MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 121
Riskante Geschäfte von Ronald M. Hahn
Ende August, 2520 In der finsteren...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 121
Riskante Geschäfte von Ronald M. Hahn
Ende August, 2520 In der finsteren Gasse vor dem Haus mit den verhängten Fenstern hockten drei abgerissene Gestalten um ein Feuer herum. Sie hatten fette Beute gemacht und brieten einige Ratzen an eisernen Spießen. McNeil nahm an, dass die Männer – falls es welche waren – zum Abschaum der Oberstadt gehörten. Auch hier, in der Stadt am Öresund, in der es an Arbeit nicht mangelte, lebte ein gewisser Prozentsatz lieber vom Handaufhalten, statt für sein Auskommen selbst zu sorgen. Da die Tagediebe nur selten etwas aßen, setzten sie das, was man ihnen zukommen ließ, in Feuerwasser um. Denn Ratzen gab es hier reichlich, und manche waren aufgrund ihrer Fettleibigkeit so unbeweglich, dass man sie mit einem Knüppel erschlagen konnte.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa’muren, mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa’muren. Besser informiert ist ein Mann, den sie in ihrer Gewalt haben: Professor Dr. Smythe. Er kennt ihre Herkunft, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Eines ihrer Hauptziele ist Matthew Drax, den sie als Primärfeind betrachten. Sie infizieren Menschen mit einem Virus und machen sie gefügig, so auch den Neo-Barbaren Rulfan. Er macht es möglich, dass die Daa’murin Aunaara in Gestalt einer Barbarin an einer Expedition teilnimmt. Doch
bevor sie zuschlagen kann, wird sie enttarnt und flieht. In Meeraka stirbt Präsident Victor Hymes beim Angriff eines Stoßtrupps, den Miki Takeo geschickt hat. Doch er fällt nicht den Androiden zum Opfer, sondern General Crow, der seinen Posten übernimmt und einen Rückschlag gegen Takeo führt. Dabei fällt mächtige Technik in die Hände des Weltrats... Die Explosion einer japanischen Rakete offenbart den Daa’muren einen überraschenden Effekt: Der Antrieb ihrer Kometen-Raumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert! Um das »Projekt Daa’mur« zu verwirklichen, beginnen sie Sprengsätze auf der Basis Nuklearer Isomere aus alten Waffenlagern, AKWs und Bunkern einzusammeln. Nach Auraaras Versagen soll nun der Daa’mure Grao’lun’kaan Matt töten. Er übernimmt Gehirn und Wissen eines russischen Robot-Menschen, des Encephalorobotowitschs Dr. Nikati Rostow und stellt Mefju’drex eine Falle – doch er scheitert. Matts EWAT jedoch wird zerstört und der Navigator Steve Bolton kommt ums Leben. Auf dem Rückweg nach London macht Matt Station in Berlin. Dort versucht Aunaara nun in die nächste Nähe von Jenny Jensen und Matts Tochter Ann zu gelangen. Doch Arnau, ein junger Agent des Königs von Gödenboorg, stößt sie von einer Hochhaus-Ruine. Was niemand ahnt: Arnau ist Aunaara! Und nun hat er endlich Zugang zum Hof der Königin gefunden...
McNeil lauschte. Das Ratzenfett tropfte ins Feuer. Das Zischen und Knistern des brennenden Holzes und das trunkene Brabbeln der Tagediebe überlagerten die Schritte eines Jeden, der um diese Zeit ein Ding drehen wollte. Wie zum Beispiel McNeil. Sie war nur ein übers Pflaster huschender Schatten, der in der Toreinfahrt verschwand, die zum Hinterhof des vierstöckigen Gebäudes führte. Die Tagediebe sahen sie nicht. Nur wenige Sekunden später stand McNeil vor einer schmalen Hintertür. Sie schob eine Hand in eine Tasche ihres Beinkleides und entnahm ihr ein spitzes metallenes Werkzeug. Nur ein Experte hätte in dem Gegenstand etwas erkannt, mit dem man Schlösser knackt. Während McNeils Rechte im Schloss der Hintertür herumstocherte, wanderte ihr Blick zu den verhängten Fenstern an der Rückwand des Hauses. Das Gebäude wirkte zwar totenstill, doch der Eindruck täuschte: Sie wusste, dass die Bewohner anwesend waren. Sie hatte sie vom Fenster ihres Quartiers aus bei Sonnenuntergang ins Haus gehen sehen. Ihr Herz pochte heftig, als die Tür mit einem leisen Klicken aufsprang. Vor McNeil breitete sich ein Korridor mit drei oder vier abzweigenden Türen aus. Er endete an einer schief getretenen Holztreppe. McNeil huschte hinein, zog die Tür geräuschlos hinter sich zu und verharrte. Als sie lauschte, pochte ihr Herz so laut, dass es alles zu übertönen schien. Sie war aufgeregt, denn sie war noch nie in ein Haus eingebrochen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Geräusche unterscheiden konnte, die alte Holzhäuser erzeugen: das Knarren der Dielen, das Wispern des Windes in den Ritzen, das – möglicherweise von Ratzen verursachte – Tappen im Gebälk. Nach ungefähr einer Minute hatte sie den Schlag ihres Herzens so weit unter Kontrolle, dass sie das Säuseln vernahm, das von oben kam: Stimmen.
Auf geht’s, McNeil, dachte sie. Reiß dich zusammen. Mach keinen Lärm. Verlier nicht die Nerven. Und kreisch vor allen Dingen nicht los, wenn dir eine Ratze über die Beine läuft. Bei dieser Vorstellung musste sie sich schütteln, denn trotz ihres Mutes und ihrer Bildung war dies ihr erster Einsatz im Land jener bärtigen Barbaren, die Einbrechern zuerst den Kopf abschlugen, bevor sie Fragen stellten. McNeil war jung und deswegen nicht erpicht darauf, ein solches Schicksal zu erleiden. Zudem war sie ehrgeizig, und in ihrer Heimat gab es einen Mann, dem sie etwas beweisen wollte. Schon ihre erste tastende Berührung ließ die verwünschte Treppe knarren. Schiiet! Sie zog den mit Wildleder bestiefelten Fuß zurück und hielt den Atem an. Stille. Nichts zu hören. Offenbar hatte niemand das Geräusch vernommen. Doch sie musste die Treppe rauf... An einer anderen Stelle? Die linke Hälfte der Stufe war solider. Dann ging es ganz gut weiter, bis zum ersten Treppenabsatz, auf dem sie sich an einer kleinen Fensterscheibe wiederfand. Sie hatte einen guten Ausblick in Fredryks Hinterhof, in dem es aussah wie bei Taratzens unterm Sofa. McNeil unterdrückte einen Seufzer. Fredryk war eigentlich ein ganz netter Barbar. Und kochen konnte er auch. McNeil wusste, dass er sie mochte. Aber leider war es ihr untersagt, sich auf Liebschaften einzulassen: Niemand konnte wissen, wohin der nächste Auftrag sie führte. Und wann. Sie musste weiter. Im dritten Stock vernahm sie die Stimmen deutlicher. Das schleimige Organ musste Herrn Knuud gehören, jenem Mann, den sie im Auge behielt, seit er Nonnis Vater unter Druck setzte. Er war der Geschäftsführer der Firma Deehael, in deren Treppenhaus sie nun mit angehaltenem Atem einen Fuß vor den anderen setzte. Knuud, der seinem Akzent nach aus
Ambuur* stammte, war eine widerliche Kreatur: Wenn er ins Büro kam, fraß er Nonni und sie immer mit Blicken auf. Die eigenartig gestochen klingende zweite Stimme gehörte dem jungen Herrn Rasmus, Knuuds Geldgeber. Herr Rasmus sah verdammt gut aus. McNeil musste sich widerstrebend eingestehen, dass sie bei seinem Anblick schon mal weiche Knie gekriegt hatte. Aber irgendetwas an ihm störte sie. Sie wusste noch nicht genau was, aber sie würde es rauskriegen... McNeil zählte sechs Türen und erspähte am anderen Ende des Ganges eine Leiter, die in die Dachkammer führte. Gleich hinter der Leiter sah sie ein Fenster. Kaltes Sternenlicht drang in den Gang hinein. Sie pirschte wie eine Katze an den Türen entlang, presste das Ohr an jede einzelne und hatte an der vierten schließlich Glück. »Und wenn wir ihn einfach kaltmachen?«, hörte sie Knuud sagen. Die Antwort verstand McNeil nicht. Aber sie klang unwirsch. Die Frage allein genügte freilich, um ihr zu sagen, dass Pelle Gyldendal, Nonnis Vater, es nicht mit Leuten zu tun hatte, die lediglich einen Konkurrenten auskaufen wollten. Nein – man wollte ihn aus dem Weg räumen. McNeil spitzte die Ohren. Sie vernahm jedoch nur einen monotonen Singsang, da einer der Diskutanten – Knuud? – offenbar aufgestanden war und hinter der Tür auf und ab ging. Außerdem knarrten die Dielen und übertönten Rasmus’ Antwort. McNeil fragte sich, um was es hier wirklich ging. Pelle Gyldendal war einer jener Buddler, die der Unterstadt die Schätze entrissen, die seit dem Tag des Kometeneinschlags unter der Erde lagen. Die Firma Deehael machte gute Geschäfte damit, das Zeug an Antiquare und Retrologen zu verhökern. Die Buddler und die Exporteure waren recht gut im
Geschäft, und die eine Branche war eine notwendige Ergänzung der anderen. Was also hatte dazu geführt, dass Knuud Gyldendal übernehmen wollte? Und wieso war es ihm so wichtig, dass er allen Ernstes den Plan wälzte, Pelle Gyldendal umzubringen? Kaltmachen, hatte er gesagt. McNeil schüttelte sich. »Was ist denn, Rasmus?«, hörte sie Knuud urplötzlich deutlich – und ziemlich überrascht – sagen. In der gleichen Sekunde wurde McNeil bewusst, dass irgendetwas nicht stimmte: Nach Knuuds Frage brach hinter der Tür eine dermaßen absolute Stille aus, dass es schon unheimlich war. McNeils Fantasie meldete sich. Vor ihrem inneren Auge entwickelte sich ein Bild: Sie sah Herrn Rasmus, der nur zehn Zentimeter von ihr entfernt hinter der Tür stand, einen Finger auf die Lippen legen, um Knuud begreiflich zu machen, er solle die Klappe halten. Dann verschwamm das Bild, und McNeil, deren Herz nun rasend schnell schlug, konnte gerade noch zurückweichen. Die Tür flog auf. Das gelbe Licht eines sechsarmigen Kandelabers blendete sie, und eine muskulöse Hand zuckte auf ihren Hals zu. »Verflucht!« Herr Knuud, der vor einer Flasche Branntwein in einem Armsessel saß, sprang erschreckt auf und griff an seinen Gürtel, an dem ein langes Messer hing. Dann erst registrierte McNeil, dass sie keine Luft mehr bekam. Rasmus, der Schöne, stand in einem schwarzen Umhang vor ihr. Seine dunkelbraunen Augen blitzten. Seine unglaublich kräftige Rechte umklammerte ihre Kehle und drückte erbarmungslos zu. Chrrrr... McNeils Knie knickten ein. Ihr Blick verschleierte sich. So war es also, wenn man auf dem besten Weg war, sich aus dieser Welt zu verabschieden.
Aber sie wollte das nicht hinnehmen. Ihr Blick riss sich von den hypnotisch starrenden Augen los. Dann breitete sie blitzschnell beide Arme aus und ließ das rechte Knie hochzucken. Urgh. Ein dumpfer Laut kam aus Rasmus’ Kehle. Er beugte sich im Reflex vor. Im gleichen Moment krachten McNeils Handkanten auf seine Ohren. Knuud hechtete, den Dolch in der Hand, aus den Tiefen des Raumes auf die Tür zu, doch Rasmus, der gerade in die Knie ging, trat irgendwie nach hinten aus und traf ihn irgendwo, sodass er mit dem Hintern auf die Dielen krachte. Rasmus’ Griff um McNeils Hals war erschlafft, seine Hand sank nach unten. McNeils Linke drosch auf sein Nasenbein ein, und als sie sein zweites, noch überraschter klingendes Ächzen vernahm, war ihre Intelligenz wieder da und sie wusste, dass sie schnellstens die Flegge machen und die Stadt verlassen musste: Diese Männer waren keine gewöhnlichen Kaufleute, die nur einen Konkurrenzkampf ausfochten. Sie hatten Mord im Blick und waren zu allem entschlossen. Als McNeil herumfuhr, um die Treppe ins Auge zu fassen, krachte von hinten ein Gewicht auf sie und warf sie zu Boden. Der Aufschlag tat mörderisch weh. Blut schoss aus McNeils Nase. Als sie die Augen öffnete, um die kreisenden Sterne fortzublinzeln, schlug etwas noch Härteres in ihr Kreuz. Ihr rechter Busen drückte schmerzhaft gegen den flachen TRechner, der in der Brusttasche ihrer Latzhose steckte, und sie glaubte den winzigen Bildschirm knirschen zu hören. Dann vernahm sie ein animalisches Knurren, das vermutlich Knuud erzeugte. Ein Schlag traf ihren Kopf und machte sie fast besinnungslos. »Mach Platz«, hörte sie Knuud keuchen. »Ich stech sie ab!« McNeils Hand fuhr an die Beintasche, und sie dachte: Mit mir nicht, du Arsch.
Ihre Finger rissen den Klettverschluss auf. Sie packte den schmalen Griff des Lasers und riss ihn in dem Moment heraus, als Knuuds Messerklinge neben ihrem Gesicht her fegte. Dann hörte McNeil ein ziemlich erschreckt klingendes Grunzen und das auf ihrem Rücken lastende Gewicht rollte von ihr herunter. Knuud schrie erschreckt auf. McNeil drehte sich flink auf den Rücken und riss den Laser hoch. Während sie nach einem Ziel suchte, sah sie, dass der schöne Herr Rasmus sich an die linke Schulter fasste. Das Messer seines Komplizen hatte ihn offenbar versehentlich dort getroffen. Doch strömte kein Blut aus der Wunde, sondern heißer Dampf, der ein zischendes Geräusch verursachte! McNeil war so perplex, dass sie abzudrücken vergaß. Deswegen sie sah sie auch nicht mehr, dass Knuuds Messer auf ihre ungeschützte Kehle zu schoss. *** Drei Tage später Der Segler, mit dem Sepp Nüssli an diesem nebeligen Morgen in das hoch im Norden der bekannten Welt liegende Hafenbecken einfuhr, hieß Allahu Akbar. Der Kapitän, ein zahnloses Element, hatte ihn bei einem Kartenspiel namens 17 + 4 in Breemen einem betrunkenen Finni abgewonnen. Der wiederum hatte ihn zuvor beim Würfeln einem Afraaner abgeluchst. Deswegen wusste niemand an Bord, welche Bedeutung der Name der Nussschale hatte. Es war Sepp eigentlich auch schnurz. Andererseits war er an Fremdsprachen heftig interessiert und hatte sich im Laufe der letzten Jahre eine ganze Reihe angeeignet. Das Erlernen von Sprachen machte ihm keine Mühe, denn er war ein Sprachtalent sondergleichen: Allein in seiner Heimat Suizza pflegte man vier verschiedene.
Allerdings musste Sepp zugeben, dass seine gegenwärtige berufliche Tätigkeit nicht ganz unschuldig daran war, dass er sich allmählich zum Omnilinguisten entwickelte: Sein Beruf ließ ihn weitaus mehr in der Welt herum kommen als den durchschnittlichen Hinz oder Kunz. Und da Sepp sehr kontaktfreudig war, ließ er keine Gelegenheit aus, fremde Völker und deren Sprachen kennen zu lernen. »Datta«, sagte der zahnlose Kapitän der Allahu Akbar, als die Matrosen die Nussschale vertäuten, und deutete auf das unscheinbare Städtchen, das sich hinter dem Hafenbecken ausdehnte, »is Koppenhachn, wode Puppn tanzn.« Er schnalzte mit der Zunge. »Wenne or’ndlich Schotta hass, kannze hier wat erleh’m, Alta.« Die etwa zweihundert windschiefen Gebäude beeindruckten Sepp nicht sehr. Allenfalls das Hochhaus in der Mitte war einen zweiten Blick wert. Aber er war ja auch nicht nach Kobenhachen gereist, um sich beeindrucken zu lassen. Er war hier, um seinem Arbeitgeber einen letzten Dienst zu erweisen. Danach sollte er aber nun wirklich zu den Dreizehn Inseln gehen, die sein Ziel waren, seit er die Barbarin Aruula einst getroffen hatte. Sepp verabschiedete sich von seinem Kapitän, dann hängte er das lederne Postmäppchen um seinen Hals, schnappte sich seine Reisetasche und marschierte mit den anderen Passagieren über das Brett an Land, das die Seeleute in ihrer Fachsprache »Gankwai« nannten. Die Reisenden, meist Kaufleute aus Breemen – die Stadt verzeichnete einen regen Zulauf, seit Ambuur vor ziemlich genau einem Jahr von einem großen Knall halb zerstört worden war –, hatten kaum einen Stiefel auf das Land der Daynen gesetzt, als Scharen von Tagedieben und fliegenden Händlern über sie herfielen, um ihnen irgendwelche kulturgeschichtlich bedeutsame Artefakte anzudrehen. Zum Glück sahen sie gleich,
dass Sepp in seinem an zahlreichen Stellen geflickten Gewand wenig kapitalkräftig war und ließen ihn in Ruhe. Ein Nachteil allerdings war, dass auch die Kutscher der sieben von Wakudas gezogenen Droschken, die im Hafen auf Kundschaft warteten, bei seinem Anblick die Nase rümpften, die Peitschen knallen ließen und auf die Kaufleute zu preschten. So machte Sepp sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt. Sie sah so aus wie die meisten Ortschaften seiner Zeit: ein mittelalterlich wirkendes Sammelsurium aus Holz- und Lehmziegelhäusern, verwinkelten Gässchen und schlampig verlegtem Kopfsteinpflaster. In der Mitte Kobenhachens ragten die sieben Stockwerke des legendären Bauwerks in die Luft, von dem Sepp schon aus dem Mund des Kapitäns gehört hatte: das Hiltoon. Kein Mensch wusste, warum das Haus so hieß, aber den Mythen des Nordens zufolge war es vor der Eiszeit eine große Herberge gewesen. Die Insel Zeeland, auf der Sepp sich nun befand, war damals dreimal so groß gewesen wie heute. Der Rest war nach Kristofluu abgesoffen. Außerdem hatte eine gigantische Schlammwelle aus dem Meer die Urstadt unter sich begraben. Erst lange nach der Eisschmelze hatten seefahrende Forscher aus Ambuur die aus dem Erdreich ragenden verschlammten Etagen des Hiltoon gesichtet und ihr Inneres mit Schaufeln freigelegt. Sie hatten sich auf der Suche nach wertvollen Schätzen aus der Alten Zeit nach und nach durch die alten Treppenhäuser und Fahrstuhlschächte nach unten gegraben. In der untersten Etage waren sie auf Ausgänge gestoßen und hatten sich zu anderen verschütteten Gebäuden der Urstadt durchgeschlagen. Ihre Vermutung hatte sich als richtig erwiesen: In der Unterwelt wimmelte es von Artefakten aus der Vergangenheit.
Inzwischen hatte man das alte Zentrum freigelegt. Zwischen den einzelnen Gebäuden war ein Tunnelsystem angelegt worden. In der ganzen Unterstadt wurde gebuddelt, denn Dinge der Alten Zeit waren mancherorts sehr begehrt und brachten etwas ein. Rings um das Hiltoon hatten sich Krämer und Handwerker angesiedelt, die den Buddlern zuarbeiteten und die von ihnen erbeuteten Artefakte an wohlhabende FestlandKundschaft verkauften. Retrologen, die sich herauszufinden bemühten, wozu manch mysteriöser Fund einst gedient hatte, sah man hier ebenfalls reichlich. Natürlich zogen Städte, in denen der Handel florierte, auch andere Elemente an. Zum Beispiel die beiden langhaarigen, bärtigen, bedrohlich wirkenden Männer, die dem unter der Last seiner Reisetasche ächzenden Sepp den Weg versperrten. Dass ihre Nasen von Alk gerötet waren, erkannte Sepp auf den ersten Blick. Die rostigen Messer, die in ihren abgewetzten Gurten steckten, flößten ihm kein Vertrauen ein. »Hei-ho, Gevatter«, sagte der Bärtigere der beiden, der auch die schrecklichere Fahne hatte. Seine Sprache glich dem Idiom der Doyzländer, klang aber ungleich komischer. »Was plagt Ihr Euch so mit der Tasche so ab? Sollen wir Euch vielleicht ein wenig entlasten?« Da aus seinem ebenso verschleierten wie tückischen Blick die reine Gier sprach, als er das Gepäckstück musterte, legte sich Sepps Hand instinktiv fester um den Griff. Zwar hätte er nichts dagegen gehabt, wenn ihm jemand die Last abgenommen hätte, aber als Ästhet ekelte er sich vor Menschen, deren Fingernägel deutlich zeigten, in welchen Löchern sie im letzten Monat herum gestochert hatten. Zudem wurde er den Verdacht nicht los, dass die Männer es nicht ehrlich mit ihm meinten. Sie sahen eher so aus, als wollten sie seine Reisetasche rauben. »Leckzmidoamoarsch«, sagte Sepp und fügte im knarrenden
Tonfall der fraacischen Guule hinzu: »Legt euch bloß nicht mit mir an!« Wie erwartet kapierten die beiden Bärtigen kein Wort, doch dies hinderte sie nicht daran, wie Schmeißfleggen an Sepp kleben zu bleiben und auf schleimigste Weise auf ihn einzuschwafeln, als er weiter ging. Sepp hatte kein Problem, ihr Gesülze zu verstehen. So weit er es kapierte, waren sie nicht nur die besten Reiseführer der Stadt, sondern konnten ihm eine billige Unterkunft bei ihrer Tante besorgen. Außerdem waren sie bereit, für seinen persönlichen Schutz zu sorgen und hatten auch eine Schwester, die für ein paar kleine Münzen bereit war, mit ihm ein Spielchen zu spielen, das er nicht kannte. Zum Glück verzogen sich die Burschen, als ein feister Mann mit einem gehörnten Helm und einem fünfzackigen Stern auf dem Wams Sepps Weg kreuzte. »Hei-ho, guter Mann«, sagte Sepp zu dem Gendarmen. »Könnt Ihr mir vielleicht sagen, wo ich einen gewissen Pater Peeder finde?« Der Gendarm runzelte die Brauen. »Ihr sprecht einen merkwürdigen Akzent.« »Ich komme aus... Suizza.« » Gesundheit«, sagte der Gendarm und schaute sich um. »Ihr habt Euch da eben nicht gerade in bester Gesellschaft herumgetrieben.« Sepp erwiderte, dies sei ihm schon selbst aufgefallen. Dann erkundigte er sich abermals nach Peeder. Wie sich zeigte, kannte der Gendarm siebzehn Peeders, aber keinen einzigen Pater Peeder. Erst als Sepp ihm enthüllte, dass ein Pater ein Hohepriester war, ging dem Gendarmen ein Licht auf und er beschrieb ihm den Weg zu dem Mann, den Sepp suchte. Sepp marschierte durch mehrere Gassen. Je öfter er abbog, umso heruntergekommener wirkte die Umgebung. Schon bald
wurde ihm klar, dass heute nicht sein Glückstag war, denn er musste sich laufend nach Alk riechender Tagediebe erwehren, die ihn mit scheppernden Blechbüchsen verfolgten. Einmal trat er einer haarigen Töle in den Hintern, die sich in seine Reisetasche verbiss und sie nicht wieder loslassen wollte. Zuletzt erteilte er einer fülligen Dame eine Absage, die ihn in einen Hauseingang ziehen wollte und ihm ein Angebot machte, dessen Sinn er nicht verstand. Schließlich hefteten sich mehrere rotznasige Kinder an seine Fersen und verspotteten ihn, weil er so klein war. Sepp verscheuchte sie, indem er wie ein Besessener mit den Augen rollte und die Zähne fletschte. Zu allem Übel drängte sich ihm bald darauf schon wieder ein unerwünschter Gepäckträger auf, der gar nicht erst um seine Erlaubnis nachsuchte, sondern seine Reisetasche an sich riss und mit ihr davon lief. Allerdings hatte er nicht mit Sepps verbissener Gegenwehr gerechnet: Er hatte kaum zwei Schritte gemacht, als Sepp sich auf seinen linken Unterschenkel stürzte und die Zähne so tief hinein schlug, dass der Lump die Tasche fallen ließ und humpelnd auf einem unbebauten Grundstück verschwand. Irgendwann stand Sepp endlich vor dem Haus mit der roten Laterne, das der Gendarm ihm beschrieben hatte. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Zum brønstigen Bøckleyn«. An den nicht sehr sauberen Fenstern waren rote Vorhänge zu sehen, hinter denen rotes Kerzenlicht brannte. Sepp klopfte an die Tür. Ein Mann in einer schwarzen Kutte öffnete ihm, sagte »Minderjährige haben keinen Zutritt« und knallte die Tür wieder zu. Sepp klopfte erneut. Bevor der Kuttenträger ihn der Tür verweisen konnte, sagte er schnell: »Ich bin im Auftrag des Herrn unterwegs.« »Ach, wirklich?« Aus der Kapuze schauten ihn zwei
hellblaue Augen an. »Jaaa...« Sepp wuchtete seine Reisetasche über die Schwelle. »Ich bin Sepp Nüssli, Berittener Postbote im Dienst von Pabst Viktorius.« »Keine Namen.« Der Kuttenträger schaute sich rasch um, dann winkte er Sepp hinein. Das Heiligtum der Kobenhachener Kristianer wirkte wie eine Kaschemme, aber wie Sepp aus dem »Vatikan« in Münsta wusste, gehörte dies zur Tarnung dieser eigenartigen Kirche. Die Kristianer mussten nämlich im Untergrund tätig sein, weil ihr Gott die Menschen ehrlos im Stich gelassen hatte. Nur die hartgesottensten Jünger des aus Ittalya* emigrierten Vatikans glaubten noch an einen Allmächtigen, der – dies fand Sepp besonders skurril – nicht mal einen Namen hatte. »Was führt dich zu uns, Bruder?«, fragte der Mann in der schwarzen Kutte und führte Sepp in ein Hinterzimmer der Kaschemme. Sepp stellte die Reisetasche ab und deutete auf das lederne Postmäppchen, das an seinem Hals hing. »Ich soll mich bei Pater Peeder melden, dem hiesigen Statthalter unserer heiligen Kirche.« Das Wort heilig kam ihm nicht leicht über die Lippen. Einerseits hielt er die Religion der Kristianer für einen echten Schmu, andererseits war ihm ein Aberglaube so schnurz wie der andere. »Ich bin Pater Peeder.« Der Kuttenträger schaute sich schon wieder um. Hatten die Wände hier etwa Ohren? Sepp setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl vor den alten Schreibtisch. Sein Gegenüber nahm hinter demselben Platz. Dann löste Sepp das Postmäppchen von seinem Hals und warf es auf den Tisch. »Das ist für dich, Bruder. Seine Heiligkeit hat mir aufgetragen, dies hier abzuliefern.« Pater Peeder schlug seine Kapuze zurück. Sepp sah ihn zum
ersten Mal genauer. Der Mann war Ende dreißig, blond und blauäugig. Sein Blick wirkte irgendwie naiv. Als er das Postmäppchen öffnete und ihm einen Papierstapel entnahm, seufzte er. »Ach, schon wieder neue Bullen...« Er klang nicht sehr begeistert. »Ich hatte etwas anderes erwartet.« »Ach, wirklich?« Sepp schaute sich um. Der Raum sah aus wie ein Kaschemmenbüro. Auf den Plakaten, die an den Wänden hingen, waren hübsche Kristianerinnen mit langen blonden Zöpfen zu sehen. Sie hatten hübsche schwarze Strümpfe an, wenn auch sonst nicht viel. »Darüber darf ich leider nicht mit einem Postboten sprechen.« Pater Peeder seufzte gequält. Irgendwie wirkte er vergrämt. »Oder vielleicht doch?« Er beugte sich über den Tisch. »Eigentlich habe ich mit einem Geistlichen Agenten unserer heiligen Kirche gerechnet. Mit einem harten Burschen, der sich durchsetzen kann.« »Wie zum Beispiel Pater Maximus?« Sepp zwinkerte Peeder zu. »Du kennst Pater Maximus?« Peeder riss die Augen auf. »Darüber darf ich leider nicht mit einem gewöhnlichen Pater sprechen.« Sepp betrachtete geziert seine Fingernägel. Natürlich flunkerte er. Aber er tat es nicht etwa aus niedrigen Beweggründen. Er wollte Pater Peeder nur foppen, damit dieser ihm mehr erzählte. »Oh, ich verstehe...« Peeder zwinkerte Sepp vertraulich zu. »Seine Heiligkeit hat meinem Ersuchen also doch endlich stattgegeben... Du bist...« Er nickte und setzte eine wissende Miene auf. »Wie dumm von mir! Schließlich weiß man doch, dass ihr Geistlichen Agenten stets in einer Tarnexistenz auftretet...« Er richtete sich auf. Seine Laune besserte sich sichtlich, als wäre der Weiße Ritter endlich aufgetaucht, um eine große Last von ihm zu nehmen. »Ich freue mich außerordentlich, deine
Bekanntschaft zu machen, Bruder Max... ähm...« Er zwinkerte. »... Sepp.« Peeder deutete mit einem Räuspern auf den verstaubt aussehenden, muffig riechenden Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. »Ich schlage vor, wir kommen sofort zur Sache!« Sepp zupfte sich an der Nase. Herrje, was hatte er sich da nur wieder eingebrockt? Peeder hielt ihn für einen Geistlichen Agenten der Kirche! Nun ja, andererseits war der Agentenberuf ja nicht gesetzlich geschützt. Wenn man es genau nahm, war auch Sepp in seiner Heimat dieser Tätigkeit nachgegangen. Berittener Postbote war er eigentlich nur geworden, um sich das Reisegeld für die Emigration zu den Dreizehn Inseln zu verdienen... Vielleicht war es, solange er sich in der Stadt aufhielt, am Besten, die Klappe und den wackeren Pater bei Laune zu halten. Immerhin brauchte Sepp eine warme Mahlzeit und ein Bett für die Nacht. Warum sollte er sein Spesenkonto also mit Ausgaben belasten, wenn er beides gratis kriegen konnte? Immerhin war Sepp der Spross einer schweizerischen Bankiersdynastie, die seit über fünfhundert Jahren die Binsenweisheit verbreitete, dass man durch Sparen reich werden konnte. »Ich bitte darum.« Sepp nickte. Peeder wirkte tatsächlich sehr erleichtert. »Während unserer Suche nach kirchengeschichtlichen Dokumenten in der Unterstadt«, begann er, »sind meinen zwölf Aposteln und mir gewisse Dinge aus der alten Zeit in die Hände gefallen...« »Joi!« Sepp frohlockte. Schon Peeders Tonfall sagte ihm, dass er gleich in geheime Dinge eingeweiht wurde. Und das war toll, weil... Nun ja, der Beruf des Berittenen Postboten war zwar durchaus ehrenhaft, aber auch ein wenig langweilig. Nur Geheimnisse konnten das Blut eines Agenten von wahrem Schrot und Korn in Wallung bringen. Sepp war ganz in seinem Element, denn das, was Peeder andeutete, klang so
geheimnisvoll wie nur was! »Zum Beispiel?«, erkundigte er sich gespannt. »Waffen!« Peeders blaue Augen blitzten voller Abscheu auf. »Schießprügel aus der sündigen Alten Zeit!« »Oh!« Sepps rechte Hand bedeckte schnell den kleinen Holster, in dem sein Dienstbolzer steckte. Er wusste natürlich, dass die Kristianer Gewalt verabscheuten, aber Pabst Viktorius, sein Dienstherr, hatte es für besser gehalten, ihn mit einem solchen Schießprügel auszustatten, damit er sich gegen streunende Taratzen und Posträuber verteidigen konnte. »Das ist aber noch längst nicht alles«, fuhr das geistige Oberhaupt der Kobenhachener Gemeinde fort und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Uns sind auch gewisse Akten und Baupläne in die Hände gefallen! Und eine dieser Akten hat es in sich!« »Ach, wirklich?« Sepp schaute auf. Die Spannung war kaum noch zu ertragen. »Ja.« Pater Peeder nickte. »Während der Religionskriege – über die weißt du ja gewiss Bescheid...« Sepp nickte schnell, um seine Unwissenheit nicht preiszugeben. In Wahrheit hörte er diesen Ausdruck zum ersten Mal. »Also, während der Religionskriege«, fuhr Peeder fort, »gab es einen muzzelmanischen Geheimbund, der sich Alkøyda nannte. Einige seiner Agenten sollen damals eine Boombe nach Kobenhachen gebracht haben, um das Bankenviertel in die Luft zu sprengen.« »Nein!« Sepp fuhr schockiert zurück, denn für ihn als geborenen Suizzaner waren Banken natürlich etwas Heiliges. »Doch, doch!« Peeder nickte aufgeregt. »Aus unseren Unterlagen geht aber hervor, dass die Gendarmen das Attentat vereitelt haben. Die Boombe lagert nach wie vor in der Asservatenkammer des alten Polizeipräsidiums – zusammen
mit einer Unzahl von Waffen aller Art.« Er hob einen Finger. »Dieses Gebäude gehört nun einem geschäftstüchtigen Buddler namens Pelle Gyldendal. Doch zu unserem Glück weiß er nicht, worauf er sitzt.« Peeder beugte sich vor. »Wenn er es nämlich wüsste, würde er das Zeug meistbietend verkaufen – vermutlich an Leute, die nichts Gutes im Schilde führen.« »Das ist ja furchtbar!« Sepps Haupthaar sträubte sich. »Wie hast du davon erfahren, Bruder?« »Ja-ha!« Peeder setzte ein triumphierendes Lächeln auf. »Zum Glück haben wir einen Maulwurf in Gyldendals Firma. Seine Tochter Nonni ist Kristianerin! Sie hat die Baupläne des alten Präsidiums gefunden und uns zugänglich gemacht! Ihr Vater weiß nicht mal, dass es diese Unterlagen gibt.« »Und jetzt?«, fragte Sepp gespannt. »Was hast du jetzt vor?« »Das frage ich dich«, erwiderte Peeder. »Deswegen habe ich den Heiligen Vater doch um die Entsendung eines Geistlichen Agenten gebeten!« Er schaute Sepp fragend an. »Wir müssen all diese Waffen und natürlich die Boombe aus dem Verkehr ziehen. Und zwar ohne dass Pelle Gyldendal etwas von seiner Existenz erfährt.« »Ein genialer Plan«, sagte Sepp. Er dachte kurz nach und hüstelte. »Ich meine, dazu braucht man einen genialen Plan.« »Genau.« Peeder nickte. »Dank Schwester Nonni weiß ich, dass der Eingang zur Asservatenkammer von außen verschlossen ist – mit einer meterdicken Stahltür, deren Kombination längst niemand mehr kennt. Es gibt aber ein winziges Belüftungsloch in der Decke.« Peeder schlug erneut auf den Tisch. »Nur ein Kind könnte dort eindringen.« »Oder ein kleiner Mann – der ich zufällig bin«, erwiderte Sepp enthusiastisch. Peeder nickte. »Du musst Gyldendals Firma infiltrieren. Vermutlich musst du auch durch einige dreckige Ratzenlöcher
kriechen, um in den Raum vorzustoßen. Ich schlage vor, du erkundest die Lage und denkst dir einen Plan aus, wie man den Sprengstoff unschädlich machen kann.« »... aber Ratzenlöcher, hm...« Sepp schüttelte sich. Welch schauerliche Vorstellung. Doch andererseits... Infiltration war seine Spezialität! Es war eine Aufgabe für einen echten Meisterspion! Wie konnte er da nein sagen? *** Irgendwo nördlich von Berlin Das monotone Schnurren der Reaktors hatte Commander Matthew Drax schon kurz nach dem Abflug in den Schlaf gewiegt. Deswegen war er leicht benommen, als er die Hand auf seiner Schulter spürte, die ihn weckte. Er schüttelte den Kopf, um klar zu werden, und sah die rabenschwarze Mähne seiner Gefährtin Aruula, die friedlich an seiner Schulter döste. Ihre Reaktionszeit war jedoch bewundernswert, denn sie schlug sofort die Augen auf, als er sich rührte. »Ja?« Major Billy – voller Name: Major Sibyl Sidney – beugte sich zu Drax hinab. »Wir haben eine Meldung aus London erhalten, Sir.« Ihre Stimme klang piepsig, wie immer. Sie deutete mit dem Kopf nach vorn. »Okay.« Matt richtete sich langsam auf und bedeutete Aruula, liegen zu bleiben. »Hoffentlich nichts Schlimmes.« Er huschte durch die Sitzreihen nach vorn bis ins Cockpit. Sein Blick fiel auf mehrere Monitore. Einer zeigte die urweltliche Landschaft, die das alte Deutschland zu einem großen Teil bedeckte. Irgendwo am Horizont glaubte er das Schillern eines Gewässers zu erkennen. Die Nordsee?
»Setzen Sie sich, Commander.« »Yeah.« Matt schwang sich in den Sitz, den Major Billy für ihn freigemacht hatte. Colonel Loomer, die Ark IX kommandierte, war eine hoch gewachsene Schwarze und hörte kurioserweise auf den Vornamen Cinderella. Obwohl bei den Technos seit der Versorgung mit Immunserum das Haar allmählich wieder zu sprießen begann, trug sie immer noch ihre goldene Perücke aus kurzem Kraushaar. Wenn man sie so sah, wirkte sie keinen Tag älter als vierzig, doch in Wahrheit hätte sie Matts Mutter sein können. Sie sah nicht fröhlich aus. »Kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit der nächsten Katastrophe«, sagte Matt. Die Geschehnisse in Berlin hingen ihm noch immer nach. Vor allem, dass Jenny und ihre gemeinsame Tochter Ann dort geblieben waren, anstatt mit nach London in Sicherheit zu kommen. Captain Rudolph, der Pilot, seufzte leise. Lieutenant John Ivenhoe Yoshiro, der Navigator, legte eine Hand auf seinen Mund. Er wollte wohl nicht durch Disziplinlosigkeit auffallen. »London meldet das plötzliche Verstummen einer in Kopenhagen stationierten Beobachterin«, sagte Loomer mit finsterer Miene. »Da sie zu unseren Zuverlässigsten gehört und noch keinen Meldetermin versäumt hat, besteht die Möglichkeit ihres...« – sie räusperte sich verlegen, als sei die Amtssprache ihr zuwider – »... Ablebens.« Matthew Drax runzelte die Stirn. Seit die zivilisierte Welt wusste, dass sich eine außerirdische Macht auf der Erde eingenistet hatte, reagierte man in den Bunkern sehr sensibel auf Dinge, die das Normale unnormal machten. In anderen Zeiten wäre man vielleicht davon ausgegangen, dass die Frau sich ein Bein gebrochen hatte und im Spital irgendeines primitiven Beutelschneiders auf einem Strohsack lag, sodass
sie nicht an ihr Funkgerät heran kam. Doch in der von Argwohn erfüllte Gegenwart war es sicher nicht falsch, hinter dem Ausbleiben einer routinemäßigen Meldung etwas anderes zu vermuten: Sabotage, Enttarnung, Tod. »Wie heißt die Beobachterin und seit wann meldet sie sich nicht mehr?«, fragte Drax. Loomer knurrte leise. »McNeil. Rosemary McNeil.« »Scheiße«, sagte Yoshiro. »War das nicht die kleine Rothaarige mit der süßen Stupsnase? Ich glaub, die hab ich gekannt.« »Sie kennen sie noch«, sagte Loomer etwas ungehalten. »Solange wir nicht wissen, dass sie tot ist, reden wir im Präsens von ihr, verstanden?« »Yes, Sir, verstanden.« Yoshiro nickte zwar, aber er biss die Kiefer zusammen, als hielte er das positive Denken seiner Vorgesetzten für Schönfärberei. »McNeils Auftrag...« Loomer schien nachzudenken. »Sie war... Sie ist einem Mann auf der Spur, der in Kopenhagen Waffen aller Art aufkauft.« »Was ist das für ein Mann?«, fragte Drax. »Keine Ahnung. McNeil wurde aufgrund der Markierungen jener Landkarte nach Kopenhagen entsandt, die Sie in diesem Zug gefunden haben... Die Analyse hat ergeben, dass sie Standorte ehemaliger Waffenfabriken und Munitionsdepots verzeichnet.« »Sollte McNeil in Kopenhagen einen solchen Standort ausfindig machen?« »Ich weiß nicht.« Loomer zuckte die Achseln. »Es kann auch sein, dass sie den Auftrag hatte, nach Leuten Ausschau zu halten, die sich für diese Standorte interessieren.« »Daa’muren, hm?« Drax spitzte die Lippen und warf einen erneuten Blick auf den Monitor, auf dem sich nun deutlich
zeigte, dass das silberne Schillern am Horizont tatsächlich Wasser war. »Machen wir die Sache kurz«, sagte Colonel Loomer. »Ich habe dem Londoner Vorschlag zugestimmt, nach McNeil Ausschau zu halten.« »Okay.« Matt nickte. Es war nur fair, dass er an dieser Exkursion teilnahm, nachdem der Abstecher nach Berlin auf sein Drängen hin genehmigt worden war. Er kehrte zu Aruula zurück, deren grünbraune Augen ihn fragend anschauten. Als er neben ihr Platz nahm, erinnerte er sich an den schrecklichen Tag vor viereinhalb Jahren, an dem er mit seiner Maschine in den schweizerischen Alpen havariert war. Ohne Aruula wäre er längst ein toter Mann. Ohne sie wäre er nie in die Lage versetzt worden, die Wunder und Schrecken dieser neuen Welt zu schauen. »Erzähl’s mir«, sagte Aruula leise und kuschelte sich an seine Schulter. Während Matt ihr von Rosie McNeil erzählte, überquerte der EWAT die Nordsee. Der Amphibienflieger konnte in der Luft 80 Kilometer pro Stunde zurücklegen. In eineinhalb Stunden konnten sie dort sein. *** Es wurden – vermutlich aufgrund günstiger Winde – exakt vierundachtzig Minuten. Als Captain Rudolph in einer Höhe von dreißig Metern über einem Waldgebiet kreiste, um nach einem geeigneten Landeplatz zu suchen, ragte die drahtige Gestalt Matthew Drax’ in der Sichtkuppel des Kanoniers auf und schaute sich um. Während seiner Zeit als Pilot der US Air Force hatte er mit einigen Gästen aus seinem Berliner Stammlokal »Zwiebelfisch« eine Bustour in die dänische Hauptstadt
gemacht. Die Reise lag im wahrsten Sinne des Wortes Jahrhunderte zurück. Jetzt erinnerte er sich nur noch an alte Häuser, jede Menge Schlösser – beziehungsweise schlossartige Gemäuer –, den Vergnügungspark Tivoli, die kleine Meerjungfrau (sie war viel kleiner gewesen als er vermutet hatte), eine charmante Innenstadt mit zahllosen Geschäften und haarsträubend hohe Bierpreise. Außerdem hatte er auf dem Ausflug erfahren, was ein Zwiebelfisch war: Im Zeitalter des Bleisatzes hatte man so einen Buchstaben der Schrift A genannt, der versehentlich im Setzkasten der Schrift B gelandet war. Unnützes Wissen, dachte Matt. Wie er an den veränderten Bewegungen des EWATs bemerkte, hatte Rudolph nun den geeigneten Platz gefunden. Als Matt wieder nach unten kam, stellte er fest, dass die auf dem Monitor sichtbar werdende Lichtung gut fünf Kilometer von dem Ort entfernt lag, von dem er annahm, dass er Kopenhagen war – beziehungsweise Kobenhachen. Colonel Loomer brauchte ihn nur anzuschauen, dann kannte sie seine unausgesprochene Frage. »Unbekannte, die auf Waffentechnik aus sind, finden vielleicht auch Gefallen an Flugpanzern«, sagte sie. Matt nickte. »Versteh schon.« »Und außerdem...« Loomers Miene wirkte nun sehr nachdenklich, »hatten wir in der letzten Zeit so viele Verluste an EWATs und Besatzungen, dass die Produktion kaum nachkommt und wir ein bisschen vorsichtiger taktieren müssen.« Matt war sich nicht sicher, ob der Vorwurf ihm galt; die meisten Aus- und Unfälle hatte es in der Tat in seinem Beisein gegeben. Gerade so, als würde er den Zorn dieser postapokalyptischen Welt, in die er durch einen Zeitsprung eingedrungen war, auf sich ziehen...
Der EWAT setzte auf. Andrew Farmer, Aufklärer der zerstörten Explorer, sandte die Kolkraben aus, um die Umgebung zu sichten. Er löste sich dabei mit Sibyl Sidney ab, um wenigstens etwas zu tun zu haben auf dem langen Flug. »Sonst noch was?«, fragte Matt. Er winkte Aruula zu, die schon aufstand und mit schnellen Schritten durch den Gang nach vorn kam, als freue sie sich, den metallenen Wurm endlich verlassen zu können. »London meint«, – Loomer hüstelte – »dass Sie und Ihre Gefährtin zwei prächtige Kundschafter abgeben würden, Commander.« Und damit hatte London Recht. Denn im Gegensatz zu den blassen Technos, die ihr Leben in Bunkern verbracht hatten, war Aruula und ihm diese gefährliche neue Welt gut vertraut. Ihm seit viereinhalb Jahren, Aruula bereits ihr ganzes Leben lang, seit sie im Kindesalter von einem Wandernden Volk aus ihrer Heimat, den Dreizehn Inseln, geraubt worden war. Ihre Wege hatten sich mit denen der bizarrsten Lebewesen und Gesellschaftsformen gekreuzt, die man sich nur vorstellen konnte. Als Aruula neben ihm stand, legte er einen Arm um ihre Schultern und nickte Loomer und den anderen zu. »Dann machen Sie mal auf...« Ein leises Zischen ertönte. Die Schleuse fuhr zur Seite. Matt zückte seinen Driller – eine Waffe des Weltrats, die er mittlerweile nicht mehr missen wollte – und prüfte das Magazin. »Wir halten Kontakt über Funk. Normaler Modus, nicht über die ISS.« Colonel Loomer nickte. »In Ordnung. Wenn Sie auf Schwierigkeiten stoßen, rufen Sie uns zu Hilfe. Haben wir uns verstanden, Commander?« »Klar.« Schwierigkeiten waren eine Auslegungssache, und Loomer wusste, dass Matthew Drax gern großzügig auslegte.
Hinter Matt und Aruula schien die Sonne durch die Luke ins Innere des EWATs. Aruula trat als erste ins Freie. Draußen blieb sie stehen und lauschte erst mal dem Gekreisch unsichtbarer Vögel. Die Dreizehn Inseln waren nicht allzu fern. Als Matt seine Gefährtin so da stehen und die Nase in die Luft heben sah, fragte er sich unweigerlich, ob sie ihre alte Heimat roch. Er schaute sich noch einmal um und winkte Colonel Cinderella Loomer zu, die ihn durch die offene Luke beobachtete. Sie wirkte nachdenklich, als rechnete sie mit dem Schlimmsten. Quatsch, dachte Matt. Vielleicht hat McNeil sich wirklich nur ein Bein gebrochen und sitzt irgendwo in der Tinte... Er glaubte es keine Sekunde. *** Jeden Morgen geht die Sonne auf in der Wälder wunderbarer Runde – und die schöne neue Schöpferstunde, jeden Morgen nimmt sie ihren Lauf... Sie nahm ihren Lauf aber nicht nur in der Wälder Runde, sondern auch mitten in Kobenhachen, wo das Grauen sich Sepp in Gestalt von Büchsen scheppernden Tagedieben näherte, als er sein Quartier im »Brønstigen Bøckleyn« verließ. Sepp ignorierte die aufdringlichen Burschen, huschte auf flinken Sohlen über das schief getretene Pflaster enger Gassen und orientierte sich an den Markierungen, die Pater Peeder ihm in der vergangenen Nacht eingebläut hatte. War das Leben nicht schön? Endlich war Sepp wieder in seiner alten Branche tätig! Das Briefeaustragen und Bullenverteilen sollte ihm gestohlen bleiben! Jetzt konnte er seine wahren Fähigkeiten endlich wieder ausspielen: Nach außen hin wie Hinz und Kunz wirken, doch dabei die Augen
offen halten und Informationen sammeln! Sein Plan sah so aus: Er wollte den Buddler Gyldendal aufsuchen und ihm klar machen, dass er in seinem Unternehmen auf einen Sepp Nüssli nicht verzichten konnte. Dazu musste Sepp erst mal in die Unterstadt vordringen. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte Sepp das Zentrum des Ortes und das dortselbst aus dem Boden ragende HiltoonGebäude. Dessen Ausmaße waren gewaltig, auch wenn man nur die sieben obersten Etagen sehen konnte. Das ursprüngliche Dach war natürlich im Laufe der Jahrhunderte verrottet, sodass es nun mit Reet gedeckt war. Aus einigen Fenstern hatte man Türen gemacht, denn vermutlich hatte es auch in der Alten Zeit keine Eingänge in vierzigsten Etagen gegeben. Vor dem Haupteingang stand ein hochnäsig aussehender Bartträger mit langen blonden Zöpfen. Er war in Echsenleder gewandet und trug einen Helm mit gebogenen Hörnern. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wusste er, dass er der wichtigste Mann in dieser Stadt war. Außerdem hatte er dicke Muskelpakete und eine Stimme, die wie das Rasseln von Kieseln in einer Mischmaschine klang. »Kinder müssen draußen bleiben.« Sepp reckte seine achtzig Zentimeter in die Höhe. »Ich bin kein Kind«, raunzte er. »Ich bin ein kleiner Mensch.« Der Türsteher musterte ihn kurz und arrogant. »Aber du bist beschissen angezogen.« Sepp stöhnte auf. Er kannte diese Typen. Er war ihnen auf seinen Reisen durch Euree in allen möglichen Ortschaften begegnet. Gib einem Deppen ein Amt, dachte er, dann hält er sich für den Herrn der Welt. Er griff unter seinen Umhang, in dem sich einhundertvierundsechzig Geheimtaschen befanden, und hielt
seinem Gegenüber eine alte Zwei-Juro-Münze unter die Nase. Die Hand des Türstehers zuckte vor, entriss Sepp die Münze und ließ sie in seinem Lederwams verschwinden. Dann öffnete die Tür hinter sich mit einem Fußtritt. »Rein mit dir! Aber wenn du geschnappt wirst – wir haben uns nie gesehen!« Sepp kam in eine kahle, von Wandlaternen erleuchtete Halle. Eine grafische Darstellung an der Wand verkündete, wo man die im Untergrund tätigen Firmen fand. Nachdem er den Standort Gyldendals ausfindig gemacht hatte, begab sich Sepp in ein noch spärlicher beleuchtetes Treppenhaus und machte sich an den Abstieg. Er hätte gern den von Wakudabullen gezogenen Fahrstuhl genommen, doch der war, wie ein Schild verkündete, den Transporteuren vorbehalten, die ihre Schätze in Kisten, Kästen und Säcken an die Oberfläche brachten. Achtzig Treppen später gelangte er erneut in eine Halle und hatte guten Grund zu der Annahme, dass das Schlimmste hinter ihm lag. Als er das Gebäude verließ, breitete sich vor ihm ein undurchschaubares Tunnelgewirr aus. Überall ragten dicke Balken auf und hinderten das Erdreich daran, in die Tiefe zu stürzen. In den Gebäuden, die er passierte, erklangen das Scharren von Schaufeln, das Kratzen von Hacken und die Stimmen der Arbeiter, die ihrem Tagwerk nachgingen. Damit Besucher und Arbeiter sich in der Unterstadt überhaupt orientieren konnte, hingen Öllaternen an den Hauswänden. Laternenanzünder patrouillierten durch die zwielichtigen Gassen, um jene Leuchtkörper aufzufüllen, denen der Brennstoff ausgegangen war. Irgendwo in der Ferne sah Sepp ein rotes Licht, und er hörte das helle Klimpern von Musikinstrumenten. Die Firma Gyldendal war leicht zu finden: Sie lag an einem dreihundert Quadratmeter großen Platz und machte durch ein güldenes Schild auf sich aufmerksam. Gleich gegenüber befand sich ein Café, in dem allerhand los war. Überhaupt schien der
Platz eine Art Zentrum zu sein, denn hier gingen allerlei Menschen um, und einige blond bezopfte Damen mit kurzen Röcken und löcherigen Schlüpfern standen an den Ecken und gurrten jeden an, der des Weges kam. Vor dem Eingang Gyldendals stand zum Glück niemand, der erst bestochen werden musste. Sepp trat in eine riesige, von Öllaternen notdürftig erhellte Marmorhalle und erspähte eine offene Tür, die in ein Vorzimmer führte. Hinter einem Tisch aus seltsam glattem Material saß eins der Wesen, die er aus Pabst Viktorius’ Erbauungsschriften kannte. Ein Öngel! Sepp musterte das ätherisch wirkende blonde Geschöpf mit der kleinen Stupsnase mit offenem Mund. »Kann ich dir helfen, mein Lieber?«, fragte das schöne Wesen und schenkte ihm einen Blick aus strahlend blauen Augen. Mein Lieber, hatte sie gesagt! »Öh... öh...«.erwiderte Sepp leicht belämmert. »Öh... öh...« Da er noch nie im Leben eine solche Schönheit erblickt hatte – nun ja, Aruula war sooo hässlich nun auch nicht –, fehlten ihm nicht nur die Worte. Er spürte auch, dass sich ein süßes Entzücken in seinem Brustkorb aufblähte. Außerdem registrierte er, dass sein Intelligenzquotient mit jeder Sekunde sank, in der er sein Gegenüber anstarrte. »Nur Mut«, sagte das bezopfte Wesen. »Ich bin Frøken Nonni, Pelle Gyldendals Tochter und Sekretärin.« Frøken bedeutete Fräulein. Und Fräulein bedeutete, dass Nonni unvermählt war. Was hab ich doch für ein mordsmäßiges Glück, dachte Sepp erfreut. Natürlich werde ich sie beizeiten heiraten. Dazu war es vielleicht ganz angebracht, wenn er sich ihr zuerst vorstellte. »Ich bin Josepp Nüssli«, hauchte er, noch immer leicht von
Sinnen, und beugte sich über den Tisch, da ihn die unter Nonnis Bluse wogenden drallen Hügelchen magisch anzogen. »Pater Peeder«, – Sepp schaute sich rasch um, um zu eruieren, ob sie jemand belauschte –, »hat mich geschickt.« Dann fügte er schnell hinzu: »Meine Freunde... und natürlich auch meine Brüder und Schwestern in Kristo... nennen mich übrigens Sepp.« Frøken Nonnis Blick ruhte mit Wohlgefallen auf ihm. Sepp merkte es gleich. Erneut spülte eine warme Woge durch sein Inneres. Dann nickte sie und stand auf. Nun sah Sepp, dass sie doppelt so groß war wie er – schätzungsweise einen Meter fünfundfünfzig. Aber das machte ihm nichts aus. Auch Pabst Viktorius war ein kleiner Mensch, und er hatte mindestens sieben Frauen. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Bruder Sepp.« Nonni reichte ihm die Hand, was Sepp sagte, dass sie Kultur hatte, denn diese Geste war nicht weit verbreitet. »Man hat mir deinen Besuch schon angekündigt«, fuhr Nonni fort. »Aber mein Vater führt gerade ein... hm... geschäftliches Gespräch, deswegen muss ich dich bitten, noch ein Weilchen zu warten.« Sie deutete auf einen Stuhl und setzte sich wieder hin. Sepp nahm Platz. Es fiel ihm schwer, den Blick von Nonni abzuwenden, aber da für einen Spion das Sammeln von Informationen immer an erster Stelle stand, ließ er den Blick umherschweifen. An der Wand hinter Nonni erspähte er ein Plakat, auf das jemand mit einer hübschen Handschrift die Zehn Gebote der Kristianer-Kirche geschrieben hatte: 1. Ich bin dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir; ausgenommen vielleicht meinen eingeborenen Sohn Kristian. 2. Du sollst meinen Namen nicht verfluchen; es sei denn, du hast einen guten Grund dazu.
3. Gedenke, dass du den Sabbath heiligst, auch wenn dir schleierhaft ist, was ich damit meine. 4. Am siebenten Tag sollst du ruhen; es sei denn, du hast auch schon an den sechs Tagen davor keinen Handschlag getan. 5. Du sollst Vater und Mutter ehren, sofern sie sich als ehrenwert erweisen. 6. Du sollst nicht töten; es sei denn, du bist Soldat und musst Befehle ausführen. 7. Du sollst nicht ehebrechen; es sei denn, die Frau, mit der du die Ehe brichst, ist eine Ungläubige. 8. Du sollst nicht stehlen; es sei denn, deine wirtschaftliche Lage zwingt dich dazu. 9. Du sollst kein falsches Zeugnis wider deinen Nächsten ablegen; es sei denn, er lügt selbst wie gedruckt und beschäftigt durchtriebene Winkeladvokaten, um dich um Haus und Hof zu bringen. 10. Lass dich nicht gelüsten nach deines Nächsten Weib, Haus, Acker, Knecht, Magd, Ochse und Esel; es sei denn, er ist dir was schuldig und kann dich nicht auszahlen. Doch das war noch nicht alles. An einer anderen Wand erblickte Sepp allerlei in transparente Hüllen geschlagene Gemälde. Sie waren so realistisch ausgefallen, dass er es kaum fassen konnte. Ebenso unfassbar war die Schönheit der abgebildeten Frauen. »Man nennt diese Gemälde Pfotigrafien«, erläuterte Nonni, die Sepps Erstaunen anhand seines offen Mundes bemerkte. »Die Arbeiter meines Vaters haben sie vor kurzem aus einem verschütteten Raum geborgen. Sie sind schön, nicht?« »Nicht so schön wie du, Schwester«, entfuhr es Sepp, der sich gleich darauf mit der flachen Hand auf den Mund schlug. Doch seine Bemerkung schien Nonni zu erfreuen, denn sie errötete, lachte leise und bedankte sich artig für sein
Kompliment. Sepp wurde noch verlegener. Nun war es keine Frage mehr, dass er alles tun wollte, um ihr Herz zu erobern. Doch wie sollte er vorgehen? Die Kristianer durften nämlich nur Kristianer ehelichen... Sollte er zu ihrem Glauben übertreten? Eigentlich glaubt er nicht, dass ihre Religion was taugte. Er hatte zwar die Erbauungsschriften über Kristian, den Sohn ihres Gottes, und dessen tolldreiste Abenteuer im mythischen Lande Yizrael gelesen, aber... Nun ja, sie kamen ihm ziemlich abgefahren vor. Besonders das Abenteuer, bei dem Kristian mit einer Flasche Doppelkorn und einer Fischgräte Tausende von Menschen ernährt hatte. Vielleicht konnte er Nonnis Sympathie gewinnen, wenn er ein bisschen Frömmigkeit heuchelte? Sepp wollte gerade ausholen und einen Schwank aus seiner Jugend erzählen, als hinter ihm eine Tür knallte. Er schaute auf und sah einen ungehalten vor sich hin murmelnden Finsterling, der mit großen Schritten an ihm vorbei zum Ausgang des Vorzimmers marschierte. Sepp, nun wieder ganz Spion, prägte sich seine Physiognomie ein, als er die in die Marmorhalle führende Tür aufriss: Wenn er je einen Unsympathen gesehen hatte, dann in diesem Moment. »Herr Knuud«, sagte Nonni verdutzt. »Was ist denn?« Herr Knuud drehte sich um, fletschte die Zähne und verschwand in der Marmorhalle. Als er weg war, ging die hinter Sepp ins Schloss geworfene Tür auf und ein anderer Mann baute sich vor dem Tisch seiner Angebeteten auf. Er war untersetzt und breitschultrig, sein Haupthaar war blond, und er wirkte insgesamt gesehen ziemlich bärig. »Knuud tötet mir den Nerv«, sagte er zu Nonni. »Seit er seinen neuen Geschäftspartner hat, ist er wie ausgewechselt!« »Was ist denn, Papa?«, fragte Nonni. Papa seufzte. »Schon wieder die alte Leier... Er hat mich schon wieder aufgefordert, ihm unser schönes Gebäude zu
einem Schleuderpreis zu verkaufen. Und wenn ich nicht zusage...«, – er raufte sein blondes Haupthaar –, »wird er, wie er sagt, andere Saiten aufziehen.« Erst jetzt bemerkte Papa Sepp Nüssli auf seinem Stuhl an der Wand. »Was will der Junge hier?«, fragte er leicht unwirsch. »Haben wir nicht schon einen Laufburschen?« Sepp sprang auf. »Ich bin kein Junge« , sagte er. »Ich bin ein kleiner Mensch.« »Bist du ein Troll?« Sepp runzelte die Stirn. »Ich bin Sicherheitsexperte.« »Aber ein sehr kleiner«, sagte Papa Gyldendal leicht geringschätzig. »Aber ich hab was auf dem Kasten«, erwiderte Sepp und tippte sich an die Stirn. »Das klingt schon besser«, meinte Papa Gyldendal. »Hast du Referenzen?« Sepp griff in die Tasche und legte seine Referenzen auf den Tisch. Pater Peeder und seine zwölf Apostel hatten sie in der vergangenen Nacht gefälscht, damit er einen guten Eindruck machen konnte. Während Papa Gyldendal sie prüfte, was ihm nicht leicht fiel, da er wie die meisten Erdbuddler mit Buchstaben nicht sehr vertraut war, zwinkerte Nonni Sepp aufmunternd zu. »Hm, nicht übel«, sagte Papa Gyldendal dann und gab Sepp die Papiere zurück. »So einen wie dich könnten wir gewiss brauchen – wenn ich wüsste, was ein Sicherheizperte ist.« »Sicherheitsexperten«, – Sepp reckte sich, um größer zu wirken –, »machen Unternehmen einbruchssicher und halten Geschäftsleuten Menschen vom Hals, die sie bedrohen.« Papa Gyldendal kniff das rechte Auge zusammen. »Menschen wie Knuud von der Deehael, von denen man möglicherweise Ungutes zu erwarten hat?« »Genau solche.« Sepp nickte und setzte eine hartgesottene
Miene auf. »Die machen wir Sicherheitsexperten ganz besonders gern zur Schnecke.« Papa Gyldendal nickte froh. »Ich brauch einen Mann wie dich.« Er klopfte Sepp auf die Schulter. »Du bist eingestellt. Nenn mich Pelle.« »Mein Name ist Sepp. Sepp Nüssli.« Gyldendal nickte Nonni zu. »Gib ihm einen Standardarbeitsvertrag.« Dann ging er wieder in sein Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Nonni öffnete eine Schublade und klatschte fünfhundert Blatt Papier auf die Schreibtischplatte. »Mach hier dein Kreuzchen hin, Sepp«, sagte sie und deutete auf eine gestrichelte Linie. »Ich schätze, wir werden wunderbar zusammenarbeiten.« Hurra, dachte Sepp, ich bin drin! Besser hätte er es nicht treffen können! *** Der Ort, an dem Rosemary McNeil sich noch vor einigen Tagen aufgehalten hatte, hieß Rådhuspladsen. Da Matthew Drax auf der Columbia University in New York City neben Europäischer Geschichte und Französisch im Nebenfach auch Deutsch studiert hatte, konnte er mit dem Begriff sogar etwas anfangen. Als er und Aruula in den Ort kamen, steuerte er spontan einen herumlungernden Tagedieb an, sagte »Rådhus?« und setzte eine fragende Miene auf. Zu seinem Erstaunen antwortete der Mann in einer Mundart, das er als Plattdeutsch einstufte. Nachdem sie eine Weile miteinander parliert hatten, wusste Matt, dass Kobenhachen von so genannten »Feffersecken« wimmelte, Angehörigen einer Kaufmannskultur, die nach der Entdeckung einer so
genannten »Unterstadt« in Scharen hierher gekommen waren, um selbige auszuplündern. Inzwischen stellten sie zwei Drittel der örtlichen Bevölkerung und hatten ihre Sprache so weit durchgesetzt, dass auch die einheimische Minderheit nicht ohne sie auskam. Matt schenkte dem Tagedieb einen Schokoriegel aus der Bordverpflegung. Dann machte er sich, die argwöhnisch um sich blickende Aruula an seiner Seite, zu der Gasse auf, die am Rådhuspladsen endete. McNeils Unterkunft befand sich in einen dreistöckigen Haus, neben dem ein finsteres, heruntergekommenes Gebäude aufragte. Über dessen Eingang hing ein Schild mit der Aufschrift DEEHAEL ARTEFAKTEN-EXPORT. Vor der Tür lungerte ein bärtiges Element mit rotblonden Zöpfen herum und stocherte mit einem Messer in seinem lückenhaften Gebiss herum. Als der Bursche Aruula erspähte, leckte er sich die Lippen. Matt befürchtete schon neuen Ärger, aber der Bärtige verhielt sich ruhig. Er glotzte nur, als sie an die Tür des Hauses klopften, in dem McNeil wohnen sollte. Auf das Klopfen hin tat sich nichts, sodass Matt zu einem leichten Hämmern überging. Das zeigte Wirkung. Eine junge blonde Frau mit einem kurzen Rock und einem löcherigen Schlüpfer öffnete die Tür, musterte Aruula mit einem biestigen Blick und fing sich ein Naserümpfen ein. »Jå?« »Wir möchten zu Rosie.« Matt deutete eine Verbeugung an. »Ich bin ihr Bruder, und das«, – er nickte kurz in Aruulas Richtung –, »ist meine Frau.« »Rosie, hm?« Die Blondine mit dem löcherigen Schlüpfer zuckte die mageren Achseln und schüttelte ihr zerzaustes Haupt. Sie schien gerade aus dem Bett gekrochen zu sein und sprach den Snagg der Feffersecke. »Die hab ich schon Tage
nicht mehr gesehen. Frag mal Fredryk.« »Gern. Wo finde ich den?« Die Frau deutete über Matts Schulter, dann knallte sie die Tür zu. Matt und Aruula drehten sich um. Über das Pflaster der Gasse kam eine schlaksige Gestalt mit wehender blonder Mähne auf sie zu. Matt schätzte den Mann auf Ende zwanzig. Er war zwar nicht besonders hübsch, aber erinnerte ihn an Hamlet, Hägars Sohn. »Fredryk?«, fragte Matt. Der junge Mann nickte, ohne ihn anzusehen, denn der Blick seiner wasserblauen Augen galt Aruula. Bevor Fredryk Gelegenheit bekam, sein Entzücken durch Sabbern zu demonstrieren, schob Matt sich vor seine Gefährtin. Er sagte erneut sein Sprüchlein auf, und Fredryk kam zu sich. »Nett, euch kennen zu lernen.« Er deutete auf die Haustür. »Kommt doch rein.« Er schloss auf, und eine Minute später wusste Matt, dass das Haus ihm gehörte. Er erfuhr, dass Beobachterin McNeil in der Tat hier wohnte, dass Fredryk sie aber seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. »Und das ist eigenartig«, fuhr er fort, als die beiden Besucher in seiner ungewöhnlich großen, gut ausgestatteten Küche saßen, »denn normalerweise ist sie immer zum Frühstücken zu mir runter gekommen.« Wie Fredryk weiterhin ausführte, war er Koch von Beruf und Inhaber des Restaurants »Tifoli«. »Na, es ist eigentlich mehr eine Tränke als ein Restaurant«, gab er augenzwinkernd zu. »Aber wir servieren auch Spezialitäten, die es in sich haben.« Durch geschicktes Befragen brachte Matt in Erfahrung, dass Fredryk keinen Schimmer hatte, was Rosie McNeils wirkliche Profession anbetraf. Er hielt sie für eine Retrologin, die für einen Buddler arbeitete.
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?« Der Tag, den Fredryk nannte, stimmte mit dem überein, an dem McNeil sich zuletzt per Funk gemeldet hatte. »Am nächsten Tag wollte sie mit ihrer Freundin Nonni den Retrologen Bing aufsuchen«, sagte Fredryk. »Vermutlich, um eine zweite Meinung über irgendeinen Gegenstand einzuholen, den die Arbeiter ihres Chefs ausgegraben haben. Aber sie ist zur verabredeten Zeit nicht erschienen. Ich hab Nonni getroffen. Sie hat es mir erzählt.« »Wo finde ich diese Nonni?« Fredryk sagte es ihm. Dann setzte er eine finstere Miene auf. »Es ist ganz und gar untypisch für Rosie. Sie ist doch immer so ordentlich.« Er löste seinen Blick von Aruulas Busen und beugte sich über den Tisch. »Ich glaube allmählich, ihr ist etwas zugestoßen...« Matt schlug die Hände vors Gesicht, denn als Bruder musste er glaubhaft reagieren. »Und noch etwas...« »Ja?« Matt ließ die Hände sinken. Fredryk sprach nun so leise, dass Matt und Aruula sich vorbeugen mussten, um ihn zu verstehen. »Einen Tag nach Rosies Verschwinden ist jemand ins Haus eingebrochen«, zischte er. »Das Schloss ihrer Wohnung wurde geknackt.« »Nein!«, stieß Matt hervor. »Doch.« Fredryk nickte. »Jemand hat ihre Sachen durchwühlt.« »Und wurde etwas gestohlen?« Fredryk hob entschuldigend die Achseln. »Das weiß ich leider nicht. Aber vielleicht könnt ihr es in Erfahrung bringen. Du kennst doch bestimmt den Besitz deiner Schwester.« »Richtig.« Matt nickte erfreut. »Wenn ihr wollt, könnt ihr in Rosies Wohnung schlafen, bis
sie wieder da ist.« Fredryk hüstelte. »Falls sie je zurückkommt.« »Wollen wir das Beste hoffen«, erwiderte Matt. »Malen wir Orguudoo nicht an die Wand.« Er bedankte sich für Fredryks großzügiges Angebot. Als er mit Aruula nach oben gehen wollte, sagte ihr Gastgeber: »Hört mal, habt ihr schon zu Mittag gegessen? Wenn nicht, lade ich euch ein. Ich wollte mir ohnehin was brutzeln. Hinter mir liegt ‘ne harte Nachtschicht, da hab ich immer Hunger. In ‘ner halben Stunde bin ich fertig.« »Ja, danke.« Matt und Aruula stiegen eine knarrende Treppe hinauf und betraten McNeils Wohnung. Sie war ziemlich weiblich eingerichtet: Vor den Fenstern hingen hübsche Gardinen und bunte Vorhänge. Die Dielen waren sauber wie geleckt, nirgendwo lag Staub. Die Schubladen einer Kommode standen offen. Aruula beugte sich vor und begutachtete jene Dinge, die Techno-Frauen unter der Oberbekleidung trugen. Während sie damit beschäftigt war, stellte Matt den Rest der Wohnung gründlich auf den Kopf. Doch er fand weder eine Waffe noch ein Funkgerät oder einen T-Rechner. In McNeils Bleibe existierte nichts, das andeutete, woher sie wirklich kam. Abgesehen natürlich von ihrer Unterwäsche. Als sich Matt auf McNeils Bett setzen wollte, um einen frustrierten Seufzer auszustoßen, schrie Fredryk: »Hu-huu! Essen ist fertig!« Also gingen sie in die Küche, in der es wunderbar nach Gebratenem duftete. Laut Fredryk hieß das Gericht »Hvid labskovs« und bestand aus Wakudafleisch, Tofanen und Fefferkörnern. Es mundete ausgezeichnet, auch wenn Matt der anschließend gereichte Verdauungsschnaps fast ein Loch in seine Magenschleimhaut brannte. Das Dessert erinnerte an Pudding. Als Matt den Löffel in seine Schale schob, hörte er Fredryk murmeln: »Hmmm!
Fa’rea-Gelee!« Matt schrak zusammen. Erst kürzlich hatte er erfahren, welchen Effekt dieser aus Schnecken gewonnene Leckerbissen auf die Libido hatte. Nicht, dass er etwas gegen Sex an sich hatte – aber den Zeitpunkt wollte er selbst... »Hmmm – lecker!«, sagte Aruula. Matts Kopf fuhr herum. Zu spät. Seine Gefährtin schob sich gerade einen Löffel in den Mund und verdrehte verzückt die Augen. Herr im Himmel, dachte Matt. Aruula kam nicht dazu, ihre Schale zu leeren. Nach fünf Löffeln fingen ihre Augen an zu glänzen. Eine eigenartige Unruhe ergriff sie und plötzlich sprang sie auf. In ihren Augen sprühte zärtliches Verlangen. »Mir ist so komisch... Ich glaube, wir müssen noch etwas Wichtiges unter vier Augen... besprechen! Komm! Sofort!« Und schon zog sie ihn unter Fredryks amüsierten Blicken nach oben. Damit waren der Rest des Tages, der Abend und die Nacht für ihn gelaufen. *** Der Rückweg war weniger beschwerlich. Vielleicht lag es daran, dass in den frühen Abendstunden Gendarmen durch die Oberstadt patrouillierten und die Tagediebe vor den Schaufenstern der Geschäftsleute vertrieben, wo sie mit ihren Blechbüchsen schepperten und die Kundschaft vergraulten. Auch die blond bezopften Damen mit den kurzen Röcken machten sich an diesem lauen Abend rar. Als Sepp vor der Tür des »Brønstigen Bøckleyn« stand, überraschte es ihn aber doch, dass es in der Gaststube so still war wie in einem Grab. Er hatte Geklimper und Gläserklirren
erwartet, dazu das Gegröle trunkener Seeleute und das Gekreisch der Thekenschwestern. Doch nichts dergleichen drang an sein Ohr. Als er die Tür öffnete, sah es im Inneren des Lokals fast so wüst und leer aus wie vor dem Tag, an dem Kristians Vater den Himmel und die Erdscheibe erschaffen hatte. Alles wirkte so, als hätte sich ein Rudel Taratzen hier ausgetobt. Tische und Stühle waren weitgehend beinlos. Der aus groben Planken bestehende Fußboden war von einem Scherbenmeer bedeckt. Die Plakate waren von den Wänden gerissen und lagen in Fetzen überall verstreut. Die in den Hälsen leerer Flaschen auf den Tischen stehenden Kerzen waren samt und sonders sauber abrasiert, als hätten Degenfechter sie zu Übungen missbraucht. Als Sepp in den hinteren Teil des Lokals ging, wo sich auch der Lagerraum mit den Waffen befand, die Peeders Apostel dem Erdreich entrissen hatten, stieß er auf die ersten Leichen. Und die von den Aposteln in Kisten verpackten Wümmlis waren weg! Gopferdammi, dachte er. Auf was hab ich mich da wieder eingelassen? Das Aussehen der Leichen zeigte, dass die Apostel keines natürlichen Todes gestorben waren. Wände und Boden waren voller Blut. Über allem lastete eine gespenstische Stille, die nur das Gesumm einiger Fleggen unterbrach, die durch ein offenes Toilettenfenster Einlass gefunden hatten und sich nun an den verschiedenen Kristianern gütlich taten. Was für ein gopferdammter Mist, dachte Sepp, nachdem er seine Übelkeit überwunden hatte. Wer, um alles in der Welt, ist für diese Schandtat verantwortlich? Schließlich zählte er die Leichen und kam auf zwölf. Die dreizehnte fand er in dem Büro, in dem er und Pater Peeder in der letzten Nacht ihren genialen Plan geschmiedet und seine Referenzen gefälscht
hatten. Alle waren tot – auch der Statthalter der Kirche. Doch das Schlimmste stand Sepp noch bevor: Bei seiner nachfolgenden Durchsuchung des Büros fiel ihm auf, dass die von Frøken Nonni beschafften Baupläne des Unterstadthauses ihres Vaters verschwunden waren. Jenes Hauses, in dem die Boombe der alten Muzzelmanen lagerte! Sepp mochte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die unbekannten Mörder feststellten, welches Grauen Pelle Gyldendals unterirdischer Besitz barg... Ein plötzlicher Gedanke ließ sein Herz panisch pochen: Stell dir vor, jetzt geht die Tür auf und ein durstiger Gendarm tritt ein. Zuerst sieht er die Leichen, dann sieht er mich. Was soll ich sagen? »Ich weiß, wie es aussieht, Herr Wachtmeister, aber ich kann es erklären«? Kaum hatte Sepp diesen Gedanken zu Ende gedacht, als er wie ein geölter Blitz in das Kämmerchen wetzte, das Peeder ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er warf sein Zeug in die Reisetasche, hängte das Postmäppchen um seinen Hals und rannte dann, als sei Orguudoo ihm auf den Fersen, durch das Scherbenmeer ins Freie. Draußen holte er tief Luft, machte sich klein (was ihm relativ leicht fiel) und spazierte mit lockerem Schritt in Richtung Oberstadtzentrum. Nun war es wichtig, eine gelassene Miene zu zeigen, damit ihm niemand anmerkte, welches Grauen er geschaut hatte. Vielleicht war es ganz gut, wenn er, um noch unverdächtiger zu wirken, ganz entspannt ein Liedchen vor sich hin pfiff... Ohne über den Weg nachzudenken, bog er mehrmals ab. Kaum fünf Minuten später hatte er sich heillos im Gewirr der Gassen verfranst. Irgendwann begegnete ihm zu allem Übel auch noch ein Gendarm, dessen Blick zu sagen schien: Ich weiß, dass du ein Massenmörder bist, du Zwerg! Zum Glück zog er aber keine Konsequenzen aus seinem Wissen, sodass
Sepp schnell die nächste Ecke nahm und sich in einer Straße wieder fand, die er kannte. Als er sich umschaute, um sicherzugehen, dass ihm niemand auf den Fersen war, erblickte er zu seinem Schreck die Unsympathenvisage des Herrn Knuud! Der Kerl setzte nicht nur seinen neuen Arbeitgeber unter Druck; er betätigte sich jetzt allem Anschein nach auch als Beschatter. Natürlich konnte es auch ein Zufall sein, dass er gerade diese Straße durchquerte. Doch Sepp glaubte nun nicht mehr an Zufälle. Knuud war hinter ihm her. Vermutlich hatte er schon an seinen Fersen gehangen, seit er aus dem Schlachthaus getreten war... Ah, ein Laden! Sepp huschte hinein. Die hinter dem Tresen stehende Verkäuferin – eine bezopfte Blondine – hob überrascht die Brauen. Sepp schaute sich um und errötete. Das Geschäft, in dem er Zuflucht gesucht hatte, verkaufte nur löcherige Damenschlüpfer. »Gibt’s hier eine Hintertür?«, fragte Sepp. Die Verkäuferin war so verdattert, dass sie nur den Arm ausstreckte. Sepp eilte in die angegebene Richtung und fand sich bald darauf in einer Gasse wieder, in der er sogleich von einem Tagedieb mit einer Blechbüchse umtanzt wurde. Zum Glück hatte Frøken Nonni ihm nach der Unterzeichnung seines Arbeitsvertrages einen kleinen Vorschuss ausgezahlt, sodass er den Mann kurzfristig als Führer aus dem Gassenlabyrinth verpflichten konnte. Eine Viertelstunde später erreichte Sepp Nüssli in Schweiß gebadet und die Reisetasche an der Hand den Eingang des Hiltoon. Der Türsteher kannte ihn inzwischen und winkte ihm leutselig zu. Von Herrn Knuud war weit und breit keine Spur zu sehen. Sepp hatte ihn erfolgreich abgeschüttelt.
Doch auf dem Platz vor dem Gebäude, in dem Pelle Gyldendal seine Buddelgeschäfte betrieb, erwartete Sepp der nächste Schreck: Herr Knuud war offenbar schneller gewesen als er. Er stand mit einem weiteren Finsterling genau vor dem Eingang und ließ ihn nicht aus den Augen. Gopferdammi! Hatte sich denn heute alles gegen ihn verschworen? Sepp wollte gerade in die Gasse zurückweichen, aus der er gekommen war, als neben ihm jemand an eine Scheibe klopfte. Als er herumfuhr, fiel sein Blick auf das öngelhafte Antlitz von Frøken Nonni. Sie saß hinter der Scheibe des Cafes und winkte ihm aufgekratzt zu. Ah, die Rettung! Sepp huschte – hoffentlich – ungesehen ins Cafe hinein, stellte seine Reisetasche ab und nahm Nonni gegenüber Platz. »Was ist denn, Bruder Sepp?«, fragte Frøken Nonni leise und beugte sich vor. »Du siehst ja aus, als wäre dir der Gehörnte begegnet...« Der Gehörnte, Sepp wusste es aus den Erbauungsschriften von Pabst Viktorius, war der Deckname eines gewissen Toyfl, der dem bösen Orguudoo glich. Nur hatte er einen Taratzenfuß und stank nach Efrantendung. »Viel schlimmer«, raunte Sepp und setzte dazu an, ihr von der Katastrophe zu berichten, die ihren Kirchensprengel bis auf den letzten Apostel ausgelöscht hatte. Frøken Nonni lauschte mit kreidebleicher Miene, und Sepp hatte gerade das letzte Wort gesprochen, als die Tür aufging und drei Gestalten, die sich hinter schwarzen Masken versteckten, auf ihren Tisch zustürmten. Nicht nur die Gäste, auch das Personal und Nonni stießen einen Schrei aus, als sie die Vermummten sahen. Im Nu hatten zwei der Lumpen die heftig um sich tretende Jungfer gepackt und machten Anstalten, mit ihr durch die Hintertür zu verschwinden.
Sepp hatte sich klugerweise zunächst unter den Tisch rutschen lassen, um in der Art der Spione Informationen über den Feind zu sammeln. Doch als er sah, was sie taten, rastete in seinem Inneren etwas aus und seine Rechte griff zu seinem Bolzer. Sie entführen meine Braut!, zuckte es durch sein Hirn. Das kann ich nicht hinnehmen. Er stürzte wie der Blitz unter dem Tisch hervor, nahm Ziel und feuerte einen Bolzen ab. Das heißt, er wollte einen Bolzen abfeuern, doch seine Waffe – der Gehörnte sollte sie holen! – sabotierte diesen Plan. Ladehemmung! Von Wut übermannt, ließ Sepp den Bolzer fallen, hechtete nach den Beinen des letzten Entführers, der das Cafe verließ, krallte sich in dessen linken Oberschenkel und biss zu. Der Schrei, der durch den Raum hallte, übertönte sogar das Gewinsel der Gäste, die unter den Tischen Zuflucht suchten. Dann krachte von oben etwas Hartes auf Sepps Schädel, und er sah Sterne. Als er halbwegs wieder zu sich kam, befand er sich unter der übel riechenden Achselhöhle eines Entführers, der ihm eine Art Sack über den Kopf zu ziehen versuchte. Da Sepp heftig um sich trat und biss, blieb es nicht aus, dass kurz darauf wieder etwas gegen seinen Kopf knallte. Diesmal gingen alle Lampen aus. *** Der sonnige Tag hätte eigentlich gute Laune mit sich bringen müssen. Doch als sich Commander Drax einen Weg durch die verwinkelten Gassen bahnte, fühlte er sich aufgrund gewisser nächtlicher Aktivitäten ziemlich ausgelaugt. Andererseits waren Aruula und er in letzter Zeit viel zu selten allein; da musste er für jede gemeinsame Minute dankbar sein.
Früher, als sie noch zu zweit über diese gewalttätige Welt gewandert waren, hatten sie mehr Zeit füreinander gehabt. Doch seit der zunehmenden Kontakte mit den Nachfahren jener Menschen, die den Weltuntergang 2012 in Bunkern überlebt hatten, hatte sich viel verändert. So sehr sich Drax auch nach Privatleben sehnte – ihm war doch klar, dass die Allianz auf sein Wissen aus alter Zeit angewiesen war. Der Kometeneinschlag hatte das Antlitz der Erde nicht nur verwüstet, sondern die Menschen so verändert, dass Matt manchmal glaubte, auf einem anderen Stern zu leben: Überall auf der Erde wimmelte es von tierischen und menschlichen Mutationen aller Art. Doch nicht allen war die Veränderung anzusehen: Aruula verfügte beispielsweise über das telepathische Talent des Lauschens. Bevor Matthew Drax in seiner Betrachtung der Welt fortfahren konnte, stolperte er über einen vorstehenden Pflasterstein, verlor das Gleichgewicht und prallte gegen den Bauch eines behelmten Hünen in dunklem Echsenleder. »Du bist aber unschick angezogen«, blökte der Kerl herablassend. »So kann ich dich natürlich nicht reinlassen! Es sei denn...« Er hielt die Hand auf. Ein Türsteher! Matt war fassungslos. Irgendwie hatte sich das Berufsbild dieses Jobs über die Jahrhunderte hinweg erhalten. Er wusste zwar nicht, was der Behelmte hier zu verhindern glaubte, aber er war ein Hindernis auf seinem Weg in die Unterstadt. Also legte er, um Reibereien zu vermeiden, eine Münze in die Pratze des Behelmten, der ihm daraufhin die Tür aufhielt. Als Matt über die in die Tiefe führende Treppe schritt, beglückwünschte er sich zu seiner Idee, Aruula zu dem Retrologen Bing zu schicken, der in der Oberstadt residierte. Sie sparten eine Menge Zeit, wenn sie sich ihre
Ermittlungsarbeit teilten. Die unterirdische Welt, in der Matt sich wiederfand, war faszinierend: In Jahrzehnte langer Arbeit hatten die Feffersecke einen ansehnlichen Teil der Kopenhagener Innenstadt freigelegt. Das Erdreich zwischen den Häusern hatte man bis zur zweiten Etage nach oben geschafft, sodass man durch Tunnels in alle bereits freigelegten Bereiche gehen konnte. Öllaternen erhellten die Unterwelt. Der Verkehr war zu ertragen. Viele Menschen, denen Matt begegnete, trugen mit Erde gefüllte Säcke oder zogen mit Beute beladene Karren hinter sich her. Die meisten wirkten wie Erdarbeiter. Über der Tür des Gebäudes, in dem der Buddler Gyldendal residierte, stand in Stein gemeißelt POLITISTATION. Matthew durchquerte eine große Marmorhalle. Ein Mann kam ihm entgegen, dessen breites Grinsen sein hässliches Gesicht nicht schöner machte. Grußlos eilte er hinaus, während Matt in ein Vorzimmer gelangte. Die Wände waren mit Filmplakaten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beklebt. Der Raum war leer bis auf einen stämmigen blonden Mann in den Vierzigern, der in einem Sessel zusammengesunken war und die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Matt erfasste gleich, dass hier etwas nicht stimmte. Der Mann wirkte verzweifelt, als hätte er gerade erst eine vernichtende Nachricht erhalten. »Ich suche Pelle Gyldendal«, sagte er nach einem Räuspern. Der Blonde erschrak so heftig, dass auch Matt unwillkürlich zusammenzuckte. Die Miene seines Gegenübers war totenbleich. »Sie haben meine Tochter entführt«, stöhnte er. »Und meinen neuen Sicherheitschef! Sie wollen mich fertig machen!« Matt runzelte die Stirn. Was ging hier vor? »Meine, äh, Schwester ist auch verschwunden«, sagte er. »Könnte es da einen Zusammenhang geben?«
»Was?« Gyldendal – Matt zweifelte nicht daran, dass er den Gesuchten vor sich hatte – schaute auf. Erst jetzt schien er ihn bewusst wahrzunehmen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Matt wiederholte seine Geschichte. »Der Mann, der eben hier rausgegangen ist«, sagte er. »War er es, der Ihnen die Nachricht überbracht hat?« Gyldendal lachte humorlos auf. »Knuud?« Er spuckte auf den Boden. »Er hat es nicht zugegeben, aber ich will meinen alten Helm fressen, wenn er nicht zu den Schurken gehört, die meine kleine Nonni entführt haben!« Er sprang auf. »Dass er zwei Minuten nach dem Eintreffen des Erpresserbriefs hier aufkreuzt und sein Angebot wiederholt, mein Unternehmen zu kaufen, sagt doch schon alles! Und dann besitzt er die Frechheit zu behaupten, er hätte gewisse Beziehungen und könne bestimmt dafür sorgen, dass meine Tochter wieder freikommt... Das ist doch wirklich der Gipfel!« »Zumindest ist es höchst verdächtig«, sagte Matt nachdenklich. Er schaute Gyldendal an. »Wer ist dieser Knuud? Kennen Sie ihn?« Gyldendal ging wütend auf und ab und traktierte die Büromöbel mit Tritten. »Und ob ich ihn kenne! Hab früher Geschäfte mit ihm gemacht – als er noch nicht an der Flasche hing. Er hat die Artefakte auf dem Festland versilbert, die meine Leute ausgraben. Durch seine Sauferei ist er ziemlich runtergekommen, aber dann hat er einen Finanzier gefunden. Seitdem spielt er sich immer mehr auf und will mein Unternehmen kaufen – weit unter Wert!« Seine Miene wurde noch finsterer. »Als ich mich geweigert habe, begann er mir zu drohen. Seine Auftritte wurden mit jedem Mal dreister.« Gyldendal lachte noch einmal, und diesmal klang er wie ein bissiger Hund. »Und jetzt hat er gewonnen! Ich hab ihm gerade alles abgetreten! Bis Sonnenuntergang muss ich meine Siebensachen gepackt und das Gebäude verlassen haben!«
Matt sortierte seine Gedanken. Zuerst hatten unbekannte Kräfte Rosemary McNeil ausgeschaltet. Nun war Nonni Gyldendal – Fredryk hatte sie als McNeils Freundin bezeichnet – entführt worden. Damit hatte er allerdings eine Spur: Wenn Gyldendals Vermutung stimmte, steckte dieser Knuud in der Sache drin. Er bat den Buddler um mehr Informationen, und als er den Namen von Knuuds Firma – Deehael – hörte, klingelte es in seinem Kopf. Deehael! Natürlich! Der Name stand über der Tür des Gebäudes, das an Fredryks Haus grenzte! Dies legte nahe, dass Knuud und die verschwundene Beobachterin sich gekannt hatten. Matt klopfte dem Ex-Unternehmer auf die Schulter. »Wir sollten zusammen arbeiten. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, Rosie McNeil und Ihre Tochter Nonni zu retten.« »Und meinen Sicherheitschef«, knirschte Gyldendal. »Und Ihren Sicherheitschef.« Matt nickte. Wer auch immer das sein mag. *** Als Sepp zu sich kam, summte in seinem Schädel ein Fleggenschwarm. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund. Als er den Kopf hob, zuckten Blitze in seinen Hirnwindungen. Wo er sich befand, konnte er nicht feststellen, denn sein Gefängnis war kohlrabenschwarz. Kein Problem für einen Meisterspion, dessen Umhang 164 Geheimtaschen aufwies! Normalerweise hätte Sepp damit rechnen müssen, dass seine Entführer ihn filzten. Wenn sie es nicht getan hatten, waren sie keine Profis. Das war schon mal gut. So riss er, nachdem sich seine Übelkeit ein wenig gelegt hatte, eins der Zündhölzer an, die er in Geheimtasche 78
lagerte, und musterte die Umgebung. Er befand sich in einem Raum, der im Normalfall vermutlich als Abstellkammer diente, denn er war fensterlos und enthielt bis auf eine verwanzte Matratze nur ein paar Blecheimer, Schrubber und Aufnehmer. Sepp schaute sich im flackernden Schein des Zündholzes um und erspähte eine Tür. Diese wurde, kaum dass sein Blick auf sie gefallen war, von jemandem aufgerissen, der ihm mit einer Öllaterne ins Gesicht leuchtete. Das Zündholz erlosch. Eine Sekunde später spürte sich Sepp am Kragen gepackt und hochgehoben. Ohne auf seinen Protest einzugehen, schleifte der nicht sonderlich gut riechende Lump seinen Gefangenen durch einen von Öllampen erhellten Korridor, trat dann eine Tür auf und ließ seine Last in den dahinter liegenden Raum fallen. »Autsch!« Die Tür fiel hinter Sepp ins Schloss. Die gleißende Helligkeit der durchs Fenster scheinenden Sonne blendete ihn, sodass er eine Weile brauchte, um zu sehen, dass er vor einem Schreibtisch auf den Dielen saß. Hinter dem Tisch hockte ein stattlicher Mann mit dunklem Haar, etwa um die dreißig. Allein seine grobporige Haut schmälerte den Eindruck eines Schönlings. Da er nicht wie ein Dummkopf wirkte, legte Sepp auf der Stelle den Plan zu den Akten, ihm eine wilde Räuberpistole aufzutischen. Der Mann musterte ihn eingehend, dann legte er einen Ordner mit Folien auf den Tisch, den er bis jetzt in den Händen gehalten hatte. Praktisch im letzten Moment erkannte Sepp auf dem Deckel der Akte das Signum der Kristianer-Kirche. Natürlich wurde ihm sofort klar, in wessen Händen er geraten war. Er saß in der Höhle des Sebezaans fest, im Hauptquartier der Mörder, die Pater Peeder und seine Apostel abgeschlachtet hatten. Die Lage sah nicht gut aus. »Wie heißt du?«, fragte sein Gegenüber. Da Sepp ihn für den Häuptling der Banditen hielt, nahm er
sich, sich erst mal im Backen kleiner Brötchen zu üben. Er nannte brav seinen Namen und seine Dienstnummer. Dann fügte er heldenhaft hinzu: »Ich protestiere auf das Schärfste gegen die Behandlung, die man mir hier zuteil werden lässt.« Der Mann hinter dem Schreibtisch winkte ab. »Mein Name ist Rasmus«, stellte er sich vor. »Ich betreibe ein Unternehmen, das kulturhistorisch bedeutsame Objekte aufspürt.« Rasmus deutete auf die Akte mit den antiken Bauzeichnungen. Sepp trat näher heran und stellte fest, dass es sich um die Folien handelte, die das Präsidium betrafen; um jenes Unterstadthaus, in dem die Alkøyda-Boombe lagerte. Und noch etwas fiel ihm auf: Obwohl er fast drei Ellen von Rasmus entfernt stand, strömte ein Hitzeschwall zu ihm herüber. Und das, obwohl es ansonsten kühl im Raum war. Eine solche Ausstrahlung war Sepp noch nie untergekommen. »Wie interessant«, entgegnete er. »Und was für ein Zufall – denn auch ich bin an kulturhistorischen Dingen interessiert.« Dabei dachte er in Wirklichkeit an völlig andere Sachen: Zum Beispiel, wie er dem mysteriösen Heißblüter entwischen und Nonni befreien konnte, damit sie endlich merkte, dass er ein ganzer Kerl war. »Das trifft sich gut.« Rasmus’ Stimme klang so glatt und einschmeichelnd wie die eines Schauspielers. »Denn ich brauche für eine... gewisse Tätigkeit dringend ein besonders kleines Modell der Primärrasse.« Sepp hatte keinen Schimmer, was er mit »Primärrasse« meinte. Er hielt sich eigentlich auch nicht für ein Modell, sondern eher für das leuchtende Beispiel eines mit allen Wassern gewaschenen Agenten. Aber um Schönwetter zu machen, ließ er seine opportunistische Ader heraus. Vielleicht ließ sich mit Rasmus ja irgendwie verhandeln. Vielleicht konnte er ihn überreden, Nonni frei zu lassen. Rasmus war schließlich Kaufmann. Wenn
er Sepps Hilfe brauchte, war er bestimmt auch zu Gegenleistungen bereit. So war das doch im Geschäftsleben. »Ich bin zu allen Schandtaten bereit«, erklärte Sepp. »Vorausgesetzt, Sie gehen auf meine Bedingungen ein.« Rasmus musterte ihn kurz. »Die Bedingungen bestimme ich.« Sepp knirschte verhalten mit den Zähnen. »Wie lauten die?« »Du gehorchst – oder du stirbst.« »Nun gut,« Sepp nickte lässig. »Damit kann ich mich arrangieren.« Rasmus nickte. Er wirkte zufrieden. »Schön.« Wieder strahlte er eine Hitzewelle ab. Sepp wich unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück. Der Typ war ein wandelnder Backofen! Dabei schwitzte er nicht einmal. Sepp wagte es, eine Frage zu stellen. »Wo ist Nonni?« »Es geht ihr gut«, erwiderte Rasmus. »Warum fragst du?« »Nun, ich liebe sie«, sagte Sepp und bedauerte im gleichen Moment, dass er in die Falle gegangen war: Nun hatte Rasmus zusätzlich noch ein Druckmittel gegen ihn! »Liebe, Liebe«, murmelte Rasmus. »Eine wirklich eigenartige chemische Reaktion...« Dann brachte er Sepp zur Kenntnis, dass jemand mit Namen Pelle Gyldendal ihm seine Behausung abgetreten habe und dass er, Sepp Nüssli, genau der Richtige sei, um in demselben eine Aufklärungsaktion durchzuführen. »Wenn du Nonni wieder sehen willst«, beendete Rasmus seinen Vortrag, ohne irgendwelche Einzelheiten auszuplaudern, »rate ich dir, in meine Dienste zu treten.« Seine dunklen Augen blitzten emotionslos auf. »Die Alternative ist dir bekannt.« Sepp schluckte und dachte: In welche Gülle bin ich da wieder geraten? Andererseits hatte er während der Spionageausbildung in Züri natürlich auch einen Psychokurs
absolviert, sodass es ihm nicht schwer fiel, auf verbale Drohungen mit Nonchalance zu reagieren. »Sicher«, sagte er lässig, obwohl ihm nun klar wurde, dass Rasmus auf die Boombe aus war, die Peeder und seine Apostel hatten vernichten wollen. »Aber als Profi muss ich auf einem ordentlichen Arbeitsvertrag bestehen.« Rasmus nicke. »Einverstanden.« Er nahm ein Blatt Papier und einen antiken Füllfederhalter aus der Schreibtischschublade. Als er zu Sepp herüber kam, fiel diesem auf, dass der Hitzeschwall deutlich nachgelassen hatte. Auch sah Rasmus’ Haut plötzlich nicht mehr so grobporig aus. Höchst seltsam... »Tragen Sie als Berufsbezeichnung Spion 1. Klasse ein«, sagte Sepp selbstbewusst. Dann hielt er inne. »Nein, Moment, schreiben Sie lieber... Meisterspion.« *** Der Laden, den Fredryk Aruula beschrieben hatte, lag an einer Ecke, an der drei Blechbüchsen scheppernde Tagediebe ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Durch das schmutzige Schaufenster sah Aruula allerlei Gegenstände, deren Zweck ihr schleierhaft war: drahtlose Computermäuse; eine Fender Telecaster ohne Saiten; kleine Schachteln mit der Aufschrift »Rauchen kann tödlich sein«; eine Broschüre Tourist in Copenhagen, und einen bunten Wälzer mit dem Titel Jim Trash und die Wilde 13, auf dem ein junger Mann im Trenchcoat sich mit bärtigen Räubern raufte. »Na, Schwester«, sagte einer der Müßiggänger und hielt ihr seine Blechbüchse unter die Nase. »Wolln wir heut ma orndlich schoppen gehn?« Seine Sprache klang fast so wie die der Doyzländer, die ihnen hin und wieder begegneten. Aruula kannte sie
inzwischen gut genug, um sie einigermaßen zu verstehen. Das Inglesische, das Maddrax immer sprach, wenn sie in Britana waren, ging ihr jedoch weitaus leichter über die Lippen. »Ist das hier das Geschäft des Retrologen Bing?« Aruula musterte den Burschen so eingehend, dass dieser respektvoll einen Schritt zurück machte, als ahne er, dass die Unversehrtheit seiner Zähne nicht gesichert war, wenn er frech wurde. Dann hob er den Kopf und deutete auf das Schild, das über der Eingangstür hing. Schließlich hielt er Aruula erneut die Blechbüchse unter die Nase. »Hassema…?« Aruula ließ ihn stehen und betrat das Geschäft. Ein Glöckchen bimmelte, als die Tür aufging. Herr Bing, ein hageres Männchen mit abstehendem Haar, tauchte hinter der Ladentheke auf. Aruula begutachtete den Trödel, der sich auf dem Boden und in den Regalen bis an die Decke stapelte. Sie sah eine ganze Anzahl von Geräten, von denen sie Dank der in Millan und Britana gemachten Erfahrungen inzwischen wusste, dass sie Akuvolt brauchten, um zu funktionieren. Leider war diese mythische Kraft an der Oberwelt vor unzähligen Generationen versiegt und existierte nur noch in den Bunkern der Technos. Aber es gab auch interessante Dinge in Herrn Bings Laden zu sehen: Sockenhalter, Schnurrbartbinden, Haarnetze und löcherige Schlüpfer in den Farben Altrosa, Schwarz und Grün. »Kann ich Ihnen helfen, meine Dame?« Aruula registrierte mit Freude, dass Herr Bing die Sprache der Britanier verwendete. Sicher kannte er alle Einheimischen und hatte sofort erkannt, dass sie aus der Fremde stammte. »Ich bin Ihnen gern zu Diensten.« Aruula musterte ihn. Herr Bing war zwei Köpfe kleiner als sie. Ein buschiger blonder Schnauzbart verdeckte seinen Mund zur Hälfte. Seine Frisur sah aus, als sei er gerade aufgestanden,
und seine Ohren erinnerten sie an Sepp Nüssli, den mutigen kleinen Burschen, den Maddrax und sie vor einigen Jahren in Suizza kennen gelernt hatten. In seinem rechten Auge klemmte ein merkwürdiges Glas, das seine Pupille vergrößerte. »Ich suche eine Freundin«, sagte Aruula. Herr Bing seufzte. »Ich auch.« »Sie heißt McNeil und ist vor vier Tagen verschwunden.« Aruulas Blick wanderte über den auf dem Tresen liegenden Kram. »Mäckniel? Kenn ich nicht.« Da erspähte Aruula ein verschrammtes Kästchen, das so aussah wie die T-Rechner, mit denen Maddrax und die Britanier in Landán hantierten. Und es lief ihr kalt über den Rücken. »An dem Tag, an dem sie verschwand, wollte sie mit ihrer Freundin Nonni hier vorbei kommen. Sie haben sie nicht zufällig gesehen?« »Nonni?« Herr Bing runzelte die Stirn. »Meinen Sie die kleine Nonni Gyldendal?« Er lächelte. »Die kenn ich! Sie kommt schon mal vorbei, weil ich Geschäfte mit ihrem Vater mache. Aber... wie heißt die andere noch mal?« Aruula wiederholte McNeils Namen, doch ihre Gedanken waren ganz woanders. Diese T-Rechner waren nicht sehr weit verbreitet. Genau genommen besaßen nur Menschen, die aus den Bunkern der Technos stammten, solche Dinger. Wie also kam der hier in Bings Laden? Aruula schwante Fürchterliches. »Nej«, sagte Herr Bing. »Ich kann mich nicht erinnern.« Gern hätte sie sich in eine Ecke gesetzt und die Hände um die Knie gelegt, um ein wenig zu lauschen. Der nette Herr Bing kam ihr irgendwie zweifelhaft vor. Maddrax musste sofort erfahren, auf was sie hier gestoßen war. »Tja«, sagte Aruula, »vielleicht bin ich auch im falschen Geschäft...«
Als sie zur Tür ging, fiel ihr Blick auf die Straße, und sie erblickte zu ihrer Verblüffung ausgerechnet den Mann, an den sie vor wenigen Minuten noch gedacht hatte: Sepp Nüssli kam über die Straße genau auf den Laden zu! Flankiert wurde er von zwei Gestalten, die nicht so wirkten, als gingen sie einer ehrenwerten Tätigkeit nach. Sepp sah nicht sehr glücklich aus. »Aber vielleicht finde ich ja noch etwas, das ich brauchen kann«, sagte Aruula schnell und huschte hinter ein Regal, in dem ein antikes Gasmaskensortiment auf Kundschaft wartete. Während sie so tat, als sei sie heftig an diesen Gegenständen interessiert, trat Sepp mit seinen Begleitern ein. Als er Aruula sah, hellte sich seine bedrückt wirkende Miene auf, doch dann warf er einen stirnrunzelnden Blick auf seine finsteren Begleiter und schüttelte verhalten und warnend den Kopf. Aruula verstand sofort, dass es besser war, Sepp nicht zu erkennen. Sie nickte ihm schnell zu, um ihm zu signalisieren, dass sie seine Botschaft verstanden hatte, dann kramte sie in den löcherigen Schlüpfern herum und spitzte die Ohren. Herr Bing begrüßte die Kunden in der Mundart, die schon der Tagedieb vor der Tür gesprochen hatte. Wie sich ergab, interessierten die beiden Männer sich für Seile aus Noylong. Herr Bing führte sie in eine Ecke, wo sie in Kisten wühlten und bald fündig wurden. Dann wollte einer der Kunden – Bing nannte ihn »Herr Tycho« – eine »eng anliegende Kombination« für ihren kleinen Begleiter kaufen. Aruula reckte den Hals, als sie Sepp in einem Gewand, dass seine Männlichkeit sehr betonte, vor einem fleckigen Spiegel stehen sah. »Was für ein Affenanzug!«, hörte sie ihn sagen. »Muss ich den wirklich anziehen?« »Du weißt, was Rasmus gesagt hat«, erwiderte Herr Tycho.
»Mit deinem weiten Zottelzeug wirst du dich irgendwo verheddern.« »Aber...« »Maul halten.« Sepp biss die Zähne aufeinander. Er verhielt sich merkwürdig, fand Aruula; als sei er ein Gefangener seiner Begleiter. Als die drei Männer gingen, heftete sie sich unauffällig an ihre Fersen. *** Während Pelle Gyldendal in der Unterstadt damit beschäftigt war, seine Siebensachen zu packen, schlenderte Matthew Drax, den Kopf voller Überlegungen, durch die Gassen der Oberstadt. Da er nun schon einige Stunden unterwegs war, hielt er nach einem Lokal Ausschau, um sich zu stärken. Restaurants gab es in Kobenhachen reichlich, da fast täglich Kaufleute aus Breemen in die Stadt kamen, die beköstigt werden mussten. Doch leider waren die meisten Futterstätten der Gegenwart an Schweineställe erinnernde Hütten, in denen Monsterkakerlaken und Schlimmeres grassierten. Als er vor einem Lokal namens »Tifoli« stand, begegnete ihm Fredryk, und Matt fiel ein, dass ihm dieser Laden gehörte. »Hej, Maddrax«, rief Fredryk fröhlich. »Komm rein, ich lad dich zum Tafeln ein!« Matt ließ sich nicht lange bitten. Fredryks zwinkernd vorgebrachtes Angebot von Fa’rea-Schnecken zum Dessert lehnte er jedoch dankend ab. Auch das »Tifoli« war eine Kaschemme. Allerdings tanzten hier keine Monsterkakerlaken auf dem Tisch, sondern blond bezopfte Frauen. Sie wiegten sich zu den Harmonien einer
Fünf-Mann-Band, die auf antiken Saiteninstrumenten einen Song schrammelte, der mit »Who Killed the Cat« gut betitelt gewesen wäre. Das Gekreisch tat Matts Magennerven nicht gerade gut, doch das von Fredryk persönlich aufgetragene »Stegtflæsk mit Persillesauce og brunede Tofafler« entschädigte ihn für den Schmerz. Dass im »Tifoli« zu dieser Stunde schon Betrieb herrschte, bedeutete wohl, dass das Essen hier gut war. Fredryk hatte alle Hände voll zu tun, aber als Matt fertig war, kam er vorbei und erkundigte sich nach seinen Fortschritten bei der Suche nach McNeil. Als er erfuhr, dass man die Tochter von McNeils Arbeitgeber entführt hatte und wer den Mann nun erpresste, furchte er die Stirn. »Wenn du eine Spur hast und Hilfe brauchst, sag mir Bescheid. Ich bin zwar kein Berserker, aber auch Köche wissen ein Beil zu schwingen.« Als Fredryk das Geschirr abräumte, wanderte Matts Blick durch das Lokal. Dann dachte er verblüfft: Das kann nicht wahr sein! Am anderen Ende des »Tifoli«, hinten an der Wand, saß Johnny Depp! Der Schauspieler, der seit über fünfhundert Jahren tot war. Ihm gegenüber hatte Knuud Platz genommen, der Matt in Pelles Unternehmen begegnet war. Seine Verblüffung war so groß, dass sie Fredryk auffiel. »Ist was?« Matt deutete mit dem Kinn auf Knuud und »Johnny Depp«. »Kennst du die Leute da?« Fredryk reckte den Hals und nickte. »Der Schöne heißt Rasmus. Er ist erst seit ein paar Monaten in der Stadt. Ihm gehört die Firma Deehael.« »Deehael?« Matt runzelte fragend die Brauen. »Ja, sie liegt neben meinem Haus. Der andere heißt Knuud.« Fredryk spitzte leicht verächtlich die Lippen. »Er ist als
Geschäftsmann eine Null und wäre längst pleite, wenn Rasmus ihm nicht unter die Arme gegriffen hätte.« Als Fredryk in die Küche zurückkehrte, bezog Matt Stellung am Tresen, orderte eine Tasse Kafi und beäugte unauffällig den Tisch, an dem Knuud und Rasmus speisten. Aus der Nähe betrachtet war die Ähnlichkeit mit dem Schauspieler nicht mehr so frappant. Zwei unterschiedlichere Charaktere konnte man sich kaum vorstellen: Während Knuud sich sehr hektisch gebärdete und zwischendurch die Gabel neben seinen Teller legte, damit er auch noch mit den Händen reden konnte, saß Rasmus steif wie ein Ölgötze da und betrachtete sein Umfeld analytisch wie ein Wissenschaftler eine Versuchsanordnung mit Laborratten. Wenn er sprach, verzog er keine Miene, und einmal, als eine der Tänzerinnen mit dem Popo wackelnd an ihren Tisch kam und mit Knuud schäkerte, verzog Rasmus nicht einmal einen Mundwinkel. Knuud legte den Arm um die Taille der Frau und kniff ihr in den Hintern. Dann ging die Tänzerin weiter und widmete sich einem anderen Gast. Schließlich trat ein Kellner an Rasmus’ Tisch und stellte die Standardfrage, die kein gebildeter Mensch mit der Wahrheit beantwortet hätte. »Hat’s geschmeckt?« »Danke«, sagte Knuud. »Nein«, sagte Rasmus ohne jede Emotion. Der Kellner errötete, entschuldigte sich und räumte ab. Der Kerl benimmt sich, als wäre er zum ersten Mal unter Menschen, dachte Matt. Da machte es in seinem Kopf Klick und er fing, ohne es verhindern zu können, verhalten zu zittern an. Konnte Rasmus ein Daa’mure sein? Einer der außerirdischen Formwandler, der sich an einem alten Foto Johnny Depps orientiert hatte? Hing McNeils Verschwinden mit Rasmus’ Hiersein zusammen?
Ich muss es wissen! Matt beugte sich über den Tresen und signalisierte Fredryk, der in der Küchentür stand, dass er dringend gebraucht wurde. »Hör zu«, raunte er, »du musst mir einen Gefallen tun...« Fredryk war zwar wegen der Kosten nicht gerade erbaut, doch als der Kellner kam und ihm meldete, dem dunkeläugigen Herrn an Tisch 17 habe die »Kalvelever« nicht geschmeckt, war er mit Matts Plan einverstanden. Als er in die Küche ging, um ihn auszuführen, überschlugen sich die Ereignisse: Die Tür ging auf und Matts alter Kampfgefährte Sepp Nüssli trat ein – das heißt, es sah eher so aus, als würde er von seinen Begleitern eingetreten. Matt hob spontan die Hand, um seiner Wiedersehensfreude Ausdruck zu verleihen, doch Sepps Reaktion – seine Lippen sagten stumm: Tu’s nicht – belehrte ihn eines Besseren. Was war hier los? Aruula folgte Sepp auf dem Fuße. Sie wirkte leicht aufgeregt, und als sie Matt sah, gesellte sich zu ihm an den Tresen. Sepp und seine Begleiter nahmen an dem Tisch Platz, an dem Rasmus und Knuud saßen. Aruula beugte sich zu Matt herüber und berichtete im Flüsterton von dem TrilithiumRechner, den sie im Laden des Retrologen gesehen hatte. »Was hältst du davon?«, fragte sie nervös. »Und wieso benimmt Sepp sich so sonderbar?« »Keine Ahnung.« Matt winkte Fredryk heran. »Aber das kriegen wir gleich raus.« Er flüsterte dem Koch zu, er solle auch den Neuankömmlingen an Rasmus’ Tisch ein Dessert zukommen zu lassen – als Schadensersatz für das entgangene Speisevergnügen des Herrn Rasmus. Der Kellner trat an Rasmus’ Tisch, und als er die dort sitzenden Männer »auf Kosten des Hauses« beköstigte, ohne verlauten zu lassen, was er ihnen da kredenzte, ließ Matt das Quintett nicht aus den Augen.
Knuud und die beiden anderen griffen beherzt zu und schaufelten den Fa’rea-Gelee in sich hinein. Sepp, der aus irgendwelchen Gründen – hatte die Angst ihm den Appetit verschlagen? – recht grün im Gesicht war, würgte beim Anblick der Leckerei. Rasmus warf der Nachspeise einen argwöhnischen Blick zu, dann aß er ebenfalls. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten: Knuud und die anderen Männer hatten ihre Schalen kaum geleert, als sie zunehmend nervös wurden. Kurz darauf grabschten alle drei nach einer an ihrem Tisch vorbei gehenden Tänzerin, die wohl ein Geschäft witterte und zwei Kolleginnen herbei winkte. Als sie an den Tisch traten, standen Knuud und seine Gefährten mit grotesk gespannten Beinkleidern auf. Sie nahmen sich weder die Zeit, mit den Frauen zu verhandeln, noch machten sie sich die Mühe, dem völlig verständnislos zuschauenden Rasmus eine Erklärung für ihr eigenartiges Verhalten zu liefern. Im Nu verließen sie die Gaststube und rannten, die Tänzerinnen im Schlepptau, eine Treppe hinauf, die in den ersten Stock führte. Rasmus reagierte dagegen nicht im Geringsten auf das teuflische Aphrodisiakum. Das musste an seiner Biologie liegen. Für Matt stand fest: Der Mann, der wie Johnny Depp aussah, konnte kein Mensch sein! *** Aruulas plötzliches Auftauchen im Geschäft des Retrologen hatte Sepp starken seelischen Auftrieb gegeben. Dann war ihm abrupt bewusst geworden, dass sie sich in höchste Gefahr begab, wenn sie ihn ansprach. Jeens und Tycho, Rasmus’ Helfer, hätten sich auch an ihr vergriffen,
wenn er die Begegnung zu einem Fluchtversuch genutzt hätte. Zwar wusste Sepp nicht, ob sie so weit gegangen wären, Aruula auf offener Straße abzustechen, doch Bings Laden bot genug Schutz für eine solche Tat. Außerdem konnte Sepp nicht wissen, ob der zerzauste Retrologe ebenfalls in Rasmus’ Sold stand. Wenn nicht, bestand zumindest die Möglichkeit, dass er so tief in seine Machenschaften verstrickt war, dass er den Mund hielt, wenn es in seinem Geschäft zu einem Gemetzel kam. Dass Rasmus’ Spießgesellen keine sensiblen Gemüter waren, bewiesen die Leichen Peeders und seiner Apostel. Und dass sie so skrupellos und brutal zu Werke gingen, konnte nur bedeuten, dass hier viel, viel Geld im Spiel war – vermutlich mehr, als der durchschnittliche Artefakte-Exporteur im Lauf eines Lebens zusammenraffen konnte. Auch die Begegnung mit Maddrax und Aruula im »Tifoli« hatte Sepp nicht dazu bewegen können, auf seinen Sklavenstatus hinzuweisen: Rasmus’ Helfer hatten Nonni und ihn ja sogar aus einem Cafe voller Menschen entführt. Das Anzetteln einer Rauferei in einer Kneipe, bei der Messer flogen und rein zufällig ein gewisser Maddrax ums Leben kam, gehörte wahrscheinlich zu den leichtesten Übungen dieser Typen. Außerdem traute Sepp seinen Freunden genug Grips zu, um aus seinem merkwürdigen Verhalten die richtigen Schlüsse zu ziehen: Natürlich würden sie argwöhnisch werden, wenn er so tat, als hätte er sie noch nie gesehen. Vermutlich schmiedeten sie schon längst einen Plan, wie sie ihren Genossen, der ihnen immerhin geholfen hatte, den schlafenden König in Züri auszuschalten, aus der Gewalt seiner Peiniger befreien konnten... Was nun aber nicht bedeutete, dass ein Josepp Nüssli sich fromm seinem Schicksal ergab und darauf wartete, dass jemand
Rasmus Saures gab. O nein. Bis dahin gab es noch einige Dinge zu tun. Zum Beispiel wusste Sepp noch immer nicht, wo in dem verfluchten Haus die Kammer lag, in der die süße Nonni festgehalten wurde. Am Tage hatte er aufgrund der ständigen Bewachung leider keine Gelegenheit gehabt, dies in Erfahrung zu bringen. Aber jetzt, drei gute Stunden nach der Begegnung in der Schankstube, war dunkle Nacht. Der Wind wisperte in den Weiden. Die Tagediebe vertranken ihre im Sonnenschein gemachte Beute. Und im Haus war alles still. Nur ein leises Klicken war zu hören. Es wurde von dem Türschloss erzeugt, das Sepp mit einer der Geheimtasche 134 entnommenen Haarnadel gerade knackte. Im Nu war er im Korridor, schaute flink nach links und rechts und sah... Nichts. Der Gang war leer. In Nebenraum schnarchte jemand lautstark. Ansonsten war nur das Knarren von Dielen zu hören. Doch dies schreckte Sepp nicht, denn er wusste, dass Holz auch in der Nacht arbeitet. Nachdem er sicher war, dass man ihn weder beobachtete noch belauschte, riss er ein Zündholz an. Er tastete sich im Schein des Flämmchens an Türen entlang und lugte durch alle Schlüssellöcher, ohne eine Spur von Nonni zu finden. Irgendwann wurde ihm klar, dass er auch schwerlich eine Spur finden würde, denn die Zimmer, in die sein Blick fiel, waren so finster wie der Korridor, durch den er pirschte. Hier und da erkannte er jedoch eine Kleinigkeit, speziell dann, wenn der Mond in den betreffenden Raum hinein schien. Zehn Zündhölzer später hatte Sepp in alle Räume gelugt und erklomm die nächste Etage. Da er auch dort nichts fand, nahm er sich die Dachstube vor. Um sie zu erreichen, musste er eine ziemlich wacklig aussehende Leiter hinauf steigen. Nachdem ihm dies gelungen war und er den Kopf durch eine Luke schob,
kam ihm die Idee, dass es hirnrissig wäre, eine Entführte in einem Raum unterzubringen, den sie so leicht verlassen konnte, wie er ihn betrat. Vermutlich ist sie im Keller eingesperrt. Sepp murmelte eine Verwünschung. Aber nun war er schon mal hier; da konnte er sich auch gleich nach einem Fluchtweg übers Dach umsehen – für den Fall, dass er Nonni noch in dieser Nacht befreien konnte. Da war ein Dachfenster. Komischerweise stand es offen, als wolle ihn jemand zur Flucht verleiten. Sternenlicht fiel in die Dachkammer und erhellte den Raum so weit, dass Sepp sich die kostbaren Zündhölzer sparen konnte. Das Dachfenster bot zwar seiner Meinung nach einen ausgezeichneten Fluchtweg, aber für einen kleinen Menschen war es etwas weit vom Boden entfernt. Als Sepp sich nach einem Stuhl umschaute, fiel sein Blick auf mehrere Kisten, die das Signum der KristianerKirche aufwiesen. Diebesgut! Sepp öffnete den Deckel der ersten Kiste. Da der Mond strategisch günstig stand, beschien sein silbernes Licht jede Menge eiserner Wümmlis aus der Alten Zeit und die dazugehörige, in Schachteln verpackte Munition. Das Zeug war Jahrhunderte alt. Dass man es heutzutage nur noch unter Schwierigkeiten herstellen konnte, hatte Sepp von Bruder Maximus erfahren, einem Geistlichen Agenten der KristianerKirche. »Vor ungefähr fünfhundert Wintern«, so Maximus, »fiel die Strafe Gottes vom Himmel und löschte die menschliche Zivilisation fast völlig aus. Dabei wurde so viel Dreck in die Luft geschleudert, dass der Tag für lange Zeit zur Nacht wurde und sich überall Eiseskälte ausbreitete. Die Ernte erfror auf den Feldern, und auch die Tiere. Im der Folgezeit starben 999 von 1000 Menschen. Dem Rest ging es dreckig. Sie waren sauer auf die Gottheiten, die sie bis dahin angebetet hatten, und
dachten sich ein paar andere aus... Manche überlebten in unterirdischen Bunkern, andere an der Oberfläche... und aus Gründen, die wir nicht genau kennen, sind sie recht blöd geworden.« Dieser Blödheit zufolge hatten die Menschen fast alles vergessen, was ihre Ahnen noch gewusst hatten. Die meisten Menschen waren so dämlich, dass sie nicht mal wussten, was man mit den Wümmlis anstellen konnte. Rasmus und seine Leute waren da anders. Die wussten es offenbar genau. Doch woher hatten sie dieses Wissen? Wer waren die Leute, für die er, Sepp Nüssli, als Meisterspion tätig werden sollte? Was hatten sie mit all den Waffen vor? Mit dem Inhalt der Kisten hätte man eine Armee ausrüsten und die Macht in Kobenhachen an sich reißen können. Doch das Arsenal reichte Rasmus nicht. Er wollte auch die Boombe, die unter Pelle Gyldendals Haus lagerte. Er und seine Leute hatten inzwischen mindestens dreizehn Menschen umgebracht, um an das Drecksding heran zu kommen. Was war ihr Plan? Die Herrschaft über die ganze Erdscheibe? Plötzlich vernahm Sepp ein vom Boden ausgehendes Knarren. Er erstarrte. Hatte jemand gemerkt, dass er seine Kammer verlassen hatte? Wetzten Rasmus’ Mordbuben im Dunkel etwa schon ihre Messer? Bevor Sepp sich der aufkeimenden Panik ergeben und loskreischen konnte, legte sich von hinten ein starker Arm um seinen Hals. Im gleichen Moment wurde ihm der Mund zugehalten. Sepps Herz raste, als er begriff, wie Rasmus reagieren würde, wenn er erfuhr, das sein neuer Meisterspion sich auf dem Dachstuhl umgeschaut hatte: Er würde ihn für einen Doppelagenten halten und einen Kopf kürzer machen
lassen! Eingedenk dieser Zukunftsaussichten konnte Sepp nur eins tun: Er musste sich mit Zähnen und Klauen wehren, den Angreifer ausschalten, in den Keller rasen, Nonni suchen und finden, ihren eventuellen Bewacher niederschlagen, das Schloss ihrer Gefängnistür knacken, um dann gemeinsam mit ihr wieder auf den Dachboden zu eilen und übers Dach zu flüchten... Diesem Plan entsprechend trat Sepp um sich. Er kämpfte wie ein Berserker. Sein Häscher hatte wohl nicht mit einer so heftigen Gegenwehr gerechnet, denn er ächzte und wankte schon. Faregg, Swaynebagge! Sepp fletschte triumphierend die Zähne. Gleich darauf schlug er sie mit aller Macht in die Hand vor seinem Mund. Als der Angreifer ein von Pein kündendes »Arghh!« ausstieß, wogte glühender Triumph in Sepp auf. Doch dann sah er zu seinem Entsetzen, dass sich ihm schon die nächste Gefahr näherte – in Form einer schlanken Gestalt mit wehender Mähne, die sich durch das offene Fenster in die Dachkammer hinein schwang. Gopferdammi, sie sind zu zweit, dachte Sepp erschreckt. Jetzt heißt es alles oder nichts! Dies kann nur in einem Blutbad enden. Er biss noch fester zu. Sein anonymer Gegner stöhnte lauter. Dann war der zweite Lump, der mit der Mähne, auch schon heran. Er streckte die Hände aus, packte Sepps Ohren und drehte sein Gesicht zu sich herum. »Aruula?« Sepp löste verdutzt seine Zähne aus Maddrax’ Hand, die ihn gleich darauf los ließ. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schaute er sich um. »Maddrax?« Mit allem hatte er gerechnet, doch nicht damit. »Wo, in Kristians Namen, kommt ihr denn her?« »Pssst!« Aruula legte einen Finger über ihre vollen Lippen.
Maddrax schüttelte seufzend seine Hand. »Wer ist Kristian?« »Eine unbedeutende Gottheit«, erwiderte Sepp. »Ich erzähl euch später von ihm.« Er war tierisch erleichtert, die beiden zu sehen. »Was machst du hier?«, fragte Aruula. Sepp errötete, doch zum Glück war es in seiner Umgebung so finster, dass niemand es sah. »Ich suche Nonni«, wisperte er aufgeregt. »Aber ich hab nur Waffen gefunden.« »Nonni?« Maddrax mache große Augen. »Pelle Gyldendals Tochter?« Sepp nickte. »Ihr kennt ihn? Wie schön!« Er empfand plötzlich große Erleichterung, denn dadurch ersparte er sich viel Erklärerei. »Pelle ist mein Arbeitgeber... Ich bin sein Sicherheitschef...« Maddrax stöhnte. Seine Hand schien wirklich wehzutun. »Ich hab es fast bef... vermutet.« Sepp deutete um sich. »Wir sind hier im Hauptquartier eines gewissen Rasmus... Ich glaube, er plant schlimme Dinge...« »Das sehen wir auch so.« »Rasmus ist ein eiskalter Hund«, fuhr Sepp fort, »und an seinen Händen klebt eine Menge Blut.« Er berichtete, was ihm seit seiner Ankunft in Kobenhachen widerfahren war – das Gemetzel an den Kristianern inklusive. Als Maddrax hörte, dass er im Auftrag von Pabst Viktorius in der Stadt weilte, machte er große Augen. Als er erfuhr, dass der Pabst in Münsta lebte, war sein Erstaunen grenzenlos. Zwar wunderte es Sepp, dass sein Freund die Sekte der Kristianer kannte, aber andererseits war er natürlich ein weit gereister Mann und hörte und sah viel mehr als ein popeliger Berittener Postbote, ob beritten oder nicht. Sein Interesse an Pabst Viktorius war so groß wie Aruulas Desinteresse, die sich derweil die Kisten vornahm und beim Anblick der Feuerwaffen
geringschätzig schnaubte. Einmal in Fahrt, ließ Sepp es sich nicht nehmen, Maddrax von den haarsträubenden Abenteuern zu erzählen, die er seit ihrer letzten Begegnung erlebt hatte. Natürlich schmückte er das eine oder andere ein wenig aus, wenn es zu fade gewesen war. Zum Beispiel das tödliche Duell mit dem König der Einäugigen; die Schlacht mit den Bodensee-Piraten; die Begegnung mit den Menschenmetzgern von Memmingen; den Raub der Sabinerin aus der Bastei in Gladbakk und den Kampf gegen die Kopfjäger von Kröv. Maddrax lauschte ihm geduldig. Dann erzählte er Sepp, was Aruula und er seither erlebt hatten. Es war so viel, dass man damit 112 Bände à 64 Seiten hätte füllen können. Sepp erfuhr auch viele wundersame neue Dinge: Zum Beispiel, dass die Erde gar keine Scheibe war, sondern eine Kugel; dass es Euree gegenüber eine Insel namens Meeraka gab, auf der ein Volk mit dem eigenartigen Namen »WCA-Agenten« lebte; dass seine Freunde im Diensten einer glatzköpfigen Königin namens Victoria standen und mit einem Fliegefahrzeug gekommen waren, um eine Frau zu suchen, die Rosemary McNeil hieß und mit Nonni befreundet gewesen war. Sepp konnte kaum fassen, wie klein die Welt war. Maddrax erzählte ihm auch, dass mit der mysteriösen, vom Himmel gefallenen »Strafe Gottes«, die man gemeinhin Kristofluu nannte, eine fremden Macht zur Erde gekommen war und die Menschheit nun unterwanderte, um die Welt nach ihrem Geschmack zu verändern. »Wir nennen sie Daa’muren«, sagte Maddrax. »McNeils Verschwinden scheint darauf hinzudeuten, dass sie einem dieser Wesen auf die Spur gekommen ist.« Sepp schüttelte sich. »Wie sehen sie aus, diese Daa’muren?« »Es ist schwer zu sagen...« Maddrax runzelte die Stirn. »Sie sind zwar keine Menschen, aber sie sehen aus wie wir. Wir
glauben, dass sie ihr Äußeres dem unseren anpassen können. Andererseits sind sie mit unseren Gebräuchen noch nicht genug vertraut, um uns perfekt nachzuahmen. Da sich ihre Biologie von der unseren unterscheidet, reagieren sie auf bestimmte äußere Einflüsse anders als Menschen...« Er berichtete von seinem Experiment mit dem Schneckengelee, das Rasmus als Nichtmenschen entlarvt hatte. Daraufhin fiel auch Sepp etwas ein: die ungewöhnliche Hitze, die Rasmus zeitweilig ausstrahlte. »Eine Beobachtung, wie sie nur ein waschechter Agent machen kann.« Maddrax klopfte Sepp anerkennend auf die Schulter. »Auch dies könnte ein Kriterium sein, um sie zu erkennen.« »Sie scheinen das aber steuern zu können«, warf Sepp ein. »Denn ein paar Minuten später war von der Hitze kaum noch etwas zu spüren.« Sie hatten so lange miteinander geredet, dass draußen schon fast der Morgen dämmerte. Das zunehmende Grau zwang Sepp, seine bisherigen Erkenntnisse schneller zu referieren, denn er musste in seine Kammer zurück, um den heimlichen Ausflug zu vertuschen. Er informierte seine Freunde über das Verderben im Keller von Pelles Haus in der Unterstadt. Zusammen mit Maddrax’ Wissen über Pelles Bedrohung durch Knuud und Nonnis Entführung ergab sich allmählich ein Bild der Ziele des mutmaßlichen Daa’muren. »Er ist hier, um die Al Qaida-Bombe zu bergen!«, sagte Maddrax. Er war blass geworden. »Eine kleine Nuklearbombe der neuesten Generation, mit der die Terroristen damals die halbe Stadt in Schutt und Asche legen wollten.« »Wie hat er davon erfahren?«, fragte Aruula. »Wenn McNeil es ihm nicht vor ihrem Tod verraten hat, die unter Umständen durch Nonni davon wusste, hatte Rasmus einen Spitzel in der Kristianer-Kirche...«
»... der seinen Verrat dann mit dem Leben bezahlt hat.« Sepp schüttelte sich bei der Erinnerung an die geköpften Apostel. Maddrax zuckte die Achseln. »Er kann es ebenso von einem von Pelles Arbeitern erfahren haben. Von dem Mann, der die Baupläne aufgestöbert und Nonni ausgehändigt hat.« »Wozu brauchen diese Leute dich überhaupt?«, mischte Aruula sich ein. Sepp ließ sie an seinem Wissen teilhaben: Das unter Pelles Haus befindliche Gewölbe Haus war nur durch einen winzigen Einstieg erreichbar. Rasmus brauchte jemanden, der zu den »Schätzen« hinab stieg und den von außen verschlossenen Zugang zum Gewölbe fand. War die Stahltür auch von innen nicht zu öffnen, sollte Sepp später alles in Säcke verpacken, die man dann mit Seilen nach oben ziehen würde. »Was sind die Ziele dieser... Daa’muren?«, fragte Sepp zum Abschluss. »Werden sie uns versklaven?« »Vielleicht fressen sie uns sogar.« Aruula stützte sich mit finsterer Miene auf ihr Schwert. »Wir wissen nichts über ihre Lebensweise.« Sepp stellte sich Nonni als Rostbraten auf einem langen Spieß vor und schüttelte sich. »Was sollen wir tun?« »Wir müssen verhindern, dass Rasmus an die Bombe und die anderen Sprengstoffe herankommt. Am besten wäre es, wenn wir alles vernichten.« »Lasst euch was einfallen.« Sepp hüstelte. Draußen wich das Grau allmählich einem Hellgrau. »So gern ich es möchte... ich kann euch nicht helfen. Solange Rasmus Nonni als Geisel hat, muss ich seinen Befehlen gehorchen!« Maddrax nickte. »Er darf nicht merken, dass wir über sein Vorhaben informiert sind...« »Was habt ihr vor?«, fragte Sepp. »Wollt ihr ihn... ähm... terminieren?« So hart man in der Agentenbranche auch sein
musste: Er verabscheute das Abmurksen von Lebewesen; Stechmücken und Taratzen vielleicht ausgenommen. Maddrax zuckte die Achseln. »Für die Sache wäre es am besten, wenn Rasmus verschwindet, bevor seine Artgenossen in Scharen hier anrücken, um das Zeug abzutransportieren.« Seine Miene wurde nachdenklich. »Andererseits wäre es für unsere Freunde in Landán sicher ein großer Gewinn, wenn ihnen ein lebender Daa’mure in die Hände fiele...« »Glaubst du, ein Lebewesen, das sein Äußeres verändern kann, lässt sich so ohne Weiteres gefangen nehmen?«, fragte Sepp zweifelnd. »Das ist die Frage.« Aruula spitzte die Lippen. »Leider wissen wir noch zu wenig über ihre Fähigkeiten. Wir wissen zwar, dass sie sich verändern können, aber nicht, wie viel Zeit sie dazu brauchen... Was machen wir zum Beispiel, wenn Rasmus im entscheidenden Moment einen von uns imitiert?« »Glaubst du, das kann er?« Sepps Haare sträubten sich. Wie sollte man überhaupt einen Gegner bekämpfen, der über so unheimliche Kräfte verfügte? Waren solche Wesen nicht unbesiegbar? »Ich weiß nicht, ob es so einfach ist«, warf Maddrax ein. »Oder ob eine solche Verwandlung in einer Sekunde vor sich gehen kann. Außerdem dürfen wir seine Größe und sein Gewicht nicht außer Acht lassen: Jemand, der achtzig Kilo wiegt und einsachtzig misst, kann sich schwerlich als jemand tarnen, der achtzig Zentimeter groß ist und halb so viel wiegt.« Dies beruhigte zwar Sepp – aber nicht Aruula, die so groß war wie Rasmus. Ihr war anzusehen, dass die Daa’muren ihr unheimlich waren; vermutlich hatte sie es noch nicht ganz aufgegeben, sie als Dämonen statt als Außerirdische zu sehen... ***
Das Haus, in dem Pelle Gyldendal wohnte, wenn er nicht in der Unterstadt seinen Geschäften nachging, war zwischen zwei Etablissements eingeklemmt, die der Entspannung der unter Tage schuftenden Arbeiter diente. Das Gebäude auf der linken Seite, das mit der roten Laterne, nannte sich Relaxarium. Vor der Tür standen trotz der frühen Stunde zwei bezopfte blonde Frauen mit kurzen Röcken. Das Haus auf der rechten Seite nannte sich »Öl-Oase«, was Matt ein Stirnrunzeln entlockte – bis ihm einfiel, dass die Dänen ihr Bier schon zu seiner Zeit Öl genannt hatten. Das im leisen Küstenwind wehende Holzschild über der Tür wies eine von grobschlächtiger Hand gefertigte Zeichnung auf: Ein mit einem Schaftstiefel bekleidetes Bein trat einem Gast in den Hintern. Darunter war etwas geschrieben, das Matt nicht übersetzen konnte, doch er nahm an, dass es hieß »So gehen wir mit Leuten um, die hier die Zechen prellen«. Durch die Tür der »Öl-Oase« wehten das Geklimper eines Tasteninstruments, das Kratzen zweier Fiedeln, das Johlen trunkener Erdarbeiter und das Kreischen von Gunstgewerblerinnen zu ihm hinaus. Einerseits war Matthew ganz froh darüber, dass Aruula bei Sepp Nüssli geblieben war, um diesen bei seiner Suche nach Nonni zu unterstützen. Dirnen reagierten gemeinhin bissig auf die schöne Barbarin, weil sie eine Konkurrenz in ihr sahen. Und Aruula reagierte sauer, wenn sie ihm Avancen machten. Andererseits hatte er ein mulmiges Gefühl im Magen. Als Kind eines barbarischen Zeitalters wusste Aruula sich natürlich ihrer Haut zu erwehren. Doch wenn Daa’muren im Spiel waren, mochte das nicht ausreichen. Angenommen, Rasmus hatte einen Artgenossen, der die Geisel bewachte...? Als Matthew an Pelles Tür klopfte, riefen die Damen vor dem Relaxarium ihm den Tarif ihrer Sonderangebote zu. Doch als Offizier und Gentleman bewahrte er Contenance und
antwortete lediglich mit einem unverbindlichen Lächeln. »Ja, ja, ich komm ja schon!« Die Tür ging auf und Pelle Gyldendal stand in einem weißen Nachthemd und einer Zipfelmütze vor ihm. Er sah freilich nicht so aus, als hätte er geschlafen. Seine Miene war von Sorgen zerfurcht. Doch als er den frühen Besucher erblickte, erhellte sich sein Blick. »Ah, Maddrax! Welche Freude!« Matt schlüpfte ins Haus. Pelle zog die Tür ins Schloss. »Gibt’s etwas Neues?« Er führte Matt in einen mit allerlei Krimskrams voll gestopften Raum, der vermutlich ein Salon sein sollte. Matt erspähte einen kupfernen Spucknapf, Handschellen aus Edelstahl, Schlagstöcke, ein Telefon aus dem Jahr 1988, in transparenten Kunststoff gehüllte Blocks, die einst dazu gedient hatten, Parksünderdaten aufzunehmen, eine Bronzebüste des dänischen Astronomen Tycho Brahe, ein Brillensortiment aus dem 20. Jahrhundert sowie einige lädiert aussehende Harnische, Spieße, Schwerter und ein grobmaschiges Fangnetz. Nachdem er seufzend einen Stuhl von einem Stapel eingeschweißter Perry Rhodan-Hefte befreit hatte, setzte er sich hin. Er fühlte sich ungefähr so müde wie Pelle aussah. »Was sind das für Waffen?« Er deutete auf den an der Wand lagernden Stapel. »Habt ihr das Zeug auch ausgegraben?« Pelle musterte den verbeulten Krempel, dann schüttelte er den Kopf und deutete in Richtung Öresund. »Nej, das hab ich nach einem an Fiaskos reichen Überfall auf die Stadt erstanden.« Er runzelte die Stirn. »Vor zwei Jahren kamen Krieger in einem Langboot über den Sund. Norske Mannen.« Er lachte kehlig, obwohl Matt ihm ansah, dass ihm vor Sorge um seine Tochter nicht danach zumute war. »Die haben wohl geglaubt, sie könnten uns beklauen. Sie haben sich blutige Köpfe geholt, die Herren aus dem Norden... Wenn unsere
Berserker ihre Tränken bedroht sehen, werden sie zu Tieren.« Matt fragte sich, wen Pelle mit »Norske Mannen« meinte. Hatten die Nordmänner etwa in der Vergangenheit versucht, Kobenhachen zu überrennen? Er konnte sich kaum vorstellen, dass die hiesigen Krämer und Erdarbeiter sie aufgemischt hatten. Doch andererseits stammte ein Teil der Bewohner der Stadt von den Wikingern ab... »Wie ist die Lage, Maddrax?« Matt räusperte sich. »Ich habe eine gute Nachricht und neue Erkenntnisse.« Zuerst berichtete er, dass er wusste, wer Nonni entführt hatte und gefangen hielt. Pelle sog tief die Luft ein. Anschließend musste Matt ihn daran hindern, sich mit einem schartigen Schwert zu bewaffnen, in Nachthemd und Zipfelmütze ins Freie zu stürzen und Rasmus einen Kopf kürzer zu machen. Nachdem er dem erbosten Pelle versichert hatte, dass »ein erfahrener Schwertkämpfer« Nonni auf der Spur war, regte dieser sich ab. Dann berichtete Matt ihm, was er über das Gewölbe unter seinem Besitz in der Unterstadt wusste – sodass Pelle endlich erfuhr, warum Knuud so wild darauf gewesen war, ihn aus der Buddlerbranche zu verdrängen. »Explosivstoff?« Pelle machte große Augen. »Unter meinem Haus?« Er war fassungslos. »Aber meine Leute haben doch schon vor zwanzig Wintern jeden verschütteten Raum vom Schlamm befreit. Wir haben keinen Hinweis auf eine – wie heißt das Ding noch gleich? – Asservatenkammer gefunden... Doch, halt, ich erinnere mich!« Er runzelte die Stirn. »Einmal sind die Arbeiter auf eine verschlossene Stahltür gestoßen. Wir haben tagelang versucht, sie zu öffnen, uns aber die Zähne daran ausgebissen.« »Das ist zweifellos der Eingang zur Kammer!« Matt erzählte ihm von den Bauplänen; dass Nonni sie Pater Peeder zugänglich gemacht und McNeil vermutlich von ihrer Existenz
gewusst hatte. Die fortwährenden Versuche Knuuds, Pelles Buddlerunternehmen zu übernehmen, waren ihr natürlich nicht entgangen, deswegen hatte sie Rasmus von der Deehael vermutlich auf den Zahn fühlen wollen – und dabei ihr Leben verloren. »Rasmus ist kein gewöhnlicher Räuber«, fuhr Matt fort, »sondern der Spion eines... ähm... Volkes, das weit im Osten lebt.« Er hatte sich auf dem Weg zu Pelle gut überlegt, was er über den Daa’muren berichten wollte: Es hatte keinen Sinn, einem Mann, der nicht mal von der Existenz fremder Planeten wusste, etwas über außerirdische Invasoren zu erzählen. »Wo kommt er her?« Pelle schwang aufgebracht sein Schwert. »Für welche Macht arbeitet er?« »Seine Heimat liegt hinter einem Gebirge, das Ural heißt«, erwiderte Matt vage. »Rasmus ist gefährlich. Ich vermute, dass er die Bombe und die Waffen haben will, weil sein Volk eine Invasion eurer Insel plant – wie damals die Norske Mannen. Vielleicht stecken sie sogar hinter ihm.« Pelle lachte geringschätzig. »Die sollen nur kommen! Die hauen unsere Berserker kurz und klein!« Matt stand auf und deutete aus dem Fenster. Die Sonne stieg nun über die Hausdächer. »Dazu bräuchtet ihr ein Heer, das ihr nicht habt, Pelle. Und solange ihr es nicht habt, müssen wir verhindern, dass Rasmus das Lager plündert.« »Natürlich helfe ich dir dabei, Maddrax.« Pelle baute sich neben Matt auf. »Aber ich glaube nicht, dass diese Kanaillen unsere Stadt einnehmen können.« Er zwinkerte Matt zu. »Wir haben zwar kein Heer, aber hier leben drei Dutzend Berserker – und jeder wiegt hundert Krieger auf.« »Berserker?« Matt stutzte. Pelle erwähnte den Begriff nun schon zum dritten Mal; offenbar steckte mehr dahinter als nur eine Redensart. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog, nannte man irgendwelche urtümlichen Krieger in der nordischen
Mythologie so. Pelle deutete auf die abgerissenen Gestalten, die auf der Straße mit ihren Blechbüchsen einem naserümpfenden Feffersack auf die Pelle rückten. »In Friedenszeiten ist ihr Dasein beschwerlich, denn leider taugen sie nur für den Kampf... Wenn kein Krieg ist, lungern sie rum und schütten sich zu. Aber warte ab, wenn jemand in Kobenhachen einfällt! Dann sind sie wie der Blitz nüchtern und hauen alles zu Klump, was nicht schnell genug im Sund verschwindet!« Matt stutzte. Diese verlotterten Stadtstreicher sollten wilde Kämpfer sein? Die Burschen sahen aus, als könnten sie ohne Hilfe keine Straße überqueren. Aber er hatte jetzt andere Sorgen. »Wie kommen wir in dein Unternehmen rein?« »Nichts leichter als das.« Pelle trat an eine Kommode und entnahm ihr einen Schlüsselbund. »Ein wackerer Mann hat natürlich immer einen Ersatzschlüssel.« Matts Blick wanderte erneut durch das AntiquitätenSammelsurium. Das Fangnetz interessierte ihn. Irgendwie hatte der Gedanke, er könne den Daa’muren ohne Waffengewalt überwältigen, etwas Faszinierendes. Er hatte schon mit der Vorstellung gespielt, Colonel Loomer zu kontaktieren. Doch dann war ihm klar geworden, dass die alte Dame bei solch einer riskanten Aktion den Dienstweg einhalten und sich erst mit London abstimmen würde. Schließlich wusste man nichts über die Möglichkeiten des Feindes. Und das bedeutete Verzögerung. Wenn erst das Oktaviat für eine Entscheidung einberufen wurde, würde er hier tagelang Däumchen drehen müssen. Nein, nein, dachte Matt, wir müssen es im kleinen Rahmen durchziehen. »Was sieht dein Plan aus?« Pelle nahm die Zipfelmütze ab, rammte die Schwertspitze in die Bodendielen und zog Matt in den Nebenraum, der sich als Küche entpuppte. Während Matt
ihn in sein Vorhaben einweihte, klopfte Pelle zwei faustdicke Emlot-Eier in eine Pfanne. Als Matt fertig war, sagte Pelle: »Und das schaffen wir zu zweit?« »O nein.« Matt schüttelte den Kopf und gähnte. »Unterstützung erwartet uns in der Unterstadt.« »Fein.« Pelle kredenzte das Frühstück. Dann kleidete er sich an und bürstete seinen Bart. Als er – einen verbeulten Helm auf dem Kopf und das Schwert an der Seite – in die Küche kam, hatte Matt große Schwierigkeiten, die Augen aufzuhalten. Vor dem Haus wurden sie von den arbeitslosen Berserkern umlagert. Matt, der die Jammergestalten nun mit anderen Augen sah, beschenkte sie mit einer Handvoll Münzen. Die Männer brachen in ein Freudengeheul aus und stürmten in die »Öl-Oase«, um die Wirtschaft anzukurbeln. Der Türsteher vor dem Hiltoon-Gebäude musterte Matt – und speziell das an seiner Schulter hängende Fangnetz – so argwöhnisch wie beim ersten Mal, doch da er in Begleitung eines stadtbekannten Unternehmers auftrat, hielt er die Hand diesmal nicht auf. Als Unterstadt-Investor genoss Pelle das Vorrecht, den Frachtaufzug benutzen zu dürfen. Unten angekommen, schritten sie durch das Labyrinth der von Laternen erhellten Tunnels und wichen den Erdarbeitern aus, die ihre Schubkarren vor sich her schoben. Schließlich kamen sie an den Platz, an dem sich Pelles einstiges Firmengebäude befand. Hinter den Fenstern war es dunkel. Das war gut, denn es bedeutete, dass Rasmus nicht eingetroffen war. Andererseits... »Halt!«, zischte Pelle plötzlich. Matt reckte den Hals. Vor dem Eingang des Gebäudes lungerte ein hoch aufgeschossener Bursche mit schiefen Zähnen und langem rotblonden Haar herum. Matt erkannte in ihm einen von Sepp Nüsslis Begleitern.
»Tycho Schiefzahn«, raunte Pelle. Er schob Matt hinter die Hausecke zurück, die sie gerade hatten umrunden wollen. »Eine Kreatur, die für Knuud arbeitet. Er ist zwar nicht sehr helle, aber wahrscheinlich wird es sogar ihn misstrauisch machen, wenn wir jetzt ins Haus gehen.« »Was nun?«, fragte Matt. »Wir nehmen die Hintertür.« Gleich darauf kam ein Erdarbeiter mit einer Schubkarre des Weges, den Tycho Schiefzahn offenbar kannte, denn er sprach ihn an und wechselte ein paar Worte mit ihm. Matt und Pelle nutzten die Gelegenheit, um in den Seitentunnel abzubiegen, der zur Hintertür führte. Dort wurden sie von Fredryk erwartet. An seinem Gürtel baumelte ein mörderisch scharf aussehendes Fleischerbeil. In der linken Hand hielt er, wie Pelle, eine Öllaterne. »Darf ich vorstellen?«, sagte Matt. »Nicht nötig.« Pelle nickte Fredryk zu. »Wir kennen uns.« »Seit ich weiß, was hier gespielt wird« – Fredryk deutete mit empört blitzenden Augen auf sein Beil – »weiß ich, wie die Berserker empfinden. Wenn es nach mir ginge, würden hier bald Köpfe rollen.« »Hoffen wir, dass es ohne Blutvergießen abgeht«, erwiderte Matt. Er hatte plötzlich ein eigenartiges Kratzen im Hals. Pelle öffnete die Hintertür. Die Männer huschten ins Gebäude und pirschten durch hallende Korridore, von denen zahllose Türen abwichen. Matt fühlte sich an einen Bürokratentempel der alten Zeit erinnert. Die meisten Türen bestanden zwar aus Leichtmetall, aber sie waren verrottet. Pelle hatte es nicht für nötig gehalten, sie durch neue zu ersetzen, denn Buddler brauchten weder dreihundert Büros noch Konferenzsäle. Matt lugte in jede offene Kammer hinein, in die das Licht ihrer Laternen fiel. Laut Sepp befanden sie sich im alten Kopenhagener Polizeipräsidium. Schon deswegen gab es außer
kahlen Büroräumen und kahlen Zellen nicht viel zu sehen. Einige Räume dienten als Lager: Hier stapelte sich jener Kram, den Pelles Arbeiter auf ihren Streifzügen ausgegraben hatten. Laut Pelle waren in seiner Jugend siebzig Prozent der Gebäude der Unterstadt mit Erde und Gestein gefüllt gewesen. Die erste Generation der Buddler hatte sich mit Pickeln und Schaufeln vom Hiltoon in die Tiefe und dann in alle Windrichtungen gegraben. Die meisten Artefakte – Möbel, Textilien, elektrische Gerätschaften – waren natürlich unbrauchbar und zerfielen, sobald man sie schief anschaute. Andere – etwa Spirituosen in Flaschen – waren ungenießbar geworden. Doch in vielen Häusern fand man immer wieder wunderliche Dinge, deren Sinn sich den Menschen verschloss. Deswegen waren auch so viele Retrologen in der Oberstadt, die sich bemühten, den Zweck all dessen zu ergründen, was heil geblieben war – Dinge, die Sammler in Plastik eingeschweißt, in Ölpapier gewickelt oder in bruchsicheren Behältern aufbewahrt hatten – und zwar nicht nur Schlümpfe und Bausätze aus dem Star Trek-Universum. Matt hatte einige fanatische Sammler gekannt. Viele kauften die Objekte ihrer Begierde gleich zweimal: Einmal zum Anfassen, und einmal, um es in Folie einzuschweißen und in wasser-, feuer- und einbruchssicheren Räumen zu lagern, damit sie sich heimlich am 1-A-Zustand ihrer Schätze ergötzen konnten. Sammler sammelten alles – vom antiken Nachttopf bis zum Gullydeckel. Als Fünfzehnjähriger war auch Matt dem Sammlerwahn verfallen. Er hatte sämtliche Flohmärkte abgegrast, um ein Exemplar von Abdul Alhazreds Necronomicon zu ergattern. Erst mit sechzehn hatte er erfahren, dass dieses Buch gar nicht existierte, sondern Bestandteil eines Mythos war, den der Schriftsteller H.P. Lovecraft erfunden hatte.
Ob sich je einer dieser Sammler hatte träumen lassen, dass seine Passion einst zur Entwicklung der »Wissenschaft« Retrologie führen würde? Ihre Schritte warfen in der großen Marmorhalle leise Echos. Matt fühlte sich plötzlich sehr müde. Na, kein Wunder, er war ja auch seit... »Hier entlang.« Pelle führte sie zu einer Treppe, die nach unten führte. »Wohin geht es?«, fragte Fredryk. »Archive, in denen nur tote Gegenstände aufbewahrt werden, brauchen kein Tageslicht«, erläuterte Matt, als die die Stufen hinuntergingen. »Deswegen ist es nur logisch, dass sich die Asservatenkammer unter dem Keller befindet.« »Was ist eine Ass... so eine Kammer?«, fragte Fredryk. Matt seufzte. »Ein Raum, in dem die Kripo Waffen, Einbruchswerkzeuge und gefundenes Diebesgut lagert. Diese hier wurde wie ein Bunker angelegt und galt als besonders sicher, deswegen hat man die Bombe hier gelagert.« »Was ist eine Kripo?«, erkundigte sich Pelle. Matt erklärte es ihm, was einige Zeit in Anspruch nahm. Als er fertig war, schmerzte seine Kehle, was aber nach dem vielen Gerede kein Wunder war. Inzwischen waren sie im Keller. Pelle führte sie in ein Gewölbe, das so penetrant nach Ratzenkot roch, dass Fredryk, der eine sensible Nase hatte, würgende Geräusche machte. Im Schein der Laternen arbeiteten sie sich durch jeden einzelnen Kellerraum. Es war kalt, ungemütlich und – Matt wagte kaum, es sich einzugestehen – unheimlich hier unten. Überall knisterte, raschelte und fiepte es. Er lauschte ihren Echos werfenden Schritten und bemühte sich, eine Gänsehaut zu unterdrücken. Vielleicht wäre es doch ganz gut gewesen, wenn Aruula mitgekommen wäre... Als er sich bei Pelle erkundigte, wo er einen Einstieg in ein
noch tiefer führendes Stockwerk für wahrscheinlich hielt, erwiderte dieser: »Tut mir Leid, Maddrax, aber ich war nicht oft hier unten.« Dann müssen wir es also doch auf die harte Tour machen. Matt ging in jedem Raum, an dem sie vorbei kamen, auf die Knie und suchte den Boden gewissenhaft nach einem Einstieg ab. Fredryk und Pelle leuchteten ihm mit ihren Laternen. Irgendwann fing Matt dann an, sich auszurechnen, wie viele Quadratmeter der Grundriss des Gebäudes hatte. Bei diesen Lichtverhältnissen war ein schneller Sucherfolg unmöglich. Vielleicht brauchten sie den ganzen Tag, um den Einstieg zu finden und die nötigen Vorbereitungen zu treffen, um Rasmus und seine Komplizen in die Falle zu locken. Doch angenommen, der Daa’mure kreuzte am Einstieg auf, wenn sie sich gerade am anderen Ende des Kellers befanden? Es war nicht auszuschließen, dass sie seine Ankunft nicht mal bemerkten! Nein, dachte Matt im dreiundzwanzigsten Kellerraum. So geht es nicht. Wie aber dann? Pelle konnte sich vielleicht in der Nähe des Haupteingangs verstecken und ihnen Bescheid geben, wenn Rasmus eintraf. Aber er konnte sie nicht benachrichtigen und Rasmus gleichzeitig im Auge behalten, damit sie wussten, wohin er ging. Wenn sie weiter planlos hier herumsuchten, fand er sie im entscheidenden Moment vielleicht nicht mal. Rasmus kannte als Einziger die Position des Einstiegs in die Asservatenkammer. Wenn sie von seinem Wissen profitieren wollten, mussten sie zusammen auf ihn warten. Matt richtete sich auf und schilderte seine Bedenken. Dass er Zustimmung erntete, verwunderte ihn nicht. Pelle führte sie wieder nach oben, und sie verschwanden in einem von der Marmorhalle abweichenden Raum, der zum Glück über eine Tür verfügte.
Im Licht der Laternen sichtete Matt einen Holztisch mit ungefähr hundert leeren Bierflaschen, etwa fünfzehn Schemel und Stühle und Spinde an der Wand. »Unser Pausenraum.« Pelle stellte seine Laterne auf dem Tisch ab. Matt sank ächzend auf einen Stuhl und lehnte den Kopf an die Wand. Die Müdigkeit hing bleischwer in seinen Knochen. Ihm war kalt; eine typische Folge langen Wachseins. Er war nun seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, und kein Mensch konnte sagen, wie lange sie noch warten mussten. »Ich mach jetzt mal ein Auge zu«, sagte er. »Weckt mich sofort, wenn ihr etwas Ungewöhnliches hört.« »Gemacht.« Fredryk baute sich, das Fleischerbeil in der Rechten, neben der Tür auf. Pelle zog einen Wetzstein aus der Tasche seines Lederwamses und schärfte seine Klinge, die irgendein toter Nordmann in der Stadt zurück gelassen hatte. Matt machte zuerst ein Auge zu, dann auch das andere. *** Matt war der festen Überzeugung, das zweite Auge noch nicht richtig geschlossen zu haben, als jemand heftig an seinem Kragen zerrte und ihn durchschüttelte. »Maddrax! He, Maddrax! Es geht los!« Pelle ragte vor ihm auf. Seine Augen blitzen im Licht der Laternen. Matt sah sie jedoch nur kurz, da Fredryk die Lichter geistesgegenwärtig löschte und mit einer gezischten Verwünschung an die Tür zurück hechtete, um durch das Schlüsselloch in die Marmorhalle zu lugen. »Wie viele sind es?«, fragte Pelle. Matt wankte, von einem leichten Schwindelgefühl erfasst, auf die Beine. Irgendwie war ihm nicht gut. Seine Knochen taten ihm weh. Unter seiner Schädeldecke pochte es. Seine
Knie waren wie Gelee. Er löste sich von dem Stuhl und tastete nach seinem Driller. Seine Finger zitterten. Das war gar nicht gut. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass seine Müdigkeit nicht nur die Folge allzu langen Wachseins war: Ich hab mir was eingefangen! Verdammter Mist, ausgerechnet jetzt! Auch seine Nase hatte was abgekriegt. Sie schien sich zu verschließen. Seine Stirn glühte. Hatte er Fieber? »Ich sehe Rasmus, Knuud, Jeens Bohnenstange und den Kerl, der vor der Tür gestanden hat«, hörte er Fredryk wispern. Dann Pelle: »Mach Platz. Lass mich auch mal... Ach, das ist Tycho. Tycho Schiefzahn.« Bei der Vorstellung, dass er sich einen Virus eingefangen hatte, wagte Matt nicht an seine Reaktionszeit zu denken. Hätte er doch nur Loomer zu Hilfe geholt! Mit der medizinischen Ausrüstung an Bord des EWATs... »Wer ist der Troll da?« Fredryk drehte sich um, packte Matts Ärmel und zog ihn zum Schlüsselloch. »Da, schau mal...« Matts leicht verschleierte Augen erblickten den roten Schopf Sepp Nüsslis. Sepp ging mit eingezogenem Kopf zwischen Tycho Schiefzahn und Jeens Bohnenstange einher, als würde er zur Schlachtbank geführt. Seine Bewacher schleppten dicke Seilrollen, Brechstangen und Laternen. Sepp hatte seinen Umhang und seine weiten Klamotten gegen eine eng anliegende Kombination getauscht, die so glänzte, als stamme sie aus dem Plastikzeitalter des 20. Jahrhunderts. Ja, stimmt: Aruula hat erzählt, dass er in Bings Laden einen solchen Anzug anprobiert hat. Rasmus führte die Gruppe an. Er hielt eine Folie in den Händen. An seiner Seite ging der finstere Knuud und leuchtete ihm mit einer Laterne. Dass die Männer nichts Gutes im Schilde führten, sah man
daran, dass sie sich wie Einbrecher bewegten, obwohl das Haus nun ihnen gehörte. Sie schlugen die Richtung zur Kellertreppe ein. »Was jetzt?«, fragte Pelle mit gefletschten Zähnen und legte die Hand auf sein Schwert. »Folgen wir ihnen?« In Matts Kopf kreiste alles. Ihm wurde klar, dass ihr Unternehmen unter keinem guten Stern stand. Sein Schädel brummte. Seine Konzentration ließ rapide nach. Es war schierer Wahnsinn, wenn ein Koch, ein Kaufmann und ein von einem grippalen Infekt gebeutelter Ex-Pilot sich mit drei skrupellosen Mördern und einem Daa’muren anlegten. Sie mussten das Unternehmen abblasen. Ja, sofort! Dass er die letzten Worte vor sich hin geflüstert hatte, wurde Matt erst klar, als Pelle und Fredryk nickten, die Tür aufschoben und hinter Rasmus und seiner Truppe her huschten. »N-nein«, keuchte Matt, aber es war zu spät. Seine Gefährten hatten bereits so viel Vorsprung, dass ihm keine andere Wahl blieb, als das Fangnetz zu greifen und sich ihnen anzuschließen. Rasmus und seine Bande marschierten durch den gleichen Gang, den Matt und die Seinen zuvor gegangen waren. Knuuds Laterne wies ihnen den Weg, deswegen hatten sie keine Probleme, Sepp und das Quartett in gebührender Entfernung zu verfolgen. Als die Männer den Raum betraten, in dem sie zuletzt gewesen waren, spürte Matt ein heftiges Schwindelgefühl. Es darf nicht wahr sein, dachte er und biss die Zähne aufeinander. Ein Stück vor der Tür hielten Pelle und Fredryk an. Das aus dem Raum konstant in den Gang fallende Licht bewies, dass Rasmus sein Ziel erreicht und seine Leute ihre Laternen am Boden abgestellt hatten. Als Fredryk sich umdrehte und den Schweiß von Matts Stirn
perlen sah, zuckte er zurück. »Bei Wudan... Was ist mit dir los?«, flüsterte er. »Bist du krank? Du siehst aus wie ein Gespenst...« »Ja... Nein... Ich weiß nicht...« Matt schüttelte den Kopf in dem unsinnigen Versuch, das Fieber aus seinem Hirn zu vertreiben. Auch Pelle drehte sich um und erschrak. Aus dem Raum, vor dem sie verharrten, kam das Murmeln von Stimmen. Knuud war offenbar vor Spannung hysterisch, denn er gackerte wie ein Huhn, das im Begriff ist, ein Ei zu legen. Ein sonores Organ erteilte Sepp Anweisungen in Deutsch, die wohl nicht zu seinem Wohlbefinden beitrugen. »Da runter?!«, kreischte Sepp Nüssli. »Nie und nimmer!« Matt hörte das hektische Trappeln kleiner Füße, die offenbar die Flucht ergriffen. Dann zuckte Sepps zerzauster Rotschopf durch den Rahmen der Tür. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Sepp Matt und seine Gefährten und riss überrascht den Mund auf. Doch schon wurde er von narbigen Händen von hinten gepackt und zurück gerissen. Sein Gequäke verstummte. Dafür ertönte ein metallenes Scheppern. Offenbar schoben Rasmus’ Leute eine Eisenplatte beiseite. Matts Ohren sausten. Der Schweiß lief ihm in Sturzbächen über die Stirn. Trotz alledem – er durfte seinen kleinen Freund nicht im Stich lassen! Als sie vor einer Ewigkeit in Züri gegen die Guule gekämpft hatten, hatte Sepp sich als wahrer Held erwiesen und Aruula und ihm mit seinem mutigen Eintreten das Leben gerettet. »Bald sind wir reich, Jungs«, sagte Knuud frohlockend. »Wenn wir das Zeug geborgen und versilbert haben, erwartet uns ein sorgenfreies Leben!«
Seine Worte sagten Matt, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, in wessen Sold er wirklich stand. Wenn er es erfuhr, würde er sein blaues Wunder erleben. Matthew schob sich an seinen Gefährten vorbei und lugte um die Ecke. Rasmus und seine Helfer standen vor einer geöffneten Bodenklappe und ließen Sepp gerade durch eine winzige Öffnung, durch die er so eben passte, an Seilen in die Tiefe hinab. *** Nachdem Maddrax und Fredryk – Letzterer hatte sich spontan bereit erklärt, ihren Kampf gegen den »fremden Spion«, der vermutlich Rosie McNeil auf dem Gewissen hatte, zu unterstützen – aus dem Haus gegangen waren, hatte Aruula gefrühstückt und sich auf die Lauer gelegt. Von McNeils Wohnung aus konnte sie den Eingang des Nachbarhauses gut im Auge behalten. Etwa sechs Stunden nach dem Aufbruch der Männer hatte sich endlich etwas getan: Der Daa’mure Rasmus hatte sein Anwesen in Begleitung Sepps und der drei schwer bepackten und bewaffneten Halunken, die sie aus dem »Tifoli« kannte, verlassen. Eins war ihr auf gefallen: Während Rasmus’ Helfer ziemlich triumphierend wirkten – etwa so, als stünde ihnen großer Reichtum bevor –, verzog ihr Herr und Meister keine Miene. Rasmus’ Verhalten, dies wusste sie, war ein Merkmal seines Volkes. Auch wenn es den Daa’muren gelang, als Menschen aufzutreten, so waren sie doch von einem gänzlich anderen, fremdartigen Geblüt. Als Rasmus und seine Mannen um die Ecke gebogen waren, eilte Aruula auf den Dachstuhl von Fredryks Haus. Dort öffnete sie ein Dachfenster, nahm eine dort deponierte Leiter
und schob sie hinaus. Oben angekommen, zog sie die Leiter ins Freie und baute sie fünfzehn Schritte weiter an der Wand von Rasmus’ Haus auf, denn es war ein Stockwerk höher. Die Gasse unter ihr war menschenleer. Auch an den Fenstern der gegenüber liegenden Häuserzeile echauffierte sich niemand darüber, dass sich eine knapp bekleidete Frau mit wehender Mähne und einem Schwert auf dem Rücken aufs Dach der Firma Deehael schwang. Kurz darauf ließ sich Aruula durch das Dachfenster in den Raum hinab, in dem sie in der vergangenen Nacht Sepp Nüssli begegnet waren. Als ihr Blick auf die Kisten fiel, fragte sie sich, ob sie vielleicht eine der Waffen an sich nehmen sollte, die Sepp »Wümmli« nannte. Doch als sie einen Kistendeckel anhob und die ölig glänzenden Schießeisen begutachtete, rümpfte sie die Nase. Vielleicht sollte sie erst mal die Lage peilen. Aruula setzte sich lautlos auf den Boden, umfasste mit den Armen ihre angewinkelten Beine, schloss die Augen und barg den Kopf zwischen ihren Knien. Schon tastete sich ihr Lauschsinn durch die Dielenbretter nach unten. Zwar konnte sie keine Gedanken lesen, aber die Präsenz von Menschen und Tieren vermochte sie problemlos wahrzunehmen. Da war ein graues, von leichter Stupidität kündendes Wabern... Vermutlich ein Rückstand jener Menschen, die das Haus kurz zuvor verlassen hatten. Aruula empfand deutlich die Vorfreude ahnungsloser Geister, die sich auf dem Weg zu ewigem Reichtum wähnten. Dann stieß sie auf ein verblassendes Wabern, das so fremdartig war, dass im Vergleich dazu ein Kolkrabe fast menschlich wirkte: ein sich rhythmisch aufblähender und zusammenziehender roter Ballon, in dem Lava kochte. Es hätte
Aruula nicht gewundert, wenn die geistigen Rückstände des Daa’muren glühend heiß gewesen wären, doch zu ihrer Verblüffung waren sie eiskalt und von keinerlei Gefühlen getrübt. Aruula schüttelte sich. Ihr Geist tastete sich weiter vor. Schließlich entdeckte sie noch ein graues Wabern, dessen Farbe so stumpf war, dass sie sich fragte, ob es ein Tier war – und ganz in seiner Nähe den Geist eines Mensches. Vermutlich weiblich. Aufgeregt. Ängstlich. Nonni? Aruula sprang auf. Sie zückte ihr Schwert und eilte zur Tür. Als sie im Treppenhaus stand und die schief getretene Treppe sah, stieß sie eine Verwünschung aus. Das Ding sah nicht so aus, als könne man es benutzen, ohne ein ständiges verräterisches Knarren zu erzeugen. Sie überlegte kurz, dann schwang sie sich aufs Geländer und rutschte nach unten. Je näher sie dem Boden kam, umso mehr verblassten die mentalen Rückstände des Daa’muren und seiner Männer. Als sie die Kellertreppe hinab ging – sie war zum Glück aus Stein – wurde das graue, auf eine seltsame Weise animalisch wirkende Wabern stärker. Es war erschreckend, denn normalerweise spürte Aruula derlei Dinge nie, wenn sie sich nicht mit aller Macht darauf konzentrierte. Diesmal war es anders. Als sie die zum Kellergewölbe führende Tür öffnete, wehte etwas auf sie zu, das ihr den Atem nahm. *** Hätte Sepp gewusst, was eine Marionette ist, wäre er sich, als er an den Seilen hing, an denen man ihn in die Tiefe hinab ließ, vermutlich wie eine solche vorgekommen.
Allerdings war der Stand seiner Bildung für die Zeit, in der lebte, auch nicht geradegering, denn Postboten kamen weit herum und schnappten allerlei Wissenswertes auf. Zum Beispiel wusste Sepp genau, dass Gold sehr wertvoll war. Nicht nur, weil es so schön glänzte, sondern weil auch der größte Depp, besaß er genug davon, bei den Damen an Ansehen gewann. Auch konnte Sepp Kisten, die Gold, Münzen oder jede Art von Schmuck enthielten, auf den ersten Blick erkennen – sofern sie von keinem Deckel verschlossen waren. So war es nicht verwunderlich, dass er, als er hoch über den Schätzen der Vergangenheit schwebte, zunächst mal keinen Blick für den Kram hatte, auf den es Rasmus ankam. Sepp sah nur eins: Genau unter ihm – nur noch lumpige fünf Mannslängen entfernt – stand ein metallener Behälter ohne Deckel. Sein Inhalt glänzte so verlockend, dass Sepp sich spontan die Frage stellte, wie er das Zeug nach oben schmuggeln konnte, ohne dass sein Arbeitgeber es bemerkte. Leider hatte Rasmus darauf bestanden, dass er seinen Umhang mit den 164 Geheimtaschen gegen die Kluft aus Herrn Bings Laden eintauschte. So hatte er nun keine Möglichkeit, sich die Taschen zu füllen. Andererseits ließen die Lichtverhältnisse in dem muffigen Gemäuer zu wünschen übrig. Vielleicht ergab sich doch noch eine Chance, Rasmus hereinzulegen... Dass Sepp überhaupt etwas sah, lag an den beiden großen Öllaternen, die man vor ihm in das Gewölbe hinab gelassen hatte und die nun ein flackerndes, aber ausreichend helles Licht verbreiteten. In ihrem Schein sank Sepp nun dem Boden eines Raumes entgegen, der vielleicht zweihundert Quadratmeter groß war und in dem zahllose Metallkisten standen. »Siehste schon was?«, brüllte Knuud vom Einstieg her zu ihm hinab.
Sepp zuckte zusammen. Seine Gedanken waren ganz woanders: Zum Beispiel bei Maddrax, den er in dem dunklen Gang gesehen hatte. Und bei Nonni, deren Spur aufzunehmen Aruula ihm hoch und heilig versprochen hatte. Nicht zu vergessen bei den Goldmünzen in der Kiste, über der nun so dicht schwebte, dass er sie fast berühren konnte. Noch einen halben Meter vom Grund entfernt, griff er in die Seile, die ihn hielten, und zog kurz daran. Das war das Signal, ihn in die Senkrechte zu bringen. Klack. Sepps Stiefel berührten den Boden. Eine Staubwolke stob vom gefliesten Boden auf, verschleierte den Blick des Meisterspions, drang in seine Nüstern und ließ ihn so explosionsartig niesen, dass es den Anschein hatte, ein wütender Donner rolle durch das Gewölbe. Vom Einstieg her wurden besorgte Rufe laut, doch der Raum warf aufgrund seiner Ausdehnung dermaßen viele Echos, dass Sepp kein Wort verstand. Außerdem interessierte ihn das fragende Genöle seiner Häscher nicht, denn sein Blick saugte sich nun an der Kiste mit den Goldmünzen fest, vor der er stand. Der Rest der im Raum gestapelten Behältnisse verschwamm vor seinen Augen. »Ich bin reich«, jauchzte Sepp leise. »Alle Weiber der Welt werden mich lieben!« Vorrangig die mit einem miesen Charakter, sagte die Stimme der Vernunft in seinem Hirn. Seine Hände wühlten im Gold. Kleine Porträts, Buchstaben und Zahlen waren kunstvoll hinein geschnitzt. Sie sahen alle gleich aus. Welch ein Kunsthandwerk! Sepp war wie berauscht. Am liebsten hätte er die Münzen in die Luft geworfen und auf sich herab regnen lassen, doch das Scheppern hätte seine Häscher argwöhnisch gemacht. Da Sepp die Kunst des Lesens nicht fremd war – er kam immerhin aus einer alten Bankiersdynastie – wusste er bald,
dass die Münzen das Abbild der Königin Margrete zeigten. »Ah, Margrete, ich liebe dich«, seufzte Sepp. Dann schaufelte er das Gold mit vollen Händen in die Halsöffnung seiner Kombination: Ein Kilo, zwei Kilo, drei Kilo, vier Kilo, fünf Kilo. Als seine kleine Wampe so aussah, als sei er im neunten Monat schwanger, fiel ihm ein, dass er so nicht mehr durch das Loch in Raumdecke passen würde. Ihm wurde vor Schreck ganz übel. Nachdem er alle Verwünschungen ausgestoßen hatte, die er kannte, ergab er sich seufzend den Realitäten und packte den ganzen Kram wieder aus. Von oben blökte eine ungehaltene Stimme zu ihm hinunter. Was sie sagte, wurde zwar von rollenden Echos verschluckt, aber Sepp verstand sie auch so: Funktionier oder krepier. Finde die Tür oder werde terminiert. Er schaute sich traurig um und musterte die zahlreichen ihn umgebenden Metallbehälter. Ihre Aufschriften konnte er zwar nicht entziffern, weil sie in der alten Sprache der Daynen gehalten waren, aber die aufgemalten Totenschädel schienen darauf hinzuweisen, dass ihr Inhalt gefährlich war. »Such... endlich... den... Eingang!«, schrie nun Rasmus zu ihm herab. »Hast... du... verstanden?« Sepp nickte. Sein Chef baute darauf, dass die Stahltür, die von außen verschlossen war, über einen Mechanismus verfügte, mit der man sie von hier aus öffnen konnte. Für den Fall zum Beispiel, dass man hier drinnen eingeschlossen wurde. Oder damit man sich im Notfall in der Kammer verschanzen konnte. Wenn es Sepp gelang, die Tür aufzusperren, würden Rasmus und seine Leute die Halle ganz bequem ausräumen können. Wenn nicht... Sepp verharrte. Gopferdammi, dachte er erbleichend, denn ihm wurde klar, was ihm blühte, wenn er es nicht schaffte.
Dann würde er jede einzelne Waffe hier drin verpacken und an Seile binden müssen, damit man sie durch das Lüftungsloch nach draußen ziehen konnte. Ihm wurde wieder ganz übel. War dies sein Schicksal? Würde er Monate, wenn nicht Jahre hier unten schuften müssen, bis der riesige Raum leer geräumt war? Sepp schluckte den Kloß herunter, der plötzlich in seiner Kehle saß, und nahm eine der Laternen an sich. Dann trabte er zur Wand und begann mit der Umrundung des Raumes. Knuud gab ihm großzügig Leine. Sepp musste hin und wieder einen Kistenstapel umgehen oder darüber hinweg steigen, was ihn bald ins Schwitzen brachte. Einmal stieß er auf einen großen schweren Panzerschrank, auf den jemand einen gelben Kreis mit drei spitzen Dreiecken gemalt hatte. Vermutlich befand sich etwas sehr Wertvolles darin, vielleicht sogar die Boombe der Alkøyda! Schließlich fand Sepp tatsächlich die schon angerostete Stahltür, die im oberen Drittel mit einem vermutlich drehbaren Rad versehen war. Nicht zum ersten Mal im Leben verwünschte Sepp alle Baumeister, deren Phantasie nicht ausreichte, um sich vorzustellen, dass auch kleine Menschen hin und wieder gern an einem Rad drehten. Er leerte mühsam eine Kiste mit in Ölpapier verpackten Schusswaffen, schob selbige schnaufend zur Tür, kletterte darauf und legte die Hände auf das Rad. Natürlich war das Mistding seit Jahrhunderten nicht bewegt worden und ließ sich nur schwer betätigen. Sepp sprang von der Kiste, packte einen solide aussehenden Langbolzer und setzte ihn als Hebel ein. Mit erheblicher Kraftanstrengung gelang es ihm, das Rad zu drehen, bis ein leises Zischen ertönte und die Tür zwei Zentimeter weit aufsprang. Eine Staubwolke drang durch die Öffnung. Sepp schaute hustend durch den Spalt, doch erst als
er die Laterne zu Hilfe nahm, sah er, dass sich hinter der Tür ein Gang ausdehnte. Geschafft! Sepp war in Schweiß gebadet. Irgendwie hatte die körperliche Anstrengung Auswirkungen auf die kleine Ideenfabrik in seinem Köpfli gehabt, denn nun wusste er, wie er wenigstens einen Teil des Reichtums mit nach oben nehmen konnte. Er eilte diebisch kichernd zu der Goldkiste zurück und schrie: »Zieht mich rauf, ich hab’s geschafft!« Natürlich dauerte es eine geraume Weile, bis Knuud und die anderen das Seil so weit gestrafft hatten, dass Sepp den Boden unter den Füßen verlor. Aber gerissen wie er war, hatte er in der Zwischenzeit so viel Gold zusammengerafft, wie in seine Backentaschen passten. Als die Hälfte der Strecke hinter ihm lag und Sepp gerade anfing, sich die Hände zu reiben, hörte die Aufwärtsbewegung plötzlich auf. Er pendelte auf der Stelle. Was war passiert? Hatte Rasmus seine kleine Aktion etwa bemerkt? Sepp hätte sich liebend gern nach der Ursache der Pause erkundigt, doch sein Mund war zum Bersten voll und jede Lippenbewegung hätte dazu geführt, dass der Schatz ihm Münze für Münze verlustig gegangen wäre. Deswegen hatte er keine andere Wahl als die Klappe zu halten. »He, Sepp!«, schrie Knuud von oben herab. »Hörst du mich?« Sepp drehte den Kopf. Ein verhaltenes Zittern fuhr durch seinen Leib. Was sollte er nur tun? Er konnte den Mund doch nicht aufmachen! »Mhm-mhmmm!«, machte er und ruderte mit den Armen, um den anderen zu signalisieren, dass er nicht taub war. »Hör zu!«, rief Knuud. »Herr Rasmus hat da unten eine Kiste gesichtet, in der sich eiförmige Gegenstände befinden!
Wir lassen dich jetzt wieder runter! Du bringst eins dieser Eier als Muster mit nach oben! Hast du verstanden?« »Mhm-mmmmmm!« Sepp setzte seine Arme erneut als Windmühlenflügel ein. Wudan sei Dank, die Blödmänner hatten nichts gemerkt... *** Der auf Aruula zu wehende Gestank war so bestialisch, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Ihr Blick war schlagartig getrübt. Ihr Magen machte Anstalten, die Reste des Frühstücks durch die Speiseröhre nach oben zu drücken. Als ihr Schwert im Reflex nach oben zuckte, sah sie zweierlei: ein schwarz-weiß gestreiftes, gerulgroßes Tier mit einem buschigen Schweif, das im Gang hinter der Kellertür gerade seine Markierung an die Wand spritzte – und einen acht Ellen großen Glatzkopf, der bei ihrem Anblick einen mit Eisenspitzen gespickten Morgenstern in die Luft riss. Das Tierchen war ein Skunkhörnchen. Aruula fragte sie sich, wieso der Glatzkopf trotz der ätzenden Duftwolke keine Miene verzog. Erst dann sah sie, dass der Mensch – wenn es denn einer war – keine Nasenlöcher hatte. Sein Blick wies in etwa die Intelligenz eines Sacks Mehl auf – und nun wusste sie, wessen Gedankenecho sie vorhin erlauscht hatte. Das Skunkhörnchen richtete drohend seinen Sterz auf und fauchte Aruula an. Doch da es seine Stinkdrüse gerade erst entleert hatte, wusste es wohl, dass es gegen die Frau nichts ausrichten konnte und wandte sich zur Flucht. Der Glatzkopf schaute kurz hinter seinem Haustier her, dann grunzte er wie eine Wisaau, hob den Morgenstern und stürzte sich Aruula entgegen. Dass er ungefähr so roch wie das, was das Skunkhörnchen
gerade verspritzt hatte, hätte jeden parfümierten Bunkerbewohner von vornherein entmutigt. Doch Aruula war Schlimmeres gewöhnt. Obwohl ihre Augen tränten und sie den Mutanten nur umrisshaft wahrnahm, ließ sie ihre Klinge so schnell durch die Luft sirren, dass ihr Gegner seine Waffe schützend vors Gesicht hob. Kling! Die Schneide ihres Schwertes knallte auf den eisernen Griff des Morgensterns, ließ Funken sprühen und prallte ab. Schnell machte Aruula einen Satz zurück und holte erneut aus. Der Glatzkopf duckte sich und setzte zu einem Rundschlag an. Aruulas nächster Hieb zerfetzte das Gewand an seiner linken Schulter und ließ Blut spritzen. Der Mutant grunzte erneut, wich zurück und knallte mit seinen zweieinhalb Zentnern gegen eine morsche Kellertür, die mit einem Knirschen nachgab, nach hinten fiel und eine dichte Staubwolke aufwirbelte. »Arggh!«, fauchte der Wächter und wagte einen erneuten Vorstoß. Aruula, gerade im Begriff, ihm den Schädel zu spalten, setzte mit einer Verwünschung zurück und riss das Schwert hoch, um den Hieb seiner bedrohlichen Waffe abzulenken. Klirr! Der Schlag des Riesen hatte eine solche Wucht, dass sich ihre vom Aufschlag überraschten Finger für den Bruchteil einer Sekunde zu öffnen drohten. Doch schon war Aruula wieder bei sich, sprang zur Seite, wich einem weiteren Hieb aus und knallte ihrerseits mit dem Rücken gegen eine Tür. Auch diese öffnete sich, da sie nur angelehnt gewesen war. Die überraschte Aruula kämpfte um ihr Gleichgewicht. Als der Mutant seine Chance gewahrte und erneut gegen sie vordrang, trat ihr linker Fuß auf irgendetwas, das hinter ihr am Boden lag. Aruula taumelte zurück. Als sie sich am Boden wiederfand, bemüht, den stechenden Schmerz in ihrem
Steißbein zu ignorieren, stellte sie fest, dass sie über ein kleines Fass gestolpert war. Im gleichen Moment, in dem sie es registrierte, warf sich der Glatzkopf auch schon durch den Türrahmen und schwang seine klobige Waffe. Funken stoben, als die Eisenspitzen des Morgensterns über den Steinboden schrammten. Aruula hatte sich in buchstäblich letzter Sekunde zur Seite gerollt. Nun sprang sie wie eine Katze auf und fuhr herum. Der Wächter war trotz seiner Massigkeit keineswegs langsam: Schon hatte er wieder die Waffe erhoben und schlug zu, um seiner Gegnerin den Rest zu geben. Es gelang Aruula auch diesmal, seinen Hieb mit der Klinge aufzufangen, doch die Heftigkeit der Attacke sagte ihr, dass der Kerl nicht aufgeben würde, bis er der Sache ein Ende gemacht hatte. Mit dem sirrend kreisenden Schwert im Vorhalt tänzelte Aruula rückwärts aus dem Raum. Der enge Gang, so nahm sie an, musste den Riesen in seiner Bewegungsfreiheit behindern und ihr einen Vorteil bringen. Doch als ihre Schulterblätter unerwartet gegen eine dritte Tür knallten, begriff sie, dass sie ihren eigenen Spielraum falsch berechnet hatte. Die bernsteinfarbenen Augen des Mutanten blitzten triumphierend auf. Schon zischte der Morgenstern auf ihr Gesicht zu. Aruula ging blitzschnell in die Hocke. Die Waffe krachte gegen die Tür. Holzsplitter regneten durch den Gang. Der von grenzenlosem Zorn geführte Hieb hatte die Tür in ihre Bestandteile zerlegt. Aruula nutzte die Verblüffung ihres Gegners zu einem Vorstoß: Ihr Schwert fegte von links nach rechts auf seine Kniescheiben zu. Er konnte sich gerade noch mit einem Sprung in Sicherheit bringen. Doch die Kraft des Hiebes warf die noch immer halb
hockende Aruula nach hinten. Ehe sie sich versah, lag sie in dem nun türlosen Kellerraum auf dem Rücken. Mit Gebrüll sprang der Wächter, den Morgenstern erhoben und Mord im Blick, durch den Türrahmen. Im nächsten Moment hörte Aruula ein eigenartig hohles Plong!, und als sie den Blick hob, sah sie den Mutanten mit offenem Mund wie in Zeitlupe auf sie zu fallen. Neben der Tür stand ein zierliches blondes Mädchen im Raum, das eine metallene Urne in den Händen hielt und breit grinste. Aruula rollte sich zur Seite. Die massige Gestalt des Gegners landete dort auf dem Boden, wo sie kurz zuvor noch selbst gelegen hatte. Auf seiner Glatze bildete sich eine dicke blaugrünrote Beule. Der Morgenstern entglitt seiner schlaffen Hand und fiel zu Boden. »Nonni?« Aruula richtete sich auf. Das Mädchen nickte. »Danke, dass du mich gerettet hast.« »Ja... hm...«, erwiderte Aruula. »Keine Ursache...« Sie hatte Mühe, nicht zu erröten. *** Als Sepp zwei Ellen vor dem Lüftungsloch an den Nylonseilen in der Luft hing, fragte er sich, wie es ihm wohl gelingen konnte, seine Backentaschen zu leeren. ohne dass Rasmus und die anderen es merkten. Bevor ihm eine Idee kommen konnte, beugten sich schon in dem von Laternen und einigen Pechfackeln erhellten Raum drei Gestalten mit gierig funkelnden Augen über ihn: Knuud, Jeens und Tycho. Rasmus ragte hinter ihnen auf. Er verzog keine Miene; der Erfolg schien ihn völlig kalt zu lassen. »Hast du die Tür gefunden?«, fragte Knuud. Er hielt Sepp eine Hand entgegen, nahm das metallene Ei in Empfang und
legte es neben sich auf den Boden. »Und noch wichtiger: Konntest du sie öffnen?« »Mhm-mmm...« Sepp nickte heftig. Es war ihm unsäglich peinlich, dass er nichts sagen konnte, ohne sich zu verraten. Doch sein Kummer verflog, als er eine schrille Stimme »Krepiert!« schreien hörte. Dann klatschte es irgendwo. Knuud wich urplötzlich zurück. Die Sepp haltenden Seile gaben nach. Panik kreischte in seinem Hirn, als er spürte, dass er zurück in die Tiefe zu fallen drohte. Er streckte blitzschnell beide Hände aus, krallte sich an den Rand des Loches, spannte seine Muskeln und schob den Kopf in den halb dunklen Raum hinein. Über ihm war die Hölle los. Eisen klirrte auf Eisen. Eine der am Boden stehenden Laternen wurde von einem Fuß gegen eine Wand geschleudert. Rufe. Schreie. Stiefel scharrten über den steinigen Boden. Staub wirbelte auf und wehte Sepp ins Gesicht. Da wurde gekämpft! Sepp hätte gern um Hilfe gerufen und auf seine missliche Lage aufmerksam gemacht, aber der volle Mund hinderte ihn daran. Er dachte nur eins: Ich muss die Goldmünzen retten. Dann: Quatsch, ich muss mich retten! Sepp spannte seine Muskeln an wie noch nie. Es gelang ihm schließlich, seinen Leib hoch zu wuchten und sich aus dem Loch heraus zu schieben. Als er in dem Raum angekommen war, schaute er sich um. Nonnis Vater und der Koch des »Tifoli« droschen mit stählernen Schlagwaffen auf Rasmus’ Vasallen ein, die sich heftig wehrten. Maddrax, der im Schein der Fackeln und Laternen so bleich war wie der Tod, versetzte Jeens gerade einen Kinnhaken. Als Sepp sich aufrichten wollte, stellte er fest, dass er sich in den Seilen verheddert hatte. Bevor er dazu kam, sich von ihnen zu befreien, traf ihn ein Tritt in den Bauch und er spuckte die Goldmünzen aus.
Als er ächzend auf dem Boden landete, sah er, dass Jeens neben ihm über Knuuds Beine stolperte und auf die Nase fiel. Seine Stirn prallte gegen die Wand und erzeugte einen merkwürdig hohlen Ton. Sepp sprang auf und hielt mit wilden Blicken nach den Münzen Ausschau. Da er sie in Chaos und Zwielicht aber nicht sah, beschloss er sich an Jeens zu rächen, der ihm in den Bauch getreten hatte. Doch als er sich dazu durchgerungen hatte, ihn zu würgen, genügte ein Blick in dessen offene Augen, um zu erkennen, dass er schon nicht mehr in dieser Welt weilte. Pelle Gyldendal, der für einen Buddler recht flink focht, kreuzte die Klinge mit Tycho Schiefzahn, der seine Hiebe zornrot parierte, doch langsam aber sicher an die Wand gedrängt wurde. Knuud bemühte sich derweil, dem mit einem Fleischerbeil bewaffneten Koch auszuweichen. Sepp blinzelte ungläubig, als er das weitmaschige Netz über Maddrax’ Schulter bemerkte. Was hatte er vor? Wollte er seine Gegner etwa wie Fische fangen? Rasmus hatte sich bislang aus dem Kampf heraus gehalten. Jetzt, da sich Maddrax ihm zuwandte, verschwand seine Hand unter dem Wams und kehrte mit einer Schusswaffe zurück! Sepp kannte das Modell; es konnte grelle Blitze verschleudern! Bevor er sie jedoch auf Maddrax richten konnte, riss dieser eine Fackel von der Wand und drosch sie seinem Gegner ins Gesicht. Was dann geschah, brannte sich für alle Zeiten in Sepp Nüsslis Erinnerung ein. Rasmus stieß keinen Schmerzensschrei aus, nur ein verächtliches Schnauben. Und dann zerflossen seine Gesichtszüge auf so schreckliche Weise, dass Sepp die Haare zu Berge standen. Es sah aus, als sei Rasmus’ Schädel aus Wachs gemacht: Er verwandelte sich in die Fratze eines silbern geschuppten Reptils!
»Gopferdammi!« Sepp war wie erstarrt – und das Gleiche galt auch für Knuud und Tycho, denen noch einige Sekunden verblieben, um die grauenhafte Metamorphose mitzuerleben. Dann nutzten der Koch und Pelle Gyldendal den Schock der beiden zu ihrem Vorteil. Die Rückseite des Fleischerbeils knallte gegen Tychos Schläfe, und Pelles Klinge durchbohrte Knuuds rabenschwarzes Herz. Sepp stand wie ein Ölgötze da und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Maddrax wich zurück – das plötzlich veränderte Aussehen seines Gegners schien auch ihn zu erschrecken. Dann stieß sein linker Fuß gegen etwas, das am Boden lag. Das Geräusch, das dieses Etwas erzeugte, ließ das Reptil blitzschnell nach unten schauen. Sepp folgte seinem Blick und sah das metallene Ei, dass er mit herauf gebracht hatte, auf sich zu rollen. Er erwachte erst aus seiner Starre, als das Reptil sich auf das Ding stürzte, einen Metallstift aus dem Ende herauszog und es Maddrax entgegen warf. Keine Sekunde später hechtete das Biest mit einem gewaltigen Sprung aus dem Raum und tauchte in der Finsternis unter. »Ähm...«, machte Sepp verdutzt. Maddrax fing das Ei im Reflex auf. Er schaute es an. Seine Augen, die fiebrig glänzten, wurden groß. Seine Kinnlade sackte herab. Sepp hatte den Eindruck, dass ihm das Ei irgendwie entglitt. Um zu verhindern, dass es durch das Loch im Boden fiel, breitete er geschwind die Arme aus und erwischte es im letzten Augenblick. Offenbar war Maddrax über seine Reaktion nicht sehr erfreut, denn nun warf er sich mit einem heiseren Aufschrei auf Sepp, entriss ihm seine Beute, ließ sich vor dem Loch auf den
Boden fallen und schleuderte das Ding in die Tiefe. Dann rollte er sich zur Seite und schrie: »Runter!« Pelle Gyldendal und der Koch schienen mehr zu wissen als ein gewöhnlicher kleiner Mensch, denn sie folgten seinem Rat auf der Stelle. Sepp kam nicht mehr dazu, es ihnen gleich zu tun, denn schon bebte der Boden. Ein schauriges Röhren ließ seine Ohren klingeln. Dann stob eine Wolke durch das Loch. Sie führte den Staub der Jahrhunderte mit sich und blies alle Fackeln aus. Sepp hörte Husten und Fluchen, aber sehen konnte er nichts. Der Dreck machte den Raum so stockfinster wie das Innere eines Kohlensacks. Neben sich hörte er Maddrax schwer schnaufend nach Atem ringen. Dann flammte ein Licht auf. Pelle Gyldendal hatte ein Zündholz angerissen und steckte eine der Laternen wieder in Brand. In ihrem Licht sah Sepp, dass sein Freund sich mit verschmutztem Gesicht über das Lüftungsloch beugte und in die Tiefe schaute. Von unten drang flackernde Helligkeit herauf. Die Explosion hatte ganze Arbeit geleistet, denn die Asservatenkammer sah schrecklich aus. Das Metall-Ei hatte wohl noch einige andere seiner Art ausgelöst. Die Waffen, die dort unten lagen, waren fast allesamt zerstört worden. Glücklicherweise brauchte es etwas mehr als eine Explosion, um eine in einem Panzerschrank verstaute Nuklearwaffe zu zünden – andernfalls wäre nicht nur das alte Polizeipräsidium in die Luft geflogen, sondern die halbe Stadt. Pelle Gyldendal und der Koch erhoben sich langsam. Sie waren schwarz wie Schornsteinfeger und zitterten wie Espenlaub. Maddrax schüttelte sich unter einem krächzenden Hustenanfall, dann spuckte er aus und sprang auf die Beine. »Fesselt die Burschen da«, sagte er und deutete auf Rasmus’ Helfer. »Ich bin gleich zurück...« Er packte das am Boden
liegende Fangnetz und rannte hinaus. »Ja, genau, verpackt die Burschen!«, schrie Sepp. »Ich werd sie persönlich vors Gericht schleifen, wenn’s hier so was gibt! Immerhin haben sie den gesamten Sprengel der örtlichen Kristianer-Kirche ermordet!« Er schnappte sich eine Laterne und heftete sich an Maddrax’ Fersen. Nun galt es den ausländischen Lumpen dingfest zu machen. Maddrax war dem Reptil allein nicht gewachsen: Sein fiebriger Blick hatte Sepp klar gemacht, dass er nicht mehr voll einsatzfähig war. Ja, es waren unbedingt zwei harte Burschen nötig, um das Ding zu schnappen, das sich Rasmus nannte. Außerdem war Maddrax ohne Laterne unterwegs; da konnte er doch gar nichts sehen... Als Sepp ihn in dem Gang einholte, der zur Treppe hinauf führte, zeigte sich, dass seine Idee doch nicht so gut gewesen war: Seine Laterne bot jedem Lebewesen – Mensch oder ein Reptil – ein prächtiges Ziel. Deswegen dauerte es auch nur Sekunden, bis von der Treppe her rote Blitze auf ihn und Maddrax zu zischten. Da die Strahlen den Putz von den Wänden sprengten, hielt Sepp es für besser, den Docht der Laterne auszupusten. »Shit!«, krächzte Maddrax, der sich geistesgegenwärtig zu Boden geworfen hatte. »Er hat McNeils Laser!« Hektisch riss er seinen Driller hervor, zielte in Richtung der Treppe – und ließ ihn wieder senken. Es war zu riskant, das Explosivgeschoss abzufeuern. Wenn der Gang einstürzte, saßen sie hier unten fest. Oder der Himmel fiel ihnen gleich auf den Kopf. Damit war die Verfolgungsjagd zu Ende, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Sie hörten noch, wie der Daa’mure sich entfernte, und von Zeit zu Zeit flackerte helles Laserfeuer den Gang herab. Dann war es still um Sepp Nüssli und Matthew Drax.
Matt presste seine fiebrige Stirn gegen den kühlen Boden. Es wurde höchste Zeit, dass er die Bordapotheke des EWATs plünderte. Epilog Als die Ark IX am Rande Kobenhachens landete, zog sie die Blicke vieler neugieriger Bürger auf sich. Doch niemand – nicht einmal die Gendarmen – wagte es, sich dem Flugpanzer zu nähern. Außer Pelle Gyldendal, Fredryk, Nonni und Sepp Nüssli. Sie standen neben Matt und Aruula und bekamen vor Staunen den Mund nicht mehr zu, denn Fahrzeuge, die durch die Luft flogen, waren ihnen unbekannt. Matt stand inzwischen wieder sicherer auf den Beinen. Ein Beutelschneider aus Pelles Nachbarschaft hatte ihm einen abscheulich scharfen Morchelsud eingeflößt, um das Fieber zu vertreiben, das seine Glieder jetzt nur noch verhalten schlottern ließ. Als die Luke aufging und das schwarze Gesicht Colonel Cinderella Loomers mit der goldfarbenen Perücke sichtbar wurde, wurden die Augen der Gaffer noch größer. »Es muss ein wunderliches Land sein, in dem ihr lebt, Maddrax...« Pelle beäugte die Frau mit dem krausen Goldhaar und der engen Kombination. »Was für eine Vielfalt an Erscheinungsformen es bei euch gibt... Ich hätte nicht übel Lust, mal einen Abstecher nach Britana zu machen...« »Lass dich nicht aufhalten, alter Knabe.« Matt klopfte Pelle auf die Schulter. »Aber nimm dein Schwert mit und vergiss nicht, dass es in jedem Land Gute und Böse gibt.« Er nickte Pelle und den anderen zu, dann näherte sich der Luke des EWATs. »Von Beobachterin McNeil fehlt nach wie vor jede Spur«,
meldete er Colonel Loomer. »Da der Feind ihre Waffe hatte, können wir davon ausgehen, dass sie nicht mehr lebt. Der Drahtzieher – ein Daa’mure – ist uns entwischt. Wir haben zwei seiner Mittäter ausgeschaltet und einen dritten dingfest gemacht. Eine Bombe der Al Qaida auf der Basis nuklearer Isomere, die das Ziel des Daa’muren war, konnte sichergestellt werden.« Colonel Loomer musterte ihn schweigend. »Die Aktion war also kein Fehlschlag«, fügte er hinzu. Dann hüstelte er verlegen. »Na schön.« Matt seufzte. »Ich weiß, Colonel. Wir hätten Sie um Unterstützung bitten sollen.« »Was Sie sich da geleistet haben, Commander Drax«, sagte Loomer spitz, »demonstriert mal wieder trefflich Ihr stures Einzelkämpfertum.« Auch sie stieß einen Seufzer aus. »Wenn Sie unser Team zu Hilfe gerufen hätten«, fauchte sie, »wäre der Daa’mure uns bestimmt ins Netz gegangen!« »Moment, Moment!« Matt spürte plötzlich eine Hand an seiner Hüfte. Sepp Nüssli drängte sich an ihn vorbei, baute seine zweieinhalb Ellen Körpergröße vor Loomer auf und warf sich in die Brust. »Was soll das heißen, Hilfe!? Maddrax hatte alle Hilfe, die er brauchte. Nicht wahr, Maddrax?« Er schaute Matt an. »Ja... hm«, murmelte Matt. »Klar.« Er schaute Loomer wieder an und sah sie grinsen. »Wer ist dieser... äh... Mann?«, fragte Loomer. Sie nahm den Gnom interessiert in Augenschein. »Ein Angehöriger Ihres kontinentalen Teams?« »Sowieso!« Sepp führte die Fingerspitzen seiner rechten Hand an seine linke Schläfe – trefflicher hätte auch kein Prinzengardist salutieren können. Matt wollte gerade den Blick zum Himmel schlagen, als er sah, dass Sepp Colonel Loomer zu gefallen schien, denn sie schmunzelte nun ganz offen, »Mein Agent in Skandinavien«, flunkerte Matt. »Leftenant
Nüssli, Ex-Agent des schweizerischen... ähm... Bankenvereins.« »Hauptmann«, sagte Sepp. »Nicht Leftenant!« Loomer schaute Matt an. »Sind sie in Ordnung, Commander? Sie sehen krank aus.« »Hab mir irgendeinen Virus eingefangen.« Matt grinste. »Es ist aber nichts, das ein paar bunte Pillen nicht kurieren könnten.« »Freut mich zu hören.« Loomers Blick blieb noch eine Weile mit Wohlgefallen auf Sepp haften, dann bat sie Matt und Aruula, sich von seinem »Einsatzkommando« zu verabschieden, während Andrew Farmer und John Ivenhoe Yoshiro die sichergestellte Atombombe an Bord brachten. Danach konnten sie die Reise nach London endlich fortsetzen. Matt schüttelte Fredryk, den Gyldendals und Sepp die Hand. »Ich schätze«, raunte Sepp ihm und Aruula zu und deutete mit dem Kinn auf Nonni, »ich werde meine Emigration zu den Dreizehn Inseln noch ein Weilchen verschieben. Ich habe mein Herzli nämlich an eine junge Dame verloren, die ich erst erobern muss.« Matt räusperte sich. »Eine gute Wahl getroffen, Sepp. Und falls es dir nicht gelingen sollte, Nonni zu gewinnen, mach dir nichts daraus. Denk immer daran, dass du jetzt immerhin Agent der Londoner Community für Skandinavien bist. Wir erwarten von dir, dass du die Augen offen hältst und uns verständigst, wenn weitere Daa’muren hier auftauchen sollten.« Matt klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich dem EWAT zu. Das Triebwerk summte schon. »Krieg ich dann auch so ‘n Funkgerät?«, fragte Sepp. »Damit ich als Auge und Ohr der Community bestens ausgerüstet bin?« O nein, dachte Matt. So sehr er Sepp auch mochte: Solange seine fünf Sinne noch funktionierten, kam es nicht in Frage,
dass ein personifizierter Unsicherheitsfaktor wie Sepp Nüssli an einem ISS-Funkgerät herum fummelte. »Leider sind wir momentan knapp mit diesen Geräten«, log er. »Aber wir geben dir einen kleinen Apparat, der Sprachen übersetzt. Damit bist du als Spion unschlagbar!« Er schob den Kopf durch die Luke der Ark IX, bat Loomer um einen Universal-Translator und schob ihn Sepp unter den Umhang. »Hüte ihn wie deinen Augapfel, Sepp – und wenn nötig, verteidige ihn mit deinem Leben.« »Sowieso!« Sepps Augen blitzten. Er schüttelte Matt die Hand, wie die Kristianer es taten. »Halt die Ohren steif, alter Knabe. Und lass dich irgendwann mal wieder blicken.« Matt nickte Sepp noch einmal zu, dann folgte er Aruula in den EWAT. Captain Rudolph schloss die Luke mit einem Knopfdruck. Das leise Brausen des Reaktors verkündete, dass man abflugbereit war. Als Sepp zu Nonni und seinen Freunden zurückkehrte, hob das Fahrzeug wie von Zauberhand vom Boden ab, schraubte sich in den blauen Himmel und verschwand über den im Süden der Stadt aufragenden Wäldern. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Wege der Nacht von Bernd Frenz Niemand wusste, woher sie kamen – von einem Tag auf den anderen waren sie einfach da. Krieger in schweren Rüstungen, die den Körper schützten und das Gesicht bedeckten. Sie nannten sich »Washington Rangers«, und sie traten auf, als ob ihnen die Wälder und Berge, in denen die alteingesessenen Stämme seit Generationen lebten, ganz und gar gehörten. Ihr Benehmen war unverschämt, doch ihre blitzenden und donnernden Waffen fällten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Mit eisernen Fahrzeugen durchstreiften sie das Land, angeblich um das Böse zu bekämpfen, doch viele Barbaren fühlten sich von ihnen bedroht oder zumindest in der Freiheit beschnitten. Und so dauerte es nicht lange, bis an den Lagerfeuern die Frage aufkam, ob ihr Kampf für Recht und Ordnung nicht bloß ein Mittel war, um die Macht in ganz Meeraka zu ergreifen.