Geister-
Krimi � Nr. 81 � 81
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Geister-
Krimi � Nr. 81 � 81
Andrew Hathaway �
Rick Masters und � der � Phantommörder � 2 �
Die Hinrichtung Paul Mallows, genannt der ›Phantommörder‹, war für den 3. November 1870, sieben Uhr morgens, festgesetzt. Fünf Minuten vor der Zeit waren sie alle vollzählig versammelt. Im trüben, bleichen Morgenlicht, das nur zögernd über London heraufdämmerte, hatten sie sich eingefunden: Richter, Anwälte, Geschworene, Kriminalbeamte, der Zuchthausdirektor – und der Henker. »Endlich wird dem Schrecken von London ein Ende bereitet«, sagte leise einer der Geschworenen zu dem neben ihm stehenden Mann. »Der Phantommörder findet seine gerechte Strafe.« Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Ich bin gegen die Todesstrafe, Soames, das wissen Sie doch.« »Vier Giftmorde«, ereiferte sich der Geschworene. »Vier Giftmorde mit einem bisher unbekannten Teufelszeug hat er begangen, dieser unmenschliche…« Er brach ab, weil der Verurteilte auf den Hof des Zuchthauses geführt wurde. Sein Gesicht war blaß von einer langen Haft, doch nicht ein Muskel zuckte darin, als er den eigens für seine Hinrichtung gebauten Galgen erblickte. Seine dunklen Augen glitten über die Holzbalken, die Schlinge, blieben an dem bereitstehenden Henker und seinem Gehilfen hängen. Die letzten Schritte machte sich der Phantommörder von seinen Bewachern frei. Rasch stieg er die Stufen hinauf auf das Blutgerüst. Es war genau sieben Uhr, als der Henker dem Verurteilten die Hände gefesselt und die schwarze Kapuze übergestreift hatte und nach der Schlinge griff. In diesem Augenblick stieß der Henker einen gellenden Schrei aus, taumelte einen Schritt zurück, trat über den Rand der Plattform und stürzte auf den Boden des Hofs. Mit vor Schreck aus den Höhlen tretenden Augen starrte er auf 3 �
den Mann, der aus dem Nichts kommend neben dem Verurteilten erschienen war. * Das Hauptaugenmerk der Zeugen jener denkwürdigen Hinrichtung im Jahre 1870 war auf den Henker gerichtet, der durch seinen Schrei und den nachfolgenden Sturz die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Fragen schwirrten durcheinander, trafen den auf dem Boden liegenden verstörten Mann. »Da, seht doch!« schrie er und zeigte hinauf zum Galgen. Die Blicke folgten der angegebenen Richtung, doch da war nichts zu sehen außer dem Verurteilten, der direkt unter der Schlinge stand, die Kapuze unverändert über dem Kopf, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der Gehilfe des Henkers hatte diesem bis zuletzt das Gesicht zugewandt, so daß auch er nichts hatte sehen können. Der Gefängnisdirektor lief zu dem gestürzten Henker und zischte ihm eine Frage zu. »Ich habe ihn ganz deutlich gesehen«, stieß der Henker hervor. »Neben Mallow stand plötzlich ein Mann, noch jung, blonde Haare, hellbraune Augen. Er war schlank und groß und hatte eine fremdartige Kleidung, hellgelbes Leder, eine Jacke, dazu seltsame blaue Hosen. Ich…« »Tun Sie Ihre Pflicht, Henker!« fauchte der Direktor ihn an, am Rand seiner Nervenkraft angelangt. »Phantasieren Sie nicht herum! Worauf warten Sie noch?« Der Henker schaute ihn einen Augenblick lang fassungslos an, dann raffte er sich eilig auf, hastete die Treppe hinauf zum Galgen. Die Handgriffe funktionierten wie im Schlaf. Zwei Minuten später war alles vorüber. 4 �
»Der Phantommörder ist tot«, seufzte einer der Geschworenen erleichtert auf. Keiner der damaligen Augenzeugen jener merkwürdigen Hinrichtung wurde alt genug, um das Grauen mitzuerleben, das über hundert Jahre später über London hereinbrach. * Jenny Allen griff zu spät ein. Sie konnte nicht mehr verhindern, daß Rick Masters mit der Hand gegen sein Bierglas schlug und es umstieß. »Paß doch auf!« zischte Jenny Allen ihrem neuen Freund zu, doch Rick Masters merkte überhaupt nichts davon, daß er das Bier verschüttet hatte. Mit ausdruckslosem Gesicht saß er neben Jenny im Restaurant in der Londoner City. Er fühlte nicht einmal, daß seine Hand in einer Bierlache lag. »Rick!« Jenny schüttelte ihn leicht an der Schulter. »Rick! Wach auf! Träumst du?« Rick Masters schreckte zusammen und lächelte seine Freundin verlegen an. »Entschuldige, hast du etwas gesagt?« fragte er verwirrt, fühlte die Nässe auf dem Tischtuch und zog die Hand weg. »Pfui Teufel, wieso ist denn das Bier verschüttet?« fragte er und holte ein Taschentuch aus seinen Blue Jeans, um sich die Hand zu trocknen. »Sag mal, hast du das öfter?« erkundigte sich Jenny Allen ratlos. »Du hast mit einer heftigen Handbewegung dein Glas umgestoßen und warst vollkommen weggetreten.« »Verstehe ich nicht.« Rick Masters schüttelte den Kopf. Er rückte seine hellgelbe Lederjacke zurecht und strich sich flüchtig über die blonden Haare. Seine hellbraunen Augen wanderten zwischen dem nassen Tischtuch und seiner Freundin, die er erst seit ein paar Wochen kannte, hin und her. 5 �
»Bisher hatte ich noch nie Wachträume, aber diesmal… Es war so lebhaft, als wäre ich wirklich dabeigewesen.« »Wo dabeigewesen?« wollte Jenny Allen wissen, erhielt jedoch keine Antwort, da der Kellner an ihren Tisch kam und das Tischtuch auswechselte. Rick bestellte ein neues Bier. »Also«, drängte Jenny, als der Kellner gegangen war. »Wo hattest du das Gefühl, dabeizusein?« Rick zündete sich eine Zigarette an und starrte auf die Glut. »Bei einer Hinrichtung«, sagte er knapp. * Das Lächeln auf Jenny Allens Gesicht fiel ziemlich ungläubig aus, weshalb sich Rick Masters beeilte, Einzelheiten zu schildern. »Ich hatte ganz plötzlich das Gefühl, neben einer Falltür zu stehen«, erzählte er. »Es war sehr merkwürdig. Das Blutgerüst war auf einem großen Hof aufgebaut, ringsherum düstere Gebäude.« »Ein Gefängnishof?« fiel Jenny ein. Rick Masters nickte. »Unten vor dem Galgen standen zahlreiche Männer, alle in altmodischen Anzügen und mit Zylindern. Direkt neben mir jedoch stand ein zum Tode Verurteilter, bereits die schwarze Kapuze über den Kopf gezogen und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Und das Merkwürdigste…« Hier unterbrach sich Rick Masters und schüttelte den Kopf, als könne er selbst nicht glauben, daß er das alles »geträumt« haben sollte. »Der Henker, der soeben dem Verurteilten die Schlinge über den Kopf ziehen wollte, fiel vor Schreck schreiend von diesem Gerüst herunter. Gleich darauf wachte ich wieder auf. Ist doch seltsam, nicht wahr?« »Seit Jahren gibt es keine Hinrichtung mehr in Großbritannien«, erwiderte Ricks Freundin nüchtern. »Außer6 �
dem wurden Hinrichtungen immer in einer eigenen Todeszelle und nicht auf dem Gefängnishof vollzogen, früher, meine ich«, fügte sie erklärend hinzu. »Das schon«, gab Rick zu, »aber der Kleidung der Zeugen nach zu urteilen, war das eine sehr frühe Hinrichtung, vielleicht noch im vorigen Jahrhundert.« Jenny Allen betrachtete Rick, aus zusammengekniffenen Augen, dann lächelte sie strahlend und warf ihre langen blonden Haare in den Nacken. »Weißt du was, Rick?« fragte sie lachend. »Das ist die merkwürdigste Ausrede, die ich je von jemandem gehört habe, der seine Unachtsamkeit entschuldigen wollte.« Rick Masters stutzte, dann merkte er, daß ihm seine Freundin kein Wort glaubte und annahm, er schäme sich seiner Ungeschicklichkeit. Achselzuckend verzichtete er darauf, seinen Wachtraum zu verteidigen. Was brachte es ihm schließlich ein, ob Jenny daran glaubte, was sich in seiner Phantasie abgespielt hatte. Denn es war selbstverständlich nur ein Auswuchs seiner Phantasie, was denn sonst! »Du kannst nur froh sein«, fuhr Jenny unbekümmert fort, »daß du dir das Bier nicht über den Ärmel gekippt hast. Deine neue gelbe Lederjacke hätte einen schönen Fleck bekommen!« »Du hast recht wie immer«, nickte Rick und versuchte ebenfalls ein Lächeln. Es gelang nicht ganz, da ihm die Erinnerung an dieses phantastische Erlebnis noch zu frisch in den Knochen steckte. Neben dem Verurteilten unter dem Galgen zu stehen, das war auch als Wachtraum beklemmend und furchteinflößend. Rick Masters entschloß sich, diesen ganzen Vorfall so rasch wie möglich zu vergessen. Jenny half ihm dabei, indem sie sich leicht gegen ihn lehnte, 7 �
daß er den Duft ihrer Haare roch, und leise flüsterte: »Komm, Rick, wir fahren zu dir nach Hause. Ich habe noch viel Zeit…« * »Noch vor zehn Jahren hätten wir unsere Ruhe gehabt, wenigstens in einem First Class Restaurant«, murrte Nicholas Kynaston. Er beschwerte sich bei seinem Tischgefährten, der in die Richtung schaute, in die Kynastons Finger deutete. »Zwei Schnüffler vom Secret Service«, fuhr Nicholas Kynaston fort. »Nur weil ich Abgeordneter des Unterhauses bin und wegen einer Rede einige anonyme Drohungen erhalten habe, hängen mir die Sicherheitsleute ständig auf den Fersen. Sie können mir den Appetit verderben.« Die beiden Männer an einem der Nebentische verhielten sich absolut unauffällig, abgesehen davon, daß ihre Blicke fast ständig an Kynaston und seiner unmittelbaren Umgebung hingen. »Bei den vielen Terrorüberfällen…«, setzte der Begleiter des Abgeordneten an, wurde jedoch von Kynaston unterbrochen. »Wenn mich einer über den Haufen schießen will, tut er es, mit oder ohne Bluthunde«, schimpfte er. »Und wenn mich einer mit einer Bombe hochjagen will, tut er es ebenfalls. Ach, da kommt endlich der Sherry!« Der Kellner stellte die Gläser vor die beiden Männer, die einander zuprosteten und dann eine politische Diskussion begannen. Die Vorspeise kam, ohne daß sich etwas ereignet hätte. Der Hauptgang folgte. Die beiden Bewacher vom Geheimdienst verhielten sich weiterhin unauffällig, und nur die Kellner rümpften die Nasen, weil sie die billigsten Speisen und Getränke auf der Karte bestellten. Die Kellner konnten schließlich nicht wissen, daß auch der Spe8 �
senetat des Secret Service im Zuge der allgemeinen Sparmaßnahmen drastisch gekürzt worden war. Nicholas Kynaston unterbrach die Darstellung seiner politischen Ansichten, als Kaffee und Kognak serviert wurden. »In dieser Hinsicht halte ich es mit den Leuten vom Kontinent«, verriet er seinem Begleiter. »Dieser Kognak…« Er ließ die goldbraune Flüssigkeit im Glas kreisen, roch genießerisch daran und runzelte wütend die Stirn, als ein Schatten auf seinen Tisch fiel. Als er hochschaute, sah er die beiden Männer vom Secret Service vor sich. »Verzeihung, Sir«, sagte der eine von ihnen leise. »Die Geschäftsleitung hat uns höflich aber mit Nachdruck gebeten, unseren Tisch zu räumen. Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« »Ausgeschlossen, kommt gar nicht in Frage!« wetterte Kynaston zornig. »Ich will endlich meine Ruhe haben! Warten Sie draußen im Wagen oder fahren Sie nach Hause! Nur lassen Sie mich um Himmels willen in Ruhe!« Mit betretenen Gesichtern zogen die Geheimdienstleute ab. Einen Skandal wollten sie nicht riskieren, weshalb sie gegen ihre Dienstvorschrift handelten und den Abgeordneten des Unterhauses ohne Beaufsichtigung ließen. »Endlich allein«, seufzte Nicholas Kynaston erleichtert, hob sein Glas und trank. »Ein wahrer Genuß, wenn man…« Sein Begleiter, der bisher nicht viel zu Wort gekommen war, wartete vergeblich auf eine Fortsetzung des Satzes. Erstaunt blickte er dem Abgeordneten in die Augen, die einen glasigen Ausdruck angenommen hatten. »Na, Mr. Kynaston, fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte der Mann besorgt. »Mr. Kynaston?« Der Abgeordnete griff sich röchelnd an den Hals. Sein Gesicht 9 �
erstarrte, seine Hände krallten sich an seinem eigenen Hals fest, als wolle er sich erwürgen. Aus seinem Mund drang ein wimmerndes Keuchen, das in ein schmerzliches Stöhnen überging. Der untersetzte Mann begann am ganzen Körper zu zittern, er schwankte, dann fuhr er halb von seinem Stuhl hoch und fiel nach vorn auf den Tisch. Als die beiden Männer vom Secret Service, durch die Schreie der entsetzten Gäste alarmiert, in das Restaurant stürzten, war Nicholas Kynaston bereits tot. * Rick Masters schaute lächelnd auf das Mädchen herunter. Jenny Allen hatte sich, nackt wie Eva im Paradies, auf seinem Bett zusammengerollt und kuschelte sich eng an ihn. Er saß aufrecht und rauchte, da er vor ihr wieder aufgewacht war. Sie hatte wirklich viel Zeit für ihn gehabt. Vor den Fenstern von Ricks Wohnbüro in der City von London hing bereits die Abenddämmerung, im Zimmer konnte man nur mehr die Umrisse der einzelnen Gegenstände erkennen. Rick streifte seine Zigarette im Aschenbecher auf dem Nachttischchen ab und warf einen Blick auf das Telefon. Kurzentschlossen zog er es zu sich heran, stellte es auf das Bett und wählte die Nummer von Scotland Yard. Anschließend wählte er gleich zur Nebenstelle durch, an der sein Freund und Berufsgenosse Chefinspektor Kenneth Hempshaw zu erreichen war. Als jedoch niemand antwortete, schaltete das Telefon automatisch zur Zentrale von Scotland Yard. Rick verlangte den Chefinspektor, und nach wenigen Minuten war Hempshaw über die Hauptsprechanlage gefunden und mit Rick verbunden. »Bin bei Dr. Sterling«, meldete sich der Chefin10 �
spektor. »Was gibt es, Rick?« »Nichts«, antwortete Masters. »Weshalb ruft dann ein kleiner Privatdetektiv bei Scotland Yard an?« erkundigte sich Hempshaw lachend. Er untertrieb schamlos, da Rick Masters in England – nicht nur in London einen hervorragenden Namen als Privatdetektiv hatte. Rick strich Jenny über das Haar, als sie sich im Schlaf murmelnd auf die andere Seite drehte. Sein Blick glitt über ihre Brüste und die schlanken, wohlgeformten Arme. »Rick, träumen Sie?« riß ihn die bellende Stimme des Chefinspektors aus seinen Gedanken. »Ach so, nein, Kenneth! Ich wollte nur wissen, was bei Ihnen los ist. Ich habe im Moment eine sehr ruhige Zeit.« Hempshaw stieß einen undefinierbaren Laut aus, der nicht sehr freundlich klang. »Wir haben eine widerliche Sache am Hals, Rick! Sie stinkt zehn Meilen gegen den Wind.« »Wer ist wir? Sie und Dr. Sterling?« »Genau, wir beide. Wir stecken bis über den Kopf in Arbeit. Heute müssen wir zum Beispiel eine Nachtschicht einlegen, obwohl unser Dienst vor zwei Stunden zu Ende war.« »Das sind die Freuden des Kriminalisten, der in gesicherter Position einer fetten Pension zustrebt«, frotzelte Rick. »Ha, ha!« machte der Chefinspektor lustlos. »Worum handelt es sich denn?« forschte der junge Privatdetektiv. »Mord?« »Stille trat ein, was Rick ziemlich überraschte. Dann kam die zögernde Stimme von Chefinspektor Hempshaw. »Ja, Mord, aber… tut mir leid, Rick, mehr kann ich nicht sagen. Das verstehen Sie doch hoffentlich?« 11 �
Jenny erwachte und gähnte wie eine satte Katze. Sie drängte sich noch enger an Rick Masters, der plötzlich Lust verspürte, das Gespräch mit Hempshaw kurz zu halten. »Natürlich verstehe ich, Kenneth«, beruhigte er seinen Freund. »Grüßen Sie Dr. Sterling, und überarbeiten Sie sich nicht.« »Sie auch nicht!« lachte der Chefinspektor. »Und noch viel Spaß, Rick!« »Hellseher«, antwortete der Privatdetektiv und legte auf. »Wer war das?« fragte Jenny mit unverkennbarer Eifersucht in der Stimme. »Ein bulliger Chefinspektor mit immer grimmigem Gesicht«, antwortete Rick. »Du Lügner!« Jenny kratzte ihn über die Brust. »Faule Ausrede!« »Wenn man schon einmal die Wahrheit sagt«, seufzte Rick, »glaubt einem kein Mensch!« Jennys Proteste erstickte er mit einem langen, heftigen Kuß, bis ihre Leidenschaft erneut aufflammte. Chefinspektor Hempshaws Fall vergaß Rick Masters sehr rasch in Jennys Armen. * »Wir können froh sein, daß uns der Chef nach der letzten Pleite nicht in die Wüste geschickt hat«, seufzte der großgewachsene, breitschultrige Mann, den alle nur unter dem Namen Ken kannten. Sein Kollege Jeff nickte zustimmend. »Wir hätten den Tod Kynastons aber auch nicht verhindern können, wenn wir das Restaurant nicht verlassen hätten. Immerhin sind seit Kynastons Ermordung drei Tage vergangen, die Polizei hat noch immer keine Spur gefunden, und sogar unsere 12 �
Leute tappen im dunklen.« »Das ist auch kein Trost.« Ken, der gemeinsam mit Jeff den Abgeordneten zum Unterhaus überwacht hatte, runzelte wütend die Stirn. »Wir haben unseren dunklen Punkt weg, daran ist nichts mehr zu ändern. Ein harmloser Diplomatenempfang, das ist alles, wozu man uns noch heranzieht.« Jeff schaute sich in dem glitzernden, funkelnden Gepränge von Kerzenleuchtern, Spiegeln, Abendkleidern, Juwelen und Champagnergläsern um. »Worüber beschwerst du dich eigentlich?« meinte er gelassen. »Hier gibt es genügend einflußreiche und wichtige Persönlichkeiten. Ich jedenfalls fühle mich hier richtig. Gegen diese Leute war Kynaston doch nur ein kleiner Fisch.« Ken schaute ungeduldig auf seine Armbanduhr. Es war schon nach Mitternacht, doch seine Aufmerksamkeit ließ keine Sekunde lang nach. »Eine zweite Pleite dürfen wir nicht mehr erleben, sonst sind wir geliefert«, sagte er leise zu seinem Kollegen. »Verteilen wir uns und machen wir einen Kontrollgang durch das Haus.« »Einverstanden«, nickte Jeff und mischte sich unauffällig unter die Gäste des Empfangs. Mindestens die Hälfte der Leute waren ausländische Diplomaten mit ihren Familien, die andere Hälfte setzte sich aus wichtigen Politikern Großbritanniens zusammen. An die Möglichkeit eines Anschlags irgendwelcher Extremisten wagte Ken nicht zu denken. Er fand auch gar keine Zeit dazu, denn kaum hatte er eine kleine Gruppe passiert, als er hinter sich einen leisen Aufschrei, einen dumpfen Fall und ein helles Klirren hörte. Der Agent des Secret Service wirbelte herum. Seine Augen saugten sich an einem auf dem Boden liegenden Mann fest, 13 �
einem hohen ausländischen Diplomaten, den er auf den ersten Blick erkannte. Ebenfalls auf den ersten Blick sah er, daß der Mann tot war. Seine unnatürlich geweiteten Augen hatten sich so weit verdreht, daß nur mehr das Weiße darin zu sehen war. Sein Mund stand offen, ein schmaler Blutfaden sickerte über die Lippen. Seine Haut hatte die Blässe des Todes angenommen. Neben ihm lagen die Splitter eines Sektglases. Die Gäste, die soeben noch mit dem Diplomaten gesprochen hatten, waren entsetzt einige Schritte zurückgewichen und bildeten einen Halbkreis um die Leiche. Mitten in die atemlose Stille hinein hörten alle die hastigen Schritte Jeffs, des zweiten Geheimagenten, der seinem Kollegen zu Hilfe kommen wollte. Nur gab es hier leider keine Hilfe mehr. Den verzweifelten Sicherheitsleuten blieb nichts anderes übrig, als den Tatort abzusperren und Alarm zu geben. »Der zweite Tote innerhalb weniger Tage«, sagte Ken düster zu Jeff. »Das gibt einen Skandal, wie er noch nie da war.« Er behielt recht mit seiner pessimistischen Prophezeiung, auch wenn es ganz anders kommen sollte, als er es sich vorstellte. * Gerade als der Krimi am spannendsten wurde, so daß Rick Masters gebannt auf die farbig leuchtende Mattscheibe starrte, schrillte das Telefon. Fluchend zuckte der Privatdetektiv zusammen. Er wollte bereits den automatischen Anrufbeantworter einschalten, um weiterhin ungestört fernsehen zu können, als ihn eine innere Stimme zum Abheben drängte. 14 �
»Ich fürchtete schon, Sie wären nicht zu Hause, Rick!« kam die erleichtert klingende Stimme von Chefinspektor Hempshaw. »Einen ungünstigeren Zeitpunkt konnten Sie sich nicht aussuchen«, murrte Rick. »Wieso? Ist Ihre Freundin wieder da?« Hempshaw hatte schon von Jenny Allen gehört. »Nein, aber… verdammt, jetzt habe ich die Lösung verpaßt! Krimi im Fernsehen«, fügte der Privatdetektiv hinzu. »Wenn es ohnedies vorbei ist, können Sie gleich kommen, Rick, ja?« drängte der Chefinspektor. »Ich habe da einen sehr interessanten Fall, der bestimmt auch etwas für Sie ist.« »Na schön«, stimmte Rick Masters zu. »Wo sind Sie?« »Leicester Square! Sie finden mich schon.« Hempshaw hängte kommentarlos ein, was Rick Masters wunderte, weil sein Freund nicht einmal gesagt hatte, worum es ging. Rick sollte aber noch mehr Grund zum Wundern bekommen. Als er nämlich mit seinem Morgan, einem offenen Sportwagen im Oldtimerlook, auf dem Leicester Square eintraf, fand er die Mordkommission unter der Leitung des Chefinspektors an der Arbeit, dicht umdrängt von Reportern. Wer Hempshaws Pressefeindlichkeit kannte – und sie war unter den Londoner Zeitungsleuten fast schon sprichwörtlich – der konnte sich nur noch wundern, daß der Chefinspektor keinen doppelten Kordon aus Polizisten um den Tatort hatte ziehen lassen, um auf diese Weise die ihm lästigen Reporter fernzuhalten. Damit aber noch nicht genug des Seltsamen. Rick fand tatsächlich den Chefinspektor sehr schnell, wurde von diesem freundschaftlich begrüßt, wobei auch sein Name mehrmals fiel. »Sollen denn alle Reporter wissen, daß ich mich um diesen Fall 15 �
hier kümmere?« fragte Rick gereizt, fand bei Hempshaw jedoch kein Echo. »Sie werden sehen, Rick«, sagte der Chefinspektor mit schallender Stimme, »es ist eine interessante Sache.« Er packte den jungen Privatdetektiv am Arm und führte ihn in eine mehrstöckiges Wohnhaus. Am Fuß der Treppe lag ein Mann – tot, offenbar das Genick gebrochen. »Er ist nach einem Streit mit Nachbarn die Treppe heruntergestürzt, Rick«, erklärte der Chefinspektor. »Der Mann war vollkommen betrunken, als er nach Hause kam.« Rick blieb stehen und schaute den Chefinspektor so entgeistert an wie noch nie. »Kenneth, sind Sie noch zu retten?« fragte er gedämpft. »Weshalb holen Sie mich zu einem Betrunkenen, der sich auf der Treppe das Genick bricht?« »Der Mann war der Polizei als Einbrecher bekannt«, erwiderte Hempshaw. »Einbrecher?« echote Rick Masters. »Kenneth, das ist alles…« »Kommen Sie, es schaut keiner her!« flüsterte Hempshaw plötzlich und zog Rick Masters hastig mit sich. In der ersten Überraschung kam der Privatdetektiv gar nicht dazu, sich zur Wehr zu setzen, und als er endlich versuchte, sich aus Hempshaws Griff zu befreien, standen sie bereits auf dem Hof des Hauses. Hier war es dunkel, so daß man fast nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Dennoch erkannte Rick die Umrisse eines Dreirades mit Hilfsmotor, wie es zum Transportieren von leichten Lasten verwendet wird. Dieses Vehikel hatte einen geschlossenen Aufbau, dessen Ladetür offenstand. Hempshaw schob den protestierenden Rick Masters in das selt16 �
same Lieferfahrzeug, schwang sich neben ihn in den engen Innenraum und schlug die Tür zu. Im nächsten Augenblick sprang der Motor knatternd an. Das Vehikel setzte sich mit einem harten Ruck in Bewegung. Vorsichtshalber legte Hempshaw seinem Begleiter die Hand auf den Mund, als sie den Kordon aus Zeitungsleuten passierten. Die Stimmen verklangen und wurden von dem eintönigen Verkehrsgeräusch der Großstadt abgelöst »So, und jetzt lassen Sie die Katze aus dem Sack, Kenneth«, verlangte Rick Masters. »Das grenzt ja schon an Entführung.« »Warten Sie es ab«, erwiderte der Chefinspektor wortkarg. »Wenn Sie erst die Wahrheit erfahren, bleibt Ihnen der Mund vor Staunen offenstehen.« So war es dann auch, als sie eine halbe Stunde später einen in strahlendes Licht getauchten Festsaal betraten. Rick Masters störten an dem prunkvollen Anblick nur zwei Dinge… die Leiche und die zahlreichen Agenten des Secret Service. * »Begreifen Sie endlich, worum es geht?« Chefinspektor Hempshaw machte ein so ernstes Gesicht, als wäre die britische Insel zur Hälfte im Meer versunken. »Nein, ich begreife gar nichts«, bekannte Rick Masters wahrheitsgemäß. Aber wie ich Sie kenne, werden Sie es mir gleich erklären, nicht wahr?« »Dann der Reihe nach«, seufzte Chefinspektor Hempshaw. »Vor drei Tagen starb der Parlamentsabgeordnete Nicholas Kynaston während eines Essens in einem First Class Restaurant.« »Ich habe davon in der Zeitung gelesen«, nickte Rick Masters. 17 �
»Es war ein Herzschlag.« »Von wegen!« Hempshaw lachte wütend auf. »Das war der Fall, den ich am Telefon erwähnte und über den ich nicht sprechen durfte. Kynaston wurde vergiftet!« Rick Masters pfiff kurz und respektlos durch die Zähne. »Das Gift befand sich in Kynastons Kognak, wie wir feststellten«, fuhr der Chefinspektor ungerührt fort. »Mehr konnten wir aber auch nicht feststellen. Wir waren mit unserer Weisheit am Ende. Auch die beiden Agenten des Secret Service, die zur Bewachung Kynastons abgestellt waren, konnten uns nicht weiterhelfen.« »Secret Service?« Rick horchte auf. »Warum denn gleich Leute von diesem Verein für einen Abgeordneten?« »Kynaston hatte in der letzten Zeit einige Reden gehalten, die viel Wind machten. Der Secret Service hoffte, Extremisten zu fassen, die sich an Kynaston vergreifen wollten. Daraus wurde nichts.« Rick Masters erkannte unter den Männern, die mit der Spurensicherung und der Untersuchung am Tatort beschäftigt waren, Dr. Sterling, den alten Polizeiarzt aus Hempshaws Kommission. Er winkte Sterling zu, der Arzt antwortete nur mit einem kurzen Kopfnicken. Offensichtlich war er mit einem großen Problem beschäftigt. Ricks Neugier stieg. »Wir befinden uns hier in einem Palast, der dem Foreign Office gehört«, fuhr der Chefinspektor fort. »In diesem Festsaal fand ein Empfang statt, zu dem fast alle wichtigen Diplomaten geladen waren. Natürlich mischte sich der Secret Service wieder ein, konnte jedoch nicht verhindern, daß…« Hempshaw ließ den Satz in der Luft hängen und deutete auf die Leiche. »Wer ist das?« wollte Rick wissen. 18 �
»Einer der einflußreichsten Diplomaten, die wir in London überhaupt haben.« Hempshaw wirkte gebrochen. »Wenn wir nicht schnellstens seinen Tod aufklären können, gibt es womöglich noch ernste Verwicklungen mit seinem Heimatland, zu dem Großbritannien ohnedies ein ziemlich gespanntes Verhältnis hat.« »Es ist einwandfrei Mord?« Rick näherte sich der Leiche, über die sich Dr. Sterling beugte. »Einwandfrei Mord«, bestätigte der Chefinspektor. Der alte Polizeiarzt, der neben der Leiche kniete, richtete den Oberkörper auf und blinzelte die beiden Männer durch seine dicken Brillengläser an. »Nicht nur einwandfrei Mord«, ergänzte er Hempshaws Ausführungen, »sondern auch wieder einwandfrei dasselbe Gift, das bei Kynaston verwendet wurde.« »Verstehen Sie nun unsere Unruhe und auch die Methode, wie ich Sie herbrachte, Rick?« Hempshaw wischte sich müde über das schlaffe Gesicht. Er sah aus. als hätte er drei Tage lang nicht geschlafen. »Wir bauschten den Tod des Betrunkenen auf, der über die Treppe gefallen war, daß die Öffentlichkeit glauben muß, es wäre ein wichtiger Fall. Ich selbst informierte die Presse.« »Aber wozu denn?« wunderte sich der Privatdetektiv. »Die Burschen vom Secret Service kennt niemand in der Öffentlichkeit, uns aber schon, Sie eingeschlossen.« Hempshaw starrte verzweifelt auf den toten Diplomaten. »Jetzt glauben die Zeitungsleute, Sie würden sich für den toten Betrunkenen interessieren, und das gleiche gilt für Dr. Sterling und mich. Wo immer wir drei in der nächsten Zeit auftauchen, wird man es mit dem Betrunkenen in Verbindung bringen.« Rick Masters wurde langsam ungeduldig. »Alles schön und gut«, rief er heftig aus. 19 �
»Weshalb genügt aber der Secret Service nicht? Weshalb kümmert sich nicht die Mordkommission von Scotland Yard um den Fall? Wozu brauchen Sie mich?« Hempshaw und Sterling wechselten einen vielsagenden Blick, dann sagte der Chefinspektor schleppend: »Es wurde ein Gift verwendet, das kein lebender Mensch auf der ganzen Welt kennt, Rick! Dieses Gift zerfrißt das Gehirn innerhalb von Sekunden! Es ist einfach höllisch.« »Und direkt aus der Hölle scheint es zu stammen«, mischte sich Dr. Sterling ein. »Rick, helfen Sie uns! Wir sind mit unserer Weisheit am Ende!« * Rick Masters überlegte nicht lange. »In Ordnung«, sagte er mit einem zustimmenden Nicken. »Ich mache mit! Aber erst möchte ich etwas mit den Burschen vom Secret Service klären.« Er brauchte nicht lange warten, bis er die gewünschte Aussprache bekam. Zwischen den zahlreich vertretenen Agenten entdeckte er Red. So hieß für Außenstehende der bullige rothaarige Geheimagent, der bereits ein paarmal in früheren Fällen einen Kontakt zwischen Rick Masters und dem Secret Service vermittelt hatte. »Na, Masters, ziehen wir wieder einmal am gleichen Strick?« grinste Red breit über sein sommersprossiges Gesicht, als er den Detektiv erblickte. »Für Sie immer noch Mister Masters«, murrte Rick. »Okay, Masters, seien Sie nicht so empfindlich.« Red zuckte die Schultern. »Kümmern Sie sich um die Sache?« Rick machte mit zwei Fingern die Geste des Geldzählens, die ebenso international war wie Geheimdienste. Seufzend holte Red einen bereits ausgestellten Scheck aus sei20 �
ner Brieftasche. »Ich rechnete schon mit Ihrer Geldgier«, sagte er und schob Rick den Scheck zu. »Steuerfrei, wie immer.« »In Ordnung, Red«, nickte Masters. »Ich möchte alles wissen, was Sie bisher herausgefunden haben.« Red schaute ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Verbitterung an. »Wir wissen überhaupt nichts«, gestand er. »Das soll ich Ihnen glauben?« Der Privatdetektiv zog ein skeptisches Gesicht. »Müssen Sie wohl«, konterte Red. »Wir kennen die Namen der Opfer und wissen, in welchen Getränken sie das Gift bekamen. Wir wissen sonst gar nichts. Nicht einmal die Zusammensetzung des Giftes oder wie es in die Getränke kam. Rein theoretisch hätten diese Morde nicht stattfinden können, da es kein solches Gift gibt, das in Sekundenschnelle das menschliche Gehirn vernichtet, Dämmert es Ihnen bereits, Masters, worauf Sie sich eingelassen haben?« »Auf jeden Fall habe ich mich auf einen Pakt mit einem unhöflichen Lümmel eingelassen«, zischte Rick, drehte sich um und ließ den Geheimdienstmann stehen, den er noch nie gemocht hatte. Die Leiche war inzwischen abtransportiert worden. Auch die übrigen Spuren des Mordes hatte man beseitigt. »Wir untersuchen natürlich auch dieses Opfer gründlichst«, sagte Dr. Sterling, der unbemerkt neben Rick Masters getreten war. »Aber ich weiß jetzt schon, was dabei herauskommt.« Er rückte seine dicke Brille zurecht und zeigte seine Goldzähne. »Wir werden einige verborgene Krankheiten des Diplomaten entdecken, der hier das Zeitliche gesegnet hat, mehr aber nicht.« »Sie sind immer so herzerfrischend makaber, Doktor«, seufzte Rick. »Ich komme morgen vormittag zu Ihnen in den Yard. Dann werden Sie ja wohl ein Ergebnis der Obduktion haben.« 21 �
»Wenn Sie jetzt sagen«, mischte sich Hempshaw ein, »daß Sie nach Hause fahren und sich ins Bett legen, bringe ich Sie auf der Stelle um, Rick!« »Ich sage es nicht«, wehrte der Privatdetektiv beruhigend ab, »ich tue es!« Damit überließ er die Routinearbeiten seinen Freunden von Scotland Yard, da er dabei überflüssig war. Seine Aufgabe begann erst, wenn die üblichen Polizeimethoden versagten. Nicht umsonst stand er in dem Ruf, auf Fälle spezialisiert zu sein, in denen man mit natürlichen Mitteln nicht ans Ziel kam. Worauf er sich diesmal eingelassen hatte, wußte Rick Masters nicht, als er seine gelbe Lederjacke enger um die Schultern zog und in die kühle Nachtluft hinaustrat. Nachdenklich schaute er auf das gelbe Leder. Er hatte das Gefühl, als solle er sich an etwas Wichtiges erinnern, doch es fiel ihm nicht ein. Etwas Wichtiges und zugleich Schauriges… Kopfschüttelnd machte er sich auf die Suche nach einem Taxi. Als er eine halbe Stunde später in seinem Bett lag und langsam in einen unruhigen Schlaf fiel, wirbelten seine Gedanken durcheinander. Gelbe Lederjacke – Blue Jeans – unbekanntes Gift – zerfressene menschliche Gehirne – tote Diplomaten – Geheimdienst – Galgen… Wie paßte das alles zusammen? * Am nächsten Morgen hatte Rick Masters einen Katzenjammer, ohne einen Schluck Alkohol getrunken zu haben. Mit schwerem Kopf und schmerzlich geschlossenen Augen tappte er unter die Dusche, und erst nach einer Behandlung mit einem eiskalten 22 �
Wasserstrahl kam er einigermaßen zu sich und konnte sich auch an ein Versprechen erinnern, das er am Vortag seiner Freundin Jenny Allen gegeben hatte. »Na, ich dachte schon, du Würdest den ganzen Tag verschlafen«, lachte Jenny, als er sie anrief. »Ich habe meinen Kosmetiksalon vor einer Stunde aufgesperrt.« »Ist doch nicht meine Schuld, wenn du mitten in der Nacht mit der Arbeit beginnst«, antwortete Rick undeutlich. »Was ist denn?« wunderte sich Jenny. »Hast du gestern abend noch gefeiert? Ohne mich?« »Deine Eifersucht ist überflüssig«, wehrte Rick sofort ab. »Ich habe zwei Mordfälle am Hals, also bleibt mir nicht viel Zeit zum Feiern.« »Ach so!« Das klang ziemlich enttäuscht. »Und was wird aus uns? Hast du auch für mich keine Zeit?« Seufzend erinnerte sich Rick an die zahlreichen Freundschaften, die deshalb zerbrochen waren, weil es kein Mädchen auf die Dauer aushielt, mehr Entschuldigungen als Liebesgeflüster zu hören. Rick stellte sich selbst gern als Opfer seines Berufs dar, was er auch wirklich war. Er kniete sich mit aller Kraft in jeden Fall, so daß er alles andere vergaß. »Ich werde für dich Zeit haben, das verspreche ich dir«, schwor Rick, und er meinte es diesmal wirklich ernst. Er wollte nicht auch Jenny seines Berufs wegen verlieren. »Ich rufe dich an, sobald ich mich freimachen kann. Einverstanden?« »Einverstanden«, erwiderte sie. In bestem Einverständnis beendeten sie das Gespräch, und Rick Masters nahm sich vor, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um dieses Einverständnis nicht zu trüben. Einen Anruf bei Scotland Yard ersparte er sich, da in diesem 23 �
streng geheimgehaltenen Fall Chefinspektor Hempshaw am Telefon keine Auskünfte geben würde. Also zog er sich rasch fertig an, beschränkte sein Frühstück auf zwei Tassen Kaffee und fuhr zum Yard. Chefinspektor Hempshaw schaute ungeduldig von seinem Schreibtisch auf, weil der junge Privatdetektiv wieder einmal ohne anzuklopfen eingetreten war, was der Chefinspektor auf den Tod nicht ausstehen konnte. »Salam alaikum«, grüßte Rick freundlich, daß dem Chefinspektor der Mund offenstehen blieb und er nicht zu seiner Strafrede kam. »Was soll der Blödsinn?« stöhnte Hempshaw endlich, als er sich von seinem ersten Schock erholt hatte. »Nun, ich dachte, das wäre jetzt bei Scotland Yard so üblich«, antwortete Rick mit Unschuldsmiene. »Ist es nicht Sitte im Yard, arabisch zu grüßen, seit das Gebäude den Ölscheichs gehört?« »Lassen Sie die dummen Witze, Rick, ich habe wirklich keine Lust zum Lachen!« polterte Hempshaw. »Würde Ihrem Gesicht aber guttun, das hat einen so verkniffenen Zug«, spöttelte der Privatdetektiv, trieb damit den Blutdruck des Chefinspektors hoch und verzichtete auf eine Fortsetzung, weil Hempshaw wie eine Bombe vor der Explosion aussah. »Wir haben durch die Obduktion die Bestätigung erhalten«, wandte sich der Yardmann sachlicheren Themen zu, »daß im Fall Kynaston das gleiche Gift verwendet wurde wie bei dem ausländischen Diplomaten. Beide Male wurde das Gehirn des Opfers zerstört.« »Sie haben noch immer nicht herausgefunden, welches Gift der Mörder eingesetzt hat?« wollte Rick wissen. Hempshaws Gesicht wurde noch finsterer, soweit das über24 �
haupt möglich war. »Wir haben die Archive durchforscht und nichts gefunden. Wir haben Verbindung mit dem FBI aufgenommen, aber auch da weiß man von nichts. Der Secret Service schwört hoch und heilig, daß es keine geheime chemische Waffe gibt, die eine derartige Wirkung erzeugt. Sie behaupten sogar, etwas in dieser Art gäbe es auch auf der Gegenseite nicht.« »Den Burschen vom Secret Service traue ich nicht von zwölf bis Mittag«, kommentierte Rick abfällig. »Zugegeben, aber es hat echt geklungen.« Hempshaw hob ratlos die Hände und ließ sie wieder auf seinen Schreibtisch fallen. »Was sollen wir tun, Rick?« »Wenn ich das wüßte, wäre mir wohler.« Der junge Privatdetektiv stierte Löcher in die Luft, bevor er weiter sprach. Haben Sie schon alle in Frage kommenden Personen überprüft? Terroristen, Extremisten, Links- und Rechtsradikale?« »Alle!« Hempshaw schüttelte nur den Kopf, um den Mißerfolg anzudeuten. »Wir müssen feststellen, welche Gemeinsamkeit es zwischen den beiden Opfern des unbekannten Giftmörders gibt«, sagte Rick langsam. »Eine Gemeinsamkeit haben wir klar auf der Hand vor uns liegen. Beide waren in der Politik tätig, beide wurden auf dieselbe Art getötet.« »Das ist aber auch schon alles«, ergänzte Hempshaw und kratzte sich hinter dem rechten Ohr. »Sehen Sie, Rick, seit es für Politiker immer gefährlicher wird, sind Polizei und zum Teil auch Secret Service zum Schutz besonders bedrohter Persönlichkeiten eingesetzt. Ich glaube nicht, daß es diesen Leuten entgangen wäre, wenn sich etwas Auffälliges ereignet hätte.« »Zum Beispiel die Kellner!« murmelte Rick und blickte rasch auf. »Ja, das wäre eine Möglichkeit!« 25 �
»Ich verstehe kein Wort«, brummte Hempshaw. »Die Frage ist, wie kam das Gift in den Körper der Opfer!« »Der Parlamentsabgeordnete wurde durch einen Kognak vergiftet«, wiederholte der Chefinspektor seine früheren Angaben. »Dem Diplomaten brachte man das Gift durch Champagner bei.« »Sehen Sie!« triumphierte Rick, und als Hempshaw offenbar nichts sah, fuhr er fort: »Beides sind Getränke, an einem von zahlreichen Personen besuchten Ort serviert. Also wurden sie von jemandem serviert – von einem Kellner! Welche Leute betreuten diesen festlichen Empfang des Foreign Office?« »Keine Ahnung, Rick, das müßte ich erst in Erfahrung bringen«, sagte Hempshaw kopfschüttelnd. »Tun Sie das!« Rick war von seiner Idee begeistert. »Beschaffen Sie eine Liste aller Personen, die sich beim ersten Mord in dem Restaurant aufhielten, aller Teilnehmer am Empfang des Foreign Office, aller Kellner des Restaurants und aller Bediensteten beim Empfang. Dann sehen wir weiter!« »Zum Glück habe ich meine Leute, die diese Arbeit übernehmen«, seufzte Hempshaw. Noch während Rick zur Tür ging, griff er bereits zum Telefon, um die gewünschten Listen anzufordern. »Was machen Sie, Rick?« »Ich habe gesellschaftliche Verpflichtungen«, grinste der junge Privatdetektiv, ohne mehr zu verraten. Es ging Hempshaw schließlich nichts an, wenn er dafür sorgte, daß sein Privatleben nicht wieder unter einem neuen Fall litt. Fünf Minuten später nahm der dunkelgrüne Morgan Ricks bereits Kurs auf Jenny Allens Kosmetiksalon. *
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Mr. Clandon betrat seine Wohnung, in der seit seiner Scheidung ständig und perfekt Unordnung herrschte, schaute sich kurz um und verschob das Großreinemachen wiederum um einen Tag. Die Arbeit war anstrengend genug gewesen, jetzt wollte er seine Ruhe haben. Clandon ging zur Hausbar, wollte sich einen Drink nehmen und dann ein Autorennen im Fernsehen verfolgen. Nichtsahnend langte er nach dem Griff der Tür, hinter welcher sich die Hausbar befand, zog daran und stutzte. Er wußte ganz genau, daß außer ihm niemand einen Schlüssel zu dieser Wohnung besaß. Und er wußte ferner, daß er vor seinem Weggehen in die Hausbar geschaut hatte. Da waren diese vielen kleinen Flaschen aber noch nicht vorhanden gewesen! Verwirrt schaute Mr. Clandon auf die Reihe brauner und schwarzer Glasflaschen, alle viel kleiner als Whiskyflaschen. Auf jedem Etikett prangte ein grell leuchtender Totenkopf! »Mein Gott!« murmelte er erschüttert. »Das reicht aus, um halb London umzubringen!« Er verstand nichts von Giften, doch die stumm grinsenden Totenköpfe auf den Flaschen sprachen eine eigene Sprache. Hastig klappte Mr. Clandon die Tür der Hausbar wieder zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es lief ihm eiskalt über den Rücken. Wie, um alles in der Welt, war dieses Höllenzeug in seine Wohnung und seinen Barschrank gelangt? Sollte es sich vielleicht um einen makabren Scherz irgendwelcher Bekannter handeln und enthielten die Flaschen gar kein Gift? Ganz vorsichtig holte Clandon eine der Flaschen aus der Bar und öffnete sie. Der ätzende, stechende Geruch der dunkelblauen Flüssigkeit überzeugte ihn rasch, daß es sich bestimmt 27 �
nicht um einen Schnaps handelte. Es war also jemand in seiner Wohnung gewesen! Systematisch begann Mr. Clandon, seine Wohnung zu durchsuchen und vor allem Fenster und Türen zu überprüfen. Nach einer halben Stunde war er mit seiner Untersuchung fertig und hielt verwirrt inne. Niemand war gewaltsam eingedrungen! Niemand besaß einen Schlüssel! Es gab nur eine einzige Möglichkeit! Er selbst hatte das Gift beschafft und hier versteckt! Er konnte sich jedoch absolut an nichts erinnern… Fassungslos ließ sich Mr. Clandon in einen Sessel sinken. Mit zitternden Händen wollte er sich eine Zigarette anstecken, mußte jedoch dreimal einen Anlauf nehmen, ehe er das Feuerzeug an die Spitze der Zigarette halten konnte, so nervös war er. Zum Glück standen nicht alle Whiskyflaschen in der Bar. Er hätte keinen Schluck nehmen können. Aus der Küche holte er eine unangebrochene Flasche, goß sich einen kräftigen Schluck ein und trank das Glas in einem Zug leer. So früh am Tag trank er sonst nie, doch jetzt konnte er es dringend brauchen. Nachdem er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, war er zu einem Entschluß gekommen. Den unheimlichen Fund zu vertuschen, hatte keinen Sinn. Wenn die Polizei früher oder später dahinterkam, bedeutete es nur noch größere Schwierigkeiten für ihn. Obwohl es Clandon schwerfiel, griff er nach dem Telefon und hielt den Hörer ans Ohr. Er schluckte heftig, dann streckte er die Hand aus, um die Polizei anzurufen. Clandons Augen nahmen plötzlich einen geistesabwesenden Ausdruck an. Sein Gesicht entspannte sich, seine Finger wurden schlaff, öffneten sich und gaben den Hörer frei. 28 �
Ohne daß etwas Sichtbares den Hörer berührt hätte, schwebte dieser zurück auf das Telefon und unterbrach die Verbindung. Mr. Clandon merkte nichts von all dem. Es sah so aus, als wolle er einen Versuch machen, doch noch zu telefonieren, aber dann erhob er sich, ging mit schlurfenden, kraftlosen Schritten zur Hausbar und holte die Giftflaschen heraus. Danach lenkte er seine Schritte in das Schlafzimmer, öffnete einen auf dem Schrank stehenden Koffer, verstaute darin die gefährlichen Flaschen und schob den Koffer zurück auf den Schrank. In unveränderter Haltung schlurfte er in das Wohnzimmer zurück, schaltete den Fernseher ein und setzte sich in den bequemen Sessel, von dem aus er immer seine Lieblingsprogramme verfolgte. Als das Autorennen begann, schreckte er hoch. »Wohl eingeschlafen«, murmelte er, steckte sich eine Zigarette an und verfolgte interessiert das Rennen. An den gefährlichen Inhalt des Koffers in seinem Schlafzimmer konnte sich Mr. Clandon nicht mehr erinnern. Er fiel ihm auch nicht ein, als er sich aus der Hausbar einen Whisky holte. * »Grüßen Sie ja nicht wird er auf arabisch!« fauchte Chefinspektor Hempshaw sofort, als er den Privatdetektiv erkannte, der wie immer ohne anzuklopfen in sein Büro stürmte. »Ich bringe Sie sonst auf der Stelle um!« »Welch frevelhafte Worte für einen verdienstvollen Kriminalisten«, gab Rick bissig zurück. »Sie scheinen sich übrigens nie aus Ihrem Büro wegzurühren. Sooft ich komme, lauern Sie auf mich hinter Ihrem Schreibtisch, 29 �
Kenneth.« »Ich war zum Mittagessen in der Kantine«, murmelte Hempshaw mißgelaunt. »Und ich im Paladium, einem exquisiten Feinschmeckerlokal, in dem man die herrlichsten Truthähne…« »Halten Sie den Mund!« schrie der Chefinspektor los. »Sie können mir den letzten Nerv töten! Ich bin ein kleiner Staatsbeamter, der sich ehrlich sein Geld verdienen muß. Für mich reicht die Kantine, ich brauche kein Luxusrestaurant.« »Apropos Restaurant«, grinste Rick niederträchtig. »Auch Jenny hat es sehr gut geschmeckt. Sie läßt Sie schön grüßen.« Sofort lächelte Hempshaw geschmeichelt. »Tatsächlich? Vielen Dank!« »Ja«, fuhr Rick mit noch breiterem Grinsen fort. »Sie meinte, ich solle den Bullen grüßen, der immer so schreit, daß man es in ganz London hört.« Hempshaw holte tief Luft, unterließ das beabsichtigte Gebrüll jedoch und lief nur rot an. »Beherrschung ist alles, Kenneth«, setzte Rick der Unverschämtheit die Krone auf. »Da wir so nett über Restaurants plaudern, wie sieht es mit der gewünschten Liste aus?« Hempshaw knallte ihm vier Blätter auf den Schreibtisch, die der Privatdetektiv flüchtig überflog. »Was bedeuten die Kreuze, Kenneth?« »Dieser Mann erscheint auf zwei Listen«, erklärte der Chefinspektor, der Rick nichts nachtrug. »Die erste Liste umfaßt die Namen der Gäste des Restaurants, in dem Kynaston starb. Die zweite Liste, das ist das Personal des Restaurants. Die dritte Liste führt die Teilnehmer des diplomatischen Empfangs auf, die vierte umfaßt das Personal des Empfangs.« »Verstehe«, nickte Rick. »Demnach steht nur ein Name auf 30 �
zwei Listen. John Hartham.« »Hartham ist Kellner und bediente den Abgeordneten Kynaston kurz vor dessen Tod«, sagte der Chefinspektor. »Für den Empfang ließ das Foreign Office Personal aus verschiedenen Londoner Luxusrestaurants anwerben, erstklassige Fachkräfte. John Hartham gehörte dazu. Er ist die einzige Spur, die wir haben.« »Eine magere Spur, aber immerhin eine«, mußte Rick zugestehen. »Haben Sie sich schon um Hartham gekümmert?« »Es war noch niemand bei ihm, wenn Sie das meinen.« Hempshaw machte sich gar nicht die Mühe, in seinen Unterlagen nachzuschauen. »Der Mann ist ein absolut unbeschriebenes Blatt und genießt in der Branche einen denkbar guten Ruf. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er zum Giftmörder geworden ist.« »Vielleicht wird er erpreßt, vielleicht ist er ein hervorragend getarnter Agent.« Rick Masters notierte sich die Adresse in einer einfachen Wohngegend. »Ich brauche Ihnen nicht alle Möglichkeiten aufzählen, die für diesen Hartham passen, oder?« »Um Himmels willen, nein!« stöhnte Hempshaw in gespielter Verzweiflung. »Übernehmen Sie ihn?« »Damit Scotland Yard nichts verderben kann, werde ich mich dazu herablassen«, tat Rick Masters großzügig und machte sich auf den Weg. Noch draußen auf dem Flur hörte er die wütende Stimme von Chefinspektor Hempshaw, der ihm die Pest an den Hals wünschte. Der Wunsch ging beinahe in Erfüllung, auch wenn es nicht die Pest war. Doch viel harmloser sollte es auch nicht werden! Während der gesamten Übertragung des Autorennens war Mr. Clandon voll bei der Sache, fühlte sich ganz normal und wußte genau, was er tat. Danach sollte ein Spielfilm kommen, der ihn nicht interessierte. Gähnend stand er auf und wollte den Fernseher abschalten, doch auf halbem Weg zwischen seinem Sessel 31 �
und dem Gerät blieb er wie festgenagelt stehen. Ihm war, als habe ihn eine Hand am Arm berührt, eine eisig kalte Hand, doch es war nichts und niemand zu sehen. Die Fenster seiner Wohnung waren geschlossen, so daß ihn auch kein kühler Lufthauch hatte treffen können. Kopfschüttelnd ging Clandon zum Fernseher und schaltete ab. Ich bin wahrscheinlich überarbeitet, dachte er. Vielleicht konnte er außer der Reihe einen kurzen Urlaub erhalten. Gleich am nächsten Tag wollte er mit seinem Chef darüber sprechen. Er steuerte wieder den Sessel an, um Zeitung zu lesen, ging jedoch an dem Möbelstück vorbei und betrat sein Schlafzimmer! Seine Bewegungen hatten wieder jenes Puppenhafte, Steife angenommen, als würde er von einer riesigen Hand geleitet und gelenkt. Seine Augen blickten stumpf und ausdruckslos ins Leere, während er den Koffer vom Schrank holte, öffnete und die Flaschen herausnahm, die er hier vor sich selbst verborgen hatte. Mit den Gefäßen unter dem Arm ging Clandon in sein Badezimmer, stellte die Flaschen nebeneinander auf und griff zu einer Schale, in der er sonst Rasierschaum schlug. Drei Tropfen Wasser waren in der Schale. Er wischte sie heraus, dann begann er, die einzelnen hochgiftigen Flüssigkeiten zu mischen. Er kannte kein einziges Rezept, und doch ging er so sachkundig mit den gefährlichen Flüssigkeiten um, als habe er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan. Nach einer halben Stunde hatte er sein unheimliches Werk vollendet. In der Schale verbreitete eine dunkle Flüssigkeit einen Übelkeit erregenden Geruch. Clandon störte es nicht. Er holte aus einem Fläschchen, das er bisher noch nicht benutzt hatte, einige Tropfen heraus und ließ sie zusätzlich in die Schale fallen. Die Flüssigkeit begann zu brodeln und zu wallen. Clandon öff32 �
nete das Fenster, schlurfte in sein Wohnzimmer zurück und ließ sich in einen Sessel fallen. Von ihm unbeobachtet, surrte eine dicke Fliege ins Bad, setzte sich auf den Rand der Schale und naschte von der Flüssigkeit. Sie hatte kaum ihren Saugrüssel in Berührung mit der Oberfläche des Gifts gebracht, als sie wie vom Blitz getroffen tot umfiel. Clandon kehrte nach einer halben Stunde in das Badezimmer zurück. Die Flüssigkeit hatte sich durch den letzten Zusatz in feine Kristalle verwandelt. Vorsichtig hob der Mann einen der größeren Kristalle zwischen zwei Fingern hoch und hielt ihn gegen das Licht. Er verbreitete einen tiefblauen Schimmer und funkelte wie ein herrlicher Saphir. Es war jedoch kein Edelstein, sondern der Tod in einer besonders gräßlichen Form! Clandon ließ die Kristalle in eine leere Flasche fallen. Nur den einen Kristall barg er in einer Phiole, die in seiner Hemdtasche verschwand. Sorgfältig beseitigte er alle Spuren, die auf seine merkwürdige Tätigkeit hinwiesen. Die Phiole in seiner Brusttasche war so klein, daß er sie gar nicht spürte. Als er wenige Minuten später zu sich kam und wieder Herr über seine Sinne war, erinnerte ihn nichts mehr daran, wie er die letzte Stunde verbracht hatte. Er blickte nur. erstaunt auf die Uhr und murmelte: »Schon wieder eingenickt?« Mr. Clandon schob diese Gedächtnislücken auf seine Müdigkeit, seine Überarbeitung. Hätte er die wahren Zusammenhänge durchschaut, hätte er vor Grauen an seinem Verstand gezweifelt. * 33 �
Rick Masters war erleichtert darüber, daß bisher noch niemand bei John Hartham gewesen war. Nicht daß er den Leuten von Scotland Yard nicht die nötigen Fähigkeiten zugestanden hätte, ein Verhör richtig durchzuführen! Er verließ sich nur lieber auf seinen persönlichen Eindruck von einem Menschen, auf seine Erfahrung im Umgang mit Leuten. Was nützte ihm das schönste Protokoll, wenn es nur in nüchternen Worten eine Zusammenfassung der Tatsachen gab. Er wollte John Hartham sehen, mit ihm sprechen und seine Reaktionen beobachten. Da Rick die Arbeitszeiten des Kellners nicht kannte, weil Hempshaw sie nicht ermittelt hatte, rief er zuerst in dem Restaurant an, in dem der Parlamentsabgeordnete Kynaston gestorben war. »Mr. Hartham ist nicht hier, Sir«, lautete die Auskunft. Er hatte nur einfach mit Hartham zu sprechen verlangt, ohne seinen Namen oder gar seinen Beruf zu nennen. Der Kellner sollte nicht vorzeitig gewarnt werden, falls er etwas mit den Morden zu tun hatte. Rick stellte keine weiteren Fragen, legte auf und fuhr mit seinem offenen Sportwagen zu Harthams Adresse. Es war eine hübsche Gegend Londons mit gepflegten Gärtchen und viel Grün vor den Häusern. Rick hätte hier zwar um keinen Preis wohnen wollen, da er den Trubel der City vorzog, doch er kannte Gegenden wie diese. Hier wohnten anständige Leute, unter denen niemand, der bei einigermaßen klarem Verstand war, einen Mörder oder Spion vermutet hätte. Vielleicht war Hartham gerade deshalb verdächtig… Auf Ricks Klingeln öffnete eine Frau in den Vierzigern mit einem sympathischen Gesicht, über dem ein Schleier von Sorgen lag. »Sie wünschen?« fragte sie leise. »Wir kaufen nichts…« »Ich bin kein Vertreter«, unterbrach Rick sie schnell. »Sind Sie 34 �
Mrs. Hartham? Mein Name ist Rick Masters.« »Ja, ich bin Elisa Hartham«, nickte die Frau. »Sie wünschen?« wiederholte sie ihre Frage. »Ja, das ist so«, stotterte der Privatdetektiv herum, weil er vergessen hatte, sich rechtzeitig eine harmlose Ausrede einfallen zu lassen. »Es geht um das Festbankett des Foreign Office«, wich er einer direkten Beantwortung ihrer Frage aus. Mrs. Hartham wurde blaß. Rick registrierte es, ohne etwas dazu zu sagen. Ihre Augen flackerten unruhig, nervös wischte sie ihre Hände an der Schürze ab. »Mein Mann schläft, wissen Sie, Mr. Masters«, flüsterte sie. »Es ist mir so unangenehm! Festbankett, sagten Sie?« Vor Aufregung konnte sie das Wort kaum aussprechen. »Wer ist denn da, Elisa?« erklang von drinnen eine Männerstimme. »Da Ihr Mann aufgewacht ist, darf ich wohl!« überrumpelte Rick Mrs. Hartham und trat rasch ein. Verblüfft blieb er stehen. John Hartham war groß und hager mit schütteren Haaren und dem verkniffenen Gesicht des Magenkranken. Es war in keiner Weise etwas Bemerkenswertes an ihm – abgesehen von dem schneeweißen Gipsverband an seinem rechten Bein. »Ja, Sie wünschen?« fragte John Hartham nicht unfreundlich, obwohl Rick ihm deutlich anmerkte, wie sehr er über das Eindringen eines Fremden staunte. »Masters«, stellte sich der Privatdetektiv verlegen vor. »Ich komme wegen des…« »Wegen des Festbanketts des Foreign Office!« rief Mrs. Hartham, die gleich hinter Rick ins Wohnzimmer gekommen war. »Mein Gott, Sie können meinem Mann doch keine Vorwürfe machen!« 35 �
»Das verstehe ich nicht ganz«, murmelte Rick verwirrt. »Ich weiß, daß ich mich zu spät beim Veranstalter des Banketts entschuldigt habe«, ergriff John Hartham das Wort. »Aber ich wurde so lange im Krankenhaus festgehalten. Ich war schon auf dem Weg zum Foreign Office, als das hier passierte.« Er deutete auf sein Bein. »Ich kippte an der überstehenden Kante eines Kanaldeckels um. Das war genau auf dem Trafalgar Square. Ein Krankenwagen brachte mich auf die Unfallstation. Ich sagte dem behandelnden Arzt immer wieder, daß ich das Foreign Office verständigen müsse, weil ich dort zu arbeiten hätte, aber er meinte, meine Gesundheit sei wichtiger als die Arbeit. Erst als man mich wieder nach Hause gebracht hatte, konnte ich telefonieren.« Rick musterte den Kellner und sein Gipsbein mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits tat ihm der Mann leid, andererseits war soeben Ricks einziger Anhaltspunkt in diesem geheimnisvollen Mordfall zerflossen und hatte sich aufgelöst. »Nun, dann handelt es sich wohl um einen Irrtum«, erklärte der Privatdetektiv. »Ein Gipsbein entschuldigt natürlich alles. Ich glaube, man hat sich auch mehr Sorgen um Sie gemacht, als daß es ein Vorwurf sein sollte, daß man mich zu Ihnen schickte. Gute Besserung, Mr. Hartham. Auf Wiedersehen, Mrs. Hartham!« Rick beeilte sich, das Haus zu verlassen. Den beiden war es deutlich anzusehen, wie erleichtert sie darüber waren, daß Mr. Hartham keine Schwierigkeiten daraus entstanden, daß er die Verpflichtung beim Diplomatenempfang nicht eingehalten hatte. »Fehlanzeige«, meldete Rick eine Stunde später dem Chefinspektor. »Natürlich müssen Sie noch überprüfen, ob Harthams Angaben stimmen, doch das wird nicht schwer sein.« Eine halbe Stunde nach Ricks Eintreffen kam die Bestätigung über Telefon. 36 �
»Alles klar«, nickte Hempshaw, nachdem er aufgelegt hatte. »Hartham hatte schon am frühen Vormittag den Unfall, wurde bis nachmittags um zwei Uhr behandelt und traf gegen drei Uhr in seinem Haus ein. Ich habe auch mit dem Arzt gesprochen, der den Bruch einrichtete. Er bestätigte mir, daß Hartham unmöglich gehen konnte. Er hätte vor Schmerzen brüllen müssen.« »Damit scheidet unser Hauptverdächtiger aus«, seufzte Rick Masters. »Hauptverdächtiger, weil wir keinen anderen haben.« »Was jetzt?« Hempshaw blickte den Privatdetektiv erwartungsvoll an, als müsse Rick eine Patentlösung in der Jackentasche bereithalten. »Ich weiß es auch nicht«, seufzte Rick. »Vielleicht bringt mich ein Gespräch mit Dr. Sterling weiter.« Er suchte den Polizeiarzt in seinem Labor auf, ließ sich ausführlich über die fürchterliche Wirkung des unbekannten Gifts berichten und besprach mit Sterling den Fall von allen Seiten durch. Der Arzt zeige stets nicht nur für die medizinische Seite eines Verbrechens Interesse, sondern auch für die kriminalistische. Nicht selten waren die besten Ideen von ihm gekommen. »Diesmal muß ich Sie leider enttäuschen, Rick«, meinte Dr. Sterling mit einem bedauernden Achselzucken. »Ich bin ebenfalls mit meiner Weisheit am Ende. Der einzige nützliche Tip, den ich Ihnen geben kann, bezieht sich auf Ihre hellgelbe Lederjacke!« »Meine Lederjacke?« echote Rick verblüfft. »Was hat sie mit dem Fall zu tun?« »Nichts«, erwiderte Dr. Sterling und blinzelte dem Privatdetektiv durch seine dicken Brillengläser zu. »Aber wenn Sie sich einen Fleck in die Jacke machen, dann kommen Sie zu mir. Ich kenne da ein kleines Wunderrezept, wie ich den Fleck wieder entfernen kann.« »Vielen Dank, Doktor«, nickte Rick zerstreut und schaute auf 37 �
seine Uhr. »Vor einigen Tagen wäre ohnedies beinahe ein Unglück mit der Jacke passiert. Ich hätte mir fast Bier über den Ärmel geschüttet. Das ist übrigens eine sehr merkwürdige, fast eine unheimliche Geschichte.« »Phantastisch!« rief der alte Polizeiarzt. »Ich liebe unheimliche Geschichten, Rick. Fangen Sie an!« Doch Rick Masters winkte ab. »Ein andermal, Doktor! Ich habe eine Verabredung.« »Aha, mit Jenny«, nickte Dr. Sterling. »So gut wie Ihnen sollte es mir auch einmal gehen.« Er hätte Rick Masters bestimmt nicht beneidet, hätte er einen Blick in die Zukunft tun können. * Da er es nicht liebte, sich bei einer Verabredung abzuhetzen, machte sich Rick Masters rechtzeitig auf den Weg zu Jenny. Er sollte sie in ihrem Kosmetiksalon abholen. Dann wollten sie den Abend gemeinsam verbringen. Rick warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett seines Morgans. Es ging auf vier, Zeit genug. Schon bog er in die Straße, in der Jenny Allens Kosmetiksalon lag, als es geschah. Er fuhr in mäßigem Tempo durch die gerade verlaufende Straße, als das Bild plötzlich wie weggewischt war. Er sah nicht mehr die voranfahrenden Autos, die Fußgänger, die Häuser. Die Straße war für ihn verschwunden. Statt dessen umgab ihn das dämmrige Licht eines trüben Herbstmorgens. Graue, hohe Mauern, in die vergitterte Fenster eingelassen waren, grenzten seinen Blick ein. Vor sich sah Rick einen Mann stehen, der bei seinem Anblick aufschrie und rücklings in die Tiefe fiel. Neben ihm stand ein anderer Mann, eine schwarze Kapuze 38 �
über den Kopf gezogen, die Hände auf den Rücken gefesselt. Über seinem Kopf schwebte eine Henkersschlinge. Grelle Schreie rissen Rick Masters in die Wirklichkeit zurück. Mit einem Schlag war die Straße wieder zu sehen, die Autos und die Fußgänger. Ein Kind lief unachtsam über die Straße, tauchte direkt vor der langgestreckten Kühlerhaube von Ricks Morgan auf. Mit aller Kraft stieg der Privatdetektiv auf die Bremse. Kreischend und schleudernd kam sein Wagen zum Stehen. Nur wenige Zoll hatten gefehlt, dann wäre der Junge von der Stoßstange erfaßt worden. Weinend flüchtete er zurück auf den Bürgersteig, von dem er heruntergelaufen war, um einen Ball zu fangen. Rick blickte in die schreckensbleichen Gesichter der Eltern und des Jungen. Ohne ein Wort zu sagen, nahmen die Leute ihren Sohn an den Händen und verschwanden mit ihm um die nächste Häuserecke. Sie hatten offenbar ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht ordentlich auf ihr Kind aufgepaßt hatten. Doch auch in Rick Masters nagte eine innere Stimme, die ihm immer wieder vorsagte, daß nicht viel zu einem folgenschweren Unfall gefehlt hätte. Und daran war nur dieses seltsame Bild schuld, das er schon einmal gesehen hatte. Was sollte es bedeuten, daß er nun schon zum zweitenmal diese Hinrichtungsszene erlebte? Wieso sah er einen zum Tode Verurteilten unter dem Galgen stehen, die Schlinge bereits über dem Haupt? Wer war der Mann, der schreiend vom Podium herunterfiel? Der Henker? Wenn es sich um eine Art von Wachtraum handelte, wieso konnte dieser Mann dann über Ricks Auftauchen erschrecken? Deutlich fühlte der Privatdetektiv, daß mehr hinter dieser merkwürdigen Anwandlung stecken mußte, doch er fand keine Zeit, länger darüber nachzugrübeln. 39 �
»Hat es dir die Ernte verhagelt?« hörte er neben sich die frische Stimme Jenny Allens. Ihr lächelndes Gesicht wurde rasch ernst, als sie ihn genauer betrachtete. »Rick! Es ist doch nichts geschehen, oder?« »Komm, steig ein!« sagte er tonlos. »Ich muß dir etwas erzählen.« Sie fuhren nicht weit. Rick hielt vor einer Teestube, und bei einer Tasse des britischen Nationalgetränks erzählte er Jenny, wie es kurz vor ihrem Eintreffen beinahe zu einer Katastrophe gekommen wäre. Als Rick schwieg, saß sie lange nachdenklich neben ihm. »Du solltest zu einem Arzt gehen, Rick«, sagte sie endlich. »Irgendwie muß sich diese Hinrichtungsszene in deinem Gedächtnis festgesetzt haben. Es kommt oft vor, daß jemand immer wieder an etwas Bestimmtes denkt, aber es ist sehr selten, daß er dabei alles um sich herum vergißt.« »Du meinst, ich soll mich von einem Psychologen untersuchen lassen?« Rick verzog das Gesicht. Es war ihm deutlich anzumerken, daß ihm die Vorstellung nicht behagte. »Ich sehe keine andere Möglichkeit«, beharrte Jenny Allen auf ihrer Meinung. »Diese eingebildeten Szenen sind bei dir bereits so stark, daß du nicht mehr Herr über dich selbst bist. Du mußt etwas dagegen unternehmen, ehe es zu spät ist.« Rick kaute wütend an seiner Unterlippe. Es fiel ihm schwer, eine Entscheidung zu treffen. »Also gut«, nickte er endlich. »Ich werde mir von Dr. Sterling einen guten Psychologen und Gehirnklempner empfehlen lassen.« »Es wird schon wieder in Ordnung kommen«, lächelte Jenny aufmunternd und legte ihre Hand auf den Ärmel seiner gelben Lederjacke. »Hoffen wir es«, murmelte Rick. 40 �
Wenn er daran dachte, was ihm noch alles bevorstand, überfiel ihn ein leichtes Frösteln. * Er war sich dessen bewußt, daß er an diesem Abend das größte Risiko einging. Clandon blickte sich vorsichtig in der intimen Bar mit der teuren Einrichtung um. Anstelle der Kellner servierten leichtbekleidete, aber noch immer sehr dezent wirkende Mädchen die Drinks, von denen jeder so viel kostete wie ein normales Mittagessen. Von seinem bescheidenen Gehalt konnte sich Clandon niemals einen Besuch in einer solchen Bar erlauben. Das hier aber war etwas anderes. Eine innere Stimme zwang ihn dazu, sich unter die Gäste zu mischen und wie eine Spinne im Netz auf sein Opfer zu lauern. Noch wußte er nicht genau, wer ihm diesmal in die Hände fallen würde, doch wie bei den ändern beiden Malen konnte er sich auf die Eingebung verlassen, die seine Hand lenken würde, damit sie einem Mann den Tod brachte. Soeben betraten neue Gäste die Bar. Es waren einige Herren in dunklen Anzügen und Damen in langen Abendkleidern mit kostbarem Schmuck. Clandon überschlug im Kopf, wie viele Jahre er allein für das Diamantendiadem hätte arbeiten müssen, das die jüngste der Frauen im Haar trug. Es war nicht Neid, der Clandon zu seinem Mord trieb, sondern ein innerer Befehl. Er war nicht mehr Herr über sich, als er seine Hand unter das Jackett gleiten und in die Brusttasche seines Hemdes tauchen ließ. Ganz ruhig waren seine Finger, sie zitterten nicht, als sie sich um die winzige Phiole schlössen, die den Tod in sich barg. 41 �
Clandon hatte sein Opfer erblickt! Es war ein weißhaariger, ungefähr fünfzigjähriger Mann, dessen frisches, straffes Gesicht in einem krassen Gegensatz zu seiner Haarfarbe stand. Sein ganzes Auftreten verriet den Weltmann. Clandon kannte diesen Weißhaarigen von zahlreichen Wahlreden her. Erst vor wenigen Monaten hatte er sich aus der aktiven Politik zurückgezogen, weshalb er auch keine Leibwache in seiner Nähe hatte. Diesmal würde es für Clandon noch leichter sein, seine Tat auszuführen, als es bisher der Fall gewesen war. Es gab keine gefährlichen Zeugen, die diese winzige Handbewegung beobachten konnten, durch die er den Tod verabfolgte. Die Phiole glitt zwischen seine Finger. Lautlos entfernte Clandon den Verschluß. Der Kristall lag frei. Als ein Lichtstrahl auf seine Oberfläche traf, funkelte der winzige Stein wie ein herrlicher Saphir auf. Niemand sah es! Zwei der Serviermädchen brachten die Getränke an den Tisch des Weißhaarigen. Die um ihn versammelten Leute waren blendender Laune. Sie prosteten einander zu und achteten nicht auf den Mann, der hinter dem Weißhaarigen vorbeiging. Die Hand des scheinbar harmlosen Gastes zuckte nur ganz kurz. Der winzige blaue Kristall wäre nur einem sehr scharfen Beobachter aufgefallen. Zielsicher landete er im Glas des Weißhaarigen und löste sich augenblicklich auf. Der Tod lauerte auf sein Opfer! * Ambros Raven hatte sich vorgenommen, diesen Abend ausgiebig zu feiern. Dazu hatte er seine persönlichen Freunde eingeladen, von denen keiner absagte. 42 �
Wenn Raven eine Fete veranstaltete, ließ er sich nicht lumpen, so daß jeder auf seine Rechnung kam. Raven enttäuschte nicht die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden. Das Trocadero war augenblicklich gerade in Mode, und es bot den Rahmen von Luxus, den er für diesen Abend suchte. Stimmung hatten er und seine Gäste bereits mitgebracht, so daß sich innerhalb weniger Minuten eine angeregte Unterhaltung entwickelte. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten kümmerte sich Raven nicht um seine Umgebung, sondern widmete sich ausschließlich seinen Begleitern an seinem Tisch. Er war so vertieft, daß er nicht merkte, wie ein Mann hinter ihm vorbeiging. Er ahnte auch nicht, daß in sein Glas ein winziger, todbringender Kristall gefallen war, der ihn auf grauenhafte Weise aus der Festlichkeit des Abends reißen sollte. Er hatte soeben einen guten Witz erzählt und einen großen Heiterkeitserfolg erzielt und nahm jetzt einen Schluck aus seinem Glas. Die Flüssigkeit hatte seinen Magen kaum erreicht, als er die zerstörende Wirkung fühlte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen erkannte Ambros Raven mit unerbittlicher Deutlichkeit, daß er verloren war. Er wußte, daß er sterben mußte. Ein stechender Schmerz raste von seinem Magen hinauf zu seinem Kopf, breitete sich darin aus, bis Raven das Gefühl hatte, in seinem Schädel koche flüssige Lava. Inmitten des feurigen Brennens zogen blitzschnell Bilder ab, die er nie zuvor erlebt hatte. Es erging ihm nicht so wie manchen Leuten, die angeblich knapp vor ihrem Tod ihr ganzes Leben noch einmal vor sich sehen, sondern ihm schwebten Szenen vor, die ihm fremd waren. Eine Hinrichtung! Jemand wurde auf einem im grauen Morgenlicht daliegenden Gefängnishof gehängt. Dann flirrten undeutlich die Gesichter von altmodisch geklei43 �
deten Männern inmitten des Meeres der Schmerzen, in das Ambros Raven glitt. Einem unwiderstehlichen Zwang folgend drehte sich der Sterbende um. Feurige Nebel hingen vor seinen Augen, so daß er seine Umgebung nicht mehr wahrnehmen konnte. Nur ein Gesicht schälte sich aus dem blutroten Farbenrausch heraus, das Gesicht eines Mannes, der in einiger Entfernung von ihm an einem Tisch saß und ihn gebannt anstarrte. Viele andere Gäste des Trocadero sahen ebenfalls den an einem Tisch allein sitzenden Mann, doch nur Ambros Raven wußte, daß es sein Mörder war. Er konnte es niemandem mehr verraten. Als er mit einem Aufschrei von seinem Sitz hochfuhr und rücklings in einer spiralenförmigen Bewegung auf den Tisch fiel, brach die Musik mit einem Mißton ab. Die Gespräche verstummten. Ambros Ravens gebrochene Augen starrten ausdruckslos in die farbigen Scheinwerfer, die das Trocadero beleuchteten. Ein einzelner Mann verließ unbemerkt das Lokal. * Am Abend hatte Jenny Allen keine Zeit für Rick, weshalb der Privatdetektiv ausnahmsweise vor Mitternacht zum Schlafen kam. Nach einer ereignis- und traumlosen Nacht erwachte er gegen acht Uhr morgens, ausgeruht und bereit, mit einigem Nachdruck die Ermittlungen in den beiden Giftmordfällen voranzutreiben. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, das Frühstück zu überspringen oder auf eine Tasse Kaffee einzuschränken, wollte er sich an diesem Morgen ein ausgiebiges Frühstück mit allem, was dazugehört, gönnen und einmal wenigstens in diesem Punkt ein 44 �
richtiger Engländer sein. Er hatte kaum den Wasserkessel aufgesetzt, als das Telefon klingelte. Rick maß es mit einem mordgierigen Blick und überlegte sich, ob er es einfach klingeln lassen oder zertrümmern sollte. Er konnte sich zu keiner der beiden verlockenden Möglichkeiten durchringen, sondern stellte das Wasser wieder neben den Herd und lief ins Wohnzimmer hinüber. »Na endlich, ich dachte schon, Sie wachen überhaupt nicht mehr auf«, brummte Chefinspektor Hempshaw ungnädig. »Ich bin seit einer halben Stunde auf den Beinen«, brummte Rick zurück. »Warum stören Sie mich?« »Der dritte Giftmord«, sagte Hempshaw knapp. Rick holte scharf Luft. Er sah sein englisches Frühstück in ferner Weite. Es konnte sich auch in weiter Ferne befinden, so genau war das nicht festzustellen. Auf jeden Fall langte es höchstens zu einer Tasse löslichen Kaffees. »Nähere Einzelheiten?« beschränkte sich Rick Masters auf die gleiche Knappheit wie der Chefinspektor. »Erfahren Sie, sobald Sie hier sind.« Hempshaws Ton war endgültig. Er wollte nicht am Telefon darüber sprechen, durfte es wahrscheinlich auch gar nicht. »Ich beeile mich, wie immer«, versprach Rick. Der Kaffee war nur lauwarm, sein Magen knurrte, und von der Zigarette bekam er Sodbrennen. Also warf er sie auf die Straße, während er seinen Morgan aus der Garage holte. Die Strecke zum Yard war er bereits so oft gefahren, daß er sich zutraute, mit geschlossenen Augen den richtigen Weg zu finden. Dennoch verzichtete er auf dieses Experiment, ließ die Augen geöffnet und traf daher wohlbehalten in Hempshaws kleinem Büro ein. »Gestern abend im Trocadero«, begann der Chefinspektor im 45 �
Telegrammstil, kam jedoch nicht weit. »Wieso geschah der Mord bereits gestern abend, und ich erfahre erst jetzt davon?« regte sich Rick auf. »Weil ich auch erst jetzt davon erfahren habe«, erwiderte Hempshaw. »Man glaubte zuerst an einen Herzinfarkt, dann an einen gewöhnlichen Giftmord. Eine andere Mordkommission wurde mit der Klärung beauftragt, und erst durch die Obduktion…« »Ja, schon gut«, unterbrach ihn Rick hastig. »Stand das Opfer ebenfalls unter Überwachung?« »Das nicht!« Hempshaw kratzte sich mit unglücklichem Gesichtsausdruck am stoppeligen Kinn. Offenbar hatte man ihn ebenso überstürzt von zu Hause weggeholt wie Rick. »Ambros Raven wurde von keinen Leibwächtern begleitet.« »Er hätte sie offensichtlich nötig gehabt.« Rick zuckte die Schultern, dann stutzte er. »Sagten Sie Ambros Raven? Der Ambros Raven?« »Genau der«, nickte Hempshaw, und jetzt bekam seine Stimme einen nervösen, grollenden Unterton. »Wenige Stunden vor seinem Tod schloß Raven einen neuen Vertrag mit der Regierung. Er wollte das gute Geschäft mit Freunden feiern – eben im Trocadero, wo es ihn dann erwischte.« »Nichts«, antwortete der Chefinspektor. »Wir kennen nur die Tatsachen, sonst aber auch gar nichts.« »Das ist nicht gerade viel.« Rick schlug die Beine übereinander und wollte noch etwas sagen, im gleichen Augenblick jedoch wurden seine Augen starr. Die Lippen halb geöffnet, hielt er den Kopf leicht geneigt, als lausche er auf etwas. »Rick!« rief Chefinspektor Hempshaw. »Aufwachen, Rick! Hallo, was ist denn?« Doch Rick Masters sah und hörte nichts um sich herum. Sein Körper war in einen Starrkrampf verfallen. Er selbst war nicht 46 �
mehr Herr über seinen Geist. Zwei Sekunden später gab es Alarm in Scotland Yard. * In dem Moment, in dem Dr. Sterling in Hempshaws Büro keuchte, erwachte Rick Masters wieder aus der unnatürlichen Starre, in der er mehrere Minuten verharrt hatte. »Was war denn überhaupt, daß Sie Alarm gaben, Kenneth?« erkundigte sich Dr. Sterling kurzatmig. »In meinem Alter unternimmt man nicht mehr gern Rekordläufe, wenn sie ganz umsonst sind.« »Rick war plötzlich weggetreten«, erzählte der Chefinspektor »Sein Körper wurde steif und unbeweglich, er reagierte auf nichts mehr.« Dr. Sterling trat rasch an den Privatdetektiv heran und untersuchte ihn flüchtig. »Auf den ersten Blick ist nichts festzustellen«, konstatierte er endlich. »Sie schauen so nachdenklich drein, Rick! Ist Ihnen nicht gut?« »Ich kann mich wieder erinnern, wodurch diese Starre ausgelöst wurde, von der Kenneth sprach«, sagte Rick gepreßt. »Es fällt mir nicht leicht, aber ich muß gestehen, daß ich gestern beinahe einen Verkehrsunfall verursacht hätte, weil ich am Steuer in eine ähnliche Starre verfiel.« »Das müssen Sie mir genauer schildern!« verlangte Sterling und zog sich einen Stuhl heran. »Jenny, also Miß Allen, meinte sogar, ich sollte mich von einem Psychologen behandeln lassen, weil ich – vorhin war es zum drittenmal – immer wieder eine Hinrichtungsszene erlebe. Ich stehe neben dem zum Tod Verurteilten auf dem Blutgerüst, der Henker möchte ihm gerade die Schlinge über den Kopf mit der schwarzen Kapuze ziehen, sieht mich aber und fällt schrei47 �
end hinunter auf den Gefängnishof.« »Sind Sie vielleicht überarbeitet, Rick?« fragte Hempshaw, doch Dr. Sterling winkte überraschend heftig ab. »Lassen Sie ihn ausreden, Kenneth!« verlangte er. »Rick, beschreiben Sie doch genau, was Sie in Ihren Wachträumen sehen, jede Einzelheit.« »Warum interessiert Sie das?« mischte sich Hempshaw schon wieder ein. »Ich bin schließlich Arzt«, erwiderte Sterling kurz angebunden. »Also, Rick!« Rick erfüllte den Wunsch des alten Polizeiarztes bereitwillig. Während er erzählte, fiel ihm auf, wie fasziniert Dr. Sterling auf jedes Wort lauschte. Rick kannte den alten Mann gut genug, um zu wissen, daß Dr. Sterling nicht nur deshalb so großen Anteil an der Geschichte nahm, weil es sich um ihn, Rick, handelte, sondern daß er noch einen anderen Grund haben mußte. »Wollen Sie mir nicht verraten, was Sie so daran interessiert, Doktor?« erkundigte er sich, als er mit seiner Schilderung fertig war, doch Sterling winkte ab. »Vielleicht brauchen Sie gar keine Untersuchung, Rick«, sagte er nur. »Ich werde mich um Ihr Problem kümmern und geben Ihnen dann Bescheid, sobald ich etwas weiß.« Damit stand er auf und verließ ohne einen weiteren Kommentar das Büro. Chefinspektor Hempshaw und Rick Masters schauten ihm verblüfft nach, sahen dann einander an und zuckten gleichzeitig die Schultern. Sie dachten beide dasselbe, und Chefinspektor Hempshaw sprach es aus. »Der alte Fuchs ist auf einer Fährte!« »Ich wollte, ich hätte auch eine Fährte gefunden, die mich an den Giftmörder heranbringt«, seufzte Rick Masters. 48 �
»Wissen Sie schon, was Sie unternehmen werden?« stellte der Chefinspektor die ewig gleiche Frage. Rick stand auf. Er mußte seine Gedanken konzentrieren, da er sich noch zuviel mit Dr. Sterling beschäftigte. »Ich glaube«, sagte er endlich, »daß es Zeit ist, daß ich mich ausführlich mit den Leuten vom Geheimdienst unterhalte. Der Secret Service spielt eine Rolle, die mir nicht gefällt.« * »Der Secret Service spielt eine Rolle, die mir nicht gefällt«, sagte Rick Masters eine Stunde später auch zu Red, seinem Kontaktmann zu der soeben von ihm angegriffenen Geheimdienstorganisation. »Ich versichere Ihnen, wir wissen nichts über die Giftmorde!« beschwor ihn Red. Sie gingen an der Themse spazieren, zwei scheinbar zufällig ins Gespräch geratene Männer. »Red!« Rick blieb stehen und musterte den anderen mit kalten Augen. »Kynaston und der ausländische Diplomat wurden von Leuten des Secret Service überwacht, weil man sie in Lebensgefahr glaubte. Ambros Raven wurde zwar nicht überwacht, aber er spielt für die Rüstungsindustrie eine große Rolle.« »Spielte«, verbesserte ihn der Geheimdienstmann. »Versuchen Sie nicht, mich aus der Fassung zu bringen«, sagte Rick scharf. »Tricks ziehen bei mir nicht! Oder wollen Sie riskieren, daß ich Ihnen den Fall zurückgebe?« »Bleiben Sie friedlich, Masters!« beschwichtigte ihn Red, der sein Temperament kannte. »Diese drei Leute werden ermordet«, fuhr Rick fort, »ohne daß der Secret Service etwas weiß? Mit einem Gift, das in seiner ganzen Wirkungsweise und Zusammensetzung auf einen gegneri49 �
schen Geheimdienst geradezu schreiend hinweist? Das können Sie mir nicht aufbinden!« »Trotzdem ist es so«, beharrte Red auf seinem Standpunkt. »Halten Sie mich für verrückt?« fauchte Rick, der langsam die Nerven verlor. »Möglicherweise sind Sie es!« Diese Antwort, die in leidenschaftslosem Ton gegeben wurde, traf Rick wie ein Faustschlag. »Eines sage ich Ihnen, Red!« zischte er mit verhaltener Wut. »Sagen Sie es Ihren Vorgesetzten! Ich habe Ihren Scheck kassiert, und dafür werde ich noch einmal gute Arbeit leisten, wie bisher auch! Aber danach – und jetzt passen Sie gut auf – danach kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen, sonst geschieht etwas, das weder Ihnen noch dem Secret Service gefällt!« Er drehte sich scharf um und ließ Red stehen. Er schaute sich auch nicht ein einziges Mal um. Es war nicht gut, den Secret Service zum Gegner zu haben, und nach dieser Erklärung hatte er den Geheimdienst gegen sich. Doch Reds Unverschämtheit wollte und konnte Rick sich nicht bieten lassen. War es wirklich eine Unverschämtheit? Oder enthielt seine Anschuldigung einen Kern Wahrheit? * Diese quälende Ungewißheit machte Rick langsam aber sicher immer nervöser. Als er von seinem Zusammentreffen mit dem Geheimdienstmann Red nach Hause in sein Wohnbüro in der Londoner City fahren wollte, mußte er sich zusammenreißen, um sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Plötzlich verspürte er das dringende Bedürfnis, sich mit jemandem auszusprechen. Er änderte die Richtung und wollte Jennys Kosmetiksalon 50 �
ansteuern, als ein kräftiges Summen im Armaturenbrett ertönte. Mit einem geschickten Handgriff öffnete Rick die mit einem Geheimverschluß versehene Klappe des Handschuhfaches und holte den Hörer des Funkgeräts heraus. Die Leitzentrale von Scotland Yard verlangte ihn über Funk, doch zu seiner Überraschung stellten sie nicht wie sonst zu Chefinspektor Hempshaw, sondern zu Dr. Sterling durch. »Na, Rick, wie geht es Ihnen?« fragte der alte Polizeiarzt freundlich. »Doktor, fangen Sie nicht in diesem Irrenhauston mit mir zu sprechen an!« fauchte Rick gereizt. »Sie lernen mich sonst von einer anderen Seite kennen.« »Schlechte Laune?« Aus dem Hörer drang das spöttische Kichern Dr. Sterlings. »Macht nichts! Ich habe etwas, womit ich Ihre Laune schlagartig verbessern kann. Kommen Sie sofort zu mir, ganz gleich, was Sie vorhaben.« Rick öffnete schon den Mund, um Sterling zum Teufel zu wünschen, da er sich mit Jenny unterhalten wollte, doch dann meinte er: »Gut, ich komme!« und unterbrach die Verbindung. Dr. Sterling machte keine leeren Sprüche. Wenn er so dringend nach Rick verlangte, war es auch wirklich wichtig. Zum zweitenmal während dieser Fahrt änderte der dunkelgrüne offene Sportwagen den Kurs und rollte eine Viertelstunde später bei strahlendem Sonnenschein in den Hof von Scotland Yard. In Dr. Sterlings Arbeitszimmer, das im Kellergeschoß neben einem Sezierraum lag, herrschte dagegen künstliche Beleuchtung. Rick fand den alten Arzt über ein noch viel älteres Buch gebeugt vor. »Setzen Sie sich« forderte Sterling ihn auf. »Whisky? Doch, den können Sie gebrauchen«, sagte er rasch, als Rick abwinken wollte. 51 �
Er stellte die Gläser und die Rasche auf den Tisch und überließ Rick das Einschenken. »Haben Sie in dieser alten Schwarte ein Mittel gegen meine Halluzinationen gefunden?« fragte Rick versöhnlicher, nachdem sie den ersten Schluck genommen hatten. »Noch viel besser!« grinste Dr. Sterling. »Hier habe ich den Bericht eines Henkers über eine merkwürdige Hinrichtung im Jahre 1870. Der Mann fiel damals Sekunden, bevor er dem Delinquenten die Schlinge um den Hals legte, vor Schreck vom Blutgerüst, als neben dem zum Tode Verurteilten ein junger Mann in gelber Lederjacke und blauer Hose auftauchte.« Rick Masters starrte den Arzt mit offenem Mund an. Vor seinen Augen flimmerte es, so ungeheuerlich war das, was ihm Dr. Sterling soeben erzählt hatte. Mit einer unbeherrschten Bewegung riß er das Buch an sich und las atemlos die Beschreibung des Henkers, der sich in seinem Tagebuch darüber beschwerte, daß ihm niemand geglaubt hatte. Nach dieser Hinrichtung war er in Pension gegangen, bevor man ihn als Henker entlassen konnte. Offenbar hatten seine Zeitgenossen geglaubt, er wäre der nervlichen Belastung einer Hinrichtung nicht mehr gewachsen und sähe Gespenster. Rick las die Beschreibung über den nur für ganz wenige Sekunden neben dem Verurteilten aufgetauchten Mann dreimal durch. Dann schaute er hoch und blickte Dr. Sterling mit einem leeren Blick an. »Das paßt haargenau auf mich«, sagte er leise. »Eben!« nickte Dr. Sterling. »Gelbe Lederjacke, Blue Jeans, damals noch unbekannt und daher in diesem Bericht als blaue Hose bezeichnet! Auch die Haarfarbe, Augen und so weiter, alles stimmt. Der Henker hat im Jahre 1870 – Sie gesehen, Rick!« Der Privatdetektiv schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber, aber wieso?« stammelte er. »Das gibt es doch nicht!« »Offenbar doch!« Dr. Sterling zuckte die Schultern. »Ich kann 52 �
es Ihnen auch nicht erklären, Rick, aber ich bin überzeugt, daß Ihre Visionen mit der damaligen Hinrichtung zusammenhängen.« »Dafür gibt es keinen Beweis«, behauptete der Privatdetektiv. »Ich glaube doch.« Dr. Sterling griff zum Telefon, ließ sich mit Hempshaw verbinden und bat den Chefinspektor, zu ihm zu kommen. Ehe Hempshaw nicht eingetroffen war, sagte er kein Wort mehr und nippte nur schweigend an seinem Whisky. Chefinspektor Hempshaw las wortlos den Bericht, dann sagte er ähnlich wie zuvor Rick: »Es gibt keinen Beweis für einen Zusammenhang.« Dr. Sterling schlug eine andere Seite des Buches auf, das die persönlichen Aufzeichnungen des Henkers enthielt, tippte auf eine Stelle und sagte mit merkwürdig gespannter Stimme: »Hier haben Sie Ihren Beweis! Lesen Sie die Geschichte des Phantommörders!« * »Fassen Sie die wichtigsten Punkte zusammen, Doktor«, bat Chefinspektor Hempshaw. »Wir wollen keine Zeit verlieren, und Sie haben den Bericht bestimmt schon aufmerksam gelesen.« »Natürlich befaßte sich der Henker«, setzte Dr. Sterling auseinander, »nachdem dieser Zwischenfall passiert war, besonders ausführlich mit der Geschichte des Mannes, den er anschließend hingerichtet hat. Der Verurteilte war der Phantommörder Paul Mallow. Ein Giftmischer!« Dr. Sterling nickte zufrieden, als seine beiden Zuhörer ihn erstaunt und überrascht anblickten. »Der Phantommörder hatte vier Menschen mit einem Gift getötet«, fuhr er fort, »das man nicht kannte und dessen Zusammen53 �
setzung er mit sich ins Grab nahm. Die Ärzte konnten das Gift nicht bestimmen, die damaligen Chemiker auch nicht. Es wurde nur eines festgestellt: Das Gift des Phantommörders hatte die Gehirne seiner Opfer vollständig zerfressen!« Minutenlang blieb es totenstill in dem kleinen Arbeitsraum, dann sagte Chefinspektor Hempshaw: »Jetzt brauche ich auch einen Whisky!« Dr. Sterling holte ein drittes Glas, Rick Masters schenkte ein. Dem alten Polizeiarzt dauerte das Schweigen zu lange. »Also, Gentlemen?« fragte er aufgekratzt. »Was sagen Sie zu der Sache?« Hempshaw warf Rick einen schiefen Blick zu. »Sie glauben sicherlich wieder an etwas Übernatürliches, an eine Zeitverschiebung oder die Botschaft eines Toten oder etwas in dieser Art!« »Ich suche nicht nach einer Erklärung, wieso ich die damalige Hinrichtung des Phantommörders heute miterleben kann und wieso mich vor mehr als hundert Jahren der Henker genauso sah, wie ich heute aussehe. Ich frage auch nicht, wieso in unseren Tagen offenbar das gleiche Gift verwendet werden kann, wie es damals der Phantommörder gebrauchte. Ich richte mich nur danach.« »Aha!« rief der Chefinspektor triumphierend. »Sie geben also selbst zu, daß es sich um kein übernatürliches Phänomen handelt.« »Nichts gebe ich zu«, erwiderte Rick ungerührt. »Ich sagte nur, daß ich nicht nach der Ursache forschen werde, sondern lediglich die Auswirkungen berücksichtige. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Daß wir es mit einer übernatürlichen Erscheinung zu tun haben, davon bin ich überzeugt, davon werde ich Sie alten Skeptiker aber nicht überzeugen können.« »Sehr richtig!« nickte Hempshaw. »Ich werde sofort meine Ermittlungen aufnehmen und nach 54 �
einer Person forschen lassen, die sich die Zusammensetzung des tödlichen Giftes beschaffen konnte. Es müssen geheime Aufzeichnungen des Phantommörders bis in unsere Zeit existieren, die sich unser Mörder zunutze macht« Er sprang heftig auf und stampfte aus Dr. Sterlings Arbeitsraum. Die Zurückgebliebenen schauten ihm mit einem schwachen Lächeln nach. * Die Laune des jungen Privatdetektivs schwankte zwischen miserabel und gespannt, als er die Stadtbibliothek betrat. Er hatte mit Jenny telefoniert und ihr für das geplante gemeinsame Mittagessen abgesagt. Jennys Antwort war für den miserablen Teil seiner Laune zuständig, für die Anspannung sorgte die Idee, der er nachging. Eine sehr attraktive, gepflegte Frau um die Vierzig nahm Ricks Wünsche entgegen. »Ich kann Ihnen helfen, Sir«, sagte sie freundlich. »Es ist mehr ein Zufall, daß ich genau das richtige Buch weiß, das Sie brauchen. Es fiel mir vor einigen Tagen in die Hände, als ich nach etwas anderem suchte. Bisher wurde es noch nie verlangt.« Rick nahm den ersten Band einer »Enzyklopädie des Verbrechens in Großbritannien« entgegen und bat die Bibliothekarin, ihm die restlichen Bände herauszusuchen. Systematisch machte er sich an die Arbeit des chronologisch angeordneten Buches. Alle Giftmorde überprüfte er und machte sich Notizen. Nach einer Stunde kam die Bibliothekarin und schleppte nach und nach vierzehn Bände an. Rick starrte, von einem leichten Grauen geschüttelt, auf die Bücher. Der kalte Schweiß brach ihm aus, wenn er an die Arbeit dachte, die ihm bevorstand, doch er 55 �
mußte seiner Idee nachgehen. »Wir schließen um sieben Uhr abends«, erläuterte die Bibliothekarin, die wohl seine Gedanken erraten hatte. »Sie können natürlich morgen wiederkommen.« »Ich glaube, ich werde im Laufe der nächsten Monate des öfteren wiederkommen müssen«, seufzte Rick und setzte seine Arbeit fort. Er hatte Glück. Bereits nach drei Stunden stutzte er beim Überfliegen eines Berichts einer Giftmordserie, die um 1900 London in Atem gehalten hatte. Scotland Yard hatte den Täter ermittelt, konnte ihn jedoch nicht verhaften, da er spurlos verschwand. »Norman Gellatly«, wiederholte Rick halblaut den Namen des mutmaßlichen Giftmörders aus dem Jahr 1900. Es war ein ausgefallener Name, und er war sicher, ihn vor kurzer Zeit erst gelesen zu haben. Er blätterte zurück zu dem Abschnitt des Phantommörders und erstarrte. Seine Theorie stimmte! Der Richter, von dem der Phantommörder zum Tode verurteilt worden war, hatte Sir John Gellatly geheißen. Norman Gellatly, der Giftmörder von 1900, war sein Sohn! Hastig suchte Rick weiter nach einer zusätzlichen Bestätigung seiner Theorie. Als er beim Jahr 1940 angelangt war, hatte er sie schwarz auf weiß vor sich liegen. Hier war die Rede von einer Reihe von gräßlichen Giftmorden in der Royal Air Force. Der mutmaßliche Täter war kurz vor seiner Verhaftung spurlos verschwunden. Sein Name: Peter Gellatly! Rick glaubte zu wissen, daß es nur mehr eine Frage von Minuten war, bis er den Giftmörder der Gegenwart zumindest namentlich kannte!
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Mr. Clandon hatte seinen freien Tag. Ursprünglich hatte er einen Ausflug nach Windsor Castle geplant, doch trotz des herrlichen Sommerwetters verspürte er nicht die geringste Lust zu einer Ausfahrt. Er war müde und zerschlagen und verbrachte den ganzen Tag in seiner Wohnung, abwechselnd vor sich hindämmernd und stupide auf die Mattscheibe des Fernsehers starrend. In den Nachrichten kam eine kurze Meldung über den Mord an Ambros Raven, dem bekannten Großindustriellen. Clandon nahm es zur Kenntnis, doch seine Erinnerung sprach nicht an. Er hatte keine Ahnung, daß er selbst diesen Mann getötet hatte, genausowenig wie er wußte, welche Mengen eines tückischen Giftes er in seiner Wohnung aufbewahrte. Vor den Fenstern verschwand der Sonnenschein, die ersten Schatten nisteten sich in den Ecken des Zimmers ein. Clandon schaute noch immer teilnahmslos einem Film im Fernsehen zu, als er plötzlich unruhig wurde. Er verspürte ein ziehendes Gefühl im Nacken, als würde jemand hinter ihm stehen und auf seinen Kopf starren. Ruckartig drehte Clandon sich um – doch niemand war da! Er verfiel wieder in das stumpfe Dahinbrüten, bis sich das unangenehme Gefühl nach einigen Minuten wiederholte. Clandon fuhr herum, und diesmal schrie er auf vor Schreck. Deutlich sah er zwei Männer vor sich, verschieden gekleidet. Der eine trug einen dunklen Anzug und hatte das Äußere eines Gentlemans der Jahrhundertwende. Der zweite Fremde steckte in einer Uniform der Royal Air Force, auch wenn sie etwas veraltet wirkte. Im nächsten Augenblick waren die beiden Gestalten wieder verschwunden. Clandon wischte sich über die Augen. Hatte er eben geträumt? War ihm das Fernsehen nicht bekommen, oder 57 �
was war sonst mit ihm los? Bevor er weiter über die seltsamen Erscheinungen nachdenken oder in seine frühere Teilnahmslosigkeit verfallen konnte, spielten sich einige grauenerregende Szenen mit erschreckender Deutlichkeit vor seinen Augen ab. Es war, als ließe jemand einen Film viel zu schnell laufen. Zuerst erschien wieder der altmodisch Gekleidete mit dem Anzug und dem Haarschnitt der Jahrhundertwende. Er hantierte mit Flaschen und Schalen, schien eine Flüssigkeit zu brauen, die sich in blaue Kristalle verwandelte. Verschiedene Menschen tauchten nacheinander auf, wurden mit diesen blauen Kristallen in Berührung gebracht und starben unter fürchterlichen Qualen. Clandon meinte schon, diesen fürchterlichen Anblick nicht länger aushaken zu können, als das Bild zum drittenmal wechselte. Auf dem Boden lagen wiederum zuckende Opfer mit zerfressenen Gehirnen. Der Mann, der ihnen die blauen Kristalle eingegeben hatte, war jedoch Clandon selbst! Und in diesem Moment fiel es dem Giftmörder wie Schuppen von den Augen. Keuchend sackte er in seinem Sessel zusammen. Mörder! schrie es in seinem Kopf. Giftmörder! Ohnmächtig rollte er auf den Boden. * Rick Masters hatte Chefinspektor Hempshaw und Dr. Sterling bereits auf der Fahrt von der Stadtbibliothek in den Yard über Funk davon unterrichtet, daß er ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Daher erwarteten ihn die beiden mit großer Spannung in Hempshaws Büro. Rick platzte mitten in ihr Gespräch. 58 �
»Ich habe den Mörder, und auch wieder nicht!« rief er schwungvoll. Seine beiden Freunde und gelegentlichen Mitarbeiter schauten ihn an, als hätten sie einen Irren vor sich. »Sie haben ihn und Sie haben ihn nicht?« Hempshaw runzelte die Stirn. »Heute ist weder der erste April, noch sind wir zu makabren Scherzen aufgelegt.« »Ich auch nicht.« Rick setzte sich und legte seine Aufzeichnungen vor sich hin. »Ich ging von folgender Überlegung aus. Die jetzigen Giftmorde stehen mit denen des Phantommörders im vorigen Jahrhundert in einem engen Zusammenhang. Ich rutschte mit meiner Vision seiner Hinrichtung sozusagen durch einen reinen Zufall mit hinein.« Rick blätterte seine Notizen durch und warf Hempshaw und Dr. Sterling einen bezeichnenden Blick zu. »Ich vermutete, daß es zwischen dem Phantommörder und dem heutigen Mörder einen Zusammenhang geben muß. Den gibt es auch! Um 1900 verübte Norman Gellatly mehrere Morde nach dem Muster des Phantommörders. Norman Gellatly war der Sohn des Richters, der den Phantommörder an den Galgen schickte.« Rick achtete nicht auf die erstaunten Ausrufe von Hempshaw und Sterling, sondern fuhr in seinem Bericht fort: »1940 verübte ein Angehöriger der Royal Air Force mehrere Morde ebenfalls nach dem Muster des Phantommörders. Sein Name war Peter Gellatly, Enkel des Richters!« »Endlich verstehe ich, worauf Sie hinauswollen.« Hempshaw schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, daß alle darauf befindlichen Gegenstände tanzten. »Sie meinen, daß der Sohn dieses Peter Gellatly unser Mörder ist, der einem inneren Zwang folgend handelt« »Sehr richtig«, nickte Rick Masters. »Ich bin außerdem der Mei59 �
nung, daß dieser innere Zwang die Rache des Phantommörders an seinem Richter ist, aber das spielt ins Übernatürliche und wird von Ihnen nicht anerkannt, Kenneth.« Chefinspektor Hempshaw überhörte absichtlich die Spitze gegen seinen ständigen Unglauben. »Wie heißt der Sohn von Peter Gellatly?« fragte er gespannt, weil er überzeugt war, jeden Moment den Namen des Mannes zu erfahren, den er verhaften mußte. Rick Masters zuckte die Schultern. »Peter Gellatly starb kinderlos«, sagte er niedergeschlagen. Einen Moment starrte ihn der Chefinspektor verdutzt an, dann begann er wütend zu knurren wie ein bissiger Hund. »Und deshalb machen Sie uns verrückt und singen uns die Ohren mit Ihrer wundervollen Theorie voll?« brüllte er los. »Langsam, Kenneth«, bremste ihn Rick. »Wer sagt Ihnen denn, daß Peter Gellatly nicht doch Kinder hatte?« »Sie sagten doch eben…« »Vielleicht sind die Unterlagen nicht lückenlos«, warf Dr. Sterling ein. »Vielleicht änderte ein Sohn oder eine Tochter den Namen, um nicht ständig mit der verbrecherischen Vergangenheit der Familie konfrontiert zu werden? Was wurde übrigens aus den beiden Mördern in der Familie Gellatly, Rick?« »Beide verschwanden spurlos knapp vor ihrer Verhaftung«, sagte Rick Masters. »Was eventuelle Nachkommen von Peter Gellatly betrifft, Kenneth, müßten Sie alle Register von Scotland Yard ziehen. Lassen Sie nachforschen, ob er außereheliche Kinder hatte oder irgendwelche Nachkommen, die unter anderem Namen aufwuchsen. Jede Spur ist wichtig für uns, damit wir endlich die Serie der Giftmorde stoppen können.« »Ich werde tun, was wir mit unseren Mitteln schaffen«, versprach der Chefinspektor. »Erwarten Sie nur keine Wunder!« 60 �
»Ich weiß, daß ich sie liefern muß«, grinste Rick Masters. »Wie sieht es eigentlich mit anderen gefährdeten Personen aus?« schwenkte er auf ein wichtiges Thema. »Was wird für deren Sicherheit getan?« »Rechnen Sie sich doch aus, wer alles in Frage käme«, antwortete Dr. Sterling an Hempshaws Stelle. »Alle Mitglieder der Regierung, alle hohen Staatsbeamten, alle wichtigen Leute, die jemals mit dem Staat direkt zusammengearbeitet haben! Natürlich können sie nicht alle beschützt werden.« »Wir beschränken uns vorläufig auf London«, gab Hempshaw Auskunft. »Die Giftmorde fanden alle im Bereich der Hauptstadt statt. Die Polizei arbeitet eng mit dem Secret Service und anderen Dienststellen zusammen, damit nicht eine Person von verschiedenen Sicherheitsbeamten überwacht wird, aber wir haben wirklich nicht genügend Leute, um für jedes in Frage kommende Opfer jemanden abstellen zu können.« »Bisher hat die Überwachung auch nicht viel geholfen, Kenneth«, bemerkte Rick. »Der Abgeordnete Kynaston und der ausländische Diplomat wurden sogar vom Secret Service abgeschirmt, und doch fielen sie dem Giftmörder zum Opfer.« »Eben«, nickte Chefinspektor Hempshaw düster. »Unsere einzige Chance, weiteres Unheil zu vermeiden, ist es, den Täter so rasch wie möglich zu fassen. Schutzmaßnahmen, auch noch so umfangreiche, haben kaum einen Sinn.« »Der nächste Schritt liegt bei Ihnen, Kenneth«, gab Rick zu bedenken. »Ermitteln Sie direkte Nachkommen von Peter Gellatly, dann sind wir fast schon am Ziel.« »Halten Sie uns den Daumen, daß es klappt!« Hempshaw klopfte auf Holz. Es vergingen Stunden, bis sich Clandon von dem Schock erholte, den sein unheimliches Erlebnis bei ihm ausgelöst hatte. 61 �
Irgend etwas Fremdes, Unerklärliches versuchte sein Gedächtnis zu sperren und aus seinem Bewußtsein auszulöschen, daß er ein Mörder war. Clandon jedoch ließ sich nicht mehr beeinflussen. Zwei Dinge standen für ihn fest – er war ein dreifacher Mörder, aber er hatte nicht freiwillig gemordet. Die Folgen seiner Taten waren ihm ebenfalls klar. Einige Zeit schwankte er, ob er sich der Polizei stellen sollte oder nicht. Endlich entschied er sich dagegen. Er hatte nicht überlegt gemordet, sondern war durch eine unsichtbare Macht dazu getrieben worden. Clandon mußte dafür sorgen, daß es in Zukunft nie mehr dazu kommen konnte, daß diese fremde Macht Besitz von ihm ergriff und ihn zu einem weiteren Verbrechen zwang. Er mußte herausfinden, wer oder was es war, das aus einem anständigen Menschen einen Giftmörder gemacht hatte. Der Mann wußte auch schon, wie er vorgehen konnte. Deutlich sah er noch die Gesichter der beiden anderen vor sich, die er in dieser unerklärlichen Erscheinung gleichfalls als Giftmischer beobachtet hatte. Besonders die Züge des als Soldat Gekleideten waren ihm bekannt vorgekommen, so, als habe er dieses Gesicht schon einmal gesehen. Clandon war sogar sicher, irgendwo unter seinen alten Erinnerungsstücken einen Hinweis auf diesen Mann zu besitzen. Es war draußen bereits dunkel. In das Wohnhaus, in dem Clandon ein Apartment gemietet hatte, war Ruhe eingekehrt. Niemand begegnete ihm auf seinem Weg hinauf auf den Dachboden, wo er einen eigenen Verschlag besaß. Mit zitternden Händen sperrte er die Brettertür auf, schaltete das elektrische Licht ein und trat an die staubige Truhe heran, in der er alles aufbewahrte, was einmal von Bedeutung gewesen war und in der Wohnung keinen Platz mehr hatte. 62 �
Eine Stunde verging, eine zweite. Vor Clandons Augen flimmerte es bereits. Unzählige Briefe und Fotos hatte er durchgesehen, ohne einen Anhaltspunkt zu finden. Endlich stieß er auf einen Stapel Briefe, der mit einem blauen Band zusammengehalten war. Briefe seiner Mutter, Briefe an seine Mutter. Und Fotos! Hastig blätterte er sie durch, ohne auch nur eine Zeile zu lesen. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß er diese Briefe und Fotos nie angesehen hatte, seit seine Mutter sie ihm vor vielen Jahren übergeben hatte. Schon wollte er auch diese Papiere enttäuscht zur Seite legen, als sein Blick auf ein Foto fiel, das aus einem der Briefe hervorschaute. Er zog es aus dem Umschlag – und wußte, wer die beiden Männer waren, die er zuvor in einer Vision als Giftmischer gesehen hatte. Sein Vater und sein Großvater! * »Auf jeden Fall kannst du dich nicht beschweren, daß ich dich vernachlässige«, sagte Rick Masters am nächsten Morgen zu Jenny. Er wartete auf ein Lob ihrerseits, doch sie schob nur mit einer verschlafenen Handbewegung ihre langen blonden Haare aus dem Gesicht und fragte: »Wo bleibt das Frühstück?« Rick zog ein säuerliches Gesicht. »Das ist alles?« beschwerte er sich. »Anstatt daß du in Begeisterung ausbrichst…« »Ich habe Hunger«, schnitt ihm Jenny das Wort ab und zerstörte damit restlos seine Hochstimmung. Brummend und murrend wollte der junge Privatdetektiv in die Küche gehen, als das Telefon ihn vor den hausfräulichen Pflichten bewahrte. 63 �
»Guten Morgen, Kenneth!« rief Rick, als er die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte. »Schlechter Morgen, Rick, es ist ein sehr schlechter Morgen.« Hempshaw sprach wie bei einer Beerdigung. »Wir haben eine Fehlanzeige auf der ganzen Linie.« »Wollen Sie sagen, daß auch Scotland Yard keine Nachkommen von Peter Gellatly aufspüren konnte?« »Genau, Rick! So ist es.« Der Chefinspektor räusperte sich verlegen. »Bedenken Sie, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. Außerdem herrschte damals Krieg, und wir…« »Schon gut, Kenneth«, unterbrach ihn der Privatdetektiv. »Sie brauchen Scotland Yard nicht zu verteidigen. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Ich frage mich nur, was wir jetzt machen sollen.« »Das frage ich mich auch, Rick. Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung.« »Ich lasse mir die Sache durch den Kopf gehen«, versprach Rick und legte auf. In der Küche setzte er Teewasser auf und machte sich an Marmeladengläsern zu schaffen, schnitt Speck und preßte Apfelsinen aus, kurz, er tat alles, um ein richtiges englisches Frühstück auf die Beine zu bringen. Daß die Beine schwach sein würden, zeichnete sich bereits nach wenigen Minuten ab. »Du scheinst ein besserer Detektiv als Koch zu sein.« Jenny hatte ein Badetuch um ihren noch feuchten Körper geschlungen und schüttelte Wasser aus ihren nassen Haaren. »Ich würde vorschlagen, daß du erst einmal eine Dusche nimmst und dich ankleidest.« Rick schaute an sich hinunter. »Hatte ich ganz vergessen«, grinste er, lief ins Bad und stellte sich unter den heißen Wasserstrahl. Als er sich abgetrocknet hatte und fertig angezogen ins Wohnzimmer kam, stand ein per64 �
fektes Frühstück auf dem Tisch. »Na, wie habe ich das gemacht?« strahlte ihm Jenny entgegen. »Wunderbar«, lobte Rick wahrheitsgemäß. Gemeinsam machten sie sich über die sorgfältig aufgebauten Köstlichkeiten her, bis Jenny die Ruhe unterbrach. »Worüber zerbrecht ihr euch eigentlich den Kopf, du und der Chefinspektor?« erkundigte sie sich mit vollem Mund. »Vielleicht kann ich euch helfen.« Rick zuckte die Schultern, während er Butter auf sein Brot strich. »Die Geschichte habe ich dir schon erzählt«, antwortete er zwischen zwei Schlucken Tee. »Es geht darum, einen Sohn oder eine Tochter dieses Peter Gellatly zu finden. Offiziell ist aber nichts von Nachkommen bekannt.« »Er war doch verheiratet, nicht wahr?« Jenny begann, erstaunt und amüsiert zu lächeln. »Warum fragst du nicht seine Frau – falls sie noch lebt?« »Natürlich lebt sie noch«, nickte Rick heftig. »Das haben wir gestern bereits festgestellt. Du meinst, wir sollen…« »Natürlich! Falls Peter Gellatly Kinder mit einer anderen Frau hatte, wird am ehesten seine eigene Ehefrau darüber Bescheid wissen. Fahren wir gleich nach dem Frühstück zu ihr?« »Wieso wir?« staunte Rick. »Na, es ist schließlich meine Idee.« Jenny zog das Badetuch enger zusammen, das an der Brust aufklaffte. Ihre Haut schimmerte wie Elfenbein und duftete nach einer dezent parfümierten Seife. »Ich werde dich nicht stören, Rick, Ehrenwort. Nimm mich mit!« bettelte sie. »Selbstverständlich, wenn du möchtest?« Rick deutete auf das Badetuch, das jetzt bereits zum zweitenmal über ihre Schultern nach unten rutschte. »Aber nicht in diesem Aufzug«, sagte er lachend. »Wir würden auf der Straße zuviel Aufsehen erregen.« Jenny folgte seinem Rat, so daß sie beide den Anstandsregeln 65 �
entsprechend gekleidet waren, als sie Mrs. Gellatlys Haus betraten, nachdem sie sich telefonisch angemeldet hatten. »Sie sagten, Sie wollten mit mir über meinen verstorbenen Mann sprechen, Miß Allen, Mr. Masters?« Die alte Dame bot ihnen Platz an in ihrem Wohnzimmer, das wie ein Salon aus viktorianischer Zeit anmutete. »Das alles ist lange her, ich weiß nicht, ob ich Ihnen überhaupt eine Auskunft geben kann.« »Es dreht sich um einen ganz bestimmten Punkt«, begann Rick zu erklären. »Um einen sehr heiklen, ich möchte fast sagen peinlichen Punkt.« »Fragen Sie«, forderte ihn Mrs. Gellatly leise auf. »Da Sie die Geschichte meines Mannes kennen, werden Sie wissen, wieviel ich seinetwegen durchmachen mußte. Da kann mich fast nichts mehr erschüttern.« »War Ihnen Ihr Mann treu, Mrs. Gellatly?« platzte Jenny Allen heraus. Die Witwe Peter Gellatlys war mindestens ebenso überrascht wie Rick Masters. »Liebe Miß Allen«, lächelte Mrs. Gellatly nach einer Weile. »Während meiner kurzen Ehe mit Peter waren wir mehr voneinander getrennt als vereint. Schließlich herrschte Krieg.« »Ich verstehe, was Sie andeuten möchten«, versuchte Rick, sich so vorsichtig wie möglich auszudrücken, um die alte Dame nur nicht zu verletzen. »Eine konkrete Frage: Ist Ihnen etwas von direkten Nachkommen Ihres Mannes bekannt?« War es die lange Zeit, die seit dem Verschwinden ihres Mannes vergangen war, oder spielte ihr Alter eine Rolle, durch das sie Abstand zu den damaligen Ereignissen gefunden hatte, Mrs. Gellatly verlor jedenfalls nicht ihre Ruhe. »Ich wüßte nichts«, sagte sie höflich aber mit Nachdruck, »was Ihnen weiterhilft, Mr. Masters. Wie gesagt, es war Krieg…« »Vielen Dank, Mrs. Gellatly, daß Sie so hilfsbereit waren«, 66 �
sagte Jenny freundlich. Sie verabschiedete sich von Mrs. Gellatly, so daß auch Rick nichts anderes übrigblieb, als sich ebenfalls zurückzuziehen. Als sie wieder in seinem Morgan saßen, schaute er Jenny vorwurfsvoll an. »Wer weiß, was sie uns alles verschwiegen hat. Du hättest das Gespräch nicht abbrechen dürfen.« »Sie wußte wirklich nichts«, erklärte Jenny. »Woher willst du das wissen?« Rick konnte seine Ungeduld kaum noch beherrschen. »Das fühlt man – ich fühle es wenigstens. Sie wußte nichts, also hatte es keinen Sinn, sie noch weiter mit den alten Erinnerungen zu quälen.« »Schön, wenn du meinst«, lenkte Rick Masters ein. »Die Frage ist nur, wie ich jetzt weitermachen soll?« »An deiner Stelle würde ich mir erst einmal ein Bild Peter Gellatlys beschaffen«, schlug Jenny vor. »In der Stadtbücherei gibt es doch die Bücher, die du gestern…« »Ich weiß schon«, unterbrach Rick sie. »Was machst du in der Zwischenzeit?« »Arbeiten, was denn sonst?« Jenny Augen blitzten ihn lustig an. »Der Kosmetiksalon läuft zwar gut, aber doch besser, wenn ich selbst dort bin.« »Kann ich verstehen«, bemerkte Rick eifersüchtig. »In meinem Kosmetiksalon verkehren nur Frauen«, lachte Jenny hell auf. Rick wurde rot, weil sie ihn der Eifersucht überführt hatte. Er setzte sie vor ihrem Laden ab und fuhr zur Bücherei weiter. Zu Mittag wollten sie sich wieder treffen. Bis dahin würde jedoch noch viel geschehen. * Die Bibliothekarin schaute den vor ihr stehenden Mann so über67 �
rascht an, als habe er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Dabei hatte Clandon lediglich ein ganz bestimmtes Nachschlagewerk über Verbrechen verlangt. Unter dem forschenden und neugierigen Blick der Frau schauderte Clandon zusammen. Er konnte es sich nicht erklären, aber irgendwo mußte sie Bescheid wissen. Das glaubte er zumindest. Warum hätte sie ihn sonst so eindringlich mustern sollen? »Das ist aber ein Zufall, Sir, bitte kommen Sie mit!« Die Bibliothekarin ging voraus und tauchte zwischen scheinbar endlosen Reihen von Regalen ein. »Jahrelang hat sie keiner um dieses Werk gekümmert, und jetzt wird es gleich zweimal hintereinander verlangt.« Clandon atmete unendlich erleichtert auf. Sie hatte also keinen Verdacht geschöpft, sondern wunderte sich lediglich über einen Zufall. Zufall? War es wirklich ein Zufall? Ein trockenes Würgen stieg in Clandons Kehle hoch. »Verzeihung«, sagte er und mußte sich räuspern, ehe er weitersprechen konnte. »Wieso zweimal hintereinander? Wer hat sich sonst noch dafür interessiert?« Die Bibliothekarin begann vor Clandon auf einem Tisch die zahlreichen Bände des Nachschlagewerks aufzubauen. »Ach, gestern war ein Privatdetektiv hier, Masters hieß er. Ich habe sein Bild schon ein paarmal in den Zeitungen gesehen. Ein sehr tüchtiger junger Mann, müssen Sie wissen! Er arbeitete stundenlang über diesen Büchern. Ich hoffe, sie werden Ihnen ebenfalls weiterhelfen!« Damit ließ sie Clandon mit den alten Wälzern allein. Hastig machte sich der Mann an die Arbeit. Er kannte Rick Masters ebenfalls. In den Zeitungen hatte oft genug gestanden, daß Masters mit Scotland Yard zusammenar68 �
beitete und einen guten Ruf besaß. Sollte der Privatdetektiv auch etwas mit den Giftmorden zu tun haben? Wenn ja, mußte Clandon sich beeilen. Da er genau wußte, wonach er suchen mußte, brauchte er nicht so lange wie Rick am Vortag. Schon nach wenigen Minuten hatte er die ausführlichen Berichte über die Morde seines Vaters und Großvaters gefunden. Alles war bis ins Detail geschildert und ausreichend mit Bildern versehen. Clandon stand auf und spähte den Gang zwischen den Regalen entlang. Die Bibliothekarin war am Eingang mit einer Besucherin beschäftigt und würde nicht so bald weggehen können. Rasch entschlossen kehrte er zu den Büchern auf seinem Tisch zurück. Möglichst leise trennte er alle Seiten, die sich mit seiner Familie beschäftigten, heraus, faltete die Blätter zusammen und steckte sie in seine Sackotasche. Dann schlich er sich zum Ausgang. Sobald die Bibliothekarin mit ihrer Kundin in einer anderen Abteilung verschwand, verließ er unbemerkt das Gebäude. Bei sich trug er das Material, mit dessen Hilfe er sich von dem unheilvollen Einfluß zu befreien hoffte, der ihn bisher zu drei abscheulichen Mordtaten gezwungen hatte. * »Ach, guten Morgen, Mr. Masters« begrüßte die Bibliothekarin der Stadtbücherei den jungen Privatdetektiv. »Wie?« machte Rick verblüfft. »Ach so, guten Morgen! Woher kennen Sie mich? Ich habe gestern meinen Namen nicht genannt.« »Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen.« Die Bibliothekarin strahlte Rick an, als wäre er ein Hollywoodschauspieler. »Leider erinnerte ich mich erst wieder an Ihren Namen, als Sie schon 69 �
weg waren.« »Ach so«, nickte Rick zerstreut. Mit der Hand tastete er nach der Miniaturkamera, mit der er Aufnahmen von Peter Gellatlys Fotos in dem Nachschlagewerk herstellen wollte. »Könnte ich noch einmal die Bände sehen, die ich gestern bearbeitete?« ging, er auf den Grund seines Besuchs los. »Nein, so ein Zufall!« Die Bibliothekarin hatte keine Ahnung, in welchen Fall sie verwickelt worden war. »Zum drittenmal werden die Bücher verlangt.« »Zum drittenmal?« echote Rick. »Wer…« »Ein Herr hat sie vor einer halben Stunde verlangt«, erklärte die Frau und ging voran. »Er hat sie noch nicht zurückgegeben, also wird er noch mit der Lektüre beschäftigt sein.« Die Leiterin der Bibliothek blieb verblüfft stehen. Rick schaute über ihre Schulter, konnte aber nur einen langgestreckten Tisch mit einigen Bücherstapeln sehen. Ansonsten fiel ihm nichts auf. »Wo ist er denn?« fragte sie und trat näher. »Offenbar ist er doch schon weggegangen, ohne die Bücher zurückzugeben. Nein!« Ihr empörter Aufschrei alarmierte Rick. »Das ist barbarisch! Wie kann man nur!« Jetzt bemerkte auch der Privatdetektiv, daß aus einem der Bücher Blätter herausgerissen worden waren. Sein Blick fiel auf die Jahreszahl, und ein fürchterlicher Verdacht stieg in ihm auf. 1940 – das Jahr, in dem Peter Gellatlys Morde aufgedeckt wurden! Rick riß der Bibliothekarin das Buch aus der Hand und blätterte blitzschnell hin und her, bis er sich davon überzeugt hatte, daß tatsächlich alle ihn interessierenden Blätter herausgerissen worden waren. Ohne sich um den Protest der Frau zu kümmern, die sich über sein sonderbares Benehmen ärgerte, schlug er das Jahr 1900 auf. Es war so, wie er es erwartet hatte, auch hier fehlten die Seiten, die über die Familie Gellatly berich70 �
teten. Rick Masters ließ die schimpfende und über so viel Rohheit wütende Bibliothekarin nicht weiterreden. »Beschreiben Sie mir den Mann, es ist wichtig«, verlangte er. »Dieser Mann wird von der Polizei gesucht. Also strengen Sie Ihr Gedächtnis an!« Rick erhielt tatsächlich eine genaue Beschreibung, die sich auf jede Einzelheit bezog. Dennoch verließ er niedergeschlagen die Bibliothek. Der Beschreibung nach wußte er jetzt, daß der von ihm gesuchte Mann so durchschnittlich wie nur irgend möglich war. Jeder zweite, der ihm auf der Straße begegnete, hätte der Mörder sein können. Rick Masters jagte einen Phantommörder. * »Sie sind wieder einmal meine letzte Hoffnung, Kenneth!« rief Rick Masters, knallte schwungvoll Hempshaws Bürotür hinter sich zu und ließ sich auf den vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl fallen. »An dem Tag, an dem Sie das Anklopfen lernen, Rick, stifte ich den Grundstein für ein neues Yardgebäude«, gelobte Chefinspektor Hempshaw. »Sie gehen wohl nie ein Risiko ein, wie?« grinste der Privatdetektiv. »Sie sagen sich wohl, daß ein Ziegelstein nicht sonderlich teuer ist! Versprechen Sie mir eine Kiste Champagner, dann klopfe ich an.« »Niemals!« rief Hempshaw entsetzt. »Nur, damit ich meine Wette verliere, lernen Sie noch gutes Benehmen! Also, im Ernst, Rick, wieso bin ich Ihre letzte Hoffnung?« 71 �
»Spannen Sie alle Kräfte des Yards ein, um den Sohn des letzten Giftmörders aufzuspüren!« beschwor ihn Rick. »Haben wir doch schon, ohne Erfolg«, verwies ihn Hempshaw. »Wir sind überzeugt, daß es keinen gibt.« »Und ich habe den Gegenbeweis«, triumphierte Rick. Er schilderte den Vorfall in der Stadtbücherei. »Meinen Sie wirklich, daß Sie den Phantommörder nur so knapp verfehlten?« Hempshaw rieb sich nachdenklich das Kinn. »Möglich wäre es natürlich. Also was wollen Sie?« »Fahren Sie mit Ihren Spezialisten in die Bibliothek, quetschen Sie die Bibliothekarin nach allen Regeln der Kunst aus.« Rick Masters stand schon an der Tür. »Lassen Sie ein Phantombild anfertigen, Sie haben nicht umsonst die besten Zeichner beim Yard.« »Wird gemacht«, versprach der Chefinspektor. »Und Sie? Haben Sie bereits eine neue Idee?« Rick setzte ein verlegenes Lächeln auf. »Ich habe seit einiger Zeit einen Ideenlieferanten«, orakelte er und verschwand. Vergeblich zerbrach sich der Chefinspektor den Kopf darüber, was Rick Masters damit gemeint haben mochte. Dann gab er es auf und konzentrierte sich auf seine Aufgaben als Chef einer Mordkommission. Das war für ihn rätselhaft genug! * »Ach nein, das ist ja toll!« Jenny Allen genoß sichtlich ihren Triumph. Sie hatte ihre Kundinnen den Angestellten überlassen und sich mit Rick in ihr Büro neben dem Kosmetiksalon zurückgezogen. »Zuerst machst du dich darüber lustig, daß ich mich in deine hochheiligen Ermittlungen einmische, dann kommst du zu mir 72 �
um einen Rat, was du jetzt tun sollst!« »Nun, ich meinte«, druckste Rick herum. »Es war schon richtig, was du bei Mrs. Gellatly sagtest. Ich muß zugeben, daß deine Beobachtungsgabe und deine weibliche Intuition…« »Genug Lob«, wehrte Jenny großzügig ab. »Also, du weißt nicht weiter, und weil wir das Jahr der Frau haben…« »Hör bloß damit auf!« stöhnte Rick Masters. »Das kann ich nicht mehr hören.« »Ich auch nicht«, gestand Jenny »Trotzdem ist es schön, daß du mich nicht nur als Sexobjekt betrachtest, sondern auch meinen Geist schätzt.« »Ich schätze ihn vor allem, wenn du mir einen Tip gibst.« Rick steckte für sie beide Zigaretten an und fuhr fort: »Ich muß herausfinden, wann und mit wem Peter Gellatly Kinder in die Welt gesetzt hat. Daß er das getan hat, scheint mir nach dem Zwischenfall in der Bibliothek bewiesen.« »Mir auch«, nickte Jenny ernst werdend. »Wann verschwand er spurlos?« »1940! Er war damals bei der Royal Air Force und…« »Das ist es!« Jenny nickte so heftig, daß ihr die langen blonden Haare wie ein Schleier vor das Gesicht fielen. Welcher Soldat prahlt nicht bei seinen Kameraden mit seinen Erfolgen bei Frauen.« Rick schaute seine Freundin so verständnislos an, als hätte sie in einer ihm völlig fremden Sprache gesprochen. »Die Polizei findet keine Spur eines Kindes von Peter Gellatly, aber du hast eine Chance«, redete Jenny eifrig auf Rick ein. »Du mußt die ehemaligen Kriegskameraden aus Gellatlys Truppe finden. Sie können dir am ehesten einen Tip geben.« Rick starrte Jenny einige Sekunden lang entgeistert an, dann sprang er auf und lief ans Telefon. Dank seiner guten Beziehungen kam er fünf Minuten danach 73 �
mit einem beschriebenen Zettel zu seiner Freundin zurück. »Name und Adresse des damaligen Vorgesetzten von Gellatly«, strahlte er. »Der Captain wird uns weiterhelfen können.« »Uns?« staunte Jenny. »Ich habe mich wohl verhört. Dir, mein Bester, ich habe keine Zeit.« »Und wie war das heute vormittag?« Rick grinste ihr unverschämt ins Gesicht. »Da konnten deine Kunden ohne dich auskommen. Das wird jetzt auch möglich sein. Captain Bloomfield erwartet uns bereits, ich habe uns telefonisch angesagt.« Jenny half kein Protestieren, Rick schleppte sie mit sich. Der Captain, ein Gentleman an die achtzig, kam ihnen rüstig entgegen, als sie an seiner Gartentür schellten. Er hatte auf der Terrasse seines kleinen Hauses auch eine Erfrischung vorbereitet »Gellatly?« rief er überrascht aus, als Rick ihn nach seinem ehemaligen Untergebenen bei der RAF fragte. »Natürlich erinnere ich mich, Mr. Masters, ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Gellatly verschwand auf mysteriöse Weise, als er wegen mehrfachen Giftmordes verhaftet werden sollte. Wir konnten ihn nicht auffinden.« Da sich Jenny diesmal schweigsam gab, übernahm Rick die Fragen. »Captain Bloomfield, über die Morde weiß ich Bescheid. Es geht um etwas anderes. Wir suchen Nachkommen von Peter Gellatly, aber die üblichen Methoden haben versagt. Mit seiner Frau hatte er keine Kinder.« »Er sprach nur schlecht von seiner Frau«, erinnerte sich der alte Offizier. »Wissen Sie, Gellatly war ein netter Mensch, obwohl sein Vater ebenfalls als Giftmörder gesucht wurde. Wir kamen immer gut mit ihm aus, es gab nie Schwierigkeiten. Deshalb waren wir auch so erstaunt, als er plötzlich verhaftet werden sollte.« 74 �
»Ja, ja«, wehrte Rick leicht ungeduldig ab. »Was uns sehr interessiert, das sind Gellatlys Beziehungen zu Frauen.« »Frauen?« Der Offizier lachte dröhnend. »Gellatly war ein Windhund! Er hatte an jedem Finger ein Dutzend Freundinnen.« »Das kann ja heiter werden«, seufzte Jenny Allen. Rick nagte verdrossen an seiner Unterlippe, dann hatte er sich eine Frage zurechtgelegt. »Können Sie sich an eine von Gellatlys Freundinnen erinnern, die möglicherweise von ihm ein Kind bekam? Captain, es müßte sich doch etwas herumgesprochen haben. Soviel ich weiß, war Ihre Einheit damals in einem kleinen Dorf stationiert.« Der pensionierte Offizier überlegte lange. Rick und Jenny tauschten einen hoffnungsvollen Blick. Wenn sich der Captain erinnerte, ersparten sie sich eine mühselige Befragung aller noch lebenden ehemaligen Regimentskameraden des Mörders. »Namen weiß ich nicht mehr«, sagte Captain Bloomfield nach einer Weile. »Aber es gab kurz vor Gellatlys Verschwinden ein Gerücht… Nun, ich will nicht nachträglich jemanden in Schwierigkeiten bringen, doch man munkelte über die Tochter des damaligen Bürgermeisters dieses Dorfes. Das Dorf hieß Elton, den Namen des Bürgermeisters habe ich vergessen.« »Das wird sich feststellen lassen«, sagte Rick schnell, bedankte sich bei dem alten Mann und hatte es sehr eilig. »Ich muß zurück in den Salon«, verlangte Jenny, als sie wieder in Ricks Wagen saßen. »Wir fahren nach Elton«, antwortete der Privatdetektiv. »Und du, mein Engel, wirst mich begleiten, da ich deine Hilfe brauche.« »Aber, ich…« »Vielen Dank, Jenny, daß du mir freiwillig hilfst.« Rick hauchte ihr einen Kuß auf die Wange. »Das erspart es mir, dich mit 75 �
Gewalt mitzuschleppen.« Jenny hörte auf, mit Fäusten auf Rick einzuschlagen, als der Wagen an Fahrt gewann. Schließlich wollte sie keinen Unfall riskieren. »Das büßt du mir«, knirschte sie rachedurstig. »Du wirst dir noch wünschen, mich nie kennengelernt zu haben.« Rick warf einen kurzen Seitenblick auf ihre auf den Nebensitz hingegossene Gestalt. »Ich glaube, der Moment ist noch fern«, stellte er zufrieden fest, und trat das Gaspedal durch. * Clandon, der letzte Nachkomme des Richters, der im Jahre 1870 den Phantommörder an den Galgen geschickt hatte, fühlte eine Wandlung in sich vorgehen, Hatte er zuerst unwissentlich und einem geheimen Zwang folgend gemordet und anschließend versucht, gegen diesen unheilvollen Einfluß anzukämpfen, so verfiel er jetzt mehr und mehr dem Blutrausch und dem Bewußtsein von Macht, die er über andere Menschen ausübte. Kaum hatte er die Stadtbibliothek heimlich verlassen, als er Rick Masters entdeckte, der die Straße vor dem Bibliotheksgebäude querte und auf den Eingang zuhielt. Rasch war Clandon hinter einer Säule verschwunden. Das hätte noch gefehlt, daß der Privatdetektiv ihn hier fand! Das wäre fast genauso schlimm gewesen, wie wenn er sich sofort der Polizei gestellt hätte. Mehr denn je war Clandon entschlossen, nicht für diese drei Morde zu büßen, die er gegen seinen Willen begangen hatte. Durch das Studium der Berichte über seinen Vater und seinen Großvater sowie dessen Vater war ihm einiges klargeworden. Offenbar hatte sich der Geist des 1870 hingerichteten Phantom76 �
mörders dadurch an seinem Richter gerächt, daß er dessen Sohn dreißig Jahre nach der Hinrichtung zu ebensolchen Giftmorden gezwungen hatte, wie sie ihm angelastet worden waren. Den damals bereits pensionierten Richter hatte es so schwer getroffen, daß er sich umbrachte. Danach war es wie ein Fluch gewesen, der auf der Familie Gellatly lastete. Der Sohn des Richters war zum Giftmörder geworden, dessen Sohn wiederum hatte 1940 gleichartige Verbrechen verübt. Und jetzt er selbst! Clandon hatte bisher nie an Übernatürliches geglaubt, an einen Einfluß des Jenseits auf die Welt der Menschen. Nunmehr hatte er den Gegenbeweis. Der Geist des Phantommörders zwang nicht nur seine Opfer zum Morden, er vermittelte ihnen auch das Wissen, ein besonders schreckliches Gift herzustellen. Genau dagegen hatte sich Clandon wehren wollen doch plötzlich erkannte er, daß er von den Ereignissen überrollt wurde. Wollte er nicht für den Rest seines Lebens hinter Gitter wandern, mußte er sich der Hilfe des Phantommörders bedienen, um seinen bisher gefährlichsten Gegner aus dem Weg zu räumen. Rick Masters! * Bis zu ihrer Ankunft in dem zwanzig Meilen von London entfernten Ort Elton hatte Jenny Allen eingesehen, daß Rick sie wirklich brauchte. »Also gut«, stimmte sie versöhnlich zu »ich verzeihe dir die Entführung. Soll ich wirklich allein mit der Tochter des Bürgermeisters sprechen – vorausgesetzt, sie lebt noch und vor allem 77 �
hier in Elton?« »Wenn diese Frau damals tatsächlich ein Kind von Gellatly bekam, wird es ihr wahrscheinlich leichter fallen, mit dir darüber zu sprechen als mit mir.« »Du entwickelst ein unerhörtes Verständnis für die weibliche Seele«, spöttelte Jenny. »Erkundigen wir uns beim jetzigen Bürgermeister«, schlug Rick vor. Das taten sie auch und erfuhren, daß die Tochter des Mannes, der während des Krieges Bürgermeister von Elton gewesen war, heute noch im Dorf lebte und früher Lehrerin an der örtlichen Schule gewesen war. Sie erhielten auch die Adresse. Im letzten Haus an der Straße, das fast unter einer Efeuranke verschwand, arbeitete eine etwa siebzigjährige Frau im Garten, der ein einziges Blumenmeer darstellte. Rick stellte den Wagen im Schatten ab, schaltete das Radio ein und machte eine auffordernde Handbewegung. »Darling, Miß Moorgate gehört dir!« Jenny setzte zu einer heftigen Entgegnung an, schluckte sie jedoch und stieg aus. Rick beobachtete seine Freundin, wie sie den Garten der ehemaligen Lehrerin betrat, auf die alte Frau zuging und mit ihr zu sprechen begann. Die beiden Frauen zogen sich in Korbstühle vor dem Haus zurück. Eine halbe Stunde dauerte das Gespräch, in dessen Verlauf Miß Moorgate, die Tochter des früheren Bürgermeisters, ganz ruhig blieb. Rick bewunderte Jennys Geschick, mit der alten Lehrerin umzugehen, denn schließlich drehte sich das Gespräch um ein sehr heikles Thema. Als Jenny endlich zu ihm zurückkam, wirkte sie müde und abgekämpft, aber triumphierendes Leuchten in ihren Augen deutete an, daß sie erfolgreich gewesen war. 78 �
»Fahr schon!« verlangte sie. »Ich möchte die alte Dame nicht länger sehen. Ich komme mir ohnedies schon erbärmlich genug vor.« Rick verstand das nicht, und er sagte es auch. »Mein Gott, du verstehst aber wirklich nicht viel von Frauen!« fauchte sie, störte sich nicht an Ricks beleidigtem Gesicht und fuhr fort: »Wir wollen ihren Sohn als Mörder entlarven, und ich muß ihr eine abenteuerliche Geschichte vorlügen!« »Sie hat also einen Sohn von Gellatly bekommen?« fragte Rick gespannt. »Ja doch!« Jenny zündete sich nervös eine Zigarette an. »Nach Gellatlys spurlosem Verschwinden kam der Junge zur Welt. Ihr Vater bestand darauf, daß sie für einige Zeit nach London ginge, damit die sogenannte Schande nicht bekannt werde. Rückständiges Vorurteil!« schimpfte sie. »Weiter!« drängte Rick, während er den Wagen zurück nach London steuerte. »Miß Moorgate trennte sich von ihrem Kind, um wieder in ihrem Heimatort leben zu können«, erzählte Jenny tonlos. »Heute macht sie sich die bittersten Vorwürfe deshalb, aber es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Sie hat mich gebeten, sie mit ihrem Sohn zusammenzuführen, sobald wir ihn finden. Verdammt!« fluchte sie und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. »Sie ließ den Kleinen adoptieren.« »Wieder alles umsonst!« stöhnte Rick Masters. »Wir erfahren niemals den Namen der Adoptiveltern. Die Behörden werden wie immer in solchen Fällen eisern schweigen.« »Uns gegenüber ja, aber nicht, wenn Scotland Yard anfragt«, murmelte Jenny. »Richtig!« Rick schlug sich an die Stirn »Hempshaw muß helfen!« Er setzte sofort sein Funkgerät in Betrieb. Sie waren bereits nahe genug an London herangekommen, daß er eine Verbin79 �
dung zu Scotland Yard bekam. »Wieso klingt Ihre Stimme so leise, Rick?« erkundigte sich der Chefinspektor. »Wir stehen im Augenblick zehn Meilen von London entfernt«, schrie Rick Masters in den Hörer. »Sie müssen Adoptiveltern ausfindig machen. Ich erkläre es Ihnen!« Nach fünf Minuten hatte er alles durchgegeben und das Gespräch beendet. Sie fuhren weiter. »Bring mich nach Hause«, verlangte Jenny leise. »Meinetwegen können wir zu dir fahren, aber sprich in der nächsten Zeit nicht mehr über diesen Fall mit mir. Ich möchte nichts hören.« Rick legte ihr für einen Moment seine Hand auf den Arm. »Ich kann dich verstehen«, sagte er mit spröder Stimme. »So ging es mir auch, als ich zum erstenmal einem unschuldigen Menschen grausamen Schmerz zufügen mußte, um ein Verbrechen klären zu können.« Jenny zwang sich tapfer zu einem kleinen Lächeln. »Das ist mir nur leider kein Trost, Rick! Aber vielen Dank, daß du es wenigstens versucht hast.« * Obwohl Clandon nicht genau wußte, wie weit Rick Masters inzwischen gekommen war, beging er nicht den Fehler, den Privatdetektiv zu unterschätzen. Ein Leben hinter Zuchthausmauern war für ihn kein Leben! Lieber wollte er selbst sterben – oder morden! Ja, er war soweit, daß er diesmal freiwillig einen Mord begehen wollte, und zwar einen Mord an Rick Master. Clandon schwelgte in dem unsinnigen Glauben, mit einer weiteren 80 �
Gewalttat jede drohende Entdeckung von sich abwenden zu können. Da er selbst jedoch von Giften nicht die geringste Ahnung hatte und Masters auf keine andere Weise töten wollte wie der Phantommörder selbst, mußte er die Hilfe eines Geistes in Anspruch nehmen. Clandon fuhr auf direktem Weg von der Bibliothek in seine Wohnung. Keuchend schloß er hinter sich die Tür und lehnte sich schwer atmend gegen das Holz. Vor seinen Augen flimmerte es, doch das war weder körperliche Erschöpfung noch Anzeichen, daß er aufs Neue in die Gewalt des Unheimlichen verfiel. Es kam von der inneren Anspannung, ob sein Unternehmen glücken würde oder nicht. Er gab sich einen Ruck und schleppte sich ins Schlafzimmer, holte den Koffer vom Schrank herunter und öffnete ihn. Ordentlich aufgereiht standen nebeneinander die einzelnen Giftflaschen. Clandon trug alles ins Wohnzimmer, stellte die zur Bereitung des tödlichen Giftes nötigen Dinge vor sich und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Clandon hatte keine Ahnung, wie er die Verbindung zu dem Geist des Phantommörders aufnehmen sollte. Er wollte es zuerst dadurch versuchen, daß er sich in Gedanken mit der Zubereitung des teuflischen Mittels beschäftigte. Der Mörder brauchte keinen zweiten Versuch zu unternehmen. Es klappte gleich beim erstenmal. Es überkam ihn, ohne daß er eine äußerliche Veränderung merkte. Plötzlich verfügte er über ein Wissen, das er sich niemals selbst angeeignet hatte. Wie von einem Automaten gesteuert, bewegten sich seine Hände, mischten sie die einzelnen Tinkturen, gaben Pulver dazu, wogen sie die genauen Mengen ab. Innerhalb einer knappen Stunde war es bereit – das fürchterliche Gift des Phantom81 �
mörders. Wie die herrlichsten Edelsteine funkelten die blauen Kristalle. Clandon stierte lange auf das blaue Glitzern, dann stand er abrupt auf. Noch hatte er nicht alle Skrupel überwunden, noch hatte er sich einen Rest von Gewissen erhalten, der ihn zur Vernunft mahnte. Er wollte seinen Plan ändern. Clandon lenkte seine Schritte in den Keller des Wohnhauses. * Nachdem sie sich ein wenig in Ricks Wohnung erholt hatte, schien Jenny Allen das Zusammentreffen mit Miß Moorgate, der ahnungslosen Mutter des mutmaßlichen Giftmörders, überwunden zu haben. Wenigstens zeigte sie äußerlich nicht mehr, daß es ihr etwas ausmachte. Rick, der sie mittlerweile gut kannte, wußte jedoch, daß diese Begegnung weiterhin in ihr fraß. Helfen konnte er seiner Freundin nicht, er konnte sie nur ein wenig ablenken. Daher begleitete er sie auch, als sie in ihrem Kosmetiksalon nachsehen wollte, ob auch ohne die Chefin alles gut lief. Anschließend bummelten sie durch die Carnaby Street, tranken eine Tasse Tee und kehrten in Ricks Wohnbüro zurück, das oberhalb des ältesten Cafés der City lag. »Mir gefällt deine Wohnung«, sagte Jenny, während Rick in der Küche Kaffee mit einer automatischen Filtermaschine zubereitete. »Es ist wunderbar, so mitten in der Stadt zu wohnen.« »Kaffee ist gleich fertig!« rief Rick aus der Küche. Durch das Summen der Maschine hatte er nicht deutlich verstanden, was Jenny sagte. Es klopfte an der Wohnungstür. Überrascht, da der Besucher nicht die Klingel benützte, ging 82 �
Jenny hin und öffnete. Niemand war zu sehen. Schon wollte die junge Frau kopfschüttelnd die Tür wieder schließen, als ihr Blick auf ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen fiel, das direkt vor der Schwelle lag. Sie bückte sich, hob es auf und brachte es in die Wohnung. »Hier ist ein Päckchen, Rick!« rief sie zur Küche hin. »Soll ich es für dich öffnen?« Rick Masters hätte niemals unvorsichtigerweise ein Päckchen angenommen, das vor seiner Tür lag, und schon gar nicht hätte er zugelassen, daß Jenny ein solches Päckchen öffnete. Da die Kaffeemaschine aber noch immer so laut zischte, daß er nichts verstand, rief er nur zurück, Jenny solle einen Moment warten, er komme gleich. Seine Freundin jedoch verstand ihn falsch. Sie löste den Knoten und schlug das Papier auseinander. Neugierig hob sie den Deckel der Schachtel ab und warf einen Blick auf den Inhalt. Rick ließ vor Schreck die Kaffeetassen fallen, als Jennys Schrei durch die Wohnung gellte. Mit einem Sprung setzte er über die Pfütze und die Scherben hinweg und sauste ins Wohnzimmer. Vor Jenny stand auf dem Tisch eine geöffnete Schachtel. Sie konnte ihren Blick nicht davon lösen. Ihr Gesicht war leichenblaß, in ihren Augen flackerte die Angst. Mit zwei langen Schritten hatte Rick den Tisch erreicht, die Schachtel an sich gerissen und den Inhalt erkannt. Es war eine tote Ratte! Hastig legte er wieder den Deckel auf, setzte sich neben Jenny und nahm sie in die Arme. Sie zitterte und war völlig verkrampft, doch unter seinem sanften Zureden löste sich bald ihre Erstarrung. »Zu dumm«, preßte sie endlich mit einem mühsamen Lächeln 83 �
hervor. »Wären meine Nerven nicht ohnedies schon mitgenommen, hätte ich niemals ein solches Theater aufgeführt.« »Ich fürchte, du hast dir den falschen Freund ausgesucht«, antwortete Rick und reichte ihr eine brennende Zigarette. »Mit solchen Überraschungen mußt du bei mir leider jederzeit rechnen. Kaffee gibt es auch keinen, der liegt in der Küche auf dem Boden.« »Ich mache neuen«, schlug Jenny vor und hatte das Wohnzimmer bereits verlassen, ehe Rick etwas dazu sagen konnte. Er hörte sie in der Küche die Scherben wegräumen. Rick entfernte den Deckel der Schachtel und musterte die tote Ratte. Auf den ersten Blick war nichts festzustellen, das einen Anhaltspunkt gegeben hätte. Erst als Rick die Schachtel hin und her drehte, fiel ihm ein wunderbares blaues Funkeln auf. Es war ein auf dem Boden des Behälters liegender Kristall, in dem sich das Licht der Deckenlampe brach. Der Privatdetektiv beugte sich weiter vor, um diesen Kristall genauer zu betrachten, doch in diesem Augenblick ging mit der toten Ratte eine schreckliche Veränderung vor sich. Rick Masters hielt den Atem an. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken, als striche eine eisige Hand sein Rückgrat entlang. Das spitze Maul der Ratte flachte ab, die Augen vergrößerten sich. Die Schnauze verschwand vollständig, das Fell fiel aus. Die nackte Haut wurde heller und heller, die Ohren zogen sich in den Kopf zurück. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich der Schädel der toten Ratte in einen menschlichen Kopf verwandelt, klein wie ein Schrumpfkopf, aber ganz deutlich zu erkennen. Rick Masters starrte auf sein eigenes Abbild. * 84 �
Noch während Rick Masters das tote Tier betrachtete, dessen Schädel sich so verwandelt hatte, daß er eine verkleinerte Kopie von Ricks Kopf geworden war, klingelte das Telefon. Mit einer mechanischen Bewegung langte Rick nach dem Hörer und meldete sich. Zuerst blieb es still, dann hörte der Privatdetektiv laute Atemzüge. Ein Verdacht setzte sich in ihm fest und wurde zur Gewißheit. »Sind Sie der edle Spender der Ratte?« fragte er halblaut, damit Jenny in der Küche nichts davon mitbekam. Er wollte sie im Moment nicht unbedingt noch mehr erschrecken. »Dann möchte ich Ihnen nur eines sagen! Es war eine zauberhafte Idee, mir das tote Nagetier vor die Wohnung zu legen, aber den tollsten Gag haben nicht Sie geschafft, das war ein anderer!« Absichtlich schlug Rick diesen Ton an, um den Anrufer aus der Reserve zu locken. Er wollte die Stimme hören, um sie vielleicht später wiedererkennen zu können. Es ging nach Wunsch, doch klappte es leider nicht so ganz. Der Anrufer fragte nur: »Wieso?« Wenigstens wußte Rick, daß es ein Mann war, sonst aber nichts. »Vielleicht wissen Sie selbst nichts davon«, sprach der Privatdetektiv weiter. »Jedenfalls ist der Kopf der Ratte verwandelt. Er sieht jetzt genau so aus wie mein – eigener schöner Charakterkopf. Sehr merkwürdig, nicht wahr?« Die Reaktion des anonymen Anrufers überzeugte ihn davon, daß der Mann von dieser Verwandlung keine Ahnung gehabt hatte. Mit einem erstaunten Ausruf legte er nämlich auf. Rick ließ den Hörer langsam wieder auf den Apparat gleiten und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wenn er sich nicht täuschte, dann hatte er soeben mit dem letzten Nachkommen 85 �
der Familie Gellatly gesprochen. Dieser Mann, der mehrere Giftmorde begangen hatte, wollte Rick durch die tote Ratte warnen und davon abhalten, seine Nachforschungen fortzusetzen. Er hatte jedoch nicht geahnt, wie sich die Ratte verändern würde. Also war ein anderer dafür verantwortlich, eine übernatürliche Macht. Der Phantommörder! Der Phantommörder selbst – oder besser: sein Geist – hatte Rick eine zusätzliche Warnung erteilt. Fröstelnd schaute der Privatdetektiv in die Schachtel. Die Ratte hatte wieder ihr ursprüngliches Aussehen angenommen und war fast vollständig zerfallen. Rasch deckte Rick das Papier über die Schachtel mit ihrem grausigen Inhalt. Dann griff er zum Telefon. * Irgendwann hat auch einmal ein Chefinspektor von Scotland Yard dienstfrei, weshalb Rick seinen Freund nicht im Gebäude der Kriminalpolizei erreichte. Hempshaw meldete sich in seiner Privatwohnung, hörte sich Ricks knappen Bericht an und stimmte seufzend zu, sich sofort um die Sache zu kümmern. Jenny kam aus der Küche zurück und brachte auf einem Tablett Kaffee und zwei Tassen. Rick stellte die Schachtel auf den Boden, damit ihr Anblick seine Freundin nicht noch nervöser machte. »Ich hole noch eine dritte Tasse«, sagte er. »Hempshaw kommt gleich und untersucht unser schönes Geschenk.« »Schon daran gedacht.« Jenny deutete auf die dritte Tasse, die sie auf dem Tablett aufgebaut hatte. »Ich vermutete, daß du den Chefinspektor anrufen wirst.« Schweigend tranken sie Kaffee. Ein Gespräch wollte nicht in 86 �
Gang kommen, und nach einer halben Stunde klingelte es. Hempshaw hatte telefonisch die Leute von der Spurensicherung in Ricks Wohnung bestellt und sich mit ihnen vor dem Haus getroffen. Wortlos machten sich die Männer an die Arbeit, nachdem Rick ihnen von dem blauen Kristall erzählt hatte. »Wir sind inzwischen der Spur des Sohnes von Miß Moorgate nachgegangen«, berichtete Chefinspektor Hempshaw, während seine Experten an der Arbeit waren. »Reden Sie schon!« drängte Rick ungeduldig, und auch Jenny Allen las Hempshaw die Worte von den Lippen ab. »Fehlanzeige«, brummte der Chefinspektor nur und erzeugte damit einen Doppelseufzer der Enttäuschung. »Es stimmt zwar, daß dieser Sohn 1940 gleich nach der Geburt adoptiert wurde, doch wir konnten keine Unterlagen mehr finden. Sie müssen irgendwie in dem Durcheinander der Kriegsjahre verschollen sein. Die Spur ist also ebenfalls im Sand verlaufen.« »Besteht überhaupt noch Hoffnung, den Namen dieses Mannes herauszufinden?« fragte Jenny zögernd. Chefinspektor Hempshaw schüttelte pessimistisch den Kopf. »Keine einzige«, sagte er brummig. »Es wäre schon ein außergewöhnlicher Zufall«, mußte auch Rick Masters zugeben. Die Spurenfachleute waren mit ihren Untersuchungen fertig. Sie hatten die tote Ratte geborgen und zeigten einen kleinen Glasbehälter vor, in dem ein blauer Kristall lag. »Soweit wir das jetzt schon feststellen können«, sagte einer von ihnen, »haben wir endlich das Gift gefunden, das uns in den letzten Tagen so viele Schwierigkeiten bereitet hat. Dieser blaue Kristall müßte reichen, um mindestens zehn Menschen das Gehirn zu zerfressen. Auch die Ratte wurde mit diesem Gift getötet.« 87 �
»Worauf warten Sie dann noch?« schrie Hempshaw und sprang trotz seines massigen Körpers blitzschnell hoch. »Los, ab ins Labor damit! Wäre doch gelacht, wenn unsere Chemiker nicht doch endlich hinter die Zusammensetzung dieses Giftes kämen!« Hempshaw blieb den ganzen Abend über bei Rick Masters und Jenny Allen, so daß die beiden mitbekamen, daß Hempshaws Optimismus verfrüht gewesen war. Niemand fand heraus, was dieser blaue Kristall wirklich war, obwohl alle wußten, daß sie das Gift des Phantommörders vor sich hatten. Der einzige, der dafür eine Erklärung hatte, war Rick Masters. Er hatte mit niemandem über die Verwandlung des Rattenschädels in ein Ebenbild seines eigenen Kopfes gesprochen, weil es dafür keinen Beweis mehr gab und sogar Hempshaw trotz seiner Erfahrung ihm nicht geglaubt hätte. Für Rick Masters jedoch stand einwandfrei fest, daß es sich bei dem kristallisierten Gift ebenso wie bei der Verwandlung der Ratte um ein übernatürliches Phänomen handelte, eine späte Rache des Phantommörders. * Es war nicht Ricks Art, sich irgendwelche Illusionen zu machen. Er mußte sich eingestehen, daß die Ermittlungen auf einem toten Punkt angelangt waren. Das einzige, das sich bisher ergeben hatte, war die Bestätigung von Ricks Theorie, der Phantommörder zwinge einen Urenkel seines damaligen Richter zu Giftmorden – sonst nichts. Ein mehr als mageres Ergebnis, dachte der Privatdetektiv, als er am nächsten Morgen aufstand. Jenny war bereits gegangen, um sich wieder in ihrem Kosme88 �
tiksalon zu zeigen, der ja doch besser lief, wenn sie persönlich anwesend war. Ein Anruf bei Scotland Yard erbrachte auch nichts Neues. Dort tappte man genauso im Dunklen wie Rick selbst. Hempshaw hatte zwar akzeptiert, daß der knapp nach seiner Geburt adoptierte Sohn von Miß Moorgate und Peter Gellatly höchstwahrscheinlich der Giftmörder war, aber auch das half nicht weiter. Jenny beschäftigt – die Ermittlungen zum Stillstand gekommen – das ergab für Rick einen angenehmen Schluß: Er machte blau! Vormittags ging er Schwimmen, nachmittags unternahm er einen Stadtbummel, und für den Abend plante er Kino – allein, da Jenny unbedingt zur Geburtstagsfeier einer Freundin mußte. Rick Masters hatte nur einen entscheidenden Fehler begangen. Er hatte vergessen, sein Funkgerät vollständig abzuschalten. Daher informierte ihn eine rote Signallampe auf der Fahrt zum Kino im Westend, wo er sich den neuesten Barbra-StreisandFilm ansehen wollte, daß er über Funk gewünscht wurde. Vergnügungssucht und Gewissen fochten einen schweren Kampf gegeneinander aus, dann gewann das Gewissen. Rick gab sich geschlagen und beantwortete den Anruf. »Natürlich Sie«, seufzte er, während er den Wagen in eine Parkbucht lenkte. »Was wollen Sie von einem armen Privatdetektiv, der endlich einmal einen freien Tag hat?« Hempshaw stutzte, dann lachte er dröhnend. »Ich möchte Sie für heute abend einladen, Rick!« rief er dann. »Es wird ein tolles Fest. Ich bin sicher, daß Sie sich nicht langweilen.« »Da ist doch ein Haken dabei«, erkundigte sich der Privatdetektiv mißtrauisch. »Natürlich, oder glauben Sie, daß ich Sie zum Vergnügen einlade?« Hempshaw räusperte sich, dann fuhr er in sachlichem, fast dienstlichem Ton fort: »Heute abend veranstaltet ein Mit89 �
glied unserer Regierung, ein Minister, eine Feier zu seinem Geburtstag. Namen tun über Funk nichts zur Sache. Die ganze Prominenz trifft sich.« »Ach ja«, nickte Rick, der begriffen hatte. »Und da Sie fürchten, daß einige kleine blaue Kristalle mit von der Partie sein könnten, möchten Sie, daß ich mitmische, stimmt's?« »Erraten!« Über Funk kam frenetischer Applaus einer einzigen Person. »Sehr richtig, Rick! Sie entwickeln mit der Zeit doch so etwas wie einen kriminalistischen Spürsinn.« »Vorläufig kann ich noch fein bleiben, Kenneth«, warnte Rick Masters, »aber wenn Sie so weitermachen, vergesse ich mich!« »Tun Sie das«, ermunterte ihn Hempshaw. »Aber vergessen Sie nicht, pünktlich um acht Uhr zur Stelle zu sein. Kommen Sie in den Yard, wir gehen gemeinsam hin.« »Einverstanden«, beendete Rick das Gespräch und ließ sich über Funk mit Jenny Allen verbinden. Einerseits wollte er seiner Freundin ein Fest im höchsten Rahmen bieten, und andererseits hatte er das dumpfe Gefühl, daß er sie brauchen würde. Zwei Augenpaare sahen schließlich mehr als eines. * Das Fest fand im Hause eines Freundes des Ministers statt. Rick Masters informierte sich vorher im Yard über die Einzelheiten, wobei Jenny Allen schweigend zuhörte. Nur ihre wachsam funkelnden Augen verrieten, daß sie voll bei der Sache war und sich kein Wort entgehen ließ. »Das Haus hat einen nicht sehr großen Garten«, setzte der Chefinspektor auseinander. »Dadurch wird die Überwachung des Gebäudes gesichert. Den äußeren Kordon ziehen wir mit unseren Leuten vom Yard. Drinnen im Haus sind die Burschen vom Secret Service am Werk.« 90 �
»Das waren sie auch bei Kynaston und dem ausländischen Diplomaten, und doch starben die beiden«, warf Rick ein. »Zugegeben«, nickte Hempshaw, »aber dafür kann man dem Secret Service wirklich keinen Vorwurf machen.« »Haben wir die Listen des Hauspersonals und des Mietpersonals?« wechselte Rick das Thema. »Auch eine genaue Aufstellung aller Gäste«, nickte Hempshaw. »Es kommt niemand ins Haus hinein, den wir nicht kennen.« »Dann dürfte diesmal nichts passieren«, sagte Rick, doch es klang nicht sehr überzeugend. Er war nicht sicher, daß der Abend harmlos verlaufen würde. Sie fuhren getrennt, Jenny und Rick im Morgan des Privatdetektivs, während sich Hempshaw seinen Leuten anschloß. »Bin ich früh, daß du mich von dieser langweiligen Feier erlöst hast, zu der ich ursprünglich gehen wollte«, lächelte Jenny fröhlich. »Es wird bestimmt ein aufregender Abend!« »Hoffentlich nicht zu aufregend«, gab Rick weniger begeistert zurück. »Es wird schon schiefgehen!« Jenny Allen ließ sich die gute Laune nicht verderben. Für sie war es einfach ein großartiges Erlebnis, und sie sah in ihrem weißen Kleid mit den altmodischen Puffärmeln bezaubernd aus. Mehr als einmal nahm Rick den Blick von der Straße, wenn sie vor einer Kreuzung warten mußten, um Jennys Gestalt unter dem dünnen Stoff zu betrachten, bis sie ihn mit einem scherzhaften Drohen zur Ordnung rief. Federnd sprang sie aus dem Wagen, als sie vor der mächtigen alten Villa hielten. Hochaufgerichtet wie ein Königin schritt sie die Treppe hinauf. Hempshaw hatte alles arrangiert, so daß Rick und Jenny anstandslos passieren konnten. 91 �
Im Garten wimmelte es von Yardleuten, im Haus trieben sich fast mehr Angehörige des Secret Service als Gäste herum. Zu seinem Mißvergnügen entdeckte Rick auch Red, seinen Verbindungsmann zum Geheimdienst. »Na, Masters«, fragte Red gönnerhaft, nachdem er den Privatdetektiv sofort am Eingang abgefangen hatte, »wollen wir unseren Streit nicht begraben?« »Ich möchte am liebsten Sie begraben«, fauchte Rick zurück und ließ ihn stehen. Jenny unterdrückte mit Mühe ein lautes Auflachen, hängte sich bei Rick ein und folgte ihm durch die Räumlichkeiten. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Zuerst hatte sie vermutet, Rick werde sich mit ihr in eine Ecke zurückziehen und von dort aus das Treiben beobachten, doch zu ihrer Überraschung kannte er zahlreiche der hier anwesenden Gäste. »Von meinen früheren Aufträgen«, erklärte er ihr und zog sie mit sich. »Komm, wir gratulieren dem Minister.« Jenny schnappte nach Luft, doch sie fand sich rasch in die neue Rolle hinein. Rick machte sie mit dem Minister bekannt, dem sie charmant gratulierte. »Trinken wir ein Glas Champagner auf diese reizende neue Bekanntschaft«, schlug der Minister gutgelaunt vor und nahm zwei Gläser von dem Tablett eines vorbeieilenden Dieners. Eines davon reichte er Jenny Allen. Rick bediente sich selbst. »Spannen Sie mir meine Freundin nicht aus!« warnte Rick grinsend. »Ich kann sehr eifersüchtig sein.« »Und ich bin ein freier Mensch und kann tun, was ich will«, fiel Jenny Rasch ein. »Und ich will, daß dieser Champagner nicht warm wird!« Sie hoben die Gläser, führten sie an den Mund – und im nächs92 �
ten Augenblick schlug Jenny mit voller Wucht dem Minister das Glas aus der Hand. * Er hatte alles wie in einem Traum erlebt, ohne richtig wahrzunehmen, was mit ihm geschah oder was er tat. Von dem Fest hatte er erst an diesem Morgen erfahren und auch davon, daß er daran teilnehmen sollte. Selbstverständlich hatte er nicht abgesagt, weil er sich sonst möglicherweise verdächtig gemacht hätte. Zwar hatte ihn ein sonderbares Gefühl beschlichen, als er hörte, wer alles kommen würde, doch dadurch wurde sein Entschluß auch nicht mehr geändert. Er würde zu dem Fest gehen. Während er zu der Villa gefahren war, hatte er sich überlegt, wie er den Tag verbracht hatte. Die Erinnerung fehlte. Im Haus herrschte viel Betrieb, Menschen sprachen mit ihm, zeigten ihm etwas. Er nickte zu allem und bemühte sich, unauffällig zu wirken. Es gelang Clandon auch, kein Aufsehen zu erregen, und er selbst wollte schon erleichtert aufatmen, als er plötzlich die bereits bekannten Anzeichen verspürte. Als er sich durch seine Willenskraft dagegen wehren wollte, war es bereits zu spät. Die fremde Macht, der Geist des Phantommörders, hatte Besitz von ihm ergriffen. Das Letzte, das er bewußt wahrnahm, war die Berührung seiner Finger mit einem kühlen, glatten Gegenstand in seiner Rocktasche. Seine Hand schloß sich um die Phiole mit den tödlichen blauen Kristallen. Dann übernahm der Phantommörder die Kontrolle über seinen Körper und seinen Geist. Er schreckte erst wieder aus seiner Betäubung auf, als ein helles Klirren die Gespräche im Raum verstummen ließ. 93 �
Jenny Allen hatte soeben dem Minister das Sektglas aus der Hand geschlagen. Da wußte Clandon, was geschehen war. Und er sah sich verloren! * Das Lächeln auf dem Gesicht des Ministers gefror, es wurde zur Grimasse. Er war so überrumpelt, daß er wie eine Puppe die Hand noch immer so hielt, als wolle er aus einem Glas trinken. Seine Augen schienen durch Jenny hindurchzusehen. Bei dem Klirren des Glases waren alle Gespräche in dem großen Salon, in dem sich die meisten Leute aufhielten, verstummt. Die kleine Gruppe um den Minister stand plötzlich im Mittelpunkt. Rick Masters registrierte eine Menge von Eindrücken gleichzeitig und verarbeitete sie rasend schnell. »Blauer Kristall am Glasrand!« zischte ihm Jenny zu, kaum daß der Sektkelch auf dem Boden zersprungen war. Der Minister bewegte sich nicht, auch die anderen Gäste standen starr. Im Moment herrschte also nicht die Gefahr, daß Spuren verwischt wurden. Die Geheimdienstmänner wollten sich auf den Minister stürzen, um ihn abzuschirmen, doch Rick hielt sie mit einer scharfen Gebärde zurück. Da sie ihn und seine Rolle in diesem Fall kannten, befolgten sie seine Anweisung, vorläufig nicht einzugreifen. Rick war sich dessen bewußt, daß er ein großes Risiko einging. Er mußte sich ganz auf Jenny verlassen und darauf, daß sie richtig beobachtet hatte. Wenn er nämlich jetzt handelte, und es stellte sich hinterher heraus, daß der Champagner des Ministers nicht vergiftet war, kam er in Teufels Küche und konnte sich in Australien als Tellerwäscher bewerben. 94 �
Dennoch zögerte Rick keine Sekunde lang. Seine Hand tauchte in die Innentasche seines Abendanzuges und kam mit einer Trillerpfeife wieder zum Vorschein. Drei scharfe Pfiffe gellten durch das Haus und den Garten. Damit hatte Rick Masters das mit allen zur Absicherung eingesetzten Personen verabredete Zeichen gegeben. Die Falle klappte zu. Von jetzt an konnte ausnahmslos niemand mehr das Grundstück verlassen, ehe die Sperre nicht wieder aufgehoben wurde. Höchstwahrscheinlich befand sich der Giftmörder noch im Haus oder im Garten und saß fest. Diesmal mußte es klappen. Chefinspektor Hempshaw tauchte im großen Salon auf, blickte sich rasch um und atmete erleichtert auf. »Nichts passiert?« rief er. »Ich dachte schon…« Er brach ab. Rick wußte, daß Hempshaw befürchtet hatte, ein Leiche vorfinden. »Champagner und Glas untersuchen lassen«, sagte der Privatdetektiv ungewöhnlich kurz angebunden. Hempshaw brauchte seine Leute gar nicht erst zu rufen, sie waren ihm auf dem Fuß gefolgt. Dr. Sterling und ein Chemiker des Yard kümmerten sich um die verschüttete Flüssigkeit, ohne die Glasscherben zu berühren. Die mußten später auf Fingerabdrücke untersucht werden. »Bleiben Sie stehen!« verlangte Rick Masters von dem Minister, der sich entfernen wollte. »Und Sie alle bitte ich, auf Ihren Plätzen zu bleiben, nur ein paar Minuten lang!« Das galt den Gästen, die sich zögernd fügten. »Wollen Sie nicht endlich erklären…«, setzte der Minister an. »Wir vermuten, daß ein Giftanschlag verübt wurde«, sagte Rick Masters. Er schaute zu Jenny und sah, daß sie sehr bleich war und auf ihre Lippe biß. Offenbar hatte sie Angst, sich doch 95 �
getäuscht zu haben. Diese Angst hatte Rick auch, nur zeigte er es nicht. Der Minister verfärbte sich. Natürlich hatte auch er von den Anschlägen gehört, die in den letzten Tagen stattgefunden hatten und denen drei Menschen zum Opfer gefallen waren. Im Garten entstand Lärm, Schreie hallten ins Haus herein, dann die Geräusche eines kurzen Kampfes. Hempshaw lief nach draußen, während Rick hierblieb, obwohl es ihm schwerfiel. Aber er wollte den unmittelbaren Tatort nicht unbeaufsichtigt lassen. Zwei Minuten später kehrte Hempshaw zurück. Zwei seiner Männer schleppten einen sich sträubenden Mann in einer weißen Jacke zwischen sich. »Ach nein!« entfuhr es dem erstaunten Rick Masters. Auf den ersten Blick erkannte er den Kellner, von dessen Tablett der Minister die beiden Sektkelche genommen hatte. . »Er wollte fliehen«, berichtete Hempshaw. »Ich glaube, wir hatten Erfolg.« »Befund positiv«, meldete in diesem Moment der Chemiker des Yards. »Hier ist der blaue Kristall«, sagte Dr. Sterling und zeigte den tödlichen Giftstein in einer Glasschale. »Also doch!« seufzte Rick Masters erleichtert auf, weil er keinen falschen Alarm gegeben hatte. »Jenny, das war großartig!« Anstatt über das Lob zu erröten, wurde Jenny Allen bleich und tastete nach einem Halt. Der Minister selbst übernahm es, sie zu stützen. »Ich werde Ihnen ewig dankbar sein, daß Sie mir das Leben…«, sagte er zu Jenny, während er sie zu einem Sessel führte. Rick hörte nicht weiter hin. Er konnte sich vorstellen, was jetzt in dem Minister vor sich ging. Schließlich war er nur um Haaresbreite 96 �
dem Tod entkommen. »Meine Damen und Herren!« wandte sich Rick Masters mit schallender Stimme an alle Gäste, die sich nach und nach im großen Salon versammelt hatten. »Bitte, haben Sie Verständnis, aber wir müssen jeden einzelnen von Ihnen überprüfen und einer genauen Durchsuchung unterziehen! Es kann absolut keine Ausnahme geben!« »Sind Sie wahnsinnig!« zischte ihm Hempshaw zu. »Das kostet mich den Kopf! Wenn sich einer von denen beschwert, bin ich meinen Posten los!« Doch er bekam unerwartete Hilfe. Als die Gäste zu murren begannen und sich über die unverschämte Behandlung beschweren wollten, trat der Minister vor und erklärte laut: »Ich selbst stelle mich freiwillig der Polizeimaßnahme, die ich für richtig halte! Bitte, schließen Sie sich meinem Beispiel an, meine Freunde!« Das gab den Ausschlag. Alle waren einverstanden. Damit begann der Kampf gegen den Phantommörder, dessen Geist einem im Haus befindlichen Menschen versklavt hatte. * Ich hätte diesen Masters doch umbringen sollen, dachte Clandon verzweifelt. Hätte ich doch ihm anstelle der Ratte das Gift gegeben, dann wäre das hier nicht passiert! In seiner Panik dachte er nicht daran, daß zwar Rick Masters die Befehle zur Durchsuchung aller Anwesenden ausgesprochen hatte, daß dies aber erst durch die Zusammenarbeit von Scotland Yard und Secret Service möglich geworden war. Allein war Masters ziemlich hilflos, wenigstens so vielen und prominenten Persönlichkeiten gegenüber. Jetzt war es jedenfalls zu spät, den einmal begangenen Fehler 97 �
zu korrigieren. Wenn er hier und in dieser Stunde Rick Masters tötete, war er verloren. Wenn er ihn nicht tötete und nichts unternahm, war er ebenfalls verloren. Clandon zermarterte sich den Kopf, wie er die drohende Gefahr abwenden könne. Bei einer Leibesvisitation mußten sie auf die Glasphiole in seiner Tasche stoßen, die noch weitere von diesen teuflischen blauen Kristallen enthielt. Also mußte er sich so rasch wie möglich von dem belastenden Beweisstück trennen. Das war aber leichter gesagt als getan. Er durfte sich nicht auffällig im Haus bewegen, und es gab keinen Raum, in dem nicht irgend jemand war, entweder Angehörige von Scotland Yard und Secret Service, Gäste oder Hauspersonal. Doch, in einem Raum war niemand! Clandon schöpfte neuen Mut. Wie er glaubte, entfernte er sich unbemerkt aus dem großen Salon und suchte die Toilette auf. Daß ihn ein Augenpaar verfolgte, ahnte er nicht. Kaum hatte er die Tür hinter sich verriegelt, als er auch schon hastig die Phiole hervorzerrte. Um seine Fingerabdrücke zu verwischen, polierte er das Glas mit seinem Taschentuch. Danach griff er den Behälter nicht mehr mit bloßen Händen an. Er öffnete die Phiole und leerte die Kristalle in die Toilette. Dann warf er das Glasröhrchen hinterher. Er steckte das Taschentuch wieder ein, nachdem er sich den Schweiß von der Stirn abgetrocknet hatte, und verließ den Raum. In seiner Aufregung und panikartigen Stimmung beging er jedoch einen Hauptfehler, der ihm niemals hätte unterlaufen dürfen. Er vergaß, die Spülung zu ziehen! Fast hatte er den großen Salon erreicht, als ihm seine Unterlassungssünde einfiel. Erschrocken fuhr er herum und wollte zurücklaufen, doch es war bereits zu spät. Einer der Polizisten von Scotland Yard – auch Polizisten sind nur Menschen – betrat die Toilette. Im nächsten Augenblick 98 �
gellte der Ruf nach Chefinspektor Hempshaw durch das Haus. Wieder hing ein Augenpaar an Clandon, ohne daß er es sah. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Chefinspektor, der sich zu seinem Untergebenen in die Toilette drängte und nun seinerseits nach Rick Masters rief. Clandon verlor plötzlich die Nerven. Er warf sich herum und wollte fliehen. Dabei kam er dicht an dem Kellner vorbei, der den vergifteten Champagner serviert hatte und von einem Polizisten bewacht wurde. Die beiden Männer waren mit Handschellen aneinandergekettet. Dieser Kellner war es, der Clandon die ganze Zeit über beobachtet hatte. Zuerst hatte er es nur getan, um sich von seiner mißlichen Lage abzulenken, dann war Mißtrauen dazugekommen. Und durch den Fluchtversuch des Mannes war er ganz sicher, den Täter vor sich zu haben. Der Kellner wußte nicht, was in der Toilette geschehen war, daß die Polizei so großes Interesse zeigte, doch das kümmerte ihn auch nicht. Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf Clandon und schrie: »Der war in der Toilette! Haltet ihn fest!« Der Mörder rannte los! * Rick Masters schaute über Chefinspektor Hempshaws Schulter. Offenbar hatte sich der Mörder, als die Rede von Leibesvisitation gewesen war, von dem verräterischen Gift getrennt. Deutlich waren die blauen Kristalle und unter Wasser die Phiole zu erkennen, in welcher das Gift aufbewahrt gewesen war. Der Mörder hatte vergessen, die Spülung zu ziehen. Noch ehe sich Rick über die Bedeutung des Fundes klar wurde, hörte er hinter sich einen lauten Aufschrei. 99 �
»Er war in der Toilette! Haltet ihn fest!« Rick Masters wirbelte herum. Der Kellner, der vor wenigen Minuten bei einem Fluchtversuch festgenommen worden war, wollte sich von seinem Bewacher losreißen und einem Mann folgen, der den Flur entlangrannte. Der Privatdetektiv sah von dem Mann nur den Rücken. Der Fliehende drehte sich nicht um. Besondere Kennzeichen waren nicht zu entdecken. Rick überlegte nicht lange. Er rannte hinter dem Mann her, konnte ihn aber nicht einholen, weil in diesem Moment der Kellner und sein Bewacher, durch Handschellen aneinander gefesselt, das Gleichgewicht verloren und quer über den Flur torkelten. Rick prallte gegen die beiden, kämpfte einige Sekunden darum, wieder freizukommen, dann setzte er die Jagd fort. Inzwischen hatte der Mann die Treppe erreicht, die in die oberen Stockwerke führte. Dort oben stand kein Polizist, ein Fehler, der Rick erst jetzt einfiel. Chefinspektor Hempshaw pfiff Alarm. Innerhalb von weniger als einer Minute würden auch die oberen Stockwerke von Scotland Yard-Leuten und Geheimdienstagenten wimmeln. So lange wollte und konnte Rick Masters jedoch nicht warten. Er war dem Fliehenden wieder näher gekommen, holte ihn aber nicht ein. Der Unbekannte drehte sich noch immer nicht um, sondern hetzte auf eine Tür zu, riß sie auf, schlug sie hinter sich zu und versperrte sie von innen. Rick warf sich in vollem Lauf gegen die Tür, die unter seinem Anprall nicht einmal ächzte. Sie war außergewöhnlich stabil und massiv, so daß Rick sich stöhnend die Schulter hielt. »Kenneth!« brüllte der Privatdetektiv nach unten. »Er hat sich eingeschlossen!« 100 �
Gemeinsam mit drei kräftigen Polizisten kam der Hausherr in den ersten Stock gelaufen. Er winkte schon von weitem. »Ist er da drinnen?« rief er und deutete auf die Tür. Und als Rick nickte, atmete er auf und entspannte sich. »Dann ist alles vorüber«, sagte er erleichtert. »Das ist eine Abstellkammer ohne zweiten Ausgang und ohne Fenster. Er kann nicht mehr entkommen.« * Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw schauten einander an. Auch auf ihren Gesichtern zeigte sich die Erleichterung darüber, daß sich der Mörder freiwillig in einer Falle gefangen hatte, von deren Existenz sie gar keine Ahnung gehabt hatten. »Wir dürfen die Tür aufbrechen?« versicherte sich der Chefinspektor, obwohl sie das auf jeden Fall getan hatten. »Aber selbstverständlich«, versicherte der Hausherr. »Ich lasse Ihnen ein Brecheisen bringen!« Er beauftragte einen seiner Hausangestellten, das verlangte Werkzeug zu holen. Zwei Minuten später konnten es zwei Polizisten ansetzen, nachdem der Eingeschlossene auf ihre Rufe nicht geantwortet hatte. Es knackte und krachte, dann flog die Tür auf. Dunkelheit herrschte in dem dahinterliegenden Raum. Rick Masters knipste das Licht an. Eine Lampe an der Decke flammte auf. Der Raum enthielt keine Möbel, nichts. Er hatte auch keinen anderen Ausgang und auch kein Fenster. Dennoch war der Mörder spurlos verschwunden! Keiner der Männer, die einen Blick in den leeren Raum warfen, blieb die Überraschung, gepaart mit Erschrecken, erspart. Nur 101 �
war sie bei Rick Masters am schwächsten. Er, der von Anfang an immer wieder vermutet hatte, daß übernatürliche Kräfte im Spiel waren, stand vor einem Phänomen, das er sich dank seiner besonderen Kenntnisse auf diesem Gebiet sehr gut erklären konnte. Anders hingegen die Kriminalisten von Scotland Yard und die Angehörigen des Secret Service, allen voran der Hausherr selbst. Es überstieg ihren Verstand, daß ein Mann in einen Raum lief, aus dem es keinen Ausgang gab, und der dennoch nicht mehr zu sehen war. Besonders verblüffte Rick Masters der Gesichtsausdruck Jennys. Ihre grünen Augen funkelten triumphierend, und um ihren weichen Mund lag ein spöttisches Lächeln. Es sah aus, als wolle sie jeden Moment in lautes Lachen ausbrechen, was sich Rick angesichts der gespannten und gefährlichen Lage nicht erklären konnte. Sie begegnete seinem Blick und mußte tatsächlich die Hand vor den Mund legen. Mit den Augen gab sie Rick einen Wink. Der Privatdetektiv schaute in die angegebene Richtung, und jetzt fiel es auch ihm schwer, ernst zu bleiben. Chefinspektor Hempshaw, der alte Skeptiker übernatürlichen Dingen gegenüber, stand neben der Tür wie ein Schaf auf einer Weide mit blauem Gras – er verstand die Welt nicht mehr. Um nicht in Versuchung zu geraten, gemeinsam mit Jenny loszulachen, sagte Rick mit lauter Stimme: »Kenneth! Wir haben doch Listen von allen Leuten, die sich innerhalb des Absperrungsgürtels der Polizei aufhielten!« Der Chefinspektor zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, fuhr zu Rick herum und versuchte sich zu konzentrieren. Endlich nickte er bedächtig. Damit ließ er die beiden stehen. »Lassen Sie feststellen«, fuhr Rick fort, »ob noch alle da sind oder ob jemand fehlt.« 102 �
Hempshaw verstand sofort, was der Privatdetektiv klären wollte. Wenn einer der auf den Listen Verzeichneten fehlte, so war das derjenige, der auf so rätselhafte Weise verschwunden war. Während Hempshaws Leute mit der Überprüfung begannen, zog Rick den Chefinspektor in eine stille Ecke, in der sie niemand belauschen konnte. »Na, Kenneth?« fragte der Privatdetektiv nicht ohne Schadenfreude, bei der ihm Jenny half. Sie stand daneben und strahlte Hempshaw an. »Was halten Sie jetzt von der Sache? Lehnen Sie meine Theorie, daß unser Giftmörder mit dem Geist des Phantommörders zusammenarbeitet oder sogar von ihm beherrscht wird, noch immer als blanken Unsinn ab?« Chefinspektor Hempshaw blitzte ihn wütend aus schmalen Augen an, dann schüttelte er seinen kantigen Schädel und brummte: »Gehen Sie doch zum Teufel, Rick, und nehmen Sie Ihre blonde Hexe mit!« Damit ließ er die beiden stehen. »Armer Kenneth«, amüsierte sich Rick. »Seine Polizeimethoden versagen wieder einmal, aber er würde sich lieber die Zunge abbeißen als einzugestehen, daß tatsächlich etwas Übersinnliches geschehen ist.« »Warum wollte eigentlich dieser Kellner fliehen?« lenkte Jenny seine Aufmerksamkeit wieder auf irdischere Probleme. »Das können wir gleich feststellen«, meinte der Privatdetektiv und führte seine Freundin zu dem Kellner, der noch immer mit Handschellen an seinem Bewacher von Scotland Yard hing. Er stellte dem Mann die gleiche Frage, die Jenny vorhin ausgesprochen hatte. »Na, das ist doch sonnenklar«, meinte der Kellner, obwohl Rick nichts klar war. »Sehen Sie, Mister, unter uns Dienstleuten spre103 �
chen sich besondere Vorfälle sehr schnell herum. Ich wußte daher ganz genau, daß schon einige hohe Tiere vergiftet wurden. Als das vorhin mit dem Glas passierte, aus dem der Minister trinken wollte, da war mir klar, was die Uhr geschlagen hatte. Da mußte wieder etwas vergiftet worden sein, warum sonst hätte die junge Dame dem Minister das Glas aus der Hand schlagen sollen?« »Bisher klingt es logisch«, nickte Jenny. »Aber warum die Flucht? Was hatten Sie mit der Sache zu tun?«. »Miß, der Minister nahm sein Glas von meinem Tablett.« Der Kellner hob die Schultern, daß die Kette der Handschellen rasselte. »Also wäre der Verdacht doch in erster Linie auf mich gefallen. Nach meiner Flucht natürlich noch mehr, aber daran dachte ich im Augenblick nicht. Ich wollte nur einfach weg! War Unsinn, gebe ich zu, aber nun ist es eben geschehen.« Rick Masters und Jenny Allen schauten einander an, dann nickten sie. »Wir glauben Ihnen«, sagte Rick. »Trotzdem müssen Sie mit nach Scotland Yard. Ich bin überzeugt, daß Ihnen nichts geschehen wird.« »Unkraut verdirbt nicht«, grinste ihn der Mann an und nahm dankend eine Zigarette entgegen. Der Bewacher des Kellners hatte nichts dagegen einzuwenden. Chefinspektor Kenneth Hempshaw kam auf die beiden zu. Schon von weitem sahen sie, daß sich sein Gesicht in keiner Weise aufgehellt hatte. »Es sind noch immer alle da«, meldete er wütend. »Wir haben wieder nichts erreicht.« Rick Masters schluckte einen Fluch. Jenny ließ ihren Blick über die Anwesenden gleiten. »Unter allen diesen Leuten«, sagte sie leise, »befindet sich ein Mörder. Und wir ahnen nicht einmal, wer es ist.« »Ich glaube, wir werden es früher herausfinden, als es ihm lieb sein wird«, entgegnete Rick Masters. Nach dieser ebenso düste104 �
ren wie unverständlichen Prophezeiung verließ er mit Jenny das Haus, in dem es beinahe zur Katastrophe gekommen wäre. * Der Mörder sah in Rick Masters bereits die größte Bedrohung seiner Sicherheit, doch hätte er gewußt, daß der Privatdetektiv auch die Verbindung zu der unbekannten Macht, zu dem Geist aufgespürt hatte, wäre er vermutlich in Panik geraten. Clandon verdankte es ohnedies nur seiner eisernen Selbstbeherrschung, daß er sich noch einmal mit heiler Haut aus dieser gefährlichen Situation hatte retten können. Um ein Haar wäre es schiefgegangen. Wie hatte er aber auch ahnen können, daß er in seinem Trancezustand den Giftkristall nicht richtig in das Glas hatte fallen lassen, so daß er am Rand klebte? Und diese Jenny Allen mit ihren scharfen Augen hatte das blaue Funkeln entdeckt! Clandon zitterte jetzt noch, wenn er an den fürchterlichen Fehler dachte, den er in der Toilette begangen hatte. Und seine nachfolgende Flucht wäre zu einer Katastrophe geworden, hätte nicht wieder diese Macht aus dem Jenseits eingegriffen, die ihn auch zu den Morden gezwungen hatte. Der Phantommörder war daran interessiert, sein Medium zu erhalten, durch das er weiterhin morden konnte. Nur deshalb – und darüber war sich Clandon restlos im Klaren – hatte er sein Medium aus jener Falle herausgeholt. Clandon hatte keine Ahnung, was wirklich mit ihm geschehen war. Er wußte nur, daß er mit Entsetzen die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannt hatte, sobald er sah, daß es keinen Ausgang aus diesem Abstellraum gab als die Tür, die bereits von der Polizei berannt wurde. Plötzlich hatte er ein seltsames Ziehen gefühlt, alles um ihn 105 �
herum war verschwommen – und im nächsten Moment war er in einem Korridor des Erdgeschosses wieder zu sich gekommen. Niemand war in seiner Nähe, so daß sich auch niemand über sein unerwartetes Auftauchen wundern konnte. Kein Verdacht, der auf ihn fiel! Er war gerettet, da er bei der Überprüfung der Anwesenheitsliste nicht fehlte. Dennoch… Clandon durfte nicht länger zusehen, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zog. Er mußte die Personen ausschalten, die ihm am gefährlichsten waren. Diesmal stand sein Entschluß eisern fest. Es war entschieden. Rick Masters und Jenny Allen mußten sterben. Noch bevor die beiden das Haus verließen, entfernte sich der Giftmörder. * »Für heute langt es mir«, stöhnte Jenny Allen, als sie durch die von Rick aufgehaltene Tür in seine Wohnung stolperte. »Ich träume nur mehr von einem schönen weichen Bett.« »Ich auch«, bemerkte Rick mit Unschuldsmiene. »Lüstling!« Jenny ließ sich in einen der Sessel fallen und schickte Rick einen schmelzenden, flehenden Blick zu. »Darling, ein Kaffee wäre jetzt genau das richtige für mich!« »Dann kannst du wieder stundenlang nicht schlafen«, gab Rick zu bedenken. »Wer sagt, daß ich schlafen will?« Diesmal schickte Jenny einen verheißungsvollen Blick aus ihren grünen Augen auf den jungen Privatdetektiv, daß Rick eine mittlere Hitzewelle überlief. »Ich mache den Kaffee doppelt stark«, versprach er und verschwand in der Küche. 106 �
Jenny streckte sich mittlerweile bequem über den Sessel, rutschte so tief hinein, daß sie den Kopf auf die eine Seitenlehne legen konnte, und ließ die Beine über die zweite Seitenlehne hängen. In der Küche klapperten Tassen, surrte das Wasser in der Kaffeemaschine, verlieh Ricks Nähe der jungen Frau ein Gefühl der Sicherheit. Flüchtig dachte sie an das Erlebnis mit der toten Ratte und an die Vorfälle auf der mißglückten Geburtstagsfeier des Ministers. Mit einer unwilligen Handbewegung schien Jenny diese unangenehmen Gedanken verscheuchen zu wollen, doch ganz gelang es ihr nicht. Ein leichtes Frösteln befiel sie. »Rick, brauchst du noch lange?« rief sie und bemühte sich, ein Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Gleich fertig!« kam die Antwort. Bald darauf erschien Rick Masters mit einem Tablett. In seinen Augen stand ein begehrliches Funkeln, als er den schlanken Mädchenkörper sah, der wie hingegossen quer über dem Sessel lag. Das Kleid straffte sich über Jennys Brust, betonte ihren flachen Bauch, schmiegte sich zwischen ihre Schenkel und… Im nächsten Augenblick lag Rick auf dem Boden. Jenny konnte sich nicht helfen, sie schrie fast vor Lachen. »Das… das kommt davon!« keuchte sie atemlos und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Du solltest…« Sie brach ab. Als Rick sie allzu genau betrachtet hatte, war er über die Teppichkante gestolpert und der Länge nach hingefallen. Das Tablett flog durch die Luft, Kaffeekanne, Zuckerdose und Tassen, alles landete auf dem dichten Teppich. Ein gefährliches Zischen wie von einer Giftschlange übertönte sogar Jennys Lachen. Als sie erschrocken verstummte, stand das Zischen tödlich laut 107 �
im Raum. Rick richtete sich auf. Sein Blick hing ebenso wie Jennys Augen entsetzt an dem riesigen Kaffeefleck im Teppich. Wo die Flüssigkeit von dem flauschigen Läufer aufgesogen worden war, bildeten sich Blasen, verdichteten sich zu Schaum und zerplatzten knallend. Innerhalb weniger Sekunden war in den Teppich ein riesiges Loch gefressen – von dem Kaffee, den sie beide hatten trinken wollen! * Wie ein Traumwandler erhob sich Rick Masters vom Boden und setzte sich zu Jenny auf die Kante des Sessels. »Es lebe der Sex!« stieß er keuchend hervor. Jenny starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Was soll der Blödsinn?« schnappte sie gereizt. Ihre Nerven waren am Zerreißen. »Hätte mich dein Anblick nicht so fasziniert, wäre ich nicht über den Teppich gestolpert und hätte den köstlichen Kaffee nicht auf meinen fast neuen Teppich gekippt.« Er schaute Jenny voll in ihre grünen, vor Angst dunkel schimmernden Augen. »Und wir beide, mein kleiner Liebling, hätten jetzt einige Lot Gift im Magen.« »Vielleicht sollten wir in Zukunft doch besser nur noch Cola aus versiegelten Flaschen trinken«, versuchte Jenny, auf seinen gekünstelt schnodderigen Ton einzugehen, doch es gelang ihr nicht. Plötzlich wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Die Anspannung der letzten Tage brach sich Bahn. Rick ließ sich tiefer in den Sessel gleiten und nahm seine Freundin schützend in die Arme. Jenny verkrampfte sich, preßte sich aber nach einiger Zeit an ihn. Nach ein paar Minuten wurde sie 108 �
endlich ruhiger. Sie weinte nur mehr leise vor sich hin. »Ist meine Schuld«, murmelte Rick. »Ich hätte früher daran denken müssen, und dich ganz aus meinem privaten Lebenskreis heraushalten sollen.« Jenny hatte sich soweit gefaßt, daß sie sich aufsetzte und energisch erwiderte: »Dein Privatleben gehört zu dir, und wenn ich dich akzeptiere, muß ich mich auch mit deinem Privatleben und der damit verbundenen Gefahr abfinden.« »Tapfer gedacht, Kleines«, sagte Rick mit einem schwachen Lächeln und deutete auf das große Loch im Teppich. »Aber deine Haltung würde dir nichts nützen, wenn du jetzt dieses Zeug im Magen hättest. Ich möchte nur wissen…« Er brach ab und schien alles um sich herum zu vergessen. »Ist doch klar.« Jenny putzte sich die Nase, dann sprach sie deutlich und mit fester Stimme weiter. »Der Mörder war sicher, daß du ihm gefährlich wirst. Und mich wollte er beseitigen, weil ich das Gift im Glas des Ministers entdeckte. Er wartete ab, bis die Liste aller Anwesenden überprüft war, dann verließ er das Haus, fuhr hierher und präparierte… ja, was eigentlich?« Rick verstand sofort, was sie meinte. »Entweder den Kaffee oder das Wasser in der Kaffeemaschine«, schloß er. »Das werden wir bald wissen. Schließlich möchte ich noch irgendwann in meinem Leben Kaffee trinken, ohne daß es mein letzter wird.« Er zog sich das Telefon heran und wählte Scotland Yards Nummer. Chefinspektor Hempshaw, so wurde dem Privatdetektiv von der Zentrale des Yards mitgeteilt, war soeben mit dem Verhör des Kellners beschäftigt, der diesen verdachterregenden Fluchtversuch unternommen hatte. »Ich habe den strengen Auftrag«, meinte die Telefonistin bedauernd, »den Chefinspektor unter keinen Umständen zu stören. Tut mir leid, Mr. Masters, ich kann nicht…« 109 �
»Doch, Darling, Sie können«, erwiderte Rick energisch. »Sie brauchen nur die Nummer seines Apparates zu wählen und durchzustellen. Das Donnerwetter brauchen Sie sich gar nicht mehr anzuhören, das nehme ich schon auf mich.« Rick war im Yard gut bekannt, so daß auch die Telefonistin wußte, daß er nicht ohne Grund darauf bestand, weiterverbunden zu werden. Seufzend fügte sie sich in ihr Schicksal, es klickte mehrmals in der Leitung, dann drang ein unartikuliertes Brüllen aus dem Hörer. »Falsche Verbindung«, sagte Rick grinsend zu Jenny, daß Hempshaw es ebenfalls hören konnte. »Ich bin an einen Sumpfbüffel in der Brunftzeit gelangt.« »Was soll das, Rick?« fauchte Hempshaw, der die Stimme des Privatdetektivs erkannt hatte. »Warum stören Sie mich?« »Sie sollen meine und Jennys Ermordung untersuchen«, antwortete Rick. »Da es sich um Mord handelt, nenne ich mich zuerst. Damen haben in diesem Fall das Recht, erst an zweiter Stelle zu kommen.« »Drücken Sie sich klar aus!« verlangte Hempshaw, nun schon bedeutend ruhiger. »Der Giftmörder hat uns einen Kaffee bereitet, der meinen Teppich auffraß, Kenneth.« Rick schauderte jetzt noch bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn… »Schicken Sie Ihre Spürhunde, damit wir wissen, was wir trinken dürfen und was nicht.« »Wir kommen«, sagte Hempshaw nur, und als Rick auflegte, wußte er, daß es Alarm bei Scotland Yard gab. Die Untersuchungen dauerten bis nach Mitternacht, dann faßte der Chefinspektor, der persönlich mitgekommen war, das Ergebnis zusammen. »Das Gift war dem Kaffeepulver beigemischt. Es hätte für hun110 �
dert Menschen gereicht. Sonst ist in der Wohnung alles in Ordnung.« »Bis auf den Teppich«, erwiderte Rick. »Wir müssen dem Mörder ja sehr gefährlich sein«, murmelte Jenny, die bei Hempshaws Bericht blaß geworden war. »Ich hätte jetzt richtig Lust auf…« »… auf eine Tasse Kaffee?« erkundigte sich Rick. Jenny schüttelte sich. »Auf eine Reise in die Südsee oder sonstwohin, nur weit weg von London.« »Das wäre vielleicht auch das beste, bis der Mörder gefaßt ist.« Rick schien diesen Gedanken ernsthaft zu überlegen. »Dann bist du nicht mehr in Gefahr.« Jenny Allen richtete sich empört auf. Ihre grünen Augen blitzten kriegerisch. »Ich lasse dich auf keinen Fall im Stich!« rief sie heftig. »Und ich werde dir weiterhin helfen wie bisher!« * Sie waren eines von unzähligen alten Ehepaaren in ganz Großbritannien, und doch unterschied sie etwas von den anderen. Ihr Tod war bereits Stunden vor dem Ende entschieden. Sie hatten nichts Schlechtes getan, ein einfaches und mit Arbeit ausgefülltes Leben hinter sich gebracht und nur den Wunsch, einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Genau das war ihnen nicht vergönnt. Dafür gab es nur einen einzigen Grund. Sie hießen Clandon! Mr. und Mrs. Clandon, die vor mehr als dreißig Jahren einen neugeborenen Jungen adoptiert hatten! Seit Jahren wußten sie nicht viel von ihrem Adoptivsohn, sie kannten nicht einmal seinen Beruf. Von Zeit zu Zeit erhielten sie eine Ansichtskarte aus London, wo er jetzt lebte, jedes dritte oder vierte Weihnachtsfest 111 �
besuchte er sie in ihrem kleinen Haus am Stadtrand von Glasgow. Das war alles. Nur die Erinnerungen waren ihnen geblieben, die Fotos und die Ansichtskarten. Clandon war noch nie in seinem Leben so nervös gewesen wie während der Bahnfahrt von London nach Glasgow. Er stand nicht unter dem Einfluß des Phantommörders, sondern hatte sich aus eigenem Antrieb dazu entschlossen, seine Adoptiveltern zu töten. Es mußte sein! Wie leicht konnte es geschehen, daß Rick Masters durch Zufall auf die alten Clandons stieß und von ihnen erfuhr, wo ihr Adoptivsohn lebte und vor allem wie er hieß. Clandon wagte nicht, ein Taxi vom Bahnhof zum Haus seiner Adoptiveltern zu nehmen, um keinen Zeugen zu haben. Er benutzte den Bus. Vertraute Straßen tauchten auf, dann stand er vor dem Haus. Er hatte sich einen genauen Plan zurechtgelegt. Die beiden alten Leute von Angesicht zu Angesicht zu töten, schaffte er nicht. Er wollte warten, bis sie schliefen, dann den vor dem Haus befindlichen Wasserschacht öffnen, die Trinkwasserleitung anbohren und einige der Giftkristalle in die Leitung praktizieren. Der Tod würde schmerzfrei kommen… Doch als er vor dem Haus stand, fühlte Clandon mit Grauen wie es wieder über ihn kam. Der Phantommörder übernahm die Kontrolle über ihn und nahm ihm seinen eigenen Willen. Der Geist des hingerichteten Mörders wollte diese Tat nur durch Clandon ausführen lassen. Der Mann litt, als ihn seine Adoptiveltern mit großer Freude begrüßten, ins Haus führten und mit Kaffee und Kuchen bewirteten. Hätte er sich jetzt frei entscheiden können, er hätte auf den Mordplan verzichtet, doch das war nicht mehr möglich. Willenlos führte er die Handgriffe aus, die ihm der Geist des Phantom112 �
mörders aufzwang. Es war nicht schwer, je einen Kristall in die Tassen seiner Adoptiveltern fallen zu lassen. Sie sahen schon schlecht, so daß er nicht einmal vorsichtig sein mußte. Der Tod traf sie blitzartig und im gleichen Moment. In derselben Sekunde wurde Clandon wieder frei von dem Einfluß des Phantommörders. Hastig verwischte Clandon alle Spuren seiner Anwesenheit. Nach kurzem Suchen fand er das Familienalbum. Es wurde ein Raub der Flammen. Der Mörder glaubte, damit alle Spuren verwischt zu haben, die auf ihn hinwiesen. Bereits wenige Stunden nach seiner Ankunft in Glasgow saß er wieder im Zug nach London. Der Geist des Phantommörders hatte ihm geholfen, das perfekte Verbrechen zu begehen… * »Nein, nein!« wehrte sich Rick Masters heftig gegen ein Argument, das soeben Chefinspektor Hempshaw vorgebracht hatte. »Ich habe eine andere Erklärung dafür, daß der Mörder seit Tagen nichts mehr von sich hören läßt.« »Da bin ich aber gespannt«, brummte der Chefinspektor und warf Jenny Allen einen in dieser Situation unpassend bewundernden Blick zu. Seit einer halben Stunde diskutierten sie bereits in Ricks Wohnung über die Frage, ob der Mörder überhaupt noch lebe und wenn ja, ob er noch einmal tätig werden würde, »Ich glaube nicht, setzte Rick auseinander, »daß der Giftmörder nur einfach abwartet, bis sich der Sturm gelegt hat. Zugegeben, wir waren ihm auf der Geburtstagsfeier des Ministers dicht auf den Fersen, aber das kann ihn nicht abschrecken. 113 �
Ich denke vielmehr an das Schicksal seines Vaters und Großvaters. Sie verschwanden spurlos, bevor sie verhaftet werden konnten.« »und du meinst, das wäre auch mit diesem Mörder geschehen?« fragte Jenny. »Schon möglich, doch wie erklärst du andererseits das spurlose Verschwinden?« »Auch wenn unser guter Kenneth es nicht zugibt«, lächelte der junge Privatdetektiv, »so sind doch übernatürliche Kräfte im Spiel. Meine Vision von der Hinrichtung des Phantommörders beweist das, der Bericht des damaligen Henkers beweist es ebenfalls. Der eindrucksvollste Beweis, Kenneth, war die Flucht des Mörders aus der Abstellkammer ohne zweiten Ausgang.« »Wie steht es mit dem spurlosen Verschwinden?« überging Hempshaw rasch diesen Punkt. »Einmal verschwand der Mörder bereits, warum sollte das nicht auch ein zweites Mal geschehen?« Rick blickte beifallheischend in die aus drei Personen bestehende Runde und stutzte. Während Jenny sichtlich von seinen Argumenten beeindruckt war, legte sich auf Hempshaws Gesicht ein niederträchtiges Grinsen. Der Chefinspektor griff in seine Brusttasche und holte den zusammengefalteten Bogen eines Fernschreibens hervor. Wortlos reichte er ihn dem Privatdetektiv, der ihn entfaltete, überflog, und mit saurem Gesicht an Jenny weiterreichte. »Das ist nicht fair, Kenneth!« beschwerte sich Rick. »Laß ihn doch«, warf Jenny ein, die ebenfalls das Fernschreiben gelesen hatte. »Auch ein Polizist braucht mal einen kleinen Triumph.« »Also, Kenneth, was ist mit diesem Ehepaar Clandon in Glasgow?« fragte Rick den verlegenen Chefinspektor. »Nun ja, ich wollte Ihnen nur zeigen, daß auch die Polizei nicht so dumm ist, wie Sie manchmal meinen«, redete sich Hempshaw 114 �
heraus. »Die Leichen wurden erst zwei Tage nach dem Mord gefunden, und auch dann glaubten die Kollegen in Glasgow zuerst daran, daß die beiden alten Leute an Herzschlag gestorben wären. Es wäre möglich gewesen, daß einer von ihnen starb und der andere sich so darüber aufregte, daß auch er…« »Ja, schon gut, das kann vorkommen«, unterbrach ihn Rick ungeduldig. »Wie ging es weiter?« »Eine routinemäßig durchgeführte Obduktion brachte die richtige Spur. Es war Mord, ausgeführt mit dem berüchtigten Gift, dessen Zusammensetzung wir noch immer nicht herausfinden konnten.« »Ein altes Ehepaar in Glasgow«, murmelte Jenny nachdenklich. »Warum, um alles in der Welt, hat der Mörder diese beiden umgebracht?« »Ehe ich es vergesse, Rick«, sagte der Chefinspektor in diesem Moment und brachte Jenny damit aus der Überlegung. »Heute abend findet eine Konferenz statt. Es ist wieder ein Minister dabei, also fürchten wir…« »… daß auch der Mörder aktiv werden könnte«, ergänzte Rick. »Schon verstanden, Kenneth. Ich werde bei der Konferenz dabeisein.« »Wir werden dabei sein«, verbesserte ihn Jenny Allen. »Wir!« * Diesmal erschien es unmöglich, daß etwas geschah. Scotland Yard hatte den Konferenzort, einen Saal im Ministerium für Umweltschutz, hermetisch abgesperrt. Speisen und Getränke wurden überprüft und dann versiegelt. Sie sollten erst am Tisch geöffnet werden. Und der Secret Service sorgte für die Sicherheit im Saal selbst. Die Konferenzteilnehmer waren bekannte Persönlichkeiten des 115 �
öffentlichen Lebens, allen voran der Minister für den Umweltschutz. Trotzdem wurden sie doppelt und dreifach überprüft. Alles schien in bester Ordnung zu sein, als Rick Masters im Ministerium gemeinsam mit Jenny eintraf und die Liste aller Anwesenden verlangte. Gemeinsam sahen sie die Namen durch, gleichzeitig stutzten sie und fuhren überrascht hoch. »Das wäre also die Lösung!« rief Jenny mit leuchtenden Augen. »Nicht so laut!« warnte Rick und winkte Hempshaw zu sich. Er zeigte dem Chefinspektor die Liste, worauf dieser bleich wurde. »Ich lasse ihn sofort verhaften!« zischte Hempshaw. »Bloß nicht«, wehrte Rick ab. »Wir haben keine Beweise. Ich muß mit dem Minister sprechen, sofort!« Das Gespräch dauerte nicht lange und verlief in völliger Ruhe. Dann begann die Konferenz. Rick Masters und Jenny Allen hatten sich wie in einer schlechten Ehekomödie hinter einem schweren Vorhang versteckt und beobachteten alles durch einen Spalt, ohne daß außer Chefinspektor Hempshaw irgend jemand eine Ahnung hatte, daß sie hier waren. Als sich der Minister von seinem Platz erhob, um eine Rede zu halten, spannten sie sich. Nicht weil die Rede sie besonders interessierte, sondern weil der Augenblick der Entscheidung gekommen war. »Meine Damen und Herren«, begann der Minister, machte eine ungeschickte Handbewegung und stieß das Glas mit dem üblichen Trinkwasser am Rednerpult um. Sofort eilte einer der Saaldiener zu ihm, stellte das Glas wieder auf und füllte es aus einer Karaffe. »Danke«, sagte der Minister mit einem leichten Lächeln und 116 �
wollte einen Schluck nehmen. Er kam nicht dazu. Ein Mann sprang zu ihm und hielt seine Hand fest. »Verzeihung, das Wasser muß erst geprüft werden«, sagte der Sicherheitsbeamte des Geheimdienstes und nahm das Glas an sich. Im nächsten Moment fühlte Ken Clandon eine Hand auf seiner Schulter. Er wirbelte herum – und stand Rick Masters gegenüber. * Geistesgegenwärtig nahm Jenny dem Geheimdienstmann das Glas aus der Hand. »Hier ist er, der Kristall!« rief sie triumphierend aus. »Er hat sich noch nicht vollständig aufgelöst.« »Der Saaldiener…«, sagte Clandon lahm. Rick Masters schüttelte langsam den Kopf. »Nicht der Saaldiener«, sagte er betont. »Sondern Sie, Mr. Clandon! Sie wollten den Minister vergiften, wie Sie die anderen alle vergiftet haben!« Der Mann des Secret Service wankte. »Wieso… woher wissen…!« »Clandon! Es war ein Fehler, daß Sie Ihre Adoptiveltern töteten!« schleuderte Rick ihm ins Gesicht. »Hätten Sie das nicht getan, wären wir nie auf Sie gekommen.« »Es war kein Fehler!« Ken Clandons Gesicht verzerrte sich. »Ich mußte es tun, sonst hätten die Bilder im Familienalbum…« »Die Spur zu Ihnen hörte bei Ihrer wirklichen Mutter auf«, winkte Rick Masters ab, während die Konferenzteilnehmer verständnislos zusahen. Sie wußten überhaupt nicht, worum es ging, auch nicht der Minister, der nur auf Ricks dringendes Ersuchen das Wasserglas umgestoßen hatte. »Die Unterlagen über Ihre Adoption waren verlorengegangen. 117 �
Stutzig wurden wir erst, weil ein Ehepaar Clandon in Glasgow ermordet wurde. Und zwar mit dem Gift, das hier in London verwendet wurde! Warum wohl? Mit dem Phantommörder hatte das nichts zu tun, wohl aber mit dem jetzt lebenden Mörder!« »Als wir auf der Liste der in diesem Raum anwesenden Personen Ihren Namen unter der Rubrik Secret Service fanden«, sprach Jenny an Ricks Stelle weiter, »wußten wir Bescheid. Clandon in Glasgow – Clandon hier im Saal. Das war kein Zufall!« »Die alten Clandons in Glasgow waren die Adoptiveltern von Peter Gellatlys einzigem Nachkommen, auf dem der Fluch des Phantommörders ebenso lastete wie auf seinem Vater und Großvater«, ergänzte Rick Masters. Clandon schaute sich gehetzt um. »Sie entkommen nicht«, sagte Rick kalt. »Scotland Yard weiß alles über Sie!« Ken Clandon schloß die Augen, als wollte er sich auf etwas konzentrieren. »Der Geist des Phantommörders hilft Ihnen auch nicht mehr«, flüsterte Rick heiser. »Sie sind für ihn wertlos geworden, weil wir Sie entlarvt haben. Sie können nicht mehr als Werkzeug des Phantommörders dienen!« »Wie kamen Sie überhaupt auf meinen Vater und dessen Vater?« knirschte Clandon, der es aufgegeben hatte, auf Hilfe aus dem Jenseits zu warten. »Das werden Sie alles früh genug erfahren«, winkte Rick Masters ab. »Eigentlich hätten wir schon früher auf Sie tippen müssen, wenn wir daran gedacht hätten, daß ein Angehöriger des Secret Service in Betracht kommt. Sie haben den Abgeordneten Kynaston bewacht, Sie waren für den Schutz des ausländischen Diplomaten verantwortlich. Sie waren auch bei dem Geburtstagsfest des Ministers dabei. Ich glaube, wenn wir Ihr Bild in der 118 �
Bar Trocadero herumgezeigt hätten, irgend jemand hätte sich an Sie erinnert, wie sie sich an den Rüstungsindustriellen Raven heranmachten.« Rick Masters hatte sich für einen Moment zu sehr darauf konzentriert, Clandon die Aussichtslosigkeit seiner Lage vor Augen zu führen, so daß er nicht rechtzeitig reagierte. Clandon wollte noch immer nicht aufgeben. Er konnte den Gedanken an ein Leben hinter Gittern nicht ertragen. In einem letzten verzweifelten Versuch schnellte er sich auf Jenny zu, packte sie an den Schultern und stieß sie gegen den Privatdetektiv. Rick taumelte, ruderte mit den Armen durch die Luft und stürzte. Jenny fiel auf ihn, so daß er nicht sofort wieder hochkam. Von allen Seiten liefen die Männer des Secret Service auf Clandon zu, doch dieser riß seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter. Ehe es jemand verhindern konnte, stand er hinter dem Minister und drückte ihm die Waffe ins Genick. * Rick Masters erstarrte mitten in der Bewegung, und auch die Sicherheitsbeamten blieben stehen. Chefinspektor Hempshaw winkte seinen eindringenden Leuten ebenfalls zu, nicht weiter zu kommen, um das Leben des Ministers nicht zu gefährden. »Clandon«, wollte Rick dem Mörder zureden. »So kommen Sie nicht weiter! Geben Sie auf!« Clandons Gesicht war hart wie Granit. »Entweder ihr laßt mich frei, oder…« Die drohende Geste mit dem Lauf der Waffe unterstrich seine Forderung. Schon machte sich Rick Masters auf ein Geiseldrama gefaßt, als etwas Unerwartetes geschah. 119 �
Clandons Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. Das Drohende verschwand aus seinem Gesicht. Er ließ zwar die Hand mit der Pistole nicht sinken, aber er schien den Minister vergessen zu haben. Mit der freien Hand griff er in die Rocktasche. Zwischen seinen Fingern blitzten einige blaue Kristalle auf, die er blitzschnell zum Mund führte und schluckte. Ricks Eingreifen kam zu spät. Der Privatdetektiv stieß den Minister aus der Schußlinie und schlug Clandon die Waffe aus der Hand. Der Geheimdienstmann hatte das Gift jedoch schon im Körper, und es wirkte in Sekundenschnelle. Schreiend torkelte Ken Clandon durch den Saal, beide Hände gegen den Kopf gepreßt. Noch einmal erlebte Rick die Szene auf dem Blutgerüst, noch einmal stand er im Geist neben dem zum Tod Verurteilten unter der Henkersschlinge. Er sah auch wieder den Henker vor sich, der vor Entsetzen über sein unerwartetes Erscheinen rücklings auf den Boden des Gefängnishofs fiel. Doch diesmal hatte der Verurteilte keine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen, sondern zeigte die Züge von Ken Clandon. Rick schreckte hoch. Dicht vor ihm brach Ken Clandon zusammen, wand sich noch einmal zuckend auf dem Boden. Die Umrisse seines Körpers begannen zu flimmern, bis ihr Anblick Schmerzen in den Augen erzeugte. Clandons Leiche wurde durchsichtig, verschwamm und war plötzlich verschwunden. * Sie saßen in Ricks Wohnung und tranken Kaffee. Jenny vermied � es dabei, auf den noch nicht ausgewechselten Teppich zu � 120 �
schauen, in dem das riesige Loch klaffte, das von dem schrecklichen Gift gefressen worden war. »Rick«, sagte sie leise. »In diesem Fall gibt es nur einen Punkt, über den ich mich freue.« »Und der wäre«, fragte der junge Privatdetektiv und legte seinen Arm um Jenny. »Die alte Miß Moorgate wird nie erfahren, was wirklich aus ihrem Sohn geworden ist«, sagte sie. »Chefinspektor Hempshaw hat mir versprochen, die wahre Identität Clandons nicht zu lüften.« »Ich finde das sehr nett von Kenneth«, nickte Rick. »Aber du hast jetzt sicher genug davon, Privatdetektivin zu spielen!« »Wer, ich?« staunte Jenny und setzte ihre Kaffeetasse ab. »Das ist doch die Höhe!« »Na, ich dachte«, meinte Rick Masters lahm. Sein Blick schwenkte zu dem Loch im Teppich. »Ach, das«, sagte Jenny wegwerfend. »So schön war der Teppich nun auch wieder nicht. Ich freue mich jedenfalls auf den nächsten gemeinsamen Fall!« ENDE
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