Klappentext Sabrina hat Hexitis, einen kleinen Zaubervirus: Jedes mal, wenn sie niest, springen ihre magischen Kräfte a...
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Klappentext Sabrina hat Hexitis, einen kleinen Zaubervirus: Jedes mal, wenn sie niest, springen ihre magischen Kräfte aus ihr heraus und in jemand anderen hinein. Noch einmal geniest, und sie kehren wieder zurück! Zunächst ist das nicht so schlimm – Sabrina niest nur in gerader Anzahl. Aber dann kreuzt Libby Chessler auf, und Sabrina muss ausnahmsweise nur einmal niesen. Was könnte Sabrina nur tun, um ihre Zauberkräfte wieder zurück zu gewinnen?
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Hexe hin, Hexe her! David Cody Weiss & Bobbi JG Weiss
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Weiss, David Cody: Sabrina – total verhext: [TV-Roman; der offizielle Roman zur Serie] – Stuttgart: Dino-Verl. Hexe hin, Hexe her! / David Cody Weiss & Bobbi JG Weiss. [Übers., aus dem Amerikan.: Margarete Graf]. – 1999 ISBN 3-89.748-145-6 Beim Dino Verlag ist bereits erschienen: „Total verhext!“ von David Cody Weiss & Bobbi JG Weiss „Ausgetrickst!“ von D. G. Gallagher
Dieses Buch wurde auf chlorfreiem umweltfreundlich hergestellten Papier gedruckt. Es entspricht den neuen Rechtschreibregeln. © 1999 für die deutsche Ausgabe by Dino Verlag GmbH, Rotebühlstraße 87, 70.178 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten © für die Logos: ProSieben. Mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Media AG © 1997 für die amerikanische Originalausgabe „Sabrina, the Teenage Witch – Good Switch, Bad Switch“ by Viacom Productions Inc. All rights reserved including the right to reproduce this book or portions thereof in any form whatsoever. This edition is published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, New York. Titelfoto: Don Cadette, USA Übersetzung aus dem Amerikanischen: Margarete Graf, Köln Umschlaggestaltung: tab Werbung GmbH/Thilo Bauer, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Graphischer Großbetrieb Pößneck GmbH, Pößneck ISBN 3-89.748-145-6 Der Dino Verlag im Internet: www.dinoverlag.de 4
Ich bin 16, ich bin eine Hexe und trotzdem muss ich noch zur Schule gehen? Hatschii! Moment! Nicht bewegen... hatschii! Puh, das war knapp. Ich habe Hexenschnupfen, eine sogenannte Hexitis, und wenn ich niese, springen meine magischen Kräfte auf jemand anderen über. Jedenfalls so lange, bis ich noch einmal niese. Ausgerechnet heute muss ich unbedingt in die Schule gehen. Wegen Harvey. Und jetzt verniese ich meine Kräfte über die ganze Schule. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie der Person zufliegen, die das Schlimmste damit anstellen könnte – Libby Chessler. Libby, die Teenager-Hexe. Das gefällt mir überhaupt nicht. Ich heiße Sabrina und ich bin sechzehn Jahre alt. Ich habe immer schon gewusst, dass ich anders bin, aber ich dachte, das liegt daran, dass ich mit meinen sonderbaren Tanten Zelda und Hilda zusammenlebe, während meine geschiedenen Eltern in der Welt herumgondeln. Mein Dad arbeitet beim Auswärtigen Dienst. Einem sehr auswärtigen Dienst. Er ist ein Magier – und ich bin eine Hexe. Zu Mum kann ich auch nicht gehen – nicht nur, weil sie gerade eine archäologische Ausgrabung in Peru macht. Sie ist eine normale Sterbliche. Wenn ich sie in den nächsten zwei Jahren auch nur ansehe, wird sie sich in einen Klumpen Wachs verwandeln. Also sitze ich hier bei meinen Tanten fest. Sie erklären mir alles, was ich über die Hexerei wissen muss. Sie sagen, ich muss mich einfach nur konzentrieren und mit dem Finger auf etwas zeigen. Und ich dachte immer, nur Benimmregeln wären kompliziert. Ihr glaubt wahrscheinlich, ich hätte grenzenlose Macht. Falsch! Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen und in Liebesangelegenheiten kann ich mich nur auf mich selbst verlassen. Natürlich gibt es auch ein paar echt nette Sachen, die ich kann –, aber damit geht der Ärger meistens auch schon los.
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Für Robert und Kari Mit Euch beiden ging der Ärger überhaupt erst los! Danke
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Vorwort Die Tür zum Wäscheschrank sprang auf und die dunkle Diele füllte sich mit einem Wirbel bunter Konfetti. Die Fitzelwolke wirbelte um die beiden Frauen, die lachend und schwatzend aus dem Wandschrank stiegen. Hilda und Zelda Spellman bemerkten nicht, dass sich ein Strom goldener Fünkchen um die Konfettiwolke wand. Lebendig und doch unbelebt, ziellos und doch auf ein Ziel gerichtet, suchten die Fünkchen ihren Weg. Dabei musterten sie alles und schwebten dann weiter, wenn sie nicht fanden, was sie suchten. Goldene Fünkchen strichen über Hildas Handgelenk, als sie sich die Hand vor den lachenden Mund hielt. „Hast du den Werwolf mit der kahlen Stelle gesehen?“, fragte sie ihre Schwester kichernd. „Ich habe mich ja so geschämt für ihn“, sagte Zelda. „Warum hat es ihm keiner gesagt?“ „Bei den Zähnen?“, fragte Hilda und rieb sich die Nase. „Es dauert Jahre, bis eine abgebissene Nase wieder nachgewachsen ist.“ Die Hand, die die Nase rieb, verströmte einen Duft, der die Fünkchen anzog. Sie roch nach Macht und Zauberei. Nur in einem Körper, der so roch, konnten die Fünkchen leben und gedeihen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas an diesem Körper stieß die Fünkchen zurück. Sie schwärmten dicht über der Haut, bis sie auf den kaum spürbaren Rest anderer, längst verloschener Fünkchen trafen. Die dahinschwebende Wolke zog sich zurück. Ohne wirklich analysieren, überlegen oder reagieren zu können, erkannte sie, dass der Körper, der sie anzog, schon von einem ihrer Art besetzt war. Die Wolke schwebte auf den anderen Körper zu.
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„Jedenfalls hielt der Werwolf eine Grundsatzrede, die wohl niemand vergisst, auch wenn sich keiner erinnern wird, was er eigentlich gesagt hat“, kicherte Zelda. „Warum hielt Drell eigentlich nicht die Grundsatzrede auf der größten Hexenmesse des Jahres?“ Die Fünkchen strichen über Zeldas Hand, aber vergebens. Auch dieser Körper war besetzt und das schon seit langer Zeit. Die Fünkchen ließen sich auf den Teppich hinab sinken. Vielleicht mussten sie hier ein oder zwei Jahrhunderte lang liegen, bis jemand anderes mit Hexenblut vorüberkam, um sie zu erwecken, wie es die beiden Spellman-Schwestern eben getan hatten. „Drell sagte...“ – Zelda reckte sich und setzte eine betont wichtige Miene auf, um den Vorsitzenden des Hexenrats nachzumachen – „ich habe schon so oft die Eröffnungsrede der Magischen Hexpo gehalten, nun ist es Zeit, dass einmal ein anderer eine Chance bekommt.“ „Die Veranstalter haben ihn also dieses Jahr nicht darum gebeten, stimmmt’s?“ „Kein Stück.“ Bevor die goldenen Fünkchen auf dem Teppich auftrafen, erfasste sie ein Luftzug und blies sie unter der Tür hindurch in Sabrinas Zimmer. Etwas verwirrt von der Brise streifte die Wolke einen Schuh des Mädchens und schlängelte sich auf einen Spalt im Fensterrahmen zu. Dort unter dem Fenster schlief ein Geschöpf, das die Fünkchen einen Moment lang anzog. Irgendetwas an diesem pelzigen schwarzen Ding deutete auf Zauberkraft hin, aber es war wie ein schwaches Echo, als wäre die Kraft, die einmal darin gewohnt hatte, nicht mehr wirksam. Die Stimmen der Tanten hinter der Schlafzimmertür wurden leiser, als sie den Flur entlang zu ihren Zimmern gingen. „Wenigstens trägt Drell es mit Würde“, bemerkte Zelda.
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„Na ja“, grinste ihre Schwester schadenfroh. „Hast du nicht die beiden hässlichen kleinen Salamander gesehen, die um die Stände für Hexenzubehör herumgerannt sind?“ „Diejenigen, die die Vipern vom Schlangenhandel immer fressen wollten?“ „Ja. Das waren die Veranstalter der Magischen Hexpo.“ Die Zugluft, die durch Sabrinas Zimmer wehte, ließ sie im Schlaf frösteln. Sie drehte sich um und wickelte sich in ihre Decke wie eine Mumie. Die dadurch entstehende Luftbewegung reichte aus, das hintere Ende der Fünkchenwolke hoch zu wehen, so dass es ihre Haut berührte. Ein Schauer rann durch die Wolke. Dieser Körper hatte den richtigen Duft. Und er hatte keine Spuren eines früheren Befalls. Mit leisem Zittern senkte sich die Wolke auf das Mädchen herab, ließ sich in ihm nieder und begann sich auszubreiten. Draußen blieb Zelda vor der Schlafzimmertür stehen und schüttelte über Hildas Enthüllung den Kopf. „Ich hoffe, sie überleben die Hexpo. Drell kann so furchtbar kleinlich sein.“ „Du hast ja den Schluss noch nicht gehört. Drell bestellte für den Werwolf einen Teller Haarsuppe!“ Hilda winkte und verschwand in ihrem Zimmer. Im Zimmer gegenüber vom Wäscheschrank begann Sabrina zu schniefen.
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Kapitel 1 Sabrinas Zimmer im Morgenlicht – das war nicht das idyllische Nest eines jungen Mädchens. Es war ein mit Klamotten übersätes Schlachtfeld. Über das Bett und den Fußboden waren Kleider der unterschiedlichsten Marken verstreut. GUESS? knäuelte sich mit Esprit unter zerknitterten Bodys und zerdrückten Betsey Johnsons. Über die Klamotten waren wie schäbiges Dekomaterial zerknäulte Papiertaschentücher verstreut. Neben dem Bett lagen drei Taschen: eine schwarze Etuitasche aus weichem Leder, eine weißlederne Umhängetasche mit türkisfarbenen und silbernen Applikationen und ein Eastpack-Rucksack. Sabrina war panisch. „Was soll ich nur anziehen, Salem?“, fragte sie die schwarze Burma-Katze verzweifelt, die sich auf dem Fensterbrett räkelte. „Der Tag ist total entscheidend für meine gesamte Zukunft!“ Sie starrte in das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel mit dem Zinnrahmen entgegenblickte. In rascher Folge zauberte sie sich verschiedene Outfits an: ein SavvyModell in Schockfarben, einen weich fallenden Hosenanzug von Vogue, einen Kilt ganz Schwarz in Schwarz und einen Annie-Hall-Fummel, der ziemlich retro war. „Was würdest du anziehen?“, fragte sie. „Tut mir Leid“, maulte Salem. „Mein Geschmack wäre für dich unpassend. Für Menschen ist es politisch nicht korrekt, Pelz zu tragen.“ Seine Zunge beleckte einen besonders lästigen Fleck an seinem Bein. „Allerdings hätte ich nichts dagegen, meinen einmal in die Reinigung zu schicken. Pfui.“ Sabrina schmiss eine Socke nach der Katze, die fast danach gejagt hätte, sich dann aber auf ihre Würde besann und die Bewegung in ein ausgiebiges, wohliges Strecken umlenkte. „Was ist denn so wichtig heute? Ich dachte, mit Harvey gehst du erst am Wochenende aus?“ 10
„Es geht dich zwar nichts an, aber es ist nicht wegen Harvey. Es geht um eine Chance, meinen Horizont zu erweitern, eine Welt jenseits dieser kleinen Provinzstadt zu erleben.“ Langsam hob sie ihre Hände und öffnete sie wie Blütenblätter. Die Wirkung wurde durch die zwei zerknüllten Papiertaschentücher, die sich in ihren Händen auffalteten, auf sonderbare Weise verstärkt. „Darum, dass ich zu einem Instrument werde, das den Massen das wahre Drama des Lebens und die Tragödien der Seele nahe bringt.“ Salem gähnte. „Wenn du einen Oscar gewinnst, verspreche ich dir, ihn nicht vom Regal zu schubsen.“ Sabrina zog einen brombeerfarbenen Pulli unter der Katze hervor und rollte sie dabei auf den Rücken. „Du bist nur eifersüchtig, weil du kein berühmter Schauspieler werden kannst.“ Salem lag auf dem Rücken und streckte alle Viere von sich. „Das muss ich gar nicht. Es gibt am Broadway Menschen, die Katzen imitieren, und andere Menschen zahlen, um sie dabei zu bestaunen. Die Katzen haben die Menschen gezähmt, so ist es nun einmal. Die Sterblichen jedenfalls.“ „Das ist ja wohl kaum dein Verdienst. Du bist ja nur eine Katze auf Zeit.“ Salem war einst ein Magier gewesen, der dabei ertappt wurde, wie er die Macht über die ganze Welt übernehmen wollte. Der Hexenrat hatte ihm alle Zauberkraft abgesprochen und dazu verurteilt, hundert Jahre lang als gewöhnliche Hauskatze zu leben. Na ja, ganz so gewöhnlich auch wieder nicht. Man konnte ein durchaus geistreiches Gespräch mit ihm führen, wenn ihm gerade danach war. Aber er konnte auch ein Biest sein. „Verschone mich mit den technischen Einzelheiten“, meinte Salem. „Schließlich ist es nur ein Vorsprechen für die TheaterAG.“ Sabrina putzte sich die Nase, bevor sie Salem korrigierte. „Es ist die Thespis-Gesellschaft“, sagte sie. Als Salem die Augen 11
verdrehte, zog sie eine Schnute. „Na ja, so heißt das hier.“ Sie fing an zu grinsen. „Okay, es ist ein bisschen weit hergeholt. Aber was soll man von einer High School schon erwarten, die ihr Football Team die glorreichen Gladiatoren nennt?“ „Na, ich würde...“ Salems Antwort ging in einem explosionsartigen Niesen unter. Sabrina riss ein Taschentuch aus der Box und presste es gegen ihre Nase, aber der Niesreiz war vorbei. Zögernd ließ sie das Taschentuch sinken. Nichts geschah. Das war sonderbar. Sie drehte sich zu Salem um. „Du hast gar nichts gesagt!“ Salem bog den Kopf zurück und starrte sie über seine Nase hinweg an. „Wie bitte?“ „Als ich geniest habe“, erklärte Sabrina. „Du hast überhaupt nichts gesagt. Normalerweise sagt man ‚Gesundheit’ oder ,Wohlsein’ oder so etwas, wenn jemand niest. Warum hast du nichts gesagt?“ „Hör mal, der einzige Grund, warum die Menschen so etwas sagen, ist, dass ihre Vorfahren glaubten, ihre Seele könnte entweichen, wenn sie niesten. Ich bin eine Katze. Alles, was entweicht, wenn ich niese, sind ausgefallene Haare. Das braucht nicht auch noch kommentiert zu werden.“ „Ach, wir haben wieder unsere Katzenphase? Irgendwann einmal wirst du damit nicht mehr durchkommen. Eines Tages wirst du wieder in einen Magier zurück verwandelt, mit all deinen Zauberkräften. Du musst dir mal ernsthaft Gedanken darüber machen, wie du damit umgehen wirst.“ „Natürlich. Ich werde für einen Weckdienst sorgen, der mich daran erinnert, bevor es soweit ist. Kennst du vielleicht einen, bei dem man sich schon Jahrzehnte vorher anmelden kann?“ Er schaute zum Radiowecker auf dem Nachttisch hinüber. „Und wenn wir schon beim Thema sind... du kommst zu spät.“
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„Mist. Ich muss noch duschen!“ Sabrina schnappte sich ihren Bademantel und stürmte aus der Tür. Hinter sich hörte sie Salem murmeln „Wenn ich mir wieder alles herbeizaubern könnte, was ich wollte...“ Da war sie schon im Bad und fummelte an den altmodischen Wasserhähnen der Dusche. Sie drehte das Wasser auf heiß. Einen Augenblick später stand Sabrina unter der Dusche und spürte, wie die heißen Tropfen ihre Haut belebten. Sie sog die Wärme in sich auf und entspannte sich mit einem zufriedenen Seufzen. Neu-England war ganz in Ordnung, aber eigentlich die Hälfte des Jahres zu kalt. Sabrina hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Ihre Kindheit mit ihren Eltern war nicht gerade ein Musterbeispiel für Beständigkeit gewesen. Wegen der Neigung ihrer Mutter, in unglaublich weit entfernten Teilen der Erde alten Kram auszugraben, und der geheimnisvollen Tätigkeit ihres Vater für den Auswärtigen Dienst, bei der er auch ständig unterwegs war, hatte Sabrina über Jahre hinweg nie lange Zeit an einem Ort gelebt. Aus Gründen, über die Sabrina lieber nicht nachdachte, hatten sich ihre Eltern scheiden lassen, als sie erst zehn war. Als Einzelkind, das ewig umziehen und auch noch mit der Trennung der Eltern fertig werden musste, hatte sie sich eine Fantasiewelt geschaffen. Manchmal wurden diese Fantasien etwas zu hartnäckig, wie etwa die trügerische Hoffnung, dass ihre Eltern einmal wieder zusammenfinden könnten. Sabrina träumte davon, dass ihr die Schauspielerei einen Weg zeigte, mit all den verwirrenden Gefühlen in ihrem Innern fertig zu werden. Die Thespis-Gesellschaft bot vielleicht auch die Möglichkeit, sich einer Gruppe anzuschließen, so dass sie in der neuen Schule und der neuen Stadt keine Außenseiterin blieb. Und zumindest würde sie die Gelegenheit haben, mit Harvey Liebesszenen einzustudieren.
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Westbridge war ein kleines, ruhiges Städtchen, vielleicht sogar ein bisschen langweilig, aber Sabrina fand es okay. Ihr Terminkalender war prall gefüllt. Zunächst einmal wachte sie morgens einen Meter über ihrem Bett schwebend auf – eine Erinnerung daran, dass sie seit ihrem sechzehnten Geburtstag eine Hexe war. Als nächstes trottete sie die Treppe hinunter, um Tante Hilda und Tante Zelda Guten Morgen zu sagen, eine weitere Bestätigung dieses Hexenkrams, denn die beiden waren ebenfalls Hexen. Sie erinnerten sie aber auch an die Scheidung ihrer Eltern. Seitdem sich Edward Spellman und seine Frau getrennt hatten, gab es nämlich das kleine Problem, dass Sabrinas Mutter sich in einen Klumpen Wachs verwandeln würde, falls sie in den nächsten zwei Jahren einen Blick auf ihre Tochter werfen würde. Ihre beiden Tanten waren zur Zeit also alles an Familie, was Sabrina hatte. Es gab da auch noch eine Tante Vesta, die Sabrina zwar kannte, die sich aber in einer anderen Sphäre tummelte, der Vergnügungszone, wo sie ein turboschnelles, genusssüchtiges Leben führte. Sabrina konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas mit der landläufigen Idee von familiären Werten zu tun hatte. Dann stand auf ihrem Stundenplan die Westbridge High School. Als neue Schülerin hatte sie hier nicht gerade die Hölle auf Erden. Niemand fühlte sich veranlasst, sie lächerlich zu machen, auf sie herabzusehen oder sie zur Zielscheibe von Witzen zu machen, niemand außer Libby Chessler. Und die tat es mit Wonne. Aber als Entschädigung für Libby – tatsächlich als Entschädigung für alles und als Quelle eines warmen Gefühls – gab es Harvey. Harvey Dwight Kinkle. Ein schüchterner Schlacks, der sich gern zurückzog, heimlicher Philosoph und, nicht zu vergessen, auch Sabrinas Seelengefährte.
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Der ebenfalls zum Vorsprechen heute Nachmittag kommen würde, gleich nach der Schule, wohin Sabrina fast zu spät kommen würde. Nur ungern verließ Sabrina die wohlige Wärme der Dusche, trocknete sich ab und schlüpfte in den Bademantel. Sie trocknete sich gerade die Haare, als ihr auffiel, dass ihre Nase zwar noch ein wenig verstopft war, sie aber nicht mehr geniest hatte. Toll. Eine Erkältung kann ich vor dem Vorsprechen nun wirklich nicht brauchen, dachte sie. Meine Damen und Herren – Miss Scarlett O’Hara: „Morgen ist auch noch ein – hatschii.“ Sabrina betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie sah ganz gesund aus. Sie ging nah dran und spähte in ihre Augen. Goldene Fünkchen tanzten einen Atemzug lang in ihren Pupillen, doch einen Lidschlag später waren sie verschwunden. Am besten fange ich gleich an vorzubeugen, dachte Sabrina und griff nach den Vitamin-C-Kautabletten. Sie steckte sich drei von den orangefarbenen Pillen in den Mund und kaute geräuschvoll darauf herum, während sie die Badezimmertür öffnete und barfuß die Diele hinunter trottete, wobei sie auf dem Perserteppich blieb, um nicht auf die kalten Bodendielen zu treten. Als sie in ihr Zimmer kam, kräuselte sie plötzlich die Nase. Kein Zweifel, hier roch es nach Meer, und zwar bei Ebbe. Ein sonderbares Plätschern drang aus dem Zimmer. Sabrina riss die Tür auf und erstarrte. Der Boden war knöcheltief mit Fischen bedeckt. Karpfen, Störe, Hechte, Tunfische, Bonitos, Forellen, Flundern, Katzenfische, Kabeljau – und Arten, die Sabrina nicht bestimmen konnte. Alle waren lebendig. Und sie schwänzelten und schlängelten sich über den Boden, unter dem Bett, über ihre Kleider. Und auf dem Bett, inmitten der ganzen Bescherung, mit einem Fisch im Maul und leuchtenden Augen, wie ein Reh im Strahl eines Autoscheinwerfers, saß Salem. 15
Kapitel 2 Entsetzt stand Sabrina im Türrahmen, bis Salem den Fisch fallen ließ. „Was geht hier vor?“, kreischte sie. Salem leckte erst einmal ein paar schimmernde Fischschuppen von seiner Tatze. Dann schaute er aus dem Fenster und sagte: „Da hatte wohl jemand Erbarmen mit mir und erfüllte mir meinen Herzenswunsch.“ Frustriert hob Sabrina die Hände. „Also, woher kommen die ganzen Fische?“ „Hab ich doch gesagt.“ „Egal. Ich komme zu spät zur Schule, dein Schlaraffenland muss also warten.“ Sabrina streckte die Arme aus. „Fische, verschwindet“, befahl sie. Nichts passierte. Die Fische schwänzelten immer noch herum und ein großer Aal schlängelte sich durch den brombeerfarbenen Pulli auf dem Bett. Die Fische sind immer noch da. Was habe ich falsch gemacht? Sabrina spürte einen kalten Stich in ihrem Magen. Seit sie ihre magischen Kräfte besaß, hatte sie sich schon oft beklagt, wie kompliziert ihr Leben dadurch geworden war. Aber niemals hatte sie überlegt, was sie empfinden würde, wenn die Kräfte plötzlich versiegten. „Was fragst du mich?“, sagte Salem. „Es ist ja nicht so, als könnte ich mit dem Schwanz zucken und mir unendlich viel Milch zum Fisch wünschen.“ Und dabei zuckte er mit dem Schwanz und einen Augenblick danach stand eine Kuh zwischen Sabrinas Bett und ihrem Schreibtisch. Sie sah irritiert auf all die Fische und machte laut „Muuuh“. Dann griff sie sich mit ihren weichen Lippen ein paar Blätter Papier vom Schreibtisch und begann zu kauen.
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„Das sind meine Hausaufgaben“, kreischte Sabrina. Sie schnippte mit den Fingern auf die Kuh und die Fische. „Weg mit euch. Weg. Weg.“ Aber die Fische schlugen weiter mit ihren Schwänzen auf den Boden und die Kuh blickte Sabrina mit einem gelangweilten, gleichgültigen Blick an und kaute weiter. Sabrina stöhnte verzweifelt auf, verließ das Zimmer und stürmte die Treppe hinunter in die Küche. „Tante Zelda! Tante Hilda! Helft mir.“ Im Erdgeschoss war es still. Am Toaster lehnte ein lavendelduftendes Blatt Papier mit einer langen Nachricht. Als Sabrina es sich schnappte, ertönte Zeldas Stimme. „Guten Morgen, Sabrina“, sagte die Nachricht fröhlich. „Hilda und ich haben uns auf der Magischen Hexpo gestern derart amüsiert, dass wir heute morgen etwas später aufstehen. Warte nicht mit dem Abendessen auf uns, sondern zaubere dir einfach selbst etwas zu essen. Liebe Grüße.“ Sabrina blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Einen Augenblick war ihr Gehirn völlig leer, totales Entsetzen packte sie. Dann fing ihre Nase wieder an zu laufen. Sie schnappte sich ein Papiertaschentuch und presste es gegen ihr Gesicht. „Das ist einfach nicht wahr“, schnaubte sie. „Das ist einfach nicht wahr.“ Sie rannte wieder hinauf in ihr Zimmer. Zu ihrem Erstaunen wimmelte der mit Fischen übersäte Boden nun auch noch vor Katzen. Sie kauten Fisch oder strichen der Kuh um die Beine und äugten sehnsuchtsvoll auf ihren Euter. „Komm herein und feier mit“, rief Salem großherzig. „Ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber ich habe meine Zauberkräfte zurückerhalten. Ich habe ein paar Freunde eingeladen, um mit ihnen zu feiern. Hey, soll ich dir ein Frühstück herbeizaubern? Lachs und Eier? Bücklinge? Gezuckerte Fischflocken?“
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Sabrina spürte ein leises Kitzeln in der Nase und ein pochendes Gefühl, das ihren Kopf beinahe zum Platzen brachte. „Das sind meine ha... mpfff.“ Sie unterdrückte ein Niesen, „... Kräfte.“ Das Kitzeln wurde stärker. Es war zum Verrücktwerden. Sabrina, die gegen den aufsteigenden Niesreiz ankämpfte, wurde wütend. „Ich weiß nicht... haahh... wie es passiert ist, aber ich will sie... haahh... zurück und ich will... haahh... haahh... tschiii!“ Das Niesen brach sich mit unerwarteter Heftigkeit Bahn und ein leises Kribbeln lief durch ihren Körper. Dann beendete sie ihren Satz „... dass dieser ganze Kram verschwindet.“ Die darauf folgende Stille war verblüffend. Die Katzen waren verschwunden. Die Fische waren verschwunden. Die Kuh war verschwunden. Und mit ihr leider auch Sabrinas Hausaufgaben. Sabrina starrte verwirrt im Zimmer herum. „Was ist denn jetzt passiert?“ Salem schniefte betrübt und trollte sich wieder auf seinen Platz am Fenster. „Da meine ganzen Leckereien weg sind, nehme ich an, dass du deine Zauberkräfte zurück erhalten hast und ich wieder der Sklave des Dosenöffners bin.“ Er drehte Sabrina den Rücken zu und starrte trübselig durch die Buntglasscheiben. „Wow, du Sherlock Holmes“, sagte Sabrina. „Das habe ich auch schon erraten. Aber, warum ist es passiert?“ „Frag deine Tanten. Ich bin ja nur eine einfache Katze ohne besondere Kräfte.“ „Das kann ich nicht. Sie sind auf einer Messe.“ „Dann versuch es mit dem Buch.“ Als Sabrina sechzehn geworden war und ihre Tanten ihr erzählt hatten, dass sie eine Hexe sei, hatten sie ihr auch ein Geschenk ihres Vaters gegeben – ein Buch mit dem Titel „Die Entdeckung der Magie“. Dieses Buch, das riesig war und auf einem Pult in Sabrinas Zimmer stand, enthielt alle 18
Zaubersprüche und Verwünschungen, die Sabrina lernen musste, damit sie das Hexenhandwerk ordnungsgemäß ausüben durfte. Sabrina schlug den schweren Umschlag auf und überflog das Inhaltsverzeichnis. „Hexenkrankheiten“, las sie. „Konsultieren sie den Hexendoktor.“ Sie starrte die Katze wütend an, die sorgsam Sabrinas Blick auswich. „Na, wunderbar. Ich habe ein Problem und das Zauberbuch fertigt mich mit faulen Witzen ab.“ „Wieso Witze?“, murrte Salem. „Wohin sollte eine Hexe denn sonst gehen, wenn sie krank ist?“ Sabrina fuhr mit dem Finger die lange, klein gedruckte Spalte hinunter. „Hexendoktor... Seite 273. Den gibt es tatsächlich.“ Staunend blätterte Sabrina weiter. Eine Stimme, die sogar James Earl Jones vor Scham in den Boden hätte versinken lassen, drang aus dem Buch. „Es ist sehr unhöflich, die Existenz von jemandem zu bezweifeln. Wo wärst du denn, wenn ich so frei gewesen wäre, nicht an dich zu glauben, junge Dame?“ „Ööh... hier?“, riet Sabrina. Die Stimme kam von der detailreichen Zeichnung eines dunklen Mannes mit Dreadlocks und verschlungenen Tätowierungen. Kunstvoll geschnitzte Elfenbeinspieße waren durch Nase, Ohren und Augenbrauen gepierct. Bunte Federn, Fetische und Medizinbeutel hingen um seinen Hals und seine Handgelenke. Er war wirklich ein Bild von einem Medizinmann – bis auf den Nadelstreifenanzug von Armani und das Handy in seiner Hand. „Wohl kaum“, lachte es aus der Zeichnung. Die Belustigung des Medizinmanns irritierte Sabrina, schien aber seine schlechte Laune ausgelöscht zu haben. „Zum geschäftlichen Teil. Welche Symptome hast du?“ „Also, mir läuft die Nase, ich muss niesen und – ach ja – meine magischen Kräfte sind verschwunden.“ „Hmm, verstehe. Blätter einmal um und huste.“ 19
Sabrina stutzte. „Wie bitte?“ „Ich brauche eine Probe zur Analyse“, erklärte der Medizinmann ungeduldig. „Blätter um und huste auf die Seite.“ Sabrina sah zu Salem hinüber, zuckte mit den Schultern und tat, was von ihr verlangt wurde. Dann blätterte sie wieder zurück und blickte den Medizinmann an. Er schüttelte eine juwelenbesetzte silberne Rassel über der kleinen Glasträgerplatte eines Mikroskops. Eine Wolke goldener Fünkchen stieg von der Platte auf, als hätte die Rassel sie angezogen. Die Fünkchen verschwanden darin und einen Augenblick später glitt ein Blatt Papier aus dem Griff der Rassel. Der Medizinmann strahlte die Rassel an und fischte den Befund aus der Luft. „Fabergé macht die besten medizinischen Geräte“, bemerkte er, bevor er sich dem Blatt widmete. Sein Lächeln verschwand und er schüttelte den Kopf. „Oh, das sieht schlecht aus. Sehr schlecht.“ „Was ist los?“, fragte Sabrina alarmiert. „Mein Börsenmakler schreibt mir, dass meine Aktien fallen.“ Er grinste Sabrina schuldbewusst an und schüttelte die Rassel. „Ich hatte es auf ,Eingehende Faxe’ eingestellt.“ Er drückte auf ein paar Perlen auf dem Griff der Rassel und ein anderes Blatt glitt heraus. „Es ist ein Fall von Hexitis“, verkündete er schließlich, während er den Ausdruck überflog. „Sie dauert vierundzwanzig Stunden. Vermeide jede Begegnung mit Sterblichen, bis es vorbei ist.“ Er nickte Sabrina aufmunternd zu, verabschiedete sich und griff nach seinem Handy. „Warte einen Moment!“, rief Sabrina schnell. „Du musst mir doch etwas mehr als nur das sagen.“ „Nein, muss ich nicht. Regel Nummer eins in der Medizin: Zeit ist Geld. Ich muss meinen Börsenmakler anrufen.“ „Ich werde das beim Hexenrat melden.“
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Das Gesicht des Medizinmanns erhellte sich zu einem breiten Lächeln. Jetzt erst bemerkte Sabrina, dass seine Zähne spitz zugefeilt waren. „Nur zu“, zischte er. „Drell schuldet mir immer noch das Honorar dafür, dass ich ihn von seinen Nasenmilben geheilt habe. Ich tue nichts mehr für ihn, bis er gezahlt hat – jedenfalls nichts Gutes.“ „Nun mal halblang, Doc“, mischte sich Salem ein. „Sie ist gerade erst sechzehn. Das alles ist ganz neu für sie.“ Der Doktor zog einen Kneifer hervor und musterte Sabrina durch die Gläser. „Ach, du bist wirklich so jung wie du aussiehst. Entschuldige, aber ich dachte, du bist eine alte Schachtel mit einem übertriebenem Jugendwahn.“ Der Kneifer verschwand. „Du hast einen akuten Fall von Hexitis. So nennen wir eine hexenspezifische Krankheit, das heißt, sie befällt nur Personen mit magischen Kräften. Die Symptome ähneln der einer gewöhnlichen Erkältung – Schniefen, laufende Nase, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, mit der Ausnahme dass, wenn du niest, deine magischen Kräfte aus dir herausfliegen.“ „Wenn du allein in einem Zimmer bist, prallen sie automatische wieder auf dich zurück. Aber wenn Sterbliche anwesend sind, nisten sich diese Kräfte in einem von ihnen ein. Und dort bleiben sie, bis du ein zweites Mal in Anwesenheit dieser Person niest. Dann kehren deine Kräfte zu dir zurück. Deshalb empfehle ich dir, dass du vierundzwanzig Stunden lang jeden Kontakt mit Sterblichen meidest.“ „Aber ich kann nicht zu Hause bleiben“, erklärte Sabrina. „Ich muss heute zur Schule gehen.“ „Wenn du niest, könntest du deine Zauberkraft an jemand anderen verlieren“, warnte sie der Medizinmann mit erhobenem Zeigefinger. „Ach, was ist schon dabei?“, fragte Salem. „Sie braucht doch nur noch einmal zu niesen. Oder immer ein bisschen Pfeffer dabei zu haben.“ 21
„Tut mir Leid. Mit einem vorgetäuschten Niesen funktioniert es nicht. Es muss schon echt sein. Und den Ärger, den der Pfeffer anrichten könnte, möchte ich mir nicht einmal vorstellen.“ Er tippte auf ein paar Perlen am Griff seiner Rassel und starrte auf das Blatt Papier, das dabei herauskam. „Mehrfaches Niesen schnell hintereinander führt dazu, dass ihre Kräfte wie Querschläger durch den ganzen Raum schießen. Das könnte ziemlich unangenehm werden.“ „Wie vermeide ich es also, in der Schule zu niesen?“ fragte Sabrina. „Ich weiß es nicht. Vielleicht mit Vitamin C?“ Sabrina starrte den Medizinmann an. Er schüttelte lustlos seine Rassel. „Mehr kann die moderne Medizin eben nicht tun.“
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Kapitel 3 Sabrina kaute geräuschvoll eine weitere Tablette mit Orangengeschmack, während sie in den Biologiekurs schlich. Bis jetzt hatte sie den Schultag überstanden ohne zu niesen, aber sie war so angespannt, dass sie sich nur vornüber gebeugt und fast in sich zusammengerollt bewegen konnte. Sie ging so langsam, dass die anderen Schüler sich an ihr vorbei in das Klassenzimmer drängten. „Entschuldigung“, grummelte sie, als sie jemand mit dem Ellbogen anrempelte. Sabrina ging zu ihrem Tisch, ließ ihre Tasche fallen und setzte sich langsam hin. Der Medizinmann hatte nichts davon gesagt, dass zu den Symptomen der Hexitis auch schmerzende Gelenke gehörten, die hörbar knackten, wenn sie sich bewegte. Sie lehnte sich vor, stützte den Kopf in die Hände und wünschte, sie könnte einfach im Boden versinken und ein schönes gemütliches langes Nickerchen halten. „Mann, ich wünschte, ich hätte deine Konzentrationsfähigkeit!“ Jenny stand plötzlich neben Sabrina. „Hä?“, keuchte Sabrina. „Du musst dir wirklich eine schwere Aufgabe ausgesucht haben.“ Jenny strahlte Sabrina an. Dann blickte sie ihr in die Augen, als wollte sie Sabrina bestätigen. „Weißt du, ich hätte nie gedacht, dass du auf Method Acting stehst.“ „Wovon redest du eigentlich, Jenny? Ich spiele nicht, mir geht es ernsthaft schlecht“, stöhnte Sabrina. „Ist es nicht gesetzlich verboten, dass Leute mit ansteckenden Krankheiten in die Schule kommen?“, mischte sich plötzlich eine andere Stimme ein. „Steht das nicht irgendwo in der Schulordnung?“ Sabrina hob den Kopf und starrte die Anführerin der Cheerleader an, die gerade ins Klassenzimmer tänzelte. „Ich hab nichts Ansteckendes, Libby. Jedenfalls nicht für dich.“ Ihr 23
ging so viel durch den Kopf, da war ein Zusammenstoß mit Libby das Letzte, was sie brauchen konnte. Doch Libby hatte im Augenblick nichts Besseres zu tun, als Sabrina auf die Nerven zu gehen. „Ich meine es ernst“, beschwerte sie sich und knallte ihre Bücher auf ihren Labortisch. „Es sollte verboten werden, dass ich neben einer kranken Verrückten sitzen muss.“ Sabrina spürte, wie sie langsam ihre Geduld verlor. In solchen Situationen war es eine heftige Versuchung, mit Hilfe ihrer Zauberkräfte zurückzuschlagen. Doch andererseits lag auch Befriedigung darin, subtile Mittel anzuwenden. Sabrina beugte sich zu ihrer Peinigerin hinüber und meinte: „Ich sagte dir doch, Libby, dass ich nichts Ansteckendes habe – hey, was hast du denn da für einen sonderbaren Fleck am Hals?“ Libby riss die Augen auf und fasste sich mit der Hand an die Kehle. „Was? Wo?“ Sie versuchte hinunter zu sehen und den Fleck auszumachen, was natürlich unmöglich war. Sabrina unterdrückte ein Grinsen und hörte, wie Jenny vor Vergnügen prustete, als Libby aufsprang. „Ich brauche einen Spiegel!“ Mit einer Hand an ihrem Hals schnappte sich Libby mit der anderen ihre Tasche und rannte aus dem Klassenzimmer. Jenny klatschte begeistert in die Hände. „Du bist so gemein“, kicherte sie. „Als ob Libby das nicht verdient.“ Sabrina lächelte erschöpft und legte den Kopf auf den Labortisch. Jenny rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück weg. „Bist du sicher, dass es nicht ansteckend ist?“ „Häh?“ Sabrina hob den Kopf. „Aber ja. Nur ein kleiner Schnupfen, den ich zu Hause aufgeschnappt habe. Eine Art familiär bedingte Erkältung.“ Sie steckte ihre rote Nase in ein Taschentuch. Demonstrativ zog Jenny ihren Stuhl wieder an den Tisch neben Sabrina. „Also gut, wenn du dir sicher bist. Ich möchte
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nicht, dass mir irgendetwas das Vorsprechen heute Nachmittag verdirbt.“ Sabrina saß plötzlich ganz aufrecht. „Ach du Schreck, das Vorsprechen habe ich ganz vergessen! Ich habe noch keinen Text ausgesucht.“ „Ach Sabrina!“, lachte Jenny. „Die haben sicherlich Texte, die sie dir geben können.“ Die Schulglocke klingelte und die herumwuselnden Schüler hasteten zu ihren Plätzen an den sechs resopalbelegten Labortischen. Als sie ihre Aufmerksamkeit nach vorne richteten, bemerkten sie, dass Mr. Pools Tisch in eine Ecke des Labors geschoben war und an seiner Stelle ein niedriger, großer Tisch stand. Darauf waren, wie das dreidimensionale Modell eines verschlungenen Installationssystems, diverse Hamstergänge aufgebaut. Der Röhrenkomplex hatte mehrere Sackgassen, an einigen standen Behälter mit Futterstückchen, an anderen waren schimmernde Elektrodenscheiben angebracht. Mr. Pool schlurfte in das Labor, einen Käfig mit sechs weißen Mäusen in der Hand. „Dies ist für die morgige Stunde über Verhaltensweisen durch Elektroschock“, sagte er und setzte die Mäuse neben dem künstlichen Tunnelsystem ab. Er schenkte Sabrina und Jenny, die kicherten, ein säuerliches Lächeln. „Ich bin überglücklich, meine Damen, dass Sie sich so freuen, hier zu sein. Vielleicht könnten Sie mich ein wenig aufheitern, indem Sie mir gleich als erste Ihre Hausaufgaben einreichen.“ Sabrina sank das Herz. „Äh, Mr. Pool...“, begann sie. Pool schlenderte zu ihrem Platz hinüber und sah aus wie immer – als sei er der Welt überdrüssig. „Kommt jetzt wieder eine Ihrer üblichen, höchst unwahrscheinlichen, aber krampfhaft plausiblen Erklärungen, warum Sie Ihre Hausaufgabe nicht haben, Miss Spellman?“ Er legte die Hände wie Trichter hinter seine Ohren. „Nur zu, ich bin ganz Ohr.“ 25
„Also, m-meine Hausaufgaben wurden...“ Sabrinas Stimme senkte sich zu einem fast unhörbaren Flüstern „... von einer Kuh aufgefressen.“ „Von einer Kuh aufgefressen.“ Mr. Pool rieb sich die Hände, als prüfte er die Qualität ihrer Entschuldigung zwischen seinen Handflächen. „So etwas wird mir zum ersten Mal aufgetischt. Sie bekommen eine Sechs für die fehlenden Hausaufgaben, aber eine Eins für die originelle Entschuldigung.“ Er drehte sich um und ging an seinen Platz vor der Klasse zurück, als Libby zur Tür hereinstürzte. Mit einem wütenden Blick in Sabrinas Richtung stolzierte sie zu ihrem Stuhl und setzte sich. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie es rau abgeschrubbt und dann hastig das Make-up erneuert. Mr. Pool stürzte sich auf sie. „Soviel ich weiß, sollten Sie im Klassenzimmer sein, bevor die Glocke ertönt, Miss Chessler.“ Er verdrehte die Augen zur Decke. „Es sei denn, Sie erzählen mir, dass Sie durch eine wild gewordene Rinderherde aufgehalten wurden.“ Die ganze Klasse brach in Lachen aus und Libby wurde vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen rot. Sie wusste nicht, warum sie alle auslachten, aber sie war sicher, dass Sabrina Spellman dahinter steckte. Sie warf Sabrina einen vernichtenden Blick zu, aber Sabrina duckte sich unter dem Zorn des Cheerleaders weg und konzentrierte sich darauf, das Kapitel in ihrem Lehrbuch zu finden, um das es heute ging. Libby wandte sich wütend wieder ab, Mr. Pool begann, sich über Osmose und hypertonische Lösungen auszulassen, und die Welt schrumpfte zu einem leise pochenden Schmerz in Sabrinas Kopf zusammen. Das Kribbeln in ihrer Nase kam ohne Vorwarnung. Sabrina richtete sich blitzschnell auf und griff nach ihren Taschentüchern. Mr. Pool, der gerade eine Kartoffel mit einer Elektrode aufspießte, blinzelte sie an. „Sie brauchen sich nicht 26
aufzuregen, Miss Spellman. Die Kartoffel hat nichts davon gespürt.“ Sabrina antwortete nicht. Aus dem Kribbeln wurde ein feuriger Dolch, der sich zwischen ihre wässrigen Augen bohrte, und ihre ganze Aufmerksamkeit galt dieser Stelle, in Erwartung eines Niesens von dramatischen Ausmaßen. Mr. Pool durchbohrte die Kartoffel mit einer zweiten Elektrode, dann verband er die beiden Elektrodendrähte und stellte den Kontakt zu einem kleinen schwarzen Kästchen her, auf das eine Fassung mit einer 75-Watt-Birne geschraubt war. „Diese unscheinbare kleine Kartoffel wird nun die stromleitenden Fähigkeiten von Lebewesen vorführen, das Galvanische Prinzip, benannt nach dem brillanten italienischen Physiker Luigi Galvani.“ Sabrina kniff sich verzweifelt in die Nase in der Hoffnung, dass ein äußerlicher Schmerz das innere Kribbeln stoppen oder ablenken könne. Sie hörte Mr. Pools Murren nicht, als die Glühbirne dunkel blieb. „Oh, zum Teufel damit. Diese blöden Versuche funktionieren bei mir nie.“ In diesem Moment entlud sich das Kribbeln mit einem gewaltigen, ohrenbetäubenden Niesen, so dass Sabrina nicht hörte, wie der Physiklehrer leise fluchte, und nicht sah, wie er anklagend auf die widerspenstige Versuchsanordnung wies. „Ich wünschte, dieses Experiment würde einmal gelingen!“ In Sabrinas Ohren mochte es klingeln, doch mit ihren Augen war alles in Ordnung. Wie auch alle anderen in der Klasse sah sie, wie die Glühbirne auf dem schwarzen Kästchen plötzlich aufleuchtete. Und alle sahen, wie die Kartoffel anfing zu beben, wie Rauch aus den Elektroden aufstieg und der Duft gebackener Kartoffeln den Raum erfüllte. Doch nur Sabrina wusste, was da geschah. Ihre Zauberkräfte mussten auf Mr. Pool übergesprungen sein, als sie nieste, und er hatte durch Zauberkraft geschafft, dass das Experiment gelang. Übernatürliche Kräfte speisten das Licht und ließen es heller 27
und heller strahlen. Plötzlich wusste Sabrina, was gleich geschehen würde. „Runter!“, rief sie. Alle waren von dem sonderbaren Experiment so entnervt, dass sie aufs Wort folgten. Als Sabrina rief, duckten sich alle unter ihre Tische, sogar Mr. Pool. Daher wurde niemand von den umherfliegenden Glassplittern getroffen, als die Glühbirne einen Augenblick später explodierte. Jenny schrie vor Überraschung auf und warf sich Sabrina in die Arme, als sie sich unter ihre Tische kauerten. Jennys langes lockiges Haar wehte um Sabrinas Gesicht und reizte ihre Nase. Sofort nieste Sabrina wieder. Dieses Mal konnte Sabrina spüren, wie ihre Kräfte zurückkehrten. Es war ein Gefühl, als schlüpfte sie in ein liebgewordenes altes Flanellhemd, das so weich ist, dass man vergisst, es gerade angezogen zu haben. Sie seufzte vor Erleichterung, als die Glocke ertönte. Diese Sache mit der Kräfteverschiebung konnte total gefährlich werden. Beim Mittagessen hätte Sabrina sich entspannen und ihre Kräfte wieder auffrischen können, aber ihre Hexitis machte es ihr unmöglich. Durch die Vitamin-C-Tabletten schmeckte ihre Zunge wie eine Deponie für Sondermüll. Und das Essen in der Cafeteria, das auch an guten Tagen nur einigermaßen passabel war, ließ Sabrinas Magen Macarena tanzen, wenn sie es auch nur ansah. Vielleicht hätte sie doch besser zu Hause bleiben sollen, als sich mit Hexitis durch den Schultag zu quälen. Außerdem ertappte sich Sabrina dabei, wie sie panisch die Menschen zählte, die sich im selben Raum wie sie befanden, sobald ihre Nase anfing zu jucken. Es gab so viele Körper, in die ihre Zauberkräfte schlüpfen konnten, wenn sie nieste. Und wie sollte sie herausfinden, wer sie dann hatte, wenn diese Person nicht gerade etwas Ungewöhnliches tat und Sabrina es sah?
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Sie wollte alleine sitzen, aber die Cafeteria der Westbridge High School war nur klein und jede Clique beanspruchte und verteidigte ihr Revier. Libby regierte über den offiziellen Tisch der cool people, umgeben von ihren Lakaien und den Jungen, die sie diese Woche aufzogen. Zischeln und vereinzeltes Kichern stieg aus der üblichen Wolke aus Parfüm und Schminke auf. Sabrinas Erscheinen würde hier nur eisiges Schweigen hervorrufen. Die Sportfreaks saßen in der hintersten Ecke der Cafeteria, als könnten sie sich dort ebenso verstecken wie in den letzten Bänken im Klassenzimmer. Ihre Tische waren mit Abfällen übersät, dümmliche Witze und Essensreste flogen durch die Luft. Dorthin konnte sich Sabrina zwar setzen, aber sie hätte lächeln und hirnlos gackern müssen. Am Tisch der Streber roch es wie in der Umkleidekabine nach der Sportstunde und die hehre Schar redete in einer Sprache, die niemand verstand. An ihrem Tisch waren immer freie Plätze, aber die Mädchen mieden ihn, als ob Strebertum eine ansteckende Krankheit sei. Außerdem machten Mädchen die Streber definitiv nervös. Zu den Unterstufenschülern setzte man sich nicht. So blieb nur noch der Tisch im Niemandsland in der Mitte der Cafeteria. Hier saßen nur die Außenseiter und die, mit denen sich keiner abgeben wollte, gebrandmarkt schon allein durch die Auswahl ihrer Tischgenossen. Hier saßen Sabrina, Jenny und Harvey immer. Da keiner von ihnen schon da war, nahm Sabrina zögernd ihren üblichen Platz ein. Wenn sie Glück hatte, würden ihre Freunde nicht auftauchen. Doch das Glück war nicht auf ihrer Seite. Jenny stolzierte auf ihrem Weg zur Essensausgabe an ihr vorbei. Sie hatte ein Buch mit Theaterstücken in der Hand und las leise einen Text. Und wie zum Beweis dafür, dass das Glück im Augenblick wirklich keinen Gedanken an Sabrina Spellman verschwendete, nieste Sabrina mehrmals kurz hintereinander. 29
Sie spürte, wie die Kräfte aus ihrem Körper heraus und wieder zurückströmten, wie kleine Stiche, die ihren Körper innen und außen trafen. Dieses Gefühl ließ sie nach Luft schnappen, dann hörte das Niesen auf und ihre Nase tropfte wieder still vor sich hin. Ein fürchterlicher Gedanke befiel sie: Wie oft habe ich geniest? Eine gerade oder eine ungerade Zahl? Habe ich meine Kräfte noch? Sie zeigte mit dem Finger auf ihre Milch und wünschte sie zu Kakao. Nichts passierte. Sabrinas Finger sank herab und sie blickte sich schnell in der Cafeteria um. Es waren so viele Leute hier! Wer hat meine Kräfte?, fragte sie sich panisch. Libby? Jill? Cee Cee? Gordie? Sasha? Schnell, zaubert irgendetwas! Jenny kam von der Kasse herüber geschlendert und balancierte in einer Hand ihr Tablett, in der anderen ihr Buch. Sie lotste sich den Weg durch die Cafeteria ohne einen Blick von dem Buch zu wenden, ihre Lippen bewegten sich, als sie den Text leise rezitierte. Als sie an den Tisch kam, angelte sie mit einem Fuß nach einem Stuhl und ließ sich mitsamt dem Tablett und dem Buch nieder. Dann schoss sie wie eine rothaarige Rakete hoch, klatschte auf ihren Hosenboden und rief ärgerlich: „Igitt! Wie eklig! Wer hat diesen Dreck auf dem Stuhl gelassen?“ „Das ist doch nur eine zerknüllte Serviette“, sagte Sabrina. „Sie ist trocken. Du bist nicht schmutzig geworden.“ „Darum geht es nicht“, meinte Jenny ärgerlich, während sie den Stuhl vom Tisch wegzog und sich einen anderen nahm. „Abfall herumliegen zu lassen ist ein Zeichen von mangelnder Zivilisiertheit und sozialer Inkompetenz. Wenn wir uns nicht einmal darin einig sind, unseren Müll wegzuräumen, welche Hoffnung besteht dann noch, dass wir die größeren Probleme dieser Welt lösen?“ Sie hob die anstößige Serviette mit den
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Fingerspitzen hoch. „Für dich mag es nur eine Serviette sein, aber für mich ist es die Totenglocke der Zivilisation.“ Jenny hielt die Serviette mit ausgestrecktem Arm von sich und marschierte zu den Abfalleimern. Wie gewöhnlich sah die Abfallklappe in der Wand aus wie ein Müllhaufen. Pappbecher und schmierige Tabletts ragten heraus, schmutzige Servietten baumelten herum und der Boden war mit Krümeln bedeckt. Die Schüler hatten ihre Tabletts und Abfälle so nachlässig in den Schlitz geschoben, dass er verstopft war und kein weiteres Tablett oder auch nur ein Teller auf das Förderband zum Geschirrspüler geschoben werden konnte. Das ganze Ding sah aus wie eine riesige Mausefalle. Jenny beugte sich vor und versuchte ihre Serviette loszuwerden, ohne eine Lawine aus Abfällen auszulösen. Eine halb gegessene Pizza sah fettig genug aus für ihre Zwecke. Vorsichtig legte sie die Serviette auf die Pizza, bis sie sich mit Öl vollgesogen hatte. Innerhalb weniger Sekunden war die Serviette unlösbar mit der Pizza verbunden und die Gefahr, dass sie hinunter rutschte, war gebannt. Jenny drehte sich abrupt um und schüttelte angeekelt die Hände. „Warum muss ich so etwas machen“, klagte sie. „Ich wünschte, es würde sich noch jemand außer mir um den Abfall kümmern.“ „Stimmt etwas nicht, Miss Kelly?“, dröhnte es plötzlich hinter Jenny. „H-H-Herr Direktor LaRue“, stotterte Jenny. „Es tut mir Leid. Ich wollte nicht so einen Wirbel machen.“ Der geschniegelte Direktor der Westbridge High School baute sich vor dem schlanken Mädchen auf, den stattlichen Bauch drohend wie eine Lawine vorgereckt. „Um Abfall?“, LaRue tat erstaunt. „Unsinn, junge Dame. Sauberkeit und Zivilisation gehen Hand in Hand. Abfall aufzuheben ist womöglich das, was den Mensch zum Menschen macht.“ Er fischte einen dicken Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, der 31
an einer langen Kette hing, die sich ringelte. Die Schlüssel klimperten melodisch, als er sie auf der Suche nach einem bestimmten durchging. Er wählte ein besonderes Nummernplättchen aus Messing und öffnete damit die Tür neben der Abfallklappe. Das Vorgehen des Direktor blieb nicht unbeachtet. Alle Augen in der Cafeteria richteten sich auf den Rücken des mächtigen Mannes, als er sein Jackett auszog und es an einen Haken an der Innenseite der Tür hängte. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Jetzt starrte jeder in der Cafeteria unverhohlen auf das, was da vor sich ging. Plötzlich tauchten makellos manikürte Hände in das Durcheinander der Tabletts und begannen sie auseinander zu sortieren. Besteck klapperte, Gläser klirrten, als der Direktor zügig Tabletts und Abfall voneinander trennte und das Förderband zum Geschirrspüler bestückte. Sabrina staunte, genauso verblüfft wie der Rest ihrer Mitschüler. War der Alte plötzlich übergeschnappt? Was brachte ihn auf einmal dazu, eigenhändig den Abfall wegräumen? Dann wurde es ihr klar. Weil Jenny es sich gewünscht hatte. Jenny hat meine Kräfte! Sabrina ließ ihre Blicke durch die Cafeteria wandern, aber der gertenschlanke Rotschopf war nirgends zu sehen.
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Kapitel 4 Sabrina warf einen hastigen Blick zur Uhr an der Wand. Sie hatte zehn Minuten Zeit, um Jenny zu finden, bevor es klingelte und sie für die nächste Schulstunde in unterschiedliche Kurse gehen mussten. Um einen Zauberspruch auszuüben, musste man sich konzentrieren, aber, zumindest in den meisten Fällen, auch genau wissen, dass Hexerei im Spiel war. Da konnte ein Sterblicher unabsichtlich eine Menge Unsinn anstellen. Der Zauber, den Mr. Pool und Jenny ausübten, war das Ergebnis ihres sehnlichen Wunsches, einer zufälligen Handbewegung und, glücklicherweise, einer positiven inneren Einstellung. Ich will mir gar nicht vorstellen, was ein gemeiner Mensch mit meinen Fähigkeiten anstellen könnte, dachte Sabrina. Sie rannte aus der Cafeteria und blickte den Flur auf und ab. Mit ihrer Masse von brandrotem Haar wäre Jenny auch im Gang voller Schüler schwerlich zu übersehen gewesen sein. Jetzt, während der Schulstunden, waren die Gänge ungewöhnlich leer und Sabrina sah sofort, dass ihre Freundin nicht da war. Jenny war aufgeregt, überlegte Sabrina schnell. Wohin würde sie gehen, um sich zu beruhigen? Sabrina dachte daran, wieviel Jenny an ihrem Buch mit den Dramen lag, und sprintete los Richtung Bibliothek, doch ein Blick durch die Eingangstür zeigte ihr, dass sie auch hier nicht war. Sabrina sackte an der Tür in sich zusammen und sah das Ende der Welt kommen. Dann rann ein Schauer durch ihren Körper und kroch ihr in die Nase. Ein überdimensionales Kribbeln blähte ihre Nasenflügel. Verdammt, dachte Sabrina. Meine Kräfte werden mir von einer magischen Erkältung gestohlen, aber die Erkältung habe ich immer noch. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie stolperte zur Mädchentoilette. 33
Sie stieß die Tür auf und spürte, wie sie auf der anderen Seite gegen jemanden traf. „Entschuldigung“, schniefte sie und stürmte geradezu panisch zum Waschbecken. „Hey! Pass doch auf, wo du hingehst!“, sagte eine vertraute Stimme. „Jenny?“, rief Sabrina und wirbelte herum. Sie sah gerade noch Jennys Rücken, bevor sich die Tür hinter ihr schloss. Der Drang zu niesen wurde stärker, sie explodierte fast. „Jenny!“ Sie raste zur Tür. „Warte, geh nicht weg!“ Sie riss die Tür mit aller Kraft auf rannte ihrer Freundin nach. Überrascht über den Klang von Sabrinas Stimme drehte sich Jenny besorgt um. „Sabrina, was ist los? Ist etwas passiert?“ „Jenny, ich habe –“ Der Rest des Satzes ging in einem gewaltigen Niesen unter. Jenny taumelte entsetzt zurück und wedelte mit den Händen, als sie angeekelt an sich herabblickte. „Iiihh! Du hast mich angeniest! Bah, wie eklig. Iiih, das ist ja so eklig!“ Sie rannte zurück in die Mädchentoilette. Sabrina presste sich ein Taschentuch gegen die Nase – zu spät. „Pfenny... es pfupf mir pfeid!“, fing sie an, aber es war zu spät. Die Tür zur Mädchentoilette knallte vor ihrer Nase zu. Wenn das nicht der schrecklichste Tag meines Lebens ist, möchte ich nicht wissen, wie es noch schlimmer kommen kann, dachte Sabrina, als sie zurück zur Cafeteria ging. Als sie um die Ecke bog, wurde sie beinahe von einem wutschnaubenden Direktor LaRue umgerannt. Er hatte die Fäuste geballt und über seinen sonst so makellosen Anzug waren Salatblättchen verteilt. Er schien Sabrina überhaupt nicht zu sehen und wenn sie sich nicht an die Wand gedrückt hätte, wäre sie niedergetrampelt worden. Total entnervt ging Sabrina zu ihrem Tisch zurück. Harvey saß immer noch da und memorierte mit geschlossenen Augen leise seinen Text. „Haben heute eigentlich alle Kollisionitis?“,
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fragte Sabrina und ließ sich gegenüber von Harvey auf ihren Stuhl plumpsen. „Erst habe ich Jenny beinahe platt gemacht, dann walzt mich LaRue fast nieder. Warum ist er eigentlich so sauer?“ Harvey öffnete die Augen und blinzelte nachdenklich. „Na ja, er war dabei, die Tabletts durch den Schlitz zu schieben, und –“ Sabrina tat so, als sei sie erstaunt. „Direktor LaRue? Unser Direktor LaRue? Der immer so darauf bedacht ist, sich nicht schmutzig zu machen, dass Mr. Pool sogar seinen Stuhl abwischen muss, bevor er sich setzt?“ „Genau der“, stimmte Harvey zu. „Das fand ich damals ziemlich komisch.“ Sabrina lehnte sich zurück und versuchte, die Dinge auf die Reihe zu bringen. Auf Jennys Veranlassung hin räumte LaRue zunächst den Abfall weg. Das heißt, dass ihr Zauber unwirksam wurde, sobald meine Kräfte zu mir zurückkehrten. Sabrina verzog das Gesicht. Wenigstens ein Trost. Jenny kam an den Tisch und setzte sich demonstrativ so weit wie möglich weg von Sabrina. Sabrina versuchte, ihre Freundin anzulächeln, aber Jenny vertiefte sich in ihr Dramenbuch. Bekomme ich meine beste Freundin nur dann zurück, wenn ich meine Kräfte verliere? Sabrina wandte sich wieder Harvey zu. „Wollen wir zusammen unsere Geometrie-Aufgaben machen?“ „Ääh... tut mir Leid“, sagte Harvey ausweichend. „Also, Mr. Pool hat mir erlaubt, die Stunde heute zu schwänzen, um für das Vorsprechen zu üben.“ Er wurde ein bisschen rot und sah fürchterlich schuldbewusst aus. Harvey konnte einfach nicht Nein sagen. Mit gezwungener Fröhlichkeit sagte Sabrina: „Im Ernst? Na sehen wir uns dann beim Vorsprechen?“
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Harveys Gesicht hellte sich auf. „Klar“, grinste er. Harvey war immer froh, wenn sich die Dinge am Ende problemlos klärten. Die Glocke läutete und alle schlenderten aus der Cafeteria hinaus und in den Flur. Die herausströmende Menge stieß mit der Vorhut der nächsten Pausenschicht zusammen, die sich drängelte, um die Ersten bei der Essensausgabe zu sein. Zwischen den Leuten, die hinein- und denen, die hinausdrängten, fühlte sich Sabrina wie eine Motte in einem Mixer. Ein Schwindelgefühl schwappte über sie hinweg und plötzlich begann es in ihrem Kopf zu pochen. Das vertraute Kribbeln begann. Oh nein, schrie es in Sabrina. Ich kann doch jetzt nicht niesen! Das geht nicht, das geht nicht! Es ging. Das Niesen pfiff wie ein Querschläger durch ihren Kopf und sie spürte das schwächer werdende Prickeln, als ihre Kräfte sie verließen. Das Niesen schlug eine breite Bresche in die Menge der Schüler, die von ihr abrückten, genervt murmelten und ihr böse Blicke zuwarfen, als wäre sie der Tod höchstpersönlich. Sabrina drehte den Kopf hin und her und beobachtete das Gedränge um sie herum. Oh nein, auf wen sind meine Kräfte übergegangen? Harvey setzte sich unter die große Eiche, die fast den ganzen grasbewachsenen Winkel zwischen dem Hauptgebäude der Schule und dem Anbau der Sporthalle einnahm. Der schattige Platz bot einen Blick über ganz Westbridge und war Harvey liebster Rückzugsort, wenn er über etwas nachdenken musste. Er fischte ein eselsohriges Taschenbuch aus seiner Schulmappe hervor, öffnete es beim Lesezeichen und schlug den Umschlag um, so dass er das Buch mit einer Hand halten konnte. Die Ecke war der einzige Fleck in der Schule, an dem sich Harvey nicht bedrängt fühlte. Jeder schien ständig etwas von ihm zu erwarten, wollte, dass er irgendetwas unternahm... was 36
immer dieses „irgendetwas“ auch war. Lehrer, Mitschüler, Werbeleute, Busfahrer, Bibliothekare, jeder wollte offenbar ständig, dass er irgendwelche Erwartungen erfüllte. Die meisten Erwartungen hegte sein Vater. Er war ein Sportfan und hatte bereits eine große Eichenholzvitrine für Harveys Pokale gekauft. Leider war sich Harvey gar nicht sicher, ob schweißtreibende Anstrengungen und ewige Verletzungsgefahr das waren, was er vom Leben erwartete. Fakt war, dass Harvey eigentlich überhaupt nicht wusste, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Sport war natürlich nicht übel, aber er hatte gerade im letzten Jahr entdeckt, dass Lesen ihm auch Spaß machte. Und manchmal dachte er auch darüber nach, ob er nicht Zahnarzt werden sollte. Seinen Freunden gegenüber hatte er immer verheimlicht, dass er gern einfach nur dasaß und nachdachte. Für Harvey war das Leben ein unendlich spannendes Rätsel und ihm half es, dazusitzen und darüber zu brüten, was die Menschen taten, warum sie es taten, und warum er tat, was er tat. Doch die wenigen Male, bei denen er seine Lieblingsbeschäftigung erwähnt hatte, hatten ihn die anderen ziemlich komisch angesehen. Außer Sabrina natürlich. Sabrina war auch der einzige Mensch, den er kannte, die keine Erwartungen in ihn setzte. Sie lachte über seine Witze und spielte klasse Fußball. In ihr steckte vermutlich viel mehr, als sie erzählte und das verführte Harvey dazu, sie in seine eigene geheime Welt hineinzulassen. Wenn er nur nicht immer so verdammt schüchtern würde, wenn sie zusammen waren. Wie immer, wenn er an Sabrina dachte, zog sich etwas in ihm zusammen. Er seufzte. Es wäre besser, diese sonderbaren Gefühle zu vergessen und Energie für das Vorsprechen zu sammeln. Er rollte die Schultern, um seine Muskeln zu entspannen, holte tief Luft und begann laut vorzulesen. „Verstehst du nicht? Sie sind nicht anders als wir! Sie haben 37
Gefühle, sie können Freunde sein, sie – lieben. Es gibt keinen Grund mehr zu hassen. Es gibt keinen Grund mehr, sich gegenseitig zu bekämpfen. Wenn wir alle die Hand in Freundschaft ausstrecken“ – Harvey streckte linkisch seinen Arm aus, als ob er eine unsichtbare Hand schütteln wollte – „können wir die Kluft zwischen uns überbrücken. Also. Lasst uns alle in Frieden zusammenkommen.“ Ein warmes Gefühl durchströmte ihn und die Worte gewannen auf einmal über ihren bloßen Klang hinaus Bedeutung. Dann ließ sich plötzlich ein Vogel auf seiner ausgestreckten Hand nieder und Harvey staunte nur noch. Im Aufenthaltsraum, in dem sie ihre Schularbeiten machten, starrten alle hinter ihren Büchern hervor auf Sabrina. Kein Wunder, denn Sabrina hatte, seit sie sich hingesetzt hatte, in regelmäßigen Abständen geniest. Mr. Pool, der eigentlich heute die Aufsicht halten sollte, sich aber tief in die Klatschspalte seines naturwissenschaftlichen Magazins vergraben hatte, bekam als Einziger nichts mit. Beim besten Willen konnte sich Sabrina nicht auf das Buch vor ihrer Nase konzentrieren. Sie sah nur, wie ein unbekannter Sterblicher mit ihren Kräften gerade Amok lief. Da waren Katastrophen ohne Ende vorprogrammiert. Mit der Zauberkraft konnte schließlich jeder beliebige Satz gefährlich werden. Was würde passieren, wenn jemand auf einen anderen deutete und sagte: „Verschwinde“? Oder „Geh zum Teufel“? Sabrina brach der kalte Schweiß aus. Und was würde sie erwarten, wenn der Hexenrat davon erfuhr? Ihre Tante Hilda ging mit Drell, dem Vorsitzenden des Rats, aber Sabrina glaubte nicht, dass ihr das helfen würde. Drell gab selbst zu, dass er ein rachsüchtiger, kleinlicher, boshafter, machtgeiler Despot war und dass er sich darüber auch noch freute. Er hatte Salem zu hundert Jahren
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Katzenleben verurteilt. Was würde er mit Sabrina tun? Ein Schauer rann ihr über den Rücken. „Wenn du krank bist, warum bleibst du dann nicht zu Hause?“, zischte es hinter ihr. Das weckte Mr. Pools Aufmerksamkeit. „Fühlen Sie sich nicht wohl, Miss Spellman?“, fragte er und äugte über seine Zeitschrift. Ich fühle mich beschissen, wollte Sabrina schreien. Ich habe meine Kräfte verloren und ich bin sterbenskrank. Stattdessen lächelte sie ihren Lehrer müde an. „Nur ein 24-Stunden-Virus. Nicht ansteckend.“ „Das können Sie ja wohl kaum beurteilen, junges Fräulein. Wenn Sie etwas Ansteckendes haben, könnte ich es aufschnappen und Stunden versäumen. Und dann würde Direktor LaRue mein Gehalt kürzen. Ich möchte nicht ins Armenhaus kommen, nur weil Sie rücksichtslos sind“, sagte er und zeigte auf die Tür. „Sie gehen auf der Stelle hinunter ins Krankenzimmer!“ Er fischte ein Taschentuch aus der Tasche und bedeckte damit Mund und Nase. Sabrina packte ihre Bücher in den Rucksack und schlich aus dem Aufenthaltsraum. Als sich die Tür hinter ihr schloss, konnte sie hören, wie die anderen Schüler klatschten. Vielleicht soll ich mir auch noch ein Schild um den Hals hängen: ,Kranke Hexe’? Was für einen Sinn hätte es eigentlich, ins Krankenzimmer zu gehen? Was konnte die Krankenschwester denn schon für eine Hexe tun, die ihrer magischen Kräfte beraubt war, außer ihr aufmunternd auf den Rücken zu klopfen? Ich kann mir mein Leben ohne meine Zauberkraft gar nicht mehr vorstellen, dachte Sabrina. Keine De-Luxe-Pizza-mitallem mehr, kein Instant-Make-up, keinen Kleiderschrank mehr mit allen erdenklichen Klamotten. Dann dachte sie an Drell. Vielleicht nicht einmal mehr ich selbst! Sie musste unbedingt herausfinden, wer ihre Kräfte nun besaß. Wo soll ich nur 39
anfangen? Die Flure auf und ab gehen und nach Ahnungslosen mit Zauberkraft suchen? Da ihr nichts Anderes einfiel, beschloss Sabrina, durch die Gänge zu gehen und nach Anzeichen ungewöhnlicher... Vorfälle Ausschau zu halten. Sie nahm sich erst die Flure im Erdgeschoss vor, wobei sie darauf achtete, dass sie nicht den Aufsichtskräften in die Arme lief. Die Aufsicht, die von Schülern gestellt wurde, hielt sich viel zu oft für die Hüter von Recht und Ordnung der gesamten Schule. Wenn einer davon sie erwischen würde, hätte sie guten Gewissens sagen können, dass sie auf dem Weg ins Krankenzimmer sei, aber sie befürchtete, dass ein diensteifriger Schüler darauf bestehen würde, sie zu begleiten. Das Foyer der Schule hatte gegenüber von den Türen zu den Klassenzimmern Fenster mit tiefen Laibungen, die auf den Hof hinter der Schule und über die Sportplätze hinausgingen. Sabrina klapperte Fenster für Fenster ab, wobei sie bei jedem vorsichtig um die Ecke spähte, ob die Luft auch rein war. Sie näherte sich der Sporthalle, einem total gefährlichen Terrain. Die Sporthalle ging über zwei Stockwerke und war dreißig Meter lang. Es gab nur zwei Türen, bei denen sie sich verstecken konnte, und Sabrina war sicher, dass man sie entdecken würde, bevor sie dieses Minenfeld durchquert hatte. Sie schlich sich in die Ecke eines tiefen Fensters und rechnete ihre Chancen aus. Plötzlich weckte eine Bewegung vor dem Fenster ihre Aufmerksamkeit. Oh nein, dachte sie. Das darf doch nicht wahr sein! Ohne sich weiter um ihre Deckung zu kümmern, raste Sabrina durch die Halle auf die zweiflügelige Tür zu, die auf den Hof hinter der Schule hinausführte. Sie stürzte panisch aus der Tür, rannte um die Ecke und blieb dann abrupt stehen. Was sie sah, war nun wirklich zu viel. Harvey saß im Schulhof neben der Eiche, die Arme ausgestreckt, die Augen vor Erstaunen aufgerissen. Dutzende 40
von Vögeln hatten sich auf ihm niedergelassen. Rotkehlchen kämpften mit Eichelhähern um einen Platz auf seiner Schulter, Stare hüpften ihm auf dem Kopf herum, kleine Finken saßen artig in einer Reihe auf seinen Armen. Und alle schauten ihm aufmerksam ins Gesicht. Doch die Vögel besetzten nur die vorderen Ränge. Um Harvey herum und fast den ganzen Schulhof einnehmend, drängten sich mehr Tiere, als Sabrina in Westbridge je vermutet hätte. Hamster, Maulwürfe, Waschbären, Dachse hätte sie sich vielleicht vorstellen können, aber ausgewachsene Wölfe? Und der Bär war wohl nicht nur mit den Abfällen aus den Vororten so groß geworden! Als Sabrina heranstürmte, schreckten einige der Vögel auf und flatterten hektisch davon, wobei sie diverse Federn verloren. Ein Flaumbüschel setzte sich auf Sabrinas Nase und sie schielte es einen Moment lang an, bevor ihr Niesen es wegblies.
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Kapitel 5 Harvey war immer noch ganz weg vor Erstaunen, als er und Sabrina versuchten, sich ihren Weg durch die entgegenkommenden Schüler im Foyer zu bahnten. „Das war der reine Waaaahnsinn!“, sagte er immer wieder und jedesmal wurde das Wort länger. „Du hast leicht reden“, murmelte Sabrina. Sie hielt sich ein Taschentuch unter die laufende Nase und strich sich mit der anderen Hand die Federn aus ihrem blonden Haar. „Du bist ja auch nicht von der versammelten Mannschaft eines BambiFilms überrannt worden.“ Die Schüler der Westbridge High School schoben sich durch das Foyer wie eine Amöbe, die sich mit heftigen Bewegungen ihren Weg zurück in das wirkliche Leben suchte. Die Masse teilte sich in einzelne Gruppen, die sich in alle möglichen Richtungen verliefen. Die meisten zwängten sich in irgendwelche Schulbusse, die davonfuhren und sie an diversen Straßenecken und an Landstraßen wieder ausspien. Andere Gruppen zog es in die Sporthalle oder auf den Sportplatz, wo sie sich um Bälle unterschiedlicher Größe sammelten. Die Lehrer zerfielen in Kleinstgruppen. Sie quetschten sich einzeln in ihre Autos und träumten doch alle denselben Traum von aufgeschnürten Schuhen, einem guten Essen und einem ruhigen Plätzchen. Sabrina und Harvey kämpften sich durch dieses Chaos bis in die Aula, um dort Teil einer ganz neuen Gruppe zu werden – der hoffnungsvollen Anwärter der Thespis-Gesellschaft der Westbridge High School. „Geh du zuerst hinein“, schlug Harvey vor. „Ich muss mich noch einen Moment auf meinen Text konzentrieren.“ Sabrina kramte in ihrer Tasche herum, wühlte sich durch gebrauchte Taschentücher auf der Suche nach einem 42
unbenutzten. Das Kribbeln in ihrer Nase machte sich wieder bemerkbar. „In Ordnung“, antwortete sie. „Ich muss mir ohnehin noch die Nase rudern... äh pudern.“ Ohne Harveys verblüfften Blick zu beachten strebte sie der Mädchentoilette zu. Sabrina streckte die Hand aus, um die Tür aufzustoßen, doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. Sie wollte weder auf Jenny noch sonst irgendjemanden prallen. Langsam, vorsichtig drückte sie die Klinke runter. Zu ihrem Erstaunen bewegte sich die Tür nicht. Sabrina drückte stärker. Die Tür ruckte ein wenig, aber da war irgendein Widerstand. Sabrina warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie flog auf und Libby Chessler stolperte heraus, mit der Hand noch auf der Klinke an der Innenseite. Sabrina wich zurück als der Cheerleader zu Boden fiel, wobei ihre Tasche aufging und der Inhalt sich über die Linoleumplatten verteilte. Plastiktuben mit Lipgloss und Puderdöschen schlitterten unter dem Geräusch von splitterndem Glas davon. Ein Wolke von Blumenduft stieg auf und verstärkte das Kitzeln in Sabrinas Nase. „Du blöder Trampel!“, schnaubte Libby. Sie raffte einen Umhang aus Rohseide um sich und bückte sich, um ihr Schminktäschchen aufzuheben. „Was willst du überhaupt hier? Habe ich dir nicht klar und deutlich gesagt, du sollst die Toilette für die Freaks benutzen?“ Sabrina kümmerte sich nicht um sie und eilte zum Waschbecken, um sich ein paar Papierhandtücher aus dem Spender zu ziehen. Ich darf jetzt nicht niesen. Egal was passiert, ich darf jetzt nicht niesen, hämmerte sie sich ein. Nicht hier! Nicht jetzt! Aber Libbys Parfüm machte ihr schwer zu schaffen. Verzweifelt riss sie ein Papierhandtuch entzwei und steckte sich die zusammenknüllten Stücke in die Nasenlöcher.
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Libby starrte sie entsetzt an. „Was machst du da? Irgendein verrücktes Freak-Ritual?“ Panisch und ohne hinzusehen wischte sie alle ihre Kosmetika in den Beutel und ging rückwärts zur Tür. „Komm mir nicht zu nahe! Ich weiß alles über dich! Ich habe es in der Zeitung gelesen.“ Sabrina ballte die Fäuste, bis sich ihre Nägel in die Handflächen gruben und kämpfte mit aller Kraft gegen ihren Niesreiz an. Gerade als Libby die Tür erreichte, verging der Reiz. Sabrina entspannte sich. Und dann nieste sie. Es war ein ganz kleiner Nieser, nicht einmal stark genug, die Papierpfropfen aus ihrer Nase zu schleudern. Aber es genügte. Sabrina spürte das Prickeln, als ihre Kräfte sie in dem Moment verließen, als Libby die Tür öffnete und aus dem Raum ging. Als Sabrina die Aula betrat, wuselten dort etwa ein Dutzend oder mehr Leute herum, die darauf warteten, dass Mrs. Bozigian endlich kam und das Vorsprechen beginnen konnte. Die Aula war nicht besonders groß, eigentlich nicht mehr als ein breites Klassenzimmer mit einer Bühne. Ein Flügel stand in einer Ecke, direkt vor der schon etwas verblichenen amerikanischen Fahne. Harvey saß auf dem Klavierhocker mit dem Rücken zu den Tasten. Libby war an ihm vorbeigeschwebt und hatte dabei mit ihrem seidenen Ärmel wie zufällig seine Schulter gestreift. Jenny schlenderte zu Sabrina herüber, blieb aber vorsichtshalber etwa einen Meter vor ihr stehen. „Ganz schön aufgedonnert, was?“ Sie schien den Mittelweg zwischen Freundlichkeit und übertriebener Vorsicht zu suchen. „Hast du dir schon einen Text ausgesucht?“ Sabrina blickte sie verblüfft an. Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht! „Äh... nein. Was liest du?“ „Königin Lear von William Shakespeare“, sagte Jenny stolz. „Königin Lear?“ 44
„Ja“, begeisterte sich Jenny. „Sieh mal, wenn ich die patriarchalischen Strukturen des Stückes in matriarchale transformiere, kann ich die Unterdrückung der Frau, die zwischen den Zeilen deutlich wird, herausarbeiten.“ „Ich spüre diese Unterdrückung jetzt schon“, meinte Sabrina und verzog das Gesicht. Harvey kam zu ihnen, blieb aber ebenso weit von Sabrina entfernt stehen wie Jenny. „Was liest du?“, fragte Sabrina. Harvey lächelte verlegen, aber seine Antwort wurde von einer anderen Stimme abgeschnitten. „Populistischer Käse“, höhnte Libby, die Harvey durch die Aula gefolgt war. „Ich werde eine Interpretation der größten amerikanischen Schauspielstücke bieten.“ Sie streifte ihren seidenen Umhang ab und warf ihn dramatisch über eine Stuhlreihe. Darunter trug sie ein eng anliegendes Stretch-Outfit mit dem raffinierten, vielfarbigen Muster eines Tigerfells. Ein Kragen aus flauschigem Fellimitat, bemalte Handschuhe und ein langer, getigerter Schwanz komplettierten das Kostüm. Libby strich ihre Haare zurück und setzte eine Kappe mit großen Katzenohren auf. Sie fuchtelte dramatisch herum und schnurrte „Ich gebe die Grizabella.“ Jenny war sauer. Ihre blasses Gesicht wurde genauso rot wie ihre Haare. „Hey, das ist doch kein Text! Sie singt doch nur!“ „Und ,Cats’ ist ein englisches Stück“, wandte Sabrina ein. „Es war schließlich ein Hit am Broadway, oder etwa nicht?“, entgegnete Libby selbstverliebt. „Und der ist nun mal in Amerika.“ Sabrina fühlte sich so mies, dass sie auf einmal ganz offen war. „Warum versucht du nicht einfach zur Abwechslung fair zu sein?“ Libby sah sie so verblüfft an, als sei ihr dieser Gedanke noch nie gekommen. Dann überging sie die Bemerkung mit einem Schulterzucken und sagte schnippisch: „Das habe ich nicht nötig. Damit würde ich mich auf euer Niveau herablassen. 45
Außerdem bin ich die Sprecherin des zweiten Jahrgangs. Ich müsste ohnehin den Vortritt haben.“ Jenny schnaubte verächtlich. „Tut mir Leid, aber ich dachte, dies ist immer noch ein demokratisches Land.“ „Ach ja? Na, so eine Kleinigkeit wird mich nicht hindern können“, gab Libby frech zurück. Diese Außenseiter verdarben ihr allmählich die Laune. „Das reicht für heute“, schmollte sie. Sie zeigte herrisch mit dem Finger auf Sabrina und Jenny. „Ich schaffe es, und zwar ohne dass ich etwas vorsprechen muss.“ Sabrina bemerkte gerade noch das leise Klingeln der Zauberformel, die die ahnungslose Libby aussprach, als Mrs. Bozigian, die Hauswirtschaftslehrerin, in den Raum schwirrte. Mit ihrem Haar, das dicht an den Kopf in Zöpfe geflochten und mit glitzernden Perlen geschmückt war, sah sie aus wie die Fernsehköchin Martha Stewart und strahlte dasselbe supereffiziente Flair aus. „Willkommen, willkommen ihr Anhänger der Kunst des Thespis. Ich danke euch allen für euer Interesse an unserem kleinen dramatischen Unternehmen.“ Einige Schüler waren leicht verwirrt über Mrs. Bozigians extravaganten Auftritt. „Dieser Tag wird euch unvergessen bleiben, vielleicht auch noch euren Enkeln – der Tag, an dem die Thespis-Gesellschaft der Westbridge High School gegründet wird und sich einreiht in die erlauchte Gesellschaft des Actor’s Studio und des Westbridge Dinner Theater, das zu leiten ich die Ehre habe.“ „Ist das für eine High School nicht ein bisschen hoch gegriffen?“, raunte Harvey Sabrina zu. „Lass ihr den Traum“, gab sie im Flüsterton zurück. „Wir sind in drei Jahren weg, sie muss hier bleiben.“ Mrs. Bozigian ließ ihre Blicke über die versammelten Schüler schweifen und strahlte vor Vergnügen. Unter ihrem strengen Blick straffte so mancher Schüler den Rücken und Libby strich sich über ihr Fell und leckte sich die behandschuhte Pfote. „Es wird euch allen gefallen, da bin ich 46
mir sicher. Sobald ihr eure Wahlfachanmeldungen unterschrieben habt, die dort neben der Tür liegen, fangen wir mit unseren ersten Schauspielübungen an.“ „Entschuldigen Sie bitte, Mrs. B.“, meldete sich Harvey schüchtern, „aber sollten wir nicht einen Text zum Vorsprechen vorbereiten?“ Einen Moment schien Mrs. Bozigian verwirrt. „Nicht dass ich wüsste, Harvey.“ Jenny fiel ein. „Aber Sie haben es uns als Aufgabe gegeben.“ „Unsinn. Ich habe vielleicht gesagt, ich gebe euch eine Menge Texte und ihr habt mich missverstanden.“ So also sieht es aus, wenn man es von außen betrachtet, dachte Sabrina. Sie wusste ganz genau, warum sich Mrs. Bozigian nicht mehr daran erinnern konnte, dass sie die Schüler gebeten hatte, einen Text vorzubereiten. Libbys Zauberspruch hatte es aus dem Gedächtnis der Lehrerin gelöscht und daher musste Libby auch nicht vorsprechen. Sabrina warf dem Cheerleader einen Blick zu, jetzt müsste sie eigentlich triumphierend lächeln. Stattdessen sah Libby aus, als würde sie gleich eine Krise kriegen. „Entschuldigen Sie“, schnappte sie. „Wollen sie etwa damit sagen, dass alle diese Möchtegerns aufgenommen sind? Automatisch?“ „Ja, aber natürlich, meine Liebe“, antwortete Mrs. Bozigian. „Wir leben schließlich immer noch in einer Demokratie und an den Segnungen des Theaters sollten alle teilhaben –“ „Warum sagen die Leute das immer so, als wäre das der Grund dafür, dass es nicht so läuft wie ich es will? Ich meine, wozu ist man etwas Besonderes, wenn jeder dieselben Rechte hat?“ Libby stand auf. „Es tut mir Leid, aber ich habe etwas Besseres zu tun. Oder zumindest denke ich mir etwas Besseres aus.“ Sie schnappte sich ihren Umhang vom Stuhl und rauschte hinaus, als sei sie eine Katzenkönigin, die sich zurückzog.
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„Jammerschade! Wen sollen wir jetzt für die böse Hexe besetzen?“, platzte Sabrina heraus. Dann fiel ihr plötzlich ein: Hexe?? Libby hat gerade mit meinen Zauberkräften den Abgang gemacht! Sie rannte zur Tür. „Sind Sie sich ebenfalls zu gut für uns, Miss Spellman?“ fragte Mrs. Bozigian und konnte kaum verbergen, wie gekränkt sie war. „Wollen Sie uns auch verlassen?“ „Ja. Ich meine, nein,... äh... Ich äh...“ Sabrina blieb stehen und suchte nach einer Antwort. „Ich schau nur nach, ob ich Libby überreden kann dabeizubleiben.“ Sie flüchtete aus der Aula, bevor die Lehrerin antworten konnte. Diese Verzögerung war kurz, aber sie genügte, um Sabrina ins Verderben zu stürzen. Sie kam zum Schulportal gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Libby in ein Taxi stieg und davonbrauste. Na toll! Jetzt verzaubert Libby alle Taxis in Westbridge! dachte sie. Wie soll es jetzt weitergehen?
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Kapitel 6 Am Eingang zum Westbridge-Einkaufszentrum stieg Libby aus dem Taxi. Der Fahrer hielt ihre Kreditkarte und einen Kuli hin. Libby grapschte danach, kritzelte ihren Namen auf den Rechnungsbeleg und warf ihm den Zettel beim Zurückgeben beinahe ins Gesicht. Als sie sich dem Einkaufszentrum zuwandte, fuhr der Fahrer mit quietschenden Reifen los und hüllte sie in eine stinkende Abgaswolke, so dass sie husten musste. Er musste gemerkt haben, dass sie ihm kein Trinkgeld auf den Beleg geschrieben hatte. Libby hatte nie verstanden, warum man Leuten auch noch ein Trinkgeld geben sollte – wurden sie denn für ihren Job nicht ohnehin bezahlt? Schlecht gelaunt wedelte sie mit ihrem Umhang den Gestank fort und drückte dann die Glastür zum Einkaufszentrum auf. Sie dachte gar nicht mehr daran, dass sie immer noch in ihrem Cats-Kostüm steckte, und wurde deshalb abrupt gestoppt, als die automatischen Türen sich schlossen und dabei ihren Schwanz einklemmten. Sie fluchte leise und zerrte genervt daran, bis sie ihn schließlich befreite, wobei er allerdings die Hälfte seines Plüschfells einbüßte. Nichts auf der Welt hasste Libby mehr als Situationen, in denen die Dinge nicht nach ihrem Willen gingen. Heute hatte sie eine Frustration nach der anderen erlebt, angefangen mit dieser kleinen blonden Aufsteigerin Sabrina Spellman. Frustrierende Erlebnisse wie diese konnten nur durch eine exzessive Shoppingtour gemildert werden. Rasch bahnte Libby sich ihren Weg durch das Einkaufszentrum, ohne auf die Leute zu achten, die ihr ungewöhnliches Outfit anstarrten, und hielt geradewegs auf Daddy’s Money zu, dem exklusivsten, was Westbridge an Boutiquen zu bieten hatte. Sie stöberte wahllos durch modische Klamotten auf einem Kleiderständer, der aus zusammengeschweißten und 49
verchromten Gartengeräten bestand. Mit kundiger Hand schob sie Bügel um Bügel zur Seite, riss dann und wann ein Kleidungsstück heraus, legte es auf den immer höher werdenden Stapel über ihrem rechten Arm und ließ den Rest in heilloser Unordnung zurück. Als sie schließlich sieben oder acht Teile ausgesucht hatte, wandte sie sich den Umkleidekabinen zu. Noch bevor sie den Durchgang zu den Kabinen erreicht hatte, trat ihr die Verkäuferin in den Weg. „Tut mir Leid, Miss. Sie können nicht mehr als drei Teile auf einmal in die Kabine nehmen.“ Die Verkäuferin war noch ganz jung, gerade erst aus der Schule, und fühlte sich in ihrer Rolle als Wachhund sichtlich unwohl. „Wie bitte?“ Mit einem ihrer Schlangenblicke brachte Libby das Mädchen zum Verstummen. „Sie wollen wohl Ihre Provision verlieren?“ Ohne eine Antwort abzuwarten drängte Libby sich an dem eingeschüchterten Mädchen vorbei in die kleine Kabine. Libby schnaubte verächtlich, als sie die Sachen, die sie ausgesucht hatte, über den einzigen Haken an der Wand warf. Hier hatte man wirklich eine lausige Auswahl. Gerade drei Modelle von Ralph Lauren und nur eines von Liz Claiborne. Alles andere in diesem Laden war von irgendwelchen Nobodys. Egal, vielleicht konnte sie dieses Wochenende einen Shoppingtrip nach Boston machen. Nach und nach probierte Libby die Outfits an und warf sie dann achtlos auf die Bank. Sie fand sie alle ätzend. Aber sie konnte unmöglich Daddy’s Money verlassen, ohne irgendetwas gekauft zu haben. Sie sammelte die Klamotten wieder auf und hielt sie sich in unterschiedlichen Kombinationen prüfend an. Bald waren die Bügel am Haken leer und Libby hatte eine Kombination zusammengestellt, die ganz passabel aussah. Zumindest würde außer ihr keiner in der Schule so etwas haben. Kritisch musterte sie ihr Spiegelbild. 50
Sie hatte sich für einen scharlachroten Lederrock und eine einigermaßen passende Weste entschieden. Eine Menge Schnallen und Reißverschlüsse waren dran und klingelten bei jeder Bewegung, womit sie garantiert Aufmerksamkeit erregen würde. Aber die Farbe war eigentlich out und die Schnallen standen ihr nicht. Unter der Weste trug sie eine Seidenbluse mit steifem offenem Kragen, der in runde Ecken auslief, und langen, engen Ärmeln. Ein bernsteinfarbener Anhänger nahm das Braun der Strumpfhose wieder auf. Sie war barfuß, Schuhe hatten Zeit bis später. Mit gerunzelter Stirn blickte Libby in den Spiegel und ärgerte sich darüber, dass die Weste an ihr so schief saß. Warum konnten sie keine Klamotten machen, die besser passten? Schließlich zahlte sie ja genug dafür. Und so schwierig wäre es auch nicht, das zu ändern. Sie deutete auf eine der Schnallen im Spiegel. Man musste nur diese ein paar Zentimeter hinaufsetzen und diese Naht... Als Sabrinas Tanten ihr die ersten Lektionen über Zaubersprüche gegeben hatten, begannen sie mit den einfachsten Übungen: Konzentrieren und auf etwas zeigen. Libbys Stärke war ihre Konzentrationsfähigkeit. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf sich und ihre Wünsche. Sie wusste immer genau, was sie wollte und normalerweise auch, wie sie die Leute dazu brachte, dass sie es bekam. Und sie war in der ganzen Schule für ihren herrischen Zeigefinger bekannt, worüber sich ihre Mitschüler gern lustig machten. Dies alles zusammen reichte aus, um ihre neuen Zauberkräfte in Gang zu setzen. Plötzlich schoben sich die Schnallen auf der Weste ganz von allein nach oben. Der Saum richtete sich neu aus und die grellen Farben wurden abgedämpft. Jetzt saß die Weste perfekt. Libby blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen.
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Doch Libby wäre nicht Libby gewesen, wenn sie nicht sofort geargwöhnt hätte, dass irgendjemand ihr einen Streich spielte. „Wer war das?“, fragte sie in die Kabine und spähte Decke und Wände nach einer Kamera oder einem Guckloch ab. „Ich lasse Sie verhaften und ins Gefängnis werfen, wenn Sie mich beobachten. Mein Daddy kennt jede Menge hungriger Rechtsanwälte.“ Als sie weder verdächtige Löcher noch verborgene Kameralinsen in den Wänden ausmachen konnte, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiegel zu. Der Spanner versteckte sich womöglich hinter dem einseitig durchsichtigen Spiegelglas. Sie zeigte vorwurfsvoll auf den Spiegel und sagte: „Lass uns doch einmal sehen, was hinter dem Spiegel ist.“ Noch bevor sie den Rahmen des Spiegels zu fassen bekam, um daran zu ziehen, hob sich das Glas einfach von der Wand und schwebte auf die Seite. Die Wand hinter dem Spiegel war leer, nur vielleicht ein bisschen sauberer als der Rest der Umkleidekabine. Keine Kamera-Crew verbarg sich dahinter und versuchte, ein Video mit dem Titel „Libby Chessler von ihrer schlimmsten Seite“ zu drehen, um sie damit an der Schule bloßzustellen. Allein schon der Gedanke, sie könnte womöglich beobachtet werden, machte Libby so wütend, dass es eine ganzen Weile dauerte, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spiegel zuwenden konnte, der zwanzig Zentimeter von der Wand entfernt in der Luft schwebte. Urplötzlich wurde ihr bewusst, wie unglaublich das alles war, und nun, da sie ihre Konzentration, die den Spiegel am Schweben hielt, auf etwas Anderes richtete, krachte er ebenso urplötzlich zu Boden. Das Splittern des Glases in der kleinen Umkleidekabine war lauter, als Libby erwartet hatte. Jede Scherbe, die den Boden traf, war wie ein Vorwurf, der sie zusammenzucken ließ. Von draußen kam gedämpft die Frage: „Alles in Ordnung da drin, Miss?“ 52
Libby konnte nicht antworten. Wie sollte sie aus dem Schlamassel wieder herauskommen, ohne vor Scham in den Erdboden zu versinken? Wenn es etwas gab, das Libby mehr hasste als Frustration, dann war es das Gefühl bloßgestellt zu werden. Wenn die Geschäftsleitung von Daddy’s Money dieses Chaos sehen würde, könnte sich Libby hier nicht mehr blicken lassen. Das bedeutete, dass es für sie keine richtige Shoppingtour mehr gab, es sei denn, sie fuhr bis nach Boston. In diesem Moment wünschte Libby sich nichts sehnlicher, als dass der Spiegel wieder heil und unversehrt an der Wand hing. Wütend starrte sie die glitzernden Splitter am Boden an. „Ihr seid ganz von allein in die Luft geschwebt und dann zerbrochen“, zischte sie und zeigte mit dem Finger darauf. „Dann könnt ihr euch auch ganz allein wieder zusammensetzen.“ Im Bruchteil einer Sekunde flogen alle Scherben hoch. Der Spiegel setzte sich selbst zusammen und hängte sich, heil und unversehrt, wieder an seinen alten Platz, ohne einen Sprung oder eine Schramme, für die man Libby hätte verantwortlich machen können. Stumm starrte sie auf das Wunder. Mit einem Schlüsselrasseln wurde die Tür der Umkleidekabine aufgesperrt. Der Geschäftsführer, ein untersetzter, wabbeliger Mann, dem es sichtlich peinlich war, in eine Damengarderobe einzudringen, steckte zögernd den Kopf herein. Die ängstliche Verkäuferin spähte ihm nervös über die Schulter. Der Geschäftsführer räusperte sich und fragte: „Alles in Ordnung, meine Dame?“ Libby setzte ihren würdevollsten Blick auf. „Selbstverständlich“, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Was soll denn sein?“ Sie zupfte die Preisschilder von den verschiedenen Outfits und hielt sie ihm hin. „Buchen Sie das schon mal auf meine Karte, seien Sie so lieb, ja?“ Der Geschäftsführer nahm die Preisschilder, blieb aber noch einen Moment stehen und schaute sich in der Kabine um. Als 53
er den Haufen zerknüllter Klamotten sah, die vor Libbys Augen keine Gnade gefunden hatten, presste er die Lippen zusammen, enthielt sich aber eines Kommentars. Er schenkte Libby ein gequältes Lächeln, zog sich aus der Umkleidekabine zurück und schloss die Tür. Ein heftiger Streit, im Flüsterton ausgetragen, war aus dem Gang zu hören. Libby ließ sich auf die Bank fallen, um ihre Fassung wieder zu gewinnen. Was war hier los gewesen? Sie starrte gebannt auf den Spiegel. War sie verrückt geworden oder... ... war ihr Geist irgendwie auf jene höhere Ebene vorgedrungen, von der in ihren Ratgeberbüchern immer die Rede war? Libby Chessler besaß die umfangreichste Sammlung von Selbsthilfe- und Ratgeberbüchern der ganzen Stadt. Natürlich nicht so weinerliche Titel wie „Warum bin ich immer der Verlierer?“ Ihre Bücher hießen „Siegen durch Einschüchtern“, „Weiter als bis zum Erfolg“, „Cheerleader über alles“, und, als neuestes, „Die Kraft der Vorstellung – Beherrsche die Welt durch deinen Geist“. In diesem Buch wurde den Lesern versprochen, dass sie sich nur ganz genau vorstellen mussten, was sie wollten, und befehlen, dass es geschah, und schon würde eine höhere Ebene in ihrem Geist aktiviert und es wahr werden lassen. Normalerweise wurden diese Techniken eingesetzt, um total ehrgeizige Lebensziele zu erreichen – eine Beförderung, einen Geschäftsabschluss oder ein Date mit einem Jungen. Aber Libby konnte sich nicht erinnern, dass darin jemals die Rede von schwebenden Spiegeln war. Handle jetzt, verstehe es später – das war für den Augenblick die einzig richtige Losung. „Du willst ein Zauberspiegel sein?“, forderte sie ihn heraus. „Dann wollen wir doch einmal sehen, was du auf Lager hast.“ Sie zeigte mit dem Finger auf ihn und befahl: „Zeig mir etwas, das mich glücklich macht.“
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Die Oberfläche des Spiegels kräuselte sich wie Wasser und verzerrte Libbys Bild. Die Wellen erreichten den Rahmen, prallten zurück und stießen mit den nachkommenden zusammen. In den sich vielfach schneidenden Kreisen zersplitterte Libbys Bild in winzige Teile. Dann beruhigte sich die Oberfläche und Libbys Bild wurde wieder klar. Oder jedenfalls ein Bild. Anstelle von Libby zeigte der Spiegel Sabrina Spellman, die trübsinnig und mit zerknitterten Kleidern auf einer Bank in der Slicery saß und krank und elend aussah. „Nicht das, was ich erwartet habe“, lächelte Libby. „Aber nachdem dieser miese Tag hauptsächlich auf ihr Konto geht, macht es mich geradezu glücklich, wenn ich weiß, dass es ihr schlecht geht.“ Sie dachte über die nächste Aufgabe nach, die sie dem Spiegel stellen konnte. Einige ihrer Bücher behaupteten, übernatürliche Helfer konnten das Glück zu Gunsten der Leser wenden. War das die plötzliche Quelle ihrer Kräfte? Libby sah sich nervös um. Lungerte da vielleicht ein unsichtbarer Zuschauer herum? Bei dem Gedanken an einen heimlichen Helfer, der jede ihrer Bewegungen beobachtete, bekam sie eine Gänsehaut. Sie musste es herauskriegen. Sie zeigte auf den Spiegel. „Spiegel! Zeig mir die Quelle meiner Kräfte!“ Das Bild im Spiegel veränderte sich nicht. Libby gab dem Rahmen einen Klaps, als sei er ein kaputter Getränkeautomat. „Tu was ich dir sage!“, schnauzte sie ihn ärgerlich an. Das Bild veränderte sich nicht, nur die Leute, die hinter Sabrina hin- und hergingen, waren jetzt andere. „Okay, aber was hat das mit meiner höheren Ebene zu tun?“, jammerte sie. Das Bild im Spiegel schwenkte plötzlich weg von Sabrina und aus der Slicery hinaus, dann ging es in rasender Fahrt durch die Straßen von Westbridge. An der Collins Street machte das Bild einen weiten Bogen um die Ecke und hielt vor dem Haus Nummer 133 an, gerade lange genug, so dass Libby das alte viktorianische Haus erkennen konnte, in dem die 55
Spellmans wohnten. Dann setzte sich das Bild wieder in Bewegung, ging durch die geschlossene Tür hindurch und die elegante Treppe hinauf in den ersten Stock. Im Zickzack lief es den Flur entlang, drang durch eine weitere Tür und blieb schließlich vor einem dicken Buch mit dem Titel „Die Entdeckung der Magie“ stehen. Ehrfürchtig und neidisch sah Libby das große Buch an. So ein Ratgeberbuch hatte sie noch nie gesehen, nicht in Westbridge, nicht einmal in Boston. Ihr Name stand bei Dutzenden von einschlägigen Verlagen im Verteiler, aber da gab es nichts, was diesem Buch auch nur im Entferntesten glich. Der lederne, juwelenbesetzte Einband deutete darauf hin, dass es eine sehr teure limitierte Ausgabe war. Libby war total verwirrt. Wie konnte ein Nobody wie Sabrina sich ein so wertvolles Stück leisten? Die Verwirrung schlug in Ärger um. Wenn Sabrina diese Kräfte besaß, dann gab es für die Demütigungen, die Libby oft genug hatte erleiden müssen, plötzlich eine Erklärung. Libby war der geborene Cheerleader. Sie wusste, wie Neid wirkte. Doch dann sah sie klar. Jetzt kannte sie den Gegner und Libbys gut trainierte Instinkte funktionierten wieder. In einem Wettkampf kann es eben nur einen Sieger geben und der zweite Platz gehörte schon dem bestem Verlierer. Aber wie sollte sie an die Geheimnisse dieses Buches herankommen? Sabrina würde ihr das Buch wohl kaum für ein eingehendes Studium borgen. Sie brauchte unbedingt ein eigenes Exemplar. Libby fixierte das Bild im Spiegel und verschwendete keinen Gedanken mehr an Shopping. Wenn sie nur ein Blick auf die Titelseite werfen könnte, um zu sehen, in welchem Verlag es herausgekommen war. Dann würde sie ihr eigenes Exemplar bestellen können, wenn nötig, indem sie einige Verbindungen spielen ließ. Wie aber sollte sie das anstellen?
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Das würde ihre höhere Ebene schon wissen. Sie sah in den Spiegel und herrschte ihn an: „Was muss ich tun, um an das Buch zu kommen?“ Nichts geschah. Libby wurde langsam panisch. War ES ihr schon wieder verloren gegangen? Was hatte sie falsch gemacht? Schnell erinnerte sie sich, wie sie den Spiegel beim ersten Mal zum Leben erweckt hatte und er ihr allerlei Dinge gezeigt hatte. Zunächst hatte sie auf den Spiegel gezeigt, dann geschrien... Zeigen! Ja, das war es. Libby richtete ihren Zeigefinger mit dem lackierten Nagel auf den Spiegel und rezitierte: „Was muss ich tun, um an das Buch zu kommen?“ Sie klang wie eine drittklassige Soap-Schauspielerin, aber es schien zu funktionieren. Das Bild im Spiegel zeigte nun Libby in der Umkleidekabine. Langsam und zielstrebig verwandelte sich die Libby im Spiegel in Sabrina Spellman – in eine Sabrina, die sich umdrehte und in das Haus der Spellmans ging, als sei sie dort zu Hause. „Du meinst, ich soll mich in Sabrina verwandeln? Iiih!“ Libby fand das abartig. Wie konnte sie zu jemandem werden, der so total uncool war? Würde man nicht merken, dass sie von Natur aus richtig hip war? „Bist du sicher, dass ich das tun muss?“, fragte sie das Mädchen im Spiegel. Das Bild nickte. „Und du kannst das für mich tun?“ Wieder ein Nicken. Libby stach mit dem Finger auf den Spiegel und befahl „Dann tu es!“ Phoebe, die schüchterne Verkäuferin, drückte sich vor dem Gang zu den Umkleidekabinen herum, traute sich aber nicht hinein. Sie hatte ein ungutes Gefühl wegen des schnippischen Mädchens in der Kabine. Phoebe hatte wirklich gehört, dass Glas zerbrochen war, was immer der Geschäftsführer auch gesagt hatte, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte. Und 57
jetzt würde sie beweisen, dass diese – sie schaute auf den Kreditkartenbeleg in ihrer Hand – Libby Chessler irgendein linkes Ding vorhatte. Das Problem war, dass Phoebe vor Leuten wie Libby Chessler Angst hatte. Vor ihrer Selbstsicherheit begann sie zu zittern, ihr Auftreten nahm ihr alle Kraft und ließ sie wie eine leere Schale zurück. Es kam ihr vor, als hätten diese Leute geheime Kräfte nur deshalb, weil sie immer im Recht waren. Jedenfalls glaubte Phoebe das. Wer im Recht ist, ist stark, und wer stark ist, ist im Recht. Oder jedenfalls mehr im Recht als andere – oder wie immer diese smarten High-School-Kids das ausdrücken würden. Es war ein Teufelskreis, doch Phoebe wusste, dass auch sie es schaffen würde, wenn sie nur einmal im Recht wäre. Phoebe nahm all ihren Mut zusammen und betrat den Gang. Auf Zehenspitzen schlich sie bis zur geschlossenen Tür der Umkleidekabine und blieb dort stehen. Wenn sie herausbekam, was diese Chessler im Schilde führte und sie dabei ertappte, war das vielleicht ihr Einstieg zum Erfolg. Sie lehnte den Kopf gegen die Tür und lauschte. Plötzlich flog die Tür auf und donnerte gegen Phoebes Kopf, dass sie Sterne sah. Als sie sich wieder verzogen hatten, sah sie, wie das rote Outfit, das die Chessler angehabt hatte, den Gang hinunter ging. Nur dass jetzt eine zierliche Blondine darin steckte, und nicht eine zickige Brünette. Phoebe rief der sich entfernenden Gestalt nach: „Hey! Kommen Sie zurück! Das sind nicht Ihre Sachen!“ Das war definitiv das Energischste, was sie jemals getan hatte. Zu Phoebes totalem Schock blieb das Mädchen stehen und drehte sich um. „Wie Bit-te?“, fragte sie eisig. „Gibt es ein Problem?“ Phoebe nahm all ihren Mut zusammen. Ganz eindeutig lief hier irgendetwas absolut schief. Normalerweise hätte sie den Geschäftsführer gebeten, das zu regeln, aber in ihren Ohren 58
hallte noch das Donnerwetter nach, das er für den falschen Alarm wegen der Scherben gemacht hatte. Sie beschloss, selbst mit der Situation fertig zu werden. „Diese-Sachen-wurden-vonjemand-anderem-bezahlt-und-nicht-von-Ihnen“, stieß sie hervor. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Sie müssen hier warten, bis der Wachdienst kommt.“ Die Blondine wurde ärgerlich. Sie zeigte mit dem Finger überheblich auf Phoebe und zischte: „Sie haben wohl keine Ahnung, mit wem Sie es hier zu tun haben!“ Plötzlich merkte Phoebe, dass die Blondine Recht hatte. Sie hatte wirklich keine Ahnung, wer die Person war, die vor ihr stand. Sie konnte sie anstarren, wie sie wollte, Phoebe kam nicht dahinter, wer sie war – oder was sie hier suchte. Irgendwie wusste sie, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zuging, aber je mehr sie grübelte, desto weniger kam sie dahinter, was das war. Einen Moment lang war ihr Hirn völlig leer und sie hatte absolut keine Ahnung, warum sie vor einer völlig Fremden im Gang zu den Umkleidekabinen stand. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie mit ihrer üblichen Piepsstimme. Die Blondine sah sie misstrauisch an. „Sie holen nicht den Wachdienst?“ „Du lieber Himmel, nein“, sagte Phoebe. „Warum, stimmt etwas nicht?“ Das Gesicht der Blondine verzog sich langsam zu einem selbstgefälligen Lächeln. „Nein...“, gab sie gedehnt zurück. „... alles in Ordnung. Alles bestens.“ Sie machte eine Kehrtwendung und stolzierte selbstbewusst aus dem Laden hinaus. Phoebe guckte hinterher, als sie ging. Aber da war noch etwas. Als sie den Kopf schüttelte, um ihre Gedanken zu ordnen, sah sie die verstreuten Kleider in der Umkleidekabine und seufzte verzweifelt. Noch ein Durcheinander, in das sie Ordnung bringen musste. Sie begann, die Klamotten 59
aufzuheben und fragte sich, wer hier hereingekommen war und sich ausgetobt hatte. Um nichts in der Welt hätte sie sich daran erinnern können, dass sie in den letzten Stunden eine Kundin gehabt hatte.
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Kapitel 7 Libby hasste Sabrinas Körper von dem Augenblick an, in dem sie in ihn hineingeschlüpft war. Sie wusste nicht genau, warum eigentlich. Sie konnte gehen, sprechen und sich cool geben, wie sie wollte, in diesem Körper fühlten sich all ihre Bewegungen steif und unnatürlich an. Außerdem war Sabrina ein Freak. Obwohl es ja eigentlich Libby war, die in diesem Körper steckte, hätte es durchaus sein können, dass die Leute das nicht merkten und sie deshalb wie einen Freak behandelten. Allerdings würde es niemandem gut bekommen, der Libby Chessler wie einen Freak behandelte. Vor dem Einkaufszentrum blieb sie stehen, weil ihr plötzlich eingefallen war, dass sie kaum zu Sabrinas Haus kommen würde, ohne gesehen zu werden. Sie traute sich nicht, einfach durch die Stadt zu gehen, weil sie befürchtete, sie könnte jemanden treffen, der sie für Sabrina hielt – oder schlimmer noch, plötzlich die echte Sabrina zu treffen. Im Zauberspiegel hatte sie gesehen, dass Sabrina gerade in der Slicery in der Nähe der Schule herumhing. Libby hatte kaum Zeit, wenn sie nicht erwischt werden wollte. Als sie so dastand, fuhr ein Taxi auf der Suche nach Fahrgästen langsam am Eingang zum Einkaufszentrum vorbei. Instinktiv hob Libby die Hand und winkte das Taxi heran. „Wo soll’s denn hingehen, Kleine?“, fragte in unverschämtem Ton der Fahrer, ein kleiner, stämmiger Mann, der aussah, als sei er permanent auf hundertachtzig. Normalerweise hätte Libby jeden, der es wagte, sie „Kleine“ zu nennen, zur Schnecke gemacht, doch nun – wo zum Teufel wohnte Sabrina? „Collins Street 133“, sagte sie schließlich, nachdem sie panisch in ihrem Gedächtnis gekramt hatte. Libby kannte zwar die Adresse von allen wirklich coolen Typen in Westbridge, 61
doch wo die Nobodys wohnten, hatte sie nie interessiert. Obwohl sie wusste, wie Sabrinas Haus aussah, hätte sie die Adresse niemals gewusst, wenn der Zauberspiegel ihr nicht vorhin den Weg gezeigt hätte. Der klebrige Boden unter dem Rücksitz des Taxis erinnerte Libby schmerzlich daran, dass sie vergessen hatte, Schuhe zu kaufen, die zu ihrem neuen Outfit passten. Sie hatte die Klamotten, die sie in der Schule angehabt hatte, in ihr Schließfach gestopft, nachdem sie das Cats-Kostüm angezogen hatte, und dann hatte sie die Theatergruppe so wütend verlassen, dass sie nicht darauf geachtet hatte, dass sie barfuß war. Sie starrte auf ihre Finger und plötzlich kam ihre eine Erleuchtung. Warum nicht einfach ausprobieren, was ihre höhere Ebene alles liefern konnte? Sie zeigte mit dem Finger auf ihre Füße und murmelte, „Gucci-Schuhe. Rotes Leder.“ „Ham’ Sie was gesagt?“, fragte der Fahrer über seine Schulter hinweg. „Jedenfalls nicht zu Ihnen“, schnappte Libby und blickte erstaunt auf die Stiefel, in denen ihre Füße nun steckten. Sie hatten die passende Farbe und den richtigen Stil, aber sie hatte noch nie von Designerstiefeln gehört, die Gucki hießen. Und weshalb war das Logo ein Gesicht, das unter einem Wust von rosafarbenen Locken die Zunge herausstreckte? „Scharfe Klamotten, Süße“, bemerkte der Fahrer, der Libby im Rückspiegel beobachtet hatte. „Nicht so wie diese Tussi, die ich vorher hier drin hatte. Das war ein Anblick, kann ich Ihnen sagen! Sah aus, als wäre sie direkt aus dem Zirkus gekommen.“ Als Libby das Gesicht des Fahrers im Spiegel sah, dämmerte es ihr. Sie war im selben Taxi gelandet, das sie zum Einkaufszentrum gebracht hatte. Das bedeutete, er sprach von... „Nur zu Ihrer Information, das sollte wohl ein Kostüm aus ,Cats’ sein“, klärte er sie auf.
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„Wirkte allerdings eher wie ein Kostüm aus Gottweißwas, wenn Sie mich fragen. Das Mädel hatte ja keine Ahnung, wie sie aussah. Mit diesem flaumigen Federkragen sah sie aus wie ein Kanarienvogel mit Masern. Und ein Geizkragen war sie obendrein.“ Er lachte über seinen eigenen Witz. „Sie hat mir kein Trinkgeld gegeben! Ein Geizkragen mit Federkragen, falls Sie wissen, was ich meine?“ „Hab schon verstanden“, knurrte Libby leise. „Und du wirst auch gleich was verstehen, wenn du so weitermachst.“ „Wir sind da, Lady“, gab der Fahrer bekannt, als er vor dem Haus der Spellmans hielt. „Das macht dann zweifünfzig. Plus Trinkgeld“, betonte er. Libby kletterte aus dem Taxi. Ihre neuen Stiefel waren noch steif und unbequem. „Warten Sie hier auf mich. Es dauert nur ein paar Minuten.“ „Das könnte Ihnen so passen. Ich warte hier und Sie hauen ab und lassen mich auf dem Fahrpreis sitzen... Ich bin doch nicht von gestern!“ „Aber Sie brauchen doch ohnehin eine Weile, bis Sie die Platten repariert haben“, sagte Libby. „Was für Platten?“ „Na, diese Platten da“, sagte sie und deutete mit dem Finger auf die beiden Reifen auf der Beifahrerseite. Mit einem gehorsamen Wuuuusch ließen die Reifen Luft ab. „Wahrscheinlich bin ich zurück, bevor sie fertig sind.“ Libby wusste genau, dass sie schneller sein würde, denn sie hatte sich im Geiste Löcher vorgestellt, die besonders schwer zu flicken waren. Sie ließ den Fahrer stehen, der ungläubig seine Reifen anstarrte und dabei einen endlosen Fluch ausstieß, und ging auf die massive Eingangstür zum Haus der Spellmans zu. Das Haus Nr. 133 in der Collins Street war ein eindrucksvoll verziertes viktorianisches Haus im Stil der Jahrhundertwende. Ein Turm erhob sich an der rechten Seite des Gebäudes und 63
gab ihm ein exzentrisches Aussehen. Irgendwie sah es aus wie eine leicht verwirrte, altmodische Dame im Kreise ihrer schwatzenden Freundinnen. Mansardengiebel mit extravagantem Schnitzwerk flankierten den Turm. Darüber erschienen die verblichenen Schieferplatten wie ergrautes Haar, während die ausladende Veranda wie ein Reifrock wirkte, den sie ein Stück gelüftet hatte. Das Ganze strahlte eine Atmosphäre zerstreuter Vornehmheit aus, anheimelnd, doch hoffnungslos altmodisch. Libby stieg energisch die Stufen zur Verandatür hinauf. An der Eichentür mit den Buntglasscheiben wäre sie beinahe stehen geblieben und hätte geklopft, bis sie sich erinnerte, dass sie ja nun Sabrina war. Und jeder würde denken, dass sie hier zu Hause war. Libby drehte am Türknauf und merkte zu ihrer Überraschung, dass er sich bewegte. Die große Tür schwang auf die kleinste Bewegung hin auf. Genau betrachtet war die unverschlossene Tür gar nicht so ungewöhnlich. Westbridge war immer noch eine so kleine Gemeinde, dass viele Leute es nicht für nötig hielten, ihre Türen abzusperren. Nur um sicher zu gehen rief Libby, als sie das Haus betrat, „Hi – ich bin wieder da!“ Keine Antwort. Im Haus war es still. Der einzige Laut, den sie hörte, war das Rascheln der Damastvorhänge am offenen Fenster. Hier drinnen war es kühl und hell, die Nachmittagssonne drang sanft durch die pastellfarbenen Gardinen. Wohin sie blickte, sah sie Holz in warmen Tönen, weiche Stoffe, heimelige Wandtäfelung und geschmackvolle Tapeten. Links sah Libby eine Art Bibliothek oder Arbeitszimmer mit tiefen, gemütlichen Sesseln unter Reihen und Reihen alter Bücher in den Schränken. Rechts war ein Wohnzimmer mit Sitzgarnitur und einem Flügel in dem Erker, der vom Turm gebildet wurde. Und direkt vor ihr, genau so, wie sie es im 64
Spiegel gesehen hatte, führte eine breite Treppe aus Nussbaumholz in den ersten Stock hinauf. Libby ging hinüber und stieg die Treppe leise hinauf, wobei sie auf den kleinsten Hinweis darauf achtete, ob noch jemand im Haus war. Libby wusste nicht, wie die Spellman-Schwestern ihren Lebensunterhalt verdienten, aber offensichtlich waren sie nicht zu Hause. Das Haus schien leer, aber das konnte sich jederzeit ändern. Sie musste sich beeilen. Es wurde ihr unheimlich, als sie so in dem fremden Haus umher schlich. Plötzlich wünschte sie sich sehnsüchtig, dramatische Musik aus einem Spionagefilm zu hören. In allen Filmen, die Libby je gesehen hatte, erklang in solchen Situationen Hintergrundmusik. Mit dem nervösen Zirpen der Geigen wurden die Zuschauer in Spannung gehalten und auf die drohende Gefahr hingewiesen. Auch ohne das warnende Wimmern von Geigen erreichte sie den Treppenabsatz und blieb stehen, um weitere Schritte zu planen. Sabrinas Zimmer war wohl gleich rechts. Libby stieß die Tür auf und atmete tief ein, als sie tatsächlich das Buch sah, das, wie ihr der Spiegel geweissagt hatte, der Schlüssel zu den höheren Mächten war. Es lag auf einem Pult aus dunklem, geschnitztem Holz. Juwelen waren in den Einband eingesetzt und ein schweres seidenes Band zwischen den dicken pergamentenen Seiten diente als Lesezeichen. Der Einband bestand aus weichem dunklem Leder, in das sonderbare, geheimnisvolle Zeichen geprägt waren – Symbole oder Buchstaben einer längst vergessenen Sprache. Libby ging näher heran und fuhr mit der Hand darüber. Erhabene vergoldete Lettern formten den Titel: „Die Entdeckung der Magie“. Libby schnaubte verächtlich. Sabrina war nicht nur ein Freak, sondern auch noch verrückt. Glaubte sie wirklich, sie sei eine Hexe? Sie musste tatsächlich eine
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höhere Ebene aktiviert und dann deren Wirkung für Zauberei gehalten haben. Andererseits hatte Libbys höhere Ebene ihr klargemacht, dass sie dieses Buch brauchte, um ihre neue Macht verstehen und kontrollieren zu können. Und Libby ließ niemals eine Gelegenheit aus, neue Methoden zu ersinnen, mit deren Hilfe sie andere kontrollieren konnte. Vermutlich würde sie das ganze Buch überfliegen müssen, um die paar Goldkörnchen nützlicher Information zu finden, die zwischen dem ganzen Hexenkram verborgen waren. Und da sie nicht wusste, wann Sabrina oder ihre Tanten nach Hause kommen würden, begann sie am besten gleich damit. Libby öffnete das schwere Buch an der Stelle mit einem Eselsohr. Es war vermutlich egal, wo sie anfing zu lesen. Beide Seiten waren dicht mit einer winzigen, schwer lesbaren Druckschrift bedeckt, zwischen die hier und da eine Zeichnung oder ein Diagramm eingestreut waren. Oben auf der rechten Seite stand ein Kasten mit der Überschrift „Medizinmann“. In die Mitte des Kastens war ein Blatt Papier gezeichnet mit den Worten „Heute geschlossen.“ „Ein dummer Scherz? Ist das ein Buch mit blöden Witzen?“ Libby tippte mit dem Finger auf die Zeichnung. Zu ihrer Überraschung ertönte eine Stimme aus der Luft. „Leider können Sie mich zur Zeit nicht im Buch erreichen, aber wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, rufe ich Sie an, sobald ich vom Golfplatz zurückkomme. Für den Fall, dass Sie Sabrina Spellman sind, füllen Sie bitte dieses Formular aus.“ Ein Stapel Formulare glitt aus der Seite heraus. Libby hätte schwören können, dass an der Stelle des Schlitzes, aus dem dieser Stapel herauskam, eben nur eine dünne gedruckte Linie gewesen war. Mit einem Plop landeten die Papiere auf dem Boden. Instinktiv hob sie sie auf und las die erste Seite. BLAUER KESSEL VERSICHERUNG GmbH 66
KRANKENVERSICHERUNG ZUSAMMENSCHLUSS DER HEILKUNDIGEN UND METAPHYSIKER 10.000 Jahre Garantie auf übernatürliche Kräfte Patient: Spellman, Sabrina, Ms. Befund: Niesen, Schnupfen, Verlust der Zauberkräfte Diagnose: Hexitis-Anfall, ansteckend, 24-Stunden-Variante Behandlung: 24 Stunden kein Kontakt mit Sterblichen Bitte in dreifacher Ausfertigung unterschreiben und Ihrer örtlichen Niederlassung der BLAUER KESSEL KRANKENVERSICHERUNG einreichen. Total verwirrt ließ Libby die Papiere langsam sinken. Sie hatte sich geirrt. Sie hatte vollkommen falsch gelegen. Für jemanden, der so sehr von sich eingenommen war wie sie, war es allerdings eine große Leistung, dies zuzugeben. Die sonderbaren Kräfte, die ihr plötzlich geschenkt worden waren, kamen nicht von einer höheren Ebene, was immer ihre Ratgeberbücher dazu schrieben. Es waren wirklich übernatürliche Kräfte. Und das bedeutete, dass Sabrina Spellman zwar ein Freak war, aber jedenfalls kein geisteskranker Freak. Sie war tatsächlich eine Hexe. Das erklärte eine Menge sonderbarer Vorfälle, die sich ereignet hatte, seitdem Sabrina zur Westbridge High School gekommen war. Zunächst einmal erklärte es, wie der Nobody Sabrina Libbys großangelegten Plan, die Schule als Testgebiet für soziale Kontrolle zu benutzen, zunichte machen konnte. Ihre Stellung als Anführerin der Cheerleader und Sprecherin des zweiten Jahrgangs war nur ein Teil ihrer ehrgeizigen Strategie, die sie eines Tages ins Weiße Haus führen würde... wenn nicht gar 67
noch weiter. Alle ihre Mitschüler sollten sich gehorsam Libby unterordnen oder das schwere Los der Außenseiter tragen müssen wie Kelly oder dieser abgedrehte Gordie. Es war einfach nicht korrekt, dass Sabrina, die Libby als definitive Außenseiterin identifiziert hatte, diesen hoffnungslosen Schülern Selbstbewusstsein verliehen hatte. Eigentlich sollten sie das nur durch die Aufnahme in Libbys Clique erlangen. Hier also war die Lösung des Rätsels. Aber was Sabrina zustande brachte, konnte Libby schon lange. Beziehungsweise: Libby musste es tun, gerade so, wie die Sonne jeden Morgen aufgehen und jedes Vierteljahr eine neue Kollektion herauskommen musste – es war einfach der normale Gang der Dinge. Libby schloss das dicke Buch, hob es von seinem Pult herunter und trug es hinüber zu Sabrinas Schreibtisch. Jetzt hatte sie keine Angst mehr überrascht zu werden. Ihr einziges Ziel war es nun, dieses Buch zu studieren und so viel wie möglich über ihre neuen Kräfte zu erfahren.
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Kapitel 8 Die Slicery war eine gemütliche kleine Pizzeria in einem Innenhof der Straße, die zur Schule führte. Wie die meisten Geschäftshäuser in Neu-England bestand auch dieses aus massivem Backstein. Einst beherbergte es alle möglichen Läden und Büros, bis es zu einem Treffpunkt aller Schüler nach dem Unterricht wurde. In den Mauern konnte man da und dort malerische Löcher und Kratzer entdecken, die der Legende nach auf die Kämpfe während der amerikanischen Revolution zurückgeführt wurden. Wer einen Sinn für Romantik hatte, behauptete, dass man, wenn man nur ganz still wäre, die Last der Vergangenheit auf den rauen Backsteinmauern spüren könne. Frieden und Stille suchte allerdings niemand in der Slicery. Mit einer Jukebox, drei Bildschirmen für Videospiele, einem Kicker, einem Flipper, Musik vom Band, der lauten Unterhaltung und den Rufen nach Pizza konnte man den Ort eher als adrenalingeschwängert denn als beschaulich bezeichnen. Die übliche Clique war nach dem Unterricht hierher gekommen, um sich vom Schulstress zu erholen und zögerte nun den Heimweg so lange wie möglich hinaus, um noch ein wenig herumzuhängen, zu sehen und gesehen zu werden. Die Sport-Freaks, die gerade vom Training kamen – oder es geschwänzt hatte – trugen noch ihre Trainingsanzüge. Außerdem saß der ganze zweite Jahrgang hier und versuchte sich selbst und alle anderen mit einstudiertem intellektuellem Gehabe zu beeindrucken und das aus „Sixteen“, „Young Miss“ und „Teen“ kopierte Styling zu zeigen. In der Slicery galt im Großen und Ganzen dieselbe Sitzordnung wie in der Cafeteria, allerdings war sie hier nicht ganz so streng. Schließlich musste man hier auch die jüngeren 69
Schüler tolerieren, damit sie mit ihren neidischen oder bewundernden Blicken den älteren das Gefühl gaben, überlegen zu sein. Hätte Mr. Pool gewusst, dass es die Slicery gab, hätte er bestimmt einen Projekttag veranstaltet, an dem man Notizen für eine Arbeit über „Die Pizzeria als Beispiel für die perfekte Hackordnung der Menschen“ machen musste. Mitten in diesem hormongeschwängerten Wirrwarr saß Sabrina in einer schwarzen Wolke aus Angst und brütete über den Geschehnisse des Tages. Es war einfach nicht fair, dass ihr Leben durch einen einzigen Nieser zerstört wurde. Sie hatte Angst, nach Hause zu gehen. Wie konnte sie ihren Tanten erklären, was passiert war? Oder gar Drell? Harvey versuchte sie aufzuheitern, tanzte besorgt um sie herum, bot an, eine Pizza oder eine Limo zu holen, erklärte, wie viel Spaß eine Runde Kicker machen würde. Aber Sabrina war zu down, um seine Bemühungen, sie zu trösten, zu beachten. Was für einen Trost konnte es für sie geben? Sie konnte ihm nicht einmal erzählen, was mit ihr los war. Es war ja schon kaum zu glauben, dass Sabrina eine Hexe war, um so weniger, dass sie so bescheuert gewesen war, ihre Kräfte an einen Cheerleader zu verlieren. Und was stellte Libby wohl jetzt mit Sabrinas Kräften an? Sicher, Libby war selbstsüchtig, herablassend und gefühllos, aber dumm war sie nicht. Früher oder später würde sie etwas zaubern und dabei merken, dass sie echte Macht hatte. Der Gedanke an eine allmächtige Libby ließ Sabrina erschaudern. Diese bedrohliche Vorstellung erweckte Sabrinas Lebensgeister wieder und sie merkte, dass Harvey neben ihr saß. Er kaute mit geschlossenen Augen an einem Stück Pizza und klopfte den Rhythmus der Musik mit – so wie sonst auch. Sabrina beschloss, ihn zu fragen, um wieder in die Wirklichkeit zu tauchen. „Harvey“, begann sie. „Ich muss dir mal eine total komische Frage stellen. Nicht so wie ,das-könnte-wirklich-passieren-und70
es-wäre-meine-Schuld’. Es würde mich nur mal interessieren.“ Harvey öffnete die Augen und schaute Sabrina an. „Was, glaubst du, würde Libby tun, wenn sie unbegrenzte Macht hätte?“ Harvey grinste gequält. „Du meinst, sie hat sie noch nicht? Immerhin ist sie Anführerin der Cheerleader und Jahrgangssprecherin.“ „Ich meine mehr als das.“ Etwas in Sabrinas Stimme ließ Harvey aufhorchen. „Na ja, sie ist sechzehn“, sagte er und legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten. „Das Weiße Haus scheidet also noch eine Weile aus. Ich schätze, sie würde Filmstar werden wollen oder die neue Ex-Frau von Donald Trump. Etwas, wobei jeder sie sehen kann und tun muss, was sie sagt.“ „Gott sei Dank. Da bin ich aber erleichtert“, Sabrina ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Harvey war verwirrt. „Was meinst du mit ,Gott sei Dank’?“ „Ich dachte, sie würde vielleicht alle Blondinen in Frösche verwandeln oder so“, antwortete Sabrina, ohne den Kopf zu heben. „Ach, lass dich doch nicht so von ihr unterkriegen. Sie ist doch kein Monster oder so etwas, sie ist nur die Anführerin der Cheerleader.“ Harvey verschlang die Pizza mit zwei großen Bissen und schob das letzte Stück Kruste mit dem Finger nach. Dann zerknüllte er seine Serviette, ballte sie mit dem Pappteller zusammen und warf sie zielsicher in den zehn Meter entfernten Abfalleimer. „Wei Wunkte!“, kam es aus seinen gefüllten Mund. „Danke! Das stärkt mein Vertrauen in ihre moralische Qualitäten!“ Harvey war entschlossen, auf fröhlich zu machen. „Du bist nur so niedergeschlagen, weil du erkältet bist. Ich bringe dich jetzt nach Hause, dann hast du deine Ruhe.“ Er nahm ihre
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Jacken von den Stuhllehnen. „Unterwegs kann ich dir ein paar tolle Briefkästen zeigen.“ Zur gleichen Zeit saß Libby an Sabrinas Schreibtisch und blätterte in dem Buch „Die Entdeckung der Magie“. „Es ist Zeit, dass du nach Hause kommst“, sagte eine Männerstimme hinter ihr. „Es ist kaum noch Sonne da für ein ordentliches Nickerchen.“ Libby blieb beinahe das Herz stehen und sie drehte sich blitzartig um, um zu schauen, wer sie ertappt hatte. Doch sie sah nur einen großen Burma-Kater, der lässig auf das Fensterbrett zu schlenderte. „Würdest du bitte die Vorhänge zurückziehen?“, bat der Kater laut und deutlich. „Du weißt, dass meine Krallen dabei leicht Unheil anrichten.“ Das Tier sprang auf das Fensterbrett und ließ sich in dem schmalen Streifen Sonnenlicht nieder, der durch die Vorhänge drang. „Eine sprechende Katze. Sagt mir, was ich tun soll.“ Libby war so geschockt, dass sie nur platt wiederholen konnte, was sie sah. „Nur zu, reib es mir nur immer wieder unter die Nase“, schnaubte der Kater. „Ja, ich habe meine Zauberkraft verloren und wurde zu hundert Jahren Dasein als Hauskatze verurteilt. Ich schätze, ich habe alles verdient, was du mir an Gemeinheiten an den Kopf werfen willst nach diesem kleinen Schlagabtausch heute morgen.“ „Zauberkraft...“ Libby ging ein Licht auf. Sie dachte an die Geschichten über die traditionellen Hexen mit ihren Vertrauten, Geistern in Tiergestalt, die sie berieten und ihre Befehle ausführten. Dieser Kater, oder was immer sich in seiner Gestalt verbarg, war wohl Sabrinas Vertrauter. Aber warum war er nicht ungehalten darüber, dass Libby sich in Sabrinas Zimmer aufhielt? Libby brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass sie durch den Zauberspiegel – beziehungsweise durch ihre höhere Ebene – in eine exakte Kopie von Sabrina verwandelt worden war. 72
Dem Kater fiel plötzlich etwas ein, was seine Stimmung hob. „Wenn du jetzt zufällig in meiner Gegenwart niesen musst, werde ich mit deinen Kräften natürlich vorsichtiger umgehen. Versprochen. Kein Fisch mehr. Na ja, höchstens ein wenig Kaviar.“ Er sprang vom Fensterbrett und strich um Libbys Beine. Libby steckte vielleicht in Sabrinas Körper, doch ihre Reflexe waren ganz nach Libby Chesslers Art und Libby Chessler hasste Katzen, auch wenn „Cats“ ein Hit am Broadway war. Kaum spürte Libby das Fell der Burma-Katze auf ihrer Haut, zuckte sie zurück und schrie: „Hau ab!“ Salem wollte gerade an ihrem Bein entlangstreichen, als das Bein heftig weggezogen wurde. Er verlor das Gleichgewicht und geriet ins Taumeln. Dennoch war er nahe genug herangekommen, um seine Sinne zu aktivieren. Er machte einen Buckel und knurrte: „Hey! Du bist nicht Sabrina!“ Libby änderte blitzartig ihr Verhalten und lehnte sich übertrieben entspannt zurück. „Woher willst du das wissen? Ich meine, wie kannst du so etwas sagen?“ Salem schnaubte: „Sabrina riecht wie ein Nickerchen in der Sonne. Du riechst wie eine Winternacht auf einer offenen Veranda. Und ich weiß nur von einer von Sabrinas Mitschülerinnen, auf die diese Beschreibung passt. Ich nehme an, du bist diese Libby.“ „Also ich würde nicht über Körpergeruch reden, wenn ich meine Zunge als Waschlappen benutzen würde“, gab Libby zurück. Sie schauderte. „Iiih – ich möchte mir nicht einmal vorstellen, wie ekelhaft das sein muss.“ „Genug der Komplimente. Was tust du hier, oder gehört Hausfriedensbruch jetzt zum Trainingsprogramm der Cheerleader? Zusammen mit der Verwandlung in eine andere Person, was vermutlich überhaupt nicht auf eurem Lehrplan steht.“
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Wenn es ganz dick kam, fand Libby, war es immer das beste, zurückzuschlagen, und zwar mit aller Kraft. Sie richtete sich zu voller Größe auf und blaffte den Kater an: „Ich bin hier, weil deine verrückte Hexe von Besitzerin Zauberkräfte besitzt, die ich jetzt habe, und ich gedenke auch, sie zu behalten.“ Langsam erkannte Salem, was hier gespielt wurde. Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich ist das Gehirn einer Katze nur so groß wie eine Walnuss, und manch ein Gedanke kreist eine Weile in der Warteschleife, bis er drankommt. „Oh-oh, da haben wir aber ganz gewaltigen Ärger“, erkannte er. Er schlich zur Tür und rief „Zelda! Hilda!“ „Oh nein, das lässt du schön bleiben!“, rief Libby und zeigte mit dem Finger auf den flüchtenden Kater. Die Zeit, die Libby ungestört mit dem Zauberbuch verbringen konnte, hatte ausgereicht, ihr die Verlockungen der in ihr schlummernden Kräfte vor Augen zu führen. Schließlich besaß sie eine lebhafte Fantasie und das angeborene Talent, Befehle zu erteilen. Es gab eben einige, die mit schlichten Gedanken und starkem Willen etwas zustande bringen, was normalerweise nur durch Üben und Auswendiglernen vollbracht werden kann. Im Bruchteil einer Sekunde wurde Salem von unsichtbaren Händen gepackt und zur Decke geschleudert. Ihm blieb keine Zeit zum Nachdenken, doch glücklicherweise funktionierten seine Katzeninstinkte schneller als sein Gehirn. Wenn eine Katze von oben heruntergeworfen wird, landet sie stets mit den Füßen zuerst auf dem Boden. Salem entdeckte nun, dass dies auch auf Decken zutraf, falls man nach oben fällt. Daher fand er sich kopfüber an Sabrinas Zimmerdecke hängen, die Krallen verzweifelt in den Putz gegraben. Er quiekte vor Angst und starrte auf seine Peinigerin hinunter. Libby grinste höhnisch zu ihm hinauf. „Das sollte dich davon abhalten, irgendwelchen Unsinn zu machen, bis ich hier fertig
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bin. Und jetzt habe ich einige Fragen und du wirst sie mir beantworten.“ Salems charakteristischer Sarkasmus siegte über seine Angst. Er rollte die Augen und schnurrte: „Selbstverständlich! Aber wie kommst du auf die Idee, ich könnte dir helfen?“ Libby schenkte ihm ein 100 Watt starkes, drohendes Lächeln. „Ich habe Zauberkräfte. Ich habe das Buch mit den Zaubersprüchen und einige haben eine sehr unangenehme Wirkung, wenn ich sie falsch benutze. Und ich mag keine Katzen.“ Salem versuchte, eine seiner Pfoten zu befreien. Doch als er sein Gewicht verlagerte, drohten die Krallen der anderen drei Pfoten ebenfalls loszulassen. Schnell krallte er sich wieder fest in den Putz ein. „Du hast mich in der Hand“, räumte er ein. „Und alles andere ebenfalls. Also, frag mich aus, aber du wirst mir auch einige Fragen beantworten müssen.“ „Warum? Du bist doch derjenige, der wie eine Lampe von der Decke hängt.“ Das Lächeln einer Katze, die kopfüber an der Decke hängt, hat etwas Unheimliches. „Weil du vermutlich einer Bande sehr ärgerlicher Hexen einiges zu erklären hast, wenn sie dich erwischen.“ „Dann werde ich mich eben nicht erwischen lassen.“ Salem zuckte mit den Ohren. „Hast du eigentlich gar nichts kapiert? Sabrina hat eine magische Erkältung namens Hexitis, derentwegen sie ihre Zauberkräfte in dich hineingeniest hat. Sie braucht nur noch einmal zu niesen und schon hat sie ihre Kräfte zurück. Ihr geht zusammen zur Schule. Früher oder später wird es automatisch passieren.“ Daran hatte Libby nicht gedacht. „Mist“, knurrte sie. „Du hast Recht. Ich kann nicht einfach wegziehen. Mein ganzes Leben habe ich darauf hingearbeitet, dass mir diese Stadt aus der Hand frisst. Es würde ewig dauern, wenn ich an einer neuen Schule von vorne anfangen müsste.“ 75
„Du denkst strategisch, das gefällt mir.“ Salems Schwanz zuckte bewundernd. „Danke“, gab Libby abwesend zurück. Sie runzelte die Stirn, während sie in Gedanken unterschiedliche Möglichkeiten durchspielte. Dann schnippte sie mit den Fingern. „Sabrina hat ihre Kräfte an mich verloren. Du sagst, du hast deine Kräfte auch verloren. Also sind Zauberkräfte übertragbar. Ich muss also nur jemanden dazu bringen, mir seine Kräfte zu überlassen.“ Ein sonderbares Prusten ertönte über ihrem Kopf. Salem lachte. „Darauf hast du wirklich Superchancen“, kicherte er. „Sabrina hat ihre Kräfte wegen eines 24-Stunden-Virus verloren und meine wurden mir vom Vorsitzenden des Hexenrats aberkannt – einem machtgeilen Psychopathen namens Drell.“ „Warum hat er dir deine Kräfte genommen?“ Salem interessierte sich plötzlich brennend für die Staubflusen auf den Stuckornamenten. „Ääh... also, ich hatte da so einen kleinen Plan, die Weltherrschaft an mich zu reißen, der ihm nicht gefallen hat...“ Libby horchte auf. „Wolltest du die Karriereleiter von unten hinaufklettern oder gleich oben einsteigen?“ „Wie bitte?“ Libby wedelte ungeduldig mit der Hand. „Die Welt beherrschen. Wie wolltest du es anstellen?“ Salems absolutes Lieblingsthema, abgesehen von der täglichen Speisefolge, war sein Plan, wie er die Welt beherrschen würde. Und da er nie die Gelegenheit erhalten hatte, ihn in die Tat umzusetzen und zu sehen, ob er funktionierte, hatte er ihn unzählige Male in Gedanken durchgespielt. Und jetzt hatte er die Chance, ihn darzulegen, und noch dazu jemandem, der sich brennend dafür interessierte. „Also, zuerst wollte ich...“
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Eine ganze Weile später lehnte sich Libby zurück und schob nachdenklich die Lippen vor. „Dieser Drell ist also der Vorsitzende des Hexenrats und er ist derjenige, der dir deine Kräfte entzogen hat und dich dazu verurteilt hat, eine Katze zu werden.“ „Für hundert Jahre“, seufzte Salem. Libby stand vom Stuhl auf und schritt unter dem an der Decke baumelnden Salem nachdenklich auf und ab. Schließlich blieb sie stehen und warf ihm einen berechnenden Blick zu. „Was würdest du sagen, wenn du deine Kräfte zurückbekommen würdest und zugleich Drell eins auswischen könntest?“ „Klingt nicht schlecht“, meinte Salem. „Wie wär’s, wenn du mich herunterlässt, damit wir alles durchsprechen können?“ Libby wich zurück und drohte dem Kater mit dem Finger. „Sobald wir uns einig geworden sind. Zunächst einmal: Wo hat Sabrina diese Krankheit aufgeschnappt?“ „Hexitis ist ein Hexenbazillus. Er fliegt herum oder sitzt im Teppich. Wenn er auf eine Hexe trifft, die noch nie Hexitis hatte, wird sie angesteckt. Wer die Krankheit einmal überstanden hat, ist immun dagegen.“ „Weißt du, ob Drell je Hexitis hatte?“ Salem hob die Augenbrauen. „Herrje, nein! Er hat so eine panische Angst davor, krank zu werden, dass er einen eigenen Medizinmann angestellt hat, der ihn gesund halten muss.“ Er verdrehte die Augen. „Andererseits ist heute Mittwoch, da spielt der Medizinmann Golf, und außerdem bleibt Drell ihm immer sein Honorar schuldig...“ Hoffnungsvoll schaute er auf Libby hinab. „Denkst du dasselbe wie ich?“ „Sind hier wohl irgendwo solche Hexitis-Bazillen zu finden?“ Libby deutete in Sabrinas Zimmer herum. „Vermutlich tummelt sich jede Menge davon im Teppich“, rief Salem eifrig. „Benutze deine Zauberkräfte. Zeig einfach drauf und denk an eine Wolke goldener Fünkchen.“ 77
Libby starrte auf den Teppich und malte mit der Hand Kreise in die Luft. Ein golden flimmerndes Wölkchen stieg aus den Fasern des Teppichs auf und blieb mitten in der Luft stehen. Libby schüttete die Stifte aus dem kleinen schwarzen Kessel auf Sabrinas Schreibtisch und ließ die Fünkchen hineingleiten. Dann ging sie hinüber zum Schrank und suchte nach einem frisch gereinigten Kleidungsstück, das noch in seiner Plastikhülle steckte. Sie musste lange suchen. „Mann – wäscht dieses Mädchen eigentlich alles selbst? Das ist ja prollmäßig!“ Schließlich fand Libby einen schwarzen Samtpulli, der in eine durchsichtige Plastikhaut gehüllt war. Sie riss ein Stück davon ab, legte es über die Öffnung des Kessels und knotete es am Rand fest. Dann hielt sie den Kessel und seinen funkelnden Inhalt hoch, damit Salem ihn aus seiner Perspektive begutachten konnte. „Ich habe folgenden Plan: Du bringst mich zu Drell. Ich werde ihn damit anstecken. Du bekommst Drells Zauberkräfte und verbannst ihn, wohin du willst, dann kannst du seinen Posten übernehmen. Dafür versprichst du mir, dass du mir eigene Zauberkräfte verschaffst. Gebongt?“ Salem öffnete den Mund, doch dann zögerte er. Was für eine Chance! Aber beim letzten Mal, als er gegen den Hexenrat geputscht hatte, war er erwischt und bestraft worden. Damals war er in eine Katze verwandelt worden – was würden sie ihm dieses Mal antun? Ihn in eine Kloschüssel verwandeln? Andererseits war dies ein Plan, der eines zukünftigen Tyrannen würdig war. Und wenn er aufging, würde Salem wieder ein Zauberer werden! Dann konnte er alles unter seine Kontrolle bringen! Was für eine Freude! Salem grinste. „Du gefällst mir.“ Vorsichtig löste er eine seiner Pfoten aus dem Putz und kratzte ein Kreuz hinein. „Abgemacht“, sagte er. Libby machte eine Handbewegung und Salem plumpste zu Boden, wobei er sich einmal um sich selbst drehte, um auf seinen vier Pfoten zu landen. „Tut mir Leid“, sagte Libby und
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zuckte die Schultern. „Ich hab das noch nicht so richtig im Griff.“ Salem streckte und reckte sich nach allen Regeln der Kunst, um die Krämpfe in seinen Gliedern zu lösen. „Macht nichts. Du hättest die Schweinerei sehen sollen, als ich zum ersten Mal versuchte, Essen zum Schweben zu bringen.“ „Bääh, wie eklig.“ Libby schnippte mit den Fingern. „Wie kommen wir zu Drell?“ Salem zeigte mit dem Schwanz auf die Tür. „Geradeaus durch den Wäscheschrank und dann bei den Handtüchern rechts. Das ist eine Abkürzung.“ Er trottete los. Libby hob die Hand, um ihn aufzuhalten. „Noch eine Frage, bevor wir gehen.“ Salem setzte sich auf die Hinterbeine und musterte den Cheerleader in Sabrinas Gestalt kühl. Immer gab es noch einen Haken. „Und was wäre das für eine Frage?“ Libby sah an sich herunter und rümpfte angewidert die Nase. „Wie komme ich aus diesem Körper heraus?“ Salem zeigte mit dem Schwanz auf das Buch. „Seite 159.“
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Kapitel 9 Sabrina schlenderte allein die Collins Street hinunter. Sie ging so langsam wie möglich und fragte sich ängstlich, was ihre Tanten wohl sagen würden, wenn sie merkten, dass sie ihre Zauberkräfte verloren hatte. Immerhin hatte der Medizinmann ihr ja gesagt, sie müsse 24 Stunden lang zu Hause bleiben. Sabrina war sicher, dass ihre Tanten nicht verstehen würden, warum sie unbedingt in die Schule hatte gehen müssen. Schließlich hatte sie ja dann doch vor lauter Sorge um ihre frei umherschweifenden Zauberkräfte das Vorsprechen sausen lassen. Vielleicht konnte sie unbemerkt in ihr Zimmer gelangen und so tun, als schliefe sie schon, bevor die Tanten nach Hause kamen. Keine Chance. Eine Straßenecke weiter standen Hilda und Zelda Spellman auf der Treppe vor ihrer Haustür und unterhielten sich mit einem kleinen wütenden Mann. Am Straßenrand parkte ein verbeultes Taxi, der kleine Mann, der Sabrina an eine dicke Wurst mit einer polierten Bowlingkugel drauf erinnerte, war vermutlich der Taxifahrer. Als Sabrina näher kam, zeigte Zelda auf sie und sagte zum Fahrer „Da kommt unsere Nichte gerade, Sie können sie also gar nicht hergebracht haben.“ Der Mann drehte sich um und starrte Sabrina an. Seine Augen wurden groß wie Tischtennisbälle und wanderten von ihr zum Haus und wieder zurück. Dann gewann seine Rechthaberei, ein überlebenswichtiger Charakterzug von Taxifahrern, Oberhand und er blaffte zurück. „Du bist durch die Hintertür hinausgeschlichen und willst mich bescheißen. Du schuldest mir zweifünfzig für die Strecke vom Einkaufszentrum hierher plus fünf Dollar für die Wartezeit. Und mein Trinkgeld.“
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Zelda war verwirrt. „Sabrina, hast du wirklich ein Taxi nach Hause genommen?“ „Nein“, sagte Sabrina automatisch. Dann durchfuhr sie plötzlich ein Gedanke. „Aber vielleicht doch. Tante Zelda, kannst du den Mann für mich bezahlen, damit wir drinnen weiterreden können?“ Zelda zog die Augenbrauen so weit zusammen, dass sie über ihrer Nase zusammenstießen. „Vielleicht doch?“, fragte sie besorgt. „Ist etwas passiert, was wir wissen sollten, Sabrina?“ „Es war ein verfluchter Tag, wenn du weißt, was ich meine, Tante Zelda.“ Sie sah bedeutungsvoll zum Taxifahrer hinüber, der Hilda gerade mit Blicken zu verschlingen schien. „Ich zahle es dir zurück, versprochen.“ „Ich übernehme das“, zirpte Hilda und zog ein paar knisternd neue Scheine aus ihrem Portmonee. Sie zählte zehn einzelne Dollarscheine ab und gab sie dem Taxifahrer. „Der Rest ist für Sie.“ Der Mann ließ das Geld verschwinden, dann stemmte er die Fäuste in die Hüften. „Und jetzt reden wir mal über das Geld für die Platten, die ich mir hier vor Ihrem Haus gefahren habe“, sagte er streitsüchtig. „Der Abschleppwagen muss jeden Moment da sein und der will auch Geld sehen.“ An Zeldas Miene konnte Sabrina erkennen, dass der Mann sich nun in gefährliches Fahrwasser begab. „Warum sollten wir dafür bezahlen, dass Sie nicht richtig fahren können?“ „Hörnse mal, Lady, ich fahre schon Taxi seit ich aus der Schule bin und das war letzten Juli einundzwanzig Jahre her. Ich hab’ noch nie mehr als einen Platten an meinem Wagen gehabt. Wenn ich jetzt also zwei Platten direkt vor ihrem Haus hab, dann ist das jedenfalls nicht meine Schuld, und deswegen werden sie dem Mädchen hier auf die Rechnung gesetzt.“ Der Fahrer merkte nicht, dass Zelda ungeduldig mit den Fingern schnippte, aber Sabrina sah es, und daher war sie sehr viel weniger erstaunt als der Fahrer, als ihre Tante plötzlich mit 81
honigsüßer Stimme fragte: „Von was für Platten reden Sie eigentlich?“ Der kleine Mann riss verblüfft seine Schweinsäuglein auf. Diese Frauen sahen wohl nicht einmal das Offensichtliche. Er drehte sich um und zeigte auf seinen Wagen. „Hier die beiden rechten Reifen...“ Seine Stimme verstummte urplötzlich, die Kinnlade fiel ihm herunter. Das Taxi am Straßenrand hatte zwar stumpfen Lack und etliche Kratzer und Dellen, aber die vier Reifen, auf denen es stand, waren heil und prall mit Luft gefüllt. Die Kiefer des Fahrers mahlten, als er verwirrt erkannte, was hier los war. Er eilte zu seinem Taxi, um die Reifen genau zu inspizieren. Gerade in diesem Augenblick nahm der Abschleppwagen auf zwei Rädern die Kurve, fuhr einen eleganten Bogen, um mit dem Heck an der richtigen Stelle zu stehen und hielt mit kreischenden Bremsen an. Innerhalb weniger Sekunden stritten sich die beiden Männer bis aufs Messer, weil der Fahrer vom Abschleppwagen sein Geld verlangte, falscher Alarm hin oder her. Zelda belächelte mit heimlicher Genugtuung die hitzige Diskussion der beiden Männer. Sie öffnete die Eingangstür und winkte ihre Schwester und ihre Nichte hinein. „Damit sind sie für eine Weile beschäftigt. Können wir uns jetzt der Frage widmen, warum du ,vielleicht doch’ ein Taxi genommen hast, obwohl du ohne Zweifel zu Fuß gekommen bist?“ Sie gingen in die Küche und setzten sich an den Tisch. Sabrina versuchte, die Stunde der Wahrheit noch ein wenig hinauszuzögern und wandte sich an ihre jüngere Tante. „Danke, dass du das Taxi bezahlt hast, Tante Hilda. Ich zahle es zurück mit Putzen im Haus oder mit Babysitten oder –“ „Ach, mach dir darüber keine Sorgen. Ich habe ihn mit Moralgeld bezahlt. Das wurde auf der Hexpo verteilt. Es ist Geld, das zu neunundneunzig Prozent versuchungsfrei ist – du kannst es nur für etwas ausgeben, das keinen Spaß macht. Das 82
haben irgendwelche Hexen im Finanzministerium entwickelt, aber es stellte sich heraus, dass die Politiker es nicht ausgeben konnten. Also haben sie die Versuchsreihe abgebrochen und das Geld als Scherzartikel verteilt.“ „Deine Geschichten über finanzielle Spielereien kannst du später erzählen, Hilda“, sagte Zelda streng. „Ich glaube, Sabrina hat uns etwas zu erzählen und versucht sich davor zu drücken.“ Sie wandte sich ihrer Nichte zu. Hilda drehte sich ebenfalls herum. „Also los, Kleines, raus damit.“ Sabrina machte sich so klein wie möglich. „Ja, also... äh...“ „Na komm schon, so schlimm wird es schon nicht sein“, ermunterte sie Zelda. Sabrina holte tief Luft und sprudelte alles auf einmal heraus. „Ich-habe-meine-Zauberkräfte-an-Libby-Chessler-verlorenund-ich-kann-sie-nicht-zurückbekommen-weil-ich-nicht-weißwohin-sie-gegangen-ist.“ „Ich habe mich geirrt“, sagte Zelda. „Es ist doch schlimm.“ Hilda legte ihrer Nichte liebevoll den Arm um die Schultern. „Sabrina, das ist ja schrecklich. Wie konnte das passieren?“ Sabrina kämpfte mit den Tränen. „Ich habe mir diese Krankheit eingefangen, die der Medizinmann Hexitis nennt. Dabei wird eine Hexe –“ Zelda hob die Hand. „Schon gut. Wir wissen, was es ist. Wir hatten es beide schon.“ „Oh ja“, gab Hilda kleinlaut zu. „Als ich es hatte, vernieste ich meine Kräfte an Nostradamus. Ich musste monatelang um ihn herumlungern, bevor ich sie mir zurückniesen konnte. Aber da war er schon ganz groß ins Geschäft mit Weissagungen eingestiegen und dachte, ich sei eines seiner Groupies.“ Sie verzog angeekelt das Gesicht. „Ich hatte es so satt, dieses ständige ,Soll ich dir nicht einmal deine Zukunft vorhersagen, Kleines?’“
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Zelda griff tröstend nach Sabrinas Hand. „Warum bist du denn nicht zu Hause geblieben? Es ist doch nur ein 24Stunden-Virus.“ „Das wäre wahrscheinlich klüger gewesen“, gab Sabrina zu. „Aber ich wollte unbedingt in die Thespis-Gesellschaft aufgenommen werden und heute war das Vorsprechen, aber ich habe meine Zauberkraft auf Mr. Pool geniest und auf Jenny und auf Harvey und auf Libby, aber von der habe ich sie nicht zurückbekommen und sie hat einen Fluch ausgesprochen, der die Regeln geändert hat.“ „Wow, lass uns das mal etwas aufdröseln“, sagte Hilda. „Libby hat deine magischen Kräfte und konnte damit einen Fluch aussprechen?“ „Ja!“, seufzte Sabrina. „Und dann hat sie die Schule mit einem Taxi verlassen.“ Plötzlich kam ihr eine Erleuchtung. Sie sprang auf, rannte zur Tür und deutete auf das Taxi, das gerade vom Straßenrand wegfuhr, eine Kurve um den Abschleppwagen machte und dabei eine Reifenspur hinterließ. „Und zwar mit dem da!“ „Schon gut“, sagte Zelda. „Wir müssen nur einen einfachen Zauberspruch sagen, um herauszufinden, wo sich Libby gerade aufhält, sie herbringen und hier behalten, bis du wieder niest.“ Sie stand auf und zeichnete mit der rechten Hand ein großes Rechteck in die Luft. „Karte!“, befahl sie und das Rechteck füllte sich mit einer Luftaufnahme der Stadt Westbridge. Helle farbige Linien überlagerten den Ausschnitt, bildeten das Koordinatennetz und die Straßennamen. „Ist das nicht einfach super?“, fragte Hilda aufmunternd. „Es ist aus dem neuen Katalog von A la Kart.“ Hilda wandte sich ihrer Nichte zu. „Wir brauchen irgendetwas, was mit unserer Zielperson zu tun hat. Hast du irgendetwas von Libby?“ „Libby hat doch für mich nur Verachtung übrig“, antwortete Sabrina. 84
„Das genügt“, sagte Zelda. Sie bewegte ihre Hand über Sabrina hin und her und um das junge Mädchen erschien eine eisblau schimmernde, mit giftig roten Streifen durchsetzte Wolke. Zelda zupfte ein Stück von der Wolke ab und hielt es über die Karte. Die Miniwolke glitt über die Oberfläche des Plans und suchte ihn in unglaublicher Geschwindigkeit ab. Doch sie fand nichts, wo sie sich niederlassen konnte, und fiel vom unteren Rand der Karte auf den Boden, wo sie geräuschlos zersprang. „Das ist komisch“, stellte Zelda fest. „Libby ist nirgends in der Stadt. Ich vergrößere die Karte und versuche es noch einmal.“ Auf einen Wink hin veränderte sich der Maßstab der Karte, bis das magische Rechteck einen großen Teil von NeuEngland zeigte. Noch einmal wurde ein Stückchen Wolke abgezupft und suchte die Karte in rasendem Tempo ab. Doch auch dieses zerbrach ergebnis- und lautlos am Boden. „Sie ist wie vom Erdboden verschluckt“, sagte Zelda ratlos. Sabrina starrte angeekelt auf die Wolke, die sie einhüllte. „Ääh... können wir die jetzt nicht wieder verschwinden lassen, Tante Zelda?“ „Ich habe nur das sichtbar gemacht, was da ist.“ „Ja, aber es ist leichter zu ertragen, wenn man es nicht dauernd sieht.“ Zelda beschrieb mit der Hand einen Kreis. Die Wolke wurde heller und verschwand dann mit einem leisen „puff“. Plötzlich begann der Toaster, der vor ihnen auf dem Tisch stand, zu vibrieren und spuckte wie bei einem MiniVulkanausbruch einen steifen weißen Briefumschlag aus. Der Umschlag sprang auf und eine zornbebende Stimme erschallte, so dass die Fensterscheiben klirrten und die ganze Küche erzitterte. „Sabrina Spellman! Ich will dich auf der Stelle – Hatschiih – sehen!“
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Sabrina sackte in ihrem Stuhl zusammen. „Oh nein!“, wimmerte sie. „Drell weiß schon Bescheid! Er bringt mich um!“ Hilda reckte entschlossen das Kinn vor. „Nur über unsere Leichen! Habe ich Recht, Zelda?“ „Ganz so würde ich das zwar nicht sagen, aber selbstverständlich kommen mit dir, Sabrina.“ Die drei Hexen stapften gefasst die Treppe hinauf und blieben auf dem Treppenabsatz vor dem Wäscheschrank stehen. Plötzlich drehte sich Sabrina um und versuchte, in ihr Zimmer zu entwischen. „Ich will da nicht hingehen. Geht schon mal los und findet heraus, was er mit mir vorhat.“ Ihre Tanten packten sie an je einem Arm und hielten sie zurück. „Früher oder später musst du vor ihm antreten“, sagte Zelda. „Okay, dann lieber später.“ „Das würde ich an deiner Stelle nicht tun“, meinte Hilda und schüttelte mit ernster Miene den Kopf. Sie war, was Drell betraf, eine Autorität, weil sie ihn vor ein paar Jahrhunderten beinahe geheiratet hätte. Doch Drell hatte sie vor dem Altar – dem Parthenon in Athen – sitzen lassen. „Drell ist jetzt auf hundertachtzig“, warnte Hilda sie, „und in so einem Fall tut er, was ihm gerade einfällt. Das kann schlimm sein, doch wenn du abwartest, hat er Zeit, sich etwas wirklich Scheußliches auszudenken.“ Sabrina sackte zusammen. „Wahrscheinlich hast du Recht. Ich habe meine Zauberkräfte an Libby verloren. Sie wird mich aus der Schule ekeln, auch wenn ich Drell überlebe. Was kann da noch schlimmer sein.“ Ein Rumpeln ertönte und ein strahlendes Licht erleuchtete das Innere des Wäscheschranks. Die Tür sprang auf und wie von einer Spiralfeder abgeschossen taumelten zwei Gestalten heraus und rollten auf den Teppich. Die kleinere Gestalt
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kämpfte sich von der größeren frei, wobei sie blutige Kratzer hinterließ. „Ach du Schreck“, sagte Zelda und wurde ganz blass. „Das sind Salem... und Drell!“
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Kapitel 10 Salem sprang senkrecht in die Luft, um dem langen, fleischigen Arm auszuweichen, der ungeschickt nach ihm griff. „Du räudiges, lausiges Biest, ich verwandle dich in einen Strang Geigensaiten!“, brüllte Drell. Er rappelte sich auf und fuchtelte mit ausgestreckten Händen nach Salem, um ihn zu zermalmen. „Hilfe!“, jammerte Salem und sauste in Sabrinas Zimmer. Drell wollte hinterher, doch Zelda wedelte mit der Hand und ließ ein glitzerndes Schutzschild im Türrahmen erscheinen, das ihn aufhielt. „Lass mich durch, ich werde dieser Katze bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren ziehen!“, bellte Drell. „Das wirst du bleiben lassen“, gab Zelda energisch zurück. „Wo ist dein Problem, Drell?“, wollte Hilda wissen. Drell hielt mitten in der Bewegung inne, als würde ihm plötzlich klar, was er eigentlich tat. Er entspannte sich und strich umständlich seinen Anzug glatt. Dann schniefte er gebieterisch, strich über sein hellblaues, üppig mit Spitzen besetztes Seidenhemd und sagte nüchtern: „Als Vorsitzender des Hexenrats befehle ich dir, mich durchzulassen.“ „Keine Chance!“ Sabrina machte einen Schritt nach vorne und stellte sich vor die Tür. Sie wusste nicht, woher sie den Mut dazu nahm. Schließlich war es Drell ohne weiteres zuzutrauen, jeden in ein kläffendes Chihuahua-Hündchen zu verwandeln, der Widerworte gab. Sie hielt einen Moment inne, aber als nichts passierte, reckte sie ihr Kinn vor und sagte: „Ich weiß nicht, was los ist, aber du wirst Salem nicht zu nahe kommen.“ „Gib’s ihm“, drang Salems Stimme erstickt aus den Tiefen von Sabrinas Kleiderschrank.
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Zelda baute sich ebenfalls vor Drell auf. „Willst du uns nicht erklären, was hier los ist?“ „Meine Sache“, murrte Drell, und brüllte dann: „Geht euch nichts an!“ „Hexenrat oder nicht, immerhin ist dies unser Haus und du schuldest uns eine ordentliche Erklärung“, giftete Zelda zurück. Drell schloss den Mund und schob die Oberlippe vor. Dann schniefte er noch einmal verächtlich, blieb ansonsten jedoch stumm. „Aus dem bekommst du jetzt nichts mehr heraus“, bemerkte Hilda. „Er kann tagelang schmollen. Aber ich weiß, wen wir zum Reden bringen könnten.“ Sie schnippte mit den Fingern. Salem kam herausgeschwebt, von einer unsichtbaren Hand am Nackenfell gepackt. „He“, beschwerte er sich. „Wenn ich fliegen wollte, hätte ich meinen eigenen Jet.“ Vor Zelda kam Salem zum Stopp. „Salem, warum warst du im Anderen Reich?“ Salem öffnete den Mund, doch Drell blitzte ihn wütend an. Der Kater schloss den Mund wieder, ohne ein Wort zu sagen. „Salem, was ist los?“, fragte Zelda. Drell drängte sich vor und legte den Arm um Zeldas Schulter. Er lächelte sie an. „Gar nichts ist los“ sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. „Stimmt doch, oder?“, wandte er bedeutungsvoll sich an Salem. Salem grinste mit Mühe. „Gar nichts, he he. Hier ist überhaupt nichts los, außer vielleicht, dass einer unschuldigen Hauskatze der Tod droht...“ Hilda reichte es langsam. Sie zielte mit dem Finger wie mit einer Pistole auf Salems Kopf. „Ich gebe dir fünf Sekunden, du Wollknäuel.“ Salem zuckte zurück. „Ich kann nichts dafür, ehrlich!“, sprudelte es aus ihm heraus. „Libby hat mich reingelegt.“ 89
Ein dumpfes Grollen ertönte und in Drells Gesicht zeigten sich die Anzeichen eines fürchterlichen Wutanfalls. Er schwang die Arme in Salems Richtung, als übe er einen mächtigen Zauber aus. Aber nichts geschah. Und dann nieste Drell. Salem sah ihn mit unverhohlener Erleichterung an. „Das habe ich ganz vergessen! Du schießt ja nur mit Platzpatronen.“ Er grinste Hilda an. „Er kann mir nichts tun. Kannst du mich jetzt runterlassen?“ Erstaunt zeigte Hilda mit dem Finger auf Salem und ließ ihn auf die Korbtruhe fallen, die in der Ecke des Treppenabsatzes stand. Die drei Hexen drehten sich langsam um und starrten den Zauberer an. Hilda beendete das Schweigen. „Stimmt das, Drell?“ Drell, der nun wieder hartnäckig schwieg, wurde knallrot und warf der Katze einen vernichtenden Blick zu. Dann nieste er viermal hintereinander und schloss mit einem ekelerregenden Schniefen, das klang, als würde man eine Müllpresse im Rückwärtsgang betätigen. „Ja!“, sagte Salem und leckte sich die Schwanzspitze, behielt dabei aber Drell wachsam im Auge. „Keine Zauberkräfte mehr. Hat sie an ein junges Mädchen verloren, der Arme.“ Drell zitterte vor Wut und stierte Salem mit glasigen Augen an. „Dich in eine Katze zu verwandeln war noch viel zu gut für dich! Ich hätte aus dir ein Fondue-Set machen sollen. Hatschiiih!“ „Daran hättest du denken sollen, als du noch der allmächtige Herrscher warst“, schnurrte Salem. Hilda schnippte ungeduldig mit den Fingern und die unsichtbare Hand packte Salem wieder beim Nackenfell. „Keine Spielchen mehr, Kater! Raus mit der Wahrheit!“ Hilflos in der Luft hängend seufzte Salem. „Libby hat mir versprochen, dass ich meine Zauberkräfte zurückbekommen
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würde, wenn ich sie zu Drell brächte, aber bevor sie den Kessel öffnete, zauberte sie mich zurück in den Wandschrank.“ „Kessel?“, fragte Sabrina. „Was für einen Kessel?“ „Den Kessel auf deinem Schreibtisch mit den HexitisBazillen drin.“ Zelda wurde blass. „Du willst doch nicht sagen, dass sie mit den Hexitis-Bazillen Drell...“ „... angesteckt hat?“, beendete Hilda den Satz. „Und als Drell nieste – puuuf!“, schloss Salem und wie um das Gesagte zu bestätigen, fing Drell wieder an zu niesen, diesmal so heftig, dass er sich fast nicht auf den Beinen halten konnte. Er wischte sich die Nase am Ärmel ab und Sabrina wandte sich total angeekelt ab. Als sie wieder hinschaute, stand er neben Hilda. Er rang seine Hände und hatte den Kopf abgewandt, doch das Kinn war hochgereckt – das Bild eines geschlagenen und dennoch zum Letzten entschlossenen Feldherrn. Hilda legte ihre zierliche Hand auf seine große Pranke und sagte leise: „Mach dir keine Sorgen, Drell. Ob mit oder ohne Zauberkräfte, ich halte zu dir.“ „Ein großherziges Angebot, wenn man bedenkt, dass ich nicht die Macht habe, es dir auszureden“, sagte er ebenso leise, aber mit einem sarkastischen Unterton. Er hob graziös die Hand – und schlug sich dann gegen die Stirn. Schluchzend warf er sich an Hildas Brust. „Oh, Hilda, Hilda, Hilda! Was soll ich nur tun?“, jammerte er. Sein massiger Körper bebte und er heulte wie ein Baby. Hilda nahm all ihre Kraft zusammen, schaffte es aber kaum, sich von Drell zu befreien. „Am besten lässt du mich erst einmal los und versuchst, deinen Pranken beizubringen, wie man sich benimmt!“ Drell schien zusammenzuschrumpfen. Er schaute sie mit großen feuchten Augen an. „Aber ich bin so verzweifelt. Ich brauche Trost.“ 91
„Du brauchst eine Therapie“, stellte Hilda fest. Sabrina hatte plötzlich eine kleine, blumenbedruckte Schachtel in der Hand. „Er braucht ein Taschentuch.“ „Sabrina!“, rief Zelda. „Du hast deine Zauberkraft zurück!“ Sabrina war so überrascht, dass sie die Box mit den Papiertaschentüchern fallen ließ. „Ja tatsächlich, du hast Recht!“ Sie hob ihre Zeigefinger hoch und lächelte sie an, als wären sie aus Gold. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie ihre Zauberkraft vermisst hatte. „Ich bin wieder eine Hexe!“ „Na, herzlichen Glückwunsch!“, maulte Drell, bückte sich und hob die Box mit den Taschentüchern auf. Er zupfte eines heraus und schnäuzte sich. Es klang wie ein Nebelhorn im Hafen. „Natürlich!“, schmunzelte Zelda. „Als Drell nieste, flogen seine Kräfte der nächsten Person zu, die keine Hexe war.“ „Und da seine Kräfte so viel stärker waren als Sabrinas, haben sie ihre Kräfte aus Libby herausgedrängt und wieder zurück in Sabrinas Körper befördert“, sagte Hilda. „Und mich dabei vollkommen übergangen“, grollte Salem. „Keiner denkt mal an die Katzen.“ „Wow, Libby hat ihre Superkräfte schneller erhalten als sie dachte“, stellte Sabrina fest. „Eine schreckliche Vorstellung.“ „Und eine gefährliche obendrein“, sagte Zelda. „Deshalb müssen wir sie davon überzeugen, dass sie diese Kräfte aufgeben muss.“ „Libby soll freiwillig die Macht aufgeben, die ihr jede Laune erfüllt, noch bevor sie sie überhaupt hat?“, Sabrina schüttelte den Kopf. „Kaum!“ „Ich werde sie schon überzeugen“, meinte Drell leise, mit einem bösartigen Unterton. „Lass mich nur in ihre Nähe kommen. Ich kriege meine Zauberkräfte zurück und wenn ich sie wie ein ausgefranstes Taschentuch auswringen mu... mu...“ Seine Nase juckte unerbittlich. „Ssssschiih!“, nieste er und ließ
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die Box mit den Papiertüchern fallen. „Ich hasse es!“, schrie er und stampfte wütend mit den Füßen. Hilda lächelte ihren schwergewichtigen Ex-Freund mitleidig an. „Drell. Bitte. Sie wird dich in einen Giftpilz verwandeln, bevor du auch nur drei Meter an sie rangekommen bist. Denk doch mal nach. Sie ist jetzt eine der mächtigsten Hexen der Welt.“ „Ja, ja, ja, reib es mir nur unter die Nase!“ Drell hob die Box mit den Taschentüchern auf und wiederholte die Nummer mit dem Nebelhorn. Er sah erbärmlich aus. Zum ersten Mal in ihrem Leben als Hexe hatte Sabrina Mitleid mit ihm. „Also, was sollen wir tun?“, fragte sie. „Immerhin sitzt Drells Macht jetzt in einem verwöhnten Cheerleader, die den Wahn hat, die Welt zu beherrschen. Ich kann mir nichts Abartigeres vorstellen.“ Hilda drehte ihr Gesicht entschlossen zum Wäscheschrank. „Wir tun, was immer in unserer Macht steht, denke ich.“ „Ja“, sagte Zelda besorgt. „Wenn alle Zauberkraft der Welt in der Hand einer Sterblichen liegt, könnte das in der realen wie in der anderen Welt unermesslichen Schaden anrichten.“ „Ganz abgesehen von den Hexen, deren Tarnung sie aufdecken könnte, uns eingeschlossen“, fügte Sabrina hinzu. Die Vorstellung, dass die ganze Schule sie Freak nennen würde, drehte ihr den Magen um. Es war schon schlimm genug, wenn Libby sie so nannte. Wenn alle das täten..., wenn Harvey sie so nennen würde..., sie würde tot umfallen. Hilda grinste. „Stimmt! Ich glaube nicht, dass die Welt jetzt schon reif ist, die ganze Wahrheit über Michael Jackson, Roseanne und Bill Gates zu erfahren.“ Sabrina drehte sich zu ihrer Tante um. „Bill Gates ist ein Magier?“ Hilda sah sie mit unbewegter Miene an, aber ihre Augen blitzen. „Was glaubst du, wie er zu einem neun Milliarden Dollar schweren Streber geworden ist?“ 93
„Du hast doch wohl nicht geglaubt, dass Windows 95 sich so gut verkauft hat, weil er alles selbst erfunden hat?“, fragte Zelda. „Im Silicon Valley kennt man sich in der Schwarzen Kunst der Nacherfindungen ziemlich gut aus.“ „Meine Damen –“, unterbrach Drell. „Mach du dich nur nicht wichtig, du Jammerlappen!“, fuhr Salem dazwischen. Drells Machtlosigkeit ließ ihn mutig werden. „Also gut, meine Damen und du, zukünftiger Käsetopf“, sagte Drell und verbeugte sich vor Salem. „Können wir es dabei belassen und anfangen, die Welt zu retten, solange sie noch besteht?“ Sabrina nickte zustimmend, obwohl allein der Gedanke an eine Libby Chessler, die von Kopf bis Fuß mit Drells Macht vollgepumpt war, sie vor Angst fast lähmte. „Lass uns gehen.“ Alle nickten, Sabrina fasste den Griff zum Wäscheschrank und machte die Tür auf. Sie schlüpften nacheinander hinein, Sabrina als letzte. Während sie die Tür schloss, dachte sie wenn ich das überstanden habe, werde ich mich bei den Büchern von Stephen King nie mehr gruseln.
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Kapitel 11 Kaum war die Tür zum Wäscheschrank geschlossen, blitzte und donnerte es wie üblich. Auch das Gefühl, als würde einem das Innerste nach außen gekehrt, war nicht anders als sonst, als Sabrina, ihre Tanten, Salem und Drell auf ihrer Reise durch den unbekannten Raum zehn Millionen Lichtjahre zurücklegten. Doch das Dort, das sie erreichten, hatte sich vollkommen verändert. Und während die Spellman-Hexen (und ihr Kater) nur erschrocken waren, war Drell entsetzt. „Meine Magritte-Tapete ist weg. Wo ist mein Apfel? Wo sind meine Weinranken? Wo ist meine unendliche Weite des wunderbaren blauen Nichts?“ Als Vorsitzender des Hexenrats war Drells Geschmack Gesetz für das Styling des Anderen Reiches. Über die Jahrhunderte hinweg hatte er das Aussehen des Ortes mehrmals verändert, je nach seinen wechselnden Launen. Zuletzt hatte er sich vom Surrealismus anregen lassen. Alles schwebte in einem endlosen Raum, der mit flaumigen Wolken durchsetzt war. Weinreben und Ranken schlängelten sich umher und bildeten einen lebenden Teppich, auf dessen dichter Blätterdecke man gehen, und Sessel und Sofas, auf denen man sitzen konnte. Fische mit Perlenketten schwammen durch die Luft rund um eine schwerelos schwebende Marmorsäule, auf der ein riesiger grüner Apfel thronte. Wenn man Zauberkräfte besitzt, kann man sich auch mit ansonsten kaum möglichen Details bestens einrichten. Doch nun war nichts mehr davon übrig. Stattdessen fanden sich die fünf in einem offenen Vorraum aus grünem Marmor und Kristallglas wieder, von dem eine gläserne Flügeltür abging, hoch wie zwei Stockwerke. Beiderseits der Tür waren breite Schaufenster, in denen sechs identische Schaufensterpuppen die neueste Designermode präsentierten. 95
Dasselbe Gesicht wurde auf Dutzenden von Plakaten mit verchromten Rahmen gezeigt, die kunstvoll am unteren Ende der Schaufenster platziert waren. Eines küsste einen Lippenstift, ein anderes liebkoste ein paar Haarspraydosen und unzählige weitere strahlten voll Besitzerstolz auf diverse glitzernde Luxusartikel. Auf jedem einzelnen Stück, auf jedem Preisschild und auf den zwölf Meter hohen Glastüren, als Schmuckschrift eingeätzt, prangten die Initialen „LC“. „Was hat sie mit meinem Reich angestellt?“, jammerte Drell. Sabrina war sicher, dass er eigentlich noch weiter klagen wollte, aber vier Nieser hintereinander ließen ihn verstummen. „Also, das ist ja lächerlich“, sagte Hilda und zauberte mit einer schnellen Bewegung etwas in ihre Handfläche. „Ist das ein kleiner Eiswürfel?“, fragte Sabrina neugierig. „Nein, es sieht nur so aus“, sagte Hilda und reichte es Drell. „Nimm es. Ich kann dich zwar nicht heilen, aber ich kann wenigstens das Leck für eine Weile stopfen.“ Drell war es offenbar äußerst peinlich, Hildas Hilfe annehmen zu müssen, aber er wollte andererseits auch nicht dauernd schniefen. Er nahm die Pille und schluckte sie, griff sich aber sofort an die Kehle. „Ist das aber kalt!“ Hilda zuckte die Schultern. „Natürlich. Es ist eine Erkältungspille.“ Sabrina sah fasziniert zu, wie Drells Nase langsam blau wurde. Sie überzog sich mit Raureif und von der Nasenspitze wuchs ein kleiner Eiszapfen herab. Drell schielte angestrengt darauf. „Schockschwere Not! Du hast sie schockgefroren!“ Hilda seufzte. „Also, willst du nun aufhören zu niesen oder nicht?“ Mit regelrecht übermenschlicher Anstrengung schluckte Drell einen Wutausbruch hinunter. Immerhin musste er jetzt nicht niesen, wie Hilda versprochen hatte. „Schon gut, schon gut, Hauptbache bir kommen jetzt beiter.“
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Sie nahmen ihre Umgebung jetzt etwas genauer in Augenschein. „Aha!“, sagte Zelda. „Libby hat das Andere Reich in ein Einkaufsparadies verwandelt.“ „Mit ihrer liebsten Freundin als Star“, meinte Sabrina und deutete auf die Schaufensterpuppen und die Plakate. „Alle mit Libbys Gesicht.“ Salem tapste auf dem Ziegelboden herum. In der Mitte lagen goldene Fliesen, die sich spiralförmig über den Boden ausdehnten und schließlich ordentlich hintereinander auf die großen Glastüren zuführten. „Das soll moderne Architektur sein?“, schnaubte Salem. „Von Hollywood abgeschaut, vermute ich“, sagte Sabrina und studierte die grünen Türme und den gelben Pflasterweg, der ins Einkaufszentrum führte. „Das soll vermutlich die Smaragdstadt des Zauberers von Oz zu sein.“ „Aber es sieht überhaupt nicht danach aus“, gab Zelda zu bedenken. „Der Bilm hat ja auch nicht so ausbesehen“, giftete Drell. „Also, bollen bir jetzt hier stehenbleiben und die beklagensbert ungenügende kulturelle Reife eines pubertierenden Dingsleaders debattieren oder bollen wir irgendetwas tun, um meine Zauberkräfte zurückzubekommen?“ Er hievte seinen schweren Körper vorwärts und trat ärgerlich gegen die Glastür, wobei seine gefrostete Nase eine Spur Raureif hinter sich herzog. Sabrinas Tanten folgten widerstrebend. Sabrina, die merkte, dass der Kater nicht bei ihnen war, sah sich suchend nach ihm um. Salem saß im Zentrum der goldenen Spirale und beobachtete sie. Er fürchtete sich mehr als die anderen, den Kräften entgegenzutreten, über die Libby nun befahl. Er hatte schon einmal gegen diese Kräfte rebelliert, als sie noch in Drells Besitz waren, und damals hatte er definitiv den Kürzeren gezogen. Was immer diese Einkaufswelt für ihn bereithielt, er
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wusste, es würde etwas sein, was sie niemals auch nur erahnen konnten. „Salem!“, forderte Sabrina ihn auf. Der Kater zögerte. „Ja, schon gut. Ich komme.“ Er stand schwerfällig auf und warnte sie: „Aber die erste Person, die mich ,Mieze’ nennt, wird gebissen.“ Als sie sich den hoch aufragenden Glastüren näherten, sahen sie einen uniformierten Wachmann an einem Stehpult lehnen, das den Weg versperrte. Er war ein kleiner untersetzter Mann mit einem Kopf wie eine Bowlingkugel. Irgendetwas an ihm kam Sabrina bekannt vor. Er trat vor und hob eine Hand, um sie aufzuhalten. „Was wollnse kaufen?“ fragte er. Diese Stimme – das war der Taxifahrer, der Libby zu Sabrina nach Hause gebracht hatte! Libby scheint ja doch etwas für Recycling übrig zu haben, dachte sie. Drell geriet außer sich über das Hindernis. „Bir bollen überhaupt nichts kaufen!“ Der Wachmann schob sein Kinn nach vorn. „Dann kommen sie hier nicht rein. Dies ist ein Einkaufszentrum. Da werden Sachen verkauft.“ Zelda versuchte, dem Wachmann die Sachlage auseinanderzusetzen. „Wir sind gekommen, um Libby zu sehen“, meinte sie ernst. „Oh, das ist etwas anderes“, sagte der Wachmann, ging geschäftig zu seinem Pult zurück und nahm ein Klemmbrett. Er musterte die Gruppe. „Sind Sie topaktuelle Mode-Designer?“ fragte er und tippte mit dem Stift auf eine Zeile auf dem Klemmbrett. „Nein“, entgegnete Zelda leicht verwirrt. „Superwichtige Hollywood-Produzenten?“ „Nein.“ „Ehrfürchtige Bewunderer, die hoffen, einen Blick auf die Göttin des Konsums werfen zu können?“ „Natürlich n-“, begann Zelda ärgerlich. 98
„Ja!“, unterbrach sie Sabrina und schob sich zwischen Zelda und den Wachmann. „Wir sind ihre größten Fans und wir wären so glücklich, wenn wir sie persönlich kennenlernen könnten.“ Der Wachmann schielte auf sein Klemmbrett. „Tut mir Leid, die Fan-Liste für die Große Libby ist bereits für die nächsten zehn Jahre ausgebucht.“ „‚Die Große Libby’! – ist das nicht eine Spur egozentrisch?“, flüsterte Zelda ihrer Schwester zu. „Das macht ihr neuer Job“, flüsterte Hilda zurück und deutete mit dem Kinn auf den finster blickenden Drell. Sabrina bohrte weiter. „Aber wir müssen sie unbedingt sofort sprechen.“ „Niemand wird mit der Großen Libby sprechen“, sagte der Wachmann mit Bestimmtheit. „Niemand nicht nie nicht.“ Salem hörte auf, seine Schnurrhaare zu streichen und fragte „Wenn wir etwas kaufen, können wir dann hinein und sie sehen?“ „Kommt drauf an, was Sie kaufen“, gab der Wachmann zurück und holte ein anderes Klemmbrett hervor. Er zog eine Preisliste zu Rate. „Ein einfacher Einkauf bringt Sie natürlich erst mal rein. Aber um die Große Libby zu sehen, müssen Sie so viel einkaufen, dass sie auf Sie aufmerksam wird. Sie liebt es, um die Wette zu shoppen.“ Drell zog seine Brieftasche heraus und schlug sie auf, wobei sich eine Plastikhülle mit den unterschiedlichsten Kreditkarten wie eine Sturzflut entfaltete. „Okay, bieviel muss man ausgeben, um die Aubmerksamkeit der Großen Libby zu wecken?“, fragte er mit einer Stimme, die vor Sarkasmus triefte wie zuvor seine Nase. „Ich habe hier die Despotencard, Magiers Club, American Hexpress...“ Der Wachmann hob erneut die Hand. „Tut mir Leid, das Einkaufszentrum akzeptiert nur Bargeld oder die LibbyCard. Und ausgeben müssen Sie...“ Er drückte auf einen Knopf und 99
ein flacher Bildschirm leuchtete auf, „Sechs Millionen dreihunderttausend Mäuse.“ „Was?“ Drells schnupfennasiger Zornausbruch war ohrenbetäubend. „So viel hat sie bis jetzt ausgegeben“, erklärte der Wachmann. „Das war jedenfalls der Stand vor einer Stunde. Da müssen Sie mithalten, wenn sie überhaupt merken soll, dass Sie hier sind.“ Drell richtete sich zu voller Größe auf und seine Wangen röteten sich. Er glühte dermaßen vor Zorn, dass seine Nase aufzutauen begann. Gerade als der kleine Eiszapfen geschmolzen war, schob Hilda sich rasch zwischen ihn und den Wachmann und zog eine Handvoll Scheine hervor. „Was können wir für fünf Dollar kaufen?“ Der Wachmann kicherte. „Hier? Nichts!“ Sein Kichern schwoll zu einem lautstarken Gelächter an, bis ihm die Tränen die Backen hinunterliefen und er nach Luft schnappen musste. Drell war drauf und dran, den Wachmann zu Brei zu schlagen, als plötzlich zweimal hintereinander ein metallisches „Ping“ erklang. Aus dem Nichts marschierten eiserne Stiefel auf ihn zu und traten ihm auf die Füße. So festgenagelt, schoss nur sein Oberkörper nach vorn und Drell musste wie wild mit den Armen rudern, um sein Gleichgewicht wieder herzustellen. Automatisch drehte sich der große Zauberer zu Hilda um, die immer noch mit dem Finger auf seine Füße zeigte. Ihre Blicke trafen sich und sie hob den Finger, um ihm ein Nein zu signalisieren. Drell murrte und fletschte die Zähne wie ein hungriger Wolf, doch schließlich lenkte er schmollend ein. Der Wachmann, der die ganze Zeit gekichert hatte, wischte sich die Augen und hielt sich nur mühsam aufrecht. „Oh Mann, so habe ich ja schon seit Jahren nicht mehr gelacht. Ich sag Euch was, Leute, dafür will ich mal Fünfe grade sein lassen.“ Er kramte ein zerknittertes Pappkärtchen aus seiner Jackentasche. „Ich verkaufe Ihnen dieses LIBBYLOTTO-Los 100
für fünf Dollar. Damit kommen Sie wenigstens ins Einkaufszentrum hinein. Dann sind Sie allerdings auf sich allein gestellt. Hehehe!“ Immer noch kichernd drückte der Wachmann auf einen Schalter und die großen Glastüren öffneten sich majestätisch. Zelda befreite Drells Füße und sie betraten alle zusammen das Einkaufszentrum. Es war atemberaubend. Sabrina blieb stehen und schaute fasziniert umher. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass ihre Begleiter dasselbe taten. Das Innere der Passage hätte der berühmte holländische Grafiker M. C. Escher entworfen haben können. Es war ein riesiger Raum, in dessen Höhen sich unzählige Gänge kreuzten. Einige davon liefen ganz normal, andere vertikal an den Wänden entlang und einige standen sogar auf dem Kopf. Die Schwerkraft existierte nur in den Laufgängen, so dass sich die Kunden immer im richtigen Winkel zu ihrem jeweiligen „Stockwerk“ bewegten. Ein „Unten“ gab es in diesem gigantischen Einkaufszentrum praktisch gar nicht. Das Ganze schien aus unzähligen Schichten von Balkonen und Laufwegen zu bestehen. Wohin Sabrina auch blickte, tat sich ein gigantisches Treppenhaus auf, in dem sich ein glitzerndes Schaufenster ans andere reihte. Zu jedem dieser Fenster führte ein Weg. Diese Laufwege waren nicht miteinander verbunden, sie schlängelten sich um und durch die Geschäfte, kreuzten andere Wege oder überwanden große leere Flächen, um abgelegene Läden zu erreichen, die kopfüber im Raum hingen. Wohin Sabrina auch blickte, wuselten geschäftige Kunden mit nichts sagenden Gesichtern herum, schwer beladen mit Päckchen und Einkaufstüten. Je nach dem, auf welchem Weg sie sich befanden gingen sie kopfüber oder in bizarr spitzem Winkel zu anderen Menschen, die ein paar Meter über oder unter ihnen dahineilten. Nebeneinander liegende Gänge kamen von unterschiedlichen Ebenen und es war nicht möglich, von 101
einem zum anderen zu wechseln. So konnten zwei Läden, die nicht mehr als drei Meter voneinander entfernt waren, nur über kilometerlange, verschlungene Wege erreicht werden. Doch das Erstaunlichste von allem war, dass das Einkaufszentrum keine Begrenzung hatte. Soweit Sabrina feststellen konnte, dehnte es sich nach allen Richtungen ins Unendliche aus. Ein Kunde ohne Führer würde sich innerhalb von Minuten hoffnungslos in diesem Irrgarten verlaufen und nie wieder herauskommen. Und das, glaubte Sabrina, war auch der Zweck des Ganzen. „Wie sollen wir Libby hier drin nur finden?“, stöhnte Hilda. „Salem,“ fragte Sabrina, „kannst du ihre Spur mit der Nase aufnehmen?“ Salem legte seine Ohren flach zurück. „Ich bin doch kein Hund!“ „Huuh, entschuldige, dass ich gefragt habe.“ Sabrina zeigte auf den mit gelben Ziegeln belegten Gang. „Ich schätze, wir nehmen diesen Weg.“ „Geh du voraus“, schlug Zelda vor. Sabrina ging los und folgte dem gelben Weg eine sanfte Steigung hinauf und als sie oben war, tat sich eine neue faszinierende Aussicht auf. Unten, am Ende des gelben Pfades, schwebte ein riesiges – ein monströses – kugelförmiges Ding über einem Postament. „Das sieht aus wie das Modell eines kleinen Mondes“, bemerkte Zelda. „Wozu soll das denn gut sein?“ Salem machte große Augen. „Das ist nicht der Mond – das ist das Einkaufszentrum.“ Voller Erstaunen eilte die Gruppe zu dem Objekt hinüber. Jetzt sah Sabrina, dass es etwa sieben Meter hoch war und damit auch sieben Meter im Durchmesser. Und im Innern war bis in die letzte Einzelheit das perfekte Modell des Einkaufszentrum.
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Den Mittelpunkt bildete die winzige Nachbildung der riesigen Glastüren, durch die sie gerade eingetreten waren. Jetzt waren sie nur noch so groß wie Reiskörner. Ein paar Millimeter weiter blinkte ein kleiner roter Kreis und in einem Hologramm erschien die Schrift: „Sie haben sich verirrt.“ Als Sabrina noch genauer hinsah, konnte sie sogar neben dem roten Kreis eine winzige Kugel erkennen – das Modell dieses Modells. „Total abgedreht“, murmelte sie. Dann bemerkte sie rechts von ihr ein Schild „Information. Bitte Knopf drücken.“ „Auf los geht’s los“, sagte sie zu ihren Begleitern und drückte mit dem Daumen auf den Schalter. Eine Bodendiele der Plattform, auf der die Kugel stand, glitt zur Seite und ein Informationspult wurde emporgefahren. Dahinter saß ein Kobold in dunklem Anzug und mit einem recht angejahrten steifen Zylinder auf dem Kopf. Er lächelte die Gruppe verschmitzt an. „Skippy!“, donnerte Drell. Seine Nase war inzwischen fast vollkommen aufgetaut, so dass er wieder normal sprechen konnte. „Was hast du hier zu suchen?“ Skippy, der direkte Untergebene des großen Obermagiers, sprach niemals. Mit schuldbewusstem Grinsen zeigte er auf seine Füße. Sabrina lehnte sich über den Tisch und sah, dass er an den Schreibtisch angekettet war. „Du verdammter Taugenichts“, sagte Drell ohne eine Spur Mitleid in der Stimme. „Sag, Skippy, was kannst du tun, um unser kleines Problem zu lösen?“ Skippys Miene verdüsterte sich, er schüttelte traurig den Kopf. Er hielt beide Hände hoch und ein Hanfseil wickelte sich um seine Handgelenke. „Dir sind die Hände gebunden, was?“, bemerkte Drell. Skippy nickte und das Seil löste sich wieder in Luft auf. „Libby hat also nicht nur dieses ganze Gebäude unter Kontrolle, sondern auch dich?“, fragte Zelda. 103
Vor Skippy tauchte plötzlich eine Fernbedienung für Fernseher auf und klickte laut. Wie in einem Videofilm, den man gerade abschaltet, verwandelten sich Skippys Umrisse in grobe Linien und lösten sich dann in einer Unzahl farbiger Pünktchen auf. Einen Augenblick später war er unversehrt wieder zurück. „Sie hat gedroht, dich zu atomisieren?“, fragte Sabrina entsetzt. „Na, das nenne ich effektive Managementtechniken“, witzelte Hilda. Nun verformte sich Skippys Kopf und wurde erst zu Libby, dann zu einem verwöhnten Schoßhündchen, das lautlos kläffte und schnappte. „Ich weiß, was du meinst“, sagte Sabrina. „Ich muss sie jeden Tag in der Schule ertragen.“ „Aber kannst du uns nicht doch irgendwie helfen?“, fragte Zelda. Skippy setzte eine nachdenkliche Miene auf, dann erschien ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht und er schnippte mit den Fingern. Er machte eine große Show daraus, vorsichtig um sich zu schauen, nach oben und nach unten zu spähen und sich zu vergewissern, dass Libby ihn nicht sah, und vollführte dann mit beiden Händen eine magische Bewegung. Zwischen seinen Händen erschien eine bunte Anzeigetafel, auf der stand „Spielt LIBBYLOTTO. Gigantische Gewinne. Erster Preis – Erfüllen Sie sich einen Wunsch in unserem Einkaufszentrum!“ Auf eine weitere Handbewegung hin materialisierte sich ein elektronischer Terminal auf dem Informationspult, auf dessen Bildschirm die Schrift LIBBYLOTTO aufflackerte. Lauflichter um die Kanten zeigten den Weg zu einem Schlitz, in den man seine Lose steckte. Hilda schnaubte. „Das ist alles? Ihr albernes Spiel mitspielen und auf einen Gewinn hoffen?“
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Wieder erschien die magische Fernbedienung, diesmal schwebte sie ein paar Zentimeter vor einem Miniatur-Erdball. Es klickte und kleine Kopien von Libbys Einkaufszentrum erschienen überall auf dem Erdball. Es wurden immer mehr, bis kein einziger Fleck auf dem Globus mehr frei war. „Wunderbar!“, sagte Drell. „Ob wir gegen sie ankommen, ist noch nicht ungewiss genug, wir müssen erst spielen, um überhaupt an sie ranzukommen.“ „Okay, wenn das unsere einzige Möglichkeit ist“, meinte Sabrina. „Aber wie stehen unsere Gewinnchancen?“ Über dem Terminal erschien ein Totalisator, über dessen Oberfläche ein Strom von Ziffern glitt. „14.275 x 108 zu 1“ entzifferte Sabrina. „Etwas mehr als eins zu zehn? Das ist gar nicht so schlecht.“ Zelda sah ihre Nichte mitleidig an. „Süße, das heißt mal zehn hoch acht“, sagte sie liebevoll. „Das ist ungefähr einhundertfünfzig Millionen zu eins.“ Sabrinas hoffnungsvolles Lächeln erlosch. „Oh.“ „Ähem“, räusperte sich Salem geräuschvoll. Alle drehten sich zu ihm um. „Ihr seid einfach zu ehrlich. Wenn mir jemand nur ein Fitzelchen Zauberkraft borgen würde, dann könnte ich euch schon zeigen wie es geht.“ „Du kannst dir meine borgen“, grollte Drell. „Die ist im Augenblick recht günstig.“ „Ich mache es“, sagte Hilda, ohne auf Drell zu achten. „Aber dafür gehst du den ganzen nächsten Monat hinaus, damit ich die Katzenkiste nicht sauber machen muss.“ Salem verzog das Gesicht. „Auch wenn es schneit?“ „Darf ich vielleicht daran erinnern, wer für den ganzen Schlamassel hier verantwortlich ist?“ „Ja, ja, schon gut. Hauptsache du gibst mir das Los“, sagte Salem. Sabrina reichte ihm das zerknitterte Stück Pappe und er nahm es ins Maul.
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Hilda schnippte mit den Fingern und eine in allen Farben leuchtende Kugel reiner Energie schoss aus ihrem Körper in den von Salem hinein. Der Kater schloss die Augen und sagte etwas, was man wegen des Kärtchens in seinem Maul nicht verstehen konnte. Plötzlich veränderte sich der Text auf der Totalisatoranzeige und zeigte nun in roten Lettern „1 zu 1“. „Gut gemacht, Salem“, jubelte Sabrina und nahm das schon etwas durchgeweichte Los aus seinem Maul. „Das war Stufe drei meines großen Plans. Ich hätte damit zwölf Stunden lang jeden Jackpot geknackt, den es gibt“, schmunzelte er. Dann verfinsterte sich seine Miene plötzlich. „Aber es war ein Einweg-Zauberspruch. Ich kann ihn niemals mehr benutzen.“ „Also, wenn er uns aus der Klemme hilft, dann war es das wert“, beruhigte ihn Sabrina und kraulte ihn zwischen den Ohren. Unter ihrer Zärtlichkeit schmolz Salem dahin. Er hob das Kinn, damit sie ihn dort ebenfalls streicheln konnte. „Du wirst Recht haben“, seufzte er. „Katzen dürfen wohl ohnehin keine Glücksspiele spielen.“ Sabrina strich ihm noch einmal über das Fell und steckte dann das Los in den Schlitz. „Haltet uns alle die Daumen“, sagte sie. Der Terminal begann zu summen. Eine Fanfare ertönte und im ganzen Einkaufszentrum blinkten die Lichter auf. Eine donnernde Stimme hallte durch die weiten Räume „Wir haben einen Hauptgewinn gezogen!“ Auf dem Monitor zuckten leuchtende Blitze auf, und von oben senkte sich eine zwölf Meter hohe Videowand herab. Libbys Gesicht, groß wie drei Stockwerke, füllte die ganze Wand aus. Sie flötete „Herzlichen Glückwunsch! Sie haben den ersten Preis im LIBBYLOTTO gewonnen! Die Großzügigkeit und ultimative Coolness von Libby Chessler erlaubt Ihnen nun die Erfüllung Ihres Herzenswunsches –
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suchen Sie sich aus dem Chessler-Einkaufszentrum einen beliebigen Gegenstand aus und er gehört Ihnen.“ Sabrina nahm all ihren Mut zusammen und sah dem Gesicht auf der Videowand direkt in die Augen. „Danke Libby. Wir nehmen dich.“
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Kapitel 12 Auf der Videowand verwandelte sich Libbys perfekt gestyltes Gesicht in eine schockierte, zornige Fratze. „Was macht ihr denn hier? Ich habe dieses Einkaufszentrum doch deshalb so teuer gemacht, damit Freaks wie ihr es sich nicht leisten können!“ Hilda blickte mit einem sarkastischen Lächeln auf den Monitor. „Wir konnten es uns immerhin leisten, beim Wachmann ein Los für die LIBBY LOTTERIE zu kaufen.“ Libby wurde so wütend, dass ihr riesiges Abbild sich mehrmals um sich selbst drehte, bis sie schließlich wieder zur Ruhe kam. „Ooh, dieser Kerl, ich schmeiße ihn raus!“ Aber Sabrina ließ nicht locker. „Also, wo können wir uns treffen?“ Libby stampfte vor Zorn mit dem Fuß auf. Sabrina hatte keine Ahnung, wo sich ihre Feindin gerade befand, aber von dem Stampfen fing das ganze Einkaufszentrum an zu beben. Der Boden unter Sabrina und ihren Begleitern schwankte so sehr, dass Zelda beinahe aus dem Gleichgewicht geriet. „Das könnt ihr nicht machen!“, kreischte Libby. „Das macht ihr doch nur, weil ihr mir meine Zauberkräfte wieder wegnehmen wollt! Die Lotterie ist geschlossen! Keiner gewinnt!“ „Sorry, meine Liebe, aber so funktioniert das nicht“, unterbrach sie eine Stimme mit britischem Akzent. Der Monitor flimmerte ein wenig, bis er den Körper, der zu der Stimme gehörte, eingefangen hatte. Er gehörte einer zierlichen Frau in mittelalterlicher Kleidung und mit einem flotten Pagenschnitt, die jetzt neben Skippy am Informationstisch stand. „Wieso glaubst du, mir sagen zu können, was ich zu tun habe?“, fragte Libby. „Ich bin hier der Boss.“
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„Und ich bin die Regelbewahrerin“, antwortete die Frau, rückte ihre weiche Schottenmütze zurecht und zog eine dicke Pergamentrolle hervor. Sie bewegte leicht ihr Handgelenk und das Dokument schwebte in der Luft, wo es sich mit lautem Schwirren bis zu einer bestimmten Stelle entrollte. Sie las daraus vor: „Regel 372 sagt: Die Regeln gelten für jeden. Ich fürchte, damit sind sogar solche Ausnahme-Erscheinungen wie du gemeint.“ Libby blieb nichts Anderes übrig, als sich zähneknirschend zu fügen. „Grrr!“, knurrte sie. „So habe ich mich auch schon manchmal gefühlt“, meinte Drell mitfühlend. Das Dokument rollte sich schwirrend weiter auf und blieb bei einem anderen Eintrag stehen. „Regel 195, das ist übrigens die Regel, die mich hier erscheinen ließ, sagt: Jedes Ding, das durch Magie entstanden ist, muss das Zeichen seines Schöpfers tragen, der dann auch dafür verantwortlich ist.“ Die Regelbewahrerin sah vielsagend auf den Monitor. Libby wich ihrem Blick aus. „Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte sie und staubte sich einen unsichtbaren Fussel von ihrer Donna-Karan-Jacke. „Dein Zauber hat das Los entstehen lassen, meine Liebe. Sie haben gewonnen, also musst du ihnen auch den Preis zuerkennen.“ „Und wenn ich das nicht tue?“ Erneutes Schwirren. „Regel 909: Wenn eine Hexe Regel 195 bricht, wird diese Hexe für die Dauer von nicht mehr als sechshundert Jahren in eine Kehrschaufel verwandelt. Gibt es irgendwelche Besen, die dir besonders zusagen, Schätzchen?“ „Daddy sagt immer, jede Regel hat eine Ausnahme“, bemerkte Libby nachdenklich. Dann leuchteten ihre Augen auf. Der Monitor flackerte, als die Kamera wieder auf die Regelbewahrerin schwenkte. „Kann ich denen da Bedingungen stellen?“ 109
„Oh, aber immer. Bedingungen gehören nun einmal zu Regeln.“ „Dann kann dieser Freak zu mir kommen, wenn sie mir...“ Libby schloss die Augen und dachte scharf nach, „wenn sie mir eine Fackel bringt, die im Innern der Sonne entzündet wurde!“ „Das ist unfair!“, rief Sabrina. „Das ist ja völlig unmöglich.“ „Fantasievoll, aber nicht zulässig“, zwitscherte die Regelbewahrerin. „Regel 721: Nicht mehr als drei Aufgaben hintereinander und alle müssen von den Probanden mit angemessenem Aufwand zu meistern sein.“ Libby geriet in Rage und das Einkaufszentrum bebte wie ein riesiges Stahlwalzwerk. „Was hat man davon, eine Hexe zu sein, wenn man dann doch nicht die Oberhand hat?“ Sie zeigte auf Skippy, drei winzige Papierflugzeuge schossen plötzlich aus dem Monitor heraus und gruben ihre tödlich scharfen Spitzen sss-tok – sss-tok – sss-tok in die dunkle Mahagoniplatte des Informationspults. „Also gut! Drei Aufgaben“, zischte Libby. Giftig violette Dampfwolken quollen aus dem Monitor, als er wieder nach oben schwebte und verschwand. „Willst du uns nicht die Daumen drücken?“, rief Salem ihr nach. „Ich gebe ihr hundert Punkte für – hatschiiih!“, Drell schniefte, „ihr Showtalent“, schloss er. Sabrina und ihre Tanten zogen die Papierpfeile aus Skippys Pult heraus und strichen sie glatt, um zu ihre Aufgaben lesen. „Aufgabe Nummer eins“, las Sabrina. „Geht zur Boutique Pelz Exklusiv und wählt die coolsten Kreationen aus.“ „Das zweite ist ein Rätsel, das wir lösen müssen“, sagte Zelda. Es heißt: Feines Wachs und Karmesin Ich bin in einer Schachtel drin. Keine Frau geht ohne mich aus. Für euch bin ich der Weg hinaus. „Dafür müssen wir wohl in ein Warenlager gehen.“ 110
„Das Letzte klingt ziemlich unheimlich“, meinte Hilda und verzog angewidert das Gesicht. „Da steht ‚Haltet euch für die ultimative Herausforderung bereit’.“ „Ich weiß, dass wir die Welt vor Libby retten müssen, aber langsam erscheint mir das unmöglich“, klagte Sabrina. Sie deutete auf das riesige Modell des mondförmigen Einkaufszentrums. „Wie sollen wir diese Geschäfte überhaupt erst einmal finden?“ „Ich begehe wohl kaum keine Regelverletzung, wenn ich auf das Offensichtliche verweise“, meinte die Regelbewahrerin und rollte ihr Dokument auf. „Immerhin seid ihr hier am Informationsschalter.“ Sabrina und ihre Tanten drehten sich um und schauten Skippy mit großen, erwartungsvollen Augen an. „Skippy,“ fragte Sabrina, „kannst du uns zeigen, wie wir zu diesen Läden kommen?“ Skippy schaute bedeutungsvoll auf die Stelle, an welcher der große Monitor gehangen hatte und verwandelte seinen Kopf noch einmal in den eines kläffenden Hundes. Er streckte die Hand aus, die Handfläche nach unten gewandt. Als er sie umdrehte, hielt er ein altmodisches Kinderspielzeug in der Hand. Es war nichts anderes als eine kleine Blechdose, an deren Boden eine steife Stahlfeder befestigt war. Auf der gewölbten, mit angeschlagenem Email überzogenen Oberfläche war das verblasste Bild eines Paares roter Pantoffel zu sehen. Er drückte dreimal auf die Dose – „Klicker, Klicker, Klicker“. Dabei leuchteten auf dem Modell drei verschiedene Stellen kurz auf. Dann übergab er die Dose mit großer Geste an Sabrina. „Ooh, wunderbar, ein Knackfrosch“, sagte Hilda. „Wir müssen nur dreimal draufdrücken und das Ding zeigt uns den Weg zu den Geschäften. Skippy, ich könnte dich küssen.“ Skippy wurde vom Scheitel bis zu seinem steifen Kragen rot und Sabrina bemerkte, dass die Regelbewahrerin misstrauisch 111
die Szene beäugte. Hier gibt es hoffentlich keine Vorschrift zu grenzüberschreitenden Flirts, dachte Sabrina. Dann fiel ihr ein, dass Libby eine Meisterin darin war, alles unter Kontrolle zu halten. Jedenfalls bisher noch nicht. Sabrina nahm Salem auf den Arm und die anderen sammelten sich um sie. Sie holte tief Luft und drückte auf den Knackfrosch. Klicker, Klicker, Klicker! Einen Augenblick später standen die fünf vor einem hell erleuchteten Geschäft. Wohin sie auch blickten, sahen sie Pelzund Lederwaren in allen möglichen Variationen. Zottelige Büffelfelle waren an den hellen, mit Email überzogenen Wänden angebracht, daneben hingen schwarz-weiß gestreifte Zebrafelle. Das drei Meter lange, blendend weiße Fell eines Polarbären samt Tatzen hatte seine riesigen Klauen in die Wand gegraben, während ein Rudel Dingofelle nach seinen Flanken schnappte. Auf Schulterhöhe verlief ein Fries gegerbter Anaconda-Häute wie im Gänsemarsch um den ganzen Laden. Der Laden war der Traum eines jeden Kürschners. Die Ständer hingen voller Jacken und Mäntel aus jedem nur erdenklichen Fell. Nerzjacken neben Waschbärmänteln im Stil der 20er Jahre, Leopardenstolas waren um einen Krönungsmantel aus Hermelin und Seehundfell drapiert. Eine Ecke war ganz mit Kappen, Mützen und Pelzstiefeln gefüllt, sogar die Bärenfellmütze eines englischen Beefeaters war da. Die Lederwarenabteilung stand der Pelzabteilung in nichts nach. Brieftaschen korrekt in Reih und Glied, als ob sie vor den Ledergürteln, Krawatten und Westen stramm stehen würden – nichts, was immer man aus gegerbter Tierhaut machen konnte, fehlte hier. Über allem hing ein ledernes Schild mit der goldgeprägten Schrift „Pelz Exklusiv“. Salem blickte sich entsetzt um. „Irgendwie gefällt mir das überhaupt nicht“, murmelte er. 112
„Oh, was für ein hübscher Burma-Kater“, sagte eine muntere Stimme. „Wollen Sie einen Muff daraus machen lassen?“ Sabrina wirbelte herum, um zu sehen, wer da sprach. Es war Jenny, aber eine Jenny, die Sabrina völlig fremd erschien. Die dichten roten Locken dieser Jenny waren mit Schildpattkämmen zu einem festen Knoten zusammengesteckt. Unter einem Bolero aus Zobelpelz, der mit schwarzem Wildleder abgesetzt war, trug sie ein Waschlederhemd und einen engen Rock aus weichen Nappaleder. Ihr Rock wurde von einem Gürtel aus Klapperschlangenhaut gehalten. Sie hatte ihre Beine rasiert und trug Cowboy-Stiefel aus Krokodilleder. Um ihren Hals hing ein Lederband, das von einem Clip aus Wildleder zusammengehalten wurde, der die Aufschrift „Rettet die Pelze“ trug. Ihre Ohren waren gepierct und mit jeder Menge kleiner Eidechsenkrallen geschmückt. Sie lächelte strahlend. „Wenn Ihnen ein Muff zu altmodisch ist, könnte man ihn ja auch ausstopfen. Er ist dann immer noch kuschelig, aber er macht viel weniger Arbeit.“ „Fertigen Sie auch Kaffeewärmer?“, fragte Drell mit einem boshaften Blick auf Salem. „Aus unserem Kater wird kein Kaffeewärmer gemacht!“, protestierte Sabrina, als Salem sich ängstlich hinter ihren Beinen zusammenrollte. „Aber er würde absolut zu jedem Einrichtungsstil passen“, plapperte Jenny fröhlich drauflos. „Und außerdem ist das ja schließlich der natürliche Lauf der Dinge.“ „Ist es der natürliche Lauf der Dinge, aus Tieren Einrichtungsgegenstände zu machen?“, fragte Sabrina geschockt. „Aber ja, sie sind doch so dekorativ.“ „Ein Nebenprodukt der natürlichen Auslese, Liebling“, mischte sich Zelda ein. Sabrinas Tante war seit Jahrhunderten in der Forschung tätig, hatte Freunde an fast jeder Universität
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der Welt und war in Naturwissenschaften genauso beschlagen wie in der Zauberei. „Bei uns geht es auch um natürliche Auslese“, sagte Jenny ernsthaft. „Wir sind die Top-Pelzdesigner und es ist unsere Pflicht, aus der Welt der Tiere nur das Beste auszusuchen, um daraus Kleidungsstücke zu machen. Die Tiere sollten stolz darauf sein, dass die Millionen von Jahren, in denen sie Pelz oder Schuppen oder was auch immer hervorgebracht haben, nicht vergeudet sind und sie nicht im Dschungel oder in einem matschigen Moor verrotten. So können sie ihren Beitrag dazu leisten, uns als die vollendetste und geschmackvollste Art auf diesem Planeten anzuerkennen.“ Sabrina trat dicht vor Jenny hin und sah ihrer Freundin in die Augen, als suche sie etwas. „Jenny, bist du das wirklich?“ Jenny schnippte mit den Fingern, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen. „Ich hab’s! Sie müssen es nur einmal anprobieren, um festzustellen, wie herausragend Sie sich darin fühlen.“ Sie eilte zur nächsten Schaufensterpuppe hinüber, die selbstverständlich aussah wie Libby und einen kostbaren weißen Pelzmantel mit schwarzen Streifen trug. „Sibirischer Tiger“, erklärte Jenny, streifte den Mantel von der Puppe und brachte ihn Sabrina. „Probieren Sie ihn ruhig einmal an. Darin eingehüllt sind Sie in aller Munde.“ „Bestimmt.“ Sabrina wollte den Mantel nicht nehmen und wandte sich an ihre ältere Tante. „Tante Zelda, das ist ja schrecklich. Libby hat aus Jenny all das gemacht, was Jenny hasst.“ Zelda streckte eine Hand nach oben aus und zeigte mit der anderen Hand darauf. Auf ihrer Handfläche erschien ein kleiner, kunstvoll bestickter Stoffbeutel mit einem Band zum Zuziehen. Zelda öffnete den Beutel, nahm eine Prise Staub heraus und bestäubte Jenny damit. Der Staub funkelte in allen Regenbogenfarben, wandelte sich dann zu hellem Rot und verblasste allmählich. „Keine Sorge, das ist nicht die Jenny, die 114
du kennst“, stellte Zelda fest. „Es ist nur eine Kopie von ihr, wie Libby sie sich vorstellt. Das tut sie nur, um dich zu ärgern.“ „Das ist mir unheimlich!“, sagte Sabrina und starrte die lederbekleidete Modepuppe an. „Die echte Jenny ist absolut gegen jede Gewalt, sie entschuldigt sich sogar beim Tofu, bevor sie ihn isst.“ „Meinetwegen könnte sie auch geschnetzeltes Bambi essen“, unterbrach Drell. „Wir sind doch schließlich hier, um meine Zauberkräfte zurückzuholen.“ „Vielleicht versuchst du einmal, dich daran zu erinnern, wer hier wem hilft“, warnte ihn Hilda. „Eine stark veränderte Kopie von dir wäre vielleicht sogar ein Fortschritt.“ „Du wagst es –“ Er verstummte, als Hilda mit ihrem Zeigefinger drohte. Drell versuchte, seinen Worten einen entsagungsvoll-romantischen Touch zu geben. „Die Hilda, mit der ich einst ausgegangen bin, hätte mir das nie angetan“, säuselte er zärtlich. „Nein, aber die Hilda, die du immer versetzt hast, schon“, grollte Hilda ungewohnt ärgerlich. „Jetzt benimm dich!“ „Also“, unterbrach Jenny, „Möchten Sie den Tigermantel anprobieren?“ „Äääh... er ist ein wenig exotisch als Outfit für die Schule“, meinte Sabrina. „Libby möchte, dass wir die coolsten Kreationen finden. Könnten Sie uns zeigen, wo die sind?“ „Dazu müssen Sie in die Umkleidekabine gehen“, sagte Jenny. „Dort finden Sie alles, was Sie wünschen.“ Hilda ließ sich nicht beeindrucken. „Ich habe gehört, dass es Sonderangebote gibt, vielleicht könnten Sie uns da weiter helfen?“ „Ich probiere in diesem Laden überhaupt nichts an“, gab Salem entschlossen bekannt. „Und umgekehrt.“
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„Aber ich bin ganz sicher, dass Sie finden, was Sie suchen“, versicherte ihnen Jenny und öffnete die Tür zur Umkleidekabine. Die Fünfermannschaft trat ein und fand sich in einem Spiegelsaal wieder. Große, kleine, breite, schmale – wohin sie auch schauten, überall waren Spiegel. Man konnte unmöglich abschätzen, wie groß der Raum wirklich war. Soweit Sabrina sah, war der Raum tatsächlich nicht größer als eine ganz gewöhnliche Umkleidekabine. Andererseits hätte er auch kilometerlang sein können. „Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache“, sagte Salem. „Vielleicht finden wir ja einen anderen Weg“, stimmte Zelda ihm zu. Sie drehten sich allesamt um und traten wieder in den Laden, wo Jenny gerade einer Libby-Puppe ein Cape aus herrlichem weiß schimmerndem Pelz anzog. Um ihren Hals hing eine silberne Kette mit einem langen gedrehten Horn. „Einhornfell! Das ist der ultimative Kick!“, teilte ihnen Jenny strahlend mit. „Davon gibt es nur ein einziges Exemplar. Haben Sie gefunden, was Sie suchen?“ „Nein, wir haben genug gesehen, danke“, sagte Sabrina und hielt auf die Tür zu. Erschrocken musste sie feststellen, dass die Tür nicht aufging und sie mit der Nase gegen das Glas donnerte. „Ist wohl ein Hinweis darauf, dass wir durch die Umkleidekabine hinausgehen sollen“, bemerkte Salem. „Spiegelkabinett, wir kommen!“, kündigte Sabrina ohne Begeisterung an. „Dann also los.“ Sie gingen durch die Tür zur Umkleidekabine in den Spiegelsaal und Jenny winkte ihnen zum Abschied aufmunternd zu. Kaum waren sie alle drin, verschwand die Tür. Dann ging das Licht aus.
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Kapitel 13 „Na, das ist jetzt also die Kampfansage“, ertönte Salems Stimme aus der Dunkelheit. Hildas Stimme fiel ein. „Ich habe ja schon davon gehört, dass man seine Gegner im Dunkeln tappen lässt, aber das hier ist doch wohl lächerlich.“ Die Lichter gingen wieder an, zunächst gedämpft, dann so hell, dass die Hexen sich in den Spiegeln sehen konnten. Und trotzdem war es immer noch so dunkel, dass sie sich nur mit Mühe orientieren konnten. Doch das Licht reichte aus, um sie vollends zu verwirren. Sabrina starrte in den Spiegel links von ihr. Ihr Spiegelbild starrte zurück, aber es trug Jeans und ein rot kariertes Flanellhemd, auf dem Kopf saß ein Strohhut und die Füße waren nackt. Der Spiegel rechts von ihr zeigte ihr Bild in Schwesterntracht. „Was sind denn das für Spiegel?“ Hilda beäugte sich in einem anderen Spiegel. Sie sah sich in einem Raumanzug. „Modeberater von der SchönheitsspiegelGmbH“, antwortete sie. „Genau das sind sie“, sagte Zelda, die in einen anderen Spiegel blickte. „Anstatt eine Menge Klamotten beim Anprobieren zu ruinieren, benutzen Hexen solche Spiegel, um herauszufinden, wie sie in einem Outfit aussehen, bevor sie es dann kaufen.“ Sie machte eine Drehung, um das weißseidene Abendkleid und das Diamantdiadem, das ihr Spiegelbild trug, von hinten zu betrachten. „Ist das nicht göttlich“, bemerkte Salem, der sich vor einem Spiegel putzte, der ihn als ägyptischen Katzengott Bast zeigte. Drell warf einen Blick in den nächsten Spiegel, zuckte zurück und drehte sich weg. „Okay, lasst uns loslegen.“ Er trat hinter Hilda und blieb kurz stehen, um zu sehen, wie ihre futuristischen Trainingsanzüge im Partnerlook wirkten. „Wie 117
aus einer alten Folge von ‚Raumschiff Enterprise’!“ Er bekam gerade noch sein Taschentuch heraus, bevor er niesen musste, und drückte sich an Sabrina vorbei. Dabei vermied er es, in den Spiegel zu schauen, er wollte wirklich nicht wissen, wie er in den abgewetzten Hinterwäldler-Klamotten aussah. Der Armani-Spiegel allerdings zog ihn an wie ein Magnet. „Wo willst du hin?“, fragte Hilda leicht irritiert. „Drell, wir haben noch nicht einmal herausgefunden, wie dieser Raum funktioniert. Schweif jetzt nicht ab.“ Drell stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Spiegel hinwegzusehen. „Hier ist nun wirklich nichts, wohin man schweifen könnte“, gab er giftig zurück. „Dieses Spiegellabyrinth füllt den ganzen Raum aus und Türen gibt es nicht.“ Er verschränkte die Arme und lehnte sich in eine Ecke, in der zwei Spiegel aneinander stießen. Einer davon zeigte Drell in einer römischen Toga und der andere in Hippieklamotten aus den Sechzigern – mit Schlaghosen, BatikT-Shirt und Blumen im Haar. „Es gibt keinen Weg hinaus.“ „Nein“, erinnerte ihn Sabrina. „Libbys Aufgabe heißt, dass wir die coolsten Klamotten finden sollen. Ich glaube, das bedeutet, dass wir uns selbst in all diesen Spiegeln anschauen sollen, bis wir das coolste Outfit finden.“ „Für uns alle oder nur für einen?“, fragte Hilda. „Und müssen wir alle im selben Spiegel cool aussehen oder soll jeder von uns einen eigenen Spiegel finden?“ Sabrina zuckte mit den Schultern. „Vielleicht fangen wir damit an, die Spiegel auszuchecken.“ „Der richtige Spiegel wird uns den Ausweg schon zeigen“, sagte Zelda. „Das hoffe ich wenigstens.“ „Wir sollten uns aufteilen“, schlug Salem vor. „Dann können wir mehr Spiegel ausprobieren.“ „Ja und uns doppelt so schnell verirren“, kommentierte Hilda fröhlich.
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„Nein, ich glaube, Salems Idee ist gut“, sagte Zelda. „Drell ist so groß, dass er über die Spiegel hinweg sehen kann. Wenn einer von uns den richtigen Spiegel findet, kann er ihm ein Zeichen geben und er zeigt den anderen den Weg dorthin.“ „Genau das bin ich“, dröhnte Drell. „Eine Stütze der Gesellschaft, ein Kompass in der Wildnis, ein Leuchtturm für die irrenden Massen...“ Hilda packte seine Hand und zog ihn weiter. „Komm, mein Leuchttürmchen, lass uns anfangen zu suchen.“ Sabrina sah zu, wie sie in einem Gang verschwanden, den sie nicht einmal als Gang erkannt hatte. „Also, diese Spiegel sind wirklich total verwirrend“, stöhnte sie. Salem schüttelte den Kopf und seufzte: „Du merkst aber auch alles!“ „Hört auf euch zu zanken“, ermahnte Zelda sie. „Es reicht schon, dass Drell und Hilda ewig aneinander geraten.“ Sie schaute in den nächsten Spiegel und begutachtete ihr mittelalterliches Kostüm. „Das ist einigermaßen elegant und lange nicht so unbequem wie damals, als ich zum letzten Mal eines trug, aber ich glaube, es würde nicht als cool durchgehen.“ Eine Stunde und endlos viele Outfits später hatten Sabrina, Zelda und Salem immer noch nicht das Richtige gefunden. Sie hatten sich in Pfadfinderuniform, Safarilook, Ballettröckchen, Smoking, Miniröcken und Angora-Unterwäsche betrachtet. Sie hatten sehen können, wie sie als Feuerwehrleute, Laborantinnen, Müllmänner und Supermodels wirken würden. Aber sie hatten noch nichts gefunden, was man unbedingt „cool“ nennen würde. Als Zelda und Sabrina vor einen weiteren Spiegel traten, blieb ihnen vor lauter Staunen der Atem stehen. Beide trugen winzige brasilianische Stringbikini. „Wow!“ quietschte Salem. „Dreh dich auf der Stelle um“, fuhr Zelda den Kater an. 119
Salem gehorchte nur zögernd und stieß gleich noch einmal ein „whoa!“ aus. Sabrina wirbelte herum um zu schauen, was der Spiegel hinter ihr enthüllte. Sie sah sich in einem hautengen schwarzen Hosenanzug aus Leder, mit High Heels, lila gefärbtem Stachelhaar und einer Sicherheitsnadel in der Nase. „Das bin nicht ich!“ „Was ist, Sabrina –“, begann Zelda. Sabrina packte Zelda an der Schulter, damit sie sich nicht umdrehte. „Schon gut. Lass uns hier schnell weggehen, bevor Drell diese Ecke entdeckt.“ Sie gingen an einem Spiegel vorbei, der sie in CheerleaderKostümen zeigte, und Sabrina seufzte genervt, weil sie sich dabei an Libby erinnerte. „Ich glaube, wir kommen hier nie mehr wieder heraus.“ „Wir müssen hier raus“, jammerte Salem. „Ich habe Hunger.“ „Da drüben sind Hilda und Drell“, sagte Zelda und zeigte auf das Paar. Sabrina sah die Spiegelbilder der beiden Zauberwesen weit entfernt, beide in Renaissancekostümen. Sabrina war überrascht, wie natürlich und ungezwungen sie in diesen Kleidern wirkten. Dann erinnerte sie sich jedoch daran, dass beide damals schon gelebt hatten und genau so gekleidet waren. Sie schienen sich zwar in den Gewändern wohlzufühlen, nicht jedoch miteinander. „Oh-oh“, sagte sie. „Die müssen sich gestritten haben.“ „Ich glaube, du hast Recht“, meinte Zelda. „Tu so, als wär nichts.“ Als sich der Fünfertrupp wieder traf, zeigten die Spiegel um sie herum sie in Sweatshirts, groß geblümten Hausmänteln und voluminösen Clownskostümen. Hilda und Drell standen mit verschränkten Armen da und sahen wütend aneinander vorbei. „Na“, fragte Zelda fröhlich. „Was gefunden?“ 120
„Natürlich nicht“, sagte Salem. „Sie haben sich gestritten.“ „Salem!“ „Was ist los?“, fragte Salem unschuldig. Drell zitterte vor Wut. „Wenn ich meine Zauberkräfte hätte, würde ich diese Nervensäge in ein Streichholz verwandeln. Einmal über meine Schuhsohle gestrichen und puff! gehen die Lichter aus.“ Er verstummte, weil seine Nase juckte. „Hatschiiih!“ „Hör doch endlich auf zu jammern und dich zu beklagen, Drell“, giftete ihn Hilda an. „Jammer, jammer, stöhn, stöhn! In der letzten Stunde hast den Rekord als Miesepeter gebrochen. Er reicht langsam.“ Drell sah sie so düster an, als überlege er, welchen Knochen er ihr zuerst brechen sollte. „Also wirklich, hört endlich auf“, meinte Sabrina. „Wie kommen wir nur hier heraus?“ „Coole Klamotten“, murmelte Salem nachdenklich. „Coole Klamotten. Wenn man an alle Klamotten denkt, die jemals gemacht worden sind, welche wären wohl für Libby die coolsten?“ „Das, was die coolen Typen tragen“, antwortete Sabrina. Dann machte sie große Augen. „Das ist es!“ Sie ging den Weg zurück, den Zelda und sie gekommen waren. „Kommt mit!“ „Wohin?“ fragte Zelda. Sabrina führte die Truppe zu einem bestimmten Spiegel. „Stellt euch davor,“ befahl sie ihnen. Da sie zu aufgeregt waren, um lange herumzureden, postierten sie sich vor dem Spiegel – und sahen sich alle in Cheerleader-Kostümen. „Die coolsten Leute tragen die coolsten Klamotten“, erklärte Sabrina. „Libby sagt immer, dass Cheerleader die coolsten Typen sind.“ „Ich weiß nicht“, gab Salem zu bedenken. „Sie hat Drell wohl kaum in Faltenrock und Kniestrümpfen gesehen.“
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Sabrina streckte versuchsweise die Hand aus und berührte den Spiegel. Die Oberfläche war fest, doch als sie ein wenig drückte, gab sie nach und ihre Hand verschwand im Spiegel. „Ob das der Ausgang ist?“, überlegte sie. „Also los!“, sagte Zelda. Einen Augenblick später waren sie wieder in der ihnen schon vertrauten Kopfüber-Kopfunter-Architektur des Einkaufszentrums. Daher warteten sie nicht lange und klickten sich sofort an den Schauplatz ihrer nächsten Aufgabe. Diesmal fanden sie sich vor einem kleinen Geschäft mit einer Fassade aus Marmor wieder. Es war das nobelste und eleganteste Geschäft, das Sabrina je gesehen hatte. Außen glänzten der polierte Stein und die geschmackvoll angebrachten goldenen Lettern. Der Laden schien allerdings nur aus einer polierten Teakholztheke zu bestehen, die gegenüber den geöffneten Glastüren mit den eingravierten Mustern stand. „Willkommen in der Verpackungsboutique“, begrüßte sie der attraktive junge Mann hinter dem eleganten Tresen. „Harvey?“, stöhnte Sabrina. „Reg dich nicht auf, Liebes“, warnte Zelda. „Denk daran, dass es nur Libbys Version von ihm ist, nicht der echte Harvey.“ Sabrina stellte fest, dass sie Harvey niemals so teuer gekleidet gesehen hatte, und wohl auch nie sehen würde. Dieser Harvey trug einen maßgeschneiderten, paillettenbesetzten Smoking von Ralph Lauren. Ein Diamantsplitter blitzte an dem Ring in seinem Ohr und eine dicke goldene Rolex lugte unter dem gestärkten Hemd aus Shantung-Seide hervor. Jede Pore strömte Luxus und Stilgefühl aus. „Was kann ich für so wunderbare Menschen wie Sie tun?“ Er lächelte wie ein Nachrichtensprecher im Fernsehen.
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Sabrina versuchte, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. „Ääh, wir haben hier ein Rätsel, das wir lösen müssen.“ Sie drückte ihm das Stück Papier mit dem Gedicht in die makellos manikürte Hand. Er las das Gedicht laut vor: „Feines Wachs und Karmesin, Ich bin in einer Schachtel drin. Keine Frau geht ohne mich aus, Für euch bin ich der Weg hinaus.“ Ein leicht verwirrter Blick umwölkte seine Miene und er gab das Blatt Sabrina zurück. „Tut mir Leid“, sagte er. „Ich glaube kaum, dass ich Ihnen da behilflich sein kann. Hier geht es ja um den Inhalt und das ist bei uns kaum gefragt.“ „Wie bitte?“ Harvey zeigte mit einer manierierten Bewegung in dem kleinen Laden herum. „Wir sind auf Verpackungen spezialisiert, nicht auf das, was darin ist. Wir verkaufen fantasievolle Schachteln und Tüten und ausgefallenes Geschenkpapier. Unser Motto heißt ,Wen interessiert der Inhalt, solange die Verpackung Aufmerksamkeit erregt.’ Das hat etwas Symbolisches, sehen Sie. Wenn etwas teuer aussieht, dann ist das fast so gut wie etwas wirklich Teures. Manchmal sogar besser, denn wenn die Verpackung wirklich etwas Besonderes ist, brauchen Sie überhaupt keinen Inhalt mehr.“ „Aber wie kann uns das helfen, das Rätsel zu lösen?“ „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen“, gab der falsche Harvey zu und betrachtete sich in einem goldgerahmten Spiegel. Er strich sich liebevoll übers Haar, obwohl nicht eine einzige Strähne falsch saß. „Da müsste ich nachdenken, aber ich kann die Falten nicht ausstehen, die man davon bekommt. Wir haben hinten ein Lager voller Sachen, in denen Sie herumstöbern können, wenn Sie möchten. Vielleicht finden sie
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dort ja, was Sie suchen.“ Er fing an, seinen Anzug nach Fusseln abzusuchen. Während er sprach, erschien an der Rückwand des Ladens eine kunstvoll geschnitzte Tür, die lautlos aufschwang. „Haben wir das nicht schon einmal gesehen?“, meinte Salem gelangweilt. „Wenn du schon weißt, wie es weiter geht, warum verplemperst du dann hier noch deine Zeit?“, fragte Hilda, hob den Kater hoch und marschierte zur Tür. Die anderen folgten ihr im Gänsemarsch. Und auch hier war es so: Sobald sich die Tür hinter ihnen schloss, verschwand sie. Anders als das kleine Geschäft, durch das sie gekommen waren, hätte der Lagerraum Platz gehabt für vier bis fünf Flugzeugträger und selbst dann noch hätte ein normales Einkaufszentrum samt Parkplatz hineingepasst. Allerdings war der riesige Raum nicht leer. Kilometer und Kilometer von Stahlregalen standen längs und quer und türmten sich bis weit hinauf in die von Dunst verhangene Decke hoch über ihren Köpfen. Treppen und Laufwege führten kreuz und quer durch das Regalsystem und ermöglichten den Zugriff zu all den Schachteln, die hier aufbewahrt wurden. Zu Schachteln in allen nur erdenklichen Variationen. Sabrina schätzte, dass hier von jedem möglichen Behältnis mindestens ein Exemplar vorhanden war. Da gab es Papiertüten in jeder Farbe, jedem Muster und jeder Qualität. Sie wurden in Röhren gelagert, die selbst eine Art von Behältnis darstellten. Pappschachteln von Pillendöschengröße bis zu Kistenmonstern aus Wellpappe bedeckten die Regalborde und bildeten Wälle und Wände. Plastikdosen thronten auf Kisten unterschiedlichster Formen, Holzarten, Schnitzereien und Zierrat. Und Sabrina merkte, dass dies hier erst der Anfang war. Passend zum exklusiven Flair des Geschäftes draußen waren die meisten Behältnisse hier drinnen selten und kostbar, erlesen 124
in Material, Aufmachung oder Form. Hier gab es nun wirklich alles, was sie sich nur vorstellen konnte, in das man etwas hineinstecken konnte, und noch sehr viel mehr, wovon sie niemals auch nur eine Ahnung gehabt hatte. Der Fünfertrupp stand in stummer Ehrfurcht und entmutigt vor der Aufgabe, die vor ihnen lag, als die Tür zum Geschäft wieder erschien und sich öffnete. Harvey schoss herein mit einem Briefkasten in den Händen, den er rasch auf einem Tisch bei der Tür absetzte. Er grinste entschuldigend und sagte „Tut mir Leid. Spätzustellung.“ Einen Augenblick später war er schon wieder aus der Tür und sie verschwand. „Wie zum Kuckuck sollen wir denn hier irgendetwas finden?“, nörgelte Salem. „Vor allem, wo wir doch gar nicht wissen, was wir suchen?“ Zelda ging zum nächststehenden Regal hinüber, lüftete den Deckel einer Schachtel und spähte hinein. „Wir müssen einfach anfangen zu suchen“, sagte sie. Hilda und Sabrina nahmen sich unterschiedliche Regale vor und durchstöberten sie. Salem sprang in ein höher liegendes Fach und begann, in den Papiertüten herumzukramen. Drell sah zu, wie die Hexen und der Kater in den Schachteln wühlten und wurde immer ungeduldiger. Sein Gesicht errötete und schließlich brach es aus ihm heraus: „Ihr könnt ruhig eure Zeit verschwenden mit dieser Drunter-und-drüber-Kramerei, aber wenn wir wirklich Erfolg haben wollen, dann geht das nur auf meine Art!“ Er stampfte auf das nächstbeste Regal zu und packte die Streben mit seinen fleischigen Händen. Mit einer mächtigen Handbewegung kippte er alle Schachteln vom Bord auf den Boden hinunter. Die Deckel sprangen auf, die Ecken wurden angestoßen und einige der zerbrechlicheren Behältnisse gingen entzwei. Drell starrte das Chaos einen Moment lang an und verkündete dann voller Befriedigung: „Da ist nichts drin.“ Er ging weiter zum nächsten Regal und kippte auch dieses um. 125
Der Zorn des großen Magiers entsetze Sabrina. Man kann es ihm wohl kaum übel nehmen, dachte sie. Immerhin war er so lange Zeit allmächtig, dass ihn seine Machtlosigkeit nun zum Wahnsinn treiben muss. Hilda beobachtete Drells Zerstörungswut irritiert. „Wenn du ein Problem zu lösen hast, frag eine Frau“, schnaubte sie. „Wenn du daraus ein echtes Problem machen willst, ruf einen Mann.“ Offensichtlich hatte Drells Anziehungskraft auf sie in den letzten Stunden etwas gelitten. Sabrina hatte das Gefühl, in einer Welle der Verzweiflung unterzugehen. Es schien hoffnungslos, Drells verlorene Zauberkraft wieder von Libby zurückzuholen, selbst wenn es ihnen gelänge, das Rätsel zu lösen. Waren sie zu einem Leben in künstlichen Welten verdammt, in der nur Markenbewusstsein zählte? Sie schaute den Briefkasten an und dachte an den von Libby verhexten Harvey draußen im Laden. Natürlich sah er toll aus in seinem schicken Outfit und Styling, aber in dieser Welt des Glamours schien sich kein einziger Mensch richtig zu Hause zu fühlen. Der vertraute Anblick des Briefkasten erinnerte Sabrina an den echten Harvey – schüchtern, manchmal linkisch, aber mit unerwartetem Tiefgang und ernstzunehmenden Einsichten. Wie etwa seine Begeisterung für Briefkästen, dachte sie. Ich wette, er kennt jeden Briefkasten in Westbridge. Ihre Niedergeschlagenheit steigerte sich zu einem Gefühl totaler Hoffnungslosigkeit, als taumelte sie am Rande eines Abgrunds entlang. Sie ging zum Briefkasten hinüber und hob ihn hoch. Tut mir Leid, dass ich dir das antun muss, Harvey, dachte sie. Im Briefkasten rappelte es. Sabrina öffnete die Klappe und spähte hinein. Es war wirklich etwas darin. Sie hielt den Briefkasten mit einer Hand etwas schräg und ließ das Ding in die andere Hand rollen. Es war ein zylinderförmiger Gegenstand aus türkisfarbem eloxiertem Aluminium mit den Initialen „LC“. Ein kleines Etikett einem Ende trug die 126
Aufschrift „Pom-Pom Lippenstift in Pink“. Super! dachte Sabrina düster. Eine Expresszustellung von Lippenstiften der Marke Libby. Plötzlich fiel ihr das Gedicht ein. Was ist Lippenstift anderes als Wachs und rote Farbe? Ist Karmesin nicht ein bestimmtes Rot? Sie rief aufgeregt: „Ich hab’s! Kommt alle her! Ich hab’s gefunden!“ Salem kam über den hoch gelegenen Laufweg und sprang graziös über die verstreuten Schachteln auf Sabrina zu. Hilda und Zelda gingen ebenso vorsichtig, nahmen aber einen weniger direkten Weg zu ihrer Nichte. Drell stieß einfach alle herumliegenden Schachteln beiseite und bahnte sich seinen Weg. Sabrina hielt den Lippenstift hoch, damit ihn alle sehen konnten. „Ich glaube, ich habe gefunden, was wir suchen, aber ich habe keine Ahnung, wie uns das hier rausbringen soll.“ „Dann lass es uns auf die einfachste Art und Weise versuchen“, meinte Hilda, nahm Sabrina den Lippenstift aus Hand und zog die Kappe ab. Nichts passierte. „Ist es das, was wir suchen?“, fragte Sabrina. „Oder schummelt Libby?“ Hilda schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass die Regelbewahrerin ihr das durchgehen lassen würde, selbst wenn sie wollte.“ „Was können wir sonst noch tun?“ „Mal sehen“, überlegte Zelda. „Der Lippenstift gehört zu dem Gedicht, das stimmt zumindest. Die letzte Zeile heißt: ‚Für Euch bin ich der Weg hinaus’, also muss man ihn irgendwie benutzen, damit wir hinaus kommen.“ „Ganz bestimmt“, lästerte Drell. „Wie bitte soll denn so ein edler Stift uns hier heraushelfen?“
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Hilda stemmte die Fäuste in die Hüften. „Drell, hast du schon mal die Redensart gehört: ,Wenn du nichts Nettes sagen kannst, sag lieber gar nichts’?“ „Nein, aber wenn du mir ein paar Takte vorsummst, dann kann ich mir einen Reim drauf machen“, grinste Drell in gespielter Einfalt. „Grrr!“, machte Hilda zornig. Ihre Augen verengten sich, als sie ihren Ex-Freund betrachtete. „Weißt du, ich kann beim besten Willen nicht mehr erinnern, was ich einmal in dir gesehen habe. Du bist grob, eklig, übellaunig, tyrannisch und interessierst dich nur für dich.“ Drell ließ seine Oberarmmuskeln spielen und strahlte sie an. „Ja, genau so bin ich. Ein richtiger Mann.“ „Wartet mal“, unterbrach sie Zelda. „Sabrina, erinnerst du dich noch an das, was dieser Harvey draußen über Symbole sagte?“ Sabrina kramte in ihrer Erinnerung. „Ich glaube, er sagte, dass Symbole fast genau so gut sind wie die wirklichen Dinge. Das ist ein typischer Libby-Gedanke, wenn die überhaupt denken kann.“ „Aber die Magie ist auch symbolisch“, erklärte Zelda. „Wenn wir einen Zauberspruch aussprechen, benutzen wir symbolische Gegenstände wie Federn und Kräuter, um uns etwas zu vergegenwärtigen, und dann benutzen wir unsere Zauberkraft, um sie wirklich werden zu lassen.“ „Du benutzt also den Lippenstift und gibst dem Ort hier einen Abschiedskuss?“, witzelte Salem. Zelda kümmerte sich nicht um den Kater, sondern ging zur Wand hinüber und malte mit dem Lippenstift die Umrisse einer Tür darauf. Sie fügte noch einen Kreis hinzu, der den Türknauf darstellen sollte, und trat dann zurück. „Würdest du uns die Ehre erweisen, Sabrina?“ Sabrina sah zweifelnd drein, doch dann streckte sie die Hand aus, um den roten Kreis wie einen echten Türknauf zu 128
ergreifen. Zu ihrer Überraschung spürte sie, wie sich in ihrer Hand ein runder Metallknopf drehte. Man hörte das Rieseln von Putz und dann öffnete sich die Tür und gab den Weg frei ins Innere des Einkaufszentrums.
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Kapitel 14 Ein letztes „Klicker“ brachte Sabrina und ihre Begleiter in einen großen, eleganten Raum mit modern gestylten Möbeln – Unmengen von Möbeln, um genau zu sein. Diverse Sofas, ein Dutzend Sessel und mehrere Couchtische waren auf einem großen Perserteppich geschmackvoll zu Sitzgruppen arrangiert. Topfpflanzen und Blumensträuße vervollständigten das Bild. Auf Sabrina wirkte der Raum wie ein Wartezimmer erster Klasse. Eine Ecke wurde von einem Schreibtisch aus poliertem Holz eingenommen, hinter dem eine bekannte Gestalt saß. „Cassandra!“, donnerte Drell, der sich definitiv freute, sie zu sehen. Cassandra, eine hübsche Hexe, die mit Drell und Skippy den Hexenrat bildete, stand auf. Als Sabrina sie zuletzt gesehen hatte, trug sie ein langes schwarzes mittelalterliches Gewand und hatte ziemlich hexenhaft und exotisch ausgesehen. Nun trug sie ein raffiniert geschnittenes Kostüm, ihr herrliches blondes Haar war zurück gekämmt und zu einem strengen Knoten gesteckt. „Drell“, meinte sie gleichgültig und geschäftsmäßig. „Ms. Chessler erwartet Sie.“ „Ms. Chessler?“, fragte Zelda in ungläubiger Überraschung. Cassandra betrachtete sie amüsiert. „Selbstverständlich. Sie sind hier in ihrem Büro. Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich werde Sie anmelden.“ Und sie verschwand in einer kleinen Rauchwolke. Drell sah ihr mit schmerzerfüllter Miene nach. „Cassandra und Chefsekretärin? Was kann uns jetzt noch passieren?“ „Drell, hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“, flüsterte Sabrina panisch. „Das ist Libbys Büro. Ich dachte, wir müssen noch eine Aufgabe lösen, bevor wir sie sehen!“
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Zelda fischte ein Stück Papier aus ihrer Tasche. Es war eines der Flugzeuge, auf denen Libbys Aufgaben gestanden hatten. Sie faltete es auseinander und las: „,Bereitet Euch auf die ultimative Herausforderung vor’. Mehr steht hier nicht.“ „Also, wenn ihr mich fragt, der Versuch, Libby ihre Zauberkraft wieder zu entreißen, ist Vorbereitung genug“, meinte Sabrina. „Ääh, ich komme damit vielleicht ein bisschen spät“, begann Hilda, „aber jetzt, wo wir Libby gleich in Fleisch und Blut gegenüberstehen werden – was wollen wir eigentlich tun?“ Alle sahen sich bestürzt an außer Drell, der in lautem Flüsterton sagte: „Wir tun überhaupt nichts. Ich werde in dieses aufdringliche Sterblichengesicht hinein niesen und meine Kräfte zurückbekommen.“ „Immer mit der Ruhe, Drell“, warnte ihn Zelda. „In dem Moment, wo Libby dich zu Gesicht bekommt, wird sie dich in eine Kröte verwandeln. Wir müssen überlegen, wie wir sie von dir ablenken.“ Salem sprang auf Cassandras leeren Schreibtisch. „Was immer wir tun wollen, wir müssen es schnell tun. Wir haben sicher nicht viel Zeit.“ „Ich hab’s!“, sagte Sabrina plötzlich. „Ich habe einen Plan.“ Sie bückte sich, um Salem ins Gesicht sehen zu können. „Und es hängt alles nur von dir ab.“ Salem ließ seine Schnurrhaare sinken. „Schon in Ordnung, lasst nur die Katze wieder die Drecksarbeit machen.“ „Hör zu“, sagte Sabrina. „So muss es laufen...“ Libby saß auf ihrem Thron und genoss ihre Macht und Herrlichkeit. Es war nicht mehr als recht und billig, dass sie nun eine Göttin war. Es war nur gerecht, dass sie den Platz als Herrin des Anderen Reichs eingenommen, den lächerlichen Hexenrat aufgelöst und das Reich nach ihren Wünschen umgestaltet hatte. Und es war nur richtig, dass sie nun das 131
letzte unangenehme Detail ihres vorherigen Lebens ausmerzte – Sabrina Spellman. Libby wusste, dass Sabrina ihre Zauberkraft zurückerhalten hatte, aber es lag auf der Hand, dass dieser kleine Freak für sie keine gleichwertige Gegnerin mehr war. Sicher, Sabrina und ihr Fanclub hatten die ersten beiden Aufgaben gelöst, aber die letzte würde nicht so einfach sein. Libby hatte noch nicht herausgefunden, wie Drells Kräfte in allen Feinheiten funktionierten – sie hatte die Macht und das Talent, sie zu nutzen, doch ihr fehlte die jahrhundertelange Erfahrung im Zaubern. Aber egal, sie lernte schnell. Was hatte sie nicht alles schon geschafft! Zufrieden ließ sie ihre Blicke durch den Thronsaal schweifen. Libby liebte diesen Raum. Sie hatte den perfektesten Ort der Welt geschaffen: Eine Galerie, die ausschließlich ihr gewidmet war. Der große rechteckige Raum glich eher einer Höhle als einem Saal, jede Handbreit Wand war bedeckt mit Zeugnissen ihrer Großartigkeit. An der westlichen Wand hingen gerahmte Titelseiten aller bedeutenden Magazine mit ihrem Bild. Die Ostwand war mit Zeitungsausschnitten gepflastert, die alle ihr Loblied sangen. Standbilder von ihr, darunter auch ein Springbrunnen mit ihrer Bronzefigur, die graziös unter einem Schauer kristallklaren Wassers posierte, waren über den Saal verteilt. Jedes Kunstwerk sonnte sich in seiner eigenen magischen Lichtquelle. Ein langer roter Teppich führte zum Thron. Am anderen Ende öffnete sich langsam eine riesige Flügeltür. Sabrina, die so klein und unbedeutend aussah, wie es ihr angemessen war, kam herein, gefolgt von ihren wichtigtuerischen Tanten und schließlich Libbys unfreiwilligem Wohltäter Drell. Libby sprang auf, streckte ihren Zeigefinger in die Luft und ließ Drell mitten in der Bewegung einfrieren. 132
„Also“, sagte Libby fröhlich und setzte sich wieder auf ihren Thron. „Damit ist der fürs Erste unschädlich gemacht. Ein Zauberer, der tief gefroren, hat seine Nieskraft wohl verloren, stimmt’s?“ Sie schnippte zweimal mit den Fingern und Sabrinas Tanten erstarrten ebenfalls. Libbys Herz hüpfte vor Freude, als sie Sabrinas langes Gesicht sah. „Ich bitte dich“, sagte sie. „Es ist doch nicht so, dass ich nicht weiß, was ihr vorhabt. Mach dir keine Sorgen, ich stelle sie im Garten auf oder so, Okay?“ Zu Libbys Erstaunen senkte Sabrina unterwürfig den Kopf. „Also gut, Libby, du hast gewonnen.“ „Ach ja?“, kreischte Libby. „Natürlich habe ich gewonnen!“ Sabrina zuckte ein wenig mit den Fingern und ein reich verzierte Kästchen erschien in ihrer Hand. Es war aus gehämmertem Gold, mit Edelsteinen besetzt und emaillierten Ornamenten geschmückt und so schwer, dass Sabrina es kaum in ihrer ausgestreckten Hand halten konnte. „Bitte erlaube mir, dir als Zeichen meiner Unterwerfung diese kleine Krönungsgabe zu überreichen.“ „Ich nehme das Geschenk an“, sagte Libby überheblich. Doch als Sabrina einen Schritt nach vorn tat, hob Libby ihren Finger und brachte sie zum Stehen. „Du bist zweifellos smart“, sagte sie. „Aber ich bin smarter. Du bleibst, wo du bist. Ich hole mir das Geschenk.“ Ein Wink und das Kästchen hob sich aus Sabrinas starren Händen, schwebte über den langen roten Teppich die Stufen hinauf bis zum Thron. Libby starrte nur so vor Gier als sie sah, wie kostbar das Kästchen war, wie filigran es geschmückt und wie exquisit es gearbeitet war. „Dein Geschmack wird immer besser, Sabrina. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für dich“, meinte sie hämisch, als das Kästchen auf ihrem Schoß anlangte. Kaum hatte das Kästchen seinen Platz gefunden, sprang der Deckel auf. Aus dem Innern grinste sie ein schwarzer Burma133
Kater an. „Wenn die Verpackung... schnief... toll ist“, sagte er schniefend, „ist es egal, was drin ist, richtig?“ Und dann nieste er Libby direkt ins Gesicht.
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Kapitel 15 Ein Schimmer erleuchtete die Welt, als Libbys gestohlene Zauberkräfte aus ihrem Körper herausströmten. Das Einkaufszentrum um sie herum zerfiel lautlos in eine Milliarde durchsichtiger Splitter und verging mit einem kleinen letzten Aufflackern. Wie ein blasses Bild erschien ein unendlich weiter, blauer, mit flaumigen Wolken besetzter Himmel an Stelle des Einkaufszentrums. Blätter und Ranken schlängelten sich wie im Zeitraffer durch die Luft und formierten sich zu einem Teppich für Böden und Möbelstücke, die in der Luft schwebten. Langsam und majestätisch wuchs ein riesiger Apfel auf einer marmornen Säule wie eine grüne Sonne empor. Innerhalb von Sekunden war das Andere Reich wieder so hergestellt wie es war, bevor Libby alles verändert hatte. Nun, da sie ihre Zauberkraft verloren hatte, verschwand auch alles, was Libby gezaubert hatte. Die Spellman-Tanten konnten sich wieder bewegen, weil ihre magische Lähmung aufgehoben wurde. Zelda zeigte auf Libby, die sich plötzlich in einem kleinen durchsichtigen Raum befand, der mitten in der blauen Luft schwebte. Sie schimpfte zornig, man sah zwar, wie sich ihr Mund bewegte, aber hörte keinen einzigen Laut. Hilda ließ das goldene Kästchen mit dem Kater darin auf den wieder hergestellten Tisch des Hexenrats schweben, damit er herausspringen und sich strecken konnte. „Das hat Spaß gemacht“, sagte er. „Es tut gut, wieder allmächtig zu sein.“ Er sah zu Hilda hoch. „Äääh... würde es dir etwas ausmachen, mich wieder in meinen alten Körper zurückzuverwandeln?“ „Nicht so schnell“, sagte Sabrina und kam an den Tisch heran, Drell an ihrer Seite. „Erst müssen wir ein paar Dinge abklären.“ „Du wagst es, mir Bedingungen zu stellen? Mir, dem Herrscher über das Universum? Dem Vorsitzenden des 135
Hexenrats? Nun, da ich meine Zauberkräfte wieder zurück habe, werde ich –“ „Gar nichts tun“, beendete Zelda den Satz für ihn und beugte sich drohend über ihn. „Du weißt sehr wohl, dass du deine Kräfte gar nicht benutzen kannst, weil du auf nichts zeigen kannst. Du musst uns zuhören.“ „Ja“, fiel Hilda ein. „Es war Sabrinas Idee, dass du mit Salem den Körper tauschst, damit du dich an Libby ran schleichen und deine Kräfte zurückholen konntest. Nach all der Arbeit können wir es nicht zulassen, dass du ihr etwas Schreckliches antust.“ „Ich hatte nicht vor, ihr irgendetwas anzutun“, gab Drell fast ernst zurück. „Ich wollte Libby auseinander nehmen und außerdem eine ganz bestimmte Katze in einen dampfenden Eintopf verwandeln.“ „Ich will nicht, dass einem meiner Freunde etwas passiert“, sagte Sabrina. „Wenn du mir nicht versprichst, dass du sie in Ruhe lässt, kannst du bis in alle Ewigkeiten eine Katze bleiben.“ „Das wäre mir lieber“, grummelte Salem. Dabei beugte er Drells Arm und bewunderte die Muskeln. „Mir würde es in diesem Körper schon gefallen.“ „Halt du dich da raus“, schnappte Hilda. „Wir haben noch nicht vergessen, dass du uns das ganze Chaos eingebrockt hast.“ Drell versuchte, sich auf seine Hinterbeine zu stellen und sich drohend vor den Hexen aufzubauen, wie er es sonst immer tat, aber er fiel mit dem Gesicht voraus auf die Tischplatte. Er rappelte sich auf und schüttelte sich wütend. „Ich muss Libby vernichten. Sie weiß zu viel, als dass sie am Leben bleiben dürfte.“ „Falsch!“, sagte Zelda. Sie winkte Libby in ihrer durchsichtigen Box zu und plötzlich sank der Cheerleader sanft zu Boden und begann zu schnarchen. „Wir haben sie in einen 136
abgeschlossenen Raum gesteckt, damit sie deine Kräfte nicht wieder aufschnappt, wenn du noch einmal niesen solltest, aber wir werden nicht zulassen, dass du ihr etwas antust. Ich habe alles, was passiert ist, aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Wenn sie wieder aufwacht, wird sie sich also an nichts mehr erinnern. Sie ist für keinen von uns mehr eine Gefahr.“ Drell zuckte ungeduldig mit dem Schwanz, aber schließlich gab er nach. „Na gut“, grummelte er. „Aber aus Salem mache ich ein Tablett für mein Sonntagsfrühstück.“ „Du wirst aus niemandem irgendetwas machen“, drohte Sabrina, „oder du kannst ewig Flöhe fangen.“ „Ja, ja, ja. Wenn du es sagst. Und jetzt verwandle mich zurück.“ „Nur einen Moment“, sagte Zelda. Sie sprach in die Luft. „Oh Regelbewahrerin!“ Einen Augenblick später erschien die zierliche Hüterin der Gesetze vor ihnen. Zelda deutete auf den Kater. „Sag es bitte noch einmal.“ „Wie, traust du meinem Wort nicht?“ „Regel 1102: Jedes Versprechen, das in Gegenwart der Regelbewahrerin ausgesprochen wird, ist auf immer für alle Parteien bindend.“ „Das sind ja traurige Zustände, wenn Hexen nicht einmal mehr ihrem eigenen Anführer trauen.“ „Lass es uns so sagen: Dir eilt ein gewisser Ruf voraus, Drell“, bemerkte Zelda trocken. „Und jetzt versprich es.“ Drell wand sich ein wenig und sagte dann rasend schnell „IchDrellversprechedassichwederLibbyChesslernochdemKater SalemeinHaarkrümmenwerdefürirgendetwaswassiebishergetan haben.“ „Bezeugt und beurkundet“, sagte die Regelbewahrerin. „Okay, ich muss los. Hat jemand Skippy irgendwo rumhängen gesehen?“ Zelda bewegte ihre Hände über dem Körper des Katers hin und her. „Drell und Salem sollen wieder sein, was sie waren“, 137
rezitierte sie. Ein Licht blitzte auf, dann sprang der Kater Sabrina in die Arme. „Es hat sehr viel Spaß gemacht, aber jetzt sollten wir gehen“, sagte Salem. Drell beugte und streckte seinen massigen Leib, als müsse er sich an ein altes, vertrautes Kleidungsstück wieder gewöhnen. „Mit dem Alter wächst die Weisheit, Kater“, säuselte der hünenhafte Mann. „Bete darum, dass du lange genug lebst, um sie zu erwerben. Im Augenblick bist du sicher, aber ich werde da sein, wenn du den nächsten falschen Schritt machst.“ Er fixierte den Rest der Spellman-Familie. „Und jetzt seht zu, dass ihr euer Dornröschen hier herausschafft, bevor ich euch alle wegen Herumlungerns verklage.“ Zelda und Sabrina ließen Libbys gläsernen Würfel vor sich herschweben und eilten erleichtert zum Wäscheschrank. Einen Blitz- und einen Donnerschlag später traten die drei Hexen mit dem Kater auf den Treppenabsatz im ersten Stock ihres Hauses hinaus. Libby, die immer noch schlief, schwebte hinter ihnen her. Mit einer sparsamen Bewegung ließ Zelda das bewusstlose Mädchen verschwinden. „Da ist sie erst einmal gut versorgt“, sagte sie müde. „Obwohl sie sich wahrscheinlich wundern wird, warum sie ausgerechnet im Nebenraum der Aula eingeschlafen ist.“ Sie sah ihre Schwester und ihre Nichte an. „Ich glaube, es ist Zeit, sich mit einer Riesenschüssel Popcorn auf die Couch zu kuscheln. Wer hat noch Lust?“ „Ich bin dabei“, flötete Hilda und folgte ihrer Schwester die Treppe hinunter. Ihre Stimme drang zu Sabrina, während sie hinunterging. „Weißt du, eine Zeitlang war Drell ein richtige Nervensäge, aber jetzt, wo er seine Kräfte zurück hat, ist er wieder richtig süß.“ „Ich verstehe nicht, was du an diesem Mann findest“, sagte Zelda.
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„Du hast eben keine Ahnung, wie attraktiv eine richtige Herausforderung ist...“ Die Stimmen ihrer Tanten wurden leiser, Sabrina gähnte und wandte sich an Salem. „Ich verstehe einfach nicht, wie du auch nur daran denken konntest, mit Libby einen Deal zu machen.“ „Lass es mich so sagen: Ich habe eine fatale Schwäche für die Weltherrschaft“, sagte Salem. „Außerdem ist Libby gar nicht so übel, wenn einem an Äußerlichkeiten mehr liegt als an inneren Werten.“ „Das heißt also, dass wir dich von nun an mit Billigfutter abspeisen können, wenn ich nur Markenetiketten auf die Dose klebe?“ Und während Sabrina todmüde in ihr Zimmer wankte, legte Salem den Kopf auf seine Pfoten. „Sag ich doch, es ist immer die Katze, die am Ende den kürzeren zieht.“
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