Schön wie Cinderella
Dixie Browning
Bianca 1288 25-1/01
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von almutK
PROLOG Dies ist...
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Schön wie Cinderella
Dixie Browning
Bianca 1288 25-1/01
Gescannt von suzi_kay Korrigiert von almutK
PROLOG Dies ist mein erstes Tagebuch, und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mama hat immer eins geführt, ich bislang nicht. Sie sagte, ich sollte ihres lesen, wenn sie mal nicht mehr da wäre, dann würde ich vieles verstehen. Aber ich hatte lange keine persönlichen Dinge von ihr. Mein Name ist Cynthia Danbury. Ich bin vierzehneinhalb Jahre alt. Vierzehneinhalb. Das war also vor zehn Jahren. Wie jung ich damals war, dachte Cindy und las weiter. Ich werde dauernd losgeschickt, um Dinge zu erledigen. Sollte jemand das hier lesen, möchte ich, dass er weiß, dass mein Daddy Erfinder war. Er starb, bevor er etwas ausreichend Wichtiges erfand, dass Leute dafür Geld bezahlt hätten. Aber das will nicht heißen, dass er zu gar nichts gekommen wäre. Mama hat in der Lastwagenkneipe hart gearbeitet, um das Geld für Daddys Experimente zu verdienen. Sie war überhaupt keine Vorstadtschlampe, die einen anständigen Jungen verdorben hat, wie Tante Stephenson mal zu Onkel Henry gesagt hat. Darum schreibe ich dies auch auf. Damit jeder es weiß. Cindy konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie Tante Stephenson, die Schwester ihres Vaters, zum ersten Mal getroffen hatte. Sie war damals ungefähr sieben Jahre alt gewesen, und sie waren gerade nach Mocksville gezogen. Ihr Vater hatte sie in ein großes, weißes Haus mitgenommen, das eine mächtige Eingangstür mit Glasscheiben hatte. Dort hatte sie Tante Lorna kennen gelernt. In der Halle stellte ihr Vater sie einer großen Frau in schwarzem Kleid vor und erklärte ihr, dass das ihre Tante Lorna sei. „Sie nennt mich besser Mrs. Stephenson", hatte die Frau ihn kühl korrigiert, was ihren Vater sehr verärgerte. Cindy erinnerte sich daran, dass sie sich hinter ihm versteckt und sich an seine Hand geklammert hatte. Über die Jahre fanden sie einen Kompromiss: Cindy nannte die Schwester ihres Vaters nun „Tante S.". Sie nahm das Tagebuch wieder auf und blätterte ein paar Seiten weiter. Mama begleitete uns nie bei diesen Besuchen. Den Grund dafür verstand ich erst Jahre später. Nach ihrem Unfall. Als ich ihr Tagebuch fand. Der Unfall passierte, als Daddy und ich sie zur Arbeit fuhren. Ein Reifen platzte, und wir überschlugen uns. Daddy war sofort tot. Mein Becken war gebrochen. Ich hätte ein neues Hüftgelenk gebraucht, aber das bekam ich nicht. Mama und ich waren beide im Krankenhaus, ich konnte nicht mal zu Daddys Beerdigung gehen. Tante S. kümmerte sich um alles. Dafür müsste ich ihr wohl dankbar sein. Aber ich denke nicht gern an damals, und deshalb fällt es mir schwer, dankbar zu sein. Cindys Becken war nie ganz ausgeheilt. Wenn sie müde war, humpelte sie noch immer ein wenig, aber die Narben waren kaum noch zu sehen. Der Unfall geschah im November, als sie elf war. Im folgenden Mai bekam sie ihre Periode. Sie dachte sofort, es hätte etwas mit dem Bruch zu tun, bis ihre Mutter ihr alles erklärte. Mama wunderte sich, dass ich es noch nicht wusste, oder jedenfalls nicht genau. Man lernt das in der Schule, aber wenn es einem dann selbst passiert, ist es irgendwie anders. Ich entwerfe immer Hüte, wenn ein Thema aufkommt, das mir peinlich ist. Große, verrückte Hüte. Romantische Hüte, mit ganz vielen Blumen drauf. Das tat Cindy noch immer. Jetzt allerdings nicht mehr nur in Gedanken. Sie blätterte weiter und dachte daran, wie naiv sie vor zehn Jahren noch gewesen war. Wer ich wohl bin? Sollte ich eines Tages mal Kinder haben, und sollten die etwas über ihre Herkunft wissen wollen, kann ich ihnen nicht viel sagen. Mamas Familie, die Scarboroughs, kommen von der Küste, aber da gibt es höchstens noch einen Cousin dritten Grades. Mama war sehr traurig nach Daddys Tod, sie konnte das nie verwinden. Und dann bekam sie Leukämie. Als sie im Krankenhaus war, wohnte ich in der Zeit bei einer Nachbarin. Wenn ich sie besuchte, tat sie immer so, als würde bald alles wieder
gut, aber wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Das waren wirklich schlimme Zeiten. Ich weiß noch, dass wir im Krankenhaus oft Karten gespielt und Trickfilme im Fernsehen angesehen haben. Manchmal saßen wir nur da und hielten uns die Hände. Ein Mal haben wir schrecklich über meinen komischen Geschmack gelacht, und sie sagte, das müsste ich wohl von ihr geerbt haben, denn auch sie liebte riesige Hüte mit vielen künstlichen Blumen drauf. Cindy griff nach der gerahmten Fotografie auf ihrem Nacht tisch, dem leicht unscharfen Schnappschuss Von einer jungen Frau in enger Dreiviertelhose, einem Oberteil mit Trägern, mit blumengeschmücktem Hut und glücklichem Lächeln. Mama mit neunzehn, im Arm ihre geliebte Gibson-Gitarre. Über das alles kann ich nicht sprechen, weil es noch so wehtut, aber wenn irgendjemand das hier liest, soll er wissen, dass Aurelia Scarborough Danbury die liebste und beste Frau der Welt war. Nach Mamas Tod kam ich zu Tante Stephenson, zu Onkel Henry und zu meinen Stiefcousinen Maura und Stephanie. In einer kleinen Stadt, wo jeder jeden kennt, selbst wenn manche in großen feinen Häusern wohnen wie Tante S. und andere in Wohnwagen, wie wir es taten, wissen alle, wer zu wem gehört. Als die vom Jugendamt sagten, wenn die Stephensons mich nicht aufnehmen würden, müsste man eine Pflegefamilie für mich finden, hatte die arme Tante S. wohl keine Wahl. Ihr wäre sicher eine Entschuldigung eingefallen, aber die Leute hätten darüber geredet, und anständige Menschen sorgen dafür, dass man nicht über sie tratscht, wie Tante S. immer sagt. Onkel Henry kommt mir mehr vor wie Familie als Tante S. Eigentlich sind sie ja gar keine richtige Familie, du weißt schon, wie ich das meine. Wegen meiner Haare nennt er mich immer Radieschen, und zu Weihnachten schenkt er mir Schokolade und einen Zwanzigdollarschein. Die Hälfte spare ich, vom Rest kaufe ich Geschenke. Aber die Schokolade ist immer schon alle, bevor die Feiertage zu Ende sind. Steff und Maura essen gern Süßes. Ich bin nicht gern bei ihnen, weiß aber nicht, wo ich sonst hin soll. Und wenn man erst zwölfeinhalb ist, nimmt einen niemand ernst. Maura und Steff sind eigentlich ganz nett. Maura ist zwei Jahre älter als ich, Steff dreieinhalb. Wir haben wenig gemeinsam. Da ich kleiner bin als sie, muss ich mir wenigstens keine Gedanken über Kleidung machen. Maura kauft ihre Jeans immer eine Nummer zu klein, und wenn Tante S. sie damit erwischt, bekomme ich sie. Genauso ist es mit den T-Shirts. Ganz eng. Maura zeigt gern ihren Busen. Aber ich habe noch keinen. Jeans mag ich eigentlich nicht besonders. Im Sommer sind sie zu warm, im Winter zu kalt. Aber sie sind praktisch. Steff trägt nie Jeans. Sie gibt mir die Kleider, die sie nicht mag. Die muss man reinigen lassen, und das kostet Geld. Zum Glück kann ich ganz gut nähen und Flecke rauswaschen. Die Sachen sind immer fleckig, wenn ich sie bekomme. Dir ist vielleicht schon aufgefallen, dass ich gern dies und jenes erzähle. Mama sagte immer, ich hätte einen Verstand wie ein üppiger Blumengarten. Und dass unter all dem Unkraut auch Gutes wächst. Um das mal zu sagen: Ich bin Tante S. wirklich dankbar. Darum kann ich auch nicht einfach weglaufen und alleine leben, auch wenn ich es noch so gern möchte. Oh, wie oft war Cindy versucht gewesen, davonzulaufen! Aber bald würde sie es wirklich schaffen. So, liebes Tagebuch, jetzt kommt etwas Schwieriges. Es betrifft etwas, was Tante S. schon immer wusste, was ich aber erst erfuhr, nachdem ich Mamas Tagebuch gelesen hatte. Darum schreibe ich auch selbst eins, damit meine Kinder und Enkel wissen, was los war. Ich bin keine richtige Danbury. Mein leiblicher Vater war Pilot beim Militär und stürzte vor meiner Geburt bei einem Aufklärungsflug ab. Mama sagt, sein Name war Bill Jones. Er stammte von irgendwoher in Virginia. Als Daddy Mama heiratete, gab er mir seinen Namen. Nur darum nahm Tante S. mich
schließlich bei sich auf. Onkel Henry hatte nichts dagegen. Er trägt immer einen Anzug mit Weste, geht jeden Morgen ins Büro und kommt nachmittags, um eine Zigarre zu rauchen, was zu trinken und ein Schläfchen zu machen. Maura sieht ihm ähnlich, ist aber nicht so nett wie er. Seufzend legte Cindy das Tagebuch beiseite und schaute aus dem Fenster zum gegenüberliegenden Haus. Hitch würde bald kommen, John Haie Hitchcock, der Mann ihrer Jungmädchenträume. Vermutlich hatte sie deshalb ihr altes Tagebuch hervorgekramt. Als Mac ihr erzählte, dass Hitch sich bereit erklärt hätte, Trauzeuge bei seiner Hochzeit zu sein, war Cindy ganz anders ge worden. Sie würde vor Scham sterben, wenn er das je heraus fände, aber vermutlich würde er sie gar nicht wieder erkennen! Er hatte sie damals kaum beachtet. Cindy dagegen sah ihn noch vor sich, als sei es gestern gewesen. Natürlich würde er sich verändert haben, war vielleicht sogar verheiratet - obgleich Mac nichts von einer Ehefrau gesagt hatte. Schließlich hatte Cindy sich seit diesen schwärmerischen Ta gen ebenfalls verändert. Nicht sehr, aber zumindest war sie nicht mehr platt wie ein Bügelbrett. Cindy fuhr mit der Hand über das abgegriffene Tagebuch und schaute bei ihrem 18. Geburtstag hinein. Onkel Henry hat mir ein Auto geschenkt! Ich kann es kaum glauben! Nun muss ich all die Erledigungen montags nicht mehr mit dem Fahrrad machen. Vielleicht sollte ich an die Tür ein Reklameschild hängen. Zum Beispiel: „Cindy erledigt alles schnell, zuverlässig und billig". Tante S. würde einen Anfall kriegen. Noch vor ihrem nächsten Geburtstag war Onkel Henry gestorben. Cindy vermisste ihn noch immer. Ich glaube, Tante S. weiß es, hatte sie damals geschrieben. Der Grund dafür, dass sie nichts sagt, ist der, dass sie mir dann Geld für all das geben müsste, was ich brauche. Ich habe mir große Mühe gegeben, mich all die Jahre selbst zu versorgen, indem ich mich nützlich mache. Aber eins sage ich dir, liebes Tagebuch, ich werde nie mehr zulassen, dass Maura oder Steff noch mal eine Verabredung für mich arrangieren. Lieber ende ich als alte Jungfer! Der Typ im vergangenen Monat hat mir beinahe mein Kleid zerrissen. Der von der letzten Woche hat immer schmutzige Witze erzählt und sich halb tot gelacht, wenn ich rot wurde. Und der von gestern Abend war so langweilig, dass ich beinahe eingeschlafen wäre, als er mir von jedem Job erzählte, den er mal gehabt hat, vom Tütenträger bis zum Produktmanager. Ich bin weder reich noch aus gutem Haus oder besonders hübsch, aber ich verdiene Besseres als das. Das gehört zu den Dingen, die sich nicht geändert haben, dachte Cindy und legte das Tagebuch zur Seite. Sie verdiente etwas Besseres. Sobald Steffs Hochzeit vorbei wäre, würde sie sich eine winzige, billige Wohnung suchen und aus ihrem Montags-Job einen Full- Time-Job machen, so lange, bis sie genug gespart hatte, um ihre Traumkarriere zu starten. Eines Tages würden die Frauen wieder große, wunderbare, romantische Hüte tragen. Und wenn es dazu kam, wollte sie bereit sein! Vorausgesetzt, sie hätte nach dieser verdammten Hochzeit noch genug Kraft dafür übrig.
1. KAPITEL John Haie Hitchcock legte den Hörer auf und fluchte leise vor sich hin. Wieso hatte er bloß zugesagt! Er hatte sich bisher immer erfolgreich bemüht, sich von Hochzeiten fern zu halten - schon damit er nicht selbst auf die Idee kam zu heiraten. Vor allem von Hochzeiten, wo man selbst aktiv sein musste. Wie nannten die Psycho-Fritzen das noch? Abwehrmechanismus? Ja, genau das war es. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass seine Eltern sich nicht besonders leiden konnten, aber viel zu wohlerzogen waren, um es auszusprechen. Dazu kam noch, dass seine Mutter immer wieder versuchte, ihn mit einer ihrer jungen Kolleginnen zu verkuppeln. Kein Wunder, dass er solchen Widerwillen gegen die Ehe entwickelt hatte. Inzwischen konnte er ganz gut damit umgehen. Obgleich seine Eltern alles andere als begeistert waren, als er nicht Jura in Yale studierte, sondern sich für Ingenieurwesen an der Universität von Georgia entschied, war er schließlich kein Barbar. Zumindest hatte er genug Anstand, seinen tief sitzenden Widerwillen gegen Nadelstreifen, handgenähte Schnürschuhe und Engstirnigkeit zu verschweigen. Janet Haie Hitchcock, eine angesehene Bundesrichterin, war nicht mal in jungen Jahren so etwas wie eine richtige Mutter gewesen. Nachdem sie endlich nicht mehr versuchte, ihren Sohn mit einer ihrer Kolleginnen zu verkuppeln, gab sie es zum Glück auf, ihn unter die Haube bringen zu wollen. Nun bemühten sich nur seine verheirateten Freunde noch darum. Aber damit konnte er inzwischen umgehen: Immer höflich lächeln, und dann nichts wie weg! Nachdem er seine Kindheit unter der Herrschaft dominierender Eltern verbracht hatte, in einem Haus, das die Wärme eines Kühlschranks besaß, würde er keinesfalls in die Falle der Ehe tappen! Macs Anruf hatte ihn in einem schwachen Moment erwischt. Hitch war gerade von der Beerdigung eines Klassenkameraden zurückgekommen, der mit nur dreiunddreißig an einem Herzinfarkt gestorben war. Nachdem Hitch einen Drink genommen hatte, war er eine m seltenen Anfall sentimentaler Gedanken erlegen. In dem Moment hatte Mac MacCollum ihn angerufen, ihm von seiner bevorstehenden Hochzeit erzählt und ihn gebeten, sein Trauzeuge zu sein. „Nein, danke, mein Freund. Du hast wohl vergessen, dass ich gegen Hochzeiten allergisch bin." „Ach, komm schon, Hitch, du bist mein bester Freund! Ich kann doch keinen anderen bitten!" Die beiden Männer hatten vier Jahre lang zusammen an der Universität von Georgia studiert. Einen Tag nach dem Abschluss waren Mac und Hitch dann gemeinsam zur Armee ge gangen. Anschließend hatte Mac ein halbes Dutzend Karrieren angesteuert, während Hitch nach Harvard ging, um sich dort weiter zu qualifizieren. Während all der Zeit waren sie immer in Verbindung geblieben - was allerdings vor allem Mac zu verdanken war. „Hör mal, Mac", hatte Hitch gesagt, „herumzujammern gehörte noch nie zu deinen Eigenschaften." „Ich jammere nicht herum, ich bitte dich. Das hat mehr Würde als herumzujammern." „Kenne ich die Glückliche?" „Erinnerst du dich an Steffie Stephenson? Die im Haus neben uns wohnt?" Hitch würde nie die vielen Wochenenden während der College-Zeit vergessen, die er in dem gemütlichen alten Haus der MacCollums verbracht hatte. Dort war es immer laut, herzlich und chaotisch zugegangen. Und es hatte nach leckerem Essen gerochen - ganz im Gegensatz zu seinem Elternhaus. Hitch erinnerte sich auch an die Stephenson-Schwestern im Nachbarhaus, an Stephanie und ... hieß sie Mary? Marnie? Na, irgend so was. Gab es da nicht noch eine dritte Schwester? Die hatte Hitch nie kennen gelernt, aber er
sah ein rothaariges Mädchen vor sich, das immer im Hintergrund gewesen war. „Ja, ich erinnere mich an Steff", sagte er und nahm einen Schluck von seinem Drink. „Ich gebe dir allerdings einen Rat, Mac: Verschwinde, bevor es zu spät ist. Frauen wollen verheiratet sein, Männer nicht! Frag nicht nach Logik, denn die gibt es dabei nicht. Glaub mir, und mach dich aus dem Staub." Aber Mac hatte ihn überredet. Der gute alte Mac mit seinen großen Ohren, seinen zwei linken Füßen und seiner Fröhlichkeit. Hitch hatte nach seiner zögerlichen Zusage aufgelegt und eine Weile darüber nachgedacht, wie Mac und Steff wohl zusammengekommen waren. Wenn sie sich nicht unheimlich verändert hatte, dann war Stephanie Stephenson eine hohle, arrogante Schnepfe mit wunderhübschem Gesicht und wenig Hirn. Sollte sie etwa begriffen haben, dass Mac, auch wenn er sich oft etwas albern benahm, einen wunderbaren Charakter hatte? Oder hatte Mac es mit viel Glück und harter Arbeit vielleicht geschafft, aus dem heruntergekommenen Ski-Hotel, das er vor Jahren gekauft hatte, eine Hotelkette zu machen, die sich bis nach West-Virginia zog? Hitch trank sein Glas leer, stand auf und streckte sich. Er hatte in den vergangenen Jahren schwer gearbeitet, um aus seinem eigenen Unternehmen für Industriedesign, JHH Designs, in Richmond, Virginia, eine Firma mit großer Zukunft zu machen. Er konnte mal eine Pause gebrauchen, und wo würde er die besser verbringen als in der Familie, die ihn wie einen eigenen Sohn behandelt hatte? Auf dem Weg dorthin würde er bei seinen Eltern vorbeikommen. Vielleicht sollte er mal bei ihnen reinschauen, um die Be ziehung zu glätten. Er hatte sie seit gut einem Jahr nicht mehr gesehen, und die letzte Begegnung war nicht gerade angenehm gewesen. Seine Eltern waren beide Richter und äußerst streng. Diese Eigenschaft hatte Hitch zu spüren bekommen, sobald er alt ge nug war, in dem dunklen, alten Haus klebrige Fingerspuren auf einer polierten Oberfläche zu hinterlassen. Seine Mutter, eine zierliche Person mit eisgrauem Haar, das sie immer zu einem Knoten aufgesteckt trug, konnte mit einer hochgezogenen Augenbraue mehr erreichen als andere mit einem geladenen Gewehr. Schon sein Großvater väterlicherseits war Richter am Obersten Bundesgerichtshof gewesen. Jedermann erwartete natürlich von Hitch, dass er die gleiche Laufbahn einschlüge, aber er hatte seine eigenen Vorstellungen. Das nahm man ihm allerdings so übel, dass es zu einem riesigen Problem geworden war. Hitch, der von beiden Seiten genug Dickköpfigkeit mitbekommen hatte, gewann zwar bei keinem Streitgespräch mit seinen Eltern, hatte aber gelernt, den Scha den dadurch zu begrenzen, dass er seinen Mund hielt und schnellstmöglich das Haus verließ. Vielleicht war die Ursache für seinen beruflichen Ehrgeiz ja der Wunsch, seinen Eltern zu beweisen, dass auch er es schaffen würde? „Zwei Dinge will ich niemals machen", murmelte Cindy, während sie einen Stapel feines Geschirr in die Küche trug. „Einen Party-Service haben oder Hochze iten arrangieren." Sie hatte bei einer der Tassen den Griff abgebrochen und kostbare Zeit am Telefon zugebracht, um jemanden zu finden, der den Schaden beheben könnte. Bedauerlicherweise kostete das eine Menge Geld, und die Fahrt nach Greensboro würde auch noch dazukommen. „Cindy, hast du den Floristen angerufen?" „Der kommt morgen Vormittag, um alles zu arrangieren." „Cindy, ist mein Kleid aus der Reinigung zurück?" „Es ist in etwa einer Stunde fertig." „Cindy, du meine Güte, ich hatte dir doch gesagt, dass mein Koffer gelüftet werden muss, er riecht ganz muffig!" „Es sah heute Morgen nach Regen aus, deshalb hielt ich es für besser, noch zu warten. Wenn es nicht aufklart, lüfte ich dein Gepäck in meinem Zimmer, da steht es jedenfalls trocken." Unerträglich heiß war es dort, da ihr Zimmer keine Klimaanlage hatte.
Die Hochzeit würde erst in ein paar Tagen stattfinden, aber schon waren die ersten Übernachtungsgäste da, unter anderem zwei Brautjungfern, ehemalige Schulkameradinnen von Steff. Cindy hatte sich die Hacken abgelaufen, um alle Zimmer vorzubereiten und die Gläser sowie das Geschirr für das Fest per Hand abzuwaschen. Da es für Tante S. das erste Mal war, dass sie eine Hochzeit vorbereitete, wurde aus der ehemals eher schlicht geplanten Haustrauung nun allmählich ein riesiger Zirkus mit allem Drum und Dran - was vor allem Cindy auszubaden hatte. Daneben musste sie natürlich auch die normal anfallenden Arbeiten erledigen, so dass sie bereits völlig erschöpft war. Wenn in drei Tagen die Hochzeit überstanden wäre, müsste sie hinterher alles wieder aufräumen und in Ordnung bringen. Wäre sie nicht an so viel Arbeit gewöhnt gewesen, wäre sie vermutlich durchgedreht. „Irgendwann", murmelte sie, während sie ein zerknülltes Einwickelpapier unter dem Tisch im Flur hervorzog. Irgend wann hätte sie genug gespart, und dann würde ihr das alles nur noch wie ein böser Traum vorkommen. Aber bis dahin war es nützlich, die Geduld eines Elefanten zu haben, um das Ganze zu überstehen. „Cynthia, was hast du nur wieder mit den Rosen angestellt!" rief Lorna Stephenson aus einem der hinteren Zimmer, wo sie gerade ihre Kopfschmerzen mit einem in Lavendelwasser ge tränkten Tuch und einem Glas Brandy kurierte. „Nichts, Ma'am. Ich glaube, Charlie hat vorhin draußen Ball gespielt. Vielleicht sollte man mal mit seiner Mutter sprechen." Wenn es nach Cindy gegangen wäre, hätte sie alle Blumen aus dem Garten geholt und die Hochzeitsdekoration selbst ge macht. Aber Tante S. zog das formelle, starre Blumenarrange ment des örtlichen Floristen vor. Cindys Idee, alles, was blühte, miteinander zu kombinieren und durcheinander zu stecken, mochte sie nicht. Noch drei Tage. Das Haus erstrahlte bereits. Cindy war auf einmal merkwürdig zu Mute. Aber vielleicht lag ihr das halbe Sandwich im Magen, das sie im Vorbeigehen zum Mittag gegessen hatte., Nein, bei Verdauungsproblemen brannte ihr der Magen. Jetzt dagegen hatte sie wehmütige Gefühle. Schließlich war eine Hochzeit ja ein Meilenstein. Und außerdem war sie mit ihrer Stiefcousine, die nun das Haus verlassen würde, praktisch aufgewachsen. Auch wenn sie sich nicht besonders verstanden, würde Cindy sie doch vermissen. Das Hochzeitskleid. Ach ja, daran musste noch irgendwas gemacht werden, fiel ihr ein, als sie die Hintertreppe hinaufeilte. Es sah noch gar zu langweilig aus. „Steff, was dein Hochzeitskleid betrifft", sagte sie, als sie atemlos ins große Eckzimmer von Tante S. und Onkel Henry stürmte, „dem fehlt noch etwas, findest du nicht auch?" „Wage es ja nicht, mein Hochzeitskleid anzurühren! Das ist von einem erstklassigen Designer!" Steff behauptete, es sei elegant, Cindy fand es eher triste. „Wir brauchen ja nicht viel", schlug sie vor, „nur ein bisschen Spitze am Hals oder so. Oder ich habe noch weiße Samtrosen, ganz feine, nicht welche aus einem Ramschladen. Ich könnte sie dir anstecken ..." „Nein!" „Aber du musst doch etwas ,Altes' und etwas ,Geliehenes' an dir haben, das ist bei uns schließlich Tradition. Vielleicht wür den die Samtrosen auch schön an der Taille aussehen. Dann brauchtest du nicht mal einen Brautstrauß." Steff rollte mit den Augen, und Cindy war verlegen. Sie wusste, was alle von ihren Kreationen hielten, auch wenn es nur Probeentwürfe waren und die richtigen, wenn sie erst Geld ge nug dafür hätte, viel schöner aussehen würden. „Ich wollte dir nur anbieten zu ... helfen. Es ein bisschen aufzupeppen, verstehst du?" Vermutlich war es gut, dass in diesem Moment die Stimme von Tante S. durchs Treppenhaus schrillte: „Cinndiiieee!"
„Ich komme!" Es ging mal wieder um den sechsjährigen Charlie. Er hüpfte und sprang gerade die Treppen hinunter und war schnell wie ein Wiesel durch die Tür ins Freie gerannt, bevor Cindy ihn packen konnte. „Geh mit ihm raus, und komm erst wieder, wenn er völlig erschöpft ist!" ordnete Tante S. an, für die Kinder völlig lautlos und unsichtbar zu sein hatten. Cindy hatte beinahe Mitleid mit Charlie. Sie war kaum älter als er gewesen, als sie ihre Tante kennen gelernt hatte. Alt ge nug, um zu erkennen, dass in dem schwarzen Seidenkleid ein Drachen steckte, aber nicht alt genug, um damit umgehen zu können. Und seitdem hatte sich nicht viel geändert. Sie spielte Ball mit Charlie, bis der mal wieder im Rosengarten landete. Danach wechselte sie lieber zum Spiel „Welche Farbe hat das Auto, das als Nächstes vorbeifährt". Aber da es zu dieser Tageszeit wenig Verkehr gab, fand Charlie das Spiel bald langweilig. „Hey, ein Eichhörnchen! Ich fange es, tu es in eine Schachtel und nehme es mit nach Hause!" rief er. „Charlie, lass das lieber, Eichhörnchen haben scharfe Zähne und können ... Charlie!" Der Wagen kam so schnell um die Kurve, dass keine Zeit mehr blieb zum Nachdenken. Cindy flog praktisch hinter ihm her, packte den Jungen und rollte sich mit ihm in die Hecke auf der anderen Seite der Straße. „Sie hirnloser Idiot!" schrie sie dem Fahrer des Luxuswagens zu, der nun mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Cindy lag noch fast atemlos über dem Körper des Kindes, als die Autotür geöffnet wurde und zwei lange Beine in Khakihosen zum Vorschein kamen. „Hey, du tust mir weh!" brüllte Charlie. Jetzt wusste sie wenigstens, dass er noch am Leben war. Schnell untersuchte Cindy seine Arme und Beine, bevor sie ihn aufstehen ließ. „Du wartest hier, rühr dich ja nicht vom Fleck!" Ihr Ton war so streng, dass Charlie schluckte und gehorsam nickte. „Du hast das Eichhörnchen verscheucht", klagte er dennoch. Er war blass und den Tränen nahe, wollte aber nicht zeigen, wie sehr er sich erschrocken hatte. Cindy, noch auf allen vieren, war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, den Jungen in die Arme zu nehmen oder ihn ordentlich auszuschimpfen. „Ein Glück!" schimpfte sie, „das Eichhörnchen hätte dir vermutlich den Finger abgebis sen." Mühsam kam sie auf die Beine und rang nach Luft. Sie empfand einen brennenden Schmerz. Trotz der Jeans, die sie trug, hatte sie offenbar Schürfwunden an Knien und Händen. „Du kleiner Dummkopf, fällt dir nichts Besseres ein, als auf die Straße zu rennen, ohne dich vorher umzuschauen?" erklang eine tiefe Männerstimme. „Warte, beweg dich nicht, vielleic ht bist du verletzt." Charlie begann auf einmal zu weinen. Also schluckte Cindy herunter, was sie sagen wollte. Der unvorsichtige Fahrer berührte sie an der Seite. „Lassen Sie das!" giftete sie ihn an. „Fällt Ihnen nichts Besseres ein, als in einer ruhigen Wohngegend wie ein Irrsinniger herumzurasen?" Mit funkelndem Blick ging sie auf ihn los. „Bleiben Sie stehen! Oje, Ihre Hände sind ganz blutig!" Er packte ihre Handgelenke und schaute sie sich genauer an. Cindy brannten die Handflächen. „Sie haben ..." Sie unterbrach sich, und schaute den Mann genauer an. Das durfte doch nicht wahr sein! Doch nicht er! „Sie haben Recht, ich bin zu schnell gefahren, tut mir Leid." „Sagen Sie das nicht mir, sondern dem armen Kind, das Sie beinahe überfahren hätten!"
„Können Sie das Knie beugen?" Cindy hatte es schon probiert. Es brannte zwar wie Hölle, aber es ging. „Sie haben sich doch hoffentlich nicht am Kopf verletzt, oder?" Seine Stimme berührte Cindy ganz merkwürdig. Darüber vergaß sie beinahe die Schmerzen, die sie empfand. Charlie hielt sich an ihr fest. Er schniefte und wischte sich die Nase an ihren Jeans ab. Cindy warf dem Star ihrer Kinderträume einen langen Blick zu und löste sich aus Charlies Umklammerung. So hatte sie sich das Wiedersehen nicht vorgestellt! Sie wollte ein schönes Kleid tragen, die Haare geflochten haben und sorgfältig geschminkt sein, damit die Sommersprossen überdeckt waren. Stattdessen stand sie hier in abgetragenen Jeans, zitterte von der überstandenen Aufregung und war ebenso erschrocken wie verlegen. „Verdammt noch mal!" schimpfte sie, nahm Charlie auf den Arm und ging über die Straße zurück. Gehen konnte man das eigentlich nicht nennen. Charlie war weit schwerer, als er aussah, und Cindys Hüfte schmerzte. Mit all den Hochzeitsvorbereitungen hatte sie ohnehin genug Strapazen gehabt, und der Satz über die Straße sowie der heftige Sturz taten ein Übriges. Hitch starrte der Frau hinterher, die er beinahe überfahren hatte. Irgendwie kamen ihm die rote Mähne und das energische kleine Kinn bekannt vor. Aber er wusste nicht, woher. Kein Wunder, war es doch Jahre her, dass er zuletzt in Mocksville ge wesen war. Sie hatte es ihm aber gegeben! Und völlig zu Recht, denn Hitch war viel zu schnell gefahren. Der kurze Besuch bei seinen Eltern steckte ihm noch immer in den Knochen. Er hatte gedacht, dass er sich nach so langer Zeit nicht mehr wie ein Halb wüchsiger fühlen würde, der etwas Unverzeihliches verbrochen hatte. Der dafür verantwortlich war, dass seine Eltern sich lieber in ihre jeweiligen Zimmer zurückzogen, anstatt auch nur fünf Minuten mit ihrem einzigen Sohn zu verbringen. Irgendwann würde er es lernen, diese Versöhnungsversuche zu unterlassen. Sie hatten ja seine Telefonnummer, sollten sie ihn mal sprechen wollen. Hitch saß noch eine Weile in seinem Wagen, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er den Motor wieder anließ. Die paar Meter bis zur Auffahrt der MacCollums fuhr er im Schritttempo. Bei dem attraktiven Feuerkopf würde er sich noch entschuldigen. Wenn sie nicht so schnell reagiert hätte, als er herange braust war, hätte er den Jungen überfahren, das stand fest. So tief in Gedanken, wie er durch die Gegend gefahren war, war es ein Wunder, dass er sie nicht alle beide erwischt hatte! Er würde sich später nach der jungen Frau erkundigen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht ernsthaft verletzt war. Als sie im Haus der Stephensons verschwand, hatte sie gehumpelt. Mac wusste bestimmt, wer sie war, diese zierliche Person mit rotem Haar, blitzblauen Augen und einer scharfen Zunge. Einer der Hochzeitsgäste vielleicht. Oder ein Babysitter. Wer immer sie war, Hitch wollte sich ausdrücklich bei ihr entschuldigen. Nach den harten Jahren, in denen er schwer gearbeitet hatte, um seine Firma in Gang zu bekommen, wusste Hitch kaum noch, wie man sich entspannte. Aber die MacCollums brachten ihm das schnell wieder bei. In dem Haus, in dem es ausgesprochen locker zuging, gab es keine festen Regeln. Die Mahlzeiten wurden jedoch immer gemeinsam in der großen Küche eingenommen. Die Familie wollte erst mal wissen, was genau ein Industriedesigner machte. Dann erkundigten sie sich, wie es Hitchs Familie in Lynchburg ging und wann er denn heiraten und eine Familie zu gründen gedächte. Hitch wusste, dass man ihn das nicht aus Neugier, sondern aus wirklichem Interesse fragte. Das freundliche Verhör wurde immer dann unterbrochen, wenn ein Freund oder
Nachbar auftauchte. Der eine brachte eine Wassermelone, der andere eine Schüssel reifer Tomaten oder einen Korb voller Feigen, und natürlich wurde über die Hochzeit gesprochen und über Macs Ski-Hotels, wo das glückliche Paar leben würde. Mac verbrachte so viel Zeit wie möglich bei seiner Verlobten im Haus der Stephensons. Er war ganz vernarrt in sie. Steff hielt sich weit seltener im Haus der MacCollums auf. Hitch wünschte beiden das Beste, konnte sich aber kaum vorstellen, dass sie wirklich eine anhaltende glückliche Beziehung führen würden. „Sag mal, wer ist eigentlich der Rotschopf aus der Nachbarschaft?" fragte er Mac, nachdem der letzte Besucher gegangen war. „Wenn ich mich recht erinnere, hatte Mary oder hieß sie Marnie? - doch schwarze Haare." „Du meinst Maura. Ja, das stimmt. Aber jetzt hat sie blonde Strähnen. Wenn du mich fragst, fand ich es vorher besser, aber du weißt ja, wie Frauen sind." Das wusste Hitch eigentlich nicht. Jedenfalls nicht besonders, gut. „Ein Rotschopf", wiederholte er, „nicht sehr groß. Große blaue Augen, Sommersprossen, energisches Kinn und eine scharfe Zunge." Mac lachte. „Das muss Cindy sein. Die Arme steht unter Volldampf, seitdem Mrs. S. Steff dazu überredet hat, die Trauung im Hause abzuhalten, anstatt dafür die Kirche und den Club zu benutzen." Daher also die enorme Aktivität im Nachbarhaus und die vie len Lieferwagen, die kommen und wieder fahren, ging es Hitch durch Kopf. „Cindy wie? Cindy was?" „Danbury. Lorna Stephenson war eine Danbury, bevor sie heiratete. Ich glaube, Cindy ist eine Nichte oder so. Sie kam in die Familie, als sie noch ziemlich klein war." „Ah, deshalb kam sie mir irgendwie bekannt vor", meinte Hitch. „Ich glaube, ich habe sie nie richtig kennen gelernt. Und erst gestern habe ich sie zum ersten Mal aus der Nähe gesehen, als sie mir praktisch vors Auto lief." Er beschrieb kurz den Vorfall. „Du konntest sie gar nicht kennen lernen. Sie war damals noch ein Kind und nicht alt genug, um zu unserer Clique zu gehören. Außerdem hat Mrs. S. sie immer ziemlich beschäftigt. Das tut sie übrigens noch immer. Ich mag Cindy. Sie bringt mich zum Lachen. Und du weißt, dass ich Humor sehr schätze." Cindy. Nein, er konnte sich nicht an sie erinnern. Er überlegte, wie alt sie wohl sein mochte. Zwanzig mindestens. Beim ersten Eindruck hatte er sie für ein Kind gehalten. Als sie jedoch ihr herzförmiges Gesicht hob, so dass man all die Sommersprossen sehen konnte, und ihn mit ihren blauen Augen wütend angefunkelt hatte, war ihm klar, dass sie älter sein musste, als sie aussah. „Ich muss mich unbedingt bei ihr entschuldigen. Vielleicht habe ich ja am Samstag beim Fest Gelegenheit dazu."
2. KAPITEL Im Hause des Bräutigams feierte man schon im Voraus von morgens bis abends. Einige Gäste kamen spontan zum Frühstück, andere schneiten spät am Abend auf ein Bier herein. Die freundlichen, umgänglichen MacCollums kannten jeden in der Stadt. Pop MacCollum war der Fußballtrainer der High School, und zu Mama Mac, wie man sie nannte, kamen alle, die Hilfe brauchten oder einfach jemanden, der mal geduldig zuhörte. Hitch war von dem unerfreulichen Besuch bei seinen Eltern und dem Beinaheunfall mit der Rothaarigen und dem Jungen ziemlich angespannt. So vermied er es anfangs, sich dem Trubel auszusetzen. Am zweiten Tag hatte er sich jedoch wieder so weit gefangen, dass er die ganze Situation zu genießen begann. Im Moment wurde gerade Krocket gespielt. Hitch konnte von seinem Korbstuhl im Schatten einer Magnolie aus beobachten, wie Maura die Kugel heimlich mit dem Fuß ein wenig weiterbeförderte. Steff, strahlend in weißen Hosen, einer weißen Seidenbluse und weißen hochhackigen Sandaletten, war weit besser im Posieren als im Spielen. Mac folgte ihr mit schwärmerischem Blick, wie sie sich im Sonnenschein bewegte, so dass ihr hellblondes Haar mit einem Strahlenkranz umgeben zu sein schien. „Sie ist doch toll, oder? Ich kann es noch immer nicht glauben, dass sie meine Frau wird." „Ja, sie hat was", meinte Hitch vage. „Sag mal, wo ist eigentlich Cindy?" „Wer? Ach, denkst du noch immer daran? Hey, mach dir keine Gedanken darüber, Cindy ist nicht nachtragend." „Trotzdem, ich möchte mich bei ihr entschuldigen. Und das, was ich jemandem schulde, erledige ich immer gleich." „Weißt du, was ich glaube?" Mac war trotz der Augusthitze am frühen Nachmittag schon bei seinem dritten Bier. „Ich glaube, du hast dich ein bisschen in die kleine Sommersprosse verguckt!" „Nein, ich habe ein schlechtes Gewissen", widersprach Hitch. „Ich habe ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt, und wenn sie nicht mit dem Kind zur Seite gehechtet wäre, hätte ich den Kleinen überfahren." „Ach, nimm es nicht so tragisch. Cindy ist daran gewöhnt, dass man sie nicht immer nett behandelt. Nicht dass Miss S. sie jemals anbrüllt, aber die Frau macht einem Beine, ohne auch nur die Stimme zu erheben." Hitch stellte die leere Flasche auf ein Tischchen neben dem Stuhl. „Wie die Mutter, so die Tochter, sagt man, Mac. Noch ist Zeit, alles abzublasen." Mac seufzte. „Nein, das geht nicht. Das war schon unmöglich seit dem Tag, an dem Steff geboren wurde. Sie ist für mich ge macht, Es hat nur eine Ewigkeit gedauert, um ihr das ebenfalls klarzumachen." Auf einmal reckte Hitch den Hals. „Da ist sie ja", murmelte er und erhob sich aus dem Stuhl. Cindy entdeckte, wonach sie gesucht hatte, und eilte über den Rasen. „Steff, du wirst am Telefon verlangt. Es ist Wayne, der wegen des Friseurtermins anruft." „Okay, wo ist es?" „Wie? Ach so, das Mobiltelefon. Entweder hat irgendjemand es draußen liegen gelassen und die Batterien sind leer, oder Charlie spielt damit." „So ein Mist!" schimpfte die elegante Blonde wenig elegant. „Gibt es ein Problem?" fragte eine tiefe Männerstimme. Cindy drehte sich so schnell um, dass sie ins Stolpern geriet. Hitch versuchte, sie aufzufangen, aber sie machte sich sofort wieder los. Es war schon schlimm genug, ihn überhaupt wieder zu sehen - und dann auch noch so nahe, dass sie die feinen Fältchen um seine Augenwinkel erkennen konnte und die silbrigen Fäden, die sich durch sein dichtes, schwarzes Haar zogen ... Allein die Wärme seiner Hand an ihrem Arm löste ein Gefühl in ihr aus, als zittere ihr
Herz. „Nein, kein Problem", brachte sie mühsam heraus. Sie trat zur Seite, damit Steff ihr auf dem von Hecken gesäumten Weg vorausgehen konnte. Aber Steff hatte den Anruf ganz vergessen. Sie schaute Hitch unter ihren langen Wimpern eindringlich an. Dann fuhr sie sich auf eine Weise durchs Haar, wie Cindy es, auch wenn sie es noch so oft vorm Spiegel probiert hätte, niemals hinbekommen wür de. „Cindy, sag Wayne, der Termin steht." „Ich weiß, aber er lässt fragen, ob du ihn vielleicht auf Sams tagvormittag verlegen könntest." „Sag ihm, dass das nicht geht. Schließlich heirate ich Samstag, und die Generalprobe ist Freitagabend. Wenn er mir die Haare nicht am Freitagnachmittag macht, dürfte es ihm Leid tun!" Hitch bemühte sich Mac zuliebe, kein Urteil zu fällen. Er sah, wie die kleine Rothaarige nur die Schultern zuckte. Wayne tat ihm Leid. Und wenn Hitch ein wirklicher Freund wäre, müsste er diese blonde Hexe entführen und so lange als Geisel halten, bis Mac wieder zu Verstand gekommen war! „Cindy, warten Sie einen Moment", rief er ihr hinterher, als sie davonging. „Keine Zeit, das Bügeleisen ist noch an!" Sie hatte ihren Stolz. „Ich halte Sie wirklich nicht lange auf!" Aber Cindy war schon verschwunden, und nachlaufen würde er ihr nicht. Maura kam herangeschlendert. Steff winkte sie weg, seufzte und strich sich wieder übers Haar. „Krocket ist ein so kindliches Spiel, nicht? Ich weiß gar nicht, warum ich da mitmache." Hitch hörte, wie die Seitentür des Nachbarhauses sich leise schloss. Wieder eine verpasste Gelegenheit. Wieso machte er sich eigentlich Gedanken darüber? Sobald Mac ihm gesagt hatte, wer Cindy war, hätte er hinübergehen und sich entschuldigen sollen. Dann wäre jetzt alles erledigt und vergessen. Nun ja, vergessen vielleicht nicht. Allmählich kamen Erinnerungsfetzen von damals hoch. Ein kleiner Rotschopf, der sehnsüchtig zu ihnen herüberschaute, wie ein Kind, das vorm Schaufenster eines Süßigkeitenladens stand. Damals hatte er kaum einen Gedanken an sie verschwendet, aber nun fragte er sich, wieso sie das Mädchen nie mit einbezogen hatten. Weil sie zu jung war? Sie war nur unwesentlich jünger als Steff und Maura. Aber vermutlich ziemlich schüchtern. Dabei hatte in ihren hellen Augen eben gerade so etwas wie Zorn aufgeblitzt. Und so etwas wie Schmerz. Hitch hatte bemerkt, dass sie humpelte, und er hatte Angst, dass es möglicherweise Folge seiner wüsten Fahrweise war. Mac hatte ihn jedoch beruhigt, dass Cindy immer leicht humpelte, besonders wenn sie überanstrengt war. „Vergiss sie, Junge! Du hast ihr gleich nach dem Unfall gesagt, dass es dir Leid tut. Das muss genügen", sagte er leise zu sich selbst. Bald haben wir es geschafft, dachte Cindy erleichtert, als sie die Hintertreppe mit frischen Handtüchern und einem schweren Teetablett hinaufstieg. Sie hatte große Lust, Charlies Mutter mal zu erklären, dass man Handtücher mehr als ein Mal benutzen konnte und dass es in der Küche sowohl heißes Wasser als auch genügend Teebeutel gab. Heute Abend sollte die Generalprobe für das Fest steigen, am nächsten Morgen war die Hochzeit. Und dann würde endlich alles vorbei sein. Die Gäste würden wieder abreisen, und Tante S. wollte zur Erholung in die Berge fahren. Steff und Mac würden in die Flitterwochen fahren und Maura sich auf den Weg nach New York machen. Sobald Cindy ihren Wagen reparieren lassen konnte, könnte sie wieder ihren MontagsJob machen, für den sie Bargeld und nicht nur Kost und Logis bekam. In weiteren sechs Monaten könnte sie ihr Sparziel erreicht haben. Allerdings nur, wenn der neue Auspuff nicht zu teuer war. Und dann würde sie endlich Mocksville verlassen und die Welt
erobern! Nach ein paar Minuten, in denen sie einen eingeklemmten Reißverschluss gelöst, Handwäsche eingesammelt, ein Tablett mit schmutzigem Geschirr beladen und einen leeren Pizzakarton aus einem der Gästezimmer entsorgt hatte, eilte Cindy die Vordertreppe hinunter. Die hintere Treppe war so steil, dass Cindy sie nach Möglichkeit mied, auch wenn Tante S. es nicht gern sah, wenn sie mit schmutzigem Geschirr oder zerknüllter Wäsche vorne hinunterging. „Hallo", grüßte eine warme Stimme, als sie schon fast unten war. „Steff ist nicht da, aber Maura wird irgendwo sein." Maura war immer in der Nähe, wenn sie eine Möglichkeit hatte, Hitch zu sehen. Cindy hatte gehört, wie Steff, Maura und Steffs Freundin am Vorabend über ihn gesprochen hatten. Die einhellige Meinung über ihn war die, dass er ein toller Mann und ausgesprochen sexy war. „Kommen Sie, lassen Sie mich das Tablett nehmen." „Nein, danke, nicht nötig." „Sie könnten hier einen Speiseaufzug gebrauchen." „Ach, Sie meinen so einen zwischen Küche und Esszimmer? Nein, Tante S. hält nichts von modernen Sachen." „Sie hat ja auch keine Nachteile davon, oder?" Cindy lächelte kurz, aber sie verkniff sich eine Antwort. Hitch dagegen grinste ungeniert. Hatte schon jemand bemerkt, was für tolle Zähne er hatte? Und offenbar Sinn für Humor? Würden Steff und ihre Freundinnen so etwas überhaupt wahrnehmen? Cindy wusste im Detail, was die von Hitchs knackigem Hintern und seinen breiten Schultern hielten. Maura hatte ihn schon mal in Badehose gesehen. Darin sollte er noch weit besser aussehen. Sie hatten alle gestöhnt und gekichert, sogar Steff, die selten lachte und eigentlich über den Trauzeugen ihres Bräutigams nicht so denken sollte. Cindy war versucht gewesen zu erwähnen, dass er allerdings ein miserabler Autofahrer sei. Sie hatte jedoch gelernt, ihre Meinung für sich zu behalten. „Ich wollte die ganze Zeit noch mal mit Ihnen über das sprechen, was neulich passiert ist", begann Hitch, als Cindy endlich unten war. Aus solcher Nähe erschien er ihr beinahe bedrohlich. Merkwürdig, dass sie sich nach all den Jahren noch so gut an ihn erinnerte! Sie wusste noch, dass er immer sehr geduldig war mit den nervenden Kindern aus der Straße oder dass er aufzustehen pflegte, sobald Mama Mac das Zimmer betrat. Und natürlich auch, dass eine Menge Mädchen - sie inbegriffen - für ihn geschwärmt hatten. Dabei hatte er sie nicht einmal wahrgenommen. Cindy hatte für ihn geschwärmt, seitdem Mac ihn mal vom College mit nach Hause gebracht hatte. Aber das war längst überwunden. Oder? „Es tut mir Leid, aber ich habe wirklich keine Zeit, mit Ihnen zu reden. Außerdem gibt es nichts zu reden. Sie sind ein miserabler Fahrer, und ich habe ungeheures Glück gehabt, das ist alles, okay?" „Das ist nicht okay. Ich fahre normalerweise sehr besonnen, aber neulich ..." „Keine Entschuldigung. Ich sagte Ihnen schon, dass ich zu tun habe." Sie eilte an ihm vorbei in Richtung Küche. Hitch war mit wenigen Schritten hinter ihr. Wo ist denn nur Maura? überlegte Cindy. Und all die anderen? Normalerweise wimmelte es im Haus von Leuten, die alle irgendwelche Wünsche hatten. „Müssen Sie nicht Ihren Auftritt als Trauzeuge proben?" „Die Probe ist erst heute Abend." Im Anschluss daran war das Fest geplant, denn gleich nach der Trauung am nächsten Tag würde das Hochzeitspaar auf die Bermudas fliegen. „Cindy, ich möchte Sie um etwas bitten. Versprechen Sie mir, auf der Party ein Mal mit mir zu tanzen, ja? Dann sind
wir quitt." Cindy zögerte. „Ich tanze nie ..." „Man soll nie nie sagen." Hitchs Lächeln misslang, als ihm einfiel, dass es ihr vielleicht unangenehm war, dass sie hinkte. Gerade wollte er sie deshalb beruhigen, doch dann besann er sich. „Wir könnten uns auch einfach irgendwo hinsetzen und ein bisschen plaudern, vielleicht ein Glas Champagner trinken und ein Stück Kuchen essen. Wie wäre es damit?" Cindy hasste es, wenn Leute sich ihres Gehfehlers wegen schämten. Sie selbst dachte kaum daran. Und es war ihr auch egal. Nur dann nicht, wenn sie so zu Fall kam wie vor zwei Tagen. „Ich weiß das Angebot zu schätze n und würde es gern annehmen, aber ich bin zu sehr beschäftigt und kann nicht am Fest teilnehmen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit eine Hochzeit bedeutet." „Um die Organisation kümmert sich doch eine Firma, oder nicht?" „Auch Profis können nicht alles machen." Besonders nicht bei Tante S., bei der man jeden Wunsch vorherahnen musste, und bei Steff, die dauernd ihre Meinung änderte. „Ein Party-Service kümmert sich um das Abendessen, stimmt's?" hakte Hitch nach. Zufällig wusste er, dass Macs Eltern alles bezahlten, wobei sie Mrs. S. keineswegs die Schau stehlen wollten. „Ja, aber wir haben das Haus voller Gäste, die drei Mahlzeiten pro Tag erwarten, eher sieben, wenn man die kleinen Imbisse mit einrechnet. Und dann ist da noch Charlie ..." „Ach ja, ich erinnere mich. Wie geht es ihm?" „Gut. Er tobt herum wie immer. Das ist auch ein Grund, warum ich Ihr Angebot nicht annehmen kann. Trotzdem vielen Dank." Cindy schaute Hitch freundlich an und hoffte, sich taktvoll aus der Affäre gezogen zu haben. Und damit musste es auch beendet sein, denn noch so eine Begegnung mit John Haie Hitchcock in nächster Nähe würde sie nicht überstehen! Jetzt, da das Ende absehbar war, freute Cindy sich auf den Augenblick, wenn unten alle beim Essen oder beim Tanzen wären und sie dann die alte Badewanne mit den Krallenfüßen mal länger als fünf Minuten für sich haben könnte. So groß das Haus auch war, es gab nur zwei Bäder. Cindy hatte vor, ein langes Bad mit duftendem Schaum zu nehmen und den Abend gemütlich mit Lesen zu verbringen, während unten alle feierten. Der reine Luxus würde das sein. Steff steckte den Kopf in den Wäscheraum, wo Cindy Bettwäsche zusammenlegte. „Du hast ihn dazu gebracht, nicht?" „Wen habe ich wozu gebracht?" Das letzte Mal, als sie Charlie sah, hatte er gerade die Leute vom Lieferantendienst ge nervt. „Als wenn du das nicht wüsstest! Er will, dass du zum Fest kommst." „Charlie?" „Nein, nicht Charlie. Hitch! Er hat Mama erzählt, du hättest ihm einen Tanz versprochen." Cindys Herz machte einen Satz. „Das habe ich nicht! Außerdem bin ich mit einem guten Buch verabredet." „Vergiss es. Du kannst ja kurz auftauchen, ohne zu tanzen. Du sagst einfach, deine Füße täten dir weh." Steff glaubte bestimmt auch noch großzügig zu sein. „Das tun sie auch, aber darum geht es nicht. Ich habe gar nichts anzuziehen. Und ich glaube nicht, dass Tante S. glücklich wäre, wenn ich in Jeans und mit einem meiner ausgefallenen Hüte auftauchen würde." Cindy lächelte, als sie sich die Reaktion ihrer Tante vorstellte. Immerhin freute sie sich, eingeladen zu sein, auch wenn sie nicht vorhatte, die Einladung wahrzunehmen. „Hör zu, ich leihe dir ein Kleid. Du kannst ja am Rand sitzen.
Dann bist du auch verfügbar, wenn man dich für irgendwas braucht." Wenn Steff sie wirklich dabeihaben wollte, hätte Cindy darüber nachgedacht. Aber eine Einladung in letzter Minute und nur auf Drängen von jemand anders ... „Vielen Dank, Steff, aber ich möchte lieber nicht kommen." „Du lieber Himmel, das Letzte, was ich möchte, ist, dass Mama und Hitch mir im Nacken sitzen. Hör zu, ich suche irgendwas, was du anziehen kannst, und lege es auf mein Bett. Und streite nicht mit mir, ich habe keine Zeit. Außerdem weißt du ja, wie Mama ist, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen geht." Allerdings, das wusste Cindy. Es war viel einfacher, sich solchen Wünschen zu fügen, als dagegen anzugehen. „Also gut, ich hole mir das Kleid, sobald ich das nächste Mal nach oben muss." „Gut. Ist mein blauer Hosenanzug schon von der Reinigung zurück?" „In deinem Schrank. Soll ich ihn dir einpacken?" „Nein, ich glaube, der ist für die Bermudas doch nicht das Richtige. Pack mir den weißen Leinenanzug ein. Der knittert zwar leicht, aber dafür gibt es dort sicher einen Zimmerservice." Das Kleid war ein elegantes Designermodell mit passenden Schuhen, für das Steff vor Jahren ein Vermögen ausgegeben hatte. Da ihr plötzlich die Farbe nicht mehr gefiel, hatte sie es nur wenige Male getragen. Cindy hatte allerdings das Gefühl, dass ihr das kräftige Rosa auch nicht besonders stand. Anstatt den Saum umzunähen, was Spuren hinterlassen hätte, begnügte sie sich damit, die Träger zu kürzen. Als sie es gerade überprobierte, kam Steff herein, um zu fragen, in welchen Koffer Cindy ihr Schmuckkästchen gepackt hatte. „Wo wir grade von Schmuck reden, ich denke, du brauchst auch welchen, so Siehst du ziemlich langweilig aus. Ohrringe vielleicht. Bei all den Sommersprossen wäre eine Halskette sinnlos." Cindy schwieg nur. „Und versuch, irgendetwas mit deinem Haar zu machen. Du solltest dir auc h einen Termin bei Wayne geben lassen." „Vierzig Dollar plus Trinkgeld, nur für einen Schnitt? Nein, danke." Cindys Haar stellte ein großes Problem für sie dar. Selbst wenn sie sich einen Zopf flocht, lösten sich meist schon nach wenigen Minuten einzelne Locken. Und wenn sie Haarspray benutzte, sah es aus wie eine Perücke. „Ich könnte vielleicht einen Hut tragen", meinte sie. „Bloß nicht!" Über ihre Hüte machten die Stephensons sich ständig lustig, aber Cindy nahm es inzwischen nicht mehr übel. Irgendwann, versprach sie sich, eines schönen Tages ... Maura stellte ihr ein Paar Ohrringe zur Verfügung. „Steff sagte, ich soll dir diese leihen. Aber verliere sie bloß nicht, sie passen zu meinem Lieblingsring." Damit legte sie ein Paar funkelnder Ohrringe aus Perlen und Brillanten auf die Kommode und ging wieder. Offenbar hatte sie gehört, dass Hitch auf Cindys Erscheinen bei dem Fest bestand, und war deswegen verärgert. Als wenn Cindy ihr Konkurrenz machen könnte! Maura war nicht so schön wie Steff, sah aber auf ihre Art sehr apart aus. Cindy konnte mit keiner von beiden mithalten, fand sie. Für die Ohrringe brauchte man allerdings Löcher in den Ohrläppchen. Da Cindy die nicht hatte, ließ sie den Schmuck auf Mauras Kommode neben dem verschlossenen Schmuckkästchen liegen. Eilig zog sie das Kleid an und ging über die Hintertreppe nach unten in den Garten. Dort schnitt sie zwei große Rosen ab und entfernte die Dornen. Sie raffte den schweren Rock, rannte wieder nach oben und befestigte sie an dem dicken Zopf, den sie sich geflochten hatte. „So sehe ich nicht ganz so fade aus", stellte sie beim Blick in den Spiegel fest.
Vermutlich würde ohnehin niemand sie eines Blickes würdigen, jedenfalls nicht in Gegenwart von Steff, Maura und deren Freundinnen. Das Haus war inzwischen voller Gäste. Die Männer im Smoking, die Frauen trugen Abendkleider in allen Regenbogenfarben und glitzernden Schmuck. Es wurde gelacht und geflirtet. Schließlich zog Cindy die Sandaletten an, die zu dem Kleid gehörten, obgleich sie ihr ein wenig zu groß waren. Sie atmete tief durch, hob sorgfältig den Rock, um nicht auf den Saum zu treten, und ging vorsichtig die Vordertreppe hinunter. Würde Tante S. sie so akzeptieren oder womöglich gleich wieder auf ihr Zimmer schicken?
3. KAPITEL Mrs. S. war überall und überwachte mit Adleraugen die Party und das Personal, das für den Anlass angeheuert worden war. Noch bevor die Probe zu Ende war, waren die ersten Gäste angekommen. Hitch hatte beinahe Mitleid mit der Frau, die mit dem Ball und dem Abendessen im eigenen Haus einen solchen Aufwand auf sich genommen hatte. Mac tat Hitch allerdings noch mehr Leid. Aber nachdem er jahrelang in direkter Nachbarschaft zu der Drachendame und ihren Töchtern gewohnt hatte, musste er ja wohl wissen, woran er war. Mac wirkte zwar harmlos, wurde aber leicht unterschätzt. Er war, wenn es darauf ankam, weit weniger gutmütig, als man glaubte. Das geräumige Haus mit seinen vielen Zimmern hatte sich schnell gefüllt. In der Eingangshalle wurde bereits getanzt. Auch am Büfett drängelte man sich. Die Klimaanlage reichte nicht aus, so dass schon viele Herren die Krawatten gelockert und die Damen gerötete Gesichter hatten. Mac amüsierte sich großartig. Sogar die hochmütige Braut zog schließlich ihre hochhackigen Pumps aus und tanzte barfuß. Maura hakte sich bei Hitch ein. „Na, wo willst du hin?" wollte sie wissen. „Ich habe etwas vergessen", behauptete er schnell. „Wir tanzen später miteinander, okay?" Er wollte nur hinaus. Die Lautsprecher dröhnten, und der Partylärm war betäubend. Hitch wollte nach hinten in den Garten gehen, wo eine Reihe bequemer Korbstühle aufgestellt waren. Glücklicherweise ge lang es ihm, der platinblonden Brautjungfer zu entkommen, die ihn seit zwei Tagen verfolgte. Gerade war er in der Eingangshalle angelangt, als Cindy die Treppe herunterkam. Erschrocken schaute sie ihn an. Mit einer Hand hielt sie sich am Geländer fest, mit der anderen raffte sie das Kleid, das ihr nicht nur viel zu groß war, sondern farblich sowie im Stil absolut nicht zu ihr passte. Sie wirkte auf Hitch wie ein kleines Mädchen, das in das Festkleid ihrer Mutter geschlüpft war. Er ging näher zur Treppe, weil er fürchtete, sie würde wieder nach oben laufen. „Cindy?" Sie nickte kurz und ging weiterhin vorsichtig die Stufen hinunter. „Hallo", sagte er leise, als sie fast unten war. Cindy trug hochhackige Sandaletten mit Glitzerriemchen, die ihr nicht recht zu passen schienen. Genau wie das Kleid. „Ich habe schon auf dich gewartet." Das war ein taktischer Fehler. Selbst im schwachen Licht des Kronleuchters sah er trotz der Sommersprossen, dass Cindy erst blass, dann rot wurde. „Du siehst sehr hübsch aus", sagte er ga lant. Das stimmte sogar - wenn man sich die Verkleidung wegdachte. „Vielen Dank", entgegnete sie ernst. „Hört sich an, als wenn die Party schon voll im Gang ist, dabei ist der offizielle Anfang doch erst um acht." „Heutzutage schert sich niemand mehr um festgelegte Zeiten." „Tante S. schon." „Ich glaube, die Generalin wurde von ihren eigenen Truppen überrannt." Dass ein Läche ln über Cindys Gesicht huschte, empfand Hitch wie ein Kompliment. „Du bist spät dran. Ich dachte schon, du kämest überhaupt nicht mehr. Wir können uns doch duzen, nicht? Schließlich kennen wir uns seit Jahren." „Einverstanden." Cindy atmete tief durch. „Ich komme erst jetzt, weil ich noch allerhand zu erledigen hatte." „Das kann ich mir vorstellen." In den letzten drei Tagen, in denen Hitch versucht hatte, sich bei Cindy offiziell zu entschuldigen, hatte er mitbekommen, wie sie dauernd beschäftigt gewesen war. Niemals hatte sie leere Hände, immer war sie in Eile. Hitch konnte sich vorstellen, dass sie heilfroh war, wenn der ganze Zirkus endlich vorbei war.
Als Cindy ganz unten war und schließlich vor ihm stand, schaute sie ihn an. Und lächelte. Dieses Mal aus vollem Herzen. Hitch war bezaubert. Konnten Augen schlagartig die Farbe wechseln? Eigentlich waren ihre doch blau, doch jetzt wirkten sie beinahe türkis. Auch ihre dichten, langen Wimpern waren ihm bis jetzt noch nicht aufgefallen. Leider passte die Farbe des Kleides kein bisschen zu ihrer Haarfarbe, und die Rosen, die sie sich in den Zopf gesteckt hatte, wirkten bereits schlapp. „Sehe ich gut aus?" fragte sie scheu. „Ja, ganz wunderbar", log er. Aber gleichzeitig fand er, dass er durchaus die Wahrheit sagte, denn Cindy wirkte so warmherzig, liebenswürdig und aufgeregt, und sie hatte gleichzeitig eine solche Würde, dass Hitch plötzlich Lust hatte, sie in die Arme zu nehmen und sie an einen Ort zu bringen, an dem niemand über sie lachen oder sie herumsche uchen würde. „Ich glaube, das ist unser Walzer, Prinzessin." Cindy blickte schüchtern zu Boden. Allein seine Stimme war faszinierend! Tief und warm und ein bisschen rau. Eine Stimme wie seine dunkelbraunen Augen, mit einem bisschen Gold darin. Die Fantasie ging mal wieder mit ihr durch ... „Cindy? Du hast mir einen Tanz versprochen." „Ach ja, tut mir Leid, ich habe geträumt. Das tue ich oft." Sie duftete nach Shampoo und welkenden Rosen. Hitch wartete darauf, dass sie mit den Gedanken wieder in die Gegenwart zurückfand. Ein merkwürdiges Mädchen, dachte er. Nein, Mädchen war nicht richtig. Sie war zwar klein und trug ein unpassendes Kleid, aber es war eine Würde um sie, von der ihre verwöhnten Cousinen keinen Hauch besaßen. „Wollen wir?" Er streckte ihr den Arm hin. „Ich kann nicht tanzen!" „Wegen deines Beines?" Hitch hätte es nie erwähnt, wenn er geglaubt hätte, dass es Cindy unangenehm war. „Es ist eher meine Hüfte als mein Bein. Die tut manchmal weh, aber nur, wenn ich müde bin oder mich zu schnell drehe." „Dann machen wir nur langsame Bewegungen und keine schnellen Wendungen. Ich verspreche, ganz behutsam zu sein." „Nein, ich trete dir nur auf die Füße. Ich sagte doch schon, ich kann nicht tanzen. Ich habe es nie gelernt." „Dann versuchen wir es einfach. Die Musik hört man wahr scheinlich auch vom Hauseingang her, oder?" „Die hört man bestimmt bis in den nächsten Ort!" Lächelnd führte Hitch sie nach draußen. Als Cindy sich zu ihm umdrehte, wirkte sie ziemlich verkrampft. „Entspann dich, ich beiße schon nicht", scherzte er. „Ich bin entspannt", behauptete Cindy. „Hör zu, ich schlage vor, wir trinken erst mal ein Glas Champagner. Wenn ich ein bisschen beschwipst bin, bin ich ein viel besserer Tänzer." „Oje, vielleicht wird mir davon schlecht! Ich bin so schrecklich nervös." „Keine Sorge, das passiert schon nicht. Bleib hier stehen und rühr dich nicht von der Stelle. Ich bin gleich zurück." Wie versprochen, kehrte er nach kurzer Zeit mit zwei Gläsern zurück, einer halben Flasche Champagner und einem Teller, auf den verschiedene Häppchen getürmt waren. „Sieh bitte mal nach, ob du für mich eins mit Erdnussbutter und Marmelade findest." Cindy musste lachen. Es klang hübsch, auch wenn ihr Lachen ein bisschen ungeübt zu sein schien. „Iss bloß keins mit Kaviar", warnte sie. „Tante S. bestand darauf, welchen zu servieren, hat aber eine Billigsorte genommen, die schrecklich schmeckt."
„Kaviar mochte ich noch nie. Hier ist etwas, das wie Kartoffelbrei auf einem Cracker mit Grünzeug obendrauf aussieht. Der ist vermut lich harmlos." Cindy musste wieder lachen. Hitch würde alles Mögliche machen, wenn sie nur immer so fröhlich lachte! Nie hätte er ge dacht, dass ihn schon die Stimme einer Frau erregen könnte! „Das ist Hühnchensalat mit Oliven und Schafskäse, den mag Frank am liebsten." „Wer ist Frank?" Hitch biss von einem der Cracker ab. „Der vom Party-Service. Er ist wirklich süß." „Aha?" „Wenn er keine Zeit hat, seine Frau mit in die Stadt zu nehmen, erledige ich manchmal Sachen für sie. Shanie hat ihren Führerschein verloren, aber es war nicht ihre Schuld." „Das ist es nie", bemerkte Hitch trocken. Immerhin war er erleichtert zu hören, dass der süße Frank eine Frau hatte. Die Band spielte jetzt „Moon River" und danach eine Reihe von Beatles-Songs. Hitch und Cindy probierten das eine oder andere Häppchen, nippten am Champagner und plauderten. Und Hitch hatte Recht: Der Champagner ließ sie lockerer werden. Aber als er aufstand, ihr die Hand hinstreckte und sagte: „Zeit, es mit einem Tanz zu probieren", wurde sie wieder unsicher. „Oh, nein, muss ich wirklich?" „Davon, einem Mann zu schmeicheln, hältst du wohl nicht viel, wie?" „Die Männer, die ich kenne, brauchen so etwas nicht." „Oh, doch, das brauchen wir alle. In der Welt da draußen kämpft jeder gegen jeden." „Dann bringen wir es schnell hinter uns." Hitch schmunzelte. „Bist du immer so taktvoll, oder nur bei mir?" „Die Charme-Schule habe ich geschwänzt. Nun komm schon, bevor ich mich gar nicht mehr traue." Sie schob ihre zarte Hand in seine. Dann schaute sie stirnrunzelnd auf ihre Füße. Hitch legte ihr den Arm um die Taille und zog sie vorsichtig an sich. „Ganz ruhig", sagte er, „oder brauchst du noch einen Schluck?" „Bloß nicht, ich habe schon zwei Gläser getrunken!" „Du bist ja völlig steif. Schließ die Augen, tu so, als schliefest du halb, und lass dich einfach mitziehen. Vertrau mir." Cindy seufzte und legte ihren Kopf an seine Brust. Ihr Haar kitzelte sein Kinn. Ganz spontan küsste er sie auf den Kopf und begann, sich langsam im Takt der Musik zu drehen. Und Cindy drehte sich mit ihm. Nach einer Weile machte er ein paar Schritte, und Cindy versuchte, ihm zu folgen. Es war kein Walzer, sondern ein langsameres Stück, und so ging es ganz gut. Unwillkürlich sang sie den bekannten Song mit. Normalerweise störte es Hitch, wenn seine Tanzpartnerin mitsang, aber dieses Mal nicht. Als eine besonders romantische Stelle kam, zog Hitch sie unwillkürlich enger an sich. Er empfand eine Mischung aus Zärtlichkeit, Amüsiertheit und Beschützerinstinkt, ohne zu wissen, warum. Plötzlich hörte Cindy auf zu singen und entschuldigte sich. „Tante S. hasst es, wenn ich singe." „Tante S. ist ein freudloser Drache." Cindy lachte hell auf. „Sag mal, tanze ich richtig, oder kommt es mir nur so vor? Bin ich dir wirklich noch gar nicht auf die Füße getreten?" „Das weißt du nicht mal?" „Nein, nicht genau. Ich habe mir die Schuhe ausgestopft, weil sie zu groß sind, darum merke ich gar nichts. Oder es ist der Alkohol. Ich trinke sonst nie. Du kannst dir vorstellen, warum." „Nein, eigentlich nicht. Aber da du gerade guter Stimmung bist, möchte ich etwas
loswerden." Cindy hob den Kopf, aber er drückte ihn wieder an seine Brust. Und da fühlte sie sich so wohl, als gehörte sie dorthin. „Ich bin neulich mindestens zwanzig Stundenkilometer zu schnell gefahren, vielleicht mehr als das. Ich war mit den Gedanken ganz wo anders, und wenn du nicht so schnell reagiert und das Kind zur Seite gerissen hättest ... Ich mag gar nicht daran denken, was hätte passieren können!" „Du musst dich nicht..." „Lass mich zu Ende sprechen. Ich hatte Schuld und bin schlecht damit umgegangen. Wenn du es genau wissen willst: Ich hatte Angst. Aber es kam als Zorn heraus." „Du musst es mir nicht erklären. Ich hatte auch Angst und ha be dich angebrüllt. Manchmal bin ich ziemlich unbeherrscht." „Wirklich?" Cindy hob läche lnd den Kopf. Ihr Lippenstift war vom Essen beinahe weggewischt, und Hitch hatte große Lust, sie zu ... Nein. Lieber nicht, warnte er sich. „Erzähl mal, was machst du eigentlich sonst noch?" fragte er. „Ich habe einen Job." Hitch hörte in der Bewegung auf. „Du hast was?" „Na ja, es ist kein richtiger Job, aber an meinem freien Tag, das ist meistens Montag, betreibe ich ein kleines Service-Unternehmen. Es heißt ,Cindy erledigt alles'." An ihrem freien Tag. Seit wann brauchte ein Mensch innerhalb der Familie einen freien Tag? „Erzähl weiter", bat er neugierig. Die Band spielte noch ein weiteres Mal „Moon River". Ihr Re pertoire schien begrenzt zu sein. In den Orangenbüschen tauchten Glühwürmchen auf, und in der Ferne konnte man den kla genden Ruf eines Nachtvogels hören. „Onkel Henry hat mir kurz vor seinem Tod ein Auto zum Geburtstag geschenkt. Und da ich sonst keine Einkommensquelle habe und ..." „Du hast was nicht?" „Eigentlich brauche ich ja nichts, da ich bei Tante S. Unterkunft und Essen habe und die abgelegte Kleidung von Maura und Steff bekomme. Aber ihre Schuhe passen mir nicht, nur im Ausverkauf kann man billig welche erstehen. Außerdem möchte ich auch für Notfälle etwas haben." Hitch war sich sicher, dass ihr der Champagner die Zunge gelöst hatte. Bestimmt würde sie am nächsten Tag bereuen, dass sie alle diese Wahrheiten ausgeplaudert hatte. Vorausgesetzt, sie erinnerte sich daran. „Also, dieser Service. Erzähl mir davon." „Du musst mir versprechen, Tante S. nichts davon zu sagen. Sie würde einen Anfall bekommen, wenn sie erfährt, dass ich dafür bezahlt werde, Aufträge für ihre besten Freunde zu erledigen." „Sie weiß nichts davon?" Cindy schüttelte den Kopf. Der Duft der welkenden Rosen stieg ihm in die Nase. „Ehrlich gesagt, ich habe die Leute nicht gebeten, ihr nichts davon zu erzählen. Aber sie haben es wohl von selbst verstanden." Sie schwieg einen Moment. „Vor Jahren habe ich alles mit dem Fahrrad gemacht: Sachen von der Apotheke geholt, Bücher aus der Leihb ibliothek, solche Dinge. Als Onkel Henry mir den Wagen schenkte, habe ich mein Angebot erweitert. Montags bringe ich zum Beispiel Miss Emma zum Haarefärben in den Kosmetiksalon, und während sie dort ist, gehe ich für Mrs. Harris einkaufen. Danach reinige ich die Käfige von Arvilla Davis. Sie liebt ihre Vögel, hasst es aber, die Käfige sauber zu machen. Und manchmal fahre ich zwei oder drei Leute zur Hanes Mall oder nach Winston, wohin sie zum Einkaufen oder zum Mittagessen wollen." Cindy lehnte sich zurück und schaute Hitch an. Ihre Augen wirkten riesig in dem blassen Gesicht. „Es ist nicht viel, aber ich bekomme einen festen Stundenlohn. Davon
kann ich die Ausga ben für das Auto bezahlen und ein bisschen für die Zukunft sparen. Im Moment brauche ich allerdings einen neuen Auspuff, wenn Michael von der Werkstatt keinen gebrauchten für mich findet. Es ist keine Karriere, aber es hilft ein bisschen." Sie holte Luft. „Oje, ich erzähle zu viel, wie? Das muss der Champagner sein. Normalerweise rede ich nicht so viel." Es war der Champagner. Nun, da sie so gelöst war, war Hitch versucht, sie ein bisschen auszuhorchen. Von seinen Eltern hatte er gelernt, wie man Zeugen befragte. Aber als Gentleman, der er war, unterließ er das lieber. Cindy war im Augenblick zu verwundbar. Und das wollte er nicht ausnutzen.
4. KAPITEL Stunden später lag Hitch, die Arme unter dem Kopf verschränkt, wach in seinem Bett und dachte über die Situation im Nachbarhaus nach. Laut Mac ging es den Stephensons finanziell sehr gut. Henry Stephenson hatte hart gearbeitet, geschickt investiert und im ererbten Haus für ein sparsames Leben gesorgt soweit der Vater von zwei anspruchsvollen Töchtern das tun konnte. Cindy war eine Danbury, eine Stiefnichte von Mrs. S., hatte Mac berichtet. Was zum Teufel war nur eine Stiefnichte? Ent weder war sie eine Nichte oder nicht. Wenn ja, wieso gelangte nichts vom Reichtum der Stephensons bis zum jüngsten Familienmitglied? Und dann hatte Cindy gesagt, dass sie es mit ihrem Montags-Job schon schaffen würde. Schaffen? Was denn? Sich einen wohlhabenden Ehemann zu angeln? Das wäre zumindest das Ziel ihrer beiden Cousinen, obgleich Steff es in der Beziehung noch besser hätte treffen können als mit Mac, wenigstens finanziell gesehen. Hitch wollte gern glauben, dass sie unter Macs manchmal ruppiger Art und seinem Holzfällergrinsen den soliden, zuverlässigen Charakter entdeckt hatte. Aber das wür de nur die Zeit zeigen. Zumindest wusste Hitch nun, wieso Cindy ein Kleid getragen hatte, das ihr viel zu groß war und ihr überhaupt nicht stand. Es stammte vermutlich von Steff, die auffällige Farben liebte. Zu Blonden und Dunkelhaarigen mochte dieses Rosa passen, Rothaarigen stand es nicht! Morgen ist der große Tag, dachte Hitch noch beim Einschlafen. Danach würde er wieder nach Hause fahren. Bei der Trauung schaute Steff drein, als würde sie von heftigen Kopfschmerzen geplagt, und selbst Mac ließ die Unbefangenheit vermissen, die ihn sonst auszeichnete. Vielleicht wird ein Drink ihm helfen, dachte Hitch. Aber das Jubelpaar durchlief brav die Zeremonie und stand danach geduldig zwischen den Hochzeitsgästen, von denen sie nun beglückwünscht wurden und die ihnen kluge Ratschläge mit auf den Weg in die Ehe gaben. Hitch schaute sich nach Cindy um. Endlich entdeckte er sie in der Nähe der Tür. Sie hatte Ringe unter den Augen, und der Kragen ihres hellblauen Leinenkleides war umgeknickt, als hätte sie es hastig angezogen. Immerhin war sie da. Ein paar Rührungstränen glitzerten auf ihren Wangen, aber sie lächelte strahlend. Hitch wunderte sich, wieso sie nicht, wie Maura und zwei Klassenkameradinnen von Steff, Brautjungfer war. Mrs. S. folgte sonst in allem der Tradition. Auf einmal beschloss Hitch, die Einladung der MacCollums anzunehmen, ein paar Tage länger zu bleiben. Um ihnen über den Verlust ihres einzigen Sohnes ein bisschen hinwegzuhelfen, wie sie gesagt hatten. Pop hatte das zwar eher scherzhaft ge meint. Ihm gefiel die Vorstellung, nun eine hübsche Schwiegertochter zu haben. Aber Mama Mac hatte den alten Spruch wiederholt, dass eine Tochter immer eine Tochter bleibe, während ein Sohn nur so lange Sohn sei, bis er geheiratet hätte. Es dauerte eine Weile, bis der Empfang beendet war. Schon bald nach der Trauung fuhren Mac und Steff zum Flughafen von Greensboro, begleitet vom Geräusch scheppernder Blechdosen am Wagen, von Luftballons und seifenverschmierten Fensterscheiben, wie es Brauch war. Am Sonntagmorgen fuhr Mrs. S. mit einer Freundin nach Roaring Gap, und Maura erle digte die letzten Einkäufe vor ihrer Abreise. „Wieso kauft sie eigentlich nicht in New York ein?" fragte Hitch, der ins StephensonHaus ging, um Cindy beim Aufräumen zu helfen. „Darüber habe ich mich auch gewundert, aber sie sagte, sie brauchte passende Kleidung, um in New York einkaufen zu können." Hitch schüttelte den Kopf.
Cindy fuhr fort, welke Blüten aus einem Strauß weißer Gla diolen zu zupfen und die Stiele zu kürzen. „Bist du gekommen, um dich zu verabschieden?" „Nein, ich wollte nur kurz vorbeischauen. Man hat mich eingeladen, noch ein paar Tage zu bleiben. Und es ist so lange her, dass ich Urlaub hatte, dass ich beinahe vergessen habe, wie es ist. Darum möchte ich es mal wieder versuchen." Cindy wusch inzwischen ab. Hitch schaute ihr dabei zu. Selbst in zu weiten Jeans hatte sie eine hübsche Figur. Ihre Taille war zwar unter dem T-Shirt verborgen, aber Hitch erinnerte sich daran, wie Cindy sich in seinen Armen angefühlt hatte. Schlank, aber ausgesprochen weiblich. „Man stelle sich das vor", sagte sie, „einen Urlaub im exotischen Mocksville, das nur wenige Meilen vom schlammigen Fluss Yadkin entfernt ist und von wo aus man, wenn man auf den richtigen Baum steigt, sogar einen Blick auf die Brushy Mountains hat. „Gefällt dir Mocksville nicht?" „Oh, doch, es ist ganz nett, und die Leute sind freundlich, aber hier ist wenig los. Steff und Maura behaupten immer, es sei ,kaugummilangweilig'. Darum zieht Maura ja auch nach New York." „Und du? Was wirst du jetzt tun?" Cindy schwieg so lange, dass Hitch schon dachte, sie würde gar nicht mehr antworten. Dann sagte sie: „Nun, ich habe ja den Montags-Job. Vielleicht kann ich den erweitern, sobald Maura weg ist und wir hier nur noch zu zweit sind." Offensichtlich hatte sie die Nacht über gut geschlafen, denn vom Hinken bemerkte man nichts mehr. Im Gegenteil, sie hatte geschmeidige Bewegungen, die Hitch sehr aufregend fand. Als Industriedesigner versuchte er immer, Anmut mit Effektivität, Nützlichkeit mit Schönheit zu verbinden. Bei Cindy kam alles zusammen. „Du bist dran", sagte sie und reichte ihm eine na sse Vase sowie ein Geschirrtuch. „Erzähl mir doch etwas von deiner Arbeit. Mac sagt, du machst irgendetwas Technisches, aber ich habe vergessen, was." Hitch trocknete vorsichtig die wertvolle Vase ab und musste daran denken, wie schockiert seine Eltern wären, wenn sie ihn jetzt sehen könnten. „Ich habe eine Firma für Industriedesign. Das heißt, wir entwerfen Alltagsprodukte in neuer Form, bei denen wir versuchen, Ästhetik mit Funktionsfähigkeit zu kombinieren." Cindy hielt eine metallene Saftpresse hoch. „Die hier ist schon alt und ziemlich hässlich, aber sie funktioniert noch immer weit besser als die schicken neuen, die wir mal ausprobiert haben. Die würde ich sofort wieder kaufen. Hör mal, hier sind wir jetzt fertig. Wieso gehst du nicht in den Garten und spielst Krocket oder so? Ich muss noch die Blumen fertig machen und die Vasen wegstellen, die nicht mehr gebraucht werden." „Ich habe eine bessere Idee. Wir könnten doch den Tag zusammen verbringen, mit einem Picknick unten am Fluss. Wie heißt der noch mal, Tanglefoot?" „Tanglewood." Cindy warf einen besorgten Blick zu den Palmentöpfen und den Blumenarrangements, um die sie sich noch kümmern wollte. „Das kann warten", sagte Hitch, der ihrem Blick gefolgt war. Cindy lächelte. Was für ein wundervolles, schelmisches Lächeln sie hat, dachte Hitch entzückt. Im Park wimmelte es von Menschen. Ganz am Rand fanden sie ein schattiges Plätzchen neben einem kleinen Teich, in dem sich die Sonne spiegelte. Hitch wunderte sich über sich selbst, denn erstens hasste er Picknicks, und zweitens wollte er bei Cindy keine Erwartungen wecken, die er weder erfüllen konnte noch wollte. Cindy breitete unter einer Eiche eine große Decke im Gras aus. „Setz dich", forderte sie ihn auf, als er etwas ratlos mit dem Korb dastand, der Reste des Hochzeitsmahls enthielt. Sie ordnete alles sehr appetitlich an und stellte den Korb zwischen sie beide. Diesen einen Tag wird sie mit ihr verbringen, dachte Hitch. Damit sie mal Atem holen konnte. Sie hatte das gesamte Fest über mehr gearbeit et als jeder andere - und nichts
dafür bekommen. Ganz anders als Steff mit ihrem Lastwagen voller Geschenke und einem Schatz von Ehemann! Den beiden Braut jungfern überreichte man je ein goldenes Armband, und eine von ihnen hatte eine neue, verheißungsvo lle Beziehung ange knüpft. Trotz all der Arbeit, die man Cindy überließ, war sie erst im letzten Moment dazu aufgefordert worden, der Trauung beizuwohnen! Und sobald die Familienmitglieder in alle Winde zerstreut waren, war es auch noch ihre Pflicht, alles aufzuräumen und wieder in Ordnung zu bringen. Aber nicht heute! Den heutigen Tag sollte sie sich ausruhen, dafür wollte Hitch sorgen. Tagsüber würden sie picknicken und sich entspannen, und abends wollte er sie in ein schönes Restaurant einladen. Mit diesem Plan für einen würdigen Abschluss im Kopf, half Hitch Cindy, die Schinkensandwichs zu vertilgen, die sie zubereitet hatte, und den Kuchen, der noch von der Hochzeit übrig war. Dazu tranken sie Eistee aus der Thermoskanne und unterhielten sich über alles Mögliche. Hitch war zunehmend fasziniert von ihr. „Hüte? Du möchtest Modistin werden? Das ist es also, was du .schaffen' willst, wie du neulich Abend sagtest?" „Ich bin schon Hut-Designerin, und zwar eine gute", erklärte Cindy stolz. „Hüte zu entwerfen ist aber nur die erste Stufe. Sie dann auch zu produzieren etwas ganz anderes. Dazu braucht man Beziehungen und kaufmännisches Wissen, ganz abgesehen von einem Startkapital." Als Cindy sich einen Klecks Mayonnaise von der Lippe leckte, verlor Hitch einen Moment lang den Faden. „Ich weiß, dass es nicht leicht ist, Hitch. Außerdem kann ich noch nicht so gut zeichnen. Deshalb muss ich den Entwurf nach Möglichkeit immer schon konkret vor meinem inneren Auge haben. Außerdem habe ich keine Zeit, mir kaufmännisches Wissen anzueignen, und Geld habe ich erst recht nicht. Das Material kostet eine Menge, obgleich ich für die Grundmodelle immer ganz billiges Zeug benutze. Aber ab und zu finde ich Seide, Kunstblumen und Ähnliches im Ausverkauf. Jedenfalls spare ich, so viel ich kann, damit ich endlich ausziehen und mir ein Atelier einrichten kann." „Wieso bleibst du nicht noch, dann sparst du die Miete." „In meinem Zimmer unter dem Dachboden ist kaum Platz genug, mich anzuziehen, erst recht nicht zum Arbeiten. Außerdem hasst Tante S. das Durcheinander. Sie behauptet, das zöge Staub an, und sie ist allergisch gegen Staub." Über Cindys feines Gesicht huschte ein Schatten. „Aber das ist nicht der alleinige Grund. Ich schäme mich ein bisschen zu sagen, dass ich ausziehe n möchte, bevor Tante S. mich noch mehr beansprucht als jetzt. Ich weiß, das ist egoistisch, denn sie hat mich immerhin all die Jahre bei sich geduldet. Aber sie wird nicht jünger, und wenn sie erst mal krank wird oder auch nur glaubt, es zu sein, komme ich nie mehr weg. Wenn sie mich eines Tages wirklich braucht, brächte ich es nicht mehr übers Herz, sie allein zu lassen. Und Maura plant, für immer in New York zu bleiben. Also heißt es: jetzt oder nie." Ach ja, Maura plante, Model zu werden, Steff hatte sich einen fügsamen Ehemann mit viel versprechender Zukunft geangelt, und Cindy war „egoistisch", wenn sie endlich ihr eigenes Leben leben wollte. Sie klingelte mit den Eisstücken im Glas. „Du hältst mich sicher für undankbar, nicht? Das bin ich vielleicht, aber ..." „Ich glaube, du bist, was das Berufsleben angeht, etwas naiv. Für undankbar halte ich dich kein bisschen. Ich denke, du hast es verdient, endlich dein eigenes Leben zu führen. Und wenn du dazu entschlossen bist, ist ein klarer Bruch das Beste, damit anzufangen." Das hatte Hitch selbst erfahren. Aber als er sich damals von seiner Familie löste, verfügte er schon über weit mehr Erfahrung als Cindy. Außerdem hatte er die finanzielle Sicherheit eines Stipendiums. „Das glaube ich auch", sagte sie ernst. „Ich bleibe auf alle Fälle mit ihr in Verbindung.
Wenn sie mich braucht, könnte ich kommen und aushelfen. Aber wenn ich eine eigene Wohnung hätte - und sei sie noch so schlicht -, müsste ich nicht hier bleiben." Unvermittelt begann Hitch, ihr von seiner schwierigen Beziehung zu seinen Eltern zu erzählen. Normalerweise sprach er nicht darüber, nicht mal mit Mac. Cindy hörte aufmerksam zu. „Ich glaube nicht, dass sie von dir enttäuscht sind, Hitch, sie hatten nur andere Vorstellungen. Jeder hat Träume. Mac erzählte, du hättest schon immer ganz verrückte Autos, Flugzeuge und Möbel gezeichnet. Er hält dich für ein Genie und ist überzeugt davon, dass er die Technikkurse an der Universität ohne deine Hilfe nie bestanden hätte." „Ach was, auch er hat mir gelegentlich aus der Patsche ge holfen. Er geht geschickter mit Leuten um als ich." „Entschuldige, wenn ich widerspreche. Ich habe gesehen, wie Mauras und Steffs Freundinnen dich die ganze Zeit belästigt haben, gerade so als hätten sie Angst, auch nur eine Silbe von dir zu verpassen. Mir ist aufgefallen, dass du mit denen sehr diplomatisch umgegangen bist." „Die Dinge sehen nicht immer so aus, wie sie wirklich sind." „Steff hat Anna versprochen, dass sie, sobald Maura weg ist, versuchen wird, sie mit dir zusammenzubringen." „Das ist die mit den endlos langen Fingernägeln, nicht?" Die se Frau kann garantiert nicht einen vernünftigen Gedanken formulieren, fügte Hitch im Stillen hinzu. „Sie scheint aber ganz nett zu sein. Und sie stammt auch aus Virginia." „Kann sein, dass sie nett ist, aber nein, danke, ich verzichte." „Ich hasse es ebenfalls, wenn man mich verkuppeln will." Cindy füllte die Gläser nach, nahm sich ein Sandwich mit Putenbraten und reichte Hitch die andere Hälfte. „Maura und Steff haben es so lange versucht, bis ich dagegen protestiert ha be. Ich suche mir lieber selbst jemanden." „Natürlich." Seltsam, Hitch hatte bislang noch gar nicht daran gedacht, dass Cindy einen Freund haben könnte ... „Ich suche keinen Prinzen, sondern einen, der anständig ist und nicht versucht ... Na ja, das passiert sowieso nicht allzu bald, ich bin viel zu beschäftigt." Hitch stellte das Teeglas beiseite und nahm die Flasche Wein, die er mitgebracht hatte. Er goss ein und reichte Cindy ein Glas. Sie schnupperte erst daran, dann trank sie einen kleinen Schluck und lehnte sich auf die Ellbogen zurück. Hinter den Bäumen ging allmählich die Sonne unter. Hitch erzählte ihr noch von seinen negativen Erfahrungen, was Frauen betraf. „Es endete meist damit, dass meine Brieftasche leer war, mein Hemd voller Tränen und Wimperntusche und dass ich ein blaues Auge hatte. Aber inzwischen habe ich dazugelernt. Ich gehe lieber keine Wagnisse mehr ein." Cindy fühlte sich wunderbar unter dem grünen Blätterdach und erzählte Hitch amüsiert vo n ihrer jüngsten Verabredung. „Er war - wie nennt man das - ein Weichei. Nein, ich glaube, er war eher ein Mistkerl. Ich bin zwar weder reich noch hübsch, aber ich verdiene etwas Besseres als so einen." Hitch stellte das Glas beiseite. Dann hob er Cindys Hand, küsste sie, drehte dann die Innenfläche nach außen und küsste all die kleinen Schwielen. „Oje, Hitch, nicht!" protestierte Cindy erschrocken. „Egal wie oft ich sie eincreme, sie sind trotzdem ganz rau, und meine Nägel ..." Ihre Nägel waren kurz geschnitten und unlackiert, aber hübsch und rosafarben. „Ich habe es schon mit Gummihandschuhen probiert, aber darin schwitzt man und kann keine Feinarbeiten machen." Hitch beugte sich vor und gab Cindy einen leichten Kuss auf die Stirn, auf die Nasenspitze und dann auf die Lippen. Ganz leicht nur. Einerseits war er versucht, die Situation aus zunutzen, die sich durch die aufkeimende Freundschaft ergab. Andererseits wollte er Cindy auf keinen Fall ermutigen. Wo man kein Risiko eingeht, verliert man auch nichts, rief er sich in
Erinnerung. „Sind wir Freunde?" fragte er leise. „Ja, Freunde", wiederholte sie ernst. „Dann muss ich dir als dein Freund sagen, dass über deinem Kopf eine Spinne hängt, die sich anschickt, darauf zu landen. Soll ich sie zu einem anderen Landeplatz umdirigieren?" „Wenn du so nett wärest ..." Cindy schloss kurz die Augen. „Ich glaube, ich habe einen Schwips. Ich bin nicht an Alkohol gewöhnt." Hitch schwieg eine Weile. Dann meinte er: „Vielleicht sollte ich dich nach Hause bringen. Dann kannst du früh zu Bett ge hen." Aus dem gemeinsamen Abendessen würde wohl nichts werden. „Ja, und dann nehme ich ein ausgiebiges Bad, bei dem niemand an die Tür klopft und mir sagt, ich müsse mich beeilen und solle nicht so viel heißes Wasser verbrauchen." Cindys Gesicht verdüsterte sich. „Ach je, Maura ist womöglich von ihrer Einkaufstour zurück und braucht mich." „Die kann doch selbst mal etwas erledigen!" Hitch hätte Cindy gern gesagt, dass sie endlich aufhören sollte, die Fuß matte für andere zu sein, dass sie sich gegen diese Tyrannei zur Wehr setzen und sich eine dickere Haut anschaffen müsste. Aber das ging ihn schließlich überhaupt nichts an. Auf allen vieren, die Ellbogen aufgestützt und den Hintern in die Luft gestreckt, nahm Cindy die Gläser von der Decke. Dass Hitch den Anblick sehr aufregend fand, beunruhigte ihn ziemlich. „Sag mal, Hitch, könnte ich dich um einen Gefallen bitten?" Mama Mac, die eine frische Schürze umgebunden hatte, platzierte Pfannkuchen auf einem Teller. „Du kennst doch all den Kram, den Aldous in seiner Garage hat. Ich habe ihm gesagt, wenn er das nicht endlich in Ordnung brächte, würde es ein heiliges Donnerwetter geben." „Ich soll in der Garage aufräumen?" „Oh, nein", sie tätschelte ihm die Schulter, „keine Sorge, ich möchte nur, dass du ihm erklärst, wie man das alles ordnet, so wie du es mit Mac gemacht hast, als er sein erstes Ski-Hotel hatte. Du bist gut im Organisieren, und Aldous kann das überhaupt nicht." Das machte eigentlich Hitchs Plan zunichte, bald wieder abzureisen, um der Versuchung, mit Cindy ein Verhältnis anzufangen, aus dem Weg zu gehen. Denn da sie direkt neben ihnen wohnte, lag es nahe, dass sie sich dauernd trafen. Und so, wie es zwischen ihnen stand, würden sie nicht nur kurz Hallo sagen, sondern sich bestimmt gleich wieder in vertrauliche Gespräche stürzen. Andererseits könnte er Cindy vielleicht noch einen letzten Gefallen tun. Pop hatte einen Jungen erwähnt, den er mal vor Jahren trainiert hatte und der inzwischen in der AMannschaft Baseball spielte. „Er heißt Pete Simmons. Prima Kerl. Die Mädchen sind ganz wild nach ihm, aber der lässt sich nicht von seinem Ziel abbringen. Noch immer Single, soweit ich weiß. Er hätte es auch im Football zu was bringen können, aber er blieb, wo er war. Der wird sich bald einen richtigen Namen machen." Wie es der Zufall wollte, war Pete für ein paar Tage bei seinen Eltern und hatte telefonisch seinen Besuch angekündigt. Wieso nicht? überlegte Hitch. Cindy hasste es genau wie er, verkuppelt zu werden, aber es gab keine n Grund, ihr nicht einen netten Mann vorzustellen und der Natur ihren Lauf zu lassen. Bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls. Und wenn es mit Pete nicht klappte, dann wäre da noch Joe Digby. Hitch hatte sich gefreut, den guten alten Joe bei der Hochzeitsparty wieder zu sehen. Er war eigentlich Elektroingenieur, hatte nun aber eine Firma für Landschaftsgestaltung und sich auf Rosenzucht spezialisiert. Ein Mann, mit dem Cindy über Rosen sprechen konnte, würde ihr bestimmt gefallen!
Später dachte Hitch, dass er es nicht besser hätte planen können, als es sich dann schließlich von selbst ergeben hatte. Maura ging jeden Abend aus, und da Cindy immer allein war, lud Mama Mac sie zum selben Essen ein wie Pop seinen Schützling, den Baseballspieler. Hitch kam sich vor wie ein gutherziger Pate. Er lehnte sich zurück und beobachtete Cindy. Sie verstand nichts von Sport, hörte aber offenbar fasziniert zu, als Pete über seine Hoffnung sprach, von den Verantwortlichen eingeladen und in die Oberliga übernommen zu werden. Sie stellte gelegentlich eine Frage und nahm dabei genussvoll Mama Macs köstlichen Schweine braten mit Süßkartoffeln in Angriff. Wo lässt sie das nur? fragte Hitch sich. Denn sie war eindeutig ein Leichtgewicht. Pete, dem ihr Interesse schmeichelte, erklärte, wie groß die Verletzungsgefahr von Spielern sei und dass viele manchmal eine ganze Saison aussetzen müssten. Als er ging, verabredete er sich mit Cindy zu einem Kinobesuch am nächsten Abend in Winston. Nachdem Pete weg war, bestand Cindy darauf, den Abwasch zu übernehmen. „Ich hätte wohl erst mit Maura abklären sollen, was die morgen für Pläne hat", meinte sie dann besorgt. „Macht sie das denn auch mit dir?" fragte Hitch. „Nein, aber ich habe ja auch nie etwas vor, außer montags." „Dann nimm dir ruhig mal etwas vor, ich kläre das schon mit Maura." Am nächsten Abend sah Hitch vom Nachbarhaus aus, wie Pete Cindy abholte. Er fuhr einen knallroten Pick-up, der vor Chrom glänzte und so hoch war, dass Pete Cindy beim Einsteigen helfen musste. „Sie ist nicht deine Freundin, Junge", sagte Pop, der ihn beobachtet hatte und das Winston-Salem Journal beiseite legte. „Nein, aber ich mag nicht daran denken, dass jemand vielleicht ihre Unerfahrenheit ausnutzen könnte." Pop zog nur eine Augenbraue hoch, dann vertiefte er sich ohne Kommentar wieder in den Sportteil. Es war schon nach elf, als Hitch das Brummen von Petes Motor hörte. Er stand auf, streckte sich und eilte zur Tür. „Ich glaube, ich schnappe noch ein bisschen Luft", sagte er. Pop grinste, wandte aber den Blick nicht vom Fernseher. Hitch wartete, bis Pete wieder weggefahren war, dann klopfte er an der Haustür des Nachbarhauses. Cindy öffnete sogleich. Sie war barfuß und hatte die Schuhe in der Hand. „Na?" fragte er nur. „Na? Was?" „Wie war es?" „Immerhin besser als meine letzte Verabredung." „So toll?" „Wir haben vor allem über Liga-Aufstellungen geredet, dann wie ein Spieler sich den Arm verletzen kann, dass Schiedsrichter meistens blind sind und Manager keine Ahnung haben." „Du hättest lieber über Hüte geredet, stimmt's?" „Nein, na ja, vielleicht, aber es gibt noch anderes, worüber man reden kann." „Wahrscheinlich hat er versucht, dich zu beeindrucken." „Wieso sollte er das tun wollen?" Hitch seufzte. Bei einer anderen Frau hätte er gedacht, dass sie auf Komplimente aus war, aber Cindy war eben ganz anders. „Ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen. Und dir erzählen, dass wir morgen früh Borde an der Garagenrückwand einbauen." „Komisch, dass Pop noch nie die Idee hatte, da Borde anzubringen, obgleich er ein guter Tischler ist. Aber manchmal kommt man einfach nicht auf das, was nahe liegt."
Hitch trat ein wenig näher an Cindy heran. Dort, wo sie standen, konnte jeder, der vorbeikam, sie sehen. So ging er kein allzu großes Risiko ein, seine m Impuls zu folgen. „Erklär mir doch mal, worauf du nicht kommst", sagte er mit rauer Stimme. Cindy hob das Gesicht, als ahnte sie, was gleich passieren würde. Hitch näherte sich, bis ihre Lippen sich schon berührten. Aber er widerstand dem Drang, sie ric htig zu küssen, und zog sich wieder zurück. „Siehst du, das ist es, was gefehlt hat." „Was meinst du?" „Pete hat vergessen, dir einen Abschiedskuss zu geben." „Nein, ich glaube, das wollte er nicht. Wir haben nur den Film angesehen, Eis gegessen und auf dem Rückweg miteinander geplaudert. Er ist wirklich nett, Hitch. Aber bevor du da irgendetwas reininterpretierst, solltest du wissen, dass er eine Freundin in Durham hat," „Dann musst du ja einen heißen Anwärter von deiner Liste streichen." „Ich hätte vorher daran denken sollen, aber da hatte ich schon zugesagt. Und ich begriff erst später, dass du das Ganze eingefädelt hast, nicht?" „Kann sein. Aber nur, um dir mal zu zeigen, dass du Chancen bei Männern hast." Cindy schüttelte den Kopf. „Ich finde es nett von dir, Hitch, wirklich. Aber du weißt, was ich davon halte, verkuppelt zu werden. Das funktioniert nie." „Nie?" „Fast nie. Jedenfalls bei mir nicht. Außerdem habe ich meine Zukunft schon fest verplant, Männer kommen darin nicht vor. Die nächsten Jahre habe ich gar keine Zeit für so etwas." Ein Wagen fuhr vorbei. Durch das offene Fenster im Nachbarhaus hörte man, wie die Standuhr Mitternacht schlug. Das hieß, dass Pop den Fernseher ausgeschaltet hatte und nach oben gegangen war. Und es hieß auch, dass Hitch sich jetzt besser verabschieden sollte. Er küsste Cindy flüchtig, weil er nicht in Worte kleiden konnte, was er eigentlich sagen wollte. Aber selbst wenn er Worte dafür gefunden hätte, hätte er sie wohl nicht ausgesprochen.
5. KAPITEL Hitch machte sich nicht länger etwas vor. Mit den Kuppelversuchen tat er genau das, was Cindy und er nicht ausstehen konnten. Allerdings war es reiner Selbstschutz. Das nächste Mal war es nicht so leicht, Cindy dazu zu bringen, denn sie war misstrauisch. Hitch war jedoch fest davon überzeugt, sie überreden zu können. „Joe lernte ich zur selben Zeit wie Mac kennen, in unserem ersten College-Jahr auf der Technischen Hochschule. Mac und ich kümmerten uns um ihn. Der Arme war entsetzlich schüchtern und hatte nicht die geringsten gesellschaftlichen Fähigkeiten. Schon deshalb nicht, weil er fast nur arbeitete. Mac erzählte mir, dass er sich nach dem Tod seines Vaters um seine Mutter kümmerte. Dann, als sie vor einigen Jahren starb, führ te er das Familienunternehmen weiter. Wie ich schon sagte, er ist ein prima Kerl." „Das glaube ich dir gern", sagte Cindy, „aber du weißt doch, was ich von solchen Verabredungen halte." „Joe geht es genauso. In Atlanta bemühten wir uns ein paar Mal, ihn mit Mädchen bekannt zu machen, aber es funktionierte nie. Das habt ihr beide schon mal gemeinsam." Hitch lächelte so charmant wie möglich. „Morgen hat er Klassenfest. Eigentlich wollte er dazu seine Cousine mitnehmen, aber ihr kam irgendetwas dazwischen, und ohne Begleitung geht er nicht hin. Du weißt ja, wie es ist, wenn einer immer nur arbeitet und nie Spaß hat. Joe braucht wirklich mal ein bisschen Abwechslung." Schließlich ließ Cindy sich tatsächlich überreden, mit Joe Digby zum Klassentreffen zu gehen. Nur um Hitch einen Gefallen zu tun. Als Hitch sie miteinander bekannt machte, behauptete Joe, dass er sich vage an sie erinnerte, aus der Zeit, als er noch öfter bei den MacCollums war. Cindy meinte, sich ebenfalls an ihn zu erinnern. Hitch wusste nicht, ob es stimmte oder ob sie sich nur Mühe gab, Joe ein vertrautes Gefühl zu geben. Denn der gehörte nicht gerade zu denen, an die man sich erinnerte. Er war kahlköpfig und eher unscheinbar, aber sein Lächeln war freundlich, und er war durch und durch anständig, so dass Cindy keine Angst haben musste. Vielleicht würde es ja ein netter Abend werden. Nachdem sie mit Joe weggefahren war, ging Hitch zurück ins Haus. Sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck wich allmählich einer eher nachdenklichen Miene. „Komm her und iss mit uns ein Stück Blaubeerkuchen!" rief Mama Mac. „Ich habe ihn gerade aus dem Ofen geholt." Hitch nahm die Einladung nur zu gerne an. Sie plauderten, schauten kurz die Abendnachrichten an und redeten weiter. Nachdem Pop und Mama Mac zu Bett gegangen waren, ging Hitch wieder in den Vorgarten und schaute über die Hecke zum Nachbarhaus hinüber. Wenn Joe sich in den letzten zehn Jahren nicht total verändert hatte, würden sie sicher bald kommen. Joe musste als Landschaftsarchitekt immer früh raus. Also pflegte er zeitig zu Bett zu gehen. „Was machst du denn hier?" rief Cindy erschrocken, als sie Hitch plötzlich entdeckte. Hitch war zum Haus der Stephensons gegangen und hatte sich auf die Schaukel am Ende des Gartens gesetzt, die von einem hohen Fliederbusch abgeschirmt war und deshalb kaum Licht von den Straßenlaternen bekam. Nachdem die beiden zurückgekommen waren, Joe Cindy fürsorglich .zur Tür begleitet hatte und wieder gegangen war, wünschte Hitch, er wäre einfach zu Bett gegangen. Aber nun war es zu spät. Er erhob sich aus der Schaukel. „Ich wusste, dass Maura nicht deinetwegen wach bleibt. Darum fand ich, dass irgendjemand sich vergewissern sollte, dass du heil nach Hause kommst." „Ich bin erwachsen, Hitch. Ich brauche keinen Babysitter." „Ja schon, aber ..." Cindy erwartete, dass Hitch gleich wieder gehen würde.
Er räusperte sich. „Ich fühle mich irgendwie verantwortlich, schließlich habe ich dich mit Joe bekannt gemacht. Also, wie war das Klassentreffen?" Cindy zog die Schuhe aus und hängte sie an den Schnürsenkeln über einen Finger. „Es war sehr nett. Ich kannte mindestens die Hälfte aller Leute! Hitch, wusstest du, dass Maulwürfe eine geschützte Spezies sind?" „Maulwürfe? Du meinst diese Tiere, die in der Erde herumbuddeln? Nein, das wusste ich nicht." „Joe weiß unheimlich viel. Er sagt, es gibt eine Pflanze, die heißt ... Ach, ich habe vergessen, wie sie heißt, so ein lateinischer Name. Aber sie dient dazu, Maulwürfe fern zu halten, da es verboten ist, sie zu vergiften, aber ..." „Cindy. „ ... die vermehren sich so schnell, dass der Garten bald überquillt und ..." „Cindy!" „Was ist?" Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Im Dämmerlicht sah es aus, als glühte ihr Gesicht. Sie schien sich richtig amüsiert zu haben. „Wurde auch getanzt?" „Ja, einige haben getanzt, wir nicht, wir haben geredet. Joe tanzt auch nicht gern. Ich glaube, er ist ziemlich schüchtern." „Das habe ich dir doch gesagt." Das war einer der Gründe, wie so Hitch die beiden zusammengebracht hatte. „Du siehst übrigens sehr hübsch aus." Sie trug ein lachsfarbenes Oberteil, von dem man annehmen konnte, dass sie es selbst ausgesucht hatte. „Vielen Dank. Übrigens finde ich es nett, dass du auf mich gewartet hast, das hat noch nie jemand für mich gemacht." Sie lächelte. „Sonst bin ich natürlich zu dieser Zeit auch schon längst im Bett." Auf einmal schien sie es nicht mehr eilig zu haben. Hitch fand das ein gutes Zeichen. „Hat Joe nicht etwas vergessen?" fragte er. Cindy setzte sich zu Hitch, der schon eine Weile wieder auf der Schaukel saß, und brachte sie mit dem Fuß in Bewegung. „Nein, wieso?" „Er hat dir, soviel ich weiß, auch keinen Gutenachtkuss gege ben." „Du lieber Himmel, es war doch unsere erste Verabredung! Was erwartest du denn?" Hitch zuckte mit den Schultern. „Heutzutage weiß man doch nie. Heißt das, du triffst dich noch mal mit ihm?" Cindy schaukelte eine Weile. „Vielleicht. Wenn er mich fragt. Aber das tut er wahrscheinlich nicht." „Wieso nicht? Hast du ihn irgendwie abgeschreckt?" Sie lachte. „Hitch, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest - ich bin nicht der Typ Frau, um den Männer sich reißen." „Wieso, was soll denn mit dir nicht stimmen? Ich meine, ... Ach, vergiss es." „Erstens bin ich nicht besonders hübsch." Bevor Hitch ihr widersprechen konnte, fuhr Cindy fort. „Und ich bin viel zu offen. Männer mögen es nicht, wenn Frauen eine eigene Meinung haben." „Seit wann bist du Expertin für das, was Männern gefällt?" „Seitdem ich neben Steff und Maura aufgewachsen bin. Ich habe vielleicht nicht viel eigene Erfahrung, aber ich habe alles Mögliche von ihnen mitbekommen." „Wie gut, dass es nicht alles deine persönlichen Erfahrungen sind." Cindy knuffte ihm nur kurz mit dem Ellbogen in die Seite und ignorierte die Bemerkung ansonsten. „Ich weiß zum Beispiel, dass Männer Frauen mögen, die ihnen schmeicheln und ihnen das Gefühl geben, intelligent zu sein, auch wenn sie es vielleicht gar nicht sind. Und sie wollen immer ..." Sie unterbrach sich und verdrehte die Hände im Schoß. Hitch legte seine Hand darauf. „Was wollen sie?" hakte er nach. „Du weißt genau, was ich meine."
„Ja, vermutlich weiß ich es, aber wieso sprichst du es nicht aus, wo du doch Expertin bist?" „Das bin ich ganz und gar nicht. Außerdem muss man ja nicht alles aussprechen, was man weiß." „Ich dachte, du seiest so offen. Du meinst Sex, oder? Wieso kannst du es nicht einfach sagen?" „Oje, es ist mitten in der Nacht. Müssen wir jetzt über so etwas reden? Damit können wir doch bis morgen warten, oder?" „Natürlich, es eilt überhaupt nicht", pflichtete Hitch ihr bei. Er legte den Arm um Cindys Schulter und atmete den zarten Duft ein, der von ihr ausging. „Aber ich glaube, das hier duldet keinen Aufschub." Mit einer Hand hob er ihr Kinn an. Es war ein bisschen schwierig, auf der Schaukel das Gleichgewicht zu halten. Wieso galten Schaukeln überhaupt als romantische Orte? Das fahle Licht der Außenbeleuchtung schien alle Farbe aus Cindys Haar zu nehmen und ließ ihre feinen Züge irgendwie exotisch wirken. Ihre blauen Augen hatten eine geheimnisvolle Tiefe. Hitch zögerte nicht lange und senkte seine Lippen auf ihren Mund. Cindy wehrte ihn kurz ab, aber dann gab sie sich dem Kuss bereitwillig hin. Ihr Mund schmeckte noch süßer, als Hitch es in Erinnerung hatte. Er war ganz weich und zart und ein wenig feucht. Hitch verdrängte alle Bedenken. Auc h den Gedanken, dass Cindy ziemlich unerfahren war. Sie war zwar jung, aber auch nicht zu jung. Naiv, aber nicht völlig ahnungslos. Heutzutage waren junge Frauen viel aufgeklärter als früher. Gleichzeitig wollte Hitch nicht, dass die Sache außer Kontrolle geriet. Nur einen Kuss, nahm er sich vor, dann würde er Gute Nacht sagen und gehen. Das Problem war, dass der Kuss nicht so wirkungslos war wie erwartet. Nichts, was diese Frau betraf, schien nach Plan zu laufen. Als er den Kopf wieder hob und sie anscha ute, hatte sie die Augen geschlossen. Dann seufzte sie und öffnete die Augen. „Das war schön", flüsterte sie und lächelte. „Schön?" Einfach nur schön? Ob Cindy wohl eine Ahnung hatte, wie sehr ihn das erregte? In jeder Hinsicht? „Aber Hitch, du musst mir doch nicht nach jeder meiner Verabredungen einen Gutenachtkuss geben! Nur weil du mich mit Pete und Joe bekannt gemacht hast, bist du nicht verantwortlich für „Cindy, ich habe dich nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus geküsst." „Nein? Warum denn sonst?" „Weil ich ... Weil du ... Keine Ahnung, wieso ich das getan ha be. Weil du da warst, weil ich da war, und weil ich wollte, dass dieser Abend für dich etwas Besonderes ist." „Also doch aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus. Das habe ich mir gedacht", bemerkte sie ruhig. „Es war auch etwas Besonderes für mich, wenn du es wissen willst. Aber wir bleiben Freunde, okay?" „Ja, Freunde", murmelte Hitch. Er erhob sich, murmelte, dass sie sich am nächsten Tag noch sehen würden, und ging, bevor die Situation sich zuspitzte und er etwas unwiderruflich Dummes tun konnte. „Ich glaube, ich fahre heute lieber nach Richmond zurück", sagte Hitch zu Mama Mac, die ihm gerade gebratenen Speck und Rührei auf den Teller gab. „Schon heute? Du bist doch gerade erst angekommen! Ich dachte, du würdest mindestens eine Woche bleiben!" „Ja, das dachte ich auch, aber je länger ich wegbleibe, umso mehr Arbeit türmt sich auf meinem Schreibtisch. Wenn der Stapel höher als dreißig Zentimeter ist, fege ich das Ganze nur in den Papierkorb und muss wieder von vorn anfangen. Dadurch würde ich
eine Menge Aufträge verlieren." „Ach was", widersprach Mama Mac, „das würdest du nie tun." Den Rest des Vormittags verbrachte Hitch damit, dabei zu helfen, im rückwärtigen Teil der Garage einige Borde anzubringen. Als er begann, seine Sachen zu packen, stellte er fest, dass fast alle Hemden noch auf der Wäscheleine hingen. „Ich bügele sie dir, sobald sie trocken sind", versprach Mama Mac. „Das brauchst du nicht", sagte Hitch, aber sie winkte ihn weg, als sei er ein kleiner Junge, der in den Hof zum Spielen ge schickt wird. Das hieß, dass er noch Zeit genug hatte, nach nebenan zu ge hen, um sich von Cindy zu verabschieden, auch wenn er damit Gefahr lief, Maura zu treffen. Mac hatte ihn gewarnt, dass sie ihn im Visier hatte. Aber das galt anscheinend nicht mehr. Inzwischen schien sie das Interesse verloren zu haben. Was Cindy anging, so war Hitch sich nicht mehr so sicher, dass er die Sache im Griff hatte. Denn inzwischen hatte sich eine richtige Beziehung zwischen ihnen entwickelt. Wenn er einfach wegführe, käme ihm das äußerst uncharmant vor. Er mochte feige sein, aber er hatte seine Prinzipien. Cindy zog die Gartenhandschuhe über die dick eingecremten Hände. Das tat sie, seitdem Hitch ihre Schwielen geküsst hatte. Ihre raue Haut war ihr so peinlich gewesen, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre. Was nützten ein Seidenkleid und hochhackige Schuhe, wenn man Hände hatte, die aussahen, als arbeitete man in einer Autowerkstatt? Sie war in den Garten gegangen, um die abgeernteten Tomatenpflanzen zu entfernen und den Boden für andere Sämlinge zu bereiten. Tante S. hatte ihr ein winziges Stück des Grund stücks für Blumen und Gemüse zur Verfügung gestellt, so dass sie jeden Zentimeter nutze n musste. „Cindy?" Sie drehte sich erschrocken um. „Meine Güte, wieso schleichst du dich so heran?" „Möchtest du, dass ich wieder gehe und es noch ein weiteres Mal versuche? Das nächste Mal könnte ich vorher pfeifen." „Was ich möchte, ist..." Was ich möchte, bist du, hätte Cindy am liebsten gesagt. Sie hatte kaum geschlafen, weil sie dauernd an Hitch denken musste und daran, wann er wohl fahren und dass sie ihn vielleicht nie wieder sehen würde. Nun, da Mac und Steff in einem von Macs Ski-Hotels wohnten, hatte Hitch keinen Grund mehr, nach Mocksville zurückzukommen. Aber solche Gedanken würden ihn sofort in die Flucht jagen. Er hätte sie nicht küssen dürfen, wenn ihm das eigentlich gar nichts bedeutete! Er war offenbar an solche Zärtlichkeiten ge wöhnt, sie aber nicht! Einmal, vor langer Zeit - Cindy war damals höchstens fünfzehn gewesen -, war sie durch die Hecke gekommen, um Mama Mac eine Kuchenform zurückzubringen, und hatte einen großen, gut aussehenden jungen Mann gesehen, der gerade ein Mädchen küsste, mit ihr schmuste und sie mit hungrigen Augen ansah. Das war Hitch gewesen. Cindy war zu dem Zeitpunkt alt genug, um sich zu verlieben, aber nicht alt genug, um selbst aktiv zu werden. Über die Jahre war er regelmäßiger Gast im Nachbarhaus geworden, und sie hatte ihn aus der Ferne beobachtet - und von ihm geträumt. Und gelauscht, wenn Steff und Maura aufgeregt über ihn tuschelten und sagten, dass sie ihn unheimlich scharf und sexy fänden. Einmal, so munkelte man, hatte sich ein Mädchen namens MayDale in seinem Zimmer versteckt und splitternackt in seinem Bett auf ihn gewartet. Bis Mama Mac sie zufällig entdeckte. Damit war das erledigt gewesen. „Ich denke, du bist gekommen, um dich zu verabschieden", sagte Cindy. „Ich dachte mir schon, dass du heute fahren würdest." Gerade wollte sie die Handschuhe ausziehen, als ihr einfiel, dass ihre Nägel sicher schmutzig waren. Also ließ sie die Handschuhe
lieber an. „Das stimmt." Es klingt so lässig wie damals, dachte Cindy. So sexy wie damals war er allemal. Eigentlich noch viel mehr! „Also dann ... Auf Wiedersehen." Sie lächelte verkrampft. „Hast du Kopfweh? Du bist wohl gestern Abend zu lange unterwegs gewesen?" „Wie kommst du darauf? Nein, nein, ich fühle mich großartig." „Irgendwas stimmt doch nicht, oder? Kann ich etwas für dich tun?" „Ich muss die Sämlinge noch einpflanzen, bevor das Wetter umschlägt. Es soll heute Abend regnen und auch die nächsten Tage. Entlang der Küste baut sich ein tropisches Tief auf." „Du musst das doch nicht machen, Cindy." Sie schaute sich nach den dürren Bohnenstöcken um. Dane ben standen Ringelblumen und Kapuzinerkresse, die Ungeziefer abhalten sollten - was sie leider nicht taten. Noch vor wenigen Wochen hatten die Okra-Pflanzen mit ihren gelben, hibiskusähnlichen Blüten so hübsch ausgesehen, jetzt aber waren sie verwelkt. Die Sämlinge lagen, in feuchtes Zeitungspapier eingewickelt, am Boden. Cindy wollte sie unbedingt noch einpflanzen. „Doch, das möchte ich machen", entgegnete sie schlicht. Hitch umfing ihre Schultern und drehte ihr Gesicht zu sich. Cindy musste sich sehr zusammennehmen, um nicht loszuheulen. Sie schniefte leise. „Hast du je daran gedacht, einen Kurs auf dem College zu belegen? Die meisten bieten auch Abendkurse an." „Wieso, unterrichten die auch Hut-Design?" Hitch konnte Cindys Lebenstraum nicht ganz nachvollziehen. Er ließ sie wieder los. „Nein, die unterrichten praktische Dinge wie Immobilienkunde oder Computertechnik, Dinge, mit denen man Geld verdienen kann." „Was wäre, wenn jemand Rembrandt, Renoir oder Monet ge raten hätte, sich mit Immobilien zu beschäftigen oder zu lernen, wie man mit einem Computer umgeht? Hitch, ich weiß, du meinst es gut, aber ich glaube an mich, auch wenn du es nicht tust." Hitch wollte Cindy erneut berühren, unterließ es aber. „Doch, das tue ich auch, das ist ja das Problem. Aber ich habe kein Vertrauen zu einer Vermarktung, Cindy. Vielleicht ist deine Zielgruppe noch nicht bereit für das, was du zu bieten hast." „Du weißt doch gar nicht, was ich zu bieten habe. Warte mal", sagte sie, rannte weg und ließ Hitch zwischen den Bohnenstauden stehen. „Bleib bitte da!" rief sie über die Schulter zurück und verschwand im Haus. Also gut. Es war seine Schuld, dass er überhaupt gekommen war. Er hätte wissen müssen, dass nichts, was mit Cind y zu tun hatte, so einfach war wie in der Vorstellung. Bevor er den Rückzug antreten konnte, war sie mit einem Stapel riesiger Kartons zurück. „Hier, halt mal", sagte sie heftig atmend. „Aber vorsichtig. Stell sie da ab." Dann klopfte sie sich den Staub von den Handschuhen und öffnete einen der Kartons. Sie nahm einen mit Blumen besteckten Hut heraus, setzte sich das Gebilde auf den Kopf und stellte sich in Pose. „Das hier sind nur Arbeitsproben, musst du wissen. Ich kann es mir noch nicht leisten, teures Material zu kaufen, aber es geht ja um das Design. Wenn man nur zeichnet, kann man sich das Ganze noch nicht richtig vorstellen. Dieser hier heißt .Belle'", erklärte sie. „Ich gebe allen meinen Hüten Frauennamen. Irgendwann wird auch mein eigener mal auf einem Seidenschildchen hinten drin stehen. ,Cindy'. Oder vielleicht doch ,Cynthia', das habe ich noch nicht entschieden." Bevor Hitch darüber nachdenken konnte, hatte sie „Belle" wieder in den Karton gelegt und eine andere Kreation aufgesetzt, eine aus gelbem Stroh mit papierenen Sonnenblumen und einem Schmetterling an der Krempe. Sie spazierte damit vor ihm auf und ab. Hitch applaudierte begeistert.
„Dieser hier ist mein Favorit, aber er ist nur für eine besondere Gelegenheit, eine Hochzeit vielleicht." Vorsichtig setzte sie ein Ensemble mit blassrosa und elfenbeinfarbenen Rosen, die mit winzigen Perlen geschmückt waren, auf ihre wilde rote Mähne. „Den nenne ich ,Mutters Perle'." „Wie nennst du ihn?" „Das ist so ähnlich wie ,Perlmutter', aber ich wollte es etwas verändern. Ist er nicht wundervoll?" „Ja, das ist er", bestätigte Hitch überzeugt. Er verstand nichts von modischen Dingen, konnte aber sagen, ob ihm Formen, Farben und Proportionen gefielen oder nicht. Ihm gefiel zum Beispiel durchaus, wie Cindy gerade aussah, obgleich ihre schlabberigen Jeans, das weite T-Shirt und die staubigen Gartenhandschuhe alles andere als attraktiv waren. Entweder lag es an den ausgefallenen Hüten - oder er steckte in größeren Schwierigkeiten, als er vermutet hatte. „Also, was sagst du dazu? Ich zeige dir noch einen, dann ..." Sie ging tänzelnd an ihm vorbei und hob die Hände, um „Mutters Perle" abzusetzen. Plötzlich stolperte sie über eins ihrer losen Schuhbänder. Da sie den Hut festhielt, wäre sie gestürzt, wenn Hitch sie nicht aufgefangen hätte. „Hey, pass auf!" rief er. „Oje", stöhnte Cindy erschrocken und hielt noch immer den Hut fest. Hitch konnte sich nicht mehr zurückhalten. Cindy lag in seinem Arm, schaute ihn mit großen Augen und leicht geöffneten Lippen an. Die Hände steckten in groben Handschuhen, und dazu trug sie diesen verrückten, perlenbesetzten Hut... Er küsste sie. Auch wenn er sich vorgenommen hatte, einen solchen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Cindy hielt den Hut nur noch mit einer Hand fest und schlang die andere um seinen Hals. Ihre Lippen waren wie eine Blüte, die sich der Sonne öffnet. Sie schmeckte nach Kaffee und Ho nig - und nach ihrer ganz eigenen Süße. Hitch genoss den Moment und hätte ihn sicher verlängert, wenn nicht in der Nähe eine Tür laut zugeschlagen wäre und beide, leicht benommen, auseinander fuhren. Maura stand in einem kirschroten Strickensemble und mit sorgfältig frisiertem Haar in der Seitentür des Hauses und schaute wütend zu ihnen herüber. Hitch schloss kurz die Augen. Er sollte abreisen, solange noch Zeit war. Mac hatte ihn ja gewarnt! Dummerweise hatte er ihn vor der falschen Frau gewarnt. Aber nun war es zu spät. „Wo sind sie!?" rief Maura mit schriller Stimme. „Wer?" fragte Hitch, bevor ihm klar wurde, dass die Frage an Cindy gerichtet war und nicht an ihn. Ihm warf sie nur einen Blick zu, der ihn verstummen ließ. Cindy schaute verwirrt drein. Sie versuchte zu lächeln. „Sie sind vermutlich beim Golfspielen. Ich weiß nicht genau, wie groß der Zeitunterschied ist..." „Ich spreche von meinen Ohrringen!" „Von deinen Ohrringen?" Maura schaute zornig drein. „Du hast doch gehört! Meine besten Ohrringe mit den Perlen und Brillanten, die ich dir für die Hochzeitsparty geliehen habe - gegen besseres Wissen, muss ich dazu sagen!" „Die waren ...", begann Cindy. „Ich habe meine gesamte Schmuckschatulle durchsucht, aber da sind sie nicht drin. Du bist die Letzte, die sie getragen hat, also ..." „Ich habe sie gar nicht getragen, sondern auf deine Kommo de zurückgelegt, da deine Schatulle immer abgeschlossen ist." „Hey, wartet mal", mischte Hitch sich ein. Keine der beiden Frauen reagierte darauf. „Ich habe dein ganzes Zimmer durchsucht, außer dem Abfall, der da herumsteht. Wenn du sie also an einem deiner grässlichen Hüte versteckt haben solltest, gib sie mir
sofort zurück! Andernfalls erstatte ich Anzeige!" Cindy blieb ruhig, war allerdings so blass geworden, dass selbst die Sommersprossen und die blauen Augen kaum noch Farbe zu haben schienen. Hitch wusste nicht, was er tun sollte. „Das muss ein Missverständnis sein", mischte er sich schließlich so sachlich wie möglich ein. „Das geht dich gar nichts an", giftete Maura ihn an. „Das ist nur etwas zwischen mir und dieser kleinen Diebin!" „Schon gut, Hitch", sagte Cindy, „sie sind wahrscheinlich hinter die Kommode gefallen. Ich werde sie schon finden. Und wenn ich dich vor deiner Abreise nicht mehr sehe, wünsche ich dir ..." Ihre Lippen zitterten, dann drehte sie sich um und rannte ins Haus, wobei sie den Hut noch immer festhielt. Die anderen Hüte lagen verstreut im Garten herum.
6. KAPITEL Maura warf ihr einen wütenden Blick über die Schulter zu. Cindy folgte ihr die Treppe hinauf nach oben. Das konnte doch nur ein Missverständnis sein, darum brauchte Maura sich doch nicht so aufzuführen! Am schlimmsten war, dass Hitch nun wegfuhr und einen so schlechten letzten Eindruck von ihr hatte! Nein, das Schlimmste war, dass er überhaupt wegfuhr. Oben angekommen, blieb Cindy einen Moment stehen, um Luft zu schöpfen, dann folgte sie Maura in deren Zimmer. Das sah noch wüster aus als sonst, da Maura gerade dabei war, alle Sachen in Steffs ehemaliges Zimmer umzuräumen und gleichzeitig für New York zu packen. Cindy fand den Umzug ziemlich unsinnig, aber sie hütete sich, etwas zu sagen. Maura hatte schon immer ihre eigene Art gehabt, mit Menschen und Dingen umzugehen. „Ich habe sie dorthin gelegt", erklärte Cindy und zeigte auf eine Stelle auf der Kommode, die zwischen einem verspiegelten Tablett voller Parfümflaschen, einer Schmuckschatulle und einer Haarbürste mit silbernem Rücken war. Der restliche Kram, der auf der Kommode gestanden hatte, war in einem Karton verstaut, wobei noch entschieden werden musste, ob er eingepackt oder ins Eckzimmer von Steff transportiert werden sollte. „Natürlich hast du das gemacht", spottete Maura. „Aber wo sind sie?" „Vielleicht sind sie zwischen die Sachen gefallen, die du eingepackt hast." „Nun hör schon auf, ich weiß genau, was ich eingepackt habe." „Oder sie sind hinter die Kommode gerutscht." „Da sind sie nicht, ich habe schon nachgeschaut." „Maura, ich weiß genau, dass ich sie ..." „Du weißt genau? Dass du sie versetzt hast, vermutlich! Ich hoffe, du hast wenigstens annähernd das bekommen, was sie wert sind! Denn Brillanten und Perlen sind nicht gerade billig!" „Das würde ich nie ..." „Wo sind sie dann? Ich habe dein gesamtes Zimmer auf den Kopf gestellt, um sie zu finden. Aber da waren nur diese ent setzlichen Hüte." Sie zeigte demonstrativ auf den, den Cindy noch in der Hand hielt. „Ich wette, du hast sie auf eine dieser grässlichen Kopfbedeckungen drauf genäht! Das würde zu dir passen!" Cindy fühlte sich elend. „Du weißt genau, dass ich so etwas nie tun würde", flüsterte sie, mehr verletzt als verärgert. Sie lebten nun schon so lange zusammen und hatten, wie alle Familien, ihre Schwierigkeiten, aber Maura und Steff und Tante S. waren doch alles, was sie hatte ... „Dann sag mir endlich, wo sie sind, und versuche nicht, mir weiszumachen, dass sie dir einfach von den Ohren gefallen sind und du sie verloren hast." „Ich habe sie doch gar nicht..." „Ich hätte klüger sein sollen, aber als du Hitch etwas vorge jammert hast und er es Mama gesagt hat und sie Steff dazu brachte, dir ein Abendkleid zu leihen und dazu passende Schuhe, sagte Steff mir, ich müsste auch mein Teil dazu beitragen. Wenn ich doch nur ..." Cindy unterbrach sie. „Maura, ich konnte sie gar nicht verlieren, weil ich sie gar nicht getragen habe! Ich habe keine Löcher in den Ohrläppchen, ich dachte, das wüsstest du." Natürlich wusste Maura das, aber das tat jetzt nichts zur Sache. „Es tut mir Leid. Ich werde alles tun, um sie wieder zu finden, aber ..." „Wir hätten Daddy nie zustimmen sollen, als er dich bei uns aufnehmen wollte! Du bist gar keine richtige Danbury. Mama sagt, deine Mutter war alles andere als ..." „Maura, wenn ich sie nicht finde, bezahle ich sie dir, egal was sie gekostet haben." In Cindys Kopf dröhnte es auf einmal. Sie musste raus hier, sonst würde sie noch etwas ganz Gemeines sagen - und es den Rest ihres Lebens bereuen.
„Die bezahlen? Ha! Womit denn, wenn ich fragen darf?" Mauras Gesicht war rot vor Empörung. „Erzähl mir nicht, dass du endlich diese alte Karre verkaufen willst. Du kannst dir ja nicht mal leisten, sie abschleppen zu lassen, erst recht nicht die Reparatur." Cindys Wagen gehörte zu den vielen Streitpunkten. Alle Stephenson-Frauen fanden es peinlich, dass ein so altes und nicht gerade gut erhaltenes Auto vor ihrer Garage stand, da drinnen kein Platz mehr dafür war. Aber alt oder nicht, Onkel Henry hatte ihn Cindy geschenkt, also konnten sie nicht viel sagen. Auch Steff und Maura hatten von ihm an ihrem achtzehnten Geburtstag jeweils ein Auto bekommen, natürlich ein neues. „Ich brauche nur einen neuen Auspuff", verteidigte Cindy sich. „Sobald es wieder fährt, werde ich es frisch lackieren lassen." „Entweder gibst du mir meine Ohrringe wieder, oder ich rufe den Abschleppdienst an, dass sie die alte Kiste abholen sollen. Es ist gegen das Gesetz, solche Autowracks herumstehen zu lassen." Cindy konnte gelegentlich aufbrausend sein, aber ihr Zorn verrauchte auch schnell wieder. Mauras Zorn dagegen pflegte hartnäckig zu sein, und jeder Ausbruch traf alle in ihrem Umfeld. Cindy hob den Kopf und tat das Einzige, was sie noch tun konnte: Sie presste die Lippen zusammen und ging. Draußen blieb sie erst mal stehen, um Luft zu holen. Dann überlegte sie konzentriert, wo die Ohrringe geblieben sein konnten. Sie erinnerte sich genau daran, dass sie die Ohrringe gern weggeschlossen hätte, obgleich es gar nicht notwendig war, denn in der Gegend stahl niemand und schon gar nicht in diesem Haus. Hatte Steff sie sich vielleicht für die Flitterwochen ausgeliehen? Nein, wohl nicht. Steff hatte selbst einen Haufen Schmuck. Cindy wünschte, sie hätte keine heißen Waffeln zum Frühstück gegessen, denn nun war ihr ganz schlecht. Dabei hatte sie so gehofft, dass, sobald die Hochzeit vorüber war, alles wieder ruhiger laufen würde. Charlie? Der stellte doch ständig irgendetwas an. Hatte er vielleicht...? Nein, der nicht. Vom ersten Tag an hatte immer irgendjemand auf ihn aufgepasst. Wenn sie es nicht war, dann seine Mutter. Charlie war eine Nervensäge, aber kein Dieb. Also entweder mussten die verdammten Dinger sich selbstständig gemacht haben, oder eine der Brautjungfern hatte sie sich ausgeborgt und vergessen, sie zurückzugeben was aber beides nicht sehr wahrscheinlich war. Sonst hatte sich, soweit Cindy wusste, niemand im ersten Stock aufgehalten. Sie allein machte dort alles sauber, bezog die Betten neu, wischte Staub und sammelte ein, was gewaschen werden oder zur Reinigung musste. Cindy stand oben auf dem Treppenabsatz, schloss die Augen und flüsterte: „Wo wäre ich jetzt, wenn ich ein Paar Ohrringe wäre?" Sie dachte noch immer über eine Antwort nach, als Maura die Tür öffnete. „Ich gebe dir eine Stunde Zeit, um die Ohrringe wieder zu beschaffen! Dann rufe ich die Polizei!" Obgleich sich die Arbeit bei ihm zu Hause auf dem Schreibtisch türmte und es einen dringenden geschäftlichen Termin gab, hatte Hitch nicht die geringste Lust zu fahren. Die abhanden ge kommenen Ohrringe würden sich bestimmt wieder anfinden, daran zweifelte er nicht, aber es empörte ihn, dass Cindy so ge demütigt worden war. Wahrscheinlich hatte Maura sie selbst verlegt, aber das würde sie niemals zugeben, geschweige denn sich dafür entschuldigen. Cindy selbst müsste sicher die Wogen wieder glätten. Hitch packte seinen Smoking ein, zog den Reißverschluss der Tasche zu und hängte sie an den Bettpfosten. Er musste an vorhin denken. Daran, wie zauberhaft Cindy mit ihren verrückten Hüten ausgesehen hatte, mit den verschmutzten Gartenhandschuhen und ihrem süßen kleinen Po in den zu weiten Jeans. Keine der Frauen, mit denen er in den vergange nen Jahren ausgegangen war, hätte ihm je eine solch amüsante Szene hingelegt.
Merkwürdig, wie vertraut man mit jemandem in nur wenigen Tagen werden konnte! Maura kannte er seit Jahren, zumindest soweit es sich nicht vermeiden ließ. Sie hatte immer jede Menge Signale ausgesandt, aber ein tief sitzendes Misstrauen gegen sie hatte Hitch davon abgehalten, darauf zu reagieren. Cindy kannte er erst seit einer guten Woche. Aber in der kurzen Zeit hatte er ihren Mut, ihr Temperament und ihre Ehrlichkeit erlebt. Er wusste, dass sie - auch wenn sie manchmal ziemlich belastet war, wenn die Pflichten sich türmten - immer zum Lachen aufgelegt war und bei der Arbeit sang und pfiff. Obgleich sie eine so zierliche Person war, besaß sie eine große seelische Kraft. Auch wenn ihre Träume, Hitchs Einschätzung nach, ein wenig hoch gegriffen waren, so waren sie doch sehr persönlich. Und das war schließlich ihr gutes Recht. Seine Eltern hatten nie verstanden, warum er einen eigenen Weg gegangen war, anstatt das zu tun, was in der Familie üblich war. Hitch fühlte sich souverän genug, um Cindys Illusionen nicht zerstören zu wollen, nur weil er sie nicht teilte. Nachdem er seine Reisetasche im Wagen verstaut hatte - inklusive einer reichhaltigen Wegzehrung von Mama Mac -, ging er zurück, um sich zu verabschieden. Er umarmte Mama Mac, küsste sie auf die Wange, schüttelte Pop die Hand und umarmte auch ihn. „Nein, ihr braucht nicht mit hinauszukommen, draußen ist es brütend heiß, und jeden Augenblick kann es ein Gewitter ge ben", erklärte Hitch. Wie ein Echo seiner Worte begann es in der Ferne zu donnern. „Pop, denk mal an das Wandbord, von dem wir gesprochen haben. Da gibt es noch viel Platz, den man nut zen sollte. Mama, oh, nein, weine bitte nicht." Er versprach, bis zum nächsten Besuch nicht mehr so viel Zeit verstreichen zu lassen, und nahm sich vor, ab jetzt mindestens ein oder zwei Mal pro Jahr zu kommen. Die MacCollums wur den nicht jünger, und Mac würde von nun an sehr mit seiner Ehefrau beschäftigt sein. Hitch war ganz in Gedanken, als er nach draußen ging, wo sich tatsächlich ein heftiges Unwetter zusammenzubrauen schien. Plötzlich hörte er Mauras schrille Stimme von der anderen Seite der Hecke herüber. „Der einzige Grund, warum ich dich gehen lasse und nicht die Polizei rufe, ist der, dass ich nicht will, dass der Name Danbury in den Schmutz gezogen wird!" „Was zum Teufel soll denn das?" murmelte er vor sich hin. Hitch stellte seine Tasche ab und ging durch die Lücke in der Hecke auf die andere Seite. Cindy war anscheinend gerade dabei, Müll hinauszutragen. Durch die Vordertür? wunderte er sich. „Jeder weiß, dass du keine echte Danbury bist!" schrie Maura Cindy hinterher. „Und dass wir dich nur aus Mitleid bei uns aufgenommen haben! Das ist nun der Dank dafür!" Gerade begannen die ersten Tropfen zu fallen. Cindy hob eine der großen Plastiktüten auf die Schulter, drehte sich um und sagte nur kühl: „Halt den Mund, Maura!" Hitch blieb vor Staunen fast der Mund offen stehen. Bis jetzt hatte noch keine der beiden Frauen ihn bemerkt. Er wusste nicht, was hier los war, aber jetzt konnte er nicht mehr unbemerkt verschwinden. Cindy war manchmal etwas aufbrausend, aber das eben war kein Zornesausbruch, sondern tiefe Verzweiflung. Er war schon halb im Garten und ging gerade um die Magno lie herum, als Maura die Haustür so heftig zuschlug, dass die farbigen Glasscheiben in ihren Bleifassungen klirrten. „Gibt es ein Problem?" fragte er, sobald er bei ihr war. Cindy drehte sich nach ihm um. Ihre Augen waren gerötet. Sie blinzelte die Tränen weg und versuchte zu lächeln, aber gerade das zeigte nur, in welch traurigem Zustand sie sich befand. „Kann ich dir mit deinem ... damit helfen?" Er wies mit dem Kinn auf die beiden riesigen Plastiktüten, die sie hinter sich herzog. Die leeren Hutschachteln wurden gerade vom Wind über den Rasen geweht. „Ja, du könntest mir ein Taxi rufen, ich weiß die Nummer nicht." „Na klar. Wohin willst du denn?"
„Irgendwohin. Vielleicht nach Winston. Oder nach Charlotte. Ich habe mich noch nicht entschieden." „Mit dem Taxi?" Hitch fragte sich, ob Cindy eine Ahnung hatte, wie viel das kosten würde. Sie hatte mal etwas von Ersparnissen gesagt, aber eine Taxifahrt nach Charlotte würde die sicher um ein gutes Stück verringern. „Ich könnte dich irgendwo hin fahren", bot er an. Cindy protestierte höflich, aber dann wirkte sie plötzlich so niedergeschlagen, dass Hitch sie am liebsten ins Haus getragen, sie getröstet und ihr versichert hätte, dass alles wieder in Ordnung kommen würde. „Es gibt irgendwo eine Busstation", sagte sie leise. „Ich weiß nicht genau wo, aber ich kann dir die Richtung zeigen." Mocksville war eine kleine Stadt, im Grunde ein Dorf. „Und wann fährt der nächste Bus?" „Keine Ahnung", entgegnete sie tonlos. Hitch verfrachtete Cindy in seinen Wagen und legte ihre Tüten auf seine Reisetasche. „Weißt du denn, wohin er fährt?" „Nein, nicht genau, Hauptsache, weg." Weg. Das sagte alles. „Kannst du dir überhaupt ein Busticket leisten?" Cindy schaute ihn mit großen Augen an. Ihr Kinn zitterte. „Ich weiß es nicht, aber ich glaube schon." Hitch fuhr erst mal ins Zentrum und parkte im Schutz der rie sigen Platane vor dem Gerichtsgebäude. Der Regen strömte inzwischen gleichmäßig herab. In den Hauseingängen suchten Leute Schutz vor dem Unwetter. Die Luft roch nach feuchtem Staub. „Erzähl mir erst mal alles", schlug er vor. „Wenn ich weiß, worum es geht, kann ich dir eher helfen." Cindy schwieg eine ganze Weile. Dann begann sie zu erzählen. „Ich bin keine Diebin, Hitch, das musst du mir glauben." Gerade so, als hätte er je an ihrer Ehrlichkeit gezweifelt. „Ich weiß nicht, wo die Ohrringe sind, die ich am Hochzeitsfest tragen sollte. Aber ich habe sie genau dahin gelegt, wie ich es beschrieb, auf Mauras Kommode, neben die Schmuckschatulle. Ich weiß, dass sie wertvoll sind, und hätte sie auch lieber hineingelegt, aber sie ist immer abgeschlossen." Hitch wartete. Ein falsches Wort im falschen Moment, und Cindy würde sich verschließen wie eine Muschel. „Ich weiß nun nicht mehr, was ich noch tun soll. Auf keinen Fall kann ich noch länger bleiben. Nicht, wenn Maura damit droht, die Polizei zu rufen." Sie schluckte. „Ich habe etwas Geld. Zumindest reicht es für ein Busticket und ein Zimmer, und dann suche ich mir einen Job." Ihr gequältes Lächeln brach Hitch beinahe das Herz. „So viel hast du immerhin?" „Na ja, ich hatte ein ganz schönes Sümmchen gespart, zumindest für meine Verhältnisse, aber ich habe Maura einen Scheck ausgeschrieben, als Schadenersatz für die Ohrringe. Sie wusste nicht genau, wie viel sie wert sind, aber ich soll sie anrufen, und dann sagt sie mir den Preis, sobald sie ihn herausgefunden hat." Cindy bewegte sich unruhig auf ihrem Sitz hin und her und schob den Daumen unter den Sitzgurt. „Gut, also du bist pleite und hast..." „Nein, das bin ich nicht. Ich habe noch dreiundsechzig Dollar und ein bisschen Kleingeld. Damit kann ich bestimmt eine Fahrkarte nach Charlotte bezahlen, und wenn das nicht reicht, eine bis nach Winston-Salem. Ich wollte lieber weiter weg, auch wenn mir sicher niemand dahin folgt, aber ..." „Cindy, nun denk bitte mal vernünftig nach." „Wie bitte? Was glaubst du wohl, was ich bisher getan habe!" „Bisher hast du nur deinen Stolz sprechen lassen. Oder wozu immer die Fantasiewelt
dich inspiriert, in der du lebst." Cindy war betroffen, das sah man deutlich. „Also gut, wir werden Folgendes machen", lenkte er ein. „Als Erstes verschwinden wir von hier. Sobald wir das Unwetter hinter uns haben, halten wir an und denken über die Situation nach. Am besten bei einem Essen. Ich kann mit vollem Magen besser denken. Bist du damit einverstanden?" Cindy wusste nicht, ob sie lachen, fluchen oder weinen sollte. So wie sie Hitch anschaute, konnte es auch heißen, dass sie ihm gleich eine Ohrfeige verpassen würde. Ein Blitz erhellte den Himmel, dem sogleich eine ganze Reihe krachender Donnerschläge folgte. Cindy zuckte zusammen. Hitch löste seinen Sitzgurt und ihren und nahm Cindy beruhigend in die Arme. Sie wehrte sich nicht, was er als gutes Zeichen wertete. „Wie ich schon sagte", sie schwieg einen Moment. „Was wollte ich sagen?" „Wir fahren erst mal in Richtung Norden, essen ein Steak und überlegen dann, was du machen kannst. Ich denke, zwei Köpfe sind in einer solchen Situation besser als einer." „Ich kann jetzt nichts essen. Höchstens ein paar Cracker. Die bekommt man an der Busstation in Winston, wo du mich absetzen kannst." „Cracker, na gut", murmelte Hitch, zündete den Motor und schaute in den Rückspiegel. Dann wendete er verbotenerweise auf der Straße und fuhr in Richtung Norden auf die 158. Einige Meilen vor der Stadt entschied er sich für die 1-40. Bis zur Kreuzung an der Yadkin-River-Brücke schwiegen beide. Dann sagte Cindy: „Ich glaube, in der Nähe der Busstation ist eine Ausfahrt. Ich musste mal eine von meinen Montags-Damen dorthin bringen, wo sie ihren Enkel treffen wollte, als er aus der Militärschule in Virginia kam." Hitch blickte sie von der Seite an. „Deine Montags-Leute werden dich bestimmt vermissen." Cindy seufzte. „Ich weiß. Aber sie haben sich vielleicht inzwischen daran gewöhnt, dass ich nicht für sie da bin. Denn wegen der Hochzeit und meines kaputten Auspuffs konnte ich in le tzter Zeit ohnehin nicht viel für sie tun." „Wegen deines Auspuffs?" Das zumindest zauberte ein schläfriges Lächeln in ihr Gesicht. „Ja, ich brauche unbedingt einen neuen, hat die Polizei gesagt. Aber nun ..." „Nun? „Nun wird es wohl nach Mauras Wünschen gehen. Sie hat ge droht, den Wagen verschrotten zu lassen. Alle hassen ihn, aber da Onkel Henry ihn mir geschenkt hat, konnten sie bislang nicht viel sagen." Cindy gähnte verstohlen. „Hör zu, du solltest erst mal ein Nickerchen machen. Ich wecke dich, sobald wir da sind." Hitch erklärte nicht, was er mit „da" meinte, und Cindy war schon eingeschlafen, als sie gerade durch Clemmons hindurch waren. Hitch sah keinen Sinn darin, in WinstonSalem nach der Busstation zu suchen. Er würde Cindy auf keinen Fall mit ihren beiden Plastiktüten und den sechzig Dollar einfach dort absetzen. Nach einer Weile stellte er das Radio an und fand einen Sender mit aufmunternder Musik, die Cindy vielleicht in gute Stimmung versetzen könnte. Denn womöglich würde es schwierig werden, sie von seinem Vorschlag zu überzeugen. Als Hitch in der Ferne ein Restaurant entdeckte, bog er in die Richtung ein. Cindy gähnte, streckte sich, öffnete die Augen und fragte: „Sind wir schon da?" „Beinahe." Sie setzte sich gerade hin und rieb sich den Nacken. „Oh, es ist ja schon stockdunkel!" „Hmm." „Aber das hier ist nicht Winston-Salem." „Nein."
„Hitch, wo sind wir denn?" „In der Nähe von Green Bay." „In Wisconsin?" Sie rüttelte an seinem Arm, so dass der Wagen leicht ins Schleudern geriet. Zum Glück war die Straße trocken, denn kurz vor der Staatsgrenze hatte es aufgehört zu regnen. „Nein, Green Bay, Virginia. Wenn du etwas zu essen haben möchtest, solltest du aufhören, den Fahrer zu stören. Er braucht nämlich einen Kaffee, außerdem ein paar Pommes frites oder ein Stück Fleisch." „Du lieber Himmel", flüsterte Cindy. Aber sie geriet weder in Panik, noch fragte sie, wo Hitch sie eigentlich hinfuhr. „Wie ich schon sagte, wir reden beim Essen darüber", versicherte er. Das war im Moment das Einzige, was er ihr versprechen konnte. Er wusste selbst nicht recht, was er eigentlich tat, geschweige denn, wieso. Er wusste nur, dass es seit dem Beina heunfall eine besondere Verbindung zwischen ihnen gab - eine, die ihm zu schaffen machte. Vielleicht sogar schon seit dem Moment, als sie ein mageres, großäugiges Kind gewesen war, das aus der Ferne beobachtet hatte, wie er, Mac und die anderen Jungs sich auf dem Nachbargrundstück mit irgendwelchen Mädchen vergnügt und versucht hatten, sich gegenseitig auszustechen. Cindy streckte die Beine und versuchte eine Position zu finden, die nicht allzu unbequem war. Lange zu sitzen fiel ihr wegen der Hüftverletzung immer schwer. „Ich glaube, das ist das Merkwürdigste, was ich je erlebt ha be. Du hast mich doch nicht etwa gekidnappt, oder? Denn niemand würde auch nur einen Pfennig für mich bezahlen, um mich zurückzubekommen." „Erinnerst du dich daran, dass wir beschlossen haben, Freunde zu sein?" Ja, daran erinnerte Cindy sich. Das war gleich nach dem ersten Kuss gewesen. Oder nach dem zweiten. Aber selbst vor dem Kuss heute im Garten hatte Cindy schon gewusst, dass das Wort Freundschaft nicht das beschrieb, was sie für diesen Mann emp fand. Sie spähte aus dem Fenster, schaute auf die hell erleuchtete Front des Fast Food Restaurants und überlegte, was ihr im Moment mehr zu schaffen machte: die Hüfte, ihre Blase oder ihr Stolz. Der Stolz stand erst an dritter Stelle. Als Erstes musste sie sich bewegen, um die Gelenke zu entlasten. Aber Hunger hatte sie auch, denn seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr zu sich genommen. Um ihre Nervosität zu überdecken, schwatzte sie drauflos. „Meine Mutter hat mal gesagt, dass Rothaarige Kalorien schneller verbrauchen als andere. Darum konnte ich immer Süßigkeiten essen, ohne anzusetzen. Sie leider nicht. Nicht dass sie dick war, aber ..." Cindy zupfte an ihrem T-Shirt und versuchte ihre Verlegenheit zu kaschieren. „Ich muss mich erst ein bisschen frisch machen. Würdest du mir schon einen Cheeseburger, Pommes frites und Kuchen bestellen. Aber nur, wenn er gut aussieht?" „Mach ich", versprach Hitch. Cindy dachte auf einmal, dass sie sich am liebsten an ihn ge kuschelt hätte und dort gern so lange geblieben wäre, bis sich die Situation wieder normalisiert hätte. Hitch ist sehr fürsorglich, dachte sie, während sie die Tür zur Damentoilette aufstieß. Bei einem so kantigen Gesicht, einer so kräftigen Nase und einem so intensiven Blick erwartete man das nicht von ihm. Außerdem war er unheimlich sexy. Das durfte sie nicht vergessen, wenn sie nur Freunde bleiben wollten! Es war jedoch nicht der Moment, die Dinge durch unangemessene Gedanken noch komplizierter zu machen, als sie es ohnehin waren. Cindy spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem Papiertuch ab. Warum habe ich nur nichts Hüb scheres an, dachte sie noch, bevor sie wieder nach draußen ging. „Ich bin nicht passend dafür gekleidet, empört zu sein", erklärte sie, als sie ein paar
Minuten später neben ihn auf die Bank in einer Nische glitt. Das Lokal war ziemlich leer. Das Personal wirkte schläfrig. „Wie bitte?" „Richtig aufgebracht, verstehst du? So wie man es ist, wenn man das Gefühl hat, alle Menschen und die ganze Welt haben sich gegen einen verschworen." „Ah, so. Nun, was das anbetrifft, so habe ich mir, als du unterwegs eingenickt warst, Gedanken gemacht und möchte dir einen Vorschlag machen. Mehrere sogar. Willst du sie hören?" „Wozu sind Freunde sonst da, als sich gegenseitig zuzuhören." „Also gut. Idee Nummer eins ist, dass das alles aus einem höheren Grund passiert ist. Du brauchtest etwas, das dich aus einer unhaltbaren Situation befreite, die deine ... sagen wir Kreativität behinderte." „Meine Hüte, meinst du? Ich dachte, die magst du nicht?" „Ich habe bei deiner Vorführung applaudiert, oder? Es war das erste Mal, dass ich eine Modenschau gesehen und freiwillig Beifall geklatscht habe." Ihre Bestellnummer wurde aufgerufen, und Hitch ging hin, um das Essen abzuholen. In den nächsten Minuten waren sie mit Auspacken, Ketchup-Drübergießen und mit der Milch für den Kaffee beschäftigt. „So", sagte Cindy, nachdem der erste Hunger gestillt war, „Idee Nummer eins ist, dass ich deiner Meinung etwas brauchte, was mich aus dem Nest stieß, richtig? Ich weiß, dass ich dir von meinem Plan erzählt habe, gleich nach der Hochzeit und Mauras Abreise ..." „Guck mir in die Augen und sag mir, dass du wirklich gegangen wärst und deine Tante in dem großen Haus allein gelassen hättest. Also los, ich möchte es hören!" „Nun ... natürlich wäre ich erst gegangen, nachdem sie jemanden gefunden hätte, der ein paar Tage die Woche für sie sorgen könnte. Vielleicht sogar eine Art regelmäßiger Betreuung. Tante S. ist noch nicht wirklich alt, aber doch ziemlich, hmm, abhängig." „Stimmt. Was meinst du wohl, wie lange es dauern würde, bis sie jemanden fände, der zu den gleichen finanziellen Bedingungen wie du für sie arbeiten würde?" „Äh, ich habe keine ..." Cindy machte eine vage Handbewegung und biss noch einmal von ihrem Cheeseburger ab. Als sie fertig gekaut und hinuntergeschluckt ha tte, sagte sie: „Also gut, ein Punkt für dich. Du sprachst aber von zwei Ideen." „Habe ich das?" Hitch wischte ein bisschen Mayonnaise von Cindys Mundwinkel. Die Berührung kam Cindy auf einmal fast intim vor. Sie ermahnte sich, nicht schon wieder zu träumen. Oder wenn sie schon träumte, sich an erfüllbare Träume zu halten, bei denen die Verwirklichung nicht von anderen abhinge, sondern nur von ihr selbst. „Also gut, Idee Nummer zwei ist, dir eine Art Operationsbasis zu schaffen, bis du den nächsten Schritt planen kannst. Eine Busstation ist ziemlich ungeeignet dafür, über die Zukunft nachzudenken, findest du nicht?" Cindy nickte. Der Gedanke hatte ihr ebenfalls nicht gerade behagt, aber ihr war nichts Besseres eingefallen. „Gut. Du hast kein bestimmtes Ziel, keinen wirklichen Plan und nur gerade genug Geld, um ein paar Mahlzeiten und eine Nacht oder zwei in einem billigen Hotel bezahlen zu können. Stimmst du mir bis dahin zu?" Cindy war sich nicht sicher, ob sie wirklich alles so genau dargelegt haben wollte. „Dann werde ich dir also jetzt erklären, was ich vorzuschlagen habe."
7. KAPITEL „Nein." „Oh, doch." „Hitch, nenn mir einen triftigen Grund, warum ich das tun sollte." Cindy hatte Angst vor dem Vorschlag, den er gemacht hatte. Irgendwo hatte sie gele sen, dass die Opfer von Entführungen ihren Entführern oft hörig wurden. Hitch hatte sie zwar nicht gekidnappt, andererseits schien sie auf dem Weg zu sein, sich in ihn zu verlieben. Und wenn sie mit ihm nach Hause führe ... „Wie wäre es sogar mit drei guten Gründen?" „Du und deine Gründe." Es war schon spät, und sie waren beide nach dem anstrengenden Tag ziemlich erschöpft. „Hey, ich bin ein technisch denkender Mensch, und die versuchen immer logisch vorzugehen." „Und ich bin Modistin. Ein kreativer Prozess hat mehr mit Instinkt und Eindrücken zu tun als mit sachlichen Gründen. Und mein Gefühl sagt mir im Augenblick, dass es nicht gut wäre. Was meinen Eindruck betrifft..." Cindy hielt inne und strich über den Tellerrand. „Also, was ist dein Eindruck?" Cindy zwang sich, Hitch anzusehen. Er meinte es sicher gut mit ihr. Aber seine Art verunsicherte sie. Ihr wurde bewusst, dass sie, sobald es um Männer ging, doch recht ahnungslos war, auch wenn sie zusammen mit Steff und Maura aufgewachsen war. Dabei hatte sie einiges mitbekommen, wenn es bei den beiden um „Kerle" und „Typen" und so ging. Aber Hitch konnte sie schlecht einordnen. Sie wusste also nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. „Ich schildere dir meinen Eindruck, sobald du mir erklärt hast, wieso ich erst mal bei dir wohnen sollte." „Abgemacht. Grund Nummer eins: Du bist erschöpft. Das sind wir beide. Es war ein anstrengender Tag, in jeder Hinsicht. Das heißt, wir sollten uns als Erstes richtig ausschlafen, okay?" Cindy nickte. „Zweitens: Wenn du dein Geld für ein Hotelzimmer und das Frühstück ausgibst, hast du nichts mehr übrig für andere Dinge. Die meisten Pensionen verlangen beim Einzug eine Kaution und die Monatsmiete im Voraus. Du müsstest also einen Kredit aufnehmen." Cindy schaute besorgt drein. „Ich glaube einfach, dass du keine Wahl hast." „Und ich finde es schrecklich, Schulden zu haben. Das liegt natürlich an der Sache mit Mauras Ohrringen." „Sag mal, nur aus Neugier, welche Summe hast du eigentlich auf den Scheck geschrieben?" Cindy seufzte, aber da Hitch ohnehin schon alles Mögliche von ihr wusste, machte das nun auch nichts mehr. „Meine Ersparnisse betrugen insgesamt 372 Dollar und 57 Cents. Ich habe ihr einen Scheck über 350 Dollar ausgestellt. In meinem Portemonnaie war noch etwas Kleingeld, und ein bisschen ha be ich auf dem Bankkonto gelassen, falls irgendwelche Gebühren fällig sind." Hitch raufte sich im Geiste die Haare. Er hatte Küken gesehen, die mehr Überlebenswillen hatten als diese Frau! „Ich nehme an, du hast es dir von Maura quittieren lassen?" Cindy schüttelte den Kopf. „Ich bekomme ja einen Bankaus zug. Oh, da fällt mir ein, dass ich mir meine Post nachsenden lassen muss, sobald ich eine neue Adresse habe." „Kein Problem. Hast du Maura übrigens nach einem Kaufbeleg für die Ohrringe
gefragt? Irgendetwas, das beweist, dass sie dreihundertfünfzig Dollar wert sind?" „Natürlich nicht. Maura sagte, sie seien ein Geschenk ihres Vaters, und Onkel Henry war immer sehr großzügig. Was den nostalgischen Verlust angeht, so kann ich es gar nicht wieder gutmachen. Es waren große graue Perlen, mit Brillanten eingefasst, in einer Weißgoldfassung." „Hört sich ziemlich protzig an." „Na ja, kann schon sein. Eigentlich mag ich auffällige Sachen, aber diese Ohrringe waren vom Stil her überhaupt nicht das, was mir gefällt." Hitch legte seine Hand auf ihre. „Ich fange an, deinen Stil zu erkennen. Um es noch mal klarzustellen: Du hast ihr also fast dein ganzes Geld gegeben, und das nur, weil du glaubtest, es ihr schuldig zu sein." „Das ist nicht ganz richtig. Ich schuldete es ihr nicht, denn ich habe die Ohrringe wirklich auf die Kommode zurückgelegt. Nur sind sie eben verschwunden. Und da Maura sie mir leihen wollte, fühle ich mich verantwortlich." „Hm, ich verstehe." „Übrigens", Cindy unterdrückte ein Gähnen, „du hast noch nicht den dritten Grund dafür genannt, warum ich mitkommen soll." „Na gut. Grund Nummer drei ist, dass du nun ganz frei bist." Hitch blickte Cindy aufmunternd an. „Und du brauchst einen Platz, um dich zu erholen, etwas Ruhe zu finden und dir Zeit für eine vernünftige Zukunftsplanung zu nehmen." Cindy gähnte erneut. „Das war Grund Nummer eins, nur in anderen Worten." „Sieh es nicht so nüchtern, schließlich bist du Künstlerin." „Du schuldest mir also noch einen Grund, aber ich bin einfach zu müde, um noch weiter zu argumentieren." „Dann lass uns gehen. Ich bin jetzt wieder wach genug, um uns zu mir nach Hause fahren zu können", sagte Hitch. „Dort kannst du es dir gemütlich machen, solange du willst, während ich versuchen werde, in meinem Büro den Rückstand aufzuarbeiten." Er streckte ihr die Hand hin, und Cindy ließ sich aufhelfen. Es war schon heller Vormittag, als der Hunger Cindy endlich aus dem kleinen Gästezimmer trieb, das normalerweise nur als Aufbewahrungsort für Akten, Zeitungsausschnitte, Fachzeitschriften und Kartons diente. Das Einzige, was Cindy am Vorabend interessiert hatte, als Hitch ihr das kleine Zimmer zeigte, waren das bequeme Bett und das angrenzende Bad gewesen. Nun lockte sie der köstliche Duft von frischem Kaffee und krossem Speck. Cindy wunderte sich, dass sie so lange und so tief geschlafen hatte. Traumlos sogar, was bei ihr selten vorkam. Die beiden großen Plastiktüten - die eine mit den Hüten und dem Arbeitsmaterial, die andere mit persönlichen Dingen - waren noch da, wo Hitch sie abgestellt hatte. Abends hatte Cindy nur noch ihr Nachthemd und die Zahnbürste hervorgeholt. Nun kramte sie darin herum, um ihre Haarbürste zu finden und etwas zum Anziehen, das nicht allzu zerknittert war. Denn ob Hitch ein Bügeleisen besaß, war zu bezweifeln. Selbst seine Jeans sahen aus, als hätte man sie in der Wäscherei in der Heißmangel geplättet. Wäre Maura nicht dauernd mit Extrawünschen angekommen, hätte Cindy vielleicht einen Koffer finden können. Die Hüte mussten ohnehin neu verpackt werden, denn sie konnte die vielen Kartons schlecht einzeln tragen. Was ihre Kleidung betraf, so mochte sie ihren alten Kinderkoffer nicht mehr benutzen. Auf dem waren noch Aufkleber von Trickfilmfiguren. Immerhin hätte sie ihre Sachen glatt hineinlegen können, anstatt sie in eine Plastiktüte zu stopfen. Aber den alten Koffer hatte Tante S. bestimmt längst zur Wohlfahrt gegeben. Genauso wie das Spielzeug, das Cindy mit gebracht hatte, als sie damals zu den Stephensons gekommen war. Wochenlang hatte sie darüber Tränen vergossen. Aber das alles war
inzwischen Vergangenheit. Nun stand sie an der Schwelle der Zukunft. Cindy zog einen schlichten Baumwollrock und ein Polohemd an, das sie im Ausverkauf erstanden hatte. Das müsste für die Jobsuche reichen. Das meiste von dem, was ihr die Stiefcousinen überlassen hatten, hatte sie in Mocksville zurückgelassen. „Das Frühstück ist fertig. Kommst du zu Tisch?" Abends war sie viel zu müde gewesen, um über ihre Situation nachzudenken, aber nun musste sie der Realität ins Auge sehen. Es würde ein Seiltanz werden. Hitch durfte auf keinen Fall merken, welche Gefühle sie für ihn hegte. Nichts war schlimmer, als in jemanden verliebt zu sein, der einen nur als Objekt für eine gute Tat ansah! „Ich mache danach den Abwasch und räume auf", bot sie an, sobald sie die Küche betrat. Der Herd war voller Fettspritzer, es lagen Eierschalen und Brotkrumen herum, auf dem Tresen stand schmutziges Geschirr. Hitch war bestimmt ein großartiger Industriedesigner, aber als Hausmann offenbar wenig begabt. „Nicht nötig, ich habe eine Putzfrau." „Doch, darauf bestehe ich." „Meinetwegen, aber das brauchst du wirklich nicht. Und für zwei Personen Essen zuzubereiten ist nicht schwieriger als für eine. Das Frühstück fällt auc h bei mir allein immer üppig aus." Cindy nahm Saft aus dem Schrank. Der war zwar laut Verfallsdatum nicht mehr ganz frisch, aber es würde wohl noch ge hen. Im Kühlschrank fand sie Butter und etwas Kondensmilch, die sie für ihren Kaffee brauchte. Hitch legte Cindy Speck auf den Teller und nahm sich ebenfalls davon. „Übrigens habe ich nachgedacht. Ich sehe keinen Sinn darin, dass du Geld, das du gar nicht hast, für ein Zimmer ausgeben solltest/wenn ich hier ein unbenutztes Bett habe." Er schaute Cindy aufmerksam an. Ihr wurde bewusst, dass sie ihr dichtes Haar zwar sorgfältig gekämmt und einigermaßen gebändigt hatte, ihre Sommersprossen aber nur mit dickem Make-up zum Verschwinden gebracht wurden. „Na, wie hast du geschlafen?" fragte er fürsorglich. „Ganz wunderbar! Vermutlich habe ich geschnarcht wie ein Bär." Hitch holte die Kanne, um Kaffee einzugießen. Er bewegt sich geschmeidig, dachte Cindy. Wie ein Athlet, der jeden Körperteil bewusst einsetzt und bei dem alles in Einklang miteinander ist ... Auch sein Lächeln gefiel ihr immer wieder. Außerdem war er sehr gepflegt, wirkte männlich und verströmte einen frischen Duft nach After Shave. Sie schloss unwillkürlich die Augen. „Hör zu, mein Plan ist folgender: Ich werde viel Zeit im Büro verbringen, da ich den Rückstand aufholen und ein paar neue Projekte in Angriff nehmen muss. Normalerweise komme ich spät nach Hause, sehe mir nur noch die Nachrichten an und ge he ins Bett. Das heißt, dass du die Wohnung die meiste Zeit für dich allein hast. Du kannst dir inzwischen alle möglichen Informationen besorgen, Telefonate erledigen, eine Liste aller etwaigen Jobs erstellen und dich nach einer Bleibe umhören. Später besprechen wir dann, wie es weitergeht. Das heißt, du brauchst den Rest deines Kapitals erst mal nicht anzugreifen. Hört sich das vernünftig an?" „Für mich hört es sich prima an, aber was hast du davon?" „Vielleicht ein bisschen Glanz für meinen Heiligenschein?" Hitch lächelte. Cindy fragte sich, wie sie wohl gegen den umwerfenden Charme dieses Mannes ankommen sollte. „Wie wäre es, wenn ich dafür das Kochen und das Saubermachen übernehme? Außerdem verspreche ich, dass ich keine teuren Ferngespräche führe. Zum Einkaufen gehe ich nur in Supermärkte, und ..." „Ich nehme nur die ersten beiden Vorschläge an?" Sie redeten hin und her und einigten sich schließlich. Cindy war vernünftig genug zu wissen, dass sie gar keine Wahl hatte.
Eine halbe Stunde später nahm Hitch seinen Aktenkoffer und fuhr ins Büro. Vorher machte er Cindy noch auf eine Reihe von Anzeigen aufmerksam. Außerdem gab er ihr die Telefonnummer eines Lebensmittellieferanten und erklärte ihr, dass sie bei dem alles bestellen könnte, was sie für nötig hielt. Das klang geradezu so, als täte sie ihm damit einen Gefallen. In Wirklichkeit pflegte er nur zu Hause zu frühstücken und ging ansonsten auswärts essen. Als er im Büro ankam, rief er als Erstes die Putzfrau an, die sonst zwei Mal pro Woche kam, und erklärte ihr, dass er ihre Dienste einstweilen nicht benötigte. Da Mrs. Murphey mehr Kunden hatte, als sie bewältigen konnte, nahm Hitch ihr keine Arbeit weg. Sie war sogar ganz froh, etwas mehr Zeit zu haben. Dann rief er noch seine Eltern an. Nach dem zweiten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Obgleich sie nicht im Te lefonbuch standen, zogen seine Eltern es vor, Anrufe erst einmal aufzuzeichnen. Hitch hinterließ, dass er aus Mocksville zurück sei und sich in ein paar Tagen wieder melden würde. Was ein pflichtbewusster Sohn so sagte, den immer ein schlechtes Gewissen plagte. Aber man konnte es schließlich nicht allen recht machen. Wenn es wirklich dringend war, war er immer zur Stelle. Dabei musste er daran denken, wie es Cindy wohl ergangen wäre, wenn er bei ihrem überstürzten Auszug nicht zufällig zur Stelle gewesen wäre. Hitchs Partner verließ an diesem Tag vorzeitig das Büro, weil er zum Kindergeburtstag seines Neffen gehen wollte. Die gemeinsame Sekretärin ging um fünf. Der Rest der Mannschaft arbeitete von zu Hause aus. Hitch blieb bis sieben Uhr, um nicht allzu viel Zeit zu Hause verbringen zu müssen. Wenn Mrs. Murphey da war, stand gelegentlich ein Auflauf oder Ähnliches für ihn bereit. Aber meistens ging er in ein Steakhaus oder holte sich eine Pizza. Wenn es eine interessante Fernsehsendung gab, holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und machte es sich auf dem Sofa bequem. Für Sport interessierte er sich wahrscheinlich vor allem, weil seine Eltern ihn schon als kleinen Jungen mit in Konzerte, Opern und ins Theater geschleppt hatten. Ein paar Jahre später zahlte sich sein Sportinteresse allerdings aus, denn er bekam ein FootballStipendium. Das war der Beginn seiner häus lichen Rebellion gewesen. Nun, viele Jahre später, lebte er selbst einen beinahe luxuriö sen Lebensstil mit maßgeschneiderten Anzügen und Ähnlichem. Seine Firma lief immer besser. Aber er hatte nur so viel oder so wenig gesellschaftliches Leben, wie er selbst es wollte. Nur gelegentlich, wenn ihn das schlechte Gewissen plagte, rief er bei seinen Eltern an, verabredete einen Besuch und fuhr zu ihnen nach Lynchburg. Nun beunruhigte ihn der Gedanke, wie Cindy wohl in sein typisches Junggesellenleben passen würde. Seine Eltern riefen nur selten an. Was würden sie wohl dazu sagen, wenn plötzlich eine Frau am Apparat war? Ach, das konnte ihm schließlich völlig gleichgültig sein. Immerhin war er schon vierunddreißig, lebte seit langem allein und war unabhängig. Und wenn er ein Dutzend Frauen gleichzeitig hätte, ginge das niemanden etwas an! Hitch musste daran denken, wie Cindy, als er morgens wegge fahren war, gemütlich in seinem alten Ledersessel gesessen hatte, die Kleinanzeigen studierte und nach der magischen Überschrift suchte, die ihre Aufmerksamkeit erregen und zu der ihr Interesse an ausgefallenen Hüten irgendwie passen würde. Ach, mein Schatz, dachte er zärtlich, während er auf den Parkplatz hinter dem Haus fuhr, es wird nicht so leicht sein, wie du denkst. Am nächsten Tag wollte er seine Sekretärin bitten, nach einer preiswerten Wohnung für Cindy zu suchen, in einer akzeptablen Umgebung. Hitch wollte Kaution und Courtage übernehmen, ohne dass Cindy davon erführe. Was bestimmt nicht leicht war, denn sie war zwar in vielen Dingen unerfahren, aber
nicht dumm. Das Erste, was ihn empfing, als er die Tür aufschloss, war ein Duft, der ihn an Mama Mac denken ließ: Schmorbraten! Mrs. Kueber, die Köchin und Haushälterin seiner Mutter, hatte nie Schmorbraten gemacht. „Hallo, Hitch, ich wusste nicht, wann du nach Hause kommst. Darum habe ich etwas gekocht, das man warm halten kann." Cindy war barfuß. In ihrem Lockengewir r steckte ein Bleistift. Sie trug die für sie typischen Jeans und hatte das T-Shirt um die Taille verknotet. Irgendwie wirkte sie wie sechzehn. Dabei wusste Hitch ganz gut, dass sie zwar manchmal etwas unrealistisch war, aber weder ihr Kopf noch ihr Körper von Unreife zeugten! „Ach, meine Liebe, das wäre doch nicht nötig gewesen." „Ich hatte aber Lust, etwas Richtiges zu kochen, und konnte die Zutaten gleich heute Morgen bekommen. Außerdem habe ich eine Menge Zeitungsanzeigen studiert, zu denen ich gern deine Meinung hören würde." Die Wohnung glänzte förmlich, und es duftete wie nach einem Frühjahrsputz. Mrs. Murphey nahm höchstens alle paar Monate eine Rundumsäuberung vor. Sogar Hitchs langbeinige Lieblingsspinne war verschwunden. „Du sagst ja gar nichts." Cindy hatte die Körperhaltung und den Gesichtsausdruck, den Hitch inzwischen gut kannte. Die Arme waren verschränkt, der Rücken gerade, die Lippen zusammengepresst. Und ihre Augen funkelten. Manchmal brachte sie ihn zum Lachen wie sonst kaum jemand. Dann wieder konnte sie ihn auch sehr aufregen. So wie seine Mutter manchmal. Das Problem dabei war, dass Hitch Cindy gleichzeitig sehr anziehend fand. Sie erregte ihn auf eine Art, wie ihn bislang noch keine andere Frau erregt hatte. Selbst barfuß, in zu weiten Jeans und schlabberigem T-Shirt wirkte sie unglaublich sexy. Und dessen schien sie sich nicht einmal bewusst zu sein. Ihm dagegen umso mehr. Irgendwie irritierte ihn das, denn eigentlich war Cindy gar nicht sein Typ. „Also?" wiederholte sie. „Es riecht sehr gut", gab er zu. Er legte das Jackett ab und öffnete die beiden obersten Hemdenknöpfe. Cindy nahm wie selbstverständlich sein Jackett und hängte es auf einen Bügel in den Garderobenschrank. „Das brauchst du doch nicht zu tun." „Soll ich es lieber an der Stuhllehne hängen lassen?" Sie drehte sich nach ihm um. Der weiche Stoff ihres Oberteils schmiegte sich um ihre Brüste, und man konnte die dunklen Spitzen sehen. Obgleich Hitch nach dem langen Tag müde war, reagierte sein Körper sofort darauf - was ihm sehr unangenehm war. „Cindy, ich sollte vielleicht mal etwas Grundsätzliches sagen. Du musst wissen, dass ich es nicht gewohnt bin, jemanden bei mir in der Wohnung zu haben, und du hast sicher schon bemerkt, dass ich ziemlich unordentlich bin." Cindy schwieg. Hitch kannte dieses Schweigen aus seiner Kindheit, wenn seine Eltern alle möglichen Taktiken ausprobiert hatten, um ihn in den Sohn zu verwandeln, den sie gern gehabt hätten. Daran hatten sie lange gearbeitet, aber irgendetwas war schief gelaufen, und von dem Augenblick an, in dem er verkündet hatte, dass er zur Footballmannschaft „Little League" wolle, anstatt seine Ferien im Sommercamp zu verbringen, zusammen mit den ordentlichen Söhnen anderer ordentlicher Eltern, war er eine einzige Enttäuschung für seine Familie gewesen. „Ich kann ja wieder rausgehen, und wir fangen noch einmal von vorn an", schlug er vor. Auf einmal lachte Cindy herzlich auf.
Und Hitch wurde sich dessen bewusst, wie sehr er schon ihrem Charme erlegen war. Er mochte ihre Art, mochte, wie sie lächelte und wie heiser ihre Stimme beim Lachen klang. Es ge fiel ihm, wenn sie bei der Arbeit vor sich hin pfiff oder sang, wie sie roch, wie sie schmeckte, wie sie dachte ... Er wusste nicht recht, was die Summe all dieser Dinge für jemanden bedeutete, der wie er Angst vor Nähe hatte. Aber bei Cindy schien alles anders zu sein als bei anderen. Mit der schlechten Ehe seiner Eltern vor Augen und bei den vielen Freunden, die bereits geschieden waren, glaubte Hitch jedoch, gegen Verliebtheit gefeit zu sein. In eine solche Falle würde er nicht tappen, auf keinen Fall. „Du sagtest, das Abendessen sei fertig? Gib mir zehn Minuten, damit ich mich umziehen und ein wenig frisch machen kann. Dann essen wir zusammen, einverstanden?" Cindy strahlte, als hätte er ihr ein Weihnachtsgeschenk ge macht. So leicht ging es also bei ihr? Hitch nahm sich vor, ihr, bevor er sie in die harte Alltagswelt entließe, noch beizubringen, nicht ganz so anspruchslos zu sein. Nach wenigen Minuten war er zurück, in bequemen Kha kihosen und einem schwarzen Polohemd. Gesicht und Hände waren noch feucht, die Haare frisch gekämmt. Auch er trug keine Schuhe. Schon aus Rücksicht auf Cindy, die ja außer ihren Hüten kaum Sachen mitgebracht hatte. Sie trug wieder den Rock und das pfirsichfarbene Hemd, dazu ein Paar braune Mokassins. Trotz des Hauchs von Lippenstift, den sie aufgelegt hatte, wirkte sie wie ein Teenager, und Hitch bekam beinahe ein schlechtes Gewissen wegen seiner sinnlichen Gedanken ... Der Braten schmeckte köstlich. Cindy freute sich darüber und legte ihm ein zweites Mal Kartoffeln, Brokkoli und Soße dazu. „Also", fragte Hitch nach einem weiteren Bissen, „was hast du heute erreicht?" „Ich habe drei Jobmöglichkeiten gefunden, wollte aber erst mal die Firmenadressen mit dir durchgehen, bevor ich mir eine Bleibe suche." „Sehr klug. Als Erstes solltest du dir genau überlegen, welche Arbeit für dich in Frage kommt, und erst dann über eine neue Wohnung nachdenken, einverstanden?" Cindy schwieg, dann nickte sie. Hitch dachte plötzlich, dass sie vielleicht doch nicht so leicht zu durchschauen war. Sie hatte ihren eigenen Kopf und war in jeder Beziehung etwas ganz Besonderes. Sie erhoben sich, um es sich im Wohnzimmer gemütlich zu machen, und ließen das Geschirr erst mal stehen. Darum könnten sie sich später kümmern, meinte Hitch. Cindy ging das natürlich gegen den Strich, aber schließlich fügte sie sich doch. Hitch legte auf dem Weg ins Wohnzimmer unwillkürlich die Hand an Cindys Rücken. Wieso fand er diese Frau selbst in so schlichter Kleidung sexy? Sie ist sehr zart, dachte er, sehr weiblich. Durch den dünnen Baumwollstoff konnte man die Wärme ihres Körpers spüren. Eigentlich wäre es wohl doch besser, wenn sie sich bald eine eigene Unterkunft suchte. Aus sicherer Entfernung ließe sich eine reine Freundschaft leichter aufrecht erhalten. Oder nicht? Allmählich bekam Hitch Zweifel daran, ob es, was Cindy betraf, überhaupt so etwas wie einen „sicheren Ab stand" gab.
8. KAPITEL Am zweiten Morgen wurde Cindy klar, dass die Situation auf Dauer unhaltbar wäre. Allein Hitchs herb-männlicher Duft, den sie ständig wahrnahm, brachte sie auf unpassende Gedanken! Sie musste so schnell wie möglich einen Job finden, der ihr so viel einbrachte, dass sie sich davon eine kleine Wohnung leisten könnte. Bevor es zu spät war. Was das hieße, „zu spät", wagte sie nicht zu Ende zu denken. Vielleicht gab es hier irgendwo eine Frauengruppe, von der sie Unterstützung bekommen könnte. In einer Stadt, die so groß war wie Richmond, müsste es so etwas doch geben? „Hilfe! Ich habe mich Hals über Kopf in den Mann verliebt, bei dem ich wohne. Und wenn mich keiner davon abhält, werfe ich mich ihm noch vor die Füße und bitte ihn, mich zu lieben!" müsste sie dort schildern. Als Gentleman würde Hitch das natürlich höflich, aber bestimmt ablehnen. Und Cindy würde als Jungfrau ins Grab ge hen, denn wenn er sie nicht wollte, würde sie keinem anderen Mann die Chance dazu geben. Zu anderen Zeiten pflegte sie, wenn sie in einer schwierigen Situation war wie im Augenb lick, ihre alten Modehefte aus den vierziger Jahren hervorzukramen, in denen es die wundervollen Hüte von damals zu sehen gab. Dann würde sie zeichnen und sich dadurch ablenken. Aber die Hefte hatte sie zurückgelassen. Nichts wog schwerer als ein Stapel Papiere. Na gut, dann musste sie eben eine neue Sammlung anlegen. Außerdem hatte sie noch jedes einzelne Modell im Kopf, das von Lily Dache kreiert worden war, und ebenso alle eindrucksvollen Entwürfe, die Charles Gibson für elegante, schlanke Frauen mit Wespentaille und kunstvollen Haarfrisuren ge macht hatte. Cindy fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sie sich aus gerechnet für Hüte interessierte und nicht vielleicht den Ehr geiz hatte, Musikerin oder Erfinderin zu werden wie ihr Vater. Denn Hitch hatte Recht, niemand trug mehr die Art von Hüten, die sie entwarf. Allenfalls würde man ihr gestatten, Baseballkappen neu zu dekorieren. Aber dann konnte sie genauso Winterschlaf halten und die nächsten Modesaisons abwarten, bis endlich wieder große, romantische Hüte gefragt sein wür den. Das Problem war nur, Modistin zu sein war keine Wahl, sondern eine Berufung! Etwas, womit sie geboren war, so wie wenn man von Kindheit an eine Leidenschaft fürs Bergsteigen hatte oder für Dudelsackmusik. Die erste Puppe, die sie je gehabt hatte, stammte aus einem Billigladen, aber Felicia - Cindy hatte sie nach ihrer sympathischen Sonntagsschullehrerin benannt - besaß mehr Hüte als Barbie und war damit weit eleganter. „Komm, es wird Zeit, dass du aufwachst", ermahnte Cindy sich selbst. „Der erste Job, bei dem du einen Groschen mehr als das Durchschnittsgehalt bekommst, ist deiner." Da sie, seit sie denken konnte, finanziell von anderen abhängig gewesen war, war es nun das Wichtigste für sie, selbstständig zu werden. Die Mode konnte warten. Auf ein paar Jahre mehr oder weniger kam es nicht an. Jahrzehnte durften es nicht werden, aber so negativ musste man ja nicht denken. Irgend wann würden bestimmt auch prächtige Hüte wieder gefragt sein. Und wenn das geschah, würde Cindy mit einem ganzen Lager voller Modelle mit dem Label „Chapeaux by Cynthia" aufwarten. Zwischen der Verabredung mit einem Rasenmäherproduzenten, der auch weibliche Käuferinnen ansprechen wollte, und einem Termin beim Augenarzt studierte Hitch die Stellenanzeigen. Dann rief er die Vermittlungsagentur an, durch die er sowohl eine perfekte Sekretärin als auch eine großartige Haushälterin gefunden hatte. „Die Dame, um die es geht, ist sehr künstlerisch und fantasievoll, kann fast alles
erledigen. Und das macht sie so gut, dass ... Mit dem Computer umgehen? Nein, ich glaube nicht." Er strich sich nachdenklich über die Stirn. „Ja ... nein, wohl nicht. Das heißt, ich weiß nicht, ob sie es je gemacht hat..." Er seufzte und suchte in der Schublade nach einer KopfSchmerztablette. „Ja, ich weiß, ich dachte, ich gebe Ihnen schon mal Bescheid, damit Sie gleich mit der Suche beginnen können. Richtig. Ich stelle sie Ihnen morgen vor. Also gut, dann Montag. Sie kann dann alle Formulare ausfüllen. Aber falls Ihnen inzwischen schon irgendetwas einfällt, denken Sie an uns." Zum Abendessen hatte Cindy gegrilltes Hähnchen zubereitet. Sie kam, an einem Flügel knabbernd, Hitch an der Tür entge gen und entschuldigte sich sogleich. „Oje, du magst vermutlich die Flügel am liebsten, oder? Aber es ist noch einer da, und von allem anderen auch noch. Ich ha be die Brust in vier Stücke geschnitten. Die sind nicht groß, aber ..." „Cindy!" „Dazu habe ich gefüllte Tomaten gemacht, die muss ich nur noch aus dem ..." „Cindy, hör auf!" Sie schaute ihn mit einem Gesicht an, als hätte er sie ge schlagen. „Ich hatte einen schrecklichen Tag, habe Kopfschmerzen und außerdem einen ..." Bärenhunger, wollte er sagen. „Tut mir Leid! Ich weiß, ich rede zu viel, das sagt jeder. Ich sollte vielleicht einfach nur den Tisch decken und dich allein lassen. Ich habe nämlich schon gegessen." Sie wedelte mit dem angeknabberten Hühnerbein und lächelte gequält. Hitchcock, du solltest sie einfach in einen Schneesturm hinausschicken, dann wäre alles erledigt, dachte er bei sich. Schneesturm? Draußen herrschten dreißig Grad! Außerdem war es das Gegenteil von dem, was er wirklich wollte: Am liebsten hätte er sich mit Cindy im Arm irgendwo hingelegt, abgewartet, bis die Kopfschmerzen abgeklungen wären, und dann gemütlich mit ihr gegessen, was sie gekocht hatte. Dann hätte er ihr davon erzählt, wie sein Tag gewesen war, und ihr zugehört, wie es bei ihr gelaufen war. Diese Gedanken machten ihm plötzlich klar, dass es ihn zutiefst erwischt hatte. Wo war nur sein gesunder Menschenverstand geblieben? Wie sein Vater immer fand, besaß er doch genügend davon, um sich aus schwierigen Situationen wieder herauszulavieren. „Gib mir ein paar Minuten, okay? Dann nehmen wir das Tablett mit ins Wohnzimmer und sehen ein bisschen fern. Es gibt da einen Werbespot, den ich unbedingt sehen muss. Danach können wir miteinander reden." Das Hähnchen war das leckerste, das Hitch je gegessen hatte. Bei einer solchen Ernährung würde er sich vermutlich einer Entschlackungskur unterziehen müssen, noch bevor er vierzig war. Cindy gestand, zum Anbraten Speck genommen zu haben. Hitch aß drei Stücke Fleisch, dazu zwei gefüllte Tomaten und obendrein ein bisschen Salat, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Technisch gesehen, war der Fernsehspot gut. Er wäre allerdings besser gewesen, wenn der Rasenmäher weniger wie eine mechanische Sonnenanbeterin ausgesehen hätte, sondern mehr wie ein Gerät, das eine Frau mit einer Hand bedienen könnte. Cindy sagte die ganze Zeit kein Wort. Hitch fiel auf, dass sie kaum aß. Er stellte das Geschirr aufs Tablett, um es in die Küche zu bringen. „Ich hole den Kaffee, dann reden wir miteinander, einverstanden?" Cindy wirkte irgendwie resigniert. Hitch goss beiden Kaffee ein, fügte für Cindy Milch hinzu, so wie sie es mochte, und setzte sich wieder. „Du hast also Arbeit für mich gefunden?" fragte sie. „Was wäre, wenn ich Ja sagte?"
„Dann würde ich mich bei dir bedanken und mir als Nächstes eine Wohnung suchen." Cindy hätte doch wissen müssen, dass es nicht möglich war, so schnell eine Stellung für sie zu finden! Niemand würde sie einstellen, der sie nicht einmal gesehen hatte, auch wenn derzeit überall Aushilfskräfte und feste Mitarbeiter gesucht wur den. Außerdem wollte Hitch sicher sein, dass es auch der richtige Job für sie wäre, einer, der ihr Spaß machen würde, bei dem ihre vielfältigen Talente zum Einsatz kämen und der angemessen honoriert war. Aber das war nicht ganz leicht. „Darf ich anfangen?" bat sie. „Natürlich." „Als Erstes, ich möchte nicht allzu lange bei dir wo hnen." Sie deutete ein Lächeln an, das Hitch nicht recht zu deuten wusste. Er wollte auf keinen Fall, dass sie auszog, solange sie nicht eine Stelle hatte und versorgt war. „Ob du es glaubst oder nicht, es gibt hier eine Firma, die Hüte herstellt", berichtete Cindy. „Leider sind es vor allem sportliche Männerhüte, mit Mannschaftsnamen drauf und so. Aber es wäre immerhin ein Anfang. Ich habe dort angerufen." „Und?" Hitch tat der Kopf wieder weh. Er rieb sich die Schläfen. „Es gibt dort eine freie Stelle in der Versandabteilung." „Na hör mal, du willst doch nicht im Ernst in so einer Abteilung arbeiten! Da wärest du den ganzen Tag auf den Beinen!" Cindy reagierte nicht auf seinen Einwand. „Für jemanden mit so wenig Erfahrung wie mich ist es schwer zu beurteilen, ob ich mit dem Gehalt auskomme. Ich habe gar nicht an all die Abzüge gedacht." Hitch vergaß immer wieder, wie unerfahren Cindy war. „Hast du überhaupt schon jemals ein Gehalt bekommen? Abgesehen von deinen Montags-Einkünften, meine ich?" „Nein, nicht wirklich." „Hör mal, erstens sollte ich dir einen Intensivkurs im Überle ben geben. Als Zweites werden wir zu dieser Agentur gehen, die ich kenne. Ich habe für Montag einen Termin gemacht. Der Chef, den ich persönlich kenne, hat versprochen, dass er sich umhören wird nach einer Stellung, die zu dir passen könnte." „Ich habe doch selbst schon etwas gefunden", wandte sie ein. Hitch schaute sie zärtlich an. Wie kam es nur, dass er, wann immer er Cindy sah, das Bedürfnis hatte, sie zu berühren, sie in den Arm zu nehmen? Dabei wäre das nicht gerade klug, denn obgleich er Kopfschmerzen hatte, war seine Libido hellwach! Beruhige dich, Junge. Hast du denn gar keinen Anstand im Leib? rief er sich zur Ordnung. Das Wort Anstand hatte er Tausende von Malen gehört, wenn auch in anderem Zusammenhang. Seine Eltern hatten immer enorm viel Wert darauf gelegt. „Lass es uns ganz in Ruhe durchdenken, einverstanden? Du musst ja nicht das Erstbeste nehmen. Denn wenn es dir nicht gefällt, kündigst du schon nach der ersten Woche. Und das wäre nicht gut für deinen Lebenslauf." „Meinen Lebenslauf? So etwas habe ich noch nie verfasst." „Na gut, damit können wir uns am Wochenende beschäftigen." „Du meinst, ich muss angeben, wie oft ich Miss Emma zum Kosmetiksalon gebracht oder wie oft ich die Vogelkäfige von Arvilla Davis gereinigt habe?" Cindy schnalzte abfällig. Das lenkte Hitchs Blick auf ihre Lippen. Wie lange war es her, dass er sie geküsst hatte? Drei Tage? Vier? Er hatte solche Lust auf ihren Mund ... Wegen seiner Kopfschmerzen ging Hitch früh zu Bett. Er wälzte sich jedoch ruhelos hin und her. Was ist eigentlich mit mir los, fragte er sich unablässig. Und dann überlegte er, ob er wohl aus dieser Sache herauskommen würde, ohne Schaden anzurichten. Aber wollte er denn überhaupt herauskommen? Am nächsten Tag, einem Samstag, hätte Hitch nicht ins Büro gehen müssen. Er tat es dennoch. Das erschien ihm sicherer, als den ganzen Tag zu Hause zu sein und Cindy
zuzuschauen, wie sie die Wohnung blitzblank putzte, weil sie darauf bestand, sich ihre Unterkunft zu verdienen. Erst am Nachmittag kam Hitch zurück. Cindy war gerade dabei, seinen Pyjama zu bügeln. Dabei hatte er ihn überhaupt nur angezogen, weil sie da war! „Hallo!" rief sie fröhlich. Ihr Gesicht war gerötet. Lag es an der Anstrengung, oder war sie verlegen? Natürlich konnte Hitch sie das nicht fragen. „Wusstest du, dass es im Keller eine prima Waschmaschine und einen Trockner gibt? Deine Nachbarin von unten sagte mir, die seien für die Mieter da. Also habe ich alles, was ich hier an Schmutzwäsche finden konnte ..." „Meine Güte, Cindy, das sind drei Stockwerke! Sogar vier, wenn man die Kellertreppe mitberechnet." Hitch staunte, dass Cindy bereits eine Nachbarin kennen ge lernt hatte. Solange er in diesem Apartmenthaus wohnte, war ihm das noch nicht passiert. „Sie sagte, mit dem Fahrstuhl müsse man vorsichtig sein, der bliebe manchmal stehen. Aber das macht nichts, Bewegung schadet nicht! Außerdem bin ich nicht daran gewöhnt, untätig herumzusitzen." Hitch fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Cindy, ich habe dich nicht zu mir eingeladen, damit du die ganze Hausarbeit machst", grollte er. „Sag mal, du schimpfst ziemlich oft. Ist dir das schon mal aufgefallen? Ich kann mich nicht erinnern, dass du das früher auch gemacht hast." Hitch stellte die Aktentasche ab und öffnete den obersten Knopf seines Polohemds. Samstags trug er nie einen Anzug, denn am Wochenende gab es selten geschäftliche Verabredungen. „Früher? Wann früher?" hakte er nach. „Eben früher." „Wann genau ist das?" „Ich meine damals, als du dich vor Steff und Maura und all den anderen Mädchen produziert hast. Du warst ein bisschen angeberisch, aber herumgeschimpft hast du nie." Cindy lächelte dieses hübsche kleine Lächeln, das Hitch immer entwaffnete. „Du weißt genau, dass Mama Mac sich das verbeten hätte", setzte sie schelmisch hinzu. „Du hast also damals deinen Spaß daran gehabt, andere Leute zu beobachten, was?" fragte er belustigt. „Ja, ich habe oft durch die Hecke zu euch hinübergeschaut." Hitch wusste mit Sicherheit, dass er damals nichts Verbotenes getan hatte. Allerdings war er wohl ein ziemlicher Angeber gewesen, der sich bemühte, den Mädchen zu imponieren - und sie dazu zu bekommen, mit ihm ins Bett zu gehen. Das eine oder andere Mal mochte es jedoch eine heikle Situation gegeben haben. Dann, wenn die Macs schon zu Bett ge gangen waren. Oder im Wagen, der in der Auffahrt geparkt ge wesen war ... „Wenn du die Wahrheit wissen willst: Ich war neidisch", gab Cindy zu. „Ich wünschte mir sehr, schon älter und hübscher zu sein und schicke Kleidung zu haben, so dass die Jungs auf mich aufmerksam geworden wären." „Du bist mir aufgefallen", behauptete Hitch. „Das weiß ich. Du hast mir sogar mal zugelächelt und mich gefragt, wie es mir ginge." „Und was hast du geantwortet?" Hitch erinnerte sich nicht an die Szene. „Ich glaube, ich bin knallrot geworden und weggelaufen. Mein Geschick im Umgang mit Menschen war nicht besonders ausgeprägt." „Meins auch nicht, aber ich habe damals gelernt, so zu tun, als ob." Hitch bemühte sich, Cind y ein gutes Gefühl zu vermitteln. Dabei war er im Moment selbst ein wenig verunsichert, wenn auch aus ganz anderem Grund. Ihr Haar schimmerte in der Spätnachmittagssonne wie Kupfer, und ihre Haut sah seidenweich aus ... Ob sie wohl überall Sommersprossen hatte? Sie unterhielten sich noch eine Weile, ohne auf das Thema Arbeitssuche und
Wohnung zurückzukommen. Hitch fiel erneut auf, wie leicht es war, mit Cindy zu reden. Ganz anders als mit anderen Frauen. Ob es damit zu tun hatte, dass sie jünger war als die meisten Frauen, mit denen er privat zu tun hatte? Zu jung für ihn? Was waren das nur wieder für Gedanken! Er hielt sich vor Augen, was ihn gegen das Heiraten einnahm. Allein die Ehe seiner Eltern war Grund genug, nicht an eine solche Institution zu glauben. Dazu kam, dass Hitch viele Freunde hatte, die früh geheiratet und sich schon nach wenigen Jahren hatten scheiden lassen, die sich nun mit zwei Haushalten abmühten und bitter um das Sorgerecht für ihre Kinder stritten. So etwas wollte er auf keinen Fall erleben! Er hatte ein angenehmes Leben, eine viel versprechende Karriere und ein ge sellschaftliches Leben, das ihm gut gefiel. Um das zu erreichen, hatte er hart arbeiten müssen, und er hatte nicht die Absicht, das aufzugeben oder zu zerstören. Weder jetzt noch später. Das Problem war nur, dass er nicht geahnt hatte, wie schön es war, nach Hause zu kommen und dort eine warmherzige, attraktive und amüsante Frau vorzufinden, die auch noch mit einem köstlichen Essen auf einen wartete. Wenn er das vorher gewusst hätte, hätte er Cindy lieber an der Busstation abgesetzt und sich eilig davongemacht! Jetzt saß er also in der eigenen Falle. Am Samstagabend ging er aus, unter dem Vorwand, es handele sich um eine schon vor langer Zeit getroffene Verabredung. Cindy erklärte, dass es im Fernsehen einen bestimmten Film gäbe, den sie unbedingt anschauen wolle. Er solle sich keine Sorgen machen, es sei kein Film, für den man extra bezahlen müsse, fügte sie noch hinzu. Hitch murrte wegen dieser Bemerkung, entschuldigte sich aber gleich dafür. Bevor Cindy in sein Leben getreten war, hatte er selten gegrollt, wieso tat er es also jetzt dauernd? Er ging in eine Bar, wo sich Sportbegeisterte zum gemeinsamen Fernsehen zu treffen pflegten, schaute sich irgendein Football-Spiel mit an, das ihn gar nicht interessierte, und trank ein Bier. Als die Mannschaften nach der Zusatzzeit noch immer kein Ergebnis erzielt hatten, stellte er das vierte Glas Bier halb ausgetrunken auf den Tresen zurück und ließ sich ein Taxi rufen. Seinen Wagen würde er am nächsten Tag abholen. Cindy trug wieder mal eins ihrer riesigen T-Shirts, dieses Mal ein rotes mit einem Tennis-Logo auf der Tasche. Garantiert eins von Maura, die gern Rot trug. An der Schulter hatte das T-Shirt einen Fleck. Das war bestimmt der Grund dafür gewesen, wieso sie es an Cindy weitergegeben hatte. „Na, wie war der Film?" „Großartig", schwärmte Cindy mit glänzenden Augen. „Ich dachte, du wärest schon im Bett." „Ich wollte sichergehen, dass du auch heil nach Hause kommst. Das hast du auch mal für mich gemacht, weißt du noch?" „Cindy, ich wollte, du hättest nicht auf mich gewartet", rügte Hitch sie. Er musste sich mit beiden Händen an der ledernen Sessellehne festhalten. Wenn er doch bloß nicht so viel getrunken hätte! Normalerweise reichten ihm zwei Bier. Beziehungs weise ein Whiskey. Das war seine selbst auferlegte Grenze. Aber die hatte er heute Abend überschritten. „Hitch, ist alles in Ordnung?" Cindys Stimme war weich und verführerisch. Ganz anders als die, die man von einer komplizierten rothaarigen Frau erwartete. Dabei hatte Hitch Cindy noch nie bei einem Wutausbruch oder dergleichen erlebt. Wahr scheinlich vermutete er dieses Temperament in ihr, seitdem er sie damals beinahe überfahren und sie ihn so angefaucht hatte. „Jaa, alles in Ordnung. Geh schlafen, Cindy." „Hmm, wenn du meinst... Hast du wieder Kopfschmerzen?"
„Nein, zum Teufel, ich habe keine Kopfschmerzen, meine Schmerzen sind anderer Art." „Vielleicht könnte ich dir helfen?" In seinem Kopf wirbelten die wildesten Gedanken durcheinander. Er hatte zu viel getrunken, und das vertrug er nicht. Aber es war nicht das Bier, das ihn dazu brachte, ihr Angebot anzunehmen. „Ja, vielleicht kannst du das. Komm her." „Wohin?" Cindy wirkte verunsichert, stand aber auf. „Hierher. Du könntest mir die Hände auflegen, damit es weniger wehtut." Himmel, wieso habe ich das gesagt! Das ist ja völlig idiotisch! dachte er bei sich. Cindy kam näher, war aber auf der Hut. Sollte es Schwierigkeiten geben, würde sie sofort verschwinden. „Wo tut es dir weh?" Hitch konnte es nicht. Nicht bei Cindy. Entweder war er nicht betrunken oder nicht skrupellos genug. Er seufzte nur und lächelte, so gut ihm das in seinem Zustand gelang. Doch Cindy machte einen Fehler - sie berührte ihn. Ganz sanft, an der Schulter. Sie schaute ihn aufmerksam an, um zu verstehen, was ihn quälte. Wenn sie ihn weiter unten angeschaut hätte, wäre es ihr schneller klar geworden. „Du hättest weglaufen sollen, als es noch möglich war", sagte Hitch leise. Dann zog er Cindy in die Arme und senkte den Kopf, um sie zu küssen.
9. KAPITEL Zum Glück besaß er noch Verstand genug, Cindy nicht mit ins Schlafzimmer zu zerren. Das, was dann passiert war, hatte sich spontan ergeben, ohne feste Absicht. Jedenfalls war Hitch keine Absicht bewusst. Er hatte Cindy schon mal geküsst. Zart und harmlos und ohne Gefahr, dass mehr daraus wurde, zumal Zeit und Ort dafür wenig günstig gewesen waren: Vor der Haustür, wo jeder Vorbeikommende sie hätte sehen können. In dem grünen Dschungel, den Cindy Garten zu nennen pflegte. Aber nun befanden sie sich in seiner Wohnung. Allein und spät abends. Hitch war nicht wirklich betrunken, aber doch benebelt genug, um die Dinge nicht mehr ganz genau beurteilen zu können. Andererseits noch klar genug, um zu realisieren, dass er einen Fehler beging. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, es dennoch zu tun. Er küsste sie zärtlich. „Das sollte ich nicht tun", sagte er warnend mehr zu sich selbst. „Ich weiß", entgegnete Cindy flüsternd, während ihr Atem sich mit seinem vermengte. Sie ist wie ein Brandsatz, ging es Hitch undeutlich durch den Sinn, während er versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wenn bereits ein paar Bier seinem Verstand so zusetzten, dann konnte diese Frau ihn vermutlich drei Tage lang matt setzen. Sie waren aufs Sofa gesunken, Cindy lag auf dem Rücken, Hitch halb über ihr, in nicht gerade bequemer Stellung, da das Sofa zu schmal war. Er wusste nicht mehr recht, wie sie überhaupt dorthin gekommen waren. „Alles in Ordnung?" Cindy atmete so heftig wie er. „Nein, eigentlich nicht", brachte sie heraus. „Ich bin zu schwer für dich", murmelte er und versuchte, sich von ihr herunterzuwälzen. Aber als Cindy seine Schulter packte, blieb er, wo er war. Nur noch einen Moment, nahm er sich vor, mehr darf es nicht sein! Also beruhige dich, Hitchcock! Doch seine Hand lag an einer ihrer Brüste. Unter dem T-Shirt. Cindy trug keinen BH. Er spürte die Spitze, die ganz fest und aufgerichtet war. Oh, Hitch! dachte sie sehnsüchtig. „Ich fürchte, ich bin ein bisschen betrunken, Liebes", raunte er. „Ja, ich weiß." „Eine blöde Entschuldigung, die dümmste der Welt." „Das stimmt." „Ich habe dich nicht zu mir eingeladen, um die Situation aus zunutzen." Auch das klang in diesem Moment wenig überzeugend. „Das glaube ich dir." Allmählich hatte er den Eindruck, dass Cindy alles zu verstehen schien. „Hör mal, wenn du das weißt, wieso hast du mich zurückgeküsst?" fragte er, bereute seine Worte aber, noch bevor sie ganz ausgesprochen waren. Kein Wunder, dass er den Erwartungen seiner Eltern nie entsprochen hatte! „Cindy, es ist alles meine Schuld. Ich hätte dich niemals hierher bringen dür fen." Entschlossen löste er sich von ihr und setzte sich auf. So erregt wie er war, würde ein bisschen Abstand vielleicht helfen. Ein bisschen? Nein, am besten Kilometer! Es war ihm peinlich, dass er so erregt und so ratlos und durcheinander war. „Es ist nicht deine Schuld", sagte Cindy so leise, dass Hitch es erst gar nicht hörte, weil er in Gedanken nach Ausflüchten und Erklärungen suchte. „Ich habe mir gewünscht, dass du mich küsst", fuhr Cindy fort. „Und als du es dann getan hast, wollte ich nicht, dass du aufhörst. Aber du hast Recht, wir sollten es nicht tun." „Habe ich das gesagt? Ja, das habe ich wohl." Hitch tröstete sich damit, dass Cindy den Kuss genauso gewollt hatte wie er selbst. Schließlich waren sie beide erwachsen und ohne die ge ringste Verpflichtung für einander. Andererseits brauchte sie im Augenblick
vor allem einen guten Freund und keinen Liebhaber! Und was brauchst du, Hitchcock? schoss es ihm durch den Kopf. Cindy zitterte. Hitch war zwar noch bei ihr, aber nur äußerlich. Noch bevor er sich aufsetzte, spürte sie, wie er sich innerlich zurückzog. Selbst wenn ein Wunder geschehen wäre, sie sich geliebt hätten und er ihr einen Heiratsantrag machen wür de, so dürfte sie den nicht annehmen! Hitch hatte genauso wenig vor zu heiraten wie sie selbst. Sie wollten beide ihre Freiheit bewahren! Und auf einmal wurde Cindy bewusst, dass diese Freiheit zum ersten Mal in ihrem Leben tatsächlich in Reichweite war. Daran wollte sie denken und nicht daran, wie reizvoll es war, wenn er ihre Brüste so berührte, dass ihr davon ganz schwindelig wurde! Und nicht daran, was sie empfand, wenn er sie zwischen den Schenkeln berührte, sie die Hüften hob und sich gegen seine Hand drängte! Sieh den Tatsachen ins Auge, Cindy! Oder wie Maura zu sagen pflegte: Bleib in der Wirklichkeit, mach dir nichts vor! „Gleich morgen suche ich mir eine Arbeit und ein Zimmer. Dann bist du mich los. Schließlich wünsche ich mir seit langem endlich finanzielle Unabhängigkeit." Hitch stand auf und stopfte sich das Hemd wieder in die Ho se. Cindy überlegte kurz, wie es überhaupt zu dieser Situation gekommen war. Sie hatte Hitch überall verführerisch gestreichelt, seinen kräftigen Rücken und die muskulöse Brust, den flachen, sehnigen Waschbrettbauch, den Frauen so bewunderten ... Überrascht hatte sie festgestellt, dass Hitch an den Brustwarzen genauso empfindlich war wie sie. Als sie ihn dort berührt hatte, hatte er den Atem angehalten und aufgestöhnt. Offenbar musste sie noch eine ganze Menge über Männer lernen. „Ich gehe die Tür abschließen", erklärte Hitch unnötigerweise, denn die verschloss sich zu einer bestimmten Nachtzeit automatisch, es sei denn, man entriegelte sie rechtzeitig. „Gut. Und ich setze schon mal den Kaffee für morgen früh auf." Das zu sagen war ebenso unnötig, denn Hitch hatte immer schon selbst Kaffee gemacht, bevor Cindy auftauchte. Und das wird er auch dann noch tun, wenn ich längst nur noch blasse Erinnerung sein werde, dachte sie plötzlich. Auf einmal war ihr zum Heulen zu Mute. Eilig verschwand sie. In ihrem Zimmer ließ sie den Tränen dann freien Lauf. Das tat sie sonst selten, denn Weinen erschöpfte sie sehr. Und danach waren ihre Auge n immer verquollen und die Nase gerötet. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, putzte sie sich die Nase und entschloss sich, gleich morgen Vormittag aus seiner Wohnung zu verschwinden. Und wenn sie als Tellerwäscherin arbeiten musste! Um ihre finanziellen Mittel sah es zwar schlecht bestellt aus, aber immerhin hatte sie noch die Hüte, außerdem ihre Kreativität und viel Energie. Was ihre Liebesfähigkeit anging, so würde die wohl für immer brachliegen, denn der einzige Mann, den sie je geliebt hatte, war offenbar nicht wirklich an ihr interessiert. „Heute kannst du nicht von hier weggehen, Cindy. Es ist Sonntag, und das Arbeitsamt hat geschlossen. Außerdem hast du nicht genug Geld. Nun schau mich doch nicht so entsetzt an!" „Ich werde schon irgendwas finden", entgegnete Cindy ent schlossen. Dabei war ihr ganz schlecht. In solchen Momenten pflegte sie sich einen Strohhut vorzustellen, formte und verwandelte ihn in Gedanken und dekorierte ihn, bis sie sich wieder entspannt hatte und ihr Magen nicht mehr verrückt spielte. Aber dieses Mal würde das nicht funktionieren, das spürte sie. Das hier war die harte Wirklichkeit, von der Maura immer gesprochen hatte. „Meine Sekretärin hat ein Zimmer übrig und wäre damit einverstanden, wenn du zu ihr ziehst, bis du eine ..."
„Nein, vielen Dank, ich habe schon andere Pläne." „Wie bitte? Was für Pläne denn?" „Was glaubst du wohl, worüber ich die ganze Zeit nachge dacht habe." „Das frage ich dich." Cindy wollte Hitch lieber nicht gestehen, dass ihre Pläne sich auf eine Reihe von billigen Hotels beschränkten, die sie aus dem Telefonbuch herausgeschrieben hatte und bei denen man nicht im Voraus zahlen musste. Und aus Anzeigen, in denen Hilfskräfte gesucht wurden, sowie der Anregung aus einer Radiosendung, die sie beim Bettenmachen aufgeschnappt hatte. „Wenn du es wissen willst, es wird ein Flohmarkt veranstaltet", erklärte sie. „Und wie hoch ist die Standgebühr?" „Welche Standgebühr?" „Na, die fällige Standgebühr. Wie viel kostet sie pro Meter?" Cindys Mut löste sich auge nblicklich in Luft auf. „Man muss einen Stand mieten?" „Warst du denn noch nie auf einem Flohmarkt?" „Doch, natürlich, auf Dutzenden. Ich habe einige Male aus geholfen." Hitch wirkt heute Morgen merkwürdig grimmig, dachte Cindy. Aber es war genau der jetzt so verdrießlich verzogene Mund, mit dem er ihre Lippen erforscht und mit dem er vor wenigen Stunden zärtlich ihr Dekolletee geküsst hatte. Hitch schien eine weitere Erklärung zu erwarten. Cindy berichtete ihm, dass von der Kirche in Mocksville zwei Mal pro Jahr ein Flohmarkt für wohltätige Zwecke veranstaltet wurde. „Und die Bibliothek ..." „Der Flohmarkt hier ist rein kommerziell, das ist kein Wohltätigkeitsbasar", unterbrach Hitch sie. „Man mietet einen Stand und verkauft, was immer man zu verkaufen ha t. Es geht mich zwar nichts an, aber was hast du überhaupt zu verkaufen?" Cindy presste eine Hand auf ihren Magen. Fencheltee, dachte sie nervös, einen ganzen Liter, mindestens. „Also?" hakte er nach. „Meine Hüte." Hitch legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er ging seit einigen Minuten in der Küche auf und ab. Cindy saß auf einem Stuhl und wünschte sich woanders hin. Wenn ihr nur nicht so schlecht wäre! „Cindy, verdammt noch mal, das ist doch eine Schnapsidee!" „Hitch, fluche bitte nicht dauernd. Wieso drückst du dich nicht gemäßigter aus." „Hältst du dieses Vorhaben für sinnvoll? Du kannst doch deine Hüte nicht verkaufen!" „Wieso denn nicht? Sie gehören mir, kein Mensch kann behaupten, ich hätte sie gestohlen." Hitch massierte sich den Nacken und rieb sich die Schläfen. Das tut er ziemlich oft, dachte Cindy. Vielleicht lag es an zu viel Stress? Womöglich war sie die Ursache? Was für ein schrecklicher Gedanke! „Wieso willst du sie verkaufen?" rief er. „Sie stellen doch die Basis für deine zukünftige Karriere dar! Die muss natürlich erst mal gestartet werden." „Ach, du glaubst wohl, dass niemand sie kaufen würde? Du hältst sie für Billigprodukte aus dem Supermarkt, die ich nur ein bisschen mit Kunstblumen, Federn und Glasperlen aufgepeppt habe, was? Ich weiß, ich muss noch viel lernen, aber es gibt Modistenschulen, und ich habe vor, eine zu besuchen. Da bekomme ich dann auch Kontakt zu Hutfabrikanten." „Hutfabrikanten?" Hitch schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wie im Ingenieurwesen, verstehst du? Dir kommt es sicher seltsam vor, aber in der Mode kann man ebenfalls Karriere machen. Seitdem Eva es satt hatte, immer die gleichen drei Feigenblätter zu tragen, haben Leute Kleidung entworfen. Und Hüte!" „Das glaube ich dir." Er seufzte.
Cindy setzte sich aufrecht hin, ihr Magen schien sich allmählich wieder zu beruhigen. „Du brauchst nur darüber nachzudenken, wieso Männer zum Beispiel Schlipse tragen." Hitch schaute an sich herunter. „Weil ... weil, na ja, es gibt wohl gute Gründe, weshalb Männer Schlipse tragen." „Und welche sind das deiner Meinung nach?" Cindy hätte ihm am liebsten gesagt, dass beim Industriedesign auch nicht immer alles klar, folgerichtig und logisch sei. Hitchs Gebiet war doch gar nicht so weit von ihrem entfernt. Er entwarf ebenfalls Formen, wenn auch für technische Geräte. Und auch die dienten zur optischen Verbesserung, und das wiederum förderte den Absatz. Cindy entwarf ebenfalls schöne Formen, mit dem Ziel, dass Leute, die ihre Entwürfe trugen, sich damit besser fühlten. „Also, Krawatten trägt man wahrscheinlich, damit beim Essen die Soße nicht aufs Hemd tropft?" Cindys Lachen hatte etwas Befreiendes. Und es war so ansteckend, dass Hitch mit einfiel. Endlich löste sich die Spannung, die sich zwischen ihnen erneut aufgebaut hatte. Insgesamt änderte sich allerdings nichts. Beiden war klar, dass sie wahrscheinlich das letzte Mal gemeinsam frühstückten. Und dass die Beziehung, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte, keine Zukunft hatte. „So", erklärte Cindy munter, „ich mache mich jetzt besser auf den Weg." Sie schob den Stuhl unter den Küchentisch. Hitch wollte protestieren. Sie sah, wie er nach Worten rang. Aber bevor er etwas sagen konnte, klingelte das Telefon. Cindy stand näher dran, rührte sich aber nicht. Schließlich war es seine Wohnung. Und sein Leben. Ein Leben, zu dem keine heimatlose Frau ohne Einkommen passte, die sich dem Erstbesten an den Hals warf, damit er ihr Unterkunft und Nahrung bot! „Ach, tatsächlich?" sagte Hitch zu der Person am anderen Ende der Leitung. Als Cindy an ihm vorbeigehen wollte, hielt er sie am Ärmel fest. „Hat sie Ihnen meine Nummer gegeben? Ja, sie steht direkt neben mir." Überrascht übernahm Cindy den Hörer, den er ihr reichte. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wer am Apparat war. „Es ist mir sehr unangenehm, aber ich denke, du solltest die Wahrheit erfahren", sagte eine nur allzu vertraute weibliche Stimme. „Tante S.?" „Ich verspreche dir, dass das Mädchen nicht ungeschoren davonkommt." Welches Mädchen? überlegte Cindy, die sich vorkam, als hätte man sie mitten in eine geheimnisvolle Geschichte versetzt. Welche Wahrheit sollte sie erfahren? Nachdem Cindy aufgelegt hatte, war ihr die Überraschung noch lange anzusehen. Tante S. hatte angekündigt, ihr telegrafisch Geld an Hitchs Büro zu überweisen. Spätestens am Montagvormittag würde Cindy ihre gesamten Ersparnisse wiederhaben! „Maura wusste es bestimmt nicht", meinte Cindy. Tante S. hatte die vermissten Ohrringe gehabt! Als sie den Schmuck so „achtlos" auf der Kommode herumliegen sah, hatte sie die Ohrringe an sich genommen, um ihrer jüngeren Tochter eine Lektion zu verpassen. Auch wenn es nur Zuchtperlen und Halbedelsteine waren und der Schmuck nur einen Bruchteil des Wertes hatte, den Maura ihm zumaß, so waren sie doch ein Geschenk des Vaters gewesen und mit Sorgfalt zu behandeln. „Ich denke, sie wusste es genau!" widersprach Hitch. Zögernd nickte Cindy. Ja, vielleicht schon. Maura war immer ziemlich geldgierig gewesen. Cindy hatte mal gehört, wie sie mit ihrer Schwester gesprochen hatte. Nun, da Steff ein Haus in den Bergen haben würde, wolle sie, Maura, Hitch dazu bringen, ihr ein Haus am Strand zu kaufen. „Das wäre perfekt", hatte sie getönt, gerade so, als hätte Hitch kein Wörtchen mitzureden. Und als wären Hitch und sie ein Paar! Aber er hatte ihre Pläne durchkreuzt.
Cindy zweifelte daran, dass Hitch überhaupt etwas von Mauras Absichten in Bezug auf ihn geahnt hatte. Er ging mit allen Frauen nett um, mit Tanten, Cousinen, Brautjungfern - und so eben auch mit Cindy. Aber soweit sie es beurteilen konnte, schenkte er keiner besondere Aufmerksamkeit, Maura schien er sogar eher zu meiden. Genau das könnte die Erklärung dafür sein, dass Maura so aufgebracht war, als sie Cindy und Hitch zusammen gesehen hatte! Hitch ging nach dem Mittagessen ins Büro, um eine dringende Arbeit zu erledigen. „Mach es dir gemütlich. Du hast bis zur Hochzeit schwer geschuftet. Wenn du dich morgen auf Arbeitssuche begibst, solltest du in Form sein." „Erst muss ich noch bügeln. Das Kleid, das ich zu den Vorstellungsgesprächen anziehen möchte, sieht aus, als hätte ein Hund darauf geschlafen." Hitch und Cindy gingen höflich und behutsam miteinander um und taten so, als sei nicht vor Stunden etwas recht Intimes zwischen ihnen vorgefallen. Zwar hatten sie nicht miteinander geschlafen, aber für Cindy war es schon eine Art Liebesakt ge wesen. Hitch trug wieder ein schwarzes Polohemd zu Khakihosen und sah äußerst sexy aus. „Denk dran, überall abzuschließen", erinnerte er sie. „Und wenn du noch Schwierigkeiten mit deinem Magen hast, schau mal ins Medizinschränkchen. Da findest du verschiedene Tropfen und Tabletten." „Vielen Dank, es geht mir schon besser." Dabei ging es ihr noch nicht richtig gut, aber das würde Cindy ihm lieber nicht sagen, um ihn nicht weiter zu belasten. „Wirklich?" Cindy nickte. „Hitch, hast du eigentlich mal daran gedacht, deine Augen untersuchen zu lassen? Du hast dauernd Kopfweh. Außerdem ist mir aufgefallen, dass deine Arme beim Lesen gar nicht ausgestreckt genug sein können." Er nickte. Bevor er ging, wollte er ihr einen freundschaftlichen Klaps geben, aber Cindy wich aus. Nachdem sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen und seufzte. Es war so schön mit Hitch! Je besser sie ihn kennen lernte, umso mehr begriff sie, wie gern sie ihn hatte und wie gut sie sich verstanden. Immerhin gab es einige Gemeinsamkeiten. Sie waren beide kreative Menschen mit Sinn fürs Praktische. Sie lachten viel und gern. Sie mochten die gleiche Art Menschen die Macs zum Beispiel. Und sogar diesen Landschaftsmenschen, mit dem Hitch sie hatte verkuppeln wollen. Joe Digby war immerhin sympathisch - auch wenn kein Funke übergesprungen war. Cindy nahm das Hemd, das Hitch am Vortag getragen hatte, und hielt es ans Gesicht, um seinen Duft einzuatmen. Wie gut war es, dass sie beide vorhatten, sich noch nicht zu binden. Am Montagmorgen hatte Cindy ihre Listen vervielfacht und sich Prioritäten gesetzt. Als Erstes wollte sie ein Bankkonto einrichten, danach die Stellenangebote sortieren. Sie freute sich richtig darauf, denn davon hatte sie seit Jahren geträumt! Danach würde sie sich ein Zimmer mieten, auf Wochenbasis. Aber erst, wenn sie wusste, wo ihr Arbeitsplatz sein würde. „Fertig?" fragte Hitch. Er war nach dem Frühstück kurz verschwunden und zehn Minuten später wieder aufgetaucht - in weißem Hemd und mit gemusterter Seidenkrawatte. „Hey, du siehst aus wie aus einem Herrenmagazin." Hitch, der ihren bewundernden Blick bemerkte, lächelte schief und zeigte auf die Krawatte. „Ein sicher angebrachter Hemdenschutz für kleckernde Bratensoße", scherzte er. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du viel Humor hast?" „Den bemerkt nur der, der selbst welchen hat." „Übrigens bin ich schon jetzt total aufgeregt", gestand Cindy. „Ach was, mach dir keine Gedanken."
Seine Gelassenheit dämpfte Cindys Nervosität. Wann immer sie einen Helfer brauchen würde, hätte sie am liebsten Hitch an ihrer Seite. „Sara, das ist Cynthia Danbury. Cindy, ich möchte dich mit meiner tüchtigen Sekretärin Sara Ethelbert bekannt machen." „Sie sind Hut-Designerin?" fragte die dunkelhaarige Sara interessiert. Sie schien etwa in Hitchs Alter zu sein, hatte aber, wie Cindy von ihm wusste, schon einen erwachsenen Sohn. „Ich habe noch alle Hüte von meiner Schwiegermutter und hoffe, dass sie endlich wieder modern werden. Heute trägt man nicht mal mehr einen Hut, wenn man in die Kirche geht. Ich würde mich freuen, Ihre Entwürfe zu sehen." „Sara, ist das Geld für Cindy angekommen?" erkundigte Hitch sich. Das Telefon klingelte, Sara nahm ab und stellte auf Warteposition. „Ja, das ist es, gerade eben", erklärte sie. „Hitch, es geht um die Eröffnung. Oder habe ich vergessen, das zu erwähnen? Ich stelle das Gespräch gleich zu Ihnen ins Büro durch. Übrigens, vergessen Sie nicht, Ihre Brille abzuholen. Sie liegt bereit." Sie drückte eine Taste und sprach in den Hörer. „Hallo, Claire? Ja, sie sind gerade gekommen." Hitch führte Cindy ins angrenzende Büro und bat sie, Platz zu nehmen. Den Raum konnte man als eine Art organisiertes Chaos beschreiben. Es gab einen eleganten Computer und etliche Apparate, die Cindy für Faxgerät und Kopierer hielt. Überall standen Entwürfe herum. An der Wand hingen Skizzen, ge rahmte Urkunden und ein halbes Dutzend Sporttrophäen in verschiedenen Größen. Trotz des Durcheinanders wusste Hitch bestimmt genau, wo die Dinge sich befanden. „Nein, sie hat keine Erfahrung im Einzelhandel", sagte er in den Hörer, als Cindy wieder zu ihm hinüberschaute. „Zumindest nicht ausdrücklich ... ja, dessen bin ich sicher. POS? Kein Problem." POS? Was mochte das sein? Hitch bat den Anrufer, ihm eine Stunde Zeit zu geben, und legte auf. „Hört sich viel versprechend an", meinte er. „Das beweist mal wieder den Wert von Internet und EMail." Er hängte sein Jackett auf und lockerte die Krawatte. „Bevor wir ge hen, sollte ich noch ein paar Dinge erwähnen. Zum Beispiel..." „Warte einen Moment! Wenn es gerade um mich ging, möchte ich gern wissen, wer das war und worüber ihr spracht. Was heißt zum Beispiel ,POS ist kein Problem'?" „Möchtest du es im Crash-Kurs haben?" Hitch drückte mit der rechten Hand auf ein paar Tasten. Was für schöne, kräftige Hände er hatte ... ,,,Wer' als Erstes: Das war die Personalabteilung vom Kaufhaus Marston's, einem alten Familienunternehmen. Sara wusste zufällig, dass die jemanden in der Hut-Abteilung suchen. Und als ich ihr von dir erzählte, hat sie nachgefragt." „In einer richtigen Hut-Abteilung?" Hitch zuckte die Achseln. „Ja, ich habe mich wohl geirrt, das kommt auch mal vor. Offenbar gibt es doch noch Frauen, die Hüte kaufen. Also werden sie in einigen Geschäften angeboten. Hört sich meiner Meinung nach ganz passend für dich an." Das fand Cindy ebenfalls. Beinahe zu gut! „Ja, das könnte es sein. Ich rechnete schon damit, Frikadellen braten zu müssen, jedenfalls bis ich etwas Besseres finde." Hitch schaute auf die Armbanduhr. „Ich erzähle dir den Rest lieber unterwegs, bevor die jemand anders einstellen. Wenn du dich noch frisch machen willst, das Bad ist da drüben." Er wies auf eine Tür, an der eine Zielscheibe mit Pfeilen sowie Zeitungsausschnitte hingen. Unwillkürlich fuhr Cindy sich mit der Hand durchs Haar, da es immer leicht zerzaust war. Ihre Kleidung war vermutlich nicht passend, aber etwas Besseres besaß sie im Moment nicht. Sie hatte fast die gesamte von den Stiefschwestern übernommene Garderobe zurückgelassen. Als sie aus dem Bad zurückkam, legte Hitch gerade wieder den Hörer auf. „Bist du fertig? Auf dem Weg dorthin könnten wir, wenn du nichts dagegen hast, schnell noch
meine neue Brille abholen. Ach ja, Miss Alleswisserin, meine Kopfschmerzen lagen tatsächlich an meinen Augen. Aber du brauchst jetzt nicht noch mal zu betonen, dass du es vermutet hast." Cindy schaute ihn nur triumphierend an. Hitch hängte sich das Jackett über die Schulter und drängte Cindy zum Ausgang. Sara überreichte ihm noch einen Umschlag und wünschte Cindy viel Glück. Die gab sich Mühe, nicht nervös zu sein. Schließlich war sie tatkräftig, wusste anzupacken und verfügte über ausreichend Verstand. Außerdem war heute Montag. Bei ihrem kleinen Bo tenbetrieb hatte es noch nie einen Auftrag gegeben, den sie nicht ausführen konnte. „Hitch, was ist nun eigentlich POS?" fragte sie auf dem Weg zum Parkplatz. „Point of Sale, das ist ein System für die Inventarkontrolle." „Oje, das bedeutet bestimmt, am Computer zu arbeiten. Vielleicht sollten wir doch lieber umkehren. Ich kann nicht mal eine Digitaluhr einstellen, geschweige denn mit einem Computer umgehen." „Habt ihr das nicht in der Schule gelernt?" „Nein, nicht richtig. Es gab nicht genug Geräte, und die Stühle waren so unbequem, dass ich immer Probleme mit der Hüfte bekam. Darum hat man mich lieber in der Bibliothek aushelfen lassen." „Aber da gibt es doch auch Computer." „Stimmt, aber die Bibliothekarin stand kurz vor der Pensio nierung und wollte es nicht mehr lernen. Darum haben wir weiterhin mit Karteikarten gearbeitet." „Na ja, nicht so schlimm. Man wird dir das Basiswissen beibringen, und weiter musst du erst mal nichts wissen. Kein Problem, mein Schatz." Cindy wollte ihm das nur allzu gern glauben. Wenn einem jemand etwas verkaufen konnte, dann John Haie Hitchcock. Trotzdem zweifelte sie an ihren Fähigkeiten. „Sind wir noch Freunde?" fragte er sie, als sie im Wagen saßen. Cindy nickte. „Und du vertraust mir?" Ja, das tat sie. Was immer passieren würde, sie würde ihm vertrauen. Also nickte sie erneut. „Also, da wir Freunde sind: Der hier soll dir Glück bringen." Er gab ihr einen Kuss. Ganz zart und leicht, aber das reichte, um Cindy Mut zu machen und ihr den skeptischen Wind aus den Segeln zu nehmen.
10. KAPITEL Cindy war barfuß und hatte die Füße auf einen Lederhocker gelegt. Sie trank ein großes Glas Eistee. „Ich kann einfach nicht glauben, dass ich es geschafft habe!" flüsterte sie immer wieder vor sich hin, seit sie vor einer Stunde nach Hause gekommen war. „Nur ein einziges Vorstellungsgespräch, erst einen Tag da, und ich bin bei einer Firma angestellt, die tatsächlich Hüte verkauft!" Solche Hüte würde sie allerdings nie im Leben selbst tragen. Das waren langweilige Dinger aus Tweed oder Baumwolle, für Leute, die aufs Land fuhren, oder für Ältere, die sich sonntags zu einer Freizeitbeschäftigung trafen. Mit ein paar Veränderungen könnte man allerdings vielleicht etwas daraus machen. Zum Beispiel mit einer frechen Feder. Oder einem aparten Tuch. Oder ein paar künstlichen Blüten, wenn sie zum Material passten. Oder einem bunten Sträußchen, dekoriert mit etwas Tüll. Hitch kam herein, sank in seinen Lieblingssessel, und legte die Füße ebenfalls auf den Lederhocker. Wir sitzen da wie ein altes Ehepaar, dachte Cindy, nur dass wir nicht verheiratet sind. Sie wohnten nur vorübergehend zusammen. Genauso wie ihre neue Stellung nur vorübergehend sein würde. „Du hast wirklich Glück gehabt", fand Hitch, und Cindy nickte. Gleich nach dem Vorstellungsgespräch war sie wieder in den Flur hinausgegangen. Man werde sehen, hatte man ihr zögerlich gesagt, dabei hörte Cindy später, dass sie dringend eine Aushilfe suchten. Denn Claire aus der Kosmetikabteilung konnte nur selten aushelfen, wenn Bedarf war. „Nein, eigentlich hat die Firma Marston's Glück gehabt", korrigierte Hitch sich. „Danke, das finde ich auch", stimmte Cindy zu. Hitch trug das weiße Hemd, das sie gebügelt hatte. Der Kragen stand offen, und die Manschetten waren aufgekrempelt. Er hatte wunderbare Unterarme, kräftig, braun gebrannt und dunkel behaart. „Was meinst du, wie lange es dauert, bis sie dich zur Abteilungsleiterin machen. Eine Woche, sechs Wochen?" Er scherzte natürlich. Cindy hatte ihm nicht gesagt, wie unsicher ihr Job war. „Ich wäre lieber Einkäuferin als Abteilungsleiterin. Wer immer das jetzt bei denen macht, hat nicht die geringste Fantasie." „Erst mal solltest du dich eingewöhnen. Dann könntest du vielleicht ein paar von deinen Entwürfen mitnehmen und denen mal zeige n, wie ein ,richtiger' Hut aussieht." Hitch meinte es vermutlich nicht ernst, aber Cindy hatte auch schon daran gedacht. „Halten Sie das etwa für einen Hut?" würde sie fragen. „Das hier ist ein richtiger Hut!" Sie drehte das Teeglas in den Händen, dann stellte sie es ab. „Was die Stellung anbelangt, gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht." „Ich mag gar nicht fragen." „Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, ich bleibe nicht allzu lange bei dir. Die gute Nachricht ist, dass man mir - vorausgesetzt, man ist zufrieden mit mir - eventuell einen Teilzeitjob anbietet. Das hieße, ich könnte mit drei Tagen pro Woche rechnen." Sie lächelte gequält. „Die schlechte Nachricht ist, dass die reguläre Kraft nächste Woche aus dem Schwangerschaftsurlaub zurückkommt." „Das glaube ich einfach nicht!" Hitch stellte die Füße auf den Boden. „Wieso haben sie dann überhaupt annonciert?" „Das haben sie ja gar nicht. Deine Sekretärin wusste nur von dem Engpass, weil sie Claire aus der Kosmetikabteilung kennt. Sie dachte, dass sich daraus vielleicht eine Langzeitstellung entwickeln könnte. Und das tat es ja auch. Eventuell." „Aber ohne Garantie, nicht wahr? Kaum zu glauben, dass noch vor ein paar Jahren Leute die Stellung, die sie hatten, bis zu ihrer Pensionierung behielten."
„Das würde ich ohnehin nicht wollen. Ich sagte dir doch, dass ich meine eigene Firma gründen möchte." „Da hat man erst recht keine Sicherheit, Cindy. Wenn man selbstständig ist, hat man endlos lange Arbeitstage und keinerlei Rentenanspruch. Und was immer passiert, es ist die eigene Verantwortung. Ich sollte dir mal die Statistiken der Firmenpleiten im ersten Jahr nach ihrer Gründung zeigen." „Die kannst du mir ruhig zeigen. Aber das hindert mich nicht, es eines Tages zu versuchen." „Dann mach es, aber schraub deine Erwartungen nicht allzu hoch." „Hört sich an wie eine Zustimmung." Beide lächelten. Sie waren müde, aber zufrieden und fühlten sich trotz der stetigen unterschwelligen Spannung sehr wohl miteinander. Hitch hatte seine Mokassins abgestreift und legte die ebenfalls nackten Füße neben die von Cindy auf den Hocker. Unwillkürlich schauten sie beide darauf. Auf einmal veränderte sich die harmlose Stimmung. Cindy hatte noch nie daran ge dacht, dass auch Füße etwas Erotisches haben konnten. Seine Füße waren lang, mit gewölbtem Spann und ausgesprochen männlich. Ihre viel zierlicher. Sie wackelte mit den Zehen und hatte Lust... Lass es bitte sein! Tu es nicht! bat Hitch im Stillen. „Ich habe mir heute übrigens zwei Kleider und ein Paar Schuhe im Aus verkauf geleistet. Obgleich ich eigentlich noch kein Anrecht darauf habe, wurde mir bereits Angestelltenrabatt gewährt. Claire sagte mir, dass es ihnen peinlich sei, dass die Bezahlung so schlecht ist. Aber ich bekomme immerhin ein Prozent erlassen." „Das ist ja nicht gerade üppig." „Mehr, als mir je eingeräumt worden ist. Natürlich bekomme ich das Gehalt erst Ende des Monats. Aber gleich morgen schaue ich mir eine günstige Wohnung an, von der Claire mir erzählt hat." „Ach ja?" Cindy nahm die Füße vom Hocker und sah ihn direkt an. „Hitch, wir haben uns doch darauf geeinigt, dass ich woanders hinziehe, sobald ich es mir leisten kann, nicht wahr? Und jetzt kann ich es mir leisten. Ich habe meine Ersparnisse zurückbekommen, und dank deiner Hilfe habe ich nun auch ein Bank konto." „Aber was ist, wenn die reguläre Angestellte zurückkommt und du wieder entlassen wirst?" „Dann ... dann habe ich Pech und stehe wieder auf der Straße. Aber nachdem mein erstes Vorstellungsgespräch so gut gelaufen ist, mache ich mir keine Sorgen mehr. Ich kann ..." Das Telefon klingelte, und Hitch entschuldigte sich. Er meldete sich, ohne den Blick von Cindy zu lassen. Aus der Art, wie er zuhörte, schloss sie, dass irgendetwas passiert sein musste. Sein Blick verengte sich, die Züge schienen härter zu werden. Noch bevor er antwortete, war er aufgestanden. „Ich komme sofort", sagte er entschlossen. „In spätestens einer Stunde fahre ich los und treffe dich direkt im Krankenhaus." Im Krankenhaus? Ungute Erinnerungen stiegen in Cindy auf. Sie hätte gern gefragt, was denn geschehen sei. War vielleicht etwas mit Mac? Oder mit Steff? Sollten die beiden nicht heute von der Hochzeitsreise zurückkommen? „Ich muss sofort weg", sagte Hitch, nachdem er aufgelegt hatte. „Ist es jemand, den ich kenne?" Hitch schüttelte den Kopf und schlüpfte wieder in seine Mokassins. „Mein Vater hatte einen Schlaganfall. Offenbar nicht den ersten. Meine Mutter hielt es nicht für nötig, mich bei den vorigen zu informieren, aber der hier war ziemlich schlimm. Sie ist völlig durcheinander. Das ist sie sonst nie." „Kann ich irgendetwas für dich tun?" Cindy begleitete Hitch aus dem Wohnzimmer.
Im Gehen bat Hitch sie um Hilfe. Cindy nahm einen Notizblock und schrieb alles auf: Telefonnummern, Leute, die informiert werden mussten, Termine, die Sara absagen sollte. „Hier sind die Wohnungsschlüssel. Ich packe schnell meine Sachen zusammen. Könntest du hier ein paar Tage lang die Stellung halten?" „Soll ich nicht bei Marston's anrufen und ..." „Auf keinen Fall, du musst nicht den ganzen Tag neben dem Telefon sitzen. Geh zur Arbeit, geh zum Einkaufen, tu das, was du auch sonst tun würdest. Ich melde mich bei dir, sobald ich Genaueres weiß. Und solltest du nicht da sein, hinterlasse ich eine Nachricht." Wenige Minuten später reichte Cindy Hitch die neue Brille, die er auf dem Garderobentisch liegen gelassen hatte. „Nimm sie lieber mit. Und mach dir keine Sorgen, ich rufe Sara an, sie informiert deinen Geschäftspartner, und wir kümmern uns um alles Notwendige." Hitch sah Cindy einen langen Moment zärtlich an. „Das weiß ich. Und Schatz ..." „Es kommt alles wieder in Ordnung, davon bin ich überzeugt. Wenn dein Vater auch nur ein kleines bisschen von dir hat, dann ist er stark und hält durch." „Er hat kein bisschen ..." Hitch sprach nicht weiter, um seinen Mund stand ein trauriges Lächeln. „Doch; vielleicht hat er das tatsächlich." Er hängte sich die Reisetasche um die Schulter und nahm Cindy in die Arme. Eine ganze Weile lang hielten sie sich umschlungen, voller Hoffnung und voller Sorge. „Ruf mich an", flüsterte sie. Ich liebe dich. Ich weiß, dass du es nicht willst, aber falls Liebe hilft, will ich sie dir gern geben, ergänzte sie stumm. Hitch rief vom Krankenhaus aus an. Er berichtete Cindy von der Prognose, erklärte, dass er ein paar Tage bleiben würde, und hoffte, sie wäre damit einverstanden, sich inzwischen um Anrufe und sonstige Dinge zu kümmern. Noch immer konnte er nicht glauben, dass seine Eltern, die ihm immer so unbesiegbar vorgekommen waren, ihn auf einmal brauchten. „Dad ist völlig hilflos", sagte Janet Hitchcock in ungewohnt mutlosem Ton, so als könne sie die plötzliche Schwäche ihres Mannes nicht recht fassen. „Ach, das wird sich schon wieder bessern", versuchte Hitch sie zu beruhigen. Es war auf einmal, als hätten sie die Rollen getauscht. „Wir werden zu Hause einiges ändern, das Bett ins Parterre stellen und die besten Pflegerinnen besorgen, die es gibt. Für eine Rehabilitationstherapie ist es vermutlich noch zu früh, aber ich werde mich trotzdem schon mal darum kümmern." „Du bleibst doch ein bisschen, oder? Deine Arbeit kannst du vielleicht ein paar Tage liegen lassen?" Seine Arbeit, die Karriere, für die Hitch so sehr gekämpft hatte ... Seine Firma war von der Handelskammer immerhin als eine der zehn erfolgreichs ten der letzten zwei Jahre eingestuft worden. „Bei deinem Vater ... deinem Vater ..." Oje, sie fing an zu weinen. Seine Mutter, die sonst nie weinte! Hitch nahm sie tröstend in die Arme. Später entschuldigte seine Mutter sich dafür, dass sie an seiner Schulter geweint hatte. „So kenne ich mich gar nicht", flüsterte sie. „Das ist ganz in Ordnung, Mutter. Schließlich bist du nicht in einem Gerichtssaal geboren." Hitch war davon überzeugt, dass sie dennoch über geheime Kräfte verfügte, die man nach Bedarf mobilisieren konnte. Allerdings waren solche Kräfte oft auch mit großen Schwächen verbunden. „Doch, das bin ich beinahe", erwiderte sie und musste lachen. „Meine Mutter verließ den Gerichtssaal erst, nachdem Vaters Senatsanhörung zu Ende war. Beinahe zu spät! Er
sollte in das Oberste Gericht gewählt werden, und du weißt, wie parteiisch es dabei zugeht. So wurde ich auf dem Weg ins Krankenhaus geboren." „Das wusste ich noch gar nicht", sagte Hitch nachdenklich. Schon als Kind war ihm immer eingebläut worden, dass seine Familie seit unzähligen Generationen das Rückgrat des na tionalen Gerichtssystems dargestellt hatte. Es wurde wirklich Zeit, dass diese Tradition mal durchbrochen wurde. Eine Krankenschwester kam, um zu fragen, ob Richter Hitchcock sich nicht ein wenig ausruhen wolle. Richter Hitchcock wollte nicht, nein, danke. Schließlich hatte man Haltung zu bewahren. Die alten Gepflogenheiten, dachte Hitch, reine Äußerlichkeiten. Der betreuende Arzt kam herein und erklärte, dass er noch die letzten Untersuchungen abwarten wolle. Aber es sähe ganz gut aus. Hitch brachte seine Mutter dazu, sich endlich etwas hinzulegen. „Wenn du zusammenbrichst, nützt es niemandem." Janet hob die berühmte Hitchcock-Braue, aber durch die geröteten Augen und die Ringe darunter verfehlte es dieses Mal seine Wirkung. „Na gut, wenn du meinst. Aber nur eine Stunde. Bleib bitte in der Nähe. Und kannst du bitte zusehen, dass niemand hereinkommt? Ich möchte nicht, dass mich jemand beim Schlafen sieht." „Natürlich, Mutter", versprach er wie der gehorsame Sohn, der er nie gewesen war. Seltsam, dachte er, nachdem ein paar Stunden vergangen waren und er schon den dritten Kaffee getrunken hatte, wenn man sich ein bestimmtes Image zulegt, nimmt die Welt es hin, als sei es die Wahrheit. Wie Cindy, zum Beispiel. Zuerst hatte Hitch sie als Kind ge sehen, dann als neugieriges junges Mädchen, dann als eine Art Fußabtreter für die Familie und dann auch wieder als eine leichte Flocke, als fröhliche Kreatur, die nichts dafür konnte, dass sie mit ihren vielen Sommersprossen und ihren verrückten Träumen so sexy wirkte. Zwei Tage später tauchte Cindy plötzlich im Krankenhaus von Lynchburg auf. Sie trug ein neues Kleid - fliederfarben, lang und fein gemustert. Darüber eine knappe Strickjacke. Sie sah hinreißend damit aus, sehr weiblich, fand Hitch. Und sie wirkt ebenso scheu wie energisch, eine seltsame Mischung. Hitch befand sich in der so genannten Sonnenveranda der Klinik, die sechs große Fenster hatte, während seine Mutter im Krankenzimmer bei ihrem Mann war. Sie hatte den Arzt überredet, den Richter gleich nach Beendigung der letzten Untersuchung zu entlassen. Sie könne sich mit Hilfe von Pflegerinnen allein um ihn kümmern. Außerdem würde ihr Mann sich in der häuslichen Umgebung bestimmt viel schneller erholen. Hitch hatte das Gefühl, dass seine Mutter vor allem deshalb nach Hause wollte, weil sie dort allein das Sagen hatte. Dann wäre alles wieder so wie sonst. „Ich hätte vielleicht nicht herkommen sollen, aber Sara und Buck sagten, sie würden sich um alles kümmern, und du brauchtest vielleicht ein wenig Beistand", meinte Cindy. „Buck?" Der Familienname seines Partners war Miller Grove. „Ja, er schlug mir vor, ihn mit dem Vornamen anzusprechen. Er ist wirklich nett. Sag mal, Hitch, du siehst ja entsetzlich aus." „Oh, vielen Dank", entgegnete er lakonisch. Dass Cindy da war, freute ihn sehr. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und sie festgehalten! „Es liegt bestimmt an der Umgebung", meinte sie verständ nisvoll, „innerhalb solcher Mauern gibt es so viel Leid, dass niemand sich wirklich entspannen kann. Nach einer Weile nimmt das jeden mit. Was du brauchst, ist ein ..." „James, wer ist diese Person?" Janet Hitchcock hatte unbemerkt die Sonnenveranda betreten. Sie sah deutlich mitgenommen aus, versuchte das aber mit hoheitsvollem Benehmen zu überspielen.
„Das ist Cynthia Danbury, Mutter, eine alte Freundin aus College-Zeiten." Cindy lächelte und streckte Mrs. Hitchcock die Hand hin. Die Richterin richtete sich hoch auf - und übersah die freundliche Geste. „Meine Mutter ist erschöpft." Hitch war verärgert. „Sie meint es nicht böse, aber sie hat im Augenblick ziemliche Probleme." Beide Frauen schauten sich aufmerksam an. „Sind Sie diejenige, die bei ihm wohnt?" „Ja, aber nicht so, wie Sie es vermuten." „Woher zum Teufel weißt du, dass Cindy ..." Hitch unterbrach sich kopfschüttelnd. „Hitch hat mir in einer üblen Situation beigestanden. Und nun wird er mir helfen, eine eigene Firma zu gründen. Ich habe schon eine eigene Wohnung und ziehe dorthin, sobald die Maler mit dem Renovieren fertig sind." Hitch starrte sie an. „Wie bitte?" Cindy lächelte zart und wandte sich wieder seiner Mutter zu. „Ich stamme aus einer Kleinstadt und war noch nie von zu Hause weg. Als ich nun zum ersten Mal eine richtige Stellung suchte und eine Bleibe, wurde mir klar, wie wenig ich von allem weiß. Aber das interessiert Sie sicher nicht." Sie drehte sich zu Hitch um. „Wie geht es deinem Vater? Die Schwester wollte mir keine Auskunft geben." Hitch wollte antworten, aber seine Mutter unterbrach ihn. „Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, danke für die Nachfrage. Aber Sie wollen sicher bald wieder fahren, bevor der Verkehr zu dicht wird." „Ja, der Verkehr hier ist wirklich schlimm. Ich bin mindestens ein Dutzend Mal um den Block gefahren, bevor ich einen Parkplatz fand." Hitch hakte beide Frauen unter und führte sie zu einer Nische, in der es Sitzgelegenheiten gab. „Setz dich Mutter, bevor du zusammenbrichst. Wenn Vater bald nach Hause kommt, brauchst du all deine Kräfte." Zu Cindy gewandt sagte er: „Darf ich fragen, wie du hergekommen bist? Erzähl mir nicht, du hättest ein Taxi genommen." „Nein, ich habe mir ein Auto gekauft." „Du hast was gemacht?" „James, brülle hier bitte nicht so herum!" rügte ihn seine Mutter kühl. „Halt du dich da raus", gab er trocken zurück. „Cindy, was meinst du damit, du hast ein Auto gekauft?" Sie musste es also erklären. Zur Richterin gewandt, sagte sie: „Ich hatte schon ein Auto. Das hat mein Onkel mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Aber es ist schon alt und außerdem in Mocksville, und es würde über dreihundert Dollar kosten, es reparieren zu lassen. Das wäre doch nicht sehr vernünftig, nicht wahr?" Janet Hitchcock starrte Cindy fassungslos an. So jemandem war sie noch nie bege gnet. „Ja, sehen Sie, das dachte ich auch. Darum habe ich einer alten Dame ihren Wagen abgekauft, da sie ihn nicht mehr brauchte. Die Sache ist nur die, ich habe die Nebenkosten nicht bedacht." „Ich nehme doch an, Sie haben einen gültigen Führerschein?" „Ja, natürlich, Madam, ich bin sogar eine ausgezeichnete Fahrerin. Das muss ich auch, denn Fahren war das Wesentliche bei meinen letzten Jobs." „Ach, Sie waren Chauffeur?" Ermutigt durch die Art, wie Hitchs Mutter sich ins Gespräch eingemischt hatte, fuhr Cindy fort und beschrieb ihre bisherige Beschäftigung. Sie erzählte auch einige drollige Anekdoten von Dingen, die sich über die Jahre ereignet hatten, und wie sie das Ganze vor ihrer Tante verheimlichte, um deren Ansehen nicht zu schmälern. Was nicht leicht gewesen sei in einer so kleinen Stadt wie Mocksville. „Manchmal wird das Ansehen ein bisschen überbewertet, nicht wahr? Ich meine, wenn es einen davon abhält, das zu sehen, was wichtig ist und was nicht, oder?" meinte Cindy völlig ungeniert. Hitchs Mutter machte einen etwas verwirrten Eindruck. Hitch versuchte das Thema zu
wechseln. Er schlug vor, etwas aus der Cafeteria zu besorgen. „Nein, bleib sitzen, James. Ich esse nicht in einem Krankenhausaufenthaltsraum. Und Miss ... Miss ..." „Cindy", kam diese ihr zu Hilfe. „Cindy kann warten, bis dein Vater nach Hause darf. Ich bin sicher, Mrs. Kueber hat ein Essen vorbereitet. Sie weiß ja, dass wir heute Abend kommen." Und so geschah es. Alle vier, samt einer Krankenschwester, wurden von Bloodstock, dem Chauffeur der Hitchcocks, nach Hause gefahren. Bloodstock und die Krankenschwester aßen zusammen in der Küche. Dem Richter wurde das Essen auf einem Tablett in seinem Zimmer serviert. Hitch und Cindy saßen sich an dem langen Esstisch gegenüber, in einem Raum, der so einschüchternd wirkte, dass Cindy jeden Moment damit rechnete, hinauskomplimentiert zu werden. Als seien sie ausgehungert, fischten beide begeistert nach den Fleischklößchen in der Bouillon. Auf der Oberfläche schwamm eine Zitronenscheibe. Cindy wusste nicht, ob man die mitaß, aber da Hitch es nicht tat, unterließ sie es auch lieber. „Würdest du mir jetzt mal erklären, wieso du hergekommen bist?" fragte er, kaum war der größte Appetit gestillt. Die Haushälterin stellte zwei neue Teller vor sie hin. Cindy schaute auf das winzige Stück Fleisch, das von einer roten Soße umgeben war. Am Rand lagen zartes Gemüse und ein Löffel voll Reis, in dem sich ein paar dunkle Körner tummelten. Auf einem kleineren Teller befanden sich ein hartes Brötchen sowie ein Klecks Butter. Wie viel lieber hätte sie einen Hamburger mit gerösteten Zwiebeln und knusprigen Pommes frites gehabt! „Weißt du, ich ahnte schon, dass ich meinen Job nur kurze Zeit haben würde. Auch wenn man mir versicherte, ich könnte eventuell als Teilzeitkraft bleiben. Aber die Frau, die ich vertrat, kam zurück, und für zwei Angestellte gibt es nicht genug Arbeit. Ich sollte noch den Rest der Woche bleiben, lehnte aber dankend ab." Cindy probierte von dem Reis. „Oh, koste den mal, der schmeckt richtig gut." „Cindy, ich bin nicht sehr geduldig." „Das ahnte ich schon, deshalb bin ich ja auch hier. Also, es war so: Ich habe geträumt, du würdest mich rufen. Und da du für mich da warst, als ich Hilfe brauchte, dachte ich, ich könnte mich irgendwie revanchieren." Hitch schüttelte verwundert den Kopf. Entweder war Cindy eine gute Schauspielerin, oder seine Augen waren schlechter als befürchtet. „Schon gut, lass den Quatsch. Du spielst gern die Kleinstadtnaive, aber wir beide wissen, dass du weit raffinierter bist, als man es dir zutraut." Hitch erwartete Zustimmung oder Protest. Cindy nickte jedoch nur und schnitt ein Stück Fleisch ab. „Du hast ja jetzt meine Mutter kennen gelernt und siehst, was hier los ist. Das alles ist nicht gerade einfach. Ich bin erstaunt, dass sie dich überhaupt so lange ertragen hat." „Mmm, das Fleisch ist auch gut." Cindy kaute genussvoll. „Sie duldet mich hier nicht nur, Hitch, sie braucht mich hier. Das hat sie zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber ich weiß es. Wieso das so ist, werde ich noch herausfinden. Aber in diesem Haus fehlt etwas, das spürt sie. Und als Außenseiter könnte ich gerade die Richtige sein." Sie hielt kurz inne. „Deine Mutter ist total erschöpft. Wie es deinem Vater geht, weiß ich noch nicht, ich habe ihn nur ganz kurz gesehen. Aber deine Mutter ist klug genug zu wissen, dass sie zusammenbricht, wenn sie keine Unterstützung bekommt. Sie weiß nur noch nicht, welche Art Hilfe sie braucht. Irgendwie erinnert sie mich an Tante S." „Du bist schon eine erstaunliche Person, weißt du das?" „Ja, das heißt, das sind wir doch alle, nicht? Etwas Besonderes, meine ich. Unter der Oberfläche ähneln wir uns viel mehr, als manche zugeben mögen. Wir leiden alle, aber viele wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Wir quälen uns irgendwie, aber manche
quälen sich mehr als andere. Wir sind sterblich, aber viele mögen nicht daran denken. Zumindest glaube ich, dass es so ist." Das ganze Haus ging wie auf Zehenspitzen. Alle, das Personal eingeschlossen, sprachen nur gedämpft. Hitch dachte an das, was Cindy gesagt hatte, dass alle litten und sich krampfhaft um Haltung und ums Überleben bemühten. Und besonders, dass alle große Angst vor dem Gedanken der Sterblichkeit hatten. War dies das Problem seiner Mutter? Nachdem sie so lange Überlege nheit dokumentiert hatte, hatte sie womöglich Angst zuzugeben, dass es Dinge gab, die sie nicht kontrollieren konnte. Vielleicht wandte sie sich deshalb leichter an eine Fremde als an jemanden, den sie gut kannte, um ihre Schwäche einzugestehen. Nun, da Cindy den Gedanken in den Raum gestellt hatte, konnte Hitch sich gut vorstellen, dass es so war. All die Jahre hatten sie nur aufeinander reagiert, ohne sich die Zeit zu nehmen, wirklich nachzudenken. Seine Eltern, sogar einige seiner älteren Cousins, hatten die Tatsache, dass Hitch beruflich einen anderen Weg eingeschlagen hatte, als Verrat empfunden, als sträfliche Abweichung. Er dagegen empfand ihre ablehnende Einstellung als blanke Arroganz. Offenbar musste erst jemand wie Cindy kommen, die mit ihrer Mischung aus Naivität und Klugheit die Dinge durchschaute. Hitch lag in seinem alten Zimmer noch lange wach und dachte über diese erstaunliche Frau nach, die im Raum nebenan schlief. Was mochte sie denken? Was von seiner Familie halten? Es war lange her, dass er seine Eltern als Individuen gesehen hatte, als Einzelpersonen mit eigenen Träumen, Zielen und Ängsten. Er hätte sich schon viel früher eine Brille zulegen sollen! „Cindy, Cindy, was mache ich nur mit dir?" flüsterte er in die Dunkelheit. Sie passte eigentlich genauso wenig in sein Leben wie in das seiner Eltern. Aber nun war sie trotzdem da. Und trotz aller Be denken konnte Hitch sich ein Leben ohne sie mittlerweile kaum noch vorstellen.
11. KAPITEL „Diesen hier nenne ich ,Perlmutter"', erklärte Cindy, hob das Modell vorsichtig aus der Schachtel und setzte es sich auf den Kopf. „Nein, das stimmt nicht, sie nennt es Mutters Perle", widersprach Hitch. Janet Hitchcocks müde graue Augen wanderten von einem zum anderen. „Tatsächlich?" Hitch war aufgefa llen, dass das Gesicht seiner Mutter etwas von der wächsernen Blässe verloren hatte. Er schaute zu der bewegungslosen Person auf dem Krankenbett hinüber, fing Cindys besorgten Blick auf und machte ihr unauffällig ein zustimmendes Zeichen. Cindy wollte erst nicht, aber dann hatte Hitch sie dazu überredet. „Eine Modenschau? Hitch, das ist Unsinn! Das kann ich nicht, nicht in diesem Haus. Nicht vor deinen Eltern. Besonders jetzt, wo dein Vater krank ist. Das wäre völlig ... unpassend." „Unpassend" - einer der Lieblingsausdrücke seiner Mutter. Das meiste in Hitchs Leben war „unpassend" gewesen. Merkwürdigerweise kam es ihm jetzt nicht mehr so vor. „Ach, was, das ist genau, was dieses alte Mausoleum braucht, und meine Mutter könnte eine Abwechslung gut gebrauchen. Hast du nicht irgendwas in deinem Karton, das zu einem schwarzen Kleid passt?" „Bleib bitte ernst", rügte Cindy. „Das bin ich!" Hitch wusste selbst nicht genau, warum er den Vorschlag gemacht hatte, aber als Cindy ihre verrückten Hüte nacheinander aufprobierte und sie in dem düsteren Krankenzimmer vorführte, begriff er, dass es richtig gewesen war. Er wusste nicht, ob sein Vater überhaupt mitbekam, was vor sich ging, vermutete aber, dass unter der stillen Oberfläche noch der alte, helle Geist lebte, derselbe Stolz auf seine tüchtige Frau und die gleiche Ungeduld, die er seinem einzigen Sohn gegenüber empfand. Alles das, was es Hitch so schwer gemacht hatte, hier aufzuwachsen. Hitch betete nun, dass all das noch da sei. Immerhin konnten seine Eltern eine Zerstreuung gebrauchen, denn vielleicht das erste Mal in ihrem Leben waren sie beide hilflos. Das wäre schon für jeden normalen Sterblichen schlimm genug gewesen, ganz besonders aber für jemanden, der sein Leben lang daran ge wöhnt war, Autorität auszuüben. Seiner Mutter ging es sichtlich schlecht. Am Vortag im Krankenhaus war Hitch das Zittern ihrer Hände aufgefallen. Und heute hatte sie sich nicht mal frisiert. Niemals, solange Hitch lebte, hatte Janet Haie Hitchcock ihr Zimmer anders verlassen als vollständig angezogen und sorgfältig zurechtgemacht! Angesichts der rothaarigen Fremden in schlecht sitzenden Jeans, rosafarbenen Slippern und mit einer Gartenfantasie auf dem Kopf, wirkte sie fast ein wenig verstört. Aber das war nach Hitchs Meinung viel besser als ängstlich oder deprimiert. „Sehr hübsch", murmelte die Richterin. Cindy wandte sich an den schweigenden Mann auf dem Krankenbett, das man in aller Eile - auf Hitchs Veranlassung - im Arbeitszimmer aufgestellt hatte. „Mr. Hitchcock, dieser hier könnte auch einem Mann gefallen, was meinen Sie dazu? Zwinkern Sie, wenn er Ihnen gefällt, und runzeln Sie die Stirn, wenn nicht." Der Patient tat keins von beidem. Trotzdem kam es Hitch so vor, als lächelten die Augen seines Vaters, dessen Gesicht ihm sowohl älter als auch jünger vorkam, als er es in Erinnerung hatte. Die tiefen Falten, die seine sonst so düsteren Züge beherrschten, schienen irgendwie geglättet. „Ich habe nicht alle Modelle mitgebracht", fuhr Cindy fort. Sie wirkte in dem holzgetäfelten dunklen Raum mit den schweren Möbeln und den vielen ledergebundenen alten Büchern auf den Borden wie ein Regenbogen in einem Bergwerk. „Ich habe elf fertige Entwürfe und Material für mehr, aber Sie müssen verstehen, das sind nur
Arbeitsmodelle. Manchmal beraube ich sozusagen Peter, um Paul zu bezahlen." „Das verstehe ich", sagte die Richterin. Diesen verwunderten Gesichtsausdruck hat Mutter in letzter Zeit öfter, dachte Hitch. Und das hast du fertig gebracht, mein Schatz, lobte er Cindy im Stillen. Nie im Leben hätte er Cindy hierher eingeladen. Das würde er nicht seinem ärgsten Feind antun! Es war allein ihre Entscheidung gewesen. Sie behauptete, Hitch habe sie im Traum zu sich gerufen. Und er musste zugeben, dass er sich wahnsinnig gefreut hatte, als sie in der Sonnenveranda des Krankenhauses aufge taucht war. Er hatte sich gefühlt, als sei er plötzlich von Wärme eingehüllt worden. Bei dem gemeinsamen Essen am Abend hatte Cindy davon gesprochen, dass sie Aussicht auf ein Zimmer hätte und schon morgen gehen könnte, wenn Hitch sie nicht mehr brauchte. „Ich könnte mich auch sofort nach einer Arbeit umschauen und in Richmond bleiben", hatte sie vorgeschlagen. „Es gibt ja kein Gesetz, das mir vorschreibt, wo ich zu leben habe", sagte sie. „Das ist das Schöne an meiner neuen Unabhängigkeit. Ich kann gehen, wohin ich will, und tun, was ich will. Das interessiert niemanden." Doch, mich interessiert es, dachte Hitch. Aber er wagte nicht, das zu sagen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Außerdem wusste er nicht, ob sie das überhaupt hören wollte. „Cindy, meinen Sie, dass Sie etwas mit den vielen Blumen anfangen könnten, die uns geschickt worden sind?" fragte Janet, sobald die Hutmodenschau vorüber war. „Vielleicht stellen Sie ein paar von jeder Sorte zusammen?" Den ganzen Vormittag über waren riesige Blumengebinde angekommen. Die meisten wohl weniger, um wirklich Freude zu machen, sondern eher, um Eindruck zu schinden, dachte Hitch bitter. „Gern. Dieser Raum könnte wirklich etwas Farbe gebrauchen." „Vielleicht lassen Sie auch ein paar Ihrer ... Hüte herumliegen", fügte Janet hinzu. Hitch staunte nicht schlecht, so etwas war nur selten von seiner Mutter zu hören. Der Rest der Woche verging in einer zermürbenden Mischung aus Hoffnung, Enttäuschung, Umstellungen und neuen Erkennt nissen. Der Arzt erklärte bei einem seiner Hausbesuche, es sei noch zu früh, um mit einer Besserung zu rechnen, aber er sei optimistisch. Hitch richtete in seinem Zimmer eine Art Büro ein und fuhr Mitte der Woche kurz nach Richmond zurück, um ein größeres Problem zu lösen. Miller Grove, beziehungsweise Buck - wie Cindy ihn nun nennen durfte - war recht umsichtig, aber nicht sehr geschickt im Umgang mit Kunden. Dass Cindy da war, war wirklich ein Geschenk. Noch vor einer Woche hätte Hitch geschworen, dass sie niemals in den Haushalt seiner Eltern passen würde. Aber sie übernahm eine Menge kleiner Pflichten, wie zum Beispiel, Dankeskärtchen zu schreiben. Sie entlastete die Pflegerinnen durch viele Dinge, las dem Richter die Tageszeitung und seinen Lieblingsroman vor. Gelegentlich führte sie sogar einen ihrer Hüte vor und fragte ihren Patienten nach seiner Meinung dazu. „Der hier sieht irgendwie nicht richtig aus. Was meinen Sie, ist zu viel Dekoration daran? Ich könnte das hier abnehmen und stattdessen auf der anderen Seite noch etwas hinzufügen, finden Sie nicht?" Dann nickte sie, als hätte sie eine Antwort bekommen. Es verblüffte Hitch total, dass Cindy seine Mutter inzwischen sogar beim Vornamen nannte. „Janet, Sie haben Ihr Frühstück heute Morgen vergessen. Annie und ich haben extra Muffins ge backen." Annie. Also auch mit dem Personal war sie schon auf vertraulicher Basis! Bislang hatte noch nie jemand gewagt, Mrs. Kueber, die wie ein General die ganze Küche dirigierte, beim Vornamen zu nennen!
An diesem Abend wollte Hitch die seltene Gelegenheit nutzen, Cindy allein zu treffen, um ihr zu danken. Er war gerade auf dem Weg in sein Zimmer gewesen, wo er die letzten Faxe und EMails beantworten wollte, und Cindy war mit einer ihrer Aufgaben beschäftigt, als sie sich über den Weg liefen. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Cindy, du hast..." Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. Hitch nahm ihren Finger, küsste ihn und nahm ihre Hand in seine. „Ich meine es ernst. Es kommt mir vor, als hätte jemand die Chinesische Mauer eingerissen. Meine Eltern essen dir ja förmlich aus der Hand! Ich bin fast sicher, dass mein Vater gestern versucht hat zu lächeln, als du ihm, reichlich übertrieben, von unserem ersten Zusammenstoß erzähltest." Er zog sie näher an sich. „Vielen Dank dafür, dass du hier mein kleines Geheimnis ausgeplaudert hast", rügte er sie sanft. Als Cindy lächelte, war Hitch hingerissen. Er küsste sie und hätte sie am liebsten auf der Stelle in sein Zimmer getragen. In dem Moment waren jedoch die Schritte seiner Mutter zu hören. Noch ziemlich atemlos, schauten sie sich an. „Ich weiß nun auch, warum ich dich im Traum gerufen habe", flüsterte Hitch. „Ich sagte es dir doch." Beide lösten sich voneinander. „Mutter, ist es dir recht, wenn ich dein Faxgerät noch einmal benutze?" rief Hitch. Janet Hitchcock nickte königlich. Wenn sie ihren Sohn genauer angesehen hätte, hätte sie ihm vermutlich eine Moralpredigt gehalten. Sie schien jedoch schon so weit jenseits fleischlicher Gelüste, dass ihr sein erregter Zustand gar nicht auffiel. Zu Beginn der zweiten Woche schlug Janet Hitchcock ihrem Sohn vor, nach Richmond zurückzukehren. „Du kannst hier ohnehin nichts tun", meinte sie. „Dein Vater wird sich nur langsam erholen, und ich bin sicher, es gibt für dich zu Hause viel zu erledigen." „Ja, vielleicht hast du Recht, wir werden hier wohl nicht mehr gebraucht. Sollte es hier eine Veränderung geben, kannst du ja jederzeit anrufen." Seine Mutter zog eine Augenbraue hoch. „Du verstehst mich falsch." Hitch wartete auf die Anklage, das Urteil kannte er im Voraus. „Wieso?" „Cindy kann noch bleiben, George scheint ihre Anwesenheit gut zu tun." Einen Moment war Hitch sprachlos. Vielleicht lag es daran, dass alle ziemlich viel Stress gehabt hatten. Er kannte seine Mut ter als wenig feinfühlig. „Das muss Cindy selbst entscheiden." „Sie wird bleiben, wenn ich das wünsche." „Wenn du sie bittest, willst du damit sagen." Wieder zog Janet die Braue hoch. „Also gut, Mutter, frag sie. Schließlich ist es dein Haus." Sie nickte und ging davon. Hitch nahm sich vor, sich Weiteres zu ersparen und so schnell wie möglich abzureisen, bevor er womöglich etwas Unverzeihliches tat oder sagte. Dabei hatte er gerade erst begonnen, sich wie ein richtiges Familienmitglied zu fühlen! Egal, er brauchte seine Eltern genauso wenig wie sie ihn. Was Cindy anging, so musste sie selbst entscheiden, was sie tun wollte. Schließlich war sie frei. Genau das, wonach sie sich schon so lange gesehnt hatte. Vielleicht sollte Hitch sie warnen, dass man unter dem elterlichen Regime bald kaum noch von Unabhängigkeit sprechen könnte. Aber diese Art Autorität kannte sie nur allzu gut aus eigener Erfahrung. In wenigen Minuten hatte er seine Reisetasche gepackt, inklusive der Büroutensilien.
Nachdem er alles im Wagen verstaut hatte, machte er sich auf die Suche nach Cindy. Er fand sie in der Küche, wo sie einzelne Blumen aus einem riesigen Arrangement herauszupfte. Sorgfältig arrangierte sie die Blumen in einer großen Porzellanvase. „Annie hat mir versprochen, dass sie beim nächsten Einkauf mal nach einer moderneren Vase Ausschau halten wird." Hitch würde Cindy immer inmitten von Blumen vor sich sehen, mit grün gefleckten Händen. „Ich wollte mich von dir verabschieden." „Du fährst schon?" fragte sie erschrocken. „Ja. Aber Mutter meint, sie fände es gut, wenn du noch bliebest. Ob du darauf eingehst, ist natürlich deine Entscheidung." Hitch bemühte sich, Cindy nicht zu beeinflussen, auch wenn es ihm schwer fiel. Am liebsten hätte er gesagt: Lass uns bloß so schnell wie möglich von hier verschwinden, bevor meine Eltern sich in dein Leben einmischen, wie sie es jahrelang bei mir versucht haben. Wenn sich da jemand einmischt, dann nur ich! „Und dein Vater?" „Der braucht mich nicht." „Natürlich tut er das!" Cindy wischte sich die Hände an ihrem Hemd ab und stemmte sie in die Hüften. „Nur weil er im Moment nicht sprechen kann, heißt es nicht, dass er deine Anwesenheit nicht bemerkt. Ich weiß genau, dass er sich freut, dass du da bist! Das sieht man daran, wie er dir immer mit den Blicken folgt, wenn du im Zimmer bist. So, als wollte er dir etwas sagen." Hitch seufzte. „Cindy, du bist eine Träumerin, das hast du selbst gesagt. Ich dagegen stehe mehr in der Wirklichkeit." „Wir haben alle unsere Träume, nur wagt nicht jeder, daran zu glauben." „Na schön, wenn du meinst. Du kannst glauben, was du willst, aber vergiss nicht, dass du vor allem davon träumst, dein eigenes Leben zu leben. Lass dich nicht erneut in eine Situation der Ab hängigkeit bringen!" Den Rest des Tages, während Cindy hübsche kleine Sträuße zusammenstellte und sie im Haus verteilte, musste sie an Hitch denken. Sie überlegte, warum er sich nicht mit seinen Eltern verstand und wie schade das war. Und warum hatte er sie zum Abschied eigentlich nicht geküsst? Es war ja nicht so, dass sie sich gegen ihn entschieden hatte. Aber hier, bei seinem kranken Vater, wurde sie gebraucht. Seine Eltern waren ein Teil von ihm, ob er sich das nun eingestand oder nicht. Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, Eltern und Sohn wieder zusammenzubringen, wollte sie es versuchen. Sie brachte das Tablett mit dem Abendessen ins Zimmer von Mr. George, so dass die Nachtschwester in Ruhe essen, sich entspannen und etwas fernsehen konnte! Janet machte gerade ein Nickerchen. „Sie wissen sicher, dass Hitch abgefahren ist", berichtete Cindy seinem Vater. Vor dem Servieren hatte sie die Suppe noch probiert. Annie würzte inzwischen schon etwas besser. „Sie sollten sie wirklich kosten, die Suppe ist ziemlich gut. Vielleicht kriege ich Annie, bis Sie wieder herzhaftere Nahrung zu sich nehmen können, noch so weit, eine richtig gute Schinkenknochensuppe zu kochen. Die würde Ihnen schmecken!" Natürlich kam keine Antwort, aber Cindy war sich sicher, dass sich Mr. Hitchcocks Gesichtsausdruck ein wenig aufhellte. „Wie ich schon sagte, Hitch ist am frühen Nachmittag nach Richmond zurückgefahren. Ich glaube, er denkt, Sie brauchen ihn nicht mehr. Ich habe ihm gesagt, dass es nicht stimmt, und dass es, nur weil Sie ihn im Moment nicht bitten können zu bleiben, nicht heißt, dass Sie es nicht wollen. Aber Sie wissen ja, wie er ist - stur wie ein Esel. Von einer vorgefassten Meinung weicht er nicht so schnell ab."
Sie schob das Tablett beiseite, lehnte sich in dem schweren Le dersessel zurück und schüttelte den Kopf. „Er glaubt, Sie und Janet lieben ihn nicht. Das würde er natürlich nie so sagen, aber man ahnt es. Ich weiß wirklich nicht, wie er auf die Idee kommt, denn schließlich ist er ein Sohn, auf den alle Eltern nur stolz sein können. Man könnte sagen, dass er eine Mischung aus Künstler und Techniker ist. Intelligent und gleichzeitig intuitiv, praktisch veranlagt und gleichzeitig kreativ. Obendrein der netteste, liebevollste, großzügigste Mensch der Welt. Wenn er nicht so entschieden gegen die Ehe wäre, würde ich ihn auf der Stelle heiraten." Unter ihren dichten Wimpern beobachtete Cindy den Mann in seinem Bett. Sie hatte sich das doch nicht eingebildet? Irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er versuchte, etwas zu sagen. Ja, bitte, bitte, denn Hitch wird es nie zulassen, dass man ihn liebt, bevor er nicht weiß, dass seine Eltern ihn lieben! flehte Cindy still. Hitch ließ nur einen Tag verstreichen, ehe er von Richmond aus anrief. Die Haushälterin nahm den Hörer in der Küche ab. „Mrs. Kueber, ist Miss Danbury zu sprechen?" „Oh, bestimmt ist sie das. Sie hat Ihrer Mutter nur gerade Kakao und Vitamine gebracht. Die nehmen wir jetzt alle, und ich glaube, sie helfen wirklich. Es läuft hier, wenn Sie mir erlauben, das zu sagen, in letzter Zeit viel angenehmer." Hitch hätte Mrs. Kueber sagen können, dass es das Vitamin Cindy war, welches diese Änderung bewirkt hatte, aber er tat es nicht. „Gut, ich bleibe am Apparat." Noch bevor Cindy den Hörer aufnahm, hörte er sie. Sie kam angelaufen. Niemals vorher war irgendjemand in seinem Elternhaus gerannt! „Hitch?" Sie war noch ganz außer Atem. Wie er das vermisste! „Ist alles in Ordnung bei euch?" „Ja. Es ist nur schade, dass du nicht da bist! Auch dein Vater vermisst dich, glaube ich. Und heute hat mir deine Mutter Babybilder von dir gezeigt. Sie wurde dabei ganz sehnsuchtsvoll und weinte fast, aber das ist wohl normal bei Müttern. Wir sind hier im Moment alle ein bisschen durcheinander." Hitch wusste nicht, ob er lachen oder staunen sollte. Seine Ba bybilder? Er hatte gar nicht gewusst, dass seine Mutter überhaupt welche von ihm hatte! „Ich wollte nur hören, ob es dir gut geht." Obgleich er erst am Vortag abgefahren war, kam ihm die Trennung schon endlos lange vor. „Könntest du am Wochenende nicht wiederkommen? Ich weiß, du hast unheimlich viel Arbeit, aber Buck macht es nichts aus, Überstunden zu machen, solange Sara die Kundengespräche übernimmt. Wusstest du, dass sie ineinander verliebt sind?" Hitch blieb fast der Mund offen stehen. Bislang hatte er die beiden immer nur als Mitarbeiter gesehen und nie als Privatpersonen. „Es kann natürlich sein", fuhr sie fort, „dass sie es selbst noch nicht wissen, aber es wird schon noch kommen. Man spürt, wenn sich irgendwo Dampf bildet, nicht? Erst vibriert der Kessel, und dann klirrt der Deckel." Erst bildet sich Dampf, und dann vibriert der Kessel, dachte Hitch ein paar Minuten später, nachdem er aufgelegt hatte. Geschah das womöglich auch gerade mit ihm? Er hatte Cindy auf die Frage, ob er am Wochenende kommen könne, nicht geantwortet. Denn seine Antwort würde ihr nicht gefallen. Umso überraschter war er, dass ihn ein paar Tage später, als er die Wohnungstür aufschloss, der Duft von Schmorbraten empfing. „Hallo?" rief er verwundert. Die Badezimmertür wurde geöffnet, und eine feuchte, warme Dampfwolke kam heraus. Eine Gestalt erschien, umwickelt mit einem Handtuch und mit einem Turban auf dem Kopf. „Hitch! Oje, ich wollte schon angezogen sein und alles fertig haben, wenn du kommst!"
Weich wie Wachs, das war der einzige Ausdruck, mit dem man seinen Zustand hätte beschreiben können. Aber gleichzeitig waren da auch eine Hitze und eine Erregung, die nichts mit Wachs zu tun hatten ... „Seit wann bist du hier?" Dumme Frage. Wieso war Cindy überhaupt hier? Zog sie ihn doch seinen Eltern vor? Oder war sie nur hier, weil sie sonst keine Bleibe hatte? „Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich hier bin! Wir müssen mit einander reden, und ich dachte, beim Essen geht es leichter." Um seinen Magen machte Hitch sich im Moment weniger Gedanken. „Ja, gern. Kann ich irgendwie helfen?" Er stellte seinen Aktenkoffer ab und versuchte, Cindy nicht allzu direkt anzuschauen. Auf dem Dekolletee hatte sie keine Sommersprossen, stellte er staunend fest. Schade, die hätte man so schön zählen können ... „Gib mir eine Minute, damit ich mich abtrocknen kann", bat sie und verschwand wieder im Bad. Kurz darauf kam sie im Bademantel zurück. Die Haare wirkten dunkler als sonst, da sie noch feucht waren. „Möchtest du erst essen oder erst reden?" „Am liebsten würde ich dich erst lieben, dann essen und dann reden." „Wie bitte?" „Du hast mich doch verstanden, oder?" Cindy hob einen Hutkarton vom Stuhl, setzte sich und zog sorgfältig den Bademantel über die nackten Beine. „Was ist los mit dir? So etwas hast du noch nie zu mir gesagt." „Nein? Dann wird es Zeit!" Im Dämmerlicht des Spätsommertages schaute Cindy ihn mit gerunzelten Brauen an. Hitch dachte kurz daran, dass die Tage wieder kürzer wurden. Aber er wurde nicht philosophisch, sondern versuchte, die Situation zu begreifen. „Ich war mir nicht sicher, ob ich dich überhaupt wieder sehen würde", sagte er und erschrak darüber, dass er seine Gedanken laut aussprach. Seitdem er weggefahren war, hatte ihn die Vorstellung geplagt, dass er vielleicht etwas sehr Kostbares ausgeschlagen hatte. Und dass Cindy niemals erfahren würde, dass es einen Mann gab, der sie mehr liebte, als er es je für möglich gehalten hatte. Cindy hatte ihm die Bedeutung von Liebe überhaupt erst klargemacht. „Komm her", verlangte er mit rauer Stimme. Und Cindy flog in seine Arme, einen Ausdruck von Erleichterung im Gesicht. Hatten denn etwa auch sie Zweifel geplagt? Ihn quälten eine Menge Fragen. Er hatte in seiner Kindheit ge lernt, dass Liebe nichts Selbstverständliches war. Seine Eltern wussten anscheinend nicht, was man darunter verstand. Und seitdem hatte Hitch auch nichts anderes kennen gelernt. Liebe war für ihn etwas Romantisches - also eine Illusion. Doch als er Cindy warm und duftend im Arm hielt und ihr feuchtes Haar an seiner Wange spürte, hörte er auf, nachzudenken. Im Augenblick gab es Besseres zu tun .. „Ich liebe dich", flüsterte Hitch. „Hör bitte nie auf, es zu tun", bat sie. „Das könnte ich nicht ertragen." Er umarmte sie fest. „Möchtest du eine lebenslange Garantie? Die kannst du haben." Heiße Küsse folgten und gemurmelte Zärtlichkeiten. Beide hatten großen Hunger auf Essbares, aber einen noch viel größeren auf einander. Die Zeit verging wie in einem warmen, süßen Rausch. „Möchtest du eine Haustrauung, mein Liebling?" murmelte Hitch nach einer Weile. „Bei deiner Tante in Mocksville?" „Nein, dort nicht. Wie wäre es mit dem Arbeitszimmer deines Vaters. Dann könnte er dabei sein. Ist eine Richterin nicht auch berechtigt, eine Trauung vorzunehmen?" Hitch lachte leise. „Du bist wirklich eine Zauberin. Aber du solltest es nicht übertreiben, sonst verlässt dich das Glück."
„Das hat nichts mit Glück zu tun, sondern mit Liebe. Damit kann man alles erreichen, denn sie bewirkt Wunder." „Wunder? Hmm, hört sich interessant an." „Sie wirkt sich auf Eltern und Großeltern und Kinder aus, auf Stieftanten und Cousinen und ihre Partner und auf ..." Hitch legte Cindy den Finger auf die Lippen. „Sie werden alle eingeladen vorausgesetzt, Tante S. verspricht, nicht das Kommando zu übernehmen. Mac und Steff, die übrigens zurück sind, und auch Maura, falls New York auf sie verzichten kann. Aber was meinst du, sollten wir es im Augenblick nicht lieber auf zwei Personen beschränken und auf ein gemütliches Sofa?" „Und auf die Küche?" „Oh, ja", murmelte er hungrig, „vielleicht auf die Küche."
-ENDE -