht. Hatte der Vater nicht ein bisschen Farbe bekommen? Vielleicht hatte er jetzt das Schlimmste überstanden. Unter Mühen zog sie ihm ein frisches Hemd an und deckte ein sauberes Fell über ihn. »Und jetzt, Vater«, sagte sie, »jetzt ruh du dich aus.« Zackris nickte schwach und sein eingesunkener Mund zuckte. Er schloss die Augen. Sie setzte sich im Dunkeln an den Küchentisch und lauschte seinen Atemzügen. Sie waren regelmäßig und klangen nicht mehr so rasselnd. Vielleicht würde er sich erholen … So hatte sich Lisbet das lange Siechtum ihres Vaters nicht vorgestellt. Mit einem schalen Geschmack im Mund hatte sie geglaubt, dass er dieses Mal sterben würde. Damit sie endlich wegziehen konnte, endlich ein bisschen an sich selbst denken konnte. Sie wollte sich auf den Weg hinunter nach Bredbyn machen und irgendwo eine Stelle finden. Ein eigenes Zimmer haben, eigenes Geld, vielleicht sogar einen Mann kennen lernen und abends gemütlich dasitzen und handarbeiten. Oder auch zum Tanzen gehen, so hatte sie es sich vorgestellt. Aber daraus würde nun auch dieses Mal nichts werden. Denn ihr Vater würde wieder zu Kräften kommen, er hatte eine Bärennatur, das hatte er immer gesagt. Und es schien ja, als hätte sich der Pfropfen gelöst, dieser schlimme Propfen, der die Schmerzen verursachte und das Blut zurückhielt, und als sei damit all das Üble, die Galle und das schlechte Blut aus seinem Körper geströmt und hätte ihm aufs Neue Kraft verliehen. Als sie das Geräusch von Schritten auf der Treppe vorm Haus hörte, stand sie auf, warf einen flüchtigen Blick auf ihren schlafenden Vater und ging hinaus. Pfarrer Sondelius stand in der Tür, groß und in einen Wolfspelz gekleidet. Seine Handschuhe hatte er ausgezogen und schlug sie gegeneinander. Sie knickste vor ihm. 19
»Guten Abend und willkommen, Herr Pfarrer«, sagte Lisbet. »Gut, dass Sie gekommen sind, obwohl es Vater besser geht.« Der Pfarrer schlug immer weiter die Handschuhe aneinander, wie unter Zwang. Dann nickte er kurz, bückte sich und griff nach seinem kleinen Rucksack. Er trug ihn in die Küche und stellte ihn auf den Tisch. Handschuhe und Pelzmütze legte er daneben. Als er die Schultern leicht bewegte, deutete Lisbet das als Aufforderung und half dem Geistlichen aus dem schweren Pelz. Darunter trug er seinen Talar und er zupfte an seinem weißen Beffchen, damit es auch ordentlich saß. Lisbet nickte zu ihrem Vater hin und ging vor ihm hinüber zum Bett. Der Pfarrer nahm eine Oblate und legte sie auf den Tisch. Aus einer kleinen Flasche goss er Wein in eine Art hölzernen Kelch und mit dem Trinkgefäß in der einen und der Oblate in der anderen Hand trat er zu dem Kranken. Er verzog das Gesicht, so als könnte er auf diese Weise dem üblen Geruch in der dumpfen Stube entkommen. Lisbet nickte ihm zu. »Ich muss um Entschuldigung bitten«, sagte sie. »Aber Vater ist sehr krank gewesen. Zum Glück geht’s ihm jetzt besser.« Der Pfarrer stellte sich nun näher zu dem Kranken hin. Der alte Zackris hatte die Augen aufgeschlagen. Aus ihnen leuchtete Freude und Zuversicht. »Ich fühle mich wohler, weil Ihr gekommen seid, Herr Pfarrer«, flüsterte der Alte, dann hustete er wieder. Lisbet ging schnell zu ihrem Vater, aus Sorge, er würde einen neuen Anfall bekommen. Pfarrer Sondelius stand mit Kelch und Oblate bereit. »Zackris Olofsson«, sagte er. »Glaubt Ihr an Gott, den Vater, Jesus Christus, Seinen Sohn und den Heiligen Geist, an die Auferstehung und das ewige Leben?« 20
»Ja«, flüsterte Zackris schwach. Pfarrer Sondelius steckte ihm die Oblate in seinen eingesunkenen Mund. »Das ist der Leib Christi, für dich am Kreuz gestorben«, sagte er. Zackris’ Mund bewegte sich; und Lisbet dachte: Das hier ist das Einzige, das er seit langem gegessen hat. Der Pfarrer hob den Kelch und sah Lisbet auffordernd an. Mit einem Arm richtete sie ihren Vater auf, so wie sie es getan hatte, als sie ihm das Hemd auszog. Zackris bewegte fahrig seine Hände auf der Felldecke. Auf ein Kissen im Rücken gestützt, kam er in eine sitzende Position. Wie ein kleiner Vogel sperrte er den Mund auf. Der Pfarrer hielt den Kelch schräg und goss ein paar Tropfen in den geöffneten Mund des Alten. Aber als Zackris ihn schloss, machte der Pfarrer eine abwehrende Bewegung mit seiner freien Hand. »Alles«, sagte er. »Du musst alles trinken.« Lisbet öffnete noch einmal den Mund ihres Vaters und der Pfarrer leerte den Kelch hinein. Der Alte schluckte. »Das ist das Blut Christi, für dich am Kreuze vergossen«, sagte Pfarrer Sondelius. Dann faltete er seine Hände. Sie tat es ihm nach. Der Vater schloss die Augen. Seine Gesichtszüge hatten einen Moment etwas Friedvolles. Doch nur ein paar Sekunden. Dann verzerrte sich sein Gesicht. Sein Körper verkrampfte sich und er schrie auf. Er hatte die Augen weit aufgerissen, sie schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Ein gewaltiges Zittern ging durch seinen Körper und sein Mund öffnete sich und erbrach in hohem Bogen einen Strahl Blut – oder war es der Wein des Abendmahls? Dann sank der Alte zurück auf sein Lager, als wollte er sich im Stroh der Matratze verkriechen. So wie der Knecht, der sich, wenn alles aufgeladen und festgezurrt ist, auf die Fuhre Heu wirft, sich förmlich in das Weiche hineinbohrt. So machte er es, 21
der Alte. Er versank gewissermaßen vor ihnen. Und dann wurde es still – totenstill. Lisbet sah Pfarrer Sondelius an. Der wirkte besorgt. Dann schlug der Vater wieder die Augen auf. Er hustete heftig, aber es sah so aus, als würde er den Rest des Weins bei sich behalten. Und wieder verkrampfte sich der Körper des Alten. Dann wurde es abermals totenstill. Lisbet trat ein paar Schritte vor und lauschte, ob er noch atmete. »Es war ein Segen, dass ich ihm noch rechtzeitig das Abendmahl habe geben können«, sagte der Geistliche und schlug mit der rechten Hand das Kreuz. Er zupfte nervös an seinen Augenbrauen, als wollte er sie verlängern und seufzte. »Das Ende scheint nahe zu sein«, sagte Pfarrer Sondelius. Er nahm seine Utensilien und legte sie in seinen Rucksack, den er sich aber nicht auf den Rücken hängte, sondern in der Hand behielt. Er betrachtete sie nachdenklich. »Willst du auch das Abendmahl haben?«, fragte Pfarrer Sondelius. »Zum Abendmahl gehe ich immer in die Kirche«, antwortete Lisbet. Da ergriff der Pfarrer ihre Hand, schüttelte sie kurz und ging. Lisbet war allein. Der Vater schlief bereits seit Stunden. Immer wieder lauschte sie auf seine Atemzüge. Sie saß im Dunkeln am Herd und wartete. Das Ende ist nahe, hatte der Pfarrer gesagt. War es so weit? Oder würde er sich noch einmal erholen? Stunden vergingen. Es war still. Totenstill. Und dann … dieser Schrei. Sie lief zu ihm. Sein ganzer Körper bebte, der Rücken war durchgebogen. Er schluchzte vor Schmerzen, eine schwärzliche Flüssigkeit quoll aus seinem 22
Mund. Er zitterte heftig. Es war, als hätte sein Körper ein Eigenleben bekommen. Er hustete, er röchelte, dann sank er auf sein Lager zurück. Ein letztes Zucken lief durch seinen Körper – und dann Stille. Jetzt ist es geschehen, dachte Lisbet. Sie beugte sich über ihren Vater, legte das Ohr an sein besudeltes Gesicht und lauschte der Stille.
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3 Obwohl Johan Anundsson inzwischen dreiundzwanzig Jahre alt geworden war, wohnte er noch immer im Elternhaus, bei seinem Vater, dem Landgendarm Anund Persson und dessen Frau, Brita. Der Hof war klein, nur ein paar Morgen groß. Er lag nicht weit vom Anundsjöfluss entfernt. Drei Kühe hatten sie und eine Magd, Sara. Und außerdem ihn, Johan. Er war das einzige Kind. Im Sommer schlief er auf dem ungeheizten Dachboden, dort hatte er seine Ruhe. Aber jetzt, im Winter, blieb ihm nichts anderes übrig, als in das Bett in der Küche zu kriechen, denn dort war es warm. Anund und Brita schliefen in der Kammer. Und die Magd schlief auch in der Küche, auf der Bank. Johan hatte sich an Sara gewöhnt. Wenn sie jetzt abends ins Bett kroch, glotzte er sie nicht mehr an, so wie früher. Die Zeiten hatten sich geändert. Denn er war nun der Gehilfe des Polizeiamtmanns von Anundsjö, Harold Morell. Wenn er an Morell dachte, seufzte er bedrückt. Später irgendwann wollte er sich auf dem Grund und Boden seiner Eltern ein eigenes Haus bauen, weil er eines Tages – wenn Anund zu alt geworden war – den Hof übernehmen sollte. Auch wenn das nicht sein Wunsch war. Aber das war beschlossene Sache und ebenso, dass er bis dahin Landgendarm sein würde, so wie sein Vater es derzeit war. Ein eigenes Haus. Bauholz war genug vorhanden, Baumstämme und bereits zugesägte Bretter, dazu Platz zum Bauen, direkt am Fluss. Ein eigenes Haus zu bauen, hatte in letzter Zeit für ihn an Bedeutung gewonnen, weil er seit kurzem eine Freundin hatte, eine, die sich nicht über seinen großen Kopf lustig machte. Und der es auch nichts ausmachte, dass er sich
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immerzu die ständig tränenden Augen wischen musste. Johan hatte sich verliebt. In Annika. Und das war so passiert. Die jungen Burschen hatten wieder einmal die Gegend unsicher gemacht und dieses Mal hatten sie ihn mitgenommen. Denn bisher hatte ihn noch nie einer aus dem Dorf aufgefordert, sie zu begleiten. Und er war mitgegangen, das erste und einzige Mal. Natürlich kannte er diese Sitte des nächtlichen Werbens unverheirateter junger Männer um die Gunst der Mädchen. Wie sich die lärmenden Burschen vor dem Haus einer Dorfschönen aufpflanzten und schrien, sie würden die Tür einschlagen, wenn sie nicht hineinkommen dürften. Und wie sie sich dann alle in das Zimmer eines Mädchens drängten und einen der ihren zwangen, sich zu ihr ins Bett zu legen. Sein Vater, Anund, hatte ihm davon erzählt. Wie sie damals, als er noch jung war, durch die Gegend gezogen waren, und wie damals dabei ein Mädchen fast ums Leben gekommen wäre. Sie hatten an die Tür geschlagen, und als der Vater des Mädchens öffnete, hatten sie ihn trotz des verharschten Schnees auf einen Tretschlitten gesetzt und angeschoben. Zu sechst waren sie gewesen. Der größte von ihnen hatte sich geradewegs aufs Bett fallen lassen und die anderen hatten sich auf ihn draufgelegt. Dabei hatte sich das Mädchen einen Arm gebrochen und sie wäre fast erstickt. Doch Anund – das erzählte er oft und gern – hatte die Schöne gerettet und seine Kumpel vom Bett runtergeworfen. Johan hatte vor diesem Samstag im Januar noch nie bei diesen rüden Späßen mitgemacht. Sie waren eine Bande von etwa zwanzig Burschen gewesen und hatten sich unter ihrem Fenster hingestellt und krakelt. Dann waren sie in ihr Zimmer eingedrungen und hatten ihn dagelassen. Einfach zu ihr ins Bett 25
gepackt hatten sie ihn. Johan war klar, dass die anderen das aus reiner Bosheit getan hatten und dass die junge Frau dort im Bett es lieber gehabt hätte, wenn ein anderer Bursche geblieben wäre. Doch als er voller Scham gleich wieder gehen wollte, da hatte sie ihn gebeten zu bleiben. So war es passiert. Sie hieß Annika und das war nun länger als einen Monat her. Jetzt hatte er also eine Freundin. Er merkte wohl, dass sie schon vorher einen Mann gehabt hatte. Einen Knecht aus Kubbe, dessen Namen er nicht kannte, den er aber oft in der Kirche gesehen hatte. Mit ihm sei es aus, hatte Annika gesagt, denn jetzt ginge sie mit ihm, mit Johan Anundsson, dem Gehilfen vom Länsman Morell. Nun war Februar, ein Sonntagabend. Ein Schneesturm heulte ums Haus. Die ganze Familie saß um den Küchentisch versammelt. Die Kühe waren gemolken und Brita hatte Grütze aufgetischt. Anund saß da und Johan, der Sohn, und die Magd Sara, die nachts auf dem Küchensofa schlief. Und der Schneesturm heulte immer ärger ums Haus. Johan dachte an seine Freundin Annika. Er dachte an letzte Samstagnacht. Jetzt durfte er bei ihr im Bett schlafen. Er hoffte, dass keine Männer mehr nachts zu ihr kommen würden. Schließlich wusste er, dass es einem Verlobten in solchen Fällen manchmal schlecht ergehen konnte, genau wie damals dem Vater des Mädchens. Die Erinnerung an die Nacht und der Gedanke an sie wärmte ihn. Er schaute aus dem Fenster und sah dem seit Stunden stetig fallenden Schnee zu. »Jetzt geht das wieder los«, sagte Anund laut und mit Nachdruck.
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Seine mächtige Stimme verlieh noch der kleinsten Beobachtung Bedeutung. Aber seine Familie war an seine Lautstärke gewöhnt. Nur Fremde zuckten zusammen, wenn er den Mund aufmachte. »Der Schnee kommt spät«, sagte seine Frau Brita. Sie war aufgestanden und mitten in der Küche stehen geblieben. »Im Frühjahr werden wir wohl das Haus bauen müssen«, sagte Johan. »Das Haus?«, wiederholte Anund. »Ja, mein Haus. Wo ich wohnen will.« »Damit hat es wohl keine Eile«, sagte Anund. Die Magd gähnte und Brita legte einige Scheite Holz nach. »Jetzt gehen wir erst mal zu Bett«, sagte seine Mutter. Und ob es eilt, dachte Johan. Und er sah alles vor sich: Er sah sich und Annika im neuen Haus, in der Küche, in der Kammer. Und die Kinder. Zwei, nein drei, vielleicht vier. Und er sah sie in ihren Betten. Und Annika und er … Aber als er an die Kinder dachte, als sie ihm in den Sinn kamen, da fiel ihm der Länsman Morell wieder ein und er seufzte bei diesem Gedanken und darüber, wie alles geworden war. »Gleich puste ich die Kerze aus«, sagte Brita. Und draußen heulte der Schneesturm ums Haus.
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4 Die beiden stapften durch das dichte Schneetreiben, von weitem gesehen zwei kleine Punkte, die einem Ziel zustrebten. Und sie marschierten über eine weiße Fläche, die kaum noch als Straße erkennbar war, denn der Schnee hatte sie vollständig zugeweht. Weder Pferden begegneten sie noch Pferdeschlitten oder RisslaSchlitten, auch keinen Wanderern. Nur diese zwei waren draußen unterwegs. Wenn sie sprachen, war es, als drängen ihre Stimmen tief und dumpf aus dem Schnee, als wären ihre Stimmen eins geworden mit dem Weiß. Dieser Schnee war unwirtlich, abweisend. Er war nicht nass, auch nicht schwer, aber unwirtlich. Ohne den Wind hätten die weichen Flocken geradezu angenehm sein können. Aber der Wind blies kräftig und drang durch ihre Kleidung, suchte sich seinen Weg durch jede Öffnung und kaum machten sie den Mund auf, um ein paar Worte zu sagen, war es, als dringe er bis in ihre Eingeweide vor. Der große Isak ging vorn, er hatte den Vorschlag gemacht, sie sollten nach Bredbyn ziehen, dort in irgendeinem Wirtshaus einkehren und dann weiter hinunter zur Küste wandern. Ihr versuchter Raubzug in Solberg hatte nicht viel gebracht. Das Unternehmen war gescheitert. Alle Vorratshäuser und Nebengebäude auf dem Hof waren ordentlich verriegelt gewesen. Nur ein paar Möglichkeiten hatte es gegeben, irgendwo einzubrechen und Wertvolles zu stehlen, zumindest für ihn. Nichts als Kleinkram. Isak wusste nicht, ob sein Kumpan Erfolg gehabt hatte, denn sie waren nicht immer zusammen gewesen. Als er mit seinen Gedanken an diesem Punkt angekommen war, drehte er sich um. Er wollte sehen, ob der Kleine nachkam; 28
und dabei fiel ihm auf, dass der Kleine es ja obendrein leichter hatte, weil er in seinem Windschatten ging. Daraufhin hatte Isak ärgerlich mit der Hand gewunken, wie um zu zeigen, dass es für sie jetzt an der Zeit war, die Plätze zu tauschen. Und der Kleine, ja, der Magere und Hässlichere von ihnen beiden, er schien gleich zu begreifen, worauf Isak hinauswollte. Der Wicht war für dieses Wetter viel zu dünn angezogen. Er trug einen fadenscheinigen schwarzen Mantel, den er mit den bloßen Händen am Körper zusammenraffte, um sich einigermaßen vor dem beißenden Wind zu schützen. Um seinen Kopf hatte er ein graues Kopftuch geschlungen. Dadurch sah der Wicht wie eine dünne alte Frau aus. Seine Hosenbeine hatte er über den Schnürstiefeln mit einer Lederschnur zugebunden. Aber die Sohle einer seiner Schuhe war lose und deshalb musste er das linke Bein jedes Mal vorsichtig anheben. Auf dem Rücken trug er einen kleinen Ranzen aus Birkenrinde. Isak war für den Marsch besser ausgerüstet, er trug etwas Pelzähnliches. Den hohen Kragen hatte er mit einer Schnur dicht an den Hals gezogen. Und auf seinem Kopf saß ein abgewetzter kleiner Hut, der allerdings seine Ohren nicht schützte. Er rieb sie unaufhörlich mit den gestrickten Fäustlingen. Plötzlich ergriff Isak eine heftige Wut auf den Wicht, der jetzt vorne ging, gerade so, als hätte sein Kumpan den Vorschlag gemacht, nach Bredbyn zu wandern. »Haste was zu trinken?«, rief er, aber der Wind verwehte seine Worte und der Wicht stapfte ungerührt weiter. Mit zwei großen Schritten hatte Isak seinen Kumpan eingeholt. Mit einer Hand packte er ihn am Mantel. »Wir müssen was zu trinken haben, sonst erfrieren wir.« Der Wicht wurde ganz steif und als Isak den Mantel des anderen losließ, schien er in sich zusammenzufallen. Er zitterte vor Kälte, als er aus der Innentasche seines Mantels eine Flasche 29
zog. Etwas, das wie Blätter aussah, segelte zur Erde. Als Isak sich bückte, sah er zu seiner Verblüffung, dass es zwei Geldscheine waren. Der Wicht hob sie schnell auf und stopfte sie wieder in die Innentasche. Er zog den Korken aus der Flasche, wischte sie am Hals mit dem Daumen ab und reichte sie seinem Kumpel. »Find’ste, wir sollen warten?« »Teufel auch, nein!«, antwortete Isak. »Wir müssen nach Bredbyn, wie abgemacht.« »Ja aber, du hast doch …« »Wenn du willst, können wir auch umkehren.« »Nee, klar müssen wir nach Bredbyn.« Der Kleine nahm auch einen Schluck, schaute die Flasche an und hob sie noch einmal an den Mund. Er hauchte auf seine verfrorenen Hände. »Du hast Geld …«, sagte Isak. »Davon haste mir aber nichts erzählt.« »Mm«, sagte der Kleine, »ich hab ’n bisschen was.« Und um sich zu wärmen, schlug er seine Arme kreuzweise um den Körper, sah seinen Kumpel fragend an und stapfte dann wieder los. Isak folgte ihm. Die Straße war nun überhaupt nicht mehr zu erkennen, denn der Schnee hatte sie vollständig zugedeckt. So folgten sie dem Fluss, denn sie konnten ahnen, wo das Ufer verlief, die Grenze zwischen der Straße und dem gefrorenen Wasser erkennen. Der Schluck hatte Isak gut getan. Du hast Geld, also hattest du mehr Glück als ich, dachte er. Aber davon hast du mir nichts gesagt. Kein Sterbenswörtchen. Vielleicht ist der ganze Mantel gespickt mit Geldscheinen und Münzen. Hatte es nicht geklimpert, als der Wicht seine Flasche
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hervorholte? Und wir wollten Freud und Leid teilen! Aber du hast den Mantel voller Geld. Und das hast du mir verschwiegen. Und wie war das noch in Åsele gewesen …? Bin ich nicht allein in das Lappenzelt eingedrungen, um für uns beide etwas zu ergattern? Und wozu hatte das geführt? Ich musste einen Lappen erstechen. Und wieder kam ihm der Gedanke, dieser Gedanke, der ihn jetzt seit mehreren Wochen quälte. Hatte der Wicht … also hatte er etwas gesehen? Wusste er, was in dem Zelt passiert war? Seine Wut auf den Gnom wuchs. Der hatte das Geld für sich behalten! Vielleicht wusste er auch, was in dem Lappenzelt in Åsele vorgefallen war. Er widerstand dem Impuls, ihn sofort niederzuschlagen. Das wäre kinderleicht. Diese kleine gebückte Gestalt vor ihm, die gegen den Wind ankämpfte und krampfhaft seinen schäbigen Mantel umklammerte. »Es ist noch verdammt weit!«, schrie er. Und mit einer zustimmenden Geste tippte sich der Wicht wie grüßend an die Stirn. Schnee bedeckte die Landschaft, lag über dem gesamten Kirchspiel. Erst jetzt, im Februar hatte es geschneit. Der erste Schnee bleibt selten liegen; Tauwetter lässt ihn schmelzen. Auch der zweite Schnee kann wegtauen. Doch dieser Schnee, der bleibt liegen, er wird noch lange die Landschaft in eine weiße Einöde verwandeln. November und Dezember waren schneefrei geblieben. Erst im Januar hatte es zum ersten Mal geschneit. Aber in diesem Jahr war nichts wie sonst. Die Kälte war ausgeblieben und der erste Schnee im Januar war nur von kurzer Dauer gewesen. Aber jetzt schneite es, zuerst nur leicht, wie prüfend, ein paar Tage lang. Doch nun schneite es richtig.
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Schnee bedeckte die Pfarrei von Myckelgensjö bis hinunter nach Bredbyn, Schnee lag in Solberg und in Kubbe, in Risbäck und Hädanberg. Und nicht nur in Anundsjö schneite es, sondern auch in den anderen Pfarreien, in Sidensjö, Själevad und Arnäs. Stundenlang war Schnee gefallen und es schien, als wäre die Landschaft heller geworden, als hätte der Schnee die Dunkelheit verschluckt. Doch dann kam Wind auf, ein Wind, der um die Häuser heulte und den Schnee um Fenster und Schornsteine wirbelte, sodass der Rauch sich mit den weißen Flocken vermischte. Inzwischen haben sich die beiden schon näher an Bredbyn herangekämpft. Und Isak musste immerzu an das Geld denken. Als er die Scheine gesehen hatte, dachte er, dass es am besten wäre, wenn ihm das Geld gehören würde. Der Wicht hatte das Lappenzelt nicht ein einziges Mal erwähnt – obwohl er die Kämpfenden gehört haben musste. Doch er hatte geschwiegen. Trotzdem wäre es besser, sich dieses eventuellen Zeugen zu entledigen, dachte Isak. Und natürlich das Geld. Das Geld will ich haben. Die beiden sind noch oft stehen geblieben und der Wicht hat seine Flasche hervorgeholt und sie seinem Kumpel angeboten und Isak hat so gierig getrunken, dass der Kleine gezwungen war, ihm die Flasche zu entreißen, damit der sie nicht auf einen Zug leerte. »Wir müssen sparen«, sagte er. »Wir wissen doch nicht, wie weit es noch bis Bredbyn ist.« Und sofort stapfte er wieder los, aber da hat Isak einen Entschluss gefasst. Sein Körper ist vor Erleichterung ganz warm und sein Kopf ganz klar. Er hat sich entschieden. Eine Waffe hat er nicht, aber die braucht er auch gar nicht. Er packt den Mantel seines Kumpels und dreht den Wicht zu sich um und legt ihm die Hände um den Hals. Er nimmt ihn in 32
den Würgegriff – und er muss daran denken, wie er als Junge den Hühnern den Hals umgedreht hat, und dass man dazu nicht viel Kraft braucht. Und er packt zu, mit bloßen Händen, seine Fäustlinge liegen im Schnee. Er drückt zu und er keucht und flüstert. Wenn er nicht das bekomme, was der andere im Mantel versteckt hat, sei sein Leben keinen Pfifferling mehr wert, das sagt er und drückt immer fester zu. Doch da, in dieser Sekunde spürt er einen Stich im Bauch, so als dringe etwas Glühendes in ihn ein. Und gegen seinen Willen muss er den Hals des Wichts loslassen, und wieder dringt das glühende Eisen in ihn ein. Hitze und Schmerz breiten sich in seinem Körper aus; und erst jetzt sieht er das Messer. Das Messer in der Hand des Wichts, wie es wieder in seinen Körper eindringt, aber nicht mehr von unten, sondern von oben, in Brust und Hals; und er wankt und sinkt auf die Knie. »Du da«, hört er, »du da …« Nur diese zwei Worte und er sinkt auf die Knie in den Schnee inmitten des Schneegestöbers, er kippt zur Seite und Schnee legt sich auf ihn, kriecht in seinen offenen Pelz. Und als Letztes hört er: »Du da …«
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5 Voller Schrecken wurde dem Wicht klar, dass er Isak erstochen hatte. Er hatte den Namen seines Kumpels gerufen. Immer wieder hatte er ihn geschrien, aber keine Antwort bekommen. Er hatte sich verwirrt über ihn gebeugt und seinen Hals betastet und da hatte er begriffen, dass Isak tot war. Dann hatte er an seinen Händen etwas Klebriges gefühlt und gewusst, dass es das Blut des Toten war. Am liebsten hätte er laut geschluchzt. Er hatte die Schnur gepackt, die Isak als Gürtel gedient hatte, und mit der einen Hand im Kragen und der anderen in der Schnur hatte er den Toten zur Seite geschleift, weg von der Straße, weil er ihn verstecken musste. Über den dichten Schneefall war er froh, denn der Schnee deckte den Toten zu. Er zerrte an Kragen und Schnur und hielt Ausschau, wo er Isak verstecken könnte. Der Schnee drang in seine Kleidung, aber er spürte die nasse Kälte nicht, er spürte nur, wie Schweiß über seinen Körper lief. Er keuchte vor Anstrengung, sein Herz klopfte ihm bis in den Hals. Wenn er seine Last nur ein paar Meter von der Straße wegtransportieren könnte, würde das schon reichen. Wäre der Fluss nicht zugefroren gewesen, hätte er ihn ins Wasser werfen können. Doch in diesem Schneetreiben konnte er nicht einmal die Straße vom Fluss unterscheiden. Verwirrt schaute er sich um. Wo sollte er ihn verstecken? Wo nur? Wo? »Wo«, schrie er. »Warum zum Teufel wolltest du mich erwürgen? Ist dir recht geschehen! Du Hund!« Es war Notwehr, dachte er. Er hatte nur um sein Leben gekämpft. Und dabei einem anderen das Leben genommen. Das Geld war es, die Scheine, die Isak gesehen hatte. Deshalb. 34
Aber es ist dir nicht gelungen, du Hund. Wieder schaute er sich um. Einige Büsche ragten aus dem Schnee, dort fing er an zu graben. Mit bloßen Händen schaufelte er eine Kuhle in den Schnee und zog den Toten mit letzter Kraft hinein. Dann füllte er die Vertiefung auf. Die Arme des Toten waren hochgereckt, so als wollte er seinen Mörder umarmen. Er häufte Schnee über ihn. Schaufelte schnell, bis von Isak nichts mehr zu sehen war. Dort im Schnee lag er begraben. Der Kleine versuchte, sein Unbehagen abzuschütteln, dann stapfte er zur Straße zurück. Eine Weile stand er unschlüssig da, als wüsste er nicht, was er nun tun sollte. Doch dann machte er sich wieder auf den Weg nach Bredbyn.
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Drei Tage lang schneite es ununterbrochen. Es war, als versänken alle Straßen, als läge die Erde wie neu geschaffen da, unberührt von Menschenhand. Äcker, Wiesen, Straßen, Gewässer – nichts ließ sich mehr voneinander unterscheiden, alles lag unter einer weißen Decke. Und an dem Morgen, als es aufgehört hatte, zu schneien, waren die Menschen wie geblendet. Sie kamen aus ihren Häusern und schauten hinüber zu den Trampelpfaden, die zu den Ställen mit dem Vieh führten. Das waren ihre einzigen Ausflüge gewesen. Sie standen vor ihren Häusern und starrten die Schneewehen an, die bis an die Fenster reichten. Sie sahen hoch zu den Dächern und maßen mit den Augen die Höhe des Schnees ab. Und dann ließen sie ihre Blicke über die Landschaft schweifen und ihnen
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war, als müssten sie die Augen schließen, weil sie das blendende Weiß nicht ertragen konnten. Annika war Magd auf dem Hof in Fanbyn und die Einzige, die während dieser Tage außer Haus gewesen war. Sie hatte sich morgens und abends durch den Schnee bis zum Kuhstall kämpfen müssen, um die Tiere zu melken und zu versorgen. Als sie an diesem Morgen nach draußen ging, lag der Hof immer noch im Dunkeln, aber sie konnte Spuren sehen, ihre Fußstapfen, kleine Vertiefungen unter dem Schnee. Diesen Spuren folgte sie mit ausgreifenden Schritten. Das war jener Morgen, an dem es aufgehört hatte, zu schneien. Die Kühe warteten schon auf sie, sie muhten ungeduldig, als Annika kam. Sechs Kühe waren es, die gemolken werden wollten. Annika trug den Schemel zu der Kuh ganz hinten und setzte sich. Erst streichelte sie die Zitzen, wie sie es immer tat, und lehnte ihren Kopf an den warmen Körper des Tiers. Dann fing sie an zu melken. Sie bemerkte ihn erst, als er neben ihr stand. Da sagte er ihren Namen. Annika, sagte er, und sie zuckte zusammen und der Eimer, den sie zwischen den Beinen hielt, schepperte und sie ließ die Zitzen los. Sie spürte eine lähmende Angst in sich aufsteigen, trotzdem blickte sie hoch. Da stand er im Dunkeln, nicht weit von ihr entfernt. »Du!«, stieß sie hervor. »Mm«, sagte er. »Ich bin wieder da. Zurückgekommen, zu dir.« Der Eimer klirrte immer noch, als hätten ihn Annikas Beine in Schwingungen versetzt. Sie schob ihn zur Seite und stand auf. Die Kuh zuckte, als verspürte sie die gleiche Unruhe wie sie selbst.
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»Du bist also wieder da«, sagte sie. »Ich habe nicht geglaubt, dass …« »Ich konnt dich nicht vergessen«, sagte er. »Ich bin zurückgekommen. Zu dir. Freust du dich nicht?« Sie antwortete nicht. Er war nur einen Meter von ihr entfernt. Die Kuh hob den Schwanz und ließ einen Kuhfladen in die Rinne fallen, aber er rührte sich nicht. Er stand immer noch einen Meter von ihr entfernt, trat dann einen Schritt näher und hob seine Hand zu ihrem Gesicht. Sie zuckte zusammen und drängte sich dichter an die Kuh. Sie spürte ihr Herz klopfen und sie hörte das Wiederkäuen der Kuh und sie spürte seine Hand, die mit der Rückseite über ihre Wange strich und hinunter zu ihrer Brust wanderte. Sie hielt die Luft an, als er ihre Brust berührte. »Ich bin wieder da«, sagte er. »Das geht nicht …«, fing sie an. Aber er unterbrach sie: »Ich bin jetzt anders«, sagte er, »ich lass dir ’n bisschen Zeit …« Er lachte auf und dieses Lachen erkannte sie sofort wieder. Sein Lachen, dem immer ein Wutanfall folgte. »Du hast zwar ’nen Neuen, aber von dem musste dich trennen. So schnell wie möglich.« Und dann trat er einen Schritt zurück, sprang über die Kotrinne und stand im Mittelgang des Stalls. »Jetzt sind wir wieder zusammen, du und ich. Ich komm bald zu dir«, sagte er noch, dann ging er. Er war verschwunden. Und sie starrte im Dunkeln hinterher, sie sah die Tür aufgehen, sie sah seine undeutliche Gestalt in der Öffnung und sie begriff allmählich, dass er da gewesen war. Sie beugte sich vor, lehnte den Kopf an die Kuh. Lange stand sie so da. Am liebsten hätte sie geschrien, um ihre Angst
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herauszulassen. Aber sie blieb stumm. Sie brachte kein Wort heraus. Ihr Herz klopfte und die Kuh kaute stoisch ihr Heu. Er war wieder da.
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6 Der Polizeiamtmann Harald Morell saß in seinem Lehnstuhl am Kachelofen und genoss die Wärme im Rücken. Auf dem Fußboden krabbelte sein Sohn, er brabbelte vor sich hin, steuerte plötzlich blitzschnell auf eine Ecke zu, dann schob er sich rückwärts, hielt sich an einem Stuhlbein fest und saß wieder auf der Erde, kam zu ihm zurück. Hin und wieder hob er den Kopf und Morell kam es vor, als würde ihn sein Sohn betrachten. »Gustav«, sagte er. So hieß sein Sohn, den ihm seine Frau im letzten Frühjahr, Ende April, geboren hatte. Diese Stunde verbrachten sie jeden Tag gemeinsam. Er saß im Sessel und das Kind krabbelte auf dem Fußboden umher. Jetzt hatte er also endlich ein Kind. Erst spät war ihm ein Sohn geschenkt worden. Nach dem Mittagessen pflegte Morell eine Weile dort zu sitzen und ihm zuzusehen und mit ihm zu reden – jedenfalls nannte er ihn bei seinem Namen. Jetzt war es so weit, die Tür wurde geöffnet und Anna kam herein. Nur sie arbeitete noch auf dem Amtmannshof, das andere Dienstmädchen hatte geheiratet und war weggezogen. Länsman Morell brauchte dringend eine neue Magd. So geht es, wenn die Hausfrau krank ist, dachte er. Er stand auf und trat zu dem Jungen, hob ihn hoch und hielt ihn noch ein Weilchen im Arm, ehe er ihn Anna überließ, die sich um das Kind kümmerte. Nachdem Anna gegangen war, setzte sich Morell noch für eine Weile in den Sessel und genoss die Wärme. Jetzt war es an der Zeit, zu seiner Frau, Helena, nach oben zu gehen, ehe er ins
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Erdgeschoss und zu seiner Arbeit zurückkehrte. Denn Johan Anundsson war schon da. Dreimal war Helena schwanger gewesen und jedes Mal hatte sie eine Totgeburt gehabt, weil die Kinder zu früh geboren worden waren. Auf dem Friedhof standen drei Kreuze. Aber dann war es passiert, in jenem Spätsommer vor anderthalb Jahren, als sie nach einem Bauern fahndeten, der drei junge Männer umgebracht hatte. Da hatte sich Helena ihm geöffnet und war wieder schwanger geworden. Und dieses Mal war das Kind in ihr gewachsen. Morell war die ganze Zeit in ihrer Nähe geblieben, voller Unruhe. Helena, ihr Körper war immer stärker geworden. Sogar ihre Wangen hatten Farbe bekommen, was er noch nie an ihr gesehen hatte. Die Geburt war schwer gewesen. Die Hebamme und sie hatten stundenlang gekämpft. Sie hatte geschrien und er hatte das Zimmer mit großen Schritten durchmessen, immer wieder. Aber das Kind war lebendig und gesund aus ihrem Schoß gekommen und er hatte es hochgenommen, nachdem die Hebamme es gewickelt hatte. Er hatte es in seinen großen Händen gehalten und eine so intensive Freude gespürt, die er mit ihr teilen wollte. Doch es schien, als hätte Helena Mann und Kind verlassen. Nicht körperlich, aber geistig. Sie hatte sich abgewandt, von ihm und dem Kind. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt. Als wären die Schmerzen der Geburt zu groß gewesen. Oder als hätte sie nun das Ihre getan. Und in diesem Zustand war sie immer noch. Sie war noch bettlägerig, zehn Monate nach der Entbindung. Und das Kind, der Junge, der nach seinem Willen Gustav heißen sollte, hatte keine Mutter. Helena konnte ihn nicht stillen. Zwar war ihre Brust größer geworden, aber sie hatte keine Milch. Da hatte sich Morell auf
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sein Pferd geschwungen und war zu Brolin, dem Tattaren und Abdecker, hinausgeritten. Einmal hatte Morell dessen Frau Antonetta mit jeder Faser seines Körpers begehrt. Aber dieses Mal war sein Anliegen ein ganz anderes gewesen. Denn Antonetta hatte ebenfalls ein Kind geboren. Er war in ihr Haus gegangen, Brolin war da und alle ihre halbwüchsigen Kinder und auch das Neugeborene, das sie gerade stillte. Und darum war es ihm gegangen: um die Milch und ihre Fürsorge. Deshalb wollte er bei ihnen anfragen. Eine Amme musste seinem Säugling Nahrung geben, nachdem die Mutter nicht für ihn sorgen konnte. Und er hatte sie gefragt, Brolins Frau oder Geliebte: ob sie sich vorstellen könne, auf dem Hof des Polizeiamtmanns als Amme für seinen neugeborenen Sohn eine Weile zu leben. Antonetta hatte verwundert erst Morell, dann Brolin angeschaut. Einige ihrer Kinder seien doch schon so groß, hatte er danach argumentiert, dass sie doch auf die Kleinen aufpassen könnten, wenn Brolin mit einem Auftrag unterwegs sein müsse. Seine Frau habe ein Kind geboren, sei aber dann erkrankt und nun unpässlich und bettlägerig. Das hatte Morell gesagt. Er hatte mitten im Zimmer gestanden. Sie hatte ihre Brust bedeckt, dem Säugling einen Klaps auf den Po gegeben und Brolin noch einmal fragend angesehen. »Aber ihn muss ich mitbringen. Er heißt Lorens«, hatte Antonetta gesagt. Und so geschah es. Sein Sohn Gustav wurde von Antonetta gestillt. Alle beide, Lorens und Gustav, bekamen von ihr die Brust, jeder eine. Sie saß in der Küche, breitbeinig, und sie hatte genug Milch für beide Säuglinge. Er selbst fand sich hin und wieder auch ein. Er dachte an die Milch – das tat er manchmal –, überlegte, ob die Milch von der Frau eines Abdeckers wohl schlechter sein mochte als die einer anderen Frau. Doch sein 41
Sohn trank gierig und wuchs schnell. Und Antonetta hatte genug Milch. Also blieb sie sechs Monate. Wenn Brolin nicht wegen eines Auftrags unterwegs war, kam er manchmal auf einen kurzen Besuch vorbei. Er stand in seiner schwarzen Kleidung dort in der Küche, den Hut tief in die Stirn gezogen, und betrachtete seine Frau mit den zwei Kindern an der Brust. Sechs lange Monate, während die Mutter, die leibliche, in ihrem Bett lag – unerreichbar. Manchmal geriet Harald Morell darüber in Wut. Dann schlug er gegen jeden erreichbaren Gegenstand – einen Sattel, eine Bretterwand, ein Stuhlkissen. Aber das geschah nie in Gegenwart seiner Frau. Er kümmerte sich um sie, er ging zu ihr. Er sprach von ihrem Sohn, erzählte, dass er wachse, dass er lalle und etwas plappere, das Ähnlichkeit mit Wörtern habe. Gehen kann er noch nicht, aber er krabbelt, sagte er. Und jetzt wurde er nicht mehr gestillt, sondern Anna sorgte für ihn. Sechs Monate lebte Antonetta Brolin bei ihnen, den ganzen Sommer und bis weit in den Herbst hinein. Als Antonetta wieder heimging, trug sie ihren Sohn Lorens in einem Bündel auf dem Rücken. Und der Länsman zeigte sich dankbar und erkenntlich. Er bezahlte großzügig. Seine Überlegungen, ob ihre Milch schlecht oder verdorben sein könnte, waren verflogen. Denn sein Sohn gedieh prächtig, er war drall und hatte ein rosiges Gesicht. Schon zehn Monate lag Helena im Bett. Einmal im Monat kam der Bezirksarzt. Anfangs war er öfter gekommen. Doch er kannte kein Heilmittel, er hatte keine Erklärung für ihre Erkrankung. Außer dieser, dass Frauen manchmal nach der Niederkunft in Schwermut verfielen. Darüber hatte er gelesen, mit diesem Krankheitsbild aber noch nie zu tun gehabt.
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Helena leide unter Niedergeschlagenheit, das sagte er jedes Mal. Und fügte hinzu: Man müsse ihr Zeit lassen und dürfe die Hoffnung nicht aufgeben. Körperlich fehle ihr jedenfalls nichts, das hatte er auch gesagt. Harald Morell seufzte bedrückt. Er dachte flüchtig an seine Arbeit und in gewisser Weise war er erleichtert, dass er nicht so viel zu tun hatte wie im Sommer vor zwei Jahren. Damals hatte er die Morde aufklären müssen, den an einem Ertränkten aus Anundsjö und den an einem Geköpften in Arnäs und die Suche nach dem Täter – der seltsamerweise die Buchstaben INRI in Gegenstände kerbte. Denn zurzeit war er vollauf mit seinem eigenen Leben beschäftigt. Er stand auf, ging in die Diele und die Treppe hoch in die obere Etage, mit schleppenden Schritten. Vor Helenas Tür blieb er stehen. Er richtete sich auf, versuchte, Zorn und Unrast zu verdrängen und gelassen zu erscheinen, ehe er die Schlafzimmertür öffnete. Helena hatte den Kopf zur Wand gedreht, aber als Harald Morell eintrat, zuckte sie zusammen. Sie schlief nicht. Er ging zu ihr und sah, wie sich ihr magerer Körper unter der Decke abzeichnete. Ihr blondes Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Und dann sagte er sein Verschen auf, es war jeden Tag dasselbe. »Er wächst«, sagte Harald, »er wird groß und stark. Er krabbelt, das kann er schon richtig schnell. Bald steht er auf seinen Beinen. Ich nehme ihn abends hoch, bevor er ins Bett muss.« Er sprach zu ihrem Rücken und dann strich er ihr über das weiche Haar. Aber er begehrte sie nicht mehr. Diese Begierde, die ihn damals gequält hatte, weil sie sich ihm aus Angst vor einer weiteren Fehlgeburt verweigerte.
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Jetzt war die Sehnsucht, sie zu besitzen, erloschen; verschüttet vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit und von manchmal aufwallendem Zorn. »Ich nehme ihn heute Abend hoch«, sagte Harald noch einmal, ehe er die Treppe zur Diele hinunterstieg und dann noch eine Treppe tiefer zu seinem Büro. Johan Anundsson saß auf seinem Stuhl. Als Morell eintrat, richtete er seine tränenden Augen auf den Länsman. »Ist etwas passiert?«, fragte Morell. »Nein, alles ist ruhig«, sagte Johan und lächelte. Er öffnete den Mund zu einem breiten Lächeln, als wollte er das bedrückte Gesicht des Länsman aufheitern. Was für ein Glück, dass es wenigstens diesem jungen Mann gut geht, dachte Morell.
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7 Zehn Betten standen in dem Raum und damit war er voll. Man konnte kaum zwischen ihnen durchgehen. Zehn Betten und zehn Männer. Alte Männer. Sie röchelten und sie husteten. Sie krächzten und sie schrien. Sie schnarchten und sie stöhnten. Sie lagen auf dem Rücken oder saßen halb aufrecht, von Kissen gestützt. Sie hatten die Augen geschlossen oder halb geöffnet. Im Raum hing ein übler Geruch, ein Gemisch aus Schweiß, Schmutz, Urin und Exkrementen. Die Altenpflegerin Greta Sigurdsdotter schien daran gewöhnt zu sein. Sie ging mit einem großen hölzernen Eimer und einem Holzlöffel in der Linken und einem hölzernen Becher in der rechten Hand von einem Bett zum andern. Dann stellte sie den Eimer auf den Fußboden, schöpfte mit dem Löffel eine undefinierbare Suppe, die sie in den Becher füllte. Mit einer Hand stützte sie den Kopf des Alten, hielt ihn nach vorn und setzte mit der anderen das Trinkgefäß an seinen Mund. Einige schluckten das Gebräu gierig, andere sperrten einfach den Mund auf und oft tropfte ihnen die Flüssigkeit auf die Brust. So ging Greta von Bett zu Bett und erledigte ihre Arbeit. Als sie alle Alten gefüttert hatte, stellte sie den Eimer an die Tür und machte noch eine Runde durch den Raum. Um den jeweiligen Gesundheitszustand der Bettlägerigen zu prüfen, schaute sie ihnen in die Augen. Sie sagte ein paar Worte zu dem einen oder anderen, bekam aber selten eine Antwort. Dann verließ sie den Raum. Sie nahm den Eimer und schlug die Tür hinter sich zu. Im Schlafsaal der Alten wurde es dunkel. Und wieder fingen sie an zu röcheln, zu husten und zu schreien in der dumpfen stickigen Luft des Männerschlafsaals. 45
In der oberen Etage des Armenhauses waren die Frauen untergebracht. Einer der Alten erhob sich im Dunklen aus seiner halb sitzenden Stellung. Er sah verwirrt um sich und kratzte sich den Schorf auf dem Kopf. Dann stieg er auf zittrigen Beinen aus dem Bett. Zwar stieß er auf seinem Weg gegen andere Betten, aber er gelangte bis zur Tür und in den Vorraum, den ein schwaches Licht vom Fenster etwas erhellte. Um besser sehen zu können, kniff er die Augen zusammen und entdeckte schließlich, was er suchte. Einen mehr als halb vollen Kübel. Er urinierte in den Kübel, seufzte und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Aber die Frau, die ihnen Essen gebracht hatte, kam ihm von oben entgegen und hielt ihn auf. »Wo willst du denn hin? Geh wieder in dein Bett!« Der Alte trat einen Schritt zurück und sah sich verwirrt um. Da wurde eine weitere Tür geöffnet und Pfarrer Sondelius trat auf den Flur. Er sah den Alten missbilligend an und Greta – sie war hager, die Haare trug sie als Knoten im Nacken – stellte sich zwischen den geistig Verwirrten und den Pfarrer. »Entschuldigung, Herr Pfarrer. Aber ich war oben und da ist er aufgestanden. Er musste wohl mal.« Sie packte den Alten resolut und schob ihn zurück in den Schlafsaal. Bei geöffneter Tür konnte man drinnen etwas sehen, so bugsierte sie ihn zu seinem Bett zurück. Dann ging Greta wieder in den Flur und schlug die Tür hinter sich zu. Die Tür zum Büro des Pfarrers stand offen. Er saß hinter seinem Schreibtisch und reinigte sich mit dem Brieföffner die Fingernägel. Sie ging zu ihm.
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»Pfarrer Sondelius«, sagte Greta. »Ich schaffe das nicht mehr alleine. Die sind allesamt bettlägerig. Nicht nur die Männer hier unten. Und ich werde nicht mehr mit ihnen fertig.« Der Pfarrer zupfte sich mit seinen schmutzigen Nägeln nervös den Bart, hob einen Stoß Papiere vom Tisch und ließ ihn gleich wieder fallen. »Das kostet«, sagte er. »Das kostet zu viel. Es gibt hier zu viele Alte und Gebrechliche. Sind sie alle noch rüstig?« Sein Gesicht war blass, was durch seinen schwarzen Vollbart und das dichte schwarze Haar besonders auffiel. Er starrte die Altenpflegerin aus tiefblauen Augen fordernd an. »Die Alten bekommen nicht so viel Fürsorge und Pflege, wie sie eigentlich brauchen«, sagte Greta. »Aber sie leben. Am schlimmsten ist wohl der Johannes Larsson dran, aber der erholt sich auch wieder. Meistens schläft er.« Pfarrer Sondelius nickte, er blätterte eine Weile in seinen Papieren und blickte dann zu ihr hoch. »Gibt es noch mehr?«, fragte er. Greta schüttelte den Kopf. »Das sind Unkosten«, sagte er. »Gewaltige Unkosten. Es ist wirklich nicht leicht, der Vorsteher der Armenfürsorge hier zu sein.« »Nein«, sagte Greta und sah ihn an, als ob sie noch etwas sagen wollte. Aber der Pfarrer hatte sich schon wieder seinen Papieren zugewandt. Stattdessen machte sie kehrt, ging wieder auf den Flur und öffnete die Tür zum Schlafsaal der Männer. Sie lauschte eine Weile auf die Geräusche und ließ die Tür dann offen stehen. Greta warf wieder einen Blick auf die geschlossene Tür des Amtszimmers von Sondelius und ging dann aus dem Haus. Es war später Nachmittag, aber – jetzt im März – noch etwas hell. Die wachsende Kraft der Sonne taute den Schnee tagsüber etwas 47
auf, trotzdem lag er noch meterhoch. In ihrem ganzen Leben hatte Greta noch nicht solche Schneemengen gesehen. Nicht einmal als Kind in Risbäck. Tief atmete sie die frische Luft ein, um den Gestank des Armenhauses loszuwerden. Seit der neue Pfarrer und Vorsteher hier war, hatte sich das Leben für die Alten im Armenhaus verschlechtert. Früher waren sie zu zweit gewesen und manchmal sogar zu dritt, die sich um die Alten kümmerten. Jetzt war Greta allein und hatte nie die Möglichkeit, sie zwischendurch mal aus dem Bett zu holen, außer für ihre Notdurft. Greta fiel der Kübel ein und sie ging in die Diele, trug ihn die Treppe hinunter zum jetzt gefrorenen und zugeschneiten Abfallhaufen und leerte ihn. Auf dem Rückweg kam ihr ein Mann entgegen, ein kleiner Mann, den sie nicht einordnen konnte. Er trug einen schwarzen verschlissenen Mantel, den er an der Brust zusammenhielt, um sich vor der Kälte zu schützen. Aber heute war es nicht kalt, zwar war die Sonne bereits untergegangen, aber tagsüber hatte es mächtig getaut. Er war barhäuptig und hatte keine Handschuhe an. »Könnte ich ’n Teller Suppe haben?«, fragte er. »Das hier ist doch das Armenhaus, oder?« Greta schaute den kleinen Mann nachdenklich an. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Er ist nicht aus der Gegend, dachte sie. »Doch, aber ja doch«, sagte sie. »Das kann er wohl.« Da konnte Pfarrer Sondelius sagen, was er wollte.
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8 Zackris Olofsson lag jetzt unter der Erde. Am Tag seiner Beerdigung hatte ein unvorstellbares Schneetreiben geherrscht. Die Worte des Pfarrers an seinem Grab waren im Schneegestöber kaum zu hören gewesen. Als sie den Sarg zum Friedhof trugen, schien er leicht zu sein. Lisbet hatte mitgeholfen, ihren Vater in die Erde zu versenken, sie und drei Helfer von der Armenfürsorge. Und der neue Pfarrer, Erik Sondelius, der ihm das Abendmahl gegeben hatte, der hatte ein paar Worte gesprochen. Jetzt lag ihr Vater also unter der Erde und Lisbet Zackrisdotter dachte bei sich, ob es nicht vielleicht sogar gut und richtig gewesen war, dass es bei der Beerdigung geschneit hatte. Ihr schien, als hätte der Schnee eine weiche weiße Decke über ihn gebreitet, um ihn in der kalten Erde zu wärmen. Sie erinnerte sich an sein qualvolles Sterben. Es war ihr damals vorgekommen, als seien dabei seine Lebenssäfte geradezu aus seinem Mund gesprudelt. Aber das Abendmahl hatte er vor seinem Tod noch empfangen. Gerade noch rechtzeitig. Und jetzt existierte er nicht mehr. Jetzt war er begraben; und jetzt könnte ihr Leben werden, wie sie es sich vorgestellt, ja erträumt hatte. Dass sie nämlich eines Tages ihr eigenes Leben leben würde. Eines Tages würde sie ihren Vater nicht mehr versorgen und pflegen müssen. Sie musste dann auch nicht mehr von den Almosen leben, die man ihnen dort oben, in Skalmsjö gewährte. Das hatte sich Lisbet fest vorgenommen. Da das Haus nicht ihnen gehörte, sondern der Armenfürsorge, blieb ihr nichts weiter, als auszuziehen. Es solle verkauft werden, hatte sie gehört. Ein Bauer aus dem Ort, einer von 49
denen mit Haus und Hof und Geld, hatte es sich am Tag nach der Beerdigung angesehen. »Vielleicht kann ich ein Geschäft damit machen«, hatte der Bauer gesagt. Er hatte den guten Mantel und die schwarze Sonntagsmütze angehabt. Lisbet hatte nur genickt und geknickst und geflüstert, sie für ihren Teil werde sich schon bald auf den Weg machen. Inzwischen war es März geworden und sie war unterwegs. Lisbet hatte ein wenig Erspartes dabei. In einer kleinen Börse, die sie vor langer Zeit selbst genäht hatte, lagen ein paar Reichstaler. Aber natürlich musste sie so schnell wie möglich Arbeit finden. Außer Magd fiel ihr nichts ein. In Bredbyn wollte sie als Erstes Halt machen, aber vielleicht später noch weiter bis nach Örnsköldsvik, den Marktflecken am Meer wandern. Dort war sie noch nie gewesen. Zuerst also Bredbyn. Ich kann doch gut nähen und stricken und habe Erfahrung in Haushaltsführung, auch wenn der Haushalt in letzter Zeit nur klein gewesen ist, nur ich und der Vater, dachte sie. Es war ganz langsam mit ihm bergab gegangen. Zum Schluss hatten seine Kräfte versagt. Aber das Abendmahl hatte er vor dem Tod noch bekommen. Und jetzt bin ich endlich unterwegs und niemand kann mich aufhalten. Ich brauche mich nur noch um mich selbst zu kümmern. Lisbet folgt dem Winterweg längs dem Lauf des Flusses. Am Rande liegen Schneewehen, aber er ist nun befahrbar, und Schlittenspuren sind zu sehen. Die haben sich tief in den Schnee gegraben, sie schimmern in einem hellen Blau. Die Sonne hat den Schnee angetaut und ausgehöhlt und in den Nächten verharscht er wieder.
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Und alle Arten von Schlitten nehmen diesen Weg hinunter nach Bredbyn, vorbei an Sörflake, Tvärlandsböle und Ödsbyn. Der Weg, den sie zu wandern hat, ist weit. Auf dem Rücken trägt Lisbet ein Bündel mit ihrer gesamten Habe. Ein paar Kleider, eine Strickjacke, etliche Unterkleider und die Börse, in der sie ihr Geld aufbewahrt. Aber sie ist glücklich. Sie will, dass das Leben jetzt losgeht. Sie will leben! Sie ist nicht so alt, erst neunundzwanzig Jahre. Es gibt doch Frauen, die noch älter waren und sich ein neues Leben aufgebaut haben! Sie ist voller Zuversicht. Beim Gasthaus macht sie Halt. Zögernd öffnet sie die Tür. Drinnen ist es dämmerig. Die Wirtsstube ist fast leer. Sie geht geradewegs zu dem Alten, der hinter der Theke steht, und sagt, dass sie etwas zu essen haben möchte und ein Bett für die Nacht. Und der Alte nickt. Sie setzt sich an einen Tisch. Und zum ersten Mal in ihrem Leben isst Lisbet Zackrisdotter eine Mahlzeit, die sie nicht mit zubereitet hat. Und anschließend geht sie in das Zimmer, das der Alte ihr gezeigt hat. Sie zieht den Überwurf ab, sie sieht die Bettwäsche. Sie nimmt das Kissen, klopft es, sie streicht mit der Hand über das Laken. Dann zieht sie sich gleich aus und kriecht unter die Decke. Sie schläft sofort ein. Sie ist jetzt unterwegs zu einem neuen Leben. Und sie schläft tief. Im Traum sieht sie ihren Vater, sie sieht sein abgezehrtes Gesicht und sie hört seine Stimme. »Ich fühle mich jetzt besser«, flüstert er. Aber gleich darauf verkrampft sich sein Körper, er zuckt wie ein Epileptiker. Als würde der ganze Körper von Krämpfen geschüttelt. Er öffnet den Mund und sie sieht, wie er alles erbricht. Essen und Trinken und Blut bedecken sein Gesicht und seinen ganzen Körper. Da sieht sie ihm an, dass er tot ist. Unwiderruflich tot.
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Und ganz in der Nähe steht Pfarrer Sondelius mit der Oblate in der Hand. Er hält sie dem Toten hin, zwingt sie zwischen seine Lippen. Er füllt den Kelch mit Wein, dem Blut, das der Herr für dich vergossen hat. Er bricht den Kiefer des Toten auf und gießt den Wein in seinen offen stehenden Mund. »Das ist das Blut Christi«, sagt der Geistliche und genau in dem Moment wacht Lisbet auf, mit einem so seltsamen Gefühl, dass sie verwirrt ist. Und sie erkennt ihre Umgebung nicht wieder, sie weiß nicht, wo sie ist. Doch dann berührt sie das Laken, das weiche, sauber gewaschene Laken. Und da steht sie auf und sieht aus dem Fenster, hinaus zum Dorf. Es ist früh am Morgen, ein Pferdeschlitten fährt gerade vorbei. Auf den Scheiben sind Eisblumen, also muss es draußen kalt sein. Aber lieber die Kälte als so viel Schnee. Sie haucht ihren warmen Atem auf eine Eisblume, bis sie schmilzt, und da kann sie das Dorf deutlicher erkennen. Hier will sie sein. Sie hat nur geträumt, einen verstörenden Traum gehabt. Da lacht sie auf. Sie hat doch ihr neues Leben angefangen! Heute wird sie sich Arbeit suchen.
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9 »Annika«, murmelte er. Johan Anundsson wollte ihren Namen so oft wie möglich aussprechen Annika. Und er schaute sie an, betrachtete ihr Gesicht. Den großen Mund, dessen Unterlippe kräftiger war als die Oberlippe, die kurze und ein bisschen spitze Nase. Und ihre Augen. Groß und blau waren sie und das Haar fiel ihr lockig und hell in die Stirn. Sie lag neben ihm auf dem Rücken, in ihrem Zimmer, der Mädchenkammer. Nur ein kleiner Raum mit dem Bett, einem Tisch und einem Stuhl. Und dem Ofen. Sie hatte vor kurzem einige Scheite Holz nachgelegt. Jetzt lag sie auf dem Rücken neben ihm. »Annika«, sagte er noch einmal. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und lächelte. Er sah nur ihr Gesicht, denn das Fell hatte sie bis zum Kinn hochgezogen. Er hatte ihr die Ehe versprochen. Es war also nichts Unrechtes daran, dass sie hier zusammen in ihrem Bett lagen. Er könnte es seiner Mutter sagen, der Brita. Wir tun nichts Unrechtes, könnte er sagen. Und der Drang tat richtig weh, der Drang, es erzählen zu dürfen, allen zu sagen, dass es sie gebe, dem Vater und der Mutter zu Hause und dem Länsman Morell, ja allen. Dass es Annika gebe und dass sie hier neben ihm im Bett liege. Es war Nacht. Auf dem Tisch flackerte eine Kerze. Und er lag hier. Und sie. »Ich werde ein Haus bauen«, sagte er. Und er sah das Haus vor seinem geistigen Auge, gezimmert. Küche, Kammer, großes Zimmer und einen Dachboden, der 53
dann eingerichtet werden konnte, wenn sie ein paar Kinder bekommen hatten. Die Küche musste groß sein und in der Kammer würde das Bett stehen und dort würden sie schlafen. Und sie sollte noch im Bett liegen, wenn er morgens hinüber zum Hof des Länsman marschierte. Und Morell würde ihn begrüßen und fragen, wie es ihm gehe. Ob alles zur Zufriedenheit sei. Und Morells Niedergeschlagenheit müsste bis dahin verschwunden sein. Und er würde seinem Vorgesetzten von ihr erzählen. Von Annika, der Frau, die sein Leben verändert hatte. »Wir müssen uns bald entscheiden, wann wir heiraten wollen«, sagte er. »Oder?« Annika lag noch immer auf dem Rücken. Johan richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Dann nahm er ihr Gesicht und drehte es zu sich, sodass sie Gesicht an Gesicht zu liegen kamen. »Ein Haus. Bei uns auf dem Hof, am Fluss. Dort werden wir wohnen«, sagte er. »Mm, ja«, sagte sie. »Vielleicht zum Frühling. Oder Herbst.« »Dass wir heiraten?«, fragte er. »Mm«, nickte sie. Sie drehte sich wieder auf den Rücken. Er streckte seine Hand aus und berührte ihr Gesicht, Lippen, Nase, Stirn, Haare. Annika, dachte er. Im Frühling, dachte er. Jetzt würde er seinen Leuten zu Haus bald erzählen, dass er eine Freundin habe. Er steckte eine Hand unter die Decke und berührte ihre Brust. Er spürte die Konturen ihres Körpers und hielt fast den Atem an. Wenn er an sie dachte, wurde er so froh, dass er vor Freude hätte platzen können. An sie und ihn. Sein Leben hatte sich wahrhaftig verändert. »Annika«, sagte er. 54
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Daniel stand draußen. Er hatte Annika ins Haus gehen sehen und er hatte gesehen, wie die Kerze auf dem Tisch angezündet wurde. Und er wusste, wen sie bei sich hatte. An seinem Platz! Dort, wo er liegen sollte! Wie er es den ganzen letzten Sommer getan hatte und noch im Herbst, ja bis ins neue Jahr hinein. Er war es, der in ihr Bett gehörte! Und nicht dieser Magere, der ihr durch die Tür gefolgt war. Er, Daniel, sollte dort sein. Er war zurückgekommen. Sie musste doch gewusst haben, dass er zurückkommen würde. Einige Zeit war er weg gewesen, jetzt war er wieder da. Er sah den Schein der Kerze, ein kleines flackerndes Licht, aber Annika sah er nicht. Noch hatte sie ihr Verhalten nicht geändert … Hatte sie seinem Nebenbuhler noch nicht gesagt, dass es jetzt aus sei? Obwohl er ihr etwas Zeit eingeräumt hatte, wurde er ungeduldig. Plötzlich überfiel ihn heiße Wut. Er ballte die Fäuste und spürte, wie seine Hände glühten, obwohl es Nacht war und kühl. Und dann sah er sie vor sich. Wie der andere ihre Beine spreizte und sein Glied in sie bohrte. Was eigentlich er tun sollte und nicht der andere. Die beiden lagen in seinem Bett! Nein! Nicht im Bett. Sie hat Schluss gemacht, der andere ist einfach nur bei ihr, er sitzt auf dem Stuhl. Da spürt Daniel sein Glied, spürt, wie es sich aufrichtet. Bloß sie und ich, denkt er. Nicht er. Der sitzt da nur. Aber schon hat 55
er wieder diese Vision, wie der andere in sie eindringt … Und da schreit er auf, wütend und ohnmächtig. Ein kurzer Aufschrei. Obwohl es tiefe Nacht ist, steht Daniel da, mit pochendem Glied, und bewacht das Fenster. Er wacht im Dunkeln. Auf dem dunklen Hof rührt sich nichts, nur in ihrer Kammer brennt schwach eine Kerze. Und er wird dort stehen bleiben und wachen und warten und sich quälen. Um seinen Besitzanspruch zu demonstrieren, um allen zu zeigen, dass sie und er zusammengehören, muss bald etwas passieren. Sie gehört mir, nicht dem anderen! Daniel weiß, wie der andere heißt: Johan Anundsson. Um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben, stampft er mit den Füßen im Schnee. Aber nicht die Kälte quält ihn. Ihm ist ganz heiß vor lauter Wut und weil er das Bild der beiden in seinem Bett nicht verscheuchen kann. Aber er wird wachen, bis aus der Samstagnacht der Sonntagmorgen geworden ist. Vielleicht muss ich es dem Johan Anundsson selbst sagen, denkt er. Ihm drohen … Wieder ballt er die Fäuste. Ja, der ist einfach frech. Obwohl sie es ihm gesagt hat, tut er so, als hätte er es nicht gehört. Sie gehört mir, denkt Daniel. Droh ihm doch, bring ihn um!
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Anna war mit Gustav in der Küche, als Länsman Morell hereinkam. Es war noch früh am Morgen, trotzdem war der Junge schon wach und krabbelte auf dem Fußboden umher. »Er ist früh auf«, sagte er. Anna drehte sich zu ihm um, sie stand vor der Schüssel mit dem Abwasch. Der Junge jammerte ein bisschen. Da hob Morell ihn hoch und drückte ihn einen Moment an sich. Anna hatte reichlich zu tun. Wieder wurde ihm bewusst, dass er dringend noch ein Dienstmädchen suchen musste. In diesem Haushalt wurden zwei gebraucht, weil seine Frau krank war. Noch vor dem Kirchgang wollte er zu Helena hinaufgehen. »Ich stelle noch ein Dienstmädchen ein«, sagte er jetzt zu Anna. »Du hast viel zu viel Arbeit.« Anna drehte sich noch einmal zu ihm um und lächelte Morell schüchtern an. Sie redete nicht viel. Aber wenn sie etwas sagte, konnte er sie inzwischen viel besser verstehen. Ihr Dialekt klang weniger derb als anfangs. Vielleicht strengte sie sich mehr an, sich ihm und den anderen verständlich zu machen. »Jemand soll sich um den Haushalt kümmern … und um meine Frau, damit du dich vor allem dem Jungen widmen kannst. Hat er schon gegessen?« Anna hob einen Topf hoch und zeigte Morell, dass darin noch etwas Brei übrig war. »Doch ja«, sagte sie. Der Junge krabbelte auf dem weitläufigen Fußboden schnell vorwärts und rückwärts. Er wurde jeden Tag größer. An Antonettas Milch war nichts auszusetzen gewesen. Morell bückte sich und nahm die kleinen Hände des Jungen, berührte sie mit seinen Fingerspitzen, ganz zart. Er legte einen Finger in die weiche Hand und die Finger des Jungen schlossen sich sofort darum. 57
Gustav wird ihr einmal ähnlich sehen, dachte Morell. Im Gesicht. Aber hoffentlich nicht ihr Temperament geerbt haben. Nein, er soll nicht so apathisch daliegen oder sich über Dinge in Gedanken quälen, die sich ohnehin nicht ändern lassen. Und von mir hat er vielleicht die Statur, dachte Morell. Das wird eine gute Mischung. Viel besser als umgekehrt. »Du wirst einmal so groß wie dein Vater«, sagte er. Dann ging er, ohne gefrühstückt zu haben, die Treppe zu seiner Frau hoch, nach oben. Helena lag auf dem Rücken, aber sie war wach, und als Harald das Zimmer betrat, sah sie ihn an. Sofort fiel ihm die Unruhe in ihrem Blick auf, die Verwirrung. »Anna kommt gleich mit dem Frühstück«, sagte er. »Heute ist Sonntag.« Für Helena flossen die Tage vermutlich gleichförmig ineinander über. Einer wie der andere. Sie stand immer nur für kurze Zeit auf, nur selten einmal saß sie mit ihm zusammen während einer Mahlzeit am Tisch. Auch das Kind, nach dem sie beide sich so gesehnt hatten, schaute sie nur selten an. Sehr selten. »Und der Junge ist schon auf«, sagte er. »Gustav.« Er wollte seinen Spruch aufsagen. Doch heute schaffte er das einfach nicht. Er ging zu ihr. Stumm. Werde gesund, dachte er fast flehend. Zorn wallte in ihm auf, aber er beherrschte sich. »Werde gesund«, flüsterte er ihr zu. »Bitte.« Dann ging er wieder nach unten. Heute hielt nicht Pfarrer Backäus die Predigt, sondern der neue Hilfspfarrer, der auch Vorsteher des Armenhauses war. Pfarrer Backäus kannte Harald aber flüchtig. Er war zwar ein kleiner Mann und glupschäugig, jedoch mit einer volltönenden Stimme gesegnet. Seinerzeit hatte ihn der Länsman bei einem Fall um Rat gefragt. Es ging um die auf den Schaft einer Sense 58
eingeritzten Buchstaben INRI, die Abkürzung für Jesus Nazarenus Rex Iudeorum, Jesus von Nazareth, König der Juden, wenn auch dem Täter diese Bedeutung verborgen geblieben war und die Initialen eine andere für ihn gehabt hatten. Erik Sondelius war ein großer und kräftiger Mann, er sah nicht wie ein Pfarrer aus. Für Morell waren alle Geistlichen schwächlich und dünn, so wie Olaus Backäus und sein verstorbener Vorgänger. So sahen Pfarrer aus. Nicht wie der neue Hilfspfarrer. Pfarrer Backäus pflegte mit kraftvoller Stimme zu predigen, mit der ewigen Verdammnis zu drohen und gern Textstellen aus der Offenbarung des Johannes zu zitieren. Und von der Ewigkeit pflegte er zu predigen. Daran musste Morell manchmal denken, dass tausend Jahre vor dem Herrn wie ein Tag sind, dass aber Er von Ewigkeit zu Ewigkeit ist. Und eine Ewigkeit lang wird Helena in ihrem Bett liegen und an die Decke starren oder den Blick abwenden, sobald ich in ihr Zimmer komme. Oder was sie manchmal tat – doch daran dachte er ungern. Manchmal wütete sie wie eine Verrückte, so als wäre sie schwachsinnig. Dann schrie sie und fluchte und ihm kam es vor, als hätte sie Schaum vor dem Mund. Verrückt. Er konnte es nicht fassen, dass seine Frau sich so gebürdete. Oft hatte sie nicht gewütet. Vielleicht viermal während dieser zehn Monate. Nein, er glaubte, dass sie unter dieser Niedergeschlagenheit litt, von der der Arzt jedes Mal sprach, wenn er zu Besuch kam. Sie war nur deprimiert, nicht verrückt. Aber ihre Krankheit würde noch eine Ewigkeit dauern. Nein, verscheuch diesen Gedanken!, ermahnte Morell sich. Ich muss Geduld haben, wie früher schon, als ich auf sie gewartet habe. Damals hatte sie nicht unter Depressionen, sondern unter Ängsten gelitten. Vor allem unter der Angst, dass aus seinem
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Samen ein neues Kind entstehen könnte, das sie dann wieder zu früh gebären würde. Blutig, stumm und tot. Jetzt sprach Pfarrer Sondelius von Jesus Christus, der Wasser in Wein verwandelte und fünftausend Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen speiste. »Vom Brote leben auch wir«, sagte er mit viel weniger wohl klingender Stimme als der des Gemeindepfarrers Backäus. »Aber Brot ist knapp. Und die Pfarrei ist groß. Für kommende schwere Zeiten müssen wir in den Scheunen Vorräte sammeln. Liegen jetzt etwa die sieben mageren Jahre vor uns? Dann müssen wir haufenweise Vorräte anlegen, damit es für uns alle reicht.« Länsman Morell ließ seinen Blick über die Gemeinde schweifen, über die reichen Bauern und über ihre Frauen, die auf der anderen Seite des Mittelganges saßen. Über die Schiffer in ihrer Bank. Über die Schwachen, die Hinfälligen, die nichts besaßen. Die in den Bänken ganz hinten saßen. Auf der Seite der Frauen fehlte Helena Morell und das würde sich noch lange Zeit nicht ändern. »Aber wir leben nicht vom Brot allein, sondern vom Wort, das durch den Mund Gottes geht«, fuhr Pfarrer Sondelius fort. »Wir müssen auf den Herrn vertrauen. Wir müssen seinen Geboten folgen, wir müssen auf ihn hören, auf dass es uns gut gehe, denn unser Leben liegt in seiner Hand.« Er zupfte sich am Bart und stieg von der Kanzel. Als Bewegung in die Gemeinde kam, raschelten die Kleider und in der Luft verbreitete sich ein Geruch nach Schweiß und nassem Loden. Und da vorne an seinem Platz hängt der Erlöser am Kreuz. INRI steht nicht darunter, dachte Morell und schloss die Augen.
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10 Als Tauwetter einsetzte, legte der schmelzende Schnee den Toten frei. Er lag auf dem Rücken. Die hochgereckten Arme sahen wie eine Gabeldeichsel aus. Ein Knecht aus Seltjärn fand ihn und glaubte, genau das zu sehen. Torsten Gustavsson war der Sohn eines Häuslers aus Butsjöböle. Er zog mit dem Pferdeschlitten eine Fuhre Holz aus dem Wald. Als er die knapp aus dem Schnee ragenden Arme sah, blieb er mit seiner Fuhre stehen und glaubte, die Deichsel eines Schlittens oder Fuhrwerks zu sehen. Torsten Gustavsson galt als neugierig, weil er überall stehen blieb, um anderer Leute Gespräche mitzuhören. Er wollte immer wissen, was ringsum passierte, Gutes und Böses, Wichtiges und Unwichtiges. Deshalb hielt er natürlich gleich das Pferd an. Wie Wölkchen quoll der Atem aus den Nüstern des Tiers, während sich Torsten nach dem angeblichen Schlitten bückte. Und kaum hatte er mit bloßen Händen den Schnee weggeschoben, um das Gefährt freizulegen, entdeckte er den Pelz und sah im verharschten Schnee ein Gesicht. Augen wie gefrorene Kugeln. Milchig trüb und blind. Das Pferd musste den Tod gespürt haben, denn es legte die Ohren an, wieherte laut und zog ohne seinen Fuhrknecht an. Ohne Torsten, der wie erstarrt im Schnee stand, den Blick unverwandt auf die Leiche gerichtet. Isak reckte noch immer die Arme in die Luft, als wollte er um Gnade flehen. In Torstens Gesicht zuckte es, vorerst seine einzige Reaktion. Dann machte er sich schleunigst allein auf den Heimweg. Pferd und Fuhre ließ er stehen und stapfte keuchend durch den 61
Schnee bis zum Hof, zum Bauern, um ihm von seiner Entdeckung zu berichten. Es dauerte, bis Torsten berichten konnte, was er gefunden hatte. Aber der Bauer war ruhig, er war einer von diesen enorm geduldigen Menschen, die nie aufbrausen. Die in aller Seelenruhe auf besseres Wetter warten, die etwa Mitte Juli zum Himmel schauen und sich nicht von Regenwolken verunsichern lassen und die auch nicht besorgt sind, wenn eine Kuh mal wenig oder keine Milch gibt. So war er, die Geduld in Person, der Bauer Laban. Es hieß, sein Name stamme aus der Bibel, von einem Mann mit zwei Töchtern, der schönen Rachel und Lea. Laban aus Seltjärn hatte auch zwei Töchter, allerdings keine sonderlich hübschen. Außerdem hatte er diesen Knecht, in dessen Gesicht es bei Gemütsbewegungen zuckte. So auch jetzt, weil er im Tiefschnee einen Toten gefunden hatte. »Da muss ich wohl hingehen und nachsehen«, sagte Laban, »und Pferd und Holz heimbringen.« Mehr nicht. Dann folgte er den Fußstapfen seines Knechts. Er versank dabei bis an die Oberschenkel im Schnee, aber er kämpfte sich weiter vorwärts, geduldig und in aller Ruhe. Zwar mit angelegten Ohren, aber sonst mit stoischer Gelassenheit wartend, stand das Pferd vor dem Holzschlitten. »Nur ruhig!«, rief Laban seinem Pferd zu. »Bald bist du wieder daheim im Stall!« Er sah die aus dem eisigen Grab hochgereckten Hände. Dann schaufelte er noch ein bisschen verharschten Schnee beiseite und blickte in das gefrorene Gesicht. Erst jetzt setzte er sich auf das Holz und trieb sein Pferd zur Eile an. Auf dem Innenhof nahm er es aus dem Geschirr und führte es in den Stall. Dann ging er ins Haus, ließ sich etwas Heißes zum Trinken geben und sagte: »Ich fahre jetzt runter
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nach Bredbyn, zum Länsman. Ich muss ihm schließlich berichten, was wir gefunden haben.« Sein Knecht Torsten schaute ihn an und dabei zuckte es an einem Auge und am Mund. Sechs Stunden, nachdem Torsten Gustavsson den Toten entdeckt hatte, standen sie dort auf dem Feld, Länsman Harald Morell und sein Gehilfe Johan Anundsson. Johan Anundsson schien nicht zu frieren, aber Morell zitterte, als er neben den beiden Rissla-Schlitten stand. Inzwischen hatten sie die Leiche freigeschaufelt. Nun war also wieder jemand eines gewaltsamen Todes gestorben. Hatte dieser Mann Hand an sich gelegt? Als Harald Morell damals vor der Leiche Nils Wikströms gestanden und sie betrachtet hatte, war er der Meinung gewesen, dass der Mann Selbstmord begangen habe. Was aber nicht gestimmt hatte, wie sich später herausstellte. Nils Wikström war ertränkt worden; sein Mörder hatte ihn in ein Loch im Eis eines Sees gestoßen und sein Leichnam war erst im nächsten Frühjahr gefunden worden. Dieses Mal wollte sich Morell nicht festlegen. Möglicherweise war der Tote ermordet worden. Die dunklen Flecken auf dem Pelz des Toten, das konnte Blut sein. Außerdem fiel dem Länsman auf, dass unter der Leiche nicht viel Schnee lag. »Wir legen ihn auf den Schlitten, denn wir müssen ihn mit nach Hause nehmen und dort untersuchen«, sagte Morell, der trotz des Schaufelns fror. Johan wischte sich mit der rechten Hand die Tränen aus den Augen. Seinen Handschuh hielt er solange mit den Zähnen fest. Dann zog er ihn wieder an. Sie hoben den Toten auf einen der Schlitten und steckten die Beine unter das Leder, doch wegen 63
seines steif gefrorenen Körpers mit den hochgereckten Armen drohte er herunterzukippen. Deshalb mussten sie ihn auf dem Sitz quer legen. Es war kalt. Bei einem solchen Kälteeinbruch Anfang März, dachte Morell, bleibt der Schnee noch recht lange liegen. Der Tote war groß. Seine Gesichtszüge konnten sie nicht erkennen, denn sein Gesicht war von einer Eisschicht bedeckt. Morell ging noch einmal zu der Stelle zurück, wo der Tote gelegen hatte. Mit einem Stock maß er die Schneetiefe und markierte sie mit seinem Messer, indem er ins Holz eine Kerbe ritzte. Er sah sich um. Weitere Spuren gab es nicht. Noch bedeckte Schnee die Landschaft. Die Pferde waren ruhig, weil sie währenddessen Hafer aus den ihnen umgehängten Säcken gefressen hatten. Johan nahm sie ihnen ab und verstaute sie im zweiten Schlitten. Morell fuhr den Schlitten mit dem Toten. Er schnalzte mit der Zunge und das Pferd trabte an. Johan folgte im zweiten Schlitten. Inzwischen lag der Tote entkleidet auf dem Tisch in der Arrestzelle, die Arme noch immer hochgereckt. Als ob er sich vor seinem Mörder schützen will, dachte Morell. Eis und Schnee schmolzen und bildeten rings um den Tisch Pfützen. Die Leiche taute auf. Und nun waren auch die Messerstiche zu sehen. Morell zählte vier Stiche. Zwei in den Bauch, einer in den Brustkorb und einer oben am Hals. Der Körper des Toten schimmerte bläulich weiß. Es gab keinen Zweifel mehr. Der hier war kein Selbstmörder. »Vier«, sagte er. Nun warteten sie auf den Bezirksarzt aus Bjästa, damit der Tote zur Obduktion dahin gebracht wurde. Denn hier konnte er nicht liegen bleiben. 64
Die Messerstiche hatten sie registriert. Sie hatten sein Gesicht betrachtet. Noch waren die Augen von einer dünnen Eisschicht bedeckt, Mund, Nase und Wangen waren schon deutlich zu erkennen. Ein kleiner Mund. Morell berührte ihn, zog an der starren Unterlippe und sah die Zähne. Die Nase war kurz und auf den Wangen stellte er nur spärlichen Bartwuchs fest. Jetzt berührte er seine eigene Wangen und spürte deren Wärme. »Kennst du ihn?«, fragte der Länsman. Johan schüttelte den Kopf. »Was würdest du sagen, wie alt ist er?« Johan schien zu überlegen. »Jedenfalls älter als ich. Vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig.« »Eher dreißig«, meinte Morell. »Die Frage ist bloß, was suchte er in Seltjärn? Und wo kam er her?« »Und sein Mörder«, sagte Johan. Morell starrte auf die Leiche. Hochgereckte Arme, starre. Die Beine lagen ausgestreckt da, nur etwas gebogen, als hätte er OBeine. Schwache Behaarung an Kinn und Brust. Er ging zum Schreibtisch, um seine Beobachtungen auf einem Stück Papier zu notieren. Alter: zirka dreißig, begann er, blickte auf und sah Johan an. Dessen Augen tränten schon wieder und Morell unterdrückte den Impuls, ihm die Tränen abzuwischen. Er verspürte ein Kribbeln im Bauch. Und konstatierte verwundert, dass dieses Kribbeln etwas wie eine gespannte Erwartung ausdrückte. »Damit du es nur weißt«, sagte er, »jetzt müssen wir wieder einen Mörder suchen.«
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Daniel Persson wusste inzwischen, wo der andere wohnte. Der, der manchmal bei Annika schlief. Er wohnte im Haus des Landgendarms Anund Persson und war außerdem Gehilfe des Polizeiamtmanns. So viel hatte er in Erfahrung gebracht. Sein Name war Johan Anundsson. Und Johan musste verschwinden. Das war die einzige Möglichkeit, sie zurückzugewinnen, sie, die er einmal besessen, aber verloren hatte. Ich will dich nicht mehr, hatte sie zu ihm gesagt, nachdem sie schon monatelang zusammen gewesen waren. Damals war er tatsächlich gegangen. Aber er hatte immer geplant, zurückzukommen. Das hatte er jetzt getan. Nun war er wieder da und es gab keine andere Möglichkeit als die eine: Sein Nebenbuhler Johan musste verschwinden. Und das musste er selbst erledigen. Nach und nach wurde es ihm klar, Annika hatte Johan Anundsson überhaupt nichts gesagt. Oder doch? Ging er trotzdem zu ihr, obwohl sie …? Daniel war nicht zu seinem alten Bauern in Kubbe zurückgekehrt, nein, das nicht. Er schlief an verschiedenen Orten und tagsüber hielt er sich manchmal im Gasthof auf. Der lag genau dort, wo der Fluss durchs Dorf floss. Dort saß er, dort schmiedete er Pläne. Der Gasthof war klein, er hatte nur drei Zimmer. Zwei standen leer und das dritte bewohnte eine Frau um die dreißig. Sie ist gar nicht so übel, dachte Daniel, wenn er sie hin und wieder sah. Mit einem Bierkrug vor sich saß er in der Gaststube und schaute sich um. Abends kamen die Knechte, um nach getaner Arbeit ein Glas oder zwei zu trinken. Den einen oder anderen kannte er von damals, als er noch hier gelebt hatte. Aber er wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben 66
und blieb für sich. Wenn es dunkel wurde, kam etwas Leben in ihn. Dann zog er hinaus in den Ort. Dann stattete er Fanbyn einen Besuch ab und dem Haus, in dem Annika wohnte. Er stand vor dem Kuhstall. Manchmal ging er verstohlen hinein. Er konnte sie neben der Kuh sitzen sehen. Konzentriert molk sie. Eines Tages würden es wieder sie beide sein, er und sie. Etwas anderes kam nicht infrage. Und wenn das bedeutete, dass Johan Anundsson verschwinden musste, dann war das eben so. Er würde nicht zögern. Ihm folgte er ebenfalls. Wenn Johan Anundsson abends den Hof des Länsman verließ, war er nicht weit entfernt. Die Dunkelheit schützte ihn, verbarg ihn, so konnte er dem anderen nachgehen. Johan schritt kräftig aus. Man merkte ihm an, dass er glücklich war. Und der Kleine beneidete Johan Anundsson um sein Glück. Jeden Tag mehr. Bald war es Zeit, zu handeln und das Glück zu seinen Gunsten zu wenden.
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11 Jetzt hatten der Polizeiamtmann und sein Landgendarm etwas, das sie beschäftigte. Länsman Harald Morell lebte richtig auf. Als ihm das bewusst wurde, wunderte er sich. Dass ihm ein Gewaltverbrechen so viel Energie verleihen konnte? Hatte er etwa vor zwei Jahren nicht genug gehabt …? Hatte er nicht schon im Jahre 1843 genug Elend gesehen? Damals, als der Bauer Sven Svensson fast seine gesamte Familie mit einem Rasiermesser und einem Hammer umgebracht hatte – seine Frau und sieben seiner Kinder. Und dann die Ereignisse vor zwei Jahren. Der damalige Mörder hatte drei Männer umgebracht und wollte noch einen vierten töten. Dieser vierte saß jetzt in Härnösand im Gefängnis, weil er zwei Mädchen vergewaltigt hatte. Schließlich hatte ihn die gerechte Strafe doch ereilt. Morell erinnerte sich immer noch an die Namen der unglücklichen Mädchen. Margareta und Elsa. Elsa, die jüngere, war gestorben, aber ihre Schwester Margareta lebte, und zwar in Härnösand, hatte er gehört. Reichte ihm das nicht? War nicht jedes Verbrechen mit Leid und Elend verknüpft? Der Tote im Schnee war ein Einzelfall und es war wohl nicht mit weiteren Morden zu rechnen. Der Mann war erstochen worden. Die Stiche seien unmittelbar tödlich gewesen, hatte der Arzt gesagt. Vielleicht nicht jeder einzelne, aber alle vier zusammen. Einer hatte die Lunge durchdrungen und ein anderer Stich war ins Herz gegangen. Als Mordwaffe hatte wahrscheinlich ein langes, breites Messer gedient. Niemand wusste, wer der Tote war. Er war groß, fast eins achtzig, aber mager. Zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre hatte der Arzt sein Alter geschätzt. Wie lange er in seinem 68
Schneegrab gelegen hatte, konnte ebenfalls schwer bestimmt werden, da der Leichnam über Wochen gefroren war. Morell hatte ihm berichtet, der Tote habe unter dem Tiefschnee gelegen. Er hielt es für wahrscheinlich, dass der Mord kurz vor Einsetzen des starken Schneefalls geschehen war. Und wer der Täter war, wussten sie ebenfalls nicht. Sie wussten gar nichts. Die Pfarrei war groß und bot einem Verbrecher viele Möglichkeiten unterzutauchen oder zu fliehen. Etwa nach Norden, in die Wildnis der Lappmark. Oder er wandte sich nach Süden und versteckte sich in einer Stadt an der Küste. Wo sollten sie mit ihrer Suche anfangen? Sie begannen in Seltjärn, dort, wo der Ermordete gefunden worden war. Morells Knechten wurde befohlen, die Umgebung der Fundstelle im Schnee nach dem Messer abzusuchen. Er und Johan wollten unterdessen die Dorfbewohner befragen. Noch immer lag eine Menge schwerer, nasser Schnee und bis der geschmolzen war, würde es noch lange dauern. Der Tote hatte unterhalb der Straße gelegen – die eigentlich wenig mehr als ein Feldweg war und kaum genug Platz für einen Pferdeschlitten bot. Ob er an dieser Stelle oder anderswo ermordet worden war, ließ sich nicht mehr feststellen. Oberhalb des Feldwegs stand ein großes Bauernhaus und alle umliegenden, jetzt noch eingeschneiten Äcker und Wiesen gehörten bestimmt zu diesem Besitz. Der Weg zum Haus war geräumt. Ein hölzerner Schneepflug – einer, der von einem Pferd gezogen wurde – stand auf dem Hofplatz. »Da kommt noch mehr«, sagte Morell beim Anblick des Schneepflugs. Johan sah den Länsman verwundert an. »Schnee«, ergänzte Morell, aber er ging nicht weiter auf seine Bemerkung ein.
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Die Treppe zum Haus war gefegt, ein Reisigbesen lehnte neben der Haustür. Hinter einem der Fenster sah Morell eine Bewegung, also wurden sie beobachtet. Er pochte mit der Faust an die Tür, wartete aber keine Antwort ab, sondern trat sofort ins Haus. Johan folgte ihm. Es war um die Mittagszeit und die Hofleute saßen um den Küchentisch. Die Hausfrau stand am Herd. Morell zählte zwei Knechte und zwei Mägde. Der Bauer erhob sich. Er war klein und gedrungen. Seine Arme hingen am Körper herab und aus seinen Ärmeln schauten große Hände hervor. »Ich bin Länsman Morell«, stellte sich Harald vor. Und nachdem er und Johan sich gesetzt hatten, erklärte Morell, warum sie gekommen seien und dass man nicht weit vom Hof entfernt einen Toten gefunden habe. Und dass sie nun wissen wollten, ob jemand etwas Ungewöhnliches beobachtet habe. Es sei passiert, ehe der starke Schneefall eingesetzt habe. So viel sei gewiss. »War das, noch ehe es zu schneien begonnen hat?«, fragte der Mann mit den großen Händen. »Nein, angefangen hatte es schon.« »Das ging wohl drei Tage lang so. Mindestens.« »Mm, genau«, sagte Morell. »Das hat ja reineweg fürchterlich geschneit«, fuhr der Bauer fort. »Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen.« Er blickte in die Runde, ob einer seiner Knechte oder Mägde etwas dazu zu sagen hätte. Aber das Gesinde schüttelte nur die Köpfe. »Hat der Mann seit damals im Schnee gelegen?«, wollte der Bauer wissen. »Ja, das vermuten wir«, antwortete Morell.
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Und dann beschrieb Johan den Toten. Wie groß er war und was er angehabt hatte, den Hut und den Pelz, aber wieder schüttelten alle nur die Köpfe. Plötzlich war in der Küche ein lauter Schrei zu hören. Morell zuckte zusammen, er blickte verwundert zu seinem Gehilfen. Die Frau, vermutlich die Hausfrau, verschwand durch eine Tür in die Kammer. Sie hatte offen gestanden, wurde Morell jetzt bewusst, aber nun war sie geschlossen worden und aus dem Zimmer drangen tröstende Worte. »Das ist der Schwiegervater«, sagte der Bauer und kratzte sich am Kinn. »Der ist krank.« Er trat näher an Morell heran und reckte sich zu ihm hoch. Morell beugte sich vor. »Er liegt im Sterben, sonst nichts. Die Alten im Dorf, die geben den Löffel ab«, sagte er. »Das ist wie ’ne Seuche.« Er ging zum Tisch zurück und setzte sich. »Nein, wir haben nichts gesehen. So ist es«, fügte er hinzu und legte die Hände vor sich flach auf den Tisch. Morell dankte ihm und er und Johan gingen wieder. Es wurde kühler, war aber noch hell. »Wir müssen wohl noch mal mit Torsten Gustavsson reden«, sagte Morell. »Und mit den Bauersleuten dort im Haus, wo er arbeitet.« Sie hatten das schon längst getan, hatten mit dem Knecht gesprochen, der den Toten gefunden hatte. Er hatte gesagt, er kenne ihn nicht, auch nachdem er ihn aufgetaut auf dem Hof des Länsman gesehen hatte. Er und der Pfarrer, Morell, Anund und Johan hatten sich den Toten angesehen. Und der Bezirksarzt von Bjästa. Morell deutete zu einem anderen Hof, der etwas weiter entfernt von der Straße lag. »Dort ist Torsten Gustavsson Knecht«, sagte er. 71
Er wisse nichts, hatte Torsten damals gesagt. Niemand wusste etwas. Anundsjö war so groß wie Blekinge und weder den Toten noch den Mörder kannte jemand. »Wir müssen uns wohl oder übel noch mal die Mühe machen. Und auch mit seinem Bauern reden«, beschloss Morell. »Auch wenn das nicht viel bringt.« Torsten schien an seiner Entdeckung immer noch schwer zu tragen. Er war blass und an seinem linken Augen zuckte es ständig. Als die beiden kamen, stand er mit einem Reisigbesen in der Hand auf dem Hof. Um ihn herum sprang ein schwarzer Hund und bellte die Ankömmlinge an. »Du hattest den Hund nicht mit?«, fragte Morell. »Damals, als du ihn gefunden hast?« »Das ist nicht meiner, der gehört dem Bauern«, antwortete Torsten. Während des Redens hatte es viermal an seinem linken Auge gezuckt. Morell hatte mitgezählt. »Können wir reingehen?«, fragte Johan. Torsten fegte ein bisschen Schnee von der Vortreppe und betrat vor ihnen die Küche. Der Bauer lag auf dem Sofa, ein Handtuch über dem Gesicht. Ein strenger Geruch nach saurer Milch schlug Morell entgegen. Und als die Hausfrau näher kam – sie war um die fünfzig und hatte eine raue Haut und müde Augen –, roch Morell, dass sie diesen Geruch ausströmte. Der Bauer nahm das Handtuch weg und stand auf. »Torsten hat doch den Toten gefunden«, sagte Johan. »Und er hat ihn ja auch gesehen, nachdem er aufgetaut ist. Habt ihr eine Ahnung, warum der Mann sich hier in Seltjärn aufhielt?« Der Bauer ging zum Herd und spuckte in den Abfalleimer.
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»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte er. »Er hat ihn ja beschrieben, der Torsten. Aber so einen Kerl hab ich noch nie gesehen. Vielleicht war der ja aus Åsele oder so.« »Und hier aus der Gegend ist kein Knecht verschwunden?«, hakte Johan nach. »Wieso? Soll der denn hier Knecht gewesen sein?«, wunderte sich der Bauer. »Ja, nicht der Tote, sondern der Mörder. Der, der ihn umgebracht hat«, sagte Morell. Der Bauer schüttelte den Kopf, ging zurück zum Sofa und legte sich wieder hin. Das Handtuch hielt er in der Hand, als sehnte er sich danach, seine Augen wieder damit bedecken zu können. »Und ihr?«, fragte Morell. Die Frau hustete und schüttelte den Kopf. Ein muffiger Geruch wehte durch die Küche. »Da bedanken wir uns«, sagte Johan. Der Länsman wandte sich an Torsten und sagte: »Du hast dich vorbildlich verhalten.« Da lächelte der Knecht und es zuckte an seinem linken Augen und an dem Mundwinkel gleichzeitig. Es kostete den Länsman und seinen Gehilfen einen weiteren Tag, die Menschen in Seltjärn aufzusuchen und zu befragen. Doch sie erfuhren nichts. Niemand kannte den Toten. Niemand wusste, warum er in Seltjärn gelandet war. Und Morells Knechte hatten keine Tatwaffe finden können. Nur ein Paar zerlumpte Handschuhe. Und aus dem Ort war niemand verschwunden. Also stammte der Mörder entweder aus der Gegend und hielt sich noch hier auf, oder er war ebenfalls im Schneetreiben hierher gewandert.
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Wie der Ermordete, der vielleicht von sonst woher kam. Aber hielt sich der Täter dann noch in Bredbyn auf? Morell sah sich schon den ganzen Frühling in einem Schlitten durch die Gegend fahren, unterwegs nach Åbosjön, ja bis hoch in die Wildnis der Lappmark, bis nach Åsele. Und ihm fielen wieder ihre Fahrten ein, als sie die beiden Männer gesucht hatten, deren Namen mit I und mit R anfingen. Eine sinnlose Suche, denn wie sich zeigte, standen das I und das R für Spitznamen. Den fetten Isterbock, einen der Vergewaltiger, hatten sie rechtzeitig gefunden, aber der Rotfuchs, der Rothaarige aus Risbäck, der war mit einer Sichel vom Vater der geschändeten Mädchen geköpft worden, unten in Nybystrand. Morell saß im Schlitten, das Fell über den Knien, und Johan hielt hinten auf dem Kutschbock die Zügel in der Hand. Sie waren nach einem weiteren Tag in Seltjärn unterwegs nach Hause. Nichts war dabei herausgekommen. Und zu Hause wartete sein Sohn auf ihn. Sein Sohn Gustav. Morell wünschte sich, dass auch Helena auf ihn wartete, anstatt sich wie ein weidwundes Tier vor der Welt zu verstecken.
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12 Greta hatte den alten Männern zu essen gegeben, sie hatte einigen zum Kübel geholfen und sie hatte den übervollen Eimer auf den Mist geleert. Mit dem unteren Stockwerk war sie fertig. Es waren nur noch neun, Johannes Larsson war letzte Woche gestorben und schon beerdigt worden. Neun, aber sicher würde bald ein Neuer kommen. Die Tür zum Zimmer des Pfarrers war geschlossen. Erik Sondelius war heute nicht da. Sie ging in die obere Etage zu den Frauen. Mit ihnen umzugehen, war einfacher, sie ließen sich leichter heben und der Gestank im Raum war nicht so penetrant. Sie waren im Übrigen auch ruhiger, als ob sie die meiste Zeit schliefen. Greta ging durch den Raum und sprach mit allen. Sie kannte alle Namen. Anna Persdotter, Margareta Kristoffersdotter … Sie waren alt und hinfällig und sie hatten sonst keine Bleibe. Sie waren Mägde gewesen und als sie ihre Arbeit nicht mehr bewältigen konnten, hatte sich die Gemeinde ihrer annehmen müssen. Mägde – so wie sie selbst. Würde sie auch einmal hier enden? In Risbäck gab es einen Bauernhof, aber der gehörte ihr nicht. Dort war sie mit Vater, Mutter und zwei Brüdern aufgewachsen. Der eine Bruder lebte nicht mehr, er war im Schnee erfroren, aber der zweite Bruder lebte noch, der wohnte in Ytterlännäs. Der elterliche Hof gehörte jetzt dem Sohn des toten Bruders. Es bedeutete ja eine Sicherheit, wenn man einmal nicht mehr arbeitete, auf dem Altenteil wohnen zu dürfen und jährlich eine Tonne Roggen zu bekommen, täglich einen Liter Milch, außerdem ein bisschen Weizen und dazu seinen Anteil am Geschlachteten. So ging es den Bauern mit Kindern, wenn diese den Hof übernommen hatten. Aber sie hatte keine Kinder. Sie hatte nie einen Mann gehabt. 75
Doch, dachte sie, einmal. Ein einziges Mal hatte ein Mann sie begehrt, aber ohne ihr die Ehe zu versprechen. Ein einziges Mal. Würde sie hier enden? In einem Schlafsaal mit zehn anderen Frauen und einer einzigen Magd, die sich ihrer annahm? Sie ging weiter und wandte sich einer andern Alten zu. Anna Persdotter. Margareta Kristoffersdotter … Mägde, die ihr Leben lang neben den Kühen gesessen, die das Haus versorgt hatten und die schließlich, als die Kräfte sie verließen, hier gelandet waren. Verbraucht, mit dünnem weißem Haar. Gretas Zeit reichte nie, um es ihnen auszukämmen. Mager, hinfällig und verwirrt waren sie, als hätte sie auch der Verstand verlassen, nachdem der Körper sie im Stich gelassen hatte. Sie ging wieder hinunter in den Raum, der als Küche diente, und holte den Essenseimer. Sie probierte mit dem Finger – die Suppe war noch lauwarm. Sie stopfte sich die Kelle in den Ärmel, und mit dem Becher in der einen und dem Essenseimer in der anderen Hand stieg sie noch einmal die Treppe hinauf zu den Mägden, die im Armenhaus gelandet waren. Sie gab ihnen zu essen. Eine nach der anderen bekam etwas. Sie waren still und geduldig, sie nörgelten nicht, sie machten den Mund auf und tranken. Und dann trug sie einige zum Kübel, hob sie hinaus und setzte sie vorsichtig ab und freute sich mit ihnen, wenn sie konnten. Manche, die Verstopfung hatten, schrien vor Schmerzen und wollten schnell wieder hineingetragen werden. Andere konnten noch selbstständig gehen, sie staksten hin und sie half ihnen, Platz zu nehmen. Einige wenige konnten sogar allein die Treppe hinunter und nach draußen zum Plumpsklo gehen. Als alle fertig waren und Greta die alten Frauen wieder zu Bett gebracht hatte, trug sie den Kübel zum Misthaufen und grub noch ein Loch in den Schnee. Mit dem leeren Eimer in der Hand blieb Greta einen Moment auf der Treppe vorm Haus stehen und ließ ihren Blick über das 76
Dorf schweifen, über die Kirche und den Glockenturm und die Kirchstallungen, über den Hof des Polizeiamtmanns und über den in der anderen Richtung liegenden Gasthof. Sie schaute zur gegenüberliegenden Seeseite hinüber. Fanbyn war etwas höher gelegen, dort gab es große Höfe, wo die Alten auf ihrem Altenteil lebten und auf ihre Grütze einen Klecks Butter bekamen. Wieder musste sie an Risbäck denken und sie sah das Dorf ihrer Kindheit und Jugend vor ihrem geistigen Auge. Eingebettet wie in ein Tal lag es da, eine offene Fläche mitten im Wald. Es war schon so lange her, dass es ihre Heimat gewesen war. Und sie fasst den Entschluss, eines Tages dorthin zu wandern, nur um noch einmal das alles zu sehen, ehe es zu spät ist. Die Arbeit zehrt an ihren Kräften, es fällt ihr schwer, morgens aufzustehen. Sie fühlt sich wie zerschlagen und will am liebsten im Bett bleiben, ihre Gelenke schmerzen. Alles ist schwer. Aber seit er hierher gekommen ist, dieser neue Hilfspfarrer und Vorsteher des Armenhauses, Erik Sondelius, ist alles viel schlimmer geworden. Da reckt sie die Arme in die Höhe, um ihre Müdigkeit zu verscheuchen. Sie darf nicht müde sein. Noch kann ihre Kraft doch nicht zu Ende sein. Denn was bleibt ihr dann? Ja, hierher wird sie kommen. Hier wird sie zusammen mit allen anderen in einem einzigen Raum liegen und wie ein Säugling gefüttert und zum Abtritt nach draußen getragen werden. Mit dem Eimer in der Hand ging sie wieder ins Haus. Im Flur stand ein verwirrter Alter, den Kübel schien er nicht zu suchen. Er gehörte nicht zu den wirklich Verwirrten, die nicht wussten, wo sie waren, die niemanden wiedererkannten, die, wenn sie sprachen, nur unzusammenhängende Sätze von sich gaben. Aber jetzt wirkte er durcheinander, seine Augen flackerten. »Was ist denn?«, fragte sie freundlich. »Leg dich wieder ins Bett.« 77
»Er ist tot«, flüsterte der Alte. »Er ist tot.« »Wer?«, fragte Greta. »Wer ist gestorben?« »Der Efraim«, antwortete er. »Der Efraim ist tot.« Sie legte den Arm um den Alten und führte ihn zurück zu seinem Bett, sprach beruhigend auf ihn ein und steckte ihn unter die Decke. Aus dem Augenwinkel warf sie einen Blick zu Efraim im Bett daneben und ohne richtig hingeschaut zu haben, wusste sie sofort, dass der Alte Recht hatte. Als sie sich zu ihm umdrehte sah sie das Erbrochene auf Efraims Brust, sie sah die gebrochenen Augen. Und als sie ihm die Hand auf die Stirn legte, spürte sie – nicht Kälte, sondern diese Kühle und da wusste sie definitiv, dass Efraim Isaksson tot war. Jetzt sind’s nur noch acht, dachte Greta. Und dass Erik Sondelius gestern hier gewesen und ihm das Abendmahl gegeben hatte. Das hatte er auch bei Johannes Larsson noch rechtzeitig geschafft, fiel ihr ein. Und sie drehte sich zu dem Alten um, der mit weit aufgerissenen Augen daneben im Bett lag. »Seine Seele ist bereits im Himmel«, flüsterte sie. »Aber es wird doch hoffentlich nicht wie im vorletzten Jahr, oder?«, sagte Anund Persson. Er war Landgendarm und Bauer. Vor allem war er Bauer, aber als Fjärdingsman musste er sich so manches Mal auch um polizeiliche Angelegenheiten kümmern. »Dass ich ewig und drei Tage auf dem Hof des Länsman verbringen muss«, ergänzte er. »Das glaube ich nicht«, sagte sein Sohn Johan. »Das ist dieses Mal anders. Wir haben nur einen Toten gefunden. In einer 78
Schneewehe, oben in Seltjärn. Erstochen. Er kam wahrscheinlich aus Åsele. Morell hat an den dortigen Länsman geschrieben, um zu hören, ob sie ihn kennen. Wir wissen nicht, wie er heißt, und auch sonst nichts.« »Aber ich muss wohl mithelfen«, sagte Anund. »Das weiß ich nicht«, sagte Johan. Sie saßen am Küchentisch, Johan und sein Vater. Die Magd und Brita standen am Herd. Neben der Tür standen zwei Eimer mit Milch. Es war früh am Morgen im März. Noch lag viel Schnee. Längere Zeit war es auch tagsüber kalt gewesen und alles war noch tief verschneit. Auch heute sah es nicht so aus, als würde sich die Sonne zeigen. Johan schaute aus dem Fenster. Heute Abend wollte er sich nicht mit Annika treffen, aber morgen. Vor freudiger Erwartung überlief ihn ein Schauder. Doch zuerst noch zwei Arbeitstage. Heute wollten sie nach Kubbe fahren. Deshalb war er so früh aufgestanden. Im Dezember wäre es jetzt noch stockdunkel, dachte er. Aber heute konnte man schon die Morgendämmerung ahnen. »Ja«, sagte Anund schicksalsergeben. »Es ist eben, wie es ist.« Johan schob seinen leeren Teller zurück und stand auf, er nahm seinen Mantel vom Haken und zog seine Schnürstiefel an. »Du glaubst also nicht, dass es so wird wie in jenem Sommer?«, fragte Anund. Johan schüttelte den Kopf. »Obwohl ich ja finde, dass er es richtig gemacht hat«, sagte Anund. »Wer?«, fragte Brita. Sie stand jetzt mitten in der Küche, die Arme vor der Brust gekreuzt. Die Magd hatte angefangen, die Milch in andere Gefäße umzuschütten. »Der, der die drei umgebracht hat, weil er seine Töchter gerächt hat«, sagte Anund. 79
»So schlimm wird es nicht«, sagte Johan. Johan öffnete die Tür zum Windfang, nickte zum Abschied und trat auf den Hof. Es war gar nicht so kalt. Sein Vater konnte doch nicht einfach behaupten, dass der Mörder richtig gehandelt hat, dachte er. Man darf doch nicht einfach das Recht selbst in die Hand nehmen. Was würde dann werden? Er ahnte, dass er so dachte wie Morell, denn das würde Morell auch so sehen. Mit raschen Schritten ging Johan dann am Fluss entlang, bog auf die große Straße ab, ging am Gasthof und an einigen anderen Höfen vorbei und näherte sich der Kirche. Im Glockenturm hing ein großer Eiszapfen. Auf dem mit Schindeln gedeckten Dach lag Schnee. Johan drehte sich um, weil er Schritte hörte. War so frühmorgens noch jemand auf den Beinen? Er stand eine Weile da und schaute sich um. Die Schmiede, der Schuppen, das Haus, in dem der Gerber wohnte, das Trockengestell für Getreide. Nein, die Schritte musste er sich eingebildet haben. Angestrengt lauschend, ging er weiter. Und als er das Geräusch wieder hörte – ein leises Knirschen –, drehte er sich blitzschnell um. Eine Gestalt verschwand hinter dem Schuppen. »Wer ist da?«, rief er, bekam aber keine Antwort. Da war jemand, de sich nicht zu erkennen geben wollte. Johan zuckte mit den Schultern und setzte seinen Weg fort, abrupt drehte er sich noch einmal schnell um, sah aber niemanden. Hatte er sich das alles nur eingebildet? Jetzt hatte er die Kirche hinter sich gelassen und dort, auf der rechten Seite der Straße, lag der Hof des Länsman. Aus ein paar Fenstern drang bereits schwaches Licht.
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13 Nur einmal war Daniel zu ihr in den Kuhstall gekommen. Annika kann sich noch gut erinnern, wie erschrocken sie war als er unvermutet vor ihr stand. Der Schreck und die Ungewissheit quälten sie noch immer. Obwohl er nur einmal zu ihr gekommen war, als sie gerade beim Melken war, spürte sie, dass Daniel sich ständig irgendwo in der Nähe herumtrieb und dass er wiederkommen würde. Sie beide sollten zusammen sein, hatte er gesagt, als hätte er vergessen, als erinnerte er sich nicht mehr daran, dass sie ihn abgewiesen hatte. Als könnte ihre Liebe wieder aufflammen, so leicht und einfach wie Zunder. Als hätte er vergessen, dass er ihr am Ende Gewalt angetan hatte. Dass sie geschrien hatte und gefleht und gebettelt, aber dass er sie trotzdem an sich gerissen hatte und gewaltsam in sie eingedrungen war, obwohl sie trocken gewesen war, trocken und abweisend. Ihm gegenüber. Das hatte er getan. Zweimal hatte er nicht auf sie gehört, sondern sie mit Gewalt genommen. Ja, genau das hatte er getan. Das letzte Mal war es an jenem Abend geschehen, ehe sie zu ihm gesagt hatte, aus ihnen werde nie ein Paar werden … Eine Zeit lang hatte sie ihn haben wollen. Eine Zeit lang hatte er in ihr Lust und Sehnsucht geweckt. Da hatten sie sich ständig getroffen, Tag und Nacht, im Wald, auf der Alm. Er war zu ihr in ihr Zimmer gekommen, aber nicht so wie nachts die jungen Burschen. Er war allein gewesen und sie hatte ihn in sich aufgenommen. So war es den ganzen Sommer über gewesen und noch bis Anfang des neuen Jahrs. Aber so ist es!, dachte Annika manchmal, alles kann sich 81
ändern! Sie wusste nicht, ob sie sich als Erste verändert hatte. Aber eines wusste sie: Daniel hatte sich verändert. Oder hatte sie ihn anfangs nicht richtig gesehen? Doch schließlich hatte sie ihn durchschaut. Jetzt kannte sie ihn. Sobald andere Männer in ihrer Nähe waren, veränderte er sich, dann stolzierte er wie in eine Zorneswolke gehüllt umher. Und später in der Nacht in ihrem Zimmer hatte er Drohungen und Anklagen ausgestoßen. Und diese Wut! Sein Gesicht hatte sich verzerrt, war wie verdunkelt. Manchmal war er auch weinerlich. Er wollte sie ganz für sich alleine habe. Nur sie und er. So war es. Und das Bett. Er hatte sich in ein bedrohliches Wesen verwandelt. Auch sie hatte sich verändert, ihre anfängliche Lust und ihre Sehnsucht nach ihm, die waren wie sich lichtender Nebel verschwunden. Stattdessen empfand sie nur noch Unbehagen, Unlust. Sein Geruch in ihrem Bett, den sie früher so gemocht hatte, verursachte ihr am Ende Brechreiz. Wann war das geschehen? Wann hatte sie sich verändert? Sie wusste es nicht. Er hatte sie nicht geschlagen. Er hatte nur den Arm erhoben, als wollte er sie schlagen, aber getan hatte er es nicht. Noch nicht. Stattdessen hatte er sie vergewaltigt. Er hatte geflüstert, mit heiserer Stimme hatte er geflüstert, wie gern er sie habe. Und hart hatte er sie festgehalten und war mit Gewalt in sie eingedrungen, als sie nicht mehr mit ihm schlafen wollte. Jetzt versuchte sie, ihm aus dem Weg zu gehen, sie machte ihre Tür zu, schloss sie ab und zündete nie mehr eine Kerze an – ein Zeichen, das früher ihm gegolten hatte. Eine Kerze im Fenster. Sie hatte ihm kein Eheversprechen gegeben und er ihr auch nicht. Und sie hatte ihm gesagt, sie könne sich nicht vorstellen, mit ihm zusammenzuleben. Das war an jenem Sonntag nach dem Abend gewesen, als sie ihm zum letzten Mal ihre Tür geöffnet und er sie vergewaltigt hatte. Sie wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das hatte sie ihm 82
gesagt. Aber das war in Gegenwart des Bauern geschehen, ihres Bauern. Sicherheitshalber. Und er hatte sie deshalb nicht schlagen können. Er schien alles gutzuheißen, als sei das auch sein Gedanke gewesen. Aber es hatte wohl eigentlich am Bauern gelegen, der doppelt so groß war wie Daniel. Sie hatte sich gewundert, dass es so einfach gegangen war, dass er nur genickt hatte: Ja, er habe begriffen. Sie waren alle in der Küche gewesen. Die Hausfrau hatte am Herd gestanden. Und er hatte nur gesagt, dann werde er weggehen und nie mehr wiederkommen. Und das hatte er getan. Annika hatte geglaubt, sie wäre ihn los, sie wäre noch einmal mit dem Schrecken davongekommen. Und dass er nie wieder in ihre Nähe käme. Sie versuchte, den Gedanken an ihre Vergewaltigung zu vertreiben, wie er brutal in sie eingedrungen war. Und die Erinnerung an seinen Körpergeruch, der sich so verändert hatte und den sie so widerlich fand. Aber jetzt war Daniel wieder da. Er trieb sich in der Gegend herum. Nicht, dass er eine schlummernde Sehnsucht wieder in ihr geweckt hätte, als er dort im Stall gestanden hatte. Vielleicht hatte er das geglaubt. Aber das stimmte nicht. Sie empfand in seiner Gegenwart nichts als Angst und Unbehagen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass aus ihnen beiden jemals ein Paar würde. Er und sie. Das war unmöglich. Selbst wenn das alles vereinfachen würde. Denn wenn sie jetzt an Daniel dachte und an das, was er ihr angetan hatte, wurde ihr schlecht. Johan hingegen war anders. Nicht, dass er eine Sehnsucht in ihr geweckt hatte, aber sein Körpergeruch störte sie nicht. Von ihm fühlte sie sich nicht bedroht. Einfacher wäre es schon, Daniel zu gehorchen. Nur konnte sie das nicht, nicht um alles in der Welt, so viel war ihr klar. Es musste eben kommen, wie es kommen musste. Wenn er doch 83
nur verschwinden, wenn er doch nur aus dem Dorf abhauen würde, irgendwohin, Hauptsache weit weg. Annika gab der letzten, von ihr gemolkenen Kuh einen Klaps aufs Hinterteil und stand auf. Es war Abend, trotzdem drang jetzt, im März, noch schwaches Licht durchs Fenster. Sie hatte ein Talglicht auf der Erde stehen, das sie immer mitnahm. Nachdem sie die letzte Kuh gemolken hatte, waren die beiden Melkeimer voll. Sie streckte sich und fuhr sich dann mit den Händen über den Bauch. Er kam ihr größer vor. Bald war es an der Zeit, dass sie es sagen musste. Dann konnte man es sehen. Vor allem musste er es erfahren. Wie viel leichter wäre es, wenn … Aber das ist unmöglich, dachte sie. Sie blieb eine Weile stehen und horchte. Das hatte sie sich angewöhnt. Sie musste dem Bauern Bescheid sagen, in dessen Beisein sie mit Daniel Schluss gemacht hatte. Sie musste ihm sagen, dass sie Angst habe, weil Daniel zurückgekommen sei. Sie pustete die Kerze aus und steckte sie in ihre Schürzentasche. Die Kühe kauten zufrieden wieder. Dann trug sie ihre Melkeimer über den schmalen von Schneebergen gesäumten Trampelpfad zum Wohnhaus. Daniel war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er sein Vorhaben aufgegeben. Nein, dachte sie, er lungert hier in der Nähe herum und er kann mir wehtun. Sie musste es dem Bauern erzählen … Es war Abend, aber noch etwas hell, jetzt, gegen Ende des Winters. Sie folgte dem Pfad wie schon so oft. Morgens und abends. Morgens und abends. Im Frühjahr würde sie vielleicht heiraten und mit Johan Anundsson zusammen in das Haus am Fluss ziehen. Er wollte bauen, das hatte er so oft gesagt. Davon redete er, von seinem Haus, der Kammer und den Kindern, die sie bekommen würden.
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Ja, dachte sie. So wird es geschehen. Und Johan muss es nie erfahren. Er würde es nie merken. Und Daniel durfte auch nichts davon wissen. Daran hatte sie gedacht, als sie Johan Anundsson in ihr Bett ließ. Daniel war zurückgekommen, aber er wusste nichts und er würde wieder gehen. Sie musste unbedingt mit dem Bauern reden. Alles würde so werden, wie sie es sich vorgestellt hatte. Und eines Tages, dann würde sie lernen, den Johan richtig lieb zu haben. Genau so lieb, wie sie Daniel einmal gehabt hatte. Ja, dachte sie noch einmal. So wird es geschehen. Sie stand jetzt vor der Tür, trampelte auf der Treppe den Schnee von den Füßen, öffnete die Tür zum Windfang und stellte die Melkeimer ab, bevor sie die Küchentür öffnete. Der Bauer und der Knecht saßen schon am Tisch. Sie musste mit dem Bauern reden. »Es ist gar nicht so kalt«, sagte sie.
*
Der Tag in Kubbe hatte nichts Neues ergeben. Niemand hatte einen dünnen Mann in einem langen Pelz gekannt. Niemand hatte ihn gesehen. Morell wirkte enttäuscht. Er sieht immer enttäuscht aus, dachte Johan. Es ist, als hätten sich Furchen in sein Gesicht gegraben, auf Stirn und Wangen. Tiefe Falten, die die Enttäuschung in sein Gesicht gekerbt hat. Nur manchmal verändern sich seine Züge, dann glätten sich die Falten und machen einem Lächeln Platz. Aber nicht nach diesem Tag in Kubbe.
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Morell stieg auf dem Hof vom Schlitten und ging sofort ins Haus. Vielleicht muss er nach seiner Frau sehen, dachte Johan. Er spannte das Pferd aus und brachte es zu den andern in den Stall. Ums Füttern kümmerten sich die Knechte. Dann zog er den Schlitten in den Wagenschuppen. Er schüttelte den Schnee vom Leder und füllte den Kasten mit Holz. Morgen wollten sie bis nach Solberg, da konnte es nützlich sein, etwas Brennbares dabeizuhaben. Viele Meilen mussten sie fahren, sodass sie unterwegs gezwungen waren, Halt zu machen und die Pferde zu wechseln. Da konnte ein Feuer immer von Nutzen sein. Er ging ins Parterre mit der Arrestzelle und den beiden anderen Räumen. Morell saß an seinem Schreibtisch, aber er hatte keine Papiere vor sich liegen, sondern starrte nur in die Luft. »Ich muss noch das Protokoll schreiben«, sagte Johan. Er setzte sich Morell gegenüber, nahm ein Blatt Papier von dem Stapel, tauchte seine Feder in die Tinte, aber er kam nicht zum Schreiben. Denn Morell räusperte sich und Johan blickte auf. »Ich frage mich«, sagte der Länsman, »ob er noch in der Gegend ist. Der Mörder. Der, der den Mann erstochen hat. Ich habe mir überlegt, ich werde Anund losschicken, damit er sich im Ort erkundigt. Wir beide fahren morgen nach Solberg, währenddessen kann Anund hier ringsum auf den Höfen fragen. Nach einem neuen Knecht, der sich in letzter Zeit irgendwo verdungen hat. Oder nach irgendwelchen Wanderern.« »Oder Landstreichern?«, sagte Johan. »Eines wissen wir nach unseren Befragungen in der Umgebung ziemlich sicher, nämlich dass niemand den Ermordeten gesehen hat. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass der Mann hierher unterwegs war. Ich meine, der Mörder. Anund soll 86
sich deshalb auf einen Fremden konzentrieren und fragen, ob ein Knecht eingestellt worden ist. Sag ihm das.« Morell seufzte, als hätte ihn seine Rede angestrengt. »Ja«, sagte Johan. »Ich rede heute Abend mit meinem Vater. Und morgen früh machen wir uns auf den Weg nach Solberg?« Morell nickte. »Hoffentlich wird es nicht noch kälter.« Morell stand auf und rieb sich mit seinen großen Händen das Gesicht, als wollte er, dass es Farbe bekam. »Ich gehe jetzt«, sagte Morell. »Schreib das Protokoll fertig. Morgen früh fahren wir schon um halb sechs los.« Dann öffnete er die Tür und war verschwunden. Ob er nach ihr sehen will?, dachte Johan. Nach Helena, der Unnahbaren, der Verletzlichen, die immer das Bett hütet. Er tauchte seine Feder in die Tinte und begann zu schreiben. Den 13. März anno 1849 Bei Befragungen in Kubbe und den in der Nähe liegenden Dörfern hat sich nichts Neues zu dem Toten ergeben, der im Schnee bei Seltjärn von einem Knecht namens Torsten Gustavsson gefunden wurde, der aus Butsjöböle stammt. Und auch nichts über einen möglichen Mörder. Weshalb Länsman Morell es für wahrscheinlich hält, dass die beiden (oder mehrere) – der Ermordete und der Mörder (die Mörder) – nicht zur Lappmark unterwegs waren, sondern vielmehr von dort kamen. Fernerhin kann sich der Verdächtige noch in dieser Gegend aufhalten, was Landgendarm Anund Persson in den folgenden Tagen untersuchen soll. Während Länsman Harald Morell und sein Gehilfe Johan Anundsson zum Zwecke, eine Spur des Toten 87
zu finden (solange er noch am Leben war), am folgenden Tage eine Reise nach Solberg unternehmen werden, in einen der abgelegeneren Teile des Sprengels Anundsjö. Er las durch, was er geschrieben hatte, überlegte, ob es wohl reichte, und schrieb schließlich darunter: Tag wie oben Johan Anundsson Gehilfe des Länsman Johan packte die Papiere weg, blies die Kerze aus und ging. Der Tag war zu Ende. Heute Abend würde er Annika nicht besuchen. Es war ein gewöhnlicher Abend, ein Dienstagabend, und er musste wegen der Fahrt nach Solberg früh schlafen gehen. Der Tag war lang gewesen und nicht nur mit seinen Aufgaben als Gehilfe des Länsman erfüllt. Er hatte auch sonst viel zu tun und zu bedenken. Und der Frühling stand vor der Tür. Wenn der Schnee verschwunden und das Eis geschmolzen war, mussten sie mit dem Bau des Hauses anfangen, er und sein Vater. Anund wird sich über Morells Anordnung gar nicht freuen, dachte er. Er blieb am liebsten auf seinem Hof. Aber noch konnten die Felder nicht bestellt werden. Also hatte er genügend Zeit, in Bredbyn herumzufahren und sich nach einem Fremden zu erkundigen. Bredbyn war ein Straßendorf, es bestand aus Häusern zu beiden Seiten, nicht nur Wohnhäusern, sondern auch anderen Gebäuden: eine Schmiede, eine Mühle am Fluss und vielen Schuppen. Der Mond schien und spendete etwas Licht. Und da
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hörte Johan dieses Geräusch wieder, das er schon am Morgen gehört hatte: das Geräusch knirschender Schritte im Schnee. Er blieb stehen. Lauschte. Rechts und links je zwei Häuser. Zwischen den Häusern links ein Bretterzaun, ein dünner Bretterzaun. Er lauschte wieder. Hier wohnte niemand, hier standen nur Schuppen, die als Werkstätten, Verkaufs- oder Lagerräume genutzt wurden. Und jetzt war es Nacht und der Mond schien. Obwohl Johan auf den Überfall vorbereitet war, wurde er von dem Angreifer überrumpelt. Ein Schlag traf ihn am Hinterkopf und er fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Er wollte sich umdrehen, aber etwas drückte ihn zu Boden. Ein Fuß, ein Brett. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Er bekam kaum Luft. Und dann die Stimme: »Lass sie ja in Ruhe! Sie gehört mir! Wenn ich dich noch mal in ihrer Nähe sehe, bringe ich dich um!« Johan konnte seinen Angreifer nicht erkennen. In seinem Kopf pochte es. Ein Knüppel über dem Hals schnürte ihm die Luft ab. Wollte der Kerl ihn mitten im Dorf umbringen? Wieder versuchte er, sich umzudrehen, scharrte mit den Händen im Schnee. Aber der Knüppel hielt ihn unten, drückte ihn noch fester zu Boden. Da wurde er ganz ruhig. Das Atmen fiel ihm schwer. Plötzlich ließ der Druck etwas nach, nur ein bisschen und er schnappte nach Luft, blieb aber liegen, ohne sich zu rühren. Der Druck ließ weiter nach und war schließlich ganz weg. Er lag noch immer reglos da und dann hörte er Schritte, die sich entfernten. Erst da wagte er, sich umzudrehen. Im Schein des Mondes sah er eine undeutliche Gestalt über den Bretterzaun klettern und dann war der Kerl verschwunden. Als Johan aufstand, zitterte er am ganzen Körper. Dann rannte er los, als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen.
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In dieser Nacht machte Johan kein Auge zu. Er warf sich im Bett hin und her, er drehte sich von einer Seite auf die andere. Er schob die Decke beiseite und zog sie wieder über sich. Die Magd schlief auf der Bank und seine Eltern schliefen in ihrer Kammer. Er hörte sie leise schnarchen. Aber er konnte keinen Schlaf finden. Seinen Eltern hatte er den Überfall verschwiegen und nur seinem Vater ausgerichtet, was der Länsman ihm aufgetragen hatte. Und Anund hatte wie erwartet reagiert: stumm die Lippen zusammengepresst und über die verschneiten Felder geschaut, als erwarteten ihn dort draußen dringende Arbeiten. Doch den Überfall hatte er verschwiegen. Anfangs hatte er vermutet, der Mörder des bislang unbekannten Toten im Schnee hätte ihn angegriffen, war aber dann zu einer anderen Überzeugung gelangt. Diese Delikte hatten nichts miteinander zu tun. Der Angreifer musste ein ehemaliger Freund seiner Annika gewesen sein. Und dazu fiel ihm nur ein Mann ein: der Knecht aus Kubbe. Und wenn Annika mehrere Freunde gehabt hatte? Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz heiß. Den Knecht aus Kubbe kannte er vom Sehen, aber er wusste nicht wie der Bursche hieß. Annika hatte ihm erzählt, der Knecht sei aus der Gegend weggezogen. Sie war ehrlich zu ihm gewesen, das schätzte er wohl am meisten an ihr. Sie hatte ihm erzählt, dass sie einmal in einen anderen Mann verliebt gewesen sei, dem sie jedoch kein Eheversprechen gegeben habe, und dass diese Geschichte jetzt vorbei sei und der Mann nicht mehr in der Gegend lebe, dass er verschwunden sei. Gott weiß wohin. Das hatte sie ihm erzählt, aber auch, dass sie ihn neulich einmal gesehen habe. Ein einziges Mal. Er sei wohl zu Besuch gewesen. Er, Johan, hatte nichts darauf geantwortet. Er hatte nur gedacht, dass sie ihm die Ehe versprochen hatte und er ihr.
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Und mehrere Männer hat sie nicht gehabt, dachte Johan. Das muss dieser Knecht aus Kubbe gewesen sein! Aber die Ungewissheit plagte ihn weiter und er konnte nicht schlafen. Vielleicht waren der Angreifer und der Mörder doch ein und dieselbe Person. Hatte Morell nicht angeordnet, sein Vater solle sich nach Neuankömmlingen erkundigen, nach neuen Knechten? Wenn dieser Knecht aus Kubbe hier aus der Gegend stammte, war er eben zurückgekehrt. Und vielleicht war er ja aus Åsele, oben in der Lappmark gekommen und hatte unterwegs einen Mann niedergestochen. Johan schwitzte, wenn er daran dachte, wie leicht er bei dem Angriff hätte sterben können. Der Unbekannte hatte ihm einen Schlag auf den Kopf gegeben und ihn kampfunfähig gemacht. Wie leicht hätte der Mann ihn dann ebenfalls erstechen können! Heute waren sie in Kubbe gewesen. Und dort hatte er niemanden gesehen, der wie Annikas ehemaliger Freund aussah. Hielt der Kerl sich jetzt hier, in Bredbyn auf? Alle möglichen Gedanken schossen ihm wild durch den Kopf und er wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er von dem Überfall erzählte, war er gezwungen, auch von Annika zu erzählen. Doch das wollte er noch nicht. Durfte er auch Morell gegenüber schweigen? Ihn musste er unbedingt informieren, denn der Überfall konnte mit dem Fall zu tun haben, an dem sie gerade arbeiteten. Er warf sich im Bett herum. Von dem Schlag tat ihm der Schädel weh. Oder von den Gedanken, die ihm ununterbrochen durch den Kopf schossen. Von nun an wollte er sich bewaffnen. Er wollte jeden Tag einen Revolver oder mindestens einen Knüppel bei sich tragen. Und wenn er wieder angegriffen werden sollte, wäre er wenigstens vorbereitet. Annika würde er auf keinen Fall verlassen. Er musste mit ihr reden. Unbedingt. 91
Aber nur mit ihr. Mit dem Überfall musste er allein fertig werden, denn er wollte Morell nicht beunruhigen. Der hatte schon genug eigene Sorgen. Er musste das Problem allein lösen. Und wenn beide Delikte miteinander in Verbindung standen, war Johan Anundsson der Mann, der das herausfinden musste. So und nicht anders. Aber trotz seines getroffenen Entschlusses wollte sich der Schlaf nicht einstellen.
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14 Lisbet Zackrisdotter logierte noch im Gasthof. Noch hatte sie genügend Geld in ihrer Börse und noch hatte sie nicht mit der Arbeitssuche angefangen. Es war ein solcher Genuss, zwischen sauberen Laken schlafen zu dürfen, in die Gaststube zu gehen, wo ihr das Essen serviert wurde, sich einmal im Leben ausruhen zu dürfen. Und nichts zu haben, das einem Sorgen machte, keine Arbeit, die einen zwang, in aller Frühe aufzustehen. Sondern zuzusehen, wie andere arbeiteten, wie die Mägde, wie die Lieferanten oder die Putzfrau und der Wirt, der meistens an einem der Tische in der Gaststube saß und derjenige war, der hier das Sagen hatte. Das war ihr inzwischen klar geworden. Sie zögerte ihre Abreise hinaus. Sie schlief lange und nach dem Frühstück bummelte sie durchs Dorf. Manchmal unternahm sie lange Wanderungen auf der großen Straße und ging weit in Richtung Küste. Manchmal auch in die andere Richtung, in Richtung Ödsbyn und Tvärlandsböle und in die Gegend, aus der sie gekommen war. Und eines Morgens, Mitte März, lange ehe die Sonne aufgegangen war, beschloss sie, einmal bis zu den Marktflecken Örnsköldsvik zu marschieren. Das war ein Weg von etlichen Meilen. Sie war noch nie dort gewesen. Eigentlich hatte sie fast ihr ganzes Leben nur in Skalmsjö verbracht, wo sie ihrem immer gebrechlicher werdenden Vater den Haushalt besorgt hatte. Es dauerte den halben Tag, am Fluss entlangzustapfen, an Mo und Själevad vorbei, und schließlich auf der großen Straße, die zu der kleinen Stadt führte. Das Wetter war angenehm mild. Die Kleinstadt lag in einer Senke zwischen Bergen und vor ihr das Meer.
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Örnsköldsvik. Als sie den Marktplatz erreicht hatte, blieb sie stehen. Sie wunderte sich, wie nichts sagend dieser Ort war. Im Hafen lagen ein paar festgefrorene Schiffe, aber es gab nicht viele Häuser. Das größte Haus war weiß und hatte viele Fenster, sogar im Dach waren Gauben mit kleinen Giebelfenstern eingelassen. Und ein prächtiges Portal schmückte den Eingang. Das Haus lag in der Nähe des Meers. Eine steil ansteigende Straße führte vom Marktplatz den Hügel hinauf; und an dieser Straße standen ebenfalls einige Gebäude. Eines davon beherbergte eine Gaststätte. Sie ging in die Wirtsstube und aß eine einfache Mahlzeit, Brot, Kartoffeln und ein winziges Stück Fleisch. Dabei ließ sie ihre Blicke über den Hafen wandern. Jetzt war sie also tatsächlich in Örnsköldsvik angekommen. Viel zu sehen gab es hier nicht. Nein, da war Själevad doch um etliches größer. Da sie lange für den Heimweg brauchte, erreichte sie Bredbyn erst nach Mitternacht, obwohl ein Knecht sie zwischen Själevad und Mellansel auf seinem Schlitten mitgenommen hatte. Müde von der langen Wanderung ging sie sofort zu Bett. Doch vorher zählte sie noch ihr Geld und ihr wurde klar, dass sie bald eine Stelle finden musste. Aber nicht sofort. Sie hatte recht daran getan, sich diese Ruhepause zu gönnen, selbst wenn sie das alle ihre Ersparnisse kostete. Als Lisbet am nächsten Morgen aufstand, war es schon heller Tag. Sie schüttete Wasser in die Schüssel auf der Kommode, wusch sich und zog ihr Kleid an. Bald musste sie es waschen. Ja, bald musste sie auf das schöne Leben im Gasthof verzichten, das war ihr klar. Lisbet ging in die Wirtsstube hinunter. Um diese Tageszeit war sie voller Menschen. Ihr fiel auf, dass vor allem Reisende aus der Lappmark da waren und sicher noch weiterwollten, 94
vielleicht nach Örnsköldsvik. Oder sie wollten über die Küstenstraße weiter nach Süden fahren. Es war so voll, dass sie nur mit Mühe einen Platz fand. Ein Mann winkte ihr zu und sie erkannte in ihm einen Gast, den sie schon öfter gesehen hatte und der ebenfalls hier wohnte. Jedenfalls nahm sie das an. Sie trat an seinen Tisch. »Kann ich hier sitzen?«, fragte Lisbet. Er nickte. Auf seinem Teller lag ein Knödel. Eine junge Magd ging mit vollen Tellern zwischen den Tischreihen hindurch. Heute gab es ganz offenkundig Knödel. Auch vor Lisbet stellte sie einen Teller hin. »Heute gibt’s Knödel«, sagte der Mann. »Mit Preiselbeermarmelade.« Er war klein und schmächtig, hatte schwarzes widerspenstiges Haar und scharfe Augen. Lisbet hatte ihn manchmal bei den Mahlzeiten gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. »Ich heiße Lisbet«, sagte sie. Er musterte sie und schien zu überlegen, ob er ihr seinen Namen nennen sollte. »Ich bin aus Skalmsjö«, fuhr Lisbet fort. »Aber jetzt bin ich auf der Suche nach einer Stelle.« »Daniel«, sagte er. »Persson. Ich auch. Ich brauche auch eine Stelle.« Die Magd stellte Lisbet ein Glas Milch hin und Lisbet schnitt ein Stück von dem Knödel ab, tunkte es in die Marmelade und aß. »Armeleuteessen«, sagte sie und lächelte etwas. »Aus Gerstenmehl«, sagte Daniel, ohne auf ihr Lächeln einzugehen. 95
Sein Blick hatte etwas Unangenehmes und Durchdringendes, als sähe er durch den Menschen, den er gerade anstarrte, hindurch. Lisbet schaute aus dem Fenster, hinaus zur Straße. Heute wollte sie wieder eine Strecke wandern. Als sie den Blick von der Straße abwandte, fiel ihr auf, dass er sie mit seinen stechenden Augen musterte. »Bist du allein? Brauchst du Gesellschaft?«, fragte er anzüglich und seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen, kaum merklichen Lächeln. »Nachts, meine ich«, fügte er hinzu. »Ich kann zu dir kommen, wenn du willst …« Sie hatte gerade ein Stück Knödel im Mund und fing an zu husten. Sie spürte, wie sie errötete, stand abrupt auf, schob ihren Teller zurück und ging mit zittrigen Beinen aus der Gaststube. Schon an der Tür hörte sie, wie er auflachte, und lief los, zurück in ihr Zimmer. Sie sank auf ihr Bett und rieb ihre heißen Wangen. Nicht so hatte sie sich das vorgestellt, nicht so … Dass jemand an ihr interessiert sein könnte, an ihr als Frau, davon hatte sie geträumt. Aber nicht so … Sie öffnete ihre Geldbörse und rechnete noch einmal. Es war an der Zeit, dass sie sich auf den Weg machte und sich endlich eine Stelle suchte.
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Daniel blieb am Tisch sitzen, schob seinen leeren Teller beiseite und hob seine Hände. Er betrachtete sie, ballte die Fäuste, öffnete sie, dann bewegte er schnell die Finger und ballte sie wieder zur Faust. 96
Sie ist gar nicht so übel, dachte er. Vielleicht sollte ich mich doch um sie bemühen, falls meine Angelegenheit länger dauert. Dann wanderten seine Gedanken zu dem gestrigen Abend zurück. Jetzt hatte er es dem Johan Anundsson gezeigt. Der Kerl glaubte, Annika gehöre ihm. Jetzt wusste er, dass er einen Nebenbuhler hatte, jemanden, mit dem nicht zu spaßen war. Wie leicht es doch gewesen war, ihn zu Boden zu schlagen, sein Gesicht in den Schnee zu pressen und seinen zitternden Körper unter sich zu spüren. Er hatte einen alten Gerätestiel dazu benutzt, den er hinter der Schmiede gefunden hatte. Wie ein Joch hatte er ihn auf die Schultern seines Widersachers gedrückt und ihn zu Boden gepresst. Und dann nichts wie weg. Er hatte hinter dem Bretterzaun gestanden und gesehen, wie Johan Anundsson schnell und voller Angst weggerannt war, und insgeheim gelacht. Jetzt blieb ihm nur abzuwarten und zu sehen, was Johan tun würde. Denn heute war Mittwoch, der Tag, an dem sich sein Nebenbuhler gewöhnlich mit Annika traf. Wenn der Kerl sie nicht besuchte – und das tat er sicher nicht, nachdem er solche Prügel bezogen hatte –, war es nun an ihm – Daniel –, ihr klar zu machen, wohin der Hase lief. Gestern, als er Annika auf dem Weg vom Stall zum Haus beobachtet hatte, war es ihm vorgekommen, als sei sie schwanger. Sah sie nicht ein bisschen runder als früher aus? Irgendwie dicker? Und falls sie schwanger war, gab es keinen Zweifel, dass sie sein Kind trug. Waren sie nicht den ganzen Sommer, den ganzen Herbst zusammen gewesen …? Bis sie ihn fortgeschickt hatte. Nein, wenn sie schwanger war, war das sein Kind … Er hat die Wahl, dieser Johan Anundsson, dachte Daniel. Entweder zieht er sich zurück und besucht meine Annika nicht mehr, oder er bleibt hartnäckig und besucht seine Verlobte wieder – sobald Daniel an ihr Bett dachte und die beiden darin,
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bohrte sich die Eifersucht wie ein glühender Stachel in seinen Körper – und tut weiter so, als sei er der Verlobte. Doch wenn Johan stur bleibt, gibt es nur eine Lösung: Dann muss ich ihn töten. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Und wie leicht das sein würde …
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15 Ein Rissla-Schlitten kann zwei Sitzplätze haben. Einen hinten, der erhöht und aus Schmiedeeisen ist und wo der Fuhrknecht meistens sitzt, und einen vorn. Oder der Lenker steht auf dem Kufen, wenn sie ausreichend lang sind und wenn der hintere Sitz fehlt. Der Sitzplatz vorn gleicht einer Holzbank mit Lehne quer über dem Schlitten. Unter dem Sitz werden Holzscheite gelagert. So ähnelt ein Rissla-Schlitten einem bootsähnlichen, länglichen Gefährt. Der »Bug« des Schlittens besteht aus einer gebogenen Metallplatte, die auch als Windschutz dient. Der Lenker eines Rissla-Schlittens steckt seine Beine in diesen Bug, an dem wiederum eine Decke aus Leder befestigt ist, mit der er als Schutz gegen Kälte und Schnee seine Oberschenkel bis über die Taille bedecken kann. Morells Rissla-Schlitten war besonders groß und schön. Der Bug und die eisernen Beschläge des Sitzes waren verziert. Und lange Kufen hatte er. Morell saß vorn. Richtig ausstrecken konnte er seine langen Beine nicht, aber das Leder bedeckte den größten Teil seines Körpers. Johan Anundsson saß auf dem erhöhten Rücksitz. »Nach ein paar Meilen tauschen wir«, sagte Morell. Als das Pferd aus dem Stall geführt wurde, stand der Atem wie Wölkchen vor seinen Nüstern. Der Polizeiamtmann hatte ausgerechnet, dass die Fahrt nach Solberg drei bis vier Stunden dauern würde. Johan sah schon jetzt verfroren aus und wischte sich dauernd mit dem Handrücken über die Augen. Übernächtigt wirkte er und bedrückt. Das liegt wohl daran, dass es noch so früh ist, dachte Morell. Oder ich habe ihn mit meinen Sorgen angesteckt. Niedergeschlagenheit. 99
Wieder fiel ihm dieses Wort ein, das Wort, mit dem der Bezirksarzt Helenas Leiden bezeichnete. Niedergeschlagenheit. Ja, heute waren sie wohl alle beide niedergeschlagen. Und ob diese Reise irgendwelche Ergebnisse bringen würde, war völlig ungewiss. Morell stieg in den Schlitten und zog die Lederdecke über sich. Johan schnalzte mit der Zunge und das Pferd zog an. Noch war es dunkel. Die Straße war kaum mehr als ein von Schlittenspuren gezeichneter Weg, der so schmal war, dass hin und wieder Äste den Rissla streiften und sich Johan auf dem Kutschbock ducken musste. Sie brauchten länger als vier Stunden für ihre Fahrt. Stündlich tauschten sie die Plätze und auf der Mitte der Strecke oberhalb von Seltjärn, nicht weit von Pengsjö entfernt, zündeten sie ein Feuer an, um sich daran zu wärmen und Kaffee zu kochen. Nur ein paar Höfe lagen an ihrem Weg. Und Morell hatte in Erwägung gezogen, womöglich auf dem Rückweg beim einen oder anderen Halt zu machen. In Solberg fingen sie mit ihren Ermittlungen an. Die mittägliche Sonne beschien den Berg und die wenigen, verstreut liegenden Höfe an seinem Hang. Morell deutete auf ein graues, etwas verfallenes Haus. »Hier fangen wir an«, sagte er. Das Alter hatte die Frau gebeugt. Sie wirkt samisch mit diesen hohen Wangenknochen, dachte Morell. Ihr Haar war so dünn, dass an einigen Stellen die Kopfhaut durchschimmerte. Als hätte sie eine aus einer verschlissenen Flickendecke genähte Kappe auf. Sie betrachtete die Ankömmlinge misstrauisch. »Ich bin der Polizeiamtmann von Anundsjö und das ist mein Gehilfe«, sagte Morell. »Wir möchten gern wissen, ob hier ein paar Männer herumgestrolcht sind«, ergänzte Johan. »Im Februar. Als es geschneit hat. Fremde. Unbekannte.« 100
Morell schaute sich um, als überlegte er, ob im Haus noch mehr Menschen lebten. Kalt wirkte es, und nur durch ein Fenster drang schwach Licht. »Die sind alle tot«, sagte die Alte, als hätte sie Morells Gedanken gelesen. »Allesamt. Nur ich bin über. Obwohl ich die Älteste war. Aber sie sind alle tot. Die andern. Mein Sohn und seine Frau und die drei Kinder. Allesamt.« Morell überlegte, woran sie wohl gestorben waren. An einer ansteckenden Krankheit? Eher verhungert, vermutete er. »Hierher kommt nie jemand. Aber als es mit Schneien angefangen hat, da sind zwei Männer gekommen. Ja, das waren zwei, die sind gekommen und haben um Essen gebettelt.« Morell spürte Hoffnung aufkeimen. »Aber ich hab ihnen nichts gegeben. Ich hab sie rausgeworfen.« »Wie sahen sie aus?«, fragte Johan. Die Alte kratzte sich am Kopf. »Mittelalt. Vielleicht vierzig.« Der Hoffnungsschimmer verflog. Der Tote im Schnee war höchstens dreißig gewesen. »Oder dreißig«, sagte die Alte. »’n Langer. Und ’n Schmächtiger.« »Ein Großer und ein Kleiner?«, hakte Johan nach. »Was hatten sie denn an?« »Ja, ich hab an den Größeren gedacht. Der hat ’ne Art Pelz angehabt«, sagte sie. »Hundepelz …« »Und der andere?«, fragte Morell. Seine Hoffnung war wieder gestiegen. Na, endlich, dachte er. Endlich etwas, das mir die Gedanken an mein missglücktes Leben vertreibt.
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»Der Kleine, also der hatte so’n normalen Mantel an und dann hatte der noch ’n Kopftuch auf, so wie ’ne Frau.« »Ein Kopftuch?«, wiederholte Morell, aber die Alte reagierte nicht darauf. Sie kratzte sich wieder am Kopf, jetzt an einer der kahlen Stellen. »Noch etwas mehr über den Kleinen.« Das war wieder Morell. »Der Lange, der hatte das Sagen. So sah’s jedenfalls aus. So wie der geredet hat.« »Und der Kleine? Hat er sein Kopftuch abgenommen?« Die Alte sah Morell wieder misstrauisch an. »Die hier sind tot«, sagte sie. »Die sind verhungert.« »Mm«, sagte Johan. »Aber der Kleine. Wie alt war der? Und noch was zu der Kleidung … Hat er was getragen? Eine Kiepe vielleicht?« »Nee«, sagte die Alte, »der hat keine Kiepe getragen. Aber der eine Schuh war kaputt.« »Wie? Kaputt?«, fragte Morell. Auch auf diese Frage antwortete die Alte nicht. Sie kaute auf der Unterlippe herum, als könnte das den Hunger stillen. Morell zog ein Stück Brot hervor und gab es ihr und sie fing sofort an, das Brot mit Speichel einzuweichen. Sie machte kleine Kugeln, steckte sie sich in den Mund und sog daran. »Er hat ’n bisschen gehinkt«, sagte sie, nachdem sie eine Brotkugel geschluckt hatte. »Oder war’s der kaputte Schuh.« »Er hat gehinkt?« »Ja, oder war’s der Schuh, der kaputte Schuh.« Sie hatte sich den letzten Bissen in den Mund gesteckt. Morell holte noch eine Scheibe Knäckebrot hervor und gab es ihr. Wieder brach sie sofort Stücke davon ab und weichte sie mit Speichel ein. 102
»Ihr wart eine große Hilfe«, sagte Morell. »Eine letzte Frage. Haben die Männer gesagt, wohin sie wollten?« Sie betrachtete das eingeweichte Stück Brot, steckte es sich in den Mund und sog nachdenklich daran. »Die kamen aus’m Gebirge. Aber wo sie hinwollten, haben sie nicht gesagt. Ich hab sie rausgeworfen. Hier gibt’s doch nichts.« »Dann also vielen Dank«, sagte Morell. Er sah Johan an, die Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen. In Morells Bewusstsein hatte die Hoffnung wieder einen kleinen Platz eingenommen. Hatte die Alte dem Länsman und seinem Gehilfen nur wenige Auskünfte geben können, so lohnte sich ihr Besuch in einem anderen Haus weit mehr. »Der hat mich glatt über’s Ohr gehauen«, sagte der Bauer, Ingel Kristoffersson. Im Stall hatten sie ihn angetroffen, beim Striegeln seiner zwei Pferde, deren Fell glänzte. »Man muss sich um seine Tiere kümmern«, sagte er. Er war um die sechzig. Auf dem Kopf trug er eine Mütze mit wehenden Ohrenklappen. Seine große rote Nase lief. Die drei Männer gingen zur Stalltür. Ingel hängte das Sielengeschirr an einen Haken und fegte mit einem Reisigbesen Heu zusammen. Anschließend traten sie nach draußen in die Sonne. Inzwischen war es Nachmittag geworden. Dieser Hof war der sechste gewesen, den sie aufgesucht hatten. Auf den vier Höfen nach dem Besuch bei der Alten hatte niemand irgendwelche Fremden im Dorf gesehen. In einem Haus trafen sie nur ein kleines Mädchen an und Morell hatte sich gefragt, ob auch auf diesem Hof irgendeine Seuche oder der Hunger gewütet hatte. Aber das magere Mädchen hatte gesagt, dass die Eltern draußen bei der Arbeit seien. Sie seien beim 103
Backhaus. Aber auf keinem der Höfe hatte jemand zwei Fremde gesehen, einen Großen und einen Kleinen. Ingel Kristoffersson schneuzte sich mit der Hand in den Schnee. Er machte ein grimmiges Gesicht, so als wäre die Wut darüber, von einem Landstreicher reingelegt worden zu sein, in ihm wieder erwacht. »Der war allein«, sagte er. »Ein Kleiner. Ein richtiger Wicht. Der ist allein hierher gekommen und er hat mich um Geld geprellt.« Und wie habe er das angestellt? Er habe wechseln wollen, der Wicht. Er habe einen Geldschein über zehn Reichstaler gehabt, mit dem habe er gewunken, weil er den gewechselt haben wollte. Zum Austausch wollte er nur vier Zwei-Reichstaler-Geldscheine wiederhaben, sodass der Bauer an dem Geschäft zwei Reichstaler verdient hätte. Und da habe er sich nicht lange bitten lassen. Der Geldwechsel sei durchgeführt worden. Der Kleine habe seine vier ZweiReichstaler-Scheine eingesteckt und er selbst habe einen ZehnReichstaler-Schein bekommen. Habe er geglaubt. Aber wie sich später zeigte, war der vermeintliche Geldschein nichts als wertloses Papier. Doch das habe er erst gemerkt, als es zu spät war. Denn der Schein habe wirklich echt ausgesehen. »Und da hatte es angefangen zu schneien. Ich hab das Pferd eingespannt und bin losgefahren. Aber auf den Straßen war kein Durchkommen. Ich bin ein paar Meilen gefahren, hab aber keine Spur von den beiden gesehen. Da stand ich dann also. Und bin reingelegt worden«, schloss Ingel und blinzelte Morell an. »Ich seh ’n bisschen schlecht«, sagte er. »Und das war im Februar?«, fragte Johan. Ingel nickte. Dann schüttelte er den Kopf, biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. »Dieser Hundsfott!«, knurrte er. 104
»Und er war allein?«, fragte Morell. Ja, er sei allein zum Hof gekommen, der Wicht in dem alten schwarzen Mantel. Aber … »Da unten auf der Straße hat ’n andrer auf ihn gewartet.« »Wie hat der Mann ausgesehen?«, fragte Johan. Morell wartete gespannt. Was hatte der Landstreicher angehabt? Waren das die beiden Männer, die er so dringend suchte? »Der hat ’n Pelz angehabt. Doch ja, der hatte ’n Pelz an.« Morell sah Johan voller Genugtuung an. Sie waren ein Stück weitergekommen. Hier waren die beiden gegangen, der Ermordete und wahrscheinlich derjenige, der den Mord ausgeführt hatte. Etwas wussten sie jetzt. »Hat er gehinkt?«, fragte Johan. »Der Kleine …« Ingel ballte noch immer die Fäuste. Die Erinnerung, betrogen worden zu sein, war jetzt wieder richtig lebendig in ihm. Und er stieß einen Schwall Flüche und Schimpfwörter gegen den Mann aus, der ihn zum Narren gehalten hatte. »Achtet auf Eure Worte«, sagte Morell und Ingel verstummte. Er schneuzte sich noch einmal mit der Hand in den Schnee. »Hinken? Ich hab nicht gesehen, dass er gehinkt hat. Aber hätte ich den hier, ich würde ihn derart verprügeln, dass er nicht mehr gehen könnte.« Ingel war jetzt fuchsteufelswild vor Wut, aber er stieß keine Flüche mehr aus. Er brummelte nur vor sich hin und schneuzte sich immer wieder mit Daumen und Zeigefinger. »Sonst nichts?«, hakte Johan nach. »Wie hat der Mann ausgesehen? Alter?« »Ich seh ’n bisschen schlecht«, wiederholte Ingel, inzwischen etwas ruhiger geworden. »Aber der war noch nicht alt, nee, alt war der nicht.« 105
»Wie alt?« »Höchstens dreißig«, sagte Ingel. Er nickte, bemühte sich ruhig und gleichmäßig zu atmen, hob die Hand, um sich zu schneuzen, aber kratzte sich stattdessen an der Wange. »Die Zähne«, sagte er. »Der hatte richtig weiße Zähne. Schöne Zähne.« »Zähne?«, wiederholte Morell. »Ja, doch. Ich hab noch gedacht, was hat der für schöne Zähne. So schöne Zähne hab ich noch nie gesehen«, sagte Ingel Kristoffersson.
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16 Bredbyn, den 13. März 1849 Anund Persson Landgendarm Bei meinen Erkundigungen an diesem Tage in Bredbyn und Fanbyn ist im Hinblick auf Fremde, Landstreicher oder andere Herumtreiber nichts Neues zu erfahren gewesen. Niemand hat welche gesehen und es wurden keine neuen Knechte im Winter eingestellt. Im hiesigen Gasthof logiert nur eine Frau namens Lisbet Zackrisdotter, die aus Skalmsjö stammt und die beabsichtigt, sich Arbeit zu suchen, was ich im Hinblick darauf vermerkt habe, weil Länsman Morell eine Dienstmagd für seinen Haushalt sucht. Im Übrigen ist bei meinen Befragungen nichts herausgekommen. Ich werde sie aber am folgenden Tag fortsetzen, in Bredbyn und in Näs, hege jedoch Zweifel, bei meinen Anstrengungen ein Resultat zu erzielen, weil bisher keiner der heute Befragten in irgendeiner Weise zur Aufklärung hat beitragen können.
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Als der Länsman und sein Gehilfe zurückkehrten, war es Nacht geworden. Trotzdem setzten sie sich für eine Weile in die Schreibstube und gingen noch einmal durch, was sie in Erfahrung gebracht hatten. Der Raum war nicht geheizt und sie 107
behielten ihre Mäntel und die Mützen an. Morell hatte seine Uniformmütze zurückgeschoben. Einen Stiefel hatte er ausgezogen und massierte seine Zehen. Johan dachte daran, dass es schon Mittwochnacht war und er eigentlich bei Annika sein sollte, wie schon seit mehreren Wochen an jedem Mittwoch. Und ob er nachher wohl noch zu ihr gehen konnte. Während des Tages hatten sich Angst und Unruhe in ihm gelegt. Und er fühlte sich in seinem Entschluss bestärkt, Länsman Morell nicht ins Vertrauen zu ziehen. Er würde mit diesem Angreifer schon alleine fertig werden. Hauptsache, er bewaffnete sich. Nach einer schlaflosen Nacht und einer langen Fahrt war er sehr müde und auf dem Heimweg im Schlitten immer nur für kurze Zeit eingenickt. »Also, ich stelle mir das so vor«, sagte Morell, »die beiden Landstreicher sind aus Åsele oder von noch weiter entfernt gekommen. In Solberg haben sie sich mindestens einen Tag lang aufgehalten.« »Und dort haben sie in einem Haus um Essen gebettelt«, fuhr Johan fort. »Und haben diesen Bauern übers Ohr gehauen«, sagte Morell. »Ingel Kristoffersson«, ergänzte Johan. »Der hat am falschen Ende gespart«, sagte Morell. Was meint er denn damit?, dachte Johan, fragte den Länsman aber nicht. »Der war vielleicht wütend«, sagte er stattdessen. »Was man verstehen kann«, sagte Morell. Er überlegte einen Moment. »Dann gingen sie weiter, in unsere Richtung, aber oben in Seltjärn, da ist etwas geschehen … Aber was? Könnte es mit Geld zu tun haben?« 108
»Der im Schnee hatte kein Geld dabei«, sagte Johan. »Vielleicht hatte er das Geld und dann gab es Streit.« »Nach Aussage Ingels besaß der Kleine acht Reichstaler.« »Aber der Tote hatte vielleicht sogar noch mehr«, sagte Morell. »Gesetzt den Fall, es ging bei dieser Auseinandersetzung um Geld. Der Tote hat vielleicht auch jemanden geprellt, in Åsele oder … und der Kleine erstach den anderen. Aber wo ist er jetzt? Hält er sich hier in Bredbyn auf? Es wäre einfacher, wenn der Tote den Bauern geprellt hätte. Dann würde es sich um Raubmord handeln, eventuell …« »Vater hat vielleicht etwas herausbekommen«, sagte Johan. »Und außerdem hinkt der Mann, also …« »Und wie steht es mit den Zähnen?«, fragte Johan. Morell stand auf und zog seinen Stiefel wieder an. »Morgen müssen wir ein Protokoll machen. Denn jetzt haben wir etwas in Erfahrung gebracht«, sagte er. Johan stand ebenfalls auf. Heute Nacht musste er schlafen. Aber erst zu Annika … Morell sah zur Tür und ein Schatten schien sich über ihn zu legen. Johan mutmaßte, dass er sich um seine Frau sorgte. »Du kannst jetzt gehen«, sagte Morell. »Warum nimmst du den Knüppel mit?« »Ach, nur so. Man kann ja nie wissen«, murmelte Johan. Johan nahm denselben Weg wie gestern. Er ging über die Straße durchs Dorf, an der Kirche vorbei und musste dann weiter über die Brücke, wenn er zu Annika wollte. Vielleicht war es für einen Besuch zu spät. Er hatte im Flur auf die Uhr geschaut, als sie die Treppe ins Amtszimmer hinunterstiegen. Da war es fast ein Uhr früh gewesen.
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Er umfasste den Knüppel fester. Sollte er wieder überfallen werden, war er vorbereitet. Er schritt tüchtig aus, den Knüppel hielt er umklammert. Er ging an den Häusern vorbei, den Schuppen. Er sah den Bretterzaun und merkte, wie angespannt er war. Sein Herz klopfte ihm bis in den Hals, aber er zwang sich, ruhig zu atmen. Da fiel ihm ein, dass der Mann, der ihn überfallen und ihm gedroht hatte, auch in Seltjärn seinen Weggefährten erstochen hatte. Johan wog den Knüppel in der Hand, als ob ihm allein diese Geste Stärke verleihen würde. Nein, der Kerl war doch dieser Knecht aus Kubbe … Oder handelte es sich um ein und dieselbe Person? Johan ging noch schneller. Bald hatte er die Häuser hinter sich gelassen. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit. Vielleicht konnte er jemanden sehen, der sich nachts herumtrieb. Jetzt kam die Brücke, aber vorher konnte er rechts abbiegen und den Weg nach Hause einschlagen. Aber ich will doch zu Annika, dachte er. Oder ist es zu spät? Es ist wohl zu spät. Vermutlich ist es schon nach halb zwei. Und ich muss schließlich noch die ganze Woche schwer arbeiten. Also schlug er den Weg nach Hause ein. Da machte sich ein unangenehmer Gedanke in ihm breit. Sollte ich etwa Angst haben? Sollte ich etwa meinem Nebenbuhler gehorchen? Sollte ich etwa meine Verlobte verraten? Aus Angst? Nein, es war einfach nur zu spät. Er rannte das letzte Stück Wegs, klopfte leise auf der Haustreppe den Schnee von den Schuhen und öffnete die Tür. Sein Vater saß am Tisch und hatte ein Blatt Papier vor sich liegen. Seine Finger waren mit Tinte beschmiert. Als sein Sohn in die Küche kam, blickte er auf.
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»Das sind aber lange Arbeitstage«, sagte er, »wenn man für den Länsman arbeitet.« Er betrachtete nachdenklich seine Finger. »Mist wär mir lieber«, sagte er.
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Landgendarm Persson saß über seinen Aufzeichnungen. Er starrte auf die Tintenflecke an seinen Fingern und dachte an die zwei Brüder Svensson aus Fanbyn. Die Einzigen, die übrig geblieben waren, als ihr Vater, mit Rasiermesser und Hammer bewaffnet, sieben seiner Kinder und seine Frau massakriert hatte. Das war im August 1843. Sven, der Älteste, war damals in Härnösand gewesen und deshalb mit dem Leben davongekommen. Der Vater hatte wohl die Abwesenheit seines ältesten Sohns für seine Verbrechen genutzt. Selbst im Wahn gibt es eine gewisse Logik, dachte Anund. Und Johan, der andere Sohn, war von dem angsterfüllten Schreien seiner Geschwister aufgewacht und weggerannt. Er hatte geglaubt, Räuber hätten den Hof überfallen. Acht Menschen hatte Sven Svensson damals abgeschlachtet. Am 18. Oktober 1845 war er geköpft worden. Und seitdem hatte in Galasjö keine Hinrichtung mehr stattgefunden. Der älteste Sohn war zu Hause gewesen. Und der Landgendarm hatte sich nicht wohl gefühlt, als er den Mann auf seinem Hof antraf. Wie er sich genau an jenen Abend vor beinahe sechs Jahren erinnerte. Morell war damals dabei gewesen, als er dem Mörder Hand- und Fußfesseln anlegte.
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Anund wusste, dass die Tatwaffen, das Rasiermesser und der Hammer, noch immer von Länsman Morell aufbewahrt wurden. Aber die Jahre waren ins Land gegangen und Sven und Johan hatten das tragische Geschehen wohl verdrängt, denn ihr Hof gedieh heute prächtig. Der Fjärdingsman hatte Sven die Hand geschüttelt und dann sein Anliegen vorgebracht. Sven hatte helle Augen. Sie hatten etwas Stilles, so als hätten sie Unerhörtes gesehen und sich danach irgendwie zur Ruhe begeben. Eine stille Tiefe strahlen sie aus, dachte Anund. Aber Sven hatte keine Landstreicher in der Gegend gesehen, keinen kleinen Mann, der vielleicht hinkte. Dabei sah er den Fjärdingsman ganz ruhig an. Anund war weitergezogen und hatte die anderen Bauern in Fanbyn aufgesucht. Er hatte nichts erfahren, wenn nicht … Bei den Hermanssons, dachte er. Der Bauer, die Bäuerin, ein fetter Knecht und eine Dienstmagd. Mittags. In der Küche, beim Essen. Ein dumpfes Schweigen schien in den Räumen zu hängen und über den Bewohnern zu lasten. Sie waren zu viert. Es war die Magd. Sie war Anund aufgefallen. Ihre Augen. Als er nach einem Fremden in der Gegend gefragt hatte, da hatte ihr Blick ganz kurz geflackert. Hermansson und sein Knecht hatten den Kopf geschüttelt, auch die Bäuerin, aber die Magd … Für einen Moment hatte Anund geglaubt, dass sie etwas wisse, und erwartungsvoll gewartet. Aber das Flackern in ihren Augen war schnell erloschen und sie … »Ich hab auch keinen gesehen«, sagte sie. Doch jetzt fiel ihm dieser kurze Moment wieder ein. Warum hatte sie gezögert? Wusste sie etwas? Annika hieß die Magd. Vielleicht sollte er das in seinem Protokoll vermerken.
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Morell blieb am Sekretär sitzen. Hier war es warm, trotzdem stand er nach einer Weile auf und legte in dem Kachelofen im großen Zimmer ein paar Holzscheite nach. Dann hängte er seinen Mantel auf, zog die Stiefel aus und setzte sich wieder an den Sekretär. Er nahm das Blatt Papier und notierte kurz, was am Tag geschehen war. Als er damit fertig war, überfiel ihn aufs Neue diese wohl bekannte Niedergeschlagenheit. Er hatte das Gefühl, als würde er zu Boden gedrückt, sodass er kaum Luft bekam. Er stand auf und schien damit dieses Gefühl abschütteln zu wollen. Dann ging er die Treppe hoch, ins Obergeschoss. Anna schlief in einer kleinen Kammer, direkt neben dem Kinderzimmer. Ihre Tür war nur angelehnt, sah er, und fragte sich, ob der Junge in der Nacht ruhig gewesen war. Auf der anderen Seite des Kinderzimmers lag sein eigenes Zimmer und im Schlafzimmer lebte die Kranke. Er öffnete die Tür zu Gustavs Zimmer, zündete eine Kerze an, nahm sie in die Hand und betrachtete im flackernden Licht seinen Sohn. Gustav lag auf dem Rücken und schlief friedlich. Morell fuhr zart mit dem Handrücken über die Wange des Kindes. Und dann schaute er sich im Zimmer um. Hier standen nur das Bett und ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Vor Gustavs Geburt hatte er gedacht, dass Helena das Zimmer einrichten würde. Es streichen, neue Gardinen aufhängen und es wohnlich machen. Denn während ihrer Schwangerschaft hatte seine Frau gesagt, das Kind solle ein schönes Zimmer bekommen. Aber er hatte erwidert, dass es damit keine Eile habe. Er hatte auf sie aufgepasst, hatte jede ihrer Bewegungen beobachtet. Und die Monate waren vergangen – ohne Fehlgeburt wie die Male zuvor. Sechs Monate, sieben. Und da hatte er angefangen zu hoffen, denn so lange hatte sie bei ihren bisherigen Schwangerschaften nie ein Kind behalten. 113
Also hatte er weitergehofft und gebangt. Denn er wusste, was geschehen konnte. Die blutigen Bündel, die schreckliche Stille. Und dann drei kleine Kreuze auf dem Friedhof. Doch die Tage vergingen und er passte weiter auf sie auf. Er trug sie auf Händen. Und er hatte zu ihr gesagt, dass sie das Kinderzimmer schon noch rechtzeitig herrichten könne und dass sie eine Wiege kaufen müssten. Dann hatte sie das Kind geboren. Und dieses Mal war es gesund und lebendig auf die Welt gekommen. Er hörte noch auf der Treppe den kräftigen Schrei des Neugeborenen. Damals hatte er das Gefühl gehabt, als wäre in seinem großen Körper für die Freude nicht Platz genug. Er hatte das Geländer gepackt und sich an die Wand lehnen müssen. Und er hatte geweint. Vor Freude. Kurz und heftig hatte er geweint und auch darüber hatte er sich gewundert. Und dann war er in großen Sätzen die Treppe hinaufgelaufen. Er hatte die Hebamme gesehen und als Erstes war ihm ihr sorgenvolles Gesicht aufgefallen und da hatte er erschrocken geglaubt, mit dem Neugeborenen stimme etwas nicht. Aber seinem Sohn fehlte nichts. Er lebte, er streckte die Beinchen aus und tastete mit den Händen vor sich in die Luft. Und schrie. Und lebte … Und auch Helena lebte. Was bedeutete da schon die sorgenvolle Miene der Hebamme … Dann kam der Schrei. Ihr Schrei. Kein Freudenschrei, weil sie Leben geschenkt hatte. Nein, dieser Schrei war voller Schmerz gewesen. Der Schrei eines Menschen, der krank ist. Helena hatte ihn ausgestoßen, seine Frau. Und sie hatte sich von ihm abgewandt, von ihrem Kind, von ihrem Mann, von allem.
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Vorsichtig öffnete er die Tür zur Kammer des Dienstmädchens, stand eine Weile da und lauschte auf ihre Atemzüge. Eine dumpfe verzweifelte Lust ergriff ihn und er schloss rasch die Tür. Sofort musste er daran denken, wie er einmal voller Begehren vor Antonetta Brolin gestanden hatte. Aber das war lange her. Das war damals, als ihn Helena aus ihrem Zimmer ausgesperrt hatte, weil sie Angst vor einer weiteren Schwangerschaft und Fehlgeburt hatte. Doch inzwischen hatte er Antonetta Brolin, der Amme seines Sohns, viel zu verdanken. Er dachte an Antonettas Mann, Israel, den Beschneider und Abdecker. In letzter Zeit hatte Israel nicht viel zu tun gehabt, es hatte keine Hinrichtungen, keine Selbstmörder gegeben. Vermutlich kastrierte und schlachtete er Hengste. Ihm war bewusst, dass viele Leute, nicht zuletzt Pfarrer Backäus, sich darüber wunderten, warum der Polizeiamtmann Harald Morell mit dem Abdecker Israel Brolin zu tun hatte. Das ist Teufelsbrut, hatte der Pfarrer immer gesagt, wenn er zu Besuch gekommen war, während Antonetta Brolin bei ihm auf dem Hof gelebt und seinem Sohn die Brust gegeben hatte. Dem einzigen Sohn, den Helena schließlich geboren hatte. Nichts war so geworden, wie er es sich vorgestellt hatte. Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer und ging zu seiner Frau. Sie lag auf der Seite, die Beine hatte sie angezogen. Wie ein Embryo, dachte er. Sie schlief. Er zündete die Kerze auf dem Tisch an und in ihrem schwachen Schein betrachtete er forschend Helenas Gesicht. Wenn sie schlief, war der Wahn aus ihren Zügen verschwunden. Ihr Gesicht war glatt und weich. Er legte sich vorsichtig neben sie und als wollte er sich vor seinem Begehren schützen, legte er behutsam seine Arme um sie, ganz zart, damit sie von der Berührung nicht erwachte.
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17 Sein Geld war längst alle. Und inzwischen hatte er auch keine Bleibe mehr. Bald musste er hier verschwinden, aus Anundsjö. Meistens war er in Yttersel gewesen, dort hatte er in einer Knechtskammer geschlafen bei einem Altknecht namens Salmon Andersson. Den kannte er noch von früher. Nein, umsonst hatte er dort nicht gewohnt. Sein Geld war für Salmon und Branntwein draufgegangen. Acht Reichstaler hatte er gehabt, jetzt waren sie ausgegeben. Er hatte versucht, sich neues Geld zu beschaffen. Er hatte im Gasthof in den Taschen der Mäntel gewühlt und war eines Abends spät in Norresunda auf einen Dachboden geklettert. Die Haustür hatte offen gestanden und er hatte die Hofleute in der Küche gehört. Da war er heimlich mit der Kerze in der Hand die Treppe hinaufgeschlichen, um etwas zu stehlen, das sich zu Geld machen ließ. Aber ich habe zu viel Angst gehabt, dachte er. Er hatte deshalb nicht richtig gesucht und natürlich auch nichts gefunden. Eine große Truhe mit silbernen Löffeln und feinem Leinen, so was müsste ihm zwischen die Finger kommen. Aber das war ihm bisher nicht gelungen. Es war zu dunkel. Die Dunkelheit löschte die Dörfer aus. Wenn er abends auf der Straße an Fanbyn und Norresunda vorbeiging, hatte er den Eindruck, im Dunkeln zu leben. Es war so finster, dass er kaum das nächste, am Weg liegende Dorf erkennen konnte. Auch in Mellansel hielt er sich manchmal auf, aber meistens in Bredbyn. Er wollte wieder seinen Trick mit dem ZehnReichstaler-Schein ausprobieren, hatte aber wenig Hoffnung, dass sich noch einmal jemand so leicht übers Ohr hauen lassen
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würde. Und da er an den Geldschein dachte, musste er zwangsläufig an den Isak denken. Nur mithilfe des Branntweins konnte er dann sein aufkommendes Unbehagen lindern, das ihn noch immer bei dem Gedanken überkam, einen Menschen getötet zu haben. Nie hätte er geglaubt, jemanden erstechen zu können. Aber genau das hatte er getan. Doch im Rausch gelang es ihm immer, die Schuld an seiner Bluttat auf Isak abzuwälzen. Hatte sein Kumpel ihn nicht gewürgt und die Herausgabe des Geldes verlangt? Ja, das hatte er getan! Er fand ein Wort für seine Tat. Notwehr. Es war reine Notwehr gewesen! Denn wäre es ihm nicht gelungen, sein Messer zu ziehen, dann wäre er jetzt tot und läge in einem Schneegrab. Salmon hatte er nichts davon erzählt. Manchmal lag es ihm förmlich auf der Zunge, da hätte er am liebsten erzählt, wie er Isak das Messer in den Körper gerammt hatte. Aber er hatte geschwiegen. Im Rausch war er manchmal nahe daran gewesen, zum Glück hatte er sich nicht verraten … Salmon war ein großer Mann mit einem großen Kopf und dumpfen Blick. Trotzdem war der Knecht schnell betrunken. Er merkte, dass er sogar mehr vertrug als dieser große Kerl. Immer war Salmon als Erster eingeschlafen und er schlief wie ein Murmeltier. Erst im Morgengrauen wachte er auf und ging dann geräuschvoll in den Kuhstall. Er selbst schlief trotz des genossenen Branntweins schlecht. In aller Frühe stand er auf und stahl sich davon, damit die Leute auf dem Hof nicht merkten, dass er da gewesen war, und marschierte nach Mellansel oder Bredbyn. Manchmal wunderte er sich, warum er hier geblieben war, warum er nicht nach Örnsköldsvik gewandert war oder noch weiter weg. Warum blieb er hier? Na ja, weil er einen Schlafplatz hatte, bei Salmon, der hatte ein Bett für ihn gehabt, 117
das er aber teuer bezahlen musste. Und jetzt hatte der Knecht ihn vor die Tür gesetzt, weil sein Geld alle war. Salmon hatte ihn früh am Morgen geweckt. »Es ist der Bauer«, hatte Salmon zu ihm gesagt, »der hat gesagt, dass ich niemand hier bei mir schlafen lassen darf.« Er hatte gelacht und seine Zahnstummel entblößt, aber sein Blick war dumpf geblieben. »Na ja, Weiber, klar. Aber sonst niemand.« Er hatte die Wut auf den Knecht gespürt, eine starke Wut, und wie sie von seinem Körper Besitz ergriff. »Ich beschaff Geld«, hatte er geantwortet. »Es ist nicht das Geld. Es ist der Bauer«, hatte Salmon gesagt. »Ja, dann fahr doch zur Hölle!«, hatte er da geflucht und war gegangen. Das war früh am Morgen gewesen, aber er ging nicht in die Stadt, er ging zurück, nach Bredbyn. Warum er das tat, wusste er nicht. Aber er nahm diesen Weg. Doch er wusste, dass Isak inzwischen im Schnee gefunden worden war. Das hatte er im Gasthof gehört. Solange er Geld gehabt hatte, hatte er sich manchmal tagsüber dort aufgehalten. Nun war damit unwiderruflich Schluss, erst musste er sich neues Geld beschaffen. Isak und ihn verband nichts. Wer sollte schon wissen, dass er mit diesem hierher gekommen war? Im Schneetreiben war nichts zu sehen gewesen. Nein, er musste zusehen, ein paar Reichstaler aufzutreiben, damit er abends im Gasthaus sitzen konnte. Er hielt sich jetzt schon lange hier auf und nichts war passiert. Kein Länsman hatte nach ihm gesucht. Die wussten einfach nichts. Und wer wusste, dass Isak sein Kumpel gewesen war? Klar, die Leute in Åsele, aber nicht hier. Und das Messer? 118
Das Messer hatte er in einem Loch des zugefrorenen Sees versenkt. Er marschierte die Straße in Richtung Bredbyn entlang. Das war nicht sehr weit. Nach einer Weile fiel ihm ein, wohin er gehen konnte. Da bin ich schon einmal gewesen und man hatte sich meiner angenommen, dachte er. Ja, ich muss sie noch einmal besuchen.
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18 Der Hilfspfarrer Erik Sondelius saß in seinem Amtszimmer im Armenhaus. Die Tür war nur angelehnt. Er schrieb irgendetwas. Ob es sich um eine Predigt handelte oder etwas anderes, wusste Greta Sigurdsdotter nicht. Ihr eigenes Zimmer lag nebenan. Dort schlief sie, dort lebte sie, wenn sie nicht arbeitete. Sie sehnte sich nach dem Frühling. Dann hatte sie Gelegenheit, die Alten nach draußen zu bringen, sie auf die Erde zu setzen oder zu legen, und sie konnte die Zimmer sauber machen, den Geruch wegscheuern, der in die Wände eingedrungen war und der – so kam es ihr vor – sogar an ihr klebte. Dieser Gestank des Alters, scharf und säuerlich. Ihr schien, als wäre sie selbst schon dort, als wäre sie selbst schon eine der Alten und Hilflosen des Armenhauses. Der Pfarrer blickte auf. Sie hatte vor, weiterzugehen, hinauf zu den Frauen oder in den Raum mit den acht Männern. Noch war niemand hinzugekommen. Aber der Pfarrer winkte sie zu sich, er habe ihr etwas zu sagen, und so betrat sie sein Büro. Er saß in seinem Talar hinter dem Schreibtisch und hielt einen Federhalter in der Hand. Seine Größe schien den ganzen Raum auszufüllen. Wenn sie ihm begegnete, machte sie sich ganz klein. Sie wollte ihm erklären, wie schwer es sei, die Alten allein zu versorgen. Dass ihr die Frauen fehlten, die früher geholfen hatten, einige vormittags, andere abends. Aber heute traute sie sich nicht. Mit gesenktem Kopf stand sie vor ihm und wartete auf das, was er sagen wollte. »Wie geht’s den Alten?«, fragte Sondelius. »Wohl wie immer«, flüsterte Greta ängstlich. »Ist keiner dabei, uns zu verlassen?«, fragte er.
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Das sind sie doch wohl alle, dachte Greta. Aber ob es sich dabei um Tage, Wochen oder Monate handelte, konnte niemand voraussagen. »Sara ist wohl am schlimmsten dran«, sagte sie. »Die Arme schläft die meiste Zeit, siecht nur noch dahin.« »Nächste Woche kommen ein paar Neue. Zwei Frauen und zwei Männer. Gibt es Platz für sie?« Greta dachte an die beiden leeren Betten im Erdgeschoss, in denen Johannes und Efraim gelegen hatten. Dort war Platz. Aber bei den Frauen? »Hier unten ist Platz«, antwortete sie. »Aber bei den Frauen nicht? Diese Sara …«, sagte er lächelnd, ohne seinen Satz zu vollenden. Greta sah den Hilfspfarrer verwundert an. »Ja, natürlich«, beeilte er sich hinzuzufügen, »alles liegt in der Hand des Herrn.« Dann stand er auf, ging um den Schreibtisch und stellte sich neben sie. Greta wich einen Schritt zurück. Er zupfte sich gedankenverloren am Bart und schaute dabei aus dem Fenster. »Das Leben«, sinnierte er. »Was ist das schon? Eine kurze Zeit hier auf Erden. Dann aber kommt das Himmelreich.« Er wandte sich ihr zu und beugte sich vor: »Hat Greta jemals daran gedacht …«, fuhr er fort. »Hat sie jemals an das Himmelreich gedacht? Was glaubt Greta, was alle diese Frauen sagen werden, wenn sie dorthin kommen? Glaubt sie denn nicht, dass diese Alten lieber dort sein wollen als hier auf Erden?« Seine anfangs flüsternde Stimme wurde immer lauter und sein Gesicht befand sich jetzt dicht vor ihrem. Sie bemerkte einen schwachen, nicht unangenehmen Duft. In seinen Augen glühte ein Feuer. »Was glaubt Greta? Wenn die Alten wählen dürften. Hier zu liegen, wie die Säuglinge gefüttert zu werden und sich im 121
Schmutz und Erbrochenem zu wälzen. Und zu schlafen, unter Albträumen zu leiden und in einer erbärmlichen Wirklichkeit aufzuwachen. Oder …« Greta neigte den Kopf, um Sondelius’ Blick auszuweichen, aber er hob ihren Kopf und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Oder zwischen Wolken zu wandeln und von silbernen Tellern zu essen«, redete er weiter. »Kalbsbraten. Und kostbarsten Wein zu trinken. Und schaukeln zu dürfen! Auf Wölkchen zu sitzen, weich wie Schnee, und einfach nur zu schaukeln. Nie mehr schlimme Träume zu träumen! Nie mehr diesen Gestank riechen zu müssen! Nur die Nähe von Gottes Glückseligkeit erleben zu dürfen.« Er hielt ihr Kinn noch immer fest, dann drückte er es, als wollte er es zerquetschen und schrie: »Na! Was glaubt Greta? Na?« Sie spürte seine Hand an ihrem Kinn und es fiel ihr schwer, den Mund aufzumachen, aber sie flüsterte: »Glückseligkeit und Wolken.« Er ließ sie los. »Ja, so ist das! Das ist das wahre Leben. Das Erdenleben ist nur eine kurze Vorbereitung auf die ewige Glückseligkeit. Wenn die Kräfte erlöschen, soll man sich auf das Himmelreich vorbereiten. Auf die Ewigkeit.« Dann setzte sich Sondelius wieder hinter seinen Schreibtisch. »Und die Ewigkeit«, fuhr er fort, »sie ist etwas Unfassbares. Sie dauert so lange, Greta kann sich nicht vorstellen, wie lange sie währt. Das Erdenleben hingegen …« Er verstummte und es schien, als hätte die Kraft seiner Rede ihn ermattet. Auf Greta wirkte er, als schrumpfe seine Gestalt. Er legte sein Gesicht in die Hände. Sie stand verwirrt da und
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wusste nicht, was sie tun sollte. Er blickte auf, sah sie wieder an und jetzt klang seine Stimme merklich schwächer. »Doch alles liegt allein in Gottes Hand«, sagte er. »Er bestimmt, wann unser irdisches Dasein zu Ende ist, wann die Reise hinüber in das ewige Leben angetreten werden soll. Wann Sara …« Greta nickte leicht. »Versteht Greta, was ich sage?«, fragte er. Sie nickte wieder. Er hob eine Hand und wies zur Tür. »Sie kann jetzt gehen«, sagte er. »Zu den Alten.« Greta stolperte auf den Flur hinaus und in ihr karges Zimmer mit dem Bett, dem Herd, dem Abwaschbrett, dem Tisch und dem Stuhl. Hier muss ich so lange wohnen, bis ich in dem Schlafsaal darüber lande, dachte sie. Vom Himmelreich hat er geredet, der Pfarrer, der doch wohl etwas davon versteht. Von Wolken und Glückseligkeit. Aber bei alldem hatte sie ein ungutes Gefühl gehabt und war gar nicht erbaut gewesen. Gott ist die Erbauung und der Pfarrer, sein Diener, soll die Menschen innerlich stärken und bereichern. Doch sie fühlte sich weder gestärkt noch bereichert. Sie saß eine Weile auf dem Stuhl, bis sie hörte, wie Sondelius die Tür zu seinem Amtszimmer zuschlug. Sie war wieder mit den Alten allein. Sie machte ihre Runde, mit dem Essen, dem Nachfragen. Sie stützte die Gebrechlichen, damit sie sitzen konnten, sie sprach mit ihnen, so wie sie es immer tat. Sie half ihnen zum Kübel, sie hob die vogelleichten Frauen aus ihren Betten. Dann trug sie die Kübel wie üblich hinaus zum Mist und die Arbeit des Nachmittags war geschafft. Wie gewöhnlich stand sie eine Weile vorm Haus und betrachtete den Schnee, die Sonne und die Landschaft vor sich. Schließlich dachte sie wieder ans 123
Himmelreich. Vielleicht würde es dort wie hier sein, wie im Sommer, mit grünen Wäldern und blühenden Wiesen. Wie auf den Almen, an die sie sich aus ihrer Kindheit erinnerte. An die übervollen Trockengestelle, das duftende Heu und die Pausen im Schatten der Hocken. Sah es so im Himmel aus? In dem Land, wo Jesus über die Erde gewandert war, habe es nur Steine und Wüste gegeben, hatte sie einmal gehört. Nichts Grünes. Sie schloss die Augen und versuchte, sich die Ewigkeit vorzustellen. Denn Zeit war für sie wie ein Kreis, wie die Wiese vor dem Armenhaus. Mit einem großen Stein in der Mitte. Und einem Rondell. Pferdewagen fuhren darauf ihre Runden. Sie hielten beim Eingang an, lieferten einen Alten und Bedürftigen ab. Und irgendwann kam dann der Leichenwagen und sie musste helfen, den Toten oder die Tote hinauszutragen. Aber die Zeit, die gewöhnliche irdische Zeit, glich einem Kreisel mit steten Wiederholungen und täglichem Einerlei. Alles kehrte wieder, Frühling, Frühjahrsbestellungen, Heuen, Ernte, Beerensuchen im Wald, Schnee, Tauwetter und Frühling. So war es früher gewesen, in Risbäck. Und so sollte es sein: ein Tal, sanfte Hänge und eine warme Sonne, während man die Straße entlangwanderte, und an den Wegesrändern blühten Mittsommerblumen und wuchsen wilde Erdbeeren. So sollte es sein. Hier hingegen gab es nur selten einen Moment des Verweilens und manchmal fiel ihr dann auf, dass die Zeit verging. Der Schnee, das grünende Gras oder das sich verfärbende Laub. Und der See, dessen Wasserspiegel jedes Jahr ein bisschen mehr sank. Das komme daher, weil sich die Sintflut immer weiter zurückziehe, hatte Pfarrer Backäus einmal erklärt. Aber die Ewigkeit konnte doch nicht wie das Rondell vor dem Armenhaus aussehen. Das konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Sie schloss die Augen und sah Dunkelheit. Dort war die Ewigkeit. Eine lange gerade Straße, die sich bergauf wand 124
und hinter den Bergen im Wald verschwand. Dort war auch Dunkelheit. Und in dieser Ewigkeit würden sie und alle anderen zu finden sein. Besser als das Erdenleben hatte der Hilfspfarrer gesagt. Greta seufzte und lächelte über ihre eigenen Gedanken und kehrte mit den leeren Eimern ins Haus zurück. Sie machte noch eine Runde und lauschte dem Stöhnen und den Schmerzenslauten. Und dem Röcheln derer, die vielleicht bereits unterwegs waren, die schon die Grenze zu der dunklen Ewigkeit und dem Himmelreich erreicht hatten. Weitere Erklärungen fand sie nicht. Da ging sie in ihr Zimmer, zog ihre Stiefel aus und legte sich auf ihr Bett. Wie das Bett sollte es sein, dachte sie, wie frisches Stroh in der Matratze, dicht und fest und duftend. Ja, vielleicht war das Himmelreich so. Jemand klopfte an der Tür, davon wurde Greta wach. Sie schrak zusammen und wusste zunächst nicht, wo sie war, denn sie hatte geträumt. Es war Sommer und sie war auf dem Hof in Risbäck. Aber nun hatte das Klopfen sie aus Schlaf und Traum gerissen und sie war wieder im Armenhaus. Klopfte da einer von den Alten? Oder der Pfarrer? Inzwischen war es dunkel geworden, sie musste lange geschlafen haben. War etwas passiert? Wieder wurde geklopft und sie stand schwerfällig auf. Mühsam. So als wollte ihr Körper liegen bleiben. Wegen der Schmerzen in Rücken und Schultern verzog sie das Gesicht, kam aber schließlich hoch und öffnete die Tür. Keiner von den Alten stand davor und auch nicht der Pfarrer, sondern dieser kleine Mann, dem sie einmal einen Teller Suppe gegeben hatte. Heute sah er noch jämmerlicher aus. Blass und abgezehrt stand er vor ihr, am ganzen Körper zitternd. Er stank nach Branntwein 125
und sie trat einen Schritt zurück ins Zimmer, ließ die Tür aber auf. »’n bisschen Suppe?«, stieß er hervor. »Das ist doch das Armenhaus.« »Bleib da stehen«, sagte sie, schloss die Tür und ging zum Herd. Auf dem Boden des Suppeneimers fand sie noch einen Rest. Die Suppe war kalt, aber sie hob den Eimer und goss den Rest in ein Gefäß, das sie zu dem Wartenden nach draußen trug. Er trank gierig und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Mit der einen Hand hielt er seinen Mantel an sich gedrückt, als stünde er immer noch draußen in der Kälte. Er sah sie flehentlich an. »Ich hab nichts mehr«, sagte sie. »Ist hier kein Platz frei …«, fragte er. »Der ist für die Alten und Hilflosen«, sagte sie. Er konnte nicht älter als dreißig sein und sein fahles Gesicht und sein magerer Körper zeigten, dass er viel hatte einstecken müssen. »Nur ’n paar Nächte«, sagte er. »Ich hab keine Bleibe. Nur ’ne einzige Nacht.« Greta dachte an das, was Sondelius gesagt hatte, dass neue Alte kommen würden. Aber noch waren sie nicht da. Sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer und öffnete die zum Männerschlafsaal. »Such dir ein Bett«, sagte sie. »Zwei sind frei. Aber nur für eine Nacht.«
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19 Am Mittwochabend stand Daniel vor Annikas Fenster. Die halbe Nacht stand er dort und wartete auf Johan Anundsson. Am Ende war er sicher und er lachte als klar war, Johan würde nicht kommen. Er, Daniel, hatte ihn in die Flucht geschlagen! Genau so war es! Jetzt würde sich alles zum Guten wenden. Er musste dringend, knöpfte seine Hose auf und holte sein Glied heraus. Hart war es und steif und er konnte sich nicht erleichtern. Aber es war heiß und wärmte seine Hand. Bald, dachte er. Bald. Vielleicht sollte er lieber noch einen Tag warten, oder sogar bis zum Wochenende? Damit er ganz sicher sein konnte, Johan Anundsson für immer verjagt zu haben. Bald wollte er zu Annika gehen und ihr sagen, dass sie wieder zusammengehörten. Ihre Beziehung zu Johan Anundsson sei nur kurz gewesen, würde er ihr sagen. Und nun sei sie zu Ende. Und er würde ihren Bauch anfühlen. Das ist doch unser Kind, würde er sagen. Deins und meins. Aber nicht heute Nacht. Vielleicht konnte er sie morgen, im Kuhstall, noch einmal heimlich sehen. Er sah zu dem dunklen Fenster hoch. Bald würde er zu ihr gehen. Nun habe ich lange genug gewartet, dachte er. Bald hat das Warten ein Ende. Und bis dahin kann ich in der Gaststube sitzen … Annika hatte Daniel gesehen. Sie hatte ihn unter ihrem Fenster stehen sehen und sie hatte gedacht: Bestimmt wartet er auf Johan. Sie hätte Johan gern gewarnt, aber wie? Dem Bauern 127
hatte sie sich noch nicht anvertraut, doch das musste sie bald tun. Sie wartete und hoffte, dass Johan nicht käme. Hatte er nicht am Samstag erzählt, dass er mit dem Länsman längere Fahrten unternehmen müsse? Dann würde er sie wahrscheinlich nicht besuchen. Sie legte sich aufs Bett, stand auf und sah aus dem Fenster. Immer wieder. Doch, da unten stand Daniel. Stunden vergingen und sie hoffte inständig, er würde endlich verschwinden. Noch eine Stunde lag sie wach auf ihrem Bett, ehe sie wieder ans Fenster trat. Da war er verschwunden. Und Johan war nicht gekommen. Bald musste sie mit dem Bauern reden. Noch vor dem Wochenende. Und bald musste etwas geschehen – ehe es zu spät war. Sie bohrte ihren Kopf in das Kissen und ihr schien, als ströme es noch immer seinen widerlichen Körpergeruch aus, den sie jetzt als richtigen Gestank empfand. Niemandem hatte sie erzählt, dass er sie kurz vor dem Ende ihrer Beziehung mit Gewalt genommen hatte. Das letzte Mal in jener Nacht, ehe sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Da muss er mich geschwängert haben, dachte sie. Bald musste sie mit dem Bauern reden. Oder mit einem anderen. Mit Männern. Mit Männern, die ihr helfen konnten. Und mit Johan musste sie reden. Wenn Daniel noch einmal käme, dann würde sie vorbereitet sein. Vielleicht sollte sie – und vielleicht sollte sie sogar vorher zu ihm gehen und mit ihm reden …
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Nicht so, dachte Lisbet. Nicht so … Und obwohl sie ihre Zimmertür abgeschlossen hatte, hatte sie Angst, Daniel Persson könnte bei ihr mit Gewalt eindringen. In ihrem Zimmer gab es einen begehbaren Kleiderschrank und hinter den Kleidern machte sie sich als Zuflucht ein Eckchen zurecht. Wenn er kam, würde sie sich dort verstecken, da wäre sie sicher. Sollte er eines Nachts kommen, wollte sie mit dem Gastwirt reden, der fast immer unten in der Wirtsstube saß. Gleich morgen. Hoffentlich reicht mein Mut dazu, dachte sie. Auch mit dem Landgendarm sollte sie reden. Der war heute hier gewesen, vor dem Abendbrot. Sie hatte da ganz allein gesessen, in der Wirtsstube. Laut hatte er gesprochen, als hielte er sie für schwerhörig. Was er eigentlich hatte sagen wollen, hatte sie nicht verstanden. Sie lag im Bett und nickte immer wieder ein. Aber nicht so, dachte sie. Zwar sehne ich mich nach einem Mann. Nach jemandem, der mich berührt, der mir mit der Hand über die Wange streicht, der meine Hand hält. Jemand wie … Ein Haus, sie und er. Jetzt, wo sie ihr neues Leben angefangen hatte. Noch in derselben Nacht hörte sie Daniel Perssons Stimme, sein Flüstern. Dass er sie aus ihrer Einsamkeit erlösen wolle, dass sie ihm öffnen solle. Leise stand sie auf, öffnete die Tür zum Kleiderschrank, machte sich ihr Bett aus Kleidern und Decken zurecht und lauschte angestrengt. Erst in der Morgendämmerung wagte sie es, ihr Versteck zu verlassen und sich wieder in ihr Bett zu legen. Sie musste dringend mit jemandem reden. Und sie musste etwas unternehmen.
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Der Tote im Schnee war mit einem Messer erstochen worden. Und sein Mörder war ein kleiner hinkender Mann mit guten Zähnen – der sich vielleicht hier in Bredbyn herumtrieb. So viel wusste Johan Anundsson, aber etwas anderes beunruhigte ihn weitaus mehr. Er kannte jetzt den Namen seines Angreifers. Daniel Persson. Und er wusste, dass Persson oft im Gasthof saß. Bin ich aus lauter Angst vor Daniel gestern Abend nicht zu Annika gegangen?, fragte sich Johan. Dieser Gedanke beschäftigte ihn und das nicht zum ersten Mal. Er hatte sich regelrecht in seinem Kopf festgesetzt. Johan beschloss deshalb, am Samstag mit Annika zu reden und sich das Gegenteil zu beweisen. Sie wolle ebenfalls mit ihm reden, hatte sie gesagt. Und trotzdem hatte er sie am Mittwochabend nicht besucht. Weil er … Was wollte Annika? Dass sie den Hochzeitstermin festlegten? Bald war Frühling und dann wollte er am Fluss mit dem Hausbau beginnen. Aber er wurde bedroht. Von einem Mann namens Daniel Persson. Dagegen musste er etwas unternehmen. Was sollte er tun? Reichte es, wenn er ständig einen Knüppel mit sich herumtrug? Ob ich mir den Revolver des Länsman ausleihe?, dachte Johan. Ja, bis zum Wochenende muss ich einen Entschluss gefasst haben. Ich muss etwas tun. War Daniel Persson mit einem Weggefährten durch den Schnee gewandert und hatte ihn erstochen? Der Mörder war 130
klein, erinnerte sich Johan. Aber hatte Daniel auch gute Zähne? Und hinkte er? Er musste Annika fragen … Denn sollte es sich bei Daniel um den Täter handeln, dann wäre er – Johan Anundsson – der Mann, der diesen Mörder gefasst hatte. Und weil ich jetzt weiß, wie mein Widersacher heißt und dass er sich oft im Wirtshaus aufhält, ist es höchste Zeit, etwas zu unternehmen.
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Landgendarm Anund Persson hatte dem Armenhaus einen Besuch abgestattet. Greta hatte zunächst gedacht, der Landgendarm hätte auch etwas mit der Verwaltung der Armenfürsorge zu tun. Er hatte sehr laut gesprochen und sie gefragt, wie es um die Alten stehe. Dann hatte er sie begleitet und die alten Männer gesehen und auch nach oben zu den alten Frauen war er ihr gefolgt. Zu dem unerträglichen Geruch und der Dunkelheit in den Schlafsälen hatte er sich nicht geäußert. Aber er hatte viel geseufzt und schließlich mit dröhnender Stimme gesagt: »Hierher kommt sicher nie jemand?« Und sie hatte nur resigniert gelächelt und den Kopf geschüttelt. Fast schon im Gehen hatte er noch hinzugefügt: »Und falls mal jemand kommt, sieh zu, dass ich es erfahre …« Greta hatte genickt. Doch der Mann, der gestern hier übernachtet hatte, war ihr erst eingefallen, als der Landgendarm schon wieder gegangen war. Das war am frühen Morgen gewesen und wiederkommen würde er wohl nicht. Und deshalb sollte sie morgen lieber zum Landgendarm gehen und ihm 131
berichten, dass ein kleiner Mann im Armenhaus übernachtet hatte. Greta ging noch einmal am Abend durch beide Schlafsäle. Sara hatte sich erholt. Heute Morgen hatte Sondelius gefragt, ob jemand das Abendmahl haben wolle. Ob es an der Zeit sei. Und damit niemandem die ewige Seligkeit verweigert würde. »Sara?«, hatte Sondelius gefragt, »wie heißt sie noch gleich …« Aber Sara hatte sich erholt und im Sterben liege niemand, hatte Greta geantwortet. Plötzlich schoss ihr blitzartig ein Gedanke durch den Kopf. Sie wollte in wegschieben, derart unfassbar erschien er ihr. Denn diese Vorstellung wäre genauso unfassbar wie die Ewigkeit. Der Pfarrer, dachte sie. Der Hilfspfarrer und Vorsteher des Armenhauses. War das möglich? Nein, nein! Das durfte sie nicht einmal denken! Aber wie war das mit Johannes gewesen? Sie ging in den Schlafsaal der Männer, ging langsam zwischen den Reihen der Betten hin und her. Dort hatte er gelegen. Am Abend vorher war Sondelius gekommen und hatte ihm Brot und Wein gebracht – und dann war er gestorben, der Johannes. Nein, das konnte nicht sein … Und Efraim. Natürlich war er krank gewesen und Efraim selbst hatte sie gebeten, den Pfarrer zu holen. Es sei vielleicht so weit. Und am nächsten Tag war er gestorben. Brachte Sondelius die Alten um? Er hatte von der Glückseligkeit gesprochen und von der Wolke – als sei dieses Dasein weitaus besser als das Armenhaus. Das stimmte wohl auch, soweit sie es begreifen konnte. Aber hatte Sondelius nicht auch gesagt, alles läge in Gottes Hand? 132
Half er der Hand Gottes etwa nach? Greta erstarrte bei diesem Gedanken. Ja, so musste es sein. Er kürzte das Leben der Alten ab. Er vergiftete den Wein. Oder die Oblate. Dann starben sie einfach. Nein, das konnte nicht sein. Ich muss mit ihm reden, dachte Greta. Schon morgen muss ich mit dem Pfarrer Sondelius reden. Aber was soll ich ihm sagen? Greta ging in den ersten Stock zu den Frauen, Alle schliefen, ihre Schlaflaute drangen wie ein leises Raunen an ihr Ohr. Sie ging zu dem Bett, in dem Sara lag, und zündete eine Kerze an, die hielt sie nahe an das Gesicht der alten Frau. Runzelig und eingesunken war es. Die Augen waren kaum zu sehen. »Wie geht’s dir?«, flüsterte Greta. »Geht’s dir besser?« Die Alte antwortete nicht. Aber sie öffnete die Augen etwas mehr und sah Greta eindringlich an. »Geht’s dir besser?«, wiederholte Greta. Sara zwinkerte. »Ich muss dir etwas sagen«, flüsterte Greta. »Du darfst das Abendmahl nicht nehmen. Wenn Sondelius dir den Wein und die Oblate geben will, musst du dich weigern. Ich meine, wenn Sondelius dir das geben will. Ich hol Pfarrer Backäus, wenn’s so weit ist. Versprich mir das.« Aber die Alte hatte die Augen schon wieder geschlossen. Greta berührte ihre Hände. Sie waren dünn, aber hart wie Vogelkrallen. Greta zwickte Sara vorsichtig in die Wange, damit sie aufwachte, und beugte sich noch einmal nahe zu ihr hin und flüsterte: »Hast du gehört, was ich gesagt hab? Trink nicht den Abendmahlswein …« Erschrecken blitzte in den Augen der Alten auf, aber sie nickte, eine kleine, kaum bemerkbare Bewegung. Greta ließ die Hand los und stieg die Treppe hinunter. 133
Sie blieb stehen. War da ein Geräusch? Ja, jetzt hörte sie es. Jemand klopfte an die Haustür. War das Sondelius? Dann müsste sie ihm sofort von ihrem Verdacht erzählen. Sie ging über den Flur, schielte hinüber zu dem halb vollen Kübel und stieß die Tür auf. Dieser kleine Kerl stand davor. Dieser Wicht. Auch heute Abend war er betrunken. Er stand vor ihr und schwankte. »Liebe, gute Frau«, sagte er. »Ich muss heute Nacht hier schlafen dürfen, ’s ist so unchristlich kalt.« Greta umklammerte die Haustür, als würde sie sie gleich wieder schließen. Doch schon hatte er seinen Fuß dazwischengestellt und da stieß Greta die Tür ganz auf. »Du sollst eines wissen. Der Landgendarm ist hier gewesen. Er sucht nach ’nem Unbekannten, ’nem Fremden im Dorf. Ist er etwa hinter dir her? Hast du was angestellt?«
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ZWEITER TEIL
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20 Und dann fing es wieder an zu schneien. Die Menschen sahen den Schnee und dachten an jene drei Tage Schneesturm im Februar. Aber sie merkten schnell, dass die nichts gewesen waren verglichen mit den Schneemengen, die jetzt fielen. Acht Tage lang schneite es ununterbrochen. Die Dächer bogen sich unter dem Schnee, Wagenschuppen brachen unter seinem Gewicht zusammen. Auf den Straßen gab es kein Durchkommen mehr und die Menschen mussten auf ihren Höfen bleiben, wo sie untätig saßen und zusahen, wie Schnee vom Himmel fiel. Es hieß, noch nie habe es Ende März so viel Schnee gegeben. Seit Menschengedenken hatte es nicht so lange und andauernd geschneit. Doch, ein alter Mann, der um das Jahr 1770 geboren war – er wohnte auf dem Altenteil in Näs –, behauptete, 1787 habe es noch im Mai geschneit und erst zu Mittsommer seien Felder und Wiesen endlich schneefrei gewesen. Das hatte er gesagt. Aber andere Leute behaupteten, das noch nie so viel Schnee wie jetzt gefallen sei und auf jeden Fall nicht so spät im Jahr. Also konnten die Menschen nicht viel mehr tun, als zu warten. Johan und Anund blieben zu Hause auf ihrem Hof und Morell saß einsam auf seinem. Er bekam einen Brief. Der war lange unterwegs gewesen, durch den Schnee und über vereiste Gewässer. Der Länsman von Åsele konnte sich nicht an irgendwelche Männer um die dreißig erinnern, wie Morell sie beschrieben hatte. Vor einiger Zeit hatte dort tatsächlich eine Messerstecherei stattgefunden, allerdings ohne tödlichen Ausgang. Auseinandersetzungen mit Messern oder Schlägereien zwischen 136
Lappen und Neusiedlern seien nichts Ungewöhnliches, schrieb der Länsman von Åsele. Zeugen gebe es keine und der Verletzte sei nicht willens gewesen, irgendetwas auszusagen, was ebenfalls normal sei. Es müsse sich wohl um eine Auseinandersetzung zwischen einem Lappen und einem Neusiedler gehandelt haben, vermutete der Länsman. Hier leben viele Lappen, schrieb er noch. Aber diese zwei Gesuchten seien doch keine gewesen. Nein, weder Ingel Kristoffersson noch die Alte hatten davon etwas gesagt. Morell merkte, dass er nicht sorgfältig genug ermittelt hatte. Denn er hatte keine zuverlässige Beschreibung des eventuellen Täters. Aber was hätten die Zeugen sagen können?, dachte Morell zu seiner Rechtfertigung. Ingel, der schlecht sah – der aber immerhin doch den Pelz des Opfers bemerkt hatte. Und die alte Frau? Nein, er musste jemanden finden, der den potenziellen Täter beschreiben konnte. Aber es gab ja niemanden; niemand hatte sie gesehen! Er hatte gerade mit Johan zu planen begonnen, wie sie die Befragung fortsetzen wollten. Am Mittwoch, den 14. März waren sie in Solberg gewesen und dann noch einen Tag in Bredbyn und Umgebung. Das hatte er protokolliert. Eine Suche ohne Resultat. Aber dann kam ihnen der Schnee dazwischen. Es verdross Morell, dass er mit seinen Ermittlungen nicht weitergekommen war. Was wusste er denn eigentlich? Zwei Männer auf dem Weg nach Süden an Solberg vorbei. Ein Großer mit spärlichem Bartwuchs, der Ermordete. Der andere, ein Kleiner, mit einem schäbigen Mantel bekleidet und mit einem Kopftuch. Möglicherweise hinkte der Mann; und er hatte gute Zähne. Morell schob das Schreiben aus Åsele beiseite. Vielleicht ein Lappe … Hatte der, den sie suchten, unter Umständen auch auf einen der Lappen in Åsele eingestochen? Er stammt nicht aus Bredbyn, nicht aus Kubbe und nicht aus 137
Seltjärn. Und nicht aus Åsele. Aber auf dieser Straße war er unterwegs gewesen. Nur – wo steckte er jetzt? In Örnsköldsvik, an der Küste? Oder weiter im Landesinnern? Das Wetter hinderte Morell daran, seine Ermittlungen fortzusetzen. Aber er brauchte Arbeit. Er brauchte ein Problem, das er lösten konnte, um beschäftigt zu sein. Diese beiden. Der Große und der Kleine. Der Ermordete und sein Mörder. Morell saß in seinem Amtszimmer, er schürte im großen Zimmer oben im Kachelofen ein ordentliches Feuer ein. Er ging zu den Knechten in den Stall und half ihnen, den Schnee wegzuräumen. Und er spielte mit seinem Sohn, mit Gustav. Außerdem besuchte er seine Frau jeden Tag mehrere Male. Es ging ihr nicht besser. Die Ewigkeit dauerte an. Sie würde bis in alle Ewigkeit hier liegen, während er nach einem kleinen Mann suchte, der eventuell hinkte. Er stellte sich vor, wie er auf der Jagd nach dem Mörder kreuz und quer durch die großflächige Pfarrei Anundsjö wanderte. Tagelang, wochen-, monate- und jahrelang. Und nach jedem Jahr würde er zu Helena nach Hause zurückkehren und sie würde genau so daliegen wie vorher. Unverändert. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch, schlug auf den Stuhl und auf den Kachelofen. Er spürte, wie lange der Ofen die Wärme hielt und legte ein paar zusätzliche Scheite Holz nach. Dann setzte er sich wieder und schlug Hülphers Buch auf. Und draußen schneite es unaufhörlich, jetzt schon den achten Tag. Seit acht Tagen fiel der Schnee und begrub die Pfarrei unter sich. Die Pfarrei, deren Bewohner – wie es bei Hülphers beschrieben stand – Lob verdienen … »… weil sie fleißige Bauersleute sind und gut im Haushalten, redliche, zuvorkommende und friedliche Menschen, wodurch es ihnen nicht an Wohlstand und Bequemlichkeit mangelt.« 138
Ja, so ist es wohl, dachte Morell. Und dazu die Armen und die Alten. Und die Wahnsinnigen. So wie sie. Und wieder schlug er voller ohnmächtiger Wut mit der Faust auf Tisch und Stuhl, um sich Erleichterung zu verschaffen. Und draußen schneite es, jetzt schon den achten Tag. Und dort im Schnee oder mitten unter den braven Leuten von Anundsjö lebte möglicherweise ein kleiner Mann, der ein Mörder war.
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Johan bahnte sich mühsam einen Weg durch die Schneemassen. Manchmal fiel er hin. Manchmal zog er seine Schneeschuhe an. Er besuchte sie. Er hatte keine Angst mehr. Der andere, dieser Daniel Persson, war wohl aus der Gegend verschwunden. »Der ist abgehauen«, sagte Annika. »Jedenfalls ist er nicht mehr da. Ich hab ihn neulich vorm Haus gesehen, aber jetzt ist er nicht mehr da.« Noch immer erzählte Johan Annika nicht, dass Daniel ihm gedroht hatte, dass er ihn in den Schnee gedrückt und wie er um sein Leben gefürchtet hatte. Davon sprach er nicht. Er nahm Annikas Hand und streichelte ihre Wange und Stirn. »Es gibt nur dich und mich«, sagte er. Es schneite schon den dritten Tag. Inzwischen scherte sich Johan nicht mehr darum, ob es Mittwoch war oder Samstag. Jetzt besuchte er sie nicht nur montags, sondern auch dienstags. Denn dieser Daniel Persson, der, mit einem Knüppel bewaffnet, Menschen zu Boden drückte, der würde ihm nicht mehr 139
auflauern. Nein, er war nicht mehr da, er, der kaum noch einen Zahn im Mund hatte. Das hatte Annika gesagt. Und dann kam der siebte Tag. Da sagte sie es ihm. »Ich bin schwanger«, sagte sie. Johan war, als hätte er nie einen schöneren Satz gehört, nie schönere Worte vernommen. Und sie galten ihm. Ihm, mit seinem großen Kopf und den Augen, die immerzu tränten. Jetzt weinte er vor Glück. »Du bist schwanger?«, fragte er. Ja, so war es. Es musste schon ganz am Anfang ihrer Beziehung passiert sein. Vielleicht schon, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Sie hatte es seit längerem befürchtet – aber jetzt war sie sicher. Und da lag sie nun im Bett, sie lag auf dem Rücken, nur in Hemd und Unterhose. Sie zog ihr Hemd hoch und zeigte ihm ihren Bauch. Und er sah die Wölbung und unter dieser Wölbung, da wuchs das Kind, sein Kind. Und er berührte ihren Bauch ganz zart mit seinen Händen, als könnte er spüren, wo es lag, spüren, wie es atmete und sich bewegte. »Mach nur«, sagte sie, »fühl nur. Aber das bedeutet ja, dass …« Verbotener Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe, dachte er. Unehelich. Verbotener Geschlechtsverkehr. Unehelicher Beischlaf. »Wir müssen also im Sommer heiraten«, sagte Annika. »Wir sind doch schon wie verlobt. Also haben wir nicht gesündigt.« Dann zog sie ihre Unterhose aus und spreizte ihre Beine, damit Johan sehen konnte, wo das Kind herauskommen würde. Ihr Kind. »Jetzt können wir miteinander schlafen«, sagte sie. 140
»Sooft wir wollen. Denn jetzt ist ein Kind unterwegs.« Er fürchtete, dass es Schaden nehmen könne. Aber er sah auch ihre Beine, die gewölbte Öffnung. In ihm wuchs eine unkontrollierbare Erregung und sie löste den Riemen um seine Hose, nahm sein Glied und führte es in sich ein. Und er dachte an das Kind, er dachte an sie. Jetzt war es endgültig an der Zeit, mit Brita, seiner Mutter, und dem Vater und Morell zu reden. Ich habe eine Liebste, würde er ihnen sagen. Und wir wollen heiraten. Sie ist schon schwanger. An dem Wort schwanger blieb er hängen. Das ist wie in der Bibel, dachte er. Und Annika war warm und weich und er war glücklich. Und bis sie wieder aufstanden, war unversehens der achte Tag angebrochen.
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21 Da schließlich hörte es auf zu schneien. An diesem Tag war es sehr kalt. Später wurde es wieder wärmer, aber es schneite nicht mehr. Für diesen Winter hatte es genug geschneit. Das ist viel schlimmer gewesen als im Februar, sagten die Leute. Und wenn man bedenkt, dass es schon bald April ist und so viel Schnee! Das hat es noch nie gegeben. Außer im Jahr 1787. Die Häuser wurden freigeschaufelt, auch die Schuppen, die Straßen und Wege. Überall wurde Schnee geschippt. Auf der Straße nach Sidensjö und der nach Själevad. Pferde zogen die Schneepflüge kreuz und quer durch die Gemeinde. Ein Pflug nach dem anderen schob den Schnee von den Straßen und nach und nach öffnete sich die Landschaft wieder. Aber die kleineren Straßen, die keine Landstraßen waren und an Myckelgensjö vorbei nach Junsele führten oder über Seltjärn und Solberg bis hin nach Åsele reichten, das waren keine Straßen im eigentlich Sinn. Es waren eher Wege, Reitwege. Aber auch dort fuhren die Rissla-Schlitten und die anderen Pferdeschlitten. Die Pferde kämpften sich durch die weiße Masse, obwohl der Schnee ihnen bis zur Brust reichte. Sie schnaubten, sie sperrten sich und sie zogen an, aber ganz allmählich kamen die Wege und die Pfade wieder zum Vorschein. Und die Menschen schaufelten ihre Häuser und Stallungen, Scheuern und Vorratshäuser frei. Erst zehn Tage nach dem Einsetzen des Schneefalls – der nun glücklicherweise aufgehört hatte – erschien der Hilfspfarrer auf dem Hof des Polizeiamtmanns. Er wolle zu Morell. Er war ein großer Mann und Morell glaubte, er sei in einen Wolfspelz gekleidet. Er sah ihn durchs Fenster auf dem 142
geräumten Weg mit weit ausholenden Schritten den Hügel hinaufstapfen. Eine neue Arbeitswoche hatte begonnen. Heute wollten sie ihre Ermittlungen wieder aufnehmen, das hatte sich der Länsman vorgenommen. Heute wollten sie sich nach dieser zwangsläufigen Pause wieder zusammensetzen, er und Anund und Johan. Sie wollten ihre bisherigen Erkenntnisse zusammenfassen und nach neuen Aspekten suchen. Es war früh am Morgen. Da kam Erik Sondelius, der neue Pfarrer. Es hieß, er stamme aus der Gemeinde Skellefteå, oben im Norden. Gustav krabbelte auf dem Fußboden umher. Anna war bei der Kranken. Morell hob seinen Sohn auf und drückte ihn an sich. Dann lief er schnell die Treppe nach oben. Als er das Schlafzimmer betrat, hielt er Gustav wie eine Trophäe. »Hier ist dein Sohn«, sagte er und legte ihn neben seine Frau. Sie drehte sich aufschluchzend zur Seite und Anna nahm den Jungen hoch, der jetzt ebenfalls weinte. »Ich muss arbeiten«, sagte Morell und lief schnellen Schritts die Stufen hinunter. Dabei hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er das getan hatte. Dann öffnete er die Haustür und ließ den Hilfspfarrer eintreten. Sondelius zog seine Handschuhe aus und schlug sie eine ganze Weile aneinander. »Was verschafft mir die Ehre?«, fragte Morell. Sie nahmen in dem großen Zimmer Platz. An dem langen Tisch, jeder an einem Ende. Der Polizeiamtmann bot ihm keine Erfrischung an, weder Bier noch Kaffee. Er bat den Geistlichen nur, sich zu setzen. »Das Mädchen hat zu tun«, sagte er und dabei fiel ihm ein, dass er immer noch kein neues Dienstmädchen eingestellt hatte. 143
Wie lange hatte er sich das schon vorgenommen? Zurzeit konnte er auch gar nichts erledigen. »Danke, ich habe bereits gegessen«, sagte Sondelius. Morell beugte sich vor, wollte damit demonstrieren, dass er bereit war zu hören, was der Pfarrer zu sagen hatte. Erik Sondelius wischte etwas Schnee aus seinem schwarzen, dichten Bart. »Schnee«, sagte er. »Es hat viel Schnee gegeben.« »Ja«, sagte Morell, »acht Tage lang hat es ununterbrochen geschneit. Hier schneit es nicht oft so lange.« »Man könnte meinen, Gott bestraft uns für unsere Sünden«, sagte Sondelius und lächelte ein wenig. »So wie er uns die Sintflut geschickt hat.« Was will der Pfarrer von mir?, dachte Morell. Gab es in der Gemeinde Sünder? Sollte er Sondelius helfen, die Leute von der Sünde zu befreien? »Ich kümmere mich ja auch um das Armenhaus«, fuhr Sondelius fort. »Im Armenhaus habe ich ein kleines Amtszimmer und versuche, den Alten ihr Dasein so erträglich wie möglich zu gestalten, ihre letzte Zeit hier auf Erden. Auch wenn die Ressourcen bescheiden sind.« Er beugte sich etwas vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und wiederholte: »Äußerst bescheiden. Wir haben dort eine Frau eingestellt. Eine Frau namens Greta Sigurdsdotter. Sie stammt aus Risbäck, ist aber, wie es heißt, allein stehend.« »Ich kenne sie«, sagte Morell. »Oder besser, ich weiß, wer sie ist. Anlässlich eines Falls bin ich im Armenhaus gewesen und da habe ich sie kennen gelernt.« »Greta Sigurdsdotter leistet dort gute Arbeit«, sagte Sondelius. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Oder vielleicht sollte ich sagen: leistete.« 144
»Hat sie aufgehört?«, fragte Morell erstaunt. Er wusste nicht, wohin dieses Gespräch führen sollte. Worauf wollte der Pfarrer hinaus? Säße doch nur Backäus da, dachte er. Mit dem kann ich reden. »Sie ist verschwunden«, sagte Sondelius. »Verschwunden?«, wiederholte Morell. »Oder richtiger«, fuhr Sondelius fort, »sie ist einfach fortgegangen.« »Wann?« »Ich war im Armenhaus, kurz bevor es anfing, zu schneien. Ich meine, das war am Freitag. Und da war sie nicht da. Ich ging zu den Alten und erfuhr, dass sie ihnen seit dem gestrigen Tag kein Essen gebracht hatte … Und sie ist seither nicht wieder erschienen.« Er hustete. »Ja, ich habe natürlich bereits alles geregelt. Eine andere Frau kümmert sich dort um die Alten. Aber Greta Sigurdsdotter ist verschwunden.« »Das hätten Sie mir sofort anzeigen müssen!«, sagte Morell empört. »Ich glaube nicht, dass ihr Verschwinden eine Angelegenheit für den Länsman ist«, fuhr Sondelius fort. »Ich glaube, sie ist einfach weggegangen. Nach Örnsköldsvik. Sie sagte in der letzten Zeit oft, dass ihr die Arbeit zu viel werde. Aber ich fand trotzdem, dass ich die zuständige Behörde, das heißt Sie davon in Kenntnis setzen musste. Auch wenn ihr Verschwinden nicht auf ein Verbrechen schließen lässt.« »Hat sie denn keine Angehörigen? Mit denen Sie hätten sprechen müssen?« »Sie stammt, wie ich sagte, aus Risbäck. Aber der Hof gehört ihr nicht. Oder ihrer Familie, soviel ich weiß.« »Risbäck«, sagte Morell. »Ich muss sofort dorthin und mich 145
umhören.« »Das ist keine Angelegenheit für den Länsman«, wiederholte Sondelius. »Nicht?« Morell war laut geworden. »Sie kann sich irgendwo verirrt haben! Bei diesem Schnee wäre das kein Wunder.« »Das war vor Einsetzen des Schneefalls«, sagte Sondelius. »Gesetzt …«, begann Morell, »gesetzt den Fall, sie ist an diesem Freitag fortgegangen. Vielleicht nach Risbäck. Oder nach Örnsköldsvik. Vielleicht nur für einen Tag … Oder nach Kubbe, Näs, Norrböle, Norrmesunda, Västersel … Und sie wurde vom Schnee überrascht. Was sagen Sie dazu?« »Ich glaube, sie hält sich in Örnsköldsvik auf«, sagte der Hilfspfarrer. »Sie sagte, sie wolle etwas anderes tun als sich um alte Leute kümmern. Sie erwähnte Örnsköldsvik, den Marktflecken.« »Aber das ist nichts als eine Vermutung!«, rief Morell. »Ich werde mich sofort darum kümmern.« Morell erhob sich und gab Sondelius mit einer Geste zu verstehen, dass die Unterredung beendet war. Der Geistliche stand ebenfalls auf. Er strich seinen Pastorenrock glatt und ging auf die Tür zu, wo er seinen Wolfspelz aufgehängt hatte. »Ich werde mich sofort darum kümmern«, sagte Morell noch einmal. Der Pfarrer zog seinen Pelz an und ging, ohne ein weiteres Wort.
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22 Pfarrer Backäus zeigte dem Länsman die Eintragung zu Greta Sigurdsdotter im Geburtenregister. Geboren am 5. März 1798 in Hädanberg, Eltern: Sigurd Torsson und Anna Hindriksdotter. Auf der rechten Seite: vier Namen, die Zeugen. Aus dem Katechismusregister für das Jahr 1805 in Risbäck ging hervor, dass die Familie im Jahre 1800 von Hädanberg nach Risbäck umgezogen war. Zur Familie gehörten außer Greta und den Eltern noch die Söhne Sven, geboren 1796, und Lars, geboren 1800. Der Länsman holte das Verzeichnis eines späteren Jahrs, das von 1830. Dort waren die Eltern als verstorben eingetragen, Sigurd Torsson am 5. Mai 1811 und Anna Hindriksdotter am 29. Februar 1828. Auf dem Hof lebte der Sohn Sven mit seiner Frau und zwei Kindern, einem Jungen, Anders, geboren 1820, und einer Tochter, Kristina, geboren 1821, sowie einer Magd und einem Knecht. Greta war am 18. November 1829 nach Bredbyn gezogen und ihr Bruder Lars am 3. Juli 1825 nach Ytterlännäs. Pfarrer Backäus zeigte ihm noch ein weiteres Register, das aus dem Jahr 1845. Der Besitzer des Hofs war nun Anders Svensson, geboren am 23. August 1820, er lebte dort mit seiner Ehefrau und zwei Kindern. Seine Schwester Kristina war nach Härnösand gezogen. Sven und seine Ehefrau waren als verstorben verzeichnet, und zwar beide am 11. Dezember 1839. Morell deutete auf das Datum und sah den Pfarrer fragend an. »Sie sind in einem Schneesturm umgekommen, alle beide. Erfroren. Das war ein tragischer Unfall. Damals schneite es auch so heftig«, erklärte Backäus. »Aber wohl nicht wie in diesem Jahr«, antwortete Morell.
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»Es geschah so: Sie befanden sich tief im Wald und da ist ihr Pferd im Schnee versunken. Und dann haben sie sich verlaufen. Zwei Tage später hat man sie gefunden«, fuhr Backäus fort. »Und jetzt ist also ein Neffe von Greta der Besitzer des Hofs, ein Sohn der Verunglückten?«, fragte Morell und Backäus nickte. Es war wärmer geworden und die Schneedecke schmolz langsam. Bis der Schnee verschwunden ist, das wird noch dauern, dachte Morell. Er trat aus dem Pfarrhof, ging an den Kirchstallungen, der Kirche und dem Gemeindehaus vorbei zum Armenhaus. Die Haustreppe war sauber gefegt. Er trat in den Flur. Die Tür links war geschlossen, aber eine Holztafel daran verkündete, dass dies Erik Sondelius’ Amtszimmer sei, Vorsteher des Armenhauses und Prediger. Die Tür auf der rechten Seite war nur angelehnt. Morell zog sie auf und schaute in den Raum. Niemand war da. Dieser Raum diente offensichtlich als Küche und als Schlafzimmer, denn er war mit Herd und Tisch und einigen Schränken ausgestattet. Dort standen auch ein Bett mit einer schönen Flickendecke, ein Nachttisch – darauf lag eine aufgeschlagene Bibel – und ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Ein Schrank, links in der Ecke, gehörte ebenfalls der Bewohnerin. Wieder auf dem Flur entdeckte Morell geradeaus eine weitere Tür. Linker Hand führte eine Treppe in die obere Etage. Da öffnete sich die Tür vor ihm und eine Frau blieb in der Türöffnung stehen, verwundert und leicht erschrocken. »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu erschrecken«, sagte Morell. »Ja, ich bin ein bisschen zusammengezuckt«, entgegnete sie. Sie ist schön, dachte Morell, und zwar von jener unaufdringlichen Schönheit, die in sich ruht. Oder sie könnte schön sein, wenn sie an einem anderen Ort wäre. Ein graues 148
formloses Kleid umhüllte ihren zarten Körper wie ein Sack, darüber trug sie eine Strickjacke. Um den Kopf hatte sie ein Kopftuch gebunden, das fast alles Haar bedeckte, nur eine etwas feuchte blonde Locke schaute hervor. Die forschenden Augen waren blau und die Wangen leicht gerötet. Von der Arbeit, dachte Morell. Er berichtigte seinen ersten Eindruck; sie wäre schön, nähme sie ihr Kopftuch ab und hätte sie ein anderes Kleid an. »Entschuldigung«, sagte er. »Ich bin Länsman Morell und es ist ja nun so, dass Greta Sigurdsdotter auf und davon gegangen ist, ohne zu sagen, wohin. Haben Sie ihre Arbeit übernommen?« Ich sieze die junge Frau, dachte er verwundert. Sie stellte den Eimer auf den Boden – Morell sah, dass er etwas Suppenartiges enthielt –, nickte und nahm ihr Kopftuch ab. Das Haar fiel ihr bis auf die Schultern und sie band es mit einem schmalen roten Band im Nacken zusammen. Dann wischte sie sich die Hände an einem Tuch ab. »Ja«, sagte sie. »Ich arbeite jetzt hier. Der Pfarrer Sondelius ist zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich hier arbeiten wolle. Ich heiße Lisbet.« Morell deutete auf die angelehnte Tür. »Können wir dort hineingehen?«, fragte er. Sie betrat den Raum vor ihm und setzte sich aufs Bett. Morell zog den Stuhl näher an sie heran und nahm ebenfalls Platz. Er deutete auf den hohen Schrank. »Sind das Ihre Sachen?«, fragte er. Lisbet schüttelte den Kopf. »Ja, ein paar Kleider. Aber das andere gehört alles Greta. Sie hat das hier zurückgelassen.« Sie deutete auf die Bibel auf dem Nachttisch. Morell nahm sie und sah, dass sie bei den Psalmen aufgeschlagen war, den Psalmen 90, 91, 92. 149
»Hast du … liest du das?« »Nein, die Bibel hat so dagelegen.« »Darf ich mich mal umsehen?« Morell ging zu dem Schrank, weil er als Antwort ein zustimmendes Nicken bekommen hatte. »Hat sie alles hier gelassen?« »Das weiß ich nicht«, sagte Lisbet. »Es hängen ein paar Kleider darin, die mir nicht gehören.« Im Schrank lag nicht viel. Er hatte zwei Schubladen und in dem Fach darüber hingen einige Kleiderbügel mit drei Kleidern und einem Rock. »Ein Kleid davon gehört mir«, sagte Lisbet. Lisbet war aufgestanden und hatte sich neben den Polizeiamtmann gestellt. »Die linke Schublade ist meine.« Morell zog die andere auf. Ein Paar Socken, zwei Hemden. Wäsche. Er nahm sie in die Hand, schaute. Unterhosen. Darunter lagen ein Kamm und ein Etui. Er öffnete es. Es enthielt einen silberfarbenen Ring, einen billigen Ring. Ganz unten in der Schublade fand er einen Bogen Papier, auf den ein paar Namen geschrieben waren. Zwei davon kamen ihm vage bekannt vor. Oben stand Johannes Larsson und darunter Efraim Isaksson. Beide Namen waren mit einem Fragezeichen versehen. Er zeigte Lisbet das Papier. »Kennst du diese Namen?« Sie schüttelte den Kopf. Hatte er die Namen vorher im Katechismusregister gelesen? Irgendwie kamen sie ihm bekannt vor. Waren das Verwandte von der Vermissten? »Gibt es noch mehr, das Greta gehört?« »Nein«, sagte Lisbet, »nicht in diesem Zimmer.«
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Greta hatte ein paar Kleidungsstücke und den Schmuck zurückgelassen. Deutete das darauf hin, dass ihr etwas zugestoßen war? Wenn sie fortgegangen wäre, zum Beispiel nach Örnsköldsvik, wie Sondelius glaubte, hätte sie da nicht ihre Habe mitgenommen? Der Länsman steckte das Papier in seine Tasche und überlegte. Lisbet stand schweigend daneben. Morell ging zum Nachttisch und sah sich noch einmal die aufgeschlagene Bibel an. Psalm 90 über die Zuflucht in unsere Vergänglichkeit. Er fing an zu lesen. Der 10. Vers erregte seine besondere Aufmerksamkeit: Unser Leben währet siebzig Jahre, wenn’s hochkommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Ja, das ist nur zu wahr, dachte er und plötzlich fragte er sich, ob Greta diese Worte den Alten vorgelesen hatte. »Wie steht’s mit den Alten?«, fragte er. Lisbet sah den Länsman leicht verwundert an und sagte dann: »Die sind alt und krank. Allesamt.« »Ja, das ist wohl wahr. Gibt’s einen, mit dem ich reden kann?« Sie nickte. »Die Frauensleut sind oben und die Mannsleut hier unten.« Lisbet öffnete die Tür und betrat vor Morell den Schlafsaal. Er hörte die schweren Atemzüge, das Röcheln und Schnarchen. Lisbet ging zwischen den Bettreihen hindurch. Einige Männer saßen aufrecht im Bett und hatten ein Kissen im Rücken. »Sie haben vor kurzem gegessen«, sagte Lisbet. Hier also verbrachten sie die ihnen verbleibende Zeit. Was hatte Sondelius noch mal gesagt? Ihnen ein erträgliches Dasein ermöglichen … Morell blieb an einem der Betten stehen. Der Mann, der dort lag, hatte die Augen halb geschlossen. Die 151
abgearbeiteten Hände des Alten ruhten auf der Decke, die Adern traten deutlich hervor, seine Fingernägel waren schmutzig. »Wie geht es dir?«, fragte Morell. Der Mann bewegte nur den Kopf. »Kristoffer«, sagte Lisbet eindringlich. »Das hier ist der Länsman Morell. Wie geht es dir?« »’s ist so warm«, antwortete der Alte. »Ja«, sagte sie und zog die Decke ein bisschen zurück. Siebzig oder achtzig Jahre, wenn’s hoch kommt, hatte in dem Psalm gestanden. Wie alt mochten die Leute hier sein? »Weißt du, wer Greta Sigurdsdotter ist?« Der Alte nickte. »Hat sie mal davon gesprochen, dass sie weggehen will?« »Sie ist aus Risbäck«, flüsterte der Alte. »Sie hat mal gesagt, sie will dort sterben, will dorthin zurück.« Morell nickte Kristoffer dankend zu und schritt weiter durch den Saal. »Ist er am gesündesten?«, fragte er Lisbet. »Ja, der Kristoffer ist noch bei Verstand. Aber die anderen …« Sie beendete den Satz nicht. Der Geruch wurde immer penetranter. »Vielleicht sollten wir gehen«, sagte Morell. »Wollen Sie auch noch zu den Frauen?«, fragte Lisbet. Sie standen wieder in der Diele. Die Tür zum Zimmer des Pfarrers war immer noch geschlossen. »Sind es genauso viele Frauen?« Lisbet nickte. »Und kann man mit ihnen sprechen?« »Mit einigen wohl«, antwortete Lisbet. »Aber die meisten schlafen jetzt. Das tun sie immer nach dem Essen.« 152
»Vielleicht, wenn du … könntest du sie fragen … sie wegen Greta Sigurdsdotter befragen?« Lisbet nickte wieder. »Sie … du kommst nicht von hier?«, fragte Morell. »Ich stamme aus Skalmsjö. Mein Vater ist gestorben, er hieß Zackris. Und dann bin ich nach Bredbyn gewandert. Ich habe im Gasthof gewohnt und wollte mir eine Stelle suchen. Und da ist der Pfarrer gekommen.« »Lisbet Zackrisdotter aus Skalmsjö«, sagte Morell. »Ja«, sagte sie. Morell nahm ihre Hand und bedankte sich. Sie zog die Strickjacke enger um sich und begleitete ihn vor die Haustür. »Glauben Sie …«, setzte Lisbet an. »Ob wohl was passiert ist …« »Greta ist vermutlich in Risbäck«, antwortete Morell. »Oder in Örnsköldsvik.« Er ging los, drehte sich aber noch einmal um. Sie stand auf der Treppe vorm Haus und hatte die Arme um ihren zarten Körper geschlungen. Sie sah nicht ihn an, sondern hinüber nach Fanbyn. Und er hatte den Eindruck, als hätte sie den Blick weit in die Ferne, oben auf den Berg gerichtet. Sie könnte bei uns auf dem Hof sein, dachte Morell. Hätte ich nur gewusst, dass dort draußen eine junge Frau nach Arbeit sucht, dann hätte ich mit ihr gesprochen. Aber Sondelius ist mir zuvorgekommen.
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»In Risbäck ist sie nicht gewesen«, sagte der Landgendarm. Die drei saßen im Amtszimmer: Anund Persson, Johan Persson und Harald Morell. Johan und Anund waren mit dem Rissla-Schlitten nach Risbäck gefahren. »Der Bauer ist noch gar nicht alt«, sagte Anund. »Er ist der Sohn von ihrem Bruder«, antwortete Morell. Greta war seit Jahr und Tag nicht mehr dort gewesen. Der Neffe hatte seine Tante hin und wieder in der Kirche gesehen, das war alles. Nachdem seine Eltern auf so tragische Weise verunglückt waren, hatte er den Hof noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr übernehmen müssen. Und seitdem hatten sie nicht sonderlich viel Kontakt gehabt. Das hatte Anders Svensson gesagt. Dort lebte er mit seiner Frau und zwei minderjährigen Kindern. »Dort ist es schön«, sagte Anund. »In Risbäck. Wie eine Öffnung mitten in dem riesigen Wald. Und die Sonne schien … Sie fängt jetzt an, den Schnee wegzutauen.« »Aber sie wollte wieder dorthin zurück«, sagte Morell. Er dachte an das Armenhaus. Die Betten, das Röcheln, den Gestank. Ein erträgliches Dasein, hatte Sondelius gesagt … Greta Sigurdsdotter war dort tagein, tagaus gewesen. Sie hatte in einem armseligen Zimmer gehaust. Es war vielleicht kein Wunder, dass sie schließlich gegangen war. Jetzt war dort Lisbet Zackrisdotter. Sie hätte auf seinem Hof eine Stelle haben können. Hätte er nur gewusst, dass … »Nun, dann müssen wir wohl annehmen, dass sie in Örnsköldsvik ist. Morgen fahren wir hin. Du und ich.« Er sah seinen Gehilfen an. Der hatte noch gar nichts gesagt. Er sah aus, als lebte er in einer anderen Welt. »Du und ich«, wiederholte Morell. Johan zuckte zusammen, doch dann verzog er den Mund zu einem breiten Lächeln. 154
»Warum freut dich das so?«, fragte Anund. Morell fiel der Bogen Papier in Gretas Zimmer und das darauf Geschriebene ein. »Johannes Larsson und Efraim Isaksson. Sagen euch diese Namen etwas?« »Die sind gestorben«, antwortete Anund sofort, »und haben ein Armenbegräbnis bekommen, weil sie doch im Armenhaus gelebt haben. Aber jetzt sind sie tot.«
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23 Johan holte tief Luft. »Ich bin verlobt«, platzte er heraus. »Ich habe eine Frau.« Endlich erzählte er es. Jetzt war es raus. Es hatte seine Zeit gebraucht. Etwas seltsam ist es ja, dachte er. Das war das Wichtigste, was er zu sagen hatte. Als Annika das gesagt hatte … Also, als sie gesagt hatte, sie sei in anderen Umständen, da hatte er geglaubt, er würde sofort davon erzählen. Noch am selben Abend oder jedenfalls am nächsten Morgen. Aber das hatte er doch nicht getan. Nun hatte er ihnen gesagt, dass er eine Frau hatte. Annika, dachte er. Und nun wollte er, dass der Schnee schnell schmolz, damit er möglichst bald mit dem Bau des Hauses anfangen konnte. Am Fluss. Sie saßen in der Küche. Die Magd war nicht dabei, sie war noch im Kuhstall und deshalb hatte er es jetzt gesagt. Johan saß auf dem Küchensofa am Fenster, Anund am Tisch, am schmalen Ende, und Brita stand neben dem Herd. Sie drehte sich zu ihrem Sohn um. »Verlobt?«, sagte sie. »Eine Frau?«, sagte Anund. Und da erzählte er es seinen Eltern, da nannte er ihren Namen. »Annika«, sagte er, »sie heißt Annika.« Seit Anfang des Jahres sei sie die Seine. Und da sagte Anund, er habe immer schon gedacht, sein Sohn, der sei gar nicht ohne. Aber Brita sagte nichts, sie stand mitten in der Küche und hatte wie üblich die Arme über der Brust verschränkt. Und dann erzählte Johan, dass sie in Fanbyn wohne, dass sie dort Magd sei und dass er bei so einem nächtlichen Freien dabei 156
gewesen sei – »so wie Vater, als er jung war«, sagte er und lachte ihn an. Und da sei er gleich geblieben. Bei Annika. Immer wieder nannte er ihren Namen. Annika. Und sie hätten sich überlegt, dass sie heiraten wollen, vielleicht schon im Frühling. Bald müsse er auch anfangen, das Haus zu bauen, denn er solle doch wohl mal den Hof übernehmen. Aber noch seien Anund und Brita ja nicht alt! Nur irgendwann sollte das wohl sein. Vielleicht würde er dann sogar auch Landgendarm werden. Aber jetzt wolle er erst mal sein eigenes Haus haben, damit sie dort wohnen könnten, er und Annika, wenn sie geheiratet hatten. »Geheiratet?«, echote Anund. »Haus?«, echote Brita. Na, aber davon hatte er doch schon lange geredet. Hatten sie es nicht begriffen? Er hatte eine Frau. Die war jung, in seinem Alter, aber er war doch zum Heiraten nicht zu jung. Darüber hatte er schon lange nachgedacht. »Damit hat es wohl noch keine Eile«, sagte Anund und Brita nickte und hatte weiterhin die Arme über der Brust verschränkt. Und da sagte er es. »Sie ist schwanger«, sagte er. »Ich werde ein Kind haben.« Da war Anund ebenfalls aufgestanden. Seine Eltern standen beide mitten in der Küche und sie schienen über das, was er gesagt hatte, nachzudenken. Anunds Unterlippe hing herunter und Britas Arme ebenfalls. Beide sagten nichts. Da stellte er, Johan, sich dazu und nun bildeten sie ein Dreieck wie das bei dem größten Haus von Örnsköldsvik. Und als sie so in der Küche standen, da wiederholte er seine Worte. Für ihn klangen sie, als kämen sie direkt aus der Bibel. »Sie ist schwanger«, wiederholte er. »Mit meinem Kind.«
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*
Annika hatte die Tage, Wochen und Monate ausgerechnet. Sie wusste, wann das Leben in ihr entstanden war. Da irrte sie sich nicht. Aber sollte sie ihm das sagen? Hatte Johan auch gerechnet? Das Kind konnte ja zu früh geboren werden, einen Monat oder mehr. Das kam öfter vor. Nun war alles so ausgegangen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Alles würde sich zum Guten wenden. Jetzt hatte er es denen zu Hause gesagt. Spätabends war Johan gekommen und die Freude hatte aus seinen Augen geleuchtet. Er hatte es erzählt. Endlich hatte er es seinen Eltern erzählt. Jetzt war sie allein. Es war Nacht, aber sie schlief nicht. Denn Johan war wieder nach Hause gegangen. Er hatte die ganze Zeit vor Freude gestrahlt und von dem Haus hatte er geredet und vom Aufgebot. Doch, bald sollte das Aufgebot in der Kirche verlesen werden, damit sie rechtzeitig – noch vor der Geburt des Kindes – Hochzeit feiern konnten, das hatte er gesagt. Er hatte gar nicht still sitzen können, immer wieder war er aufgesprungen und hatte erzählt, dass jetzt alles vorbereitet sei, dass er es gesagt hatte und dass sie nun so schnell wie möglich heiraten würden. Und anfangen, das Haus zu bauen. Dann war er gegangen; und sie war wieder allein und hatte gerechnet: die Tage, Wochen und Monate. Doch, es würde sich für sie alles zum Guten wenden. Sie fuhr mit der Hand über ihren Bauch und spürte das Kind. Man sah es auch. Die Bäuerin hatte sie öfter forschend angesehen. Wenn sich nicht alles für sie zum Guten gewandt hätte, was hätte sie dann bloß gemacht … Um selbst etwas 158
dagegen zu unternehmen, war es zu spät … Und das wollte sie auch nicht, nicht noch einmal … Wäre nicht alles gut gegangen, dann hätte sie ihre Schwangerschaft verstecken und den Hof verlassen müssen. Ganz alleine hätte sie das Kind bekommen müssen, heimlich … Aber jetzt brauchte sie nichts zu verstecken. Jetzt hatte sich für sie alles zum Guten gewendet. Bald würde sie es der Bäuerin und dem Bauern sagen. Dass sie aufhören, dass sie heiraten werde und dass sie ein Kind unter dem Herzen trage, das sie als Verlobte von dem Sohn des Fjärdingsman empfangen habe. Das konnte sie jetzt sagen. Und noch einmal rechnete sie – Tage, Wochen und Monate. Und Daniel Persson würde kein Unheil mehr anrichten können. Der würde nicht noch einmal kommen und sie bedrohen. Nein.
*
Morell saß bei seiner Frau am Bett. Sie lag auf dem Rücken und sah ihn tatsächlich einmal an. Helena hatte die Augen geöffnet und er hatte nicht den Eindruck, in ihnen Wahn zu sehen. Nur Trauer, Kummer. Niedergeschlagenheit. Wann würde die verschwinden? Denn dieser Wahn konnte für immer bleiben, das war ihm klar, aber Niedergeschlagenheit, Kummer …? Er sagte nichts. Er saß einfach da und sah ihr in die Augen, aus denen kein Wahn sprach. Es war, als zwinge er sie, mit ihren Augen aus den seinen Hoffnung, Glaube und Liebe zu saugen. Traurig und niedergeschlagen, dachte er, aber nicht verrückt. Trink aus meinem Blick, dachte er. Erhole dich, werde gesund! 159
Und sie sah ihn noch immer an. Ihr Mund bewegte sich, nur eine winzige Bewegung. Trink!, dachte er, sauge Hoffnung aus meinem Blick! Ihre Lippen bewegten sich, nur die Lippen. Und sie schienen ein Wort formen zu wollen. Es sah aus, als wollte sie etwas sagen, nichts Verrücktes, nichts Wütendes oder Verzweifeltes. Die Bewegung ihrer Lippen zeigte ihm das. Ja, dachte er, sprich mit mir, sag mir, was sich in dir regt. Trink von dem Leben, damit es zu dir zurückkehrt. Wie hingehaucht kam das Wort über ihre Lippen, aber es kam. Und das war das erste Wort, das sie nach dieser langen Zeit gesprochen hatte. Es gab ihm Hoffnung, tröstete ihn. Schließlich hatte sie es ausgesprochen und er verstand, was sie mit diesem Wort sagen wollte. »Entschuldige«, sagte Helena, dann schloss sie die Augen. Er streichelte ihr Gesicht, spürte ihre Wangen, ihre Nase; und dieses Mal verspürte er auch Lust und hatte Sehnsucht nach ihrem Körper. Und er hätte gern etwas gesagt, er wollte ihr sagen, dass sie ihm die Liebste auf der Welt sei, dass er … Sie brauche sich nicht zu entschuldigen, flüsterte er stattdessen. Und sie schlug die Augen wieder auf und er fragte sie behutsam, ob es ihr vielleicht besser gehe. »Erzähl«, flüsterte sie. Erst wusste er nicht, was sie meinte, aber dann fiel ihm der Spätsommer vor anderthalb Jahren ein. Da hatte er ihr von dem seine Töchter rächenden Vater erzählt, der zum Mörder geworden war, und was er auf den Sensenstiel geritzt hatte. Und Helena war es, dachte er jetzt, die damals die Bedeutung der eingeritzten Buchstaben erkannt hatte. Dass nämlich das eingeritzte INRI nichts mit der Inschrift am Kreuz Christi zu tun hatte. Sie hatte die Lösung gefunden. Wollte sie, dass er von seiner Arbeit berichtete? »Willst du wissen, was ich mache?«, flüsterte er. 160
Helena nickte und er erzählte ihr von dem Toten im Schnee, von den Messerstichen und von einem Mann, der wahrscheinlich hinkte und auffallend gute Zähne hatte. Und er erzählte vom Armenhaus, von den Alten und Hilflosen und von Greta, der Altenpflegerin, die spurlos verschwunden war. Und während seines Berichts hatte er das Gefühl, dass sich die Gedanken in seinem Kopf klärten, als wäre vorher alles wie im Nebel gewesen. Jetzt schien sich alles zu ordnen. Nicht, dass er einer Lösung näher gekommen wäre, aber ihm wurde klar, wie sehr er jemanden brauchte, der ihm zuhörte. Und dass er allein Helena brauchte, seine Frau. Als er auf Greta zu sprechen kam, wurde sie unruhig, so als fürchte sie, dass Greta etwas Schlimmes zugestoßen sei. Doch er versuchte, ihr Unbehagen zu zerstreuen. Und ihm war, als kämen seine Gedanken in Fluss, als wäre etwas Freude in sein Leben zurückgekehrt. »Du wirst …«, begann sie, verstummte dann aber. Er wartete, er betrachtete ihr Gesicht, er nahm es in sich auf wie ein Bild, an das er sich erinnern wollte, wenn sie ihm wieder entglitt. Ihr helles Haar, ihre Augen, offen und fragend. »… ihn finden«, flüsterte sie. Und dann entschuldigte sie sich noch einmal und schloss die Augen. Nein, warte noch, dachte er. Bleib noch ein bisschen bei mir. Aber die Zeit schien um zu sein. Als sei sie zwar für kurze Zeit anwesend gewesen, nun aber wieder weg. Er wollte etwas sagen, aber alles, was er fühlte, schien ihm im Hals stecken zu bleiben, und er schluckte. Schließlich bewegten sich seine Lippen doch. Aber das Einzige, was er hervorbringen konnte, waren die Worte: »Schlaf gut, schlaf gut.«
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Dann ging er ins Kinderzimmer zu seinem schlafenden Sohn und flüsterte ihm zu, dass sie beide, vielleicht bald, eine Mutter und eine Ehefrau haben würden. Morell saß in seinem Amtszimmer, voller Hoffnung und neu erwachter Lebensfreude. Allein die Tatsache, Helena von den Geschehnissen berichtet zu haben, hatte ihm Kraft und Energie verliehen. Vor ihm lagen Papier und Federhalter und daneben stand das Tintenfass. Dann schrieb er seine Gedanken zu dem Toten im Schnee und dessen eventuellen Mörder – ein Hinkender mit guten Zähnen –, der nicht in Bredbyn lebte, auf. Und alles, was er über die vermisste Greta Sigurdsdotter in Erfahrung gebracht hatte. Ein Ermordeter und eine Vermisste. Er schrieb: Gibt es da einen Zusammenhang? Und als er das Fragezeichen sah, fielen ihm wieder die Namen ein, die Greta aufgeschrieben hatte. Dahinter hatte auch ein Fragezeichen gestanden. Doch diese Frage hatte sich erledigt. Morgen muss ich Greta in Örnsköldsvik suchen. Morgen muss ich mich nach dem Hinkenden erkundigen. Morgen muss ich auch nach Arnäs zu Länsman Viberg fahren. Morgen. Und bald würde Helena wieder an seiner Seite leben! Bald!
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24 Der Rissla-Schlitten stand bereit und das Pferd war angeschirrt. Johan sollte vorn im Schlitten unter der Decke sitzen. Richtig kalt war es nicht. Es war noch früh am Morgen, erst sechs Uhr, und ziemlich dunkel. Morell blickte zum Himmel und fand, das Wetter könnte schön werden. Vielleicht würde es, wie schon in den vergangenen Tagen, wieder tauen, sodass die Schneemassen etwas schrumpften. Die Freude des letzten Abends war in seiner Erinnerung noch lebendig. Er hatte wieder etwas Hoffnung trotz seiner unterschwelligen Verzagtheit und er ermahnte sich, seine Vorfreude auf ein normales Leben mit seiner Frau zu dämpfen. Er befestigte die Deichsel am Geschirr, gab dem Pferd einen Klaps auf die Kruppe, nahm auf dem Rücksitz Platz und schnalzte mit der Zunge. Die Straße führte abwärts, einen kleinen Hügel hinunter. Unten erst traf sie auf die große Landstraße. Und genau dort, an der Kreuzung, begegneten sie einem zweiten Schlitten. Ein zweiter Rissla. Der Kutscher winkte ihnen zu und rief, sie sollten anhalten. Dann standen die Pferde Kopf an Kopf und so ruhig, als genössen sie die Wärme des anderen. Der kreidebleiche Kutscher ging zu Morell. Er hustete und stammelte beim Sprechen. »Da liegt ein toter Mensch im Schnee … ich hab ’n toten Menschen im Schnee gefunden.« Morell starrte den Mann an, als könnte er seinen Ohren nicht trauen. Ein Erfrorener, dachte er. Einer, der sich im Schnee verirrt hat. Wie die Eltern von Anders Svensson. Kein Verbrechen … kein Mord. Kein Pelz und keine Messerstiche. 163
Aber vor seinem geistigen Auge sah er die neue Armenpflegerin, die jetzt dort lebte statt Greta Sigurdsdotter, die nach Risbäck oder Örnsköldsvik verschwunden war. Lisbet, ihre Nachfolgerin. Mit einer Strickjacke bekleidet, die sie gegen den zarten Körper presste. Erstaunlich, aber sie sah er vor sich. »Eine Frau?«, fragte er. Der Kutscher nahm seine Mütze ab und wischte sich über den verschwitzten Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, in Norrmesunda liegt ’n toter Mensch im Schnee.« Sie war es. Sie lag zusammengekrümmt auf der Seite. Ein Arm ragte etwas in die Höhe. Der war vermutlich dem Mann, der sie gefunden hatte, aufgefallen. Johan und Morell hatten sie jetzt freigeschaufelt. Sie lag tief unter dem Schnee begraben – aber nicht so tief wie der Mann in Seltjärn. Der Schnee hatte sie zugedeckt, als es zum zweiten Mal geschneit hatte. Eine Woche lang. Die Tote war Greta Sigurdsdotter. Morell erkannte sie sofort wieder. Noch war sie nicht völlig mit Eis bedeckt, denn ihre Gesichtszüge konnte man erahnen. Sie strahlten etwas Friedvolles aus. Aber sie war für die Kälte ungenügend bekleidet, denn sie hatte nur ein Kleid an. Außerdem fehlten die Schuhe. Greta war also nicht auf dem Weg nach Örnsköldsvik vom Schneesturm überrascht worden, vom Weg abgekommen und erfroren. Nein, das sah Länsman Morell sofort. Und er sah auch die Blutflecken auf der Brust, zwei dunkelrote Flecken. Sie waren gefroren und hatten sich mit Schnee vermischt. 164
Er begrub seinen Kopf in den Händen. Lange stand er so da. Trauer und Wut erfüllten ihn. Ins Armenhaus war sie gegangen, dort hatte sie gearbeitet, geschlafen, gelebt. Wie es Lisbet nun tat. Ein monotones Leben. Nichts als die Sorge um die Alten, die nur auf den Tod warteten. Nach einem kurzen Leben. Siebzig oder achtzig Jahre, wenn es lange währet, so stand es im Psalm. Ein freudloses Leben. Und jetzt war es zu Ende. Und jemand hatte sie getötet. Das erkannte Morell sofort an ihren Verletzungen. Sie war keine Selbstmörderin, sie hatte sich nicht verirrt. Sie war ermordet worden. Und die Wut in Morell wuchs – auf den Täter. Erstochen? Waren das Messerstiche in der Brust? Hatte dieser Hinkende … Hatte sich dieser Kerl also doch hier in der Gegend herumgetrieben? Ich habe ihn nicht gefasst, dachte Morell. Ich war einfach nicht schnell genug. Wir haben es versucht … aber es ist uns nicht gelungen. Ich werde, flüsterte er der Toten zu, als könne sie ihn hören. Ich werde … Er hob den Blick. Johan Anundsson stand ganz still neben dem Schlitten, auch das Pferd bewegte sich nicht. Der Kutscher, der sie im Schnee gefunden hatte, stand neben seinem Pferd. Niemand sprach. Alle drei blickten stumm auf die tote Greta Sigurdsdotter. Das Gesicht, still und stumm. Die Augen waren geschlossen, als sei sie im Augenblick des Todes entschlummert. Oder hatte der Mörder ihr die Augen geschlossen? In einem plötzlichen Anflug von Pietät? Morell trat zu dem Mann am Schlitten. »Wie heißt du?«, fragte er.
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Der Mann nahm seine Mütze ab, ob aus Ehrerbietung vor der Toten oder dem Länsman, wusste Morell nicht. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schaute dann darauf, als wundere er sich, warum sie ganz feucht war. »Håkan«, sagte er. »Håkan Jönsson.« »Wir brauchen deine Hilfe noch länger«, sagte Morell. Er wandte sich an Johan. »Du bringst … sie sofort nach Bjästa. Ich fahre mit Håkan nach Bredbyn und dann …« Er beugte sich über die Tote und riss dort, wo Blut zu sehen war, das Kleid vorsichtig ein bisschen auf. In Brusthöhe waren zwei Stiche zu erkennen. Er zog das Kleid etwas weiter herunter. Nichts auf dem Bauch. »Dieses Mal hat er sich mit zwei Stichen begnügt«, sagte er und winkte Johan zu sich. Sie hoben Greta auf und legten sie in Morells Schlitten. Sie passte hinein. Morell nahm einen Zweig und maß die Schneetiefe. Das führt ja doch zu nichts, dachte er. In Seltjärn hatte er das ebenfalls gemacht. Doch immerhin wusste er, dass die beiden Ermordeten nicht zur gleichen Zeit eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Hätte er die Tote nicht gekannt und gewusst, dass sie lange nach dem Februarschnee noch in Bredbyn gelebt hatte, dann vielleicht wäre er verleitet gewesen, das anzunehmen. Er maß die Schneetiefe trotzdem. Johan stand bereits auf den Kufen. »Fahr vorsichtig«, wies Morell seinen Gehilfen an. Dann trat er an seinen Schlitten und zog die Decke noch etwas dichter um die Tote. Darauf setzte er sich in Håkans Schlitten und rief ihm zu: »Wir beide brauchen nicht langsam zu fahren!«
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*
Zorn beherrschte Morell. Es war immer noch früh am Morgen, als Håkan ihn absetzte. Die Sonne schien. Er holte sein Pferd, Abednego, aus dem Stall und spannte es vor einen anderen Schlitten, einen ohne Rücksitz. Und er fuhr allein. Voller Zorn. Am liebsten hätte er das ganze Dorf eingesperrt und sie alle ausgefragt. Jedes einzelne Haus würde er sich vornehmen und mit allen reden. Und er würde diesen Dreckskerl finden! Nun musste er sich zwischen zwei Straßen entscheiden, der, die über Galasjö nach Sidensjö führte, und der, die nach Själevad in die große Landstraße mündete. Aber es gab noch Straßen oder zumindest Wege in andere Richtungen, wie die zur Lappmark … Doch diese Richtung schloss er sofort aus. Morell nahm die Straße nach Själevad. Sie war näher und verlief nördlich des Flusses, dort, wo die Tote entdeckt worden war. In Norrmesunda. Noch immer war Morell voller Zorn. Er gab dem Pferd die Peitsche und der Schlitten fuhr noch schneller dahin, über die Brücke nach Västerfanbyn. Da hielt er an, sprang von den Kufen, lief ins Haus und fragte: »War er hier? Hat jemand etwas gesehen?« Zwar wusste er, dass Anund bereits die Leute befragt hatte – trotzdem wiederholte er seine Frage. Dann fuhr er weiter, stellte sich auf die Kufen und gab dem Pferd wieder die Peitsche. In vollem Lauf gelangten sie bis auf den Antarsberg. In Norrmesunda. Dort hielt er nur kurz. Er befragte Knechte, Mägde und Bauersleute. Und schnell stellte er seine Fragen, der Zorn leuchtete aus seinen Augen, eine Aura des Zorns umgab ihn. Und die Leute 167
antworteten ängstlich, sie hätten niemanden gesehen. Und wenn er dann wieder aus dem Haus kam, spitzte Abednego die Ohren und trabte sofort los, als wüsste das Pferd, dass es eilte. Norrböle. Nicht so viele Höfe. Aber der Tag ging zur Neige. Und er war noch immer zornig. Er hielt, lief in die Häuser, die Ställe, die Vorratshäuser. Er schrie seine Fragen heraus; und die Menschen, die ihn kannten, bekamen es mit der Angst zu tun. Ja, sogar die, die wussten, wer er war, erschraken. Sie glaubten, bei ihm sei jetzt auch der Wahnsinn ausgebrochen – wie bei seiner Frau. Doch, davon wussten sie. Sie hatten gehört, dass Helena Morell ein Kind geboren hatte, dessen Anblick sie nicht ertragen konnte. Die Frau des Polizeiamtmanns Morell hatte ja die Möglichkeit, sich allen möglichen Launen hinzugeben. Ihr Leben, sagten die Leute, ist nicht wie unser Leben. Wir bringen unsere Kinder zur Welt und gehen dann einfach wieder in den Kuhstall oder zur Heuernte oder zum Dreschen. Das ist bei der wohl anders, bei denen da. Und nun war ihr Mann auch vom Wahnsinn ergriffen. Aber Morell trieben Zorn, Ohnmacht und das eigene Versagen an, diese Gefühle verliehen ihm ein barsches Ungestüm. Er wollte nicht aufgeben und wenn er auf seiner Jagd kreuz und quer durch die Pfarreien fahren müsste, immer wieder, er würde niemals aufgeben! Er musste diesen Mann finden! Irgendwo hier musste er sich verstecken. Er musste ihn zu fassen bekommen. Und Morell kam zu der Stelle, wo die Brücke über den Fluss Mo führte, in Richtung Yttersel. Er hielt das Pferd vor dem ersten Hof an und stieg die Treppe zur Haustür hinauf. Jetzt war es bereits Abend und er sah ein, dass er sich einen Platz zum Übernachten suchen musste, damit er morgen weiterarbeiten konnte. Er öffnete die Tür. Die Hofbewohner saßen alle in der Küche, nicht beim Essen, denn das Abendessen war lange vorbei. Aber der Bauer feilte an einem Sägeblatt und die Hausfrau, wenn sie es denn war, saß nicht weit entfernt, untätig. 168
Die Magd machte in einer dunklen Ecke Kleinholz. Und ein Knecht, so ein langer Kerl, stand beim Wassereimer und hielt die Schöpfkelle in der Hand. »Ich suche einen Doppelmörder!« Morell kam sofort zur Sache. »Einen kleinen Mann, in einem schwarzen Mantel, möglich, dass er etwas hinkt, und er hat gute Zähne. Soweit ich das verstehe, heißt das, er hat noch alle Zähne. Und er trägt ein Kopftuch. Habt ihr so einen gesehen?« Ungeduldig wartete er auf eine Antwort, er war bereit, weiterzufahren, über den Fluss zu fahren und weiter, Richtung Mo und Själevad und Örnsköldsvik. »Na, kriege ich bald eine Antwort?«, schrie er. Der Knecht hielt die Kelle an den Mund, ließ sie aber sinken und machte zwei Schritte zur Mitte der Küche. »Das klingt, als wär’s der Grels Persson«, sagte er.
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25 Er war auf der Flucht. Schließlich hatte er Anundsjö doch den Rücken gekehrt. Und zwar eilends. Über die Landstraße hatte er Örnsköldsvik erreicht, noch ehe der große Schnee fiel. Doch, es hatte bereits zu schneien begonnen. Aber nichts deutete darauf hin, dass es tage- und nächtelang so weiterschneien würde. Und morgens hatte er am Hafen gestanden, das zugefrorene Meer betrachtet und war enttäuscht gewesen, weil es hier einfach zu wenige Häuser gab. Über das Meer konnte er zu dieser Jahreszeit seine Flucht nicht fortsetzen, ebenso wenig konnte er sich in diesem kleinen Ort verstecken, was er gern getan hätte. Doch dann hatte es angefangen, zu schneien, ohne Unterlass zu schneien. Da hatte er sich einen Unterschlupf suchen müssen, eine Herberge zum Übernachten. Sie lag am Hang, dem steilen Hang und an der einzigen Straße, die durch den Ort führte. Und dort war er seitdem geblieben. Ein einziger Reichstaler war seine gesamte Barschaft gewesen und den hatte er auf seiner Flucht in einem Haus in Mo gestohlen, direkt am Fluss. Nachts hatte er ein kleines Haus entdeckt, eigentlich eine Kate. Licht brannte keines. Er war einmal ums Haus gegangen. Der Schnee lag hoch aufgetürmt an den Wänden. Die Tür war verriegelt, aber an beiden Giebelseiten gab es jeweils ein Fenster und eines davon ließ sich öffnen. Er hatte vorsichtig dagegen gedrückt und dabei den Atem angehalten. Da war die Küche, dort konnte er vielleicht etwas Brauchbares finden. Das Fenster ging auf und er hatte sich hindurchzwängen können. Lang hatte er ganz still gestanden, sich nicht bewegt. Es war dunkel, aber er hatte ahnen können, wo der Herd stand und ein Bett.
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Mit dem Messer in der Hand war er näher getreten. Da stand ein Küchensofa und darauf lag niemand. Er blinzelte, versuchte etwas zu erkennen. Einen Schrank, eine Truhe. Aber es gab nur Stühle, einen Tisch und dieses Sofa. Und neben dem Herd eine Tür zu der Kammer. Die war nur angelehnt. Vorsichtig öffnete er sie und stellte sich gleich in die Öffnung, sodass kein Licht vom Küchenfenster in die Kammer fallen konnte. Ein Bett und dort schliefen die Bewohner der Kate. Er atmete ganz flach. Er ahnte das Bett und daneben einen Tisch und zu seiner Rechten einen Schrank. Vorsichtig ging er auf den Schrank zu, tastete nach dem Schlüssel und fand ihn. Er drehte ihn leise um und zog die Tür auf. Er bewegte sich näher heran, stellte sich auf die andere Seite der Tür … War das ein Kleiderschrank? Ja, seine Finger berührten Stoff, aber dann bückte er sich. Auf dem Boden ertastete er einen Kasten … Er hielt in der Bewegung inne: Ein Geräusch von einem der Schlafenden … Ein Seufzen, ein Schmatzen und dann wieder gleichmäßige Atemzüge. Der Kasten. Er öffnete den Deckel und tastete weiter. Ein Löffel. Hier war etwas Wertvolles! Er steckte den Löffel ein und tastete weiter. Zentimeter für Zentimeter arbeitete er sich mit den Fingern voran. Da, ein Schein! Eine Banknote. Das fühlte er. Und Münzen? Noch ein Löffel. Keine Münzen? Er fühlte noch einmal, nein, er musste sich mit dem Geldschein begnügen. Er drückte die Schranktür behutsam wieder zu, schlich auf Zehenspitzen durch die Tür in die Küche. Vorsichtig schloss er die Tür zur Kammer, ging schnell zum Fenster und stieß sich unterwegs das Knie am Sofa. Blitzschnell kletterte er aus dem Fenster, drückte es zu und rannte den geräumten Weg hinauf zur Landstraße. Ein Reichstaler und zwei Löffel! Vielleicht sogar aus Silber!
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Dank dieses Reichstalers hatte er ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen und zu trinken gehabt. Und jeden Morgen schaute er nun auf das Schneetreiben und hoffte, dass es bald aufhörte. Er besuchte die Kaufleute, die bei diesem Wetter nichts zu tun hatten, und er ging durch die Schmiede, unablässig auf der Suche nach Schlössern, offenen Türen, wo er etwas stehlen könnte. Denn er musste unbedingt an Geld kommen. Bald wollte er fortgehen – weit weg von Anundsjö. Doch die Schneemengen behinderten nicht nur ihn, sondern andere Reisende auch. Der Schnee behinderte alle. Der behinderte sicher auch den Länsman und den Fjärdsman in Bredbyn. Und deshalb konnte er tagsüber schlafen und nachts auch. Am vierten Tag des Schneetreibens ging er hinunter zum Hafen und zu dem großen weißen Haus. Ein solches Haus hatte er noch nie gesehen, so groß und so prächtig und mit Fenstern und noch mehr Fenstern. Hier sollte ich doch wohl etwas zu stehlen finden, dachte er. Er versuchte sich einzuprägen, wie das Haus aussah. Im Dunkel der Nacht ging er dann die Straße hinunter und bis zum Marktplatz. Der war nur schwer zu erkennen, weil es dauernd schneite und sich eine weiße Decke auf Straßen, Hügel, Plätze und Dächer gelegt hatte. Doch in dem großen Haus brannte Licht. Ein Fenster in der Mitte des ersten Stocks war erleuchtet. Trotzdem schlug er an einer der Giebelseiten ein Fenster im Erdgeschoss ein und kletterte hinein, zündete eine Kerze an, durchquerte schnell das Zimmer und gelangte in eine Diele mit mehreren Türen. Er musterte die Türen abwägend und entschied sich für die schmalste. Genau die Richtige! Das Zimmer war mit einem Schreibtisch, einem Sessel und Regalen voller Bücher möbliert. Er trat an den Schreibtisch, tropfte etwas Wachs auf die Platte
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und fixierte die brennende Kerze. Rasch zog er die erste Schublade auf. Papier und Federhalter. Ein Tintenfass. Er zog die zweite Schublade auf, wühlte unter einem weiteren Stoß Papier und fühlte etwas Dickes. Ein Umschlag. Versiegelt. Er brach das Siegel auf und sah sofort, dass Geld im Kuvert war. Wie viel, kümmerte ihn im Moment nicht. Er stopfte sich den Umschlag in den Mantel und floh. So schnell ihn seine Füße durch den tiefen Schnee tragen konnten, ging er denselben Weg zurück und hinauf bis zu seiner Herberge. Vor dem Gasthaus blieb er stehen. Dort hielt ihn nichts mehr. Am besten, er würde hier verschwinden, sofort, ehe es zu spät war. Irgendjemand würde bestimmt bald das eingeschlagene Fenster entdecken und der Bestohlene würde bald merken, dass der Umschlag fehlte. Also ging er zur Landstraße zurück. Wieder hatte es geschneit, aber er konnte die Straßenränder noch erahnen. In welche Richtung sollte er sich wenden? Nach Norden oder Süden? Er zögerte nicht lange und wanderte nach Norden, auf Arnäs zu.
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26 Er hieß Salmon Andersson und war Knecht in Yttersel. Jetzt saß er auf dem Hof des Polizeiamtmanns in Bredbyn. Morell hatte ihn mit dem Schlitten hierher gebracht. Unterwegs hatte Salmon ihm von dem Mann erzählt, der sich Grels nannte. Als Morell verlangt hatte, sein Knecht solle ihn nach Bredbyn begleiten, hatte der Bauer den Länsman misstrauisch beäugt. Morell hatte erklärt, es sei das Beste, wenn Salmon mitfahren würde. Doch da der Bauer noch immer unwirsch reagiert hatte, beeilte sich Morell schnell hinzuzufügen, dass er mit Salmon lediglich in seiner Eigenschaft als Zeuge reden wolle, sein Knecht sei keinesfalls verdächtig, gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Dann waren sie zusammen losgefahren. Morell hatte sich während der Fahrt sichtlich beruhigt, sein Zorn war abgeklungen. Er hatte sich sogar etwas über seinen Erfolg gefreut. Denn seine Fahrt war nicht umsonst gewesen. Er konnte mit einem Resultat aufwarten. Obwohl es inzwischen mitten in der Nacht war, hatten sie bei Anund Persson Halt gemacht. Morell hatte mit der Faust an die Tür geklopft und Vater und Sohn geweckt. Und jetzt saßen sie alle auf seinem Hof, Salmon, Harald Morell, Anund und Johan. Im Amtszimmer. Harald Morell war müde. »Grels Persson«, sagte er einleitend. »Erzähl mir was über ihn.« »Ja, so heißt er«, sagte Salmon. »Hat er etwas angestellt?« »Wie lange hast du ihn bei dir aufgenommen?« Salmon überlegte. Das sah man seiner Stirn an. Sie war niedrig und das Haar war bis zum Ansatz ganz kurz geschnitten. Der hat 174
mal ein breites Gesicht, dachte Morell, und im Unterkiefer nur noch wenige Zähne. »Hatte er gute Zähne?«, fuhr er fort, ohne auf die Antwort auf seine erste Frage zu warten. Salmon berührte einen seiner Zahnstummel und lächelte mit zusammengekniffenen Lippen. »Mm, das hat er. Den ganzen Mund voll«, antwortete Salmon. »Was weißt du über ihn?«, schaltete sich Anund ein. Und Salmon erzählte, dass er Grels Persson von früher her kenne. Grels sei schon vor ein paar Jahren in Anundsjö gewesen. Allerdings habe er sich damals nirgendwo als Knecht verdingt. »Aber bei der Heuernte 46 oder 47 war er mit beim Bauern. Ja, bei meinem Bauern. Als extra Knecht.« Woher er stammte, wusste Salmon nicht, glaubte aber, von Sunnaskogs, also südlich von Skuleberg. »Ja, ich glaub, der kommt aus Gudmundrå.« »Das liegt am Fluss«, sagte Anund. »Am Styran.« »Also, dann ist er zu mir gekommen«, fuhr Salmon fort. »Und wann war das?«, fragte Johan. Morell meinte, eine unterschwellige Spannung zwischen Vater und Sohn zu spüren. Johan blickte manchmal zu seinem Vater hin, als warte er auf dessen Zustimmung. So auch eben. »Vor’m Monat, vielleicht auch mehr«, sagte Salmon. »Kannst du dich daran erinnern, dass es im Februar heftig geschneit hat?«, fragte Morell. Salmon nickte. »War das nach dem Schneetreiben?« Wiederum nickte Salmon. 175
Auf jeden Fall, sagte er, habe Grels Persson mehrere Wochen bei ihm gewohnt. Aber dann sei er eines Morgens weggegangen und Salmon habe ihn seither nicht mehr gesehen. »Weg war er. Das war kurz vorm Schnee, dass er weg ist. Vorm zweiten Mal, als es zum zweiten Mal so schrecklich geschneit hat.« »Aber er hat also bei dir gewohnt. Hat der Bauer davon gewusst?« Salmon schüttelte den Kopf und befühlte einen Zahnstummel im Unterkiefer. »Was hat er tagsüber gemacht?«, fragte Anund. »Er war in Bredbyn oder in Mellansel, hat er gesagt.« »Hatte er Geld?«, fuhr Anund fort. »Mm, der hatte ’n paar Reichstaler, aber dann war’n sie alle.« »Was hatte er an?«, fragte Johan. Ja, also Grels Persson habe einen schwarzen Mantel getragen, so einen abgewetzten, und kaputte Schnürstiefel. Die Hosenbeine habe er über den Stiefeln mit Lederriemen zusammengebunden. »Und wenn’s kalt war, hat er immer so’n Kopftuch aufgehabt.« Morell erhob sich, baute sich vor Salmon auf und sprach lauter als sonst. »Bist du schon mal in Åsele gewesen?« Salmon blickte verwundert auf und runzelte die Stirn. »Eine einfache Frage!«, brüllte Morell. »Einmal«, sagte Salmon. »Vor Jahren.« »Nicht vor dem Schneefall im Februar?«, hakte Morell nach. »Du bist nicht zusammen mit diesem Grels Persson und einem anderen Mann aus Åsele gekommen? Durch den Schnee …« »Ich bin nicht mit’m Grels in Åsele gewesen.« 176
Er sah Anund Hilfe suchend an. »Ich bin doch ’n Knecht. Ich kann nicht einfach abhauen.« Jetzt hatte er den Blick flehentlich auf Morell gerichtet. »Ihr könnt ja den Bauern fragen.« »Aber der Grels, der ist aus Åsele gekommen?«, fragte Johan. »Ja, da ist er gewesen. Und dann ist er nach Bredbyn gegangen, hat er gesagt.« »Ist er allein gekommen?«, fragte Morell. Salmon ließ seinen Blick von einem Mann zum anderen wandern und zuckte dann mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Davon hat er jedenfalls nichts gesagt, der Grels.« Morell setzte sich an seinen Schreibtisch. »Nun«, sagte er, »jetzt beschreib uns den Grels. Auch die kleinste Kleinigkeit. Denn wenn du damit fertig bist, müssen wir ganz genau wissen, wie er aussieht und wie er ist.« »Hat er etwas angestellt?«, fragte Salmon wieder. Grels Persson: Dreißig Jahre, klein und mager. Größe: etwa 155 Zentimeter. Gewicht: 50 Kilo. Haarfarbe: hellbraun. Augenfarbe: blau. Gesunde Zähne, spitze Nase und großer Mund. Salmon hatte gesagt, die Lippen seien dick. Morell saß mittlerweile allein in seinem Arbeitszimmer. Er musste nur noch ein Protokoll schreiben. Dicke Lippen, dachte er. Und das Haar. Dünn sei es, hatte der Knecht Salmon gesagt, und lag nicht wie an den Kopf geklebt, sondern es stand ab wie eine Bürste. Er schrieb: Herkunftsort: Gudmundrå. 177
Wenn er in Anundsjö nicht als Knecht auf einem Hof gearbeitet hat, gibt es auch keine Eintragungen über ihn im Katechismusregister, dachte Morell. Gudmundrå. Er wusste nicht genau, wo Gudmundrå lag. Am Fluss war er schon gewesen, damals aber in Ytterlännäs. Das war in jenem Jahr, als er einen Mann gesucht hatte, der den Spitznamen Rotfuchs hatte. Gudmundrå. War Grels Persson in seinen Heimatort zurückgekehrt? Wie lange war er nicht mehr dort gewesen? Vielleicht hat er seine Heimat ja schon vor langer Zeit verlassen … Salmon Andersson zufolge hinkte er nicht. Viel war das nicht. Aber sicher war er der Gesuchte. Grels Persson war sicher der Mann, hinter dem sie her waren. Morell hoffte, dass er nicht nach Gudmundrå gegangen war, sondern dass er sich noch in der Gegend aufhielt, in Anundsjö oder Örnsköldsvik. Morgen würde er zum Marktflecken Örnsköldsvik fahren. Aber erst einmal musste er schlafen. Er stand auf, stieg die Treppe hoch und betrat das große Zimmer. Er sah auf die Uhr. Die hatte lediglich einen Stundenzeiger, aber das reichte ihm. Schon fast vier Uhr früh. Er stieg die zweite Treppe hoch, schaute bei seinem Sohn hinein, berührte den weichen Körper des Kindes, stopfte die Decke fest und ging ins Schlafzimmer. Es war dunkel, aber er hörte, dass Helena schlief. Er ging auch zu ihr, hob ihre Hand und legte einen Finger auf ihre Handfläche, wie er es immer bei Gustav machte. Er hätte es gern gehabt, dass seine Frau ihre Hand fest um seine Finger schließen würde, so wie der Junge es tat. Sollte er sie wecken? War sie offen und ansprechbar? Und würde sie wieder zuhören, so wie gestern Abend? Er hatte mehr zu erzählen. Er brauchte sie als Zuhörerin, als Ratgeberin. Aber wenn sie nun nicht … Wenn sie wie immer war – unnahbar? 178
Er wagte es nicht, denn er wollte sich die Erinnerung an den offenen Blick ihrer Augen bewahren. Ihre Hand war warm und er hielt sie so lange, bis sie anfing zu zucken und er Angst bekam, sie könnte aufwachen. Er legte ihre Hand wieder auf die Bettdecke, als wäre sie ein lebendiges Wesen. Dann ging er aus dem Zimmer und zu Bett.
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27 Die Nachricht breitete sich schnell aus. Einen Ort gab es, da trafen sich die Leute, weil man dort stets das Allerneueste erfahren konnte. In Bredbyn war das der Platz vor der Kirche. Dort trafen sich regelmäßig die Bewohner der umliegenden Höfe zum Kirchgang und vorher tauschten sie Neuigkeiten aus, sprachen übers Wetter oder klatschten. Natürlich redeten sie auch über die Tote im Schnee. Über Greta Sigurdsdotter. Dass nämlich noch ein Mord geschehen sei. Und sie jammerten darüber, wie schlimm die Zeiten geworden seien. Oder sie standen vor dem Gottesdienst auf der Wiese wie eine Schar Krähen beieinander und steckten die Köpfe zusammen. Im schneidenden kalten Wind. Hörten zu, nickten, kommentierten. Dann schüttelten sie die Köpfe, als wäre ein solches Verbrechen gar zu unbegreiflich. Denn dieses Mal war das Opfer ja kein unbekannter Landstreicher aus der Lappmark gewesen, sondern jetzt hatte es eine Dorfbewohnerin getroffen, eine arme Frau, die für die Alten im Armenhaus gesorgt hatte. Ein paar Leute wussten, dass Greta in Risbäck aufgewachsen war. Und einer der Alten hatte noch ihren Vater gekannt, der so jung gestorben war. Und noch ein anderer erinnerte sich an die Mutter, die wohl 1828 gestorben war. Aber am meisten redeten die Bauern über ihren Bruder und dessen Frau und wie die beiden im Schnee erfroren waren. Und das mit der Greta, das war ja auch im Schnee passiert, aber sie war nicht erfroren, sondern niedergestochen worden. Jemand hatte ihr ein Messer in die Brust gestoßen. Aber das Ehepaar habe sich in seiner Not aneinander geklammert, wurde erzählt. Und so habe es sich einen kleinen Sitzplatz geschaffen wie ein Sofa, so ein Küchensofa, darauf haben sie im Schnee gesessen. Zu dritt hatten sie die beiden 180
damals geholt. Mit dem großen Pferdeschlitten, der vier Sitzplätze hatte. Denn die Erfrorenen hatte man nur gemeinsam tragen und auf den Schlitten setzen können. Sie hatten die Toten damals stützen müssen, damit sie nicht vornüber oder nach hinten kippten. Und dem Kutscher war es vorgekommen, als kutschiere er eine Ausflugsgesellschaft auf seinem Schlitten. Dabei waren zwei doch mausetot. Und natürlich erinnerten sie sich alle an Greta. Sie hatte doch so lange im Armenhaus gearbeitet. Und alle fanden, es sei ein großes Unglück, dass jemand sie umgebracht hatte. Und dann gingen sie in die Kirche. Im Vorraum stampften sie den Schnee von den Schuhen. Sie suchten ihre Plätze auf und dabei überlegten sie, ob heute Backäus oder Sondelius den Gottesdienst halte und wie lange die Predigt wohl dauern werde.
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Pål Tomasson erinnerte sich noch gut an diesen Abend. Das sei vor dem Schnee gewesen, sagte er zu Märta, die ihm gerade erzählt hatte, dass der Frau vom Armenhaus etwas Schreckliches zugestoßen sei. Jemand habe sie mit einem Messer erstochen. Er sei auf dem Heimweg nach seinem Besuch bei Märta gewesen. An einem Donnerstag oder Freitag. Ein Mittwoch sei es nicht gewesen, das wisse er genau, denn dann hätte er bei ihr übernachtet. Nein, entweder ein Donnerstag oder ein Freitag, bevor der große Schneefall einsetzte. Er sei an der Kirche vorbeigegangen, habe eine Weile dagestanden und den Glockenturm betrachtet und überlegt, was an dem eigentlich so merkwürdig sei. Dann sei er quer über den Schnee in Richtung Armenhaus gestapft. 181
Und da habe er Greta gesehen. Sie habe in der offenen Tür gestanden. Ein schwacher Lichtschein sei aus dem Flur gefallen. Und vor ihr auf der Haustreppe habe ein Mann gestanden. Wie der aussah, habe er nicht erkennen können, nur dass er klein war und mager und schwarz angezogen. Er habe ihn nur für einen kurzen Moment gesehen, denn er sei im Schnee ausgerutscht. Und als er wieder hochgeschaut habe, da sei die Tür wieder geschlossen gewesen. »Vielleicht war das der Mörder, der da auf der Haustreppe gestanden hat«, schloss er. Heute war Mittwoch und er würde bis zum Morgengrauen bei ihr bleiben. Bis er sich um die Kühe des Bauern Johannes Ejvindsson kümmern und Märta hier zum Melken gehen musste. Ihre Kammer war nur klein, mit einem schmalen Bett, einem Tisch und einem Stuhl darin. Sie lagen beide warm im Bett unter der Decke und er fand, er sei ein Glückspilz, weil er einen Schatz hatte. »War das nicht vor dem großen Schnee?«, fragte Märta. »Doch, ich glaube, das war am Tag vorher«, antwortete Pål. »Das musst du dem Länsman erzählen«, sagte sie. »Mm, das muss ich wohl«, entgegnete er.
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Das war nicht die Arbeit, die sich Lisbet vorgestellt hatte. Das war dasselbe wie früher. Als sie ihren sterbenden Vater gepflegt hatte. Die Alten lagen zwar nicht im Sterben, aber sie waren alle krank und hilflos.
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Sie hatte sich eine große Küche vorgestellt und sie darin in einer weißen Schürze. Und kostbares Porzellan, mit dem sie den Tisch decken würde. Und silbernes Besteck. Das alles würde sie ordentlich auf den Tisch stellen und dann würde sie das Essen in großen Schüsseln holen und servieren. Sie hatte an den Hof des Polizeiamtmanns gedacht oder an den Pfarrhof. Herrschaften hatte sie sich vorgestellt. Die einzigen Herrschaften, die es hier gab, waren der Pfarrer und der Länsman und der Buchhalter in Näs. An Backäus hatte sie gedacht. Nicht an Sondelius, den Hilfspfarrer. Der war auch nicht verheiratet, sondern lebte wohl allein auf einem Hof in Fanbyn. Aber Sondelius war in den Gasthof gekommen, weil er sich vorher umgehört hatte, ob jemand eine Stelle suche, und da hatte der Gastwirt ihren Namen genannt. Und sie hatte sofort Ja gesagt. Denn auf die Weise konnte sie diesem hartnäckigen Kerl entkommen. Es hätte auch andere Möglichkeiten gegeben. Aber sie hatte den Gastwirt nicht um Hilfe bitten müssen. Also hatte sie Sondelius’ Angebot angenommen und jetzt war sie hier. Doch so hatte sie sich ihr neues Leben nicht vorgestellt. Der Hof des Länsman. Der große Morell. Er war bei ihr gewesen und sie hatte sich vorgestellt, bei ihm als Dienstmädchen arbeiten zu können. Und nun hatte der Länsman Greta im Schnee gefunden. Tot. Jetzt schloss sie immer ihre Tür ab und nachts verriegelte sie die Haustür. Angst, sie könnte das gleiche Schicksal ereilen, hatte sie nur manchmal. Von dem Vorsteher des Armenhauses Sondelius sah Lisbet nur wenig. Sie wusste nicht einmal, ob der Hilfspfarrer sich daran 183
erinnerte, dass er ihrem Vater an dessen Todestag das Abendmahl gegeben hatte. Er saß nie in seinem Zimmer und erschien nur zu kurzen Besuchen. Dann blätterte er in irgendwelchen Papieren und nahm sie wieder mit. Manchmal fragte er sie, wie es denn so gehe, und sie antwortete ihm, sie glaube nicht, dass einer von den Alten bald sterben würde. Zwei neue Alte hatten die freien Betten im Schlafsaal der Männer im Erdgeschoss eingenommen. Somit waren wieder alle Betten belegt. Lisbet tat, worum der Länsman sie gebeten hatte. Sie fragte die Alten nach Greta. Aber sie bekam keine Antwort. Die meisten waren verwirrt und wussten kaum, wo sie waren. Andere wiederum erinnerten sich haargenau an die Ereignisse vor langer Zeit und erzählten von Pferden, die durchs Eis gegangen waren, von riesigen Heuernten und von den beiden, die in der Lappmark erfroren waren. Aber was in letzter Zeit geschehen war, daran erinnerten sie sich nicht. »Doch, die Greta«, nickten ein paar, »das war doch so ’ne ganz Freundliche.« Aber sie lebten, sie aßen und sie schliefen. Und niemand war dem Tode nahe. Am nächsten ist ihm wohl Sara, dachte Lisbet. Die Bibel lag noch immer aufgeschlagen auf dem Nachttisch in ihrem Zimmer und sie las jeden Abend dieselben Bibelstellen, die Psalmen 90, 91 und 92. Die Tage gingen einförmig dahin. An das Alleinsein war sie gewöhnt, doch sie war enttäuscht, weil sie sich ihr Leben so ganz anders vorgestellt hatte, als sie aus Skalmsjö voller Hoffnung fortgegangen war. Das einzige Gute an ihrer neuen Stelle war, dass dieser Daniel Persson sie hier nicht mehr bedrohen konnte. Trotzdem verriegelte sie immer die Haustür. Und sie schloss die Tür zu ihrem Zimmer ab. Falls der Mörder Gretas plante, auch sie zu töten. 184
Wenn der Länsman dem Armenhaus wieder einen Besuch abstattete – und sie hoffte, dass er das recht bald tun würde –, wollte sie ihn fragen, ob er sie nicht als Dienstmädchen einstellen könne.
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28 »Und ob der hier gewesen ist!«, rief der Wirt der Herberge in Örnsköldsvik empört. Rot, dachte Morell. Alles an dem Kerl ist rot. Feuerrot die Haare und jede Menge davon! Rötlich die Hautfarbe. Und rot glühend die Wut. »Ein Schurke!«, brüllte der Wirt. »Ein Spitzbube, ein Dieb, ein Gauner, ein Schweinehund, ein Schuft, ein Halunke!« Mit hochrotem Kopf spuckte er die Worte förmlich aus. »Beruhige dich, Mann!«, sagte Anund mit ganz normaler Stimme, deren Lautstärke ebenfalls einem Brüllen glich. Und der Rote schwieg. Er sah aber aus, als würde er in seinem Gedächtnis nach weiteren Schimpfwörtern suchen. »Warum bist du so wütend?«, fragte Morell. Der Rote fuhr sich mit der Hand über sein rotes Gesicht, als wollte er mit dieser Geste nicht nur die Farbe wegwischen, sondern auch seine Erbitterung. »Der hat mich bestohlen und verdrückt hat er sich auch. Ohne zu bezahlen! Einfach so«, sagte er, nun etwas ruhiger. »Und das war dieser Grels Persson?« »Na ja, das war nicht der Namen, den er mir genannt hat. Er nannte sich Bengt Olsson. Aber das war er. Dieser Lump!« Noch einmal fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. »Klein und schmächtig, alle Zähne. Abgetragener schwarzer Mantel und Kopftuch. Und Haare wie Schweineborsten! Doch, das war er.« »Und wo ist er jetzt?«, fragte Morell. »Wenn ich das nur wüsste«, erwiderte der Rothaarige. 186
Morell und Persson folgten der einzigen existierenden Straße. Obwohl es noch früher Morgen war, hatte bereits ihr erster Besuch ein Resultat gebracht. Dieser Grels Persson oder Bengt Olsson war in Örnsköldsvik gewesen, so viel stand fest. Ob sich der Mann noch hier herumtrieb, mussten sie herausfinden. Morell zweifelte daran. Er hatte sich während des Schneetreibens sicher hier im Ort aufgehalten, dann aber bestimmt das Weite gesucht. Denn inzwischen war ihm wahrscheinlich klar geworden, dass er wegen Doppelmordes gesucht wurde. Morell und Persson redeten mit den Großhändlern, einem Eisenhändler und einem Schuhmacher, den Anund kannte, weil er ihn vor knapp zwei Jahren kennen gelernt hatte. Damals, als sie nach Erik Helmersson fahndeten und auch fanden. Und einen Buchdrucker, der seinerzeit wieder nach Stockholm hatte ziehen wollen, sowie einen erstaunlich kleinen Schmied mit dünnen Armen. Sie hatten in allen Häusern nachgefragt. Ein paar Leute behaupteten, den Mann gesehen zu haben. Während des tagelangen Schneegestöbers sei das gewesen, sagten sie alle. Aber wo er sich jetzt aufhielt, das wusste niemand. Das Meer war zugefroren. Oberhalb des Hafens gab es einen kleinen Marktplatz, der war vom Schnee geräumt. Daneben stand das große weiße Haus, eine richtige Villa. Morell hatte sie bisher noch nie betreten, aber jetzt betätigte er den schweren Türklopfer. Ein Mann in einem langen schwarzen Gehrock über einem blütenweißen Hemd öffnete ihnen. Er machte nicht den Eindruck eines Dieners. Aber Diener wird es in diesem Haus doch wohl geben?, dachte Morell. Und dann schoss ihm wieder einmal der Gedanke durch den Kopf, dass er sich um eine neue Dienstmagd kümmern müsste. Und dass er es 187
leider versäumt hatte, Lisbet einzustellen, die jetzt für die Alten im Armenhaus sorgte. Der Länsman trug sein Anliegen vor und der Gutgekleidete öffnete ihnen die Tür und geleitete die beiden in einen Raum mit einem sehr großen Tisch. Da haben gut zwanzig Personen Platz, dachte Morell. An der Längsseite des Raums hingen Gemälde von Schiffen und Häfen in bläulichen Farbtönen. Der Mann ging zu einer Gruppe Ledersessel an der Schmalseite des Raums, bedeutete Harald Morell und Anund Persson, Platz zu nehmen, und setzte sich. »Ich habe den Mann, den Sie beschrieben haben, nicht gesehen«, sagte er. »Aber da dies eine polizeiliche Angelegenheit zu sein scheint und wir hier im Ort keine Polizei haben …« Er schwieg und lächelte. »Doch das soll ja kommen«, fuhr er fort. »Nun ja, ich will mich kurz fassen. Bei mir ist eingebrochen worden. Jemand hat ein Fenster eingeschlagen und hat aus meinem Arbeitszimmer einen Umschlag gestohlen, der zwanzig Reichstaler enthielt. Wenn ich Sie recht verstehe, so hat der von Ihnen Gesuchte den Herbergswirt ebenfalls bestohlen …« Morell nickte. »Ja, mehr kann ich nicht sagen, als dass bei mir eingebrochen wurde. Wenn Sie den Dieb zu fassen bekommen, müssen Sie wissen, dass er mir Geld schuldig ist. Zwanzig Reichstaler sowie eine zerschlagene Fensterscheibe muss er mir ersetzen.« Mit diesen Worten stand der Hausherr auf und schickte sich zum Gehen an. Morell und Anund folgten ihm. Stumm öffnete er die Haustür und verabschiedete die Beamten mit einer Geste. Als Morell und Anund auf die Treppe traten, fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie fassen ihn.«
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Morell drehte sich um und schaute zu der Villa zurück. Jetzt habe ich das Haus wenigstens einmal von innen gesehen, auch wenn es nur ein kurzer Besuch gewesen ist, dachte er. Olof Viberg war der Polizeiamtmann in Arnäs, ein kleiner und dünner Mann mit zarten Händen. Er schien sich aufrichtig zu freuen, dass Harald Morell und Anund Persson ihn besuchten. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, sagte er. Ja, das stimmte. Es war anderthalb Jahre her. Sie hatten bei der Suche nach einem Mörder zusammengearbeitet. Dem Mann, der INRI auf den Schaft einer Sense und unter das Fenster der Waldarbeiterhütte geritzt hatte. Zwei Brüder waren damals ermordet worden, der eine im See ertränkt, der andere in Arnäs mit einer Sense geköpft. Es hatte gedauert, bis Morell darauf gekommen war, dass beide Todesfälle miteinander zu tun hatten. Und dann hatten sie zusammengearbeitet, der Polizeiamtmann von Arnäs und der von Anundsjö. »Im August 47«, sagte er. »Das ist eine Weile her.« Viberg läutete nach einem der Knechte und bestellte Essen für zwei weitere Personen. Dann berichteten Harald und Anund von den Verbrechen, die in Anundsjö begangen worden waren. Sie beschrieben Grels Persson und sie baten Viberg, ihnen noch einmal behilflich zu sein. »Es wäre möglich, dass sich der Kerl hier in der Gegend rumtreibt«, sagte Morell. »Hier ist alles ruhig«, sagte Viberg. »Dabei heißt es … Wisst ihr, was man über die Einwohner von Arnäs sagt? Sie wären diebisch wie die Elstern! Als wären sie besonders auf Diebereien erpicht.« »Und von den Menschen in Anundsjö heißt es, sie wären Jammerlappen«, sagte Morell und lachte. »Aber das hat nichts
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mit Feigheit zu tun, glaube ich. Die sind rührig. Das schrieb Hülphers in seiner Chronik.« Viberg überlegte. »Es gibt nichts, was darauf schließen lässt, er könnte sich hier in der Gegend aufhalten. Er kann sich ja nach Nordmaling auf den Weg gemacht haben … oder nach Umeå. Oder in die ganz andere Richtung …« »Natürlich«, seufzte Morell. »Ich habe nur eine gute Beschreibung von ihm. Die werde ich an alle Polizeiamtmänner ringsum schicken.« Aber kriegen muss ich ihn, dachte er. »Ich bin jetzt hier allein«, sagte Viberg. »Lars Didriksson lebt in Härnösand. Das wird mal ein gelehrter Bursche.« Morell konnte sich dunkel an Lars erinnern. »Aber einen Landgendarm hast du doch?«, sagte er. »Ja«, antwortete Viberg. »Björn Östensson. Aber wie gesagt, hier ist alles ruhig. Und hoffentlich bleibt es so!« Eine junge Magd kam und meldete, dass das Essen serviert sei. Vibergs Frau saß ebenfalls mit am Tisch. Sie war größer als ihr Mann. Und gesund. Frische rote Wangen hatte sie und ein herzliches Lachen. »Ich habe mir überlegt«, sagte sie, »dass wir in diesem Jahr bei uns das Mittsommernachtsfest feiern. Ich hoffe, ihr werdet kommen. Du und Helena.« Morell schnitt ein Stück Fleisch ab und steckte es sich in den Mund. »Ja«, murmelte er und dann überfiel ihn die Traurigkeit. Plötzlich war er so bedrückt, dass er sich entschuldigen und zum Klo auf dem Hof gehen musste, um allein zu sein.
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29 Morell hatte den Obduktionsbericht aus Bjästa vor sich liegen und versuchte, ihn zu verstehen. Besonders lang war er nicht, es standen aber einige Wörter darin, die er nicht verstand, obwohl er etwas Latein konnte. Der Arzt hatte viel über das Aussehen der Lungen geschrieben und die Art der Blutungen. Doch insgesamt konnte sich Morell anhand des Berichts doch ein ungefähres Bild machen. Er nahm ein Blatt Papier und resümierte: Die beiden Messerstiche waren nicht tödlich. Höchstwahrscheinlich ist Greta Sigurdsdotter erfroren. Sie wurde schwer verletzt und blutend, aber noch lebend in den Schnee geworfen. Die Waffe – wahrscheinlich ein Messer. Der Tote von Seltjärn wurde mit einem breiteren und längeren Messer getötet. Morell legte den Federhalter beiseite. Auch dieses Mal haben wir die Tatwaffe nicht gefunden, dachte er, obwohl ein halbes Dutzend Knechte in Norrmesunda eine große verschneite Fläche umgegraben haben. Er schrieb weiter: Greta hat vermutlich kaum lange verletzt mit ihren Stichwunden im Schnee gelegen. Er legte wieder den Federhalter beiseite und nahm den Bericht zur Hand. Wie denn nun. War sie erfroren oder verblutet? Im Gutachten des Arztes fiel ihm eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Todesursache auf. Er hoffte, dass sie nicht lange hatte leiden müssen. 191
Er schrieb: Sie ist transportiert worden, denn die Fundstelle der Leiche ist nicht der Ort, an dem auf sie eingestochen wurde. Wieder legte er den Federhalter aus der Hand. Zu diesem Schluss war der Bezirksarzt in Bjästa gekommen. Jetzt galt es nur noch, den Täter zu finden. Den Mann, der sie mit einem Messer angegriffen und dann schwer verletzt in Norrmesunda im Schnee zurückgelassen hatte.
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Anders Svensson war zu Gretas Beerdigung gekommen. Und Greta Sigurdsdotters jüngerer Bruder, Lars aus Ytterlännäs. Außerdem waren Länsman Harald Morell und Lisbet Zackrisdotter anwesend. Pfarrer Olaus Backäus sprach am Grab. Er sprach von Gretas selbstloser und aufopfernder Arbeit für die Alten und Schwachen. Er sprach vom Leben und vom Tod und von der Auferstehung. Er sprach von Mord, von dem Mörder, der Gottes Gebot missachtet, das Gebot, das da heißt: Du sollst nicht töten. Und er fuhr fort: »Ich habe erfahren, dass die Bibel in Gretas Zimmer bei den Psalmen 90 bis 92 aufgeschlagen lag.« Er blätterte in seiner großen Bibel und sagte: »Ich werde zum Schluss einige Verse aus dem einundneunzigsten Psalm verlesen: ›Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Haus nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf
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den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.‹« Die Sonne schien, es tropfte von Bäumen und Dächern, ja überall, wohin kein Schatten fiel, sickerte Wasser. Und ein kleines Rinnsal lief von dem Erdhügel hinunter in das offene Grab. Sie ließen den Sarg hinab und der Pfarrer warf seine drei Schaufeln voll Erde darauf. Die Beerdigung war zu Ende; und alle verließen den Friedhof, Gretas Bruder und ihr Neffe, der Polizeiamtmann Harald Morell und die Altenpflegerin Lisbet Zackrisdotter und der Gemeindepfarrer Olaus Backäus. Und es taute.
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30 Grels stand vollkommen still auf dem Treppenabsatz, lauschte angestrengt und versuchte, den Atem anzuhalten. Seinen Sack hielt er dicht an den Körper gepresst, damit es darin nicht klapperte. Und er lauschte. Hatte er nicht ein Geräusch gehört …? War jemand ins Haus gekommen …? Er unterdrückte den Impuls, einfach die Treppe hinunterzurennen und hinaus in die Freiheit zu laufen. Er war auf den Dachboden gestiegen, das hatte ohne Schwierigkeiten geklappt. Und dort hatte er die Truhe gefunden, eine Brauttruhe, wie er feststellte. Auf dem Hof rüstet man sich offenbar zur Hochzeit, hatte er gedacht und lautlos vor sich hin gelacht. Das Haus hatte leer und verlassen gewirkt, obwohl die Haustür offen gestanden hatte, und er war schnell hineingeschlüpft und sofort die Treppe hinaufgegangen. Der Dachboden diente als Rumpelkammer, jede Menge altes Zeug lag herum. Aber in eine Wand war eine schmale Tür eingelassen, die in eine eingerichtete Kammer führte. Und dort hatte er die Truhe entdeckt und sofort aufgebrochen. Und die Truhe war voll gewesen: Silberbesteck, Wolle, Leinen, Schmuck und andere wertvolle Dinge. Er hatte alles zusammengerafft und in seinen Sack gestopft und wollte sich gerade wieder aus dem Staub machen, da hatte er das Geräusch gehört. Eine Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Und Schritte. Jemand war ins Haus gekommen. Wie erstarrt stand er auf dem Treppenabsatz. Sollte er fliehen, einfach nach draußen rennen …
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Ruhig, dachte Grels. Sei vorsichtig. Das ist vielleicht jemand, der nur kurz ins Haus gekommen ist und gleich wieder gehen will. Geh!, dachte er. Lass mich entkommen. Ich will raus auf die Straße, raus auf die große Straße und dann nichts wie weg von hier. Unbeweglich stand er oben an der Treppe. Wenn ich hier heil rauskomme, fange ich ein neues Leben an, schwor er sich. Ich gehe hinunter zum Fluss und werde Knecht. Lass mich entkommen! Nun geh schon! Geh aus dem Haus! Noch eine Tür wurde aufgestoßen. Dann wieder Schritte. Auf der Treppe! Zielstrebige Schritte. Grels beeilte sich. Er hielt seinen Sack wie ein kostbares Geschenk an den Körper gepresst, machte auf dem Absatz kehrt und schlüpfte schnell in die Kammer. Er sah die offene Truhe. Hoffentlich kommt der Hausbewohner nicht hierher, betete Grels. Er robbte unters Bett. Stille. Er hörte keine Schritte mehr. Eine Frau oder ein Mann? Nein, das war ein Mann, das hatten die Schritte verraten. Schwere, entschlossene Schritte. Der Hausbewohner war draußen geblieben. Vielleicht wollte er etwas holen. Grels Herz klopfte bis zum Hals. Ruhig, dachte er. Der Mann kommt nicht hier herein. Und selbst wenn, ist nicht sicher, dass er an die Truhe will. Nein, bleib ganz ruhig, dachte er. In seinem Kopf rauschte es, trotzdem hörte er jetzt wieder Schritte, die sich entfernten, die Treppe hinunter. Bestimmt waren sie … Ja, geh, dachte er. Geh endlich! Noch eine ganze Weile lag Grels da und lauschte. Er bekam seine Atmung unter Kontrolle und kroch unter dem Bett hervor. Leise schlich er wieder hinaus auf den Dachboden, stellte sich auf den Treppenabsatz und lauschte. Keine Tür wurde geöffnet 195
oder geschlossen. Keine Schritte. Hatte der Mann das Haus verlassen? Hatte er nur etwas holen wollen und war dann wieder gegangen? Aber er musste warten, bis er vollkommen sicher war. Von der verkrampften Haltung taten ihm der Nacken und die Schultern weh. Warten. Grels fing an zu zählen, um in etwa die verstreichende Zeit zu messen. Er zählte stumm und als er bis zweitausend gekommen war, hörte er auf. Behutsam stieg er eine Stufe hinunter. Sie knarrte nicht. Noch eine. Wieder blieb er stehen, zählte. Tausend. Noch ein vorsichtiger Schritt. Dann Stille. Lauschen. Nein, dachte er, jetzt los! Er holte tief Luft und dann rannte er die Treppe hinunter und bis zur Tür. Er drückte auf die Klinke, um sie zu öffnen. Als er begriff, dass sie abgeschlossen war, hatte er das Gefühl, als hätte jemand ihm mit einem Knüppel auf den Schädel geschlagen. Verwirrt drehte er sich um. Nach links. Dort ist die Tür zur Küche, vermutete er. Geradeaus wohl die gute Stube. In der Diele hier gab es ein kleines Fenster. Rasch zog er die Küchentür auf, lief zum Fenster und drehte sich suchend um. Ein eiserner Topf stand auf dem Herd. Er packte ihn und warf ihn mit aller Kraft gegen die Scheibe, sodass das Glas splitterte. Mit der bloßen Hand schlug er gegen die Glasscherben, die noch im Fensterrahmen steckten. Dass er sich schnitt, kümmerte ihn nicht. Nichts wie raus hier! Seine Hand blutete. Aber er kletterte auf die Fensterbank und hievte sich nach draußen. Kaum hatte er Boden unter den Füßen, rannte er los. Über den schmalen geräumten Pfad zur Straße hinauf.
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Wenn ich nur dieses Mal nicht erwischt werde, dachte er, werde ich … Es war helllichter Tag und dort oben führte die Landstraße weg von Arnäs zu anderen Orten, nach Nordmaling und Västerbotten. Nein, ich muss umkehren, dachte er. Ich muss zurück nach Gudmundrå. Wenn ich dieses Mal nicht erwischt werde … Er rannte und hielt den Sack in der einen Hand, von der anderen tropfte Blut. Bis zur Landstraße waren es nur noch vierzig, fünfzig Meter. Ihm schien, als bedeutete sie Freiheit. Dort verlief die große Straße, auf der die Rissla-Schlitten und die großen Pferdeschlitten fuhren und die einen weit weg von hier brachte. Ja, weit weg. Ich werde nie wieder … Erst merkte Grels nichts, so drängte es ihn, die große Straße zu erreichen, nur weg von hier. Doch aus irgendeinem Grund drehte er sich plötzlich um und schielte im Laufen nach hinten. Und da sah er den Mann. Er rannte hinter ihm her, wie ein Bluthund, der einer Blutspur folgt. Ein großer, grobschlächtiger Mann. Und der Mann kam näher. Grels sah die Landstraße dort oben und er wollte sie unbedingt erreichen, als wäre er dann in Sicherheit … Er hörte die Schritte hinter sich, sie kamen näher und näher. Schwere Schritte. Und er hörte die Stimme, die jetzt schrie, er solle stehen bleiben. Dann rief der Mann: »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Aber Grels rannte immer weiter, so lange, bis es keine Möglichkeit mehr gab, dem anderen zu entkommen. Er spürte einen harten Stoß im Rücken und fiel hin. Er lag auf dem Bauch, das Gesicht im Schnee und dachte: Jetzt ist alles aus. Alles. Doch der Mann drehte ihn wie einen nassen Lappen um. 197
»Du dreckiger Dieb!«, sagte er. Grels sah das Gesicht seines Verfolgers, ein großes feistes Gesicht. Er sah, wie sich die Fäuste hoben, aber er spürte nur den ersten Schlag.
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Anund Persson schob seinen Sohn durch die Tür in das Zimmer, in dem Morell saß, vor sich Papier und Federhalter und im Kopf jede Menge verworrener Gedanken. »Ich glaube, Johan hat dir etwas zu berichten!«, sagte Anund mit Donnerstimme. Morells Gehilfe wirkte eingeschüchtert. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf stand er vor Morell und seinem Vater. Seine Augen tränten und sein großer Kopf wirkte kleiner als sonst. Morell steckte die Feder ins Tintenfass. »Hast du das?«, fragte er. »Als Gehilfe des Länsman«, schnaubte Anund, »tut man so etwas nicht.« »Worum geht es?«, sagte Morell. »Lass hören.« Anund stieß seinen Sohn an, sodass der noch ein paar Schritte weiter in den Raum treten musste. »Nun erzähl schon«, sagte er. Johan schien sich einen Ruck zu geben, er hustete, doch dann kam ihm sein Vater zuvor. »Er wurde von einem Mann niedergeschlagen, der unser Gesuchter sein könnte. Von diesem Grels Persson. Und Johan hat gesagt, dass er klein und schmächtig war. Das hat er mir 198
schließlich erzählt. Mein Sohn! Zu guter Letzt! Er hätte es dir auch erzählen müssen. Und das schon viel früher!« Er stieß Johan noch einmal an. »Ich glaubte, du könntest Fjärdingsman so wie ich werden!« »Er heißt Daniel«, flüsterte Johan. »Daniel Persson. Und er hat schlechte Zähne, das hat Annika gesagt.« »Annika, was für eine Annika?«, fragte Morell. »Meine Verlobte«, sagte Johan und schielte zu seinem Vater. »Persson wie Persson«, sagte Anund. »Du heißt auch Persson«, sagte Morell. Anund starrte ihn an. »Könnte ich jetzt endlich den Bericht bekommen? Und zwar hübsch der Reihe nach!«, brüllte Morell, nun ziemlich aufgebracht. Und da schließlich erhielt er eine etwas geordnetere Fassung dessen, wie Johan eines Abends vor dem großen Schneetreiben von einem Mann niedergeschlagen worden war. Einem Mann, von dem er glaubte, er heiße Daniel Persson. Ein Knecht aus der Gegend, der einige Zeit fort gewesen, nun aber zurückgekommen sei. »Und der ist dünn und mager, das stimmt«, sagte Johan. »Ich habe ihn in der Kirche gesehen. Und er hat mir gedroht. Weil Annika nichts mit ihm zu tun haben will. Am Anfang habe ich auch geglaubt, das sei er gewesen, den wir suchen, aber die Haare … Er hat dichte schwarze Haare, der Daniel Persson. Hat Annika gesagt.« »Annika«, sagte Morell. »Sie kennt also diesen Daniel?« »Sie waren beinahe verlobt, aber … Und dann wollte er sie wiederhaben und deshalb hat er mich bedroht …« »Aber das hättest du dem Länsman sagen müssen«, unterbrach Anund seinen Sohn. 199
»Du hättest es mir sagen müssen«, bestätigte Morell. Er überlegte einen Moment. »Annika«, wiederholte er. »Du hast also eine Verlobte?« »Ich werde heiraten«, sagte Johan. »Da kann man ja gratulieren«, sagte Morell. »Ich habe sie schon kennen gelernt«, sagte Anund. »Sie ist Magd bei Hermanssons in Fanbyn. Als ich dort gewesen bin und nach Fremden gefragt habe. Da hatte ich so eine Ahnung, dass sie etwas wissen könnte.« »Sie hat an Daniel Persson gedacht«, sagte Johan. »Das hab ich dir zigmal gesagt.« Er wirkte nicht länger so eingeschüchtert, der Johan. Er starrte seinen Vater an. »Bengt Olsson«, sagte Morell. »In der Herberge nannte er sich Bengt Olsson. Er benutzt mehrere Namen. Vielleicht nennt er sich auch Daniel Persson … der uns als Grels Persson bekannt ist.« »Das ist nicht dieselbe Person«, sagte Johan. »Oder was heißt bekannt …«, fuhr Morell fort. »Wir kennen ihn ja nicht. Aber wir werden ihn festnehmen. Und dann werden wir ja sehen.« »Das ist ein anderer«, sagte Johan. »Und wo ist der Mann jetzt?«, fragte Morell. »Dieser Daniel Persson? Dein Rivale …?« »Er ist abgehauen«, sagte Johan. »Da bist du also jetzt Herr im Haus«, sagte Morell. Johan schielte zu seinem Vater, dann lachte er verlegen. »Sie … Wir bekommen ein Kind.« »Er behauptet, er sei verlobt«, sagte Anund. »Das hättest du mir sagen müssen«, wiederholte Morell. 200
31 Fjärdingsman Björn Östensson lenkte den Jagdschlitten. Er stand auf den Kufen. Im Schlitten saßen Viberg und vor ihm, an Händen und Füßen gefesselt, der Dieb, den der Bauer Kettil Halvarsson auf frischer Tat ertappt und gefangen genommen hatte und der behauptete, er heiße Bengt Olsson. Klein und dünn war er. Und Polizeiamtmann Viberg hatte sich beherrschen müssen, ihm nicht einfach die Oberlippe anzuheben – wie man es bei Pferden macht, um am Zustand ihres Gebisses auf ihr Alter zu schließen. Viberg hatte sich also nicht die Zähne des Gefangenen angesehen, obwohl er es zu gern getan hätte. Aber die Haare hatte er gesehen und die passten zu Morells Beschreibung. Er war ziemlich stolz, denn er hatte dem Länsman von Anundsjö helfen können. Er brachte ihm einen Dieb, einen Dieb, der vielleicht der gesuchte Mörder war. Früher hatte er sich in Gegenwart Morells immer unterlegen gefühlt. Das hat mit der Körpergröße des Länsman zu tun, dachte er manchmal. Morell war groß und kräftig, mit starken Händen. Er selbst hingegen, Olof Viberg, gehörte zu den kleinen dünnen Männern mit schmalen Händen, die in Mantelärmeln verschwanden. Aber dieses frühere Gefühl der Unterlegenheit war nicht mehr so stark. Vor anderthalb Jahren hatten sie längere Zeit zusammengearbeitet. Gegen Ende der Ermittlungen hatte Olof Viberg sogar eine Zeit lang auf dem Hof Morells in Anundsjö gewohnt. Damals, während der Jagd auf den Mörder, der INRI in einen Sensenstiel gekerbt hatte. Und jetzt konnte er Morell einen Dieb präsentieren. Einen eventuellen Mörder. 201
Sehr schön hatte er nicht ausgesehen, dieser Bengt Olsson, als Viberg und der Fjärdingsman endlich mit dem Knecht kamen, der sie geholt hatte. Er hatte fast bewusstlos auf dem Rücken im Schnee gelegen und daneben hatte mit blutigen Fäusten der Bauer Kettil Halvarsson gestanden. »Der Kerl hat Widerstand geleistet«, hatte Kettil Halvarsson gesagt, »deshalb musste ich ihn niederschlagen.« »So, so«, war Vibergs Antwort gewesen. Mehr war nicht gesprochen worden. Dann hatten sie den Dieb zum Amtssitz des Länsman gebracht. Dort hatte er Gelegenheit bekommen, sich zu säubern, so gut es eben ging, ehe Björn Östensson ihm Fesseln angelegt hatte. »Diebstahl«, hatte Viberg gesagt. »Auf frischer Tat ertappt. Dafür gibt es die Rute und Wasser und Brot.« Und dann hatte er den Sack ausgeleert, direkt auf den Fußboden vor den Gefangenen. Bengt Olsson – wenn er denn so hieß – hatte genickt, als sehe er ein, dass Leugnen zwecklos war. »Aber«, hatte Viberg gesagt, »es geht ja nicht nur um den Diebstahl hier. Wir müssen nach Anundsjö. Bist du mal in Anundsjö gewesen?« Lächele, hatte Viberg gedacht, lächele, damit ich deine Zähne sehen kann. Aber Bengt Olsson hatte den Mund fest zusammengepresst. Zum Lächeln hatte er wohl keinen Grund mehr gesehen. Stattdessen hatte ihn Angst ergriffen. Das war an seinem Mund zu erkennen gewesen, an seinen Augen und an einem Zittern des Kinns. »Nach Anundsjö, nur ein kleiner Ausflug«, hatte Viberg gesagt. »Des Diebstahls bist du überführt, aber da gibt es noch etwas anderes.«
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Er selbst hatte gelächelt und auch Björn Östensson hatte gelächelt, nicht aber Bengt Olsson, der vielleicht auch Grels Persson hieß. Und jetzt saß er dort, gefesselt. Das Pferd zog den Jagdschlitten an Örnsköldsvik vorbei und auf die Landstraße in Richtung Anundsjö.
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Björn Östensson, Olof Viberg, Johan Anundsson, Anund Persson und Harald Morell. Die fünf Männer standen im Kreis und leicht nach vorn gebeugt da, als würden sie aufmerksam etwas betrachten. In diesem Kreis hockte zusammengekrümmt in seiner schmutzigen Unterwäsche auf einem Melkschemel der Mann, der sich Bengt Olsson nannte. Salmon Anderssons Beschreibung stimmte genau. Gewicht, Größe – und Haare. Auf dem Tisch lagen ein paar Reichstaler, ein Etui, ein Silberlöffel und ein grau gesprenkeltes Kopftuch. »Ist das Daniel Persson?«, fragte Morell Johan. »Bengt Olsson«, flüsterte die kleine Jammergestalt. »Du redest nur, wenn du gefragt wirst!«, brüllte Morell. »Nein«, antwortete Johan, »das ist er nicht.« »Du heißt also Bengt Olsson«, sagte Morell. »Ist das dein richtiger Name?« Als Antwort kam schwaches Nicken. Morell packte das Kinn des Wichts und hob es an. »Jetzt hören wir damit mal auf«, sagte er. »Du heißt Grels Persson! Ich nenne dich jetzt Grels. Also Grels.« 203
»Kennst du Salmon Andersson?«, fragte Anund. Morell hielt noch immer das Kinn des Mannes fest. Mit dem Zeigefinger schob er die Unterlippe herunter und fuhr mit dem Finger an der Zahnreihe entlang. Mit zwei Fingern hob er die Oberlippe. »Gute Zähne«, sagte er. Er ließ das Kinn los, als wäre damit die Untersuchung beendet. »Du musst wissen, dass uns jemand erzählt hat, was für schöne Zähne du hast. Weißt du, wer?« Morell packte den kleinen Kerl am Hals und riss dessen Kopf in die Höhe. »Weißt du, wer?« Mit der anderen Hand zog er den Schemel weg, sodass der Wicht auf den Fußboden zu fallen drohte, hätte Morell ihn nicht gehalten. »Grels!«, schrie er. »Wollen wir uns jetzt dafür entscheiden! Grels Persson!« »Ja«, flüsterte Grels. »Ich heiße Grels, ich hab gesagt, Bengt Ol…« »Du redest nur, wenn du gefragt wirst!«, brülle Morell. Er drückte den Dieb wieder auf den Schemel und trat zur Seite. Jetzt haben wir ihn hier, dachte er. Jetzt erfahren wir alles. Seine Wut ebbte etwas ab. Die vier verbleibenden Männer schlossen den Kreis jetzt dichter und begannen mit ihrer Vernehmung. »Wann hast du Åsele verlassen?«, fragte Anund. Kopfschütteln war die Antwort. »Und dann bist du nach Solberg gekommen.« »Ich stamme aus Gudmundrå«, sagte Grels. »Ich bin in Gudmundrå geboren.« 204
»In Solberg wart ihr zu zweit«, sagte Anund. »Aber in Seltjärn blieb einer im Schnee liegen«, fiel Viberg ein. »Erstochen«, ergänzte Anund. »Von dir«, sagte Johan. »Ich bin nie im Leben in Solberg gewesen«, antwortete Grels und wagte jetzt aufzublicken. »Wo liegt das?« Morell drehte sich um, riss das Kopftuch an sich und trat mit zwei, drei raschen Schritten in den Kreis. Er zog Grels wieder hoch, ließ ihn am ausgestreckten Arm baumeln. Mit der anderen Hand schwenkte er das Kopftuch. »Wenn es kalt ist, bindet er sich ein Kopftuch um. Der Grels Persson. Wer, glaubst du wohl, hat das gesagt?« »Das ist nicht …« »Ingel Kristoffersson. Kannst du dich an den Namen erinnern?«, unterbrach ihn Morell. »Den hast du mit dem Geldschein über zehn Reichstaler reingelegt. Und die Alte, bei der du um Essen gebettelt hast. Sollen wir dahin fahren? Hast du Lust, Ingel zu sehen? Der ist wütend, der ist richtig böse, weil du ihn reingelegt hast.« Er hielt den Wicht noch immer am Hemd gepackt. »Rede! Jetzt erzähl uns mal von dem Mann im Schnee …« »Wer war das?«, fragte Johan. »Warum hast du ihn umgebracht?«, fiel Anund ein. »Habt ihr gestritten?« »Und dann bist du hierher gekommen. Nach Bredbyn«, fuhr Morell fort. »Und du hattest das Messer! Und damit hast du auf eine unschuldige Frau eingestochen und sie dann ebenfalls im Schnee liegen gelassen!« »Nein!«, schrie Grels. »Ich habe nicht …«
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Morell ließ den Kleinen wieder los, sodass er auf den Schemel sackte. Jetzt schlossen die fünf den Kreis noch dichter um ihn. Grels sank in sich zusammen. »Du hast gestohlen«, sagte Viberg. »Wir wissen, dass du in Arnäs gestohlen hast.« »Und in Örnsköldsvik!«, brüllte Morell. »Kennst du den Besitzer der Herberge? Und das große weiße Haus. Zwanzig Reichstaler. Du kannst dich nicht rausreden.« Grels schielte zu Morell hoch. »Berichte lieber gleich alles. Wir haben Zeugen. Du warst beide Male nicht allein im Schnee. Jemand hat dich gesehen. Sollen wir die Leute herholen? Willst du nicht lieber …« Er packte Grels’ Kinn und presste es zusammen, bis Grels vor Schmerz wimmerte. »Schnee«, sagte Morell. »Du marschierst durch den Schnee. Im Februar hat es drei Tage lang geschneit. Da bist du gekommen. Aus Åsele oder von noch weiter her. Zusammen mit einem anderen Mann. Den du erstochen hast. Und dann bist du weiter bis hierher nach Bredbyn gewandert. Hier hast du dich anschließend aufgehalten. Aber gewohnt hast du bei Salmon Andersson in Yttersel. Du bist hier gewesen. Du bist zum Armenhaus gegangen und dort bist du Greta Sigurdsdotter begegnet. Sie hast du ebenfalls erstochen. Hatte sie Geld? Damals hat es zum zweiten Mal geschneit. Acht Tage lang. Und dann bist du abgehauen. Wie ist Greta nach Norrmesunda gekommen?« Er ließ das Kinn des Wichts los und trat ein paar Schritte zurück. Bald, dachte Morell. Bald wird er reden … Er blieb außerhalb des Kreises stehen und verfolgte das Verhör. Immer wieder dieselben Fragen. Wann habe Grels Åsele verlassen? Wie seien sie nach Solberg gekommen? Wie 206
lange sei er dort gewesen? Warum habe er Greta getötet? Wer war der Mann im Schnee? Nur Björn Östensson stellte keine Fragen. Seine Schneidezähne standen etwas vor, sodass er immer aussah, als hätte er die Absicht zu fragen. Er nickte und sein Mund bewegte sich, aber Fragen kamen keine. Grels Persson schien ruhiger zu werden, sobald Morell nicht in seiner unmittelbaren Nähe war. Er antwortete, er gab immer dieselbe Antwort. Dass er aus Gudmundrå stamme und dass er dann nach Örnsköldsvik gekommen sei. Und dann legte er plötzlich ein Geständnis ab … »Ja, ich habe in Örnsköldsvik gestohlen, und ja, ich habe in Arnäs gestohlen. Aber das waren nur …« Morell drängte sich wieder in den Kreis. »Klar, Diebstahl«, sagte er. »Und Mord. Sogar zweifacher Mord. Du kannst hier ewig sitzen bleiben. Wir werden nicht müde. Du bleibst hier sitzen, bis ich eine Antwort habe, ist das klar?« Er gab den anderen einen Wink. »Ihr könnt hinausgehen«, sagte er. »Grels und ich sprechen unter vier Augen weiter. Nicht wahr, Grels?« Seine Stimme war sanft. Die vier gingen, sie verließen den Raum. Und Morell war mit Grels Persson allein. Er holte den Knüppel. Als er ihn in der Hand hielt, erinnerte er sich an das letzte Mal, als er ihn bei Erik Helmersson gebraucht hatte. Der saß jetzt in Härnösand im Gefängnis. Und dorthin würde er Grels Persson auch bringen. Sowie er alle Antworten bekommen hatte. Ins Reichsgefängnis. Mit dem Knüppel in der Hand stand er nun vor Grels. Er beugte sich vor. »Der Bauer hat dich auch geschlagen«, sagte Morell.
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»In Arnäs. Gegen das, was hier gleich kommt, war das nichts. Ist das klar?« Seine Stimme war sanft. Grels schielte nach oben zu Morell und um seinen Mund und sein Kinn begann es zu zucken. Ein fliehendes Kinn, das in Bewegung geriet. »Gute Zähne hast du«, sagte Morell. »Aber ich werde sie dir ausschlagen, einen nach dem anderen, bis dein Mund nur noch ein gähnender Schlund ist! Kapierst du, was ich sage? Und ich werde nicht aufhören, bis ich alles erfahren habe. Alles, was ich eigentlich schon weiß. Ist das klar?« Grels schluckte. Sein Atem ging stoßweise. »Die anderen sind jetzt weg«, sagte Morell. »Nur noch du und ich sind hier. Wir sind allein. Ist das klar?« Er schlug mit dem Knüppel probeweise seine linke Handfläche und dann traf der erste Schlag Grels am Hinterkopf. Grels fiel vornüber und stürzte auf den Fußboden. Er wollte zurückkriechen und hielt die Hände schützend vor sein Gesicht. »Jetzt habe ich erst angefangen«, sagte Morell. »Bald kommt der nächste Schlag. Und der dritte … Ist das klar?« Grels war rückwärts gekrochen und stieß nun an die Wand. Er hielt die Hände vors Gesicht und Morell hörte ihn weinen. Jetzt flennt er. Bald, dachte er. »Ich höre nicht eher auf, als bis du gesagt hast, was ich hören will.« Er sprach immer lauter. Schließlich brüllte er: »Das ist die letzte Gelegenheit! Sprich!« Grels nahm die Hände herunter. »Ja«, flüsterte er. »In Seltjärn, das war ich. Er hieß Isak Villander. Wir waren zusammen in Åsele. Und ich habe einen Bauern in Solberg betrogen. Aber das war doch Notwehr, ich musste mich doch selbst verteidigen.«
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»Notwehr?«, wiederholte Morell. »Vier Messerstiche, und das soll Notwehr gewesen sein?« »Der Isak, der wollt mich wegen dem Geld erdrosseln und da hab ich zugestochen, um mich zu verteidigen. Ich musste mich wehren.« »War das bei Greta Sigurdsdotter auch Notwehr? Eine alte Frau, die dich bedroht hat?« Morell hob den Knüppel. »Und der Lappe in Åsele. Obwohl der mit dem Leben davongekommen ist.« Grels Persson blinzelte verständnislos.
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32 Schnee, dachte Johan. Tiefschnee, Pappschnee, Neuschnee, Pulverschnee. Verharschter Schnee, stiebender Schnee. Nasser Schnee, alter Schnee, schwerer Schnee, störrischer Schnee, pappiger Schnee. Weiche Flocken, dachte er. Lautlos und sanft fallende Flocken. Flocken, so groß wie Handschuhe. Und die Geführigkeit. Er nahm oft die Skier über die Brücke nach Västerfanbyn. Fast überall waren Spuren von Skiern. Leichtes Dahingleiten, Stille … Der Winter neigte sich dem Ende zu und die Spuren hatten sich tief in den Schnee eingegraben, sie schimmerten bläulich. Man brauchte nicht einmal mehr Skier, man konnte auf der Loipe marschieren. Tagsüber taute es und so sank die Schneedecke täglich. Aber nachts war es empfindlich kalt und dann verharschte der Schnee immer wieder. Die Spur war hohl, eigentlich war es leichter zu gehen. Aber er nahm oft die Skier. Schneetreiben, dachte er. Stiebender Schnee, der sich auf die Felder legt. Der Mensch sträubt sich dagegen, packt sich in dicke Mäntel, stemmt sich gegen den Wind. Und der Schnee wirbelt ständig um die Menschen herum. Er legt sich auf Büsche und Steine und auf das Eis, verdeckt alles und wird zu einem Feld, das man überqueren kann. Schneetreiben, dachte er. Tiefschnee. Und zwei Menschen hatten im Schnee ihr Grab gefunden. Isak Villander, der hatte in Seltjärn begraben gelegen. Und Greta Sigurdsdotter in Norrmesunda. Das ist ein schneereicher Spätwinter gewesen, dachte Johan. Der Schnee hatte alles zugedeckt. Aber jetzt werden die 210
Verbrechen offenbar. Jetzt wussten sie, dass es dieser dünne Wicht gewesen war, der Grels Persson hieß. Und das war ein ganz anderer Mann als dieser Daniel Persson, der ihn zu Boden gedrückt und ihm gedroht hatte. »Du glaubst also nicht, dass er zurückkommt?«, fragte Johan. Die beiden saßen in Annikas Kammer auf ihrem Bett. Es war heller Tag, ein Sonntag. Nach der Kirche hat Johan Anundsson seine zukünftige Frau besucht. Er hatte Backäus’ Predigt gehört und dann hatte er seine Skier genommen und war über die Brücke nach Fanbyn gefahren. Zu ihr. Ich fahre noch mal nach Fanbyn, hatte er gesagt. Und seine Eltern hatten nichts dagegen einwenden können. Schließlich, dachte er, wollen Annika und ich bald heiraten. Sie ist doch in anderen Umständen! Außerdem sind wir einander versprochen und ehe das Kind geboren wird, müssen wir heiraten. »Daniel Persson?«, hakte Johan nach. »Dass er abgehauen ist?« Er konnte sich an ihr gar nicht satt sehen. Ihre Stirnfransen, dachte er. Genau da, wo ihr Haar in die Stirn fiel, hatte sie einen Wirbel und der teilte es. Und ihre Augen, die so gern lachten. Und wenn sie lachte, hatte sie in der rechten Wange ein Grübchen. Jetzt drehte sie sich zu ihm um und er sah die Stirnfransen, er sah das Grübchen und ihre Augen. »Das glaube ich schon«, sagte Annika und lachte. »Wo ist er denn hin?« Er wollte sie anfassen, er nahm ihre Hand, die war am nächsten, und steckte einen Finger in ihre halb geöffnete Hand. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Hauptsache, er hat …« Er hatte sagen wollen »aufgegeben«, dachte aber, das Wort sei nicht das richtige. 211
Sie hatte ihm von Daniel Persson erzählt. Dass er vor ihrem Fenster gestanden habe, dass er zu ihr in den Kuhstall gekommen sei. Er selbst hatte nichts gesagt. Er würde es auch nicht tun. Einmal war sein Leben bedroht gewesen, aber nur einmal. »Dass der einfach so abgehauen ist«, sagte er verwundert. »Er hat wohl begriffen, dass es vorbei ist, weil ich dich gefunden habe«, sagte sie. Dann rückte sie etwas näher zu ihm hin. Sie knuffte ihn wie ein Kalb und schob ihren Kopf unter seinen Arm. »Jetzt sind’s wir zwei, du und ich«, sagte sie. Und er berührte sie, spürte das Grübchen in ihrer Wange. »Wir müssen bald den Aufgebotssonntag festlegen«, sagte sie.
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33 Als Grels die Treppe zum Armenhaus hinaufstapfte, rumpelte es bei jedem Schritt, denn seine Fußfesseln klirrten. Er hatte seinen schwarzen Mantel an. Das Kopftuch hatte Morell in der Tasche. Lisbet Zackrisdotter öffnete den beiden Männern die Tür, dem Gefangenen mit seinen Fesseln und dem Polizeiamtmann. »Wie geht es dir?«, fragte Morell freundlich. Er wollte sie dann fragen. Anschließend. Sie würde es doch sicher besser auf seinem Hof haben als hier. »Wie geht es den Alten?«, fuhr er fort. Er nickte in Richtung seines Gefangenen. »Ich will ihn mit hineinnehmen und sehen, ob ihn vielleicht einer von den Alten wiedererkennt.« Lisbet starrte den Gefangenen verwundert an. Ihr Haar ist heute ganz unter dem Kopftuch versteckt, dachte Morell. Nicht eine Locke ist zu sehen. »Ist der das, der …«, flüsterte sie. Morell lächelte Lisbet an. »Es scheint so«, antwortete er. »Ich hab nichts mit …«, fing Grels an, aber Morell gab ihm unversehens einen Schlag auf den Hinterkopf. »Du redest nur, wenn du gefragt wirst«, sagte er. »Sollen wir da hineingehen?«, fragte Lisbet und nickte zu der Tür direkt gegenüber. »Da wohnen die Mannsleut. Die Frauen sind im Schlafsaal einen Stock höher.« »Ja, ich weiß.« Morell lächelte wieder.
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Er hatte vergessen, wie eng es hier war, er hatte auch den Gestank vergessen und die Geräusche. Die schweren Atemzüge, das Röcheln. Das kümmerliche Licht. Lisbet trug eine brennende Kerze in einem Kerzenhalter. Morell nahm ihn ihr ab, um Grels’ Gesicht anzuleuchten. »Wie viele Männer liegen hier?«, fragte er. »Jetzt sind’s zehn«, erwiderte Lisbet. Er schob seinen Gefangenen wie eine Trophäe vor sich her, schubste ihn in den Schlafsaal der Männer. Lisbet drängte sich an ihnen vorbei und beugte sich zu den Alten hinunter, einen nach dem anderen. »Der Polizeiamtmann ist gekommen«, sagte sie. »Er will euch etwas fragen.« Einige setzten sich in ihren Betten auf. Lisbet rückte ihnen die Kissen zurecht, sodass sie sich anlehnen konnten. »Ja, also«, begann Morell. »Die Sache ist diese. Ich frage mich, ob einer von euch denn Mann hier schon mal gesehen hat.« Eigentlich wollte er den Wicht hochheben, aber das tat er nicht. Er trat zur Seite und deutete auf Grels Persson, der mit gesenktem Kopf dastand. »Heb den Kopf hoch!«, schrie ihn Morell an. »Du sollst den Kopf heben!« Beim Klang von Morells Stimme wurden die Alten unruhig. Die Männer bewegten sich fahrig in ihren Betten, einige zogen die Decke bis ans Kinn, wie um sich zu schützen. »Keine Angst«, sagte Lisbet. »Der Länsman will euch nichts Böses. Was sagt ihr?« Sie sagten gar nichts. Sie sahen den Länsman und seinen Gefangenen mit müden, ängstlichen Augen an. Einige schauten weg, in eine andere Richtung. Niemand sagte etwas.
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Morell hielt die Kerze in der linken Hand. Mit der anderen stieß er Grels vor sich her. An jedem Bett blieb er stehen. Er versuchte, den Alten in die Augen zu sehen. Er flüsterte, ob sie den Mann schon mal gesehen hätten. Er, Morell, wolle ihnen nichts Böses, sagte er. Er sei auch nur kurz hier. Dann dürften sie weiterschlafen … Auf keinen Fall sei er hinter einem von ihnen her. »Nein, nein«, sagte er mit seiner sanftesten Stimme. »Es ist nur so«, sagte er, »dass ich vermute, Greta kannte diesen Mann hier. Ihr erinnert euch doch noch an Greta Sigurdsdotter … Und der hier, der hat sie gekannt.« Sie sahen zwar seinen schwarzen Mantel, seine Haare … Aber niemand sagte etwas, sie schwiegen alle. Morell band Grels das Kopftuch um. Der sieht auch wirklich jämmerlich aus, dachte er. Ein spitzes Gesicht, ängstliche Augen und ein fliehendes, zitterndes Kinn. In der Nähe des Fensters hustete ein Mann und hob eine Hand. Ein zögerndes Handheben, nur ein paar Zentimeter hoch. Aber Morell schubste Grels vor sich her. Es klirrte bei jedem Schritt des Gefesselten und es fiel Grels schwer, das Gleichgewicht zu halten. Beinahe wäre er auf das Bett gefallen, doch Morell riss ihn rechtzeitig zurück. »Das ist Geromias Gunnarsson«, flüsterte Lisbet. Von zwei Kissen gestützt, saß Geromias im Bett. Sein Gesicht war gräulich blass, sein Mund eingesunken. Auf der Nase hatte er zwei große Warzen. Von seinem Bett stank es. Er hustete wieder, ein gemeiner, harter Husten, der ihn keuchen lies. »Nun, Geromias«, sagte Morell, »du hast ihn also gesehen?« Geromias bemühte sich, seine Atemzüge unter Kontrolle zu bringen. Er starrte die drei aus rot geränderten Augen an. Und dann nickte er. »Der hat da hinten geschlafen«, sagte er. 215
Morell wandte sich an Lisbet. Das verstand er nicht. »Er hat hier geschlafen«, erklärte sie. »Er hat gesagt, dass der Gefangene hier geschlafen hat.« »Hat er?«, fragte Morell. »Hier geschlafen?« »Mm, einmal oder zweimal«, sagte Geromias. »Zweimal?«, hakte Morell nach. »Ja, da hinten«, sagte Geromias. »In dem Bett daneben.« »In dem Bett daneben?«, wiederholte Morell. Geromias antwortete nicht. Er schloss die Augen und in seinem Hals zuckte es, als müsste er wieder husten. »Vielen Dank«, sagte Morell und wandte sich Grels zu. Der Wicht sah aus, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen, er murmelte vor sich hin und schließlich sagte er: »Ja, ich habe hier einmal geschlafen, aber ich habe niemanden umgebracht … Nur den Isak, weil ich mich wehren musste.« »Das kommt später dran«, sagte Morell freundlich. Er war sehr zufrieden. »Wir sollten wohl auch nach oben gehen«, bemerkte Morell. »Zu den Frauensleut«, sagte Lisbet. Grels Persson stolperte mit seinen Fußfesseln die Treppe hoch. Zehn Frauen, zählte Morell. Lisbet sagte bei ihnen dasselbe wie unten bei den Männern und Morell bemühte sich, nicht zu laut zu sprechen. Eine Frau weit drinnen im Saal lachte hysterisch. »’n Kerl«, krächzte sie, »’n Kerl, der unter meine Decke kriechen will.« Sie lachte noch einmal auf, aber dann erstarb das Lachen so rasch, wie es gekommen war. »Still doch«, sagte Lisbet. »Was ist denn das für ein Narrengeschwätz.« 216
Morell schaute Lisbet fragend an. »Sie schwatzt dummes Zeug«, erklärte Lisbet. Nach dem Lachen herrschte nun Stille. Nur die Atemzüge von zehn alten Frauen waren zu hören. »Und die Sara«, sagte Lisbet. »Hier ist sie. Sie war so krank, dass wir geglaubt haben, sie schafft es nicht mehr. Aber sie hat sich wieder hochgerappelt.« Lisbet ging vor Morell und Grels zu einer Frau in der Mitte des Saals. Auf dem Rücken lag sie und war so dünn, dass sich ihr Körper nicht einmal unter der Decke abzeichnete. »Isses der Pfarrer?«, flüsterte Sara. »Nee, der Länsman.« »Ich will ’s Abendmahl nich ha’m.« »Das ist Harald Morell«, sagte Lisbet. »Er ist der Länsman.« »Ich sterb noch nich«, flüsterte Sara. »Aber dann soll der Gemeindepfarrer kommen, der Backäus. Der soll mir das Abendmahl geben.« Lisbet wandte sich an Morell und sagte wie zur Erklärung: »Sie sind … verwirrt.« Morell hielt die Kerze nahe an Grels’ Gesicht. »Hat jemand …«, begann er laut, hielt aber inne, senkte die Stimme und fuhr fort, »… den Mann hier schon mal gesehen?« Er bekam keine Antwort. Lisbet beugte sich zu Sara und steckte die Decke um sie fest. »Das ist nicht der Pfarrer. Das ist der Länsman, der Morell«, sagte sie. »Nun also«, sagte Harald Morell, »wir haben ja erfahren, was wir wissen wollten.« Grels Persson sagte nichts.
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Inzwischen hatte Grels alles erzählt. Dass er im Armenhaus gewesen sei. Ich habe Suppe bekommen, hatte er gesagt. Hafersuppe. Ein paar Mal. Und einmal habe er eine Nacht dort geschlafen. Er habe sich an die Armenpflegerin gewandt. Er habe keine Ahnung, wie sie hieß. Und sie hatte ihn dort schlafen lassen, aber nur eine Nacht. Geromias habe gesagt zwei, aber es sei nur eine gewesen … So sei es gewesen. Doch getötet habe er sie nicht. Denn sie sei doch wohl tot. Das habe er sich aus dem zusammengereimt, was der Länsman gesagt und was er getan hatte. Aber er habe sie bestimmt nicht umgebracht. »Und du glaubst, dass wir dir das glauben«, sagte Anund Persson. Zu viert saßen sie dort im Amtszimmer zusammen. Anund, Johan, Harald und Grels. »Das ist die Wahrheit, wirklich und wahrhaftig«, beteuerte Grels. Morell saß gedankenverloren dabei. Seine Wut hatte sich verflüchtigt. Er war nur niedergeschlagen. Bedrückt. So wie es ihm ging, wenn er seine Frau besuchte. Diese Niedergeschlagenheit, die bis in alle Ewigkeit dauern würde. Bedrückt war er. Für ihn war die Sache erledigt. Er hörte nicht länger zu. Es gab nichts zum Zuhören. Es reichte ihm. Er hörte, wie Grels Persson seine Aussage machte. Aber er hörte nicht richtig zu, dort saßen ja noch zwei. Vor ihnen stand Grels Persson und redete, aber Morell hörte nur mit halbem Ohr hin. 218
Er wolle eine Aussage machen. Das sei so gewesen, behauptete Grels Persson, er habe Greta angetroffen, selbst wenn er da ihren Namen nicht gewusst habe. Aber das letzte Mal. Da habe sie ihm nichts gegeben. Sie habe gesagt, der Fjärdingsman sei da gewesen und habe sich nach einem Fremden erkundigt. Und nachdem sie das gesagt hatte, sei ihm klar geworden, dass es höchste Zeit sei, sich aus Anundsjö zu verdrücken. Er habe lediglich gehört, was sie gesagt hatte. Sie habe in der offenen Tür gestanden und ihm gesagt, der Fjärdingsman sei hinter einem Mann her. Und da sei er abgehauen. Sofort. »Ich bin sofort abgehauen«, sagte er. »Woher hattest du einen Schlitten?«, sagte Morell und bemühte sich, zu den anderen im Raum zurückzukehren. »Schlitten?«, krähte Grels. »Ja, oder einen Rissla-Schlitten. Du musstest sie schließlich nach Norrmesunda befördern!«, schrie Morell. »Und ein Pferd«, hakte Anund nach. »Woher hattest du ein Pferd?« »Oder hattest du einen Rodelschlitten? Hast du sie auf einen Rodelschlitten gelegt und ihn nach Norrmesunda gezogen?«, fragte Johan. »Warum hast du das getan?«, fragte wieder Morell. Der Länsman spürte jetzt wieder etwas Müdigkeit. Genau dieselbe, wie die damals, vor anderthalb Jahren. Damals hatte er geglaubt, diese Müdigkeit würde ihn umbringen. Aber dann hatte sich Helena ihm geöffnet und ein Kind hatte angefangen in ihr zu wachsen. Und das hatte ihn von seiner Depression geheilt. Allerdings hatte das nur zu neuem Kummer geführt. Aber nein, dachte er. Der Junge! Ich habe doch den Jungen, meinen Sohn.
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»Warum?«, schrie er. »Warum hast du sie nach Norrmesunda gezogen? Im Schnee sollte es sein, begraben im Schnee! Isak Villander und Greta Sigurdsdotter.« »Ich war’s nicht!«, verteidigte sich Grels. »Ich bin, so schnell wie’s ging, weggerannt. Ich bin weggelaufen.« Morell ging zu Grels und schlug ihm so heftig mit der flachen Hand ins Gesicht, dass der Kopf des Gefangenen zurückgeworfen wurde. »Sollen wir beide wieder allein bleiben?«, flüsterte er. »Aber ich habe sie nicht umgebracht«, krächzte Grels. Morell drehte sich um. Jemand öffnete die Tür und Anna brachte einen jungen Mann ins Verhörzimmer. »Er will mit dem Länsman sprechen«, sagte Anna. »Ich heiße Pål Tomasson«, sagte der Junge. Morell kannte den jungen Mann nicht. Stammte er hier aus dem Ort? Er hatte sehr dunkle Haut, braune Augen und ganz schwarzes Haar. Gehört er zu den Brolins?, überlegte der Länsman. »Ich habe die Greta gesehen, ehe sie verschwunden ist«, sagte Pål Tomasson. »Sie stand in der Tür des Armenhauses und der Mann da ist mit ihr reingegangen. Er hatte was in der Hand. Das kann ’n Messer gewesen sein. Und es war der da.« Er deutete auf Grels Persson.
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34 Morell drückte seinen Sohn an sich, hob ihn in die Luft, zog sein Hemdchen hoch und schnupperte an seinem Bauch. Gustav lachte glucksend. Morell pustete auf seinen Bauch und das Kind jauchzte. Er nahm ihn so in die Arme, dass der Kopf des Jungen auf seiner Schulter ruhte, und ging im Zimmer auf und ab. Wieder einmal war er allein. Viberg war mit seinem Gehilfen nach Arnäs zurückgekehrt, nicht wenig stolz über seine Leistung. Und Anund machte sich wohl trotz des Schnees bereits Gedanken über die Frühjahrsbestellung seiner Felder. Jetzt, Anfang April, war die Landschaft noch immer weiß. Mindestens eine Elle hoch lag der Schnee, aber er schmolz jeden Tag mehr. Zwei Menschen waren im Schnee eines gewaltsamen Todes gestorben, beide von einem Messerstecher niedergestreckt. Doch Morell hatte den Mörder. Und diese Tatsache erfüllte ihn mit einer gewissen Zufriedenheit. Aber jetzt hatte er keine Aufgabe mehr. Doch, eine war ihm geblieben. Er hob Gustav hoch und warf ihn in die Luft und als der Kleine erschrocken und entzückt krähte, durchströmte Morell ein nie gekanntes Glücksgefühl. Jetzt hatte er einen Sohn. Schließlich war ihm doch ein Kind geschenkt worden – aber um einen hohen Preis: den Verlust seiner Frau. Er legte sich den Jungen wieder über die Schulter und ging in die Küche. Nur eine einzige Magd?, hatte Viberg gesagt. Wie in aller Welt kommst du mit einer einzigen Magd und zwei Knechten für den Hof zurecht? Mit nur einem Dienstmädchen? 221
Es habe nicht richtig geklappt, hatte Morell ausweichend geantwortet. Er habe zwei Mägde gehabt, aber die ältere, die lange bei ihnen gewesen sei, habe sie verlassen. In gewisser Weise habe das vermutlich mit Helenas Erkrankung zu tun, die der Arzt als Niedergeschlagenheit diagnostiziert habe. Weil es im Haus eine Bettlägerige gebe. Jetzt habe er nur noch die jüngere, die Anna. Aber das wird schon, hatte er abschließend zu Viberg gesagt und wieder an die junge Frau im Armenhaus gedacht und sich vorgenommen, demnächst einmal mit ihr zu reden. Anna war jetzt in der Küche und Morell vertraute den Jungen ihrer Obhut an. »Geh mit ihm nach oben«, bat er. »Zu meiner Frau. Zeig ihr das Kind.« Harald Morell wusste noch nicht, ob er es heute schaffen würde, Helena zu besuchen. Denn das Gefühl der Zufriedenheit – selten genug und ohnehin nur von kurzer Dauer – wollte er sich so lange wie möglich bewahren. Er dachte an den Abend neulich, als sie ihm zugehört hatte, und er sehnte sich nach einem weiteren, weil er viel zu erzählen hatte und jemanden brauchte, der ihm zuhörte – er brauchte Helena. Aber vielleicht sollte ich vorsichtig sein, wenn ich von Greta rede, überlegte er plötzlich. Er erinnerte sich, wie unruhig sie bei diesem Thema geworden war. Aber von Grels und wie sie ihn gefasst hatten, könnte er ihr berichten. Und sie sollte ihn mit diesem fragenden Ausdruck ansehen. Er brauchte sie einfach. Anna nahm den Kleinen, doch sie setzte ihn auf den Fußboden und lachte. »Schau«, sagte sie, ging einige Schritte zurück und streckte Gustav ihre Hände einladend entgegen. Und der Junge stand auf und ging mit unsicheren Schritten und einem Lachen auf Anna zu. 222
»Er kann schon gehen?«, wunderte sich Morell. Er lachte ebenfalls. »Er geht!« Und ich bin nicht dabei gewesen, dachte er. Helena ist nicht dabei gewesen. Zu Anna, dem Dienstmädchen, geht unser Gustav. Sie hat gesehen, wie er seine ersten Schritte getan hat. Auf sie bezieht er sich. »Weiß sie davon?«, fragte er. »Ich hab’s ihr gezeigt«, sagte Anna. Sie hob den Jungen hoch und drückte ihn. »Geh hinauf zu ihr«, sagte Morell, verließ die Küche und stieg die Treppe hinunter in sein Dienstzimmer. Morell saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm lagen ein Blatt Papier samt Federhalter. Daneben stand das Tintenfass. Er hatte Viberg viel zu danken. Ohne ihn hätte er Grels Persson wohl kaum gefasst. So hatte sich sein Besuch in Arnäs in der ganzen Ermittlung als eine glückliche Fügung erwiesen. Nun hieß es, langsam die Verhandlung vorzubereiten. Aber noch war das Papier völlig weiß. Grels Persson war jetzt inhaftiert. Wegen mehrfachem Diebstahl, Betrug und Doppelmord war er ins Reichsgefängnis nach Härnösand überführt worden, wo er bis zur Verhandlung im Frühjahr einsitzen musste. Morell hegte keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten. Alles, was ihm zur Last gelegt wurde, hatte er gestanden. Die Einbrüche in Örnsköldsvik und Arnäs. Aus freien Stücken hatte er noch einen Diebstahl in Mo gestanden, in einer Kate, nicht weit vom Fluss entfernt. Noch einmal hatte Morell ihn wegen der Messerstecherei in Åsele verhört. Und Grels hatte genauso verwundert reagiert wie
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beim ersten Verhör. Das geht mich nichts an, hatte Morell gedacht und nicht weiter nachgefragt. Grels Persson hatte den Totschlag an Isak Villander gestanden, aber behauptet, die Tat sei in Notwehr geschehen. Einzig und allein den Mord an Greta Sigurdsdotter, der Armenpflegerin, hatte er bestritten. Stein auf Bein hatte er geschworen, mit ihrem Tod nichts zu tun zu haben. Morell begriff einfach nicht, warum Grels die Tat leugnete. Es gab doch Beweise. Pål Tomasson glaubte, Grels mit dem Messer in der Hand auf der Treppe vor dem Armenhaus gesehen zu haben. Und Morell hat noch einmal mit Geromias Gunnarsson gesprochen, der hatte wiederum gesagt, Grels Persson habe dort geschlafen. Das hatte er selbst auch zugegeben. Dass er Greta angetroffen und dass sie ihm Hafersuppe gegeben und dass er dort übernachtet habe. Einmal. Aber er habe sie nicht getötet. Es war eine abscheuliche Tat, vielleicht hatte er sie deshalb nicht zugegeben. Aber Morell war seiner Sache sicher. Anund Persson war ebenfalls von Grels Schuld überzeugt und ebenso Johan. Weitere Beweise waren nicht nötig. Und nun musste er sich um die ganze Angelegenheit nicht mehr kümmern. Denn Grels Persson war inzwischen ja in Härnösand. Er zog das Blatt Papier näher, tauchte seine Feder in die Tinte und begann zu schreiben. Nur wenige Worte, dann wischte er die Feder ab und legte den Halter wieder beiseite. Dass Gustav schon gehen kann, dachte er. Morell stand auf, blieb eine Weile mitten im Raum stehen und überlegte. Dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben. Schnell verließ er das Zimmer, stieg die Treppe hinauf, blieb
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einen Moment beim Sekretär stehen, aber nahm gleich darauf mit raschen Schritten die Stufen zur oberen Etage. Er würde Helena auch heute besuchen. Er hörte von drinnen Lachen. Das war der Junge. Er öffnete vorsichtig die Tür und stahl sich ins Schlafzimmer. Anna saß auf dem Stuhl am Fenster. Helena saß im Bett, mit Gustav auf ihrem Schoß. Morell blickte verwirrt von seiner Frau zu Anna. Wieder lachte der Junge, voller Freude. Und Morell wusste nicht, was er denken sollte. Er trat näher. Helena hielt Gustav im Arm, strich ihm mit der Hand übers Haar. Immer wieder, über den Kopf zum Nacken. Dann blickte sie auf. Morell hörte das Lachen des Jungen. Er sah seine Frau. Sie hielt das Gesicht des Jungen an ihre Wange gedrückt, sodass er sie nicht richtig sehen konnte. Aber als sie aufschaute, sah er … Er sah ihr Gesicht. Es strahlte Freude aus und er sah … er sah Tränen über ihre Wangen rollen. Und Harald Morell hatte das Gefühl, von einer warmen Hand zärtlich berührt zu werden. Und diese Berührung breitete sich vom Bauch über seinen ganzen Körper bis zum Gesicht aus und er merkte, wie sein Kinn zu zittern begann.
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35 Daniel Persson war dem Tode nahe gewesen. Aber er hatte überlebt. Da habe ich großes Glück gehabt, dachte er manchmal. Wäre der Mann nicht mit seinem Schlitten vorbeigekommen, säße ich jetzt nicht hier. Dann läge ich noch im Schnee. Steif und starr und tot. Aber ich lebe, ich bin in Bjästa. Tage und Wochen sind seitdem vergangen und ich habe mich erholt. Ja, ich bin gesund geworden. Mein Gesicht ist heil und mein gebrochenes Bein wurde geschient und ist nun auch verheilt. Ich bin wieder gesund. Doch das verdanke ich nur einem glücklichen Zufall. Ich muss Geduld haben, dachte er. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich mich um das kümmern kann, was mich Tag und Nacht quält. Schon geht es mir viel besser. Bald …, dachte Daniel und ging mühsam die Treppe hinunter und langsam hinaus, auf den Hof. Die Sonne schien und der Schnee schmolz jeden Tag mehr. Schon bald würde es Frühling werden. Und dann … Sie waren zu dritt gewesen. Er hatte keinen der Männer erkannt, denn sie hatten ihre Gesichter hinter Tüchern versteckt. Vor dem Haus in Fanbyn, wo Annika wohnte, hatten sie ihn überfallen. Er hatte dort gestanden und gewartet, mit heißem pochendem Glied. Alle Türen waren ihm in letzter Zeit verschlossen gewesen. Nicht nur Annikas, sondern auch die der Frau im Gasthof. Aber er hatte trotzdem gewartet. Da waren sie gekommen. Und er hatte sofort begriffen, dass sie es auf ihn abgesehen hatten und dass sie ihm Übel wollten. Er hatte wegrennen wollen, aber das war zwecklos gewesen. Sie hatten ihn schnell eingeholt und in einen Schlitten gesetzt, sie 226
hatten ihn auf den Boden gedrückt und waren losgefahren. Er hatte das Knirschen der Kufen im Schnee gehört und das Schnauben des Pferdes und er hatte keine Ahnung gehabt, was sie mit ihm vorhatten. Was wollt ihr, hatte er geschrien. Aber keiner hatte geantwortet. Nicht ein einziges Wort hatten sie gesagt. Er hatte sie nur atmen gehört und war vor Angst wie gelähmt gewesen. Einer von den dreien musste Johan Anundsson gewesen sein. So viel war ihm klar. Sie hatten angehalten und er hatte nicht gewusst, wo sie waren. Und sie hatten ihn geschlagen. Sie waren bewaffnet gewesen und er hatte überhaupt keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Am Ende hatte doch einer der Männer etwas gesagt. Nur ein paar Worte. Hatte Johan Anundsson gesprochen? Er wusste es nicht. Denn er hatte Johans Stimme nie gehört. Und der Mann hatte gesagt, falls Daniel Persson das hier überlebe, solle er sich hier nie wieder blicken lassen. Das hatte er gehört und dann auf den Tod gewartet, denn er war vollkommen überzeugt gewesen, nicht zu überleben. Aber ich hab’s geschafft, dachte Daniel. Weil ich Glück gehabt habe. Ich lebe. Und ich werde mich rächen. An dem, der mir das angetan hat. Johan Anundsson. Und Annika. Ja, bestimmt war sie auch beteiligt, dachte er beklommen. Beim Bezirksarzt gab es Krankenzimmer und dort war er jetzt. Der Arzt hatte gesagt, sie hätten ihn nach Härnösand bringen wollen, so schlimm habe es um ihn gestanden. Aber er war hier in Nätra gebliebenen, Bjästa gesund geworden. Und jetzt konnte er wieder gehen. Sein Bein war geheilt. Er ging durchs Haus und hinaus in die Sonne. Er hatte mehrere Rundgänge gemacht. Jeden Tag war er kräftiger geworden. Und Kraft würde er brauchen. Er hatte geglaubt, dass er sterben müsse. Er hatte die Augen geschlossen und sich auf den Tod vorbereitet. Aber er war 227
wieder aufgewacht und da hatte es angefangen, zu schneien. In dicken Flocken hatte es geschneit, unablässig. Der Schnee schien ihn förmlich begraben zu wollen und die drei, die ihn verprügelt hatten, waren verschwunden gewesen. Daniel war mühsam durch den Schnee gekrochen. Er wusste nicht, welche Richtung er nehmen sollte, war aber Meter für Meter vorangekommen. Hauptsache, in Bewegung bleiben, hatte er gedacht. Sein Bein tat unglaublich weh und manchmal schrie er vor Schmerzen. Aber er kroch immer weiter. Inzwischen wusste er, dass er auch Glück gehabt hatte, ausgerechnet in die Richtung Landstraße gekrochen zu sein. Auch wenn sie zugeschneit war. Trotzdem war es eine Straße und er hatte sich daran entlangbewegt, bis er erschöpft eingeschlafen war. Im Schnee. Der immer noch fiel. Aber er hatte die richtige Stelle erreicht, da war er liegen geblieben, wo ein Schlitten vorbeikommen könnte. Und es war tatsächlich einer vorbeigekommen. Und der Kutscher hatte plötzlich neben ihm gestanden. Als er die Stimme hörte, hatte er zuerst geglaubt, die drei wären zurückgekommen. Aber das war ein anderer gewesen. Und er hatte den Rissla-Schlitten gesehen. Er selbst war fast zugeschneit gewesen, aber das Pferd war jäh stehen geblieben, als hätte es vor einem Gespenst gescheut. Und der Kutscher war abgestiegen, hatte ins Dunkel gespäht und Daniel entdeckt und in den Schlitten gehoben. Daniel hatte dabei vor Schmerzen gestöhnt. Sein Bein hatte entsetzlich wehgetan und er hatte geglaubt, die Fahrt nicht zu überleben. Doch dann hatte eine tiefe Ohnmacht ihm alle Schmerzen genommen. Und seine Retter, der Kutscher mit seinem kleinen Sohn, hatten ihn nach Bjästa zum Bezirksarzt gebracht. Es sei ein Unfall gewesen, hatte Daniel dem Bezirksarzt erklärt, das Pferd sei durchgegangen und er eine Böschung
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hinuntergerollt. Das habe sich ereignet, ehe der Schneefall einsetzte. Doch jetzt hatte er das Schlimmste überstanden und wurde mit jedem Tag kräftiger. Und er schmiedete Rachepläne. Aber zuerst der Brief. Er musste einen Brief schreiben. Schreiben konnte er, wenn auch nur mühsam. Zwar hatte er noch nie einen Brief verfasst, aber das wollte er jetzt tun. Natürlich ohne Absender. Den Brief würde er an Johan Anundsson schicken und ihm mitteilen, dass er nicht der Vater des Kindes von Annika sei. Das würde er schreiben. Zuerst den Brief, dann die Rache.
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DRITTER TEIL
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36 Heutzutage gibt es überhaupt keine Aufträge mehr, dachte Israel Brolin. Nun ja, im Frühling würde sich hier und da schon das eine oder andere ergeben, Pferde schlachten und beschneiden. Aber solche Aufträge waren derzeit rar. Selbstmörder und Hingerichtete, die etwas Geld einbrachten, weil sie unter die Erde mussten, gab es auch keine. Es herrschte Flaute. Entsprechend war es in seinem Haus in Yttersel um Lebensmittel schlecht bestellt. Aber Israel sang trotzdem. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und außerdem hatte er jetzt in Örnsköldsvik Arbeit. Dafür musste er den gefrorenen Boden aufhacken und das war nicht einfach. Doch zum Glück war er nicht allein. Er hatte seinen Bruder dabei. Der war unverheiratet geblieben. Eines Tages war Henning einfach bei ihm aufgekreuzt, ausgehungert und deprimiert, ohne sagen zu wollen, woher er kam. Nur den Namen Jacob Gyll hatte er erwähnt. Das war der Henker in Umeå, dem Brolin selbst schon einmal zur Hand gegangen war. Henning hatte bleiben dürfen. Sie waren eine große Familie in dem kleinen Haus in Yttersel. Und nun gab es noch ein Kind mehr, den Lorens, den Antonetta für ein halbes Jahr mit zum Hof des Polizeiamtmanns genommen hatte. Die Milch hatte für beide Säuglinge gereicht, für Morells schwächlichen Sohn und für Lorens. Und die Bezahlung war recht ordentlich gewesen, aber inzwischen war dieses Geld längst ausgegeben. Aus diesem Grund war Brolin nach Örnsköldsvik gewandert. Gruben und Gräber, hatte er gedacht, ich muss Gruben graben. Für die Verstorbenen, die Dahingeschiedenen, die nicht in
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geweihter Erde bestattet werden dürfen, für die Selbstmörder, die Mörder. Und für die Pferde. Auch eine alte Schindmähre muss unter die Erde, lediglich die Mähne und der Schweif werden genutzt. Und ein Stück Fleisch, das niemand als der Abdecker isst. Und jetzt also wieder Latrinengruben. Die gefrorene Erde leistete enormen Widerstand. Ein Loch da reinzugraben, war die reinste Sisyphusarbeit. Aber Israel sang und das tat Henning nicht. Sein Bruder hatte sich inzwischen erholt. Dem Branntwein sprach er weniger zu und er hatte regelmäßig zu essen bekommen, selbst wenn in Brolins Haus Schmalhans Küchenmeister war. Es war höchste Zeit, eine neue Grube anzulegen, denn die alte Jauchegrube des Bauern in diesem Haus, ganz in der Nähe des Hafens, war übervoll. Und als sie den Abort wegtrugen, dampften bereits frische Fäkalien auf dem Feld. Eigentlich war es gar keine Grube, sondern ein Haufen. Sie hatten den Abort ein paar Meter weggetragen und eine zusätzliche Grube graben müssen für das, was auf dem Feld lag. Dann hatten sie die alte mit Erde aufgefüllt. Das war leicht gewesen, denn die Erde hatten sie auf einem Schlitten unten beim Hafen geholt. Erde und Sand wurden im Haus aufbewahrt und damit ließ sich arbeiten. Aber jetzt ging es um eine neue Latrinengrube. Der Schnee war weggeschippt, aber die gefrorene Erde war steinhart, sodass sie für das Graben Stunden brauchten. Israel Brolin sang trotzdem. Denn es gab noch fünfzehn Häuser, bei denen neue Gruben angelegt werden mussten. »Man gräbt«, sagte er. »Nichts anderes tut man. Nur graben. Gräber und Gruben ausheben. Für die Toten und für die Scheiße.« 232
»Sing lieber«, sagte Henning. Sie gruben, Stück für Stück hackten sie die Erde auf, damit das Loch tief genug wurde. Dafür brauchten sie den ganzen Tag. »Im Winter ist es am schlimmsten«, sagte Brolin. »Im Sommer ist es leichter.« »Aber dann hat man stattdessen den Gestank. Ich habe im letzten Sommer in Härnösand gegraben. Eine Grube nach der anderen. Sing lieber wieder«, sagte Henning. Schließlich hatten sie eine Grube fertig und dann musste das Plumpsklo nur noch darauf gesetzt werden. Die beiden kippten es und trugen es und stellten es über die Grube. »Jetzt können die Bauern wieder scheißen«, sagte Brolin. Zwar war Israel Brolin es gewohnt, wegen seiner Arbeit häufig auswärts zu sein. Doch jetzt gingen die Brüder so oft wie möglich abends heim nach Yttersel, denn es war nicht sehr weit. Sie übernachteten nur manchmal außer Haus und dann in der Herberge am Hang. Der Wirt hatte feuerrote Haare und war misstrauisch, aber er nahm sie trotzdem auf. Brolin wusste, warum. Weil der Wirt nicht mehr viele Übernachtungsgäste beherbergte. »Es gibt jetzt hier im Ort einen Gasthof«, erklärte der Rotfuchs. »Der ist neu. Den gab’s früher nicht. Deshalb kommen hierher bald nur noch Spitzbuben und Gesindel.« »Wie wir«, sagte Brolin und lachte. »Darf ich bekannt machen – mein Bruder Henning.« Es gab Essen und Bier und Betten waren vorhanden. Aber er fand, der Latrinegestank stecke ihm in der Nase. »Für jeden einen Krug Bier«, sagte Brolin und setzte sich. Henning ließ sich neben ihm nieder. »Ein Loch am Tag«, sagte Henning.
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»Zwei Wochen werden wir zu tun haben«, sagte Brolin. »Und morgen gehen wir nach Hause.« Ihn plagte das Gewissen. Er saß hier und trank Bier und gab das Geld aus, das er nach Hause bringen sollte, um die Kinder satt zu machen. »Dass du dir nicht eine Gaja angeschafft hast wie ich«, sagte er zu Henning. »Und Jungs und Mädchen. Heirate doch!« »Sing lieber«, erwiderte Henning. Und Brolin fing wieder an zu singen, eine traurige Melodie. Der Wirt unterbrach ihn. »Lass ihn singen«, sagte Henning. »Er stört doch niemanden damit. Und hier ist es still wie im Grab.« »Und genauso leer. Bis der Abdecker den Leichnam reingekippt hat«, sagte Brolin. Der Rotfuchs sagte nichts, er blickte nur hinaus, auf die Straße und dann neigte er den Kopf zum Gruß. Jemand war in die Herberge gekommen. Ein kleiner Mann, der mühsam ging. Als er durch den Raum hinkte, stieß er sich sein Bein an. Schwarzes Haar hat er wie wir, dachte Brolin. »Da kommt ein neuer Gast«, sagte er. Er winkte dem Neuankömmling zu. »Setz dich zu uns«, sagte Brolin, »wenn du dich in der Gesellschaft von Abdeckern und Beschneidern wohl fühlst.« »Mit Schindern und Abtritträumern«, sagte Henning. Der Neuankömmling sah nicht sehr gesund aus. Hohlwangig war er. Er hat Augenhöhlen wie frisch gegrabene Gruben, dachte Brolin. Aber das Haar war kräftig und schwarz. War das einer der ihren? »Buro?«, fragte er versuchsweise in der Zigeunersprache. »Rakklo? Miro, gräj, väjstan …« 234
Aber der Mann verstand offenbar kein Wort. Er schlurfte auf seinen schwächlichen Beinen näher. »Setz dich zu uns«, sagte Henning. »Nimm dir ein Bier …« Erst da lächelte der Kleine schwach. Er zog sich einen Stuhl an ihren Tisch. »Willst du hier wohnen?«, fragte Brolin.
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37 Als Lisbet Zackrisdotter im Armenhaus aus ihrem Zimmer trat, war die Tür zu Sondelius’ Amtszimmer offen und der Vorsteher stand davor und sprach sie an. »Wie geht es dir hier im Armenhaus?«, fragte er. Sein schwarzer Bart wirkte frisch gekämmt. Lisbet hatte den Pfarrer schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Und so sagte sie zu ihm: »Sie sind in letzter Zeit nur selten hier gewesen.« »Es gibt so viel anderes zu tun«, sagte er. »Komm doch einen Moment zu mir, dann können wir plaudern.« Er ging in sein Zimmer, setzte sich hinter den Schreibtisch und deutete auf den Stuhl davor. Lisbet nahm Platz, schlug die Beine übereinander und legte die Hände in den Schoß. »Ich habe gehört, man hat den Mann gefasst, der … deine Vorgängerin … getötet hat.« Sie nickte. »Sie ist jetzt im Himmel, die Greta. Und nicht hier …« Er verstummte und betrachtete seine schmutzigen Hände. Die Nägel hatten schwarze Trauerränder, stellte sie unangenehm berührt fest. »Das Alter«, fuhr Sondelius fort, »das ist nicht schön. Mein Vater …« Er unterbrach sich. »Die Armut«, fing er neu an. »Ich weiß, was Hunger ist. Ich habe auch darunter gelitten.«
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Wie alt mochte er sein? Haare und Bart waren schwarz ohne Grau. Seine Wangen, oder vielmehr was man davon sah, waren glatt. Fünfunddreißig, dachte sie. »Die Alten«, sagte er. »Die Schwachen und Hilflosen. Weißt du, dass man im Himmel und in der Ewigkeit immer gesund und stark ist? Denk an deinen Vater … in Skalmsjö.« Er erinnert sich daran, dachte Lisbet. »Jetzt hat er die ewige Ruhe, er ist stark …« Sondelius stand auf und beugte sich über den Schreibtisch. Lisbet bemühte sich, seinem Blick auszuweichen. »Was hält Lisbet von den Alten?«, fragte er sie auf seltsam unpersönliche Weise. »Glaubt sie, dass sie hier gerne liegen? Und warten. Wenn es doch eine herrliche Ewigkeit gibt? Dein Vater hat im Wald gearbeitet.« Lisbet nickte wieder. Sie traute sich nicht, den Hilfspfarrer anzusehen, sondern musterte nachdenklich seine Hände. »Manchmal«, antwortete sie. »Stell dir vor, er fällt einen Baum. Eine Fichte, eine Kiefer … Und stell dir weiter vor, dass er nicht eine Kiefer zersägen muss, nicht einen Stamm zersägen, sondern viele Bäume sägen und sägen und fällen und hacken muss, so lange, bis vom Holz nur noch Splitter übrig sind, und dass …« Er hob die Stimme und ging um den Schreibtisch zu ihr, packte ihren Stuhl und drehte ihn so, dass er sich über sie beugen konnte. Dann umfasste er ihr Kinn. »Wie lange würde das dauern, wie entsetzlich lange?«, fragte er. »Und dann würde er dasselbe mit allen Bäumen in Skalmsjö tun, im ganzen Kirchspiel Anundsjö. Das würde dauern! Meinst du nicht auch?« Lisbet schluckte; sie fühlte sich in Sondelius’ Gegenwart überhaupt nicht wohl. Außerdem strömte er einen unbekannten seltsamen Duft aus. Sie hatte von Frauen gehört, die Arme und 237
Brust und sogar andere Körperstellen mit etwas einreiben, das gut riecht, und dachte: So ein Geruch muss das sein, wie der, der ihn umgibt. Das war kein Gestank, nein. Ein fremder Duft, aber gar nicht unangenehm. Sie nickte schwach und wäre am liebsten aus dem Zimmer geflohen. »Und wenn aus dem Wald von Anundsjö ein einziger großer Holzhaufen geworden ist, dann …« Er drückte ihr Kinn noch fester und spuckte die Worte förmlich aus: »… dann ist eine Sekunde der Ewigkeit vergangen! Eine einzige Sekunde!« Er ließ sie los, kehrte zum Schreibtisch zurück und ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. »Doch die Ewigkeit ist nichts als Glückseligkeit. Das Leben auf Erden hingegen ist nichts als …«, – er wedelte mit den Händen –, »… ein unbedeutendes Zwischenspiel.« Dann schenkte er ihr ein Lächeln und schloss: »Dort ist dein Vater. Dort sind die Alten. Dort ist Greta.« »Ich muss jetzt gehen«, sagte Lisbet, »und nach ihnen sehen.« Sie stand auf und er hob die Hand, als wollte er ihr mit dieser Geste sein Einverständnis signalisieren. Lisbet ging die Treppe hoch, nach oben zu den Frauen. Ihr Unbehagen ließ nicht nach. Ist der Mann verrückt?, überlegte sie. Sondelius hatte etwas Bedrohliches, etwas Gefährliches ausgestrahlt. Und dazu dieser Duft. Ich muss versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich muss zusehen, dass ich von hier wegkomme. Hier, im Armenhaus, will ich nicht leben. Und wenn ich mich um eine Stelle beim 238
Pfarrer Backäus bewerbe? Oder bei Morell. Der ist so bedrückt, dachte sie, aber wenigstens ist er nicht verrückt … Sie hörte das Weinen sofort. Das war das Erste, was sie vernahm, und ihr war gleich klar, dass Sara weinte. Die alte Frau hatte sich im Bett halbwegs aufgesetzt und weinte. Tränen liefen ihr über die runzeligen Wangen und sie schluchzte. »Was ist denn?«, frage Lisbet. »Du musst doch nicht traurig sein …« »Der Pfarrer wollte mir Wein zu trinken geben«, schluchzte Sara. »Er war hier und hat gesagt, ich müsste das Abendmahl haben. Aber ich will es nicht. Sie hat das gesagt. Sie hat mir gesagt, ich soll auf keinen Fall das Abendmahl von Pfarrer Sondelius nehmen.« »Es ist ein Zeichen der Gnade«, sagte Lisbet. »Es bedeutet doch, dass man teilhat …« »Ich hab’s ihr versprochen, dass ich’s nicht nehme …« »Wem versprochen?« »Der Greta.« »Greta Sigurdsdotter?« Sara weinte immer noch herzzerreißend. Aber zwischen den Schluchzern kam nach und nach heraus, dass Greta Sara gesagt hatte, nicht von Sondelius’ Wein zu trinken. Und wenn sie das Abendmahl haben wolle, dann solle sie es sich von Backäus geben lassen. Alarmierende Gedanken schossen Lisbet wild durch den Kopf. Wörter, Erinnerungen, Träume. Greta, Wein, Oblate, Flaschen. In ihrem Kopf rauschte es. Währenddessen saß Sara in ihrem Bett und schluchzte vor Angst. Ja, dachte Lisbet. Nun das hier. Mit großer Mühe brachte sie die Worte heraus. Sie beugte sich über die Weinende und tröstete sie.
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»Ich sehe zu, dass dir der Backäus das Abendmahl bringt. Das verspreche ich dir!« Sara hörte augenblicklich auf zu weinen. Aber erst musste sie sich setzen. Da blieb ihr nur der Fußboden. Also setzte sie sich auf den Boden und stützte ihren Kopf in die Hände, während die Erinnerung … es war der Traum … sie hatte etwas geträumt … aber sie konnte sich auch an etwas erinnern. An die Flasche mit dem Wein. Der Pfarrer hatte am Bett ihres Vaters gestanden und aus einer Flasche in den Kelch eingeschenkt, aber zuerst hatte er dem Vater die Oblate gegeben. Sie hält den Kopf ihres Vaters, sie hebt ihn und der Pfarrer steht mit dem Kelch bereit, aber der Vater nippt nur. Du musst alles trinken, sagt der Pfarrer, und der Vater trinkt und lehnt sich im Bett zurück und da bäumt sich sein Körper auf, da muss er sich erbrechen. Aber nicht das erste Mal! Er hatte sie schon vorher zweimal besucht, der Sondelius. Lisbet stand mühsam wieder auf. Sie sah Sara an. Die alte Frau schlief jetzt, ohne das Abendmahl empfangen zu haben. In Lisbets Kopf rauschte es. Verwirrt schüttelte sie sich und ging die Treppe hinunter. Die Tür zu Sondelius’ Amtszimmer war jetzt geschlossen. Sie ging in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Der Kopf tat ihr mittlerweile weh und sie musste sich ausruhen, sie musste …
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38 Die Herren hatten sich in dem weißen Haus am Hafen, im Gemeindesaal versammelt. An den Wänden hingen Gemälde von Schiffen im Sturm, von Schiffen mit schlaffen Segeln. Das Meer war blauschwarz mit weißen Schaumkronen. Es war blautürkis und glatt. Es war aufgewühlt. Es war ruhig. An dem großen Tisch saßen fünf Herren, der älteste von ihnen an der Stirnseite. Neben ihm lag ein Hammer. Er wirkte Ehrfurcht gebietend mit seinen buschigen Brauen und Koteletten. Wie die übrigen Mitglieder der Bürgerversammlung war er schwarz gekleidet und trug ein weißes Hemd mit hohem steifem Kragen. Der Vorsitzende griff nach dem Hammer und klopfte Ruhe gebietend auf den Tisch. Er räusperte sich. »Es geht heute um das Problem der Reinhaltung unserer Gemeinden. Wie wir erfahren haben, ist in einigen größeren Städten Schwedens die Cholera ausgebrochen, deshalb macht uns die Straßenreinigung Sorge und wir sollten bis zum Frühlingsanfang gerüstet sein und die neuen Regelungen anwenden. Ab jetzt darf unter keinen Umständen mehr Abfall ins Meer geworfen werden, ganz gleich, welcher Art. Dasselbe gilt für die Straße.« Er lächelte und fügte hinzu: »Na, hier gibt es bis jetzt nur eine.« »Aber es sollen bald mehr werden«, wandte der Herr zu seiner Rechten ein. »Ja … Wenn ich nun fortfahren darf? Es ist vorgekommen, dass tote Tiere in Wasserläufe geworfen wurden. Ein solches Vorgehen wird von nun an gerichtlich verfolgt und mit hohen Geldstrafen geahndet. Kadaver und sonstige Abfälle müssen an 241
den dafür vorgesehenen Plätzen deponiert werden. Sie dürfen keinesfalls einfach irgendwohin geworfen werden. Und darüber hinaus haben wir ein ständiges Problem mit den Latrinen. Darf ich dazu Herrn Berglund um das Wort bitten.« Herr Berglund – ein Mann Anfang bis Mitte vierzig hatte fein geschnittene Gesichtszüge. Sein Bartwuchs war spärlich, daher gelang es ihm nicht, sein fliehendes Kinn zu verbergen. Als er aufstand, hielt er ein Blatt Papier in der Hand und referierte. »Ein dringliches Problem sind die Abortgruben. Da unser Ort wachsen wird, müssen wir die Latrinen an einem dafür vorgesehenen Ort entleeren. Das heißt: Niemand darf künftig seine volle Abortgrube zuschütten und an anderer Stelle in der Nähe eine neue graben. Auf einem Innenhof gibt es sonst in kürzester Zeit eine Vielzahl von Abortgruben. Deshalb werden bewegliche Abtritte nicht mehr zugelassen. Diese Verordnungen werden zur Bekanntmachung öffentlich ausgehängt und dienen dem Schutz der Bevölkerung vor der Cholera-Seuche, auch Todesengel genannt.« Er nahm unter dem zustimmenden Gemurmel der anderen Herren wieder Platz. Woraufhin der Vorsitzende an seinem Backenbart zupfte und nochmals den Hammer ergriff. »Somit hat die Gemeindeversammlung beschlossen, dass eine Verordnung zur Straßenreinhaltung und Latrinenentsorgung in Örnsköldsvik erlassen und öffentlich publik gemacht wird. Bei unserer nächsten Zusammenkunft am 27. April werden wir über Befolgung oder Nichtbefolgung dieser Verordnungen diskutieren.« Nach diesen Worten schlug er mit dem Hammer auf den Tisch, alle standen auf und gingen.
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39 Helena hatte ihren Sohn im Arm gehalten, sie hatte sich nicht widerwillig von ihm abgewandt. Und eine Weile hatte er auf ihrem Schoß gesessen. Morell nahm sich vor, diese Strategie behutsam weiterzuverfolgen. Nie durfte er sie bitten, das zu wiederholen. Wenn, dann musste Anna das tun. Denn ihr war geglückt, was ihm missglückt war. Anna – in Zukunft sollte sie sich um den Jungen kümmern. Nur um Gustav und Helena. Für die übrige Hausarbeit musste er unbedingt noch ein Dienstmädchen einstellen. Anna war oben bei seiner Frau. Und Morell wartete gespannt, dass sie zurückkam. Was mochte sie zu berichten haben? Ob Helena Gustav vielleicht noch einmal genommen hatte? Ruhelos wanderte er zwischen den Zimmern auf und ab, vom Wohnzimmer in die Küche und zurück, hin und her, abwartend. Er musste an lange Wartezeiten bei der Geburt denken. Da war er auch stundenlang auf und ab gegangen. In der Küche blieb er stehen. Vom Küchenfenster aus sah er Lisbet kommen. Sie wanderte den Hügel hinauf; und er dachte: Das klappt ja wie geschmiert! Würde Anna sich nicht so ausdrücken? Es klappt wie geschmiert, das sagte sie, wenn etwas wie gewünscht passierte, wenn etwas zur Zufriedenheit ausfiel. Morell ging in die Diele und stellte sich abwartend neben den Sekretär, damit er gleich, wenn sie den Türklopfer betätigte, zur Stelle sein würde und warf noch einen schnellen Blick in den Spiegel: Großes Gesicht, kräftiges Kinn, müde Augen. Er ließ sie zweimal anklopfen, ehe er öffnete. Sie hatte sich ein Kopftuch umgebunden, unter dem dieses Mal aber eine Locke hervorschaute. 243
»Nein, sieh einer an, die Lisbet Zackrisdotter«, sagte Morell. »Möchtest du vielleicht bei mir in Dienst treten?« Lisbet sah den Länsman kurz erstaunt an und sagte dann: »Jaaa, obwohl … deshalb …« »Abgemacht. Ab ersten Mai«, sagte Morell. Lisbet sah verwirrt aus, trotzdem nickte sie. »Obwohl ich deshalb nicht gekommen bin«, erklärte sie. Länsman Morell konnte nicht fassen, was er eben gehört hatte. Der Pfarrer sollte Gift in den Abendmahlwein gemischt haben? Hatte er das tatsächlich bei Lisbets Vater getan? Hatte er das auch bei der alten Sara vorgehabt? Nein, das konnte er nicht glauben. War Lisbet Zackrisdotter etwa auch geistesgestört? Er begann sich zu ärgern, dass er sie eingestellt hatte. Aber das war nun einmal geschehen. Über dieses Thema hatten die beiden in dem großen Zimmer zuerst gesprochen. Der Kachelofen war noch warm und durch die großen Fenster schien die Sonne herein. Lisbet Zackrisdotter hatte vorn auf der Stuhlkante gesessen. Schüchtern. Sie hatten ihre Anstellung mit Handschlag besiegelt und Morell hatte gedacht: Was hat sie doch für kleine Hände. Aber da gebe es noch etwas anderes?, hatte er gefragt. Und daraufhin hatte Lisbet erzählt – sehr unsicher zuerst und von vielem Räuspern unterbrochen –, was sie von Sara erfahren hatte, und von ihrem eigenen Argwohn hatte sie gesprochen. Ihrem Verdacht, ob beim Tod ihres Vaters in Skalmsjö alles mit rechten Dingen zugegangen war. Morell konnte es einfach nicht glauben. Es gab keine Beweise. Das waren nur Fantasien. War sie geistesgestört? Sollte er jetzt etwa mit zwei Geistesgestörten unter einem Dach leben? 244
Ihre Anschuldigungen waren so ungeheuerlich, dass er wütend wurde. Aber er beherrschte sich. »Ich werde dem nachgehen«, sagte er. »Nicht, dass der Hilfspfarrer über jeden Verdacht erhaben ist. Aber ich muss doch gestehen, das alles klingt geradezu unglaublich.« Lisbet hatte nach ihrem langen anfänglichen Zögern schnell und präzise berichtet. Aber beim Klang von Morells Stimme und bei seinen Worten schien sie in sich zusammenzusinken. Dann stand sie auf. »Ja. Aber ich habe mir gedacht, ich komme und sag’s trotzdem«, entgegnete sie. »Ich hab’s mir so überlegt, aber vielleicht ist ja nichts dran.« »Ich werde mit Sondelius reden«, sagte Morell besänftigt. »Vielen Dank, dass du trotzdem gekommen bist … Und dann bleibt es also beim ersten Mai?« Sie hatte ihr Kopftuch fester geknotet und war gegangen. Morell schüttelte den Kopf. Nein, sie war sicher nicht geistesgestört. Aber das hatte schon fantastisch geklungen, was sie gesagt hatte. Und jetzt hatte er sie fest angestellt. Er sah ihr vom Küchenfenster aus nach, als sie den Hügel hinunterging. Eine zarte junge Frau, deren Schönheit ihm nicht entgangen war, als sie ihm von ihrem Verdacht berichtet hatte. Gift im Abendmahlwein … Nein, das war doch zu unglaublich. Er stellte sich unten an die Treppe und fragte sich, was oben wohl vor sich gehen mochte. Ob Helena Gustav heute wieder in die Arme genommen hatte? Er wartete auf Anna. Schon bald würden zwei Mägde in seinem Haus leben … In die Arme genommen habe Helena Gustav nicht, hatte Anna berichtet. Aber sie habe seine Wange gestreichelt. Und habe sich nicht abgewandt. 245
Nun stand Morell vor Helenas Tür. Abwarten, dachte er. Er wartete. Vorsichtig zog er die Tür auf. Helena saß auf ihrem Bett. Aber sie war nicht im Nachthemd, sondern sie hatte sich angezogen. In einem hellblauen Kleid saß sie auf dem gemachten Bett und lehnte sich an ein großes Kissen. Sie war angezogen und schlief nicht. Er ging zu ihr und sie schaute ihn an. Er setzte sich so hin, dass er ihre Füße in der Nähe hatte. Er spürte ein starkes Verlangen nach ihr und den Wunsch, ihr ganz nahe zu sein, sie zu berühren, mit ihr zu reden. Er streckte eine Hand aus und berührte behutsam ihren Fuß. »Erzähl«, flüsterte Helena. »Erzähl doch mal.« Er dachte an den Abend, als sie ihm zum ersten Mal nach langer Zeit wieder zugehört hatte. Seither war so viel passiert. »Wir haben den Mörder gefasst. Er ist in Härnösand«, sagte Morell. »Er heißt Grels Persson.« »Und Greta?«, fragte sie. Soll ich ihr wirklich von Greta erzählen? Dass sie tot ist und schon beerdigt und dass … »Ist sie tot?« Er nickte. »Und das war er … wie heißt er? Grels? Er war es?« Wieder nickte er, voller Angst, sie könnte sich aufs Neue von ihm abwenden. »Eine alte Frau …«, sagte Helena. »Warum hat er sie umgebracht?« »Er leugnet es«, sagte Morell. »Aber sie ist auf die gleiche Weise getötet worden wie der Mann in Seltjärn. Mit einem Messer. Danach wurde sie in den Schnee gelegt.«
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Er wollte seine Worte so wählen, dass sie nichts anrichten konnten, damit sie ihn weiter so anschaute. Mit offenen Augen. Er hielt ihren Fuß fest, schloss seine große Hand darum. »Hat er das andere gestanden, das ihm zur Last gelegt wurde?« Morell nickte wieder. »Er kann doch an Gretas Tod unschuldig sein«, sagte Helena. Dann schwieg sie. Sie wirkte abgespannt, müde. Er musste jetzt gehen. Er wollte noch warten, ehe er ihr von Lisbets Verdacht gegen Erik Sondelius erzählte. Er musste gehen, ehe sie sich wieder von ihm abwandte. Er stand auf, beugte sich über sie, streichelte ihre Wange. »Ich gehe jetzt«, flüsterte er. »Ruh dich aus. Ein andermal erzähle ich dir mehr.« In der Tür drehte er sich um. »Ich habe noch eine Magd eingestellt«, sagte er. »Du bist mir … die Liebste.« Morell saß in seinem Amtszimmer, er war erleichtert. Und Helenas Worte gingen ihm durch den Kopf. »Er kann doch unschuldig sein.« Er hatte den Bogen Papier vor sich liegen, auf dem er die Zeugenaussagen notiert hatte, und die Geständnisse, die Grels Persson gemacht hatte. In einem Monat würde die Gerichtsverhandlung stattfinden. Aber die Punkte der Anklage waren klar. Er hatte keinen Zweifel daran gehegt, dass Grels Persson schuldig war, in allen Punkten. Auch für den Tod Gretas. Aber Grels Persson konnte genauso gut unschuldig sein. Was hatte Lisbet gemeint? Vermutete sie, dass Sondelius womöglich Greta Sigurdsdotter erstochen hatte? Der Gedanke war unsinnig. Hatte Greta einen Verdacht gehegt, möglicherweise denselben wie Lisbet Zackrisdotter? Und war sie deshalb aus dem Weg geräumt worden? Lisbet hatte es zwar
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nicht ausgesprochen, aber es lag nahe, dass sie genau das meinte … Nein, Grels Persson war auch der Mörder von Greta. Das musste einfach so sein. Und Erik Sondelius hatte kein Gift in den Abendmahlwein gemischt. Morell zog das Papier näher zu sich und schrieb in seiner schnörkeligen Schrift das Datum und seinen Namen hin. Harald Larsson Morell. Larsson, dachte er. Mein Vater. Lars Larsson. Seit langem schon tot. Aber alt war er geworden und nicht gebrechlich gewesen. Die Alten im Armenhaus. Siebzig oder achtzig Jahre … steht in dem Psalm. Und die Tage und das Leben fahren schnell dahin, als flögen wir davon, das steht dort ebenfalls. Der unerbittliche Tod. Doch bald braucht Lisbet nicht mehr ständig in der Nähe des Todes zu leben. Sie musste die Alten nicht mehr sterben sehen. Hatte nicht einer der Verstorbenen Larsson geheißen? Diese Notizen. Wo hatte er das Blatt Papier hingelegt? Hatte er es nicht aus Gretas Zimmer mitgenommen? Darauf standen zwei Namen. Morell zog eine Schreibtischschublade auf und wühlte zwischen den Papieren. Ja, da war es. Johannes Larsson, Efraim Isaksson las er. Und dann die beiden Fragezeichen. Sie waren gestorben. Armenbegräbnis, hatte Anund gesagt, daran erinnerte er sich. Was bedeuteten die Fragezeichen? Warum hatte Greta Sigurdsdotter die Namen mit einem Fragezeichen versehen? Er starrte vor sich hin. Steckte in Lisbets Bericht doch ein Körnchen Wahrheit? Hatte Sondelius das Leben dieser Menschen abgekürzt? Greta hatte einen Verdacht gehabt und … Nein, das war undenkbar. 248
Lisbet schien sich über Morells Kommen zu wundern. Er öffnete einfach die Tür zum Männerschlafsaal und fand sie dort. Als er den Raum betrat, blickte sie auf. Er winkte sie zu sich und ging vor in ihr Zimmer. Es sah unverändert aus. Gretas Kleider hingen noch an ihrem Platz und die Bibel war nach wie vor bei den Psalmen aufgeschlagen. Und Lisbet. Am liebsten hätte er sie auf den Schoß genommen. Nicht aus Begierde, sondern aus Mitgefühl. Er wollte sie trösten, schützen, ihr helfen. Wie ein Vater, dachte er. Ja, wie ein Vater. Sie standen beide in ihrem Zimmer. »Ich habe mir gedacht …«, fing Morell an. »Ich habe noch nicht mit Sondelius gesprochen.« Als er den Namen des Pfarrers nannte, zuckte Lisbet zusammen und warf einen schnellen Blick nach draußen. »Er ist nicht da«, sagte Morell. »Ja, hier hat es zwei Männer gegeben, die gestorben sind. Johannes Larsson und Efraim Isaksson. Ihre Namen standen auf dem Zettel, den ich hier gefunden habe. Ich habe mir gedacht … Können wir mit den Alten reden? Wie hieß der eine noch gleich? Geromias …« »Mit Kristoffer«, sagte sie plötzlich eifrig. »Ich hab mit ihm gesprochen und er …« »Das tun wir«, unterbrach Morell sie. Er ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Kopf. »Du arme Kleine«, sagte er. Verwirrt trat sie ein paar Schritte zurück. So nicht, dachte er. So habe ich es nicht gemeint. »Wollen wir gehen?«, fragte er.
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»Der Efraim ist krank geworden«, sagte Kristoffer. »Er hat gebrochen und dann lag er da und hat gehustet. Und dann hat er wieder gespuckt, der Efraim. Und dann ist er gestorben. Am Tag danach.« »Und vorher ist er nicht krank gewesen?«, hakte Morell nach. »Na, schwach war er schon. Aber seit ihm der Pfarrer das Abendmahl gegeben hat, wurde er richtig krank. Und dann ist er gestorben.« »Also am Abend ist Sondelius gekommen«, rekapitulierte Morell. »Er gab Efraim das Abendmahl. Efraim ging es sofort schlecht, er wurde krank und starb am nächsten Tag. War es so?« »Ja, genauso war’s«, sagte Kristoffer. »Und der Johannes Larsson?«, fragte Morell. »Ist der auch tot?«, fragte Kristoffer. »Du kannst dich nicht an ihn erinnern?« »Doch, der ist gestorben. Jetzt weiß ich’s wieder.« »Hat der auch das Abendmahl bekommen?« »Das Abendmahl?«, wiederholte Kristoffer. »Hab vielen Dank«, sagte Morell zu ihm und sah dann Lisbet an. »Wollen wir auch Geromias fragen?« Geromias’ Bett stand in der Nähe des Fensters. Die Warzen auf seiner Nase kamen Morell heute noch größer vor. Er lag auf dem Rücken, seine Hände ruhten gefaltet auf der Decke. »Ist das der Länsman?«, fragte er. »Wie heißt er noch mal?« »Morell. Harald Morell. Einer von den Männern hier im Armenhaus hieß Johannes Larsson. Kannst du dich an ihn erinnern?« »Der lag da hinten«, sagte Geromias. »Im Bett daneben. In dem Bett, wo nachher der Junge lag, also später dann. Ja, der Johannes.« 250
»Aber er ist gestorben«, sagte Morell. »Ja, der ist tot. Die sterben hier wie die Fliegen«, sagte Geromias. »Ja«, antwortete Morell. »Ich frage mich, ob er das Abendmahl bekommen hat, ehe er gestorben ist.« »Der Pfarrer rennt hier dauernd mit’m Abendmahlwein rum. Der neue Pfarrer.« »Aber hat der Johannes Larsson das Abendmahl bekommen?« »Ich weiß es nicht. Aber in der Nacht vorher, also bevor er am Morgen gestorben ist, da hat er gelebt, und wie. Die ganze Nacht hat er gewürgt und gekotzt.« Morell warf Lisbet einen Blick zu. »Gewürgt«, sagte sie. »Wenn man brechen will und nicht kann.« »Aber du weißt nicht, ob er das Abendmahl bekommen hat?« »Der kommt dauernd damit an. Aber ich will’s Abendmahl nicht.« »Du weißt es also nicht?« »Doch, der Johannes hat ’n paar mal das Abendmahl bekommen. Aber ich weiß nicht, ob es da war, als er gekotzt hat und gestorben ist.« Morell wandte sich an Lisbet. »Das muss jetzt wohl reichen«, sagte er. »Entschuldige, dass ich dich nicht gleich ernst genommen habe.« Er wollte noch etwas sagen. Dass sie sich vor ihm nicht zu fürchten brauche, dass er sie nur aus Fürsorge und keinem anderen Grund angefasst habe. Doch da ging sie bereits vor ihm hinaus auf den Flur. »Du kannst vielleicht jetzt schon bei uns wohnen«, sagte Morell. »Meine Frau …«
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Er schwieg. Nein, er sollte lieber noch nichts über Helena sagen. »Das geht nicht«, antwortete Lisbet. »Wer soll denn für die Alten sorgen?« Morell folge Lisbet in ihr Zimmer und nahm auf dem einzigen Stuhl Platz. Schwerfällig ließ er sich nieder. Vielleicht hatte sie Recht. »Der hat so komisch gerochen«, sagte sie, »der Sondelius.« »Nach Parfüm?«, fragte Morell. Sie nickte. »Aber sauber ist er nicht. Man sollte meinen, dass der Pfarrer saubere Fingernägel hat. Aber er hat schmutzige.« Morell ging auf den Flur und probierte die Tür zum Dienstzimmer des Hilfspfarrers. Sie war abgeschlossen. Er wollte sich den Raum ansehen. Also ging er Richtung Treppe. Linker Hand entdeckte er eine niedrige, schmale Tür, die nur mit einem Haken verschlossen war. Als er den Haken löste, schwang die Tür auf. Er ging zu Lisbet zurück und bat sie, ihm zu folgen. »Weißt du, wohin die Tür führt?«, fragte er sie. »Das ist nur eine Rumpelkammer«, antwortete sie. »Holst du mal eine Kerze?«, bat Morell. Sie kam schnell mit dem Erwünschten zurück und als sie ihm die Kerze reichte, berührten sich ihre Hände. Morell räusperte sich. Er trat durch die schmale Tür und kam in einen engen Gang. Geradeaus war Mauerwerk, aber mit der Kerze in der Hand ging er daran vorbei und sah, dass der Gang noch einige Meter länger war. Als er die Kerze hob, entdeckte er, dass der Durchlass vor einer weiteren Tür endete, und ging darauf zu. Ein Lichtschimmer durch einen Ritz sagte ihm, dass diese Tür ins Dienstzimmer des Hilfspfarrers führte. Aber sie war
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ebenfalls mit einem Haken gesichert, merkte er. Er ging zu Lisbet zurück. »Ich brauche etwas Dünnes«, flüsterte er. Sie kam mit einer Stricknadel wieder. Zufrieden nickte er und ging mit der Kerze in der Hand zurück zu der Tür. Sie ließ sich mit der Stricknadel leicht öffnen. Plötzlich stand er im Dienstzimmer des Hilfspfarrers. Ein schwacher Parfümduft schlug ihm entgegen. Der Raum war kalt und die Wände waren kahl bis auf ein Kruzifix an der Wand hinter dem Schreibtisch. Außer dem Schreibtisch war er nur mit zwei Stühlen möbliert. Auf dem Schreibtisch stand ein Tintenfass, daneben lag ein Federhalter. Der Schreibtisch hatte zwei Schubladen. Die eine war leer, in der anderen lag ein Stoß Papiere. Morell blätterte sie durch. Es handelte sich um Protokolle der Zusammenkünfte des Gemeinderats und Namensverzeichnisse. Von den Leuten, die im Armenhaus gelebt haben, vermutete der Länsman. Aber sonst ist hier nichts, dachte er enttäuscht. Morell betrachtete die breiten Fußbodendielen. Vor dem Schreibtisch lag ein Flickenteppich. Er schob den Teppich beiseite, hockte sich hin und untersuchte die Bretter. Sie waren dort eindeutig heller, als habe jemand sie gescheuert. Er sah näher hin. Ja, sie waren richtig geschrubbt worden und er konnte noch einen schwachen Geruch nach Seife wahrnehmen. Er verglich die Bretter mit den andern Bohlen. Sie waren sauber gewischt, aber nicht der gesamte Fußboden. Er sah ganz genau hin, denn er suchte nach einem Blutfleck. Nach einem einzigen. Nach der Spur eines Blutflecks. In dem Moment hörte er Lisbet keuchend rufen und gleich darauf Schritte auf der Treppe vorm Haus. Blitzschnell drehte er sich um, schob den Teppich an seinen Platz zurück, vergewisserte sich, ob der Raum so war, wie er ihn vorgefunden hatte, und schlüpfte in den Gang. 253
Er konnte die Tür nicht verschließen! Denn der Haken wurde auf der anderen Seite eingehakt. Also musste er die Tür festhalten und hoffen, dass Sondelius nicht zur Tür schauen würde. Hoffentlich war Lisbet in ihr Zimmer gegangen. Mit klopfendem Herzen stand Morell da und hörte, wie die Zimmertür geöffnet wurde. Der Parfümgeruch wurde intensiver. Sondelius ging zu seinem Schreibtisch, er setzte sich. Man konnte hören, dass er in seinen Papieren blätterte. Was soll ich nur tun, wenn der Pfarrer die geöffnete Tür entdeckt? Und wie lange muss ich hier bleiben … Und Lisbet … Der Pfarrer blätterte immer noch. Morell hatte große Lust, die Tür einfach aufzustoßen und einen Blick in den Raum zu werfen. Sondelius stand auf, er schob den Stuhl zurück, ging durch sein Amtszimmer und blieb stehen. Schaudernd fürchtete Morell, dass er vielleicht die Tür entdeckt hatte. Jetzt hörte es sich an, als hätte sich der Hilfspfarrer hingekniet. Vorsichtig schob Morell die Tür etwas auf. Der Geistliche kniete tatsächlich, die Augen auf das Kruzifix gerichtet, die Hände zum Gebet gefaltet. »Wasche mich rein«, flüsterte er, »wasche mich rein, auf dass ich weißer als Schnee werde, wasche mich rein.« Dann stand er auf und Morell zog vorsichtig die Tür wieder zu. Sondelius öffnete die andere Tür und war verschwunden. Morell hörte ihn abschließen. Er hoffte, dass die Tür zur Rumpelkammer und dem Gang sich nicht von allein aufschwang und trat den Rückweg an. Auf dem Flur sah er Lisbet nicht. Er fand sie in ihrem Zimmer. Sie saß auf dem Bett und schien erleichtert, als Morell eintrat. »Es hat geklappt«, sagte er. »Alles ist noch einmal gut gegangen. Er hat mich nicht gesehen.«
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Wieder hatte er Lust, sie auf den Schoß zu nehmen und zu trösten. Sie sieht so zart aus. Ich muss sie beschützen, dachte er. Denn jetzt halte ich es für möglich, dass der Hilfspfarrer Greta getötet hat. Ich muss Lisbet beschützen. Und ich muss diese Angelegenheit sofort klären. Es kann gut sein, dass Grels Persson an Gretas Tod unschuldig ist. Das hatte Helena ebenfalls zu bedenken gegeben. Und er freute sich wieder über ihr Gespräch – obwohl er geglaubt hatte, den Fall gelöst zu haben. Nun, der Fall war noch keineswegs gelöst.
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40 Morell war sich noch nicht darüber im Klaren, wie er weiter vorgehen sollte. Einfach zu Sondelius gehen und ihn fragen? Was sollte er fragen? Ich habe gehört, der Herr Pastor vergiftet den Abendmahlwein. Weißglas nannten die Knechte auf dem Hof das Gift. Weißglas statt weißes Arsen, dachte Morell. Arsenik. Er hatte von Arsenikvergiftungen gehört und er wusste, dass man sich Arsenik leicht beschaffen konnte. Es wurde auch Giftmehl genannt und benutzt, um Ratten und allerlei Ungeziefer auszurotten. Er hatte außerdem gehört, dass man es in geringen Dosen krankem Vieh verabreichte. Gaben nicht Zigeuner ihren schwächlichen Pferden Arsenik, damit sie lebhafter wurden? Sofort musste Morell an Isreal Brolin denken. Auf seinem Hof gab es auch eine Flasche mit dem Giftmehl, doch die war gut weggeschlossen. Einmal hatte er selbst Arsen verwendet, hatte es in einem Mörser zu weißem Pulver zerstoßen und auf einem Teller für die Ratten ausgelegt. Die Alten – und auch Lisbet – hatten genau die Symptome genannt, die für Arsenikvergiftungen typisch waren. Morell wusste auch von Obduktionen, wo man im Magen gelbliche Körnchen gefunden hatte. Nur lagen die zwei oder drei Männer, um die es jetzt ging, schon unter der Erde. Sollte er um die Öffnung der Gräber nachsuchen? Nun ja, vielleicht. Doch diese Exhumierung konnte nicht der erste Schritt sein. Wie sollte er vorgehen? Er musste mit Sondelius reden und ihn erst auf Nebensächlichkeiten ansprechen und dann irgendwie auf das Wesentliche kommen. Und mit Anund und Johan musste er sprechen.
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Es ging ja nicht allein um das plötzliche Sterben der Alten. Es ging auch um Greta Sigurdsdotter. Hatte Sondelius sie ermordet? Weil sie dasselbe wie Lisbet beobachtet hatte und zur Gefahr für den Mörder geworden war. Und dass Sondelius sie deshalb getötet hatte? Warum hatte jemand in seinem Dienstzimmer im Armenhaus ein paar Dielen sauber geschrubbt? Das konnte andere Gründe haben. Aber Grels Persson stand immer noch unter Verdacht. Andererseits hatte er Stein und Bein geschworen … Als Allererstes musste er am Sonntag in die Kirche gehen. Hoffentlich war Sondelius an der Reihe und predigte. Morell seufzte. Noch war der Fall nicht gelöst.
*
Es war Sonntag und Sondelius hielt den Gottesdienst. Er predigte über das Alter. »Auch König David wurde alt, er war ›hochbetagt‹, wie es am Anfang des Buchs der Könige steht, und weiter: ›Er konnte nicht warm werden, wenn man ihn auch mit Kleidern bedeckte‹. Aber da er König war, suchte man ihm eine Jungfrau, damit sie ihn umsorge und ihn wärme. Wer bekommt eine solche Fürsorge in Anundsjö? Wer kann sich eine solche Wärme leisten wie ein König im hohen Alter? Die Bibel berichtet von Männern, die ein hohes Alter erreichten. Methusalem wurde neunhundertneunundsechzig Jahre und Noah neunhundertfünfzig Jahre. Abraham jedoch nur einhundertfünfundsiebzig und Sara einhundertsiebenundzwanzig Jahre alt.
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Und Mose? Im Alten Testament steht geschrieben: ›Und Mose war hundertundzwanzig Jahre alt, als er starb. Seine Augen waren nicht dunkel geworden, und seine Kraft war nicht verfallen‹. Die Lebenskraft des Propheten war bis zu seinem Tode ungebrochen. Doch wer von uns besitzt im hohen Alter noch diese ungebrochene Lebenskraft? Wohl wenige. Nein, der alte Mensch wird hinfällig und schwach, ohne Hilfe kann er nicht weiterleben. Das ist das Schicksal fast aller Menschen, ein Ende in Hilflosigkeit und Verwirrung … Doch es gibt Hoffnung, Hoffnung auf Erlösung aus diesem irdischen Jammertal: ein Leben im Himmel, in der Ewigkeit, wo Gott uns ein Haus erbaut, wenn unsere irdische Hülle zerbrochen ist. Und in diesem Haus währt die Lebenskraft ewig, da werden die Augen nicht schwach und trübe …« Sondelius schwieg und ließ den Blick über die Gemeinde schweifen. Das ist der richtige Moment, dachte Morell und stand auf. Er trat in den Mittelgang, sah hoch zur Kanzel und zwang Sondelius, ihn anzusehen, weil er dem Mann eine Botschaft übermitteln wollte. Nicht nur mit seinem Blick, sondern mit seinem ganzen Körper drückte er diese Botschaft aus. Die Menschen auf den Bänken wurden unruhig, tuschelten leise und scharrten mit den Füßen. Morell aber blieb stehen, unerschütterlich wie ein Fels stand er da, fast drohend. Sondelius blieb stumm. Da beugte sich Morell, als würde er am Boden etwas suchen. Er schaute wieder auf und sah den Geistlichen an, der aber hatte den Blick abgewandt und starrte in seine Bibel. Schließlich drehte sich Harald Morell langsam um und ging gemessenen Schrittes zum Ausgang. Erst im Vorraum hörte er, dass Sondelius mit dem Gottesdienst fortfuhr. »Lasset uns beten«, hörte er ihn sagen. 258
41 Israel Brolins Haus platzte aus allen Nähten. Küche und Kammer waren voll gestopft mit Betten und anderen Schlafgelegenheiten. Ein Bett mussten sich vier Kinder teilen. Und nun krabbelte auch noch der kleine Lorens auf dem Fußboden herum, richtete sich manchmal auf und machte stockend ein paar Schritte. Aber sprechen konnte er schon und plapperte in der Sprache, die hier im Haus gesprochen wurde. Und nun lebte auch noch der Bruder bei ihnen. Eng war es und immer laut. Trotzdem wanderten Henning und Israel an den meisten Tagen nach Hause, zu dem windschiefen Haus in Yttersel. Hätte ich doch noch andere Aufträge, dachte Israel. Plumpsklos auszuleeren, wurde nicht gut bezahlt und war außerdem keine Arbeit, die er gerne tat. Denn der penetrante Latrinengestank klebte förmlich an ihm. Acht, dachte er. Noch acht Klos. Und der Boden ist noch immer gefroren und schwer zu bearbeiten. Sogar jetzt, da der Schnee geschmolzen ist. Doch wenn die beiden Männer nach Hause kamen, brachten sie zu essen für alle mit. Kartoffeln und Brot und etwas Fleisch. Dann saßen sie rund um den Tisch, die ganze Kinderschar und Antonetta, Henning und Brolin, und sie aßen. »Man müsste halt noch andere Aufträge bekommen«, sagte Brolin. »Du bist doch bei Gyll in Umeå gewesen?« Henning nickte. »Ja, ein Mann wurde gehenkt. Aber Todesurteile gibt’s ja nicht viele.« »Nur noch eine Woche haben wir in Örnsköldsvik zu tun«, sagte Brolin. 259
»Und was dann?«, fragte Henning. »Wir müssen rumgehen und bei den Bauern nachfragen. Bestimmt haben sie hier und da Pferde zum Beschneiden. Und das eine oder andere Pferd zu schlachten.« Er schielte zu Antonetta hinüber und wünschte, es wäre Sommer. Dann könnte er mit ihr hinausgehen. Aber noch war es viel zu kalt. »Irgendwann in dieser Woche bleiben wir noch einmal über Nacht in der Stadt«, sagte er. »Ja, gebt das Geld nur dafür aus«, sagte Antonetta. »Wir können tagsüber ’n bisschen länger arbeiten«, versuchte Brolin sie zu besänftigen, »dann verdienen wir trotzdem genug.« »Und was wollt ihr dann machen?«, fragte Antonetta. Brolin zuckte mit den Schultern. Er sah seine Frau an, denn er wäre jetzt gern mit ihr allein gewesen. »Heute Nacht müsst ihr alle zusammen in der Küche schlafen«, sagte er zu Henning. »Ich muss mit Antonetta unter vier Augen reden.« Henning zwirbelte seinen mächtigen Schnurrbart, dass er grinste, konnte man trotzdem sehen. »Ich kann doch rausgehen oder mir die Ohren zuhalten«, meinte er. »Es ist auch höchste Zeit«, sagte Antonetta und stand auf. »Wir machen es so, wie ich gesagt habe«, befand Brolin. »Und einmal übernachten wir in Örnsköldsvik. Bestimmt bekommen wir ein paar Aufträge. Es klärt sich immer.« Er setzte Lorens auf seinen Schoß und spielte mit ihm Hoppehoppe-Reiter. »Mein Bub«, sagte er. »Mein jüngster Bub.« Antonetta stand am Herd, die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. 260
»Und du scheinst ja noch mehr Kinder haben zu wollen«, sagte sie. Aber Brolin sah, dass sie lachte. Da hob er seinen Sohn hoch und warf ihn ein paar Mal in die Luft, sodass der Kleine vor Vergnügen jauchzte.
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42 Zwar war der Schnee so gut wie weggetaut, doch auch jetzt – Ende April – konnten die drei Männer mit dem Schlitten fahren. Johan und Anund saßen etwas beengt vorn im Rissla und Länsman Morell auf dem Rücksitz hielt die Zügel. Es war noch früh am Morgen, aber trotzdem schon hell. Dieses Jahr hatte der Winter nicht enden wollen, doch nun stand der Frühling vor der Tür. Sie fuhren bei Västerfanbyn über die Brücke und bogen in die Straße ein, die zu dem Pfarrhaus führte, in dem Erik Sondelius wohnte. Die Kufen knirschten im Schnee, der manchmal von kahlen Stellen unterbrochen wurde. Zwar hatten ihre Ermittlungen nichts Neues ergeben, doch sie hatten sich nach reiflicher Überlegung auf den Weg gemacht, weil das untätige Warten kaum noch zu ertragen war. Auch hatte sich Morell an seine vorgesetzte Behörde gewandt, seinen Verdacht schriftlich dargelegt und geschrieben, dass man eventuell Exhumierungen in Betracht ziehen müsse. Und da die Antwort auf sich warten ließ, fuhren sie heute zu dritt nach Fanbyn. Bei ihrem Eintreffen schien das ganze Anwesen noch zu schlafen. Vor dem Haus gab es ein kleines Rondell mit einem großen spitzen Stein in der Mitte. Morell fuhr bis zur Tür, nahm das Pferd aus dem Geschirr und band es nicht weit von der Haustreppe an einem Zaun fest. »Jetzt ist es so weit«, sagte er. Erik Sondelius empfing die Männer im Schlafrock, seine spitz zulaufende Schlafmütze nahm er schnell ab.
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Schweigend geleitete der Geistliche die drei in ein großes Zimmer, das mit Bücherregalen voll gestopft war. Nahe am Fenster stand ein Schreibtisch und dahinter ein Stuhl. Und linker Hand stand ein Esstisch mit sechs hohen Stühlen darum. Sondelius bat sie, Platz zu nehmen. »Meine Magd ist unpässlich«, sagte er. »Deshalb habe ich euch die Tür geöffnet.« »Morell war einen kurzen Moment lang erschrocken – war die Magd etwa auch …« »Nun«, fuhr Sondelius fort, »was führt euch hierher?« Er selbst blieb stehen. Seine Haare standen wirr vom Kopf ab, auch sein Bart war nicht gekämmt. Morell antwortete nicht. Anund schwieg ebenfalls. Johan starrte ihn nur an. »Ich nehme an, dass es um eine offizielle Angelegenheit geht«, sagte Sondelius nach einer Weile. »Es geht um den Tod«, entgegnete Morell. »Und es geht um alte Menschen im Armenhaus.« Er schwieg. »Weißt du wirklich nicht, warum wir gekommen sind?«, fragte er schließlich. »Ich bin auf alles vorbereitet«, antwortete Sondelius. »Es geht auch um das Öffnen von Gräbern und um Obduktionen«, sagte Morell. Da lachte Sondelius und zuckte mit den Schultern. »Ich habe Sie in der Kirche gesehen«, sagte er. »Und seither bin ich …« Der Hilfspfarrer stand noch im Schlafrock vor ihnen. Seine Nachtmütze umklammerte er krampfhaft.
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»Wir können direkt zur Sache kommen. Ich habe einen Brief geschrieben«, sagte Sondelius, ging zu seinem großen Schreibtisch und holte ihn. »Will ihn jemand lesen?« Er reichte den Brief Morell. »Ich setze mich jetzt auch«, sagte Sondelius. Aber er setzte sich nicht an den Tisch, sondern ging mit schnellen Schritten zum Schreibtisch und nahm auf dem Stuhl dahinter Platz. »Das geht nicht«, sagte Anund und stand blitzschnell auf, lief zum Pfarrer, packte ihn am Arm und zog ihn zum Tisch. Sondelius lachte. »Was glaubt ihr denn?«, sagte er. »Dass ich … Nein, lest …« Der Brief – eigentlich ein Protokoll – war lang. Morell überflog ihn. Der Länsman merkte sofort, dass es sich um ein Geständnis handelte. Er beschränkte sich erst einmal auf wenige Zeilen. … bei einem unheilbar kranken und leidenden Menschen wünscht man sich von Herzen, dass er von seinen Qualen erlöst werde … habe ich oft von tiefem Mitleid erfüllt dagestanden … wenn dieses mein fehlgeleitetes Barmherzigkeitsgefühl … besonderen Wein zu mischen, um diesen als ein Hilfsmittel bei der Erlösung von den Qualen zur Hand zu haben … weil ich glaubte, der gnädige Gott werde mich nicht verdammen, wenn ich das Leiden eines unheilbar kranken Mitmenschen verkürze … barmherzig wie unser Vater im Himmel … Ja, das war ein Geständnis. Morell suchte im Text nach dem Namen Greta Sigurdsdotter, der aber stand dort nicht. Er hatte genug gelesen und legte das Geständnis auf den Tisch neben sich. »Barmherzigkeit?«, flüsterte er. Sondelius war wieder aufgestanden. Den Schlafrock hatte er ausgezogen und da stand er nun vor den drei Männern in seinem
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weiten weißen Nachthemd mit wirrem Haar und Bart. Doch seine Augen brannten. »Das ist meine Aufgabe!«, schrie er. »Barmherzigkeit zu üben, ja! Und Mitleid zu haben, ja! Aber ich tat es auch für die Gemeinde. Die Hilflosen, die Sterbenden. Es geht um Tage, höchstens um Wochen! Und damit sind große Kosten verbunden. Für die Gemeinde, ja! Doch vor allem tat ich es aus Mitgefühl für diese Ärmsten der Armen. Seid ihr schon mal dort gewesen? Habt ihr den Schmutz und Gestank erlebt? Habt ihr den verwirrten Reden zugehört? Habt ihr das je getan?« »Ja«, flüsterte Morell. »Ich bin dort gewesen. Und wie heißt es in der Heiligen Schrift? Denn du sprichst doch von der Bibel, nicht wahr? Du bist doch der Pfarrer! Du sollst nicht töten. Steht das nicht im Buche Mose geschrieben? Das fünfte Gebot.« Er hatte sich ebenfalls erhoben. Da standen sie sich nun in dem großen Zimmer im Pfarrhaus des Geistlichen gegenüber, der große Morell und der große Sondelius. Morell schien sich auf den Geistlichen stürzen, ihn an der Kehle packen zu wollen. Anund stand ebenfalls auf. »Und was ist mit Greta Sigurdsdotter?«, sagte Anund flüsternd; doch seine Stimme klang wie Donnerhall. Als Sondelius diesen Namen hörte, verwandelte er sich. Er schien in seinem weiten Nachthemd immer kleiner zu werden und ließ sich schwerfällig auf den nächsten Stuhl sinken. »Dieses arme Menschenkind«, sagte er. »Sie ist einem Mörder in die Hände gefallen.« »Hast du sie umgebracht?«, schrie Morell außer sich. »Barmherzigkeit«, flüsterte Sondelius. »Ich tat es aus Barmherzigkeit.« »Greta Sigurdsdotter«, fragte Anund beharrlich. »An ihrem Tod bin ich unschuldig«, sagte Erik Sondelius. »Möglich, dass ich ein Verbrechen begangen habe, aber es 265
geschah aus Barmherzigkeit. Möglich, dass mich das weltliche Gericht bestrafen wird, aber das göttliche Urteil fürchte ich nicht. Denn ich habe es aus Mitleid getan. Wenn ihr mich jetzt entschuldigt, dann möchte ich mich gern ankleiden. Habt ihr vor, mich in ein Gefängnis zu bringen?« »Johan, begleite ihn!«, befahl Morell. Die beiden verließen das Zimmer und der Länsman ging zum Schreibtisch. Er zog die Schubladen auf und suchte etwas, einen zweiten Brief, ein zweites Geständnis, aber die beiden Schubfächer waren so gut wie leer. Nur in der untersten lagen einige Schreibutensilien. Ein Tintenfass, Schreibfedern, ein Halter und ein Messer, ein schmales Messer. Ein Brieföffner oder Papiermesser. Morell nahm es heraus und untersuchte es. Im Griff waren Buchstaben eingraviert und mit Goldfarbe ausgelegt. Ormazd, las er. Ormazd … Das Wort kam ihm irgendwie bekannt vor. Hatte er es in einem Buch gelesen? Obwohl er sich den Kopf zerbrach, wollte es ihm nicht einfallen. Er hatte auch Sondelius’ Schreibtisch im Armenhaus durchsucht. Darin hatte noch weniger gelegen, kaum Papiere oder sonst etwas. Tintenfass und Schreibfedern hatte er gesehen. Aber kein Papiermesser. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Hatte nicht Lisbet gesagt: »Er macht seine Nägel nicht sauber«? Vielleicht hatte er das früher schon einmal gehört. Wie hatte der Arzt die Mordwaffe beschrieben? Als ein ziemlich kleines Messer. Doch Isak Villander war mit einem breiten und langen Messer erstochen worden. Und Greta? Mit einem Papiermesser? Aber das liegt doch hier, dachte er. Also kann es nicht die Mordwaffe sein. Wir haben im Schnee gesucht, sowohl in Seltjärn als auch in Norrmesunda und keine Mordwaffe finden können. Keine Messer. Grels Persson hat behauptet, das Messer in ein Loch im Eis des Sees geworfen zu haben. Doch vielleicht hatte Sondelius im Armenhaus ein ähnliches Messer wie dieses hier gehabt und es als Tatwaffe benutzt. 266
Morell steckte das Messer in die Tasche und schloss die Schreibtischschubladen. Ormazd, dachte er. Wo hatte er das Wort nur gesehen? War Ormazd eine Art Gott? So kam er nicht weiter, er musste seine Gedanken in Ruhe ordnen. »Ich gehe mal vor die Tür, frische Luft schöpfen«, sagte er zu Anund. »Ihr wartet hier, du … und Johan. Wenn er mit Sondelius zurückkommt. Ich bin gleich wieder da.« Das Pferd stand am Zaun und schaute ihm nach. Morell ging zur Rückseite des Hauses. Er blickte über den See hinüber nach Bredbyn, die Kirche und der Amtsmannhof und die wenigen Häuser. Dort war sein Zuhause, dort war Helenas Zuhause. Und Gustavs. Ormazd … Helena wüsste es, dachte er mit einem Mal. Gib mir Gedankenklarheit!, dachte er. Ormazd. War das wichtig? Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel und sie wärmte bereits. Ormazd? Da plötzlich fiel es ihm ein! Ja, das war’s. In dem Buch hatte er darüber gelesen. Bei dem großen schwedischen Schriftsteller Almqvist! Aber dann musste es doch auch … Einen Versuch war es wert. Rasch ging er ins Haus zurück und betrat das Zimmer. Sondelius trug jetzt einen Pastorenrock und saß am Tisch. So still und gelassen, als hätte er nichts Abscheuliches getan, dachte Morell. »Ja«, sagte er, »du musst zum Amtmannshof mitkommen. Aber ehe wir fahren, gibt es noch ein paar Dinge, die ich gern wissen möchte. Zum Ersten. Wie viele?« »Was meint Ihr?«, fragte Sondelius. 267
»Wie viele Menschen hast du umgebracht?« »Aus Barmherzigkeit drei.« »Und wen?«, fragte Johan. »Zackris Olofsson in Skalmsjö, Johannes Larsson und Efraim Isaksson in Anundsjö.« »Nicht mehr?«, wollte Morell wissen. »Nein«, antwortete Sondelius. »Wie hast du sie umgebracht?« »Ich habe Arsenik in den Abendmahlwein gerührt. Olofsson in Skalmsjö habe ich dreimal von dem Wein zu trinken gegeben. Am Ende starb er.« »Und bei den anderen hast du es genauso gemacht?«, fragte Morell. »Bei denen ging es schneller.« »Woher hattest du das Arsenik?«, fragte Anund. »Ich habe ein paar Flaschen, die ich als Rattengift verwende«, antwortete Sondelius. »Kann ich am Sonntag den Gottesdienst abhalten?« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Morell. »Hast du vor, noch anderen Menschen das Leben zu nehmen?«, fragte Johan. »Ja. Wenn sie sich quälen, würde ich es aus Barmherzigkeit tun. Und …« »… die Kosten senken«, schnaubte Morell. »Was soll das?«, entgegnete Sondelius. »Ich war immer der Meinung, dass unser irdisches Leben nur ein kleines Vorspiel ist. Mühselig und nichtig. Die Nichtigkeit der Nichtigkeiten. Wir leben siebzig Jahre und das Leben fliegt davon. Aber die Ewigkeit, der Himmel!« Einige Worte erkannte Morell sogleich wieder. 268
Gretas Vers aus den Psalmen. Er hatte das vielleicht zu ihr gesagt, hatte es immer wieder gesagt und irgendwann war sie argwöhnisch geworden. Und sie – offensichtlich hatte sie lesen können –, sie hatte die Stelle in der Bibel nachgeschlagen. Das war genau die Seite, die aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch gelegen hatte. »Ja, nur kurz«, sagte Morell, »aber Methusalem wurde mehr Zeit zugebilligt.« »Ja, sogar viele Jahre, ein langes Leben voller Kraft und Stärke! Aber nicht davon sprechen wir, wir reden von den Armen, den Mittellosen und Verwirrten, den Moribunden.« »Hast du das Greta auch gesagt? Das von der Mühsal und der Nichtigkeit? Von den siebzig oder achtzig Jahren, wenn das Leben lange währt?« »Greta?« »Greta Sigurdsdotter. Die Armenpflegerin, die Frau, die sich um die Alten kümmerte, die ihnen ein erträgliches Dasein ermöglichte. Erträglich. Du hast dieses Wort benutzt … Du bist zu mir gekommen und hast mir mitgeteilt, sie sei verschwunden.« »Ich habe hin und wieder mit ihr gesprochen. Dieses arme Menschenkind. Sie ist einem Mörder in die Hände …« »Sie war nicht tot, als ihr Mörder sie in Norrmesunda einfach liegen gelassen hat. Sie ist jämmerlich erfroren.« »Dieses arme Menschenkind.« Morell merkte, dass Anund und Johan dem Wortwechsel der beiden angespannt folgten. Das Bedauern in der Stimme des Pfarrers klang echt. Vielleicht hatte doch Grels Persson Greta getötet. Morell versuchte sich zu erinnern. Wie Greta im Schnee gelegen hatte. Und dann hatte Johan sie sofort zum Bezirksarzt gefahren. Aber Isak Villander hatten sie zum Amtmannshof gebracht. Der 269
Ermordete hatte entkleidet auf dem Tisch gelegen und sie hatten über den Toten gesprochen. Darüber, wie sie ihn gefunden hatten. Er, Anund und Johan. Und der Knecht, der ihn gefunden hatte – wie hieß er noch mal? Torsten –, und der Bezirksarzt. Und Sondelius! Der Hilfspfarrer hatte sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Hof aufgehalten. »Ist dir damals der Gedanke gekommen?«, fragte Morell. »Entschuldigung«, sagte Sondelius. »Ich verstehe nicht recht …« »Du bist dabei gewesen, als der Tote aus Seltjärn … Da kamst du auf die Idee, dass du Greta ebenfalls im Schnee liegen lassen könntest. Wir sollten glauben, es handele sich um denselben Täter. Acht Tage ununterbrochen Schneefall. Das kam dir gelegen. Denn es würde lange dauern, bis die Leiche im schmelzenden Schnee entdeckt werden würde.« Sondelius zupfte nervös an den Enden seines Beffchens und hüstelte gekränkt. »Ihr sprecht in Rätseln«, sagte er. Morell duzte ihn weiterhin. »Tue ich das?«, fuhr er fort. »Sie sprach über ihren Argwohn, nämlich dass du den Alten Gift gibst. Sie sagte es dir ins Gesicht. Und da hast du zugestochen … mit dem Messer. Sie blutete, aber du hast die Bohlen geschrubbt und dann hast du einen Flickenteppich darübergelegt.« Sollte er einen Versuch wagen? War es das wert? Und wenn nun Sondelius wusste, wo sich das Messer befand? Vielleicht hatte er es ebenfalls in ein Eisloch geworfen. Er holte tief Luft. »Wir haben das Messer gefunden«, sagte er. »Den Brieföffner. Dein Papiermesser. Die Mordwaffe.« Er zog es aus der Tasche und hielt es so, dass nur die Klinge zu sehen war. 270
Über die Reaktion des Pfarrers hatte er sich vorher keine Gedanken gemacht, aber damit hatte er nicht gerechnet. Erik Sondelius geriet völlig aus der Fassung. Er starrte Morell wütend und verwirrt an. Und dann stürzte er sich auf Morell und würgte ihn. Morell kämpfte verbissen, um Luft zu bekommen. Er sah die glühenden Augen des Pastors. Er sah den Wahnsinn in ihnen. So sieht das also aus, konnte er noch denken, nicht wie bei Helena. So wie hier. Doch schon kamen ihm Anund und Johan zu Hilfe. Sie zerrten Sondelius von Morell weg und drückten ihn auf den Fußboden. Morell hustete und rang nach Atem. »Lasst ihn los«, sagte er dann. Johan und Anund standen auf. Da kroch Sondelius auf allen vieren zum Stuhl. Er setzte sich, senkte den Kopf und faltete die Hände. Morell wartete voller Spannung. Er hielt das Papiermesser wieder in der Hand. »Ich habe gedacht …«, flüsterte Sondelius. »Das Messer … Das habe ich nicht gewollt. Aber … sie kam zu mir. Sie stand da vor mir und sagte … ja nicht direkt, aber sie fand, ich sei ein Mörder.« Mit einem Mal sprach er lauter und stand auf. Morell, Anund und Johan stellten sich rings um ihn auf. Anund hielt den Knüppel in der Hand. »Sie! Sie klagte mich an!« »Sie machte das erträg…«, sagte Morell. Er verstummte. Er wollte nichts aufs Spiel setzen. »Wo fandet Ihr …? Ich habe gedacht …« »Aber wir fanden es«, sagte Morell. »Du hast also Greta Sigurdsdotter damit getötet? Stimmt das?« 271
Sondelius berührte sein Beffchen, strich es glatt und versuchte sich aufzurichten. »Das ist mein Verbrechen«, flüsterte er. »Als sie kam, wusste ich mir keinen Rat. Ja, ich habe mit dem Messer auf sie eingestochen. Ja, ich habe das Pferd und den Rissla genommen. Ja, ich habe es getan. Möge Gott sich meiner erbarmen.« Er stand auf und schwankte, das Gesicht fahl, die Haare wirr und den Blick erloschen. Dann kauerte er sich auf den Fußboden, streckte die Hände in die Höhe und schrie im Gefühl seiner Ohnmacht wie ein Wahnsinniger: »Wasche mich rein, auf dass ich weißer werde als der Schnee. Wasche mich rein, auf dass ich weißer werde als der Schnee. Wasche mich rein!« Sie fesselten ihn nicht und sie ließen ihm auch seine Amtskleidung. Morell deckte einen schweren Pelz im Schlitten über ihn. Die drei Amtspersonen standen ein paar Meter entfernt beim Pferd. Zwei widersprüchliche Gefühle beherrschten Morell, einerseits Zufriedenheit und andererseits ein großes Unbehagen. Nicht nur, weil sich ein Geistlicher als Mörder entpuppt hatte, sondern auch, weil er sich geirrt hatte. Grels war ein Verbrecher, aber mit Gretas Tod hatte er nichts zu tun. »Ist das Messer die Mordwaffe?«, wollte Johan wissen. »Das du gefunden hast …« »Nicht dieses, aber das Pendant dazu, nehme ich an. Auf dem ist vermutlich Ahriman eingraviert. Doch wo es sich befindet, weiß ich nicht.« »Ahriman?«, wiederholte Anund und versuchte zu flüstern. »Auf diesem hier steht der Name Ormazd«, sagte Morell und holte das Messer aus der Tasche. »Schließlich ist es mir doch 272
noch eingefallen. Ormazd und Ahriman gehören zusammen. Also muss es auch zwei Messer geben.« »Ormazd und Ahriman?«, wiederholte Anund. »Das sind die Namen von zwei Gottheiten einer alten persischen Religion – des Parsismus –, die Widersacher sind. Ormazd ist der Schöpfer der Welt, er repräsentiert die Macht des Lichts, also das Gute, während Ahriman der Gott der Finsternis und der Geist des Bösen ist. Unser berühmter Schriftsteller Almqvist hat eine Erzählung darüber geschrieben, denn wir alle sind ja …« »Wir alle?«, fragte Johan. »Ja, wir alle haben Gutes und Böses in uns und …« »Almqvist?«, echote Anund. »Der berühmte Schriftsteller, wie ich eben sagte«, erklärte Morell. »Er lebt noch.« Erik Sondelius lag während des Gesprächs im Schlitten und rührte sich nicht. »Für uns drei ist nicht mehr genügend Platz«, sagte Morell. »Ich kann ja in Fanbyn bleiben«, sagte Johan und schielte zu seinem Vater hin. »Na, dieses Problem haben wir jedenfalls gelöst«, sagte Morell. Und Anund Persson schaute nach Bredbyn hinüber, wo seine Felder lagen. »Vielleicht darf ich jetzt stattdessen mal an meine Frühjahrsbestellung denken«, sagte er lakonisch.
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43 Lisbet hörte Schritte auf der Außentreppe und blieb im Windfang stehen. Vor Schreck klopfte ihr Herz heftig. War das etwa Sondelius? Aber er war doch eingesperrt worden? Nein, das ist Morell, dachte sie. Aber es war keiner der beiden, stellte sie fest, als die Tür aufging. Annika war es. Es war schon so lange her, dass Lisbet die Begegnung mit Annika im Gasthof fast völlig vergessen hatte. Das war gewesen, ehe der tagelange Schneefall eingesetzt hatte. War es am Tag zuvor gewesen? Oder mehrere Tage zuvor? Sie weiß es nicht mehr. Sie erinnert sich nur an den Schnee, daran, wie es schneite. Tag für Tag. Also musste die Begegnung vorher stattgefunden haben. Sie hatte Annika an jenem Abend kennen gelernt, nachdem sie die Nacht zuvor im Kleiderschrank verbracht hatte. Damals hatte sie als einziger Gast in der völlig leeren Wirtsstube gesessen, als Annika gekommen war und den Wirt hinter der Theke nach einem Kerl namens Daniel Persson gefragt hatte. Nach dem Mann, vor dem sie sich fürchtete. Sie kannte seinen Namen, weil er ihn ihr gesagt hatte. Daniel. An diesem Abend war er nicht da. Aber diese Annika hatte sie allein dort sitzen sehen und war zu ihr gekommen. Ein Wort hatte das andere ergeben und die beiden Frauen hatten festgestellt, dass sie sich vor demselben Mann fürchteten, diesem Daniel Persson. Annika hatte Lisbet zu ihrem Zimmer begleitet. Und dort hatte sie ihr von diesem Schuft erzählt. Und da hatte sie auch erzählt, was. Daniel Persson zu ihr gesagt hatte, und dass sie gefürchtet hatte, er würde sich an ihr vergreifen.
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»Den bringe ich schon noch auf den richtigen Weg«, hatte Annika zu ihr gesagt. Und sie hatte erzählt, dass sie ein paar Freunde, ein paar Kerle aus Norrböle, die sie kannte, gebeten habe … Also sie habe die Männer gebeten, dem Daniel einen Denkzettel zu verpassen. Das ist bestimmt in Ordnung, hatte sie gesagt und Lisbet hatte ihr zugestimmt. Dann hatte sie alles vergessen. Fast. Denn kurz darauf war der Hilfspfarrer gekommen und hatte sie zum Umzug ins Armenhaus bewegt. Deshalb hatte sie an diesen Daniel oder an Annika nur noch selten gedacht. Und jetzt war sie gekommen, diese Annika. Es war Mittag. Die Vormittagsarbeit war getan. Die Alten hatten gegessen und schliefen nun. Sie musste nur noch ein paar Tage im Armenhaus bleiben, denn Backäus hatte für Ersatz gesorgt. Drei Frauen sollten sich in Zukunft um die Alten kümmern. Und Sondelius war seines Amtes enthoben worden. Lisbet war gerade mit der Arbeit fertig und freute sich, dass ihr Leben nun besser werden würde, so wie sie es sich damals vorgestellt hatte, als sie aus Skalmsjö wegging. In dem Moment kam Annika. »Ich habe mir gedacht, wir könnten etwas schwatzen«, sagte sie. Und die beiden gingen in Lisbets Zimmer. Sie setzte sich auf ihr Bett und Annika auf den Stuhl. Die Bibel lag noch immer aufgeschlagen auf dem Nachttisch. »Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben?«, fing Annika an. Lisbet nickte. »Ich habe gehört, dass du inzwischen viel mit dem Länsman sprichst. Und da habe ich mir gedacht …«
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Sie schwieg. Lisbet hatte schon damals im Gasthof gesehen, dass Annika schwanger war. Doch jetzt war es unübersehbar. »Ich werde heiraten«, sagte Annika als Antwort auf Lisbets forschenden Blick. »Den Johan, den Gehilfen vom Länsman.« Sie sah sich im Zimmer um. »Hier wohnst du also«, sagte sie. »Ja, also diese Geschichte mit dem Daniel. Kannst du dich erinnern?« Lisbet nickte. »Also daraus ist nie was geworden … Der hat sich sowieso aus dem Staub gemacht … Ich hab gedacht, dass … Na ja, also dass du es weißt, dass da nichts draus geworden ist … also dass die da aus Norrböle, die ich kenne … Ich hab’s ihnen nie gesagt.« Sie nahm ihr Kopftuch ab und fuhr sich mit den Fingern durch ihr lockiges blondes Haar. »Der ist sowieso gegangen …«, sagte sie. »Deshalb musste ich gar nichts unternehmen. Ja also, wenn du mal dran denkst, wollte ich dir sagen … Wenn der Länsman …« »Ich habe da gar nicht mehr daran gedacht«, erwiderte Lisbet. »Und jetzt der Pfarrer und das alles …«, sagte Annika. »Was die Leute erzählen … dass er …« Sie schüttelte ihren Kopf, dass die Haare flogen, und band sich das Kopftuch wieder um, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Ja, das ist dem Johan seins.« Dann legte sie ihre Hand auf den Bauch. »Das Kind«, fügte sie hinzu. Sie stand auf und schaute sich noch einmal im Zimmer um. »Also hier hat sie gewohnt, die Greta … Na, nun muss ich mich aber auf die Socken machen. Ja, also wie gesagt, da ist
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nichts draus geworden. Der ist sowieso abgehauen. Das war doch gut, oder?« Sie lächelte Lisbet an. Und Lisbet lächelte zurück. »Na, nun muss ich mich aber auf die Socken machen«, wiederholte sie und ging.
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44 Israel und Hennig schafften zwei Gruben am Tag, weil sie diese Gruben aus nicht ganz vollen Latrinen füllten. Auf einigen Höfen hatten sie eine zusätzliche Grube graben müssen. Und die neue natürlich. Die Gruben hier waren nicht sehr voll. Sie mussten nur den Kasten-Schlitten zum Hafen hinunterziehen, ihn mit Erde füllen und zurück zum Haus ziehen, das Plumpsklo verschieben, das Loch zuschütten und dann ein neues graben. Zwei schafften sie. Nicht mehr. Jetzt waren nur noch sechs übrig. Brolin legte sich die Schaufel über die Schulter und marschierte los, Henning folgte ihm. Heute wollten sie in Örnsköldsvik übernachten. Das haben wir uns verdient, dachte Brolin. Zwei, drei Bier und ein bisschen Ruhe. Man muss die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens wahrnehmen und genießen. Die beiden gingen den Hügel hinauf. Zurzeit war die Straße voller Matsch. Räder hatten sich in die aufgeweichte Erde gegraben und tiefe Fahrrinnen hinterlassen. Die Straße sollte einmal gepflastert werden, bisher war allerdings noch nichts geschehen. Brolin glaubte im Übrigen nicht, dass man sie mit dieser Arbeit beauftragen würde. Nein, er wusste, wo er hingehörte, er wusste, was er zu tun hatte. Aber Latrinen zu reinigen, war wohl die schlimmste Arbeit. Doch er hatte seinen Bruder. Und heute hoffte er, beherbergt zu werden. Der Rotfuchs empfing sie mit den Worten: »Da seid ihr ja wieder, ihr Gesindel. Damit muss ich mich eben zufrieden geben.« »Es gibt noch mehr Namen für uns.« Brolin lachte. 278
»Zigeuner, fahrendes Volk, Gauner, Abdecker, Beschneider, Schwindler, Rosstäuscher, Schelme, Abtrittreiniger, Pferdeschlächter … Deine Fantasie taugt nichts.« »Hast du ’n Zimmer für uns?«, fragte Henning und trat einen Schritt vor. »Klar«, sagte der Rotfuchs, »leider …« »Und Bier«, sagte Brolin. »Zwei Maß für jeden. Sofort.« Er ging mit Henning gleich in die niedrige Gaststube, wo sie früher schon gesessen hatten. Sie war leer. Der Rotfuchs und eine Magd kamen kurz darauf mit vier Maß Bier an ihren Tisch. »Das haben wir uns redlich verdient«, sagte Brolin und hob seinen Krug. »Ich kriege so richtig Lust, ihm eins auf den Schädel zu geben«, sagte Henning. »Oder ihm das Messer ins Herz zu stechen.« »Kümmere dich nicht um ihn«, sagte Brolin. »Trink lieber!« Er leerte seinen Krug und schob ihn beiseite. Sie tranken jeder drei Maß, saßen allein in der Gaststube. Der soll lieber froh sein, dieser Rotfuchs, dass überhaupt jemand kommt, dachte Brolin. Er machte sich nichts daraus, denn er war es gewohnt, dass sein Lohn für das Beschneiden der Pferde auf den Zaunpfahl gelegt wurde. Er war es gewohnt, dass ihm die Bauern auf ihren Höfen nicht einmal das auf ihren Tellern gaben. So waren die Leute eben. Es war ihm egal. Nur einmal war jemand freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn beherbergt und sogar gesund gepflegt. Damals, als ihn ein Mann niedergeschlagen hatte, ein vielfacher Mörder, wie sich später herausstellte. Dieser Gastwirt hatte ihn bei sich aufgenommen, obwohl er erst nach seiner Genesung die Rechnung hatte begleichen können. Und da hatte sich
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herausgestellt, dass der Wirt kein Einheimischer war, sondern zu Brolins Volk gehörte. Damals hatte Länsman Morell den Fall aufgeklärt. Doch der vielfache Mörder hatte sich einer gerechten Strafe entzogen und erhängt und Brolin hatte ihm im Wald ein Grab schaufeln müssen. Das war wenigstens ein Auftrag gewesen, der etwas Geld eingebracht hatte. »Zigeuner«, sagte er nachdenklich. »Wo ist eigentlich der Zigeuner, der neulich hier gewesen ist?«, fuhr er fort. »Der Schwarzhaarige, der mit dem Hinkebein?« Henning zuckte mit den Schultern und murmelte etwas. »Bist du voll?«, fragte Brolin. »Ich denk an den alten Mistkerl«, sagte Henning. »Ich hab große Lust, es ihm zu zeigen.« »Kümmer dich nicht um den Mann«, sagte Brolin. Er winkte dem Wirt. »Bier!«, rief er laut. Der Wirt kam mit zwei vollen Krügen, die er vor seinen Gästen auf den Tisch knallte. »Wo ist der Junge?«, fragte Brolin. »Welcher Junge?« »Der hier gewohnt hat«, sagte Brolin. »Schwarze Haare. Er hat gehinkt.« »Der ist krank. Er hat sich vor’n paar Tagen ins Bett gelegt. Er hat was am Magen«, sagte der Rotfuchs und wandte sich vom Tisch ab. Brolin rief ihn zurück. »Hast du nach ihm geschaut?« »Nach ihm geschaut?« »Ja, als Zimmervermieter, als Herbergswirt hast du für deine Gäste Verantwortung. Hast du das nicht gewusst? Stell dir vor, dem passiert was. Vielleicht muss ich das ja der Obrigkeit
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melden. Dann wird’s dir schlecht ergehen. Dann musst du dich wohl dem … Gesindel anschließen.« Der Rotfuchs schien unruhig zu werden. »Was für ’ne Verantwortung?« »Klar, ich verstehe. Du hast nicht nach ihm geschaut. Das werde ich wohl melden müssen. Oder was meinst du dazu, Henning?« Henning starrte den Wirt wütend an und zupfte sich am Schnurrbart, der seinen Mund bedeckte. »Ich muss schreiben«, sagte er. »Schreiben?«, fragte der Rotfuchs. »Ja, ’ne Anzeige«, antwortete Brolin. »Ich kann jetzt gleich nach ihm schauen«, sagte der Rotfuchs. »Wir begleiten dich«, entschied Brolin. »Sicherheitshalber. Wie lange liegt er schon in seinem Zimmer?« »Seit zwei Tagen«, sagte der Rotfuchs. Kaum hatten die drei Männer die Tür geöffnet, schlug ihnen ein widerlicher Gestank entgegen. Daniel lag vollständig angekleidet auf dem Bett. Der Fußboden war mit Erbrochenem bedeckt. Brolin trat näher. Das Gesicht des Mannes war leichenblass. Seine Augen waren geöffnet, aber blicklos. Auch seine Brust war mit Erbrochenem besudelt. »Der ist tot«, stellte Brolin fest. »Hast du ihm Weißglas gegeben?« »Weißglas?«, fragte der Rotfuchs verwirrt. »Du wiederholst alles«, sagte Henning. »Hörst du nicht gut? Wir müssen dich anzeigen. Arsenik. Was tust du den Leuten ins Essen?« Der Rotfuchs stand hilflos in der offenen Tür. Sein rotes Gesicht war fahl geworden. 281
Das schäbige Zimmer war nur mit Bett und Tisch möbliert. Das war alles. Brolin warf einen Blick auf den Tisch und entdeckte dort ein Blatt Papier. Brolin nahm es. In ungelenker Handschrift standen ein paar Zeilen darauf. Sie waren schwer zu entziffern. Doch schließlich gelang es ihm mit Mühe, zu lesen: Du musst nicht glauben das ich nicht weiß das du das warst und das bekommst du heimgezahlt. Und wegen dem Kind das die Annika kriegt Das war alles. Brolin steckte das Papier in die Tasche, warf noch einen Blick auf den Toten, nickte bekräftigend, trat zu Henning und flüsterte: »Wir gehen jetzt.« Der Wirt stand noch immer mit offenem Mund in der Tür und schaute nervös in das Zimmer. »Du musst das anzeigen«, sagte Brolin. »Denn das ist deine Herberge. Wir gehen jetzt.« »Gehen?«, wiederholte Henning. »Wollten wir nicht hier schlafen?« Brolin antwortete nicht, er stieß seinen Bruder vor sich her zur Haustür, öffnete sie und ging die Außentreppe hinunter. »Wir müssen heim«, sagte er. »Nach Yttersel.« Dann rannte er los, Henning hinterher. Erst als sie auf der Landstraße waren, blieb Brolin schwer atmend stehen. »Das da war kein Weißglas. Das kann nur …« Er packte Henning am Mantelkragen und hielt ihn fest. »Weißt du, was das sein kann?« Henning schüttelte den Kopf. »Cholera«, rief Brolin. »Das kann die Cholera sein!«
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45 Länsman Morell hatte die Erzählung von Carl Jonas Love Almqvist Ormazd und Ahriman noch einmal gelesen. Doch beim Aufschlagen des schmalen Bändchens hatte er innegehalten, denn dort stand: Lars Larsson. Das Buch hatte einmal seinem Vater gehört. Und Morell hatte an seinen Vater denken müssen. Lars Larsson war fast achtzig Jahre alt geworden und friedlich im Schlaf gestorben. Dann hatte er mit der Lektüre begonnen und schnell festgestellt, dass der Autor nicht nur von Gut und Böse schrieb, sondern auch von Chaos und Ordnung. Der Schöpfer des Guten, Ormazd, der Erhalter der Welt und Vertreter des Lichts, verlangte gleichzeitig von seinen Anhängern unbedingten Gehorsam und Einhaltung strikter Regeln und Vorschriften, während sein Widersacher, Ahriman, der die Mächte der Finsternis und den Geist des Bösen symbolisierte, ebenso für Freiheit plädierte und das Prinzip der Lust vertrat. Die Erzählung war schwierig zu lesen, fand Morell. Er hatte nicht alles verstanden. Aber einige Passagen waren voller Humor, ganz besonders ein Vergleich zwischen Sekretären und Zigeunern. Und ihm gefiel besonders der unterschwellig ironische Ton der Erzählung. Bei dem Wort Zigeuner hatte er sofort an Israel Brolin denken müssen und sich gefragt, ob Brolin Almqvists Beschreibung der Zigeuner gefallen würde. Dass sie »wenige Tugenden haben, aber vor allem das Laster zu stehlen« und dass sie »auf offener Landstraße an sich raffen« und »sich unter dem weiten Himmel schweinemäßig verhalten«.
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Der gute und ordentliche Ormazd, nein, die Erzählung war in sich widersprüchlich. Und wahrscheinlich ist das ganze Leben so, hatte Morell gedacht. Gilt das nicht auch für Erik Sondelius, der in seinem Wahn und seiner selbstgerechten Überheblichkeit, Richter über Leben und Tod zu sein, zum Mörder geworden war? Jetzt saß der Geistliche im Reichsgefängnis in Härnösand, vielleicht sogar in einer Zelle neben Grels Persson. Morell hatte mittlerweile Sondelius’ Geständnis gelesen, eine unzusammenhängende Suade, weinerlich im Ton. Sondelius schrieb von Barmherzigkeit und Mitleid, davon, wie er die Kranken gesehen und sich ihrer erbarmt habe. Und wie er dann beschlossen habe, sie zu töten. Greta Sigurdsdotter erwähnte er nicht. Morell hatte auch das Protokoll des Leichenbeschauers gelesen. Die Gräber waren an einem der letzten Apriltage geöffnet worden. Außer Morell, Anund und Johan hatten der Bezirksarzt und der Apotheker von Bjästa daran teilgenommen. Ein Teil der Speiseröhre und der Magen waren den Toten entnommen und zur Untersuchung eingeschickt worden. Morell hatte das Ergebnis gelesen. Es gab keinen Zweifel. Zu anderen Beweisstücken für den Prozess fügte er noch dieses Gutachten hinzu, dessen Schlusswort lautete: Am unteren Ende der Speiseröhre, sowie überall an der Innenhaut des Magens und des Zwölffingerdarms fanden sich jedes Mal recht feine, harte, glänzende, weiße Partikel, die gesammelt und untersucht und als Arsenik identifiziert wurden. Somit wurde durch die Leichenöffnung von Zackris Olofsson, Johannes Larsson und Efraim Isaksson zweifellos bewiesen, dass alle drei Männer allein durch die Verabreichung des Gifts eines plötzlichen Todes starben.
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Und Morell hatte eine neue Magd. Jetzt lebte Lisbet Zackrisdotter auf seinem Hof. Sie kümmerte sich um das Essen und das Putzen, während sich Anna um Gustav und Helena kümmerte. Harald Morell hatte wieder Zeit für seinen Sohn. Er saß im Wohnzimmer auf einem Stuhl und Gustav ging mit unsicheren Schritten auf seinen Vater zu, drei Meter, vier Meter. Gustav ist gut entwickelt, dachte Morell manchmal. Denn er kann jetzt schon gehen. Allerdings sprach Gustav nicht viel und die paar Worte, die er sagte, waren unverständlich. Aber er ging schon ein paar Meter und sicher würde er bald auch sprechen lernen. Nur noch einmal hatte Helena später Gustav liebkost, nur ein einziges Mal. Und das hatte Morell nicht miterlebt, denn es geschah an jenem Tag, als er Erik Sondelius in Fanbyn festgenommen und Antworten auf die meisten seiner Fragen bekommen hatte. Aber Anna hatte ihm davon erzählt und gesagt: »Der Länsman wird sehen, alles wird gut.« Das hatte sie gesagt. Ich muss Geduld haben, nahm er sich vor. Helena ist nicht verrückt, sie leidet nur unter dieser Niedergeschlagenheit. Jetzt hatte er viel von seiner Arbeit zu erzählen. Von Erik Sondelius – und dass Grels Persson an Gretas Tod unschuldig sei. Er legte sich Gustav über die Schulter und freute sich, als der Junge lachte. Und dann ging er die Treppe nach oben. Vielleicht saß Helena heute im Bett, vielleicht breitete sie heute die Arme aus, um Gustav und ihn zu liebkosen. Vielleicht.
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46 Am Sonntag, den 13. Mai 1849 wurde in der Kirche von Anundsjö für Johan Anund Anundsson, geboren am 3. November 1825, und Annika Margareta Carlsdotter, geboren am 8. Juli 1823, zum ersten Mal das Aufgebot verlesen.
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