Judith Lennox
Das Herz der Nacht Roman
Aus dem Englischen von Mechtild Sandberg
München und Zürich
Mehr über unsere...
32 downloads
851 Views
128KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Judith Lennox
Das Herz der Nacht Roman
Aus dem Englischen von Mechtild Sandberg
München und Zürich
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.pendo.de
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »The Heart of the Night« bei Headline Review in London.
Von Judith Lennox liegen auf Deutsch außerdem vor: Das Winterhaus Tildas Geheimnis Picknick im Schatten Am Strand von Deauville Die geheimen Jahre Serafinas später Sieg Der Garten von Schloß Marigny Bis der Tag sich neigt Die Mädchen mit den dunklen Augen Zeit der Freundschaft Das Erbe des Vaters Alle meine Schwestern Der einzige Brief Das Haus in den Wolken
ISBN 978-3-86612-244-4
© Judith Lennox 2009 © der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2009 Satz: Uhl+ Massopust, Aalen Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
1 Kay Garland begegnete Miranda Denisov zum ersten Mal in einem Haus in der Charles Street in Mayfair. Miranda war beeindruckend schön, mit breiter Stirn, hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Das schwarze Haar fiel seitlich gescheitelt in schimmernden Wellen auf ihre Schultern herab, und die glänzenden dunklen Augen bildeten einen aufregenden Kontrast zur magnolienweißen Haut. Sie sah älter aus als sechzehn. Und obwohl Kay, die hauptsächlich Selbstgeschneidertes trug und nur wenige, von ihrer Mutter geerbte Schmuckstücke besaß, von solchen Dingen wenig Ahnung hatte, sah sie sofort, dass Mirandas Kleid bei aller Schlichtheit hochelegant und teuer war. Miranda war höflich und liebenswürdig, wenn auch etwas distanziert. Es war Kays zweiter Besuch in dem Haus in der Charles Street. Sie hatte sich um die Stellung einer Gesellschafterin für Miss Denisov beworben, nachdem sie die Anzeige in der Times gelesen hatte. Ihr Freund Brian, der in einem Antiquariat in der Charing Cross Road arbeitete, hatte sie darauf aufmerksam gemacht. »Geschäftsmann sucht kultivierte und gebildete junge Frau, Engländerin, zwischen 18 und 20 Jahren als Gesellschafterin für seine Tochter. Muss bereit sein zu reisen.« Kay war nie weiter als bis zur Isle of Wight gekommen. Sie wollte reisen. Sie war ganz versessen darauf zu reisen. Das erste Gespräch mit ihr hatte Mrs Ingram geführt, die Haushälterin der Familie Denisov, eine freundliche Frau aus Yorkshire. Das Verhör war gründlich und direkt. Miss Garland sei also achtzehn Jahre alt, richtig? Was für eine Erzie9
hung sie genossen, welche Schulen sie besucht habe? Ob sie bei guter Gesundheit sei? Ob es in ihrer Familie Fälle von Tuberkulose gebe? Miss Denisovs Mutter, eine Engländerin, war, wie Mrs Ingram erklärte, an Tuberkulose gestorben. Danach hatte Mrs Ingram Kay erläutert, welche Pflichten und Aufgaben sie erwarteten, sollte ihr der Posten als Miss Denisovs Gesellschafterin anvertraut werden. Sie werde Miss Denisov zu all ihren Unterrichtsstunden und Verabredungen sowie auf ihren Reisen begleiten. Bei Abendveranstaltungen, seien es Bälle oder Bankette, sei ihre Teilnahme nicht erforderlich, bei solchen Anlässen werde Miss Denisov von ihrer Tante, Madame Lambert, betreut. Mr Denisov lege aber großen Wert darauf, dass die neue Gesellschafterin seiner Tochter helfe, ihre englischen Sprachkenntnisse zu verbessern – ein, zwei Stunden Unterricht jeden Morgen sollten genügen. Eine Woche später war Kay zu einem zweiten Besuch geladen worden, bei dem sie nun Miranda Denisov kennenlernen sollte. Drei Bewerberinnen waren in die engere Wahl gekommen, wie Mrs Ingram ihr mitteilte, als sie sie in den Salon führte. Das Zimmer, in dem Miranda Denisov wartete, war prachtvoll ausgestattet. Die Sofas und Sessel hatten geschwungene Rücken- und Armlehnen, deren rotbraunes Holz zu einem warmen, weichen Glanz poliert war. Schwere Vorhänge aus blau-goldenem Damast umrahmten, seitlich gerafft, die hohen Flügelfenster. Ölgemälde schmückten die Wände, und den ganzen Boden bedeckte ein edler Orientteppich. Auf einem der Sofas saß eine Frau mittleren Alters in lila Chiffon, die Kay als Madame Lambert vorgestellt wurde. Nach dieser ersten Formalität wurden einige freundliche Floskeln ausgetauscht, bevor Madame Lambert Kay mit scharfem Blick musterte und sagte: »Sie sehen sehr jung aus, wenn ich das einmal sagen darf, Mademoiselle Garland.« »Aber natürlich ist sie jung, Tante Sonya«, warf Miranda ein wenig ungeduldig ein. »Meinst du, ich will eine alte Schar10
teke als Gesellschafterin? Da hätte mir Papa ja gleich die nächste Hauslehrerin engagieren können.« Miranda wandte sich Kay zu und lächelte zum ersten Mal. »Erzählen Sie mir etwas von sich, Miss Garland. Wo wohnen Sie?« »In Pimlico, bei meiner Tante.« »Sie haben eine feste Anstellung, nicht wahr? Mrs Ingram hat es mir erzählt. Gefällt Ihnen die Arbeit nicht?« Kay war zurzeit als Erzieherin bei einer Mrs Harrison angestellt, die vier Kinder hatte. Mrs Harrison hielt nichts von der allgemeinen Schulpflicht; ihrer Meinung nach sollten Kinder nur das lernen, was sie lernen wollten. Kays Bemühungen, bei Storme, Syrie, Lionel und Orlando den Wunsch zu wecken, etwas über die Rosenkriege oder komplexe Brüche in Erfahrung zu bringen, liefen meist völlig ins Leere. »Nicht besonders«, bekannte sie. »Ich würde sehr gern etwas anderes machen.« »Was tun Sie denn gern? Was macht Ihnen Spaß?« »Liebste Miranda –« Miranda beachtete den Einwurf ihrer Tante nicht. »Verraten Sie es mir, Miss Garland.« »Also, ich spiele gern Tennis, und besonders gern fahre ich Rad.« »Fahrradfahren! Oh, ich würde so gern einmal Fahrrad fahren. Aber Papa erlaubt es nicht – er sagt, das gehört sich nicht für eine junge Dame.« Unmöglich, dachte Kay, sich Miranda Denisov mit ihrem makellos frisierten Haar und ihrem Plisseerock aus cremefarbenem Wollstoff auf einem Fahrrad vorzustellen, wie sie mit Karacho durch Pfützen sauste, was Kay selbst mit größtem Vergnügen tat. »Außerdem«, fuhr Kay fort, »gehe ich wahnsinnig gern ins Kino und ins Theater – und ich lese mit Leidenschaft, ich kann stundenlang in antiquarischen Buchhandlungen herumstöbern, geht Ihnen das auch so? Ach, und am schönsten finde ich es, einfach zu reden – Sie wissen schon, was ich 11
meine, diese endlosen Diskussionen, die sich bis in die Nacht hineinziehen. Etwas Interessanteres gibt es kaum, finden Sie nicht auch?« Schweigen. Kay begann, leicht nervös zu werden. Beantworte ihre Fragen kurz und freundlich, hatte ihre Tante Dot geraten, als sie sich am vergangenen Abend über das bevorstehende Vorstellungsgespräch unterhalten hatten. Da war wohl wieder einmal ihr Mundwerk mit ihr durchgegangen. Dann sagte Miranda: »Ich glaube, wir werden uns gut verstehen, Miss Garland, was meinen Sie?« »Heißt das, dass ich die Stellung habe?«, fragte Kay freudig erregt. »Richtig.« Sonya Lambert runzelte die Stirn. »Aber Miranda, chérie, dein Vater…« »Miss Garland wird Papa bestimmt gefallen, Tante Sonya.« Miranda tat die Bedenken ihrer Tante mit einem Fingerschnippen ab. »Und die anderen waren so fad.« Das Lächeln, mit dem sie Kay ansah, war beinahe verschwörerisch. »Ja, ich denke, wir werden uns glänzend verstehen.« Es regnete immer noch, als Kay wenig später das Haus der Denisovs verließ und aufgeregt nach Hause fuhr, um ihrer Tante die frohe Botschaft zu überbringen. Kays Tante Dot war die Briefkastentante einer Frauenzeitschrift, wo sie unter dem Pseudonym »Cousine Freda« die Leserzuschriften beantwortete. Viele der Frauen, die ihr schrieben, hatten den Verlobten oder den Ehemann im Großen Krieg verloren. Manche waren arm und einsam. Als Kay noch jünger war, las Dot ihr manchmal die Briefe vor, und Kay empfahl ohne Rücksicht auf das jeweilige brennende Problem unweigerlich die Anschaffung eines Hundes. Sie selbst wünschte sich seit Jahren einen Hund, konnte aber keinen haben, weil das arme Tier den ganzen Tag allein im Haus gewesen wäre. Meistens schrieb Dot den Ratsuchenden zu12
rück, die Arbeit sei eine große Wohltat für eine gequälte Seele, Zuneigung und Gemeinschaft ließen sich in Freundschaft finden. War sie mit dem Schreiben fertig, nahm sie für gewöhnlich ihre Brille ab, putzte die Gläser und sagte seufzend: »Das arme Ding. Einsamkeit ist etwas Schreckliches, Kay.« Dot war unverheiratet geblieben, aber sie hatte, dem Rat getreu, den sie anderen so gern gab, einen großen Freundeskreis. Die Abendessen in Pimlico, bei denen manchmal bis zu zwölf Personen um den kleinen Esstisch saßen, waren immer lebendig und anregend. Dots Freunde kamen aus allen Generationen und aller Herren Länder: Kollegen von der Zeitschrift und Leute aus verschiedenen Vereinen, deren Arbeit für den Pazifismus, Sozialismus und den Völkerbund sie unterstützte; Maler, Romanautoren und Lyriker, von denen viele in Armut lebten; es gab den österreichischen Therapeuten, den italienischen Restaurantbesitzer, die französische Familie aus Etaples, wo Dot im Krieg als Pflegerin im Lazarett gearbeitet hatte. Die Familie hatte sich Anfang der Zwanzigerjahre in London niedergelassen und eine kleine Privatschule eröffnet, an der die Schüler montags, mittwochs und freitags nur Französisch sprechen durften. Als Kay mit zwölf die Schule abschloss, sprach sie die Sprache fließend. Neben alten Freunden konnte gut auch eine Frau mit am Tisch sitzen, mit der Dot beim Einkaufen ins Gespräch gekommen war, oder ein junges Mädchen, das Kay im Bus kennengelernt hatte. Zu den Abendessen bei Dot fanden sich alle ein. In den Tagen nach Kays Vorstellungsgespräch wurde fieberhaft gewaschen, genäht und gepackt. Miranda, hatte Mrs Ingram der aufgeregten Kay erklärt, werde mit ihrer Tante und dem gesamten Hauspersonal in der folgenden Woche nach Paris abreisen. Mr Denisov, der sich bereits dort aufhielt, erwartete die Ankunft seiner Tochter, sobald die Frage der Gesellschafterin für Miranda geklärt war. Es sei nicht damit zu rechnen, hatte Mrs Ingram hinzugefügt, dass man bald nach London zurückkehren werde. 13
Es war April, kalt und windig in London, aber in Frankreich war vielleicht schon Frühling. Kay packte Baumwollkleider, einen leichten Regenmantel, kurze Hosen, einen Schwimmanzug und eine Bademütze ein. Dot schneiderte ihr auf ihrer Nähmaschine ein Abendkleid. Ein eleganter Hut musste aufgetrieben werden für den Fall, dass die Denisovs Kay mit zur Kirche nehmen wollten, Strümpfe und Handschuhe mussten gestopft werden. Als Kay Mrs Harrison kündigte, kostete es sie Mühe, ein glückliches Lächeln zu unterdrücken, aber als sie sich einige Tage später von ihrer Tante verabschiedete, um ihren Posten bei den Denisovs anzutreten, wurde ihr doch ein wenig flau, und sie umarmte Dot mit aller Kraft. Bei ihrer Ankunft in dem eleganten Haus in Mayfair musste sie sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie jetzt wirklich hierhergehörte. Ihr Zimmer im zweiten Stockwerk hatte eine Tapete mit Zweigmuster und war mit einem Bett, einem Kleiderschrank, einer Kommode und einem Waschtisch ausgestattet. Kay packte aus. Ihre Sachen wirkten recht verloren in dem großen Schrank. Es klopfte. Miranda trat ein. »Ah, da sind Sie ja«, rief sie erfreut, küsste Kay auf beide Wangen und sah sich neugierig um. »Na, das ist aber eine armselige kleine Kammer. Unser Pariser Haus ist viel schöner, Sie werden sehen.« »Mir gefällt das Zimmer.« »Man kann von hier aus wahrscheinlich in den Garten sehen.« Miranda trat zum Fenster und blickte in den gepflasterten Innenhof mit den gestutzten Buchsbäumen hinunter. Sie wandte sich wieder Kay zu. »Ich freue mich so, dass Sie hier sind. Papa wollte eine Hauslehrerin für mich engagieren, aber das habe ich mir nicht gefallen lassen. Ich bin viel zu alt für eine Hauslehrerin. Die letzte, die ich hatte, war ständig erkältet und hat beim Sprechen ununterbrochen geschnieft.« Kay lachte. »Da werden Sie mit mir vielleicht ein bisschen mehr Glück haben. Ich schniefe normalerweise nicht.« 14
»Und die, die vor Mademoiselle Fournier da war, hat mir jedes Mal mit dem Lineal eins auf die Finger gegeben, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Manchmal hat es sogar geblutet.« »Ich verspreche, dass ich Ihnen nie eins auf die Finger geben werde. Ich halte nichts von körperlicher Züchtigung. So wenig wie meine Tante Dot.« »Dot? Das ist ja ein lustiger Name.« »Es ist die Abkürzung von Dorothy. Meine Tante Dot hat mich nach dem Tod meiner Mutter großgezogen. Sie war ihre jüngere Schwester. Mein Vater ist schon vor meiner Geburt im Krieg gefallen, wissen Sie.« »Und wann ist Ihre Mutter gestorben?« »Als ich drei war«, antwortete Kay. »Hm, da hatte ich meine Mutter immerhin sechs Jahre länger. Haben Sie noch Erinnerungen?« »Kaum. Sie hatte helles Haar wie ich. Wir haben damals in Hampshire gewohnt. Wir hatten Apfelbäume im Garten. Ich kann mich erinnern, dass ich auf der Wiese lag, zu den Blüten hinaufschaute und fand, sie sähen aus wie Schnee. Wie war Ihre Mutter?« »Sie war sehr schön. Möchten Sie eine Fotografie von ihr sehen, Miss Garland?« »Bitte nennen Sie mich doch Kay. Ja, ich würde gern eine Fotografie sehen.« Miranda nahm sie mit in ihr Zimmer. Der große, luftige Raum hatte zwei hohe Schiebefenster mit rosaroten Vorhängen, die mit dem tiefen Blauviolett der Wände kontrastierten. Mit roséfarbenem Samt bezogene Sessel standen locker gruppiert im Raum verteilt, auf der Kommode und am Fußende des Betts hockten unzählige Puppen. Es waren teure, altmodische Puppen mit Wachs- oder Porzellangesichtern, in Gewänder aus Seide und Spitzen gekleidet. »Sie haben meiner Mutter gehört«, erklärte Miranda. »Sie hat sie als kleines Mädchen gesammelt. Manche von ihnen 15
sind sehr alt. Gefallen sie Ihnen? Manchmal mag ich sie, und manchmal finde ich sie abscheulich.« Sie griff nach einer Puppe mit einem roten Umhang und einem roten Mützchen. »Raten Sie mal, wer das ist.« »Rotkäppchen, oder?« »Manchmal, ja.« Miranda lächelte. »Aber manchmal…« Mit einer schnellen Handbewegung drehte sie den Kopf der Puppe, und statt des Kleinmädchengesichts zeigten sich jetzt die runzligen Züge eines alten Weibs. Noch eine Drehung, und eine dritte Maske erschien, eine Wolfsfratze mit roten Augen und gefletschten Zähnen. »Als ich klein war«, erzählte Miranda, »hatte ich immer Angst vor dieser Puppe. Ich dachte, der Wolf könnte in der Nacht lebendig werden und mich fressen. Gott, wie kindisch.« Sie setzte die Puppe wieder auf die Kommode und reichte Kay ein gerahmtes Foto. »Das ist meine Mutter. War sie nicht eine schöne Frau?« »Ja, sehr schön.« Kay betrachtete das versonnene Gesicht mit den dunklen Augen. »Sie fehlt Ihnen sicher schrecklich.« »Ich habe sie nicht allzu oft gesehen. Maman kränkelte immer. Die meiste Zeit war sie weg, zur Kur oder in einem Sanatorium.« »Und Ihr Vater? Er ist doch zurzeit in Paris, nicht wahr?« »Ja. Sie werden ihn bald kennenlernen.« »Begleiten Sie ihn auf allen seinen Reisen?« »Nicht nur ich, die ganze Mannschaft. Papa ist da sehr eigen.« Miranda stellte das Foto wieder weg. »Ich bin so froh, dass ich endlich jemanden habe, mit dem ich reden kann. Tante Sonya jammert immer nur. Ach, ich hoffe, wir werden richtig gute Freundinnen.« Mirandas Blick war ein wenig ängstlich, bemerkte Kay. »Ganz sicher«, versprach sie.
16