Fabian Lenk
Schattenland
s&p 2006
Eine unheimliche Mordserie beunruhigt die Nürnberger Polizei und liefert Stoff für ...
25 downloads
696 Views
720KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Fabian Lenk
Schattenland
s&p 2006
Eine unheimliche Mordserie beunruhigt die Nürnberger Polizei und liefert Stoff für die Medien: den Opfern fehlen Organe. Die Tat eines Psychopathen? Oder steckt die chinesische Organmafia dahinter? Boulevardreporter Frank Bachmann und seine Freundin Pia kommen dem Mörder immer näher. Zu nahe … ISBN: 3-89425-241-3 Verlag: GRAFIT Erscheinungsjahr: 2000
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Autor Fabian Lenk (geb. 1963) studierte in München DiplomJournalistik, jobbte in dieser Zeit als freier Sport-Reporter, TaxiFahrer und Aerobic-Trainer. Seit Abschluss des Studiums ist er als Journalist tätig. Mit Brandaktuell debütierte Lenk 1996 als Kriminalschriftsteller. Es folgten drei weitere Romane mit dem Boulevardredakteur Frank Bachmann: Schlaf Kindlein, schlaf (1997), Mitgefangen, mitgehangen (1998) und Der Gott der Gosse (1999).
Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden Bach des Lebens. Friedrich Nietzsche Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig und nicht gewollt.
Die Hauptpersonen
Bernd ›Brocki‹ Brockmüller, Redaktionsleiter, Frank Bachmann, Polizeireporter, Pia Ferenci, Feuilletonistin, Heiner Müller, Fotograf, Bernhard und Bruno Brehm, Archivare, Torsten Teppe, Redaktionsleiter, Hermann Dreiste, Reporter, Astrid Dreiste, Fotografin, Klaus Wilhelmi, Leiter der Mordkommission, Peter Völk, Polizeimeister,
liebt zündende Zeilen liebt Pia Ferenci liebt die Gefahr liebt Tempo lieben Hängeordner liebt Gehorsam liebt Honorare liebt die Leere liebt Ergebnisse liebt Trinkgelder
4
1. Das Flattern der Lider, hektisch, fast rhythmisch. Totentanz, durchfuhr es ihn. Getrieben, gehetzt von Fieberwut. Immer seltener hoben sie sich, erlaubten letzte Blitze in das Schattenland. Er kniete sich neben ihn, beugte sich dicht über den Sterbenden. Ihn fror, wenngleich der andere Wärme ausstrahlte. Heißnasse Haut gebadet in Gottes Gier des Todes. Seine Stimme zitterte: »Sieh mich an.« Er wartete auf eine Reaktion. Vergeblich. Voller Bitterkeit flüsterte er: »Ich hasse deinen Verfall. Ich hasse, dass du gehen willst. Ich liebe dich. Sieh mich an.« Die Resonanz war immer noch gleich null. Er fuhr fort, ängstlich: »Deine Augen flimmern. Was ist das?« Er nahm die Hand. Küsste sie, streichelte sie. Pergament, so hauchzart, so zerbrechlich, so wertvoll, so unersetzlich. Er streichelte die Hand weiter, vorsichtig, voller Angst, voller Wut – und voller Ahnung. »Du wirst niemals gehen«, schrie er plötzlich. »Nicht so. Ich bin da und damit der Kampf. Niemand wird sterben. Niemals. Das darf nicht sein. Dafür stehe ich.« Hoffnung. Dann übermannte ihn wieder Furcht. Panik. Er schloss die Augen, seine Lippen formten die Worte wie bei einem Gebet: »Komm nah, ganz nah. Ich kann nicht mehr. Muss ein bisschen heulen, nicht böse sein, nicht traurig sein. Einfach bei mir sein.« Er weinte in das Gesicht. Die Tränen trafen die Falten. Kajaks in schmalen Bächen, fein verästelt, miteinander verbunden. Flach ausufernd, endend, wüstig. Die Tropfen verebbten auf der heißen Haut. 5
2. Der kalte Regen stand nahezu waagerecht, peitschte in Peter Völks feistes Gesicht. Missmutig rammte der Polizeimeister die Tür des Opels ins Schloss. »Welche Hausnummer war das noch mal?«, fragte er seinen Kollegen. »Neunzehn«, kam es zurück. Günther Paulys Antlitz glich mit seinen unzähligen Aknenarben und den schlechten Zähnen einer Abrissbirne. Unterhalb des Halloween-Schädels ließen kräftige Schultern einen durchtrainierten Körper erahnen. Pauly bekleidete denselben Dienstrang wie Völk. Und ihn trieb der gleiche Hass an diesem Heiligabend hinaus in die Kälte, den Regen und den Schmutz. Der Hass auf eine heile Welt, die es in ihren Augen nicht gab. »Scheißwetter. Scheißgegend«, murmelte Völk in sich hinein. Wie bei ihm zu Hause. Er lebte in einer ähnlich heruntergekommenen Ecke wie dieser, in die man sie wegen einer Ruhestörung geschickt hatte. Nur, dass man ihn hier nicht kannte. Das war gut so. »Willst du auch noch ’nen Schluck?« Pauly hielt Völk seinen Flachmann hin. Ohne etwas zu sagen, nahm der Kollege die Flasche und setzte zu einem langen Zug an. »Das wird wieder so eine Sippschaft sein«, vermutete Pauly, während er sich umsah. Ein Hochhaus neben dem anderen. Toter Beton. Aus manchen Fensterhöhlen funzelten weihnachtliche Lichterketten und Sterne in die eisige Nacht. Wie bunte Schmeißfliegen auf einer schwärenden Wunde. Der Polizeimeister spuckte aus. Sein Blick fiel auf eine Bushaltestelle. Alle Scheiben waren zersprungen. Die Sitzbänke abgebrochen. Ein Fahrscheinautomat, über und über mit Graffiti 6
beschmiert. Ein umgekippter Einkaufswagen. Wer hier lebte, tat dies nicht freiwillig. Völk hatte seinen Durst gelöscht, zumindest für die nächsten Minuten. Er gab den Silberling zurück. Vergewisserte sich, dass er selbst noch zwei volle Flachmänner in den Gesäßtaschen hatte. »Na, dann mal los«, meinte er und griente dünn. Seine wulstigen Finger fuhren über den Schlagstock. Leichte Vorfreude stieg in ihm auf. Der Mann war komplett in Schwarz gekleidet. Vor der finsteren Fassade der Klinik war er, wenn überhaupt, nur mit scharfen Augen auszumachen. Er musterte das Umfeld. Die Straße war menschenleer. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr fünfmal. Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Jetzt gab es sicher in vielen Häusern die Bescherung. Aber auch er würde sich heute ein Geschenk machen. Der Mann glitt am Haupteingang des Krankenhauses vorbei, bog um eine Ecke, erreichte den hinteren Teil des lang gestreckten Gebäudes. Er spähte durch ein Fenster, konnte aber nichts erkennen. Egal. Der Mann war sich sicher, dass er hier richtig war. Er kannte das Areal von Besuchen im Hellen. Er streifte Handschuhe über, setzte das Brecheisen am Fensterrahmen an. Ein energischer Ruck, ein Splittern. Der Mann hielt die Luft an. Sein Herz klopfte laut. Nichts passierte. Er lauschte noch eine Minute. Als sich immer noch nichts tat, schob er das Fenster auf und drang samt seiner Sporttasche in das Gebäude ein. Er durchmaß eine Abstellkammer, wo Putzgeräte gelagert wurden, und gelangte auf einen langen Gang. Jetzt ließ er eine kleine Taschenlampe aufblitzen. Er hatte es ja gewusst – der urologische Operationsraum lag vor ihm. Der Einbrecher öffnete die Tür. Weiß gekachelte Wände, ein kleines Gemach. Offenbar befand er sich in der ›Einleitung‹, wo der Anästhesist die Betäubung der Patienten vorbereitete. Der Mann ging weiter, erreichte den eigentlichen OP. In der 7
Mitte des rechteckigen Raumes stand der in alle Richtungen schwenkbare Tisch mit zwei Lampen darüber. Am Fußende wurde das Nahtmaterial aufbewahrt, auf der gegenüberliegenden Seite thronte das Narkose- und Beatmungsgerät samt Monitor für das EKG. Die Taschenlampe glitt ein Stück nach rechts – ein Lager schloss sich an. Der Einbrecher tauchte hinein und wurde fündig. Denn hier wurden die ›Siebe‹, die Instrumentensets der Operateure, in sterilisierten Tüchern verwahrt. Die meisten Namen auf den etwa fünfzig Schildchen waren unleserlich. Zigmal überschrieben, überklebt oder so hingekritzelt, dass man keine Chance hatte, das Geschreibsel zu entziffern. Es gab jedoch eine Ausnahme. Sauber hingeschraubt, mit Gravur. »Hasenhüttl«, buchstabierte Völk laut. »Das ist doch der Heini, der angerufen hat, oder?« »Richtig«, stimmte sein Kollege zu. »Der Beschwerdeführer.« Er sprach das Wort aus, als müsse er sich gleich übergeben. Völk klingelte. »Ja?«, kam es militärisch knapp. »Polizei. Sie hatten angerufen wegen –« »Ja! Gut, dass Sie da sind. Kommen Sie schnell rauf. Die Wosickis, diese Asozialen von nebenan, haben sich mal wieder in der Wolle. Ich kann überhaupt nicht fernsehen bei dem Lärm. Kommen Sie schnell! Vierter Stock.« Der Summer ertönte, Völk drückte die Tür auf. Festliche Musik drang aus einer Tür im Parterre. Von oben kamen Schreie und ein Poltern, als ob Möbel umfielen. Natürlich war der Aufzug kaputt. Völk schnaufte ärgerlich. Die Beamten stapften die Stufen hinauf. Sie wurden schon erwartet. »Ha, da sind Sie ja!«, bellte ein Fass auf zwei krummen 8
Beinen, die in Plastiklatschen steckten. Eine Zigarre nebelte den Kopf des ›Beschwerdeführers‹ ein, der in seiner Tür stand. »Ganz ruhig«, schnauzte ihn Pauly an. »Was ist hier überhaupt los?« Der Dunst lichtete sich, ein violettes, altes Gesicht mit gelblichen Bartfransen kam zum Vorschein. »Die da«, Hasenhüttl zeigte auf die Nachbarsluke, »die Wosickis randalieren mal wieder. Unerträglich, und das am Heiligen Abend. Polackengesindel. Die sollte man doch alle gleich an die Wand stellen und dann: Rattarattaratta!« Seine Augen blitzten. »Rattarattaratta!« »Ja ja, schalten Sie mal ’nen Gang runter. Wir machen das schon!«, wehrte Pauly ab. O ja, das werden wir, dachte er. »Jawohl! Auf Sie, meine Herren, ist sicher Verlass!« »Worauf Sie sich verlassen können, Opa. Aber jetzt gehen wir wieder schön Fernseh schauen«, blaffte Pauly. »Und machen Sie den Schlag zu. Wenn wir jemanden zum Klatschen brauchen, rufen wir Sie.« Verschüchtert gehorchte der Rentner. Völk gefiel die Szene. Klasse, wie der Kollege mit dieser Made umsprang. Dann lauschten er und Pauly vor der Tür der Wosickis. Die Polizisten warfen sich einen Blick zu. Grinsten. Klang gut. Splittern und Krachen, Keifen und Brüllen. Ihre Lieblingsweihnachtsmusik. Pauly legte den Finger auf die Klingel. Plötzlich war es ruhig. Dann eine Männerstimme: »Wer ist da?« »Polizei, aufmachen.« »Wie, Polizei? Was soll das?« »Aufmachen.« Die Tür öffnete sich einen Spalt. Pauly hielt seinen Ausweis davor. Jetzt schwang die Tür ganz auf. 9
Herr Wosicki trug eine verschlissene Trainingshose und ein fein geripptes Unterhemd. Er war unrasiert. Seine Augen waren gerötet. »Was ist los?« »Ruhestörung. Das ist los. Ihre Nachbarn haben sich beschwert.« »Das kann nur Hasenhüttl gewesen sein, dieses Arschloch«, spie Wosicki aus. Plötzlich tauchte ein Schatten hinter ihm auf. Eine Frau. Sie presste sich ein Taschentuch auf die Unterlippe. »Sie haben sie geschlagen, richtig?«, fragte Pauly. Wosicki lächelte. Dann tippte er dem Beamten auf die Brust. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Und wenn, dann geht Sie das einen feuchten Dreck an.« Immer wieder bohrte sich sein Finger in die Brust des Beamten. Pauly freute sich. Der Kerl fasste ihn an. Sehr gut! Klarer Fall von Widerstand gegen die Staatsgewalt. »Wenn ich nämlich meiner Alten eine knalle, ist das mein Problem. Sie müssen ja nicht mit ihr verheiratet sein, Bulle«, führte Wosicki aus. Jetzt kam auch noch Beamtenbeleidigung hinzu. Es lief blendend. Pauly drehte sich halb um, lächelte Völk zu. Ein kurzes Nicken, dann kam der Schlag aus der Drehung. Der Beamte traf Wosicki mit dem Ellbogen am Hals. Der Mann taumelte nach hinten gegen seine Frau, die aufschrie. Blitzschnell waren die Polizisten in der Wohnung, schlossen die Tür. Sie trieben das Paar ins Wohnzimmer. Ein umgestürzter Weihnachtsbaum aus Plastik. Davor ein Pyjama, der noch in der Verpackung schlummerte. Eine kleine Schatulle mit billigem Modeschmuck. Auf dem Couchtisch ein überquellender Aschenbecher und eine fast leere Flasche Schnaps. Keine Gläser. Die Glotze lief. Völk drehte die Lautstärke auf. Wosicki ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er war noch benommen von dem Schlag. 10
»Was wollen Sie hier, hauen Sie ab!«, keifte die Frau. Völk packte ihr in die kurzen Haare: »Halt die Klappe, sonst geht es dir schlecht!« Die Frau verstummte, Angst in den verweinten Augen. Pauly trat Wosicki den Stuhl unterm Hintern weg. »Steh auf!« Da es dem Polizisten zu lange dauerte, riss er ihn am Unterhemd hoch und stieß ihn neben den Weihnachtsbaum. »Sieht so aus, als hättest du den Mund etwas zu voll genommen, Wosicki!«, lachte Pauly. »Erst nervst du deine Nachbarn, dann fasst du mich an und beleidigst mich auch noch.« »Bitte, lassen Sie ihn in Ruhe«, bat die Frau. »Es ist –« Völk schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite. Sie weinte. »Ich hab dich gewarnt«, sagte Völk. Wosicki kam auf die Knie. Er glotzte dumm. »Ungewohnt, wenn mal jemand anders deine Frau schlägt, wie?«, rief Pauly. Er lachte wieder. Völk war begeistert von Paulys Einlagen. In dieser Offenheit hätte er sich das nicht getraut. Er war eher jemand, der auf heimliche, verdeckte Attacken stand. Dennoch überkam Völk allmählich eine leichte Unruhe. Er nickte zur Tür. »Lass uns gehen, Günther. Es reicht.« »Okay. Nur noch eins: Wir wollen von euch zwei Hübschen heute Nacht keinen Mucks mehr hören. Sonst kommen wir wieder. Und dann gibt’s eine richtig schöne Bescherung.« Er zog seinen Schlagstock aus der Schlaufe. Das schwarze Hartholz sauste durch die Luft und knallte in den Fernseher. Mit einem Male herrschte eine ›himmlische‹ Stille. Die Beamten gingen. Pauly drehte sich noch einmal um: »Fröhliche Weihnachten übrigens.« »Von denen hören wir nichts mehr, was meinst du?«, fragte 11
Völk im Wagen. »Heute sicher nicht«, glaubte sein Kollege. Er ließ den Motor an. Völk schraubte den Deckel von seinem Flachmann auf. Gierig trank er, reichte die Pulle dann dem Kollegen. Sie fuhren ziellos durch die Nacht, fühlten sich nach ein paar Schnapsrunden richtig prima. Völk und Pauly, die beiden letzten Cowboys, die in der verlotterten Stadt für Ordnung sorgen. Zwei harte Männer, die allem unnachgiebig trotzten – ob dem Regen oder den Widerworten eines Wosickis. Die Männer tranken um die Wette, erzählten sich obszöne Witze, lästerten über ihre Vorgesetzten. Am Reichsparteitagsgelände pinkelten sie vor die Fassade. Stunde um Stunde war vergangen. Als ihnen die Witze ausgingen und sie schweigend nebeneinander saßen, fiel Völk in einen unruhigen Halbschlaf. Er fühlte sich nicht gut. Der Schnaps wärmte ihn nicht mehr, ihm war zudem leicht übel. Gleichzeitig hatte Völk Hunger. Früher, ganz früher, als er noch ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter an Heiligabend immer einen würzigen Schweinsbraten mit goldgelben Klößen gemacht. Sie hatte reichlich Kümmel verwendet. Ein herrlicher, deftiger Duft war der Küche entströmt, vor der der kleine Peter mit knurrendem Magen voller Vorfreude gelauert hatte. Seine Mutter war die beste Köchin unter der Sonne. Der Vater hatte dafür keinen Sinn gehabt. Wie üblich hatte er schlaff und teilnahmslos in seinem Sessel gehangen und ein Fachblatt über Fischzucht gelesen. Endlich war der entscheidende Moment gekommen. In dem seine Mutter die Tür aufmachte und mit dem vollen Tablett hinter Klein-Völk zum Esstisch aus furniertem Kirschholz marschierte. Der Vater hatte sich pflichtschuldig aufgerappelt und war zum Tisch gedackelt, an dem Peter bereits saß, mit großen Augen und großem, leerem Magen und dem Besteck in 12
der Hand. Völk räkelte sich bei dem Gedanken im Beifahrersitz. Dieser Duft! Doch dann, die Ernüchterung: Vater bekam ein Stück Fleisch, Mutter bekam eines – aber Peter nicht. Nur einen halben Kloß mit etwas Soße. »Du nicht, mein Pummelchen«, hatte Mutter Völk geflötet, die größte Giftspritze unter der Sonne. »Er ist zu dick, nicht wahr, Vater?« Der hatte wie immer geschwiegen. Ins Nichts geschaut, mit vollen Backen, vorbei an seinem dicken Kind, dessen Augen sich mit Tränen füllten. Völk erwachte aus seinem Dämmerzustand. Voller Hass. »Blödes Weihnachten«, brabbelte er noch leicht schlaftrunken. »Was is’ los?«, kam es von seinem Kollegen. »Nichts. Wie spät?« »Gleich Mitternacht.« Pauly hatte angehalten, warum auch immer. Der Motor lief weiter. Die Scheibenwischer kämpften sich durch das auf sie einprasselnde Wasser. Sie standen auf einer breiten Straße, der Asphalt glänzte schwarz im Licht einer Laterne. »Wo sind wir?«, wollte Völk wissen. Er rieb sich die Augen. Erst Mitternacht. Noch lange hin bis Schichtende. »Keine Ahnung. Habe nicht aufgepasst.« Pauly zog den Flachmann aus der Brusttasche, trank. »Ist doch egal.« »Na, prima.« Völk starrte hinaus, versuchte sich zu orientieren. Es war nicht leicht. Ein austauschbarer Straßenzug. Aber da, das ziemlich markante Gebäude zu seiner Linken kam ihm bekannt vor. »He, das ist doch die Zentrale von diesem EisHeini. Schöller-Eis. Wir sind in Thon.« »Von mir aus. Egal.« Pauly lallte leicht. Kurz nach Mitternacht ereilte sie ein neuer Auftrag, der allerdings erheblich langweiliger klang als der bei den Wosickis. Einem Spaziergänger war aufgefallen, dass im Krankenhaus 13
Haller Wiese ein Fenster offen stand. Fünf Minuten später bremste Pauly den Wagen vor dem Portal. Eine Schlafmütze am Empfang machten ihnen klar, dass er sich nicht von seinem Stuhl erheben konnte: »Sonst kommt noch ein Dieb rein oder so. Das ist hier kein Nullachtfuffzehn-Job. Ich bin unabkömmlich.« »Sie sind ganz ein Schlauer«, meinte Pauly. »Das Problem ist nur, dass Sie schon einen im Haus haben – oder hatten.« Der Wichtige verschränkte die Arme vor der Brust: »Verscheißern lasse ich mich von Ihnen nicht. Vielleicht interessiert es Ihre Vorgesetzten, dass Sie eine massive Fahne haben.« »Besser, wir gehen mal außen rum«, trat Völk den Rückzug an. Pauly gehorchte knurrend. Sie umrundeten das Gebäude, fanden das Fenster. Ein Einbruch, eindeutig. Pauly klemmte sich durch die Öffnung. Er fühlte sich wieder stocknüchtern. Völk kam ihm mühsam nach. Drinnen zog Pauly seine Pistole. Wer konnte wissen, ob nicht noch jemand im Dunkeln lauerte? Mit der anderen Hand machte er seine Stablampe an. Putzeimer, Schrubber, Besen. Sie durchmaßen den Raum, stießen auf den Gang, schließlich auf die Operationssäle. Mehrere Schränke waren aufgebrochen. »Mist, wir müssen die Kollegen vom Einbruchsdezernat rufen«, meinte Pauly. »Hast du Kaugummis dabei?« Völk reichte ihm eines. Vom Wagen aus alarmierten sie die Profis in Sachen Eigentumsdelikte. Die hohen Herren trudelten kurz darauf missmutig ein. Pauly erstattete einen kurzen Bericht. Er achtete darauf, dass er den Mehrbestreiften nicht zu nahe kam und niemand seine Fahne riechen konnte. Kurz darauf waren sie erlöst und drehten 14
wieder ihre Runden. Um vier Uhr kamen sie an einem kleinen Park in der Südstadt vorbei. »Halt an, ich muss mal«, meinte Völk. Pauly trat voll auf die Bremse, der Wagen geriet ins Schlingern, rumpelte gegen den Bordstein, stand. Der Motor stotterte, erstarb. »Bitte sehr«, brabbelte Pauly blöd und blau. »Idiot«, zischte sein Kollege, während er seinen Fettleib aus dem Polster hievte. Der Polizeimeister schlug sich in die Büsche. »Wasser marsch!«, befahl er seiner Blase. Mit einem seligen Lächeln verfolgte der Beamte den Strom. Manchmal gab es nichts Schöneres. Noch nicht einmal der Regen machte ihm etwas aus. Plötzlich verengte sich sein Blick. Was blinkte denn da rechts unter dem Rhododendron? Völk sah genauer hin. Eine Kette vielleicht. Der Polizist zog den Reißverschluss hoch. Er fingerte nach der Taschenlampe, fand sie. Ein schmaler Lichtstreifen erfasste den Boden, glitt zu dem Busch. Ein Gliederarmband. Völk bückte sich, vermied es aber, den Schmuck zu berühren. Der Regen nagelte in seinen Rücken. Der Beamte suchte den Fundort ab. Abgeknickte Äste. Eine Schleifspur. Ein weißer Fetzen, fleckig. Fleckig? Völk kauerte sich hin: Blut. Das Tuch war voller Blut. Unruhe überkam ihn. Unsicherheit, aber auch Erregung. Lag hier vielleicht ein Penner, mit dem sie noch ein bisschen Spaß haben konnten? Aber wenn es mehrere waren, die sich gleich auf ihn stürzten? Völk holte Pauly. Als der Kollege das Stichwort Penner vernahm, war er Feuer und Flamme. Sofort zückte er seinen Schlagstock. Gemeinsam rückten sie in die Grünanlage vor. Völk stapfte voraus, nun wieder selbstsicher. Jetzt noch ein kleines Spiel mit 15
einem Nichtsesshaften, das könnte ihm das Ende dieser hochheiligen Nachtschicht durchaus versüßen. Hinter dem Busch stockte er. Da lag jemand im Schlamm, auf dem Bauch. Die Arme hatte er nach vorne ausgestreckt. »Schau, dort!«, rief er. »Verdammter Penner!«, kam es von der Abrissbirne. Pauly näherte sich der Person im Dreck, leuchtete ihr seitlich ins Gesicht. Asiatische Züge, die Augen waren geschlossen. Ein Mann mittleren Alters. Er trug einen langen Mantel. Der Polizist stieß ihn mit dem Schlagstock an. Der Mann rührte sich nicht. »Entweder total voll – oder tot«, ahnte Völk. »Ach nee.« Der Kollege unternahm einen zweiten Versuch, trat dem Mann mit der Fußspitze in die Seite. Wieder nichts. Völk spürte mit einem Mal die Kälte. »Widerlich«, fluchte Pauly. »Mein Schuh, total feucht, voller Schlamm.« Er leuchtete hinab. Das war kein Schlamm. Das war Blut. Und etwas, was er nicht gleich identifizieren konnte. Irgendwelche Klumpen. »Wir müssen, wir müssen ihn umdrehen. Hier stimmt was nicht.« »Sollen wir das nicht lieber den Kollegen überlassen?«, versuchte sich Völk zu drücken. »Quatsch. Pack mit an.« Völk war inzwischen total durchweicht, er schniefte, zögerte. »Dann halte wenigstens die Lampe.« Pauly packte den Asiaten an Schulter und Becken, drehte ihn um, mitten hinein in das Licht. Pauly schreckte zurück. »Oh, mein Gott.« Dort, wo einmal der Bauch gewesen war, klaffte ein großes Loch. Gedärme hingen heraus. Völk wandte sich würgend ab. Er begann, am ganzen Körper zu zittern. Während er gegen den Brechreiz ankämpfte, fiel sein Blick auf einen Zettel, der neben den Füßen der Leiche lag. Das 16
Papier zierten Schriftzeichen, die der Beamte noch nie gesehen hatte.
17
3. »Könnten Sie vielleicht mal zwei Minuten aufhören zu mampfen, damit wir hier so etwas wie eine Konferenz abhalten können?«, brüllte der Chefredakteur des Nürnberger Boulevardblattes Blick, Bernd Brockmüller. Keine Frage, der Konferenztisch entsprach nicht dem, was er gewohnt war. Irgendein Wahnsinniger hatte den Glastisch mit zwei großen Tischdecken eingehüllt und mehrere Kerzen aufgestellt. Auf bunten Tellern lagen Süßigkeiten, auf einem Holzbrett thronte ein Stollen. »Kommen Sie, Chef, es ist Weihnachten«, beschwichtigte ihn Klatschreporterin Sigrun von Hohenstein. »Wollen Sie vielleicht einen Becher Glühwein?« »Auf keinen Fall. Hier wird nicht in der Früh schon gesoffen. Weg damit!«, mäkelte der Boss. Sigrun stellte eine große Tasse vor ihn hin. »Probieren Sie erst einmal.« »Nein!« »Seien Sie doch nicht so. Nur ein Schlückchen.« Zur allgemeinen Überraschung gehorchte Brocki, während die Blicke der fünfzehn Redakteure auf ihn gerichtet waren, die an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag Dienst hatten. Der Boss setzte die Tasse ziemlich spät ab. Nämlich erst, als sie leer war. »Ich muss zugeben, nicht schlecht.« Polizeireporter Frank Bachmann warf seinem Freund und Kollegen, dem Fotografen Heiner, einen Blick zu, als Sigrun nachschenkte. »Nun muss aber Schluss sein«, meinte Brocki schwach. »Natürlich«, erwiderte die Gesellschaftsreporterin fast mütterlich. Frank schnitt ein Stück Stollen ab, legte es auf einen Teller, 18
garnierte einen Elisenlebkuchen dazu und stellte es dem Chef unter die Nase. Hatte Brocki gute Laune, hatten sie sie alle. Der Redaktionsleiter sah Bachmann misstrauisch an. Was war hier los? Er konnte es nicht ergründen, also spulte er den üblichen Film ab: »Auf geht’s. Alles hinsetzen, wir fangen an! Wie machen wir heute unser Blatt zu?« Frank saß neben seiner Freundin Pia, der Leiterin des Kulturressorts. »Wenn der die zweite Tasse auch noch trinkt, wird’s ein prima Tag«, raunte sie, dicht an seinem Ohr. Bachmann spürte ihre Haarspitzen. Das elektrisierte ihn. Erinnerungen an die vergangene Nacht wehten in seine Gedanken und brachten sie durcheinander. »Herr Bachmann, sind Sie da? Also noch mal: Was liegt bei der Polizei an?«, schallten Brockmüllers Worte durch den Raum. Frank schreckte hoch: »Pardon.« Er sortierte die Faxe, die die Polizei ihm geschickt hatte. Dann legte er los, wohl darauf bedacht, seinem Vortrag eine gewisse Spannung zu geben. Denn je besser man sich hier in der Konferenz verkaufte, umso umfangreicher war der redaktionelle Platz, den man später in der Zeitung zur Verfügung hatte. Der Polizeireporter begann mit ein paar harmlosen Raufereien und Ruhestörungen, die er aber nur kurz streifte. Dann ließ er sich etwas länger über den Einbruch in einer Klinik aus, bei dem hochspezielle medizinische Geräte entwendet worden waren. Und schließlich zauberte er seinen Knüller aus dem Hut: den Leichenfund im Park. »Was wissen wir da konkret?«, hakte Brocki sofort ein. »Nicht allzu viel«, gab Frank zu. »Die Pressestelle ist wegen des Feiertags nicht besetzt. Und die Einsatzzentrale hält sich bedeckt.« »Ich will nicht wissen, was wir alles nicht wissen, sondern was wir wissen«, unterbrach ihn Brockmüller. 19
Er sollte dringend die zweite Tasse trinken, dachte Pia, während ihr Freund fortfuhr: »Bin ja schon dabei. Bei dem Opfer handelt es sich um einen Mann mittleren Alters, 175 Zentimeter groß, Asiate.« »Kein Name, nichts?« »Nein, das Opfer konnte noch nicht identifiziert werden.« »Todesursache?« »Vermutlich erstochen.« »Nicht viel, was wir da haben«, brummelte Brocki. »Obdachlosenmilieu?« »Eher nicht, so die Einsatzzentrale. Der Mann war gut gekleidet. Man fand außerdem eine schwere Silberkette in der Nähe der Leiche.« Brockmüller sah zur Decke: »Komische Geschichte. Da müssen wir voll ran. Mist, dass so etwas immer an Feiertagen passieren muss! Geben die Beamten denn heute überhaupt noch weitere Infos raus?« »Eher nicht. Die verweisen auf morgen, wenn die Pressebeamten wieder im Dienst sind.« »Habe ich mir gedacht. Gut, dann an die Arbeit. Selbst ist der Mann. Sie nehmen Heiner mit. Abflug! Und denken Sie dran: Das kann unser Aufmacher werden!« Pia sah ihnen voller Mitleid nach. Sie wusste, was auf die beiden zukam. »Und wir machen weiter im Text«, kommandierte Brockmüller. »Was können wir vom gesellschaftlichen Parkett vermelden?« Bachmann und Heiner hatten wenig in der Hand. Kaum Anhaltspunkte, um an die dürre Tatsache, dass jemand erstochen worden war, Fleisch zu bekommen, wie sie es nannten. Weiterführende Informationen, die für die Leser eine runde Story ergaben. Sie hatten eine Menge zu tun. Im BMW des Fotografen fuhren sie zur Fundstelle der Leiche. 20
»Ich frag mich, was ich da für ein Bild machen soll«, ächzte Heiner, der den Spitznamen der ›kleine Heiner‹ trug. »Den Tatort, was sonst?«, gab Frank zurück. »Das Foto wird genauso tot wie die Leiche, wetten?« Bachmann schwieg. Der Freund hatte sicher Recht. Sie stiegen aus. Der Fotograf schützte seine Kamera, indem er sie unter die Jacke stopfte. Noch nicht einmal ein Hund stöberte in dem Park herum. Verlassen lag er im feinen Nieselregen. Der Aufmacher – von wegen, dachte Bachmann. Tote Hose. Nicht mal ein Flatterband wehte im Wind. Missmutig liefen die beiden durch den Regen. Sie mussten einfach etwas finden. Mit dem kleinen Nichts brauchten sie dem Chef nicht unter die Augen zu treten. Frank vermutete, dass Brockmüller sich, was den Aufmacher anging, auf den Toten stürzen würde. Denn aus den anderen schlagzeilenträchtigen Ressorts einer lokalen Boulevardzeitung, Politik und Gericht, dürfte aufgrund der Feiertage nicht viel kommen. Bei dieser Nachrichtenlage hatten Frank und Heiner mit ziemlicher Sicherheit die Loserkarte gezogen. »Guck mal, da drüben!«, rief der Fotograf. Er wies auf einen dichten Busch, neben dem eine dickliche Frau mit blonden Haaren und ein dünnes Männchen standen. »Auch das noch!«, entfuhr es Bachmann. Er hatte wie Heiner sofort das in der ganzen Nürnberger Presselandschaft berüchtigte Pärchen erkannt. Agnes und Hermann Dreiste, der Inbegriff der unseriösen Berichterstattung. Sie arbeiteten als freie Journalisten, boten Nürnberger Verbrechen der bundesweiten Yellow Press, in erster Linie aber der TOPZeitung an, der schärfsten Konkurrenz des Blick. »Wenn die beiden da stehen, dann lag dort die Leiche«, ahnte Bachmann. Sie gingen hin. Hermann Dreiste nuckelte an einer Zigarette. Er war wie 21
immer unrasiert. Seine Augen blitzten freudig, als er die Konkurrenz aufkreuzen sah: »Bisschen spät dran, hm?« »Ich wüsste nicht, warum«, gab Heiner trocken zurück. »Geh aus dem Weg.« Er machte ein paar Bilder. »Weiter rechts, da lag er«, korrigierte Dreiste ihn fröhlich. Heiner brummelte etwas, das wie »Halt den Mund« klang. Agnes Dreiste starrte wie so oft ins Nichts und blieb stumm. Ihr rundes, weißes Gesicht mit den wässrigen Augen, dem exakt bis zu den Augenbrauen reichenden und dann schnurgerade abgesägten Pony strahlte eine unendliche Leere aus. »Und, hast du schon den Namen des Toten?«, fragte Dreiste Bachmann. Der Blick-Reporter überlegte einen Moment. Das war eine Fangfrage. Er beschloss zu pokern. »Sicher.« Dreiste verschränkte die Arme vor der Brust: »Du bluffst.« »Ist mir gleich, was du denkst.« Frank begann, um den Busch herumzugehen. Jetzt war es an Hermann nachzudenken. Er warf seiner Frau einen Hilfe suchenden Blick zu. Ebenso gut hätte er sich an einen Ozean stellen und seinen Namen laut rufen können. Es kam garantiert kein Echo. Dreiste eilte Frank nach. »Also gut, dann sind wir wohl auf einer Ebene bei der Recherche.« Bingo, jetzt weiß ich, dass du den Namen hast, freute sich Bachmann. »Das glaube ich nicht«, meinte er von oben herab. »Spiel dich nicht so auf. Immerhin war ich früher hier, bei diesem Chinesen.« Danke, dachte Frank. Ein Chinese also. Die Polizei hatte bisher lediglich von einem ›Asiaten‹ gesprochen. »Meinst du? Hast du denn das Foto von dem Herrn – Moment, jetzt muss ich in meinen Unterlagen nachschauen. Schwierig zu merken, diese chinesischen Namen. Klingen alle irgendwie gleich.« Frank zog seinen Notizblock hervor. »Chu Lin«, platzte Hermann hervor. »Zeig mir das Foto!« 22
»Liegt in der Redaktion«, log Bachmann. Er speicherte in seinem Gedächtnis den Namen des Mordopfers. Nochmals danke, geschätzter Kollege. »Ich glaube dir kein Wort!«, rief Dreiste. »Wie gesagt: Das ist mir egal. Und jetzt lass uns arbeiten.« Der kleine Heiner schoss noch eine Serie Bilder vom Tatort, dann ließen sie das Traumpaar im Regen stehen. »Auf was warten die bloß?«, fragte der Fotograf. »Ich schätze, die hoffen, dass sich Angehörige blicken lassen. Oder Freunde des Opfers, die zum Tatort pilgern. Kommt ja immer wieder vor. Übrigens: Dreiste hat mir doch glatt Nationalität und Namen des Toten verraten.« »Das ist nicht dein Ernst!« »Doch. Hopp, zur nächsten Telefonzelle. Vielleicht kommen wir da weiter.« Auf der Fahrt wurde Bachmann nachdenklich. Stimmte der Name wirklich, der ihm von Dreiste genannt worden war? Laut Einsatzzentrale war die Leiche noch nicht identifiziert. Doch die Beamten mauerten gerne, vor allem an Wochenenden und Feiertagen, wenn ihre Kollegen von der Pressestelle freihatten und sie sich schnell den Mund verbrennen konnten. Eine Information zu viel an die Presse und die laufenden Ermittlungen konnten massiv erschwert werden. Heiner stoppte vor einer Zelle. Gemeinsam wühlten sie das Telefonbuch durch. Vergebens. Es gab niemanden mit diesem Namen in der Stadt. Also auch keine Adresse, wo sie etwas über den Mann hätten erfahren können. »Mist«, fluchte Frank. »Dann lass uns die chinesischen Lokale abklappern. Vielleicht kennt da jemand unseren Herrn Lin.« Heiner blätterte in den Gelben Seiten und fand das Verzeichnis der Gaststätten. Drei Stunden später waren sie genauso schlau wie zu Beginn der China-Recherche. Die meisten Restaurants hatten geschlossen. 23
Auf keinem der Inhaberschilder fanden sie den Namen Chu Lin. »Wahrscheinlich war er ein Auswärtiger«, meinte der Fotograf, als sie sich einen Kaffee gönnten. »Falls der Name gestimmt hat, den uns der entzückende Herr Dreiste gegeben hat«, brummte sein Gegenüber ungehalten. »Und jetzt?« Heiner gab Frank einen freundschaftlichen Stoß in die Seite: »Lass dich nicht hängen. Dann musst du heute eben ein bisschen mehr dichten, okay? Du machst das schon!« Bachmann fühlte sich ein wenig wohler. »Okay«, meinte gedehnt. »Es geht wohl nicht anders. Vielleicht spiel ich ein wenig mit dem Begriff Chinesenmafia.« In der Redaktion schenkte er Brockmüller reinen Wein ein. »Sorry, aber an einem Feiertag ist nicht mehr zu holen«, schloss er. Brockmüller sah ihn finster an. »Trotzdem: Das jag ich auf die Seite eins als Schlagzeile. Plus einen großen Umlauf im Lokalteil. Sonst haben wir nämlich nichts Berauschendes. Schreiben Sie mal achtzig Zeilen.« Er legte die Hände wie einen Trichter um seinen Mund: »Alle Ressortleiter zu mir. Wir legen jetzt den Seitenplan fest.« Bachmann warf seinen Bildschirm an und begann zu schreiben. Achtzig Zeilen. Viel Holz, wenn man bedachte, wie wenig er wusste. Von Brockmüller erfuhr er eine halbe Stunde später, wo sein Märchen uraufgeführt werden würde. Er hatte den besten Platz auf der ersten Lokalseite gewonnen. Gegen sechs Uhr war Frank fertig, überflog den Text noch einmal. Mit gerunzelter Stirn rief er Pia an, die ein Stockwerk tiefer arbeitete: »Schaust du dir bitte mal meinen Text an?« »Klar. Bis gleich.« Von jedem Bildschirmarbeitsplatz aus war es möglich, die Artikel der Kollegen abzurufen. 24
»Szenisch dicht, aber faktenarm«, meldete sich die Feuilletonistin kurz darauf. »Ja, aber ich habe nicht mehr in Erfahrung bringen können.« »Liest sich aber wenigstens flott«, tröstete Pia. »Danke. Meinst du, ich kann das Brocki anbieten?« »Mut zur Lücke. Augen zu und durch!« »Hast du heute Abend schon was vor?« »Ja.« »So? Was denn?« Frank war enttäuscht. »Ich wollte mich mit einem gewissen Frank Bachmann treffen«, lachte Pia. Gegen sieben Uhr begann Brockmüller, mit dem feisten Layouter John, den alle nur ›Speckwürfel‹ nannten, die Seite eins zu basteln. Zu ihnen gesellte sich neben Frank auch der Chef vom Dienst, CvD Jürgen Rollmann. »Schlagzeile?«, fragte John. Seine knubbeligen Hände mit den kurzen, flinken Fingern ruhten in seinem Schoß. Sein Blick war auf den großen Ganzseitenbildschirm gerichtet, der leer war bis auf die blaue Blick-Marke oben links. »Ruhe!«, befahl der Chef. Der Layouter grinste in sich hinein. Auch Rollmann und Bachmann mussten sich ein Lachen verkneifen. Wenn der Boss an der Headline feilte, war immer Schweigen angesagt. Brocki schaute zur Decke, die Stirn bewölkte sich. Dann bleckte er die Zähne, als ob er Schmerzen hätte. Er ballte die Fäuste. Sein Körper versteifte sich. Der CvD fühlte sich an die Geburt seiner Tochter erinnert, bei der er reichlich hilflos hatte mit ansehen müssen, wie sich seine Frau und der Winzling abgekämpft hatten. »Gleich hab ich’s, gleich ist es so weit«, murmelte Brockmüller. Rollmann biss sich in den Handrücken. Jeden Moment würde 25
er laut herausplatzen. »Ja ja, das ist gut, guti-gut«, plapperte der Redaktionsleiter versonnen. Er hatte die Augen geschlossen. Frank bemerkte, dass der CvD gleich die Beherrschung verlieren würde. Er musste kichern. »Ruhe!«, wiederholte der Meister. »Gleich ist’s geschafft!« Er hatte offenbar die Geburt eingeleitet. »Huhuhu«, kam es unterdrückt von Rollmann. Eine letzte Presswehe und dann gebar Brocki die Schlagzeile: »Mord im Park: War es die Chinesenmafia? Das ist gut, richtig guti-gut.« Rollmann wandte dem Chef den Rücken zu. »Ist was, Herr Rollmann?«, fragte der Meister. Hier stimmte etwas nicht. Auch Bachmann und John sahen merkwürdig aus. »Was ist hier los?« »Nichts, was soll sein?«, kam es schnell von Frank. »Gute Schlagzeile, Chef.« John nickte nur. Er lachte lautlos, sein Bauch hüpfte. Brockmüller blieb misstrauisch. »Herr Rollmann, würden Sie uns vielleicht Ihre geschätzte Aufmerksamkeit schenken?« Der CvD drehte sich um. Sein Gesicht war feuerrot. Tränen liefen über seine Wangen. »WAS IST DENN HIER SO KOMISCH?«, blaffte der Redaktionsleiter. Rollmann schüttelte den Kopf. »Pardon, aber mir ist gerade ein Witz eingefallen«, log er. »So, so«, meinte Brockmüller nicht sehr überzeugt. »Okay, und jetzt mehr Ernst bitte. Was haben wir für eine Auswahl an Titelmädchen? Zu der harten Zeile müssen wir was Schönes als Kontrast stellen. Notfalls tut’s auch irgendein Schmuse-Tierchen. Au ja, was zu Weihnachten. So ein knuffiges Rentierlein!« »Weihnachten ist doch vorbei, wenn unser Blatt rauskommt«, griente der CvD. 26
»Von mir aus. Dann halt ein erschöpftes Rentierlein in seiner kuscheligen Schneehöhle.« Rollmann wurde erneut von Krämpfen geschüttelt: »In seiner Hö-hö-höhle, dann ist es vielleicht ein Rentierbärchen, wie putzig!« »ES LANGT, HERR ROLLMANN! HABEN SIE ZU VIEL VOM GLÜHWEIN GENASCHT? UND JETZT HER MIT DER AUSWAHL AN PANDA UND CO.!« Frank führte den prustenden CvD aus der Schusslinie ihres Redaktionsleiters. »Schnuffeltierchen, Kuschelbärchen, Wuselmäuschen!«, feixte Rollmann. Er legte einen Arm um Frank: »Die Welt ist heute wieder voller Plüschigkeit.« Bachmann steuerte seinen zwanzig Jahre alten VW Polo gemütlich durch die Stadt. Neben ihm saß Pia. Sie schwiegen. Frank versuchte abzuschalten. Versuchte, die chinesische Leiche zu vergessen, das unangenehme Zusammentreffen mit den Dreistes, die ergebnislose Suche in den Restaurants, seinen inhaltsarmen Bericht, der morgen in einer Auflage von über siebzigtausend Exemplaren über die Stadt gepustet werden würde wie eine Ladung Konfetti. Hoffentlich hatte ihn Dreiste nicht bei der Recherche abgehängt. Wenn die Konkurrenz mehr Fakten im Blatt hatte, konnte Brockmüller unangenehm werden. »Woran denkst du?«, fragte die schöne Frau an seiner Seite. »An die China-Sache. Ich habe zu wenig herausgefunden.« »Unsinn. Mach dich doch nicht verrückt.« »Sagst du so einfach. Dreiste ist auch an dem Fall dran. Und den darf man nicht unterschätzen.« »Dreiste ist ein Idiot.« »Ja, aber er ist auch ein Profi.« Pia verdrehte die Augen. »Ich habe keine Lust, den ganzen Abend über diesen Mord und diesen Witwenschüttler zu reden, okay?« 27
»Ist ja schon gut. Das beschäftigt mich eben.« »Du kannst jetzt ohnehin nichts mehr unternehmen. Oder willst du zurück in die Redaktion und deinen Artikel umschreiben?« »Natürlich nicht.« »Na also. Vergiss die Sache, zumindest bis morgen.« Die Feuilletonistin hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Halt mal da drüben an der Tankstelle.« »Ich brauche kein Benzin.« »Bitte.« Bachmann gehorchte. Pia lief in den Shop, kam mit einer Flasche Sekt zurück. »Gute Idee!«, nickte Frank, als seine Freundin wieder neben ihm saß. Eine Viertelstunde später erreichten sie Bachmanns Haus in Pleinfeld am Großen Brombachsee. Frank schätzte den kleinen Ort mit seinen Gasthäusern, dem schmalen Flüsschen Rezat, der trutzigen gelben katholischen Kirche und der halsbrecherischen Sommerrodelbahn. Die untere Etage von Bachmann Haus bestand nur aus einem geräumigen Wohnzimmer und der Küche. Frank machte Feuer im Kamin und zündete einige Kerzen an, während Pia zwei Sektkelche holte und die Flasche öffnete. Bachmann sammelte alle Kissen und Decken, die er finden konnte und breitete sie vor der Feuerstelle aus. Sie starrten eine Zeit lang fasziniert in die Flammen. Rasch erwärmte sich der Raum. Mit dem Sekt hatte Pia eine gute Wahl getroffen, fand Frank, als er ihnen beiden das zweite Glas einschenkte. Er erhob sich, suchte aus dem CD-Regal eine passende Scheibe heraus, legte sie in den Player. Als er sich umdrehte, zog Pia gerade den Pulli über ihren Kopf. »Gute Idee«, meinte er wieder.
28
4. Völk wusste, wie er seinen einwöchigen Urlaub verbringen würde. Zu Hause vor der Glotze. Videos gucken und dazu das eine oder andere Schächtelchen Bier austrinken. Das war ein Programm, das eigentlich niemals enden durfte. Kurz nach zehn Uhr verließ er fröhlich die Videothek mit einer Tüte voller Action-Streifen. Mit einem Bollerwagen lief er zum Getränkemarkt. Aushilfe ab sofort gesucht vermeldete ein Schild neben der flachen Metall-Theke, wo man das Leergut abgab. Der Beamte erwarb zwei neue Kästen und erreichte kurz darauf seine MiniWohnung. Pfeifend ließ er die Jalousien herab, warf eine der Kassetten in den Rekorder, öffnete eine Flasche Bier, lümmelte sich auf die braune Breitcordcouch, machte den Fernseher an und drückte auf Start. Jetzt konnte der Traumurlaub losgehen. Nichts geschah. Verschreckt sprang Völk auf. Er probierte sämtliche Knöpfe an seinem Videogerät, aber das Ding streikte. Mit zitternden Fingern überprüfte der Polizist das Netzkabel. Auch das brachte keinen Erfolg. Die Sicherung, durchfuhr es ihn. Aber das war Unfug, der Fernseher lief ja. Werbung. Da überkam Völk die grauenhafte, vernichtende Gewissheit: Sein Abspielgerät war kaputt. Und er saß auf einem Berg von teuren Leihkassetten. Was nun? Was sollte aus seinem Urlaub werden? Zuerst bringe ich die Kassetten zurück, beschloss der Beamte. Dann klappere ich die Läden ab und kaufe mir einen neuen Rekorder im Sonderangebot. Nur – wovon bezahlen? In Völks Kasse war wie üblich Ebbe. Sein Dispo war bis zum Letzten ausgereizt. Freunde konnte er mangels Masse auch nicht anpumpen. Oder sollte er es bei Pauly probieren? Nein, der war 29
ein elender Knicker. Der Polizeimeister fluchte laut. Doch da fiel ihm das Jobangebot im Getränkemarkt ein. Warum nicht? Er konnte sich ja einmal erkundigen. Zu tun hatte der Staatsdiener in seinem Urlaub ohnehin nichts mehr, jetzt, wo der Rekorder im Eimer war. Unschlüssig stand Völk kurz darauf wieder an der Theke des Getränkemarktes. Niemand war da. Auf dem abgewetzten Tresen war eine kleine Glocke mit einem Knopf angeschraubt. Der Polizist wartete noch zwei Minuten. Dann drückte er den Alarmspender. Ein hässliches, schrilles »Ping!« echote durch den kahlen Raum. »Komme gleich, einen Moment bitte!«, kam es fröhlich zurück. Völk kniff die Augen zusammen. Die Stimme hatte einen unüberhörbaren Akzent, und zwar einen, den er nicht besonders schätzte. Hinter der Theke mit der Kasse tauchte ein dunkler Mann mit einem imposanten Schnauzer auf. Der Polizeimeister hatte sich nicht geirrt – ein Türke! »Was kann ich für Sie tun?«, meinte der Herr der Getränke artig. »Wo ist dein Chef?« In Völks Stimme klang blanke Überheblichkeit mit. Der Türke blieb freundlich: »Ich bin der Chef.« »Du? Ich meine – Sie?« »Ja, ich.« »Ha ha, das ist natürlich etwas anderes«, lachte der Polizeimeister laut und dumm. »Haben den Laden ja prima in Schuss.« »Natürlich, warum auch nicht? Aber Sie sind nicht gekommen, um mir das zu sagen, oder?« »Äh, ja, da haben Sie wohl Recht.« Der Beamte suchte nach den richtigen Worten. Jetzt musste er sich entscheiden. Buckeln 30
unter der Knute eines vermutlichen PKK-Aktivisten, der Polizisten mit Molotowcocktails bewarf und sich bestimmt elfmal am Tag auf irgendwelche Teppiche kniete, um gen Mekka zu jaulen – oder stolz nach Hause und Werbefernsehen gucken. »Und, was ist nun?«, fragte der Türke nach. Völk entschied sich für den neuen Videorekorder. »Sie suchen doch eine Aushilfe, nicht wahr?« »Ja. Und Sie würden gerne bei mir anfangen?« »Genau das!«, platzte Völk heraus. »Haben Sie denn schon mal in einem Getränkemarkt gearbeitet?« »Nicht direkt. Aber ich habe viel Erfahrung mit Flaschen. Schauen Sie mal!« Der Beamte nahm eine volle Flasche aus einem Bierkasten und öffnete sie blitzschnell mit dem Öffner, der praktischerweise an seinem Schlüsselbund hing. »Wirklich beeindruckend«, meinte der Türke. »Aber Sie sollen hier keine Flaschen aufmachen, sondern verkaufen beziehungsweise das Leergut annehmen.« »Kann ich auch, kann ich auch«, hechelte Völk. »Na gut, wir sollten es mal probieren. Wann können Sie anfangen?« »Jetzt.« »Oh – prima«, war der Chef überrascht. »Dann zeige ich Ihnen mal, wo alles ist. Ich heiße übrigens Mustafa Arcan.« »Peter Völk mein Name, sehr erfreut.« Der Türke führte den Beamten durch sein Reich. Hinter der Theke befand sich das Lager für das Leergut. Die Kästen standen auf Holzpaletten. Die vollen und für Völk daher weit interessanteren Kästen türmten sich rechts neben dem Eingang. Sie waren in U-Form angeordnet. Arcan erklärte Völk, wie die Kasse funktionierte. Der Polizist machte sich sicherheitshalber ein paar Notizen. 31
»Und das Wichtigste ist«, betonte der Türke, »dass Sie freundlich zu unseren Kunden sind. Wir haben hier in dem Viertel jede Menge Konkurrenz. Da macht der Service den entscheidenden Unterschied. Haben Sie das verstanden?« »Jawoll! Service ist alles!« Arcan schaute den Dicken prüfend an. War der noch ganz dicht? Besonders clever jedenfalls nicht. Aber das war auch keine zwingende Einstellungsvoraussetzung. »Was machen Sie sonst beruflich?« »Ich bin Polizeimeister«, gab der Beamte stolz zurück. »Habe derzeit Urlaub.« Ein Lächeln huschte über Arcans Gesicht. Er ließ sich den Ausweis zeigen. Dann waren seine Zweifel endgültig zerstreut. Dem Mann konnte er seinen Laden anvertrauen. Der Schwabbelige war vielleicht nicht allzu helle, aber bestimmt zuverlässig und fleißig. Das waren doch alle deutschen Beamten. »Tja, und dann wäre da noch das Finanzielle zu klären«, flötete der Beamte. »Kein Problem: Sie bekommen acht Mark die Stunde.« Völks Kinnlade klappte nach unten: »Acht Mark nur?« Der Türke lächelte sanft: »Ihre Vorgänger haben es alle locker auf zwanzig Mark pro Stunde gebracht – durch die vielen Trinkgelder, die sie dank ihrer Freundlichkeit erhielten. Wollen Sie nun den Job oder nicht?« Hinter Völks bewölkter Stirn rasten die Gedanken. Der Lohn, der ihm dieser Kameltreiber anbot, war die reinste Frechheit. Aber vielleicht konnte er unter der Hand das eine oder andere Fläschchen verscheuern? Der elenden Betschwester würde er schon zeigen, wo der Hammer hing. »Gut«, sagte er mit einem falschen Lächeln. »Ich bin Ihr Mann.« »Fein. Hier haben Sie eine Schürze und ein paar Handschuhe«, sagte Arcan. »Ich müsste jetzt mal weg. Ich schreibe Ihnen 32
meine Handynummer auf. Falls Sie nicht klarkommen: Anruf genügt.« Völk hockte beim Leergut auf einer Kiste, unsichtbar für die Kunden. Er leerte schon die zweite Bierflasche, seit Arcan weg war. Ein toller Job! »Ping!« Der Beamte zuckte zusammen. Er spähte um die Ecke. Eine alte Frau stand da. Zierlich, in einem sündhaft teuren Pelz. Knurrend erhob sich Völk. Er sollte freundlich sein, dann gab es Trinkgelder, hatte Arcan gesagt. Denk an deinen Rekorder, mahnte sich der Polizeimeister. »Was kann ich für Sie tun, meine Dame?«, trällerte er. »Fragen Sie doch nicht so blöd. Das Leergut annehmen natürlich.« Die Alte pochte mit ihrem Stock auf den Kasten mit Mineralwasser. »Und das ein bisschen hurtig, junger Mann.« Völk glotzte leer. Was war hier los? Hatte er das richtig vernommen? »Worauf warten Sie denn noch, Herrgott noch mal? Ich hab gleich einen Termin beim Frisör!« Pock-pock-pock machte der Stock auf dem Kasten. »Weg damit und her mit dem Pfand! Fix, fix.« Widerwillig gehorchte der Beamte, knallte die Kiste auf einen Stapel mit Artverwandten. Wie viel Pfand musste er dafür herausgeben? Er hatte in den letzten zwanzig Jahren keinen leeren Wasserkasten mehr in der Hand gehabt. Auch keinen vollen. Gut, dass ihm Arcan eine Liste mit den entsprechenden Preisen dagelassen hatte. Völk studierte die Liste. »Sechs Mark sechzig!«, kreischte die Frau. »Wie unfähig sind Sie eigentlich? Nicht zu fassen, was hier alles arbeiten darf. Ich werde mich beschweren.« Völk schloss die Augen. Die Frau hatte leider Recht: Sechs Mark sechzig. Er tippte den Betrag in die Kasse und gab der Alten ihr Geld. 33
Sie lächelte böse: »Wissen Sie was: Weihnachten ist zwar gerade vorbei, aber ich will mal nicht so sein. Hier, nehmen Sie.« Sie drückte dem überraschten Beamten eine Münze in die Hand. Völks Finger krampften sich um das Hartgeld. Als die pelzige Furie weg war, öffnete der Polizist die Faust. Es war ein Zehnpfennigstück. Der nächste Kunde war ein Kind, etwa elf Jahre alt. Es hatte asiatische Gesichtszüge. Wieder kein Trinkgeld, dachte Völk wütend. »Ich will das hier abgeben«, meinte der Kleine. Er wuchtete einen Bierkasten auf die Theke. »Ach nee«, brummte der Polizist. Da hatte er eine gute Idee. Warum sollte er nicht selbst für etwas Trinkgeld sorgen? »Jetzt wollen mir erst mal schauen, ob alle Flaschen heil sind.« Er begann, jede Pulle herauszunehmen und gegen das Licht zu halten. »Ah, guck mal an. Hier ist der Hals beschädigt. Das muss ich dir vom Pfand abziehen, die Flasche ist was fürs Altglas«, freute er sich. So erging es noch weiteren vier Flaschen. »Papa hat aber gesagt, ich soll mir sechs Mark geben lassen.« »Vergiss es. Wie viel du bekommst, entscheide immer noch ich.« Der Beamte tippte etwas in die Kasse. Die Lade schwang auf und Völk zählte dem Kind das Geld in die Hand: »Hier hast du fünf Mark fünfundzwanzig. Mehr ist nicht.« Mit Tränen in den Augen stapfte der Kleine hinaus. Völk genoss seinen Triumph. Fünfundsiebzig Pfennig ließ er in seine Tasche klimpern. Ein bescheidender Start, aber immerhin. Er verzog sich wieder nach hinten zu seinen GratisDrinks. Zehn Minuten später hauchte die Klingel auf der Theke ihr Leben aus. Zermalmt von einem gut platzierten Karateschlag. Völk schreckte aus seinem Dämmerzustand, war mit einem Satz bei der Kasse. 34
Ein Mann wie ein Berg erwartete ihn dort. Ein gewaltiger Asiate mit einem enormen Kreuz. Neben ihm stand der Junge von gerade. »Mein Papi«, stellte er den Hünen freundlich vor. Völk wollte zurückweichen, aber die Naturgewalten waren stärker. Ein Blitz schoss vor und krachte hohl auf sein Brustbein. Der Schmerz explodierte, Wetterleuchten legte sich vor Völks Augen, er sah Sterne, dann zogen für einen Moment dunkle Wolken über seinem Bewusstsein auf. Er taumelte zurück. Der Chinese setzte mit einem eleganten Sprung über den Tresen nach. Er trieb den Beamten in den rückwärtigen Raum, packte ihn am Hemdkragen. »Was sind Sie für ein Mensch, dass Sie Kinder betrügen?« »Wollte ich nicht, wollte ich wirklich nicht«, stammelte der Beamte voller Angst. Ein Schraubstock schloss sich um seinen linken Arm. »Sie werden jetzt Ihre Kasse aufmachen und meinem Jungen das geben, was ihm zusteht«, zischte der Mann. Noch benommen vom Schlag gegen die Brust gehorchte der Polizeimeister. »Tun Sie das nie wieder«, warnte ihn der Riese zum Abschied. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah Völk den beiden nach. Sie stiegen in einen schwarzen Mercedes. Der Beamte notierte sich das Kennzeichen. Irgendetwas würde er dem Kerl schon anhängen können. Er griff zum Telefon, rief seinen Kollegen Günther Pauly an und gab die Daten durch. »Ist auf einem gewissen Wu Chan zugelassen«, tönte wenig später die Abrissbirne. »Kannst du den mal durchchecken?« »Kein Problem. Bin bloß gerade ein bisschen im Stress. Ich rufe dich heute Abend zurück.« »Okay. Werde um sieben zu Hause sein.«
35
»Morgen Heiner.« »Morgen. Und, was liegt heute an?« »Das hier«, Frank deutete auf ein Fax. »Pressekonferenz um elf Uhr bei der Polizei. Die Chinesen-Sache.« »Dann scheint das ja ein dickeres Ding zu sein. Oder die Beamten kommen nicht weiter und wir sollen ihren Fahndungsaufruf publizieren.« »Denke ich auch«, meinte Bachmann nachdenklich. Sie gingen zur Redaktionskonferenz. Dort machte Brockmüller Frank unmissverständlich klar, dass er von ihm einen großen Bericht, einen Nachdreher, erwartete. Heute gab es keine Ausreden à la Feiertag mehr. Punkt elf liefen die beiden Reporter bei der Polizei ein. Der Medienandrang war beachtlich. Sämtliche Kollegen der schreibenden Zunft waren da, natürlich auch die Dreistes. Dazu gesellten sich in dem großen, weiß getünchten Raum drei Kamerateams und mehrere Journalisten vom Hörfunk. »Ich wusste ja, dass du bluffst«, zischte Dreiste, als Bachmann an ihm vorbeiging, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »In deinem Artikel steht nur heiße Luft.« »Bei dir auch«, gab Frank unbeeindruckt zurück. »Das passt zu dir. Erst einen Kollegen ablinken und dann auch noch eine dicke Lippe riskieren.« »Das Wort Kollege aus deinem Mund ist der blanke Hohn.« »Ich werde mich revanchieren, verlass dich drauf. Du hast mich doch ganz klar –« Heiner unterbrach ihn schroff: »Halt endlich die Klappe. Die PK geht los.« Vorne raschelte der Leiter der Mordkommission, der Erste Hauptkommissar Klaus Wilhelmi, mit einem Bündel Papier. Neben ihm saß sein Pressesprecher Gruber an einem langen, schmalen Tisch. Wilhelmis Miene verriet ernste Sorgen. »Meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen«, begann er. »Wie die meisten von Ihnen heute 36
bereits berichtet haben, wurde in der Nacht zum Sonntag eine männliche Leiche gefunden. Wir haben Sie hierher gebeten, um Ihnen weitere Fakten zu nennen und Sie um Ihre Mitarbeit zu bitten.« Frank und Heiner wechselten einen viel sagenden Blick. »Bei dem Opfer handelt es sich um den 43-jährigen Kaufmann Xiao Deng aus Würzburg. Warum er sich hier aufhielt, wissen wir noch nicht. Der Mann wurde von einem Unbekannten erstochen.« Bachmann schrieb alle neuen Details mit. Dreiste hatte ihn mit dem Namen belogen. Frank hätte es sich eigentlich denken können. Heiner hegte offenbar die gleichen Gedanken. »Der ist und bleibt eine Ratte«, flüsterte er. »Allerdings stimmt der Fundort der Leiche nicht mit dem Tatort überein«, fuhr Wilhelmi fort. »Im Park wurden Schleifspuren entdeckt, die darauf schließen lassen, dass der Mann dorthin gebracht wurde, nachdem man ihn getötet hat. Unsere Gerichtsmediziner konnten im Leichnam ferner Spuren eines starken Schlafmittels nachweisen.« »Handelte es sich um eine tödliche Dosis?«, hakte Bachmann ein. »Nein«, antwortete der Mordermittler. »Die Menge hat vermutlich nur dazu gereicht, das Opfer zu betäuben.« »Wurde er beraubt?«, fragte eine Radio-Frau. »Nein, dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Papiere und Geld wurden bei der Leiche gefunden und offenbar nicht angerührt.« »Also haben Sie keine Hinweise auf ein Motiv?« Wilhelmi blies die Backen auf. »Zum derzeitigen Ermittlungsstand noch nicht. Daher bitten wir Sie auch, ein Foto des Opfers zu veröffentlichen. Fragen Sie Ihre Leser, Zuschauer und Zuhörer, wer den Mann in der Nacht zum Sonntag gesehen hat. Was uns ebenfalls sehr interessiert: War er in Begleitung und wenn ja, wer hat ihn begleitet?« 37
Gruber war aufgestanden und verteilte Schwarzweißfotos an die Journalisten. Ein Passbild, das ein ebenmäßiges Gesicht zeigte, stolz, fast ein wenig herablassend. Wie immer, wenn Frank das Bild eines Toten sah, überkamen ihn Ehrfurcht und leise Zweifel. In seinen Händen hielt er die Geschichte vom Tod eines Menschen, die er erzählen würde. In Fragmenten, suchend, nicht reißerisch, aber plakativ. Bachmann schob das Foto zu Heiner. Immerhin hatten sie jetzt ein zeitraubendes Problem weniger. Die Fotobeschaffung entfiel. Der Polizeisprecher hatte die Bilder an alle verteilt. Dreiste schoss einen kleinen Giftpfeil in die Runde: »Wie ein Boulevardblatt uns weismachen möchte, handelt es sich um eine Tat der Mafia. Was ist da dran?« Alle Augenpaare richteten sich auf Heiner und Frank. Die beiden hielten den Blicken stand. »Auch dafür haben wir keine Anhaltspunkte«, meinte Wilhelmi matt. »Aber ausschließen können wir das auch nicht. Wir ermitteln in alle Richtungen. Und noch etwas: Bei der Leiche wurde ein Zettel gefunden. Mit chinesischen Schriftzeichen. Sie bedeuten so viel wie: Grüße aus dem Schattenland.« Als die Medienvertreter verschwunden waren, trommelte der Mordermittler seine Truppe zusammen. »Im Magen des Opfers fand man …« »Ach, den hatte er noch«, witzelte ein junger Kommissar namens Schmittinger. Er war noch nicht lange in Wilhelmis Mannschaft. Niemand lachte. Der Erste Hauptkommissar stellte sich dicht vor den Spaßvogel und sah ihm in die Augen. So lange, bis Schmittinger den Kopf senkte. »Noch so einen Spruch und Sie schreiben wieder Knöllchen«, 38
meinte er kalt. »Also: Im Magen des Opfers wurden die Reste eines Döners gefunden. Also werden wir jeden verdammten Kebab-Stand in der Stadt abklappern. Vielleicht hat ihn dort jemand gesehen. Auf geht’s!« Wilhelmi schickte drei Zweimannstreifen in die Stadt. Jedes Team hatte ein Foto des Opfers dabei. Ein mieser Job, das wusste der Erste Hauptkommissar. In Nürnberg gab es Döner-Stände wie Sand am Meer. Die Betreiber lieferten sich einen beinharten Verdrängungswettbewerb, vor allem rund um den Plärrer. Es verging kaum eine Woche, in der nicht eine neue Bude öffnete. Die umliegende Konkurrenz wurde mit Dumpingpreisen mürbe gemacht – ein Döner mit einer Dose Cola kostete oft nur 2,50 Mark. Das zog der neue Budenpächter, zumeist nur eine Marionette eines Ketten-Betreibers, so lange durch, bis die Konkurrenz am Ende war. Dann erhöhte er die Preise auf fünf Mark pro Döner. Und die Büchse Cola kostete wieder zwei Mark extra. Wilhelmi seufzte. Ein lausiger Job, aber einen Versuch wert. Er stierte auf den Shell-Kalender in seinem ansonsten schmucklosen Büro. Das Bild zeigte eine idyllische Schneelandschaft in der Schweiz. Mechanisch griff der Mordermittler zum Telefon. Dr. Sebastian Werdenfels, der Polizeipsychologe, war sofort an der Strippe: »Die Chinesen-Sache. Ich habe deinen Anruf schon erwartet.« Wilhelmi war auf der Hut. »So, warum?« »Weil ihr mit euren herkömmlichen Methoden nicht weiterkommt, oder?« »Wie kommst du darauf? Bisschen früh, so ein Urteil zu fällen.« »Natürlich. Was kann ich für dich tun?« »Schau dir mal die Akte an, okay? Ich will von dir nur eine grobe Einschätzung, ob es sich um einen –« 39
»Normalen Täter handelt?«, hakte der Psychologe ein. »Genau das.« »Mache ich. Ein Datenabgleich wäre sicher von Wert. Bis wann?« »Das weißt du. Möglichst bis morgen um acht.« »Ja. Ich versuche es zumindest.« Werdenfels legte auf. Wilhelmi starrte auf das Bild mit der Schneelandschaft. Das war es wieder, was seinen Beruf manchmal so unerträglich machte: das Warten. Er schätzte, dass siebzig Prozent seiner Arbeit daraus bestand, auf etwas zu warten. »Grüße aus dem Schattenland – seltsam. Was das bedeuten mag?«, rätselte Heiner auf dem Rückweg in die Redaktion. »Ich habe keinen Schimmer. Aber es klingt gut. Brocki wird es lieben.« »Garantiert!« Der Fotograf flitzte mit knapp siebzig Sachen durch eine verkehrsberuhigte Zone. »Wo stehen heute eigentlich die Radarwagen?«, fragte er beiläufig. »Hier nicht, sonst hätte ich schon was gesagt.« Bachmann hatte am Morgen wie üblich den Polizeifunk abgehört und war im Bilde. »Auf der Nopitschstraße solltest du aber den Fuß vom Pedal nehmen.« »Danke. Wie gehst du weiter vor?« »Archiv. Vielleicht liegen wir mit der Mafia ja gar nicht so falsch. Wenn ich das richtig im Kopf habe, hat es vor ein paar Jahren einen Mafia-Mord in der Stadt gegeben. Eine ziemliche üble Nummer, ich kann mich aber nicht mehr an die Details erinnern.« »Unsere beiden Superhirne können es garantiert.« Der Fotograf spielte auf Bernhard und Bruno Brehm an. Das eineiige Zwillingspaar leitete das Blick-Archiv. Wegen ihrer ausgeprägten Sammelleidenschaft waren sie für diesen Job prädestiniert. Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Zum Glück trug Bruno meistens eine rote Krawatte oder einen roten 40
Pulli, während sein Bruder auf Blau stand. Heiner schleuderte mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz der Redaktion, begleitet von einem missbilligenden Kopfschütteln der barocken Blick-Empfangsdame Pamela Weidenzweig. Frank lief in den Keller. Das Archiv wurde gerade umgestellt. Hunderte von braunen Hängeordnern, prall gefüllt mit Zigtausenden von Fotos und Zeitungsartikeln, sollten einem modernen Computerarchiv mit Internetzugriff weichen. Die Umstellung würde Jahre in Anspruch nehmen. Alle neu eingehenden Informationen wurden aber bereits jetzt in die PCs gespeist und waren am Bildschirm abrufbar, sofern man sich mit dem System auskannte. Das taten vor allem die Brehm-Brüder, die nicht gerne jemand an ihre Tastaturen ließen. Bachmann eilte an den langen Regalen vorbei, die bis unter die Decke reichten. Es gab vier große Unterscheidungskriterien für die braunen Hängeregister: Personen, Orte, Fotos und Ereignisse. Letzteres war für Laien ein besonders diffuses Sammelsurium. Dort fanden sich Artikel über rauschende Feste ebenso wie solche über die Besuche herausragender Politiker oder spektakuläre Unfälle. Niemand – die Zwillinge ausgenommen – blickte da so richtig durch. Das machte die Archivare so unentbehrlich. Ein älterer Mann saß gebeugt am Schreibtisch und starrte auf einen Bildschirm. Er trug ein rotes Hemd. »Bruno?«, vermutete Frank. »Stimmt, mein Herr«, meinte der Mann. Er drehte sich um: »Ach, du bist es, Frank. Was kann ich für dich tun?« Brehms Kopf erinnerte Frank an ein frisch gepelltes Ei. Die wenigen Haare, die Brehm noch verblieben waren, scharten sich auf Ohrhöhe kranzförmig um die kegelförmige Glatze, die sich darüber erhob. Bruno hatte breite Wangenknochen, abstehende Ohren, die eine dicke Brille trugen, ohne die er hilflos war, und 41
talwärts ein fliehendes Kinn. »Der Mord an dem Chinesen, deshalb bin ich hier.« »Ja, natürlich. Hätte ich mir denken können. Mysteriöse Sache, nicht wahr?« »Allerdings. Und ich bin mir sicher, dass wir schon einmal einen ähnlichen Fall hatten. Nur weiß ich nicht mehr, wann das war.« Brehm schaute den Reporter über den Rand seiner Brille an: »Stimmt. Es gab schon mal etwas Derartiges. Das haben wir gleich.« Franks Herz schlug höher. »Sollen wir mal im Internet nachschauen, eine der Suchmaschinen anwerfen?« Der Archivar verzog leicht das Gesicht. »Das wird uns wenig bringen. Der Fall hat, wenn ich mich richtig erinnere, lediglich auf lokaler Ebene für Schlagzeilen gesorgt. Also hätte er vom Blick ins Netz gespeist werden müssen – und das ist damals sicher noch nicht geschehen. Wir hatten ja da noch keine Online-Redaktion.« Bruno stand auf, schlurfte auf eine Regalwand zu. »Wo ist denn dein Bruder heute?«, fragte Frank, der ihm folgte. »Er fühlt sich nicht wohl. Ich schaffe das schon allein, keine Sorge.« Der Archivar blieb stehen. Flink musterte er die Wand mit dem Oberbegriff Ereignisse. Bei V wie Verbrechen blieb er hängen, seine Augen tasteten sich zu M wie Mord vor. Plötzlich schnellte sein rechter Zeigefinger vor und bohrte sich auf die Jahresangabe 1995: »Ein edler Jahrgang«, erinnerte er sich. »Das Bündnis für Arbeit wurde ins Leben gerufen, Boris Becker siegte bei den ATPWeltmeisterschaften und in Bosnien-Herzegowina herrschte ab November endlich wieder Frieden. Aber auch in unserer Stadt tat sich einiges: Denken wir nur an den Besuch des britischen Premiers John Major.« Bachmann starrte ihn fasziniert an. Immer wieder 42
beeindruckend, was unter dieser Eierschale für ein Gedächtnis steckte. »Aber das alles soll uns ja jetzt nicht interessieren«, fuhr Bruno fort. »Bei uns geht es um Mord. Und wenn mich nicht alles täuscht, werden wir in diesem Jahr fündig.« Er zog den entsprechenden Ordner heraus. Er war ziemlich dünn. Die beiden Männer studierten die säuberlich herausgetrennten Zeitungsartikel. »Bingo, du bist ein Ass, Bruno!«, rief der Polizeireporter. Vor ihnen lag ein Artikel, über dem die Schlagzeile thronte: Chinese von Mafia auf Autobahn hingerichtet. Fünf Minuten später hatte Frank seinem Chef einen Kurzbericht gegeben. Brockmüller spendierte ihm hundert Zeilen, eine ungewöhnliche Menge. Frank schrieb wie besessen, seine Finger flogen über die Tastatur. Aber Bachmann hatte auch viel zu berichten. Einige Fakten waren neu – unter anderem die Betäubung des Opfers und der mysteriöse Zettel. Außerdem hatten sie das Foto des Opfers und die Hinweise aus dem Archiv. Diese hatten es in sich. Denn auch damals hatte die Polizei bei der Leiche des Mannes, man hatte ihn erstochen und mehrfach überfahren, einen Zettel gefunden. Mit chinesischen Schriftzeichen, die das Opfer als Polizeispitzel bezichtigten. Die später erfolglos eingestellten Ermittlungen richteten sich damals gegen die Triaden, die chinesische Mafia. Frank hielt es für legitim, Parallelen zwischen den beiden Fällen zu ziehen. Todesursache und Zettel waren durchaus vergleichbar. Er hätte leicht mehr als die hundert Zeilen verfassen können. In seinem Polo zuckelte der Reporter zwei Stunden später zufrieden Richtung Heimat. Aus dem Kassettenrekorder, der etwa doppelt so viel wert war wie der VW, wälzte sich das heiße 43
Schwermetall von Rainbow. Pia hatte heute Abend keine Zeit, weil sie eine Theaterpremiere besuchen musste. So würde sich Bachmann seiner zweiten großen Liebe widmen, dem Schlagzeugspielen. Er begann, den Rhythmus, den Rainbow-Drummer Cozy Powell abfeuerte, auf dem Lenkrad mitzutrommeln. Als Frank den Polo parkte, ging die Tür zum Nachbarhaus auf. Bachmann warf einen neugierigen Blick auf den Mann, der auf ihn zusteuerte. Sie trafen sich am Gartenzaun. Ein neuer Nachbar. Der Mann hatte einen rechteckigen, kantigen Schädel mit einem militärischen Kurzhaarschnitt. Er trug eine Designerbrille, Anzug und Schlips. Freudig streckte er dem Redakteur die Hand entgegen. »Feierhut, Herbert«, sprach er zu laut und zu aufdringlich. »Geschäftsführer bei ›Straub und Partner‹. MetallveredelungsBranche. Weltweit die Nummer zwei. Und bald ganz oben.« »Ah ja«, meinte Bachmann gedehnt. »Frank Bachmann.« Feierhut sah ihn mit großen Augen an und nickte aufmunternd. Wie zu einem Kind, dem man ein Geheimnis entlocken wollte. Nun sprich schon, Dummerle. Da fehlte doch noch etwas – der Beruf! Als der Reporter schwieg, sagte der Geschäftsführer rasch: »Ist sicher Ihr Zweitwagen.« Er deutete mit einem spöttischen Grinsen auf den Polo. »Nein.« »Was? Pardon, wollte Sie natürlich nicht kränken, haha. Jeder setzt woanders Schwerpunkte.« »Ja.« Frank bereitete seinen Abgang vor. »Hab noch ’ne Menge zu erledigen. Muss dann wohl weiter.« »Ah – Freiberufler«, freute sich Feierhut. »Hätte ich mir denken können. Stimmt’s?« »Nein.« Bachmann wollte den Nachbar mit seinem Rätsel allein lassen. 44
»Einen Moment. Eine Bitte hätte ich noch«, sagte der Mann mit Designerbrille. Seine Stimme war immer noch zu laut, aber jetzt einen Tick schärfer. »Hm?« »Das kleine, komische Auto da, das parken Sie bitte das nächste Mal so, dass ich meinen Benz noch daneben stellen kann. Sehen Sie denn nicht, dass Sie beide Parkplätze blockieren? Und den einen habe ich angemietet.« Frank feixte gequält. Was für ein Idiot! Das konnte ja heiter werden. Er ging in sein Haus, schnappte sich zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und verdrückte sich samt Telefon in den Keller. Still und mächtig stand sein Schlagzeug vor ihm. Ein von Meisterhand gefertigtes Klangwunder aus Holz, Fellen und verschiedenen Metallen. Ehrfurchtsvoll streichelte der Reporter das große, golden schimmernde Ride-Becken, entlockte ihm einen glockenzarten Klang, der scheinbar endlos nachhallte. Bachmann schnappte sich eine CD von Deep Purple, legte sie in den Player. Nach dieser Begegnung der unerfreulichen Art konnte es für ihn nur diese Musik geben. Rock, kompromisslos krachend, orgiastisch orchestral. Frank setzte sich auf den Hocker vor die Snare, nahm die Sticks. Dann drückte er die Starttaste des CD-Spielers. Die beiden 200-Watt-Boxen gaben ihr Bestes, ein Inferno brach los. Die Musik war derart laut, dass sie in den ersten Sekunden schmerzte. Die blubbernden Bässe trafen Bachmanns Magengrube, die grellen Gitarrensounds feilten an seinen Nerven, die nervösen Stakkato-Drums stampften frontal in sein Herz, ließen es höher schlagen und die überbordenden Keyboards legten einen filigranflattrigen Mantel über all das. Nach der erste Reizüberflutung nahm die Musik immer mehr Besitz von Bachmann, sie trug ihn fort auf einer Welle der Euphorie. Der Reporter fühlte sich mitten in einem Konzert, er trommelte mit, glücklich und entrückt. 45
Nach einer Stunde gönnte sich Frank, einigermaßen erschöpft, eine Pause. Er machte die Musik aus, wollte einen Schluck Bier nehmen. Da bemerkte er das bimmelnde Telefon. »Sind Sie verrückt?«, schrie es ihm entgegen, als er das richtige Knöpfchen gefunden hatte. »Vielleicht, das habe ich mir noch nie so richtig überlegt«, gab Bachmann zurück. »Herr Fingerhut, nicht wahr?« »Feierhut, verdammt noch mal. Und Sie hören jetzt sofort mit diesem apokalyptischen Lärm auf, sonst rufe ich die Polizei!« »Regen Sie sich ab.« »Das werde ich nicht. Und Ihr verbeulter Schrotthaufen steht immer noch so blöd, dass er alles blockiert!« »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Herr Geierbrut: Ich –« »Feierhut!« »Ich trommle hier schon seit etwa fünf Jahren«, fuhr Frank unbeirrt vor, »und niemanden hat es bisher gestört. Jetzt kommen Sie und markieren den Dicken. Was soll das, Herr Eiersud?« »FEIERHUT. Das kann ich Ihnen genau sagen: Es gibt Regeln und Gesetze in unserer Zivilisation, von denen Sie als offensichtlich asoziales Geschöpf nichts gehört haben oder nichts wissen wollen. Aber sogar Sie erahnen ja vielleicht, was es bedeutet: Wer nicht hören will, muss fühlen.« »Tut mir Leid. Sagen Sie’s mir: Was werde ich fühlen außer dem Unbehagen, wenn ich mit Ihnen spreche?« »Treiben Sie es nicht zu weit, mein Freund. Ich –« »Ich bin nicht Ihr Freund.« »Sicher nicht. Gott bewahre mich davor. Da Sie es scheinbar nicht begreifen: Ich werde Sie das nächste Mal wegen Ruhestörung anzeigen, wenn Sie auf Ihren Töpfen rumprügeln. Sie können das auch gerne schriftlich haben.« »Die Töpfe, wie Sie sie nennen, sind ein edles SonorSchlagzeug. Und jetzt bringe ich Ihnen noch ein Ständchen.« Frank beendete das Gespräch mit einem Tastendruck. Dann 46
drehte er die Anlage bis zum Anschlag auf, wählte auf seiner CD das Lied Speed King, einen hyperaktiven Rachefeldzug gegen jedwede Langsamkeit, und gab dem neuen Nachbarn das definitive Maximum auf die Ohren. Wohl wissend, dass die Polizei erst nach 22 Uhr, wenn überhaupt, gegen Ruhestörer vorging. Brehm hätte eigentlich um fünf Uhr Feierabend gehabt. Doch nun war es bereits nach sieben und er saß immer noch vor einem Berg mit Fotos, die er einer Mappe mit der überaus hässlichen Mahnung unsortiert entnommen hatte. Der Vorgänger der Brehms, ein faules Subjekt namens Höllermahn, hatte das Archiv verkommen lassen. Die Arbeit war ihm über den Kopf gewachsen. Die letzten Jahre seiner Dienstzeit hatte er das Bildmaterial planlos in die Hüllen gestopft, ohne System, Sinn und Verstand. Und das hatten die Brehm-Brüder auszubaden. Doch Bruno war an diesem Abend keineswegs unzufrieden. Wie ein Habicht beugte er sich im Licht einer altmodischen Schreibtischlampe über ein Foto, das eine Menschengruppe zeigte. Aus einem kleinen Radio tönte leise Musik – Jazz. Brehm studierte die Gesichter der Personen auf dem Bild. Eine harte Nuss: Die Aufnahme war bestimmt zwei Jahrzehnte alt. Brehm drehte das Bild um: kein Hinweis auf Datum oder Personen. Aber die abgelichteten Menschen waren keine Unbekannten. Vor allem der rechte Mann nicht, der halb verdeckt war. Bruno zog eine Lupe aus der Schublade. Ein Foto richtig zuzuordnen, dazu gehörte neben Geduld und einem guten Gedächtnis eine gehörige Portion detektivischen Eifers. Der Archivar liebte das an seinem Tun: das Enträtseln eines Geheimnisses. Diese Fotos mit den Fragezeichen, scheinbar zufällige Ereignisse, gebannt auf einen Film, namenlose Dokumente. Wertlos für die Redaktion, so lange sie niemand zuordnete, verwaltete, beschriftete und dort verwahrte, 47
wo man sie wieder fand. So gesehen war Bruno dem Vorgänger dankbar. Höllermahn hatte die Rätsel gestellt und Brehm löste sie. Die Lupe berührte fast das Fotopapier. Doch, der Archivar war sich jetzt sicher. Auf dem Bild war die Unternehmerlegende Max Grundig zu sehen. Undeutlich, aber er war es. Das Vergrößerungsglas wanderte ein Stück weiter. Männer mit Spaten, lachend. Eine Grundsteinlegung, durchfuhr es Brehm. Im Hintergrund war eine Straßenbahn zu erkennen. Brehm lächelte in sich hinein. Er hatte die Person und den Anlass für diese Aufnahme. Jetzt fehlte noch das Datum. Aber das dürfte er herausfinden. Er brauchte eine Grundig-Chronik. Dort konnte er nachschlagen, wann welches Werk gebaut wurde. Wenn er Glück hatte, gab es nicht allzu viele, die unmittelbar neben Gleisen gebaut worden waren. Außerdem könnte er die Pressestelle des Unternehmens einschalten. Aber dort würde Brehm heute niemanden mehr erreichen. Seufzend schob er die Aufnahme in eine Klarsichthülle. Morgen war auch noch ein Tag. Er löschte das Licht der Schreibtischlampe und fuhr nach Hause »Heute habe ich dem Polizeireporter helfen können«, meinte er kurz darauf zu seinem Bruder. »Ich glaube, ohne uns wären die manchmal ganz schön aufgeschmissen.« Bernhard erwiderte nichts. Bruno ging zur Stereoanlage, drückte ein paar Knöpfe. »Und wie war dein Tag?«, fragte er. »Es ging so«, kam es müde zurück. »Wieder die alten Schmerzen?« »Ja. Es ist immer dasselbe. Das nimmt kein Ende. Niemals.« Bruno legte eine Hand auf Bernhards Schulter. »Unsinn.« »Ich glaube es nicht mehr. Das dauert schon zu lange. Das hat sich eingenistet.« Er hustete: »Die Krankheit scheint sich bei mir wohl zu fühlen.« 48
»Das bildest du dir nur ein«, erwiderte der Bruder ungehalten. »Einbilden? Was fällt dir ein? Diese Schmerzen kann man sich nicht einbilden!« »Beruhige dich. So habe ich das doch nicht gemeint. Soll ich uns einen Tee machen?« »Nein, ich will keinen Tee.« Wie ein störrisches Kleinkind, dachte Bruno. Er setzte Wasser auf. Eine Viertelstunde später war Bernhard wieder besser gelaunt. »Kennst du die Geschichte von Maud Grimshaw?«, fragte er. »Nein – wen meinst du?« »Maud Grimshaw. Sie starb 1975 im Alter von 98 Jahren. Eine Arbeiterfrau aus den Slums von Leeds, Nordostengland.« »Ich weiß, wo Leeds liegt«, erwiderte Bruno. »Was ist mit dieser Frau?« »Sie hatte eine ungewöhnliche Begegnung.« »Bitte, hör damit auf. Das ist bestimmt wieder so eine Story mit jeder Menge Mystik und Hokuspokus.« »Unsinn. Es ist wissenschaftlich fundiert.« »Ach Quatsch!« »Nein! Hör mir zu. Ich hab’s aus einem neuen Buch. Diese Maud hatte es verdammt schwer. Verheiratet mit einem schwindsüchtigen Arbeitslosen. Elf Kinder. Als sie starb, lebten von diesen nur noch drei. Alice, May und Billy starben an Kinderkrankheiten, Molly kam bei einem Brand im Haus ums Leben, Lizzie fanden Nachbarn mit dem Kopf im Gasofen – nach vier Tagen. Und –« »Mag ja alles sein. Tragisch, traurig. Aber warum erzählst du mir das? Was soll ich mit dieser Maud, was mit ihren toten Kindern?« »Warte doch mal ab. Claude, ihr Sohn, der ist wichtig!« Der Bruder seufzte: »Was war mit ihm?« »Epileptiker. Man wies ihn ein, in die Psychiatrie, weil er sich selbst gefährdete. Maud ging ihn so oft wie möglich besuchen.« 49
»Das ist doch ganz normal.« »Nein. Nicht bei Maud. Elf Kinder, fast nur Tragödien. Die Arbeitslosigkeit ihres Mannes. Nie Geld, kaum Hoffnung. Diese Frau hatte eigentlich für gar nichts Zeit.« »Ja. Worauf willst du hinaus?« »Ich will dich sensibilisieren für die Nähe des Todes. Und dafür, dass der Tod keinen Schrecken hat.« »Mit Maud?« »Ja! Mit Maud und Claude. Hör zu: Maud sitzt eines Tages am Tisch und trinkt Tee. Sie nickt dabei ein. Plötzlich sieht sie Claude vor sich. Er lächelt, sieht richtig gut aus. Und dann sagt er: ›Mami, es geht mir gut, ich bin glücklich, aber ich muss jetzt gehen. Ich bin tot. Wir werden uns wieder sehen.‹ Dann verschwindet er.« »Was für ein lächerliches Rührstück!« »Nein. Erwache doch endlich aus deiner akademischen Arroganz und Ignoranz. Denn jetzt kommt’s.« Bruno schrie fast: »Da bin ja mal gespannt!« »Bleiben wir bei Maud. Etwa eine Stunde nach der Begegnung mit ihrem Sohn klopfte ein Polizist an der Tür.« »Um ihr mitzuteilen, dass eines ihrer Kinder tödlich verunglückte«, erwiderte Bruno sarkastisch. »Du machst es dir zu einfach. Der Polizist erzählte Maud, dass Claude gestorben sei. Maud meinte: ›Ich weiß. Er hat sich von mir verabschiedet.‹« »Diesen Unsinn glaubst du?« »Der Unsinn, wie du ihn nennst, wurde erlebt und protokolliert.« »Ich will Beweise.« Jetzt wurde auch Bernhards Stimme lauter: »Beweise? Die gibt es nicht. Aber die Aussagen. Claude fühlte sich gut, er sah gut aus, als er ging. Als er gestorben ist. Das zählt.« »O nein, Bernhard.« Wenn Bruno seinen Bruder beim Namen nannte, wurde es richtig ernst. »Nein, was zählt, ist die Medizin, 50
die Forschung, die Faktenlage – nicht die Hoffnung.« Peter Völk hing in der fleckigen Breitcordcouch. Es war dunkel, auf den spärlichen Möbeln ruhten schwache Schatten, lieblos projiziert von der Straßenlaterne. Schattenland. Kein Licht. Völk wollte nicht sehen, was ihn umgab. Für das Einzige, was ihn interessierte, brauchte er seine Augen nicht. Die Palette mit Büchsenbier stand in Reichweite vor ihm. Ein Import, frisch von seinem neuen Arbeitgeber. Gratis, er hatte die Ballermänner mitgehen lassen. Mechanisch und regelmäßig griff der Beamte zu. Finsternis, Stille, Leere. Kein Video. Scheiße. Er brauchte Geld, schnell. Wie viel hatte er eigentlich heute eingenommen? Anfangs hatte er noch mitgerechnet, aber die kontinuierliche Zufuhr diverser Alkoholika stand kontraproduktiv zur Bewältigung solcher mathematischen Erhebungen. Seine feisten Finger gruben sich in die Hosentaschen, ertasteten die Münzen. Der Polizeimeister knallte sie auf den Tisch. Nichts Genaues war zu erkennen. Sollte er Licht machen? Lieber nicht, die Münzen machten sicher nicht viel her. Völk fegte sie auf den Boden. Dieser verdammte Türke hatte ihm Unsinn erzählt. Und dann der Chinese! Knallt ihm die Faust auf die Brust, grundlos. Das war alles nicht zu fassen. Völk kippte eine Büchse fast in einem Zug herunter. Er schloss die Augen, sah sich mit einer hübschen Maschinenpistole im Anschlag auf den Getränkemarkt zustürmen. Das Magazin voll. Der elende Türke zusammen mit dem China-Mann, ganz wunderbar. Sie erkennen ihn, Völk. Staunen liegt zunächst in den Gesichtern, dann Entsetzen und Angst. Ihre Münder formen Entschuldigungen, Ausreden, das übliche Gesummse. Wertloses Gestammel, Angstschweiß-formatiert. Aber Peter Völk kennt nur eine Antwort: den Tod. Er feuert das ganze Magazin heraus. Ihre Körper tanzen unter 51
dem Aufprall der Kugeln durch den Raum wie zwei Marionetten, die ein Wahnsinniger an den Fäden zappeln lässt. Ein blutiges Ballett, choreographiert von Totentanz-Lehrer Völk. Der Beamte lächelte schwach in der Finsternis. In diesem Moment schwängerte das Telefon das allumfassende Nichts der Völk’schen Existenz. Schwerfällig schnappte sich der Polizist den Hörer. »Ich bin’s, Günther. Was macht der neue Job?«, hörte er die Stimme der Abrissbirne. »Müll.« »Toll. Na ja, du wolltest doch wissen, ob dieser Chinese schon mal auffällig war, oder?« »Ich höre.« »Wu Chan ist ’ne ziemlich harte Nummer. Mit der Vorstrafenlatte kannst du deine Bude tapezieren.« »Lass meine Bude aus dem Spiel.« »Schon gut. Die Vorstrafen kassierte er alle wegen Drogendelikten und Körperverletzungen. Scheint Mitglied einer Triade zu sein. Konnte man ihm aber nicht nachweisen.« »Und, was noch?« »Betreibt mehrere Restaurants und Bars. Die laufen allerdings nicht auf seinen Namen. Er hat offensichtlich Strohmänner installiert, operiert aus dem Hintergrund.« »Wo wohnt der Kerl?« »Tannenhof 11.« »Okay.« »Wie: okay? Wäre doch mal ein kleines Dankeschön wert, meinst du nicht?«, dröhnte die Abrissbirne. Völk legte auf.
52
5. Warten. Kurz vor acht Uhr. Noch zehn Minuten bis zur Lagebesprechung. Wilhelmi kaute auf seiner Unterlippe herum. Warten. Der Erste Hauptkommissar starrte das altmodische Tastentelefon an. Hypnotisierte es. Würde ihn der Psychologe im Stich lassen? Draußen hörte er Schritte, vereinzelt Gelächter. Der Besprechungsraum schien sich zu füllen. Das Team begab sich in die Startlöcher. Wilhelmi hatte die Ausgabe des Blick an seine Pinnwand geheftet. Bachmann hatte sich auf die Chinesenmafia konzentriert. Ein Schuss ins Blaue mit der Schrotflinte – aber so schlecht hatte der Boulevardmann vielleicht gar nicht gezielt. Der Mord von 1995. Die Tat hatte tatsächlich die Handschrift der Mafia getragen. Ein dunkler Punkt in Wilhelmis Vergangenheit. Er hatte diesen Fall nie aufklären können. Damals leitete er die Kommission erst seit zwei Jahren. Dieser Chinesen-Mord war seine neunte Bewährungsprobe gewesen. Und die erste harte Nuss. Der Hauptkommissar hatte sie nicht knacken können. Und jetzt wieder ein Mord an einem Chinesen. Erstochen, eine ›normale‹ Mordart. Aber was danach erfolgt war, das war eine andere Dimension, dahinter stand eine weitere, noch schwärzere Welt des Bösen. Der oder die Täter hatte dem Kaufmann die Nieren aus dem Bauch geschnitten. Fachmännisch, mit chirurgischer Präzision. Vielleicht stand dieser Mord im Zusammenhang mit dem Einbruch in die Klinik, bei dem Instrumente entwendet worden waren, die sich für Organentnahmen eigneten. Details, die er der Presse unbedingt unterschlagen musste. Sonst würde vor allem die Boulevardmeute aufheulen. 53
Wilhelmi wanderte auf und ab, die Uhr im Visier. Noch fünf Minuten bis zur Lage. Warum hatten die Täter Deng nicht einfach ›nur‹ ermordet? War es Organhandel, stand die Organmafia dahinter? Aber warum hatte sie ein chinesisches Opfer gewählt – reiner Zufall? Nein, dachte der Ermittler. Da musste mehr dahinter stecken. Ein Racheakt. Vielleicht war Deng ein abtrünniges Mitglied der Triaden gewesen, ein potenzieller Verräter, der über den Organhandel auspacken wollte und den man nun ausgeschaltet hatte. Spezialisten vom Erkennungsdienst stellten derzeit Dengs Wohnung in Würzburg auf den Kopf. Sie mussten alles über diesen Mann erfahren, jede Kleinigkeit. Die Ermittlungen gestalteten sich jedoch sehr schwierig. Deng belasteten keine Vorstrafen, er war ein echter Musterknabe in den Augen des Gesetzes. Auch Dengs Privatleben war blass. Keine Frau, keine Kinder, offenbar noch nicht einmal eine Freundin. Die Nachbarn beschrieben den Kaufmann, der einen Fachhandel für Aquaristik führte, als zurückhaltend und freundlich. Mehr hatten die Kollegen bisher nicht herausgefunden. Doch wollte sich Wilhelmi nicht zufrieden geben. Noch zwei Minuten. Wo blieb der Anruf des Psychologen? Auch in diese Richtung mussten sie ermitteln: ein krankes Hirn, ein Psychopath mit Skalpell, der sein Opfer nicht nur tötete, sondern auch ausweidete. Souvenirs. 7.59 Uhr. Das Schrillen riss an Wilhelmis Nerven. Hastig griff er zum Hörer: »Ja?« »Pünktlich wie bestellt«, meinte Sebastian Werdenfels gelassen. »Und?« »Piano, mein Freund.« »Lass hören, ich habe wenig Zeit.« »Schon gut. Es gab vergleichbare Fälle in Deutschland. Unsere Profiler haben Parallelen zu anderen Mordfällen erstellen können.« 54
›Profiling‹ – das neue Zauberwort, dachte Wilhelmi. Mal wieder ein Import aus den USA. Die Profiler schlossen aufgrund des Zustandes der Leiche oder der am Tatort gefundenen Indizien auf die Psyche des Täters. Sie erstellten dessen psychologisches Profil. »Deutliche Parallelen?« »Jein, ansatzweise. Dein Chinese lag auf dem Bauch, nicht wahr?« »Ja.« »Das LKA meldet drei ähnliche Fälle mit Organentnahme, zwei in München, einen in Straubing. Alle Opfer wurden auf dem Bauch liegend gefunden.« »Was schließt du daraus?« »Der Täter ist scheinbar niemand, der mit seinen Taten prahlen will. Er versteckt sie lieber, deckt die Wunden zu, indem er die Opfer auf den Bauch dreht.« »Hm. Und was ist mit dem Zettel: Grüße aus dem Schattenland?« Es klopfte an der Tür. Schmittinger lugte herein, fragend. »Komme gleich«, winkte Wilhelmi ab. »Raus.« »Das gibt mir zu denken. Solche Botschaften fanden die Kollegen weder in München noch in Straubing.« »Also doch ein neuer Fall«, ärgerte sich Wilhelmi. »Vergiss die Parallelen.« »Du bist zu voreilig«, warnte der Psychologe. »Ich schicke dir die Unterlagen. Du solltest sie genau anschauen. Wir werfen derweil einen Blick über die Landesgrenzen, schauen uns mal in Europa um. Viele Psychopathen reisen gern.« »Ja, leider.« Der Mordermittler legte auf, ging in den Konferenzraum. Acht neugierige Augenpaare trafen ihn. »Okay, was brachten die Döner-Ermittlungen? Team A?«, stieg der Chef ein. »Wir waren bis Mitternacht unterwegs«, begann Schmittinger. 55
»Und da haben wir versucht –« »Mich interessieren nur Ergebnisse«, stoppte ihn Wilhelmi. »Ja, sicher. Also, da sieht es eher dünn aus, denn –« »Was ich mir nach Ihrer Eröffnung gedacht habe, verdammt noch mal.« Auch bei den anderen beiden Teams sah es schlecht aus. Nur vage Angaben. Könnte sein, dass ein Chinese, der dem auf dem Foto ähnelte, Kunde gewesen sei. Oder auch nicht. Wilhelmi jagte die Truppe wieder raus. Auftrag: alle Lokale und Bars abklappern. Das Opfer musste irgendwo seine Visitenkarte hinterlassen haben. Es gab keinen Menschen ohne Spuren. Dann rief er in Würzburg an – auch dort gab es keine neuen Erkenntnisse. Wilhelmi ging zurück in sein Büro. Das Fax hatte einen Berg Papier ausgespuckt. Die Fälle aus München und Straubing. Bis zum Mittag hatte er sie durchgearbeitet. Der oder die Täter waren flüchtig, in den Augen Wilhelmis gab es keine signifikanten Übereinstimmungen mit seinem Fall. Der Erste Hauptkommissar starrte auf die lächerlich heile Schneelandschaft des Kalenders, die so rein sein wollte gegenüber dem Grauen, das sich in seinem Kopf ausbreitete. Mit dem ersten Tauwetter und der Schneeschmelze würden die Berge ihr zweites Gesicht zeigen. Schnee- und Schlammlawinen, Moränenabgänge, Geröllmassen. Mächtig, nicht zu stoppen, unaufhaltsam, vernichtend. Tödlich. Nicht nur Polizisten durchkämmten die Stadt. Bachmann und Heiner liefen durch die Breite Gasse, eine der Haupteinkaufsstraßen von Nürnberg. Frank schwebte ein Bericht über die letzten Stunden des ermordeten Kaufmannes vor. Stationen eines Abgangs. Hier aß er zum letzten Mal (Foto), hier trank er seinen letzten Kaffee (Foto), hier kaufte er noch etwas ein (Foto), hier traf er seinen Mörder (Foto). 56
Klasse, Witwenschüttler! Bachmann fühlte sich mies. Die simple Nachricht des Todes zu verbreiten war etwas anderes als deren Umstände zu verkünden. Das Hineinschnuppern in die Intimitäten des Ablebens stank ihm. Mit Heiner klapperte er ein Lokal nach dem anderen ab – immer auf der Suche nach einer Spur des Opfers. Bisher umsonst. Der kleine Heiner meinte schließlich: »Mach dir keine Sorgen, Frank. Ich gebe einen aus. Lass uns was trinken.« »Aber nicht bei einem Chinesen.« Zehn Minuten später saßen sie in den Warsteiner Stuben, dem Treffpunkt für Journalisten in Nürnberg. Genervt stellte Frank fest, dass auch die Dreistes da waren. Demonstrativ setzten sich er und Heiner an einen anderen Tisch. »So kommen wir nicht weiter«, maulte der Fotograf. »Wir sollten mal unsere Quelle anzapfen.« Auf den Gedanken war Frank auch schon gekommen. Sie hatten einen Beamten im Präsidium sitzen, der ihnen hin und wieder etwas steckte. Harry Puhl. Der Blick gönnte ihm stets ein üppiges Informationshonorar. Bar, versteht sich. Doch Frank bediente sich nur äußerst ungern dieser Quelle. Zum einen bedeutete das, dass er bei seinen Recherchen nicht ohne fremde Hilfe weiterkam. Zum anderen war diese Art der Informationsbeschaffung illegal und konnte nicht nur für Puhl, sondern auch für Frank böse Folgen haben, wenn es bekannt wurde. Außerdem gab es fast immer ein Problem mit der Kontaktaufnahme, da nahezu jedes eingehende Gespräch ins Präsidium aufgezeichnet wurde. Allerdings hatte Puhl ein Handy, was er jedoch selten einschaltete. »Versuch es wenigstens«, bat Heiner, als Frank abwinkte. »Spring über deinen Schatten.« Bachmann zögerte. »Du zahlst unsere Getränke?«, meinte er dann. 57
»Gebongt!« Bachmann wählte die Handynummer des Informanten. »Ja?« »Frank hier.« Bachmann wunderte sich über sein Glück. »Und?« »Der Chinesen-Mord, fällt Ihnen dazu was ein?« »19 Uhr.« »Wo?« »Beim Griechen.« »Wie üblich?« »Nein.« »Gut, danke.« Das reichte Frank. Wenn »üblich« wegfiel dann blieb nur noch ein Treffpunkt: das Athen. Die beiden Kollegen flitzten in die Redaktion, erstatteten Bericht. Brockmüller war begeistert. 18.55 Uhr. Der Polizeireporter saß auf heißen Kohlen. Der Kaffee dampfte vor sich hin, unberührt. Das Athen war gut besucht. Kellner wuselten hin und her. Brockmüller hatte Frank genau zwei Stunden gegeben. »Deadline, Kollege. Dann muss es klingeln. Das wird unser Aufmacher.« Der Chef hatte eine Pranke auf Bachmanns linke Schulter gelegt, ihn durch das gesamte Großraumbüro geschoben, vorbei an allen Kollegen. Ihn, den Aufmacher. 19.27 Uhr. Puhl war noch nicht da. Frank behielt den Gang, der zu den Toiletten und der Kegelbahn führte, im Auge. Zwei Paare erschienen, dann eine fünfköpfige Familie. Bachmann wurde es allmählich heiß. Eine Stunde und dreiunddreißig Minuten hatte er noch. Der Reporter wusste, dass er auf eine unbekannte Größe gesetzt hatte. Der Beamte war nicht so blöd, seine Pension für einen Boulevardschreiber zu riskieren. 19.34 Uhr. Bachmanns Handy schrillte los. »Ja?« 58
»Brockmüller hier. Wie sieht es aus?« »Bisher Fehlanzeige.« »Ich halte Ihnen dennoch die Seite eins frei.« »Wenn Sie meinen.« »Ja, das meine ich.« »Ich muss auflegen. Puhl kommt gerade rein!« Frank unterbrach das Gespräch. Der Polizist ging Richtung Toiletten. Frank folgte ihm. Der Gang war lang und dunkel. Moder stieg in Bachmanns Nase. Er lief an den Damentoiletten vorbei, erreichte den Herrenbereich. Er rutschte an der Klinke ab. Der Redakteur schüttelte die Hand voller Ekel. Dann stand er drinnen. Die Urinale waren fast alle gesprungen, die Neonröhre flackerte. Ein großer Mann lehnte am Waschbecken, rauchte. Harry Puhl. Er trug einen billigen Anzug. »Guten Abend, Witwenschüttler.« »Was haben Sie zu bieten?« Der Beamte schnippte die Asche auf den Boden. »Sie glauben, dass der Chinese erstochen wurde, nicht wahr?« Bachmann kniff die Augen zusammen. »Das ist die offizielle Version der Polizei«, meinte er. »Aber nur die halbe Wahrheit.« »Und wie lautet die ganze?« »Was ist sie Ihnen wert?« Der Redakteur zückte sein Portemonnaie, gab dem Beamten dreihundert Mark. Puhl schüttelte den Kopf. Zwei weitere Hunderter wechselten den Besitzer. Puhl kam dicht an Bachmann heran. In seinen Augen flackerte es. »Der Täter ist nicht normal, das ist ein ganz kranker Kopf«, flüsterte er. »Er hat den Chinesen nicht erstochen, er hat ihm Organe herausgeschnitten. Regelrecht ausgenommen, wie ein Tier.« 59
Frank verzog das Gesicht. »Ein Kannibale?« »Weiß ich nicht. Aber die Organe sind weg. Beide Nieren fehlen.« Der Boulevard-Mann wusste, dass er die Schlagzeile gewonnen hatte. Er warf einen raschen Blick auf die Uhr. 19.41 Uhr. »Was noch?« Der Polizist glitt an ihm vorbei durch die Tür: »Das reicht ja wohl.« Frank ging zum Waschbecken, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Das war der ganz große Knaller! Der Reporter stürmte nach oben, zahlte den Kaffee, flitzte zu seinem Polo. Während der Fahrt informierte er Brockmüller und Heiner. Als Bachmann in die Redaktion kam, hatte der Chef bereits die Schlagzeile formuliert: Der Kannibalen-Mord. Die Zeile lief über alle Spalten. »Manchmal ist das Einfache auch wirklich das Beste«, kommentierte der Redaktionsleiter. »Lassen Sie die Finger fliegen, Herr Bachmann. Ich brauche zwanzig Zeilen für die Seite eins und einhundert auf der Seite drei. Das legen wir ganz groß hin. Dazu stellen wir einen Kasten mit einem Psychologen. Thema: Was kann das für ein Mensch sein, der so etwas tut?« »Psychologe? Woher nehmen um diese Zeit?« »Keine Sorge. Da kümmern sich die Kollegen drum. Hauen Sie in die Tasten, ich kümmere mich um die Organisation.« Frank schrieb wie besessen, obwohl ihm die Schlagzeile nicht passte. Dafür gab es keine Anhaltspunkte, jedenfalls noch nicht. Bachmann schaffte die hundert Zeilen im eng gesteckten Zeitrahmen. »Prima«, lobte Brocki. »Aber wo bleiben die zwanzig Häppchen für meine Eins?« Bachmann zimmerte eine Kompaktversion für den Chef zusammen. 20.54 Uhr. CvD Rollmann erschien mit besorgter Miene: 60
»Mach hin. Wir schmeißen sonst den Andruck.« »Weiß ich, weiß ich«, wehrte Bachmann ab. »Lasst mich in Ruhe schreiben, dann schaffen wir es schon.« 20.58 Uhr. Frank war fertig. Der Boss überflog den Text, nahm zwei kleine Korrekturen vor. »Okay, weg damit in die Produktion.« Erschöpft lehnte sich Bachmann zurück. »Guti-gut«, meinte Brockmüller. »Wenn wir die Story wirklich exklusiv haben, ist das ein Big Point.« Die Welt war aus den Fugen geraten, befand Völk nach der sechsten Flasche Bier. Er trante auf dem Cordsofa vor sich hin. Sein zweiter Arbeitstag im Getränkediscount war ein Fiasko gewesen, sah man einmal von den Bierchen ab, die sich der Beamte hinter dem Rücken des Türken genehmigt hatte. Die Kunden hatten Völk von oben herab behandelt. Als er sich einmal – natürlich völlig unabsichtlich – beim Pfand verrechnet hatte, hatte ihn ein Mann heruntergeputzt wie einen dummen Jungen. Am schlimmsten aber war sein Chef, der elende Türke, gewesen. »Sie müssen den Kassenbereich immer sauber halten«, hatte Arcan ihn getadelt. »Kehren Sie sofort die Bons und die Kronkorken zusammen.« Im ersten Moment hatte Völk geglaubt und gehofft, sich verhört zu haben. Doch der Muselmann drückte ihm tatsächlich Schaufel und Besen in die Hand. Und der deutsche Beamte musste kehren, während der Türke aufpasste. Bei der Erinnerung an diese Schmach schloss der Polizeimeister die Augen. Da fiel ihm auch noch der gestrige Vorfall mit dem Chinesen wieder ein. Keine Frage, es herrschte Anarchie in den deutschen Landen. Die Ausländer machten einfach, was sie wollten. Völk ließ die leere Flasche auf den Boden poltern. Er hievte sich aus dem Sofa, entriss dem Kühlschrank einen neuen Braunmann und hatte plötzlich eine Idee. Der China-Mann brauchte eine Lektion in Sachen Respekt. Wo wohnte der Kerl gleich wieder? Völk 61
kramte in seinem Gedächtnis und wurde zu seiner eigenen Überraschung fündig. »Tannenhof 11«, sagte er laut. Die Ecke kannte der Streifenbeamte. Etwa eine Viertelstunde zu Fuß von hier, schätzte Völk. Der Polizist kippte den Inhalt der Flasche routiniert und zügig in sich hinein und rülpste laut. Dann zwängte er sich in einen Wollpulli, zog die Winterstiefel an und warf den alten NATOParka über. Aus der Küche holte er ein scharfes Messer, das er im Innenfutter des Mantels, der in den siebziger Jahren mal ein Modehit gewesen war, verschwinden ließ. Der Abend war kalt und abweisend. Es regnete leicht. Gut, dass der Parka eine Kapuze hatte. »So spät noch ausgehen?«, sägte sich eine unangenehme Frauenstimme in seinen Kopf. Sie gehörte dem alten Drachen, der über ihm hauste. Frau Göderlein hing im Fenster und spähte hinab. »Geht Sie nichts an«, gab Völk zurück. »Machen Sie Ihren Schlag zu.« »Nichts werde ich. Ich passe lieber auf, wer sich hier noch so alles rumtreibt. Übrigens: Morgen haben Sie die Hausordnung zu erledigen.« »Schon wieder?« Auch das noch, ärgerte sich der Beamte. »Ich werde aufpassen, dass Sie nichts vergessen. So wie beim letzten Mal. Da war der Keller nicht gewischt.« Das glaube ich dir, dass du aufpasst wie ein Luchs, du Biest, dachte Völk. »Mach den Schlag zu!«, drohte Völk. »Sonst komm ich rauf!« Die Alte schrie hysterisch auf: »In meine Wohnung kommt kein Mann, niemals. Wagen Sie es nicht, die Zeiten sind vorbei!« Der Polizeimeister lachte dreckig: »Allerdings, die sind vorbei.«
62
Wie ausgestorben wirkte die Straße, in der der Chinese wohnte. Völk lief sie einmal auf und ab, um sich zu orientieren. Schnell hatte er den Wagen des Chinesen gefunden. Er parkte genau vor dem Haus mit der Nummer 11. Der Beamte schaute sich vorsichtig um. Niemand in Sicht. Er bückte sich vor dem schwarzen Benz, zog das Messer hervor und rammte es mit aller Wucht in den linken Hinterreifen. Die Luft entwich zischend. Begeistert schob sich Völk nach vorn, um den Vorderreifen zu plätten. In diesem Moment spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Völks Blut gefror zu Eis. »Sind Sie verrückt? Aufstehen!« Der Beamte gehorchte. Als er sich umdrehte, blickte er in das Gesicht von Wu Chan. Der Chinese war in Begleitung eines Landsmannes. »Das ist doch der dicke Betrüger aus dem Getränkeladen!«, rief Chan überrascht. Er schubste Völk gegen den Wagen, der dabei sein Messer verlor. »Der hat versucht, meinen Sohn über den Tisch zu ziehen«, klärte er seinen Begleiter auf. »Und jetzt zersticht er dir die Reifen«, meinte dieser. »Was sollen wir mit ihm machen? Eine Runde Pingpong?« »Gute Idee«, strahlte Wu. »Aber vorher will ich Geld für den Reifen sehen.« Pingpong? Was meinten die Schlitzaugen damit?, rätselte Völk. Er geriet in Panik. Wieso hatte er die beiden nicht kommen hören? Der Chinese tastete ihn ab, fand das Portemonnaie. »Gerade mal zwanzig Mark«, meinte Chan enttäuscht. Er steckte den Schein ein, warf den Geldbeutel in die Gosse. »Ich brauche mindestens das Zehnfache. Und du wirst mir das Geld besorgen, ist das klar? Ich gebe dir eine Woche Zeit.« Völk nickte artig. Nur weg hier. Er wandte sich ab. »Halt, Sportsfreund«, stoppte ihn Chan. »Wir sind noch nicht fertig mit dir. Pingpong!« 63
Die beiden Asiaten führten den Beamten zu einer einsamen Grünanlage. Dort zogen sie ihre Jacken aus. »Wer hat Aufschlag?«, fragte Chan. »Fang du ruhig an.« Chan trat dem Polizisten unvermittelt vor die Brust. Der Beamte torkelte nach hinten, genau in den Schlag des zweiten Mannes. Völk wurde zwischen den Schulterblättern getroffen, stürzte wieder nach vorn. Chan erwartete ihn mit einem Hieb in den Magen. Gut zehn Minuten prügelten sie den Polizisten hin und her, ohne ihn ernsthaft zu verletzen. Als ein Mann mit seinem Hund auftauchte, ließen die Chinesen von Völk ab. Chan stieß den Beamten ein letztes Mal in den Dreck. Der Beamte heulte von Wut und Schmerz: »Das werdet ihr mir büßen, ihr Schweine. Ich bring euch um!« Die beiden lachten schallend. »Denk dran, Dicker: In einer Woche ist Zahltag«, meinte Wu zum Abschied. Chan bestellte sich ein Taxi. Er ließ sich in die Nürnberger Innenstadt kutschieren. Der Chauffeur schnatterte vor sich hin. Am Hauptmarkt stieg der Geschäftsmann aus. Er schneite unangemeldet in sein Lokal Kanton hinein. Es war gut besucht, wie er feststellte. Der Geschäftsführer huschte herbei, Chan weidete sich an seiner Nervosität. Der Angestellte leierte Umsatzzahlen herunter. Sie waren zufrieden stellend. Chan inspizierte die Küche. Alles sauber. Dann ging er zu einem Tisch, wo ein junges Paar gerade bezahlte. »Waren Sie zufrieden, hat alles gepasst?«, fragte er sie. Die beiden waren voll des Lobes. Wu kehrte zu seinem Geschäftsführer zurück: »Alles okay.« Der Angestellte atmete hörbar auf und verneigte sich mehrfach. Chan verließ das Lokal und machte sich auf den Weg zum nächsten. Er überquerte den Rathausplatz, bog rechts in die 64
Theresienstraße ein und gelangte nach kurzer Zeit zur Tetzelgasse. Der Chinese hielt inne, holte Feuerzeug und Zigaretten hervor. Er drehte sich gegen den Wind. Dabei bemerkte er einen Mann, der schnell hinter einem Kastenwagen abtauchte. Die Zigarette brannte. Chan wandte sich wieder um. Verfolgte ihn der Typ? Vielleicht war das ja sogar der Reifenstecher. Bei dem Gedanken musste der Chinese lächeln. Dann drohte ihm keine Gefahr. Er war dennoch auf der Hut. Wu hatte eine Menge Feinde. Aber welcher erfolgreiche Geschäftsmann hatte die nicht, tröstete er sich. Wu erreichte den Maxtorgraben. Erneut drehte er sich um. Keine Spur von einem Verfolger. Zweihundert Meter trennten ihn noch von seinem Lokal Peking. Er lief auf das rote Licht zu. Er stoppte bei einem Mann, der zusammengesunken auf einer Bank saß. »Helfen Sie mir, ich habe einen Schwächeanfall«, meinte der Mann mühsam. Chan zögerte. Das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Andererseits: Wenn er dem Kerl half, konnte man vielleicht morgen die Presse einschalten und einen Bericht über ihn, den Lebensretter, machen. Prima PR. »Okay, ich bring Sie zu dem Restaurant da. Dort wird man Ihnen weiterhelfen.« Chan griff dem Mann unter die Arme. In dieser Sekunde spürte er einen stechenden Schmerz im Herzen. Er fuhr zurück. In der Hand des anderen lag eine große Spritze. »Was haben Sie –« Chan wurde schwarz vor Augen. Er stolperte, fiel. Blitzschnell war der Mann über ihm, schleifte ihn zu einem Auto. Chan wurde auf die Rückbank verfrachtet. Das Nächste, was der Chinese verschwommen wahrnahm, waren die kalten Augen eines Fremden, der sich über ihn beugte. Wu versuchte sich zu bewegen, aber das funktionierte 65
nicht. Er war wie gelähmt. Chan lag auf etwas Hartem, vielleicht einem Tisch. Er hatte Angst. Der Fremde murmelte etwas vor sich hin. Auch Wu wollte etwas sagen. Es gelang ihm nicht. »Ganz ruhig, Sie haben es gleich hinter sich«, meinte der Mann mit den kalten Augen. Chan sah ihn fragend an. »Das Leben, mein Freund. Sie haben gleich das Leben hinter sich. Heute ist ein schöner Tag zum Sterben, nicht wahr? Grüßen Sie das Schattenland von mir.« Der Chinese sah die Spritze in der Hand des Mannes. Ein glasklarer Tropfen perlte von der Spitze. Dann spürte Wu einen weiteren heftigen Schmerz in seinem Herzen. Er trat die Reise in die Finsternis an.
66
6. Bruno Brehm drückte einige Tasten an der Stereoanlage. Dann servierte er den Tee zum Frühstück. »Hast du gut geschlafen?«, wollte er von seinem Bruder wissen. »Nein«, kam es mürrisch zurück. »Schmerzen?« »Ja.« »Soll ich dich zum Arzt bringen?« »Nicht nötig. Das bringt doch nichts.« »Unfug, du bist nur zu misstrauisch.« »Schreib mir nicht vor, was ich zu tun oder zu glauben habe.« »War nur ein Vorschlag«, sagte der Bruder schnell. Wenn Bernhard krank war, wurde er unerträglich. Es wunderte Bruno selbst manchmal, dass er es noch mit diesem Muffel aushielt. Doch eine Trennung kam für die beiden nicht in Frage. Sie waren am gleichen Tag geboren worden, Bernhard zwanzig Minuten früher als sein Bruder. Sie waren gemeinsam aufgewachsen. Die Kindheit, die Schule, die Studienzeit – nie waren sie getrennt gewesen. Auch im Berufsleben blieben die beiden zusammen. Sie hatten auch das gleiche Hobby, die ungewöhnlich ausgeprägte Sammelleidenschaft. Bücher, Briefmarken, Schallplatten – alles wurde aufgehoben und archiviert. Noch nicht einmal eine Frau schaffte es, die Zwillinge auseinander zu dividieren. Bruno und Bernhard hatten ihre kleinen Affären, aber mehr auch nicht. Immer, wenn eine Frau einen von ihnen an sich binden wollte, gingen die Brüder auf Distanz. Denn die einzig wirkliche Liebe empfanden sie füreinander. Es war eine heilige Liebe. »Der Tee ist viel zu stark«, beschwerte sich Bernhard. »Stimmt«, gab der Zwillingsbruder nach einem Schluck zu. »Ich gieße heißes Wasser nach.« Er ging in die Küche, kam mit 67
der Kanne zurück. »Elende Panscherei«, maulte Bernhard. Bruno strich ihm über den Kopf: »Heute kann man dir aber auch gar nichts recht machen.« Torsten Teppe tobte. Der Leiter der Nürnberger TOP-Redaktion zerriss den Blick in tausend Fetzen. Er warf sie in Richtung der Dreistes, die zerknirscht neben der Tür standen und ihre Fußspitzen fixierten. Wilma, die neue Sekretärin, kam mit einer Thermoskanne Kaffee. »Hier, Chef«, singsangte sie. »Raus!«, bellte Teppe. Die Pute kam auch immer im falschen Moment. »Wie, keinen Kaffee heute Morgen, Chef?« »RAUS!« Beleidigt zog die Frau von dannen. »Pfeifen, Nullnummern, Versager!«, zog Teppe über die Dreistes her. »Wie konnte der Blick das bringen und wir nicht? Erklärt mir das! Und zwar in den nächsten fünf Minuten. Ich krieg nämlich gleich meinen Anschiss von der Zentralredaktion in Hamburg. Also brauche ich eine verdammt gute Entschuldigung!« »Manchmal spielt auch Glück eine Rolle«, versuchte sich das Dreiste-Männchen. »KOMM MIR NICHT MIT SO EINEM MIST, HERMANN! EIN BLATT WIE TOP KANN SICH NICHT AUF GLÜCK VERLASSEN!« »Vielleicht stimmt die Sache ja gar nicht«, unternahm Dreiste einen zweiten Versuch. »Wenn schon, sie liest sich jedenfalls sehr gut. Scheiß auf die Wahrheit! So brauche ich den Chefs in Hamburg nicht zu kommen.« »Die Bullen geben nachher wieder eine Pressekonferenz. Vielleicht hören wir da was Neues.« 68
Wenn Teppe statt seines Kopfes einen Wasserkessel auf den Schultern getragen hätte, wäre dieser jetzt übergekocht: »WAS ERZÄHLST DU DA FÜR EINEN STUSS? WAS NEUES? WOZU SIND PRESSEKONFERENZEN DENN DA, DU ROHRKREPIERER?« »Wir liefern Ihnen was, darauf können Sie sich verlassen«, meinte Dreiste kleinlaut. »Da bin ich ja mal gespannt. Ihr habt zwei Möglichkeiten: Gebt Bachmanns Text der Lächerlichkeit preis. Macht ihn fertig. Erschüttert die Glaubwürdigkeit seines Mist-Blattes. Zerfetzt den ganzen Artikel. Oder bringt mir einen Exklusivbericht, in dem wirklich was Neues steht. Keinen Quark von der PK. Das wird morgen in allen Blättern stehen. Ich will was Exklusives, TOPmäßiges. Haben wir uns verstanden?« Die Dreistes nickten matt. »Und jetzt Abflug!«, blaffte der Redaktionsleiter. Die Reporter dackelten hinaus. »Wilma!«, schrie Teppe. Die Sekretärin stürzte in den Raum. »Was gibt’s?« »Na was wohl, um diese Uhrzeit?« Wilma zuckte mit den Schultern. »Kaffee, verdammte Hacke!« »Aber gerade haben Sie noch keinen haben wollen!«, begehrte die Sekretärin auf. »Ja, gerade. Aber wir leben in der Jetzt-Zeit. Wir sind hier bei TOP. Da geht es ratzfatz. Da werden Entscheidungen revidiert, innerhalb von Sekunden. Je nach Bedürfnis. Dann muss es fluppen. Du bist hier nur ’ne Patrone in einem Schnellfeuergewehr. Und jetzt habe ich Kaffeedurst, kapierst du das, ja?« Eine Minute und dreiunddreißig Sekunden später stand der Kaffee vor Teppe. »So ist’s brav«, meinte er. »Noch was: Stell keine blöden Fragen mehr, okay?« 69
Wilma sah ihn erschrocken an. »Sprich nur noch, wenn ich dich etwas frage. Sonst bist du morgen draußen.« Wilma war die Sklavin einer Zeitarbeitsfirma, es war leicht, sie loszuwerden. »Ja, Chef.« In diesem Moment schellte das Telefon. Teppe langte zum Hörer. Eine andere Sekretärin war in der Leitung. Aus Hamburg. »Die Chefredaktion wünscht Sie zu sprechen. Ich stelle durch«, hörte der Lokalfürst. Er zuckte zusammen. Franz-Josef Todt. Zwei Millionen brutto, mindestens. Zeilen-Titan. Geschieden. Porsche. Als junger TOP-Reporter angeschossen im Kongo. Zwei Kinder im Internat. Nichtraucher, Nichttrinker. Näschen für Big Storys. Immer im Dienst. Cholerisch. Grünen-Hasser. Brillanter Partygast, eloquent, viersprachig. Berufsmotto: Einer guten Schlagzeile stehen nur zwei Dinge im Weg – die Wahrheit und ein Kollege, der zu viel recherchiert. Und jetzt rief der Todt-Gott Teppe an. »Wie lange machen Sie diesen Job schon?«, wurde Teppe gefragt. »Gut zwanzig Jahre.« »Wollen Sie ihn noch lange machen?« Ruhig und professionell klang die Stimme am anderen Ende. Teppe knabberte an seiner Unterlippe. »Sicher«, meinte er schließlich zaghaft. »Das liegt an Ihnen, Herr Teppe. Wenn wir in Ihrem Verbreitungsgebiet erneut derartig vorgeführt werden, sollten wir uns über Ihre Zukunft in unserem Hause unterhalten. Haben Sie schon mal in der Leserbriefredaktion gearbeitet?« Die Leserbriefredaktion! Hier stöpselten nur die Unfähigsten der Unfähigen herum. Die mussten lediglich das Gesülze der lieben Leser zusammenkürzen. »Äh, nein.« »Würde Sie diese Aufgabe denn reizen?« 70
»Mit Verlaub: nein.« »Gut, ich sehe, wir haben uns verstanden. Wir werden nie wieder so vorgeführt. Nicht TOP.« Es knackte in der Leitung. Teppe sackte in seinem Stuhl zusammen. Das war mehr als deutlich gewesen. Den Rüffel hatte er nur deshalb bekommen, weil er ausschließlich von Nieten umgeben war. Auch Wilhelmi war wütend. Immer diese undichten Stellen im Präsidium! Alle Fahndungsmaßnahmen wurden ad absurdum geführt, wenn irgendein bestechlicher oder frustrierter und damit mitteilsamer Kollege diesen Aasgeiern von den Medien etwas steckte. Als er die Schlagzeile der heutigen Blick-Ausgabe gesehen hatte, hätte ihn fast der Schlag getroffen. Nachdem er sich beruhigt hatte, war der Erste Hauptkommissar in die Offensive gegangen und hatte die Pressekonferenz anberaumt. Wenn er jetzt gemauert hätte, wäre die Situation weiter aus dem Ruder gelaufen. Nichts war schlimmer als Gerüchte, die sich unkontrolliert vermehrten und wucherten wie ein bösartiges Krebsgeschwür. Seit sieben Uhr wurde die Pressestelle mit Medienanfragen aus ganz Deutschland, aber auch aus Österreich und den Niederlanden bombardiert. Der ›Kannibale‹! So ein Quatsch, fluchte der Mordermittler. Es hatte vor zwei Jahren einen Fall in Düsseldorf gegeben, auf den dieser Begriff weitaus eher zugetroffen hätte. Wilhelmi hatte inzwischen auch diese Akte studiert und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es kaum Parallelen gab. Bei dem Nürnberger Kannibalen handelte es sich jedoch um eine Fantasiegeburt des Blick-Reporters Frank Bachmann. Es wurde Zeit, diesen Unfug aus der Welt zu räumen. Er bestellte Pressesprecher Gruber zu sich. Sie steckten die Taktik ab, mit der sie den Medien auf der gleich stattfindenden Konferenz begegnen wollten. »Das wird ein heißer Tanz«, glaubte Gruber. 71
»Mit Sicherheit.« Der Andrang war schier unglaublich. Die Beamten hatten den größten Konferenzraum des Präsidiums gewählt, aber auch der reichte nicht aus. Gruber verteilte die Presseerklärungen, schaffte Mehrfachsteckdosen heran, richtete die Mikrofone vor Wilhelmi aus. Er schwitzte. Bachmann und Heiner genossen den Rummel. »Echt klasse!«, rief der Fotograf. »Hast du schon die Gesichter der Dreistes gesehen?« »Logo. Die sind ziemlich erledigt.« »Im Moment jedenfalls. Aber unterschätze die nicht.« »Kein Sorge.« Gruber begann fast pünktlich. Er begrüßte die Anwesenden, um dann schnell dem Ersten Hauptkommissar das Wort zu erteilen. Wilhelmi skizzierte kurz einen Teil des aktuellen Ermittlungsstandes. Er gab zu, dass dem Opfer Organe entnommen worden seien. »Wie kann man sich das vorstellen?«, wollte jemand wissen. »Die Organe, es handelt sich um die Nieren, wurden fachmännisch herausgetrennt, eine Nephrektomie«, erklärte der Mordermittler. Bachmann spitzte die Ohren. ›Fachmännisch‹, das war auch ihm neu. Er musste mit Pia über die Sache reden. Ihr Vater war Pathologe. Der konnte ihm in puncto Nephrektomie sicher helfen. »Gibt es Hinweise auf Kannibalismus?«, fragte Dreiste. »Nein.« Der TOP-Mann strahlte. Eins zu null im Rückspiel. »Haben Sie die Leichenteile bereits gefunden?«, hakte Bachmann ein. »Nein.« 72
»Wie können Sie dann Kannibalismus völlig ausschließen?« Es war totenstill im Raum. Wilhelmi wand sich auf seinem Stuhl. Endlich meinte er: »Streng genommen können wir das nicht.« Dreiste verzog das Gesicht. Der Ausgleichstreffer. Der TOPMann überlegte. Er konnte Bachmanns Story nicht mehr lächerlich machen. Dreiste brauchte also einen Knüller, etwas Exklusives. Der Reporter nickte seiner Frau zu. Geräuschlos verließen die beiden die Konferenz. »Ermitteln Sie in Richtung Organhandel?«, wollte Frank wissen. »Ja, auch diese Spur überprüfen wir.« Zurück in der Redaktion rief Frank sofort Pia an. »Ich müsste mal mit deinem Vater sprechen!« »Warum?« »Er ist doch Pathologe. Dem toten Chinesen wurden die Nieren laut Polizei fachmännisch herausgetrennt. Ich würde gerne wissen, was man dafür können muss.« »Dann bist du bei ihm genau richtig. Soll ich ihn vorwarnen, dass du kommen willst?« »Wäre nett. Danke. Und die Einladung zum Essen steht trotzdem?« »Wenn du nicht zu lange bei meinem Daddy hockst.« »Okay, ich werde mich beeilen.« Fünf Minuten später meldete sich Pia wieder. »Gebongt. Papa erwartet dich gegen sieben.« Frank lief hinunter in den Keller der Redaktion. »Bruno oder Bernhard?«, fragte er, als der Archivar vor ihm stand. Der Mann deutete lächelnd auf sein blaues Sweatshirt. »Mein Gott, bin ich blind«, entschuldigte sich der Reporter. »Hallo, Bernhard. Geht es dir wieder besser?« 73
»Na ja, so einigermaßen.« »Fein, magst du mir bei einer Recherche helfen?« »Klar, schieß los: Worum geht’s?« »Ich brauche alle Infos über Organhandel.« »Kein Problem, da haben wir eine ganze Menge.« Zehn Minuten später. Die Augen des Archivars leuchteten: »Hier, alles was du brauchst!« Er legte Frank ein Bündel mit Zeitungsausschnitten vor. »Alles über das Thema Organhandel.« »Danke!« Bachmann setzte sich an einen großen Tisch und begann die Unterlagen zu studieren. Schnell kristallisierte sich China als ein Zentrum des organisierten Organhandels heraus. Aber auch Indien wurde immer wieder genannt. Einem Bericht der Mitteldeutschen Zeitung vom 12. Mai 1998 entnahm Frank, dass eine indische Privatklinik im großen Stil mit Organen gehandelt hatte. Die Opfer wurden mit der Aussicht auf Jobs im Ausland in die Klinik in Noida in der Nähe der Hauptstadt Neu-Delhi gelockt. Dort sollten sie untersucht werden, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Die ahnungslosen Opfer wurden nach Ermittlungen der Polizei betäubt und operiert. Die Empfänger hätten mehr als 500.000 Rupien (20.000 Mark) pro Transplantation bezahlt. Die Polizei geht von 400 Fällen in den vergangenen beiden Jahren aus. Zehn Beschuldigte wurden festgenommen, darunter der Betreiber der Klinik, zwei Ärzte und ein Polizist. Die Ermittlungen waren in Gang gekommen, nachdem ein Opfer in der vergangenen Woche Anzeige erstattet hatte. Nach Angaben der Zeitung ›Asian Age‹ suchten Angestellte der Klinik in den Armenvierteln der Altstadt systematisch nach möglichen Opfern. Der Organhandel ist in Indien mittlerweile verboten. Organspenden sind aber erlaubt, so dass die Ermittlungen oft schwierig sind. Bachmann kopierte sich den Bericht. Dann forschte er weiter. 74
Ein Artikel im Bonner Generalanzeiger fesselte ihn. Unter der Headline Organhandel als Devisenquelle las er: Washington – Chinesische Menschenrechtler liegen der Regierung Clinton seit Jahren in den Ohren, Druck auf die Regierung in Peking auszuüben. In chinesischen Gefängnissen sei es an der Tagesordnung, Menschen zu exekutieren und ihnen sofort die Organe zu entnehmen. Ein Augenzeuge beschrieb die Praxis, die Erschossenen hinten aufzuschneiden und ihnen zuerst die Nieren zu entnehmen. Operations- und Dialysegeräte seien aus den USA und auf dem neuesten Stand. Zum Teil dienten die Organe als Devisenquelle, zum Teil würde sie aber auch an die Triaden verkauft. Als Zeugen nannten die Bürgerrechtler einen Mann namens Wu Chan, der selbst Mitglied der chinesischen Mafia war, diese jedoch verließ und gegen sie aussagte. Eine Dokumentation des amerikanischen Fernsehsenders NBC untermauerte seine Behauptung, China betreibe einen blühenden Handel mit den Organen von Hingerichteten, erklärte der Sender. Frank schwitzte vor Aufregung, er verschlang die Zeilen. Wu Chan brachte den Stein ins Rollen, als er sich am 13. Februar in einer Suite des San Carlos Hotels in Manhattan mit Cheng Yong Wang traf und das Gespräch mit einer versteckten Kamera aufnahm. Chan gab sich als Direktor eines DialyseZentrums aus und zeigte Interesse an frischen Nieren. Wang wies sich aus als (vorübergehend beurlaubter) Staatsanwalt aus der Hainan-Provinz und bot nicht nur Nieren, sondern auch Lebern, Bauchspeicheldrüsen, Lungen, Haut und Korneas an. An Spendern sei kein Mangel: Auf der Insel Hainan würden im Jahr 200 Menschen hingerichtet; mindestens 50 von ihnen könnten ausgeschlachtet werden, garantierte Wang. Chan garantierte seinerseits seinem Gegenüber zum Schein schriftlich 25 Prozent Provision für jede Nierentransplantation, für die 75
amerikanische Patienten in China 20.000 bis 30.000 Dollar zu zahlen hätten, weit weniger als in den USA. Mit dem Videoband ging Chan zum FBI. Die Bundespolizei zapfte Wangs Telefonleitung an und stellte ihm eine Falle, in die auch ein vermeintlicher Mitverschwörer geriet: Xingqi Fu, der im Ortsteil Queens eine kleine Wäscherei betreibt. Er offerierte beim Treffen mit einem als medizinische Fachkraft getarnten FBI-Agenten absolut nikotinfreie Lungen von Nichtrauchern. Chan habe sich im Anschluss an die Aktion nach Deutschland abgesetzt, wo er inzwischen mehrere Restaurants betreibe, erfuhr Bachmann weiter. Auch diesen Bericht kopierte er. Hatte das Mordopfer Xiao Deng mit der Organmafia zu tun gehabt? Er musste mehr über Deng herausfinden. Der Kaufmann hatte in Würzburg gelebt, erinnerte sich der Reporter. Dort hatte der Blick einen freien Mitarbeiter, Roland Wassmer. Frank bedankte sich bei Brehm und lief zu seinem Telefon. Er erreichte Wassmer sofort. Der freie Mitarbeiter versprach, die Spur von Deng zu verfolgen. Bachmann kümmerte sich um Wu Chan. Wenn er in Deutschland lebte, dann würde ihn der Reporter aufspüren. Er legte eine CD-ROM in das Laufwerk seines PCs. Auf dem Silberling waren so gut wie alle Namen und Adressen der in Deutschland lebenden Personen gespeichert. Frank gab das Suchkriterium ›Wu Chan‹ ein und starrte gebannt auf den Bildschirm. Sekunden später spuckte der PC acht Wu Chans aus. Bachmann überprüfte die Adressen – und erstarrte. Einer der Männer lebte in Nürnberg! Hastig notierte sich Frank die Adresse. Er rief dort an. Eine Frauenstimme meldete sich: »Ja?« »Bachmann vom Blick. Ist Ihr Mann zu sprechen?« 76
»Nein, tut mir Leid.« »Wo kann ich ihn denn erreichen? Hat er vielleicht eine Handynummer?« »Die darf ich Ihnen nicht so ohne weiteres geben. Wer sind Sie noch mal?« »Frank Bachmann von der Blick-Redaktion. Ich recherchiere in einem Fall, bei dem mir Ihr Mann vielleicht weiterhelfen könnte. Es geht um illegalen Organhandel. Und da gibt es einen ausgewiesenen Experten namens Wu Chan. Ich vermute, dabei handelt es sich um Ihren Mann.« Ein kurzes Zögern, dann: »Ja, mein Mann kennt sich auf diesem Gebiet aus.« Der Reporter atmete auf. Treffer! »Wann erwarten Sie ihn denn wieder zu Hause?« Eine erneute Pause entstand. Dann sagte die Frau: »Eigentlich seit gestern Nacht schon. Aber er ist nicht gekommen. Ich weiß nicht, wo er ist. Vielleicht hat er in seinem Büro übernachtet. Das kommt schon mal vor.« »Kann ich die Telefonnummer vom Büro haben?« »Sie wird Ihnen nichts nützen. Ich habe es selbst vor fünf Minuten dort probiert. Niemand hob ab.« »Und über Handy?« Der Polizeireporter ließ nicht locker. »Auch nichts.« »Wollen Sie nicht die Polizei einschalten?« »Nein, noch nicht. Ich warte bis heute Abend«, meinte die Frau kühl. »Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer. Sobald sich Ihr Mann meldet, soll er mich bitte anrufen.« Zwei Stunden später erreichte er Wassmer: »Was hast du über Deng herausgefunden?« »Nicht sehr viel. Der lebte ziemlich zurückgezogen, berichten die Nachbarn.« »Wie lebte er?« »Ganz normal in einer Mietwohnung. Drei Zimmer, etwa 77
achtzig Quadratmeter. Deng war ledig. Er besaß zwei Katzen. Um die kümmert sich jetzt das Tierheim. Deng betrieb ein Fachgeschäft für Aquaristik, er hatte zwei Angestellte. Die beschreiben ihn als ruhig, höflich und korrekt.« »War er in irgendwelchen Vereinen?« »Nicht, dass ich wüsste.« »Hobbys?« »Aquaristik und die beiden Katzen. Und einmal im Monat ging er ins Theater. Er hatte ein Abo.« »Auto?« »Toyota Corolla, weiß.« »Gut, danke. Ich lass dir ein Informationshonorar anweisen.« Frank sprach mit Brockmüller. »Kein großes Programm, Kollege«, meinte der Chef. »Vierzig Zeilen Hintergrund über diesen Deng. Das müsste reichen.« Die Konkurrenz des Blick schlief nicht. Schon gar nicht Hermann Dreiste, der mit seiner leergesichtigen Frau am Hauptbahnhof auf der Lauer lag. Nach zwei Zigarettenlängen hatte der TOP-Reporter das, was er wollte. Zwei Asiaten, etwa dreißig Jahre alt, die durchaus Chinesen sein konnten. Die beiden Männer studierten einen Stadtplan, waren mit schweren Kameras behängt. Hundertprozentig Touristen, die den Weg zur Burg suchten. Umso besser, dachte Dreiste und gab seiner Frau ein Zeichen: »Mach Portraits von den beiden. Aber sie dürfen nicht lachen.« Der TOP-Mitarbeiter begrüßte die Ausländer freundlich. Sie sprachen kein Wort Deutsch, also versuchte es Dreiste mit Erfolg auf Englisch. Er erklärte ihnen, wie sie zur Festung gelangen würden. Und dann kam er zur Sache. Er wäre von der großen TOP-Zeitung und würde eine Umfrage machen, ob den Touristen die Stadt gefalle. Dafür bräuchte er aber bitte ihre Namen. 78
Bereitwillig gaben die beiden Auskunft. Dreiste schrieb alles mit: Name, Alter, Beruf – wie sich das gehörte. Dann bedankte er sich und schickte die beiden auf die Reise zur Burg. Als Nächstes rief der TOP-Reporter Teppe an: »Wir haben die Exklusivstory, Chef. Ich habe eine Umfrage unter den Nürnbergern gemacht. Tenor: Angst, Angst, Angst. Wer ist der Nächste? Was sagen Sie jetzt?« »Fotos?« »Ja. War aber gar nicht so einfach. Die Leute haben wirklich massiv Angst. Zwei Asiaten haben sich fotografieren lassen, die offen zu ihrer Angst stehen.« »Chinesen? Ausländer. Damit hat der Leser kein Mitleid.« »Wie bitte?« »Vergiss es. Wenn wir nichts anderes haben, bringen wir halt die Gelben. Sechzig Zeilen, zwei Fotos. Dazu das Gesummse von der Pressekonferenz. Aber kein Gelaber!« »Okay, bis gleich.« Um Viertel vor sieben sprang Frank in seinen Polo und brauste zu Pias Vater, dem Pathologen. Dr. Pascal Ferenci reagierte ungehalten auf das Klingeln an der Tür. Er hatte Bachmanns Besuch glatt vergessen. Der Arzt schaute sich gerade auf Video die Highlights der letzten Bundesligasaison an. Nur so überstand Ferenci die Winterpause ohne gravierende Entzugserscheinungen. Der Arzt beschloss, das Gebimmel zu ignorieren, und drehte den Lautstärkeregler des Fernsehers höher. Frank drückte ein Ohr an die Tür. Keine Frage, da war jemand zu Hause. Klang nach einer Sportübertragung. Der Redakteur fischte sein Handy aus der Brusttasche und wählte Ferencis Nummer. Genervt hob der Pathologe ab. »Mmh?«, brummelte er in den Hörer. 79
Bachmann hörte die Stimme eines Sportkommentators und johlende Fans. »Pascal?«, brüllte er ins Telefon. »Nicht so laut, was ist denn?«, kam es unwirsch zurück. »Ich bin’s, Frank. Wir waren doch verabredet!« »Ach ja, Pardon. Wo bist du?« »Vor deinem Haus.« »Ups, das ist ja peinlich. Ich werde sofort öffnen.« Der Summer ertönte und Frank drückte die Tür auf. Er fühlte sich, als würde er ein voll besetztes Stadion betreten. Der Lärm wies ihm den Weg ins Wohnzimmer. Dort saß Pascal Ferenci kerzengerade auf einem spartanischen Holzstuhl und starrte auf die Glotze. »Hallo!«, rief Frank. »Psst!«, machte der Arzt. »Ich–« »Psst! Nun sei doch still. Jetzt kommt doch der Freistoß von Basler, dieses angedrehte Ding genau in den Winkel.« »Ach so.« »Setz dich irgendwo hin, ich bringe dir gleich auch was zu – Mein Gott, hast du das gesehen? Fast aus dem Stand macht der den Ball rein. Unglaublich, phänomenal, göttlich. Da gab’s nichts zu halten.« Bachmann hockte sich auf die Couch. »Und jetzt, aufgemerkt. Langer Ball von Matthäus zu Elber«, kommentierte der Arzt. »Das muss dich doch begeistern, als Reporter! Sieh doch mal, was der mit dem Ball macht, dieser Zauberer vom Zuckerhut. Rechte Täuschung, linke Täuschung, jetzt der Tunnel durch die Beine – ach, der macht sie alle nass. Und jetzt der Abschluss. Er dringt in den Strafraum ein, spielt den Torwart aus und dann der elegante Schlenzer ins Netz, eine Augenweide. Der Junge ist eine Granate.« »Pascal, würde es dir –« »Psst! Jetzt kommt die beste Szene. Der Fallrückzieher von 80
Marschall. Da, da kommt der Ball angeflogen. Butterweiche Flanke von Buck, genau getimt. Marschall, mit dem Rücken zum Tor, lässt den Ball auf der Brust abtropfen und dann, dann zimmert er ihn in die Kiste. Herrlich! Wenn wir so einen mal nach Nürnberg zum Club holen könnten.« Die Augen des Arztes glänzten. So ging es noch zwanzig Minuten weiter. Dann kam endlich der Abspann. »Gucke ich immer wieder gern«, meinte Ferenci, während er die Kassette seufzend wegpackte. »Das glaube ich dir gern.« »Na ja, diese fußballfreie Zeit ist etwas Schreckliches«, erklärte der Doktor. »Willst du ein Bier oder ein Glas Wein?« »Bier, gerne.« Ferenci kam mit einem Tablett zurück: »Was führt dich eigentlich zu mir? Du hast doch hoffentlich keinen Ärger mit Pia?« »Nein, ganz im Gegenteil. Wir verstehen uns nach wie vor wunderbar. Es geht um etwas anderes: den Mord an dem Chinesen.« »Ach so. Komische Sache. Im Radio hörte ich vorhin, dass man dem Opfer Organe entnommen hat.« »Genau deswegen bin ich hier.« Ferenci runzelte die Stirn: »Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Ich habe diese Leiche nicht auf den Tisch bekommen.« »Das macht nichts. Fakt ist, dass die Organe fachmännisch entnommen wurden. Könnte das theoretisch auch ein Nichtmediziner bewerkstelligen?« Ferenci schüttelte den Kopf: »Völlig ausgeschlossen.« »Also ist der Täter vermutlich Arzt.« »Davon würde ich ausgehen, das liegt nahe.« »Ja, dachte ich mir.« Frank nahm einen Schluck. »Nächste Frage: Welche Ausstattung braucht man, um die 81
Organe herauszuschneiden? Braucht der Täter eine Art Operationssaal?« »Ja, unbedingt. Wo wurde die Leiche noch mal gefunden?« »In einer Grünanlage.« »Dann gehe ich davon aus, dass das Opfer woanders getötet wurde.« »So sieht es auch die Polizei.« Nachdenklich fuhr Frank nach Pleinfeld. Für morgen hatte er eine gute Weiterdrehe zu seinem Fall. Er würde den Lesern mitteilen, dass der Mörder vermutlich ein Arzt war. Dr. med. Mord. Ein Doktor als Kannibale. Klang gut. An dem Begriff ›Kannibale‹ konnte der Blick so lange festhalten, bis die Polizei die Organe fand. Bachmann stoppte den Wagen und rief noch einmal bei der Familie Chan an. Ihr Mann sei noch nicht aufgetaucht und habe sich auch nicht gemeldet, sagte seine Frau. »Schalten Sie die Polizei ein«, riet Frank. Er hatte ein ungutes Gefühl. »Das habe ich schon.« Der Reporter versuchte zu entspannen. Er schob eine Kassette mit der Musik von Deep Purple in den Rekorder. Die Ballade »When a blind man cries« wärmte Bachmanns Herz. Versonnen trommelte er auf dem Lenkrad mit. Vor ihm tauchte Pleinfeld auf. Malerisch lag das Städtchen vor ihm. Die Felder waren mit einer dünnen Schneeschicht gezuckert, die im Mondlicht glänzte. Frank holperte über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße. Der Straßenbelag in dem Ort war wie die gesamte Verkehrssituation ein absolutes Politikum. Bachmann war keine andere Stadt bekannt, in der so verbissen um Vorfahrtsregelungen, Verkehrsberuhigung, Stoppschilder und Bepflasterungen gerungen wurde wie in der 7000-Seelen-Gemeinde inmitten des 82
dünn besiedelten wie schönen Fränkischen Seenlandes. An der zentralen Kreuzung mit den beiden Metzgereien, einem Bäcker, zwei Banken und einem Gasthaus, bog Frank links ab und erreichte den Parkplatz des Lokals Blauer Bock. Er erkannte Pias smaragdgrünen Mini Cooper. Als er sie an einem der Tische entdeckte, beglückwünschte sich der Reporter zum hunderttausendsten Mal. Er küsste sie zur Begrüßung und wusste, dass in diesem Moment alle Augenpaare im Restaurant auf sie gerichtet waren. »Wie war’s bei meinem Papa?«, wollte die Feuilletonistin wissen. »Gut. Er hat das bestätigt, was ich vermutet habe. Der Täter muss ein Fachmann sein. Ein Arzt.« »Gruselige Vorstellung. Du glaubst also, dass da ein irrer Doktor herumläuft und die Menschen meuchelt?« Frank gab dem Kellner ein Zeichen. »Langsam, es gab ja nur einen Toten«, schwächte er ab. »Außerdem halte ich es für wahrscheinlicher, dass die Organmafia dahinter steckt.« »Wenn man deinen Artikel liest, sieht es aber eher nach einem Kannibalen aus.« Frank sah sie überrascht an: »Was soll das? Wir sind doch nicht bei den Nürnberger Nachrichten angestellt, oder? Außerdem stammt die Headline von Brocki.« »Aber dein Bericht war schon reichlich spekulativ.« Der Kellner kam. Bachmann bestellte ein Bier und den unschlagbaren Franken-Toast. Pia orderte einen Salat. »Ich weiß nicht, was diese Diskussion soll«, meinte Bachmann, als der Kellner weg war. »Wir leben von diesen Schlagzeilen.« »Und nicht von meinen Kulturkritiken, das willst du damit doch sagen.« Frank hob hilflos die Hände: »Nein, das ist doch Quatsch. Du weißt genauso gut wie ich, dass die Mischung des Blattes 83
entscheidend ist. Das macht den Blick so stark. Die Politikthemen, deine Kultur, meine Mordgeschichten.« »Okay, vergessen wir’s. Aber zieh meinen Vater nicht mit rein.« »Ich werde ihn morgen zitieren. Er ist damit einverstanden.« »Dann kürze wenigstens seinen Namen ab.« »Von mir aus.« Er nahm ihre Hand, sah in ihre Augen. »Können wir uns nicht über etwas anderes unterhalten?« »Klar. Vorschlag?« »Das Dessert.« Pia beugte sich vor: »Was?« Frank inhalierte ihr Parfum. »Das Dessert«, wiederholte er mit geschlossenen Augen. Der Mann stoppte den Kombi vor dem Eingang zum Park. Der Platz war ideal, glaubte er. Eine besonders dunkle Ecke im anonymen Nürnberger Stadtteil Eibach. Er kontrollierte die Rückspiegel. Niemand zu sehen. Er verließ den Wagen. Kalt traf ihn der Wind. Er öffnete die Heckklappe. Der Tote lag in einem schwarzen Plastiksack. Der Mann wollte ihn gerade herausziehen, als er eine Stimme vernahm. »Ganz schön ungemütlich heute Nacht, nicht wahr?« Der Mann schlug die Klappe zu, schoss herum. Eine zierliche Frau stand vor ihm, die einen Dackel spazieren führte. »Ja, allerdings.« »Aber mein Rüdiger von Hohenlohe kennt da kein Pardon«, meinte die Frau. »Rüdiger von was?« »Mein Hund. Aber ich nenn ihn nur Rüdi. Gell, mein Rüdilein?« Sie streichelte den Kopf des Tieres. »Klar, Rüdilein muss raus, völlig klar.« Der Mann beschloss, die Frau zu töten, wenn sie ihn noch länger aufhielt. In der Innentasche seines Mantels steckte eine Spritze. 84
»Haben Sie auch einen Hund, der noch mal raus muss?« Der Mann griff in seinen Mantel. »Nein.« »So, was ist es dann? Nicht die Zeit für einen Spaziergang eigentlich …« »Für mich schon, ich liebe solche Nächte.« Er hatte die Spritze in der Hand. »Wirklich? Ich kann der Kälte nichts Romantisches abgewinnen.« »Das ist es auch nicht.« »Ja? Wie dem auch sei.« In diesem Moment zog Rüdiger von Hohenlohe, genannt Rüdi, an der Leine. »Na so etwas, der kleine Kerl muss aber wirklich dringend. Auf Wiedersehen«, meinte die Alte. Seine Hand, die die Spritze umkrampft hatte, lockerte sich. Er wartete, bis die Frau außer Sichtweite war. Dann öffnete er erneut die Heckklappe des Wagens und zog den Toten an den Füßen heraus. Hart prallte Chans Körper auf den Asphalt. Hektisch sah sich der Mann um. Dann schulterte er die Last und lief in den Park. Er fand eine kleine Lichtung, die mit Moos bewachsen war. Der Mann rollte den Toten aus dem Sack und bettete ihn auf das Grün. Chans Brust war eine einzige offene Wunde, ein Krater. Leer starrten seine Augen zum Himmel. Zitternd schloss der Mann Chans Lider und drehte ihn auf den Bauch. Dann nahm der Mann den Sack und rannte aus dem Park und sprang in seinen Kombi. Dort atmete er tief durch. Die Scheibe beschlug und er kurbelte das Fenster herunter. »Rüdi!«, hörte er die Frauenstimme. »Was ziehst du denn so?« Aufgeregtes Kläffen erklang. Der Mann spähte hinaus. Sein Herz pochte laut. Die Frau, der kleine Hund, schemenhaft. Sie verschwanden auf dem Weg, den der Mann gerade genommen hatte. Seine Gedanken rasten. Er stieg aus. Ihm war schwindelig. Er folgte der Frau. »Rüdiii! Rüdiii! Nun zerr doch nicht so!« 85
Der verdammte Köter führte sein Frauchen genau zu der Leiche! Der Mann sprintete los. Er erreichte die Frau in dem Moment, als sie den Toten sah. Er erstickte ihren Schrei, indem er ihr den Mund zuhielt. Sie wehrte sich, schlug um sich. Der Hund bellte wie verrückt. Dem Mann gelang es, den linken Arm wie einen Schraubstock um die schmale Frau zu legen. Mit der anderen Hand riss er die Spritze aus seiner Jacke. Der Hund schnappte zu, erwischte den Schuh des Angreifers. Der schüttelte das Tier ab, trat ihm mit aller Kraft vor den Kopf. Rüdiger jaulte auf, taumelte in ein Gebüsch. Dann jagte der Mann die Spritze in die Brust der Frau. Einmal, zweimal, dreimal – er stach wie von Sinnen zu, bis der Körper in seinem Arm erschlaffte. Er ließ die Tote fallen und zog sie unter einen Busch. Schwer atmend lehnte er sich gegen einen Baum. Der Dackel kroch aus dem Gebüsch, winselte. Vorsichtig näherte er sich seinem Frauchen. Der Mörder beugte sich zu dem Tier hinab. Er streichelte seinen Kopf. Der Dackel schaute ihn mit großen Augen an, zog den Schwanz ein. Er drückte seine feuchte Nase an den Mann und schnüffelte. Der Mann lächelte schwach. Dann brach er dem Hund das Genick.
86
7. Bachmann hatte die Brötchen besorgt. Und die TOP-Zeitung. Pia saß ihm in einem Hauch von Nachthemd gegenüber und trank Kaffee. Frank blätterte zur Seite drei, wo TOP in der Regel die lokalen Stoffe abfeierte. »O nein«, entfuhr es ihm. »Was ist?« Pia stand auf, lugte über die Schulter ihres Freundes. Die Headline schrie: Nürnberger in Angst vor dem Kannibalen: Wer ist der Nächste? Frank überflog den Vorspann. Dreiste hatte es vermieden, die Angst auf die Chinesen zu projizieren. Allgemeines Blabla der Güte: »Ich habe jetzt Angst, nachts nach draußen zu gehen« füllte die Spalten. Einzig die Fotos von den beiden Asiaten verliehen dem Bericht ein wenig Authentizität. »Peinlich«, kommentierte Frank. »Eine reine Luftnummer. Ich werde die Namen der beiden Chinesen gegenchecken. Wetten, dass die gar nicht aus Nürnberg stammen?« Der Blick-Mann kannte die Tricks der Branche. Dreiste war blank gewesen und hatte die alte Angstnummer aus dem Hut gezaubert. Der Morgen war noch eisiger als die letzten. Die Kälte nagte sich in die Gesichter der beiden Journalisten auf dem kurzen Weg von Bachmanns Haus zum Parkplatz. Der Anlasser des Polos wimmerte wie eine wund geschossene Stalinorgel. »Komm schon, Kleiner«, meinte Frank. »Sollen wir nicht lieber ein Auto benutzen?«, fragte Pia. »Ich muss um zehn Uhr zur Oper. Die stellen ihr neues Programm vor.« »Ein Auto benutzen? Worin sitzen wir hier deiner Meinung nach?« 87
»In deinem Polo. Und das etwa fünfhundert Jahre alte Ding springt mal wieder nicht an«, gab sie zurück. Pia öffnete die Tür: »Gönn der Kiste ihren Winterschlaf, wir nehmen meinen Wagen.« Unwillig quetschte sich Frank auf den Beifahrersitz des britischen Automobils. »Der Polo springt sonst immer an«, beharrte er. »Sicher« sagte Pia. Der Hohn in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Als Hans-Joachim ›Hajo‹ Merten gegen sieben Uhr seine Augen aufknipste, konnte er nicht ahnen, dass heute der Tag seines Lebens angebrochen war. Der Tag, an dem er, abgesehen von seiner Geburt, für irgendjemand etwas bedeutete. Wo man auf ihn achtete, wo er wirklich wichtig war, wo man ihm zuhörte. Der Tag, an dem keiner in der Stammkneipe einen seiner gefürchteten Monologe unterbrach und sagte: »Lass stecken, Hajo, die Geschichte kennen wir schon. Zahlst du die nächste Runde?« Der Frührentner wuchtete seine 121 Kilo an seiner schnarchenden Frau vorbei zum Kleiderschrank. Charlotte grunzte ihre Träume in das selbst gehäkelte Kissen. Mit offenem Mund. Das Erwachen aus den Träumen musste entsetzlich sein. Merten zog wie üblich einen Jogginganzug an. Der Arzt hatte ihm Bewegung verordnet. Hajo tappte schwerfällig nach draußen. Gott sei Dank gab es in der Hütte einen Aufzug, der ihn nach unten brachte. Hajo schlug den Weg zum nahe gelegenen Park ein. Eigentlich sollte er joggen. Aber seine Gelenke meinten eindeutig Nein zu diesem Vorhaben. Also schlurfte Hajo gemächlich durch die heruntergekommene Grünanlage mit den kahlen Sträuchern und Bäumen. In einer Stunde wollte er zurück sein. Ob Charlotte dann munter war, voller Angst vor dem Tageslicht und mit der Enttäuschung, aufgewacht zu sein? Nein, heute wohl nicht. Denn heute war Donnerstag und da 88
traf sich Charlotte wie üblich mit ihren Freundinnen, um eine Art Wettfressen in einem Café zu veranstalten. Und wer zahlte diese Naschorgie? Er, der doofe Hajo. Na ja, so ganz stimmte das nun auch nicht. Es war eher Vater Staat, der löhnte. Missmutig stapfte er weiter. Was war denn das da im Gebüsch? Merten glaubte die Umrisse eines Tieres zu erkennen. Er sah nach. Ein toter Hund – und ein Bein, das unter einem Strauch hervorragte. Hajos Pumpe setzte für einen Moment aus. In seinem Innersten rang der Wunsch zur Flucht mit einer nagenden Neugier. Letztere behielt die Oberhand, denn Hajo würde nachher in der Kneipe was Neues zu berichten haben. Endlich mal. Vorsichtig schob Merten die Zweige auseinander. Er fuhr zurück. Eine Frau und ein Mann lagen dort. Sie auf dem Rücken, er auf dem Bauch. Jetzt begann der Dicke doch zu joggen. Er rannte zur nächsten Telefonzelle und alarmierte die Polizei. »Sei mal kurz ruhig«, bat Bachmann Heiner in der Redaktion. Der Fotograf hatte ihm gerade von seinen Vorbereitungen für Silvester berichtet. Frank lauschte dem Polizeifunk, drehte ihn lauter. »Fahren Sie zur Hinterhofstraße, Höhe Altenheim. Verdacht auf 924«, meldete die Leitstelle. Bachmanns Augen wurden groß. 924 – der Code für ein Tötungsdelikt. »Verstanden, sind unterwegs«, kam es von einer Streife zurück. Der Polizeireporter kroch fast in den schwarzen Kasten mit den krächzenden Stimmen. Eine Minute später wusste er: Zwei Tote waren gefunden worden und ein Hund. Mehrere Streifen wurden in Eibach zusammengezogen. »Los!«, rief Frank. »Hol deine Klamotten, ich gebe Brocki Bescheid.« 89
Zwei Minuten später raste der BMW des Fotografen vom Parkplatz. Sie brauchten fast eine Viertelstunde nach Eibach. Aber sie waren die ersten Journalisten vor Ort. Jede Menge Flatterband erwartete sie, fünf Streifenwagen mit Blaulicht, ein Notarzt und zwei Leichenwagen. Heiner schoss ein paar Aufnahmen aus der Totalen. Dann näherten sie sich der Absperrung. »Halt, hier dürfen Sie nicht durch«, stoppte sie ein Beamter. »Schon klar. Führt Herr Wilhelmi die Ermittlungen?«, fragte Bachmann. »Ja. Aber ich glaube nicht, dass er jetzt Zeit für Sie hat.« »Das würde ich gern selbst von ihm hören.« »Wie Sie wollen.« Der Polizist drehte sich zur Seite und funkte seinen Chef an. Kurz darauf erschien der Mordermittler. Er sah müde aus. »Sie haben mal wieder unseren Funk abgehört«, meinte er zur Begrüßung. »Aber nicht doch«, gab Frank zurück. »Erzählen Sie mir nichts.« Wilhelmi sah an ihnen vorbei. »Aber offenbar nicht nur Sie. Da sind ja auch schon Ihre Kollegen. Wir müssen unbedingt unseren Funk besser codieren.« Frank und Heiner drehten sich um. Die Dreistes rannten herbei und ein ihnen unbekanntes Kamerateam. Außerdem bremste der Wagen von Radio Gong neben den Streifenwagen. »Können wir gleich hier ’ne Pressekonferenz machen«, ächzte Wilhelmi. Er wartete, bis sich alle Medienvertreter um ihn geschart hatten. Dann fasste er zusammen: »Zweifaches Tötungsdelikt. Bei dem männlichen Opfer handelt sich um einen 49-jährigen chinesischen Geschäftsmann, der seit gestern vermisst wurde.« Wu Chan!, durchfuhr es Frank. Er schloss die Augen. »Bei der Frau handelt es sich um eine Rentnerin, 64 Jahre alt. Außerdem wurde ein Hund getötet.« 90
»Sind die Opfer verwandt oder verheiratet?«, wollte die Frau vom Radio wissen. »Nein.« »Aber die beiden müssen doch in irgendeiner Verbindung zueinander stehen.« »Möglich. Wir wissen es noch nicht.« Weitere Presseleute stießen zu der Gruppe. Inzwischen drängten sich vier Kamerateams, drei Hörfunk-Reporter und sämtliche Polizeireporter der vier Nürnberger Tageszeitungen um den Kripobeamten. »Wie wurden sie getötet?«, fragte Frank. Wilhelmi blies die Backen auf. »Die Ermittlungen sind erst im Anfangsstadium«, wich er aus. Bachmann bohrte weiter: »Aber Selbstmord schließen Sie aus?« »Ja.« »Nun sagen Sie schon: Wurden sie erschossen, erwürgt, erschlagen oder erstochen?« Das kam von Dreiste. »Gehen Sie mal von Letzterem aus.« Bachmann stellte die Frage, die alle brennend interessierte: »Wurden den Opfern Organe entnommen?« »Der Frau nicht.« »Aber dem Chinesen?« »Ja.« Ein Tumult brach aus. Alle quatschten durcheinander. Wilhelmi wollte den Krach zur Flucht benutzen, aber Dreiste feuerte ihm noch eine Frage hinterher, deren Antwort vor allem für die Boulevardleser wichtig war: »Was ist mit dem Hund? Wem gehörte der? Welche Rasse? Farbe?« »Ein deutscher Dackel. Wem er gehörte, weiß ich nicht.« Der Erste Hauptkommissar trat an Dreiste heran: »Und glauben Sie mir: Das steht auch nicht im Mittelpunkt unserer Arbeit.« 91
Frank zog sich in den BMW zurück und ordnete seine Gedanken. Als Erstes musste er überprüfen, ob das eine Opfer wirklich Wu Chan war. Wenn er Wilhelmi fragte, bestand die Gefahr, dass Dreiste & Co. etwas mitbekämen. Sein Vorsprung wäre dahin. Also rief er besser Polizeipressesprecher Gruber an. »Woher wissen Sie das schon wieder?«, stöhnte der Beamte. »Zufall. Ich habe gestern versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Vergeblich. Seine Frau meinte, dass sie ihn schon seit vorletzter Nacht vermissen würde.« Bachmann legte auf. Ein Racheakt, schoss ihm durch den Kopf. Die Organmafia hat ihn auf dem Gewissen. Aber was war mit der Frau – warum hatte sie sterben müssen? Vielleicht hatte sie den Täter überrascht …? Frank musste Informationen über sie sammeln, und zwar schnell. Denn Dreiste würde garantiert auch auf diese Idee kommen und die umliegenden Häuser abklappern. Und wo Dreiste gewesen war, hinterließ er verbrannte Erde. Schnell rief Bachmann seinen Redaktionsleiter an und setzte ihn ins Bild. »Guti-gut«, meinte Brockmüller. »Ich reserviere Ihnen die Seite eins. Wie ist die Fotolage?« »Bisher schlecht. Aber vielleicht haben wir ein Bild von Wu Chan im Archiv. Außerdem haben wir Aufnahmen vom Tatort. Gleich kann Heiner den Abtransport der Leichen fotografieren.« »Okay. Ich brauche auch noch Bilder von der Frau und dem Hund.« »Logo, wir gehen ran.« Bachmann und Heiner begannen, jeden Hundehalter zu befragen, der ihnen entgegenkam. Bei einem Mann mit Boxer hatten sie Glück. »Eine ältere Dame mit einem Dackel? Das kann nur die Heidelinde mit ihrem Rüdiger gewesen sein.« »Heidelinde und wie weiter?« 92
»Lewandowski. Sie wohnt gleich da drüben. Nummer 19. Worum geht es eigentlich?« »Kaufen Sie sich morgen den Blick. Da steht alles drin!«, entgegnete Frank. Nummer 19 war ein gepflegter Block mit vier Etagen. Davor standen zwei Polizeiwagen. »Hoffentlich brauchen die Beamten nicht so lange«, meinte Heiner gedehnt. Er zündete sich eine Zigarette an. Zwanzig Minuten später waren die Reporter an der Reihe. Sie klapperten Wohnung für Wohnung ab. Bei den ersten beiden machte niemand auf. Lewandowskis unmittelbare Nachbarin jedoch öffnete. Eine Frau Mitte vierzig. Sie trug ein Kopftuch, hielt einen Staubsauger in der Hand. »Sind Sie etwa auch von der Polizei?« Bachmann und Heiner schenkten ihr reinen Wein ein. Die Frau runzelte die Stirn: »Reporter? Na ja, ich weiß nicht.« »Dürfen wir einen Moment reinkommen?« Ein kurzes Zögern. »Na gut. Aber es ist nicht aufgeräumt.« Die Redakteure nahmen auf einem gemütlichen Sofa Platz, auf dessen Rückenlehne sich eine Unzahl von offenbar selbst genähten Stofftieren tummelte. Die Nachbarin schüttelte den Kopf: »Wenn ich das in unserem Kegelclub erzähle. Heidelinde war unsere Kassenwartin. Und der arme Rüdiger. So ein liebes Tier.« Bachmann kombinierte fix. Kegelclub bedeutete Ausflüge und Festivitäten – und die wiederum bedeuteten Fotos. Eine halbe Stunde und viele Anekdoten später lag das Foto in Heiners Händen. Es zeigte Heidelinde Lewandowski samt Dackel auf einem Sommerfest. Mit der Beute und dem Versprechen, das Foto morgen zurückzubringen, verabschiedeten sich die Reporter höflich. Wilhelmi ließ am Tatort jeden Quadratzentimeter absuchen. Alles wurde fotografiert und gefilmt – der Erkennungsdienst tat 93
sein Bestes. Während die Beamten den Park durchkämmten, grübelte der Erste Hauptkommissar vor sich hin. Seit er vor wenigen Minuten einen Anruf vom Team erhalten hatte, das sich um Deng kümmerte, war er wie elektrisiert. Von wegen unscheinbarer Händler in Sachen Aquaristik! Der Kaufmann hatte vielleicht in Deutschland eine weiße Weste gehabt – nicht aber in seiner Heimat. Dort hatte man ihn wegen Organhandels zum Tode verurteilt. Als er jedoch gegen seine ehemaligen Komplizen ausgesagt hatte, war Deng plötzlich ein freier Mann gewesen und in Deutschland abgetaucht. Und jetzt Wu Chan. Ebenfalls ermordet, ebenfalls Organentnahme. Diesmal die Lungen, wie ihm der Rechtsmediziner mitgeteilt hatte. Wieder ein Zettel mit chinesischen Schriftzeichen. War Chan ebenfalls ein Exmitglied der Triaden? Ein systematischer Rachefeldzug der Mafia, ausgerechnet in seiner Stadt – das wäre eine Katastrophe. Wilhelmi wurde heiß. Einen unangenehmeren Gegner konnte sich der Ermittler kaum vorstellen. Die Frau mit dem Hund hatte die Täter offenbar gestört, als sie die Leiche abgelegt hatten. Heidelinde Lewandowski hatte den Dackel Gassi geführt und war den Tätern in die Arme gelaufen. Sechs feine Einstiche hatte der Arzt in der Brust der Frau gezählt. Für ein Messer oder ein Stilett waren die Wunden viel zu klein. Der Mediziner hatte auf eine Spritze getippt. Erst die Obduktion würde endgültig Klarheit bringen. Da war es wieder – dieses verdammte Warten. Wilhelmi ging zum Leiter des Erkennungsdienstes: »Hast du hier alles im Griff?« »Ja.« »Gut. Ich hab noch den Gang vor mir.« »Die Angehörigen?« »Genau das.« »Scheißjob«, kommentierte der Kollege. 94
Kurz bevor Wilhelmi das Haus der Chans erreichte, bekam er einen Anruf aus dem Präsidium. Der Übersetzer hatte fix gearbeitet: Grüße aus dem Schattenland lautete auch diesmal die Botschaft, die der Leiche beigelegt war. Eine Stunde später war der Beamte wieder in seinem Büro. Er starrte das Bild mit der Schneelandschaft an, ohne es wirklich wahrzunehmen. Der Kommissar dachte an die Frau, die nun Witwe war. Eine stolze, schöne Frau, der es gelungen war, die Tränen zurückzuhalten. Der kleine Sohn kam hinzu, fragte, wo sein Vater sei. Die Stille, die dann entstand, war zerbrechlich wie feinstes Glas gewesen, angsterfüllt. Der Beamte erinnerte sich an die Hand der Mutter, die über den Kopf des Kleinen strich, und daran, wie sie zitterte. Die behutsame Befragung hatte den Ersten Hauptkommissar schnell weitergebracht. Wie er befürchtet hatte: Auch Chan war ein abtrünniges Mitglied der Organmafia gewesen. Von der Umtriebigkeit seiner Kollegen war Polizeimeister Peter Völk einige Millionen Lichtjahre entfernt. Fett und faul hing er in seinem Getränkeshop herum und gähnte einen halb leeren Kasten Bier an. Die Leute hatten ihm heute die Bude eingerannt, weil morgen Silvester war. Jetzt herrschte mal für ein paar Minuten Ruhe. Was würde er eigentlich am Jahreswechsel machen? Gute Frage. Vielleicht kam ja was Spannendes im Fernsehen, fiel ihm ein. Er nahm einen Schluck Bier. Ja, das war gar keine so schlechte Idee. Das hatte er noch nie gemacht. Oder doch? Was war letztes Jahr gewesen und das Jahr davor? Er wusste es nicht mehr. Egal. Er konnte sich ja etwas Feines zum Fernsehabend kochen. Reibekuchen mit Apfelmus zum Beispiel. Sein Lieblingsgericht. Und dann würde er sich eine dieser Shows mit den Reichen und Schönen anschauen, eine dieser Silvestergalas. 95
Der Polizist schloss die Augen, sah sich mit einer eleganten Frau übers Tanzparkett schweben, er in einem dunklen Anzug mit weißem Einstecktuch, sie in einem schulterfreien Abendkleid, feuerrot, verführerisch. Der Duft ihres Parfüms stieg in seine Nase. Die Frau presste ihren schlanken Körper an den seinen. Sie tanzten so vollendet, dass alle anderen Paare das Parkett verließen, um ihnen zuzuschauen. Beifall brandete auf, als das Lied zu Ende war. Völk verneigte sich vor seiner Tanzpartnerin. Sie reichte ihm die Hand, er küsste sie grazil. Die Band stimmte einen Tango an. Die Frau in Rot warf sich in seine Arme und ließ sich von ihm führen. Ihre Lippen hauchten einen – »HE, AUFWACHEN! Kann ich jetzt meinen Kasten Weißbier und den Prosecco hier zahlen, oder nicht?« Völk schreckte hoch. Eine Kunde stand vor der Kasse und blickte verächtlich in seine Richtung. Der Beamte rappelte sich auf: »Komme ja schon.« »Wird auch Zeit. Unglaublich, wer heute alles eingestellt wird.« Das tat dem Polizeimeister weh. Er musterte den Störenfried: Ein kleines Kerlchen, dürr, mit spitzer Nase. Darauf klemmte eine dieser verdammten Schlaumeierbrillen, die schon John Lennon getragen hatte und die Völk spätestens seit diesem Zeitpunkt aus tiefster Überzeugung hasste. Ein Hieb von ihm würde reichen, um diesen Suppenkasper quer durch den Laden schießen zu lassen. »Pass auf, Männchen: Hier wird nicht rumgepöbelt«, konterte Völk gereizt. »Wie nennen Sie mich? Frechheit! Ich werde mich über Sie beschweren, verlassen Sie sich darauf. Und jetzt kassieren Sie gefälligst!« Der Beamte gehorchte widerwillig, strich das Geld ein. Das Kunde schob ab, vorbei an zwei jungen Männern und einer blonden Frau. Sie schaute Völk freundlich an: »Haben Sie ein paar kalte Dosen Cola für uns?« 96
»Ja. Ich muss nur kurz in den Kühlraum.« Völk apportierte die Brause. »Sie kennen sich doch hier bestimmt gut aus?«, fragte einer der Männer. »Na klar«, meinte der Beamte wichtig. »Wir sind von Pro 7 aus München«, erklärte die Frau. »Drehen was über diese Chinesen-Morde. Ist doch sicher Gesprächsthema Nummer eins bei den Leuten hier. Was sagen die denn so?« Völk war begeistert. »Ich habe –« Die Blonde unterbrach ihn: »Was wir suchen, sind ein paar OTöne aus der Bevölkerung.« »O-Töne?« Die Reporterin lachte: »’tschuldigung. O-Töne ist die Abkürzung für Originaltöne. Von Betroffenen zum Beispiel. Ich bin übrigens die Gabi. Und das sind Theo und Mark.« »Ich heiße Peter. Da sind Sie bei mir genau richtig mit Ihren O-Tönen«, platzte es aus Völk heraus. »Sie haben Glück.« »Ach, wirklich?« Misstrauen klang in Gabis Stimme mit. »Doch! Es ist nämlich so: Ich habe die erste Leiche entdeckt. Den Gelben!« Die Frau blieb argwöhnisch: »Sie? Ich dachte, die Leiche wurde von Polizisten gefunden.« »Stimmt, hier ist meine Dienstmarke.« »Macht die Kamera klar, Jungs!«, rief die Journalistin. Völk kontrollierte seine Kleidung. Wenn er das gewusst hätte, hätte er natürlich etwas anderes angezogen. Er hatte da noch einen Anzug, tief im Schrank, kaum benutzt. Dunkelgrün mit einem hellgelben Hemd dazu und einem cremefarbenen Lederschlips. »Sie meinten sicherlich das Opfer aus China, als Sie von dem Gelben sprachen, oder?«, vergewisserte sich die Reporterin. »Ja ja, ist doch nicht so wichtig. Also, ich und mein Kumpel sind da nachts –« 97
»Moment, stopp! Wir sind noch nicht so weit. Jungs, beeilt euch, die Quelle sprudelt schon.« Ein Kunde drängte in die Runde: »Ich hätte hier Leergut, wo kann ich das abgeben?« »Gar nicht, Meister.« »Aber an der Tür steht, dass Sie bis zwanzig Uhr geöffnet haben.« »Heute nicht. Ich hab zu tun, muss ins Fernsehen. Raus!« Der Kunde wich. Völk strich sich über die fettigen Haare. Ein Spiegel wäre jetzt gut. Wie war seine Rasur? Sie ließen ihm keine Zeit. Gabi stellte Völk ein paar Fragen vorab. Dann ging es los. »Kamera ab«, meinte Theo. Mark checkte den Ton. »Hallo, hier ist Gabi Solana von Pro 7 Aktuell. Wir sind hier bei Polizeimeister Peter Völk aus Nürnberg. Ein Mann, der täglich seinen Job macht, durch die Straßen patrouilliert, für Ordnung sorgt. Auch nachts, wenn wir alle schlafen. Oder an Feiertagen, wenn wir freihaben. Wie in der Nacht zum ersten Weihnachtsfeiertag, dem 25. Dezember. Peter, was hast du in dieser Nacht erlebt?« Sie hielt dem Beamten das Mikro unter die Nase. »Also, ich und mein Kumpel Günther waren auf Streife Und da wurden wir –« Völk quatschte ohne Punkt und Komma. Gabis Augen wurden immer größer. So oft musste sie ihren Interviewpartnern die Würmer aus der Nase ziehen – aber dieser Dicke mit den vielen unangenehmen Gerüchen quakte ihr die Kassette voll. In allen Details berichtete Völk von dem Fund der Leiche des Xiao Deng. In seiner Einfalt wirkte er beachtlich authentisch. Nichts war in den Medien glaubhafter als ein Mensch, dem die Raffinesse zur Lüge oder wenigstens zur persönlichen Vorteilnahme fehlte. Deswegen waren die Interviews mit Politikern so unbeliebt. 98
Gabi strahlte, als sie die Aussage im Kasten hatte. Völk, dumpf und deutsch, würde Quote bedeuten. Und Wahrheitsgehalt. Eine seltene Mischung. Als die Reporter weg waren, verschloss der Beamte sofort die Tür. Dann tanzte er durch den schäbigen Raum, eine Flasche Sekt im Arm. Er entkorkte sie hinter einem Stapel mit Mineralwasserkästen. Jetzt war er der Star. Fünfzig Mark hatte ihm die TV-Reporterin gegen Quittung in die Hand gedrückt. Das reichte zwar noch lange nicht für den Kauf eines Videorekorders, war aber besser als die ihm in Aussicht gestellten, aber de facto nicht vorhandenen Trinkgelder. Euphorisch rief der Polizeimeister Günther Pauly, die Abrissbirne, an: »Du, stell dir vor, das Fernsehen war da!« »Wo? Doch nicht etwa bei dir? Wollen die ein paar neue Folgen mit Al Bundy bei dir drehen?« »Nein, die haben mich bei meinem Aushilfsjob im Getränkemarkt interviewt. Über unsere Nacht, in den wir den toten Gelben gefunden haben. So ein Mist, dass ich mir die Sendung nicht aufzeichnen kann. Aber die vom Fernsehen haben mir versprochen, zwei Bänder zu schicken.« »Du reitest dich in die Scheiße, mein Freund.« »Wie meinst du das?« »Solche Interviews musst du mit den Chefs absprechen, das solltest du eigentlich wissen. Die treten dir in den Hintern, verlass dich drauf!« »Unsinn, morgen ist Silvester, die haben anderes zu tun. Was hast du vor?« »Nichts.« »Ich auch nicht.« »Na dann: tschüs.« Frank hatte erneut den Aufmacher auf der Seite eins ›gestemmt‹, wie sie es nannten. Es fehlte nur noch die zündende Zeile, für die 99
selbstverständlich der Gott des edlen Headline-Schnitzens, seine Herrlichkeit Brockmüller, zuständig war. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er vor der noch jungfräulichen Seite, die er gleich mit seinem Genius schwängern wollte. »Chinese, Mord, Organmafia«, dachte er laut. »ChinesenMord, Mord-Mafia. Rache, ausweiden. Die Frau, der Hund – auch nicht schlecht. Großes Foto von Hund mit Frau: Warum mussten sie sterben? Nein, zu theatralisch. Trifft den Kern nicht. Sie war wohl eher ein Zufallsopfer. Die Zeile gehört dem Chinesen. Mafia sollte auch mit rein, hatten wir aber schon am Montag.« Brocki stöhnte. Eine schwierige Geburt. »Herr Bachmann, haben Sie einen Moment Zeit? Ich brauche Sie für die Schlagzeile.« Frank glaubte, sich verhört zu haben. Seine Wenigkeit wurde zum Wichtigsten des Wichtigen gebraucht, zur alles entscheidenden Schlagzeile? »Kommen Sie, es ist Ihr Text: Was würden Sie drüberschreiben?« Bachmann überlegte kurz. Dann schnippte er mit den Fingern und sagte: »Kurzes Vorzeilen-Programm: Restaurantchef ermordet – Lungen rausgeschnitten. Dann die Hauptzeile: Die grausame Rache der Organhändler.« Brockmüller sah ihn groß an: »Das ist gut. Nein, das ist schon richtig guti-gut. Mensch, Herr Bachmann, ich wusste gar nicht, welche Talente in Ihnen schlummern.« Er pfiff einen Produktionsredakteur zu sich: »Komm, setz mal die Zeile ab.« Bachmann verzog sich wieder, wanderte zu Pia. »Bin gleich fertig«, meinte sie. Angestrengt schaute sie auf den Bildschirm. »Hundert Zeilen über die interessantesten Kulturereignisse zum Jahreswechsel. Fast ’ne Strafarbeit.« »Wo feiern wir eigentlich Silvester?« »Ich denke bei Brockmüller oder willst du nicht?« Frank nickte ergeben. Brockis Partys hatten es in sich, das 100
wusste er aus Erfahrung. Meistens kam es zu Ausschreitungen, an die sich am Tag darauf niemand so recht erinnern wollte oder konnte. »Und was machen wir danach?« Sie sah zu ihm hoch, lächelte: »Dann gehen wir zu dir. Da gibt es das beste Programm.« Frank strahlte. »Klingt gut. Wie lange brauchst du noch?« »Höchstens eine Viertelstunde.« »Okay, ich schau mir mal die Nachrichten um achtzehn Uhr an.« Neben seinem Schreibtisch stand die Glotze. Bachmann zappte sich durch die Kanäle. Bei Pro 7 blieb er hängen, weil da jemandem ein Mikrofon ins Gesicht gehalten wurde, den er gut kannte und schlecht leiden konnte. Polizeimeister Völk, nicht zu fassen! Frank drehte den Ton lauter. Der Beamte erzählte, wie er die erste Leiche gefunden hatte. Ob das Interview autorisiert war, überlegte der Polizeireporter. Schwer vorstellbar. Er wollte schon zum Hörer greifen, um Wilhelmi anzurufen, ließ es dann aber. Frank gönnte dem dicken Beamten, mit dem er schon so oft während seiner Recherchen zusammengerumpelt war, diesen Auftritt. Wenigstens einmal im Leben schien Völk gefragt zu sein. Nichts wärmte Bachmanns Wohnzimmer mehr als Pia. Die Feuilletonistin hockte über Frank und massierte seine Brust. Doch Bachmann konnte nicht abschalten. »Irgendetwas haben wir übersehen«, meinte er. »Wobei?« »Na, bei den Morden.« Pia verdrehte die Augen. »Du gehst mir auf die Nerven. Und wir haben schon mal gar nichts übersehen – höchstens du.« »Mag ja sein. Aber die Sache lässt mich nicht los.« »Das merke ich. Pass auf: Wir knobeln jetzt gemeinsam an deinem Fall, knacken die Nuss – und dann ist aber Schluss, 101
okay?« Frank nickte dankbar. Das war Pia. Dann begann er, alle Facetten des Falls noch einmal aufzulisten. Und kam zu dem Ergebnis: »Vielleicht denken wir zu sehr in eine Richtung. Wenn es ein Rachefeldzug gegen Exmafiamitglieder ist, warum entnehmen Sie die Organe fachmännisch? Warum ermorden sie ihre Opfer nicht einfach, wozu dieser Aufwand?« »Vielleicht ist es doch keine Rache, vielleicht will jemand die Organe verkaufen. Oder es ist ein Wahnsinniger.« »Aber warum sind dann ausgerechnet zwei Chinesen die Opfer?«, wandte Bachmann ein. »Weil alles auf Rache hindeuten soll. Eine falsche Fährte.« Bachmann holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank, dann zwei Gläser, füllte sie. »Ein Irrer? An diesem Punkt waren wir schon mal. Woher sollte er die Ausrüstung haben, um die Organe zu entnehmen?« Pia schlug sich vor die Stirn: »Das ist es!« Bachmann begriff nicht sofort. »Mann, stehst du auf der Leitung? Der Einbruch in die Klinik!«, rief seine Freundin. »Du hast davon in der Konferenz am zweiten Weihnachtsfeiertag berichtet, erinnerst du dich?« »Na klar. Wir haben nur eine kleine Meldung draus gemacht. Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin! Bei dem Bruch wurden medizinische Gerätschaften entwendet. Man müsste wissen, welche. Vielleicht eignen die sich zu einer Organentnahme.« »Ruf doch den Polizeisprecher an.« »Sinnlos. Die Pressestelle ist nicht mehr besetzt. Morgen ist auch noch ein Tag. Mit der Liste könnte ich zu deinem Vater gehen. Der könnte mir sagen, wofür die Instrumente taugen.« »Wenn du ihn nicht wieder beim Fußball störst.« Bruno Brehm verzichtete auf jedes Licht. Es war nach Mitternacht. Er saß im Dunkeln neben dem Bett seines Bruders. 102
Bernhard ging es gut. Er schlief ruhig. Bruno stand auf, verließ das Schlafzimmer, ging ins Wohnzimmer, das mehr einer Bibliothek oder einem Museum glich. Er machte eine kleine Lampe an und studierte die endlosen Regale. Hier bewahrten sie die Schätze ihrer Leidenschaft auf. Bruno hatte sich auf das Sammeln jedweder Tonträger, Schallplatten, Kassetten oder CDs, spezialisiert. Sein Zwillingsbruder hingegen verwahrte und verwaltete ein beachtliches Archiv von Geschichts- und Politikbüchern. Bruno ging die Reihen der Regale mit seinen Augen ab. Jedes Stück hatten sie in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragen. Viele Kostbarkeiten waren darunter. Der Archivar zog eine besonders rare Aufnahme von Frank Sinatra hervor. Sanft fuhren seine Hände über das Plattencover. Zunächst war die Sammelei ein Spleen gewesen, eine Laune. Aber mit der Zeit war daraus mehr als ein Hobby geworden. Die Zwillinge waren inzwischen gefragte Chronisten. Während Bernhard mit seinen Gesellschaftsund Systemanalysen vor allem in den Hörsälen der Universitäten brillierte, zog man Bruno immer wieder zur Identifizierung von Musikaufnahmen fragwürdiger oder unsicherer Herkunft heran. Vor allem in der Sparte Jazz galt Bruno Brehm als Koryphäe. Er schob die Platte zurück an ihren Platz. Sie war viel zu schade zum Abspielen. Bruno löschte das Licht.
103
8. Denk an den Sekt. Und den Lachs! Um sieben Uhr kommen die Mertens, da muss alles fertig sein, ich verlasse mich auf dich! Ja, ja ja! Verdammter Jahreswechsel. Das brachte immer nur zusätzliche Arbeit. Wilhelmi massierte sein graues Gesicht. Denk an den Sekt: Wie er die Ansagen seiner Frau liebte. Diese verfluchten Nachbarn, die sich mal wieder selbst eingeladen hatten. Nach dem neunten Glas Wein würde Labertasche Mertens – selbstständig in der Versicherungsbranche, wie er immer betonte – wieder auf sein Lieblingsthema kommen: Wie konnte es Wilhelmi nur in diesem Job aushalten, der so schlecht bezahlt war und wo einem so viel Undank entgegenschlug? Der Kommissar hatte es längst aufgegeben, diesen Narren zu belehren. Es reichte, wenn er ihn und seine weinselige Schwatzhaftigkeit ertragen musste. Wie lange hatten die Läden heute eigentlich auf – nur bis Mittag? Dann würde es knapp. Wilhelmi lächelte schwach. Das wäre eine Chance. Der Kommissar trommelte ungeduldig auf der Tischplatte herum. Es war kurz nach acht Uhr. Wann kam endlich der Bericht aus der Gerichtsmedizin im Fall Heidelinde Lewandowski? Die Kaffeemaschine röchelte schwach und rief ihm ihre verkalkte Existenz ins Gedächtnis. Wilhelmi schnappte sich seine Tasse mit dem Vereinsemblem der Spielvereinigung Greuther Fürth und füllte sie. Schmittinger kam herein, grüßte kurz angebunden, knapp an der Muffelgrenze, fragte: »Ist der Befund schon da?« »Meinen Sie, dann säße ich hier noch untätig rum?« »War ja nur ’ne Frage, Entschuldigung.« 104
»Tut mir Leid. Bin ein bisschen gereizt. Meine Frau hat heute Abend unsere Nachbarn eingeladen.« »Verstehe, Silvesterparty. Sehr schlimm?« »Absolut. Das Grauen.« »Wer? Die Party, die Nachbarn oder –« Wilhelmis Augen wurden schmal: »Oder meine Frau?« »Habe ich nicht gesagt.« »Ihr Glück!« In dieser Sekunde schellte das Telefon. Wilhelmis rechte Hand schoss wie eine Schlange vor und verbiss sich in der Beute. Schmittinger beobachtete seinen Chef. Der Mann stand verdammt unter Strom. »Und?«, fragte er, als der Erste Hauptkommissar aufgelegt hatte. »Die Frau wurde mit einer Spritze getötet. Konzentrierte Kaliumlösung. Das führt sofort zum Herzstillstand. Aber jetzt kommt’s: Auch Wu Chan wurde damit umgebracht, bevor man ihn –« »Auseinander genommen hat?«, fiel ihm Schmittinger ins Wort. »Sehr treffend«, kommentierte Wilhelmi zynisch. »Ist das ein herkömmliches Mittel?« »Leider ja, sagt der Doktor.« »Dann sind wir nicht viel weiter als vorher«, fürchtete Schmittinger. »Sie sagen es.« Frank griff um Punkt neun Uhr zum Telefon. Gruber war sofort dran. »Bachmann hier, vom Blick. Erinnern Sie sich an den Einbruch in die Klinik am vergangenen Wochenende?« »Sicher. Kein alltäglicher Fall. Sonst klauen die Junkies Medikamente.« »Genau darum geht es mir. Wissen Sie, was genau entwendet 105
wurde?« »Das habe ich nicht parat«, log der Beamte. »Aber es ließe sich feststellen?« »Möglich.« Gruber suchte eine Chance, den Boulevardmann abzuwimmeln. »Sicher ist das möglich. Der Eigentümer hat doch bestimmt die entwendeten Gegenstände aufgelistet.« »Möglich«, wiederholte der Polizeisprecher. »Kommen Sie, lassen wir das Versteckspiel. Geben Sie mir die Liste, bitte.« »Warum sollte ich?« »Weil Sie mir bei meinen Recherchen helfen würden. Sie werden auch mal wieder unsere Hilfe brauchen.« Gruber rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Okay«, meinte er schließlich voller Widerwillen. »Aber von mir haben Sie die nicht.« »Dafür lade Sie zu einer Portion Schäuferle in Pleinfeld ein.« »Im Blauen Bock?« »Gerne, wenn Sie wollen.« »Ich faxe Ihnen die Liste rüber.« »Stopp. Ich muss Ihnen meine private Faxnummer geben. Der Blick hat heute frei. Wir müssen ja morgen an Neujahr arbeiten.« Keine zwei Minuten später hatte Bachmann das Fax. Pia und er starrten gebannt auf die Liste. »Haken, Klemmen, Skalpelle, Kauter, eine Konservierungslösung und ein Laparotomie-Sieb«, las Frank laut vor. »Sehr spezifisch. Mein Daddy wird uns weiterhelfen«, meinte die Kulturredakteurin. »Ich ruf ihn gleich an.« Fünf Minuten später hatten die beiden Journalisten die Gewissheit. »Ein Laparotomie-Sieb enthält die für eine Bauchöffnung notwendigen Instrumente«, erklärte der Mediziner. 106
»Ein Kauter dient zum Veröden von Gefäßen, vergleichbar mit einem Lötkolben. Mit den Haken kann man etwas spreizen. Die Lösung könnte zum Aufbewahren von Organen dienen. Und was es mit Klemmen und Skalpellen auf sich hat, wisst ihr ja selbst.« »Fassen wir zusammen«, meinte Pia nach dem Gespräch zu Frank. »Die Täter stehlen OP-Siebe, töten ihre Opfer und entnehmen ihnen fachmännisch Organe.« »Und hinterlassen eine Botschaft in Chinesisch«, ergänzte ihr Freund. »Vielleicht ist einer von denen ein chinesischer Arzt«, folgerte Pia. Bachmann nickte anerkennend: »Nicht schlecht, lass uns doch mal im Telefonbuch nachschauen. Vielleicht haben wir Glück.« Pias Zeigefinger fuhr die Spalte mit den Arztnamen hinab. Frank schaute ihr über die Schulter. Pia blätterte um. Wieder ging der Finger auf Reisen. Plötzlich stoppte sie: »Bingo. Das könnte unser Mann sein: Dr. Li Hong, Internist.« Die beiden wechselten Blicke. »Internist«, wiederholte Frank. »Könnte passen.« Er lief im Raum auf und ab. »Weißt du was, ich schau mir den Kerl mal aus der Nähe an.« »Willst du ihn beschatten?« »Nein, viel einfacher: Ich lasse mir einen Termin geben.« Schon hatte er den Hörer in der Hand und wählte. »Praxis Dr. Hong, Sie sprechen mit Frau Süder, was kann ich für Sie tun?«, flötete es. »Bachmann, ich bräuchte dringend einen Termin. Am besten noch heute.« »Oh, ich fürchte, das geht nicht.« Frank hörte etwas rascheln, wie das Umschlagen von Seiten. »Nein, tut mir Leid, heute sind wir schon zu. Außerdem schließen wir um zwölf.« 107
»Schade. Wie sieht es denn am Montag aus?« »Einen Moment bitte, ich schaue mal, ob ich Sie da noch einschieben kann.« Einschieben, irgendwie klang das seltsam, fand Frank. »Ja, da kann ich Sie noch einschieben, aber erst gegen neunzehn Uhr«, zirpte die Arzthelferin. »Und eine halbe Stunde Wartezeit müssen Sie schon einplanen.« »Kein Problem, vielen Dank.« Mustafa Arcan stob in den Getränkeshop. Der Boden war nicht gefegt, Glassplitter überall. »Völk!«, schrie er. »Hier, beim Leergut!«, brüllte der Beamte zurück. Schnell ließ er eine halb volle Bierflasche in einem Kasten verschwinden und kam nach vorn. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er unterwürfig. Der Türke sah irgendwie schwer angefressen aus. »Nichts mehr. Sie sind gefeuert. Fristlos, raus, gehen Sie mir aus den Augen!« »Was ’n los, Chef?« »Ich habe mir allein heute Morgen wieder drei Beschwerden über Sie anhören müssen. Das ist los! Außerdem sieht es hier aus wie in einem Schweinestall.« »Wenn du hier den Boss markierst, dann ist das eher ein Hammelstall«, konterte Völk. Auf die Parade war er stolz. Wenn er eh schon gefeuert war. Arcan riss sein Portemonnaie hervor: »Jetzt wird der Kerl auch noch frech. Ich zahle Sie aus und dann: güllegülle! Und hören Sie auf, mich zu duzen!« Er warf ein paar Geldscheine vor Völks Füße. Langsam bückte sich der Polizeimeister und rechnete im Kopf nach. Er hatte hier vier Tage jeweils acht Stunden lang gearbeitet und heute bisher zwei. Völk kam auf 272 Mark, die ihm zustanden. Er zählte nach – gerade mal 216 Mark hatte er in 108
der Hand. »Ich habe jeden Tag acht Stunden in deiner Hammelbude gearbeitet!« »Nix da. Jeden Tag hatten Sie eine halbe Stunde Pause. Macht zwei Stunden gesamt. Also minus 16 Mark. Und dann haben Sie Bier geklaut. Mindestens zwei Kästen. Dafür ziehe ich Ihnen noch mal vierzig Mark ab, weil Sie Idiot auch noch die Flaschen zerschlagen haben, um mir den Verlust als Glasbruch zu entschuldigen. Aber glauben Sie mir, Herr Völk, so viel Glas kann auch der größte Tölpel nicht zerschlagen. Und jetzt raus!« »Irgendwann sehen wir uns wieder. Und dann wirst du beten, niemals geboren worden zu sein, du Kameltreiber«, zischte Völk im Hinausgehen. Hundert Meter vom Getränkemarkt entfernt ließ er sich auf eine Parkbank plumpsen. Dieser verdammte Türke! Jetzt hatte er mit dessen Gage und dem TV-Honorar noch nicht einmal dreihundert Mark zusammen. Fünfzig Eier hatte er noch von seinem Gehalt übrig. Aber heute war Silvester und er hatte bisher weder Reibekuchen, Apfelmus oder Bier gekauft. Außerdem brauchte er den stärksten zugelassenen Kanonenschlag für Frau Göderleins Briefkasten, eine Art Atombombe, die das Blechkästchen der widerwärtigen Schabracke zerstäuben würde. Gülle-gülle, Videorekorder, dachte Völk betrübt. Außerdem bestand die Gefahr, dass sein Kollege Pauly, die Abrissbirne, heute Abend bei ihm unangemeldet hereinschneien würde. In dieser Hinsicht war der alte Abzocker ein ausgesuchter wie gefürchteter Spezialist. Völk musste ihm zuvorkommen. Er wollte zwar mit ihm – mangels Alternativen – einen draufmachen, aber bitte schön nicht in seinen heiligen vier Wänden. Um Paulys diesbezügliche Absichten auszuloten, rief Völk ihn von der nächsten Telefonzelle aus an. »Du kommst doch heute nicht etwa auf die Idee, bei mir feiern zu wollen?«, fiel er mit der Tür ins Haus. »Mensch, Alter: Das ist eine ganz hervorragende Idee«, 109
verwertete die Birne diese Steilvorlage. »Danke für die Einladung!« »Nein, nein, so war das nicht gemeint.« Pauly ignorierte den Einwand: »Nee, wirklich klasse! Danke noch mal. Ich bring auch was mit. Und jetzt muss ich Schluss machen, ein Gespräch auf der anderen Leitung. Bis heute Abend, ich freu mich, tschüs!« »Gülle-gülle, schöner Abend«, knurrte Völk. Jetzt wurde es finanziell ganz dünne. Er verließ sich lieber nicht darauf, dass Pauly etwas mitbrachte. Seufzend ging er in den billigsten Supermarkt seines Viertels, deckte sich mit zwei Paletten Büchsenbier, einer ganz kleinen Tüte Chips und einem ganz großen, gefährlich aussehenden, teuflisch roten Kraftpaket von einem Böller ein. Aus Kostengründen fanden weder Apfelmus noch Reibekuchen den Weg in den Völk’schen Einkaufswagen. Frank und Pia erreichten um neun Uhr Brockmüllers Wohnung. Sie hatten ein Taxi genommen. Ihr Chef bewohnte die Penthouse-Wohnung eines eleganten Hochhauses gleich hinter der Burg. Als sie aus dem Aufzug traten, schwappte ihnen bereits der Lärm entgegen. »O nein, Brocki hat schon seine James-Last-Scheiben herausgekramt«, ächzte Frank, als er die Musikfetzen identifizieren konnte. Ein sicheres Zeichen, dass der Boss schon leicht einen im Tee hatte. Nachdem sie zwei Minuten lang Sturm geklingelt hatten, öffnete endlich jemand. »Hereinspaziert«, meinte Heiner. »Hier ist schon richtig was los. Mann, Pia, du siehst wieder umwerfend aus! Was für ein scharfer Fummel! Das kleine Nichts.« Das Paar bahnte sich einen Weg durch die Menge zum Gastgeber. Brockmüller sah in der Tat nicht mehr ganz taufrisch aus. Um 110
seine breiten Schultern hingen Luftschlangen, in seinen Armen die füllige Empfangsdame Pamela Weidenzweig sowie die mondäne Klatschreporterin Sigrun von Hohenstein und in seinen Augen leichte rote Schleier. »Tach, ihr zwei! Welch Glanz in meiner Hütte! Ihr seht, wir amüsieren uns bereits köstlich. Bedient euch, es ist alles da. Den Knüller gibt es aber erst um Mitternacht. Eine ganz spezielles Büfett!« Er lachte laut. Pia und Frank tauschten Blicke aus. Irgendjemand drehte die Musik noch lauter. »Stimmu-hung, Pa-harty!«, plärrte der Redaktionsleiter und begann mit seinen beiden Schönen zu tanzen. Heiner kam mit seiner Freundin, der Rechtsanwältin Monika Straßer, zu den Neuankömmlingen und reichte ihnen gut gefüllte Sektgläser. »Trinkt, sonst kriegt ihr hier ’nen Föhn.« Pia nippte an ihrem Kelch, während sie sich umsah. Die Wände waren in einem weichen Gelb gehalten, ein sonnigwarmer Ton. An den Wänden hingen Drucke von Gauguin. Der Boden bestand aus einem rötlich schimmernden Parkett. Die Raumecken wurden von mächtigen Palmen bevölkert. Die Wohnung war exotisch, reich, aber irgendwie anonym ausstaffiert. Wie ein Museum, das niemand besuchte. Brockmüller war geschieden, hatte keine Kinder. Vielleicht war es das. Völks Vorbereitungen für seine Silvesterparty waren in einhundertzwanzig Sekunden abgeschlossen. Er pfefferte die Mini-Chipstüte in ein einigermaßen sauberes Schälchen und stellte die Bierpaletten kalt. Dann wälzte er sich mit einer Büchse auf das Sofa und begutachtete seinen neuen bombigen Freund, den dicken Böller. Das Ding würde ihm Freude machen, da war er sich sicher. Göderlein, schwor er sich, damit hebe ich dein armseliges, rostiges Postschächtelchen, das du jeden Morgen mit gierigen Augen aufreißt, aus den Angel und puste es 111
auf den Mars. Schade, dass er wohl nicht sehen würde, wie sich die Ziege weinend über die Trümmer warf. In diesem Moment schellte es. Pauly, wer sonst, dachte Völk grimmig. Er ließ die Granate verschwinden und schlurfte zur Tür, öffnete. Ein Fehler. Denn da war nicht Pauly. Es war ein Chinese, der Völk die Tür mit voller Wucht ins Gesicht schlug, so dass er benommen nach hinten taumelte, blutend und jammernd. »Ja, ja, das geht in die Beine, das tut gut, so guti-gu-hut! Dirty Dancing! Komm, Pam!«, frohlockte Brockmüller. Er führte die verschwitzte Pamela Weidenzweig übers Parkett. Sie sah nicht sehr glücklich dabei aus. Auch andere Paare tanzten inzwischen. Die Stimmung war locker. Das lag vor allem daran, dass Heiner die Last-Scheibe durch eine von George Michael ersetzt hatte. »Ja, Pam: So ist gut! Gib mir den Lammbubbu, du oberheiße Schnecke!« »Lambada, Chef, Lambada!«, schrie Heiner. »Und das hier ist George Michael!« »Egal! Hauptsache: richtig Dirty Dancing, verdammte Hacke! Komm, Pam, lass dich gehen, Schnullerhase!« »Chef, es reicht langsam!«, rief die Empfangsdame. »Es hören doch alle zu!« »Echt?« Brocki stoppte abrupt. »Ist ja klasse. Alle sollen wissen, was du für ein Sahneproppen bist.« »CHEF!« »He, alle mal die Lauscher auf, jetzt kommt die Headline, die guti-gute.« Die Gespräche verstummten. Der eine oder andere Kollege präsentierte gierig die Reißzähnchen. Pamela Weidenzweig errötete. »Pam, du bis’ einfach der abgefahrenste Schlitten, der leckerste Strudel-Pudel …« 112
Niemand lachte. Die Empfangsdame sah zu Boden. Brocki fuhr hektisch fort: »Ach Pam, weg mit dem Frust, ran an mein Brust, haha, bist das ärmste Schwein, tanzt mit Brockilein.« Hände regten sich, schleppender Beifall. Pamela lief zur Toilette. Später wollte jemand Tränen in ihren Augenwinkeln gesehen haben. Aber da spielte dieser kleine Vorfall keine Rolle mehr. Pia lehnte sich prustend an Frank: »Die Arme tut mir Leid.« Sie trank ihr zweites Glas Sekt leer und fühlte sich jetzt besser. »Ist doch gar nicht so gruselig hier, oder?«, meinte sie in das Ohr ihres Freundes. Er spürte ihren heißen Atem, genoss das. »Nö, so lange du hier bist, sowieso nicht«, flüsterte er zurück. »Schmeichler.« »Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Hast du auch Hunger?« Brocki hatte an nichts gespart, stellten sie fest: griechische und italienische Vorspeisen, Käseplatten, Salate, Meeresfrüchte, Knoblauchbaguette. »Und nachher gibt’s noch ein anderes Büfett«, wunderte sich Frank. »Wer soll das alles essen?« »Rolli nicht mehr«, schätzte die Feuilletonistin. Der CvD steuerte mit unsicherem Gang die Toilette an. Er blieb an einer der Yucca-Palmen hängen, stolperte gegen die Wand, einer der Gauguins befreite sich von der lästigen Fessel des Nagels, segelte hinab in den edlen Parkettboden, hieb spitzkantig eine Delle in denselben, bevor der Rahmen zerbarst und es Glas regnete. Pia verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Rolli schaute Brocki verzagt an. »Macht nix. Ist halt Dirty Dancing! Da macht so ’n Gogeng schon mal peng, haha! Komm, Pam-Schnullerbacke! Zeig mir 113
noch mal den schmutzigen Humbudda. Wo bleibst du denn?« Es waren noch eineinhalb Stunden bis Mitternacht. Der Asiate trat und schlug Völk durch den Gang in sein Wohnzimmer. Der Beamte suchte wimmernd Schutz auf dem Sofa, deckte die Arme über den Kopf, spähte durch einen Spalt auf seinen Angreifer. Der Mann trug einen schwarzen Rollkragenpullover. Völk kannte ihn. Das war der Freund von Wu Chan. Der, der mit ihm Pingpong gespielt hatte. »Was willst du, ich habe dir doch nichts getan!« Die Antwort war ein Tritt in seine Nieren. Völk heulte auf wie ein Tier. »Halt die Schnauze!« Wu Chans Freund riss die Tüte mit den Chips auf, probierte davon, spuckte aus: »Ekelhaft.« Er warf sie auf den Boden. »Das ganze Loch hier ist ekelhaft.« Mit einem geübten Kick räumte er den Fernseher von dem wackligen Beistelltisch ab. Zu Völks Überraschung folgte kein Splittern. Es gab noch Hoffnung. Die alte Kiste war ein Qualitätsprodukt. Bitte Kasten, überlebe, flehte Völk. Ich hab doch nur noch dich. »Schau mich an, los«, befahl der Mann mit dem schwarzen Rollkragenpullover. Als der Polizeimeister nicht sofort reagierte, zerplatzte seine Deckung und eine Schuhspitze erwischte ihn an der Stirn. Der Schmerz explodierte in seinem Kopf. Jetzt gehorchte er. Völk sah in ein überhebliches, kaltes Gesicht. Der Mann strahlte eine erschreckende Routine bei dem aus, was er tat. Völk war überzeugt, dass ihn der Kerl jederzeit töten könnte, ohne dass sein Puls nach oben schnellen würde. »Wu Chan ist tot, wie du weißt. Und es gab zuletzt nur einen, der ihn mit dem Tod bedroht hat.« Völk wurde blass. Daher also wehte der Wind. Er hatte schon tausend Menschen mit Mord und Totschlag gedroht, der 114
Göderlein fast täglich, und die hatte es wirklich mehr als verdient. Aber das hatte er nie so gemeint. Na ja, vielleicht bei der alten Schabracke über ihm schon. Aber doch niemals bei dem Mann aus dem Reich der Mitte, verdammter Mist! Der ungebetene Besucher fuhr fort: »Dann dein Auftritt gestern im Fernsehen. So ein Zufall: Ausgerechnet du hast den ersten toten Chinesen gefunden.« Er zog einen Schlagring aus seiner Hosentasche. Der Polizeimeister schloss die Augen. »Du sollst mich anschauen!«, schrie der Asiate. Schläge auf Völks Rücken, seinen Bauch, den Kopf. »Schluss damit. Hände hoch!« Pauly, breitbeinig in der Tür, seine Dienstwaffe im Anschlag. Völk traute sich aus seiner Deckung. Der Kollege! Noch nie war der Anblick einer Abrissbirne so schön gewesen. »Ich hab auch was mitgebracht für die Party«, lachte Pauly und deutete auf eine Pikkoloflasche Sekt. »Und du drehst deine Gelbnase gegen die Wand. Schlagring fallen lassen, Beine auseinander.« Völk rappelte sich vom Sofa auf. Ihm taten alle Knochen weh, aber jetzt hatte er Oberhand und das verlieh ihm neue Kraft. Die benutzte er, um den Kopf des Chinesen mit Urgewalt vor die Wand zu schmettern, einmal, zweimal, dreimal, immer wieder – bis ihn Pauly zurückriss: »Hör auf, du bringst ihn ja um.« Der Asiate brach zusammen. »Und jetzt?«, fragte die Birne. »Erst mal ein Bier. Danke, übrigens.« Völk holte die Dröhnung, warf sich auf die Couch und legte die Füße auf den Mann mit dem Rollkragenpullover. Der regte sich schwach. »Siehst du, so schnell kriegst du die nicht kaputt. Sind zäh, diese Gelben.« Pauly riss den Verschluss von seiner Büchse, meinte: »Ich will keinen Ärger. Sollen wir die Kollegen rufen? Der hat 115
dich doch glasklar überfallen.« »Bist du verrückt? Das gibt erst recht Ärger.« Der Mann unter Völks Füßen versuchte, auf alle viere zu kommen. »Prima, der weilt schon wieder unter den Lebenden«, kommentierte Völk und holte seine P7 aus dem Schlafzimmer. Er zog den Asiaten am Kragen nach oben: »Augen auf, schau mich an.« Der Mann parierte. »Mund auf!« Völk schob den Lauf der Heckler & Koch zwischen die Zähne des Chinesen. Jetzt schloss der Asiate die Augen. »Lass sie auf oder ich drück ab!«, schrie Völk. Pauly griff ein: »Hör auf, verdammt noch mal! Das ist kein Spiel mehr.« »Doch, das ist jetzt mein Spiel.« Der Polizeimeister wandte sich wieder seinem Opfer zu: »Hör zu, du Scheißer: Ich habe mit den Morden nichts zu tun und vielleicht freue ich mich, dass es deine Freunde erwischt hat, aber ich war es nicht, und wenn du das nicht glaubst und mich weiter verfolgen willst, dann mache ich dich alle, das schwöre ich dir. Es ist für mich eine Kleinigkeit, weil du mich hier überfallen hast und ich dich in Notwehr erschossen habe.« Er nahm die Waffe aus dem Gesicht des Chinesen. »Hast du verstanden?« Der Mann nickte. »Hau ab.« Der Asiate lief aus der Wohnung. »Du lässt ihn einfach so ziehen?«, fragte die Birne. »Logo.« »Na ja, ich weiß nicht.« »Unsinn, von dem droht keine Gefahr mehr.« Alles drängte sich auf Brockmüllers Dachterrasse. Sie bot einen 116
herrlichen Blick auf die angestrahlten, mächtigen Mauern der Burg. »No-hoch einä Minutä«, trompetete CvD Rollmann in die sternenklare, kalte Nacht. Er versuchte sich an einem Tannenbäumchen festzuhalten, was misslang. Beide fielen gegen Pamela Weidenzweig, die empört aufheulte. Pia schmiegte sich an Frank, sah ihm in die Augen: »Ich weiß, das klingt theatralisch – aber ich möchte immer bei dir sein.« Er küsste sie auf die Nasenspitze: »Danke. Ich auch bei dir.« »Meinst du, man lässt uns?« Bachmann sah sie irritiert an: »Warum denn nicht, wie meinst du das?« Pia schaute weg, zur Burg: »Ich weiß nicht. War nur ein dummer Gedanke. Vielleicht habe ich heute ein Glas Sekt zu viel erwischt.« In Bachmanns Herz machte sich Beklemmung breit. »Za-ha-wanzig, nö-nö-neunze-hen, ach-ze-hen«, brabbelte Rollmann unter dem Baum. »Fünfzehn, vierzehn, dreizehn«, übernahm Brocki. Der Countdown, klarer Fall von Chefsache. Das Finale. Guti-gut. Er drehte hektisch an dem Korken einer Champagnerflasche. Wer konnte, brachte sich in Deckung. Frank nahm Pia fest in den Arm, als die Nacht über ihnen in einem Farbenmeer explodierte. Er sah nichts, hörte nichts, spürte nichts – nur sie, sie, sie. In Völks Mietskaserne würde auch gleich etwas explodieren. Mit Fieber im Blick näherte sich Völk dem Göderlein’schen Briefkasten. In den rechten Hand ruhte wuchtig der granatenähnliche rote Teufel. Der Schlitz erwies sich als zu schmal. Aber damit hatten die Attentäter gerechnet. Pauly vergrößerte unter beachtlichem Lärm den Spalt mit einem Brecheisen. Sprengmeister Völk gluckste vor Glück. »So, jetzt passt das. 117
Gib mir mal Feuer!«, rief er erregt. Adjutant Pauly parierte. Die kurze, dicke Lunte loderte gierig auf. Über ihnen ging eine Tür auf. Göderleins heiser-grelle Stimme gellte giftig durchs Treppenhaus: »Was ist denn da unten los? Ich will meine Ruhe haben!« Völks Bewegungen erfroren. Die Bombe hielt er noch in der Hand. »Schmeiß das Ding weg!«, flehte die Abrissbirne. Er ließ sich auf den Boden fallen, breitete die Arme schützend über den Kopf. Sein Kumpel starrte auf den winzigen Rest der Zündschnur. Und irgendwie begriff Völk, dass er sich in der nächsten Sekunde zwischen dem Totalverlust des Göderlein’schen Briefkastens oder seiner Hand entscheiden musste. Instinktiv reagierte er richtig und steckte den Knallkörper in den Blechkasten. Eine infernalische Detonation, begleitet von einem Lichtblitz, riss die komplette Reihe der Briefkästen ab. Sie schepperten zu Boden, knapp neben die Abrissbirne. »HILFE, EIN ANSCHLAG, DIE RAF! WO BLEIBT DIE POLIZEI?« »Die ist doch schon hier, du blöde Kuh!«, fluchte Pauly, während er sich aufrappelte. »Psst!«, machte Völk. »Du Trottel verrätst uns noch!« Auf allen vieren robbte er kichernd zu seiner Wohnungstür und zog diese, als Pauly bei ihm war, leise ins Schloss. »Alle wieder rein, husch-husch!«, rief Brockmüller übermütig. »Jetzt gibt’s die Überraschung.« Er klatschte in die Hände wie ein Zeremonienmeister. Die Wohnungstür flog auf. Herein stürmte ein bunt geschmückter chinesischer Drache. Er schlängelte sich geschickt durch die Menge, wandte seine regungslose, rotschwarze Fratze 118
mal zum einen, dann zum anderen Gast. »Irgendwie unheimlich«, meinte Frank. »Wegen dieser Morde? Jetzt hast du trübe Gedanken. Lass uns feiern!«, entgegnete Pia. Der Fantasiewurm erreichte erneut die Tür, öffnete sie. Weiß bemützte Kellner marschierten auf, jeder ein Tablett mit asiatischen Köstlichkeiten vor sich. Die Diener trugen Tiermasken, die dem chinesischen Horoskop entsprachen. Sie brachten die Speisen zu einem wie durch Wunderhand von allen Büffet-Resten und CvD Rollmann befreiten Tisch und luden ab. »So was hab ich zum Fressen gern!«, witzelte Brockmüller. Vereinzelt tröpfelten höfliche Lacher. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit entstand ein kulinarisches Paradies. Unauffällig, mit ein paar höflichen Verbeugungen verschwanden die guten Geister wieder. »Haut rein!«, befahl Brocki. Pia und Frank hielten sich zurück. Bis der Polizeireporter einen Zettel auf dem Tablett mit den Frühlingsrollen entdeckte. Chinesische Schriftzeichen. Bachmann löste sich von Pia. Sie hielt ihn fest: »Was hast du?« »Da vorn, die Zeichen.« »Was, ich sehe nichts!« Er drängte sich vor, hin zur Vorspeise. »He, Alter, warum so eilig?«, fragte Heiner, der sich angestellt hatte. »Lass mich durch, bitte, es könnte wichtig sein.« Frank schob sich weiter zum Büfett. Endlich war er am Ziel. Jetzt war er sich ziemlich sicher: Grüße aus dem Schattenland. Frank schnappte sich eine Serviette, nahm vorsichtig die Botschaft in die Hand, winkte damit Pia. Sie hatte verstanden, nickte. Frank kämpfte sich zu ihr zurück. »Das kennen wir doch, oder?« »Allerdings. Den Zettel muss doch einer der Kellner hier 119
gelassen haben!« Pia lief auf die Dachterrasse, warf einen Blick hinab. Außer Atem kehrte sie zurück: »Die beladen gerade einen Kombi mit ihren Masken und anderem Krempel. Komm!« »Wie, komm?« »Na runter, den kriegen wir!« »Halt, warte!« Die Feuilletonistin stand schon an der Tür, drehte sich um. Ungeduld lag in ihren Augen: »Mach schon. Sonst ist der Kerl weg.« Frank folgte ihr zum Aufzug. Hektisch drückte Pia immer wieder den Kopf. Endlich schwangen die Metalltüren auf. Rasch glitt die Kabine nach unten. Im Flur war es dunkel. Ein rotes Signal an der Wand, ein Schalter. Pia erreichte ihn. Licht flutete in den Gang. Frank sah das Blut zuerst. Längliche Schlieren auf dem Boden. Der Reporter zückte sein Handy, tippte die Nummer der Polizei ein. Pia ging den Schleifspuren nach, die um eine Ecke führten. »Bleib hier!«, schrie Frank. In dieser Sekunde meldeten sich die Beamten. Schnell gab Bachmann die ersten Infos durch. »Pia?!«, rief er dann. Keine Antwort. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte Frank. Er biss sich auf die Unterlippe, bog um die Ecke. Eine Treppe führte hinab. Überall Blut, auf den Stufen, an der Wand. »Pia!« »Hier, ich bin hier unten. Komm schon!« »Nein, bist du verrückt?« In diesem Moment splitterte Glas. Schlagartig war es dunkel. »Pia?« Stille. Franks Herz raste. Er tastete sich vor, Stufe für Stufe hinunter. Er trat in etwas Rutschiges, wäre fast gestürzt. Bachmann schrie 120
auf, klammerte sich an das Geländer. Eine Tür fiel ins Schloss. Es hallte wie ein Pistolenschuss. Dann glaubte Frank, Schritte zu hören. Leise Schritte. Sie schienen näher zu kommen. Der Reporter drückte sich an die Wand. Ein Schleifen. Frank hielt den Atem an. Wieder klappte eine Tür. Stille. Bachmann zwang sich weiterzugehen. Noch eine Stufe, dann noch eine. Wo war Pia? Er verfluchte ihren Mut, ihr Draufgängertum. Und er hatte die schlimmste, beschissenste Angst, die er jemals gehabt hatte. Angst um Pia, Angst um sein kleines Reporterleben. Noch einen Schritt, noch einen. Keine Stufen mehr. Bachmann war unten im Keller. Wieder wäre er fast ausgeglitten. War das etwa alles Blut? Ein leises Stöhnen wehte an seine Ohren. Pia! Frank schlitterte voran, Panik pochte an seine Schläfen. Dann stolperte er und fiel, bekam gerade noch die Arme nach vorn, landete auf dem Flur. Jetzt roch er es. Leichter Eisengeruch. Blut! Bachmann wandte sich um, tastete nach dem Ding, gegen das er gestoßen war. Ein Schuh, ein Bein. Dicker Stoff. Erleichterung. Pia trug ein Kleid aus dünnem Stoff. Wimmern, Stöhnen. Franks Hände wanderten weiter. Der Mensch lehnte offenbar mit dem Oberkörper an der Wand. »Ich bringe Sie hier raus, können Sie aufstehen?« Ein heftiges Keuchen. Herausgespieene Worte in einer Frank unbekannten Sprache. Dann schoss etwas Warmes in sein Gesicht. Er prallte zurück, würgte. Bachmann kämpfte gegen die Übelkeit, überwand sie, atmete flach. Die Gedanken hämmerten hinter seiner Stirn. Dem Verletzten konnte er hier in der Finsternis wohl kaum helfen. Ihn hinaufzutragen traute er sich nicht, solange er nicht die Schwere der Wunden kannte. Wann 121
kamen endlich Polizei und Krankenwagen? Und wo war Pia? Der Reporter nahm die Hand des Opfers, drückte sie vorsichtig: »Hallo, hören Sie mich? Ein Arzt ist gleich da, es wird alles gut.« Was für eine verlogene Floskel, dachte Frank, während er sich von dem Verletzten löste und aufstand. Wo war Pia? Undeutlich vernahm er Martinshörner. Bachmann tappte durch den Gang. Das Schlagen der Tür fiel ihm ein, das er gehört hatte, als er auf den Stufen stand. War die Freundin in einen Gang gelaufen? Frank erreichte ein massives Eisentor, zog es auf. Ein rötliches Notlicht funzelte, wohl von einer Heizungsanlage. Mühsam gewöhnten sich Bachmanns Augen an das Halbdunkel. Er stoppte: Eine Hasen-Maske lag auf dem Boden. Der Täter musste hier gewesen sein. Und dann sah er sie. Pia lag da, ausgestreckt, ganz friedlich. Auf der Seite, den Kopf auf den rechten Arm gelegt. Um sie herum ein See aus Blut. Zwischen ihren Rippen steckte der Griff eines Skalpells.
122
9. Frank prügelte auf das Schlagzeug ein mit einer Vehemenz und Vernichtungswut, die an Pedanterie grenzte. Aus den mattschwarzen Boxen predigte die Band Faithless ›God is a DJ‹. Spaciger, jagender Rhythmus, gnadenlos abgedreht. Über Bachmanns fahles Gesicht perlte der Schweiß. Auf der Couch ihm gegenüber lümmelte sich der kleine Heiner mit einem Sixpack Bier vor der Nase und einem Sixpack Ohropax in den Löffeln. Der Fotograf war in dieser Nacht keine Sekunde von Bachmanns Seite gewichen. Gemeinsam hatten sie geheult, gebetet, geflucht. Inzwischen war es kurz vor fünf Uhr. Die Musik verstummte. Langsam sanken Franks Sticks auf seine Knie. Leer war sein Gesicht, glasig der Blick. Tränen drangen vor, bahnten sich ihren Weg. Heiner stand auf, ging zur Stereoanlage, verabschiedete Faithless, fand Adiemus, gab den melancholischen Chören grünes Licht. Er ging zu seinem Freund und nahm ihn in den Arm. Langsam schnorchelte Völk aus den Tiefen des seligen Rausches hinauf an die unendlich peinvolle Oberfläche des Bewusstseins. Als er auftauchte und sein dicker Kopf durch das filigran gespannte Netz der Betäubung drückte, schmetterte vehement eine Axt in das Epizentrum seines Schmerzempfindens. Jammernd und halb blind verkroch sich der Beamte unter dem Kissen. Eine Art Schlagbohrmaschine peitschte ein Trommelfeuer an seine Schläfen. Völk krabbelte mit geschlossenen Quellmännern aus der Koje, tastete sich vom Schlaf- durchs Wohnzimmer in die Küche, fand den 123
Kühlschrank, machte ihn auf, erfühlte das, was er ersehnte, setzte an, trank und genoss das kalte, perlende, prickelnde, auf der Zunge tanzende Mineralwasser. Für einen winzigen Moment gelang es ihm, den Bohrhammer in seinen Gehirnwindungen zu minimieren. Aber dann, als hätte der Trümmertrupp seine Pause beendet, feuerte er ein neues Die-hard-Programm auf Völks Ohren. Es gab nur eine Lösung: Wieder in die Falle und zurückdümpeln in den Hafen der segensreichen Dämmerung. Aber was war das? Das da auf seiner fleckigen Breitcordcouch? Das da grunzte, ratzte und schnarchte? Das Ding mit den wässrigen Lippen, der algengrünen Haut, in die Admiral Akne ein Sperrfeuer gesiebt hatte? Das Grauen hatte definitiv ein Gesicht und dieses widerwärtige Antlitz thronte feist und fett auf Völks allabendlichem, glotzemäßig ausgerichtetem, Chipsflecken-resistentem Heiligtum. Kollege Abrissbirne fanfarte seine Neujahrsgrüße nasal in das Völk’sche Kleinreich, ließ es erbeben. Der Polizeimeister kroch wimmernd weiter, stieß gegen einen Stuhl, der gegen den Tisch polterte, an dem Völk vor Jahren mal gegessen hatte, bevor er die Couch angeschafft hatte. »He, du!«, klang es bierheiser an Völks waidwunde Ohren. Das Grauen war erwacht. »Völk, du alte Pfeife. Prost Neujahr!« »Morgen«, meinte Völk, der nun nicht mehr weichen konnte. »Geht es dir auch so beschissen?« »Nö«, rasselte der Kollege. Der Halloween-Kürbis schwang sich in die Höhe, zeigte ein Lächeln, gehackt wie mit einer Machete. »Mir geht es gut!« »Mir ganz und gar nicht.« »Kein Problem, Völk. Ich hab hier war für dich.« Pauly fingerte hustend in seiner Jacke. »Da bist du ja, mein Kleiner.« Triumphierend schwang er einen Flachmann. »Da, Kollege: Das zieht dir die Falten aus der Rübe!«
124
»Soll ich für dich anrufen?« Heiner hatte den Hörer schon in der Hand. Es war inzwischen kurz vor neun Uhr. Frank schüttelte den Kopf. Er wählte die Nummer der Intensivstation – zum achten Mal in den letzten vier Stunden. »Ach Sie, Herr Bachmann.« Die routinierte Stimme der Schwester. »Ich kann Sie ja gut verstehen, aber es nützt nichts, wenn Sie hier alle –« »Wie geht es ihr, kann ich kommen?« »Oh, ich fürchte, nein.« »Warum nicht? Wie schlimm ist es, lebt sie? Sagen Sie mir die Wahrheit!« »Moment, dazu bin ich nicht befugt. Dazu müsste ich Sie mit dem Stationsarzt verbinden.« »Ich will doch nur wissen, ob sie lebt.« »Schauen wir mal, ob ich Sie verbinden kann.« Eilig verschwand die Frau aus der Leitung. Die Warteschleife zog sich. Dann meldete sich ein Arzt: »Ihr Zustand ist kritisch.« »Darf ich kommen?« »Von mir aus. Aber Ihre Freundin ist nicht ansprechbar.« Endlich jemand, der ihm grünes Licht signalisierte. Frank und Heiner hasteten zum Polo, der neben dem Mercedes des Nachbarn stand. »Sind Sie eigentlich wahnsinnig?«, bellte eine Stimme. Herbert Feierhut. Sein Kopf blinkte rot aus einem der oberen Fenster. »Ich hab’s eilig«, beendete Frank das Gespräch, bevor es beginnen konnte. »Stopp! So nicht! Ich zeige Sie an. Ruhestörung. Ihr verdammtes Getrommel hat mir den letzten Nerv geraubt. Da, schauen Sie, das ist mein Telefon und jetzt drücke ich die Nummer der Polizei, können Sie es sehen?«, geiferte Feierhut. Er fuchtelte mit einem schwarzen Hörer herum. Heiner fing an zu lachen: »Was ist denn das für eine 125
Pappnase?« Bachmann tat begeistert: »Prima, wenn der Sigi Dienst hat, grüßen Sie ihn bitte von mir. Und sagen Sie ihm, dass er sich mal bei mir melden soll. Wir wollten mal auf ein Bier gehen.« Er öffnete die Tür des Polo mit Schwung. »Vorsicht, mein Mercedes!« Frank hatte große Lust, die rostige Tür des VW in die edel schimmernde Flanke des Benz zu stanzen. Was war das überhaupt für ein Aufkleber auf der Scheibe? Der Reporter sah mehr aus Routine als aus Neugier hin. Burschenschaft Frankonia 1872. In Treue fest, war dort zu lesen. Bachmann nahm Haltung an, salutierte in Richtung des Herrn Nachbarn und pflanzte sich dann in seinen Wagen. »Was für ein Idiot«, meinte er müde zu Heiner. »Stimmt. Sollen wir nicht lieber meinen Wagen nehmen?«, quengelte der Fotograf, während er mit dem Gurt kämpfte. »Wir wären erheblich schneller, ungefähr zehnmal so fix.« »Nein, heute nicht. Meine Anlage ist besser.« Frank schob eine Kassette rein und startete den Motor. Heiner nickte ergeben. Heute war eine Ausnahme. Er puhlte eine Zigarette aus dem Päckchen, klemmte sie nachdenklich zwischen seine Lippen. Er vergaß, sie anzuzünden. Ein böses Erwachen bescherte dieser Neujahrstag auch dem örtlichen Leiter einer Boulevardzeitung. Torsten Teppe fuhr hoch, als sein Handy losgellte. Beethovens Fünfte, was für eine dämliche Melodie. Hektisch tastete er nach dem handlichen Teil und fand es auf der Konsole neben seinem Bett. Er machte Licht. 7.19 Uhr. Mühsam konnte er die Nummer des Anrufers auf dem Display ausmachen. Teppe erstarrte. Da rief nicht irgendjemand an, da war Gott am anderen Ende der Leitung. Franz-Josef Todt. Der Lokalfürst zitterte, als er das Knöpfchen drückte. »Teppe?« 126
»Ich hoffe, Sie haben ein Team draußen.« »Wie, was?« »Habe ich mich verwählt? Das kann ich nicht glauben.« »Nein, nein. Teppe hier. TOP Nürnberg! Gutes neues Jahr, Chef!« »Kein Gequatsche. Wie viele Leute haben Sie vor Ort?« Teppe begriff nicht ansatzweise, worum es ging. Vorsicht war geboten. »Ach so, alle verfügbaren Kräfte natürlich«, log er. Irgendein dickes Nugget war in seinem Claim entdeckt worden. Und er schürfte im Nichts. »Gut. In drei Stunden rufen Sie mich an und informieren mich über die Längen der Artikel und die Fotolage. Punkt 10.20 Uhr.« »Klar doch, machen wir, Chef!« »Nicht quatschen. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Ran.« Teppe fiel in sein Bett zurück. Jetzt war er am Ende. Welche Goldmine war da aufgetan worden? Und das an seinem freien Samstag. Volles Grusel-Programm. Seine Überraschung wandelte sich in Wut. Wieso hatte man ausgerechnet ihn am Haken, wenn man im Teich der Sensationen fischte? Schlau dich auf, befahl er sich und begann zu telefonieren. Bei der Polizeibereitschaft holte sich der TOP-Lokalchef erwartungsgemäß den Hinweis auf den Polizeisprecher ein – und der stünde Montag ab neun Uhr zur Verfügung. Das wäre in etwa fünfzig Stunden. Bis dahin war Teppe erledigt. Er brauchte schnellstens Verstärkung. Teppe prügelte Dreistes Handynummer ins Telefon und ignorierte das unwillige Grunzen des freien Mitarbeiters: »Ich geb dir fünfzehn Minuten. Lass deine Drähte glühen. Ein dicker Hund streunt durch unser Revier. Mach!« Teppe massierte seine Schläfe. Von wegen freier Tag. Er musste klotzen. Aber er nicht allein. »Ja?« »Wilma?« »Ja.« 127
»Komm in die Redaktion!« »Hä? Ich hab heute frei!« »Nein.« »Doch.« »Nicht quatschen, keine Diskussion.« Teppe kroch durch den Hörer. »Pass auf, Pute. Beweg deinen Pürzel in die Redaktion, und zwar pronto. Sonst kannst du Montag einen Termin beim Arbeitsamt ausmachen.« Er unterbrach das Gespräch. Frisch geduscht stand er vor dem Spiegel, als sich das Telefon erneut rührte. »Großes Programm«, begann Dreiste. »Ein Toter, wohl wieder ein Chinese. Dazu eine Frau. Akute Lebensgefahr. Unsere Organfreunde haben wieder zugeschlagen, scheint es.« Teppe wurde es heiß: »Weiter, weiter, weiter.« »Fotolage Toter negativ. Ein hier unbekannter Kellner aus China. Der Täter hat ihm ein Organ herausgeschnitten. Welches, weiß ich noch nicht. Hab noch nicht mal seinen Namen. Für den interessiert sich niemand.« »Doch, wir. Das akzeptiere ich nicht. Geh ran, ganz dicht ran, verdammt!« »Cool down. Die Frau ist viel interessanter …« »Ach?« »Eine Kollegin.« »Komm, komm, komm!« »Bachmanns Freundin, diese Kulturtante vom Blick, Pia Ferenci. Der Täter hat ihr ein Skalpell in den Leib gerammt. Knapp unter das Herz. Die Ärzte geben ihr höchstens fünfzig Prozent.« Teppe grinste. Die zugegebenermaßen äußerst attraktive Feuilletonistin hatte ihn mal böse auflaufen lassen, als er sich ihr auf dem jährlichen Presseball hatte nähern wollen. »Von der muss es ein Foto geben«, rief der TOP-Mann. »Kein Problem.« Teppe atmete tief durch. Die Fotobeschaffung war für TOP 128
absolut das Wichtigste. Der Lokalfürst ließ sich die weiteren Fakten durchgeben. Die Informationslage war noch ein zartes Pflänzchen, würde sich aber bald zu einer reifen Frucht wandeln, da war sich Teppe sicher. Er kannte Dreiste gut genug. Und er – Teppe – würde die Frucht pflücken und dem Chefredakteur servieren. Teppe glaubte noch einen weiteren Vorteil zu haben. Konnte Kontrahent Bachmann in die Geschichte einsteigen? Wie hart war er? Konnte er Job und Frau trennen? Nein, glaubte der TOP-Mann, der war zu weich. Er trottete zum Fenster, sah auf die leere Straße, durch die der Wind die Verpackungen von Feuerwerkskörpern jagte. Die Knaller der Nacht trieben leer und vergessen über den Bürgersteig. Oder war Bachmann zu sehr Profi? Teppe löschte den Gedanken lieber aus seinem Kopf. 10.20 Uhr, das galt. Daran wurde er gemessen. Sie würden liefern – für TOP-Sonntag. Schnell, aktuell, mit Foto. Bachmann würde an diesem Job zerbrechen. Sollte er. Einer weniger auf Teppes Claim. Der TOP-Mann rasierte sich und fuhr in die Redaktion. Pias Gesicht glich einer Maske. Einer Totenmaske. Ein hellgraues Weiß wie ein zarter Nebel. Frank stand seit fast einer halben Stunde an ihrem Bett, nicht minder bleich. Heiner, der sich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten hatte, nahm Franks Hand und zog ihn behutsam von Pia weg. »Komm, du kannst nichts für sie tun«, flüsterte der Fotograf. »Lass sie schlafen.« Bachmann ließ sich ohne Widerstand führen. Heiner verfrachtete Frank ins Auto und brachte ihn in seine Wohnung. Dort setzte er ihn auf sein Bett und flößte ihm einen starken Grog ein. Eine Viertelstunde später hatte Heiner den Freund in dem 129
Zustand, in dem er ihn haben wollte – Bachmann schlief. Um halb neun Uhr griff Teppe zum Telefon. Seine Zeit lief allmählich ab. »Hast du endlich das Foto von der Tante?« »Sicher«, antwortete Dreiste gelassen. »War kein Problem, wie gesagt.« Warum sagte dieser Idiot ihm eigentlich nicht gleich Bescheid, überlegte der TOP-Lokalchef. Dreiste musste doch wissen, wie sehr er, Teppe, unter Strom stand. Das macht er absichtlich, ahnte Teppe. »Farbe?« »Logo.« »Wie viel Text?« »Locker achtzig.« »Was wissen wir?« »Wir wissen nichts. Wenn, dann weiß ich etwas.« »Geschenkt. Mach voran!« »Passierte während einer Feier. Bei Brockmüller.« In fünf Minuten hatte Dreiste Teppe den Fall dargelegt. »Gut«, meinte der Redaktionsleiter. »Das können die Hamburger ruhig bundesweit auf die Seite eins zimmern. Komm rein und schreib.« »Langsam. Du hast das Foto noch nicht«, bremste ihn Dreiste. »Was, wie meinst du das?« »Wie ich es sagte: Du hast das Foto nicht. Ich habe es.« Teppe wurde unruhig. »Ich kaufe es dir ab – wie immer. Wo ist das Problem?« Dreiste lachte heiser: »Komm, Teppe, stell dich nicht so blöd an. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir das Bild zum üblichen Honorarsatz überlasse. Ich pfeife auf deine lächerlichen 165 Mark.« »Fünfhundert.« Das Lachen wurde lauter. »Tausend. Keinen Pfennig mehr.« Dreiste wurde schlagartig ernst: »Fünf Riesen, Teppe. Cash!« 130
»Niemals!« »Mir egal. Das Foto verkauf ich in der nächsten halben Stunde an zig Redaktionen.« »Du wirst heute niemanden erreichen. Nicht an einem Samstag, nicht an Neujahr. Noch nicht einmal in unserer Branche.« »Das lass mal meine Sorge sein. Ich geb dir zwanzig Minuten Zeit. Wenn ich bis dahin nichts von dir höre, verkaufe ich das Bild anderweitig. Hast du mich verstanden? Und schönen Gruß an Herrn Todt.« Dreiste verschwand aus der Leitung. »Dieser Abzocker!«, fluchte Teppe. Fünftausend! Dreiste hatte einen an der Mütze. Den Betrag musste er sich von ganz oben absegnen lassen. Fünf wertvolle Minuten ließ er untätig verstreichen. Doch dann musste der TOP-Mann handeln. Ungern rief er den Herrgott an. »Teppe hier, gute Nachrichten, Chef.« »Machen Sie es kurz.« Teppe kabelte die Fakten durch. »Fotos?«, fragte Todt, als sein Leibeigener fertig war. »Da liegt das Problem …« »Es gibt kein Problem, weil es bei dieser Geschichte kein Problem geben darf. Wenn Sie die Fotos nicht auftreiben, haben Sie den Job verfehlt, Kollege Teppe.« Kollege Teppe – jetzt wurde es gefährlich. »Es gibt ein Foto von der Frau. Aber der freie Fotograf verlangt fünftausend Mark.« Eine ungute Pause entstand. »Ist es einer von Ihren freien Mitarbeitern?«, fragte der Oberboss schließlich. Eine Fangfrage, wusste Teppe. Er gestand: »Ja.« »Dann haben Sie Ihren Laden nicht im Griff.« Treffer, versenkt! Teppe spürte Schweiß auf der Stirn. »Wir zahlen trotzdem. Legen Sie das Geld aus. Aber das war 131
das letzte Mal. Wenn alle Redaktionsleiter so unverantwortlich wirtschaften würden wie Sie, könnten wir den Laden bald dichtmachen«, meinte Todt kalt. »Vielleicht sollten wir uns bei Gelegenheit noch mal über die Leserbriefredaktion unterhalten.« »Nein, nein, nein!« »Wie bitte? Hören Sie mir gut zu, Kollege Teppe. In Ihrem Vertrag steht ausdrücklich zum Thema Aufgabenbereich und Einsatzort: nach Weisung der Chefredaktion. Und wenn ich der Meinung bin, dass Sie morgen am besten den Hof kehren, dann haben Sie morgen einen Besen in der Hand. Und wenn ich meine, dass Sie vielleicht besser die Toiletten reinigen, dann haben Sie statt des Besens eine Klobürste in der Hand. Was also ist so schlimm an der Leserbriefredaktion?« »Nichts«, murmelte Teppe. »Gut, ich sehe, wir haben uns verstanden.« Nichts war von der üblichen schlafmützigen Trägheit geblieben, die einen Neujahrstag sonst auszeichnete. Übernächtigte und verfrorene Reporterteams quälten sich durch die Innenstadt, auf der Suche nach O-Tönen, Infos und Fotos. Nachdem die Hörfunk-Reporterin die Nachricht von dem Mord und der schwerstverletzten Journalistin verbreitet hatte, gab es kein Halten mehr. Neujahrsbabys, durch Feuerwerkskörper entstellte Gesichter und andere potenzielle Aufmacher kamen erst einmal in die Warteschleife. Die Redaktionsbosse – im Warmen – jagten ihre Leute raus in den Frost. Nürnberg hatte selten einen ähnlichen Medienauftrieb erlebt. Auch die Blick-Redaktion hatte sich am Nachmittag trotz des freien Tages zu etwa einem Viertel gefüllt. Frank saß vor dem leeren Bildschirm, seine Finger ruhten auf der Tastatur. Schreib, sagte er sich. 132
Nichts ging. Lähmung. In seinem Hirn klopfte Heiners Grog. Hinzu kam die Nacht. Pia. Er rief Brockmüller an. Der Chef hatte Verständnis, dass Bachmann den Bericht abgeben wollte. Dembinski, eine neuer hungriger Kollege, bekam den Zuschlag. Nur diesen einen Bericht würde Frank abgeben, nur diesen einen. Sonst würde er an der Geschichte dranbleiben, hatte Bachmann gegenüber dem Chef hervorgehoben. The show must go on. Tag für Tag, Blatt für Blatt, Schlagzeile für Schlagzeile. Die Rotation raste unaufhörlich, erbarmungslos spie sie das grell geschminkte Papier auf den Boulevard, damit es sich dort prostituierte wie eine heilige Hure auf dem Markplatz der eitlen Sensationen. Kauf mich, nimm mich, verschling mich, benutz mich und dann schmeiß mich weg bis zum nächsten Morgen. Bis dahin hab ich mich für dich wieder zurechtgemacht. Bachmann ging hoch in Heiners Reich. Der Freund saß vor der Foto-Station, die aus Bildschirm, Scanner und Tastatur bestand. »Schafft sie es?«, fragte Frank. Der Fotograf sah zu ihm hoch: »Sicher.« »Schattenland. An der Grenze zwischen Leben und Tod. Da ist sie jetzt.« »Nein, Frank.« »Warum?« »Sie ist auf unserer Seite. Nicht an der Grenze.« »Ja?« »Ja.« Wilhelmi massierte sein aschgraues Gesicht. Die Silvesterparty war ein Fiasko gewesen. Dann der Leichenfund und die halb tote Journalistin. Eine Katastrophennacht. Fast war er froh gewesen, seinem selten blöden Fest und den noch viel blöderen Gästen zu entkommen. Aber auch nur fast. Denn der Bienenschwarm der Presse hatte sich nach Pia Ferencis Verletzung in einen tollwütigen Hornissenhaufen verwandelt. 133
Da waren die Medienvertreter ähnlich schlimm wie die Taxifahrer. Wehe, es wurde ein Chauffeur überfallen und es gelang dem Opfer, über Funk Hilfe bei seinen Kollegen zu holen. Wenn die Taxifahrer den Täter vor der Polizei erwischten, stand es schlecht um die Gesundheit des Täters. Unvergessen allerdings auch die Untersuchungen gegen zwei Beamte, die, während ein aufgebrachter Taxifahrer-Mob einen Räuber zusammenschlug, am Wagen gelehnt und geraucht hatten. Das Telefon riss den Kommissar aus seinen finsteren Gedanken. »Von Werdenfels hier. Frohes neues Jahr!«, meinte der Polizeipsychologe. »Sehr witzig.« »Wie geht es dir?« »Die Frage meinst du unmöglich ernst.« »Okay. Wie verheerend sieht es aus?« »Schlimmer geht es nicht.« »Dachte ich mir. Das übliche Strickmuster?« »Hm. Skalpell, Organentnahme, Zettel in einem Fall. Obduktion dauert derzeit an. Der Tote war bei einem chinesischen Restaurant angestellt, die Verletzte schreibt für den Blick.« »Spuren am Tatort?« »Dürftig. Immerhin: ein Skalpell.« »Dutzendware?« »Sieht so aus. Keine Signifikanz, nichts Ungewöhnliches. Findet man in jedem normalen OP.« »Übel.« »Ach nee«, meinte Wilhelmi gereizt. »Pardon. Apropos OP: Habt ihr Spuren in der Klinik gefunden, in der eingebrochen worden ist?« »Nein. Niemand hat etwas gesehen. Und die Täter haben den Operationssaal fast so steril hinterlassen, wie er war. Derzeit klopfen wir Chans Umfeld vorsichtig ab. Wir suchen Namen, 134
kramen in seiner Vergangenheit. Wir haben die chinesischen Behörden um Amtshilfe gebeten. Das zieht sich, blöde Bürokratie. Aber so bleiben wir wenigstens in Bewegung, wir tun etwas, irgendetwas, verstehst du? Die Presse sitzt uns im Nacken. Und der Polizeipräsident. Er will Resultate, bevor die Medien seine Truppe zerpflücken. Der Präsi hegt nach den Landtagswahlen im Mai Ambitionen auf das Amt des Justizministers, wie du weißt. Er will nicht nur glänzen, er muss es.« »Du auch.« »Nein, das habe ich mir abgeschminkt. Ich will den Fall lösen. Mehr nicht.« »Mehr nicht? Ich glaube, das reicht.« »Genug geplauscht. Hast du noch was für mich?« »Ja, aber nichts, was dich aufbauen wird.« »Hab ich auch nicht erwartet.« Wilhelmi fixierte die friedliche Schneelandschaft auf dem dämlichen Kalender und lud plötzlich auf: »Warum hast du überhaupt angerufen, verdammt noch mal?« »Ruhig bleiben, ich hielt es für meine Pflicht.« Der Kommissar lachte irre: »Klasse! Pflicht, mehr davon!« Dieses Foto reizte ihn. Diese Stille, dieser frostgewordene Frieden. Er riss die oberste Schublade seines Schreibtisches auf. »Also, was ich sagen wollte: Der europaweite, psychologische Täterabgleich hat nichts gebracht. Wir sind sämtliche Unterlagen durchgegangen. Null. Sorry.« »Okay, nicht deine Schuld.« Wilhelmi legte auf. An einen Psychopathen als Täter glaubte er sowieso nicht mehr. Das Zippo-Feuerzeug lag gut in seiner Hand. Zipp-zapp-zippo. Die Flamme stand hell und loderte. Mit wenigen Schritten war der Kommissar bei dem Kalender. Es war ungemütlich kühl in der Wohnung der Brehms. Das neue Jahr zeigte ihnen die kalte Schulter. Bruno drehte die Heizungen auf, machte die Stereoanlage an. »Hier, hier ist die Stelle!«, rief Bernhard aufgeregt. 135
»Bitte nicht wieder ein Zitat aus deinem schlauen Buch.« »Doch!« »Verschon mich. Du warst sonst immer ein intellektueller, gebildeter Mensch«, stöhnte Bruno. »Aber in letzter Zeit machst du mir Sorgen mit deinen Erzählungen von diesen – wie heißen sie noch mal?« »Nahtoderfahrungen. NTE.« »Firlefanz! Was fasziniert dich daran nur so?« »Bruno, wir sind nicht mehr die Jüngsten …« »Mag ja sein.« »Versteh doch: Der Tod verliert für mich an Schrecken durch diese Berichte. Sie helfen mir.« »Okay, ich gebe mich geschlagen. Erzähl.« »Es ist die Geschichte von Alan, einem damals 26jährigen Motorradkurier in Wolverhampton. An einem dunklen, regnerischen Morgen im Jahr 1996 schlängelt er sich mit seiner Yamaha durch den Verkehr. Plötzlich gerät vor ihm ein Lkw ins Schleudern und stürzt um. Alan versucht auszuweichen. Die Maschine rutscht weg, Alan fällt auf die Straße und wird von einem nachfolgenden Wagen überfahren. Er habe ein knallendes Geräusch gehört, ganz nah an seinem Ohr, berichtet er später. Und nun wird es faszinierend: Denn Alan steht buchstäblich neben sich. Er spürt keine Schmerzen, er fühlt sich prima. Und neben sich sieht er einen zusammengekrümmten Körper in seinem Blut liegen. Dieser Körper steckt in einer Motorradmontur und erst jetzt wird Alan klar, dass es sein Körper ist, der da liegt. Doch der junge Mann gerät nicht in Panik, er bleibt ganz gelassen. Er besieht sich die Sache, ruhig, aber distanziert. Gaffer haben sich um seinen Körper auf dem Asphalt versammelt, Sanitäter und ein Arzt stürmen heran. Alans Körper wird in einen Krankenwagen getragen. Und immer noch bleibt der junge Mann ruhig. Er schließt die Augen und befindet sich plötzlich auf einer Wiese. Die Sonne scheint, so erzählt er, Musik erklingt. Er ist an einem herrlichen Ort angekommen. Menschen in langen Kapuzen 136
laufen an ihm vorbei. Er kann ihre Gesichter nicht erkennen. Aber er spricht mit ihnen wie mit alten Freunden. Einer von ihnen sagt dann, dass Alan wieder gehen müsse. Er sei noch nicht richtig tot. Alan ist total enttäuscht. Er bettelt die Gestalten an, dass sie ihn nicht wegschicken. Doch sie bleiben hart. Das Letzte, was Alan in dieser schönen Welt sieht, ist eine unheimlich helle und warme Sonne. Dann erleidet er wohl eine Art Schock – denn als Nächstes findet er sich auf einer Trage wieder, in der Notaufnahme einer Klinik. Ärzte umringen ihn und machen Dinge, die ihm wahnsinnig wehtun. Alan berichtet im Nachhinein, was für ein schreckliches Gefühl das war, wieder auf der alten Welt zu sein. Lange Zeit traut er sich nicht, über seine Erfahrung zu sprechen. Er hat Angst, dass man ihn auslachen wird. Nicht, dass er keinen Spott vertragen kann. Aber seine Erfahrung ist ihm zu kostbar. Er will nicht, dass man sie in den Schmutz zieht. Erst viel später vertraut er sich einem Arzt an. Dabei erfährt er, dass er klinisch tot gewesen ist und eine Nahtoderfahrung gehabt hat – und dass er kein Einzelfall ist. – Der junge Mann war sehr erleichtert, dass es noch andere Menschen gibt, denen Ähnliches widerfahren ist.« Hier machte Bernhard ein Pause. Ließ die Worte wirken. »Meinst du nicht, dass Alan ein religiöser Eiferer ist?«, fragte Bruno. »Nein, das ist er sicher nicht. Die Ärzte schildern ihn als Atheisten – bis zu seiner Nahtoderfahrung. Du siehst, du liegst mit deiner Einschätzung daneben, lieber Bruno.« Der Bruder nickte, hob ergeben die Hände: »Mag sein, dass dein Alan seriös ist. Und du folgerst aus dieser Geschichte, dass der Tod erstrebenswert ist?« »Nein, das will ich damit nicht sagen. Aber er ist eine Alternative.« »Zu was?« »Zu einem Leben mit Schmerzen.«
137
10. Wieder im Dienst. Völk zwängte sich in seine beige Uniformhose. Es gelang, indem er seine erhebliche, expandierende Speckhalde über den Gürtel wallen ließ, den im Fett verschwundenen Knopf suchte und mit einem Seufzer im reißfesten Loch verankerte. Der Beamte war gut drauf. Der oberste Mordermittler stocherte im Nebel, aber er, Völk, hatte ein knalliges Interview gegeben. Er musste der Stolz der Truppe sein. Sogar in den Ferien war er im Einsatz gewesen. Auch wenn der Zufall dabei eine Rolle gespielt hatte. Das brauchte ja niemand zu wissen. Wenn die ganzen Penner vom Schlag eines Wilhelmis schon nichts auf die Reihe bekamen: Völk stand seinen Mann. Pfeifend riss er die Wohnungstür auf – und hielt abrupt inne. Auf seiner Fußmatte lag eine Ratte. Der Bauch war aufgeschlitzt. Die Gedärme quollen hervor. Schwarze Stecknadelaugen, leer. Neben dem Kadaver klebte im Blut ein Zettel mit Schriftzeichen. Völk ahnte, dass es Chinesisch war. Er schluckte. Ein Gruß der Triaden. Sie ließen ihn nicht aus den Augen. Ein Angstschauer lief ihm über den Rücken. Sie konnten ihn jederzeit fassen und ausweiden wie diese Ratte – war es das, was sie ihm sagen wollten? Wütend packte Völk den Läufer und rollte das Tier darin ein. Einen Moment lang überlegte er, ob er es der giftspritzigen Göderlein vor die Tür legen sollte. Doch die Alte würde Völks Matte wieder erkennen – keine war so schmutzig wie die des Beamten, behauptete die elende Schabracke. Also warf der Polizist das Vieh in die Gemeinschaftsmülltonne. Als er an der Bushaltestelle vor dem Präsidium ausstieg, lief er Pauly in die Arme. Völk schob die Brust heraus. 138
Die Abrissbirne zeigte ihr zackenbewehrtes Lächeln: »Gratuliere, Filmstar.« »Es war mir ein Leichtes.« »Glaube ich dir, du Schwätzbär.« »Wie, was?« Pauly packte Völk am Kragen und presste ihn gegen das Wartehäuschen. »Mit deiner abgefuckten Eitelkeit machst du uns alle lächerlich. Ich habe den Beitrag inzwischen gesehen. Auf Video.« »Du bist ja nur neidisch.« Paulys Hände schlossen sich um Völks Hals. Er drückte spielerisch zu. Völk spürte die Furcht erregende Kraft. »Was ist los mit dir?« »Hör zu: Wir sind keine Filmstars, keine Top-Ermittler, keine Helden. Das ist wie bei einem Weihnachtsbaum, Völk. Oben strahlt der Stern, der Präsi oder wer auch immer. Und unten im Dickicht der Zweige, die sich gegenseitig das Licht nehmen, da sind wir. Klein, opportunistisch, nie greifbar und geborgen in der Masse der Austauschbaren. Versuche nie, das Licht aus der Spitze zu ziehen, dafür bist du eine Nummer zu klein.« »Ich habe nur meinen Job gemacht. Nicht ich bin zu den TVFuzzis gegangen, sondern die sind zu mir gekommen.« Pauly verstärkte den Druck: »Schwachkopf! Du warst auf dem Tablett, hast dich servieren lassen. Glaubst du, das schmeckt den Oberen? Das wäre mir egal. Solange das nicht ein Anlass ist, uns unter die Lupe zu nehmen, verstehst du das, du gottverdammter Idiot? Die haben jetzt ein Auge auf uns, weil du den Scheinwerfer nach unten gedreht hast – auf uns. Was wird aus unseren Spielchen mit den Pennern, mit den Nutten, mit dem Strandgut der Nacht? Soll sich darum wirklich jemand anderes kümmern als wir?« »Nein. Das war doch schon immer unser kleines, gemeinsames – äh – Ding.« Pauly löste den Griff. »Genau. Halt dich an die Regeln!« 139
Frank startete den Motor und verließ den Parkplatz des Krankenhauses. Leise pfiff er vor sich hin. Pia war außer Lebensgefahr. Bleibende Schäden seien nicht zu befürchten, hatten ihm die Ärzte versichert. Bachmann hatte sogar ein paar Worte mit Pia wechseln können. Wenn dieser Alptraum vorbei war, würden sie beide in die Sonne düsen. Jamaika, Barbados – egal, Hauptsache warm und weit weg. In der Redaktion las Frank aufmerksam den Bericht seines Kollegen über den Anschlag in der Neujahrsnacht auf Pia und den Kellner. Der Junge hatte ziemlich gute Arbeit geleistet und sich beim Schreiben über Pia angenehm zurückgehalten. Man hatte ihr Foto nur klein gebracht, um ihre Rolle in der Geschichte so weit es ging herunterzuspielen. Ganz anders war TOP zur Sache gegangen. Pias Gesicht zierte das rechte obere Viertel der Seite eins. WARUM SOLLTE DIESE SCHÖNE FRAU STERBEN?, blaffte die Headline. Die Unterzeile erklärte den fetten Überbau und nahm ihm damit den Schwung: Wieder Anschlag der Organmafia – Kellner ermordet – Redakteurin schwer verletzt – Was wusste sie von den Tätern? Frank feuerte das Blatt in den Papierkorb. Was wusste sie von den Tätern? Eine typische TOP-Frage, zu der diese Kollegen ohnehin keine Antwort hatten und auch gar nicht finden wollten. Spekulativ in den Raum gestellt. Es könnte ja stimmen, dass sie etwas gewusst hatte und deshalb sterben sollte. Nein, das war es nicht gewesen. Pia und er waren dem Täter nur zu nah gekommen. Und zufällig hatte es Pia und nicht ihn, Frank, getroffen. Bachmann stand wütend auf und lief ziellos durch die Redaktion. Er umrundete die Yucca-Palme, die seit etwa zehn Jahren neben dem Kopierer vor sich hin starb und immer kurz vor dem Exitus mit einem Kännchen Wasser reanimiert wurde, 140
weil einer der Kollegen bemerkt hatte, dass so viele welke Palmwedel herumlagen. Der tote Kellner – war auch er früher Mitglied der Organmafia gewesen, fragte sich Bachmann. Er griff zum nächstbesten Telefon und rief Gruber an. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Bachmann. Die Ermittlungen laufen ja noch.« »Weiß ich. Aber haben Sie denn keinerlei Erkenntnisse?« »Wir werden Sie zu gegebener Zeit informieren, das verspreche ich Ihnen.« »Tausend Dank«, erwiderte Frank höhnisch und legte auf. Zu gegebener Zeit. Der Offenbarungseid der Beamten. Sie hatten nichts in der Hand, aber auch gar nichts, ahnte der Redakteur. Es gab bei Polizeisprechern vier Stufen des Abwimmelns von Presseleuten – mit den dazugehörenden Klangfarben der Stimme: Stufe eins (euphorisch, sonor): »Kommen Sie heute Mittag zu unserer Pressekonferenz, da erfahren Sie Genaues.« Übersetzung: Wir haben den Täter längst und werden ihn nachher präsentieren! Stufe zwei (leicht genervt, aber ernst und energisch): »Wir können aus ermittlungstaktischen Gründen derzeit nichts sagen, warten Sie unsere morgige Pressekonferenz ab.« Übersetzung: Wir kennen den Täter und sind zuversichtlich, ihn in den nächsten 24 Stunden zu fassen. Und jetzt stören Sie uns nicht länger! Stufe drei (gedämpft, dezent kumpelhaft): »Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen, ich bitte Sie! Aber wir sind auf einem guten Weg und werden Ihnen schon bald Ergebnisse präsentieren können.« Übersetzung: Die Spurenlage ist ziemlich bescheiden, aber nicht hoffnungslos. Rufen Sie frühestens in drei Tagen wieder an! Stufe vier (gequält, direkt aus der Hölle): »Wir werden Sie zu 141
gegebener Zeit informieren.« Übersetzung: Der Täter ist leider schlauer als wir, wir haben keinerlei brauchbare Spur, wir haben bisher völlig versagt. Bitte rufen Sie nie wieder deswegen an! In der Konferenz fiel Franks Beitrag entsprechend dünn aus, zumal sich in seinem Ressort auch sonst nichts ereignet hatte. »Vielleicht ganz gut, wenn wir das Thema vorübergehend zurückstellen«, meinte Brockmüller. »Wie sieht es in der Politik aus?« Treiber, verantwortlich für diesen Bereich, trumpfte auf. Man hatte ihm den vertraulichen Bericht des Rechnungsprüfungsausschusses, der einen tiefen Blick in die Finanzen der Volkshochschule geworfen hatte, zugespielt. Ergebnis: nicht eingeforderte Kursgebühren in sechsstelliger Höhe, falsch kalkulierte Zuschüsse – Treiber listete jede Menge Schlampereien auf und gewann den Aufmacher. Bachmann schrieb einige Meldungen und fieberte dem Abend entgegen – dem Termin bei Dr. Li Hong. Der Müllwagen fuhr rückwärts in die große, hohe Halle der privaten Kompostieranlage, deren Boden betoniert war. Ein Kommando erschallte und der Lkw stoppte abrupt. Jetzt hob sich sein Hinterteil in die Höhe, eine Luke schwang auf und ein Schwall mit übel riechenden Bioabfällen ergoss sich auf den Boden. Der Wagen fuhr wieder aus der Halle. Seinen Platz nahm ein Bagger ein, der den Dreck auseinander zerrte. Thomas Radzuweit inspizierte kurz den Abfall. Seine Aufgabe war es, große Fremdkörper herauszufischen. Unglaublich, was sie schon alles gefunden hatten: Autobatterien, Nähmaschinen, Bauschutt, eine halbe Ziege, einen kompletten Motorblock. Doch diesmal erblickte Radzuweit nichts. So schob er den Müll wieder zusammen und bugsierte ihn zu einer Schütte. Dort platschte der Biomüll auf ein Förderband, das seine bestialisch stinkende Fracht zum nächsten Kontrollpunkt transportierte. In einem knapp sechs Quadratmeter großen Verschlag klebten 142
die Leiharbeiter Robert und Franz rechts und links des Bandes, das den Raum der Länge nach durchschnitt. Die Männer trugen Mundschutz und löchrige Handschuhe. Hin und wieder griffen sie zu, wenn etwas sie passieren wollte, was nicht aufs Band gehörte. Franz fischte eine Strumpfhose aus dem Dreck, in der sich Fischgräten verfangen hatten. »Mann, das erinnert mich an den Porno, den ich gestern, nee, weiß ich nicht, auch egal, angeguckt habe. Da lief so ein Luder rum, in solchen Nylons. Und nuschelte so dämlich, mit irgend so ’nem Dialekt. Französisch glaube ich. ›O, là là, isch bin verzückt‹, so klang das. Fehlt nur noch ein schönes Frauenbein zu diesen scharfen Nylons«, lachte er. Robert schnappte eine Colabüchse, warf sie hinter sich in einen Behälter für Blechabfälle. »Na klar. Ausgerechnet hier.« »Wieso? Sind doch viele scharfe Tussis hier.« Franz spielte auf die Poster mit Penthouse-Mädchen an, die an den fleckigen Wänden hingen. Robert folgte seinem Blick und ließ deshalb die Pedale eines Fahrrades durchflutschen. »Tja«, seufzte er. »Guck mal da!« Franz deutete auf das Band. »Was ist denn das?« Er griff zu. »Ein Gebiss!«, jubelte Franz. Er ließ es aufund zuklappen. Robert schüttelte den Kopf: »Mach deine Arbeit, hör auf mit dem Unsinn.« »Isch beiß disch gleisch«, imitierte Franz die Porno-Actrice. »Isch bin eine schöne Frau. Die mit den Nylons. Isch will an deinem Hals knabbern, mon amour.« Die Kunstzähne schlugen aufeinander. »Hör auf!« Robert zog einen Plastiksack vom Band. Dabei riss die Tüte auf. Dem Arbeiter schlugen sechs tote Katzenbabys vor die Füße. »O non. Erst Nylons, dann ein Gebiss. Die Zeichen stehen auf Amour!« Franz zauberte aus seinem speckigen Overall eine 143
Sonnenbrille hervor. »Und, seh isch cool aus?« »Du hast ’nen Knall.« »Isch mach disch fertig mit meine Züng!« Jetzt musste auch Robert lachen: »Schluss jetzt mit dem Quatsch.« Franz tanzte auf seiner Seite des Bandes auf und ab: »Pflück misch, isch bin der Salatt!« Robert schob die Katzenkadaver mit dem Fuß unter das Band. Sollte sich die Putzfrau darum kümmern. Tröstlich, dass es immer noch jemand unter ihm und diesem durchgeknallten Möchtegernfranzosen gab. Sein Kollege zündete sich eine Zigarette an, paffte kokett. »He, ist noch nicht Pause, du Schwuchtel«, wies ihn Robert zurecht. »Egal. Meinst du im Ernst, das merkt jemand?« »Halt die Klappe.« Robert schlug unvermittelt auf den roten Knopf, der das Band im Notfall stoppte. »Was ist?«, rief Franz. Das übliche käsige Weiß war aus Roberts Gesicht gewichen. Grün dominierte. »Sag schon, warum …?« Franz fixierte das Förderband. »Da«, meinte Robert tonlos. »Wo, da?« »Neben den Tomatenresten und den Bananenschalen. Ganz vorn am Band. Bist du blind?« Franz wich zurück. Er presste sich gegen die Wand, riss die Sonnenbrille herunter. »Wo die Fliegen sind?« »Fliegen sind immer da.« »Ja? Aber nicht so viele.« »Egal. Fliegen sind immer da.« »Sie sind so laut. Nie waren sie so laut«, flüsterte Franz. »Nein. Fliegen sind immer da. Ob Müll, Tier oder Mensch. Auf dem Band sind alle gleich vor dem Herrn. Und vor den Fliegen.« 144
Langsam löste sich Franz aus der Starre. »Wie, Mensch?« Er trat einen Schritt näher zu dem dicken Gummi, das sich unter seiner feuchten, dampfenden Last spannte. »Du meinst, der schwarze Klumpen da ist ein – ein Mensch?« Teppe fühlte sich unbehaglich. Er hatte zwar das Foto geliefert: Pia Ferenci. Aber Teppe wusste genau, dass er sich nicht in Sicherheit wiegen durfte. Er hatte alle verfügbaren Kräfte hinausgeschickt, um eine Nachdrehe zu bekommen. Gut wäre ein Foto von dem Chinesen. Das Telefon ging. »Sind Sie zufrieden?« Todt. Der Herr. Der Gebieter. Die Macht. Teppe wiegelte ab: »Na ja, schon. Was meinen Sie?« Schweigen. Teppe legte nach: »Andererseits bin ich niemals ganz zufrieden. Zufriedenheit heißt Stillstand, ist es nicht so?« »Sparen Sie sich diese Phrasen«, kanzelte ihn Todt ab. »Selbstverständlich.« »Liefern Sie die Nachdrehe. Was bei uns im Blatt war, stand auch im Blick. Der einzige Unterschied manifestierte sich darin, dass wir mehr für das Foto dieser Kulturkollegin gezahlt haben. Also: Sind Sie zufrieden?« »So gesehen sicher nicht.« »Trauen Sie sich zu, Leserbriefe so zu kürzen, dass ihr Sinn nicht entstellt wird?« Teppe wand sich: »Sicher, warum nicht?« »Ich sehe, Sie verstehen mich.« »Natürlich, Chef. Natürlich verstehen wir uns.« »Stopp. Ich verstehe Sie ganz und gar nicht.« »Warum denn nicht?«, flüsterte Teppe. »Was machen Sie gerade?«, lauerte Todt. »Ich telefoniere mit Ihnen, oder?« Ein leises Stöhnen ertönte: »Sehr gut, Kollege. Sie sind ein 145
wirklich guter Mann. Reaktionsschnell, clever, schlagfertig. Auf Leute wie Sie haben wir immer gewartet.« »Freut mich zu hören.« »Was machen Sie denn sonst so?« »Tja –« »Dachte ich mir. Wissen Sie was: Ein wirklich guter Mann wäre jetzt draußen. Dort, wo es kracht. Er wäre vor Ort. Nah dran, ganz nah dran.« »Bin schon unterwegs.« »Lassen Sie’s gut sein. Auf Leute wie Sie haben wir wirklich immer schon gewartet.« »Danke.« »Ja, haben wir. In der Leserbriefredaktion. Auf Wiederhören.« Teppe ließ den Hörer sinken. Er hatte Angst. Und war wütend. Die Nachdrehe. Ein guter Mann wäre jetzt draußen. Klasse. Lieber Meister Todt, ein guter Mann sorgt dafür, dass er gute Leute in den Sturm schickt und selbst im Warmen bleibt. Am besten verheizte man freie Mitarbeiter. Zeilenknechte, die liefern mussten, um nicht zu verhungern. Egal bei welchem Wetter. Die nie krank sein durften, weil sonst Ebbe in der Kasse war. Die keinen Urlaub kannten. Das waren die besten Leute! Immer willig, immer einsatzbereit. Und fällt mal einer aus, steht der nächste auf der Matte. Solidarität – ein Fremdwort. Hyänen, die sich gegenseitig zerrissen. Prima Leute, die normalerweise nie aufmucken. Wer beißt schon die Hand, die ihn füttert? Eine Ausnahme bildete dieser elende Abzocker Dreiste. Das lag aber lediglich daran, dass der Mistkerl auch an andere Blätter verkaufte, was den wenigsten seiner Konkurrenten gelang. Toppe rief Dreiste an: »Komm, komm, komm, wie ist die Lage?« »Gemach.« »Nullinger. Ansage. Jetzt.« »Stress?« 146
»Mir ist nicht zum Plauschen. Fakten.« Dreiste blieb gelassen. »Du gehst mir auf die Nerven, Teppe. Du machst einen auf wichtig.« »Geschenkt. Was hast du zu bieten?« »Ich spreche gleich mit der Familie des Chinesen.« »Fotolage?« »Positiv. Der Tote hat in einer Hobby-Artistengruppe mitgearbeitet. Und die haben einen prima Flyer. Der sitzt sicher und warm in meiner Brusttasche.« »Gut. Und vergiss deine Fabelhonorare. Weihnachten war das letzte Mal.« »Kein Problem«, lachte Dreiste dunkel. »Das hoffe ich.« Ich muss dringend eine Alternative zu diesem Blutegel aufbauen, dachte Teppe, als er aufgelegt hatte. Nur leider war der Kerl nicht leicht zu ersetzen. Dreiste war sicherlich eines der unangenehmsten Geschwüre, das dem Boulevardjournalismus je entwuchert war, aber dank seiner Skrupellosigkeit und seiner exzellenten Kontakte kaum wegzudenken. Wenn er diese Pestbeule ausmerzte, würde sich Teppe derzeit selbst schaden. Er brauchte Dreiste. Noch. Dreiste verstaute das Handy in seiner Daunenjacke. »Teppe ist so gut wie erledigt«, meinte er zu seiner Frau. Sie sah ihn an und durch ihn hindurch. »Ich habe gerade mit Todt gesprochen.« Keine Reaktion. »Ich habe gerade mit Todt gesprochen, hast du nicht gehört?« Sie nickte. »Die werden Teppe in die Zentrale holen, sagt er. Kaltstellen. Und dann wird die Stelle des Lokalchefs hier frei.« Nochmaliges Nicken. Im Fall Astrid Dreiste konnte man das schon fast als Dialog werten. »Todt sagt, ich soll mich bewerben. Gute Leute könnten sie 147
immer gebrauchen. Jetzt komme ich! Redaktionsleiter. Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld. Geld, wenn du krank bist. Das gemachte Nest. Haben wir noch ein Passfoto von mir?« Todt rief den Personalchef an. »Ich brauche eine interne Stellenausschreibung für einen Redaktionsleiter. Dann Inserate in alle gängigen Medien, Sie wissen schon. Vor allem im Journalist.« »Noch was?« »Ja. Ich brauche eine Änderungskündigung für Teppe, Torsten. Schließen Sie sich mit der Rechtsabteilung kurz. Ich will kein Palaver mit dem Betriebsrat. Herr Teppe wird als Redaktionsleiter abgelöst und dem Haus anderweitig nach Weisung der Chefredaktion zur Verfügung stehen. Teppes Bezüge ändern sich natürlich nicht. Deichseln Sie das mal.« »Das gibt trotzdem Ärger mit dem Betriebsrat.« »Nicht, wenn Sie Ihren Job vernünftig machen. Ich hasse Ärger. Und Betriebsräte. Diese rote Brut.« »Wem sagen Sie das.« »Ihnen. Weil Sie es offenbar nicht begriffen haben. Strengen Sie sich an. Ich mag keine Gesetze, die man nicht nach seinem Gusto auslegen kann.« »Okay, ich werde schon einen Weg finden.« Der Abend war bitterkalt. Eisregen prasselte gegen die Scheibe des Polos. Kräftige Böen versetzten dem kleinen Auto immer wieder Ohrfeigen. Frank kroch durch die Tempo-30-Zone, hielt Ausschau nach der typischen weißen Ärztetafel. Seine Nase berührte fast die Scheibe, die immer wieder beschlug, obwohl das Gebläse auf Höchststufe gestellt war. Es pumpte einen mehr oder weniger warmen Luftschwall ins Innere des Wagens, unterbrochen von eigenartigen Hustenanfällen. Kurz vor sieben Uhr. Niemand war auf der Straße. Das Wetter 148
hatte alles unternommen, um die Menschen in ihren Häusern einzufrieren. Es zeigte ihnen, wer wirklich der Boss war, mit all seiner Macht und all seiner Hässlichkeit. Hausnummern zu erkennen war unmöglich – doch dann sah Bachmann endlich das ersehnte Täfelchen von Dr. Li Hong und stellte den Wagen ab. Vehement traf ihn der Eishagel, als er ausstieg. Kleine, schnelle Schritte waren angesagt. Außer Atem erreichte Frank den überdachten Eingang, drückte die Tür auf und fand sich in einem schmalen, länglichen Gang wieder, der einem Ausstellungsraum glich. An den Wänden hingen historische medizinische Geräte, gerahmte Waffen gegen Schmerz und Verfall. Es handelte sich um chirurgische Instrumente, wie Bachmann einer Info-Grafik entnahm. Der Internist Dr. Hong interessierte sich offensichtlich auch für ein anderes Spezialgebiet. Am Empfang erwartete Bachmann das blühende Leben. Rauschgoldige Lockenpracht, makelloses Puppengesicht, schneeweiße Montur. »Guten Abend«, meinte das Christkind. »Sie wünschen?« »Bachmann, ich habe einen Termin.« Die Schöne schüttelte das Haar: »Ach ja, ich erinnere mich. Ich hab Sie so gerade noch einschieben können.« »Genau. Der bin ich. Der Eingeschobene.« »Wie bitte?« »Vergessen Sie es.« »Waren Sie schon einmal bei uns?« »Nein.« »Dann füllen Sie bitte diesen Patientenbogen aus, wir brauchen ihn für unsere Datei. Und nehmen Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz.« Frank saß allein zwischen einem Tisch mit den LesezirkelMagazinen und einer Truhe mit Bauklötzen. Seine Anspannung wuchs. Er überflog den Fragebogen, trug alle Angaben zu seiner 149
Person ein, vermerkte bei Beruf Bankkaufmann. Fünf Minuten später lieferte er das Blatt ausgefüllt an der Anmeldung ab. Eine weitere Viertelstunde später war es so weit. Eine zweite Arzthelferin kam herein und bat Bachmann, ihr zu folgen. Sie war das krasse Gegenteil zu ihrer Kollegin an der Anmeldung: unscheinbar, verhuscht und asiatischer Herkunft. Sie hob kaum den Blick, als sie Frank ansprach. Wie ein Schatten glitt die Arzthelferin durch die Räume und brachte Bachmann in ein Zimmer, an dessen Tür eine große Vier prangte. »Der Herr Doktor kommt gleich«, meinte sie devot und verschwand. Die Tür ließ sie angelehnt. Frank hockte sich auf die Pritsche. Kurz darauf erhoben sich Stimmen. »Was soll dieser Mist schon wieder?« Ein älterer Mann, schätzte der Redakteur. Voller Wut, mit Akzent. »Es tut mir Leid, es kommt nicht wieder vor.« Eine junge Frau. Voller Angst. Bachmann schlich zur Tür, sah durch den Spalt. Auf der Bühne: der Arzt und seine unscheinbare Assistentin. Kulisse: die Strahlefrau an der Anmeldung. Regie: der Hass. Versteckte Kamera: ein Blick-Reporter. »Sie sind total unfähig, das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen«, sagte Hong leise wie drohend. Der Arzt, hager, hochaufragend. Kleine, kluge Augen, flink, immer unterwegs. Eine schneidende Stimme. »Das war nicht meine Schuld«, beteuerte seine Angestellte. »Unfug, Sie waren es, Sie haben die Spritze falsch aufgezogen.« Schweigen. »Auch noch mundfaul. Frechheit.« Frank sah, dass der Engel an der Anmeldung lächelte. Anscheinend herrschte ein reizendes Arbeitsklima in dieser Praxis. »Noch so ein Fehler und ich kündige Ihnen!« Der Arzt wandte 150
sich von seinem Opfer ab. Frank sprang zurück. Nur wenige Sekunden später kam der Arzt herein. »Guten Abend«, meinte Bachmann. »Ist er das?« Dr. Hong nahm hinter einem Schreibtisch Platz. »Warum nicht?« »Ein Abend mit einer Lüge. Also ist er nicht gut.« Der Mediziner musterte ihn scharf. Frank war auf der Hut: »Lüge?« »Ja. Sie haben gelogen.« Der Reporter wartete. Der Doktor zog eine Schublade auf. Dann hielt er die aktuelle Ausgabe des Blick in der Hand. Bachmann ahnte, was folgen würde. Hong deutete auf einen Artikel. »Von unserem Redakteur Frank Bachmann«, las er vor. »So heißen Sie auch. Ich tippe, Sie sind der Reporter. Und in Ihrem Patientenblatt haben Sie als Beruf Bankkaufmann angegeben. Ich fragte mich einen Moment, warum Sie lügen.« Der Reporter kam sich unendlich dämlich vor. »Aber dann wurde es mir klar.« Hong lächelte schief. »Was kann ein Sensationsreporter derzeit von einem chinesischen Arzt wollen? Sie sind wegen der Morde lier. Das passt in Ihr beschränktes Bild, Herr Bachmann. Eine Mordserie, chinesische Schriftzeichen, Organentnahme und ein Doktor aus China. Könnte eine prima Story werden für Ihr Blatt, das ich bis heute übrigens fast täglich gekauft habe – neben der Süddeutschen Zeitung.« Frank wünschte sich an einen Ort, der etwa zehntausend Kilometer entfernt lag. »Was hatten Sie vor? Ein Bericht nach dem Motto: Ich war in der Mordhölle des Dr. Hong?«, höhnte der Mediziner. »Oder wollten Sie heimlich ein Foto von mir machen? ›Abschießen‹ nennen Sie das, oder? Sie sind ein Anfänger, Herr Bachmann. 151
Und jetzt möchte ich Sie bitten, meine Praxis zu verlassen.« Bachmann tat nichts lieber als das. »Ach, noch etwas«, stoppte ihn Hong. »Sollten Sie auch nur eine Zeile über mich im Zusammenhang mit der Mordserie veröffentlichen, bekommen Sie erhebliche Probleme. Dann tue ich Ihnen weh. Das verspreche ich Ihnen.« Der Blick-Mann vernahm die kalte Brillanz in der Stimme des Arztes. Er nickte stumm und drückte sich an der Schönheit vorbei zum Ausgang. Draußen inhalierte Frank die feuchtkalte Luft, als hätte er Durst. Selten hatte er sich so blamiert. Er war ein Tölpel. Bachmann schlug den Kragen seiner Jacke hoch und warf sich dem eisigen Wind entgegen. Er sprang in den Polo, orgelte den alten Motor an, der ihm stöhnend gehorchte. Nur unwillig ließ man den Reporter zu seiner Freundin. Es sei eigentlich zu spät, hörte er. Frank erkaufte sich den Zutritt mit einer großzügigen Spende in die Kaffeekasse. Pia schlief. Neben ihr brannte die Nachttischlampe. Pia bot ein Bild des Friedens. Ihr schönes Gesicht mit der spitzen Nase, den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen strahlte unendliche Ruhe aus. Vorsichtig setzte sich Bachmann auf die Bettkante. Er suchte und fand ihre Hand. Frank beugte sich hinab und küsste sie leicht. Dann löschte er das Licht und blieb so lange neben Pia sitzen, bis ihn eine resolute Schwester hinauswarf.
152
11. Am nächsten Morgen hatte Frank die Schlappe bei Dr. Hong verwunden. Er würde nicht lockerlassen. Im Gegenteil: Heute wollte er den Arzt durchchecken. Sozusagen röntgen. Mittels des Archivs, vielleicht hatte er ja Glück. Bachmann stellte die Kaffeetasse in die Spüle. Die BrehmZwillinge würden ihm helfen – und eventuell die Arzthelferin, die der Doktor heruntergebügelt hatte. Bachmann beschloss, das Mädchen vor der Praxis abzufangen. Der Archivar trug einen blauen Pullover. »Bernhard – richtig?«, fragte Frank, als er ihn zwischen den deckenhohen Regalen ausmachte. Brehm lächelte: »Bist du sicher?« Er fixierte den Reporter über den Rand der Brille. »Ehrlich gesagt: nein. Ich dachte nur wegen des blauen Pullovers.« »Und wenn Bruno mal blau tragen möchte?« »Dann liege ich falsch.« »Eben.« »Also: Bruno oder Bernhard?« »Spielt das eine Rolle? Für dich sind wir als Informanten oder Archivare ohnehin austauschbar.« »Nein, aber beide gleich gut, das stimmt. Und jetzt lege ich mich fest: Du bist Bernhard.« Brehm lächelte erneut: »Stimmt.« »Wieder voll auf dem Damm?« »Ja, endlich. Das Bett zu hüten ist nichts für mich. Was kann ich für dich tun?« »Hong. Dr. Li Hong. Ein chinesischer Arzt, der in unserer Stadt praktiziert. Könnten wir mal im Personenarchiv 153
nachschauen?« »Du suchst etwas im Zusammenhang mit den Morden?« »Indirekt. Dieser Mann könnte etwas damit zu tun haben. Mich interessiert seine Vergangenheit.« »Die Vergangenheit eines Arztes?«, wiederholte der Archivar. »Dann sollten wir auch die Gerichtsberichterstattung unter die Lupe nehmen. Prozesse gegen Ärzte haben beim Blick immer eine Schlüsselrolle gespielt.« Brehm runzelte die Stirn. »Wir müssen mindestens zweigleisig fahren. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen.« »Kein Problem. Vielleicht finden wir auch etwas über ihn beim Thema Organhandel. Gut möglich, dass wir beim ersten Mal seinen Namen überlesen haben.« »Das wäre allerdings ein Volltreffer. Erlebt man leider selten. Komm.« Brehm schlurfte in einen staubigen Gang. »Beginnen wir mit der Person. Dr. Hong war sein Name, nicht wahr?« In diesem Moment schrillte Bachmanns Handy. »Heiner hier. Mach dich auf die Socken.« »Was ist los?« »Ein Fax deiner Freunde von der Polizei. Pressekonferenz in einer Stunde.« »Steht drauf, worum es geht?« »Nein, aber ich würde mal wetten, dass –« »– es wieder mit unserer Serie zu tun hat. Bis gleich.« Bachmann verstaute das Telefon in seiner Brusttasche. »Schade, aber ich muss gehen«, meinte er zu Brehm. »Ein wichtiger Termin bei der Polizei. Offenbar hat unser Mörder wieder zugeschlagen.« Der Archivar stöhnte: »Eine unheimliche Geschichte. Sie lässt einen frösteln.« Der Redakteur nickte zum Abschied: »Vielleicht komme ich heute Abend noch einmal vorbei – sonst morgen. Bist du oder dein Bruder morgen da?« 154
Brehm zuckte mit den Schultern: »Wer weiß, möglicherweise sind wir auch beide hier.« Frank rannte in das Großraumbüro. An seinem Schreibtisch diskutierten Brockmüller, Rollmann und Heiner. »Da sind Sie ja«, empfing ihn der Herr der Schlagzeilen. Seine Bäckchen glühten gefährlich, was auf erhöhtes Jagdfieber schließen ließ. »Könnte ein dickes Ding sein. Guti-gut. Ich halte Ihnen mal die Seite –« »Langsam«, wehrte der Polizeireporter ab. »Ball flach halten. Erst mal gucken, was die Beamten überhaupt wollen.« »Mein Instinkt sagt mir«, hob Brocki an, »dass es sich hier–« »Ihren Instinkt in Ehren, Chef. Aber lassen Sie uns doch erst mal abwarten.« »Wieso unterbrechen Sie mich eigentlich ständig?«, schnappte Brockmüller beleidigt. »Hab ich das? Entschuldigung. Komm, Heiner, wir zischen ab.« »Guti-gut«, entließ sie der Redaktionsleiter. »Aber immer schön an die Headline denken, Jungs!« »Wir tun nichts anderes, Chefchen!«, rief Heiner. Als sie draußen waren, rief Frank per Handy Polizeisprecher Gruber an: »Betrifft die Pressekonferenz den Fall?« Schweigen. »Das deute ich als ein Ja.« »Wie Sie wollen.« »Kein Dementi?« »Nein.« »Fein.« Bachmann drückte den roten Knopf und meinte zu Heiner: »Wird spät heute.« Brockmüller blieb nachdenklich zurück. Chefchen. Wie war das gemeint? Nett, so wie Schätzchen? Oder minimierend wie Männchen? Er kniff die Augen zusammen. Das musste er in 155
Erfahrung bringen. Im letzteren Fall würde er den ohnehin kleinen Fotografen derart verkürzen, dass dieser auf einer Wiese eine Machete brauchen würde, um voranzukommen. Klatschreporterin Sigrun von Hohenstein geriet in sein Blickfeld. Weibliche Intuition, das war genau das, was Brockmüller jetzt brauchte. Er fragte die Kollegin um Rat. Sigrun, die ahnte, worum es ging, meinte mit einem zauberhaften Grinsen: »Ist auf jeden Fall nett gemeint.« Ganz zufrieden war Brocki nicht. Restzweifel blieben. »Chef, ein Gespräch für Sie!«, rief die Sekretärin. Chef, nicht Chefchen. Guti-gut. Die inoffizielle Nachricht, dass der Serientäter wieder zugeschlagen hatte, hatte die Runde gemacht. Frank und Heiner lasen sämtliche wichtigen Namen von TV-Sendern, Radiostationen und Printmedien auf den Autos und Bullis vor dem Präsidium. Drinnen gab es keine Rücksicht auf Verluste. Ellbogen regierten, Mikrofonständer wurden zu Lanzen, Kamerataschen zu Rammböcken. Es gab zu wenig Sitzplätze, zu wenig Polepositions für die Kameras vor den Rednern, zu wenig Platz für die Mikros auf dem Tisch, zu wenig Steckdosen. Die Kameraleute schrien die Fotografen an, sich hinzuknien, damit sie über die Köpfe hinweg freies Schussfeld hatten. Scheinwerfer flammten auf und prallten frontal in die Gesichter von Gruber und Wilhelmi, die mit starren Mienen das hysterische Treiben verfolgten. Bachmann und Heiner hielten sich bewusst im Hintergrund. Sie hatten hier ein Heimspiel, kannten die Gegebenheiten. »Ich geh raus, eine rauchen«, rief Heiner seinem Freund zu. »Gruber und Wilhelmi haben wir fotomäßig im Archiv. Wenn die irgendeine Tatwaffe oder so zu fotografieren haben, rufst du mich, okay?« 156
Frank winkte als Zeichen, dass er verstanden hatte. Er machte Dreiste aus, ganz dicht bei den beiden Polizisten. Auch seine leere, mondgesichtige Frau war bei ihm. Sie hatte eine Zigarette zwischen den Lippen, die fast zur Hälfte aus Asche bestand. Die Dreisterin war eine Frau, die Bewegungen und anderes sinnvolles Tun ohne weiteres einfrieren oder zumindest in die Nähe des absoluten Nullpunktes bringen konnte. »Meine Damen und Herren«, bemühte sich Gruber. »Danke, dass Sie der Einladung zu unserer heutigen –« Frank hörte nicht hin, das kannte er zur Genüge. Er beobachtete lieber das Gesicht des Sprechers. Gruber war sichtbar gealtert in den letzten Tagen. Der etwa 40-Jährige war nicht weiß im Gesicht, sondern nebelgrau mit einem dezenten Stich Lindgrün, das ihn nicht schmückte oder interessant machte, sondern schlichtweg visuell erledigte. Die Ansage aus dem Mund mit den schmalen Lippen war fahrig, angestrengt, überfordert: »Die Opfer, pardon, das Opfer, bei ihm handelt es sich vermutlich um einen Mann um die sechzig Jahre. Äh, ich muss mich korrigieren: eine Frau in diesem Alter. Und noch etwas können oder besser wollen wir –« Die Scheinwerfer sonderten jede Menge Hitze ab. Gruber begann zu schwitzen. Die Perlen liefen an seinem Hals hinab auf den ehemals blütenweißen Hemdkragen und feuchteten ihn ein. Aus weiß wurde schneematschgrau. »Ja, das Opfer wurde auf dem Band einer Müllanlage, äh, Bioverwertungs-, nein, Kompostieranlage gefunden und an einem Bein war ein Zettel geheftet, erneut mit –« »Also, was denn nun?«, ließ sich eine ungeduldige Stimme aus der Journalistenschar vernehmen. Gelächter. Gruber lockerte den Knoten seiner Krawatte, grinste verlegen, sprachlos. Jetzt ist er am Ende, wusste Bachmann. Offenbar wieder ein Zettel mit den Schriftzeichen. 157
Grüße aus dem Schattenland. Es war etwas anderes, alle halbe Jahre vor vielleicht sechs Journalisten gelackte Konferenzen über die örtlichen Kriminalitätsstatistiken zu leiten, als jetzt hier zu sitzen und der überregionalen Presse mitzuteilen, dass die Beamten in einer der spektakulärsten Mordserien der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte nicht weiterkamen. »Eine Kompostieranlage für Abfälle aus der Biotonne«, sprang Wilhelmi ein. Routiniert und sicher gab er im Blitzlichtgewitter weitere Fakten bekannt, während sich Gruber mit einem Taschentuch die Stirn tupfte. Nun hörte der Blick-Reporter wieder genau zu und schrieb die wesentlichen Details mit: weibliche Leiche, verstümmelt, Kopf abgängig, Torso gefunden, Organentnahme festgestellt, exakte Todesursache noch nicht nennbar, Sexualdelikt jedoch vorläufig auszuschließen. Identität des Opfers noch unbekannt. Schwerpunkt der Polizeiarbeit derzeit: die Suche nach dem Kopf. »Ich versichere Ihnen, dass wir alles in unserer Kraft Stehende unternehmen, um den Fall zu klären«, mühte sich Wilhelmi. »Im Moment haben wir zehn Beamte auf der Kompostieranlage im Einsatz, um die Abfälle zu untersuchen. Haben wir den Kopf der Frau, dann haben wir auch ihre Identität.« »Mag ja sein – aber was ist mit dem Täter?«, begehrte Dreiste auf. »Ich habe den Eindruck, dass Sie in dem Fall stets einen Schritt zu spät sind.« Zustimmendes Raunen. »Das ist reine Spekulation Ihrerseits«, wehrte der Beamte ab. Dreiste hustete und meinte: »Gibt es denn auch zehn Beamte, die nach dem Täter suchen?« Wilhelmi schüttelte den Kopf: »Nein, es sind –« Ein Tumult brach aus. Höhnisches Lachen gemischt mit Kommentaren wie: »Das sind Totengräber, aber keine Ermittler.« 158
»Grüße aus dem Schlummerland!« »Gott schütze unsere Leser, die Polizei kann’s nicht.« Mitten in den Aufstand schlug Wilhelmis Faust, sie landete auf den vorgefertigten Presseerklärungen: »Jetzt lassen Sie mich doch mal ausreden, verflixt!« Ruhe kehrte ein inmitten der erwartungs- wie schadenfrohen Jagdgesellschaft. Only bad news are good news. Der Erste Hauptkommissar musste sie enttäuschen. Er schob das Kinn vor: »Es sind nicht zehn Ermittler mit der Aufklärung befasst, sondern über zwanzig einer Sonderkommission.« »Das legen wir ganz groß hin!«, frohlockte Brockmüller. Seine Augen leuchteten. »Gewaltig, gigantisch!« »Aber unser Blick-Logo oben links bleibt!«, begehrte der dicke Layouter John auf. »Logo bleibt das Logo.« Brocki wandte sich an Frank: »Wie viel Zeilen brauchen Sie?« »Hundert bekomme ich leicht hin. Vielleicht sollten wir auch mal erklären, was in dieser Bioanlage normalerweise passiert.« »Gute Idee«, pflichtete ihm der Chef bei. »Das können wir dann auch bebildern.« »Ich soll in dieses Stinkedings?«, beschwerte sich Heiner. »Notfalls fotografieren Sie die Anlage von außen. Stopp! Wir sollten etwas ganz anderes versuchen: Kommen wir vielleicht an denjenigen ran, der die Leiche gefunden hat?« »Schon geritzt«, meinte Bachmann. »Habe ich telefonisch geklärt. Zwei Männer hatten Dienst, als die Frau auf dem Band lag. Der eine hat einen Schock, der andere ist bereits wieder bei der Arbeit. In seiner Mittagspause werde ich mit ihm sprechen. Und dann können wir ihn auch fotografieren.« »Guti-gut!« Brockmüller rieb sich die Hände: »Ich sehe schon diese wunderhübsche Seite eins vor mir.« Er richtete den Blick zur Decke: »Großes Foto von dem Arbeiter, dicker Pfeil auf ihn und daneben die zündende Zeile: Ich fand die tote Frau im Müll. 159
Das wird ein echter Hingucker, meine Herren, dafür gebe ich die ganze Seite aus.« »Nicht ganz, mein Lieber«, hörten sie eine wohl bekannte, aber nicht wohlgelittene Stimme hinter sich. Brockmüller drehte sich erst gar nicht um. »Das muss unser Anzeigenleiter sein, das rieche ich an dem – sagen wir mal – einfachen Rasierwasser.« »Sie liegen richtig, Herr Kollege, was meine Person angeht, aber beachtlich falsch bei der Einstufung des edlen Wässerchens, das ich mir heute Morgen aufgetupft habe. Das zeugt nicht unbedingt von einem guten Geschmack.« Anzeigenleiter Fröhlich hatte ihre Tische erreicht. Er trug einen eleganten Anzug mit Weste und eine feuerrote Krawatte. Anzeigenvertreter waren die natürlichen Feinde aller Journalisten. Fünfundsiebzig Prozent des Umsatzes machten die meisten Verlagshäuser mit Anzeigen und nicht mit Abonnements oder dem Straßenverkauf der Zeitung. Und das wussten die Annoncenverkäufer ganz genau. Folglich sahen sie in Journalisten ein unvermeidbares Übel, deren Aufgabe darin bestand, den verbliebenen und möglichst geringen Platz zwischen den Inseraten voll zu schreiben. Umgekehrt sahen die Redakteure die Anzeigenvertreter als eine Art Sabotagetrupp, der ihre edlen Seiten mit Werbung besudelte – dort, wo Berichte und Meinungen, Fotos und Fakten hingehörten und nicht die jetzt besonders billige ›Fünf-MinutenTerrine‹ oder die ›Preisschlager bei VW Sager‹. Fröhlich war ein Prachtexemplar von Anzeigenchef: souverän, nicht aus der Ruhe zu bringen, einnehmend. »Wir haben auf der Seite eins eine sechsspaltige Anzeige verkauft, 150 Millimeter hoch. Einem Neukunden wohlgemerkt. Wollen Sie mir nicht gratulieren?« »150 Millimeter hoch – das ist ja fast ein ganzes Drittel der Seite!«, ächzte Bachmann. »NIEMALS!«, schrie Brockmüller. 160
»Aber sicher doch«, stellte sich Fröhlich stur. Er zupfte am Knoten seiner Krawatte. »Wir haben hier die Story des Jahres, ach was, des Jahrzehnts, und Sie wollen uns das mit Ihrer pupsigen Anzeige zerstören?« »Zerstören? Welch hässliches Wort! Muss ich Sie mal wieder daran erinnern, dass Ihr zweifellos nicht unerhebliches Salär von eben diesen, wie sagten Sie doch?« »Pupsigen Anzeigen!« »Widerwärtige Ausdrucksweise. Gleich wie: Unsere Anzeigen füllen Ihr Gehaltskonto. Das haben Sie offenbar vergessen.« »Das habe ich nicht vergessen! Aber Sie können Ihre Anzeige auf der Seite eins vergessen. Die ist mir heilig, da pfuscht mir keiner rein.« »Dann muss das der Verleger entscheiden«, meinte Fröhlich kühl. Er wusste, dass er auf der Gewinnerseite stand. »Vorhin hat er mir übrigens gratuliert, dass wir diesen potenten Kunden für unser Haus gewinnen konnten.« Brockmüller biss sich vor Wut auf die Unterlippe. »Jetzt sind Sie sprachlos«, frohlockte Fröhlich. »Schönen Tag noch.« Er glitt federnden Schrittes von dannen. Eine Minute herrschte Stille unter den Redakteuren. Dann begann Brocki zu stammeln: »Diese Anzeigen-Fuzzis, das sind alles Drücker, Huren, Callboys – die würden sogar ihre Mutter verkaufen für eine zweispaltige Textanzeige.« Dann meinte er müde zu John: »Komm, lassen Sie uns die Seite aufreißen.« Frank und Heiner schlichen davon und fuhren zur Kompostieranlage. Dort lief alles nach Wunsch. Robert erwartete sie bereits. Der Müllsortierer roch wie ein Iltis. Aber er gab den Reportern bereitwillig Auskunft, nachdem sie seine Zunge mit einem Hundertmarkschein gelockert hatten. Robert ließ sich auch fotografieren. Lächelnd, mit einer Zigarette im Mundwinkel.
161
Drei Minuten nachdem Heiners BMW verschwunden war, tauchte das Team von Pro 7 auf. Gabi schoss auf Robert zu und fragte hektisch: »Wir suchen den Mann, der die Leiche gefunden hat. Können Sie mir weiterhelfen?« »Sicher.« »Wo ist er?« »Zweihundert.« Die Frau kramte ärgerlich in ihrem Portemonnaie und förderte den Betrag zutage. »Also, wo steckt er?« »Hier auf dem Gelände. Da dürfen Sie aber nicht rumlaufen. Zu gefährlich.« »Können Sie ein Interview mit ihm arrangieren?« »Sicher.« Robert bewegte sich keinen Millimeter. »Na, dann aber mal los!«, meinte die Reporterin und lachte falsch. »Zweihundert.« »Was? Sie sind ein Abzocker, mein lieber Scholli.« Die Frau wandte sich an ihre Begleiter. »Kollekte, Jungs. Legt mal zusammen, ich bin blank.« Robert zählte seelenruhig nach, steckte das Geld ein. »Aber jetzt ein bisschen fix«, fuhr ihn Gabi an. »Bringen Sie uns zu diesem Robert.« »Nicht nötig. Der steht vor Ihnen.« »Das darf doch nicht wahr sein. Wenn Sie fair sind, geben Sie uns die letzten zweihundert zurück.« »Fair verliert.« Auch auf dem Fotobildschirm der TOP-Redaktion erschien an diesem Nachmittag ein Portrait von Robert – lächelnd, mit Zigarette. »Der Kerl hat dreihundert Mark verlangt«, berichtete Dreiste dem Redaktionsleiter. Teppe verzog das Gesicht: »Allmählich wird’s teuer.« 162
»Gute Storys gibt’s nicht zum Nulltarif.« »Kluger Junge.« Wilma steckte den Kopf zur Tür herein: »Todt ist dran. Soll ich rüberstellen?« Teppe strahlte: »Klar!« Diesmal würde ihn der Boss nicht drankriegen, diesmal nicht. Er hatte das Foto! »Teppe hier. Alles im grünen Bereich! Wir haben ein Bild von–« »– der toten Frau?«, unterbrach ihn Todt. »Was? Nein, von dem Kerl, der sie gefunden hat. Das ist doch Spitze!« »Ach, Herr Kollege. Dieses Foto hat vermutlich morgen jeder im Blatt. Ich will was Exklusives.« Teppe brach ein. Er kämpfte nur noch halbherzig: »Vielleicht schon, aber wir –« »Hören Sie auf. Ich will die Frau. Das wäre ein echter Knüller, etwas Einmaliges, genauso wie unser Blatt.« »Es steht noch nicht einmal ihre Identität fest«, wehrte sich Teppe. »Das ist unmöglich, was Sie verlangen.« »Nein. Sie geben nur zu früh auf, Kollege. Sie sind zu schnell zufrieden. Wer sagt Ihnen denn, dass die Identität nicht heute Abend feststeht?« »Ja, dann würden wir das Thema natürlich ganz anders hinlegen«, beeilte sich Teppe zu sagen. »Gerade haben Sie noch gemeint, es sei unmöglich.« »Ist mir so rausgerutscht. Nichts ist unmöglich, haha.« »Ich verstehe Sie nicht, wie gesagt. Sie werden vermutlich nie wieder so eine Geschichte vor Ihrer Haustüre haben. Ich verstehe Ihr Vorgehen nicht, Ihre Arbeitsweise. Ich verstehe nicht, wie Sie diese wirklich kleine Redaktion zu führen versuchen. Und wissen Sie, was man in solchen Fällen zu tun pflegt?« Teppe schloss die Augen. »Nein«, flüsterte er. »Ich schon. Ich lasse es Sie wissen, wenn die Zeit dafür reif 163
ist.« Als Völk in seinem Flur stand, hörte er ein Rascheln. Er zog die Hand zurück, die den Lichtschalter hatte drücken wollen. Er wartete, lauschte in die kleine Wohnung, aus der ihm gut abgehangener Bierdunst in die Nase stieg. »Trauen Sie sich nicht mehr hinein in Ihre stinkende Junggesellenbude?«, keifte eine brüchige Stimme hinter Völk, die er sofort als die der widerwärtigen Göderlein identifizierte. »Halten Sie die Klappe!« »Nichts werde ich!«, bellte das Weib heiser. Es hinkte die Treppe hinunter. »Sie haben meinen Briefkasten zerstört! Und Sie machen die Hausordnung nicht. Sie sind zu allem fähig, Sie Terrorist! Ich werde Sie bloßstellen, Sie anzeigen, Sie vor Gericht bringen, und wenn es das Jüngste Gericht ist, Sie Gottloser!« »Wenn es Gott gäbe, wären Sie nicht auf der Welt.« »O doch, mein Herr. Und sei es nur deshalb, um Sie zu beobachten!« Die Göderlein bekreuzigte sich. Sie kam ganz nahe an den Beamten heran. Ihr lederner Schildkrötenkopf hatte sich so weit es ging aus den schützenden Schultern hervorgewagt. Schmal waren die Augen, gelb und giftig. Die Göderlein roch nach einem alten, feuchten Keller. Sie spie die Worte in Völks zurückweichendes Gesicht: »In Ihnen lebt der Antichrist. Sie sind böse, abgrundtief böse. Verderbt!« Da! Ein Knacksen in der Wohnung. »Ruhe!«, befahl Völk noch einmal. Er war nervös. Göderleins rissige Lippen formten Wort für Wort: »Was Ihnen fehlt, ist eine Frau!« »Eine wie Sie?« Jetzt bekreuzigte sich der Beamte. »Hauen Sie ab, Göderlein.« »Warum gehen Sie denn nicht hinein, hä? Zu Ihrer Claudia Fischer!« »Verschwinden Sie!« 164
»Niemals, ich weiche nicht! Zahlen Sie mir erst den Briefkasten!« Der Polizeimeister sah sich um. Sie waren allein. Blitzschnell hatte er die Dienstwaffe in der Hand. Er zielte auf die Stirn der Frau: »Abgang, Schabracke. Husch.« Die Göderlein meckerte wie eine Ziege. Die gelben Augen verdunkelten sich. Moderbraun, nahezu schwarz. An der Grenze zum Tod. Der Polizeimeister sah ihre Angst. Das gefiel ihm. Ohne Furcht funktionierte nichts, ohne sie wurde nichts in Gang gehalten. Die Angst vor Sanktionen oder dem Versagen trieb alle und alles um. Angst war zweckmäßig, erwünscht und gut. Sie schützte vor Faulheit, Belanglosigkeit, Mittelmaß oder Milde. Furcht regierte die Welt. Und nährte die schwache Flamme in Völks klammem Herzen. Die alte Frau wich zurück, zögernd, Stufe für Stufe. Als sie verschwunden war, lauschte der Polizeimeister wieder in seine Bude. Nichts. Doch die Ahnung blieb hartnäckig. Völk schob sich in sein Heim, die Waffe im Anschlag, ohne Licht zu machen. Er schloss die Tür. Das Erste, was flog, war die Pistole. Dann folgte Völk. Eine enorme Kraft hebelte ihn aus und beförderte ihn wie einen Mehlsack ins Wohnzimmer, wo er eine ungeschickte Bruchlandung auf dem betagten Sperrholzcouchtischchen hinlegte, dessen Beine einen Spagat machten. »Der Tisch taugt nichts. Und du taugst als Polizist nichts, du bist eine Beleidigung für den Staat, dem du eigentlich dienen solltest. Vielleicht sollte man den Staat von dir befreien – endgültig säubern, meine ich«, erklang eine Stimme. Völk, halb benommen, erkannte sie. Die Chinesen waren da. Er versuchte sich aufzurappeln, kam auf alle viere. Schemenhaft 165
erkannte er zwei Männer. »Heute ist Zahltag. Du weißt, die Reifen.« Der Mann, der sprach, kam näher und trat Völk auf die rechte Hand. Der Polizeimeister heulte auf, klemmte die schmerzende Hand unter die Achselhöhle. In diesem Moment kickte ihm der Eindringling den anderen Arm weg, so dass Völk mit dem Kopf auf den Boden schlug. Jemand stellte ihm einen Fuß in das Genick. Der Polizist glaubte, seine Wirbel brechen zu hören. Der Druck war unerträglich. »Wenn ich jetzt zutrete, bist du gelähmt. Ist dir das klar?« Der Beamte wimmerte. »Wo ist das Geld? Chans Witwe kann es gut gebrauchen.« »Ich schau nach!«, jammerte Völk. Der Druck wuchs. »Hast du es oder nicht?« »Ich weiß es nicht – vielleicht!« »Halt uns nicht zum Narren.« Plötzlich war der Fuß weg. Vorsichtig erhob sich der Polizist und sah sich um. Sie waren zu zweit, er hatte sich nicht geirrt. Der eine hielt sich im Hintergrund. Der andere war offenbar fürs Schlagen zuständig. Wu Chans Freund. Mühsam tastete Völk nach seinem Portemonnaie, zählte das Geld. »Vierzig Mark«, meinte er leise nach dem Kassensturz. Zwei Ohrfeigen. »Ich hab vielleicht noch – noch etwas in der Küche«, weinte der Beamte. »Hast du nicht, da haben wir schon nachgeschaut. Und deine Einrichtung ist auch nichts wert. Sogar der Videorekorder ist kaputt. Hier ist alles Schrott.« Der Schläger wandte sich zu seinem Partner: »Was sollen wir mit ihm machen?« Schweigen. »Soll ich ihn töten?« Endlich erwiderte der andere Mann: »Warum nicht? Er wird die Schuld vermutlich nie begleichen können. Er ist ein 166
Verlierer. Schau nur, wie er lebt. Wie ein Schwein.« »Vielleicht können wir ihn benutzen.« »Ja, möglich.« Völk kniete sich hin. Er wiegte sich hin und her, den Kopf gesenkt, wie ein angeschossener Bär. Angst regiert die Welt. »Mach uns einen Kaffee, dicker Mann. Wir müssen über dich nachdenken.« »Einen Kaffee?« Drei harte Ohrfeigen. Der Beamte tappte mit brennenden Wangen in die Küche. Kaffee! Hatte er so was überhaupt? Er kramte in den Schränken. »Was ist?«, fragte der Schlager leise. »Hast du keinen?« »Ich suche ja noch.« »Notfalls Tee.« Völk schwitzte. Alles Mögliche stand oder klebte in den Schränken – aber Kaffee oder Tee? Er hatte noch nicht einmal eine Kaffeemaschine. Warum wollten die Kerle kein Bier? »Beeil dich.« »Ich suche ja noch.« »Setz Wasser auf. Das können wir auf jeden Fall gebrauchen.« Der Beamte verstand den Sinn dieser Maßnahme nicht und das war auch besser so. Er gehorchte und schaltete den Herd an. Der Polizist wuselte weiter. Er stieß auf uralten Kandiszucker, ein unvollständiges Kaffeeservice, dessen Existenz er vergessen hatte, eine Wärmflasche, Serviettenringe seiner Mutter und vieles mehr, aber nicht auf Kaffee. Unterdessen unterhielten sich die Einbrecher weiter. »Wir könnten ihn in unseren Lokalen einsetzen. Zum Schutz.« »Den? Der beschützt doch keinen!« Völk suchte und suchte. Backpulver fand er und ein verstaubtes Päckchen mit Mottenpulver. »Wofür können wir ihn dann gebrauchen?« »Für nichts, wenn du mich fragst. Aber er schuldet uns etwas. Und er hat mich geschlagen.« 167
Der Polizist griff in eine Blechschachtel. Und dann spürte er das feine Pulver! Gleich daneben, wie herrlich, lungerte ein fleckiger Filter herum. »Du meinst, wir sollten ihn töten? Hier und gleich?« »Ja.« »Stopp!«, triumphierte Völk. »Ich habe, was Sie wollen. Lecker Kaffee!« Der Kessel auf dem Herd begann zu zischen. »Gleich ist es so weit!« Der Ohrfeigen-Mann kam und sah sich den Fund an. »Und?«, fragte sein Partner. Der andere schüttelte den Kopf: »Riecht alt.« »Alt? Wir sollten ihn wirklich töten.« Das Wasser kochte. »Ich weiß nicht. Einen deutschen Beamten? Wir sollten ihn zeichnen. So, dass er nie vergisst, wem er wirklich gehört. Vielleicht ist er doch einmal für das eine oder andere nützlich.« »Du bist nachgiebig. Aber gut. Ich nehme das Wasser. Nimmst du seinen Kopf?« »Ja, warum nicht. Letztes Mal haben wir es umgekehrt gemacht, nicht wahr?« »Der Kaffee ist gut, ich verspreche es Ihnen.« Völk kämpfte. Der, der so gerne zuschlug, hob den Kessel von der Platte. Der andere führte Völk zurück ins Wohnzimmer und befahl ihm, sich auf die Cordcouch zu legen. »Nein, nein, nein – nicht auf den Bauch!«, erklang die Order, als Völk die vermeintlich sichere Lage einnehmen wollte. »Wir wollen dein Gesicht sehen. Und es ein bisschen waschen.« »Das könnt ihr doch nicht machen. Das ist, das ist –«, wimmerte der Beamte. »Können wir alles, mein Freund. Du bist selbst schuld.« Der Kessel tauchte über Völks Gesicht auf. Der Beamte sah den Boden. Dann neigte sich der Pott, er erkannte die Tülle, an der ein Wassertropfen baumelte. Er wollte fliehen, aber zwei Arme pressten ihn zurück. 168
Der Tropfen löste sich und fiel. Ihm folgten mehrere andere. Völk sah sie wie in Zeitlupe auf sich zu fliegen. Er drehte sich mit aller Kraft zur Seite. Plötzlich wurde es entsetzlich heiß auf seiner Schulter. Er schrie. »Die nächste Portion ist für dein Gesicht«, kündigte der Mann mit dem Kessel seelenruhig an. »Nein, bitte nicht!«, bettelte Völk. Wieder traf es ihn, diesmal auf der Brust, wieder nur eine kleine Menge. Klein, aber gemein. »Aufhören, ich tue alles, was ihr wollt!«, schrie der Polizeimeister. Der Kessel verschwand aus seinem Blickfeld. Stattdessen sah er zwei Mienen, die grenzenlose Überheblichkeit, gepaart mit einer Spur Neugier, an den Tag legten. »Was kannst du, was wir wollen könnten?« Hektisch stammelte Völk: »Ich bin doch Bulle. Ich krieg viel mit. Razzien und so. Ich weiß, wo was läuft.« Das stimmte zwar nicht, denn über die Details von Razzien war stets nur ein kleiner Teil des polizeilichen Führungszirkels informiert. Aber wussten das die beiden Folterknechte? Völk hatte nichts mehr zu verlieren. »Warum sollten wir dir glauben, warum sollten wir nicht lieber noch ein bisschen mit deinem Gesicht spielen?« »Weil ich euch helfen kann!« »Helfen? Meinst du dienen?« »Ja, natürlich. Dienen.« Die beiden Asiaten sahen sich kurz an. Dann meinte der eine: »Wir nehmen dich beim Wort.« Völks Stimme war belegt, Erleichterung klang mit, schwirrend in der Restangst: »Gern.« »Lüg uns nicht an. Du bist ein kleiner Bulle und ein großer Rassist. Unfähig, fett und faul«, rechnete ihm der Schläger vor. Völk richtete sich Zentimeter für Zentimeter auf. Er registrierte aufatmend, dass der Kessel auf dem Boden stand, 169
inmitten der Trümmer des Tisches. Der Beamte erneuerte sein Angebot: »Wirklich, ich weiß jede Menge. Wann und wo Lokale gefilzt werden, auf Illegale und so. Das könnte ich euch stecken.« »Gut, du bekommst eine Chance. Aber wenn auch nur ein chinesisches Lokal in Zukunft mit der Polizei Schwierigkeiten haben sollte, bist du dran.« Die beiden Männer wandten sich zum Gehen. »Und in einer Woche sehen wir uns wieder. Bis dahin hast du das Geld, verstanden?« Völk hatte.
170
12. Bachmanns Aufmacher sah wirklich zum Ablachen aus. Brocki hatte ihn notgedrungen über die hässliche Anzeige, die die Vorzüge eines örtlichen Telefonnetzes anpries, quetschen müssen. Wie einen großen Wurzelballen in einen zu kleinen Pflanzkübel. Das Thema hätte Luft gebraucht, um atmen und wirken zu können. Das Foto von Komposti-Robert war lediglich ein- statt zweispaltig und somit viel zu winzig, der Text war so straff, dass er fast stotterte. Konfetti-Journalismus. Frank nahm die Füße vom Tisch, zerknüllte die Ausgabe, warf sie in den Papierkorb. Wie anders kam doch die Konkurrenz daher. Dreiste hatte genügend Platz gehabt für die Story von Rubel-Robert, der die Geschichte von seinem grausigen Fund erwartungsgemäß jedem Medium verkauft hatte. Seufzend blickte Frank auf die Uhr. Er hatte noch eine gute halbe Stunde Zeit bis zur Konferenz. Die wollte er nutzen, um im Archiv das nachzuholen, wozu er gestern nicht mehr gekommen war. Als Bachmann Richtung Aufzug ging, kam er an der YuccaPalme vorbei. Ihre Wedel hing schlaff und faltig herab und waren bereits leicht gelb. Frank bückte sich und versuchte einen Finger in die Erde zu stecken. Sinnlos, Beton. Der Reporter holte die Kaffeekanne, die wie üblich leer war, füllte sie mit Wasser und versorgte die Pflanze. »Trink«, flüsterte er. »Wer weiß, wann es das nächste Mal etwas gibt.« »Du schon wieder?«, begrüßte Brehm den Reporter. Der Archivar trug eine hellblaue Krawatte. »Na klar, wir haben doch noch etwas zu erledigen.« »Mit Vergnügen, folg mir. Wie war doch gleich der Name von 171
dem Mann?« »Dr. Li Hong.« »Ja, richtig. Wir sollten, wie gesagt, mit der Person beginnen.« Brehm stoppte vor einer Schublade, öffnete sie, suchte die Hängeregister mit den Augen ab. »Hohlmeier, Hollmann, Homme, Hondratschek«, deklinierte er dabei die Namen, die als Karteireiter auf der braunen Pappe thronten. »Mmh, das sieht nicht gut aus.« Ein letzter Kontrollblick, dann: »Nein, einen Dr. Hong haben wir nicht.« »Vielleicht unter dem Stichwort ›Ärzte‹?«, fragte Frank. »Bin schon unterwegs«, meinte Brehm etwas unwirsch. »Glaub mir, ich kenne unser Archiv.« »Natürlich, pardon.« Aber auch unter ›Ärzte‹ zogen sie eine Niete. Brehm versuchte es weiter, wühlte sich durch einen Ordner mit den Berichten über Prozesse wegen ärztlicher Kunstfehler. Doch hier kamen sie ebenfalls nicht weiter. Brehm sah den Reporter nachdenklich an. »Jetzt haben wir nur noch eine Möglichkeit.« Er lief zu einem anderen Regal. »Wir müssen noch einmal die Berichte über Organhandel durchschauen.« Eine halbe Stunde später waren sie so schlau wie vorher. Bachmann wagte sich vor: »Komm, wir probieren es einmal im Internet.« Brehm brummelte etwas Unverständliches. Frank ging auf den PC zu. »Stopp!«, rief der Archivar. »Finger weg.« Schnell drückte er sich an dem Polizeireporter vorbei und setzte sich an den Bildschirm. Er stellte die Verbindung mit dem Netz der Netze her. Brehm klinkte sich im Bereich ›Wissenschaft und Technik‹ ein und tippte in das Suchfeld den Begriff ›Organhandel‹ ein. Gespannt warteten sie ein paar Sekunden. 172
Dann kam das Angebot. Bachmann staunte: 42 Berichte! Sie überflogen die Überschriften. »Das habe ich dir letztens alles als Zeitungsausschnitte gebracht«, meinte Brehm verächtlich. Frank schwieg, verglich weiter. Der Archivar hatte leider Recht. »Einen Versuch noch«, bat er. »Gib doch mal den Begriff ›Organmafia‹ ein.« Brehm schnaufte ärgerlich. Aber er tat es. Eine neue Auswahl erschien, nicht so umfangreich wie die erste. Aber mit zum Teil anderen Berichten. Bachmann kniff die Augen zusammen. »Organmafia: deutscher Arzt unter Verdacht«, las er laut vor. »Mach doch mal die Datei auf. Ich will mehr lesen.« Der Archivar doppelklickte auf den Namen. Der Polizeireporter verschlang den Artikel, der aus einer Münchner Gazette stammte. »Ich glaub es nicht«, stammelte er plötzlich. »Da, siehst du es?« »Was denn?« »Na da! Zehnte Zeile etwa.« Bachmann deutete auf die Mitte des Bildschirms. Teppe hatte kein Foto von der toten Frau auftreiben können, obwohl ihre Identität inzwischen feststand. Eine Austauschschülerin aus Österreich. Teppe sah alt aus, er war so gut wie erledigt. Todt-tot. Schuld hatte selbstverständlich nicht Teppe, sondern allein Dreiste. Der Witwenschüttler lümmelte sich auf Teppes Couch. Seine Frau stand am Fenster und blickte ins ihr allgegenwärtige Nichts. »Ihr habt versagt«, meinte Teppe obenhin. »Nein. Astrid und ich liegen gut im Schnitt. Das Thema hat uns richtig Asche gebracht. Wenn jemand ein Problem hat, dann bist du es.« 173
Teppe lud auf. Er brauchte etwas zum Zerstören. Etwas Großes, etwas Gigantisches. Einen Flugzeugträger, ein Kernkraftwerk, Helmut Kohl oder wenigstens – die Tür schrappte auf und Wilma stand vor ihnen. »WAS WILLST DU?«, explodierte der TOP-Lokalregent. Die Sekretärin starrte ihn verängstigt an. »He, Teppe«, meldete sich Dreiste von der Couch. »Willst du nicht mal einen Gang runterschalten? Was kann die Kleine für deine Probleme? Lass sie in Ruhe.« Teppes Wutausbruch erlahmte angesichts des überraschenden Widerspruchs. »Was ist hier eigentlich los?«, wisperte er. »Wen habe ich hier um mich? Nur noch Anfeindungen muss ich mir anhören. Aufstand, Verrat und Versagen. Ein erfolgreiches Team sollten wir sein. Und was sind wir wirklich?« Du bist bald raus aus deinem so genannten Team, dachte Dreiste, schwieg aber. »Ja – was sind wir eigentlich?«, begann Teppe zu philosophieren. »Wir sind alle verdammt endlich«, sprang Dreiste höhnisch ein. Du in deiner Position vor allem, fügte er im Geiste hinzu. »Ja, das ist wohl wahr. Traurig irgendwie, aber wohl nicht zu ändern.« »Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte Wilma. »Typisch Weib«, kläffte der TOP-Redaktionsleiter. »Männer unterhalten sich über den Gang der Dinge, schärfen den Blick für das Existenzielle. Aber Frauen wollen nur wissen, ob mit Milch oder Zucker.« Wilma biss auf ihre Unterlippe, um nicht loszuschreien. Ihr Chef war der größte Dummbeutel, den sie je gehabt hatte. Doch sie brauchte den Job. Dreiste verdrehte die Augen: »Komm runter von deiner Wolke, Teppe. Ohne Frauen wärst du nicht auf der Welt. Obwohl: In deinem Fall frage ich mich, ob du nicht geklont worden bist.« 174
»Geklont?« »Ja, wie dieses Schaf Dolly. Vielleicht stammst du irgendwie von dem Vieh ab.« »Dreiste, du gehst mir immer mehr auf den Wecker. Nimm dein Weib, das nicht spricht, und verlasse diese Redaktion.« Dreiste rappelte sich auf. Er schnippte. Seine Frau drehte sich um. »Komm«, meinte Dreiste zu ihr. »Wir gehen Fotos verkaufen. Und Infos.« »Wage nicht, mir diese vorzuenthalten«, blaffte Teppe. Dreiste schüttelte den Kopf. »Du wirst es nie lernen, Dolly: Wir sind freie Mitarbeiter. Mit allen Risiken – aber auch mit allen Freiheiten. Viel Spaß heute mit Herrn Todt!« Teppe zuckte zusammen. »Was weißt du von Todt?« »Was man so hört.« »Was hört man?« »Wie viel?« »Du willst Geld für diese Info?« »Sicher.« »Du bist ein Schwein.« Dreiste grinste: »Ein Trüffelschwein, wenn ich bitten darf.« »Nein, du bist ein Schwein. Ich geb dir hundert Mark.« »Für das, was du hören möchtest, berechne ich dir zweihundert Mark. Für die Wahrheit müsstest du mindestens zweitausend zahlen.« Teppe glaubte zu träumen. »Zweitausend. Dein Ernst?« »Zweitausend. Nichts ist in unserem Job wertvoller als die Wahrheit – wenn man sie hören will.« Die Augen des Lokalfürsten wurden schmal: »Du bluffst.« »Nein. Die Wahrheit ist manchmal nahezu unbezahlbar.« »Und unberechenbar. Verschätz dich nicht, Dreiste. Die Wahrheiten steuern immer noch wir selbst.« »Ja, es kommt immer darauf an, wer die Wahrheit macht.« »Du sagst es.« 175
»Das macht Wahrheit so interessant. Ihre Manipulierbarkeit.« »Ich werde dir keinen Pfennig geben.« »Dann bleibt die Wahrheit in meinem Kopf.« »Dort war sie nie. Du bist ein intriganter Parasit. Ein Blutegel. Pass auf, dass du nicht platzt!« »Mach ich. Viel Erfolg noch. Grüß Todt von mir. Er wird dich anrufen.« »Was macht dich da so sicher?« Dreiste feixte. »Die Wahrheit.« »Das ist doch nicht zu fassen!«, freute sich Frank. Er las laut vor: »Nürnberg. Gestern begann der spektakuläre Prozess gegen Dr. Li Hong in Nürnberg. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 43-Jährigen illegale Organentnahme sowie Organhandel vor. Hong soll Mitglied der Triaden gewesen sein.« Der Reporter übersprang ein paar Zeilen. »Dr. Hong zeigte sich während der Verhandlung völlig ungerührt. Er machte lediglich Angaben zu seiner Person, alles andere übernahm sein Verteidiger Rüdiger Vogel.« Wieder überging Frank einige Absätze. »Vogel wies sämtliche Vorwürfe gegen seinen Mandanten zurück. Der Prozess wird morgen fortgesetzt. Er ist auf insgesamt vier Tage angelegt.« »Was genau soll Hong getan haben? Das geht aus diesem Bericht nicht hervor«, meinte Brehm. »Warte, wir rufen den nächsten Text auf. Hier – da ist es!« Frank zitierte weiter: »Hong soll – so Staatsanwalt Dr. Hansjürgen Merkenbohm – zwischen 1986 und 1988 in seiner Funktion als leitender Arzt einer Intensivstation vor allem jungen Unfallopfern nach deren Exitus Organe entnommen haben, um sie zu veräußern. Dabei bediente er sich der Hilfe einer OP-Schwester und eines Anästhesisten. Bei einer dieser Taten zulasten der unmittelbar zuvor bei einem Motorradunfall verstorbenen Angelika P. wurden sie von einer weiteren OPSchwester beobachtet. Diese Schwester, die heute 32jährige 176
Maria H., ist die Hauptbelastungszeugin der Anklage.« »Ein irrer Fall«, entfuhr es dem Archivar. »Allerdings«, stimmte ihm Bachmann zu. Aus weiteren Gerichtsberichten erfuhren sie, dass es Hongs Anwalt gelang, die Glaubwürdigkeit von Maria H. zu erschüttern. Die OP-Schwester sei chronisch unzuverlässig, neige zu übermäßigem Medikamentenkonsum und Profilierungssucht. Zudem sei sie auf Dr. Hong wütend gewesen, weil dieser sie mehrfach in scharfer und verächtlicher Form vor anderen Kollegen gerügt habe. Am letzten Prozesstag wurde Dr. Hong aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Zwar waren der jungen Unfalltoten tatsächlich Organe entnommen worden, wie eine Exhumierung ergab. Auch waren die Verdachtsmomente gegen Hong stark – aber eben nicht belegbar. »Das könnte trotzdem unser Mann sein«, flüsterte Bachmann aufgeregt. »Ich muss zu Brockmüller. Danke dir erst mal!« Er rannte aus dem Raum, wo er einen nachdenklichen Brehm zurückließ. »Nein, ich bleibe dabei. Das können wir nicht. Das dürfen wir nicht!«, stellte sich der Redaktionsleiter stur. Frank drohte zu verzweifeln. Brockmüller wollte seine Geschichte nicht im Blatt haben. »Sie ist spektakulär und exklusiv!«, verteidigte er seine Arbeit. »Unbestritten. Aber wir kommen juristisch in Teufels Küche. Hong wurde freigesprochen. Er ist unschuldig. Wir dürfen diese alte Sache nicht wieder aufwärmen. Da könnte er uns ohne weiteres verklagen. Außerdem hätten wir den Presserat am Hals. Nicht mit mir!« Frank schaute missmutig zu Boden. Der Chef hatte Recht. Aber Bachmann wollte nicht wahrhaben, dass seine ganze Recherchen umsonst gewesen sein sollten. Brockmüller ließ seine schwere Pranke auf Franks Schulter 177
krachen: »Machen Sie sich nichts draus. Vielleicht können Sie diese Infos später verwerten. Zum Beispiel, wenn erneut Anklage gegen Hong erhoben wird. Dann dürfen wir auf den alten Prozess verweisen.« Das sah der Polizeireporter widerstrebend ein. Er würde am Ball bleiben. Bachmann schnappte sich das Telefon, um die Öffnungszeiten von Hongs Praxis zu erfragen. Heute Nachmittag war bereits geschlossen, hörte er vom Anrufbeantworter, aber morgen sei von acht bis zwölf und von vierzehn bis achtzehn Uhr Sprechstunde. Zur Mittagszeit würde er die Arzthelferin abpassen, nahm sich Frank vor. Als Nächstes rief er Pias Vater an und verabredete sich mit ihm für den Abend. Vielleicht wusste der Pathologe etwas von dem Fall Hong. Frank vernahm ein Summen und drückte das Tor auf. Schnell überwand er das Kiesbett bis zu Ferencis Haustür, die offen stand. Der Reporter schob sich hindurch. Kälte. Stille. Das Einzige, was er vernahm, war das Ticken einer Uhr, ganz leise. Bachmann ging ins Wohnzimmer. Pias Vater saß in seinem Sessel vor dem Fernseher. Ein Fußballspiel war zu sehen, aber es lief kein Ton. Ferenci sah den Besucher an. Frank erschrak. Pias Vater wirkte um Jahre gealtert. Sein Gesicht war extrem schmal, die Augen hatten schwarze Ringe. »Was willst du?«, fragte der Pathologe lauernd. »Weitere Informationen zu deinem großen Fall, zu deiner big story?« Bachmann setzte sich unaufgefordert hin. Er schämte sich mit einem Mal. Trotzdem nickte er. Ferenci lachte heiser: »Na großartig. Wann ist eigentlich für dich Schluss? Wenn Pia stirbt?« Frank sprang auf: »Das ist nicht fair!« »Es war nicht fair, sie in diese Geschichte mit 178
hineinzuziehen«, konterte der Arzt. »Sie hätte sterben können. Und wer weiß, welche Schäden bleiben.« Bachmann verkniff sich Widerworte. Pia war schließlich in den Keller vorgeprescht – aber er hätte das verhindern müssen. »Du bist ein fanatischer Sensationsreporter, getrieben von der Gier, ganz nah dran zu sein«, rechnete Ferenci mit seinem Gegenüber ab. »Du bist schlagzeilengeil, skrupel- und rücksichtslos. Für dich und deinesgleichen zählt nur der Kick, der Thrill der Exklusivität. Ständig versucht ihr euch zu übertreffen, besser, schneller zu sein als der andere. Dabei geht ihr über Leichen. Wie Motten umschwirrt ihr eine heiße Story und dabei gilt die einzige Sorge euren Flügeln, weil ihr Angst habt, sie könnten verbrennen. Ihr seid Narren, eitel, dumm und dabei auch noch gefährlich.« Er stand auf und deutete mit der Hand auf den Reporter. »Von mir aus mach weiter so. Geh auf die Jagd, miss dich mit den anderen Kindsköpfen, labe dich an deinen Leichen, grabe die Fotos aus und vergiss nicht, etwas Mitgefühl in deine Aufmacher hineinzuheucheln. Aber eines wirst du nicht mehr tun.« Der Arzt kam ganz dicht an Bachmann heran. »Du wirst Pia nie wieder in so ein Todesspiel mit hineinziehen. Lass sie in Ruhe!« Frank stand auf. Er hätte Ferenci viel zu sagen gehabt. Aber in dessen Gemütsverfassung war das sinnlos. Schweigend verließ er den Mediziner. Völk hing mit leerem Blick am Tresen der kleinen Kneipe. Er war genauso randvoll wie das Glas Bier vor seiner Nase. Die bildhübsche rothaarige Kellnerin hatte ihm freundlicherweise eines nach dem anderen hingestellt. Dabei hatte sie immer sehr nett gelächelt. Der Beamte beobachtete sie, wie sie die anderen Gäste bediente. Ein langbeiniges, schlankes Wunderwesen, das sich streng an Mineralwasser hielt, während sich ihre Gäste stündlich um etwa ein halbes Promille hinaufpegelten. 179
Die Zecher saßen jeder für sich allein und vermieden jeden Kontakt untereinander. Sie waren schließlich nicht zum Quatschen hier. Plötzlich kam ein Schwall kalter, frischer Luft herein. Völk schaffte es, sich auf seinem Hocker umzudrehen, ohne von diesem zu fallen, und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Wilhelmi, die Krawatte auf Halbmast, wankte mit trübem Blick herein. Erst spät erkannte er den dicken Streifenbeamten. »Ach nee«, entfuhr es Wilhelmi. »Ach doch«, erwiderte Völk. »Sie hier? Was für ’n Sufall«, lallte der Mordermittler, der seinen Frust über die stockenden Ermittlungen an diesem Abend mit einer Flasche Weißwein bekriegt und dabei erst richtig Durst bekommen hatte. »Kein Sufall, bin oft hier.« »Ich nich.« Mit einiger Mühe kletterte der Kommissar auf einen Hocker neben seinen Untergebenen. »Ein Bier, bittibitti!«, säuselte er zur Herrin der Zapfanlage. »Süßa Käfa, was?«, meinte Völk. »Jau!« Kaum, dass das Bier vor ihm stand, setzte es Wilhelmi an und inhalierte den Gerstensaft. »Au’ ’n Naps?« »Gute Idee!« »Weis nich. Aba egal. Swei Näpse, bitti-bitti.« Kurz darauf stießen die beiden Polizisten miteinander an. »Heise übrigens Klaus. Pro-host!«, schmetterte der Mordermittler. »Binna Peta. Prostata!« Sie rammten die Gläschen so fest aneinander, dass das meiste des Inhaltes überschwappte. »No’ mal swei«, orderte Wilhelmi. Er klammerte sich mit einer Hand am Tresen fest. Die Bedienung nickte ihnen freundlich zu. »Die is nich von diesa Welt, was? Un lächeln tut die mich imma so an«, glaubte Völk. »Meins’ du, die ist schaaf auf 180
mich?« Wilhelmi glotzte ihn an. Dann lachte er schallend. »Auf dich? Na klar. Die hässlichsten Männa ham imma die sönsten Frauen.« Auch Völk lachte: »Dann müssest du ja mit der Laudia Siffer vaheihatet sein.« Wilhelmi kippte den neuen Schnaps in sich hinein. »Jau, bin ich. No’ mal swei Napsileins, bitti.« »Hassu aba ’n Zug am Leib, Klausi«, meinte Völk anerkennend. »Das macht besimmt die Laudia.« Guter Witz. Er hatte das drauf, was seiner Meinung nach den meisten Männern abging: die richtige Prise Humor zum richtigen Augenblick. »Jau. Äh, nee. Das is’ dieser Seißfall. Deswegen bin ich am schlucken.« »Hä?« Dieser Gedankensprung war für Völk mehrere Nummern zu groß. »Sattenland, mein ich.« »A so. Seiß Sattenland.« »Jau. Aba is’ jetz’ au’ egal.« Wilhelmi suchte Blickkontakt zur Verwalterin seines kommenden Katers. Das fiel ihm nicht leicht, weil er plötzlich mehrere Schönheiten hinterm Tresen ausmachte. Mühsam gelang es ihm, seine Quellmänner wieder einzunorden. »Bitti-bitti, no’ mal swei Bier.« Die Rothaarige nickte. Sie lächelte nicht mehr: »Okay. Aber ihr zwei scheint mir bald genug zu haben.« »Genuch? Genuch von dem Seißfall vielleicht!«, brüllte der Mordermittler. »Morgen snapp ich die Sau.« »Nee, heute!«, lachte Völk. »Wie heute?« »Ich binna Möhda«, giggelte der Polizeimeister. Jetzt stellte Wilhelmi die Pupillen auf den Feistling neben ihm scharf. Sein Kopf wackelte hin und her. »Du bissa Möhda?« Völk nickte begeistert. »Wars’ du nich’ als Ersta am Fun’ort der einen Leiche. Die, 181
wo im Park inner Südsadt lag?«, überlegte Wilhelmi mühsam. Erneut nickte der Polizeimeister. »Dann muss ich dich nu’ vahaffn tun.« Wilhelmi kramte in den Taschen seines Sakkos. Wo waren nur die Handschellen? »Wasssss?« »VAHAFFN!«, brüllte der Hauptkommissar. Er machte eine ausladende Handbewegung, die die Dimension dieser Heldentat veranschaulichen sollte. Damit konnte er Völk zwar nicht beeindrucken, wohl aber ein Tablett mit leeren Gläsern abräumen, das die Bedienung unvorsichtigerweise in seiner Reichweite postiert hatte. Die Gläser zersprangen mit hellem Klang auf den Fliesen. »Öha, dumm g’lauf’n«, murmelte der Mordermittler in Richtung der Chefin und setzte ein Gesicht auf, dass an einen zerknirschten Hund der Gattung Boxer erinnerte. Die Kellnerin bügelte die Knautschvisage mit der halb gezischten Bemerkung ab: »Noch so ein Auftritt und Sie fliegen raus.« »Sulligung! Ich sahl das natülich«, rief Wilhelmi. »Unnere bei’n sind no’ da«, sabbelte Völk und zählte die beiden Kelche vor ihnen ab. »Swei Sück. Un swei Naps.« »Jau!«, nickte Wilhelmi dazu. Er wollte seinen Kopf mit einer Hand abstützen. Dabei rutschte ihm der Ellbogen vom feuchten Tresen. Der Ermittler verlor das Gleichgewicht und knallte vom Hocker. Völk giggelte. Da saß er nun, der große Hauptkommissar, blau und blöd auf dem Boden. In Scherben, Bier und Kippenstummeln. Klasse! »Hilf mir, ich muss dich do’ vahaffn!« Völks reichte ihm die Hand. Das heißt, er versuchte es. Die ausgefahrene Pranke von Wilhelmi machte er eher schemenhaft aus, wie einen Drachen im Wind, der von der einen Seite zur anderen hüpfte. »Gans sön swer«, kommentierte er das Spiel. »Nix!«, plärrte Wilhelmi und sprang nach der Hand gleich 182
einem Torwart zum Ball. Er schnappte das fleischige Objekt und zog ruckartig daran. Völk hob ab von seinem Hocker, elefantös, überrascht, ohne Schutzmaßnahmen durchsackend, die vier verbliebenen Gläser mitreißend. Er erreichte die wilhelminische Ebene mit beachtlicher Durchschlagskraft, der Stuhl war geborsten, ein mittlerer Biersee breitete sich aus und nässte Völks Hose. »Ha-bssss«, meinte er. »Ach du Seiße!«, ergänzte Wilhelmi. »Das söne Bier.« »Unner Snaps.« Sie kamen auf alle viere, dann mit einigen Problemen auch wieder auf die Füße. »Bitti-bitti, no’ mal selbe!«, bestellte Wilhelmi. »Von wegen. Ihr zwei werdet jetzt bitti-bitti bezahlen und dann die Biege machen. Von mir bekommt ihr nichts mehr.« Die beiden Beamten waren zu betrunken, um groß protestieren zu können. Wilhelmi beglich die Rechnung, die stattlich ausfiel, weil Völk schon ordentlich vorgetankt hatte. Dann schwankten sie hinaus wie zwei Schiffe auf hoher See. Draußen in der Kälte meinte Wilhelmi: »Ich muss dich no’ vahaffn. Wo sin’ nur die Hannsell’n?« »Egal. Mach ma’ morgen.« »Jau!« Wilhelmi winkte einem Taxi. »Bis morgen.«
183
13. Frank hatte einen günstigen Parkplatz erwischt, von dem aus er den Eingang zur Praxis gut im Visier hatte. Es wurde zwölf, es wurde Viertel nach zwölf, zwanzig nach – keine Arzthelferin kam. Wenn die Kleine gar nicht da war, vertrödelte Bachmann hier sinnlos Zeit. Er zog das Handy hervor. »Praxis Dr. Hong, Sie sprechen mit Frau Süder, was kann ich für Sie tun?« »Schmidt-Plate, guten Tag. Von der Universität NürnbergErlangen. Wir machen eine Telefonumfrage bezüglich der Ärztedichte in der Stadt. Wir ermitteln im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt und Gesundheit die Soll- und Ist-Dichte im Zusammenhang mit der Morbiditätsrate innerhalb eines Agglomerationsraumes, klar?« »Äh – ja.« »Fein. Dann hätte ich drei Fragen an Sie.« »Moment, ich glaube, ich sollte da lieber erst einmal …« »Nein, schon gut. Mit Ihrem Chef, Herrn Dr. Hong, ist das alles geklärt. Ich halte Sie nicht länger als eine Minute auf. Also: Seit wann existiert die Praxis?« »Keine Ahnung. Bestimmt schon seit 1980, glaube ich.« »Danke. Und wie viele Arzthelferinnen beschäftigt Dr. Hong, Sie inklusive?« »Zwei.« »Fein. Und beide sind regelmäßig anwesend, also auch heute?« »Ja, aber meine Kollegin geht gleich in die Mittagspause.« »Danke, Sie haben uns sehr geholfen. Auf Wiederhören.« Schnell drückte Frank die rote Taste. Er begann zu kichern. Wirklich ein Engel, die Blonde. 184
Jetzt musste nur noch Aschenputtel herauskommen. Bachmann ließ eine Kassette von Deep Purple laufen und trommelte auf dem Lenkrad mit. Um kurz vor ein Uhr war es so weit. Die Asiatin trat aus der Tür. Auch ihr Kopf verschwand fast in einem dicken schwarzen Mantel. Der Reporter sprang aus dem Polo. Die Arzthelferin steuerte eine Bäckerei an. Frank erreichte sie kurz vor dem Schaufenster. »Kann ich Sie einen Moment sprechen?« Sie sah ihn fragend an. Bachmann wählte die Überrumplungstaktik. Hopp oder top: »Ich bin Reporter. Vom Blick. Es geht um Ihren Chef. Ich glaube, Sie könnten mir weiterhelfen. Beim Thema Organhandel.« Das Gesicht der Frau bewölkte sich. »Kommen Sie, ich lade Sie zu einem Kaffee ein«, schlug Bachmann vor. »Ach, Sie schon wieder?«, war mit einem Male eine durchdringende Stimme zu vernehmen. Frank fuhr herum. Hong, in einem eleganten braunen Mantel. »Darf ich fragen, warum Sie jetzt auch noch meine Mitarbeiterin belästigen?« Bachmann verschränkte die Arme vor der Brust: »Belästigen? Wie kommen Sie denn da drauf?« »Sie wissen genau, was ich meine. Treiben Sie es nicht zu weit.« Mit diesen Worten ging der Arzt weiter. »Also, was ist nun mit einem Kaffee?«, erneuerte der Reporter sein Angebot. Die Arzthelferin schüttelte den Kopf. »Vielleicht morgen?« Zögern. Dann: »Nein!« Ein hektischer Blick in die Richtung, in die Hong gegangen war. Dann kramte die Frau in ihrer Handtasche, schrieb etwas auf. 185
»Haben Sie Angst?« Das Mädchen schloss die Augen. »Gehen Sie, bitte.« »Na gut, übermorgen.« »Nein, überhaupt nicht. Er darf uns nicht noch einmal zusammen sehen. Lassen Sie mich in Ruhe!« »Okay. Hier, meine Visitenkarte. Rufen Sie mich an, wenn Sie es sich anders überlegt haben.« Das Mädchen nahm das rechteckige Stück Karton. Plötzlich spürte er ihre Hand in der seinen – und ein Stück Papier. Hongs Angestellte schob an ihm vorbei, verschwand in der Bäckerei. Frank ging ein paar Meter weiter, wagte erst dann, die Hand zu öffnen. Ein Blatt von einem Notizblock, auf dessen Rand der Schriftzug eines Arzneimittels prangte. In der Mitte stand ein Name: Theresa Jiayin. Daneben hatte die Arzthelferin ihre Telefonnummer geschrieben. Eisgrau schoben sich die Hausfassaden in Völks Blickfeld. Hochhäuser. Waschbeton. An der Seite sturmgepeitscht und nass, als hätte ein Riesenhund sein Bein gehoben. Herabgelassene Jalousien, manche bunt, hilflose Ausrufezeichen gegen die Tristesse. Überall lagen die Tretminen der Köter auf dem Bürgersteig. »Bürgersteig«, knurrte der Beamte in sich hinein. Was für ein selten dämliches Wort. Die Bürger huschten an ihm vorbei. Niemand lächelte ihn an, niemand gab ihm einen aus. Ihm, der bei diesem Dreckswetter für die lieben Bürger die Rübe hinhielt im Regen, in der Kälte, im Schmutz. Ganz offensichtlich legte man keinen Wert darauf, dass Völk durch die Gassen der Stadt patrouillierte. Nein, dieser Tag wollte keinen Völk. Neben dem Polizeimeister trottete die Abrissbirne. Pauly schaute ebenfalls missmutig drein. Seit über einer 186
Stunde hatte er kein Wort mehr gesagt. Sein Partner kannte diesen Zustand des Kollegen. Pauly lud auf, wenn er so still war, das wusste Völk genau. Da tickte die Zeitbombe in der Birne. Die Explosionen, die zu folgen pflegten, waren nicht nur bei Völk gefürchtet. Sie entzündeten sich gerne an absoluten Nichtigkeiten. Pauly war auf der Suche nach einem Ventil. Seine kleinen Augen tasteten die direkte Umgebung ab. In sein Blickfeld geriet ein Mercedes Cabrio, das im absoluten Halteverbot vor einer Apotheke stand. Paulys Miene hellte sich auf. Den würde er abschleppen lassen. Er hatte schon das Sprechfunkgerät in der Hand. In diesem Moment stürmte ein Mann im Anzug aus der Apotheke und steuerte auf den Wagen zu. Als er ihn starten wollte, stoppte ihn Pauly: »Is nich.« Der junge Mann sah den Beamten fragend an. »Absolutes, mein Freund. Ich lasse Sie abschleppen.« »Nicht nötig, ich fahre doch schon.« »Egal, Sie standen im absoluten. Den Abschleppwagen müssen Sie zahlen, der ist schon unterwegs.« Das stimmte zwar nicht, aber Pauly bereitete es Freude, den Sünder leiden zu sehen. »Ach, kommen Sie. Ich habe doch nur schnell Medizin für meinen kranken Sohn geholt. Er hat Fieber.« »Na und? Sie zahlen.« »Haben Sie Kinder?« »Zum Glück nicht«, lachte Pauly rostig. »Dann können Sie auch nicht nachvollziehen, wie das ist mit einem kranken Kind. Da ist einem ein Halteverbot ziemlich egal.« »Und mir ist Ihr Kind ziemlich egal. Sie zahlen.« »Es waren doch nur ein paar Minuten.« Pauly zuckte mit den Schultern und wandte sich Völk zu. Der starrte wie gebannt auf den Eingang eines Chinalokals. 187
»Du, ich glaube, da ist –« »Hä? Hilf mir lieber, der Kerl will, glaube ich, Widerstand leisten.« Freude klang in Paulys Stimme mit. »Du – da, guck doch mal!«, rief Völk. »Was? Ich seh nichts in der gelben Bude. So, und nun wieder zu Ihnen, mein Freund.« »Ich bin nicht Ihr Freund«, erregte sich der Mercedesfahrer. »Werde nicht frech, Scheißkerl. Du hältst dich wohl für was Besseres.« Der Mund des Autobesitzers klappte auf. Plötzlich rannte Völk los. Die Abrissbirne schaute ihm verdutzt nach. Der Kollege kam auf eine beachtliche Geschwindigkeit. Er lief einem dürren Mann hinterher, der ein Messer in der Hand hielt. Völk erkannte, dass er den Mann kaum erreichen würde, der war einfach zu schnell. Dennoch hetzte er weiter. Sein Herz raste, der Puls pumpte, die Gelenke ächzten während seines scheinbar sinnlosen Sprints. »Bleiben Sie stehen oder ich schieße!«, schrie er atemlos. Der Mann rannte unbeirrt weiter. Völk öffnete das Holster. Plötzlich geriet der Mann mit dem Messer an der Gehsteigkante ins Straucheln und stürzte. Der Beamte riss die Waffe hervor. Mit zu viel Schwung, sie fiel ihm aus der Hand. Völk lief einfach weiter. Mit dem Männchen wurde er auch so fertig. Gerade, als der Verfolgte wieder hochkommen wollte, rollte Völk wie eine Dampfwalze heran und stürzte sich auf ihn. Der dünne Mann drehte sich zur Seite, entkam dem Gewicht, trat um sich. Er traf Völks Kniescheibe. Der Beamte heulte auf, startete aber einen zweiten Angriff. Er schlug mit aller Wucht in den Bauch des Kontrahenten. Zum ersten Mal nahm er dabei das Gesicht des Gegners bewusst wahr – der Mann war Asiate. Völk wurde heiß: Hatte er es mit einem 188
Mitglied der Triaden zu tun, vielleicht sogar mit dem Schattenland-Mörder? Der andere riss den Arm mit dem Messer hoch. Es war voller Blut. Dann sauste die spitze Klinge hinab. Der Polizist bekam die Hand, die die Waffe führte, zu fassen und drückte sie von sich weg. Er trat seinem Gegner in die Beine, zwei weitere Tritte und das Messer flog in hohem Bogen auf den Asphalt. Pauly klopfte auf das Dach des Nobelautos und zischte: »Fahr zu deinem Fieberbalg. Ich hoffe für dich, dass wir uns nie wieder sehen.« Dann rannte er zu Völk, der sich auf dem Boden mit dem Mann wälzte. Gerade gewann der andere die Oberhand, als ihn Pauly mit einem gewaltigen Hieb von seinem Kollegen wegbeförderte. Die Abrissbirne kniete sich auf den Rücken des Asiaten, packte in seine Haare und schlug den Kopf mehrfach auf den Boden. Dann verpasste er dem Mann Handschellen. Schreie wurden laut. Völk rappelte sich auf. Aus dem Lokal taumelte ein weiterer Mann, beide Hände auf den Bauch gepresst. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Der Verletzte fiel auf die Knie, sackte dann vornüber. Rasch war der Polizeimeister bei ihm, drehte ihn um. Das sah gar nicht gut aus. Völk zog sein Funkgerät hervor, alarmierte die Zentrale. Eine Minute später wehte der Klang des ersten Martinshorns zu ihnen. Schnell umringten Schaulustige die Beamten. Völk drängte sie ab, während Pauly sich in erster Hilfe versuchte. »Verdammt, der stirbt uns weg!« Der Mann mit den Handschellen wollte das Chaos nutzen, um sich davonzuschleichen. Doch Völk hatte aufgepasst. Er nahm nun auch noch seine Handschellen zu Hilfe und kettete den Asiaten an die Stoßstange eines alten Käfers. Die Streifenbeamten bekamen die Situation in den Griff. 189
Allmählich relaxte Völk. Sollte sich Pauly nur um das Opfer kümmern, er würde bei dem Messerstecher bleiben. Immer schön dicht dran. Wo blieb nur die Presse? Ein Foto wäre jetzt klasse. Zuerst kamen zwei Streifenwagen, dann der Notarzt, schließlich ein Krankenwagen. Keine weiteren drei Minuten verstrichen, bis das erste Blitzlicht zuckte. Na endlich, dachte Völk. Hier bin ich!, reckte er sich. Doch der Fotograf, Völk erkannte den kleinen Heiner, kümmerte sich nur um den Notarzt und dessen Kampf um das Leben des Messerstichopfers. Endlich wurde Heiner zurückgedrängt, stellte Völk erleichtert fest. Der Knipser rannte zum Bordstein, wo Völk nun auch Bachmann ausmachte. Heiner und Bachmann – diese Journalisten verachtete Völk zutiefst. Aber heute würde er die beiden Sensationshungrigen gebrauchen können. Einer der Gaffer tat Völk den Gefallen und zeigte auf den Beamten samt seiner Beute. Bachmann und Heiner schoben heran. Als sie Völk erkannten, verfinsterten sich ihre Gesichter. »Schön, Sie zu sehen«, meinte Frank ironisch. »Leider nicht zu vermeiden. Ich war es, der den Killer geschnappt hat. Ob es Ihnen passt oder nicht.« »Wieso Killer?« Der Polizeimeister wurde vorsichtig. Er überlegte. Die Reporter ließen ihm keine Zeit. »Glauben Sie im Ernst, Sie haben einen Mörder gefasst, vielleicht sogar den Schattenland-Täter?«, fragte Heiner. »Öh –« Eine digitale Kamera näherte sich dem Gesicht des Polizisten. »Ich, ich bin mir nicht sicher«, erwiderte der Beamte. Die Kamera arbeitete. »Zumindest wurde jemand niedergestochen.« 190
Zack, zack, zack, Foto, Foto, Foto. »Erzählen Sie, was passiert ist«, überwand Bachmann seine Vorurteile gegen den Polizei-Dicken, diese echte ›Bulette‹. Er war ein wenig enttäuscht. Sollte der Fall wirklich geklärt sein, so einfach, so billig? Der Schattenland-Mörder – zur Strecke gebracht von einem Völk? Was war mit Hong? Egal, jetzt musste er diese Geschichte recherchieren, so lange sie noch heiß war. Frank sah sich um und raunte dann Völk zu: »Machen Sie schnell.« Jeden Moment konnte Dreiste auftauchen. Der Polizeimeister begann zu erzählen, malte die Geschichte noch ein wenig aus und sah voller Freude, dass Bachmann eifrig mitschrieb. Als Nächstes bremste ein dunkler Opel am Tatort. Wilhelmi sprang aus dem Wagen, hastete zum Einsatzleiter, der ihn knapp instruierte. Offenbar kaum Parallelen zum Schattenland-Täter. Keine Organentnahme, kein Zettel – es roch eher nach einer ›normalen‹ Messerstecherei. Sein Kollege deutete mit dem Kopf in Richtung Völk samt Reporter. Der Mordermittler verzog das Gesicht. Den Kerl kannte er doch. Ausgerechnet dieser Völk. Jetzt hob der Schupo auch noch vertrauensselig die Hand und grüßte. Zögernd ging Wilhelmi auf Völk zu. Zu dumm, dass der Polizeimeister auch noch von zwei Journalisten belagert wurde. »Tag, Herr Wilhelmi«, begrüßte ihn Bachmann freundlich. »Hallo, Klaus!«, rief Völk entzückt. Wilhelmis Magen drehte sich um, er überhörte diese Anbiederung. »Glückwunsch«, sagte Heiner. »Ihre Beamten haben offenbar den Serienmörder gefasst. Können Sie das bestätigen?« »Gar nichts kann und werde ich«, raunzte Wilhelmi. »Ich habe ihn geschnappt!«, platzte Völk heraus. »Ich war es ganz allein, der diesen Massen …« 191
»Halten Sie den Rand!«, brüllte der Kommissar. »Gereizt?«, fragte Bachmann. »Merkt man das etwa?« »Ziemlich.« »Egal. Ich bin nicht zum Plauschen hier, meine Herren.« »Wir auch nicht«, erwiderte Frank. »Wir machen nur unseren Job. Also, wie schaut es aus mit den ersten Ermittlungen?« »Kein Wort erfahren Sie derzeit von mir. Und von dem da auch nicht.« Er deutete auf Völk. »He, wie redest du denn mit mir?« »Seit wann duzen wir uns?«, blaffte der Hauptkommissar. »Seit gestern Abend in der Kneipe«, konterte Völk beleidigt. »Vergessen Sie das! Sofort! Das ist eine dienstliche Anweisung.« Heiner grinste: »Wie? Die Herren waren zusammen aus?« »Nein, ich kenne den Mann nicht weiter«, zischte Wilhelmi. »Er muss mich mit jemandem verwechseln.« »Ah, so läuft das!«, raunzte der Polizeimeister. »Aber eines weiß ich sicher: Ich war es, der diesen –« Wilhelmi trat plötzlich dicht an Völk heran und sagte ganz leise, so dass Bachmann und Heiner nichts hören konnten: »Wenn du verdammter Idiot nicht sofort die Schnauze hältst, bleibst du bis an dein Lebensende Polizeimeister.« Völk, der sich hinsichtlich seiner Karriere keine großen Illusionen mehr gestattete, flüsterte zurück: »Trotzdem hab ich den Kerl gefasst.« Wilhelmi verdrehte die Augen. »Ja doch, aber der ist nie und nimmer der Serientäter, du Schaf.« In diesem Augenblick hielt ihm jemand ein Mikrofon unter die Nase. Ein TV-Team hatte sich herangepirscht. Der Mordermittler schob den Pressevertreter barsch zur Seite. Zeit für einen geordneten Rückzug – und eine ganz große Absperrung. Rasch gab er die entsprechenden Kommandos. Auch Bachmann und Heiner wurden verscheucht. Zu ihrer 192
Freude sahen sie, wie die beiden Dreistes angehetzt kamen und ebenfalls vom Flatterband gebremst wurden. Unerreichbar für sie schob man Völk in einen Dienstwagen. Auch der Täter war von der Bildfläche verschwunden. In einem VW-Transporter brachte ihn die Polizei zum Revier. Dreiste kniff die Augen zusammen. »Seid ihr schon länger hier?«, fragte er schließlich das Blick-Team. »Wer weiß«, gab Frank zurück. »Komm schon, lass die Spielchen.« »Klasse Schuss!«, meinte Heiner. Er sah sich im Monitor seiner Kamera die Fotos an, die er gerade gemacht hatte. »Lass mal sehen.« Schon stand Dreiste neben ihm. Wenn er hier schon zu spät kam, durfte ihm wenigstens die Konkurrenz nicht voraus sein. Heiner drehte die Kamera um. »Aber nicht doch.« »Kollegenschwein«, meinte Dreiste verächtlich. »Du hast dir wahrscheinlich nur ein paar langweilige Aufnahmen von gestern Abend angeschaut.« »Wer weiß!«, meinte nun auch Heiner. Lachend machten sich er und Bachmann auf den Rückweg. Brockmüller sah sie mit großen Augen an: »Was liegt an, Jungs?« »’ne Menge, Chef«, rief Heiner. »Wir haben die Verhaftung von dem Schattenland-Heini im Kasten! Klarer Fall für die Seite eins!« Brocki bekam sein Bäckchen-Glühen. Die intensive, schlagzeilenträchtige Brutphase war einläutet. Schon glitt sein Blick gen Decke. »Moment!«, warf Bachmann ein. »Noch wissen wir nicht, ob es sich um den Serienmörder handelt. Ich glaube nicht, dass er es ist. Lasst uns das erst noch recherchieren!« Einigermaßen verärgert kehrte der Redaktionsleiter vom Olymp des Headlining zu seinen erdenwürmigen Mitarbeitern 193
zurück. »Stehlen Sie mir nicht die Zeit! Checken Sie Ihre Storys erst mal richtig ab, bevor Sie den Saum der Seite eins auch nur berühren.« Ein kleiner Poet, dachte Bachmann, war aber eher wütend auf Heiners Vorpreschen. Er warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Der Knipser trollte sich in seine Fotobude. Plötzlich spürte Frank eine Hand auf seiner Schulter. »Wie lief es, hattest du Erfolg?« Brehm lächelte den Polizeireporter über den Rand seiner dicken Brille an. »Wobei? Meinst du bei Dr. Hong?« »Genau das.« »Was soll ich nun mit Ihrer Geschichte machen?«, rief Brockmüller dazwischen. »Geben Sie mir eine Stunde Zeit, okay?« »Mal sehen, ich bin schließlich kein Wartehäuschen. Ihre Zeit läuft.« »Also, was war mit Hong?« Wieder Brehms Stimme. Irritiert sah ihn der Redakteur an. »Was? Ach so, Hong.« »Höchstens eine Stunde, haben Sie mich verstanden?«, wiederholte Brocki. »Klar, Chef.« »Was war mit dem Arzt?« »Hong, ja, Hong. Ich war vor seiner Praxis. Habe seine Arzthelferin abfangen können. Auch Chinesin.« »So?« »Ich verstehe nicht, dass Sie hier noch rumstehen und quatschen, Herr Bachmann!«, blökte Brockmüller. »Rein fachlich, Herrgott noch mal.« »Was hat sie erzählt?« Immer noch dieser Brehm. Der wurde langsam lästig. Frank schüttelte entnervt den Kopf. »Noch nichts. Aber ich glaube, dass sie etwas weiß. Sie hat mir ihre Telefonnummer gegeben.« »Klingt ja spannend.« 194
»Frank, Telefon für dich!« Die Redaktionssekretärin winkte mit dem Hörer. »Soll ich rüberstellen?« »Nein!«, rief Frank. Zwei Stunden und fünf unangenehme Telefonate mit Brockmüller später hatte Bachmann Gewissheit. Die Polizei schloss »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« aus, dass es sich bei dem Messerstecher um den Serientäter handelte. Das Opfer war inzwischen außer Lebensgefahr. Brocki entschied, dass sie aus dem Fall lediglich eine TOPMeldung auf der Seite eins machten. »Hätten wir nicht diese Häufung ähnlicher Fälle derzeit und die entsprechende Sensibilisierung der Öffentlichkeit, hätte ich daraus fünf Zeilen auf der Seite neun gemacht«, brummelte er. »Aber bei dem Stichwort Messer schaut im Moment jeder hin. Auch wenn sich damit nur jemand ein Wurstbrot schmiert.« »Mit anderen Worten: Wir haben so gut wie nichts.« Teppe durchmaß sein Büro in kleinen, hektischen Schritten. Die Dreistes hielten den Mund. Sie aus Gewohnheit, er aus unterdrückter Wut »Was macht man in so einer Situation? Sagt es mir, damit ich wieder an euch glauben kann, ihr Nieten.« Hermann Dreiste platzte jetzt doch der Kragen: »Hör auf, Teppe. Gut, wir waren einen Tick zu spät. Aber immerhin waren wir überhaupt da, wo es gebrannt hat. Und wo warst du? In deiner gemütlichen Redaktionsstube mit deinem angewärmten Stuhl, fett und faul, satt und spack, du mit deinem Urlaubsgeld, deinem Weihnachtsgeld, deinen Sonntagszuschlägen.« »Nur keinen Sozialneid, Dreiste.« »Ich soll auf dich neidisch sein? Ich lach mich gleich tot. Du bist hier die Niete, Torsten Teppe.« Der Redaktionsleiter lachte dröhnend: »Aber mit Sonntagszuschlag!« »Ich pfeife auf deine Privilegien. Jedoch nicht auf deine Honorare. Also, lass uns übers Geschäft reden.« 195
»Ich soll wirklich wieder an dich und den stummen Karpfen neben dir glauben? Was habt ihr denn schon noch zu bieten?« »Nicht blubbern, handeln. Gut, wir haben kaum Fakten. Nur, dass es eine Messerstecherei gegeben hat und dass Chinesen daran beteiligt waren. Na und? Sieh’s mal positiv: Da haben wir Raum für Spekulationen.« Das begann Teppe zu interessieren. Dreiste fuhr fort: »Wir haben die Fotos von den Chinesen beim Interview. Die scanne ich ein und verändere die Gesichtszüge. Nur ein bisschen. Den Unterschied merkt keiner. Schon haben wir einen Zeugen, der zufällig in dem Restaurant zu Gast war und inzwischen wieder abgereist ist.« »Du meinst, wir faken das?« »Klar, warum nicht? Kräht kein Hahn nach. Niemand wird sich exakt wieder erkennen können. Und wo kein Kläger ist–« »Nicht schlecht. Wenn du nicht so ein gewaltiger Abzocker wärst, würde ich dich umarmen.« »Kein Bedarf.« »Mir nur recht. Kannst du aus deinem Interview-Chinesen nicht auch noch den Täter basteln? Oder das Opfer?« »Du bist wirklich die Niete schlechthin, Teppe. Beide werden erkennungsdienstlich behandelt. Der Schwindel würde sofort auffliegen.« Ein Mann der Tat. Völk, der Könner. Der Titan. Wie er den Killer abgeräumt hatte. Sagenhaft! Ein paar Fläschchen Bier garniert mit einigen harten Kurzen hatten bei dem Beamten einen egospezifischen Euphorieschwall losgespült. Er stand leicht schwankend vor dem Spiegel und zupfte an einem Lederschlips herum. Wann hatte er das gute Stück das letzte Mal angehabt – vor fünfzehn Jahren vielleicht. Da war das Teil der letzte Schrei gewesen. Und er fünfzehn Kilo leichter und seine Leber doppelt so groß wie heute. Völk pfiff eine Marschmelodie, während er sich mit dem 196
Schlips abkämpfte. Eine Wucht war er. Eine Waffe auf zwei Beinen. Schnell, sicher, gefährlich. Wie er sofort erkannt hatte, dass sich in dem Chinaschuppen ein blutiges Drama abspielte – ha! Der Akne-Kopf von Pauly hatte sich mit einem Falschparker angelegt, aber er, Völk, war zur Stelle gewesen, als es darauf ankam. Er zwinkerte sich wohlwollend zu. Gut, Peter, du hast es wirklich drauf. Das galt es zu feiern. In Völks Stammkneipe gegenüber seines Mietklotzes war nicht viel los. Die wenigen Gäste saßen im Glimmer der Neonreklame für eine Biermarke. Der Wirt stellte der Kundschaft in regelmäßigen Abständen ungefragt volle Humpen hin. Niemand reagierte darauf, das hatten sie hinter sich. Die Luft war schal, laukalt, zigarrig, vernebelt. Völk stand in der Tür. Strahlend, ein Held. Eine Lichtgestalt mit Lederschlips. Der Wirt, fleckig in Gesicht und Kleidung, starrte einen Moment auf das Gebinde um Völks Hals. Dann wanderten seine trüben Augen wieder zum Zapfhahn. »Grüß euch!«, rief Völk. Stille. Niemand sah zu ihm. »Was für ein Tag! Ich sag’s euch!« Der Beamte steuerte auf den nächstbesten Tisch zu, wo ein abgewrackter Mann in einem Blaumann saß. Als Völk sich einen Stuhl heranzog, stand der Monteur auf und wechselte an den Tresen. »Haha!«, überspielte Völk den Affront. »Dann eben nicht, haha. Wirt, bring was zu trinken, aber diesmal ein gut gezapftes Bier.« Der Wirt schob heran, ohne Glas, stützte sich auf Völks Tisch und sah ihn mit triefenden, kohlschwarzen Augen an: »Hier gibt es nur das Bier, das ich zapfe.« »Jaja, schon gut.« Der Polizeimeister breitete die Arme aus: »Und die Speisekarte bitte.« 197
»Haben wir nicht.« »Ach nein, seit wann denn das?« »Schon lange.« »Gar nichts zu essen?« »Das hab ich nicht gesagt.« »Gut, was gibt es?« »Drei Rostbratwürste mit Kraut.« »Und sonst nichts?« »Doch. Sechs mit Kraut.« »Das ist alles?« »Nein. Neun mit Kraut.« »Gut, die nehme ich.« Völk wollte sich heute mal richtig was gönnen. »Was für ein Tag!«, rief er wieder in den Raum, gegen den Nebel, gegen die Köpfe, in denen nur noch das Testbild lief. »Könnt ihr euch vorstellen, dass ich heute einen Killer geschnappt habe, hä?« Keiner schien interessiert. »War ’ne haarige Sache, Mann.« Das Bier kam, schlecht gezapft, und Völk trank es hastig bis zur Hälfte leer. Der Beamte wischte sich den Schaum von den Lippen. »Müsst ihr euch so vorstellen.« Er stand auf. »Also ich bei der Kontrolle eines Porsche-Fahrers, der mit knapp einhundertsechzig Sachen durch die Stadt gerast ist. Plötzlich Schreie.« Der Beamte drehte sich mit der Grazie eines Tanzbäres um die eigene Achse. »Ich wirbel herum, die Waffe im Anschlag, dann sehe ich auch schon, wie –« Laute Musik erklang, die Wildecker Herzbuben. Der Beamte verstummte. Jetzt hatte ihn der Wirt dort, wo er ihn haben wollte. Er hatte einen weiteren Trinker, der die Klappe hielt. Eine Viertelstunde später krachte das Festessen vor Völk auf den Tisch. Die Würstchen waren dunkelgrau und kalt. Das Kraut wälzte sich matt und traurig in einer fettaugigen Brühe. 198
»Wirt, das Essen ist nicht warm«, plärrte Völk gegen die Herzbuben an. Er war heute der König und wollte auch so behandelt werden. Wortlos zog der Gescholtene den Teller fort, schlurfte in die Küche und warf den Fraß in eine Pfanne. Völk durfte sich kurz darauf über eine Art übel riechendes Stroh (das Kraut) und versengte Kohlestäbchen (die Würstchen) freuen. Tapfer würgte er den Fraß hinunter. Niemand würde ihm heute die Laune verderben. »War fein, nicht?«, meinte der Wirt beim Abräumen. »Und wie!«, gab Völk zurück. »Nach Art des Hauses.« Gegen Mitternacht war Völk zu Hause. Allein, hilflos, blau. Ihm war übel. Mann, war das eine Party gewesen. Er lachte blöd. Ein bisschen hatte die Resonanz gefehlt. Vor allem, als er die anderen zum Tanzen aufgefordert hatte. Keiner der Pflaumen hatte mitgemacht. Dieser Schmierlapp von Wirt hatte ihm die Rechnung unter die Nase gehalten, statt eine Polonäse zu bilden. Und immer wieder diese CD mit den Herzbuben. Einmal hatte der Kerl eine Scheibe mit Wolfgang Petry aufgelegt, sie aber sofort gestoppt, als Völk ein wenig mitgesungen hatte. Dann gab es wieder die herzigen Big Mäcs. Stimmungsniete, dieser Wirt. Jetzt hätte sich Völk gern ein Video angeschaut. Irgendetwas ab 18. Das erinnerte ihn wieder an sein kaputtes Gerät – und das Geld, das er den chinesischen Killern noch zu geben hatte. Der Beamte rumpelte Richtung Klo. Mein Gott, war ihm schlecht. Er umarmte die Schüssel. »Polonäse«, murmelte Völk. Nachdem er sich übergeben hatte, schlief er auf den Fliesen ein. Bachmann versank in Pias Augen. »Schön, dass du wach bist.« Sie streichelte seine Hand. »Wurde auch Zeit. Ich habe ja die 199
letzten Tage mehr oder weniger verpennt. Wie steht der Fall?« Frank berichtete, auch von dem Treffen mit Pias Vater. »Ich werde mit ihm sprechen«, versprach sie. »Mach dir keine Vorwürfe. Du musst nicht auf mich aufpassen. Das kann ich selbst. Das werde ich auch meinem Vater sagen. Jetzt muss ich erst mal hier raus. Der Arzt will mich noch zwei Wochen auf der Station behalten. Man kann doch auf eigene Verantwortung die Klinik verlassen, oder?« »Schon, aber–« Pia legte einen Zeigefinger auf ihre Lippen: »Psst, ich pass selbst auf mich auf, okay?« »Ich nehme Urlaub und pflege dich.« Die Redakteurin lachte: »Um Gottes willen. Du musst die Geschichte zu Ende erzählen. Der Fall lässt dich doch sowieso nicht los, oder?« Frank sah zu Boden. »Aber schieß dich nicht zu sehr auf den chinesischen Arzt ein. Der müsste doch Komplizen haben, oder?« Ihr Freund nickte. »Ich bin da dran. Ich verspreche mir einiges von einem Gespräch mit einer seiner Arzthelferinnen. Sie scheint etwas zu wissen. Ich habe ihre Telefonnummer, sie aber bisher nicht erreicht.« »Okay. Versuch aber nicht, immer die Poleposition zu haben.« Frank stand auf. »Jetzt redest du wie dein Vater.« »Vielleicht ist ja was dran an dem, was er sagt.« Bachmann gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Vielleicht, ja.«
200
14. Frank stand auf seinem kleinen Balkon und genoss die kalte, klare Luft. Zum ersten Mal seit Tagen regnete es nicht. Blassrot schälte sich die Sonne aus einer Wolkenbank, sandte schüchtern die ersten Strahlen über die verwaiste Pferdekoppel vor Bachmanns Augen. Pleinfeld lag in einem weichen, diffusen Licht. Mächtig hob sich der gelbe Kirchturm gegen den Himmel ab. Die Uhr schlug achtmal und nichts, noch nicht einmal ein Motorengeräusch, wagte den Glockenhall zu stören. Frank begann zu frieren, er schloss die Tür. Seufzend ging er in die Küche, um Kaffee zu kochen. Wie gerne wäre er heute Mittag mit Pia auf den Mountainbikes zum Großen Brombachsee gefahren. Einmal rundherum, gut eineinhalb Stunden dauerte das in etwa, und dann essen gehen in einem der Landgasthöfe, die sich an die Ufer schmiegten und mit ihren üppigen Speisen wie einem Schäuferle lockten. Bachmann warf einen Blick in den Kühlschrank. Die Leere starrte ihm frostig entgegen. Keine Pia, keine Fahrradtour, kein Frühstück. Der Reporter warf sich eine Jacke über, konnte den treuen Polo nach einigen Fehlversuchen starten und fuhr zum Bäcker. Die TOP-Zeitung lag einträchtig neben dem Blick auf dem Tresen. Frank kontrollierte die Headline der Konkurrenz. Er erschrak. GEFASST – DER SCHLITZER! Dann folgte eine Unterzeile: Er wollte sein Herz! Pfeil auf ein zweispaltiges Bild, das unscharf das Konterfei eines Asiaten zeigte. »Sie wünschen bitte? Hallo, Herr Bachmann!« Die Bedienung lächelte ihn freundlich an. Frank erwachte aus seiner Erstarrung. »Vier Brötchen bitte.« 201
Ihm fiel ein, dass Pia nicht da war: »Pardon, nur zwei. Und die Zeitung.« »Ihre Zeitung?« »Nein, das da«, mühte sich Frank und deutete auf das TOPErzeugnis. Die Verkäuferin kassierte. Bevor Frank den Metzger aufsuchte, überflog er den TOPAufmacher. Andeutungen, Spekulationen. Achtzig Zeilen mit der ganz heißen Nadel gestrickt. Aber das Foto? Woher kam das Foto? Bachmann überlegte fieberhaft. Im Krankenhaus hatte TOP das Opfer niemals fotografiert. Dann wäre die Aufnahme scharf gewesen. Außerdem hätte man einen Fotoreporter nie auf die Intensivstation vorgelassen. Das Herz. Was für ein Blödsinn! Der Mann war im Bauchbereich verletzt worden. Bachmann wurde wütend. Dreiste hatte einfach fabuliert. Er las den Bericht noch einmal – aber auch jetzt fand er nichts Handfestes. Bachmanns Handy bimmelte. »Brockmüller hier.« Frank wartete ab. »Haben Sie den TOP gesehen?« »Ja.« »Und?« »Was, und?« Plötzlich wurde der Redaktionsleiter laut: »Was? TOP hat uns einen vorgesetzt!« »Hat Dreiste nicht. Das ist ein Fake.« »Wurscht. Wir hätten die Story sicher nicht so gebracht – aber einen Aufmacher wäre sie allemal Wert gewesen. Wir hätten das Thema nur richtig verkaufen müssen.« »So wie TOP?« »Kommen Sie mir nicht auf die Tour!« »Was haben Sie denn erwartet? Der TOP-Bericht ist ein 202
einziger Eiertanz um die Wahrheit herum. Wir sind dagegen bei den Fakten geblieben.« »Darum geht es nicht. TOP hängt uns heute an den Kiosken kilometerweit ab, ist Ihnen das klar?« »Wo ist die Messlatte inzwischen gelandet, Chef: nur noch bei der Auflage?« »Sie wollen mich nicht verstehen.« »Doch. Ich werde was für unsere Auflage tun, aber mit unseren Mitteln.« »Das hoffe ich für uns. Und vor allem für Sie.« Frustriert fuhr Bachmann nach Hause und dann in die Redaktion. Mehrfach wählte er die Telefonnummer der Arzthelferin, erreichte sie aber erst am frühen Abend. »Können wir uns treffen?«, fragte der Reporter. »Lieber nicht.« »Warum haben Sie mir dann Ihre Nummer gegeben?« Keine Antwort. »Wollen Sie noch nicht einmal mit mir sprechen?« »Ich lege jetzt auf.« »Warten Sie! Geben Sie mir fünf Minuten. Höchstens! Drei reichen auch.« »Ich bin verabredet, muss los.« »Gut, dann morgen?« Ein leises Stöhnen. Dann: »Okay. Zehn Uhr.« Die Arzthelferin hatte aufgelegt. Bachmann schaute auf seinen Bildschirm, der heute leer bleiben würde. Aus seinem Nachdreher wurde nichts. Heute Mittag hatte der Beamte ihn gesehen. Ein echtes Schmuckstück. Matt glänzend, anthrazit. Ein wahres Muss für einen Mann wie Völk. Mit einem Jahr Garantie. Wo gab es das schon? Garantie, das war wichtig. Denn Völks neuer Videorekorder würde oft beansprucht werden. Aber da war noch ein Problem: der Preis. Dieser verdammte Job im Getränkemarkt 203
hatte einfach nicht genug abgeworfen. Und die Chinaschläger wollten auch noch Geld von ihm. Ein Held ohne Geld, das war er. Missmutig ging Völk zur Kaffeemaschine, die im schmucklosen Aufenthaltsraum der Wache stand. Als er sich eine Tasse füllte, hatte er eine Idee. Die Kaffeekasse, eine Blechdose, in die die Kollegen regelmäßig einzahlten! Mit seiner Ausnahme. Völk behauptete stets, er würde keinen Kaffee trinken, und ging nur zur Kanne, wenn ihn niemand sah. So wie jetzt. Der Polizeimeister warf einen Blick auf den Flur. Er war leer. Völk griff in die Büchse. Ein Zehnmarkschein und mehrere Münzen wanderten in seine Tasche. Der Diebstahl erfüllte Völk mit tiefster Zufriedenheit. Nicht nur, dass er dem Videorekorder, diesem herrlichen Teil und Traumspender, ein kleines Stück näher gekommen war. Es machte ihm auch Spaß, seinen verhassten Kollegen Schaden zuzufügen, die ihn mit ihrem Geschwätz über Frauen und Kinder auf die Nerven gingen. Völk lachte in sich hinein. Familie, was für ein Quatsch! Gut, eine Frau konnte anfangs ein bisschen Spaß machen. Aber dann: Die Weiber wurden fett und hässlich, ihre Hintern breit und ihre Brüste hingen. Sie wurden faul und träge und kosteten Geld. Noch schlimmer waren aus Völks Sicht diese Blagen. Erst durfte man ihnen ein paar Jahre den Hintern abwischen, dann tanzten sie einem nur noch auf der Nase herum. Wenn er dieses pubertierende Pack schon sah. Der Hosenboden schlabberte irgendwo auf Kniekehlenhöhe, die Haare waren kurz und bunt, Ringe steckten in Nase und Ohren. Diese Typen gehörten eingesackt und kaserniert. Arbeitslager wäre das Richtige, aber das gab’s ja leider nicht mehr. Also konnte man diesem Volk nur mit aller Härte nachstellen. Wie damals, bei der Demo gegen Rechts am Plärrer, wo ein paar Vermummte Völk den Gefallen getan hatten, ein bisschen zu randalieren. Da hatte sich der Schlagstock des Beamten, den er zärtlich ›Woodstock‹ 204
nannte, so richtig austoben können. Völk kippte den Kaffee hinunter und lächelte. Theresa Jiayin war an diesem Abend mit einer Freundin im Kino gewesen. Gegen dreiundzwanzig Uhr kreuzte sie durch die Straßen vor ihrer Wohnung. Wie üblich fand sie keinen Parkplatz in der Nähe ihrer Bude und musste den Fiat fast einen halben Kilometer entfernt in einer schlecht beleuchteten Gasse abstellen. Der erste Regen des Tages fiel. Vorsichtig, engmaschig, fein. Die Arzthelferin lief los. Plötzlich blendeten sie Scheinwerfer. Theresa hielt inne. Ein Auto fuhr auf den Bürgersteig, genau auf die junge Frau zu. Das Mädchen drehte sich um und begann zu rennen. Ein Motor heulte auf. Die Arzthelferin sprang über einen flachen Zaun, der den Parkplatz eines Supermarktes einfriedete. Holz splitterte, als der Wagen durch die Absperrung brach. Theresa sah sich während des Sprints hektisch um. Undeutlich erkannte sie mehrere große Mülltonnen, die an der Wand des Marktes standen. Die Scheinwerfer erfassten die junge Frau erneut. Sie warf sich auf den Boden, rollte zur Seite. Der schwarze BMW rauschte knapp an ihrem Kopf vorbei. Bremsen kreischten. Weißes Licht – der Rückwärtsgang, durchdrehende Reifen. Die Arzthelferin erreichte die Tonnen, sprang hinauf, fasste nach oben, bekam die Regenrinne zu fassen, zog sich hinauf, stand auf dem Flachdach, atmete durch. Der Sportwagen wurde gestoppt. Eine Tür schlug. Theresa lief über das Dach zur anderen Seite des Gebäudes. Spähte hinunter. Niemand war zu sehen. Sie zögerte. Lauschte in die Nacht. Kein Motorengeräusch. Sie ließ sich über die Dachrinne hinab. Unten schaute sie vorsichtig um die Ecke. 205
Eine Hand legte sich über ihren Mund. Theresa biss zu. Ein Schmerzensschrei. Sie schüttelte den Mann ab und lief los. Hinter sich hörte sie den Verfolger keuchen. Er trat ihr in die Beine. Die Arzthelferin strauchelte, fiel. Der Mann warf sich auf sie. Sie strampelte, boxte, schrie. Das Skalpell traf Theresas Herz.
206
15. Frank hörte von dem Mord morgens im Radio. Der Sprecher berichtete, dass man eine junge Asiatin erstochen habe. Bachmann erschrak. Theresa? Er tippte ihre Nummer ins Telefon. Die Arzthelferin hob nicht ab. Franks nächster Anruf lief bei der Polizeipressestelle ins Leere. Es war Samstag. Der Reporter versuchte Wilhelmi zu erreichen. Er sei irgendwo im Haus unterwegs, hörte er von der Vermittlung. Man wisse aber nicht, wo. Frank sprang in seinen VW und raste nach Nürnberg. Er parkte neben dem Präsidium. Eine Schranke verwehrte ihm den Weg. Der Mann im Glaskasten sah ihn fragend an. Bachmann hielt ihm seinen Presseausweis unter die Nase. »Ich muss zur Mordkommission.« »Warum?« »Der Fall von gestern Nacht.« »Wollen Sie eine Aussage machen?« »Vielleicht. Wenn ich weiß, um wen es sich bei dem Opfer handelt.« »Dürftig, dürftig«, maulte der Beamte. »Bitte, rufen Sie Herrn Wilhelmi an. Es ist wichtig.« Der Polizist griff unwillig zum Hörer. Eine Minute später durfte Frank den Kasten passieren. Wilhelmi saß hinter seinem Schreibtisch, der mit Fotos übersät war. »Presse kann ich jetzt am allerwenigsten brauchen. Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, hier hereinzuschneien«, meinte er zur Begrüßung. »Die Asiatin, wie heißt sie?« »Das geht Sie nichts an.« 207
»Womöglich kann ich Ihnen helfen.« »Glaube ich nicht. Sie wittern doch nur eine Schlagzeile für Ihr Revolverblatt.« »Nein. Sagt Ihnen der Name Theresa Jiayin etwas?« Der Ermittler zog die Brauen hoch. Ein unruhiges Flackern war in seinen Augen. »Sie ist tot.« Frank begann zu zittern. »Die Handschrift unseres Täters. Erstochen, Organentnahme, Grüße aus dem Schattenland auf Chinesisch«, listete der Hauptkommissar auf. »Und jetzt sind Sie dran.« Der Reporter setzte sich unaufgefordert: »Haben Sie schon einen Arzt namens Hong überprüft?« »Ja. So wie wir alle in Frage kommenden Ärzte überprüfen.« »Frau Jiayin war seine Angestellte.« »Wissen wir. Wir werden uns Hong heute noch einmal vorknöpfen.« Bachmann stand auf. »Darf ich die Fotos sehen?« »Wenn Sie sich das unbedingt antun wollen.« Frank erkannte das Mädchen. Tote Augen, aufgerissener Oberkörper. Er schluckte. Dann fiel sein Blick auf eine Aufnahme des Zettels, der bei der Leiche gefunden worden war. Chinesische Schriftzeichen. Er schaute genauer hin, auf den Rand der Fotografie. »Oh, mein Gott«, entfuhr es Frank. Der Beamte drehte sich um: »Was ist?« »Hier, diese Werbung auf dem Zettel.« Bachmann zog sein Portemonnaie hervor. Er fand das kleine Blatt Papier, das sie ihm gegeben hatte. Auf beiden Zetteln wurde für dasselbe Medikament geworben. Die Fahndung nach Hong verlief zunächst im Sande. Der Arzt war nicht zu Hause. Nachbarn berichteten, dass er heute Morgen in den Urlaub gefahren sei. Ziel unbekannt. Die Beamten durchsuchten die Praxis. Dort stellten sie 208
Einbruchsspuren fest. Der Täter hatte einen verschlossenen Schrank mit Medikamenten geknackt und ausgeräumt. Wilhelmi bemühte sich im Fall Hong erfolgreich um einen internationalen Haftbefehl. Brehm saß an seinem Tisch. Das Archiv lag im üblichen Halbdunkel, einer unentschlossenen Balance zwischen Tag und Nacht. Brehm lauschte versonnen. Kein Ton war zu vernehmen, absolute, vollkommene Stille. Samstag, die Redaktion schlief. Nur das Herzstück jeder Informationsbeschaffung – die Quelle, das Archiv – war wach. Brehm ruhte nicht. Er suchte und fand, verwaltete und organisierte, schnippselte und klebte, registrierte und selektierte, er sortierte ein und aus. Der Archivar wollte gerade wieder zur Schere greifen, als sein Blick auf die Uhr fiel. Brehm machte das Radio an und hörte sich die Nachrichten an. Der Sprecher verlas die Fahndungsmeldung nach Dr. Hong. Bruno verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Da gab es wohl bald wieder einen Fall, den man zu den Akten legen würde. Brehm verabscheute diesen Ausdruck. Wie oberflächlich seine Mitmenschen waren. Für sie war ein derartiger Fall schnell vergessen, ad acta gelegt. Doch irgendwann kamen sie zurück mit ihren Fragen, zurück zu ihm, zurück zu diesem Fall. Morde wurden nie vergessen. Brehm erhob sich. Der Schattenland-Fall schien geklärt. Ob sein Bruder schon im Bilde war? Das musste er mit ihm besprechen. Rasch räumte der Archivar auf und machte sich auf den Weg nach Hause. »Hast du Nachrichten gehört?«, rief Bruno in der Tür. Er bekam keine Antwort Brehm hing seine Jacke auf, machte die Stereoanlage an. Er fand seinen Bruder im Schlafzimmer. »Ich mag nicht mehr«, meinte Bernhard. »Was ist denn los?« 209
»Diese Schmerzen, ich halte sie nicht mehr aus.« »Das wird schon wieder, glaube mir. Hast du deine Medizin genommen?« »Du wirst nie die Hoffnung aufgeben, dass ich wieder gesund werde.« Bruno setzte sich zu Bernhard auf das Bett. »Natürlich wirst du wieder gesund. Das ist keine Hoffnung, das ist für mich Gewissheit.« Er streichelte die Hand des Bruders. Bernhard seufzte: »Deine Worte in Gottes Ohren. Ich würde gerne daran glauben.« »Du musst. Wenn du dich selbst aufgibst, bist du wirklich verloren.« »Ich bin verloren. In diesem Körper, mit dieser Krankheit. Mit diesen permanenten Rückfällen. Aber es gibt ein Leben nach dem Tod. Und darauf freue ich mich. Es gibt keinen Grund mehr, hier noch lange mit diesen Schmerzen zu verweilen. Lass mich gehen, lass mich sterben.« Bruno kämpfte mit den Tränen: »Nein, das werde ich nicht. Ich kann nicht ohne dich sein, das weißt du. So war es immer und so wird es immer sein.« »Was für warme Worte! Dabei handelst du aus reinem Egoismus. Wenn du mich lieben würdest, dann würdest du mich in Ruhe lassen mit deinen Therapien und Arztbesuchen. Bei wie vielen Medizinern waren wir denn schon? Und nichts hat den Krebs in mir aufhalten können.« Enttäuscht stand Bruno auf. »Mir Egoismus zu unterstellen ist, gelinde gesagt, eine Frechheit. Ich kümmere mich jeden Tag um dich.« »Eben, das ist es ja. Lass es doch bitte.« »Ich muss noch etwas fürs Wochenende einkaufen«, wich Bruno aus und ging.
210
16. Dr. Hong wurde am Sonntag an seinem Urlaubsort in Österreich festgenommen. Er saß gerade beim Frühstück, als ihn zwei Beamte höflich, aber bestimmt abführten. Noch am selben Tag wurde der Mediziner nach Nürnberg gebracht. Irgendwie hatte sich Wilhelmi den Arzt anders vorgestellt. Kräftiger. Stattdessen stand ein großer, aber schmaler Mann vor ihm, der ihn mit kalten, wachen Augen musterte. »Setzen Sie sich«, meinte der Kommissar. »Warum bin ich hier?«, fragte Hong selbstbewusst. »Die Fragen stelle ich.« Auch Wilhelmi nahm Platz. »Wo waren Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag?« »Zu Hause. Ich habe ferngesehen und meine Sachen für den Skiurlaub gepackt.« »Gibt es dafür Zeugen?« »Nein.« »Sie sind nicht liiert?« »Richtig. Ich lebe derzeit allein. Von meiner Frau habe ich mich getrennt.« »Pech für Sie. Also keine Zeugen.« »Meine Nachbarn vielleicht. Die haben mich sicher kommen sehen.« Wilhelmi verzog das Gesicht: »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Ihre Nachbarn den ganzen Tag am Fenster hocken und Ihr Kommen und Gehen beobachten.« Hong schwieg. »Weiter im Text: Samstagmorgen sind Sie nach Österreich aufgebrochen. Wann haben Sie gebucht?« »Ich muss nicht buchen. Ich bin Stammgast in einer Pension. Ich brauche dort nur anzurufen.« »Wann war das?« 211
»Freitagabend.« »So kurzfristig? Sie sind ein spontaner Mensch, was?« »Manchmal ja.« »Ich glaube Ihnen kein Wort.« »Sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen.« Wilhelmi sprang auf: »Das können Sie haben. Mord. Sie stehen unter Mordverdacht!« Hong wurde blass. »Sie haben richtig gehört.« Der Kommissar riss eine Schublade auf und zog ein Bündel Fotos hervor. Er breitete sie vor dem Mediziner aus. Nur eine Aufnahme hielt er zurück. »Theresa. Oh, mein Gott, das ist ja Theresa«, stammelte der Arzt. Seine Selbstbeherrschung war wie weggeblasen. »Richtig, Ihre Arzthelferin. Sie wollte sich gestern mit einem Reporter unterhalten. Doch dazu kam sie nicht mehr. Sie wurde mit einem Skalpell erstochen. Ihre Leber wurde sorgfältig entnommen. Fachmännisch, wie es nur ein Arzt kann. Ein Mediziner wie Sie zum Beispiel.« Hong rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Sie bleiben also dabei, dass Sie am Samstagmorgen ganz spontan in den Urlaub gefahren sind?« »Ich mache öfter Wochenendtrips nach Österreich. Ich habe Freitagabend den Wetterbericht gehört und dann beschlossen, nach Tirol zu fahren.« »Seltsamer Zufall.« Wilhelmi knallte das Foto, das er bisher zurückgehalten hatte, auf den Tisch. »Schauen Sie sich das mal genau an. Den Rand des Zettels.« »Ich weiß nicht, was Sie meinen …« »Die Werbung für das Arzneimittel. Der Zettel stammt aus Ihrer Praxis.« »Wie kommen Sie denn darauf?« Hong lachte gekünstelt. »Diese Blöckchen liegen in jeder Praxis herum. Es ist das typische Werbegeschenk eines Pharmareferenten.« »Schon wieder so ein Zufall. Etwas viele, finden Sie nicht 212
auch?« Wilhelmi hatte gehofft, den Arzt mit den Fotos derartig zu schocken, dass er zusammenbrach. Doch diesen Gefallen tat er ihm nicht. Der Mordermittler musste die Daumenschrauben fester anziehen. »An wen liefern Sie eigentlich die Organe? Ich werde es Ihnen sagen: an die Triaden! Frische Organe – und dabei erledigen Sie auch gleich zwei Verräter aus Ihren Reihen: Deng und Chan. Eine ganze saubere Lösung.« Hong schüttelte den Kopf. Er sah zu Boden. »Was bringt das? Zehntausend, zwanzigtausend?« Wilhelmi schrie plötzlich: »Geld, das Sie gut gebrauchen können. Sie haben vor einem halben Jahr Ihre Praxis umgebaut und neue Apparaturen angeschafft. Fünfhunderttausend Mark hat Sie das gekostet, wie wir in Erfahrung bringen konnten. Sie haben hohe Schulden, Dr. Hong!« Der Mediziner nickte zum ersten Mal. »Ja, aber das ist normal nach so einem Umbau.« »Mag sein. Aber es ist nicht nur die Praxis, wegen der Sie unter Druck stehen, nicht wahr? Da ist noch etwas.« Hong blieb stumm. »Sie brauchen es mir nicht zu sagen. Ich weiß es. Sie spielen und Sie verlieren. Black Jack. Immer wieder Black Jack! Und nicht Sie haben Ihre Frau verlassen, sondern sie hat es mit Ihnen nicht mehr ausgehalten. Weil Sie ein unbelehrbarer Zocker sind, Dr. Hong. Weil Sie offenbar glauben, dass auch Sie mal eine Glückssträhne haben müssen.« Der Arzt sah auf. Wilhelmi erkannte, dass er ihn noch immer nicht gebrochen hatte. »Und da wäre noch etwas. Sie waren schon einmal angeklagt wegen Organhandels. Sie sind ein Wiederholungstäter!« Der Arzt wehrte sich: »Ich wurde freigesprochen! Das wissen Sie ganz genau!« »Aus Mangel an Beweisen, Hong. Aber jetzt stellt sich der Fall etwas anders dar. Diesmal sind Sie dran.« 213
Hong sackte in sich zusammen. Der Ermittler drang weiter auf ihn ein: »Sie haben gesehen, dass sich dieser Reporter namens Bachmann an Ihre Arzthelferin herangemacht hat. Sie haben gesehen, dass er sie vor der Praxis abgefangen hat.« »Ja, ich meine: nein. Ich weiß es nicht mehr.« »Dafür gibt’s Belege! Sie hatten Angst, dass sich die beiden erneut treffen. Theresa Jiayin muss etwas von Ihren Taten bemerkt haben. Und wenn sie nicht Bachmann angerufen hätte, dann vielleicht uns. Gleich wie: Aus Ihrer Sicht musste das Mädchen weg!« Wilhelmi war jetzt in Fahrt. »Ich werde Ihnen sagen, wie Ihr Freitagabend ablief: Sie haben Theresa belauert. Sie sind ihr nachgefahren, zum Kino, dann wieder zurück zu ihr nach Hause. Sie haben gewartet, bis Frau Jiayin den Wagen abgestellt hatte.« »Nein, nein, nein! Ich war es nicht.« »Doch, Dr. Hong. Sie waren es. Packen Sie aus!« »Ich will einen Anwalt.« »Das steht Ihnen selbstverständlich frei. Aber er wird Ihnen nichts nützen.« Dann bat Wilhelmi den Arzt um eine Schriftprobe: »Wir werden einen Graphologen hinzuziehen. Um zu prüfen, ob Sie die Zettel geschrieben haben.« Auch Völk hatte an diesem Tag durchaus einen Triumph zu verbuchen. Oder besser: einen guten Fang. Der bestand in drei Einhundertmarkscheinen, die er aus einem Portemonnaie entwendet hatte. Der Geldbeutel hatte sich in einem Sakko befunden, das sein Kollege Dammeier unvorsichtigerweise über einen Stuhl gehängt hatte. In einem unbeobachteten Moment war der Polizeimeister zur Stelle und griff zu. Der Bestohlene gehörte zu Völks Intimfeinden. Dammeier war jünger als Völk, schlank, sah erheblich besser aus, hatte Frau und Kinder, von denen er ständig grässliche Fotos herumzeigte. Tja, dachte Völk, jetzt wird der Mega-Papi aber erklären müssen, wo das Geld geblieben war. Bei der Polizei beklaut, das 214
würde ihm sein Weibchen kaum glauben. Sie würde ihm hoffentlich die Hölle heiß machen. O ja, das wäre es, ein richtiger Ehekrieg, eine Schlammschlacht ohnegleichen. Völk malte sich aus, wie sich die beiden anschrien, sich Schimpfwörter um die Ohren warfen, die lieben Kinderlein vor Angst und Schrecken schlotterten und zu weinen begannen. Das wiederum würde zu neuen Vorwürfen unter den Eheleuten führen – herrlich! Vielleicht prügelten sich Herr und Frau Dammeier auch noch ein bisschen. Ja! Sie warf mit dem Hochzeitsgeschenk seiner Mutter nach ihm und er knallte ihr zum Ausgleich eine. Fantastische Vorstellung! Völk beschloss, den schönen Kollegen Dammeier noch öfter zu bestehlen. Brockis Wangen glühten: »Spitze! Gut gemacht, Herr Bachmann. Das machen wir diesmal ganz groß auf. Wir haben keine Anzeige auf der Seite eins. Das wird ein Fest!« Frank hielt sich zurück. Festlich war ihm wirklich nicht zumute. Er versuchte, Job und Privates zu trennen. Versuchte, Profi zu sein. Es gelang ihm nicht. Theresa war tot. »Fotolage?«, fragte der Redaktionsleiter. »Negativ bei der Arzthelferin.« »Aber von Hong müssen wir ein Bild auftreiben«, meinte Brocki. »Ich wüsste nicht woher«, meinte Frank. »Doch, halt: Vielleicht hilft uns das Archiv weiter.« »Versuchen wir es. Aber denken Sie dran: Keine Vorverurteilung im Text. Der Kerl hat noch nicht gestanden.« »Dann sollten wir uns das Bild sparen«, sagte Bachmann. »Meinen Sie?« »Ja. Er steht unter dringendem Tatverdacht, aber mehr auch nicht. Solange er nicht gesteht oder verurteilt wird, können wir ihn schlecht –« »Schon gut. Halten Sie mir keine Vorträge in Sachen 215
Presserecht.« »Ich gebe ja nur zu bedenken, dass –« »Ich hasse Bedenken«, unterbrach ihn Brockmüller erneut. »Ich will Fakten, Fakten, Fakten. Klare Aussagen ohne Wenn und Aber. Fragen dürfen Leser, nicht Redakteure.« »Dann ohne Foto. Das wird der Sache gerechter.« »Okay. Haben wir die Story exklusiv?« »Den Mord nicht. Aber Hongs Festnahme. Das hat mir Wilhelmi versprochen für meine – äh – Mitarbeit. Morgen wird er eine Pressekonferenz geben. Heute können wir jedoch die Sieger sein.« »Guti-gut«, freute sich der Chef. »Guti-gut. Ich liebe Siegertypen.«
216
17. Als Todt am Montag die Blick-Ausgabe las, wurde er wachsweiß vor Wut. »Geben Sie mir die Nürnberger Redaktion!«, befahl er seiner Sekretärin. »Ja?« Teppe hatte zum Hörer gegriffen, weil Wilma gerade auf einer anderen Leitung telefonierte. »Wie, ja? Können Sie sich nicht richtig melden? Wen habe ich da dran?« »Sind Sie es etwa, Herr Todt?« Teppe wurde winzig klein auf seinem Stuhl. »Allerdings. Und Sie sind Teppe, oder?« »Ja doch.« »Woher soll ich das wissen, Sie können sich ja offensichtlich nicht mal richtig am Telefon melden.« »Entschuldigung, kommt nicht wieder vor. Was kann ich für Sie tun?« »Vernünftige Aufmacher liefern zum Beispiel. Sich nicht abkochen lassen von der Konkurrenz als Nächstes. Vollständige Ansagen am Telefon zum Dritten. Haben Sie den Blick von heute gesehen?« »Ja.« »Und? Wo waren Sie, als dieser Kracher verfasst wurde? Wo haben Sie geschlafen, Teppe?« »Manchmal ist man halt zweiter Sieger«, erwiderte der Gescholtene lahm. »Nein, nicht manchmal. Bei Ihnen ist das chronisch. Ich habe die Nase von Ihnen voll.« Teppe starrte auf den Hörer, aus dem ihm nur noch ein monotones Getute entgegenklang. »WILMA!«, schrie er. Die Sekretärin flitzte herein. 217
»Wurde auch Zeit«, maulte der Lokalfürst. »Ruf Dreiste an. Dringend.« Dreiste meldete sich überraschend schnell. »Ich hab etwas für dich.« »Raus damit.« »Kommt auf den Preis an.« »Mal sehen. Was hast du?« »Ein Foto, das dir weiterhelfen könnte.« »Konkret?« »Hong.« Teppe war elektrisiert. Das hatte vermutlich noch nicht einmal der Blick. »Woher hast du das?« »Die Wege des Herrn sind manchmal unergründlich«, erwiderte Dreiste. »Ich will es wissen.« »Ich habe herausgefunden, dass er begeisterter Skifahrer ist. In Tirol hat er mehrere Amateurabfahrtsrennen gewonnen. Da war die örtliche Presse natürlich vor Ort und hat ihn fotografiert. Man hat mir ein Foto von Hong überlassen.« »Wie viel?« »Dreitausend.« »Fünfhundert.« »Vergiss es.« »Tausend.« »Ich glaube, ich muss doch den Blick anrufen.« »Tausendzweihundert.« »Keine Chance.« »Mein letztes Wort: Tausendfünfhundert.« Dreiste lächelte. »Okay. Cash.« Er beendete das Gespräch, sah zu seiner Frau, die mit halb geschlossenen Augen in einem Stuhl saß und den Fernseher fixierte. »Auch das wird er zahlen, dieser Idiot. Wahrscheinlich seine letzte Überweisung an uns. Teppe hat nicht mehr viel Zeit auf seinem Stuhl. Und dann komme ich.« 218
Astrid bewegte sich nicht. Plötzlich murmelte sie kaum hörbar: »Die Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden Bach des Lebens.« Dreiste starrte sie an: »Hast du was gesagt?« Kein Laut mehr. Der Reporter wandte sich ab. »Dachte schon, du hättest was gesagt.« Teppe legte das Foto der Tiroler Kollegen auf den Scanner. Die Qualität würde miserabel werden, das war ihm klar. Aber eine gewisse Unschärfe verlieh der Aufnahme Authentizität. Außerdem hatten nur sie das Foto. Todt würde zufrieden sein. Gegen drei Uhr brachte Wilma einen Stapel Faxe herein. Teppe überflog sie. Zunächst nur Bagatellen. Dann das vorletzte Papier. Es stammte von Todt. Eine Änderungskündigung. Teppe begann zu zittern. Spontan wollte er zum Telefon greifen, um diesen Irrtum, diese Katastrophe abzuwenden. Er wollte Todt erklären, dass in letzter Zeit vielleicht so manches etwas unglücklich gelaufen sei, dass er, Teppe, ein wenig Pech gehabt habe und dass sich nun alles wieder zum Guten wenden würde, denn er hatte ja das Foto von Hong. Doch plötzlich packte Teppe eine unheimlich Wut. Er würde nicht betteln und winseln. Gut, die Leserbriefredaktion war vielleicht das Letzte. Aber dort brauchte er nicht mehr diesen sinnlosen Aufmachern hinterherzujagen. Dort würde er sein Salär einstreichen, ohne sich den Kopf zerbrechen zu müssen. Ohne Angst zu haben vor Todt. Ohne handeln zu müssen mit Aasgeiern wie Dreiste. Und er brauchte Wilma nicht mehr zu ertragen. Mit einem Male erschien Teppe die Leserbriefredaktion wie der Garten Eden. Mit einem Grinsen ging er zu dem PC, wo Hongs Aufnahme gespeichert war. Er rief das Foto auf und klickte auf den Mülleimer. Zack, das Bild war verschwunden. Dann nahm er die 219
Vorlage aus dem Scanner, holte einen Aschenbecher und verbrannte das Papier. Sicher, besonders taktvoll war es nicht gewesen, die Änderungskündigung per Fax zu verschicken. Aber Todt hatte zwei gute Gründe dafür: Zum einen die Schnelligkeit. Zum anderen wollte er Teppe noch ein wenig demütigen. Jetzt galt es, schnell einen geeigneten Nachfolger für den Nürnberger Posten zu finden. Todt hatte schon jemanden in Aussicht. Er rief den Personalchef an: »Dieser Grüther von der Berliner Zeitung, der hatte sich doch mal bei uns beworben, nicht wahr?« »Ja«, kam es zurück. »Für den Redaktionsleiterjob in München. Landete abschließend auf Rang zwei.« »Gut. Machen Sie mit ihm einen neuen Termin aus. Und noch etwas: Wenn bei Ihnen eine Bewerbung von einem gewissen Dreiste landet, werfen Sie die in den Papierkorb.« »Warum?« »Weil ich keine Hyänen im Haus haben möchte. Außerdem ist Dreiste nur so lange gut, solange er hungrig ist. Wenn wir den zu gut nähren, wird der träge.« Völk fand die Festnahme von Hong überhaupt nicht witzig. Sein atemberaubender Fang des Messerstechers wurde dadurch zur Nullnummer. Und er, Völk, zum Gespött der Kollegen. Noch nicht einmal Pauly, die elende Abrissbirne, hielt sich zurück. »Na, Supermann!«, hatte er ihn in der Kantine vor versammelter Mannschaft begrüßt. Völk war an der Truppe vorbeigeschlichen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »He, wen legst du heute aufs Kreuz?«, schallte es ihm hinterher. Das war die Stimme vom schönen Kollegen Dammeier. »Jack, the Ripper?« »Oder nur ’ne alte Oma?« Das kam von Pauly. 220
Gelächter. »Völk, der Terminator«, legte Dammeier nach. »Der Dumminator!« Der Polizeimeister lud sich eine Portion Kartoffelbrei mit Kassler auf. Die Sprüche taten ihm weh. Dammeier war in Fahrt: »Friss nicht so viel. Denk an dein Kampfgewicht.« »Die arme Oma. Die ist sofort platt.« Prusten, Schenkelklopfen. Völk hatte keinen Appetit mehr. Er ließ das volle Tablett stehen und ging an seinen ach so fröhlichen Mitstreitern vorbei zurück zu den Büros. Er ließ seine winzige Kammer links liegen und betrat die von Dammeier. Bingo! Da hing das Sakko und da war auch wieder das Portemonnaie. Offenbar wurde der Idiot aus Schaden nicht klug. Völk langte hinein und zog dreihundert Mark hervor. Er jubelte innerlich. Jetzt konnte er nicht nur die Triaden heute Abend ausbezahlen, sondern sich auch noch einen Videorekorder leisten. Das Leben machte wieder Sinn für den feisten Beamten. »Hat er gestanden?«, fragte Bachmann am Telefon. »Nein, noch nicht. Aber wir kriegen ihn weich«, meinte Wilhelmi. »Haben Sie schon die Ergebnisse des graphologischen Gutachtens?« »Die erwarte ich morgen.« »Wenn die Handschriften nicht übereinstimmen, stehen Sie im Regen.« »Nicht unbedingt«, wiegelte der Beamte ab. »Hong hätte die Zettel auch von jemand anderem schreiben lassen können, um uns auf eine falsche Fährte zu locken.« »Ich hätte noch eine etwas ungewöhnliche Bitte«, meinte Bachmann. 221
»Raus damit.« »Ich würde gern mit Hong sprechen.« »Ausgeschlossen.« »Ich habe Ihnen auch geholfen.« »Was soll das mit Hong werden? Ein Interview?« »Nein, ich verspreche Ihnen, nichts zu veröffentlichen. Hong hat meine Freundin fast getötet. Er hat Theresa ermordet. Ich will diesem Mann in die Augen sehen.« Eine Pause entstand. Wilhelmi zögerte. Doch dann sagte er: »Okay, aber das bleibt eine absolute Ausnahme. Ich gebe Ihnen zehn Minuten mit Hong. Und wenn ich nur ein Wörtchen in Ihrem Blatt lese, schneide ich Sie künftig von allen Informationen ab.« »Verstanden. Danke.« Ein fensterloser Raum, ein Tisch, zwei Stühle. Kaltes Licht einer Neonröhre. Neben der Tür stand ein Beamter. Er las ein Sportmagazin, wollte den Anschein erwecken, dass er nicht zuhörte. Hong saß hinter dem Tisch und sah den Reporter abwartend an. Vor ihm lag ein Schnellhefter. Frank setzte sich ihm gegenüber. Er fühlte plötzlich Ekel und Wut. »Warum haben Sie es getan? War es das Geld?«, fragte er unvermittelt. Eigentlich hatte er das Gespräch anders beginnen wollen, sachlicher. »Wollen Sie mich etwa verhören? Was halten Sie davon, wenn ich die zehn Minuten lang einfach schweige? Das ist mein gutes Recht.« »Ich will Sie nicht verhören. Ich will nur wissen, was in einem Mann wie Ihnen vorgeht.« »Ah, ein Forscher sind Sie«, spottete Hong. »Sehr interessant. Sozusagen eine Studie am lebenden Objekt.« »Lassen Sie diese Scherze!«, zischte Frank. »Das müssen Sie schon mir überlassen. Jeder hat seine Art von 222
Humor.« »Sie sind nicht nur ein Mörder, Sie sind auch noch ein verdammter Zyniker.« Hong schmunzelte: »Dazu wird man hier. Man verliert den Glauben an Gerechtigkeit. Vielleicht reagiere ich darauf mit Zynismus.« »Sie rühren mich zu Tränen, Hong. Welches Unrecht hat man Ihnen denn angetan?« »Wilhelmi ignoriert Fakten, die mich entlasten. Und wissen Sie, warum? Ich kann es Ihnen sagen: Weil Wilhelmi einen Täter braucht und ich so wunderbar in sein gestricktes Muster passe. Ich bin Arzt, ich habe Schulden und ich stand schon mal vor Gericht wegen Organhandels.« Der Arzt erhob sich, lief auf und ab: »Aber so einfach ist das nicht. Das Schriftgutachten wird beweisen, dass ich die Zettel nicht geschrieben habe.« »Abwarten«, warf Frank ein. »Und dann ist da noch etwas, was Wilhelmi hätte stutzig machen müssen.« Der Mediziner schlug den Schnellhefter auf und zeigte Bachmann ein Foto. Grüße aus dem Schattenland auf Chinesisch. »Da, sehen Sie sich das vorletzte Zeichen genau an«, rief Hong. »Es ist falsch geschrieben. Das würde ziemlich sicher keinem Chinesen passieren, und mir schon einmal gar nicht. Aber vielleicht jemandem, der vorgibt, Chinese zu sein, um eine falsche Fährte zu legen. Aber das interessiert Wilhelmi nicht. Für ihn bin ich der Täter und Schluss. Er wird damit furchtbar auf die Nase fallen.« »Abwarten«, sagte der Reporter erneut. Seine Gedanken rasten. Sollte Wilhelmi diese Fakten tatsächlich ignorieren? Oder log der Arzt? Er wurde unsicher. Da gab es nur eins. Frank musste hier raus und an die Arbeit. »Ich werde Wilhelmi damit konfrontieren«, sagte er. »Und ich werde prüfen, ob das Zeichen tatsächlich falsch geschrieben wurde.« 223
»Nur zu. Sie werden sehen, dass es stimmt.« Frank beeilte sich, den kahlen Raum zu verlassen. Vom Parkplatz des Gefängnisses aus rief er den Mordermittler an. Hong hatte die Wahrheit gesagt. »Trotzdem halten Sie den Mann fest?« »Natürlich. Zu vieles spricht gegen ihn«, beharrte Wilhelmi. »Ja, gut möglich«, meinte der Redakteur unschlüssig. »Kein Wort davon erscheint in Ihrer Zeitung, ist das klar?« »Wir hatten vereinbart, dass ich nichts über das Gespräch mit Hong verlauten lasse. Von neuen Fakten war jedoch nicht die Rede.« »Kommen Sie mir nicht auf diese Tour: Die neuen Fakten, wie Sie es nennen, resultieren einzig und allein aus dem Gespräch mit Hong.« Bachmann gab sich geschlagen: »Okay, ich verspreche es Ihnen. Noch eine Frage: Wieso fiel es nicht schon früher auf, dass das Zeichen falsch geschrieben ist?« »Der erste Übersetzer hat geschlampt, es schlichtweg übersehen. Soll vorkommen.« Nach dem Telefonat ging Frank in sich. Was galt es als Nächstes zu tun? Er brauchte Unterstützung, einen cleveren Partner. Pia! Bachmann rief sie im Krankenhaus an. »Gut geht es mir«, sagte sie. »Ende der Woche darf ich raus, weil die Heilung besser verläuft als erwartet. Ist das nicht riesig?« »Da gehen wir groß essen, hast du Lust?« »Klar, ich freue mich.« »Du, ich brauche deinen Rat.« »In der Mordsache? Ich dachte, der Fall ist geklärt. Wilhelmi hat doch Hong geschnappt.« »Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob er der Täter ist.« 224
»Komm her. Wir knacken die Nuss.« Frank brachte Pia einen riesigen Blumenstrauß mit. Sie strahlte ihn an. »Was gibt es Neues?«, fragte sie nach dem Begrüßungskuss. Bachmann berichtete in aller Ausführlichkeit. »Hong meint also, dass sich jemand als Chinese ausgibt?«, rätselte Pia, als ihr Freund geendet hatte. »Ja. Dieses falsch geschriebene Zeichen könnte in der Tat ein Indiz dafür sein.« »Wenn die anderen Zeichen richtig waren, müsste dieser Täter zumindest halbwegs Chinesisch können«, überlegte Pia weiter. »Vielleicht jemand, der einen Chinesischkurs besucht oder besucht hat.« »Nicht schlecht. Ich wusste, dass du mir eine Hilfe bist.« Bachmann war Feuer und Flamme. »Ich muss ins Büro.« Dort machte sich Frank über das Programm der Volkshochschule her. Es gab nur einen Kurs ›Chinesisch für Anfänger‹. Frank notierte sich die Kurs- und Raumnummer sowie den Namen des Leiters: Frederick Nöther, seines Zeichens Sinologe. Der Reporter suchte Nöthers Telefonnummer heraus. »Tut mir Leid, mein Mann ist nicht da«, hörte er kurz darauf. »Wo kann ich ihn erreichen?« »Er müsste eigentlich in der Volkshochschule sein. Aber sicher bin ich mir nicht. Er gibt so viele Kurse, nicht nur bei der VHS.« Der Reporter gab seinem Polo die Sporen und flitzte in die Lehranstalt. Das Sekretariat war verwaist. Also lief Bachmann alle Räume ab – nirgendwo fand er Nöther. Er begann, die Leute auf den Fluren zu fragen. Auch umsonst. Gerade, als Frank aufgeben wollte, fiel sein Blick auf eine Wand mit offenen Holzfächern. Sie waren namentlich gekennzeichnet. In der Mitte rechts stand Nöther. Der Reporter 225
sah sich um. Er war allein. Schnell schaute er in das Fach. Eine Butterbrotdose, eine Banane und – Franks Herz schlug höher – ein Stapel mit sauber gefalteten Namensschildern. Plötzlich waren Schritte auf dem Gang zu hören. Bachmann ließ die Schilder in seine Jacke gleiten. In diesem Moment kam ein Mann um die Ecke. Frank ging pfeifend an ihm vorbei zu den Toiletten. Dort schloss er sich ein und studierte seinen Fang. Bachmanns schrieb einen Namen nach dem anderen ab. Plötzlich erstarrte er. Dr. Bruno Brehm stand auf einem Namensschild, in Schönschrift. Seit wann hatte Brehm einen Doktortitel? Oder hatte er einen Namensvetter? Und warum saß er in diesem Chinesischkurs? Er musste mit Bruno sprechen, am besten sofort. Frank sah auf die Uhr: kurz vor fünf. Wenn er Glück hatte, würde er Brehm gerade noch erwischen. In Windeseile notierte sich Bachmann die restlichen Namen, warf die Schilder zurück ins Nöthers Fach und raste in die Redaktion. Düster lagen die Archivräume vor ihm. »Bruno? Bernhard?« Keine Antwort. Frank schob sich durch die langen Gänge mit den Ordnern. »Hallo?« Ein erneuter Blick auf die Uhr. Zehn nach fünf. Möglich, dass Brehm schon Feierabend gemacht hatte. Bachmann beschloss, Bruno zu Hause aufzusuchen. Gerade, als er wieder durch die Tür schlüpfen wollte, hörte er ein scharrendes Geräusch. Der Reporter lauschte. Schritte, da waren Schritte, kaum hörbar. Jemand auf Zehenspitzen. Frank ließ die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen. Der andere sollte glauben, dass Bachmann gegangen sei. 226
Keine Schritte mehr. Aber ein Quietschen, ein ungeöltes Scharnier. Hatte der Raum noch einen zweiten Eingang? Bachmann wagte nicht zu atmen. Dann hielt er es nicht mehr aus: »Bruno oder Bernhard, lass den Quatsch«, brüllte er. »Wenn du hier bist, dann zeig dich. Ich habe keine Lust zum Versteckspielen.« Keine Reaktion. Der Reporter nahm seinen Mut zusammen und lief die Regalwände ein zweites Mal ab. Am Schreibtisch stieß er auf eine Ledertasche, die offenbar einer der Brehms dort vergessen hatte. Frank sah hinein. Schriftstücke, Klarsichthüllen, Pfefferminz-Bonbons und viele Stifte. Auf der Rückseite der Tasche prangte ein Aufkleber. »Frankonia 1872«, las Bachmann laut. Seltsam. Der Name sagte ihm etwas. Er dachte angestrengt nach. Plötzlich schnippte er mit den Fingern. Feierhut, sein liebenswerter Nachbar. Der hatte auch einen solchen Aufkleber. Die Burschenschaft. Frankonia – in Treue fest. Dr. Bruno Brehm: Er war offenbar auch Mitglied dieses Haufens. Passte nicht zu ihm. Aber vielleicht konnte Frank über die Burschenschaft herausfinden, was Bruno studiert und in welchem Fach er promoviert hatte. Die Frankonia, eine ehemals reiche, introvertierte und mächtige Burschenschaft. Unwahrscheinlich, dass diese Macht keinen Eindruck im Archiv hinterlassen hatte. Frank machte sich auf die Suche nach Informationen über diese Gruppe. Dabei hatte er nach wie vor das Gefühl, nicht allein zu sein. Immer wieder ließen ihn seltsame Geräusche aufhorchen. Bachmann riss sich zusammen und forschte weiter. Nach einer Viertelstunde wurde er fündig. Mit großen Augen zog er einen prall gefüllten Hängeordner hervor. Er schleppte die Beute zum Schreibtisch, wo er das beste Licht hatte. Dort goss er den Inhalt des Ordners aus. Jede Menge Texte und Fotos. 227
Frank sah sich zunächst nur die Überschriften und die Aufnahmen an. Beim zwölften Artikel, er stammte aus einer Mitgliederschrift der Studenten, stockte sein Atem. Die Brehms! Ein alte Aufnahme, doch die sich derart ähnelnden Charakterköpfe der beiden waren unverkennbar. Bachmann entzifferte die Bildunterschrift: Neu im Vorstand der Frankonia: Die Brüder Bernhard (links) und Bruno Brehm. Die beiden haben das Physikum mit Bravour gemeistert und sind nun im fünften Semesters des Medizinstudiums. Foto: Meyerle. Medizin! Frank schüttelte den Kopf. Er fahndete weiter und wurde mit einem Gruppenbild belohnt, das strahlende Gesichter, darunter die der Brehms, zeigte, erneut in der Mitgliederzeitung. Glückwunsch an unsere treuen wie fleißigen Kameraden. Mit durchweg exzellenten Leistungen schlossen sie ihr Medizinstudium ab. Viva Frankonia! Foto: Meyerle. In der Blick-Redaktion war nicht bekannt, dass die beiden Ärzte waren. Als was hatten sie sich vorgestellt? Das müsste doch aus den Bewerbungsunterlagen hervorgehen. Aber um diese Uhrzeit war die Personalabteilung nicht mehr besetzt. Eigentlich kein Hindernis, befand Frank. Falls er in das Büro hineinkam. »Personalabteilung, ich komme«, meinte der Reporter. Er ließ alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Frank prallte an der verschlossenen Tür ab. So ein Mist! Wie knackte man eine solche Tür? Im Krimi machten das die Fahnder immer mit einer Scheckkarte. Bachmann versuchte es auch auf diese Tour, allerdings vergeblich. 228
Da hörte er das Brummen eines Staubsaugers. Putzfrau Maria, die Rettung aus Portugal! Bachmann stöberte sie auf: »Hallo, Maria!« »Hallo, Frank. Wie gäht es dich?« »Fein, und selbst?« »Ach, schleckt. Immer macken sauber, immer ville butzen, jede Tack deselbe Scheiß. Un nächste Tack wieder alles schmutzig. Alles Dreck. Macken keine Spaß.« »Mir macht mein Job auch nicht immer nur Freude, das kannst du mir glauben. Hauptsache, die Kohle stimmt, oder?« Die Putzfrau sah ihn an, als hätte er sie nicht mehr alle: »Du spinnst. Gelde, das ich bekomme, ist ganz schleckt. Alle nehmen Maria immer nur aus. Scheiße Job, Scheiße Gelde. Merda! Aber, was will Maria macken? Butzen, butzen, immer ville butzen.« »Maria, hast du einen Generalschlüssel?« »Eine was?« »Ein Schlüssel, der überall in die Schlösser passt.« »Claro, Amigo. Der passe überall.« »Kannst du ihn mir zehn Minuten leihen?« Maria stemmte die Hände in ihre beträchtlichen Hüften: »Macken aber keine Porcaria mit diese Schlüssel, ja?« »Keine was?« »Porcaria!«, rief die Frau. Sie suchte nach der Übersetzung: »Schmecke gutt in Topf, is lecker.« »Huhn?« Sie lachte: »Nix Kikeriki.« Dann grunzte sie vernehmlich. »Ah, ich soll keine Schweinerei mit dem Schlüssel machen. Keine Sorge, Maria: Es hat alles seine Richtigkeit.« Zufrieden nahm Bachmann den Schlüssel in Empfang. »Du bekommst ihn gleich wieder. Tausend Dank.« Die Tür leistete nun keinen Widerstand mehr. Zum Glück waren die Büroschränke nicht verschlossen. Unter dem Buchstaben B fand Frank eine Akte über die Brehms. Frank 229
stieß auf die Lebensläufe der beiden. Die Brehms hatten ihre Studien angegeben. Beide waren am Münchner Klinikum Großhadern tätig gewesen – bis Februar 1985. Dann waren sie zum Blick gewechselt. Aber warum? Hinter den Beurteilungen hingen zwei Zeitungsausschnitte, die man offenbar später hinzugefügt hatte, wie Bachmann dem Datum entnahm. Ärzte-Zwillinge: Ihr schreckliches Geheimnis hatte TOP am 8. Januar getitelt. Und wenige Tage später hieß es: Pfusch in 20 Fällen: Ärzte-Zwillinge flogen raus! Frank las den Bericht. Demnach war es bei mehreren Organtransplantationen unter der Leitung der Brehms zu unerwarteten und womöglich vermeidbaren Todesfällen gekommen. Organtransplantationen! Frank wollte seinen Augen nicht trauen. Er griff zum Hörer, wollte sofort Wilhelmi informieren. Besetzt. In diesem Moment bemerkte Frank, dass der Staubsauger nicht mehr zu hören war. Eine merkwürdige Stille herrschte. Der Reporter stand auf, ging zum Flur: »Maria, alles claro?« Keine Antwort. Bachmann ging hinaus, sah sich um. Wo steckte die Putzfrau? Da sah er Blutspritzer an der Wand. Sein Herz setzte aus. Auch auf dem Teppich war Blut, dicke Schlieren. Frank folgte der Spur. Maria lag auf dem Bauch. Unter ihrem Kopf hatte sich eine große, rote Lache ausgebreitet. Vorsichtig drehte der Reporter die Putzfrau um. In Marias Stirn waren zwei Einschusslöcher. Bachmann prallte zurück, kämpfte gegen die Übelkeit, gegen die Wut. Er rannte zurück in das Büro der Personalabteilung, wollte zum Telefon. Brehm saß hinter dem Schreibtisch. Er grinste schief. Der Lauf seiner schallgedämpften Pistole zeigte auf Bachmanns Brust. 230
»Komm ruhig rein, ich habe schon auf dich gewartet.« »Warum hast du Maria getötet?« »Weil ich dich töten werden und keine Zeugen gebrauchen kann.« »Du wirst mich nicht töten!« »Selbstverständlich werde ich das. Mach dir nichts vor.« Brehm fuchtelte ungeduldig mit der Pistole. »Bruno oder Bernhard?« Wieder das Lächeln, kalt, klug, berechnend: »Wer weiß das schon? Nein, Spaß beiseite, weil du es bist: Du hast es mit Bruno zu tun. Mein Bruder ist ein wenig unpässlich. Wir werden ihn jetzt besuchen.« »Nein.« Die Kugel schlug wenige Zentimeter neben Franks Kopf ein. Ein sattes Plopp, mehr nicht. »Fahren wir?« Bachmann nickte bleich. Brehm hielt sich dicht hinter ihm. Er hatte sein Sakko über den Arm mit der Waffe gelegt. »Wo steht dein Wagen?«, wollte der Archivar wissen. »Hinter dem Haus, wie immer.« »Gut, dann gehen wir auch hinten raus. Dann vermeiden wir, dass uns die gute, alte Weidenzweig sieht. Vorwärts!« Der Reporter gehorchte. Brehm war durchgedreht, und zwar komplett. Ohne Zwischenfall erreichten sie den Polo. »Du fährst«, befahl Bruno. Der kleine VW sprang an, etwas unwillig zwar, aber er tat es. Bruno lotste ihn durch die halbe Stadt bis in die Nähe des Dutzendteiches. Die Brehms wohnten in einer relativ feinen Gegend. »Rauf!«, kommandierte Brehm und dirigierte den Reporter zum Aufzug. Sie fuhren in den vierten Stock. 231
»Was soll die Show jetzt noch?«, fragte Bachmann. »Das wirst du gleich sehen.« Bruno schloss auf, ohne Frank aus den Augen zu lassen, und stieß ihn in die Wohnung. Sofort hielt sich Frank die Nase zu. Hier stank es bestialisch. Er geriet in Panik, weil er diese süßliche Mischung schon einmal gerochen hatte. Er war dabei gewesen, als die Feuerwehr die Wohnung eines Rentners aufgebrochen hatte, von dem man eine Woche nichts mehr gehört hatte. »Wo ist Bernhard?«, fragte er erneut. »Und mach ein Fenster auf!« »Aber nicht doch. Dann bekommen die Nachbarn nachher noch Wind von meinem kleinen, feinen Experiment.« »Experiment?« »Du hast es erfasst.« »Wo ist dein Bruder?« »Zum Beispiel hier.« Bruno drückte die Starttaste des Kassettenrekorders. »Deine Worte in Gottes Ohren. Ich würde gerne daran glauben«, vernahmen sie Bernhards Stimme. »Du musst daran glauben, sonst bist du selbst verloren.« Das kam von Bruno. Brehm stoppte die Aufnahme: »Seit Dezember habe ich alle Gespräche mit meinem Bruder aufgezeichnet. Da ging es ihm schon ziemlich schlecht. Krebs. Er schlief viel. Wenn er wach war, schnitt ich jedes Wort mit. Unschätzbar wertvolle Aufnahmen für mich. So sind wir Archivare.« Er lächelte versonnen. »Außerdem liebe ich seine Stimme. Wie oft habe ich diese Bänder gehört.« »Er ist tot, nicht wahr?« Brunos Stimme kippte: »Aber nein! Ich werde ihn retten. Mit deiner Hilfe. Deshalb bist du hier.« »Er ist tot, Bruno. Ich rieche es.« »Unsinn. Ich zeige ihn dir.« Brehm deutete mit der Waffe auf einen Raum. »Da geht’s rein.« 232
Widerstrebend gehorchte Bachmann. Der Gestank nahm zu. Frank hatte Angst, ohnmächtig zu werden. In der Mitte des Raumes stand ein OP-Tisch mit drei Lampen darüber, am Kopf ein Narkosegerät. Der Monitor für das EKG war ausgeschaltet. Bachmann hatte es geahnt. Er hatte in seinem Reporterleben schon viel Ekelhaftes ansehen müssen, aber das hier übertraf alles. Bernhard lag auf dem Tisch, inmitten dieses laienhaften Operationssaales, zerfressen vom Tod. Nackt ruhte er auf einem fleckigen, von undefinierbaren Flüssigkeiten getränkten Laken. Sein Körper war halb verfault. Die Beine waren dunkelrot, fast schwarz, Bauch und Brust mehr grünlich schwarz. Fäulnisgase hatten den starren Leichnam auftreiben lassen und unter der Haut Blasen gebildet. Bernhards Augen waren spaltförmig geöffnet, die Hornhaut war trüb. Fliegen tanzten über dem Kopf. Schläuche steckten in Bernhards Mund, er war an das Narkoseund Beatmungsgerät angeschlossen. Aus dem rechten Unterarm ragte eine arterielle Kanüle. Frank prallte zurück. »Er ist tot, siehst du das denn nicht? Tot, tot, tot!«, schrie er. »Du hast keine Ahnung«, geiferte Bruno. »Noch eine Transplantation, dann ist er über den Berg, glaub mir. Bernhard fehlt nur noch ein leistungsstarkes Herz.« Er machte eine Pause. »Nämlich deines.« Bruno setzte sich zu seinem Bruder, fuhr Bernhard durchs Haar und meinte liebevoll zu ihm: »Ich mache uns jetzt einen Tee. Der wird dir gut tun.« Brehm ging in die Küche, Frank vor sich her treibend. »An Heiligabend begann es«, erzählte er. »Bernhard fiel völlig überraschend ins Koma.« »Aber ich habe Bernhard doch noch im Archiv gesehen«, murmelte Frank irritiert. »Du hast einen blauen Pulli gesehen«, korrigierte ihn Brehm. 233
»Und daraus die falschen Schlüsse gezogen. Es war leicht, euch zu täuschen. Ihr seid keine besonders guten Beobachter. Aber zurück zum 24. Dezember. Dr. Hong, unser Hausarzt, hatte offenbar nicht erkannt, wie ernst es um meinen Bruder stand.« Bachmann hörte genau hin. Hong, schon wieder Hong. »Hong, dieser Stümper!«, fuhr Bruno fort. »Also war ich gefragt. Noch am selben Abend besorgte ich mir in der Klinik das, was ich für die Operationen brauchte. Denn Bernhards Nieren hatten versagt. Ich besorgte ihm neue. Doch eine Heilung trat nicht sofort ein. Der Krebs hatte auch andere Organe befallen. Ich habe sie nach und nach ersetzt.« »Dafür bist du über Leichen gegangen.« »Das tut ihr beim Blick jeden Tag. Manchmal lassen sich halt gewisse Opfer nicht vermeiden. Wenn das eure Schlagzeilen wert sind, dann ist es das Bernhard allemal. Mein Bernhard …« »Aber er ist tot!« »Ist er nicht, begreif das doch endlich!«, schrie Brehm. Dann, plötzlich versöhnlich: »Willst du auch einen Tee?« »Wie kannst du jetzt von Tee sprechen?« »Warum nicht?« Frank verzweifelte. »Ein Tee hat, richtig gebrüht, eine durchaus beruhigende Wirkung«, phraste Bruno. »Aber keine Bange. Ich werde dir vor dem Eingriff nicht nur einen Tee gönnen, sondern eine richtige Betäubung. Propofol, ein wunderbares Narkosemittel. Dann werde ich dich intubieren. Du wirst nichts spüren. Ich bin nämlich vom Fach, wie du ja schon herausgefunden hast. Tja, die gute, alte Frankonia.« Brehm hängte zwei Beutel in eine Kanne und stellte sie auf ein Stövchen. »Deine Recherchen über Hong kamen mir übrigens sehr gelegen«, führte er weiter aus. »Hong, dieser Nichtskönner! Fast hätte er meinen Bruder auf dem Gewissen gehabt. Wegen seiner Unfähigkeit hätte Bernhard um ein Haar sterben müssen. Gut, dass du Kontakt zu seiner Arzthelferin aufgenommen 234
hattest. Ich habe sie getötet, Hongs Praxis einen kleinen Besuch abgestattet, mir das Notizblöckchen besorgt, meinen originellen Text darauf verfasst – und der Verdacht fiel prompt auf diesen Laien. Wunderbar. Bei seiner Vorgeschichte wird man ihm einen Strick drehen.« »Vor Gericht zählen nur Fakten.« »Wir werden sehen. Ah, das Wasser kocht.« Brehm nahm ein Streichholz und zündete das Teelicht an. »Gleich ist es so weit.« »Na toll«, spottete Frank. »Du bist ein Zyniker. Und nicht allzu clever. Ich habe dich im Archiv die ganze Zeit über im Auge gehabt.« »Klasse Leistung. Du hattest stets einen Vorsprung. Den Vorsprung des Täters. Ich konnte nur reagieren.« »Mag sein. Und das tatest du ganz in meinem Sinne. Genauso wie dieser Polizist, Wilhelmi. Ich tötete Deng und Chan, die beiden früheren Triaden-Mitglieder. Zwei Verräter. Ich kannte ihre Vorgeschichte. Der Job des Archivars, verstehst du?« Bachmann nickte ergeben. »Ich hätte jedoch etwas mehr von dir erwartet, Frank. Auch von meinem Bruder übrigens.« »Kritik am eigenen Fleisch und Blut?« »In diesem Fall schon.« Brehm goss das kochende Wasser in die Kanne. »Bernhard hat die Hoffnung verloren. Er flüchtet sich in das Geschwätz der Nahtoderfahrungen, die ihm ein schönes Leben jenseits des Exitus versprechen. Nahtoderfahrung oder NTE, schon mal gehört? Nein? Moody und Kübler-Ross, die beiden führenden Mediziner auf diesem Gebiet, haben Opfer von schweren Unfällen und Verbrechen interviewt, die im Koma lagen. Diese Opfer bewegten sich zwischen Leben und Tod. Ich habe das immer Schattenland genannt. Und sie berichteten von Engeln und Frieden, was für ein Quatsch! Aber Bernhard saugt diese Botschaft förmlich auf. Er hat Schmerzen und will sie vergessen. Da kamen ihm Moody und Kübler-Ross gerade recht. 235
Er hat keine Angst mehr vor dem Tod. Der Tod gilt für ihn fälschlicherweise als eine Erlösung.« »Daher die Botschaften«, stellte Frank fest. »Grüße aus dem Schattenland.« »Genau. Nicht schlecht, oder?« »Doch, ziemlich schlecht. Du hast dich verschrieben, trotz deines Chinesisch-Kurses. Man wird dir auf die Schliche kommen.« »Nein. Wilhelmi will Hong.« Brehm füllte Franks Tasse. »Und einen Becher für Bernhard.« »Na klar, für Bernhard. Der wartet nur darauf. Aber die Fakten gegen Hong werden nicht reichen.« »Sie werden. Ein Mann, der schon einmal unter Verdacht stand. Ein Mann ohne Lobby. Ein verdammter Versager. Ein Pfuscher!« Bruno ballte die Fäuste. »Du solltest unbedingt ihn beseitigen«, höhnte Frank. »Keine schlechte Idee. Aber es müsste wie Selbstmord aussehen.« Brehms Augen leuchteten, während er seinem Bruder den Becher ans Bett stellte. »Ja, wirklich – das wäre es. Manchmal hast du richtig gute Ideen, Frank. Kompliment.« Er setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander. Bruno geriet in Plauderlaune. »Ich könnte ihm eine tödliche Injektion verpassen. Mitten ins Herz. Kalium, da gehst du auf Nummer Sicher. Und ihm dann die Spritze in die Hand drücken.« Frank ging zum Schein auf den Plan ein: »Aber dafür müsstest du an ihn herankommen. Hong sitzt in U-Haft.« »Ja, das ist ein Problem …« »Ich war bei ihm.« »Wie das?« »Wilhelmi, hat mir eine Sondererlaubnis gegeben.« »Könntest du das auch für mich arrangieren?« »Es käme auf einen Versuch an.« Frank begann plötzlich zu schwitzen. Ein Gespräch mit Wilhelmi, das wäre eine große 236
Chance. Er überlegte fieberhaft, wie er dem Beamten in Brehms Gegenwart mitteilen konnte, dass er in Gefahr schwebte. »Wo ist das Telefon?« Brehm schüttelte den Kopf. »Ich glaube doch nicht, dass das ein so guter Plan ist. Du führst etwas im Schilde, das sehe ich dir an.« Bachmann fühlte sich ertappt. »Gut, dann lassen wir es«, meinte er obenhin. »War ja nur eine Idee.« »Du kämpfst um dein Leben, nicht wahr?« Frank blickte zu Boden. Ja, natürlich, dachte er. »Du strampelst, du zappelst«, lachte Bruno. »Etwas mehr Einsatz braucht es dafür aber schon.« »Ich muss auf die Toilette.« »Im Flur, die linke Tür. Gib mir dein Handy. Und auch sonst keine Tricks.« Das holzvertäfelte Bad war von stattlicher Größe. Frank schlug die Tür zu, wollte sie verriegeln. Der Schlüssel fehlte. Er lief zum Fenster, spähte hinaus. Keine Möglichkeit, sich hinabzuhangeln. Ein öder Hinterhof, verlassen. Nur Mülltonnen, eine Wäschespinne. Kein Mensch weit und breit. Sinnlos, um Hilfe zu rufen. Bachmann musste es mit Brehm aufnehmen. Doch der war bewaffnet. Es galt, ihn abzulenken. Nur wie? Da hatte er plötzlich eine Idee. Rasch betätigte er die Spülung und ging zu Brehm zurück. Sie unterhielten sich weiter. Frank spürte, dass sich die Situation entspannte. Das war gut. Aber warum ließ Brehms Wachsamkeit nicht mal nach? Warum legte er nicht zum Beispiel kurz die Waffe weg? Nein, der Arzt und Archivar hielt die Pistole in seiner rechten Hand, als wäre sie dort festgewachsen. Brehm berichtete von der Zeit, als Bernhard und er in München im Klinikum tätig gewesen waren. Er sprach von »unglücklichen Umständen«, die zum Tod einiger ihrer 237
Patienten geführt hätten, und von einer »Rufmordkampagne«, die sich den Vorfällen anschloss. »Oh, das Teelicht ist ausgegangen«, unterbrach Frank unvermittelt. »Kein Problem, ich hole ein neues«, meinte Bruno und griff in die Schublade einer Kommode hinter ihm. Er schob das neue Teelicht in das Stövchen, entzündete es. Die Streichhölzer ließ er auf dem Tisch liegen. Dann erzählte er weiter. Wie Bernhard und er beim Blick angefangen hatten, von ihrer Sammelleidenschaft. Eine Viertelstunde verging. Bachmann hörte nur halb hin. Die Streichhölzer, er brauchte die Streichhölzer! »Die Apparaturen, funktionieren die alle?«, fragte er. »Sicher!« Bruno wandte sich für einen Moment zu seinem Bruder. Blitzschnell griff Frank zu. Ein verräterisches Rascheln. Brehm fuhr herum: »Was war das?« »Was denn?«, fragte Bachmann schnell. Die kleine Schachtel lag schwer wie Blei in seiner Hand. »Ich müsste noch mal auf die Toilette. Der Tee drückt ganz schön.« »Nur zu. Genieße es. Es ist wohl das letzte Mal, mein Freund.« Das werden wir ja sehen, dachte Frank, als er im Bad war. Er öffnete das Fenster, damit man seine Aktion auch schnell bemerkte. Bachmann zog die Streichhölzer hervor. Erst setzte er die Gardine, danach die Handtücher und eine Frotteematte in Brand. Frank wartete, bis die Flammen an der Holzvertäfelung züngelten. Dann zog er die Spülung und schlüpfte aus dem Raum. Brehm sah Frank über den Rand seiner dicken Brille an. »So, und jetzt sollten wir mal allmählich loslegen. Bernhard braucht ein starkes Herz. Ich erkläre dir kurz den Ablauf unseres Experimentes. Erst einmal muss ich dich fesseln. Dann werde ich mir etwa zehn Minuten die Hände waschen und bürsten. Das 238
muss sein wegen der Sterilität.« Der Arzt ging methodisch, ruhig und sachlich an den Fall heran. Bachmann wurde es eiskalt. Dieser Wahnsinnige machte Ernst. Da! Der erste leichte Brandgeruch. Brehm musste doch etwas bemerken! Tatsächlich zog der Mediziner die Nase kraus. »Hier riecht es komisch, oder?« »Ja, nach Verwesung.« »Red keinen Unfug«, polterte Bruno. »Es riecht verbrannt. Hab ich in der Küche vielleicht –« Ärgerlich verschwand er einen Moment, um im nächsten loszuschreien. »Mein Gott: Feuer! Du hast das Bad in Brand gesteckt.« Frank rannte los, Richtung Haustür. Plopp! Die Kugel traf Bachmann im rechten Oberschenkel. Er stürzte, robbte weiter. Der Schmerz ließ ihn fast besinnungslos werden. Plötzlich stand Brehm über ihm: »Wenn ich dich nicht noch brauchen würde, würde ich jetzt schon Schluss mit dir machen, du Brandstifter.« Er schlug ihm mit dem Knauf der Waffe ins Gesicht. Franks Kopf flog zur Seite, er prallte hart auf den Boden, blieb regungslos liegen. Qualm drang in den Flur. Bruno schloss die Haustür ab, steckte den Schlüssel ein, lief zurück in die Toilette. Er riss den Duschschlauch aus der Halterung, drehte den Hahn auf, kauerte sich auf den Boden, begann zu löschen. Immer wieder warf er einen Blick auf den Reporter. Frank rührte sich nicht. Brunos Augen tränten, er musste husten. Das Wasser prasselte auf den Holzrahmen des Fensters, auf die Wand. Es zischte. Langsam verzeichnete Brehm erste Erfolge. Bachmanns Lider zuckten, dann schlug er die Augen auf. Sein 239
Kopf brummte, ihm war schlecht. Eisengeschmack im Mund. Ein Pochen in seinem Bein. Verschwommen erkannte er Bruno. Der Arzt hatte die Pistole auf den Boden gelegt, kämpfte sich mit einem Schlauch ab. Vorsichtig kam Frank auf alle viere. Alles um ihn herum schwankte. Er zog sich an einem Stuhl hoch. Frank lehnte sich gegen die Wand, atmete durch. Sein Blick wurde klarer. Bachmann benutzte den Stuhl als Krücke und war mit wenigen Schritten bei Bruno. Der Arzt fuhr herum, ließ den Schlauch fallen, rollte sich zur Seite, griff zur Pistole. Der Stuhl traf ihn am Hinterkopf. Brehms Brille rutschte über die Fliesen. Ohne die Sehhilfe war Bruno so gut wie blind. Er schoss auf seinen schemenhaften Angreifer, verfehlte ihn knapp. Glas zerbrach, die Brille! Frank hatte sie mit seinem Absatz zerstört. Die nächste Kugel fuhr in die Schulter des Reporters. Er wurde herumgeschleudert, der Stuhl glitt aus seiner Hand. »Du Ignorant, du sabotierst ein einmaliges Experiment. Hol meine Ersatzbrille! Sie liegt im Schlafzimmer«, schrie Bruno. Er wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Die Pistole zitterte in seiner Hand. Er drückte ab, einmal, zweimal. Keine Kugel fand ihr Ziel. »Ich kriege dich, Frank!« Bachmann packte wieder seine Waffe aus Holz. Schwarze Schatten trübten seinen Blick. Jetzt nicht schlappmachen, befahl er sich. Eine Sirene war zu hören. Ganz in der Nähe. Du schaffst es, meinte Frank zu sich. Sie sind gleich da. Blut pumpte aus seiner Schulter, aus seinem Oberschenkel. Bachmann griff noch einmal an, er riss den Stuhl hoch über seinen Kopf und schlug zu, immer wieder, mit letzter Kraft. Die Pistole flog zu Boden, Bruno brach zusammen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog Frank den Leblosen vom Feuer weg, das sich nun wieder ausbreitete. Bachmann bekam kaum noch Luft. 240
Der Schlüssel, er brauchte den Schlüssel! Ihm wurde flau. Der Rauch, der Blutverlust. In der Hosentasche, dort musste er sein. Frank durchsuchte Brunos Kleidung, zog den Bund heraus. Etwa zehn Schlüssel hingen daran. Welcher war der richtige? Der mit dem roten Ring? Bachmann versuchte es. Fehlanzeige! Der nächste, wieder falsch. Frank drehte gleich durch. Noch zwei Nieten. Das Feuer kroch über den Boden. Die Hitze nahm zu. Brehm stöhnte. Wachte er etwa auf? Frank rammte einen weiteren Schlüssel ins Schloss. »Komm, du musst einfach passen!«, rief er. Wieder nichts. Ein neuer Schwindelanfall, Frank musste eine Pause einlegen, sich erneut zusammenreißen. Endlich – beim achten Versuch hatte er Erfolg. Würgend stürzte Bachmann aus der Wohnung. Schritte auf der Treppe, schwere Stiefel. Der Helm eines Feuerwehrmannes. Wenig später lag Frank auf einer Bahre. Zwei Sanitäter trugen ihn zum Krankenwagen, luden ihn ein. »Ganz ruhig liegen bleiben. Ist alles im grünen Bereich«, meinte einer der Helfer. »Wohin fahren wir?«, wollte Bachmann wissen. Bein und Schulter pochten höllisch. »Klinikum Süd.« Frank lächelte trotz der Schmerzen. Dort war auch Pia.
241
18. Völk betrat seinen schillernden Palast der Verführung – den gewaltigen Mediummarkt für Unterhaltungselektronik. An einer Wand begrüßte ihn eine Armada von Fernsehern, die alle dasselbe Programm zeigten. Gegenüber türmten sich Verstärker und CD-Spieler, daneben warteten mächtige Boxen auf Abnehmer. Radiomusik säuselte, unterbrochen von Werbedurchsagen. Völk hatte nur ein Ziel: Er wollte den matt glänzenden, anthrazitfarbenen Videorekorder. Er griff in die Jackentasche, kontrollierte, ob seine Geldbörse noch da war. Der Beamte lief umher, suchte das gute Stück. Dabei dachte er an den vergangenen Abend zurück, als er die Triaden ausgezahlt hatte. Ganz selbstbewusst hatte er einem der Schläger die noble Spende aus der Schatulle des leichtfertigen wie schönen Kollegen Dammeier in die Hand gezählt. Und diese schmale, kräftige Hand, die so vernichtende Schläge austeilen konnte, hatte sich zufrieden gegeben mit dem, was sie fühlte. Sie hatte Völks Wange getätschelt, allerdings etwas zu fest. Eine Geste, wohl als Warnung zu verstehen. Der Beamte hatte sich das gefallen lassen, während in seinem Kopf Angst und Wut miteinander rangen und das erste Gefühl wie so oft in seinem Leben triumphierte. Endlich war der Chinese gegangen und hatte Völk zurückgelassen mit seinem verblassenden Ärger und seiner unendlichen Erleichterung. Jetzt stand er da, der Mann, der sich nun auch noch in die Welt seiner Träume zurückkaufen konnte, und knetete das Plastik seines Portemonnaies. Darin knisterten die Scheinchen, die Tickets für den Abflug aus Völks eher übersichtlicher, bescheidener Realität. Eine Stimme aus dem Radio meldete die Festnahme des 242
Schattenland-Mörders, aber Völk hörte kaum hin. Zum einen, weil er die Nachricht schon beim Frühstück vernommen hatte, zum anderen, weil es für ihn Wichtigeres gab. Wo lagerten die Rekorder? Völk musste jemanden fragen. Eine Verkäuferin lungerte an einem Ständer mit CDs herum. Der Beamte marschierte auf sie zu. In diesem Moment tauchte die Frau ab, verschwand zwischen Regalen mit Batterien und anderem Zubehör. Der Polizist unternahm zwei neue Anläufe. Doch jedes Mal, wenn er sich dem Personal näherte, verschwand es. Wer half Völk jetzt weiter? Er lud langsam auf. Da! Ein junger Mann im weißen Kittel hantierte an einem der TV-Geräte herum. Völk pirschte sich über Umwege an den Verkäufer heran, immer bedacht, diesen nicht vorher zu warnen und zu verschrecken. Und dann stand er plötzlich vor dem Weißkittel, wie aus dem Nichts, ein großes Fragezeichen im Gesicht und einen brennenden Wunsch im Herzen: »Wo finde ich die Rekorder?« »Hä?« »Die Rekorder, wo sind die?« »Video oder Kassetten?« Der Verkäufer schaute seinen Kunden noch nicht einmal an. Ein Namensschild wies ihn als Herr Werner aus. »Video.« Jetzt blickte der Angestellte Völk von oben herab an: »Warum sagen Sie das nicht gleich? Hier ist viel los, ich hab noch was anderes zu tun.« »Und wo finde ich jetzt –« »Genau hinter Ihnen.« »Ich suche da einen ganz bestimmten.« Werner zuckte mit den Schultern. »Keine Zeit. Sehen Sie da hinten meinen Kollegen?« Er machte eine undeutliche Handbewegung. Völk sah in diese Richtung. Kein Mediummarkt-Angestellter weit und breit. Dann checkte er die direkte Umgebung. Sie 243
waren allein. Der Beamte packte blitzschnell den Arm des Verkäufers, verdrehte ihn, bis es knackte. In Werners Augen machten sich Schmerz und Panik breit. »Lassen Sie los, ich rufe um Hilfe.« »Schnauze! Ich bin Bulle. Und ich breche dir alle Knochen, wenn du mir nicht in zwei Minuten den Rekorder besorgst. Vor Gericht wäre das Notwehr, glaub mir.« Völk lockerte den Griff, hielt dem Verkäufer seine Dienstmarke unter die Nase. »Ich hab darin Erfahrung. Und jetzt beweg dich!« Werner rieb sein Handgelenk. Dann dackelte er missmutig zu den Videogeräten. Völks Miene hellte sich auf – da war ja das Schmuckstück! Das edel schimmernde Ding, dieser Knaller! Er blickte den Verkäufer-Wurm triumphierend an. Der plapperte sofort los: »Zwei Videoköpfe, NTSCWiedergabe, automatische Kopfreinigung, Scartbuchse, OnScreen-Display-Programming und –« Der Beamte hob abwehrend beide Hände: »Das weiß ich doch alles. Hau ab!« Er nahm einen Karton und trug ihn zur Kasse. Dort nahm man ihm die Scheinchen ab. Als Nächstes lief Völk in der Videothek ein. Pfeifend bediente er sich in der Porno- und Actionabteilung. Sein letzter Gang führte ihn zu Aldi. Vier Chipstüten, zwanzig Bierdosen, eine Dose Ravioli, Reibekuchen und ein Glas Apfelmus wanderten in den Einkaufswagen. Vor dem Supermarkt erkannte Völk, dass er ein Transportproblem hatte. Er hätte seinen Bollerwagen mitnehmen sollen. Kurzerhand lieh er sich das Einkaufswägelchen aus und marschierte nach Hause, ein glückliches Lächeln auf den Lippen. Ein Schatten legte sich auf sein heute so sonniges Gemüt, als er im Flur den alten Drachen Göderlein erspähte. Sie trug ein Kopftuch und schwang einen Schrubber. 244
»Da, der Kerl klaut!«, keifte die Nachbarin, als sie Völk bemerkte. »Einen Einkaufswagen, nicht zu glauben! Ich ruf sofort die Polizei, ha!« Völk legte den Rekorder sanft auf den Boden, türmte darauf Kassetten, Lebensmittel und Getränke. Vorsichtig hob er den Berg hoch und schob sich durch die Haustür. Der Geruch von Bohnerwachs stieg in die Nase des Beamten. Die Göderlein giftete weiter: »Auch alles gestohlen, was?« Sie bekreuzigte sich. Der Polizeimeister lugte an seinem Einkauf vorbei. Gleich war er daheim. Er stieß gegen Göderleins Eimer, der Turm wankte bedrohlich, eine Chipstüte segelte hinab. Völk holte aus und kickte den Pott um. Der Inhalt ergoss sich auf die Fliesen. »Das war Absicht, Sie Terrorist!«, gellte Göderleins Stimme. Der Beamte trat in das Wachs und rutschte aus. Völk machte einen artistischen Ausfallschritt nach hinten und für einen Moment schien es, als könne er das Gleichgewicht halten. Der Einkauf mit den Wonne spendenden Köstlichkeiten vollführte einen atemberaubenden Tanz in den Armen des Polizisten. Dieser kämpfte weiter um Balance, suchte Halt, tanzte – mehr Ball als Ballerina – eine aberwitzige Choreografie. Doch dann hob Völk ab, wie ein plumper Zeppelin, verharrte Sekundenbruchteile in der Horizontalen und schmetterte dann auf den Rücken. Völks neu erworbene Herrlichkeiten prasselten auf den tückischen Boden: Der Karton des Rekorders platzte auf, die Kassetten flogen aus ihren Hüllen, das Apfelmusglas zerbrach. »Nein, nein, nein!«, jammerte Völk. »Und ich hab gerade geputzt«, schrie die Göderlein. »Sie sind der Antichrist!« Der Beamte kroch zu seinem Rekorder, besah ihn. Von außen waren keine Beschädigungen zu erkennen. Er nahm sein Baby und trug es zu seiner Bude. »Und was ist mit der Sauerei hier?«, blaffte die Nachbarin. 245
Der Beamte achtete nicht auf sie. Er rammte die Tür hinter sich zu, rannte zum Fernseher. Im Gang inspizierte die Göderlein die Kassetten. Laut las sie die Titel vor: »Nackt im Frauengefängnis, Mit eiserner Faust, Wölfe des Krieges: Alles Schweinkram!« Mit zitternden Fingern schloss Völk den Rekorder an, warf eine alte Kassette in den Schacht, drückte Start. Kein Bild! Hatte er etwas falsch gemacht? Der Polizist drückte hektisch ein paar Knöpfe. Dann roch er es: Ein Kabel musste durchgeschmort sein! Eine dünne, schwarze Rauchsäule kräuselte sich über dem Rekorder. Völk fuhr zurück. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Nicht Trauer speiste sie, sondern Hass. Der Beamte ging in den Flur zurück. »Unersättliche Teenager, Teil sechs. Und was haben wir hier? Im Blutrausch«, plärrte die Alte gerade. Völk nahm sie nicht wahr und sammelte die Bierbüchsen ein. Er verzog sich damit in sein kleines Wohnzimmer, knipste die Lampe aus, setzte sich auf die fleckige Breitcordcouch. Durch das Fenster fiel das spärliche Licht einer Straßenlaterne. Völk sah seinen Schatten an der Wand. Massig, unförmig. Der Beamte riss den Verschluss von der ersten Büchse und kippte das Bier in langen Schlucken in sich hinein. Er trank schnell und systematisch weiter – bis der Schatten vor seinen Augen verschwamm und er ihn nicht mehr zu sehen brauchte.
246
Dank an Simone und Ulrike für ihre Genauigkeit. Dank an Dr. Thomas Kreuseler für die medizinische Beratung. Dank an Dr. Elisabeth Kübler-Ross und Dr. Raymond Moody für ihre Studien zu Nahtoderfahrungen. Dank an den Ersten Hauptkommissar R. Sch. und an Oberkommissar G. W. für die Einblicke in die Arbeit einer Mordkommission.
247