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Julien Gracq
Rom
Um die sieben Hügel Aus dem Französischen von Reinhard Palm
Ammann Verlag
Die Originalau...
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ammann
Julien Gracq
Rom
Um die sieben Hügel Aus dem Französischen von Reinhard Palm
Ammann Verlag
Die Originalausgabe erschien bei der Librairie José Corti in Paris unter dem Titel Autour des sept collines.
© by Ammann Verlag AG, Zürich Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © by Librairie José Corti Satz: Jung Satzcentrum GmbH, Lahnau Druck: Offizin Andersen Nexö, Leipzig ---
Die griechisch-lateinische Kultur beginnt für uns im Nebel zu versinken, weil die Lehrpläne nur noch selten auf ihre ursprünglichen Sprachen zurückgreifen und ihr Vermächtnis, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, den Alltag immer weniger belebt. Es fiele heute einem Fragesteller schwer, diesbezüglich die leidenschalichen, heigen Reaktionen hervorzurufen, die der vorletzten Schristellergeneration noch eigneten. Ich möchte als Beispiel nur das Wort anführen, das man Breton zuschreibt und mit gutem Grund für authentisch halten kann: »Monsieur Breton, warum haben Sie sich immer geweigert, nach Griechenland zu fahren?« – »Weil ich, Madame, Besatzer nicht besuche. Und seit zweitausend Jahren sind wir nun von den Griechen besetzt.« Andererseits ist da das Testament von Montherlant, der wollte, daß man seine
Asche in den Straßen Roms verstreut: Testament eines Althumanisten (Latein, Griechisch), das mich seinerzeit verblü hat. Ich für meinen Teil habe Rom mit Sechsundsechzig besucht, was nicht eben eine fieberhae Ungeduld verrät. Wahrscheinlich trug ich seit langem den Verdacht in mir, daß hier – auf der Landkarte – ein aggressives Fragezeichen steht, das auszulöschen für mich gut wäre, zugleich aber auch die Überzeugung, daß zwischen die Schulerinnerungen und diesen Besuch soviel Raum wie möglich rücken müsse. Der späteste Zeitpunkt wäre der beste. Nichts drängte. Nichts hat mich zu dieser Erkundungsreise, wo kaum was auf dem Spiele stand, je gedrängt. Und nichts ist je zu abgeklärt, wenn man sich anschickt, eine Stadt zu erobern, deren reines Licht einen nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß ständig zu viel Staub darin wirbelt. In Rom ist alles Anspülung, und alles ist Anspielung. Die stofflichen Ablagerungen der Jahrhunderte überdecken sich nicht bloß, sondern
durchgreifen und durchdringen, ordnen und verseuchen einander: Es scheint fast, daß es – sowenig wie im Auau unseres Bodens – keine Urschicht gibt. Und alles ist Anspielung: Der kulturelle Humus, der die Stadt zudeckt, ist noch dicker und unergründlicher: Das Forum, das Kapitol und alles, was folgt, ist unter den Wörtern noch tiefer vergraben als unter den aufgeschütteten Erden. Keine Stadt hat sich unter dem Gewicht einer so erdrückenden Masse von Betrachtungen (vornehmlich über Größe und Niedergang) je so gebogen. Als ich hinfuhr, verspürte ich nicht die geringste Lust, dem noch was hinzuzufügen. Nein, ich hatte Lust, von dieser Stadt wie von jeder anderen Gebrauch zu machen – die Städte sind zum Wohnen da – und ihre Bedeutung respektlos den Besonderheiten zu überlassen, die für den Besucher das Essen, das Flanieren, das Schauen, das Gehen und das Schlafen regeln. Das Gelesene gänzlich zu vergessen kam für mich gar nicht in Frage: In bezug auf Rom wäre das, wie wenn man alle Häute einer Zwiebel schälen wollte. Aber ich hatte
vor, mich davon nicht einschüchtern zu lassen. Einzig aus diesem Grund vielleicht werden manche Leser finden, daß dieses Büchlein nicht sehr respektvoll sei. Wahrscheinlich nicht zu Unrecht: Der Respekt ist eine Haltung, in der ich wenig glänze. Und die übrigens nicht selten an Gleichgültigkeit grenzt. Ich war von Rom nicht gänzlich eingenommen. Dafür – und das allein zählt – habe ich mich dort niemals gelangweilt.
Annäherungen an Rom
Einer der persönlichen Gründe, die mich Venedig nahebrachten und die bei meinem ersten Kontakt eine durch nichts zu lösende Bindung schufen, war – mehr als die Besonderheit des inneren Kreislaufs dieser Stadt, mehr als der Reichtum ihrer Kunstschätze – ihr abrupt insularer Status, das Fehlen dieses stufenweisen Übergangs vom Land, woran mich Nantes (bei einer grosso modo gleichen Bevölkerungszahl) so stark gewöhnt hatte. Der hartnäckige Kindheitstraum von der Ruhigkeit der uneinnehmbaren Festung, der mich einen nahezu verzauberten Schlaf finden ließ, wenn ich eine Nacht verbrachte in jenem so zwergenhaen, so aller Reize baren »befestigten Ort«, wie Rocroi es ist, wird hier Wirklichkeit, ohne daß sich das Gefühl des Eingeschlossen- oder Eingemauertseins, das Gräben und Wälle erzeugen, damit ver
bände. Mehr als auf der Riva degli Schiavoni oder den Zattere, wo sich die Stadt noch in die Untiefen und Inselchen der Lagune mischt, ohne sich scharf abzugrenzen, liebte ich auf den Fondamenta Nuove – von wo aus der Blick des Spaziergängers die Toteninsel kreuzt, als hätte die Stadt ein Geisterschiff ins Schlepptau genommen – dieses Gefühl des Ankerlichtens, das mir keine andere Stadt vermitteln konnte. Aber nicht ein Lichten Richtung hoher See: eher ein soghaes Drien an die Strande der NichtDauer den toten Jahrhunderten entlang – durch die glatten Wasser der wie ein Austerngarten von Pfahlreihen besetzten Lagune, die aus Venedig für das Auge und die Phantasie jene zwischen den Masten einer gesunkenen Flotte ankernde Stadt macht –, an diese sumpfigen Inselchen von Torcello und San Francesco del Deserto, wo die zu Geschichte geronnenen Spuren allmählich in reine Ablagerung übergehen. Denn Venedig ist nicht, wie Rom, eine Maschine zum Durchreisen der Zeit, eher eine, sie zu löschen, ein Ort, von dem aus man sich an
ihre Ränder einschi, wo eine unbewegliche Schwere die vagen Ereignisse einer Handelsund Profitgeschichte bedeutungslos erscheinen laßt. Wo eine ganze Folge von Jahrhunderten, die durch das Anonymat des Geschäs banalisiert wurden (trotz der Beute, mit der sie die Stadt nebenbei bereichert haben), unterm Sog der Lagune dafür bestimmt gewesen schien, sich nach und nach von ihrem glatten Spiegel verschlingen zu lassen.
Es war dumm von mir (da ich glaubte, vielleicht niemals wiederzukommen), für einen Tag nach Florenz zu fahren, was kaum reicht, einen Blick auf die Kathedrale, das Baptisterium, die Akademie, die Kirche Santa Croce zu werfen und die Uffizien im Laufschritt zu durcheilen. Aber es genügte, um zu spüren, daß selbst ein längerer Aufenthalt in der Stadt mich nicht bekehrt hätte. Eine historische, gleichwohl durch nichts zu be
lebende Erinnerung ist dümmlicherweise der einzige Grund für dieses Desinteresse: Der hohe und dabei schmierige Handel des Venezianischen Patriarchats adelt in meiner Phantasie seine Stadt im gleichen Maß, wie die Industrie der Weber und Färber von Florenz die ihre herabsetzt. Die Speicher Venedigs, überfüllt mit Gewürzen und Seiden aus dem Orient, lassen den Wasserhof seiner Paläste in die Höhle Ali Babas und die Welt von Tausendundeiner Nacht münden, aber hinter den Wunderwerken von Florenz vermag ich Calimala, die arte della lana, die arte della seta, das Wollfett und den Staub, den Färbebottich und die Walkerde, die Feuchtigkeit des Kellers und den düsteren Schmutz der Manufaktur nicht zu vergessen. Unter den Bildern von Giotto und Botticelli kommt unwillkürlich Tourcoing zum Vorschein, und das genügt, daß diese wunderbare Kunst, so sehr ich mich auch bemühe, etwas von einer Mistblume behält, einer Schönheit, aus dem Kot geboren. Diese persönliche Allergie ist gewiß um so absonderlicher, als der Begriff der
florentinischen Kunst für fast jedermann – was ihren Inhalt betri – die Vorstellung einer leicht hochfahrenden aristokratischen Erlesenheit weckt und – bezüglich ihrer Förderer – an die hochherrschaliche Bank der Medici erinnert.
Der erste Anblick, den Florenz von einer Straßenkrümmung aus bietet, ist erstaunlich: Von einem Talhang zum anderen füllt die horizontale Ebene der Ziegeldächer die Mulde, in welcher sich die Stadt wie ein See eingerichtet hat, genau aus. Nur hie und da stoßen ein paar Kampanile und die Kathedralenkuppel durch die Oberfläche. Nirgends klettern die Vorstädte an den Hängen empor; das eben macht die Schönheit der Gärten aus, wohin man sich aufstützen kommt wie am Rand einer ruhigen Wanne. In Rom ist die Schale verbeulter und ihre Fassung schartig; da gibt es diese horizontale, klare und geometrische Linie der Dächer,
die an die Schichten eines vertrockneten Schotts denken läßt, nicht. In Paris, von Sacré-Cœur aus, ist die Mutterform längst übergelaufen; die Lage der weit über ihre Hügel getretenen Stadt ist nicht mehr die eines eingebetteten Sees: Ihre Massigkeit gleicht der eines riesigen Schiffes, das über drei oder vier Dünungen gleichzeitig reitet.
Turm des Palazzo Vecchio in Florenz – gar nicht dick; seine Einpflanzung im Bauwerk auf eigenartige Weise exzentrisch wie der Schlot eines Flugzeugträgers.
Die Statuen von Florenz. Nicht mehr die bußfertigen Säulenheiligen unserer öffentlichen Plätze, ausgewaschen und vom Vogelkot ge
bleicht. Sondern die Stadt besatzungsgleich durchschreitend, auf Pflasterhöhe aus der Straße brechend wie eine aufziehende Wache. In Rom ist der Anteil der hehren Ruinen, der künstlerischen Reliquien und der kultischen Bauwerke zu groß; der Bevölkerung mangelt es an echter Konsistenz: Sie war zu lang ein Volk von Kirchendienern – leicht zuhälterisch, immer auf Geschäe mit den Pilgern und Kerzen aus, die Hände geschaffen zum Leeren der Opferstöcke und Abstauben der Tabernakel. Man spürt hier manchmal die niederen Tempeldiener, mit ihren Knöchel Spielchen und ihren spitzbübischen Streichen. Nach bloß fünfzehn Tagen Aufenthalt glaubte ich schon zu verstehen, warum Chateaubriand, der so in Rom vernarrt war, dort so wenig Römer bemerkt: Wenn wir eine Kathedrale besuchen, scheint sie uns nicht deshalb voller, weil sie von Reinemachern bevölkert ist.
Mailand mit seinem feuchten Pflaster, seinen britischen Regenschirmen, seiner steifen Bourgeoisie, ist eine mitteleuropäische Stadt, sehr vergleichbar mit Lyon oder Zürich. Venedig und Florenz sind schöne, vom Meer verlassene Gestade. Einzig in Neapel, schien es mir, fließt die Bevölkerung wie ein Strom und reibt sich auf natürliche Weise am gebauten Stein; ich habe diese Stadt verpaßt – die doch so angenehm ist, weil es in ihr wie in der Bretagne keine Denkmäler gibt, die zu besichtigen sind. *
So verführerisch, so reizend die italienische Landscha auch sei (es fehlen ihr allerdings die zwischengeschalteten Himmel der ruhigen Wasserflächen, die die französische so schwerelos machen: Das erste, was mir bei der Rückfahrt im feuchten Morgengrauen des Burgund auf* Der Ausdruck stammt von Roger Nimier.
fiel, war – für das entwöhnte Auge merkwürdig genug – die Wasserfläche der Yonne, in welcher sich die Pappeln spiegelten), sie bleibt für die Phantasie ohne Leben: Sie ist immer der römische saltus, das anonyme und entseelte Jenseits der Stadt, das dem schweren bäurischen Schlaf ausgesetzt ist. Keinerlei Chance, hier als verirrter Meaulnes ein altes Türmchen zu entdekken, das im Winkel eines Tannenwaldes aufragt. Sein Fehlen macht einem schlagartig klar, was das Schloß, bei uns hauptsächlich ländlich, an Traumspannung und o märchenhaer Überraschung in den französischen Erden versteckt hält. Die Prinzen sind hier nicht den Schäferinnen benachbart. Hier gibt es nur – oder fast nur – den städtischen palazzo, dessen Mauer an den feindseligen Nachbarpalazzo grenzt: Die mittelalterlichen Herrenkriege sind hier Straßenkriege, in denen man einander von Turm zu Turm ausspioniert, keine hinterhältigen Hekkenkriege. Die kleinen harten Lebenskerne der Städte, wo die Lebens- und Herrschsucht, der Mord- und Schaffensrausch sich bis zum Wahn
sinn gesteigert haben, sind über einen leblosen, zurückgebliebenen Raum gestreut, den sie entmagnetisiert haben. Das ländliche Gefüge ist bei uns unendlich lebhaer als diese ausgetrockneten Brachen; dafür jedoch atmet die französische Kleinstadt kaum, wenn man sie mit den italienischen Stadtknötchen vergleicht, die vor Energie strotzen wie Granaten. Umbriens Hügel, mit Bäumchen so kraus wie das Haar eines Negerkopfs. Obstgartenland, dunkelgrün, mandelgrau und -grün, gesprenkelt und getüpfelt in pointillistischer Manier, ohne die geringste Spur des großzügigen Wechsels von Wiesen und Wäldern, den man noch im hintersten Winkel Lothringens oder des Beauvaisis findet. Große Fieberbaumwände, alle paar hundert Meter aufgepflanzt, die die römische Campagna entwässern und verätzen wie Galicien oder Asturien. Das Uneigentümliche des hybriden Landstrichs zwischen Civitavecchia und Rom
erweist sich – verglichen mit den von Aquädukten durchschnittenen Büffelsümpfen auf den Skizzenblättern von Corot – als die vollkommenste Enttäuschung dieser Reise. Von daher gibt es nichts Belangloseres als die nächste Umgebung Roms, wo das aufgemöbelte Ödland ein knochenloses Relief nicht mehr veredelt: das der weichen und flachen Lavaströme, die auf der Ebene als steile Böschung enden, wie aufgeschüttete Bahndämme. »Wenn es eine scheußliche Straße auf der Welt gibt, so ist es die von Florenz nach Rom über Siena. Die Reisenden machen sich lustig über uns, wenn sie uns vom schönen Italien erzählen. Die Straße von Florenz nach Rom hat mich stark an die Champagne erinnert. Nur daß die ausgetrocknete Ebene sich in trostlose Hügel verwandelt.« Hier übertreibt Stendhal: Er liebt ausschließlich die Gegend um Mailand und die lombardischen Seen. Die Hügel der Toskana und Umbriens
grünten im (ausnahmsweise) feuchten italienischen Frühling dieses Jahres: Es lag eine ackermännische Gutmütigkeit in der Landscha, die die Brachen der Champagne mit Sicherheit nicht haben. Aber nirgends verspürt man hier Weite: Es sind ineinander verschachtelte Zellen (so wie Florenz zwischen seinen Hügeln steckt), abgegrenzte Kästen, den goldenen Kassettendecken ihrer Kirchen gleich. Aneinander liegende Lande, die sich argwöhnisch über die Brache ihrer Grenzhügel mustern. Es ist der horizontlose Ort einer zerbröselten Geschichte – von kommunalem Interesse –, der mich langweilt, so wie mich die hochgerühmte Landscha Griechenlands im voraus langweilen würde. Ich würde diesen ganzen Haufen von verherrlichten Hügelchen für die paar spanischen Landschaen zwischen Valladolid und Salamanca hergeben. Ich fühle mich in diesem mir bisher unbekannten Italien jeder Landscha fremd, deren Rhythmus mir beim Atmen nicht von selbst Glückseligkeit vermittelt. Ich bin erstickt in Rom und in Florenz – in Verwunde
rung erstickt –, ein wenig wie in der Dumpeit eines Museums ohne Fenster: ästhetisches Brodeln im verschlossenen Topf, Unmaß in der Anhäufung von Kunst, kombiniert mit einem Mangel an Raum und Weite.
Ich kenne Griechenland nicht. Aber ich kann mir auf Grund von Photographien seine schwarzgrüne Strauchheide vorstellen, seinen Kalkstein, den das Licht wie eine schmierige Säure angrei, nicht unähnlich vielleicht den französischen Sandstränden während der Hundstage. Ich kenne das fahlfarbene Kastilien, seine Horizonte, über die – möchte man sagen – die Kappe des Himmels gerutscht ist. Die italienische Landscha ist ein Mischmasch aus beidem. Ohne die geringste Frische (mir fallen nur ein paar Buchenwälder der Albaner Berge ein, wo die Sonntagsausflügler Erdbeeren suchten), aber auch ohne diese haltlose Auszehrung, die
ses afrikanische dem Brand-der-Sonne-Ausgesetztsein, das zwischen Valladolid und Salamanca, zwischen Saragossa und Lérida herrscht. Außer den Zypressen nicht ein wohlgeratener Baum, kein Gras. Nirgends in der Landscha dieses große Gegenspiel pflanzlicher Massen, das fast immer ihren Adel ausmacht; jedoch überall dieses in Reihen oder in Kreuzen gepflanzte und beschnittene Strauchwerk, ein kleinfleckiger Pointillismus auf der nackten ockrigen Erde. Und selbst die Bewegungen des Bodens zwischen Florenz und Rom, zwischen Rom und Neapel erschienen mir wirr, ohne wahre Kühn- und Schönheit, überall zwischen Hügel und kleinem Berg zögernd, ohne gebieterische Täler, die sie teilen und ordnen: ein Nebeneinander von Beulen und Buchten, das kein Nerv durchzieht. Obwohl mich Hellas nicht anzieht, stelle ich mir vor, daß mittags im Sommer, zwischen den schwarzen Flammen der Zypressen, in der mit Säulentrommeln übersäten Landscha Olympias, eine heilige Kunde umgeht. Aber die Götter fliehen den
allzu temperierten Mittag der italienischen Mischlandscha, mit viel zu viel Scholle für die Tragik der Erden, die dem Feuer wirklich ausgesetzt sind, und viel zu viel Trockenheit für üppiges Wachstum. Kein Wasser, oder zumindest nirgends jenes Wasser, das in Frankreich, sobald es fließt oder sich ansammelt, unverzüglich das Licht spiegelt; lediglich die lehmigen erdfarbigen fiumare. Und nichts ist mir so abgeschottet, verkittet und verstop erschienen wie diese umbrischen Horizonte, die weder die ausgedehnten Himmel Spaniens noch die Wasserspiegel des feuchten Frankreichs leichter machen. Vielleicht rührt meine Verblüffung von einem geographischen Vorurteil her: die Provence von Les Baux und den Alpilles, von der Crau, von Saint-Rémy und vom Luberon, kündigt nicht die Landschaen Umbriens, der Toskana oder Kampaniens, sondern die viel weiter entfernten Landschaen Griechenlands an. Dazwischen, von Bologna bis Salerno, breitet sich unter dem alten Namen Etrurien eine ganz erdige, kontinentale und schwüle Auvergne aus,
die dem Meer den Rücken kehrt, eine ackerund weidelose Gegend, die grüner ist, als man meint, aber auch ärmer an flatterhaen Geistern (so findet sich küstenabwärts das marsilianische Straßenbild und -klima erst in Neapel wieder – griechisch wie Marseille –, und keineswegs in Civitavecchia, einer Küsten-Festung, unwirsch wie der Grenzposten eines Volkes, das das Meer nie geliebt hat). Anfangs etruskisch, später römisch, hat eine grob materialistische horizontlose Rasse der ländlichen Gegend Mittelitaliens ihren Stempel aufgedrückt; im Norden GroßGriechenlands, das vom Meer gerufen und von dessen Stürmen heimgesucht wird, spürt man nach Jahrhunderten noch, daß Rom hier – und nicht in der (zu ihrem Glück) exotisch gebliebenen Po-Ebene – unmittelbar vorgefunden hat, was Griechenland zu spät entdeckte: sein erdiges Mazedonien, streitbar und einigend, seinen schwerfälligen, prosaischen, kriegerischen, Legionen bildenden Bauernstand.
Wenige Küsten erschienen mir auf Anhieb so unwirtlich wie die der italienischen Halbinsel zwischen La Spezia und Neapel: weder Strande noch Felsen, sondern nur – außer der aufgeschütteten Maremma – die flache Scheibe des Ufers, die das Meer mit erdigem Schutt attakkiert. Küsten, die wegen ihrer Verlassenheit überraschen in diesem Fin de Siècle, das von der Sommerfrische am Meer besessen ist: Kaum stechen hier und da einige Neubauten hervor; von weitem hebt sich meistens zwischen den Pinienbüscheln vor dem flachen Meer eine viereckige Hütte ab, grau und isoliert, die an ein Zollhäuschen denken läßt. Bis dahin hatte sich ein Meeresufer für mich noch nie mit dem Bild der Langeweile verknüp: den Küsten der Toskana und Latiums gelingt es. Einzig die hügelige Halbinsel von Orbetello, dichtbelaubte Meeresburg, die eine verödete Lagune überragt, bricht für einen Moment diese Monotonie. Nirgends zeigen die französischen Küsten, was diesen niedrigen, durch eine lehmige Böschung, die das Meer gelb macht, zerschnittenen Land
schaen gleicht (höchstens vielleicht die Küste des Pays d’ Auge und des Landes um Caen, aber die kräige Flut schenkt hier dem Watt ein wechselvolles Leben und das Klima eine salzige und windreiche Kra, die dem Latium fremd ist). Ab und zu frißt sich ein Pfad, der sich um Pinien schlängelt, an irgendein Ende der Küstenwelt; kein Auto, kein Fußgänger scheint ihm zu folgen; eine reglose Faulheit lastet über dem leblosen Uferland, nichts als eine Endstation der Erde am unbewohnten Meer, Endstation, die kein Traum, keine Tat, kein Blick überschreitet.
O wenn ich an meine Italienische Reise denke, kommt mir ein Bild in den Sinn, das ich im Vorbeifahren durch das Waggonfenster aufnahm, irgendwo südlich von Pisa. Es ist eine flache Gegend, die sich zum Meer hin erstreckt, das man ganz nah vermutet, ohne es wahrzunehmen, ein Winkel der alten toskanischen Ma
remma, heute aufgeputzt, lange jedoch von fürchterlichem Ruf … Siena mi fe, disfecemi Maremma … eine geschorene Grasfläche, in der man bei der Durchfahrt weder Straße noch Pfad unterscheidet. Auf dieser Ebene sind dann und wann ein paar Pinien aufgestellt, wie die blechernen Stanzformen, mit denen die Kinder sich Landschaen um die Weihnachtskrippe bauen, und da und dort ein paar Häuser mitten ins Gras gepflanzt, deren Bestimmung zweifelha bleibt; es sind keine Bauernhöfe, denn man sieht keine Wirtschasgebäude. Das Bild einer Landscha, wie sie auf den Vignetten alter wertvoller Bücher dargestellt wurde: »nicht-funktionell«, ohne Hecken, ohne Ställe, ohne Zäune, ein Ort des Vergnügens, wie eine Rasenfläche mit den Kegeln und Kugeln der Bäume bepflanzt, hie und da mit irgendwelchen kindlichen Häuserklötzen besiedelt – ein Flecken ländlichen Gewebes, von den Malen der Arbeit gereinigt, dem bloßen Schlendern gewidmet, und wo zwei
Kinder, die beschwingt die Schule schwänzen, Hand in Hand spazieren gehen.
Welche Enttäuschung, wenn man von Rom kommt, das berühmte Kampanien! Man erwartet eine nasse funkelnde Oase: ein Staubreif liegt auf den Zweigen, das Grün ist ergraut wie ein Eukalyptusblatt, schon im Mai ist das Gras rötlich verfärbt und verbrannt. Was für ein Hohn ist Caserta, an der Straße vor Neapel postierte Hauptwache, eine dieser unbegnadeten Städte, die man schon nach einem Blick niemals besuchen möchte: nichts als häßliche kleine gleiche Häuserklötze mit wäschebekränzten Balkonen, Stadt, die die geschälte Erde rastert, eine Art castra stativa, die den Eingang zu diesem Staubnest überwacht und dessen militärische Parzellen ein Regiment von Carabinieri zu beherbergen scheinen.
Sorrent. Kleiner, den Sonnenuntergängen vorgelagerter Platz am Rand der steil abfallenden Lava-Klippe. Gleich nebenan das Kloster San Francesco, so klein, so freundlich, so blumenreich (man sieht in Italien kaum Blumen außerhalb der Märkte). Diese berühmten Ansichten, die ihre hohe Bewertung gewiß verdienen, sind leider Ziele landschalicher Pilgerfahrten, die die Emotion von vornherein einfrieren, nicht weniger als die zur Kunst. Von Venedig ist man nicht enttäuscht, weil es eine Überraschung birgt: den unvermuteten Klang, den Lärm, die Intimität einer Stadt, die sich voll und ganz zu Fuß oder zu Schiff bewegt. Hier aber gibt es keinerlei Überraschung. Alles ist schön, alles ist genau so blau wie erwartet, und der Vesuv schiebt sich von selbst in all die photographischen Rahmen, ohne einen Anflug von Schauspielerei, blasiert wie dieser besoldete Bretone, von Kopf bis Fuß in Tracht, der seinerzeit im Vorhof von Locronan die Kodak-Besucher köderte. Das ist der Tourismus des Gegenzeichnens und des Validierens, und ich zürne mir ein wenig, hierher
gekommen zu sein, um mich im must der Landschasjäger einzufinden wie in einer Fabrik: Mai – Bucht von Neapel – gesehen. Sonst ist der rush des Küstenbetons hier diskreter und weniger aggressiv als an der Côte d’ Azur: die Ponys, die wie Bersaglieri befiederten Pferdekutschen der kleinen Piazza Torquato Tasso bewahren den Straßen Sorrents einen Du von , auf angenehme Weise veraltet. Ich blickte gern auf die Zitronengärten unter meinem Fenster im Hotel Michelangelo: Hohe, mit Stangen, mit Eisen- und Gazedrähten verbarrikadierte Gerüste, gleich dem Gerippe eines Hopfenfeldes, wo sich die fruchtbehängten Zitronenstauden in das geheimnisvolle Dunkel eines sehr schattigen Unterholzes drängten: Sie erinnerten an jene importierten Käfige aus den Tropen, in deren Halbdunkel man hie und da Augen funkeln sieht.
Die schmalen Marktgassen von Sorrent, um zehn Uhr vormittags mit frischem Schatten erfüllt, mit Früchten, Melonen und Gemüse, wie in Huesca oder Lérida. Das war das einzige Mal, daß ich an Spanien dachte, das nichts gemeinsam hat mit Italien, weder den Menschenlärm noch den Lebensrhythmus, noch das Straßentreiben, noch selbst die gleiche Art der Hitze. Ohne das Vergnügen, zu sehen, wie frisch vom Baum gepflückte Orangen in mein Glas ausgepreßt wurden, hätte ich mich in Sorrent gelangweilt. Das Meer ist hier kaum zugänglich, das Ufer ist überall zu Klippen zersplittert, und die klingenden Strände der Verse Lamartines finden nirgendwo Platz, sich auszubreiten. Das machte mich ein wenig ärgerlich, denn die Erinnerung an die durchschnittliche Graziella verfolgte mich durch die Bucht von Neapel fast genauso wie die Verse der Chimères. Leider ist die Insel Procida, von der Küste aus gesehen, nicht sehr anziehend; und der Mergellina-Hafen, der beim Lesen der Novelle, unter seinen Feigenbäumen und naiv mit Wäsche geschmückten
Orangensträuchern, ein volkstümliches kleines Paradies in mir wachrief, ist heute von einem Amphitheater aus Beton eingekreist und zu einem Verladeplatz von aliscafi nach Capri geworden! Aber wenn die schlaffe und laue Novelle Lamartines sich am Panorama Neapels nicht mehr erwärmen kann, so fahren die beiden engverwobenen Sonette Nervals (man weiß, daß sie zu seinen Lebzeiten ihre Terzette von Publikation zu Publikation austauschten) Myrtho und Delfica – gleich jenen übertriebenen Wappen, die die plateresken Fassaden Salamancas oder Valladolids nahezu auffressen – nicht nur fort, den Golf mit ihren rätselvollen Versen zu blasonieren, sondern ersetzen ihn mehr und mehr, indem sie die Erinnerung anpassen und umformen, sie von aller Schlacke befreien und auf die Klarheit emblematischer Linien zurückführen. Sie drücken die Morgennebel einem Mantel gleich über die Häßlichkeiten einer »urbanisierten« Pausilippa, geben Paestum der Bucht zurück, schenken
dem Vesuv seinen Rauch und Cumae seine Sibylla. War ich wirklich in Neapel? Gestört hat es mich jedenfalls wenig.
In den Straßen Pompejis sah man nirgends einen einzelnen Besucher; nur Gruppen, die das Pflaster hämmerten, jede war um ihren Kornak geschart, wie der Bienenschwarm um seine Königin; einzig das wechselnde touristische Kauderwelsch ging an- und abschwellend durch die Gassen. Genauso unmöglich ist es in Paris, eine Ausstellung zu besuchen, ohne auf eine pädagogische Horde zu stoßen, die auf ihrem Beutezug um ein donnerndes und unfehlbares Weibchen gedrängt ist, das schnellzüngig seine Rechnung mit Velázquez oder La Tour begleicht. Der kulturelle Modeschöpfer jagt uns von Saal zu Saal nach und vertreibt uns aus diesen einsamen Luststätten wie von einem bösen Ort.
Ich bin gern (o wie gern!) in einem leeren Land. Und nicht in einem Land, das von Statisten bevölkert ist. Es ist das italienische Volk, das für mich Italien manchmal seines Charmes beraubt. Nicht nur scheint in den Städten die eatralik der Gesten, die ornamentale Zungenfertigkeit einer halb parodistischen Sprache mit jedem Moment eine Opera-buffa-Truppe, die ihre Probe verlängert, auf die Straße in die Freiheit zu entlassen, nein, auch der so wichtigen Beziehung des Bauernstandes zu seiner Erde (die PoEbene ausgenommen) fehlt hier offenbar die Konsistenz. Ich sehe in der Landscha keine Spur eines wahren Kampfes mit der Scholle, sondern nur die Feste, die Früchte, die Girlanden eines Sonntagsgärtnertums. Die Hirten erscheinen mir noch wie die Hirten Vergils, Freunde ländlicher Musen und der Schalmei, gleich werden sich die contadini im angenehm schattigen Wäldchen versammeln – und nicht ohne das Vorspiel eines ländlichen Tanzes –, um Bacchus mit ihrem Gelage zu ehren. Sicher lasten die klassischen Erinnerungen schwerer, als ver
nünig wäre, wenn man aus diesen Landstrichen vornehmlich bukolische macht, sie eher als Vorwand für Panflöten und Wechselgesänge nimmt denn als Rohstoff eines Bruttonationalprodukts. Aber ich nehme es den modernen Realitäten übel, nicht so heig Einspruch dagegen zu erheben, daß ich mich zu korrigieren hätte; nichts kommt gegen den Eindruck an, daß all diese Leute – ernst, zweifellos fleißig, herzlich und freundlich – das Leben, dessen oberflächlich animiertes Spektakel sie geben, eher spielen als leben. Nicht eine halbe Hebung im Ton, wie Giraudoux von Corneille sagte, sondern einfach eine Koloratur zu viel in der Phrasierung des Alltagslebens, und schon ist alle Authentizität dahin.
In Rom
Es ist die ausgedehnte Wohngegend Roms, die der Lage der Stadt allein schon ihre – nicht selten übertrieben gepriesene – Anziehung leiht. Niedrige Berge mit adligem Profil, zwischendurch das Meer am Horizont, ferne und tiefe Ausblicke auf die vom Staub des Sonnenuntergangs vergoldete Stadt, das unmittelbare Gefühl von Frische und Weite, das der – wahrlich durchschnittliche – Aufstieg auf die Höhen von Tivoli oder Frascati verleiht, jeder Hügel wird zur »schönen Aussicht« in dieser geräumigen und terrassierten Vorstadt. Was die englischen Kolonisten Kalkuttas oder Bombays Hunderte von Kilometern weiter suchten, in Simla oder in Darjeeling, an den halbverschneiten Hängen des Himalaya, fanden die römischen Patrizier, ohne ihre winterlichen Laubengänge auch nur aus dem Auge zu verlieren, indem sie eine von
der Malaria ausgezehrte und erschöpe Stadt verließen – wie eine hinduistische Kantonierung während des Sommermonsuns. Das eben gibt dieser gleichzeitig landschalichen und hygienischen Gliederung Roms und seines Umlands den Charakter einer harmonischen, funktionellen Notwendigkeit, die den beiden in dem Punkt mit Rom vergleichbaren europäischen Hauptstädten fehlt: Wien und Budapest. Es sind einzig die Albaner Berge und die alte römische Campagna, die mich – solange die EukalyptusPflanzungen die langen, nur hie und da wie von einem Zirkumflex gewellten Waagrechten nicht unterbrochen und abgedeckt hatten – mit der so mittelmäßigen Zeichnung und dem erschöpen Bild der sieben Hügel versöhnt haben. Ein subtiles Spiel von gegenüberstehenden Spiegeln tut sich zwischen den grünen Höhen, die nur Ausblicke auf die Stadt sind, und einer Stadt auf, die nur vom Kreis ihrer nahen, doch nicht bedrückenden Berge einen Atem bekommt, der ihr selber fehlt. Dazwischen wird das Gelände – dem entlang ziemlich reizlos die
modernen Zentren ihre angestammte Scholle nach Lust und Laune zersetzen und verdrecken – von einem lange Zeit verödeten Ring umfaßt, den das jüngste Wachsen der Vorstadt zu attakkieren und verengen beginnt: Alles was in der Stadt an den Ufern des Tiber zusammengedrängt ist, weicht, sobald man sie verläßt, dem Eindruck von verschwenderischer Weite und tief verwurzeltem Luxus im unbekümmerten Gebrauch, den man hier Jahrhundert weise vom übriggebliebenen Raum macht. Die Vorstadt außerhalb Roms wächst nur widerwillig, als wäre sie noch zu schüchtern, mit ihrem Lärm die prächtige Erinnerung an die Einsamkeit von vordem zu zerschmettern: In den Pfarreien der alten bretonischen Ortschaen drang man nur über den Friedhof zum Allerheiligsten vor.
Ostia, verschlammter als Brouage und heute dem tiefsten Land einverleibt, läßt nur schwerlich glauben, daß es die Versorgung des riesigen römischen Umraums durch das Meer bewerkstelligen konnte (der seinerseits freilich nichts exportierte). In meiner Erinnerung ist es weniger eine Ruine wie Pompeji – eine Ruine, die noch steht, wie von den Flammen einer Katastrophe geleckt und geputzt, wo an jeder Ecke die Steinskelette in den Feuerhimmel fuchteln – als vielmehr ein begrünter Stadtsockel, der friedlich über das Land gestreckt ist, gesäumt und verkittet von kniehohem Grün wie die Ruinen von Aunay-sur-Odon und Villers-Bocage, die ich gesehen habe. Wenig Touristen scheinen Ostia zu besuchen, und der Spaziergang auf den gepflasterten Wegen ist einsam und entzückend, vor dem Bad am Trauerstrand, der heute den Namen des verstorbenen Hafens trägt: Wie selten besucht man eine Stadt, in der sich wie hier die Ausblicke nach allen Seiten gleichzeitig auun. Wie wenig Platz diese antiken Städte brauchten und wie erfinderisch und
liebevoll sie ihre Konstruktionen verpackten – wie die Chinesinnen ihre Sachen in den Kästchen und Köfferchen! In Ostia ist alles, die Kneipen, die Unterküne, die Tempel, die Läden der shipchandlers, die Läden für Taurollen und Schuten, die Büros der Reeder, die Lager, die Märkte, alles ist klein, klein … klein.
Römische Gärten – sie verhalten sich zu den Gärten der Ile de France wie die frisch geschorenen Felder von Ende Juni zu den Wiesen des Mai. In Frascati das enorme Massiv der auf Habtacht gestutzten Buchsbäume, das vor der Villa Aldobrandini den Hügelhang hinabläu, kompakt wie ein Gletscher aus Pflanzen. Ich habe diese Stätte bewundert und die wahrha fürstliche Lage ihres Bauwerks, die pompöse Unverschämtheit bewundert, die sich hier eine ganze Bergschräge als Rahmen für ihr Flurhaus genehmigt. Das matte Gelb des Gebäudes, das
gegen die Pflanzenmassen von erloschenem Grün spielt, schuf unterm düster verhangenen Himmel eine Farbmasse erlesenster Wirkung. Der Festungscharakter ist hier bei den Landhäusern viel stärker betont als bei den Schlössern der Loire, die doch Brustwehren und Pechnasen regelrecht zur Schau stellen. Die Kasematten, stikkig wie Blockhäuser, im Erdgeschoß der Villa Medici (die man fast nur von der viel freundlicheren Gartenseite aus photographiert). Die Verriegelung ihres gepanzerten Tores, vom Kaliber einer Kelter schraube, ist, wie bewiesen wurde, in der Lage, einer Kanonenkugel standzuhalten. Und was wäre verschlossener, gastfeindlicher als die engen und hohen Gewölbe überm silberhellen Garten der Villa d’Este, die als Hellebarden- und Stoßspieß-Lager wie geschaffen scheint?
Weil, mit den paar Säulen, die sich noch vom Forum abheben, das Kolosseum, der Konstantins- und der Severusbogen systematisch von den Photographen bevorzugt werden, ist die Überraschung des Besuchers groß, wenn er entdeckt, daß der rote Ziegel – der gemeine Ziegel von Amiens oder Saint-Omer, der weniger patiniert ist als in Brügge oder Haarlem – überall zur Livree des antiken Rom gehört und durch sein rohes Ausmaß und die Farbe der Kathedrale von Albi ungleich näher ist als dem Parthenon. Und in der fast irrwitzigen Anhäufung dieses Nutzmaterials, von den größenwahnsinnigen Stadtbehörden an den Hängen des Palatin, am Trajansforum, bei der Basilica di Massenzio, beiden ermen des Diokletian verschleudert, ist das, was den Blick anzieht – im Kontrast zu dem Gelb der modernen Gebäude oder dem Grün der Hügel: die Gruben der Kalkbrenner, die Schleusensohlen, die Rundschuppen von LokomotivenDepots, die Cocagne-Hallen, die ein Erdbeben gespalten hat, aufgebrochene Kanalisationsrohre, Viaduktbögen, ein ganzes kaiserliches
welfare state-Amerika, das unter seinem städtebaulichen Gigantismus die winzigen republikanischen Häuschen erstickt: die Rostra, den tempietto der Vesta, den bescheidenen Silo der Kurie. Bei den ermen des Caracalla schlägt die bloß materialistische und zweckhae Maßlosigkeit in den reinen Traum um: Eher als an Ruinen denkt man an die Landschaserosionen von Colorado oder des Peträischen Arabien oder, mehr noch, an die aus einem anderen Naturreich geborenen Absonderlichkeiten; an kolossale madreporische Säulen, die lang von einem warmen Meer gemästet wurden. Erst hier habe ich verstanden, daß die beduinischen Kameltreiber den Kessel der zerklüeten Hügel, den Lawrence von Arabien so bewunderte, Roum nennen konnten. Aus Ziegel auch die Mauer Aurelians, die kein großes Bollwerk ist, sondern eine schlanke, mit Zinnen versehene Zollwand, wo ich den roten, zwischen den Häusern verlaufenden Ariadnefaden, wie er im Stadtplan eingezeichnet ist, an
einer Straßenbiegung gerne wiederfand. Die Zeit, die die ursprünglich bunt verschmierten Tempel Athens gebleicht hat, indem sie die Stuck- und Marmorverkleidungen ablöste, hat Rom gerötet, hat es geflammt mit diesem Ziegelton, der fast keiner Stadt gut steht, aber den ich hier gern gegen das dunkle Grün der Hügel und das verwaschene Ocker der Straßen spielen und aufflammen sah wie nirgends sonst in den Strahlen der tiefen Sonne.
Der gelehrte und gewissenhae Ferdinand Lot, vor einem halben Jahrhundert Autor eines Fin du monde antique, das eine wichtige Lektüre für mich war, murmelt in einem Winkel seines Buches – sotto voce, um die Kollegen in der Academie nicht zu sehr zu schockieren – ein Urteil über die antike Kunst, das wie der verschämte Seufzer eines ganzen Lebens klingt: ermüdende Eintönigkeit. O ja! Oh, ihr musterhaen Foren Ostias
und Pompejis, ihr Halb-Arenen, ihr DreieckGiebel, ihr geschälten Kolonnaden, BacksteinBuden, du immerwährende Venus mit der ewiggleichen Geste über dem Schamhaar, ihr Delphinmosaike in den ermen, Halbkuppeln in den Basiliken und ihr, Legionen von Statuen, an denen man im Kapitolinischen Museum mit der gleichen offenherzigen Neugier vorbeizieht wie ein Staatsbesuch an der Ehrengarde – wie ihr mich langweilt, wie gleichgültig ihr mir seid! Achthundert Jahre gewohnheitsmäßiger Rückfälle, achthundert Jahre Leda mit dem Schwan, achthundert Jahre Akanthus-Blätter, was für ein Ekel! Kein Frühling der Kunst wird hier je diesen abgestandenen Aufguß durchschütteln, diese trübseligen Reduplikationen. Die blockartig erstarrte Ewigkeit Ägyptens, deren eines Ende in die Nacht der Ursprünge taucht, auch sie fehlt dieser desakralisierten Kunst des Übergangs, die die Kosten berechnet und mit schäbigen Materialien schwindelt: Das enorme Anhängsel, das seit einem Jahrhundert zur Geschichte hinzu
kam, hat aus der Antike für uns ein Mittelalter gemacht, aber ein Mittelalter, das der barbarischen Auffrischung beraubt ist: ein langes, ein nicht zu beendendes Hinsiechen im luleeren Raum. Noch nie hat die bildende Kunst so wenig Seele gehabt wie jene von vor bis nach Christus. Der durch und durch anekdotische Eindruck der Sujets der römischen oder spätgriechischen Bildhauerei drängt sich im Museum des Vatikans genau so wie im Kapitolinischen Museum auf: Es sind bewundernswerte Uhrensujets oder eher – um die Nuance von Jules Lemaître aufzunehmen – Sujets von bewundernswerten Uhren. Zwischen dem Sterbenden Gallier oder dem Laokoon einerseits und dem David von Michelangelo in Florenz andererseits zeigt sich die Entstehung der »faustischen« Dynamik, die Spengler so schätzt, in ihrer ganzen Klarheit. Der David – mit dem Haar-Visier über einer eigensinnigen Stirn –, der in der Florentinischen Akademie seine Schleuder auf die Schulter zurück
legt, ist keinesfalls der Vernichter der Hydra mit der noch kindlichen Muskulatur, wie sie ein antiker Bildhauer gezeigt hätte: Es ist der ungestüme Zugriff auf ein ganzes keimha gegenwärtiges Leben, das schon von der Zukun angesaugt wird. Der Jüngling hat seine Mittel gemessen; der Funke einer großen Ambition hat sich unter dieser niedrigen Stirn geregt: Weder für Saul noch für den Hethiter Uriel wird es von da an ratsam sein, sich ihm in den Weg zu stellen. Es handelt sich hier in keiner Weise mehr um eine biblische Variante des Herkules-Knaben, der die Schlangen erwürgt: Es ist Goldhaupt, der sich auf den Weg macht.
Kaum war ich ein paar Tage in Rom, da wußte ich bereits, wohin mich, hätte ich die Stadt bewohnen müssen, meine Schritte geführt hätten, um zu träumen und zu flanieren: auf die unscheinbare Kuppe des Kapitols – in der Ecke wie
ein bestraer Schüler, hinter dem Zuckerguß des schnurrbärtigen Königs –, die kaum martialisch wirkt mit ihren streunenden Katzen, mit den schüchternen Liebenden im Gebüsch, das verlassener ist als der Platz einer Unter-Präfektur. Nichts fängt die von einem römischen Nachmittag vergoldete Sonne besser ein als dieser bezaubernde Maulwurfshügel, gespickt mit verstohlenen Durchgängen, Abkürzungen, Strebemauern, Treppen, Hintertüren und Pfarrgärten, von der Größe eines Taschentuchs. Ich liebte die extreme Leichtigkeit, mit der die kleine Burg, halbweltlich, halb geistlich, ihre schweren Erinnerungen trug: Die Arx und die konsularischen Triumphe sind hier weit entfernt; man denkt viel eher an das Labyrinth eines botanischen Gartens, an die umschlossene Stadt von Loches, die über dem Fluß ihren Sonnenrausch ausschlä. Als ich von dem ländlichen Flanieren im Schatten der leeren rocca genug hatte, stieg ich eine Treppe hinab und überquerte den stolzen klei
nen, von Michelangelo gestalteten Platz, der durch das Reiterstandbild Mark Aurels, welcher ohne Sattel aufsitzt wie ein Müllersbursch, leider kralos ist: das von Colleoni hätte hier besser gepaßt. Die steigbügellosen Reiter der römischen Antike hatten wahrscheinlich jenen schwankenden unsicheren Sitz der HauruckHusaren der Vendée-Armee, die ohne Sattel ritten und von den er-Soldaten »Kirschenhändler« genannt wurden: Die grünspanigen Kavallerien der versunkenen Reiche gewinnen manchmal, wenn man sie durch die Verse von Saint-John Perse betrachtet. Danach kam ich zu der abschüssigen Rampe, welche zum eater des Marcellus führt, zu seinen einäugigen und krätzigen Katzen, die auf den Säulenstrünken ihre so baudelaireschen Haltungen einnehmen. Ich war immer überrascht, wenn ich das doppelte und kühle Strömen der schattigen TiberUfer wiederfand und dieses Rascheln der Blätter im Wind. Ich hatte mir, ich weiß nicht, warum, kahle Böschungen vorgestellt, einen
afrikanischen Wadi zwischen den Widerlagern aus verbranntem Stein. Wenn man nur auf die Seite des Flusses schaute, konnte man sich unter den Platanenschirmen einer okzitanischen Stadt wähnen, an den Ufern des Herault. Bei meiner Ankun fürchtete ich eine herablassende und kalte Stadt vorzufinden, die den Besucher auf Distanz hält, lording it over, dabei hatte mich die Zwanglosigkeit, die naive Unbefangenheit im Verwerten von Ruinen fast überall bezaubert und gefiel mir. Wenn sich die Stadt hie und da einen Hauch von Wichtigkeit gab, schien sie sich über sich selbst lustig zu machen: Ich liebte es, den Gehsteigen entlang das lächerliche .... zu lesen, das auf die Kanalisationsdekkel geprägt war.
Am ersten Tag meiner Wanderungen durch Rom hielten mich ein Gewitter und ein Wolkenbruch für zwei Stunden fest – ziemlich weit hinter dem Palazzo Venezia, nah an den Ufern des
Tiber, unterm Vorhof eines alten, in Wohnungen aufgeteilten Palazzo. Ich sah die Hausfrauen, ihr Brot unterm Arm, den Einkaufskorb in der Hand, wie sie ihre Schirme unter dem riesigen Gewölbe ausschüttelten und – bevor sie im Halbdunkel verschwanden – mit ihren Socci über die Marmortreppen klapperten, welche feierlich und streng anstiegen, als führten sie zum Farnesischen Herkules oder zu Laokoon. Und ich stellte mir die beharrliche Kühle im Sommer vor, aber auch die grabgleiche Unbequemlichkeit im Winter unter den Fresken-Plafonds und in den zugigen piranesihaen Treppenhäusern. Es ist nicht nur die moderne Stadt, die sich, koste es, was es wolle, tyrannisch über einer anderen erhoben hat, es sind auch ihre Bewohner, die in den Parzellen der palazzi zu treiben scheinen wie Obdachlose, die man in einem dem Staat anheimgefallenen Schloß oder in einer verlassenen Abtei unterbringt.
Der Charakter der parasitären, geförderten Stadt, der mit den kurulischen Ädilen der Republik auaucht, sich mit dem panem et circenses des Kaiserreiches ins Unmäßige steigert und heute im intramuralen Zusammenfließen des Peterspfennigs mit dem administrativen Manna des italienischen Staatshaushalts fortlebt, verleiht Rom eine Festigkeit, einen Sitz im Ungleichgewicht, der ihm ebenso wie seine unvordenkliche Vergangenheit den Namen der Ewigen Stadt einträgt. Die Stadt lebt seit zwanzig Jahrhunderten in der vollständigsten Gleichgültigkeit gegenüber sämtlichen anerkannten ökonomischen Normen: Wo das Handelsmonopol mit Gewürzen, Wolle und Seide dem Reichtum Venedigs oder Florenz’ einen Aufschwung gibt, ist es hier das von Bonifaz . eingeführte Jubeljahr, das den Römern im Mittelalter die Schleusen des gastgewerblichen Wohlstands öffnet, ist es der Ablaßhandel, der die monumentalen Arbeiten von Julius . und Leo . finanzieren wird. Der regelmäßige, unversiegliche und transferierbare Zehent, der von den unterwor
fenen Völkern, den gläubigen Katholiken, zum Teil heute auch vom Staatshaushalt und dem internationalen Tourismus eingehoben wird, hält eine Stadt über Wasser, die sich jahrhundertelang daran gewöhnt hat, zwar nicht mehr mit der skandalösen Freßsucht des späten Kaiserreichs, aber mit gezügelter Diskretion am Trog des Planeten zu speisen. Das bleibt nicht ohne Folgen für den hartnäckigen und ziemlich verborgenen Zauber Roms. Die Stadt entkommt den politischen und wirtschalichen Auflagen, als hätte sie hinsichtlich der Geschichte das Tempo ihrer Befreiung seit Jahrhunderten erreicht. Befreit von ihrer mittelmäßigen Lage, von ihrem kralosen Fluß, von einem Land, das sie nie ernährt hat, von einer Nation, deren Name weit über die Grenzen reicht, von einer Vergangenheit, deren flutartige Bewegung sie auf unerklärliche Weise respektiert hat. In das Vergnügen, das der Tourist beim Besuchen ihrer Denkmäler, Bilder und Statuen, beim Durchschlendern der Straßen
findet, mischt sich ein sehr vages und feines Gefühl von Schwerelosigkeit: das genaue Gegenteil zur Spannung einer Stadt wie New York, die an sämtliche Nervenfäden des Planeten angeschlossen scheint. Hier haben die Ereignisse, die die Morgenzeitung vermeldet, weniger unmittelbare Resonanz als anderswo, die Zeit fließt unbekümmerter dahin, das fristlose Fortleben der Werke des – ebenfalls parasitären – Genies scheint weniger bedroht, weniger abhängig vom unsicheren Werden, das die Völker und die Nationen durcheinanderwirbelt. Der Kunstliebhaber fühlt sich in Rom zum rentier aus den Zeiten Labiches werden; er schlä abends mit seinem ästhetischen Überschuß ein, den er in ein weiches Kissen aus Dauer und zeitloser Sicherheit gestop hat, das die Wechselfälle des Alltags kaum erschüttern.
Die historische Schwingung, die das belebte Zentrum des modernen Rom ins verlassene antike Marsfeld verlegt und dafür den südlichen Teil der Stadt ruiniert hat, welcher im Kaiserreich unserem siebten, achten und sechzehnten Arrondissement (mit dem Bois de Boulogne) entsprach, läßt Rom innerhalb der Mauern Aurelians gespalten erscheinen, was den Besucher weidlich überrascht. Vom Kapitol zur Porta Ardeatina öffnet sich einem Trichter gleich eine enorme städtische Brache, die an jene Rodungen erinnert, welche nicht eigentlich kahl sind, sondern wo man das gesündere und rarere Holz verschont hat und sich vereinzelte Strünke, die dem Feuer und der Axt trotzten, aus dem Busch und Brand erheben. Aber das, was die Kahlschläge, die rasch von einer rauheren Vegetation überwuchert werden, für gewöhnlich verunstaltet, steht den Trümmern Roms, wo das Fell (gekraust, geschoren, gefirnißt wie die Pflanzen der Macchia, angefächelt von den Palmwedeln und von den ausgedehnten Wolkenskulpturen der Pinien überdeckt), das die Ruinen neu über
zieht, die Grotten-, Ruinen- und »Monopteros«-Parks, von denen das . Jahrhundert so albern und hohl geträumt hat, mit einer ungeahnten Authentizität und monumentalen Konsistenz ausstattet.
Was mir im Zentrum des päpstlichen Rom, zwischen Corso und Tiber-Schleife, gefallen hat, war das Gefühl, in die Masse dieses kompakten, in der Sonne brennenden urbanen Kuchens gemischt zu sein, der leichte Risse zeitigt und wo die Buden der Flickschuster und Schlosser zwischen den Prellsteinen, die (schlecht) vor Autos schützen, Münder von der Frische eines Kellers öffnen. Sie ließen mich an sehr frühe Zeiten denken: an die Gassen voller Dauben und Fässer im Saint-Florent meiner Kindheit, an die alten schwitzenden Wagen schuppen, wo das Benzin im Kanister abgegeben wurde, und, noch weiter zurück, an die Hinterhöfe der Gasthäuser, wo die
Kutschen ausspannten, an die alten Handwerkerstraßen, in denen sich das unschuldige Produkt – wie eine Frucht, die man schält – noch nicht von seinem lärmenden oder stinkenden Abfall trennte. Mehr als durch ihren antiken Plunder, zweifach tot und zu schwer lastend, atmete die Stadt dadurch in einem von der Geschichte nicht vorgeschriebenen Maß, verband sich nicht mit der kaputten Urbs in Toga und Sane, sondern mit den schattigen Gängen, halb Souks und halb Räuberhöhlen, des Roms der Renaissance, wo die Ritter an einem Eckstein abstiegen, um sich ein Medaillon gravieren oder einen Dolch schärfen zu lassen.
Sosehr einen die Ahnung einer gefährlichen Stadt befällt, sobald man seinen Fuß auf das Pflaster Chicagos oder New Yorks gesetzt hat, sowenig ist man in den Straßen Roms, in denen rund um die Uhr gestohlen wird, auf
der Hut: überall entspannte Freundlichkeit und argloses Schlendern; man ahnt, daß der Diebstahl und das Schmiergeld – zum Bestandteil einer überreifen Zivilisation geworden – die lindernden Formen einer vagen Höflichkeit bewahren, die nicht vollständig mit den eingebürgerten Umgangsformen bricht. Genau wie die zerlumpten und redegewandten Pflastertreter von Torre del Greco, die einen beiseite nehmen, um mit verschämtem und allgemeinem Augenzwinkern aus einem dreckigen Taschentuch »geschmuggelte Uhren« zu ziehen. Keine Spur von jenen outlaws, die das Verbrechen oder die Perversion auf den Gehsteigen der . Straße in New York offen spazierentragen. Wenn schon, so würde man sich lieber hier ausplündern lassen als anderswo.
Wie soll man sich vorstellen, daß Rom vor eineinhalb Jahrhunderten noch die gleiche Stille
kannte, die man heute in den Rand vierteln Venedigs zur Nachsaison findet? Die romantischen Stiche und Gemälde zeigen uns den Petersdom, obwohl aus nächster Nähe erfaßt, noch halb von den Baumkronen der Campagna verdeckt am Rand der Stadt – wie der Pariser Triumphbogen zur Zeit seiner Erbauung. Die Ruinen wucherten noch von allen Seiten über die dünn besiedelte Stadt, verbanden das Forum, das Kolosseum und die ermen mit der Campagna der Bogenbrücken, der Gräber und Aquädukte. Unweit von seiner Botscha hörte Chateaubriand in seinen nächtlichen Schwärmereien die Nachtigall »in einem engen, von Schilf gesäumten Tal« schlagen. Die Reglosigkeit einer ruinenreichen Campagna drang von allen Seiten in einen lethargischen Flecken ein, der seit langem von jedem Arbeitszeitplan abgekoppelt war und nur noch die Glocken der Klöster und der Jahrhunderte läuten hörte.
In Chateaubriands Lettre à Fontanes steht ein merkwürdiger Satz über Rom: »Im Winter«, schreibt er, »sind die Häuser mit Gras bedeckt wie die Strohdächer unserer Bauern.« Diese verschrobene Bemerkung, die die Kennzeichen der Jahreszeiten umkehrt und die Architektur auf den Kopf stellt, kam mir auf meinen Spaziergängen durch die Straßen wiederholt in den Sinn. Sie war der Grund, daß mein Blick o höher haen blieb, als üblich ist, wenn man eine Stadt durchstrei, aber ach!, keine Spur von diesen hängenden Wiesen in Rom – falls sie je hier auf den Dächern wuchsen. Gleichviel: In meiner Phantasie bewahren sie den Bauten der Stadt etwas von dieser Merkwürdigkeit, die ihnen allzu sehr mangelt und wofür das Wort Prix de Rome, das genauso unwillkürlich im Geist treibt, nur allzu gern das Fehlen unterstreicht. Immer dieses Strandgut von Wörtern, das Rom zudeckt wie die Plakate einen Lattenzaun …
Den Blick auf Kopöhe haltend, lebt man in den Straßen von Paris. In New York lebte ich, die Nase in der Lu, das Auge zum Scheitelpunkt gerichtet, auf den die Wolkenkratzer wie Raketen zielten. In Rom blieb der Blick eher auf halber Fassadenhöhe haen, suchte Gesimse, Kartuschen, Balkone, behauene Dachvorsprünge: Haus oder palazzo? Schade, daß die zügellose Jagd der Autos in den schattigen Straßenschluchten den Flaneur andauernd stra und an die Mauern preßt wie abends um sechs im Durchgang des Louvre. Diese Unfreundlichkeit der Straße, die den Raum auf den Gehsteigen, auf den Plätzen, unter den Ladendächern, auf den Terrassen der Cafés so knapp bemißt, hat mir Rom schon halb verdorben: Die irrsinnige Anarchie des Autoverkehrs besorgte den Rest und machte für mich aus dem Überqueren der fürchterlichen Via dei Fori Imperiali eine Übung, die dem Hüpfen von Scholle zu Scholle im Eisgang des Flusses glich, wie man es aus Onkel Toms Hütte kennt. Ohne Ampeln – und somit ein Strom ohne Brücken – teilte die wilde Ader für mich den Stadtplan in
zwei Hälen, weit mehr noch als der regulierte Fluß. Diese Autobahn, die den Ruinenfeldern schräg in die Seite fährt, ist mir als einzige Geschmacksverirrung der Neustadt erschienen, abgesehen natürlich von der Kolonnade Viktor Emanuels, die den Kitsch des ausgehenden . Jahrhunderts auf Pyramiden-Höhe treibt – und sämtliche budgetären Dämme niederreißt.
Dabei war ich – selbst an der Via dei Fori Imperiali – für den Kitzel des motorisierten Gesumms, das von überallher in die Friedhöfe dringt, nicht immer unempfänglich, wirklich nicht. Was sich mehr oder weniger harmonisch mit dem Rest der Stadt verbindet oder sogar vermischt, erreicht hier eine rauhe, brutale Dissonanz, die für ein zeitgenössisches Landschaserleben nicht ohne Reiz ist. Rom, das ehedem den Überdruß und die kostbare Einkehr abgespannter Seelen wiegte, springt da
durch mit einem Satz in eine herbe Modernität, und ich fühlte mich bei meinen Wanderungen manchmal aufgeheitert.
Die dem Christentum fremdesten Denkmäler Roms sind nicht die antiken Tempel, mit denen die Kirchen fast von Anfang an, lang vor dem Bau der Madeleine in Paris, Frieden machten. Es sind eher die paar erhalten gebliebenen heidnischen Gräber, wie das berühmte Grab von Caecilia Metella, das – trotz der sonnigen Schönheit der Landscha und der Bäume – mit seinem verschlossenen und zinnenbewehrten Zylinder den giigen Schatten eines Schweigeturms auf die Via Appia wir. Und sogar die Engelsburg, die Hadrians Grabstätte war, entpuppt sich – trotz des geflügelten Engels, der sie überthront und trotz der Engel, die die Brücke zu ihr flankieren – als Gegner jeder Taufe. Ihre elementare, erdrückende Masse erscheint wie eine Überbie
tung der Hügelgräber des hinteren Orients oder Chinas im innersten Herzen Roms. Nicht um, wie in Brasilia, mit ihrem konkaven Sockel den Petersdom aufzuwiegen, scheint sie gemacht, sondern eher um im Wirbel der Sandstürme und Löß wüsten inmitten der Einsamkeit Alexanders Reich zu begrenzen.
Die Trajanssäule ist edler als die VendômeSäule oder die Säule des . Juli, aber sie steht in Rom wie ein verirrter Mammutbaum auf einem Rathausplatz, wie ein exotischer Stamm, halb historisch, halb Fossil, von jeglichem organischen Leben der heutigen Stadt abgeschnitten. Seit Paris einen halbwegs urbanen Charakter angenommen hat – das heißt, seit der Krone – vergeht kein Jahrhundert, kein halbes Jahrhundert, das nicht seinen Stein zum Bau gefügt, nicht dazu beigetragen hätte, Bauten mit eigener Signatur zu errichten. Aber was die entwur
zelten Denkmäler betri, so schaffen die gähnenden Löcher der Geschichte in Rom einen ähnlich harmonischen Bruch wie die Verpflanzung eines altägyptischen Überrests auf die Place de la Concorde im vergangenen Jahrhundert. Die Vendôme-Säule, die Bastille-Säule können zur Not noch im Wind der Geschichte singen, wie der Koloß von Memnon in der Sonne singt – vom Rebus der Niederlage des Königs Decebalus oder den Hieroglyphen des Obelisken ist aber nichts mehr aus dem archäologischen Balsam zu retten.
Das an die schlanken Zacken der gotischen Glockentürme gewöhnte Auge findet sich schwer mit der stämmigen Erscheinung, mit der lastenden Untersetztheit der Monumente des christlichen Rom zurecht. Die architektonische Masse der Peterskirche frappiert durch ihren gedrängten, zusammengedrückten Cha
rakter: Dieser Riese unter den katholischen Kirchen, dieser schmalschultrige Koloß scheint auf die Welt gekommen zu sein, als wäre er zwischen zwei Gebäuden aufgewachsen, die ihm zu wenig Platz ließen. Was für eine schlimme Überraschung, diese Fassade, wo sich ein antiker Tempel mit seinem Giebel in ein viereckiges Bauwerk bohrt, das ihn allseits überragt – und dieser doppelte und schwere Querbalken, der ihn auf zwei Dritteln seiner Höhe schneidet! Gewiß, Berninis Kolonnade ist herbeigeeilt, um es ihm bequem zu machen (wie die Schneider sagen), aber gibt es denn ein Mittel gegen einen zu engen Schnitt? Der Bau scheint derart zusammengepreßt und mit sich selbst überladen, daß es – vom Platz aus betrachtet – fast unmöglich wird, ihm den Gigantisrnus seines Schiffes zu glauben.
Die Silhouette Venedigs, einer Stadt mit gänzlich byzantinischer Tradition, in der die Kuppel die religiöse Architektur beherrscht, wird aus der Ferne dennoch ganz von dem spitzen Pfahl, der aus der Piazzetta sticht, geprägt. Isoliert, wie er auf dem Querstrich des Horizonts steht, bekommt er die feierliche Wichtigkeit eines erhobenen Zeigefingers. Ich betrachte eine Panoramaphotographie von Rom, die ich bei den beschnittenen Laubengängen der Villa Medici aufgenommen habe. Das vollständige Fehlen aufsteigender Linien in diesem kompakten städtischen Panorama geht auf die Horizontalität der antiken Stadt zurück, die wohl meistens den Eindruck einer gewaltigen Schmelzmasse machte, durchbrochen und geriffelt wie die Chaussée des Géants, einer architektonischen Ablagerung, deren ausgebeinte Masse lediglich eine neue Schicht über den planierten Fels zog. Was sich ohne wirkliche Kühnheit über der flachen Linie der Gebäude erhebt, das ist der campanile: leicht, luig, mit klaren Stockwerken und einer flachen Ziegelkappe, ein Moment, das
problemloser in die bürgerliche Architektur einfließt als der gotische Pfeil, das mehr als ein Wohnhaus ziert und das ich sogar in Amerika von Frank Lloyd Wright verwendet sah, um ein Restaurant zu schmücken. Es ist vor allem die Kuppel, weniger ein Symbol des Aufsprudelns und Emporfliegens, sondern – durch ihre schwere und gedunsene Blase – eher eins der inneren Gärung, der Hefe des städtischen Teigs, von dem sie plump zu zehren scheint. Es ist eigenartig, daß die Hauptstadt des Christentums für ihren Glauben kein typischeres Symbol gefunden hat als eine ins Gigantische aufgeblasene architektonische Allzweckform, deren der Islam in der Hagia Sophia sich bestens bedient und deren uralten Prototyp das Pantheon Agrippas im Herzen der Stadt darstellt – von Anfang an halb verweltlicht.
Die Sixtinische Kapelle. Was mich schon beim Betreten verblü hat und was die Abbildungen nicht deutlich zeigen, ist der entschieden zweifarbige Charakter der Komposition: blau und ocker – die matten Blaus der metallischen Oxyde und die erdigen Ocker, deren spröde und rissige Nachdunklung dem Material der Höhlenmalerei gleicht. Die Komposition ist nicht so souverän zentriert, wie man glaubt, und das hinduistische Gewimmel überwiegt. Was die Gesamtkonzeption der Szene betri, so bietet die Haltung der Auserwählten – zumindest der wichtigsten Auserwählten – Grund zur Überraschung: Es sind nicht sosehr vom himmlischen Ruhm Angestrahlte als vielmehr Geächtete, die für die Sache gelitten haben und ihre Dienerscha säuerlich zur Schau stellen, wie sie es bei jeder beliebigen Restauration machen würden; so daß man nicht weiß, woran sich die Jungfrau mehr stößt: am Zorn ihres Sohnes oder an der hemmungslos rückfordernden Schamlosigkeit dieser Legionen »alter Kämpfer«. Die düsteren florentinischen Ab
rechnungen tauchen im unteren Teil der KellerFresken auf mit den Figuren von Dante und Savonarola; hinter der üblichen Ikonographie nimmt man noch schwach die Guelfen wahr, die soeben die Ghibellinen gestürzt haben.
Die Luaufnahmen des Kolosseums und die Aufsichten, die man vom Kamin seiner Außenmauer hat, lassen an verwickelte Gehirnwindungen denken, an die delikaten inneren Scheidewände eines gigantischen Muscheltiers, eines durchschnittenen Ammoniten. Zwei Schritte vom Forum entfernt, wo die antiken Überreste – die in den Zustand natürlicher Fragmente zurückgekehrt sind – unmerklich in eine Landscha von Hubert Robert überzugehen scheinen und sich leicht und friedlich mit dem Baum und dem Gras verbinden, gleicht es weniger einer Ruine als einem überaus gewaltigen Fossil, das die Maschinerie des gesellschalichen Le
bens, dessen Spuren es bewahrt hat, nahezu schamlos herzeigt. Die Trennung der Kalkschale von der belebten Masse, die sie umschloß, scheint soeben vollzogen, und zwar mit reiner Gewalt, so daß sich die Höhlen und Kammern in der Phantasie wie von selbst wieder mit Fleisch auffüllen und die beschwörende Kra dieses Hexengehäuses für die Massen des heidnischen Rom zu der des Tals von Josaphat wird.
Mit seinen unter Azaleen erglühenden Treppen und dem doppelten Glockenturm der Santa Trinità dei Monti stellt der Spanische Platz – eins der verbreitetsten Rom-Sujets in den Kalendern der Post – für einen Pariser den auf die Treppen des Montmartre und die Flaneure der Place du Tertre (die Maler der Via Margutta sind nicht weit) reduzierten Rohentwurf dar, eine Skizze, die vom duenden Frühtau des Blumenmarkts befeuchtet wurde. Ein Montmartre, dessen inti
mere Proportionen ihm den Zauber einer Einfalt leihen würden, den der Pariser Stadtberg – dank einer abgedroschenen folkloristischen Literatur – längst verloren hat. Wie die verlassenen Laubengänge des Kapitals und die überlaufene Piazza Navona ist das einer der Orte der Stadt, die man gerne passiert und wo man gerne verweilt. Aber nirgends auch begrei man besser, daß der Reiz dieser großen Stadt fast überall den rührseligen Charakter einer provinziellen Bescheidenheit und Schüchternheit bewahrt: den einer kränkelnden Stadt, die fünfzehnhundert Jahre zwischen den Trümmern und Erinnerungen einer Megalopolis dahinvegetierte, die größer war als sie und wo man nirgends dieses stolze Strotzen im Aufschwung und in der Selbstbehauptung spürt, das man von einer Stadt wie New York, ganz Tochter ihrer Werke, kennt. Der Spanische Platz, der auf seinen Stufen die Hippies von ganz Europa ins Spalier bringt, ist ein Ruhealtar für die sonnige Lebensmüdigkeit, ein Dekor für das Blumenmädchen aus Limelight, für ein nettes Liebesabenteuer, auf das die
Trinità dei Monti die beschwichtigende Frömmigkeit regnen ließe, das Abendläuten ihres ältlichen Angelus. Ecce ancilla Domini: In diesen Straßen, und hier mehr als anderswo, war mir, als atmete ich eine unverhoe und heitere Demut ein, die unverwechselbare Note Roms.
Die Anziehung, die die Piazza Navona auf fast alle Spaziergänger Roms ausübt, hängt in vielem mit der Stanzform zusammen, die ihr schönes Stadiumsoval mitten in die kompakte Masse von Gebäuden drückt, deren geschlängelte Gäßchen – wie die Risse in der erkaltenden Lava – den ursprünglichen Zusammenhalt mehr betonen als durchbrechen. Bei jedem öffentlichen Platz, der meistens aus der gewöhnlichen Erweiterung einer Kreuzung entsteht, verflüchtigt sich der an die Falle des jäh geschlossenen Raumes gebundene Zauber, wenn die architekturale Schönheit mit dem Zusammenstreben
der offenen Perspektiven spielen kann, fast immer in die ausstrahlenden Avenuen; Rom jedoch ist voll mit Plätzen oder Plätzchen, zu denen keine einzige größere Straße führt und auf die man irgendwie stößt, wie auf die innerste Kammer eines Labyrinths: nicht nur auf die Piazza Navona, sondern auch auf die Piazza del Campidoglio, die Piazza dei Cavalieri di Malta, den Platz der Fontana di Trevi. Der städtische Zauberbann ist für den einsamen Wanderer o an diese geschützten Hohlräume geknüp, deren überraschende Öffnung sich weniger als eine allgemeine, bequeme Gewohnheit erweist, sondern mehr als ein privater Gunsterweis: diese Piazza Navona – ich war genauso entzückt, auf sie zu stoßen, wenn ich sie nicht suchte, wie, wenn ich dort verabredet war, mich unterwegs zu verlaufen, als hätte ich mich in den Tälern der Wälder von Brocéliande herumgetrieben. Das erinnerte mich daran, daß früher, als Dr. Mabille – sein Erfinder – mich eines Abends bei sich zu Hause dem fest du village unterzog, das, was dem von mir gebauten Häu
sergewirr am meisten fehlte, die Eingänge waren.
Die Piazza Navona, noch einmal: eher eine Wanne für Massenbäder als eine Kreuzung, was angenehm von dem viel früher entstandenen Brauch bestätigt wird, sie in den Hundstagen zu überschwemmen. Die Spaziergänger sickern und strömen von überall herein und stauen sich wie ein Quellwasser im Loch einer Mergelgrube, dem gleichen Gesetz der Strömungslehre unterworfen, das den Platz des Kapitols leert – jeder auf seine Art schön, der eine ständig verlassen wie ein Platz von Chirico mit seinem bronzenen Ritter, der andere ständig von Menschen wimmelnd.
Die Greise mit wallenden Barten, Delphine, Tritonen, Najaden, Meer-Rosse, Seepferdchen, schnaubend, speiend, begießend und begossen,
bespritzt, benetzt, sie feiern auf den Plätzen Roms einen unverhoen aquatischen Sabbat, von dem die Photographien – denen die für das Wasser so entscheidenden Geräusche fehlen – nur eine schwache Ahnung vermitteln. Angesichts dieser Vergeudung von Quecksilber, dieser rauschenden Apotheose des tanzenden Wassers, könnte man meinen, daß die klassische französische Gartenkunst – selbst in Versailles (trotz der Grandes Eaux, die vom Alltag so abgeschnitten sind wie ein Feuerwerk) – einzig die machtsteigernde Wirkung wollte, die »Himmelspfützen«, die das Wasser nur zum Zweck des Spiegeins dazwischenschiebt. Die barocke Gestik vollendet sich wahrlich erst hier, wenn der fließende Fels, seinem Veits-Tanz in wilder Raserei überlassen, vor den Kirchen und Statuen die starre Bewegung des störrischen Steins übernimmt.
Vor einem Jahrhundert hatte der Tiber noch keine Quais. Die Zeichnungen der Romantik zeigen uns Häuser, die direkt im unverbauten Fluß stehen, wie ich es in Ornans in der Loue sah. Aber was Paris, das ebenfalls lange Zeit seine Place de Grève kannte, verschönert hat, hat Rom nichts genützt. Der enge Wasserlauf, der die Stadt durchquert und einen Mittelweg zwischen einem Küstenfluß und einem apenninischen Sturzbach wählt, provinzialisiert diese schmalen Quais, deren Platz zu »bemessen« war, während die Quais aus Quadersteinen ihrerseits die Dürigkeit einer Rinne betonen, die nur allzuo mit einer fiumara ohne Zugkra schlecht gefüllt ist. Es gibt in ganz Rom keine »Ansicht des Tiber«, die diesen Namen verdiente. * Der Tiber, der des Namens eines * »Das Schicksal des Tiber, der diese große Stadt benetzt und ihren Ruhm teilt, ist mehr als seltsam. Er fließt durch einen Winkel Roms, als gäbe es ihn gar nicht: Man geruht nicht, einen Blick darauf zu werfen, man spricht nie von ihm, man trinkt sein Wasser nicht, die Frauen bedienen sich seiner nicht zum Waschen; er stiehlt sich zwischen üblen Häusern hindurch, die ihn verstecken, und sieht zu, ins Meer zu stürzen, beschämt, daß er sich Tevere nennt.« (Chateaubriand: Lettre à Fontanes).
Stroms nicht würdig ist, ist nicht einmal ein Fluß: Er ist ein symbolischer »Talweg«, der für den Besucher tatsächlich nur noch die Flut der Geschichte kanalisiert und dessen flüssige Masse nicht mehr Wirklichkeit besitzt als jene des Rubikon.
Wie wenig farbig das römische Leben ist, läßt sich an der bloßen Tatsache ablesen, daß diese berühmteste Hauptstadt der Welt niemals zu einem jener zwanglosen bildstarken Spitznamen Anlaß gegeben hat wie Paname oder Piter, L. A. oder Frisco. Auch nicht – für den Dialekt, die Anzüglichkeiten, die Witze der kleinen Leute – zu Benennungen wie cockney oder parigot. Es scheint, daß der Erfindungsreichtum, die Spontaneität des Volkes seit Jahrhunderten von einer »Situation« der Stadt, die die Mittel ihrer Bewohner bei weitem übersteigt, im Zaum gehalten werden: erdrückende Situation, deren
sich jeder bewußt wäre und in der jeder tief drinnen steckte, bis zum letzten ihrer Lastträger. Zu Zeiten Stendhals, als er Rome, Naples et Florence schrieb, zuckte das entschieden provinzielle Publikum bei Opernabenden, die man auf den paar Bühnen der päpstlichen Hauptstadt gab, die Achseln, rümpe die Nase vor Schauspielen, die in Mailand oder Neapel beklatscht wurden, und erklärte sie nicht würdig di una Roma.
Amerikanische Touristen: Am Monte Mario oder im Hilton des Janikulus – den einstigen Patriziern in ihren Villen auf den Albaner Bergen über der Decke der aria cattiva gleich – leben sie im sterilen Gürtel ihrer Hotel-Ghettos wie die Engländer früher in ihren indischen Enklaven oder chinesischen Schonungen: gefilterte und klimatisierte Lu, Coca-Cola in Büchsen, von den Bakterien-Kulturen des mediterranen native durch einen unsichtbaren Schleier ge
trennt. Für sie beginnt der Orient zwei- oder dreitausend Kilometer früher als für uns: Sie sind für das Kolosseum oder die ermen Caracallas schon so ausgerüstet wie wir für Abu Simbel oder die Pyramiden.
Ich hätte noch gerne die Zeit gehabt, auf den Aventin zurückzukehren, dort ausgiebig zu schlendern, die Straßen einzeln zu erforschen, indem ich den magischen kleinen Platz von Piranesi als Ausgangspunkt genommen hätte, und das Tor der Malteser-Propstei mit dem sinnbildlichen Schloß in der Form eines Auges. Geheimnisvolles und grünes Viertel, luig, gänzlich still, Viertel, in dem es stets möglich scheint, daß einen durch die laubreichen Straßen ein unsichtbares Auge verfolgt, Viertel, das mehr als die andern den Zugang zu verbieten scheint. Ja, hinter den Mauern, die die Via di Santa Sabina begrenzen und die um den heiligen Alexius
wahrscheinlich Klostergärten verstecken, da hätte ich die Mysterien Roms gesucht, das von Natur aus (den Vatikan natürlich ausgenommen) nicht so viele hat, da alle seine edlen Eingeweide offenliegen, da es die einzige Stadt der Welt ist, die einem geöffneten Leichnam gleicht.
Wo immer man im Forum, das das frische Frühlingsgrün und die Schirmpinien in einen angenehmen schneckenartig gekrümmten, überraschenden und leicht verwahrlosten Steingarten verwandelten, auch ist, der Blick versäumt kaum, an der Rückwand des städtischen Baus an der Piazza del Campidoglio haen zu bleiben, der von seinem mageren dreistöckigen Campanile überragt wird. Es ist sichtlich die Dienerfront des Gebäudes, dessen Prachtfassade dem Platz von Michelangelo zugewandt ist: eine häßliche, ockerfarbene Mauer mit schlampigem Verputz, unregelmäßig und schlecht von engen Fenstern
durchbrochen, wo man sich wundert, daß keine Wäsche zum Trocknen aushängt. Nichts Seltsameres als die löchrige Klippe dieses Baus über dem Forum, der aussieht wie die Rückseite eines modernen Komplexes, den alle Bilder und Stiche vom Campo Vaccino seit Jahrhunderten um die Wette reproduzierten und der seinen Hintern mit gelassener Schamlosigkeit dem öffentlichen Platz weist, auf dem das Herz der gesitteten Welt schlug. Aber diese architektonische Dissonanz ist mehrdeutig wie so manche Kollision, die das Tohuwabohu der Jahrhunderte in dem endlosen Denkmal-Gedränge der Stadt organisiert hat. Ab und zu, wenn ich den Rücken dem Kolosseum zukehrte, störte mich der Blick, den das Forum auf die neapolitanische Nachlässigkeit der Rückseite des Campidoglio freigibt. Aber meistens freute ich mich, die unprätentiöse Silhouette dieses ältlichen städtischen Baus wiederzufinden, der über den berühmtesten Ruinen der Welt thront: Es gibt eine römische Gutmütigkeit, die nicht nur das Werk des Alltagslebens
ist, sondern aus dem direkten und zwanglosen Miteinander aller Epochen, aller Stile, aller Träume des Steins und aller Stadien der Baukunst entsteht. Das ungewöhnliche, architektonisch chaotische, römische Mischmasch scha damit einen Gegenpol zu dem frigiden, makellosen, homogenen, kohärenten und letztlich baudelairehaen Steintraum einer Hauptstadt wie Leningrad; aber das Leben verbündet sich mit diesem vierdimensionalen städtischen Gewimmel, in dem man das Jahrhundert nicht nur von Viertel zu Viertel, sondern manchmal von Stockwerk zu Stockwerk wechselt, wo die Kirchen ihr Nest in die Trümmer einer korinthischen Säulenhalle bauen, wo die Elendsquartiere auf dem Boden der Quinten schwanken und die Triumphbögen – bevor sie die Würde von Ruinen erreichten – den Zustand von Kastellen durchliefen.
Wenn man so durch die Straßen schlendert, zeigt der liturgische Pomp der Zeremonien von San Pietro häufig eine eindeutig orientalische Farbe, die überrascht und vom Stempel, den Byzanz Venedig aufgedrückt hat, weit entfernt ist. Die eines exotischeren, unverfälschteren und nicht christianisierten Orients, der in der Pyramide des Cestius durchscheint, in den zahlreichen Obelisken auf den Plätzen, in den Elephanten-Skulpturen der Brunnen, in den aufrechten Fliegenwedeln der flabelli, die einst den auf der sedia wandelnden Päpsten in Sankt Peter zufächelten. Als hätte das barocke Rom das geheimnisvolle, wimmelnde, furchterweckende Ägypten von Kleopatra und Antonius nachträglich wenigstens symbolisch an sich binden wollen, wozu das schon schwächer werdende Kaiserreich nie die Kra gehabt hatte. Desgleichen versinnlicht der Brunnen der Piazza Navona mit seinen Inbildern von Donau, Nil, Ganges und Rio de la Plata im Herzen der Stadt die harmlose chirurgische Magie des verspäteten – rein allegorisch gewordenen – Traums einer
Ökumene, die die vier Kontinente um sich schart. Urbi et orbi: Nirgends so wie in Rom vollendet die stolze Geste kosmischer Vereinnahmung – die die Kunst, die Symbolik und das Zeremoniell entwerfen – auf ideale, fast überzeugende Weise das, was der Widerstand der Fakten und Dinge nicht zur Erfüllung kommen ließ.
Wenn die ungebändigte Wagenflut das Kreuz des Fußgängers in Rom ist, so sind die Ausmaße der Stadt für ihn ganz und gar menschlich – und voller erholsamer Überraschungen: Alles ist näher, als man glaubt. Von der Villa Borghese aus, zu der ich mich vom Taxi bringen lasse und die der Stadtplan an den Rand eines fernen Bois de Boulogne geschoben hat, erwarte ich mir einen längeren ländlichen Fußmarsch: in knapp zwanzig Minuten bin ich zurück. Die Abwanderung des Pöbels auf den Aventin hat die Sohlen wohl kaum abgenutzt. Andererseits aber hält der
Raum für das Auge manchmal bizarre Verdrehungen bereit: Überdeckt mit niedrigen Ruinen, mit Lustgärten und wildem Ödland, erscheint der Palatin, wenn man dort spaziert, viel größer, als er wirklich ist – vielleicht weil er sich durch das Forum und den Circus Maximus die verbauten Viertel vom Leibe hält. Das ist – neben dem schon peripheren Pincio – der einzige Ort, an dem sich das Gefühl des durchlüeten Raums inmitten der Stadt einstellt, fast wie am Gellert-Berg in Budapest, auf den wir manchmal stiegen, Queffélec und ich, wenn die Sonne unterging. Das Relief der Stadt ist ebenfalls voll mit Fußangeln für die vorgewarnte Phantasie: Der von Viktor Emanuel wie ein Schutthaufen durch einen Lattenzaun weggezauberte Kapitolhügel, der Aventin, der Palatin – sie allein sind sichtbar, die vier anderen Hügel gleichen sich fürs Auge unter dem Panzer der Dächer und Ziegel ein und verraten sich nur durch die abfallenden Straßen.
Via Margutta – die Straße der Maler – im Schatten der Steilhänge, die den Pincio säumen. Beinah menschenleer, ließ sie mich mit ihren Ateliers, ihren im Dösen des Nachmittags weit geöffneten Scheunen-Läden nicht an den Montmartre oder den Montparnasse von Picasso oder Pascin denken, sondern eher – mit ihren Wirtschasgebäuden und Ställen – an die Hinterhöfe eines glanzlos gewordenen Faubourg St. Germain. Ein Fragment vom Rom um , vom Rom Puccinis und Crispis hat sich im Kernschatten der Klippe des Parks bewahrt; mir schien, daß alle Fiaker Roms auf diesem stillen Abstellgleis ihre Nachtremise hatten. In einem Roman von Moravia – La Noia – habe ich die Stimmung von Halbschlaf und leicht unterwürfiger Verwahrlosung wiedergefunden, die dieser Straße eigen ist, völlig überraschend, zwei Schritte von der Piazza di Spagna und der Piazza del Popolo entfernt. Sie paßt zur Heldin des Buchs, einer Außenseiterin von billigem und gewöhnlichem Stoff, der die Vorliebe
für das Schweigen und wortkarge Gespräche aber den Reiz des armseligen Mysteriums und sogar eine Art Würde leiht. Wahrscheinlich hätte ich diesem Roman wenig Wert beigemessen, dessen Hauptverdienst im durchgehaltenen sotto voce der Schreibweise besteht, wenn ich sein Viertel und seine Straße nicht gekannt hätte.
Auf einer Photographie der Treppen der Trinità dei Monti sehe ich das Schild des Restaurants Babington wieder, in das ich manchmal mit Ariel Denis, der von der nahegelegenen Villa Medici kam, essen ging. Kleine kulinarische Hochburg des stolzen Albion, die – ohne das mindeste Zugeständnis an die natives – ihre tearooms, ihre ham and eggs, ihre jellies, ihre gedünsteten vegetables mitten in Rom hißt und die, verankert in einem Winkel der Piazza di Spagna, genausowenig daran denkt, ihre Flagge ein
zuziehen, wie der Felsen von Gibraltar. Aber das Babington, wo ich das Lamm à la menthe und die sommerlichen Johannisbeer-Puddings der Pension von Mrs. Biggs wiederfand, war nur eine lagebedingte Annehmlichkeit für die mittäglichen Verabredungen: Die italienische Küche, einfach, leicht und trotz der Beschränktheit ihrer Grundstoffe reich an Abwechslung dank der subtilen und erfinderischen Prisen in der Würzung der Teigwaren, war niemals schwer und hielt mir zu jeder Tageszeit den Kopf frei und aufgeräumt: durchschaubare Küche, die die alltägliche Innenbeleuchtung gleichmäßig aufrechterhält und die mit ihren Leckerbissen den Übergang von einer Tageslage zur anderen nicht so deutlich skandiert und erschwert wie die französische Küche. Das Eau Vive, beim Pantheon, mit seinen Deckenfresken, seinen hinreißenden, farbigen, katechetinnenhaen Serviererinnen in diskret geschlitzten Röcken, seinen Menus, wo das Mene-ekel-Pheres der Bibel mit der exaltierten Sinnlichkeit der Gerichte abwechselte …
Tournedos Rossini Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Canard à l’orange Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! … verlieh, wenn ich dort speiste, diesem Zelebrieren der französischen Küche zwar nicht die Andacht des österlichen Mysteriums, dennoch aber einen Hauch von evangelischer Salbung, wo inmitten der Tafelfreuden noch eine leichte Erinnerung an die Brechung des Brotes mitschwang.
Das Bild des Vorhofes – begrast und nahezu intimistisch in San Giovanni in Laterano und San Paolo fuori le Mura; auf einen schrägen Sockel gebreitet rings um Santa Maria Maggiore; steil wie eine Maya-Pyramide vor der Trinità dei Monti – verliert in St. Peter seine Bedeutung, ein Zugang zum Gebäude selbst zu sein, und erlangt eine funktionelle Autonomie, die sich in der Verkündung jedes Neu-Erwählten von einem Fenster des Vatikans niederschlägt, ähnlich den Responsorien zwischen der Menge und dem Papst, der an hohen Festtagen im Mittelfenster der Fassade steht. Der wahre Stuhl Petri ist nach draußen gewendet, und nur noch wenige alte französische Kirchen erinnern daran. Und der Petersplatz gemahnt – obwohl er rein allegorisch und andeutend geworden ist, gleichzeitig feierlich und abgekühlt durch die große Erstarrung der Renaissance und der Gegenreformation, isoliert, eingeschlossen und von Säulen umstellt, gefangen in einem kodierten Dialog ohne Überraschungen – an die alte mystische Agora, wo man im Mittelalter vor
den Kirchen zum Kreuzzug aufrief. Was einmal zwischen dem geistlichen Oberhaupt und seinem Volk war, nämlich leidenschaliche Kommunikation, kollektive Trance, manchmal Aufruhr, ist zu einem förmlichen und harmlosen Ritual verkommen. Eine der Tristessen Roms, man muß es wiederholen, liegt in den großspurigen, aber erstarrten, auf halbem Wege innegehaltenen Gesten, zu denen die Liturgie und die Architektur überall wie im Traum oder in einer Erinnerung anheben, ohne sie je zu vollenden.
Die Kirche, allgegenwärtig in Rom – es gibt, heißt es, –, ist hier ein urbanes Motiv, das weniger scharf vom Siegel des Kultes geprägt und durch das ständige Aus und Ein viel freizügiger in das Straßenleben integriert ist als bei uns. Leergeräumt und eher zum Stehen als zum Sitzen hergerichtet, ist sie nicht die schattige, stille Sackgasse für das Gebet wie bei uns, sondern
eher ein luiger, manchmal sonniger Ort des Durchgangs, der Erholung, des Zusammentreffens, der den Weg des Städters mit geräumigen und stets verfügbaren Orgelpunkten skandiert, die dem Café den vulgärsten Teil der auf einen Tageslauf verteilten Ruhepausen überlassen. Genau das macht den – vollkommen »eingeborenen« – Charme des ersten Akts der Tosca aus. Die mystisch dominierten Altäre der Kunst mit einer stark sinnlichen, ja erotischen Farbe versehen wie in Santa Maria della Vittoria, geben einem in Rom den Eindruck – und zwar von den frigiden und steifen Mosaiken der alten Basiliken bis zu den barocken Boudoirs von Bernini und Borromini –, sich in der langsamen und unaualtsamen Bewegung einer Schwingflügeltür den Träumen des Alltags, die aus der Straße aufsteigen, und den wechselnden Launen des Begehrens und der Phantasie geöffnet zu haben. In Rom gibt es kaum einen merklichen Bruch im Übergang zwischen Straße oder Wohnung und Kirche, was der weltliche Strom der Touristen heute zwar betont, aber vor
ihm da war. Es scheint, als lebten hier ein mondänerer Klerus und eine geistlichere Weltlichkeit nach jahrhundertelanger wechselseitiger Prägung zusammen. Das Leben zeigt sich in den Straßen auf die theatralischste Weise, auf seiner religiösen und profanen Ebene, aber diese beiden Ebenen vertragen sich wahrlich gut, und ihre Verschiedenheit ist völlig undramatisch, so als bliebe manche vertrauliche Tür rund um die Uhr einen Spalt weit offen.
In Rom ist die Kirche begütert: Sie läßt noch an die Zeit denken, als der Tempel Saturns auch der Geldschrank des Staates war. Die Fassade manch einer Kirche unterscheidet sich – durch ihren Plan, ihre Kartusche, ihren Stand in der Reihe der Gebäude und durch ich weiß nicht welch offizielles Getue – weniger von der eines Prunkbaus – Museum, Archiv, Sparkasse –, als man denkt. Das wiederum ru in Erinnerung,
daß viele von ihnen Kardinalstitel sind und jede einem Mitglied des Heiligen Kollegiums anheimfiel in den langen Jahrhunderten, in denen das Papsttum Rom und Mittelitalien regiert hat. So ziehen sie viel Aufmerksamkeit von anderen kultischen Bauten – Museen, Verwaltungsgebäuden – auf sich und stellen sie fast vollständig in den Schatten: Es fehlt nur noch die Flagge vor dem Eingang. Ich habe Rom verlassen, ohne die leiseste Ahnung, wo sich die Ministerien wohl befinden könnten, der Regierungspalast und jenes geheimnisvolle Gebäude, das ich nur durch den Norpois der Recherche kenne: »Un cri d’alarme partit de Montecitorio.« An der Metropole des Katholizismus ist die Säkularisierung abgeglitten wie Wasser an den Federn einer Ente. Ganz wie man in einem östlichen Land nur dank der Aktivitäten, die das herrschende System nicht gutheißt, prosperiert, liegt hier eine Stadt vor, wo der Doppelaurag gang und gäbe ist, wo das Offizielle nicht nur mit Lächerlichkeit, sondern mit friedfertiger
und strahlender Nichtigkeit geschlagen wird, wo alles – bequem, natürlich und gutmütig – prinzipiell schwarz zu funktionieren scheint: nicht nur die lukrativen Tätigkeiten, auch die Geschichte, die Kunst, die Kultur, die Erinnerungen, das Volksleben … all das umgibt einem stillen Ozean gleich das einzige unpassende und auffällige Atoll, das das Risorgimento hier auftauchen ließ: das Denkmal für Viktor Emanuel.
Zu der Zeit, da Stendhal seine Promenades dans Rome ansiedelt, ist Chateaubriand dort Botschaer. Im ganzen Buch findet sich keine andere Anspielung an dieses Faktum als dessen erwähnte Absicht, ein Grabmal für Poussin errichten zu lassen, und einige sehr sachliche Zeilen über seine Aktivitäten bei den Kardinälen anläßlich des Konklaves von . Beide sind Verehrer der Stadt, aber ihre Rome – um wie Saint-Simon zu sprechen – vermischen sich in
keinem Punkt. Der Autor des Génie du Christianisme hat Augen fast nur für das monumentale Trümmerfeld der Heiden, das ihn an die endgültige Grablegung aller Größe denken läßt; der Freidenker – einmal mehr vom Empfinden seiner Zeit gelöst (er scheint sogar ein VorWinckelmann-Tourist zu sein) – läßt auf seinen Spaziergängen nicht eine Kirche aus, und schon gar keine barocke, wo der Liebhaber des Singspiels sich überall wie zu Hause fühlt.
Wie seltsam, die Idee eines Weltreiches im Namen einer Stadt einzuschließen – und sie seit fünfzehnhundert Jahren darin zu vergessen. Es gibt eine Atmosphäre von zerstreuter Erblosigkeit, die nur Rom eigen ist. Man spaziert in den Straßen, man ist von der maßlosen Aufstaffelung der Jahrhunderte gefesselt, vom Wuchern der bemerkenswerten Bauten, von der Anhäufung der Kunstwerke – während sich das vage
Gefühl einer Abwesenheit, eines zentralen Mangels breitmacht. Als ob man die Säle eines Palastes durchschritte, in dem der märchenhae Hausherr, durch irgendeine unverständliche Grille, sich verhehlen läßt und für niemand mehr zu sprechen ist. Sonderbare Stadt, die klammheimlich mit der Ordnung der Chroniken und Annalen aufgeräumt hat, um ernstha nur noch die apokalyptischen, tausendjährigen Zeitrechnungen eines Malachias, Joachim von Fiore und Nostradamus gelten zu lassen. Mit jenem hinterhältigen Ausdruck, den sie sich beim Träumen mit halboffenen Augen über Jahrhunderte hinweg bewahrt hat. Auf das Dritte Rom? … Doch schlä die Sibylla, und ihr Römergesicht Regt sich unter Konstantins Bogen noch nicht – Und nichts noch störte seine strenge Halle.
Ich lese nicht gern in einer öffentlichen Bibliothek. Ich betrachte die Bilder in den Museen nur, weil ich sie sonst nirgends sehen kann. Das Einschließen, das Einpferchen von Skulpturen (das Hand in Hand mit einer maßlosen »Wertsteigerung« geht) läßt am Ende unseres . Jahrhunderts einmal mehr an das große Wegschließen denken, von dem Michel Foucault bei einer anderen Gelegenheit gesprochen hat. Kaum habe ich ein feindseliges Wort über diese Stadt geschrieben, habe ich Lust, mir zu widersprechen. Die Abwesenheit beziehungsweise die relative Bedeutungslosigkeit der Museen in der Masse der dargebotenen Werke ist eine der Vergnüglichkeiten Roms. Fresken, Gräber, Mosaike, heilige Bilder, Brunnen, Statuen, Skulpturen-Gruppen, fast alles wird noch in situ präsentiert. Wenig auf einmal und hervorgehoben, durch Verlagerung gelüet, nicht immer leicht zu finden, die Öffnungszeiten und -zeremonien der Kirchen … und dazwischen die Entspannung, die das Zurück
tauchen in ein sonniges, fröhliches Alltagsleben immer wieder darstellt. Keine Übersättigung durch Kunst. Das Kunstwerk – vor allem das zweitrangige, und dieses herrscht vor – findet hier einen seiner sichersten und am meisten vergessenen Reize wieder: das Unerwartete seines Antreffens. Der Spaziergang in Rom (der Titel von Stendhals Führer, der voller Abschweifungen und Einschübe steckt, ist gut gewählt) hat etwas – und das ist sein Charme – mit den Zufallsgängen der Surrealisten zu tun, die in den Straßen »le vent de l’éventuel« nahmen. Unter der Bedingung, hier keine Lebenden zu suchen, wie sie es taten, wird man hier fast immer belohnt. Die Stadt ist das Museum – eine jener provinziellen Rumpelkammern, wo ein ägyptischer Sarkophag neben einem abstrakten Gemälde steht, aber ein Museum, das Milliardär wäre, ein Museum, wo man ißt, trinkt, schlä, raucht, Träumereien nachhängt, Siesta macht, Frauen nachsteigt, wo man seinen Regen
schirm nicht in der Garderobe abgibt und wo man sich sogar, wie früher eine Loge im eater, eine Wohnung kaufen kann.
Fern von Rom
Es hat kaum einen Sinn, die Reiseeindrücke eines Kunstfrömmlers von oder mit denen eines Touristen von zu vergleichen, weil es sich bei Rom nicht um die gleiche Stadt handelt. Das Rom von Goethe oder von Stendhal, Hauptort eines Rumpfstaates und kleinlaut verwaltete religiöse Kapitale, umgeben vom Krach einer schläfrigen Maschinerie, war eine entschieden unfunktionelle Stadt, wo weder das Gewerbe noch die Industrie, noch ein städtisches Leben Wurzeln gefaßt hatten. Mehr als eine Stadt war es eine Art urbaner Emulsion – eine wilde, berauschende Mischung –, die ein Viertel erhabener Ruinen, ein Viertel glänzenden Barocks, ein Viertel verschlafener Villas und Paläste und ein letztes Viertel zerfallender Elendsquartiere miteinander verquickte, die da und dort im Verlauf der vicoli von kleinen unre
gelmäßigen Lebensexplosionen erfaßt wurden, ähnlich den festlichen Musketenfeuern der mortaretti, von denen Stendhal spricht. Wie in den Randquartieren des heutigen Venedig düre von diesem campo santo, wo das Leben auf der Ruinenbrache – mit diesem leidenden, resignierten Aussehen, das der Trümmerflora eignet – nur schlecht gedieh, eine traumschwere, tiefsitzende Stille ausgeströmt sein. Das vereinigte Italien hat das empfindliche Gleichgewicht einer halblebendigen Stadt, die sowenig veranlagt war, Hauptstadt eines modernen Staates zu werden, wie es ein Huhn zum Schwimmen ist, mit Dynamit gesprengt. Als sich die italienische Regierung im Jahre nach Rom verlegte, rechnete sie – um ihre Angestellten provisorisch unterzubringen – mit vierzigtausend Zimmern: die Stadt bot fünundert. Das moderne Rom ist eine Notunterkun, die die Ruinen – bis dahin Quelle einer Stille, die der Stadt den Ton gab und die, vom Schwärm der Motoren abgeschirmt, nur noch in hermetischen, sterilen Enklaven besteht, in dem Sinn,
daß ihnen ein normaler Austausch mit dem lebendigen Gewebe der Stadt unmöglich ist – umkreist, eingekapselt und schließlich entzaubert hat. Was einmal wesentlicher Bestandteil der Landscha der sieben Hügel war – mit ihr durch das jahrhunderteweise Ausflicken, Abnutzen, Ausplündern, Wiederverwerten, Verkleiden der Ruine engstens verknüp, die respektlos behandelt wurde wie ein gewöhnliches Nutzmittel städtischer Geologie –, ist in Rom durch das eisige museale Verzeichnen ein sakralisiertes Ghetto geworden, jeglichen imaginären Glanzes durch dieses gespannte rote Seil beraubt, das in den historischen Stätten den »Wohnraum« eines illustren Verstorbenen abtrennt und das – dem Besucher und dem umhegten Inhalt leider auch – bedeutet: Berühren verboten. Die Stadt ist aber, trotz des Denkmals für Viktor Emanuel, dem Schlimmsten noch entkommen. Der papstfeindliche Zorn der Risorgimentisten gegen eine Hauptstadt von vorgestern, die ihnen völlig unbewohnbar übergeben wurde, hatte sie
angestiet, Richtung Chicago zu träumen und – unter anderen Projekten – eine Art von römischer Elevated zu imaginieren, die die Piazza di Spagna mit dem Kolosseum verbände, über den Trevibrurmen und die Quattro Fontäne hinweg. All das aufgußeisernen Säulen »derart gestaltet, daß sie einen unzweifelhaen Schmuck für die Stadt darstellen«.
Der erste Eindruck, den das Zentrum Roms auf einen ankommenden Besucher macht, unterscheidet sich kaum von dem, den er von jeder beliebigen lateineuropäischen Stadt mit Vergangenheit bewahrt. Ein Paris, in dem es höchstens mehr Cluny-Museen und Lutezia-Arenen gibt und das etwas auffälliger … Die gleichmachende Kra des begradigten Stroms von Konfektionsbauten, der die europäischen Städte seit der zweiten Häle des letzten Jahrhunderts erfaßt hat, bringt hier öer als man denkt urbane
Aspekte zum Vorschein, die an die MonceauEbene und das Europa-Viertel erinnern. Die vollkommene Fremdheit, die der Reisende – von Berichten genährt, die sämtlich vor verfaßt wurden (und die Venedig beim Ankommen voll und ganz bestätigt, ja sogar noch übertri) – unwillkürlich ahnt und vorwegnimmt, stellt sich nicht ein. Weder die Klingende Insel von Rabelais noch der klösterliche und frömmelnde, leicht modrige Pfuhl von Stendhal, noch das Mondlicht auf den Ruinen Chateaubriands, die ebenso unrentabel sind wie jene von Palmyra oder Persepolis. Der Besuch Roms ist niemals frei von dem launenhaen Spiel mit den Scheuklappen, von spontanen Abdeckungen, einer Einschränkung des Sichtfeldes, das jederzeit unliebsame und unerwünschte Details, o auch ganze Gruppierungen unterdrückt. Aber so wie die Jahrhunderte die Straßen ständig überqueren und verschränken, so gewinnt das Bild von Rom, wie ein Wein, der gut altert, bei der Ablagerung im Gedächtnis: Das chaotische und manchmal schockierende Durcheinander,
das sein Markenzeichen ist, fordert von selbst eine halb traumhae Neuordnung in der Erinnerung heraus, die schließlich zwingend wird. Das Andenken, das ich an Rom bewahre, pocht auf extreme Freiheiten mit dem Stadtplan, den ich ab und an zu Rate ziehe, und läßt sich von jenem gerissenen Ariadnefaden aus den Träumen führen, wo die Tür des vertrauten Zimmers, die man soeben hinter sich geschlossen hat, unvermutet – kaum daß man sich umdreht – auf einen Sturmangriff im Unterholz geht oder einen von Krokodilen wimmelnden Flußarm. Für mich bleibt die Stadt von nackten und mondkahlen Räumen zerrissen, in denen sich die Ruinenfelder mit den wahnsinnigsten Pflanzen versammeln, die sie nach und nach eingekreist hat; eine heimtückisch-zerstörerische Ödnis unterwandert die Stadt, die mehr Brandschatzungen gekannt hat als jede andere. Der chronische Unterschied, der seit fünfzehnhundert Jahren nie ausgeglichen wurde und die Stadt zwischen dem, was sie ist, und dem, was sie bedeutet, schwanken läßt, poetisiert sie für mich, jetzt
durch ihre – nicht mehr historische, sondern kartographische – Untauglichkeit zu sein: lükkenha, mit beunruhigenden, noch nie geschauten Lichtungen versehen, die im Traum hellwach ich weiß nicht welche außerzeitlichen Science-fiction-Landungen zu erwarten scheinen.
Ich habe gestern und heute an Rom gedacht, jetzt wo ein Jahr seit meiner Reise vergangen ist und die Eindrücke sich gesetzt haben. Was letztlich überwiegt, ist der Eindruck von Abgeschlossenheit. Stadt, reich an Schätzen, gewiß; aber kein Seewind, keine Schneise im Horizont belebt oder erregt sie. Unentwegt ärgert sich die Erinnerung über die kleinliche Banalität der Platanenquais, die einen anämischen Wadi säumen, Quais, die mich so sehr enttäuscht haben und die eigentlich in eine Kleinstadt der Cevennen gehören, die ausgetrocknet und verstohlen
auf den schlammigen Ansturm des Hochwassers lauert. Das Meer, das so nah ist, scheint hundert Meilen entfernt; die Seine, vom Pont de Sevres am Fuß der Hügel von St. Cloud betrachtet, spricht unendlich mehr von sich als der Tiber am Fuß des Aventin. Nicht ein würdevoller Hang des Schicksals zeigt sich in der größelosen Landscha dieser Hauptstadt, die seit zwanzig Jahrhunderten hartnäckig von einem bettelnden Lazzaronitum bevölkert ist, gefangen in seinen Gassen, Plätzen, Kirchlein, seinen kleinlichen Vergnügungen, Schmuggeleien, Frömmeleien. Ein durch und durch ländlicher Flecken, der infolge einer märchenhaen Spende zum Multimilliardär wurde, bleibt im Hintergrund der buntscheckigen, zusammenhanglosen Erinnerung an die Stadt bestehen. Der Mangel an Begeisterung rührt von meinem kaum überwindbaren Vorurteil her, daß die geographischen Gegebenheiten viel vornehmer, viel beredter für die Phantasie sind als die von einem dickköpfigen geschichtlichen Willen gebündelten Krazentren: Paris, New York
oder Konstantinopel mehr als Rom, Leningrad oder Berlin.
Turin und Mailand gehören durch die Architektur ihrer Häuser, ihrer Paläste und öffentlichen Gebäude, die Po-Ebene durch ihre Landschaften zu Mitteleuropa und bleiben der Halbinsel gegenüber genauso fremd wie es das cisalpine Gallien, auf das der Name Italien nie übergegriffen hat, für die Römer der Antike war. Wieder einmal bewahrheitet sich Toynbees Regel: Die Zivilisation hat vom Zentrum her ausgestrahlt, doch die moderne nationalstaatliche Einigung wurde ihrerseits durch eine ehemalige Grenzmark erzwungen, das Piemont, wie es Preußen im Falle Deutschlands gemacht hat. Das Haus, das sich in der Breite zusammenzieht und in der Höhe steigt (und das aus dem »gebauten« Korsika einen Ableger Mittelitaliens
macht), das Vorherrschen von Ocker und Rot erscheinen erst auf der Halbinsel, zur gleichen Zeit wie die Kleinstadt als Knäuel aus einem feinnervigen Netz von Laufgräben: kompakte physische Intimität und Sicherheit der geschlossenen Faust, wozu in Italien der unscheinbarste Flecken tendiert. Was stark zu diesem buntscheckigen Aussehen Roms beiträgt, ist, daß diese Struktur der keimenden Wabe hier nur im Zustand des Überrests erscheint, um die Piazza Navona zum Beispiel, oder in den alten Arbeiterbezirken von Trastevere. Hier fehlt jede Spur eines gewaltsam-tyrannischen Lebens, bedingungslos wie das der griechischen Städte, die die Stadtstaaten Mittelitaliens so nachhaltig geprägt haben: Pisa, Siena, Pistoia oder Florenz. Das Herz der Stadt ist ein Kunstherz, von Anbeginn außerhalb der Siedlung eingepflanzt: Weder der Lateran noch die alte »leonische Stadt«, noch der Vatikan haben Rom je in ihrem Schatten wachsen sehen; sie sind – wie die chinesischen Konzessionen (ähnlich ist heute das Statut des Vatikan-Staates) – neben der gewachsenen
Stadt erbaut. Von daher in Rom der Eindruck einer gemilderten Italianità, die mit der strikt städtischen Blüte von Florenz so wenig zu tun hat wie mit der großköpfigen Hauptstadt oder der schönen Vitrine einer lausigen Monarchie, die Neapel immer war. Es ist die Verquickung der Palmen mit den Wohnbauten des TerneViertels – sobald ich die Ruinen, die Kirchen und Kunst-Ansichten aus meiner Erinnerung entferne –, die das Stadtbild, das ich behalte, unvermittelt bestimmt: parteiisches Bild, das durch die Enttäuschung von einem Rom, das weniger fremd war als erwartet, noch radikalisiert wird. In Wirklichkeit geht eine moderne Stadt, die einen rein sagenha gewordenen Namen wie ROM abdecken soll, eine Wette ein, die sie nicht halten kann. Nichts kann verhindern, daß beim Klang eines legendären Namens in der Phantasie eine so maßlose, so irrsinnige architektonische Erscheinung auaucht wie der Palast von Kublai Khan, genauso vollendet und aus einem Block gehauen wie jene, die sich beim Namen Babylon einstellt. Und man hat nur eine
schöne Hauptstadt des . Jahrhunderts vor sich – warm, sonnig, angenehm zu besuchen und zu bewohnen –, mit ebensoviel berühmten Bildern in den einzelnen Kirchen, wie es Bettwäsche in den Schränken der Schlafzimmer gibt, und reinlichen Ruinen-Ecken, die mit dem Autobus in fünf Minuten zu erreichen sind. Der einzige Punkt, an dem man sich im Peträischen Arabien wähnt, ist vor den ermen des Caracalla.
Es ist nicht so sehr das hohe Alter Roms, das uns fasziniert, auch nicht seine über dreitausend Jahre hinweg und allen Zeitläufen zum Trotz gehaltene Stellung als Hauptstadt, die so oder so die bekannte Welt regierte, es ist auch, wenn nicht noch mehr, ein zyklisches Phänomen wie Ebbe und Flut, das hier die städtische Substanz direkt angrei, ohne ihre Funktion zu ändern, und das die Führung des Kaiserreichs oder des
Katholizismus bald dem Chicago der Spätantike, das einen Teppich von Sozialwohnungen legt und von den Behörden zum Wahnsinn getrieben wird, bald einer wüstenähnlichen Anordnung tibetanischer Lamaklöster und bald einem gebleichten Stadtskelett überläßt, welches – vom eigenen Umland zerfressen und zurückerobert – in einem altmodischen urbanen Koma zu dämmern scheint und nur noch von ein paar Ziegenschellen, Klosterglocken und jenem näselnden Quieken der pifferari belebt ist. Es ist nicht eine jener Heiligen Städte wie Lhasa, Mekka oder Benares, bei denen die Dauer im Grundstein liegt, es ist nicht der Mittelpunkt eines politischen Raumes, in dem sich, einem Spiel der Schwerkra gehorchend, die Macht von selbst niederläßt, wie in Moskau. Es ist eher eine Art außerzeitlicher Schonung, die kra des anhaltenden historischen Konsens der Nationen mit der – erträumten oder erlebten – Stellvertretung der Weltherrscha betraut ist. Weniger eine Stadt als ein zerstiebtes kaiserliches Mandat, abgeschnitten von jeglichem realen
Reich, das gleichzeitig die finale politische Eitelkeit und die unerschöpfliche Suggestionskra der Universalmacht atmen läßt. Tu regere imperio populos, Romane, memento Hae tibi emnt artes … Aus eben diesem allgegenwärtigen Kontrast zwischen dem Dauerphantasma der Allmacht und der provinziellen, unbedeutenden, gehaltlosen Dürigkeit des römischen Lebens, erwächst das Unbehagen, das den Spaziergänger manchmal in den Straßen befällt, deren reges Treiben dem einer anderen Stadt übrigens in nichts nachsteht. Der genius loci, der inmitten der sonnigen Ruinen so klar und deutlich zu Goethe und zu Chateaubriand sprach, scheint dem modernen Besucher unschön vorzuquasseln zwischen den Monumentreliquien, die nach und nach von jeglicher Sprache abgeschnitten sind: durch die Entlatinisierung der Kultur, das Überhandnehmen der Dienststellen eines Staates von mittlerer Größe und die Hotel
ketten, die Raststätten, die tour-operators und die Busse eines modernen amerikanisierten Tourismus. Denn die Präsenz Amerikas schien mir – zu Recht oder zu Unrecht – viel heiger in Rom als in Venedig oder Florenz, viel ansteckender, so daß sie das Auge des europäischen Touristen desensibilisieren und die Ruinen für ihn mehr oder weniger in Azteken-Ruinen verwandeln. Um den jahrhundertealten Zauber zu erwecken, den ein klassischer Humanist in sich verspürte, sobald er den Ponte Molle überschritt, braucht es heutzutage ein wenig künstliches Fieber.
Nach den Gewalttaten der Italienischen Kriege, den Unwettern der Reformation, dem Sacco von , den staubigen und lärmigen Baustellen der Renaissance, die Rom für einen Moment wie das Zweite Kaiserreich erscheinen lassen mußten, beschwört uns das . Jahrhundert den Martini-Sommer dieser Stadt herauf, eine leuchtende, abgeschiedene, in sich gesammelte
und besinnliche Nachsaison. Der Titanismus der Schöpfer der Renaissance ist erloschen; man spricht nicht mehr von den Italienischen Kriegen. Rom ist von der großen Weltbühne abgetreten. Winckelmann ist noch nicht geboren, das Zurück zu den Ruinen, die rituellen Hingebungen der Kunstfrömmlerzüge bleiben dem nachfolgenden Jahrhundert vorbehalten. Man geht nach Rom, und man bleibt, nur weil man sich dort wohlfühlt, ohne historische Betrachtungen über den Niedergang der Reiche, ohne Meditation im Kolosseum, ohne die geringste Verneigung vor der Kultur. Das ist die Stunde der Landschasmaler – eine ausnehmend sympathische Spezies –, die für mich wie die edlen Wilden Roms sind. Sie bewohnen es wie Dunoyer de Segonzac dazumal Saint-Tropez bewohnte oder Gauguin Pont-Aven: wie eine kleine folkloristische Stadt, ruhig und nicht teuer, mit ein paar hübschen Winkeln zum Malen. Poussin verliert in seinen Briefen nicht ein Wort über die Stadt, Claude Gellée ist prächtig ungebildet. Das war noch die – gesegnete – Epo
che, wo die Städte keine Vororte hatten. Poussin und Claude Gellée hatten beide ihre schmucklose Unterkun nahe bei Trinità dei Monti. Fast täglich konnte man Poussin in Roms Umgebung treffen, dort wo heute das Val Pussino ist, eine Zeichenmappe unterm Arm, eine Flinte in der Hand, gleichzeitig den Notwendigkeiten seiner Kunst und seiner bescheidenen Tafel gehorchend. Goethe, Chateaubriand und Stendhal kommen später und werden eine Stadt, die noch keinen standing halten muß, an ihre ästhetischen, poetischen und historischen Pflichten erinnern. Wie sehr ich in Gedanken dieses Zwischenjahrhundert liebe, wo sich kein Reisender angehalten fühlt, über Rom zu schreiben, wo noch niemand daran denkt, den Campo Vaccino zu jäten, wo Caravaggio eine Venus, die man ihm – soeben ausgegraben – gebracht hat, stehenläßt, um eine Zigeunerin auf der Straße zu skizzieren, wo diese kleine zauberhae Stadt voller Schlendrian und Überraschungen ganz vom Land, ganz von Parks, Kalkbrennereien, Kaninchenställen und Mülldeponien durch
drungen ist, wo sie allem diesem unmittelbaren Leben ausgesetzt ist, das ihr heute so fehlt!
Ich habe soeben ein Werk über die Franzosen in Rom zu Ende gelesen. Ihre Reaktion beim ersten Kontakt mit der Ewigen Stadt ist durch die ganzen Jahrhunderte hindurch unendlich vertrackter als die der Angelsachsen und der Germanen. Für die Menschen des Nordens bleibt Rom vor allem das Symbol der Sonne, des warmen Lichts, der Lebensfreude, der Sprengung des puritanischen oder pietistischen Halseisens und Korsetts durch die freie katholische Sinnlichkeit. Die Verhaltensweise der Italiener ist ihnen fremd genug, um sie einschränkungslos zu begeistern. Der Franzose, der gelegentlich gestikuliert, seine Sprache zum Betäuben und Verführen benützt und den Frauen ein eater ganz wie ein alteingesessener Italiener vorspielt, sieht in diesem eineinhalb Franzosen und beobachtet nicht ohne Hintergedanken einen Artverwand
ten, dessen Ungezwungenheit sich ganz einfach jeder Überwachung entzieht. Das große kostümierte eater des barocken Katholizismus ist weit davon entfernt, eine vollständige Neuheit für ihn darzustellen. Das Licht scheint ihm weniger blendend, der Weg der Hand zu den sinnlichen Früchten, die sie im Lauf eines Tages pflückt, auf unmagischere Weise verkürzt. Er ist selten schon beim ersten Kontakt hingerissen: Nur wenige Franzosen sind Römer geworden ohne einen langen Gewöhnungsprozeß. Montaigne braucht Monate, Mme. de Staël, die sich in Rom zunächst langweilt, liebt mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen. Die Feindseligkeit Du Bellays bleibt ungebrochen, und der Stendhal von Rome, Naples et Florence spricht vor allem auf die provinzielle Abgeschiedenheit an, die Verschlossenheit des römischen Lebens; nur Chateaubriand, dessen Sensibilität gänzlich rückwärtsgewandt ist, fühlt sich auf Anhieb eingenommen.
Ich kann Stendhal in seiner Begeisterung für das bei Marengo »befreite« und von den Präfekten des Korsen wiederhergestellte Italien nicht folgen. Es ist viel mehr das Italien des . Jahrhunderts, politisch und sozial senil und dennoch durch den bloßen Kult der bildenden Künste und der Musik auflebend, das meine Phantasie in Gang setzt. So wie ich es vor langer Zeit in einem Sammelband der historischen Reihe bei Fayard entdeckte: Venise au XVIIIe siècle; und so wie ich es in einem bereits veralteten Werk von Louis Hautecœur wiederfinde: Rome et la renaissance de l’antiquité à la fin du XVIIIe siècle. Die sehr gemilderte eokratie, die in Mittelitalien mit all den antiquitätensammelnden Päpsten und Kardinalen herrschte, hat dem gesellschalichen Leben – trotz seiner Laster – eine Lieblichkeit, eine Gutartigkeit vermittelt, die die Regierungsformen, wo der Herrscher das Schwert an der Hüe trug, sich nicht erlauben konnten. Unter dem Vorwand der schönen Altertümer regte sich das subtil erotisierte Heidentum wieder, wie zur Zeit der Renaissance
(die Rauheit der politischen Sitten abgerechnet) hinter dem liturgischen Pomp, dem die Dekoration der barocken Kirchen den diskreten Beigeschmack einer galanten Postkarte gab. Auf seiner sedia gestatoria, die Menge mit der rechten Hand segnend, hob Pius . mit der linken sichtlich den Schoß seiner Soutane, um den Gläubigen von seiner wohlgeformten Wade ja nichts entgehen zu lassen.
Warum habe ich dieses überschwenglich gerühmte Land, dessen Dichte an Kunstwerken unvergleichlich größer ist als in jedem anderen, nie wirklich geliebt? Da mir der Vesterbötten, wo ich drei Tage verbrachte, noch nach fünfzehn Jahren so nahe ist; da ich doch gleich welchen verschollenen Teil der Highlands oder des Connemara nur mit Wehmut verlassen würde, wenn ich ihn besuchte? Ich atme schlecht in Italien (außer in Venedig, wo alles vom Meer
kommt, dahin fließt oder dahin zurückkehrt), eingesperrt in diese vermauerten Städte, die kommunalen Wohnställe, wo sich alles vor Ort vermehrt, zusammenpfercht und aufeinanderlegt, dahinvegetiert und sich an den Resten der eigenen Verdauung hochzieht. Die Richtung des Wachstums ist hier ausschließlich vertikal, aber die Wolkenkratzer sind unter der Erde, wo jedes Jahrhundert sie weiter in den beweglichen Tuff bohrt und auf die tiefe Ruine nur baut, um einen schmalen Streifen Tageslicht zu erhäschen, nach dem Muster eines Korallenriffs. Alles ist gemacht, um einen vor der Meerlu und dem Gefühl der Grenzenlosigkeit zu schützen: Hier ist eine Zivilisation entstanden, für die der freie Raum ohne Wert ist: nichts als ein Restmaterial, das den architektonischen Räumen ihr Spiel ermöglicht.
Jetzt da die Eindrücke, die ich in Rom erhielt, ein wenig ihre Kanten verlieren, da die Ruinen, der Vatikan und die anderen Kunstgehege sich in ein geschlossenes Abteil der Erinnerung schieben, gleicht das Andenken, das ich von den Cafes, den Passanten, den Quais, den Plätzen, den Taxis, den Zeitungskiosken, der Lu und der Bewegung in den Straßen bewahre, nahezu dem einer französischen Stadt. Die Klänge vor allem, das Grundgeräusch der Straßen sind sich seltsam ähnlich: weder das wütende Kastagnettenstaccato der kastilischen Sprechweise, zerhackt vom kehligen para hoy des blinden Kartenverkäufers, noch das aufgeweichte farblose Französisch, das das Ohr in den Straßen von Brüssel oder Lausanne verstimmt, noch die einschläfernde Langsamkeit des Verkehrs in London, sondern die gleiche Art zu gehen, zu flanieren, sich eine Zeitung zu kaufen, ein Café zu betreten, eine Frau anzusprechen, die gleichen Arbeitszeiten, das gleiche tempo, der gleiche Tagesrhythmus. Die Landschaen, die Bilder, die Denkmäler, die Ruinen gleiten vor den Augen
der Erinnerung vorüber wie auf einer DioramaLeinwand; ein alltäglicher Grund bleibt bestehen, der mir schon vertraut war: Ich fühlte mich in dieser fabelhaen show von Rom nicht einen Augenblick fremder als ein Pariser von in der Weltausstellung.
Um mich zeitweilig restlos hinzureißen, fehlt es Rom an dieser monumentalen Bündelung, die die Phantasie um eine einzige und große Erinnerung zentriert und einen Zeitpunkt plötzlich zum Glühen bringt, an einem auserwählten Jahrhundert: das . in Florenz, das . in Venedig, das . in Del. Rom ist ein work in progress, ein prächtiger Trödelladen mit urbanem Gerumpel im Zustand der Montage oder Weiterverwertung; nur betreibt diese rumorende Baustelle vor allem die vernichtende Arbeit der Zeit. Oder vielmehr: Man hat den gezeitenhaen Wechsel von Bauen und Zerstören, der der in
time Puls jeder Stadt ist, den man aber nie lebha zu greifen bekommt, hier vor Augen und in Händen bis zur Besinnungslosigkeit, denn scheinbar blieb bei jedem Denkmal, das man aus dem Boden stampe, ein Rest von dem, das es ersetzt, bestehen: Die Stadt gleicht einem vollgestopen Kauaus, das die unverkaue Ware niemals aussortiert, sondern sie nur ein wenig beiseite schiebt, um Platz für neue Lieferungen zu machen. Prachtvolle Aneinanderreihung in Raum und Zeit, aber reine Aneinanderreihung, die keine zusammenfassende Wirkung erzielt, wie etwa in Florenz, wo es nicht eine Mauer gibt, die die Seele der Stadt nicht wie ein Hohlspiegel bündelte und reflektierte. Das Gefühl einer seltsam statischen Melancholie, das Rom vermittelt, ist jenes, das man angesichts der unablässigen und nichtigen Bewegung einer Sanduhr empfindet, deren Inhalt nicht auört, das Stockwerk zu wechseln, und sich doch ständig gleichbleibt. Jedes einzelne Denkmal, das mit seinen Vorgängern und Nachfolgern konfrontiert ist, verliert dabei von seiner einzigarti
gen Essenz wie ein Name, der in einen Stammbaum eingetragen wird: Dadurch sprach die Ewige Stadt – weniger ewige Stadt als vielmehr ein angehaltener Monumentalfilm, der voll und ganz der unwiderstehlichen Suggestion des Davor-Danach ausgesetzt ist – derart heig die Phantasie Chateaubriands an, der stets fasziniert war von dem, was die Gegenwart ins Gespenstische auflöst. Deshalb bleiben die paar Schlummer-Perioden mitten im Drehwurm von Auau und Zerstörung für mich anziehender als die anderen; das Rom Stendhals und der Tosca, voller Ziegenherden, wo das Gras in den Straßen wächst, oder, kurz davor, dasjenige Winckelmanns, das in der Friedhofsstille die Erde aufzuhacken beginnt, soeben vom traurigen Fieber der Exhumierung befallen. O sehe ich in Gedanken die Piazza dei Cavalieri di Malta auf dem Aventin wieder, seltsame kleine rechteckige Sackgasse, von niedrigen Mauern gesäumt, über die sich die Zypressen recken, Mauern, die denen eines
campo santo gleichen, aber stellenweise von Flachreliefs mit gräberhaer und militärischer Wirkung überragt sind, als hätte eine römische Legion hier ihre Schilder und Trophäen für irgendeine Gedenkfeier aufgereiht. In der Mitte einer der Längsseiten des Rechtecks öffnet sich das Tor zur Propstei der Malteser; da es für einen jeden Touristen zur Tradition gehört, sein Auge vors Schloß zu halten, dessen Loch haargenau die Kuppel von Sankt Peter ausschnitt, hat man dieses Schloß durch ein Metallvisier ersetzt, das den Blick wie ein Medaillon rahmt. Als ich über den kleinen Platz ging – oder vielmehr in ihn mündete, bevor ich kehrtmachte, denn er hat keinen Ausgang –, waren da zwei oder drei Wurf- oder Boules-Spieler. Diese kleine, abgedichtete und leere monumentale camera oscura mit ihrem auf die ferne Schneise im Laubwerk gerichteten Objektiv (wie der Stuhl des Bischofs im Goldkäfer) ist für mich der Ort einer Verzauberung geblieben: Der Name Piranesis, der ihn entworfen hat, scha hier nicht eben Sicherheit; plötzlich spürt man, daß man nicht
nur die Stadt der Cäsaren und Päpste um sich hat, sondern auch die der sibyllinischen Bücher, der Riten von Geheimbünden, der jettature und des bösen Blicks, und daß ihr Leben vielleicht auf einer kryptischen Geometrie beruht, die ebenso berüchtigt ist wie die der Pyramiden.
Man bewohnt nur das Haus wirklich, das man selber baut, man lebt nur dauerha in dem, was in Übereinstimmung mit der »geprägten Form« gewachsen ist. Kein Volk, keine Klasse vermag längerfristig die leeren, vom Vorgänger oder Feind geräumten Muscheln zu kolonisieren: Die Zivilisation der Einsiedlerkrebse ist ohne Zukun. Selbst die Infanterie von , vorgewarnt durch einen unverwechselbaren Geruch, vermied es, in die eroberten Schützengräben der Deutschen einzuziehen.
Als das römische Reich stürzte, gab es während der Okkupation der Goten und danach ein paar Versuche, die Denkmäler der Hauptstadt zu reparieren, die noch fast intakt waren; eine Zeitlang blieb sogar die kaiserliche Residenz auf dem Palatin bewohnt. Dann fegte eine allgemeine Abwehrhaltung sämtliche Versuche sich einzurichten, hinweg; alles zerbröckelte und trat langsam in den Boden zurück: Rom war zu einem Steinbruch geworden, die Säulen wurden für die Kirchen verwendet, der Marmor von den Kalkbrennern (einer der größten Züne der mittelalterlichen Stadt). Die wirklich unzerstörbaren Massen, die übrigblieben, wurden einfach wie eine Gegebenheit des Bodens behandelt, aus der man einen Vorteil der Verteidigung zu ziehen suchte: Das Kolosseum, das Grab Hadrians, das eater des Marcellus, das Mausoleum des Augustus wurden zu Bergfrieden umgewandelt, mehr noch: Feudale zinnenbewehrte Türme erhoben sich eine Zeitlang auf den Triumphbögen von Titus und Konstantin.
Mir scheint nicht, daß Spengler in seinem Untergang des Abendlandes einer tiefreichenden Unverträglichkeit im Bereich des Wohnens die Bedeutung beimißt, die sie verdient und die doch seine ese so sehr stützt: Als würde das Werk einer Zivilisation – nicht nur in ihren »kulturellen« Errungenschaen, die sich schwerer übertragen lassen, sondern gar in den rein zweckhaen Leistungen, die für den Hausverstand vollkommen transparent sind – undurchsichtig, unverständlich und für den Nachgeborenen unbenutzbar, dessen frisches Auge aus all den Aquädukten, Brücken, Toren, Straßen, Türmen, Tempeln und Palästen plötzlich eine Landscha macht, eine einfache Landscha. So verhielt es sich fast seit jeher, bis zum Ende dieses zwanzigsten Jahrhunderts. Aber heute? Das Haus des Menschen, des Häuptlings oder des Gottes ist nicht mehr ein maßgeschneidertes steinernes Kleid, das der Eigenart der Materialien, Sitten, Bräuche und Arbeitsweisen folgt; nun wo das Zeitalter der Konfektionswohnungen
angebrochen ist, beginnt die Entfremdung, von der die Epoche bis zum Erbrechen quasselt, in den fünf Erdteilen mit der gewaltsamen Einpferchung des Menschenbestandes ins Innere seiner vorgefertigten Stallungen. Alle Arten von Mißbildungen, Geschwüren, rätselhaen Krankheiten – vom Zerfall der Familie bis zur Bildung von Kinderbanden – entstehen aus dieser brandigen, schwärenden Reibung der menschlichen Rasse an den Rauheiten einer Muschel, die sie zum ersten Mal nicht abgesondert hat. Nicht gewählt und nicht zerstörbar. Wenn der Mensch aus einer glücklichen Fügung heraus eines Tages dahin käme, seine Fertigzellen aus Zement abzulehnen, dann hat die verwachsene städtische Schichtung, die dicke Halde zerbrochener Muscheln, die eine Stadt wie Rom darstellt, wenig Chancen, sich zu erneuern. Die Beton-Ruinen, ebensoschwer zu vernichten wie zu bewohnen, werden sich kaum zur Renovierung eignen: Man wird eher nebenan bauen, wie es das britische Viertel abseits der Hindu
Stadt machte. Und vielleicht wird man durch Jahrhunderte wahrliche Kadaver-Städte sehen – noch scheußlicher, weil sie stehend altern –, die sogar die Brombeere und die Brennessel von ihren zementierten Fundamenten abstoßen und im Angesicht des Himmels ihre rostigen Eiseninnereien ausbreiten.
»Rom ist ein work in progress, ein prächtiger Trödelladen mit urbanem Gerümpel im Zustand der Montage oder Weiterverwertung; nur betreibt diese rumorende Baustelle vor allem die vernichtende Arbeit der Zeit. Oder vielmehr, man hat den gezeitenhaen Wechsel von Bauen und Zerstören … hier vor Augen, denn scheinbar blieb bei jedem Denkmal, das man aus dem Boden stampe, ein Rest von dem, das es ersetzt, bestehen.«
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