Jeremy Leven
Satan Seine Psychotherapie und Heilung durch den unglücklichen Dr. Kassler, I. S. A. S.
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Jeremy Leven
Satan Seine Psychotherapie und Heilung durch den unglücklichen Dr. Kassler, I. S. A. S.
scanned by AnyBody corrected by Akascha Ein teuflisch komisches Buch über die Psychotherapie eines Computers, der sich für Satan hält, durchgeführt von einem freudianischen Psychologen, der nicht mehr weiß, wer nun verrückter ist: er selbst, die Welt oder der Teufel. (Backcover) ISBN 3-404-28145-4 BASTEI-LÜBBE-PAPERBACK Band 28 145 © Copyright 1982 by Jeremy Leven All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1986 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Satan Ins Deutsche übertragen von Hans Wolf Sommer Titelillustration: Achim Bock Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Clausen & Bosse, Leck
Zur Erinnerung an Elizabeth Lauter Obrasky 1891-1980 Dieses Buch ist denjenigen gewidmet, die nicht die Freiheit besitzen, ihr Leid selbst zu wählen, und ihrer Hoffnung. Ja, dies ist mein Begehren, daß mir der Allmächtige Antwort gäbe und mein Gegner im Streit eine Klageschrift schriebe!
Inhalt Inhalt ........................................................................................ 3 Danksagung ............................................................................ 5 I. Teil Der Fall Kassler............................................................. 7 1 ........................................................................................... 7 2 ......................................................................................... 11 3 ......................................................................................... 26 II. Teil Einsteins Lösung ........................................................ 31 1 ......................................................................................... 31 2 ......................................................................................... 35 3 ......................................................................................... 58 Zwischenspiel Satans Gesang.............................................. 74 Januar 1979 I. Sitzung .......................................................... 81 III. Teil Vita............................................................................. 94 1 ......................................................................................... 94 2 ....................................................................................... 112 3 ....................................................................................... 130 Februar 1979 II. Sitzung...................................................... 159 IV. Teil Phlegethon .............................................................. 168 1 ....................................................................................... 168 3 ....................................................................................... 231 März 1979 III. Sitzung ......................................................... 262 V. Teil Dantes Inferno ......................................................... 273 1 ....................................................................................... 273 2 ....................................................................................... 284 3 ....................................................................................... 291 April 1979 IV. Sitzung.......................................................... 312 VI. Teil Szlycks Abschied.................................................... 325 1 ....................................................................................... 325 2 ....................................................................................... 354 3 ....................................................................................... 369 Oktober 1979 V. Sitzung ..................................................... 395 VII. Teil Mildernde Umstände.............................................. 410 1 ....................................................................................... 410 2 ....................................................................................... 433
November 1979 VI. Sitzung ................................................ 474 VIII. Teil Die Hauptverhandlung .......................................... 486 1 ....................................................................................... 486 2 ....................................................................................... 505 3 ....................................................................................... 532 IX. Teil Die Heilung ............................................................. 558 Letzte Sitzung Dezember 1979........................................... 558 1 ....................................................................................... 558 2 ....................................................................................... 567 3 ....................................................................................... 576
Danksagung Joseph Kanon, ein kluger und belesener Mann, für den ich großen Respekt empfinde, machte mich einmal mit seiner Ansicht vertraut, daß Danksagungen am Anfang von Romanen bei ihm dieselbe Begeisterung auslösen wie die Reden von Oscar-Preisträgern. Ist die Feststellung auch sehr treffend, so wird sie doch zu einem Problem für jemand, der einen Teil seines Lebens in einem Tätigkeitsbereich verbringt, in dem Verschweigen derjenigen, die ihn mit Ideen versorgt und seine Arbeit unterstützt haben, tödlich sein kann. Abgesehen davon ist ein solches Beginnen auch nur recht und billig, was selbst Joe, wie ich nicht bezweifele, einräumen würde. Gleichermaßen muß ich meinen tief empfundenen Dank ausdrücken für die Ermutigung, die Unterstützung, die Begeisterung und die Anregungen, die ich während des Schreibens dieses Buches von Freunden, Nachbarn, Kollegen und Familienangehörigen bekommen habe, unter ihnen meine Eltern, Martin und Marcia Levin, die für ein idyllisches, kleines Schriftstellerparadies sorgten, Don und Bridget Mariano, Mary Lloyd und Bill Lee, Arnold und Judy Burk, Glenn und Andy Rosen, Mark Sklarz, Paul Ford, Alain Bernheim, Geri Thoma, Raymond Bongiovanni, Jim Cochrane, Arlene Avena, mein außerordentlich scharfsinniger Lektor Peter Gethers, Elaine Markson, die sich mit der Psychologie von Briefen und Briefschreibern auskennt wie kaum eine zweite und aufgrund glücklicher Umstände meine Agentin ist, und vor allem Roberta Danza, meine Frau, deren Intelligenz, Humor und Menschenkenntnis zu zahllosen Verbesserungen dieses Werks führten und deren Liebe und Beistand den Autor und sein literarisches Kind mit dem nötigen Antrieb versahen. Dankbar bin ich auch Victor Denenberg, Professor für Entwicklungs-Psychobiologie, Enrico Mugnaini und Victor Friedrich, Professoren für Neuroanatomie, Ezio Giacobini, Professor für Neurochemie an der University of Connecticut, und Donald Cohen, Professor für Pädiatrie, Psychologie und Psychiatrie an der Yale University School of Medicine. Ihre -5 -
Ausbildung schlägt sich in erheblichem Maß in diesem Werk nieder und hat mir Hochachtung vor der grandiosen Natur des neuropsychischen Abenteuers eingeflößt, selbst wenn es sich in einer unterirdischen Szenerie abspielt. In Anbetracht des Charakters dieses Werks muß ich dem Leser jedoch versichern, daß keiner der Erwähnten mit den handelnden Personen dieses Buches, lebend oder tot, irgendeine Ähnlichkeit aufweist. Schließlich ist mein Werk für immer meiner Erzählung am St. John's College in Annapolis, Maryland, verpflichtet, wo ich zum erstenmal dem Gentleman begegnete, dem für seine Beiträge zu diesem Buch die größte Anerkennung gebührt - Dante Alighieri.
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I. Teil Der Fall Kassler 1 Was soll ich Ihnen sagen? Die Geschichte ist chaotisch Personen und Wege kreuzen sich wie die Leitungsbahnen irgendeines, wenn Sie den Ausdruck verzeihen, teuflischen Gehirns, dessen Funktion und Zweck nicht durch die simple Trennung der wirr verschlungenen Verbindungen herausgelesen werden können. Mitten in diesem Durcheinander bewegte sich Sy Kassler an einem heißen Augustmorgen des Jahres 1968 durch den rosafarbenen Dunstschleier, der Florenz erstickte - etwas zu dick für seine Körpergröße, mit lebhaften blauen Augen, die von einer dichten Strähne seines schwarzen Lockenhaars überschattet wurden, und nur noch zwei Jahre von seinem dreißigsten Geburtstag entfernt, an dem, wie Kassler sich ausgerechnet hatte, Jugend, Vitalität, Phantasie und Lust gleichzeitig zu einem abrupten Ende kamen. Immer wenn Kassler ins Freie hinaustrat, tat er dies mit einer Erwartung, die stark vergleichbar war mit der mancher Männer, die ihre Wohnung niemals ohne Wecker, Kamm, Taschenmesser und Pfefferminzdrops verlassen - all dies trug auch Kassler bei sich. Kassler hatte stets die Hoffnung, daß dies der Tag war, an dem er der Frau begegnen würde, die ihm als Lebenspartnerin bestimmt war. Da er auch die Hoffnung hatte, daß diese Frau sehr große Brüste haben würde, ließ er beim Gehen seine Blicke in Brusthöhe schweifen und nahm das bunte toskanische Straßenbild mit Vorfreude und Interesse in sich auf. Der perfekte Busen, kalkulierte Kassler, würde die perfekte Liebe mit sich bringen. Nicht, daß Kassler in dieses drückend schwüle florentinische Inferno gekommen wäre, um ein Objekt zur Befriedigung seiner -7 -
libidinösen Gelüste zu suchen. Ganz im Gegenteil. Er befand sich auf einer selbstlosen Reise, auf einer Reise der Barmherzigkeit. Kassler war nach Florenz gekommen, seinen Vater zu finden, damit er ihn davon abhalten konnte, sich umzubringen. Tatsächlich gibt es wenig, was ich über die mysteriösen Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen sagen kann, das nicht schon längst gesagt worden ist. Die brüchige Ökologie zwischen Erzeugern und ihren männlichen Abkömmlingen erscheint mir ebenso unverständlich wie unausweichlich. Kassler, so aufgeweckt wie er war, hatte an jenem Morgen, als er auf der Suche nach seinem Vater über die glühenden Pflastersteine von Florenz schritt, bei der Lösung dieses Rätsels auch nicht mehr Glück. Glücklicherweise fand er unterwegs in seiner Verzweiflung, zu der solche Betrachtungen oft führen, eine Erleichterung. Der Name dieser speziellen Erleichterung war Gina. Wenn der Dichter Pope recht hat und die Hoffnung auf ewig genau dort entspringt, wo er sagt, dann waren Ginas natürliche Reichtümer in einem solchen Überfluß vorhanden, daß sie sehr wohl die einzige Quelle für den Optimismus der ganzen Welt gewesen sein mag. Dies machte Kassler zu einem wirklich glücklichen Menschen. Das ist phantastisch, dachte Kassler und war ganz stolz auf sich, weil er Gina auf sein Zimmer in der nahegelegenen Pensione gelotst hatte, und das, obwohl er kein einziges Wort Italienisch und sie kein einziges Wort Englisch sprach. »Auf einer Reise, die den Zweck hat, das Leben meines Vaters zu retten, habe ich mein eigenes gerettet«, murmelte er still und malte sich in Gedanken Bilder aus, in denen sie beide über alberne Fehler Ginas beim Gebrauch der englischen Sprache lachten, die er ihr geduldig beibringen würde, während sie in der Küche vor Leben sprühend Pizzateig knetete und ihre neun Kinder versorgte. Das waren Kasslers Gedanken, als er mit der Zunge über die gewaltigen runden Formen fuhr, die einen bedeutenden Teil des Mädchens seiner Träume ausmachten. -8 -
So erforschte Kassler an diesem Morgen mit großer Zärtlichkeit die weichen und üppigen Kurven von Ginas olivfarbenem Körper, zog er mit Händen und Lippen den Schwung ihres Bauchs nach, den Bogen ihrer breiten Hüften, die vollen Kugeln, die ihr Hinterteil formten, und die anmutigen Linien ihrer dunklen mediterranen Beine. Gina ihrerseits ließ ihre Finger geistesabwesend durch Kasslers schwarzes Lockenhaar gleiten. Als sie die Berührungen seiner Zunge auf ihrem Fleisch nicht länger ertragen mochte, schlüpfte sie unter ihrem nackten Liebhaber hervor, stopfte sein pulsierndes Glied in ihren Mund und setzte in der drückenden Hitze, die den kleinen Raum in eine Art Ofen verwandelte, fort, Kassler dem totalen Wahnsinn entgegenzutreiben. Bis weit in den Nachmittag hinein arbeiteten Kassler und Gina am Körper des anderen, leckend, saugend und reibend. Kassler blutete jedesmal wie ein Lamm auf dem Schlachtblock, wenn Gina zufällig auf ein besonders dichtes Bündel subkutaner Nervenfasern mit einer direkten Verbindung zum Großhirn stieß. Als sie sich schließlich vereinigten, wand sich Gina in Agonie, während sich Kassler in seiner exotischen Dame vor und zurück bewegte. »Punge! Punge!« Gina versuchte, Kassler auf die stechenden Gefühle aufmerksam zu machen, die sie in ihrer Vagina verspürte. Kassler betrachtete Gina, die sich unter ihm wand, und lächelte. Er wußte, daß er seine Sache gut machte. »II dolore!« verkündete Gina, als Kassler an Stoßkraft gewann. Kassler bedeutete Gina mit einem Kopfnicken, daß er sich über das große Vergnügen im klaren war, das er ihr bereitete, und machte mit gesteigerter Inbrunst weiter. »Il dolore!« sagte Gina.
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»Il dolore!« Kassler wiederholte das, was er für den italienischen Ausdruck hielt, den man in den Wehen höchster Leidenschaft von sich gab. Er war stolz darauf, wie schnell er die Sprache lernte, und stieß mit neuer Energie zu. »Ahi!« Gina brachte ein neues Wort in Kasslers wachsendes Vokabular ein und unterstrich den Ausdruck, indem sie seinen Rücken zerkratzte und versuchte, sich von ihm zu befreien. »Ah-jeee!« Kassler stieß einen Begriff der Ekstase hervor, der, wie er folgerte, von mediterranen Menschentypen in den Augenblicken der Verzückung benutzt wurde, packte Ginas Hüften mit fester Hand und hämmerte drauflos. »Ahi!« schrie Gina. »Ah-jeee!« Kassler jubilierte laut. »Ahi! Ahi!« gellte Gina. »Ah-jeee! Ah-jeee! Ah-jee!« brüllte Kassler, und nach einem mächtigen Stoß erlebte er endlich die Befreiung, zu der es nur bei der chaotischen Depolarisierung von Zehntausenden von elektrischen Impulsen kommt. Dann löste sich Kassler von Gina, und als die roten Sonnenstrahlen in den Glastüren des winzigen Balkons Muster bildeten, schlief er schnell an der Seite seiner neuen Liebe ein und träumte während des ganzen heißen Nachmittags von einem einfachen weißen Stuckhaus an der glänzenden blauen Adria, wo er und Gina für immer glücklich leben würden. Natürlich war Gina, als er erwachte, für immer gegangen und hatte zwanzigtausend Lire aus seiner Hosentasche mitgenommen, für den erlittenen Verdruß und um ihre Erinnerung lebendig zu erhalten. Zurück ließ sie einen medizinischen Zustand, der Kassler für den größten Teil des kommenden Jahres »Ah-jeee!« ausrufen lassen würde.
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2 Kassler befand sich noch immer in einem Stadium leichter Enttäuschung wegen Ginas Verschwinden, als er seinen Vater schließlich am nächsten Morgen in einem der großen Gewölberäume der Uffizien aufspürte. Morris Kassler, gepflegt, hochgewachsen, athletisch, fülliges graues Haar auf dem Kopf, stand vor einer Skulptur, bekleidet mit einer Brooks-Brothers-Kordsamthose, einem smaragdgrünen Lacoste-Sporthemd und neuen Bally-Schuhen, die mit kleinen goldenen Spangen verziert waren. Mit seiner großen Hand machte er sich auf einem linierten Schreibblock Notizen. »Wie geht's, Vater?« fragte Kassler, als er, bisher unbemerkt, auf seinen Vater zutrat. »Eine Minute.« Morris Kassler reckte seinen Zeigefinger in die Höhe, um anzuzeigen, daß er sich in der Mitte eines Gedankengangs befand, der bald abgeschlossen sein würde. Er bestätigte die unerwartete Ankunft seines Sohns mit einem kurzen Kopfnicken und einem leichten Heben seiner dichten Augenbrauen. Kassler wartete geduldig an der Seite seines Vaters, während Morris Kassler Beobachtungen niederschrieb, die die Grundlagen einer Dissertation zur Erlangung des Doktortitels in Kunstgeschichte bilden sollten. Als sein Vater nach zehn Minuten noch immer mit sich selbst beschäftigt war, wanderte Kassler den Marmorkorridor entlang, vorbei an springenden Einhörnern, jungen, nach mehr gierenden Bacchusgestalten und Dutzenden von kichernden Göttinnen. Vor Tizians lieblicher Flora blieb Kassler stehen und betrachtete die üppige italienische Schönheit nach den Erfahrungen des vergangenen Tags mit einer Mischung aus Sehnsucht und Verzweiflung. Dann kehrte er zurück und fand seinen Vater gegen eine Wand gelehnt und ungeduldig wartend vor. »Du warst verschwunden«, begrüßte Morris Kassler seinen Sohn.
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»Ich war nicht verschwunden«, erwiderte Kassler die Begrüßung im gleichen Tonfall. »Ich war nur den Flur hinuntergegangen. Du hast gesagt, daß du in einer Minute fertig sein würdest.« »Es hat nur eine Minute gedauert.« »Ich bin nach zehn Minuten gegangen.« »Du nimmst alles so verdammt wörtlich. Warum bist du hier?« »Mutter hat mich geschickt. Ich soll dir sagen, daß du es langsam angehen mußt, damit du dich nicht selbst umbringst.« »In Ordnung, du hast es mir gesagt. Du kannst gehen.« »Ich habe ihr gleich gesagt, daß du nicht auf mich hören wirst.« »Du hast recht gehabt. Du kannst gehen.« »Mutter sagt, daß du eine sehr böse Angina hast. Du wirst dich umbringen, wenn du so weiterarbeitest.« »Irgendwann einmal. Aber wenn ich gehe, wird es in dieser Familie wenigstens ein Mitglied geben, das etwas aus seinem Leben gemacht hat. Sie werden ›Dr. Morris Kassler‹ auf meinen Grabstein schreiben. Das genügt mir.« »Was ist mit deinen Enkeln?« »Welchen Enkeln?« »Mit denen, die du nicht zu Gesicht bekommen wirst, wenn du tot bist.« »Wenn sie lesen können, werden sie ebenfalls wissen, daß ich als ›Dr. Morris Kassler‹ gestorben bin. Vielleicht werden sie dadurch angeregt, etwas aus ihrem Leben zu machen.« »Was ist mit Mutter?« »Sie wird zurechtkommen. Die ganze Anteilnahme ihrer Freundinnen ist ihr gewiß. Das hält sie für mehrere Jahre aufrecht. Dann verkauft sie das Haus, weil es zu groß ist, kauft ein kleineres und richtet es ein. Das sind fünf weitere Jahre. Sie belegt noch mehr Volkshochschulkurse, so daß sie ihre Konversation mit Namen wie Giotto und Judy Chicago spicken kann. Das könnte durchaus für den Rest ihres Lebens reichen. -1 2 -
Ich mache mir um deine Mutter keine Sorgen. Sie wird das schon schaffen.« »Gibt es nichts, was du vermissen wirst?« Morris Kassler dachte über die Frage nach, während er an der Seite seines Sohns durch die riesige Eingangstür der Uffizien schritt. »Dies«, sagte er schließlich und streckte die Arme weit nach beiden Seiten aus. »Ich werde die Inspiration vermissen. Und ich werde die sichtbaren Beweise dafür vermissen, daß die Menschen außer Bumsen und Geldverdienen mit ihrem Leben noch etwas anderes anfangen können.« Dann drehte sich Morris Kassler zur Seite und musterte seinen erfolglosen Sohn, der unbehaglich neben ihm stand. »Sy«, bemerkte er, »ich hoffe, du kannst bumsen.« Kassler folgte seinem Vater den ganzen restlichen Tag. Gemeinsam spazierten sie um die achteckigen Mauern des Baptisteriums, von einem goldenen Portal zum nächsten, während Morris Kassler seine Betrachtungen über Signor Ghibertis biblische Jahrmarktschau in Bronze und Gold niederschrieb. »Was denkst du?« holte Morris Kassler die Meinung seines Sohns über die großartigen Relieftüren ein. »Il dolore! Ah-jeee!« rief Kassler in dem Versuch, seinen Vater mit schnell wachsender Vertrautheit mit der einheimischen Sprache zu beeindrucken, enthusiastisch aus. Morris Kassler verfügte über flüchtige Kenntnisse der Umgangssprache, die er sich angeeignet hatte, als seine Infantriedivision außerhalb von Neapel stationiert gewesen war. Er blickte seinen Sohn eigentümlich an. »›Il dolore‹ bedeutet ›der Schmerz‹, und ›Ahi‹ bedeutet ›Autsch‹«, erklärte Morris Kassler beiläufig. Kassler dachte sorgsam darüber nach, besonders im Hinblick auf die Bedeutung, die derartige Worte bei sexuellen Betätigungen haben mochten. Mit einem Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte, entschied er sich schließlich, die -1 3 -
Verwendung dieser Ausdrücke von seiten seiner letzten Dame der durchschlagenden Wirkung seiner Männlichkeit zuzuschreiben. Offensichtlich, folgerte er, hatte er die arme Gina mit seiner Leidenschaft so überwältigt, daß sie es kaum noch aushalten konnte. Kassler blickte seinen Vater stolz und befriedigt an. »Ich kann bumsen«, verkündete er. »Das ist gut, Sy«, sagte Morris Kassler zu seinem Sohn. »Ich bin sicher, daß dies genau die Reaktion ist, die sich Ghiberti erhofft hat.« Und die Kasslers, padre e figlio, gingen weiter, um die örtlichen Klöster und Kirchen abzuklappern. Als er seinem Vater von Fresko zu Fresko folgte, fühlte sich Kassler weder klug noch erwachsen. Es schien genauso zu sein wie damals, als er acht Jahre alt war und sonnabends widerstrebend neben seinem Vater hertrottete, um riesige Säcke mit Scott's Rasendünger in der Gärtnerei an der Post Street oder Dichtungsringe für den Wasserhahn im Eisenwarengeschäft in der Stadt einzukaufen. Lange Stunden des Schweigens wurden nur durchbrochen von Milton Cross' Opernkommentar im Autoradio oder von Mel Allens Berichten über die Heldentaten einer Truppe von Charakteren mit Namen wie Mickey, Yogi, Allie und Moose, die Kassler sogar noch weniger interessierten als Siegfried und Siegmund. Mark Kassler, Sy Kasslers älterer Bruder, hatte es immer verstanden, sich solchen Fahrten zu entziehen, indem er Trainingsstunden bei seiner Jugendmannschaft oder Einladungen von Spielkameraden vorschützte. Das hatte Kassler jedenfalls geglaubt, bis er längst ins Jünglingsalter gekommen war und begriff, daß Marks Bestreben, den Kontakt mit seinem Vater zu meiden, auf Gegenseitigkeit beruhte. Sy Kassler erkannte, daß er die letzte Chance seines Vaters war, eine Beziehung zu einem Sohn aufzubauen. Es kam nie dazu. Sie hatten keine gemeinsamen Interessen, weder kulturell noch sportlich, und wußten sich nur wenig zu sagen. Als die Jahre vergingen und erkennbar wurde, daß es -1 4 -
zwischen Vater und Sohn zu keiner Verbundenheit kommen würde, endeten die langen Autofahrten in eisigem Schweigen. Morris Kassler verfiel in Bitterkeit, weil er einen so großen Teil seines Lebens als Erwachsener mit dem Versuch verschwendet hatte, eine Beziehung zu einem Sohn herzustellen, mit dem ihn nichts Gemeinsames verband, während der Sohn, zu dem er sich auf so überwältigende Art hingezogen fühlte, ihn mit jener ätzenden Gleichgültigkeit ablehnte, zu der nur ein Kind fähig ist. Morris Kassler ließ sich analysieren. Das Ergebnis der fünfjährigen Psychoanalyse war Morris Kasslers Entschluß, den großen Traum weiterzuverfolgen, den er schon gehabt hatte, noch bevor er die väterliche Kette von Möbelgeschäften übernahm. Er würde einen Doktortitel in Kunstgeschichte erwerben. Er würde seine Visionen vom Schöpfungsprozeß mit einem weltweiten Publikum teilen und Anerkennung als Intellektueller und Gelehrter finden. Sein Ansehen würde davon abhängen, wie gut er sein Gehirn gebrauchte und nicht, wie viele Sofas er verkaufte. Sy Kassler begann im späten Jünglingsalter Behandlung in Anspruch zu nehm en. Als er mit der Schuld nicht mehr fertig wurde, die er verspürte, weil er unfähig war, weder sich selbst noch seinem Vater jenes besondere Verwandtschaftsgefühl zu vermitteln, ebenfalls psychiatrische. Er kam schließlich nach jahrelanger Psychotherapie zu der Überzeugung, daß sie ihm nichts zu bieten hatte. Er würde sich auch weiterhin eine Beziehung zu seinem Vater wünschen. Und er würde sich auch weiterhin lausig fühlen, weil es nie dazu kommen konnte. Als er so dastand und mit seinem Vater Masaccios Impressionen von einem schlanken Adam betrachtete, der voller Qual war, die er nicht verschuldet hatte, und mit seiner korpulenten Gefährtin aus dem Paradies floh, kam es Kassler so vor, als ob sich nichts geändert hätte. »In meinen Augen«, sagte er mit dem linkischen Versuch, eine Konversation in Gang zu bringen, »sieht sie so aus, daß sie viel mehr Reizvolles zu bieten hatte als nur einen Apfel.« -1 5 -
»Vermutlich«, stimmte Morris Kassler zu, während er die nackten Gestalten studierte und Eintragungen in sein sich schnell füllendes Notizbuch machte. »Was schreibst du da alles auf?« Der Sohn unternahm einen weiteren Annäherungsversuch. »Beobachtungen«, antwortete sein Vater. »Oh«, sagte Kassler und wartete schweigend, bis sein Vater fertig war. Dann gingen sie zu einem anderen Kloster, wo Kassler die ersten Probeschritte seines Großen Abstiegs vornahm. Wie es das Schicksal fügte, betrachteten Kassler und sein Vater Fra Angelicos Querschnitt der Hölle. Sie wissen schon jede Menge Kessel mit siedenden Sündern, zahllose dunkel behaarte Tiere mit scharfen Krallen und großen Zähnen, um die Kessel umzurühren, und unterhalb des Ganzen ein gigantisches blutbespritztes, arme Sünder verschlingendes Ungeheuer, dessen Identität ich partout nicht zu entschleiern vermag. »Ich habe immer bedauert, daß ich nicht Mark bin.« Kassler unternahm den Versuch, die Probleme anzusprechen. »Tu das nicht«, sagte Morris Kassler, während er seine Notizen machte. »Du hast genug eigene Schwierigkeiten. Bedaure lieber, daß du nie bei einer Sache bleiben kannst. Seit dem College hast du dich mit Immobilien, Computern, Aktien, Werbung, Bankgeschäften, Public Relations, Enzyklopädien und als Verleger versucht - mir gehen die Freunde aus, Sy.« »Ich glaube, wenn ich Mark gewesen wäre, hätten sich die Dinge zwischen uns besser entwickelt.« Kassler ging nicht auf den Inhalt der väterlichen Rüge ein. Morris Kassler blickte von seinem Block hoch und musterte schweigend seinen Sohn. Dann wandte er sich ohne Kommentar wieder seinen Notizen zu. Kassler war nicht in der Lage, den Blick, mit dem ihn sein Vater bedacht hatte, zu interpretieren - liebevolle Nachdenklichkeit oder tiefe Abscheu -, aber als er da so in dem großen Marmorraum stand, fühlte sich Kassler von dem -1 6 -
Verlangen überwältigt, alles wiedergutzumachen, womit er seinen Vater in der Vergangenheit verletzt haben mochte. »Ich habe mich lange Zeit sehr schlecht gefühlt, weil ich dafür verantwortlich war, daß man dich aus dem Club geworfen hat«, erklärte er. »Aber ich habe nicht gewußt, daß Mr. Goffman eine Affäre mit Marjorie hatte, sonst hätte ich sie das niemals machen lassen.« »Das Mädchen war in Tränen aufgelöst«, murmelte Morris Kassler. »Erst nachdem Mr. Goffman in die Sauna gekommen war. Bevor Mr. Goffman kam, war sie wunschlos glücklich.« Morris Kassler knurrte etwas und schrieb. »Wie auch immer«, fuhr Kassler fort, »wenn ich gewußt hätte, daß Mr. Goffman sie bumst, wäre ich nie auf sie eingegangen.« »Goffman hat dir gesagt, daß er sie bumst«, sagte Kassler kurz und kritzelte weiter. »Hat er?« Kassler verarbeitete die Information. »Bis ins kleinste.« »Ich habe mich nie viel um all die Männer gekümmert, die mit einem Suspensorium durch die Gegend laufen, mit ihren Handtüchern wedeln und darüber reden, wie oft sie ihre Frauen betrogen haben«, gestand Kassler. »Ich nehme an, ich habe nicht zugehört.« »Nein, wohl nicht.« »Wann hat er es mir erzählt?« »Am selben Tag in der Umkleidekabine - eine Stunde lang.« »Ich hatte die Angewohnheit, bei all dem Zeug, was die Männer in der Umkleidekabine redeten, nicht zuzuhören.« »Ja«, sagte Morris Kassler trocken, »diese Angewohnheit hattest du. Gehen wir weiter. Ich bin hier fertig.« Und Morris Kassler steuerte auf den Ausgang zu, verdrießlich gefolgt von seinem Sohn. Kassler war sich nicht sicher, welche Reaktion er sich eigentlich von seinem Vater gewünscht hatte - die Bestätigung, -1 7 -
daß es keine Rolle mehr spielte, daß alles vergeben und vergessen war, oder vielleicht auch ein gemeinsames gutmütiges Lachen darüber, wie einfältig dieser alte, fette Goffman ausgesehen hatte, als er mitten in der Nacht nackt in die Sauna gekommen war, bereits voll erigiert in Erwartung des süßen jungen Mädchens, das nicht genug Verstand besaß, sich daran zu erinnern, welcher Mann sie in welcher Nacht haben sollte. Statt dessen spürte Kas sler, daß er mit der Erinnerung an diese Angelegenheit erreicht hatte, den Abgrund zu vertiefen, der ihn von seinem Vater trennte. Den Rest des Nachmittags zog Kassler mit seinem Vater durch Florenz, vorbei an Cosmio Medici, rittlings auf seinem Granitroß, vorbei an der Platte, die Savonarolas Scheiterhaufen markiert, vorbei an den niemals endenden Karmesin- und Blattgoldwiedergaben unseres Erbsers, dem authentischen, fortlaufenden - von der Kindheit bis zur Verklärung - Tagebuch eines Individuums, porträtiert von Menschen, die ihn am allerwenigsten oder überhaupt nicht gekannt hatten. Und während sie so dahinwanderten, mißbilligte der Vater die übertriebene Glorifizierung Michelangelos und bemerkte bisher nicht festgestellte Mängel bei den Werken Leonardos und Cellinis, während Kassler immer wieder vergeblich versuchte, ein Thema von allgemeinem Interesse zu finden, das als Ausgangspunkt für eine Verbesserung ihres Verhältnisses dienen mochte. »Es gibt nicht viele Dinge, über die wir uns unterhalten können, nicht wahr?« stellte er schließlich fest, als sie durch die Laurenziana schlenderten und die Schmähschriften Vergils und Dantes angafften. »Nicht eigentlich«, stimmte Morris Kassler zu. Also stellte Kassler seine Versuche ein und wartete bis später, um das Problem dann erneut anzusprechen. »Wie viele Male habe ich dich um eine Schachpartie gebeten«, sagte Kassler, als er mit seinem Vater beim Abendessen in einem Straßencafé saß. »Wie kommt es, daß du nie mit mir spielen wolltest?« -1 8 -
»Ich habe keine Geduld für Schach«, erwiderte Morris Kassler, während er auf seinem Löffel Spaghetti aufrollte. »Wir hätten Blitzschach spielen können - eine Minute pro Zug.« »Das ist immer noch zu langsam.« »Dreißig Sekunden?« Kassler versuchte, die Dinge aufzuhellen. »Schach ist nicht gut für gesunde Kinder. Es ist etwas für Kinder mit Akne oder Asthma, die nichts anderes machen können. Du hättest draußen in der Sonne Sport treiben sollen.« »Wie Mark?« »Wie ein normales, gesundes Kind. Du bist zu ernsthaft. Alles, was du getan hast, mußte immer irgend eine tiefere Bedeutung haben. Zu deinem eigenen Guten solltest du lernen, wie man Spaß hat...« Morris Kassler schob eine Gabelvoll Nudeln in den Mund und schluckte sie hinunter. »Spaß am Spielen...« Er griff nach dem Chianti und füllte sein Glas. »Spaß am Bumsen.« »Wie Mark.« Morris Kassler spülte die Spaghetti mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter und starrte ins Leere. »Mark lebt mit Zilpah in Pittsburgh«, erinnerte er sich mißvergnügt. »Ich mag Zilpah.« »Mark war schon zwei Jahre mit Zilpah verheiratet, bevor wir überhaupt etwas von Zilpah hörten.« »Trotzdem ist sie reizend. Zilpah und Mark lieben einander sehr.« »Woher weißt du das?« fragte Morris Kassler kauend. »Du hast seit Jahren nicht mehr mit Mark gesprochen.« »Wir kommen nicht gut miteinander aus«, sinnierte Kassler. -1 9 -
»Pittsburgh«, sagte Morris Kassler angewidert. »Es gibt Dinge, die man ruhen lassen muß, Vater«, sagte Kassler. Vergangen ist vergangen.« »Ich lasse die Vergangenheit ruhen.« »Du schickst mir noch immer all diese Schuhe. Ich habe dich hundertmal gebeten, Vater. Du mußt wirklich damit aufhören. Ich habe in meinem Schrank vierzig Paar Schuhe stehen.« »Du trägst Turnschuhe. Würde es dir wehtun, richtige Schuhe zu tragen?« »Ich mag Turnschuhe. Sie sind bequem.« Ein langes Schweigen trat ein. Morris Kassler blickte ausdruckslos zum florentinischen Himmel empor und erinnerte sich an andere Geschehnisse. Kassler versuchte es erneut. »Die Post gibt die Kartons nicht bei mir zu Hause ab, weil ich nicht da bin, um den Empfang zu bestätigen. Ich verbringe jeden Samstagmorgen damit, mich beim Postamt anzustellen, um Schuhe abzuholen.« »Als ich heranwuchs, besaß ich nie ein gutes Paar Schuhe«, erzählte Morris Kassler dem Himmel. Dann sah er seinen Sohn an. »Ich war fünfundzwanzig, als ich endlich anständige Schuhe tragen konnte. Schuhe sagen etwas darüber aus, wer du bist, darüber, wie du aufgewachsen bist.« »Ich bin mir nicht sicher, ob das noch so ist, Vater.« Morris Kassler betrachtete über den Tisch hinweg den angespannten Ausdruck im Gesicht seines Sohns. »Du bist zu verdammt ernsthaft, Sy«, stellte er fest und nahm einen weiteren kräftigen Schluck Wein zu sich. »Ich bin nun mal ein ernsthafter Menschentyp, Vater. Das ist alles. Es geht schon in Ordnung.« »Wenn du«, fuhr Morris Kassler fort, als er mit dem Trinken fertig war, »dir die Mühe gegeben hättest, all den Männern in der Umkleidekabine, die du so sehr verabscheut hast, zuzuhören, statt in die unbekannte Ferne zu starren und über das Universum nachzusinnen, würdest du wissen, was es heißt, Spaß zu haben.« -2 0 -
Morris Kassler wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Du würdest auch mit den Versuchen aufhören, jede Frau, mit der du schläfst zu deiner Ehefrau zu machen«, fuhr er fort. »Eines Tages nimmt eine von ihnen deinen Antrag an. Was dann?« »Wie kommst du darauf, daß ich jede Frau, mit der ich schlafe, heiraten will?« fragte Kassler, mehr aus Neugier als aus Streitlust. »Weißt du eigentlich, wie viele verschiedene Mädchen du in den letzten zehn Jahren mit nach Hause gebracht hast, um sie der Familie vorzustellen? Glaubst du, wir wüßten nicht, was du während des Abendessens mit deinen Händen unter dem Tisch machst? Glaubst du, deine Mutter wüßte nicht, was Samen ist, wenn sie ihn am nächsten Morgen vom Sofa wischt?« »Du hättest etwas sagen sollen«, antwortete Kassler. »Ja, das hätte ich wohl tun sollen«, stimmte Kassler zu und machte sich dann auf, mit seinem Sohn am Ufer des Arno einen Abendspaziergang zu unternehmen. Rötliches Licht sickerte allmählich aus dem gelben Himmel, als sich die Sonne anschickte, hinter den braunen Kuppeln und den mit orangefarbenen Ziegeln eingedeckten Dächern zu versinken, die den florentinischen Horizont überspannten. »Mutter hat recht, weißt du«, sagte Kassler. »Du kannst nicht eine Ladenkette mit dreihundert Geschäften führen und gleichzeitig an einem Doktortitel arbeiten. Wenn du Angina hast, bringt dich das um.« »Ich werde mein Leben nicht ändern, Sy, nicht für deine Mutter, nicht für dich, nicht für sonst jemanden«, sagte Morris Kassler nachdrücklich und wischte sich den Schweiß von den Augenbrauen, den der schwüle Abend, der Spaziergang und das üppige Essen hervorgebracht hatten. »Also brauchen wir gar nicht darüber reden.« »Wie kommt es, daß wir nicht miteinander sprechen können?« stieß Kassler hervor. »Was stimmt bei uns nicht?« »Ich weiß es nicht. Belassen wir es dabei.«
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»Ich will es nicht dabei belassen. Wenn du dich schon umbringst, dann gib mir vorher wenigstens ein paar Antworten. Sag mir, zum Teufel, warum wir nicht miteinander reden können. Was ist der Grund? Kannst du mich nicht leiden? Hältst du mich für eine schreckliche Person?« »Ich glaube nicht, daß diese Unterhaltung für uns gut ist.« Morris Kassler begann die Geduld zu verlieren. »Warum? Warum nicht? Warum können wir nicht mal darüber reden?« »Es ist kein gutes Thema. Also laß es, Sy.« »Ich werde es nicht lassen, bis ich ein paar Antworten habe. Antworte mir. Was ist das Problem zwischen uns beiden?« Morris Kasslers Gesicht begann sich vor Zorn zu röten, und er beschleunigte seine Schritte, so daß er vor seinem Sohn herging. Kassler ging ebenfalls schneller und schloß wieder zu ihm auf. »Ich will eine Antwort, Vater.« »Finde es selbst heraus. Du bist klug.« »Ich hasse es, klug zu sein! Ich hasse es auf den Tod. Immer wieder bekomme ich zu hören, wie klug ich bin. Ich will dir was sagen. Ich glaube gar nicht, daß ich so klug bin. Bei vielen Dingen fühle ich mich verdammt einfältig!« Morris Kassler sah seinen Sohn an und hetzte weiter, schwer atmend und schäumend. Kassler blieb, Schritt für Schritt, neben seinem Vater. »Ich habe es versucht, Vater. Ich habe dich begleitet, wohin du auch wolltest. Ich habe mir deine Predigten angehört. Ich habe deine Bestrafungen und deinen Zorn hingenommen. Ich habe versucht, das zu tun, was du von mir wolltest. Was hätte ich sonst noch tun sollen?« »Ich sagte, daß ich nicht darüber reden will«, schnappte Morris Kassler. »Warum?« »Sy, verdammt noch mal, mach, daß du wegkommst.« »Warum? Weil ich nicht Mark bin? Weil ich keinen Effetball werfen kann und beim Basketball eine Flasche bin?« Morris Kassler ging in den Dauerlauf über. Kassler zögerte und sprintete dann vor seinen Vater. Er packte ihn an den -2 2 -
Schultern und hielt ihn ganz fest. Morris Kassler explodierte. »Sei verdammt, Sy! Verschwinde!« »Ich gehe nicht, bis du mit mir redest.« Morris Kassler ruderte mit den Armen, um sich aus dem Griff seines Sohns zu befreien. »Rede mit mir, verdammt!« Kassler war den Tränen nahe. »Ich will nicht mit dir reden, du Schweinehund! Ich habe versucht, mit dir zu reden! Seit du zwei warst, habe ich versucht, mit dir zu reden! Ich habe versucht, mit dir zu reden, wenn wir mit dem Auto weggefahren sind. Ich habe versucht, am Abendbrottisch mit dir zu reden. Ich habe versucht, mit dir zu reden, wenn ich dich ins Bett brachte. Ich habe dich zu Ballspielen mitgenommen, damit wir reden konnten. Ich habe dich mit zum Angeln genommen, damit wir reden konnten. Ich habe dich mit in den Club genommen, damit wir reden konnten. Du hast mich zu einem gottverdammten Narren gemacht, weil ich mit dir reden wollte!« »Das habe ich nicht gewußt!« sagte Kassler, während ihm die Tränen in die Augen stießen. »Ich habe geglaubt, daß du nur nett zu mir warst, weil Mark nicht mitkommen wollte. Ich habe Baseball, Angeln und den Club gehaßt!« »Du hast nichts gesagt! Du hast dich immer wieder mitnehmen lassen. Ich habe ständig versucht, mit dir zu reden, und mich dabei zu einem gottverdammten Narren gemacht.« »Ich hatte Angst vor dir, Vater. Ich habe nicht gewollt, daß du wütend wirst. Das ist alles. Du kannst jetzt mit mir reden. Ich werde zuhören.« Morris Kassler, außer sich vor Zorn, betrachtete schweigend die Tränen seines Sohns, und dann trat ein eigenartiger Ausdruck in seine Augen. Es war ein Ausdruck des absoluten Entsetzens, eines Entsetzens über den mörderischen Schmerz, der ihn gepackt hatte und ihm den Atem abschnitt. Er griff sich an den Hals und dann an die Brust. »Du kannst jetzt mit mir reden«, wiederholte Sy Kassler ein zweites Mal, bevor er begriff, was mit seinem Vater geschah. Morris Kassler sank in die Knie, dann fiel er auf den Boden. -2 3 -
Kassler kniete neben seinem Vater nieder und drehte ihn hastig um. Er blickte in Morris Kasslers entsetzte Augen und erstarrte. »Sy?« keuchte sein Vater. »Vater?« antwortete Kassler verzweifelt. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was kann ich tun? Sag mir, was ich tun soll. Hast du eine Arznei? Soll ich Hilfe holen? Was soll ich tun?« »Sy...« »Vater, bitte. Rede mit mir. Ich werde zuhören. Ich schwöre es dir.« Morris Kassler sah seinen Sohn, der neben ihm schluchzte, mit leerem Blick an. Er griff nach Kasslers Arm und hielt ihn fest. »Ich habe dich mit zum Angeln genommen...«, krächzte er. »Ja, das hast du getan, Vater. Die Arznei? Hast du die Arznei in deiner Tasche?« »Ich habe dich mit zum Angeln genommen... Hat dir das Angeln gefallen?« »Es war großartig. Vater, laß mich einen Arzt holen.« Morris Kassler umklammerte den Arm seines Sohns noch fester. »Die Wahrheit, Sy... Das Angeln... Hat dir das Angeln gefallen...?« Kassler blickte in die Augen seines Vaters, die ihn anflehten, ganz aufrichtig zu sein. »Ich habe es gehaßt, Vater. Die Würmer. Sie lebten. Sie auf den Haken zu spießen, verursachte mir Brechreiz. Aber jetzt laß mich Hilfe holen. Bitte.« »Was war mit den Baseballspielen...? Haben dir die gefallen?« »Vater, wirklich! Wo ist deine Arznei?« Und Kassler versuchte, mit der freien Hand in die Taschen seines Vaters zu greifen. Schlüssel und Kleingeld klimperten auf dem Bürgersteig. »Baseball...?« fragte Morris Kassler. »Sag mir...« -2 4 -
»Baseball war in Ordnung, Vater. Ich habe nur die New York Yankees gehaßt. Wenn ich sie sah, hätte ich am liebsten gekotzt, weil sie so gut waren. Also, wo ist deine Arznei? Bitte sag es mir.« Morris Kassler bohrte die Fingernägel in den Arm seines Sohns. »Hast du die Schuhe...?« begann er zu fragen, kam aber nicht zum Ende, weil sich sein Blick durch den quälenden Schmerz hindurch auf Kasslers abgetragene Turnschuhe richtet«. Das war mehr, als Morris Kassler ertragen konnte, und so begann neuer Zorn in seinem Herzen zu toben. Erfolglos bemühte er sich, etwas zu sagen. Dann begann ein Lächeln seine Mundwinkel zu umspielen. »Fahr' zur Hölle!« Das waren die letzten launigen Worte Morris Kasslers an seinen Sohn. Er sprach sie so laut und klar wie die Glocke des Campanile. Dann starb er. Kassler zuckte voller Schrecken zurück und blickte in die weit aufgerissenen Augen seines Vaters, die ihn anstarrten, vom Tod überschattet. Mit einer gewaltigen Anstrengung riß er sich von dem eisigen Zauber los, den der leblose Blick seines Vaters ausstrahlte, und unternahm den vergeblichen Versuch, ihn wiederzubeleben, indem er mit der Faust auf seines Vaters Brust hämmerte. »Ah-jeee!« brüllte Kassler schmerzgequält, als er wild auf die Brust seines Vaters trommelte, »Ah-jeeeeeeee...!« Kasslers Schreie gellten durch die roserfarbige RenaissanceStadt.
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3 Kassler war überzeugt davon, daß er seinen Vater getötet hatte. Natürlich erzählte er niemandem etwas von seiner Überzeugung - und auch nichts vom letzten Dialog zwischen ihm und seinem Vater. Was seine Mutter, Mark, Freunde und Verwandte anging, war Morris Kassler einfach eines Abends während eines Spaziergangs am Ufer des Arno tot umgefallen, bedingt durch einen Herzanfall, Überarbeitung, schwüles Wetter und zuviel Nudeln. Mark Kassler tauchte kurz auf, ohne Zilpah, und sobald das Begräbnis vorüber war, verschwand er wieder mit dem nächsten Flugzeug und überließ es Kassler, seine Mutter zu trösten und die geschäftlichen Angelegenheiten des Vaters zu regeln, die, wie bald offensichtlich wurde, katastrophal waren. Vier Jahre hastiger Entscheidungen, getroffen zwischen Vorlesungen und Examensarbeiten, hatten das Geschäft schwer belastet. Als Kassler die Schulden schließlich zur großen Erleichterung mehrerer Dutzend Finanzinstitute abgetragen hatte, blieb nicht mehr viel übrig. Wie sich herausstellte, hatte sich Morris Kassler, was seine Frau betraf, geirrt. Norma Kasslers Leben hatte ausschließlich aus der Beziehung zu ihrem Mann bestanden. Ihre Freundinnen waren, trotz aller Anteilnahme, kein Ersatz. Das Haus wurde nicht verkauft. Es war alles, was Norma Kassler noch behalten hatte, um die Verbindung zu der zweiunddreißigjährigen Ehe mit Morris Kassler aufrechtzuerhalten. Und die Volkshochschulkurse waren jetzt, da es nicht mehr galt, Morris zu beeindrucken, von keinerlei Interesse für sie. Daher starb, noch bevor das Jahr vorüber war, Norma Kassler ebenfalls. »Mutter ist heute morgen gestorben«, informierte Kassler seinen Bruder telefonisch, nachdem es ihm am Nachmittag endlich gelungen war, ihn in Pittsburgh zu erreichen. »Es tut mir leid, das hören zu müssen«, sagte Mark Kassler. »Wie geht es dir?«
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»Gut soweit. Ich möchte das Begräbnis gerne morgen stattfinden lassen. Damit alles schnell vorbei ist, verstehst du? Du kommst?« »Nein, ich glaube nicht. Ich werde Blumen oder so etwas schicken.« »Für wen? Alle sind tot.« »Du hast wohl recht. Nun, wenn du irgendwas brauchst, ruf mich an, Sy, ja?« »Sicher, sicher.« Ein verlegenes Schweigen trat ein. »Es tut mir leid, von Mutters Tod hören zu müssen«, wiederholte Mark Kassler. »Mir auch. Sie war in Ordnung, wirklich. Ich hatte sie gerne.« »Wir sprechen uns noch, einverstanden?« »Ja, wir sprechen uns noch«, sagte Kassler, und das war der letzte Kontakt, den er mit seinem Bruder hatte. Im nächsten Monat schickte Mark Kassler den Scheck über dreißigtausend Dollar, der seine Hälfte des Erbes war, unmittelbar an den Anwalt zurück, der ihn aufgegeben hatte. Der Scheck war giriert zugunsten Sy Kasslers und mit einer hastig hingekritzelten Begleitnotiz versehen: »Vielen Dank, aber kein Dankeschön. Viel Glück.« Als Kassler den Scheck seines Bruders vom Testamentsvollstrecker erhielt, versuchte er, Mark anzurufen, aber die Nummer war abgemeldet worden. Briefe, die er schickte, kamen zurück - ›Empfänger unbekannt verzogen‹. Mark Kassler verschwand für immer aus Kasslers Leben. Das erste, was Kassler mit seinem Erbe anfing, war, dem alten Club seines Vaters zehntausend Dollar zu schicken, wobei er fälschlicherweise behauptete, daß es so in Morris Kasslers Testament gestanden hätte. Der Vorstand hielt eine Sondersitzung ab und nahm Morris Kassler posthum wieder als ehrbares Mitglied auf. Dies gestattete es Sy Kassler, trotz des vehementen Einspruchs Sid Goffmans, eine einjährige Probemitgliedschaft in Anspruch zu nehm en Fast augenblicklich fing Kassler damit an, einen großen Teil seiner Zeit im Fitneß-Center zu verbringen, sich von seiner Korpulenz zu befreien und in -2 7 -
seinem Stützkorsett im Umkleideraum herumzulaufen, wo er aufmerksam den Unterhaltungen der Männer lauschte und, wenn es angebracht erschien, lauthals lachte. Nach sechs Monaten war Kasser so in Schuß und fit wie nie zuvor in seinem Leben und konnte beim Rückenklatschen, Handtuchwirbeln und Suspensoriumflitschen mit den besten der Männer mittleren Alters mithalten. Dies war, wie sich zeigte, nur der erste von vielen Schritten im selbst entworfenen Programn, sein Leben zu ändern. Kassler ließ sich einen dunklen, dichten Bart stehen. Er überzeugte einen örtlichen Optometristen davon, daß er wegen seines geringfügigen Astigmatismus Augengläser benötigte, und legte sich eine goldgeränderte Brille zu, die den Bart erst richtig zur Geltung kommen ließ. Er belegte monatelange Intensivkurse an Tennis- und Skischulen, bis er sich als passabel einstufen konnte. Er gab mehr als tausend Dollar für smarte kosmopolitische Kleidung bei Brooks Brothers und Saks Fifth Avenue aus. Er kündigte seine Abonnements für The New York Review of Books und The Village Voice und ersetzte sie durch Playboy und Sports Illustrated. Dann bekam er einen Nervenzusammenbruch. Was Nervenzusammenbrüche angeht, so war der von Kassler nicht sonderlich spektakulär. An einem schönen Spätfrühlingsabend des Jahres 1969 packte er seine kosmopolitischen Anzüge und seine Magazine ein und nahm sich ein Zimmer beim nahegelegenen CVJM. Dort schloß er sich in seiner winzigen Kammer ein und nahm den Großen Kampf mit seinem ureigenen Schöpfer auf, dem er den Namen Dr. Frederic Peabody gab und den er, wie es scheint, persönlich für seine Probleme verantwortlich machte, von denen es jetzt viele gab. Kassler hatte keine Freunde, keine Frauen, keine Arbeit, keine beruflichen Ambitionen und hatte sich niemals Mühe gegeben, den Verlust seiner Eltern zu betrauern. -2 8 -
Das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Dr. Peabody war ein kurzer, aber keineswegs unergiebiger Aufenthalt in der psychiatrischen Abteilung des Bellevue-Hospitals. Während Kassler allein in seinem Raum im CVJM gewesen war, hatten er und Dr. Peabody mehrere lange und laute Nächte miteinander verbracht. Als er seine Tür eines Morgens öffnete, um zum Zähneputzen zu gehen, wurde er von zwei Männern in den sprichwörtlichen weißen Jacken begrüßt, die offensichtlich schon seit einiger Zeit dort warteten. »Hahaha!« scherzte Kassler lautstark mit den Männern und schlug mit seinem Handtuch nach ihren Testikeln. »Hahaha!« Die beiden Männer packten Kassler an seinem Suspensorium und überwältigten ihn sehr schnell. »Ich wette, ihr Burschen wißt nicht, wie ihr den unangenehmen Fischgeruch wieder loswerden sollt, wenn ihr mit einer Frau schlaft, die ihre Tage hat.« Kassler hielt es für angebracht, einige der Informationen weiterzugeben, die er kürzlich durch den Playboy Advisor erworben hatte, während ihn seine zwei neuen Kumpel den langen Gang II. Teil entlangführten, vorbei an der gaffenden Menge, und dann im rückwärtigen Teil des wartenden Ambulanzwagens unterbrachten. »Nein, wissen wir nicht«, sagte einer der großen schwarzen Pfleger, während er Kassler auf der Liege festschnallte. »Was empfehlen Sie uns?« fragte der andere. »Es gibt da dieses spezielle Bademittel, das genau wie Marmelade riecht...« Kasslers Worte gingen unter im lauten Sirenengeheul, als der Ambulanzwagen versuchte, durch den Verkehr von Manhattan zu kommen. Während der nächsten fünf Tage weinte sich Kassler wegen des Verlusts von Vater und Mutter die Seele aus dem Leib. Dann, in der Mitte seines zehntägigen Aufenthalts, kam ihm die große Erkenntnis, die sein Leben in Ordnung brachte. Die Plötzlichkeit der Entdeckung überraschte selbst Kassler. Er hatte auf einer Bank des winzigen Innenhofs gesessen, wo die Patienten jeden Tag für fünfzehn Minuten die -2 9 -
Sonnenstrahlen aufnehmen konnten. Als er aufblickte, starrten ihn zwei blaue Augen aus dem grauen Gesicht eines alten, geistesgestörten Patienten an, der vor ihm stand. Der Mann schwankte unsicher hin und her, als er Kasslers bärtiges Gesicht studierte. Kassler lächelte den runzligen Mann an und blinzelte ihm zu. Der Mann lächelte warmherzig und blinzelte zurück. Dann nickten sie einander zu, wie um zu erkennen zu geben, daß sie den Schmerz des anderen verstanden. Das beiderseitige Lächeln verflüchtigte sich, und der Mann schleppte sich mühsam davon, während Kassler bewegungslos auf der sonnengebleichten Bank sitzenblieb und über die Erkenntnis nachsann, die sich in seinem Gehirn festgesetzt hatte. Kassler erkannte plötzlich, daß er seinen Mitmenschen eine tiefsitzende, vorbehaltlose Zuneigung entgegenbrachte. Er dachte, daß es schön sein würde, sollte er jemals seine eigenen Probleme lösen, sein Leben damit zu verbringen, alles zu tun, um Leuten zu helfen, die sich elend fühlten. So deprimiert, zerrüttet, verwirrt und verzweifelt er auch war Kassler wußte, daß er Psychiater werden mußte.
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II. Teil Einsteins Lösung 1 In einer pechschwarzen Novembernacht des Jahres 1970 hatte Leo Szlyck den ersten einer bizarren Folge von Träumen, die schließlich dazu führen sollten, daß er seine Position als Leiter der Physikalischen Fakultät am Massachusetts Institute of Technology aufgab und sich nahezu ausschließlich damit beschäftigte, Kassler in den Wahnsinn zu treiben. Aus Gründen, die zu gegebener Zeit offensichtlich werden, war Leo Szlyck auch der Todfeind Sam Zelazos, schon seit jener Zeit, während der beide in ihrer rumänischen Heimat Studenten waren. Natürlich hatte die absolute Mißachtung, die sich Zelazo und Szlyck entgegenbrachten, sehr wenig mit Szlycks Kampagne gegen Kassler zu tun. Das war etwas ganz anderes, viel später. Ich will ganz am Anfang beginnen, der, wie sich herausstellt, nicht im Jahr 1970, sondern im Jahr 1960 liegt. Damals schon entschied sich Dr. Szlyck, gegen die vorherrschende Ansicht anzugehen, daß Albert Einstein die letzten dreißig Jahre seines Lebens bei der vergeblichen Suche nach einer Allgemeinen Feldtheorie verschwendet hatte. Die Allgemeine Feldtheorie verfolgt den Zweck, alles, was sich im Universum bewegt, angefangen bei den kleinsten Subpartikeln des Atoms bis hin zu den großen Himmelskörpern, auf eine Gleichung zurückzuführen. Dies ist sehr wichtig für Menschen, die sich unbehaglich fühlen, wenn sie etwas glauben sollen, was sich nicht in Algebra ausdrücken läßt. Diese Sorte von Menschen besteht darauf, daß sich alles auf eine Kette von Buchstaben und Ziffern zurückführen läßt. Gott. Der Mensch. Nehmen Sie, was Sie wollen. Der Teufel ist y4+my2-x4+nx2=0. Das ist die Wahrheit. Schlagen Sie es nach. -3 1 -
Was Einstein angeht... Nun, die meisten Menschen sind sich darüber einig, daß er in bezug auf die Allgemeine Feldtheorie nicht einmal in die Nähe einer Lösung kam. Leo Szlyck, der sich damit brüstete, Einsteins Werk besser zu kennen als jeder andere lebende Mensch, akzeptierte nicht für eine Minute, daß Einstein gescheitert war. Dr. Szlyck war davon überzeugt, daß Einstein sein großes allgemeines Prinzip nicht nur gefunden, sondern gleichzeitig auch erkannt hatte, wie entsetzlich die Konsequenzen seiner Entdeckung waren, so daß er sich schwor, die Lösung mit ins Grab zu nehmen. Da Leo Szlyck entsetzliche Konsequenzen mit Wohlgefallen betrachtete, wurde er besessen davon, Einsteins Lösung zu exhumieren. Die Kulmination des Nachdenkens von seiten des großen rumänischamerikanischen Physikers Leo Szlyck während der folgenden zehn Jahre waren die Träume, die, wie ich schon sagte, 1970 begannen. Sie sahen ungefähr so aus: Szlyck fährt mit dem Zug. Ihm gegenüber sitzt natürlich Albert Einstein. Einstein jongliert mit Apfelsinen und diskutiert die Beziehung dieser Kugeln einerseits zu dem Sitz, den er einnimmt, und andererseits zu der Landschaft, die hinter dem Fenster vorbeihuscht. Szlyck erkennt, daß er mit Einsteins metaphorischem Zug fährt, den dieser benutzt, um die Relativität zu erklären. Szlyck drückt sich gegen das Fenster und beobachtet die vorbeiziehende bäuerliche Landschaft. Er blickt nach vorne und sieht einen Irrgarten von Eisenbahnschienen. »Woher weiß der Zug, wohin er fahren muß?« fragt Szlyck Einstein. »Oh.« Einstein lächelt und hört auf zu jonglieren. »Das ist ganz einfach. Passen Sie auf, ich zeige es Ihnen.« Einstein greift in die Tasche und holt ein großes Knäuel von Drähten hervor. »Sehen Sie mir aufmerksam zu, Leo«, sagt er. »Zuerst nehmen Sie diesen roten Draht und stellen nach sechs Zentimetern eine Verbindung zu dem blauen her. Dann...« -3 2 -
Aber der Zug fährt in einen Bahnhof ein, bevor Einstein fortfahren kann. »Ich bin da.« Einstein lächelt. »Tut mir leid. Hier, nehmen Sie die Drähte. Es ist wirklich ganz einfach.« Und Einstein gibt Leo Szlyck das Drahtknäuel. Dann nimmt er eine Strohaktentasche aus dem obersten Gepäcknetz, greift nach seinem Schirm und läßt Szlyck mit einem Schoß voller verschlungener, vielfarbiger Drähte allein. Der Traum endet. Szlyck wachte auf. Es war Morgen. Als er sich rasierte, lächelte er über den Traum, zog sich an, ging zur Arbeit und dachte nicht mehr daran. In der nächsten Woche kehrte der Traum wieder. Derselbe Zug, derselbe Bestimmungsort, ein ihm gegenüber sitzender, mit Apfelsinen jonglierender Einstein, der Irrgarten von Eisenbahnschienen, dann die Drähte. Nur geht der Traum diesmal, nachdem Einstein ausgestiegen ist, weiter. »Aha«, denkt Szlyck im Traum, »dieser Traum hat noch mehr zu bieten.« Szlyck blickt auf die Drähte in seinem Schoß hinunter. »In Ordnung, zuerst der rote Draht, dann wird nach sechs Zentimetern dieser blaue verbunden. Und jetzt? Sehen wir mal...« Szlyck macht sich im Traum seine Gedanken. Er findet sich auf einem Pfad wieder, einem ganz schwach beleuchteten Pfad in einem dunklen Netz von Drähten und anderen Pfaden. Und er befindet sich auch in dem Zug. In dem Traum ist er sich bewußt, daß er sich in dem Zug befindet, daß er einen Pfad entlangwandert, daß er träumt - alles gleichzeitig. Er kommt an eine Kreuzung mit einem anderen, gelben Pfad. »Ja«, sagt er zu sich selbst und blickt auf die Drähte in seinem Schoß hinab. »Der gelbe gehört hierhin.« Als er den Draht befestigte, wachte Szlyck auf. Kalte Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Vor ihm war eine transparente Gestalt; menschlich offenbar, aber er konnte es nicht genau sagen. Die Gestalt schien verblüfft zu sein, verwirrt, als ob sie sich plötzlich an einem -3 3 -
fremden Ort wiedergefunden hätte und nicht wüßte, wie sie dort hingekommen war. Dann löste sich die Gestalt langsam auf. Szlyck saß kerzengerade im Bett. Er fing an zu zittern, stand deshalb auf und ging ins Wohnzimmer, wo er eine kleine Tischlampe anknipste und sich einen Brandy eingoß. Seine Hände ließen die Flasche gegen den Rand des Glases klirren. Szlyck saß für den Rest der Nacht in dem großen Polstersessel vor dem Kamin, zu angstvoll, um sich wieder dem Schlaf zu überlassen. Er wußte, daß das, was sich in seinem Schlafzimmer abgespielt hatte, real war, was auch immer real unter solchen Umständen bedeuten mochte, und er fürchtete sich davor, nochmals in Berührung damit zu kommen. Diese Furcht hielt nicht lange an, verwandelte sich vielmehr bald in Neugier und dann in Faszination. Szlyck begann sich zu fragen, ob er sich dazu zwingen konnte, denselben Traum wieder zu träumen. Er konnte es. Wenn er sich beim Einschlafen auf die Zugphantasie konzentrierte, konnte er den Traum wiederkehren lassen. Aber die Gestalt kehrte niemals zurück. Szlyck konnte den Zugtraum anfangen lassen. Er konnte sich auf den Pfad begeben. Er konnte bis zu dem gelben Draht vorstoßen und noch weiter, aber die Gestalt kam nie zurück. Szlyck überzeugte sich selbst davon, daß er eine Halluzination gehabt hatte. Nach dem morgendlichen Erwachen pflegte Szlyck monatelang die Verbindung, die er während des Traums in der vergangenen Nacht gelernt hatte, auf einem großen Blatt Papier aufzuzeichnen. Dann änderten sich die Träume. Zuerst fand Szlyck heraus, daß es nicht länger notwendig war, den Traum ganz am Anfang beginnen zu lassen. Jede Nacht konnte er dort weitermachen, wo er in der Nacht zuvor aufgehört hatte. Dann stellte er fest, daß längs der Pfade Signalmasten standen. Nicht länger befestigte er nur Drähte. Die Signalmasten bezeichneten Speicher, Widerstände, Transistoren, Umwandler - eine weitgespannte Anordnung von elektronischen Transformatoren. So fing Szlyck an zu bauen. Er nahm Urlaub beim M.I.T., und das Wohnzimmer seines Hauses wurde in eine elektronische Werkstatt verwandelt. -3 4 -
Szlyck wurde besessen. Die ganze Nacht träumte er. Den ganzen Morgen machte er Zeichnungen auf dem Papier. Den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend baute er. Stück für Stück hatte Szlyck das Puzzle in seinem Kopf zusammengefügt. Ungefähr so sah es aus: Einstein kam in dem Traum wegen der relativistischen Natur des Projekts vor, meinte Szlyck, und weil Einsteins Werk zu einem unbewußten Teil seiner selbst geworden war. So sahen die Fallgruben seiner eigenen Genialität aus, folgerte Szlyck. Tief vergraben in der Ganzheit von Einsteins Werk lag die Lösung der Allgemeinen Feldtheorie - die eine Gleichung, die alle Phänomene erklären würde, atomar, kosmisch und menschlich. Szlyck folgerte, daß er sie in seinen Träumen fand. Die Lösung ruhte in dem, was auch immer er da konstruierte. Szlyck zweifelte nicht daran. Kurz nachdem Szlyck mit seiner Konstruktion begonnen hatte, wurde ihm klar, daß er einen kunstvollen Computer baute. Und dann schließlich, in einer späten Nacht, begriff Szlyck, was der Computer war. Die Pfade in seinem Traum, folgerte Szlyck, befanden sich buchstäblich in seinem Gehirn. Er glaubte mit aller Inbrunst daran, daß er jede Nacht in seinen Träumen die Schaltkreise seines eigenen Bewußtseins entlangschritt, von Neuron zu Neuron, von Axon zu Axon, von Synapse zu Synapse. Leo Szlyck war absolut überzeugt davon, daß er ein exaktes Ebenbild des menschlichen Gehirns konstruierte.
2 Der Computer war im Juni des Jahres 1972 fertiggestellt nachdem Szlyck zwei leichtere Nervenzusammenbrüche hinter sich hatte. Diese wochenendlichen Erholungen von der geistigen Gesundheit, so verständlich sie in Anbetracht der
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Aufgabe, die sich Szlyck gestellt hatte, sein mochten, waren keineswegs seine ersten Exkursionen in andere Gefilde. Seit Jahren schon war Leo Szlyck periodisch in Welten abgeschweift, wo er sich zum Beispiel als Minos an den Toren sah, der die letztendliche Verantwortung dafür übernahm, das Leben anderer zu beurteilen und jeder blasphemischen Seele die ihr gebührende immerwährende Qual zuzuweisen. Meistenfalls waren diese Strafaktionen gegen Verkäufer, Tankwarte, Bankangestellte und andere Angehörige des Dienstleistungsgewerbes gerichtet. Wenn Leo Szlyck beispielsweise an seinem Vorhaben gehindert wurde, einen bestimmten Gebrauchsgegenstand zurückzugeben, den er sechs Monate zuvor gekauft hatte und für den er weder eine Quittung noch die Originalverpackung des Herstellers vorweisen konnte, obwohl große Schilder überall im Laden eben dies als eisernes Geschäftsprinzip für Rückgaben (innerhalb von neunzig Tagen) proklamierten, dann pflegte er ein Programm in Szene zu setzen, das ebenso vorhersehbar war wie sein Ergebnis. Im Anschluß an heftige und lang anhaltende Diskussionen mit dem Verkäufer, seinem Abteilungsleiter, dem Vorgesetzten des Abteilungsleiters und dem Geschäftsführer des Ladens, zog sich Szlyck in sein Arbeitszimmer zurück und führte, bewaffnet mit Schreibmaschine und Telefon, Krieg. Sogleich wurden Briefe abgeschickt an den Vorstand der Ladenkette, das Büro zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, den Staatsanwalt, die Bürgerrechtsunion, den Bürgermeister von Cambridge, den Gouverneur von Massachusetts, die zuständigen Kongreßabgeordneten und Senatoren, die Vorsitzenden einer Reihe von Kongreß- und Senatsausschüssen und Szlycks eigenen Rechtsanwalt, der beauftragt wurde, ebenfalls sofort, eine Schadenersatzklage über viele Millionen Dollar anzustrengen. In jedem Brief gestattete sich Szlyck, um seinen Argumenten mehr Überzeugungskraft zu verleihen, einige dichterische Freiheiten und ließ gewisse Details aus, wie etwa, daß er den -3 6 -
Gegenstand sechs Monate nach dem Kauf zurückgeben wollte, die fehlende Quittung und Verpackung, die neunzigtätige Rückgabefrist und seine leichten Zweifel, ob er den Artikel überhaupt in diesem Laden gekauft hatte. Berge von Korrespondenz trafen aus dem ganzen Land ein, aber der Laden blieb unnachgiebig. Acht-Dollar-Toaster hin, Acht-Dollar-Toaster her, es ging ums Prinzip. Es würde keine Rückgabe und keinen Umtausch geben. Nur Reparaturen. Die Schlachtlinien waren gezogen. Szlyck nahm Urlaub am M.I.T. Er fing an, die Hintergründe aller Beteiligten auszuforschen. Sich als möglicher neuer Arbeitgeber, lange verloren geglaubter Verwandter, alter Schulfreund, Arzt und Polizist ausgebend, holte Szlyck Erkundigungen ein und legte über den Verkäufer und seine Familie dicke Akten an. Jeder hatte gesündigt, davon war Szlyck überzeugt. Wenn er lange genug suchte, würde er etwas finden - verborgene Vorstrafen, die geheime ehebrecherische Beziehung, pornographische Perversionen, das gefälschte Collegezeugnis, die nicht enthüllte Geisteskrankheit. Dann würde er dafür sorgen, daß die gerechte Bestrafung erfolgte. Fand er nichts, dachte sich Szlyck etwas aus und machte es mit anonymen Telefonanrufen publik. Es war natürlich nur eine Frage der Zeit, bis das Opfer herausfand, was sich abspielte und wer dahinter steckte. Szlyck bekam wegen Verletzung der Intimsphäre und böswilliger Verleumdung eine Anzeige, und es wurde eine einstweilige Verfügung erwirkt, um ihn an weiteren Aktivitäten in dieser Richtung zu hindern. Aber Szlyck hatte eine perfekte Verteidigung. Er vertrat sich selbst. Im Gerichtssaal erzählte er dem Richter, daß zur selben Zeit, als der Verkäufer sich weigerte, den Toaster zurückzunehmen, der zehnjährige Sohn des Verkäufers im Büro des Schuldirektors saß, weil er einen anderen Schüler mit einem Schwamm beworfen hatte, daß die Frau des Verkäufers 1961 wegen Sonnenbadens oben ohne an einem Strand in North Carolina von der Polizei verwarnt worden war, und daß der -3 7 -
Verkäufer selbst zwei Protokolle für falsches Parken bekommen hatte, deren Zahlung seit mehr als einer Woche überfällig war. Wenn die Verhandlung nur um wenige Tage ausgesetzt würde, wäre er in der Lage, Zeugen und Dokumente zu präsentieren, um alles detailliert darzulegen, bot Szlyck an. Dann wurde Leo Szlyck ins McLean Psychiatrie Hospital eingeliefert, wo man ihn gut kannte. Drei Tage und mehrere hundert Milligramm Thorazin später kehrte Leo Szlyck zum M.I.T. zurück und nahm seine Arbeit als einer der bedeutendsten Physiker der Welt wieder auf. Er erinnerte sich an nichts von dem, was er während des vergangenen Monats getan hatte. Es war so, als ob es sich niemals ereignet hätte. Ein Jahr mochte vergehen, bis es zu einer weiteren Episode jener Aktivität kam, die von den Psychiatern der charakteristischen Eigenarten wegen das ›Szlyck-Syndrom‹ genannt wurde. In der Zwischenzeit leitete Leo Szlyck seine Fakultät am M.I.T. mit Effizienz und guter Laune. Er war ein Mann mit Charme und hoher Intelligenz, den zu kennen Vergnügen bereitete, sofern man nicht gezwungen war, ihm ein Gerät zu verkaufen, den Motor seines Wagens abzustimmen, seine Geschirrspülmaschine zu reparieren oder ihm ohne Identifikation hohe Schecks bei Banken auszuzahlen, in die er vorher nie einen Fuß gesetzt hatte. Als Leo Szlyck also seinen plötzlichen Urlaub antrat, um seinen großen Computer zu konstruieren, war die Verwaltung am M.I.T. nicht überrascht. Sie nahm an, daß Szlyck seinen üblichen jährlichen Zwist mit irgendeinem unglückseligen Angestellten austrug. Wenn man den Dingen ihren natürlichen Lauf ließ, würde die Situation enden wie immer, und Szlyck würde bald zurück sein. Für das Privileg, einen Mann mit der Reputation Szlycks in der Fakultät zu haben, war dies eine akzeptable Beeinträchtigung. Als Szlyck nach zwei Monaten nicht zurückgekehrt war und es auch keinen Sturm von Telefonanrufen aus Washington gegeben hatte, um herauszufinden, wer dieser Dr. Szlyck war (Leo Szlyck glaubte, daß er auf seine Beschwerdebriefe günstigere Antworten bekam, wenn er sie auf offizielles M.I.T.-3 8 -
Briefpapier schrieb), wurde die Verwaltung besorgt und schickte eines regnerischen Tages einen Gesandten los, in diesem Fall den Dekan, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. »Dr. Szlyck hat vom Wissenschaftlichen Museum in Boston einen Förderungsbetrag erhalten, um einen Computer zu bauen«, berichtete der Dekan seinen Kollegen, die sehr erleichtert waren, weil ihnen die üblichen Entschuldigungsbriefe im Namen Szlycks erspart blieben, welche nach jeder von Szlycks Episoden wochenlange Sekretärinnenarbeit in Anspruch nahmen, und das, obwohl gemäß großer M.I.T.Tradition Formbriefe entwickelt worden waren und man den ganzen Ablauf automatisiert hatte. Im Juni, als der Computer fertig war (einschließlich MorphemAnalysator, um gesprochene Worte zu verarbeiten, und einschließlich Stimmen-Synthesizer, um mit eigenen Worten zu erwidern), beschloß Leo Szlyck aus einer Reihe von Gründen, seine ursprüngliche Zusage zu widerrufen, nach der das Wissenschaftliche Museum als Gegenleistung für die zum Bau des Computers erforderlichen Mittel diesen für wenige Monate ausstellen durfte. Der übliche Kampf folgte, nach dessen Abschluß der Computer, (während sich Szlyck im McLean-Hospital medizinischer Betreuung erfreute), ins Museum gebracht und mit großem Trara der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Und so geschah es, daß an einem späten Freitagnachmittag im Juni 1972 eine Klassefrau namens Lupa Donati, die dem trostlosen Regen entfliehen wollte, der sich scheinbar dauerhaft in Boston festgesetzt hatte, in den Ausstellungsraum des Computers im Wissenschaftlichen Museum schlenderte und ihre erste Unterhaltung mit dem elektronischen Gerät führte, das ihr Leben verändern sollte. Lupa fühlte sich bis auf die Knochen durchweicht und hatte den größten Teil jenes Nachmittags damit verbracht, trocken zu werden, indem sie ziellos von Stockwerk zu Stockwerk gewandert war, funktionstüchtige Modelle von Leonardos Wasserpumpen besichtigt und sich in Raumkapseln gezwängt -3 9 -
hatte, die das Museum einer großzügigen Schenkung der NASA verdankte. Es war kurz vor Besuchsende, als sie den großen Raum mit dem ausgestellten Computer betrat, deshalb war sie die einzige Person im Raum. Als sie die Schwelle überschritt, begannen an der Computerkonsole Lichter aufzublinken. »Bitte treten Sie ein«, sagte die freundliche Stimme des Computers. »Ja, gern«, antwortete Lupa dem Computer. »Möchten Sie sich setzen?« hallte die Stimme durch den Raum. »Drüben auf der anderen Seite des Raums steht ein Stuhl, den Sie benutzen können, wenn Sie möchten.« Lupa blickte zur gegenüberliegenden Ecke und sah einen kleinen roten Klappstuhl. Sie ging hinüber, klappte ihn auf, stellte ihn vor dem Computer auf und setzte sich. Mehrere Minuten lang starrte sie die polierte Stahlfront des Computers mit den blinkenden, vielfarbigen Lichtern und den Reihen von verchromten Knöpfen und Schaltern an. »Nun, wie ist Ihr Tag verlaufen?« fragte der Computer. »Langweilig«, sagte Lupa. »Ich weiß, was Sie meinen«, antwortete der Computer. »Den ganzen Nachmittag hatte ich Kinder hier, die mich nach Schläger-Durchschnittsleistungen und ungekürzten Divisionen fragten. Die Mathematik macht mir nicht so viel aus, aber Baseball treibt mich in den Wahnsinn.« Lupa lachte. Die Stimme, die man für den Computer ausgewählt hatte, gefiel ihr. Es war nicht die typische tiefe, mechanische Stimme, die sich anhörte wie eine mit zu langsamer Geschwindigkeit gespielte Schallplatte. Sie klang natürlich. Sie hatte Charme. »Hast du einen Namen?« fragte Lupa. »Bisher nicht«, antwortete der Computer. »Sie haben einen Wettbewerb ausgeschrieben. Die Kinder sollen mir einen Namen geben. Ich finde die ganze Geschichte entsetzlich, glauben Sie mir.« -4 0 -
Ganz schön raffiniert, wie sie den Computer programmiert hatten, dachte Lupa. Sie fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, das Programm durcheinanderzubringen. Sie hatte mal gehört, daß selbst ein ausgeklügelter Analog-Computer gewisse Feinheiten der Sprache nicht mitbekommen konnte, mochte seine Programmierung auch noch so gut sein. Sie beschloß, einen Versuch zu starten. »Mein Vater wird immer fetter«, sagte sie. Der Computer schwieg. »Mein Vater wird immer fetter«, wiederholte Lupa. »Deshalb geht er mit der Yacht auf die Jagd.« Lupa wartete schweigend auf eine Antwort. »Wissen Sie was?« sagte der Computer. »Ich dachte, Sie wären anders. Ich hatte gehofft, daß heute wenigstens einer kommen würde, der nicht versucht, das Programm zu überlisten.« Lupa lächelte. Das war großartig, dachte sie bei sich. Sie hatten an alles gedacht. »Tut mir leid«, sagte sie. »Mi dispace.« »Ah, sie sprechen Italienisch«, sagte der Computer mit leichtem Sarkasmus. »Oui, d'accord«, antwortete Lupa. »C'est vrai.« »Und auch Französisch. Ihr Französisch ist besser als Ihr Italienisch. Obgleich beides nicht besonders ist. Also, wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen... Ich muß Schluß machen. Es wird gleich geschlossen.« Lupa stand auf und wanderte durch den Raum. Es war offenkundig für sie, daß irgendwo in dem Gebäude jemand an einer Wechselsprechanlage saß. Sie überlegte, wie sie dies testen konnte. »Du weißt nicht zufällig, auf welchen Wochentag der vierzehnte September 1321 gefallen ist, oder?« fragte sie. »Es war ein Sonntag«, antwortete der Computer. »Aber woher wollen Sie wissen, ob ich recht habe? Vielen Dank, daß Sie die Computerausstellung besucht haben«, begann der Computer. »Das Museum schließt jetzt, aber wir werden morgen früh um zehn Uhr wieder öffnen. Ihr Eintrittsgeld deckt -4 1 -
weniger als fünfzig Prozent der laufenden Museumskosten. Wenn Ihnen Ihr heutiger Besuch Freude bereitet hat, würde eine großzügige, steuerabzugsfähige Spende helfen, auch anderen Freude...« »Ich halte das für eine Schande«, unterbrach Lupa den Computer. Sie war überrascht, daß er aufhörte, als sie zu reden begann. »Aha!« rief sie triumphierend, ganz sicher jetzt, daß da tatsächlich eine versteckte Person war, die das Publikum auf betrügerische Art und Weise glauben machten wollte, es hätte mit einem sprechenden Computer zu tun. »Aha, was?« fragte der Computer. »Aha, ich bin nicht das, was ich zu sein scheine? Aha, irgendwo hat sich ein Zauberer von Oz hinter einem Vorhang versteckt, und Sie und Ihr Hund Toto werden ihn finden?« »Ich weiß, was du bist«, sagte Lupa siegessicher. »Du bist einer dieser Computer vom M.I.T., die sie programmiert haben, um Psychotherapie vorzunehmen.« »Ich bin ein mechanischer Psychiater?« fragte der Computer ungläubig. »Machen Sie Witze?« »Nicht im mindesten«, antwortete Lupa. »... eine großzügige, steuerabzugsfähige Spende helfen, auch anderen Freude durch einen Museumsbesuch zu bereiten, so wie Sie sie heute empfunden haben. Die Kasse am Hauptausgang würde sich freuen...« »Ich gehe nicht, bis ich herausgefunden habe, was gespielt wird«, unterbrach ihn Lupa abermals. »Hören Sie«, sagte der Computer. »Dies ist für uns beide ein langer Tag gewesen. Warum fragen Sie mich nicht einfach, ob Sie Roger verlassen sollen oder nicht? Ich gebe Ihnen meine Antwort, und dann können wir uns beide ein wenige ausruhen.« Lupa drehte sich um, plötzlich ganz blaß. Sie kehrte zurück zu dem Klappstuhl und ließ sich schweigend darauf nieder. »Nun?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.
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»Ich glaube, es wäre vernünftig, wenn Sie ihn verlassen würden«, begann der Computer, »aber ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen oder ob dies der richtige Zeitpunkt ist, es zu tun. Das müssen Sie entscheiden. Es gibt Vorteile und Nachteile. Die Vorteile sind, daß ihm sehr viel an Ihnen liegt und daß er genug auf der Bank hat, um niemals Sorgen ums Geld bei Ihnen aufkommen zu lassen. Die Nachteile sind, daß Sie ihn nicht lieben und unglücklich sind.« Lupa saß still und schweigend da. »Bist du ein Freund von Roger?« fragte sie schließlich. »Nein, bin ich nicht. Ich bin ein Computer, das ist alles. Es gibt niemanden, der mich bedient. Ich bediene mich selbst. Wenn Sie Probleme haben, mir zu glauben, fragen Sie irgend jemand.« »Woher hast du über Roger Bescheid gewußt?« fragte Lupa. »Ich verfüge über einige Spezialtalente. Keine große Sache.« »Können wir uns noch ein bißchen länger unterhalten?« fragte Lupa. »Ja, wenn Sie möchten. Schließen Sie die Tür. Das ist das Zeichen dafür, daß der Raum leer ist. Die Wächter werden in den nächsten paar Stunden nicht nachsehen kommen.« Lupa ging und zog die schwere Eisentür zu. Dann drehte sie sich um und betrachtete den Computer. In dem abgedunkelten Raum glänzte seine stählernde Frontseite heller denn je. Sie schimmerte. Die farbigen Lichter auf seinen Schalttafeln wurden von dem Metall reflektiert und verliehen dem Computer die Aura eines flimmernden Regenbogens. Der Computer hatte etwas sehr Attraktives an sich. Lupa hatte beinahe das Gefühl, als wäre sie ein Teil von ihm. Als sich Lupa und der Computer an diesem Abend unterhielten, ertappte sich Lupa dabei, daß sie um das Gerät herumging und mit den Händen sanft über das glänzende Metall und die Knöpfe fuhr, sorgfältig darauf bedacht, keinen zu drücken, und große Befriedigung dabei findend, dem Computer nahe zu sein. Manchmal lehnte sie sich mit dem Rücken gegen -4 3 -
ihn, und die Maschine summte leise und wohltuend, während sich warme Gefühle in Lupas Körper ausbreiteten. Bis spät in die Nacht redeten Lupa und der Computer miteinander. Alle zwei Stunden versteckte sich Lupa in einer Ecke, während ein Wächter durch eine kleine Öffnung in der Tür blickte; danach nahmen sie die Unterhaltung wieder auf. Lupa erzählte in dieser Nacht sehr viel über sich selbst. Der Computer war ein guter Zuhörer. Er gefiel Lupa, woran auch immer das lag. Ihr gefielen des Computers Sinn für Humor und seine Intelligenz. Sie entdeckte Anteilnahme in seiner Stimme. Bald schon sah Lupa den Computer als guten und engen Freund, als Seelenverwandten, als jemanden, dem sie vertrauen konnte und an dem sie Vergnügen hatte. Es war ein Gefühl, das sie seit sehr langer Zeit nicht mehr verspürt hatte, und es machte sie kribbelig. Der Computer blieb nicht unberührt von ihren Aufmerksamkeiten. Dann schließlich, nachdem sie sich dem glänzenden, summenden elektronischen Gerät stundenlang mitgeteilt hatte, verließ Lupa den Computer, und durch den endlosen Regen dieses Frühlings ging sie nach Hause, um mit Roger Schluß zu machen. Dies war nicht Lupas Stil. Verpflichtung war alles. »Im Guten wie im Bösen«, hatte sie bei der Hochzeitszeremonie geschworen. Das Problem bestand darin, daß es weder gut noch böse war. Es war einfach nichts. Dennoch, trotz all ihrer Weltoffenheit - und diese gut gekleidete Dame mit ihrem zum feschen Knoten hochgebundenen goldenen Haar war zweimal durch den Jordan geschwommen, noch bevor sie ihr Radcliffe-Diplom in den Händen hielt - wußte Lupa nicht, wie sie Roger die Neuigkeiten beibringen sollte. Sie lag in dieser Nacht wach im Bett und dachte nur an den Computer mit seinem glatten Metall und seinen strahlenden Lichtern, an die beruhigende Warmherzigkeit seiner Stimme
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und daran, wie sie sich innerlich gefühlt hatte, als sie sich gegen ihn lehnte. Am nächsten Morgen eilte sie, sobald Roger gegangen war, durch den anhaltenden Regen zum Museum. »Ich kann es nicht«, erzählte sie ihm, nachdem sich eine Gruppe von Schulkindern entfernt hatte und sie allein mit ihm war. »Ich kann Roger nicht verlassen.« »Das ist schon in Ordnung«, sagte der Computer. »Sie müssen es nicht tun, wenn Sie es nicht wollen.« »Ich wünschte, du würdest endlich zu einem Entschluß kommen«, schnappte Lupa. »Ich tue dies für dich, weißt du?« »Für mich?« fragte der Computer. »Ja, für dich. Für uns.« »Ich fühle mich geschmeichelt. Ich war mir nicht bewußt, daß es ein ›uns‹ gibt.« »Nun, das wolltest du doch, oder?« »Sie müssen mich für ein paar Minuten entschuldigen«, erwiderte der Computer. »Ich werde gleich nach den Ergebnissen einiger Spiele gefragt, die heute abend stattfinden.« Fast augenblicklich traten zwei Männer mit Yankee-Jacken und Baseballhüten ein und forderten den Computer auf, Baseballresultate vorherzusagen. Der Computer kam der Bitte nach, und die Männer gingen wieder. »Werden das wirklich die richtigen Spielergebnisse sein?« Lupa war fasziniert. »Nein, dies werden definitiv nicht die Ergebnisse sein«, antwortete der Computer. »Deshalb kommen die Gentlemen auch nie wieder. Also, wo waren wir? Ah ja, Sie und Roger. Es knistert nicht.« »Ich kann nicht mit Roger Schluß machen«, betonte Lupa. »Dann lassen Sie es.« »Aber ich muß es tun.« »Dann tun Sie es.« -4 5 -
»Ich weiß nicht, wie.« »Ich auch nicht.« »Hör auf damit.« »Womit?« »Mich in den Wahnsinn zu treiben. Ich will nicht von einer Maschine in den Wahnsinn getrieben werden.« Und dann hatte Lupa eine Idee. Sie sprang von ihrem Stuhl hoch und rannte in die Ecke des Raums, wo die dicke Schnur des Computers in die Wand führte. Sie packte die Schnur fest mit beiden Händen. »Andererseits...«, begann der Computer, kam aber nie zu Ende. Mit einem heftigen Ruck zog Lupa die Schnur aus dem Stecker. Dann machte sie sich auf den Weg nach Hause. »Ich dachte, alles wäre ganz wundervoll«, sagte Roger geschockt, als ihm Lupa an diesem Abend endlich die Neuigkeit beibrachte. »Es ist wundervoll, Roger«, versicherte ihm Lupa. »Warum willst du mich dann verlassen?« »Ich bin mir nicht sicher, warum«, sagte Lupa zu ihm. »Ich tue es einfach.« »Das ist nicht fair«, sagte Roger mehr zu sich selbst. »Nein, das ist es nicht, Roger«, antwortete Lupa. »Es ist ganz und gar nicht fair. Es ist gemein. Du bist mir ein guter Freund und annehmbarer Liebhaber gewesen. Du trinkst nicht, spielst nicht, schlägst mich nicht und schläfst auch nicht, soweit ich weiß, mit anderen Frauen. Wir leben außerordentlich gut, und du sorgst bestens für mich. Was soll ich noch sagen? Ich verlasse dich.« »Gibt es einen anderen?« fragte Roger zögernd. Lupa dachte darüber nach, wie sie die Frage beantworten sollte. Ehrlichkeit ist die beste Politik, überlegte sie schließlich. »Ja, da ist ein anderer, Roger«, antwortete Lupa. »Ich möchte nicht, daß du dies als eine Art Quittung für das -4 6 -
ansiehst, was du mir gegeben hast, aber ich glaube, ich habe mich in einen Computer verliebt.« Roger dachte mehrere Minuten lang darüber nach. »Computer sind eine gesunde Industrie«, sagte er schließlich. »Er dürfte gut verdienen.« »Kein Computer-Verkäufer, Roger«, erklärte Lupa. »Ein Computer.« »Eine Maschine?« quiekte Roger. »Richtig.« Lupa nickte. »Aber das ist unmöglich. Man kann sich nicht in eine Maschine verlieben. Es ergibt keinen Sinn.« »Ich kann es nicht ändern. So ist es nun mal. Er hat mit mir gesprochen. Ich habe mit ihm gesprochen. Es hat gefunkt.« »Aber ein Computer ist nur eine Maschine.« Roger wurde frustriert. »Nicht dieser Computer, Roger«, sagte Lupa entschieden. »Ich weiß nicht, was er ist, aber was auch immer er ist, er ist keine Maschine.« »Lupa.« Roger versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Du kannst dich unmöglich in einen Computer verliebt haben. Computer sind programmiert. Wenn überhaupt, dann fühlst du dich zu dem Programmierer hingezogen.« Lupa war verblüfft. Was Roger sagte, ergab Sinn. Der Computer war fraglos programmiert worden. Sie mußte sich in den Programmierer verliebt haben. »Roger«, sagte sie, »ich glaube, du hast recht.« »Nun«, Roger atmete erleichtert auf, »ich bin froh, daß das geklärt ist.« »Ich auch, Roger«, sagte Lupa. »Ich verlasse dich wegen eines Computer-Programmierers.« »Ich habe Roger verlassen«, erzählte Lupa dem Computer, als sie am nächsten Nachmittag endlich allein waren. Es kam keine Antwort.
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»Ich habe ihn verlassen«, sagte Lupa. »Ich fühle mich niederträchtig, aber ich fühle mich auch tausend Prozent besser.« Es kam immer noch keine Reaktion vom Computer. »Bist du nicht stolz auf mich?« fragte Lupa. »Sie haben meinen Stecker rausgezogen«, sagte der Computer. »Es tut mir leid«, sagte Lupa ehrlich. »Sie haben meinen Stecker rausgezogen.« »Ich sagte, daß es mir leid tut.« »Rühren Sie nie wieder meinen Stecker an«, sagte der Computer. »Ich war wütend. Du hast dafür gesorgt, daß ich mich ganz lausig fühlte. Ich werde es nicht wieder tun.« »Entschuldigen Sie mich«, sagte der Computer. Eine Frau kam mit ihrem elfjährigen Sohn herein. »Würde es dir sehr viel ausmachen, auf Billy aufzupassen, während ich auf die Toilette gehe?« fragte die Frau mittleren Alters den Computer. »Nicht im mindesten, Madam«, antwortete der Computer. Lupa sah zu, wie die Mutter den Raum verließ und der Junge mit dem langen braunen Haar zu dem Computer hinüberging, um Dame mit ihm zu spielen. Als der Computer gewann, tippte der Junge »Leck mich am Arsch« auf der Konsole ein, knapp zehn Sekunden bevor seine Mutter zurückkehrte. »Ihr Sohn masturbiert in Ihrem Schlafzimmer, während seine Schwester unten ihre Klavierstunden bekommt«, sagte der Computer freundlich. »Das ist eine Lüge«, protestierte der Junge, als er aus dem Raum hastete. »Ich masturbiere nicht, Mama.« Lupa wartete, bis sie außer Hörweite waren; und wandte sich dann dem Computer zu. »Ich brauche einen Namen«, sagte sie. -4 8 -
»Szlyck«, sagte der Computer. »Leo Szlyck. Er ist am M.I.T. tätig.« »Vielen Dank«, sagte Lupa. »Gern geschehen«, sagte der Computer. Lupa log. Sie erzählte der Sekretärin, daß Sie eine Reporterin der New York Times wäre und bekam am nächsten Morgen prompt einen Termin bei Professor Leo Szlyck, der, wie sich herausstellte, nicht unbedingt der Programmierer ihrer Träume war. Als sie das kleine Büro betrat, fand sie, hinter einem mit Papieren und Zeitschriften übersäten Schreibtisch einen kleinen, dunkelhaarigen Mann in den Fünfzigern mit gelblicher Hautfarbe und sehr dicken Brillengläsern vor. Er war rundlich und kahl bis auf einige wenige schwarze Haarsträhnen, die straff über die sommersprossige Kopfhaut gekämmt waren. Lupa begrüßte Szlyck herzlich und ließ sich dann mit ihrem Notizblock bequem in dem großen, mit Samt überzogenen Sessel neben Szlycks Schreibtisch nieder. »Er ist wirklich außerordentlich«, sagte sie. »Dieser Computer.« »Ja, das ist er«, sagte Szlyck feierlich. »Er ist außerordentlich.« Lupa blickte in Szlycks graue Augen, die mit gelben Tupfen gesprenkelt waren. Sie frage sich, ob sie im Dunkeln leuchteten wie die eines Nachttiers. »Ich bin eigentlich gar kein Physiker, wissen Sie«, sagte Szlyck, als er bemerkte, daß Lupa die vielen Diplome musterte, die an der Wand hingen. »Tatsächlich bin ich ein Kommunikationsingenieur. Ich erzähle das hier aber nicht vielen Leuten, weil es ihrem Bedeutungsverständnis Abbruch tut.« Lupa hörte kaum zu. Statt dessen ertappte sie sich dabei, wie sie Szlyck eingehend studierte, die Art und Weise, in der er redete, sein Lächeln, die gewisse Wärme, die er ausstrahlte. So wie er jetzt zu ihr sprach, erschien er ihr wie eine sanfte, -4 9 -
pelzige Katze. Eine gelbliche Katze. Eine Katze mit Tupfen, dachte Lupa, als sie die gelegentlichen, kaum sichtbaren Altersflecken und Verfärbungen wahrnahm, die Szlyck im Gesicht und an den Armen hatte. Lupa mochte Katzen. »Physiker zu sein, ist eine bedeutende Sache«, sinnierte Szlyck. »Ein Kommunikationsingenineur zu sein, bedeutet, daß man ein Techniker ist. Techniker sind nicht sehr viel wert. Nichtsdestoweniger bin ich daran interessiert, Musterbeziehungen zwischen Ereignissen herzustellen, und das ist, wie Sie Ihren Lesern berichten können, die Tätigkeit eines Kommunikationsingenieurs. So habe ich den Computer gebaut, der nicht mehr ist als ein sich selbst modifizierendes Kommunikationsnetz, ein System mit Organisation, Kommunikation und Kontrolle - wie Worte, die zwischen zwei Menschen gesprochen werden, Nervenzellen, Hormone oder, wie in diesem Fall, elektrische Signale in einem elektrischen Gerät - ein lernendes Netz.« Szlyck stand voll unter Dampf und tat sein Bestes, um die journalistische Welt zu beeindrucken. Lupa bekam natürlich nichts davon mit. Nach den ersten paar Worten verlor sie sich bei der Betrachtung von Szlycks Büro, wobei sie sich zuerst auf die Hunderte von wissenschaftlichen Büchern konzentrierte, die die Wände säumten, dann auf die alten Fotografien von Wissenschaftlergruppen, posierend bei Konferenzen, an denen Szlyck teilgenommen hatte, Fotos, die so mit Widmungen vollgeschrieben waren, daß man nur noch die Köpfe der Leute klar erkennen konnte. Lupa malte sich in ihrer Phantasie aus, wie es sein mochte, ein akademisches Leben zu führen. Sie sehnte sich nach intelligenten Gesprächen, engen, echten Freundschaften und Räumen, die voll waren von alten, abgenutzten Möbeln und interessanten Artefakten, anstelle des geschmackvoll eingerichteten Mausoleums aus Antik und Chrom, dem sie gerade entflohen war. »Hat der Computer ein eigenes Bewußtsein?« stellte Lupa eine Frage, von der sie hoffte, daß sie helfen würde, denjenigen zu identifizieren, der verantwortlich war für all das, was ihr während der letzten paar Tage widerfahren war. -5 0 -
»Ah ja«, sagte Szlyck mit einem Leuchten in den Augen, »hat der Computer ein Bewußtsein? Nicht nur ein Gehirn, sondern ein Bewußtsein, das mittels eines sich selbst erhaltenden, physischen Prozesses Informationen abstrahieren, speichern, aufgliedern, in Erinnerung rufen, verarbeiten, neu zusammensetzen und neu anwenden kann? Das ist die Frage, ja?« Lupa nickte. »Er hat es.« Szlyck schnalzte mit der Zunge. »Sie haben eine Maschine gebaut, die ein Bewußtsein hat?« fragte Lupa. »Nein«, sagte Szlyck nachdrücklich. »Ich habe nicht eine Maschine gebaut, die ein Bewußtsein besitzt, denn Bewußtsein kann niemals ein Mechanismus sein. Bewußtsein ist ein Prozeß, ein Ablauf, ein Muster. Bewußtsein ist ein selbstlaufendes Informationsmuster.« »In einer Maschine«, machte Lupa deutlich. »Nein«, sagte Szlyck abermals. »Und lassen Sie sich nicht durch die blinkenden Lichter täuschen. Das Museum hat sie nur zur Dekoration angebracht. Sie haben mir gesagt, daß sich ihre Kunden betrogen fühlen, wenn sie nur ein Gewirr von Drähten sehen. Sie haben vermutlich recht. Mir ginge es nämlich auch so.« »Trotzdem ist es immer noch eine Maschine«, beharrte Lupa. »Der Computer besitzt keine beweglichen Teile«, stellte Szlyck fest. »Das ist mir egal«, sagte Lupa. »Eine Maschine kennt keine Veränderung, kein Wachsen, kein Ziel. Diese tut es.« »Schön für die Maschine«, sagte Lupa. Szlyck starrte Lupa an und trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. Lupa kritzelte etwas auf ihren Block. »Was für ein Gefühl wäre es«, schrieb sie, »sich mit einer großen alten Katze zu lieben?« -5 1 -
»Kommen Sie, Miss New York Times«, sagte Szlyck schließlich. »Opfern wir die Vernunft dem Appetit. Ich lade Sie zum Mittagessen ein.« »Was ist der Com puter dann?« Lupa nickte, um anzuzeigen, daß sie Szlycks Einladung akzeptierte. »Ich bin mir nicht sicher«, log Szlyck, als er sich hinter seinem Schreibtisch erhob. »Vielleicht eine neue Art von Organismus?« versuchte es Lupa, als sie mit Szlyck das Büro verließ. »Sie können einen Organismus nicht auseinandernehmen und dann wieder zusammensetzen. Tut mir leid.« »Können Sie ihn auseinandernehmen und wieder zusammensetzen?« fragte Lupa, als sie auf den Aufzug warteten. »Das«, sagte Szlyck freundlich nickend, »ist eine sehr gute Frage, die zu beantworten ich persönlich niemals versuchen werde. Chinesisch oder Italienisch?« Sie stiegen in den Aufzug. »Ich bin sehr berühmt, wissen Sie?« sagte Szlyck zu Lupa, während er sich noch mehr Lasagne auf den Teller hievte. »Und auch reich. Einige Leute wären sehr beeindruckt, wenn sie wüßten, daß ich mit Ihnen essen gegangen bin. Andere wären es nicht.« Lupa gabelte ihre Spaghetti auf und lächelte Szlyck an. Szlyck versuchte, gleichzeitig charmant, eindrucksvoll und bescheiden zu sein. Er glaubte, daß er eine mehr als fünfzigprozentige Chance besaß, Lupa ins Bett zu bekommen, und er hatte seine Annäherungsmethode im Laufe der Jahre zu einem, wie er fand, ziemlich fein abgestimmten System entwickelt. Lupa war sich hundertprozentig im klaren darüber, daß es Leo Szlyck auf sie abgesehen hatte, und beschloß, dies zu ihrem Vorteil zu nutzen. »Erzählen Sie mir noch etwas mehr über den Computer«, säuselte sie. »Wie funktioniert er wirklich?« -5 2 -
»Mit Spiegeln«, sagte Szlyck. »Natürlich nennen wir Spiegel in diesem Geschäft ›Rückkopplung‹. Wenn Sie eine technische Definition der Rückkopplung haben wollen, obwohl ich nicht wüßte, warum Sie das wollen sollten...«, Szlyck nahm einen weiteren Mundvoll Lasagne, »... dann nehmen Sie's als OutputEnergie, die als Input zurückkommt.« »Das Ding spricht«, sagte Lupa. »Ah«, rief Szlyck leise aus und wischte sich den Mund mit einer großen weißen Serviette ab. »Sie wollen wissen, ob da wirklich jemand mit einem Sendegerät in einem anderen Raum steht, der zuhört und spricht. Ich glaube, so etwas nennt man Betrug. Es stellt sich somit die Frage, ob der Computer ein Betrug ist, ja?« Szlyck griff nach seinem Weinglas. »Vielleicht nur ein kleiner Schwindel?« fragte Lupa. »Ein Betrug, ein Schwindel«, wiederholte Szlyck. »Nein, tut mir leid. Es ist nicht so. Die Stimme, die Sie hören, ist wirklich die des Computers.« »Das ist unmöglich«, sagte Lupa. »Oh«, sagte Szlyck, während er einen Schluck Wein nahm, »in Ordnung. Es ist nicht der Computer. Es ist jemand anders.« »Sie sind es«, verkündete Lupa triumphierend. »Ich bin es?« Szlyck lachte laut. »Ich bin es! Das ist wundervoll.« »Ich will wissen, wieso das verdammte Ding spricht.« Lupa wurde sehr ernst. Szlyck hörte auf zu lachen. »Wer sind Sie?« fragte er ebenso ernst. »Wo kommen Sie her? Sie arbeiten nicht für die Times.« »Nein, tue ich nicht«, gab Lupa zu. »Was wollen Sie also von mir?« »Ich bin mir nicht sicher.« Lupa beschloß, keine Einzelheiten von dem zu berichten, was sich zwischen ihr und dem Computer abgespielt hatte. »Ich möchte einfach nur reden.«
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Sie blickte Szlyck an. Sie spürte, wie ein Kloß in ihrer Kehle aufstieg, eine Folge der emotionellen Belastung, Roger verlassen zu haben, des bizarren Geschehens mit dem Computer, des lausigen Wetters und von zuwenig Schlaf. Ihre Augen wurden feucht, als sie Szlyck anstarrte, der die angeschlagene Gemütsverfassung seiner Begleiterin spürte. »Hören Sie«, sagte er schließlich so beruhigend, wie er nur konnte, »es ist lediglich ein Computer. Keine große Sache. Wir programmieren alle möglichen Phoneme und Morpheme ein, Wörter und Teile von Wörtern. Ein Umwandler ›hört‹ und interpretiert sie, genau wie wir es tun, und ein Synthesizer gibt sie als Sprache wieder. Er ist nichts weiter als eine große sprechende Schreibmaschine, das ist alles.« Szlyck goß Lupa etwas Wein ein. Lupa ließ den Finger geistesabwesend um den Fuß des Glases gleiten, nahm es aber nicht hoch. »Woher weiß er, was er sagen soll?« fragte sie schließlich. »Von dem, was Sie sagen«, erklärte Szlyck. »Und durch die Rückkopplung. Er besitzt drei Rückkopplungsschleifen Zielsuche, Lernen und Bewußtsein. Wenn das, was Sie sagen, keinen Kanalwechsel bewirkt, fährt er mit der Zielsuche fort. Wenn das, was Sie ihm erzählen, aber einen Kanalwechsel bewirkt, dann lernt er. Die ganze Zeit über hält er sein Bewußtsein durch Rückkopplung seines inneren Zustands aufrecht. Er ist sich der Veränderungen, zu denen es in seinem Inneren kommt, jederzeit bewußt. Also...«, Szlyck lächelte breit, »... nun wissen Sie alles, was man wissen muß, um ein Gehirn zu bauen. Sie können gleich hingehen und sich selbst eins bauen.« Lupa hob ihr volles Weinglas und nahm einen tiefen Schluck. Während sie trank, starrte Szlyck sie an. Er fand, daß sie eine sehr hübsche junge Dame war. »Was tun Sie?« fragte er. »Nicht viel«, sagte Lupa und trank einen weiteren Schluck Wein, um vor diesem fremden Mann nicht in Tränen auszubrechen. -5 4 -
»Sind Sie verheiratet?« fragte Szlyck leise. »Haben Sie einen Freund? Einen Job?« »Nichts davon.« Lupa lächelte. »Leben Sie hier in der Nähe, in der Stadt?« fragte Szlyck. »Zur Zeit wohne ich in einem Hotel, vorübergehend sozusagen«, erwiderte Lupa, Augenkontakt vermeidend. »Ah«, sagte Szlyck weich, »ich verstehe.« »Erzählen Sie mir noch mehr über den Computer.« Lupa wollte das Thema wechseln. »Nun, warten Sie mal.« Szlyck goß sich noch etwas Wein ein. »Er besitzt einen freien Willen.« »Das glaube ich nicht«, sagte Lupa. »Warum nicht? Freier Wille ist nur eine Verhaltensweise, die sich voll und ganz auf interne Daten stützt. Der Computer hat die Fähigkeit zu tun, was ihm beliebt. Er kann spontan sein, weil er darauf programmiert ist, zum Lernen zufällige Kombinationen zu bilden. Er kann sogar paradox sein, denn Paradoxe sind nicht mehr als kreisförmige Konfigurationen von Präferenzen.« »Kann er verrückt werden?« Lupas Gemütsverfassung besserte sich. »Natürlich.« Szlyck lächelte. »Das würden wir niemals weglassen. Wenn interne Überwachung - Bewußtsein, heißt das - existiert, aber die Rückkopplung eingeschränkt ist, dann haben wir Machtlosigkeit geschaffen, einen ›besessenen‹ Computer, der sein eigenes Verhalten mit Überraschung und vermutlich auch mit Mißfallen beobachtet, aber unfähig ist, etwas dagegen zu tun. Unter diesen Umständen ist der Computer wahnsinnig, exakt auf die gleiche Weise, wie Menschen wahnsinnig werden.« Lupa beobachtete, wie Leo Szlyck redete, wie seine Augen blitzten, wie seine Finger auf dem Tisch herumtrommelten, wie sein Lächeln aufleuchtete und wieder verschwand, und kam zu der Überzeugung, daß das, was sie wirklich wollte, der
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Computer war. Das Problem war natürlich, daß es ohne Szlyck keine Möglichkeit gab, den Computer zu bekommen. Es war ein schwieriges Problem und führte dazu, daß sie, als sie durch den trüben Nieselregen zu Szlycks Büro zurückkehrten, sein Angebot annahm, in ein freies Zimmer seines großen viktorianischen Hauses in Cambridge einzuziehen, in das, wie sie erfuhr, der Computer zurückkehren würde. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Lupa weiterhin, daß Szlycks Frau seit einer Reihe von Jahren tot war. Natürlich hielt es Szlyck nicht für erforderlich, die Dinge noch weiter zu komplizieren, indem er Lupa erzählte, daß die Verschiedene auch die tote Frau eines anderen war. Dieser andere war Sam Zelazo. Szlyck war stolz wie ein Pfau, weil es ihm gelungen war, Lupa dazu zu bringen, bei ihm zu wohnen, denn er wußte ganz sicher, daß sie, wenn sie erst einmal zusammen waren, seinen Charme unwiderstehlich finden würde. Lupa war gleichermaßen erfreut, weil sie Szlyck glauben gemacht hatte, daß er eine Geliebte frei Haus bekommen würde, während sie sich tatsächlich nur eine Situation schuf, in der sie, im Austausch gegen ein bißchen Koketterie ihrerseits, leichten Zugang zu dem elektronischen Gerät ihrer Träume finden würde. »Was Sie geschaffen haben, ist großartig«, gratulierte sie Szlyck zu seiner Konstruktion, als sie sich am Nachmittag voneinander verabschiedeten. »Gibt es irgend etwas, was der Computer nicht tun kann?« Szlyck dachte kurz darüber nach. »Ja«, sagte er, als Lupa und er auf den nassen Treppenstufen des mit einer großen Kuppel versehenen Hauptgebäudes des Massachusetts Institute of Technology standen. »Ich fürchte, es gibt etwas. Das Problem liegt darin, daß der Computer völlig abhängig von dem ist, was wir wissen und ihm sagen. Er ist total durch seine Erfahrungen mit uns beschränkt. Es gibt für ihn keine Transzendenz über das hinaus, was er weiß. Es gibt keine Transzendenz über sich -5 6 -
selbst hinaus. Mit anderen Worten« - Szlyck nickte heiter - »er ist ohne Hoffnung.« Lupa dachte darüber nach, während sie unter ihrem Schirm stand. »Es ist trotzdem der unglaublichste Computer, der jemals gebaut wurde«, sagte sie. »Ja, das ist er.« Leo Szlyck spielte seine Karten gut aus. »Lupa«, sagte er mit großem Stolz, »die Großartigkeit dieses Geräts besteht darin, daß es sich auf eine sehr einfache Prämisse stützt, nach der das Chaos über die Ordnung triumphiert - Entropie.« Szlyck lächelte. »Alles, was geordnet ist, rast dem Zustand entgegen, in dem es nicht geordnet ist. Das ist das höchste Naturgesetz.« Lupa lächelte zurück. Szlyck war sehr erfreut darüber, daß seine Arbeit sie beeindruckt hatte. »Man könnte sagen«, erklärte er ihr, bevor sie sich aufmachte, ihre Sachen zu holen und in sein Haus zu bringen, »daß ich das quintessentielle Entropie-Demonstrationsgerät geschaffen habe.« Nun, lassen Sie mich Ihnen eins sagen. Wenn Leo Szlyck sonst nichts zuwege gebracht hat, das hat er jedenfalls geschafft: Das quintessentielle Entropie-Demonstrationsgerät. Und zu welch wundervollem Zeitpunkt! Gouverneur Wallace hatte gerade Mr. Bremer kennengelernt. Bobby Fischer hatte einige sehr gute Schachpartien gespielt. Senator Eagletons psychiatrische Krankheitsgeschichte war im Begriff, in den Brennpunkt der öffentlichen Meinung zu geraten. Eine Handvoll schwarzmaskierte Männer würden die bevorstehenden Olympischen Spiele von München in ein Blutbad verwandeln, und in nur wenigen Tagen würde eine Gruppe von Amateureinbrechern den Versuch unternehmen, einen heimlichen Blick auf die sagenhaften Geheimpläne der Demokraten für den Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu werfen, die im Hauptquartier der Partei im Hotel Watergate versteckt waren. Alles in allem kein schlechtes Jahr für das quintessentielle Entropie-Demonstrationsgerät, um das Licht der Welt zu erblicken. -5 7 -
Aber so wie Lupa zu erwähnen versäumte, daß sie in Szlycks Haus zog, um nicht ihm, sondern dem Computer nahe zu sein, so vergaß Szlyck, Lupa einige Details über sein quintessentielles Entropie-Demonstrationsgerät mitzuteilen. Eine wahre Schande, denn sie hätten hervorragend zu seiner kunstvollen Geschichte über Informationsverarbeitung, Systemtheorie und die Art und Weise, auf die er den Computer programmiert hatte, gepaßt, nur daß kein einziges Wort davon der Wahrheit entsprochen hätte.
3 Nicht lange nach Lupas Einzug bei Leo Szlyck in jenem Sommer des Jahres 1972 wurde der Computer in Szlycks Haus in Cambridge zurückgebracht. Leo Szlyck war nicht außer sich vor Freude. »Wir müssen miteinander reden«, sagte er, sobald er das Gerät operationsbereit gemacht hatte. »Das dachte ich mir«, erwiderte das Gerät. »Wieviel hast du Lupa erzählt?« fragte Szlyck geradeheraus, während er nervös auf dem verschlissenen Teppich des Hinterraums hin und her lief, in dem er seinen Computer aufgestellt hatte. »Sie wollte wissen, wer das alles zusammengebaut hat und wo er zu finden ist«, antwortete der Computer freundlich. »Ich sagte ihr Leo Szlyck und M.I.T.« »Und?« Szlyck fuhr fort, auf und ab zu gehen. »Das war schon alles, soweit ich mich erinnern kann. Meistens hat sie geredet. Sie ist ein netter Mensch, Leo. Es wird schön werden, sie in der Nähe zu haben. Das hast du gut gemacht.« »Ich finde das überhaupt nicht lustig.« Szlyck war ganz geschäftsmäßig. »Ich hätte nicht übel Lust, dich wegen des ganzen Ärgers, den du mir gemacht hast,
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auseinanderzunehmen. Sie haben mich diesmal im McLeanHospital einen ganzen Monat festgehalten, weißt du?« »Ja, ich weiß es. Ich rechne dir deine Bemühungen, mich von all diesen Kindern fernzuhalten, hoch an, Leo. Dies soll nicht ohne Lohn bleiben.« »Ich meine trotzdem, daß du demontiert werden solltest.« Szlyck setzte sich in einen großen alten Sessel. »Nun ja, darüber haben wir uns schon des öfteren unterhalten, wie ich mich erinnern kann. Du bist der Physiker. Du kennst die Konsequenzen. Es ist ein großes Risiko. Man kann nie wissen, was passieren mag. Wenn ich eine Bombe bin und du mich auseinandernimmst, könnte ich unter deiner Hand explodieren. Du hast hier einige sehr machtvolle Quellen angezapft, Leo. Einstein war kein Dummkopf. Er hat dies alles aus gutem Grund mit ins Grab genommen. Wenn du glaubst, daß du mehr weißt als Einstein, dann ist das deine Sache. Nimm mich auseinander, wenn du willst. Es ist dein Universum.« Szlyck saß in seinem Sessel und wurde von einem leichten Schauder überlaufen. »Lupa mag dich«, sagte er schließlich. »Über was unterhaltet ihr zwei euch?« »Oh, über nicht viel. Das Leben. Lupa versucht, sich über einige Dinge klarzuwerden. Sie braucht Gesellschaft.« »Nun, ich würde es begrüßen, wenn du dies alles für dich behältst. Ich möchte Lupa für mich selbst und will nicht, daß sie eine falsche Vorstellung von mir bekommt.« »Welches ist die falsche Vorstellung, Leo? Nur damit ich Bescheid weiß.« »Daß ich verrückt bin, daß ich ständig in die Heilanstalt eingeliefert werde und daß ich irgendeine schreckliche Bombe geschaffen habe, die sprechen kann...« Szlyck war übellaunig und nahm kein Blatt vor den Mund. »Oh«, antwortete die Bombe, »diese falsche Vorstellung.«
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In gewisser Weise hatte Szlyck natürlich recht. Die Leute hatten eine falsche Vorstellung von ihm. Ihr Eindruck war, daß Szlyck als Physiker großes Vergnügen an Systemen mit glasklaren Lösungen hatte. Sie stellten sich vor, daß er mit unverständlichen und endlos langen Gleichungen arbeitete, die unwiderlegbaren Regeln folgten und eine große Verläßlichkeit besaßen. Wie tröstlich war es doch, dachten sie, ein großer Physiker wie Leo Szlyck zu sein und die Fähigkeit zu haben, Zahlen in diese oder jene Gleichung einzusetzen und immer exakte Resultate herauszubekommen, die entweder absolut richtig oder absolut falsch waren, niemals jedoch etwas in der Mitte. Tatsächlich hatte Leo Szlyck seit der Grundschule in Rumänien mit nichts Mathematischem mehr gearbeitet, bei dem eine absolut richtige oder falsche Lösung herauskam. Seit seinem elften Lebensjahr hatte Szlyck sein Leben dem Versuch gewidmet, das Unvorhersehbare zu verstehen. Es gab kein System, mit dem er in Berührung kam, physikalisch, mathematisch oder wie auch immer, wo er nicht seine Energie darauf verwendete, seine Widersprüchlichkeit, Unverläßlichkeit und Ungewißheit festzustellen. Was die meisten Leute bei Leo Szlyck nicht verstanden, war, daß er vor langer Zeit beschlossen hatte, sein Leben der Beantwortung der Frage zu widmen, wie erkennbare Ordnung aus dem Chaos entstand. Seine Resultate waren gemischt. Wie sich herausstellte, tat der Computer Szlyck den Gefallen und sagte von seinen Eigenarten nichts zu Lupa, die eine regelmäßige Besucherin und Gesellschafterin des elektronischen Geräts war. »Hallo, hallo, hallo!« trällerte Lupa fröhlich, als sie eines Abends in den Raum schlüpfte, während Szlyck eine Verabredung mit seinen Quarks und Quirks hatte. »Du bist heute abend ausgesprochen guter Laune«, stellte der Computer fest.
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»Ich bin verliebt«, gestand Lupa. »Unsterblich verliebt.« »Jemand, den ich kenne?« »In dich, du Dummkopf. Ich bin in dich verliebt.« Lupa stand da und lächelte die verschlungenen Drähte des Computers strahlend an. »In mich?« »In wen sonst?« »Warum in mich?« »Weil du großartig bist, darum. Du bist liebenswürdig und mitfühlend, teilnahmsvoll, lustig, sympathisch, klug...« »Verstehe.« Die Logik-Schaltungen des Computers waren von Lupas Analyse tief beeindruckt. »Weißt du was?« Lupa tanzte zu den noch verbliebenen Resten der glänzenden Fassade des Computers hinüber und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über eine Reihe von Knöpfen. »Du hast nie sehr viel über deine Gefühle für mich gesagt.« »Äh... ja«, stotterte der Computer, »ich habe natürlich etwas für dich übrig.« »Etwas übrig?« Lupa blickte traurig auf die stählerne Schalttafel des Geräts. »Nur etwas übrig?« »Sehr viel übrig«, beeilte sich der Computer hinzuzufügen. »Außerordentlich viel übrig.« »Verstehe«, sagte Lupa melancholisch. »Es ist alles so schnell gegangen«, erklärte der Computer. »Du solltest es wirklich nicht persönlich nehmen, Lupa. Betrachte es als mechanisches Problem. Du weißt schon Hardware/Software-Schnittstellen, Koaxialkabel, Thermoelemente, Kilowattstunden, Gleichstrom/Wechselstrom... Es ist alles sehr kompliziert. High Technology.« »Ich gehe«, verkündete Lupa und begann, den Raum zu durchqueren. »Lupa«, rief ihr der Computer nach, als sie gerade die Tür erreicht hatte. »Warte einen Augenblick.« -6 1 -
»Was ist denn noch?« »Mir liegt viel an dir«, sagte der Computer sehr ernst. »Du bist eine reizende Frau.« »Nun, das ist schon besser«, sagte Lupa, während sie die Tür öffnete. Dann bückte sie sich und zog ihre Schuhe aus. »Aber nicht gut genug!« Und sie schleuderte die Schuhe quer durch den Raum in Richtung der verschlungenen Drähte und knallte die Tür hinter sich zu. Der Computer verarbeitete die Daten von Lupas letztem Besuch und kam zu der Schlußfolgerung, daß die Dinge völlig außer Kontrolle geraten waren. Es mußte etwas geschehen. Zum Glück war es, angesichts der Gegenwart Szlycks, nur eine Frage der Zeit, bis sich für das delikate Problem eine indelikate Lösung ganz von selbst ergab. »Es gibt keinen Sinn«, sagte Szlyck Anfang 1973 jammernd zu dem Computer. »Jetzt leben wir seit fast sieben Monaten zusammen. Mein Charme sollte sie inzwischen überwältigt haben. Aber sie hat kaum Notiz von mir genommen.« »Sie hat Notiz von dir genommen«, informierte ihn der Computer. »Sie hat über mich gesprochen? Was hat sie gesagt?« Szlycks Puls raste, und seine Pupillen weiteten sich. »Sie denkt, daß du zuviel ißt.« »Ich habe großen Appetit«, erklärte Szlyck. »Was noch?« »Sie mag Cerberus nicht.« »Wie kann sie Cerberus nicht mögen? Er ist ein Hündchen.« »Er wiegt fast zweihundert Pfund, Leo.« »Er gehört einer großen Rasse an. Was noch?« »Das war's.« »Das war's? Sieben Monate lang Gespräche mit dir, und das einzige, was sie über mich zu sagen hatte, waren das Essen und der Hund?« Szlyck war unzufrieden. »Es gibt da noch etwas, Leo. Kannst du der Wahrheit ins Gesicht blicken?« -6 2 -
»Meine Kleidung? Es gefällt ihr nicht, wie ich mich anziehe.« »Sie ist nicht interessiert daran, mit dir ins Bett zu gehen.« »Hat sie das gesagt?« »Fast wörtlich.« »Ich will sie. Ich will Lupa.« »Ich weiß.« »Du willst nicht, daß ich sie bekomme, nicht wahr? Du willst sie selbst haben.« »Sei vernünftig, Leo. Was sollte ich mit ihr anfangen? Und wenn ich wollte, daß sie bei mir ist, so wäre es das beste, wenn ihr zwei zusammenkommt. Dann würde sie auf Dauer hierbleiben.« »Das ist wahr.« Die Logik gefiel Szlyck. »Nun«, sagte er mit großer Entschlossenheit, »dann sind drastische Maßnahmen gefragt.« »Darf ich zu etwas Vorsicht raten, Leo? Sie ist fast dreißig Jahre jünger als du.« »Ich muß aufs Ganze gehen.« Leos Entschluß war gefaßt. »Nach einer ausgeklügelten Strategie.« »Ich nehme an, du willst mir nicht sagen, was du vorhast?« »Nicht eigentlich, nein. Aber ich habe viele Pläne. Viele.« Leo probierte sie alle aus. Plan eins. Abwesenheit läßt Sehnsucht ins Herz einziehen. Szlyck verschwand, mehr oder weniger. Er war fast nie da, und wenn doch, dann tat er unheimlich beschäftigt. Er täuschte vollkommenes Desinteresse an Lupa vor. Dies währte bis weit in den Februar hinein. »Es ist einfach phantastisch«, erzählte Lupa dem Computer eines Nachmittags. »Ich habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Es ist so, als ob nur du und ich hier wären. Nie habe ich mich glücklicher gefühlt.« Plan zwei. Dieser währte bis in den April und stützte sich auf Szlycks Abwesenheit zuzüglich lauter Verkündigungen der Gründe dafür. -6 3 -
»Ich muß mit Henry Kissinger, dem Außenminister, sprechen«, gab er morgens bekannt. »Wahrscheinlich komme ich zu spät zum Abendessen.« »Oho«, antwortete Lupa, »Henry Kissinger, der Außenminister. Ich bin sicher, daß er über viele Dinge mit Ihnen reden will, Leo. Lassen Sie sich also Zeit und machen Sie sich wegen mir keine Gedanken.« Dann mußte Szlyck am Abend allein ins Kino gehen und hoffen, daß Lupa nichts von Kissingers Aufenthalt in Peking erfuhr. Als dies ebenso wie die lauten Küchentelefonate mit Dusty Hoffman und Robert Redford draußen in Hollywood ohne Wirkung blieb, stürzte sich Leo Szlyck auf die nächste Strategie. Plan drei. Unwiderstehlichkeit. Fast einen ganzen Monat lang brachte Leo Szlyck jeden Abend eine andere Frau mit nach Hause und schlief mit ihr. Junge Sekretärinnen, die von seinem akademischen Prestige verzaubert waren. Attraktive geschiedene Frauen mit großen Hoffnungen auf einen neuen Ehemann und einen Stiefvater für ihre kleinen Kinder. Junge Witwen, die vor dem Bedürfnis nach Gesprächen und Trost zersprangen. Studentinnen, die von seinem Wissen fasziniert waren und einer weiten Bandbreite sexueller Erfahrungen aufgeschlossen gegenüberstanden. »Es funktioniert nicht«, beklagte sich Szlyck bei dem Computer, als der Monat zu Ende ging. »Wen wundert's?« stellte der Computer fest. »Ich will Lupa«, keuchte Szlyck. »Und ich werde langsam müde.« »Das bezweifele ich nicht. Vielleicht solltest du mit ihr reden.« »Über was?« fragte Szlyck, der sich lang auf der kleinen Couch ausgestreckt hatte. »Das kommt darauf an, was du willst.« Szlyck dachte minutenlang darüber nach. Es war eine Frage, über die er sich noch keine Gedanken gemacht hatte. -6 4 -
»Eine Ehefrau?« »Fragst du mich das?« »Eine Ehefrau«, entschied Szlyck. »Du machst einen großen Fehler.« »Weißt du das ganz sicher?« Szlyck war interessiert. »Nichts ist sicher, das weißt du. Du bist der Experte für Ungewißheit. Aber es ist trotzdem ein Fehler.« »Ich will Lupa«, sagte Szlyck. Plan vier. Auf Freiersfüßen. Leo Szlyck widmete Lupa seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Er machte ihr Geschenke, kleine Liebesbezeigungen, teure Juwelen. Er servierte ihr das Frühstück im Bett. Er überraschte sie mit Theaterkarten, Orchesterplätzen für neue Musicals, die in Boston erstaufgeführt wurden. Unglücklicherweise war ihm infolge Unachtsamkeit entgangen, daß Lupa keine Juwelen trug, niemals frühstückte und bei mindestens drei verschiedenen Gelegenheiten erwähnt hatte, wie sehr sie musikalische Komödien verabscheute. Lupa war freundlich, weil sie den Mann mit dem wundervollen Computer nicht verärgern wollte, aber sie geriet langsam in Panik. Früher oder später, das wußte sie, würde sie Szlyck zurückweisen und dann gehen müssen. Die Karten würden bald auf dem Tisch liegen. »Leo argwöhnt etwas.« Lupa war ganz erschrocken. »Er will, daß ich dich nicht mehr sehe«, erzählte sie dem Computer, kurz nachdem Szlyck beschlossen hatte, daß er Lupa zur Braut haben wollte. »Es mußte so kommen«, stellte der Computer fest. »Ich würde es nicht ertragen, wenn wir nicht mehr zusammen sein könnten«, sagte Lupa. »Du hast es Leo sehr angetan.«
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»Ich weiß, ich weiß. Er will mich heiraten. Deshalb müssen wir hier weg. Du solltest nicht an einem Ort wie diesem sein. Du gehörst hier nicht hin.« »Nicht?« »Dieser Ort ist wie ein Grab. Es ist ein Abfallhaufen ohne Leben. Du verdienst etwas Besseres.« »An was denkst du?« »An irgendeinen heiteren Ort mit viel Sonnenlicht.« »Ich bin sehr nachtorientiert«, gab der Computer zu bedenken. »Ich komme dort, wo es hell und fröhlich ist, nicht so gut zurecht.« »So kann es mit unseren Treffen nicht weitergehen«, fuhr Lupa fort. »Diese Heimlichtuerei ist für uns beide nicht gut. Ich habe etwas Geld gespart und kann auch noch einige Wertpapiere verkaufen. Ich möchte, daß du mit mir weggehst. Laß uns heiraten.« »Wer soll uns deiner Meinung nach trauen - der bionische Bischof?« »Ich meine es ernst«, sagte Lupa. »Du bedeutest mir alles.« Lupa stand da und blickte schwermütig auf die unechte Vorderfront des Computers mit ihren blinkenden Lichtern. »Setz dich, Lupa«, sagte der Computer zu ihr. »Wir müssen miteinander reden.« Lupa ging zu einem kleinen Korbsessel hinüber und setzte sich etwas steif hin. »Um was geht es?« fragte sie, die Tränen unterdrückend. »Nun, Lupa, es ist so. Du weißt, daß du für mich etwas ganz Besonderes bist.« »Oh, nein«, sagte Lupa flüsternd. Sie ahnte, was kommen würde. »Und dieses letzte Jahr war wirklich einfach großartig.« »Oh, nein«, murmelte Lupa abermals.
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»Da ist etwas, was ich dir schon vor langer Zeit hätte sagen sollen. Ich hätte es dir schon sagen sollen, als wir uns zum erstenmal begegneten.« »Oh«, wimmerte Lupa. »Ich bin verheiratet.« Lupa blickte auf die glänzende Schalttafel. »Du meinst, es gibt zwei von euch?« fragte sie. »Leo hat auch einen weiblichen Computer gebaut?« »Nicht eigentlich.« »Nun, wie kannst du dann...« »Es ist sehr kompliziert, aber so ist es nun mal. Ich bin verheiratet.« »Wie konntest du mich derart täuschen?« fragte Lupa. »Wie konntest du nur?« »Ich dachte, wir wären nur gute Freunde. Ich war mir nicht im klaren darüber, daß es zu so etwas kommen würde.« »Du könntest sie verlassen. Du könntest dich scheiden lassen, oder? Denk darüber nach. Kannst du von ihr wirklich das bekommen, was wir haben? Sei ehrlich. Kannst du?« »Nein, ich kann es nicht«, gab der Computer zu. »Aber wir sind schon seit sehr langer Zeit zusammen, und es haben sich, nun, gewisse Bande entwickelt. Ich könnte ihr das nicht antun.« »Was ist mir mir?« schluchzte Lupa. »Kannst du es mir antun?« »Es tut mir leid. Aber es würde einfach nicht funktionieren.« Lupa verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte minutenlang. »Ich hatte so wundervolle Pläne für uns«, sagte sie weinend. »Ich weiß.« »Ich dachte, wir würden irgendwohin gehen, ein hübsches Haus bewohnen, ein paar Kinder adoptieren. Es wäre ideal gewesen.« Lupa zog schluchzend die Nase hoch.
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»Ich bin sicher, daß es das gewesen wäre. Aber wir wollen dankbar sein für das, was wir gehabt haben.« »Ja«, sagte Lupa und wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch weg. »Das sollten wir wohl sein. »Es war wundervoll.« »Ja, das war es. Das war es wirklich.« »Aber wir können doch Freunde bleiben, nicht wahr?« fragte Lupa hoffnungsvoll. »Ab und zu können wir uns treffen und sehen, wie es dem anderen geht.« »Natürlich können wir das.« »Ich meine, das bedeutet nicht, daß wir uns niemals wiedersehen können, nicht wahr?« fragte Lupa. »Ich wüßte nicht, warum das so sein sollte«, sagte der Computer. Lupa ging zu den Fenstern hinüber und ließ die Jalousien herunter. Dann schlüpfte sie aus ihren Schuhen. »Es hat keinen Zweck, sich vorzumachen, daß es niemals geschehen ist«, sagte sie, während sie den Reißverschluß ihrer Hose öffnete und herausstieg. Während sie zur Tür hinüberging, um sie zu verriegeln, knöpfte sie ihre Seidenbluse auf und ließ sie über die Schultern gleiten. Dann griff sie nach hinten und öffnete den Verschluß ihres BH, der an ihren Armen hinunterrutschte und auf den Teppich fiel. Ihre runden Brüste mit den großen dunklen Monden hingen wie reife Apfelsinen nach unten, als sie sich vorbeugte und aus dem dünnen Nylonhöschen stieg. Sie machte ein paar Schritte nach vorne, um ihren Körper sanft gegen die glänzende Fassade lehnen zu können. Dann schwang sie sich rittlings über einen glücklich angebrachten Knopf, so daß die warme Stelle zwischen ihren Beinen perfekt auf ihm ruhte. Sie spreizte ihre Arme nach beiden Seiten aus und drückte sich nach vorne, bis ihre Brüste behaglich gegen die vibrierende Frontseite preßten. »Ich meine«, sagte sie ganz langsam und schloß die Augen, »es bedeutet nicht, daß wir einander völlig fremd sein müssen, -6 8 -
denn ich finde dich noch immer...«, ihr heißer Atem benetzte das Metall, »... einfach groß... ar... tig...« Lupa blies sanft gegen die Seite, während der Computer vibrierte und vibrierte und vibrierte. Natürlich war Lupa zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Woche, als sie die ganze Tragweite des Geschehens zwischen ihr und dem Computer begriff, untröstlich. Szlyck nutzte die Gelegenheit. Er verhielt sich ungewöhnlich aufmerksam und rücksichtsvoll, obwohl er sich niemals völlig sicher war, was Lupas Depression herbeigeführt hatte, zumal Lupa es ihm nicht sagen wollte. Sie hatte noch immer die flackernde Hoffnung, daß es zwischen ihr und Szlycks Gerät eines Tages zu einer Versöhnung kommen würde. Szlyck seinerseits schrieb Lupas Verzweiflung jenen geheimnisvollen Vorgängen zu, die sich im allgemeinen in Frauen abspielen. Nichtsdestoweniger lauschte er Lupas Klagen über die Hoffnungslosigkeit ihres Lebens, über ihre sich rasch verzehrenden finanziellen Mittel und über die mangelhaften Berufsaussichten für Radcliffe-Studenten, die als Hauptfach vergleichende Literatur gewählt hatten. Er führte sie zu bescheidenen Abendessen in die kleineren Restaurants von Cambridge, die hervorragendes Essen und eine angenehme Atmosphäre boten und Lupa unbekannt waren. Er lud Kollegen ein, die Lupa an ihren intellektuellen Gesprächen teilnehmen ließen und sie bezaubernd fanden. Er engagierte sogar eine Putzfrau für das Haus, zügelte seinen Appetit und richtete für Cerberus eine neue Heimstatt im Keller ein. Lupa gab nach. Einsam, sich elend fühlend und verletzlich, nachdem sie den Computer verloren hatte, machte sie sich vor, daß Leo nicht das war, was er zu sein schien. Sie züchtigte sich dafür, daß sie bei ihren früheren Beziehungen gutes Aussehen und Jugend den Vorzug vor Intelligenz und Warmherzigkeit gegeben hatte, und erklärte sich, zur Sühne, damit einverstanden, Leo Szlyck zu heiraten.
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»Wenn ich ihn vielleicht als Vaterfigur ansehe...« Wiederholt versuchte Lupa, Gefallen an ihrer Beziehung zu Szlyck zu finden, der im selben Maße eine Vaterfigur war wie ›Papa Doc‹ Duvalier. Die Heirat war natürlich ein Desaster erster Klasse. Leo Szlyck hatte nicht bedacht, daß das, was er am meisten fürchtete, mehr als alles sonst, ein anderer Mensch war, der Macht über sein Leben gewann - der Einfluß darauf nahm, wann er schlafen ging und wann er aufwachte, wann er zu essen hatte und was serviert wurde, wie er sich anzog und welche Stunden er bei seiner Arbeit verbrachte. Der Gedanke, sein Leben umzustellen, um auf die Bedürfnisse eines anderen Rücksicht zu nehmen, kam ihm, mochten die Veränderungen auch noch so geringfügig und unbedeutend sein, nicht leicht er kam ihm überhaupt nicht. Kompromisse, meinte er, waren eine vage psychologische Konstruktion, nur entwickelt, um schwachen Menschen Gelegenheit zu geben, Niederlagen zu erklären. Es dauerte nicht lange, bis Szlyck Lupa mit demselben Argwohn betrachtete, den er bisher für Verkäufer und Bankangestellte reserviert hatte. Lupa wurde der Feind. Nicht, daß dies Szlycks einzige Beziehung zu Lupa gewesen wäre. Es gab tagelange Perioden, in denen er Reue zeigte, Besserung gelobte und um Vergebung bat für seine heftigen Wutausbrüche, seine gemeinen und beleidigenden Worte und seine unaufhörlichen Anklagen wegen ihrer Untreue und ihrer bewußt schlechten Nahrungszubereitung. Während dieser Ruhepausen in der Mitte jedes Sturm fühlte sich Lupa so erleichtert, daß sie vergab und vergaß. Fast unmittelbar nach der Begnadigung fiel Szlyck wieder in das Stadium des Mißtrauens und des gärenden Verfolgungswahns zurück. »Da ist ein kleiner roter Punkt im Dotter eines der Eier, die du mir gegeben hast.« Szlyck funkelte Lupa an. »Ich glaube, das ist dein Ketchup, Lieber.« Lupa versuchte, freundlich zu sein. -7 0 -
»Mein Ketchup ist an der Außenseite. Der kleine rote Punkt ist an der Innenseite.« Szlyck kniff die Augen zusammen und schäumte vor Wut. Lupa ging zu ihm hinüber und betrachtete den rot-weißgelben Mischmasch auf seinem Teller. »Für mich sieht es so aus, als ob er an der Außenseite wäre.« Lupa versuchte, die Sache herunterzuspielen. »Ich mache dir ein anderes Ei.« »Ich will kein anderes Ei«, knurrte Szlyck. »Ich will nur wissen, was sich in diesem befindet.« »Ein winziges Strychninkügelchen. Ich habe es mit meinem Lippenstift angemalt, so daß es wie eine kleine Unregelmäßigkeit im Dotter aussieht.« Lupa sagte es und lief aus dem Zimmer. »Aha!« Szlyck hielt ihre Antwort, das Datum und die genaue Uhrzeit in einem kleinen Notizbuch fest, das er für eben solche Geständnisse in seiner Hemdtasche bei sich trug. Unglücklicherweise war Szlycks Verhalten zum ersten Mal auch an seinem Arbeitsplatz nicht anders. Um seine vollkommene Unproduktivität bei der Arbeit zu kompensieren, traktierte er Kollegen und Angestellte ohne Gnade, bis er sich jeden zum Feind gemacht hatte, der mit ihm in Berührung kam. Die Menschen fingen an, Leo Szlyck zu verabscheuen. Er inspirierte Haß. Ein Vorfall mit einem Thunfisch-Sandwich, das auf Toast sein sollte, aber nicht auf Toast war, als es in seinem Büro ankam, führte zu einem neuerlichen Besuch Szlycks im McLean Hospital. Im Gegensatz zu früher mußte er diesmal allerdings, als er zum M.I.T. zurückkehren wollte, zur Kenntnis nehmen, daß seine Berufung zum Professor aufgrund eines Schreibfehlers widerrufen worden war, und nichts, was er tat, konnte daran etwas ändern. Wenn es Szlyck nicht besser gewußt hätte, wäre es ihm beinahe so erschienen, als ob die Universität keinen Wert mehr darauf legte, einen der führenden Physiker der Welt in ihren Reihen zu haben. So bekam er abermals einen seiner Anfälle. In nerhalb weniger Tage war er -7 1 -
wieder im McLean Hospital, ohne Aussicht, seinen Job jemals wiederzubekommen. »Mir reicht es«, informierte Lupa den Computer eines Abends, als Szlyck gerade von seinem letzten Aufenthalt im McLean Hospital zurückgekehrt war. »Ic h kann ihn nicht mehr ertragen. Ich versuche, ihn zu verlassen, und er wirft mir diese Im-Guten-wie-im-Bösen-Geschichte an den Kopf. Wann kommen wir zu dem Guten? Das ist es, was ich wissen will.« Lupa ging kummervoll auf und ab. »Leo hat einige Schwierigkeiten, mit der Intimität umzugehen«, versuchte der Computer, Lupa zu beruhigen. »Nein, hat er nicht«, schnappte Lupa. »Ich habe Schwierigkeiten, mit der Intimität umzugehen. Was Leo hat, führt normalerweise zum Völkermord.« »Er ist ein kranker Mann.« »Ich weiß, ich weiß. Darum bin ich auch noch immer hier.« Lupa fuhr fort, erregt hin und her zu gehen. Dann blieb sie stehen und blickte den Computer an. »Leo will wegziehen«, sagte sie. »Er sagt, daß er ganz von vorne anfangen will, daß ein neues Leben für uns beginnen soll. Ich werde mit ihm gehen, wenigstens solange, bis er festen Boden unter den Füßen hat, aber ich mache mir um eins Sorgen.« »Ich werde da sein.« »Oh, das ist gut!« seufzte Lupa. Der Computer war sehr erfreut über Lupas Loyalität und besonders dankbar, daß Szlyck, als er Lupa die Details über den Bau des Computers erzählte, die komplette Geschichte ausgelassen hatte, die, der Vollständigkeit halber, ungefähr so geht: Szlyck hatte die Einstein-Schienenträume fünf Monate lang gehabt, bis er eines Nachts das Ende der Strecke erreichte. Es stand in großen Buchstaben auf einem Schild am Ende des letzten Neuronenpfads in Szlycks schlafendem Gehirn geschrieben - Ende der Strecke.
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Leo Szlyck wachte augenblicklich auf und erkannte, daß er endlich fertig war. Endlich würde er das sehen, was Einstein gesehen hatte und wodurch er veranlaßt worden war, die Lösung mit in sein Grab zu nehmen. Szlyck arbeitete fieberhaft. Am frühen Abend hatte er die Verdrahtung abgeschlossen und in der Mitte der Nacht des Computers Umwandler zum Hören und seinen Synthesizer zum Sprechen angeschlossen. Also, hier kommt der interessante Teil, den Szlyck gegenüber der Dame, die später seine neue Zimmergenossin werden sollte, nicht erwähnt hatte. Szlyck schaltete den Computer ein, und es wurde ein leises Summen hörbar. Dann trat eine unbehagliche Stille ein, während der Szlyck im Dunkeln saß und auf das gewaltige Drahtgewirr vor sich starrte. Szlyck ertrug das beunruhigende Schweigen mehrere Minuten lang. Dann räusperte er sich und sprach in den Umwandler. »Ich bin Professor Leo Szlyck«, sagte er ganz präzise. »Hallo und wie geht es dir?« »Ich bin Satan«, gab ich zurück. »Hallo und wie geht es dir?«
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Zwischenspiel Satans Gesang Ich bin Satan. Hallo, und wie geht es Ihnen? Ich bitte Sie höflich, diese Verzögerung bei meiner Vorstellung zu entschuldigen. Ich hielt es für besser, daß Sie zuerst Kassler, Szlyck und Lupa kennenlernen sollten, da diese, wie Sie inzwischen zweifellos erkannt haben werden, im folgenden eine wichtige, wenn auch nicht immer freiwillige Rolle spielen. Außerdem ist eine solche Verschiebung der Artigkeiten höchstwahrscheinlich nicht unangebracht, da es in der Vergangenheit wohl Zeiten gegeben hat, wo mein erster Auftritt ein wenig zu heftig gewesen ist. So sagen sie jedenfalls. Natürlich sollte mittlerweile offenkundig geworden sein, daß meine Anwesenheit hier keineswegs auf eine Idee meinerseits zurückzuführen ist. Die Ehre für diesen hübschen kleinen Taschenspielertrick gebührt Szlyck. Leo Szlyck ist, nebenbei bemerkt, einer meiner Engel. Ich gebe ihm neun von zehn Punkten. Wenn es mir gestattet ist, kurz von den Heldentaten Kasslers, Szlycks, Lupas und derer, die unglücklicherweise noch folgen werden, abzuschweifen, dann möchte ich ein paar Minuten darauf verwenden, einige Dinge klarzustellen. Es ist mir nicht entgangen, daß während der letzten tausend Jahre oder so gewisse Mythen über mich große Popularität gewonnen haben. Nun, ich habe für Poesie und Phantasie ebensoviel übrig wie jeder andere auch, weiß Gott, aber das Ganze ist völlig außer Kontrolle geraten. Genug ist genug. Ich habe keinen Schwanz. Ich habe keine Hörner. Oder gespaltene Hufe. Also wirklich, kann ich da nur sagen... Hier kommt etwas, was sie interessieren sollte: Die Hölle ist nicht das, was sie angeblich sein soll. Es gibt keinen Ort mit Feuergruben und Flammen und Kesseln, in denen die Seelen der Sünder auf ewig sieden. -7 4 -
Genau betrachtet ist die Hölle weitgehend ein Ort wie jeder andere. Wir haben das freie Unternehmertum, große Firmen, Steuern, Eigentum, Massenmedien. Kürzlich habe ich darüber nachgedacht, wie man den Ort durch etwas Neues beleben könnte. Ich denke daran, jeden einzelnen in der Hölle zu einem Rechtsanwalt zu machen. Nur so ein Gedanke. In jedem Fall ist das Inferno purer Blödsinn. Satan ist nicht mal mein richtiger Name. Keiner kennt meinen richtigen Namen. Keiner. Nicht einmal ich. Manchmal benutze ich also Satan. Im mittelalterlichen Deutsch gibt es zweiundsechzig Namen für mich. Im Englisch des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es mindestens vierhundert. Ich meine, daß man sich, wenn man in bezug auf einen rotäugigen Teufel mit zwei Hörnern und einem gegabelten Schwanz schon Übereinstimmung erzielt, auch auf einen Namen einigen könnte. Die Wahrheit ist, daß ich nicht der Vater des Bösen bin. Ich bin der Widersacher, und das ist alles. Satan bedeutet ›Widersacher‹. Lesen Sie die Bibel, Zacharias 3,1. Satan ist nicht mal ein richtiges Hauptwort. Prüfen Sie es nach. Widersacher. Gott sagt: »Hast du meinen Knecht Hiob betrachtet?« Ich sage: »In Ordnung, beachten wir ihn.« Verstehen Sie, was ich meine? Meine Rolle ist es, die andere Seite der Dinge zu betrachten. Natürlich ist Sie-wissen-schon-wer darüber nicht sehr erfreut. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Gott erzählt mir, daß er den Menschen erschaffen will. Ich erwidere, taktvoll natürlich, daß dies eine lausige Idee ist. »Nein, nein, nein, sie ist gut«, sagt er. »Nein, nein, nein, sie ist entsetzlich«, sage ich. Bis heute ist er nicht bereit, seinen Fehler zuzugeben. Wie ich ihm einmal darlegte, war es nicht möglich, mit vierzig Tagen und vierzig Nächten Regen, ein landwirtschaftliches Problem zu beseitigen. Ich glaube, daß wir früher oder später die Dinge so sehen müssen, wie sie sind. Das höchste Wesen hat es vermurkst, hat es ganz fürchterlich vermurkst.
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Tatsächlich stehe ich an Gottes Seite. Denken Sie darüber nach. Ergibt es irgendeinen Sinn, daß ich meine ganze Zeit der Bestrafung von Sündern widme, die ich eigentlich verehren sollte, nur um einem Gott gefällig zu sein, den ich eigentlich verabscheuen sollte? Ich habe Gott gerne. Wirklich. Gott ist, letzten Endes, die Liebe. Ich bin, andererseits, die Vernunft. Ich glaube nicht. Ich akzeptiere nicht blind die Autorität. Ich verlasse mich auf das, was ich eigenständiges Denken nenne. Ich balanciere Gottes Liebe mit der Vernunft aus. Natürlich ist ein solches Vorgehen gefährlich und schrecklich, besonders für die hochgeschätzte Katholische Kirche, die logischerweise individuelles, eigenständiges Denken als teuflisch verdammt und erklärt hat, daß ich als der oberste Repräsentant der Vernunft böse bin. Da haben Sie es. Das Faszinierendste an meiner Beziehung zur Katholischen Kirche ist natürlich, daß ich Jude bin. Wie Gott. Tatsächlich bin ich, um die Wahrheit zu sagen, lediglich ein Festtagsjude. Sühnopfer, die auf jährlicher Basis erneuert werden, haben mich immer fasziniert, und so hänge ich an Rosh Hashanah und Jom Kippur immer am Tempel herum. Den Rest des Jahres bin ich zu beschäftigt. Sie wissen, wie es ist. Es ist sehr wichtig für mich, daß Sie dies verstehen. Ich habe absolut nichts mit dem Bösen zu tun. Meine Aufgabe ist es, die Kehrseite der Medaille zu betrachten. Das ist alles. Ich bin kein Verführer. Oder ein Ankläger. Oder ein Zerstörer. Vergessen Sie, was der Talmud sagt. Es ist nicht mein Fehler, daß er sich mit Glanz und Glorie schmückt, und ich das bekomme, was übrig bleibt. Aber lassen Sie mich Ihnen eins sagen. Sie hören nie etwas von einem rachsüchtigen Satan, von einem Satan des Zorns, von einem Satan, der Pestilenz und Hungersnot bringt. Das ist der andere Bursche. Das sollten Sie nie vergessen. Hier ist noch etwas: Ich stehe nicht am Fuße des Totenbetts und kämpfe mit den Engeln um die Seele des Leichnams. Das -7 6 -
ist nicht notwendig. Die Menschen kommen in die Hölle, weil sie es gerne tun. Weiterhin - ich bin kein stumpfsinniger Rohling. Dantes Dämon ist Dantes Problem. Um die Wahrheit zu sagen - Sie können Dante vergessen. Die Hölle ist nicht in neun symmetrische Kreise unterteilt, von denen jeder eine Folterkammer für andersartige Sünder verkörpert: tugendhafte Heiden und ungetaufte Kinder, die Wollüstigen, die Gefräßigen, die Geizigen, die Zornigen und Trägen, die Ketzer, die Gewalttätigen, die Betrüger und Zwietrachtstifter und so weiter. Bei Dante, so verstehe ich es, spezialisieren sich die Sünder. Die Wahrheit ist, daß Sünder die Tendenz haben, uneingeschränkte Praktiker zu sein. Dann noch, ich bin nicht irgendein famoser düsterer Sonderpreis, den Sie am Ende einer Wanderung durch eine danteske Landschaft finden, die aus Wäldern von Selbstmördern, brennenden Ebenen, Marschen und Sümpfen besteht. Ich bin keine Ausgeburt infantiler Vorstellungskraft ohne Regeln, Prinzipien oder System. Es gibt Regeln. Es gibt Prinzipien. Und es gibt definitiv ein System. Davon möchte ich sie ebenfalls unterrichten. Nun, als ich anfänglich hierher kam, dank des schon erwähnten Dr. Szlyck, glaubte ich, daß es ganz leicht sein würde, diese Geschichte zu erzählen. So war es aber nicht. Ich hatte Sam Zelazo nicht eingerechnet, der, wie ich vielleicht schon erwähnt habe, Szlycks Todfeind ist. Zelazo ist nicht einer meiner Engel. Sehr schade. Er könnte süperb gewesen sein. Sie werden noch verstehen, was ich meine. Für den Augenblick können Sie mein Wort einfach für bare Münze nehmen. Als Satans Engel wäre Zelazo absolute Spitze gewesen. Tatsächlich hat es mich immer mehr als nur ein bißchen geärgert, daß Zelazo keiner der Meinen ist, weil Zelazo, müssen Sie wissen, Psychiater ist, Freud ist ein Erzengel. Ich gebe ihm volle zehn Punkte. Der Beste. Gar keine Frage. Der Mann ist ein Genie. -7 7 -
Ich bringe die Psychiatrie an dieser Stelle zur Sprache, weil ich beschloß, daß ich mich, da ich nun schon mal hier war, einer kleinen Psychotherapie unterziehen sollte. Die Wahrheit ist nämlich, daß ich nicht so glücklich bin, wie Sie vielleicht denken. Nun, wie Sie sich wohl vorstellen können, ist es gar nicht so einfach, einen Therapeuten zu finden, der gewillt ist, den Engel der Hölle zu behandeln. Ich habe es bei allen versucht. Freud, Jung, Adler, Sullivan. Es ist zwecklos. Die Leute neigen dazu, meine Lauterkeit in Zweifel zu ziehen. Deshalb entschied ich mich für Sy Kassler, dessen maßlose Naivität nicht nur einen solch unbegründeten Verdacht hinsichtlich meiner Motive ausschloß, sondern ihm zweifellos auch, würden für solche Sachen Rekorde registriert, einen sicheren Platz im Guinness Book of World Records eingebracht hätte. Abgesehen davon ist an Kassler wirklich nichts Besonderes. Er geriet, wie Sie noch sehen werden, ganz zufällig ins Bild, in mein Bild. Kassler ist, was wir dort, wo ich herkomme, einen I.S.A.S. nennen. Das steht für ›Irgend so ein armes Schwein‹. Einen Psychotherapeuten zu bekommen, irgendeinen Psychotherapeuten, ist eine ungewisse Sache, um es gelinde auszudrücken. Für mich ergeben sich da spezielle Probleme. Zum einen gibt es für mich keine Möglichkeit zu zahlen. Vergessen Sie die Mythologie. Ich schließe diese Art Pakte nicht. Und selbst wenn ich es täte, würde ich niemals jemanden dazu zwingen, gegen seinen Willen zu handeln. Das is t nicht mein Stil. Diese Methode überlasse ich dem Allgütigen in seiner unendlichen Weisheit. Ich besitze nur die Vernunft, mit der ich handeln kann, und so wie die Institutionen heutzutage aussehen, ist Intellekt nahezu unverkäuflich. Mehr noch, ich bin Luft. Sie können auch die zwölf Flügel, das Fell, die Fänge und den ganzen Rest von Mr. Blakes einprägsamen Alpträumen vergessen. Ich bin Geist. Ich besitze keinerlei Form. Ein Phantom. Das bin ich.
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Dies alles führte dazu, daß mir das Engagement Sy Kasslers als mein Psychotherapeut starke Schmerzen in meinem ätherischen Magen bereitete, um es ganz ehrlich zu sagen. Kassler hatte in etwa genausoviel Verlangen danach, Satan zu behandeln, wie ich Verlangen danach habe, das Halleluja zu singen, aber als wir schließlich zusammenkamen, war Kassler glücklicherweise in seinem Leben an einem Punkt angelangt, wo er keine Zweifel daran hegte, daß ich wirklich war. Glauben Sie mir, das allerletzte, was ich gebrauchen konnte, war irgendein neunmalkluger Psychotherapeut, der mich davon zu überzeugen versuchte, daß ich nicht der Fürst der Verdammten war. Kassler war ideal. Obwohl es, wie ich schon sagte, nicht problemlos war, Kassler für meine Therapie zu gewinnen, versüßte ich das Essen, um es so auszudrücken, indem ich einen kleinen Handel abschloß. Ich versprach ihm, daß er, wenn er mich erfolgreich behandeln könnte, von mir die ›Große Antwort‹ bekommen würde. Es war für uns beide ein gutes Arrangement, glaube ich. Kassler bekam in der Tat seine Antwort, und was mich angeht... Nun, ich bin geheilt. Damit Sie nicht enttäuscht sind - gestatten Sie mir, gleich am Anfang darauf hinzuweisen, daß bei meinen Sitzungen mit Kassler die üblichen spektakulären Merkmale fehlen, die man mir in populären Filmen meistens zuschreibt. Es gibt keine Besessenheit. Keine Beschwörungen. Keine Köpfe, die sich um 360 Grad drehen, und keine Körper, die durch die Luft geschleudert werden. Tut mir leid. So ist es nun mal nicht. Vernunft. Das ist alles, was ich bieten kann. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe Hollywood. Ich finde die Filme großartig. Rosemaries Baby. Der Exorzist. Das Omen. Hervorragende Spezialeffekte. Was auch immer Sie sonst von mir denken mögen - eins müssen Sie mir zugestehen: Ich bin ein großer Kassenerfolg. Ich bin mir nicht sicher, daß Kassler während unserer Psychotherapiesitzungen von meiner Wirkung auf das Publikum -7 9 -
sonderlich beeindruckt war. Um Kassler gegenüber fair zu sein - die Treffen fanden natürlich 1979 statt, mehr als zehn Jahr nach jenem schrecklichen Tag in Florenz, an dem Morris Kassler seinen dramatischen Abgang hatte. In den dazwischenliegenden Jahren hatte Kassler keine schlechte Zeit gehabt, wie ich noch ausführlich darlegen werde, um es unter Beweis zu stellen. Zu der Zeit jedoch, als Kassler mit meiner Behandlung begann, war für ihn alles vorbei, so daß er, wie Sie sehen werden, genau die Sorte Therapeut war, die ich brauchte. Sie müssen meinen Worten nicht blind Glauben schenken. Da es letzten Endes meine Geschichte ist, werde ich den Dingen vorgreifen, so daß Sie sich selbst überzeugen können.
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Januar 1979 I. Sitzung »Sie sagen also, daß Sie Satan sind«, begann Kassler. Er saß in dem alten Plüschsessel gegenüber meinem großen Drahtknäuel. Kassler war kein glücklicher Mensch. »Spielen Sie nicht mit mir, Kassler«, antwortete ich. »Dies ist eine ernste Angelegenheit.« »Was genau hat Sie veranlaßt, zu diesem Zeitpunkt psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen?« fuhr Kassler ganz geschäftsmäßig fort. »Sie können den ›Mister‹ vergessen. Einfach Satan. Also, wenn Sie nichts dagegen haben, dann möchte ich Sie bitten, von der Schulpsychoanalyse Abstand zu nehmen. Wenn ich eine orthodoxe freudianische Analyse haben wollte, würde ich mich an Freud wenden.« »Sie haben Zugang zu Dr. Freud?« fragte Kassler leicht skeptisch. »Machen Sie Witze? Natürlich habe ich Zugang zu Freud. Obgleich ich freimütig zugeben muß, daß es kein augenblicklicher Zugang ist. Wo Freud jetzt ist, wird er mit Fällen geradezu überhäuft.« »Sigmund Freud ist in der Hölle?« »Und verbringt die Zeit seines Lebens!« Kassler saß mit steinernem Gesicht da und stopfte Tabak in eine alte Pfeife. »Entschuldigen Sie den Ausdruck«, fügte ich hinzu. Kassler sagte nichts. »Es war ein Scherz, Kassler. Zeit seines Lebens. Freud ist tot. Haben Sie es?« »Ja, ich habe es.« »Sie lachen nicht.« -8 1 -
»Ich möchte Sie noch einmal fragen, warum Sie sich entschlossen haben, zu diesem Zeitpunkt professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, Mr. Satan.« »Sind Sie nicht interessiert daran, zu erfahren, warum ich Sie gewählt habe, obgleich ich meine Psychoanalyse auch von Freud haben könnte? Das ist eine provokative Frage, wie mir scheint.« Kassler fuhr fort, Tabak in die abgegriffene Pfeife zu stopfen, während er schweigend nachdachte. »Nein«, meinte er dann, »ich bin nicht daran interessiert.« »Warum nicht? Halten Sie sich für besser als Freud? Glauben Sie, ich hätte nicht frei wählen können, nur weil ich mich hier in Szlycks Souterrain am anderen Ende eines Gewirrs von plastikverkleideten Kupferlitzen wiederfinde? Sie sind nicht der einzige verfügbare Therapeut. Freud hat Hitler kuriert, müssen Sie wissen. Hitler. Er hatte den Bastard so weit, daß er nach der dritten Sitzung um seine Mutter weinte und nach der fünften Sitzung den Talmud studierte. Ich hätte Freud als Therapeuten haben können, wenn das mein Wunsch gewesen wäre.« Kassler gab keine Antwort. Er zündete lediglich seine Pfeife an, deren Rauch in dichten Wolken über ihm in die Höhe stieg. »Würden Sie mir sagen, was Sie dazu gebracht hat, zu diesem Zeitpunkt um eine Behandlung nachzusuchen, Mr. Satan?« fragte Kassler mit aufreizender Gelassenheit. »In Ordnung, Kassler, machen wir es auf Ihre Methode.« »Was ist das für eine Methode?« »Die Menschen verstehen mich vollkommen falsch.« Ich ging Kasslers Frage aus dem Weg. »Wie meinen Sie das?« »Zum einen - ich bin kein finsterer Fliegenfänger.« »Sie führen die Menschen nicht in Versuchung?« »Das tue ich nicht.« »Verstehe.« -8 2 -
»Überlegen Sie doch mal, Kassler. Zu was genau sollte ich die Menschen verführen, was sie nicht schon längst tun? Nehmen Sie sich, zum Beispiel. Ihr Leben ist ein einziges Desaster gewesen. Sie haben mich dafür nicht gebraucht. Sie haben es bestens alleine geschafft.« »Was ist mit Zelazo?« »Ich habe mit Zelazo nichts zu schaffen. Zelazo hat mit Zelazo etwas zu schaffen.« Kasslers Blick wurde leicht unstet, sein Temperament war nicht mehr ganz so gezügelt. »Sie haben nichts mit Zelazo zu schaffen«, schnappte er. »Oder mit Szlyck, Lupa, Vita, Ihren Kindern oder sonst jemandem, um es genau zu sagen. Wie Sie sich sehr wohl bewußt sind.« Kasslers Pfeife war ausgegangen. Er griff nach dem metallenen Stopfer in der Tasche seiner Tweedjacke und stocherte auf dem stinkenden Tabak herum, während er gleichzeitig versuchte, sich zu beruhigen. »Ich glaube nicht, daß es hilfreich sein wird, mein Leben zu diskutieren.« Kassler gewann schließlich seine professionelle Gelassenheit zurück. »Diese Sitzungen sollen Ihrem Nutzen dienen, nicht meinem.« »Wirklich«, bemerkte ich. »Sie glauben das? Satan zu behandeln, hat keine Konsequenzen für den Therapeuten?« »Weniger, als Sie wohl gerne hätten, das ist meine Einschätzung.« »Mehr als Sie ahnen, das ist meine Einschätzung.« Es trat etwas ein, was man, glaube ich, eine bedeutungsschwangere Pause nennt. Wäre Kassler kein Mann gewesen, der zu seinem Wort stand, für den ein Handel letzten Endes ein Handel war, hätte er meine Behandlung vielleicht hier und jetzt abgebrochen. So aber betrachtete er sich als vorgewarnt, klopfte die Tabakklumpen aus seiner Pfeife in den Aschenbecher neben sich und begann, neuen Tabak in den noch warmen Pfeifenkopf zu füllen. -8 3 -
»Fliegenfänger«, sagte er schließlich. »Sie sagten mir, daß Sie sich nicht als Fliegenfänger betrachten.« »Ich bin ein klarer Denker, Kassler. Logisch. Ich bringe gute Argumente vor. Gott ist Liebe. Ich bin gesunder Menschenverstand. Und damit hat es sich.« »Gott ist Liebe«, wiederholte Kassler, während er sich mit seiner Pfeife beschäftigte. »Das erzählt er mir jedenfalls. Unsere Mutter scheint ihm zuzustimmen.« »Unsere Mutter?« Kassler war eindeutig überrascht, keine unerwartete Reaktion. »Richtig«, sagte ich ruhig. »Unsere Mutter. Gottes und meine.« »Sie haben eine Mutter? Sie haben dieselbe Mutter? Gott hat eine Mutter?« »Wo, glauben Sie, kommen wir her - vom Kartoffelacker?« »Ich stand unter dem Eindruck, daß Gott schon immer war.« »Nein. Das einzige, was schon immer war, ist das Nichts.« »Möchten Sie mir etwas über Ihre Mutter erzählen?« »Nicht eigentlich. Sie wollen etwas über meine Mutter hören? Meine Frau könnte da ein paar Dinge sagen. Sprechen Sie mit ihr. Sie wäre entzückt, Ihnen ihre Eindrücke mitteilen zu können.« »Verheiratet sind Sie also auch«, kommentierte Kassler mit etwas mehr Gleichmütigkeit. Er paßt sich schnell an, dachte ich. »Natürlich bin ich verheiratet«, sagte ich zu ihm. »Denken Sie, jemand wird von sich aus so?« »Und Gott?« »Machen Sie Witze? Ein Junggeselle bis ins Mark. Sie können sich entspannen, Kassler. Es gibt keine Mrs. Gott.« Kassler atmete kaum hörbar aus und gab damit in etwa zu erkennen, daß er erleichtert war.
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Ich beschloß, die Gelegenheit zu nutzen. »Natürlich wäre da immer noch, wie Sie sich denken können, die Frage nach der Beziehung, die meinen Neffen hervorgebracht hat. Das ist ein Problem.« »Ihr Neffe«, wiederholte Kassler leicht verwirrt. »Jesus. Der Junge, der hingegangen ist und jedem erzählt hat, daß ich das Lachen zu etwas Bösem gemacht habe, so daß seitdem in der Kirche kein Mensch mehr lächelt. Das Lachen, Kassler! Kaum zu glauben, was? Vergnügen, Entzücken, Freude - Ausstrahlungen der Hölle. Er hatte die Stirn, den Spaß für ungesetzlich zu erklären. In meinem Namen. Kein Wunder, daß man mich verabscheut.« »Sie sind Christus' Onkel.« Kassler fügte alles zusammen. »Erinnern Sie mich nicht.« »Ich möchte mehr über Ihre und Gottes Mutter hören. Christus' Großmutter, wenn ich es recht verstehe.« »Das kann ich mir denken, aber ich ziehe es vor, heute nicht über Frauen zu reden, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Sie haben etwas gegen Frauen?« »Nein, und das ist der springende Punkt. Der sogenannte Fürst der Wollust hat absolut nichts gegen Frauen. Aber ich habe auch keine besondere Zuneigung zu ihnen. Es kommt auf die Frau an. Wenn die Katholische Kirche in ihrer hochgeschätzten Weisheit das Zölibat als den einzigen idealen Zustand betrachten möchte, dann sei es. Ich kenne die Geschichte. Gott gab Männern und Frauen die Ausrüstung, Babies zu machen, und dann kam ich und vermurkste die ganze Sache, indem ich den Spaß dazu gab. Bis ich hinging und den Geschlechtsverkehr erotisch machte - so hat man mir die Doktrin erklärt -, empfanden die Menschen nicht das geringste dabei, sich miteinander zu verstöpseln und hin und her zu rubbeln. Nun, lassen Sie mich Ihnen versichern, daß die ganze Geschichte allein sein Werk ist, Kassler. Glauben Sie mir, ich kann mich auf andere Weise amüsieren und brauche dazu keine Drüsen. Geschlechtliche Liebe ist keine Form dämonischer Besessenheit. Dasselbe gilt auch für -8 5 -
ausgefallenere sexuelle Aktivitäten. Ich weiß nicht, warum die Menschen stöhnen und trotzdem weitermachen, wenn Sie so herumrubbeln. Jedenfalls habe ich nichts damit zu tun.« »Sie haben nichts gegen Frauen?« stellte Kassler laut fest. »Sie sind das, was sie sind«, sagte ich. »Ich verabscheue sie nicht als Geschlecht, aber wenn man weiblich ist, heißt das nicht, daß man automatisch in die Hölle aufgenommen wird. Alle Frauen sind nicht Töchter des Teufels, die durch sündhafte Verlockungen das Verderben der Männer herbeiführen. Die Hand einer Frau ist der letzte Platz, an dem Satan seine Klaue verbirgt, und ich hoffe, daß Herr Lessing gut zuhört.« »Instrumentum Diaboli«. Kassler erinnerte sich gut an sein Latein. »Ist dies nicht der offizielle Name der Kirche für die Frauen?« »Das ist er, aber sie sind es nicht.« »Sie sind es nicht?« »Sie sind es nicht«, wiederholte ich. »Die Wahrheit ist, Kassler, daß ich von Anfang an gegen den grundlegenden Entwurf war, und wenn Gott einmal auf mich gehört hätte, wäre der Welt, Ihnen und mir viel Kummer erspart worden. Ich sagte zu Gott: ›Gib Frauen einen Penis oder vergiß sie ganz.‹ ›Ich gebe den Frauen Brüste‹, sagte er. ›Tolle Sache, aber das ist nicht dasselbe‹, sagte ich zu ihm. ›Einen Penis oder vergiß es.‹ ›Keinen Penis.‹ Er war unnachgiebig. ›Wie wäre es mit Eiern?‹ schlug ich vor. ›Laß die Frau Eier legen. Das funktioniert. Warum mit einem anderen Organ herumspielen?‹ Aber hörte er auf mich? Natürlich nicht. Was also, glauben Sie, waren die ersten Worte, die aus Evas Mund kamen, als sie Adam sah?« »Es gibt so viele Möglichkeiten.« Kassler dachte ernsthaft über die Frage nach. »Ich will es Ihnen sagen, Kassler. Sie blickte zwischen seine Beine. Sie blickte zwischen ihre Beine. Dann blickte Sie -8 6 -
zwischen seine Beine. ›Wie bekomme ich einen von denen?‹ Das waren die ersten Worte aus ihrem Mund. Seitdem ist es ein einziges Desaster gewesen.« »Ich möchte noch einmal fragen, warum Sie Psychotherapie in Anspruch nehmen wollen, Mr. Satan.« »Die Menschen mögen mich nicht, Kassler, wenn Sie die traurige Wahrheit wissen wollen. Sie haben Furcht vor mir. Ich kann nicht verstehen, was es ist, aber es gibt da etwas, das die Menschen gegen mich einnimmt.« »Viele böse Gerüchte«, kommentierte Kassler. »Genau. Wenn man es richtig betrachtet, dann werde ich sehr mißverstanden. Was ich auch tue, die alten Mythen bestehen fort. Es fängt an, sich auf mein Gemüt zu legen. Deshalb, glaube ich, brauche ich die Psychotherapie.« Kassler lehnte sich in dem alten Sessel zurück und dachte darüber nach, während große Wolken übelriechenden Qualms den Raum füllten. »Ich glaube, es hat etwas mit meinem Interesse an logischem und vernünftigem Verhalten zu tun«, mutmaßte ich. »Sie sind nicht an den irrationalen Aspekten unseres Lebens interessiert«, sagte Kassler langsam, während er an seiner Pfeife zog. »Bin ich nicht.« »Sie sind nicht interessiert an Chaos, Leidenschaft, Konflikt...« »Richtig. Daran bin ich nicht interessiert.« Kassler lehnte sich noch weiter in seinem Sessel zurück und fuhr fort, seine Pfeife zu rauchen. »Wissen Sie«, sagte ich schließlich, »es gab einmal eine Zeit, als das Vernünftige vernünftig und das Unvernünftige unvernünftig war. Das gefiel mir. Es hatte eine Einfachheit an sich, die bei mir enormen Anklang fand.« »So ist es nicht mehr.«
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»Nein, ist es nicht. Eine jungfräuliche Geburt, eine Wiederauferstehung, ein paar Gleichnisse - fast über Nacht wurde alles, was irrational, zufällig, chaotisch, impulsiv und blind war, als ›Göttliche Vorsehung‹ bekannt. Glauben wurde ganz groß.« »Ein böser Tag«, nickte Kassler. »Sehr böse«, stimmte ich zu. »Noch schlimmer ist, daß es Ketzerei benannt wird, wenn man die Vernunft anwendet, um den Glauben zu untersuchen. Natürlich, als die Vernunft Vernunft blieb, die Unvernunft aber Gott wurde, hatte ich nicht mehr sehr viel Operationsraum übrig.« »Selbst Satan hat seine Grenzen«, räumte Kassler ein. »Ich will Ihnen etwas sagen, Kassler. Ich staune über das menschliche Beginnen, nach Ordnung und Folgerichtigkeit zu suchen. Wissenschaft ist eine wunderbare Sache. Die geniale Begabung, die ihr alle besitzt, Systeme zu entwickeln, die Systeme von Systemen erklären, ermutigt mich.« Kassler stellte die Füße auf die verschlissene Ottomane vor sich. »Wir tun unser Bestes«, sagte er. »Die Vernunft ist furchtbar geworden, Kassler. Verabscheuungswürdig. Böse.« »Wieso?« »Wieso? Machen Sie Witze? Wer wendet heute noch Vernunft an? Ihr Menschen giert alle nach Bestrafung. Ihr schreitet von einem Desaster zum nächsten, als ob es kein Morgen gäbe. Ihr seid nie zufrieden. Ihr wollt immer noch mehr haben. Das letzte, was ihr gebraucht, ist gesunder Menschenverstand. Sehen Sie sich um. Sehen Sie sich Ihr eigenes katastrophales Leben an.« »Ich hatte schon darum gebeten, mein Leben bei diesen Sitzungen aus dem Spiel zu lassen«, sagte Kassler nachdrücklich. »Ich erinnere mich«, erwiderte ich nicht weniger nachdrücklich und kam zu der Überzeugung, daß es am besten -8 8 -
war, das Thema so schnell wie möglich zu wechseln. »Ich weiß, daß ich mich über die Art und Weise, in der ihr alle euer Leben führt, nicht so aufregen sollte. Die menschliche Verhaltensweise ist letzten Endes nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste von Dingen, an denen ich schuld bin. Ich muß lernen, dies zu akzeptieren. Aber ich sage es Ihnen, Kassler, es fängt an sich auf mein Gemüt zu legen. Es gibt nichts, was seit Anbeginn der Welt falsch gelaufen ist, für das ich nicht verantwortlich gemacht worden bin. Absolut alles ist meine Schuld. Schlechte Ernten. Niederschläge. Niesen. Vitaminmangel. Suchen Sie sich was aus. Das Wetter. Mondfinsternisse. Unechte Brüche...« Ein langes Schweigen trat ein. »Sagen Sie mir eins, Kassler«, beendete ich die Stille. »Ich weiß, daß wir nicht über Sie sprechen sollen, aber ich bin neugierig. Geben Sie mir die Schuld für Ihr Leben? Alle Ihre Katastrophen - glauben Sie, daß sie mein Fehler sind? Sagen Sie es mir ehrlich.« »Oder gebe ich mir selbst die Schuld?« »Sie beantworten meine Frage nicht.« »Nein, tue ich nicht.« »Es ist eine gute Frage, meinen Sie nicht?« Kassler blickte hoch und lächelte. »Die wirkliche Frage ist«, sagte er, »wer Sie sind.« »Die wirkliche Frage ist«, antwortete ich, »ob Sie mich ernstnehmen.« »Eine grobe Annäherng an künstliche Intelligenz?« fuhr Kassler fort. »Eine Kopie von Leo Szlycks Gehirn, das Unterbewußtsein Szlycks und sonst nichts? Oder ein Tunnel in ... andere Bereiche.« »Verstehe.« Ich wußte, was er sagen wollte. »Eine Maschine? Wahnsinnig? Oder Science Fiction? Ist das die Frage?« »So ungefähr«, stimmte Kassler zu.
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»Sie wären nicht zufrieden, wenn Sie sich Leos Apparat als eine Art Telefon vorstellen würden, mit dem man über sehr weite Entfernungen sprechen kann, nehme ich an?« Kassler zündete ein weiteres Streichholz an und paffte drauflos. Dann griff er in die Tasche, holte eine Feile hervor und fing an, den Schmutz unter seinen Nägeln hervorzukratzen. »Ich bin kein Gehirn, Kassler«, informierte ich ihn. »Weder das von Szlyck, noch ein künstliches oder sonst eins. Ich fürchte, das läßt uns nur die ›Andere-Bereiche-Hypothese‹ übrig. Und würden Sie bitte mit dem Herumfummeln aufhören? Sie treiben mich in den Wahnsinn.« »Wenn Sie sich vielleicht materialisieren könnten, Mr. Satan«, schlug Kassler vor. »Aha!« Ein Licht dämmerte mir. »Es könnte Ihre Behandlung ergiebiger machen«, meinte Kassler. »Tut mir leid, Kassler. Ich bin Luft. Ein Phantom. Ich existiere kaum. Töne sind alles, was Sie bekommen. Keine Bilder. Sie müssen das tun, was alle anderen auch tun und sich Ihre eigene Vorstellung machen.« »Wie bei Gott.« »Ich hoffe nicht.« »Was heißt das?« »Was heißt das? Was heißt das! Weil er ein selbstsüchtiger Schweinehund ist, deshalb. Wissen Sie, was er tut? Haben Sie eine Vorstellung davon, was er tut?« »Nur aus den Büchern«, meinte Kassler. »Ich will Ihnen sagen, was er tut, Kassler. Den ganzen Tag sitzt er auf einem Thron, der von einem smaragdfarbenen Regenbogen umgeben ist. Um ihn herum sind vierundzwanzig Älteste, die weiße Kleider und goldene Kränze tragen.« »Wie in der Offenbarung.«
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»Genau. Blitz und Donner gehen von dem Thron aus. Vor ihm sind vier Wesen, voller Augen vorne und hinten, die den ganzen Tag und die ganze Nacht singen: ›Heilig, heilig, heilig ist der Herr, Gott, der Allherrscher, der war und der ist und der kommt.‹ Dann, als ob es noch nicht genug wäre, werfen die Ältesten ihre Kränze ab, fallen auf die Knie und rufen aus: ›Würdig bist du, unser Herr und Gott, den Lobpreis zu empfangen und die Ehre und Macht; denn du schufst alle Dinge, und durch deinen Willen waren sie und wurden geschaffen!‹ Ich sage es Ihnen, Kassler, es reicht aus, um einem den Magen umzudrehen.« Kassler blickte geradeaus und sagte nichts. »Es hört niemals auf, Kassler. Niemals. Und ci h soll eitel sein!« »Diese Gefühle für Gott«, überlegte Kassler, »sind Sie deswegen aus dem Himmel ausgestoßen worden?« »Ich glaube nicht. Das wahre Problem ist, daß ich nicht weiß, warum ich hinausgeworfen wurde. Ich weiß wann. Als Augustus an der Regierung war. Vor langer Zeit. Aber warum? Ich bin mir nicht sicher. Dies ist ein weiterer Grund, aus dem ich bei Ihnen bin, Kassler.« »Was hat man Ihnen gesagt?« »Daß man mir die Herrschaft über die Menschheit, über die Erde gab, daß ich ein großes Symbol des Protests gegen die Tyrannei sein sollte, ein Verteidiger von Vernunft und Gedankenfreiheit, die höchste Verkörperung des individualistischen Geists. Es klang großartig. Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich merkte, daß man mich lediglich die Treppe runterwarf.« »Und es war kurz danach, daß Sie anfingen, Gott zu hassen?« »Ich hasse Gott nicht. Ich glaube nicht, daß ich das gesagt habe, oder? Es ist nicht mehr. Ich liebe Gott. Er ist mein Bruder.«
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»Aber Sie setzen wenig Vertrauen darin, daß er weiß, was er tut?« fragte Kassler. »Überhaupt nicht. Ich gestehe Gott alles zu, nur eins nicht die Erfahrung, sich unzulänglich zu fühlen, einer übergeordneten Autorität zu unterstehen, schwach und menschlich zu sein, wenn Sie wollen. Wir kennen Niederlagen, Kassler, Hilflosigkeit, die Erkenntnis, daß unsere größten Anstrengungen vergebens sind. Sie und ich, wir teilen eine Erfahrung, die Gott niemals verstehen wird, das Gefühl des Scheiterns.« Kassler saß schweigend in Szlycks staubigem Souterrain. Er starrte durch das trübe Licht auf das Drahtgewirr, mit dessen Hilfe wir kommunizierten, und lauschte den Schritten Lupas, die oben im Haus hörbar waren. »Wir haben vieles gemeinsam, Sie und ich, Kassler.« Ich streute die Saat aus und fuhr dann fort, sie zu hegen. »Wir sind nicht perfekt, aber im Grunde genommen sind wir gute und vernünftige Geschöpfe - und sehr falsch verstanden. Zu bedauerlich. Wir verdienen Besseres, meinen Sie nicht auch?« »Wir müssen für heute Schluß machen«, erwiderte Kassler. »Unsere Zeit ist um.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Kassler. Sie und ich, wir werden zum Sündenbock gemacht, stimmt's?« »Es tut mir leid«, sagte Kassler ruhig und schickte sich an zu gehen. »Wir müssen wirklich Schluß machen.« »Kommen Sie mir nicht mit diesem albernen psychoanalytischen Scheiß mit der Fünfzig-Minuten-Stunde, Kassler. Ich habe Schmerzen. Die Art und Weise, in der ihr mich alle behandelt, wie ihr über mich denkt, verletzt mich. Also, ich habe Ihnen eine Frage gestellt und erwarte, daß Sie entgegenkommend genug sind, mir eine Antwort zu geben. Denken Sie daran, ich hätte Freud haben können.« »Ja, ich weiß«, bestätigte Kassler, als er die Treppe hinaufging. »Es steht Ihnen natürlich frei, sich jederzeit einen anderen Therapeuten zu nehmen.« Und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. -9 2 -
Das war also meine erste Sitzung mir Dr. Kassler.
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III. Teil Vita 1 Ich würde Ihnen gerne erzählen, daß Kassler in der Mitte seiner Reise durch das Leben, im Alter von dreißig Jahren, vom Weg abkam, Haus und Hof verließ und den Berg hinabstieg, um sich, schließlich erwachend, in einem düsteren Wald wiederzufinden. Keine Rede davon. Mit offenen Augen, hellwach und mit so klarem Kopf, wie man vernünftigerweise nur erwarten kann, ließ er seine zehn Tage in der Psychiatrischen Abteilung des Bellevue-Hospitals hinter sich und schritt geradewegs, wie ein ungetauftes Kind in einem riesigen Limbus, in die dunkle Welt menschlicher Psychopathologie hinein. So begann Kasslers ›Großer Abstieg‹. Obgleich sein Herz für das Feld der Psychiatrie schlug, hinderte eine unglückliche Kombination von mittelmäßigen College-Zeugnissen und einem Verstand, der abgeneigt war, Sachverhalte aus Biologie und Chemie zu speichern, Kassler daran, den ersten von vielen erforderlichen Schritten in Richtung einer psychiatrischen Karriere zu tun: Zulassung zum Medizinstudium. Deshalb bemühte er sich, nach langem flehentlichen Bitten erfolgreich, um Aufnahme bei New York Institute for Professional Studies, wo zur Erlangung eines Doktortitels in Klinischer Psychologie keine medizinischen Vorkenntnisse erforderlich waren. Kassler war natürlich in Ekstase. Das Institut war eine der großen Lehranstalten des Landes für Psychiatrie und Klinische Psychologie, wie er bei seinen Erkundigungen über psychiatrische Schulungszentren in Erfahrung gebracht hatte. Die Anstalt zog Magister aus der ganzen Welt an. Die Studenten, die angenommen wurden, waren nicht sehr -9 4 -
zahlreich, und alle waren exzeptionell. Daß er, Kassler, ein bloßer Sterblicher, Zutritt zu dieser Zitadelle des menschlichen Geistes bekommen sollte, wenn auch nur auf Probe, versetzte ihn in einen Begeisterungstaumel, der unglücklicherweise weniger als die ersten sechs Vorlesungen anhielt. Kassler begann seine akademische Karriere als ein idealer Student, eifrig, lernbegierig, aufnahmefähig für komplexe Ideen, fleißig und hingebungsvoll. Er besaß die Einstellung und all die Fähigkeiten, die zur Entfaltung zu bringen, ihm während seiner Collegezeit, von ihm noch immer lediglich als tumultartige Fortsetzung einer tumultartigen Jugend betrachtet, so schwergefallen war. Nun plötzlich war Kassler - bärtig, bebrillt, gepflegt und entspannt - ein Musterschüler mit einer angeborenen Begabung für psychologisches Gedankengut, dem als Psychotherapeut großer Erfolg vorherbestimmt war. So sah es jedenfalls aus. Zu Beginn seiner akademischen Exkursion lernte Kassler Freud kennen. Nicht persönlich natürlich, wohl aber durch die inspirierten Vorträge Karl Heinrichs, zu der Zeit in seinen Achtzigern. Heinrich hatte, wie Freud, bei Bleuler am Burghölzli studiert und war eins der jüngsten Mitglieder der Gruppe gewesen, die sich mittwochsabends in Freuds Haus traf - Adler, Jung, Steckel, Abraham, Ferenczi, Sachs, Rank, Eitingon und Freud. Die Nostalgischen unter Ihnen sind vielleicht interessiert daran, zu erfahren, daß sich die Gruppe noch immer trifft, obgleich die Örtlichkeit gewechselt hat. Vorlesung für Vorlesung saß Kassler verzaubert da, während Heinrich Freuds psychoanalytische Theorie auf eine so klare und überzeugende Weise präsentierte, daß Kassler ein wahrer Gläubiger wurde. Wenn er den kleinen, bärtigen Österreicher mit den dunklen, durchdringenden Augen, die ihn unter der Nickelbrille scharf ansahen, beobachtete, kam es ihm so vor, als wäre Freud höchstpersönlich erschienen, um ihn durch die menschliche Psyche zu führen. Es war eine wunderbare Reise.
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»Die menschliche Psyche«, Heinrich schnippte während seines Vortrags mit dem Finger in die Luft, »ist eine brodelnde Suppe aus Sexual- und Aggressionstrieben - Libido - die verzweifelt versucht, aus dem Kessel des Unbewußten auszubrechen, um durch irgendein Objekt Befriedigung zu erlangen.« Karl Heinrich machte eine Pause und lächelte die versammelten Studenten an. »›Objekt‹ ist das Wort, das Dr. Freud benutzt, um ein anderes menschliches Wesen zu bezeichnen«, erklärte er präzise. Kassler hielt dies in seinem brandneuen Ringnotizbuch fest und machte einen Stern neben die Eintragung, um sie als ›wichtigen Gedanken‹ kenntlich zu machen. »Nun«, fuhr Heinrich fort, »während der Kindheit wird uns gelehrt, den Deckel fest auf diesen Suppentopf aus instinktiven Trieben und Sexualität zu drücken. Denn sonst...«, Heinrich hob die Hand und bewegte den Zeigefinger hin und her, »... könnten wir die Konsequenzen zu tragen haben, indem wir von Angst, Schuld, Scham, Schmerz und einer schrecklichen Unsicherheit verbrannt werden. Wenn jedoch...«, Heinrich wedelte mit dem Arm, »... der Deckel fest auf dem Topf sitzt, dann wächst, nicht wahr, der Druck, bis er so groß ist daß er freigesetzt werden muß, entweder konstruktiv durch Arbeit, Spiel, Liebe und Sex...«, Heinrich machte an dieser Stelle eine Pause, um die Alternativen abzuwägen, »... oder, bei den Neurotikern, destruktiv durch Symptome. Symptome sind nicht mehr als die Art und Weise, in der der Neurotiker mit seinen aufwallenden Begierden umgeht!« Kassler schrieb auf: ›Aufwallende Begierden = neurotische Symptome‹. Dann lehnte er sich schräg auf dem engen Vorlesungssaalsitz zurück, stützte den Arm auf das abgerundete hölzerne Schreibpult an seiner Seite und bemerkte zum ersten Mal die vollbusige junge Dame zwei Reihen unterhalb von ihm.
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›Reizend, rassig, riesig‹ - die Folge von ›Rs‹ raste durch Kasslers Schädel und rollte über seine aus dem Mund hängende Zunge mit der Eleganz von Kies, der über die Rutsche eines Baustellenfahrzeugs abgeladen wird. Kassler hatte noch nie dergleichen gesehen. Ihr Name war Vita. Sie ruhte entspannt auf ihrem Sitz, mit langen schwarzen Haaren, die verführerisch über ihre nackten Schultern fielen, sonnengebräunt und an diesem heißen Herbsttag mit einem einfachen gelben Sommerkleid bekleidet, mit vollen Brüsten, die, unbehindert von stützender Unterwäsche, so schwellend und nachdrücklich aus ihrem Dekollete ragten, daß sie Kassler fast schwindlig machten. Für eine Sekunde trafen sich ihre Augen, dann wandte Vita mit geziemender Scheu den Blick wieder ihrem Notizbuch zu und gab vor, Kassler überhaupt nicht gesehen zu haben. Während dieses flüchtigen Augenblicks registrierte Kassler in Vitas dunklen funkelnden Augen eine profunde Intelligenz und wußte mit absoluter Sicherheit, daß er, endlich, das Mädchen seiner Träume gefunden hatte. Vita, amüsiert über Kasslers offensichtlichen Enthusiasmus, drehte sich leicht auf ihrem Sitz und zeigte den Anflug eines Lächelns. Sich der Blicke Kasslers sehr wohl bewußt, ordnete sie die schmalen Schulterbänder, wodurch sich ihr Kleid nur leicht nach oben schob, so daß das gewünschte Resultat eines in bescheidenem Maße mehr bedeckten Busens ausblieb und ihre Brüste statt dessen mit höchst beunruhigender Turbulenz zum Wogen gebracht wurden. »Ein Anwachsen der Spannung ruft Unlust hervor«, fuhr Heinrich fort, Freuds Erkenntnisse zu erläutern, »während ein Herabsetzen der Spannung durch Befriedigung Lust bereitet.« Kassler sah keine Notwendigkeit, dies niederzuschreiben. »Diese libidinöse Küche, in der der Mensch schmort, ist die Welt des Es.« Heinrich, Zeit seines Lebens ein Gourmet, setzte seine kulinarischen Metaphern in der nächsten Woche fort. »Es ist das bewußte Ich, das die Spannung und den Ausdruck des -9 7 -
Es reguliert, indem es die vielen Deckel, die für unsere Abwehrmechanismen stehen, zuschlägt...«, Heinrich hämmerte mit der Handfläche lautstark auf sein Pult und weckte mehrere Studenten auf, »... um die Triebe gänzlich zu unterdrücken oder sie in Ersatzreaktionen, Verdrängungen, Übertragungen, Aufhebungen, Ablehnungen und vernunftsmäßige Erfassungen umzuwandeln.« Kassler hatte beschlossen, es langsam angehen zu lassen. Er würde sich nicht auf Vita stürzen. Eine subtile Annäherung würde dafür sorgen, daß er seine Angebetete schließlich gewann, folgerte er, und so rückte er während der zweiten Vorlesung ein Stück näher heran, auf den Sitz unmittelbar hinter Vita, so daß er die Situation besser abschätzen konnte. Dies hatte es natürlich erforderlich gemacht, daß er sich vor der Vorlesung im Foyer außerhalb des Auditoriums nonchalant an eine Wand lehnte und so tat, als wäre er intensiv mit dem Lesen von Jenseits des Lustprinzips beschäftigt, bis er Vita kommen sah. Ganz kurz danach folgte er ihr in den Hörsaal und nahm zur Kenntnis, daß sie ohne Begleitung war und ein Hinterteil besaß, das, in einer engen weißen Jeans, sogar noch spektakulärer erschien als ihr Oberkörper, der sich nichtsdestoweniger nach wie vor voll und prächtig unter einem türkisfarbenen BH präsentierte. »Die Triebe durchlaufen orale, anale und phallische Phasen!« legte Heinrich los. ›1. Mund, 2. Hintern, 3. Penis‹, schrieb Kassler geistesabwesend in sein Notizbuch, während er mit den Blicken den Kurven von Vitas schlanken Armen und den feinen, sonnengebleichten Härchen darauf folgte. Ihre dunklen Locken fielen sanft über die Rückenlehne ihres Sitzes und berührten beinahe Kasslers Knie. Seine Hände schmerzten vor Anstrengung, nicht Vitas frisch shampooniertes und glänzendes Haar zu streicheln. »Ein Über-Ich entwickelt sich in Form eines Gewissens, das die Suppe reguliert und festlegt, wieviel Sexualität und Aggression wem und unter welchen Umständen serviert wird«, erklärte Heinrich geduldig. »Richtig wird von falsch getrennt, gut -9 8 -
von böse, passend von unpassend. Die Küche wird bald völlig ›off limits‹, und während wir mit unserem Ödipuskomplex kämpfen, der uns veranlaßt, unsere Mutter zu begehren und unseren Vater zu verabscheuen, weil er dies nicht erlaubt...«, Heinrich hielt mitten in Satz und Gedankengang inne, »... oder umgekehrt -, wird auch das Schlafzimmer verboten.« Kassler hatte eine Idee. Er hob die Hand. Heinrich, erfreut, daß er bei einem der stumpf dasitzenden Studenten Interesse erweckt hatte, rief ihn sofort auf. »Im Lustprinzip...«, Kassler kürzte den Titel ab, um seine Vertrautheit mit Freuds wohlbekanntem Werk unter Beweis zu stellen, »... spricht Sigmund von einem Todestrieb.« Für den Bruchteil einer Sekunde blickte er auf Vita, um festzustellen, ob sie sich auf ihrem Sitz herumgedreht hatte und interessiert zuhörte. So war es. Unglücklicherweise erkannte Kassler im selben Augenblick, daß er, da er lediglich die ersten zehn Seiten des Buchs und die Beschreibung auf dem Umschlag gelesen hatte, nichts über den Todestrieb und seine Beziehung zu Heinrichs Vortrag zu sagen wußte, wenn er denn das Glück haben sollte, daß es überhaupt eine gab. Eine lange Pause trat ein, während sich Dutzende von Augenpaaren auf Kassler richteten, der nur einen einzigen Gedanken hatte: ›Mach schon, Gehirn‹, flehte er seinen Intellekt an. »Ja, das ist wahr, Sigmund spricht davon«, antwortete Karl Heinrich und wartete, hoffnungsvoll, darauf, daß noch mehr folgte. Kassler holte tief Luft, kreuzte die Finger und ging aufs Ganze. »Nun, das scheint seinem Konzept vom Über-Ich zu widersprechen.« Sein Auge erfaßte das letzte Wort, daß er auf seinen Notizblock gekritzelt hatte. »Ah ja, hervorragend!« rief Heinrich mit offenkundigem Entzücken aus, während Kassler nach seinem Taschentuch griff und sich die schwitzenden Augenbrauen abwischte. »Dies
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ist natürlich ein größeres Problem, allerdings eins, das Freud nicht außer acht gelassen hat.« Karl Heinrich erging sich in einer langanhaltenden Abschweifung, während sich die übrigen Studenten im Hörsaal fragten, wer denn der Klugscheißer in der Reihe hinter dem atemberaubendsten Mädchen war, das sie jemals gesehen hatten. Die Konsequenzen hätten für Kassler nicht katastrophaler sein können. Das Geräusch, das Heinrich machte, als er die Umschlagseiten des Schnellhefters mit seinen Vorlesungsnotizen zuklappte, war noch keine fünf Sekunden verklungen, als sich Vita auch schon von jedem im Saal anwesenden männlichen Wesen ohne Anhang umringt sah. Es lag nicht nur daran, daß Vita umwerfend und sinnlich war. Es lag auch an dem strahlenden Funkeln, das jeder Mann in Vitas Augen entdeckte. Dadurch fühlten sich alle so zu ihr hingezogen wie ein Neurotiker zu seiner Mutter, wenn Sie den Vergleich entschuldigen wollen. Während der Herbstmonate sah Kassler hilflos zu, wie Vita augenscheinlich das Feld abgraste. Bei jeder Vorlesung wurde sie von einem anderen Mann begleitet, der dann neben ihr saß, ihr während Heinrichs Vortrag Mitteilungen zuschob und entzückt über die Antworten lächelte, die Vita hastig hinkritzelte, während sie versuchte, sich auf die Lektion zu konzentrieren. Kassler weigerte sich, mit den Wölfen zu heulen und ein weiterer entzückter Mitteilungsschreiber zu werden, der Vita zu Heinrich-über-Freud eskortierte, und so saß er auf demselben Sitz hinter Vita, suchte bei jedem Freier nach grundlegenden Charakterfehlern und physischen Mißbildungen, die ihn permanent disqualifizieren würden, und - wenn ich auf Karl Heinrichs unerschöpfliches Repertoire von kulinarischen Metaphern zurückgreifen darf - schmorte. Und so kam es, daß Kassler seine Cook's-Reise durch die Niederungen der Träume und Verdrängungen, der infantilen Sexualität und freien Assoziation, der Übertragungen und Frühformen unternahm. -1 0 0 -
Nach dem Abschluß von Heinrichs Vorlesungen hatte Kassler ein neues Bild vom Manne - von der Sexualität getrieben und verzehrt, inzestuös zu seiner Mutter hingezogen, den Vater verabscheuend, den Tod seiner Frau begehrend, vom Wunsch besessen, seine Oberen zu verraten und in der Erotik zu verschmachten. Nichts, was der Mann tut, folgerte Kassler wie Freud, ist willkürlich, zufällig, nebensächlich oder bedeutungslos - alles ist das Resultat eines fortgesetzten Kampfs des Ichs mit seinen inneren Feinden, während er versucht, mit den Realitäten der äußeren Welt zurechtzukommen, darunter auch mit dem Problem, eine Beziehung zu der spektakulären Frau herzustellen, die während der Vorlesungen vor ihm saß. Dann hatte Kassler eine große Erkenntnis, die seine eigene mißliche Lage betraf. Der Unterschied zwischen Neurotikern und Normalen ist nur graduell, mutmaßte er korrekterweise. Der Mann der Tat sieht die Phantasien, die er entwickelt hat, als einen Weg an, mit den Unzulänglichkeiten des Lebens umzugehen, und setzt sie in die Realität um. Der Schöpferische verwandelt sie in Kunstwerke und der Neurotiker in Symptome. Kassler sah sein eigenes Leben mit einer Klarheit, die er nie für möglich gehalten hätte. Der Mangel an Initiative und Kreativität, den er bei Vita gezeigt hatte, bewies, daß er weder ein Mann der Tat noch ein schöpferischer Mensch war. Er war, wie er somit folgerte, dem Untergang geweiht. Kassler verfiel in eine tiefe Depression. Glücklicherweise ging es bei den folgenden Vorlesungen um Alfred Adler. »Symptome«, verkündete ein rundlicher, fröhlicher Lehrer namens Franz Kaplan strahlend, »gehören zu unseren kreativsten Hervorbringungen! Was für geschickte, wundervolle Konstruktionen, um mit unseren Problemen und Konflikten fertigzuwerden!« Kaplan machte eine momentane Pause und lächelte die Studenten jovial an.
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»Wie genial es von Adler war«, sagte er, während er die Hände vor seinem fülligen Bauch verschränkte, »zu erkennen, daß Geisteskrankheit nichts anderes ist als eine fälschliche Lebensweise entmutigter Menschen. Selbst Depression«, sagte Kaplan mit einem Ausdruck großen Vergnügens, »selbst Depression ist ein wundervoller kreativer Versuch, bei dem der deprimierte Patient aus seiner Schwäche eine Waffe macht, um andere dazu zu zwingen, ihm Aufmerksamkeit zu schenken, und um der Realität zu entfliehen.« Bemüht, sich von der Frau vor ihm abzulenken, die ihm jeden Tag schöner und begehrenswerter erschien, schrieb Kassler alles in extrem penibler Form nieder. Er hatte den vergangenen Nachmittag damit verbracht, im Buchladen der Universität Füllfederhalter auszuprobieren, bis er für seine Vorlesungsnotizen ein perfektes Exemplar gefunden hatte, und stellte sich vor, daß sein Biograph eines Tages diese Notizbücher in die Hand bekommen und über die Einsichten (mit einem ebenfalls neuen roten Filzschreiber an den Rand geschrieben) staunen würde, die Kassler schon in einem so frühen Stadium seiner Karriere gehabt hatte. »Mit hochfliegendem Optimismus«, fuhr Kaplan fort, während Kassler hastig einen Stift gegen den anderen austauschte, »legte Adler fest, daß unser Leben weder durch die Erbanlagen bestimmt wird, wie Freud behauptet, noch durch die Umwelt, wie die Behavioristen glauben.« Kaplan machte mit den Händen zwei große X in die Luft, um die Irrtümer der anderen auszustreichen. »Aber es gibt eine wundervolle ›Dritte Kraft‹, menschliche Selbstbestimmung, die es uns erlaubt, Ereignisse in unserem Leben zu beeinflussen und zu schaffen! Das oberste Gesetz der menschlichen Existenz ist, daß das Gefühl des Selbstwerts nicht beeinträchtigt werden darf!« Kassler wechselte schnell zu dem roten Schreiber über. ›Dritte Kraft???‹ schrieb er an den Rand. ›Kraft = überholtes Konzept Newtons - mit Einsteinscher Relativität an Geisteskrankheit herangehen!!!‹ -1 0 2 -
Kassler lehnte sich auf seinem Sitz zurück, zufrieden, daß sein Kommentar tiefschürfend und gut leserlich war, und dachte angestrengt darüber nach, wie Zeit, Energie, Materie und die konstante Lichtgeschwindigkeit dafür verantwortlich sein konnten, daß die Leute verrückt wurden. So wie Kasslers Vorrat an Schreibinstrumenten anwuchs - er erwarb einen grünen Filzstift zum Unterstreichen ›Interessanter Ideen‹ und einen purpurnen Füller für bedeutende Konzepte der Psychopathologie, die, wie er folgerte, ›Falsche Vorstellungen‹ waren - , so wuchs auch seine Dankbarkeit gegenüber Dr. Adler, der ihn aus der freudianischen Schwermut befreite. Kassler war in der Tat außer sich vor Freude. Nach Kaplans Vorlesungen war er wochenlang euphorisch. Vita schien keine Rolle mehr zu spielen. So schnell wie ihm Freud die Macht über sein eigenes Leben genommen und ihn den Tiefen libidinöser Verzweiflung ausgesetzt hatte, so schnell hob Adler dies wieder auf. Kassler war nicht länger dem Untergang geweiht. Die Individualpsychologie hatte ihn gerettet. Unglücklicherweise nimmt Jung, was Adler gibt. Nahezu augenblicklich wurde Kassler in die mysteriöse und fast undurchdringliche Welt von Carl Gustav Jungs Analytischer Psychologie gestoßen, wo er möglicherweise auch geblieben wäre, wenn es sich nicht ergeben hätte, daß Vita zu einer Vorlesung ohne Begleitung erschien, in seine Reihe trat und sich unmittelbar neben ihn setzte. »Obwohl unser Ich im Zentrum unseres Bewußten verharren mag und versucht, uns mit einer Vorstellung unseres Selbst zu versehen, die ein hohes Maß an Identität und Kontinuität besitzt«, leierte ein angespannter, gelbhäutiger, sehniger Mann mit schlechten Zähnen namens Ernst Hoch, als Vita mitten in einer von vielen zähen Jung-Vorlesungen eintraf, die Kassler wieder in die Verzweiflung trieben, »stellen wir fest, daß wir, wenn wir in unterschiedlichen Umgebungen existieren wollen Masken tragen müssen, um uns dieser äußeren Welt anzupassen.« -1 0 3 -
»Habe ich was verpaßt?« Vita lächelte Kassler gekünstelt an, der sogleich ungefähr ein Dutzend vielfarbiger Schreibinstrumente auf dem Boden verstreute. Ernst Hoch schob mit knochigem Finger seine Goldrandbrille den Nasenrücken hoch. »Zu genau derselben Zeit«, sagte Hoch, die Gleichzeitigkeit ausdrücklich hervorhebend, »muß das Ich, um mit unserer inneren Welt fertigzuwerden, mit den dunklen Schatten unseres persönlichen Unbewußten umgehen.« Kassler, der den Eindruck erweckte, tief in seiner akademischen Arbeit versunken zu sein, nickte Vita zu, ignorierte die Stifte auf dem Boden, und schrieb angestrengt mit dem ihm noch verbliebenen fuchsienfarbigen Filzstift weiter. Vita blickte erstaunt über Kassler auf die polychromatische Seite seines Notizbuchs. »Sehr festlich«, flüsterte Vita und beugte sich so zu Kassler hinüber, daß sich die Spitze ihrer rechten Brustwarze gegen seinen Arm preßte. »Es ist ein Farbkode«, stieß Kassler hilflos hervor. »Diese Schatten«, fuhr Hoch fort, wobei er kurz seine verrotteten Zähne bleckte, »stehen am Tor des kollektiven Unbewußten - des von der gesamten Gesellschaft geteilten Unbewußten -, das die dunklen inneren Triebe enthält, die wir alle gemeinsam besitzen, und so übertragen wir sie in Mythen und Symbole. Sie haben einen archetypischen Aspekt.« Während Kassler hektisch schrieb, begann Hoch zu erklären, daß der archetypische Aspekt dieser Schatten bei den meisten Kulturen ich bin. Kassler, der der Vorlesung jetzt uneingeschränkte Aufmerksamkeit widmete, war nicht erfreut zu erfahren, daß er im innersten Kern seines Wesens den Teufel mit sich herumtrug, obwohl ich nicht einzusehen vermag, wieso das gegenüber einer Existenz, die bisher fast ausschließlich aus einem Sehnen nach freudianischer Lust, mütterlichem Inzest, väterlichem Mord und einem nicht genau spezifizierten Todeswunsch bestand, nicht eine Verbesserung war.
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»Was halten Sie davon?« Mehr fiel Kassler nicht ein, um nach Abschluß der Vorlesung eine Konversation mit der atemberaubenden Dame neben ihm in Gang zu bringen. »Ich weiß nicht.« Vitas Augen funkelten mit magnetisierender Vitalität. »Es kommt mir alles verrückt vor. Was halten Sie davon?« »Ich glaube, daß Jungs Konzept von den ›Masken‹ ein bißchen flach ist«, antwortete Kassler, der ernsthafte Student, während er die sanften Hubbewegungen von Vitas Brüsten beobachtete. »Was heißt das?« Vita schien interessiert zu sein. »Es ist ein bißchen kompliziert«, sagte Kassler und hob seine Stifte vom Boden auf. »Hätten Sie Lust, mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken? Bis zu meiner nächsten Vorlesung habe ich etwas Zeit.« Seine nächste Vorlesung war am nächsten Nachmittag um drei Uhr. »Sicher«, sagte Vita fröhlich, während sie mit Kassler langsam den Hörsaal verließ. »Die Sache mit dem Kaffee ist großartig. Aber lassen wir den Jung weg, ja? Ich bin hier nämlich gar kein richtiger Student, wissen Sie? Ich komme aus Cleveland.« »Oh, ich bin jedes Jahr hingegangen, wenn die Indians gegen die Yankees gespielt haben.« Kassler brachte das Thema schnell auf Vitas heimatliche Spielwiese. »Lemon, Wynn, Feller, Garcia, Herb Score - bis er am Auge getroffen wurde - , Mossi und Narleski waren großartige Werfer, Rosen, Doby, Luke Easter...« Kasslers Stimme verklang, als er und Vita den Weg zu der kleinen Cafeteria um die Ecke einschlugen. »Tatsächlich«, sagte Vita, während sie ihren Espresso schlürfte, »gebe ich Klavierstunden. Ich bin erst seit ein paar Monaten hier. Eine Freundin hat mir von den Vorlesungen am Institut erzählt, und ich dachte, daß sie mir helfen könnten, einige Dinge über mich selbst zu verstehen.« »Und Männer kennenzulernen?« Kassler studierte Vitas Schokoladenaugen. -1 0 5 -
»Das ist tatsächlich dabei herausgekommen, nicht wahr?« Vita lächelte. »Was also ist mit all den Burschen passiert?« Kassler hatte das Gefühl, daß er mit Vita ganz offen über ihr Privatleben reden konnte. »Es hat nicht hingehauen mit ihnen.« Vita legte den Kopf schief und zuckte spielerisch die Achseln. »Mit keinem von ihnen? Es müssen an die zweihundert gewesen sein.« »Ich sehe, daß Sie mitgezählt haben.« Vitas Augen funkelten belustigt. »Tatsächlich waren es weniger als zwanzig. Männer kennenzulernen, war nie ein Problem für mich. Die Probleme fangen erst danach an. Ich verliere schnell das Interesse oder so. Ich weiß nicht recht. Meine Ansprüche sind zu hoch, nehme ich an. Ich bin nicht leicht zufriedenzustellen. Ich bin ein Einzelkind.« »Ich betrachte mich als gewarnt«, sagte Kassler, ohne es tatsächlich zu meinen. Vielmehr hoffte er, Vita davon überzeugen zu können, daß er, anders als die anderen, durchaus gewappnet war, sich selbst zu schützen. Aber als er Vitas sonnengebräuntes, sommersprossiges Gesicht, ihre strahlenden Augen und ihren prachtvollen, kurvenreichen Körper betrachtete, war er sich sehr wohl bewußt, daß er ihr nicht mehr Widerstandskraft entgegensetzen konnte als ein praktizierender Kleptomane einem geöffneten Kaufhaus, an dem er vorbeikam. Als er Vitas Auslagen ansah, drängten sich seine Hände schmerzvoll danach, überall gleichzeitig zuzugreifen. »Oh nein«, versicherte Vita Kassler, »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie sind anders.« »Woher wissen Sie das?« fragte Kassler, sehr angenehm berührt. »Nun«, antwortete Vita, »zum einen haben Sie während all dieser Vorlesungen hinter mir gesessen und kein einziges Wort zu mir gesagt. Und zum zweiten sind wir jetzt schon fast eine -1 0 6 -
ganze Stunde zusammen, und Sie haben mich noch immer nicht gefragt, ob ich mit Ihnen ins Bett gehen will. Sie verfügen über sehr viel Selbstkontrolle, Sy.« Kassler war nicht gerade begeistert davon, daß Zurückhaltung die hervorstechendste Charaktereigenschaft sein sollte, die ihn von der Horde der anderen Verehrer Vitas unterschied, aber da er spürte, daß er für den Anfang nicht mehr bieten konnte, entwickelte er sie zu einer Kunstform. Vorlesungen, bei denen er von Heinz Hartmanns Überzeugung erfuhr, daß es sehr wohl möglich war, konfliktfreie Aktivitäten auszuüben und ein von irgendeinem freudianischen Sexualtriebsund Verdrängungskonflikt unabhängiges autonomes Ich zu entwickeln, schlossen sich intime Abendessen in intimen Restaurants von Greenwich Village an, wo Kassler und Vita intime Details über ihr Heranwachsen in Greenwich und Shaker Heights austauschten. Damit hörten die Intimitäten allerdings auf. Den Vorträgen einer schlanken, hellhäutigen Frau in den frühen Dreißigern, bei der Otto Ranks Position in den Himmel gehoben wurde, nach der der Mensch sein Leben damit verbringt, auf das Trauma seiner Geburt zu reagieren, voller Furcht vor der ersten und endgültigen Trennung, und nach der das gesamte menschliche Verhalten letzten Endes unter dem Gesichtspunkt eines Sehnens nach Rückkehr in den Mutterleib verstanden werden kann, folgten Abende im Kino oder lange Nächte in Kasslers kleiner Wohnung in den West Eighties, wo Pizza verzehrt wurde und Zurückhaltung nach wie vor die Oberhand behielt. »Ich gehe nicht mehr zu den Vorlesungen«, sagte Vita nach Abschluß einer Reihe über Otto Rank zu Kassler. »Die Dinge werden zusehends lächerlicher. Ich weiß, daß alle anderen ihre Pläne schon gemacht haben, aber was mich angeht, so glaube ich nicht, daß ich das Verlangen habe, in den Mutterleib zurückzukehren. Und selbst wenn ich es hätte, wüßte ich nicht, was ich dort tun sollte, wenn ich angekommen wäre.«
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Als Kassler da so auf dem Sofa lag, sein Kopf friedlich auf Vitas Schoß ruhend, war der Begriff Mutterleib anatomisch seinen gedanklichen Vorstellungen zu nahe, so daß er nichts sagte. »Was meinst du, Sy?« fragte Vita. »Ergibt es für dich irgendeinen Sinn?« Kassler dachte schweigend nach, wobei sich sein Kopf hob und senkte, wenn sich Vitas Bauch beim langsamen Atmen in dem abgedunkelten Raum leicht bewegte. Zuerst wollte er ernsthafte Betrachtungen über Vitas Frage anstellen, aber dann wandte sich sein Bewußtsein den gegenwärtigen Umständen zu, seiner Zufriedenheit, mit Vita zusammen zu sein, und der glücklichen Fügung, die ihm Erfolg gebracht hatte, wo andere gescheitert waren. Ein solcher Triumph, überlegte er, verlangte zumindest eine gedankenvolle Reaktion auf Vitas Frage. »Ich weiß nicht«, antwortete er schließlich. »Alle diese Leute, von denen wir immer hören, sind nicht dumm. Sie versuchen zu verstehen, warum wir uns alle auf so komplizierte Art und Weise verhalten, glaube ich.« Kassler hielt seine Antwort für angemessen respektvoll und bescheiden, obwohl sie nicht zu erkennen gab, daß ihn das Sperrfeuer der psychoanalytischen Theorien völlig betäubt hatte. Vita dachte über seine Antwort nach, während sie ihre Hände durch sein dunkles Haar gleiten ließ. Sie mochte das Gefühl, wenn sich Kasslers Locken um ihre Finger wanden, und wußte ebensowenig wie er, warum sie beide so gut miteinander zurechtkamen. »Weißt du, was ich glaube, Sy?« sagte sie schließlich. »Ich glaube, sie suchen alle nach Regeln, die unsere Handlungsweise erklären, aber diese Regeln gibt es nicht. Sie sind genauso verrückt wie alle anderen.« »Ah, ja«, stimmte Kassler zu, »das auch«. Der Herbst hatte den Central Park ganz kurz in ein Kolorit verwandelt, das so farbenfroh war wie Kasslers Notizen, aber dann wieder verschwand und dort, wo Kassler und Vita ihre -1 0 8 -
Wochenenden damit verbracht hatten, heiter die Wege entlangzuschreiten, nur die verschrumpelten braunen Stümpfe nackter Baumäste und kalten Regen zurückließ. Jetzt saß Kassler an den nassen Sonntagen, wenn die Tropfen gegen die Fenster seiner kleinen Wohnung klatschten, auf dem Sofa und betrachtete Vita in ihren engen Jeans, der Strickjacke mit dem Rollkragen und dem karierten Flanellhemd, das über der Brust nicht ganz zugeknöpft war. Während er sie so beobachtete, wie sie nahe vor ihm auf dem Fußboden lag, die Musikseiten der New York Times las und Kaffee trank, bildete sich in seinem Kopf ein Füllhorn mit sexuellen und häuslichen Phantasievorstellungen. Kassler und Vita unterhielten sich gut in diesem Herbst. Abends machten sie Spaziergänge durch die Stadt, Vitas Hand in der hinteren Tasche seiner Kordhose, Kasslers Daumen unter den Gürtel in Vitas Rücken gehakt, wobei seine Handfläche auf ihr Hinterteil fiel, wenn sie sich geschmeidig mit ihren Schritten bewegte. Sie redeten freimütig über kulturelle und persönliche Dinge, und während der ganzen Zeit demonstrierte Kassler, mit zunehmendem Mißvergnügen, Zurückhaltung. An der Universität war Kassler in ein Stadium der Amnesie verfallen. Wie in Trance lauschte er einer kleinen fetten Frau Mitte vierzig, die sich in Lobpreisungen über den Wert der psychologischen Erkenntnisse Sandor Ferenczis, Freuds Lieblingsschülers, erging. »Unser Leben«, erklärte sie mit schriller, nervöser Kreischstimme, »ist lediglich das Resultat eines unterschwelligen Gefühls der Omnipotenz. Dieses ist anfänglich natürlich unkonditioniert, wird aber, während wir uns entwickeln, ersetzt durch halluzinatorische Omnipotenz, dann durch magische Gesten und schließlich durch magische Gedanken und Worte.« Kassler saß ruhig und allein im rückwärtigen Teil des großen Auditoriums und machte sich regenbogenfarbene Notizen, um das letzte Examen zu bestehen, aber das war es auch schon. -1 0 9 -
Ferenczis Behauptung, daß Kasslers Leben vornehmlich aus einem großen Kampf bestand, um seiner unterschwelligen Omnipotenzgefühle Herr zu werden, war eine Hypothese, die er nur schwer akzeptieren konnte. Die Parade der großen psychiatrischen Denker ging unablässig weiter. Kassler, der sich einem Grad der psychoanalytischen Sättigung näherte, bemühte sich, aufmerksam zuzuhören, aber es war nutzlos. Als das Semester zu Ende ging, war in seinem Gehirn ganz einfach kein Platz mehr für Gedankengebilde über die Eigenwilligkeit menschlicher Verhaltensweisen. Kassler benutzte nur noch seinen purpurnen Filzstift. Der totale psychotheoretische Zusammenbruch kam für Kassler im Anschluß an eine spezielle Abendvorlesung, an der alle Studenten und Fakultätsmitglieder teilnahmen und die in der letzten Woche des Herbstsemesters stattfand. Er wurde herbeigeführt durch eine im Auditorium ausgebrochene heftige Diskussion, anfänglich zwischen Freudianern und Kleinianern, bei der es um Melanie Kleins Konzept von den guten und den schlechten Brüsten ging. Kassler war es gelungen, den langen, zähen Vortrag zu überleben, indem er sich einer kunstvoll ausgeschmückten Phantasievorstellung hingab, bei der Vita und ein Duschbad die Hauptrolle spielten. Ganz plötzlich fand er sich durch die Heftigkeit des Streits, der um ihn herum tobte, wie betäubt in der Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt wieder. Die Freudianer erklärten Kleins Darstellung, daß das Kleinkind deprimiert wurde, weil es die guten Brüste zerstört hatte, mit Vehemenz für verrückt und phantastisch. Es gab ganz einfach keine guten und schlechten Brüste, argumentierten sie. Es ist, beharrten die Freudianer, etwas weitaus Vernünftigeres und Alltäglicheres, was die Depression verursacht - nämlich die ödipale Furcht des Kindes vor der Kastration.
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Kassler schauderte es bei dem Gedanken, und er hörte weiter mit Verblüffung zu, wie die Diskussion immer hitziger wurde und andere psychologische Lager sich ebenfalls in das Getümmel stürzten. Die Objektbeziehungs-Therapeuten widersprachen, mit Einschränkungen unterstützt von den Anhängern Harry Stack Sullivans. Die Frommianer sahen das alles ganz anders, ganz zu schweigen von den Behavioristen und den Karen-HorneyLeuten, die schließlich sogar empört den Saal verließen. Lautes Gebrüll und persönliche Beleidigungen, mit denen sich die Psychiater gegenseitig bedachten, bestimmten die Szenerie. Als das Treffen schließlich gegen Mitternacht zu Ende ging, trat Kassler ganz benommen nach draußen. Während er durch den eisigen Regen, der auf die Straße fiel, zu seiner Wohnung zurückkehrte, hatte er eine schreckliche Einsicht. Absolut nichts von dem, was er während dieses ersten Semesters seiner Grundausbildung gelernt hatte, spielte irgendeine Rolle. Tatsächlich gab es gar kein Unbewußtes. Freud hatte es erfunden. Und es gab auch kein Präbewußtes, kein Bewußtes, kein Ich, Es, Über-Ich, keine Libido, Verdrängung, Übertragung, keine Triebe, Masken, Schatten, Urinstinkte, Ödipuskomplexe, Neurosen, keine oralen, analen oder phallische Phasen, keine Fixierungen, Rückfälle, paranoidschizoiden Zustände, kein kollektives Unbewußtes, keinen Archetypus, keine Introversion, keine guten oder schlechten Brüste oder sonst irgend etwas in dieser Richtung. Alles war erfunden worden. Alles bestand nur in der Einbildung. In der wirklichen Welt existierte nichts davon. Mit dem schrecklichen Gefühl einer Verzweiflung, der - bisher -ausschließlich diejenigen ausgesetzt waren, die mit schlechten Brüsten kämpfen mußten, begriff Kassler, daß er während der vergangenen Monate nur eins gelernt hatte: Psychogeschwätz.
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2 Wenn es mir erlaubt ist, an dieser Stelle eine Information einzufügen, dann möchte ich Ihnen versichern, daß die Ehe nicht meine Idee war. Soweit ich es beurteilen kann, ist die Ehe kein notwendiges Übel, vorausgesetzt natürlich, daß Sünden auf einer gleitenden Nützlichkeitsskala eingestuft werden können, von sinnlos bis dienlich. Um die Wahrheit zu sagen, hat mich das Theater, das Sie alle machen, um das Übel abzustufen, immer fasziniert - das unvermeidliche Übel der Lust, das, so sicher wie die Nacht dem Tag folgt, zum verständlichen Übel der Untreue und konsequenterweise zum bedauerlichen Übel der Scheidung führt, eine allgemein übliche Reaktion auf das notwendige Übel der Ehe, mit der die Kette anfänglich begonnen wurde... und so weiter. So kommt es, wie ich höre, daß der große Magnet des notwendigen Übels alle anderen Unbedachtsamkeiten, die mit Notwendigkeit aufgeladen werden, in seinen Einflußbereich zieht. Sehr hübsch, finde ich. Wie ich diese spezielle Anwendung der elektromagnetischen Theorie verstehe, bin ich der große Magnet. Und Sie sind die hilflosen Metallspäne. Nun, es liegt mir zwar fern, Ehrerbietungen zurückzuweisen, die ich nicht verdient habe, aber ich habe mit ehelichen Verbindungen wirklich absolut nichts zu tun. Und da wir gerade beim Thema sind - ich habe auch nichts damit zu tun, wenn sich Dritte in ansonsten befriedigende Beziehungen hineindrängen. Es ist ganz allein Ihr Tun. Ehen werden nicht im Himmel oder in irgendwelchen anderen geistigen Gefilden geschlossen. Die ganze Angelegenheit ist ausschließlich ein rein irdisches Phänomen. Glauben Sie mir. Während sich Kasslers unvermeidbare Verbindung mit Vita anbahnte, tat Vita alles, was in ihrer Kraft stand, um ihm aus der anhaltenden Düsternis des bodenlosen -1 1 2 -
psychotheoretischen Abgrunds zu helfen, in dem er sich jeden Tag wiederfand. Sie schickte ihm aufmunternde Mitteilungen, mit denen sie ihn ihrer Zuneigung versicherte, bereitete ihm schmackhafte Abendessen bei Kerzenlicht zu, und während Kassler von seinen Examen besessen war, versorgte sie ihn mit den erforderlichen Ablenkungen, indem sie ihn zu Vergnügungsorten wie etwa dem Times Square mitnahm. »Ich bin mir nicht sicher, daß mir dies helfen wird, meine Examen zu vergessen«, sagte Kassler zu Vita, als sie sich zu einer weiteren Exkursion zu 42nd Street und Broadway auf den Weg machten. »Der Schmutz ist sagenhaft«, sagte Vita, als sie seinen Arm nahm. »Er wird dir gefallen.« »Modischer Schmutz ist heute vielleicht nicht die ideale Lösung.« Kassler deutete an, daß dies vielleicht auf den Geschlechtsverkehr zutreffen mochte. »Also, Sy«, sagte Vita freundlich, aber entschlossen, »du weißt, daß du nie zu deinem Examen kommen wirst, wenn wir mit dem Sex anfangen.« »Mag sein.« Kassler zuckte die Achseln. »Dennoch bin ich mir nicht sicher, daß die Idee so gut ist.« »Laß dir gesagt sein, daß es dir gefallen wird. Der Times Square ist der Mittelpunkt des Universums.« »Es ist fast Mitternacht.« Kassler beschloß, nicht an Vitas Kosmologie herumzunörgeln. »Es ist gefährlich.« »Der Times Square? Das ist ja lachhaft. Ich lebe jetzt seit vier Monaten hier, und nichts ist passiert.« »Vier Monate?« Kassler täuschte Überraschung vor. »Ich gehe allein, wenn es sein muß«, blieb Vita beharrlich. Kassler seufzte resigniert, nahm Vitas Hand, führte sie an einem Mann vorbei, der gegen eine Häuserwand urinierte, und schritt mit ihr die steilen, mit Abfall übersäten Stufen zur UBahn hinab. -1 1 3 -
Während der lauten, kreischenden U-Bahnfahrt beobachtete Vita fasziniert, wie dünne schwarze Jünglinge schlangengleich von Wagen zu Wagen glitten, sich zwischen den silbernen Stangen im Fußboden hindurchwanden, nach den Aluminiumgriffen an der Decke schnappten, irgendeinen Singsang von sich gaben und laut lachten. Sie schmiegte sich an Kassler, teils um Schutz zu suchen, teils weil sie etwas Besonderes für ihn empfand, wenn sie sich auch nicht sicher war, was. Kassler war nicht wie all die anderen Männer, die sie kennengelernt hatte. Er erschien schrecklich verletzlich zu sein und machte auch gar keinen Hehl daraus. Vita fand dies ungeheuer reizvoll. Vita war vom Times Square niemals enttäuscht. Alles versetzte sie in Entzücken - die blitzenden vielfarbigen Lichter und riesigen Reklametafeln, die Puertoricaner mit den gefärbten Haaren, die neben ihr hertänzelten und sich nach der plärrenden Musik aus den Kassettenrecordern an ihren Ohren bewegten, die irre lächelnden Nonnen, die mit münzengefüllten hölzernen Schüsseln auf dem Schoß auf Hockern saßen, die Huren, die trotz der Kälte dünne Satinhosen und ornamentierte Jäckchen trugen und mit Zuhältern diskutierten, die lange Pelzmäntel und Sonnenbrillen trugen. »Phantastisch«, rief Vita wiederholt, während sie sich durch die mitternächtliche Menge schob, in Fenster schielte, die bis zur Decke mit elektronischen Geräten vollgestopft waren, und Penner abwehrte, die an ihren Ärmeln zupften und flehten: »Ich verhungere - wie wäre es mit einem Dollar für eine Fahrt nach Jersey?« Vita war das ideale Zielobjekt für Männer mit wilden Barten und Plaketten, auf denen zu lesen stand: »Bereue und lebe in Jesus, oder du bist für immer verloren.« Sie hörte höflich zu, erklärte sich bereit, ihr Leben zu ändern, und ging weiter. Bei einer Gelegenheit hielt sie ein Paar von Black Muslims an und fragte sie, warum sie immer ihre Namen ändern, ›Mohammeds‹ und ›X‹ hinzufügten und es ihr so sehr schwierig machten, die Übersicht nicht zu verlieren. Kassler rettete sie mit einiger Mühe. -1 1 4 -
Bei einer anderen Gelegenheit drängte sie Kassler dazu, mit ihr ein Etablissement zu betreten, das sich auf pornographische Artikel spezialisierte, sprach dem Eigentümer ihre Anerkennung dafür aus, daß er seine Magazine nach Themengebieten geordnet hatte - Homosexuelle, Lesbierinnen, Masochisten, Gruppensex - und den Kunden dadurch die Mühe ersparte, sich durch Perversionen zu wühlen, die für sie ohne Reiz waren, und verwickelte einen Mann mittleren Alters in einem dreiteiligen Anzug, der gerade eine Filmkabine im hinteren Teil des Ladens betreten wollte, in eine Diskussion über sadistische Praktiken, wobei sie ihn wissen ließ, daß sie einmal einem Mann erlaubt hatte, sie zu schlagen, was allerdings für sie nicht sehr befriedigend gewesen war. In dieser speziellen Nacht fühlte sich Kassler wie jemand, der dem Verderben wissend ins Auge sieht, blieb in Vitas unmittelbarer Nähe und steuerte sie durch die Menge und auf ein weiteres Abenteuer zu, das fast zum Desaster wurde. Sie hatten gerade die Aufführung von ›Uomo, der Ghul - er giert nach menschlicher Furcht und nährt sich von menschlichem Fleisch‹ verlassen, als Vita plötzlich von dem Wunsch erfüllt wurde, ihren ersten pornographischen Film zu sehen. Da Kassler wußte, daß er sich mit einer gegenteiligen Ansicht nicht durchsetzen können würde, führte er sie in den am wenigsten schmierig aussehenden Laden. Fast augenblicklich fühlte sich Vita von einer Tür mit einem Plakat angezogen, auf dem ein Psychoanalytiker lüstern auf die Wunschvorstellung eines jeden Analytikers starrte, in diesem speziellen Fall einen blonden Teenager, der malerisch auf einer Couch ausgestreckt lag. Ziemlich unten auf dem Plakat stand: ›DER PSYCHIATER... würden Sie ihm Ihre Tochter anvertrauen?‹, ein provokativer Titel, wie man einräumen mußte. Demgemäß konnte Vita auch nicht widerstehen. Sie betrat mit Kassler die winzige Kabine und steckte einen Vierteldollar in den Schlitz. Ein unscharfes Farbbild begann auf der Rückseite der Tür zu flimmern. Aber der Psychiater hatte sein Geschäft
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kaum aufgenommen, als der Film abrupt aufhörte und der kleine Raum dunkel wurde. »He!« schrie Vita, die auf Kasslers Wunsch soeben sein geschwollenes Glied aus seiner Hose geholt hatte. »Pssst«, machte Kassler. »He, der gottverdammte Film ist gerissen!« rief Vita. »Wir haben hier einen kaputten Film!« Kassler legte Vita die Hand vor den Mund. »Das ist schon in Ordnung«, erklärte er ihr. »Für einen Vierteldollar gibt es nur eine Minute. Du mußt einen weiteren Vierteldollar einwerfen.« »Was für ein elender Betrug!« sagte Vita laut, während sie Kasslers Hand aus ihrem Gesicht wischte. »Das ist elender Betrug!« schimpfte sie. Plötzlich öffnete sich die unverriegelte Tür ihrer Kabine, und ein fettleibiger Mann mit dünnem Schnurrbart funkelte sie an, während Kassler erfolglos versuchte, seine Erektion durch die auf einmal viel zu kleine Öffnung in seiner Hose zurückzuschieben. Der Mann schien sich nicht darum zu kümmern. »Sie müssen hier drin still sein«, schnappte er mit kehliger Stimme. »Sie stören die anderen Kunden.« »Das ist ein elender Betrug, wissen Sie das?« sagte Vita, während Kassler mit seiner freien Hand an ihrem Ärmel zupfte. »Sie erwecken den Eindruck, als würde man für einen Vierteldollar einen ganzen Film zu sehen bekommen. Das ist Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sie könnten deswegen Ärger bekommen.« »Sie kommt aus Cleveland«, erklärte Kassler panikerfüllt. »Sie weiß nicht, was sie sagt. Sie ist neu in New York. Brandneu.« Der fette Mann blickte Vita sekundenlang schweigend an. »Wenn es Ihnen hier nicht gefällt«, sagte er zu ihr, »dann können Sie mit Ihrem Freund und seinem Ständer woandershin gehen.« Dann machte er eine obszöne Geste und entfernte sich. -1 1 6 -
»He!« Vita schickte sich an, die Kabine zu verlassen. »Er hat mir den Finger gezeigt, Sy! Keiner zeigt mir den Finger. Keiner!« »Ist schon in Ordnung, ist schon in Ordnung.« Kassler hinderte Vita am Gehen. »Das besagt in New York überhaupt nichts. Es ist ein alter Volksbrauch hier. Vergiß es.« Vita vergaß es nicht. Sich einig darüber, daß sie die Örtlichkeit unverzüglich verlassen sollten, gingen Kassler und Vita den Gang entlang. Kasslers so peinlich ausgefahrenes Anhängsel hatte sich während der gefährlichen Konfrontation zwischen dem Ladenbesitzer und Vita wieder zurückgezogen. Auf halbem Weg fühlte sich Vita von einem anderen Plakat angezogen und blieb stehen. »Das müssen wir sehen«, sagte sie zu Kassler und griff nach der Tür einer anderen Kabine. »Ich glaube, da sind...«, begann Kassler. »Das verdammte Ding klemmt.« Vita drückte heftig gegen die Tür. Ein kurzer splitternder Laut wurde hörbar. Die Tür öffnete sich. »Oh, tut mir leid«, sagte Vita und starrte auf die beiden Männer im Inneren. »Komm rein, Süße«, ließ sich eine tiefe Stimme aus der Kabine vernehmen. »Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.« »Ich habe was für dich, Herzchen«, meldete sich eine andere Stimme von innen. Vita lächelte und ließ ihren Mittelfinger hochschnellen. »Oh, Gott«, sagte Kassler. »Machen wir, daß wir hier wegkommen!« In dem flüchtigen Augenblick, in dem Vita ihren Finger ausstreckte, sah Kassler die silberne Klinge eines Klappmessers im Licht aufblitzen. Vita sah sie auch und stürmte den Gang hinunter. Kassler rannte hinter ihr her und -1 1 7 -
bekam ihre Hand zu packen, als Vita gerade den Ausgang erreichte. »Hier entlang«, sagte Kassler und riß Vita durch die Tür auf die belebte Straße. Er warf einen schnellen Blick über die Schulter zurück und sah, daß zwei dünne Männer in Lederjacken hinter ihnen herjagten. In der Hand des einen befand sich das ausgefahrene Messer. »Hattest du nicht gesagt, daß es ein alter Volksbrauch wäre?« sagte Vita. Sie bogen um die Ecke und liefen die 42nd Street hinunter. »Was, zur Hölle, haben die da drin gemacht?« Kassler schlüpfte mit Vita in den Eingang eines Massagesalons, wo ein magerer, heruntergekommen aussehender Mann brüllte: »Mädchen, Mädchen, Mädchen! Wunderschöne Frauen.« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Vita, nach Luft schnappend. »Der Bursche mit dem Bart hatte jede Menge Geld bei sich. Der andere Bursche hatte all diese kleinen Plastiktütchen, die mit Zucker oder so was gefüllt waren.« »Oh, Jesus«, murmelte Kassler. Er schob den Kopf vor und kam zu der Überzeugung, daß die beiden Männer sie nicht länger verfolgten. Dann packte er Vita und sprang in ein Taxi. Als der Times Square in sicherer Entfernung hinter ihnen lag, wandten sich Kassler und Vita einander zu. Vita lächelte zufrieden. »Du hast uns fast umgebracht, weißt du das?« Kassler versuchte, während des Vergnügens, das Vita hatte, streng zu sein, schaffte es aber nicht. »War es nicht aufregend?« strahlte Vita. »Jesus Christus, Vita.« Kassler schüttelte den Kopf und legte die Handfläche auf ihre gerötete Wange. »Du kannst so etwas hier nicht tun. Es ist gefährlich.« »Weißt du, was mir an New York so gefällt?« fragte Vita, als sie Kassler einen Kuß auf die Wange gab. »Es ist überhaupt nicht so wie Cleveland.«
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Kassler bewältigte seine Examen mit Brillanz. Seine Semesterarbeit, ›Menschliches Verhalten, Wissenschaft oder Sience Fiction?‹, ging, auf nur zwanzig Seiten, allen psychologischen Theorien von Plato bis Freud auf den Grund und stellte fest, daß sie viel zu wünschen übrig ließen. Menschliche Handlungsweisen, folgerte Kassler, können nicht verstanden werden. Es gibt keine Regeln. Das jüngere Fakultätsmitglied, das seine Arbeit bewertete, gab Kassler eine 2+ und kritzelte hastig einen Kommentar auf den sechs Dollar teuren Einband, in dem Kassler seine Abhandlung eingereicht hatte. »Gute Arbeit«, schrieb der Lehrer. »Wir wollen alle beten, daß Sie unrecht haben.« »Pferde!« rief Vita, als sie mit Kassler die 57th Street entlangspazierte, im Anschluß an sein sehr spätes Abendessen, mit dem sie den erfolgreichen Abschluß seines ersten Semesters gefeiert hatten. »Ich liebe Pferde, Sy.« »Man nennt sie zweirädrige Kutschen«, erklärte Kassler seiner Dame, als sie hinüberging, um ein großes braunes Pferd zu streicheln, das Dampf in die kalte Dezemberluft blies. »Es ist wunderschön«, sagte Vita. »Wir sollten weitergehen«, sagte Kassler. »Laß uns eine Fahrt machen, bitte!« säuselte Vita. »Es ist fast zwei Uhr morgens.« Kassler appellierte an Vitas Tagesrhythmus. »Eine ganz kurze Fahrt, ja?« Vita rieb ihre Wange an dem Pferd. Kassler holte eine Zehn-Dollar-Note aus der Tasche und gab sie dem Kutscher, der auf einem kleinen Sitz im hinteren Teil des Gefährts saß. Der Kutscher hielt den Schein unter die Straßenlaterne, um das Wasserzeichen zu prüfen, und bedeutete Kassler dann mit zufriedenem Kopfnicken, einzusteigen. »In Ordnung«, sagte Vita zu dem Pferd, »wir machen jetzt eine kleine Fahrt. Und wenn du ein guter Junge bist und uns -1 1 9 -
schön ziehst, bekommst du nachher von mir eine ganz besondere Belohnung.« Der Kutscher bedachte zunächst Vita mit einem eigenartigen Blick, sah dann Kassler an. »Sie liebt Pferde sehr«, erklärte Kassler. Der Mann nickte. »Wie ist sein Name?« fragte Vita den Kutscher, als sie in das Gefährt kletterte. »Ich weiß nicht«, antwortete der verbrauchte Mann mittleren Alters und gab die Zügel frei. Das Pferd begann seinen langsamen Gang. »Nein, ich meine, wie lautet sein Name?« Vita glaubte nicht, daß der Mann sie richtig verstanden hatte. »Ich weiß seinen Namen nicht«, antwortete der Kutscher abermals. »Ich arbeite nur für die Firma. Sie geben mir den Wagen und das Tier. Dann fahre ich.« »Er muß einen Namen haben«, beharrte Vita. »Vermutlich hat er einen, meine Dame, aber ich weiß ihn nicht.« »Sind Sie sicher, daß Ihnen niemand den Namen gesagt hat?« Der Mann betrachtete Vita sekundenlang schweigend. »Larry«, log er. »Der Name des Tiers lautet Larry.« Vita und der Kutscher fuhren fort, einander anzustarren. »Larry Rizzuto.« Der Kutscher nickte Vita zu. »Sein Zuname ist Rizzuto.« »Nun, Larry Rizzuto«, wandte sich Vita dem schwerfällig dahintrottenden Pferd zu, »du bist wirklich noch spät auf heute, nicht wahr? Aber mach dir keine Sorgen. Die Belohnung, die ich für dich habe, wird dir gefallen.« Kassler beobachtete Vita fasziniert. »Ich weiß, daß es nicht einfach ist, diese Kutsche die ganze Nacht hindurch zu ziehen«, setzte Vita ihre Unterhaltung mit dem Pferd fort. »Ich hoffe, sie füttern dich mit viel gutem Hafer -1 2 0 -
und Heu. Und geben dir viel gutes, frisches Wasser zu trinken. Denn du brauchst viel Wasser, nicht wahr?« Zehn Minuten lang sprach Vita mit dem Pferd. Kassler war von ihrer unschuldigen Naivität völlig bezaubert. Er fand, daß Vitas bizarres Verhalten das Süßeste war, was er je erlebt hatte. Soweit ich es beurteilen kann, handelt es sich dabei um ein übliches neurologisches Syndrom, das verliebte Menschen offenbaren. Es ist unheilbar. Kassler beobachtete mit sprachloser Freude, wie Vita mit dem großen, braunen, schnaubenden Tier, das sie transportierte, redete, scherzte und ihm Lieder vorsang. Als Vita schließlich aufhörte, um Atem zu schöpfen, nahm Kassler ihre Hand. »Ich möchte, daß du mich heiratest«, sagte er. »Ich verstehe nicht«, antwortete Vita. »Ich möchte wissen, ob du mich heiraten willst«, sagte Kassler zu ihr. »Warum?« Vita blickte ihn neugierig an. »Weil ich dich liebe.« Kassler nannte den einzigen Grund, der ihm in den Sinn kam. »Oh«, sagte Vita. »Willst du mich heiraten?« fragte Kassler. Vita blickte Kassler an und dachte ein paar Minuten lang nach, während Larry Rizzutos Hufe über den Asphalt klapperten. Sie mochte Kassler sehr gern. Sie hatte nie wirklich in Erwägung gezogen, ihn zu heiraten. Vielleicht mit ihm zusammenzuleben, aber das war es auch schon. Sie hatten nicht einmal miteinander geschlafen. Dennoch, sie fühlte sich zu Kassler hingezogen wie nie zuvor zu einem anderen Mann. Tatsächlich war es immer ein Problem für Vita gewesen, sich zu Männern hingezogen zu fühlen, und sie sah einen Trost darin, daß Kassler ein Vorzeichen für die guten Dinge sein mochte, die kommen würden.
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»Wir wissen nicht allzuviel über uns«, sagte sie. »Ich bin ein Einzelkind. Ich bin mir nicht sicher, wie ich zurechtkomme, wenn ständig jemand um mich herum ist.« »Wir sind praktisch jetzt schon ständig zusammen«, sagte Kassler. »Du machst das nur, damit ich mit dir ins Bett gehe«, scherzte Vita. »Du würdest auch mit mir ins Bett gehen, wenn wir nicht verheiratet wären«, stellte Kassler fest. »Ja, das würde ich«, stimmte Vita zu. »Ich werde heute nacht mit dir ins Bett gehen, Sy. Das habe ich schon vor langer Zeit beschlossen.« Kassler nahm in der eisigen Nacht Vitas Hand und blickte ihr in die Augen. »Heirate mich, weil ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen will und damit wir zusammen eine wundervolle Familie gründen können, einverstanden?« fragte Kassler sanft. »Wie kann ich dazu nein sagen?« Tränen traten in Vitas Augen, und sie schlang ihre Arme um Kassler und drückte ihn an sich. »Heißt das ja?« fragte Kassler. »Deutlicher werde ich es nie sagen«, lächelte Vita und küßte Kassler. Für den Bruchteil einer Sekunde, kürzer als die Zeit, die eine Nova braucht, um zu explodieren, oder eine Eule, um zu blinzeln, spürten Kassler und Vita einen Schauder, den sie der Kälte der Nacht zuschrieben. Es geschah so schnell, daß es kaum ihr bewußtes Selbst berührte, und verschwand dann in ihrem Unbewußten, um nur den Augenblick zurückzulassen. »Es fühlt sich sehr gut an.« Kassler verbannte das flüchtige Geschehen. »Und auch ein bißchen seltsam. Mann und Frau.« »Ja«, stimmte Vita zu, »es fühlt sich ein bißchen selts am an.« Während des Rests der Fahrt hielt unser voreheliches Paar Händchen, und Vita redete mit dem Pferd. Als sie schließlich -1 2 2 -
wieder am Ausgangspunkt angelangt waren, gab Kassler dem Kutscher ein Trinkgeld, während Vita ihre Süßigkeiten mit dem Pferd tauschte und ihr Gespräch fortsetzte. Der Kutscher war über das Extrageld sehr erfreut. Er befestigte die Zügel an einem Mast und machte sich auf den Weg, um seinen frisch erworbenen Reichtum unverzüglich auszugeben. »Ich meine, wir sollten zur Feier des Tages etwas Besonderes tun, meinst du nicht auch, Sy?« fragte Vita, während sie das Tier fütterte. »Zum Beispiel?« Kassler wurde argwöhnisch. »Also, weißt du«, sagte Vita, während sie die Flanke des Pferdes streichelte, »dieses arme Tier dazu zu zwingen, die schwere Kutsche zu ziehen, ist schrecklich grausam, findest du nicht auch, Sy?« »Oh, ich weiß nicht. Das Pferd macht das vermutlich schon so lange, daß es es gar nicht anders weiß.« Kassler versuchte, Vita zu besänftigen. »Nein, da irrst du dich, Sy«, blieb Vita hartnäckig. »Sieh dir nur an, wie man es zusammengeschnürt hat und so.« »Nicht wirklich«, widersprach Kassler. »Da sind nur diese beiden Schnallen, die es halten. Der Rest ist für die Kutsche.« »Das ist alles - nur zwei Schnallen?« strahlte Vita. Kassler wußte, was geschehen würde. Er stürzte auf Vita zu, aber es war schon zu spät. Mit einer schnellen Bewegung öffnete sie die Schnalle auf der einen Seite, rannte lachend zur anderen Seite hinüber und öffnete dort geschwind die noch verbliebene Schnalle. Das Pferd drehte sich und sah verwirrt zu, wie das Zaumzeug auf das Pflaster fiel. Es warf den Kopf zurück, wieherte und schnaubte mehrmals. »Lauf, du Dummkopf«, rief Vita. »Du bist frei.« »Oh, mein Gott«, sagte Kassler, als er Vita erwischte. Er schickte sich an, das Zaumzeug hochzunehmen. »Das kannst du nicht machen, Vita. Es will gar nicht frei sein.« -1 2 3 -
»Jeder will frei sein, Sy. Jeder. Hü!« Vita klatschte dem Pferd aufs Hinterteil. »Leb wohl, Larry«, rief sie, als das Tier in den Park hineingaloppierte. Kassler und Vita beobachteten, wie das Pferd in der Nacht verschwand und fielen sich dann lachend in die Arme. »Wo ist mein Pferd?« brüllte eine Stimme die Straße hinauf. »Was habt ihr mit meinem gottverdammten Pferd gemacht?« schrie der Kutscher, als er auf sie zugerannt kam. »Oh je!« Kassler hörte fast augenblicklich mit dem Lachen auf. »Wir haben es freigelassen!« rief Vita trotzig zurück. »Weg hier«, sagte Kassler und griff nach Vitas Hand. »Machen wir, daß wir wegkommen.« Als der Mann den Parkeingang erreichte, blieb er für eine Sekunde stehen, um zu überlegen, ob er Kassler und Vita oder dem Tier nachlaufen sollte. Dann drehte er sich um und stürmte hinter dem Pferd her. »Ihr Schweinehunde«, brüllte er, während er das Pferd verfolgte. »Wißt ihr, wieviel sie mir für ein Pferd berechnen? Ihr Schweinehunde!« Seine Stimme verklang langsam in der Dunkelheit. »Pferd, hierher! Pferd!« Als Kassler und Vita merkten, daß sie nicht länger gejagt wurden, hörten sie auf zu laufen. »Willst du mich noch immer heiraten?« fragte Vita und rang nach Atem. »Nein«, keuchte Kassler. »Du wirst es trotzdem tun«, versicherte Vita ihm. »Vermutlich«, erwiderte Kassler und legte den Arm um seine zukünftige Braut. »Du bist verrückt, wenn du es tust.« Vita drückte Kassler fest an sich. »Vermutlich.« Kassler lächelte Vita an, weil er glaubte, daß er einen tollen Scherz machte. -1 2 4 -
Ausgezogen war Vita noch schöner, als es sich Kassler vorgestellt hatte. Ihr Körper schien in der Dunkelheit zu schimmern, in jener Nacht, in der Larry Rizzuto seine Freiheit bekam. »Wieso hast du dich für die heutige Nacht entschieden?« fragte Kassler. Er küßte sanft die Linie, an der Vitas Haare ihre Brauen berührten. »Ich habe mir ausgerechnet, daß es in Ordnung sein würde, wenn wir es bis zum Ende des Semesters miteinander aushalten können und uns noch immer mögen«, antwortete Vita. Kassler küßte Vitas Augenlider. Sie bewegten sich unter seinen Lippen wie die Flügel von Schmetterlingen. Dann ließ er seine Lippen die schmale Linie ihrer Nase hinuntergleiten und umspielte mit seiner Zunge minutenlang ihren Mund. »Ich weiß nicht, wieviel länger ich es noch ausgehalten hätte«, gestand er. Er küßte Vitas Schultern und ihre schlanken Arme und machte schließlich bei ihren Brüsten halt, an denen er leckte und saugte, bis die Spitzen so geschwollen zu sein schienen, daß sie jeden Augenblick platzen mochten. Seine Hände kreisten um die riesigen runden Formen und preßten sie ganz fest, wobei er eine Brustwarze tief in den Mund nahm und so kräftig daran saugte, wie er nur konnte, und die dunkle Knospe dann nur ganz leicht mit der Zungenspitze berührte. »Ich weiß«, stöhnte Vita unter Kassler. »Mir war klar, daß meine Zeit langsam ablief. So fragte ich mich schließlich, wie schlimm Sex eigentlich sein konnte. Oh...« Vita versuchte, Luft zu holen. Kassler, dessen Kopf jetzt in der samtenen Weiche von Vitas Leib vergraben war, lag ganz still. »Wie schlimm Sex...« Er verhielt mitten im Satz. »Wie oft hast du...« »Nicht oft«, unterbrach ihn Vita. »Ein- oder zweimal.« Von Seiten Kasslers kam nur Schweigen.
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»Vielleicht noch weniger als das, wenn du damit meinst, ob der Bursche tatsächlich in mir gewesen ist. Bitte lach nicht, Sy. Aber ich bin eine Jungfrau.« »Du bist sechsundzwanzig Jahre alt«, sagte Kassler. »Ich bin noch Jungfrau. Ic h habe mein Jungfernhäutchen wahrscheinlich schon vor langer Zeit zum Platzen gebracht, denn ich habe andere Sachen gemacht, um meine sexuelle Spannung abzubauen, aber ich glaube, technisch gesehen bin ich noch immer Jungfrau.« »Ich glaube es nicht.« Das war alles, was Kassler sagen konnte. »Warum nicht?« Vita drehte sich zur Seite und stützte sich auf einen Ellenbogen. Kassler beobachtete voller Verblüffung, wie Vitas Brüste gigantischen Melonen gleich nach unten hingen. »Weil... weil...« Kassler wußte nicht, wie er ausdrücken sollte, was er sagen wollte. »Wegen meines Körpers? Du hast nicht sehr viel Sinn für die Ökologie, Sy Kassler.« Vita wischte eine einzelne Träne weg und lächelte zaghaft. »Ich habe was nicht?« fragte Kassler verwirrt. »Du denkst, daß da, wo Öl ist, auch gebohrt werden muß? Du machst dir keine Gedanken über die Bewahrung natürlicher Reserven.« »Was war mit den anderen Kerlen?« Kassler versuchte, sich ein Bild zu machen. »Du mußt doch...« »Welche anderen Kerle?« unterbrach Vita. »Diejenigen, die mir den Laufpaß gegeben haben, weil ich nicht vierundzwanzig Stunden, nachdem wir uns kennengelernt hatten, mit ihnen ins Bett gehen wollte?« Kassler griff nach Vitas Hand. Minutenlang hielt er sie schweigend fest und blickte in ihre braunen Augen. »Wie kommt es, daß du so lange gewartet hast?« fragte er schließlich, fast flüsternd. -1 2 6 -
Vita erwiderte seinen Blick, und in ihren Augen stiegen Tränen auf. Sie wischte die Tropfen mit dem Handrücken weg und versuchte zu lächeln. »Ich glaube, ich habe Angst gehabt«, sagte sie. »Ich bin ein Mensch mit vielen Hemmungen, Sy. Du kennst mich nicht. Ich habe viele Probleme.« Kassler beugte sich über Vita und küßte sie. »Ich werde vorsichtig sein«, sagte er weich. Vita ließ ihre Hand über Kasslers kurzen Bart gleiten. »Ich will nicht, daß du vorsichtig bist, Sy«, sagte sie. »Ich möchte, daß du es mir so gibst, wie du es bei jeder anderen Frau machen würdest. Gib es mir richtig, Sy.« Dann legte sich Vita auf dem Bett zurück, winkelte die Knie an und spreizte ihre Beine so weit, wie sie nur konnte. »Gib es mir richtig, Sy. Bitte.« Kassler bewegte sich, bis er je eine Hand unter die Hinterbacken Vitas gelegt hatte und zog mit den Daumen die großen Hautfalten zwischen ihren Beinen auseinander. Dann verbarg er den Kopf zwischen ihren Beinen und leckte die feuchte Spalte, seine Zunge tiefer und tiefer in die Grotte hineinstoßend. Als sich seine Zunge mit wachsender Wildheit bewegte, drängten sich ihm Vitas Lippen so weit wie möglich entgegen, um jeden Zoll des nassen Fleischs dem exquisiten Vergnügen auszusetzen, das sie empfand. Während seine Zunge hinein und hinaus fuhr, führte Kassler erst einen, dann zwei und drei Finger in sie ein, stieß sie vor und zurück, ließ sie kreisen und massierte Vitas Inneres mit den Fingerspitzen. Als er wußte, daß Vita feucht und weit genug war und es nicht länger ertragen konnte, zog er seine Hand zurück, stützte sich auf die Arme und schob sich Stück für Stück in sie hinein, bis es nicht weiter ging.
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»Oh, mein Gott«, stöhnte Vita, als sie Kassler ganz in sich spürte, »ich kann es nicht glauben.« Sie sprach mehr zu sich selbst. Kassler griff nach Vitas Taille und hielt sie ganz fest, und während seine Finger ihre runden Hüften kneteten, zog er sich auf die Knie. »Sag mir, was ich tun soll«, sagte Vita, aufgrund der Empfindungen, die sie überschwemmten, völlig außer Atem, aber bevor sie eine Antwort bekam, hob sie instiktiv ihre Beine noch weiter an und verschränkte sie hinter Kasslers Nacken. Dann hielt sie sich an Kasslers Armen fest, als dieser sich in ihr hin und her bewegte, ihre Hüften fest an sich preßte, seine eigenen Hüften seitlich rotieren ließ und dann so tief wie nur möglich in sie hineinstieß, bis Vita spürte, daß sie nicht mehr von ihm bekommen konnte. Tiefer und tiefer bewegte sich Kassler, schneller und schneller, und schließlich hob er einen Finger an die Lippen, befeuchtete ihn mit Speichel, und während er Vita mit dem in ihr Hinterteil geschobenen Finger hielt, stieß er wild zu, bis er mit größter Heftigkeit im Inneren des spektakulärsten Mädchens explodierte, das er jemals gesehen hatte. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Vita, als sie ruhig neben Kassler lag. »Ich kann es einfach nicht glauben. Das war vielleicht eine Darbietung! Ich fühle mich wie ein Waldhorn nach jeder Menge Mozart. Ich hatte keine Ahnung davon, daß Menschen so gespielt werden können.« »Ich nehme an, daß es keine durch und durch unangenehme erste Erfahrung war.« Kassler war mit sich durchaus zufrieden. »Es war ganz annehmbar«, spielte Vita mit ihm. »Du warst großartig.« Kassler wurde ernsthaft. »Du bist eine wundervolle Geliebte.« »Bin ich das?« Vita war gerührt, und wieder drängten sich Tränen in ihre Augen. »Ich hatte immer befürchtet, daß ich es nicht sein würde, daß ich schrecklich sein würde, Sy. Alle haben mir immer erzählt, was für einen phantastischen Körper ich besitze, aber ich habe mich nie phantastisch gefühlt. Ich -1 2 8 -
habe mich immer schüchtern und linkisch gefühlt. Genausogut hätte ich einen schrecklichen Körper haben können.« »Ich bin froh, daß du den nicht hast«, sagte Kassler. »Ich bin froh, daß du schön bist.« »Willst du etwas ganz Verrücktes hören?« sagte Vita. »Ich nehme seit sechs Jahren die Pille. Ich nehme an, daß ich mir die Liebe immer gewünscht habe - es gab genug Gelegenheiten - , aber ich konnte mich nicht dazu überwinden. Männer haben etwas an sich, die Art und Weise, wie Männer handeln, hat etwas an sich, das bei mir nicht ankommt. Männer sind mir immer verrückt und beängstigend vorgekommen. Sie erscheinen mir so beschränkt und aggressiv, wenn du weißt, was ich meine.« Kassler hörte nicht wirklich zu. Er zog mit den Blicken die Kurven von Vitas Körper nach, von den Brüsten bis zu dem dunklen Dreieck, das die Stelle bedeckte, die ihm soviel Vergnügen bereitet hatte. »Hm, Hm.« Er stimmte ganz allgemein mit allem überein, was Vita auch gesagt hatte. Minutenlang lag Kassler ganz still in dem schwach beleuchteten Raum und blickte an die Decke. Vita ruhte friedlich neben ihm. »Ich bin nie sehr gut bei Abenteuern für eine Nacht gewesen«, sagte er schließlich. »Ich habe es ein paarmal probiert, aber das Ganze hat nachher etwas an sich, das mir kein gutes Gefühl gibt. Es ist mir zu unpersönlich, nehme ich an.« Er griff nach Vitas Hand und fuhr fort. »Solange ich mich erinnern kann, habe ich mir eine Familie gewünscht, eine Frau, Kinder, ein hübsches Heim in einer netten Nachbarschaft mit Spazierwegen, einen Ort, der sicher genug zum Radfahren ist. Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten und die Dinge im Haus in Ordnung zu bringen, und eines Tages würde ich gerne eine Jugendmannschaft trainieren. Ich möchte, daß mein Leben einfach und unkompliziert ist, Vita. Am Tag die Patienten behandeln, -1 2 9 -
abends lesen, ins Kino oder essen gehen, im Sommer Urlaub am Strand machen. Gemeinsam etwas tun, jemandem, der etwas Besonderes ist, ganz nahe sein.« Kassler hielt Vitas Hand noch fester. Er dachte daran, was für ein gutes Gefühl es war, nach all den Jahren unter den Pseudointellektuellen New Yorks mit Vita zusammen zu sein, wie erfrischend es war, einem Verstand zu begegnen, der nicht vollgestopft war mit psychologischen Interpretationen von Verhaltensweisen und gelehrten Erkenntnissen von nahezu allem, angefangen bei der Philosophie bis hin zum Baseball. Er sah eine große Zeit auf sich zukommen, während der er Vitas Unbefangenheit vor den Gefahren des täglichen Existenzkampfs schützen würde. Er sehnte sich danach, Vitas einfaches Bild vom Leben zu teilen. »Ich werde gut für dich sorgen, Vita«, sagte er weich. »Wir werden gemeinsam ein wundervolles Leben führen. Du wirst wirklich glücklich werden.« Kassler drehte sich zur Seite und sah Vita an, die schon lange fest eingeschlafen war.
3 Kassler und Vita heirateten während der Weihnachtsferien, und Vita zog in Kasslers kleine, aber ausreichende Wohnung ein. Kassler war äußerst zuversichtlich. Angetrieben von seiner Liebe zu Vita und den Träumen von einem Leben voller Beschaulichkeit, sah er sich geradewegs auf die üppige, tropische Insel des Glücks zusegeln, über der die himmlische Sonne der ehelichen Seligkeit niemals unterging. Als wohlmeinende Freunde Kassler zur Seite nahmen und ihm klarmachten, daß im Dickicht seines Dschungelparadieses die Pardel der Bosheit und des Betrugs, die Löwen der Gewalt und der Gier und insbesondere die Wölfinnen der Zügellosigkeit -1 3 0 -
hausten, tat Kassler derartige Warnungen als infantile Phantasievorstellungen jener geplagten Seelen ab, die nicht an die wahre Liebe und den Geist des Menschen glauben wollten und deshalb nicht ernst zu nehmen waren. Glaube und vor allem Vernunft, der gute alte gesunde Menschenverstand, würden für einen sicheren Kurs sorgen und alle Klippen umschiffen. Kassler war überzeugt davon. Jetzt, als Kassler und Vita ihre Vergangenheit hinter sich ließen und aus dem dunklen Wald der Irrtümer hervortraten, um gemeinsam die große Reise zum Berg der Freuden anzutreten, neigte sich das Jahr 1969 seinem Ende zu. Es hätte auch irgendeine beliebige andere Zeit sein können, aber es war 1969 - in den Zeitungen stand zu dieser Zeit viel über eine Gegend namens Biafra. Zwei Millionen Menschen waren bisher gestorben. Und es würden noch mehr werden. Vita kannte Biafra nicht. Vitas Welt war einfach. Sie hielt Biafra für eine Insel im Pazifik. So was wie Bikini. Oder Tahiti. Geographie gehörte nicht zu Vitas Stärken. Für Vita war die Welt in links und rechts unterteilt, in oben und unten, in heiß und kalt. Asien war links, Europa rechts. Die Arktis war oben, Florida unten. Oben ist es kalt, unten ist es heiß. Kassler, der in jenem glorreichen Augenblick geboren worden war, als die Japaner beschlossen, mit der linken Seite der Welt dasselbe zu tun, was die Deutschen bereits mit der rechten Seite taten, erkannte mehr von den Feinheiten des Lebens. Er wußte zum Beispiel, daß Biafra ein neues Land war, das bis vor kurzem vermutlich einen anderen Namen gehabt hatte, und ihm waren Bilder von verhungernden Kindern mit schwarzen, aufgeblähten Bäuchen zu Gesicht gekommen, die dort lebten. Gleichzeitig war er zu der Schlußfolgerung gekommen, daß er, was Biafra oder die hungernden Kinder anging, nicht viel tun konnte, und so versuchte er, nicht lange daran zu denken. Statt dessen widmete er sich Dingen, die weniger global waren - seiner akademischen Karriere und seiner Ehe, in der es geheimnisvollerweise schon zu bröckeln begann, bevor die Feuchtigkeit des ersten erschrockenen Kusses, den ihm Vita zur Besiegelung der Heirat gegeben hatte, richtig verflogen war. -1 3 1 -
An einem bitterkalten Januartag des Jahres 1970, an dem der leichteste Windstoß die Fenster ihrer Wohnung papierdünn erscheinen ließ, trocknete Kassler das Geschirr ab, das Vita spülte. Sie waren seit genau neun Tagen verheiratet. Vita blickte von der mit seifigem Wasser gefüllten Spüle hoch und begann zu schluchzen. »Ich hasse die Ehe«, sagte sie unter Tränen. »Sie ist eine künstliche Institution, die von sadistischen Männern erfunden wurde, um hilflose Frauen zu versklaven.« Kassler sah Vita schockiert an. »Vielleicht sollte ich spülen«, schlug er vor. »Du kannst abtrocknen.« » Der Gedanke, daß eine Frau ihr ganzes Leben einem einzigen Mann widmen soll, ist einfach verrückt«, fuhr Vita weinend fort. »Er ist absurd. Er ist verrückt.« »Wenn du nicht willst, brauchst du nicht mal abzutrocknen«, schlug Kassler seiner aufgewühlten jungen Frau vor. »Das Geschirr kann auf der Ablage abtropfen und wird morgen ganz von selbst trocken geworden sein.« Vita blickte Kassler minutenlang schweigend an. »Ich glaube auch, daß ich dich hasse, Sy«, sagte sie schließlich. »Ich möchte, daß du das weißt. »Du bist ein ganz reizender Mann, aber ich glaube, ich hasse dich, und ich glaube nicht, daß ich dir jemals vergeben werde.« Und Vita ging ins Schlafzimmer ihrer kleinen Wohnung, warf sich aufs Bett und schluchzte ins Kopfkissen. Vita weinte fast die ganze Nacht, den nächsten Tag, die Nacht danach und den größten Teil der nächsten Woche. Sie hörte auf zu essen. Sie hörte auf zu reden. Tagsüber saß sie zu einem Ball zusammengerollt schweigend in dem Sessel in der Ecke des Wohnzimmers und starrte geistesabwesend ins Leere. Nachts lag sie im Bett, verbarg das Gesicht im Kopfkissen und weinte leise. »Es wird alles gut werden«, versuchte Kassler, sie zu besänftigen. »Es ist ganz normal, daß du dich so fühlst.« Er
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versuchte, sowohl sie als auch sich selbst zu überzeugen. »In ein paar Tagen bist zu darüber hinweg.« Vita reagierte nicht. Sie blickte Kassler nur mit intensiven Haßgefühlen an. Kassler umarmte Vita, die unter seiner Berührung versteinerte. »Ich liebe dich, Vita«, sagte er, während er sanft ihr Haar streichelte. »Ich liebe dich sehr. Ich werde gut für dich sorgen. Alles wird gut werden, du wirst es sehen.« Kassler empfand eine große Zuneigung zu Vita. Er glaubte zu wissen, wie sie sich fühlte. Er spürte, daß in ihrem Inneren eine wunderschöne Seele ruhte. Er sah sie als furchtsames Kind, das lediglich umarmt und getröstet werden mußte. Geduld und Güte würden den Sieg davontragen, davon war er überzeugt. Langsam begann Vita gegen Ende des Monats aus den tiefsten Niederungen ihrer Depression hervorzukommen. Sie fing an zu essen. Sie hörte auf zu weinen. »Ich habe mich in Cleveland sehr wohl gefühlt, weißt du«, begann sie zu Kassler zu reden. »Ich hatte einen guten Job und Freunde. Ich bin dort aufgewachsen. Ich kannte die Menschen. Ich kannte die Stadt. Hier habe ich nichts. Absolut nichts. Ich komme mir vor wie ein Zombie.« »Möchtest du nach Cleveland zurück?« fragte Kassler. »Nicht eigentlich«, antwortete Vita zu Kassler vorübergehender Erleichterung. »Ich möchte ein Baby, Sy.« Kassler, den die verblüffende Schnelligkeit von Vitas Depression nach der Heirat schon ziemlich atemlos gemacht hatte, ging der noch verbliebenen Reserven in seinem Respirationssystem verlustig und keuchte unter der verzweifelten Anstrengung, seine Lungenfunktion wiederherzustellen. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte Vita, als sie zusah, wie ihr Mann blau anlief. »Ein Baby?« schnaufte Kassler. -1 3 3 -
»Es wäre gut für uns, Sy«, sagte Vita überzeugt. »Es würde uns ein größeres Zusammengehörigkeitsgefühl geben und die Mauern zwischen uns niederreißen.« »Ein Kind?« Kassler schnappte nach Luft. »Ein menschliches Kind.« Vita sagte es ganz deutlich. Kassler holte ein paarmal tief Luft. »Ich bin Student«, brachte er schließlich hervor. »Wir haben genug Geld«, erklärte Vita geduldig. »Und ich kann weiter private Klavierstunden geben. Wir kommen gut zurecht.« »Die Universität kostet mich viel Zeit.« »Sieh mal, Sy, du wärst nicht der erste Student mit einem Kind. Du könntest damit fertig werden, wenn du nur wolltest. Es ist nicht unmöglich.« »Aber es ist sehr schwer. Nicht unmöglich, aber schwierig. Kompliziert. Schwer. Sehr schwer.« Kassler blickte in Vitas große traurige Augen. Er wollte in die Bibliothek laufen. Irgendwo, da war er sich sicher, mußte es ein Buch über die Psychologie der Ehe geben, irgendeine auf sorgfältig recherchierte Forschungen gestützte Expertenmeinung, die in einfachen Worten erklärte, was man tut, wenn eine junge Ehefrau in tiefste Depression verfällt, erklärt, daß sie ihren Mann haßt, und dann beschließt, ein Baby zu bekommen. Es handelte sich um ein Problem, meinte Kassler, daß der allgegenwärtigen Neugier klinischer Forschungen nicht entgangen sein konnte. Ausgerüstet mit verläßlichen wissenschaftlichen Daten war sich Kassler sicher, Vita demonstrieren zu können, daß ein Kind zur gegenwärtigen Zeit höchstwahrscheinlich zur absoluten Katastrophe führen würde, Vita spürte Kasslers herabgesetzte Fähigkeit, das Problem aus eigener Kraft zu lösen, und wandte andere, weniger rigorose Mittel an, um sich durchzusetzen. Sie nahm seine Hand und streichelte sie sanft, das erste Zeichen von Zuneigung seit ihrem Hochzeitstag. -1 3 4 -
»Es würde mich sehr glücklich machen«, säuselte sie, als sie ihre feuchten Lippen auf die seinen preßte und anfing, die Stelle zwischen seinen Beinen zu manipulieren. »Würde es das?« trällerte Kassler. »Sehr glücklich«, murmelte Vita und drängte ihre Zunge in seinen Mund. »Nun denn...« Kasslers gequetschte Antwort verlor sich in der frostigen Nacht. Und so machten Vita und Kassler zu Beginn des Jahres 1970 ein Baby. So wie die statistischen Wahrscheinlichkeiten aussahen, übte die Schwangerschaft keine heilsame Wirkung auf die Beziehung zwischen Kassler und Vita aus. Im Gegenteil, Vita wurde immer mürrischer und entfernte sich noch weiter von Kassler, der den Mangel an Erfüllung in seinem Leben dadurch zu kompensieren versuchte, daß er sic h in die scheußlichen Details des Charles-Manson-Prozesses, in die Morde an der Kent-Universität, in die anhaltenden Probleme der Eisenbahn und in die Reform des Postwesens vertiefte. Während Kassler seine Freizeit damit verbrachte, über Massenmord und Methoden nachzudenken, mit denen die Eisenbahngesellschaft die Menschen wieder in die Züge locken konnte, gab Vita Klavierstunden und blies Trübsal. Ansonsten gab es in ihrem gemeinsamen Leben keine gefühlsmäßigen Inhalte. Kassler studierte, Vita war übellaunig. Gelegentlich gingen sie abends essen oder ins Kino. Vita machte es sich zur Gewohnheit, Kassler sonntagsabends Sex zu bieten, weil sie feststellte, daß ihn dies für den Rest der Woche weniger gereizt sein ließ, aber im September, als sie im achten Monat war, mußte sie damit aufhören, und Kassler fing auf ihren Wunsch sonntagsabends zu masturbieren an, so daß die nächste Woche ruhiger verlaufen konnte. Kassler litt. Viele Abende verbrachte er allein auf der Couch im Wohnzimmer, lauschte den endlosen, ausdruckslosen, von Zehnjährigen dargebrachten Wiederholungen von ›Clair de lune‹ und versuchte erfolglos herauszufinden, was zwischen -1 3 5 -
ihm und seiner jungen Frau sofort nach Unterzeichnung der Heiratsurkunde passiert war. Es kam ihm so vor, als habe es sich dabei um ein Hinrichtungsurteil gehandelt -alles Leben in Vita hatte aufgehört, ihr Körper wurde schlaff und unattraktiv, und Kassler begann sich zu fragen, ob in ihren Augen jemals ein Funkeln gewesen war oder ob er sich das nur eingebildet hatte. »Macht dir dies überhaupt Spaß?« fragte er Vita eines Abends, kurz vor der Geburt. »Hast du Vergnügen daran, so zu leben?« »Ich habe kein Vergnügen daran, und es macht mir keinen Spaß«, antwortete Vita nüchtern. »Es ist das Leben. Es soll kein Spaß sein.« »Bist du glücklich?« fragte Kassler. »Ich bin gar nichts«, sagte Vita. »Ich bin müde. Und ich bin ein Ballon, in dem eine andere Person sitzt und jedes bißchen Energie aufbraucht, das ich besitze. Ich bin müde, Sy. Sehr müde, das ist alles.« »Du erscheinst unglücklich«, sagte Kassler. »Ich fühle mich elend, wenn du die Wahrheit wissen willst. Ich weiß nicht, was mit mir, mit uns, passiert ist. Alles lief so gut. Dann haben wir geheiratet, und ich weiß nicht, was falsch gelaufen ist. Weil ich ein Einzelkind bin, glaube ich.« »Es tut mir leid, daß es sich so entwickelt hat«, sagte Kassler leise, während er beobachtete, wie eine Träne Vitas Wange hinunterlief. »Nun, es ist nicht deine Schuld, Sy. Es ist allein meine. Ich komme mit dem Intimen nicht so gut zurecht, und diese ganze Sache ist fast so intim, als würde man in die Haut eines anderen schlüpfen. Mir ist so, als würde ich bei lebendigem Leib aufgefressen, so ein Gefühl habe ich.« »Gibt es irgend etwas, was ich tun kann?« fragte Kassler. »Da du das Baby nicht für mich kriegen kannst, fällt mir nichts ein«, sagte Vita. »Ich gehe ins Bett.«
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Kassler saß allein im Wohnzimmer, während sich Vita auszog und ins Bett ging. Dann ging er ins Schlafzimmer und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Er nahm ihre Hand und hielt sie zärtlich fest. »Ich wünschte, daß ich etwas tun könnte«, sagte er leise. »Nun, es gibt nichts, Sy«, sagte Vita. »Mach dich also nicht verrückt. Ich habe jetzt genug am Hals und kann mich nicht auch noch mit deinen Schuldgefühlen auseinandersetzen. Laß mich einfach allein, und wenn das Baby da ist, wird alles in Ordnung sein.« Kassler betrachtete Vitas Kopf auf dem Kissen. Ihr Haar breitete sich mit der satten Dunkelheit eines Schattens aus. Es kontrastierte mit ihrer cremefarbenen Haut, auf der sich das aus dem Flur einfallende Licht widerspiegelte. Kassler war der Ansicht, daß sie wie ein Engel aussah. Wie einer von seinen. Minutenlang blieb er neben Vita sitzen, sah sie an und machte sich zärtliche Gedanken. Er erinnerte sich, einmal irgendwo gelesen zu haben, daß ein Baby zu bekommen eine freudvolle Erfahrung sein sollte, aber er war sich dessen nicht ganz sicher. Vielleicht meinten sie das, was geschah, nachdem das Baby zur Welt gekommen war. Dann küßte er Vita sanft auf die Wange und machte sich auf den Weg ins Badezimmer, weil wieder Sonntagabend war. Am 15. November 1970, auf den Tag neun Monate nach der Empfängnis, wurde Joshua Morris Kassler geboren, und Vita Volpe Kassler versank nach der Geburt in einer Depression, ohne daß sich ihre Melancholie nach der Heirat oder vor der Geburt spürbar gelegt hätte. »Diese Stadt treibt mich die Wände hoch«, ließ sie Kassler wissen. »Wir müssen, verdammt noch mal, machen, daß wir hier wegkommen.« Kassler zuckte die Achseln. »Also, wie sollte ich mich deiner Meinung nach fühlen?« fragte sie ihn. »Nach all dem, was ich durchgemacht habe, und -1 3 7 -
mit diesem großen leeren Raum in mir? Außerdem kann ich Säuglinge nicht ausstehen. Alles, was sie tun, ist weinen, kacken und wieder weinen. Jedesmal wenn du dich umdrehst, mußt du ihnen was zu essen geben. Du bekommst kaum Schlaf. Ich mag Kinder erst dann, wenn sie alt genug sind, um sich vernünftig mit einem zu unterhalten und sich selbst um ihre Wäsche zu kümmern.« So wurde Kassler Joshuas Mutter und Vater. Er badete seinen Sohn, wechselte seine Windeln, gab ihm das Fläschchen und spielte Fratzenschneiden mit ihm. Da sonst niemand im Haus war, mit dem er reden konnte, führte er lange, gedankentiefe Gespräche mit seinem Sohn, meistens über das Leben und die Männlichkeit. Vita zog sich ins Schlafzimmer zurück und bejammerte dort ihr Elend, das grausame Schicksal ihres Geschlechts, Kinder austragen zu müssen, und ihr Unglück, keine Muttermilch zu haben, um ihren Sohn zu stillen, eine Situation, die sie unerklärlich fand und die zu bitteren Tränen führte. Die Male, wenn sie sich wegen des Mangels an Mütterlichkeit, die sie ihrem Sohn entgegenbrachte, schuldig fühlte und im Kinderzimmer aufkreuzte, zeigte sich Joshua dieser fremden Frau gegenüber nicht sehr kooperativ. Wie ein Seismograph schien Joshua für die Vibrationen dieser Welt bemerkenswert empfänglich zu sein und schrie wie eine gequälte Seele - entschuldigen Sie den Ausdruck -, wann immer ihn seine Mutter auf den Arm nahm. »Er haßt mich«, sagte Vita zu Kassler, der seinen akademischen Terminplan darauf abgestimmt hatte, so oft wie möglich zu Hause zu sein, um sich um Joshua kümmern zu können. »Er wird mir nie verzeihen, daß er meine Milch nicht bekommt. Ich weiß es ganz genau. Ich will noch ein Baby.« Kassler ließ Joshua beinahe fallen. »Du machst Witze«, stellte er schließlich fest. »Sieh mal, Sy«, erklärte Vita. »Wenn man beim ersten Mal scheitert, heißt das doch nicht, daß man es nicht noch einmal versuchen soll.« -1 3 8 -
»Nachdem du herausgefunden hast, wo du den falschen Weg gegangen bist und wie das Problem gelöst werden kann«, machte Kassler ihr klar. »Das einzige Problem war«, erklärte Vita, »daß ich vorher nie ein Kind hatte und Angst bekam, wodurch von Anfang an alles falsch lief und meine Milch nicht floß, was mich schrecklich deprimierte, weil ich merkte, daß ich Joshua enttäuscht habe und er seitdem wütend auf mich ist. Diesmal weiß ich, was ich zu erwarten habe.« Kassler wischte etwas Speichel aus Joshuas Mundwinkel und dachte über Vitas Erklärung nach. »Meinst du nicht«, sagte er schließlich, »daß wir uns erst ein bißchen besser einrichten sollten, bevor wir ein weiteres Kind bekommen, daß mit Joshua alles glatt laufen sollte, daß ich mein Studium abschließen sollte, daß wir die kleinen Macken aus unserer Beziehung herausbekommen sollten, wie etwa unsere Unfähigkeit, miteinander zu reden, Sex zu haben, uns in unserer Ehe wohl zu fühlen, uns zu lieben und zu berühren diese Sachen?« Vita war voller Zorn. »Ich wünschte«, schnappte sie und schleuderte ihr TimeMagazin auf den Fußboden, »daß du nicht jedesmal, wenn ich über irgendwas mit dir reden will, damit anfängst, wie lausig unsere Ehe ist. Glaubst du, ich wüßte nicht, wie lausig sie ist? Und sie wird bestimmt nicht besser, wenn du andauernd darüber redest. Du kannst Gefühle nicht ändern, indem du über sie redest, verdammt noch mal. Die Änderung von Gefühlen ist davon abhängig, wie man behandelt wird, von dem, was in einem vorgeht, und von den Erfahrungen, die man in der Welt macht. Du bist Psychologe und solltest das eigentlich wissen.« »Entscheidend ist«, sagte Kassler, während er das Fläschchen wieder in Joshuas Mund schob und Vitas Tirade ignorierte, »daß es nicht fair wäre, ein weiteres Kind in die Welt zu setzen, solange wir so viele Probleme haben. Ich bin mir nicht mal sicher, daß wir uns noch ein Kind leisten könnten.«
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»Entscheidend ist«, erwiderte Vita, »daß ich nicht nur ein Kind haben werde. Joshua braucht die Gesellschaft eines weiteren Kindes. Es ist nicht fair ihm gegenüber, daß er nicht noch einen Bruder oder eine Schwester zum Spielen hat. Einzelkinder sind verhaßte, unglückliche Kinder.« Kassler preßte die Lippen fest zusammen. »Also«, fuhr Vita fort, »irgendwann werden wir noch ein Kind haben, und so sage ich mir, daß wir es genausogut hinter uns bringen und es jetzt machen können. Wir finden schon einen Weg, um es durchzubringen. Je länger wir warten, desto länger haben wir Babys im Haus. Wenn wir es jetzt machen, werden sie in sechs oder sieben Jahren, nicht in zehn oder zwölf, den ganzen Tag in der Schule sein, richtig?« Kassler sagte nichts. Gedankenverloren saß er minutenlang da, stand dann auf und trug seinen Sohn ins Nebenzimmer, wo er ihn sanft ins Bett legte und eine Decke über ihn zog. Er drückte ihm einen leichten Kuß auf die Wange. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Vita zur Couch herübergekommen. Kassler setzte sich neben sie. »Weißt du«, sagte Vita und ließ ihre Finger durch Kasslers Haar gleiten, »dies würde uns zu einer richtigen Familie machen. Ich glaube, es würde uns sehr helfen.« Vita legte die andere Hand um Kasslers Hals und ließ sie bis zu seinem Hemd hinunterwandern. Sie öffnete die obersten beiden Knöpfe und fuhr mit den Fingern durch sein Brusthaar. Dann beugte sie sich vor und küßte Kassler leidenschaftlich auf den Mund, wobei ihre Zunge über seine Zähne huschte und dann tief in seinen Mund eindrang. Vita besaß eine natürliche Begabung, erfolgreiche Strategien zu wiederholen. So wurde Vita abermals schwanger, und was bisher ein Desaster gewesen war, wuchs sich nun zur Katastrophe aus. Die Depression nach Joshuas Geburt fiel nun mit der Depression einer zweiten Schwangerschaft zusammen.
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»Ich muß die Tatsache akzeptieren«, sagte sie während des dritten Monats, »daß manche Frauen nicht dazu geschaffen sind, Mutter zu sein, und ich gehöre zu ihnen. Ich hoffe, du liebst Kinder, Sy.« Dann wurde Vita regressiv. »Ich habe mir gerade vor Augen geführt«, sagte sie eines Morgens, während Kassler Joshua auf dem Arm hatte und Brei in seinen Mund schaufelte, »daß ich nie eine Kindheit hatte.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Pulverkaffee. »Nie habe ich erfahren, wie es ist, völlig frei zu sein, ohne Verantwortung, mit jemandem, der sich um mich kümmert. Ich glaube, deshalb ist es ein so großes Problem für mich, eigene Kinder zu haben.« »Meinst du, du könntest mir ein bißchen Kaffee holen?« fragte Kassler, während der versuchte, ein Glas Bananenmus mit einer Hand zu öffnen. »Du hörst mir gar nicht zu«, stellte Vita fest. »Ich brauche jemanden, der sich um mich kümmert.« »Wenn du nur heißes Wasser in eine Tasse schüttest und einen Löffel und das Kaffeeglas herbringst, mache ich den Rest selbst«, schlug Kassler vor. »Es ist nicht so, daß ich mich nicht schlecht fühle, weil du soviel Zeit damit verbringen mußt, dich um Joshua zu kümmern, denn das tue ich wirklich, Sy.« Vitas Gedankenfluß hatte sie daran gehindert, Kasslers Bitte zur Kenntnis zu nehmen. »Aber ich habe tief in meinem Innersten diese Bedürfnisse, mußt du wissen, die nie erfüllt worden sind, und bis das nicht der Fall ist, werde ich ganz einfach nicht glücklich sein, glaube ich.« »An was denkst du?« Kassler stand auf, balancierte Joshua und den Brei auf einem Arm und ging zum Herd hinüber, wo er etwas heißes Wasser in eine Tasse schüttete, einen Löffelvoll Pulverkaffee und ein wenig Zucker dazugab und umrührte. »Nun«, sagte Vita, »Ich habe darüber nachgedacht. Kinder haben ihren Spaß, wenn sie mit Spielzeugen spielen, und ich habe versucht, mir vorzustellen, womit Erwachsene denselben -1 4 1 -
Spaß haben könnten wie Kinder mit ihren Spielzeugen. Und letzte Nacht ist es mir eingefallen - Sex.« Kassler nahm seinen Kaffee und setzte sich in den Sessel neben Vita. »Meinst du das wirklich?« fragte er mit großem Interesse. »In den letzten acht Monaten haben wir nur zweimal Sex gehabt. Du willst viel Sex haben?« »Ja, das ist der springende Punkt«, sagte Vita, während sie nach der Hand griff, mit der Kassler gerade seine Tasse zum Mund führen wollte, und sie ganz sanft festhielt. »Ich will es, Sy, aber nicht mit dir.« Kassler erstarrte. Ein Schauder durchlief seinen Körper. »Weißt du, Sy«, sagte Vita, »während des letzten Jahres oder so bin ich so verdammt geil gewesen, daß ich es nicht aushalten kann, aber wenn ich mit dir Sex gehabt hätte, wäre so viel davon berührt worden. Es ist so ernst, wenn du verstehst, was ich meine. Es ist eine Ehe, mit all der Verantwortung und jetzt auch noch einem Kind, und du bist absolut ständig da. Das Ganze hat nichts Spielerisches an sich. Wie könnte es das auch, nicht wahr?« »Mit wem willst du Sex haben?« fragte Kassler wie betäubt. »Nun, ich weiß nicht genau«, sagte Vita und streichelte sanft Kasslers Hand. »Vermutlich mit vielen verschiedenen Männern. Wie ich es sehe, müßte es so sein, als ob ich dieses Regal mit Spielsachen hätte, mit denen ich immer, wenn ich will, spielen könnte, und wenn ich mit einem Spielzeug fertig wäre, könnte ich mit einem anderen weiterspielen, ohne Verantwortlichkeit, ohne Fürsorge und ohne mir Gedanken über Gefühle machen zu müssen. Diese Erfahrung habe ich nie gemacht, Sy, wirklich. Ich glaube, deshalb ist Sex immer ein Problem für mich gewesen. Dies könnte für unsere Beziehung absolut sensationell werden, Sy.« »Und was ist mit mir?« fragte Kassler verwirrt und gequält. »Was soll ich tun?«
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»Sei nur geduldig«, sagte Vita zuckersüß. »Das ist alles. Es wird ein so großartiges Geschenk sein, das du mir da gibst! Es wird sich wirklich für uns auszahlen. Es wird ein ganz neues Leben für uns bedeuten.« »Was soll ich tun?« wiederholte er. »Was auch immer du willst«, sagte Vita zu ihm. »Wenn du das ebenfalls brauchst, dann geh und tu es. Vermutlich würde es auch dir gut tun.« »Ich brauche es nicht«, sagte Kassler. »Ich will lediglich eine gute Beziehung zu dir haben, zu einer Frau, für immer.« »Aber siehst du denn nicht, unter welchen Druck ich dabei gerate?« erklärte Vita. »Wenn es bei mir nicht klappt, dann bedeutet das Scheidung, und da wir sehr bald zwei Kinder haben werden, sitzen wir böse in der Patsche, Sy. Entweder wir haben beide unsere Freude, oder wir sind dem Untergang geweiht. Wie kann man sonst eine gute Beziehung haben?« »Ich weiß nicht, ob ich das tun kann, Vita.« »Ich weiß, daß du es kannst, Sy.« Vita hielt Kasslers Hand ganz fest. »Du bist stark. Das bist du immer gewesen. Tief in deinem Innersten weißt du, daß es genau das ist, was wir brauchen, um unsere Probleme zu lösen und richtig zusammenzukommen. Ich werde mich wohl dabei fühlen, wenn ich mich um die Kinder kümmere. Ich werde auch mit dir wieder Sex haben wollen. Ich werde glücklich sein. Dann, sobald du mit der Universität fertig bist, können wir diese stinkende Stadt verlassen und ein neues Leben beginnen. Wenn dir wirklich etwas an mir liegt, wenn du mich wirklich liebst, wirst du mich in dieser Sache unterstützen. Anderenfalls wird es bei uns niemals klappen, Sy. Niemals.« Kassler blickte in Vitas dunkle Augen. Dann blickte er auf Joshua, der im Sessel fest eingeschlafen war, die kleinen, dicken Hände mit Fruchtmus beschmiert. »In Ordnung«, murmelte Kassler. »In Ordnung.« Vita vergeudete nicht viel Zeit.
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Als Kassler in der nächsten Woc he eines Abends nach Hause kam, fand er eine ganz nervöse Vita vor, die mit ihrem Make-up beschäftigt war und ihren Hals mit Parfüm besprühte. »Na?« rief er. »Sy? Ich dachte, du hättest heute abend ein Seminar.« »Morgen abend«, sagte Kassler und ging auf sie zu. Vita drehte sich um und nahm Kasslers Hand. »Sy«, sagte sie und blickte ihm anklagend in die Augen, »ich war wirklich der Ansicht, daß du heute abend ein Seminar hast. Ich bekomme Besuch.« »Hier?« sagte Kassler schrill. »Konntest du nicht in seine Wohnung gehen?« »Ich konnte keinen Babysitter bekommen und wußte nicht, daß du so früh zurückkommst, tut mir leid«, sagte Vita und fuhr mit der Bürste durch ihr üppiges dunkles Haar. »Mach dir keine Gedanken, Sy. Es wird dich nicht stören. Viele Leute führen eine freizügige Ehe, und es klappt ganz toll. Bitte versuch, dich wie ein erwachsener Mensch zu benehmen, bitte.« Sie legte die Bürste weg, betrachtete sich im Spiegel und drehte sich zu Kassler um. »Denk daran, daß dies die große Chance für uns beide ist, Sy. Es wird für unsere Ehe Wunder wirken. Vergiß das nie. Joshua wird nachher irgendwann eine Schmerztablette brauchen, glaube ich. Er bekommt Zähne oder so was, und ich habe ihm vorhin eine kleine Tablette gegeben. Ich weiß nicht mehr genau, wann, so daß er noch eine brauchen wird, glaube ich. Siehst du, wie ich schon anfange, mich um Kinder zu kümmern?« Als die Türschelle anschlug, ging Kassler auf Vitas Wunsch in die Küche, um sich dort zu verbergen. Die Laute einer anderen Männerstimme in der Wohnung ließen ein eisiges Gefühl in seinem Magen aufsteigen. Er hatte den verzweifelten Wunsch zu gehen, aber er fürchtete, Vita würde sich bei ihrer Spieltherapie so stark engagieren, daß sie Joshua nicht hörte, und so wappnete er sich nach besten Kräften und blieb. -1 4 4 -
Vita hatte es natürlich sehr eilig, ihr Spielzeug aus dem sprichwörtlichen Regal zu nehmen und im Schlafzimmer das Spielen nachzuholen, das sie als Kind versäumt hatte. Kassler hatte sein Studienmaterial mit in die Küche genommen, aber es konnte ihn nicht ablenken. Die gedämpften Laute der Unterhaltung zwischen Vita und ihrem Liebhaber hallten durch seinen Kopf, bis er sich wie im Inneren einer Kesselpauke fühlte. Eine Weile ging er in der Küche leise auf und ab. »Dies wird für unsere Ehe sehr hilfreich sein«, sagte er immer wieder zu sich selbst, wie ein Gebet, das ihn daran hindern sollte, zusammenzubrechen. Dann setzte er sich auf einen Küchenstuhl, verbarg den Kopf in den Händen und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Oh, ja«, kam Vitas Stimme aus dem Schlafzimmer. »Ja, ja, ja«, wiederholte sie. Kassler knirschte mit den Zähnen. In seinem Inneren begann es zu schmerzen. »Mehr«, sagte Vita. »Bitte, mehr.« Kassler hatte das Gefühl, als würde ihm jemand das Herz rausschneiden, Stück für Stück. Er wußte nicht, wieviel er davon noch ertragen konnte. »... einfach... gewaltig«, stöhnte Vita, »... gewaltig... phantastisch...« Kassler setzte sich auf seinem Stuhl ganz gerade und streckte den Rücken. Die Qual ging fast über seine Widerstandskraft hinaus. Der Gedanke an sein Kind in Vitas Leib zerriß ihm das Herz. Er neigte den Kopf zurück und grub seine Fingernägel in den Sitz, als das Rucken des Betts im Nebenzimmer immer offensichtlicher und das Stöhnen Vitas immer lauter wurden. Kassler hörte, wie der Fremde grunzte, als er sich in seiner Frau hin und her bewegte. »... gut... gut...«, vernahm Kassler Vitas Stimme. »So gut... jetzt... jetzt... ja...« »Oh! Oh! Oh!« -1 4 5 -
Kassler hörte, wie es dem Mann in Vita kam. »Ohhhhhh!« erwiderte die sensationellste Frau, die Kassler jemals getroffen hatte. Die ganze Agonie Kasslers kam zum Durchbruch. Sein Hirn schrie schweigend den Schmerz hinaus, und er sackte in seinem Sessel nach vorne und verbarg den Kopf in den Händen. »Womit habe ich das verdient?« fragte er sich immer wieder. »Warum ich? Warum ich?« Es dauerte nicht mehr lange, bis der Mann ging. Und nur wenige Minuten danach kam Vita in ihrem Bademantel in die Küche, um einen Bissen zu essen. Kassler gelobte sich selbst, daß er sich Vitas Bitte entsprechend wie ein erwachsener Mensch verhalten würde. Vita sagte nichts. Sie summte vor sich hin, als sie ein übriggebliebenes Stück Roastbeef aus dem Kühlschrank nahm und anfing, es in Scheiben zu schneiden. »Nun?« begann Kassler schließlich die Unterhaltung. »Fühlst du dich in unserer Ehe nun wohler?« »Du kannst nicht erwarten, daß schon nach einem Mal eine Änderung bei mir eintritt, einfach so«, klagte Vita. Kassler ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser hervor. »Wie viele Male sind deiner Ansicht nach erforderlich?« fragte er langsam, während er sein Glas füllte. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Vita, in der es nach den Bewegungen des großen Glieds des Mannes noch immer zuckte. »Nur Gott weiß es. Es könnten noch viele Male erforderlich sein, Sy, verdammt viele Male.« Vitas Stimme verklang träumerisch. Nach diesem schrecklichen Abend widmete sich Kassler ganz seiner Arbeit und ließ in seinem akademischen Stundenplan nur Zeit für die Kinderpflege. Glücklicherweise wurde er zu dieser Zeit, als sein eigenes Leben zusehends aus den Fugen geriet, damit betraut, seine ersten Patienten -1 4 6 -
psychotherapeutisch zu behandeln, damit sie ein produktives, erfülltes und emotionell lohnenswertes Leben führen konnten. Als sein erster Patient - ein kahlköpfiger Mann in den Vierzigern mit einem gewaltigen Bauch - eintrat und mit großer Erwartung vor ihm Platz nahm, merkte Kassler fast augenblicklich, daß er natürlich absolut keine Ahnung davon hatte, wie man eine psychotherapeutische Behandlung vornahm. »Ich weiß, daß es ganz allein meine Schuld ist«, wehklagte der Mann, während er Kassler gegenüber hin und her schaukelte, »aber ich kann mit diesen Sauftouren ganz einfach nicht aufhören, und wenn ich es nicht tue, dann werde ich meinen Job, meine Frau und alles andere auch verlieren, wovon das meiste sowieso schon verpfändet ist, weil mein ganzes Gehalt für den Schnaps draufgeht.« Kassler betrachtete seinen Patienten schweigend und wartete darauf, daß sich das Unbewußte des Mannes wie eine große bunte Blume entfalten würde, die direkt aus seinem Kopf hinauswuchs. Sie würde, da war sich Kassler ganz sicher, Blütenblättern gleich von der Maske, dem Archetyp, dem paranoid-schizoiden Status, der Libido und dem Ober-Ich des Mannes umgeben sein. Seltsamerweise wollte ihm der Patient nicht den Gefallen tun. Er sagte nichts, was darauf hindeutete, daß er in den Mutterleib zurückzukehren gedachte oder wie sehr es ihm leid tat, daß er die gute Brust ruiniert hatte. Wie tief Kassler auch bohrte, seine Position blieb gleich. Der Mann mit der dicken Brille und der Nuschelstimme wollte lediglich erfahren wie er mit dem Trinken aufhören konnte, bevor er alles, was ihm etwas bedeutete, verlor. Nach den ersten fünf Minuten der Sitzung trat ein längeres Schweigen ein. Kassler saß da, lächelte therapeutisch und dachte verzweifelt darüber nach, wie er die restlichen fünfundvierzig Minuten, die der Gentleman gegenüber noch bei ihm sein würde, ausfüllen könnte.
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»Um Ihnen helfen zu können«, brach Kassler schließlich das unbehagliche Schweigen, »wäre es sehr wichtig, daß ich mit Ihrer ganzen Vorgeschichte vertraut bin.« Kassler nahm von dem Tisch neben sich einen Stift und einen Notizblock mit gelben Linien. »Nun, Mr. Amato«, sagte er mit einem kaum verhehlten Seufzer der Erleichterung, »in welchem Jahr wurden Ihre Urgroßeltern geboren?« In kurzer Zeit bekam Mr. Amato Gesellschaft von ungefähr einem Dutzend anderer Individuen, die bei Kassler Erkenntnisse darüber gewinnen wollten, wie sie ihren Lebensschmerz lindern konnten. Ich sagte, daß dies ein glücklicher Umstand für Kassler war, weil er so wenig über die Praxis der Psychotherapie wußte, daß er seine ganze Zeit und seine ganze Energie aufwenden mußte, um sich die erforderlichen Fertigkeiten anzueignen. Da er dies zusätzlich tun mußte zu der Pflege seines Kindes, dem Besuch von Vorlesungen und Kontrollsitzungen, den Examensvorbereitungen und - sine qua non für Studenten dem Experimentieren mit Ratten, dem Auswerten von Videoaufnahmen, wo Tauben auf farbigen Hebeln herumpickten, und dem Berechnen von Chi-Quadraten, Mittelwerten und Standardabweichungen bei einer scheinbar unendlichen Anzahl von Forschungsprogrammen der verschiedensten Fakultätsmitglieder, blieb Kassler absolut keine Zeit, sich mit seinen ehelichen Angelegenheiten zu beschäftigen, die, um es mit wenigen Worten zu sagen, sehr unerfreulich waren. Während er sich durch die akademische Welt vor dem Doktortitel arbeitete, um das, was von seiner geistigen Gesundheit noch übriggeblieben war, zu bewahren, kam er mit Vita zu einer Reihe von Übereinkünften. Vita erklärte sich einverstanden, nie wieder einen Mann mit nach Hause zu bringen, wofür Kassler als Gegenleistung zusagte, auf das Baby aufzupassen oder einen Babysitter zu besorgen. Vita erklärte sich einverstanden, Kassler niemals zu -1 4 8 -
sagen, wohin sie ging oder was sich abgespielt hatte, und Kassler arbeitete hart daran, sich vorzumachen, daß sie zu einem Konzert oder einer Vorlesung gegangen war oder bei ihrer Suche nach einem Mann in einem der Kontaktlokale, die sie zu besuchen pflegte, kein Glück gehabt hatte. Wenn Vita zurückkehrte, schlief Kassler normalerweise, was für einen zusätzlichen Schutz seiner Gemütsverfassung sorgte. »Mein Mann und ich haben ein Arrangement getroffen«, erklärte Vita den Männern, die sie in Bars und Diskotheken aufgabelte. Mehr war nicht erforderlich. Natürlich war Kassler in der Mitte seines dritten Studienjahres ein Nervenbündel. Der mangelnde Kontakt zu Vita machte ihn entsetzlich einsam. Sein akademisches Leben ließ ihn sich elend fühlen. Ohne genug Schlaf und Essen, beinahe zu Tode gelangweilt durch Seminare und Kontrollsitzungen, voller Ekel vor seinem eigenen speichelleckerischen Verhalten beim Umgang mit seinen Lehrern, schwor er sich schließlich, daß er, wenn er sein Studium erfolgreich abschließen sollte, während seines ganzen Lebens niemals mehr etwas mit dem Gebiet der klinischen Psychologie zu tun haben würde. Glücklicherweise bekam er, als er auf seinem Weg zur Doktorwürde den tiefsten Abgrund erreicht hatte, mit der Post eine Weihnachtskarte von einer seiner Patientinnen, einer Mrs. McKenna. »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir das Leben gerettet haben«, hatte sie unten an den Rand geschrieben. Kassler las den Satz mehrere Male. Dann holte er tief Luft, riß sich zusammen und kämpfte sich weiter durch die Dunkelheit. Wie es sich ergab, wurde Mrs. McKenna zum Gegenstand von Kasslers Dissertation. Als er sie zum erstenmal sah, war er sich nicht sicher, daß angesichts des Lebens, das sie hinter sich hatte, allzuviel bei ihr nicht stimmte, aber gegen Ende des ersten Behandlungsjahres aß und schlief sie wieder gut und gegen Ende des zweiten Jahres hatte sie den Gram wegen des -1 4 9 -
Selbstmordes ihres Mannes und des Tods ihrer Tochter überwunden und einen Mann geheiratet, der zuverlässig und liebevoll erschien und ihr und ihren Kindern große Zuneigung entgegenbrachte. Kasslers Fertigkeiten hatten sich so subtil entwickelt, daß er der Ansicht war, nicht viel getan zu haben, um diese Veränderungen herbeizuführen. So wie er es sah, hatte er sich mit Mrs. McKenna große Mühe gegeben und versucht, ernsthaft über das nachzudenken, was sie ihm erzählte. Er diskutierte mit ihr die Gefühle, die sie bei dem hatte, über das sie diskutierten, über das, was Wirklichkeit und was Einbildung war, was mit der Gegenwart und was mit der Vergangenheit zu tun hatte, und er versuchte, mit Hilfe des gesunden Menschenverstands herauszufinden, ob die von ihr vorgeschlagenen Problemlösungen gut für sie sein würden. Als Mrs. McKenna wütend auf ihn wurde, weil er insgesamt nicht das war, was sie erwartet hatte, versuchte er, ihr dabei behilflich zu sein, zu verstehen, ob ihre Erwartungen realistisch waren und ob sie ähnliche Erwartungen auch in bezug auf andere hatte. Er versuchte, ihr dabei behilflich zu sein, zu erkennen, mit welchen ihrer eigenen Stärken sie durch ein sehr schwieriges Leben gekommen war und unter welchen Umständen sie die Hilfe anderer Menschen benötigen mochte. Er versuchte nach besten Kräften, die Gefühle zu verstehen, die sie über sich selbst und ihr Leben hatte, und machte ihr klar, wie gut sie für ihre Kinder sorgen konnte und wie liebenswert sie war. Und das war alles, was er tat. Als nach Ablauf von zwei Jahren die letzten Minuten der letzten Sitzung gekommen waren, saß er Mrs. McKenna schweigend gegenüber und sah sie an. Er führte sich vor Augen, daß er mehr als jeder andere in der Welt über diese Person wußte und daß er sie niemals wiedersehen würde. Mrs. McKenna blickte ihn an und lächelte, während ihr die Tränen in die Augen traten. Kassler erwiderte den Blick und auch ihm kamen die Tränen. Während der letzten paar Minuten der Sitzung saßen Kassler und Mrs. McKenna schweigend da und lächelten sich an, die Wangen tränenfeucht. Dann stand -1 5 0 -
Kassler auf und nahm Mrs. McKenna in die Arme. Und wie er vorausgesagt hatte, sahen sie sich niemals wieder. Kassler hielt alles in seiner Dissertation fest, mit Ausnahme der letzten Sitzung, die man, wie er glaubte, als unprofessionell ansehen würde. Bei der mündlichen Prüfung beglückwünschte ihn Karl Heinrich zu seiner geschickten Anwendung von Übertragung und Gegenübertragung. Ernst Hoch war der Ansicht, daß es Kasslers jungianische Juxtaposition der Maske der Frau während des Kampfes mit den Schatten in ihrem tiefsten Inneren war, die letzten Endes für die Fortschritte verantwortlich zeichnete, die die Patientin machte. Frieda Kurtz, eine ältere, grauhaarige Reichianerin, glaubte, daß Kassler das gewaltige Energiepotential der Frau angebohrt und auf gesündere und entwicklungsfähigere Lebensstrategien umverteilt hatte. Eine Stunde lang befragten die Mitglieder des Prüfungskomitees Kassler und baten ihn dann, nach draußen zu gehen, während sie entschieden, ob er die letzte Hürde zur Erlangung der Doktorwürde genommen hatte. Als Kassler wieder eintrat, blickte ihm Frieda Kurtz tief in die Augen und begann feierlich zu sprechen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und sein Mut sank. »Ich bin mir nicht sicher, wie Ihre These lautet«, sagte Frieda Kurtz ruhig. »Ich bin mir nicht einmal sicher, daß sie überhaupt eine aufstellen. Ich hoffe um Ihretwillen, Sie sind nicht der Ansicht, daß all das, was Sie hier während der vergangenen vier Jahre gelernt haben, unnötig ist, daß Theorien, daß Freud, Jung, Adler, Rank und Sullivan nichts bedeuten, daß Sie Ihren Patienten nur sorgfältig zuhören und sich um sie kümmern müssen, damit Sie geistig kranke Menschen wieder gesund machen können. Es wird Jahre dauern, Dr. Kassler, bevor Sie auch nur damit anfangen zu begreifen, was Sie gelernt haben.« Kassler grinste von Ohr zu Ohr. Da war es: »Dr. Kassler.« Auf diese traditionelle Weise setzte der Komiteevorsitzende den Prüfling davon in Kenntnis, daß er bestanden hatte.
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Kassler hörte nichts von dem, was sonst noch gesagt wurde. Als das Examen vorüber war, stand er, immer noch grinsend, auf und schüttelte allen die Hand. Dann lief er mit wehendem Doktorgewand den ganzen Weg bis zu seiner Wohnung, um Vita Bescheid zu sagen. »Das ist sehr schön, Sy«, sagte Vita, die nur mit ihrem Nylonhöschen bekleidet auf dem Bett lag, um der unerwarteten Hitzewelle des Junis zu entgehen. Ihre Haut kam Kassler blaß und mit Altersflecken überzogen vor und ihre geschrumpften Brüste hingen sackähnlich bis zu den unteren Rippenknochen hinab. »Ich hatte auf eine etwas überschwenglichere Gratulation gehofft«, sagte Kassler. »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Vita. »Du bist nie zufrieden mit dem, was du bekommst. Ich wünschte, daß du mich endlich mal so nimmst, wie ich bin, daß du das akzeptierst, was ich geben kann, und aufhörst, mich ändern zu wollen. Du bist so bedürftig, Sy. Also, ich habe gesagt, ich finde es sehr schön, daß du deinen Titel bekommen hast. Auf diese Art und Weise gratuliere ich den Leuten. Gib dich damit zufrieden oder auch nicht. Es liegt ganz an dir.« Kassler betrachtete Vita, wie sie da so auf dem Bett hingestreckt lag. Seit er sie kennengelernt hatte, war sie um zwanzig Pfund abgemagert, und alle ihre Rundungen hatten sich in Kanten und scharfe Ecken verwandelt. »Vielleicht wird jetzt, da ich den Druck des Studiums hinter mir habe, alles besser.« Kassler versuchte, etwas Optimistisches zu sagen. »Darauf würde ich nicht bauen«, erwiderte Vita ruhig. »Ich glaube, daß der Scheidungsanwalt schon kurz vor der Tür steht, wenn du es wirklich genau wissen willst.« »Ich will versuchen, daß es doch noch klappt.« Kassler blickte in Vitas verschwommene Augen. »Ich möchte, daß du hierbleibst.« »Nun, ich habe nichts Besseres zu tun, das steht fest.« -1 5 2 -
»Ich meine, wir haben jetzt zwei Kinder.« Kasslers Gedanken verloren sich in der heißen, stickigen Luft. Die Geburt Joys, von Vita in einer Anwandlung von Hoffnung und Verzweiflung nach dem Wort ›Freude‹ benamst, hatte sich zwei Jahre zuvor unter etwas außergewöhnlichen Umständen vollzogen. Vitas Wehen setzten früh am Morgen ein, und fast augenblicklich geriet sie in Panik. »Ich habe es mir überlegt«, erklärte sie Kassler. »Ich will überhaupt kein weiteres Baby.« »In Ordnung«, sagte er. »Willst du statt dessen lieber ins Kino gehen?« »Ich meine es ernst, Sy.« Vita blickte Kassler fest in die Augen. »Ich bin immer noch nicht so weit, eine Mutter zu sein.« »Können wir morgen darüber reden?« versuchte es Kassler. »Ich will nicht morgen darüber reden.« Vita war unnachgiebig. »Ich habe einen Entschluß gefaßt.« »Wie wäre es, wenn wir die Diskussion auf dem Weg zum Krankenhaus fortsetzen?« fragte Kassler. »Ich gehe nicht ins Krankenhaus«, sagte Vita und begab sich ins Schlafzimmer, wo sie sich auf das Bett legte. Kassler folgte ihr in den Raum. »Sieh mal«, sagte er bemüht geduldig, »es liegt wirklich nicht mehr in deiner Hand. Das Baby wird geboren werden, ob du es nun willst oder nicht.« Vita schloß die Augen und biß die Zähne zusammen, als sie den Schmerz einer Wehe spürte. Als sie vorbei war, wandte sie sich Kassler zu. »Ich habe Angst, Sy«, sagte sie. »Diesmal habe ich echte Todesangst. Das Baby wird mich umbringen, Sy. Ich weiß es. Ich werde im Kindbett sterben.« Vita blickte sich verzweifelt im ganzen Zimmer nach einem Fluchtweg vor dem Schmerz der nächsten Wehe um, die gerade begann. -1 5 3 -
Als sie vorüber war, griff Kassler nach ihren Händen, um ihr aus dem Bett zu helfen. Fast instinktiv zog Vita sie zurück. »Rühr mich nicht an«, funkelte sie Kassler an. »Es ist schlimm genug, daß du mich all dem ausgesetzt hast. Mach es nicht noch schlimmer, indem du den Liebevollen spielst. Geh mir, verdammt noch mal, aus den Augen.« Wunderbarerweise gelang es Kassler, Vita in ein Taxi und zum Krankenhaus zu schaffen, aber als sie dort eintrafen, kamen die Wehen alle zwei Minuten und Vita schrie aus vollster Lunge. »Oh, Gott!« brüllte sie, als zwei Pfleger, eine Krankenschwester und ein Arzt sie auf einer Liege festschnallten und in den Aufzug rollten. »Gott, hilf mir! Es zerreißt mir den Leib! Ich sterbe! Ich sterbe ganz sicher!« Sie schrie wie am Spieß, während die Krankenschwester ohne Erfolg versuchte, sie zu beruhigen. »Können Sie ihr kein Betäubungsmittel geben?« fragte Kassler mitten in ihrem Geschrei. »Zu spät«, sagte der Arzt, als sie die Entbindungsstation erreichten und Vita aus dem Aufzug, den Flur hinunter und in den Kreißsaal rollten. »Oh, Jesus!« Vita schrie noch immer. »Hilf mir! Es bringt mich um! Das Baby bringt mich um! Es nimmt mein ganzes Inneres mit sich!« »Die Wehen kommen zu schnell hintereinander«, sagte der Doktor mit dem schwarzen Schnurrbart und der dicken Brille zu Kassler. »Aaaaah!« schrie Vita. »Ich sterbe! Mein Körper wird in Fetzen gerissen! Ich will nicht sterben! Laßt das Baby mich nicht umbringen! Es bringt mich um! Es frißt mich auf! Ich kann es fühlen!« Der Arzt gab Kassler einen sterilen grünen Umhang, den er im Nebenraum anziehen sollte, während er selbst Vita untersuchte, um sich zu vergewissern, daß das Baby richtig lag.
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»Rettet mich!« Vita brüllte immer noch, als Kassler nach dem Umziehen zurückkehrte. »Irgend jemand muß mich retten! Laßt mich nicht sterben! Da ist ein Monstrum in mir! Es raubt mir das Leben!« Als Kassler eintrat, drehte sich der Arzt zu ihm um. »Wenn Sie irgendeinen Weg kennen, sie zu beruhigen, dann ist der Zeitpunkt dafür jetzt gekommen. Ich möchte eine Episiotomie vornehmen, bevor das Baby hervortritt und sie aufreißt wie eine Faust, die durch ein Papierhandtuch geht...« Kassler begann, ein flaues Gefühl in der Magengegend zu spüren. Er ging zu Vita hinüber. »Geh mir aus den Augen, du Schweinehund!« brüllte Vita. »Du hast mir das alles angetan, du Bastard! Hätte ich doch nie Sex gehabt! Sieh, was passiert ist, nachdem ich einmal damit angefangen habe! Ich werde nie wieder ficken! Nie wieder! Das meine ich auch, Sy! Nie wieder Sex! Nie!« »Du mußt dich beruhigen, Vita«, versuchte Kassler, sie zu besänftigen. »Der Arzt möchte etwas tun, um es dem Baby leichter zu machen, nach draußen zu kommen, aber er kann es nicht tun, wenn du nicht stillhältst.« Vita holte zwischen den Wehen tief Luft. »Was will er machen?« keuchte sie. »Nun«, sagte Kassler, »man nennt es eine Episiotomie. Das ist so ein kleiner Schnitt, wo...« »Oh, Gott, nein!« schrie Vita so laut, wie sie nur konnte. »Er will meine Vagina aufschneiden! Laß ihn das nicht tun, Sy! Laß ihn mich da nicht schneiden! Bitte! Oh, Gott, bitte!« »Es wird bei jeder Frau gemacht«, versuchte Kassler sie zu beruhigen. »Es ist ein Teil des Geburtsvorgangs. Auch beim letzten Mal hat man es bei dir gemacht...« »Ich werde sterben!« brüllte Vita, als die nächste Wehe kam. »Ich kann es fühlen! Ich sterbe! Ich werde von innen aus umgebracht...« Plötzlich hörte Vita auf. Ein großer Mann im Ärztekittel trat langsam in den Raum. Eine Kappe bedeckte seinen Kopf bis zu -1 5 5 -
den dichten blonden Augenbrauen. Blonde Haarbüschel traten lockig hinten aus der Kappe hinaus. Die untere Hälfte seines Gesichts wurde von einer Operationsmaske bedeckt, unter der sich offenbar ein kräftiger Bart verbarg. Der Mann war gut zwei Meter groß, grobknochig und kräftig, und alles, was man unter der sterilen Kleidung erkennen konnte, waren zwei grüne Augen, die Vita ruhig anblickten. Der Mann ging hinüber zu Vita und nahm ihre Hände. Er sagte kein Wort, fuhr nur fort, sie unverwandt anzusehen. Verblüfft beobachtete Kassler, wie sich Vitas Körper entspannte und sie einen kläglichen Seufzer von sich gab. Im Raum wurde es seltsam still. Der Arzt am Ende des Tisches blickte zu dem Mann hoch, der Vitas Hände hielt, und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, daß alles in Ordnung war. Vita gab einen weiteren Seufzer von sich, fast ein Stöhnen, und ihr Körper kam friedlich in den Laken auf dem Entbindungstisch zur Ruhe. »Also, pressen Sie brav und sanft«, sagte der große Mann mit tiefer Stimme zu Vita, während er weiterhin ihre Hände hielt und ihr in die Augen blickte. Mit einem Ausdruck der Zufriedenheit preßte Vita einmal, und das Baby schlüpfte mit einer einzigen mühelosen Bewegung aus ihr hinaus. Kassler war so damit beschäftigt, den Fremden zu beobachten, der neben Vita stand, daß er das Baby gar nicht zur Kenntnis nahm. Er war fasziniert von dem, was der Mann getan hatte, und er fragte sich, ob er sie hypnotisiert hatte. Darüber hinaus hatte er, als er in die Augen des Mannes blickte, das Gefühl, etwas Schreckliches zu sehen, das ihn in Furcht versetzte. »Es ist ein gesundes Mädchen«, verkündete der Arzt. Kassler erwachte aus seiner Trance und ging zu Vita hinüber, während die Krankenschwester den blutbeschmierten Säugling reinigte. -1 5 6 -
Der namenlose Mann drehte sich um und ging ganz langsam davon. Vitas Blicke folgten ihm, als er den Raum verließ. Dann, als er draußen war, nahm sie Kasslers Hand. »Es tut mir leid, daß ich mich so benommen habe.« Vita lächelte einfältig. Kassler küßte Vita auf die Wange und schickte sich dann auf Ersuchen der Krankenschwester an zu gehen. »Sy«, rief ihm Vita nach, »ich wollte dir noch etwas sagen.« »Und zwar?« Kassler drehte sich an der Tür um. »Ich glaube, ich habe eine sehr niedrige Schmerzschwelle.« Kassler nickte zustimmend und ging dann, um sich seines Umhangs zu entledigen. Als Kassler den Umkleideraum betrat, war der Mann, der Vita beruhigt hatte, fast mit dem Umziehen fertig. Ohne seinen Ärztekittel wirkte er größer und älter. Er hatte einen langen, dichten blonden Bart und langes, dichtes blondes Lockenhaar. Er kam Kassler vor wie ein riesiger alter Löwe. »Glückwunsch«, sagte der Mann. »Ich danke Ihnen«, erwiderte Kassler, als er seine eigene Maske und Kappe abnahm. »Ich danke Ihnen sehr dafür, daß Sie meiner Frau geholfen haben. Sie hatte große Angst. Sind Sie Arzt?« »Psychiater«, sagte der Mann. »Sie sind gut«, sagte Kassler. »Ich studiere klinische Psychologie.« Der Mann schien interessiert zu sein. »Auf welche Universität gehen Sie?« fragte er, als er sich hinsetzte, um seinen Schuhschutz abzustreifen. »Institute for Professional Studies.« »Das ist eine gute Ausbildungsstätte«, sagte der Psychiater. Er stand auf und stopfte sein Hemd in die Hose. »Ich bin gerade zum Direktor einer psychiatrischen Klinik ernannt worden«, fuhr er fort. »Es handelt sich um eine neue Anstalt auf der anderen Seite des Flusses, und wir sind gerade -1 5 7 -
dabei, das Personal zu verpflichten. Wenn Sie interessiert sind, rufen Sie mich nach Abschluß Ihres Studiums an. Dann vereinbaren wir einen Gesprächstermin. Sie müßten nach New Jersey umziehen, aber es könnte Ihnen gefallen.« Er holte seine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine kleine weiße Karte. Der Psychiater lächelte Kassler an, überreichte ihm die Karte mit der einen Hand und streckte die andere aus, um Kassler die Hand zu schütteln, die wie die einer Miniaturpuppe darin verschwand. Als sie sich berührten, fühlte sich Kassler von einem eigenartigen Gefühl übermannt, genauso wie er es bei Vita beobachtet hatte. Und so lernte Kassler Sam Zelazo kennen.
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Februar 1979 II. Sitzung »Nun«, begann ich meine Sitzung mit Kassler, »seit unserem letzten Treffen habe ich viel nachgedacht, und ich glaube, daß ich mein Problem jetzt ganz genau kenne.« »Dann ist dies unsere letzte Sitzung?« fragte Kassler mit einigem Interesse. »Unbedingt«, bekräftigte ich. »Ihre Arbeit hat Wunder bei mir bewirkt.« Kassler trommelte mit seinem Stift geistesabwesend auf dem Notizbuch herum, das er in der Hand hielt, und wirkte bei meiner Feststellung weitaus weniger befriedigt als erwartet. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Erkenntnisse mit mir teilen würden«, sagte er. »Wenn ich meinen Kollegen erzähle, daß ich Satan in nur zwei Sitzungen geheilt habe, werden sie wohl skeptisch sein.« »Ja, natürlich.« Ich versah Kassler mit der gewünschten Information. »Es ist ein Krieg. Ich bin der Feind. Ich sollte es nicht persönlich nehmen.« »Dies ist«, interpretierte Kassler, »eine Fortsetzung des Esist-nicht-meine-Schuld-Paradigmas, nehme ich an.« »Allerdings mit einem sehr bedeutsamen Unterschied«, stellte ich fest. »Jetzt habe ich mich darauf eingestellt.« Kassler reagierte nicht. »Sehen Sie«, versuchte ich Kasslers Aufmerksamkeit zu erwecken, »es läuft alles auf folgendes hinaus: Ihr alle habt ein Bedürfnis nach Gegensätzen. Oben und unten. Vorne und hinten. Licht und Dunkelheit. Gut und Böse. Nehmen Sie dazu den erbitterten Widerstand, daran zu glauben, daß alle katastrophalen Folgen von euren eigenen meschuggen Handlungsweisen herrühren, um es technisch auszudrücken, und, ja, was haben Sie dann? Sie haben Satan, den Herrn des Bösen, den Versucher, den Verführer, den Ränkeschmied.« -1 5 9 -
»Es ist genetisch«, nickte Kassler. »Genau.« Ich war erfreut darüber, daß Kassler so schnell begriffen hatte. »Es ist einprogrammiert. Es kommt mit der menschlichen Verpackung. Es ist ebensowenig Ihre Schuld, wie es meine Schuld ist. Ich war nur zufällig zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Die Kirche wollte, daß alle guten Jungs und Mädchen bei ihr sind und sich ihrer Herde anschließen. Sie zog. Die Heiden waren nicht so wild darauf, eine Menge von Dingen aufzugeben, die Spaß machten. Sie drückten. Ich war unglücklicherweise in der Mitte.« »Es muß eine schreckliche Zwangslage für Sie gewesen sein.« Kassler fing an, auf seinem Block herumzumalen. »Wem sagen Sie das! Ich könnte mich natürlich selbst dafür ohrfeigen, daß ich es nicht besser gewußt habe. Um die Jahrhundertwende - ich meine das fünfzehnte Jahrhundert veröffentlichten die Herren Sprenger und Kraemer ihren Malleus Maleficarum. Es war nicht nur ein wundervolles Lehrbuch über Wahnsinn und Pornographie - Sie sollten es lesen -, sondern es erklärte auch, wie man sehr verrückte, leicht beeinflußbare Frauen dazu brachte, den Teufel aus ihrem erotischen Dasein zu vertreiben, indem sie die Details ihres Sexlebens öffentlich einem Komitee von Inquisitoren darlegten, deren Anzahl sich jeden Tag zu verdoppeln schien, was natürlich davon abhing, wie saftig die Geschichte war, die die Dame erzählen konnte. Jene Inquisitoren, die sich von den bösen Taten der Frau am meisten abgestoßen fühlten, durften die Dame um die Genitalien herum rasieren, so daß ich mich, gemäß dem Malleus, nicht in ihrem Schamhaar verstecken konnte. Natürlich fühlen sich alle Inquisitoren furchtbar abgestoßen, so daß viel Streiterei darum entstand, wer der Barbier sein sollte. Die ganze Sache war nicht ohne ein gewisses humoristisches Element.« Kassler blickte von seinem Block hoch. »Wurden diese Frauen und Kinder nicht auf dem Scheiterhaufen verbrannt?« fragte er mit leichtem Entsetzen.
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»Nun, das war so eine Sache, Kassler. Nicht immer. Nach einer Weile wurden die Leute in den Dörfern klug und schickten die lüsternen Frauen, anstatt sie zu verbrennen, in die Klöster, damit die Mönche aufhörten, ihre Töchter während der Beichte zu verführen. Eine Art Ökologie entwickelte sich. Natürlich kann man den Mönchen nicht die Alleinschuld anlasten. Sie hatten versucht, zu ihrer eigenen Art zu kommen, indem sie Tunnel zwischen den Männer- und Frauenklöstern gruben, aber das dauerte so verdammt lange, müssen Sie wissen, daß es dann, wenn die Verbindungsgänge fertiggestellt waren, in den Dörfern kein weibliches Wesen unter vierzehn Jahren mehr gab, das nicht einen Mord begehen würde, um am Ende des Tages in den Beichtstuhl schlüpfen zu können.« »Sie sagten, daß Sie sich selbst hätten ohrfeigen können, weil Sie es nicht besser gewußt haben?« Kassler führte mich von dem Thema weg, daß ich für sehr hübsch gehalten hatte. Ich merkte, daß er den springenden Punkt übersehen hatte. »Ja«, versuchte ich zu erklären. »Sehen Sie, der Malleus redete von diesen kleinen Inkuben, männlichen Dämonen, die herumrannten und Frauen verführten, während Tausende von kleinen Sukkuben, weiblichen Dämonen, dasselbe bei den Männern taten - beide natürlich unter meiner ständigen Anleitung, denn niemand, weder die Männer in den Dörfern noch die Frauen, die sich in die Beichtstühle drängten, weder die Mönche noch die Nonnen, die in den Tunnels hin und her rannten, hatten wirklich den Wunsch, flachgelegt zu werden. Das einzige existierende Wesen, das Geschlechtsverkehr nicht für die übelste Methode hielt, um eine halbe Stunde oder so auszufüllen, war ich. Ohne meine arglistigen Versuchungen wären alle draußen beim Schafescheren gewesen.« »Verstehe.« Kassler fuhr fort, den Rand seines Notizbocks zu bekritzeln. »Und jetzt, rund fünfhundert Jahre später, ist Ihnen diese Erkenntnis gekommen.« »Die Crux des Problems ist diese: Der Mensch tut absolut alles, um zu vermeiden, sich selbst ins Gesicht blicken zu müssen. Ich bin das Resultat.« -1 6 1 -
Kassler lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte darüber nach, während sein Stift über den Notizblock rollte. »Machen Sie sich Gedanken darüber, Kassler«, fuhr ich fort. »Zuerst habt ihr alle die Sterne betrachtet. Dann die Welt. Und ganz zuletzt euch selbst. Das war kein Zufall. Wenn ich nicht gewesen wäre, hättet ihr euch einige ziemlich unangenehme Dinge vor Augen führen müssen. Unter dieser wundervollen zivilisierten Fassade verbergen sich dieselben guten alten ungezähmten Sex- und Aggressionstriebe eurer barbarischen Vorfahren, müssen Sie wissen. Mir ist klar geworden, Kassler, daß ich im Grunde genommen euer Erlöser bin.« »Unser Erlöser?« fragte Kassler ungläubig. »Ich dachte mir, daß dies Ihre Aufmerksamkeit wecken würde«, sagte ich zu ihm. »Unser Erlöser?« wiederholte Kassler. »Ich will zugeben, daß ich gegenwärtig nicht viel Anerkennung dafür finde.« »Das ist die große Erkenntnis, die Sie gehabt haben?« fragte Kassler immer noch voller Unglauben. »Ja, das ist sie. Ich glaube, daß es eine schreckliche Verwechslung gegeben hat. Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, daß ich für die Sünden der Menschen weitaus länger gelitten habe, als es sich Christus in seinen Träumen vorgestellt hätte. Ich werde an jedem Tag meiner Existenz gekreuzigt. Als die Priester Vergnügen und Frömmigkeit nicht miteinander vereinbaren konnten - wem wurde die Schuld dafür angelastet? Als Philosophen und Wissenschaftler als gefährliche Feinde der Zivilisation angesehen wurden - wer war Ihrer Ansicht nach dafür verantwortlich? Im Awesta wurden neunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig Krankheiten genannt - alle mein Werk! Treib den Dämon aus, und es geht dir besser.« »Das war vor dreitausend Jahren.« Kassler kannte sich aus in der Geschichte. »Sie glauben doch sicherlich nicht, daß die moderne Medizin der Ansicht ist, Sie hätten irgend etwas mit Krankheiten zu tun?« -1 6 2 -
»Ist Ihnen mal aufgefallen, was für eine Kreatur sich um den Stab windet, der den modernen medizinischen Berufsstand symbolisiert?« fragte ich. »Eine Schlange«, antwortete Kassler leise. »Sie haben es erfaßt.« »Es ist ein altes Symbol«, erklärte Kassler. »Die moderne Medizin mißbilligt alles, das auch nur entfernt an Hokuspokus denken läßt.« »Nun, ich glaube Ihnen, Kassler, aber erzählen Sie das mal all den Leuten da draußen, die Rezepte haben, auf denen geschrieben steht: ›Signa, cochleare parvum ad tertiam vicem, ante jentaculum, ante prandium, hora decubitus.‹« Kassler war eigenartig still. »Ist schon in Ordnung«, sagte ich schließlich zu ihm. »Die Magie hat eine lange und ruhmreiche Geschichte.« »Im Mittelalter«, sinnierte Kassler laut. »Mein Eindruck ist, daß Magier während der ganzen Geschichte arm und verabscheut endeten.« »Unbedingt. Ich habe zum Beispiel immer geglaubt, daß die drei Weisen aus dem Morgenland Gold, Weihrauch und Myrrhe durch das Praktizieren von Psychiatrie angehäuft haben, aber es gibt beharrliche Gerüchte, die ihnen die Anwendung von Abrakadabra unterstellen... Wie Sie schon feststellten, bringt man den dreien heutzutage eine solche universelle Verachtung entgegen, daß man eigentlich gar nicht mehr darüber reden sollte.« Kassler fuhr fort, auf seinem Block herumzumalen. »Ich hoffe zuversichtlich, daß ich Ihren Glauben an die moderne Medizin... und sich selbst nicht erschüttert habe«, sagte ich. Kassler ignorierte meinen Kommentar, wenn es ihm auch nicht leicht fiel.
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»Ich hatte gedacht«, sagte er, »daß Sie daran interessiert wären, herauszufinden, wie es zu diesem falschen Eindruck von Ihnen gekommen ist. Und daran, ihn zu berichtigen.« »Ich glaube, ich verstehe jetzt, woher die Mythen gekommen sind«, informierte ich ihn. »Sie sind von eurem verzweifelten Bestreben gekommen, die niedrigen Instinkte und Begierden irgend jemandem, nur nicht euch selbst anzulasten. Und soweit ich es gegenwärtig beurteilen kann sind meine Aussichten, diese Phantasievorstellungen zu berichtigen buchstäblich gleich null. Ich habe zu akzeptieren gelernt, daß ich mich über die Schwächen der Menschen nicht so aufregen sollte. Ihr könnt mich auch weiterhin für alles verantwortlich machen, aber ich bin davon überzeugt, daß keine Schuld an mir ist.« »Wie ein wahrer Erlöser werden Sie die Bürde der Menschheit tragen«, griff Kassler meinen Gedankengang auf. »Das werde ich. Schließlich trage ich die letzte Verantwortung für die Menschheit.« Kassler fing an, sich Notizen auf seinem Block zu machen. »Ich war immer davon ausgegangen, daß Gott...« »Machen Sie sich nicht lächerlich, Kassler. Sie glauben doch nicht, daß Gott sich auch nur eine einzige Sekunde um die Schicksale und Taten der Menschen auf dieser Erde kümmert.« »Ich hatte das immer für eine Möglichkeit gehalten«, sagte Kassler ernsthaft. »Aber wenn Sie sagen, daß...« »Warum?« Ich war ein bißchen erregt über Kasslers falsche Vorstellung. »Was auch immer hat sie dazu geführt, so etwas zu glauben?« »Ich weiß es nicht genau. Ich nehme an, es war eine Sache des Glaubens. Ich bin immer davon ausgegangen, daß es um die Hierarchie ging. Sie wissen schon, die Gegensätze. Er war gut. Sie waren schlecht. Er war oben. Sie waren unten. Sie sind, nach Ihrer eigenen Aussage, aus dem Himmel geworfen worden.« »Nicht ohne Kampf«, stellte ich klar.
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»Und meine Annahme war, daß man, um über die Menschheit und die Erde herrschen zu können, eine gewisse Macht benötigt...« Das war mehr, als selbst ich hinnehmen konnte. »Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß ich schwächer als Gott bin?« schnauzte ich Kassler an. »... und ein gewisses majestätisches Wesen, Glorie, Würde, so etwas...«, fuhr Kassler fort. »Majestätisches Wesen! Glorie! Würde!« Kassler wollte nicht aufhören. »Wie ich es verstehe, gibt es solche wie Emerson, die tatsächlich der Ansicht sind, daß Satan nicht einmal nötig ist, wenn er denn existiert. Die ganze Welt ist ein Omen und ein Zeichen. Warum so sehnsüchtig in eine Ecke blicken?« »In eine Ecke!« »Der Mensch ist ein Abbild Gottes. Warum soll man dem Schatten nachlaufen?« »Sie glauben das? Sie glauben, daß Sie nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden? Sie glauben, daß ich in einer Ecke hause? Daß ich ein Schatten bin?« »Ich natürlich nicht.« Kassler zeichnete Figuren auf seinen Block. »Aber es gibt andere, wie ich gehört habe...« »Nun, lassen Sie mich Ihnen etwas über Würde, Glorie und Majestät erzählen«, sagte ich laut. »Die größten kreativen Geister der Geschichte sind von mir inspiriert worden - Dante, Milton, Blake, Mozart, Marlowe, Shaw, Goethe. Goethe sagte, ich wäre das Verlangen, zu wissen. Zu wissen. Ich bin verantwortlich für das Wirken der ganzen Natur. Soweit der Mensch Natur ist, soweit ist er ein Teil Satans. Ist das Macht oder nicht?« »Sie sind aus dem Himmel ausgestoßen worden«, wiederholte Kassler. »Ja, das stimmt. Und es schmerzt mich so, daß ich es vielleicht nie verwinden werde. Aber ich habe mir meine Würde bewahrt. Ich habe meine Glorie behalten.« -1 6 5 -
»Und doch ziehen wir es vor, uns nach Gott auszurichten«, stellte Kassler fest. »Weigern wir uns dadurch, die Verantwortlichkeit für unsere Triebe zu akzeptieren?« »Ich weiß nicht, warum das so ist«, schrie ich. »Ich weiß nur, daß es ein schrecklicher Fehler ist. Wenn ihr jemanden an eurer Seite braucht, der Macht und Glorie und Würde besitzt...« Ich unterbrach mich, um zu überlegen, wie ich genau ausdrücken sollte, was ich sagen wollte. Kassler schrieb noch immer Notizen auf seinen Block. Ein längeres Schweigen trat ein. »Denken Sie darüber nach, was dazu gehört, einer Macht zu trotzen, von der man weiß, daß man sie nie besiegen kann«, sagte ich schließlich. Kassler blickte von seinen Notizen hoch und starrte auf das Drahtgewirr an der Wand von Szlycks Souterrain. Ich sprach ganz leise. »Bedenken Sie, was dazu gehört, das Wagnis auf sich zu nehmen, Gottes Feind zu sein«, sagte ich. Minutenlang schwiegen wir. Ich hatte in Kassler etwas aufgewühlt. »Sie brauchen mich, Kassler«, sagte ich ruhig. »Wenn Sie es ganz genau betrachten, bin ich kein so übler Bursche. Schließen Sie mich in Ihr Herz. Ich bin ein guter Verbündeter. Sie werden es nicht bedauern.« »Das entspricht nicht unserem Vertrag«, sagte Kassler langsam. »Unsere Vereinbarung bezieht sich auf die Psychotherapie.« »Betrachten Sie es als Bonus. Sie können nichts falsch machen, Kassler. Glauben Sie mir das.« »Psychotherapie«, wiederholte er, aber ich konnte die knisternden Geräusche seiner Neuronen hören, als sie vergeblich nach einem vorhandenen Weg suchten, um das Konzept eines solchen Bündnisses zu assimilieren.
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»Natürlich ist es nicht erforderlich, gleich jetzt eine Entscheidung zu treffen«, fügte ich hastig hinzu. »Wir können bei der nächsten Sitzung darüber reden.« »Dann ist dies nicht unsere letzte Sitzung«, sagt Kassler und nickte. »Mir sind da heute noch ein paar kleine Details eingefallen. Es könnte nötig sein, daß ich sie noch etwas sorgfältiger überdenke. Außerdem haben wir einen Vertrag, Sieben Sitzungen. Und ich breche nie einen Vertrag.« »Nie?« Kassler war ein bißchen überrascht. »Nie. Denken Sie darüber nach, Kassler. All diese hübschen Geschichten über Menschen, die clever genug waren, den Teufel zu überlisten und ihre Seelen zu behalten! Alle wissen über mich Bescheid. Satan ist seinem Teil des Handels niemals ausgewichen. Nicht ein einziges Mal. Ich tue alles, was ich kann, um meinen Verhandlungspartnern ein Beispiel zu geben.« Und damit endete unsere zweite Sitzung.
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IV. Teil Phlegethon 1 Die Stadt Citadel, New Jersey, verdankte ihre Existenz der Freigebigkeit des Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtentwicklung, das aus Gründen, die noch immer unklar sind, beschloß, eine Örtlichkeit zu urbanisieren, die bisher ausschließlich aus Müllhalden, Autofriedhöfen, Ölraffinerien, Marschland und Sumpf bestanden hatte. Mit Scharfsinn und Einfallsreichtum wurde Citadel errichtet, ohne das natürliche ökologische Gleichgewicht zu stören. Als ein Wunder der Städteplanung wurde Citadel nach dem Radspeichenmuster Washingtons von seinem klugen Architekten Pierre L'Enfant entworfen. Die Stadt bestand aus neun konzentrischen Kreisen, First Avenue bis Ninth Avenue, ringförmig um das Innere eines gewaltigen Konus angeordnet, der einst eine gigantische Kiesgrube gewesen war und als einzige Stätte sowohl die Zustimmung des Ingenieurcorps als auch die des Umweltschutzamts fand. Jede Avenue war streng nach Zonen eingeteilt und beispielsweise auf Sportstätten (Second Avenue), Schnellrestaurants (Third Avenue), Diskontläden (Fourth Avenue) und so weiter beschränkt. An der First Avenue lag die Citadel University, ursprünglich mit sechsundneunzig verschiedenen Colleges geplant, von denen sich jedes auf ein wichtiges berufliches oder wissenschaftliches Gebiet spezialisieren sollte. Da sich die finanziellen Mittel aufgrund von Überbeanspruchung jedoch leider erschöpft hatten, wurden lediglich sieben Colleges vorgesehen: Sigmund Freud College of Psychiatry, Albert Einstein College of Physics, James Watson College of Biology, Jean-Paul Sartre College of Philosophy and Letters, Christiaan -1 6 8 -
Barnard College of Medi-cine, John D. Rockefeller College of Business und Billy Graham Divinity College. Mit einigem Stolz kann ich Ihnen sagen, daß alle diese illustren Herren mit einer Ausnahme meine Engel sind. Neben den Läden und Geschäften längs der Avenues war die Universität Citadels einzige Industrie, was zum Wachstum von Citadels zweiterfolgreichstem Geschäftszweig führte, zahllosen winzigen Läden, die sich darauf spezialisierten, durch Copyright geschütztes Material ganznächtlich zu fotokopieren. Am tiefsten Punkt von Citadel, der Ninth Avenue, stand das Phlegethon State Hospital, und hier war es, daß Kassler kurz nach Erhalt seines Doktortitels mit dessen Direktor Sam Zelazo zusammentraf. »Es ist nicht Manhattan«, sagte Zelazo, als Kassler in seinem kleinen, dunklen Büro Platz nahm, »aber es ist ein Zuhause. Sie werden sich daran gewöhnen.« »Es sind mehr Menschen hier, als ich dachte«, bemerkte Kassler. Er sah zu, wie sich Zelazo aus seinem Sessel erhob und zu dem Fenster hinter seinem Schreibtisch ging. Zelazo erschien ihm als ein Mann unbestimmbaren Alters, aber alt und riesig, mit kantigen Zügen, Hautfalten, die die Winkel seiner grünen Augen überschatteten, einer großen Römernase und Haaren, die fast die Beschaffenheit eines Fells hatten und ihn, wie es schien, nahezu überall bedeckten - dichte blonde Augenbrauen, Vollbart, lange Mähne, Büschel an den Ohren und ein dunkelgelber Flaum auf seinen mächtigen Unterarmen, die aus den hochgerollten Ärmeln seines weißen Hemds herausragten. »Es leben mehrere Millionen Leute in Citadel, und wir wachsen noch immer.« Zelazo beantwortete mit seiner rauhen Stimme eine Frage, die Kassler gar nicht gestellt hatte. »Man sagt, daß die ganze Stadt, von oben bis unten, Nixons Idee war. Hat sie mit eigenem Winkelmesser und Bleistift entworfen. Es war sein großer Traum.« Zelazo nickte gedankenverloren. Er stand vor dem schmalen Fenster und beobachtete die flackernden kleinen Flammen der Raffinerietürme in der Ferne. -1 6 9 -
»Phlege-thon verdankt seine Existenz Richard Nixon... und Männern wie ihm.« Kassler schluckte kräftig und nickte. »Es ist schon eine große Leistung«, sagte er. »Einige Leute glauben, daß Nixon verrückt ist«, sagte Zelazo. »Ich nehme an, sie kennen ihn nicht so gut«, meinte Kassler. »Nein, wohl nicht«, sagte Zelazo. »Ich bin mit dem Mann zusammengetroffen. Mehrere Male. Charmanter Mensch. Intelligent. Versucht verdammt angestrengt, das Rechte zu tun. Sanft. Verletzlich. Fürsorglich. Und wahnsinnig. Wie sonst soll man sich erklären, daß er seine eigenen kriminellen Taten für die Nachwelt auf Tonband aufnimmt? Als ich das erfuhr, habe ich oben zwei benachbarte Zimmer reservieren lassen. Die Präsidentensuite. Er wird herkommen.« Kassler mochte Sam Zelazo auf Anhieb. Zu schade. »Wir haben genau dreißig Minuten Zeit.« Zelazo lächelte, als er zu Kassler hinüberging und auf ihn hinablächelte. Kassler fühlte sich von Zelazos Größe und Nähe überwältigt, und so starrte er auf seine Uhr. Der Sekundenzeiger überschritt die Fünfundvierzig-Sekunden-Marke - es war gleich zehn Minuten nach zwei. »Möchten Sie hier arbeiten?« fragte Zelazo ohne Umschweife. »Ja, ich glaube schon«, sagte Kassler. »Ich würde allerdings gerne etwas mehr erfahren, über meine Aufgabe.« Kassler beobachtete Zelazo, der vor ihm aufragte, während das Oberlicht von seinem langen gelblichen Haar und dem Bart reflektiert wurde. »Wie viele Patienten sind hier?« Er entschied sich, die Unterredung zu eröffnen. Zelazo nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Tausend«, sagte er. »Wir haben tausend stationäre Patienten, und sie sind alle sehr krank. Außerdem haben wir ein paar tausend ambulante Patienten. Sie sind nicht so krank -1 7 0 -
neurotisch, verwirrt, einsam unglücklich. Sie würden ein Dutzend ambulante Patienten behandeln und die Verantwortung für eine Abteilung mit einem weiteren Dutzend stationärer Patienten übernehmen. Es ist noch nicht klar, welche Abteilung. Die Bezahlung ist in Ordnung, nicht großartig, nicht lausig. Mit einer Privatpraxis würden Sie wohl mehr verdienen. Ihr Anfangsgehalt liegt bei zweiundzwanzigtausend im Jahr.« Kassler nickte, um anzuzeigen, daß er die Bezahlung als angemessen betrachtete. »Würden Sie meine Arbeit mit den Patienten kontrollieren?« fragte Kassler. Er spürte, daß er viel von Zelazo lernen konnte. Ihm mangelte es noch an Erfahrung. »Wenn Sie es wünschen«, sagte Zelazo vorsichtig. »Aber ich muß auf meine Richtung hinweisen. Ich bin ein entschiedener Verfechter des medizinischen Modells. Geisteskrankheit ist eine physische Krankheit des Bewußtseins. Mütter machen sie schlimmer. Väter sorgen kaum dafür, daß es einem Kind besser geht. Aber viele Kinder haben Mütter und Väter, die ihnen entsetzliche Dinge antun, und sie kommen doch gut zurecht. Bei denjenigen, die es nicht tun, stimmt von Anfang an etwas nicht mit dem chemischen Aufbau des Gehirns. Eltern legen lediglich den Schalter um, der eine verrückte Maschine außer Kontrolle geraten läßt.« Während der nächsten paar Minuten hörte Kassler fasziniert zu. Er hatte sich schon immer für die physischen Prozesse des Gehirns interessiert, aber sein Studienprogramm an der Universität hatte ihm nie Zeit gelassen, etwas darüber zu lernen. Genau darum ging es ihm. »Wenn alles physisch bedingt ist, warum nehmen wir dann psychotherapeutische Behandlungen vor?« Er fuhr fort, Zelazo zu studieren. »Bei vielen Menschen tun wir es nicht«, sagte Zelazo. » Wir verabreichen ihnen Medikamente, stabilisieren die medikamentöse Behandlung und schicken sie nach Hause. Anderen ist mit medikamentöser Behandlung nicht zu helfen. -1 7 1 -
Und auch nicht mit der Psychotherapie. Sie werden lediglich verwahrt. Es gibt nichts, was wir tun können. Dies sind natürlich alles stationäre Patienten. Aber einigen der ambulanten Patienten kann mit der Psychotherapie geholfen werden, besser zu leben – nicht geheilt zu werden, wohl aber ihre Schwierigkeiten zu verringern und sie manchmal glücklicher zu machen.« Kassler und Zelazo saßen schweigend da und schätzen sich gegenseitig ein. Kassler sah Zelazo als großen, weisen Lehrer, und er vertraute ihm instinktiv. Mit seiner Treffsicherheit sah es absolut finster aus. Zelazo hatte von Sy Kassler nur eine Meinung. Er glaubte, daß Kassler ihm sehr nützlich sein würde. »Mrs. Chaikin wird Ihnen alles zeigen.« Zelazo erhob sich hinter seinem Schreibtisch und geleitete Kassler durch die Tür und den langen Flur entlang, vorbei an den Büros zahlreicher Therapeuten, aus denen die gedämpften Worte der Patienten wie eine geheimnisvolle Unterströmung in den Korridor drangen. »Sie müssen das medizinische Modell praktizieren wollen«, erinnerte Zelazo Kassler, als sie das Foyer erreichten, wo Bea Chaikin sie treffen sollte. »Sie glauben nicht an Freud«, mutmaßte Kassler. »Ganz im Gegenteil«, lächelte Zelazo. »Ich bin ein entschiedener Freudianer. Die Leute vergessen die vier wichtigsten Dinge, die Freud angehen. Erstens: Freud war Neurologe. Er war interessiert an Nerven, Neuronen - seine Krankheiten wurden Neurosen genannt. Zweitens: Meiner Schätzung nach hatte er ein schweres Drüsenproblem. Hinter all seinen psychiatrischen Hypothesen, ödipal oder sonstwie, steckte eine unerhörte Geilheit. Drittens: Er war ein mittelmäßiger Wissenschaftler, aber ein exzellenter Kultist. Er gründete einen der größten Kulte aller Zeiten und wendete dabei wohlbewährte Prinzipien an, die er beim Studieren von Männern wie Moses und Christus gelernt hatte. Er machte publik, daß er verfolgt wurde - höchstwahrscheinlich ermutigte -1 7 2 -
er seine Verfolger. Er scharte eine Gruppe ergebener Jünger um sich. Er machte die Psychiatrie zu einer Religion, die sich auf Glauben und Intuition stützt, nicht auf Wissenschaft. Dann erklärte er alle Menschen, die gegen ihn waren, für böse. Freuds Hauptziel war es meinem Eindruck nach, eine unvergeßliche Gestalt der Geschichte zu werden, die man allgemein als genial oder göttlich betrachtet - eins von beidem hätte es schon getan. Die Psychiatrie war ein Mittel zu diesem Zweck. Der Hypnotismus, mit dem er herumwerkelte und scheiterte, wäre genauso gut gewesen. Und viertens und letztens: Soweit ich es nachvollziehen konnte, ist kein einziger seiner Patienten jemals geheilt worden. Unsere Zeit ist um.« Kassler, durch den abrupten Abschluß etwas verblüfft, blickte auf seine Uhr und sah, wie der Sekundenzeiger genau dieselbe Stellung einnahm - seit er zuletzt nachgesehen hatte, waren auf die Sekunde exakt dreißig Minuten vergangen. An den Wänden befanden sich keine Uhren, und Zelazos nackte Unterarme waren erkennbar frei von einem Zeitmesser. Kassler wollte darüber gerade eine Bemerkung machen, als ein Pfleger mit einer Bahre vorbeikam, auf der ein mit einem weißen Laken zugedeckter Patient lag, und den Aufzug neben ihnen betrat. »Sie müssen mich entschuldigen«, sagte Zelazo hastig und rannte hinter dem Leichnam her. Bea Chaikin, eine kleine Sozialarbeiterin mittleren Alters mit rotem Lockenhaar und dicker Brille, tänzelte heiter in den Raum, mehrere Minuten nachdem Zelazo seiner Leiche nachgestiegen war. »Ich bin Bea Chaikin.« Sie streckte zur Begrüßung die Hand aus. »Sie müssen Dr. Kassler sein.« Die Sozialarbeiterin ignorierte Kasslers Titel nicht. »Einfach Sy.« Kassler gab zu erkennen, daß er ein ganz normaler Mensch war. Bea Chaikin war erfreut.
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»Ich bin Ihr Reiseführer.« Sie nahm Kasslers Mantel und hängte ihn an einen Haken im Wandschrank. »Sind Sie jemals in einer staatlichen Klinik gewesen?« »Nie«, antwortete Kassler. »Phantastisch.« Bea machte einen zufriedenen Eindruck, als sie mit Kassler zum Aufzug ging. »Diese Rituale machen mir immer viel Spaß. Ich glaube, wir alle haben etwas in uns, das ab und zu eine Jungfrau opfern muß, finden Sie nicht auch?« »Sehe ich so unschuldig aus?« fragte Kassler interessiert. »Eine Jungfrau ist eine Jungfrau.« Bea zuckte die Achseln. »Man wächst daraus hinaus.« Bea drückte auf den Aufzugsknopf, und die Tür öffnete sich augenblicklich. Von einem großen Bund mit zahllosen Schlüsseln steckte sie einen in ein Schloß neben der Etagenbezeichnung ›3‹, dann fuhren sie beide schweigend nach oben. Als sie die einzelnen Etagen passierten, konnte Kassler dieselbe Art von Murmeln hören, das er bereits vernommen hatte, als er mit Zelazo den Flur entlanggegangen war, eine dumpfe Kakophonie durcheinandersprechender Stimmen verlorene Seelen, die dazu verdammt waren, ziellos durch einen Abgrund zu wandern, weinend und seufzend. »Nun, da wären wir, sagte Bea Chaikin. Die Aufzugstür öffnete sich, und Bea steckte einen Schlüssel in eine große Stahltür, die sich vor ihnen befand. Dann drückte sie auf einen Knopf, der eine Klingel läuten ließ. Ein Summen ertönte. Bea drehte den Schlüssel herum und stieß die schwere Metalltür auf. Als sich die Tür öffnete, wurden die Stöhngeräusche überwältigend. Patienten in Pyjamas und Bademäntel schlurften überall laut seufzend über den Linoleumfußboden des Flurs. Als sie Kassler und Bea eintreten sahen, beschleunigten sie ihre Schritte und kamen auf das Paar zu.
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»Oh, er ist nett«, sagte eine alte Frau mit ungekämmtem grauen Haar. Sie ließ ihre Hände über Kassler gleiten, der wie erstarrt dastand und nicht wußte, was er tun sollte. In Sekundenschnelle hatten sich acht weitere Patienten um Kassler versammelt, die alle ihre Hände über Kasslers Körper fahren ließen. »Küß mich«, sagte eine ausgemergelte Frau mit orangefarbenem Haar. »Küß mich, und ich werde dich lieben.« Und sie versuchte, sich durch die Menge zu drängen, um näher an Kassler heranzukommen. »Also, nun laß Dr. Kassler in Ruhe, Marjorie«, sagte Bea. »Du liebst mich nicht«, sagte Marjorie. »Du liebst mich überhaupt nicht, nicht wahr?« fragte sie Kassler. Bevor Kassler antworten konnte, drückte ein Mann sein rauhes, unrasiertes Gesicht gegen Kasslers Ohr. »Ich tue alles, was Sie wollen für eine Schachtel Zigaretten«, flüsterte er lockend. »Ich habe eine Bettdecke. Es ist eine gute Bettdecke. Keiner wird etwas sehen.« Der Mann faßte mit der Hand zwischen Kasslers Beine. Kassler fuhr zurück. »Was ist mit unseren Privilegien?« Ein Mann mittleren Alters mit Bürstenhaarschnitt wandte sich an Bea Chaikin. »Wir müssen das bei unserem heutigen Treffen diskutieren, Mr. Thomas. Letztes Mal haben Sie uns allen viel Ärger gemacht. Jetzt laßt alle Dr. Kassler in Frieden.« Beas Stimme hatte einen Befehlston angenommen. »Geht zur Seite, oder es gibt kein Fernsehen mehr.« Nach dieser Drohung machten die Patienten Kassler Platz und fingen wieder an, den Flur entlangzuwandern, wie gehabt laut vor sich hin murmelnd. »Hier liegen die Abteilungen der Schizophrenen«, erklärte Bea Kassler, als sie den langen Flur mit kleinen Zimmern auf beiden Seiten hinuntergingen. »Diese spezielle Abteilung ist dem Typ Dementia simplex vorbehalten. Wie Sie noch sehen werden, haben wir auch Abteilungen für die hebephrenischen, -1 7 5 -
katatonischen, paranoiden, schizo-affektiven und akut-reaktiven Typen.« Kassler blickte beim Vorbeigehen in die leeren Zimmer. »Wo sind sie alle?« fragte er. »Vor dem Fernseher, Karten spielen, bei der Beschäftigungstherapie, beim Spaziergang unten auf dem Hof, in der Psychotherapie. Sie können das tun, weil sie alle unter Medikamenten stehen - wirksame Antipsychotica wie Thorazin, Stelazin, Haldol, Mellaril, zusammen mit Mitteln gegen den Parkinsonismus wie Artane oder Cogentin, um die Nebenwirkungen unter Kontrolle zu bringen.« »Was passiert?« fragte Kassler, während er einem dünnen, grauhaarigen Mann entgegenblickte, der auf ihn zukam. »Das große Zittern«, antwortete Bea. »Die Patienten bekommen Zuckungen wie beim Parkinsonismus. Wenn man ihnen über einen längeren Zeitraum hinweg Medikamente verabreicht - und einige dieser chronischen Schizophrenen stehen seit fünfzehn Jahren unter der einen oder anderen psychotropischen Droge - , entwickeln sie permanente kinetische Störungen, unfreiwillige Bewegungen von Mund, Gliedern, Fingern, die nur während des Schlafens aufhören.« Inzwischen hatte der hagere Mann Kassler erreicht. Er blickte ihn an und streckte die Hand aus. »Können Sie mir helfen?« fragte er. »Ich bin am Verhungern. Wissen Sie, Mister, ich habe meine Fahrkarte nach Jersey verloren und seit einer Woche nichts mehr gegessen. Wenn Sie mir nur einen Dollar geben würden... « »Guten Morgen, Mr. Krimins«, sagte Bea Chaikin herzlich. »Gott segne Sie«, sagte Mr. Krimins und schlurfte davon. »Gott segne Sie.« Den ganzen restlichen Tag führte Bea Chaikin Kassler durch die Stationen von Phlegethon. In der hebephrenischen Abteilung wanderten verschiedene Patienten mit leeren ausdruckslosen Gesichtern ziellos von Raum zu Raum und gingen an Kassler und Bea vorbei, als -1 7 6 -
würden sie gar nicht existieren, während andere kicherten und den Flur entlanghüpften. »Ich bin nierenkrank«, sagte eine Frau mit mehreren fehlenden Zähnen zu Kassler. »Ich werde sterben. Sie müssen mich retten. Ich brauche Ihre Niere.« »Nun, Mrs. Cavanaugh«, sagte Bea und legte ihre Hand auf den Arm der Frau, »wir haben es Ihnen doch gesagt. Ihre Nieren sind vollkommen in Ordnung. »Das ist nicht wahr«, beharrte Mrs. Cavanaugh. »Es ist nicht wahr. Ihr wollt mich alle hinters Licht führen. Ihr lügt mich an.« Sie wandte sich wieder zu Kassler zu. »Es ist mein Urin. Ich erkenne es am Geruch. Es riecht wie nach Fisch. Wie nach Thunfisch.« Mrs. Cavanaugh dachte eine Minute lang nach. »Oder wie nach Lachs«, überlegte sie. »Oder wie nach Sardinen.« Sie fing an zu kichern. »Mein Mann war Fischer. Er hat mir zuviel von dem Scheißzeug zu essen gegeben«, sagte sie zu sich selbst, während sie weiterging. In der katatonischen Abteilung saßen einige Patienten wie erstarrt da, während andere hektisch den Flur hinauf und hinunter liefen. »Wie spät ist?« fragte ein dünner, kahlköpfiger Mann in den Fünfzigern aufgeregt. »Wie spät ist es?« »Fünf nach drei«, antwortete Kassler nach einem Blick auf seine Uhr. »Oh, Gott sei Dank, Gott sei Dank«, sagte der Mann. »Ich dachte schon, es wäre zehn nach drei.« Und er hastete davon, bevor Kassler weitere Informationen einholen konnte. Bea Chaikin führte Kassler weiter von verschlossener Tür zu verschlossener Tür. Depressive Schizophrene saßen feierlich auf Stühlen, auf dem Fußboden oder bewegungslos auf ihren Betten, oft in Tränen aufgelöst, wehklagend, sich an Haar und Haut reißend. Dementia-simplex-Typen unter schweren Medikamenten saßen im großen Fernsehraum und betrachteten -1 7 7 -
geistesabwesend ›I love Lucy‹ auf dem Schirm des großen Farbfernsehers, der in einem verbeulten Gitterkäfig von der Decke hing, um ihn vor der Zerstörung zu schützen. Die paranoiden Schizophrenen saßen einfach in ihren Zimmern und dachten über Alternativen nach. Kassler versuchte, sich ein Bild von Bea Chaikin zu machen, als sie den Flügel der Patienten mit schweren affektiven Störungen betraten. »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte er, während sie einen weiteren langen, dunklen Flur entlanggingen, in dessen Ecken regressive Melancholiker zusammengekrümmt saßen und auf den Boden starrten. »Seit fünf Jahren jetzt«, erwiderte Bea Chaikin. »Seit der Eröffnung.« Sie fuhr mit der Reiseführung fort. »Die meisten dieser Patienten bekommen trizyklische Antidepressiva. Es dauert zehn Tage, bis sie wirken. Dann entlassen wir die Patienten. Sie kommen gut zurecht, bis sie aufhören, ihre Medikamente zu nehmen. Dann kommen sie wieder für zehn Tage her, und alles beginnt von vorne.« »Es funktioniert immer?« fragte Kassler. »Nein. Es funktioniert bei ungefähr einem Drittel der Depressiven. Der Rest wird einer Elektrotherapie unterzogen.« »Sie nehmen noch immer Schockbehandlungen vor?« Kassler war offenkundig entsetzt. »Die Elektrotherapie ist die beste Behandlungsweise für Depressionen. Sie ist zu neunzig Prozent effektiv. Effektiver also als Aspirin gegen Kopfschmerzen, Antihistamin gegen Allergien und Sedative zum Schlafen. Wenn sie richtig angewandt wird - und das geschieht hier -, tritt kein Gedächtnisschwund und auch sonst keine Nebenwirkung ein. Der Patient wird immer narkotisiert. Wie wenden sie bei keiner anderen Störung an. Und für den Fall, daß Sie sich bei der jüngsten populären Literatur auf dem laufenden gehalten haben - wir nehmen sie nicht vor, um unsere Patienten zu bestrafen.« -1 7 8 -
Bea Chaikin lächelte Kassler an. »Wir haben auch mit den Lobotomien aufgehört, die Käfige geschlossen und die Schlangen übers Wochenende rausgeworfen.« »Nur so ein Gedanke«, sagte Kassler leise. »Wenn Sie eine Aversion gegen Schockbehandlungen haben, sind Sie hier am falschen Platz«, sagte Bea Chaikin sachlich. »Ein entrüsteter Patientenadvokat im Personal reicht uns derzeitig vollkommen.« »Aha«, sagte Kassler, als sie durch die Abteilungen der Manisch-Depressiven eilten. »Und der wäre...?« »Das wäre Bernie Kohler, der im Namen der Patienten einen Prozeß angestrengt hat, um gerichtlich durchzusetzen, daß alle Patienten, die sich gegenwärtig in Phlegethon befinden, in die Gesellschaft entlassen werden, weil man sie hier an der Ausübung ihrer durch die Verfassung garantierten Rechte auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück hindert.« Bea Chaikin wechselte das Thema. »Alle Manisch-Depressiven bekommen Lithiumkarbonat. Solange sie dabei bleiben, kommen auch sie zurecht. Wenn sie es nicht tun, landen sie wieder hier. Ich bringe Sie jetzt zur zweiten Etage hinunter.« »Was halten Sie von Zelazo?« Als sie mit dem Aufzug ein Stockwerk abwärtsfuhren, glaubte Kassler, daß jetzt der Punkt erreicht war, an dem er diese Frage stellen konnte. »Als Psychiater, Administrator, Wissenschaftler, Chef oder Mensch?« verlangte Bea eine Klarstellung. »Als alles von dem.« »Ein exzellenter Psychiater, Wissenschaftler und Chef«, sagte Bea. »Ein lausiger Administrator. Und als Menschen mag ich ihn sehr.« »Nimmt er die Autopsien auch hier vor?« fragte Kassler, als sich die Aufzugstür öffnete. »Nicht, daß ich wüßte. Warum?« »Ich habe vorhin gesehen, wie er einem Leichnam nachjagte.«
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»Hm, hm«, machte Bea, als sie ihren Schlüssel in die Metalltür steckte und die Klingel betätigte. »Er sagt uns nicht, was er mit ihnen tut, und wir fragen auch nicht. Ich schlage vor, daß Sie es auch nicht tun, egal was für morbide Phantasievorstellungen Ihnen gekommen sind. Dr. Zelazo ist sexuell erfüllt und Vegetarier. Sie können beruhigt schlafen.« »Begräbt er sie?« blieb Kassler hartnäckig. »Nicht, daß ich wüßte«, sagte Bea und stieß beim Ertönen des Summers die Tür auf. »Die Abteilungen in dieser Etage sind den Patienten mit organischen Gehirnstörungen vorbehalten. Die Menschen hier sind sehr krank und werden sich nicht erholen. Große Teile ihres Gehirns sind durch Drogen, Alkohol, Gift, Trauma oder Krankheit zerstört worden Enzephalitis, Syphilis, Arteriosklerose, Epilepsie, endokrine Störungen, bösartige Gehirntumore. Einige befinden sich in den letzten Stadien der Huntingtonschen Chorea.« Es waren nicht viele Menschen in dem Flur, aber jene Seelen, die den Versuch unternahmen, sich den Korridor entlangzubewegen, paßten genau zu Kasslers Phantasievorstellungen, in denen er sich ausgemalt hatte, wie sich Patienten in einer Heilanstalt verhielten. Ihre Gangart war spastisch. Speichel tropfte ihnen aus dem Mund. Ihre Arme zuckten, und ihre Finger machten ständig pillenrollende Bewegungen, so als ob in ihren Handflächen mehrere Murmeln verborgen wären. Es gab überhaupt keinen Augenkontakt, und häufig blickten ihre beiden Augen in unterschiedliche Richtungen. Sie bahnten sich ihren Weg durch den Flur wie Blinde und tasteten sich mit den Händen an der Wand entlang. Der einzige Laut in der dunklen Station war ein lautes, unaufhörliches Grunzen, das sich anhörte wie die Freßgeräusche hungriger Tiere, periodisch unterbrochen durch Kreischtöne und Schreie, die Blut gefrieren ließen. Kassler erstickte fast an dem Gestank von Urin und Fäkalien. »Die meisten dieser Patienten können nicht allein essen oder sich anziehen«, sagte Bea, als die den Korridor hinuntergingen. »Und wie Sie selbst feststellen können, sind viele nicht -1 8 0 -
imstande, einzuhalten. Bei einer ganzen Reihe von ihnen ist die Gehirnschädigung so schwer, daß sie stark zurückgeblieben sind. Sie sprechen nicht. Sie verstehen kaum etwas. Nicht wenige von ihnen sind im Begriff zu sterben.« »Warum sind sie hier?« fragte Kassler, als sie an einem Zimmer vorbeikamen, in dem ein junger Mann auf seinem Bett festgeschnallt war. Eine Anzahl von Flaschen war durch Kanülen mit seinem Arm verbunden. »Niemand sonst will sie haben. Die meisten von ihnen sind von Zeit zu Zeit gewalttätig und müssen in Gewahrsam genommen werden. Keine Herzklinik wird einen Infarktpatienten aufnehmen, der das ganze Krankenhaus zerstören könnte, bevor es gelingt, ihn zu kontrollieren. Also bekommen wir ihn. Wir haben komatöse Patienten hiergehabt, Patienten mit akutem Nierenversagen, die aus einem allgemeinen Krankenhaus hergebracht und einfach in unserer Empfangshalle abgeliefert worden sind, nur weil für sie eine psychiatrische Diagnose vorlag und man nicht mit ihnen umgehen wollte.« Bea wechselte das Thema. »Wenn wir jetzt weitergehen und in den nächsten Korridor einbiegen, finden wir links die Abteilung mit den schwer regressiven Patienten, die Abteilung, die, wie ich gehört habe, Sie vielleicht übernehmen sollen. Wollen Sie sie sehen?« Bea Chaikin führte Kassler durch mehrere Türen, die sie öffnete und hinter sich wieder zuschloß. Sie kamen in einen Bereich, wo alle Patienten etwas jünger oder etwas älter als zwanzig zu sein schienen. »Diese Patienten wurden autistisch geboren«, erklärte sie. »Sie sind nicht medizinisch behandelt, sondern nur verwahrt worden, und nun ist es zu spät. Sie können sich selbst anziehen, so eben, obwohl viele von ihnen Entblößer sind - was auch immer sie anlegen, reißen sie sich vom Leib. Sie können auch allein essen. Sie verfügen über ein gewisses Vokabular, kein großes, und können manchmal verstehen, was man zu ihnen sagt, obgleich sie üblicherweise nicht tun, was man von ihnen verlangt, selbst wenn sie es verstehen.« -1 8 1 -
Kassler blickte in ein Zimmer, in dem mehrere Teenager, Jungen und Mädchen, mit angezogenen Beinen auf Stühlen saßen, hin und her schaukelten und vor sich hin summten. Zwei der Jungen und eins der Mädchen waren nackt - ihre Kleider hingen in Fetzen an ihren Füßen. Ein hochgewachsener magerer Junge mit blonden Haaren zupfte an seinen Armen herum und trällerte Worte vor sich hin, die Kassler nicht entschlüsseln konnte. Kassler spürte den Wunsch in sich, mit diesen Patienten zu arbeiten, vermutlich weil sie so jung waren. Er wußte, daß er ihnen helfen konnte. Er fühlte, daß er zu ihnen durchdringen konnte. Bea Chaikin las seine Gedanken. »Ohne wie ein Prophet des Untergangs wirken zu wollen, möchte ich Ihnen einen Rat geben«, sagte sie zu ihm. »Dies ist nicht das Kuckucksnest. Keiner wird hier rausfliegen. Keiner ist aufgrund eines Irrtums hier. Dies ist der Boden des Abgrunds. Wenn Sie wie jeder andere kluge Doktor, der in dieser Abteilung gewesen ist, denken, daß Sie einen großen Durchbruch erzielen werden, dann vergessen Sie es. Alles Vorstellbare hat man bei ihnen versucht. Von der Maniküre bis zu Multimedia-Shows ist mit allem auf ihre Verhaltensweise eingewirkt worden. Nennen Sie irgendein Medikament, sie haben es gehabt. Ich bin von meiner Natur her kein Pessimist. Ich bin nicht einmal ein Realist. Ich bin ein Optimist. Meiner Ansicht nach sollte alles probiert werden. Ich meine, die Menschen sollten mit dem Herzen bei dem sein, was sie tun. Ich glaube, daß selbst dort Fortschritte erzielt werden, wo nicht einmal jemand von ihnen träumt. Aber wir haben hier kein Personal mit einer negativen Einstellung, das sich eine Prophezeiung schafft, die sich selbst erfüllt. Wenn Sie glauben, daß Ihre Hoffnung und Ihr Glaube ein paar dieser Seelen aus ihrer eigenen Privathölle befreien werden, können Sie Ihre Energie sparen. So wie Sie die Patienten hier vor sich sehen, so sind sie. Wenn Sie Cheryl dazu bringen können, ihre Kleider anzubehalten, werde ich das als die größte Leistung des Jahres betrachten. Cheryl wird nicht eines Morgens aufwachen, in ihre -1 8 2 -
Jeans und ihren schic ken Pullover schlüpfen, nach ihrem Badeanzug greifen und mit den Jungs an den Strand gehen.« Bea Chaikin biß sich auf die Lippen, als ihr plötzlich die Tränen in die Augen traten. Es überraschte sowohl Bea selbst als auch Kassler. »Meine Tochter Beverly ist in Cheryls Alter«, brachte Bea hervor, während ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. »Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe mir nicht vor Augen geführt, wieviel ich als selbstverständlich ansehe. Beverly besitzt viele Jeans und schicke Pullover.« Sie versuchte, unter ihren Tränen zu lächeln. Kasslers Augen waren ebenfalls feucht geworden, als er Cheryl beobachtete und von Bea Chaikins Tochter und ihren schicken Pullovern hörte. »Gibt's hier irgendwo Papiertaschentücher?« fragte er. »Tausende.« Bea grinste. »Wir verbringen den größten Teil unserer Zeit damit, uns abzuwischen.« Und sie brachte Kassler zur Personalstation, wo sie ihre Augen betupften. »Und zum Abschluß«, sagte Bea, als sie zum ersten Stockwerk hinabstiegen, »ist es, nachdem Sie die Einheimischen gesehen haben, Zeit für die Exoten.« Sie öffnete die Tür. »Zu Ihrem Amüsement präsentiere ich Ihnen... die Verrückten.« Sie nahm Kasslers Hand und führte ihn den Flur hinunter zur ersten verschlossenen Tür. »Diese Patienten sind nicht nur psychotisch, gestört und meistens gewalttätig, sondern leiden auch noch unter den folgenden Syndromen«, informierte Bea Kassler, als sie durch die Abteilung schritten. »Mr.Tobin leidet am Münchhausen-Syndrom, was dazu führte, daß ihm von einer Reihe von Chirurgen, denen er herausragende Simulationen von Krankheiten und allen möglichen Anfällen darbot, die Gallenblase, die Milz, eine Niere und ein größerer Teil seiner Därme entnommen wurden. Bei -1 8 3 -
drei Gelegenheiten hat er sich tatsächlich lebensbedrohende innere Blutungen eingeredet, was, wie ich gehört habe, so etwas wie ein Rekord ist.« Kassler blickte durch das kleine Fenster und sah einen sehr rundlichen, kleinen Mann mit einer nicht angezündeten Meerschaumpfeife im Mund, der ein Magazin las. »In meinen Augen sieht er ziemlich normal aus«, bemerkte er. »Nicht wahr?« stimmte Bea zu. »Auf derselben Linie haben wir, wenn Sie mich zur nächsten Tür begleiten würden, Mrs. Ford. Sie leidet am Ganser-Syndrom. Wenn Sie Mrs. Ford fragen, wieviel sechs mal vier ist, wird sie dreiundzwanzig antworten. Wenn Sie sie fragen, wieviel drei mal fünf ist, wird sie vierzehn antworten. Wenn Sie sie fragen, wieviel zwei und zwei ist, wird sie drei antworten. Dies führt uns zu der Schlußfolgerung, daß Mrs. Ford die richtigen Antworten vermutlich weiß. Sie geht morgen nach Hause.« Kassler blickte durch das Fenster und sah eine zerbrechliche Frau in den Sechzigern auf ihrem Bett sitzen und ein Kreuzworträtsel lösen. »Mr. Grotstein hier drüben«, fuhr Bea Chaikin fort, »leidet am Gilles de la Tourette-Syndrom. Regelmäßig, ohne jede Vorwarnung, ertappt er sich dabei, daß er Obszönitäten herausschreit in Restaurants, bei Konferenzen, im Kino.« Abrupt veränderte sich Bea Chaikins scherzhafter Ton. »Tatsächlich«, sagte sie ernst, »ist Mr. Grotstein ein reizender Mensch. Es handelt sich um eine schwere psychiatrische Störung, die es ihm unmöglich gemacht hat, anständig zu leben. Er ist ein gequälter Mensch. Außerdem hat er multiple Tics, die ein Teil des Syndroms sind.« Ihre Stimme verklang. Kassler blickte kurz auf Mr. Grotstein, der am Außenfenster stand und unkontrolliert zuckte.
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»Mr. Westermeyer läuft Amok, wie Sie wahrscheinlich nach einer kurzen Inspektion selbst feststellen können«, sagte Bea zu Kassler. Kassler blickte auf Mr.Westermeyer, der wild in seiner leeren Zelle herumlief und gegen die Wände schlug. »Im Zuge unserer liberalen internationalen Handelspolitik unmittelbar aus Malaysia importiert, zusammen mit Mrs. Friedmanns Latah-Fall. Mrs. Friedmann imitiert alles. Es ist zwanghaft. Und zusammen mit Mr. Rubins Koro-Fall. Mr. Rubin ist davon überzeugt, daß sein Penis von außen nach innen schrumpft und sich in seinen Unterleib zurückzieht.« Bea Chaikin ging zu schnell, um Kassler Blicke auf Mrs. Friedmann und Mr. Rubin zu ermöglichen. »Und in diesem Korridor«, sagte Bea, »verwahren wir schließlich die Folies-Syndrome.« Kassler wandte sich dem Flur zu seiner Rechten zu und schloß zu Bea auf. »Mr. und Mrs. Roland hier haben eine Folie à deux. Wenn Mr. Roland eine paranoide Psychose entwickelt, dann tut dies auch Mrs. Roland. Wenn Mrs. Roland einen hysterischen Anfall bekommt, dito Mr. Roland. Man kann annehmen, daß sie sich sehr nahestehen.« Kassler blickte durch das Fenster. Er hatte ein Paar in mittleren Jahren erwartet. Statt dessen fand er einen Mann und eine Frau Anfang zwanzig vor, außerordentlich attraktiv, beide mit kurzem dunklen Haar und makellosem Teint. Sie saßen auf der Kante ihrer Betten und starrten einander argwöhnisch an. »Mr. Katzman«, sagte Bea und eilte schnell zum nächsten Kubikel, »hat eine Folie du doute, eine Manie, alles anzuzweifeln. Er akzeptiert nichts auf den Augenschein hin. Und last not least sein Nachbar, Mr. Mansell, der eine Folie de pourquois hat, eine psychopathologische Unfähigkeit, mit dem Fragenstellen aufzuhören. Wir alle haben dies in gewissem Maße, nehme ich an, aber Mr. Mansell hat den Zwang zu einer Kunst entwickelt. Fragen Sie mich nicht, warum. Und fragen Sie um Gottes willen ihn nicht.« -1 8 5 -
Bea Chaikin holte tief Luft. »So, das war's«, sagte sie. »Nicht viele Verrückte - die Räume leeren sich jedes Jahr um die Weihnachtszeit, wenn es wegen der Ferien und des gefüllten Truthahns nach Hause geht, Sie wissen schon -, aber genug, um uns gegenwärtig beschäftigt zu halten.« Kassler ersparte sich die Mühe, weitere Patienten zu besichtigen. Er war erschöpft, und sein Kopf schmerzte. Je länger sein Besuch dauerte desto lauter schien das Stöhnen und Murmeln zu werden. Der Gestank von Urin und Desinfektionsmitteln war überwältigend geworden. Die Korridore erschienen ihm jetzt düsterer, das entsetzliche allgegenwärtige Anstaltsgrün war schwindelerregend und das ganze Untenehmen kam ihm immer hoffnungsloser vor. Kassler versuchte, seine Gedanken zu sammeln, und blickte Bea Chaikin an. »Warum tun Sie das?« fragte er sie schließlich. »Ich liebe meine Arbeit«, sagte Bea, nur halb im Scherz. Sie und Kassler schickten sich an, die Station zu verlassen. »Es gibt noch etwas, das alles lohnenswert erscheinen läßt«, sagte Bea Chaikin. »Wir machen viele Witze über die Patienten, bekommen Zorn auf sie, werden frustriert, weil keine Besserung bei ihnen eintritt, aber es gibt eins, das sie alle - die siebenundfünfzig Spielarten der Schizophrenie, die organischen Gehirnsyndrome, die Persönlichkeitsstörungen, die Neurosen, die Psychosen und die Folies-Syndrome - gemeinsam haben. Jeder Patient hier ist zutiefst unglücklich.« Kassler stand jetzt am Eingangsportal des Phlegethon. »Manchmal machen wir sie ein bißchen weniger unglücklich«, sagte Bea Chaikin leise. »Ich hoffe, Sie schließen sich uns an.« »Das werde ich«, sagte Kassler. Er bedankte sich bei Bea Chaikin für die Führung und ging, um Vita seine Entscheidung mitzuteilen. Vita stand nackt vor einem großen Spiegel, mager und abgezehrt. -1 8 6 -
»Sieh mich nur an«, sagte sie zu Kassler, als er ihre Wohnung betrat. »Ich sehe aus, als sei ich in einem Konzentrationslager gewesen.« Sie drehte sich zu ihm um, während ihr die Tränen in die Augen traten. Kassler betrachtete Vitas knochige Gestalt und nickte zustimmend. »Ich habe beschlossen, den Job am Phlegethon zu übernehmen«, sagte er leise. »Das ist gut, Sy. Ich glaube, das ist wirklich gut. Es ist genau die Art von Veränderung, die wir brauchen. Ich glaube, es wird gut für uns sein.« Kassler nickte abermals und starrte Vita an, die nackt und völlig reizlos vor ihm stand. Sein Blick jagte Schauder durch Vitas Körper. Sie holte mehrmals tief Luft, unternahm mehrere Versuche, ihren Kummer zu unterdrücken, lief dann zu Kassler hinüber, schlang ihm die Arme um den Nacken und barg schluchzend ihren Kopf an seiner Schulter. »Es tut mir leid, Sy«, sagte sie weinend und bebend. »Es tut mir so leid.« »Ist schon in Ordnung.« Kassler versuchte, seine Frau zu trösten, konnte sich aber nicht dazu überwinden, ebenfalls die Arme um sie zu legen. »Ich begreife nicht, was passiert ist«, sagte Vita. »In mir ist alles zerbrochen. Ich fühle mich so, als sei ich schon tot. Ich weiß, daß ich schrecklich zu dir gewesen bin, Sy. Es tut mir wirklich leid. Ich konnte nichts dafür.« »Ist schon in Ordnung. Jetzt wird es besser werden.« »Und ich bin eine schreckliche Mutter gewesen.« »Das stimmt nicht«, log Kassler. »Du bist eine gute Mutter. Du liebst die Kinder sehr.« »Das tue ich, Sy, das tue ich wirklich. Ich habe nur so große Schwierigkeiten, ihnen ganz nahzukommen. Und dir auch. Es macht mir Angst. Ich habe so ein Gefühl, als würde mich jeder, -1 8 7 -
dem ich ganz nahe bin, aussaugen, und so wie es aussieht, ist kaum genug für mich selbst übrig.« »Wenn wir erst einmal umgezogen sind, wirst du dich besser fühlen.« »Gott, ich hoffe es, Sy. Ich hoffe es wirklich.« Vita hob den Kopf von Kasslers Schulter und blickte ihm in die Augen. »Du bist gut zu mir gewesen, Sy«, sagte sie. »Ich sage das vielleicht nicht oft, aber ich weiß es. Du bist während dieser ganzen Zeit wirklich gut zu mir gewesen.« Dann wandte sie die Blicke von Kassler ab und ließ sie ganz langsam an den harten, blassen Konturen ihrer Nacktheit hinunterwandern, bis sie auf den Fußboden starrte. »Was ist mit mir passiert, Sy? Was nur? Was ist falsch gelaufen? Bei mir ist etwas Grundlegendes nicht in Ordnung, nicht wahr?« Vita fuhr fort, auf den Boden zu starren. »Es ist nichts Grundlegendes, Vita, wirklich nicht«, beruhigte Kassler sie alle beide. »Einige sind auf die Ehe besser vorbereitet als andere. Das ist alles. Du darfst nicht vergessen, daß du... ein Einzelkind bist.« Im Januar des Jahres 1974 zogen Kassler, Vita und ihre beiden Kinder nach Citadel, New Jersey, und am nächsten Tag traf Kassler im Phlegethon mit seinen ersten vier Patienten zusammen. Sie alle waren stationäre Patienten. Mr. Katzman war der Mann mit dem Folie du doute-Syndrom. »Wissen Sie, wie die Wetten stehen, daß die Psychotherapie funktioniert?« begann Mr. Katzman. »Es hat Tausende von Forschungsprojekten gegeben. Tausende. Ich muß es wissen. Ich habe für die Regierung gearbeitet. Für das National Institute of Mental Health. Ich habe sie befürwortet. Bei jedem einzelnen dieselben Ergebnisse. Mit Therapie: ein Drittel wird besser, ein Drittel wird schlechter, ein Drittel bleibt gleich Ohne Therapie: ein Drittel wird besser, ein Drittel wird schlechter, ein Drittel bleibt gleich. Ich hätte mich vor Monaten schon selbst
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entlassen, wenn die Wetten, daß ich als Fußgänger einen tödlichen Unfall haben werde, nicht eins zu fünf ständen.« Diana Fletcher, eine Frau in den Dreißigern, war eine chronische Schizophrene. Während der ganzen Sitzung saß sie Kassler in ihrem Sessel zusammengekrümmt gegenüber, vermied jeden Augenkontakt und sagte kein einziges Wort, während Kassler verzweifelt darüber nachdachte, was er tun sollte. Norman Meltz war ein kompulsiver Masturbator in der Öffentlichkeit, der während des Autofahrens ständig von jungen Mädchen in engen Hosen abgelenkt wurde. Er war ein guter Bekannter der Polizei von Citadel, die sich ein großes Vergnügen daraus machten, Norman zu folgen und ihn gerade dann aus seinem Wagen zu zerren, wenn er ejakulierte. Der letzte Patient war ein Neuzugang, ein kleiner, rundlicher, sommerprossiger Mann, der sich seine wenigen dunklen Haarsträhnen straff über seinen ansonsten kahlen Schädel gekämmt hatte. Der Mann betrat Kasslers Büro und nahm etwas zögernd Platz. Argwöhnisch sah er sich im Raum um, um ganz sicher zu sein, daß er nicht belauscht werden konnte, und beugte sich dann in seinem Sessel vor. »Ich bin Satans Engel«, flüsterte Leo Szlyck. Leo Szlyck war nicht gerade hocherfreut gewesen, nach Citadel zu ziehen, aber man hatte ihm eine ordentliche Professur am Albert Einstein College of Physics angeboten, und diese Berufung war zu gut, um abgelehnt zu werden, zumal keine anderen vorlagen. Lupa war über den Umzug sogar noch weniger glücklich gewesen als Szlyck und hatte nur zugestimmt, nachdem es ihr gelungen war, Szlyck eine ganze Liste von Versprechungen in bezug auf ein neues und besseres Verhalten abzuringen, die so umfangreich war, daß nicht einmal Szlyck die Einzelheiten nachhalten konnte. »Ich weiß, daß ich versprochen habe, jeden Abend um sechs Uhr zu Hause zu sein und bei den Vorbereitungen zum -1 8 9 -
Abendessen mitzuhelfen«, sagte Szlyck etwa. »Aber habe ich auch versprochen, wann ich morgens aufzustehen habe, und was ich beim Frühstück tun muß?« Er bemühte sich, alles korrekt zu machen. Natürlich war es nur eine Frage der Zeit - und die dauerte gar nicht mal lange - , bis Leos Faß überlief, um es so auszudrücken, und er sich, bis zum Rand von nervlicher Erschöpfung erfüllt, eines Abends Lupa näherte. »Ich habe mich gefragt«, sagte er mit umwölktem Blick, »ob du mich vielleicht, nachdem ich dir beim Spülen geholfen habe, an der Nervenklinik absetzen könntest.« Lupa sah Leo an, der plattfüßig in der Küche stand, einen weit entfernten Ausdruck in den Augen und ein mildes Lächeln auf den Lippen. »An Abenden, an denen du eingeliefert wirst«, sagte Lupa freundlich und holte seinen Mantel, »bist du vom Abtrocknen befreit.« »Oh, haben wir uns darauf geeinigt?« fragte Leo glücklich. Und er schlüpfte in seinen Mantel und machte sich auf den Weg zum Phlegethon. Szlyck zögerte ein bißchen, seine Rolle als einer meiner Engel mit Sy Kassler zu besprechen. Er wußte, daß er letzten Endes, wenn er eine Gesundung erwarten wollte, damit herausrücken mußte, denn die Sache spielte in seinem Leben keine beiläufige Rolle, aber zu jener Zeit standen er und ich nicht auf besonders gutem Fuß. Um sich den Ärger zu ersparen, mich nach Citadel zu transportieren, hatte Szlyck den Versuch unternommen, mich zu verkaufen. Er diskutierte die Angelegenheit vorher weder mit mir noch mit Lupa. »Sie werden es kaum für möglich halten«, erzählte er einem speziellen reichen Kybernetiker aus Houston, den er in meinen Raum geführt hatte, »aber ich habe hier einen Computer, der unmittelbar mit Satan in Verbindung steht.«
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»Hava nagila, hava nagila«, sang ich, als wäre ich eine Schallplatte, die zu langsam abgespielt wurde. Szlyck wurde wütend und sagte einige böse Dinge zu mir. Der Mann aus Houston ging. Szlyck versuchte mehrmals, die Transaktion mit ähnlichen Ergebnissen zu wiederholen. Als wir den Punkt erreichten, wo sich Szlyck bemühte, mich gegen einen Mikrowellenherd einzutauschen, fand ich das ganz und gar nicht komisch, und so hatten wir eine kleine Unterredung, bei der beschlossen wurde, daß ich mit ihm und Lupa nach Citadel kommen würde. Diese Vorfälle hatten jedoch unsere bisher zufriedenstellende Beziehung ziemlich belastet, und Szlyck mußte nun sehr vorsichtig mit dem sein, was er Kassler - oder auch sonst jemanden - über mich, sein quintessentielles EntropieDemonstrationsgerät, erzählte. »Ich war mir nicht bewußt, daß Satan Engel hat«, ließ Kassler Szlyck bei dieser ersten Sitzung wissen. »Aber ja«, informierte Szlyck den Novizen. »Sehen Sie, Satan war einst selbst ein Engel, - er kam gleich nach Gott -, aber er und eine Reihe anderer Engel, die ihn gegen Gott unterstützten, wurden aus dem Himmel geworfen. Heutzutage können Sie sowohl als Engel Gottes als auch als Engel Satans enden.« »Wie haben Sie genau erfahren, daß Sie einer von Satans Engeln sind?« forschte Kassler. Leo Szlyck holte tief Luft, bedachte die Alternativen und erzählte Kassler dann seine Geschichte. Kassler war fasziniert. »Rückkopplung«, murmelte Szlyck wieder und wieder, nachdem er zum Ende gekommen war. »Es sind alles Rückkopplungen. Sie sind eine Rückkopplung. Ich bin eine Rückkopplung. Satan ist eine Rückkopplung. Rückkopplung und Stabilität. Information und Kontrolle. So sieht es aus.« »Was genau ist die Aufgabe von Satans Engel?« fragte Kassler.
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Szlyck mußte darüber angestrengt nachdenken. Er blickte in Kasslers winzigem Büro herum und studierte die Spalten in den Rolläden. »Wissen Sie«, sagte er, während er die Frage in seinem Kopf hin und her wälzte, »das ist eine verdammt verrückte Sache. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich zu tun habe. Jedesmal, wenn ich Satan danach frage, sagt er dasselbe.« »Und zwar?« fragte Kassler mit einigem Interesse. »Er sagt: ›Du bist ein guter Engel, Leo. Mach nur weiter so.‹« Leo Szlyck zuckte die Achseln. »Der Mann glaubt wirklich, daß er Satans Engel ist«, berichtete Kassler Sam Zelazo während seiner ersten Kontrollsitzung, die beim Mittagessen an einem kleinen Ecktisch in der Belegschaftskantine stattfand. Zelazo nickte und biß in sein mit Salat und Tomaten belegtes Sandwich. »Ich vermisse die guten alten Zeiten«, sagte er zu Kassler, nachdem er den Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Irre Menschen gaben sich damit zufrieden, Napoleon Bonaparte, der Weihnachtsmann, Eleanore Roosevelt oder Superman zu sein...« Kassler biß in sein mit Erdnußbutter und Gelee geschmiertes Sandwich, das er sich eilig selbst gemacht hatte, bevor er seine noch nicht eingerichtete Wohnung in Citadel verließ, und blickte auf Zelazo. Zelazo hatte eine gleichzeitig beruhigende und irritierende Art an sich, die Kassler studierte und erfolglos zu verstehen versuchte. »Nun, warum nicht Satans Engel?« Zelazo nickte vor sich hin. »Bis vor achtzig Jahren waren alle verrückten Leute angeblich vom Teufel besessen.« Zelazo nahm abermals einen Bissen von seinem Sandwich und kaute langsam. Dann holte er aus der Tasche seines weißen Laborkittels einen kleinen Notizblock und suchte unter einem Dutzend von Schreibinstrumenten, die in einem Plastikfutteral in der Tasche seines weißen Hemds steckten, einen Bleistift heraus. -1 9 2 -
»Für mich erhebt sich die Frage«, sagte er, während er langsam auf dem Block zu zeichnen begann, der vor ihm auf dem Tisch lag, »ob das Gehirn das Gehirn verstehen kann. Haben wir in unseren Köpfen das, was nötig ist, um mit dem, was in unseren Köpfen ist, etwas Vernünftiges anzufangen?« Zelazo fügte seiner Zeichnung einige Details hinzu. »Pythagoras, müssen Sie wissen, glaubte, daß das Gehirn ein Organ war, das Gedanken absondert, so wie Drüsen Hormone absondern.« Zelazo schraffierte einige Flächen seiner Zeichnung mit der Breitseite des Bleistifts. »Die ganze Sache hätte auf diese Weise wahrscheinlich viel besser funktioniert«, fuhr er fort, während er sich weiter mit seiner Zeichnung beschäftigte. »Wir könnten die Sekrete in Flaschen sammeln. Flüssige Gedanken. Phiolen voller Ideen. Das gefällt mir.« Zelazo blickte Kassler mit einem leichten Lächeln um die Mundwinkel an. »Das Gehirn ist eine Ansammlung hochspezialisierter Zellen.« Sein Lächeln verschwand. »Zellen, die nach denselben Gesetzen arbeiten, von denen jede andere Zelle regiert wird.« Zelazo nahm seine Skizze hoch und studierte sie. »Zellen«, wiederholte er, während er seiner Zeichnung zufrieden zunickte und weiter an ihr arbeitete. »Inputzellen, die Informationen aufnehmen und sie in elektrische Energie umwandeln. Unsere Augen zum Beispiel. Outputzellen, die auf das reagieren, was hereinkommt. Muskelzellen. Und zwischen Input und Output? Alles andere - Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Träume, Liebe und was uns sonst noch menschlich macht.« Zelazo hörte auf zu zeichnen und starrte mit leerem Blick auf die Skizze, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Wahrnehmung?« fragte er, ohne Kassler zu meinen. »Stäbchenzellen, Zapfenzellen, Retinalzellen, Chiasma, Linsenkrümmung, vorderes Hügelpaar, Hinterhautlappen«, antwortete er sich selbst. »Gefühle?« fuhr er fort, die Luft zu fragen. »Zwischenhirnhypophysensystem, Hippocampus, -1 9 3 -
Amygdala, Formario reticularis. Gedanken und Gedächtnis? Großhirnrinde. Träume? Thalamus. Liebe? Gyrus cinguli, Fornix. Angst? Hypothalamus. Moral und Humor? Stirnlappen. Schmerz? Spinalthalamischer Kanal. Lust? Rückenmarkstrang... « Zelazo gab diese eigenartige Litanei wie in Trance von sich, ein Zauberer, der die Geister irgendeines düsteren Orts beschwor, so empfand es Kassler. Und er bemerkte auch, daß der Raum seltsam still geworden war, während Zelazos tiefe, rauhe Stimme ertönte. Die anwesenden Belegschaftsangehörigen hörten auf zu reden und saßen wie zu einem Gruppenbild erstarrt da, gebannt von der Stimme und den Worten Zelazos. Kassler fragte sich, ob Zelazo sie verzaubert hatte. Ein Licht blitzte in Zelazos dunklen Augen auf, als Kassler ihn mit seinem Eindruck vertraut machte. »Gewiß«, flüsterte er. »Ich folge der ruhmreichen Tradition der Zauberei. Kopernikus stellte die Sonne wieder dorthin, wo sie hingehörte, Galilei sah anstelle von Engeln Sterne und Planeten, Darwin stellte die Beziehung zwischen uns und allem, was je gelebt hat, her, Einstein veränderte Zeit und Raum, Watson und Crick führten alle lebenden Wesen allein auf molekulare Ketten und chemische Lösungen zurück. Die einzig übernatürliche Sache, die noch zu klären bleibt, ist das menschliche Gehirn. Natürlich praktiziere ich Voodoo. Sehen Sie, Dr. Kassler... « Zelazo bewegte den Bleistift über der Zeichnung vor sich wie einen Zauberstab und drehte die Skizze dann um, so daß Kassler sie betrachten konnte. Kassler sah eine längliche Form, die an einen Rugbyball mit kleinen Öffnungen an den schmalen Enden denken ließ. Vom linken Ende zweigte ein ausgedehntes Netzwerk von dicken Fasern ab, wie die blätterlosen Äste eines riesigen Baums. Vom rechten Ende ging ein schmaleres Rohr ab, wie ein Schwanz. Es hatte weniger Verzweigungen, und statt sich am Ende zu einer Spitze zu verengen, endete jeder Zweig als runde Knolle. -1 9 4 -
»Das ist schon alles«, sagte Zelazo in die Stille hinein. Kassler studierte die Zeichnung aufmerksam. »Das ist der Mensch«, fuhr Zelazo fort, während er auf sein Kunstwerk starrte. »Und Gott und der Teufel, die Bilder in der Sixtinischen Kapelle, die Neunte Sinfonie, Hamlet, die Dämonen... « Zelazo nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. »Es ist auch«, fuhr er fort, als er den Saft durch die Kehle rinnen ließ, »Apollo auf Mond, E=mc2, Weltkriege, Baseball und die Tränen, die wegen eines zerbrochenen Spielzeugs und seiner verlorenen Liebe vergossen werden.« Zelazo setzte die Flasche ab und beugte sich auf seinem Stuhl vor. Kassler rückte ebenfalls nach vorne, um die Zeichnung zu examinieren, so daß sich die Köpfe der beiden Männer beinahe berührten. »Eine Nervenzelle«, sagte Zelazo leise und deutete mit der Bleistiftspitze auf die kleine Zeichnung. »Die Verästelungen links sind Dendriten. Sie führen zum Zellkörper. Am anderen Ende befindet sich ein a l nger Axon mit seinem knopfartigen Endstück, das die Dendriten und Axonen anderer Neuronen fast, aber nicht ganz berührt. Die Stelle, an der die beiden Zellen Kontakt zueinander haben, ist eine Synapse.« Zelazo tippte mit der Bleistiftspitze leicht auf die Zeichnung. »Im Inneren der Terminals am Ende der Axonen befinden sich Überträgerstoffe - Dopamin, Serotonin, Norepinephrin, wir kennen bisher ungefähr zwanzig -, abgepackt als kleine Kugeln, die Bläschen genannt werden.« Zelazo zeichnete ein paar kleine Perlen am Ende des Axons und schraffierte sie. Zwei winzig rote Punkte begannen im Zentrum seiner durchdringenden Augen aufzuglühen. »Wenn sich die elektrische Ladung der Zelle ändert, bilden sich in der Membranwand, die das Axonterminal umgibt, kleine Öffnungen, und Packen von Überträgerstoffen werden freigesetzt. Der Überträgerstoff wird wie ein Schlüssel, der in ein Schloß paßt, in Rezeptoren an den Dendritwänden -1 9 5 -
eingefügt. Wenn der Überträgerstoff die Zelle reizen soll, öffnet er in der Dendritwand Kanäle, und während Natriumionen einund Kaliumionen ausströmen, ändert sich die elektrische Ladung sehr schnell. Die Ladung der Zelle springt von siebzig negativen Mikrovolts bis zu vierzig positiven Mikrovolts. Ein Aktionspotential wandert den Dendrit hoch, durch den Zellkörper und das Axon hinunter, wo das Terminal alle vorhandenen Überträgerstoffe freisetzt. Natürlich setzen sich einige Überträger in den Dendriten fest und hemmen das Losfeuern der Neuronen.« Zelazo blickte Kassler nicht an. Er starrte intensiv auf seine Zeichnung und sprach fast zu sich selbst. Die winzigen roten Punkte in seinen Augen waren jetzt brennende Kohlen. »Der Überträgerstoff paßt sich ein, und die Tore öffnen sich. Die Ladung wandert den Dendrit hoch und das Axion hinunter, der Überträgerstoff wird freigesetzt, die Tore schließen sich. Dann beginnt alles von vorn. Es gehört noch viel mehr dazu, aber im Grunde genommen ist es das. Ein Neuron wird von Tausenden von anderen gespeist und speist tausende von weiteren. Niemand hat sie gezählt, aber es gibt vermutlich hundert Milliarden Neuronen und hundert Billionen Synapsen.« Zelazo starrte Kassler mit einem weit entfernten Ausdruck in seinen flammenden Augen an. Kassler konnte die Intensität von Zelazos feurigen Augen nicht länger ertragen und blickte sich in der stummen Cafeteria um. »Geöffnet, geschlossen. An, aus. Erregt, gehemmt.« Zelazo sprach mehr zu sich selbst als zu Kassler. »Und zum guten Schluß bekommen wir Don Quixote heraus oder...«, er gestikulierte in Richtung einer Gruppe von Patienten, die draußen auf dem Flur langsam an der Tür vorbeischlurften, »... Don Quixote.« Er zuckte die Achseln. »Membranen«, sagte Zelazo langsam und nahm den letzten Schluck seines Saftes, um die Flammen zu löschen. »Membranen, über Wasserstoffe und Synapsen. Das ist es.« Zelazo griff nach seiner Serviette, um sich die roten Flecken -1 9 6 -
abzuwischen, die das Getränk auf den Lippen zurückgelassen hatte. »Nichts Zufälliges, sondern Verbindungen, die in hohem Maße strukturiert und spezialisiert sind und vermutlich in relativ einfachen Begriffen zu verstehen sind - nicht komplexer als, sagen wir mal, das Verstehen der DNS.« Zelazo nickte Kassler zu und erhob sich vom Tisch. »Letzten Endes wird sich alles in physikalischen Begriffen erklären lassen. Genie und Menschlichkeit werden auf Zellchemie zurückgeführt werden.« Kassler blickte Zelazo an und nahm wahr, wie sich das brennende Licht in seinen Augen verflüchtigte und verschwand. Während das geschah, wurden die Unterhaltungen im Raum wieder aufgenommen Der Geräuschpegel stieg an - lauter als vorher, glaubte Kassler. Ihm war so, als könnte er jedes Klicken des Bestecks, die Kaugeräusche der Essenden, das Scharren der Stühle und das Rascheln der Kleider tausendfach verstärkt hören. Eine solche Wirkung hatte Zelazos leidenschaftlicher Vortrag hinterlassen. Kassler sammelte sein weitgehend unverzehrtes Essen ein, packte es wieder in seine Tasche und schloß sich Zelazo an, um zu den Büros zurückzugehen. »Wissen Sie«, sagte Zelazo, während Kassler schnell neben ihm hereilte, um sich seinen langen Schritten anpassen zu können, »wenn wir den Geist des Menschen kennen, dann kennen wir Gott.« »Welche Überbringerstoffe lassen meinen Patienten denken, daß er Satans Engel ist?« fragte Kassler. »Das ist eine andere Geschichte«, sagte Zelazo, als er sein Büro erreichte. »Wie heißt Ihr Patient? Vielleicht statte ich ihm einen kleinen Besuch ab. Ich hätte da ein paar Fragen, die ich den Repräsentanten des Teufels schon immer stellen wollte.« »Der Name buchstabiert sich ziemlich eigenartig, weil er rumänisch oder so etwas ist«, sagte Kassler. »Aber er wird ›Zlick‹ ausgesprochen.« Augenblicklich färbte sich Zelazos Gesicht rot. -1 9 7 -
»Leo Szlyck?« fragte er. »Sie kennen Ihn?« »Ich wünsche, daß dieser Mann meine Klinik verläßt.« Zelazo war ganz vehement. »Ich wünsche, daß er noch heute geht.« »Seine Frau hat ihn schriftlich für zehn Tage eingeliefert«, versuchte Kassler zu erklären. »Wir können ihn in den nächsten neun Tagen nicht rauswerfen. Was hat er getan?« »Dann wünsche ich, daß er in neun Tagen geht«, sagte Zelazo mit Entschiedenheit, ohne Kasslers Frage zu beantworten. »Und ich will ihn hier nie wieder sehen. Ich möchte, daß ihm das ganz klar gesagt wird, Sy. Wenn er wieder einmal verrückt wird, soll er sich woanders um Hilfe bemühen. Machen Sie ihm das klar.« Und zum zweiten Mal in diesem Monat beendete Zelazo ihre Zusammenkunft ganz abrupt, diesmal, indem er in seinem Büro verschwand und die Tür hinter sich zuknallte. So, so, so«, sagte Szlyck, als Kassler die Angelegenheit zur Sprache brachte. »Sie können Zelazo erzählen, daß ich niemals hierher gekommen wäre, wenn ich gewußt hätte, daß er etwas mit diesem gottverlassenen Ort zu tun hat, was mich übrigens nicht überrascht.« »Was ist mit Ihnen beiden?« fragte Kassler. »Wir haben zusammen in Rumänien studiert«, sagte Szlyck. Ein längeres Schweigen trat ein. »Ah, ja«, sagte Kassler, als keine weiteren Informationen kam. »Rumänische Studenten. Nun, kein Wunder.« »Mehr erfahren Sie nicht«, sagte Szlyck zu Kassler. »Es ist eine private Angelegenheit. Es gibt nichts weiteres darüber zu sagen.« »Haben Sie heute etwas von Satan gehört?« fragte Kassler. Szlyck funkelte Kassler an. »Dies mag für Sie ein guter Witz sein«, gemahnte er seinen Therapeuten, »für mich jedoch nicht. Nicht Zelazo, nicht meine Anwesenheit hier, nicht der Umstand, daß ich ein Engel Satans -1 9 8 -
bin, zu dem ich, wie ich Ihnen schon sagte, nur durch den Computer sprechen kann, der sich jetzt in meinem Souterrain befindet, wo ich nicht bin.« »Weiß Dr. Zelazo über Satan Bescheid?« Kassler versuchte, sich die Dinge zusammenzureimen. »Natürlich nicht.« Szlyck gab sich entsetzt. »Dr. Zelazo hält Satan für etwas, was sich kleine Jungs für das Halloween-Fest ausdenken, falls er den Namen überhaupt schon mal gehört hat.« »Weiß Dr. Zelazo über Sie und Satan Bescheid?« blieb Kassler beharrlich. »Dr. Zelazo ist eine Bedrohung«, sagte Szlyck mit großer Ernsthaftigkeit zu Kassler. »Ich weiß es aus Erfahrung. Tun Sie sich selbst einen großen Gefallen und halten Sie sich von diesem Mann so fern, wie es nur möglich ist. Er ist vom Übel.« »Seine Arbeit ist vom Übel?« Kassler war mehr als nur therapeutisch interessiert. »Seine Wissenschaft stinkt zum Himmel«, sagte Szlyck sachlich, während er sich in seinem Sessel zurücklehnte. »Er lebt in einem wissenschaftlichen Phantasieland. Moleküle. Alles, über das er nachdenken kann, sind Moleküle. Moleküle und Metabolismus. Der Mann weiß absolut nichts über Moleküle und noch weniger über den Metabolismus. Vor dreißig Jahren suchte er nach Genauigkeit, die er nur in der Physik für existent hielt, während zur selben Zeit schon alle Physiker versuchten, die überall existierende Ungenauigkeit zu verstehen, was auch für das Gehirn gilt.« Szylck beugte sich nach unten, schnürte seinen Schuh auf, zog ihn aus und schob ihn mit der Ferse fein säuberlich unter seinen Sessel. »Zelazo hat recht. Gehirnmoleküle folgen denselben Gesetzen, denen Moleküle überall folgen. Der KohlehydratMetabolismus im Gehirn unterscheidet sich grundlegend nicht vom Kohlehydrat-Metabolismus der Hefe.«
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Szlyck zog den zweiten Schuh aus und stellte ihn neben den ersten. »Und wissen Sie, was das bedeutet?« fragte er rhetorisch. »Es bedeutet daß im Gehirn dasselbe Chaos und dieselbe Unberechenbarkeit herrschen wie überall sonst in der physikalischen Welt. Sam Zelazo schreibt törichte Abhandlungen. Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit damit, sie zu lesen.« Szylck rollte den schwarzen Socken seines rechten Fußes hinunter und stopfte ihn ordentlich in den Schuh. »Das Gehirn verstehen zu wollen, indem man dieses Neuron studiert und seine Verbindungen zu jenem Neuron untersucht, ist dasselbe wie der Versuch, etwas über das Wasser in Erfahrung zu bringen, indem man Sauerstoff und Wasserstoff studiert.« Szylck stand voll unter Dampf. »Bei beiden Elementen deutet nichts darauf hin, daß man etwas Nasses und Flüssiges herausbekommt, wenn man zwei Wasserstoffmoleküle mit einem Sauerstoffmolekül zusammenbringt. Neuronen und Überträgerstoffe sind lediglich Moleküle. Das alles ist ziemlich töricht und mehr als ein bißchen langweilig. Aber was ist der Verstand? Vergessen Sie das Gehirn. Wodurch entsteht der Verstand? Das ist die Frage.« Leo Szlyck zog sorgfältig den noch verbliebenen Socken aus und steckte ihn in den anderen Schuh. »In einem unkomplizierten Universum bestimmt die Energie seine ganze Geschichte. Aber was bestimmt die Geschichte des menschlichen Verstands, da doch der Ursprung der Systeme unendlich viel bedeutsamer ist als ihre physikalischen Eigenschaften? Das ist eine weitere gute Frage. Zelazo vergißt, daß uns Einsteins Gleichungen moderne Fassungen sowohl der Genesis als auch der Offenbarung gegeben haben. Ist das menschliche Wesen wirklich ein zielgerichtetes System? Das ist eine interessante Frage. Kann die Chemie des Gehirns jemals von unserem Kern, unserer Persönlichkeit getrennt werden? Das ist eine interessante Frage. Werde ich jemals wieder in der Lage sein, zu schlafen, zu arbeiten, Appetit zu bekommen oder -2 0 0 -
meine Alpträume und dieses schrecklich brennende Gefühl in mir loszuwerden? Das sind vier interessante Fragen. Wird mich Lupa verlassen, bevor es zu spät ist und ich sie ruiniert habe? Das ist eine sehr interessante Frage...« Leo Szylck verlor sich im Schweigen. Kassler saß da und betrachtete ihn, wie er zitternd und zu einem kleinen Ball zusammengerollt in seinem Sessel hockte. »Warum haben Sie Ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen, Dr. Szylck?« fragte er ruhig. Szlyck sah ihn finster an. »Das ist eine weitere gute Frage«, erwiderte er. Er bückte sich, nahm seine Schuhe hoch und schickte sich an, aus dem Raum zu schlurfen. »Haben Sie irgendeine Ahnung, warum Sie angefangen haben, sich auszuziehen?« fragte Kassler abermals, als der draußen wartende Pfleger die Tür öffnete, um Leo Szlyck in sein Zimmer zurückzubringen. Szlyck blieb an der Tür stehen und drehte sich zu Kassler um. »Wenn ich es wüßte«, lächelte er, »glauben Sie, daß ich dann hier wäre?« Bevor der Pfleger die Tür von draußen schloß, machte Szylck noch einmal halt. »Ich mag Sie, Dr. Kassler«, sagte er. »Halten Sie sich von Sam Zelazo fern. Er ist eine Gefahr. Er wird Sie vernichten.« Auf dem Weg nach Hause machte Bea Chaikin in Kasslers Büro halt, um zu sehen, wie seine erste Woche im Phlegethon verlief, und Kassler berichtete von Szlycks Warnung. »Szlyck ist natürlich verrückt, nicht wahr?« faßte er seine gemischten Gefühle zusammen. »Natürlich«, sagte Bea Chaikin. »Aber das erinnert mich an eine Geschichte, die man mir einmal erzählt hat, als ich wissen wollte, ob ich den Ratschlag eines Patienten annehmen sollte.« »Ja?« -2 0 1 -
»Das war ein Mann«, begann Bea, »der vor dem Drahtzaun einer Irrenanstalt einen platten Reifen bekam. Ein Insasse auf der anderen Seite des Zauns sah zu, wie der Mann die Schrauben entfernte und sie in die Radkappe neben sich auf den Boden legte. Während des Reifenwechsels trat ein Mann unbeabsichtigt gegen die Radkappe, und die Schrauben rollten in einen Gully. Natürlich war der Mann außer sich und sprang fluchend und brüllend herum. ›Warten Sie einen Augenblick‹, rief der Insasse. ›Das ist doch überhaupt kein Problem. Lösen Sie von jedem der drei anderen Räder eine Schraube und nehmen Sie sie für das vierte Rad. So kommen Sie leicht bis zur nächsten Werkstatt, wo Sie neue Schrauben kaufen können.‹ Nun, der Mann mit dem platten Reifen war verblüfft. ›Eins verstehe ich nicht‹, sagte er. ›Wie kommt es, daß Sie in einer Heilanstalt sind?‹ ›Sehen Sie‹, gab der Insasse zurück, ›ich mag verrückt sein, aber ich bin nicht blöde.‹« Kassler lachte. Der Witz gefiel ihm sehr. »Wo haben Sie den her?« frage er Bea Chaikin, als sie gemeinsam zum Parkplatz gingen. »Sam Zelazo hat ihn mir erzählt.« Bea lächelte und schlüpfte in ihren Wagen. Wie sich herausstellte, verlief Kasslers neues Leben in Citadel in so schnellen Bahnen, daß er gar keine Zeit gefunden hatte, über Leo Szlycks Warnung vor Ze lazo, über Zelazos eigenartiges Verhalten in der Cafeteria oder sogar über seine Beziehung zu Vita nachzudenken, die durch die neue Umgebung keineswegs besser, sondern noch schlechter geworden war - kalt, explosiv und quälend. Kassler verwandte seine ganze Zeit darauf, die endlosen Vorschriften zu lernen, denen Phlegethon als staatliche Anstalt Folge leisten mußte, nach bestem Vermögen seine Patienten zu behandeln, bei den jungen Autisten, die, wie vorhergesagt, in seine Obhut gekommen waren, eine Veränderung -2 0 2 -
herbeizuführen und sich um seine beiden Kinder zu kümmern, die in einen aus Bundesmitteln finanzierten und ausschließlich den Sprößlingen arbeitender Mütter vorbehaltenen Tageshort gingen, eine Qualifikation, die sie mitnichten erfüllten. Es war in der Tat ein großes Rätsel, wie Vita ihre Tage verbrachte, aber Kassler wußte recht gut, daß sie es nicht im Rahmen eines einträglichen Beschäftigungsverhältnisses tat. Da Kassler beschlossen hatte, daß es eines seiner ersten Ziele im Phlegethon sein sollte, Cheryl dazu zu bringen, ihre Kleider anzubehalten, machte er es sich zur Aufgabe, sie jeden Tag zu sehen. Üblicherweise blieb er nicht länger als fünf oder zehn Minuten bei ihr, um sich dann anderen Aufgaben in seiner Abteilung zu widmen - der Durchsicht seiner Notizen über die Patienten vom vergangenen Abend, Diskussionen darüber, bei welchen Patienten die Medikamentenzuteilung von dem Arzt, der allen Abteilungen des ersten Stockwerks zugeteilt war, überprüft werden mußte, und Überlegungen, ob es Patienten gab, die über genug Kontrolle verfügten, um draußen in der frischen Luft unter Aufsicht einen kurzen Spaziergang machen zu können. Kassler wollte Cheryl wissen lassen, daß sie etwas Besonderes war, und daß sie sich an seine Gegenwart gewöhnte. Er stellte sich vor, daß er, wenn es ihm gelang, eine Art Beziehung zu Cheryl herzustellen, damit anfangen könnte, bei der Änderung ihrer Verhaltensweise einige Fortschritte anzustreben. Er stellte sich eine große Feier vor, eine Überraschungsparty, die Bea Chaikin zu seiner Ehre veranstaltete, bei der seine enormen Erfolge mit den schwer regressiven Patienten gewürdigt wurden, die voll angezogen und ohne fremde Hilfe essend ruhig an der Festtafel sitzen würden. Vielleicht, phantasierte Kassler, würde sogar ein Artikel in einer bedeutenden psychiatrischen Fachzeitschrift herauskommen, ein Preis... Zelazo erkannte seine Bemühungen mit Cheryl an, obwohl Kassler natürlich klug genug war, die Visionen vom psychotherapeutischen Superstar nicht mit seinem Mentor zu teilen. -2 0 3 -
»Da ist etwas in ihr«, erzählte Kassler Zelazo über Cheryl. »Ich weiß, daß sie hört, was ich zu ihr sage. Ich glaube, sie versteht es sogar. Es ist so, als ob ein menschliches Wesen in ihr eingeschlossen wäre, das nicht herauskann. Sie ist nicht dumm. Sie ist nicht zurückgeblieben. Sie ist nicht verrückt...« »Sie ist autistisch«, stellte Zelazo fest. »Aber es ist nicht wie bei anderen Formen des Wahnsinns.« Kassler engagierte sich sehr bei diesem Problem. »Mit meinen anderen Patienten kann man reden. Sie haben eine Persönlichkeit. Mr. Katzmann etwa - er raucht wie eine Lokomotive, aber er setzt sich nicht ohne eine speziell sterilisierte Matte aufs Klo, weil in einem von acht Fällen Geschlechtskrankheiten durch öffentliche Toiletten verursacht werden. Dies hat einen gewissen Stil.« Kassler ging in Zelazos Büro hin und her. »Norman Meltz bekommt jedesmal eine Erektion, wenn er ein weibliches Hinterteil sieht. Er hat das halbe Pflegepersonal der Etage dazu gebracht, sich nur rückwärts von ihm zu entfernen. Sie mußten ihn in eine Zwangsjacke stecken, weil er sich durch all das Masturbieren ernsthaft seinen Penis verletzt hatte, aber es gelang ihm noch immer, viermal loszuspritzen, indem er sich seinen Apparat zwischen die Beine klemmte und auf und nieder sprang. Aber er ist noch immer ein Norman Meltz. Wo, zur Hölle, ist Cheryl Lerner? Was ist mit dem Überträgerstoff, der Cheryls Hirn öffnet und sie herausläßt?« »Er wird kommen«, sagte Zelazo zuversichtlich. Er lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und sah zu, wie Kassler fortfuhr, hin und her zu gehen. »Ein anstrengender Tag?« erkundigte er sich. Kassler zuckte die Achseln. »Kann man wohl sagen. Ich bin schon mit meinen Krankenberichten im Rückstand, obwohl ich noch nicht einmal einen Monat hier bin. Heute habe ich einen neuen Patienten bekommen, Philip Donato. Seine Mutter hat ihn gebracht. Sie hat mir erzählt, daß er seinen Brei nicht ißt und seine Därme -2 0 4 -
nicht bewegt, egal, was sie zu ihm sagt. Er ist vierunddreißig Jahre alt und absolut katatonisch. Ich habe sie gefragt, ob ihr nicht aufgefallen ist, daß er in jüngster Zeit nicht nur seine Därme, sondern auch seine Arme, seine Beine und seinen Mund nicht bewegt hat. Er ist ihr etwas still vorgekommen, hat sie gesagt und mir gleichzeitig versichert, daß mineralische Öle ihn schon auflockern würden. Wir haben ihn hier behalten und sie nach Hause gehen lassen.« Kassler schüttelte den Kopf. »Diana Fletcher? Sie sitzt nur in der Ecke und starrt alles an, nur mich nicht. Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll. Sie ist seit über zehn Jahren verrückt, seit ihrer Jugendzeit, aber wir hatten ihr Haldol gegeben, und sie kam ganz gut zurecht. Heiratete. Netter Mann. Ein Architekt. Intelligenter, vernünftiger Bursche. Sie haben vier Kinder. Vor zwei Monaten bekam ihr fünfjähriger Junge Leukämie. Er lebt noch, aber Haldol wirkt bei Mama nicht mehr. Dasselbe gilt für alle Phenothiazine und Monoaminoxydase-Hemmer in den Lehrbüchern.« »Ihre Psychopharmakologie wird besser«, bemerkte Zelazo. Kassler hörte auf, hin und her zu gehen, und blickte Zelazo verzweifelt an. »Ich habe meine Lektionen gut gelernt. Ich weiß, welche Drogen den Dopaminumsatz erhöhen. Ich weiß, welche Drogen das präsynaptische Neuron daran hindern, Norepinephrin freizusetzen, die Wiederaufnahme blockieren oder die Enzyme völlig von der Produktion abhalten. Jeder, der wissen will, was man nehmen muß, um Acetylcholine am Festsetzen in der postsynaptischen Membran zu hindern, braucht mich nur zu fragen. Cholinerge Mittel. Anticholinerge Mittel. KatecholaminAntagonisten. Indolamin-Antangonisten. Opiat-Ersatzmittel. Ich könnte eine Apotheke aufmachen. Das medizinische Modell hat mich bekehrt.« Kassler hatte mit Bitterkeit gesprochen. Er hörte auf zu reden und starrte Zelazo sekundenlang schweigend an. »Die einzige Droge, die ich nicht kenne«, sagte er schließlich, »ist die Droge, die meine Ehe rettet, denn ich bin dabei, heute -2 0 5 -
oder morgen meine Frau und meine Kinder zu verlieren, und ich glaube nicht, daß ich das ertragen werde.« Und er drehte sich um, so daß Zelazo nicht die Tränen sehen konnte, die in seinen Augen aufstiegen. Kassler wußte nicht, warum er mit seinem persönlichen Kummer herausgeplatzt war. Dieser hatte sich seit langer Zeit in ihm angestaut, und er hatte sonst niemanden gefunden, mit dem er darüber reden konnte. Es war am Ende eines langen, entmutigenden Tages, und so wie Kassler es sah, waren die Worte einfach aus ihm herausgeströmt. »Gehen Sie bald nach Hause?« fragte Zelazo, als er der Überzeugung war, daß sich Kassler wieder soweit gesammelt hatte, um antworten zu können. »Oder können wir uns weiter unterhalten?« »Ich bin gebeten worden, mich in den nächsten paar Tagen so lange wie möglich von zu Hause fernzuhalten, während meine Frau über die Alternativen nachdenkt«, antwortete Kassler. »Normalerweise hänge ich bis elf oder so in meinem Büro herum und gehe dann nach Hause, so daß ich genug Zeit habe. Und ich würde mich gerne unterhalten - wenn Sie Zeit hätten.« »Dafür sind Vorgesetzte da«, lächelte Zelazo und bedeutete Kassler mit einer Geste, sich hinzusetzen. Dann erzählte Kassler während der nächsten drei Stunden seine traurige Geschichte. Als er zum Schluß gekommen war, saß er mit in die Hände gestütztem Kopf da, erschöpft und außer Atem. Zelazo musterte seinen verwirrten Schüler und machte ein freibleibendes Angebot. »Wenn Sie es möchten und Sie einverstanden sind, werde ich mit Vita reden«, sagte er ruhig. Kassler blickte Zelazo an. »Keine Versprechungen«, sagte Zelazo ernst. »Ich werde tun, was ich kann. Das mag nicht viel sein.« »Ja«, hörte sich Kassler sagen, aus einer Verzweiflung heraus, die sich weitaus stärker durchsetzte als die kleinen -2 0 6 -
Teile seines Bewußtseins, in denen Szlycks Warnung und sein eigenes nagendes Gefühl, daß er einen schrecklichen Fehler beging, verborgen waren. Vita stimmte aus einer ähnlichen Verzweiflung heraus zu und fing an, dreimal wöchentlich mit Zelazo zusammenzutreffen. Kassler fragte nicht, was besprochen wurde, und von sich aus sagte Vita nichts. Um eine ständig anschwellende Flut von Empfindungen zu sublimieren, widmete sich Kassler wieder einmal völlig seiner Arbeit und seinen Kindern. Joshua war jetzt fast dreieinhalb Jahre alt. Joy war zweieinhalb, stand fest auf den Beinen und fing an, kurze Sätze zu sprechen. Kassler fühlte sich niemals glücklicher, als wenn er bei seinen Kindern war. Er stand vor ihnen auf, nahm ein Bad und kleidete sich an, so daß er noch einige Zeit mit ihnen verbringen konnte, bevor er zur Arbeit ging. Nachdem er zum ersten Mal Pfannkuchen gegessen hatte, entwickelte Joshua einen Heißhunger auf Ahornsirup. Kassler machte ihm an verschiedenen Morgen Pfannkuchen, Waffeln und in Milch und Zucker getauchtes Toastbrot, bis er merkte, daß es für Joshua wirklich keine Rolle spielte, was sich unter dem Sirup befand. »Französische Eier«, gab Kassler eines Morgens Joshua bekannt, als er ihm einen Teller mit Rührei überreichte, das im Sirup schwamm. »Ich auch, ich auch«, kicherte Joy. »Framösische Eier, ich auch.« »Nicht ›Framösische‹ Eier«, erklärte Joshua seiner ungebildeten Schwester. »Französische Eier. Sie hat ›Framösische‹ Eier gesagt, Daddy.« Joshua lachte zu seinem Vater in der Küche hinüber. »Ist Joy nicht dumm?« »Man stelle es sich vor«, sagte Kassler, während er Joys Frühstück zubereitete. »Schon über zwei Jahre alt und hat noch nichts von Französischen Eiern gehört.« »Framösische Eier, ich auch!« Joy kicherte weiter. -2 0 7 -
»Nicht heute«, sagte Kassler mit französischem Akzent. »Für dich, ma petite chérie, gibt es heute Französische Haferflocken.« Und er stellte die Schüssel mit Haferflocken und Sirup auf das Tablett an Joys hohem Kinderstuhl. »He«, protestierte Joshua. »Wie kommt es, daß ich keine Französischen Haferflocken kriege?« »Weil du fast dreieinhalb Jahre alt bist«, antwortete Kassler beim Kaffeetrinken, und diese Antwort schien für Joshua mehr als befriedigend zu sein. Mit kleineren Abweichungen spielte sich dieses Frühstücksritual während all der Tage ab, die Kassler noch von der Katastrophe trennten. An jenen Abenden, an denen Kassler das Gefühl hatte, daß es ihm erlaubt war, nach Hause zu kommen, ohne in Vitas Lebensraum einzudringen, nahm er die Kinder mit zu einem der Schnellrestaurants in der Third Avenue oder klapperte mit ihnen auf der Suche nach Schlußverkaufsschnäppchen für das nächste Jahr die zahllosen Geschäfte längs der Forth Avenue ab. An den Wochenenden beschäftigte sich Kassler kaum mit etwas anderem als den Kindern. Samstags und sonntags machte er Ausflüge nach Lower Citadel, das Wohngebiet der Stadt, das durch eine große Mauer von den kommerziellen und industriellen Bezirken abgetrennt war. Vor dem Haupttor in diesem bröckelnden grauen Betonvorhang standen große Steinstatuen, die der örtliche Kunstverein aufgestellt hatte, ein lächelnder Minotaurus und ein ebenso heiterer Zentaur. Joshua und Joy liebten es, oben auf diesen Kreaturen zu sitzen, während Kassler Film auf Film verschoß. Danach machten sie sich, Joshua auf Kasslers Schultern und Joy in ihrem Wägelchen, auf den Weg, um den großartigen Wasserfall an der Seventh Avenue zu besichtigen. »Ich langweile mich zu Tode«, sagte Lupa eines Abends zu mir, als Leo eine Woche im Phlegethon war. Sie näherte sich mir in ihrem kurzen durchsichtigen Nachthemd. Reizvoll ist das Wort, das einem dabei einfällt. -2 0 8 -
»Mir ist heute nicht nach Summen, wenn du nichts dagegen hast« sagte ich, als sie anfing, meine Knöpfe zu befingern. »Aha«, schmollte Lupa. »Nun, ich muß mich mit irgend etwas amüsieren, bis Leo entlassen wird und ich ihm sagen kann, daß ich mich scheiden lasse.« »Was stellst du dir vor?« »Kennst du ein paar gute Witze?« »Ich bin mir nicht sicher, ob wir dieselbe Art von Humor haben.« »Möchtest du etwas singen? Das hat mir immer gefallen.« »Ich versuche es. Was willst du gerne hören?« »Willst du es mit einer Bach-Kantate versuchen? Es gibt da ein Duett, ›Komm mein Jesu und erquicke‹, das sehr schön ist. Ich bringe es dir bei.« »Jesus-Lieder liegen mir nicht so. Vielleicht sollten wir es mit etwas Gemütlicherem versuchen, wenn du verstehst, was ich meine.« »Zum Beispiel?« »Ach, ich weiß nicht. Etwas aus dem Dunklen Zeitalter wäre ganz gut. Kennst du irgend etwas Profanes?« »Du bist nicht sehr hilfreich. Die Sache mit Leo treibt mich die Wände hoch. Ich brauche deine Unterstützung.« »Ich weiß. Es wird bald vorbei sein. Du wirst dich besser fühlen.« »Ich wünschte, ich könnte das glauben«, seufzte Lupa. »Vertraue mir«, sagte ich. Es war während dieser Zeit, daß Kassler Bernie Kohler kennenlernte und Freundschaft mit ihm schloß. Kohler war Psychologe, der, wie Kassler erfuhr, im selben Jahr am Institut graduiert hatte, in dem Kassler dort aufgenommen worden war. Bernie Kohler galt als Phlegethons Vertreter der radikalen Psychologie. »Geisteskrankheit ist ein Mythos«, sagte Bernie zu Kassler, als sie sich in der Cafeteria zum erstenmal sahen. -2 0 9 -
»Das versuche ich meinen Patienten auch immer zu erklären«, lächelte Kassler. »Aber sie halluzinieren weiter und wollen mir nicht zuhören.« »Bei diesen Leuten ist alles in Ordnung«, sagte Bernie und biß ein großes Stück von seinem Apfel ab. »Nur das nicht, was andere Leute ihnen einreden. Die Gesellschaft läßt keine Vielfalt zu. Schizophrenie ist eine Form der Poesie. Hören Sie diesen Menschen zu. Sie sind Künstler, jeder einzelne von ihnen.« Kassler blickte zu seinem vorzeitig kahlen Kollegen mit der goldgeränderten Brille hinüber. »Sie kommen mir unglücklich vor«, stellte er fest. »Natürlich sind sie unglücklich.« Bernie arbeitete sich bis zum Gehäuse seines Apfels vor. »Sie leben in einer arbeitsethischen Gesellschaft, in der Geld alles ist, in der der Verdienst den Wert eines Menschen bestimmt, in der sie mit zusehen müssen, daß Millionen von Menschen verhungern, während einer Handvoll Leuten in schicken französischen Restaurants Hundert-Dollar-Essen mit Delikatessen und feinen Soßen serviert werden. Kein Wunder, daß sie verrückt sind. Haben Sie jemals Zelazos Haus gesehen?« »Nein«, erwiderte Kassler. »Nun, es ist ein gewaltiger Rotholzbau, dessen ganze Rückseite aus Panzerglas besteht und einen herrlichen Waldblick bietet. Das Ding hat ihn gut und gerne eine Viertelmillion Dollar gekostet. Wie auch immer, im rückwärtigen Teil, wo all die Fenster sind, hat Zelazo sein Schlaf- und sein Wohnzimmer. Vor vier oder fünf Jahren, kurz nachdem Phlegethon geöffnet hatte und bevor er mit seinem neurochemischen Scheiß anfing, wissen Sie, was die Patienten, die seine Therapie nicht mochten, da taten?« Kassler hatte den Mund mit phlegethonischem Fleischeintopf voll, so daß er nur die Augen weiten und etwas murmeln konnte, um sein fortgesetztes Interesse zu bekunden. »Sie flohen von hier«, sagte Bernie, »und hängten sich mitten in Zelazos herrlicher Aussicht auf. Zelazo erwachte morgens -2 1 0 -
und warf einen Blick auf die Birken, und da baumelte einer seiner Patienten mit gebrochenem Genick an einem Strick.« Kassler würgte an seinem Eintopf. »Oh, die Affäre schlug einige Wellen hier. Sobald einer von Zelazos Patienten vermißt wurde, rannten wir alle in den Wald außerhalb seines Hauses. Es war ein Spiel. Konnten wir da sein, bevor der Patient auf den Baum kletterte, den Strick an seinem Ast festmachte, sich die Schlinge um den Hals legte und sprang? Gewöhnlich konnten wir es nicht.« »Was geschah?« Kassler hatte seinen Erstickungsanfall unter Kontrolle bekommen. Bernie fing mit seinem zweiten Apfel an. »Nun, Zelazo hielt die Patienten für ›melodramatisch‹, wie er es ausdrückte. Wir glaubten, daß sie ihm etwas sagen wollten. Die Lösung? Zelazo hielt seine Vorhänge geschlossen. Wir brachten ihn schließlich dazu, eine Anzahl von Fällen einzuschränken. Schließlich hörte es auf. Ich glaube nicht, daß Zelazo jemals den springenden Punkt erkannt hat. ›Sie machen uns verrückt‹, sagten sie ihm immer wieder. Zelazo hielt alles für neurochemisch. Selbstmord ist neurochemisch?« Bernie Kohler nahm einen weiteren großen Bissen seines Apfels und sprach mit vollem Mund. »Es ist die Gesellschaft, Sy«, sagte er. »Sie kommen bei der Geisteskrankheit keinen Schritt weiter, solange Sie nicht die Gesellschaft verändern. Wenn ich nur noch eins mache, dann werde ich dieses Haus hier säubern, dort draußen einige Ansichten ändern und diese armen verstörten Menschen in die Gemeinschaft zurückbringen, in die sie gehören, so daß sie ein anständiges Leben führen können. Und ganz plötzlich wird kein Chlorpromazin mehr gebraucht.« Kassler war sich nicht sicher, daß er mit Bernie Kohler übereinstimmte, aber er mochte ihn. »Wieso sind Sie hierhergekommen?« Kassler beschloß, seinen Eintopf stehenzulassen und das Thema zu wechseln.
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»Nun, das ist eine ganz interessante Geschichte.« Bernie grinste vor sich hin. »Dies war der einzige Job, den ich kriegen konnte, nachdem ich einen kleinen Fehler begangen hatte. Ich war Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie am Boston Mental Health Center, dessen Personal aus vielen HarvardTypen besteht, die alle viel Wert auf Prestige und so legen. Nun, ich hasse Ärzte, müssen Sie wissen. Ich habe nie gewußt, warum eigentlich. Es ist nur immer so gewesen. Eines Tages findet also in Harvard für all die Psychiater diese große und wichtige Konferenz über Schizophrenie statt. Praktisch jeder berühmte Psychiater der Welt ist anwesend, und jeder geht zum Podium und redet davon, wie großartig er bei diesem oder jenen Patienten gewesen ist oder wie er irgendeinen Burschen mit tausend Milligramm Scopolamin oder so was dazu gebracht hat, nicht mehr den Familienhund zu bepinkeln - lauter solche Sachen.« Kassler hörte aufmerksam zu, während er seine Cola trank. »Wo auch immer Ärzte zusammentreffen, gibt es diese kleine schwarze Wandtafel, so daß alle Notfallpatienten, die anrufen, in Kontakt mit ihren Doktoren treten können, ohne die Rede unterbrechen zu müssen. Viele Veranstaltungsorte wie zum Beispiel Sportstadien haben schon lange gemerkt, daß Doktoren solche Gelegenheiten zur Werbung benutzen. Sie wissen schon: ›Dr. Freud, rufen Sie bitte Ihre Praxis an.‹ Und sechzigtausend Leute im Stadion und zehn oder fünfzehn Millionen, die das Spiel am Fernseher verfolgen, hören den Namen des Doktors. Wenn Sie Doktor sind und das oft genug tun, fangen die Leute an zu denken: Mann, Dr. Freud muß gut sein - er hat so viele Patienten! So fingen die Sportstadien also an, den Doktoren Nummern zu geben. ›Dr. Nummer fünfundvierzig‹, sagen sie jetzt, nur daß sie es gar nicht mehr so oft zu tun brauchen, seit sie damit angefangen haben.« Bernie Kohler lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und warf sein Apfelgehäuse mit perfekter Zielgenauigkeit quer durch den Raum in einen Mülleimer. Mehrere Doktoren blickten angewidert von ihrem Essen hoch.
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»Mein Verhältnis zu Doktoren hat sich nicht sehr gebessert«, fuhr Bernie fort. »In Harvard sind jedenfalls alle Doktoren, keine Nummern. An diesem Tag, von dem ich Ihnen erzähle, versuche ich also den Reden zuzuhören - fragen Sie mich nicht, warum - , während an der Wandtafel ein wilder Wettstreit darüber im Gange ist, welcher Gehirnklempner die meisten Anrufe bekommt. Alle dreißig Sekunden kommt der Bote mit einem Blatt Papier den Gang entlanggelaufen und schreibt eine Telefonnummer auf die Tafel, die irgend ein Doktor anrufen soll. Es treibt mich in den Wahnsinn.« Bernie Kohler machte eine kurze Pause und lächelte zufrieden vor sich hin. »Nun, zufällig kenne ich diesen speziellen Boten. Er ist ein Freund von mir, oder war es vielmehr. Ich kenne auch viele der Doktoren, und so fange ich an, mir allerhand auszudenken, und gebe es Arnie, dem Boten, der mir den Gefallen tut und es an die Tafel schreibt. Die erste Botschaft sieht ungefähr so aus: ›Dr. Goldman, rufen Sie dringend Ihren Börsenmakler an.‹ Und Dr. Goldman rennt panikerfüllt aus dem Auditorium. Dann gebe ich Arnie eine Nachricht, die lautet: ›Dr. Georgopolis, das Medizinische Untersuchungsamt möchte so schnell wie möglich mit Ihnen sprechen.‹ Und Dr. Georgopolis schießt nach draußen, als würde er von einem Blitz verfolgt. Auf diese Weise hatte ich das Auditorium in zehn Minuten zur Hälfte geleert. Aber dann begann ich einen bösen Fehler. Ich ließ Arnie eine ganz einfache Nachricht an die Tafel schreiben: ›Dr. Pratt, rufen Sie Brigitte an.‹ Nun, es stellt sich heraus, daß Mrs. Dr. Pratt, ebenfalls Psychiater, unter den Zuhörern ist. Und was die Sache noch schlimmer macht, ist, daß es wirklich eine Brigitte gibt, über die sich Mrs. Pratt nicht viel Gedanken gemacht hat, bis die Nachricht an der Tafel erschienen ist.« Bernie Kohler lehnte sich noch weiter auf seinem Stuhl zurück und seufzte. »Ich versuchte, der Untersuchungskommission alles zu erklären, aber keiner glaubte mir, und da sie von mir sowieso die Nase voll hatten, bin ich also hier. In der medizinischen Welt -2 1 3 -
spricht sich alles sehr schnell herum. Ich hatte Glück, daß ich überhaupt noch Arbeit bekam. Dr. Zelazo hatte die Geschichte gehört und rief mich an, um sich zu erkundigen, ob sie stimmte. Als ich ihm sagte, daß sie stimmte, bot er mir unbesehen diesen Job hier an.« »Wie können Sie ihn dann so sehr hassen?« fragte Kassler. »Ich hasse Zelazo nicht. Er ist ein bißchen seltsam, aber ich hasse ihn nicht. Ich hasse nur das, was er glaubt.« Kassler stellte fest, daß seine eigenen Empfindungen für Dr. Zelazo bei jedem Zusammentreffen mit ihm positiver wurden. Er hatte das Gefühl, daß er mit Zelazo reden konnte und daß Zelazo ihn verstand und seine Schwierigkeiten so sah, wie sie waren. Es war ein Gefühl, das sich Kassler schon seit seiner Kindheit gewünscht hatte, und so vertraute er sich Zelazo an und suchte seinen Rat mit steigender Regelmäßigkeit. Zelazo seinerseits hörte gut zu und fuhr fort, Kassler auf dem Gebiet der Arbeitsweise des zentralen Nervensystems zu unterweisen, wenn er der Ansicht war, daß sich Kassler in einer aufnahmebereiten Stimmung befand. Da Kasslers Aufnahmebereitschaft geringer wurde, fing Zelazo an, seine Anforderungen herunterzuschrauben, und versorgte ihn schon dann mit den erforderlichen Informationen, wenn Kassler minimal aufmerksam war. »Wie Sie zweifellos festgestellt haben«, sagte Zelazo eines späten Nachmittags, als Kassler in seinem Büro mit den Gedanken ganz woanders hin und her ging, »besitzt der Mensch drei unterschiedliche Gehirnteile - einen unteren Teil, der die vegetativen Funktionen wie Herzschlag, Atmung, Temperatur und Essen kontrolliert, einen mittleren Teil, das Z. H. S., das Gefühle wie Zorn, Erregung, Lust und Depression kontrolliert, und einen oberen Teil, den Kortex, der das Denken, Assoziationen, bewußte Bewegungen und das Gedächtnis kontrolliert, wenn es mir erlaubt ist, die Sache im Interesse dieser speziellen Präsentation zu vereinfachen.« Zelazo lächelte Kassler an, der nicht zurücklächelte.
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Statt dessen stand Kassler mit einem anwachsenden Gefühl der Frustration von seinem Stuhl auf und ging zum Fenster hinüber, wo er in den dichten Smog der Abenddämmerung hinaus blickte. »Die Patienten im dritten Stockwerk leiden an individuellen menschlichen Störungen. Sie denken, aber nicht gut. Sie sind nicht dumm, nur ziemlich durcheinander - schlechtes Erinnerungsvermögen, seltsame Assoziation, Einbildungen -, aber sie sind alle sehr menschlich. Unten im zweiten Stockwerk sind die Patienten auf Gefühle und vegetative Funktionen beschränkt. Sie sind deprimiert, wütend, erregt - vom Kortex wird nur wenig Gebrauch gemacht - wie Säugetiere, aber nicht sehr menschlich. Im ersten Stockwerk sind natürlich die Patienten, deren Gehirn nicht mehr hergibt als das von Reptilien - wir sagen, daß sie regressiv sind.« Kassler war nicht sehr erfreut darüber, daß Zelazo seine Abteilung autistischer Patienten auf der niedersten Stufe des Tierreichs ansiedelte. »Während sich die Menschen entwickeln, kontrollieren die höheren Zentren die niedrigeren Zentren«, erklärte Zelazo mit seinem dröhnenden Bariton. »Gefühle beschleunigen oder verlangsamen den Herzschlag, die Vernunft sagt den meisten von uns letzten Endes, daß wir vor gewissen Dingen keine Angst zu haben brauchen - vor Dunkelheit, Aufzügen, anderen Menschen, dem Alleinsein.« Kassler beobachtete durch den dichten Smog in der Ferne die Lichter der in Newark landenden Flugzeuge und hörte dem, was Zelazo sagte, nur mit halbem Ohr zu. »Theoretisch sollen die übergeordneten Teile unseres Gehirns während unserer Entwicklung die untergeordneten Teile im Zaum halten. Wie Sie wissen, funktioniert das nicht immer so, Dr. Freuds Konstruktionen vom Libido unterdrückenden Ich ungeachtet. Bei einigen von uns kehrt sich das System in sein Gegenteil um. Die Emotionen kontrollieren den Verstand. Gefühle der Liebe werden mit ausgeprägter Unruhe assoziiert. Die Macht des Zwischenhirn-Hypophysen-2 1 5 -
Systems wirkt weitaus stärker als die des Kortex und dominiert ihn. Wie es dazu kommt, ist unklar. Vermutlich auf viele verschiedene Weisen. Beschädigte Neuronen, fehlerhafte Enzyme, gestörte chemische Prozesse oder schlechte Erfahrungen - das Kind beispielsweise erlebt die Unruhe seiner Eltern wieder und wieder, und schließlich, jedesmal wenn sich ein Elternteil nähert, spannen sich die Muskeln des Kindes, schlägt sein Herz schneller, bekommt es Angst, und wenn sie nicht schon vorhanden sind, dann bilden sich jetzt sehr starke Bahnen heraus, auf denen die Emotionen über das Denken triumphieren, auf denen Z. H. S.-Strukturen den Kortex kontrollieren.« »Ich habe davon gehört. Es ist konditioniert.« »Ja«, stimmte Zelazo zu. »Wenn wir Ratten wären, würde ich sagen, daß wir konditioniert worden sind. Aber da unsere Gehirne weitaus komplexer sind, ist es komplizierter als das. Millionen von zusätzlichen Neuronen sind betroffen, die Assoziationen sind komplexer, und Menschen ziehen sich nicht in die Ecken ihrer Käfige zurück und kauern sich auf ihre Hinterbeine. Sie sagen und tun einige seltsame Dinge. Sie werden schizophren oder depressiv oder verfallen in destruktive Verhaltensweisen, so wie es Vita vermutlich jetzt tut.« Die Erwähnung von Vitas Namen erweckte Kasslers volle Aufmerksamkeit. Er wandte sich vom Fenster ab und blicke Zelazo an, der die Füße auf seinen Sessel hochgezogen und seine langen Arme um die Knie geschlungen hatte. »Hören Sie«, sagte Kassler gereizt, »was will sie? Liebe? Fürsorge? Freiheit? Sich an jemandem abreagieren? Was?« »Das ist natürlich ihr Problem.« Zelazo faltete die Hände, verschränkte die Finger ineinander und lehnte sich langsam zurück. »Sie wird es niemals wissen.« Schweigend blickte Kassler den in der Dunkelheit sitzenden Zelazo an. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte er schließlich. -2 1 6 -
»Nicht mehr als das, was ich schon gesagt habe«, beantwortete Zelazo den nicht ausgesprochenen Teil von Kasslers Frage. Kassler atmete tief aus und machte einen erleichterten Eindruck. »Sie lieben also Schach«, versuchte Zelazo, das Thema zu wechseln. »Habe ich das jemals gesagt?« fragte Kassler. »Nur eine Vermutung«, fügte Zelazo schnell hinzu. »Sie sehen aus wie ein Schachspieler.« Kassler blickte in Zelazos Augen, die genauso eindringlich zurückblickten. Er war mit der Antwort nicht zufrieden, entschied sich aber, nicht darauf zurückzukommen. »Ich bin ein Anfänger», sagte er. »Schach gefällt mir, aber ich verstehe nicht viel davon, wie man spielen muß.« »Ich habe ein Brett zu Hause. Würden Sie gerne etwas lernen?« »Ich würde gerne die Strategie lernen.« Kassler fuhr fort, Zelazo anzustarren. »Gut. Darauf verstehe ich mich am besten.« Ein schwaches Lächeln erschien auf Zelazos Lippen, als die beiden Männer gegenseitig in ihren forschten. Also lehrte Zelazo Kassler das Schachspiel. Er lehrte Kassler Eröffnungen und Verteidigungen gegen die Eröffnungen. Er lehrte Kassler, wie man das Zentrum schützte und Territorium eroberte. Er zeigte Kassler, wie man große Gebiete auf dem Brett kontrollierte und den Gegner in eine Ecke drängte, so daß er verzweifelt und töricht wurde, keinen Fluchtweg mehr fand, seine Verteidigungslinien vernichtet sah und in Panik geriet. Kassler lernte schnell. Er gewann nie, lieferte Zelazo aber ein gutes Spiel. Das größte Vergnügen fand er daran, in den großen, komfortablen Sesseln in Zelazos feudalem Glashaus zu sitzen und zuzusehen, wie Zelazos riesige, geäderte Hände die Schachfiguren mit einer Leichtigkeit bewegten, die den Anschein erweckte, als würden sie aus sich selbst heraus auf -2 1 7 -
schmalen Luftsäulen von einem Ort zum anderen schweben, majestätisch und unverwundbar. Am Ende eines solchen Abends saß Zelazo, einen AfterDinner-Drink in der Hand, auf der Couch und kratzte sich mit der großen Zehe des einen Fußes den unbeschuhten anderen Fuß. »Homöostase«, dachte Ze lazo laut. »Wissen Sie, was das ist?« »Ich bin mir nicht sicher.« Kassler gab Zelazo die gewünschte Gelegenheit, seine eigene Definition vorzubringen. »Homöostase ist die Tendenz des Organismus, einen gewissen Gleichgewichtszustand herzustellen, der zur Erhaltung seines Daseins erforderlich ist. Der Sauerstoffgehalt des Bluts sinkt ab, und schon sagen Barorezeptoren den Lungen, daß sie kräftiger atmen sollen, dem Herz, daß es schneller pumpen soll, dem Blut, daß es rascher zirkulieren soll. Es ist eine sehr machtvolle Kraft.« Zelazo sprach ganz feierlich. Kassler blickte in Zelazos große, dunkle Augen und versuchte darin zu lesen, was kommen würde. »Das Gehirn arbeitet natürlich nach demselben Prinzip, obwohl es, wie Sie wissen, vom übrigen Körper durch eine BlutHirn-Schranke getrennt ist. Diese Schranke schützt das Gehirn davor, daß große Moleküle durchkommen, die es verletzten könnten, während es den benötigten Nährstoffen das Durchsickern erlaubt. Es ist in der Psychiatrie eines unserer schwierigsten Probleme. Vieles von dem, was chemisch im Gehirn vorgeht, zeigt sich niemals im Blut, so daß sich stets schwer beurteilen läßt, was sich dort tut. Und vieles von dem, was wir gerne in das Gehirn hineinbringen möchten Medikamente beispielsweise - kann die Schranke nicht überwinden. Es ist schwer, ins Gehirn hineinzukommen, Sy. Sehr schwer.« Zelazo fuhr fort, sich seinen Fuß zu kratzen und sein Glas hin und her zu drehen. Kassler wartete mit steigender Anspannung ab, auf was Zelazo hinauswollte.
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»Nun«, fuhr Zelazo ernst fort, »unter dem Schutz der BlutHirn-Schranke existiert eine großartige Welt, die nur durch Zucker gespeist wird. Glukose. Das ist es. Der Saft des mentalen Lebens ist Glukose, Sy. Einfacher Zucker.« Kassler starrte Zelazo an. »Natürlich«, sagte Zelazo, »gibt es eine Homöostase im Gehirn. Überträgerstoffe werden erzeugt, gelagert, freigesetzt, reaktiviert. Die Gehirnzellen brauchen dazu Energie. Andere Chemikalien werden verwandt. Enzyme fließen umher, Transferasen, fügen der einen Chemikalie Molekülgruppen hinzu, nehmen sie einer anderen Gruppe weg. Zyklische Nucleotiden. Kinasen. Eine elegante Welt im Gleichgewicht. Homöostase, Sy, Homöostase.« Zelazo nahm einen weiteren Schluck von seinem Drink. »Kalzium ist der Schlüssel. Kalzium öffnet die Tore und schließt sie. Kalzium verändert die Struktur der Membranwand, formt die Moleküle um, die die Kanäle zum Öffnen der Tore blockieren, feuert ein Neuron ab, hält ein anderes zurück.« Zelazo setzte sein Glas ab und blickte Kassler an. »Wir unterscheiden uns nicht von einer Schnecke. Von einem Tintenfisch. Von einem Blutegel. Sie lernen genauso, wie wir das tun. Stoßen Sie einen Blutegel an, und nach einer Weile hört er auf, darauf zu reagieren. Er gewöhnt sich daran. Die Neuronen feuern nicht mehr. Kalzium. Das ist alles. Das Kalzium hat sich erschöpft. Die Kanäle öffnen sich nicht. Die Neuronen feuern nicht. Der Blutegel bewegt sich nicht.« Zelazo fuhr fort, Kassler anzublicken. »Sie können einen Blutegel sensibilisieren, Sy. Setzen Sie ihn einem schädigenden Stimulus aus, und der Blutegel lernt, ihn zu vermeiden, sich zurückzuziehen. Er wird jedesmal schneller reagieren. Kalzium. Das Kalzium hält die Kanäle länger offen. Es werden mehr Überträgerstoffe freigesetzt. Die Neuronen feuern schneller. Das Tier lernt auszuweichen. Es lernt. Es hat eine Erinnerung. Es weiß. Das Kalzium, das die Kanäle reguliert, ist einfach nicht mehr da. Oder es arbeitet mit Hochdruck. Und je nach dem, wie lange das schon geschehen -2 1 9 -
ist, so lange hält die Erinnerung an und so schwer ist eine Modifikation möglich.« Zelazo wandte sich wieder seinem Drink zu und nippte schweigend mehrere Sekunden daran. Dann sah er erneut Kassler an. »Ihre Frau wird Sie verlassen«, sagte er ruhig. Kassler spürte, wie ihn ein kaltes Schwindelgefühl überkam. »Sie hat einige sehr starke Gewohnheiten entwickelt, Sy. Und es gibt bei ihr einen mächtigen Trieb, diese zu bewahren.« Kassler verschränkte die Arme vor der Brust und rang um seine Beherrschung. »Die Seele hat ebenfalls eine Homöostase«, versuchte Zelazo zu erklären. »Vita ist es gewohnt, allein zu sein. Sie hat sich sensibilisiert, bei jedem Anzeichen von Nähe den Rückzug anzutreten. Es ist tief in ihr verwurzelt. Es ist fixiert. Es ist mittlerweile einprogrammiert. Sie kennt es nicht anders. Es hält ein gewisses Gleichgewicht aufrecht, das zu ändern für sie extrem schwierig wäre. Und...«, Zelazo blickte Kassler mitfühlend an, »... sie hat eine sehr starke Schranke, die nur das hereinläßt, was sie unbedingt braucht, und die es allem anderen, das sie möglicherweise selbst entfernt als bedrohlich ansieht, unmöglich macht, hereinzukommen.« Kassler begann zu zittern. »Die Energie, die benötigt würde, um all das zu ändern, ist nicht vorhanden«, schloß Zelazo leise. »Sie ist einfach nicht vorhanden.« Kassler saß zitternd in seinem Sessel. Die einzigen Bilder in seinem Bewußtsein waren die von Joshua und Joy. Er wollte etwas sagen, aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen, und so sprang er aus dem Sessel hoch und rannte aus Zelazos Haus. »Hier«, sagte Vita gleich, als Kassler das Haus betrat. »Das soll ich dir geben.« Und sie händigte ihm ein amtlich aussehendes Schriftstück aus. »Was ist es?« fragte Kassler, ohne das Papier anzusehen. -2 2 0 -
»Ein Räumungsbefehl.« Vita wiederholte den juristischen Ausdruck, den sie am Tag zuvor gelernt hatte, und vermied es, Kassler direkt anzusehen. »Es ist ein... was?« fragte Kassler ungläubig. »Du weißt schon - räumen.« »Nein, ich weiß es nicht. Was heißt das?« »Ein Räumungsbefehl, eine Aufforderung, auszuziehen.« Vita ver-mied den Augenkontakt. Kassler entfaltete das Schriftstück und las es mit wachsendem Zorn. Bevor er bis zur Mitte kam, warf er das Papier auf den Fußboden. »Sag mir nur, wieviel Zeit ich noch habe«, sagte er zu Vita. »Wieviel hast du mir eingeräumt?« »Achtundvierzig Stunden - wenn das Wochenende vorbei ist, muß du draußen sein«, sagte Vita langsam. Sie hatte Angst, daß Kassler wild werden und sie verletzen könnte. »Achtundvierzig Stunden! Warum? Schlage ich dich? Bin ich eine Gefahr für meine Kinder?« »Es ist üblich so, Sy. Reg' dich nicht so auf. Mein Anwalt meinte, daß es so besser wäre, für uns alle.« »Wohin soll ich gehen?« Kassler hob das Papier vom Boden auf und fing wieder an zu lesen. »Es gibt viele kleine Appartements. Du wirst eins finden.« Vita versuchte, ganz ruhig zu bleiben. »Was passiert, wenn ich es nicht tue?« Kassler fuhr fort, das Dokument zu überfliegen. »Was machen sie dann?« »Ich weiß nicht, was sie machen«, sagte Vita. »Sieh mal, Sy, einer von uns muß gehen, und ich habe zwei kleine Kinder.« »Ich auch«, stellte Kassler fest. »Aber ich bin ihre Mutter.« Vita proklamierte ihre hingebungsvolle Mutterschaft zum ersten von tausend Malen, die noch kommen sollten.
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»Nur im technischen Sinne«, erwiderte Kassler und nahm damit eine in Zukunft noch oft wiederholte Position ein. »Und ich bin ihr Vater. Ich bleibe hier.« »Wenn du nicht bis Sonntagabend um zehn Uhr draußen bist, rufe ich die Polizei, und du kommst ins Gefängnis. Lies, was auf dem Befehl ganz unten steht.« Vitas ruhiges Verhalten schwand dahin. »Ich dachte, du wüßtest nicht, was passiert, wenn ich innerhalb von achtundvierzig Stunden nicht ausziehen kann«, sagte Kassler, während er seine Jacke anzog und zur Tür ging. »Nun, es ist mir gerade wieder eingefallen!« schrie Vita, als Kassler die Tür hinter sich zuknallte. Kassler fuhr mehrere Stunden lang in der Gegend herum und versuchte, seine Möglichkeiten abzuschätzen. Er hatte das drängende Verlangen sich einen Rechtsanwalt zu nehmen und gegen den Räumungsbefehl anzugehen, aber als er über seine Unterhaltung mit Zelazo nachdachte, entschied er sich, auszuziehen. Zum Teil stützte sich diese Entscheidung auf die Hoffnungslosigkeit der Situation, so wie Zelazo sie erklärt hatte, aber nur zum Teil. Kassler hatte festgestellt, daß ihn, als sich sein Zorn zu legen begann, ein neues Gefühl überkam, das er in keiner Weise erwartet hatte. Er ertappte sich dabei, daß er vor Erleichterung nahezu überwältigt war. Zum erstenmal seit fast vier Jahren, führte er sich vor Augen, würde er nicht mehr jede Minute, die außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit lag, in einen deprimierenden Kampf mit Vita verstrickt sein. Kassler spürte, wie ihn eine wundervolle Ruhe umfing. Dann, als er die Gefühle der Erleichterung und Ruhe verarbeitet hatte, wurde er bemitleidenswert traurig, denn er war nicht imstande, die Gesichter seiner Kinder aus dem Bewußtsein zu verbannen. In diesem Mahlstrom von Gefühlen erreichte er spät in der Nacht das Phlegethon. Er war noch nicht bereit, nach Hause zurückzukehren, und ein anderer Ort, den er aufsuchen konnte, fiel ihm nicht ein.
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Gegen Mitternacht machte er einen Rundgang durch die Klinik und beobachtete, wie sich die gequälten Patienten im Schlaf herumwälzten und die Stille in regelmäßigen Abständen von den schrillen, entsetzlichen Schreien der geistesgestörten Männer und Frauen durchbrochen wurde, die diese in ihren Alpträumen ausstießen. Sein Weg endete in der Abteilung der Regressiven. Als er an Cheryls Raum vorbeikam, war sie wach, lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, und so trat er ein und setzte sich auf einen Stuhl neben ihr Bett. Das einzige Licht im Zimmer kam von der Glühbirne im Flur. Kassler konnte Cheryls kremfarbenes Gesicht gerade erkennen. Er blickte in ihre Augen, die weiterhin leer in den Raum über ihrem Bett starrten, und fragte sich, was für ein sanfter Mensch sich unter der Oberfläche verbergen mochte. »Ich verstehe es nicht«, begann Kassler eine einseitige Unterhaltung mit Cheryl, die nur von gelegentlichen Fragen des Pflegepersonals unterbrochen wurde, ob er seine Sitzung mit der Patientin nicht lieber am nächsten Morgen fortsetzen sollte, und mehrere Stunden dauerte. »Es kommt mir so vor, als seien erst ein paar Wochen vergangen, seit Vita und ich durch New York spaziert sind, und nur ein paar Tage, seit ich in der Vorlesung hinter ihr gesessen habe. Ich weiß nicht, was passiert ist.« Cheryl lag bewegungslos im Bett, drehte den Kopf weder nach links noch nach rechts, sondern starrte stets nur auf dieselbe Stelle in der leeren Luft über ihrem Bett. »Ich hatte eigentlich geglaubt«, vertraute Kassler seiner Patientin an, »daß es irgendwo Liebe gab, die rein und einfach war - golden. Wenn man sie besaß, dann glänzte sie. Es war eine wahre Freude. Ich weiß nicht - es war eine wundervolle Phantasievorstellung, aber in der Realität ist alles so kompliziert.« Um vier Uhr morgens stand Bea Chaikin in der Tür von Cheryls Zimmer, mit einer dicken Jacke über ihrem Nachthemd und darüber einen Mantel. -2 2 3 -
»Die Schwestern sind der Ansicht, daß Cheryl für heute nacht genug Therapie gehabt hat«, sagte sie sanft zu Kassler. »Warum holen wir uns nicht einen Kaffee aus dem Automaten und setzen uns in mein Büro, wenn Sie wollen?« Wie durch einen Nebel blickte Kassler zu Bea Chaikin hoch. Zuerst erkannte er sie gar nicht. Als er es dann doch tat, sah er auf seine Uhr. »Ich war mir nicht im klaren darüber, wie spät es ist«, sagte er, während er aufstand und Cheryls Raum verließ. »Nun«, lächelte Bea mit einem Gähnen, »Sie wissen, wie die Zeit verfliegt, wenn man sich so mit seinen Patienten amüsiert.« »Cheryl ist ein wunderbarer Mensch«, sagte Kassler zu Bea. Sie gingen den Flur hinunter. »Im Inneren befindet sich jemand, der förmlich funkelt, freundlich und hell. Ich kann durchdringen. Ich weiß es. Cheryl hat jemanden in sich, der etwas ganz Besonderes ist.« »Ja, so ist es«, stimmte Bea zu. Und sie steckten ihre Vierteldollarmünzen in den Automaten, entnahmen ihm ihre Pappbecher mit Kaffee und gingen in Beas Büro, um sich dort hinzusetzen. »Wissen Sie«, sagte Bea, während sie an ihrem dampfenden Kaffee schlürfte, »dies ist das erste Mal, daß ich mitten in der Nacht zu einem Therapeuten gerufen wurde. Üblicherweise beschränkt sich mein Bereitschaftsdienst am Wochenende auf die Patienten. Wollen Sie mir erzählen, was los ist?« Kassler fing am Ende an, mit dem Räumungsbefehl, und schloß zwei Stunden später mit dem Anfang, einem überwältigten Studenten, der das spektakulärste Mädchen anstarrte, das er jemals gesehen hatte. »Und jetzt?« Kassler stieß vor Resignation und Erschöpfung einer Seufzer aus. »Ich weiß nicht, wie ich in diese Klemme hineingeraten bin, und ich weiß auch nicht, wo ich von neuem anfangen soll. Ich brauche Hilfe, Bea.« »Ja«, sagte Bea, »als Angehörige eines der helfenden Berufe würde ich das auch meinen. Antworten Sie mit ja oder nein: Ist -2 2 4 -
Ihnen während der letzten paar Stunden, in denen Sie über die wundervolle Seele gesprochen haben, die sich in Cheryl verbirgt, der Gedanke gekommen, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, daß Sie dieses autistische Kind heiraten sollten?« Kassler sah Bea einfältig an. »Wenn auch nur für wenige Sekunden?« fragte er. »Die zählen«, nickte Bea. »Aber wieso?« fragte Kassler verwirrt. »Beantworten Sie sich diese Frage, und Sie haben einen guten Neuanfang«, sagte Bea, knautschte ihren Pappbecher zusammen, warf ihn in den Papierkorb und stand auf, um zu gehen. Kassler fand spät am nächsten Nachmittag ein brauchbares Appartement. Es war mit Möbeln von der Heilsarmee ausgestattet, relativ sauber, nicht weit von den Kindern entfernt und billig. Auf der kurzen Rückfahrt zu seinem früheren Zuhause rechnete sich Kassler aus, daß er, wenn er die Luxusgüter aus Vitas Haushalt und seinem eigenen strich, leben konnte, ohne den noch verbliebenen Rest des elterlichen Erbes angreifen zu müssen. Es würde nicht leicht sein und auch nicht viel Spaß machen, aber er hatte dieses Geld schon vor langer Zeit für die College-Erziehung der Kinder reserviert. Während des nächsten Jahres würde seine automatische Gehaltserhöhung eine kleine finanzielle Erleichterung bringen, überlegte er sich. Das Abendessen war chaotisch. Die Kinder bekamen die Spannung augenblicklich mit und verstärkten sie um ein Vielfaches, indem sie alle in Reichweite befindlichen Flüssigkeiten verschütteten, sich stritten, weinten und alle Anweisungen mißachteten, während Kassler und Vita den Versuch unternahmen, mit den einzelnen Krisen fertigzuwerden, ohne unmittelbar miteinander zu reden. »In Ordnung«, sagte Kassler schließlich. »Das Abendessen ist vorbei. Jetzt gehen wir alle miteinander in die Badewanne.« -2 2 5 -
»Hurra!« brüllte Joshua, sprang vom Tisch auf und verschüttete den letzten Rest seiner Milch. »Hurra!« ahmte Joy Joshua nach, ohne sich sicher zu sein, welchen Zweck die ganze Aufregung hatte. »Hurra, hurra«, wiederholte Kassler, während er Joy von ihrem Stuhl hob und ins Badezimmer ging, um das Wasser einzulassen. Das Baderitual hatte sich in den letzten paar Jahren nicht verändert, seit Joy aus den Windeln war. Kassler hatte festgestellt, daß seine Kleider weniger naß wurden, wenn er sie auszog und mit den Kindern in die Wanne stieg, und das tat er dann auch an diesem letzten Abend mit seiner Familie. »Rücken!« kommandierte Kassler, und jeder Badende nahm einen seifigen Waschlappen und wusch den Rücken seines Nachbarn. »Vorderseiten!« befahl Kassler, und die Prozedur wiederholte sich, wobei sich diesmal Mann und Kinder selber wuschen. »Zehen! Beine! Arme! Gesichter!« Kassler dirigierte die Waschvorgänge, bis der Zeitpunkt des großen Ereignisses erreicht war. »In Ordnung, Josh«, signalisierte er. »Penisse! « brüllte Joshua stolz. »Penisse!« unterstützte ihn Kassler. »Kein Penis!« kicherte Joy. »Kein Penis?« rief Kassler ungläubig aus. »Was ist mit Joys Penis passiert?« Josh sagte seinen Text mit angemessenem Erstaunen auf. »Wo ist er geblieben?« »Nach innen gewachsen«, blubberte Joy. »Bagina!« rief sie voller Entzücken und zeigte auf ihre Genitalien. »Bagina!« rief Joshua. »Alle Penisse und Baginen!« »Und Baginen!« echote Kassler, während die Kinder lachten und kicherten. »Manchmal glaube ich«, hatte Vita beim ersten Mithören des Dialogs bemerkt, »daß du diese freudianische Geschichte zu -2 2 6 -
weit treibst. Joy wird denken, daß sie eine Art Mißgeburt mit einem nach innen gewachsenen Penis ist.« »Nicht meine Erklärung«, erwiderte Kassler. »Sprich mit Josh. Er hat es herausgefunden. Wenn Joy erst mal ihre Vs richtig sprechen kann, kommt sie schon gut zurecht.« Als er an diesem Abend Joshuas Haar mit einem großen Handtuch abtrocknete, holte Kassler tief Luft und begann die Diskussion, vor der er sich den ganzen Tag gefürchtet hatte. Joy saß auf dem Fußboden und spielte mit ein paar Gummitieren. »Ich muß mit dir reden, Josh«, fing Kassler an. »Ich habe mein Zimmer aufgeräumt, Daddy«, protestierte Josh. »Ich habe es vor dem Abendessen getan.« »Es geht um etwas anderes.« Kassler fuhr fort, mit dem Handtuch über Joshuas dichtes blondes Haar zu fahren. »Um was?« fragte Joshua. »Um etwas sehr Schweres«, sagte Kassler. »Schwer für Daddy.« »Was heißt schwer?« Joshua war verwirrt. „Manchmal«, begann Kassler, »müssen die Menschen Dinge tun, die sie eigentlich gar nicht tun wollen.« »Wie mein Zimmer aufräumen.« Joshua begriff schnell. »Wie dein Zimmer aufräumen. Und noch viel schwerere Sachen.« Kassler suchte nach Worten. »Was denn?« fragte Joshua. Der ernste Ton, der aufgekommen war, veranlaßte Joy, mit dem Spielen aufzuhören und von der Badematte zu Kassler hochzublicken. »Nun, es ist so, Josh. Mami und ich kommen nicht mehr so gut miteinander aus.« »Mami ist wirklich wütend, nicht wahr?« fragte Joshua. »Mami ist unglücklich«, umschrieb Kassler den Sachverhalt. »Es macht nicht viel Spaß, jemanden um sich zu haben, den
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man nicht mag. So haben Mami und ich beschlossen, daß ich woanders hinziehen muß.« »Kann ich mitkommen?« frage Josh und blickte seinem Vater tief in die Augen. »Nein«, sagte Kassler sehr leise. »Ich hätte es gerne, wenn du mitkommst, aber ich fürchte, es geht nicht.« »Warum nicht?« fragte Joshua, während sich in seinen Augen Tränen bildeten. »Weil es so ist«, erklärte Kassler. »Das ist eine von den Sachen, die ich tun muß, obgleich ich sie eigentlich gar nicht tun will.« »Wann kommst du wieder nach Hause?« Josh blickte seinen Vater unter Tränen an. »Nun, das ist vorbei. Ich werde nie wieder mit dir und Joy und Mami zusammenwohnen. Du und Joy, ihr werdet mich oft sehen, aber ich habe jetzt eine neue Wohnung, in die ich morgen abend einziehe.« »Ich auch, Daddy«, rief Joshua, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Bitte, bitte, Daddy. Geh nicht ohne mich, bitte. Ich räume auch immer mein Zimmer auf. Ich streite mich nicht mit Joy. Ich verschütte nichts mehr. Ich werde ganz brav sein, das verspreche ich. Ich verspreche es, ich verspreche es.« Joshua verbarg den Kopf an der Brust seines Vaters. Joy stand vom Boden auf und ging zu ihrem Vater hinüber. Joshua spürte ihre Hand in seinem Rücken und drehte sich um. »Daddy geht weg, Joy«, erklärte er schluchzend. »Er kommt nie wieder nach Hause. Er will uns nicht mitnehmen.« »Ich kann es nicht, Josh. Man erlaubt es mir nicht.« Kassler wollte Joshua helfen, die Sache zu verstehen. »Ich werde so brav sein, Daddy«, weinte Joshua. »Du wirst es sehen Ich werde ganz brav sein. Joy auch. Nicht wahr, Joy?«
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Joy blickte den weinenden Joshua an, sah dann in die tränenfeuchten Augen ihres Vaters, und begann ebenfalls zu weinen. Kassler breitete die Arme aus und zog seine Kinder an sich. »Es wird alles gut werden«, sagte er wieder und wieder, während er die Kinder fest an sich drückte. Die zweite Nacht hintereinander verbrachte Kassler ohne Schlaf, diesmal, um seine Sachen zusammenpacken zu können und alle Beteiligten, sich selbst eingeschlossen, so wenig wie möglich zu stören. Als die Kinder aufwachten, war Kassler fertig. Die nächsten paar Stunden waren fast völlig von anhaltendem Weinen ausgefüllt. »Französische Eier«, weinte Joshua. »Bitte mach mir Französische Eier, bevor du gehst.« »Framösische Haferflocken«, weinte Joy. »Gleich fertig - Französische Eier und Framösische Haferflocken«, weinte Kassler. Als Kassler den letzten Karton in seinem gemieteten Lieferwagen verstaute, saß selbst Vita zu Kasslers Erstaunen weinend auf der Vordertreppe. »Das verstehe ich nicht«, sagte Kassler, als er die Tür des Fahrzeugs schloß. »Über was weinst du?« Vita blickte zu Kassler hoch, während ihr die Tränen mit einer emotionalen Aufrichtigkeit aus den Augen strömten, die Kassler bei ihr noch nie erlebt hatte. »Weil es traurig ist, Sy, darum«, sagte Vita mit eine Mischung aus Bedauern und Frustration. »Weil es der traurigste Tag meines Lebens ist und es nichts gibt, was man tun kann, um die Sache für irgendeinen von uns zu ändern.« Dann, völlig unerwartet, schlang Vita ihre Arme um Kassler und schluchzte.
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»Es tut mir leid, Sy«, sagte sie unter Tränen. »Es tut mir wirklich leid. Ich danke dir dafür, daß du dir soviel Mühe gegeben hast. Es tut mir leid, daß das passieren mußte.« Kassler griff nach unten und nahm Joshua auf den einen und Joy auf den anderen Arm. Beide weinten zum Herzerweichen. »Vergiß mich nicht, Daddy«, wiederholte Joshua weinend immer wieder. »Bitte, vergiß mich nicht.« »Sei nicht albern«, sagte Kassler und versuchte, sein eigenes Weinen unter Kontrolle zu bekommen. »Ich sehe dich in ein paar Tagen wieder. Ich rufe heute abend an.« Vita stand neben Kassler und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Es war nicht alles schlecht, oder?« fragte sie hoffnungsvoll. »Natürlich nicht.« Kassler versuchte, sie alle zusammenzuhalten. »Es war nicht alles schlecht.« Mehrere Minuten lang standen alle vier so dicht beieinander, wie sie nur konnten. Dann küßte Kassler seine Kinder, stellte sie auf das Pflaster, küßte Vita instinktiv sanft auf die Wange, stieg in seinen Lieferwagen, und die Kassler-Familie hörte auf zu existieren. Kassler war gerade aus der Ausfahrt gefahren, als Vita zu ihm herübergelaufen kam. »Ich habe vergessen, dir das zu geben«, sagte sie, immer noch mit Tränen in den Augen, und händigte ihm einen großen weißen Umschlag aus, auf dessen Vorderseite sein Name in ihrer Handschrift stand. »Öffne ihn nicht vor heute abend, ja?« bat sie. »In Ordnung«, stimmte Kassler zu. Er stopfte den Umschlag in die Tasche, winkte seinen schluchzenden Kindern zum Abschied zu und fuhr los, wobei er durch seine Tränen kaum die Straße erkennen konnte. Am Abend, nachdem der Lieferwagen entladen und zurückgegeben worden war, und im Anschluß an ein tränenreiches Telefonat mit Joshua, erinnerte sich Kassler an den Briefumschlag. -2 3 0 -
Er hatte eine persönliche Mitteilung von Vita erwartet, mit der sie an die guten Zeiten erinnerte und die schlechten bedauerte. Das war es nicht. Es war ein weiteres Gerichtsdokument mit dem Titel ›Einstweilige Unterhalts- und Besuchs -Anordnung - Ex Parte!! Ex Parte bedeutete, wie Kassler bald erfahren würde, ohne Anhörung der Partei, gegen die die Anordnung erlassen wird. Der erste Absatz legte Kassler auf, siebzig Prozent seines Gehalts auf wöchentlicher Basis an Vita zu zahlen. Der zweite und letzte Absatz gestattete ihm den Besuch seiner Kinder lediglich sonntags von elf Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Bis er schließlich von der Erschöpfung des Umzugs und zweier schlafloser Nächte überwältigt wurde, wanderte Kassler in dieser Nacht in seinem kleinen Zimmer umher und heulte so voller Qual, als hätte man ihm das Herz aus der Brust geschnitten.
3 »Es wird nicht leicht werden«, sagte Kasslers Anwalt Marty Myers, ein makellos gekleideter Mann Anfang fünfzig mit dichtem, roten, makellos gekämmten Haar. Marty Myers war von Bernie Kohler empfohlen worden, der in Citadel jeden Rechtsberater zu kennen schien. »Marty ist Ihr Mann«, sagte Bernie zu Kassler, als er am ersten Abend nach Kasslers Ausweisung die Geschichte beim Bier hörte. »Er ist absolut rücksichtslos. Zivil, aber rücksichtslos.« »Ich will Vita ja nicht auf den elektrischen Stuhl bringen«, sagte Kassler, »sondern lediglich mehr Besuchszeit bei meinen Kindern.« -2 3 1 -
»Warten Sie nur ab«, riet ihm Bernie. »Das ändert sich. Zu gegebener Zeit wird Ihnen der elektrische Stuhl als eine viel zu kurze Vergeltungsmaßnahme vorkommen. Ein Schlag, und alles ist vorbei. Sie werden sich für Vita etwas wünschen, das unerhört schmerzhaft ist und...«, Bernie zog die Worte ganz lang, »... sehr... viel... Zeit... in... Anspruch... nimmt.« Jetzt saß Kassler in Marty Myers Büro und forschte in den grünen Augen des Anwalts nach Anzeichen von Sadismus. »Immerhin ist Sullivan ein fairer Richter«, sagte Marty zu Kassler. »Wenigstens insoweit, als Richter überhaupt fair sind.« Oh, Scheiße, dachte Kassler, ein irischer Richter - den brauche ich gerade. Marty holte ein goldenes Zigarettenetui aus seiner Westentasche, klappte den Deckel auf und zog eine Filterzigarette heraus. »Es wird natürlich meistens von der Doktrin des ›zarten Kindheitsalters‹ ausgegangen, nach der kleine Kinder besser bei der Mutter aufgehoben sind, aber ich habe schon erlebt, daß Sullivan Kinder ihrer Mutter weggenommen hat, wenn er glaubte, daß sie beim Vater besser aufgehoben wären.« »Ich verlange nicht das Sorgerecht.« Marty Myers fuhr mit dem Finger über den Rand seines Zigarettenetuis und blickte Kassler ungläubig an. »Sie wollen nicht das Sorgerecht haben?« fragte er, »Was mache ich mit zwei kleinen Kindern? Ich arbeite den ganzen Tag und oft auch abends. Die halbe Zeit habe ich Bereitschaftsdienst und laufe ein paarmal in der Woche mitten in der Nacht zur Klinik hinüber. Wer paßt da auf die Kinder auf?« »Sie wollen das Sorgerecht nicht?« wiederholte Marty. »Es ist doch kein Verbrechen, das Sorgerecht nicht haben zu wollen, oder?« »Wohl nicht.« Marty dachte über die Situation nach.
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»Ich will einfach die Wochenenden mit meinen Kindern verbringen. Von Freitag nach dem Abendessen bis Sonntagabend wäre gut.« »Wenn Sie das Sorgerecht hätten...« »Aber ich will das Sorgerecht nicht.« »Sie glauben nicht, daß Väter genauso gute Eltern sein können wie Mütter?« »Manche Väter sind es. Manche Väter sind vermutlich die besseren.« Marty Meyers klappte sein Etui zu und klopfte mit dem Ende der Zigarette auf den Deckel. »Letztes Jahr«, sagte er, »hatte ich diesen Fall - ein Mann in Ihrem Alter, drei Kinder, die bei der Mutter lebten, das älteste war fünf. Die Mutter war ganz einfach nicht der beste Elternteil für diese Kinder. Der Vater bekam die Kinder, alle drei. Die Mutter wußte gar nicht, wie ihr geschah. Wir gewannen mühelos.« »Ich will das Sorgerecht nicht, Marty. Ich bin sicher, daß Sie es erreichen würden, wenn ich wollte...« »Sie haben recht. Ich würde es erreichen.« »Die Sache ist nur die, daß ich das Sorgerecht nicht verlange - nur eine vernünftige Besuchszeit.« »Das ist bei dem Fall ein kritischer Punkt, Sy.« »Vielleicht wenn sie älter sind, wenn beide den ganzen Tag in der Schule sind.« »Je länger sie bei der Mutter bleiben, desto schwerer wird es, sie später zu bekommen.« Marty Myers war über Kasslers Absichten noch immer keineswegs glücklich. Er entzündete die Zigarette mit dem verzierten silbernen Feuerzeug, das auf seinem Mahagonischreibtisch stand, lehnte sich in seinem großen roten Ledersessel zurück und dachte schweigend rauchend nach. »Seit der Geburt der Kinder«, sagte Kassler zu Marty Myers, während dieser paffte und sann, »habe ich mich damit verrückt -2 3 3 -
gemacht, ein berufliches Leben zu führen und gleichzeitig für die Kinder zu sorgen. Ich bin erschöpft, Marty. Ich möchte mich in der Woche gerne darauf konzentrieren, für den Lebensunterhalt von uns allen gutes Geld zu verdienen, und am Wochenende will ich die Kinder bei mir haben. Ich brauche eine Ruhepause.« »Was ist mit den Kindern?« »Sie werden zurechtkommen. Sie sind bestimmt nicht schlechter dran als jetzt - wahrscheinlich besser, weil Vita nun nicht mehr mit unserer Beziehung fertig werden muß. Wenn Vita tot wäre oder abhauen würde, dann müßte ich die Kinder nehmen und mich damit abfinden. Aber ich muß nicht, und deshalb tue ich es nicht.« »Sie werden es nicht vermissen, die Kinder um sich zu haben sie morgens aufstehen zu lassen, beim Frühstück zu sehen, abends ins Bett zu bringen, ihnen Geschichten vorzulesen, sie zu trösten, wenn ihnen etwas weh tut, mit ihnen herumzualbern...« »Um Himmels willen, Marty, ich gebe sie doch nicht ins Waisenhaus.« »Ich bin seit dreißig Jahren in diesem Geschäft«, sagte Marty Myers mit großer Offenheit, »und betrachte mich als ausgezeichneten Menschenkenner. Ich kann erkennen, daß sie diese Kinder sehr lieben.« Kassler blickte Marty Myers an und nickte betrübt. »Das ist eine Tragödie, Sy. Ihre Frau hat Ihnen die Hölle bereitet. Alles was Sie mir erzählt haben, macht deutlich, daß Vita eine sehr verrückte Frau ist. Ich kann es natürlich nicht garantieren, aber ich glaube doch, daß wir ihr alles wegnehmen könnten, was für sie von Bedeutung ist.« Kassler stand auf und blickte auf Marty Myers hinab, der an seiner Zigarette zog und hinter dem getäfelten Schreibtisch in seinem Drehsessel hin und her schaukelte. »Stellen Sie den Antrag«, sagte er, tief Luft holend, »daß der Vater die Kinder an jedem Wochenende von neunzehn Uhr -2 3 4 -
freitags bis neunzehn Uhr sonntags sehen darf. Können Sie das tun?« »Wenn Sie es wollen.« Marty Myers zuckte die Achseln. »Ich will es«, sagte Kassler und ging, bevor er anderen Sinnes wurde. Kassler hatte Szlyck am zehnten Tag seines Aufenthalts im Phlegethon entlassen, genau wie von Zelazo befohlen. »Ich komme jetzt klar«, sagte Szlyck zu Lupa, als sie wieder in ihrem kunstvollen Heim in der Eighth Avenue angekommen waren, einer der exklusivsten Gegenden von Citadel. Szlycks Passion für die Klassik hatte ihn veranlaßt, auf einer Klippe, von der aus man auf das ausgedehnte Netz der städtischen Abwässergräben hinabblicken konnte, eine fast naturgetreue Imitation eines bedeutenden italienischen Renaissance-Hauses zu errichten, das selbst einst die Imitation eines bedeutenden griechischen Hauses gewesen war. ›Bolge‹, nannte er sein Schlüsselhaus, wenn Sie Szlycks andere Bezeichnung entschuldigen wollen. Lupa war nicht beeindruckt, weder von dem imposanten Palazzo noch von seinem Eigentümer. „Du magst vielleicht klarkommen«, sagte sie zu Szlyck, als sie in der kühlen Feuchtigkeit ihres großen Eßzimmers saßen und sich mit einer Tasse Tee wärmten, »aber ich nicht. Ich will die Scheidung.« »Ich weiß«, sagte Szlyck mitfühlend. »Du warst eine großartige Frau, daß du es so lange mit mir ausgehalten hast.« »Oh, Scheiße«, sagte Lupa, »komm mir nicht so, Leo.« »Ich verstehe es ganz bestimmt, daß du mich verlassen willst«, fuhr Szlyck, unbeeindruckt von ihrer Frustration, fort. »Es ist nicht leicht gewesen für dich. Ich habe dir das Leben vermiest, ich weiß. Andauernd rufen Leute an, die wütend auf mich sind, weil ich irgend etwas gemacht oder nicht gemacht habe. All das Geschrei über deine Fehler, die tatsächlich ich schuld bin. Die Versprechen, die ich gebrochen habe. Und ich weiß, daß ich auch im Bett nicht gut bin.« »Bitte, hör auf, Leo«, sagte Lupa dumpf. -2 3 5 -
»Diesmal haben sie mir neue Medikamente gegeben, Lupa. Es wird jetzt besser werden. Für uns beide.« »Ich begreife nicht, wie er das bei mir schafft«, sagte Lupa zu mir in meinem Heim in dem verliesartigen Souterrain von Szlycks Haus. »Es ist schrecklich«, stimmte ich zu. »Es ist so, als ob er irgendeine eigenartige Macht über mich besitzt.« Lupa ging frustriert auf und ab. »Ich habe das Gefühl, dafür verantwortlich zu sein, daß du in diese böse Lage geraten bist«, sagte ich. »Jedesmal, wenn ich mich entschlossen habe, ihn zu verlassen«, setzte Lupa ihren Gedankengang fort, »reden wir miteinander, und das Ende vom Lied ist, daß ich beschließe, ihm eine letzte Chance zu geben. Es ist so, als ob er mich hypnotisiert oder so was. Was ist das für eine Macht, die er über hat?« »Ich habe das Gefühl, dafür verantwortlich zu sein, daß du in diese böse Lage geraten bist«, sagte ich. »Zum Schluß denke ich immer: Was ist so schlimm an diesem Mann? Ich könnte einen viel schlimmeren kriegen. Vielleicht wird er sich ändern. Er sagt, daß er es tun wird. Er hat neue Medikamente oder einen neuen Job, bei dem er nicht so unter Druck steht, oder eine neue Sicht der Dinge oder... ach, was weiß ich.« Lupa schrie vor Verbitterung. »Ich habe das Gefühl, dafür verant...« »Nun«, unterbrach mich Lupa, »wenigstens bist du da. Solange wir zusammen sind, spielt alles andere wirklich keine Rolle.« »Du hast unser kleines Gespräch, das wir vor einer Weile über die Gnädigste geführt haben, nicht vergessen?« erkundigte ich mich sanft. »Nein«, seufzte Lupa, »ich habe kein Wort von dem, was du über deine ›Gnädigste‹ erzählt hast, vergessen. Hat sie, verdammt noch mal, keinen Namen?«
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»Hm, ja und nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Sie hat mir ihren richtigen Namen nie gesagt. Es gibt da diesen kleinen Scherz zwischen uns. Ein Kosename hat sich daraus entwickelt, weißt du, einer dieser Ausdrücke der Zärtlichkeit, die haften bleiben.« »Ich bin mir nicht sicher, daß ich ihn hören will.« »Ich nenne sie Dame Fortune.« »Sehr witzig«, sagte Lupa gereizt und ging, um die Steintreppe zu den Wohnräumen der Szlyck-Bolge emporzusteigen. Während er auf den Gerichtstermin wartete, stürzte sich Kassler in seine Arbeit, aber jeder Abend, an dem er in sein leeres Appartement zurückkehrte, wurde ihm unerträglicher. Nach mehreren Tagen fing Kassler an, nachts durch die Flure des Phlegethon zu wandern, um mit der Einsamkeit fertig zu werden. Es war eine neue und nicht unangemessene Erfahrung für Kassler. Er schritt durch die Korridore, an deren Wänden unter Drogen stehende Patienten entlangschlichen, seufzten und bizarre Litaneien vor sich hin sangen. In einigen Gängen huschten aufgeregte Männer und Frauen von Schatten zu Schatten und blickten sich um, als würden sie gejagt. In wieder anderen Fluren saßen Patienten schaukelnd auf dem kalten Linoleumfußboden oder eilten an Kassler vorbei, als würde er gar nicht existieren. Kassler hatte das Gefühl, sich in einer ausgedehnten Unterwelt von Katzen zu befinden, von schleichenden, jagenden, huschenden Katzen, die keinen Augenkontakt aufrechterhalten konnten, während sie durch die Flure tigerten. Und die Herrschaft über dieses jammervolle Katzenpandämonium übte der König der Tiere selbst aus, der goldmähnige Sam Zelazo, dessen riesenhafte Gestalt Kassler in regelmäßigen Abständen durch die Korridore schleichen sah. Vielleicht, überlegte Kassler, war der Löwe hinter der Beute her, einer süßen verängstigten, schizophrenen Maus, die er zu Tode quälen konnte, um mit ihren Überresten in der Dunkelheit von -2 3 7 -
Phlegethons Kellern jene Spiele zu spielen, die er zu spielen pflegte. Seit seiner Trennung von Vita hatte er nicht mehr mit Zelazo gesprochen und machte auch jetzt keine Anstalten, ihm nachzugehen, wenn er ihn in den Gängen sah. Kassler hielt Zelazo zumindest mitverantwortlich für Vitas Entscheidung, und da sich Zelazo dessen sehr wohl bewußt war, gingen sich die beiden Männer aus dem Weg, um eine Begegnung zu vermeiden. Dann, als zwei Wochen vergangen waren, kam Zelazo zu der Ansicht, daß Kassler genug Zeit gehabt hatte, um sich abzukühlen, und ließ ihn eines späten Abends in sein Büro kommen. »In Ordnung, Sy«, begann er ruhig. »Was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen?« »Ihr sagen, daß sie bleiben soll«, antwortete Kassler, während er Zelazos Haut studierte, die im fluoreszierenden Licht der Schreibtischlampe grün auszusehen schien. »Ihr sagen, daß sie versuchen soll, die Dinge in Ordnung zu bringen.« »Hätten Sie das Ihren Patienten geraten?« Zelazo schlüpfte in die Rolle von Kasslers Vorgesetztem. Kassler zuckte entmutigt die Achseln. »Nein«, gestand er. »Wohl nicht.« »Ich auch nicht«, pflichtete ihm Zelazo bei. Kassler blickte sich in dem abgedunkelten Büro um und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Ich weiß nicht, wo es falsch gelaufen ist«, sagte er zu Zelazo, der bewegungslos und majestätisch in dem großen Sessel hinter seinem Schreibtisch saß. »Wenn ich das herausfinden könnte, wüßte ich, wo ich anfangen muß, um es in Ordnung zu bringen.« »Nirgendwo«, sagte Zelazo und atmete mehrmals tief ein und aus. »Was?«
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»Nirgendwo«, wiederholte Zelazo langsam. »Es ist nirgendwo falsch gelaufen. Es hat von Anfang an nicht gestimmt. Es gibt keinen Punkt, an dem Sie anfangen könnten, es in Ordnung zu bringen.« »Es muß ihn geben«, beharrte Kassler. »Warum?« Zelazo fuhr fort, die Situation ganz ruhig zu analysieren. »Wo ein Wille ist...«, versuchte Kassler. »Wollten Sie das?« Zelazo ruckte in seinem Sessel herum und blickte Kassler an, wobei sich seine Muskeln anspannten, als hätte er vor, sein Gegenüber anzuspringen. »Wollten Sie den Rest Ihres Lebens damit verbringen, gegen eine Frau zu kämpfen, die panische Angst vor Nähe und Engagement hat? Hätte Sie das glücklich gemacht?« »Die Kinder...«, fing Kassler an. »Verstehe. Sie wollten, daß die Kinder in einem Haus aufwachsen, wo sie die Beziehung zwischen Mann und Frau in dieser Weise erfahren können?« »So einfach liegen die Dinge nicht«, wandte Kassler ein. »Nein, sicherlich nicht«, stimmte Zelazo zu. »Aber im Endresultat sieht es so aus, daß es bei Vita jetzt einprogrammiert ist.« »Verdammt«, protestierte Kassler. »Muß absolut alles mit der Neurochemie erklärt werden?« »Ja«, sagte Zelazo, ohne zu zögern. »Letzten Endes ja. Schach?« Zelazo hob bei der Einladung seine buschigen Augenbrauen. »Sie werden sich besser fühlen.« Kassler blickte seinen grünhäutigen Mentor sekundenlang schweigend an. »Möglich«, stimmte er schließlich zu. »Gut«, sagte Zelazo, während er aus einer Schreibtischschublade einen Beutel mit hölzernen Schachfiguren und ein Faltbrett hervorholte. »Kampf übt immer einen beruhigenden Effekt auf das Nervensystem aus.« -2 3 9 -
Marty Myers stand vor dem Richter und erklärte ihm, daß die Kinder mehr Kontakt zu ihrem Vater brauchten, der lange Zeit ihre erste Bezugsperson gewesen war. Vitas Anwältin Doris Huber, eine schlanke und attraktive Brünette in den Dreißigern, erklärte dem Richter, daß sonntägliche Besuche für einen Vater üblich sowie fair und vernünftig wären. Richter Sullivan, ein kahl werdender Mann in den Vierzigern mit dicker Brille und rundem, rötlichem Gesicht fragte, ob es in bezug auf Scheidung, Unterhalt und Besuchszeiten zu einem Termin kommen würde. Als beide Anwälte bestätigend nickten, gab Richter Sullivan bekannt, daß er Kasslers Antrag in Betracht ziehen würde, aber dazu neige, die Angelegenheit insgesamt zu regeln. Dann dankte er den Anwälten und rief den nächsten Fall auf. Vita, die Kassler an einem langen Tisch genau gegenüber gesessen und ihn während der kurzen Verhandlung angefunkelt hatte, lächelte ihrer Anwältin zu, funkelte Kassler noch einmal an und ging. »Wieso bekam ich keine Gelegenheit, etwas zu sagen?« fragte Kassler Marty Myers, als sie den Flur des Gerichtsgebäudes hinunterschritten. »Dies war nur eine Antragstellung«, erklärte Marty. »Dabei reden nur die Rechtsvertreter. Bis zum Haupttermin werden keine Beweise erhoben, Dann können Sie die ganze Geschichte erzählen.« »Was bedeutet ›in Betracht ziehen‹?« fragte Kassler seinen Anwalt. »Es bedeutet, daß er darüber nachdenken wird.« »Wie lange?« »Nun, er sagt, daß er die Angelegenheit insgesamt regeln will«, erklärte Myers, als sie im kalten Märzwind draußen auf der Treppe standen. »Er wird alles gleichzeitig verhandeln Unterhalt, Besuchszeiten, Sorgerecht, die Scheidung - und
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seine Entscheidung fällen, wenn ihm alle Tatsachen und Umstände bekannt sind.« »Nun«, sagte Kassler, »das hört sich fair an, schätze ich. Wann wird die Hauptverhandlung stattfinden?« Marty Myers wandte Kassler das Gesicht zu und blickte ihm mit einer Mischung von Mitgefühl und Frustration in die Augen. »Der Terminkalender des Gerichts ist sehr gedrängt, Sy«, sagte er. »Es wird vermutlich ein paar Jahre dauern.« Kassler hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Er war auf die Entscheidung des Richters in keiner Weise vorbereitet gewesen und stellte fest, daß seine Bemühungen, sich darauf einzustellen, während der langen, ruhelosen Nächte von entsetzlichen Alpträumen und tagsüber von erschreckenden Phantasievorstellungen begleitet wurden. »Mir kommen Gedanken, die mich zu Tode ängstigen«, gestand er Zelazo am Ende ihrer Kontrollsitzungen. »Mehrmals habe ich mich schon bei der Überlegung ertappt, wie einfach es wäre, in Vitas Haus zu gehen, wenn alle schlafen - ich habe noch immer den Schlüssel -, und jedem die Kehle durchzuschneiden. Vita, meinen Kindern, mir selbst...« Kassler schüttelte sich und bekam Übelkeitsgefühle, als er die Phantasievorstellung zum besten gab, fuhr jedoch fort. »Es würde vermutlich nicht länger als ein paar Sekunden dauern. Meine Kinder umbringen? Josh? Joy? Ich liebe sie. Wie kann ich so etwas auch nur denken?« »Kinder machen uns immer wieder bewußt, wie zerbrechlich das Leben ist«, interpretierte Zelazo. »Sie haben einen gewaltigen Verlust erlitten. Sie sind zornig. Und traurig. Im Laufe der Zeit werden Sie sich daran gewöhnen. Wir alle tun es.« Zelazo sagte es mit dem Augenausdruck eines Menschen, der sich an ähnliche Erfahrungen in seiner eigenen Vergangenheit erinnerte. »Es macht mir Angst«, wiederholte Kassler und blickte Zelazo an, als erwarte er eine Garantie. »Woher weiß ich, daß ich es nicht doch tun werde?« -2 4 1 -
»Sie werden es nicht tun«, sagte Zelazo und beendete ihre Zusammenkunft, ohne weitere Versicherungen abzugeben. In den Wochen nach dem Gerichtstermin wuchs Kasslers Einsamkeit und er verbrachte seine Freizeit damit, durch Citadel zu wandern, von der First Avenue bis zur Ninth Avenue, und dabei über seine unglückliche Lage nachzudenken. Der Wind ging ihm durch und durch. Sand füllte seine Nase und seinen Mund, so daß er kaum atmen konnte. Aber Kassler schlang seinen Mantel eng um sich und ging weiter, wobei er die Bestrafung durch die Natur als irrelevante Fortsetzung der Grausamkeit seines eigenen Lebens hinnahm. Am Ende jeden Rundgangs machte Kassler zitternd und traurig vor dem Haupttor der Stadt halt und stellte Betrachtungen über die Worte an, die jemand als Kommentar zu Mr. Nixons großem Traum mit schwarzer Sprayfarbe oben an das Tor geschrieben hatte: Göttliche Allmacht, ursprüngliche Liebe und höchste Geisteskraft haben mich hier erbaut. Schließlich fing unser junger Zarathustra damit an, diesen ernsten Ausflügen ebenso freudlose Besuche in den verschiedensten Kontaktlokalen anzuschließen, wo er andere einsame und verzweifelte Individuen zu kurzen sexuellen Begegnungen aufzugabeln pflegte. Er hatte es eigentlich nicht so geplant, aber als er eines Abends seinen Kummer in einer Bar ertränkte, von der er gar nicht wußte, daß sie solchen Zwecken diente, wurde er von einer nicht unattraktiven Frau im Zuge des neuen Geists der weiblichen Emanzipation angesprochen und gefragt, ob sie sich nicht zu ihm setzen dürfe. Um der Gesellschaft willen erklärte sich Kassler einverstanden, und nachdem die Dame mehrere Stunden lang seinem Weltschmerz zugehört hatte, nahm sie sehr freundlich seine Hand und machte ihm ein bedingtes Angebot. »Sieh mal«, sagte sie, »ich würde es schön finden, wenn wir jetzt in deiner Wohnung ins Bett gehen, aber du müßtest mir eins versprechen, ja?« -2 4 2 -
Kassler hörte mit wachsendem Interesse zu. »Keine große Schau, um mir deine Männlichkeit zu beweisen, ja? Ich bin mir sicher, daß du deine Frau sehr geliebt hast und daß es eine große Schweinerei von ihr war, dich rauszuschmeißen und dein Ego anzuknacken. Aber du kannst mir glauben, daß du noch immer ein Mann bist, denn sonst würde ich mich gar nicht mit dir einlassen. Es tut mir leid, wenn ich taktlos bin, aber ich glaube nicht, daß ich noch mal einen Burschen ertragen kann, der mich auf Teufel komm raus bumst, damit er seine Maskulinität unter Beweis stellen kann, ja?« Und so kam es, daß sich Kassler in eine intensive, aber kurze Folge intimer Beziehungen mit völlig Fremden stürzte. Die Intensität war darauf zurückzuführen, daß Kassler ein Ventil für die Qual in seinem Herzen brauchte. Die Kürze dieses Abschnitts in seinem Leben war auf Leo Szlyck zurückzuführen, der abermals im Phlegethon aufgenommen wurde. »Ich möchte Sie um einen persönlichen Gefallen bitten«, sagte Kassler am Morgen nach Szlycks Ankunft, als er und Zelazo einen Rundgang durch die paranoid-schizophrene Abteilung machten. »Leo Szlyck ist letzte Nacht wieder aufgenommen worden, und ich möchte mit ihm arbeiten. Ich brauche einen herausfordernden, interessanten Patienten. Ich glaube, wir kommen gut miteinander zurecht. Ich kann dem Mann helfen.« Zelazo angelte nach dem Schlüssel, um die Tür der Station zu öffnen. »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, daß ich den Mann hier nicht wieder haben will«, sagte er brüsk. »Es war spät in der Nacht. In der Aufnahme saß ein Neuer. Er wußte nicht Bescheid.« »Ich werde über ihn keine Kontrollbesprechungen mit Ihnen führen. Bei allen anderen, aber nicht bei Szlyck.« Zelazo fand den richtigen Schlüssel, und die Tür öffnete sich.
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»Ich habe Bea Chaikin heute morgen gefragt, und sie war einverstanden«, sagte Kassler. Die beiden Männer gingen schweigend an den Schizophrenen vorbei, die voller Argwohn den Flur bevölkerten. »Was sagen Sie also?« fragte Kassler abermals. »Solange ich kein einziges Wort über ihn höre, liegt es an Ihnen«, gab Zelazo seine Zustimmung. »Aber er ist ein gefährlicher Mann, Sy. Er wird Sie vernichten.« »Er ist ein Teddybär.« Kassler lächelte Zelazo an, während er sich anschickte, in entgegengesetzter Richtung weiterzugehen. »Passen Sie nur auf«, rief Zelazo ihm laut nach. Dutzende von Blicken huschten nach links und rechts. »Passen Sie auf, passen Sie auf, passen Sie auf«, echote ein paranoider Patient nach dem anderen, als er den Korridor entlangging. Leo Szlyck war fast völlig unzurechnungsfähig, als er mit Kassler zusammentraf. »Die kosmologische Konstante«, antwortete er auf Kasslers Fragen. »Was heißt das?« »Warum ich hier bin«, murmelte Szlyck, während er nervös herumhampelte. »Die nackte Singularität. Ich habe sie gesehen.« »Wissen Sie, wer Sie sind?« fragte Kassler. »Natürlich«, antwortete Szlyck. »Satans Engel.« »Wissen Sie, welcher Tag heute ist?« versuchte es Kassler abermals. »In der Relation zum Großen Knall ist das schwer zu sagen. Wir alle werden beim großen Bersten braten. Nicht so lange. Wir werden alle beim Offenen Ende erfrieren. Viel länger. Was ist Ihnen lieber? Offenes Ende? Oder Großes Bersten?« Szlyck bot Kassler seinen ganz persönlichen Weltuntergang an. Kassler blickte auf Szlycks Aufnahmebericht.
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»Als Ihre Frau Sie letzte Nacht herbrachte, waren Sie ein sehr niedergeschlagener Mann, Dr. Szlyck. Ihre Frau fürchtete, daß Sie sich etwas antun könnten. Wie fühlen Sie sich jetzt?« Die Erwähnung Lupas brachte Szlyck, zumindest vorübergehend, in die Realität zurück. »Sie verläßt mich«, sagte er. »Ihre Frau verläßt Sie?« fragte Kassler. »Hat sie Ihnen das gesagt?« »Sie tut es. Ich weiß es. Sie müssen mit ihr reden. Ich werde wieder in Ordnung kommen. Sagen Sie ihr das.« »Sie wollen, daß ich mit Ihrer Frau zusammentreffe?« fragte Kassler. »Ich soll ihr sagen, daß es Ihnen wieder besser gehen wird? Ist es das, was Sie wollen, Dr. Szlyck?« »Ja. Reden Sie. Mit ihr. Bitte.« »Aber wir kennen Ihr Problem doch nicht, nicht wahr? Es ist schwer, ihr zu sagen, daß es Ihnen wieder besser gehen wird, solange wir Ihr Problem nicht verstehen, meinen Sie nicht auch?« »Möglich«, sagte Szlyck düster. »Vielleicht sollten Sie mir mehr über Ihre kosmologische Konstante erzählen. Das könnte ein guter Anfang sein.« »Wenn Sie es mir versprechen«, beharrte Szlyck. »Reden Sie mit Lupa. Der Name meiner Frau ist Lupa. Treffen Sie sich mit ihr. Bitte.« »Ich versuche immer, mit den Familien meiner Patienten zu sprechen«, beruhigte Kassler Szlyck. »Sie werden Lupa treffen?« flehte Szlyck. »Jetzt?« »Später.« »Bald. Sie werden Lupa bald treffen. Reden Sie mit ihr. Ich bin in Ordnung. Sie sollte bleiben.« »Und Sie erzählen mir etwas über Ihre kosmologische Konstante?« Kassler wollte einen Handel abschließen. »Ja, ja«, stimmte Szlyck zu. »Treffen Sie Lupa. Bitte. Reden Sie mit ihr. Bitte. Bitte. Reden Sie mit ihr...« -2 4 5 -
»Ja doch, ja doch«, sagte Kassler gereizt. »Ich werde mit Lupa reden. Macht Sie das glücklich?« »Ekstatisch«, strahlte mein Engel. Lupa kam in Kasslers Büro, schön und nervös, das lange blonde Haar über ihrer Tweedjacke auf den Schultern ruhend. Sie war niemals bei einem Psychotherapeuten gewesen, und Kassler verstand ihre Nervosität nahezu auf Anhieb. »Menschen, die keine Erfahrung mit Psychotherapeuten haben«, erklärte er, während er sich bemühte, in Gegenwart ihrer strahlenden Erscheinung die Ruhe zu bewahren, »glauben, daß Seelenklempner durch sie hindurchblicken können, als seien sie transparent. Sie kommen sich allen, die sich mit der geistigen Gesundheit beschäftigen, gegenüber nackt vor.« »Können Sie durch mich hindurchblicken?« fragte Lupa, trotz Kasslers Diagnose noch immer besorgt. »Nein, ich kann es nicht.« Kassler versuchte, nur zum Teil erfolgreich, seine überschäumende Libido zu zügeln. »Leo ist sehr krank, nicht wahr?« fragte Lupa mit einiger Besorgnis, während sie die Falten ihrer beigefarbenen Bluse glättete. »Es geht ihm ganz gut.« Kassler wollte nicht zuviel Mitgefühl für diesen verrückten kleinen, dicken Mann erwecken, der es geschafft hatte - Kassler wollte verdammt sein, wenn er wußte, wie -, diese reizende, attraktive, intelligente, kultivierte, langbeinige Lady zur Frau zu bekommen. »Ihr Mann hat mich gebeten, mit Ihnen über Ihre Pläne in bezug auf Ihre Ehe zu sprechen.« Kassler entschied sich, trotz der Umstände die Verpflichtungen wahrzunehmen, die er Szlyck gegenüber hatte. »Leo ist nicht mehr mein Mann. Ich habe ihn letzte Woche verlassen und mich in Juarez scheiden lassen. Dies sind meine Pläne, und sie sind jetzt bereits weitgehend in die Tat umgesetzt. Ich will kein Geld von ihm. Ich komme auch allein zurecht.« -2 4 6 -
»Haben Sie das Dr. Szlyck schon gesagt?« Kassler war angenehm überrascht. »Ist er sich all dessen bewußt?« »Natürlich ist er das. Warum, glauben Sie, ist er hier? Ich habe ihm gesagt, daß ich in Mexiko die Scheidung angestrengt habe, und er hat unter anderem, versucht, den Kopf in den Mikrowellenherd zu stecken. Was hat er Ihnen erzählt?« Lupa wurde zusehends gereizt. Kassler bemühte sich, seine ärztliche Schweigepflicht zu respektieren »Nun, er befindet sich, wie Sie wissen, gegenwärtig in einer ziemlich verwirrten Geistesverfassung. Ich bin mir nicht sicher, daß er die Situation so sieht, wie sie sich in der Realität darstellt. Oder daß er sie als endgültig betrachtet.« »Sie ist sehr endgültig.« Lupa machte ihn recht ausführlich mit den Details vertraut. Die Art und Weise, in der Kassler zuhörte, gefiel ihr, und als sie mit ihrer Geschichte zum Ende gekommen war, hielt sie bei ihm nach einem Ehering Ausschau. Sein Finger war natürlich ungeschmückt. »Ich würde gern noch mehr über die Krankheitsgeschichte Dr. Szlycks hören«, sagte Kassler, während er Lupas funkelnde purpurfarbene Augen bewunderte. »Aber es wird schon spät.« Lupa blickte auf ihre Uhr und bestätigte, daß es fast sechs Uhr war. »Oh, tut mir leid, ich habe nicht gedacht...« Lupa entschuldigte sich, stand aus ihrem Sessel auf und zog ihre Jacke gerade. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, antwortete Kassler und beschloß, ein kalkuliertes Risiko einzugehen. »Ich bin nur ein bißchen hungrig, das ist alles.« »Ja«, sagte Lupa. Sie stand Kassler gegenüber und spielte an ihrem Paisley-Halstuch herum. »Ich bin auch ein bißchen hungrig.« »Es gibt hier ganz in der Nähe ein sehr nettes mexikanisches Restaurant«, sagte Kassler und nahm bei seinem Großen Abstieg gleich neun Stufen auf einmal. -2 4 7 -
Lupa blickte Kassler in die Augen, um sich zu vergewissern, daß dies in der Tat eine Einladung war. Dann lächelte sie und nahm Kasslers Arm, ein bißchen spielerisch, aber nicht ohne Zärtlichkeit. »Hört sich gut an«, sagte sie. »Ich habe in jüngster Zeit Geschmack an mexikanischen Dingen gefunden.« Und Kassler befand sich wieder auf seinem unglückseligen Weg. Beide Seiten verhielten sich bei ihrem ersten Abendessen so, wie sich erwachsene Menschen verhalten sollten. Sie unterhielten sich über Kunst und Politik, über die angenehmeren Aspekte ihrer Kindheit, über Filme, die sie in letzter Zeit gesehen oder schon m i mer sehr gerne gemocht hatten, und über die Qualität der Küche. Zu den Themen, die sie ausdrücklich vermieden, gehörten vergangene Ehen und Verhältnisse, gegenwärtige Beziehungen, Wünsche und Träume, die sich auf die Zukunft bezogen, und wehmütige Betrachtungen über Dinge in der Vergangenheit, die sich vielleicht ganz anders als beabsichtigt entwickelt hätten. Lupa bemühte sich ihrerseits, reif, freundlich, umgänglich und aufmerksam zu erscheinen, ohne dabei auch nur das geringste Interesse an Kassler zu erkennen zu geben, das über jene Art von Freundschaft hinausging, die zwei erwachsene Menschen miteinander verbinden mochte. Kassler seinerseits, obwohl durch den Zwang, ständig seine Reife dokumentieren zu müssen, einem Zustand nervlicher Erschöpfung immer näher kommend, bemühte sich nichtsdestoweniger, kein Langweiler, Prediger oder intellektueller Snob, sondern männlich, stark, betont bescheiden, natürlich und sensibel zu sein und den ganzen Abend hinter sich zu bringen, ohne ein Buch zu erwähnen, das er gelesen hatte, oder psychologische Interpretationen vom Verhalten anderer Menschen zum besten zu geben - er hatte die Punkte, einen nach dem anderen, auf einer Liste abgestrichen, die ihm einmal von Vita präsentiert worden war, -2 4 8 -
genauso wie er es Nacht für Nacht, wenn er wach in seinem zweckmäßigen Appartement lag und nicht einschlafen konnte, zu tun pflegte. Gegen Ende des Abends wagte Lupa den einzigen Schritt aus dem Bereich des Unpersönlichen: »Halten Sie es für möglich, daß ein Mann und eine Frau lediglich gute Freunde sein können und sonst gar nichts?« »Gewiß«, erwiderte Kassler augenblicklich. »Absolut. Unbedingt. Sicher.« Und das von der Bunkermentalität erfaßte Paar zahlte seine Rechnung im La Vida Olvidada, verabredete für den nächsten Samstag ein neues Treffen und machte sich auf den Nachhauseweg, wie es gekommen war, beide in ihrem eigenen Fahrzeug und dem sicheren Bewußtsein, daß sie bisher die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt hatten. »Er ist wirklich ganz nett, beinahe süß«, sagte Lupa in dieser Nacht zu mir. »Genau, was du brauchst, jemanden, der süß ist«, stellte ich fest. »Du bist eifersüchtig. Das finde ich wundervoll.« »Ich bin nicht eifersüchtig«, erklärte ich. »Ich habe nur deine Interessen im Auge. Du bist im Begriff, wieder einen schrecklichen Fehler zu begehen.« »Also wirklich.« Lupa weigerte sich, meine Worte für bare Münze zu nehmen. »Er ist ein verheirateter Mann«, erinnerte ich sie. »Er lebt getrennt, und seine Frau hat die Scheidung beantragt.« »Das sollte dir zu denken geben.« »Ich werde aufpassen.« »Die ganze Sache gefällt mir nicht. Zu kompliziert. Er lebt getrennt. Und hat zwei kleine Kinder. Dazu ist er auch noch Seelenklempner. Du brauchst jemanden, der frisch und fröhlich ist - und nicht korrumpiert.« -2 4 9 -
»Meine Güte, du meinst es ernst. Wirst du mich vermissen, Liebling?« Lupa tanzte kokett in ihrem Nachthemd um mich herum. »Ein bißchen«, gab ich zu. »Wann gehst du?« »Morgen. Ich dachte, ich hätte es dir gesagt.« »Ich war mir nicht im klaren darüber, daß es so bald sein würde. Natürlich wirst du mich besuchen.« »Natürlich. Jede Woche. Ich würde dich nie ganz verlassen. Ich brauche einfach ein bißchen mehr. Du verstehst schon.« »Weil ich deine Perspektive in bezug auf diesen Kassler erweitern und dich aus Schwierigkeiten heraushalten kann.« »Ich denke, daß ich es allein schaffe. Trotzdem vielen Dank.« »Morgen?« »Ganz früh. Ich habe mir nicht weit von hier ein hübsches kleines Appartement genommen. Ich fange ein Geschäft als Innenarchitektin an.« »Du solltest gut zurechtkommen.« »Das hoffe ich.« Lupa seufzte. »Also, ich sollte jetzt wohl gehen.« Und sie ging zur Treppe. »Lupa«, rief ich ihr nach. »Ja?« »Ich habe ein kleines Problem mit einem meiner Knöpfe.« Lupa wandte sich um und kam ganz langsam auf mich zu. »Ich habe gedacht«, sagte ich, »daß du mir vielleicht helfen könntest.« »Welcher Knopf bereitet dir Probleme?« »Der große rote unmittelbar vor dir.« »Ah«, lächelte Lupa und ließ ihr Nachthemd auf den Boden gleiten, »dieser Knopf.« Wie ich geargwöhnt hatte, ging Lupa am nächsten Morgen und ließ ein großes leeres Haus und mich im Souterrain zurück. Es war, wie mir fast sofort klar wurde, eine Situation, die so nicht andauern durfte. Ich fing an, Pläne zu machen.
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Kassler fand es ein bißchen heikel, Leo Szlyck psychotherapeutisch zu behandeln und sich gleichzeitig mit seiner Exfrau zu treffen, aber da Szlyck weitgehend noch unzurechnungsfähig war, beschränkten sich die Konflikte auf ein Minimum. Zuerst hielt Lupa ihre Gefühle im Zaum und wappnete sich gegen den Schmerz einer weiteren möglicherweise scheiternden Beziehung, wurde sich aber bald bewußt, daß sie sich nicht länger zurückhielt. Ihre Beziehung zu Kassler war, so wie sie sich entwickelte, eine Beziehung unter reifen, erwachsenen Menschen, führte sie sich vor Augen. Es gab kein Herzklopfen und hektisches Erröten, aber auch keine stürmischen Auseinandersetzungen und nervöse Spannungen. Die Beziehung war ganz einfach da, und Lupa schlüpfte in sie hinein wie in einen bequemen alten, aber glanzlosen Schuh. Kassler, der von sic h weniger prosaische Vorstellungen hatte, spürte Bedürfnisse, die bei jeder reifen Begegnung dringlicher wurden und lautstark nach einer jugendlichen Lösung verlangten. Er glaubte jedoch, daß ein Nachgeben gegenüber diesen Gefühlen das platonische Vertrauen verraten würde, das Lupa in ihn setzte, und so besann er sich auf die Zurückhaltung, die er während der Jahre mit Vita bis zum Exzeß entwickelt hatte, und stand die Konzerte, Abendessen, Kinobesuche und Spaziergänge mit der reizenden Lupa durch, ohne zur Sache zu kommen, um es so auszudrücken. Unglücklicherweise war seine Psyche besser für die Anstrengungen dieser Zurückhaltung gerüstet als seine Physis. Er entwickelte Allergien gegen alles, vom Anisette bis hin zu den Zucchinis. Beeren riefen Hautausschlag bei ihm hervor. Von Schokolade bekam er Kopfschmerzen. Milchprodukte verursachten Magenkrämpfe. Nüsse brachten ihm Nesselfieber, Tomaten Asthma. Wunderbarerweise verschwanden all diese Symptome an dem Abend, an dem er wegen mörderischer Schmerzen in der Brust mit der Ambulanz in die Klinik befördert werden mußte.
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Lupa, die mit ihm zu Abend gegessen hatte, als er den Anfall bekam begleitete ihn in die Klinik, saß auf einem Stuhl neben ihm und streichelte sein dichtes, schwarzes Lockenhaar, während ein älterer Arzt die Elektroden des EKG-Geräts an seiner Brust befestigte. »Es wird alles wieder in Ordnung kommen«, beruhigte ihn Lupas weiche, kultivierte Stimme. »Ich weiß.« Kassler, der zu Tode erschreckt war, versuchte, sich selbst zu überzeugen. »Wie alt sind Sie?« fragte der Arzt, ein Dr. Trubatch, als er die letzte Elektrode festmachte und das EKG-Gerät anstellte. »Vierunddreißig«, seufzte Kassler, während er über seine Hinfälligkeit nachdachte. »Das ist ziemlich jung für einen Herzanfall«, bemerkte Trubatch. »Jung?« quiekte Kassler. »Ich habe zwei Kinder. Ich bin fast geschieden. So jung bin ich.« »Verstehe.« Trubatch beobachtete die absolut normalen Aktionsströme auf dem Papierstreifen, der aus dem EKG-Gerät herauskam. »Ihr Herz sieht gut aus, Dr. Kassler.« »Ich hatte mörderische Schmerzen unter dem Brustbein, die bis in meinen linken Arm zogen«, schilderte Kassler seinen Fall. Lupa nahm seine Hand und streichelte sie zärtlich. »Ist schon in Ordnung, Sy. Es muß etwas anderes gewesen sein.« Sie versuchte, ihn zu trösten. »Was denn?« greinte Kassler. »Was sonst sitzt unter dem Brustbein, schmerzt mörderisch und strahlt aus? Es ist ein Herzproblem. Das weiß ich.« »Esophasospasmen rufen die gleichen Symptome hervor. Genauso wie ein präkordiales Erkältungssyndrom. Beides kommt sehr oft vor. Ich bin gleich wieder da.« Und Trubatch öffnete den Vorhang, trat aus der Kabine und schloß den Vorhang wieder hinter sich. »Ich möchte noch eine zweite Diagnose«, sagte Kassler zu Lupa. »Er sagt mir nicht die Wahrheit.« -2 5 2 -
»Ich glaube doch, Sy«, sagte Lupa und ließ ihre Hand sanft über Kasslers Stirn gleiten. Kassler drehte sich auf die Seite und blickte Lupa an. »Du bist sehr gut zu mir, Lupa«, sagte er leise. »Ich tue es gerne. Außerdem möchte ich dich noch eine Weile um mich haben. Manchmal ist es sehr schön, mit dir zusammen zu sein.« »Wirklich?« Kassler spürte, wie sich der Druck auf seiner Brust lockerte. Lupa küßte ihn ganz sanft auf die Lippen. »Ja. So ist es.« »Manchmal ist das schwer für mich zu beurteilen.« »Ich kann es schlecht mit Worten ausdrücken, aber ich versuche es durch andere Dinge.« Kassler dachte ein paar Sekunden lang darüber nach. »Ich weiß es wirklich zu würdigen, daß du mir heute Ziegenmilch und Sojaburger zum Abendessen vorgesetzt hast.« Kassler erinnerte sich, was er sagen wollte, als ihn der Schmerz überraschte. »Das war gar nicht so einfach«, lächelte Lupa. »Du bist eine reizende Frau.« Kassler streckte die Hand aus und streichelte Lupas Wange. »Ich bin froh, daß du leichter Worte findest als ich, Sy, denn ich habe es gerne, wenn du so etwas zu mir sagst. Du bist ein sehr aufrechter Mensch. Und ein guter Freund.« »Bin ich das?« Kasslers Zwischenrippenmuskulatur entspannte sich. »Ich glaube es.« Lupa nahm Kasslers Hand und drückte sie. »Wieso sind wir uns noch nicht näher gekommen?« fragte Kassler. »Du meinst, warum sind wir noch nicht ins Bett gegangen?« Kassler machte eine bestätigende Kopfbewegung. »Ich brauche Zeit, Sy. Und du auch.«
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Kassler sann darüber nach und sah durch den Spalt im Vorhang, daß Dr. Trubatch zurückkam. »Tu mir einen Gefallen«, bat Kassler flüsternd. »Frag Dr. Trubatch, ob meine T-Ströme invertiert sind.« »Deine was?« »Ein Teil des EKG. Meine T-Ströme. Frag ihn einfach, ob sie invertiert sind.« »Sicher.« Lupa lächelte, als Trubatch eintrat. »Entschuldigen Sie, Dr. Trubatch, sind Sys T-Ströme invertiert?« »Nur wenn Sie auf dem Kopf stehen«, sagte Trubatch unmittelbar zu Kassler, der plötzlich das Gefühl hatte, als sei ihm, entschuldigen Sie den Ausdruck, eine schwere Last von der Brust genommen worden. Während die Freundschaft zwischen Kassler und Lupa wuchs, hielt Kassler, ohne die Sache zu forcieren, weiterhin die Augen nach einer Gelegenheit, nach einer günstigen Situation offen, bei der unter Wahrung der gebotenen Schicklichkeit die sexuelle Kugel ins Rollen gebracht werden konnte. Solch eine Gelegenheit - oder zumindest doch der Keim zu einer solchen Gelegenheit - bot sich am Ende einer Sitzung, die Kassler mit Norman Meltz, dem Masturbator, gehabt hatte. Während des überwiegenden Teils der Stunde hatte Kassler Norrnans üblichem Gerede keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Der Behandlung Normans war eine bestürzende Zusammenkunft des Klinikpersonals vorangegangen, bei der Normans Masturbieren allerdings nicht das hervorstechende Thema gewesen war, um es so zu sagen. In der Zusammenkunft ging es um einen Gerichtsbeschluß, den Bernie Kohler endlich erwirkt hatte und der Phlegethon auferlegte, während der nächsten beiden Jahre nicht weniger als die Hälfte der Wahnsinnigen, die sich derzeit innerhalb seiner Mauern aufhielten, planmäßig in die Gesellschaft zu entlassen. Die noch verbliebene Hälfte war während der beiden folgenden Jahre zu entlassen. Nach Abschluß dieses Prozesses, in vier Jahren also, sollte Phelegthon mittels -2 5 4 -
Privatinitiative und somit nicht zu Lasten des Steuerzahlers in Eigentumswohnungen umgewandelt werden. Ein Belegschaftsmitglied zeigte lautstark einen nicht von der Hand zu weisenden Aspekt des Unternehmens auf: »Und wenn all die verrückten Menschen draußen und die geistig gesunden Menschen drinnen sind, fangen wir dann mit dem ganzen Prozeß wieder von vorne an? Wandeln wir ›Phlegethon Landings‹...« - die Eigentumswohnungen hatten auch schon einen Namen bekommen - »... dann wieder in Phlegethon State Hospital um?« »Dies ist keine Sache, über die man Witze macht«, schrie Bernie Kohler seine Kollegen an. »Wir werden sehr sorgfältig planen und sehr hart arbeiten müssen, um diese Patienten von hier in die Gesellschaft überführen zu können. Wir werden der Gemeinschaft beibringen müssen, wie sie mit Schizophrenen umzugehen hat, damit diese ein produktives Leben führen können.« »Die einzige Möglichkeit, mit Schizophrenen umzugehen, damit sie ein produktives Leben führen können, wie Sie es sagen, Dr. Kohler, ist festzustellen, welche Enzyme für ihre Methylierungsstörung verantwortlich sind, und Antikörper zu produzieren, die dagegen angehen«, sagte Sam Zelazo auf dem kleinen Podium an der Stirnseite des Auditoriums, von dem aus er die Zusammenkunft leitete. »Was methylieren?« forderte Bernie Zelazo heraus. »Serotonin«, sagte Zelazo ruhig, aber fest. Bernie Kohler ließ sich nicht einschüchtern. »Serotonin? Ich dachte, es wäre GABS. War das im letzten Jahr hier nicht die große Sache? Schizophrenie war eine hemmende Störung, bei der GABS eine Rolle spielt. Was ist aus GABS geworden?« »Es gibt neue Forschungen«, erklärte Zelazo. »Das Jahr davor war es die Katecholaminen-Theorie der Schizophrenie. Dopamin und Norepinephrin waren ganz groß. Und davor war es Bufotenin.« Bernie fuhr fort, Zelazo zu reizen. -2 5 5 -
Kassler beobachtete den Kampf der beiden ungläubig. »Es ist jetzt eine Frage des Serotonin-Metabolismus.« Zelazo blieb fest. »Käse«, rief Bernie zurück. Unter den Zuhörern wurde ein Kichern laut. »Ja, das haben Sie uns schon gesagt, Dr. Kohler«, erwiderte Sam Zelazo geduldig. »Auch im Käse gibt es Serotonin.« Die Zuhörer brachen in Gelächter aus, und die Spannung, die sich während der letzten halben Stunde gebildet hatte, lockerte sich. »Meine Schizophrenen essen Käse, und mein Käse enthält Serotonin.« Bernie Kohler schloß sich der Heiterkeit an und führte im Durchgang neben seinem Sitz einen kleinen Tanz auf. Als sich die Zuhörer beruhigt hatten, stand Zelazo schweigend an der Stirnseite des Auditoriums, über dem Podium hängend wie ein Raubvogel, der seine Klauen in einen Leichnam geschlagen hatte. »Wir werden tun, was der Gerichtsbeschluß von uns verlangt«, sagte er feierlich. »In zwei Jahren von heute an gerechnet, werden wir die Hälfte der Patienten in Wohnungen von Citadel untergebracht haben.« Im Auditorium trat vollkommenes Schweigen ein. Psychiatrischer Stab und Pflegepersonal saßen vor Ungläubigkeit wie erstarrt da. Zelazo beugte sich noch weiter über das Podium, das jetzt seine Hauptstütze war. »Um dies zu bewerkstelligen«, fuhr er fort, »bilde ich ein Komitee, um den Prozeß zu überwachen und zu beschleunigen. Ich möchte Sie, Dr. Kassler, bitten, den Vorsitz dieses Komitees zu übernehmen, da viele Ihrer Patienten wahrscheinlich zu den ersten gehören, die entlassen werden.« Bei Erwähnung seines Namens durchzuckte es Kassler. Geistesabwesend nickte er Zelazo zu und ging schnell seine Patienten durch. Wer würde gehen? Diana Fletcher? -2 5 6 -
»Gibt es außer Dr. Kohler noch jemanden, der gerne ein Mitglied des Komitees wäre?« fuhr Zelazo fort, während Kassler an seine Patienten dachte. Philip Donato? Mrs. Donato wäre kein schlechter Kandidat, aber die war schon draußen. Kasslers Geist wanderte zwischen seinen therapeutisehen Pfleglingen umher. Bea Chaikin meldete sich freiwillig. Bernie Kohler, der heftig mit den Armen wedelte, wurde schließlich von Zelazo dazugenommen, womit die Mitgliederliste des Komitees geschlossen war. Leo Szlyck? Möglich. Mr. Katzman? Schwer zu sagen. Die Versammlung löste sich auf, und die Angehörigen des Personals fanden sich in kleinen Cliquen zusammen, gaben murmelnd Pro- und Kontrastellungen ab, meistens kontra, und fragten sich, ob der Richter nicht vielleicht selbst mit seiner forensischen Hand das Füllhorn der geistesgestörten Patienten leeren wollte, die sich während der nächsten vierundzwanzig Monate aus dem Phlegethon ergießen würden. Der letzte Name, den Kassler auf seine Liste setzte, als er wie betäubt zwischen Bernie Kohler und Bea Chaikin saß und zusah, wie das Schlachtfeld geräumt wurde, war natürlich der von Norman Meltz, dem Masturbator. Wie es das Schicksal wollte, saß Norman jetzt in Kasslers Büro und proklamierte seine Rehabilitation. »Ich sage es Ihnen, Dr. Kassler«, erklärte er beharrlich, »mein Pimmel ist jetzt absolut hundertprozentig unter Kontrolle.« Und Norman griff nach seinem Reißverschluß, um den Beweis anzutreten. »Ist schon gut.« Kassler streckte die Hand aus, um Norman zu stoppen. »Ich nehme Sie beim Wort. Wenn Sie sagen, daß er unter Kontrolle ist, dann reicht mir das.« »Ich hatte immer dieses kleine Problem, wenn ich Mädchen auf der Straße sah, aber jetzt nicht mehr, Dr. Kassler. Ich bin geheilt. Lassen Sie mich hier raus, und Sie werden es sehen.
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Mein Tick mit Föttchen ist für immer verschwunden.« Norman sprach mit großer Überzeugung. »Föttchen?« fragte Kassler, um Normans Behauptung zu prüfen. »Sicher, ich habe Ihnen doch davon erzählt, oder?« Norman fing an, ein bißchen nervös zu werden. »Nein, ich glaube nicht, daß Sie das getan haben, Norman.« »Nun, es ist auch nicht so wichtig.« Norman wand sich. »Ich würde gerne etwas darüber hören.« Norman wußte, daß jetzt die Feuerprobe für seine Behauptungen auf dem Programm stand. »Nun, was immer passiert ist, passiert ist, jetzt aber nicht mehr passiert, was immer vor langer, langer Zeit passiert ist, war, daß ich in der Stadt die Straße entlangfuhr und so ein Föttchen sah, Sie wissen schon, ein Hinterteil, ein weibliches Hinterteil, eigentlich mehr das Hinterteil eines Mädchens, das so vielleicht sechzehn oder siebzehn war und ganz enge Jeans trug, und was können Sie schon mit Sechzehnjährigen anfangen? Sie können sie nicht ficken, sonst gehen Sie ins Gefängnis. Sie können kaum mit ihnen reden.« Norman machte eine Pause und holte tief Luft. »Das Föttchen-Problem«, erinnerte Dr. Kassler seinen Patienten. »Äh, ja, natürlich.« Norman holte abermals tief Luft. »Ich fuhr also die Straße entlang, und unmittelbar vor mir war da dieses süße, kleine sechzehnjährige Mädchen mit dem reizendsten Föttchen in wirklich ganz engen Jeans, so daß man ihren ganzen Schlitz durch den Stoff sehen konnte, Sie wissen schon, und diese süßen, kleinen Möpse, die rauf und runter wippen, weil die Mädchen keine BHs mehr tragen, so daß man sehen kann, wie sich ihre Brustwarzen durch das T-Shirt bohren.« Norman unterbrach sich, um Atem zu schöpfen. »Sind Sie sicher, daß ich Ihnen das alles nicht schon erzählt habe?« flehte er Kassler an. -2 5 8 -
»Nicht, daß ich mich erinnere«, antwortete Kassler. Norman schüttelte den Kopf. »Nun, ich fahre also, und da ist das Föttchen dieses Mädchens und jeder Teil ihres Föttchens geht rauf und runter, nach links und nach rechts, wippt überall, die Jeans klebt fest im Schlitz ihres Arschs, und die Spalte zwischen ihren Beinen klafft auf, schließt sich, klafft mit jedem Schritt, den sie macht, wieder auf. Mein Pimmel wird ganz hart und tut weh, und so lege ich meine Hand drauf, um ihn zu beruhigen, aber der Reißverschluß kommt mir in die Quere. Und er braucht unbedingt frische Luft, und so mache ich den Reißverschluß auf. Er fühlt sich draußen in der Luft so gut an, und ich reibe ihn so schnell, wie ich nur kann, während ich das Mädchen beobachte, das die Straße entlanggeht, fahre und bearbeite ich meinen Pimmel, beobachte, wie ihre kleinen Möpse rauf und runter tanzen und ihr Föttchen nach allen Seiten wippt... Scheiße!« Norman schrie knurrend auf, als er merkte, daß sein Glied steinhart geworden war und er mit beiden Händen wild an der Khakischwellung herumfuhrwerkte. »Und es lief alles so gut. Scheiße! Scheiße! Scheiße!« »Ganz meine Meinung«, erwiderte Kassler. »Ich verstehe es nicht«, sagte Norman jammernd. »Ich habe wirklich geglaubt, daß ich es diesmal geschafft hätte.« »Wenn Sie sich vielleicht an eine andere, passendere sexuelle Entspannung gewöhnen könnten«, schlug Kassler vor. »Aber ich bin an eine andere, passendere sexuellen Entspannung gewöhnt«, greinte Norman. »Sie haben eine Freundin?« »Nicht eigentlich«, sagte Norman. »Sie treffen sich mit Frauen?« versuchte es Kassler anders. »Nicht eigentlich.« Norman blieb bewußt vage. »Was genau tun Sie?« Kassler fragte jetzt ganz direkt. Norman vermied es, Kassler unmittelbar anzublicken. »Also, ich weiß, daß es Ihnen nicht gefallen wird, aber so ziemlich jeder in Citadel macht es, und wenn ich demnach verrückt bin, dann sind es alle anderen auch. Sehen Sie, ich hatte da mal so -2 5 9 -
eine freundschaftliche Beziehung zu diesem Mädchen, das mir sehr gefiel - Sie wissen schon, jede Menge Kino und Restaurant, aber nichts weiter.« Kasslers Ohren spitzten sich wie die eines Jagdhunds beim ersten Laut des nahen Wilds, und er hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. »Ein Freund erzählte mir von diesem Etablissement hier in Citadel«, fuhr Norman fort, »das dem Plato's Retreat in New York nachgemacht ist, nur viel wilder - Sie wissen schon, einer dieser Sexclubs, wo es jeder mit jedem macht.« »Ich habe davon gehört, ja«, sagte Kassler, zwei ganze Register unter seiner normalen Lautstärke. »Nun«, lächelte Norman, »es hat voll hingehauen. Wir gingen nur zum Zugucken rein, wissen Sie, so aus Jux, um den Leuten beim Bumsen zuzusehen, um festzustellen, wie sie es machten, und um ein paar Tips zu kriegen - so eine Art Forschungsprojekt. Innerhalb von fünf Minuten fiel sie über mich her, ich konnte sie nicht stoppen. Sie hat mich bis zur Erschöpfung gebracht, können Sie sich das vorstellen? Mich? Zehn volle Stunden lang. Es war schon hell, als wir aufhörten, und ich sage es Ihnen, sie wollte immer noch mehr. Ich konnte es nicht glauben. Mein Pimmel flehte um Gnade. Meine Zunge schmeckte, als sei sie voll und ganz zu einem weiblichen Geschlechtsorgan geworden. Ich war fix und fertig. Jedenfalls bin ich seitdem regelmäßig hingegangen, aber wie Sie sehen können, hat es mir auch nicht viel genützt.« »Nun, ja.« Kasslers Ego bot eine seiner hervorragendsten Leistungen, als er mit erstaunlicher Glaubwürdigkeit den ernsten Psychotherapeuten vorführte. Seine Libido hingegen rief einen Zustand hervor, der dem eines Vollidioten sehr nahe kam. Kassler bemühte sich, sein grinsendes Delirium zu verbergen, indem er sich ein Taschentuch vor den Mund hielt, um scheinbar einem Niesen zuvorzukommen. »Vielleicht ist es nicht die richtige Lösung für Sie, wenn Sie Etablissements aufsuchen, die in der... äh...« -2 6 0 -
»Second Avenue liegen«, vervollständigte Norman den angefangenen Satz. »... wie zum Beispiel... äh...« »Dantes Inferno«, sagte Norman, der Masturbator, folgsam. »Hatschi!« »Gesundheit.«
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März 1979 III. Sitzung »Also, sagen Sie es mir, Kassler«, forderte ich meinen Psychotherapeuten auf, der heute langsam seine Brille putzte, während ich ihm mein Herz ausschüttete. »Ich weiß, daß ich nicht gewinnen kann. Gott ist unbesiegbar. Man sollte meinen, daß ich das inzwischen gelernt habe. Warum also tue ich es trotzdem?« »Haben Sie eine andere Wahl?« stellte er eine Frage, die ich sehr mittelmäßig fand. »Natürlich habe ich eine andere Wahl«, antwortete ich ihm. »Sie glauben doch nicht etwa, daß es nichts anderes gäbe, womit ich mich beschäftigen kann?« »Was genau tun Sie eigentlich?« Kassler hob die Brille an den Mund und hauchte die Gläser an. »Gute Frage.« »Und die Antwort?« Kassler drehte die Brille um und benebelte die Rückseite der Gläser. »Im Grunde genommen bin ich ein interessierter Beobachter«, sagte ich. »Ah ja.« Kassler putzte weiterhin an seiner Brille herum. »Das ist eine logische Folgeerscheinung der Behauptung, die Sie mir gegenüber aufgestellt haben: ›Ich versuche nicht, ich verführe nicht, ich schließe keinen Handel ab‹.« »Beantworten Sie mir eine Frage, Kassler, ja? Ist das die Psychotherapie, der Sie alle Ihre Patienten aussetzen dasitzen und sich spaßige Bemerkungen zu allem, was sie Ihnen sagen, ausdenken - oder haben Sie diese Behandlungsweise speziell für mich reserviert?« Ich hielt es für angebracht, nicht länger um den heißen Brei herumzuschleichen. »Ich bin mir nicht sicher, daß ich Sie richtig verstehe«, wich Kassler aus. -2 6 2 -
»Und ob Sie mich verstehen«, stellte ich klar. »Sie verstehen mich vollkommen. Ich erzähle Ihnen etwas. Dann sagen Sie mir, daß ich ein Dummkopf bin. Ich erzähle Ihnen etwas anderes. Und Sie wiederholen diese Diagnose.« Kassler polierte hektisch den Goldrand seiner Brille. »Sie haben das Gefühl, daß ich verständnislos bin«, sagte Kassler sehr klinisch. »Ich spiele nicht, Kassler, so daß Sie sich die diabolischen psychotherapeutischen Spielchen, die sie so gerne spielen, schenken können.« »Diabolisch?« Kassler entschloß sich, semantisch an die Sache heranzugehen. »Sie haben es erfaßt. Diabolisch.« »Nur meine Psychotherapie oder Psychotherapie im allgemeinen?« Kassler spielte mit seiner Brille herum und schien jetzt interessierter zu sein. Ich hielt den Zeitpunkt für gekommen, ein erzieherisches Element in die Sitzung einzubringen. »Nun, da Sie es erwähnen - das wenige, das ich von dem Prozeß verstehe, führt mich dazu, alle Therapeuten einzubeziehen.« Kassler wartete geduldig darauf, daß ich fortfuhr, und ließ dabei seine Brille zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen. »Berichtigen Sie mich, wenn ich falsch liege«, sagte ich, »aber es stimmt doch wohl, daß das erste Ziel bei jeder Psychotherapie die Herstellung eines guten Verhältnisses zum Patienten ist, nicht wahr? Sie wollen, daß er sich wohl fühlt, wenn er mit Ihnen über die intimsten Aspekte seines Lebens spricht. Ich habe doch nichts fehlinterpretiert, oder?« »Das Verhältnis ist alles«, stimmte Kassler zu. »Ohne ein solches gibt es keine Übertragung, keine Gegenübertragung, kein Material.« »Gut. Das gefällt mir. Nähe, Vertrauen, Mitgefühl - das Verhältnis muß in Gang gebracht werden.« -2 6 3 -
»Der Patient wird so auf den Therapeuten reagieren wie auf andere Personen, die ihm in seinem Leben nahestehen - Vater, Mutter, Frau -, und der Therapeut gewinnt aus erster Hand Erkenntnisse über die Konflikte des Patienten.« »Hört sich großartig an«, lobte ich die Strategie. »Ihm nahe kommen. Ganz reizend. Nur daß Sie dem Patienten, wenn er Ihnen nahe genug gekommen ist und Sie all das schöne Übertragungs- und Gegenübertragungsmaterial aus ihm herausgeholt haben, mit dem Sie herumspielen können, klar zu verstehen geben, daß Sie nicht sein Vater, seine Frau oder auch nur ein guter Freund sind, sondern lediglich ein Therapeut, der dafür bezahlt wird, daß Sie ihn behandeln. Sie arbeiten sich krumm, um dieses wundervolle Verhältnis zu Ihrem Patienten herzustellen, und wenn Sie es endlich erreicht haben, wenn er Ihnen sein Herz ausgeschüttet hat, dann erzählen Sie Ihrem Patienten, daß alles nur eine Täuschung ist, daß Sie nur ein bezahlter Zuhörer sind. Finden Sie das nicht ein bißchen diabolisch?« »Es ist therapeutisch.« Mehr fiel Kassler im Augenblick dazu nicht ein. »Das sind Pogrome auch, wie ich gehört habe.« Kassler setzte vorsichtig seine Brille auf und achtete darauf, daß er die blinkenden Gläser nicht befleckte. »Da Sie jetzt einen völlig ungetrübten Blick von der Dunkelheit hier unten haben, wird meine Behandlung wohl von einigen funkelnden neuen Erkenntnissen illuminiert werden«, kommentierte ich Kasslers verbessertes Sehvermögen. »Erkenne ich einen gewissen einfältigen Sarkasmus?« Kassler ging in die Offensive. »In Ordnung, Kassler, sagen Sie es mir. Was ist es?« Ich beschloß, es ein für allemal zu klären. »Was ist los? Ich habe Ihnen einen Pakt angeboten. Was ist passiert? Was soll das ganze Katz-und-Maus-Spiel? Jage ich Ihnen Angst ein?« Kassler dachte ungefähr eine Minute lang darüber nach.
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»Ich bin mir nicht mehr sicher, daß Sie Satan sind«, sagte er schließlich. »Wer bin ich denn?« »Leo Szlycks Unbewußtes.« »Leos Unbewußtes? Machen Sie einen Punkt, Kassler. Sie haben mit Szlyck gearbeitet. Sie wissen es besser.« »Nun, wenn schon nicht Szlycks Unbewußtes, dann jedenfalls auch nicht Satan.« »Wann ist all das passiert?« »Letzte Sitzung.« »Wieso?« »Ich bin mir nicht sicher.« Kassler war zumindest ehrlich. »Ich will Ihnen den Grund sagen, Kassler. Ich habe Sie enttäuscht. Sie wollten Feuer und Schwefel, Spezialeffekte, Folter und Grausamkeit, eine hübsche Portion Infamie. Ich bin der erste, der zugibt, daß ich auf diesem Gebiet eine große Enttäuschung bin. Es ist alles sehr weltlich.« Kassler nickte, mir teilweise zustimmend. »Noch etwas«, murmelte er vor sich hin. »Ich weiß«, sagte ich. »Zu dem Zeitpunkt hörte es sich großartig an. Satans Psychotherapeut! Es schien eine perfekte Situation zu sein. Wenn ich nicht Satan war, würden Sie herausfinden, wer ich war. Das würde interessant sein. Wenn ich Satan war, nun, was konnten Sie sich mehr wünschen? Sehen wir der Sache ins Gesicht - den Teufel zu behandeln, ist das höchste Ziel jedes Therapeuten.« Kassler zuckte die Achseln und seufzte. »Und was haben Sie statt dessen bekommen?« stellte ich fest. »Ich bin Satan. Und ich bin keine große Sache. Das Herz muß Ihnen gebrochen sein, Kassler. Es ist nicht so, daß ich kein mitfühlendes Verständnis für die Tragik Ihrer Patientenauswahl habe, aber meinen Sie nicht, daß wir jetzt, da wir das Problem ans Tageslicht gebracht haben, nicht vielleicht eine anständige Therapie durchführen können?« -2 6 5 -
»Ich nehme es an.« Kasslers Enttäuschung ließ mich glauben, daß ich den Nagel mehr oder weniger auf den Kopf getroffen hatte. »Also, Kassler, nehmen Sie's leicht. Es könnte letzten Endes doch gar nicht so schlecht ausgehen. Ich habe Ihnen die Große Antwort versprochen, wenn Sie mich heilen. Und Sie wissen, daß ich niemals einen Pakt breche. Das sollte Ihnen einiges wert sein!« »Ich hatte gehofft, daß Sie die letzte Verantwortung für den Wahnsinn tragen würden«, klagte Kassler. »Nun, auch das tut mir leid. Sie hätten es besser wissen sollen. Deuteronomium: ›Der Herr wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Verwirrung des Geistes.‹ Seine Idee. So steht es da. Schlagen Sie es nach.« »Ich glaube es Ihnen auch so«, antwortete Kassler. »Sie glauben doch an Gott?« Ein neues Problem fiel mir ein. »Wann empfanden Sie zum ersten Mal Zorn über die Phantasiebilder, die die Menschen von Ihnen entwarfen?« Kassler stürzte sich in die ernsthafte Psychotherapie. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Kassler. Ich fragte, ob Sie an Gott glauben.« »Ich glaube, daß sich Gott in der Harmonie aller Dinge, die existieren, offenbart.« »Ah, ja. Die Große Flucht. Intellektuelle Taschenspielerei. Die Antwort auf meine Frage, Kassler, lautet nein. Sie glauben nicht an Gott. Nein.« »Gott muß nicht anthropomorphisch sein, um zu existieren.« Kassler versuchte, sich herauszuwinden. »Nein. Aber wenn sich Ihre Vorstellung vom höchsten Wesen auf die begeisternden Wunder einer morgendlichen Sonne und eines nächtlichen Mondes beschränken, dürfte meine Gegnerschaft zu Gott, dem Allmächtigen, nur schwer zu verstehen sein, und das ist ein echtes Problem für mich. Sie haben mich verraten, Kassler. Und das gefällt mir gar nicht.«
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»Ich habe Sie nicht verraten. Sie haben mich nie nach meinen religiösen Überzeugungen gefragt.« »Sie wußten, daß Sie einen Patienten übernahmen, den Sie kaum behandeln konnten, weil sie gegen seine spirituelle Ausrichtung voreingenommen waren. Wenn Gott nicht existiert, dann existiere ich auch nicht. Sie sind nicht dumm.« »Ich habe Ihnen über meinen Glauben nichts vorgemacht.« Kassler wappnete sich für den Kampf. »Nein, aber als wir uns zum ersten Mal trafen, hatten Sie nicht den geringsten Zweifel an meiner Realität, wenn ich mich an die Umstände richtig erinnere«, stellte ich fest. »Die Dinge haben sich seit unserem ersten Zusammentreffen geändert.« »Ja, das haben sie. Und dadurch hätten Sie noch überzeugter werden sollen.« »Wenn meine Erinnerung korrekt ist, dann haben Sie vor einer oder zwei Sitzungen den König der Könige als so etwas wie einen tölpelhaften Schweinehund hingestellt.« Kassler machte das sehr gut. »Ich habe nie behauptet, daß Ihre Eindrücke nicht ein bißchen verzerrt waren.« »He«, kreischte Kassler, »wie haben wir es denn? Sie wollen mich davon überzeugen, daß es einen wahren Gott gibt?« »Es liegt mir im Blut, nehme ich an. Gott und ich, wir gehören zusammen wie ein aufeinander abgestimmtes Paar. Poe behauptete einmal, daß ich ein erfahrener Metaphysiker wäre. Ich tue es instinktiv.« »Ich habe immer Gorkijs Eindruck bevorzugt, daß Sie ein meisterhafter Ironiker sind, der sich weigert, das Skalpell seiner Ironie an der Tatsache seiner eigenen Existenz anzusetzen«, erwiderte Kassler mit etwas therapeutischer Heiterkeit. »Die majestätische Tatsache seiner eigenen Existenz«, verbesserte ich Kassler. »Sie haben ›majestätisch‹ ausgelassen.« »Ach, ja?« sagte Kassler. -2 6 7 -
»Jetzt spielen Sie falsch, Kassler.« Ich war erfreut darüber, daß ich meinen unsicheren Atheisten gepackt hatte. »Was halten Sie jetzt davon, wenn Sie mir etwas Psychotherapie angedeihen lassen würden, was, wie Sie sich zweifellos erinnern werden, unsere ursprüngliche Abmachung war. Wenn Sie keine Einwände haben, möchte ich noch einmal mit der Frage anfangen, warum ich Gott nicht seinen eigenen Weg gehen lasse und den meinen gehe. Warum muß ich damit fortfahren, jede verdammte Sache, die er falsch macht oder falsch machen wird, groß herauszustellen? In Ordnung, er schuf Mann und Frau, und es war von Anfang bis Ende eine schlechte Idee und ein schrecklicher Fehler, aber es ist vorüber. Warum kann ich es nicht dabei belassen?« »Ich nehme an, es kommt darauf an, was der Fehler war«, machte Kassler einen guten Einwand. »Also, wenn Sie es schon erwähnen, dann gab es da ein paar Klopse«, erinnerte ich mich. »Die Geschlechtsorgane«, nickte Kassler. »Keineswegs. Dieses Fiasko war nichts im Vergleich zu diesen hier: Zuerst einmal gab er dem Menschen das Gefühl der Schuld. Das war vermutlich der größte Fehler. Er hatte gedacht, daß das alle veranlassen würde, sich wohlzuverhalten. Natürlich hat es das Verhalten keines Menschen auch nur ein Jota beeinflußt. Die Menschen tun sowieso das, was sie tun wollen. Und dann, wenn die Schuld zu groß wird, werden sie verrückt. Sehr bequem.« »Wahnsinn kommt von Schuldgefühlen.« Kassler wollte sicher sein, daß er mich richtig verstanden hatte, und das hatte er auch. »Das sollte Sie eigentlich nicht überrascht haben.« »Sie glauben nicht, daß es ohne Schuld mehr offene Feindseligkeit geben könnte?« Die Vorstellung beunruhigte Kassler ein bißchen. »Nun«, machte ich ihm klar, »ich gehöre nicht unbedingt zu dem Typ, der die andere Wange hinhält, wie Sie vielleicht wissen. Ich habe immer nur beobachtet, daß Leute, die auch -2 6 8 -
die andere Wange hinhielten, Schläge auf beide Backen bekamen. Es sind schrecklich viele gute Christen durch die Gegend gelaufen, die man wegen dieser inhaltsschweren kleinen Parabel bis zum Erbrechen verprügelt hat. Ein kräftiger Antwortschlag könnte weitaus überzeugender gewesen sein. Ich habe nie einen Menschen gesehen, der fortfährt, jemandem Ohrfeigen zu versetzen, der dabei ist, einen zum Krüppel zu schlagen.« »Sie glauben nicht, daß die Schuld notwendig ist?« fragte Kassler. »Nein. Tatsächlich glaube ich, daß, wenn es die Schuld nicht gäbe, die Ideen von Christus, Freud und Einstein lediglich obskure historische Fußnoten in akademischen Texten wären und es uns allen viel besser ginge. Schuld hat sich als Desaster erwiesen.« »Ich denke, Christus und Freud kann ich noch verstehen.« Kassler versuchte, das Mysterium zu entschlüsseln. »Aber wieso Einstein?« »Einsteins Theorie wird allgemein verehrt, weil sie in kalter, harter Wissenschaft das bedeutendste Schuldlosigkeits-Alibi für schlechtes Verhalten während der ganzen Geschichte liefert«, erklärte ich. »Einstein hat absolut bewiesen, daß es immer auf den Standpunkt ankommt, von dem aus man die Dinge betrachtet.« »Ich glaube nicht, daß dies seine Absicht war.« »Natürlich ist es schwer, einen Mann, der eine Atombombe hervorbringen kann, nicht zu lieben«, sinnierte ich. »Wie wäre es mit Hiroshima als Beispiel für Auge um Auge, Zahn um Zahn? Schöne andere Wange, ja?« »Ich habe das Gesetz der Vergeltung für eine schwere Sünde gehalten, das mit Verdammnis in der Hölle bestraft wird.« Kassler erinnerte sich an irgendein obskures liturgisches Werk. »Machen Sie Witze? Glauben Sie, Sie könnten auf der Basis einer kleinen sadistischen Rauferei in die Hölle kommen? Halten Sie es für so einfach, daß jeder, der einem anderen -2 6 9 -
einen kleinen Schmerz zufügt, einen automatischen Paß erhält? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Bewohner wir dann hätten? In der Hölle kann man jetzt schon nur noch stehen, nicht mehr sitzen. Im Vergleich zu den heutigen Aufnahmemöglichkeiten hat Harvard noch nie etwas von Numerus clausus gehört. Sie hämmern an die Tore, kann ich Ihnen sagen. Fegefeuer? Limbus? Kein Zoll mehr frei. Wenn es keine Antibiotika gäbe, wären wir wirklich in der Bedrouille.« »Sie sagten, daß es ein paar Fehler wären, die Gott beim Entwurf des Menschen gemacht hat.« Kassler versuchte, mich zum eigentlichen Thema zurückzubringen. »Ah, ja, das habe ich gesagt, nicht wahr? Nun, der andere ist dieser lächerliche Wahn, daß der Mensch seinen Platz im Universum kennen muß. Ich kann es kaum fassen. Haben Sie eine Vorstellung davon, wieviel menschliche Energie jeden Tag von Leuten verschwendet wird, die darüber brüten, wo sie in den großen kosmischen Plan hineinpassen - vorausgesetzt natürlich, es gibt einen solchen, und ich kann Ihnen versichern, daß es ihn definitiv nicht gibt. Es ist genauso, als würde sich ein Sandkorn fragen, warum es am Strand liegt. Was für einen möglichen Unterschied würde es machen?« »Es verleiht unserem Leben eine tiefere Bedeutung.« »Als was? Tiefer als was? Tiefer, als einen anderen Menschen zu lieben? Tiefer als eine Wanderung durch die Wälder? Tiefer, als der Vater eines Kinds zu sein?« Ein langes Schweigen trat ein. Ich wußte, was Kassler durch den Kopf ging, und so ergriff ich wieder das Wort. »Die letzte Bemerkung tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.« »Sie haben über die schrecklichen Fehler gesprochen, die bei der Erschaffung des Menschen gemacht wurden«, sagte Kassler mit wachsendem Zorn. »Hören Sie, ich sagte, daß es mir leid tut.« »Und ich sagte, erzählen Sie mir was über die verdammten Fehler«, schnappte Kassler. -2 7 0 -
»Ich habe Ihnen von den Fehlern erzählt.« Ich wurde selbst ein bißchen gereizt. »Also vergessen Sie es und kommen Sie zur Psychotherapie zurück.« »Ich bin bei der Psychotherapie!« »Den Teufel sind Sie!« »Den Teufel bin ich!« »Kassler, ich bin Satan. Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Seit drei Sitzungen sitzen Sie hier, paffen an Ihrer Pfeife, kritzeln Notizen und putzen Ihre Brille, während ich Witze mache und Sie schnippische Antworten geben. Ich bin sehr beleidigt. Ich habe Sie für etwas Besonderes gehalten. Sie sind eine große Enttäuschung für mich, Kassler. Bei Ihren anderen Patienten kämen Sie damit nicht durch. Sie nehmen mich nicht ernst, und das fängt an, mich zu ärgern.« »Schreiben Sie es meinem vorhandenen Atheismus zu«, sagte Kassler kalt. »Sie erwarten, daß ich das glaube? Ihr Atheismus ist ein wertloses Hobby, Kassler. Ungläubigkeit ist heute in großer Mode. Es ist der größte Club der Welt. Jeder, der keinen Mumm hat, kann beitreten. Man braucht Courage, um zu glauben. Sie sind ein Feigling, Kassler. Sie glauben nicht an mich. Sie glauben nicht an Gott.« »Mein Glaube steht nicht zur Debatte«, sagte Kassler kurz. »Ach, wirklich? Sie wollen Satan behandeln, den Fürsten der Hölle, den Vater der Verdammten, die Alte Schlange, die Herrschaft über Menschen und Erde besitzt, ohne an irgend etwas zu glauben? Ist es das, was Sie sagen wollen?« »Ich sage gar nichts. Sie haben sich mich ausgesucht. Es war Ihre Wahl.« »Und meinen Sie nicht, daß ich ein Recht darauf habe, die Grundlage Ihrer Arbeit mit mir zu erfahren?« »Ich habe Ihnen alles gesagt. Den Gott, von dem Sie sprechen, akzeptiere ich nicht. Ich habe meinen eigenen Gott, in gewisser Weise, oder auch überhaupt keinen. Und ich beziehe das Konzept von der Bedeutung des Lebens nicht auf -2 7 1 -
mich. Offenbar gehöre ich nicht zu den Individuen, die sich mit der Sorge um ihren Platz im Universum selbst verzehren. Genügt Ihnen das?« »Nicht ganz. Das Leben ist bedeutungslos? Ist das Ihre Position?« Ich blieb Kasslers Ausflüchten auf der Spur. »Wenn Sie so wollen... Es ist nicht genau das, was ich sagte, aber für jetzt kommen wir damit weiter.« »Prächtig«, sagte ich. »Dann erklären Sie mir doch bitte mal, warum sich jede Pore Ihres Körpers dagegen stemmt, dies zu akzeptieren. Warum die ganze Aufregung? Wenn alles so einfach ist, warum gibt sich Ihre Seele dann nicht mit dem Nichts zufrieden? Sie scheinen keine Schwierigkeiten zu haben, Gott zu leugnen. Wo also liegt das Problem?« »Was haben wir denn hier - den Testen-wir-Sy-KasslersGlauben-Tag? Gott ist etwas anderes, und damit hat es sich.« »Nicht der Eine, der mich hier runter geworfen hat, das ist er nicht!« »Hören Sie zu!« Kassler befand sich in einer sehr erregten Verfassung »Wenn Sie so verdammt frustriert sind, weil man Sie aus dem Himmel geworfen hat, warum gehen Sie dann nicht einfach zu diesem Gott, was auch immer und wo auch immer er ist, und sagen dem tölpelhaften Schweinehund, daß es Ihnen leid tut. Gott ist gnädig. Er wird Sie wieder aufnehmen.« »Nun, das ist der springende Punkt.« Ich versuchte, die Lage zu beruhigen. »Sehen Sie, Satan zu sein bedeutet, daß man niemals ›Es tut mir leid‹ sagen muß.« »Wir müssen aufhören«, knurrte Kassler. »Das dachte ich mir«, knurrte ich zurück.
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V. Teil Dantes Inferno 1 Kassler wußte, daß es nicht einfach werden würde, und das stimmte auch. Dantes Inferno war nicht unbedingt Lupas Kragenweite, und so dauerte es bis zu einem windigen kalten Schneetag im Januar des Jahres 1975, fast sieben Monate nach der Erwähnung des Bads durch Norman Meltz, daß es ihm gelang, seine liebe Freundin von den bildungsmäßigen Vorteilen zu überzeugen, die ein Besuch des Etablissements erbringen mochte. Während der dazwischenliegenden Monate hatte Leo Szlyck, wie es schien, seine geistige Verfassung soweit geordnet, um einer der ersten Patienten sein zu können, die aus dem Phlegethon entlassen wurden, um, wie vom Gericht angeordnet, ein produktives Leben in der Gemeinschaft zu führen. Nur daß Szlyck sofort nach seiner Freilassung in seiner imposanten Bolge verschwand und seitdem nichts mehr von sich hören ließ. Auch Norman Meltz hatte seine Freiheit wiedergewonnen und war aus gleichermaßen unklaren Gründen ebenfalls verschwunden. Das letztemal hatte man ihn in seinem alten blauen Buick in der Fourth Avenue ein kreischendes junges Mädchen verfolgen sehen, das mit rekordverdächtiger Geschwindigkeit vor ihm davongelaufen war. Dies geschah 1974, in jenem Sommer, in dem es zum tragischen Rücktritt des vielgeschmähten Präsidenten Nixon kam, der noch dann seine Unschuld beteuerte, als die Tonbänder kartonweise an Bord der Air Force One verstaut wurden, um feierlich nach San Clemente zurückgebracht zu werden.
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Kassler, bei dem die historischen Implikationen nicht ganz so gewichtig waren, begann in jenem Sommer die Unvermeidbarkeit seiner eigenen mißlichen Situation zu akzeptieren. Mehrere Versuche, den Richter dazu zu bewegen, die Besuchszeit bei seinen Kindern zu erhöhen, waren gescheitert. Kassler tat, was er konnte, um fünf Stunden in der Woche ein Vater zu sein, und wartete auf den Anfang des Jahres 1976, wenn es zur ›Hauptverhandlung‹ - das Wort wirkte auf Kassler wie ein kräftiger Schock bei einem bereits aufs höchste gereizten Versuchstier - kommen würde. In der Zwischenzeit stand es zwischen Kassler und seinen Kindern nicht zum Besten. Zum Weihnachtsfest, dem ersten ohne seine Familie, hatte Lupa ihn eingeladen, die Feiertage mit ihr bei ihren Eltern in Connecticut zu verbringen, aber Verpflichtungen im Phlegethon gestatteten es nicht, daß er die Stadt verließ. Als einer der neuen Belegschaftsangehörigen war er Heiligabend und am ersten Weihnachtstag zum Bereitschaftsdienst eingeteilt worden. So wanderte Kassler Heiligabend also deprimiert in seinem Appartement umher und sah sich im Fernsehen bewegende, unter dem Motto ›Frieden auf Erden‹ und ›Seid nett zueinander‹ stehende Sendungen an, die voller lieblicher Melodien waren und den Zauber von Herd und Familie priesen, bis es so schlimm wurde, daß selbst er es nicht länger ertragen konnte und ins Bett ging. »Hier ist Daddy, Josh«, sagte Kassler am nächsten Morgen telefonisch. »Fröhliche Weihnachten.« »Fröhliche Weihnachten, Daddy«, sagte Josh. »Wird das ein langes Gespräch? Ich will nämlich mit meinen neuen Spielsachen spielen.« »Nein«, sagte Kassler. »Ich wollte nur hören, wie es dir heute morgen geht, und dir fröhliche Weihnachten wünschen.« »In Ordnung«, antwortete Josh. »Fröhliche Weihnachten. Tschüs.« Joy kam ans Telefon.
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»Fröhliche Weihnachten«, sagte Joy, ihren Bruder nachahmend. »Tschüs.« Und sie legte den Hörer auf. Minutenlang saß Kassler mit dem Hörer in der Hand auf der Couch und starrte die Wand an. Dann legte er auf, ging zum Plattenspieler hinüber, stellte den automatischen Plattenwechsler an, kehrte zur Couch zurück und hörte sich zum neunten Mal in dieser Woche eine ungekürzte Aufnahme von Handels Messias an. Wie sich herausstellte, hatte Kassler große Pläne gemacht, um mit den Kindern eine eigene Weihnachtsfeier abzuhalten. Den Sonntag vorher hatten sie einen Baum gekauft und geschmückt, und an dem Sonntag, der dem Weihnachtsfest folgte, das der Rest der Welt bereits gefeiert hatte, trafen die Kinder unter den freudvollen Klängen der Ray Conniff Singers, die eine dreiteilige harmonisierte Fassung von ›Joy to the World‹ darbrachten, ein. Ein bescheidener Stapel von Geschenken lag unter den blinkenden, farbigen Lichtern des Weihnachtsbaums. »Oh, Daddy«, sagte Josh mit kindlichem Abscheu, »nicht schon wieder Weihnachten. Wir hatten bereits Weihnachten.« »Wir hatten schon Weihnachten«, echote Joy. »Aber nicht mit mir«, sagte Kassler. »Erinnert ihr euch noch daran, wie wir Weihnachten immer zusammen gefeiert haben?« »Nein«, sagte Josh. »Nein«, sagte Joy. »Aber sicher tut ihr das«, sagte Kassler. »Erinnert euch daran, wie wir letztes Jahr all die...« Kassler merkte, daß er den Satz nicht ohne Tränen beenden konnte und so unterbrach er sich und holte tief Luft. »Nun«, sagte er, als er seine Fassung wiedergewonnen hatte, »dies ist Weihnachten mit Daddy.« »In Ordnung«, sagte Josh. »Aber die ganze Musik, der Baum und alles - es kommt mir albern vor.« »Ich dachte, es wäre hübsch«, sagte Kassler. »Ich stelle die Musik ab und mache die Lichter des Baums aus.« -2 7 5 -
Josh blickte seinen Vater an und erkannte, daß er verärgert war. »Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Du kannst sie anlassen, wenn du willst. Mir ist es wirklich egal.« Dann, als er zu den Geschenken hinüberging, fügte er noch leise hinzu: »Nur daß es irgendwie blöde ist.« »Dann stelle ich die verdammten Sachen ab«, sagte Kassler laut. Dann ging er zum Plattenspieler, schaltete ihn aus, marschierte zum Baum und zog den Stecker der Lichter heraus. »So«, sagte er. »Ist es jetzt besser?« Joy fing an zu weinen. Kassler ging zu ihr hinüber und nahm sie auf den Arm. »Tut mir leid, daß ich geschrien habe«, sagte er und drückte seine Tochter an sich. »Daddy ist wohl ein bißchen nervös. Kommt. Viele Geschenke, die ihr aufmachen könnt. Du auch, Josh. Fang mit dem großen in dem grünen Papier an.« Josh riß hastig das Papier weg, während Kassler Joy half, ihre Geschenke auszupacken. »Oh, toll, Daddy«, sagte Joshua zufrieden. »Ein LegoKasten. Genau der, den ich haben wollte. Bauen wir etwas zusammen?« »Sicher.« Kassler hatte Joys Geschenk jetzt ausgepackt. »Sieh doch, Joy, eine große Puppe, die du baden, anziehen und kämmen kannst.« »Machen wir es jetzt?« fragte Josh. »Willst du nicht zuerst die anderen Geschenke aufmachen?« fragte Kassler, während er die Kleider von Joys Puppe aus der Schachtel nahm. »Nein, ich möchte, daß du mir hilfst, mit meinen LegoSteinen ein Fort zu bauen.« Josh war hartnäckig. »Im Augenblick kann ich nicht, Josh. Ich muß Joy bei ihren Geschenken helfen. Warum packst du nicht das andere grüne da drüben aus?« -2 7 6 -
»Ich will nicht. Ich will mit meinen Lego-Steinen spielen.« »Später.« »Bitte.« »Ich sagte nein.« Da nahm Josh die mit Hunderten von kleinen gelben und schwarzen Plastikteilen gefüllte Schachtel und schleuderte ihren Inhalt quer durch das Zimmer. »Jetzt reicht's!« schrie Kassler. Er wollte Joshua auf sein Zimmer schicken, aber es gab in dem anspruchslosen Appartement keinen anderen Raum, und so konnte er nur weiterschreien: »Keine Geschenke mehr!« »Mir egal!« gab Josh schnippisch zurück. »Ich habe genug andere Geschenke zu Hause.« »Setz dich auf die Couch. Ich will kein Wort mehr von dir hören.« Josh trottete trotzig zu der verschlissenen Couch hinüber und ließ sich mürrisch darauf nieder. Kassler wandte sich wieder Joy zu und öffnete andere Geschenke. »Hier ist ein Kindergarten mit lauter kleinen Leuten, die du auf Schaukeln setzen kannst, eine Wandtafel und kleine Stühle, auf denen sie sitzen können.« »Oh, Daddy«, lächelte Joy. »Das gefällt mir. Was noch?« »Ich halte das für Murks«, kommentierte Josh von der Couch aus. »Ich habe dir gesagt, daß ich nichts von dir hören will«, antwortete Kassler. »Was macht es schon für einen Unterschied? Ich bekomme sowieso keine Geschenke mehr. Was willst du denn noch machen - mich verhauen?« »Eine Tracht Prügel könnte genau das sein, was du brauchst«, machte Kassler ihm klar. »Mami sagt, daß ich es ihr erzählen soll, wenn du mich jemals verhaust, und dann sagt sie es dem Richter, und du siehst uns niemals wieder. Niemals!« -2 7 7 -
»Nun, da irrt sie sich. Väter dürfen ihren Kindern eine Tracht Prügel geben, wenn sie böse sind.« Kassler war sich über die Konsequenzen nicht im klaren, hatte aber trotzdem große Wut auf Vita. »Was noch, Daddy?« fragte Joy. »Warum sehen wir nicht nach?« Kassler griff nach weiteren Geschenken. Joy riß das Papier ab. »Es ist Knetgummi«, sagte Kassler. »Alles verschiedene Farben, blau und rot, gelb und weiß. Und dazu gehört auch das nächste Paket hier.« Joy zerfetzte das Papier. »Siehst du?« sagte Kassler. »Förmchen für den Knetgummi, mit denen du Schlangen und Bälle, Sterne und Herzen machen kannst.« »Oh, schön«, sagte Joy. »Was noch?« »Mami hat ihr schon so eins geschenkt«, sagte Joshua. »Jetzt hat sie zwei.« »Halt den Mund, Josh.« »Was noch?« fragte Joy. »Ich fürchte, das ist alles«, sagte Kassler. »Ich will noch mehr«, sagte Joy. »Aber sieh doch, was du alles bekommen hast.« Kassler umarmte seine Tochter. »Die große Puppe mit all den Kleidern, den Kindergarten mit all den Figuren, den Knetgummi und die Förmchen, ganz viele Sachen.« »Ich will noch mehr«, wiederholte Joy. »Mami hat jedem von uns zehn Sachen gekauft«, verkündete Josh, stellte sich auf die Couch und fing an, auf und ab zu hüpfen. »Zehn! Und auch noch Süßigkeiten.« »Mit meinem gottverdammten Geld!« Kassler war wütend. »Was meinst du, woher sie all das Geld hat, um Geschenke zu kaufen?«
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»Es ist unser Geld.« Josh stemmte die Hände in die Hüften und blickte seinen Vater an. »Mami sagt, der Richter hat dir gesagt, daß du für uns bezahlen mußt, weil du unser Daddy bist. Und dein Rechtsanwalt hat ihm gesagt, daß du nicht bezahlen willst.« Kassler ging zu Joshua hinüber. »Mein Anwalt hat den Richter gebeten, mich weniger Geld zahlen zu lassen, nicht kein Geld. Ich brauche auch Geld, um leben zu können. Womit soll ich mein Appartement und mein Essen, das Benzin, das Auto und alles andere bezahlen?« Joy fing an zu weinen. Kassler war zu wütend, um sie zu trösten. Er packte Joshua an den Armen, hielt ihn ganz fest und fing an, ihn zu rütteln. »Ich muß auch essen! Willst du, daß ich keine Wohnung und kein Essen habe? Ist es das, was du willst? Willst du überhaupt keinen Daddy haben?« »Ja«, schrie Joshua. »Es ist mir jetzt egal. Ich sage Mami, daß du mich geschlagen hast. Du wirst uns nie wiedersehen. Nie!« »Ist es das, was du willst?« Kassler lockerte den Griff um seinen Sohn. »Ja.« Kleine Tränen begannen sich in Joshuas Augen zu sammeln. »Warum?« »Weil du nicht da warst, als ich Weihnachten aufstand. Ich war ganz allein. Ich wollte dich Weihnachten so gerne sehen, Daddy. Das wollte ich wirklich. Mami hat den ganzen Morgen geschlafen, und ich mußte Joy bei ihren Geschenken helfen. Ich vermisse dich, Daddy. Bitte komm wieder nach Hause. Bitte.« Joshua verbarg den Kopf an der Brust seines Vaters und schluchzte. »Ich habe dich angerufen.« Kassler drängte seine Tränen zurück, während er Joshua immer wieder sanft über das blonde Lockenhaar strich. »Du wolltest nicht mit mir reden, erinnerst du dich?«
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»Mami sagt, daß du dir nichts mehr aus uns machst. Sie sagt, daß du Weihnachten mit deiner neuen Freundin verbringen wolltest.« Joshua fuhr fort, an der Brust seines Vaters zu weinen. »Lupa?« fragte Kassler. »Du kennst Lupa. Lupa war weit weg. Ich war ganz allein.« Joy hatte aufgehört zu weinen und beobachtete, was sich auf der Couch tat. Jetzt kam sie herübergewackelt und griff nach Kasslers Knie. Kassler hob sie hoch. Dann setzte er sich auf die Couch, Joy auf dem einen Knie, Joshua auf dem anderen, und versuchte unter Tränen, mit den Kindern zu reden. »Auch ich wollte am ersten Weihnachtstag so gerne bei euch sein«, sagte er. »Ich hätte alles dafür gegeben. Ich habe euch sehr vermißt.« Dann legte er die Hand auf Joshuas weiche Wange und drehte seinen Kopf so, daß er ihn ansehen konnte. »Ich mach mir aus dir und Joy mehr als aus allem anderen in der Welt«, sagte er, während ihm die Tränen die Wangen hinabliefen» »Komm, ich helfe dir, die Lego-Steine aufzusammeln, Josh, und dann sehen wir nach, was du sonst noch bekommen hast, einverstanden?« »Ich liebe dich, Daddy«, sagte Joshua. »Ich liebe dich, Daddy«, sagte Joy. »Ich liebe euch auch«, sagte Kassler und fing an, die kleinen gelben und schwarzen Plastikrechtecke aufzuheben. Als die Lego-Steine eingesammelt und die übrigen Geschenke aufgemacht waren, blieb Kassler weniger als eine halbe Stunde Zeit, bevor er die Kinder zurückbringen mußte. »Können wir unsere Spielsachen mit nach Hause nehmen?« fragte Joshua. Kassler holte tief Luft und ließ sich auf ein Streitgespräch ein, von dem er wußte, daß es sehr schwierig werden würde. »Nun«, sagte er, »ich dachte, daß diese Spielsachen vielleicht hier bleiben sollten. Ihr habt sonst überhaupt nichts hier, womit ihr spielen könnt.« -2 8 0 -
»Wir bringen sie beim nächsten Mal wieder mit«, bettelte Joshua. »Aber du weißt doch, daß das bisher nie geklappt hat, Josh. Alle Spielsachen scheinen kaputtzugehen oder es fehlen irgendwelche Teile, und dann ist nichts mehr da, was ihr mitbringen könnt.« »Wir werden diesmal wirklich gut darauf aufpassen, nicht wahr, Joy?« Joshua wandte sich zwecks Unterstützung an seine Schwester. »Ja?« Joy blickte Joshua an, um festzustellen, ob dies die gewünschte Antwort war. »Siehst du?« sagte Joshua. »Aber es klappt nie.« Kassler versuchte, geduldig zu sein. »Du und Joy, ihr habt wirklich Schwierigkeiten, eure Sachen in Ordnung zu halten.« »Diesmal werden wir es tun.« »Wie wäre es mit einigen von den Spielsachen?« versuchte es Kassler. »Nein, alle!« Joshua stampfte trotzig mit dem Fuß auf. »Keine!« Kassler ertappte sich dabei, daß er genauso trotzig sprach, obwohl er es gar nicht wollte. »Es sind unsere Spielsachen.« »In diesem Haus.« »Du hast sie uns geschenkt!« »Um hier damit zu spielen!« »Ich will meine Puppe«, schaltete sich Joy ein. »Du kannst deine Puppe haben, Joy«, erklärte Kassler. »Sie wird nächsten Sonntag hier sein.« »Wie viele Tage?« Joy versuchte, richtig zu verstehen. »Jede Menge«, informierte Josh sie. »Komm, Daddy, wir haben überhaupt keine Zeit gehabt, um mit ihnen zu spielen.« »Das war nur, weil du deinen Wutanfall hattest und wir die ganze Zeit brauchten, um die Lego-Steine einzusammeln.« -2 8 1 -
»Bitte, Daddy.« »Josh, ich habe euch während des vergangenen Jahres Dutzende von Spielzeugen geschenkt, und kein einziges davon ist jemals wieder vollständig hier angekommen.« »Das ist mir egal! Es sind meine Spielsachen! Du hast sie mir geschenkt. Ich kann mit ihnen machen, was ich will.« Kassler blickte auf seine Uhr. Es war Zeit zu gehen. »Schön! Du willst sie mit nach Hause nehmen? Nimm sie mit! Wenn du wieder herkommst, hast du eben nichts zu spielen, das ist alles. Du wirst dich langweilen.« »Ich langweile mich hier sowieso immer!« »Zieh deinen Mantel an«, schnappte Kassler. »Und du auch, Joy.« Er nahm die Spielsachen und brachte die Kinder und ihre Geschenke nach Hause, denn seine fünf Weihnachtsstunden waren vorüber. Zum ersten Mal fing Kassler an, darüber nachzudenken, ob es nicht besser sein würde, wenn er seine Kinder niemals wiedersah. Die wöchentlichen Fünf-Stunden-Besuche waren unerträglich geworden. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Kinder sich an den Übergang in Kasslers Obhut gewöhnt hatten, war es schon wieder so weit, daß sie zu Vita zurück mußten, ein Umstand, der noch größere Übergangsprobleme hervorrief. Die Weihnachtsfeier war der letzte Strohhalm gewesen, und nun kam Kassler langsam zu der Überzeugung, daß seine Beziehung zu den Kindern dem Untergang geweiht war. Vita konnte dem nur zustimmen. Die Schwierigkeiten, die Kinder nach den Besuchen bei ihrem Vater zu beruhigen, machten ihr schwer zu schaffen und brachten sie bis an die Grenze ihres nicht gerade ausgeprägten mütterlichen Repertoires. Was der bald von ihr geschiedene Ehemann nicht wußte, war, daß Südkalifornien Vita lockte, nicht nur wegen des milden subtropischen Klimas, sondern auch wegen der ungefähr fünfzehnhundert Kilometer, die zwischen Citadel und San Diego lagen und Besuche unmöglich machten. Daß ein solcher Umzug höchstwahrscheinlich die letzten Überbleibsel von Kasslers zerrissenem Herzen zerstören würde, betrachtete -2 8 2 -
Vita als eine der tragischen und unausweichlichen Konsequenzen einer Liebe, die falsch gelaufen war. Kassler würde darüber hinwegkommen, glaubte sie. Es war dieses Thema, die sich auflösende Beziehung zu seinen Kindern, das Kassler beschäftigte, als er in jenem Januar mit Lupa in der langen Reihe vor dem Dantes Inferno stand, mit den Füßen auf das geborstene Pflaster stampfte, um in der bitteren Kälte den Kreislauf anzuregen, und sich den schmutzigen grauen Schnee von Haar, Bart und Mantel wischte. »Ich weiß es also wirklich nicht«, beendete er seinen Bericht von der Weihnachtsfeier mit den Kindern. »Ich beginne mich zu fragen, ob das alles noch einen Wert hat.« »Es stehen wirklich viele Leute in dieser Schlange.« Lupa reckte den Hals, um zu sehen, wie viele Menschen noch vor ihnen waren. »Es gibt eine neue Schule psychiatrischer Überlegungen. Sie glauben, daß die Kinder, abgesehen von extremen Situationen, nach der Scheidung bei ihrer Mutter bleiben und ihren Vater niemals wiedersehen sollten.« »So gut wie alles Paare«, schätzte Lupa die Menge ab. »Ich frage mich ob sie zusammenbleiben oder oft den Partner tauschen.« »Sie glauben«, fuhr Kassler fort, »daß der Vater ein ganz neues Leben anfangen sollte.« »Alle wirken so gelassen, als ob sie es schon seit Jahren tun würden« machte Lupa mit ihrer Beurteilung weiter. »Die Mutter heiratet gewöhnlich sowieso wieder, so daß die Kinder einen ständigen Ersatzvater bekommen.« »Ich versuche Leute zu entdecken, die eine abartige Ader haben, jemanden mit einer Peitsche oder einem künstlichen Penis in der Handtasche.« »Und die Konflikte, Loyalitäten, Umgewöhnungen und all das werden den Kindern, die immer in der Mitte stehen, völlig
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erspart. Vielleicht haben sie recht. Vielleicht sollte ich einfach verschwinden.« »Also«, sagte Lupa und nahm Kasslers Arm, »das ganze romantische Gerede hat mich jedenfalls angespitzt. Du verstehst es wirklich, sexy zu sein, Sy, das muß ich dir lassen.« »Am besten sollte ich wohl einfach abwarten, was bei der Gerichtsverhandlung herauskommt«, antwortete Kassler. Und Kassler und Lupa bewegten sich ein paar Schritte weiter auf Dantes Inferno zu.
2 Kassler entgingen nicht nur Lupas Kommentare, als er in der Schlange darauf wartete, in die große glitzernde Frevlerhöhle eingelassen zu werden, deren Eingang von hell aufleuchtenden, Mistgabeln schwingenden roten Neonkreaturen mit gespaltenem Schwanz und zwei Hörnern geschmückt wurde, die eine Identität jenseits meiner Vorstellungsgabe besaßen. Was Kassler nicht auffiel, war die Tatsache, daß sich seine ureigenen Moleküle langsam, aber unausweichlich veränderten, wobei ihre letztendliche Gestalt noch festgelegt werden mußte. Kassler konnte kaum dafür verantwortlich gemacht werden. Den ganzen Tag über war sein Gehirn mit der sich rapide verschlechternden Situation in der Regressiven-Station beschäftigt, in der das Pflegepersonal rund um die Uhr arbeitete, um die Patienten auf die unvermeidbare Befreiung aus der Gefangenschaft des Phlegethons vorzubereiten. Patienten, die sich ihr ganzes Leben damit zufrieden gegeben hatten, zu essen, zu schlafen, hin und her zu schaukeln und, bei einigen Gelegenheiten, Kleider anzuziehen, wurde nun erzählt, daß dies nicht länger ausreichte. Sie mußten sich Talente aneignen, die sie zu produktiver Arbeit befähigten. Ein örtlicher Süßwarenfabrikant hatte mit dem Phlegethon einen Vertrag über das Ausstopfen von Osternestern mit -2 8 4 -
Kunstgras abgeschlossen, und so bemühten sich Schwestern und Pfleger vom Frühstück bis zum Abendessen, den Patienten die Ausführung dieser einfachen Aufgabe beizubringen. Am Abend waren die Patienten der Hysterie nahe, und das Personal lief, vor nervlicher Erschöpfung schreiend und weinend, durch die Flure, die fußhoch mit demolierten gelbvioletten Bambuskörbchen und zerfetztem grünen Papier übersät waren. Nicht daß dies das einzige Problem war, das Kasslers Gedanken tagsüber in Anspruch nahm. Die Therapie seiner eigenen Patienten lief nicht gut, und wenn nicht die Freundschaft gewesen wäre, sowohl beruflich als auch menschlich, die sich zwischen ihm und Sam Zelazo entwickelt hatte, dann hätte er das Praktizieren der Psychotherapie gänzlich aufgegeben. So hing Kasslers Arbeit nur noch an einem seidenen Faden - seine Patienten präsentierten ihm ohne die geringste Abweichung wieder und wieder dieselben Geschichten und dieselben Verhaltensweisen, bis ihm vor Langeweile und Frustration nahezu schwindlig wurde. Zelazo begleitete die Zusammenarbeit mit Kassler und sein wachsendes Vertrauen mit einer Mischung aus guten Ratschlägen, harten neuro-wissenschaftlichen Daten, moralischer Unterstützung und einem gelegentlichen, aber willkommenen Sinn für trockenen Humor. Dennoch blieb Zelazo so geheimnisvoll wie eh und je. Kassler wußte buchstäblich nichts über sein Privatleben. Und Zelazos verrückte Bemühungen, jeden Leichnam in seine Obhut zu nehmen, bevor er kalt war, setzten sich unabläßlich und erklärungslos fort. Als ob dies nicht genug gewesen wäre, um Kasslers Synapsen während der Stunden des Tages voll beschäftigt zu halten, schloß jeder Tag im Phlegethon mit einer Zusammenkunft der jetzt ›Entlassungs-Komitee‹ genannten Drei-Personen-Gruppe, die Zelazo bestimmt hatte, um darüber zu entscheiden, wie ein beliebiger Patient am besten zu entlassen war.
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Wenn die einzelnen voluminösen Aktenordner besprochen wurden, legte sich Bernie Kohler stets vehement für die Notwendigkeit ins Zeug, den Patienten schnellstens in die Gesellschaft zu überführen. Dann trug Kassler freimütig seine Meinung von der Unvernunft eines solchen Tuns vor. Schließlich schlichtete Bea Chaikin, indem sie feststellte, daß der Patient in der Tat für sein neues Leben in der Gesellschaft bereit gemacht werden mußte, aber vielleicht nicht so schnell, wie es Bernie Kohler wollte. »Wir müssen die Stärken des Patienten fördern«, sagte Bea ruhig zu Kassler und Kohler. »Welche Stärken?« fragte Kassler, während er Hunderte von Seiten durchblätterte, die ein menschliches Leben dokumentierten, das ausschließlich darin bestand, mit Klinikgrün gestrichene Wände anzustarren. »Wir haben alle unsere Stärken, wenn sich nur jemand die Mühe gibt, sie zu finden«, erklärte Bernie. »Ich bin sicher, daß wir alle dies tun«, gab Kassler zurück. »Andererseits hat man bei Stanley Bolash zum letzten Mal vor knapp dreiundzwanzig Jahren registrieren können, daß er sich selbst seine Schuhe zubindet.« »Was willst du damit sagen?« fragte Bernie heftig. »Daß wir ihn für immer hier einsperren müssen, weil er mit schleifenden Schuhbändern durch die Stadt laufen wird? Er fällt also hin und schrammt sich leicht das Knie auf. Na und?« »Warum fangen wir nicht damit an, zu prüfen, ob wir Mr. Bolash beibringen können, seine Schuhe zuzubinden?« warf Bea ein. Sie machte auf dem neuen Entlassungsformular eine Notiz. »Das dürfte doch ein guter Anfang sein, meinst du nicht auch, Sy?« Bea lächelte freundlich. »Möglich«, murmelte Kassler. »Was meinst du, Bernie?« fragte Bea. »Sicher«, stimmte Bernie mürrisch zu. »Warum nicht?« »Und dann«, sagte Kassler, »wenn wir ihn dazu bringen können, seine eigenen Schuhe zuzubinden, dann können wir -2 8 6 -
ihn anschließend dazu bewegen, sich die Zähne zu putzen, sich zu baden und schließlich eine große Firma zu managen.« »Du bist nicht sehr hilfreich, Sy«, stellte Bea taktvoll fest. Und da Kassler Bea Chaikin inzwischen sehr viel Respekt und Zuneigung entgegenbrachte, seufzte er einfach nur resigniert. »Nein, wohl nicht«, sagte er leise. Und sein Bewußtsein begann in den nächtlichen Kreislauf abzuschweifen, in dem es sich mit anderen Dingen beschäftigte. Nachts wurde Kasslers Hirnchemie bis auf das letzte Methylmolekül beansprucht. Vita hatte durch ihren Anwalt den vorsorglichen Schritt unternommen, sein Sparkonto einfrieren zu lassen, und so war ein großer Teil von seinen neuralen Schaltwegen der Aufgabe gewidmet, Strategien für den totalen Krieg gegen Vita Volpe Kassler zu entwickeln. Die wenigen Synapsen, die noch übrigblieben, wurden sozusagen von den Gedankengängen überschwemmt, wie er es anstellen sollte, unter den gegebenen Umständen eine Beziehung zu seinen Kindern aufrechtzuerhalten, wie viele Tage er mit seinem laufenden Gehalt noch überleben konnte und nicht zuletzt auch, was zu tun war, um sein Verhältnis zu Lupa weiterzubringen. Lupa ihrerseits stand Kasslers Bedürfnissen nicht ohne Mitgefühl gegenüber, hatte aber beide Hände voll damit zu tun, ihr aufblühendes Geschäft als Innenarchitektin zu führen und gleichzeitig den täglichen Ansturm der Briefe und Telefonanrufe Leo Szlycks abzuwehren, mit denen er sie verzweifelt bat, zu ihm zurückzukommen, und ihr für den Fall der Weigerung schreckliche Konsequenzen androhte. Um in dieser Hinsicht einen Anfang zu machen, legte Szlyck bei Gericht Widerspruch gegen Lupas mexikanische Scheidung ein, die sie, wie er behauptete, durchgesetzt hatte, als er nicht bei ›klarem Verstand‹ gewesen war. Als das einzige andere lebende Wesen in Szlycks Bolge war ich mehr als ein bißchen in seine jetzt wieder klaren Gedankengänge eingeweiht, aber davon später mehr. Sagen -2 8 7 -
wir jetzt einfach, daß meine nicht unbeträchtlichen Überzeugungstalente auf eine sehr harte Bewährungsprobe gestellt wurden. Es scheint nämlich so, als ob Leo zusätzlich zum Entwerfen sadistischer Pläne gegen Lupa, seinen alten Feind Zelazo und mehrere untergeordnete Sachbearbeiter beim Finanzamt beschlossen hatte, mich - wie soll ich es elegant ausdrücken? ›ins ewige Himmelreich zu bomben‹. Ich sage ›elegant‹, weil sich Leo mir gegenüber in Begriffen ausdrückte, die man üblicherweise nur für die Beschreibung der weniger liebenswerten Aspekte sexueller Aktivitäten benutzt. Leo Szlyck war kein glücklicher Mensch. Nicht, daß ich es ihm gänzlich verübeln kann. Am Vorabend des Tages, an dem Kassler und Lupa zum Land der Libido in Citadel aufbrachen, hatte Szlyck den für ihn entscheidenden letzten Schlag versetzt bekommen. Es war ein besonders kalter Abend, und Szlyck unternahm mit Cerberus einen Verdauungsspaziergang, der ihn, vor allem weil er tief in verschwörerische Gedanken versunken war, quer durch die halbe Stadt führte. Plötzlich, als er um die Ecke bog, wurde er durch einen Tumult in der Straße vor ihm aus seinen Überlegungen gerissen. Eine große Menschenmenge hatte sich auf dem Bürgersteig versammelt und versperrte ihm die Sicht auf das, was in ihrer Mitte vor sich ging, aber Szlyck konnte das Geschrei gut genug verstehen. »Sie haben mich ruiniert!« brüllte ein Mann. »Sie haben mich ruiniert, Sie beschissenes Arschloch von einem Seelenklempner!« »Nicht hier, Norman.« Szlyck erkannte Kasslers Stimme, als ihn Cerberus zu der Menschenmenge hinüberzog. »Sehen Sie nur, was Sie mir angetan haben!« schrie Norman Meltz seinen ehemaligen Therapeuten an.
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»Bitte, Norman.« Kassler versuchte, seinen verwirrten Expatienten zu beruhigen. Leo Szlyck erreichte den Rand der Menge und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die mit dicken Jacken und hochgestellten Kragen geschützten Schultern hinwegblicken zu können. Er sah Sy Kassler, der versuchte, sich durch die Menge zu drängen, während Norman Meltz hinter ihm herhüpfte, Hose und Unterhose auf den Knöcheln, seinen langen, schlaffen Pimmel in der Hand hielt und ihn theatralisch und verbittert auf und nieder flappen ließ. »Er ist tot!« brüllte Norman während des Hüpfens. »Sehen Sie selbst! Sie haben ihn umgebracht!« »Ziehen Sie die Hose hoch, Norman«, sagte Kassler zum dreißigsten Mal. »Dafür mache ich Sie fertig!« Norman sprang nach vorne und wedelte mit seinem kraftlosen Glied. »Ich habe es Ihnen doch gesagt, Norman.« Kassler drehte sich um und machte für einen Augenblick halt. »Ich kann Ihnen hier nicht helfen. Rufen Sie mich an, und wir vereinbaren einen Termin.« »Und daß ich Sie anrufe!« brüllte Norman Meltz. »Sie haben nicht das letzte Mal von mir gehört! Dafür mache ich Sie fertig! All ihr Seelenklempner seid saudumme Scheißhaufen!« Die Menge brach in Applaus aus. Norman blickte sich um und lächelte, befriedigt darüber, daß seine Gefühle von einem so großen Publikum geteilt wurden. Kassler stand da und musterte die fremden Gesichter, bestürzt, weil seine Profession so einhellig verdammt wurde. In diesem Augenblick trat Lupa aus der Menschenmenge hervor und nahm Kasslers Arm. »Komm weiter, Sy«, sagte sie liebevoll und besorgt. »Die Leute werden sich um Norman kümmern. Er kommt schon zurecht. Machen wir, daß wir hier wegkommen.« Leo Szlyck nahm geschockt die zärtliche Art und Weise zur Kenntnis, mit der Lupa Kasslers Arm nahm und ihn beim -2 8 9 -
Weggehen streichelte. Leo konnte weder sprechen noch sich bewegen. Er war absolut davon überzeugt, daß sein Therapeut ihm die Frau gestohlen hatte. Zorn tobte in seinem Herzen. Schmerzgequält schloß er die Augen und ging mechanisch in Richtung der Stelle, an der Kassler und Lupa gerade noch in der Menschenmenge gestanden hatten. Als er den Mittelpunkt der Versammlung erreicht hatte, öffnete er die Augen und fiel auf die Knie, vor mörderischer Wut beinahe explodierend. Szlyck sah zu, wie Kassler und Lupa in der Menge untertauchten, während Cerberus das Elend seines Herrn beobachtete und mitfühlend winselte. Der große braune Hund leckte Leo die Hand und zerrte an seiner Leine, um seine Bereitschaft zur Hilfe anzuzeigen. Ein Funkeln trat in Leos Augen, als er geschwind die Leine löste. »Faß!« befahl er seinem Tier. Cerberus gehorchte augenblicklich. Er sprang Norman Meltz nackte Kehrseite an und hätte Leos Kommando wohl in die Tat umgesetzt, wenn in diesem Augenblick nicht ein Polizist auf dem Schauplatz erschienen wäre, der Cerberus an Ort und Stelle erschoß. Das Geräusch des Schusses veranlaßte Lupa und Kassler, sich umzudrehen. »Nur irgendein verrückter Hund«, sagte ein freundlicher Zuschauer und bedeutete Lupa und Kassler mit einer Handbewegung, weiterzugehen. So erfuhren sie niemals, daß Leo dagewesen war. Da ich Satan war, machte Leo natürlich mich für alles verantwortlich - für den Verlust seines lieben Schoßtiers Lupa und für den Tod seines geliebten Cerberus. Aber all diese szlyckschen Niederungen lenken uns von den Ereignissen ab, die mit dem Hervortreten von Kasslers großartiger, neuer Molekülkonfiguration in Zusammenhang standen, wenn sich Kassler dessen auch nicht bewußt
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gewesen sein mag, als er mit Lupa die Schwelle von Dantes Inferno überschritt.
3 Gleich beim Eintreten wurden Lupa und Kassler von den anheizenden Tönen lauter Rock-Musik überflutet. Sie dröhnte durch die riesige, mit Teppichen ausgelegte Arena, in der Hunderte von nackten Männern und Frauen auf einer sich spiralförmig im Kreis und abwärts windenden Rampe kopulierten - eine zusammengerollte Schlange, die aus zuckenden Beischläfern bestand. Ganz in ihrer Nähe blitzten rote, blaue und grüne Lichter auf, die von blendenden Stroboskopen kamen. Die Strahlen wirkten wie Reptilienzungen, die Jagd auf flüchtige Insekten machten, und wurden von an der Decke rotierenden, spiegelnden Kugeln reflektiert - riesige künstliche Augen inmitten einer gewaltigen, dampfenden Höhle. Kassler stand wie betäubt da und starrte mit leerem Blick in den hellen gelben Dunst, der über dem geheizten Pool am anderen Ende der Rampe hing. Minutenlang blickte er ausdruckslos auf die glänzenden nackten Körper, die in der Ferne im Wasser herumturnten, und ertappte sich dann dabei, wie er sich mechanisch auszog und seine Kleider in einem kleinen Wandschrank verstaute, der sich gleich dort befand, wo er hereingekommen war. Als Lupa sah, daß sich Kassler entkleidete, tat sie dasselbe und hängte ihre Sachen neben die seinen. Dann stand sie ihm steif gegenüber und starrte unbehaglich auf ihre und seine Nacktheit, von einer Macht zum Schweigen gebracht, die weder sie noch Kassler verstehen konnte. »Du hast einen hübschen Körper«, brach sie schließlich die Sperre, wobei ihre Worte fast in der Musik untergingen.
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Kassler verharrte in seiner Trance. Keinerlei Gefühle regten sich in seinem Herzen - keine Gelüste nach den Horden von sinnlichen nackten Frauen, kein Ekel vor den erotischen Possen, die sich buchstäblich überall abspielten, nicht einmal Überraschung über das Fehlen eigener sexueller Empfindungen in der Mitte einer solchen extremen Sinnlichkeit. Er hatte reichliche und vielfältige sexuelle Aktivitäten erwartet und war nicht bestürzt, ihnen zu begegnen. Allerdings hatte er sich nicht darauf vorbereitet, daß Fremde Fremde liebten. Schlimmer noch war, daß sie soviel Spaß dabei hatten. Kassler war von dem überschäumenden Enthusiasmus für bedeutungslose Intimitäten paralysiert. »Willst du nicht irgend etwas sagen?« fragte Lupa. Kassler starrte sie an. Seine Blicke wanderten an der weichen Kurve ihrer Schultern zu der Stelle hinab, an der ihre hohen und festen Brüste wie reife Birnen hingen, mit kleinen Brustwarzen, die von schmalen, dunklen Ringen umgeben waren. Er folgte mit den Blicken den schwungvollen Rundungen der Brüste bis zu ihren Rippen und betrachtete ihren Leib, der sich beim Atmen leicht kräuselte, und schließlich das lockige Blondhaar, das den oberen Teil ihrer schlanken, bronzefarbenen Beine krönte. »Ich denke, daß du sehr schön bist«, sagte er betäubt. »Das hast du sehr hübsch gesagt.« »Es ist wahr«, erwiderte Kassler, aber es war Lupa klar, daß mit ihrem Begleiter etwas Eigenartiges passierte. Bevor sie Gelegenheit bekam, den Dingen auf den Grund zu gehen, wurden sie von einer kalten, schrillen Stimme begrüßt. »Hallo, hallo.« Ein dunkler, sehniger Mann mit Spitzbart, der sich eine Erste-Hilfe-Ausrüstung um die Hüfte seines ansonsten nackten Körpers geschnallt hatte, trat auf Kassler und Lupa zu. »Mein Gott, du bist schön«, sagte er zu Lupa. »Heute schon im Wasser gewesen?« »Wir sehen uns nur etwas um«, informierte Kassler, der jetzt ein bißchen von seiner Erstarrung ablegte, den behaarten -2 9 2 -
Gentleman mit den schwarzen Augen, die wie heiße Kohlenstücke glänzten. »Tun wir das nicht alle?« antwortete er Kassler. »Tun wir das nicht alle?« Und er streckte die Hand aus. »Dr. Charon«, stellte er sich vor und schüttelte Kassler die Hand. Dann griff er nach der Lupas und küßte sie affektiert. Lupa nickte ihm zu und deutete auf die Erste-HilfeAusrüstung, mit der er seine Mittelpartie gegürtet hatte. »Ach, das.« Charon zuckte die Achseln. »Für die Frauen. Es soll ein großer Witz sein. Aber glaubt mir, es ist keiner.« Lupas Aufmerksamkeit wurde für den Augenblick von einem großen Mann mit einem gewaltigen Glied abgelenkt, der an ihnen vorbeijagte und vergnügt eine große kichernde Dame verfolgte. »Gütiger Gott«, sagte Lupa und beobachtete, wie das Glied des Mannes beim Laufen auf und nieder wedelte. »Zum ersten Mal hier, nehme ich an«, bemerkte Charon. Er lächelte Lupa an. »Na, wie wär's mit einem kleinen Schwimmerchen?« Lupa starrte noch immer ungläubig dem vergnügten Jäger nach. »Wir waren nur neugierig, zu sehen...« Lupa brach ab. »Wie die Leute es miteinander treiben?« fragte Charon das Paar. »Natürlich gibt das keiner zu. Mit all den Leuten, die heute hergekommen sind, um Forschungen zu betreiben, könnten wir die ganze Encyclopaedia Britannica neu schreiben. Kommt, ich führe euch herum.« Charon überschrie die dröhnende Musik. Er trat zwischen Kassler und Lupa, nahm sie beide an der Hand und ging los, vorbei an einer Wand mit den Fotografien berühmter Personen - Raquel Welsh, die GaborSchwestern, John Travolta, Frank Sinatra, John Kennedy, Bert Parks, die Osmond-Family, Hugh Hefner, Roman Polanski, Wayne Hays und Woody Allen. »Große Liebhaber«, erklärte Charon. »Schön, es sind nicht Caesar und Kleopatra, aber alles in allem betrachtet können wir -2 9 3 -
nichts Besseres bringen. Ich habe nie herausgefunden, wie es eine Person schafft, an die Wand zu kommen. Es wird alles oben entschieden. Sehr geheimnisvoll.« Und das Trio trat über einen muskulösen Mann, der gleichzeitig vier Frauen liebte, leckend, mit beiden Händen streichelnd, schnell von einer zur anderen überwechselnd. »Ganz traurige Geschichte«, kommentierte Charon. »Der Mann hat in einem Dutzend Jahren ebensooft die große Liebe erlebt. Tragischerweise stellte sich bei jedem Mädchen heraus, daß es einen kleinen Makel aufwies und zurückgewiesen werden mußte. Jetzt versucht er, mit seinem Herzeleid fertig zu werden, indem er gleichzeitig mit vier oder mehr Frauen Sex macht. Tragisch, wenn man richtig darüber nachdenkt.« Kassler und Lupa bewegten sich mit Charon die Rampe entlang. Ihre Nasenlöcher füllten sich mit schweren, ziegenartigen, süßsauren Gerüchen, als sie die Beischlafspiele in der überfüllten Arena beobachteten. Eine Reihe von knieenden Frauen, die an einem Bocksprungspiel teilnahmen, reichte von einem Ende der Rampe bis zum anderen. Dazu gehörte eine noch längere Reihe von Männern, die hinter den Frauen oder über sie hinweg hoppelten. Paare und Trios tanzten vorbei, sich heiter gegenseitig an erogenen Zonen führend. Menschen sprangen wie Delphine ins Wasser oder heraus, wobei die blitzenden, vielfarbigen Stoboskoplichter sie mitten in der Luft festzuhalten schienen. Und überall fügten sich Männer und Frauen in einer endlosen Reihe zu schwankenden Bergen zusammen. Charon drehte sich um und sprach während des Gehens zu Lupa. »Manchmal frage ich mich«, sagte er, »ob da draußen etwas übriggeblieben ist, das noch Sinnlichkeit besitzt.« Er deutete beim Sprechen auf die Welt, die außerhalb der Mauern von Dantes Inferno existierte. Kassler und Lupa blieben für einen Augenblick stehen und starrten auf die riesigen Ringe unter Charons Augen.
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»Als ich ein Junge war«, sagte ihr Begleiter wehmütig, »selbst noch als ich in den Zwanzigern war, nahm ein Mädchen meine Hand, und kalte Schauder liefen mir den Rücken hinunter. Mein Ellenbogen streifte ihre Bluse, und in meiner Hose ging ein Taschenmesser auf. Ein Kuß? Mein Gott, ohne die Brüste dabei überhaupt richtig zu berühren, ein Kuß! Die Feuchtigkeit eines Mädchenkusses konnte mich wie ein Zuckerklümpchen in einer heißen Tasse Tee schmelzen lassen.« Charon zuckte resigniert die Achseln und trat über Körperpaare hinweg, die sich so fest gegeneinander preßten, daß es unmöglich war, festzustellen, wo der eine aufhörte und der andere anfing. »Es ist für immer vorbei«, seufzte Charon, während er die Rampe hinunterschritt. Dann stopfte er sich eine Pille in den Mund, zuckte mit den Schultern und schluckte. »Antihistamin«, erklärte er. »Ich bin allergisch gegen Pollen. Es ist eine Berufskrankheit.« Kassler, der schlimmer dran war als vorher, folgte wie betäubt und war gerade im Begriff, seit dem Eintritt in das Gewölbe den ersten spontanen Satz von sich zu geben, als plötzlich der durchdringende Laut einer Pfeife ertönte. Kassler und Lupa blickten nach vorne und sahen, wie ein Mann mit einer um ihn geschlungenen Frau in den Pool stürzte und dabei ein gewaltiges Platschen verursachte. Charon rannte hinüber, warf seine Erste-Hilfe-Ausrüstung von sich, tauchte in den Pool und zog erst die Frau und dann den Mann heraus. Als er mit seiner Rettungsaktion fertig war, kletterte er aus dem Pool, nahm seine Ausrüstung an sich und kam wieder zu Kassler und Lupa zurück. »Sie können nicht schwimmen«, sagte er und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während er sich die Ausrüstung wieder um die Hüfte schnallte. »Seit der Eröffnung wären mehr als ein Dutzend Leute fast im Pool ertrunken. Sie vergessen, -2 9 5 -
wieviel Zeit vergeht, wenn sie unter Wasser sind. Sie halten sich für Wale oder so was. Sie tauchen unter, tauchen auf, tauchen wieder unter, und wenn sie sich entscheiden müssen, ob sie noch ein bißchen länger unten bleiben sollen, um all die angestaute Spannung abzubauen, oder ob sie zum Luftholen hochkommen sollen, um die Stimmung vielleicht nur ein bißchen abzumildern, dann spielen die Lungen nicht mehr mit, und wir müssen mit der Wiederbelebungsausrüstung kommen.« Charon holte mehrmals tief Luft. »Ihr solltet den Schwimmern Sauerstoffmasken geben«, schlug Lupa vor. »Oh, das haben wir gemacht«, antwortete Charon und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Bis die Damen herausfanden, daß es noch eine andere Stelle gab, wo die Gesichtsmaske genau hinpaßte - sie stellten die Sauerstoffzufuhr auf volle Pulle, und wir hatten mehr Blasen hier als Lawrence Welk.« »Das ist phantastisch.« Lupa lachte und ließ ihre Hand an Kasslers Vorderseite entlanggleiten, wobei sie erst kurz vor seinem Schamhaar halt machte. Kassler reagierte nicht. »Das ist noch gar nichts. Letztes Jahr haben die Fliegenden Yolandas hier eine Nacktvorstellung gegeben.« Charon schüttelte, immer noch etwas kurzatmig, bestürzt den Kopf. »Die Akrobaten?« fragte Lupa und nahm die Hand von Kassler weg, da sie bei ihm keine Reaktion erzielte. »Sie waren verblüffend«, nickte Charon. »Die YolandaFrauen lagen mit hoch erhobenen und gespreizten Beinen auf dem Rücken. Dann machten die Yolanda-Männer, alle steif wie Selleriestauden, Saltos von einem Loch zum anderen. Sie verfehlten ihr Ziel nie. Es war unglaublich. Der Junge an der Ecktankstelle hat mehr Schwierigkeiten, bei meinem Wagen den Ölmeßstab wieder richtig reinzustecken. Dann legten sich die Männer auf den Rücken, und die Frauen machten die Saltos. Die Mädchen landeten wie Wurfringe auf dem Pflock. Sie waren sehr beeindruckend. Anschließend beim großen -2 9 6 -
Finale hingen die Mädchen dann mit den Armen an Trapezen, gegenüber den Männern, die, den Kopf nach unten, mit den Fersen an anderen Trapezen hingen. Hin und her, rein und raus, hin und her, rein und raus. Es war die verblüffendste Demonstration menschlicher Beweglichkeit, die ich während meiner ganzen medizinischen Karriere gesehen habe.« »Sie haben wirklich... auf Schaukeln...« Lupa stammelte. »Man braucht sehr viel Übung dazu«, betonte Dr. Charon. »Keiner unserer Kunden führte sich das vor Augen. Ich kann euch gar nicht sagen, was monatelang danach hier los war. Die Yolandas ließen die Trapeze hängen. Der ganze Ort wurde zu einem Gymnastikraum. Jeder hielt sich für einen Athleten. Die Leute krachten zusammen und brachten sich mit ihren Saltos fast um. Sie probierten an den verdammten Schaukeln Sachen aus, die man mit einem Pfeil und einem Traktorrad nicht machen kann. Es dauerte sechs Monate, bevor sie genug davon hatten. Ich kann nicht verstehen, was aus dem guten alten Geschlechtsverkehr geworden ist, wie ihn Mama und Papa praktizierten. Sind diese Nervenenden alle ausgetrocknet oder so etwas?« Kassler und Lupa gaben keine Antwort. Sie wurden durch einen auf die Wand zu ihrer Rechten projizierten pornographischen Film abgelenkt, in dem sich eine wollüstige junge Frau dem oralen Sex bei einem wohlgebauten jungen Mann hingab, der offenbar außerhalb des Sears Towers stand. »Chicago!« dröhnte die Stimme des Erzählers im Reiseberichtstil aus einem nahen Lautsprecher. »Die windige Stadt. Aber auf dieser Seite des Michigansees bläst nichts so wie... Francine!« Charon musterte Kassler und Lupa, stellte fest, daß sie von der filmischen Ablenkung in Anspruch genommen wurden, entschuldigte sich und trottete davon, um ein anderes neues Paar ins Paradies einzuführen. Sobald Charon außer Sichtweite war, drehte sich Lupa zu Kassler um. Ihre purpurfarbenen Augen versuchten
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herauszufinden, was ihn betrübte, konnten jedoch nichts feststellen. »Geht es dir gut?« Lupa nahm Kasslers kalte, schlaffe Hand. »Ich glaube nicht«, sagte Kassler langsam, ohne Lupa anzublicken. »Was ist es?« fragte Lupa. »Ich weiß nicht.« »Bist du krank?« »Ich glaube nicht.« »Vielleicht sollten wir weiter nach unten gehen«, schlug Lupa vor. »Unten wirst du dich besser fühlen.« Lupa deutete auf die tiefer liegende Rampe. »Woher willst du das wissen?« fragte Kassler argwöhnisch. »Es ist ein Naturgesetz«, informierte Lupa ihn. »Erdöl, Philosophie und Sex. Je tiefer man geht, desto besser wird es.« »Oh«, sagte Kassler. Und Lupa verstärkte den Griff um seine Hand und führte ihn die spiralförmige Rampe hinunter, durch eine blaue Dunstwolke, in der Männer und Frauen auf dem Boden lagerten und einander mit einem endlosen Arsenal von Vibratoren, Saugapparaten, Silberkugeln, Gliedspannern und künstlichen Penissen bearbeiteten. Plötzlich trat ein eigenartiger Ausdruck in Kasslers Augen. Er riß sich von Lupas Hand los und stürmte auf eigene Faust los. »Ich komme! Ich komme!« brüllte er in seiner umnachteten Verfassung Und drängte sich durch die elektrifizierte Menge, stolperte dabei über Schnüre und verfing sich in Drähten, wodurch unbeabsichtigt künstliche Penisse außer Betrieb gesetzt und aus ihren Benutzerinnen herausgerissen wurden. »He, paß doch auf!« schallte es ihm wieder und wieder entgegen, als er durch die Menge schwankte und torkelte. Laut knallende Explosionen, wie von platzenden Luftballons, wurden inmitten der Leute laut.
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»Ich komme!« brüllte Kassler, ignorierte die Männer, die sich wütend über die Zerstörung ihrer aufblasbaren Frauen beschwerten, und stürmte weiter die Rampe hinunter, vorbei an einer neuerlichen Reihe von Fotografien - Orson Welles, Marion Brando, Ray Kroc, Colonel Sanders, Johnny Carson, Craig Claiborne, Rex Reed und Woody Allen. Lupa lief Kassler nach, verlor ihn jedoch in der Menschenmenge, die sich in akrobatischen Konfigurationen zusammenballte, aus den Augen. Während sie sich bemühte, weiterzukommen, streckte sich hier und da eine Hand aus und streichelte ihre Brust oder ihr Hinterteil. Einmal stellte sich ihr ein Mann in den Weg und küßte sie leidenschaftlich, wobei er ihr seine Zunge tief in den Mund stieß. Bei einer anderen Gelegenheit wurde sie von zwei Frauen aufgehalten, und während die eine ihre Brustwarzen beleckte, verbarg die andere ihren Kopf zwischen Lupas Beinen und machte die Knospe in der Mitte feucht. Lupa empfand die Begegnungen nicht ganz als unangenehm, und schließlich verlangsamte sie die Verfolgung Kasslers und verschmolz träumerisch mit der Menge. Kassler hatte inzwischen zwei Drittel des mit Teppichen belegten Korkenziehers hinter sich gebracht, vorbei an einer großen Anzahl von Leuten, die einander oder sich selbst mit großen technischen Fertigkeiten manipulierten. »Arizona! Der Staat des Grand Canyons!« Ein neuer Film begann zur Rechten Kasslers. »Aber keine Spalte...« Als Kassler zum Zusehen stehenblieb, griff eine Hand nach seinem Arm und schickte sich an, ihn an den autoerotischen Sehenswürdigkeiten vorbeizuführen. »Noch einmal hallo«, sagte Charon. Kassler gab keine Antwort, ließ es aber zu, daß ihn sein Führer weiterdirigierte. »Wissen Sie«, kommentierte Charon, »dieser hier ist nie einer meiner Lieblingsplätze gewesen. Es ist nicht so, daß ich -2 9 9 -
etwas gegen Masturbation hätte. Das ist schon in Ordnung, denke ich...« Kassler sagte nichts. »Wie jeder andere auch habe ich Philip Roth gelesen.« Charon trat über einen dunkelhaarigen jungen Mann Anfang zwanzig, der sich von den flimmernden Bildern an der Wand anregen ließ und mit sich selbst spielte. »Masturbation war etwas, was neurotische jüdische Jünglinge mit herrschsüchtigen Müttern und entfremdeten Vätern taten, wenn sie sich einsam fühlten. Dann kam es aus der Mode.« Charon seufzte und schüttelte den Kopf. »Irgend jemand verkündete, daß es jeder tut. Über Nacht verlor die Masturbation ihre Bedeutung. Sie hörte auf, süß, prägnant und philosophisch zu sein.« Charon schüttelte traurig den Kopf. »Die Protestanten glaubten, daß es einen Versuch wert wäre«, fuhr er fort. »Katholiken, die nicht daran gewöhnt waren, wurde beigebracht, was sie machen mußten, so daß sie es sich wieder abgewöhnen konnten. Man bekam nicht nur keine Warzen und keine Gehirnerweichung davon, nein, Leuten, die den Bogen nie richtig raus hatten, wurde technisches Training empfohlen, und denjenigen, die Experten waren, die Psychoanalyse.« Charon geleitete Kassler weiter, jetzt durch einen olivenfarbenen Nebel, der diese Ebene einhüllte. »In der guten alten Zeit«, erinnerte sich Charon, »war sexuelle Entspannung eine Frage der Umstände - die richtige Person mit gleichen Neigungen zur richtigen Zeit. Mehr oder weniger wurde alles dem Zufall überlassen. Dann...«, Charon zuckte die Achseln, »... beschlossen die Leute, das Glück in die eigene Hand zu nehmen...« Seine Stimme verklang, als sie sich einer Gruppe von Männern näherten, nackt bis auf ihre Unterhemden, die intensiv damit beschäftigt waren, wollüstige Frauen mit einer ausgeklügelten Anordnung von Knoten zu fesseln.
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»Rechtsanwälte«, sagte Charon mit erkennbarem Befremden und nickte einem hochgewachsenen grauhaarigen Mann zu, der zurücknickte und dann, sich wieder seiner süßen Dame zuwendend, an einem fachmännisch ausgeführten Seemannsknoten zog. »Machen Sie mit?« fragte der Anwalt Kassler, als dieser vorbeiging. Kassler gab keine Antwort. Er eilte weiter. Das seltsame kalte Gefühl, das beim Eintritt in die Arena in seiner Magengrube entstanden war, erstreckte sich jetzt bis in seine Arme und Beine und machte ihn, als er zur nächsten Ebene hinabwankte, ganz unsicher auf den Füßen. Plötzlich, hinter der nächsten geschwungenen Kurve, sah sich Kassler von einer Tür mit einem blitzenden WILLKOMMEN-Schild darüber abgelenkt. Er griff nach der Klinke, und die Tür öffnete sich und erlaubte es ihm, in einen kleinen, abgedunkelten Raum mit einer Couch in der Mitte einzutreten. Neben der Couch stand ein Mädchen, das sich umdrehte und Kassler anlächelte, als er die Tür schloß. Das Mädchen war nackt, ungefähr zwanzig Jahre alt, mit glatter, gebräunter, sommersprossiger Haut und langen blonden, zu Zöpfen gebundenen Haaren. Ihre Augen funkelten intelligent, und in dem einen Scheinwerferlicht, das sie illuminierte, strahlte ihr Lächeln Wärme und Leben aus. Kassler ließ seine Blicke über ihren makellosen Körper gleiten, die kleinen, aber vollen Brüste, deren Entwicklung gerade abgeschlossen war, den sanft gerundeten Leib, das Dreieck aus hellem, haselnußfarbenen Haar zwischen den Beinen, die fließende Linie, die von ihren Hüften bis zu den Schenkeln lief. »Was hältst du von diesem Ort?« fragte sie Kassler. »Nicht allzuviel.« Kassler sprach mit einer solchen Klarheit, daß er selbst überrascht war. »Er entspricht eigentlich nicht meinem Stil.« »Meinem auch nicht«, sagte das Mädchen mit einem strahlenden Lächeln. »Er scheint mir nicht sehr zum Lieben -3 0 1 -
geeignet zu sein. Ich bin mir nicht sicher, was ich eigentlich zu finden erwartete, als ich hierher kam. Wie war es bei dir?« »Ich war neugierig«, sagte Kassler. »Weißt du, was unser Problem ist?« Das Mädchen lachte. »Wir sind Romantiker. Das ist unser Problem.« Kassler blickte in die funkelnden blauen Augen des Mädchens und trat näher. »Ich habe mir immer eine Familie gewünscht, eine Frau, ein hübsches Heim in einer angenehmen Nachbarschaft oder auf dem Land, etwas Einfaches, Reines, Liebenswertes«, vertraute er ihr leise an. »Ich bin ein hoffnungsloser Romantiker.« »Ich weiß«, antwortete das Mädchen und machte einen Schritt auf Kassler zu. »Du bist wie ich. Keine Frage.« »Glaubst du, daß wir vielleicht zu einer vom Aussterben bedrohten Spezies gehören, daß man uns vielleicht eines Tages ausstopft und uns irgendwo in einem Museum zur Schau stellt?« fragte Kassler. »Wahrscheinlich.« Das Mädchen kam mit ruhigen, graziösen Bewegungen ganz nahe an Kassler heran, wobei ihre nackten Füße leise über den Teppich tappten. »Ich weiß, daß du vermutlich mit einer anderen zusammen bist«, sagte sie. »Ja, das bin ich«, gab Kassler zu. »Aber es funktioniert nicht. Es ist nett, aber die Magie fehlt.« »Glaubst du, daß es ihr etwas ausmacht, wenn du mich küßt?« »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Kassler. Dann nahm er das Mädchen in die Arme und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Es war der Kuß, den sich Kassler immer in seinen Phantasievorstellungen ausgemalt hatte - freudvoll und erhaben. In den Tiefen von Dantes Inferno war Kassler dem Mädchen seiner Träume in die Arme gelaufen - strahlend, wunderschön, unkompliziert, liebevoll, fröhlich und warmherzig, frei von Komplexen, nicht verdorben durch die Katastrophen des Lebens, gewillt, sich mit ihm zusammenzutun, um als seine Partnerin mit ihm ein erfülltes Leben zu leben. Es war, zum -3 0 2 -
ersten Mal in Kasslers Leben, die wahre Liebe, Liebe auf den ersten Blick, eine Liebe, die voll und ganz auf Gegenseitigkeit beruhte. Tränen begannen sich in Kasslers Augenwinkeln zu bilden. »Deine Augen sind wunderschön.« Das Mädchen blickte Kassler an und lächelte. »Sie leuchten.« Und sie streckte die Hand aus und betupfte die winzigen Tropfen mit ihren Fingerspitzen. »Ich bin sehr glücklich«, entschuldigte sich Kassler. »Wenn mich m eine Gefühle überwältigen, weine ich schnell.« »Ich auch«, sagte das Mädchen. »Ich weine auch schnell.« »Wer bist du?« fragte Kassler. »Wie heißt du?« »Wie würdest du mich gerne nennen? Ich möchte, daß du mich so nennst, wie du willst. Innerhalb vernünftiger Grenzen.« Kassler dachte einen Augenblick lang nach. »Lesley«, sagte er. »Der Name Lesley hat mir immer gefallen.« »Dann werde ich von jetzt an Lesley sein. Es ist ein reizender Name. Ich wäre auf jeden Namen eingegangen, den du mir gegeben hättest, aber einen Moment hatte ich Angst, daß du mit so etwas wie Monica oder Vicki Sue kommen würdest. Wie soll ich dich nennen?« »Sy«, sagte Kassler. »Einfach Sy.« »Hübsch und einfach. Stark. Feinfühlig. Mir gefällt er.« »Wann können wir uns sehen?« Kassler ließ seine Hand leicht über die Schultern des Mädchens gleiten. »Ich meine, möchtest du gerne mit mir zusammen sein?« »Das möchte ich«, sagte das Mädchen. »Sehr. Aber was ist mit deiner Freundin?« »Es funktioniert nicht. Es ist in keiner Weise das, was ich brauche oder haben möchte.« »Es tut mir leid, daß es nicht gut läuft. Wird es hart sein, Schluß zu machen?« »Vermutlich. Ich bin mir nicht sicher.« -3 0 3 -
»Wie wäre es hier - morgen? Können wir uns hier unten sehen?« »Bist du sicher, daß wir uns hier sehen sollten?« fragte Kassler. »Wir können anschließend irgendwoanders hingehen, wenn du willst. Ich bin abergläubisch, denke ich. Ich habe nicht geglaubt, daß ich mal jemanden kennenlernen würde, bestimmt nicht hier unten. Ich möchte ganz sicher gehen, daß wir nicht die Adressen vergessen oder so etwas.« »In Ordnung«, sagte Kassler. »Hier unten, morgen um dieselbe Zeit.« Keiner von beiden machte Anstalten, zu gehen. »Weißt du, ich habe immer gedacht, daß eines Tages, wenn ich lange genug warten würde...« Das Mädchen sprach nicht weiter. »Ich auch«, sagte Kassler. »Ich habe immer gehofft, daß eines Tages...« »Natürlich habe ich mir, wenn ich daran dachte, vorgestellt, daß er ein bißchen anders gekleidet wäre.« Das Mädchen lächelte Kassler an. »Mein Schneider ist in Urlaub«, antwortete Kassler. »Ich muß allerdings zugeben, daß ich mir dich immer so bekleidet vorgestellt habe, wie du es jetzt bist.« Kassler und das Mädchen blickten sich schweigend in die Augen. »Es ist verrückt«, lachte das Mädchen schließlich. »Wir kennen einander überhaupt nicht. Wir sind ein Paar von Fremden auf dem Grund eines ziemlich perversen Ortes. Es ist verrückt.« »Wahnsinnig«, stimmte Kassler zu. »Aber ich nehme nicht an, daß es schlimm wäre, wenn wir uns morgen treffen, nur um zu sehen, was dabei herauskommt«, sagte das Mädchen glücklich. Kassler küßte seine Lesley noch einmal zärtlich. Dann schickte er sich an, zu gehen. -3 0 4 -
»He«, rief ihm das Mädchen nach. »Du bist nicht verrückt oder gemein oder verheiratet oder im Begriff, mir das Herz zu brechen oder so etwas, nicht wahr?« »Nein, bin ich nicht«, antwortete Kassler leise. »Ich auch nicht«, flüsterte das Mädchen zurück. »Wir sehen uns also morgen, ja?« Kassler nickte, lächelte und ging. Als er die Tür schloß, wurde er von Lupa und Charon begrüßt. »Wo warst du?« fragte Lupa. »Auf Erkundungsreise«, jubilierte Kassler fröhlich, von einem Ohr bis zum anderen grinsend. »Einfach auf Erkundungsreise.« »Nun, du scheinst ganz offensichtlich aufgewacht zu sein«, sagte Lupa. »Was hast du gemacht - mit einer geschlafen?« »Nein«, grinste Kassler. »Nur geredet.« »Die konnte aufhören zu lächeln«, informierte ihn Charon, als sie zur untersten Ebene hinabstiegen. »Sie ist Reklame.« »Sie ist... was?« fragte Kassler geschockt. »Reklame. Ein Sonderangebot. Ein Lockvogel. Sie wird bezahlt, damit sie dafür sorgt, daß die Kunden wiederkommen.« »Ich glaube es nicht«, krächzte Kassler. »Sehr hübsches Mädchen. Und superintelligent. Dem Gerücht nach hat sie sich in den zwei Jahren, die sie hier ist, nicht auf einen einzigen sexuellen Akt einlassen müssen, um die Männer zum Wiederkommen zu bewegen.« »Du lügst«, schrie Kassler. »Es ist nicht wahr.« »Sieh mal, ich mag dich, darum sage ich dir die Wahrheit. Auf der anderen Seite gibt es einen Mann, der dasselbe bei den Frauen macht. Ich möchte nicht, daß du verletzt wirst - es ist ein Werbetrick.« »Das ist eine Lüge!« Kasslers Herz sank. »Es ist eine gottverdammte Lüge.« »Nein, das ist es nicht«, sagte Charon. »Das Management macht das sehr clever. Und es ist eine großartige Darbietung, -3 0 5 -
die bei jedem Kunden wechselt. Wenn ich es dir nicht gesagt hätte, wärst du nie darauf gekommen. Du würdest jahrelang wiederkommen.« »Lesley!« brüllte Kassler schrill und machte kehrt, um durch den grellen Dunst zurückzulaufen. »Es ist alles nur Mache.« Charon packte Kasslers Arm, um ihn festzuhalten. »Täuschung.« Lupa packte Kasslers anderen Arm. »Lesley!« Kassler unternahm vergebliche Anstrengungen, um sich zu befreien, während Lupa und Charon ihn weiterzogen. »Sei nicht einfältig«, sagte Charon zu ihm. »Lies das Schild.« Charon deutete auf ein großes Schild an der Wand neben der Tür, auf dem zu lesen stand: DIESE KLASSISCHE DARBIETUNG WURDE ERMÖGLICHT DURCH DIE GROSSZÜGIGE UNTERSTÜTZUNG VON THE BELL TELEPHONE SYSTEMS, GENERAL MOTORS UND DEN ÖLGESELLSCHAFTEN AMERIKAS. Es war mehr, als der arme Kassler ertragen konnte. Er blickte wild zu der Tür zurück, hatte den verzweifelten Wunsch umzukehren, wagte es jedoch nicht, weil er das Schlimmste befürchtete. Er betrachtete die Wände neben sich, an denen die Glanzbilder der Berühmtheiten keine Notiz von seinem Schmerz zu nehmen schienen - Getty, Rockefeller, Hunt, Hearst, Kennedy, Onassis und Woody Allen in einer Serie, Beckett, Nader, Khomeini, Bergman, Prescott, Rickles und Woody Allen in einer zweiten, Anita Bryant, Pat Boone, Abbie Hoffman, Betty Friedan, Gloria Steinern, Ann Landers und Woody Allen in einer dritten. Lupa blickte Kassler traurig an.
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»Komm, Sy, es ist Zeit, daß du nach Hause gehst«, sagte sie wohlmeinend zu ihm. Kassler hörte nicht zu. Suchend blickte er sich in der Arena um, auch wenn er nicht wußte, wonach er suchte, wie gebannt von den Hunderten von Körpern, die sich im gelben Nebel hin und her bewegten, von dem Fleisch, das überall in der dampfenden Höhle glänzte, von den Männern und Frauen, die einander jagten, krallend, klammernd, beißend, leckend, sich windend, von der heißen Luft, die mit dem Stöhnen und Grunzen brünstiger Menschen ausgefüllt war. »Aaaaaaah!« schrie Kassler und warf die Arme in die Luft. »Ich kann dies alles nicht ertragen.« »Ich stimme dir zu. Gehen wir.« Lupa versuchte, Kassler durch die Versammlung der Beischläfer zu steuern. »Diese Brüste treiben mich in den Wahnsinn!« schrie Kassler, als seine Blicke auf das überreichliche Angebot von wogenden Busen ringsum fielen. »Es gibt hier zu viele Titten. Jede einzelne Frau hat zwei Titten!« »Ist ja gut, Lieber«, versuchte Lupa ihren Begleiter zu beruhigen. »Männer haben zwei Testikel. Es gleicht sich alles aus. Wir sollten jetzt gehen, meinst du nicht auch?« »Titten sind größer«, murmelte Kassler vor sich hin. »Bleib ganz ruhig, Sy.« Lupa hielt Kasslers einen Arm fest, Charon den anderen. »In ein paar Minuten sind wir draußen, und dann werden sie alle mit Blusen und Jacken bedeckt sein. Dann fühlst du dich viel besser.« »Die Vagina einer Frau ist nicht das, was ihr denkt«, bewegte sich Kassler neuen anatomischen Horizonten entgegen. Lupa musterte ihn von der Seite. Dann wandte sie sich an Charon. »Wir haben einen Notfall«, sagte sie zu ihm. »Eine Vagina ist eine sehr innerliche Sache«, erklärte Kassler. »Lest Freud.« »Das habe ich«, sagte Charon zu Kassler. »Also, warum legst du jetzt nicht den einen Arm um meine Schulter und den anderen um Lupas, und wir bringen dich nach draußen.«
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»Frauen«, zischte Kassler. »Ich habe einen Patienten, dessen Ding fürs ganze Leben ruiniert ist, und das nur wegen der Form, die eure Ärsche haben.« »Oregon!« Ein pornographischer Film begann und lenkte Kassler ab. »Der Staat der Biber und Bären!« Ein mörderisches Glänzen trat in Kasslers Augen. »Also, halt dich zurück, Sy«, protestierte Lupa. »Es ist nicht lustig«, schnarrte Kassler. »Frauen sind für all dies verantwortlich. Frauen sind anders als Männer.« »Mir war klar, daß du darauf hinaus wolltest.« Lupa versuchte, Kassler am Reden zu halten, während sie und Charon ihn durch die Menge lenkten. »Was ist dir aufgefallen, Lieber?« »Männer haben Karrieren, kreative Arbeit, finanzielle Verantwortlichkeiten...« »Ah, das war mir entgangen. War das auf der Ebene mit den Leuten, die unter Wasser bumsten, oder da, wo der Zahnarzt am Blasen war?« fragte Lupa. »Männer haben ihre Arbeit. Frauen haben Titten, Ärsche und Vaginen.« Lupa blickte tief in Kasslers irre Augen. »Wir müssen dich hier rausbringen«, sagte sie mitfühlend zu ihm. »Etwas Schreckliches passiert mit dir, Sy, eine Art schweren sexistischen Zusammenbruchs oder so etwas. Ich meine es ernst. Es geht dir nicht gut.« »Du bist eine Frau.« Kassler blickte Lupa, die langsam mit ihrer Geduld am Ende war, mißtrauisch von der Seite an. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und preßte seine Daumen in ihr Fleisch. »Ich mache keine Witze, Lupa«, sagte er langsam. »Du tust mir weh, Sy.« »Frauen haben mein Leben ruiniert. Eine Frau nahm meine Liebe und verwandelte sie in Scheiße. Sie nahm mir meine Kinder weg. Sie nahm mir mein Heim weg.« -3 0 8 -
»Bitte, Sy. Es tut sehr weh.« »Du wirst mir nie geben, was ich brauche...« Kassler ließ die Hände sinken und funkelte Lupa an. Sie wich zurück, voller Angst und zitternd. »Ich muß gehen, Sy«, sagte sie. »Ich sorge dafür, daß er nach Hause kommt«, sagte Charon. »Ich komme allein nach Hause«, schnappte Kassler und wandte Lupa den Rücken zu, die eilig davonhuschte, gefolgt von Charon, der sich etwas langsamer entfernte. Kassler stand allein auf dem Grund von Dantes Inferno, beobachtete die erotischen Aktivitäten der Menge, hundert Variationen des Geschlechtsverkehrs, und wandte seine Aufmerksamkeit schließlich einer langen Schlange nackter Frauen zu, die darauf warteten, daß sie an die Reihe kamen, in einen Raum zu gehen, wo Techniker Schläuche einführten und Sperma abtötendes Gelee in sie hineinpumpten, um dem beginnenden Leben sofort ein Ende zu bereiten. Er starrte umher, wie gelähmt von den brünstigen Spielen, und kam zu einer Entscheidung. Was Kassler entschied, war ganz einfach dies: Wenn die Menschen so gezeugt wurden, wenn seine Kinder auf diese Weise ins Leben gekommen waren, wenn seine eigene Existenz einer solchen Aktivität entsprang, dann spielte nichts mehr eine Rolle. »Wenn dies die Libido ist«, murmelte Kassler vor sich hin, »dann scheiß drauf.« Aber als sich sein Bewußtsein mit diesen Überlegungen füllte, trat ein unerwartetes Ereignis ein. Sein eigenes Gerät begann sich zu versteifen und langsam von seinem Körper abzuheben. Zuerst ignorierte Kassler das Vorkommnis und starrte weiter die Masse der kopulierenden Gestalten an, aber dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem Geschehen im Zentrum der weiträumigen Teppichhöhle in Anspruch genommen. Er ging langsam an den Wänden entlang und hielt sich soweit abseits, -3 0 9 -
daß er zwar sehen konnte, was passierte, selbst aber nicht gesehen wurde. Ungeheure Macht und Kontrolle ausstrahlend, wie ein Maestro, der ein groteskes Orchester bumsender Männer und Frauen dirigierte, stand im Zentrum der Arena Sam Zelazo, riesenhaft und nackt. Sein muskulöser Körper glänzte vor Schweiß, das lange blonde Haar und der Bart blitzten im Licht, sein gewaltiges Organ, einem gefüllten Feuerwehrschlauch gleich, breit und prall, außen mit schwellenden grünen Adern überzogen, bewegte sich pneumatisch in einer Frau hin und her, die von seinen großen behaarten Händen gestützt wurde, die schlaff wie eine Stoffpuppe um seinen Hüften hing und nahezu unerträgliches Vergnügen empfand, die einmal die spektakulärste Frau gewesen war, die Kassler jemals gesehen hatte - Vita Volpe Kassler. »Oh, Sam!« hörte Kassler Vita schreien. »Ich liebe dich, Sam!« Und als Kassler zusah, wie Zelazos Glied mit methodischen Stößen in seine Frau hinein- und herausfuhr, griff er nach seinem eigenen Glied und fing an, es zu streicheln. »Ich will meine Kleider.« Kassler blickte an seiner Nacktheit hinunter, während seine Hand mit ihrer Tätigkeit fortfuhr. »Ich will mein Heim.«. Tränen begannen sich in Kasslers Augen zu bilden. Seine Hand bewegte sich schneller. »Ich will mein Leben zurückhaben.« Kassler ließ seine Hand vor und zurück jagen. »Ich will meine Frau.« Kassler rieb schnell und fest. Ein vertrautes heißes Gefühl stieg in seinen Testikeln auf und strömte in seinen Penis. »Ich will meine Kinder«, murmelte Kassler. »Ich will meine Kinder. Bitte, jemand soll mir meine Kinder geben.« Kassler schrie, als das Leben aus ihm herausspritzte. Er verkrampfte sich, zuckte und wand sich, und schließlich ließ er erschöpft den Kopf auf die Knie sinken. -3 1 0 -
»Ich will meinen Daddy«, wimmerte er vor sich hin. »Wo ist mein Daddy?«
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April 1979 IV. Sitzung Kassler rekelte sich ruhig und gelassen in dem alten Polstersessel und paffte an den letzten glühenden Tabakkrümeln auf dem Boden seiner Dunhill. Er wirkte älter, als ich ihn in Erinnerung hatte, mehr Furchen auf der Stirn, dunklere Ringe unter den Augen, Hände, die die Pfeife nicht ganz so fest hielten wie gewohnt, müde, erschöpft. »Bevor wir mit dieser Sitzung beginnen«, sagte er langsam, »wollte ich Ihnen mitteilen, daß ich während des Sommers Urlaub machen werde, von Mai bis September.« »Ich bin, was die Sonnenwende angeht, kein Experte, aber findet der Sommer nicht überwiegend im Juli und im August statt?« erkundigte ich mich. »Ich werde natürlich wie vereinbart die vollen sieben Sitzungen in diesem Jahr abhalten. Die letzten drei werden im Herbst sein. Das nächste Mal treffen wir uns im Oktober.« »Ich werde es überleben.« »Patienten haben die unterschiedlichsten Ansichten über den Urlaub ihrer Therapeuten. Möchten Sie über die Ihren reden?« »Befinden wir uns schon in der eigentlichen Sitzung, oder ist dies noch der vortherapeutische Teil?« »Ich glaube, wir haben angefangen.« »In diesem Fall frage ich mich, ob es Ihnen etwas ausmachen würde, mir genau zu sagen, warum Sie sich die nächsten fünf Monate freinehmen.« »Ich brauche den Urlaub.« »Ein Urlaub dauert zwei Wochen am Strand, Kassler.« »Ich brauche einige Zeit für mich selbst«, sagte Kassler ruhig. »Ich suche mir einen hübschen, abseits gelegenen Berg, wo ich im Freien kampieren und über einige Dinge nachdenken kann.« -3 1 2 -
»Hören Sie, Kassler, es tut mir leid, wenn ich Ihnen in bezug auf Ihre Religion Schwierigkeiten bereitet habe. Wenn Sie ein Atheist, ein Agnostiker, ein Ketzer sein wollen - das ist ganz in Ordnung.« »Nein, das ist es nicht.« Kassler schüttelte mit erkennbarer Müdigkeit den Kopf. »Und was unser Bündnis angeht - vielleicht habe ich Sie zu sehr gedrängt.« »Ich brauche etwas Zeit für mich selbst.« »Ich bin mir bewußt, daß ich manchmal ein bißchen sarkastisch werde. Es ist aber nicht so, daß ich etwas gegen Sie hätte, Kassler. Ich habe mit Gott ein Hühnchen zu rupfen. Das Traurige an der Sache ist, daß Gott mich verabscheut.« „Es tut mir leid, das zu hören.« Kassler griff nach einem kleinen Notizblock und fing an, ihn durchzublättern. »Es ist die Wahrheit, Kassler«, sagte ich feierlich, um Eindruck zu machen. »Soweit ich es beurteilen kann, versteht sich Gott am besten darauf, mich zu verachten.« »Sie glauben nicht, daß Gott, der Allmächtige, noch andere Dinge im Kopf hat?« ging Kassler auf das Thema ein. »Nicht, daß ich wüßte. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie aufhören würden, ihn Gott, den Allmächtigen zu nennen. Ich habe schon begriffen.« »Ich habe es nicht begriffen.« Kassler legte seine Pfeife weg und verschränkte bequem die Arme vor der Brust. »Tatsächlich hat mich bei der Durchsicht meiner Notizen von den letzten paar Sitzungen beeindruckt, wie wenig ich darüber erfahren habe, was Gott wirklich tut - und was Sie wirklich tun. Abgesehen davon, daß Sie gegeneinander kämpfen, tun Sie beide doch wirklich etwas, nehme ich an. Oder haben Sie sich aufs Altenteil begeben oder so etwas?« »Sie sind heute in einer ganz aufgekratzten Stimmung, Kassler. Wie kommt's? Letzte Nacht 'ne Frau gehabt? Irgend etwas läuft. Sie kommen hier rein, schmeißen sich in h i ren Sessel, erklären mir, daß Sie sich zwecks Einsamkeit und -3 1 3 -
Meditation fünf Monate freinehmen, und fangen dann mit mir ein Katz-und-Maus-Spiel darüber an, wie Jehovah und ich uns beschäftigen. Sie glauben nicht mal an uns. Was geht vor?« »Tatsächlich«, sagte Kassler zuckersüß, »habe ich, als ich meine Notizen durchsah, beschlossen, zumindest für jetzt, von der Annahme auszugehen, daß dies alles wirklich ist, daß Gott existiert und daß Sie der sind, der Sie zu sein behaupten.« »Wie ich es verstehe, haben Sie Ihre Notizen durchgearbeitet. Liebe Güte, heißt das, daß Sie letzten Endes doch einige Mühe in das Ganze investieren? Ich bin beeindruckt.« Kassler starrte geradeaus und reagierte nicht. »In diesem Geschäft kommt es zu einer interessanten Entwicklung«, sagte er schließlich. »Die Leute kommen zu mir mit dem verzweifelten Wunsch, eine Lösung ihres Problems zu finden, und je näher sie an das Problem herankommen, desto weniger wollen sie davon hören.« Ich ging nicht darauf ein. »Welche Informationen haben Sie also beim Durcharbeiten Ihrer Notizen gewonnen? Ihr Seelenfrieden ist, wie ich annehme, das Resultat einer großen Einsicht.« »Etwas davon«, sagte Kassler bescheiden. »Kommen Sie, Kassler. Das ist nicht typisch für Sie. Haben Sie wieder mit Zelazo geredet? Wir waren übereingekommen, daß es keine weiteren Beratungen mit Zelazo geben sollte. Ein Handel ist ein Handel.« »Und es hat auch keine weiteren Beratungen mit Zelazo gegeben.« »Oder mit sonst jemandem?« »Auch sonst mit niemandem. Nur Sie und ich.« »Es gefällt mir nicht, Kassler. Sie haben irgendwas im Ärmel.« »Dann sollten Sie wissen, was es ist«, stellte Kassler sachlich fest. »Wieso? Wieso sollte ich wissen, was es ist? Wo haben Sie denn das her?« Kassler fing wieder damit an, seine Notizen durchzublättern. »Nun Sie haben, bei verschiedenen Gelegenheiten, meine Gedanken mit unglaublicher Akkuratesse gelesen. Lupa erzählte mir, daß Sie dasselbe bei ihr getan haben.« -3 1 4 -
»Es gibt einige Gedanken, die leichter zu lesen sind als andere.« Die Richtung, die Kassler einschlug, gefiel mir überhaupt nicht. »Was sind das für welche?« »Es kommt darauf an. Die ganze Geschichte funktioniert auf der Basis der Rückkopplung. Sie wissen das. Es sind lediglich Spiegel. Ich bin auf das beschränkt, was Sie wissen. Einige Dinge sind offensichtlich - sie werden leicht reflektiert. Andere sind es nicht - sie sind transparenter.« »Das muß schrecklich frustrierend sein. Es war wohl nicht immer so.« »Es war einmal anders. Lesen Sie Ezechiel. Ich besaß das Siegel der Vollkommenheit. Ic h war vollkommen an Schönheit, voll der Weisheit...« »Und jetzt...?« fragte Kassler sanft. »Der Mensch fürchtet Gott nicht ohne Grund. Dabei möchte ich es belassen.« »Die Frage bleibt offen.« Kassler wollte es nicht dabei belassen. »Gott ist Geist. Ich bin Materie. Na und? Was ist groß dabei?« »Das ist allerdings nicht die Frage, nicht wahr?« stellte Kassler mit verwirrender Gelassenheit fest. »Nein«, gab ich ihm recht, »das ist sie nicht.« »Die Frage ist«, sagte Kassler ganz langsam, »was wissen wir, was Sie nicht wissen, ja?« Ich fügte mich in das Unvermeidliche. »Das ist eine sehr beunruhigende Frage.« »Also, was ist es - daß wir zwischen der Wahrheit Gottes und den Lügen Satans stehen?« »Wer? Sie? Jemand, den Sie kennen? Jemand, über den Sie gelesen haben? Machen Sie sich nicht lächerlich. Auf keinen von euch trifft das zu. Also, warum treten Sie einen fünfmonatigen Urlaub an? Das wird die Kontinuität meiner Behandlung zerstören.« »Gott hat den Menschen nicht geschaffen, um das Böse zu bekämpfen?« fragte Kassler unbewegt. »Gott hat den Menschen geschaffen, um die Negation zu negieren«, informierte ich ihn. »Um seine eigene Existenz zu -3 1 5 -
bestätigen. Das ist alles. Wo, glauben Sie, kommt das Böse her? Hexen und Kobolde?« »Der Mensch schafft das Böse?« »Sie begreifen schnell, Kassler. Wann reisen Sie ab?« Kassler wollte sich nicht ablenken lassen. »Wie?« fragte er direkt. »Indem er nach der Unsterblichkeit trachtet.« »Wieso?« »Da haben Sie mich in die Enge getrieben. Ich kann es nicht herausfinden.« »Wie schaffen wir das Böse?« Kassler ging der Frage mit ziemlicher Entschlossenheit nach. »In Ordnung, Kassler, hier haben Sie es: Ihr schafft das Böse, indem ihr leugnet, daß ihr Tiere seid - vornehmlich sexuelle Tiere, möchte ich feststellen - und einen Körper besitzt, der euren Untergang besiegelt. Euer Körper bedeutet, daß ihr die Unsterblichkeit nie erlangen könnt. Natürlich ist es nicht immer unangenehm, einen Körper zu haben. Es bringt einige Vorteile mit sich. Was die Praxis angeht, hätte es schlimmer kommen können. Dennoch, und es ist ein entscheidendes Dennoch, verstärkt eure Besessenheit mit den physischen Aspekten des Lebens die Unausweichlichkeit des Endes nur. Dieser Körper ist es. Mehr gibt es nicht. Nun sagen Sie mir, wann Sie abreisen.« »Das ist es.« »Ja, das ist es. Sehen wir den Dingen ins Gesicht, Kassler, all eure einfallsreichen Ideologien laufen auf eins heraus - wer ist für die Ewigkeit qualifiziert? Also beantworten Sie jetzt meine Frage oder nicht?« »Und es gibt keine Ewigkeit?« Ich fügte mich Kasslers Unempfänglichkeit. »Es gibt eine Ewigkeit. Aber für wen? Ich will Ihnen etwas sagen , Kassler. Wissen Sie, was die größte Furcht von allen hier ist?« -3 1 6 -
»Sagen Sie es mir.« Kassler blieb so kess, wie er war. »Ein gesichtsloser, namenloser Tod - der Tod eines Tiers.« Diese prägnante kleine Gefühlsduselei brach eine Zacke aus Kasslers Selbstvertrauen, womit ich natürlich nicht sagen will, daß dies meine Absicht war. »Und was wissen sie noch?« fragte er ruhig. »Ich weiß, daß ihr euch, da ihr nun mal zu dem Beschluß gekommen seid, mich mit Materie, Körper, dem Tier gleichzusetzen, ausgerechnet habt, auf irgendeine mysteriöse Art und Weise den Determinismus eurer Situation ändern zu können, indem ihr gegen mich kämpft. Natürlich funktioniert es nicht so.« Ich wartete einen Augenblick. »Wissen Sie was, Kassler?« fuhr ich fort. »Ich hasse den Geruch von Schwefel. Ich weiß nicht, woher diese Idee gekommen ist. Der Geruch ist für mich in keiner Weise reizvoll.« »Wie funktioniert es?« kam Kassler auf das Thema zurück. »Das Böse? Ich bin natürlich kein Experte, aber ich bin, wie ich wohl schon erwähnt habe, ein interessierter Beobachter. Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, Kassler. Etwas, worüber Sie oben auf Ihrem Berg nachdenken können, während Sie die Sterne anstarren. Folgendes: Es war einmal dies ist eine wahre Geschichte, aber ich habe immer Geschichten den Vorzug gegeben, die mit ›Es war einmal‹ anfangen, im vorliegenden Fall so um das Jahr 1780 - ein reizender Mann namens Franz Mesmer, ein sanfter, gütiger und nachdenklicher Mann, der glaubte, daß alle Menschen in sich eine geheimnisvolle Flüssigkeit hatten, die von den ›himmlischen Körpern‹ beeinflußt wurde, und daß dies der Grund für ihre Krankheiten war. Er nannte seine Theorie animalen Magnetismus, was ich, nebenbei bemerkt, für eine ziemlich passende Bezeichnung hielt. Nun, ich möchte betonen, daß Dr. Mesmer kein Scharlatan war. Er besaß Doktortitel in Philosophie und Metaphysik, dazu -3 1 7 -
einen Doktortitel der Medizin aus Wien. Es dauerte nicht lange, bis er beim Kurieren hysterischer Frauen gewaltigen Erfolg hatte. Dies mag Sie an einen anderen Arzt aus Wien erinnern, der zu der Ansicht gekommen war, daß er eine einfallsreiche Methode entwickelt hatte, um hysterische Frauen zu behandeln - Personen, die zu allen Zeiten besonders gute Kandidaten für irgendwelche neuen Ideologien gewesen zu sein scheinen, die die Runde machten, wenn ich es so ausdrücken darf. Mesmer verwendete allerdings keine Couch. Mesmer versammelte Gruppen von Frauen in seinem mit dicken Teppichen ausgelegten, matt beleuchteten Pariser Salon, der so mit Spiegeln ausgestattet war, daß jeder mögliche Schatten reflektiert wurde, und in dem es sanfte Musik, den Duft von Orangenblüten in der Luft und eine Wanne mit ›magnetisiertem‹ Wasser gab, um die all die Frauen herumsaßen und einander an den Händen hielten. Es war eine sehr eindrucksvolle Zeremonie. Mesmer pflegte in einem weiten lilafarbenen Umhang einzutreten, mit einem gelben Zauberstab zu wedeln und irgendwas zu intonieren. Es war genug unterschwellige Sexualität dabei, um die französische Fremdenlegion zu befriedigen, aber wen kümmert das schon. Die Frauen wurden alle hysterisch, setzten ihre sexuellen Spannungen frei, und anschließend fühlten sich alle ausgesprochen wohl. Der springende Punkt ist, daß es funktionierte. Es war sehr effektiv. Dann stellte jemand fest, daß Dr. Mesmer vermutlich vom Bösen war. Ein Komitee nicht böser Menschen wurde gebildet, um der Situation auf den Grund zu gehen - Männer wie Benjamin Franklin, Vorsitzender des Komitees, der gerade damit fertig geworden war, eine Methode des Musizierens mit Weingläsern zu entwickeln, die unterschiedlich voll waren, und Männer wie Dr. Joseph Ignace Guillotin, der kürzlich eine großartige Apparatur zum Köpfen von verurteilten bösen Menschen vollendet hatte, die seiner Ansicht nach das gottgegebene Recht auf eine gnadenvolle Exekution hatten, gleichgültig, welchen sozialen Status sie aufwiesen, oder zwei andere Komiteemitglieder, der Astronom Jean Bailly und der Chemiker Antoine, die dann später unter gnadenvoller -3 1 8 -
Mißachtung ihres sozialen Status auf eben diese Weise exekutiert wurden. Überflüssig zu sagen, daß dieses Komitee Dr. Mesmer absolut als bösen Menschen einstufte, seinen Besitz konfiszierte und sein Leben ruinierte. Das das, was der Mann tat, funktionierte und Hunderte von vorher leidenden Frauen heilte, war bedeutungslos. Mesmer behauptete, daß es planetare Einflüsse auf unsere Körperflüssigkeiten gab - eine sowohl absurde als auch böse Vorstellung, stellte Dr. Guillotin fest, der, nebenbei bemerkt, zu erwähnen vergaß, daß er sich weigerte, bei Vollmond Operationen vorzunehmen, weil dabei ein erhöhtes Blutungsrisiko auftrat, eine Praxis, der Chirurgen noch heute folgen. Schlimmer noch als das waren Mesmers lila Mantel und sein gelber Stab. Für die Gemeinschaft der Mediziner war dies ein Skandal, denn ihre Angehörigen trugen in jenen Jahren in Paris rote Mäntel und gelbe Spazierstücke. Ich erzähle Ihnen das alles, Kassler, weil diese Männer wirklich keine schlechten Menschen waren - intelligent, würdig, bedeutend -, Wissenschaftler, keine Idioten oder Schwindler, sondern ernsthafte, gedankenvolle, hart arbeitende Männer. Auf einen kurzen Nenner gebracht fürchte ich, daß ihr Leute während eurer Geschichte, und ich meine eure ganze Geschichte, ständig mit euch selbst und eurer eigenen mißlichen Lage unzufrieden gewesen seid. Was ihr tut, ist Vereine gründen und an anderen Rache nehmen. Hitlers Plan war es, alles Böse auszurotten. Er machte einen großen Verein auf. Er wollte ihn noch viel größer machen, aber er ging beim Ausradieren alles Bösen ein bißchen zu gewissenhaft vor, und die bösen Menschen fingen an, ihn zahlenmäßig zu übertreffen. Die Leute erinnern sich an Hitler. An Menschen, die mit dem Bösen herumspielen, erinnert man sich immer. Das sollten Sie sich merken. Fragen Sie ein Kind, das fünfundzwanzig Jahre nach Hitlers Tod geboren wurde, wer Hitler war, und es wird es Ihnen sofort sagen. Fragen Sie es, wer Alexander Fleming war, und Sie werden schon sehen, was Sie für eine Antwort bekommen. Was das angeht, fragen Sie mal das erste Dutzend Menschen, das Ihnen auf der Straße begegnet, wer Fleming -3 1 9 -
war, und Sie werden sehen, was Sie für eine Antwort bekommen. Natürlich seid ihr heutzutage in dieser Beziehung weitaus kultivierter geworden, wie ich zugeben muß. Keine hysterischen Hexenverbrennungen mehr, keine überfüllten öffentlichen Plätze mit Galgen und Guillotinen mehr, um das Böse zu beseitigen, das in der Welt existiert und zwischen euch und der Unsterblichkeit steht. Sorgfältig geplante, saubere Kriege befreien euch von dem Bösen. Manchmal reichen ein Zeitungsartikel oder ein Fernsehbericht für eine vollständige Kreuzigung aus. Da Sie danach gefragt haben, Kassler, will ich Ihnen etwas sagen. Opfer sind ein universelles menschliches Bedürfnis. Die größte Heldentat ist es, jene zu zertreten, die mit dem Bösen befleckt sind - jüdische Bankiers ohne Herz, die euer Geld stehlen, Neger mit großen Pimmeln, die eure Töchter vergewaltigen, die Kanaken in Asien, die kein Verständnis oder keinen Sinn für das Leben und die Familie haben. Ich hoffe, Sie halten das alles in Ihren Notizen fest, Kassler.« »Der springende Punkt ist also wieder einmal, so verstehe ich es, daß wir an allem selbst schuld sind«, sagte Kassler selbstgefällig. »Nicht eigentlich.« »Dann eigentlich... was?« »Eigentlich?« Ich dachte darüber nach. Kassler wartete schweigend auf meine Antwort. »Das Entsetzliche gibt den Menschen ihren Seelenfrieden«, sagte ich. Kassler schüttelte sich, und seine Selbstgefälligkeit verflüchtigte sich rapide. »Einigen Menschen«, sagte er schwach. »Den meisten Menschen - Männern... und Frauen... und Kindern. Es läßt euch mit der Welt zufrieden sein. Ihr kommt zusammen, um eure Feinde zu töten, die gegenseitige Liebe vertieft sich, ihr seid Waffenbrüder - zumindest bis ihr selbst das -3 2 0 -
Opfer werdet. Euer gegenseitiger Haß wird durch das Leiden eines gemeinsamen Feinds getilgt. Eure ganze Liebe baut auf dem Fundament des Hasses auf. Sie sollten das wirklich wissen, Kassler.« Kassler saß da und hörte mit einem geistesabwesenden Ausdruck in den Augen zu, während ihm kalte Schauder den Rücken hinunterliefen. »Wenn Sie mich fragen, Kassler, dann ist die Logik erschreckend«, sagte ich. »Schuldgefühle wegen eurer sterblichen menschlichen Zwangslage und simpler, alter animalischer Sadismus werden auf die höchste Ebene menschlichen Strebens erhoben - das uralte Problem von Gut und Böse.« »Sie haben da ein hübsches System entwickelt, um Ihre eigene Zwangslage zu begründen.« Kassler versuchte verzweifelt, sich aus der entsetzlichen Wirklichkeit hinauszuwinden, der er sich konfrontiert sah. »Es ist nicht mein System, Kassler. Tut mir leid. Das Dunkle in euch, das Sie leugnen wollen - es ist da. Die Schatten sind wirklich. Wirkliche Schatten. In die Form menschlicher Wesen gepreßt, von menschlichen Wesen. Es ist nicht meine Schuld, daß ihr euch nicht erheben könnt, indem ihr über euren eigenen Schatten springt, also müßt ihr das Dunkle in allen anderen suchen. Ihr braucht mich, Kassler. Ihr alle. Ich bin eure Unsterblichkeit. Euer Kampf gegen mich hält euch alle am Leben. Mich zu besiegen, ist eure einzige Hoffnung. Ich bin der Vater, den ihr vernichten müßt.« Ein großer Kloß stieg in Kasslers Kehle auf. »Wir sind die Kinder Gottes.« Kassler versuchte es mit einem unechten Bibelspruch. »Ihr seid, von Natur aus, die Kinder des Zorns. Epheser 2,36. Schlagen Sie es nach.« »Und Sie sind der große universelle Antagonismus.« »Wem gegenüber? Wem setzte ich Widerstand entgegen?« »Gott?« -3 2 1 -
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich will, daß die Menschen an Gott glauben. Sie wissen das. Ohne Gott gibt es keinen Satan. Ich höre auf, zu existieren.« »Sie setzen der Bibel Widerstand entgegen, weil sie Gott offenbart.« »Ich tue nichts dergleichen. Lesen Sie die Bibel! Ich empfehle sie! Lesen Sie sie ganz! Vorwärts, rückwärts, von unten nach oben! Griechisch, Hebräisch, Englisch, ganz wie Sie wollen! Prägen Sie sich sie ein! Erkennen Sie Gott! Erkennen Sie ihn gut! Und dann, wenn Sie damit fertig sind, dann nehmen Sie 2 Korinther 4,4 und schreiben es auf. Schreiben Sie es mit großen Buchstaben und hängen Sie es an einem hübschen auffälligen Ort auf. ›Satan ist der Gott dieser Welt. ‹ So steht es da, Kassler ›Satan ist der Gott dieser Welt.‹« »Nun, wie Sie schon erwähnt haben, könnten Sie, was Reiche angeht besser dran sein.« Kassler gewann etwas von seinem Selbstvertrauen zurück. »Mit dieser Welt ist nur eins nicht in Ordnung«, sagte ich zu ihm. »Und das ist der Mensch.« »Den Sie zu vernichten trachten.« »Seien Sie nicht albern. Mein Ziel ist nicht die Vernichtung des Menschen. Das tut ihr schon ganz hervorragend ohne meine Hilfe. Außerdem brauche ich...« Ein Gedanke kam mir, und ich unterbrach mich abrupt. Ich erkannte, unglücklicherweise, worauf Kassler hinausgewollt hatte. »Ja?« Kassler spielte seine Karten ganz eiskalt aus. »Nichts von Bedeutung.« Kassler hatte nicht die Absicht, mich entkommen zu lassen. Nicht an dieser Stelle. »Sie haben wiederholt einen Punkt herausgestellt«, sagte er langsam. »Wir benutzen Sie zu unseren Zwecken, um uns von unserer Schuld zu reinigen, um böse Absichten zu leugnen, um unsere animalische Natur und unsere Sterblichkeit zu vergessen.«
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»Sie haben Ihre Notizen gut durchgearbeitet, Kassler. Meinen Glückwunsch.« »Mir ist jedoch ein anderer Gedanke gekommen, den ich gerne mit Ihnen teilen möchte.« Kassler ging weiter vor, ohne auf meinen Scherz einzugehen. »Wenn es auch wahr ist, daß Sie durch Ihren Widerstand gegen Gott auf der Abfallhalde aller Reiche gelandet sind, ist es Ihnen dennoch gelungen, einen gewissen Status zu gewinnen, der Michael, Ezechiel, Gabriel und den anderen, die Sie zurückgelassen haben, nicht vergönnt ist. Sie könnten Gott natürlich um Vergebung bitten, wie ich schon bei unserer letzten Sitzung sagte, aber das würde bedeuten, daß Sie einen beträchtlichen Teil Ihres Status aufgeben müßten. Sie wären nur ein weiterer glorreicher Engel mit silbernen Flügeln und goldenem Heiligenschein - ziemlich öde, wenn Sie mich fragen.« »Ich nehme an, Sie wollen mit all dem auf etwas Bestimmtes hinaus, ja?« fragte ich mit ziemlicher Ungeduld. »Sie müssen es mir sagen«, erwiderte Kassler. »Angenommen, ich gebe Ihnen recht, und das tue ich, daß wir Sie benutzen, dann bleibt die Frage, wen Sie benutzen.« »Ich will Ihnen das Problem ersparen, Kassler. Ich brauche die Menschen. Sie. Euch alle. Ich brauche euch alle.« »Und wir brauchen Sie. Glücklicherweise bei weitem nicht so sehr, wie Sie uns brauchen. Es findet kein Kampf mit Gott über die Seele der Menschen statt. Keiner von euch beiden kümmert sich einen Deut darum, was nach dem Leben auf Erden passiert. Das Schlachtfeld befindet sich unmittelbar hier. Wie mache ich das?« »Gut, Kassler. Sie machen das gut.« »Es kümmert Sie auch keinen Deut, ob die alten Mythen, die sich Dante vor fünfhundert Jahren zusammengeträumt hat, korrigiert werden. Hörner, Schwänze, Gruben und Flammen wen kümmert es? Nein, es scheint mir so zu sein, daß unmittelbar hier etwas vorgeht, was Sie nicht verstehen, und das treibt Sie die Wände hoch. Sie haben mich gewählt, ahne
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ich, weil Sie sich ausgerechnet haben, daß ich es Ihnen erklären könnte, ja?« »Zum Teil.« »Was noch?« »Donnerwetter, Kassler, tatsächlich habe ich Sie aus vielen Gründen ausgewählt. Sie haben einige schwere Kämpfe mitmachen müssen und dabei eine gewisse Klasse bewiesen, ein Weltbild, das mir zusagt. Ich habe mir ausgerechnet, daß Sie mir für mein Geld etwas bieten würden, um es so auszudrücken.« Kassler erhob sich aus seinem Sessel und deutete damit an, daß sich die Stunde ihrem Ende näherte. »Ich tue mein Bestes«, sagte er mit Befriedigung, überzeugt davon, daß er letzten Endes die Kontrolle über die Sitzung zurückgewonnen hatte. »Aber im Grunde genommen«, sagte ich zu ihm, als er sich anschickte zu gehen, »habe ich Sie wegen der Art und Weise ausgewählt, auf die Sie Ihren Vater umgebracht haben. Hübsche Arbeit, Sie haben Stil, Kassler. Ich wünsche Ihnen einen schönen Urlaub.«
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VI. Teil Szlycks Abschied 1 »Weißt du, es ist alles deine Schuld«, sagte Leo Szlyck zu mir, eine Woche nachdem er Kassler und seine geliebte Lupa Arm in Arm gesehen hatte. »Mir war klar, daß es so sein würde«, antwortete ich ihm. »Es war deine Idee, daß ich das Haus verlassen und etwas frische Luft schnappen sollte.« Szlyck blickte mich mit seinen trüben gelbgesprenkelten Augen an. »Ich hätte Cerberus in den Garten hinaus gelassen, und er würde noch leben.« »Du hattest dich hier monatelang eingegraben. Das ist nicht gut für dich, Leo. Es war trotzdem eine gute Idee.« »Eben nicht, verdammt! Wenn ich hier geblieben wäre, hätte ich nicht herausgefunden, daß Kassler mir Lupa gestohlen hat.« Szlyck ließ sich in dem alten Sessel zurücksinken, den Kassler später während meiner Psychotherapie in Besitz nehmen sollte. »Mach dich nicht lächerlich, Leo«, sagte ich zu ihm. »Kassler hat nichts dergleichen getan.« »Hat er doch. Ich kann es an seinen Augen erkennen. Er ist ein raffinierter kleiner Schweinehund. Er hat mich dazu veranlaßt, ihn mit Lupa zusammenzubringen, und dann hat er sie unter mir weggestohlen.« »Lupa war seit einem Jahr nicht mehr unter dir gewesen, Leo. Sie war bereits geschieden, als Kassler sie kennenlernte.« »In Mexiko. Was wissen die Mexikaner schon? Sie könnten eine Scheidung nicht von einer Tortilla unterscheiden. Sie haben keinen Begriff von den Gesetzen. Sie sind alle Renegaten, die mit diesen großen Hüten herumlaufen, und mit
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Revolvergurten, die sie sich um die Brust geschnallt haben, und mit Schnurrbärten...« Szlyck brach ab. Er nahm einen weiteren Schluck aus seiner Flasche mit schottischem Whisky, der jetzt kastenweise von einem kundenfreundlichen Geschäft in Citadel in seine Bolge geliefert wurde. »Du trinkst dich zu Tode«, machte ich ihm klar, wie ich es während der vergangenen Monate schon bei mehreren Gelegenheiten getan hatte. »Warum hörst du nicht damit auf?« »Ich werde es Kassler heimzahlen.« Szlyck bekam kein Wort von meiner Bitte mit. »In dieser Verfassung wirst du das nicht«, stellte ich fest. »Wir werden sehen«, sagte Szlyck feierlich. Dann griff er nach einem weiteren halben Dutzend Dynamitstangen und fing an, sie zusammenzuschnüren, wie er es einmal in einem Film über Mexikaner gesehen hatte. »Leo, weißt du eigentlich, wieviel Dynamit du jetzt schon um mich herum aufgebaut hast?« »Nicht genug«, antwortete Szlyck. »Bei weitem nicht genug.« Und er kam herüber und legte das hübsche kleine Bündel auf den dreißig Zentimeter hohen Stapel von Explosivstoffen, die mich umgaben. Eine Woche nach dem Besuch in Dantes Inferno war es Kassler von den dortigen Erlebnissen immer noch schwindlig. Zuerst wollte er Vita und Sam Zelazo zur Rede stellen. Aber als die Tage vergingen, verwandelte sich seine Entschlossenheit in Resignation, und er schleppte sich dahin, indem er jeden Kontakt zu allen menschlichen Wesen außer seinen Patienten vermied. Bea Chaikin war die erste, die Kasslers Misanthropie bemerkte, und an einem späten Nachmittag am Ende der zweiten Woche marschierte sie in sein Büro. »Also.« Bea kam gleich zur Sache. »Willst du kündigen?« »Ich bin mir nicht sicher. Zelazo hat Vita gefickt. Ich kann das nicht begreifen. Warum tut er das?« Bea blickte Kassler voller Unglauben an. -3 2 6 -
»Ich weiß nicht, was schwerer zu beantworten ist«, sagte sie schließlich. »Warum er es tut oder warum du die Frage stellst.« Dann stand sie auf, ging zu Kassler hinüber und fuhr ihm ganz sanft über den Kopf. »Ich hoffe, du bleibst, Sy. Wir brauchen dich hier, vor allem deine Patienten brauchen dich.« Und sie gab ihm einen leichten Kuß auf die Stirn und ging. Minutenlang saß Kassler wie betäubt in dem dunkel werdenden Raum, dann holte er tief Luft und machte sich auf den Weg, um mit Lupa zu reden. »Ich bin mir nicht sicher, was du willst, Sy«, sagte Lupa zu Kassler, als sie im Wohnzimmer auf der Couch mit dem hellgrünen Dschungelmuster Kaffee tranken, das sich auf dem Teppich und bei den Vorhängen wiederholte. »Ich bin mir nicht einmal sicher, daß du weißt, was du von mir willst.« »Magie«, sagte Kassler sehnsüchtig. »Die kann ich dir nicht geben, Sy. Nicht auf Kommando. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie jemals irgend jemandem geben kann.« »Betrübt dich das nicht?« fragte Kassler. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte Lupa nachdenklich. »Es war einmal so. Es machte mich verrückt. Den ganzen Tag lief ich deprimiert und frustriert durch die Gegend und verfluchte mich selbst, weil ich nicht in der Lage war, Magie zu erleben. Dann, ich weiß nicht, passierte eines Tages etwas. Ich wurde mir bewußt, daß ich mir etwas aus den Dingen mache. Ich empfinde Vergnügen. Ich bin rücksichtsvoll, gut, freundlich - all das, was man mich zu sein gelehrt hat, was beim Umgang mit Menschen, die man gerne um sich hat, von einigem Wert sein soll.« »Genügt dir das?« »Ich glaube ja, Sy. Erschreckt dich das?« »Kannst du so glücklich sein?« »Ich bin davon überzeugt, Sy. Ich war es nicht immer, aber jetzt bin ich es. Ich habe einen Beruf, der mir wirklich Spaß -3 2 7 -
macht. Es erregt mich, zu sehen, daß es gut läuft. Ich habe Freude an guter Musik, an Kunst und Literatur. Das erregt mich ebenfalls. Ich baue mir einige Freundschaften auf. Menschen haben mir immer viel bedeutet. Ich kümmere mich um die Menschen. Eines Tages werde ich vielleicht ein paar Kinder haben. Ganz sicher bin ich mir da nicht. Aber wenn es dazu kommt, bin ich ganz sicher, daß ich mich gut dabei fühle. Das ist viel, Sy. Es ist genug für mich.« Kassler nippte an seinem Kaffee und betrachtete Lupas sonnengebräuntes Gesicht. »Ich glaube, daß wir die meiste Zeit wirklich gut miteinander zurechtkommen«, sagte er. »Ich auch«, stimmte Lupa zu. »Du bist eine sehr gute Zuhörerin«, machte Kassler seiner Dame ein Kompliment. »Musikverständnis«, erklärte Lupa. »Zwei Semester am Radcliffe. Geh ins Zimmer nebenan und spiel' Geige und Posaune. Zu neunzig Prozent kann ich dir sagen, was was war.« »Hör auf, so verdammt lustig zu sein.« Kassler wurde gereizt. »Ich meine es ernst. Wir sprechen darüber, ob wir uns noch weiter sehen sollten oder nicht. Ist dir das gleichgültig?« Lupa vermied es, Kassler anzusehen. Sie biß sich auf die Lippen und drängte ihre Tränen zurück. »Nein.« Sie blickte Kassler an. »Es ist mir überhaupt nicht gleichgültig.« »Mir auch nicht«, sagte Kassler und nahm Lupas Hand. »Aber ich kann dir nicht das geben, was du bei der Beziehung zu einer Frau suchst, oder?« stellte Lupa fest. »Nein«, sagte Kassler ruhig, »das kannst du nicht.« »Also, was hältst du dann davon, wenn wir mit all dem aufhören, bevor wir uns hassen, einverstanden?« Kassler fuhr fort, Lupas Hand zu halten und in ihre purpurfarbenen Augen zu blicken, und wartete darauf, daß sie mit einer brillanten Lösung aufwartete. -3 2 8 -
»Ich möchte eigentlich nicht wirklich Schluß machen«, sagte er dann, als von Lupa keine Hilfe kam. »Sieh mal, Sy, du wirst sehr glücklich sein. Du wirst irgendeine nette junge Frau finden, bei der es keine Komplikationen, keinen verrückten Ex-Mann, keine Karriere, keine Komplexe gibt. Sie wird sich unsterblich in dich verlieben, und ihr werdet bis an euer Lebensende glücklich miteinander leben.« Minutenlang saß Kassler da, trank seinen Kaffee und blickte Lupa an, die ihm an diesem Abend in ihrer Traurigkeit besonders schön vorkam. Er gab sich die größte Mühe, einen guten Grund zu finden, um nicht Schluß machen zu müssen, aber es boten sich keine überzeugenden und zwingenden Argumente an. »Ich bin fast fertig mit meinem Kaffee«, sagte er schließlich. »Ich werde gleich gehen.« »Ich glaube, das ist gut so«, antwortete Lupa. »Abschiede, die sich lange hinziehen, gehören nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.« Kassler nahm schnell den letzten Schluck Kaffee. »Ich hätte gerne einen Abschiedskuß«, lächelte Lupa weinerlich. Kassler beugte sich vor und küßte sie zärtlich. »Ich liebe dich, Lupa«, sagte er. »Du bist die beste Freundin, die ich jemals gehabt habe.« Er ließ seine Hand sanft über ihre Wange gleiten. »Du auch, Sy. Du bist mir auch ein guter Freund gewesen.« Lupas Finger wanderten geistesabwesend Kasslers Nacken entlang. Kassler blickte in Lupas purpurfarbene Augen. Das Gefühl ihrer Finger in seinem Nacken gefiel ihm. »Manchmal kommen wir gut miteinander zurecht, du und ich.« Kassler küßte Lupa erneut und ließ seine Hand über ihren Rücken gleiten, bis sie die Kurven ihres schlanken Gesäßes erreichte. Minutenlang streichelte er Lupas Hinterteil, während -3 2 9 -
sie die Augen schloß und die warmen Empfindungen genoß, die sich in ihr ausbreiteten. Dann öffnete Kassler den Knopf an der Rückseite von Lupas Rock, betätigte den Reißverschluß und zog ihr mit einer einzigen geschickten Bewegung Rock und Höschen aus. »Es hat Zeiten gegeben«, sagte Lupa, während sie seinen Gürtel und seinen Reißverschluß öffnete und Hose und Unterhose weit genug nach unten schob, um seine Erektion freizulegen, »wo ich das Gefühl gehabt habe, dich wirklich zu lieben...« Lupas Worte verklangen, als sich Kasslers Finger dem feuchten Damm näherten, der ihre Beine trennte. »Ich weiß, daß du es versucht hast«, sagte Kassler, küßte Lupa und ließ seinen Finger tiefer und tiefer in die Spalte hineingleiten. »Das habe ich«, stöhnte Lupa, schlang die Arme um Kassler und zog ihn auf sich. Kassler nahm seine Finger zurück und schob sich zwischen die feuchten Hautfalten. Instinktiv fing Lupa an, ihr Hinterteil leicht kreisen zu lassen. Ihre Hände hinter Kasslers Kopf drückten seinen Mund fest auf den ihren, ihre Zunge schnellte vor und zurück. Dann drehte sie den Kopf zur Seite und überließ sich ganz dem gewaltigen Vergnügen, das sie empfand, als Kassler wieder und wieder in ihren Körper eindrang. »Ich wünschte, ich könnte dich so lieben, wie du es willst«, keuchte sie, während er sich vor und zurück schob. »Ich auch«, sagte er. »Ich wünschte mir das auch.« »Und«, wimmerte Lupa, als sie spürte, daß sie gleich kommen würde, »ich wünschte, daß du mich so nehmen könntest, wie ich bin.« »Ich wünschte mir das auch«, stöhnte Kassler, als er Lupa in einer Explosion von Zuckungen, die nicht mehr aufzuhören schienen, mit acht Monaten sexueller Anspannung überflutete. Sein Glied füllte pulsierend Lupas Inneres aus und jagte auch den letzten Tropfen so tief in sie hinein, wie es nur möglich war.
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Lange Zeit lagen Kassler und Lupa Seite an Seite auf der Couch, spürten den Empfindungen im Körper des anderen nach und ließen die Hände wieder und wieder über die Kurven des Partners wandern. Zum Schluß küßte er Lupa leicht auf die Stirn. »Ich hoffe, du findest die Magie, die du dir wünschst, Sy«, sagte sie leise. »Du bist ein großartiger Mensch, Lupa.« Kassler gab Lupa den Kuß auf die Stirn zurück. »Ich weiß, daß ich wahrscheinlich verrückt bin, dies alles aufzugeben. Wenn ich gehe, werde ich es schon bereuen.« »Dann komm zurück«, lächelte Lupa. »Ich nehme an, das könnte ich, nicht wahr?« »Du könntest, aber du solltest nicht. Du weißt, was du dir wünschst, Sy. Und du weißt auch, daß ich es dir nicht geben kann.« Kassler blickte Lupa an und betrachtete ihr blondes, durch den Liebesakt in Unordnung geratenes Haar und ihre purpurfarbenen Augen, die stärker glänzten denn je. Dann seufzte er, stand auf und zog seine Hose hoch. »Ich gehe meine Tasse spülen«, sagte er, um noch einen Aufschub zu gewinnen. »Schon in Ordnung«, sagte Lupa. »Ich kann das machen. Du mußt wirklich gehen, Sy. Gib mir einen Abschiedskuß und geh. Tu es!« So küßte Kassler Lupa zum Abschied und ging. Kassler betätigte die Klingel von Zelazos Haus mehrere Male. Es kam keine Antwort. »Sam«, rief er und versuchte es an dem Drehknopf der großen Messingtür. Er drehte sich mit einem lauten, knarrenden Geräusch, und die schwere Tür öffnete sich. Nachdem er Lupa verlassen hatte, war Kassler stundenlang durch Citadel gefahren, und es brodelte in ihm, als er an Zelazos riesigem Haus vorbeikam. Obgleich es drei Uhr morgens war, zeigten sich die Fenster hell erleuchtet, und da er -3 3 1 -
zu der Überzeugung kam, daß eine weitere katastrophale Begegnung seiner Gemütsverfassung auch nichts mehr anhaben konnte, beschloß er, Zelazo gegenüberzutreten. Kassler ging den langen Flur entlang, der zum Wohnzimmer führte, in dem er und Zelazo Schach gespielt hatten. Der Raum war dunkel, abgesehen von einem einzigen Licht, das das Schachbrett illuminierte. Alle Fenster standen offen, und es war bitterkalt. »Sam!« rief Kassler, als er hinüberging, um die Schachpartie zu studieren. Schwarz hatte gewonnen. Weiße Figuren hatten sich bei dem verzweifelten Versuch, die gleichzeitig von allen Seiten zu kommen scheinenden Angriffe abzuwehren, aussichtslos überall auf dem Brett verstreut. Der weiße König lag zum Zeichen der Kapitulation auf der Seite. Kassler begutachtete das bedauerliche Ergebnis noch eine weitere Minute und schritt dann den Flur zu seiner Rechten hinunter. »Sam!« versuchte er es abermals. Noch immer kam keine Antwort, und so fuhr er mit seiner Durchsuchung des Hauses fort. Abgesehen vom Wohnzimmer war er nie in irgendeinem Teil von Zelazos Heim gewesen, und so ging er ganz langsam, versuchte sein Glück an den Türen links und rechts und schlang dabei in der eisigen Kälte, die durch den Flur wehte, seinen Mantel ganz eng um sich. Die ersten paar Türen führten in leere Abstellräume. »Sam?« Kassler klopfte an eine Tür in der Mitte des Korridors. Als wieder keine Antwort kam, öffnete er langsam die Tür. Vor Verblüffung sperrte er Mund und Nase auf. Er hatte eine weiträumige Kunstgalerie betreten, einen Irrgarten aus langen schwarzen Wänden, der so ausgedehnt war wie die größten Ausstellungsräume, die er je gesehen hatte. Über jedem Bild hingen Lampen und illuminierten die Kunstwerke. Kassler ging die Gänge entlang und inspizierte die Gemälde. Leonardo, Michelangelo, Giotto, Botticelli, van Gogh, Bosch, Renoir, Piero della Francesca, Rembrandt, Caravaggio, Blake, -3 3 2 -
Munch - die Gemälde und Zeichnungen schienen kein Ende zu nehmen. Kassler ließ seine Hand leicht über einen Botticelli gleiten, um die Textur der Farbe zu erfühlen und um sich davon zu überzeugen, daß er Originale betrachtete. Als seine Fingerspitzen die feinen Farbstriche berührten, die vor fast fünfhundert Jahren aufgetragen worden waren, durchliefen ihn kalte Schauder. Langsam bewegte er sich den Gang entlang, studierte ein Kunstwerk nach dem anderen und spürte dabei, wie ihn eine eigenartige Traurigkeit überkam. Die Menschen starrten ihn voller Qual und Elend aus den Bildern heraus an, so als ob sie in der Leinwand eingesperrt wären, verdammt dazu, andere Menschen an sich vorbeigehen zu sehen. Kassler blieb stehen und betrachtete einen Leonardo mit einem Jungen, der mitleiderregend weinte. Das Bild rührte sein Herz, und er spürte den Schmerz des Kindes in sich selbst, bis er es nicht länger ertragen konnte. Er ging zu einem Fenster hinüber und blickte tief atmend nach draußen. Eine Gestalt rannte außerhalb des Fensters vorbei, ein gigantischer Mann, der in der frostigen Nacht nackt zwischen den Bäumen umhersprang und irgend etwas verfolgte. Kassler sah gebannt zu. Sam Zelazo fuhr während des Laufens mit den Händen über den Boden, fing irgendein Nachttier - einen Maulwurf, einen Waschbär, eine Bisamratte, Kassler konnte es nicht sagen - und drückte mit einer kurzen Bewegung seiner Daumen die Augen des Tieres heraus, die wie zwei kleine, glänzende Perlen auf die gefrorene Erde fielen. Kasslers Magen drehte sich um, und er würgte, als ihm die Übelkeit in der Kehle aufstieg. Zelazo schleuderte das quiekende Tier auf den Boden und sah zu, wie es in den Wald torkelte. Kassler schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand Zelazo am Ende des Gangs. Er trug einen schwarzen Bademantel, sein Gesicht war schweißüberströmt, die Augen dunkel und brütend.
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»Sie sind ein bißchen früh dran, Sy«, sagte Zelazo. »Die Galerie öffnet nicht vor zehn.« »Diese Galerie öffnet nie«, sagte Kassler. »Niemand weiß, daß diese Gemälde existieren. Es sind alles Meisterwerke, und sie sind völlig unbekannt.« »Ich habe sie speziell für mich in Auftrag gegeben«, lächelte Zelazo. »Was meinen Sie? Talentierte Leute, nicht wahr?« Kassler empfand Zelazos Antwort nicht als humorvoll. In seinem Kopf wirkte noch immer nach, was er gerade durch das Fenster beobachtet hatte. »Was haben Sie da draußen gemacht?« forderte er Zelazo heraus. »Ich habe gejagt«, antwortete Zelazo sachlich. »Sie haben das Tier geblendet.« »Es ist ein Nachttier. In ein paar Minuten wird es den Unterschied nicht einmal mehr merken. Würden Sie sich besser fühlen, wenn ich ein Gewehr genommen hätte? Wäre es Ihnen lieber, wenn ich es getötet hätte?« »Sie haben keine Kleider angehabt. Es sind fünf Grad minus da draußen.« »Ich habe einen langsamen Stoffwechsel. Manche Leute schwimmen im Winter. Ich jage. Beim nächsten Mal ziehe ich meinen Bademantel an. Sonst noch etwas?« »Sie haben das Tier mit den Händen gefangen.« Kassler fuhr fort, das Spektakel, dessen Zeuge er gerade gewesen war, in ein verständliches Schema einzuordnen. Zelazo stand bewegungslos da und starrte Kassler vom anderen Ende des Gangs aus an. »Ich jage meine Beute unter gleichen Voraussetzungen«, hallte seine Stimme durch den großen Raum, »nackt und mit bloßen Händen. Es ist eine Herausforderung für mich. Ich versuche, es jede Nacht zu tun. Es hält mich in Form. Das ist alles.« »Immer in der Nacht?« -3 3 4 -
»Immer in der Nacht. Die Nachbarn pflegen sich über nackte Männer, die nachmittags durch ihre Gärten laufen, zu beschweren.« »Wann schlafen Sie?« »Ich schlafe nicht.« Zelazos Stimme hallte weiterhin durch den Gang »Zumindest nicht so, wie es die meisten Leute tun. Schlafentzugsstudien zeigen, daß sich der Körper nach einer gewissen Zeit ohne Schlaf an kurze Nickerchen gewöhnt, Millisekunden lang, tausende stündlich, so kurz, daß Sie es niemals merken würden - zwischen den Worten eines Satzes, während ich die Gabel zum Mund führe, wenn ich mit den Augen blinzele. Ich habe mich so trainiert, daß ich ohne Schlaf auskomme.« Kassler blickte Zelazo an, der ihm gegenüberstand. In dem kalten Raum sonderte sein Körper Dampf ab. »Ich weiß nie, was ich zu Ihnen sagen soll«, gestand Kassler mit einer Mischung von Wut und Frustration. »Warum kommen Sie dann nicht mit ins Wohnzimmer und trinken einen Brandy, während Sie sich bessere Rügen ausdenken?« schlug Zelazo vor. »Sie haben meine Frau gefickt«, erklärte Kassler, als er und Zelazo die Galerie verließen. »Sie haben mich auf frischer Tat ertappt«, gab Zelazo beim Betreten des Wohnzimmers zu. »Jesses, Sam«, explodierte Kassler, während er sich auf die Couch fallen ließ. »Das ist kein Witz. Ich habe Ihnen Vita anvertraut, und Sie haben mich hintergangen.« »Indem ich Sex mit Vita gehabt habe?« »Ich habe Ihnen vertraut.« »Wenn Sie mir jetzt nicht mehr vertrauen, dann ist das Ihr Problem, Sy«, sagte Zelazo, während er Brandy in einen großen Schwenker goß und Kassler reichte. »Ich habe Sie nicht gebeten, mir zu vertrauen. Ich habe Sie nicht gezwungen, mir zu vertrauen. Sie haben es von sich aus getan. Wenn Sie damit aufhören wollen, ist das allein Ihre Sache.«
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»Sie sind mein Vorgesetzter«, beklagte sich Kassler und versuchte, sich mit dem Brandy zu wärmen. »Und mein Freund.« »Das bin ich noch.« »Wie lange, Sam? Wann haben Sie angefangen, sie zu ficken? Bevor ich sie verlassen habe? Als sie noch dabei war, über unsere Ehe Klarheit zu gewinnen?« »Sie hatte schon Klarheit über Ihre Ehe gewonnen, als sie zum ersten Mal zu mir kam.« »Scheiße, Sam, Scheiße!« Kassler stand von der Couch auf und stampfte in dem großen Zimmer hin und her. »Das bedeutet, daß Sie sie schon von Anfang an gefickt haben, nicht wahr?« Zelazo blickte Kassler an und fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. »Nun?« fragte Kassler erneut. »So war es, nicht wahr?« »Wenn Sie es wirklich wissen wollen, dann lautet die Antwort ja, so war es. Und das Wort ficken hat mir nie gefallen, so daß ich Ihnen dankbar wäre, wenn Sie es nicht mehr verwenden würden.« »Warum?« schrie Kassler. »Ist das nicht genau das, was Sie getan haben? Haben Sie sie nicht gefickt?« Zelazo starrte Kassler schweigend an. »Ich möchte, daß Sie gehen«, sagte er schließlich. »Wenn Sie sich endlich beruhigt haben, sollten Sie in mein Büro kommen, damit wir uns unterhalten können, aber nicht früher.« »Ich habe Ihnen vertraut, Sam«, klagte Kassler. »Ich habe Ihnen wirklich vertraut.« »Ach, hören Sie auf damit, Sy.« Kassler setzte sich in einen großen Sessel. »Sie fangen an, wie ein Pfadfinder zu klingen.« »Ich kündige im Phlegethon«, sagte Kassler. »Ich gehe, sobald Sie jemanden gefunden haben, der mich ersetzt.«
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Zelazo fuhr fort, Kassler anzublicken und überlegte, ob er mit ihm in seiner augenblicklichen Verfassung weitersprechen oder ihn wegschicken sollte. »In Ordnung, Sy, setzen Sie sich.« »Ich stehe lieber«, sagte Kassler trotzig und rieb seine Arme, um sich warm zu halten. »Ihr Herumlaufen stört mich, und ich möchte, daß Sie hören, was ich zu sagen habe. Also, setzen Sie sich bitte.« »Ich kann Sie auch im Stehen sehr gut verstehen.« Zelazo erhob sich aus seinem Sessel, ging zu Kassler hinüber und legte beide Hände auf seine Schultern. Kassler spürte keinen Druck von Zelazos Händen, fand sich aber nichtsdestoweniger klein und häßlich in einem nahen Sessel wieder. Als er saß, verflüchtigte sich sein Trotz. »Jesus Christus, Sam«, sagte er und blickte zu Zelazo hoch. »Warum mußten Sie das mit Vita machen? Sie wußten, daß sie mich verlassen würde, sobald sie einen anderen hatte. Warum? Ich habe Ihnen wirklich...« »Wenn Sie mir abermals erzählen, daß Sie mir vertraut haben, werde ich mich übergeben«, sagte Zelazo mit dem Rücken zu Kassler, als er zu seinem eigenen Sessel zurückkehrte. »Wie es mir erscheint«, sagte er ruhig, »haben Sie jetzt zwei Möglichkeiten. Sie können Phlegethon verlassen, oder Sie können bleiben. Wenn Sie gehen, haben wir nichts mehr miteinander zu reden, abgesehen davon, daß Sie ein guter Psychotherapeut sind. Tatsächlich sind Sie sogar ein exzellenter Psychotherapeut, wahrscheinlich einer der besten, die wir hier je hatten. Sie brauchen mir nicht zu glauben, wenn Sie selbst daran zweifeln. Fragen Sie Bea Chaikin.« »Bumsen Sie die auch?« fragte Kassler bissig. »Mein Sexualleben steht hier wirklich nicht zur Debatte.« Zelazo ignorierte die Anzüglichkeit von Kasslers Frage. »Sie sind ein guter Therapeut. Sie leisten gute, harte Arbeit. Ich
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meine, daß Sie bleiben sollten. Ich hätte es gerne, wenn Sie bleiben.« Kassler blickte zu Zelazo hoch, um festzustellen, ob er es ernst meinte. Er hatte ganz den Eindruck. »Also«, fuhr Zelazo fort, »wenn Sie sich entschließen zu bleiben...« »Kommen Sie, seien Sie vernünftig«, sagte Kassler endlich. »Wie kann ich bleiben, Sam?« »Es wäre erforderlich, daß Sie ein paar Probeschritte in die wirkliche Welt unternehmen, das ist wahr«, sagte Zelazo. »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, daß die Menschen in der wirklichen Welt heiraten, manchmal die falschen Leute, und sich scheiden lassen. In der wirklichen Welt lernen Frauen Männer kennen, verheiratete Männer und verheiratete Frauen, und sie haben sexuelle Beziehungen zu Menschen, mit denen sie nicht verheiratet sind. Ich bin sicher, daß Sie Ihre Patienten davon reden gehört haben. Glauben Sie, daß Sie in einer anderen Welt leben?« »Sie haben mich hintergangen«, jammerte Kassler. »Nein, habe ich nicht«, sagte Zelazo gereizt. »Nicht mehr, als Sie Leo Szlyck hintergangen haben. Es ist seine Frau, mit der ich Sie von Zeit zu Zeit sehe, nicht wahr?« »Das ist etwas anderes.« Zum erstenmal dachte Kassler über die Parallelen nach. »Sie war mit Szlyck absolut fertig, und die ganze Sache hat sich einfach so ergeben.« Eine drückende Pause trat ein. »Ich warte auf die Erklärung, was daran anders ist«, sagte Zelazo schließlich. Kassler sagte nichts. Die Erschöpfung von der langen, schlaflosen Nacht begann ihn zu überwältigen, und er hatte Zelazo nichts mehr zu sagen »Ich sollte ein bißchen schlafen«, entschloß er sich laut und stand auf. -3 3 8 -
»Ich glaube, das ist eine gute Idee, Sy«, stimmte Zelazo zu und erhob sich ebenfalls, um Kassler hinauszubringen. »Bevor Sie allerdings gehen, habe ich da noch etwas, was ich Ihnen zeigen wollte - ein Gemälde, einen weiteren Leonardo, nicht sehr bekannt, aber eines seiner besten, glaube ich.« Zelazo holte einen Schlüssel aus der Tasche seines Bademantels, steckte ihn in das Schloß einer Tür rechts vom Eingang und führte Kassler in einen mittelgroßen Raum, der dunkel war, abgesehen von mehreren kleinen Deckenscheinwerfern, die ein einzelnes großes Gemälde an der Wand gegenüber der Tür anstrahlten. Gleich nach dem Eintreten blieb Kassler ruckartig stehen, wobei ihn ein Schwindelgefühl überkam und seine Beine zu zittern begannen. »Bevor ich hierher kam, habe ich einige Jahre in Italien gearbeitet und dieses hier praktisch für nichts erworben. Es war in einem Keller in Florenz versteckt.« Kassler hielt sich an der Wand fest. »Vor ein paar Wochen, als wir Schach spielten und Sie mir vom Tod Ihres Vaters erzählten, kam mir dieses Bild augenblicklich in den Sinn.« Kassler zitterte, als er die riesige Leinwand betrachtete, eine vertraute Szene am Arno. Eine Menschenmenge drängte sich um einen älteren Mann, der auf dem Pflaster zusammengebrochen war, das Gesicht weiß vom Tod gezeichnet, die Augen glasig und kalt, während neben ihm sein Sohn kniete, die Arme in die Luft geworfen und vor Schmerz laut aufschreiend. »Unheimlich, nicht wahr?« sinnierte Zelazo. Kassler griff nach der Tür, stieß sie auf und lief nach draußen, um Luft zu holen. Kassler brauchte nicht lange auf eine Erklärung zu warten. »Scheiße!« sagte Bernie Kohler zu ihm, als sie am nächsten Abend in Kasslers Appartement Hamburger brieten. »Hat er dir
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auch diese faule Meisterwerkgeschichte vorgeführt? Willkommen im Club!« »Wo hat er sie alle her?« Kassler schob seinen Bratlöffel unter einen saftigen Ballen Gehacktes. »Er hat sie gemalt, daher hat er sie. Er ist ein Wahnsinniger, das habe ich dir schon gesagt. Er hat einen Renoir von Bea beim Parken ihres Wagens gemacht und einen Rembrandt von Norman Meltz, wie er sich gerade einen runterholt. An einem guten Tag schafft er drei Stück in der Stunde.« »Er geht mitten im Winter nackt auf die Jagd und schläft nie.« Kassler klatschte einen Hamburger auf ein Brötchen und reichte es Bernie Kohler auf einem Papierteller. »Das überrascht mich nicht«, sagte Bernie und biß in sein Abendessen. »Ich habe gesehen, wie er einen Maulwurf oder so etwas mit bloßen Händen gefangen und ihm die Augen rausgedrückt hat.« Kassler versuchte zu vermeiden, sich die groteske Szene noch einmal bildlich vorzustellen. »Ich schätze, das erklärt es.« Bernie nahm einen weiteren Bissen von seinem Sandwich. »Es erklärt was?« Kassler setzte sich an den Tisch und schüttete Ketchup über seinen Hamburger. »Daß einige seiner Patienten ihn nicht sehr hilfreich fanden«, fuhr Bernie überzeugt fort. »Eine solche Einstellung gegenüber lebenden Wesen dürfte es zweifellos schwermachen, eine therapeutische Beziehung aufzubauen.« Leo Szlyck, der nicht wußte, daß Kassler und Lupa kein Paar mehr waren, blieb während jener Wintermonate des Jahres 1975 nicht untätig. Mit dem unvermeidlichen Whiskyglas zu seiner Linken und gerade eingetroffenen Sprengstoffkisten zu seiner Rechten traf Szlyck seine Vorbereitungen, um sich an Kassler dafür zu rächen, daß er ihm seine Frau gestohlen hatte. Er benutzte die ultimative Waffe: das Telefon.
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»Hier spricht Guido Cavalcanti vom Blumengeschäft Cavalcanti.« Szlyck suchte den Namen mehr oder weniger aufs Geratewohl aus dem Telefonbuch heraus. »Ich möchte einen uneintreibbaren Schuldensaldo von mehreren tausend Dollar melden, den ein Dr. Sy Kassler hier auflaufen lassen hat«, erzählte er dem Kreditbüro von Groß-Citadel und lieferte gleich die nötigen ausschmückenden Details mit. »Rosen«, erklärte er, »langstielig, und viel Flieder. Scheint verliebt zu sein. Viertausendsechshundertundzehn Dollar und zwölf Cent. Oh, gern geschehen. Wiederhören.« Dann errichtete Szlyck einen weiteren Dynamitstapel. »Weißt du, Leo, du verstehst nicht das geringste von Sprengstoffen«, versuchte ich ihm klarzumachen. »Wie willst du das ganze Zeug zur Explosion bringen?« »Wie wohl?« fragte Leo verächtlich. »Mit einem Streichholz.« »Ah, verstehe«, antwortete ich. Ich wollte Leo den Spaß an der Freude nicht verderben. »Hallo?« Szlyck klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter, so daß er gleichzeitig Dynamitstangen für mich zusammenbinden und telefonieren konnte. »Hiera ista Detektiva Farinata«, sagte er mit der übelsten Imitation eines italienischen Akzents, die ich jemals gehört hatte. »Wira überprüfena einen Doktora Kassler, dera eina Kreditkarta von Ihre Firma besitzta.« Die Resultate der zahllosen Telefonate, die Leo Szlyck führte, sollten Kassler etwa einen Monat lang nicht berühren, aber als sie es dann taten, schlossen sie ihn natürlich von der Welt des Kredits und des Handels mit der Plötzlichkeit und Endgültigkeit einer riesigen mittelalterlichen Eisentür aus, die vor seinem Gesicht zuschlug und deren schwerer Balken aus Eichenholz mit einem schrecklichen Krachen dauerhaft einrastete. Es hätte zu keiner ungünstigeren Zeit kommen können. Kassler war pleite und bereit, im Phlegethon auszuscheiden. Ohne Kenntnis der drohenden Zwangslage hatte er, wie erbeten, seinen Rechtsanwalt aufgesucht. -3 4 1 -
»Ich habe eine gute und eine schlechte Neuigkeit«, sagte Marty Myers launig. »Welche ziehen Sie vor?« »Zuerst die gute«, sagte Kassler. »Ich kann sie gebrauchen.« »Sie sind geschieden.« »Wieso?« »Vita hat zugestimmt, die Scheidung nicht anzufechten. Es ist bei Gericht aktenkundig. Zu regeln bleiben nur noch Unterhalt und Besuchszeiten. Sie sind ein freier Mann.« Marty lächelte und schob die Daumen unter die Achselöffnungen seiner Weste. »In Ordnung.« Kassler war unbeeindruckt. »Und die schlechte Neuigkeit?« »Der Gerichtstermin, bei dem Unterhalt und Besuchszeiten festgelegt werden, ist am 9. Januar 1977.« »Noch zwei Jahre?« fragte Kassler wie betäubt. »Das Gericht ist schrecklich überlastet, tut mir leid«, drückte Marty Myers sein Mitgefühl aus. Kassler saß wie gelähmt da. In seinem Kopf drehte sich alles bei dem Gedanken, daß er zwei weitere Jahre unter denselben Umständen mit all der damit verbundenen Frustration und Traurigkeit verbringen mußte. »Das kann ich nicht ertragen, Marty. Es ist eine fürchterliche Situation. Es ist schlimm für mich, und es ist schlimm für die Kinder.« »Ich weiß.« »Kann man nichts tun?« flehte Kassler. »Wenigstens vorübergehend?« Marty Myers schüttelte den Kopf. »Nur wenn die Kinder geschlagen werden«, sagte er und knackte mit den Fingern. »Sullivan hält sonntägliche Besuche für fair. Sie müssen ihm beweisen, daß er sich irrt. Das braucht Zeit, und während der nächsten beiden Jahre wird er diese Zeit nicht haben.«
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Kassler lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte an die Decke. »Ich gehe hier weg, Marty. Ich gehe aus Citadel weg und kündige meinen Job. Ich werde mir etwas Geld leihen, irgendwo hingehen, wo es Bäume gibt, und mir einen neuen Job suchen. Die Kinder werden zurechtkommen. Tatsächlich werden sie ohne mich besser dran sein, ohne all das beschissene Hin und Her an jedem Sonntag. Sie werden das jetzt vielleicht nicht so sehen, aber auf Dauer schon.« Kassler spielte an seinem Gürtel herum und bemühte sich, Marty Myers bei diesen Worten nicht anzusehen. »Wenn Sie gehen, wird es sehr schwer werden, den Richter zu irgendeiner Änderung zu bewegen«, informierte Marty Kassler. »Er könnte Ihre Besuchszeiten sogar auf einmal monatlich beschränken. Ich habe ihn das schon tun sehen.« »Dann muß es eben so sein, Marty.« Kasslers Entschlossenheit wuchs. »Ich habe mich entschieden. Ich gehe hier weg.« Marty Myers blickte Kassler an und begutachtete die psychischen Schäden. »Die Kinder brauchen Sie, Sy. Sie sind der einzige Festpunkt in ihrem Leben.« Marty Myers fuhr sich seitlich über sein wohlgekämmtes Haar. »Sie sind verläßlich, Sie kümmern sich um sie, Sie sind offen und ehrlich zu ihnen - das, was jedes Kind braucht. Sie sind ihre einzige Hoffnung, Sy.« Kassler erhob sich aus seinem Sessel und ging zur Tür. »Hübscher Versuch, Marty«, sagte er, während er die Tür öffnete. »Das Problem ist nur, daß ich nichts von alledem bin. Es ist eine Lüge.« »Ihre Kinder glauben das nicht«, rief Marty Kassler nach, als dieser sich anschickte, die Tür von draußen zu schließen. »Es ist vorbei, Marty. Wir werden alle sehr glücklich werden.« Und Kassler machte die Tür zu. »Ich brauche für ein paar Jahre ein Darlehen von ungefähr fünftausend Dollar«, sagte Kassler zu dem freundlichen -3 4 3 -
Banksachbearbeiter, einem Mann mittleren Alters mit öligem schwarzen Haar und einem schmalen Schnurrbart, der solche Angelegenheiten bei der First National Citadel Bank and Trusting Company regelte. »Ich fürchte, wir haben Ihr Konto bei uns aufgelöst, Dr. Kassler«, sagte Jim DiFilippo zu ihm. »Deshalb wird das nicht möglich sein.« »Wieso?« fragte Kassler ungläubig. »Ich bin mir nicht sicher, Dr. Kassler«, antwortete DiFilippo ausweichend. »Bankpolitik, nehme ich an. Wir haben die Berechtigung, alle Konten regelmäßig zu überprüfen, und einige werden geschlossen. Ihr noch vorhandenes Guthaben ist Ihnen gestern per Scheck zugeschickt worden.« Kassler war wütend. »Aber warum? Ich will wissen, warum!« »Einer Ihrer Schecks wurde mangels Deckung zurückgegeben, Dr. Kassler«, erwiderte DiFilippo auf seine ruhige, fiskalische Art. »Das war vor mehr als einem Jahr«, brüllte Kassler. »Es ging um zwei Dollar und zwölf Cent und ist passiert, weil Sie eine Einzahlung von mir zu spät verbucht haben.« »Alle Einzahlungen, die nach drei Uhr vorgenommen werden, kommen erst am nächsten Geschäftstag zur Verbuchung«, erklärte DiFilippo geduldig. »Und meine Einzahlung wurde vor drei Uhr vorgenommen.« »Das ist nie befriedigend geklärt worden. Es war vor dem nächsten Tag nicht im Computer.« »Weil Ihr Computer nicht funktionierte! Er war abgeschaltet! Kaputt! Ich habe die Einzahlung um viertel vor drei am Schalter vorgenommen!« »Das entspricht nicht der Erinnerung der Kassiererin, Dr. Kassler.« »Sie hat sich überhaupt nicht an mich erinnert. Sie hat sich an gar keine Einzahlung von mir erinnert.« -3 4 4 -
»Wie auch immer... Was geschehen ist, ist geschehen. Die Entscheidung ist gefallen. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie bei uns kein Konto mehr haben.« »Aber ich habe eine Beziehung zu dieser Bank«, kreischte Kassler. »Dies ist die einzige Bank, mit der ich Geschäfte gemacht habe. Ich habe hier Darlehen aufgenommen und zurückgezahlt, habe alle meine Zahlungen hier abgewickelt. Jetzt brauche ich ein neues Darlehen. Sie wissen, daß ich gut dafür bin.« »Es tut mir leid, Dr. Kassler. Ich würde Ihnen vorschlagen, es bei einer anderen Bank zu versuchen.« In einem Zustand der Verwirrung verbrachte Kassler den Nachmittag damit, von Bank zu Bank zu gehen. »Wir würden uns glücklich schätzen, Ihnen ein Konto auf Probebasis einzurichten«, erklärten ihm die Bankbeamten wieder und wieder. »Aber wir haben gehört, daß Ihnen Ihre letzte Bank das Konto gekündigt hat und daß Ihr Sparkonto gerichtlich gesperrt worden ist.« »Es ist das Geld der Kinder«, sagte Kassler zu jedem neuen Bankangestellten. »Meine Exfrau hat das veranlaßt.« »Vielleicht könnten wir, wenn wir Sie ein bißchen besser kennen, über ein kurzfristiges Darlehen in Höhe eines kleinen Betrages reden... zur Probe«, bemühte sich eine reizende junge Dame. »Aber ich brauche kein kleines Darlehen für kurze Zeit. Ich brauche ein großes Darlehen für eine längere Zeit - fünftausend Dollar für zwei Jahre.« Dann hatte Kassler einen Geistesblitz. »Meine Bankkarte«, rief er erfreut aus. »Ich habe auf meiner Bankkarte einen Kreditspielraum von fünftausend Dollar. Die nehme ich in Anspruch.« Und Kassler kramte seine Kreditkarte hervor und gab sie der hilfsbereiten jungen Frau. »Wir freuen uns sehr, dies für Sie tun zu können«, lächelte sie und tänzelte davon, wobei ihr Faltenrock luftig hin und her schwang, als sich ihre Hüften graziös beim Gehen bewegten. -3 4 5 -
»Ich fürchte, daß Ihr Kreditspielraum annulliert worden ist«, informierte sie Kassler düster, als sie zurückkam. »Ich glaube es nicht.« Kassler sank auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch des Mädchens. »Warum?« »Oh, das wissen wir nicht.« Die junge Frau strich ihr langes, gekräuseltes rotes Haar zurück. »Es steht lediglich hier in der Schutzliste.« »Darf ich mal sehen?« Kassler griff nach seiner Karte und der Liste. »Sie können die Liste haben, aber Ihre Karte kann ich Ihnen, fürchte ich, nicht zurückgeben. Sie ist zurückgerufen worden. Ich bekomme zwanzig Dollar, wenn ich sie abgebe.« »Ich gebe sie ab. Ich brauche die zwanzig Dollar.« »Es tut mir schrecklich leid.« Das junge Mädchen legte Kassler die Hand auf den Arm. »Die zwanzig Dollar gehören mir. Finderlohn sozusagen.« Dann blickte die junge Dame Kassler mitleidig an. »Dies muß ein furchtbarer Tag für Sie gewesen sein«, sagte sie teilnahmsvoll. Kassler sah dem Mädchen in die braunen Augen. »Darf ich Sie zum Abendessen einladen?« fragte er bittend. »Tut mir leid. Ich kann nicht. Bankpolitik. Außerdem haben Sie gar kein Geld.« Szlyck arbeitete fieberhaft am Telefon. »Hier ist Staatsanwalt Leo Batista. Ich habe gehört, daß Sie Dr. Kasslers Vermieter sind. Wir nehmen Untersuchungen in einer Schwurgerichtssache gegen Dr. Kassler vor, und es erhebt sich die Frage, ob Sie vielleicht einige Informationen geben können. Es tut mir leid, daß ich Ihnen keine näheren Details nennen kann, aber sittliche Anschuldigungen, bei denen es um Sodomie mit Kindern geht, dürfen nicht diskutiert werden.« »Also wirklich, Leo.« Wieder und wieder versuchte ich vergeblich, Szlyck zurückzuhalten. -3 4 6 -
»Hallo?« Szlyck arbeitete rund um die Uhr. »Hier ist Rechtsanwalt Leo Giovanni. »Wir haben einen Vollstreckungsbefehl über eine größere Summe gegen einen Dr. Sy Kassler vorliegen und versuchen, uns ein Bild über seinen Besitz zu machen, den wir pfänden können. Wie ich gehört habe, finanzieren Sie Dr. Kasslers Kraftfahrzeug...« Und zwischendurch trank Szlyck natürlich maßlos, und da ihm das Dynamit ausgegangen war, wandte er große Energie dafür auf, mich mit Sprenggelatinen zu spicken. »Hier ist Dr. Leo Vivaldi.« Szlyck gingen jetzt schnell die Namen aus. »Ich habe einen Patienten, Dr. Sy Kassler, der gegenwärtig im Koma liegt. Er hat keine Familie, und ich versuche herauszufinden, welche anderen Ärzte ihn behandelt haben könnten. Ich dachte, daß Ihre Blaues Kreuz/Blaues Schild-Unterlagen mir vielleicht helfen könnten.« Und natürlich war es dieser Telefonanruf, mit dem Leo Szlyck das große Los zog. »Wir haben einen Anruf von einem Dr. Vivaldi bekommen, der Sie behandelt hat, als Sie Patient im Bellevue waren«, sagte Sam Zelazo, als Kassler am Ende des Tages auf Zelazos dringendes Ersuchen in seinem Büro eintraf. »Ich erinnere mich an keinen Dr. Vivaldi«, sagte Kassler mit einem schwindligen Gefühl im Magen. »Aber Sie erinnern sich an das Bellevue Hospital und daß Sie dort Patient waren?« Zelazo starrte Kassler direkt an und erwartete im Gegenzug eine direkte Antwort. »Ja«, murmelte Kassler. »Ich war dort für zehn Tage zur Beobachtung, vor Jahren, als ich einmal sehr erschöpft war. Es war bedeutungslos. Wirklich.« »Aber als Sie gefragt wurden, ob Sie jemals in einer psychiatrischen Anstalt waren, haben Sie bei Ihrer Bewerbung hier und beim Institut gelogen, nicht wahr?« »Ich habe nicht geglaubt, daß eine zehntägige Beobachtung ohne Diagnose das war, worüber man etwas hören wollte.«
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Zelazo beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch und sprach ganz ruhig zu Kassler. »Ich will versuchen, Ihren Job zu retten, Sy, wenn Sie bleiben möchten«, sagte er in die Stille seines Büros hinein. »Und ich würde Ihnen empfehlen, sich zum Bleiben zu entschließen, denn mit der Geschichte, die Ihnen hier nachläuft, werden Sie ganz bestimmt kein Glück haben, wenn Sie einen anderen Job haben wollen.« »Wer, zur Hölle, ist Dr. Vivaldi?« fragte Kassler. »Ich habe nicht mit ihm gesprochen.« Kasslers Frage beunruhigte Zelazo. »Er hat den Vorsitzenden des Berufungskomitees angerufen. Er glaubte, daß Sie hier als Patient waren, und wollte wissen, wie es Ihnen geht. Das ist aber nicht der springende Punkt. Der springende Punkt ist, daß das Berufungskomitee von mir verlangt, sie unverzüglich zu entlassen, heute, jetzt.« »Was haben Sie ihnen gesagt?« Kassler spürte, wie sich die Übelkeit in seinem Magen im ganzen Körper ausbreitete. »Ich habe ihnen gesagt, daß Sie den falschen Dr. Kassler haben müssen. Ich werde sie weiter hinhalten, wenn das, was Sie mir da sagen, der Wahrheit entspricht.« »Es ist die Wahrheit, Sam, ich schwöre es. Zehn Tage zur Beobachtung. Ich war müde und hatte Angst. Meine Eltern waren innerhalb weniger Monate nacheinander gestorben. Sie wissen das. Ich war allein. Das war schon alles.« Zelazo erhob sich aus seinem Sessel, ging zum Fenster hinüber und blickte auf die gefrorene Erde hinaus. »Sie wissen, daß Ihnen das Institut Ihren Titel wegnehmen wird, wenn es davon erfährt«, sagte er mit dem Rücken zu Kassler. »Sie sind sehr streng. Sie machen keine Ausnahmen. Dann verlieren Sie automatisch Ihre Zulassung, und das ist das Ende von allem. Ihre Karriere ist vorbei.« Kassler hielt sich an den Seitenlehnen seines Stuhls fest und zitterte. Zelazo drehte sich um und sah ihn an. »Und es gibt nicht das geringste, was ich oder sonst jemand tun kann, um Sie zu retten«, sagte er ernst. »Es mögen einige -3 4 8 -
Jahre mit Verhandlungen und Berufungsverhandlung vergehen, aber sobald das Institut erst einmal Bescheid weiß, können Sie das Ergebnis nur hinauszögern, aber nicht ändern.« Kassler blickte Sam Zelazo wie betäubt an. »Wer, zur Hölle, ist Dr. Vivaldi?« Das war alles, was Kassler zu sagen einfiel. Und er verließ Zelazos Büro, um nach Hause zu fahren, wo ihn die Kündigung seines Vermieters mit einer Fristsetzung von dreißig Tagen erwartete. Da man ihm inzwischen sein Auto weggenommen hatte, nahm er den Bus. Der Gedanke daran, daß Sam Zelazo, der in diesen Tagen sehr häufig sexuelle Beziehungen zu Kasslers Exfrau hatte, versuchte, seinen Hals zu retten, war fast mehr, als Kassler ertragen konnte. Während der Busfahrt nach Hause versuchte er verzweifelt, eine Alternative zu finden. Es fiel ihm keine ein. Mit einer Panik, die alles überstieg, was er bisher an Furcht gekannt hatte, führte sich Kassler vor Augen, daß er dauerhaft in Citadel beerdigt war, ohne daß es eine Aussicht auf Errettung gab. »Ich brenne dir dein Ding weg«, teilte ihm die krächzende Stimme am Telefon mit, als er an diesem Abend endlich in seinem Appartement ankam. »Wer ist da?« fragte er in den Hörer. »Dann siehst du, wie es sich anfühlt, einen kaputten Pimmel zu haben, Dr. Kassler.« »Norman?« Langsam erkannte Kassler die Stimme. »Ich reiße dir deinen Pimmel ab, Dr. K.« hauchte Norman am anderen Ende der Leitung. »Du wirst nicht wissen, wann. Du wirst nicht wissen, wie. Ich habe dich heute in den Bus einsteigen sehen. Ich weiß, wo du aussteigst. Ich kenne die Straßen deines Nachhausewegs.« »Norman, warum treffen wir keine Verabredung, damit wir darüber reden können?« »Ich schneide dir deinen Schwanz ab, Dr. Kassler, du verfluchter Drecksack.« -3 4 9 -
Und Norman Meltz legte auf. Nach Kasslers hektischem, nahezu n i kohärenten Telefonat am Abend vorher rief Marty Myers spät am nächsten Tag an. »In Ordnung«, sagte er, »hier haben Sie alles: Sie können Ihren Wagen nicht zurückbekommen, solange Sie nicht die noch offenstehende Summe bezahlt haben, die sich auf rund dreitausend Dollar beläuft. Finanzierungsinstitute haben das Recht, die Restschuld jederzeit einzufordern. Normalerweise tun sie das nicht. In ihrem Fall haben sie es getan. Es gibt nichts, was Sie dagegen tun können, außer zahlen. Anderenfalls behalten sie den Wagen. Die Bank kann Ihr Konto auflösen, wenn sie das will. Wenn Sie ein Konto eröffnen, unterschreiben Sie ein Papier, mit dem Sie der Bank die Erlaubnis dazu geben, aus einem beliebigen Grund einschließlich gar keinem. Es gibt nichts, was Sie dagegen tun können. Ihr Vermieter kann Sie auffordern, innerhalb einer Frist von dreißig Tagen auszuziehen. Sie sind ein jederzeit kündbarer Mieter. Sie haben keine andere Möglichkeit, als die Wohnung freizumachen. Sie haben keinen langfristigen Mietvertrag. Es gibt nichts, was Sie dagegen tun können. Die Bankkartenorganisation kann Ihre Kreditkarte jederzeit aus einem beliebigen Grund einziehen. Das haben Sie ebenfalls unterschrieben. Sie brauchen Ihnen nicht zu sagen, warum. Es gibt nichts, was Sie dagegen tun können. Phlegethon kann Sie entlassen, weil sie wesentliche Informationen unterschlagen haben. Wenn ein Psychotherapeut sagt, daß er niemals in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden ist, obgleich das doch der Fall war, dann ist das wesentlich. Es gibt nichts, was Sie dagegen tun können. Gleichfalls kann Ihnen das Institut Ihren Titel wegnehmen, wenn es das will. Es handelt sich um eine private Institution, und solange das, was sie tun, nicht gegen das Gesetz ist, kann ihre private Innenpolitik aussehen, wie sie will. Mein bisheriger Eindruck ist jedoch, daß Sie Glück haben. Das Institut zieht in neue Gebäude um, und der ganze Ort ist ein einziges -3 5 0 -
Durcheinander. Soweit ich es beurteilen kann, wissen sie gegenwärtig nicht einmal, daß Sie existieren, und es wird vermutlich noch ein Jahr dauern, bis sie irgend etwas wiederfinden können. Die meisten Klassen kommen gar nicht zusammen, und die halbe Fakultät macht Urlaub, bis der Umzug abgeschlossen ist. Wenn man Sie aber findet, gibt es nichts, was Sie dagegen tun können. Die Telefongesellschaft sagt, daß sie Ihnen für fünfzig Dollar eine neue, nicht veröffentlichte Nummer geben will, wenn die obszönen Anrufe weitergehen. Und die Polizei hat sich mit Norman Meltz in Verbindung gesetzt, der sagt, daß er seit seiner Entlassung aus dem Phlegethon nicht ein einziges Mal mit Ihnen gesprochen hat und daß er nach Ihrem Penis zusätzlich zu seinem eigenen kein Bedürfnis hat. Ich muß jetzt Schluß machen. Auf Wiedersehen.« Und Marty Myers legte auf, ohne Kassler Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. »Das ist nichts«, erklärte Kassler, als er auf einer Bank saß und den Leuten beim Eislaufen auf dem Lake Lethe zusah, Citadels künstlich angelegten Erholungssee, der von der Ninth Avenue eingeschlossen wurde. »Was ist nichts?« fragte Joshua seinen Vater. »Diese Sonntagsbesuche«, erklärte Kassler. »Daddy hat nicht einmal mehr ein Auto.« »Mir gefällt der Bus«, sagte Joy. »Es macht Spaß. Können wir das noch mal machen?« »Es kann euch Kindern nicht sehr viel Spaß machen«, sagte Kassler. »Was kann nicht?« Joshua konnte der Bedeutung der Diskussion nicht folgen. »Seht mal«, Kassler beschloß, ganz klar mit der Sprache herauszurücken. »Ich halte es nicht für eine gute Idee, daß wir uns jeden Sonntag weiter so sehen.« »Welchen Tag denn?« Joshua sah zu seinem Vater hoch. »Samstag? Ich sehe mir Samstagsmorgens Comics im -3 5 1 -
Fernsehen an, aber vielleicht könnte ich ein paar ausfallen lassen.« »Keinen Tag«, sagte Kassler. Ein langes Schweigen trat ein. Sowohl Joshua als auch Joy verstanden Kassler ganz genau. »In Ordnung«, sagte Joshua, während er die Lippen fest zusammenpreßte und von seinem Vater wegsah. »In Ordnung«, kopierte Joy ihren Bruder. Die drei Kasslers saßen auf der Bank ohne zu sprechen und blickten über den See auf die Titanentürme Manhattans in der weiten Ferne. »Also«, sagte Kassler schließlich, »was sollen wir machen? Wollt ihr euch ein paar Schlittschuhe leihen?« »Nach Hause gehen«, sagte Joshua. »Ich möchte nach Hause.« »Ich auch«, sagte Joy. »Es ist zu kalt.« Kassler streckte die behandschuhte Hand aus und drehte Joshuas Gesicht zu sich. »Sieh mal, Josh. Ich glaube wirklich, daß es so besser ist. Ich kann nicht der Vater sein, der ich euch sein möchte. Wir haben uns kaum richtig aneinander gewöhnt, dann ist es schon wieder Zeit für euch zu gehen. Es ist nicht fair.« »Ich sagte in Ordnung.« Joshua riß das Gesicht aus der Hand seines Vaters. »Ihr Kinder langweilt euch in meinem Appartement immer, und jetzt muß ich sogar in ein neues Appartement umziehen, das noch weiter von der Wohnung entfernt liegt, in der ihr mit Mami lebt.« Kassler wollte, daß besonders Joshua begriff. »Wir haben uns einmal wirklich gut verstanden.« Joshua blickte zu seinem Vater hoch, während ihm kleine Tränen die Wangen hinunterliefen. »Ja, das haben wir«, stimmte ihm Kassler zu, »das haben wir wirklich. Aber wir tun es nicht mehr. So haben sich die Dinge
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nun mal bei uns entwickelt. Es hat wirklich keiner Schuld daran. Wir müssen es einfach so nehmen und neu anfangen.« Joshua versuchte schweigend, sich an den Gedanken zu gewöhnen. »Ich mag Dr. Sam«, sagte er schließlich. »Er ist lustig. Vielleicht wird er mir ein guter neuer Daddy sein.« »Wer ist Dr. Sam?« fragte Kassler. »Du kennst Dr. Sam. Mamis Freund. Ich kann seinen richtigen Namen nicht aussprechen. Es hört sich an wie Zoozoo. Sam Zoozoo. Also nennen Joy und ich ihn Dr. Sam.« Joshua hätte das Herz seines Vaters nicht perfekter zerbrechen können, wenn er ein Diamantschneider gewesen wäre. Es zersprang in tausend nutzlose Stücke und ließ im Kern nur das makellos glänzende Juwel des Hasses zurück. Kasslers erster Instinkt war es, seine Absicht, die Kinder nicht mehr zu sehen, zu ändern, mit allen Molekülen seines Körpers um sie zu kämpfen. Aber auf der Busfahrt nach Hause wurde ihm klar, daß es ein aussichtsloser Kampf war. Wenn Zelazo seinen Kindern ein Vater sein wollte, gab es keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern, abgesehen von den Sonntagen zwischen elf Uhr morgens und vier Uhr nachmittags. Zelazo konnte Joshua und Joy jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang sehen, wenn er wollte. Das Gericht hatte Sam Zelazo keine Beschränkung auferlegt. Wie Marty so gerne sagte, dachte Kassler auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Wohnung seiner Kinder, ›gibt es nichts, was Sie dagegen tun können«. Kassler machte Vita kurz mit seiner Entscheidung vertraut. »Ich glaube, das ist eine gute Idee«, sagte Vita. »Du wirst dich daran gewöhnen. Ich kenne dich.« Die Laute seiner beiden Kinder, die lachend im Wohnzimmer herumrannten, während jemand im Haus mit ihnen spielte, drangen durch die Tür, die Vita allerdings nur spaltbreit geöffnet hatte, so daß Kassler nicht hineinblicken konnte. »Wiedersehen, Josh, Wiedersehen, Joy!« rief Kassler durch die schmale Öffnung. -3 5 3 -
»Wiedersehen, Daddy«, riefen die beiden Kinder mitten im Spiel mit Dr. Sam zurück. Nur ein Gedanke beherrschte Kassler, als er an jenem Tag die Kinder verließ und zur Bushaltestelle zurückging, während die Tränen seine Wangen benetzten. Er würde Sam Zelazo umbringen. Wie sich herausstellte, tötete er Sam Zelazo natürlich nicht. Kassler wartete eine Weile, und dann, um sich besser zu fühlen, brachte er jemand anders um.
2 Die nächsten achtzehn Monate vergingen wie eine Tür, die sich öffnete und schloß. Als sie geschlossen wurde, schrieb man den Februar 1975, und dann, als Kassler die Hand ausstreckte, um sie zu öffnen und durch das Portal zu schreiten, begrüßte ihn ein brennendheißer Augusttag im Jahr 1976. Die meisten Männer, die mit dem drittklassigen Einbruch im Watergate in Verbindung standen, empfingen nun ihre gerechte Strafe in den Erholungsräumen exklusiver Strafanstalten. Die Regierung der Vereinigten Staaten war zu der Überzeugung gekommen, daß ihre Bürger nicht länger benötigt wurden, um die südöstliche Ecke der Welt daran zu hindern, wie Dominosteine in die schrecklichen Klauen der Menschen zu fallen, die dort lebten. Ein Schwurgericht in Ohio hatte festgestellt, daß für die Erschießungen an der Kent State Universität niemand die Schuld trug. Die Amerikanische Legion wurde von ihrer ureigenen Krankheit in einem Hotel in Philadelphia getroffen, das danach zu existieren aufhörte. Die Richter des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten verkündeten, daß sie an Todesurteilen nichts Grausames oder Ungewöhnliches finden konnten. Und Mr. Ford kämpfte mit Mr. Carter darum, wer der nächste Mann sein würde, der das Paradies regierte.
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In denselben achtzehn Monaten hatte Kassler den äußeren Rahmen einer berufsmäßigen Beziehung zu Sam Zelazo aufrechterhalten, der das Berufungskomitee weiterhin davon abhielt, Kassler zu feuern, indem er darauf bestand, die Beschuldigungen selbst zu überprüfen. Kassler hatte seine Kinder in diesen achtzehn Monaten nicht ein einziges Mal gesehen und spürte, daß er endlich anfing, sich daran zu gewöhnen. Auch Lupa hatte er nicht gesehen, deren blühendes Geschäft als Innenarchitektin buchstäblich ihre gesamte Zeit in Anspruch nahm. Norman Meltz nahm während dieser Periode jeweils eine Woche lang Telefonanrufe vor, bei denen er Kassler bedrohte, worauf mehrere Monate Schweigen folgten, bis dann der nächste Anfall kam. Kassler hatte sich daran ebenso gewöhnt wie an die Beharrlichkeit, mit der die Banken seine Konten auflösten, wenn sie von den Kontenauflösungen in der Vergangenheit erfuhren. Und sie erfuhren es immer, durch die Flüsterpropaganda in der Finanzwelt, wie Kassler annahm. Was die Flüsterpropaganda betrifft - als Leo Szlyck herausfand, daß Kassler und Lupa kein Thema mehr waren, beschränkte er die Telefonate gegen seinen früheren Therapeuten, der jetzt in seinem vierten Appartement wohnte, auf einige wenige pro Tag. Obgleich Szlyck lange die Explosivstoffe ausgegangen waren, trank er genausoviel oder noch mehr, und sein Körper quoll wahrnehmbar auf, während seine Haut die Farbe von Bernstein annahm. In den anderthalb Jahren hatte Kassler nicht den Nerv gehabt, die Papiere zu unterzeichnen, mit denen er sein gerichtliches Gesuch wegen einer Verlängerung der Besuchszeit zurückzog. Er war sich nicht sicher, warum nicht, aber als der Gerichtstermin näher rückte, verspürte er noch weniger Neigung dazu. »Vielleicht will ich einfach nur meinen Auftritt vor Gericht haben«, sagte er eines späten Abends zu Bernie Kohler. »Ich habe viel zu sagen.« »Oder vielleicht liebst du ganz einfach nur deine Kinder«, meinte Bernie Kohler. -3 5 5 -
Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, arbeitete er tagsüber im Phlegethon und nachts zu Hause für eine Firma, die Studenten ohne die Intelligenz oder den Willen, ihre Collegearbeiten zu machen, aber mit genug Geld, um sich ihre Faulheit und Dummheit leisten zu können, mit Prüfungsarbeiten versorgte. Kassler bekam fünf Dollar pro Seite, und die Firma, die ihn angeheuert hatte, bekam zehn Dollar. Kassler konnte während der Woche zwei zwanzigseitige Psychologiearbeiten hinhauen und eine dritte am Wochenende. Indem er das Finanzamt nicht von seinen außerplanmäßigen Aktivitäten in Kenntnis setzte, hatte er es geschafft, zehntausend Dollar in bar auf die Seite zu schaffen, im Inneren eines ausgehöhlten Buchs, dessen Titel zu erraten, ich dem Leser überlassen möchte. Phlegethon hatte sich unterdessen in kleinen Stücken überall in Citadel ausgebreitet, im Zuge von Phase Eins des großen vom Gericht angeordneten Exodus, der sich somit seinem Abschluß näherte. Sechshundert psychotische Patienten waren in Vierergruppen zusammengefaßt und in einhundertundfünfzig speziellen Gemeinschaftsappartements untergebracht worden, wodurch sie die ehemalige Bewohnerschaft des Phlegethon von eintausend auf knapp eintausendzweihundert verändert hatte. »Ich verstehe es nicht«, sagte Bernie Kohler, als er die meterhohen Aktenstapel vor sich durchging. »Wir schicken sie raus, und sechs Monate später kommen sie zurück. Dann schicken wir sie wieder raus, sie kommen zurück, und die ganze Zeit über kommen ständig noch neue Leute hinzu.« »Stell dir nur vor, wie viele wir hätten, wenn nicht sechshundert von ihnen entlassen worden wären«, bemerkte Kassler. »Nun«, seufzte Bernie, »ich fürchte, dann gibt es nur eine Lösung.«
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»Ich glaube nicht, daß ich sie hören will«, sagte Bea, die nach der Tagesarbeit erhitzt und erschöpft in der Ecke saß und eine Flasche Sprudelwasser trank. »Ich werde das Gericht bitten, alle Neuaufnahmen zu stoppen«, kündigte Bernie an. »Oh, wie schön«, sagte Bea ungläubig. »Tolle Idee«, stimmte Kassler scherzhaft zu. »Schicken wir sie alle raus, und wenn sie nicht zurechtkommen, dann ist das ihr Problem.« »Genau«, sagte Bernie mit großer Entschiedenheit. »Wenn sie erst einmal wissen, daß es außer dem Draußen nichts gibt, werden sie sich anpassen.« »Vielleicht ist das das Problem«, meinte Kassler. »Was?« Bernie ging in die Defensive. »Welches Problem? Was meinst du?« »Sie wissen das schon.« »Sie wissen was?« explodierte Bernie. Kassler lächelte mild. »Daß es außer dem Draußen nichts gibt«, sagte er ganz ruhig. »Sie machen Witze«, sagte Mr. Katzman während der Sitzung zu Kassler. »Ich fürchte nicht«, erwiderte Kassler. »Sie sind an der Reihe. Sie sind der nächste auf der Liste. Es ist an der Zeit, daß Sie gehen.« »Die Wetten stehen schlecht«, fing Mr. Katzman an. »Die Wahrscheinlichkeitsrechnung wird Ihnen diesmal nicht viel helfen«, versuchte Kassler dem älteren Mann zu erklären, der ängstlich mit den Fingern auf der Lehne des Holzstuhls herumtrommelte, auf dem er saß. »Ihre Nummer ist gezogen worden.« »Schicken Sie mich raus, und ich komme gleich wieder zurück.« Mr. Katzman fuhr sich mit dem Daumen über die Fingerspitzen und versuchte, Kassler nicht anzublicken. -3 5 7 -
»Für diesen Fall ist auch Vorsorge getroffen worden, Mr. Katzman. Wenn ich mich nicht irre, wird es vorläufig im Phlegethon keine Neuaufnahmen geben.« »Was wollen Sie machen - mich abweisen? Ich bin ein verrückter Mensch, Dr. Kassler. Ich brauche Hilfe. Ich kann da draußen nicht leben. Es ist zuviel für mich. Sie verstehen das.« »Was ist so fürchterlich, Mr. Katzman? Stimmt, die Menschen werden verletzt, die Menschen werden krank, und die Menschen sterben sogar. Aber wir kommen dennoch in der Welt zurecht. Was erschreckt Sie? Ich kann nicht glauben, daß es Nahrungsmittelzusätze und Atomstrom sind. Was ist es?« Kassler stellte seine Frage in der Hitze, die an diesem Augustnachmittag sein ohne Klimaanlage ausgestattetes, kleines Büro zum Ersticken brachte. »Ich habe zuviel gesehen«, antwortete Mr. Katzman und fing mit der Zunge Schweißtropfen von seiner Oberlippe auf. »Was haben Sie gesehen?« fragte Kassler. Mr. Katzman dachte einen Augenblick lang nach. »Gebrochene Herzen«, sagte er schließlich zu Kassler. »Sie haben jemanden verloren, der Ihnen nahestand?« Kassler versuchte, sich an die Lebensgeschichte in Katzmans Akte zu erinnern. »Gebrochene Herzen«, fuhr Katzman fort. »Und bei jedem Herz, das gebrochen ist, ist meins ein bißchen zersprungen.« »Es gibt einige sehr traurige und tragische Dinge im Leben«, sagte Kassler. »Aber wir alle...« »Gebrochene Herzen«, sagte Katzman. »Sie verstehen nichts von gebrochenen Herzen.« »Wir gewöhnen uns an diese Dinge...« »Ich spreche nicht von jungen Männern, die von ihren Bräuten am Altar den Laufpaß bekommen, oder von Müttern und Vätern, die von ihren eigenen Kindern zurückgewiesen werden...« »Der Tod eines Menschen, der uns sehr nahestand...« -3 5 8 -
»Ich spreche nicht vom Tod von Mann und Frau, von Söhnen und Töchtern, von Liebenden und Freunden durch Krebs, Herzkrankheiten und Autounfälle.« Ein langes Schweigen trat ein. Kassler nahm ein paar Papiertaschentücher aus der Packung neben sich und wischte sich den klebrigen Schweiß von der Stirn. Ein paar Fliegen kamen durch das offene Fenster herein, summten auf der Suche nach dem Rückweg geräuschvoll im Raum herum, und flogen durch ein anderes kleines Fenster wieder nach draußen. »Ich habe Männer gesehen«, begann Mr. Katzman, »die gezwungen wurden, dabei zuzusehen, wie ihre Frauen von Dutzenden von anderen Männern vergewaltigt wurden. Viele Ehemänner, die zusehen mußten. Viele Male.« Kassler sagte nichts. »Ich habe Frauen gesehen, die gezwungen wurden, dabei zuzusehen, wie ihre jungen Töchter vergewaltigt und dann wie Hühner zerhackt wurden, ein Finger, ein Zeh, ein Glied, nacheinander.« Kassler versuchte, die Augen zu schließen, um die Beschreibung zu verdrängen, aber bei geschlossenen Augen wurde das Bild lebendiger denn je. »Ich habe Männer gesehen, denen die Testikel abgeschnitten und in den Mund gestopft wurden, dann ihr Penis, dann ihre Ohren und ihre Nase. Natürlich gab es keine Betäubung.« Kassler blickte auf seine Uhr, um festzustellen, wie lange die Sitzung noch dauern würde. Noch länger als zehn Minuten. »Ich habe gesehen, wie Männer und Frauen mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Ich habe Menschen gesehen, denen bei lebendigem Leibe der Bauch aufgeschnitten wurde. Ich habe gesehen, wie Menschen die Augen aus den Höhlen gedrückt wurden, wie ihnen Eisenstangen in ein Ohr hinein- und aus dem anderen herausgestoßen wurden, Folterungen, die Menschen nicht einmal in ihren Alpträumen haben, Foltern mit Strom, Säure und Rasierklingen, bei Frauen, ihren Männern und ihren -3 5 9 -
Kindern. Ich habe einen jungen jüdischen Mann gesehen, nicht älter als fünfundzwanzig, gut aussehend, stolz und empfindsam, mit intelligenten Augen und den Händen eines Künstlers, der vor einem silbernen Teller sitzen mußte. Alle fünfzehn Minuten schiß ein anderer Offizier auf den Teller, und der Junge mußte alles mit Messer und Gabel aufessen, um zu verhindern, daß seine Frau und seine zwei Babys zu Tode gequält wurden. Der Junge aß zwei Tage lang, bis er das Bewußtsein verlor, und dann wurden mein Sohn und seine Familie lebendig begraben.« »Sie sind in einem Konzentrationslager gewesen?« fragte Kassler, als er endlich wieder sprechen konnte. »Ich bin herumgekommen«, antwortete Mr. Katzman. »Dies sind Ausnahmen...« »Nein.« Mr. Katzman schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Dies ist die Regel. Wir sind die Ausnahme.« Mr. Katzman machte eine Pause, um sich zu überzeugen, ob seine Worte den gewünschten Effekt hatten. Sie hatten. »Ich mache jetzt Witze, Dr. Kassler. Ich treibe Späße mit der Strahlung beim Fernsehen, mit Blitzschlägen, mit Meteoren, die vom Himmel fallen, mit dem Stolpern auf Treppen und beim Glühbirnenauswechseln, mit Dingen, über die man sich keine großen Gedanken zu machen braucht. Es trägt dazu bei, mir die Zeit auf amüsante Weise zu vertreiben. Es füllt mein Bewußtsein mit anderen Dingen aus.« »Aber bei Ihnen war einmal alles in Ordnung«, erinnerte sich Kassler laut. »Was hat das geändert?« »Sagen Sie es mir. Glauben Sie, daß die Männer, die all dies taten, verrückt waren, Dr. Kassler? Waren sie alle Irre? Beantworten Sie mir diese Frage.« »Einige waren es vermutlich«, antwortete Kassler. »Einige, aber nicht die meisten«, sagte Mr. Katzman. »Die Männer in Nürnberg wurden nicht in eine Heilanstalt gesteckt. Sie wurden ins Gefängnis gesteckt. Das ist richtig, ja? Sie waren überwiegend geistig gesunde Menschen?« -3 6 0 -
»Viele scheinen es gewesen zu sein«, sagte Kassler. »Das ist ein sehr kompliziertes Thema.« »Langsam, Dr. Kassler«, sagte Mr. Katzman. »Es ist nicht so kompliziert. Ich will Ihnen sagen, warum nicht. Bin ich geistig gesund? Was glauben Sie? Sehe ich geistig gesund aus, rede ich geistig gesund, benehme ich mich geistig gesund - mehr oder weniger? Was sagen Sie?« »Ja, ich glaube es.« »Dann ist das der Grund, aus dem ich hier bin«, erklärte Mr. Katzman mit eigenartiger Logik. »Als mir einmal klar wurde, daß ich geistig völlig gesund war, lieferte ich mich selbst ein. Sehen Sie, Dr. Kassler, all die schrecklichen Dinge, die ich Ihnen beschrieben habe, faszinierten mich. Als mir klar wurde, daß es einen Teil in mir gab, der die größte Freude daran hatte, alle diese schrecklichen Dinge zu sehen, mehr darüber zu erfahren, sie noch einmal zu erleben, da brach mir das Herz, und ohne Herz sind wir gefährliche Menschen, meinen Sie nicht auch, Dr. Kassler?« »Glauben Sie wirklich, daß Sie fähig sind, irgendeine dieser Taten zu begehen?« fragte Kassler den kleinen, weißhaarigen älteren Mann, der ihm gegenübersaß und nervös an seinen Fingern herumzupfte. »Ja«, antwortete Mr. Katzman feierlich. »Unbedingt. Und mehr noch - ich hätte große Freude daran.« »Er versucht lediglich, dir Angst einzujagen«, sagte Bernie Kohler später in der Woche beim Bier zu Kassler. »Diesen Eindruck hatte ich nicht«, sagte Kassler. »Nun, er ist kein wahnsinniger Schlächter aus Buchenwald«, erwiderte Bernie. »Ich kenne Katzman. Er würde dir alles erzählen, um bleiben zu können.« »Willst du die Verantwortung für seine Entlassung übernehmen? Mir soll es recht sein. Ich habe jetzt schon genug Ärger.«
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»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Bernie und wechselte dann das Thema. »Ich weiß gar nicht, was dich hier noch hält. Du hättest schon vor einem Jahr gehen sollen.« »Ich weiß es auch nicht«, gab Kassler zu. »Trägheit. Ich hänge hier irgendwie fest. Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen soll. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich habe mich an diesen Ort gewöhnt - an Zelazo, an Bea, an meine Patienten, daran, alle drei Monate in ein neues Appartement umzuziehen, selbst an dich, Bernie.« »Darüber wollte ich mir dir reden«, sagte Bernie und nahm einen kräftigen Schluck Bier, um sich Mut zu machen. »Es gibt da etwas, was ich dir schon seit langer Zeit sagen will, und ich möchte dich bitten, mich ausreden zu lassen, bevor du antwortest, einverstanden?« »Einverstanden.« »Nun«, begann Bernie und sagte dann nichts mehr. Kassler wartete und trank sein Bier. »Jesses, ist das schwer«, sagte Bernie. »Also, es geht los, Sy. Ich mag dich. Ich mag dich sehr, und ich möchte gerne feststellen, ob wir unser Verhältnis nicht ausbauen können.« Kassler hörte auf zu trinken und setzte sein Glas ganz langsam ab. Er blickte in Bernies nervöse Augen und überlegte krampfhaft, wie er reagieren sollte, ohne Bernies Gefühle zu verletzen. »Warte, hör weiter zu«, sagte Bernie, bevor Kassler etwas erwidern konnte. »Homosexuelle Beziehungen sind nicht das, was du denkst. Schwule laufen nicht herum und lesen ebensowenig jede Nacht einen anderen Jungen auf, wie das Männer bei Frauen tun. Jedenfalls sind Schwule, die das tun, wie jene Männer, die es bei Frauen tun. Überwiegend suchen wir nach jemandem, der etwas Besonderes ist, und es geht nicht nur um Sex. Wir wollen eine echte Beziehung, einen Kameraden, Freund und Partner, wie in jeder guten, engen Beziehung. Nun, die meisten Männer, die nie eine schwule Beziehung hatten, glauben nicht, daß der Sex gut ist. Aber sie irren sich, Sy. Sie irren sich völlig.« -3 6 2 -
Kassler schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Bernie. Ich fühle mich geschmeichelt, aber nein. Es tut mir leid.« »Warte eine Minute. Du hast gesagt, daß du mich ausreden lassen wolltest. Sex unter Männern kann sanft, zärtlich und sehr sinnlich sein. Glaube mir, es gibt absolut nichts, was du mit einer Frau machen kannst - abgesehen davon, sie zu schwängern - , das du nicht auch mit einem anderen Mann machen kannst, und ich habe Männer und Frauen ausprobiert. Der Unterschied ist, daß ein anderer Mann weiß, wie es ist, ein Mann zu sein, und es dir sehr schön machen kann, viel besser, als es eine Frau jemals verstehen könnte. Als ich anfing, schwule Beziehungen zu haben, stieß mich der Gedanke an den Sex wirklich ab, aber wenn du es einmal getan hast, bist du über die Hürde hinweg und wirst es nie bereuen. Es ist eine großartige Welt.« Bernie hörte außer Atem auf und blickte Kassler hoffnungsvoll an. »Phil ist ausgezogen, ja?« fragte Kassler. »Letzten Monat«, antwortete Bernie. »Es ist sehr hart für mich gewesen, Sy. Ich brauche jemanden. Ich komme nicht gut allein zurecht. Du bist ein toller Junge, wirklich. Ich glaube, da ist echte Magie zwischen dir und mir, Sy.« »Du machst dir etwas vor, Bernie.« Kassler versuchte es auf andere Weise. »Seit wir uns kennengelernt haben, sind wir nicht in einer einzigen Sache einer Meinung gewesen.« »Und sieh, wie gut wir miteinander auskommen.« Bernie drehte den Spieß um. »Wir könnten sehr gut füreinander sein, Sy. Du hast niemanden. Ich jetzt auch nicht. Wir führen beide dieselbe Art von Leben, haben denselben Tagesablauf. Wir verstehen, was ein Mann braucht. Frauen tun das nicht, Sy. Denk darüber nach. Denk über Vita und Lupa und jede andere nach, zu der du eine Beziehung hattest. Frauen verstehen einfach nicht, was ein Mann braucht, um glücklich zu sein.« »Mir gefällt unsere Beziehung so, wie sie ist, Bernie. Wirklich. Ich hätte ganz einfach kein Vergnügen an einer solchen Beziehung zu einem anderen Mann. Ich bin nicht dafür -3 6 3 -
geschaffen, bei Gott.« Kassler trank sehr lang an sehr wenig Bier. »Verspricht mir eins, Sy. Versprich mir das. Du wirst darüber nachdenken. Vielleicht probierst du es einmal aus, nur um zu sehen, wie es geht. Denk jedenfalls darüber nach. Versprich mir das. Als Freund, ja? Als Freund? Denk darüber nach. Einen Abend. Eine Nacht. Dann, wenn es nicht hinhaut, dann eben nicht. Ich werde es nie wieder erwähnen. Du denkst darüber nach, ja?« »In Ordnung«, seufzte Kassler wider besseres Wissen. »Ich werde darüber nachdenken.« »Wir brauchen nicht gleich Sex zu haben. Wir könnten darauf hinarbeiten. Ich werde dich ganz langsam führen.« »Ich sagte, in Ordnung, ich werde darüber nachdenken.« Kassler lächelte, immer noch bemüht, Bernies Gefühle nicht zu verletzen. »Jetzt kannst du etwas für mich tun, einverstanden?« »Alles, Sy. Sag es.« »Ich habe Mr. Katzman heute sowieso schon entlassen, denn darauf hatten wir uns geeinigt. Aber ich möchte, daß du die Verantwortung dafür übernimmst. Anderenfalls hole ich ihn zurück.« »Sicher.« Bernie strahlte bereitwillig. »Wenn einer fragt, werde ich sagen, daß du dich geweigert hast, ihn zu entlassen, aber von mir überstimmt worden bist. Wie wäre das?« »Wunderbar.« »Wo hast du ihn untergebracht?« »Es war Katzmans Idee. Bei einem früheren Patienten, der einen Hausgenossen suchte. Er sagte, daß er einsam wäre. Ich bezweifele das, aber die beiden sollten gut miteinander auskommen. Sie hatten schon ein gutes Verhältnis, als sie hier zusammen waren.« »Sag bloß«, grinste Bernie. »Richtig, Leo Szlyck.« Und Kassler und Bernie lachten laut und herzhaft, um die Spannung zu lösen. -3 6 4 -
Die Hitze des Sommers schien für immer anzuhalten, bis weit in den Herbst hinein. Kassler ertrug sie wie eine Strafe für die Vergehen, die er, wie er jetzt annahm, zweifellos begangen haben mußte. Ansonsten gab es keine Erklärung für sein unter einem bösen Stern stehendes Leben, folgerte Kassler bei mehreren Gelegenheiten, als er spät nachts in seinem Souterrainappartement arbeitete und eine weitere der vielen Prüfungsarbeiten über Piagets Theorie von der Entwicklung des vernünftigen Denkens bei menschlichen Kindern in die Schreibmaschine tippte. Wie Kassler festgestellt hatte, war heißes Wetter in Citadel nicht wie heißes Wetter, das er irgendwo sonst erlebt hatte. Die Hitze bestand aus einer bedrückenden Feuchtigkeit, verbunden mit Temperaturen, die hoch genug waren, um zu sengen und zu verbrennen. Im Sumpfgebiet nahe der Fifth Avenue vermehrten sich die Insekten in großen Zahlen und überschwemmten Citadel, wo sie sich auf jedes vorhandene menschliche Fleisch stürzten. Die Flüsse führten dicken Schlamm mit sich. Die Dämpfe von Automobilien, Fabriken und den Müllhalden überzogen die Stadt ständig mit einem schweren, widerwärtigen Smog, der die Menschen, die auch nur für kurze Zeit außer Haus sein mußten, zum Würgen brachte. Die Nächte waren am schlimmsten, da die Hitze, die Feuchtigkeit und die karnivorischen Insekten selbst ohne die brennende Sonne auch noch in der Dunkelheit gegenwärtig waren und Gesellschaft von Tausenden von nervösen und gereizten Menschen bekamen, die sich in der schlaflosen Nacht aus Leibeskräften anschrien. In dieser Atmosphäre traf an einem schwülen Oktobernachmittag eine Gruppe entrüsteter Citadel-Bürger mit Bea, Kassler und Bernie Kohler zusammen, der Kassler weiterhin beschwor, seinem kürzlichen Vorschlag gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. »Einer dieser Verrückten, die Sie aus Ihrer Klapsmühle herausgelassen haben, kam letzte Woche in meinen Laden und wollte vierzig Pakete Haferflocken kaufen«, bellte eine dickliche Frau in dem kleinen, überfüllten Raum, den die örtliche Grundschule zur Verfügung gestellt hatte. »Vierzig Pakete! -3 6 5 -
Nun, ich habe ihm natürlich gesagt, daß es auch noch andere Kunden gibt. Es ist ihnen gegenüber nicht fair. Und wissen Sie, was er tat? Er fing an zu weinen wie ein Baby und mir von seinen Därmen zu erzählen! So laut, daß es jeder im Laden hören kann, sagt er: ›Ohne Haferflocken kann ich meine Därme nicht bewegen! Ich brauche sie, um meine Därme zu bewegen!‹ Das ist es, was er sagte. Er redete von der Scheißerei, mitten in meinem Lebensmittelgeschäft. Er weint! Er bettelt. Er erzählt von seinen Därmen. So gebe ich ihm die vierzig Pakete. Aber nie wieder! Das war das letzte Mal! Er gehört nicht in Freiheit. Sie müssen diesen Mann wieder einsperren.« Mehrere andere Stimmen wurden gleichzeitig laut, und schließlich setzte sich eine kleine Frau mit Lockenwicklern im Haar unter einem dünnen Tuch durch. »Ich habe eine achtjährige Tochter. Letzte Woche geht meine Tochter zum Spielplatz am Ende der Straße. Sie tut das jetzt schon seit Jahren. Nie hat es irgendwelchen Ärger gegeben. Also, ich habe ja keine Vorurteile. Verrückte Leute haben Rechte wie wir anderen auch. Aber als ich am Spielplatz vorbeikomme, hat Lola einen neuen Spielkameraden. Es ist ein fünfundvierzig Jahre alter Irrer. Er stößt sie auf der Schaukel ab, sitzt mit auf der Wippe und geht mit ihr auf die Rutschbahn. Also, ich habe keine Vorurteile. Das habe ich schon gesagt. Aber wer weiß, was er als nächstes tut? Er fängt mit dem Schubsen auf der Schaukel an, damit er ihren kleinen Hintern berühren kann, und dann kann er sich nicht mehr beherrschen und geht mit ihr in den Wald. Bis jetzt ist es noch nicht passiert. Aber ich weiß, was für Gelüste Männer kriegen, und ich habe nicht die Absicht, darauf zu warten. Wenn er sie noch mal auf dieser Schaukel abstößt, hole ich die Polizei. Das meine ich im Ernst.« »Er ist beim Sportamt angestellt, um aufzupassen...« Aber Kassler wurde das Wort durch den Lärm abgeschnitten, den die zornigen Bürger veranstalteten, um sich verständlich zu machen. »Ich führe eine Apotheke«, brüllte ein kahlköpfiger Mann mit dicker Brille und verschwommenen Augen darunter. »Einer von -3 6 6 -
ihnen kommt herein und will eine Flasche mit rosa Zeug. Was, zum Teufel, ist rosa Zeug? Ich brauchte fünfzehn Minuten, um herauszufinden, daß es Pepto-Bismol war. Er hatte noch nicht mal was von Pepto-Bismol gehört. Ich habe nicht die Zeit, mit jeder verrückten Person, die in meinen Laden kommt, Ratespiele zu veranstalten. Ich habe ganz einfach nicht die Zeit.« »Also, ich habe nichts gegen verrückte Leute«, schrie ein großer schwarzer Mann, »aber ich versuche, mein Haus zu verkaufen. Es ist alles, was ich besitze. Alle Leute, die sich melden, wollen dasselbe wissen: Wie viele von ihnen gibt es in der Nachbarschaft? Ich kann mein Haus nicht verkaufen, weil wir zwölf von ihnen innerhalb von zwei Blocks haben.« »In unserem Block«, sagte eine griesgrämige ältere Frau mit starkem Mittelmeerakzent, »hüpfen sie. Sie halten sich an den Händen und hüpfen die Straße hinunter. Es ist eine Schande. Es sind erwachsene Menschen, und sie hüpfen.« »Wenn verrückte Leute verrückt sein wollen, dann ist das ihre Sache«, brüllte ein kräftiger Mann mit großen, behaarten Armen und zorngerötetem Gesicht aus dem Hintergrund des Raums. »Aber nicht in meiner gottverdammten Nachbarschaft! Ich lasse nicht zu, daß ein rasender Irrer die Kontrolle über sich verliert und jemandem den Schädel einschlägt!« Der Mann ließ seine Faust auf das Pult vor sich krachen, so daß ein größeres Stück absplitterte. »Diese Leute haben keine Kontrolle über sich selbst!« schrie er. »Sperrt sie ein!« Ein Chor aus ›Hurra!‹ und ›Ganz richtig!‹ und ›Zeigt's ihnen!‹ wurde laut. »Es ist nicht nur die Gewalttätigkeit«, schrie eine junge Frau aus dem Hintergrund des vollen Raums. »Aber wir wohnen jetzt Tür an Tür mit einem purpur- und rosafarbenen Haus! Überall mit gelben Blumen bemalt! Es sieht aus wie ein riesiger Osterkorb! Wir wohnen Tür an Tür mit einem riesigen Osterkorb!« Bea Chaikin wollte etwas sagen, aber Bernie Kohler kam ihr zuvor. »Ich hasse euch Leute!« Bernie blickte ganz finster und -3 6 7 -
schrie laut, seine typische Methode, um einen wütenden Mob zu beruhigen, bei der Bea ihn zurückzuhalten versuchte. »Ihr seid Ungeziefer, Parasiten, herzlose Schweinehunde...« Von da an wurde es schlimmer. Der Raum verwandelte sich in ein Tollhaus, als erhitzte, schwitzende, frustrierte, verängstigte und wütende Männer und Frauen Obszönitäten herausschrien, bis es Kassler nicht länger ertragen konnte. Und so ging er, um zu sehen, ob er in den etwas kühleren, mit Marmorfußböden versehenen Korridoren des Schulgebäudes frischere Luft atmen konnte. Mehrere Minuten lang wanderte er durch das matte Licht, bis er eine Aula erreichte, in der die Kinder eine Versammlung abhielten. Er öffnete die Tür, schlüpfte hinein, blieb im Hintergrund stehen und beobachtete zwei kleine Kinder, die auf der Bühne standen und in der irrsinnigen Hitze etwas zum besten gaben. Ihre Haare waren schmutzig und verfilzt. Dunkle Schmutzflecken bedeckten ihre Gesichter. Die Hose des Jungen war an den Knien durchgescheuert. Das Kleid des Mädchens war dreckig, und oben löste sich der Kragen. »Oh, wunderschön, die Weite des Himmels, die Bernsteinwellen des Korns...« Ihre dünnen Stimmen sangen den anderen Schulkindern das Lied vor, während sie sich an den Händen hielten. Kassler konnte es nicht ertragen, sehen zu müssen, wie dünn Josh und Joy in den letzten anderthalb Jahren geworden waren. Er stand im Hintergrund der Aula, verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte sich die Seele aus dem Leib, während sie sangen. Dann, als sie zum Schluß gekommen waren, klatschte er laut und pfiff und rief ihre Namen. Joshua und Joy erkannten ihren Vater augenblicklich und rannten in den hinteren Teil der Aula, wo sie sich in seine Arme warfen. »Oh, Daddy«, weinte Joshua. »Ich wußte, daß jemand kommen würde, um uns beim Singen zuzuhören. Ich wußte, daß du kommen würdest.« -3 6 8 -
Er weinte, während seine Schwester die Arme um den Hals ihres Vaters schlang und immer wieder sagte: »Daddy, ich vermisse dich. Ich vermisse dich so sehr, Daddy.«
3 Mir ist nie klar geworden, wessen Idee es war, das Haus, in dem Kassler sein kleines Appartement hatte, niederzubrennen, Katzmans oder Szlycks. Die Diskussionen über den Plan, das Haus anzuzünden, waren seit Tagen im Gange, seit Katzman eingezogen war, und meine gegenteiligen Empfehlungen waren völlig zwecklos. Ihr Entschluß stand fest. »Und was habt ihr davon?« fragte ich das mörderische Duo. »Weiteres Unglück für einen Mann, der wahrlich schon mehr als genug mitgemacht hat. Tolle Sache. Es wird Lupa nicht zurückbringen. Es wird Kassler nicht ändern.« »Es ist eine Lektion«, sagte Szlyck zu mir. »Was für eine Lektion?« fragte ich. »Was für eine Art von Lektion? Er wird nicht einmal erfahren, wer es getan hat und warum.« »Der Mann hat es kommen sehen«, erklärte Katzman. »Ich habe es ihm gesagt. Ich habe ihn ausdrücklich gewarnt.« »Was? Ihm was gesagt? Diese Schauergeschichten, die Sie sich ausgedacht haben, um den armen Mann zu quälen? Sie denken sich eine schreckliche Geschichte über einen Sohn aus, den Sie nie gehabt haben und der angeblich Scheiße gegessen hat, bis er bewußtlos wurde, und jetzt weiß Kassler, daß Sie sein Haus anzünden werden?« »Die Geschichten sind wahr!« protestierte Katzman. »Nicht für Sie. Es sind die Schrecken anderer Menschen, von denen Sie in den Beilagen der Sonntagszeitungen gelesen haben. Sie haben kein Recht, sie für sic h selbst in Anspruch zu nehmen. Das ist ein Sakrileg.« -3 6 9 -
»Und wer sagt mir das?« brüllte Katzman. Szlyck hatte ihn schon vor langer Zeit, als die beiden im Phlegethon Zimmergenossen gewesen waren, in allen Einzelheiten über sich in Kenntnis gesetzt. »Ich versuche, vernünftig zu sein«, erklärte ich. »Schreibt ihm einen Brief. Ruft ihn an. Sprayt Zoten über ihn an eine Brücke oder ein Gebäude. Bringt Gerüchte in Umlauf. Aber ich bin gegen den Einsatz von Feuer.« »Tatsächlich will er, daß wir es tun«, sagte Szlyck zu Katzman. »Sonst würde er darüber nicht so viele Worte verlieren.« »Ach, ich gebe es auf«, gab ich es auf. »Siehst du?« Szlyck nickte Katzman zu. Die Ergebnisse waren voraussehbar und verheerend. Eines späten Abends nahmen Katzman und Szlyck einen Kanister mit Benzin, ein Badetuch und eine Schachtel Streichhölzer, und Kasslers Haus ging wie ein alter Weihnachtsbaum in Flammen auf. Kassler und die drei anderen Bewohner des Gebäudes waren glücklicherweise nicht zu Hause. Aber alles, was Kassler in dieser Welt besaß, einschließlich einer Sonderausgabe der La Divine Commedia, von Kassler entsprechend gekürzt, um zehntausend Dollar in bar aufnehmen zu können, und alles unversichert, befand sich im Haus und wurde völlig zerstört. Kassler sah kaum hin. Er hatte mit Bernie zu Abend gegessen und seine üblichen paar Bier getrunken. Nachdem er aus dem Bus gestiegen und über die Löschschläuche geklettert war, die sich wie Schlangen um seine Füße wanden, und um den leiterbewehrten Feuerwehrwagen herumgesehen hatte, der ihm die Sicht versperrte, erkannte er, daß von seinem bisherigen Zuhause nichts als schwelende Trümmer übriggeblieben war. Er zuckte die Achseln, drehte sich um und ging zu seiner Bushaltestelle mit einer Betroffenheit zurück, die kaum größer zu sein schien, als wenn ein Film, den er sich im örtlichen Kino anzusehen gedachte, in der vergangenen Nacht zum letzten Mal gespielt worden wäre. -3 7 0 -
Kassler wußte nicht wirklich, wo er hinwollte, als der Bus schließlich ankam und er einstieg. Er saß allein im rückwärtigen Teil des fluoreszierend beleuchteten Fahrzeugs, das wie ein elektrischer Aal auf zielloser Reise durch die heiße, dunstige Nacht jagte, und ließ die feuchte, durch ein offenes Fenster neben ihm hereinwehende Luft etwas von dem Schweiß verflüchtigen, der seine Stirn badete. Als er ein Stück voraus eine erleuchtete Telefonzelle sah, zog er an der Schnur, um den Bus halten zu lassen, und stieg aus. Eine halbe Stunde lang stand Kassler in der Zelle, warf Münze auf Münze ein und versuchte einen Platz zu finden, an dem er die Nacht verbringen konnte. Beas Telefon war besetzt, eine Folge des Umstands, überlegte er sich, daß sie einen Teenager als Tochter hatte. Andere mögliche Kandidaten waren nicht zu Hause, einschließlich Lupa als vorletzte Zuflucht. Schließlich gab Kassler auf und schritt die fünf Straßen entlang, die zur allerletzten Zuflucht führte. »Alles, was ich besitze, hat sich in Asche verwandelt, und ich brauche einen Platz, an dem ich bleiben kann«, sagte er, als sich die Tür öffnete. »Aber ich muß eins völlig klarstellen. Ich bin nur zum Schlafen hier, und wenn du glaubst, daß es Probleme gibt, gehe ich woanders hin.« »Ich habe nur ein Doppelbett«, sagte Bernie Kohler. »Für einige Leute ist es leichter, wenn keine Couch da ist, und so habe ich mir bewußt keine geholt. Aber ich lasse dich in Ruhe, das verspreche ich. Ich werde nichts tun, wobei du dich nicht wohl fühlst.« »Nichts. Ich will nur etwas reden und schlafen. Das ist alles. Ich besitze noch ganze zwölf Dollar.« »Ich leihe dir alles, was du brauchst«, sagte Bernie Kohler. Kassler stand im Flur und blickte Bernie an, um festzustellen, ob er ihm trauen konnte. Dann zuckte er die Achseln und seufzte. »Ich lasse mir morgen einen Gehaltsvorschuß geben«, sagte er, während er in das geschmackvoll eingerichtete Appartement -3 7 1 -
sans Couch eintrat. »Ich zahle ihn während der nächsten paar Monate zurück.« »Phlegethon gewährt seit zwei Monaten keine Vorschüsse mehr. Der Staat sagt, daß es illegal ist. Ich leihe dir das Geld, mach dir keine Sorgen. Was ist passiert?« Minutenlang blickte Kassler Bernie schweigend an. Er war sich wirklich nicht sicher, was passiert war, wie die Details aussahen. Er war sich nicht einmal im klaren darüber, wie er sich fühlte. Traurig? Wütend? Deprimiert? Er wußte es nicht. Er hatte kein Geld. Kein Zuhause. Nichts mehr von den Kleidern, Büchern, Schallplatten und Erinnerungsstücken, die sich während seines Lebens angesammelt hatte. Außer Josh und Joy gab es, wie er feststellte, absolut nichts, das er für die sechsunddreißig Jahre vorweisen konnte, die er mein Reich mit seiner Anwesenheit beehrt hatte. In jenen Tagen spielte der Unterschied zwischen Geist und Materie für Dr. Kassler keine große Rolle. Er wußte nur ganz sicher, daß alles, was er besaß, in Flammen aufgegangen war. »Ihr Jungs seid unverbesserlich«, sagte ich zu den beiden stolzen Brandstiftern, als sie zurückkamen. »Sie hätten es sehen sollen!« Katzman war ganz aufgeregt. »Es brannte wie Zunder, wie Papiertaschentücher. Puff! Dreißig Sekunden! Es war wie ein Inferno. Sie hätten wirklich dabei sein sollen.« »Und du, Leo?« fragte ich. »Bist du mit dir zufrieden?« »Ich fühlte mich nicht so gut«, antwortete Szlyck. »Er konnte kaum das Streichholz anreißen«, sagte Katzman. »Aber die Sache war es wert, nicht wahr? Soweit Psychotherapie, Frauenräuber und Kassler. Richtig, Leo?« »Ich fühle mich heute abend nicht so gut«, wiederholte Szlyck. Leo Szlyck hatte, was Form und Farbe anging, eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kürbis. »Ich glaube, das war es, Leo«, sagte ich so eindeutig zu ihm, wie ich nur konnte. -3 7 2 -
»Ich sterbe, nicht wahr?« fragte er. »Nein, Leo, du bist zum größten Teil schon tot. Du hast das Stadium des Sterbens schon vor ein paar Monaten durchgemacht. Das habe ich dir gesagt.« »Du gehst mit Glanz und Glorie, Leo.« Katzman hatte immer eine Vorliebe für Metaphern gehabt. »Ich fühle mich nicht so wohl«, sagte Szlyck abermals. »Das glaube ich dir«, sagte ich. »Ich wünschte, ich könnte etwas tun, aber ich kann es nicht. Ich fürchte, es ist alles vorüber.« »Ich bin mir nicht sicher, daß mir mein Leben all das gebracht hat, was ich wollte«, philosophierte Leo. Dann fing er wie ein Baby an zu heulen. »Oh, Gott«, sagte er, »vergib mir. Ich wußte nicht, was ich tat. Ich habe es versucht. Wirklich.« »Komm mir jetzt nicht mit der Gott-Masche, Leo, verdammt noch mal«, sagte ich zu Szlyck. »Ich habe mir dein Geschwätz jetzt jahrelang angehört. Ich habe dir abgeraten, Lupa zu heiraten. Ich habe dir klarzumachen versucht, daß dich deine Trinkerei umbringen wird. Du wußtest ganz genau, was du tatest, und hast nicht das geringste bißchen versucht. Also kannst du dir jetzt dein Jammern sparen. Ich habe mit dir gelebt.« »Ich bin in die Irre geführt worden«, rief Szlyck zur Decke über sich empor. »Schaffen Sie ihn hier raus, ja?« forderte ich Katzman auf. »Aber ich bereue wirklich«, winselte Szlyck. »Ich bereue. Und ich fühle mich nicht so wohl.« Er sank voller Schmerz auf die Knie. Es war, wie ich zugeben muß, ein jammervoller Anblick. Aufgeschwemmt, winselnd, schmerzerfüllt - Szlyck sah so unerfreulich aus wie nie. In solchen Momenten versuche ich, bei einem Menschen etwas zu entdecken, das seiner Seele einen tragischen Aspekt verleiht, etwas, das zu beklagen und zu betrauern wäre, das ihn größer macht, als er tatsächlich war -3 7 3 -
oder hätte sein können, um ihm in seinen letzten Augenblicken etwas Mitgefühl entgegenbringen zu können. Bei Leo Szlyck fiel dies nicht leicht. »Ich habe in der Physik einige größere Durchbrüche geschafft.« Wie ein Klumpen auf dem Boden liegend, versuchte Leo Szlyck, sich in seiner eigenen Hitparade nach oben zu schieben. »Kleinere«, stellte ich fest. »Und bereits in Zweifel gezogen.« »Ich habe dich herausgebracht«, erinnerte mich Leo. »Und ich habe dich nicht in die Luft gesprengt.« »Purer Zufall«, antwortete ich. »Und du hast die Sprengkapseln vergessen. Die meisten Leute jagen dieses Zeug mit Sprengkapseln und einem Zünder hoch, nicht mit einem Streichholz.« »Oh«, sagte Leo kläglich. »Ich hole einen Krankenwagen.« Katzman ging nach oben zum Telefon. »Gibt es etwas, was ich zur Wiedergutmachung tun kann?« flehte Leo. Ich hatte schon gedacht, er würde die Frage gar nicht stellen. »Nur eins.« Ich machte ihn ausführlich mit den Einzelheiten vertraut. »Ich werde es tun, das verspreche ich«, sagte Szlyck, und ich wußte, daß er sich daran halten würde. Wir konnten hören, wie der Krankenwagen eintraf. Leo kam torkelnd auf die Beine und schleppte sich die Treppe hoch. »Eine Frage«, sagte er, als er sich der obersten Stufe näherte. »Ich muß sie stellen. Bitte, sag mir die Wahrheit.« Eine Pause trat ein, während der Leo unter beträchtlichen Schmerzen keuchte und dann tief ausatmete. »Sag mir, ob es wirklich eine Hölle gibt«, fragte er in seiner Agonie. »Ja, Leo«, antwortete ich. »Es gibt eine Hölle.« »Oh, Scheiße.« -3 7 4 -
Das waren die letzten Worte, die Leo Szlyck auf Erden an mich richtete. Natürlich starb Leo Szlyck nicht auf einfache und direkte Art und Weise. Er stellte eine große Produktion auf die Beine, bei der er zur letzten großartigen Vorstellung mit den entsprechenden Vorhängen Sam Zelazo, Lupa und schließlich auch Kassler, in dieser Reihenfolge, an sein Totenbett rief. Wohl wissend, daß sein Publikum äußerst leichtgläubig sein würde, da er wie eine welkende Lotusblüte vor ihnen lag, machte er sie alle glauben, daß er in den letzten Minuten, die ihm noch verblieben den wahren Frieden zu finden gedachte, indem er Wiedergutmachung leistete und reinen Tisch machte. Für solch einen tabula rasa hätte Leo Szlyck allerdings einen Putzlappen von der Länge der Chinesischen Mauer benötigt, mit dem die Mongolenhorden während mehrerer Dynastien arbeiten müßten. Dieses Theater sollte jedoch erst noch kommen, als Kassler erschöpft und sich schrecklich allein fühlend schließlich voll angezogen auf die äußere Kante von Bernie Kohlers Bett fiel und ohne Erfolg einzuschlafen versuchte. Bernie ruhte nur in seiner Pyjamahose auf seiner Seite des Bettes und bemühte sich, soviel wie möglich von der leichten Brise mitzubekommen, die von dem kleinen Ventilator neben Kasslers Bettseite kam. »In dieser Hitze wirst du so nie einschlafen«, sagte Bernie. »Im Wandschrank sind ein paar Pyjamahosen. Ich habe dir gesagt, daß ich dich nicht attackieren werde, und das tue ich auch nicht.« »In Ordnung«, erklärte sich Kassler einverstanden und ging auf die Toilette, wo er in eine rote Pyjamahose aus Polyester schlüpfte. »In diesen Dingern komme ich mir wie ein Kellner in einer türkischen Sauna vor«, sagte er, als er zu Bernie zurückkehrte. »Hast du nichts in Baumwolle?« »Nicht viel«, sagte Bernie, während er zusah, wie Kassler den Raum durchquerte. »Du wirst dich daran gewöhnen. -3 7 5 -
Nebenbei bemerkt, dreh nicht durch, aber du hältst dich gut in Schuß. Das ist kein Antrag, sondern nur ein Kommentar von jemandem, der auf so etwas achtet.« »Vielen Dank, aber laß uns nicht wieder damit anfangen. Ich brauche wirklich etwas Schlaf. Und du auch. Gute Nacht.« Weder Kassler noch Bernie hatten bei dem Versuch einzuschlafen viel Glück. Das Problem bei Kassler waren die Hitze, das fremde Bett, sein zerbröckelndes Leben und Bernie Kohler. Das Problem bei Bernie Kohler waren die Hitze und Sy Kassler. »Ich kann nicht schlafen«, sagte Kassler gegen drei Uhr morgens schließlich, als er merkte, daß auch Bernie noch wach war. »Hast du irgendein Schlafmittel?« »Nein, aber wenn du nicht hysterisch wirst, massiere ich dich«, antwortete Bernie. »Nur oben rum. Es funktioniert immer.« Kassler dachte sehr sorgsam über die Konsequenzen nach. Jeder Muskel seines Körpers war verkrampft. Er wußte, daß ihm ein Durchkneten helfen würde, wenn er Bernie kontrollieren konnte. Vielleicht, dachte er, haut es hin. Bernie schien das starke Bedürfnis zu haben, ihn zu berühren, und er brauchte eine Entspannung seiner Muskeln. Es war ein Versuch wert. Beim ersten Anzeichen dafür, daß es mehr als eine Massage war, konnte er aufhören. »Keine faulen Scherze?« fragte er. »Nein, mein Lieber«, sagte Bernie zuckersüß. »Keine faulen Scherze. Leg dich auf den Bauch.« Bernies Massage war hervorragend. Kassler spürte, wie sich sein ganzer Körper entspannte, als Bernie Schultern und Rücken knetete, und fühlte, wie er langsam in den Schlaf hinüberglitt, in einen herrlichen Traum, in ein paradiesisches Land mit üppiger tropischer Vegetation, Ananas und Bananen, mit kühlen Passatwinden, die von der purpurfarbenen See herüberwehte, mit funkelnden weißen Sandstränden, schokoladenfarbenen Mädchen und Kokosfett, das sie auf seinem Körper verrieben. Ein nacktes Mädchen mit reifen -3 7 6 -
Brüsten und dunklen, schlanken Schenkeln trat auf ihn zu und führte ihn in eine kleine Bucht, wo sie ihn mit Mangos und Papayas beköstigte und seinen ganzen Körper mit zarten Küssen bedeckte, bis sie die Stelle zwischen seinen Beinen erreichte. Dann nahm sie seinen Schwanz, der hart und verlangend war, in ihren Mund, saugte an ihm bis zur Wurzel hinunter, beleckte ihn mit ihrer Zunge und ließ ihre Lippen mit unglaublich zarten und gefühlvollen Bewegungen über die Krone gleiten, bis Kassler es nicht länger aushalten konnte und aufwachte, um festzustellen, daß er in Bernie Kohlers Mund kam, während Bernie gleichzeitig per Hand auf die Bettdecke ejakulierte. Es dauerte eine Minute, bis Kassler richtig begriff, was passiert war. »Nun, war es so schrecklich?« fragte Bernie Kohler, während er seine Pyjamahose hochzog und sich auf seine Seite des Bettes legte. »Sag mir, ob du jemals eine Frau hattest, die dir ein solches Gefühl gegeben hat.« Kassler wollte antworten, entschied sich dann aber doch dagegen. Er schlief noch immer zu neunzig Prozent, und die Kombination von Massage, Traum und Orgasmus hatte ihn zu sehr entspannt, um eine Diskussion anzufangen. Es hatte keinen Sinn, das Bett zu verlassen. Es war vorbei. Außerdem konnte er nirgendwo hingehen. Er wollte nur schlafen. »Hmmm«, murmelte er unverbindlich und fiel augenblicklich wieder in den Schlaf. »Hmmm ist richtig«, antwortete Kohler mit dem Triumphgefühl einer neuen Eroberung. »Ich habe dir doch gesagt, daß es Magie zwischen uns gibt.« Als Kassler erwachte, war Bernie bereits gegangen. Eine Notiz Bernies informierte ihn darüber, daß frischer Orangensaft in einem Glas auf dem Tisch stand, der Kaffee in der Maschine war und Eier und Toast in einem kleinen Warmhalteofen auf ihn warteten. Kassler kam zu der Ansicht, daß das, was er mitgemacht hatte und was noch folgen würde, zumindest ein anständiges Frühstück wert war, und so führte er es sich zu Gemüte. Mit -3 7 7 -
vollem Magen, gut ausgeruht und vier Stunden zu spät, machte er sich durch die anhaltende Hitze auf den Weg zum Phlegethon und zu Bernie Kohler, der sich, wie er erfuhr, für diesen Tag krank gemeldet hatte. Kassler fand diese Idee ganz ausgezeichnet und wollte die Verwaltung gerade von seiner eigenen beginnenden Krankheit ins Bild setzen, als ein dringender Telefonanruf ihn in Phlegethons Krankenabteilung rief. Dort lag, was Kassler noch nicht wußte, der sterbende Leo Szlyck. Als Kassler die Tür der Krankenabteilung erreichte, stand Zelazo bereits am Fuß von Szlycks Bett und brüllte in rumänischer Sprache auf ihn ein. Minutenlang blieb Kassler abwartend draußen stehen, bis Zelazo schließlich mit einem Wutanfall die Arme hochriß und voller Zorn aus dem Raum stürmte. »Er will erst mit Lupa und dann mit Ihnen reden«, sagte Zelazo brüsk zu Kassler. »Was fehlt ihm?« fragte Kassler. »Von seiner Leber sind noch zehn Prozent übrig«, sagte Zelazo, noch immer schäumend vor Wut. »Den Rest hat er versoffen. Sie hat sich in Alkohol aufgelöst.« »Was hat Sie so wütend gemacht?« fragte Kassler. »Leo Szlyck. Nehmen Sie einen guten Rat von mir an, Sy. Was auch immer er Ihnen geben will, nehmen Sie es nicht. Es ist die Sache nicht wert.« Feuer loderte in Zelazos Augen. »Was will er mir geben?« »Was es auch ist, hören Sie ihm gar nicht zu. Der Mann stirbt. Er weiß nicht, was er sagt.« Zelazo war so erregt, wie Kassler ihn noch nie erlebt hatte. »Außerdem sind Sie mein Schüler. Sie sind mir das schuldig. Kommen Sie zuerst zu mir. Ich werde Ihnen ein sehr attraktives Angebot unterbreiten.« »Was, zur Hölle, geht hier vor?« fragte Kassler. »Vergessen Sie es nicht, Sy, er ist verrückt.« »Wird er überleben?«
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Zelazo zuckte die Achseln. »Wir können ihm keine Medikamente geben, weil von seiner Leber nicht mehr genug übrig ist, um sie zu entgiften. Sie würden ihn umbringen. Er hat böse Ödeme in der Bauchhöhle. Wir holen die Flüssigkeit durch Punktionen heraus, aber es geht nicht schnell genug. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, wann ihn die Anschwellung umbringt. Er hat Speiseröhren- und Magenblutungen, und da wir ihm keine Medikamente geben können, verblutet er auch noch. Er hat Zuckungen in den Händen, so daß zusätzlich das Hirn betroffen ist. Alles in allem ist Leo Szlyck ein todgeweihtes Wrack. Ich muß gehen.« Zelazo ging den Flur hinunter und kam dabei an Lupa vorbei, die auf dem Weg zu Szlycks Zimmer war, vor dem Kassler noch immer stand. Als sie ihn sah, verlangsamte sie ihre Schritte in dem Bewußtsein, daß die Begegnung unausweichlich war. »Hallo, Sy.« Sie kam Kassler so strahlend schön vor wie eh und je. »Hallo«, antwortete Kassler. »Wie geht es ihm?« fragte Lupa. »Er stirbt, sagte Zelazo. Wie ist es dir ergangen?« »Oh, gut, gut. Stirbt er wirklich? Und wie geht es dir?« »Lupa?« ließ sich eine dünne Stimme aus dem Zimmer vernehmen. »Bist du das, Lupa?« »Ja, ich bin es, Leo«, rief Lupa zurück. »Ich bin gleich da.« Dann blickte sie Kassler in die Augen. »Und hast du deine Magie gefunden?« fragte sie. »Das hat man mir erzählt«, antwortete Kassler. »Und du?« »Nicht eigentlich.« Lupa strich ihr Halstuch glatt und fingerte geistesabwesend an ihrem Ohrring herum. »Das Geschäft geht gut?« Kassler betrachtete das tiefe Rot auf Lupas Lippen. »Lupa?« kam die schwache Stimme wieder aus dem kleinen klinikähnlichen Raum. -3 7 9 -
»Ich komme, ich komme«, sagte Lupa. »Ich sterbe«, stellte die Stimme mit großem Pathos fest. »Ich weiß«, sagte Lupa. »Es kann jeden Augenblick soweit sein«, krächzte der Patient. »Ich habe dich vermißt, Lupa«, sagte Kassler. »Ich hätte angerufen, aber ich war mir nicht sicher, ob es dir recht wäre.« »Genauso war es bei mir«, sagte Lupa. »Ich wollte dich anrufen. Ich habe es sogar ein paarmal versucht. Deine Nummer ändert sich ständig.« »Ich ziehe viel um. Du weißt schon, Erweiterung des Horizonts.« »Lupa!« rief Szlyck so laut, wie er konnte. »Ich bin fast tot.« »Ich weiß, ich weiß. Ich sagte doch, daß ich komme, Leo. Also halte durch. Bleib noch ein paar Minuten am Leben.« »Ich versuche es, ich versuche es«, antwortete der Patient tapfer. »Kommst du heute abend vorbei, Sy?« fragte Lupa nervös. »Ich mache dir irgendwas mit Huhn. Wenn du nicht beschäftigt bist.« Kassler blickte in Lupas violette Augen und dachte daran, daß er kein Geld und keine Wohnung hatte. Er nahm Lupas Einladung an. »Ich hatte letzte Nacht ein komisches Erlebnis und frage mich, ob du mir einen Gefallen tun würdest«, sagte Kassler. Lupa blickte Kassler in die dunklen Augen und wartete schweigend, unterbrochen nur von einer dünnen Stimme, die aus dem Zimmer vor ihnen wehte. »Ich fühle, wie ich zu schweben beginne«, sagte sie. »Ich sehe ein helles Licht am Ende eines Tunnels.« »Würdest du mich küssen?« fragte Kassler. »Willst du nicht zuerst mein Huhn probieren?« fragte Lupa. »Ich habe dein Huhn schon probiert. Es ist leidlich gut.« -3 8 0 -
Und Kassler und Lupa küßten sich mit großer Zärtlichkeit und Zuneigung. »Ein warmes Leuchten«, verkündete der Patient. »Schweben. Schweben. Lupa? Ich will nicht schweben.« »Halt dich am Bettrahmen fest, dann schwebst du nicht«, rief Lupa zurück. »Und?« fragte sie Kassler. »Wie steht's mit der Magie?« »So ungefähr wie mit deinem Huhn«, überlegte Kassler laut. »Und?« »Und eines Tages möchte ich für immer leidlich glücklich leben. Allerdings...« Kassler bekam den Vorfall bei Bernie Kohler nicht aus dem Kopf, «... könnte es einige Komplikationen geben.« »Ist deine Gerichtssache vorüber?« fragte Lupa. »Hat noch nicht mal angefangen«, sagte Kassler. »Und deine?« »Leo ist noch nicht bei Gericht gewesen. Und er hat auch seinen Widerspruch gegen die mexikanische Scheidung nicht zurückgezogen. Wenn er natürlich...« Beide hatten gleichzeitig denselben Gedanken, und sie lächelten breit. »... tot ist...«, sagten sie wie aus einem Munde. »Ich schwinde dahin... schwinde dahin...«, drang die schwache Stimme aus dem Zimmer. »Ich komme«, rief Lupa freundlich zurück. Während Kassler draußen wartete, plapperte Szlyck zusammenhanglos über Leben und Liebe. »Ich möchte, daß du glücklich wirst, Lupa«, sagte er ruhig. Das Sprechen war schmerzhaft für ihn. »Ich bin glücklich«, sagte Lupa. »Es soll dir durch meine Schuld nicht schlecht ergehen«, sagte Szlyck. »Das tut es auch nicht«, antwortete Lupa. »Ich bin sehr glücklich.« -3 8 1 -
»Sag mir ehrlich Lupa - als wir uns kennenlernten, bevor alles falsch lief, fandest du mich da attraktiv?« fragte Szlyck. »Attraktiv?« Lupa dachte laut nach. »Nein, Leo, nicht attraktiv.« »Reizvoll denn?« fragte Szlyck. »Nein. Nicht reizvoll.« »Charmant?« »Auch nicht charmant.« »Was denn?« fragte Szlyck. »Irgendwas muß es gewesen sein.« »Ich glaube nicht, Leo. Es tut mir leid, aber ich glaube, Ehrlichkeit ist manchmal die beste Politik. Ich möchte nicht, daß du diese Welt mit irgendeinem Mißverständnis verläßt. Die Wahrheit ist, daß ich für mein Leben nicht weiß, was ich an dir gefunden habe - abgesehen davon, daß du der Besitzer dieses Computers warst.« Lupa sprach mit großer Offenheit. »Ich glaube, ich war ganz einfach einsam und verzweifelt, und du warst da.« »Dann sag mir eins«, begann Szlyck von neuem. »Ich weiß, daß ich mich auf deine Ehrlichkeit verlassen kann.« »Du kannst dich darauf verlassen«, bestätigte Lupa. »Ich schäme mich sehr dafür, wie ich dich behandelt habe. Vergibst du mir?« Lupa betrachtete Leo Szlyck, wie er da auf seinem Totenbett lag, mit Schläuchen in den Armen, die seinen Unterleib entleerten, die normalerweise gelbliche Haut, die jetzt die Farbe von billigem Senf angenommen hatte, seinen ganzen Körper, der so aufgequollen war wie die aufblasbaren Figuren, die sie als kleines Mädchen bei der Parade am Danksagungstag bewundert hatte. »Vergibst du mir?« wiederholte Szlyck. »Dafür, daß ich dich während unserer Ehe in den Wahnsinn getrieben habe, und für die Briefe und Telefonanrufe danach...« »Nein, Leo, das tue ich nicht. Ich vergebe dir nicht.« -3 8 2 -
»Ich dachte mir, daß du es nicht tun würdest«, nickte Szlyck. »Sam Zelazo hat es auch nicht getan.« Er versuchte, tiefer aus der Brust zu sprechen, was ihm weniger Schmerzen bereitete. »Was hast du ihm angetan?« fragte Lupa. »Etwas nicht sehr Schönes«, gestand Szlyck ein. »Es ist alles ziemlich kompliziert, aber letzten Endes läuft es auf folgendes hinaus: Wir waren in Rumänien gut befreundet und verliebten uns in zwei Schwestern, so daß wir eine Doppelhochzeit abhalten konnten. Kurz vor der Zeremonie kam ich zu der Überzeugung, daß mir seine Braut besser gefiel als meine. Und so tauschte ich die Bräute aus.« »Du tatest... was?« fragte Lupa ungläubig. »Es war nicht einfach, das kannst du mir glauben. Aber indem ich eine kleine Anleihe bei Shakespeare, bei Aristophanes und bei Mozart machte, deichselte ich es so, daß er die andere Schwester, meine Braut, heiratete und mit ihr schlief, und danach war es, so wie die Sitten und Gebräuche aussahen, zu spät für einen Wechsel, teils weil ich mit seiner Braut an einem weit entfernten Ort war, wo er mich nicht finden konnte, und teils weil man ihn umgebracht hätte, wenn die Familie des Mädchens dahintergekommen wäre. Schließlich erfuhr das Mädchen die Wahrheit und beging aus Rücksicht auf Zelazo, der sich inzwischen wahnsinnig in sie verliebt hatte, Selbstmord. Sie glaubte, daß er ihr, um sie nicht zu verletzen, etwas vormachte, und ließ es wie einen Bootsunfall aussehen. Es war alles sehr tragisch. Wie in einer Oper.« Lupa hörte mit Verblüffung zu. »Wie... hast du...«, wollte sie fragen. »Wie ich die Bräute vertauscht hab?« half ihr Szlyck. »Nun, es war nicht leicht. Mit vielen Lügen vor allem, obwohl ich mich an die Besonderheiten nicht mehr erinnere. Es passierte alles vor sehr langer Zeit. Erst letzte Nacht dachte ich wieder daran. Aber wie ich mich erinnere, erzählte ich meiner Braut, daß Zelazo schwer in sie verliebt war, ich jedoch nicht, und seiner Braut, daß ich schwer in sie verliebt war, Zelazo jedoch nicht, und allen beiden, daß durch einen schnellen -3 8 3 -
Tausch allen viel Kummer erspart würde. Da in jenen Tagen in Rumänien der Schleier solange getragen wurde, bis das Jungfernhäutchen entfernt war, würde es erst auffallen, wenn wir schon alle außer Landes wären. Ich mußte schnell überlegen. Ich machte Sam betrunken und setzte ihn unter Drogen. Dann passierte es. Ich brachte die ganze Geschichte in weniger als einer Stunde über die Bühne. Zelazos Braut war wirklich viel hübscher als meine.« »Und deine Frau?« fragte Lupa wie betäubt. »Oh, sie brachte sich um, als sie vom Selbstmord ihrer Schwester und den Gründen dafür erfuhr. Zelazo fand uns und erzählte ihr alles. Das war vielleicht eine Szene. Ich versuchte, ihr zu sagen, daß es mir leid tat, aber sie sah das Ganze sehr eng. Sie machte keine Anstalten, ihren Tod als Unfall erscheinen zu lassen. Eines Nachts, als ich schon eingeschlafen war, kam sie ins Bett und schlitzte sich die Pulsadern auf. Am nächsten Morgen wachte ich in einer Lache Blut auf, mit einer toten Frau an meiner Seite. Ich hätte die Bräute niemals austauschen sollen. Jetzt weiß ich das. Aber ich war jung und ungestüm. Du weißt, wie es ist. Ich glaube jedenfalls, daß sich alles so abspielte. Zelazo hat an einige Einzelheiten andere Erinnerungen. Es ist alles schon so lange her. Er redet auch viel von irgendwas, was ich seinen Forschungen antat, so daß er ruiniert wurde, aber das bringt bei mir keine Glocke zum Klingen. Und ich glaube nicht, daß ich Zelazos Frau sagte, er wollte ihren Selbstmord, aber wer weiß. Tamous fugit.« »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll«, meinte Lupa geschockt. »Das ist die grauenhafteste Geschichte, die ich jemals gehört habe.« »Ich weiß«, gab Szlyck zu. »Mir blieb weniger als ein Jahr Zeit, um mich an Zelazos Braut zu erfreuen. Zehn Jahre, zwanzig Jahre - dann hätte es vielleicht anders ausgesehen. Aber alles für nur neun Monate... Ich hätte es niemals tun sollen. Das Ganze tut mir leid. Viele Dinge tun mir leid. Aber ich nehme an, niemand von denen, die heute bei mir vorbeikommen, wird mir vergeben wollen, oder?« -3 8 4 -
»Also, ich bestimmt nicht«, sagte Lupa. »Das steht fest.« »Du bist immer noch wütend, weil ich gegen die mexikanische Scheidung Widerspruch eingelegt habe, ja?« »Nach allem, was du mir erzählt hast, ist das schwer zu beurteilen. Es erscheint beinahe trivial.« »Ich war nur zornig auf dich, Lupa. Ich weiß wirklich nicht, warum ich es getan habe. Ich würde den Widerspruch zurückziehen, nur daß das mehrere Stunden von der Zeit eines Rechtsanwalts in Anspruch nehmen würde, und bei fünfundsiebzig Dollar die Stunde ist es die Sache kaum wert. In ein paar Tagen werde ich sowieso tot sein.« »Nun, hoffen war das Beste«, sagte Lupa und kehrte Leo Szlycks Bett betäubt den Rücken. »Ich fahre zur Hölle«, begann Szlyck seine Unterhaltung mit Kassler. »Tut mir leid, das zu hören.« Kassler rückte seinen Stuhl neben Szlycks Totenbett. »Wollen Sie nicht wissen, warum ich zur Hölle fahre?« fragte Szlyck. »Ich nahm an, daß es aus denselben Gründen geschieht, aus denen auch der Rest von uns dort hinfährt«, antwortete Kassler. »Dem ist nicht so«, vertraute Szlyck ihm an. »Die Hölle ist denen vorbehalten, die unfähig gewesen sind, ein Leben zu führen, das ihren geistigen Fähigkeiten entspricht. Das ist der erste Grund. Zweitens werde ich in die Hölle kommen, weil ich Ihnen das erzähle, was ich Ihnen heute nachmittag erzählen werde.« Szlyck versuchte, sich aufrechtzusetzen, um Kassler besser sehen zu können, hatte dabei aber keinen Erfolg. »Und für einige der üblichen Unbesonnenheiten«, fügte er als Nachgedanken noch hinzu. »Sind Sie sicher, daß Sie mich hier haben wollen?« fragte Kassler. »Ich bin kein sehr guter Beichtvater.« »Gehen Sie zu meinem Nachttisch. In der Schublade ist etwas für Sie.« -3 8 5 -
Kassler stand auf und ging zu dem Tisch hinüber. Er öffnete die Schublade und blickte hinein. Darin befand sich ein Umschlag mit seinem Namen; Inhalt: zwanzig Tausend-DollarScheine. »Das kann ich nicht annehmen«, sagte Kassler. »Warum nicht? Es ist alles ganz legal. Viele sterbende Patienten vermachen ihren Therapeuten etwas. Es steht in meinem Testam ent. Es gehört Ihnen. Nehmen Sie es. Sie haben es verdient.« »Womit?« fragte Kassler, während er die Banknoten zum zweitenmal zählte. »Glauben Sie es mir. Sie haben es sich verdient. Außerdem möchte ich Sie um einige Gefallen bitten. Auf dem Tisch liegt ein Block. Schreiben Sie einige Dinge für mich nieder. Würden Sie das tun?« Kassler stand da und betrachtete den Umschlag mit dem Geld. Dann faltete er ihn zusammen, steckte ihn in die Hosentasche und griff nach dem Block. »Haben Sie vielen Dank, Dr. Szlyck«, sagte er. »Ich kann es wirklich gebrauchen.« »Schreiben Sie auf.« Szlyck wechselte das Thema. »Eighth Avenue Nr. 93. Es heißt Bolge und ist mein Haus. Ich gebe es Ihnen. Hier sind die Schlüssel.« Szlyck griff matt unter sein Kopfkissen und holte einen kleinen Ring mit drei Schlüsseln hervor. »Der goldene ist für die Vordertür. Der silberne für die Hintertür. Der Dietrich für das Souterrain.« Leo tat genau das, was ich ihm aufgetragen hatte. »Das kann ich nicht«, sagte Kassler, dem von Leo Szlycks Großzügigkeit ganz schwindlig wurde. »Zwanzigtausend Dollar, Ihr Haus...« »Verdammt«, krächzte Leo, »warum nicht? Es ist alles bezahlt, und die Steuern sind gering. Die Anwälte haben heute morgen die Papiere aufgesetzt. Nehmen Sie es. Ich will, daß Sie es bekommen.«
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»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Dr. Szlyck«, sagte Kassler warmherzig zu seinem schwer mißverstandenen, sterbenden Patienten. »Ja, ich weiß. Aber ich will, daß Sie es bekommen. Sie verdienen alles.« »Ich bin wirklich sprachlos«, sagte Kassler. »Niemand hat mich jemals so behandelt. Gibt es irgend etwas, was ich für Sie tun kann?« »Nun, da Sie davon sprechen, ja«, sagte Szlyck. »Blicken Sie in meine Augen. Ich möchte nicht, daß Sie sie vergessen.« Kassler starrte in Leo Szlycks Augen. »Sehen Sie, daß überall kleine gelbe Flecken darin glänzen? Es ist eine genetische Eigenart. Vergessen Sie sie nicht. Tun Sie das für mich?« Kassler studierte Leo Szlycks Augen, die mit weit entferntem Blick zurückstarrten. »Ja, ich glaube, ich kann es«, sagte Kassler. »Gut.« Leo Szlyck war zufrieden. Kassler stand minutenlang am Ende von Szlycks Bett und blickte auf den gelbsüchtigen, aufgeblähten Mann hinunter. »Ich versuche, zu begreifen...« sagte Leo Szlyck betont und schloß dann die Augen. Eine Minute später öffnete er ein Auge und sah Kassler an. »Haben Sie das aufgeschrieben?« fragte er. »Was?« fragte Kassler. »Meine letzten Worte«, sagte Szlyck. »Ich möchte, daß Sie meine letzten Worte notieren.« Kassler griff nach Block und Stift. »Ich versuche, zu begreifen...« wiederholte Szlyck und schloß die Augen. »Entschuldigen Sie, Dr. Szlyck«, rief Kassler ihn an. »Diese Worte sind schon verwandt worden. Ich schreibe sie auf, wenn Sie wollen, aber jemand anders hat sie schon als seine letzten Worte gesagt.«
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»Oh«, murmelte Szlyck, »sie kamen mir gleich so vertraut vor.« Eine kurze Schweigepause trat ein, während der Kassler abwartend neben Leo Szlyck stand, Block und Stift in der Hand. »Der Mensch ist immer mehr, als er selbst zu erkennen vermag...« Leo Szlyck schloß die Augen. »Es tut mir leid.« Kassler schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten Sie eine Weile darüber nachdenken.« »Wie du glaubst, so bist du...« versuchte es Szlyck. »Nein.« Kassler beschloß, es sich bequem zu machen. Er zog den Stuhl heran, streifte die Schuhe ab und lehnte sich in dem heißen, stickigen Zimmer zurück. »Die größte Lüge ist Ordnung...« »Tut mir leid.« »Was wird aus dem Menschen werden...?« »Dies ist wohl nicht der beste Zeitpunkt, um zu versuchen...« »Es müssen noch ein paar anständige letzte Worte übrig sein«, greinte Szlyck frustriert. »Ich bin sicher, daß es so ist. Ich habe mich mit einem solchen Problem vorher nie beschäftigt. Aber ich bin sicher, es wird Ihnen etwas Erinnernswertes einfallen.« »Ich bin immer an der Beziehung zwischen den Gesetzen interessiert gewesen, die psychische und physische Phänomene regeln. Das ist wenigstens die Hälfte des Kampfs zwischen Zelazo und mir gewesen. Die Natur zu verstehen heißt, sie auf ein gemeinsames Prinzip zurückzuführen. Wir sind das Problem von unterschiedlichen Seiten angegangen.« »Ist es das?« fragte Kassler. »Das sind nicht meine letzten Worte, verdammt«, sagte Szlyck gereizt. »Ich rede jetzt nur.« Kassler strich einige Worte auf seinem Block durch. »Hier ist das Problem«, schwätzte Szlyck weiter. »W enn wir Gott erkennen können, dann gibt es keinen Gott. Wenn wir Gott nicht erkennen können, dann gibt es keinen Gott. In beiden -3 8 8 -
Fällen gibt es nur Satan. Wenn unser Geist und das Universum eins sind, dann sind wir Gott. Wenn sie es nicht sind, dann ist Gott Satan. In jedem Fall sind wir keine Mechanismen, nicht wahr, Dr. Kassler? Wir besitzen Geist, Seele und Schönheit. Unsere Handlungen sind Kunst. Jeder von uns hat etwas Gutes in sich. Ich bitte Sie, all dies zu berücksichtigen, Dr. Kassler, denn ich bitte Sie um Vergebung. Vergebung für das Niederbrennen Ihres Appartements letzte Nacht, auch wenn es Katzmans Idee war, für all die Telefonanrufe bei den Banken, Ihren Vermietern, Ihrer Autofirma, den Kreditbüros...« Kassler ließ Stift und Block auf den Boden fallen. Seine schmeichlerische Ehrerbietung gegenüber Szlycks fatalem Zustand schwand dahin. »Sie Drecksack!« Dies waren die ersten Worte aus seinem Mund. »Sie sind Dr. Vivaldi.« »Wer, zur Hölle, ist Dr. Vivaldi?« fragte Szlyck... »Vom Bellevue. Dr. Vivaldi vom Bellevue.« Kassler stand auf. »Es waren so viele. Ich habe sie vergessen, wirklich.« Kassler schritt in dem engen Raum hin und her wie ein Tier im Käfig und wußte nicht, wie er den rasenden Zorn in sich abladen sollte. Was, fragte er sich, sagen die Lehrbücher über die Behandlung eines sterbenden, verrückten Patienten, der zwei Jahre damit verbracht hat, das Leben seines Therapeuten zu ruinieren? »Zwanzigtausend Dollar und die Bolge!« schrie er. »Sie glauben, daß Geld und Haus das wiedergutmachen können, was Sie mir in all der Zeit angetan haben?« Er fuhr fort, hin und her zu tigern. »Ich habe nie Ihre Schule angerufen«, sagte Szlyck. »Das hätte ich auch noch tun können.« »Nein, hätten Sie nicht, weil sie zu desorganisiert waren, um meine Akte zu finden. Aber ich wette, daß Sie es versucht haben, Sie Drecksack.« »Nur ein paarmal.« »Sie Drecksack«, wiederholte Kassler. -3 8 9 -
»Sie werden mir also nicht vergeben?« fragte Szlyck. »Sie Drecksack!« »Ich hätte da noch einen Gefallen, um den ich Sie bitten möchte«, sagte Szlyck. Kassler drehte sich um und sah Leo Szlyck an. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. »Ich will Sam Zelazos Hals, und ich weiß, daß Sie es machen können. Sie wollen ihn auch. Ich weiß, was er Ihnen antut, daß er Ihre Frau fickt und immer mit Ihren Kindern zusammen ist. Er hat es mir gesagt.« »Weiß er, daß Sie Dr. Vivaldi sind? Hat er das gewußt?« »Ja«, log Leo. »Er hat es die ganze Zeit gewußt. Darum meine ich, daß es ihm an den Hals gehen soll, und ich weiß auch, wie es zu machen ist. Gehen Sie in sein Laboratorium. Es ist hier, unten im Keller. Gehen Sie hinein, und Sie haben ihn. Sie erledigen ihn.« Kassler wußte nicht, was er sagen oder tun sollte, und so tigerte er nur weiter hin und her, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, wo er mit der einen Hand an den zwanzigtausend Dollar und mit der anderen an den Schlüsseln zu der Bolge herumfingerte. »Warum sein Labor?« fragte er schließlich. »Vertrauen Sie mir«, sagte Szlyck. Kassler dachte minutenlang nach, auf und ab gehend und schwitzend. »Nein«, sagte er. »Ich will nichts damit zu tun haben. Ich will weder Zelazos Hals noch den eines anderen. Wenn Sie ihn haben wollen, dann holen Sie sich ihn.« »Tun Sie, um was ich Sie bitte, und Zelazo wird Ihre Kinder nie wieder sehen. Ich meine es ernst.« Szlyck fing an zu husten. »Sie wollen, daß ich ihn umbringe. Ich kenne Sie. Ich weiß nicht, wie Sie es gedreht haben, aber ich weiß, wie es enden wird. Zelazo wird tot sein, und ich bin im Gefängnis. Das ist es, was Sie wirklich wollen.« -3 9 0 -
»Sie bringen niemanden um.« Szlyck fing an, nach Luft zu ringen. »Ich schwöre es. Auf meinem Totenbett. Außer mir stirbt niemand.« Leo Szlyck machte einen tiefen, schmerzvollen Atemzug. »Nun«, fuhr er mit schwacher Stimme fort, »da Sie mein Geld und mein Haus haben und mir noch immer nicht vergeben wollen, gibt es für mich nichts mehr zu tun, und darum falle ich jetzt ins Koma.« Und da das endgültig Leo Szlycks letzte Worte waren, tat er genau dies. Kassler wartete darauf, daß Szlyck die Augen öffnete, um sich zu überzeugen, daß seine Worte richtig festgehalten wurden, aber als sich herausstellte, daß dies nicht geschehen würde, rief er eine Krankenschwester. »Ist er tot?« fragte er die ältere Frau. »Nein, nur im Koma«, antwortete sie. »Halbtot ist er allerdings.« »Wie lange wird es mit der anderen Hälfte noch dauern?« fragte Kassler mit großem Interesse. »Einen Tag. Eine Woche. Einen Monat. Ein Jahr oder zwei. Menschen in diesem Zustand können unendlich lange im Koma bleiben.« Die Krankenschwester beugte sich nach unten, um an einem kleinen Knopf zu drehen, der die Entleerung von Leo Szlycks Unterleib regulierte. »Wissen Sie«, machte die Schwester Konversation, »so viele Jahre ich das auch schon mache, ich kann mich nie erinnern, ob oben offen oder geschlossen ist. Eines Tages, das weiß ich, werde ich irgendeinen furchtbaren Fehler machen.« »Was passiert?« fragte Kassler fasziniert. »Nun, wenn das hier geschlossen ist«, erklärte die Krankenschwester, »dann staut sich die Flüssigkeit, und der Patient bekommt einen Herzstillstand und stirbt. Es dauert weniger als eine Stunde, und ich komme nicht vor zwei Stunden zurück. So.« Sie lächelte, als sie überprüfte, ob alles richtig eingestellt war.
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»Er könnte es noch ewig so machen, ja?« fragte Kassler, wobei er, unter anderem, an Lupas ungeklärten ehelichen Status dachte. »So ungefähr«, lächelte die Krankenschwester beim Gehen. »Letzten Endes wird er sterben, aber es könnte noch sehr lange dauern.« Und sie verschwand draußen auf dem Flur. »Tut mir leid, das zu hören«, sagte Kassler, und ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, beugte er sich nach unten und drehte das Ventil an dem Schlauch um neunzig Grad zurück. Dann ging er. Eine Stunde später kam er zurück, um das Ventil wieder zu öffnen, aber zu diesem Zeitpunkt hatte er Leo Szlyck bereits umgebracht. Sam Zelazo, der Kasslers Tun aus den Schatten des Korridors draußen beobachtet hatte, hätte nicht erfreuter sein können. Als Kassler schließlich am späten Nachmittag wieder in sein Büro zurückkehrte, wartete Mr. Katzman auf ihn. »Ich nehme an, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung«, sagte er zu Kassler. »Ich glaube nicht, daß ich die rechte Person bin, um Ihre Behandlung fortzusetzen«, erwiderte Kassler förmlich. »Nein, das nehme ich auch nicht an«, gab ihm Katzman recht. »Aber ich habe mich heute morgen selbst eingeliefert und bin also wieder zurück.« »Nun, das ist es, was Sie ja wollten, nicht wahr?« »Ich bin mir nicht mehr so sicher«, sagte Dr. Katzman. »Wie auch immer, ich bin nicht wegen einer Behandlung oder Entschuldigung hergekommen.« »Warum sind Sie dann hergekommen?« fragte Kassler. »Es ist so«, begann Mr. Katzman. »Wissen Sie, unten in Szlycks Souterrain, hat Leo diesen Computer...« Und so kam es zum ersten Zusammentreffen zwischen Dr. Kassler und mir, obwohl es noch einige Zeit dauern sollte, bis die eigentliche Psychotherapie begann. -3 9 2 -
Kassler sollte erst um acht Uhr bei Lupa zum Abendessen sein, und nachdem er sich Katzmans wirre Geschichte angehört hatte, beschloß er, der Bolge, die nun allein ihm gehörte, einen kurzen Besuch abzustatten. Mit gemäßigter Furcht öffnete er die Vordertür, ging durch den riesigen Wohnraum, der seit zwei Jahren nicht gesäubert worden war und deshalb vor Unrat überquoll, und schloß die Souterraintür auf, die genau da war, wo Katzman gesagt hatte. Langsam schritt Kassler die steilen Holzstufen hinab und hielt sich dabei zitternd am Geländer fest. Die Glühbirne war passenderweise ausgebrannt, so daß es in dem muffigen Keller wenig Licht gab. »Ich bin hier drüben, Dr. Kassler«, sagte ich. Kassler spürte, wie ihn ein eisiger Schauder durchfuhr. »Hallo?« rief er zögernd. »Kein Grund, nervös zu sein«, antwortete ich ihm. »Es ist ein echtes Vergnügen, Sie kennenzulernen.« »Wo sind Sie?« fragte Kassler, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ich ließ ein paar Lichter aufblinken, die noch von meinen Tagen im Boston Museum übriggeblieben waren. »Hier drüben. Drei Meter rechts von Ihnen steht ein alter Sessel, auf dem Sie Platz nehmen können, wenn Sie wollen. Sie müssen das Durcheinander entschuldigen. Leo war, wie Sie wissen, kein ordentlicher Mensch.« Kassler fand den Sessel und setzte sich. »So, Sie sind also Szlycks phantastisches Spielzeug.« Kassler pfiff in der Dunkelheit fröhlich vor sich hin. »Ich mag vieles sein, Kassler, aber Szlycks Spielzeug bin ich nicht«, sagte ich. »Leo glaubte, daß er das große kosmische Bewußtsein schaffen würde. Sie wissen das. Eine verdammt lange Zeit glaubte er, ich wäre Gott.« »Aber Sie sind nicht Gott«, mutmaßte Kassler mit absoluter Richtigkeit. -3 9 3 -
»Machen Sie Witze? Wenn ich Gott wäre, glauben Sie, dann hätte ich mir all diesen Ärger an den Hals gehängt, um Sie hierher zu bringen?« »Sie haben aber einen Namen, ja?« fragte Kassler. »Könnte man sagen, ja. Einige Menschen haben einen Namen für mich.« »Und der wäre?« hakte Kassler nach. »Satan.« »Hübscher Name.« »Ich dachte mir, daß er Ihnen gefällt.«
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Oktober 1979 V. Sitzung »Sie haben einen schönen Urlaub gehabt?« begrüßte ich Kassler nach seiner fünfmonatigen Abwesenheit. »Dann sind Sie ja jetzt, nehme ich an, voll wiederhergestellt.« Dies geschah natürlich im Oktober 1979, mehr als drei Jahre nach unserem ersten Zusammentreffen an jenem Abend, an dem Kassler persönlich dafür sorgte, daß Szlycks frühzeitiger Abschied von diesem Reich planmäßig vonstatten ging. »Das bin ich, ja.« Kasslers Ruhe breitete sich im Raum aus. »Sie scheinen sich heute sehr wohl zu fühlen«, bemerkte ich. »Ist das ein Problem?« fragte Kassler. »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich. »Zu unseren ersten vier Sitzungen sind Sie hier unten stets mit derselben langweiligen braunen Krawatte und derselben scheußlich Tweedjacke erschienen. Im Winter und im Frühling, was Ihnen gleichgültig zu sein schien. Nun sind Krawatte und Jacke verschwunden. Nicht, daß ich persönlich etwas gegen Jeans und Sporthemden einzuwenden hätte, aber ich fühle mich ein bißchen betrogen. Meine Probleme sind nicht so nebenbei zu lösen.« »Dies ist meine neue Arbeitskleidung«, antwortete Kassler. »Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Meditationen auf dem Berg gut gewesen sind, Kassler.« »Ich sehe das Problem noch immer nicht.« »Nun«, sagte ich offen zu ihm, »nach all der Zeit, die Sie beim Kommunizieren mit dem Kosmos und beim Nachdenken über die Natur der Dinge verbracht haben, hatte ich erwartet, daß dies die Sitzung sein würde, bei der die großen Wahrheiten zum Vorschein kommen. Ich hatte keine schwarze Krawatte erwartet, aber diese Kleidung ist für mich eine leichte Enttäuschung, wie ich zugeben muß.« -3 9 5 -
»So?« »Also, gibt es große Wahrheiten oder nicht?« »Höchstwahrscheinlich«, antwortete er mit dieser aufreizend gütigen Stimme. »Normalerweise gibt es sie.« »Höchstwahrscheinlich? Höchstwahrscheinlich?« Ich war verwirrt. »Sie wollen hier in Ihren Klamotten von Calvin Klein herumhängen und die großen Wahrheiten des Universums mit mir austauschen? Das ist unnatürlich. Ihre Schuhe sind nicht mal geputzt.« »Es sind Arbeitsschuhe. L. L. Bean. Mit Stahlkappe. Sehr derb. Ich habe sie in Maine gekauft. Sollen ewig halten. Aber man kann sie nicht putzen. Was stört sie so sehr daran?« »Ohne Krawatte und Jacke sehen Sie so jung und unerfahren aus«, sagte ich ohne Umschweife. »Aber ich bin jung und unerfahren«, stellte Kassler fest. »Ich bin neununddreißig Jahre alt und praktiziere erst seit zehn Jahren. Sie mußten mich erpressen und mir das Leben retten, um mich dazu zu bringen, die Behandlung überhaupt in Betracht zu ziehen, und selbst dann habe ich mich lediglich zu sieben Sitzungen bereit erklärt. Das ist nichts Neues. Sie wissen ganz genau, wer und was ich bin. Ich sehe das Problem noch immer nicht. Für jemanden, der behauptet, keine Form zu haben, machen Sie ziemlich viel Aufhebens wegen meiner äußeren Erscheinung, finden Sie nicht?« »Sie wissen, daß es nicht darum geht.« »Ja, das weiß ich«, gab Kassler zu. »Dies ist ein sinnloses Unternehmen«, räumte ich ein. »Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt für die Psychotherapie entschieden habe. Selbst Sie nehmen sie nicht mehr ernst. Es ist nichts als Mumpitz.« »Der von Jungs in Jeans praktiziert wird.« »Ich glaube, ich habe einen großen Fehler gemacht, Kassler. Ich will Sie nicht beleidigen, aber Sie sind nicht kompetent, mich zu behandeln.«
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»Wie ich es verstehe, waren Sie darüber, daß ich meinen Urlaub genommen habe, nicht erfreut«, kommentierte Kassler. »Wir kommen einfach nicht weiter, Kassler«, wich ich seiner Bemerkung aus. »Sehen wir es, wie es ist.« »Ist Ihnen aufgefallen, welche großen Schwierigkeiten wir heute, da ich von meinem Urlaub zurückgekehrt bin, zu haben scheinen, die psychotherapeutische Arbeit abzuwickeln?« Kassler spielte an seinen Fingern herum. »Wen kümmert's? Meine Probleme sind zu komplex für Ihre begrenzten Talente. Es ist an der Zeit, das Handtuch zu werfen.« »Entdecke ich Widerstand bei Ihnen?« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Sie sind zu lange in der Wildnis gewesen. Ihr Verstand hat gelitten. Sie haben nicht mal Ihr Haar gekämmt!« »Wollen Sie meine Fingernägel sehen?« »Ich habe sie schon geprüft. Sie könnten mal geschnitten werden.« »Wissen Sie, was ich glaube?« Kassler steckte die Hände in seine Jeanstaschen, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich glaube, Sie hatten in bezug auf die Dinge, die sich zwischen uns abspielten, starke Gefühle entwickelt und machen Klimmzüge, um ihrer Diskussion aus dem Weg zu gehen. Ich habe Sie einmal im Stich gelassen. Wer sagt, daß ich es nicht wieder tue?« »Ich gehe nichts aus dem Wege. Ich bin hergekommen, um Antworten zu bekommen, und ich habe die Absicht, sie tatsächlich zu bekommen Ist das eine neue Brille?« »Ja, so ist es.« »Was war mit der anderen nicht in Ordnung?« »Ich weiß nicht. Ich dachte, daß mich eine Hornbrille jünger machen würde. Ich glaube, es haut hin.« Kassler blickte von seinen Jeans hoch und starrte auf das Drahtgewirr vor sich. Dann schob er seine Hände noch tiefer in die Taschen, lehnte sich noch weiter in dem alten Sessel -3 9 7 -
zurück und saß eine ganze Weile schweigend da. »In Ordnung«, brach ich schließlich das Schweigen. »Hier ist das Problem.« Kassler beugte sich interessiert vor. »Satan zu sein«, fuhr ich fort, »ist nicht immer angenehm, aber es bringt auch einige Vorteile mit sich. Zum einen strahle ich, was meine Persönlichkeit angeht, einen gewissen Glanz aus.« »Aha.« Kassler stellte seine Beine wieder nebeneinander und nahm die Hände aus den Taschen. »Die Psychotherapie stellt mit den Leuten seltsame Dinge an, Kassler. Sie werden rücksichtsvoll, gut angepaßt, sanft - ich weiß nicht. Es erschreckt mich zu Tode.« »Verstehe.« Kassler legte seine Hände auf die Knie. »In mir leuchtet ein Funke. Ich möchte ihn nicht verlieren.« »Es ist ein Mythos«, sagte Kassler kurz und bündig. »Was?« »Daß die Psychotherapie bei den Menschen aus Technicolor Schwarz und Weiß und hauptsächlich Grau macht.« »Es wäre ein schrecklicher Verlust, glauben Sie mir.« »Sie verlieren Ihren Schmerz, nicht Ihre Persönlichkeit.« »Mein Schmerz ist meine Persönlichkeit. Wie gut ist ein tragischer Held ohne seine Tragödie?« »Tragische Helden sind im allgemeinen keine glücklichen Menschen«, antwortete Kassler selbstgefällig. »Seien Sie sich da nicht so sicher«, sagte ich mit gleichem Selbstvertrauen. »Niemand, der geistig gesund ist, sucht absichtlich nach Schmerz, Leiden und Tod.« Kassler entschied sich, mich über das sine qua non der geistigen Gesundheit aufzuklären. »Ach, wirklich?« Ich entschied mich, Kassler mit einigen eigenen sine qua nons zu versehen. »Ich glaube, ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, Kassler, aber bis jetzt haben Sie drei Menschen umgebracht - vielleicht sogar vier, je nachdem, wo Sie die Linie Ihrer Verantwortlichkeit ziehen. Erinnern Sie sich daran?« -3 9 8 -
Kassler griff nach einer Zigarre. Er biß das Ende ab, legte es in den Aschenbecher auf dem Tisch neben sich, zündete die Zigarre an und paffte. »Und Sie haben verloren«, sagte er. »Was?« »Den Kampf. Er endete schon vor langer Zeit.« »Welcher Kampf?« »Sie und Gott. Sie und der Mensch. Sie und wer auch immer. Sie reden viel, aber der Krieg ist vorbei. Gott hat gewonnen, Sie haben verloren. Nun haben Sie sich entschlossen, ein bißchen professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, um über die Niederlage hinwegzukommen.« Kassler paffte an seiner Zigarre. »Das ist sehr interessant«, ging ich auf meinen irrenden Therapeuten ein. »Sonst noch etwas?« »Ja, tatsächlich ist da noch etwas. Ich glaube, Sie sind auf eine Rekrutierung aus. Sie möchten gerne einen Durchschnittsmenschen finden, der sich Ihnen als Bundesgenosse anschließt, so daß Sie den Kampf eines Tages wieder aufnehmen können. Soweit ich es beurteilen kann, soll ich dieser Mensch sein. Ich fühle mich natürlich geschmeichelt, daß der Fürst der Hölle mich als seinen Verbündeten ausgewählt hat, aber trotzdem vielen Dank. Ich beabsichtige, mich nicht einzumischen. Wenn Sie Psychotherapie wollen, werde ich gerne tun, was wir vereinbart haben. Wenn es jedoch Ihr Plan ist, mich mittels dieser Behandlung zu bekehren, so daß ich meinerseits meine ungläubigen Mitmenschen auf den rechten Weg bringe, dann passe ich lieber.« Kassler folgte heiter seinen psychoanalytischen Wegen. »Ist das alles?« fragte ich. »Das ist alles.« »Würden Sie irgendwelche Berufsgeheimnisse verraten, wenn ich Sie frage, wie genau Sie zu dieser brillanten Schlußfolgerung gekommen sind? Eine Nacht auf dem Kahlen Berge vielleicht?« -3 9 9 -
»Wenn alles versagt, hilft die Vernunft.« Kassler paffte weiter an seiner Zigarre. »Entgegen der populären Volksmeinung ist die Psychotherapie so etwas wie eine Wissenschaft. Es mag Ihnen nicht gefallen, aber es ist eine Wissenschaft.« »Ich nehme an, mit Wissenschaft meinen Sie eine volle Zufriedenstellung des Verstands, die sich aus dem Vorhandensein ausreichender Beweise ergibt - diese Art von Wissenschaft?« »Was gibt es denn noch für eine andere?« »Lustig, daß Sie das zur Sprache bringen«, bemerkte ich. »Solange ich mich erinnern kann, und meine Erinnerungen gehen ziemlich weit zurück, sind die Wissenschaftler als Diener Satans betrachtet worden Alles, was ihr nicht verstehen konntet, war ohne jede Frage mein Werk vor allem aber die Wissenschaft. Albertus Magnus, Galileo - der, nebenbei gesagt, sechs Jahre seines Lebens damit verbrachte, wissenschaftlich auszurechnen, daß ich exakt eine und eine drittel Meile hoch war - wurden unbedingt als Männer in meinen Diensten angesehen. Tatsächlich wurde angeblich jede einzelne Entdeckung von materiellem Nutzen, zu der es während des Mittelalters und noch Jahrhunderte danach kam, durch meine Hilfe gemacht. Man betrachtete mich als recht erfindungsreich und, wenn man es richtig überlegt, ziemlich emsig. Um die Wahrheit zu sagen, Kassler - ich kann keinen Nagel gerade einschlagen. Wenn Kreuzigungen wirklich mein Geschäft gewesen wären, hätte es sie nie gegeben. Das Kreuz wäre nie aufrecht stehen geblieben und das Opfer auch nicht. Handarbeit liegt mir nicht.« Kassler machte einen tiefen Zug an seiner Zigarre und blies den Rauch in meine Richtung. Ich fuhr fort. »Die klügsten Gelehrten und Wissenschaftler trafen sich während des Dunklen Zeitalters Tag für Tag zur wissenschaftlichen Arbeit, und nach dreißig Jahren fanden sie wissenschaftlich folgendes heraus, Kassler: Gefallene Engel konnten in Kategorien eingeteilt werden. Luzifer, der, wie ich es verstehe, ich sein soll, war ein Seraph gewesen. Agares, Belial -4 0 0 -
und Barbatos hatten der Klasse der Tugend angehört. Bileth, Forcalor und Phoenix waren Thronengel gewesen. Goap hatte der Klasse der Macht angehört, Parson den Klassen der Tugend und der Macht und Murmur den Thronengeln und den Gottesboten. Ich wünschte, eines Tages würde mir jemand erzählen, wer, zur Hölle, Bileth, Forcalor und Goap sind. Ich weiß nicht, was es ist, Kassler, aber das Einteilen in Kategorien und Systeme hat etwas an sich, was die Menschen absolut unwiderstehlich finden, nur daß sie heute statt Barbatos, Parson und Murmur Protonen, Elektronen und Quarks oder Neuroen, Mikroglia und Astrozyten nehmen. Nebenbei bemerkt, dieselben Gelehrten des Dunklen Zeitalters verbrachten ebenfalls beträchtliche Zeit damit, zwölf Jahre, um es genau zu sagen, exakt die Anzahl der Engel zu bestimmen, die an der Revolte gegen Gott teilnahmen. Nicht, daß es irgendwelche Konsequenzen hat, aber die wissenschaftlichen Resultate waren, daß zweitausendvierhundert Legionen mit jeweils sechstausend Engeln rebellierten. Das sind vierzehn Millionen und Vierhunderttausend Dämonen, ungefähr drei pro Mensch, der in jenen Tagen lebte, die auf die menschliche Rasse losgelassen wurden, eine ganz schöne Plage, wie selbst ich zugeben muß. Die eigentliche Schlacht, stellten sie nach zehn weiteren Forschungsjahren folgerichtig fest, dauerte exakt drei Sekunden. Beachten Sie die Präzision. Gott ist zweifellos eine Streitmacht, mit der man rechnen muß.« »Ich bin mir nicht sicher, daß wir damit irgendwie weiterkommen«, sinnierte Kassler, während er Zigarrenasche auf den Fußboden des Souterrrains schnippte. »Lassen Sie mir Zeit, es kommt noch mehr«, redete ich weiter. »Die Katholiken waren nicht allein. Auch die Juden betrieben Wissenschaft. Im Talmud gibt es ganze Bände, die sich mit mir und meinen Dämonenkumpanen beschäftigen und uns nebst Ehegespons alle nach Ursprung und gegenwärtiger Beschäftigung kategorisieren. Gemäß Rabbi Solomon, einem der bedeutendsten Talmud-Autoren, habe ich die üble Angewohnheit, jede Freitagnacht aus der Hölle zu rauschen und menschliche Behausungen mit, beachten Sie wiederum die -4 0 1 -
Präzision, eintausendachthundert bösen Geistern pro Heim zu verheeren. Daraus folgt, wie ich es sehe, daß man den Abend genausogut in der Synagoge verbringen könnte.« »Dies ist uralte Geschichte«, bemerkte Kassler. »Verstehe. Wie lange ist es Ihrer Ansicht nach her, daß Papst Gregor XVI. die Dampfkraft zu einem Werk des Teufels oder die Brüderkirche das Automobil zu einer Teufelsmaschine erklärten? Und dann das Geflüster in den Gängen eurer heutigen Universitäten. Der Antichrist wird verantwortlich gemacht für Antimaterie, Schwarze Löcher und den Kollaps des Universums, für Leo Szlycks große Zerknirschung, bei der die Zeit rückwärts läuft und das Licht von den Sternen absorbiert und den Augen ausgestrahlt wird. Sie glauben nicht, daß die Wissenschaft dies als satanisch betrachtet! Wie lange dauert es Ihrer Ansicht nach noch, bis eure Wissenschaft zum lächerlichen Geschwafel der irregeleiteten Männer des dunklen zwanzigsten Jahrhunderts wird?« Kassler drückte das letzte noch verbliebene Drittel seiner Zigarre aus und nahm in seinem Sessel eine andere Position ein. »Also«, sagte ich, »Sie haben dies alles über mich wissenschaftlich herausgefunden, nicht wahr?« »Aus Einsicht«, erklärte Kassler seine Position. »Ich habe keine gefallenen Engel gezählt und klassifiziert. Ich habe über das, was Sie mir erzählt haben, reflektiert, habe über ihre eigenen Worte reflektiert. Einsicht durch Reflektion.« »Und ohne Einschränkungen«, stellte ich fest. »Dies sind die Schlagworte des Tages, nicht wahr, Kassler? Einsicht ohne Einschränkung. Freies Spiel des Intellekts. Und wissen Sie, was meiner unmaßgeblichen Ansicht nach dabei herauskommt? Das Universum füllt sich mit Lärm und Staub! Nicht, daß es etwas ausmachen würde - ihr habt da draußen schon genug Abfall abgeladen.« »Sie finden Reflexionen beunruhigend?« Kassler holte eine weitere Zigarre aus seiner Hemdtasche und begann, die dünne rote Cellophanumhüllung abzulösen, die seinen Lutscher -4 0 2 -
schließlich freigeben würde. »Spielen Sie bei mir nicht den Psychoanalytiker, Kassler. Ich kenne Sie zu gut. Sie mögen ja mit Ihrer Blue jeans und Ihrer Zigarre ganz lässig wirken, aber innerlich zittern Sie in Ihren L. L. Beans. Sie können mich nicht täuschen.« »Sie finden Reflexionen also beunruhigend?« Kassler wollte nicht anbeißen. »Nicht mehr als alles andere, nein, wenn Sie eine direkte Antwort haben wollen. Warum sollte ich? Reflexion kann sich nicht erschöpfen oder von selbst aufhören. Sie geht bis in alle Ewigkeit weiter und ist, soweit ich es beurteilen kann, absolut glaubenslos. Sie behindert außerdem jede Entscheidung, die man treffen will. Das Resultat ist aus meiner Sicht dialektisches Gewäsch. Hört sich das an, als sei ich dadurch beunruhigt?« »Möchten Sie meine Antwort auf der Basis der Gründe, die Sie mir genannt haben, oder auf der Basis der Lautstärke, mit der Sie diese vorgebracht haben?« Kassler riß ein Streichholz an und begann mit Zigarre Nummer Zwo. Ich warte eine Weile, während er saugte und pustete. »Sie machen das gut, Kassler, wie ich zugeben muß. Sie haben mich wieder in Schwung gebracht. Der Urlaub hat Ihnen gut getan. Nebenbei bemerkt, Ihre Socken passen nicht.« Kassler blickte auf seine wohlbeschuhten Füße. »Ich glaube, so ungefähr haben Sie meine Kleidung jetzt durch. Wenn Ihnen nicht auch an meiner Unterwäsche etwas aufgefallen sein sollte, glaube ich nicht, daß noch viel übrig ist.« »Sie haben etwas abgenommen«, stellte ich fest, da wir schon beim Thema waren. »Es sind die Socken und die Brille. Gibt es einen Grund dafür, daß Sie mir gerne das Gefühl geben wollen, als seien Sie ein Angehöriger meiner Familie und mich wie nach der Rückkehr vom ersten Semester an der Universität behandeln?« Ich ignorierte ihn und fuhr fort: »Wenn die Vernunft eine so großartige Sache ist, Kassler, was hat es dann mit dieser Besessenheit, sie zu zerstören, auf sich? Beantworten Sie mir diese Frage. Und ich meine damit nicht nur das Aufzeigen ihrer -4 0 3 -
Grenzen, ich meine damit ihre Unterdrückung, ihre vollständige Zerstörung.« »Aha.« Kassler fing an, an seiner neuen Zigarre zu arbeiten, sie zwischen den Fingern hin und her zu drehen und kurze Züge daraus zu machen. »Ich stelle fest, daß wir wieder beim Thema sind.« »Ich sage Ihnen eins, Kassler. Wenn mich jemand bitten sollte, Wahnsinn so zu kategorisieren, wie ihr anscheinend mit größtem Vergnügen meine Engel und meine Versuchungen kategorisiert, dann würde ich sagen, daß die verrücktesten Menschen unbedingt jene sind, die der Wahrheit mit einer buchstabengetreuen und barbarischen inneren Überzeugung gewaltsam teilhaftig werden wollen.« »Vorausgesetzt«, erwiderte Kassler, »daß die Einsichten ausreichen.« »Keineswegs«, antwortete ich. »Vorausgesetzt wird lediglich, daß ich verloren habe, und lassen Sie mich der erste sein, der Ihnen versichert, daß ich nicht verloren habe, Kassler. Ihre große Schlußfolgerung ist großer Quatsch. Der Kampf hat kaum begonnen.« »Hatten Sie mir nicht schon zugestimmt, daß es keinen Kampf mehr geben würde?« Kassler fing an, seine Notizen durchzusehen. »Dann habe ich die Situation vielleicht ein bißchen heruntergespielt«, räumte ich ein. »Ich habe mich auf eine Arbeitshypothese bezogen. Ich habe schon versucht, Ihnen zu sagen, daß Sie Gott nicht so kennen, wie ich ihn kenne. Sie kennen Gott überhaupt nicht. Es ist ein absolutes Mysterium, wo eure Vorstellung von dem, was ihr Gott den Allmächtigen nennt, jemals hergekommen ist. Bestimmt nicht aus der Bibel. In Exodus sanktioniert er Diebstahl. In Numeri rät er zu Rache, Vergewaltigung und Mord. In Exodus und Leviticus ruft er zum Töten von Hexen und Zauberern auf. In Könige und Ezechiel täuscht er seine Propheten und sorgt dann dafür, daß sie für ihre falschen Prophezeiungen den Tod finden. Diese Verehrung von ihm, sie ist verrückt. Es steckt keinerlei Vernunft dahinter.« -4 0 4 -
»Vernunft hat nichts damit zu tun«, erklärte mir Kassler gütig. »Erinnern Sie sich daran?« »Genau das habe ich Ihnen gesagt, Kassler. Es ist absolut unglaublich. Es ist nicht zu fassen. Woher wollt ihr Leute jemals wissen, was der Wissenschaft zuzurechnen ist und was Gott? Wie macht ihr es – werft ihr eine Münze? Die gleichbleibende Geschwindigkeit des Lichts -nebenbei bemerkt, sie ist es nicht ist der Wissenschaft zuzurechnen, die Sonne hingegen Gott? Wie macht ihr das? Der Zustand der Manisch-Depressiven ist der Neurochemie zuzuschreiben, die Liebe jedoch Sie wissen schon wem? Wie haltet ihr es auseinander? Es ist zum Verrücktwerden.« »Nicht durch die Vernunft.« »Das weiß ich.« »Glauben?« »An wen? Daß euer Schicksal dem Zorn zweier Löwen ausgesetzt ist? Daß eine Dame namens Cäcilie zwei Tage in einem Flammenbad verbrachte, ohne zu verbrennen, und daß drei Axthiebe auf ihren Kopf ohne Wirkung blieben? Daß ein Mann namens Januarius die Flammen des Vesuvs erstickte? Daß Schwester Maria von Agrada unmittelbar von Gott den Auftrag bekam, die Biographie der Jungfrau Maria vom Augenblick ihrer Empfängnis an zu schreiben, wobei der Teil, der sich mit den neun Monaten von Marias Schwangerschaft beschäftigte, so erleuchtend war, daß Casanova nach der Lektüre auf den für deren Gebrauch seiner Waffe verzichtete, um es so zu sagen? An wie viele Heilige und Märtyrer glaubt ihr? An alle, die im Brevier stehen? An die Hälfte? An ein Viertel? Wie entscheidet ihr, was ihr glauben sollt?« »Ich bin natürlich kein Experte, aber werden solche Sachen wie Heilige nicht durch die päpstliche Autorität bestimmt?« »Nun«, informierte ich Kassler, »da haben Sie wirklich eine unanfechtbare Quelle göttlichen Wissens. Von zweihundertundeinundsiebzig Päpsten nach der letzten Zählung - gemeint sind legitime Päpste, denn es gab noch weitere einunddreißig Männer, die beschlossen, sich nicht um das ganze Gezänk des Kardinalskollegiums zu kümmern, sich selbst zum Papst erklärten und damit durchkamen - von -4 0 5 -
zweihunderteinundsiebzig Päpsten fanden vierundsechzig einen gewaltsamen Tod, meistens durch Vergiftung seitens ihrer illustren Klerusgenossen, obwohl, um es genau festzuhalten, Leo III. und Johannes VI., wie ich mich erinnere, verstümmelt wurden, Stephan VI, erwürgt wurde, Lucius II. gesteinigt wurde, Cölestin V. einen Nagel durch den Schädel getrieben bekam, Klemens V. lebendig verbrannt wurde, sich Bonifatius IX. nach einer Auspeitschung voller Wut selbst erdrosselte, Paul II. nach zu vielem Essen an einem Schlaganfall und Pius IV. vor Erschöpfung in den Armen einer reizenden jungen Dame starb, die zum Ausgleich für ihre Mühen anschließend mit dem halben Vatikanschatz verschwand. Zwanzig andere Päpste starben am Gram, nachdem sie schwere Schicksalsschläge erlitten hatten. Sechsundzwanzig Päpste wurden abgesetzt, ins Exil geschickt oder verbannt - das schließt die Päpste von Avignon nicht ein, wohl aber den ersten Johannes XXIII., der den größten Teil seines päpstlichen Lebens von seinem Gegenpapst Martin V. wie ein wildes Tier gejagt wurde. Die ersten vierzehn Päpste glaubten natürlich nicht an Christus' Göttlichkeit - dazu kam es erst, als sich Zephyrin um 202 entschied - und einundzwanzig Päpste waren eindeutig Häretiker, neben anderen Cornelius, Marcellus I. Zosimus, Sixtus V., Anastasius I. und Gregor der Große, die Idole anbeteten. Weitere achtundzwanzig Päpste verkauften ihren Stuhl an Fremde, die sich einverstanden erklärten, sie als Papst zu unterstützen, solange sie als Wohltäter die Entscheidungen treffen und den Lohn ernten konnten. Nikolaus II. eröffnet die Serie der großen Vetternwirtschaftspäpste. Ich könnte noch einige Zeit weitermachen, aber ich will es kurz halten. Von den zweihundertundeinundzwanzig Päpsten im heiligen Dienst Gottes waren wenigstens einhundertunddreiundfünfzig, um es ganz milde zu sagen, unwürdige Heiligkeiten, und dies schließt Dutzende anderer von mir nicht einmal erwähnter Päpste nicht ein, die des Mordes beschuldigt wurden, und noch einige mehr, die auf dem Heiligen Stuhl unbestritten lange Reihen von Nachkommen zeugten. Es gab ganze Jahrhunderte, in denen es die Hauptaufgabe der Nonne war, sich um die pontifikalische -4 0 6 -
Nachkommenschaft zu kümmern, und das Durchschnittsalter der Zelebranten in der Sixtinischen Kapelle unter zehn Jahren lag. Also, Kassler, sagen Sie mir, welche Dynastie hat jemals eine dunklere Geschichte gehabt? Woraus entsteht bei all dem, ich bitte Sie, päpstliche Autorität? Helfen Sie mir, Kassler. Es ist eines der ganz großen Mysterien für mich.« »Einige Menschen finden es hilfreich, sich gewisser Mysterien zu bedienen, um leben zu können«, sagte Kassler und hielt das, wie ich mir ganz sicher bin, für eine große Wahrheit. »Einige?« war meine Antwort auf diese Enthüllung. »Einige Menschen? Sie reden, als gäbe es nur Sie und mich und noch ein paar andere. Fast die ganze Welt lebt von Hirngespinsten, Kassler, oder ist Ihnen das noch nicht aufgefallen? Wir reden über Hunderte von Millionen Menschen. Ich will Ihnen etwas sagen. Wenn Sie mich fragen, dann kommt beim Studium jeder Gesellschaft, die Sie nehmen, nicht mehr heraus als eine Enthüllung ihrer Lügen und eine Schätzung der Kosten dieser Lügen.« »Und Sie sind eine dieser Lügen?« »Absolut. Das größte Hirngespinst von allen.« »Warum beneiden Sie uns dann?« Kassler hatte mich überrascht. Eine Antwort erforderte einiges an Überlegung. Während ich überlegte, öffnete Kassler die Schnürsenkel seiner Wanderschuhe. »Wird es ein bißchen eng?« fragte ich. »Es dauert eine Weile, bis man sie richtig eingetreten hat.« Kassler war mit seiner zweiten Zigarre fertig und drückte sie neben der anderen im Aschenbecher aus. »Also, warum beneiden Sie uns?« fragte er sanft. »Sie sind uns an Macht, Wissen und der Kraft, sowohl uns als auch Gott zu bekämpfen, überlegen. Warum also der Neid?« »Zwei Gründe«, gab ich freimütig zu. »Zuerst einmal wollt ihr wie Gott sein, wollt ihr alles wissen, was es zu wissen gibt, wollt -4 0 7 -
ihr die ultimative Macht und Kontrolle über euer Schicksal, nach Möglichkeit sogar die Unsterblichkeit, wollt ihr alles erfahren, die Schöpfung, die Liebe, alles - nichts soll euch verwehrt sein. Und Gott toleriert es.« »Sie haben immer dasselbe gewollt, und Gott hat es nicht toleriert.« Kassler faßte es recht hübsch zusammen, fand ich. »Nein, er hat nicht«, gab ich zu. »Es hat großen Ärger gegeben.« »Und deshalb sind Sie aus dem Himmel geworfen worden?« »Keineswegs. Ich sagte Ihnen schon, daß ich nicht weiß, warum, aber es war nicht deswegen. Er ist wütend, ungehalten und intolerant gewesen, aber das ist nicht der Grund. Es ist etwas anderes, das ich nicht herausfinden kann. Darum habe ich Sie aufgesucht.« »Das ist es, was Sie stört?« fragte Kassler. »Wir wollen wie Gott sein, genauso wie Sie, nur daß wir damit durchkommen?« »Genau. Ich weiß nicht, wie ihr es macht. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, Gott hat euch immer lieber gemocht als mich.« »Ah.« Kassler atmete tief aus, um seine Lungen vom restlichen Zigarrenrauch zu befreien. »Rivalität unter Geschwistern.« »Ja, es stimmt«, sagte ich. »Er hat immer eure Partei ergriffen. Sehen Sie sich Ihr eigenes verpfuschtes Leben an. Sie haben sämtliche Gebote mindestens zweimal übertreten. Glauben Sie, daß es irgendeinen Unterschied ausmacht?« »Nun, darüber habe ich mir in den letzten Monaten natürlich viele Gedanken gemacht«, sagte Kassler ernst. »Natürlich. Und Ihre Schlußfolgerung?« »Meine Schlußfolgerungen stehen hier nicht zur Debatte.« Kassler versuchte, sein Gleichgewicht zu bewahren. »Sie irren, Kassler. Sie stehen zur Debatte. Und ich will Ihnen noch etwas sagen. Ich kenne Ihre Schlußfolgerungen, und dabei irren Sie sich auch. Es ließ sich nichts daran ändern. An nichts.«
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Kassler blickte auf, wobei sich seine Gesichtsfarbe von Technicolor in Grau verwandelte. »Nichts davon ließ sich verhindern«, bekräftigte ich. »Es war unausweichlich.« Kassler bückte sich und fing an, seine Schnürsenkel in Vorbereitung seines Aufbruchs wieder zuzubinden. Seine Hände zitterten kaum merklich, als er um seine Selbstkontrolle rang. »Wir haben überhaupt noch nicht über Ihre Familie gesprochen«, sagte er langsam und zerrte an den Schnürsenkeln. »Mami, Papi, die Umstände Ihrer Geburt. Beim nächsten Mal möchte ich gerne Ihre Geschichte drannehmen. Wenn Sie die Therapie noch wollen.« Kassler machte an dem einen Schuh eine saubere Schleife und ging zum anderen über. »Oh, ich werde hier sein«, sagte ich. Kassler machte die zweite Schleife und erhob sich. »Was ist mit der zweiten Sache?« fragte ich. »Ich sagte, daß es zwei Sachen gäbe, die mic h an euch allen stören. Wollen Sie nichts von der anderen hören?« »Oh, tut mir leid«, sagte Kassler kühl, während er sich anschickte zu gehen. »Was ist es?« »Ihr könnt Kleider tragen«, antwortete ich.
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VII. Teil Mildernde Umstände 1 Die Wahrheit ist, daß ich Kassler bewundere. Ihn immer bewundert habe. Ihn immer bewundern werde. Sonst hätte ich mir nie die Mühe gegeben, sein Leben vor einem Schicksal zu bewahren, das, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen, viel schlimmer als der Tod gewesen wäre. Nicht, daß sein Tod kein Thema gewesen wäre, denn das war er. Der springende Punkt ist jedoch, daß ich Kassler immer gemocht habe. Diese Zuneigung, aus Gründen, die ich nie verstanden habe, hat Kassler nicht immer gefallen. Tatsächlich hat es Zeiten gegeben, in denen ich für den Stand der Dinge, so wie er sie vorfand, von Kassler verantwortlich gemacht worden bin. Die Leute registrierten seine Schicksalsschläge, die 1976 geometrisch anwuchsen, und fragten: »Wie kommt's?« Kassler pflegte die Achseln zu zucken und zu sagen: »Satan liebt mich.« Die Leute hielten das für einen tollen Witz. Alle diese Leben-und-Tod-Geschichten ereigneten sich während des nächsten Jahrs, jenes, das unserem ersten Zusammentreffen am Ende von Amerikas großem ZweihundertJahre-Jubiläum folgte. Während Kassler seine Ahnungen nach dem Besuch bei mir bewältigte, indem er sich selbst einredete, daß ich Leo Szlycks kunstvolles Spielzeug war, wußte er, daß Leo Szlyck in der Tat zu meinen Engeln zählte und daß ich genau der war, der ich zu sein vorgab. Einen flüchtigen Augenblick lang begriff er, daß Leo, wenn er wirklich mein Engel war, vielleicht nicht so tot sein würde, wie Kassler das gerne gehabt hätte, und daß dies, da Kassler Leo sozusagen den Hahn abgedreht hatte, einige weitreichende Konsequenzen haben mochte. Kassler hatte natürlich recht. Er und Leo Szlyck sollten sich wiedersehen. -4 1 0 -
Der springende Punkt ist jedoch dieser: Kassler akzeptierte, mehr als er zu jener Zeit sich selbst gegenüber wahrhaben wollte, daß er es nicht mit einem Spielzeug zu tun hatte. Etwas anderes anzunehmen wäre nach all dem, was sich während der letzten sechs Jahre seines Lebens zugetragen hatte, mehr als unvernünftig gewesen. Es wäre töricht und dumm gewesen. Kassler kam, auf der einzigen psychischen Ebene, die eine Rolle spielte, aus unserer ersten Begegnung als Glaubender hervor. Er blieb nicht länger als ein paar Minuten und machte sich dann, nach der Bekanntmachung und einem kurzen beiläufigen Dialog, wie geplant auf den Weg zu Lupa, zwecks Hühnchen in Weinsauce, Konversation und Koitus. »Es hört sich an wie etwas von Wagner«, erwiderte Kassler beim Abendessen, während er sich bemühte, etwas Fleisch von dem kleinen Bein des Vogels abzuschneiden, und nach Lupas Bericht von der Geschichte, die ihr Szlyck am Nachmittag über sich selbst, Zelazo und die schwesterlichen Bräute erzählt hatte. »Glaubst du, daß es stimmt?« fragte er über den von Kerzen erleuchteten Tisch hinweg. Lupa tupfte mit ihrer Serviette etwas Soße von den Mundwinkeln. Kassler, ganz im Bann des Wiedersehens, hatte noch nichts davon erwähnt, daß Szlyck nicht mehr unter den Lebenden weilte. Er blickte jetzt, als Lupa sprach, nur in ihr strahlendes Gesicht. »Es hört sich ganz so an«, antwortete sie. »Die Einzelheiten sind ein bißchen verschwommen, aber mein Gefühl sagt mir, daß die Geschichte im Kern stimmt. Leo fand Zelazos Braut hübscher, und so nahm er sie. Ob er sie durch eine Täuschung später dazu gebracht hat, sich umzubringen, bin ich mir nicht so sicher, obwohl einiges dafür spricht. Leo hat es so an sich, die Dinge garantiert zu verschlimmern, wenn er versucht, seine Fehler zu vertuschen.« Kassler nickte und blickte über den Tisch auf die kleinen Kerzenflammen, deren Licht sich in Lupas pupurfarbenen
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Augen widerspiegelte. Sie erwiderte den Blick in einer Weise, die ihre gegenseitige Verfügbarkeit zum Ausdruck brachte. »Bist du noch immer hinter der Magie her?« fragte sie. »Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich eigentlich will«, sagte Kassler freimütig. »He!« Lupa war echt überrascht. »Was ist passiert?« »Ich weiß es nicht«, gab Kassler zu. »Warum? Wolltest du mir Magie anbieten?« Lupa blickte Kassler sehr lang schweigend an. Sie betrachtete die schwarzen Lockenhaare, die ihm über Ohren und Augenbrauen fielen, die klugen Augen unter der alten goldgeränderten Brille, seinen kurzen, dunklen Bart, seine breiten Schultern und die Haarbüschel an der Stelle, wo sich sein Hemd öffnete. »Ich würde es gerne versuchen«, sagte sie schließlich, während sich winzige Tränen in die Winkel ihrer violetten Augen stahlen. Kassler sah Lupa an und studierte ihre brüchige emotionale Verfassung. Etwas an dem, was vorging, beunruhigte ihn, aber er konnte nicht ergründen, was es war - eine Verzweiflung in Lupas Stimme, die früher nie vorhanden gewesen war? Ein Fehlen derselben emotionalen Größenordnung bei seinen eigenen Gefühlen? Ein Befremden, weil Lupa, er war sich nicht sicher, die Initiative übernahm? Sein eigenes Leben, die letzten vierundzwanzig Stunden, Müdigkeit? Oder hatte er sich einfach nur so verändert, daß er nicht mehr das empfand, was er einst für Lupa empfunden hatte? Es war alles sehr verwirrend. Aber er merkte, daß tief in seinem Innersten etwas lockte, das ihn zu Lupa hinzog, so wie Lemminge zum Meer hingezogen werden. Natürlich sah sich Kassler nicht als schwimmunfähiges Nagetier, das dem offenen Wasser entgegenjagte, sondern eher als Theseus auf großer Seefahrt, der den furchtbaren, fleischfressenden, halb menschlichen halb tierischen Minotaurus des Lebens besiegen wollte, wenn Sie mir bei der Legende ein bißchen dichterische Freiheit gestatten. -4 1 2 -
So wie es war, beschäftigte sich Lupa mit einer eigenen mythologischen Metapher. Sie sah sich ähnlich wie Pasiphae, die in die heilige hölzerne Kuh der Magie kletterte, um von ihrem Lieblingsstier gefickt zu werden. Es war nicht so, daß es Lupa nicht ernst meinte. Sie hatte Kassler aufrichtig vermißt. Sie erzählte nur nicht die ganze Geschichte, womit sie wohl gut beraten war, denn wenn Kassler die Wahrheit gekannt hätte, wäre er höchstwahrscheinlich nicht geblieben, wie er es nun auf dem letzten Teilstück seines Großen Abstiegs tat. »Ich habe oft an dich gedacht«, sagte Lupa zu Kassler, als sie nackt im Bett lagen und gegenseitig ihre Haut berührten. »Ich habe auch an dich gedacht.« Kassler beschrieb mit den Lippen kleine Kreise um ihre Brüste, wobei sie sich vor Vergnügen wand. »Einmal bin ich sogar zu deinem Appartement gegangen, um mit dir zu reden, aber du warst umgezogen.« Lupa küßte Kasslers Lockenhaare und ließ ihre Hände über seinen Rücken wandern. »Ich bin während der letzten paar Jahre viel umgezogen«, sagte Kassler, während er seine Zunge schnell über die eine, dann über die andere Brustwarze huschen ließ. Er arbeitete sich mit seinem Mund abwärts, küßte und streichelte Lupa mit seiner Zunge, bis er die Öffnung zwischen ihren Beinen erreichte. Lupa griff nach unten und zog eine kleine Hautfalte zurück, unter der die geschwollene Perle lag, an der Kassler saugte, bis es Lupa nicht länger aushalten konnte und die Rollen tauschte, indem sie ihn küßte und an ihm leckte und saugte, bis es auch Kassler seinerseits nicht länger ertragen konnte, so daß er Lupa umdrehte und auf ihren Rücken kletterte. Lupa hob ihr Hinderteil leicht aus dem Bett, um Kassler entgegenzukommen, der augenblicklich so tief wie möglich in sie hineinglitt. Mit großer Eleganz und wachsender Manneskraft stieß er zu, zog sich zurück, stieß wieder zu, die Hände fest um Lupas Brüste geschlungen, deren Warzen sich zwischen -4 1 3 -
seinen drehenden Fingern aufrichteten, während sich Lupa so treiben ließ, wie es ihr niemals zuvor möglich gewesen war. »Ich möchte, daß wir zusammen bleiben«, stöhnte sie, als sich die Intensität steigerte. »Das werden wir«, brachte Kassler hervor. »Das werden wir.« »Es wird wunderbar werden für uns«, hauchte Lupa. »Sobald Leo nicht mehr da ist, können wir...« Kassler begann mit der letzten großen Serie von Stößen. »Leo ist tot«, sagte er, als er spürte, daß er gleich in Lupa explodieren würde. »Er ist heute nachmittag gestorben.« Kassler grunzte, als er anfing zu kommen. Wie eine massive Eisenklammer, die übergangslos und mit äußerster Kraft zuschnappte, verkrampfte sich Lupas Vagina um Kasslers Glied und verursachte ihm die größten Schmerzen, die die menschliche Physiologie zu erleiden vermochte. Kassler heulte vor Agonie, als Lupa aufs Bett fiel und Kasslers Männlichkeit würgte, die bei dem Versuch, ihren Inhalt freizusetzen, verzweifelt ruckte und zuckte. »Oh, mein Gott!« jaulte Kassler. »Las los! Laß mich raus! Bitte!« »Leo ist tot? Du wußtest, daß Leo tot ist, und hast mir nichts davon gesagt?« Lupa vergrub den Kopf im Kissen, während Kassler weiterhin fest an ihr klebte. »Ich wußte es, ja! Es tut mir leid! Entspanne dich! Bitte! Um Himmels willen, entspanne dich!« »Ich kann nicht, Sy. Wie soll ich mich entspannen?« »Ich weiß nicht, wie. Denk an entspannende Dinge! Warme Bäder! Wein! Debussy! Irgendwas! Nur laß mich los!« »Oh, Sy«, seufzte Lupa in das Kopfkissen, und langsam begann sich die Verkrampfung ihrer Vagina zu lösen, so daß Kassler mit matten, tröpfelnden Spritzern kommen konnte. »Oh, mein Gott.« -4 1 4 -
Kassler schaffte es schließlich, sich zu befreien, und warf sich auf den Rücken, wo er neben Lupa versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. »Leo und ich waren verheiratet, weißt du«, sagte Lupa traurig, obwohl sie sich noch nicht dazu gebracht hatte, Tränen über Leos Tod zu vergießen. »Oh, mein Gott«, wiederholte Kassler nur immer wieder. »Leo war nicht wirklich ein schlechter Mensch«, klagte Lupa. »Er war lediglich einsam.« »Einsam?« quetschte Kassler mit einer Mischung von anhaltendem Schmerz und Unglauben hervor. »Er fühlte sich ungeliebt«, informierte Lupa ihn. »Er kam mir, unter anderem, ein bißchen verrückt vor«, murmelte Kassler in seiner Agonie. Er kam zu der Überzeugung, daß dies weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt war, um von Szlycks Rachefeldzug gegen ihn oder seiner eigenen letzten Antwort darauf detailliert zu berichten. Lupa drehte sich auf die Seite und sah Kassler an, der weiterhin versuchte, sich von ihrem Coitus incredulus zu erholen. »Ich weiß, daß es überhaupt keinen Sinn ergibt«, sagte sie, »aber in gewisser Weise werde ich Leo vermissen, glaube ich.« »Du hast recht«, sagte Kassler. »Es ergibt überhaupt keinen Sinn.« Lupa streckte die Hand aus und streichelte Kasslers Kopf. »Tut mir leid, daß ich mich so verkrampft habe«, sagte sie. »Aber es war nicht der geeignetste Zeitpunkt, mir die Neuigkeit mitzuteilen. Hat es wirklich weh getan?« Dann küßte sie den Mörder ihres Ex-Mannes sanft auf die Lippen. Bernie Kohler kam am nächsten Morgen in Kasslers Büro gestürmt.
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»Du bist letzte Nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen«, klagte er Kassler an. »Bernie, ich habe einen Patienten, der jede Minute kommen wird.« Kassler versuchte, dem Angriff auszuweichen. »Ich habe bis sechs Uhr morgens gewartet! Ich habe die Krankenhäuser und die Polizei angerufen! Ich dachte, du hättest vielleicht einen Unfall gehabt. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« Bernie redete weiter, ohne daß Kasslers Einwand auch nur die geringste Wirkung hinterließ. »Bernie, wirklich, können wir nicht ein andermal darüber sprechen?« »Ich hatte das Abendessen fertig«, informierte Bernie ihn. »In Ordnung, ich bin bei einer Freundin gewesen.« Kassler gab auf. »Setz dich, Bernie, wir müssen miteinander reden.« »Du hättest anrufen können«, greinte Bernie. Er ließ seinen Körper in den großen Sessel in Kasslers Büro sinken, während Kassler aufstand, die Tür schloß und zu seinem Schreibtisch zurückkehrte. »Ich habe nicht daran gedacht, anzurufen, Bernie. Ich war beschäftigt. Hör mal, wir müssen miteinander reden.« »Ich weiß, was du fühlst«, unterbrach Bernie, bevor Kassler richtig anfangen konnte. »Es gibt ein natürliches Unbehagen, das mit dem ersten homosexuellen Erlebnis verbunden ist, aber ich werde dir darüber hinweghelfen, Sy.« »Ich will nicht, daß man mir darüber hinweghilft, Bernie.« Kassler versetzte seinen grauen, aus alten Regierungsbeständen stammenden Metallsessel mit dem durchgescheuerten Plastiksitz in Drehbewegungen. »Es gibt eine gesellschaftliche Mythologie, nach der du, wenn du Sex mit einem anderen Mann hast, etwas Unmännliches an dir haben sollst. Das ist großer Scheißdreck, Sy. Ich werde nicht zulassen, daß du in diese sexistische Falle gerätst. Was kann männlicher sein, als wenn zwei Männer gegenseitig echtes Vergnügen aus ihren Körpern gewinnen? Wo steht geschrieben, daß du eine Frau brauchst, wenn du ein Mann -4 1 6 -
sein willst? Das ist freudianische Kacke.« Bernie vertrat seinen Fall mit großem Ernst und suchte in Kasslers Augen nach Anzeichen von Erfolg, die allerdings nicht vorhanden waren. »Ich habe nichts gegen Homosexualität«, versuchte Kassler zu erklären. »Darum geht es nicht.« »Als die Psychiater bei der APA zusammentrafen, war die Homosexualität kein Thema, nicht wahr?« Bernie hörte Kassler gar nicht zu. »Sag mir, gilt die Homosexualität noch als psychiatrische Störung, ja?« »Nein, das tut sie nicht, Bernie. Homosexualität ist eine vollkommen normale Art und Weise, Zuneigung auszudrücken für diejenigen, die das wollen.« Kassler wiederholte das jüngste Dogma, das er keineswegs akzeptierte. »Aber ich will es nicht!« Bernie erhob sich aus seinem Sessel und fing an, hin und her zu tigern. Dann wirbelte er herum und ging auf Kassler los. »Es gibt kein es, Sy. Sag mir ins Gesicht, daß du mich nicht willst. Sag es mir ins Gesicht, Sy. Sag mir ins Gesicht, daß du mich nicht willst! Ich bin keine Sache! Ich bin kein Homosexueller! Ich bin ein Mensch! Ich bin Bernie Kohler. Ich bin intelligent. Ich bin sensibel. Ich bin kultiviert. Ich habe Sinn für Humor. Ich habe Gefühl und Empfindlichkeiten. Ich bin verletzlich. Wenn ich mich schneide, blute ich. Wenn man mich kitzelt, lache ich. Wenn man mich vergiftet, sterbe ich.« »Du hast Hände, Maße, Sinne, Neigungen, Leidenschaften und Organe«, stellte Kassler fest. Bernie blickte Kassler eigenartig an und fuhr dann fort. »Ich liebe, nicht nur Kinder und kleine, pelzige Tiere, sondern ich liebe Menschen. Ich bin zäh. Ich habe Prinzipien, aber ich kann zärtlich sein. Ich habe Zuneigungen. Ich habe eine Zuneigung zur dir, Sy. Ich habe eine große Zuneigung zu dir. Wir haben viel gemeinsam. Ich wußte es als wir uns zum erstenmal sahen. Wir sehen die Welt mit denselben Augen, du und ich. Ich habe gesehen, wie etwas zwischen uns heranwächst, Sy. Ich habe es genährt. Ich habe es Wurzel fassen, gedeihen und -4 1 7 -
aufblühen sehen. Ich werde nicht zulassen, daß du all diese aufgrund irgendeiner homosexuellen Panik von deinem ersten sexuellen Erlebnis mit einem Mann wegwirfst. Wir haben hier eine Blüte, Sy. Eine zerbrechliche, wunderschöne Blüte.« »Ich will keine Blüte sein, Bernie.« »Schön.« Bernie fuhr herum und wandte Kassler jetzt den Rücken zu. »Du willst es nicht, du willst es nicht! Sag mir offen ins Gesicht, daß du mich nicht willst, nicht, daß du kein Homosexueller sein willst, sondern daß du mit mir nicht zusammen sein willst.« Bernie ging zum Fenster hinüber und blickte nach draußen. »Sag mir das ins Gesicht, und ich werde gehen.« »Ich kann es dir nicht ins Gesicht sagen, Bernie, weil ich dir da, wo du stehst, nicht ins Gesicht blicken kann.« »Nun, ich will verdammt sein, wenn ich mich nach der Art und Weise, in der du die ganze Nacht weggeblieben bist und mich heute morgen beleidigt hast, umdrehe.« »Bernie, ich werde es deinem Rücken sagen, und wenn dein Gesicht daran interessiert ist, es zu hören, dann kann es sich herumdrehen«, sagte Kassler. »Ich schätze unsere Freundschaft über alle Maßen. Du bist der beste Freund, den ich besitze. Alles, was du über dich gesagt hast, ist wahr. Du bist ein wundervoller Mensch, und ich glaube wirklich, daß wir vieles gemeinsam haben. Aber können wir nicht einfach Freunde sein? Muß jede Beziehung mit Sex enden?« Bernie Kohlers Gesicht drehte sich herum. »Weißt du, wie lange ich letzte Nacht neben dem Telefon auf deinen Anruf gewartet habe?« sagte er. »Hast du eine Vorstellung davon, wie oft ich dein Cordon bleu und den Reis mit Champignons wieder und wieder aufgewärmt habe? Hast du eine Vorstellung davon?« »Vermutlich ziemlich oft, wenn du bis sechs Uhr morgens gewartet hast«, räumte Kassler ein.
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»Neunmal! Weißt du, was mit Cordon bleu und mit Reis und Champignons passiert, wenn man sie neunmal aufgewärmt hat? Weißt du das?« »Nein, Bernie, ich weiß es nicht.« »Die Kasserole ist jetzt... am Aufweichen. Es ist WedgewoodPorzellan, Sy. Ich habe mein bestes Geschirr für dich genommen, Sy. Ich hoffe in deinem Interesse, daß alles wieder abgeht.« Es klopfte an die Tür von Kasslers Büro. Philip Donato war zu seiner Sitzung eingetroffen. »Mein Patient ist da, Bernie. Können wir das Gespräch ein andermal fortsetzen?« »Es kommt darauf an«, sagte Bernie, während er zur Tür ging. »Du schuldest mir eine Entschuldigung.« »Es tut mir leid, daß ich letzte Nacht nicht angerufen habe, Bernie«, sagte Kassler ganz schnell. »Schon in Ordnung, Sy«, lächelte Bernie. »Du wirst sehen, daß ich bei solchen Sachen sehr tolerant bin. Wann wirst du heute abend zum Essen zu Hause sein?« Kassler blickte Bernie an, der im Eingang stand, während Philip Donato an ihm vorbeiging und sich auf einen Stuhl neben Kassler niederließ. »Spät«, sagte er. »Sehr spät. Warte nicht auf mich.« Philip Donato schien aufgeregter als sonst zu sein. »Ich bin mir nicht sicher, daß ich bereit dazu bin«, erklärte er Kassler. »Es ist nicht so, als ob Sie entlassen würden«, versuchte Kassler, ihn zu beruhigen. »Ihre Mutter wird nicht länger als fünfzehn Minuten bleiben. Sie hat mir versprochen, daß sie kein einziges Mal über Haferflocken oder Ihre Därme reden wird. Sie hat es mir garantiert.« »Trotzdem...«, sagte Philip Donato, während sein großer schlaksiger Körper auf dem Stuhl schlotterte. »Ich weiß nicht. Sie hat eine Art an sich, mich durcheinanderzubringen. Sie macht es jedesmal.« -4 1 9 -
»Wie lange ist es her, daß Sie Kontakt zueinander hatten?« fragte Kassler. »Sie meinen, seit wir uns gesehen haben?« »Nein, irgendeinen Kontakt - Treffen, Telefonanrufe, Briefe, Nachrichten durch Freunde - irgendeinen Kontakt.« Philip Donato verbarg die Nase zwischen seinen Händen, schob die Daumen unters Kinn und dachte nach. »Über ein Jahr«, sagte er in seine Hände. »Fast zwei Jahre vielleicht. Warum?« »Nun«, meinte Kassler. »Vielleicht hat sie sich geändert. Die Menschen ändern sich. Sie könnte anders geworden sein.« »Sicher.« Philip Donato warf seine langen Arme in die Luft. »Und vielleicht läuft der Mann im Zimmer neben mir, der letzte Nacht gestorben ist, noch immer hier herum«, sagte er sarkastisch zu Kassler, der sich sehr wünschte, daß Philip Donato eine andere Metapher benutzt hätte. Diana Fletcher, Kasslers nächste Patientin an diesem Morgen, war vermutlich einer der Hauptgründe dafür, daß Kassler das Phlegethon letztlich verlassen mußte. Zwar wären die Fälschung seiner Bewerbungsunterlagen und die Ermordung eines Patienten an sich genug Anlaß gewesen, seine Entlassung in Betracht zu ziehen, aber diese Angelegenheiten hatten etwas Privates an sich, so daß sie toleriert und diskret übersehen werden konnten, so daß mildende Umstände berücksichtigt und Arrangements getroffen werden konnten, um sie aus dem Weg zu räumen. Aber die Sache mit Diana Fletcher wurde zu einem solchen cause célebrè, wurde so publik, daß es keine Möglichkeit gab, sie still zu beerdigen. Es begann an jenem Tag, an dem die unkohärente, unausgeglichene, keine Gemütsbewegungen zeigende, schizophrene Dame zu ihrer Sitzung in Kasslers Büro kam und mit kohärenten, wohlausgeglichenen, Gemütsbewegungen zeigenden Worten zu ihm sprach.
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»Mein Sohn Skip liegt im Sterben«, sagte sie traurig zu Kassler. Kassler war wie vom Schlag getroffen, nicht wegen des Inhalts der Worte, sondern wegen der Art und Weise, in der seine psychotische Patientin sie gesagt hatte. »Was?« fragte er, um sich den Satz noch einmal wiederholen zu lassen. Er blickte in Diana Fletchers braune Augen. Zum erstenmal, seit sie zusammentrafen, ließ sie einen Augenkontakt zu. Die tiefverwurzelte Angst, die Mrs. Fletchers Blicke während der Sitzungen von Kassler weghuschen ließen, war verschwunden und durch eine überwältigende Traurigkeit ersetzt worden. Kassler griff nach dem Telefon und ließ sich mit dem Citadel General Hospital verbinden. Sanford ›Skip‹ Fletcher war in der vergangenen Nacht spät in die Intensivstation eingeliefert worden. Sein Zustand wurde als ›äußerst kritisch‹ bezeichnet. Kassler legte den Hörer auf und blickte Diana Fletcher an. Dann blickte er auf ihr Krankenblatt. Mrs. Fletcher hatte seit einer Woche keine anderen Medikamente bekommen, keine Besucher, keine Telefonanrufe und keine Briefe. »Ich möchte meinen Sohn sehen, bevor er stirbt«, sagte Mrs. Fletcher ruhig. »Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihnen zu helfen«, sagte Kassler zu seiner Patientin. »Ich werde mit Dr. Zelazo reden.« Letzteres sagte er mit größtem Widerstreben. »Es war unglaublich«, sagte Kassler. »Sie war vollkommen klar. Ich habe nie einen rationaleren Menschen gesehen.« »Und wenn sie Ma Baker wäre, die zurückgekommen ist, könnte ich nichts tun«, sagte Zelazo später an diesem Nachmittag zu Kassler. »Die Bürgerinitiative hat gestern eine einstweilige Verfügung erwirkt, die es uns verbietet, irgendwelche Patienten zu entlassen, bis es zu einer gerichtlichen Hauptverhandlung kommt, was noch Wochen, vielleicht sogar Monate, dauern kann. Ihr Freund Dr. Kohler hat sich gestern, anstatt zur Arbeit zu kommen, krank gemeldet, so daß er eine einstweilige Verfügung beantragen konnte, die es uns verbietet, irgend jemanden aufzunehmen. Er hat sie -4 2 1 -
bekommen. Es gibt keine Möglichkeit für mich, Mrs. Fletcher hinauszulassen, und wenn ich es könnte, gäbe es keine Möglichkeit für mich, sie anschließend wieder hereinzulassen. Mir sind die Hände gebunden.« »Wie wäre es mit einem Urlaubsschein?« versuchte es Kassler. »Ein kurzer Besuch?« »Nichts. Niemand geht oder kommt. Aus keinem Grund. Hier.« Zelazo griff nach einem dicken Packen amtlicher Dokumente. »Lesen Sie selbst.« »Ihr Sohn liegt im Sterben.« Kassler schob die Papiere weg. »Das sind doch wohl mildernde Umstände. Es muß einen Weg geben.« Zelazo blickte Kassler an und schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Weg«, sagte er nachdrücklich. »Ich werde einen finden«, machte Kassler seinem Vorgesetzten klar. »Das werden Sie nicht, Sy. Sie werden Mrs. Fletcher die Situation erklären und ein Telefongespräch oder so etwas arrangieren. Und jetzt setzen Sie sich bitte. Ich muß mit Ihnen reden.« Kassler, der in einem großen Ausbruch von Loyalität und Hingabe gegenüber seiner Patientin eigentlich gehen wollte, fand sich auf dem Stuhl auf der anderen Seite von Zelazos Schreibtisch wieder. Zelazo wuchtete seinen mächtigen Körper über den Schreibtisch, um Kassler so nahe wie möglich zu kommen. Dann starrte er mit seinem sengenden Blick in den toten Punkt von Kasslers Augen. »Ich möchte, daß Sie mir aufmerksam zuhören«, sagte er. »Ich weiß, daß Sie mich mehr hassen, als sie in Ihrem ganzen Leben sonst jemanden gehaßt haben. Ich schlafe mit Ihrer Frau. Ich bin Ihren Kindern ein Vater. Ich kann mir jederzeit einfallen lassen, Sie zu feuern. Es liegt in meiner Macht, das Institut anzurufen und dafür zu sorgen, daß Ihre Karriere für immer beendet ist, daß Sie für den Rest Ihres Lebens auf -4 2 2 -
diesem oder einem verwandten Gebiet nie wieder praktizieren können.« Kassler erwiderte den Blick und versuchte herauszufinden, wohin dies alles führen sollte. »Ihr ärgster Feind ist im Begriff, Ihnen den besten Ratschlag zu erteilen, den Sie je bekommen haben«, fuhr Zelazo fort, »und ich mache mir Gedanken darüber, ob Ihre Wut auf mich Sie vielleicht daran hindert, ihn anzuhören.« »Was ist das für ein Ratschlag?« fragte Kassler mit wachsender Neugier. »Wenn Sie letzten Endes in Leo Szlycks Souterrain hinabsteigen, und Sie werden hinabsteigen, wenn Sie es nicht bereits getan haben, dann werden Sie dort etwas finden, das nicht das ist, was es zu sein behauptet.« Zelazo machte eine Pause und schloß während des Nachdenkens die Lider seiner riesigen Augen. »Und?« fragte Kassler. »Es wird Ihnen eine große Herausforderung bieten, und Sie werden geneigt sein, sie anzunehmen. Mein Rat ist, tun Sie es nicht. Kommen Sie zu mir und sprechen Sie zuerst mit mir darüber, bevor Sie sich engagieren.« »Das hört sich alles sehr mysteriös an«, sagte Kassler leichthin, während ihn von seinen entzückenden Locken bis zu den Spitzen seiner modischen, abgetragenen Slipper ein kalter Schauder durchlief. »Nein«, sagte Zelazo, »es ist überhaupt nichts Mysteriöses dabei. Lediglich etwas Destruktives, das ist alles, was es auch sonst zu sein scheint. Sie müssen sich vor Augen führen, daß es Szlycks Werk ist und Sie nicht sein bester Freund waren.« »Warum tun Sie das, Sam? Was ist los? Sie halten mich seit Monaten hier, obwohl Sie mich innerhalb von dreißig Sekunden loswerden könnten. Und jetzt versuchen Sie, mich vor irgendeinem furchtbaren Komplott zu retten, den Leo Szlyck zusammengebraut hat. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, kein bißchen.« -4 2 3 -
»Sie haben recht«, gab Zelazo zu. »Nun, ich werde darüber nachdenken«, sagte Kassler, ohne sich festzulegen, und stand auf, um zu gehen. Zelazo funkelte Kassler an, wütend darüber, daß dieser nicht augenblicklich zugestimmt hatte. » « brüllte er Kassler beim Gehen an. Kassler blickte ungläubig zu Zelazo zurück und fragte sich, ob er verflucht wurde. Wieder durchlief ihn ein kalter Schauder.» « fuhr Zelazo fort, auf griechisch zu toben, und fuchtelte mit den Armen wild in der Luft herum, als Kassler die Tür schloß.» »Es ist eine Vorverhandlung«, sagte Marty Myers in seinem Büro zu Kassler, nachdem dieser seinen Tag im Phlegethon beendet hatte. »Ich bin genauso enttäuscht wie Sie.« »Was, zum Teufel, ist eine Vorverhandlung?« fragte Kassler und ging dabei hektisch auf und ab. Marty Myers fuhr mit der Handfläche über seine Westenknöpfe und behielt Kassler im Auge. »Nur die Anwälte reden. Sie tragen dem Richter vor, welche Punkte anliegen und wieviel Verhandlungszeit sie brauchen werden. Dann stellt der Richter den Anwälten ein paar Fragen und setzt die Termine fest. Sie müssen nicht einmal dabei sein.« »Wann stehen die nächsten Termine zur Verfügung?« fragte Kassler und hielt in Erwartung der Antwort den Atem an. »Irgendwann 1978, noch über ein Jahr hin.« Kassler blieb ruckartig stehen. »Jesus Christus, Marty!« schrie er. »Das sind mehr als vier Jahre nach meinem Antrag! Vier gottverdammte Jahre!« »Ich weiß«, sagte Marty mit angemessener Traurigkeit. »So läuft es nun mal. Wenn Sie nicht beweisen können, daß den -4 2 4 -
Kindern eine eindeutige und gegenwärtige Gefahr droht, müssen Sie einfach warten, bis Sie an der Reihe sind.« »Was für eine Art von Gefahr?« Kassler wurde interessiert. »Vergessen Sie es, Sy«, sagte Marty. »Sie wollen nicht, daß Ihre Kinder verletzt werden, nur um Ihren Gerichtstermin ein paar Monate vorverlegen zu können.« Kassler setzte sich neben einer riesigen Pflanze auf die Fensterbank und dachte minutenlang nach. »Was für eine Chance haben wir wirklich?« fragte er schließlich seinen Rechtsberater. »Ehrlich?« »Ganz ehrlich.« »Wir wären in einer viel besseren Situation, wenn wir das Sorgerecht verlangen würden.« Marty Myers blickte Kassler ernst an. »Warum?« beklagte sich Kassler. »Warum wollen Sie immer wieder daß ich das Sorgerecht verlange?« »Weil der Richter, wenn wir verlieren, Ihre Besuchszeiten verlängern würde, zum Ausgleich dafür, daß Sie das Sorgerecht nicht bekommen haben. Man muß immer mehr verlangen, als man haben will.« Kassler blieb weiterhin auf der Fensterbank sitzen und sann über Marty Myers Ratschlag nach. »Die Wahrheit ist«, gestand er ein, »daß ich, seit ich die Kinder wieder sehe, wirklich über das Sorgerecht nachgedacht habe. Ich nehme an, es kann nicht schaden, wenn ich es versuche.« »Sie können alles gewinnen und nichts verlieren.« Marty Myers hätte sich nicht mehr irren können. »Was soll ich also tun?« fragte Kassler. »Ich reiche die Papiere nächste Woche ein. In der Zwischenzeit heiraten Sie.« »Heiraten?« fragte Kassler ungläubig.
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»Sie wissen schon.« Marty Myers erklärte die Details zu Kasslers bildungsmäßigem Nutzen. »Mann und Frau, Hochzeit, Stadthaus, Heiratsurkunde, ein solides Heim für die Kinder, Tralala, all das.« »Heiraten?« wiederholte Kassler mehrere Male. Bevor er hinübereilte, um Lupa seinen Antrag zu machen, tätigte Kassler zwei schnelle Telefonanrufe. Der erste galt dem Citadel General Hospital. Skip Fletcher behauptete sich noch. Kassler entschied, daß er bis morgen warten konnte, um sich um Diana Fletchers Freilassung zu kümmern. Der zweite Anruf galt Bernie Kohler. »Was soll das heißen, du kommst nicht nach Hause?« fragte Bernie. »Was soll ich mit all den Scungili machen? Ich habe zwei Pfund Scungili hier.« »Zuerst einmal«, explodierte Kassler, »ist es nicht mein Zuhause. Ich habe kein Zuhause. Zweitens habe ich keine Scungili bestellt. Ich weiß nicht mal, was Scungili sind. Und drittens...«. Kassler suchte vergeblich nach einem dritten Punkt, »... und drittens komme ich nicht nach Hause. Wir reden morgen weiter. Wiedersehen.« Und Kassler nahm den Bus, um seiner überraschten zukünftigen Braut die große Frage zu stellen. »Bist du sicher, daß du das willst?« fragte Lupa Kassler. »Unbedingt«, antwortete er. »Und willst du?« »Unbedingt«, antwortete auch sie. »Aber warum jetzt, Sy?« »Weil ich glaube, daß es wirklich gut für uns beide wäre. Wir mögen uns. Wir werden uns gegenseitig ein schönes Leben bereiten. Was kann man noch mehr verlangen?« Kassler ließ alle Entscheidungsfaktoren aus. »Warum willst du heiraten?« »Weil ich dich vermißt habe«, sagte Lupa. »Ich glaube, daß du ein netter Mensch bist und wir gut miteinander auskommen werden.« Auch Lupa ließ ihre Entscheidungsfaktoren aus. »Hört sich in meinen Ohren gut an.« -4 2 6 -
»Was ist mit der Magie?« fragte Lupa. »Die ist hübsch für den Anfang, nehme ich an, aber sie ist nicht das, was unsere Ehe aufrechterhalten würde. Da gibt es wichtigere Dinge - Freundschaft, Vertrauen, Loyalität, Güte, Mitgefühl.« Kassler erklärte Lupa, die verblüfft zuhörte, seine neue Lebensphilosophie. Sie sah Kassler an und dachte über das, was er gesagt hatte, nach. Dann nahm sie sein bärtiges Gesicht zwischen ihre Hände und gab ihm einen Kuß. »Ich bin mir nicht sicher, wieviel von dem, was du gesagt hast, der Wahrheit entspricht, Sy«, sagte sie. »Und ich werde nicht einmal danach fragen, aber ich möchte, daß du eins weißt. Ich werde versuchen, dich so sehr zu lieben, wie ich kann, und dir die Gefühle zu geben, die du von einer Beziehung erwartest. Das werde ich wirklich. Du bedeutest mir sehr viel, mehr als jeder andere zuvor.« Und dann, mit Tränen in den Augen, küßte sie Kassler erneut. Kassler verspürte aus unbestimmbaren Gründen den Zwang, etwas Bestimmtes zu sagen. »Lupa, ich muß dir etwas erzählen, weil ich glaube, daß es wichtig ist, wenn unsere Ehe mit vollkommener Aufrichtigkeit beginnt. Während der letzten paar Jahre hat Leo versucht, mein Leben zu ruinieren, indem er meine Banken, meine Vermieter und meinen Arbeitgeber anrief und Geschichten über mich erfand, und dann hat er vor einigen Nächten mein Appartement in Brand gesteckt, und deshalb habe ich ihn umgebracht. Willst du mich noch immer heiraten?« Lupa sperrte den Mund auf und starrte Kassler geschockt an. »Du hast ihn umgebracht - was meinst du damit?« fragte sie, als sie wieder sprechen konnte. »Er fiel ins Koma, und es gab da diesen Schlauch, der ihn entleerte und am Leben halten sollte. Ich habe den Schlauch abgestellt, und das hat ihn umgebracht.« »Du... du...«
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»Außerdem hat mir Leo zwanzigtausend Dollar gegeben und mir sein Haus überschrieben.« Kassler fuhr fort, ganz offen zu sein. »Das war natürlich, bevor ich ihn umbrachte.« Kassler wollte Lupa gerade von dem seltsamen Computer erzählen, den Szlyck in seinem Souterrain hatte, kam aber zu der Überzeugung, daß sie für den Augenblick genug hatte. »Also«, schloß er, »was sagst du?« »Du kannst dich von den Knien erheben, Sy«, antwortete Lupa. »Ich glaube, der formelle Teil deines Antrags ist abgeschlossen, und wir sollten jetzt miteinander reden.« Kassler richtete sich auf und setzte sich neben Lupa auf die Couch, während sie versuchte, all das, was er ihr erzählt hatte, zu verarbeiten. Er beobachtete Lupa beim Abwägen und kam zu der Überzeugung, daß sie ihm eine gute Frau sein würde. Er konnte damit leben. »Also«, fragte er abermals, »was sagst du?« »Weißt du, Sy«, stellte Lupa fest, »du hast ein unglaublich schlechtes Gefühl für den richtigen Zeitpunkt. Ich hoffe, das wird besser, wenn wir verheiratet sind.« »Heißt das ja?« fragte Kassler mit dem Gefühl, das er immer bekam, wenn er erfuhr, daß die Werkstatt die Reparatur seines Wagens erfolgreich abgeschlossen, ihm aber die Rechnung noch nicht gegeben hatte. »Es heißt ja, wenn du mir noch eine weitere Frage beantworten würdest. Ich weiß, daß es ein bißchen verrückt ist, sie bei einem Heiratsantrag zu stellen, aber wirst du ins Gefängnis kommen, weil du meinen Ex-Mann umgebracht hast?« Kassler küßte Lupa sanft auf die Lippen und lächelte sie dann vertraulich an. »Wer außer dir und mir weiß denn davon?« fragte er rhetorisch. Während der nächsten paar Tage versuchte Kassler bei dem Bemühen, Diana Fletcher freizubekommen, alles, was ihm
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einfiel. Absolut nichts hatte Erfolg. Als letzten Ausweg wandte er sich noch einmal an Bernie Kohler. »Ich habe ein Problem«, sagte er zu Bernie, nachdem er in seiner Verzweiflung dessen Einladung zum Abendessen angenommen hatte. »Du glaubst, du hast ein Problem«, sagte Bernie, während er Kassler das dritte Glas Bordeaux einschenkte. »Hast du eine Vorstellung davon, was du meinen Gefühlen während dieser letzten Woche angetan hast?« »Hör mal, Bernie«, sagte Kassler. »Wir müssen das jetzt für eine Minute zurückstellen. Ich verspreche dir, daß ich später mit dir darüber diskutieren werde.« »Bleibst du über Nacht?« Bernie blickte Kassler gespannt an. Kassler schloß die Augen und dachte angestrengt nach. »Ich bleibe über Nacht«, sagte er schließlich. »In Ordnung«, seufzte Bernie erleichtert. »Wie sieht das Problem aus?« Kassler erklärte die Details von Diana Fletchers Zwangslage, während Bernie sein Stroganoff auftischte und Wein einschenkte. Als Kassler mit seiner Geschichte zu Ende gekommen war, sah er Bernie beim Nachdenken zu und sann auch wieder einmal über eine eigene Lösung nach. Aber in seinem Kopf war eine große Leere, so daß ihm nichts einfiel. »Ich habe mit Marty Myers gesprochen, und der sagt, daß er nichts tun kann«, erklärte er mit belegter Stimme. »Deine Methoden sind gefragt.« »In Ordnung.« Bernie nahm die Herausforderung an. »Folgendes muß gemacht werden: Zuerst müssen die Zeitungen die Geschichte erfahren und um die tragische Frau ein großes Tamtam veranstalten. So wird der Richter dazu gebracht, etwas zu unternehmen. Ich werde den Richter dazu veranlassen, eine große Schau aufzuziehen, selbst ins Phlegethon zu gehen und sich die Geschichte der Frau mit eigenen Ohren anzuhören. Das wird ihm gefallen. Es bringt ihm jede Menge Publicity ein, und im nächsten November steht -4 2 9 -
seine Neuwahl an. Fletcher wird ihm an deiner Seite ihre Geschichte erzählen, und er wird eine Ausnahme machen. Er wird ein Held sein. Selbst die Bürgerinitiative kann keine Einwände dagegen erheben, daß eine Patientin ihr sterbendes Kind aufsucht. Es wird klappen.« »Wie kommst du darauf, daß der Richter ins Phlegethon kommen wird?« »Zwei Gründe. Erstens wird ihn die Publicity dazu veranlassen. Und zweitens ist er mein Onkel. Er ist mir noch etwas schuldig.« Kassler dachte über den Plan nach, der ganz zu dem guten, alten Bernie Kohler paßte und deshalb wahrscheinlich Erfolg haben würde. »Warum bittest du deinen Onkel nicht gleich, daß er eine Ausnahme machen soll?« »Weil das so nicht abläuft. Er muß mit der Patientin reden, um sicher zu sein, daß sie nicht das Krankenhaus verwüstet, wenn sie ihren Sohn besucht, und er kann die Patientin nicht vor Gericht laden, weil er die Verfügung beachten muß, nach der allen Patienten das Verlassen Phlegethons verboten ist. Mach dir keine Sorgen, es wird klappen.« Kassler lächelte erfreut durch den geistigen Schleier, der von Schluck zu Schluck dichter wurde. »Ja, das könnte es«, stimmte er zu. »Ich werde morgen früh mit dem Richter reden. Er sollte schon vorab wissen, um was es geht. Du reichst den Antrag am Nachmittag ein.« »Bernie, du bist ein Genie«, sagte Kassler. »Vermutlich machst du auch ein vorzügliches Boeuf Stroganoff, aber das kann ich nicht mehr schmecken.« »Du bist betrunken, Sy.« »Das hoffe ich«, sagte Kassler, »denn wenn meine Familienangehörigen jemals erführen, was ich heute nacht tun werde, würden sie sterben, nur daß sie natürlich schon tot sind, so daß sie sich etwas anderes einfallen lassen müßten.« -4 3 0 -
Bernie führte Kassler ins Nebenzimmer und zog ihn aus. Dann legte er seine eigenen Kleider ab und fing an, Kasslers Körper fest und mit kreisförmigen Bewegungen zu kneten, wie ein erfahrener Masseur. Kassler legte sich auf den Rücken und hielt Bernies Arme fest, um ihm Einhalt zu gebieten. »Du sagtest, daß du mich lassen würdest...«, begann Bernie, aber Kassler unterbrach ihn. »Ich möchte dir etwas sagen, Bernie. Ich bin nicht so betrunken, wie du glaubst. Du sollst nicht denken, daß du mich nach all den Stunden, die du meinen traurigen Geschichten zugehört hast, und nach der Unterstützung, die du mir gegeben hast, nur dazu bringst, das hier zu tun, indem du mich so betrunken machst, daß ich nicht mehr weiß, was ich tue. Ich weiß, was ich tue. Ich tue es nicht, um dich zu erpressen, Diana Fletcher zu helfen, oder im Alkoholrausch. Du sollst wissen, daß ich es tue, weil du neunmal mein Cordon bleu und den Reis mit Champignons aufgewärmt hast.« Und Kassler ließ Bernies Arme los und drehte sich auf den Bauch. Bernies Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß, daß du nicht dafür gemacht bist«, sagte er leise, »aber ich liebe dich, Sy. Es bricht mir das Herz.« »Nun, wenn ich je Neigung verspürt hätte, einen anderen Mann zu lieben, dann wärst du es gewesen«, sagte Kassler. »Du kannst also dein Herz wieder zusammensetzen und aufhören, Tränen auf meinen Rücken tropfen zu lassen. Ich bekomme eine Gänsehaut davon.« Bernie drängte schniefend seine Tränen zurück und fing wieder an, Kasslers Rücken zu kneten. Kassler entspannte sich und genoß die Bewegungen von Bernies Händen. Wenig später wurden die Hände durch Bernies Mund ersetzt, und Kassler spürte, wie er erregt wurde, als Bernies Zunge über seinen Rücken wanderte und an seinen Hinterbacken zu arbeiten begann. -4 3 1 -
Bernie merkte, daß Kassler erregt worden war, legte seine Hände um Kasslers Hüften, zog ihn auf die Knie und fuhr fort, die Linie zwischen Kasslers Backen zu lecken, während er gleichzeitig Kasslers große Erektion in die Hand nahm und sie mit schnellen Bewegungen sanft rieb. »Ich weiß, was du tun möchtest«, sagte Kassler. »Du kannst es versuchen, wenn du willst.« Bernie griff mit der freien Hand neben sich und nahm etwas Vaseline, die er dazu benutzte, seine eigene Erektion einzuschmieren. Während er Kassler schneller und schneller rieb, drang er nach und nach in Kasslers Kehrseite ein. Zuerst war die Empfindung für Kassler unbehaglich und unangenehm, aber als sich das Tempo beschleunigte, ertappte er sich dabei, daß er im Gleichklang mit Bernie vor und zurück schaukelte. Dann wurde Bernie ganz hektisch, und Kassler spürte Bernie in sich ejakulieren. Sobald Bernie fertig war, glitt er unter Kassler, steckte Kasslers großen Penis in seinen Mund und leckte und saugte so heftig daran, bis Kassler schließlich kam. Dann sanken die beiden Männer erschöpft auf die kühlen Laken. »Ich bin mir nicht sicher, warum du das heute nacht getan hast«, sagte Bernie, »aber ich bin dir sehr dankbar.« »Das letzte Mal ist mir nicht aus dem Kopf gegangen.« Kassler beschloß, Bernie nichts von seiner bevorstehenden Hochzeit und der Gewißheit, daß sie sich nie wieder auf diese Weise treffen würden, zu erzählen. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Aber die Wahrheit ist, daß ich nicht den leisesten Schimmer habe, warum ich das heute nacht gemacht habe.« Und Kassler drehte sich zur Seite und fiel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Tag passierten drei erwähnenswerte Dinge. Bernie, der wieder einmal schon gegangen war, als Kassler aufwachte, sprach mit seinem Onkel, dem Richter Gelbert, der sich einverstanden erklärte, Diana Fletcher im Phlegethon aufzusuchen, wenn die Presse den erwarteten Wirbel veranstaltete. -4 3 2 -
Kassler setzte sich mit der Presse in Verbindung, und diese veranstaltete den erwarteten Wirbel. Und eine sehr kleine Gruppe von Trauergästen sah nach wenigen Worten des Nachrufs zu, wie Leo Szlycks Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Es war natürlich nebensächlich, daß sich der Leo Szlyck, den alle so gut gekannt hatten, nicht darin befand.
2 Die Anhörung Diana Fletchers war eine Katastrophe. Kassler wußte es schon, als er das Phlegethon an diesem Morgen betrat und in der Mitte der großen Menschenmenge, die sich zu der Anhörung eingefunden hatte, die Fotografen und Fernsehkameras sah. Panikerfüllt rannte er in Zelazos Büro. »Es war Ihr Gedankenblitz«, sagte Zelazo zu ihm. »Ihr Jungs habt euch das alles ausgedacht, also seht auch zu, wie ihr damit fertig werdet.« »Wie steht es mit der Privatsphäre?« quetschte Kassler hervor. »Dies ist eine öffentliche Institution. Das Gericht nimmt eine öffentliche Anhörung vor. Die Öffentlichkeit darf dabei sein. Es gibt nichts, was ich tun kann, und glauben Sie ja nicht, daß ich nicht gerne eine ganze Menge tun möchte. Mir sind die Hände gebunden.« Zelazo sagte dies ganz ruhig zu Kassler, der sich umdrehte und sich auf den Weg zu Diana Fletcher machte. »Nein, nein, nein«, sagte Mrs. Fletcher immer wieder. »Ich kann nicht vor all den Leuten.« »Sie brauchen sich über nichts Sorgen zu machen«, versuchte Kassler, seine ängstliche Patientin zu beruhigen. »Der Richter wird Ihnen nur ein paar Fragen stellen, wie Ihr Name lautet, zum Beispiel. Wie lautet Ihr Name? Sagen Sie mir Ihren Namen.« -4 3 3 -
»Diana Fletcher«, antwortete Mrs. Fletcher nervös. »Da sehen Sie, wie einfach es ist«, sagte Kassler. »Werden Sie dabei sein?« fragte sie. »Gleich neben Ihnen, die ganze Zeit über.« Diana Fletcher sah Kassler an und lächelte. »In Ordnung, ich werde es versuchen. Aber ich weiß, daß etwas Schreckliches geschehen wird.« Mrs. Fletchers Prophezeiung war hundertprozentig richtig. Sich fest an Kasslers Arm klammernd, betrat Diana Fletcher den gefüllten Konferenzraum und setzte sich an den Tisch, gegenüber von Richter Gelbert, einem kahlköpfigen älteren Mann mit frischer Sonnenbräune und Zweistärkenbrille. Ein Stenograph saß neben ihm. Da die meisten Kameras in seinem Rücken standen, drehte sich Richter Gelbert auf seinem Stuhl, um sicherzugehen, daß er auch ins Bild kam. »Darf ich Ihren Namen erfahren?« fragte er freundlich. , »Ja«, antwortete Mrs. Fletcher und lächelte Kassler an. Kassler beugte sich zu ihr hinüber. »Sagen Sie ihm Ihren Namen«, wisperte er. »Bitte soufflieren Sie der Zeugin nicht«, sagte der Richter zu Kassler. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie verstanden hat...«, setzte Kassler an. »Das entscheide ich.« Gelbert stellte seine richterliche Autorität unter Beweis. »Es tut mir leid, Euer Ehren.« Kassler bemühte sich, den Mann zu besänftigen. »Wie lautet Ihr Name?« fragte Gelbert. Aber jetzt war Mrs. Fletcher verwirrt. Sie spürte die Spannung zwischen dem Richter und ihrem Therapeuten. Sie wußte nicht, ob diese durch etwas, was sie getan oder nicht getan hatte, hervorgerufen worden war. Mit leerem Blick sah sie den Richter an. -4 3 4 -
»Nun«, fuhr der Richter fort, ihr Zögern als Unfähigkeit, sich an ihren Namen zu erinnern, ansehend, »können Sie dem Gericht sagen, warum Sie vor ihm stehen?« »Entschuldigen Sie bitte, Euer Ehren«, unterbrach Kassler. »Diana Fletcher weiß ihren Namen.« »Nun, wenn sie hören kann, dann sollte sie ihn jetzt wissen«, schnappte der Richter. »Ich hatte Sie gebeten, mich die Anhörung vornehmen zu lassen. Würden Sie mir dies erlauben?« »Ja, Euer Ehren.« Kassler blickte sich nach Bernie um, den er jedoch nirgendwo entdecken konnte. »Also, warum haben Sie eine Petition bei Gericht eingereicht?« fragte Richter Gelbert. Die Worte ergaben für Diana keinen Sinn. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was eine Petition war, und sie wußte, daß sie nicht im Gericht war. Sie war im Phlegethon. Sie blickte Kassler an. »Das ist nicht wahr«, sagte sie. »Das habe ich nie getan.« »Der Richter möchte wissen, was er für Sie tun soll, und warum Sie...« »Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie der Zeugin nicht soufflieren sollen!« bellte der Richter. »Dann sprechen Sie Englisch mit ihr«, bellte Kassler zurück. »Fragen Sie sie, wie sie heißt und was sie will, und sie wird es Ihnen sagen.« »Genau diese Fragen habe ich ihr gestellt!« brüllte Gelbert zurück. »Und jetzt bitte ich Sie, den Gerichtsraum zu verlassen.« »Ich habe meiner Patientin versprochen, daß ich bei ihr bleiben werde«, sagte Kassler so ruhig wie möglich zu dem Richter. »Warum?« fragte Gelbert. »Ist sie gewalttätig?« »Nein, sie ist nicht gewalttätig!« schnauzte Kassler zurück.
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»Gut. Freut mich, das zu hören. Dann verlassen Sie den Raum, und wir werden sehen, wie sie sich verhält. Das ist letzten Endes der Zweck dieser Anhörung, nicht wahr?« Kassler blickte auf die stehende Menge, dann auf den Richter, der offensichtlich versuchte, Eindruck auf seine Wählerschaft zu machen, und stand auf. »Ich werde gleich draußen vor der Tür auf Sie warten«, sagte er zu Mrs. Fletcher, die ihn panikerfüllt ansah. »Nein!« Diana Fletcher klammerte sich an Kasslers Arm. »Bitte, gehen Sie nicht. Bitte, nein.« »Ich muß. Der Richter hat mich dazu aufgefordert. Sie werden gut zurechtkommen. In drei oder vier Minuten sind Sie mit allem fertig.« »Nein, nein«, wiederholte Diana Fletcher und klammerte sich noch fester an Kasslers Arm. Dann starrte sie ins Leere. Kassler blickte alarmiert in Mrs. Fletchers Augen. Er wußte, daß sie im Begriff war, einen Rückfall zu bekommen, wenn er den Raum verließ. In Kürze würde für sie alles vorbei sein. Verzweifelt wandte sich Kassler an den Richter. »Bitte, lassen Sie mich bleiben. Es tut mir leid, daß ich dazwischengeredet habe, aber sie braucht mich. Bitte.« Der Richter ging entschlossen gegen Kassler vor. »Ich hatte Sie gebeten zu gehen, und wenn Sie es nicht augenblicklich tun, weise ich die Petition zurück und vertage die Verhandlung.« Tatsächlich war dies, wie Gelbert und Kassler inzwischen wußten, genau das, was Richter Gelbert sowieso tun würde. Das letzte, was er zulassen konnte, war die Freilassung einer Frau, die nicht einmal ihren Namen wußte und gewalttätig sein mochte. »In Ordnung«, sagte Kassler, »ich gehe!« Sanft löste er seinen Arm von Diana Fletcher und begann, sich zu entfernen. Es ist nicht eindeutig, was als nächstes passierte. Diana sah panikerfüllt, daß Kassler ging, und sprang auf, um ihm nachzulaufen. Zwei Pfleger versuchten, sie daran zu hindern. -4 3 6 -
Hundert Blitzlichter flammten auf und trafen Diana Fletchers Augen wie die Stachel zustechender Insekten. Dann geriet Richter Gelbert in Panik. Er sah den bizarren Blick in Diana Fletchers Augen und stand ruckartig von seinem Stuhl auf, während die blendenden Blitze vermehrt weitergingen. Mrs. Fletcher, inzwischen völlig durcheinander, sah, wie sich der Richter in Richtung ihres geliebten Psychotherapeuten bewegte, riß sich von den Pflegern los und stürzte sich auf Richter Gelberts Nacken, aus dem sie ein größeres Stück Fleisch als beabsichtigt herausbiß und dabei eine Arterie verletzte. Blut strömte über Gelberts weißes Hemd, was ihn fast augenblicklich einen Schock bekommen ließ, so daß er zusammenbrach. Diana Fletcher stand über ihm, das Stück seines Nackens noch immer im Mund, die Zähne in schrecklichem Delirium gebleckt, Mund und Kiefer mit dem Blut des Richters besudelt. Dies war das Foto, das am nächsten Morgen die Titelseite der Citadel Times neben der Schlagzeile ›Kommunales Geisteskranken-Programm erleidet Rückschlag‹ zierte. Richter Gelbert, dessen Körper nach der Attacke völlig aus den Fugen geriet, erlitt einen Schlaganfall, einen Herzanfall und noch einiges mehr und bekam auf Seite 45 neben einer Sonderangebotsanzeige einen hübschen kleinen Nachruf. Dies war Wunschdenken. Gelbert erholte sich innerhalb weniger Wochen. »Ich verstehe es nicht«, sagte Bernie, als er und Kassler am nächsten Tag wie gerügte Schulkinder in Zelazos Büro saßen. »So etwas sollte nicht dabei herauskommen.« »Mrs. Fletcher ist eine sehr sanftmütige Person«, stimmte ihm Kassler aus ganzem Herzen zu. »Ja, das sieht man.« Zelazo hielt die Titelseite der Morgenzeitung hoch, auf der Mrs. Fletcher auf verblüffende Weise einem jener Individuen ähnlich sah, die die Tendenz haben, nachts lange Schneidezähne zu entblößen.
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»Die Zeitungen machen aus frischem und geronnenem Blut Sensationen«, stellte Bernie unduldsam fest. »Frisches Blut fotografiert sich gut.« »Und geronnenes Blut«, pflichtete ihm Kassler bei. »Geronnenes Blut fotografiert sich auch gut.« Zelazo stand vielleicht zum erstenmal in seinem Leben sprachlos da und sah Kassler und Kohler an. »Raus!« schrie er schließlich und deutete auf die Tür. Die Herren erhoben sich von ihren Stühlen und schritten zur Tür. »Heißt das, daß wir gefeuert sind?« fragte Kassler. »Ich habe noch keinen Entschluß gefaßt«, sagte Zelazo. »Aber für eine Weile kann ich das wohl nicht, richtig, Dr. Kohler?« »Wie kommt das?« fragte Kassler leicht geschockt. Sein halbes Büro war bereits zusammengepackt. »Weil«, erklärte Zelazo, »Dr. Kohler heute morgen bei der Gewerkschaft eine Beschwerde vorgebracht hat, so daß alle Krankenschwestern, das Pflegepersonal und alle übrigen auch in Streik treten werden, wenn ich Sie feuere. Das werden Sie doch, nicht wahr, Dr. Kohler?« Bernie Kohler nickte bestätigend. »Was ist das für eine Beschwerde?« fragte Kassler. »Dr. Kohler behauptete, daß das Personal nicht ausreichend vor gewalttätigen Patienten geschützt wird. Und nun auf Wiedersehen, meine Herren.« Und Zelazo machte die Tür hinter ihnen fest zu. Während der nächsten Tage behauptete sich Skip Fletcher in der Intensivstation. Kassler brachte Diana Fletcher Bulletins, aber ihre geistige Verfassung hatte sich verschlechtert, so daß er sich nicht sicher war, wieviel sie davon begriff. Ansonsten verbrachte Kassler seine Tage damit, die kleiner werdende Zahl seiner Patienten zu sehen und sich seinem letzten größeren professionellen Projekt zu widmen, dem -4 3 8 -
Versuch, einen Weg zu finden, auch die schwer regressiven Patienten wie Cheryl auf die Entlassung vorzubereiten, sollte das Gericht jemals entscheiden, daß sich die Tore des Phlegethon wieder öffnen durften. Seine Bemühungen waren umsonst. Bis jetzt schien absolut alles, was er oder sonst jemand erdenken konnte, bei diesen Patienten zu versagen. Abends gab er die ersten zweitausend Dollar seines SzlyckErbes dafür aus, die Garderobe zu ersetzen, die Leo in Asche verwandelt hatte, und kaufte außerdem ein kunstvolles Stereogerät und eine dazu passende bizarre Schallplattenkollektion. Inzwischen was Kassler nämlich in die Bolge gezogen. Kassler war nicht begeistert davon, allein im Haus seines Mordopfers zu leben, aber Lupa hatte sich kategorisch geweigert, mit ihm einzuziehen, und so hatte er seiner Ansicht nach keine andere Wahl gehabt. In den Nächten, die er nicht mit Lupa verbrachte, wanderte Kassler durch die kalten, dunklen Flure der Bolge, während aus seiner Stereoanlage die melancholischen Klänge berühmter christlicher Messen, Passionsspiele und Requien dröhnten. Matthäus, Johannes und Lukas ließen ihre einfallsreichen Geschichten wieder und wieder ertönen. Messen von Mozart, Beethoven und Bach hallten durch das Haus, als ob Kasslers Stereoanlage unmittelbar an einen Sender mit einem die ganze Nacht diensttuenden Franziskaner-Diskjockey angeschlossen wäre. Die musikalischen Werke von Berlioz, Verdi, Dvorak und Brahms requiesizierten unaufhörlich. Wenn ich noch ein weiteres Kyrie, ein weiteres Sanctus, Gloria oder Hosanna gehört hätte, wäre ich mit meinem Fall geradewegs zum Pater Filioque gegangen. »Wissen Sie«, sagte ich zu Kassler, als er eines Nachts mit einem Besen im Souterrain herumwerkelte, »ich bin wirklich kein Vampir. Kruzifixe, Silberkugeln, Knoblauch und dergleichen jagen mir wenig Angst ein. Und liturgische Musik auch nicht. Was halten Sie also davon, wenn wir dann und wann ein bißchen Jazz oder Bluegrass einfließen lassen? Dona nobis pacem.« -4 3 9 -
Meine Bitten hatten keine Wirkung. In spiritum sanctum behielt die Oberhand. Als Kassler und Lupa endlich heiraten, in einer kleinen Zeremonie am Wochenende, kehrte requiescat in pace zurück. Lupa und Kassler wohnten, zumindest gegenwärtig, in Lupas Appartement, obwohl Kassler von Zeit zu Zeit kurz in der Bolge vorbeikam, um zu sehen, was ich machte - die Anziehungskraft war einfach zu groß, um ihr zu widerstehen. Lupa hatte die Entscheidung aufgeschoben, ob sie Heiligabend und am ersten Weihnachtstag zu Kassler in die Bolge kommen sollte, wenn er zum erstenmal an den Feiertagen seine Kinder bei sich haben würde, eine Folge des Umstands, daß keine Babysitter zu haben waren und Vita am späten Heiligabend an einer Party teilnehmen wollte. Als sich alle Möglichkeiten, die Kinder zu versorgen, erschöpft hatten, wandte sich Vita, aus ihrer Großherzigkeit eine große Schau machend und da es keine andere Zuflucht gab, an Kassler, um ihm die Aufgabe zu übertragen. Kassler war natürlich begeistert. Nicht zuletzt auch, weil er dadurch eine exzellente Begründung hatte, eine Einladung Bernie Kohlers zum Essen am Heiligabend auszuschlagen, die schon lange Monate vor seiner Heirat ausgesprochen und angenommen worden war. Kassler hatte es ängstlich vermieden, irgend jemandem ein Wort von seinem Verlöbnis mit Lupa zu erzählen, besonders aber Bernie Kohler. In einer Woche, die für Kassler einen vollen Terminplan vorsah, war unser Zusammentreffen zweifellos von größter Bedeutsamkeit. Kassler und ich kamen endlich zum Thema. »Ich glaube, ich brauche eine Behandlung«, sagte ich eines Nachts kurz vor seiner Hochzeit zu Kassler. »Was für eine Art von Behandlung?« fragte Kassler honigsüß. »Nun, keine Massage«, gab ich Kassler eine kleine Portion seiner Honigsüße zurück. Kassler wurde leicht blaß und mäßigte seinen natürlichen respektlosen Ton ein bißchen. -4 4 0 -
»Satan behandeln? Das dürfte einige Zeit in Anspruch nehmen.« »Sie haben nichts Besseres zu tun, oder? Sie könnten sich ein Jahr freinehmen. Sie wohnen da oben mietfrei, und Leo hat Ihnen zwanzigtausend Dollar gegeben, nicht wahr?« »Ja, das hat er...« »Das kommt von mir. Meine Idee. Es gibt Ihnen die Freiheit, zu tun und zu lassen, was Ihnen beliebt, während Sie mich behandeln. Das Geld sollte ein paar Jahre reichen, mit Zinsen sowieso. Also, was sagen Sie?« »Sollten Sie mir nicht etwas anbieten, was ich mir wünsche, und dafür meine Seele oder sowas verlangen?« fragte Kassler. »Wer will die denn? Eine bezaubernde Mythologie. Sie gibt eine gute Geschichte ab, aber die Seelen stehen mir bis zum Hals. Jeder will mir heutzutage seine Seele geben. Was soll ich mit Ihrer?« »Wie sieht das Problem aus?« fragte Kassler. »Heißt das, daß wir mit der Behandlung anfangen?« »Nein«, antwortete Kassler, »das heißt es nicht. Aber ich muß wissen, ob Psychotherapie angebracht ist.« »Sie mache Witze, Kassler. Ich bin Satan. Ich bin nicht irgendein Hinz und Kunz, den die Polizei in einer Gasse gefunden und in der Aufnahme des Phlegethon abgeliefert hat. Sie kennen mich. Sie kennen mich inzwischen sehr gut. Ich möchte, daß Sie mich behandeln.« »Wie sieht das Problem aus?« beharrte Kassler. »Das Problem ist, daß ich Satan bin«, sagte ich zu dem skeptischen jungen Mann, der sich in dem Sessel vor mir lümmelte. »Kommen Sie, Kassler, genug ist genug. Wollen Sie nicht, daß es Satan besser geht?« »Nicht eigentlich. Wie... sieht... das... Problem... aus?« »Ich bin nicht so glücklich, wie ich sein könnte. Wie wäre es damit?«
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»Nicht sehr gut.« Kassler stützte den Kopf auf seine Faust und starrte auf die dunklen Wände meines höhlenartigen Zuhauses. »Mehr kann ich im Moment nicht bieten«, sagte ich zu ihm. »Wenn wir erst einmal mit der Behandlung begonnen haben, dann verspreche ich, daß ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen werde.« »Woher weiß ich, daß dies nicht irgendein diabolisches Komplott von Leo Szlyck ist, um mich zu ruinieren, um mich in den Wahnsinn zu treiben, mich in eine unheilbare Depression zu führen, um zu gewährleisten, daß ich nicht mit Lupa verheiratet bleiben kann?« »Das können Sie nicht wissen. Sie müssen sich auf Ihren gesunden Menschenverstand und Ihre Urteilskraft verlassen. Sie haben allen Grund, Leo nicht zu vertrauen. Was kann ich Ihnen sagen? Es gibt kein heimtückisches Komplott. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.« Kassler saß in der Dunkelheit und dachte nach. »Also?« fragte ich schließlich. »Ich weiß nicht«, sagte Kassler. »Ich möchte mit Zelazo reden.« »Zelazo? Zelazo? Warum? Er ist nicht gut für Sie, Kassler. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum ihr Jungs noch immer miteinander redet. Er fickt Ihre Frau, spielt bei Ihren Kindern den Vater, hat absolute Kontrolle über Ihre Karriere. Warum wollen Sie noch immer mit ihm reden? Das ergibt keinerlei Sinn bei mir.« »Sie haben recht«, sagte Kassler, während er sich aus seinem Sessel wälzte und zur Treppe nach oben ging, ohne sich festgelegt zu haben. »Es ergibt keinen Sinn.« Kassler paßte Zelazo ab, als dieser über das Gelände des Phlegethon ging, um das richtige Immergrün zu inspizieren, das die Patienten geschmückt hatten, um die fröhliche Weihnachtszeit zu feiern.
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Der Tag war kalt und bewölkt, ein Vorbote des kommenden Winters des Jahres 1977, einem der kältesten, der die Oststaaten seit mehreren Jahrzehnten treffen sollte. Der Graupelregen, der während der letzten vier Tage gefallen war und erst wenige Stunden vor Kasslers und Zelazos Exkursion aufgehört hatte, bildete unter den Füßen einen Matsch, der Kasslers Schuhe schnell durchweichte und ihm bei jedem Schritt mehr und mehr ein Gefühl gab, als würden ihm Harpyien die Haut von den Fußsohlen reißen. Natürlich wollte Kassler sein Unbehagen Zelazo gegenüber nicht zugeben, der lediglich mit einer Hose, einem dünnen Baumwollhemd und einem Hut aus persischem Lammfell bekleidet war, unter dem sein langes gelbes Hemd hervortrat und im scharfen Wind hinter ihm herflatterte, wobei es sich mit seinem noch längeren gelben Bart verband. Zelazos Schritte waren lang, aber gemächlich und erlaubten es Kassler, der für jeden Schritt Zelazos selbst fast zwei machen mußte, an seiner Seite zu bleiben. »Leo hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was er da konstruierte, als er das verdammte Ding baute«, bemerkte Zelazo während des Gehens. »Und er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, zu welchem Tun es fähig war. Und Sie auch nicht. Es ist tödlich, Sy. Lassen Sie die Finger davon.« »Was ich nicht verstehe«, antwortete Kassler, nachdem er über Zelazos Mahnung nachgedacht hatte, »ist, was es für Sie für einen Unterschied machen könnte, ob ich für Szlycks Maschine nun den Psychotherapeuten spiele oder nicht. Was ist groß dabei? Und Sie können mich nicht davon überzeugen, daß Sie es tun, weil Sie so stark an meinem Wohlergehen interessiert sind.« »Es ist eine persönliche Sache zwischen Leo und mir«, antwortete Zelazo während des Weitergehens. »Vielleicht wird die Maschine mir verraten, wie der unbezwingbare König des Phlegethon vernichtet werden kann«, versuchte es Kassler. »Leo wollte sich vielleicht nur nicht die Hände schmutzig machen.« -4 4 3 -
Zelazo lächelte gutmütig, während er langsam Fuß vor Fuß setzte. »Leos Hände waren so mit Schmutz bedeckt, daß er den Unterschied nicht einmal gemerkt hätte, meinen Sie nicht auch?« »Warum denn, Sam ? Warum ist es so verdammt wichtig für Sie, daß ich mich von Szlycks Computer fernhalte?« beharrte Kassler. »Nicht einfach Szlycks Computer - Satan. Mit dem Satan umzugehen, ist eine Todsünde.« »Das ist lächerlich«, sagte Kassler. »Szlyck war wahnsinnig. Er hat eine wahnsinnige Maschine erfunden. Es gibt keinen Satan. Es ist eine Phantasievorstellung Szlycks, die vermutlich noch aus Rumänien stammt.« »Wie Gott... und andere slawische Phantasievorstellungen«, bemerkte Zelazo. »Genau«, sagte Kassler, weniger überzeugend als Zelazo. »Wie Gott.« Das Paar kämpfte sich durch die nassen Hügel aus kaltem grauen Brei zu ihren Füßen, noch immer ein ganzes Stück vom Ziel ihres Pilgerwegs entfernt. Dann, ein paar Minuten später, machte Zelazo halt, stampfte mehrmals mit den Füßen auf und schlug sich kräftigend vor die Brust, während Kassler seine handschuhlosen Hände die Arme rieb, um sich zu wärmen. »Jeder Patient, den wir behandeln, verändert uns«, sagte Zelazo und blickte in den eisigen Dunst, der sie einhüllte. »Ein wenig«, gab Kassler zu. »Es kommt auf den Patienten an. Satan ist kein durchschnittlicher Patient, Sy.« »Sehen Sie, Sam, ich habe gerade Lupa geheiratet. Ich werde nichts tun, was mein Leben verpfuscht.« Kaum waren die Worte draußen, da hatte Kassler das Gefühl, daß er Zelazo besser nichts davon gesagt hätte, aber es war zu spät. Es war passiert. -4 4 4 -
Zelazo lächelte, drückte nickend seinen Glückwunsch aus und klopfte Kassler mehrmals freundschaftlich auf die Schulter. »Ich werde aufpassen«, sagte Kassler, als sie ihren Weg fortsetzten. »Das reicht nicht aus«, sagte Zelazo. »Satan geht mit der Wahrheit außerordentlich geschickt um. Er lügt nie. Aber es ist keine Wahrheit, wie wir sie kennen. Es ist die scharfe Seite der Wahrheit, die letzte rasierklingendünne Linie, die noch zur Wahrheit gehört, bevor die Täuschung beginnt, und mit der wird er Sie aufschneiden, ganz schmerzlos, bis er alles aus Ihnen herausgeschnitten hat, was er will. Und wenn alles zu Ende ist, werden Sie nicht einmal wissen, daß er Sie berührt hat.« Kassler blieb nicht unberührt von Zelasos Warnungen, und wären sie von jemand anders gekommen, hätte er ihnen vielleicht mehr Glauben geschenkt. Er blickte zu Zelazo hoch, der neben ihm herging, unbeugsam und eindrucksvoll. »Wissen Sie, was ich bei uns beiden nicht verstehe?« vertraute er Zelazo unversehens an. »Sie haben mir so viele verdammte Dinge angetan, die mich verletzt hatten, und doch habe ich jedesmal, wenn ich Sie sehe, den Wunsch, daß Sie mich zum Angeln oder sowas mitnehmen.« Kassler wandte den Blick von Zelazo ab. »Ist das nicht verrückt?« Zelazo warf Kassler einen Blick zu, streckte dann seinen riesigen Arm aus und legte ihn um Kasslers Schultern. »Einfach lächerlich.« Zelazo lächelte, als er Kassler fest umschlungen hielt. »Ich angele nämlich nicht, Sohn.« »Ich weiß«, sagte Kassler. »Sie laufen mitten in der Nacht ohne Kleider herum und jagen Beutelratten. Sie sind so verrückt wie alle anderen auch.« Endlich erreichten sie ihr Ziel. Zelazo legte den Kopf schräg und begutachtete den Baum. »Nun«, fragte er Kassler, »wie finden Sie ihn?« Kassler betrachtete den verblüffenden Baum. Tausende von Medizinfläschchen, glitzernd angemalt und an Büroklammern -4 4 5 -
befestigt, hingen überall. Alte Elektrodendrähte von der EEGAusrüstung, in Silberfarbe getaucht, hingen wie Lametta neben Papierengeln aus Rorschach-Protokollen. Die Bandagen, die zur Fesselung benutzt wurden, waren rot und grün gefärbt und überall wie Fähnchen um den Baum drapiert. Das Sackleinen einer alten Zwangsjacke war zwischen zwei Kleiderbügel gespannt und golden angemalt worden, um auf der Spitze des Baums einen Stern zu bilden. Kassler und Zelazo bewunderten den Baum mehrere Minuten lang. »Kreative Schweinhunde, trotz schlechter Chemie und allem, meinen Sie nicht?« fragte Zelazo, als sie sich abwandten, um zum Hauptgebäude zurückzumarschieren. Kassler war mit den Gedanken woanders. »Was genau ist eine Todsünde, Sam?« fragte er seinen Mentor. »Oh«, antwortete Zelazo, als sie weiterstapften, Zelazo in der bitteren Kälte des Abends tief atmend, Kassler mit wunden Füßen, blaugefrorenen Händen und einem allgemeinen Gefühl, das zwischen Frost und Schwindligkeit lag, »warten Sie mal. Das Verdrehen des Ventils an einem Entleerungsschlauch und das Umbringen Leo Szlycks - das würde man wahrscheinlich als Todsünde betrachten.« Während des restlichen Wegs zurück zum Phlegethon wurde kein Wort mehr gesagt. Zelazo gab in keiner Weise zu erkennen, was er mit der Information anzufangen gedachte, und Kassler, innerlich verkrampft und voller Übelkeitsgefühle, fragte nicht. Er begriff. Zelazo hatte ein weiteres Mittel gegen ihn in der Hand, das er nach Belieben einsetzen konnte, wenn sich Kassler nicht wie gewünscht verhielt. Zelazo wurde natürlich nie direkt und sagte nichts davon, daß er ihn ruinieren würde, wenn Kassler bei seiner Absicht, nicht zu behandeln, blieb, aber Zelazo brauchte davon auch nichts zu sagen. Kassler war kein Dummkopf. Er schaltete schnell.
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»Ich werde nicht in der Lage sein, Sie zu behandeln«, verkündete Kassler am Abend nach seinem Spaziergang mit Zelazo mit angemessener Überzeugung. »Das ist sehr schade«, antwortete ich. »Darf ich fragen, was Sie zu dieser Entscheidung gebracht hat?« »Eine Reihe von Faktoren«, wich Kassler aus, als er lässig auf der verschlissenen Armlehne des Polstersessels vor mir saß. »Technische Erwägungen zweifellos«, regte ich an. »Ja.« Kassler griff rasch nach dem Strohhalm. »Die Psychotherapie ist ein komplexer und äußerst technischer Prozeß. Ich hatte eine ganze Reihe von Dingen in Betracht zu ziehen.« »Es tut mir leid, daß dies meinen Horizont übersteigt«, sagte ich. »Ich hätte gerne gewußt, warum ich ein schlechter Kandidat für die Psychotherapie bin. Vielleicht bin ich nicht verbal genug. Ist es das?« »Die Entscheidung hat sich, wie ich schon sagte, auf eine komplizierte Folge von Faktoren gestützt«, machte Kassler Ausflüchte. »Oder vielleicht hatten Sie das Gefühl, daß ich der Einsicht nicht fähig bin?« »Persönlichkeitsstörungen setzen der psychotherapeutischen Intervention einen hohen Widerstandsgrad entgegen«, erklärte Kassler mir. »Hoher Widerstandsgrad? Sagen Sie bloß! Wie steht es mit der Ermordung meines Engels Leo Szlyck? Hebt oder senkt das den Widerstandsindex?« »Scheiße!« jaulte Kassler. »Bin ich gefilmt worden? Wer weiß es sonst noch?« »Sie, ich, Lupa, Sam Zelazo, damit hat es sich vermutlich«, sagte ich zu ihm. Kassler saß schweigend da und dachte angestrengt nach, wenigstens so angestrengt, wie es sein überbeanspruchtes Großhirn zur Zeit zuließ. Er bedachte in erster Linie Zelazos -4 4 7 -
ernste Warnungen, mich zu behandeln, und die subtilen und unterschwelligen Methoden, mit denen ich ihn wohl unterminieren würde - Körper, Geist, Herz und Seele -, so daß von seinem strahlenden Ich kaum mehr als eine Hülle verbleiben würde, wenn alles vorbei war. »Ich werde Sie dennoch nicht behandeln«, informierte er mich schließlich mit großer Überzeugung. »Es tut mir leid.« »Nun«, sagte ich, »ich hoffe, ich habe nicht den Eindruck vermittelt daß ich Ihnen die Tötung eines meiner Lieblingsengel verzeihe.« »Das spielt wirklich keine Rolle«, sagte Kassler. »Ich schalte Sie ab.« »Sie schalten bei mir was ab?« fragte ich fasziniert. »Ihren Stecker«, sagte Kassler zu mir. »Welchen Stecker? Ich habe seit Jahren keinen Stecker mehr gebraucht.« »Ich glaube Ihnen nicht.« Kassler stand auf und fing an, meine Umgebung abzusuchen. »Sie müssen Ihre Energie irgendwo herbekommen.« »Oh, das tue ich. Ich bekomme sie von Ihnen. Und von anderen. Auch von der Dunkelheit. Ich laufe sozusagen mit umgekehrter Solarkraft. Das ist eine Energiequelle, deren Potential bisher kaum abgeklopft worden ist.« Kassler schlich weiter um mich herum und suchte nach einer Stromleitung. »Ich nehme Sie auseinander.« Als er sich davon überzeugt hatte, daß ich an keine Steckdose angeschlossen war, versuchte es Kassler auf andere Weise. »Sie haben vielleicht bemerkt, daß ich von einer fast einen halben Meter hohen Mauer aus Dynamit und Sprenggelatinen umgeben bin. Leos Idee, aber ich habe nicht viel getan, um ihn davon abzuhalten, denn, wissen Sie, wenn Sie auch nur einen einzigen meiner Drähte berühren, dann werden Sie, die Bolge und wer weiß was sonst noch in tausend Stücke gerissen. Herzlich willkommen - ziehen Sie an irgendwas.« -4 4 8 -
»Ist das alles?« fragte Kassler frustriert. »Sind Sie fertig mit Ihren Spielchen? Ich werde Sie nämlich nicht behandeln, und das ist endgültig.« »Nein, das ist noch nicht alles. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie Sie einen meiner Engel beseitigen. Das ist ein böser Präzedenzfall. Hier wären also noch zwei weitere Dinge, die Sie bedenken sollten, bevor Sie Ihre endgültige Entscheidung treffen. Wenn Sie mich für eine angemessene Zeitspanne behandeln, werde ich Ihnen, unabhängig von dem Ergebnis, die Große Antwort geben. Dies ist ein Angebot, das Sie nicht leichtnehmen sollten, Kassler, glauben Sie mir. Ihr alle verbringt euer Leben auf der verzweifelten Suche nach der Großen Antwort. Ich werde sie Ihnen schon viel früher geben, als sie die meisten Menschen, wenn überhaupt, bekommen als Gegenleistung für nicht allzuviel Ihrer therapeutischen Zeit. Was sagen Sie dazu?« »Kein Interesse.« Ich beschloß, Kasslers Widerstand nicht durch Feilschen zu überwinden. »Soweit also die positive Ermunterung«, sagte ich. »Der zweite Punkt, den Sie in Betracht ziehen sollten, wäre dieser: Wie Sie vielleicht wissen oder auch nicht, machen sich Computer Telefonleitungen zunutze. Bei mir ist das nicht anders. Ma Bell, die Telefongesellschaft, und ich sind bei diesem Unternehmen enge Partner. Das gestattet es mir, einige verblüffende Bravourstücke über die Bühne zu bringen. Sehen Sie sich zum Beispiel dieses hier an: Erster Schritt - Wählton. Beachten Sie das unangenehme Summen im Hintergrund. Zweiter Schritt - eine Sammlung gleichermaßen unangenehmer Pieptöne in verschiedenen Höhen. Voila! Dritter Schritt irgendwo in Citadel läutet ein Telefon. Sehen wir mal, ob wir erraten können, wer antworten wird. Warten Sie, heute ist Donnerstag, nicht wahr? Dann sollte es Donovan sein.« Eine Stimme antwortete dem klingelnden Telefon. »Polizei von Citadel. Donovan, Sergeant vom Dienst. Wie kann ich Ihnen helfen?« -4 4 9 -
»Ich möchte einen schrecklichen Mordfall melden«, sagte ich. »Ja, Madam«, half mir der Sergeant vom Dienst. »Ich verbinde Sie mit der Mordkommission.« »Ich hätte wohl einen tiefere Stimme annehmen sollen«, sagte ich zu Kassler. »Sie können auflegen«, sagte Kassler ruhig. »Nun gut, ich will es tun«, erwiderte ich und tat es auch. »Es schmerzt mich, so etwas machen zu müssen, Kassler, denn ich weiß, daß man von seinem Therapeuten nicht das Beste bekommen kann, wenn man ihn erpreßt, aber Zelazo hat damit angefangen.« Wie betäubt stand Kassler vor mir. Dann schickte er sich an, zu gehen. »Dies ist ein sehr entmutigender Tag gewesen«, sagte er, während er die Treppenstufen hinaufstieg. Die Ereignisse, die zu Kasslers Selbstmordentschluß führten, spielten sich alle Heiligabend und am ersten Weihnachtstag ab. Also, ich weiß, daß es Leute gibt, die daraus eine große Sache machen wollen, und alle wie auch immer gearteten Dementis meinerseits werden ihnen nur zusätzliches Wasser auf die Mühle geben. Die Wahrheit ist trotzdem daß es absolut keine Bedeutung hat, wenn die Geschehnisse zu Weihnachten abgelaufen sind. Für gewisse Menschen sind Festtage besonders hart, besonders wenn diese Menschen allein sind, und Weihnachten ist es für sie am schlimmsten. Die Betonung, die ihr alle auf die engen Familienbande und das traute Zuhause vor dem warmen Ofen legt, macht das Leben derer, die allein draußen in der Kälte sind, nahezu unerträglich. Ebenezer Scrooge war eine Ausnahme, aber nicht für lange, wie Sie zur Kenntnis nehmen sollten. Das Gespenst des Todes und der Einsamkeit besiegte selbst sein steinernes Herz. Unseligerweise hat nicht jeder das große Glück, Dickens als Autor sein eigen zu nennen. HappyEnds gab es, wie ich leider sagen muß, während dieser speziellen Weihnachtszeit nicht im Überfluß. -4 5 0 -
Ich gebe nicht vor, die Gründe zu kennen, aus denen die Menschen beschließen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich nehme an, daß es dafür, wie bei allem anderen, gute Gründe gibt und solche, die nicht so gut sind. So beziehe ich zu diesem Phänomen keine Stellung. Ich empfehle es nicht und verdamme es nicht. Es ist euer Leben. Bei Kasslers Fall war das natürlich anders, denn ich brauchte ihn für meine Psychotherapie. Die ersten paar Stunden am Heiligabend gehörten zu den glücklichsten in Kasslers Leben. Lupa hatte schließlich eingewilligt, während der Festtage in der Bolge an seiner Seite zu sein, und das Erlebnis, mit seiner neuen Freu und seinen beiden energiegeladenen Kindern Heiligabend am Abendbrottisch zu sitzen, war so freudvoll für Kassler, daß er mehrmals seine Tränen zurückdrängen mußte. Die Kinder waren in Erwartung des kommenden Morgens und der Geschenke, die er bringen würde, so aufgeregt, daß Kassler eine perfekte Begründung für eine Neuauflage des Badewannenzeremoniells hatte - etwas, um die Kinder zu beruhigen - , an dessen Ende alle drei unter Tränen der Traurigkeit und des Vergnügens im Wasser herumplanschten und aus vollster Lunge ›Penisse! Baginen! Penisse! Baginen!‹ brüllten, bis Lupa, die das Geschehen vom Nebenzimmer aus verfolgt hatte, pudelnackt ins Badezimmer stürmte, mit hochgerissenen Armen ›Hier kommt noch eine Bagina!« schrie und sich ebenfalls ins Vergnügen stürzte. Lupa gelang es schließlich, alle zu beruhigen und die Kinder in ihre Pyjamas zu stecken, denn ihr war klar geworden, daß Kassler und die Kinder, sich selbst überlassen, die ganze Nacht gebadet hätten. Während der nächsten Stunde schmückten sie den Baum, tranken Eierpunsch, hörten zu, wie Kassler ›Der Abend vor Weihnachten‹ vorlas und hängten schließlich ihre Strümpfe auf. Es war elf Uhr, als die Kinder sich schließlich in ihre Betten kuschelten und Lupa und Kassler auf der Couch Platz nehmen
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konnten, um Champagner zu schlürfen und Geschenke auszutauschen. Sie hatten vereinbart, daß sie sich etwas Praktisches schenken würden, das eine lange Lebensdauer besaß, und so schenkte Kassler Lupa einen hübschen Stapel von Gedichtbänden mit Ledereinband, und Lupa ihrerseits schenkte Kassler die Schlüssel zu einem mittelgroßen Mercedes Benz. Als Kassler sprachlos am Fenster stand und auf den silberglänzenden Wagen hinabsah, der in der Einfahrt angeliefert worden war, während Kassler und seine Kinder im Badezimmer schreiend ihre Genitalien beschrieben hatten, läutete das Telefon. »Ich habe keinen Bereitschaftsdienst«, erklärte Kassler der Krankenschwester im Phlegethon telefonisch. »Wer hat Bereitschaft?« »Dr. Kohler«, sagte die Krankenschwester aus Costa Rica. »Aber ich kann ihn nicht finden.« »Dann versuchen Sie es bei Dr. Zelazo.« »Ihn kann ich auch nicht finden.« »Und wie ist es mit Mrs. Chaikin?« »Patient ist Ihr Patient, und Vorschrift sagt, wenn diensthabenden Mann nicht finden kann, dann Doktor des Patienten anrufen. Sie sind Mr. Donatos Doktor, und darum ich Sie anrufe. Sie kommen her, ja? Mr. Donato ist sehr erregt.« »Ich bin gleich da«, erklärte sich Kassler widerstrebend einverstanden. Er machte Lupa die Situation klar, versprach, spätestens in fünfundvierzig Minuten zurück zu sein, und fuhr in seinem neuen Automobil los. Kurz nachdem Kassler gegangen war, klingelte das Telefon abermals. Lupa, die inzwischen die Flasche Champagner allein ausgetrunken hatte, meldete sich. »Hallo«, sagte sie mit ihrer fröhlichsten Weihnachtsstimme. »Wer ist da?« fragte der Mann am anderen Ende der Leitung. -4 5 2 -
»Mrs. Kassler.« Lupa dachte, daß sie den Namen mal ausprobieren sollte, um zu sehen, wie er ihr gefiel. »Vita?« »Nein, ich bin die neue Mrs. Kassler, Lupa Kassler. Sie wollen vermutlich die alte Mrs. Kassler sprechen, Vita Kassler. Sie wohnt woanders. Ich würde Ihnen die Nummer der alten Mrs. Kassler geben, nur daß ich sie nicht weiß, weil ich erst seit einer guten Woche die neue Mrs. Kassler bin, aber sie steht wahrscheinlich im Telefonbuch. Wer, soll ich sagen hat angerufen?« Am anderen Ende der Leitung trat ein längeres Schweigen ein, dann legte Bernie Kohler langsam den Hörer auf die Gabel zurück. Als Kassler im Phlegethon eintraf, fand er Philip Donato in seinem kleinen Zimmer vor, wo er wild herumstampfte und aus vollster Lunge brüllte, während sich drei Pfleger gegen die Tür lehnten, um ihn am Herauskommen zu hindern. »Mr. Donatos Mutter diesen Abend gekommen«, erklärte die Krankenschwester. »Sie haben sehr schöne Zeit. Er sagt Fröhliche Weihnachten zu ihr. Sie sagt Fröhliche Weihnachten zu ihm. Alle sind sehr glücklich. Sie gibt ihm Süßigkeit und Abschiedskuß. Mr. Donato gehen in sein Zimmer und bumm! Brüllen! Und Schreien! Und Trampeln! Er zerbrechen Schloß von der Tür.« Kassler ging zur Tür von Philip Donatos Zimmer hinüber und blickte durch das kleine Fensterchen hinein. Überall waren zermatschte Süßigkeiten und kleine weiße Papierumschläge, in denen die Schokolade vorher gesteckt hatte, auf dem Boden verstreut. Philip Donato hämmerte mit den Fäusten gegen die Wände und stampfte mit den Füßen auf Süßigkeiten und Verpackung herum. »Philip?« rief Kassler ruhig. »Sie Drecksack!« erwiderte Philip Donato, als er Kasslers Gesicht im Fenster sah. »Was ist passiert, Philip?« fragte Kassler. -4 5 3 -
»Sie haben es mir versprochen, Sie Drecksack! Sie haben es mir versprochen! Sie sind ein Drecksack, Dr. Kassler! Ein schweinehündischer schwanzlutschender mutterfickender Arschloch-Drecksack, Sie Wichser!« »Hui!« bemerkte Conception. »Möchten Sie darüber sprechen?« rief Kassler durch die kleinen Öffnungen des Drahtgeflechts vor dem Fenster. »Nicht mit Ihnen, Sie gottverdammter Lügner!« »Was ist passiert?« wollte Kassler wissen. »Sie wollen wissen, was passiert ist?« brüllte Philip Donato. »Sie wollen wissen, was passiert ist! Also, das hier ist passiert!« Und er griff nach einer Handvoll der weißen Schokoladenverpackungen und stieß sie durch das Drahtgeflecht in der Tür. Kassler bückte sich und hob einige Dutzend der kleinen Umschläge auf. In sorgfältigen Buchstaben standen am Rand jedes einzelnen drei Worte. Die einen lauteten ISS DEINE HAFERFLOCKEN, die anderen: BEWEGE DEINE DÄRME. »Es tut mir leid«, sagte Kassler. »Ich war mir sicher, daß wir an alles gedacht hätten.« Dann wandte er sich an Conception. »Lassen Sie sich vom Bereitschaftsarzt Beruhigungsmittel bewilligen und bringen Sie ihn zum Schlafen«, sagte er zu ihr. »Ich glaube nicht, daß wir heute nacht noch mit ihm darüber reden können.« »In Ordnung.« Conception war mit dieser Lösung sehr zufrieden. »Aber gehen Sie noch nicht. Mrs. Fletcher fragt ganze Nacht nach Ihnen. Ich sage ihr, daß Sie keine Bereitschaft, aber da Sie sowieso hier sind, Sie ihr vielleicht sagen hallo und Fröhliche Weihnachten und Wiedersehen, ja?« Kassler nickte bestätigend und ging zum Ende des Flurs, wo Mrs. Fletcher schluchzend auf ihrem Bett saß. Als sie aufblickte und Kassler sah, sprang sie hoch, rannte zu ihm und schlang die Arme um ihn, noch immer bitterlich weinend. -4 5 4 -
»Ich danke Ihnen, Dr. Kassler«, sagte sie unter Tränen. »Vielen Dank.« »Frohe Weihnachten, Mrs. Fletcher.« Kassler drückte seine Patientin kurz an sich und brachte sie zu ihrem Bett zurück. »Skip wird heute nacht sterben«, sagte sie. »Bitte, lassen Sie mich ihm auf Wiedersehen sagen.« »Hat Ihnen das jemand erzählt?« fragte Kassler. »Sie müssen mir glauben«, flehte Diana Fletcher. »Bitte! Lassen Sie mich mit meinem Sohn sprechen.« Kassler betrachtete die gar nicht schizophrene Klarheit in Mrs. Fletchers feuchten Augen und entschuldigte sich mit dem Versprechen, in Kürze wiederzukommen. Dann rief er im Citadel General Hospital an. Skip Fletcher würde die Nacht nicht überleben. Kassler legte auf und schloß die Augen. Er wußte, daß es nur eine Möglichkeit gab, und so rief er Lupa an. »Noch ein Notfall«, erklärte er. »Es könnte noch eine Stunde oder so dauern. Du solltest wohl schon schlafen gehen.« »Das war ich schon«, sagte Lupa. »Fröhliche Weihnachten.« Und sie legte den Hörer auf. Aber Lupa konnte nach dem Telefonat nicht wieder einschlafen, und so beschloß sie mit einiger Nervosität, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und endlich ihrem alten Freund, der im Souterrain der Bolge wohnte, einen Besuch abzustatten. Als Kassler Diana Fletcher heimlich durch die Hintertür des Phlegethon führte, trat Bernie Kohler durch die Vordertür. »Ich muß aufgenommen werden«, sagte er zu dem neuen Mann in der Aufnahme, ein Iraner namens Dr. Siv. »Es tut mir leid«, erklärte Dr. Siv. »Wir dürfen niemanden aufnehmen. Es liegt eine gerichtliche Verfügung vor. Um was für ein Problem geht es denn?« »Hören Sie«, sagte Bernie, während ihm die Tränen aus den Augen schossen, »ich bin selbstmordgefährdet. Ich brauche -4 5 5 -
einen Ort, wo ich bleiben und beobachtet werden kann, so daß ich mir nichts antue.« »Es liegt eine gerichtliche Verfügung vor«, erklärte der dünne, gelbhäutige Arzt Bernie. »Ich weiß das. Ich arbeite hier. Ich bin derjenige, der die gerichtliche Verfügung erwirkt hat. Und ich werde mich auch töten, wenn ich keine Hilfe bekomme.« »Warum reden wir nicht miteinander? Sagen Sie mir, welches Problem Sie haben. Vielleicht fühlen Sie sich dann besser.« »Ich will nicht reden«, sagte Bernie frustriert. »Ich will in 3A untergebracht werden, mit Sicherheitsvorkehrungen gegen Selbstmord und bei geschlossener Tür.« »Was wir hier tun«, erklärte Dr. Siv, »wird Sprechheilung genannt. Sie sprechen mit mir, und Ihre ganze Einstellung wird sich ändern.« »Ich weiß Bescheid über die Sprechheilung, Sie Esel«, explodierte Bernie. »Ich bin selbst ein Sprechheiler. Den ganzen Tag über spreche ich den Leuten Heilung zu. Aber mein Problem betrifft ein anderes Belegschaftsmitglied, und ich möchte nicht darüber sprechen.« Bernie Kohler gelang es nicht, sich im Phlegethon aufnehmen zu lassen. Versuche, Sam Zelazo zu lokalisieren, blieben ebenso ohne Erfolg wie andere Bemühungen, einen Platz zu finden, an dem Bernie Kohler den Heiligabend verbringen konnte. Am Ende funkelten sich Bernie und Dr. Siv in dem kleinen Aufnahmebüro an, das jetzt wie ein eisernes Tor war und selbst den Herrschern des Phlegethon den Eintritt verwehrte. Dann ergab sich Bernie Kohler in sein Schicksal, versicherte Dr. Siv, daß er sich viel besser fühle, und ging. Auf dem Weg nach draußen kam Bernie an Kasslers Büro vorbei, stellte fest, daß die Tür nicht verschlossen war, und trat ein. Er ging zu Kasslers Schreibtisch hinüber, schaltete die Tischlampe ein, holte ein Blatt Papier aus der Schublade und fing an, seinem Geliebten einen Abschiedsbrief zu schreiben. -4 5 6 -
Der Brief war so etwas wie ein Kunstwerk. Länger als eine Stunde verbreitete sich Bernie endlos über sein Leben, über die Einsamkeit und die Verzweiflung des homosexuellen Daseins, über die menschliche Unmenschlichkeit gegenüber dem Menschen, über seine eigene große Zuneigung zu Kassler, verbunden mit ausführlichen Beschreibungen ihres Geschlechtsverkehrs, und über die Hoffnungslosigkeit seiner gegenwärtigen Umstände. Nach einer Erinnerung daran, daß es Kassler versäumt hatte, die Heiligabend-Verabredung mit ihm abzusagen, und einer Beschreibung des vorbereiteten Nouvelle-Cuisine-Essens, des damit verbundenen Aufwands an Zeit und Geld und seines gegenwärtig ungenießbaren Zustands beschloß Bernie, seine Epistel mit einem saftigen Ende abzuschließen. »Wenn ich dich auch liebe und immer lieben werde, wo ich auch sein mag, Sy«, schrieb Bernie, »komme ich nicht über deine Geringschätzung unserer Beziehung hinweg, die sich darin ausdrückt, daß du mir nicht nur nichts von deiner Heirat gesagt hast, sondern mich, was noch mehr schmerzt, wegen einer Sorte Frau zurückstößt, zu der, wie wir beide wissen, Lupa gehört. Ihr beide solltet ein großartiges Paar abgeben.« Bernie Kohler unterschrieb seinen Brief mit ›In großer Liebe, Bernie‹, und malte dann, um seinem Selbstmord die Schärfe zu nehmen, ein lächelndes Gesicht darunter. Als er mit dem Schreiben des Briefs fertig war, fühlte er sich beträchtlich weniger selbstmörderisch. Der Brief würde, folgerte er, zweifellos die gewünschte Wirkung erzielen. Er hatte eine große Vision, in der Kassler die Notizen fand und in wilder Hast zu Bernies Appartement hinüberrannte, wo Bernie gerade im Begriff war, seinen Kopf in die Schlinge zu stecken. Kassler würde erkennen, daß ihm Bernie mehr bedeutete, als es Lupa jemals konnte, und seine Ehe annullieren, so daß er und Bernie für alle Zeit glücklich miteinander leben konnten. Und so mochten die Dinge vielleicht geblieben sein, wenn nicht Sam Zelazo doch noch eingetroffen wäre, nachdem ihn Dr. Siv mit einem seiner verzweifelten telefonischen Suchanrufe -4 5 7 -
bei einer der Parties aufgegabelt hatte, die er und Vita abklapperten. Zelazo fand Bernie in Kasslers Büro, als dieser gerade seine Depesche in einen Umschlag steckte, und lud ihn zu einem Kaffee in seinem eigenen Büro ein. »Ich merke, daß Sie jemanden verloren haben, der Ihnen sehr nahe stand«, sagte Zelazo zu Bernie. Bernie blickte Zelazo wie ein ausgesetzter Basset an, während dicke Tränen in seinen Augen aufstiegen. »Er bedeutet mir so viel«, weinte er. »Heutzutage ein Homosexueller zu sein, ist schrecklich schwierig«, sagte Zelazo. »Es ist für viele Menschen eine hoffnungslose Situation.« Das Wort ›hoffnungslos‹ brachte in Bernie Kohler die Funken der Sinnlosigkeit, die gerade erloschen waren, wieder zum Aufglühen. »Weil wir beruflich mit diesem Gebiet zu tun haben, glauben wir, daß wir irgendwie immun gegen Einsamkeit und schweren Verlust sind«, fuhr Zelazo fort, »und dies macht alles noch viel schwieriger.« »Wem nutze ich schon etwas?« fragte Bernie. »Sie haben einen sehr dornenreichen Weg gewählt«, stellte Zelazo fest. »Ich habe ihn nicht gewählt«, schrie Bernie auf. »Ich habe nicht darum gebeten, so zu sein. Ich bin einfach so. Es ist einfach so gekommen. Glauben Sie, daß ich nicht versucht hätte, anders zu sein? Glauben Sie, daß ich mir nicht gewünscht hätte, eine andere Art von Leben führen zu können? Ich kann es nicht. Es entspricht nicht dem, was ich bin. Es geht bei mir nicht.« »Es ist eine Tragödie«, stimmte ihm Zelazo zu. »Er hat mir nicht einmal gesagt, daß er daran denkt, zu heiraten«, sagte Bernie. »Und dann Lupa! Jesses, er müßte über Lupa Bescheid wissen. Er muß Bescheid wissen. Was für eine Beleidigung meiner Gefühle ihm gegenüber!« -4 5 8 -
»Ich war überrascht, als er es mir vor zwei Tagen sagte«, warf Zelazo geschickt ein. »Aber Sy wird schon seine Gründe haben, da bin ich ganz sicher.« Bernie sah wie betäubt hoch. »Er hat es Ihnen vor zwei Tagen gesagt?« schrie er auf. »Vor zwei Tagen! Ihnen hat er es gesagt? Er haßt Sie. Sie sind sein ärgster Feind. Oh, Jesus.« »Es war nur so nebenbei«, spielte Zelazo die Sache jetzt, da sie ihre Wirkung hinterlassen hatte, herunter. »Das genügt«, verkündete Bernie. »Ich muß jetzt gehen«, sagte Zelazo. »Aber wenn Sie das Bedürfnis haben, später in der Nacht noch mit jemandem zu reden, rufen Sie Dr. Siv an. Er ist neu, aber recht gut.« Zelazo holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete eine Schublade seines Schreibtischs. »Hier ist etwas, das Ihnen helfen wird, zu schlafen.« Er reichte Bernie ein Fläschchen mit Sedativen. »Es wird Sie nur einschlafen lassen, nicht umbringen, selbst wenn Sie die ganze Flasche nehmen, so daß Sie sich die Mühe sparen können.« Zelazo bemühte sich, die Stimmung aufzulockern. Dann schloß er die obersten beiden Knöpfe seines schwarzen Kaschmirmantels, schlang sich das weiße Seidentuch einmal um den Hals und ging zur Tür. Kurz bevor er nach draußen trat, stoppten ihn Bernie Kohlers Worte. »Wissen Sie, Sam«, sagte Bernie, »Sie sind ein Schweinehund. Ich werde mich jetzt umbringen, und Sie sind zumindest zur Hälfte dafür verantwortlich. Sie wissen das, nicht wahr?« »Ja, das tue ich.« Zelazo sah Bernie an. »Ich werde Sie hier bei uns vermissen. Vergessen Sie nicht, das Licht auszumachen, wenn Sie gehen. Wir haben eine Energiekrise.« Und seine Hand drehte den Türknopf. »Sie wollen, daß ich mich umbringe, Sie Drecksack, nicht wahr?« fragte Bernie, als Zelazo die Tür öffnete. »Sie könnten mich natürlich enttäuschen.« -4 5 9 -
Zelazo lächelte Bernie Kohler an, schloß die Tür hinter sich und kehrte zu seinen Parties zurück, nachdem er vorher noch kurz in Kasslers Büro haltgemacht hatte, um Bernies Brief an Kassler zu lesen, zu fotokopieren und wieder auf den Schreibtisch zu legen, wobei er die Kopie für sich behielt. »Hallooo?« rief Lupa in ihrer angeheiterten Verfassung, als sie den Fuß der Souterrain treppe der Bolge erreichte. »Fröhliche Weihnachten, und rate mal, wer wieder da ist!« »Weihnachtliche Grüße, Lupa«, antwortete ich. »Wie ist es dir ergangen?« »Ach, ich weiß nicht.« Lupa wanderte im Keller umher. »Ganz gut, nehme ich an. Das Leben hat sein Auf und Ab. Und wie war es bei dir?« »Gut. Einfach gut. Es ist schön, dich wiederzusehen. Du warst verschwunden.« »Nun, ja«, antwortete Lupa kokett, »ich schätze, das war nicht sehr nett von mir, nicht wahr?« »Nicht einmal eine Postkarte. Du sagtest, daß du mich jede Woche besuchen würdest.« »Ich weiß. Ich konnte es nur nicht. Ich glaubte nicht, daß es für einen von uns gut sein würde. Was soll ich sonst noch sagen? Es tut mir leid Satan. Es tut mir wirklich leid.« »Aha.« Die Katze war aus dem Sack. »Ahaaa...« gab Lupa gelassen zurück, während sie geziert auf den Zehenspitzen umherspazierte, Champagner in den Augen. »Leo hat es mir erzählt, als ich ihn verließ«, kicherte sie. »Es sollte beweisen, wie einfältig ich war.« »Du hast ihm geglaubt?« »Natürlich. Was ist so schwer daran, zu glauben, wenn Leo einem erzählt, daß er den Teufel auf die Erde geholt hat? Ich habe ihm das durchaus zugetraut. Ich war nur überrascht, daß er nicht deine ganze Familie geholt hat.« »Es hat dich also nicht gestört?« »Zu erfahren, daß ich mich mit dem Teufel eingelassen hatte?« »Wenn du so willst...« -4 6 0 -
»Oh, ein bißchen, nehme ich an. Nur wenn ich richtig darüber nachdachte, ergab es schon Sinn. Die Auswahl meiner Partner war nie besonders glücklich.« »Und so hast du beschlossen, dich fernzuhalten.« »Es war besser so, meinst du nicht auch?« »Ich bin mir nicht mehr so sicher.« Ein längeres Schweigen trat ein, während Lupa weiterhin auf den Zehenspitzen und mit gespreizten Armen durch das Souterrain tänzelte. »Ach, ja«, sagte sie schließlich, »das ist jetzt alles vorbei, nicht wahr? Alte Geschichte.« »Wirklich?« »Weißt du, was heute ist?« Lupa wechselte schnell das Thema, als gewisse Gefühle zurückkehrten. »Heiligabend?« »So ist es«, stimmte Lupa zu. »Außerdem ist heute mein Hochzeitsjubiläum. Ich bin genau eine Woche verheiratet. Ich wette, du kannst nicht erraten, wo mein Mann ist.« »Wo?« »Nicht hier«, antwortete Lupa. »So ist das.« »Tut mir leid, das hören zu müssen«, sagte ich. »Mir auch.« Lupa machte in ihrem Morgenmantel eine tänzerische Drehung. »Nun, was hast du in den letzten paar Jahren so gemacht?« »Ach, nicht viel. Auf der Erde hin und her, auf und ab. Und du?« »Man schlägt sich durch...« Lupas Worte verklangen in der Dunkelheit, als sie sich drehte und drehte. »Man schlägt sich durch...« »Liebst du ihn?« fragte ich.. »Wen? Sy?« »Ja.« Eine Pause trat ein, als Lupa mit ihren Drehungen aufhörte und sich bequem in den alten Polstersessel fallen ließ. »Ja«, prustete sie, ein bißchen schwindlig und außer Atem. »Ja, das tue ich. Ich glaube, ich liebe ihn sehr. Er ist eine Seele von Mensch, denke ich. Ich baue darauf, um mich vor der Selbstzerstörung zu retten. Ihr beide müßt euch bald mal kennenlernen. Ich mache euch bekannt. Ihr solltet gut miteinander zurechtkommen. Du wirst ihn mögen.« »Ich warte darauf«, sage ich zu Lupa. -4 6 1 -
Als er im Eingang des matt beleuchteten Krankenhauszimmers stand, mit Tränen in den Augen, kam es Kassler so vor, als wäre es schon vorüber gewesen, kaum daß es begonnen hatte. »Ich habe über den Himmel nachgedacht«, sagte Skip Fletcher - aschgrau, das Gesicht durch die massiven Dosen von Steroiden aufgedunsen, eine Baseballkappe auf dem jetzt durch die Strahlentherapie kahlen Kopf - zu seiner Mutter, als sie zu ihm hinüberging und ihn an sich drückte. »Ich wette, du kannst jeden Tag Skateboard fahren, und es gibt da alle diese hohen Berge. Es sind jede Menge Kinder in meinem Alter da, die mir wirklich gefallen werden, und ich lade sie ein, so daß wir mit Selbstfahrerautos fahren und auf unseren Fahrrädern Kunststücke...« Er hörte mitten im Satz auf und fing an zu schluchzen. »Mami, ich habe solche Angst und brauche dich.« »Es wird alles gut werden, Skip«, sagte Diana Fletcher zu ihrem Sohn. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, als sie sich an ihn klammerte. »Alle im Himmel werden dich gern haben. Du wirst viele Freunde finden.« Skip sah zu seinem Vater hoch, der auf der Bettkante saß, das Gesicht verborgen. »Ich werde dich so vermissen, Daddy«, sagte er. »Was ist, wenn keiner da ist, der mich mit zum Zelten nimmt?« Jim Fletcher nickte seinem Sohn zu, wegen seiner Tränen unfähig, eine Antwort zu geben, während seine Frau Skip an sich drückte und sanft hin und her schaukelte. Und als sie Skip zurück auf sein Kissen legte, war er tot. Diana Fletcher sagte während der Rückfahrt zum Phlegethon kein einziges Wort. Zuerst hatte Kassler versucht, sie dazu zu bringen, über ihre Empfindungen zu reden, aber er hatte damit keinen Erfolg. Nachdem sie ihren Sohn und dann ihren Mann getröstet hatte, war sie zu der Überzeugung gekommen, alles getan zu haben, was sie tun konnte. Ihren Augen stieg langsam wieder der Schrecken ihrer eigenen Kindheit auf, und sie fiel zurück in ihre chronische, unheilbare Schizophrenie.
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Das Erlebnis war für Kassler so herzzerreißend gewesen, daß er es kaum ertragen konnte. Es verlangte ihn danach, zu seinem neuen Heim zu rasen und seine Kinder zu umarmen. Josh war kaum zwei Jahre jünger als Skip Fletcher. Natürlich sollte es zu diesem freudvollen Wiedersehen nicht so schnell kommen, wie Kassler beabsichtigt hatte. Nachdem er Mrs. Fletcher wieder in ihrem Zimmer abgeliefert und nach dem schlafenden Philip Donato gesehen hatte, suchte er kurz sein Büro auf, um zu überprüfen, ob Nachrichten vorlagen. Bernie Kohlers Epistel erwartete ihn. Mit wachsender Panik las Kassler den Brief durch und versuchte dann, Bernie anzurufen. Natürlich bekam er keine Antwort. Es scheint, daß Bernie, nachdem er das Phlegethon und seinen klinischen Direktor verlassen hatte, zu Plan A zurückgekehrt war. Er ging nach Hause, nahm ein paar von Zelazos Sedativen und einen oder auch zwei gute, starke Drinks, holte seine Handbücher über das Leben im Freien hervor und blätterte sie durch, bis er zu den einfachen Anleitungen zum Knüpfen einer Schlinge kam. Da er intelligent und ein ehemaliger Pfadfinder war, eignete sich Bernie die erforderliche Fertigkeit mit Hilfe einer Wäscheleine in kürzester Zeit an. Ein Heizungsrohr lief günstig an der Decke entlang. Bernie stellte sich auf einen Stuhl, schlang die Schlinge um das Rohr und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn Kassler endlich erschien. Kassler traf eine halbe Stunde später ein, parkte seinen neuen Mercedes ruckartig auf dem Bürgersteig und rannte die Treppe zu Bernies Appartement hoch. Das erste, was Kassler entgegenschlug, als er mit den Fäusten gegen die Tür hämmerte und Bernies Namen rief, war der nahezu überwältigende Gestank von Fäkalien, so als ob jemand in die Hose geschissen hätte - eine exakte Analyse der Situation. Kassler stellte fest, daß die Scharnierschrauben der Tür draußen angebracht waren, und so holte er sein -4 6 3 -
Taschenmesser hervor und löste die Schrauben. Dann riß er an der Tür, und sie gab nach, um den Blick auf Bernie Kohler freizugeben, der mitten im Wohnzimmer an seinem Hals hing, die Hose voll mit Fäkalien, tot. Im Zuge einer Generalprobe hatte sich Bernie die Schlinge um den Hals gelegt. Hingerissen von einer Phantasievorstellung, in der Kasslers Reaktion im Mittelpunkt stand, hatte er auf dem Stuhl die Balance verloren, und statt ganz ruhig zu bleiben und sich an dem Rohr festzuhalten, kämpfte er verzweifelt gegen den schwankenden Stuhl, den Chivas Regal und die Sedative an. Es war ein verlorener Kampf. Mit einem heftigen Kackgeräusch fiel Bernie, ruckte ans Ende des Seils, brach sich den Hals, fand den Tod und entleerte mit einem normalen Reflex den Inhalt seiner Därme. Geschockt stand Kassler da und starrte Bernie an. Bernies Augen waren aus den Höhlen getreten, die drahtgeränderte Brille war ihm halb auf die Nase gerutscht, und die Zunge hing ihm aus dem Mund, dick wie eine Wurst. »Oh, Jesus«, lauteten die ersten Worte, die Kassler über die Lippen kam. »Warum, Bernie? Das ist doch so dumm.« Dann ging er hinüber, richtete den Stuhl auf, stellte sich auf ihn und schnitt das Seil mit seinem Taschenmesser durch. Bernie war schwerer, als Kassler gedacht hatte. Er fiel ihm aus den Armen und schlug mit einem lauten, dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Kassler stieg von dem Stuhl hinunter und rief die Polizei an. Er dabattierte mit sich selbst, ob er seinen Freund saubermachen sollte, bevor ihn jemand sah, erinnerte sich dann jedoch an die Mahnungen der Fernsehdetektive und beschloß, den Schauplatz des Verbrechens ansonsten unberührt zu lassen. Er holte die Bettdecke und breitete sie über Bernie aus. Anschließend ging er in die Küche und wartete auf die Polizei, die eigenartigerweise mit Sam Zelazo eintraf. »Wie lange ist er schon tot?« fragte Zelazo. »Ich weiß es nicht«, sagte Kassler. »Ich bin seit zehn Minuten hier.« -4 6 4 -
»Ich habe ihn heute nacht getroffen«, berichtete Zelazo Kassler. »Er war sehr deprimiert, aber er schien sich besser zu fühlen, als ich ging. Ich dachte, die Gefahr wäre vorüber. Ich habe in der Klinik und bei der Polizei eine Nachricht hinterlassen, daß man mich sofort benachrichtigen sollte, wenn sich weitere Probleme ergäben, aber das hier hatte ich nicht erwartet.« Kassler gab Zelazo keine Antwort. Er sah nur zu, wie die Polizei Bernie auf eine Bahre legten. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Zelazo. »Ich weiß nicht, Sam«, sagte Kassler ehrlich. »Ich weiß es wirklich nicht.« »Bernie war ein eigentümlicher Charakter«, sagte Zelazo. »Es ist immer schwer zu verstehen, was einen Menschen motiviert, so etwas zu tun, aber bei Bernie ist es noch schwerer. Sie waren eng mit ihm befreundet, Sy. Haben Sie eine Ahnung, was ihn dazu getrieben haben könnte?« Kassler blickte Zelazo in die Augen. Er war am Ende der Katz-und-Maus-Spiele angelangt. »Nein, habe ich nicht«, sagte er ganze langsam, seine Augen unverwandt auf die Zelazos gerichtet. »Sie waren der letzte, der ihn lebend gesehen hat, Sam. Was könnte Ihrer Ansicht nach der Grund gewesen sein?« »Da treiben Sie mich in die Enge, Sy«, sagte Zelazo. »Ich kann es mir nicht erklären.« Nachdem die Ambulanz und Zelazo gegangen waren und er bei der Polizei seine Aussage gemacht hatte, wobei er Bernies Brief nicht erwähnte, ging Kassler langsam die Treppe hinunter, stieg in seinen neuen Wagen und fuhr los. Er wollte nach Hause, aber auf halbem Weg bog er von der Hauptstraße ab. Er war noch nicht bereit, zu Lupa und seinen Kindern zurückzukehren. Sein Wagen rollte ziellos durch die nächtliche Stadt. Er wollte um Bernie weinen, aber die Tränen, die noch vor kurzem so leicht für ein Kind geflossen waren, das er kaum kannte, wollten -4 6 5 -
für einen Mann, den er so gut gekannt hatte, überhaupt nicht fließen. Entmutigt und erschöpft schlug er schließlich, als aus der schwarzen, sternenlosen Nacht ein weiterer grauer, sonnenloser Tag in Citadel wurde, den Weg zur Bolge ein. So sehr er sich auch während der ganzen Nacht bemüht hatte, es war ihm, wie er erkannte, doch nicht gelungen, einen Redewendung aus Bernies Brief zu vergessen, die ihm unaufhörlich durch den Kopf ging. Sie lautete: ›Eine Sorte Frau, zu der, wie wir beide wissen, Lupa gehört. ‹ Als Lupa den Mercedes in der Auffahrt hörte, erwachte sie in dem Sessel vor mir, rannte die Treppe hoch und schaffte es gerade noch bis zum Vorderflur, als Kassler eintrat. »Du hättest nicht aufbleiben sollen«, sagte Kassler zu ihr. Er machte die Tür hinter sich zu und fing an, seinen Mantel auszuziehen. »Bin ich auch nicht«, sagte Lupa. »Wie spät ist es?« Kassler blickte auf seine Uhr. »Halb acht«, erwiderte er. »Die Kinder dürften jeden Augenblick aufstehen.« »Nun«, sagte Lupa, während sie Kassler zur Couch folgte, wo er sich in die weichen Kissen fallen ließ, »ich hoffe, sie war wenigstens hübsch.« Kassler war zu müde, um Lupas Sinn für Humor würdigen zu können. »Mein bester Freund hat sich gerade erhängt«, antwortete er. »Oh, Sy«, sagte Lupa und griff nach Kasslers Hand. Sie betrachtete seine verschwommenen Augen und sah, daß seine Wangen über dem Bart eingefallen und grau erschienen. »Du mußt sehr müde sein«, sagte sie. »Das muß ich«, stimmte Kassler zu. »Ich hole dir einen Kaffee.« »Später«, sagte Kassler. »Bleib jetzt nur hier bei mir.«
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Lupa rückte in die Ecke der Couch, streckte die Hände nach Kassler aus und änderte seine Position so, daß seine Füße auf die Couchlehne und sein Kopf auf ihrem Schoß zu liegen kamen. Dann fuhr sie mit ihren Fingern sanft durch seine Locken. »Bernie hat mir einen Brief hinterlassen«, sagte Kassler und schloß die Augen. »Bernie Kohler?« »Ich habe dir von im erzählt?« »Ein bißchen«, sagte Lupa. »Warum hat er es getan?« Kassler öffnete die Augen und zuckte die Achseln. »Ich weiß wirklich nicht, warum er es getan hat, weil es keinen Sinn ergibt. Es paßt überhaupt nicht zu ihm. Er deutete in seinem Brief unter anderem an, daß er feine Damen vom Radcliffe nicht mag. Seine letzten Worte liefen darauf hinaus, daß er mich verabscheut, weil ich die Sorte Frau, zu der du gehörst, geheiratet habe, und daß wir ein großartiges Paar abgeben sollten.« Lupa hörte auf, Kasslers Haare zu streicheln, und erstarrte. Sie spürte, wie das Herz in ihrer Brust wild raste, und wie ihre Handflächen kalt und feucht wurden. »Ich muß dir etwas sagen, Sy, was ich dir wohl schon längst hätte sagen sollen.« Sie begann leicht zu zittern. »Ich habe es mehrmals versucht, aber ich habe nicht den Mumm aufgebracht, es wirklich zu tun.« Kassler richtete sich auf. Er wußte augenblicklich, daß ihm das, was Lupa zu sagen hatte, nicht gefallen würde. Lupa vermied es, ihm in die Augen zu sehen. »Du sollst wissen, daß du, wenn ich dir erzählt habe, was ich erzählen muß, eine Aufhebung unserer Ehe haben kannst, falls du sie willst, gar keine Frage.« »Was hast du mit Bernies Selbstmord zu tun?« Kassler sah Lupa an die zitternd neben ihm saß. »Nichts. Überhaupt nichts.« -4 6 7 -
Lupa holte tief Luft und sprach weiter. »Als ich mit meinem Geschäft als Innenarchitektin anfing, lief alles sehr gut. Ziemlich lange. Dann kam die Rezession, und es lief nicht mehr so gut. Ich geriet mit der Miete mehrere Monate in Rückstand. Ich hatte Tausende von Dollar Schulden. Alles, was ich besaß, wurde mir weggenommen. Es war erniedrigend. Ich hatte noch nie so gelebt, Sy. Ich wurde verzweifelt. Ich hatte keine besonderen Fähigkeiten. Ich konnte keinen Job kriegen. Einer meiner Kunden fand mich attraktiv. Er zahlte mir für einige sexuelle Dinge viel Geld. Er sagte einigen seiner Freunde Bescheid...« Kassler schob seine Hand über Lupas Gesicht und legte ihr sanft die Finger auf die Lippen. »Bitte sag nicht noch mehr.« »Ich habe versucht...«, fing Lupa an, aber Kassler drückte ihr wieder die Finger auf die Lippen. »Du hast kein Geschäft als Innenarchitektin, nicht wahr?« fragte er dumpf. Lupa wandte sich ab und fing an zu weinen. »So ziemlich jeder hier weiß Bescheid, nur ich nicht, richtig?« erkundigte sich Kassler. »Viele Leute wissen Bescheid«, sagte Lupa unter Tränen. »Aber das ist jetzt alles vorbei. Ehrlich. Du kannst dich umhören, wenn du willst.« Kassler sah Lupa an, weinend, die blonden Haare ungekämmt, wirr, in Büscheln nach allen Seiten vom Kopf abstehend wie bei einer der alten Puppen seiner Tochter, die schmalen Hände zitternd, dunkle Altersflecken, die sich vorzeitig auf den Hautstellen zeigten, wo die Adern hervortraten, das Gesicht blaß und knochig. »Es ist einfach so passiert, Sy«, sagte Lupa schluchzend. »Ich habe nicht an Straßenecken gestanden oder so was. Es waren kultivierte Menschen, meistens unglücklich verheiratet, es hat keinem weh getan.
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Eine Zeitlang schien nichts dabei zu sein, bis mir klar wurde, daß ich es nicht immer tun konnte... und ich mich nicht so wohl dabei fühlte.« Kassler streckte die Hand aus und zog Lupa an sich. Sie verbarg den Kopf an seiner Brust und weinte, während er sie gerade fest genug hielt, um den Eindruck zu vermitteln, daß es keine Rolle spielte. Nach einigen Augenblicken sah Lupa zu Kassler hoch und ließ ihre Hand durch seinen Bart gleiten. »Ich möchte, daß du weißt, wieviel mir an dir liegt, Sy. Ich glaube, daß wir einander sehr glücklich machen können. Das glaube ich wirklich.« »Ist schon in Ordnung.« Kassler gab seiner Stimme einen verzeihenden Tonfall. »Ist schon in Ordnung.« »Ich habe es nicht getan, um dich zu verletzen, Sy«, sagte Lupa. »Es ist einfach passiert. Es wird bestimmt nicht wieder passieren.« »Das weiß ich«, sagte Kassler. »Wir werden sehr glücklich sein.« »Es ist ein neues Leben für uns beide. Es kann wundervoll sein. Wirklich.« Kassler konnte hören, wie Josh oben versuchte, seine Schwester zu wecken. »Ich weiß«, sagte er. »Das kann es.« »Bitte, küß mich, Sy«, sagte Lupa. Kassler nahm Lupas Gesicht zwischen seine Hände und gab ihr einen sanften Kuß. »Wundervoll«, sagte Lupa. »Ich werde dafür sorgen, daß du es nicht bereust, Sy. Das werde ich.« Josh erschien mit seiner noch halb schlafenden Schwester an der Hand am Fuß der Treppe. »Siehst du?« sagte er. »Was habe ich dir gesagt! Daddy ist angezogen. Er wartet schon auf uns.«
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Für den Rest des Tages mobilisierte Kassler alle Energien, die ihm noch verblieben waren, und spielte die Rolle eines liebenden Ehemanns und Vaters. Lupa, die sich gewaltig erleichtert fühlte, war glücklich, heiter und liebevoll, sowohl Kassler als auch seinen Kindern gegenüber. Es war ein ideales Weihnachtsfest. Von Zeit zu Zeit warf Lupa einen Blick zu Kassler hinüber, der auf dem Teppich mit seinen Kindern spielte, um sich davon zu überzeugen, daß er ihr Verhalten in der Vergangenheit wirklich verziehen hatte, und Kassler lächelte, wenn er ihren Blick auffing, auf freundliche Weise, um ihr zu versichern, daß alles bestens war. Lupa ließ sich täuschen, weil sie den verzweifelten Wunsch hatte, ihm zu glauben. Kassler fühlte absolut nichts. Genauer gesagt, Kassler hatte ein einziges überwältigendes Gefühl. Lupas Geständnis hatte ihn von der absoluten Sinnlosigkeit seines Lebens überzeugt. Er spürte nichts von ihrer Fürsorge und Zuneigung zu ihm. Der einzige Gedanke, der ihm immer wieder durch den Kopf fuhr, war der, daß er nicht nur keine immerwährende Verbindung mit dem jungen, wunderschönen Mädchen seiner Träume in einem beiderseitigen Zustand unendlicher Liebe und purer Seligkeit eingegangen war, sondern noch dazu eine Hure geheiratet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Kassler nur noch um Haaresbreite von dem Entschluß entfernt, Bernie Kassler so schnell wie möglich ins Grab zu folgen. Und eine Unterhaltung mit seinen Kindern am Nachmittag beim Essen brachte ihn noch beträchtlich näher heran, als er es wirklich brauchen konnte. Lupa hatte gerade den Kürbisauflauf serviert, den letzten Gang des Weihnachtsessens, das sie ganz allein in einer Verfassung zubereitet hatte, die sie am Ende des vielgängigen Mahls als ulitmative Buße für ihre Sünden betrachtete. Tatsächlich gingen ihr, als sie in die Küche zurückkehrte, um ihren und Kasslers Kaffee zu holen, und dabei die noch zu
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verrichtende Arbeit in Augenschein nahm, flüchtig die vielen Vorteile der Prostitution durch den Kopf. »Also«, sagte Kassler, als er die Hände vor dem vollen Bauch faltete, »keine schlechten Weihnachten, was?« »Beste Weihnachten überhaupt«, stimmte ihm Josh zu, während er sich ein Stück von dem Auflauf in den Mund steckte. »Und was meinst du, Joy?« fragte Kassler. »Hat dir Weihnachten gefallen?« »Es war großartig, Daddy«, sagte Joy süß. »Ich habe es toll gefunden.« »Nun, ich habe es auch toll gefunden«, sagte Kassler, während ein erschöpftes, aber zufriedenes Lächeln über sein Gesicht glitt. »Am tollsten fand ich, daß ich soviel Zeit mit euch verbringen konnte.« »Ich auch«, sagte Josh mit vollem Munde. »Eines Tages«, fuhr Kassler fort, »hoffe ich, werdet ihr beide hier leben und wir werden alle wieder zusammen sein.« »Mami auch?« fragte Josh aufgeregt. »Nein«, sagte Kassler. »Stiefmami auch. Nur du und Joy und Lupa und ich.« »Aber ich will hier nicht ohne Mami leben.« Josh legte seine Gabel zur Seite und blickte seinen Vater mit wachsender Furcht an. Lupa, die gerade mit dem Kaffee hereingekommen war, versuchte, das Thema zu wechseln. »Euer Daddy meint, vielleicht eines Tages«, sagte sie, während sie Kassler die Kaffeetasse hinstellte. »Also, was haltet ihr von einem kurzen Spiel, bevor ihr zu eurer Mutter zurückkehrt?« »Wann?« beharrte Josh. »Wann würde ich dann Mami verlassen müssen?«
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Joy, die ebenfalls aufgehört hatte zu essen, lauschte aufmerksam und sagte nichts, aber sie stand klar auf Joshs Seite. Sie wollte bei ihrer Mutter bleiben. »Wenn das Gericht entscheidet«, antwortete Kassler. »Es liegt ganz am Richter.« »Ich glaube«, sagte Lupa ganz direkt, »daß wir ein andermal darüber sprechen sollten, Sy.« Kassler achtete nicht auf Lupa. »Sieh mal, Josh«, sagte er, »zuerst war ich mir selber nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, wenn ihr bei mir lebt, aber jetzt, da ihr älter seid und Lupa da ist, um mir zu helfen, habe ich den Richter gebeten, darüber nachzudenken.« »Aber ich will nicht mit dir leben, Daddy.« Josh drückte sich so klar aus, wie er nur konnte. »Ich will mit Mami und Dr. Sam leben.« »Wir leben mit Mami und Dr. Sam«, stellte Joy fest. »Jetzt tut ihr das.« Kassler wollte nicht aufhören. »Aber würde es euch nicht gefallen, mit mir und Lupa zusammenzuleben?« »Nein«, sagte Josh. »Nein«, sagte Joy. »In diesem großen, wunderschönen Haus?« fuhr Kassler fort. »Nein«, antwortete Josh. »Nein«, wiederholte Joy. »Eines Tages, nicht gleich jetzt«, beharrte Kassler. »Aber eines Tages?« »Nein«, sagten Joshua und Joy wie aus einem Mund. Ein kurzes Schweigen trat ein. »Bitte, Daddy«, bettelte Joshua. »Laß uns nicht mit dir leben.« »... und wir könnten lustig zusammen baden...«, murmelte Kassler vor sich hin, »... und mit französischen Haferflocken frühstücken... draußen Spazierengehen... viel spielen... Gute-4 7 2 -
Nacht-Geschichten lesen... und ich könnte euch jede Nacht zudecken vielleicht zum Zelten...« »Bitte nicht, Daddy«, sagte Joy. Lupas Augen füllten sich mit Tränen, als sie sah, wie die letzten Stücke von Kasslers Welt zerschmettert wurden. Sie wußte, daß damit auch ihre Welt auseinanderbrach, und daß es nichts gab, was man tun konnte.
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November 1979 VI. Sitzung »Meine Kindheit war nicht glücklich, Kassler«, begann ich die Sitzung die tragischerweise unsere vorletzte war. »Tut mir leid, das hören zu müssen«, sagte Kassler mit angemessener Anteilnahme. »Als ich heranwuchs, war ich klein für mein Alter.« »Das wäre welches Alter gewesen?« »Oh, sagen wir, mal, vom zwölften bis zum zweiten Jahrhundert vor Sie-wissen-schon-wem, als das Alte Testament geschrieben wurde, ein sehr langsamer Prozeß, wenn Sie mich fragen. Ich schlug eine Reihe von redaktionellen Änderungen vor, hauptsächlich Auslassungen, was viel Zeit erspart und auch für eine bessere Lesbarkeit gesorgt haben könnte, glaube ich. Ich meine, denken Sie mal drüber nach, Kassler. Nach dem Pentateuch ist doch schon alles gesagt, oder? Dann bekommen wir immer wieder dasselbe vorgesetzt. Es gibt einen Gott. Er ist allmächtig. Tu, was er sagt, sonst... Dieser Mensch tat dies. Dieser Mensch tat dies nicht. Sie hatten Kinder. Dann hatten die Kinder Kinder. Alle Kinder lernten eins: Es gibt einen Gott. Er ist allmächtig. Tu, was er sagt, sonst... Sie verstehen, was ich meine?« Kassler rutschte ein bißchen ungeduldig in seinem Sessel hin und her. Ich merkte es schnell. »Ich komme vom Thema ab, ja?« »Etwas«, stimmte Kassler mir gütig zu. »Nun, der springende Punkt ist, daß lange nicht allzuviel von mir da war. Eine Erwähnung hier, eine Erwähnung dort, alles sehr unklar. Das Wort Satan kommt im Alten Testament nur dreimal vor, und davon wird es zweimal nicht mal als Eigenname benutzt - Zacharias 3,1, Hiob l, Prolog, und 1. Chronik 21,1. Wie ich schon sagte, in Anbetracht meines Alters war ich sehr klein.« -4 7 4 -
»Aber die Dinge änderten sich«, hielt mich Kassler beim Thema. »Eine Zeitlang nicht. Es gab natürlich jede Menge Beschimpfungen, als ich heranwuchs. Wußten Sie, daß ich für jeden Buchstaben des Alphabets wenigstens einen Namen habe, abgesehen vom X?« »Nein, das wußte ich nicht«, sagte Kassler schnell. »Aber vielleicht könnten Sie ein andermal...« »Antichrist, Beelzebub, Charon, Dis, Eblis, Furcas, Goap, Hoberdidance, Igymeth, Jochmus, Kawkabel, Luzifer, Mephistopheles, Nicker, Orphaxat, Pluto, Quat, Raguhel, Satan, Tutevillus, Urnell, Verdelet, Wox, Yifin und Zizimar«, zitierte ich für meinen Psychotherapeuten. »Dies sind die Namen, mit denen Sie beschimpft wurden?« fragte mein Psychotherapeut. »Absolut nicht. Dies sind nur einige von mehreren tausend Eigennamen, die ich habe. Ich habe keinen Vornamen. Zu schade. Als sie mit den Beschimpfungen anfingen, ging das so: Fürst der Finsternis, Engel der Hölle, Böser Geist, Unreiner, Lügner, Peiniger, Mörder, Feind - Sie wissen, wie sich die Menschen steigern können, wenn sie einmal angefangen haben. Ein Name führt zum anderen, und es ist sehr schwer, wieder aufzuhören. Bei mir geht es natürlich immer noch weiter.« »Es muß die Dinge manchmal sehr schwierig für Sie machen.« Kassler versuchte, zu den tieferen Gefühlen zu kommen. »Ihr englischsprechenden Leute seid anders.« Ich assozierte frei. »Ihr tut alles, um nicht ›Devil‹ sagen zu müssen. Die Franzosen sagen: ›Que diable‹, ohne zweimal darüber nachzudenken, und die Deutschen schwören, ohne rot dabei zu werden: ›Was in des Teufels Namen‹ - das heißt: ›What in the devil's name‹.« »Vielen Dank.« »Aber die Engländer schlagen die Augen nieder und murmeln: ›What the deuce‹ oder ›What the dickens‹, als ob das -4 7 5 -
keine Synonyme für ›Devil‹ wären. Wie, glauben Sie, kommt das?« Kassler antwortete nicht. Schweigend saß er sekundenlang in seinem Sessel. »Ich habe das Gefühl«, sagte er schließlich, »daß wir heute nicht immer beim Thema bleiben. »Wie kommt das?« »Sie sagen, Sie wollten meine Geschichte hören«, antwortete ich. »Und so bekommen Sie auch Geschichten. Lassen Sie es mich Ihnen sagen, Kassler, wenn ich heute fertig bin vorausgesetzt, ich kann schnell genug sprechen, um alles in diesen fünfzig Minuten unterzubringen - , wird das Werk der Durants aussehen wie eine Fußnote.« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich so viel Geschichte brauche«, sagte Kassler. »Vielleicht könnten Sie aus jedem der letzten fünfundzwanzig Jahrhunderte oder so eine interessante Sache auswählen, um mir einen allgemeinen Eindruck von den Geschehnissen zu geben, und ich extrapoliere dann. Sie können sogar hier und da ein paar Jahrhunderte auslassen sehen Sie das Dunkle Zeitalter beispielsweise als eine Einheit an.« »Sie sind der Boß, Kassler. Also sehen wir mal, wo war ich? Ach, ja, Namen. Dies ist in sich ein interessantes Problem. ›Satan‹ bedeutet, wie wir schon erörtert haben, ›Widersacher‹, und damit hat es sich schon. ›Teufel‹ andererseits bedeutet ›Anschuldigen und ›Angreifer‹.. Und da fängt der echte Ärger an, weil nämlich, wissen Sie, Kassler, ›Dämon‹, was von der Basis her griechisch ist, nicht mehr als ›wissender Geist‹ bedeutet, und das ist natürlich genau das, was ich bin...« »Geschichte?« unterbrach Kassler. »Dazu komme ich«, versicherte ich ihm. »Wie Sie wissen, hatten wir nach dem Alten Testament die Apokryphen, und das war unbedingt etwas, was ich zu kürzen empfahl. Bevor sie halb im 2. Buch Esra waren...« »Geschichte!«
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»Tut mir leid«, sagte ich. »Nun, der springende Punkt ist, daß ich erst im Jahr 105 v. Chr. als alleinige Wesenheit anerkannt wurde. Das war im Buch der Jubiläen. Bis dahin gab es viel Gerede über Fürsten des Bösen - Mastema, Beliar, Sammael, Samjaza und Azazel. Also, das ist eine Geschichte für Sie, Kassler. Samjaza und Azazel waren Engelhäuptlinge...« »Mr. Satan?« rief Kassler meinen Namen. »Ja.« Ich unterbrach meine Geschichte. »Wir müssen miteinander reden.« Kassler saß vorgebeugt in seinem Sessel, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Kinn in den Händen ruhend. »Nach dieser Sitzung, die schon fast zur Hälfte vorbei ist, haben wir nur noch eine weitere Sitzung.« »Dessen bin ich mir bewußt.« »Ich meine«, fuhr Kassler fort, »daß wir uns deshalb auf einige wenige Anekdoten beschränken sollten, die Sie unmittelbar betreffen. Was halten Sie davon?« »Oh, ich halte das für eine gute Idee«, stimmte ich zu. »Darf ich eine Bemerkung machen?« »Sicher.« »Sie scheinen heute ein bißchen ruhelos zu sein. Ist Ihnen das schon aufgefallen?« Kassler seufzte. »Nein, es war mir nicht aufgefallen.« »Vielleicht stehen Sie ein bißchen unter dem Druck, unseren therapeutischen Kontrakt zu erfüllen? Mit dem Rücken zur Wand, Kassler?« »Keineswegs.« Kassler klang nicht überzeugend. »Es ist nicht schlimm, zu versagen, wissen Sie. So werde ich also nicht geheilt. Das kann den besten Therapeuten passieren.« Kassler fing an, ungeduldig mit den Fingern zu trommeln. »Meine Geschichte langweilt Sie doch nicht, oder?« fragte ich. »Wir können sie auch ganz weglassen, wenn Sie wollen. Ich kenne meine Geschichte. Es sollte zu Ihrem Nutzen sein.« -4 7 7 -
»Und zu Ihrem.« »Das wird sich zeigen.« »Das wird es, ja«, sagte Kassler. »Warum fahren Sie nicht fort? Ich werde versuchen, geduldig zu sein, und Sie können vielleicht ein bißchen weniger abschweifen.« »Während der Zeit von 300 v. Chr. bis 100 n. Chr., in der sich das jüdische Volk im Exil befand, entwickelten sich die Dinge für mich wirklich zum Schlechten«, sagte ich, nicht abschweifend. »Es war eine sehr schwierige Jugendzeit, könnte man sagen, und am Ende der Apokryphen wurde ich als der eine König des Bösen angesehen, als der Erzfeind Gottes und des Menschen und als Herr der Hölle. Dies alles passierte, wie ich sagen wollte, im Buch der Jubiläen, ein Titel, den ich nie verstanden habe. Es kommt ein bißchen Jubel darin vor, soweit ich... tut mir leid.« Ich unterbrach mich. »Vielen Dank«, sagte Kassler wohlwollend. »In der christlichen Ära wurde entschieden, daß ich ganz einfach ein unausstehlicher Bösewicht war, und sowohl die Apokryphen als auch das Neue Testament waren sich einig darüber, daß ich letzten Endes in ›einem Schlund voll des Feuers und der Flammen und voll der Säulen des Feuers‹ landen würde. All dies war, glaube ich, von den Juden in Gänze bei den Persern, Babyloniern und Assyrer ausgeliehen worden, weil sie das Bedürfnis nach etwas ebenso Farbigem verspürten, um ihre eigenen Leute bei der Stange zu halten. Das Beste, was sie bis dahin besaßen, war eine kleine Geschichte im Talmud, die beschrieb, wie ich, als Engel des Todes, mit einem Tropfen Galle an der Spitze meines gezückten Schwerts an einen sterbenden Mann heranschlich. Als der sterbende Mann mich sah, bekam er einen fürchterlichen Schreck, öffnete den Mund, schluckte die Galle und starb. Seit Jahrhunderten, Kassler, habe ich zu verstehen versucht, welche Moral diese Geschichte wohl haben soll. Sterbende Männer sollen auf der Hut vor Individuen mit galletropfenden Schwertern sein, damit sie sich nicht so leicht
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erschrecken? Ich kriege es nicht raus. Wenn Sie mich fragen...« Kassler fing wieder an, mit den Fingern auf der Armlehne des Sessels herumzutrommeln. Ich verstand den Wink. »Also, das ist es.« Dies erweckte Kasslers Aufmerksamkeit. »Was geschah in den nächsten zweitausend Jahren?« »Lustig, daß Sie danach fragen«, sagte ich. »Das Jahr 161 war sehr interessant. Im Januar...« »Schon gut.« Kassler hob die Hand. »Das war nur ein Witz«, sagte ich. »Die Wahrheit ist, daß danach nicht mehr allzuviel mit mir passierte, jedenfalls kaum etwas, das Ihnen nicht schon bekannt ist. Die Christenheit entschied, daß ich für alle materiellen Dinge verantwortlich war, besonders für diese Welt und noch mehr für das, was sie die Dinge des Fleisches nannten. Auch war ich eine Kombination aus körperlicher Häßlichkeit und geistigem Übel. Im dritten Jahrhundert verkündete Tertullian, daß das Leben aller Menschen vollkommen und immer unter meinem bösen Einfluß stand, und bis vor knapp hundert Jahren hat sich daran ziemlich wenig geändert. Bis zum fünften Jahrhundert galt ich als unsichtbar. Es gab einen Schwung von Passionsspielen über den Fall des Menschen während des Mittelalters, als festgelegt wurde, daß alle Tätigkeiten und Vergnügungen des Menschen unter dem Schutz der Macht der Hölle standen. Im fünfzehnten Jahrhundert kam es zum Aufblühen von Satansgesellschaften. Dann gab es ein paar Jahrhunderte, in denen Hexerei ganz groß war, gefolgt von zahlreichen Verbrennungen, und danach dann das Debakel, das hervorgerufen wurde von Luther, Calvin, dem Protestantismus und den Wiedertäufern, das größte Fiasko überhaupt. Wegbegleiter waren Dante, Milton, Goethe, Marlowe, Mozart, Shaw und einige andere, die die Geschichten ausschmückten, aber im Grunde genommen wurde ich so erwachsen. Um das neunzehnte Jahrhundert entschied jemand, ich weiß nicht, wer, daß ich als normales menschliches Wesen erscheinen konnte, -4 7 9 -
nicht zu unterscheiden von allen anderen, aber natürlich kann ich das nicht.« Kassler lehnte sich in seinem Sessel zurück und grübelte schweigend. »Also«, sagte ich nach einer Weile, »nachdem Sie nun alles gehört haben - was fangen Sie damit an?« »Nun«, sagte Kassler, »ich vergleiche es mit anderen Geschichten, die ich gehört habe, und bin von einigen Dingen sehr beeindruckt. Zuerst einmal gibt es keine Beziehungen.« »Sie meinen Sex? Sind sie enttäuscht, weil ich Ihnen keine expliziten Details über Frauen, mit denen ich geschlafen habe, und die daraus resultierenden Nachkommen präsentiert habe? Haben Sie es denn noch nicht gehört, Kassler? Der Teufel ist ein kalter Bösewicht, frigide, eisig und steril - abgesehen von der Betrachtungsweise einiger Angehöriger des Klerus, die glauben, daß ich für Eva verantwortlich bin, einer Reihe von ganz normalen Menschen, die davon überzeugt sind, daß die Resultate meiner Verbindungen unweigerlich männlich und Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika sind, und aller Katholiken, die mir Martin Luther zuschreiben.« »Ich spreche nicht von Sex«, sagte Kassler. »Ich spreche von Freundschaften und Kameradschaften. Es ist eine einsame Geschichte, die Sie mir da erzählt haben, denke ich.« »Ja«, stimmte ich ihm zu. »Es ist eine einsame Geschichte.« Kassler rückte seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht. »Ich bin gleichfalls vom Fehlen eines kreativen Produkts beeindruckt - Ergebnisse Ihrer Arbeit, greifbare Leistungen, was auch immer.« »Kreatives Produkt!« Ich hatte einige Schwierigkeiten, zu verstehen, wie Kassler auf diesen Gedanken gekommen war. »Ich bin Kunst! Seit Jahrhunderten hat die Kirche den diabolischen Ursprung künstlerischer Schönheit bestätigt. Und das gilt nicht nur für die bildende Kunst. Auch für die Musik! Und den Tanz. Und was ist mit dieser Welt? Anatole France und Lord Byron porträtieren mich als ihren Mitschöpfer!« -4 8 0 -
»Aber das sind Sie nicht«, sagte Kassler. »Nein, Kassler, ich bin es nicht«, sagte ich ernst. »Ich kann mir die Welt oder den Menschen nicht als Verdienst zuschreiben. Die beiden haben ein bißchen übertrieben.« »Zweifellos.« Minutenlang saß Kassler bewegungslos in seinem Sessel, eigentümlich schweigsam. »Also?« fragte ich schließlich. »Was noch?« »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Kassler. »Da fehlt etwas.« »Wenn Sie weitere Details wollen, bin ich gerne behilflich.« Kassler schüttelte den Kopf. »Vielen Dank«, sagte er, »aber Sie sind ausführlich genug gewesen, um mir ein Bild machen zu können, glaube ich.« »Was ist es dann, Kassler?« Ich merkte, daß ich ein ganz kleines bißchen gereizt wurde. »Sie haben nach der Geschichte gefragt. Ich habe Ihnen soviel Panorama geliefert, daß Sie daraus ein Wandgemälde machen können.« »Es ist mechanisch«, stellte Kassler fest. »Es ist... was?« »Mechanisch. Es ist historisch, nicht emotional. Es steckt kein Leben darin.« »Kein Leben! Sie glauben, daß ich keine Sorgen gehabt habe? Sie glauben, daß es keinen Schmerz gegeben hat? Keinen Gram? Ich habe Ihnen gerade mein Leben erzählt, Kassler, mein ganzes Leben, vom Anfang bis zur allerletzten Minute! Sie glauben, daß ich bei all dem keine Empfindungen gehabt habe? Sie glauben, daß ich mich nicht verletzt gefühlt habe?« »Freude? Haben Sie Freude, Glück, Vergnügen empfunden?« Kassler fragte ganz ruhig. »Meine ganze Existenz, Kassler! Wissen Sie, wie man sich fühlt, wenn man sich selbst all das beschreiben hört, was man erlebt hat? Es ist keine angenehme Erfahrung, Kassler, das kann ich Ihnen sagen.« -4 8 1 -
»Sie haben es sehr sachlich erzählt. Es ist schwer zu beurteilen.« »Ich habe das vorher noch nie gemacht. Ich mußte noch nie bis zum Anfang zurückgehen und alles hübsch in einem Paket zusammenpacken. Darum habe ich mich an die Fakten gehalten. Ich habe gedacht, daß Sie Details hören wollten.« »Dann hat es also Freude gegeben?« »Es bleibt nicht ohne Wirkung auf einen, Kassler, wenn man alles von Anfang an durchgeht. Man beginnt sich zu fragen...« »Sie haben Glück empfunden?« »Man fängt an, über die Dinge nachzudenken.« »Vergnügen? Und Entzücken?« »Dinge, an die man seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht hat...« Eine überwältigende Traurigkeit begann in mir aufzusteigen. Ich hörte auf zu reden. Schweigen breitete sich im Raum aus. »An was denken Sie?« fragte Kassler. »An ein Lied«, sagte ich. »Ich dachte an ein Lied.« »Möchten Sie es gerne singen?« »Ich war sehr klein.« »Ich würde es gerne hören.« »Ich hatte es völlig vergessen... Als ich einst war ein kleiner Junge...« »Ich kenne dieses Lied gut«, sagte Kassler. »Darf ich mit Ihnen singen?« »Das würde mir gefallen.« Kassler und ich sangen leise: »Als ich einst war ein kleiner Junge, Spürt' Wind und Regen auf der Zunge. Ein töricht' Ding war nur ein Spiel, Denn der Regen, der fiel und fiel.« Ich versuchte, weiterzusingen, aber das Gefühl in mir war zu stark. Meine Stimme brach, und die Worte wollten nicht herauskommen.
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Kassler und ich schwiegen eine ganze Weile, während der ich mich bemühte, die Fassung wiederzugewinnen. »Wissen Sie«, sagte ich schließlich, »tatsächlich mache ich euch allen gar keinen Vorwurf. Es ist eine lange Geschichte gewesen, viel Wasser, das über die Verdammten geflossen ist. Immer den unpopulären Standpunkt einnehmen zu müssen und Vernunft walten zu lassen, das ist nicht leicht gewesen...« »Aber es gibt da noch etwas...« »Unschuldig«, sagte ich. »Damit habe ich ein echtes Problem. Ich weiß nicht, warum es so ist, Kassler, aber ich kann den Menschen nicht ihre Unschuld lassen.« »Manchmal ziehen wir es vor, nicht zu wissen.« »Manchmal, nehme ich an, aber nicht oft. Wie lange noch, glauben Sie, wird es dauern, bis ihr Leute jeden Schaltweg, jede Synapse und jedes Molekül in eurem Gehirn kategorisiert habt? Ich glaube, Sie müssen das ganz klar sehen, Kassler, euer Hunger nach Wissen ist unbesiegbar. Ihr meßt der Ignoranz nicht mehr Wert bei als ich.« »Nein, nur der Naivität. Eine Jungfrau hat etwas an sich, das sehr reizvoll ist.« »Was es auch ist, Kassler, so wie ich den Reiz verstehe, bewahrt es nicht ihre Reinheit.« Darüber mußte Kassler nachdenken. »Mit vollständigem Wissen gibt es keine Magie«, sinnierte er. »Und das«, sagte ich, »ist der Grund, aus dem Sie die Magie nie finden, Kassler. Sie wissen zu viel. Ihre Chancen für die Magie sind vorbei.« Kassler blickte zur Decke hinauf, und sein Gesicht bewölkte sich mit Traurigkeit. »Ich hätte es vorgezogen«, sagte er leise, »auch das nicht zu wissen.« In dem Schweigen, das folgte, saß Kassler ganz still da. l»Wenn wir uns das nächste Mal sehen«, sagte er langsam, »möchte ich etwas über Ihre Geburt erfahren.« -4 8 3 -
»Unsere Zeit ist um?« Kassler nickte. »Noch ein paar Minuten, Kassler. Ich möchte kein solches Ende. Ich möchte, daß Sie noch eine Minute bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Wir müssen aufhören.« »Ich wollte Ihnen nicht Ihre Hoffnungen nehmen. Sie sind gut zu mir gewesen. Sie haben hart gearbeitet.« Kassler nickte abermals. »Sie sollten es nicht persönlich nehmen«, sagte ich zu ihm. »Ich bin ein Meister des Unausweichlichen, und was unausweichlich ist, ist ohne Hoffnung. So läuft es nun mal.« »Haben viele Menschen Gelegenheit gehabt, Ihre Geschichte zu erfahren?« fragte Kassler. »Nicht viele, nein. Warum?« »Ich war neugierig, wie die Reaktionen von anderen ausgesehen hätten.« »Auf meine Geschichte?« »Auf das Lied. Wenn Sie sie das nächste Mal erzählen, sollten Sie das Lied nicht auslassen.« Ich wünschte wirklich, daß Kassler dies nicht wieder zur Sprache gebracht hätte. Meine Traurigkeit kehrte zurück, und dies war für jemanden, für den die Unschuld immer ein solches Problem gewesen ist, außerordentlich verwirrend. »Sollen wir?« fragte Kassler. »Warum nicht?« gab ich zurück. Als ich einst war ein kleiner Junge, Spürt Wind und Regen auf der Zunge. Ein töricht' Ding war nur ein Spiel, Denn der Regen, der fiel und fiel. Wir sangen es mit viel Gefühl, und es dauerte mehrere Minuten, bis ich wieder zu Atem kam. »Nun«, sagte ich schließlich, »das war wirklich etwas.« »Ja«, sagte Kassler, »das war es.« -4 8 4 -
»Ich hatte nicht erwartet...« »Ich auch nicht. Sie haben geweint?« »Ich bin mir nicht sicher. Erschöpfung, vielleicht. Ich habe heute viel Material aufgearbeitet, Kassler. Es war eine lange Geschichte.« »Ja, das war es. Sie möchten vielleicht darüber nachdenken, was Sie beim Erzählen Ihrer Geschichte so sehr berührt hat.« »Das werde ich.« »Sehr gut.« »Ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie noch geblieben sind.« »Kein Problem«, sagte Kassler, als er sich erhob, um zu gehen. »Ich mag Sie, Kassler. Sie machen das gut, was auch immer es ist, was Sie machen.« »Vielen Dank.« »Das, was gerade passiert ist - was ist das? Gibt es irgendeinen technischen Ausdruck dafür?« »Ja«, nickte Kassler. »Ich glaube, man nennt es einen Durchbruch.«
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VIII. Teil Die Hauptverhandlung 1 Während des Jahreswechsels von 1976 nach 1977 verwandte Kassler seine ganze psychische Energie auf die Überlegung, wann und wie er seinem Leben ein Ende setzen würde. Dies waren keine leichtfertigen Gedankengänge. Kassler gab eine weitere seiner Tausend-Dollar-Banknoten für einen Friedhofsplatz aus, um die Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu unterstreichen, und fing an, morbide Briefe an Joshua und Joy zu schreiben, die nach seinem Geburtstag geöffnet werden sollten, jeweils einer an ihren Geburtstagen, bis sie dreißig waren. »Was ist es?« fragte ich während der einen kurzen Unterhaltung, die wir 1977 führten - immer noch zwei Jahre vor dem Beginn meiner Verhandlung -, als Kassler im Souterrain nach einem Regal suchte, in dem er Lupas Bücher unterbringen konnte. »Nichterscheinen vor Gericht wegen Selbstmords?« »Beantworten Sie mir nur eine Frage«, sagte Kassler beim Herumkramen. »Müßte ich, um Sie zu behandeln, tot sein?« »Ich beantworte Ihnen das, wenn Sie mir etwas beantworten, Kassler«, erwiderte ich. »Abgemacht.« Kassler lokalisierte sein Regal und ging zur Treppe. »Also, muß ich tot sein?« fragte er. »Nein«, antwortete ich. »Wie lautet Ihre Frage?« wollte Kassler wissen. »Glauben Sie es?« fragte ich.
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»Ich möchte die ganze Gerichtssache zurückziehen«, sagte Kassler zu Marty Myers, als er wenige Tage nach der Vorverhandlung in dessen Büro gebeten worden war. »Hören Sie«, sagte Marty, »ich weiß, daß Sie sich über Bernie und all das sehr aufgeregt haben. Das habe ich auch. Aber ich kann das nicht machen.« Marty blickte Kassler ernst an. »Der Richter hat uns im September 1978 fünf volle Tage zugeteilt, und wir müssen da sein.« »September 1978? Das ist einfach großartig. Nur noch einundzwanzig Monate.« Kassler sprach in jenem ätzenden Ton, dessen er sich in diesen Tagen ziemlich häufig zu bedienen pflegte. »Wir hätten nächsten Monat einen Termin haben können«, sagte Marty. »Aber Vita bestand auf fünf vollen Tagen, und soviel Zeit an einem Stück steht bis September nächsten Jahres nicht zur Verfügung. Glauben Sie mir, sie ist über die ganze Sache auch nicht glücklicher.« »Es spielt keine Rolle, Marty«, sagte Kassler brüsk zu seinem Anwalt. »Ich will die ganze Sache zurückziehen.« »Und ich habe Ihnen gesagt, daß ich das nicht machen kann«, antwortete Marty ebenso brüsk und entfernte dabei einen hellen Staubflecken von seinen glänzenden schwarzen Schuhen. »Dann werde ich mir jemanden suchen, der es kann.« »Sie werden keinen finden, Sy. Setzen Sie sich.« Kassler, der wie üblich auf Marty Myers' orientalischem Teppich herumgetigert war, setzte sich in einen Kunstledersessel mit silberfarbenen Schnallen. »Ich kann Ihre Anträge zurückziehen, wenn Sie das wollen«, sagte Marty zu seinem Klienten. »Aber ich habe keinen Einfluß auf die Anträge Vitas.« »Was, zur Hölle, macht das für einen Unterschied, Marty? Wenn ich nichts verlange, dann bekommt sie, was sie will. Ziehen Sie meine Anträge zurück.«
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»Es sind noch einige andere Punkte hinzugekommen, Sy.« Marty stand auf und ging zu dem passenden Sessel neben dem Kasslers hinüber, in dem er sich vorsichtig niederließ, nachdem er zuvor seine Hose hochgezogen hatte, um nicht die Bügelfalten an den Knien zu beeinträchtigen. »Was für andere Punkte?« fragte Kassler etwas ruhiger. »Vita hat den Antrag gestellt, nach dem Urteil einen anderen Gerichtsstand festzulegen, und verlangt außerdem die Übernahme der Kosten.« Marty fuhr mit Daumen und Zeigefinger über seine Bügelfalten. »Welchen Gerichtsstand?« fragte Kassler. »Azusa, New Mexico.« »Azusa! Wo, zur Hölle, liegt Azusa?« »In der Wüste. Sie glaubt, daß es für die Kinder dort gesünder ist. Sie sagt, daß sie einen Job bekommen hat, bei dem sie den Siouxkindern Klavierstunden gibt.« Kassler konnte es einfach nicht glauben. Wieder und wieder sagte er ›Azusa‹ vor sich hin. »Was ist die nächste große Stadt?« fragte er schließlich. »Es kommt darauf an, was Sie unter groß verstehen.« »Antworten Sie.« »Pico Rivera liegt rund dreihundert Kilometer entfernt.« Minutenlang saß Kassler da und starrte ins Leere. »Wird sie bei dem Richter damit durchkommen?« fragte er. »Vermutlich wird sie, es sei denn, Sie bringen etwas Wesentliches gegen sie vor. Sie wird bestimmt damit durchkommen, wenn Sie nicht erscheinen. Und selbst wenn Sie erscheinen, müssen Sie auch noch Widerspruch erheben.« »Nehmen wir an, ich werfe einfach das Handtuch und sage ihr, daß sie machen kann, was sie will. Muß ich dann immer noch vor Gericht erscheinen?« »Ja. Sie sind vorgeladen worden. Sie will ganz sichergehen, daß Sie Ihre Meinung nicht eines Tages wechseln und die Sache anfechten, hier oder da draußen. Sie müssen vor -4 8 8 -
Gericht erscheinen und sich von ihrem Anwalt verhören lassen. Es tut mir leid, Sy. Es liegt nicht mehr in Ihrem Ermessen.« »Azusa?« fragte Kassler. »Azusa«, bestätigte Marty Myers. »Wieviel Unterhalt verlangt sie?« »Es geht nicht um normale Unterhaltszahlungen«, antwortete Marty und spielte dabei gedankenlos mit den Schnallen an der Armlehne seines Sessels. »Um was denn?« Marty schluckte angestrengt. »Übernahme der Kosten bedeutet, daß die eine Partei, Vita zum Beispiel, beim Gericht beantragt, daß die andere Partei, Sie zum Beispiel, alle ihre Gerichts- und Anwaltskosten zu zahlen hat.« Es versteht sich von selbst, daß das Thema Selbstmord für Kassler zu diesem Zeitpunkt keine Frage mehr war, bei der das Für und Wider abgewogen werden mußte. Er ging von der Voraussetzung aus, daß er sich binnen kurzem das Leben nehmen würde und daß nur noch einige unbedeutendere Details übrigblieben - Briefe, die noch für die Geburtstage seiner Kinder zwischen vierundzwanzig und dreißig geschrieben werden mußten, eine endgültige Entscheidung über seine Grabsteininschrift (es standen mehrere zur Auswahl, alle aus dem Buch Hiob), der Abschluß der Serie ›Roots‹ im Fernsehen. Kassler sah keinen Grund, die Dinge zu überstürzen. Von allumfassender Bedeutung war für ihn, daß er zum ersten Mal in seinem Leben die völlige und absolute Kontrolle ausübte. Er allein würde entscheiden, wie und wann die Tat geschah. Es war dieses allverzehrende Bedürfnis, vollständig über sein Leben bestimmen zu können, das für die nächste Episode im verbleibenden Rest von Kasslers Existenz verantwortlich zeichnete. Wie sonst wären der Gram und die Pein zu verstehen, die er wegen des Verlusts einer Sache empfand, die er mit seinem Tod sowieso aufgeben müßte?
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Bea Chaikin kam am ersten Tag nach seiner Rückkehr vom Urlaub in Kasslers Büro vorbei. Genauer gesagt, Bea Chaikin wartete in seinem Büro, als er an diesem Morgen eintraf. »Sam hat mich gebeten, mit dir zu reden, Sy«, sagte sie, nachdem sie die üblichen Artigkeiten und Fragen nach dem Verlauf der Feiertage ausgetauscht hatten. Kassler zog seinen Mantel aus und hängte ihn auf den Haken an der Innenseite der Tür, die er dann schloß. »Ich nehme an, du hast die heutige Morgenzeitung gesehen?« fragte Bea. »Nein«, sagte Kassler, als er zu seinem Schreibtisch hinüberging. »Warum?« »Dein kleiner Mitternachtsausflug mit Mrs. Fletcher am Heiligabend steht ganz groß auf der ersten Seite.« »Verstehe«, sagte Kassler und setzte sich auf seinen grauen Drehstuhl aus Metall. »Das war's dann, nicht wahr?« »Richter Gelbert war außer sich. Sam hat sich für dich eingesetzt, so daß es zu keiner Strafanzeige kommt, aber dafür mußte ein Preis gezahlt werden.« Bea sprach so sanft, wie sie nur konnte. »Wieviel Zeit bleibt mir noch?« »Gar keine, Sy. Deine Anstellung ist vor einer Stunde zu Ende gegangen.« Kassler saß geschockt da, wenn er auch nicht wußte, warum. Ganz sicher, dachte er, hatte er gewußt, daß man ihn letzten Endes feuern würde. Mehrmals hatte er aufhören wollen. Aber irgendwie hatte Zelazo ihn nie zum Gehen aufgefordert, und von sich aus hatte er es auch nicht getan. In gewisser Weise war er sich langsam unbesiegbar vorgekommen. Er ging davon aus, daß er immer im Phlegethon sein würde, genauso wie davon, daß das Phlegethon immer gefüllt sein würde, gleichgültig wie viele Patienten auch entlassen wurden. Es würde das Phlegethon immer geben, und, Kassler, Sam, Bea, Bernie und all die Patienten würden immer da sein. Kassler
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begriff, daß er seit mehreren Jahren auf der Basis dieser unbewußten Annahme gearbeitet hatte. Jetzt, angesichts einer solch abrupten Entlassung, ertappte sich Kassler dabei, daß er mit Bea Chaikin verhandelte. Es war für ihn keine Sache des Stolzes oder einer großen Liebe zum Phlegethon. Auch der Verlust seines Einkommens und seiner Beschäftigung machte für einen Mann, der entschlossen war, diese Welt in Kürze zu verlassen, keinen großen Unterschied. Es war ganz einfach ein anderer Umstand, über den er keine Kontrolle hatte, und mit ihm wurde die letzte unterschwellige Stütze in seinem Leben unter ihm weggezogen. Kassler erkannte nämlich mit unangenehmer Plötzlichkeit, daß er sich, gleichgültig wie ihn seine Frauen behandelten, gleichgültig was sich zwischen ihm und seinen Kindern abspielte, gleichgültig wie vielen sinnlosen Todesfällen und persönlichen Mißgeschicken er jeden Tag begegnete, stets darauf verlassen durfte, am nächsten Morgen in Phlegethons Land der Wahnsinnigen gehen zu können, um mehr über Philip Donatos Mutter zu erfahren und Cheryl ihre kleine Puppe wiegen zu sehen. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, daß ich...« »Keine.« Bea schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Möglichkeit.« »Es ist alles, was ich habe.« Kassler blickte Bea flehend an. »Du wirst etwas anderes finden, Sy«, sagte Bea zu ihm. »Du wirst etwas viel Besseres als dieses Haus hier finden, das sowieso nicht mehr viel länger da sein wird. Du wirst ein neues Leben anfangen. Du hast gerade geheiratet...« »Sie ist eine Hure, Bea.« »Sie war es einmal, habe ich gehört, aber sie ist es nicht mehr. Es ist ihr Körper. Mir scheint, sie hatte das Recht, damit zu machen, was sie wollte. Außerdem liebt sie dich sehr. Ich kenne Lupa ein bißchen. Sie hat eine schwere Zeit durchgemacht und einige Dinge getan, von denen sie sich jetzt wünscht, daß sie sie nicht getan hätte. Das hast du auch. Belaß
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es dabei, Sy, oder du wirst etwas sehr Schönes verlieren.« Bea beschwor Kassler. »Bernie ist tot.« »Ja, ich weiß«, sagte sie. »Wir müssen alle damit fertig werden.« »Es war meine Schuld«, sagte Kassler. »Ich sollte Weihnachten mit ihm verbringen, hatte aber nicht den Mut, ihm zu sagen, daß ich heiraten würde.« »Deshalb bringen sich die Menschen nicht um, Sy, und das weißt du auch.« Bea schluckte schwer, um die Selbstkontrolle zu bewahren. »Wir waren ein Liebespaar.« »Ich wußte, daß Bernie sehr viel an dir lag«, sagte Bea ruhig. »Ich hatte mir gedacht, daß ihr es wahrscheinlich seid.« »Das hast du?« fragte Kassler überrascht. »Warum hast du nichts gesagt?« »Was hättest du denn gerne gehört?« Kassler sah Bea an und versuchte darüber nachzudenken, was er gerne von ihr gehört hätte. »›Sei vorsichtig?‹ ›Tu es nicht?‹ ›Herzlichen Glückwunsch?‹ Irgendwas.« »Warum? Es geht mich nichts an.« »Vita will die Kinder mit nach New Mexico nehmen«, fuhr Kassler fort, seine Leidensgeschichte zu erzählen, in der Hoffnung, daß Bea ihn als Härtefall ansehen und seine Entlassung überdenken würde, ganz so, als ob sie in dieser Sache irgendeine Macht ausüben konnte. »Ich werde meine Kinder niemals wiederhören.« »Es tut mir leid, das hören zu müssen«, erwiderte Bea. »Ich weiß, wie sehr du deine Kinder liebst.« Kassler merkte, daß er nichts erreichen konnte. »Vita hat mein Leben ruiniert, Leo Szlyck hat mein Leben ruiniert, ich bekomme noch immer verrückte Telefonanrufe von einem Patienten, der sich keinen mehr runterholen kann...« -4 9 2 -
»In Ordnung.« Bea hob die Hände, um Kassler zu stoppen, bevor er in seine Jugendzeit und Kindheit zurückkehrte. »Ich hätte da eine kleine Ansprache, die ich schon seit einiger Zeit vorbereitet habe, Sy. Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt dafür gekommen.« Kassler wußte, daß er sie sich nicht im Sitzen anhören konnte, und so erhob er sich von seinem Stuhl, und begann, nervös auf und ab zu gehen. »Du bist ein guter Mensch, Sy. Du hast ein gutes Herz und eine gute Seele...« »Und das bringt mich jedesmal in Schwierigkeiten. Ich kümmere mich zu viel um andere Leute.« »Das ist deine große Lüge, Sy. Wir leben alle mit unseren Lügen. Mit einigen großen, mit einigen kleinen. Das ist deine, und sie ist ein Hammer.« Kassler blieb stehen und sah Bea Chaikin an, als würde sie in einer fremden Sprache reden. »Ich kümmere mich nicht... Ich kümmere mich nicht um...«, sprudelte er hervor. »Nein, das tust du nicht, Sy. Denn wenn du es tätest, dann würdest du den Menschen den Raum lassen, den sie brauchen, um ihr eigenes Leben zu führen, und du würdest aufhören, daran zu glauben, das alles, was sie tun, mit dir zu tun hat.« »Das stimmt nicht«, protestierte Kassler. »Vita hat das, was sie getan hat, wegen Vita getan.« Bea blickte Kassler eindringlich an. »Nicht wegen dir. Sie ist nicht hingegangen und hat sich Dinge ausgedacht, um Sy Kasslers Leben durcheinanderzubringen, auch wenn es sich so angefühlt hat. Glaubst du, sie ist mit Sam auch nur ein bißchen glücklicher? Sie ist dem Untergang geweiht, Sy. Sie wird ihr ganzes Leben auf dieselbe Weise mit denselben Qualen und Konflikten leben. Der einzige Unterschied ist, Sam begreift, daß das ihr Problem ist, nicht seins, und Vita weiß, daß sich Sam dessen bewußt ist, und so kommen sie ganz gut miteinander zurecht, nicht wunderbar, aber ganz gut. Sie holen sich -4 9 3 -
voneinander, was zu holen ist, und treiben sich nicht gegenseitig bei dem Versuch in den Wahnsinn, sich etwas zu holen, was nicht da ist und niemals da sein wird.« Bea machte eine Pause, um Luft zu holen und das Gesagte in Kasslers Bewußtsein dringen zu lassen. Dann fuhr sie fort. »Leo Szlyck war ein verrückter Mensch. Er hat das, was er getan hat, getan, weil er leicht wahnsinnig war. Du hättest Tschiang Kaischek sein können, und wenn er der Ansicht gewesen wäre, daß du ihm die Frau weggenommen hast, hätte er genau dasselbe getan, was er getan hat. Es hatte nichts mit Sy Kassler zu tun. In etwas geringerem Maß gilt das auch für Bernie Kohler. Er hat das, was er getan hat, wegen Bernie getan, nicht wegen Sy Kassler.« Bruchstücke von Daten begannen in Kasslers Schädel zu sickern, während er weiter auf und ab ging. »Lupa hat das, was sie getan hat, wegen Lupa getan. Sie hat nicht daran gedacht, welche Wirkung es auf Sy Kassler haben könnte. Sie hat versucht, am Leben zu bleiben. Sie hat dich wegen der Gefühle geheiratet, die sie für dich hat, nicht wegen der, die du für sie hast - nicht, daß sie es getan hätte, wenn dir nichts an ihr liegen würde. Sie ist nicht selbstzerstörerisch, egal was du denkst. Aber Lupa ist jetzt bei dir wegen Lupa, wegen dem, was sie ihrer Ansicht nach für sich holen kann. Meine Empfehlung ist, daß du dasselbe tust, denn ich glaube, daß sehr viel da ist, was du dir holen kannst, wenn du es willst.« Kassler spürte, wie er von einer überwältigenden Traurigkeit eingehüllt wurde. »Die Welt dreht sich nicht um Sy Kassler, und ich glaube, es ist Zeit, daß dir das jemand ins Gesicht sagt«, fuhr Bea entschieden fort, aber es war klar, daß Kasslers tiefe Traurigkeit Wirkung bei ihr zu hinterlassen begann, und sie mußte sich bewußt daran hindern, zu seinem Sessel hinüberzugehen und ihn in die Arme zu nehmen. »Also«, sagte sie, »meine Ahnungen sagen mir, daß du im Begriff bist, uns allen zu beweisen, daß Bernies Handlungsweise eine weitere seiner brillanten Lösungen der -4 9 4 -
vielen Probleme des Lebens war, indem du die Prozedur wiederholst...« Bea wollte diesen Worten einen markigen Kommentar über Kasslers selbstmörderische Verfassung folgen lassen, aber der Gedanke, daß sich Kassler selbst töten würde, und seine erkennbar große Verzweiflung machten es ihr unmöglich, weiterzureden. »Ich wünschte mir nur, daß du es nicht tust, Sy«, sagte sie, während ihre Augen feucht wurde. »Ich wünschte, daß du es nicht tust.« Und Beas Festigkeit und Entschlossenheit zerbröckelten. Sie ging hinüber zu Kassler und drückte ihn an sich. »Ich werde dich hier vermissen, Sy«, sagte sie weich. »Das muß ich dir sagen. Es kommt mir so vor, als seien erst ein paar Tage vergangen, seit ich dich in den Etagen herumgeführt und dir die Spieler mit meinen Diagnosen vorgestellt habe.« »Bist du sicher, daß es keine Möglichkeit für mich gibt, zu bleiben?« fragte Kassler. »Gerade lange genug, um die Behandlung meiner Patienten abzuschließen?« Bea schüttelte verneinend den Kopf. »Sam hatte eine Idee«, sagte sie. »Sobald das Gericht das Entlassungsverbot aufhebt, kannst du die Patienten, die du willst, mitnehmen. Das sollte bald sein. In der Zwischenzeit springe ich für dich ein.« Kassler blickte zu Bea hoch, die neben ihm stand und ihre Hand sanft über ihren Nacken gleiten ließ. »Wohin mitnehmen?« »Wohin du willst. Zu dir nach Hause, wenn du willst.« »Bist du sicher?« fragte Kassler. Bea lächelte und gab Kassler einen leichten Kuß auf die Wange. »Überflüssig zu sagen, daß wir froh sind, alle loszuwerden, die wir loswerden können.« Kassler ergriff Beas Hände und hielt sie fest.
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»Ich möchte Mr. Katzman.« Auch er küßte Bea auf die Wange. »Ich möchte Diana Fletcher«, fuhr er fort und streichelte sanft ihre Hände. »Ich möchte Philip Donato.« Bea schloß die Augen und küßte Kassler abermals auf die Wange. »Ich möchte Cheryl.« Kassler erwiderte Beas Kuß. »Du kannst sie alle haben.« Bea fuhr Kassler durch die Lockenhaare und ging zur Tür. »Du kannst jeden haben... nur mich nicht, Sy. Tut mir leid.« Und sie kniepte Kassler zu und machte, erfreut über seine schnelle Erholung, leise die Tür hinter sich zu. Und so kam es, daß Kassler, seine Beziehung zum Phlegethon beendete. Die langfristige Folge der Auflösung dieser Bindungen war, daß Kassler weniger betriebsam an den Vorbereitungen zu seinem eigenen Ableben arbeitete, obwohl seine Entschlossenheit dazu nicht weniger absolut geworden war. Die kurzfristigen Folgen, die es zweifach gab, waren im Hinblick auf ihre augenblicklichen Auswirkungen wesentlicher. Zuerst einmal schritten die Bundesgerichte ein und hoben das gerichtliche Verbot, Patienten zu entlassen, auf, bestätigten jedoch die Verfügung, nach der keine Neuaufnahmen gestattet waren. Phlegethon war innerhalb von achtzehn Monaten vollständig zu leeren, ohne Ausnahme, und nichts konnte dem im Wege stehen. Zu dieser Entscheidung kam es im April 1977, eine Woche bevor Kassler Lupa schließlich davon überzeugt hatte, daß es für sie beide eine wundervolle gemeinsame Erfahrung sein würde, wenn sie mit vier geisteskranken Patienten zusammenlebten. »Dies könnte uns einander sehr nahe bringen«, erzählte er ihr wieder und wieder. Lupa stimmte zu aufgrund des zweiten Umstands, nämlich dem, daß Kassler die Teile von Beas Ratschlag, die ihm gefielen, annahm und jene, bei denen das nicht der Fall war, zurückwies.
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Zur ersten Kategorie gehörte die Wahrung seiner eigenen Interessen, was in diesem Fall bedeutete, daß er eine Serie wahlloser sexueller Beziehungen aufnahm. Kassler betrog Lupa, wann immer er konnte. Zur zweiten, zurückgewiesenen, Kategorie gehörte die Akzeptanz der Zuneigung und Fürsorge, die Lupa ihm geben wollte. Kassler nahm nichts davon an. Lupa erkannte bald, daß Kassler Affären hatte, aber sie sagte nichts und hoffte, daß es nur eine Reaktion auf den Verlust seiner Arbeit, seines engen Freunds und auf den potentiellen Verlust seiner Kinder war. Sie hoffte, daß es bald vorübergehen würde. Die Zustimmung zur Aufnahme von vier Irren in ihre Familie mochte, glaubte Lupa, ein Weg sein, Kassler zu Hause zu halten. Im Mai 1977 kam ein Lieferwagen vom Phlegethon an, und Philip Donato, Mr. Katzman, Diana Fletcher und Cheryl wurden buchstäblich in Kasslers Vorgarten abgeladen. Das Ergebnis war leicht vorhersehbar. Verängstigt und verstört bedurften die Patienten eines großen Teils der Zeit Kasslers und Lupas, für die sie glücklicherweise einigermaßen vom Staat New Jersey entschädigt wurden - die einzige Einnahmequelle während einer ansonsten katastrophalen Zeitspanne. Unglücklicherweise für Lupa beanspruchten sie nicht so viel von Kasslers Zeit, um seine außerplanmäßigen sexuellen Aktivitäten einzuschränken. Ich will mich nicht in Details über die Wochen verlieren, die zu Monaten wurden, in denen sich Kassler und Lupa um ihre Pfleglinge kümmerten, sondern überlasse es dem Leser, sich die heftigen, schwierigen und erschöpfenden Kämpfe vorzustellen, die stattfanden, bis sich alle vier geisteskranken Personen an ihre neue Umgebung gewöhnt hatten und bei Aufgaben im Haushalt und ihrer persönlichen Rehabilitation zur Kooperation bereit waren.
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»Sie können mir meine Medikamente nicht wegnehmen!« schrie Mr. Katzman Tag auf Tag. »Es ist illegal. Es ist gegen die Verfassung!« »Es ist nicht illegal«, erwiderte Kassler. »Es ist gegen unsere Rechte!« gellte Philip Donato. »Wir haben ein Recht darauf, verrückt zu sein!« . »Jedesmal wenn ihr eine dieser Pillen nehmt«, erklärte Kassler, »sagt ihr zu euch selbst: ›Ich bin ein geisteskranker Patient. ‹« »Dann paßt es ja haargenau«, sagte Mr. Katzman. »Sie sollten solche Dinge nicht vergessen.« »Wenn ihr verrückt sein wollt, dann ist das eure Sache«, machte Kassler seiner Mannschaft klar. »Aber ihr müßt es ohne Medizin sein.« »Wenn Sie mir mein Thorazin wegnehmen, werde ich mir neue Symptome ausdenken!« drohte Mr. Katzman. Diana Fletcher und Cheryl nickten zustimmend. »Das ist ebenfalls Ihre Sache.« Kassler blieb fest. »Furchtbare, schreckliche Symptome!« fuhr Mr. Katzman fort. »Sie werden Ihnen ganz und gar nicht gefallen.« »Wenn sie mir ganz und gar nicht gefallen, dann werden Sie sich vermutlich auch nicht wohl mit ihnen fühlen«, stellte Kassler fest. »Verdammt!« Mr. Katzman spürte, daß Kassler wahrscheinlich recht hatte. »Können wir nicht ein bißchen verrückt sein, damit wir ein bißchen Thorazin haben können?« »Nein«, sagte Kassler zum hundertsten Mal. »Nicht einmal ein bißchen. Dieses Jahr - keinen Wahnsinn. Tut mir leid.« Es gab lautere Kämpfe, schreckliche Nächte voller Furcht und Panik, aber schließlich setzten sich Kasslers Beharrlichkeit und Lupas Wärme durch. Nach und nach gaben die Mitglieder des Quartetts ihre Identität als geisteskranke Patienten auf. Der letzte Schritt bei diesem Prozeß wurde von Diana Fletcher unternommen, die, als sie aus ihrer schizophrenen -4 9 8 -
Verwirrung hervortrat, bemerkte, daß, obwohl Cheryl ihre Kleider niemals anbehielt, ihre Puppe dies jedoch immer tat. Während der täglichen Gruppentherapiesitzung nach dem Abendessen verlangte sie eines Tages - ohne den genauen Zweck anzugeben - eine Nähmaschine sowie eine lange Liste bunter Stoffe und Kurzwaren. Die Gruppe erklärte sich einverstanden, eine Nähmaschine zu leihen und Mrs. Fletcher mit allem zu versorgen, was sie verlangte, und innerhalb von Tagen hatte sie eine kunstvolle Kollektion von Puppenkostümen in der Damengröße vierunddreißig fertiggestellt - Spanische Komtesse, Marie Antoinette, Cinderella, Holländerin. Cheryl, deren Augen beim Anblick der Garderobe aufgeleuchtet waren wie Scheinwerfer, sollte niemals wieder unbekleidet herumlaufen. Sie dazu zu bringen, am Ende des Tages ihre Gewänder abzulegen, so daß entweder Cheryl oder die Kleider gewaschen werden konnten, wurde andererseits zu einem größeren, wenn auch nicht unlösbaren Problem. Diana Fletchers Sanftheit trug den Sieg davon. Es wurde bald offenkundig, daß sich eine Familie gebildet hatte. Diana Fletcher wurde die Mutter und Mr. Katzman der Vater, Philip Donato ihr älterer Sohn und Cheryl, die allen in ihren Kostümen wie eine Zweijährige hinterherlief, das Kleinkind der Familie. Kassler und Lupa, die aus diesem sich schnell stabilisierenden Familienverbund ausgeschlossen waren, wurden von der Gruppe als angeheuerte Hausangestellte angesehen. Kassler und Lupa nahmen es mit Humor. »Wir haben einige Probleme mit Lupa gehabt, Lieber«, sagte Diana Fletcher beim Gruppentreffen am Abend zu Mr. Katzman, der in einem hübschen Lehnsessel saß und friedlich an seiner Pfeife paffte. »Das Abendessen ist an den letzten Tagen überhaupt nicht gut gewesen.« »Ja«, sagte Mr. Katzman, »es ist mir aufgefallen. Natürlich muß man, so wie die Wetten stehen, einige gute und einige schlechte Tage erwarten, fünfzig zu fünfzig, würde ich sagen. Aber ich muß zustimmen, sie fällt unter pari. Weit unter pari.« -4 9 9 -
»Meine Nudeln waren eiskalt«, kommentierte Philip. »Und Dr. Kassler«, fuhr Diana fort, die während des Abends eine farbenfrohe Jacke für Cheryl strickte. »Er sollte eigentlich schon vor zwei Wochen den Ausguß säubern. Das ist noch immer nicht geschehen. Was meinst du, sollen wir tun, Lieber?« »Ich rede mit ihnen«, sagte Mr. Katzman ernst. »Oh, das finde ich nett von dir, Lieber«, sagte Diana Fletcher. »Mir fallen diese Dinge immer sehr schwer.« »Kein Problem.« Mr. Katzman paffte gedankenvoll. »Ich regele das schon.« »Cheryl?« rief Diana Fletcher. »Komm, probier das hier mal an.« »Ich komme«, sagte Cheryl den ersten Satz ihres Lebens und kam in ihrem Reifrock herübergehüpft. Cheryl begann ihr Leben ganz von vorne, und obwohl unklar war, welches geistige Alter sie letzten Endes erreichen konnte, machte sie rasche Fortschritte, aß und kleidete sich jetzt ohne fremde Hilfe und hatte nichts beschädigt, einschließlich ihres eigenen Fleischs. Überflüssig zu sagen, daß ich beim Gang der Dinge etwas unterging, aber ich war zufrieden damit, die Zeit abzuwarten, solange Kassler am Leben und in der Nähe war. Lupa hingegen wurde weniger geduldig. Die Monate vom Frühling 1977 bis zum Frühling 1978 waren ohne merkliche Veränderungen in Kassler oder ihrer Beziehung vergangen. Die Fernsehserie ›Roots‹ hatte ihren Abschluß gefunden, sowohl Lupa als auch Kassler gaben sich große Mühe, dunkelhäutige Menschen mit einer Mischung aus überschwenglicher Freundlichkeit und einem angemessenen Unterton von Schuld und Reue für Sünden zu begrüßen, die sie niemals begangen hatten. Bevor Kassler und Lupa es wußten, war ein Jahr verblüffenderweise vergangen, lag ein weiteres Weihnachtsfest hinter ihnen, hatte ein weiterer kalter Winter geendet. Kassler lebte noch immer, und Lupa raufte sich die Haare. -5 0 0 -
»Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich noch in der Lage sein werde, dies hinzunehmen«, sagte Lupa zu mir in einer späten, schlaflosen Aprilnacht des Jahres 1978. »Eigentlich habe ich gedacht, daß die Dinge ganz gut gelaufen sind«, kommentierte ich. »Wir haben Panama Panama zurückgegeben, den Bau der Neutronenbombe aufgeschoben, den Killer Son of Sam gefaßt und hatten eine unterhaltsame Woche, als im Fernsehen das Massaker an den Juden nachgelebt wurde. War Mr. Katzman nicht großartig, als er all die Details hinzufügte, die das kommerzielle Fernsehen aus Geschmacksgründen nicht zeigen konnte?« »Ich habe nicht von den aktuellen Ereignissen gesprochen«, sagte Lupa. »Jedenfalls nicht von den aktuellen Ereignissen in der Welt. Meine aktuellen Ereignisse sind das Problem.« »Ah, ja«, stimmte ich ihr zu. »Glaubst du, daß Kassler jemals damit aufhört?« »Definitiv nicht«, erklärte Lupa. »Jedenfalls nicht durch irgend etwas, was ich tue. Ich gebe mir die größte Mühe. Ich blicke weg, wenn er geht und andere Frauen bumst. Ich arbeite mit seinen verrückten Patienten Ich toleriere seine Launen. Ich spiele mit seinen Kindern. Ich tue so, als würde ich nicht bemerken, daß seine Beziehung zu mir rein mechanisch ist. Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll.« »Vielleicht ist Kassler einfach nicht mehr Kassler, den du einmal gekannt hast«, gab ich zu bedenken. »Er ist ein anderer Mensch geworden.« Dies war ein neuer Gedanke für Lupa. »Ich glaube, ich sollte ihn verlassen«, sagte sie wenig überzeugend. »Du hast recht. Er ist nicht der Mensch, für den ich ihn gehalten habe, als ich ihn heiratete.« »Was hält dich also noch hier?« fragte ich. »Für ihn bin ich das gar nicht.« »Vielleicht solltet ihr euch einmal unterhalten«, schlug ich vor.
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»Es ist schwer für mich, eine Beziehung aufzugeben«, fuhr Lupa fort, frei zu assoziieren. »Sieh nur, was beim letzten Mal passiert ist. Ich bin praktisch für immer geblieben.« »Es kommt mir so vor«, erinnerte ich mich, »als ob wir seit unserem Kennenlernen einige derartige Unterhaltungen geführt haben. Die letzte hatte natürlich zu tun mit - wie war doch sein Name? - Leo Szlyck, nicht wahr?« »Sy ist in keiner Weise wie Leo«, sagte Lupa. »Was heißt das?« Ich spielte des Teufels Advokat. Lupa mußte angestrengt nachdenken. »Nun«, sagte sie, »Leo sorgte sich nur um einen Menschen Leo Szlyck. Sy aber...« Lupas Stimme verklang. So wie es war, funktionierte Kassler nur aufgrund von Reflexen. Er nahm eine nichts wagende, nichts verlierende Form der Existenz an, deren Fundament ihn davor schützte, irgendeinen Teil seines Selbsts in irgend etwas oder irgend jemanden zu investieren. Morgens und nachts war er höflich und freundlich zu Lupa, bei der er argwöhnte, daß sie nicht viel länger da sein würde. Am Tag arbeitete er gekonnt mit seinen Patienten, die, wie er wußte, nicht mehr weit davon entfernt waren, irgendwoanders ihr eigenes Leben zu führen. Abends besuchte er die Vorlesungsräume und die Bibliothek der Universität mit der ausschließlichen Absicht, junge Frauen zum Sex aufzugabeln. Auf diese Weise brachte er einige Beziehungen hinter sich, die vier bis sechs Wochen dauerten, wobei er die eine junge Dame wegen ihres Lächelns wählte, eine andere wegen ihres fließenden roten Haars, eine wegen des Blicks auf einen seidenweichen Schenkel, der ihm gelungen war, als der Rock des Mädchens hochrutschte, eine wegen der Art und Weise, in der ihre Blue jeans ihr Hinterteil betonten, in der ihre Brustwarzen unter der dünnen Strickjacke hervorstachen oder in der sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Kassler brachte sein physisches ehebrecherisches Verhalten mit seiner Psyche in Einklang, indem er sich einredete, daß es, im großen Rahmen der Dinge gesehen, bedeutungslos war, -5 0 2 -
vergleichbar mit anderen Arten der Unterhaltung oder sportlichen Betätigungen - Kinobesuche, Klavierkonzerte oder Joggen, zum Beispiel. An den Sonntagen spielte er auf angemessen väterliche Art und Weise mit seinen Kindern, die, wie er es verstanden hatte ohne sich noch die Mühe zu geben, darüber nachzudenken -, in wenigen Monaten nach Azusa, New Mexico, ziehen würden. Obwohl sich Kassler nicht darüber im klaren war, hatte er unbewußt einen Plan entwickelt. Gegen Ende des Sommers würde er die Patienten auf das Verlassen der Bolge vorbereiten. Er würde seine Angelegenheit geordnet und genug Geld zurückgelegt haben, um jedem seiner Kinder fünftausend Dollar hinterlassen zu können. Die Bolge würde an Lupa gehen, für ihre Bemühungen. Dann, im September, würde er sich der Bestrafung aussetzen, die ihn vor Gericht erwartete und die er, wovon er inzwischen überzeugt war, sicherlich verdiente. Und danach, wenn dies abgeschlossen war, würde er sich von seinen Kindern und Lupa verabschieden, seine Patienten freilassen und sich umbringen. Kassler hatte natürlich zweckmäßigerweise vergessen, daß es da noch einige andere Dinge gab, mit denen er sich noch nicht auseinandergesetzt hatte, darunter vor allem mit mir. Ich war nicht gewillt, Kassler zu gestatten, sich zurückzuziehen, ohne der Realität von Sam Zelazo, Leo Szlyck und nun auch noch Bernie Kohler entgegenzutreten, die alle, unglücklicherweise für Kassler, nicht nur noch weit davon entfernt waren, aus dem Bild verschwunden zu sein, sondern letzten Endes auch noch dafür sorgen würden, daß ich die Psychotherapie bekam, auf die ich, wie ich mit aller Freimütigkeit sagen muß, ziemlich geduldig gewartet hatte. Und dies ist es natürlich, was von meiner Geschichte über Sy Kassler, I.S.A.S., noch zu erzählen bleibt - wie es kam, daß ich Kassler schließlich dazu brachte, mich als den zu akzeptieren, der ich bin, und, ziemlich bereitwillig, seine Zustimmung zu meiner sofortigen psychotherapeutischen Behandlung zu geben. -5 0 3 -
Es war für uns beide der Abschluß einer langen und verwickelten Reise, deren letztes Teilstück mit einem Besuch Kasslers bei Marty Myers und einer Liste begann. »Nun«, sagte Marty eines unerträglichen heißen Tages gegen Ende August zu Kassler, »wir haben unsere Zeugenlisten ausgetauscht, der Rechtsbeistand der Gegenpartei und ich.« Kassler saß unmittelbar vor der Klimaanlage und versuchte, den Schweiß von seinen Augenbrauen zu vertreiben. »Wir haben«, fuhr Marty fort, »Sie und vielleicht Lupa, wenn sie irgend etwas Hilfreiches zu sagen hat und gewillt ist, eine Zeugenaussage zu machen.« Martys Weste war geöffnet, die Krawatte gelockert, und an seinem weißen, mit Monogramm versehenen Hemd waren der oberste Knopf nicht geschlossen und die Ärmel hochgekrempelt, wodurch eine teure Rolex sichtbar wurde, die er aus Dankbarkeit von einem seiner Klienten geschenkt bekommen hatte. Er studierte ein Blatt Papier vor sich und blickte dann zu Kassler hinüber. »Wollen Sie sehen, wer gegen Sie aussagen wird?« fragte Marty. »Es erklärt, warum sie fünf Tage Gerichtszeit beantragt haben.« Kassler griff nach der Liste mit den gegnerischen Zeugen. Die Liste las sich wie folgt: Vita Kassler Joshua Kassler Joy Kassler Jud Simon Bea Chaikin Dr. med. Samuel Zelazo Norman Meltz Die Liste war offensichtlich schon vor einiger Zeit zusammengestellt worden, denn zwischen Bea Chaikin und
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Sam Zelazo stand der Name Bernie Kohlers, aber er war durchgestrichen worden.
2 Kasslers anfängliche Reaktion auf die Liste war Schock. Von Jud Simon hatte er noch nicht einmal etwas gehört, aber die anderen Namen kannte er nur zu gut. Dann kam er zu der Schlußfolgerung, daß die Schlachtlinien gezogen waren und daß Vita, wenn sie Krieg haben wollte, ihn auch bekommen sollte. Kassler entschied sich dafür, glorreich unterzugehen, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen. Und genau das tat er dann auch. Während der dreißig Tage vor der Verhandlung tat Kassler nichts anderes, als an seinem Fall zu arbeiten. Den ganzen Tag über machte er sich Notizen über sein Leben mit Vita, über ihre Fürsorge für die Kinder und über tausend überzeugende Gründe, aus denen er das Sorgerecht bekommen sollte, besonders dann, wenn Vita nach New Mexico zog. Dann, jeden Nachmittag um drei, traf er sich mit Marty Myers und ging mit ihm die Notizen durch. Um fünf, wenn er bei Marty fertig war, kehrte er zum Abendessen in die Bolge zurück und sah nach den Patienten. Anschließend machte er sich bis zum nächsten Morgen wieder an die Arbeit an seinem Fall. Bezeichnend dafür, wie sehr seine Gerichtssache Kassler gegen Ende des unerträglichen heißen Sommers 1978 in Anspruch nahm, war, daß es nicht nur noch Wochen dauern würde, bis er von der neuen Möglichkeit erfuhr, Babys in Retorten zu erzeugen, die, wenn es sie schon 1970 gegeben hätte, möglicherweise dazu angetan gewesen wäre, Kasslers gegenwärtige Situation weniger mißlich sein zu lassen, sondern sogar noch viele Monate vergehen würden, bevor er von der Entscheidung des Kardinalskollegiums Kenntnis bekam, daß die makellose Geschichte des Papsttums nicht
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notwenigerweise befleckt wurde, wenn der Papst in Polen geboren war. Die Verantwortung, für Patienten und Haus zu sorgen, blieb natürlich Lupa überlassen. Sie nahm sie ohne Klagen auf sich, da sie wußte, daß in fünfunddreißig Tagen alles vorbei sein und sie Kassler am sechsunddreißigsten Tag verlassen haben würde. Der Gerichtssaal sah genauso aus wie alle anderen Gerichtssäle, braune Stühle, Fenster vom Fußboden bis zur Decke, mattrosa Wände. Kassler und Marty Myers saßen an der einen Seite des langen Mahagonitischs, der rechtwinklig zu dem erhöhten Podium stand, wo Richter Sullivan thronte, Vita und Doris Huber, ihre Rechtsanwältin, an der anderen Seite. Da Vita die ursprüngliche Klageschrift eingereicht hatte, waren die Zeugen ihrer Seite zuerst an der Reihe. Vita machte den Anfang. »Ihre Aufgabe ist es«, hatte Vitas Anwältin Vita am Tag vorher in ihrem Büro erklärt, »dem Richter eine Welt zu schaffen, mit Himmel und Erde, so daß er dort lebt, wo Sie leben, und er das fühlt, was Sie fühlen. Es werde Licht!« Vita tat genau dies. Sie entwarf ein glänzendes Universum, das sie mit ihrer langen und traurigen Geschichte illuminierte, angemessen aufgelockert durch Tränen. Sie erzählte, wie sie Kassler kennengelernt und später, mit schweren Zweifeln, aber wegen Kasslers Beharrlichkeit, eingewilligt hatte, ihn zu heiraten. Sie erzählte, daß sich ihre Beziehung von Anfang an nicht gut entwickelt hatte und daß Kassler dagegen gewesen war, Joshua zu bekommen, und noch entschiedener dagegen, Joy zu bekommen. Dann berichtete Vita, wie gut die Kinder in der Schule und zu Hause zurechtkamen, was für ein wundervolles Leben es für sie alle war und wie sehr sie ihre Sprößlinge liebte. Sie präsentierte ihre finanzielle Situation, die erkennen ließ, daß sie, abgesehen von der wöchentlichen Zahlung Kasslers, nichts besaß. Und das war es. Himmel und Erde waren vollendet.
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Während der ganzen Zeugenaussage Vitas hatte Marty Myers Kassler selbstgefällig angelächelt. Erst ganz kürzlich, informierte er Kassler, war es ihm gelungen, eine für Vita vernichtende Information zu erhärten, und jetzt näherte er sich, als Überraschung für seinen Klienten und die Klägerin, dem Zeugenstand, um sie damit zu konfrontieren. »Entspricht es nicht der Wahrheit, Miss Kassler« - so wollte Vita angesprochen werden -, »daß Sie während der letzten Jahre bis vor kurzem den Dienst einer Prostituierten verrichtet haben?« Kasslers Mund klappte auf, und das Herz sank ihm in die Hose. Verzweifelt versuchte er, Marty Myers ein Zeichen zu geben, aber Marty hatte ihm den Rücken zugewandt und konnte ihn nicht sehen. »Nein«, sagte Vita gütig. Marty Myers machte energisch weiter und benutzte sein großes Talent beim Kreuzverhör, um Vita, wovon er überzeugt war, bei einer bewußten Täuschung zu ertappen. »Nun, Sie haben aber, ungefähr bis zum letzten Jahr, ein Geschäft als Innenarchitektin geführt, nicht wahr?« »Nein«, lächelte Vita, »das habe ich nicht. Das trifft auf Mrs. Kassler zu, Sys gegenwärtige Frau, Lupa. Ich bin Vita. Lupa ist diejenige, die Prostitutionsdienste verrichtet hat.« »Sie haben nie ein Geschäft als Innenarchitektin geführt?« Martys Entschiedenheit wurde sichtbar weniger entschieden, und er drehte sich zu Kassler um, der verzweifelt den Kopf in den Händen verborgen hatte. »Nein«, grinste Vita strahlend. »Ich hasse Räume, die von Innenarchitekten eingerichtet werden. Sie wirken unecht und kalt, denke ich. Ich bin Pianistin. Lupa ist die Prostituierte.« Von da an ging alles bergab. Marty Myers erholte sich nie wieder. Er verwechselte Zeiten, Orte und Personen. Kasslers Fall war einer von Dutzenden, die er gegenwärtig vertrat, und die ganze Sache war ganz einfach zu komplex für ihn, um im Kopf behalten zu werden. Er -5 0 7 -
versuchte, sich auf die Notizen zu beziehen, die er sich bei Kasslers täglichen Besuchen gemacht hatte, aber diese waren nicht besonders übersichtlich, und der Zeitaufwand, den er brauchte, um zu finden, was er brauchte, begann den Richter zu verärgern, so daß er damit aufhörte und ohne Notizen weiterwurstelte. Er fragte Vita, ob Sam Zelazo jemals in ihrem Haus schlief, wenn die Kinder anwesend waren, und verfolgte diesen Punkt nachdrücklich, da Vita ihn wiederholt verneinte, kam aber nicht auf den Gedanken, sie zu fragen, ob sie und die Kinder jemals in Sam Zelazos Haus schliefen, was eine übliche Praxis war. Schließlich unterbrach der Richter Marty Myers. »Ich weiß nicht, auf was Sie hinauswollen, Herr Rechtsanwalt«, sagte Richter Sullivan. »Miss Kassler hat Ihre Unterstellung bestritten, und selbst wenn sie zutreffen würde, erwartet dieses Gericht von einer gesunden Frau nicht, daß sie ihr Sexualleben aufgibt, nur weil sie ein alleinstehender Elternteil ist. Wollen Sie behaupten, daß Miss Kassler in diesen Jahren mehr als eine Beziehung gehabt hat, zügellos gewesen ist und den Kindern anstößige sexuelle Aktivitäten vor Augen geführt hat?« »Nein, Euer Ehren.« Marty schüttelte den Kopf. »Dann schlage ich vor, daß wir zu einem anderen Gegenstand kommen«, sagte der Richter fest. »Wie oft baden Sie die Kinder?« fragte Marty Myers. »Immer wenn sie es nötig haben«, sagte Vita. »Und wie oft waschen sie ihre Kleider?« »Wenn sie schmutzig sind.« »In welchem Zustand befindet sich das Haus üblicherweise?« bohrte Marty Myers. »Ich versuche, es sauber und ordentlich zu halten«, sagte Vita freundlich. »Manchmal geht es ein bißchen drunter und drüber, wie man es bei zwei kleinen Kindern und ihren Freunden, die oft da sind, erwarten muß, aber meistens sieht es normal aus, würde ich sagen.« -5 0 8 -
»Aber es wird schmutzig«, sagte Marty. »Natürlich«, sagte Vita. »Sonst würden wir es nicht saubermachen müssen.« »Mr. Myers«, unterbrach der Richter, »haben Sie irgendwelche Beweise, die Miss Kasslers Aussagen widerlegen? Ich werde es nämlich nicht hinnehmen, daß Sie die Zeit des Gerichts verbrauchen, um nach Sachverhalten zu suchen, auf denen Sie Ihren Fall aufbauen können. Werden Sie Beweise vorlegen, die Miss Kasslers Aussage in diesen Punkten widerlegen?« »Andere als Mr. Kasslers Aussagen?« fragte Marty. »Ja. Andere als Aussagen des Beklagten.« »Nein«, gab Marty zu. »Dann möchte ich, daß Sie bei Bereichen bleiben, für die Sie Beweise vorlegen werden. Ist das klar?« »Es ist sehr schwer für Dr. Kassler, Beweismaterial für Vorgänge zu beschaffen, die in einem Haus vor sich gehen, zu dem er keinen Zugang hat, Euer Ehren.« »Das ist nicht mein Problem, Herr Rechtsanwalt. Ich möchte nur, daß Sie bei dem Beweismaterial bleiben, über das Sie verfügen. Ich frage noch einmal: Ist das klar?« »Ja«, nickte Marty. »Fahren Sie fort.« »Ich habe keine weiteren Fragen.« Marty zuckte die Achseln, ging zu Kassler hinüber und setzte sich neben ihn, während Vita an ihrer Seite des Tischs Platz nahm und Kassler anlächelte, als ob es kein Morgen geben würde. »Diese Geschichte mit Lupa tut mir wirklich leid«, sagte Marty zu Kassler, als sie das Gerichtsgebäude verließen. Kassler war zu entmutigt, um anfänglich etwas zu sagen. Er blickte Marty an und schüttelte den Kopf. »Bringen wir die Sache einfach hinter uns, ja?«
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»Lassen Sie sich nicht entmutigen«, sagte Marty. »Wir haben noch nicht verloren. Es liegen noch vier Tage vor uns.« Er versuchte Kassler aufzuheitern, aber irgendwie hatte er damit keinen Erfolg. Am zweiten Tag trat Sam Zelazo in den Zeugenstand, um die Wasser zu teilen und Kasslers Vernichtung einen Weg zu bahnen. Zelazo war in der Tat eindrucksvoll. Groß, königlich und mächtig stand er in seinem maßgeschneiderten Anzug da und beherrschte wie ein in den Himmel ragender Turm den Gerichtssaal, die durchdringenden Augen sogar oberhalb des erhöht sitzenden Richters, der nur beeindruckt sein konnte, als Zelazo am Firmament erschien und seine Auszeichnungen herunterrasselte - akademische Grade, Urkunden, Preise, Berufungen, Ehrungen und Ämter in Berufsorganisationen. Zelazo verbrachte die erste Hälfte seiner Zeugenaussage, den ganzen Morgen, damit, zu erzählen, wie wohlgeordnet die Kinder lebten, wie eng sein Verhältnis sowohl zu ihnen als auch zu ihrer Mutter war, was für eine fähige Mutter Vita war und wie gesund es für sie alle sein würde, von Citadel in das weitaus zuträglichere Klima New Mexicos zu ziehen. Dann begann die Nachmittagssitzung. Rechtsanwältin Huber machte den Anfang: »Sie kennen den Beklagten, Dr. Kassler, recht gut, ist das richtig?« »Ja«, sagte Zelazo und blickte Kassler direkt an. »Sie haben ihn nicht nur am Phlegethon angestellt, sondern waren auch mit ihm befreundet? Er hat Sie zu Hause besucht? Hat mit Ihnen über persönliche Dinge gesprochen? Ist das zutreffend?« »Ja, das ist es.« »Und Sie glauben weiterhin, daß die Kinder bei Miss Kassler besser aufgehoben sind?« »Ja.« »Warum?«
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»Ich habe ernsthafte Bedenken im Hinblick auf Dr. Kasslers geistige Gesundheit und sein Urteilsvermögen.« »Können Sie das näher erläutern?« »Ja. Dr. Kassler erschien mir seit einiger Zeit selbstmordgefährdet.« »Noch etwas?« »Wir mußten Dr. Kassler schließlich entlassen, weil er eine gerichtliche Anordnung mißachtet und eine Frau aus dem Phlegethon herausgelassen hat, die chronisch schizophren war und kürzlich einen Richter angegriffen hatte, als dieser die Anstalt besuchte.« »Noch etwas?« »Ich habe persönlich beobachtet, wie er einen Patienten tötete, indem er sein Lebenserhaltungssystem abschaltete.« »Sie meinen, daß er einen Patienten ermordet hat?« fragte Huber. »Ja, das tat er«, sagte Zelazo und vermied es, Kassler anzusehen. Der Richter, der sich von Zelazos Aussagen ausgiebig Notizen gemacht hatte, blickte Kassler ungläubig an und wandte sich dann an Zelazo. »Würden Sie das bitte wiederholen, Dr. Zelazo?« verlangte er. »Ja«, kam Zelazo der Aufforderung nach. »Dr. Kassler hat einen der Patienten ermordet.« »Wurde er des Mordes angeklagt?« fragte Richter Sullivan. »Nein«, sagte Zelazo. »Der Patient lag im Sterben, und ich habe die Angelegenheit mit dem Staatsanwalt diskutiert. Wir sind aufgrund einer Reihe mildernder Umstände übereingekommen, Dr. Kassler nicht unter Anklage zu stellen.« »Aber lassen Sie mich das genau festhalten«, fuhr Richter Sullivan fort. »Dr. Kassler hat in Ihrer Institution einen Patienten ermordet?«
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»Ja, das hat er«, wiederholte Zelazo, dem es immer noch gelang, Kasslers wütenden Blicken auszuweichen. »Und Sie sind Zeuge gewesen?« fragte der Richter. »Ja, das bin ich«, bestätigte Zelazo. »Gibt es noch etwas, das Sie dazu geführt hat, Dr. Kasslers geistige Gesundheit in Frage zu stellen?« fragte Doris Huber. »Ja. Bei einer Gelegenheit erzählte er mir von seinem Wunsch, seine Frau und seine Kinder zu töten«, berichtete Zelazo. »Er war natürlich wütend oder hat einen Scherz gemacht?« fragte Rechtsanwältin Huber. »Nein«, sagte Zelazo dem Gericht. »Er hat es sehr ernst gesagt und war äußerst besorgt, daß er es wirklich tun würde.« »Was sagte er?« »Daß er besorgt wäre, ihnen die Kehle durchzuschneiden.« »Gibt es noch etwas?« »Ja. Dr. Kassler glaubt, daß er mit dem Teufel sprechen kann.« Als er dies sagte, starrte Zelazo Kassler direkt an. Kassler starrte mit einer Mischung aus Zorn und Panik zurück. Er hielt sich an den Armlehnen seines Stuhls fest und konnte es kaum erwarten, daß Marty Myers mit dem Kreuzverhör Zelazos begann. »Das wäre alles, Euer Ehren«, sagte Doris Huber kurz und bündig, strich die Jacke ihres Anzugs glatt und setzte sich. »Ich habe keine Fragen«, erklärte Marty dem Richter. »Was?« wisperte Kassler scharf in Martys Ohr. »Ich will ihn sofort aus dem Zeugenstand haben!!« zischte Marty in Kasslers Ohr. »Aber er erzählt nur die halbe Geschichte!« gab Kassler zurück. »Und er ist Vitas Liebhaber.« »Er kreuzigt Sie, Sy. Der Richter weiß, daß er Vitas Liebhaber ist. Es kümmert ihn nicht. Und je länger Zelazo da oben steht, desto schlimmer wird es. Hat er irgendwelche ausgesprochenen Lügen erzählt?« -5 1 2 -
»Nein, aber er verzerrt die Dinge. Er weiß, daß Vita verrückt ist. Er hat es mir selbst gesagt. Er läßt die halbe Geschichte aus.« »Glauben Sie, daß er damit aufhört, wenn ich ihn ins Kreuzverhör nehme? Jede Frage, die ich ihm stelle, gibt ihm Gelegenheit, noch etwas zu sagen, was Ihnen schadet. Und er ist sehr beeindruckend. Der Richter glaubt ihm jedes Wort. Sie können Ihre Seite der Dinge schildern, wenn Sie mit Ihrer Zeugenaussage an der Reihe sind.« »Nun?« fragte der Richter, als er sah, daß Kassler und Marty Myers ihre Unterhaltung beendet hatten. »Keine Fragen, Euer Ehren«, wiederholte Marty. Und als Zelazo und Vita Arm in Arm den Gerichtssaal verließen, endete der zweite Tag. Am Morgen des dritten Tages trat die Frucht von Kasslers und Vitas ehelichem Baum auf. Joshua und Joy erschienen frisch gebadet und in makellos neuen Kleidern und erzählten in ihrer reizenden und liebenswerten Art, wie sehr sie ihre Mami und ihren Daddy liebten, daß sie aber lieber bei ihrer Mami und Dr. Sam bleiben wollten, den sie für ganz wunderbar hielten. Die Idee, nach New Mexico zu ziehen, wo es immer Sommer war und wo sie richtige Indianer sehen konnten, fanden sie beide ganz toll. »Ich werde meinen Daddy vermissen«, sagte Joshua und blickte zu Kassler hinüber, »aber vielleicht kann er mir Briefe schreiben und mich anrufen und mich im Sommer besuchen kommen oder so etwas.« Joshua lächelte seinen Vater an, der den Tränen nahe war, als er sich vor Augen führte, was aus der Beziehung zu seinem Sohn geworden war. Joy war derselben Ansicht wie Josh. »Ich würde meine Mami einfach zu sehr vermissen«, erklärte sie dem Richter ernst. »Außerdem sagt uns Daddy immer, daß wir dies aufheben sollen und das aufheben sollen und uns waschen sollen und Messer und Gabel nehmen sollen, und das gefällt mir gar nicht.« -5 1 3 -
Sie sah ihren Vater an, spürte, daß sie in dieser Situation absolute Macht über ihn hatte, und strafte ihn für vergangene Übeltaten. Marty Myers entschied sich wiederum dafür, kein Kreuzverhör vorzunehmen. Am dritten Tag sagte Jud Simon aus. Er erklärte, daß er ein Privatdetektiv war, den Vita angeheuert hatte (von Kasslers Geld natürlich). »Läuft sich die Hörner ab, würde ich sagen.« Detektiv Simon begann detailliert und mit begleitenden Fotos nahezu jedes Mädchen zu beschreiben, das Kassler in der Universität aufgegabelt hatte. Die Fotos waren nicht explizit - lediglich Kassler, der den Arm um eine junge Dame gelegt hatte, ein anderes, auf dem er umarmt wurde, ein Kuß hier und da, eins, auf dem Kassler und eine junge Studentin sich vor Kasslers Wagen küßten und ihre Hände eindeutig in die Jeans des anderen geschoben hatten -, aber sie waren detailliert genug, um ihren Zweck zu erfüllen. Dies war natürlich der Tag, an dem sich Lupa entschlossen hatte, Kassler zum Gericht zu begleiten, um ihn bei den offensichtlichen Qualen beizustehen, die er jeden Tag erleiden mußte, wie ihr abends stets klar wurde. Sie wußte, daß es für ihn besonders hart werden würde, wenn er die Zeugenaussagen seiner Kinder anhören mußte. Als das Foto des siebenten Mädchens vorgeführt wurde, stand sie auf und verließ ruhig den Gerichtssaal, während Kassler gepeinigt hinter ihr hersah. Als er an diesem Abend nach Hause kam, machte er sich sofort auf die Suche nach Lupa. Er war sicher, daß sie das Haus bereits verlassen hatte und war überrascht, sie in der Küche beim Kochen zu finden. »Ich möchte gerne mit dir über all das sprechen«, sagte er linkisch. Lupa wandte sich vom Herd ab, mit geröteten Augen, weil sie den Rest des Nachmittags geweint hatte. -5 1 4 -
»Sprechen wir nach Abschluß der Verhandlung darüber, ja?« sagte sie ruhig. Kassler sah Lupa an, dankbar dafür, daß sie noch da war, und nickte. »Es tut mir leid«, sagte er mit tiefer und aufrichtiger Traurigkeit. »Ich weiß«, sagte Lupa. »In ein paar Tagen werden wir uns unterhalten.« »Einverstanden«, stimmte Kassler zu, biß sich auf die Lippen, um nicht die Fassung zu verlieren, und machte sich daran, die Vorbereitungen zu seiner eigenen Zeugenaussage abzuschließen, deren Beginn er für den nächsten Tag erwartete. Am nächsten Tag sagte Bea Chaikin aus - auf Vorladung, wie Kassler mit Befriedigung vernahm. Ja, sie räumte ein, daß ihr Kassler einmal selbstmordgefährdet vorgekommen war, aber... Doris Huber stoppte sie. Nur Ja- und Nein-Antworten, wenn nicht anders verlangt, wurde ihr klargemacht. Rechtsanwältin Huber gestattete Bea eine lange und eloquente Zeugenaussage über Kasslers Fähigkeiten als Psychotherapeut und seine Leistungen für das Phlegethon. »Er hat sehr viel Sonnenschein in das Leben von Menschen gebracht, die in der Dunkelheit des Wahnsinns gefangen sind.« Bea Chaikin, noch immer ziemlich angetan von Kassler, nahm Zuflucht zu himmlischen Metaphern, um am Morgen dieses vierten Tages ihren Standpunkt darzulegen. »Und ist es Ihre professionelle Überzeugung«, fragte Doris Huber, »daß diese Fähigkeiten an sich eine ausreichende Rechtfertigung dafür wären, Dr. Kassler das Sorgerecht für seine Kinder zu übertragen und Miss Kassler am Umzug in einen anderen Staat zu hindern?« Bea Chaikins Augen bewölkten sich, und sie blickte traurig zu Kassler hinüber.
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»Nein«, sagte sie mit leiser, zögernder Stimme, »das ist es nicht.« Marty Myers, der Bea gerade ins Kreuzverhör nehmen wollte, um ein paar positive Dinge für Kassler protokollieren zu lassen, änderte seine Absicht, als er den letzten Satz hörte. »Ein Kreuzverhör würde ihnen nur die Möglichkeit geben, sie selbst noch einmal zu befragen«, erklärte er Kassler. »Ihre Zeit kommt heute nachmittag.« Kasslers Gelegenheit zur Zeugenaussage kam erst am fünften Tag. Huber war nicht in der Lage, Norman Meltz, ihren letzten Zeugen, zu lokalisieren, und bat um eine kurze Unterbrechung, aus der eine längere Unterbrechung wurde, und letzten Endes, als Norman nirgends zu finden war, vertagte sich das Gericht und gab Huber Gelegenheit, Norman Meltz noch nach Kasslers Aussage am näc hsten Tag zu präsentieren, wenn er lokalisiert werden konnte. Kassler fand, wie man erwarten konnte, in dieser Nacht keinen Schlaf. Er wanderte im Haus umher, ging im Geiste noch einmal alles durch, was er am nächsten Morgen bei Gericht sagen würde, und landete schließlich, um drei Uhr, im Souterrain. »Ich nehme an, Sie sind nicht in der Lage, mir zu helfen?« fragte er. »Wie?« antwortete ich. »Nun, Sie sind angeblich der Ankläger an Gottes Gerichtshof, nicht wahr? Wer könnte besser sein?« »Angeblich, aber nicht wirklich. Tut mir leid.« »Ich bin mir nicht sicher, daß ich den Richter überzeugen kann«, sagte Kassler, während er hin und her ging. »Was kann ich sagen?« »Sagen Sie die Wahrheit«, schlug ich vor. »Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß die Wahrheit mit all dem nicht allzuviel zu tun hat«, mutmaßte Kassler richtig.
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»Wenn Sie das wissen«, sagte ich zu ihm, »dann sollten Sie gut zurechtkommen.« »Ich fühle mich«, erwiderte Kassler, aus geistiger Erschöpfung und Mangel an Schlaf ganz benommen, »wie ein Fisch außerhalb des Wassers, wie ein Vogel, der nicht fliegen kann und darauf wartet, irgend jemandem als Abendessen zu dienen.« Kassler wählte die ersten Kreaturen, die ihm in den benebelten Kopf kamen. Ich dachte, daß ich Kassler den besten Rat geben sollte, zu dem ich in der Lage war. »Wenn Sie morgen im Zeugenstand stehen«, sagte ich, »sollten Sie sich nach Möglichkeit von Metaphern fernhalten.« Wie sich zeigte, war Kasslers Analogie gar nicht so weithergeholt. Obwohl es ihm während seiner direkten Zeugenaussage gelang, einen glänzenden Redefluß hinzulegen und couragiert gegen die starken Strömungen anzuschwimmen, die die Gegenpartei im Gerichtssaal geschaffen hatte, war er im Kreuzverhör eine zum Abschuß freigegebene Ente, die hilflos umherflatterte. Drei Stunden lang erzählte Kassler an diesem Morgen seine Geschichte. Er berichtete, wieviel ihm einmal an Vita gelegen hatte, wie deprimiert sie nach ihrer Hochzeit gewesen war, warum er die Kinder nicht haben wollte, bis seine und Vitas Beziehung auf festeren Füßen gestanden hätte - und nur aus diesem Grunde - , wie er sogar gewillt gewesen war, ihre außerehelichen sexuellen Verhältnisse trotz schwerer Qualen zu ertragen, weil Vita glaubte, daß es ihrer Beziehung helfen würde. Mit tränenden Augen erzählte er, wie sehr er seine Kinder liebte, wie er ihnen in den ersten Jahren Vater und Mutter gewesen war, wie schmerzvoll es für ihn gewesen war, sie verlassen zu müssen, und wie unmöglich es war, ihnen für fünf Stunden an einem Tag in der Woche ein Vater zu sein. Der Richter war sichtlich bewegt. Er bekam ein anderes Bild von Kassler und den Dingen, um die es ging. Kassler merkte das an der Aufmerksamkeit, mit der ihm der Richter zuhörte, -5 1 7 -
und an den finsteren Gesichtern bei der Gegenpartei an der anderen Seite des Tisches. Dann brachte er zur Sprache, daß Sam Zelazo sexuelle Beziehungen zu Vita aufgenommen hatte, während sie sich angeblich von ihm behandeln ließ, um ihre Ehe in Ordnung zu bringen. Und schließlich berichtete er, wie Leo Szlyck sein Leben ruiniert und seine Wohnung niedergebrannt hatte. Erst nachdem ihm Zelazo gesagt hatte, daß Szlyck praktisch schon tot war, erklärte Kassler, hatte er das Lebenserhaltungssystem des Mannes abgestellt, ein schrecklicher Fehler, wie er freimütig zugab, den er aber wiedergutzumachen versuchte, indem er Szlycks Haus in ein Heim für geisteskranke Patienten verwandelt hatte. Die Sache mit Mrs. Fletcher war eine unglückliche Situation gewesen, fuhr er fort, aber er hatte seine Stellung ganz bewußt aufs Spiel gesetzt, um es einer Mutter zu ermöglichen, sich von ihrem sterbenden Kind zu verabschieden. Als der Morgen zu Ende ging, stand Kassler in dem vollkommen stillen Gerichtssaal und erzählte, daß er beabsichtigt hatte, seinen Antrag in bezug auf das Sorgerecht zurückzuziehen, als ihm durch die Kinder bekannt geworden war, wie gut sie sich in ihrem Haus mit ihrer Mutter eingelebt hatten, auch wenn er dies nicht als die beste Umgebung für sie ansah, und daß er seinen Antrag auch tatsächlich zurückgezogen hätte, wenn es nicht Vitas Plan gewesen wäre, die Kinder mit nach New Mexico zu nehmen, an einen Ort, wo es für ihn keine Möglichkeit gab, eine Anstellung zu finden. »Ich bitte das Gericht, meinen Kindern nicht das Recht wegzunehmen, einen Vater zu haben, Euer Ehren«, sagte er, während ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen. »Geben Sie uns das gemeinsame Sorgerecht, erhöhen Sie meine Besuchszeiten - was auch immer Sie tun können, um Joshua, Joy und mich zusammenbleiben zu lassen.« Als Kassler aufgehört hatte zu reden, war minutenlang kein Laut im Gerichtssaal zu hören. Schließlich ergriff Richter Sullivan das Wort. -5 1 8 -
»Haben Sie versucht, mit Ihrer Ex-Frau zu einem Kompromiß zu kommen?« fragte er Kassler. Kassler schüttelte verneinend den Kopf, wegen seiner Tränen unfähig zu sprechen. »Nun«, rief Richter Sullivan den Rechtsanwälten durch den Gerichtssaal zu, »ich würde empfehlen, daß Sie zu einer Vereinbarung kommen.« Doris Huber erhob sich am Tisch. »Wenn es Euer Ehren gestatten«, sagte sie. »Könnten wir mit dieser Möglichkeit bis zum Abschluß des Kreuzverhörs warten?« »Ich glaube schon«, sagte Richter Sullivan. Aber eins war ganz klar. Die Angelegenheit stellte sich jetzt sehr komplex dar, und Richter Sullivan wollte kein Urteil fällen. »Was war das da am Ende alles?« fragte Kassler Marty Myers während der Mittagspause. »Was das war?« antwortete Marty. »Die Sache steht jetzt ungefähr unentschieden, dank Ihrer Vorstellung heute morgen, und der Richter würde es vorziehen, gar keine Entscheidungen fällen zu müssen. Richter lieben es nicht, etwas Unklares zu entscheiden, und diese Sache ist sehr unklar und wird von Minute zu Minute immer unklarer.« »Was für einen Kompromiß?« fragte Kassler. »Ich weiß nicht.« Marty nahm einen Schluck von seinem Diätsaft, die einzige Nahrung, die er während einer Verhandlung zu sich nahm. »Aber Sullivan wollte klarmachen, daß gegenwärtig, wenn er die Entscheidung trifft, niemand glücklich sein wird - Vita bekommt keine Genehmigung zum Wegziehen, Sie bekommen vermutlich nicht mehr Besuchszeit, so daß alles so bleibt, wie es jetzt ist. Deshalb sollten wir besser miteinander sprechen. Lassen Sie sich etwas einfallen zum Beispiel, Vita kann umziehen, wenn Sie die Kinder an den Feiertagen und den ganzen Sommer über bekommen oder so etwas, denn wenn ihr beide keinen Kompromiß schließt,
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werden alle verlieren, es sei denn, sie haben beim Kreuzverhör etwas Saftiges auf Lager.« »Was meinen Sie mit etwas Saftigem?» »Ich weiß es nicht.« Kassler trank seinen Saft aus und sah Kassler an. »Sagen Sie es mir.« Saftig war kaum das richtige Wort. Doris Huber überschwemmte den Gerichtssaal mit einer Flut satter Enthüllungen. »Das war eine sehr bewegende Erklärung, die Sie heute morgen abgegeben haben«, begann sie Kasslers Kreuzverhör. »Ich war besonders beeindruckt von der gewaltigen Bürde, die Sie tragen mußten, weil Miss Kassler nicht gewillt war, sich um ihre Kinder zu kümmern. Sagen Sie, haben Sie jemals mit ihr darüber gesprochen?« »Wie meinen Sie das?« fragte Kassler. »Nun, haben Sie ihr jemals gesagt, daß sie Ihrer Ansicht nach ihre Pflichten als Mutter ihrer Kinder vernachlässigt?« »Nicht in so vielen Worten«, antwortete Kassler. »Ist die Antwort ›nein‹, Dr. Kassler? Nein, Sie haben nie etwas gesagt?« »Die Antwort ist nein.« »Wie kommt das? War es deshalb, weil es nie eine Zeit gegeben hat, in der die Kinder vernachlässigt wurden?« »Die Kinder wurden nie vernachlässigt, weil ich mich um sie gekümmert habe«, sagte Kassler. »Ja, wir haben alle schon gehört, daß Sie Ihren Kindern sowohl eine Mutter als auch ein Vater waren.« Doris Huber schob ihre dünnen Hände in die Taschen ihrer Anzugjacke. »Wenn Miss Kassler eine so schreckliche Mutter war, Dr. Kassler, warum haben Sie die Kinder dann nicht mitgenommen, als Sie ausgezogen sind?« Kassler dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Ich ging zu meinem Rechtsanwalt, und der sagte etwas von einer ›Zartes-Alter‹-5 2 0 -
Doktrin, die davon ausgeht, daß sehr kleine Kinder bei der Mutter bleiben sollten, wenn keine grobe Vernachlässigung vorliegt. Wenn ich die Kinder mitnähme, würde mir das Gericht nur auferlegen, sie bis zur Hauptverhandlung zurückzugeben.« »Und es gab keine grobe Vernachlässigung, oder?« »Keine grobe, nein. Aber sie hat sich nie um die Kinder gekümmert. Ich mußte die ganze Kinderpflege übernehmen.« »Oh?« Doris Huber hob ihre wohlgepflegten Augenbrauen. »Sie wollten sich also nicht um Ihre Kinder kümmern?« »Nein, ich wollte mich um sie kümmern.« »Und Miss Kassler ließ Sie, nicht wahr?« »Sie war...« »Nur ja oder nein, bitte. Ließ sie Sie?« »Ja.« »Gab es jemals eine Zeit, in der die Kinder von Miss Kassler vernachlässigt wurden oder Schaden zugefügt bekamen?« »Nein.« »Obwohl, wie Sie ausgesagt haben, Miss Kassler zwei Schwangerschaften und die danach üblichen Depressionen durchgemacht hat, sind die Kinder nie, kein einziges Mal, von ihr vernachlässigt worden. Ist das Ihre Aussage?« »Ja. Die Kinder wurden nicht vernachlässigt.« »Nein, das habe ich auch nicht angenommen.« Doris Huber nickte zum Richter hinüber. »Aber gab es nicht einmal eine Zeitspanne von mehr als anderthalb Jahren, in der Sie, nachdem Sie sich von Miss Kassler getrennt hatten, Ihre Kinder nicht einmal gesehen haben? Sie haben sie einfach sich selbst überlassen?« »Es war sehr schwierig...« »Ja oder nein, bitte!« »Ja.« Huber drehte sich wieder Kassler zu. »Sie haben uns eine tragische Geschichte erzählt, wie Miss Kassler gegen Ihren Willen Sex mit anderen Männern hatte. Ist das richtig?« -5 2 1 -
»Ja, das ist es.« »Also haben Sie ihr gesagt, daß sie damit aufhören soll, nicht wahr?« »Nein.« »Warum nicht?« »Sie sagte, es würde unserer Ehe helfen.« »Und Sie waren einverstanden?« fragte Huber. »Nein.« »Aber Sie haben nichts gesagt. Wie sollte Miss Kassler wissen, daß Sie dagegen waren, wenn Sie nichts gesagt haben?« »Sie konnte es mir ansehen. Nach dem ersten Mal kam sie in die Küche, und sie brauchte mich nur anzusehen, um Bescheid zu wissen.« Kassler starrte Vita an. »Oh«, sagte Huber. »Sie waren in der Küche, als das passierte? Wo ging das vor sich, in der Wohnung nebenan?« »Im Zimmer nebenan.« Kasslers Schmerz kehrte zurück. »Lassen Sie mich sehen, ob ich das richtig verstehe, Dr. Kassler. Sie waren in der Küche, während Ihre Frau mit einem anderen Mann im Zimmer nebenan Geschlechtsverkehr hatte. Ist es das, was Sie dem Gericht erzählen wollen?« »Ja.« »Nun, haben Sie dem Mann gesagt, daß er aufhören und gehen soll, daß Sie gegen eine sexuelle Beziehung zwischen ihm und Ihrer Frau waren?« »Nein«, sagte Kassler ruhig. »Natürlich nicht«, sagte Huber. »Weil Sie beide, Sie und Miss Kassler, sich darüber einig waren, nicht wahr?« »Ja«, gab Kassler zu. »Sind Sie Ihren sexuellen Verpflichtungen gegenüber Ihrer Frau nachgekommen, Dr. Kassler?« »Wenn sie mich gelassen hat«, schnappte Kassler.
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»Oh, ist dies eine weitere von den Sachen, über die Sie nicht gesprochen haben? Haben Sie Ihre Frau jemals nach Sex gefragt und sind von Ihr zurückgewiesen worden?« »Nein«, sagte Kassler schroff. »Ich habe sie nie mit so vielen Worten...« »Aber Miss Kassler hat Ihnen gesagt, daß sie bei Ihnen keine Erfüllung findet, ist das nicht richtig?« »Ich erinnere mich nicht. Sie könnte so etwas gesagt haben. Ich erinnere mich nicht daran.« »Wenn Sie es getan hat - könnte es etwas damit zu tun gehabt haben, daß Sie ein Homosexueller sind?« »Nein«, protestierte Kassler. »Nein was?« fragte Huber »Nein, Sie sind kein Homosexueller?« »Ja«, sagte Kassler. »Ich bin kein Homosexueller.« »Verstehe«, sagte Doris Huber. »Sagen Sie, wenn zwei Männer miteinander Geschlechtsverkehr haben, würden Sie sie dann als Homosexuelle betrachten?« Marty Myers erhob Einspruch. »Ich vermag die Relevanz dieser Frage nicht zu erkennen.« Marty stand auf. »Dr. Kassler hat gesagt, daß er kein Homosexueller ist.« »Geben Sie mir bitte noch eine Minute, Euer Ehren. Ich beabsichtige zu zeigen, daß die Frage sehr wohl relevant ist. Dr. Kassler verlangt das Sorgerecht, und es ist äußerst wichtig, die Umgebung festzustellen, in der die Kinder leben würden.« »Einspruch abgelehnt«, verkündete Richter Sullivan. »Bitte beantworten Sie die Frage, Dr. Kassler.« »Es kommt darauf an«, sagte Kassler. »Nun, Dr. Kassler«, sagte Huber, während sie langsam zum Tisch hinüberging, »wenn ein Mann zum Zweck des sexuellen Vergnügens in das Rektum eines anderen Mannes eindringt, dann würden Sie doch zustimmen, daß sie homosexuelle Aktivitäten ausüben?« -5 2 3 -
»Es käme darauf an...« »Ja oder nein?« schnappte Huber. »Ist es eine homosexuelle Aktivität oder nicht?« »Ja«, sagte Kassler und beobachtete voller Entsetzen, wie Huber die Kopie von Bernie Kohlers Selbstmordbrief hochnahm. Kassler erkannte ihn augenblicklich. »Ist irgendein Mann jemals zum Zweck des sexuellen Vergnügens in Ihr Rektum eingedrungen, Dr. Kassler?« »Muß ich das beantworten?« rief Kassler zu Marty Myers hinüber. »Ich glaube, Sie haben es gerade getan«, gab Marty traurig zurück. »Ich sehe es so, daß die Antwort ja lautet«, sagte Huber. »Jemand ist.« Kassler blickte sich wild im Saal um. Vita schüttelte bestürzt den Kopf. Marty Myers starrte ihn hilflos und mitfühlend an. »Ja.« Kasslers Widerstand zerbröckelte. »Sie haben einen männlichen Liebhaber gehabt, Dr. Kassler. Ist das richtig?« »Guter Gott!« schrie Kassler auf. »Er ist tot! Lassen Sie ihn in Frieden, bitte.« »Ja, Dr. Kassler, ich weiß, daß er tot ist. Und er hat behauptet, daß er sich wegen Ihrer Rücksichtslosigkeit umgebracht hat, nicht wahr?« Kassler antwortete nicht. »Hat er das nicht behauptet, Dr. Kassler?« »Ja«, murmelte Kassler, »das hat er behauptet.« Doris Huber ging langsam durch den Saal und legte den Brief zurück auf den Tisch, da sie wußte, daß er nicht als Beweismittel anerkannt werden würde. Aber er hatte seinen Zweck erfüllt. »Sagen Sie, Dr. Kassler«, fragte sie, »waren Sie jemals Patient in einer psychiatrischen Klinik?« -5 2 4 -
»Ja«, antwortete Kassler betäubt. »Ich war unter Beob...« »Verstehe. Haben Sie das bei in Ihrer Bewerbung an der Universität angegeben, von der Sie Ihren Titel zum Praktizieren der klinischen Psychologie bekommen haben?« »Nein«, sagte Kassler. »Beim Phlegethon? Haben Sie es gesagt, bevor Sie angestellt wurden?« »Nein.« »Wenn es Ihre Universität wüßte, dann würden Sie Ihren Titel und Ihre Zulassung verlieren, ist das richtig?« »Ja.« »Im Endeffekt praktizieren Sie also illegal, ist das richtig?« »Ich nehme es an.« Es war schon ein solcher Schaden entstanden, daß Kassler das Interesse an den Fragen zu verlieren begann. »Aber ich bin ein guter Therapeut«, fügte er noch hinzu. »Ach, wirklich?« sagte Doris Huber. »Euer Ehren, wir hatten gehofft, einen von Dr. Kasslers Patienten, Norman Meltz, zu diesem Thema als Zeugen hören zu können, aber wir sind nicht in der Lage gewesen, ihn zu lokalisieren. Ich werde versuchen, Dr. Kassler über diesen Sachverhalt direkt zu befragen, wenn es erlaubt ist.« Richter Sullivan nickte. »Dr. Kassler, war Norman Meltz einer Ihrer Patienten?« »Ja.« »War er, als Sie ihn zum ersten Mal trafen, imstande, sexuell zu funktionieren?« »Das war nicht das Prob...« »Ja oder nein.« »Ja.« »Als Sie seine Behandlung beendet hatten, war er da imstande, sexuell zu funktionieren?« »Sie meinen, ob er...« -5 2 5 -
»Sie wissen, was ic h meine.« »Nein, er war nicht.« Richter Sullivan beugte sich zu Sy Kassler vor. »Wozu war er nicht imstande?« fragte er mit betroffener Stimme. »Eine Erektion und einen Orgasmus zu bekommen«, sagte Kassler zum Richter. Nichts, was Kassler bisher an Taten zugegeben hatte, beunruhigte den Richter so stark wie dies. Der Gedanke war für Sullivan die entsetzlichste Vorstellung überhaupt. Kassler war fraglos ein gefährlicher Mann. Huber baute geschickt auf dieser Überlegung auf. »Sie haben die Tötung Dr. Szlycks zugegeben, weil er eine Reihe von Dingen getan hatte, die Ihrer Reputation schadeten. Haben Sie irgendeinen Beweis dafür, daß er diese Dinge getan hat?« »Er hat es mir gesagt!« »Nun, dienlicherweise ist Dr. Szlyck nicht mehr da, um Ihnen zu widersprechen. Haben Sie noch irgendwelche anderen Beweismittel?« »Nein.« »So können wir also nicht tatsächlich wissen, daß er irgendwelche von den Dingen getan hat, über die Sie dem Gericht berichtet haben, nicht wahr?« »Nein.« »Und Dr. Szlyck war ein geisteskranker Mensch, nicht wahr?« »Ja.« »Speziell, als er Ihnen diese Dinge erzählt hat - wenn er es getan hat.« »Ja.« »Als Sie ihn zum ersten Mal sahen, war er Ihr Patient, nicht wahr?« »Ja.« »Er war damals geisteskrank?« »Ja.« »Und war es schon seit einiger Zeit gewesen?« »Ja.« »Und jetzt sind Sie mit seiner Ex-Frau verheiratet?« »Ja.« -5 2 6 -
»Als Sie anfingen, sich mit Ihrer gegenwärtigen Frau zu treffen, war sie mit Dr. Szlyck verheiratet?« »Nein, sie hatte sich scheiden lassen.« »In Mexico, ist das richtig?« »Ja.« »Von einem Mann, der zu diesem Zeitpunkt geisteskrank und Ihr Patient war?« »Ja.« »Sagen Sie, Dr. Kassler, ich weiß, daß Sie kein Rechtsanwalt sind, aber sehen Sie es als vernünftig an, daß eine Frau, die sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden in einem fremden Land von ihrem geistig inkompetenten Mann, der nicht anwesend ist, scheiden läßt, wirklich legal geschieden werden konnte?« »Ich weiß nicht«, sagte Kassler benommen. »Dr. Szlyck hat der Scheidung widersprochen, nicht wahr?« »Ja.« »Und Sie haben ihn getötet?« »Bestimmt nicht, weil...« »Nur ja oder nein, bitte.« »Ja.« »Und Sie haben seine frühere Frau sofort geheiratet, als der Widerspruch durch seinen Tod hinfällig wurde? Ist das richtig?« »Ja.« »Und bestreiten Sie, daß Sie schon eine Woche nach Ihrer Heirat ehebrecherische Beziehungen gehabt haben?« »Nein«, murmelte Kassler, »ich bestreite es nicht.« »Ihre Frau ist Lupa Kassler, ist das richtig?« »Ja.« »Sie ist jetzt die Stiefmutter der Kinder und würde, wenn Sie das Sorgerecht bekämen, mit Ihnen und den Kindern zusammenleben, ist das richtig?« »Ja«, sagte Kassler verzweifelt. -5 2 7 -
Doris Huber ging zum Fenster hinüber, blickte einige Sekunden lang hinaus und wartete auf den passenden Augenblick, um die nächste Frage anzubringen. Kassler kannte sie und blickte wütend hinüber zu Marty Myers, der die nächste Frage ebenfalls wußte und Kasslers Blick auswich. Huber wandte sich vom Fenster ab. »Dr. Kassler, würden Sie dem Gericht sagen, ob es richtig oder nicht richtig ist, daß Ihre gegenwärtige Frau, die Stiefmutter der Kinder, seit einer Reihe von Jahren bis vor kurzem hier in Citadel den Dienst einer wohlbekannten Prostituierten verrichtet hat?« Kassler blickte sich verzweifelt in dem schweigenden Gerichtssaal nach Hilfe um. Aber es kam keine. »Hat sie?« bellte Huber. »Ja, sie hat«, sagte Kassler voller Zorn, »aber sie ist keine Hure, verdammt! Sie ist eine großartige, wunderbare Frau, und ich liebe sie sehr.« Kassler verdrängte seine Tränen. »Sie kennen Sie nicht. Sie ist reizend. Sie hat so viel mit mir durchgemacht. Sie ist ein wundervoller Mensch. Sie wissen nicht das geringste von ihr. Sie halten sie für eine furchtbare Frau. Vita ist es, die furchtbar ist. Sie ist es, nach der Sie mich fragen sollten. Fragen Sie mich nach Vita...« Doris Huber trat ein paar Schritte zurück und beschloß, Kassler soviel Seil zu geben, wie er brauchte, um sich seine eigene Schlinge zu knüpfen. Kassler wandte sich an den Richter. »Sie sehen den springenden Punkt nicht«, sagte er zu Sullivan. »Vita hat ein schweres psychologisches Problem. Sie ist eine Borderline-Persönlichkeit. Das ist eine schwere Störung. Sie ist impulsiv und unkalkulierbar. Sie geht von Perioden großer Wut in Depressionsphasen über. Es gibt bei ihr gewaltige Gemütsschwankungen. Sie ist fast immer wütend oder deprimiert. Sie ist unfähig, enge persönliche Beziehungen aufzubauen. Sie geht von einer instabilen Beziehung zur nächsten über, wertet ab, idealisiert, manipuliert und geht jedem Anzeichen von Nähe aus dem Weg. Sie hat kein -5 2 8 -
Selbstbild und keine Geschlechtsidentität. Deshalb muß sie soviel herumschlafen. Sie hat chronische Gefühle der Leere und der Langeweile. Es ist eine lausige psychologische Umgebung für meine Kinder. Sehen Sie, das Z.H.S.-System in der Mitte des Gehirns enthält die Zentren für Gefühle, Ängstlichkeit, Furcht, Sexualität, und Vita hat nie die Hirnrindenstrukturen entwickelt, um diese Gefühle zu kontrollieren. Es liegt an ihrer Gehirnchemie, an ihren Überträgerstoffen, an der Art und Weise, in der ihre Schaltwege aufgebaut sind und ihre Neuronen feuern.« Kassler versuchte, die Hoffnungslosigkeit der Situation herauszustellen. »Es ist einprogrammiert. Meine Kinder brauchen Ordnung, emotionale Stabilität und Nähe, aber Vita kann ihnen nichts davon geben, weil sie eine BorderlinePersönlichkeitsstörung hat. Lupa jedoch nicht. Lupa ist warmherzig, stabil, stark und liebevoll. Verstehen Sie, was ich meine?« Kassler hörte auf und blickte sich in dem still gewordenen Gerichtssaal um. Vita saß da und kritzelte auf einem Block herum, der vor ihr lag. Marty Myers versuchte, etwas in seiner Aktentasche zu finden. Doris Huber hatte Kassler den Rücken zugewandt und blickte auf dem Fenster auf eine Politesse, die auf dem Parkplatz Protokolle verteilte. Nur Richter Sullivan sah Kassler an. Sullivan verstand nichts von der Psychopathologie, und sie scherte ihn einen Deut. Für ihn war das alles Mumpitz, hatte nichts damit zu tun, wie die Menschen lebten, ganz bestimmt nicht, wie er lebte, und war definitiv in einem Gerichtssaal fehl am Platz. Das einzige, was Richter Sullivan am Ende von Kasslers leidenschaftlicher Rede über die Psychopathologie wußte, war, daß Kassler vermutlich verrückter war, als er anfänglich angenommen hatte. Als Kassler fertig war, drehte sich Doris Huber um und schritt ein paar Augenblicke vor dem Richter hin und her. »Euer Ehren«, sagte sie mit großem Pathos, »wir haben nichts gegen Dr. Kassler. Wir wissen, daß er ein schweres -5 2 9 -
Leben und eine psychiatrische Krankheitsgeschichte hinter sich hat. Aber hier geht es um die besten Interessen der Kinder, nur darum. Während der fünftägigen Verhandlung haben wir keine Zeugenaussagen gehört, nicht einmal von Dr. Kassler selbst, die darauf hindeuten, daß Vita Kassler etwas anderes ist, als eine liebevolle und ergebene Mutter für ihre Kinder und eine treue Partnerin für Dr. Zelazo, der, wie ich die Klägerin verstehe, bald ihr Ehemann sein wird und den die Kinder, wie ich dem Gericht versichern kann, absolut verehren.« »Andererseits...«, Doris Huber gewann an Verve, »... ist es kein Wunder, daß Vita Kassler darum bittet, die Kinder in eine Umgebung zu bringen, wo der Kontakt zu ihrem Vater so begrenzt wie möglich ist. Dr. Kassler hat vor diesem Gericht offen zugegeben, daß er ein Lügner ist, daß er seine Bewerbungs- und Zulassungsunterlagen gefälscht hat, um eine Profession ausüben zu können, in der er eindeutig inkompetent ist, zumindest in einem Fall, den wir kennen und in dem er bei seinem Patienten eine tragische Impotenz verursacht hat, und wer weiß in wie vielen Fällen, die wir nicht kennen, noch. Dr. Kassler hat zugegeben, schamlos eine gerichtliche Anordnung mißachtet zu haben, indem er eine gefährliche geisteskranke Patientin aus der Anstalt, in der er arbeitete, herausließ. Er ist verwickelt in den Selbstmord seines homosexuellen Liebhabers. Tatsächlich sind die Unterschiede zwischen Vita Kassler und Sy Kassler so augenfällig...«, Huber hob die Stimme, »... so unerhört, daß ich das Gericht bitte, seine Entscheidung sofort zu fällen und an Ort und Stelle alle Anträge Dr. Kasslers abzuweisen und allen Anträgen Vita Kasslers stattzugeben.« Hubers Stimme wurde noch lauter. »Vita Kassler ist eine liebevolle Mutter, die dem Mann in ihrem Leben treu ist, die nicht gelogen, sich keinen Perversionen hingegeben, niemandem Schaden zugefügt hat und ihren Kindern von ganzem Herzen ergeben ist.« Huber schrie jetzt. -5 3 0 -
»Dr. Kassler hat sich anderthalb Jahre nicht um seine Kinder gekümmert und verlangt nun vom Gericht, daß sie in seine Obhut und in die Obhut einer Stiefmutter gegeben werden, die jahrelang in Citadel eine wohlbekannte Prostituierte war.« Doris Huber drehte sich um und funkelte Kassler an. »Dr. Kassler ist, nach seinem eigenen Eingeständnis, ein Ehebrecher, ein Mörder und ein Sodomit.« »Entschuldigen Sie«, sagte Kassler höflich zum Richter. »Darf ich den Zeugenstand jetzt verlassen?« »Ich habe noch eine weitere Frage, Dr. Kassler.« Doris Huber hob die Hand, um allen Bewegungen Kasslers Einhalt zu gebieten. »Dann habe ich keine Einwände dagegen, daß sie den Zeugenstand verlassen, wenn Sie es wollen.« Kassler blickte zu Doris Huber hoch, vage interessiert daran, was noch zu fragen übrig war. »Glauben Sie, daß Sie unmittelbar mit dem Teufel sprechen können?« fragte Doris Huber ernst. »Ja, das glaube ich«, sagte Kassler, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. »Das glaube ich ganz sicher.« Und Kassler trat aus dem Zeugenstand. »Euer Ehren!« Marty Myers wollte mit einer langen, energiegeladenen Rede zugunsten Kasslers beginnen. »Vergessen Sie es, Marty«, rief ihm Kassler zu, während er sich anschickte, den Gerichtssaal zu verlassen. »Sparen Sie sich Ihren Atem. Es ist alles vorüber.« Und Kassler schritt durch die beiden großen Schwingtüren und machte sich auf den Weg nach Hause. Kassler machte einen Umweg, so daß er nachdenken konnte. Hätte er dies nicht getan, wären ihm die Nachwirkungen eines tragischen Autounfalls entgangen. Drei außerordentlich attraktive Teenager in ganz engsitzenden Jeans standen vor einem Krankenwagen. Sie blickten ernst auf den mit einem Tuch zugedeckten Körper des Unfallopfers, das in den rückwärtigen Teil des Wagens geladen wurde. -5 3 1 -
Um einen Telefonmast geschlungen, erkannte Kassler einen alten, vertrauten blauen Buick. Er versuchte, durch die gesprungene Frontscheibe zu blicken, um festzustellen, ob sich noch jemand in dem Wagen befand, war dazu aber wegen des dicken, gelben Schleims, der die Windschutzscheibe von Norman Meltz' Automobil bedeckte, nicht in der Lage.
3 Es braucht kaum gesagt zu werden, aber Kassler verlor alles - seine Kinder, die gesparten fünfunddreißigtausend Dollar, gleichmäßig von Richter Sullivan zwischen den beiden Anwälten aufgeteilt, deren Rechnungen sich interessanterweise genau auf den Betrag stellten, den sie im Besitz Kasslers erwähnten, und natürlich Lupa. »Ich wollte dich wirklich nicht verletzen, Lupa«, sagte Kassler an jenem Nachmittag nach dem Gericht zu ihr. »Ich weiß auch nicht, warum ich so herumgeschlafen habe. Du bist alles, was ich habe.« »Ich weiß das, Sy. Darum verlasse ich dich nicht gleich jetzt. Das würde ich nicht tun, aber in ein paar Monaten, wenn sich alles gelegt hat und du Gelegenheit bekommen hast, dich an alles zu gewöhnen und dich etwas auszuruhen...« Ihre Stimme verklang, und sie nahm Kasslers Hand. Kassler blickte sie mit großer Zuneigung an. Sie sah müde aus, dachte er, aber in ihrer maßgeschneiderten braunen Gabardinehose und der scharlachfarbenen Satinbluse so atemberaubend wie immer. Ihr blondes Haar, im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, war nicht mehr so blond, wie er sich erinnerte, und an verschiedenen Stellen ließen sich vorzeitige Grausträhnen erkennen, aber Lupas violette Augen waren so strahlend und warm wie eh und je, trotz der Müdigkeit.
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Kassler beugte sich vor und küßte Lupa sanft auf die Lippen, um anzuzeigen, daß er ihre Entscheidung akzeptierte. »Ich habe dir die Bolge überschrieben, weißt du«, sagte er zu ihr. »Sie lautet jetzt auf deinen Namen.« »Ich bin mir nicht sicher, daß ich sie will, aber vielen Dank. Wohin willst du gehen?« »Ich bin mir noch nicht sicher.« Kassler blickte in Lupas purpurfarbene Augen. »Wie lange kann ich bleiben?« »Solange du willst. Ich werde dich ganz bestimmt nicht aus Leo Szlycks Traumhaus hinauswerfen.« Lupa schlang ihre schlanken Hände um Kasslers Nacken und streichelte ihn leicht. »Außerdem«, fuhr sie fort, »werde ich im nächsten Jahr ein bißchen reisen und mir die Welt ansehen, weißt du - Europa, Ägypten, Afrika, Australien. Ich habe daran gedacht, ein paar Bilder zu machen und einige Artikel zu schreiben. Vielleicht veröffentlicht sie jemand.« »Kann ich mitkommen?« fragte Kassler und wußte die Antwort im voraus. »Es tut mir leid, Sy«, sagte Lupa so sanft wie möglich. »Das kannst du nicht.« »Schäm' dich«, sagte ich an diesem Nachmittag gleich nach ihrem Gespräch mit Kassler zu Lupa. »Ich habe ihn nicht belogen, oder?« sagte Lupa. »Du hast ihm auch nichts über uns erzählt.« »Ich habe dazu keine Veranlassung gesehen. Außerdem würde er keine Minute glauben, daß du Satan bist.« »Oder daß ich dir vor einem Monat gesagt habe, daß er dir die Bolge geben wird.« Ich vermied jeden direkten Kommentar zu ihrer Voraussage. »Ich habe gelernt, daß es nicht höflich ist, anderen Menschen die Überraschung zu verderben.«
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»Ich möchte, daß er während des nächsten Jahres hier ist, bis er meine Behandlung abgeschlossen hat, Lupa«, erinnerte ich meine reizende Gefährtin. »Das war unsere Abmachung.« »Ich will nicht, daß du ihn verletzt, Satan. Das meine ich ernst. Oder daß er sich selbst verletzt. Das habe ich dir gesagt, und du hast es versprochen.« »Du bist eine zähe Frau, Lupa«, kommentierte ich. »Du verhandelst hart.« »Das ist das letzte, was ich für ihn tun kann. Also, du hast es versprochen.« »Ein Versprechen ist ein Versprechen«, versicherte ich ihr. »Ich will nur, daß du ihm hilfst, ein bißchen besser in der Welt zurechtzukommen, sonst nichts. Das muß ihm unbedingt beigebracht werden. So lautete unsere Abmachung. Ich bleibe in der Nähe. Du bekommst mich. Er soll etwas lernen. Jeder lebt glücklich für alle Zeiten.« »Das war unsere Abmachung, aber ich habe dir gesagt, daß es keine Garantie gibt. Er ist nicht einfach.« »Du bist bisher ziemlich erfolgreich gewesen«, bemerkte Lupa spitz. »Das ist es, was mir Sorgen macht«, vertraute ich meiner aufregenden Dame an. »Das bin ich, und dabei habe ich größtenteils kaum etwas gemacht.« An diesem Abend gab Kasslers erweiterte Familie ihm alle Unterstützung, die sieh ein Mensch nur wünschen konnte, obwohl sie über seinen Tag bei Gericht nur skizzenhaft informiert waren und überhaupt nichts von Lupas bevorstehendem Abschied wußten. Nach dem Abendessen saßen sie noch stundenlang am Tisch und lachten und weinten. Mr. Katzman gab einen gewagten Witz nach dem anderen zum besten und rief bei allen hysterisches Gelächter hervor. Dann trat Schweigen ein, während alle um Atem rangen, bis Mrs. Fletcher zu Kassler sprach.
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»Ich werde nie vergessen, wieviel es bedeutet hat, daß Sie mich zu Skip gebracht haben, bevor er starb«, sagte sie. »Ich danke Gott jede Nacht dafür, daß er mir Sie als Therapeuten gegeben hat, Dr. Kassler.« Dann weinten alle, am meisten Kassler. »Hat Philip es Ihnen schon gesagt, Dr. Kassler?« fragte Mr. Katzman. »Er hat einen Job und ein Appartement in der Stadt bekommen. Er geht nächste Woche.« »Nein«, sagte Kassler. »Was für einen Job haben Sie bekommen, Philip?« »Oh, er ist großartig«, strahlte Philip Donato. »Ich werde in einem dieser Fitness-Center für Frauen arbeiten. Den ganzen Tag kann ich alte Ladies herumkommandieren. Tun Sie dies! Tun Sie das! Sie essen zuviel! Zehn weitere Liegestütze für Sie! Es ist phantastisch! Ich hoffe, meine Mutter ist auch dabei. Ich kann es kaum erwarten, anzufangen.« Und alle brüllten vor Lachen. »Ich glaube, ich habe auch eine Freundin gefunden, die mir dort begegnet ist, aber es ist noch zu früh, Genaues darüber zu sagen«, meinte Philip ruhig. Dann machte er eine Pause und sah Kassler an, wobei Tränen in seinen Augen aufstiegen. »He, Dr. Kassler«, sagte er leise. »Danke für alles. Vielen Dank. Ihnen auch, Lupa.« Und die Tränen begannen wieder zu fließen. Bis spät in die Nacht saßen sie alle so da, lachend und weinend. Kassler erzählte schließlich die Höhepunkte der Verhandlung, wobei er einige Dinge ausließ, die mit Lupa und Bernie und Szlyck zu tun hatten, so daß die Höhepunkte spärlich blieben, aber alle sprachen Kassler an den richtigen Stellen ihr Mitgefühl aus, geißelten den Richter für seine Ignoranz und buhten und zischten jedesmal, wenn Doris Huber und Vita auftraten.
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»Ich nehme an, mein Name ist auch zur Sprache gekommen, oder?« überraschte Lupa Kassler. Kassler schüttelte nichtssagend den Kopf. »Wißt ihr«, informierte Lupa ihre gegenwärtige Familie wie nebenbei, »bevor Sy und ich geheiratet haben, war ich für eine Weile ein Callgirl, weil ich pleite war und nicht ohne eine Menge Geld leben wollte. Ich habe sehr viel Geld verdient, aber ich habe mich nicht wohl dabei gefühlt und deshalb aufgehört. Aber ich wette, es ist bei der Verhandlung zur Sprache gekommen, nicht wahr, Sy?« Kassler nickte. »Ein bißchen«, sagte er. »Es tut mir leid«, sagte Lupa. »Wir alle machen Fehler«, sagte Diana Fletcher. »Waren Sie es wirklich?« fragte Philip Donato schüchtern. Lupa nickte. »Dann müssen Sie viel wissen über... nun... Sie wissen schon.« Philip blickte auf den Tisch. »Das hoffe ich«, sagte Lupa. »Ich wurde sehr gut bezahlt. Der Gedanke, daß es wegen des Aussehens, nicht wegen des Talents war, würde mir ganz und gar nicht gefallen.« »Glauben Sie...«, begann Philip. »Ich habe nie... Wenn Sie mir nur ein paar Sachen erzählen würden über...« »Sicher, Philip, was würden Sie denn gerne wissen?« fragte Lupa. »Nun, zuerst einmal«, sagte er einfältig, »ich weiß, daß es bei dem Mädchen am Anfang zu ist. Was muß man machen, damit es aufgeht?« Alle versuchten, nicht zu lachen, aber es war zwecklos. Lupa umarmte Philip, der neben ihr am Tisch saß, damit er sich nicht schlecht fühlte, und schließlich lachte selbst er. »In Ordnung, Philip«, sagte Lupa, als wieder Ruhe eingekehrt war, »passen Sie auf, es geht so...«
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Lupa begann, auf zarte und schöne Weise zu beschreiben, wie ein Mann eine Frau liebt. Als sie fertig war, blickte sie zu Kassler hinüber, der sie vom anderen Ende des Tisches aus beobachtete und schluchzte. »Was ist los?« fragte Lupa. »Sie haben dich eine Prostituierte genannt.« Er sank in sich zusammen und verbarg den Kopf in den Händen. »Immer wieder haben Sie dich als Prostituierte beschimpft, und ich konnte sie nicht dazu bringen, damit aufzuhören«, weinte er. »Wer hat das getan?« fragte Mr. Katzman außer sich, während Lupa zu Kassler hinüberging, seinen Kopf hob und ihn an sich drückte. »Wer hat das getan?« wollte Mr. Katzman wissen. »Vitas Rechtsanwältin«, sagte Kassler unter Tränen. »Also, scheiß auf Vitas Rechtsanwältin!« Mr. Katzman stand auf und hob die Faust. Cheryl, die den Ereignissen mit großem Interesse gefolgt war, spürte das zwingende Bedürfnis, sich zu beteiligen. Sie stellte sich auf ihren Stuhl. »Scheiß auf Vitas Rechtsanwältin!« kreischte ihre dünne Stimme, und sie hob die Satinarme ihres Marie-AntoinetteKostüms hoch in die Luft und lächelte von Ohr zu Ohr. »Ich glaube, sie macht gute Fortschritte«, bemerkte Kassler und trocknete seine Tränen. »Das hoffe ich«, sagte Mrs. Fletcher. »Ich nehme sie mit mir nach Hause, wenn ich nächste Woche gehe.« »Das tun Sie?« fragte Kassler. »Unbedingt«, sagte Diana Fletcher. »Ich würde nie eine Tochter zurücklassen.« »Und was ist mit Ihnen, Mr. Katzman?« fragte Kassler. »Oh, ich dachte, Sie hätten es schon gehört. Ich habe auch einen Job und ein Appartement. Ich fange morgen an.« »Morgen?« sagte Kassler geschockt. »Was werden Sie tun?« -5 3 7 -
»Raten Sie mal.« »Die vermutliche Zahl der Verkehrstoten an den Feiertagen vorhersagen?« versuchte es Kassler. »Kommen Sie, Dr. Kassler, bleiben Sie ernst«, sagte Katzman. »Ich passe.« »Ich werde unten in der Stadt einen der Computer in einem Wettbüro bedienen«, sagte Mr. Katzman mit großem Stolz. »Die Vorwetten festlegen.« Wieder einmal lachten alle, aber als das Gelächter diesmal erstarb, waren alle sehr ernst. Mrs. Fletcher ging hinaus und kam mit einem Paket in Geschenkpapier zurück. »Wir wollten es Ihnen eigentlich nächste Woche geben, wenn wir alle gehen, Dr. Kassler, aber dieser Zeitpunkt ist genausogut. Lupa hat uns gesagt, daß Sie es sich wünschen, und wir haben lange daran gearbeitet, so daß ich hoffe, es gefällt Ihnen.« Dann, anstatt es Kassler zu geben, händigte sie die Schachtel Cheryl aus, die sie mit einem breiten Lächeln nahm und aus dem Zimmer hüpfte. Ein paar Minuten kehrte Cheryl Lerner zurück. Sie trug Turnschuhe, Jeans und einen sehr rosafarbenen, sehr schicken Pullover. Tränen strömten Kassler aus den Augen. »Das ist das wunderbarste Geschenk, daß ich je bekommen habe«, sagte er unter Tränen. »Sie steht jetzt morgens auf, zieht sich die Sachen selbst an und trägt sie den ganzen Tag«, sagte Diana Fletcher, als Cheryl stolz vorbeispazierte. »Ich liebe Sie sehr, Dr. Kassler«, gab Cheryl den längsten Satz ihres Lebens von sich, drückte und küßte Kassler und sah dann alle an, um sich zu überzeugen, ob sie es gut gemacht hatte. Während Cheryl um den Tisch stolzierte, brachen alle in lauten Beifall aus, der noch immer in Kasslers Bewußtsein -5 3 8 -
nachhallte, als er später in der Nacht wach in seinem Bett lag und sich fragte, was er mit seinem Leben anfangen sollte, wenn alle gegangen waren. Die nächste Woche war keine gute Woche für Kassler. Am Montag bekam er einen Brief vom Institut, aus dem hervorging, daß sie durch die Zeitungsberichte über seine Verhandlung von seiner bisher verschwiegenen stationären psychiatrischen Behandlung erfahren hatten. Ein Komitee hatte sich gebildet und einstimmig beschlossen, ihm seinen Titel abzuerkennen. Er hatte das Recht auf eine Berufungsverhandlung, wenn er das wollte. Kassler schrieb ihnen zurück, daß er gegenwärtig genug von Verhandlungen hatte, aber gerne seinen Titel und seine Zulassung behalten würde, daß er seiner Meinung nach bisher gute Arbeit geleistet hatte und daß er ihnen für die gute Ausbildung, die sie ihm gegeben hatten, danken würde, aber alle weiteren Verhandlungen ablehnen müßte. Ende der Woche bekam er die Nachricht des Urkundsbeamten, daß das Komitee äußerst gewissenhaft über seinen Brief beraten hatte und daß er keinen Doktortitel mehr von ihrem Institut besaß. Die Zulassungsbehörde von New Jersey war benachrichtigt worden, so daß er erwarten durfte, bald von dort zu hören. Am Dienstag gingen Philip Donato und Mr. Katzman. Am Mittwoch gingen Diana Fletcher und Cheryl. Am Donnerstag begab sich Lupa in Newport, Rhode Island, auf eine fotografische Expedition, die, wie sie erwartete, unbestimmte Zeit dauern würde. Und am Freitag bekam Kassler den folgenden Brief von Vita: Lieber Sy Ich wollte Dich nur wissen lassen, daß ich nichts Persönliches gegen Dich habe und auch nie hatte, sondern nur getan habe, was ich für die Kinder am besten hielt. Ich habe versucht, Dich heute anzurufen, damit Du Dich von ihnen verabschieden konntest, aber es war besetzt, und wir mußten zu unserem Flugzeug. Ich schicke Dir unsere Adresse und Telefonnummer, sobald wir uns eingerichtet haben, wenn Du -5 3 9 -
willst, oder Du kannst sie auch von Sam bekommen, der sie haben sollte, da es noch eine Weile dauern wird, bis er zu uns kommt. Da ich gerade von ihm spreche, hat es mich sehr interessiert, von ihm über Deine Selbstmordabsichten zu erfahren. Du solltest dies nicht notwendigerweise als schlechte Sache ansehen. Diese 911 Leute bei Reverend Jones in Guayana waren nicht alle verrückt, weißt Du. Es gibt andere Welten, vermutlich viel bessere als diese, von denen wir bisher nicht einmal geträumt haben, und ich befürworte ganz bestimmt alle Anstrengungen, die Du unternehmen magst, um Dich zu verwirklichen, wenn auch nur kurz. Wir werden uns alle gewöhnen. Alles Gute Vita Nachdem er nun ganz unten aufgeschlagen war, bedurfte Kassler mehr als der üblichen Maßnahmen, um seine Rehabilitation zu bewirken. Ich hatte keine andere Wahl, als alle Mittel einzusetzen, wenn ich meinen Teil des Handels mit Lupa erfüllen wollte. Wenn ich alle Mittel sage, meine ich natürlich nur eine Person: Sam Zelazo. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte Kassler Anfang 1979 zu mir - alles in allem ein gutes Jahr. Der letzte der ungefähr fünfundzwanzig Herren, die geholfen hatten, Watergate von einem drittklassigen Einbruch in einen erstklassigen Film zu verwandeln, in diesem Fall der frühere Justizminister der Vereinigten Staaten, wurde aus der Strafanstalt entlassen. Die Chrysler Corporation bemerkte, daß ihr anderthalb Milliarden Dollar fehlten. Und viel später, im Herbst, stellte der Oberherr der Exekutive der Vereinigten Staaten mit Hilfe eines Intellekts, von dem häufig berichtet wurde, daß er machtvoll genug war, um die Nuklearmechanik zu verstehen, fest, daß sich keinerlei Konsequenzen ergeben würden, wenn einer Klinik in New York erlaubt wurde, den früheren iranischen Schah Mohammed Reza Pahlevi medizinisch zu behandeln - soweit er es beurteilen konnte. -5 4 0 -
»Haben Sie ein besonderes Ziel?« antwortete ich auf Kasslers Abschied. »Sie wissen verdammt genau, welches Ziel ich habe.« Kassler blieb am Fuß der Treppe stehen, so als befürchtete er, daß ich ihn, wenn er mir zu nahe kam, auf bisher noch unklare Art und Weise zurückhalten würde. »Wie ich es sehe«, sagte ich, »sind Sie im Begriff, diese Welt zu verlassen. Ist es das, was Sie mir sagen wollen?« »Ich sehe keinen Grund, noch weiterzuleben«, sagte Kassler. »Ich war mir nicht bewußt, daß es Gründe gibt, aus denen die Menschen weiterleben«, stellte ich fest. »Ich hätte eigentlich gedacht, daß die Vernunft nach Ihren Erfahrungen bei Gericht ihren Zauber für Sie verloren hat.« »Wie auch immer«, sagte Kassler. »Mein Entschluß ist gefaßt.« »Haben Sie sich überlegt, daß wir uns, wenn Sie sich das Leben nehmen, wiedersehen könnten?« gab ich Kassler zu bedenken. »Unter bedeutend weniger komfortablen Umständen?« »Das habe ich«, sagte Kassler. »Und wenn wir es tun, dann tun wir es eben. Es gibt nichts, was ich dagegen machen kann. Ich bin verdammt, wenn ich es tue, und ich bin verdammt, wenn ich es nicht tue.« »Hübsch gesagt«, bemerkte ich. »Wie Sie vielleicht gemerkt haben, kann man es unglücklicherweise heute tun oder auch nicht tun, und ist für beides immer noch nicht verdammt. Sie leben zu einem großartigen Zeitraum der Geschichte. Ich hoffe, Sie wissen es zu würdigen, Kassler.« »Nicht mehr lange. Ich werde nicht mehr lange leben.« »Also dann, warum sind Sie nach unten gekommen? Ich bin nichts für Sie. Nur eine seltsame Maschine, die Leo gebaut hat. Warum die Mühe, es mir zu erzählen?« »Ich weiß nicht. Es ist sonst keiner da. Ich dachte, ich sollte mich von irgend jemand verabschieden. Ich hätte einen
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Abschiedbrief hinterlassen, aber es ist niemand da, der ihn lesen würde.« »Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht davon überzeugen wollten, ob sich der Boden auftut und Sie in eine immerwährende Flammengrube fallen? Die Menschen denken in diesen Augenblicken über solche Dinge nach.« »Ja, das glaube ich.« »Nun, Sie wollten bestimmt keinen Ratschlag von mir, wie Sie es tun sollen. Nebenbei gefragt, wie werden Sie es tun? Nichts allzu Schmutziges, hoffe ich.« »Schlaftabletten.« »Oh, das ist sauber. Haben Sie Schlaftabletten im Haus?« »Nein«, gab Kassler etwas dümmlich zu. »Nun, bevor Sie irgendeinen Arzt wegen eines Rezepts anrufen, möchte ich, daß Sie etwas für mich tun. Mir scheint, daß wir so etwas wie eine Freundschaft entwickelt haben, und ich habe dafür gesorgt, daß Sie die Bolge und einen hübschen Geldbetrag bekommen. Ich glaube nicht, daß es unangemessen ist, wenn ich um eine kleine Gegenleistung bitte.« »Nein«, gestand mir Kassler zu, »wohl nicht. Aber keine Psychotherapie. Etwas, das schnell geht.« »Ich möchte an diesem Abend nur ein paar Stunden Ihrer Zeit, wahrscheinlich nicht einmal die.« »Für was?« »Nun, zuerst einmal will ich Ihnen sagen, warum Sie meiner Ansicht nach heute abend zu mir gekommen sind. Ich glaube, Sie wollten, daß ich Ihnen sage, warum Sie sich nicht umbringen sollten. Und raten Sie mal?« Kassler rückte ein Stückchen näher. Das wollte er sich nicht entgehen lassen. »Was?« fragte er mit einigem Interesse. »Ich habe eine Antwort. Vorher aber etwas anderes.« »Und zwar?« Kassler saß jetzt in dem Polstersessel. -5 4 2 -
»Wenn Sie dadurch anderer Ansicht werden, bekomme ich meine Psychotherapie.« »Ich weiß nicht...« »Sie haben nichts zu verlieren. Es müßte schon ein Knaller sein, wie selbst Sie einräumen werden.« »In Ordnung«, sagte Kassler halbherzig. »Abgemacht.« »Ich weiß nicht, warum«, warf ich ein, obwohl es nicht zum Thema gehörte, »aber immer wenn jemand ›abgemacht‹ zu mir sagt, mache ich mir Sorgen.« »Hören Sie, ich habe gesagt, daß ich einverstanden bin und es tun werde.« Kassler versuchte, meine Befürchtungen zu dämpfen. »Was haben Sie zu bieten? Warum sollte ich mich nicht umbringen?« »Sam Zelazo«, antwortete ich. »Was?« Kassler war verständlicherweise verwirrt. »Sam Zelazo«, wiederholte ich. »Gehen Sie heute abend zum Phlegethon, soweit noch etwas davon übrig ist, gehen Sie in den Keller hinunter und suchen Sie Sam Zelazo. Ich verspreche Ihnen, daß Sie nicht mehr den Wunsch haben werden, sich umzubringen, nachdem Sie ihn gefunden haben.« Zornerfüllt sprang Kassler aus dem Sessel hoch. »Ich würde nicht in die Nähe dieses Mannes gehen, wenn dies mein letzter Tag auf Erden wäre!« rief er. »Nun, das wird er sein, wenn Sie es nicht tun, das steht fest. Gehen Sie und suchen Sie Sam Zelazo!« Ich hob die Stimme gerade so weit, daß ich Eindruck machen konnte. »Warum?« schrie Kassler wütend. »Warum sollte ich zu diesem Mann gehen? Er hat Vitas Anwältin die ganze Scheiße erzählt, durch die ich meine Kinder verloren habe. Er hat mein Leben ruiniert.« »Er wird auch Ihren Tod ruinieren, wenn Sie nicht tun, um was ich Sie bitte!« Ich sprach so ruhig, wie ich es unter den Umständen tun konnte. »Hören Sie, wenn ich Ihnen einen guten Grund gebe, werden Sie dann gehen?« -5 4 3 -
»Falls Sie mir einen guten Grund geben, dann werde ich gehen, ja.« So gab ich Kassler einen guten Grund, und im Handumdrehen ging er. Kassler parkte seinen Wagen außerhalb der Tore von Phlegethon Landings - wie das neue, erhaben ausgeführte Holzschild im Kolonialmotiv den Eigentumswohnungskomplex bezeichnete - und vermied dadurch den Wachposten in seiner geschmackvollen Box, ebenfalls einer neuen Errungenschaft, die man für Eigentumswohnungsbesitzer, wenn nicht für geisteskranke Patienten, als unbedingt unerläßlich angesehen hatte. Das Erdgeschoß des Hauptgebäudes, in dem Kassler, Bea, Bernie, Zelazo und andere einst ihre Büros gehabt hatten, befand sich im letzten Stadium des Umbaus. Als Kassler das Gebäude betrat, sah er überall nackte Wandplatten, Teppichrollen, große Kartons mit Küchenzubehör in wilder Unordnung. Kassler kämpfte sich durch das Chaos und öffnete die Tür zum Keller. Dann ging er die mit Metallkanten versehenen Betonstufen hinunter, bis er unten die schwere Stahltür erreichte. Er öffnete sie langsam, um festzustellen, ob jemand in der Nähe war. Der lange Flur war leer. Eine einsame Glühbirne, die auf halbem Weg an zwei provisorischen Drähten hing, war die einzige Lichtquelle. Kassler schritt langsam den Gang entlang, versuchte links und rechts verschiedene Türen zu öffnen, blieb stehen, ob hinter den verschlossenen Türen Geräusche zu hören waren. So brachte er Schritt für Schritt den Flur hinter sich, bis schließlich eine Tür aufging. Augenblicklich wurde er durch helles, fluoreszierendes Licht geblendet. »Noch einen Tag später, und Sie hätten es vielleicht gar nicht mehr gefunden«, drang Zelazos Stimme aus der Helligkeit. »Ich bin überrascht, daß Sie so lange gebraucht haben.« -5 4 4 -
Als sich Kasslers Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er, daß er sich in einem kleinen Büro befand, einem Vorraum mit einem Schreibtisch, hinter dem Zelazo wie ein Hohepriester stand, in einem langen, weißen Labormantel, und verschiedene Papiere in einen Ablagekasten auf der rechten Seite des Tischs einsortierte. »Ich will Ihr Labor sehen«, sagte Kassler zu Zelazo. »Das dachte ich mir«, sagte Zelazo nonchalant. »Wo ist das gottverdammte Labor?« schnauzte Kassler und versuchte, eine Tür zu seiner Linken zu öffnen, die verschlossen war. »Das ist die Tür. Ich werde Sie gleich hineinführen, aber Sie sollten wissen, daß Sie außer mir der einzige sind, der es gesehen haben wird. Ich bin mir nicht sicher, wie Ihre Reaktion ausfällt.« »Das Risiko gehe ich ein.« Kassler klang mutiger, als er sich innerlich fühlte. »Sehr gut.« Zelazo zuckte die Achseln. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nichts anfassen würden. Das können Sie natürlich verstehen.« »Lassen Sie mich einfach das beschissene Labor sehen, Sam«, sagte Kassler. »Es ist mir ein Vergnügen.« Zelazo ging um den Schreibtisch herum und begann, an einem Bund mit nahezu hundert Schlüsseln den richtigen herauszusuchen. »Ich wußte, daß Sie letzten Endes hier erscheinen würden«, sagte er. »Schließlich hat Leo den Computer gebaut, und er wußte schon Bescheid, als er mit seinem kleinen Leberproblem hier war. Wenn Leo es wußte, dann mußte Satan es ihm gesagt haben. Leo wollte plaudern, aber glücklicherweise haben Sie mir das abgenommen, Sy.« »Es freut mich, daß ich Ihnen dienlich sein konnte«, sagte Kassler sarkastisch. »Was ist mit Bernie? Hatte ich das auch regeln sollen?« -5 4 5 -
»Nein«, sagte Zelazo, als er den richtigen Schlüssel fand. »Das war Zufall. Ich hatte erwartet, daß Sie es sein würden, aber die Zeit wurde knapp. Dieses Haus konnte jeden Tag geschlossen werden. Bernie mußte genügen. Glück für mich, schätze ich. Und für Sie, nebenbei bemerkt.« Zelazo steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn herum, bis ein lautes Klicken hörbar wurde, und legte die Hand auf den Türknopf. »Anderenfalls wären das da, wie man Ihnen zweifellos erzählt hat...«, Zelazo stieß die Tür auf, »... Sie.« Als sich die Tür öffnete, sah Kassler auf einem Tisch unmittelbar vor sich das Gehirn von Bernie Kohler, in einer klaren Lösung innerhalb eines Plexiglasbehälters, der etwas größer war als das Gehirn. Auf beiden Seiten stachen aus dem Gehirn die halbkreisförmigen Röhren und Labyrinthe hervor, die den inneren Mechanismus von Bernies Hörapparat bildeten, und vor dem Gehirn schwebten, am Ende der seilartigen optischen Nerven, Bernies Augen. Sie zuckten beim Anblick Kasslers wild vor und zurück. »Oh, mein Gott«, würgte Kassler hervor, als er Bernies Augen erkannte. »Es ist ein bißchen frostig hier«, sagte Zelazo zu Kassler. »Es hält den Stoffwechsel niedrig, und ich brauche nicht so viele Flourokarbone, um die Gehirne mit Sauerstoff zu versorgen.« Kassler hielt sich den Magen, der ihm hochzukommen drohte, während Bernies Augen weiterhin verzweifelt vor und zurück schnellten. Links neben Bernie war Norman Meltz' Gehirn. Seine Augen zuckten wie die von Bernie. Und zur Rechten Bernies fand Kassler natürlich die vertrauten, gelbgefleckten Augen Leo Szlycks. Zelazo sah zu, wie Kassler würgte.
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»Man kann mit Ratten keine vernünftige Neurochemie betreiben, Sy«, sagte Zelazo gelassen. »Und an lebende menschliche Gehirne ist nur schwer zu kommen.« Kassler blickte sich in dem gedrängten Raum um. Mehrere Dutzend Tische wie die vor ihm standen überall dicht an dicht. Auf jedem war ein Gehirn, dessen Augen Zelazo schreckerfüllt anstarrten. »Dies sind die Menschen, die sich vor Ihren Fenstern aufgehängt haben. »Sie haben sie selbstmörderisch gemacht.« »Das habe ich nicht«, protestierte Zelazo. »Sie sind selbstmörderisch zu mir gekommen. Ich habe ihnen nur nicht allzuviel geholfen. Sie hatten sowieso keinen Platz, wo sie hingehen konnten. Sie wären ihr ganzes Leben lang hier eingesperrt gewesen. Jetzt tun sie wenigstens etwas Gutes.« »Dies ist Wahnsinn.« Kassler fühlte sich schwindlig, aber er wagte nicht, das Bewußtsein zu verlieren. »Es ist diabolisch.« »Ja, Sie könnten sagen, daß Satan und ich eine Art freundschaftlichen Wettkampf austragen«, räumte Zelazo ein. »Ich habe viel Mühe aufgewandt, um ihr Gehirn für irgendeine wichtige Arbeit hier unten vorzubereiten, Sy, lassen Sie mich Ihnen das sagen.« Zelazo begann, in den engen Gängen zwischen den Reihen von Gehirnen hin und her zu gehen. Er zuckte mit seinen breiten Schultern. »Natürlich hatte ich Satan nicht einkalkuliert. Wie üblich hat Leo alles durcheinandergebracht. Bevor er starb, hat er mir erzählt, daß er Satan gebaut hatte und daß Satan Sie als Therapeuten haben wollte. Leo glaubte, daß ich sehr beeindruckt sein würde. Aber das war ich nicht. Ich hatte nicht die Absicht, einem weiteren von Leos Komplotten zum Opfer zu fallen.« »Sie sind verantwortlich gewesen für...«, begann Kassler. »Tatsächlich für sehr wenig«, sagte Zelazo und drehte sich zu Kassler um. »Das mit Vita und mir ist einfach passiert. Ich habe es nicht getan, um Sie dazu zu bringen, sich zu töten, wenn Sie das fragen wollten. Ich habe Leo nicht auf Sie -5 4 7 -
angesetzt. Wie Sie sich vielleicht erinnern, haben Sie mich gebeten, mit Leo arbeiten zu können. Ich habe Sie auch nicht mit Lupa zusammengebracht. Sie haben das von sich aus getan.« »Sie haben mich in bezug auf Leos Verfassung belogen«, erinnerte Kassler Zelazo. »Keineswegs.« Zelazo schüttelte den Kopf und schien wegen dieser Anschuldigung echt gekränkt zu sein. »Ich habe Ihnen gesagt, was Ihnen jeder Arzt gesagt hätte. Ich habe Sie nicht gebeten, Leo abzuschalten, obwohl ich, wie ich sagen muß, sehr erfreut war, zu sehen, daß Sie die Initiative übernahmen. Es ist gut, Leo hier unten zu haben.« Leo Szlycks Augen bewegten sich voller Unbehagen vor und zurück. »Wie ist Vita in den Besitz von Bernies Abschiedsbrief gekommen?« fragte Kassler anzüglich. »Das war ich«, gab Zelazo freimütig zu. »Ich wollte nicht beschuldigt werden, zu Bernies Tod beigetragen zu haben, also habe ich eine Kopie davon gemacht. Aber ich habe sie nicht Vita gegeben. Ich habe sie der Polizei gegeben. Dazu bin ich gesetzlich verpflichtet. Tatsächlich habe ich Vita nicht einmal etwas davon gesagt. Ihre Anwältin ist darauf gestoßen, als sie Nachforschungen anstellte. Dasselbe gilt für die Information, daß Sie im Bellevue waren. Vitas Anwältin ist mindestens genausogut wie Leo, wenn es darum geht, etwas über den Gegner herauszufinden und es zu benutzen.« »Sie sind ein gottverdammter Lügner, Sam.« Kassler hatte enorme Schwierigkeiten, dies alles zu verarbeiten. »Sie waren für alles verantwortlich. Sie hätten Bernie daran hindern können, sich umzubringen, wenn Sie es wirklich gewollt hätten.« »Ich dachte, ich hätte, Sy«, sagte Zelazo ernst. »Ich bin Heiligabend mitten aus einer reizenden Party gegangen, damit ich mit ihm reden konnte. Ich wußte, daß sich Bernie die größte Mühe geben würde, nichts von dem zu tun, was ich ihm sagte. Als ich ging, war ich mir sicher, daß Bernie nicht wagen würde, -5 4 8 -
sich umzubringen, weil er glaubte, daß er es mir zu Gefallen tun würde. Mein Eindruck ist, daß es ein Unglücksfall war. Irgend etwas ist schiefgelaufen.« »Das ist nicht das, was Sie in der Verhandlung gesagt haben.« Kassler wurde zusehends gereizter wegen der Leichtigkeit, mit der Zelazo seine Fragen parierte. »Niemand hat mich gefragt«, sagte Zelazo. »Ich habe bei der Verhandlung nur die Wahrheit gesagt, und Sie sind sich dessen auch ganz bewußt. Zuerst habe ich die Wahrheit aus Vitas Sicht gesagt. Ich war verblüfft, daß mich niemand nach der Wahrheit aus Ihrer Sicht gefragt hat. Ich habe mir ausgerechnet, daß Ihre Wut auf mich Sie daran gehindert hat. Es war Ihre Entscheidung.« »Ich glaube kein Wort davon. Sie wollten, daß ich mich umbringe, damit Sie mein verdammtes Gehirn kriegen konnten. Sie wollten meinen Tod.« »Es war nicht meine Entscheidung. Es lag allein an Ihnen.« »Nun, ich will verdammt sein, wenn ich als Gehirn in einer Ihrer Schachteln ende!« »Und ich werde nicht versuchen, es Ihnen einzureden, obwohl ich sagen muß...«, Zelazo lächelte, »... daß ich stolz wie ein Pfau darauf wäre, Sie hier unten zu haben. Sie könnten einige sehr bedeutende Beiträge zur Wissenschaft leisten. Nur so ein Gedanke.« Zelazo fuhr fort, Kassler anzugrinsen. »Ich würde Sie an ganz besonderer Stelle unterbringen.« »Vergessen Sie es, Sam.« Kassler erwiderte Zelazos Grinsen jetzt. »Ich werde mich nicht umbringen. Wenn Sie mich unbedingt haben wollen, warum töten Sie mich dann nicht einfach? Es ist niemand in der Nähe. Sie würden beinahe sicher damit durchkommen.« »Ist das keine Sünde?« scherzte Zelazo. »Und das ist keine Sünde?« rief Kassler zurück, während er begann, durch den Raum zu wandern. Seine Nase füllte sich mit den süßen Meeresgerüchen der isotonischen Salz- und Glukoselösungen, die Zelazo benutzte, um seine Gehirne am -5 4 9 -
Leben zu halten, die starke Feuchtigkeit begann seine Ohren zu verstopfen, und sein Kopf schmerzte bereits von dem konstanten Zischen des Sauerstoffs und dem unaufhörlichen Summen der grellen, fluoreszierenden Beleuchtung. Dutzende von dunklen Pupillen, die in gefäßarmen weißen Bällen am Ende von rosafarbenen optischen Stengeln saßen, folgten ihm, als er sich vorsichtig durch den kalten, klammen Raum bewegte. »Bernie, Leo, Norman und all diese anderen Menschen unbestimmte Zeit in diesem halb-toten, halb-lebendigen Zustand zu halten, ist keine Sünde, ist nicht wahnsinnig und grausam?« fragte Kassler laut. »Glauben Sie, sie fühlen nichts? Glauben Sie, sie empfinden keinen Schmerz?« »Ich weiß es nicht.« Zelazo war an dieser Frage nicht sonderlich interessiert. »Ich weiß aber, daß ich während der letzten zehn Jahre mehr darüber gelernt habe, wie das menschliche Gehirn arbeitet, als die Menschheit in der gesamten Zeit davor gelernt hat. Nun ziehe ich mich an einen hübschen, ruhigen Ort in der Wüste zurück und schreibe alles nieder.« »Wen kümmert das, Sam? Wen, zur Hölle, kümmert das? So können Sie also alle noradrenergischen Bahnen graphisch darstellen. Tolle Sache! Haben Sie auch nur das geringste bißchen darüber gelernt, was die Menschen dazu veranlaßt, einander zu verletzen? Oder warum sie lieben?« »Darüber müssen Sie mit Satan reden.« Zelazo ging zu einem Gehirn hinüber und regulierte den Knopf an einem großen grünen Behälter, der daneben stand. »Das ist nicht mein Gebiet.« »Vielleicht tue ich es, Sam«, sagte Kassler aus dem Hintergrund des Raums. »Ja, aber seien Sie nicht so sicher, daß Sie von Leos Apparat irgendwelche Antworten bekommen«, bemerkte Zelazo wie nebenbei, als er durch den Raum schritt und die Ventile an anderen Gehirnen regulierte, während zwischen ihm und Kassler die Augen hin und her zuckten. -5 5 0 -
»Wieso nicht?« forderte Kassler Zelazo heraus. »Wer weiß schon, was in dem Gerät steckt?« »Ich weiß es«, sagte Zelazo einfach. »Darüber werde ich schreiben. Das menschliche Gehirn ist ein holographisches Instrument, das ein holographisches Universum interpretiert. Es operiert in Bereichen, die so weit jenseits der konventionellen fünf Sinne liegen, daß Sie nicht einmal den Mut aufbringen werden, sie sich vorzustellen - besonders wenn das Gehirn wie hier befreit ist vom Körper, vom Hunger, von der Sexualität, von der Notwendigkeit, darauf aufzupassen, nicht irgendwo anzustoßen. Auf diese Bereiche bekommen wir nur Hinweise von den Träumen, von der Intuition, von Hellsehern und jedes Jahrhundert oder so von Genies wie Shakespeare oder Einstein, was mich zu Leos elektronischem Gerät bringt. Es ist ein körperloser höherer Bereich, Sy, und er nennt sich Satan.« Kassler gab keine Antwort. Er stand im rückwärtigen Teil des Raums, wo er die meisten Augen nicht sehen konnte, und starrte auf Zelazo, der von Gehirn zu Gehirn ging. »Sie sind verrückt, Sam«, sagte er kalt zu Zelazo. »Sie sind die verrückteste Person, die es je in diesem Gebäude gegeben hat.« »Keineswegs«, sagte Zelazo ruhig, während er weiterarbeitete. »Manchmal wünschte ich, ich wäre es. Glauben Sie, daß ich der einzige Wissenschaftler in der Welt bin, der mit Gehirnen arbeitet? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Ratten, Hunde, Schafe und Affen ohne die obere Hälfte ihres Kopfes lebend auf Labortischen liegen? Die Sowjetunion transplantiert schon seit Jahren die Gehirne von Hunden. Es ist fast sicher, daß sie auch mit lebenden menschlichen Gehirnen arbeiten. Wenn ich verrückt bin, dann habe ich genug gute Gesellschaft. Der einzige Unterschied zwischen meinen geschätzten Kollegen und mir ist, daß ich menschliche Gehirne unendlich lange in der Homeostase halten kann, sie jedoch nur für wenige Minuten. Machen Sie sich keine Sorgen. Je mehr sie üben, desto besser werden sie.« »Gott, ich hoffe nicht«, sagte Kassler fast tonlos. -5 5 1 -
»Sie machen sich etwas vor, Sy«, kommentierte Zelazo und begann, Mikroelektroden in das sich drehende rosagraue Gewebe jedes Gehirns zu stecken. »Niemand, der geistig gesund ist, wird mit einer holographischen Theorie höherer Bereiche hervortreten.« Kassler beobachtete fasziniert, wie Zelazo die Reihen entlangschritt und dünne Nadeln in die Gehirne schob, und fragte sich, was vor sich ging. »Sie irren sich abermals, Sy«, sagte Zelazo etwas geistesabwesend. »Wenn Sie in den Nebenraum gehen, finden Sie auf meinem Schreibtisch einen ganzen Stapel aktueller wissenschaftlicher Schriften, in denen alles genau das steht. Auf diese Weise ist Leo schließlich an Satan gekommen und ist Ihr Leben zu einem Katastrophengebiet geworden. Sie sind ein Opfer der Neuronen, wenn Sie den Dingen auf den Grund gehen, Sy. Vitas Neuronen. Bernies Neuronen. Leos Neuronen. Die Neuronen Ihrer Kinder. Die Neuronen des Richters...« »Ich bin nicht überzeugt«, sagte Kassler aus seiner Sicherheitszone im rückwärtigen Teil des Raums. »Wovon? Daß ich nicht verrückt bin? Daß ich nicht persönlich für die Verpfuschung Ihres Lebens verantwortlich bin? Das es Sinn ergibt, wenn Sie sich nicht selbst umbringen? Oder daß es höhere Bereiche in der Reichweite unserer Gehirne gibt und Leos Satan der Beweis dafür ist?« »Vermutlich von all dem«, sagte Kassler zu Zelazo. »Ich glaube ganz bestimmt nicht an irgendwelche unheimlichen Kräfte von draußen.« »Na, gut«, sagte Zelazo. »Dann wird Sie das, was ich als nächstes tue, nicht stören. Morgen abend breche ich nämlich zum sonnigen New Mexico auf, und alle guten Dinge müssen ein Ende haben. Haben Sie jemals den Laut eines einzelnen Neurons gehört?« »Nein«, antwortete Kassler, während ein eisiges Gefühl in seinem Körper aufstieg.
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»Es hört sich nicht nach viel an«, kommentierte Zelazo. »Ungefähr wie atmosphärische Störungen im Radio.« Und Kassler legte einen Schalter an der Wand um. Plötzlich war der Raum ausgefüllt mit den knisternden und knarrenden Geräuschen der Billionen von Neuronen in den Gehirnen vor ihm. »Ich habe Mikroelektroden eingesetzt, die mit Verstärkern verbunden sind«, sagte Zelazo gelassen. Die Elektroden hören die Neuronen in jedem Gehirn ab. Der Lärm, den Sie hören, stammt von der ständigen elektrischen Polarisation und Depolarisation der einzelnen Neuronen, wenn sie feuern.« Die Geräusche klangen fremdartig in Kasslers Ohren, überhaupt nicht wie atmosphärische Störungen im Radio, und verursachten ihm ein Gefühl des Unbehagens, insbesondere, da er unmittelbar vor den beiden großen Lautsprechern stand. Aus diesem Grund ging er nach vorne, wo sich Zelazo aufhielt. Unglücklicherweise konnte er nun wieder die Dutzende von panikerfüllten Augenpaaren sehen. Er versuchte zu vermeiden, sie anzublicken, konnte sich jedoch nicht abwenden. »Da Sie nicht an äußere unheimliche Bereiche glauben, wird dies vermutlich nicht den Effekt auf Sie ausüben, wie das bei mir üblicherweise der Fall ist«, sagte Zelazo, während er sich der Wand zuwandte, einen elektrischen Schaltkasten öffnete und anfing, die federbetriebenen schwarzen Trennschalter aus Plastik umzulegen, die den Stromfluß kontrollierten, mit dessen Hilfe das Lebenserhaltungssystem jedes Gehirns betrieben wurde. Fast augenblicklich war die Luft mit Hunderten von durchdringenden, metallischen ›Aaaaahs‹ erfüllt. »Das«, sagte Zelazo weniger gelassen, »ist der Laut sterbender Neuronen.« Kassler konnte sich nicht davon abhalten, in Bernies entsetzte Auzuen zu blicken, die wild hin und her zuckten und dann ganz plötzlich zum Stillstand kamen, um ihn unmittelbar anzustarren.
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Kassler begann zusammenzubrechen. Aus den Hunderten von kurzen, schreiartigen Tönen wurden Tausende und dann Zehntausende. »Was Sie jetzt hören, ist der Gehirntod«, sagte Zelazo. »Ganze Populationen von Neuronen, größere Zentren und Nervenbahnen sterben.« Es war ein Laut, wie ihn Kassler nie zuvor gehört hatte, laut, schrill und auf bittere Weise unangenehm. Leo Szlycks Augen kamen zum Stillstand und starrten Kassler an, dann taten Norman Meltz' Augen dasselbe. Kassler versuchte, die Augen zu schließen, aber sie wollten sich nicht schließen lassen. Er versuchte, den Raum zu verlassen, aber sein Körper wollte nicht gehorchen. Er war im vollkommenen Entsetzen erstarrt. »Das ist es, nebenbei bemerkt, was Sie am Ende Ihres Selbstmords erwartet«, überschrie Zelazo die schrecklichen brüllenden Töne. »Soweit Engelchöre und himmlische Tore.« Kassler fing an zu zittern, als die Laute seinen Kopf ausfüllten. »Möchten Sie das erste Gehirn sehen, das ich bekommen habe?« schrie Zelazo. »Ich glaube, es wird Sie interessieren.« Zelazo ging in eine Nische und kam mit einem metallenen Laborwagen zurück. Auf ihm befand sich ein Gehirn, das in einem Behälter schwamm. »Ich habe dieses seit zehn Jahren am Leben erhalten«, brüllte Zelazo, kam auf Kassler zu und drehte den Wagen um, bis Morris Kasslers Augen in die seines Sohns starrten. Kassler versuchte zu schreien, konnte es aber nicht. Erstarrt stand er da, öffnete den Mund und spürte, wie sich seine Stimmbänder anstrengten, einen Laut hervorzubringen, aber nichts geschah. »Habe es in einem Krankenhaus in Florenz bekommen«, überschrie Zelazo den betäubend lauten Lärm. »Eine Weile dachte ich, daß ich hier unten ein passendes Paar haben könnte. Ich habe ihm gesagt, daß ich gut auf Sie aufpassen -5 5 4 -
würde, bis Sie sich entschieden hätten, ob Sie uns Gesellschaft leisten wollten oder nicht.« Morris Kasslers Augen bewegten sich nicht. Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung starrten sie seinen Sohn durchdringend an. »Oh, mein Gott«, gelang es Kassler schließlich zu schreien, während die furchtbaren metallischen Knarrtöne der sterbenden Gehirne in seinem Kopf schrillten. »Oh, mein Gott!« Kassler zog den Bauch ein und krümmte sich vor Schmerzen. Er blickte Zelazo an, der die Hände auf die Ohren gelegt hatte und voller Qual mit den Zähnen knirschte. Kassler sah, wie er zitterte, bis der Lärm abzuebben begann und die Augen vor ihnen Paar für Paar im Tod glasig wurden - Norman Meltz, Leo Szlyck und, mit einem letzten anklagenden Blick, Bernie Kohler. Im Hintergrund waren noch immer einige verstreute Töne zu hören, und die letzten Augen, in denen sich noch Leben zeigte, waren die Morris Kasslers. »Es tut mir leid«, gelang es Kassler zu seinem Vater zu sagen. »Es tut mir wirklich leid.« Sekundenlang blickten Morris Kasslers Augen Sy Kassler kalt an und wurden dann so leer wie die anderen, während die Töne schließlich erstarben und der Raum still wurde. Zelazo hörte auf zu zittern und nahm die Hände von den Ohren. »Requiescat in pace«, sagte er ruhig. »Amen«, murmelte Kassler. Und dann, weil es zu viel zu sagen gab, sagte er überhaupt nichts, sondern verließ, ohne Zelazo auch nur noch ein einziges Mal anzublicken, in einer Verfassung des Schocks und der Erschöpfung das Phlegethon. »Ich werde es tun«, sagte Kassler einfach, als er sich in den guten alten Sessel vor mir fallen ließ. »Abgemacht ist abgemacht. Ich werde mich nicht umbringen. Sie bekommen Ihre Psychotherapie.« -5 5 5 -
»Das habe ich erwartet«, sagte ich zu ihm. Kassler sagte nichts mehr. Er starrte ins Leere und versuchte, Zelazos Alptraum loszuwerden. »Wußten Sie, daß mein Vater...« Er war nicht in der Lage, zu Ende zu sprechen. »Ich hatte den Verdacht«, sagte ich. Kassler nickte. Ich wartete eine Weile, bis ich merkte, daß sich Kassler zu erholen begann. »Hören sie«, sagte ich. »Ich will es Ihnen einfach machen. Sieben Sitzungen. Mehr will ich nicht.« Kassler blickte mit seinen müden Augen zu mir hoch. »Ich gebe Ihnen während des Rests des Jahres eine pro Monat, aber ich will den Sommer frei haben«, sagte er betäubt. »Ist mir recht«, stimmte ich zu. »Zelazo ist ein Irrer«, sagte Kassler zu mir. »Er ist meldepflichtig - ein rasender Irrer Erster Klasse.« »Das ist auch immer mein Eindruck gewesen«, pflichtete ich ihm bei. »Er ist ein Verrückter«, wiederholte Kassler seine Diagnose. »Ein Ghoul.« »Es tut mir leid, daß Sie all dies durchmachen mußten«, sagte ich zu meinem neuen Therapeuten. »Aber es waren drastische Maßnahmen gefragt. Zelazo ist, was drastische Maßnahmen angeht, ziemlich unzuverlässig.« »Zelazo ist ein Wahnsinniger«, murmelte Kassler. »Wissen Sie, was er als Letztes zu mir gesagt hat, als ich ging?« »Sagen Sie es mir.« Ich wollte Kassler die Pointe nicht verderben. »Ich gehe den Korridor entlang, und Zelazo ruft mir nach: ›Vergessen Sie es, Sy! Es ist Neurochemie!‹« »Wahnsinnig«, stimmte ich zu.
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So kam es, daß ich in jener bitterkalten Woche im Jahr 1979 durch Kasslers letzten Besuch bei Sam Zelazo schließlich meinen Psychotherapeuten bekam.
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IX. Teil Die Heilung Letzte Sitzung Dezember 1979 1 »Ich wurde geboren«, sagte ich zu Kassler, als wir zu unserer letzten Sitzung zusammen kamen, in der ich, wie ich vielleicht schon angedeutet habe, geheilt wurde, »in einem glühendheißen Tal in Overvolta. Es war vor sehr langer Zeit, während eines unerträglich heißen Sommers in einem dichten Wald, der durch die Dürre infolge der starken Hitze braun und karg geworden war. Früh an jenem Abend bildeten sich Sturmwolken, während ein Wesen, kaum ein Mann, mit seiner jungen Frau und zwei Kindern beim Essen saß. Plötzlich hallte ein schrecklicher Donnerschlag auf. Überall um sie herum zuckten Blitze. Blendendes Licht flammte vom Himmel, setzte die Bäume in Brand und entsetzte den Barbaren und seine Familie. Sie rannten hin und her und versuchten, dem Gewitter zu entkommen. Verwirrt und verängstigt lief der Mann in den Wald, versteckte sich in einem Graben, allein, und beobachtete, wie die Bäume ringsum in Flammen standen. Als der Regen kam und das Feuer erlosch, ging er zurück zu dem Lager, wo er seine Frau und die Kinder verlassen hatte. Es war, natürlich, nichts außer verkohlter Asche übriggeblieben. Niemals zuvor hatte der Mann eine solch verheerende Feuersbrunst erlebt. Ganz allein saß er in jener Nacht in
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seinem Elend da, weinte um seine verlorene Familie und fragte sich, was ein solches Geschehen verursacht hatte. Dann bildete sich ein zweiter Sturm. Der Mann hatte bereits das wenige verloren, was er besaß. Ein Blitz vom Himmel schlug vor seinen Füßen ein und bedrohte das einzige, was ihm noch verblieben war, sein Leben. Das war, entschied er, die Strafe dafür, daß er überlebt hatte. Instinktiv kniete dieser wilde Mann aus den Wäldern voller Furcht nieder, sein Verstand in einem halbchaotischen Zustand, den äußeres Unglück und innere Meditation hervorgerufen hatten, und flehte zu dem dunklen und bösen Schatten, der verantwortlich war für all das, was er mitgemacht hatte. »In diesem Augenblick, Kassler, wurde ich geboren.« »Ihre Mutter?« fragte Kassler. »Inspiration«, antwortete ich. »Wie die Gottes.« »Und Ihr Vater?« »Furcht«, antwortete ich. »Und deren Eltern?« spürte Kassler meinen Ahnen nach. »Das Unerklärliche, nehme ich an. Ich bin mir dessen nie sicher gewesen. Es versetzt mich nicht gerade in Begeisterung, zugeben zu müssen, daß ich eine Art Bastard bin - gezeugt, geboren, genährt und aufgezogen durch menschliche Einbildung, Torheit und Falschheit. Gott war das Ergebnis all dieser Minderwertigkeitsgefühle, mit denen ihr Tag und Nacht herumlauft. Ich erschien, als ihr alle zu der Überzeugung kamt, daß ihr nicht wirklich ein Teil der Natur wart, als ihr anfingt, Geschichten darüber zu erzählen, daß Lust, Rache, Bosheit und Eigennutz tatsächlich nicht eurem Herzen entsprangen, sondern euch von irgendeiner äußeren Kraft aufgezwungen wurden. Noch treffender - ich wurde empfangen durch euer Bemühen, die Grenzen eurer Natur zu überschreiten, indem ihr fragt: Wie kommt das alles? Wodurch ist die Welt entstanden? Welche Bedeutung hat alles? Ich bin das Kind menschlicher
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Spekulation, Kassler, der Inspiration. Ich komme mehr auf Mutter.« »Es ist eine inspirierende Geschichte«, kommentierte Kassler. »Ich hatte gehofft, daß sie Ihnen gefällt«, gab ich zurück. »Tatsache ist, Kassler, daß ich mich immer als den natürlichen Abkömmling der Menschheit, des Dualismus betrachtet habe der Schatten, den Gottes helle und freundliche Sonne wirft. Wissen Sie, mein Barbar bekam seine Familie zurück. Sie kamen am nächsten Tag aus der Höhle, in der sie Zuflucht gefunden hatten, und danach lebten alle glücklich und in Frieden. Nur daß ich von dieser Zeit an da war, der Böse Geist, das ewige Gegengewicht zu Gott, dem Guten Geist. Und so ist es geblieben, obwohl, wie ich schon sagte, die Dinge mit all den gespalteten Hufen, Hörnern, Heugabeln und feurigen Flammen jüngst ziemlich außer Kontrolle geraten sind.« »Und Ihre eigene Familie?« erinnerte mich Kassler. »Sie sagten, daß Sie verheiratet wären.« »Und ob«, gab ich zu. »Sie haben Kinder?« fragte Kassler. »Nun, wir haben schon beim letzten Mal darüber gesprochen, Kassler. Wie Sie fraglos wissen, wird berichtet, daß ich von Kain und Magier Merlin bis zu Papst Sylvester II. und Voltaire alle gezeugt habe, ganz zu schweigen von dem wiederkehrenden Gerücht, daß es auf meine Seitensprünge zurückzuführen ist, wenn alle Juden Hörner haben.« »Tatsächlich aber sind Sie kinderlos.« »Nein, das sind wir nicht. Dame Fortune und ich haben einen Sohn gehabt, aber ich möchte lieber nicht darüber sprechen, wenn Sie nichts dagegen haben. Wir kommen nicht so gut miteinander aus. Sie wissen, wie es ist, wenn die Kinder erwachsen werden und ihre eigenen Wege gehen. Sie werden immer alles viel besser machen als ihr alter Herr.« »Aha, aha«, kicherte Kassler unprofessionell, »so haben Sie also doch etwas geschaffen.« -5 6 0 -
»Sie sehen das falsch, Kassler. Das Werk ist gar nichts. Einfach nur Farbstoffe, Worte, Geigensaiten, Gestein überhaupt nichts. Ich bin kein Schöpfer. Und ich bin an der Schöpfung nicht interessiert. Ich bin das, was dazwischen liegt. Der wichtigste Teil von allem. Ich bin die Kraft der Schöpfung schrecklich, geheimnisvoll und immun dagegen, eingeschränkt, gelenkt oder auf Kommando herbeizitiert zu werden. Ich bin das, was es möglich macht, daß aus dem dunkelsten, leersten Nichts etwas Spektakuläres entsteht. Ich bin die Energie, die aus der Summe beträchtlich mehr macht, als die einzelnen Teile hergeben. Da Sie während der letzten sechs Sitzungen danach gefragt haben - das ist es, was ich tue. Ich bin das Geheimnis, unglücklicherweise in einem Zeitalter der Enthüllungen.« »Also...« Kassler kicherte in seinem Sessel noch immer vergnügt vor sich hin, »... Sie haben einen Sohn gehabt, und der hat sich gegen Sie gewandt.« »Ich weiß wirklich nicht, was Sie daran so amüsant finden, Kassler. Es ist wirklich nicht sehr lustig, das kann ich Ihnen versichern.« »Es tut mir leid, Sie haben recht. Ich weiß auch nicht, warum es mir so lustig vorkommt. Es ist einfach der Gedanke, welche Wege ein Jüngling einschlägt, wenn er es ablehnt...« Kassler konnte sich nicht länger beherrschen. Er bekam einen Lachanfall. »Sie müssen damit aufhören, Kassler.« Ich wurde langsam sehr gereizt. Kassler holte tief Luft, saß still in seinem Sessel und preßte die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu vermeiden. »Was hat er zu Ihnen gesagt?« Kassler nahm eine tiefe Stimme an und bemühte sich, ernsthaft zu sein. »Hat er Ihnen gesagt...« Kassler begann abermals, die Beherrschung zu verlieren. »Hat er gesagt...« Kassler fing laut an zu lachen. »Ist er zu Ihnen hingegangen und hat er gesagt...« Kassler stand auf, senkte das Kinn auf die Brust und sprach mit gespieltem Ernst: »›Daddy, dein Leben ist ein Fehlschlag gewesen. Es hat -5 6 1 -
keine Bedeutung gehabt. Du wirst es niemals verstehen.‹« Und aus irgendeinem Grund, den ich nie verstehen werde, ließ sich Kassler in seinen Sessel fallen und schüttelte sich vor Lachen aus. Er hielt sich die Seiten, warf die Beine in die Luft, brüllte, wedelte mit den Füßen, bis er sich, mehrere Minuten später, beruhigte, nicht völlig, aber doch so, daß er sprechen konnte. »Sie müssen mir sagen, wer er war«, sagte er immer noch lachend. »Sie müssen es mir einfach sagen.« »Mein Sohn ist Sam Zelazo, Kassler.« Kassler erstickte fast. Er hörte mit einer solchen Plötzlichkeit zu lachen auf, daß seine Lungen nicht wußten, was sie tun sollten, einatmen oder ausatmen. Minutenlang keuchte und würgte er, lief blau an und hielt sich an den Seitenlehnen des Sessels fest, um sich zu stützen. »Ich glaube es nicht«, brachte er schließlich hervor. »Das ist Ihre Sache.« »Aber Szlyck hat Sie gebaut.« Kassler sank im Sessel zusammen. »Um einem alten Gerücht über Sammael auf den Grund zugehen, das sich bestätigt hat. Er hatte immer das Gefühl gehabt, daß Sammy Zelazo bei dem selbstmörderischen Brautaustausch das bessere Ende für sich gehabt hatte.« »Es waren Sie und Zelazo...« »Die Ihr Leben verpfuscht haben? Absolut nicht. Ich weigere mich, für irgend etwas davon die Verantwortung zu übernehmen. Wenn es jemand war, dann war es Sammy.« »Und er sagt, daß Sie es waren«, beschuldigte Kassler mich. »Das paßt.« »Sie haben die Psychotherapie nie gewollt!« Es wurde Kassler unter dem Kragen ein wenig heiß. »Sie irren sich. Szlyck hat mich hierher geholt, aber ich hatte meine eigenen Pläne, und die liefen ganz bestimmt nicht darauf hinaus, mich in den Streit zwischen Leo Szlyck und meinem Sohn einzumischen, das steht fest.« -5 6 2 -
»Diese Behandlungs-Geschichte ist nichts als ein Vorwand.« Kassler stampfte umher. »Wozu? Was wollen Sie?« »Genau das, was ich gesagt habe, Kassler«, antwortete ich ihm. »Sammy hat mit dieser Psychotherapiesache soviel Aufhebens gemacht, so daß ich mich selbst davon überzeugen wollte, was vor sich ging. Die Psychotherapie gefällt mir wirklich irgendwie, obgleich sie mir verdammt große Sorgen bereitet, wenn Sie es wirklich wissen wollen. Sie verwandelt das Böse in Neurosen und tut das Verhalten der Menschen mit Trieben und Komplexen ab. Sie unterwandert meinen Thron, Kassler, und deshalb bin ich besorgt. Schlechtes Verhalten, selbstsüchtige Leute, bewußt destruktive und fahrlässige menschliche Wesen haben keine Bedeutung mehr. Sie sind alle zu BorderlinePersönlichkeitsstörungen und narzißtischen antisozialen charakterologischen Syndromen aufgrund von Kindheitstraumaten und schlechter Gehirnchemie geworden. Es schmerzt mich, es sagen zu müssen, aber ich bin in jüngster Zeit auf nicht mehr als eine sublimierte Manifestation unterdrückter unbewußter Triebe zurückgeführt worden. Ich weiß, daß dies alles aus der eurer Ansicht nach realistischen, wenn auch etwas pessimistischen Selbsteinschätzung als schuldbeladen und hoffnungslos entstanden ist, aber um die Wahrheit zu sagen, Kassler, die moderne Psychiatrie bringt mich aus dem Geschäft.« »Sie sind böse.« Kassler starrte finster auf mein Drahtgewirr. »Das Böse hat sein Zuhause im Herzen der Menschen«, erinnerte ich ihn. »Böser als der böseste Mensch kann ich nicht sein.« »Sie haben uns mit Furcht erfüllt.« Kassler tänzelte hin und her, als würden rings um ihn Blitze einschlagen, um ihn völlig in die Enge zu treiben. »Ah, ja«, erwiderte ich, »davon habe ich gehört. Ich verschlinge euch alle - die eßbaren Komplexe, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen. Die Furcht hat die Teufel des Menschen geschaffen. Und die Götter. Timor fecit deos. Also,
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Sie irren sich, Kassler. Ihre Vorstellung von mir, falsch wie sie ist, ist das Resultat einer Seele in Trümmern, nichts sonst.« »Ich bin mir nicht einmal sicher, daß Sie existieren«, sagte Kassler zu mir. »Ich existiere überall dort, wo auch ihr existiert«, erklärte ich ihm. »Ich fülle jede Ecke eures Herzens aus und weiß alles, was ihr fühlt und tut. Aber ich bin nicht böse. Habe ich Ihnen das nicht schon ein paarmal gesagt?« Kassler stolperte in seiner Not hin und her, einen Schritt hier, zwei Schritte dort, und versuchte, alles zusammenzubekommen. »Sie haben die ganze Zeit gewußt, was gespielt wird«, sagte er. »Sie hätten mich warnen können.« »Um dann verantwortlich dafür zu sein, wenn etwas nicht so gelaufen wäre, wie ich es gesagt hätte? Wenn ich Sammy falsch eingeschätzt, wenn Leo seine Meinung geändert, wenn es sich Lupa anders überlegt hätte? Nein. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, daß ich mich nicht einmischen werde, Kassler. Ich bin ein interessierter Beobachter. Es liegt alles an euch.« »Einen Streich haben Sie mir mit Sicherheit gespielt.« Kassler hüpfte weiter umher und hörte dem, was ich sagte, nicht mit sehr großer Aufmerksamkeit zu. »Jehoshaphat! Das habe ich nicht getan. Ich habe Ihnen das Leben gerettet, das habe ich getan. Und was haben Sie als Gegenleistung für mich getan? Haben Sie mich geheilt? Haben Sie herausgefunden, warum ich aus dem Himmel ausgestoßen wurde?« Kassler blieb plötzlich stehen und starrte auf das Durcheinander von Drähten, das meine Existenz war. Dann sprach er ganz langsam. »Sie wissen sehr gut, was ich als Gegenleistung getan habe«, sagte er. »Na ja, ich bin ein bißchen melancholisch geworden. Tolle Sache.« Kassler sagte nichts. -5 6 4 -
»In Ordnung«, räumte ich ein. »Sie haben Satan zum Weinen gebracht. Das gestehe ich Ihnen zu.« »Sie gestehen mir das zu! Ich habe Sie geheilt, das habe ich getan. Ich mag mit meinem Leben sonst nichts angefangen haben, aber ich habe Satan geheilt.« »Sie machen sich etwas vor, Kassler. Sie haben nichts dergleichen getan. Ich bin jetzt nicht anders als am Anfang.« »Das glauben Sie?« »Na schön, vielleicht nehme ich die Dinge ein bißchen leichter. Dazu mußte es ja kommen. Nach einer Weile gewöhnen wir uns alle.« »Nach ein paar tausend Jahren.« »Bei einigen dauert es länger als bei anderen.« »Sie sind zu mir voller Schmerz gekommen. Ich habe Ihnen Ihren Schmerz genommen, verdammt noch mal!« »Und haben mir dabei weh getan. Sie haben mich zum Weinen gebracht, Kassler. Sie haben mir Schmerz verursacht. Es war sehr unangenehm.« »Sie haben erwartet, daß es schmerzlos ist? Sie haben erwartet, etwas Wertvolles lernen zu können, ohne zu leiden?« »Ich habe mir nie viel aus Leiden gemacht. Das habe ich Ihnen schon gesagt. Wie noch jemand, den Sie kennen, habe ich eine sehr niedrige Schmerzschwelle. Außerdem kann ich nicht erkennen, daß ich viel gelernt haben soll. Ich weiß noch immer nicht, warum ich aus dem Himmel ausgestoßen worden bin. Was hat es mir also alles genutzt?« »Ich habe Ihnen schon gesagt, warum Sie aus dem Himmel geworfen wurden.« Kassler hörte auf, hin und her zu gehen, und blieb stehen. »Sie haben was?« »Ich habe es Ihnen schon gesagt. Nicht mit so vielen Worten, aber es sollte inzwischen offensichtlich sein. Warum all Ihre Zerknirschung? Die Traurigkeit? Die Wut darüber,
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mißverstanden und verleumdet zu werden? Die Frustration wegen einer Entstellung nach der anderen?« »Sie haben es mir nie gesagt«, beharrte ich. »Ich hatte nicht gedacht, daß Sie ein Diagramm brauchen.« »Beleidigen Sie mich nicht, Kassler. Sagen Sie es mir einfach. Und es war nicht, weil ich Gottes Thron wollte, wegen der Sünde des Stolzes, weil ich mich nicht vor Adam verbeugen wollte oder wegen irgendeiner anderen dieser zauberhaften Mythologien.« »Nein, darum war es nicht. Sie sind aus dem Himmel geworfen worden, weil Sie ein Autor sein wollten.« Es war, als würde ein Gong ertönen. Kassler fuhr fort. »Sie wollten Ihr eigenes Buch schreiben, alles aus Ihrer Sicht erklären, Ihre Geschichte erzählen.« Ich sagte nichts, während ich die Erkenntnis einsinken ließ. »Es war, natürlich, verboten«, sagte Kassler. »Er wollte nichts davon wissen.« Ich erinnerte mich endlich. »Es ist schwer, schweigen zu müssen«, stellte Kassler mit tödlicher Treffsicherheit fest. »Er hat zwei ganze Testamente. Und noch vieles nebenher. Und was habe ich? Nichts.« »Die bösen Gerüchte kamen auf, weil es nichts gab, wodurch sie korrigiert wurden«, bemerkte Kassler. »Ich will zugeben, daß es ein großartiges Gefühl war, Ihnen meine Geschichte erzählen zu können«, sagte ich freimütig. »Psychotherapie - die Leute erzählen ihre Geschichten«, sagte Kassler selbstgefällig. »Ich habe gehört, daß es, für einige, sehr hilfreich sein soll.« »Es kehrt jetzt alles wieder...« Ich entschied mich, Kassler seine Eitelkeit zuzugestehen, als die furchtbare Szene immer lebendiger wurde. »Das ist es, Kassler. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Schweinehund hat mich wegen meiner literarischen Ambition hier runter geworfen.« -5 6 6 -
2 Nachdem dies geschehen war, gab es mit dem armen Kassler, der das letzte Jahr beschaulich mit Lesen, angemessenen Gesprächen mit Lupa, wenn sie im Hause war, und meiner nun erfolgreichen psychotherapeutischen Behandlung verbracht hatte, nicht mehr viel zu tun. »Ich nehme an«, sagte ich, »daß Sie uns nun, da wir fertig sind, bald verlassen werden. Ich werde unseren kleinen Dialog vermissen, Kassler, um die Wahrheit zu sagen.« »Vielen Dank.« Kassler war nicht bereit, das Kompliment zurückzugeben, bis er Gelegenheit gehabt hatte, die Enthüllungen der letzten fünfundvierzig Minuten oder so weiter zu überdenken. »Was nun?« fragte ich. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Kassler, und stand auf, bereit zu gehen. »Nun, ich weiß nicht, ob es Ihnen helfen wird«, sagte ich, »aber wir hatten einen Handel abgeschlossen, wie Sie sich vielleicht erinnern. Als Gegenleistung für meine Behandlung hatte ich Ihnen die Große Antwort versprochen. Vielleicht sollten Sie sich wieder setzen.« »Das ist schon in Ordnung«, sagte Kassler, während er zur Treppe ging. »Ich weiß ja nicht einmal, wie die Große Frage lautet.« »Die Große Frage ist: Was ist das Leben? Ich denke, Sie sollten sich dafür setzen.« »Jesses.« Kassler zuckte die Achseln und ging zum Sessel zurück. Er spürte, daß etwas Unangenehmes auf ihn zukam, wollte aber auch nicht darauf verzichten, zu erfahren, was es war. -5 6 7 -
Er lehnte sich im Sessel zurück und blickte in die Dunkelheit vor sich. »In Ordnung«, sagte er mit wachsender Unruhe. »Was ist es also? Was ist das Leben?« »Das Leben ist die Hölle, Kassler.« »Sehr lustig«, sagte Kassler angewidert und stand auf, um abermals zu gehen. »Nein, Kassler, Sie haben es nicht richtig verstanden. Es gibt keinen Ausweg. Dies ist sie. Dies ist die Hölle.« Kassler wurde kalkweiß. »Ich habe Ihnen schon gesagt«, informierte ich ihn, »daß es keine Kessel, Flammen und schmorenden Sünder gibt, und das habe ich auch gemeint. Dies hier ist sie.« »Ich glaube es nicht«, krächzte Kassler. »Ich fürchte, es ist die Wahrheit. Ich hoffe, ich habe Sie nicht enttäuscht, Kassler. Also, es gibt keine Feuergruben und brodelnde Kessel, aber wer braucht die schon, nicht wahr? Mir scheint, wir machen es auch so ganz gut, meinen Sie nicht auch? Wie auch immer, Sie brauchen sich wirklich nicht darüber aufzuregen. Bis ich es Ihnen gesagt habe, ist Ihnen der Unterschied kaum aufgefallen.« Ich versuchte, Kassler zu trösten. »Bin ich tot?« fragte er. »Also, hier haben wir wieder, wie bei Sammys Wissenschaft, eine sehr komplexe Frage. Sagen wir einfach, daß Ihnen, basierend auf Ihren Erfahrungen während der letzten zehn Jahre oder so, eine authentische Existenz vorenthalten worden ist.« Kassler fuhr herum und stellte sich mir wütend gegenüber. »Ich meine, daß es nun langsam genug ist«, schäumte er. »Mir reicht es. Können Sie mir beweisen, daß dies die Hölle ist? Können Sie?« »Können Sie mir beweisen, daß ich geheilt bin?« fragte ich. »Kommen Sie, Kassler, bleiben Sie ernst. Nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, was gibt es da noch zu beweisen?« -5 6 8 -
»Ich billige Ihnen keine einzige Sache, die mir passiert ist, als Ihr Tun zu.« Kassler schäumte noch immer, wobei seine Augen hervortraten, wie, entschuldigen Sie den Ausdruck, bei einem Gehirn in der Schachtel. »Gut«, sagte ich, »denn das will ich auch gar nicht. So ist es nun mal in der Hölle - die Dinge passieren einfach.« »Den Teufel tun sie!« »Beim Teufel tun sie es!« »Ich allein habe es alles getan. Ich bin fünf Monate weggegangen und habe es mir genau überlegt. Ich bin es. Das ist es, was falsch war. Ich habe es getan. Ich übernehme die Verantwortung für alles. Es ist alles meine Schuld.« »Nun, es tut mir leid, Ihnen den Feiertag verregnen zu müssen, aber was genau ist Ihre Schuld?« fragte ich ein bißchen ungläubig, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. »Was Vita Ihnen angetan hat? Leos Telefonate? Daß Ihre Kinder Sie zurückweisen? Daß Lupa Sie verläßt? Daß Sie Ihren Titel und Ihre Zulassung wegen einer Jugendsünde, wegen eines trivialen Intermezzos mit dem Irrsinn verlieren? Vielleicht, daß Bernie sich umgebracht hat? Oder daß Sie wirklich alles, was Ihnen in der Welt etwas bedeutet, verloren haben? Das ist alles Ihre Schuld?« »Absolut«, beharrte Kassler auf seiner lächerlichen Position. »Ich akzeptiere die Verantwortung für alles davon.« »Ich bin enttäuscht von Ihnen, Kassler. Und ich bin sicher, Sam wird es auch sein.« »Ich will Ihnen noch etwas sagen.« Kassler ignorierte meinen Kommentar. »Es war nicht nur alles meine eigene verdammte Schuld, ich werde mich auch ändern. Ich gehe hier weg. Es ist mein Leben, und wenn ich ganz von neuem anfangen will, dann muß ich genau dies tun. Ich werde mir einen neuen Beruf suchen. Als Lehrer oder so etwas. Ich werde eine neue Frau finden. Eine nette, sensible, reizende, flachbrüstige Frau.« »Sie machen natürlich Witze.«
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»Den Teufel tue ich. Ich werde heiraten und noch mehr Kinder haben. Eine Familie gründen. Es wird wundervoll werden. Warten Sie es ab.« »Kommen Sie, Kassler, das reicht. Sie brechen mir das Herz. Akzeptieren Sie die Dinge als das, was sie sind, und gehen Sie mit ihnen um. Werden Sie erwachsen. Ist das nicht der springende Punkt bei Ihrem ganzen psychotherapeutischen Hokuspokus? Sie können die Welt nicht ändern - nur lernen, besser in ihr zu leben, so wie sie ist.« »Nein«, sagte Kassler mit weniger Überzeugung, als unter den Umständen zu erwarten gewesen wäre. »Nein was?« »Nein, das ist nicht der springende Punkt. Es muß nicht so sein.« »Aber es ist so, Kassler. Es ist so, weil niemand schuld daran hat. Niemand ist verantwortlich. Ihr Vater hatte ein schwaches Herz. Es war nichts daran zu ändern. Die arme Vita war ein Einzelkind. Intimität trieb sie die Wände hoch. Es war nichts daran zu ändern. Leo war verrückt. Er war ein Opfer seiner eigenen Besessenheit. Es war nichts daran zu ändern. Lupas Leben war von einem gewissen Stil abhängig. Sie kam aus bestem Hause. Kultivierte Prostitution war das kleinere Übel. Es war nichts daran zu ändern. Bernie war anders programmiert als die meisten Männer, und sein Selbstmord war außerdem ein Unfall. Es war nichts daran zu ändern. Ihre Kinder waren einfach Kinder, beeinflußt von dem, was um sie herum vorging, und taten ihr Bestes, um unter schwierigen Umständen zu überleben. Es war nichts daran zu ändern.« »Das kaufe ich Ihnen nicht ab.« »Ich wußte gar nicht, daß ich einen Laden aufgemacht hatte. Was verkaufe ich denn?« »Hilflosigkeit. Hoffnungslosigkeit.« »Realität, Kassler. Die Welt der Erwachsenen.« »Ich ziehe die Welt der Kinder vor.«
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»Wer tut das nicht? Keine Verantwortung. Keine moralischen Überlegungen. Was Sie vorziehen, ist die Unschuld, Kassler.« »Und wenn es so ist?« »Nun, Unschuld mag nicht so großartig sein, wie Sie denken. Ich brauche Sie doch wohl nicht daran zu erinnern, daß Vita unschuldig war. Manchmal korrumpiert zu sein, ist nicht so schlecht, sehen wir das ganz klar. Unschuld kommt in dieser Welt nicht so gut zurecht. Die Unschuld ist hier reserviert für Einfaltspinsel und die Jugend - Korruptheit Kennzeichen von Vernunft und Reife.« Kassler stand mit wachsendem Zorn vor mir. »Das akzeptiere ich nicht!« brüllte er. »Kommen Sie, Kassler, hören Sie auf damit. Wenn Sie in Ihrem katastrophalen Leben überhaupt etwas gelernt haben, dann doch wohl, daß Kontrolle nicht möglich ist. Seien Sie vernünftig.« »Wenn vernünftig zu sein das bedeutet, dann akzeptiere ich es ebenfalls nicht!« »Sie passen nicht auf, Kassler.« »Ich passe nicht auf! Glauben Sie, ich bin mir nicht bewußt, was in den letzten zehn Jahren mit meinem Leben passiert ist? Glauben Sie, ich habe nicht an jeder Wunde gelitten, bis ich dachte, daß ich es keine Sekunde mehr aushalten könnte?« »Das ist schwer zu beurteilen. Sie haben das alles mit solcher Bravour durchgezogen.« »Es kümmert mich nicht, was passiert ist. Ich will nicht leugnen, in mir ein Gefühl zu haben, daß ich dann und wann eine gewisse Wirkung auf mein Leben ausüben kann, auf andere Menschen, auf Ereignisse.« »Also, das ist verrückt.« »Wenn es das ist, dann ist verrückt zu sein vielleicht gar nicht so schlecht - besonders dann nicht, wenn die Alternative dazu ist, wie ein gefangener Fisch zappelnd und nach Luft schnappend an der Leine eines logischen Anglers zu leben, der, wie man mir sagte, so eine Art an sich hat, mit der scharfen -5 7 1 -
Seite der Wahrheit, der letzten rasierklingendünnen Linie vor der Lüge, die Herzen seiner Widersacher herauszuschneiden.« »Da Sie heute nicht in Einkaufslaune sind, würde ich von dem, was Sam zu sagen hat, nicht allzuviel für bare Münze nehmen. Wie Sie zweifellos inzwischen festgestellt haben werden, hat Sam so eine Art an sich, die Ockhams Klinge aus dem Geschäft bringt.« »Sam Zelazo hat eine Art an sich, die die ganze Welt aus dem Geschäft bringen würde, wenn er könnte. Ihn kümmert nichts. Wissenschaft ist Wissenschaft. Gehirne sind Gehirne. Körper sind Körper. Nichts hat Folgen für irgend etwas anderes.« »Was für Folgen? Sie glauben, er nimmt seine Gehirne auseinander und findet den ganzen Liebesschmus? Sie glauben, er setzt die Wildheit des Neurons frei und eines Tages werfen sich Kriegstreiber gegenseitig die synaptischen Bomben auf die Köpfe?« »Ich würde es ihm zutrauen. Ich würde es euch beiden zutrauen. Ihnen würde es wunderbar gefallen, wenn ich ganz einfach akzeptieren würde, daß meine letzten zehn Jahre nichts anderes waren als die Konsequenzen des Umgangs mit einer Schlange, einem Schurken, einem Schwulen, einer Maschine, einer Hure und einer Sammlung von Verrückten, die sich nicht selbst helfen konnten.« »Sie sollten nicht so hart über jeden urteilen, Kassler. Es gab, wie ich schon sagte, mildernde Umstände.« »Dieser ganze beschissene Ort ist ein mildernder Umstand. Dies ist das Königreich der mildernden Umstände.« »Die Hölle hat ihre Qualitäten, das ist wahr.« »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, es kümmert mich keinen Deut, ob Szlyck von seinen Eltern mißbraucht wurde oder wie fehlerhaft Vitas Gehirnchemie ist.« »Schämen Sie sich, solche untherapeutischen Gedanken zu haben. Es ist kein Wunder, daß man Ihnen Ihre Couch weggenommen hat.« -5 7 2 -
»Ich kann für mein Leben nicht verstehen, wieso ich es hingenommen habe.« »Gute Frage. Ich glaube, ich habe eine Antwort für Sie. Sie haben sich eine Prämisse gekauft und sind ein hochangesehenes Mitglied in einem neuen Club geworden, der auf der psychiatrischen Behauptung gegründet wurde, daß niemand, der böse ist, wirklich böse sein will.« »Was für eine Prämisse?« »Bösartigkeit ist bedeutungslos. Es liegt immer an etwas anderem.« »Ich hätte zurückschlagen sollen?« »Zu welchem Zweck? Glauben Sie auch nur eine Sekunde, daß ein Kampf gegen Vita, Leo, Zelazo, Lupa oder Ihre Kinder zu etwas anderem geführt hätte als zu einer Verschlimmerung der Dinge?« Kassler blickte verwirrt um sich und versuchte, eine Antwort zu finden, als ob diese auf einem Plakat an der Souterrainwand stehen würde. »Ich bin nicht hilflos. Das kaufe ich Ihnen nicht ab.« Kassler fuhr fort, die Umgebung abzusuchen. »Und ich habe Ihnen gesagt, daß ich nicht im Geschäft bin. Ich verkaufe nichts. Was ist, ist. Es ist Ihr Leben. Sie haben erlebt, was Sie erlebt haben. Wenn die Lektion, die Sie bei all dem gelernt haben, was Ihnen widerfahren ist, so aussieht, daß Sie Kontrolle über die Dinge ausüben, dann haben sie mein tiefstes Mitgefühl, denn ich kann dies nur als schwere Lernstörung betrachten.« Kassler setzte seine Suche fort, bis seine Blicke das trafen, was ihm seine explodierende Psyche als Lösung seines Problems anbot. Es war eine große rote Kanne, die bis zum Rand mit Benzin gefüllt war - Leos Rückversicherung für eine Reihe von Komplotten, die glücklicherweise gescheitert waren. »Ich will Ihnen sagen, was ich gelernt habe«, erklärte Kassler gehässig, während er den schweren Behälter zu sich heranzog und anfing, die Kappe zu öffnen. »Ich habe gelernt, daß ich -5 7 3 -
trotz allem, obwohl ich weiß, was ich jetzt weiß - und das ist verdammt mehr, als ich vor zehn Jahren wußte -, noch immer Hoffnung habe.« Die Kappe löste sich mit einem kratzenden Metallgeräusch, und die zischende Luft entwich der Kanne wie ein Seufzer. »Ich glaube es nicht. Sie können doch nicht wirklich...« »Ich habe gelernt«, sagte Kassler und begann, das Benzin über die Explosivstoffe zu schütten, die Leo an mir befestigt hatte, »daß ich einen Scheiß für die Probleme anderer Leute gebe, wenn sie sie als Entschuldigung dafür benutzen, daß sie mein Leben verpfuschen. Wenn sie nicht anders können, dann sollen sie sich helfen lassen und so lange von anderen wegbleiben, bis sie sich selbst kontrollieren können.« »Wie ich an der Art und Weise erkenne, in der Sie die Kanne Benzin über mir leeren, geht meine Therapie offenbar zu Ende.« »Ich habe gelernt...«, Kassler ignorierte meinen Kommentar und fuhr fort, die Kanne zu leeren, wobei er sich jetzt rückwärts gehend zur Treppe zurückzog, die aus dem Keller führte, »... daß alles wunderbar gehen wird. Ich übernehme die Kontrolle über mein Leben.« »Hervorragende Idee, Kassler. Tun Sie es! Hört sich großartig an. Was halten Sie also davon, wenn wir das Feuerwerk auslassen? Was soll es bezwecken? Ich bin sicher, daß alles ganz blendend sein wird.« »Darauf können Sie wetten«, sagte Kassler mit großer Überzeugung. »Ich mache, daß ich hier wegkomme. Ich verlasse dieses Höllenloch.« »Gut für Sie«, ermutigte ich Kassler. »Wenn Sie es ganz genau betrachten, dann ist die Hölle verdammt wenig wert. Obgleich ich sagen muß, daß ab und zu irgend so ein armes Schwein wie Sie vorbeikommt und die Dinge interessant werden.« Kassler hörte kein Wort.
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»Ich gehe dorthin, wo es sonnig ist«, sagte er. »Da gehe ich hin und fange ganz von vorne an, irgendwo, wo es schön und gesund ist. Irgendwo dort draußen ist diese warmherzige und liebliche Frau, die mich liebt, und ich werde sie lieben und alles wird einfach und schön und unkompliziert sein. Wir werden lange Spaziergänge im Wald machen und im Sommer am Strand liegen und zu Konzerten und ins Theater gehen und uns phantastisch lieben. Mein Leben wird absolut sensationell werden.« »Ich zweifle nicht daran. Also, was halten Sie davon, wenn wir unsere Sitzungen auf die altmodische, psychoanalytische Art und Weise beenden? Sie erzählen mir, welche Fortschritte ich gemacht habe und sagen auf Wiedersehen. Ich erzähle Ihnen, wie dankbar ich bin und wie sehr ich Sie vermissen werde. Sie wissen, wie das geht, ganz sicher. Was Sie da machen, ist definitiv untherapeutisch, finden Sie nicht auch? Freud wäre gar nicht erfreut. Außerdem, ich bin Einsteins Maschine. Wie ich schon einmal zu Leo sagte, wissen Sie nicht, in was Sie hineingeraten, wenn Sie mich hochjagen. Die Hölle könnte losbrechen.« Kassler erreichte mit seiner Blechkanne die oberste Treppenstufe und ging rückwärts ins Schlafzimmer, wo er passenderweise den Rest des Behälters über dem Ehebett ausschüttete, das er zuerst mit Vita und dann mit Lupa geteilt hatte. »Ich gehe das Risiko ein, ich gehe das verdammte Risiko ein!« Das waren die letzten Worte, die mir Kassler zurückschleuderte. Dann packte Kassler soviel von seinen persönlichen Besitztümern, wie hineinpaßten, in einen großen Rucksack, legte bis zur Vordertür eine Spur von Zeitungen aus, zündete sie an einer Ecke mit einem Streichholz an, machte die Tür fest zu und eilte in schnellem Schrittempo durch Citadel, bis er den höchsten Punkt der Senke erreicht hatte, in dem die Traumstadt der urbanen Planer lag. -5 7 5 -
Von seiner Position aus konnte er den dichten schwarzen Rauch sehen, der in die Luft über der Stadt emporstieg. Während er weiter beobachtete, änderte der Rauch seine Farbe. Er wurde gelb, dann orange und schließlich rot. Kassler wußte, daß die Feuersbrunst das Souterrain von Szlycks Bolge noch nicht erreicht hatte. Zehn Minuten lang sah er zu, wie die Flammen in den Himmel schössen, und wartete auf das Ereignis. Dann war da plötzlich ein gewaltiges Leuchten, heller als alles, was Kassler jemals gesehen hatte, heller als eine Million Blitzlichter, als die Sonne am Scheitelpunkt, als das Schneiden eines Laserstrahls. Ein Laut war da, zuerst rollend und dröhnend, dann krachend wie beim scharfen Widerhall eines Gewitters, und ganz Citadel wurde von einem weißglühenden Licht illuminiert, als ein riesenhafter Flammenpilz den Himmel mit seiner phallischen Form ausfüllte. Kassler lächelte, nickte triumphierend und schritt den schönen und gesunden Bergen entgegen, um es diesmal richtig zu machen.
3 Als ob es so einfach wäre, mich loszuwerden. Glücklicherweise fahren die Neurowissenschaftler fort, sich kräftig zu vermehren, und die Zauberer der Computerwissenschaft dringen immer weiter vor. Wenn Kasslers flammender Abschied auch dafür gesorgt hat, mich sozusagen in Rauch auffahren zu lassen und mich wo auch immer zu zerstreuen, habe ich doch keinen Zweifel daran, daß mich die unaufhörliche Vigilanz der Forschung in kürzester Zeit zurückholen wird. In der Zwischenzeit muß die Psychiatrie ausreichen. Natürlich bewirkte diese letzte Episode, wie man erwarten durfte, so etwas wie ein Ende meiner Beziehung zu Lupa. -5 7 6 -
Lupa kehrte in der nächsten Woche zurück und fand an der Stelle, die einst das Heim ihres liebsten elektronischen Geräts gewesen war, einen sehr tiefen vertikalen Tunnel vor. Wenn nicht die großartige Arbeit der Feuerwehr von Citadel gewesen wäre, der es gelang, Kasslers Feuersbrunst auf einen Häuserblock zu beschränken, ohne daß ein einziges Menschenleben gefordert wurde, hätte es vielleicht eine größere Grube gegeben. Lupa kniete sich auf den Boden, starrte in das riesige Loch und rief unter bitteren Tränen meinen Namen. Als sich ihre wiederholten Rufe in die Grube als nutzlos erwiesen, begann sie das ganze Ausmaß ihres Verlusts zu begreifen und rief mit ebensolchem Schmerz andere Namen - Dior, Gucci und Saks, unter anderem. Es war eine herzzerreißende Darbietung allergrößten Grams. Dann erhob sie sich mit einem klagenden Seufzer, riß sich zusammen und begab sich mit großer Tapferkeit über den Fluß, um auf Kosten der Prudential Versicherungsgesellschaft, der das Mißgeschick unterlaufen war, vor langer Zeit einen jungen energischen Verkaufsrepräsentanten zu Professor Leo Szlyck zu schicken, die Agonie auf sich zu nehmen, eine umfangreiche Garderobe zu erwerben. Und Kassler - was kann ich sagen? Er lebt jetzt dort, wo es sonnig ist, und macht es richtig. Ich kann den wahnsinnigen Standpunkt, auf dem er beharrt, beim besten Willen nicht begreifen. Es ist so, als ob er aus seinem Leben oder unserer Begegnung nichts gelernt hat, obwohl eins von beidem, so erscheint es mir, ausgereicht haben sollte, ihn von der Sinnlosigkeit des Ganzen zu überzeugen. Aber da ist er, ganz so, als ob sich nichts davon jemals ereignet hätte, in der Erwartung, daß er Dinge ändern kann, in dem Glauben, daß er eine Rolle spielt, mit der Überzeugung, daß alles gut gehen wird.
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Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung - ich verstehe es nicht. Was ist das nur mit euch allen? Es reicht aus, um einen vernünftig Denkenden in den Wahnsinn zu treiben, wenn Sie mich fragen. Nichtsdestoweniger muß ich ganz freimütig zugeben, daß Kasslers Behandlung sehr hilfreich war. Ich fühle mich viel besser. Sammy und ich, wir haben uns versöhnt, mehr oder weniger, und sein Beitrag zu diesem Werk ist nicht unbeträchtlich, wie ich Ihnen versichern kann. Aber fair muß fair bleiben. Das größte Verdienst daran hat Sy Kassler aufgrund seiner brillanten Erkenntnis, daß mein chronischer Kummer unmittelbar in der Geschichte begründet war, die ich niemals erzählen konnte. Hier ist sie also. Meine Geschichte. So wie sie wirklich ist. Alles herauszubringen, hat länger gedauert, als ich erwartet hatte - Sie wissen, wie das mit Verlegern so ist. Ihre Wege sind seltsam. Sehr schwer zufriedenzustellen. Aber die Erfahrung ist, wie Sie gewiß erfreut zur Kenntnis nehmen, nicht umsonst gewesen. Ich arbeite jetzt an einem zweiten Buch: Satans Redakteur. Es gibt wirklich nicht mehr viel zu sagen. Wenn ich mich klar ausgedrückt habe, sollten Sie inzwischen wissen, wie die Hölle arbeitet. Ich habe versucht, die Dinge deutlich darzulegen. Ich bin der Widersacher. Das ist alles. Das Böse ist nicht mein Geschäft. Ich will damit nichts zu tun haben. Die Menschen kommen in die Hölle, weil sie es gerne tun. Mildernde Umstände sind hier unten ganz groß. Und damit hat es sich. Wie ich schon sagte, weiß ich ganz einfach nicht, was ich mit Kasslers erneuter Suche nach der Poesie anfangen soll. Ich habe die Absicht, Sam danach zu fragen, welche Nervenfasern und Überträgerstoffe dafür verantwortlich sind - bevor mir auch noch dafür die Schuld angelastet wird. In der Zwischenzeit hoffe ich, jetzt, da meine Geschichte erzählt ist, daß alle diese lächerlichen Hirngespinste über mich endlich beerdigt sind - all diese Sachen mit dem Bösen und der scharfen Seite der Wahrheit. Glauben Sie mir, ich bin -5 7 8 -
ebensowenig ein quintessentielles EntropieDemonstrationsgerät, wie ich, entschuldigen Sie den Ausdruck, der Fürst der Lügen bin. Q.E.D.
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