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Seewölfe 177 1
Davis J.Harbord 1.
Der Mann hieß John Deventer, und er sah aus wie eine Made, die im Speck lebt. In diesem Falle war das Arsenal der Royal Navy in Plymouth der Speck, an dem sich John Deventer mästete, denn ihm unterstand das Arsenal, und wenn jemand einen Schiffsnagel, ein Stück Segeltuch, ein Faß Pökelfleisch oder eine Rolle Liektau haben wollte, dann mußte er zuerst bei John Deventer anklopfen. An diesem Morgen im September 1588 hatten Philip Hasard Killigrew, Kapitän der „Isabella VIII.“, und Jean Ribault, Kapitän der „Le Vengeur“, bei John Deventer angeklopft. So leicht war das gar nicht gewesen, denn um bis zu John Deventer vorzudringen, hatten sie eine Menge gebraucht: Geduld, gute Worte, dann weniger gute Worte und schließlich massive Drohungen. Der Weg zu John Deventer war mit einer Sorte von Schreiberlingen und Sekretären gepflastert, die sich allesamt für den Nabel der Welt hielten. Warum ein erster und ein zweiter Schreiberling sowie ein erster und ein zweiter Sekretär mit Stehpulten und Holzbalustraden, mit Wichtigkeit und dummen Fragen, mit Borniertheit und unverschämter Arroganz den Weg zu John Deventer verbarrikadierten, das mochte der Teufel wissen. Von jedem dieser gottähnlichen Wesen führte eine Tür weiter zum nächsten, noch gottähnlicheren Wesen. So gesehen war es eine Leiter, die ganz unten Schreiberling zwei besetzt hielt, dann folgte Schreiberling eins, die nächste Sprosse verteidigte Sekretär zwei, ihm reihte sich Sekretär eins an und erst dann, vielleicht, durfte man vor das Angesicht John Deventers treten. Die beiden Schreiberlinge und die beiden Sekretäre hatten eins gemeinsam: den krummen Rücken -Folge ihrer Haltung vor ihrem Obergott John. Deventer. Zeichen ihrer gehobenen Würde trugen im Unterschied zu den beiden Schreiberlingen die beiden Sekretäre, nämlich Perücken. Die Dinger rochen auch nach Staub wie
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alles, was sich im Dunstkreis dieser vier gottähnlichen Wesen bewegte. Als die Gefechte gegen die Armada begonnen hatten und nahezu der größte Teil der englischen Schiffe hier in Plymouth stationiert gewesen war, da waren es der Lordadmiral persönlich und Admiral Hawkins, der Baumeister der Royal Navy, gewesen, die das Arsenal des John Deventer auf Trab und in Schwung gebracht hatten. Da hatten tagtäglich und Woche für Woche die Schiffe, die draußen ihren Wachdienst versehen hatten und dann wieder eingelaufen waren, im Arsenal ihren Nachschub ergänzt, und das hatte geklappt. Aber die Schlacht war geschlagen, und der Lordadmiral und Admiral Hawkins weilten längst wieder in London. Und das Arsenal regierte wieder John Deventer, Made im Speck, obgleich er rein äußerlich eher einem trägen, vollgefressenen Frosch ähnelte. Er stand nicht hinter einem Stehpult wie Sekretäre und Schreiberlinge - o nein! Er hockte hinter einem Monstrum von Tisch, wie er in den Refektorien der Klöster üblich war, hatte vor sich Folianten wie eine Art Brustwehr aufgebaut und schwang nicht etwa einen Federkiel, sondern war damit beschäftigt, sein Office mittels Tonpfeife und Tabak in eine Nebellandschaft zu verwandeln. „Haben wir nicht“, sagte er zur Begrüßung, ohne daß Hasard oder Jean Ribault bereits etwas geäußert hatten. „Kahlschlag. Nichts geht mehr. Sie dürfen die Tür wieder von draußen schließen.“ Hasard knallte sie zu - nicht von draußen, von drinnen. Dann wedelte er sich mit Jean Ribault durch die Nebelwolken zu dem Refektoriumstisch vor. „Was haben Sie nicht?“ knurrte er den paffenden Fettsack an. Der Dicke glotzte zu ihm hoch, seufzte, qualmte, schüttelte den Kopf und sagte: „Nichts mehr vorrätig, alles weg, kein Nachschub. In den Lagerhallen und Schuppen, Gewölben und Speichern gähnende Leere.“ Das letztere gefiel ihm
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besonders gut, und er wiederholte akzentuiert: „Gäh-nen-de Lee-re!“ „Tabak haben Sie noch, wie?“ fragte Jean Ribault höflich. „Die letzte Pfeife.“ Der Dicke seufzte wieder und sah aus, als habe er vor, gleich zu weinen. Seine Augen tränten bereits. Aber das war wegen. des Tabakrauchs. Hasard hätte den Kerl erwürgen können. Er zog den Kaperbrief Ihrer Majestät aus dem Wams und klatschte ihn vor dem Dicken auf den Monstertisch. „Lesen Sie!“ befahl er schroff. Der Dicke glättete das Pergament, nuckelte an der Tonpfeife, las, wiegte den Kopf, nickte, seufzte und sprach mit sich selbst. Viel war das nicht. „Soso“, sagte er. Und: „Hm-hm.“ Und: „Ja, ja.“ Und wieder: „Soso.“ Dann folgte: „Fein-fein.“ Er las den ganzen Kaperbrief von oben bis unten, dann noch einmal quer, und als er ihn von unten nach oben lesen wollte, nahm Hasard ihm das Pergament wieder weg. „Jetzt reicht's“, sagte er. „Wir haben die Absicht, in den nächsten Tagen in die Karibik auszulaufen und daher keine Lust, noch nächste Woche Ihre Sprüche über gähnende Leere zu hören. Wir müssen ausrüsten, und Sie werden sich verdammt in Bewegung setzen, um das heranzuschaffen, was Kapitän Ribault und ich in unseren Listen aufgeführt haben. Hier sind sie!“ Hasard legte seine und Jean Ribaults Anforderungsliste dem Dicken vor den Bauch. Der begann von neuem zu lesen, zu schnaufen, zu seufzen und den Kopf zu schütteln. Dann kicherte er hysterisch und deutete mit dem tönernen Pfeifenstiel auf einen Posten in Hasards Liste. „Zwanzig Ballen Segeltuch!“ Er pumpte sich auf wie ein Ochsenfrosch. „Sind Sie verrückt, Kapitän Killigrew? Die kann ich mir doch nicht aus den Rippen schneiden! Und das Tauwerk erst! Soll ich mir das aus den Ohren spinnen ...“ „Mir egal!“ fauchte Hasard. „Ob aus den Rippen schneiden oder aus den Ohren spinnen — wenden Sie sich an Ihre Lieferanten, und setzen Sie Druck dahinter.
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Falls Sie sich überfordert fühlen, werde ich mich nicht scheuen, bei Ihrer Majestät um Ihre Ablösung zu bitten. Laut Kaperbrief unserer Königin sind Sie verpflichtet, mir jedwede Hilfe zu leisten. Oder meinen Sie vielleicht, ich segele wie ein Hungerleider in die Karibik —mit Palmenblättern als Segeltuchersatz und Lianen anstelle von Schoten, Brassen und Fallen?“ „Ich hab aber doch nichts!“ jammerte der Dicke. „Und wenn Sie mich vierteilen, teeren und federn.“ „Gar nicht mal so eine schlechte Idee“, murmelte Jean Ribault und fixierte den Dicken, als prüfe er, an welchen Stellen die Vierteilung am besten vorgenommen werden könne. „Eine ausgezeichnete Idee“, meinte auch Hasard. Jetzt wurde der Dicke doch etwas kribbelig. Im übrigen hatte er genug vom Seewolf gehört. Und der Franzose sollte ebenfalls eine ziemlich scharfe Nummer sein. „Lassen Sie doch Ihre dummen Witze, Gentlemen“, sagte er pikiert. „Admiral Drake war gestern hier und legte mir genau wie Sie eine Anforderungsliste vor ...“ „Neue Beiboote, wie?“ fragte Hasard höhnisch. „Ja, die waren auch darunter:“ Der Dicke zuckte zusammen und starrte zu Hasard hoch. „Stimmt das, daß Ihre Männer diese Beiboote in der Mill Bay versenkt haben?“ Hasard zuckte mit den Schultern. „Die Leute reden viel. Haben Sie denn Drake mit Beibooten ausrüsten können?“ „Nein.“ „Und das hat er sich gefallen lassen?“ „Getobt hat er“, erwiderte der Dicke seufzend. „Aber was soll ich tun? Seit den Armadakämpfen sind meine Lager geplündert. Ich weiß gar nicht, warum ich hier noch sitze.“ „Das frag ich mich auch“, sagte Jean Ribault und grinste anzüglich. „Schließen Sie doch Ihren Saftladen, Mister Deventer.“ „Ich verbitte mir es, mein Arsenal mit Saftladen zu bezeichnen“, sagte der Dicke giftig.
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„Ich hör immer Arsenal“, erklärte Jean Ribault. „Was ist denn ein Arsenal, das leer ist? Doch kein Arsenal mehr, oder? Also ist es ein Saftladen, ein Nichts, eine unnötige Angelegenheit mit Mauerwerk und Dach, aber ohne Inhalt. Abreißen sollte man diese Bude. Ihre beiden Schreiberlinge und die beiden Sekretäre hätten Sie längst feuern sollen. Die halten sich nur noch an ihren Stehpulten fest, statt Ihre Lieferanten vielleicht einmal persönlich aufzusuchen und für Nachschub zu sorgen. Anfang August war die Schlacht gegen die Spanier beendet, jetzt haben wir Mitte September. Man könnte beinahe meinen, Sie und Ihre Leute hätten in den letzten anderthalb Monaten weiter nichts getan als geschlafen. Führen Sie eigentlich Bestandslisten, Mister Deventer?“ Der Dicke fuhr hoch. „Natürlich!“ Seine Pfeife war ausgegangen, und die Nebelwolken verteilten sich. „Dort in den Folianten?“ fragte Jean Ribault hinterhältig und deutete auf die schweinsledernen Werke, die John Deventers Brustwehr bildeten. „Ja.“ Und dann biß sich der Dicke auf die Zunge und wuchtete sich keuchend hinter dem Schreibtisch hoch. „Sie wollen doch nicht ...“ „Doch, wir wollen“, unterbrach ihn Jean Ribault. „Kapitän Killigrew und ich lesen so gerne. Jeden Abend lesen wir uns gegenseitig aus der Bibel vor, zu später Stunde auch die Werke von William Shakespeare, aber ganz besonders scharf sind wir auf Bestandslisten. Ganz trunken vor Glück sind wir, wenn wir die lesen können.“ Jean Ribault grinste, Hasard grinste, nur der Dicke grinste nicht. Er war dem Heulen nahe, grapschte nach dem Folianten ganz links von sich und zerrte ihn zu sich heran. „Aha“, sagte Jean Ribault. „Soso“, sagte Hasard. „Wollen wir mal wetten, Freund Hasard?“ fragte Jean Ribault. „Aber gern, mein lieber Jean“, erwiderte Hasard. „Ich wette, daß in dem Folianten, den unser guter Freund Deventer so
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zärtlich umarmt, als sei er sein ganzes Glück, daß also in diesem Folianten die Bestände verzeichnet sind. Die Bestände, verstehst du? Nicht die gähnende Leere.“ „Also du bist mir doch ein Schlauer“, sagte Jean Ribault und mimte den Empörten. „Dann wettest du ja genauso wie ich, das ist doch keine Wette.“ Er duckte sich etwas und drehte langsam den Kopf zu dem Dicken, auf dessen Stirn jetzt die Schweißtropfen glitzerten. „Aber da ist ja noch unser guter Freund Deventer“, fuhr er fort, „der wettet sicher dagegen, nicht wahr?“ „Gegen – gegen was?“ fragte der Dicke und war sehr kurzatmig. „Paß auf, mein Guter“, sagte Jean Ribault vertraulich und beugte sich über den Monstertisch. „Mein Freund Hasard und ich behaupten, daß in deinem lieben Folianten die Bestände fein säuberlich aufgezeichnet sind, die sich noch auf Lager befinden. Und du wettest dagegen und sagst, laut deiner Bestandsliste sei nichts mehr da als gähnende Leere in Lagerhallen und Schuppen, Gewölben und Speichern. Klar, mein Guter?“ „Und dann?“ Jean Ribault hatte das Gesicht eines Katers, der lüstern vor einem Mauseloch lauert. „Und dann, mein Guter“, sagte er sehr sanft, „schlagen wir deinen Folianten auf und schauen gemeinsam hinein.“ Ein bißchen röchelte der Dicke. „Und wenn ihr die Wette gewonnen habt?“ „Ja, mein Guter.“ Jean Ribault überlegte. „Dann müßten wir dir eigentlich sehr böse sein und dich ein bißchen klopfen, weil du zwei arme Kapitäne betrügen wolltest.“ Da saß er ganz schön in der Patsche, der Dicke. Und einen Fluchtweg hatte er auch nicht. Zu dumm, an so was hatte er nie gedacht. Bisher hatten sie auch alle vor ihm gekuscht - na ja, bis auf den Lordadmiral und Admiral Hawkins. Aber so hartnäckig und schlitzohrig wie diese beiden salzwassergetränkten und scharfgesichtigen Kerle waren noch kein Kapitän und kein Kommandant gewesen.
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Und leimen ließen die sich nicht, im Gegenteil, sie hatten ihn geleimt. Einen Moment überlegte John Deventer, ob er um Hilfe schreien solle. Aber noch als er das dachte, war ihm klar, daß sich weder Smith und Miller noch Fuller und Plewitt um seine Hilfeschreie kümmern würden. Eher krochen sie unter ihre Stehpulte. Nein, das war nichts. Aber dann hatte er einen besonders schlauen Gedanken - bluffen. „Und wenn ich gewinne?“ fragte er und bemühte ein Grinsen unter seine Perücke. „Oho, oho“,! sagte Jean Ribault, „jetzt geht er aber ran, unser lieber Freund Deventer, jetzt werden die Sturmleitern angesetzt, und die Trompeter blasen zur Attacke. Ja, mein Guter, bist du denn sicher, daß du gewinnst?“ „Völlig sicher“, sagte der Dicke forsch und mit quellenden Froschaugen. „Wetter auch“, sagte Jean Ribault bewundernd. „Ja, wenn du gewinnst, mein Guter, dann haben wir verloren. Ist doch klar, oder?“ „Und was habe ich davon? Ich denke, das soll eine Wette sein, Gentlemen?“ Jetzt schnaufte der Dicke sogar verächtlich. „Schöne Wette, bei der man nichts gewinnt, phh!“ „Wer sagt das denn, daß Sie nichts gewinnen?“ Hasard zog aus seinem Wams einen Lederbeutel, löste die Verschnürung und fischte einen schönen, runden spanischen Golddukaten hervor. Den ließ er ein bißchen auf dem Refektoriumstisch hin und her rollen. Der Kopf des Dicken folgte dem rollenden Dukaten - von links nach rechts, von rechts nach links und wieder zurück. Seine Froschaugen rollten auch, sein Froschmaul machte schnappende Bewegungen. „Hier sind noch mehr drin“, sagte Hasard und schüttelte den Beutel. Es klirrte angenehm. Der herausgefischte Golddukaten rollte aufrecht in Richtung des Dicken, sanft angestoßen von Hasard, lief langsam aus, schien zu zögern, nach welcher Seite er kippen solle, und legte sich schließlich auf
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die Seite mit dem Kreuz und dem Löwenwappen. Langsam kroch die Hand des Dicken auf den Dukaten zu. Eine Fingerbreite davor verhielt sie, und der Dicke schielte zu Hasard hoch. Er räusperte sich die Kehle frei und sagte: „Darf - darf ich mal anfassen?“ „Bitte sehr, der Dukaten beißt nicht. Echt ist er auch, falls Sie das bezweifeln sollten.“ Der Dicke nahm den Dukaten auf, kratzte auf ihm herum, betrachtete ihn von beiden Seiten und zeigte eine recht wechselvolle Miene. Gier war auch dabei, unverhohlene Gier. Am liebsten hätte er gleich den ganzen Beutel an sich gerafft. Aber dann rang er sich wohl zu der Erkenntnis durch, daß Kapitän Killigrew ihn matt gesetzt hatte. Wenn er auf die Wette einging, würde er den Folianten aufschlagen müssen. Und dann konnte er die Golddukaten vergessen. Er hatte bluffen wollen und saß jetzt noch tiefer in der Patsche. Und alles das angesichts eines Beutels lockender Goldstücke! Des Dicken Gesicht drückte all seinen Jammer aus. „Merkst du was, Freund Hasard?“ fragte Jean Ribault. „Ja.“ Hasard nickte. „Wir haben die Wette gewonnen. Dieser sehr ehrenwerte Gentleman hat uns die Hucke vollgelogen und ist dabei noch nicht einmal rot geworden.“ „Du sagst es.“ Jean Ribault fletschte die Zähne. „Er wollte sich sogar vierteilen, teeren und federn lassen, der sehr ehrenwerte Gentleman. Wollen wir ihn jetzt aus dem Fenster werfen und heute nacht mit einem Bleigewicht in der Mill Bay versenken? Was meinst du? Wir könnten ihn natürlich vorher. auch ein bißchen kielholen und danach zum Trocknen an die Großrah hängen ...“ „Erbarmen!“ winselte der Dicke. Hasard deutete auf die beiden Anforderungslisten. „Sie haben alles vorrätig, Mister Deventer?“ Der Dicke nickte stumm und ergeben und verharrte in Erwartung des Jüngsten
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Gerichts — vor dem Kielholen hatte er am meisten Angst. „Den Golddukaten können Sie behalten, Mister Deventer. Möge er sie stets daran erinnern, daß es sich nicht auszahlt, zwei Freibeuter-Kapitäne übers Ohr hauen zu wollen.“ Hasard grinste knapp. „Lassen Sie die Stückgüter bitte sofort an die Rampen bringen. Wir wollen gleich mit der Übernahme beginnen.“ Der Dicke verbeugte sich im Sitzen und fiel dabei fast über den Refektoriumstisch. Und dann watschelte er zur Tür, hielt sie auf und verbeugte sich abermals, als wolle er seine Zehen küssen. Dieses Mal rutschte ihm die Perücke vom Kopf. Er hatte eine Glatze, die wie ein Kinderpopo aussah. Seine Dankesworte waren so falsch wie seine Perücke. 2. Die „Le Vengeurs“ und die Seewölfe spuckten in die Hände, krempelten die Ärmel hoch und gingen an die Arbeit. Auf der Pier, vor den beiden Gangways, stapelten sich Kisten, Fässer, Ballen, Taurollen. Ein Teil der Crew brachte das Stückgut vom Arsenal zu den Gangways, ein anderer Teil mannte es an Bord und in die Laderäume, und ein dritter Teil verstaute planmäßig und seefest verzurrt die verschiedenen Stücke in den dazu bestimmten Räumen unter Deck. Die schweren Lasten wurden mittels der ausgebaumten Rahen über die Ladeluken gehievt und vorsichtig in die Laderäume abgefiert. Das war soweit alles in Ordnung. Die Männer packten willig an, selbst Hasards Zwillinge, die beiden siebenjährigen, drahtigen Bürschchen, nunmehr Moses eins und Moses zwei an Bord der „Isabella“, legten sich ins Geschirr und schleppten Lasten, die sie verkraften konnten. Zwischendurch klopfte Edwin Carberry, der eiserne Profos der „Isabella“, seine kernigen Sprüche und fragte alle fünf Minuten, ob denn die Kanalratten, Rübenschweine und Läuseknacker
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vielleicht der irrigen Ansicht huldigten, hier könne gefaulenzt werden, was, wie! Dabei faulenzte niemand, aber die Sprüche mußten sein und waren so nötig wie das Salz in der Suppe. Wie üblich geriet er sich mit dem Kutscher in die Wolle, der die Sauerkrautfässer in der Nähe seiner Kombüse gestaut haben wollte, während Carberry die Meinung vertrat, die Fässer seien in der achteren Proviantlast besser aufgehoben, und da sei auch ihr vorgesehener Platz. Der Kutscher war ein Mann, der sich weder in die Belange der Bordküche noch in seine Tätigkeit als Feldscher viel hineinreden ließ. Das durfte nur Hasard, vor dem er einen heillosen Respekt hatte. Nun hätte der bullige Klotz von Carberry den kleineren und eher schmalbrüstigen Kutscher mal so eben zum Frühstück verspeisen können - so etwas oder ähnliches drohte er ihm auch stets an -, aber gewalttätig wurde der Profos nie. Und darum war es immer wieder für alle ergötzlich, wenn sich Goliath und David anfauchten und erklärten, was sie alles mit dem anderen tun wollten -nur tat's keiner. Aber immer hitziger wurden sie dabei. Und damit war Pause für die anderen Seewölfe, die andächtig dem Disput der beiden lauschten. „Und ich sage, diese verdammten Dinger werden in der achteren Proviantlast verstaut - basta!“ grollte Ed Carberry. „Und ich sage, die Sauerkrautfässer bleiben im oberen Proviantraum neben der Kombüse - klabasta!“ fauchte der Kutscher. „Klabasta? Was ist das denn, du spilleriger Hering?“ „Klabasta ist klabasta, punktum, du abgetakelter Gorilla!“ raunzte der Kutscher. „Kutscherlein“, sagte der Profos sanft und wenn er sanft sprach, war das immer noch .laut genug -, „ich soll dich wohl ins Großsegelfall spleißen, was, wie? Oder möchtest du lieber als Taljereepsknoten den Handläufer der Gangway verzieren? Du darfst dir das aussuchen, Kutscherlein.“
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Der Kutscher ignorierte die beiden Angebote Carberrys und kehrte zum Ausgangspunkt des Disputs zurück. „Die Sauerkrautfässer bleiben bei der Kombüse - klabasta“, erklärte er wütend. „Ist das klar, Mister Carberry?“ „Bleiben sie nicht, verdammt noch mal. Ich will dir mal was sagen, du verlauste Kombüsenkakerlake: du bist nämlich zu faul, zur achteren Proviantlast zu gehen, um die Sauerkrautportionen für deinen Pampenfraß zu holen. Das ist es!“ „Jawohl! Das ist es!“ schrie der Kutscher. „Du merkst aber auch alles, du hirnrissiger Ochsenfrosch. Und jetzt will ich dir mal was sagen: kannst du mir wohl verraten, warum der Kartentisch im Ruderhaus und nicht in der Vorpiek ist?“ „Ha! Weil er dort hingehört, natürlich.“ „Natürlich! Natürlich! Und warum sollen dann Sauerkrautfässer nicht zur Kombüse gehören, he? Aber nein, dem Kutscher wird zugemutet, wegen jeder Sauerkrautportion nach achtern zu latschen und mit dem Zeug über die Dreiviertellänge des Schiffes wieder zurückzumarschieren. Und das bei Seegang, Sturm und übers Deck fegenden Brechern. Aber fressen wollt ihr, nicht wahr? Verstau doch deine verdammten Beiboote in der achteren Proviantlast und hole sie von dort raus, wenn sie gebraucht werden. Aber nein, die müssen unbedingt hier mittschiffs gelagert sein - weil das praktischer ist, nicht wahr? Aber ich will's auch praktisch haben, und darum bleiben die Sauerkrautfässer bei der Kombüse klabasta!“ Der Profos hatte mit offenem Munde zugehört. Das waren natürlich völlig neue Gesichtspunkte. Er kratzte sich den Nacken. Na, so unrecht hatte der Kutscher gar nicht. Eigentlich war es Unsinn, die Fässer achtern zu stauen. „Hm“, sagte er, „geht klar. Die Fässer bleiben bei der Kombüse. Ist wohl praktischer so.“ Er blickte sich um und runzelte die narbige, breite Stirn. „Was ist denn hier los?“ Und dann 'grollte seine Stimme wie Donner: „Hier wird nicht gefaulenzt, ihr schrägen Barsche! Hopp-
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hopp! Bewegt euch! Steht nicht rum und bohrt Löcher in die Planken! He, Bob Grey! Paß auf, daß der Segeltuchballen nicht über die Pier rollt und ins Wasser kippt, verdammt und quergenäht! Welcher Idiot hat den Ballen so dämlich an die Kiste gelehnt? Muß ich mich um alles kümmern ...“ Er war wieder in Fahrt, der Profos. Und der Kutscher hatte seinen Willen durchgesetzt. Die Männer grinsten. Eine zweite Unterbrechung ergab sich eine halbe Stunde später. Es war der blonde Schwede Stenmark, der gerade in den Besan geentert war, um eine Talje zu klarieren. Er entdeckte den stämmigen, kurzbeinigen Mann mit dem rötlichen Spitzbart zuerst. „Achtung! Admiral von Steuerbord! Hat Kurs auf die ‚Isabella'!“ rief er zu Carberry hinunter, der in Höhe des Besans auf der Pier stand und die feste Part der Talje an einer Kiste anschlug. Carberry ließ das Ende der Talje sinken, drehte sich langsam um und kniff die Augen zusammen. Ja, der sehr ehrenwerte Admiral Sir Francis Drake hatte sein Flaggschiff, die „Revenge“, die noch im Dock lag, verlassen und marschierte auf die „Isabella“ zu. Soweit Carberry erkennen konnte, war Drakes Gesicht reichlich verkniffen. „Kapitän wahrschauen!“ zischte Carberry dem Altmoses Bill zu, der bei ihm stand. „Aye, aye!“ Bill verschwand wie der Blitz. Carberry beschäftigte sich weiter mit dem Ende und tat sehr eifrig. Dem Admiral hatte er wieder den Rücken zugedreht. Mal abwarten, was der Kerl will, dachte er. Die „Isabella“ und die „Le Vengeur lagen mit der „Revenge“ in Fehde - oder noch härter ausgedrückt: sie befanden sich im Kriegszustand. Die ganze Geschichte war geradezu lachhaft, aber sie hatte ihre Wurzel eindeutig in der Verhaltensweise des Admirals, der mit den Jahren nicht weiser, sondern immer starrköpfiger, intoleranter und anmaßender geworden war. Dabei hatte er jegliches Maß verloren. Er haßte
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die Spanier in einer Weise, die man nur noch als barbarisch bezeichnen konnte. Als er nach der Schlacht gegen die Armada über ein zum Wrack geschossenes spanisches Schiff hatte herfallen wollen, um es auszuplündern und die schiffbrüchige Besatzung zu massakrieren, waren Philip Hasard Killigrew und Jean Ribault dazwischengegangen und hatten diese Leichenfledderei verhindern können. Dabei hatte Hasard der „Revenge“ die Ruderanlage zerschossen, und darum lag jetzt Drakes Flaggschiff im Dock. Im übrigen hatten die „Revenge“Leute schwer Senge bezogen, als sie vor zwei Tagen versucht hatten, die Le-Vengeurs und die Seewölfe zu provozieren. Unabhängig davon hatte der Admiral bei einem Bankett des Bürgermeisters von Plymouth zu Ehren der Sieger gegen die Armada ein paar moralische Ohrfeigen von Hasard einstecken müssen. Bei der nächsten Gelegenheit hatte er es dem Seewolf heimzahlen wollen, und die hatte sich ihm geboten, als dessen beide Söhne vom Landsitz Doc Freemonts zur „Isabella“ zurückkehrten. Er hatte die Zwillinge brutal entführt. Aber die hatten den Spieß umdrehen und den Admiral übertölpeln können. Es war zuviel, was sich der sehr ehrenwerte Admiral Drake Hasard und den Seewölfen gegenüber geleistet hatte. Mit dem Entführungsversuch an den beiden Jungen hatte er das Faß zum Überlaufen gebracht. Von Hasard hatte er keine Rücksichten mehr zu erwarten. Der hatte sich eine Menge bieten lassen, aber das war endgültig vorbei. Das Übel war, daß dieser Francis Drake nicht verlieren konnte. Er begriff auch nicht, daß die Schlappen, die ihm Hasard und seine Männer bereitet hatten, keine Zufälle gewesen waren. Nein, das begriff er nicht, weil er sich selbst für unfehlbar hielt. So verrannte er sich immer mehr in die fixe Idee, es diesem verdammten Seewolf heimzahlen zu müssen. Und je mehr er sich verrannte, desto lächerlicher wurde die ganze Sache. Nur das merkte er nicht.
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Carberry lauschte hinter sich und hörte die Schritte des Admirals. Sie verhielten neben ihm. Carberry knüpfte noch einen halben Schlag in das Tau, prüfte dessen wandte sich halb zum Achterdeck und rief nach oben: „Hiev auf, das Ding!“ Oben legten sich Batuti, der herkulische Gambia-Neger, Smoky, der Decksälteste, und Dan O'Flynn ins Zeug, um die Kiste mittels der holenden Part der Talje an Bord zu hieven. Carberry sah, wie die drei verstohlen grinsten, weil sie genau wußten, was jetzt passieren würde. Um sie nicht zu enttäuschen - und weil er das ja sowieso im Sinn gehabt hatte -, trat Carberry abrupt und auch kräftig „aus dem Kinken“. Das tut jeder Seemann, wenn er unter einer schwebenden Last steht. Also war das ganz legal, nicht wahr? Und kein Mensch konnte Carberry deswegen verdammen, daß er dabei dem sehr ehrenwerten Admiral kräftig auf die Zehen stieg, natürlich mit voller Absicht, aber das sollte erst mal jemand beweisen! „Au!“ brüllte der Admiral und hüpfte auf einem Bein. Carberry wirbelte mit erstauntem Gesicht herum. „Oh“, sagte er freundlich und grinste. „Können Sie nicht aufpassen, Sie Idiot?“ brüllte der Admiral. „Wieso?“ fragte Carberry mit biederer Miene. „Sie sind mir auf den Fuß getreten, Mann!“ stieß der Admiral wütend hervor. „Ich hab hinten keine Augen“, sagte Carberry seelenruhig. „Außerdem ist auf der Pier Platz für 'ne ganze Armee. Mußten Sie sich da unmittelbar hinter mir aufstellen, Mister Drake?“ „Ich bin mit Admiral und Sir anzureden?“ fauchte Drake. „Und ich bin für Sie Mister Carberry und nicht ,Sie Idiot' oder ‚Mann', klar, Mister Drake?“ „Ich bitte mir mehr Respekt aus, Profos!“ Drake kochte. „Respekt vor was?“ fragte Carberry gleichmütig. „Vor meinem Dienstrang als Admiral der Royal Navy, verdammt!“
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„Ach du meine Güte“, sagte Ed Carberry, „mit der Royal Navy hab ich nichts am Hut, also interessieren mich auch ihre Ränge nicht, Mister Drake. Oder geht das nicht in Ihren Kopf? Also, für mich sind Sie Mister Drake — klabasta!“ Er spuckte ins Hafenbecken. „Und wieso ich vor einem Dienstrang der Royal Navy Respekt haben soll, kapier ich überhaupt nicht. Ist das was besonderes, so'n Dienstrang? Noch dazu, wenn Sie ihn innehaben? Da kann doch nicht viel dran sein, oder?“ Carberry spuckte noch einmal ins Hafenbecken. Offensichtlich mußte er eine Menge Spucke loswerden — und wohl auch Zorn, den er aber äußerlich nicht zeigte. Den Blattschuß auf den sehr ehrenwerten Sir Francis hatte er jedoch noch nicht abgefeuert. Der kam jetzt. Er sagte: „Und Admirale, die Kinder klauen wollen, aber von denen noch aufs Kreuz gelegt werden, na, vor solchen Admiralen hab ich schon gar keinen Respekt. Oder rekrutieren sich neuerdings die Admirale der Royal Navy aus der Gilde der Schnapphähne und Wegelagerer, Mister Drake?“ „Sie — Sie ...“ keuchte der Admiral, rot vor Wut und unfähig, noch weiter zu sprechen, weil er an seiner Wut nahezu erstickte. Über die Gangway schlenderte Hasard und näherte sich den beiden. Neben Carberry blieb er stehen und musterte Drake eisig. „Was will der Kerl hier?“ fragte er Carberry. „Will er stänkern?“ Carberry grinste. „Ich bin ihm wohl auf die Zehen getreten — wortwörtlich, Sir. Er stand hinter mir, als ich zurücktrat, weil die Kiste hochgehievt wurde. Dann meinte er, ich müsse ihn mit Admiral und Sir anreden, und er bäte sich mehr Respekt aus, na, und da sagte ich ihm, daß ich vor Admiralen, die Kinder klauen und sich wie Schnapphähne und Wegelagerer benehmen, keinen Respekt hätte. Darauf kaut er jetzt herum. Offensichtlich schmeckt's ihm nicht. Ob er stänkern wollte, weiß ich nicht. Ich hab eher den Eindruck, daß er hier herumschnüffeln wollte.“
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Hasards Stimme war ätzend. „Verschwinden Sie, Drake! Sie haben in unmittelbarer Nähe der ‚Isabella' nichts zu suchen. Wenn Sie es trotzdem tun, muß ich nach Ihrem bisherigen Verhalten annehmen, daß Sie wieder einen Ihrer dreckigen Pläne verfolgen. Um dem begegnen zu können, würde ich mich gezwungen sehen, Ihnen Respekt beizubringen.“ Hasards Degen zischte aus der Scheide. „Hiermit!“ Die Degenspitze deutete auf Drakes Kehle. Drake zuckte zurück. Unwillkürlich fuhr seine Rechte ebenfalls zum Degen hinunter. Hasard glitt leicht einen Schritt zurück und senkte seinen Degen etwas. „Na los!“ sagte er scharf. „Ich bin bereit. Tragen wir es endlich aus. Einer von uns beiden scheint zuviel auf dieser Erde zu sein. Wir werden sehen, wer es ist.“ Der Admiral versteckte seine Rechte auf dem Rücken. Er war käseweiß. „Ich duelliere mich nicht mit Ihresgleichen“, sagte er heiser. „Sie Feigling!“ Noch einmal zuckte der Admiral zusammen. Aber auch diese Beleidigung nahm er hin, obwohl sie tödlicher nicht sein konnte. Kein von der Königin zum Ritter geschlagener Mann hätte eine solche Beleidigung auf sich sitzen lassen, ganz abgesehen davon, daß es nach dem ritterlichen Kodex selbstverständlich war, dem Vorwurf der Feigheit mit der Blankwaffe zu begegnen. Der Admiral tat es nicht. „Sauber, sauber“, murmelte Edwin Carberry und spuckte zum dritten Male ins Hafenbecken. „Und so ein Scheißkerl verlangt von mir, ich solle Respekt vor ihm haben - zum Kotzen!“ Hasard stieß seinen Degen in die Scheide zurück. Eisige Verachtung zeichnete sein Gesicht. Wenn er dachte, diesen Mann endgültig geschafft zu haben, dann hatte er sich getäuscht. Drakes Dickfelligkeit war nicht zu überbieten. Kaum war die unmittelbare Gefahr der Auseinandersetzung mit den Blankwaffen vorbei, da schnarrte er: „Wie ich sehe,
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übernehmen Sie und dieser französische Pirat Stückgüter aus dem Arsenal der Royal Navy. Ich verlange eine Auskunft, wie das möglich ist. Laut Aussage der Arsenalverwaltung gibt es keine Lagerbestände mehr. Was geht hier vor?“ Carberry schüttelte den Kopf. „Nicht zu fassen! Erst kneift er, dann reißt er schon wieder die Luke auf.“ Er äffte dem Admiral nach: „Ich verlange eine Auskunft! Dieser spitzbärtige Wurzelzwerg verlangt eine Auskunft verlangt! Sind wir vielleicht für dämliche Fragen zuständig, was, wie? Was wir verlangen, ist was anderes: daß du nämlich deine Schoten dicht holst und abstreichst! Oder du fliegst mit einem Tritt in den Hintern zurück zu deinem verlausten Flaggschiff. Jetzt reicht's mir nämlich.“ „Ich werde eine Untersuchung beantragen!“ schrie der Admiral. „Das stinkt ja zum Himmel ...“ Er brach ab und trat schleunigst den Rückzug an. Denn von einem Profos wollte er sich nicht verprügeln lassen. Er hätte dem auch gar nichts entgegensetzen können. Was Carberry - einmal entfesselt für ein Orkan war, das wußte auch der sehr ehrenwerte Admiral. „Ich versteh das nicht mehr“, sagte Carberry kopfschüttelnd. „Was ist aus diesem Mann nur geworden?“ „Ich weiß es auch nicht, Ed“, erwiderte Hasard. „Und wenn ich es wüßte, würde uns das auch nichts helfen. Der Mann ändert sich nicht mehr. Irgendetwas treibt ihn, und er findet nicht mehr zurück. Er will zerstören.“ Hasard schwieg einen Moment, und dann setzte er hinzu: „Darum wird er immer gefährlicher und unberechenbarer.“ „Der ist tollwütig“, knurrte Carberry. „Vielleicht hast du recht“, sagte Hasard. „Umso schärfer müssen wir aufpassen.“ 3. Die dritte Unterbrechung passierte gegen Mittag und war folgenschwer. Im Mittschiffsladeraum der „Isabella“ arbeiteten Matt Davies, Luke Morgan und
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Blacky. Sie nahmen die von der Großrah abgefierten Ladegüter wahr und verstauten sie gleichmäßig an der Backbord- und Steuerbordseite. Für je drei Trinkwasserfässer waren auf beiden Seiten Plätze vorgesehen. Dort auch hatten Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, und Big Old Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister der Feste Arwenack, schwere Eisenbänder an die Stützbalken gebolzt. Mit diesen Eisenbändern wurden die Fässer umfangen, so daß sie selbst bei schwerstem Seegang sicher gestaut waren. Um sie aus diesen Halterungen zu lösen, mußte die „Isabella“ schon kopfstehen. Aber wenn das passierte, brauchte auch keiner der Seewölfe mehr Trinkwasser, denn da würde sie ihre letzte Reise antreten - in die Tiefe. Drei Fässer waren bereits auf der Backbordseite verstaut. Jetzt schwebte das vierte Faß oben über der Ladeluke. Dieses Faß wie auch die anderen hatte Ferris Tucker auf der Pier an eine Talje der ausgebaumten Großrah angeschlagen. Die Talje, mehrfach geschoren, lief unterhalb der Rahmitte durch einen kräftigen Doppelscheibenblock. Auf der Kuhl nun fierten Gary Andrews und Pete Ballie die lose Part Hand über Hand ab. Diese lose Part lief über eine Klampe, so daß sie jederzeit belegt werden konnte - da genügte ein halber Kopfschlag. Carberry, ebenfalls auf der Kuhl, war bereits wieder schwer in Gange und fragte die beiden an der Talje in seiner rauhbautzigen Art, ob sie gedächten, beim Abfieren des Fasses einen Mittagsschlaf zu halten. Pete Ballie grinste nur zur Antwort. Gary Andrews sagte gar nichts, sondern verdrehte nur die Augen. Die drei unten im Laderaum stierten nach oben, und Matt Davies rief: „He, laß kommen das Ding, willig, willig!“ „Halt's Maul, da unten!“ röhrte Carberry dazwischen. Da er noch, ein paar Flüche hinterherschickte und im übrigen genug Lärm auf dem Kuhldeck herrschte, hörte
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niemand den Knall - nur Dan O'Flynn auf dem Achterdeck, aber er vernahm ihn auch nur schwach und registrierte ihn lediglich im Unterbewußtsein. So wußte zunächst niemand, wie es hatte passieren können. Sie bemerkten nur die Wirkung. Carberry, Gary Andrews und Pete Ballie - in unmittelbarer Nähe des Geschehens meinten, ein Trugbild 'zu sehen. Denn plötzlich zerplatzte der Taljenblock unter der Großrah. Die beiden Scheiben, über welche die Talje lief, flogen samt Bolzen davon. Und das Trinkwasserfaß sauste abwärts. Das geschah innerhalb von Sekundenbruchteilen, und weder Pete Ballie noch Gary Andrews hatten überhaupt den Hauch einer Chance, die lose Part in diesen Sekundenbruchteilen noch auf der Klampe zu belegen, um das Faß abzufangen. Im übrigen raste das Tau wie eine glühende Schlange durch ihre Handflächen. Unten im Laderaum sahen Blacky, Luke Morgan und Matt Davies das Ungetüm auf sich zustürzen. Natürlich hatten sie nach alter Seemannsregel nicht unter der Last gestanden. Aber alle drei reagierten instinktiv und warfen sich zurück. Das Trinkwasserfaß krachte schräg auf eine Kiste, prallte dort ab, erhielt eine neue Richtung, schlug auf die Laderaumplanken - und rollte über Blackys rechten Fuß. Blacky schrie gellend auf und krümmte sich zusammen. Matt Davies war mit einem Satz an dem Faß und stemmte es mit wüster Kraft von Blackys Fuß weg. Blacky bäumte sich nach hinten und stöhnte. Sein Gesicht war innerhalb von Sekunden aschfahl und schweißüberströmt. „Mann“, knurrte Matt Davies, „Mann ...“ Mit einem Blick hatte er gesehen, was mit Blackys Fuß los war. Der war seltsam verdreht. übel schaute das aus. „Kutscher!“ brüllte Matt Davies nach oben. Sein Gesicht war wutverzerrt. „Welcher Idiot hat diesen Mist verzapft den schlag ich tot, den krummen Hund.“
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Und noch einmal: „Kutscher! Verdammt, Blacky ist verletzt ...“ Oben erschien Carberrys zernarbtes Gesicht an der Luke. Er warf nur einen kurzen Blick auf Blacky, fuhr herum und brüllte ebenfalls: „Kutscher! Wo steckt der Bastard?“ Ein wüstes Durcheinander herrschte jetzt auf der Kuhl. Hasard fegte heran, gefolgt von Ben Brighton und Big Old Shane. Auf dem Achterdeck hatte Dan O'Flynn völlig anders reagiert. Als der Taljenblock auseinandergeplatzt war, hatte er als einziger fast im selben Moment den Knall damit in Verbindung gebracht. Jemand hatte geschossen! Auf den Taljenblock! Dan war herumgewirbelt. Hinter den Holzbohlenstapeln im Werftgelände beim Dock stieg ein Rauchwölkchen auf, wurde vom Wind erfaßt und zerfaserte. Dort befand sich der Heckenschütze! Mit einem Fluch sprang Dan aufs achtere Schanzkleid und von dort gleich hinunter auf die Pier. Es war ein höllischer Sprung, aber Dan überstand ihn, landete, rollte ab, federte wieder hoch und jagte los. Batuti folgte ihm auf dem gleichen Weg. Auch er hatte das Rauchwölkchen 'entdeckt. Außerdem war es nicht gut, den tollkühnen Dan jetzt allein zu lassen. Smoky hatte gar nichts mitgekriegt. Er stand nur da, schüttelte den Kopf und murmelte: „Ist hier denn alles verrückt geworden?“ Dan O'Flynn und Batuti erreichten gemeinsam die Stelle hinter den Bohlenstapeln, wo der Rauch aufgestiegen war. Aber der Heckenschütze war bereits verschwunden. Nur eine Muskete lag noch da. Dan hob sie auf. Ihr Lauf war noch warm. „Dieses Schwein“, murmelte er und blickte sich wild um. Batuti spähte zur „Revenge“ hinüber. Die war etwa hundert Yards von ihnen entfernt. Da sie im Dock lag, konnte man nur über Leitern an Bord entern. Ein Mann enterte über eine der Leitern auf. Er hatte eine kleinere Kiste unter dem Arm. War das der
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Heckenschütze? Die Kiste konnte Tarnung sein. Dan O'Flynn war Batutis Blick gefolgt. „Ob er das war?“ fragte er. „Möglich“, erwiderte Batuti, „aber kein Beweis. Er uns gesehen und Flucht ergriffen. Leider rechtzeitig.“ „Mistkerle“, murmelte Dan O'Flynn. „Jetzt schießen sie schon aus dem Hinterhalt auf uns.“ Er starrte auf den geschwungenen Kolben der Muskete. Dort war auf der Wangenseite ein großes „R“ eingebrannt. „Revenge“, fügte er hinzu, „Rache - der Name ist den Kerlen wie auf den Leib geschrieben. Nichts anderes haben die mehr im Kopf, diese Drecksäcke.“ „,Revenge'-Männer wie Admiral“, sagte Batuti, „alle untergeschnappt.“ „Übergeschnappt“, verbesserte Dan O'Flynn. „Gut, übergeschnappt.“ Batuti blickte besorgt zur „Isabella“ zurück. „Schlimm was passiert auf ‚Isabella'. Matt Davies nach Kutscher gebrüllt, Profos dann auch. Blacky verletzt. Trinkfaß mit Wasser abgesaust in Laderaum - hui!“ „Los, zurück“, befahl Dan. „Hier ist nichts mehr zu holen.“ Sie trabten zur „Isabella“ zurück. Hasard kniete bei Blacky. Sie hatten ihn inzwischen nach oben auf die Kuhl bugsiert und sein Hosenbein aufgeschlitzt. Der rechte Knöchel sah wüst aus. Der Fuß war unförmig angeschwollen. Der Kutscher hatte ihn weich gebettet und nasse Tücher herumgelegt. Mehr konnte er auch nicht tun. Hasard hatte Bill bereits zu Doc Freemont gejagt. Blacky kübelte Rum, den ihm Hasard an die Lippen hielt. Die Flasche war schon zur Hälfte leer, und Blacky schielte etwas. Hasard sagte: „Wird schon wieder werden, mein Junge. Hauptsache, das Faß hat dich nicht erschlagen.“ Blacky grinste seinen Kapitän an, etwas schief, wie sie alle sahen. Mit etwas schwerer Zunge sagte er: „Ihr ihr wolltet morgen auslaufen, Sir. Muß ich - muß ich dann zurückbleiben ...“ „Unsinn“, unterbrach ihn Hasard. „Ohne dich läuft keine ‚Isabella' aus.“
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„Bestimmt nicht?“ Blackys Augen bettelten. „Bestimmt nicht“, erwiderte Hasard. „Mein Wort darauf.“ Blacky seufzte befreit - und dann trat er weg. „Ohnmächtig“, sagte der Kutscher sachlich. Hasard richtete sich langsam auf. Sein Blick verhieß nichts Gutes, als er die umstehenden Männer musterte. Seine Augen hefteten sich schließlich auf Ed Carberry. „Wer“, fragte er zähneknirschend, „hat diese verdammte Talje an der Großrah angeschlagen? Dürfte ich das vielleicht erfahren, Mister Carberry?“ Mister Carberry! Bei einer solchen Anrede - das wußten sie alle an Bord - war Gefahr im Verzug. Da konnte es sein, daß Philip Hasard Killigrew mit einer Schärfe reagierte, der sich keiner gewachsen fühlte. Da war dieser Kapitän Feuer und Wasser, Himmel und Hölle zugleich. Der Profos wollte etwas sagen, aber Dan O'Flynn trat vor und erklärte: „Ed hat keine Schuld.“ Hasard fuhr zu ihm herum. „Und woher willst du das wissen?“ „Die Talje wurde mit dieser Muskete zerschossen!“ Dan hob die Muskete. Er drehte sich etwas und deutete mit der anderen Hand zu den Bohlenstapeln. „Dort hinten hatte sich der Schütze versteckt. Als alles passierte, hörte ich einen schwachen Knall. Dann sah ich ein Rauchwölkchen hinter den Stapeln aufsteigen und raste hinüber. Batuti kam mit. Wir fanden nur noch diese Muskete - mit warmem Lauf. Auf ihrem Kolben ist ein großes ,R` eingebrannt, also eine Waffe aus den Beständen der ,Revenge`. Als Batuti und ich bei der Stelle anlangten, von der aus der Heckenschütze gefeuert hatte, sahen wir lediglich einen Mann, der über eine Leiter auf die ,Revenge` enterte. Er könnte der Schütze gewesen sein. Leider sahen wir ihn nur von hinten. Bleibt also als einziger Beweis, daß einer der Kerle der ,Revenge` der Schütze war, nur diese Muskete.“
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Hasard nickte und murmelte: „Sie scheuen vor nichts mehr zurück -nicht einmal vor Mord.“ „Was dachtest du denn“, sagte Dan O'Flynn erbittert. „Wenn ihr Admiral schon Kinder zu rauben versucht, dann dreht die Besatzung noch ganz andere Bolzen. Vielleicht hat Drake den Heckenschützen sogar zu seiner Tat angestiftet. Vergiß auch nicht, daß die Kerle neulich nacht versuchten, die ,Isabella' vom Wasser her anzugreifen und zu versenken. Die Bohrer, Äxte, Stemmeisen und Hämmer beweisen es. Ich bin der Meinung, daß das Maß jetzt voll ist. Entweder wir - oder die da drüben. Wir sollten für reinen Tisch sorgen. So geht's nicht weiter, ein nächster Schuß aus dem Hinterhalt könnte für einen von uns tödlich sein.“ Zustimmendes Gemurmel erklang ringsum. Es wurde unterbrochen, als Jean Ribault über die Gangway an Bord kam. Sein Gesicht war besorgt. Er wandte sich an Hasard. „Was ist los? Nils Larsen wahrschaute mich, bei euch sei ein Unglück passiert.“ „Unglück ist gut“, knurrte Hasard. „Jemand von der ,Revenge` zerschoß mit einer Muskete den Taljenblock an der Großrah. Über der Luke hing gerade ein Trinkwasserfaß. Die Talje rauschte aus, das Faß schlug in den Laderaum und überrollte Blackys rechten Fuß. Ich fürchte, daß er einen komplizierten' Knöchelbruch hat. Bill hat Doc Freemont.“ „Verdammt“, murmelte Jean Ribault und blickte auf Blacky hinunter. „Komplizierter Knöchelbruch? Hoffentlich kriegt Doc Freemont das wieder hin — ohne amputieren zu müssen.“ Das war brutal, aber Jean Ribault sprach nur aus, was alle befürchteten. „Hör bloß auf, Mann“, sagte Hasard biestig. „Ihr solltet ihn ins Stadtlazarett schaffen“, sagte Jean Ribault unbeeindruckt. „Er bleibt an Bord, und Doc Freemont wird sich um ihn kümmern“, erklärte Hasard kategorisch: „Bei uns ist Blacky besser aufgehoben als zwischen Quacksalbern und Betschwestern.“
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„In Ordnung. Es war ein schlechter Vorschlag.“ Jean Ribault starrte Hasard nachdenklich an. „Wir wollten morgen auslaufen, Freund. Daraus wird wohl nichts?“ „Richtig, daraus wird nichts“, erwiderte Hasard. „Blacky gehört zur Crew, ohne ihn gehen wir nicht raus. Darüber ist gar nicht zu diskutieren. Wir verlassen Plymouth mit Blacky und das auch erst, wenn ich völlig sicher weiß, daß nichts mehr wegen seines Fußes zu befürchten ist.“ „Das kann drei, vier Wochen dauern.“ „Na und?“ Dann stutzte Hasard. „Du meinst, wegen unseres gemeinsamen Auslaufens?“ Jean Ribault nickte und kaute auf seiner Unterlippe. „Wir möchten euch nicht im Stich lassen.“ Er deutete mit dem Kopf zur „Revenge“ hinüber. „Wegen dieser Verrückten dort drüben. Wer weiß, was die noch alles aushecken. Du kennst Drake.“ „Wem sagst du das, Jean.“ Aber dann schüttelte Hasard den Kopf. „Nein, ihr braucht nicht mit dem Auslaufen zu warten. Ich halte es sogar für besser, wenn ihr wie geplant morgen in See geht und Kurs auf die Schlangen-Insel nehmt. Dort treffen wir uns dann.“ „Was meinst du damit, daß es für uns besser sei, auszulaufen?“ „Eben wegen Drake“, erwiderte Hasard. „Du bist Franzose. Er kann dir leichter etwas anhängen als uns. Du hast eine französisch-englischdänisch-holländisch gemischte Besatzung. Drake bringt es glatt fertig, euch als spanische Spione zu verdächtigen, um eine Handhabe zu haben, offiziell gegen euch vorgehen zu können. Diese Gelegenheit sollten wir ihm erst gar nicht geben. Richtig ist, ihm so wenig Angriffsfläche —was seine Intrigen betrifft — zu bieten wie möglich. Aus diesem Grunde halte ich es für besser, wenn ihr morgen auslauft.“ „Dann habt ihr Drake allein am Hals“, sagte Jean Ribault, „denn der gibt nicht auf, jetzt noch weniger als früher.“ „Bisher sind wir noch immer mit ihm fertig geworden. Unter Umständen zwinge ich ihn vor ein Ehrengericht, vielleicht auch
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vor ein öffentliches Gericht. Sein Versuch, meine Jungen zu rauben, sowie der Anschlag mit der Muskete, bei dem Blacky gefährlich verletzt wurde -allein diese beiden Punkte dürften für eine Anklage ausreichen. Einen solchen Prozeß übersteht er nicht ungeschoren.“ „Hoffen wir's“, murmelte Jean Ribault. Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: „Daß wir „Le-Vengeurs' den Kerl zusätzlich reizen, ist mir klar. Wir kämpfen gegen die Spanier, aber nicht für ein Land, sondern für uns.“ Bitternis klang in Ribaults Stimme. „Ich wollte, ich könnte für meine Heimat Frankreich kämpfen. Aber wir sind Vogelfreie - Schnapphähne zur See, wenn auch mit Ehre. Du hast recht, Freund. Es ist besser, wir verschwinden. Wenn Drake der Einfachheit halber auf uns losgeht, ziehen wir euch unweigerlich mit hinein.“ Er atmete tief durch. „In Ordnung, wir verlassen morgen früh Plymouth.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Auf der Schlangen-Insel spuckt uns keiner mehr in die Suppe. Wer frei sein will, muß wohl auf Heimat verzichten. Das ist unser Preis.“ Hasard reichte ihm stumm die Hand. Es war nichts mehr zu sagen. Eine halbe Stunde später rollte Doc Freemonts Kutsche auf die Pier und hielt bei der „Isabella“. Dieser Sir Anthony Abraham Freemont hatte ein besonderes Verhältnis zu Philip Hasard Killigrew und den Männern der „Isabella“. Da war einmal der Kutscher, der bei ihm gedient hatte, bevor ihn eine Preßgang des damaligen Kapitäns Drake - wie auch Hasard, Dan O'Flynn und Blacky - an Bord der alten „Marygold“ geschleppt hatte. Bei Doc Freemont hatte der Kutscher seine Kenntnisse als Feldscher erworben, und darum hatte ihn Hasard zu sich an Bord genommen, als ihm sein erstes selbständiges Kommando als Kapitän von Drake übertragen worden war. Zum, zweiten hatte Doc Freemont Hasard von einer schweren Schädelverletzung geheilt und in seinem Hause versteckt, als die Häscher des damaligen
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Friedensrichters Keymis hinter dem Seewolf hergewesen waren. Zum dritten hatte Gwendolyn Bernice Killigrew, geborene O'Flynn, die Frau Hasards, bei ihm entbunden, als sie die Zwillinge zur Welt brachte. Und zum vierten hatte der Doc sich um die beiden Jungen gekümmert, als sie von dem schurkischen Keymis geraubt worden waren. Ja, diesen Mann verbanden sehr enge Beziehungen mit Hasard und seinen Männern. Dabei hatte er Zivilcourage, einen hervorragenden Ruf als Arzt, war völlig integer, untadelig in seiner Lebenshaltung und selbstlos wie kaum ein Mensch. Hasard empfing ihn am Schanzkleid und führte ihn zu Blacky. Doc Freemont begrüßte lächelnd den Kutscher, der bei Blacky kniete. „Na, da wollen wir uns das mal anschauen“, sagte er. „Bill hat mir bereits berichtet, was passiert ist.“ „Knöchelbruch, Sir“, sagte der Kutscher und nahm die nassen Tücher weg. „Und natürlich ein schwerer Bluterguß. Ich habe den Fuß gekühlt. Mehr konnte ich nicht tun.“ „Hm.“ Der Doc kniete nieder und untersuchte den Fuß. Blacky war noch bewußtlos, aber er stöhnte, als Doc Freemont den Fuß bewegte und abtastete. Dann schaute der Doc auf und blickte Hasard mit seinen klugen, grauen Augen an. „Könnten wir ihn in eine Achterdeckskammer bringen?“ fragte er. „Natürlich, Doc“, erwiderte Hasard. „Muß der Fuß ...“ Er verstummte. „Amputiert werden?“ Da war wieder dieses feine Lächeln in dem hageren, wissenden Gesicht mit dem schmalen Mund und der geraden Nase. „Aber nein, Hasard, so schnell hantiere ich nicht mit der Knochensäge. Ich verabscheue diese Methode auch, solange es anders geht und kein Wundbrand auftritt. Es ist allerdings ein Splitterbruch. Zwei haben die Haut durchstoßen, und ich werde sie entfernen müssen. Also, dann wollen wir mal. Ich
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bitte um heißes, abgekochtes Wasser, saubere Leinentücher - na, mein alter Kutscher weiß ja Bescheid, nicht wahr?“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Kutscher, „wie in alten Zeiten, denke ich.“ „Genau so.“ Der Kutscher lächelte. „Für den Transport nach achtern den Fuß bandagieren?“ „Richtig.“ Doc Freemont seufzte etwas. „Du ahnst gar nicht, was ich dich damals vermißt habe. Na, das habe ich dir ja schon vorgejammert, als ihr Hasard mit seiner Schädelwunde zu mir brachtet. Möchtest du nicht wieder bei mir anfangen?“ „Nein, Sir. Entschuldigung, mein Platz ist auf der ‚Isabella'. Ich bin kein Deserteur.“ „Leider.“ Der Doc lächelte Hasard an, und der lächelte zurück. Mit ein paar Griffen hatte der Kutscher den Fuß Blackys bandagiert -und Blacky wachte auf. „Kutscher“, sagte er undeutlich, „hör auf, an meinem Bein herumzufummeln. Oder soll ich dir die Klüsen dichtschlagen, du abgetakelte Kombüsenwanze?“ Der Kutscher räusperte sich und schaute zu Doc Freemont hoch, etwas verlegen. „Entschuldigen Sie, Sir. Blacky ist natürlich ein bißchen überdreht. Ich hab ihm auch Rum zugestanden, und dann werden diese Kerle immer gleich ordinär. Aber sonst ist Blacky ein feiner Kerl, bestimmt ...“ „He-he!“ Blacky richtete sich auf, hatte Schluckauf und schielte zu Doc Freemont hoch. „Du bist doch ...“ „Bin ich“, sagte Doc Freemont. „Ich hab deinen Kapitän damals zusammengeflickt, und jetzt bist du dran, mein Junge. Du hast einen feinen Knöchelbruch, und damit der ganze Kram nicht schief zusammenwächst, muß ich dir den Fuß richten. Oder willst du überquer durch dein weiteres Leben laufen?“ Blacky kniff die Augen zusammen und peilte seinen rechten Fuß an, der nach innen gedreht war. „Überquer?“ fragte er. „So über den großen Zeh, wie?“ „So ungefähr.“ Der Doc lächelte verhalten.
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„'n Querläufer“, murmelte Blacky. Sein Blick suchte Smoky, den Decksältesten. „Wie findest du das, Smoky? Soll ich wie 'n Querläufer laufen?“ „Also, ich würd's nicht tun“, sagte Smoky vorsichtig. „Stell dir mal vor, wie du gehst. Mit dem linken Fuß gehst du wie immer, klar? Aber rechts schlackerst du mit dem Fuß nach innen - so!“ Smoky marschierte los, den rechten Fuß nach innen gewinkelt. Es war gekonnt. Er latschte, als hätte er Plattfüße, Fußblasen, verwachsene Fußnägel und verkehrt eingesetzte Füße. Außerdem hinkte er wie ein Veteran mit Holzbein. „Wie Old O'Flynn“, sagte Blacky und kicherte. Old Donegal wollte aufbrausen, aber ein scharfer Blick Hasards stoppte ihn. Er begriff und sagte: „Laß dir die Flunke von Doc Freemont richten, Blacky. Bei den Weibern hast du keine Chance mehr, wenn du so wie Smoky daherlatschst. Die lachen sich halbtot.“ „Meinst du?“ „Klar, Söhnchen. Als ich mein Holzbein hatte, hat mich Mistreß O'Flynn nur noch ausgelacht. Einmal im Winter, als unser Brennholz ausgegangen war, wollte sie doch glatt mein Holzbein verfeuern. Stimmt doch, nicht wahr, Dan?“ Er blinkerte seinen Sohn an. „Und oh“, sagte Dan O'Flynn todernst. „Mann, war das ein Theater!“ Plötzlich grinste er. „Obwohl ich gar nichts dagegen gehabt hätte, wenn das verdammte Holzbein im Kamin gelandet wäre - wegen der Senge, die der Alte mir mit dem Ding zu verpassen pflegte.“ Dieses Mal räusperte sich Old O'Flynn. „Wir kommen vom Thema ab, Dan O'Flynn“, sagte er streng, wandte sich wieder Blacky zu und erklärte: „Dein Fuß muß gerichtet werden, Sohn. Das wird bestimmt wehtun, und darum solltest du jetzt noch ordentlich mit Rum gurgeln. Und wenn's zu schlimm wird, haut dir Ed Carberry einen Belegnagel auf den Kopf. Dann spürst du überhaupt nichts mehr.“ Das war mal ein feiner Vorschlag, vor allem das mit dem Rum. Blacky sang
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unanständige Lieder, als ihm Doc Freemont die beiden Splitter entfernte. Und dann wurde er wieder bewußtlos. Doc Freemont konnte den Fuß exakt richten und schienen. Als er von Bord ging, sagte er zu Hasard: „Es könnte sein, daß da noch Knochensplitter sind, die ich zunächst nicht festzustellen vermag. Wenn das der Fall ist, müßte sich der Fuß in zwei, drei Tagen entzünden -was ich nicht hoffe. Aber mindestens drei, vier Tage müssen wir abwarten. Ich schaue jeden Tag nach ihm. Wenn er Fieber kriegen sollte, möchte ich sofort benachrichtigt werden.“ „In Ordnung, Doc. Und herzlichen Dank.“ Doc Freemont winkte ab. „Bitte keine Vorschußlorbeeren. Wir müssen abwarten. Aber noch etwas anderes, was Drake betrifft. Selbstverständlich stehe ich als Zeuge zur Verfügung, wenn Sie mich brauchen, Hasard. Allein sein Versuch, Ihre beiden' Jungen zu rauben, sollte genügen, ihm das Genick zu brechen. Der Mann ist genial, das steht außer Zweifel. Aber ich schätze, er neigt zum Größenwahn, und da wird's gefährlich. Seien Sie vorsichtig.“ „Wir passen auf“, erwiderte Hasard. Sie wechselten einen festen Händedruck. 4. Nichts passierte - weder am Nachmittag noch in der Nacht. Die Stückgüter aus dem Arsenal waren alle übernommen worden. Später, vor allem für die Nacht, hatte Hasard doppelte Wachen aufziehen lassen. In der Achterdeckskammer schlief Blacky seinen Rausch aus, bewacht vom Kutscher, den später Jeff Bowie ablöste. Um zehn Uhr am nächsten Vormittag warf die „Le Vengeur“ die Leinen los und nahm Kurs südwärts, begleitet von den guten Wünschen der Seewölfe. Eine Atlantiküberquerung Richtung Karibik: barg immer Risiken und Gefahren, und es konnte durchaus sein, daß die Seewölfe die Männer der „Le Vengeur“ zum letzten Male sahen - oder umgekehrt. Niemand vermochte in die
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Zukunft zu schauen. Sie alle wußten nur, wie unberechenbar die See war und wie erbarmungslos sie zuschlagen konnte. Der Mensch hatte sich ihr anzupassen, wenn er überleben wollte. Und wenn er in einen Orkan geriet, dann konnte er nur noch beten. Die Schlangen-Insel in der Karibik war der Treffpunkt der „Le-Vengeurs“ und der Seewölfe. In den verborgenen Höhlen der Insel lagerten die Schätze, die sie von den Dons erbeutet hatten. Die Insel selbst wurde von Siri-Tong, der Roten Korsarin, bewacht, die dieses Eiland einst auch entdeckt und eine höllische Einfahrt zu einer völlig abgeschirmten Bucht der Insel gefunden hatte. Dorthin also segelte die „Le Vengeur“, und die „Isabella“ würde folgen, sobald Doc Freemont für Blackys Fuß keine Komplikationen mehr befürchtete. So hatten es Hasard und Jean Ribault miteinander abgesprochen. Natürlich registrierten auch die Kerle auf der „Revenge“ das Auslaufen der „Le Vengeur“. Sie demonstrierten es, indem sie der schlanken Zweimast-Karacke Flüche hinterherbrüllten und die Fäuste drohend schüttelten. Wenn es nach den Männern von Drakes Flaggschiff ging, dann mußte die „Le Vengeur“ geradewegs in die Hölle segeln. Zumindest wünschten sie dem Franzosen und seiner Crew die Pest an den Aals. Der Admiral dieser geifernden und pöbelnden Flaggschiffsbesatzung ließ sich nicht auf dem Achterdeck sehen. Dafür aber erschien er gegen Mittag in Begleitung des Stadtkommandanten, Sir Gordon Huntley, auf der Pier und steuerte zusammen mit ihm die Gangway der „Isabella“ an. Hasard wurde rechtzeitig gewahrschaut und empfing die beiden Männer auf der Kuhl. Er dachte gar nicht daran, sie aufs Achterdeck, geschweige denn in die Kapitänskammer zu bitten. Gegen den Stadtkommandanten hatte er nichts, absolut nichts, aber wenn der in Begleitung Drakes erschien, dann konnte das nichts
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Gutes bedeuten. Also war er auf alles gefaßt. Den Stadtkommandanten begrüßte er mit einem Nicken, den Admiral übersah er mit eisiger Miene. „Sie wünschen?“ fragte er Sir Gordon knapp. Seine Haltung, seine Miene und sein Ton waren haarscharf an der Grenze der Unhöflichkeit. Der Stadtkommandant zuckte leicht zusammen, als er in die eisblauen Augen blickte. Er hatte diesen Seewolf auf dem Bankett des Bürgermeisters kennengelernt und auch gehört, wie sich Kapitän Killigrew gegen die Unverschämtheiten des Admirals verteidigt hatte. Umso schwerer fiel es ihm, jetzt mit seiner Forderung herauszurücken - die ihm von Admiral Drake befohlen worden war. Verdammt, dachte er, das ist die übelste Situation, in der ich mich je befunden habe. „Sir Hasard“, sagte er nervös, „bitte, könnten wir nicht in Ihrer Kapitänskammer verhandeln - ich - ich meine ...“ Er blickte sich um, starrte in die verschlossenen, abweisenden Gesichter der Seewölfe, räusperte sich, schluckte und warf Admiral Drake einen hilfesuchenden Blick zu. Der hatte die Hände auf den Rücken gelegt, wippte auf den Fußballen und stierte in die Luft. Seine Miene war arrogant wie immer. „Was wollten Sie sagen?“ fragte Hasard frostig. „Sie haben nicht zu Ende gesprochen.“ „Ich ich meine“, sagte der Stadtkommandant gequält, „daß es besser sei, wenn nicht alle Welt zuhört.“ „Was verstehen Sie unter ,alle Welt'?“ erkundigte sich Hasard. „Nun - die Männer hier, Sir. Es ist mir sehr peinlich, vor aller Augen -ich meine ...“ Er brach wieder ab und verstummte. „Es gibt in der Kapitänskammer nichts zu verhandeln“, erklärte Hasard unhöflich. „Wenn Sie etwas wollen, dann sagen Sie es hier, die Männer der ‚Isabella' haben ein Recht, zuzuhören, zumal sie Eigner dieses Schiffes sind, wie sich wohl auch bis zu Ihnen herumgesprochen haben wird, und
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ich keine Geheimnisse vor ihnen habe. Ich wiederhole meine Frage: Was wünschen Sie?“ „Ich habe - äh - Befehl, Ihnen mitzuteilen, daß Sie Plymouth zu verlassen haben. Sofort.“ „Befehl von wem?“ „Admiral Drake.“ Hasard zog die Augenbrauen hoch. „Interessant. Und weiter?“ „Was weiter?“ fragte der Stadtkommandant verwirrt. „Nun, Sie müssen doch eine Begründung haben, wenn Sie eine solche Forderung stellen. Oder ist es in englischen Häfen üblich geworden, englische Schiffe wie lästige Straßenköter davonzujagen - ohne Begründung, meine ich.“ „Äh, ja, das kann begründet werden. Mir ist von Admiral Drake berichtet worden. Ihre Leute hätten in unverantwortlicher Weise die Besatzung der ,Revenge` provoziert und in verschiedenen Prügeleien fast über die Hälfte der Besatzung lazarettreif geschlagen. Als Stadtkommandant kann ich solche Umtriebe keineswegs dulden. Um weitere Zusammenstöße zu vermeiden, hat Ihr Schiff unverzüglich den Hafen zu verlassen.“ Hasard fixierte den Stadtkommandanten, bis dieser immer nervöser wurde und nicht mehr wußte, wo er hinschauen sollte. „Mein Freund“, sagte Hasard sanft, „sind Sie davon überzeugt, daß das, was Sie hier eben erklärt haben, auch den Tatsachen und der Wahrheit entspricht?“ „Natürlich.“ „Haben Sie für Ihre Behauptungen Beweise?“ Hasard blieb völlig ruhig, aber das wirkte umso gefährlicher. „Ich sagte doch, das sei mir von Admiral Drake berichtet worden!“ fuhr der Stadtkommandant auf. „Ist das nicht Beweis genug?“ „Der Admiral lügt“, sagte Hasard kalt. Drake stieß einen Zischlaut aus. Der Stadtkommandant schnappte nach Luft. „Der Admiral lügt“, wiederholte Hasard, „und ich bin bereit, das vor einem neutralen Gericht zu beweisen. Nicht
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meine Männer haben die Männer der ,Revenge` provoziert, sondern umgekehrt. Und sie werden es wieder tun, sollten sich diese Provokationen wiederholen. Das ist ihr gutes Recht. Aber weiter. Dieser Mann im -Range eines Admirals der Royal Navy hat es gewagt, meine beiden Söhne zu entführen. Dafür habe ich Zeugen - unter anderem den Arzt Sir Anthony Abraham Freemont, dessen Integrität wohl auch Ihnen bekannt sein dürfte. Sir Freemont, der meine beiden Söhne während der Gefechte gegen die Armada in seinem Hause aufgenommen hatte, wollte sie nach unserem Einlaufen hier an Bord zurückbringen. Dieser Admiral überfiel ihn mit vorgehaltener Pistole und zwang ihn zur Übergabe der Jungen. Meine Jungen konnten sich selbst befreien. Sie haben gottlob das Zeug, mit einem solchen Dreckskerl fertig zu werden ...“ „Ich verbitte mir derartige Beleidigungen!“ schrie der Admiral hochrot im Gesicht „Verbitten können Sie sich viel, Drake“, sagte Hasard eisig. „Kämpfen Sie doch mal, wenn Sie sich beleidigt fühlen. Aber dazu sind Sie zu feige. Bei Ihnen reicht der Mut nur aus, einen Unbewaffneten mit vorgehaltener Pistole zu bedrohen, um zwei Kinder zu rauben. Ich schätze, wir werden diese Sache vor einem Gericht aushandeln.“ „Das ist ja ungeheuerlich“, murmelte der Stadtkommandant verstört und trat ein paar Schritte zurück. „Das - das habe ich nicht gewußt, Sir Hasard.“ „Eben“, sagte Hasard kalt, „deswegen spreche ich ja davon. Und Sie sollten etwas vorsichtiger sein, wenn Sie hier Behauptungen vortragen, die nichts weiter als Verleumdungen sind. Im übrigen weise ich Sie darauf hin, daß mich Befehle Drakes als Vertreter der Royal Navy nicht betreffen. Dieses Schiff und seine Besatzung unterstehen weder ihm noch der Royal Navy. Dieser Mann kann sonst was befehlen, es interessiert uns nicht. Es gibt einen einzigen Menschen, der das Recht hat, uns Befehle zu erteilen - Ihre Majestät, die Königin, unter deren Schutz wir stehen, was ich Ihnen noch beweisen werde. Aber
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zuvor noch etwas anderes, was diese sogenannten Provokationen betrifft.“ Hasard wandte sich um zu Dan O'Flynn. „Würdest du bitte die Arkebuse holen, Dan?“ „Aye, aye, Sir.“ Dan verschwand im Achterdeck, kehrte kurz darauf wieder zurück und überreichte Hasard die Waffe. Hasard hob die Waffe und drehte sie so, daß ihre Innenseite zu Drake wies. „Ist dies eine Waffe der ,Revenge`?“ fragte er. „Weiß ich doch nicht“, knurrte der Admiral. „Ich habe es nicht nötig, mich um Musketen zu kümmern.“' „Vielleicht doch“, sagte Hasard und drehte die Innenseite der Muskete dem Stadtkommandanten zu. „Das eingebrannte ,R` im Kolben dieser Muskete beweist, daß sie aus der Waffenkammer der ,Revenge` stammt. Aus dieser Waffe wurde gestern mittag ein heimtückischer Schuß abgefeuert. Die Kugel zerschmetterte einen Taljenblock, der unter der Großrah angeschlagen war. Da mittels dieser Talje zu diesem Zeitpunkt gerade ein Trinkwasserfaß in den Laderaum abgefiert werden sollte, passierte folgendes: die Talje rauschte aus und das Trinkwasserfaß krachte in den Laderaum hinunter. Ein Mann meiner Besatzung wurde verletzt. Er erlitt einen komplizierten Knöchelbruch am rechten Fuß. Doc Freemont versorgte ihn und operierte zwei Knochensplitter heraus. Er will den Fuß retten. Dennoch was der Himmel verhüten möge - kann es sein, daß der Fuß amputiert werden muß. Schon aus diesem Grunde weigere ich mich, Plymouth zu verlassen. Oder sind wir in diesem Lande schon so weit, einem verletzten Mann, der sich mehrfach in der Schlacht gegen die Armada bewährt und für England sein Leben eingesetzt hat, die Hilfe zu verweigern?“ „Natürlich nicht“, sagte der Stadtkommandant unsicher. „Alles an den Haaren herbeigezogen!“ fauchte Admiral Drake. „Vermutlich haben Sie diesen Unfall selbst arrangiert, Killigrew, nur um mir eins auszuwischen.“
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„Ich heiße ja nicht Drake“, erwiderte Hasard kalt. „Sie haben die Waffe für Ihre Zwecke mit dem ,R` präpariert“, erklärte Drake dreist. „Irrtum“, sagte Hasard, „die Waffe lag an der Stelle, von wo der Schuß abgefeuert worden war - dort hinter den Bohlenstapeln. Zwei meiner Männer fanden sie, der Lauf war noch warm. Der Heckenschütze war leider bereits verschwunden.“ „Ich kann nicht auf jeden meiner Leute aufpassen“, knurrte der Admiral, „wenn es überhaupt einer aus meiner Besatzung war. Und wenn er es war, dann haben Sie sich das selbst zuzuschreiben.“ „Sie unterstützen also Mord.“ Hasards Stimme war eisig. „Jetzt darf ich wohl mit Recht fragen, wer hier wen provoziert.“ „Haarspaltereien!“ schimpfte Drake. „Ihre Besatzung ist verhetzt, Drake“, erwiderte Hasard, „oder Sie sind nicht mehr fähig, für Recht und Ordnung als Kommandant zu sorgen. Vielleicht stammt sogar der Befehl zu diesem heimtückischen Anschlag von Ihnen.“ „So? Von mir?“ fragte der Admiral lauernd. „Beweisen Sie das doch mal.“ „Ich kann nur beweisen, daß die Waffe von Ihrem Schiff stammt, das ist richtig, Drake. Aber wer Kinder raubt, um mit ihnen Repressalien auszuüben, dem traue ich auch Mordbefehle zu. Jetzt verstecken Sie sich hinter dem Stadtkommandanten, um gegen mich vorgehen zu können. Ihr Stil wird immer schlechter und dreckiger, seit Sie damals vor zehn Jahren einen Mörder namens Doughty deckten und sich weigerten, ihn für den Mordversuch an Edwin Carberry zur Verantwortung zu ziehen. In Cadiz fielen Sie über wehrlose Frauen, Kinder und Greise her -und über neutrale Schiffe. Und nach der Schlacht gegen die Armada hatten Sie die Absicht, Schiffbrüchige zu massakrieren. Bei Gott, Sie sind der ehrloseste Lump, der je als Engländer geboren wurde.“ „Nehmen Sie diesen Kerl fest!“ schrie der Admiral. „In den Kerker mit ihm!“ Seine Stimme schnappte über. „In den Kerker
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mit der ganzen verruchten Bande! Das ist ein Befehl, Huntley!“ Hasard verschränkte die Arme über der Brust und musterte den Tobenden mit kühler Gelassenheit. Dann wandte er sich an Dan O'Flynn und sagte: „In der Schatulle in meiner Kammer befindet sich der Kaperbrief. Würdest du ihn bitte holen?“ „Aye, aye, Sir.“ Drake brüllte: „Tun Sie Ihre Pflicht, Mister Huntley! Als Stadtkommandant haben Sie mir zu gehorchen, oder ich bringe Sie vor ein Standgericht. Plymouth ist in Gefahr, solange diese Killigrew-Bande hier ihr Unwesen treibt und harmlosen Seeleuten die Knochen zerschlägt. Tollwütige Bestien sind das, die man erschießen, aufknüpfen, vierteilen muß ..“ Er mußte Luft holen, der Admiral. „Eins geht nur“, sagte Hasard spöttisch, „entweder erschießen oder aufknüpfen oder vierteilen. Aber toben Sie ruhig weiter. Wer nicht ganz blind ist, erfährt so am besten, daß Sie nicht mehr ganz richtig im Kopf sind. Sie demaskieren sich selbst, Drake, und hinter dieser Maske zeigen Sie, wer Sie sind, nämlich ein von Rachegelüsten, Ehrgeiz und Größenwahn zerfressener Mensch, der selbst hinter Gitter gehört, damit er kein Unheil mehr anstiften kann. Mehr ist wohl dazu nicht zu sagen.“ „Was soll ich denn tun?“ fragte der Stadtkommandant unglücklich. „Gar nichts sollen Sie tun“, erwiderte Hasard trocken. „Die Befehle eines offensichtlichen Verrückten brauchen Sie nicht auszuführen.“ Dan O'Flynn brachte den Kaperbrief und gab ihn Hasard, der ihn entrollte. „Hier steht“, fügte Hasard hinzu, „daß jeder Engländer, gleich welchen Ranges, verpflichtet sei, dem Kapitän und der Besatzung der ‚Isabella' jedwede Hilfe zu leisten, da sie unter dem Schutz Ihrer Majestät der Königin stünden. Bitte überzeugen Sie sich, Sir Gordon.“ Der Stadtkommandant las den Kaperbrief, wurde käsig und wieder rot. Erst dann begriff er, daß ihm dieser Kaperbrief die Möglichkeit gab, Drakes unsinnige Befehle
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ignorieren zu können. Niemand konnte ihn deswegen zur Verantwortung ziehen. Wer unter dem Schutz der Königin stand, dem konnte kein Admiral an den Kragen gehen. Hasard ahnte die Gedanken des Stadtkommandanten und sagte: „Sie sehen, Sir Gordon, selbst wenn Sie von den Behauptungen Drakes überzeugt wären, hätten Sie nicht das Recht, die Crew der ‚Isabella' und mich zu zwingen, Plymouth zu verlassen. Es sei denn, Sie mißachten eine Order unserer Königin und ziehen es vor, den Befehlen eines offensichtlich Verrückten zu gehorchen. London und die Königin sind zwar weit weg von Plymouth, aber seien Sie versichert, daß ich Mittel und Wege finden werde, um Ihrer Majestät zur Kenntnis zu bringen, was sich hier abgespielt hat. Voraussichtlich werden Sie dann in den Kellern des Tower darüber nachdenken dürfen, ob Sie richtig gehandelt haben.“ Der Admiral schnappte vollends über. „Der Kerl lügt!“ schrie er. „Der Kaperbrief ist gefälscht ...“ Weiter gelangte er nicht. Hasard reichte es jetzt. Mit einem Satz war er bei dem zeternden Admiral, packte ihn mit der linken Hand hinten am Genick und mit der rechten unten am Hosenboden, hob ihn an, trug den Zappelnden zur Gangway und beförderte ihn mit einem Tritt in den Admiralallerwertesten auf die Pier. Dort stand der eiserne Edwin Carberry Wache und fing den vorbeisausenden Admiral gewissermaßen im Fluge ab. Der wäre sonst vierkant auf das Kopfsteinpflaster geprallt. „Na?“ sagte er gemütlich und stellte den Admiral wieder auf die Füße. „War wieder 'n bißchen stürmisch auf der guten alten ‚Isabella', was, wie? Sei froh, daß Kapitän Killigrew heute seinen ruhigen Tag hat. Sonst hätte er dich auf unser Culverinenkaliber zusammengefaltet und zum Mond geschossen – mit vierfacher Treibladung, verstehst du?“ Der Admiral zerbiß einen ordinären Fluch, sagte etwas Unverständliches und marschierte auf seinen kurzen Beinen zum Dock hinüber.
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„Affenarsch!“ knurrte Ed Carberry hinter ihm her. Auf der Kuhl sagte der Stadtkommandant: „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Sir Hasard. Diese ganze Angelegenheit ist mir mehr als peinlich. Ich hatte zunächst keinerlei Anlaß, an den Worten des Admirals zu zweifeln. Sie wissen, er hat besonders hier in Plymouth einen außerordentlich guten Ruf, vor allem, nachdem ihn Ihre Majestät zum Ritter geschlagen hatte. So etwas ist wie, eine Ehrenerklärung seitens der Königin für die betreffende Person, nicht wahr?“ „Durchaus richtig.“ Hasard lächelte. „Da Sie es so formulieren, trifft es wohl auch auf mich zu. Allerdings fasse ich den Ritterschlag nicht als Freibrief auf, mich nunmehr wie ein Strauchdieb aufführen zu dürfen. Keinesfalls auch gibt mir der Ritterschlag das Recht, mich für besser zu halten als andere. Im Gegenteil, ich habe die Verpflichtung, jetzt bei mir selbst noch strengere Maßstäbe als bisher anzulegen. So jedenfalls fasse ich den Ritterschlag auf ...“ Er unterbrach sich und deutete zur Pier. „Da kommt Sir Freemont, um nach unserem Patienten zu sehen. Bitte, es steht Ihnen frei, ihn nach dem Sachverhalt bezüglich der Entführung meiner Söhne zu fragen. Es wäre sogar gut, wenn dies Sir Freemont unbeeinflußt von mir tut.“ Der Stadtkommandant verabschiedete sich von Hasard, ging von Bord und begrüßte den Doc auf der Pier. Dann marschierten sie auf der Pier auf und ab, in ein Gespräch vertieft. Doc Freemont lächelte, als er eine halbe Stunde später vor Hasard stand. „Der gute Huntley ist ziemlich erschüttert“, sagte er nur. „Und wie geht's Blacky?“ „Hat einen Brummschädel vom Rum, aber sonst ist er munter.“ „Kein Fieber?“ „Bis jetzt noch nicht, Doc.“ Sie gingen zur Achterdeckskammer, wo Blacky untergebracht war. Er saß in der Koje und war damit beschäftigt, den beiden Zwillingen den Augspleiß beizubringen. Im übrigen war er kräftig
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dabei, den „lieben Kleinen“ die wüstesten Seeabenteuergeschichten zu erzählen. Hasard junior und Philip junior hatten rote Ohren. Aber sein Fuß sah ganz manierlich aus den Umständen entsprechend. „Kann ich aufstehen, Doc?“ fragte er. „Natürlich, mein Junge“, erwiderte Doc Freemont heiter. „Du mußt dann ordentlich mit dem rechten Fuß auftreten, damit der Knöchel noch weiter splittert und das, was ich geschient und gerichtet habe, wieder zum Teufel geht. Und wenn der Schmerz dann so richtig einsetzt, kannst du auch laut brüllen, aber eine Flasche Rum gibt's dann nicht mehr. Du kannst natürlich auch gleich den Fuß gegen den Großmast donnern, damit der Knöchel so richtig schön zersplittert. Das geht dann schneller, und ich bringe dann auch gleich die Säge mit, um dir diesen läppischen Fuß, der ja völlig überflüssig ist, abzusägen.“ Er strich sich über die Nase. „Ärgerlich, das hätte ich in diesem Falle gleich gestern tun sollen, oder?“ Blacky begriff. „Entschuldigung, Doc, war 'ne blöde Frage von mir.“ „Das meine ich auch, mein Junge. Eine selten blöde Frage. Wenn du einen gesunden, funktionsfähigen Fuß haben willst, dann richte dich darauf ein, in etwa vier Wochen frühestens die ersten Gehversuche zu unternehmen. Gehversuche, verstanden? Dazu brauchst du Krücken oder einen Stock, um den rechten Fuß zuerst noch nicht zu stark zu belasten. Erst allmählich darfst du mehr Gewicht auf den rechten Fuß verlegen. Halte dich dann an die Anweisungen des Kutschers, der weiß Bescheid. Und noch etwas, mein Junge. Wenn du in den nächsten zwei, drei Tagen spürst, daß dir heiß wird oder es im Fuß zu pochen beginnt, dann möchte ich sofort benachrichtigt werden. In diesen Tagen wird sich nämlich herausstellen, ob da noch Knochensplitter sind, die herauseitern. Und da müssen wir sofort etwas unternehmen. Alles klar?“ „Aye, aye, Sir, alles klar. Und herzlichen Dank auch. Sie sind ein feiner Kerl, Sir ...“
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„Papperlapapp“, sagte der Doc. 5. Hasard hatte Gefechtsbereitschaft angeordnet, aber sie erübrigte sich. Am Nachmittag dieses Tages verließ die „Revenge“ das Dock und ging außerhalb der Mill Bay vor der St.-Nicholas-Insel vor Anker. Eine unmittelbare Gefahr seitens des Flaggschiffes bestand jetzt nicht mehr zumindest was Schüsse aus dem Hinterhalt betraf. Dennoch traute Hasard dem Frieden nicht. Mit Big Old Shane, Ben Brighton, Ferris Tucker, den beiden O'Flynns und Ed Carberry stand er auf dem Achterdeck der „Isabella“, nachdem die „Revenge“ vor Anker gegangen war. „Was haltet ihr davon?“ fragte er. „Einerseits ecken wir jetzt nicht mehr mit den ,Revenge`-Leuten an, andererseits liegen sie dort auf der Lauer wie der Kater vorm, Mauseloch.“ „Letzteres dürfte zutreffen“, sagte Dan O'Flynn. „Die Maus sind wir. Er wartet auf unser Auslaufen, um es uns dann voll zu geben.“ „Hm“, sagte Hasard, „könnte sein.“ „Der Schuß aus dem Hinterhalt gestern ergibt damit auch einen Sinn“, fuhr Dan O'Flynn fort. „Als Drake witterte, wir könnten auslaufen -und das war ja offensichtlich wegen der gestrigen Proviant- und Stückgüterübernahme -, mußte er das zu verhindern versuchen, wenn er noch seine Rache haben wollte. Der Schuß in den Taljenblock hatte den gewünschten Erfolg. Es kann natürlich sein, daß sich der Schütze von dem Schuß noch mehr versprochen hat. Raffiniert war das schon. Ein Faß, das durch eine Ladeluke saust und auf die Laderaumplanken kracht, kann ganz schön Unheil anrichten. Da stellt sich immer die Frage, wie schnell können die Männer, die unten im Laderaum arbeiten, ausweichen. Und haben sie überhaupt noch den Platz, um auszuweichen? Dieses verdammte Faß hätte glattweg Blacky, Matt oder Luke
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erschlagen können. Vielleicht hatte sich das der Schütze gewünscht. Jedenfalls stellt sich die Situation jetzt so dar, daß wir warten müssen, bis Doc Freemont für Blacky keine Gefahr mehr sieht. Und wenn wir dann Plymouth verlassen, laufen wir vor die Rohre der ,Revenge`.“ „So etwa sehe ich es auch“, sagte Hasard nachdenklich. „So absurd das Ganze ist, der Mann will seine Rache haben. Ein englischer Admiral geht seiner persönlichen Rache wegen auf ein anderes englisches Schiff los, und es schert ihn einen Dreck, daß dieses Schiff mit seiner Besatzung unter dem :Schutz des Souveräns steht.“ Sein Gesicht verhärtete sich. „Ich nehme den Kampf an. Oder seid ihr anderer Ansicht?“ Die Männer schüttelten die Köpfe. Nur Ben Brighton, der stets ruhige und besonnene erste Offizier der „Isabella“, sagte: „Wir müssen nicht - ohne mir Feigheit vorwerfen zu lassen. Wir könnten eine mondlose Nacht abwarten, unsere bessere Wendigkeit und Schnelligkeit ausspielen und heimlich verschwinden.“ „Mist“, sagte Edwin Carberry empört. „Wir schleichen uns nicht wie Diebe in der Nacht davon, nicht vor diesen Affenärschen! Wer sind wir denn?“ „Wir schießen auf Engländer, Ed“, erwiderte Ben Brighton ruhig. „Engländer? Das sind doch keine Engländer!“ knurrte der Profos. „Das sind Galgenvögel, Hundesöhne, Bastarde, Schnapphähne, aber keine Engländer.“ „Alles richtig“, sagte Ben Brighton weiterhin ruhig. „Und wegen dieses Lumpenpacks sollen vielleicht ehrliche, anständige Männer verletzt, zum Krüppel geschossen oder gar getötet werden? Für was eigentlich, Ed? Ist das sinnvoll?“ Edwin Carberry starrte Ben Brighton betroffen an. Von dieser Seite hatte er die Sache noch nicht bedacht. „Mann, Mann“, murmelte er. „Ben hat recht“, sagte Hasard. „Wir werden sehen, wie sich alles entwickelt. Ich revidiere das, was ich vorhin erklärt habe. Wir nehmen den Kampf nur an, wenn es unumgänglich ist, aber dann
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schlagen wir ihn mit aller Härte durch. Besser allerdings scheint mir, wenn wir diesem rachsüchtigen Admiral gewissermaßen vor der Nase davonsegeln.“ Er lächelte. „Vielleicht springt er dann vor Wut außenbords.“ „Und ersäuft“, vollendete Old O'Flynn grimmig. Es kam alles anders. * Hasard hatte für einen Teil der Crew den Landgang freigegeben. Warum sollte er auch nicht? Die Männer würden wieder Monate unterwegs und auf See sein, bis ein neuer Landfall in England anstand. Sie hatten ein Anrecht darauf, zu leben. Sie hatten gekämpft, und sie würden wieder kämpfen müssen. Die kurze Spanne dazwischen gehörte ihnen selbst. Niemand durfte sie ihnen verweigern. Oft, in all den Jahren, hatte sich Hasard gefragt, wer wohl von seinen Männern als erster nicht mehr an Bord zurückkehren würde, weil er an Land bleiben wollte, um eine Familie zu gründen, weil er das wilde Leben bis zur Neige ausgekostet und erkannt hatte, daß es so nicht bis in die Ewigkeit gehen konnte. Der alte Will Thorne, der Segelmacher der „Isabella“, und Old O'Flynn sowie Big Old Shane waren die Ausnahme. Sie würden niemals die „Isabella“ verlassen. Dieses Schiff war ihre Heimat geworden. Aber die anderen Männer, die alle in der Blüte ihrer Jahre standen, was war mit ihnen? Hatten sie überhaupt die Neigung, ein bürgerliches Leben zu führen? Oder war es ihnen verschlossen? Smoky, Blacky und Bob Grey waren als Kinder Vollwaisen gewesen und hatten nie ein Elternhaus kennengelernt. Frühzeitig waren sie zur See gefahren. Auch sie hatten ihre Heimat jetzt auf der „Isabella“. Batuti, der Herkules aus Gambia, ebenfalls. Er würde „wohl nie mehr in den schwarzen Erdteil zurückkehren. Einmal, es war gar nicht so lange her, hatte Ben Brighton gesagt: „Diese verdammte See verändert uns, wir passen nicht mehr
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an Land, wir sind im eigenen Land Fremde geworden.“ Vielleicht verbarg sich in diesen drei knappen Sätzen die Antwort auf die Frage, warum noch keiner „abgemustert“ hatte und an Land geblieben war. Demgegenüber stand die schrankenlose Freiheit, die ihnen die See gab. Demgegenüber waren sie alle dem Fernweh verfallen, dem Drang, neue Welten zu suchen, noch Fremdes kennenzulernen, Abenteuer zu erleben, Geheimnisse der Erde zu erforschen. Und immer war ihr Landfall - wie jetzt in Plymouth - ein flüchtiger Augenblick gewesen, gemessen an der endlosen Zeit auf See. Wohin steuerten Seewölfe, wenn sie in Plymouth ein bißchen toben wollten' Zu Nathaniel Plymsons „Bloody Mary“ an der Ecke Millbay Road -St. Mary Street. Das war Tradition, denn hier hatte alles seinen Anfang genommen - zumindest für Philip Hasard Killigrew, Dan O'Flynn, Blacky und den Kutscher. Dem feisten Schlitzohr Plymson hatten sie es zu verdanken, daß sie auf Drakes „Marygold“ gelandet waren. Alles wäre anders gelaufen, wenn sich die Preßgang Kapitän Drakes x-beliebige andere Männer geschnappt hätte - und keinen Philip Hasard Killigrew, dessen Kampf gegen die Preßgang bereits damals zur Legende geworden war. Vielleicht wären Francis Drake und Philip Hasard Killigrew dann niemals zu Feinden geworden. In der „Bloody Mary“ hatten sich Schicksale entschieden. Das war alles schon recht merkwürdig, eben wie das Leben so spielt. Nathaniel Plymsons Kneipe war Angelpunkt, Drehbühne, Plattform, Basis für das Schicksal Hasards und damit seiner Seewölfe. Die „Bloody Mary“ war zu ihrer Ansteuerungstonne geworden, wenn sie Plymouth anliefen. Und mit liebevoller Sorgfalt pflegten sie dann regelmäßig Plymsons Kneipe auseinanderzunehmen. Sie übten gewissermaßen Rache auf Zeit. Denn nichts ging ihnen mehr gegen den
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Strich als dieser Mensch Plymson, der es gewagt hatte, mittels Schlaftrunk .und anderer rüder Methoden harmlose Trinker an Bord irgendwelcher Schiffe zu verschachern. Der dicke Plymson hatte längst reut, damals den jungen Philip Hasard Killigrew an die Preßgang Drakes verhökert zu haben. Er war mit dem Menschenhandel seitdem auch vorsichtiger geworden. Ganz aufgegeben hatte er dieses einträgliche Geschäft allerdings nicht. An den Seewölfen würde er sich nicht mehr vergreifen, an keinem, nie mehr! Das waren nicht nur Seewölfe, das waren Teufel - allen voran dieser wüste, zernarbte Profos Edwin Carberry, mit dem regelmäßig jede Kneipenschlacht begann. Nicht daß Carberry anfing - o nein. Aber der hatte so eine Art, den Krawall herbeizuzaubern. Irgendeiner fiel immer auf den Profos herein, ließ sich von ihm reizen, schlug zu - und gab damit dem ungeschlachten Rauhbein Anlaß, seinerseits zuzulangen. Und dann wackelte die „Bloody Mary“ in ihren Grundmauern. Nathaniel Plymson atmete direkt auf, als an diesem Abend kein Carberry in der „Bloody Mary“ auftauchte, sondern „nur“ einige der Seewölfe. Zwar war Smoky, der Decksälteste, unter ihnen, der ebenfalls keinem Streit aus dem Wege ging, ihn aber auch nicht direkt suchte. Gut Kirschen essen war mit dem allerdings auch nicht. „Gentlemen“, sagte der dicke Plymson und verneigte sich hinter dem Schanktisch, über dem ein mumifizierter Stör mit aufgerissenem Maul baumelte. Dieses tote Vieh hatte schon so manchen Sturm erlebt. „Es ist mir eine Ehre, Englands Seehelden begrüßen zu dürfen.“ Smoky lehnte sich an den Schanktisch und musterte den Dicken aus schmalen Augen. „Nathaniel Plymson“, sagte er drohend, „du lügst schon wieder.“ „Einen Whisky?“ sagte Nathaniel Plymson hastig. „Auf meine Kosten natürlich, Mister Smoky.“ „Einen?“ knurrte Smoky. „Oder hab ich mich verhört?“
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„Zwei - für alle Seewölfe, zwei doppelte selbstverständlich.“ Ein bißchen begann Nathaniel Plymson zu zittern. Hörte das denn nie auf mit diesen Kerlen? „Klingt schon besser“, sagte Smoky mit seiner tiefen Stimme. Der Dicke zauberte eine Flasche auf die Schanktischplatte, zählte die Seewölfe - es waren sieben -, langte sieben Gläser aus dem Regal hinter sich und schenkte ein. Smoky drehte sich um und warf einen Blick durch die Kellergewölbe. Über die Schulter sagte er: „Keine Kerle von der ,Revenge` hier, Plymmy?“ „Nein, Mister Smoky, Sir. Die ist doch ausgelaufen, oder?“ „Scheint so.“ Smoky wandte sich wieder um -und verteilte die Gläser, die bereits voll waren, an die Männer. Bei ihm waren Gary Andrews, Stenmark, Matt Davies, Luke Morgan, Sam Roskill und Pete Ballie. Sie standen aufgereiht am Schanktisch wie Musketiere, Stenmark am rechten Flügel, weil er ein Riese war und sonst den Stör vor der Nase gehabt hätte. „Auf was trinken wir, Leute?“ fragte Smoky und hob sein Glas. „Auf Blackys Fuß“, erklärte Pete Ballie. „Auf Blackys Fuß“, bestätigte Smoky, „möge er gedeihen, heilen und unserem Blacky weiterhin eine gute Stütze sein.“ Sie gurgelten den Whisky herunter. Nathaniel Plymson schaute etwas wirr. Jetzt tranken diese Kerle schon auf einen gottverdammten Fuß, daß der eine gute Stütze sein möge. Da sollte einer draus schlau werden. „Nachschenken, Plymmy“, befahl Smoky und wischte sich über die Lippen. „Jawohl, Mister Smoky, Sir.“ Der Dicke schenkte nach, aber keinen Doppelten. „Plymmy“, mahnte Smoky, „du wolltest zwei Doppelte ausgeben, bis jetzt sind's erst zwei Anderthalbe.“ „Verzeihung“, murmelte Nathaniel Plymson. „Oder wolltest du uns löffeln, Plymmy?“ fragte Smoky bedächtig. „Aber nein, Mister Smoky.“ Hastig schenkte der Dicke nach. Waren die Kerle doch auf Krawall aus?
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„Auf was trinken wir jetzt?“ fragte Smoky. „Auf daß Blackys Fuß splitterfrei sei“, tagte Gary Andrews. „Auf daß Blackys Fuß splitterfrei sei“, bestätigte Smoky. „Möge der Doc einen jeglichen Splitter gefunden haben.“ Der Inhalt der sieben Gläser verschwand in sieben Männerkehlen. „Nachschenken; Plymmy“, befahl Smoky, „du mußt noch einen ausgeben, einen Doppelten natürlich.“ Nathaniel Plymson verschob seine Perücke — eine schwarze mit kleinen Löckchen. Da hatte wohl ein Pudelfell Pate gestanden. „Aber ich wollte nur zwei Doppelte ausgeben“, maulte er. „Nathaniel Plymson“, sagte Smoky drohend, „du stehst vor Englands Seehelden, deren Kapitän von Ihrer Majestät der Königin angesichts des Towers auf den Planken der ‚Isabella' zum Ritter geschlagen wurde. Seehelden haben ein Anrecht auf vier Doppelte. Ist das klar?“ „Jawohl, Mister Smoky, Sir.“ Nathaniel Plymson mußte eine zweite Whiskyflasche köpfen — besser das als eine erneute Schlacht in der „Bloody Mary“. Man mußte mit diesen Kerlen wie mit rohen Eiern umgehen, da half alles nichts. Na, da würde er eben bei den anderen Zechern ein bißchen panschen. Sieben Doppelte wurden eingeschenkt. „Auf was trinken wir, Männer?“ fragte Smoky. „Auf unsere Lissy“, sagte Luke Morgan, „die unseren guten alten Carberry küssen wollte.“ Nathaniel Plymson riß die Augen auf. „Auf unsere Lissy“, bestätigte Smoky, „die das alte Rübenschwein küssen wollte. Möge sie England erhalten und uns Seewölfen bis ans Ende unserer Tage wohlgesonnen bleiben.“ Er reckte das Glas. „Drei Hurras für Ihre Majestät die Königin — Hurra!“ „Hurra!“ brüllten die sieben Seewölfe. „Hurra!“ donnerte Smoky — und das Echo folgte.
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Und noch einmal fegte das „Hurra“ durch die „Bloody Mary“. Der mumifizierte Stör schwang sanft hin und her. „Nathaniel Plymson“, grollte Smoky, „die vier Doppelten werden auf sechs Doppelte erhöht, weil du es versäumt hast, unsere Königin mit hochleben zu lassen. Wir Seehelden Englands müssen das als eine Beleidigung Ihrer Majestät auffassen, deren Ehre wir uns geschworen haben bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.“ „Jawohl!“ schrie Matt Davies und hämmerte seine Hakenprothese auf die Schanktischplatte, daß die Gläser tanzten. „Bis zum letzten Blutstropfen! Ein Hundsfott, wer unsere Königin beleidigt!“ Nathaniel Plymson gehorchte und hatte weiche Knie. Der Pudel auf seiner Glatze badete in Schweiß. Es blieb nicht bei den sechs Doppelten. Sie vermehrten sich in geradezu unheimlicher Weise. Eine leere Flasche reihte sich an die andere. Sie tranken auf den Schimpansen Arwenack, sie tranken auf den Papagei Sir John. Sie tranken auf ihren Kapitän und auf seinen ersten Offizier, auf die „Rübenschweinchen“ Hasard junior und Philip junior. Sie tranken auf jeden der Crew und auf sich selbst. Sie ließen Doc Freemont hochleben und dreimal dazwischen Ihre Majestät die Königin. Da brüllte Nathaniel Plymson kräftig mit, aber sie fanden immer neue Gründe, um ihm weitere Whiskyflaschen abzuluchsen. Vor Verzweiflung ergab sich auch Nathaniel Plymson dem Suff, denn alles gönnte er den Kerlen weiß Gott nicht. Daß er den trunkfesten Kerlen der „Isabella“ — was die Quantität betraf — keineswegs gewachsen war, ging ihm dabei nicht auf. Aber darauf hatten die es ja angelegt. Und als Nathaniel Plymson nach zwei Stunden mit stieren Augen umkippte, räumten sie ihn beiseite, und Smoky übernahm den Ausschank. Er hatte „Plymmys“ Perücke aufgesetzt und hielt die gesamten Zecher in der „Bloody Mary“ frei. Nach Mitternacht schlingerten er, Gary Andrews, Pete Ballie und Luke Morgan
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zurück zur „Isabella“ - voll bis zur Ladeluke. Matt Davies, Stenmark und Sam Roskill hingegen lenzten weiter, kippten auch dem Stör ein paar Humpen Wein zwischen die Kiemen, der dem wieder aus dem Bauch herauslief, schäkerten mit „Plymmys“ Ladys, die der Dicke ja zur Kurzweil seiner männlichen Gäste angeheuert hatte, und zeigen ihrerseits wiederum erst zwei Stünden nach Mitternacht ab. Immerhin waren sie noch auf den Beinen. In der „Bloody Mary“ lagen Männlein und Weiblein flach, schnarchend und voll des freigenossenen Alkohols. Ein Minus hinterließ das Zechgelage natürlich in des dicken Plymsons Kasse. Aber Smoky hatte gemeint, es sei „Plymmys“ vaterländische Pflicht gewesen, den Seehelden Englands Whisky zu kredenzen - und eine Ehre obendrein. „Wir sind die Letzten, die am Feind geblieben!“ sang Matt Davies, als sie eingehakt Richtung der „Isabella“ schaukelten. Gegen die zwölf Männer, die wie aus dem Buden gewachsen um sie herum auftauchten, hatten sie keineswegs böse Absichten. Aber die Kerle waren mit Schlagstöcken und Belegnägeln bewaffnet, schauten grimmig drein und bildeten einen festen Ring um die drei Seewölfe. „Die woll'n was von uns“, sagte Matt Davies mit schwerer Zunge. „Seid ihr von der ‚Isabella'?“ fragte ein vierschrötiger Kerl grinsend. „Wir sind die Letzten, die am Feind geblieben“, lallte Matt Davies. „Und wer seid ihr?“ „Wir sind von der ,Revenge`, du vollgesoffener Blödmann“, sagte der Vierschrötige. „Los, gebt's ihnen, Leute! Die sind viel zu besoffen, um sich noch wehren zu können.“ Sie wehrten sich doch, und drei der „Revenge“-Männer suchten die Katzenköpfe der Millbay Road auf. Erst dann fiel der Vorhang für Matt Davies, Stenmark und Sam Roskill. Abseits der Pieranlagen an der Mill Bay, und zwar am Strand der Firestone Bay,
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wurden sie in ein Beiboot gemannt und zur „Revenge“ draußen bei der St.-NicholasInsel gepullt. 6. Gegen drei Uhr morgens ging Edwin Carberry seine Runde auf der „Isabella“. Zu dieser Zeit hatten Al Conroy und Jeff Bowie die Wache übernommen, Jeff Bowie an der Gangway und Al Conroy auf der „Isabella“ selbst, wo er vor allem die gesamte Seeseite zu überwachen hatte. Ed Carberry, die Hände in den Hosentaschen und den massigen Schädel etwas eingezogen - es war empfindlich kühl um diese Zeit -, schob über die Kuhl, lehnte sich ans Schanzkleid und peilte zu Jeff Bowie auf der Pier. „Alles klar, Jeff?“ fragte er. „Aye, alles klar, Ed.“ „Landgänger alle zurück?“ Jeff Bowie grinste zu dem Profos hoch. „Smoky, Gary, Pete und Luke schon - voll bis zum Süll. Mein lieber Mann, die hatten vielleicht einen in der Hacke, so was hast du noch nicht erlebt. Und keinen Cent haben sie beim dicken Plymson ausgegeben.“ „Wie das?“ fragte der Profos. „Plymson begrüßte sie als die Seehelden Englands, und das hat Smoky ausgenutzt. Seehelden hätten Saufen frei, hat er erklärt. Später hat der dicke Plymson mitgesoffen und ist dann umgefallen. Da hat Smoky den Tresen übernommen und ausgeschenkt. Die müssen dem Dicken ganz schön was weggetrunken haben.“ „Seehelden Englands — phhh!“ Carberry schüttelte. den Kopf. „So einen Schmus kann auch nur der dicke Plymson verzapfen, diese vollgefressene Kanalratte. Hm, fehlen also noch Matt, Sten und Sam. Matt Davies, na ja, der gibt auch nicht eher Ruhe, bis alle Fässer leer sind. Das nimmt noch mal ein schlechtes Ende mit diesem Saufloch. Wann sind denn Smoky und die anderen an Bord getrudelt?“ „Nicht lange nach Mitternacht.“ Carberry zuckte etwas zusammen. „Mann, jetzt ist es nach drei Uhr. Da sollen Matt,
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Sten und Sam noch drei Stunden weitergesoffen haben? Und Smoky und die anderen waren schon bis zum Süll voll, sagtest du?“ „Richtig, Ed.“ „Jetzt überleg mal, Jeff“, sagte Carberry. „Smoky kann eine ganze Menge hinter die Gurgel gießen, er ist da ziemlich standfest, so wie Matt. Aber Sten und Sam, die halten doch nicht drei Stunden länger durch als Smoky.“ Er schob das Rammkinn vor. „Da stimmt was nicht, Junge.“ Jeff Bowie zweifelte. „Vielleicht sind sie bei den Ladys geblieben. Könnte doch sein, oder?“ „Total voll? Das glaubst du doch selbst nicht. Waren Kerle von der 'Revenge` in der ,Bloody Mary'?“ „Das mußt du Smoky fragen“, erwiderte Jeff Bowie. Das tat Ed Carberry auch. Smoky fuhr aus der Koje und lallte: „Und auf was trinken wir jetzt, Männer?“ „Auf gar nichts, du stinkendes Whiskyfaß“, knurrte der Profos. „Was hast du denn da auf dem Kopf, verdammt noch mal?“ „Haare“, sagte Smoky undeutlich. „Quatsch!“ Carberry langte sich das Pudelfell. „Sind das deine Haare, du Idiot?“ „Weiß ich nicht“, erklärte Smoky und legte sich wieder lang. Carberry feuerte die Perücke in eine Ecke und zerrte Smoky wieder hoch. „Hör zu“, sagte er grollend. „Matt, Sten und Sam sind noch nicht zurück.“ Smoky stöhnte. „Schrei mich doch nicht so an, du Ochse. Was meinst du, wo mein Kopf ist? Was sagst du, wer ist zurück? Wo ist wer zurück?“ Jetzt stöhnte zur Abwechslung mal Carberry — vor Wut. Erstens roch die ganze Bude nach Schnaps, zweitens schielte Smoky und drittens war der noch völlig vernagelt. Carberry purrte Bill aus dem Schlaf. Jetzt wurde er ziemlich rücksichtslos. „Mister Carberry?“ fragte Bill gähnend.
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„Hol 'ne Pütz Seewasser, Junge, hopphopp!“ Bill kriegte Telleraugen, sagte aber nichts, stieg in die Hose und sauste ab. „Ein Mief ist das hier“, knurrte Edwin Carberry. „Es lebe die Königin“, murmelte Smoky und streckte sich wieder. Carberry grinste grimmig. „Warte, du Säufer, was du gleich leben wirst, erleben!“ Bill brachte die Pütz Seewasser. Carberry nahm sie in Empfang, holte Schwung und klatschte das Wasser Smoky ins Gesicht. Der schoß aus der Koje und brüllte: „Wassereinbruch!“ Bill kicherte. Die Schläfer ruckten hoch, von der SmokyLandcrew allerdings nur Pete Ballie. Luke Morgan und Gary Andrews träumten weiter. Carberry hatte bereits Smoky am Wickel und schüttelte ihn. Und jetzt brüllte er: „Von wegen Wassereinbruch, du Stint! Das war 'ne Pütz Seewasser, um dir den Suff aus dem Schädel zu treiben. Jetzt ist Schluß mit dem Gefasel. Matt, Sten und Sam sind noch nicht zurück. Habt ihr Krach beim dicken Plymson geschlagen? Habt ihr euch mit Kerlen von der ,Revenge' herumgeprügelt? Heraus mit der Sprache!“ „Laß mich los, Ed Carberry!“ fauchte Smoky allmählich etwas wacher und holte aus, um einen Schwinger zu landen. Carberry blockte ihn lässig ab und nagelte den stämmigen Decksältesten an ein Schapp, daß da drin das Backsgeschirr schepperte. „Ich hab dich was gefragt, Mister Smoky, und ich will eine Antwort haben, sonst tunke ich dich solange in die Mill Bay, bis du aufhörst, mich anzuschielen.“ „Ja, doch“, knurrte Smoky, „Mann, brummt mir der Schädel! Was hast du mich gefragt? Ob wir Krach mit Plymson gehabt hätten? Nicht die Bohne. Das war 'ne richtige schöne Feier, ganz friedlich. Kerle von der ,Revenge` waren nicht da, nur so'n paar Vögel von den anderen Schiffen. Was soll denn diese dämliche Fragerei?“
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„Matt, Sten und Sam sind noch nicht zurück!“ brüllte ihn Carberry an. „Hast du das immer noch nicht begriffen?“ Smoky zog den Kopf etwas ein. „Noch nicht zurück? Versteh ich nicht. Die waren doch auch schon ziemlich voll. Wie spät ist es denn?“ „Halb vier, verdammt.“ Und damit sauste Carberry ab. Sie hörten ihn über die Gangway poltern. Smoky kratzte sich hinter dem Ohr und murmelte: „Verdammt, verdammt, ich glaube, da ist was im Busch, Leute. Ich hab so 'ne dumpfe Ahnung.“ Bill bückte sich und hob verwundert die Perücke auf. „Was ist das denn?“ fragte er stirnrunzelnd. „Weiß ich auch nicht“, brummte Smoky geistesabwesend. „Zieht euch an, Männer. Ich schätze, wir werden Matt, Sten und Sam suchen müssen.“ Inzwischen hatte Carberry im Laufschritt die „Bloody Mary“ erreicht und brach in die Kneipe ein wie ein wildgewordener Bulle. Mit einem Rundblick erfaßte er die Situation. Hier gab's nur schnarchende Schläfer, auf den Bänken, unter den Bänken, unter den Tischen. Über ein paar Schnapsleichen stieg er zum Tresen vor, umrundete ihn, trank ein noch volles Whiskyglas aus, peilte zu dem dicken Plymson hinunter, der ohne Perücke genauso schlitzohrig aussah, und begann zunächst systematisch die Kellergewölbe abzusuchen. Dazu gehörte, daß er ein paar der Schnapsleichen umdrehen mußte. Oder er mußte sie unter Bänken hervorzerren. Mollybaby, das schwarzhaarige Satansweib, fand er auch. Mit der hatte er schon verschiedene Male mächtig herumgeturtelt, alles was recht ist. „Du Starker“, gurrte Mollybaby und umhalste den Profos. „Jetzt nicht, Mollybaby, schlaf schön weiter“, sagte der Profos und löste sich aus Mollybabys Umschlingung. Fluchend suchte er weiter. Mollybaby quengelte etwas, schlief dann aber wieder ein. Sie nach Matt, Sten und Sam zu
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fragen, hatte wohl keinen Zweck. Das hätte nur ein Handgemenge gegeben. Mollybaby war ein bißchen liebestoll, wie man so sagt. Jedenfalls waren Matt Davies, Sam Roskill und Stenmark verschwunden, und dem Profos schwante mehr denn je Unheil. In Plymsons Küche pumpte er Wasser hoch, füllte einen Krug und leerte ihn über dem Dicken aus. Beim vierten Krug lag Nathaniel Plymson in einer mächtigen Pfütze und wurde wach. Als er über sich. in Carberrys graue Augen blickte, fuhr er hoch, als habe ihn jemand gepiekt. Carberry langte zu und hievte ihn vollends hoch. „Guten - guten Abend, Sir“, sagte Plymson unsicher und schielte auf die Faust unter seinen vielen Wabbelkinns. Diese Faust drehte langsam den Hemdausschnitt herum, so daß sich der Hemdkragen eng und enger um des Dicken Hals legte. „Guten Morgen, Plymmy“, sagte Edwin Carberry so freundlich wie ein gereizter Wildeber. „Ich suche drei Arwenacks Matt Davies, Stenmark und Sam Roskill. Du hast sie nicht zufällig gesehen, oder?“ Nathaniel Plymson bibberte. „Nein, Sir, die - die waren doch bei Mister Smoky, Sir, wenn ich mich richtig erinnere, Sir.“ Die eisenharte, mächtige Faust drehte den Hemdausschnitt erbarmungslos weiter um. „Du hast die drei Arwenacks nicht zufällig an gewisse Schweinehunde verkauft, Plymmy?“ fragte Carberry und fletschte die Zähne. „Niemals!“ schrie Nathaniel Plymson schrill. „Ich schwör's beim Leben meiner Mutter, Gott hab sie selig!“ Carberry erklärte, was er von „Plymmys“ Mutter hielte und fragte beharrlich weiter. „Die drei sind hier zuletzt gesehen worden, Plymmy“, sagte er. „Da haben sie friedlich einen gebechert ...“ „Mehr als einen“, sagte Nathaniel Plymson erbittert, „und ich mußte einen nach dem anderen ausgeben.“ „Für Englands Seehelden, nicht wahr?“ „Jawohl.“ „Du hast es doch gern getan, oder?“
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„Na-natürlich, Sir.“ Der Dicke ächzte. „Ich kriege keine Luft mehr, Sir.“ „Sollst du auch nicht, Plymmy. Ich frage dich noch einmal: Hast du ein schmutziges Spielchen mit den drei Arwenacks gespielt? Überleg dir die Antwort gut, Dickerchen. In deinem verdammten Loch hier sind schon zu viele brave Männer auf Nirnmerwiedersehn verschwunden, nicht wahr? Wir wissen das. Wir wissen das sehr genau. Und du weißt, daß wir es wissen. Solltest du deine Wurstfinger im dreckigen Spiel haben, dann rettet dich jetzt nur die Wahrheit. Also?“ „Ich - ich spreche die Wahrheit, Mister Carberry, Sir, bei meiner Ehre, ich schwöre bei Gott, daß ich wirklich nichts weiß und auch nie gewagt hätte, mit den Arwenacks so etwas zu tun, wie Sie andeuteten. Dazu habe ich vor den Seewölfen viel zuviel Respekt und Angst, jawohl, Angst. Und dann bin ich auch irgendwann umgefallen und erst wieder aufgewacht, als Sie mich weckten, Mister Carberry, Sir. Das ist die reine Wahrheit, ich kann nichts anderes sagen. Bitte, glauben Sie mir.“ Carberry ließ den Dicken los, der sich aufatmend den Hals rieb. Der Dicke, so schlitzohrig er auch sein mochte, hing dieses Mal nicht in der Sache drin. Das klang echt, was er gesagt hatte. Carberry fluchte vor sich hin. „Ich — ich kann Ihnen wirklich nicht helfen, Mister Carberry, Sir“, sagte der Dicke. „Vielleicht waren sie so betrunken, daß sie sich irgendwo im Hafen verlaufen haben.“ „Unsinn“, brummte Carberry, „die finden noch zur ‚Isabella' zurück, wenn sie auf dem Kopf rückwärts gehen müßten.“ Nathaniel Plymson nickte. Das brachten die glatt fertig. Er sagte: „Dann muß ganz was Schlimmes passiert sein.“ „Richtig“, sagte Carberry. Ohne sich weiter zu äußern, verließ er die „Bloody Mary“ und stürmte zur „Isabella“ zurück. Smoky empfing ihn an der Gangway. „Na?“ fragte er überflüssigerweise. „Nichts, verdammt“ Carberry funkelte Smoky an. „Ihr vier seid zu früh abgehauen. Jetzt weiß kein Aas, was in den
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Stunden nach Mitternacht passiert ist. Du säufst dir die Hucke voll, haust ab, legst dich pennen und kümmerst dich einen Dreck um deine Kameraden, denen du dazu verholfen hast, sich genauso vollaufen zu lassen.“ „Ich bin ja nicht deren Kindermädchen“, sagte Smoky in einem Anflug von Trotz. „Nein, bist du nicht!“ brüllte Carberry und geriet in Fahrt. „Aber der Decksälteste bist du! Decksälteste haben bei Sauforgien bis zuletzt an Deck zu stehen. Und wenn sie früher als ihre Deckscrew die Flagge streichen, dann taugen sie nichts. Dann sind sie Waschlappen, aber keine Decksältesten. Und wenn sie zu mickrig sind, ein Faß Whisky zu verkraften, dann sollten sie besser Milch saufen, verflucht noch eins. Aber groß die Luke aufreißen und den Seehelden markieren, was, wie? Das schmeckt mir vielleicht, Mister! Glotz mich nicht so dämlich an, du versoffener Riesenrammler, du ...“ „Was ist los, Ed?“ Das war Hasards scharfe Stimme vom Achterdeck her. Mit ein paar Schritten war er auf der Kuhl. „Matt, Sten und Sam sind abgängig, Sir“, stieß Carberry hervor. „Kein Schwanz weiß, wo die stecken. Haben wie die Irren bei Plymson gesoffen. Dieser Affenarsch von Decksältester ist volltrunken mit Gary Andrews, Pete Ballie und Luke Morgan nach Mitternacht in die Koje gewankt — ohne Matt, Sten und Sam. Die sind in Plymsons Kneipe geblieben und seitdem verschwunden.“ Smoky schrumpfte unter Hasards Blick zusammen. Dann sagte Hasard ohne weiteren Kommentar zu Carberry: „Old O'Flynn und Will Thorne bleiben an Bord zurück. Alle anderen Männer kämmen das Hafengelände durch —sofort.“ „Aye, aye, Sir.“ Carberry wollte sich in Bewegung setzen. „Moment, Ed“, sagte Hasard. „Plymson hat nicht seine Finger drin?“ „Nein, Sir, dieses Mal nicht. Ich hab ihn in die Mangel genommen. Der hat viel zuviel Angst vor uns.“ „Wenigstens etwas“, murmelte Hasard.
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Nur vier Minuten später schwärmte die „Isabella“-Crew aus und begann, das Hafengelände zu durchsuchen. Sie ließen keinen Schüppen, keinen Speicher, keine Werkstatt, kein Gewölbe aus. Sie schauten in leere Fässer, krochen unter Holzstapel und umgedrehte Boote, krempelten eine Reepbahn um, pirschten durchs Dock und streiften an den Kais, Anlegestellen und Stegen entlang. Sie verscheuchten Ratten und stießen auf streunende Katzen. In einem vergammelten Bretterverhau entdeckten sie zwei schnarchende Kerle, aber das waren verluderte Landstreicher, die auch noch rabiat wurden, als rauhe Fäuste sie hochrüttelten. Big Old Shane und Dan O'Flynn waren in den Verhau eingedrungen, der aus zersplitterten Bootsgerippen, verfaulten Schiffsplanken und verrottetem Segeltuch bestand. Der eine der Kerle hatte sofort ein Messer in der Hand, der andere einen Knüppel. Sie spuckten Gift und Galle, rochen nach Jauchegrube und waren so bösartig wie gereizte Hornissen. Nur mit einer blitzschnellen Körperdrehung konnte Dan O'Flynn dem Messerstich des einen entgehen. Und Big Old Shane duckte sich in letzter Sekunde vor dem Knüppelhieb, der einen Ochsen gefällt hätte. Aber dann legten sie los. Das Messer verschwand zwischen dem verrotteten Segeltuch, von einem Füßtritt Dan O'Flynns dorthin befördert. Der Kerl schlenkerte seine rechte Hand und brüllte wie am Spieß. Dann brüllte er nicht mehr, weil ihm Dan O'Flynns Faust unter das Kinn gefahren war. Er kippte zurück zwischen die zerlumpten Decken. Der andere hing inzwischen in den Teilen eines Bootsgerippes und zappelte wie eine Fliege im Spinnennetz. „Sind das zwei Giftzähne!“ keuchte Dan O'Flynn. Als sie draußen waren, brach der Verhau zusammen. Eine Staubwolke breitete sich aus, und das Gebrüll der beiden Kerle wechselte in ersticktes Fluchen über. Die hatten eine Weile zu tun, um sich aus den
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Trümmern ihrer Behausung herauszuarbeiten. Big Old Shane und Dan O'Flynn suchten weiter. Aber Matt Davies, Sam Roskill und Stenmark wurden nicht gefunden. Nacheinander kehrten die Männer bei Morgengrauen an Bord der „Isabella“ zurück. Sie waren verschmutzt und hatten enttäuschte Gesichter. Zu der Enttäuschung gesellte sich jetzt echte Sorge. Am trübsinnigsten war Smokys Miene. Er quälte sich zu allem noch mit Selbstvorwürfen. Ed Carberry hatte ihm ganz schön die Leviten gelesen. 7. Schweigend umstanden sie Hasard auf der Kuhl, schweigend und ratlos. Was sie so niederdrückte, war die Erkenntnis, daß sie nicht wußten, was sie jetzt noch tun sollten. Nichts zu tun, das war immer die mieseste Sache von allem. Und da war keiner unter ihnen, dem es lag, passiv zu sein. Noch nie hatten sie etwas hingenommen, ohne sich zu wehren oder initiativ zu werden. Sie nahmen jede Herausforderung an. Aber gegen etwas Unbekanntes konnte man nicht kämpfen. Das war wie Nebel, der einen umhüllte, ohne daß man ihn wegwischen konnte. Hasard spähte aus schmalen Augen über die Mill Bay. Aus dem Morgendunst tauchten allmählich die Umrisse der vor Anker liegenden „Revenge“ auf. Auf der Back, mittschiffs und achtern waren deutlich die Wachen zu erkennen. Sie lehnten am Schanzkleid oder schlenderten auf und ab. Hasard sagte: „Nach allem, was wir bisher mit Drake und seinen Männer erlebt haben, sollte es mich nicht wundern, wenn Matt, Sten und Sam in die Hände einer Preßgang der ,Revenge` gefallen sind. Wenn diese Annahme stimmt, stellt sich die Frage, wie wir sie befreien können, ohne sie zu gefährden. Fällt jemandem dazu etwas ein?“
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Big Old Shane sagte: „Drake hat jetzt drei Geiseln. Wir müßten versuchen, uns sechs von den Kerlen zu schnappen, um dann einen Austausch zu erzwingen.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Abgesehen davon, daß Drake voraussichtlich keinen seiner Männer an Land läßt, würde es uns meines Erachtens kaum etwas nutzen, ebenfalls Geiseln zu nehmen. Drake würde darauf pfeifen. Menschen sind für ihn nur Material.“ Erbitterung schwang in Hasards Stimme, „Gerade weil er weiß, wie eng unsere Crew zusammenhängt, hat er das ausgenutzt. Wir sind erpreßbar, er nicht. Er wollte es mit meinen Söhnen versuchen, jetzt hat er dafür Matt, Sten und Sam. Es läuft auf das Gleiche hinaus.“ „Wenn der Lordadmiral oder der alte Hawkins hier wären“, sagte Ferris Tucker, „würden die Drake ganz schön den Marsch blasen. Legal sind dessen Methoden wohl nicht mehr zu nennen. Und dem Ruf der Royal Navy tut er auch keinen Gefallen. Wäre in dieser Richtung nicht irgendetwas zu deichseln?“ „Wären wir in London, vielleicht“, erwiderte Hasard. „Aber wir sind in Plymouth. Noch nicht einmal der Stadtkornmandant könnte hier etwas unternehmen, er steht dem Rang nach unter dem Admiral. Außerdem würde ich mich ungern hinter anderen verstecken, um mir die Glut aus dem Feuer holen zu lassen. Nein, wir müssen das selbst regeln.“ Ben Brighton sagte in seiner bedächtigen Art: „Bisher gehen wir von der Annahme aus, Matt, Sten und Sam seien von einer Preßgang der ,Revenge' vereinnahmt worden. Wissen tun wir es tatsächlich nicht. Also sollten wir uns zuerst einmal vergewissern, ob unsere Annahme richtig ist.“ Die Männer hatten verblüfft zugehört, auch Hasard. „Wie stellst du dir das denn vor, Ben?“ platzte er heraus. Ben Brighton lächelte schwach. „Ich weiß, das sieht nach einem Bettelgang aus und entspricht nicht unserer Art, aber warum pullen wir nicht mit der Jolle hinüber und fragen den sehr ehrenwerten Admiral, ob
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sich die drei bei ihm an Bord befinden? Wenn ja, werden wir wohl auch erfahren, was er eigentlich beabsichtigt. Damit wären wir zumindest einen Schritt weiter.“ Keinem der Seewölfe schmeckte Ben Brightons Vorschlag - ihm selbst schon gar nicht -, aber unter den derzeitigen Umständen war er besser als nichts. Außerdem blieben sie nicht untätig und würden so oder so Gewißheit erlangen, ob die drei an Bord der „Revenge“ waren. Und wenn nicht? Es war Old O'Flynn, der etwas sagte, wofür sie ihn fast gekielholt hätten. „Was ist denn, wenn sie von der Fahne gegangen sind und heimlich abgemustert haben?“ Ein einstimmiger Wut- und Protestschrei ertönte, Fäuste wurden geschüttelt, Carberry rückte auf Old O'Flynn los, das Rammkinn vorgeschoben, die anderen drängen nach. „Halt!“ sagte Hasard scharf. „Seid ihr verrückt geworden? Niemand rührt Old O'Flynn an, verstanden? Auch wenn er Unsinn verzapft hat, ist das noch kein Grund, über ihn herzufallen. Ihr scheint alle ein bißchen überdreht zu sein.“ Sie blickten betreten auf die Decksplanken. Hasard wandte sich zu Old O'Flynn um. „Vergiß, was du gesagt hast, Old Donegal. Es gibt Beleidigungen, die tief verletzen können. Deine Bemerkung war von dieser Art, und sie trifft auch mich. Männer desertieren von Schiffen, wenn ihre Schiffsführung nicht in Ordnung ist. Ich nehme nicht an, daß deine Bemerkung in diese Richtung zielte - oder irre ich da?“ Old O'Flynn, knochenhart, wettergegerbt, weißhaarig, Vater von sieben Söhnen und einer Tochter, stand kerzengerade. Er sagte: „Ich hatte noch nie Grund, die Schiffsführung anzuzweifeln. Was meine Bemerkung betrifft - sie rutschte mir heraus. Als sie heraus war, wußte ich selbst, daß ich etwas Böses gesagt hatte.“ „Danke, Old Donegal. Vergessen wir's. Ed, fiert die Jolle ab. Big Old Shane, Pete, Gary, Batuti, Dan, Smoky und Bob begleiten mich zur ,Revenge`. Es werden keine Waffen mitgenommen.“ „Aye, aye!“ tönte es zurück.
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Zehn Minuten später nahm die Jolle Kurs auf die „Revenge“. Sie mußten pullen, der Wind war an diesem Morgen zu schwach, als daß es sich gelohnt hätte, das Segel zu setzen. Über die Mill Bay kreischten die Möwen. Im Osten stand die Sonne wie ein glutroter Ball zwei Handbreiten über der Kimm. Sie brauchten eine halbe Stunde. Die „Revenge“ lag mit dem Bug nach Westen vor Anker. An ihrem Heck hing ein Beiboot. Ob Drake das requiriert hatte, nachdem die „Le-Vengeurs“ und die Seewölfe die Beiboote der „Revenge“ in der nächtlichen „Seeschlacht“ versenkt hatten? Wenn sich Matt, Sten und Sam auf der „Revenge“ befanden, dann mußten sie mit diesem Boot an Bord gebracht worden sein. Hasard, der an der Pinne saß, schaute zurück. Am Strand der Firestone Bay konnten sie die drei auf das Boot verschleppt haben. Dieser Strand war von der Mill Bay her nicht einzusehen, er lag im toten Winkel. „Boot, ho!“ brüllte einer auf der „Revenge“. „Nähert sich von Steuerbord!“ „Die merken auch alles“, brummte Big Old Shane. Er saß neben Hasard auf der achteren Ducht. Mehrere Gestalten erschienen am Schanzkleid der Steuerbordseite und starrten zu dem Beiboot der „Isabella“. Big Old Shane kniff die Augen zusammen. „Ich erkenne auf dem Achterdeck den verdammten Parsons“, sagte er, „das ist Drakes erster Offizier, ein rachsüchtiger Hammel erster Güte, Ed hat ihn mehrere Male verdroschen. Bei der Prügelei in der ,Bloody Mary' und bei der Wasserschlacht in der Mill Bay hat dieser Kerl das Kommando geführt.“ Hasard nickte stumm und steuerte das Beiboot auf das Achterschiff der „Revenge“ zu. Dann befahl er: „Auf Riemen, laß laufen!“ Die Männer lüfteten die Riemen aus den Runzeln und hielten sie längsseits der Bordwand. Hasard legte etwas Ruder bind steuerte in einem sanften Bogen auf
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Rufweite heran, bis er parallel zur „Revenge“ auslief. „Kapitän Killigrew von der ‚Isabella'!“ rief er zu Parsons hoch. „Bitte an Bord kommen zu dürfen!“ Parsons grinste höhnisch zu dem Beiboot hinunter, legte die geöffnete rechte Hand hinter das rechte Ohr und brüllte: „Wie meinen?“ Hasard wiederholte seinen Wunsch. „Lauter, Mister Pillimut, Sie haben so ein zartes Stimmchen, das kaum zu hören ist — wie ein Gockelchen im Stimmbruch, ha-ha-ha!“ „Sie sollten Ihre Mauseöhrchen mal waschen, Mister Marsons!“ rief Hasard nach oben. „Oder hat Ihnen mein Profos zu harte Maulschellen verpaßt, daß Ihnen jetzt noch die Ohren klingen?“ „Ich heiße Parsons!“ brüllte der erste Offizier wutentbrannt. „Und ich Killigrew!“ rief Hasard. „Fein, daß Sie offensichtlich doch etwas hören! Bestellen Sie Admiral Drake, daß ich ihn zu sprechen wünsche!“ „Der Admiral schlaft noch und möchte nicht gestört werden!“ brüllte Parsons. „Bei Ihrer Brüllerei wird er bestimmt wach!“ rief Hasard. „Ich habe strikten Befehl, ihn nicht vor dem Mittag zu stören!“ rief Parsons. „Vielleicht geruhen Sie dann, noch einmal zu erscheinen, Killigrew!“ „Werde ich tun, Parsons!“ rief Hasard zurück. „Falls Sie jemals ein Schiff führen wollen, täten Sie gut daran, vorher die seemännische Etikette zu studieren. Es ist nicht üblich, daß der erste Offizier eines Schiffes den Kapitän eines anderen Schiffes, der höflich darum bittet, an. Bord kommen zu dürfen, rüde vom Achterdeck herunter anpöbelt und wie seinesgleichen anspricht. Sie müssen noch viel lernen, Parsons, wenn Sie etwas in der Royal Navy werden wollen. Vielleicht gibt Ihnen der Admiral Unterricht über die allgemeinen Regeln von Takt und Anstand. Richten Sie ihm bitte meine Empfehlung aus!“ Parsons war weiß vor Wut. Das warenmoralische Ohrfeigen. die schmerzten noch
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mehr als die Maulschellen des Profos. Außerdem hörte fast die gesamte Besatzung der „Revenge“ zu, und da und dort grinste einer versteckt. „Klar bei Riemen!“ befahl Hasard. Die Riemen krachten zurück in die Runzeln. „Ruder an!“ Im Gleichtakt der Riemen schoß das Beiboot zurück in Richtung Mill Bay. Da saß jeder Riemenschlag exakt und harmonisch aufeinander abgestimmt. Einer der Bootsleute auf der Kuhl direkt unter dem Achterdeck sagte vernehmlich: „Pullen können die, alle Achtung - wenn ich da an unseren Riemensalat denke ...“ „Bootsmann Stenley!“ schrie der erste Offizier. Der Bootsmann ruckte herum und schaute zum Achterdeck hoch. „Mister Parsons, Sir?“ „Ich verbitte mir solche Bemerkungen, verstanden?“ „Aye, aye, Sir“, sagte Bootsmann Stanley ziemlich lässig. Parsons schob den Kopf lauernd vor. „Ihr Ton gefällt mir nicht, Stenley.“ Er schien plötzlich ein sehr feines Gehör zu haben, dieser Mister Parsons. „Sir?“ fragte der Bootsmann und zog die linke Augenbraue hoch. Er konnte das sehr gut, denn es gab seinem Gesicht einen Ausdruck höhnischen Trotzes. „Wie darf ich das verstehen?“ „Sie wissen sehr gut, was ich meine“, knurrte Parsons gereizt. „Was meinen Sie denn, Mister Parsons, Sir?“ fragte der Bootsmann mit höflicher Unverschämtheit. Die Stirnadern des ersten Offiziers schwollen dunkel an. Diesem Bootsmann war so nicht beizukommen. Das war keiner von denen, die sich duckten oder zu blöd waren, ihren eigenen Namen zu buchstabieren. „Sie haben nichts zu fragen!“ schrie Parsons. „Kümmern Sie sich um das Reinschiff, Mann!“ „Aye, aye, Sir“, sagte Bootsmann Stanley noch lässiger als zuvor, drehte sich um und setzte einem Moses, der ihn mit offenem Munde anstarrte, sanft auseinander, daß
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eine Wurzelbürste zum Deckschrubben geschaffen sei - nicht dazu, sich daran festzuhalten. „Klar, mein Junge?“ fragte er zum Schluß. „Aye, aye, Sir!“ schmetterte der Moses. Und Parsons zuckte zusammen. * In der Vorpiek der „Revenge“ sagte Matt Davies: „Und es war doch Hasard, ich habe es genau gehört, aber euch läuft ja noch der Whisky aus den Ohren, verdammt noch mal.“ Sam Roskill, schlank, dunkelhaarig, dunkeläugig, sonst ein verwegener Draufgänger, stöhnte und murmelte: „Was ist hier überhaupt los? Ich glaub, mein Schädel platzt auseinander. Kannst du mir mal erklären, wo wir hier sind?“ „Auf der verdammten ,Revenge`“, erwiderte Matt Davies gallig. „Du spinnst wohl, Mann?“ Sam Roskills Stimme klang fassungslos. „Matt hat recht“, ertönte Stenmarks Stimme, „wir befinden uns auf der ,Revenge`.“ Keiner konnte den anderen sehen. Die Vorpiek tief unten im Vorschiff der „Revenge“ war ohne Licht. Es war jenes Loch auf englischen Schiffen, in das einerseits Ersatzteile oder nur dann und wann gebrauchtes Material wie Hilfsanker, schwere Trossen, Schleppleinen, Bojengeschirr und ähnliches gestaut wurden. Andererseits diente es dazu, renitente Seeleute, arme Sünder oder Gefangene dort einzusperren. Auf den meisten Schiffen war dieses Loch der Vorhof zur Hölle, vor allem bei schwerem Seegang, wenn das stinkende Bilgewasser bei der Talfahrt ins Vorschiff schoß und Teile der Piek überflutete. Und wer einen empfindlichen Geruchssinn hatte, dem konnte sich in dem Mief dieses Loches schon der Magen umdrehen. Matt Davies sagte: „Sie haben uns zusammengeschlagen, als wir die ,Bloody Mary' verlassen hatten und zur ‚Isabella' zurück wollten.“ Jetzt dämmerte es Sam Roskill auch.
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„Ach du dickes Ei“, murmelte er. „Aber wie soll dann Hasard wissen, daß wir hier sind?“ „Er hat zwei und zwei zusammengezählt, ganz einfach“, erwiderte Matt Davies. „Irgendwann waren wir überfällig. Dann haben sie nach uns gesucht und natürlich nicht gefunden. Ich an ihrer Stelle hätte jetzt auch vermutet, wo man uns zu suchen hat — auf der ,Revenge`.“ „Hm“, brummte Sam Roskill. „Und was soll das Ganze?“ „Drake hat irgendeine Schweinerei vor“, sagte Stenmark ruhig. „Genau“, sagte Matt Davies. Eine Weile schwiegen sie, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann sagte Stenmark: „Die ,Revenge` liegt noch vor Anker.“ „Na klar“, sagte Matt Davies, „schließlich haben sie uns ja nicht geschnappt, um uns spazierenzusegeln. Wie ich den alten Schweinehund kenne, wird er versuchen, Hasard mit uns zu erpressen. Dieser mistige Admiral gibt nicht eher Ruhe, bis er Hasard geschafft hat.“ „Nicht nur Hasard — die ganze Crew“, sagte Stenmark. „Von dem Stadtkommandanten hatte er verlangt, uns alle in den Kerker zu werfen. Tollwütige Bestien seien wir, hat er gebrüllt, die man erschießen, aufknüpfen und vierteilen müsse.“ „Der kann doch nicht 'ne ganze Schiffsbesatzung ausrotten“, sagte Sam Roskill. „Weiß man's?“ erwiderte Stenmark. „Verrückt genug ist er. Und vergiß nicht, daß er sich sogar an Hasards Söhnchen vergriffen hat. Der alte Carberry sagte, wer Kinder raubt, bringt noch ganz andere Sachen fertig. Ich meine, wir sollten mal allmählich darüber nachdenken, wie wir diesem Admiral in die Suppe spucken könnten. Vielleicht hat Matt Hasards Stimme wirklich gehört. Ich war vorhin auch noch nicht ganz richtig da.“ „Es war seine Stimme“, sagte Matt Davies. „Und dann hat dieser Parsons was gebrüllt. Der war ziemlich in Fahrt.“ Sie hörten, wie
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er lachte. „Vielleicht hat Hasard ihm ein paar Freundlichkeiten gesagt.“ „Hast du auch Drakes Stimme gehört?“ fragte Stenmark. „Nein, warum?“ „Drake plant doch offensichtlich etwas“, sagte Stenmark. „Ich frage mich, warum dann keine Reaktion erfolgte, als Hasard hier war. Vermutlich sind sie mit dem Beiboot hergepullt oder gesegelt.“ „Verstehe ich auch nicht“, sagte Sam Roskill. „Vielleicht sollten wir mal ein bißchen Krach schlagen und die Kerle in Trab bringen, um zu sehen, was sich darin tut. Ich hab sowieso Hunger und einen mächtigen Nachdurst.“ „Krach schlagen ist immer gut“, sagte Matt Davies. „Habt ihr noch irgendwelche Waffen bei euch?“ Hatten sie nicht. Die Messer wären ihnen abgenommen worden. Aber das störte sie nicht weiter. „Klar Schiff zum Gefecht“, sagte Matt Davies. Daß er grinste, konnten sie nicht sehen. „Kann mir mal einer verraten, wo hier das Schott zu diesem verdammten Loch ist?“ Sie rappelten sich hoch und tappten umeinander wie Blinde, die mit :astenden Händen einen Weg suchen. Sam Roskill stolperte über irgendetwas und fluchte. „Was war das?“ fragte Stenmark. Er befand sich hinter Sam. Sam Roskill hatte sich gebückt und griff suchend herum. Dann hatte er es. „'n Anker“, brummte er. „Groß?“ „Nein, wohl für 'ne Pinasse.“ Matt Davies spitzte die Ohren. „Ist ne Trosse dran?“ „Ja.“ „Halleluja!“ sagte Matt Davies. „Her mit dem Ding. Ich steh jetzt vor dem Schott. Ich hab's abgetastet. Sten, weißt du, was wir tun?“ „Klar. Laß mich mal vorbei, Sam, streck deinen Hintern nicht soweit vor. Gut so, gib mir die Trosse. Danke ...“ Stenmark, größer als Matt und Sam, reckte sich und tastete in der Finsternis mit der linken Hand die Decke über sich ab. Er fand, was
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er suchte — den üblichen Decksbalken, wie sie auf allen hölzernen Schiffen querschiffs angebracht waren und das Schiffsgerippe stützten. Er schlang die Trosse um den Decksbalken, bis sie steif kam. „Sam“, sagte er, „heb den Anker an! Noch mehr, noch mehr ...“ Sie hantierten in der rabenschwarzen Dunkelheit und mußten sich auf ihr Gefühl und ihren Tastsinn verlassen. Sam Roskill hatte begriffen, um was es ging. „Junge, Junge“, sagte er, und seine Stimme hatte einen sehr heiteren Klang. „Wie hoch hängt er jetzt?“ Er meinte den Anker. Der baumelte inzwischen unter dem Decksbalken. „Müßte hinkommen“, sagte Stenmark. „Nimm mal Maß, Sam. Reicht's bis zum Schott?“ Er spürte, wie Sam Roskill den Anker packte. Dann tappte er mit dem ziemlich schweren Ding zum Schott. „Laß bloß nicht los, Mann“, sagte Stenmark. „Ich bin doch nicht blöd“, murmelte Sam. Er stieß gegen Matt Davies. „Hier ist das Schott“, sagte Matt. Er tastete nach dem Anker. „Gut so. Der Anker müßte etwa die Mitte treffen. Das haut hin. Halt ihn noch fest, Sam. Zurück zu Sten.“ Sie bewegten sich vom Schott weg zurück, bis sie bei Stenmark unter dem Decksbalken standen. Stenmark zurrte erst jetzt die Trosse endgültig fest und sicherte sie zusätzlich mit ein paar halben Schlägen. Was sie da in der Finsternis angebracht hatten, war eine Art schwingender Rammbock — ein gefährliches Ding. Es war ein Stockanker, der unter dem Decksbalken hing, ein Stockanker mit eisernem Schaft, Kreuz, zwei Ankerarmen und zwei Flunken. Diese Flunken, schaufelartig geformt, um sich gut in den Ankergrund eingraben zu können, liefen ziemlich spitz zu. Wer so eine Flunkenspitze schwungvoll an den Schädel kriegte, brauchte über sein künftiges Dasein nicht mehr nachzudenken. „Alles klar?“ fragte Matt Davies.
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„Alles klar, Matt“, erwiderte Stenmark. „Tretet ganz nach vorn zum Vorschiff, damit euch das Ding nicht erwischt, wenn es zurückschwingt. Ich regele das hier allein. Zu dritt sind wir uns nur im Weg.“ „Paß auf, daß dir der Brummer nicht an den Kopf fliegt“, sagte Matt Davies besorgt. „Keine Bange, ich ducke mich ab. Seid ihr weit genug weg?“ „Aye, aye, Sir“, sagte Sam Roskill. „Es kann losgehen.“ Stenmark packte die eine Flunke des Ankers und tappte rückwärts, bis er spürte, daß er den Anker etwa in Brusthöhe hatte. „Jetzt!“ sagte er, schwang den Anker an der Flunke mit beiden Händen in Richtung des unsichtbaren Schotts und ging tief in die Hocke. Die Trosse knarrte, unmittelbar darauf krachte es. Das klang, als sei eine Drehbasse abgefeuert worden. Stenmark spürte über sich Bewegung und langte zu. Er kriegte einen Ankerarm zu fassen und stoppte den zurückschwingenden Anker. „Klappt bestens!“ sagte er über die Schulter. „Ich hab ihn wieder. Jetzt folgt der nächste Bums!“ Dieses Mal steckte noch mehr Kraft in dem Schwung. Der Anker donnerte gegen das Schott, daß es durchs ganze Schiff dröhnte. Gleichzeitig hörten sie auch ein Splittern. „Gib's ihm!“ zischte Matt Davies erregt. „Da sitzt Musik drin, Junge! Weiter so!“ Stenmark war schon dabei und legte sich noch kräftiger ins Zeug. Der dritte Krach war ohrenbetäubend. Die ganze Vorpiek ächzte, als sei sie dabei, auseinanderzubrechen. „Ho-ho!“ brüllte Matt Davies. „Hinein in die Vollen!“ brüllte Sam Roskill. „Gib's ihnen, Sten! Hau das Schott in Klump! Drauf, immer drauf!“ Auch Stenmark brüllte jetzt. Brüllen war immer gut. Wenn sie enterten, brüllten sie auch, das war nun mal so. Außerdem stachelte es einen an und erhöhte die Kampfeslust. Jetzt hatte er auch schon Routine, der große, blonde Schwede, in dem eine
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unbändige Kraft steckte. Er wußte, daß steter Tropfen den Stein höhlt. Also mußte dieses verdammte Schott auch irgendwann zersplittern, wenn es immer wieder an derselben Stelle getroffen wurde. Oder es brach aus seiner Füllung. Außerdem tat es gut, sich auf diese Weise Luft zu verschaffen und es den Kerlen zu zeigen. Ja, noch waren sie nicht am Boden! Selbst wenn sie eingesperrt waren, konnten sie noch kämpfen. Rumms! Und wieder: Rumms! Und noch einmal! Das war's wohl – die Flunke brach durch das Holz und blieb stecken. Durch die Bruchstelle schimmerte trübes Licht. Die drei Männer brüllten, als hätten sie die Absicht, ein Schiff allein zu stürmen. Stenmark zerrte die Ankerflunke aus dem Holz, peilte durch die Bruchstelle und zuckte zurück. „Jetzt geht's rund, Männer!“ rief er über die Schulter. „Sie sind wachgeworden!“ Er wich mit dem Anker bis zu seiner Ausgangsposition zurück. Als das Schott aufschwang, stieß er den Anker vor und ließ los. Wie ein Keil raste der Anker zwischen die Kerle, die sich vor dem Schott drängten und mit Belegnägeln, Knüppeln und Spaken bewaffnet waren. Sie flogen nach rechts und links weg, als würden sie umgesenst. „Vorwärts!“ brüllte Stenmark und hechtete in die Lücke. Wie Tiger sprangen Matt Davies und Sam Roskill vor und folgten Stenmark. der bereits eine Gasse gebrochen hatte. „Haltet sie!“ schrie eine Stimme hinter ihnen. In dem Gang zur Vorpiek herrschte ein tolles Durcheinander. Die drei Männer der „Isabella“ hatten genug Zorn drauf, um sich rücksichtslos Platz zu verschaffen — jetzt waren sie nicht mehr betrunken wie in der Nacht. Stenmark hatte sich eine Spake geschnappt, Matt Davies und Sam Roskill hinter ihm hatten Belegnägel an sich gerissen. Wo sie hinschlugen, sank einer zu Boden. Stenmark voran, der die Spake
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wie einen Dreschflegel schwang, kämpften sie sich zum Niedergang vor. Flüche wurden gebrüllt, Männer schrien und ächzten, es klang, als rumore im Bauch der „Revenge“ ein Erdbeben. Stenmark raste den Niedergang hoch, wich zwei Kerlen aus, die ihm von oben entgegenkamen, drehte sich blitzschnell, stieß dem letzten das Knie ins Kreuz und enterte weiter. Mit einem Blick hatte er gesehen, daß auch Matt Davies und Sam Roskill hinter ihm ausgewichen waren. Die beiden Kerle sausten wie Lawinen den Niedergang hinunter und rissen unten die Nachdrängenden um. Dort bildete sich im Nu ein zappelnder, brüllender Menschenknäuel. Und damit war der Niedergang nach oben zunächst versperrt und blockiert. Stenmark, Matt Davies und Sam Roskill tobten durch das Mannschaftslogis, wo die Backschafter gerade die Klappbänke und Backstische für das Frühstück der Freiwache aufgebaut hatten, als der Krach unten in der Vorpiek losgegangen war. Wenn Backschafter und Freiwache gemeint hatten, die fünfzehn Männer, die hinunter zur Vorpiek gestürmt waren, hätten ausgereicht, um die drei Kerle von der „Isabella“ zur Räson zu bringen, dann sahen sie sich jetzt getäuscht. Einige saßen schon, andere standen noch. Sie waren viel zu verblüfft, um sofort zu reagieren. Und als sie reagierten, flogen ihnen bereits Teile ihres Backsgeschirrs um die Ohren, Backstische krachten zusammen, Bänke kippten um. Einer taumelte umeinander, weil ihm Stenmark eine große Barkasse mit heißer Hafergrütze über den Kopf gestülpt hatte. Matt Davies stemmte blitzschnell die Kopfseite einer Bank hoch, auf der fünf der „Revenge“-Leute saßen. Die rutschten vereint nach unten, prallten aufeinander und boxten sich gegenseitig die Ellenbogen zwischen die Rippen. Ein Wirbelsturm hätte nicht schlimmer im Vordeck wüten können. Nur auf der Kuhl wurde der Sturmlauf der drei Seewölfe gestoppt — von Seesoldaten mit schußbereiten Musketen.
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„Waffen fallen lassen!“ brüllte Parsons, der erste Offizier. Waffen! Matt Davies, Sam Roskill und Stenmark grinsten sich an und warfen Spake und die beiden Belegnägel nachlässig Parsons vor die Füße. „Was geht hier vor?“ brüllte Parsons. Die drei Seewölfe bestaunten den Himmel und grinsten weiter. Was sollte man auf eine so dämliche Frage auch antworten! Hinter ihnen taumelten Männer mit Beulen an den Köpfen und blutenden Nasen aus dem Schott zur Kuhl. Jemand schrie nach dem Feldscher. Der Kerl mit der Barkasse über dem Schädel schoß aus dem Schott, brüllte wie am Spieß, stolperte über Sam Roskills blitzschnell vorgestellten Fuß und schlitterte dem ersten Offizier vor die Stiefel. Fast wäre der Krawall auf der Kuhl weitergegangen. Die Barkasse rollte allein weiter und verteilte die restliche Hafergrütze über die gerade geschrubbten Planken. Parsons quollen die Augen aus dem Kopf. Hinter ihm auf dem Achterdeck tauchte die kurzbeinige Figur des sehr ehrenwerten Admirals auf. Auf dessen Gesicht wechselten die Empfindungen wie zuckende Blitze. Zuletzt blieb nur der Ausdruck von berstender Wut. Was sein erster Offizier zu hören kriegte, reichte, um Selbstmord zu begehen. Matt Davies, Stenmark und Sam Roskill landeten wieder in der Vorpiek — gefesselt. Und die Vorpiek wurde ausgeräumt. Das Schott wurde mit Leckbalken doppelt und dreifach abgesichert. Die drei Seewölfe hatten die „Revenge“ mit ihrer 250köpfigen Besatzung ganz schön auf Trab gebracht. 8. Als von der St.-Andrewskirche zwölf Glockenschläge über Plymouth hallten, steuerte Hasard die Jolle mit derselben Bootscrew wie am Morgen in den Plymouth Sound hinaus. Auch dieses Mal verzichtete er darauf, das Segel zu setzen,
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es lohnte nicht bei der kurzen Entfernung zur St.-Nicholas-Insel, vor der die „Revenge“ immer noch vor Anker Merkwürdigerweise war das Beiboot achtern am Heck der „Revenge“ verschwunden. Aber vielleicht lag es auf der Backbordseite, die Hasard nicht einsehen konnte. Er schenkte dem nicht weiter Beachtung. Warum auch? Eine halbe Stunde später dachte er anders darüber. Manchmal sind es eben doch die Details, die wichtig sein können. Dieses Mal geruhte der sehr ehrenwerte Admiral nicht mehr zu schlafen. Hasard wußte ja nicht, was inzwischen vorgefallen war, ja, er wußte nicht einmal, ob sich seine drei Männer tatsächlich an Bord der „Revenge“ befanden. Jedenfalls stand Admiral Drake, die Hände auf dem Rücken am Steuerbordschanzkleid des Achterdecks und blickte der Jolle mit satter Genugtuung entgegen. Eine Jacobsleiter war auf der Steuerbordseite nicht ausgebracht, was bereits darauf deutete, daß Drake wohl nicht die Absicht hatte, Hasard an Bord zu empfangen. Das waren schlechte Vorzeichen, aber Hasard war sich selbst gegenüber ehrlich genug um sich einzugestehen, daß der Admiral weiß Gott keinen Grund hatte, ihn mit einem Ehrensalut zu empfangen. Schließlich hatte ihn Hasard ja ziemlich ruppig von Bord der „Isabella“ befördert. Mehr als zuvor zweifelte Hasard am Erfolg dieser Mission. Aber es ging um seine drei Männer, und da hatte er nach jedem Strohhalm zu greifen, der sich ihm bot. Da hatte er seinen Stolz herunterzuschlucken und sein Temperament zu zügeln, auch wenn ihm maßlose Unverschämtheiten geboten wurden - wie es Parsons am Morgen bereits exerziert hatte. Wieder steuerte Hasard die Jolle auf Rufweite an die „Revenge“ heran. Er grüßte zu dem Admiral hoch und rief: „Hätten Sie die Güte, mich an Bord zu empfangen, Sir?“ Drakes Miene war voller Hohn. „Warum sollte ich? Bastarde haben auf meinem
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Schiff nichts zu suchen!“ Es ging also schon wieder los. „Dieser Lumpenhund“, murmelte Big Old Shane, „ich könnte ihm den Hals umdrehen:“ Hasard rief: „Zu gütig, Sir! Das war eine klare Antwort. Würden Sie dann so freundlich sein, mir eine andere Frage zu beantworten? Ich vermisse drei meiner Männer, von denen zwei bereits früher bei Ihnen gefahren sind - auf der ,Marygold`. Es handelt sich um Matt Davies und Stenmark. Der andere Mann ist Sam Roskill. Sind diese drei Männer bei Ihnen an Bord?“ „Ich beherberge kein Piratengesindel!“ schrie Drake. „Da suchen Sie besser in den Hurenhäusern und Kaschemmen von Plymouth, wo sich der Abschaum herumtreibt und Sie und Ihresgleichen hingehören!“ Hasard knirschte mit den Zähnen und beherrschte sich mühsam. „Sir!“ rief er zu Drake hoch. „Ich habe Sie höflich um eine Auskunft gebeten und darf wohl erwarten, daß Sie mir auch höflich antworten. Ich frage Sie noch einmal, ob sich diese drei Männer bei ihnen an Bord befinden?“ „Nein, nein, nein!“ brüllte der Admiral. „Sind Sie schwerhörig? Ich sagte doch, wo die sich herumtreiben. Die Gosse habe ich noch vergessen, dort suhlen sich doch immer Ihre Kerle, wenn sie ...“ Er gelangte nicht weiter. Aus dem Vorschiff drang abgehackter Kampfgesang. Die Männer in der Jolle zuckten herum und starrten zum Vorschiff der „Revenge“. Es klang dumpf, war aber deutlich zu hören. „Ar-we-nack! Ar-we-nack! Arwe-nack!“ Das Kampfgeschrei der Seewölfe. Hasard hätte die „Revenge“ mit der blanken Faust angreifen können, so schüttelte ihn die Wut. Seinen Männern erging es nicht anders. Der Admiral tanzte hohnlachend auf dem Achterdeck herum. Er wirkte wie ein verrückt gewordener Giftzwerg.
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Hasards Stimme donnerte gegen das Flaggschiff: „Männer der ,Revenge`! Ihr habt gehört, was zwischen dem Admiral und mir gesagt wurde. Dieser Offizier der Royal Navy im Range eines Admirals scheut sich in Gegenwart seiner Besatzung nicht, einen englischen Kapitän, der von Ihrer Majestät der Königin zum Ritter geschlagen wurde, anzulügen und tapfere Männer, die für England gekämpft und geblutet haben, in einer Weise zu verhöhnen und zu beschimpfen, als stamme er selbst aus der Gosse. Wer von euch noch einen Funken Ehre und Anstand im Leibe hat, der möge mir helfen, meine drei Männer herauszuholen, die auf Befehl dieses Wahnsinnigen ...“ „Feuer frei!“ brüllte der Admiral. „Auf die Jolle! Ich will diese Kerle lebend, vor allem den Bastard Killigrew!“ Sie hatten geduckt hinter dem Schanzkleid gelauert. Jetzt standen sie plötzlich da — zwölf Seesoldaten, mit Musketen bewaffnet. Hasard reckte sich auf. „Wir sind unbewaffnet!“ brüllte er zu den Seesoldaten hoch. „Seit wann schießen Engländer auf unbewaffnete Engländer? Seid ihr wahnsinnig? Wollt ihr zu Mördern werden?“ „Feuer!“ schrie Drake mit überkippender Stimme. „Ruder an!“ fauchte Hasard. „Pullt, wie ihr noch nie gepullt habt! Es ist unsere einzige Chance, diesem Verrückten noch zu entwischen! Hool weg — hool weg — hool weg!“ Die Jolle schoß vorwärts, von peitschenden Riemenschlägen getrieben. Vor ihrem Bug schäumte das Wasser, Gischt flog von den Riemenblättern, wenn sie nach dem Durchholen aus dem Wasser gerissen wurden. Hasard spähte über die Schulter zurück. Die Seesoldaten hatten die Musketen angehoben. Hasard legte Ruder und steuerte die Jolle hart nach Backbord und kurz darauf wieder nach Steuerbord. Genau dazwischen krachte die Salve von Bord der „Revenge“. Hasard biß die Zähne zusammen.
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Die Kugeln klatschten ins Wasser, zwei aber durchbrachen die Bordwand Backbord achtern. Zwei Wasserstrahlen zischten ins Boot unterhalb der Gräting. Big Old Shane fluchte, riß sich das Hemd vom Oberkörper, fetzte zwei Stücke ab, lüftete die Gräting an, warf sie außenbords und rammte die beiden Stoffe wie Pfropfen in die Löcher. Fürs erste reichte das, wenn auch das Wasser nachsickerte. Hasard steuerte im Zickzack. Die Männer brauchten keine Anfeuerung. Sie wußten, um was es ging. Hier zählte jeder Yard, den sie sich von der „Revenge“ entfernten. Ihre Mienen waren verbissen. Es war das erste Mal, daß Arwenacks die Flucht ergriffen, aber in der Flucht lag ihre einzige Rettung. Waffen hatten sie nicht, also blieb nur der Rückzug. Aber sie würden es Drake und den Männern der „Revenge“ heimzahlen. Das Maß war voll. Blieb nur die Frage, ob sie noch jemals die Chance haben würden, die Waffen sprechen zu lassen. Die zweite Salve krachte — sie traf besser. Sechs neue Löcher sprangen auf, wie gestanzt, jetzt auf der Steuerbordseite. Big Old Shane rammte sie mit Stofffetzen dicht. Wasser schwappte im Boot. Hasard begann mit der Holzkelle zu schöpfen. Auf dem Achterdeck der „Revenge“ tobte der Admiral. Noch mehr Seesoldaten tauchten am Steuerbordschanzkleid auf. Die dritte Salve zerhieb den Spiegel der Jolle. Es war ein Wunder, daß Hasards und Big Old Shanes Beine unverletzt blieben. Das Boot sackte achtern tiefer. Das Wasser schoß nur so herein. Es war zwecklos. Sie schafften es nicht mit dem Boot. Es würde ihnen binnen zwei Minuten regelrecht unter dem Hintern wegsacken. Hasard grinste schief. „Auf Riemen“, sagte er. „Alle Mann von Bord, wie es so schön heißt! Wir müssen schwimmen, aber auch das ist zu schaffen.“ Er blickte zur „Revenge“ zurück und zuckte zusammen. Das Beiboot! Es mußte auf der Backbordseite der „Revenge“ gelauert haben. Jetzt wurde es
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hinter dem Heck vorbeigepullt. Parsons stand achtern und brüllte seine Rudergasten an. Das Boot nahm Kurs auf die absaufende Jolle. „Los — rein ins Wasser!“ schrie Hasard. „Nicht zusammenbleiben — auseinander! Und tauchen, wenn das Boot an einem dran ist! Haltet durch, ihr schafft es! Viel Glück!“ Sie hechteten ins Wasser, weg von der sinkenden Jolle. Vom Achterdeck der „Revenge“ her ertönte Drakes Wutgebrüll. Es lief wohl nicht so, wie er sich das gedacht hatte. Er hämmerte die Fäuste auf das Schanzkleid und pöbelte Parsons und dessen Bootsgäste an. Die Seewölfe schwammen wie Fische — dahin, dorthin, tauchend über lange Strecken, wiederauftauchend, um Luft zu schnappen—und weg waren sie. Drake schrie sich die Kehle heiser. Parsons wußte nicht, wo er zuerst hinsteuern sollte. Es war wie verhext. Die Kerle schienen ihn auch noch zu verhöhnen. „Hu-hu!“ schrie einer, der gerade aufgetaucht war. Der Frechling winkte ihm sogar zu. Das war dieser Bursche von der O'Flynn-Sippe. „Hasch mich doch, du Blödmann!“ Fluchend legte Parsons Ruder und steuerte auf den Kopf zu. Der verschwand, ganz kurz waren die Beine zu sehen — dann nichts mehr, nur noch ein paar Luftblasen. Parsons reckte sich den Hals aus und stand auf Zehenspitzen. Wo war der Kerl? Da schoß Backbord querab ein Körper aus dem Wasser — der Nigger! Er bäumte sich hoch, als wolle er nach dem Himmel greifen — und da flog was auf Parsons zu. Ein Stiefel! Parsons reagierte zu langsam. Der Stiefel war ein Treffer. Parsons kriegte ihn an den Schädel, taumelte und wäre außenbords gekippt, wenn ihn der Bootssteurer nicht abgefangen hätte. Damit war der Riementakt dahin. Die Riemen krebsten durcheinander. Die Bootsgasten wußten nicht, ob sie fluchen oder lachen sollten — wegen des Stiefels
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und der Beule am Kopf des ersten Offiziers. Der kriegte sich bald nicht mehr ein. Batuti, der treffliche Schütze, war bereits wieder abgetaucht. Und weit Steuerbord voraus schrie der Bursche von der O'Flynn-Sippe schon wieder: „Hu-hu! Hu-hu! Könnt ihr nicht mehr, ihr müden Säcke?“ Parsons zerrte seine Pistole aus dem Gürtel, legte auf Dan O'Flynn an und zog durch. Klick! Der Flinstein war naß geworden. Vor Wut feuerte Parsons die Pistole ins Wasser. Es ging mit dem Teufel zu. Dort, wo die Pistole versunken war, schwang ein drahtiger Körper aus dem Wasser — und die Pistole flog zurück. Sie wirbelte wie ein Messer durch die Luft, und der sie geschleudert hatte, war auch ein Meister im Messerwurf: Bob Grey, flink, blond, braunäugig. Der Bootssteurer griff sich ächzend an den Kopf und sackte zusammen. Dieses letztere Geschehen war reiner Zufall gewesen, aber das wurde den Bootsgasten keineswegs klar, im Gegenteil. Hier war etwas im Spiel, etwas Ungeheuerliches, etwas ungeheuerlich Teuflisches. Das mußten Dämonen sein, diese Seewölfe. Oder Übermenschen. Oder Wassertrolle, Seegeister! Und wie die schwammen und tauchten! Und dann warfen sie und trafen auch noch! Sie wußten nicht mehr, was sie tun sollten. Und Parsons wußte es auch nicht. Der war schon längst total überfordert. Das wuchs ihm alles über den Kopf - eine Niederlage nach der anderen. Und an Bord der „Revenge“ war der sehr ehrenwerte Admiral Sir Francis Drake, der so kühn die Welt umsegelt und reiche Beute nach England gebracht hatte, reif, um ins Wasser zu springen. Denn aus der Mill Bay schoß die zweite Jolle der „Isabella“ - gefechtsklar, was die zwei Kerle im Bug betraf. Die fackelten nicht lange. Sie standen aufrecht, Musketen an den Schultern, feuerten, legten die Musketen nieder, nahmen zwei
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neue auf, feuerten wieder, und schon hatte das Beiboot der „Revenge“ vier saubere Löcher in der Wasserlinie. Noch zwei Löcher folgten, und noch zwei. Die schossen wie auf dem Scheibenstand, diese beiden Kerle. Die Bootsgasten saßen still und stumm, geduckt und wie gelähmt, kein Riemen rührte sich. Wozu auch? Das Wasser stand bereits an ihren Waden und kroch sichtbar höher. Auch diese Jolle der „Revenge“ würde ihren Weg in die Tiefe antreten. Die Gewässer vor Plymouth wurden gewissermaßen mit Beibooten der „Revenge“ gesättigt. Da würde der Admiral wieder Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen - zwecks Beibootbeschaffung. Und, er würde noch saurer als ohnehin sein. Überall auf der Stätte des Geschehens tauchten nasse Köpfe auf, schnappten Luft, wandten sich um und betrachteten grinsend das Drama der sanft abblubbernden „Revenge“-Jolle. Es war ein Bild, wie es selten geboten wurde, denn - eigentümlich genug - diese Bootscrew verhielt sich wie gelähmt. Auf den Duchten sitzend ergab sie sich ihrem Schicksal, das heißt, gemäß der tiefersackenden Jolle kroch das Wasser an den stummen Gestalten hoch. Mit dem Hintern saßen sie bereits im nassen Element, dann reichte ihnen der Wasserspiegel sehr schnell bis zum Bauch, zur Brust und schon bis zum Hals. Und immer noch hielten sie ihre Sitzformation inne - vier Mann hintereinander auf der Backbord- und vier Mann hintereinander auf der Steuerbordseite, aber die beiden Bordseiten waren längst unsichtbar und schwebten der Tiefe entgegen. Und achtern „saßen“ Mister Parsons sowie der Bootssteurer im Wasser, beide mit Beulen an den Köpfen. Es war fürwahr ein ergötzliches Bild - bis die Starre überwunden war. Fast gleichzeitig planschten diese zehn Gestalten los, Richtung „Revenge“, und sie waren sichtlich des Schwimmens unkundig, denn sie paddelten wie junge Hunde, die sich zum ersten Male im Wasser tummeln und noch nicht so recht
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wissen, ob dieses merkwürdige Element Wasser sie auch trägt. „Feuer!“ brüllte der Admiral und zerschlug sich die Handknöchel auf dem hölzernen Umlauf des Schanzkleides. Kein Schuß fiel. Drake fuhr herum und starrte zu den Seesoldaten auf der Kuhl. Die standen wie versteinert. Die Läufe ihrer Musketen zeigten sonstwohin, aber nicht auf die Jolle der „Isabella“, von der aus bereits die Schwimmer der anderen „Isabella“-Jolle geborgen wurden. „Ich befahl Feuer!“ schrie Drake zu den Seesoldaten hinunter. „Seid ihr schwerhörig?“ Keiner schaute zu ihm hoch. Drake keuchte. „Was ist das? Meuterei? Ich lasse euch alle füsilieren!“ Der Hauptmann der Seesoldaten, ein harter Brocken, der schon in den Niederlanden gegen die Spanier gekämpft und in Irland einige Aufstände niedergeschlagen hatte, wandte sich zu ihm um und sagte: „Bei allem Respekt, Sir, aber wenn wir schießen, gefährden wir unsere eigenen Leute im Wasser. Das kann ich nicht verantworten.“ „Aber ich verantworte es, Mister Meadows!“ schrie Drake. „Oder geben Sie jetzt hier die Kommandos?“ „Bitte um Verzeihung, Sir“, sagte Meadows, „die Seesoldaten unterstehen meinem Befehl, wie es in der Dienst- und Gefechtsvorschrift der Royal Navy, Abschnitt zwei, römisch vier eindeutig festgelegt wurde. An diese Vorschrift bin ich gebunden. Dort wird gesagt: Der für die Abteilung Seesoldaten an Bord eines Schiffes der Royal Navy verantwortliche Offizier hat ...“ „Interessiert mich nicht!“ brüllte der Admiral. „Halten Sie mir hier keine Vorträge, Mann! Gehorchen Sie, oder ich lasse Sie in Ketten legen!“ Den Hauptmann erschütterte das keineswegs, dazu war er viel zu hartgesotten — und er wußte das Recht auf seiner Seite. „Sir“, sagte er, „die Dienst- und Gefechtsvorschrift der Royal Navy bleibt
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nach wie vor gültig, auch wenn Sie mich in Ketten legen. Ich bin gern bereit, vor einem Militärgericht meinen Standpunkt zu vertreten, wobei ich bereits jetzt darauf hinweisen möchte, daß Ihr erster Befehl, auf die Jolle Kapitän Killigrews das Feuer zu eröffnen, höchst bedenklich war. Es lag seitens dieses Kapitäns kein aggressiver Akt vor. Im übrigen waren er und seine Männer unbewaffnet ...“ Weiter gelangte er nicht. „Profos!“ gellte Drakes Stimme. „Sir?“ Der vierschrötige Profos trat an den Niedergang zum Achterdeck. „Mister Meadows ist in seine Kammer zu führen. Er steht unter Kammerarrest. Lassen Sie die Kammer unter Bewachung, stellen. Widerstand oder ein eventueller Fluchtversuch ist unter Waffeneinsatz zu verhindern.“ „Aye, aye, Sir.“ Der Profos zog seine Pistole und richtete sie auf den Hauptmann. „Vorwärts, Mister Meadows. Sie haben gehört, was der Admiral befohlen hat.“ Der Hauptmann zuckte mit den Schultern und lächelte kalt. Widerstandslos ließ er sich abführen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die zweite Jolle der „Isabella“ bereits außer Schußweite der Musketen und wurde zur Mill Bay gepullt. Hasard und seine Männer von der ersten Jolle waren an Bord — unverletzt. 9. Der Wurm steckte im Detail. Hasard hatte das Verschwinden des Beiboots der „Revenge“ zwar bemerkt, aber keine Schlüsse daraus gezogen, als er mit seinen Männern zu dem Flaggschiff gepullt war. Drakes so listenreich aufgebaute Falle war ein Fiasko geworden. Er hatte den verhaßten Gegner demütigen und im Wasser schwimmen sehen wollen. Dort hatte die Jolle ihn und seine Kerle herausfischen sollen. Jetzt waren sie alle entwischt. Dabei wäre der einfachste Weg der gewesen, Philip Hasard Killigrew — wie er es gewünscht hatte — an Bord
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kommen zu lassen und festzuhalten. Mit dem Kapitän hätte Drake die gesamte Mannschaft gehabt. Aber die Chance war vertan. Hasard hatte zwar einen Fehler begangen, ihn aber mit viel Glück noch korrigieren können. Und Ben Brighton hatte rechtzeitig die zweite Jolle losgejagt, um den Schwimmern zu helfen. Jetzt beging der Admiral wiederum einen Fehler — nein, er hatte ihn bereits begangen. Denn er hatte der Hakenprothese des einarmigen Matt Davies keine Beachtung geschenkt —er nicht und kein Mann seiner Besatzung. Dabei hatte jeder sehen können, wie scharfgeschliffen dieses Ding war, das Matt Davies die rechte Hand ersetzte, und zwar voll ersetzte. Die drei Seewölfe waren nach ihrem Ausbruchsversuch gefesselt 'worden — Hände auf den Rücken. Dann hatten sie wiedersehen mit dem Vorpiekloch gefeiert und zunächst einmal verschnauft. Einen Schimmer von Licht hatten sie, da man die Stelle, wo die Ankerflunke durchs Schott gekracht war, noch nicht repariert hatte. Zwar waren zwei Poren vor dem Schott aufgezogen, aber wenn die durch die Bruchstelle vom Hellen ins Dunkle linsten, konnten sie so gut wie gar nichts erkennen. So vergingen nur zehn Minuten, und die drei Seewölfe hätten erneut randalieren können. Denn in dieser Zeit hatten sie die Fesseln an Matts scharfem Prothesenhaken bereits durchgesäbelt und waren frei. Dazu hatte sich Stenmark nur Rücken an Rücken mit Matt Davies zu setzen und ein bißchen zu fummeln brauchen. Alles weitere war geradezu simpel. Einmal mehr konnten sie über Matts Prothesenhaken des Lobes voll sein. Auch Jeff Bowie trug ja so ein Ding, allerdings links. Und Jeff hatte von Matt gelernt, wie man mit dem Haken umzugehen hatte. Beide fühlten sich keineswegs den anderen gegenüber, die ihre gesunden Hände hatten, benachteiligt, ganz abgesehen davon, daß sie mit diesen Haken zu gefährlichen Kämpfern geworden waren.
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Ferris Tucker, der trick- und geniereiche Schiffszimmermann der „Isabella“, hatte ihnen für diese Prothesen zusammen Mit Will Thorne, dem Segelmacher, Ledermanschetten konstruiert, die über die Unterarmstümpfe gezogen wurden und absolut festsaßen — auch bei gestrecktem Arm —, weil sie von Riemen unter der Achsel hindurch und über die Schulter gesichert wurden. Um die Prothese zu verlieren, hätte man den beiden schon die Schulter abreißen müssen. Die drei Seewölfe wollten, wenn es die Situation erforderte, Handlungsfreiheit haben. Und die hatte man nur, wenn man nicht gefesselt war. Aber um den Gegner irrezuführen, mußte Man gefesselt sein. Also hatten sie sich die Fesseln gegenseitig wieder angelegt, aber so, daß jeder selbst in der Lage war, sie im geeigneten Moment zu sprengen Seeleute, die sie waren, barg das keine Probleme. Sie setzten ein paar Knoten auf Slip, und damit war auch dieser Fall geregelt. Im übrigen hatten sie, wenn auch karg, gefrühstückt, denn Sam Roskill hatte beim Sturmlauf durchs Mannschaftslogis einige Kanten Brot und sogar Speck mitgehen lassen. Gegen Mittag hatten sie dann wieder Hasards Stimme gehört und prompt ihren Schlachtruf geschmettert, um zu melden: Wir sind hier! Vor den Musketen der beiden Posten waren sie dann verstummt. Dann war geschossen worden. Seitdem zergrübelten sie sich die Köpfe, was passiert war. Sie hatten nur Drake toben hören, aber der tobte in der letzten Zeit ja ständig. Eine Stunde später, da war längst wieder Ruhe eingekehrt, erschien der Admiral persönlich am Schott der Vorpiek, um sich vom Nochvorhandensein seiner drei Gefangenen zu überzeugen. Ein bißchen irre mußte er sein, als er höhnisch erklärte, sie seien das Mittel, des verdammten Piraten Killigrew habhaft zu werden. Dann sagte er: „Aufstehen!“
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Sie standen auf, wenn auch recht mühsam mit den auf den Rücken „gefesselten“ Händen. Er sagte: „Setzen!“ Sie setzten sich wieder. Er sagte: „Aufstehen!“ Und Matt Davies sagte: „Leck mich doch am Arsch, du Idiot!“ Und für einen kurzen Moment überlegte er, den Admiral anzuspringen und als Geisel zu nehmen. Aber die beiden Posten hatten ihre Musketen schußklar, und das war zu riskant. „Das wirst du mir büßen, du ,Isabella'Abschaum!“ zischte Drake. „Mit dem Leben!“ „Bitte sehr“, sagte Matt Davies, „wie's beliebt.“ Nach der Nacht mit den Haien, deren Angriffe er auf einer Planke liegend abgewehrt hatte und in der seine Haare grau geworden waren, konnte ihn kaum noch etwas erschüttern. Er war durch zu viele Höllen gegangen. Drake, der seine Gefangenen hatte demütigen wollen, begriff, daß alles an diesen Kerlen abprallte. Die waren nicht weichzukriegen. Selbst die Todesdrohung schreckte sie nicht. Furchtlos blickten sie zu ihm hoch, eisige Verachtung in den Gesichtern. Es war läppisch, sie aufstehen und hinsetzen zu lassen. Sie würden nicht mehr reagieren, auch wenn er sie durchpeitschen ließ. Vielleicht war alles zwecklos. Abrupt drehte sich der Admiral um und verließ das Vorschiff. Das Schott krachte wieder zu, wurde abgeriegelt und mit den Leckbalken gesichert. „Der hat eine wüste Sauerei vor“, sagte Stenmark. „Abwarten“, sagte Matt Davies. * Vier Tage verstrichen, ohne daß seitens der „Revenge“ etwas passierte. Sie beobachteten nur, daß das Flaggschiff mehrere Male ankerauf ging, vor der Mill Bay je nach Wind hin und her kreuzte, daß an den Geschützen exerziert wurde und diverse Segelmanöver gefahren wurden,
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aber jeweils am Abend ankerte die „Revenge“ wieder vor der St.-NicholasInsel. Und die ganze Zeit grübelte Hasard über eine Lösung nach, wie er seine drei Männer befreien könne. Es gab keine Lösung, es sei denn die des direkten Angriffs. Er schied aber aus, weil er, wie auch ein Überfall. die drei Männer gefährden würde. Die „Revenge“ war unangreifbar für einen Mann, der Gewissensbisse hatte und das Leben seiner Männer nicht aufs Spiel setzen wollte. Aber irgendwann würde er den Stier doch bei den Hörnern packen müssen. Tag für Tag lauerte Hasard auf die Meldung des jeweiligen Ausgucks, daß sich ein Boot der „Revenge“ der „Isabella“ nähere. Dieses Boot, auch das war beobachtet worden, hatte der Admiral nach alter Piratenmanier einfach von einem auslaufenden Frachtsegler requiriert, nachdem er den mit ein paar Schüssen vor den Bug gestoppt hatte. Ja, dieses Boot erwartete Hasard, und es würde Drakes Forderung überbringen, er, Hasard, habe sich zu stellen, sonst würden zu einer bestimmten Frist seine drei Männer exekutiert oder an der Rahnock sichtbar aufgebaumelt. Diese Befürchtung hatte Hasard, aber er würde bereit sein, der Erpressung Drakes nachzugeben. Aber kein Boot erschien. Genoß Drake diesen Zustand? Wollte er Kapitän und Mannschaft der „Isabella“ in einem Nervenkrieg zermürben? Hasard bemerkte bereits, wie seine Männer immer gereizter wurden. Das konnte nicht ausbleiben. Eine Spannung legte sich über die „Isabella“, die nicht gut war. Da tauchten diese „Wenns“ auf. Wenn Blackys Fuß nicht gebrochen worden wäre... Wenn Smoky und die anderen Landgänger nicht in die „Bloody Ma- gezogen wären ... Wenn sie alle beieinander geblieben wären... Wenn ihr jetzt zappelig werdet, fuhr Hasard dazwischen, dann hat :ranke das Spiel schon halb gewonnen. Nehmt euch zusammen, Kerls! Mir sitzt die Wut
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genauso in den Knochen wie euch, nichts täte ich lieber, als diese verdammte „Revenge“ mit Admiral und Mann und Maus in die Luft zu sprengen. Aber ich habe mich, verdammt noch mal, zusammenzureißen — und ihr auch! Am fünften Tage untersuchte Doc Freemont Blackys Fuß sehr lange und gründlich. Hasard, Ben Brighton und der Kutscher waren mit in der Kammer und mußten sich einmal mehr mit Geduld wappnen. Die fürchterliche Knöchelschwellung war zurückgegangen, nirgends zeigten sich gerötete Stellen, die auf eine Entzündung hindeuteten. Doc Freemont tastete den Fuß von allen Seiten ab, vor allem im Bereich des Knöchels. Er drückte da, er drückte dort. Blacky verzog keine Miene. „Tut nirgends was weh?“ fragte Doc Freemont. „Nirgends“, sagte Blacky. „Heiß ist mir auch nicht.“ „Kein Pochen oder Klopfen irgendwo?“ „Nein, nichts, Doc.“ „Hm.“ Doc Freemont, der auf der Koje saß, drehte sich zu Hasard um. „Ich schätze, wir haben's geschafft. Meines Erachtens besteht keine Gefahr mehr, daß sich etwas entzündet, weil ein Knochenteilchen herauseitert. Der Knöchel sieht, den Umständen entsprechend, gut aus. Ich packe Fuß und Unterschenkel jetzt in Lehm, damit der Fuß ruhig liegt und der Bruch zusammenwachsen kann.“ Blacky riß die Augen auf. „Können Knochen denn noch wachsen, Doc?“ Doc Freemont lächelte und wandte sich ihm wieder zu. „Das nicht, mein Junge, aber an Bruchstellen bildet sich eine knochenartige Masse und fügt den Bruch wieder zusammen. Das dauert so drei, vier Wochen. In dieser Zeit müssen Fuß und Unterschenkel einen rechten Winkel bilden. Das erreiche ich dadurch, daß ich dir diese Lehmpackung verpasse. Wenn sie hart geworden ist, hält sie deinen Fuß in der erforderlichen Winkelstellung. Ich empfehle dir, in der ersten Woche nicht zu versuchen, den Fuß zu bewegen, auch wenn du möchtest. Später kannst du die
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Zehen ein bißchen spielen lassen. In drei, vier Wochen kann der Kutscher den Lehm entfernen. Aber aufgetreten wird noch nicht, das habe ich dir ja bereits erklärt. Ein bißchen massieren ist gut, ebenso Kreisen des Fußes sowie Anziehen und Beugen. Alles das aber vorsichtig, verstanden?“ „Verstanden, Doc.“ Blacky grinste von einem Ohr zum anderen. Er erhielt seine Lehmpackung, die den Fuß fixierte, und der Kutscher empfing Doc Freemonts Anweisungen für die Weiterbehandlung. Dann mußte auf Wunsch Blackys Bill geholt werden. Blacky flüsterte ihm was ins Ohr, Bill nickte und flitzte davon. „Moment noch, Doc“, sagte Blacky geheimnisvoll. Hasard, Ben Brighton und der Kutscher schauten sich verwundert an. Minuten später kehrte Bill zurück — mit einem kleinen. hölzernen Kasten, den er Blacky gab. Blacky nahm ihn entgegen und überreichte ihn Doc Freemont. „Für Sie, Doc“, sagte er. Jetzt war er fast verlegen. „Hoffentlich gefällt es Ihnen.“ Doc Freemont zeigte sein feines Lächeln und klappte vorsichtig den Deckel auf. Hasard, Ben Brighton und der Kutscher reckten die Hälse. In dem Kasten ruhte ein kleines, naturgetreues, holzgeschnitztes Modell der „Isabella“, voll aufgeriggt, mit dem laufenden und stehenden Gut, winzigen Blöcken und Taljen, kleinen Culverinen, den Drehbassen, dem Ruderhaus, und da stand unverkennbar ein Männlein: Pete Ballie. Und neben ihm, ebenfalls unverkennbar, ein schwarzhaariger Mann — Philip Hasard Killigrew. „Ist das schön“, murmelte Doc Freemont andächtig. „Als Erinnerung“, sagte Blacky und hatte einen roten Kopf. „Und weil Sie mein Bein geflickt haben, Sir.“ „Danke, mein Junge“, sagte Doc Freemont bewegt, „dieses Geschenk wiegt schwerer als ein Sack Gold. Es ist ein Kunstwerk —
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ein schöneres Kunstwerk als das Richten eines Knöchelbruchs.“ „Es gefällt Ihnen wirklich, Sir?“ „Die ‚Isabella' erhält einen Ehrenplatz in meinem Haus“, erwiderte Doc Freemont. „Und immer wenn ich sie betrachte, werde ich an euch alle denken und hoffen, daß ihr eines Tages gesund heimkehrt — ohne Knöchelbrüche oder ähnliche Blessuren.“ * Am Nachmittag löste die „Isabella“ die Leinen, voll gefechtsklar. Jetzt würde Admiral Drake Farbe bekennen müssen. Es war die einzige Möglichkeit, eine Entscheidung herbeizuzwingen. Hasards einziger Trumpf in diesem tückischen Spiel war der, auszulaufen und sich blitzschnell auf jedwede nur mögliche Reaktion Drakes einzustellen. Denn irgendetwas würde passieren, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn jemals die Seewölfe bereit gewesen waren, eine Sache durchzuschlagen, dann jetzt. Da bedurfte es keiner Aufmunterung. Eine kalte Entschlossenheit hatte sie gepackt. Das Warten war vorbei. Bei Westenwind lief die „Isabella“ unter vollen Segeln aus der Mill Bay und auf die „Revenge“ zu. Dort herrschte hektische Aktivität, wie unschwer zu erkennen war. Sie gingen ankerauf. Die Segel wurden gesetzt, die Kanonenpforten geöffnet. Gut so, dachte Hasard grimmig. Damit wäre auch das klar: der Admiral wollte den Kampf. Und eigentümlich: irgendetwas in Hasard, das ihn wegen seiner drei Männer hoffen ließ. Doch diese Hoffnung wurde furchtbar zerstört. Sie alle sahen es, und ein Schrei der Wut und Empörung gellte zur „Revenge“ hinüber. Drei Männer wurden aus dem Vorschiff gezerrt und zum Schanzkleid auf der Steuerbordseite geschleppt. Sie konnten sich nicht wehren, denn ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt. Aber sie schienen auch gar nicht die Absicht zu
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haben, sich zu wehren. Fast gelassen stellten sie sich ans Schanzkleid. Aber hinter ihnen reihten sich zehn Seesoldaten auf — mit Musketen. Mit steinernem Gesicht hob Hasard das Spektiv und schaute hindurch. Er zuckte etwas zusammen, als die Gesichter von Matt Davies, Stenmark und Sam Roskill in dem Okular auftauchten. Er kniff das Auge zusammen, öffnete es wieder und betrachtete die drei Gesichter noch einmal. Kein Zweifel — die grinsten! Die grinsten, als sei heute ein besonders fröhlicher Tag. Oder als gelte es, gleich bei „Plymmy“ die Puppen tanzen zu lassen. Oder ein bißchen mit seinen Ladys zu schäkern. Dan O'Flynn neben Hasard murmelte erschüttert: „Die haben was auf der Pfanne, die drei. Wetten?“ Hasard atmete tief durch. „Siehst du auch, daß sie grinsen?“ „Und wie.“ Dan O'Flynn ließ das Spektiv sinken, durch das er ebenfalls gespäht hatte. Nachdenklich sagte er: „Aber sie sind gefesselt. Sonst könnte ich mir denken, daß sie einfach über Bord jumpen.“ Hasard starrte ihn an. Irgendeine Ahnung drängte durch seinen Kopf, ein Gedanke, aber er ließ sich nicht fassen. Sein Blick wanderte weiter, zur Kuhl, wo die Männer hinter den Culverinen lauerten. Dort stand auch Jeff Bowie. Der Kerl rührte mit seiner linken Hakenprothese in der Holzkohlenglut eines Kohlebeckens herum. Dann zerhieb er mit dem Haken ein Stück Holzkohle, das wohl zu groß war. Die Kohle spritzte nur so auseinander. Hasard fuhr zusammen. Das war's! Das mußte es sein! „Was ist?“ fragte Dan O'Flynn erstaunt. „Matts Prothese!“ stieß Hasard hervor. In seinen eisblauen Augen funkelten tausend Lichter. „Genial! Das Ding ist so scharf, um mühelos jede Fessel durchzutrennen. Das haben sie getan - und sich dann selbst wieder zum Schein gefesselt. Würden sie sonst so grinsen? Sag Ed Bescheid! Er soll zwei Männer bereit stellen, um auf der Backbordseite eine Jacobsleiter
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auszubringen - aber erst, wenn sie gesprungen sind!“ Dan O'Flynn sparte sich das „Aye, aye“ und raste zur Kuhl hinunter. Eine halbe Minute später zeigte Ed Carberry grinsend klar und spuckte in seine Pranken. Nur eine Minute später war die gesamte Crew informiert. Ihre verkniffenen Mienen verschwanden. Sie waren wie erlöst. Auf Rufweite segelte die „Isabella“ an die „Revenge“ heran. Hasards Befehle waren klar. Wie es aussah, hatte er jetzt die Initiative übernommen - nur Drake wußte es noch nicht. Er würde eine böse Überraschung erleben. „Killigrew!“ brüllte der Admiral zur „Isabella“ hinüber. „Ich bin bereit, Ihre drei Dreckskerle auszutauschen - gegen Ihre werte Person, ha-ha-ha!“ „Und wenn ich mich weigere?“ rief Hasard zurück. „Dann erleben Sie eine schöne Exekution und anschließend sind Sie mit Ihrem Piratengesindel dran! Von Ihrem stinkenden Schiff wird keine Planke übrigbleiben. Sie haben eine Minute Bedenkzeit, Sie Bastard, Sie mieser Emporkömmling, Sie Gossendreck …“ Noch waren die Musketen der Seesoldaten nach unten gerichtet. „Matt, Sten, Sam - springt!“ schrie Hasard. „Wir fischen euch raus!“ Drei kräftige Rucke, die Fesseln platzten, und schon hechteten die drei Seewölfe elegant über das Schanzkleid, stießen hinunter ins Wasser und waren verschwunden. „Feuer frei!“ schrie Hasard. „Gebt's ihnen, Arwenacks!“ Die Backbordstücke brüllten auf und hieben ihre volle Breitseite in die „Revenge“. Es war, als klaffe dort die gesamte Steuerbordseite mit einem einzigen Ruck auf. Das Batteriedeck war ein totales Chaos. Da war nicht eine Kanone, die zurückfeuerte. Dicker Pulverqualm waberte zwischen den beiden Schiffen. „Back die Segel!“ schrie Hasard. „Ruder Steuerbord, Pete!“
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„Aye, aye, Ruder Steuerbord“, wiederholte Pete Ballie ruhig. Die „Isabella“ drehte in den Wind und verlangsamte ihre Fahrt. „Ed!” schrie Hasard. „Außenbords die Jacobsleiter, klar bei Wurfleinen! Seht ihr sie?“ „Aye, aye, Sten ist bereits dran!“ Carberry beugte sich über das Schanzkleid. „Komm, mein Junge, enter auf, oder soll dich der alte Carberry holen? Recht so! Hierher, Matt, du Hundesohn, oder willst du noch 'ne Ehrenrunde schwimmen, was, wie?“ Eine Wurfleine flog nach unten, eine halbe Minute später zerrten vier Mann Sam Roskill hoch. Stenmark und Matt Davies enterten über die Jacobsleiter auf und sprangen auf die Kuhl, triefend naß, aber mit glühenden Gesichtern. Die Seewölfe brüllten wie die Irren. Eine Stunde später trieb die „Revenge“ entmastet ostwärts auf die Batten-Bucht zu und blieb im Schlick hängen. Auch ihr Ruder war zerschossen zum zweiten Male. Müde legte sich das Flaggschiff auf die Steuerbordseite, als habe es endgültig genug von den Rachegelüsten seines Kommandanten. Der stand gebückt wie ein alter Mann auf dem Achterdeck. Sein Gesicht war grau, seine Hände zitterten, seine Augen waren wie erloschen. Revanche vor Plymouth? Nein, Niederlage vor Plymouth. Totale Niederlage. Der bessere Kapitän, die bessere Crew und das bessere Schiff hatten gesiegt. Und nicht einen Kratzer hatte dieses Schiff erhalten. Noch einmal zuckte der Admiral zusammen. Das war, als die „Isabella“ nach Süden abdrehte und ein letztes donnerndes „Arwe-nack!“ zur „Revenge“ herüberdröhnte.
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Ja, sie waren ungebrochen, diese Arwenacks. Unbesiegbar. Vielleicht waren sie sogar unsterblich. Bereute der Admiral? Sah er seine Schuld ein? Es wurde nichts darüber bekannt. Bekannt wurde nur, daß seine Mannschaft das todwunde Schiff verließ und durch den Schlick an Land watete. Die Verwundeten nahmen sie mit. Der Admiral blieb an Bord, eine stumme, gebückte Gestalt. Einen Tag später holte ihn eine Pinasse des Stadtkommandanten vom Achterdeck. Die Männer der Pinasse sagten später, der Admiral sei wie versteinert gewesen... * Die Schmach, die der Admiral über das Schiff namens „Revenge“ gebracht hatte, löschte drei Jahre später Sir Robert Greynville. Er deckte mit der „Revenge“ die Flucht eines kleinen englischen Geschwaders gegen eine spanische Übermacht und kämpfte von über fünfzig spanischen Schiffen umgeben von drei Uhr nachmittags bis drei Uhr morgens, bis das letzte Pulver verschossen war. Über achthundert Treffer hatte die „Revenge“ hingenommen, und sechs Fuß hoch stand das Wasser im Schiff. Kein Mann war unverwundet geblieben. Die Überlebenden erhielten eine ehrenvolle Übergabe. Sir Robert Greynville, schwerverwundet, starb zwei Tage später an Bord des spanischen Flaggschiffs. Fünf Tage danach sank die zerschossene „Revenge“ in einem Sturm. Ihr Name verklärte sich in England zum Symbol heldenhaften Widerstandes. Die Unehre war getilgt...
ENDE