Silber Grusel � Krimi � Nr. 337 �
Cater Saint Clair �
Retorten-Legionäre �
Der Motor streikte und gab seinen Geist ...
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Silber Grusel � Krimi � Nr. 337 �
Cater Saint Clair �
Retorten-Legionäre �
Der Motor streikte und gab seinen Geist auf. »Verdammter Knochenbock! Diesmal bist du reif für die Schrottpresse.« Jan Rivel fluchte und steuerte den alten Jaguar links ran, um zu halten. Da er den Schaden nicht beheben konnte, machte er sich auf den Weg nach Baston on-the-Hill zurück. Dort würde sich schon jemand bereitfinden, ein Pferd oder einen Ochsen vor den Oldtimer zu spannen und ihn zur nächsten Reparaturwerkstatt zu schleppen. Jan Rivel war etwa die halbe Wegstrecke gegangen, als er unweit der einspurigen Straße ein stattliches Landhaus gewahrte. In der Hoffnung, sich den Rest des Weges ersparen zu können, indem er telefonisch für den Abtransport seines defekten Wagens sorgte, betrat er das private Grundstück. Das Landhaus im Stil Palladios war von Efeu umsponnen. Es wurde von einem total verwilderten Park von bedrückender Stille umgeben. Rivel betätigte den bronzenen Türklopfer. Die Schläge gegen das Portal verhallten ungehört. Niemand kam, um zu öffnen und nach seinen Wünschen zu fragen. Schließlich trat er von der zweiteiligen Eichentür zurück, blickte zu den blinden Fenstern des Obergeschosses hinauf und rief: »Hallo! Niemand da?« Aber es rührte sich weiterhin nichts. Obwohl Rivel nicht wohl zumute war, schritt er die Vorderfront des Hauses ab. Dichtes Gesträuch verlegte ihm den Weg. Dennoch kämpfte er sich bis zu einer Außentreppe durch. Sechs feuchte, algengrüne Steinstufen führten abwärts zu einer stählernen Tür. Da sie unverschlossen war, trat Rivel in den darunterliegenden, von geisterhaft bläulichem Licht erhellten Raum mit Ozongeruch. Zweifellos ein hochmodernes Labor. 3 �
Er staunte über eine Reihe von chromglitzernden Gestellen. Zentraler Mittelpunkt jeder Apparatur war ein Glasbehälter. Und darin – in steriler Umgebung und erkenntlich an den typischen Windungen und Furchen – jeweils ein isoliertes Großhirn! Die Gehirne funktionierten. Infusionsapparate versorgten sie mit Blut, Sauerstoff und Nährflüssigkeit. Zahlreiche Elektroden und Sensoren an feinen Drähten führten tief in beide Hirn-Hemisphären, in die einzelnen Rindenfelder und Ganglien. Jan Rivel schien es, als würden über diese Drähte Milliarden von bioelektrischen Impulsen jeweils einem Computer eingegeben. Diese Rechner verarbeiteten dann die persönliche Identität eines jeden Gehirns mit dessen Gedächtnisinhalten und geistigen Leistungen. Jede Apparatur wies an ihrer Stirnseite eine Karteikarte mit Name und Anschrift des Lebewesens auf, dem das Gehirn mal gehört hatte. Jan Rivel konnte sich eines Gefühls des Grauens nicht erwehren. Dennoch siegte seine Neugier. Er griff nach Notizblock und Kugelschreiber und notierte sich die Daten von vier Karteikarten. Anschließend ging er tiefer in das weiträumige Labor hinein. Er sah Spezialgeräte zur Ausführung von besonderen Techniken, Brutschränke voll Zellkulturen und Bakterienstämmen. Eine große Zentrifuge war in Betrieb. In luftdichten Handschuhkästen lagen Knochenspäne und auf den Arbeitstischen Baupläne mit genetischen Codes und Molekülketten. Rivel folgerte, daß er sich im Labor eines Molekularbiologen oder Gen-Ingenieurs befand. Jetzt wollte er es genau wissen. Er öffnete die Tür zu einer Unterdruckschleuse und befand sich wenig später in einem weiteren Labor. Hier stiegen ihm buchstäblich die Haare zu Berg. In mehreren Dutzend gläsernen Wannen bauten sich um Bruchstücke von Geweben Zellen in atemberaubendem Tempo 4 �
zu Organen wie Nieren, Leber und zu Gliedmaßen auf! Wie das im einzelnen vor sich ging, fand Rivel nicht mehr heraus. In dem gleichförmigen Summen hochgespannter Ströme und laufender Generatoren war plötzlich ein neues Geräusch. Und das alarmierte ihn… Rivel duckte sich blitzschnell und fuhr herum. Zwei Meter vor ihm stand ein aus Tier- und Menschenteilen geklontes Mischwesen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Torso glich zweifellos einem asiatischen Steppenwolf. Nur bewegte er sich auf den unteren Extremitäten eines Gorillas aufrecht fort. Die Vorderläufe fehlten. An ihrer Stelle agierten jedoch vier starke Männerarme, zwei davon tätowiert. Ihre Nacktheit wirkte gegenüber der Mischbehaarung geradezu anstößig. Der spitz zulaufende Wolfskopf, dessen Rachen weit aufgerissen war, bildete eine Art Anhängsel eines Eberkopfes, der dem Torso nahtlos aufgepropft schien. Die Wolfslichter funkelten mit denen des Keilerkopfes um die Wette. Knurren und Grunzen ließ die gläsernen Laborgeräte auf den Arbeitstischen und den Regalen erbeben. Langsam wich Rivel vor dem Ungeheuer zurück. Instinktiv griff er nach einem Bunsenbrenner auf dem Tisch. Er erhöhte die Luft- und Gaszufuhr des Brenners und richtete die fast fünfzig Zentimeter lange Stichflamme auf das angreifende Wesen. Mit dem Resultat, daß stinkender Qualm aus versengten Haaren und verbrannter Haut aufstieg. Ein widerwärtiger Gestank breitete sich aus. Sonst schien die Mischkreatur frei von Schmerzen zu sein. Sie grunzte unwillig und versuchte, mit den Armen Rivel tödlich zu umklammern. Da die Länge des Gasschlauches begrenzt war, mußte er den Bunsenbrenner schließlich fahren lassen. Jan Rivel umrundete den Labortisch. Der gehetzte Blick seiner 5 �
Augen überflog die Flaschenregale an der gekachelten Wand. Da der Bastard ihn stoisch weiter verfolgte, nahm er eine Flasche vom Regal, drehte den Stöpsel heraus und schüttete den qualmenden Inhalt – konzentrierte Schwefelsäure – dem unheimlichen Gegner in die Augen. Als der Rauch aus zerkochendem Eiweiß sich gehoben hatte, waren die Augenhöhlen des Untieres leer und ausgebrannt. Es vermochte sich nicht mehr auf den vermessenen Eindringling einzustellen. Blind eckte es überall an, so daß Rivel lautlos in das erste Labor zurückkehren konnte und den Ausgang ins Freie erreichte. Rivel warf die Tür hinter sich ins Schloß und rannte die Treppe hinauf, um oben erst mal durchzuatmen und sich zu fragen, ob er alles wirklich erlebt hatte, oder einer Sinnestäuschung erlegen war. Mit gemischten Gefühlen wandte er sich dem Portal des Landhauses zu. Dort stand eine ausnehmend hübsche Dame. Sie trug einen grünen Kilt zur gleichfarbigen Lodenjacke. Auf ihrer aschblonden modischen Frisur saß keck ein Hut mit Federgarnitur à la Robin Hood. Die Waffe in ihrer rechten Armbeuge war eine doppelläufige Bernardelli-Trapflinte. Es war kein Zufall, daß die Doppelmündung genau auf Rivels Mitte zeigte. Jan machte seinem Herzen Luft, indem er auf die junge Lady zuging und sie anfuhr: »Richten Sie gefälligst den Lauf Ihres Gewehres bodenwärts! Im übrigen verlange ich eine Erklärung der Vorgänge im Souterrain Ihres Hauses.« Das ovale Gesicht der jungen Frau verzog sich zu einer Grimasse. Mit schneidender Stimme entgegnete sie: »Ich halte mein Gewehr, wie mir beliebt. Sie sind in das Haus meines Vaters eingedrungen wie ein gemeiner Verbrecher. Kein 6 �
Mensch wird es mir verübeln, wenn ich mich bedroht fühle und Sie in Notwehr erschieße!« Rivel verschlug es die Sprache, aber dann polterte er lautstark: »Wenn hier jemand Grund hat, sich bedroht zu fühlen, dann ich! Eine Ausgeburt der Hölle oder was auch immer hätte mich ums Haar umgebracht. Ich werde dafür sorgen, daß die Experimente Ihres Vaters mit Körperzellen und Gehirnen bald ein Ende haben.« »Sie wollen die wissenschaftlichen Arbeiten eines Genies zunichte machen?« Die Lady schien fassungslos. »Darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel«, versicherte Rivel grimmig. »Die Behörden werden dem Treiben Ihres Vaters einen Riegel vorschieben!« »Ihre Drohungen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Ich werde Sie leider erschießen müssen!« Die junge Dame hob entschlossen die Flinte an ihre Wange. »Das gibt’s doch nicht«, entfuhr es Rivel, sprang in den Schutz der nächsten Sträucher und drückte sich flach auf den Boden. Krachend entlud sich die Flinte. Die Schrotkörner hatten auf der kurzen Distanz eine beträchtliche Verdichtung. Prasselnd entlaubten sie die obere Hälfte des Strauches, hinter dem Rivel lag. Sie zerfetzten Blätter und knickten Äste. Rivel blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Da er hörte, daß die schießwütige Lady nachlud, hielt er es für geraten, sofort zu verschwinden. Wie eine Schlange glitt er über den weichen Humusboden zu den dichtstehenden Bäumen. Dort richtete er sich auf und warf einen Blick zurück, ohne jedoch die Gefährliche irgendwo zu entdecken. Rivel setzte seine Flucht fort. Er mied die Straße, wechselte oft die Richtung und erreichte Baston on-the-Hill am Spätnachmittag. 7 �
*
Der Ort bestand aus wenigen Häusern, sieben Kleingehöften, einer Kirche aus Feldsteinen und dem ›White Bear‹, einem kleinen Landgasthof. Rivels erster Weg führte zum Polizisten. Für Constable Brooks’ laxe Dienstauffassung sprach, daß er hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb und sich nicht die Mühe machte, den Gruß des Eintretenden zu erwidern. Er hob lediglich die trägen Augenlider und faltete die Hände über dem Bauch. Rivel fiel die Ähnlichkeit des Constable mit dem Bauern auf, der ihm den Weg gewiesen hatte. Möglicherweise waren die beiden miteinander verwandt. »Oberleutnant Rivel, 18th Kingrifles, Rheinarmee. Zur Zeit in Urlaub und auf dem Weg nach Schottland«, stellte er sich vor. »Ich habe eine Anzeige zu machen.« »Eine Anzeige?« Brooks bekam kaum die Zähne auseinander. »Ja, Constable. Etwa sieben Meilen hinter Baston on-the-Hill, Richtung Lincoln, hatte ich eine Autopanne. Um Hilfe herbeizutelefonieren, ging ich zu einem nahen Haus. Dort machte ich eine grausige Entdeckung…« Constable Brooks blickte gleichgültig durch das Fenster auf die leere Dorfstraße. »Das scheint Sie wohl nicht im geringsten zu interessieren, Constable?« fragte Rivel scharf. Brooks holte seinen stupiden Blick auf Rivels markantes Soldatengesicht zurück und sagte gelangweilt: »Ich höre Ihnen zu, Lieutenant.« Rivel zeigte auf die alte Schreibmaschine. »Warum spannen Sie keinen Bogen ein und nehmen meine Aussage zu Protokoll?« 8 �
Der Constable machte eine wegwerfende Geste. »Es genügt vorerst, wenn ich Ihnen zuhöre«, wiederholte er stereotyp. »Wie gesagt, ich machte im Keller dieses Hauses eine grausige Entdeckung. Ich sah isolierte Gehirne. Mindestens zwölf. Und alle schienen sie zu leben! Aber nicht genug damit: Ein Mischwesen aus verschiedenen Tier- und Menschenteilen griff mich an… Kaum war ich dem Biest entkommen, hätte mich beinahe eine junge Frau erschossen!« Rivel trat an die Karte der Grafschaft heran und legte den Zeigefinger auf einen Punkt. »Das unheimliche Anwesen befindet sich hier, an dieser Stelle.« Brooks’ Gesicht blieb ausdruckslos. »Haben Sie etwas getrunken, Lieutenant?« »Ich bin stocknüchtern, wenn Sie das meinen.« »Wie steht es mit Drogen? Haschen Sie etwa?« »Nein, ich kokse nicht, ich kiffe nicht.« »Zeigen Sie mir bitte Ihre Papiere.« »Bedaure, sie befinden sich in meinem Wagen. Ich wäre Ihnen übrigens sehr dankbar, wenn Sie das Fahrzeug abschleppen ließen. Es handelt sich um einen weinroten Jaguar 40 SS 100, Baujahr 1936.« »Ich kümmere mich darum, Lieutenant. Sie müssen mir zugestehen, daß Ihre Gruselmär recht unglaubhaft klingt.« Brooks kam von seinem Stuhl herunter, zog seine Uniformjacke über und griff nach seiner Dienstmütze. »Kommen Sie«, sagte er. »Was ist mit dem Protokoll?« wollte Rivel wissen. »Später«, knurrte der Constable. »Warten Sie bitte im ›White Bear‹ meine Rückkehr ab.« »Okay«, sagte Rivel. Ein Bier war ihm jetzt willkommen. Brooks öffnete die Tür zum Flur. Als sie auf die sonnenüberflutete Straße traten, zeigte er auf den jenseits des Dorfteiches lie9 �
genden Landgasthof. »Sie können sich dort auch für die Nacht einmieten, falls dies notwendig werden sollte.« »Wenn möglich, möchte ich heute noch weiterfahren«, entgegnete Rivel. Der Constable setzte sich auf sein altes Motorrad, das vor seinem Haus abgestellt war, und startete. Rivel drehte sich um. Er wollte zu dem Gasthof hinübergehen, überlegte es sich dann aber anders. Er folgte ein Stück der Straße und begann sich über das Fehlen jeglicher Atmosphäre zu wundern. Nirgendwo waren spielende Kinder zu sehen. Die wenigen Einwohner, die er überhaupt zu Gesicht bekam, zogen sich vor ihm in ihre Häuser zurück. Wieder fiel Rivel die verblüffende Ähnlichkeit der Frauen und Männer von Baston on-the-Hill auf. Sollte Inzucht die Ursache dafür sein? Inzwischen hatte er den Dorfteich zur Hälfte umrundet. Ungewöhnlich war, daß weder Enten noch Wasserhühner die ruhige Fläche bevölkerten. Kein Hund bellte, keine Katze trottete vorüber. Nicht das anheimelnde Rumoren von Kühen in ihren Ställen, noch Mistspuren auf dem holprigen Kopfsteinpflaster. Kopfschüttelnd setzte Rivel seinen Weg fort. Zehn Minuten später betrat er den kühlen Schankraum des ›weißen Bären‹. Er setzte sich an einen der blankgescheuerten Tische. Beiläufig stellte er fest, der einzige Gast zu sein. Es dauerte nicht lange, und eine weibliche Bedienung betrat den Schankraum durch eine Tür hinterm Tresen. Die etwa zwanzigjährige rustikale Maid trocknete sich die Hände an ihrer weißen Schürze ab und kam zu Rivel an den Tisch. Sie grüßte artig und fragte nach seinen Wünschen. »Bringen Sie mir bitte ein Steak, wenn’s recht ist, medium gebraten«, sagte der hungrige Jan. »Mit Spiegelei garniert, Sir?« 10 �
»Nein danke. Mit Röstzwiebeln und frischem Salat.« »Was trinken Sie dazu?« »Bringen Sie mir ein brown ale. Sagen Sie…« Jan Rivel forschte in dem leidlich hübschen Gesicht der drallen Person. »Sind Sie mit Constable Brooks verwandt?« Verwirrt blickte das Mädchen auf Rivel. »Was, bitte Sir, ist ›verwandt‹?« Ein schlichtes Gemüt, dachte Rivel. »Angenommen der Constable ist Ihr Onkel, was ich aufgrund Ihrer großen Ähnlichkeit mit ihm für wahrscheinlich halte, so wären sie beide miteinander verwandt. Wie heißen Sie übrigens?« »Ich bin Ethel.« Das Mädchen knickste. »Schön, Ethel. Dann bereiten Sie mir jetzt das Steak.« »Sehr wohl, Sir.« Ethel drehte sich schwerfällig um. Als sie zum Schanktisch zurückging, fiel ihm ihr eigentümlicher Gang auf. Die etwas automatenhafte Art, sich fortzubewegen. Jan Rivel griff nach einer Zeitung, legte sie aber gleich auf den Nebentisch zurück, als er am Datum feststellte, daß sie uralt war. Noch mal überdachte er sein Abenteuer in dem unheimlichen Haus vor Baston on-the-Hill. Er beschloß ein Zimmer für die Nacht zu bestellen, wenn Ethel mit dem Essen kam. Inzwischen war es nämlich 18.00 Uhr geworden. Die Schatten draußen wurden länger und schwärzer. Selbst wenn Constable Brooks den Jaguar gleich in eine Reparaturwerkstatt hatte bringen lassen, würde der Wagen nicht vor nächsten Mittag fertig sein. Die anregenden Düfte von grillendem Fleisch zogen durch den Schankraum. Rivel wurde der Mund wässerig. Zu seiner Überraschung servierte zehn Minuten später nicht Ethel das Steak, sondern eine andere Bedienung. Offensichtlich die Zwillingsschwester. Die Ähnlichkeit war so groß, daß der Gast sie lediglich an ihren 11 �
Röcken unterscheiden konnte. So trug Ethel einen roten Rock aus hausgewebtem Leinen, ihre Schwester einen blauen. Dazu eine andere Frisur. »Bitte, Sir, ich wünsche einen guten Appetit«, sagte das Mädchen, nachdem es das Steak serviert, die Bierflasche geöffnet und eingegossen hatte. Rivel dankte und fragte nach einem Zimmer für die Nacht. »Ich gebe Ihnen Room 4. Das Zimmer liegt hintenraus. Sagen Sie mir, wenn Sie sich zur Ruhe begeben möchten.« Die Maid knickste und ging – ähnlich sonderbar wie die rotberockte Schwester – zum Schanktisch zurück. Jan hob die Schultern, als ob er sagen wollte: ›Was soll’s?‹ Er griff nach dem Besteck und machte sich über das Steak her, das vorzüglich war wie auch die Beilagen. Während Rivel gemütlich aß und trank, trugen die Mädchen aus dem Nachbarraum hübsche Vasen mit frischen Schnittblumen herein. Schließlich standen zwanzig auf dem Tresen. Rivel kam schön ins Zittern, als die Mädchen auf jeden Tisch eine Blumenvase stellten. Auch auf seinen. Da aber nur zwölf Tische im Raum standen, waren acht Vasen zuviel, die wie selbstverständlich zurückgetragen wurden… Messerscharf schloß Rivel daraus, daß die zwei nicht bis zwanzig zählen konnten. Und das als Serviererinnen! Um die Probe aufs Exempel zu machen, aß er zu Ende und schlenderte dann zum Tresen, hinter dem die Mädchen mit todernsten Gesichtern Gläser spülten, die bereits sauber waren… * Rivel bezahlte Essen und Zimmer. Danach zeigte er auf die Apfelpastete in der Kühlvitrine und, bat Ethel, sie ihm zu geben. Das Mädchen nahm die Apfelpastete heraus. 12 �
»Dann bekomme ich jetzt noch fünfzig Pence, Sir.« Rivel schob den Teller mit der Apfelpastete wieder dem Mädchen zu und erklärte: »Wissen Sie was, Ethel? Ich möchte doch lieber die Brombeerpastete.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Ethel nahm die Apfelpastete, stellte sie in die Kühlvitrine zurück und zog den Teller mit der Brombeerpastete heraus, um ihn vor Rivel auf die Platte zu stellen. Jan dankte munter, nahm den Teller und wollte den Schankraum verlassen, um auf sein Zimmer zu gehen. Da rief Ethel: »Einen Augenblick, Sir. Ich bekomme von Ihnen noch fünfzig Pence.« Rivel kehrte um. »Aber«, meinte er vorwurfsvoll. »Für die Brombeerpastete habe ich Ihnen doch die Apfelpastete…« In Ethels einfältigem Gesicht zuckte es bei dem Versuch, die schwierige Denkaufgabe zu bewältigen. Schließlich wagte sie den Einwurf: »Aber die Apfelpastete haben Sie nicht bezahlt, Sir!« Da meldete sich das andere Mädchen zu Wort, indem sie in verweisendem Ton zu Ethel bemerkte: »Warum soll der Gentleman sie auch bezahlen? Er hat die Apfelpastete doch zurückgegeben!« Ethels Gesicht erstrahlte. »Natürlich verzeihen Sie, Sir, wir sind quitt. Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. Jan Rivel hatte gehörig damit zu tun, keiner Versuchung zu erliegen und eine bissige Bemerkung zu machen. Er nahm die Brombeerpastete und ging nach oben auf sein Zimmer, um es sich dort schmecken zu lassen. Das seltsame Verhalten der Mädchen beschäftigte ihn unablässig. Rivel machte sich ein wenig frisch und legte sich danach aufs Bett. Kurz darauf mußte er eingeschlafen sein… Eine marschierende Kolonne und rauhe Kommandostimmen 13 �
weckten ihn. Inzwischen hatte die Abenddämmerung sich wie eine große Glocke auf das kleine Dorf gesenkt. Rivel kam vom Bett herunter und trat an eines der beiden Fenster, um auf die Straße hinunter zu blicken. Er sah Soldaten im Kampfanzug. Es mußte sich um eine Eliteeinheit handeln. Alles ausgesuchte Leute. Die Männer waren mit sechs Fuß etwa alle gleich groß. Ihre Körperhaltung ließ nichts zu wünschen übrig. Rivel wartete, bis die Letzten außer Sicht waren. Wo nur Constable Brooks blieb, dachte er besorgt. Immerhin war nicht auszuschließen, daß es dem Polizisten in dem unheimlichen Haus nicht besser als ihm ergangen war. Er zügelte seine Ungeduld und gab noch eine Viertelstunde zu. Aber dann hielt ihn nichts mehr auf seinem Zimmer. Rivel ging in den Schankraum hinunter. Hier brannten zwar die Lampen doch außer ihm war kein Gast zugegen. »Wo finde ich das Telefon?« »Der Apparat ist kaputt«, sagte Ethel knicksend. »Auch das noch«, murmelte Rivel. »Hat Constable Brooks nach mir gefragt?« »Nein, Sir. Aber vielleicht kommt er gerade.« In der Tat fuhren mehrere Fahrzeuge draußen vor. Die Motoren erstarben. Rauhe Männerstimmen wurden laut. Rivel löste sich vom Tresen und begab sich an eines der Fenster. Er sah einen Jeep mit vier aufgesessenen Militärpolizisten, einen Kommandowagen, dem soeben ein Major entstieg, und Constable Brooks beim Aufbocken seines Motorrads. Rivel brachte die Militärs mit den Soldaten in Zusammenhang, die vor einer halben Stunde durch Baston on-the-Hill marschiert waren. Um so größer war sein Erstaunen, als der Major, die vier Militärpolizisten hinter sich, den Schankraum betrat. Er grüßte korrekt, fixierte Rivel aus harten Augen und schnarrte: »First-Lieutenant Jan Rivel?« 14 �
»Jawohl, Sir. Zur Zeit auf Urlaub in der Heimat«, entgegnete Rivel, das Kinn an die Brust gezogen, den schlanken Körper gestrafft. »Ich verhafte Sie wegen Mordes, begangen an Miß Alice Ridley, Lieutenant Rivel! Als Offizier Ihrer Majestät unterliegen Sie der britischen Militärgerichtsbarkeit. Sie werden nach erfolgtem Lokaltermin am Ort des Verbrechens ins Army-Camp Baumder verbracht« Der Major machte einen Sidestep und gab den vier Militärpolizisten den Weg frei. Rivel stand wie vom Donner gerührt und wußte nicht, was er sagen sollte. * Eine Stunde nach seiner Festnahme bogen der Kommandowagen und der Jeep, in dem Rivel zwischen zwei baumlangen Militärpolizisten hatte Platz nehmen müssen, von der Straße ab und hielten wenig später vor dem alten Landhaus. Unweit des Portals standen mehrere Fahrzeuge der Mordkommission, die aus Nottingham herübergekommen war. Ein weiteres Militärfahrzeug stand etwas abseits, so daß Rivel das taktische Abzeichen auf der Wagentür nicht erkennen konnte. Sechs Standscheinwerfer tauchten sowohl Auffahrt als auch Portal in eine Fülle von Licht. Der Anblick einer Zinkwanne, wie sie zum Abtransport von Leichen verwendet wurde, versetzte Jan Rivel in Angst und Schrecken. Mehrere Beamte der Spurensicherung umstanden die Leiche jener jungen Lady, die ihn in den Mittagsstunden beinahe erschossen hätte. Ein Army-Colonel trat an den Jeep heran, grüßte und sagte zu Rivel gewendet: »Ich bin Colonel Bacon. Das Militärgericht des Standorts hat mich zu Ihrem Verteidiger bestellt. Wollen Sie aussagen, Lieu15 �
tenant Rivel?« »Selbstverständlich, Sir! Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, antwortete Rivel markig. »Geben Sie mir Ihr Offiziersehrenwort, daß Sie keinen Fluchtversuch unternehmen werden, Lieutenant?« »Ich gebe Ihnen darauf mein Ehrenwort, Sir!« Bacon wandte sich an die Militärpolizisten. »Lassen Sie Lieutenant Rivel frei… Ich übernehme die Verantwortung.« »Zu Befehl, Sir!« Ein Sergeant, der die Militärpolizisten anführte, gab den Männern an Rivels Seite einen Wink, worauf sie vom Jeep sprangen und sich nicht weiter um ihren Gefangenen kümmerten. »Treten wir etwas zur Seite«, sagte Bacon zu Rivel. Er war ein gewiefter Militärjurist mit vergeistigten Gesichtszügen. Untersetzt und rund, wirkte er eher behäbig als scharfmacherisch. Schweigend gingen die beiden Männer ein Stück des gekiesten Weges entlang. Bis zum jenseitigen Hausende, wo es relativ dunkel war. Nachdem der Colonel Rivel eine Zigarette angeboten hatte, sagte er mit vertrauenerweckender Stimme: »Am besten, Sie fangen von vorn an zu erzählen. Sie heißen Jan, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Okay, Jan. Nennen Sie mich der Einfachheit halber Henry, wenn wir beide unter uns sind. Also: Sie hatten unweit dieses Hauses angeblich einen Motorschaden. So jedenfalls sagte Constable Brooks aus.« »Was, zum Teufel, heißt hier ›angeblich‹, Sir?« Rivel war aufgebracht. »Wenn Sie als mein Verteidiger mir nicht glauben, lassen wir es besser.« »Sie werfen aber verdammt schnell die Flinte ins Korn, Jan. Was fehlte dem Motor Ihres Wagens eigentlich?« »Die Zündung war nicht in Ordnung. Es kann auch der Unter16 �
brecher gewesen sein.« »Hat er die Mucken oft?« »Sehr oft. Mal ist es die Zündung, dann die Ölpumpe oder ein Kolbenschaden. Der Jaguar hat immerhin vierundvierzig Jahre auf dem Buckel…« Colonel Bacon zog eine Taschenlampe heraus und leuchtete hinter eine Gruppe aus Koniferen, in deren Sichtschutz zu Rivels Überraschung sein Sportwagen stand. »Ist das Ihr Wagen?« fragte Bacon. »Ja, das ist er! Wie kommt das Fahrzeug hierher?« »Constable Brooks hat es hierher gebracht. Betätigen Sie den Anlasser, Jan… Der Zündschlüssel steckt.« Rivel trat an seinen Wagen heran und drehte den Zündschlüssel im Schloß, worauf der Motor sofort ansprang und rund und sauber zu laufen begann. Er schaltete die Zündung wieder aus und sagte kopfschüttelnd: »Das soll verstehen, wer will.« Henry Bacon enthielt sich der Stimme. »Sie bleiben dabei, daß Ihr Wagen einen Defekt hatte und Sie ihn am Straßenrand stehen ließen, um in diesem Haus hier Hilfe zu erbitten?« »Jawohl, ich wollte die Leute bitten, telefonieren zu dürfen. Ich dachte, mir die restliche Wegstrecke nach Baston on-the-Hill ersparen zu können.« »Und hat man Sie anrufen lassen, Jan?« »Ich habe keinen Menschen zu Gesicht bekommen, den ich hätte fragen können. Daraufhin ging ich die Vorderseite des Hauses entlang bis zur Außentreppe, die Sie dort sehen. Ich ging die Treppe hinunter –« »Immer noch in der Hoffnung, jemand anzutreffen, den Sie fragen konnten?« »Ja, Henry, und ich fand mich plötzlich in einem supermodernen Labor wieder, in dem isolierte menschliche Gehirne in Spe17 �
zialapparaten steckten und offenbar ihr Wissen an einen Computer weitergaben. Ich weiß, es klingt alles furchtbar hanebüchen. Aber es war genau so, wie ich es Ihnen sage!« »Ereifern Sie sich nicht, mein Junge! Wie ging es dann weiter?« »Ich sah mich dort unten um und gelangte durch eine Unterdruckschleuse in ein zweites Labor, wo in gläsernen Wannen menschliche Ersatzteile heranwuchsen. Ich sah wie Nieren, Herzen, Leber und andere Organe im Werden begriffen waren, sowie menschliche Extremitäten. Besonders deutlich erinnere ich mich an einen Unterschenkel mit Fuß. Die Muskulatur war gut erkennbar. Haut bildete sich gerade darüber. Ja, und dann spürte ich plötzlich, daß ich nicht mehr allein war. Ich warf mich herum und sah vor mir ein furchterregendes Mischwesen, bestehend aus einem Wolf mit Gorillabeinen, Menschenarmen und dem Kopf eines Wildschweines. Es gelang mir, das angreifende Biest mit Schwefelsäure vom Leib zu halten und aus dem Labor zu fliehen.« »Was halten Sie davon, Jan«, sagte Bacon freundlich. »Sehen wir uns das mal an…?« »Darauf würde ich bestanden haben, Sir, wenn Sie den Vorschlag nicht von sich aus gemacht hätten«, antwortete Rivel grimmig. »Immerhin sind die Labors der Beweis dafür, daß ich die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit sage!« »Natürlich, Jan. Gehen wir also…« Sie gingen zu der Außentreppe und stiegen ins Souterrain. Colonel Bacon öffnete die Stahltür und forderte Rivel zum Nähertreten auf. Kaum hatte Jan einen Fuß über die Schwelle gesetzt, griff er sich mit beiden Händen an den Kopf, als ob er an seinem Verstand zweifeln wolle. Von einem Labor oder gar Spezialapparaten nicht die geringste Spur. Der große Raum war bis auf die wenigen, hier abgestellten alten Möbel leer. Keine Kacheln an den 18 �
Wänden. Keine wie auch gearteten Zu- und Ableitungen, wie sie nun mal für Laboratorien obligatorisch sind. Auch von einer Unterdruckschleuse zu einem zweiten Labor war nichts zu sehen, geschweige denn Spezialwannen, in denen menschliche Ersatzteile heranwuchsen. Rivel spürte körperlich das unsichtbare Netz, das sich um ihn zusammenzog. Er hätte schreien, davonlaufen mögen angesichts der beiden Kellerräume, die ihn leer und nackt angrinsten. Mit hilfloser Gebärde drehte er sich nach Bacon um. »Ich finde keine Erklärung dafür, Henry. Heute mittag waren hier noch zwei Laboratorien und diese Mischkreatur… Ich schwöre es!« »Schon gut, Jan. Kleine Frage am Rand: Hat es in Ihrer Familie, mütterlicher- oder väterlicherseits, irgendwelche Geisteskrankheiten gegeben? Oder leiden Sie gar unter schizophrenen Schüben?« »Sie halten mich also für verrückt?« brauste Rivel auf. »Mehr oder weniger hat jeder Mensch seinen Vogel, Jan. Wir sprechen das später noch mal gründlich durch. Vielleicht baue ich meine Verteidigung auf ›abnorme Erlebnisreaktionen infolge seelischer Abnormität‹ auf. Das ergibt unter dem Strich gesehen mildernde Umstände.« Rivel verspürte eisige Wut. Er mußte sich beherrschen, wollte er seine ohnehin mißliche Lage nicht noch mehr verschlechtern. »Es hat keinen Zweck. Gehen wir«, sagte er leise. »Ich sehe, Sie glauben mir nicht, Henry.« »Sie machen es mir auch schwer, Ihnen zu glauben, Jan. Bis jetzt spricht alles gegen Sie! Kommen Sie, wir gehen wieder nach oben.« Rivel folgte dem Colonel vor das Portal. Hier sagte Bacon: »Ich will Sie zu Ende hören, Jan. Es gelang Ihnen aus dem Labor zu fliehen. Was geschah danach?« 19 �
»Die junge Lady stand unter dem Portal, eine Flinte unter dem rechten Arm. Ich ging zu ihr hin und sagte barsch, daß sie den Lauf ihrer Flinte bodenwärts richten solle. Daraufhin erwiderte sie, daß kein Mensch es ihr verübeln könnte, wenn sie sich durch mich bedroht fühlen und mich in Notwehr erschießen würde.« »Und was sagten Sie darauf?« »Ich gab zurück, dafür zu sorgen, daß die Experimente ihres Vaters mit Körperzellen und menschlichen Gehirnen bald ein Ende haben würden. Kaum hatte ich ausgesprochen, da hob sie ihre Flinte und schoß auf mich!« »Aber Sie blieben unverletzt, Jan.« »Nur deshalb, weil ich vor den Schüssen eilig das Weite suchte. Auf Umwegen gelangte ich nach Baston on-the-Hill. Dort suchte ich Constable Brooks auf und erstattete Anzeige. Das ist die Story von A bis Z. Aber jetzt darf ich Sie etwas fragen, Henry. Wie wurde die junge Lady umgebracht? Wurde sie mit der eigenen Flinte erschossen? Wer ist ihr Vater?« »Die Ermordete heißt Alice Ridley. Ihr Vater, ein biederer Landwirt, starb vor etlichen Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.« Bacon knöpfte seinen Uniformmäntel zu, da böiger Wind aufkam und schloß: »Die Lady starb nicht durch eine Schußwaffe, sie wurde vor dem Haus erwürgt. Genau an der Stelle, wo ihre Leiche jetzt noch liegt.« »Erwürgt, sagen Sie? Dann kommt als Täter nur dieses Mischwesen in Frage«, behauptete Rivel lebhaft. »Hören Sie endlich davon auf, Jan! Das nimmt Ihnen kein Mensch ab. Außerdem behaupteten Sie vorhin, das ›Mischwesen‹ mit Säure geblendet zu haben. Wie hätte es in diesem Zustand Miß Ridleys habhaft werden und sie erwürgen können? Und noch etwas: Die Beamten der Spurensicherung haben das Haus von oben bis unten durchsucht, ohne eine Schußwaffe zu finden. Wenn Sie sich weiterhin in so gravierende Widersprüche 20 �
verwickeln, können wir vor Gericht von vornherein einpacken.« »Henry, tun Sie mir um alles in der Welt einen Gefallen«, bat Rivel eindringlich. »Begleiten Sie mich zu den Sträuchern, hinter denen ich vor Miß Ridleys Schüssen Schutz gesucht habe.« »Und was versprechen Sie sich davon?« »Sie hatte ihre Flinte – es war eine Bernardelli – mit Schrotpatronen geladen. Folglich müssen viele Blätter der Sträucher von den Schrotkörnern perforiert sein. Man wird erkennen, daß es sich um frische Schußspuren handelt.« »Na schön, wenn Sie meinen…« Colonel Bacon machte aus seiner Skepsis keinen Hehl, begleitete aber seinen Mandanten zu der Buschgruppe, die außerhalb des Lichtkreises der Standscheinwerfer lag. Dort angekommen, deutete Rivel auf einen der Sträucher. »Dahinter habe ich Deckung gesucht«, sagte er. »Schalten Sie Ihre Taschenlampe ein und sehen Sie bitte nach!« Colonel Bacon nahm die Lampe zur Hand und leuchtete systematisch den Holunderstrauch ab. Es dauerte nicht lange, und er ließ einen Pfiff der Überraschung hören. Viele Blätter waren eindeutig von Schrotkörnern zerfetzt. Auch waren Zweige geknickt, deren Bruchstellen hell und frisch waren. Bacon bückte sich nach einer kleinen glitzernden Kugel, die zwischen Erdkrumen auf dem Boden lag. Er hob sie auf und legte sie in seine linke Innenhand. Fachmännisch stellte er fest: »Ein Gyttorp-Nickel-Schrotkorn. Fast bin ich geneigt, Ihnen in diesem Fall zu glauben, Jan. Hier hat tatsächlich jemand in den letzten acht bis zehn Stunden in die Sträucher geschossen. Ob der Schütze Miß Ridley war – die Frage bleibt offen.« »Das wird sich auch noch herausstellen«, sagte Rivel, der neuen Mut gefaßt hatte. »Lassen Sie uns zu dem Leiter der Mordkommission gehen und ihn bitten, die Tatortermittlungen auch auf diese Sträucher hier auszudehnen.« 21 �
»Ich rate dringend davon ab, Jan«, sagte Bacon energisch. »Und warum? Ich denke, Sie sind mein Verteidiger«, entgegnete Jan hitzig. »Eben darum. Wenn der Zirkus hier vorbei ist und die Mordkommission abrückt, kehre ich zurück, um Entlastungsmaterial mit Hilfe eines Freundes zu sichern, der Kriminologe ist. Mit dem Material gelingt es uns möglicherweise, später den Nachweis zu erbringen, daß die ermittelnden Beamten am Tatort geschludert haben. Das ist im Hinblick auf ein eventuelles Wiederaufnahmeverfahren von großer Bedeutung.« »Das klingt für meine Ohren alles ein wenig kraus, Henry. Aber wenn Sie meinen…« Rivel starrte niedergeschlagen auf seine Schuhspitzen. »Also, halten wir es so. Wollen Sie noch einen Blick auf die Leiche werfen?« »Wozu das?« fragte Jan deprimiert. »Nur um der besseren Optik willen? Nein!« »Okay, dann gebe ich Sie jetzt in die Obhut der Militärpolizisten zurück, die Sie ins Militärgefängnis vom Camp Baumder bringen werden. Morgen werden Sie von der Strafverfolgungsbehörde zur Sache vernommen. Ich werde Sie vor Ihrer Vernehmung aufsuchen und mit Ihnen unsere zukünftige Marschroute vor Gericht besprechen. Kommen Sie, Jan, und Kopf hoch! Hier können wir im Augenblick sowieso nichts tun.« Colonel Bacon hieb Rivel kameradschaftlich auf die Schulter. Einträchtig gingen die Männer zum Jeep der Militärpolizisten zurück. * Die Gefängnisbaracke von Camp Baumder stand sozusagen im � Schatten von Halle A, in der zwanzig Chieftain-Panzer der hier � 22 �
stationierten Panzerdivision eingestellt waren. Tag und Nacht patrouillierte ein Doppelposten der Militärpolizei davor auf und ab. Ein kleiner Hof, von NATO-Stacheldraht umfaßt, diente den zur Zeit einsitzenden Gefangenen als karger Freiraum, für jeweils zwei Stunden am Tag. Jan Rivel hatte es den Umständen entsprechend gut getroffen, wie sich bald herausstellen sollte. Da war zunächst Lieutenant Potter, der in dem Haftraum den Ton angab. Roul Potter stammte aus Lancashire. Als Angehöriger einer Ranger-Einheit hatte er einen Brigadier, der wegen seiner schikanösen Methoden verschrien war wie ein bunter Hund, mit einem brettharten Uppercut aus den Schuhen gelupft. Seine Verhandlung deswegen war für den kommenden Monat anberaumt. Der zweite Zellengenosse war Captain Clanton. ›Der flotte Jason‹ genannt. Clanton stand in dringendem Verdacht, ein neuartiges Panzer-Nachtsichtgerät an den Militärattaché eines afrikanischen Staates verscherbelt zu haben, was er energisch bestritt. Clanton war ein Haudegen und eine Spielernatur. Es war mit ihm gut Kirschen essen. Butch Wigmore war ihr vierter und letzter Zellengenosse. Als Kadett der Militärakademie Sandhurst hatte er sein heißes Herz an ein Flittchen gehängt, das es mit der Treue nicht so genau nahm. Als Butch eines Tages überraschend auf Urlaub gekommen war und seine Mabel, in den Armen eines Matrosen liegend, angetroffen hatte, waren bei dem hübschen Jungen mit dem Milchgesicht sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Dem ›Lord‹ hatte er die Schneidezähne malträtiert. Er lispelte seitdem. Und Mabel hatte von ihm eine neue Frisur verpaßt bekommen. Eigentlich gar keine. Er hatte sie nämlich kahlgeschoren und nur mit Nagellack und Wangenrouge bekleidet auf die Straße gejagt. Vierzehn Tage weilte Jan bereits in Baumder, ohne daß sich et23 �
was Entscheidendes in seiner Sache getan hätte. Am fünfzehnten Tag erzählte er den Kumpels seine Story, weil einfach die Zeit dazu reif war. Nachdem er geendet hatte, herrschte lange Sendepause in dem stickigen Haftraum. Dann zündete sich Captain Clanton eine Camel an. Die aufzuckende Flamme seines Feuerzeuges riß sein verwegenes Gesicht aus der Dunkelheit. Er kommentierte das eben Gehörte mit den Worten: »Junge, das ist vielleicht ein Ding… Man spürt förmlich, daß etwas Irres dahinter steckt.« »Ja«, ließ Butch Wigmore sich vernehmen. »Es juckt einem geradezu in den Fingern, der mysteriösen Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Was meint ihr, Jason, Roul? Sollen wir es Jan sagen?« »Was ›sagen‹? Drück dich gefälligst allgemeinverständlich aus«, knurrte Rivel. Er lag auf seinem schmalen Feldbett als Untermann von Clanton und versuchte wegen der verrotteten Decken möglichst flach zu atmen. »Ich glaube, wir sollten ihn einweihen«, antwortete Clanton bedächtig. »Jan geht in Ordnung. Ich kann mir nicht helfen. Ich fühle mich durch seine Geschichte motiviert. Das heißt, wir sollten versuchen, sie gemeinsam aufzuhellen. Schließlich sind wir eine granitharte Crew, die ein ungerechtes Schicksal zusammengewürfelt hat. Na, Jungs, machen wir etwas daraus?« »Dunkel ist der Rede Sinn«, sagte Rivel. »Dennoch vielen Dank, Jason, für deine gute Meinung über uns und mich im Besonderen! Ich ärgere mich heute noch schwarz, daß ich am Tatort nicht in meinen dort stehenden Wagen gesprungen und mit Karacho davongebraust bin, um auf eigene Faust zu ermitteln.« »Eine Frage, Jan. Wenn dir die Möglichkeit dazu gegeben wäre, würdest du uns an deinen Recherchen beteiligen?« fragte Wigmore. 24 �
»Ja, das würde ich auf der Stelle, Butch«, antwortete Rivel sofort. »Ich selbst habe drüben auf dem Kontinent bei der Rheinarmee eine Kommandoeinheit befehligt. Ihr seid ähnlich wie ich auf fischige Einsätze spezialisiert. Summa sumarum: Wir sind Höllenhunde. Fürchten weder Tod noch Teufel. Befänden wir uns auf freiem Fuß, würden wir den Fall restlos aufklären. Aber da wir nun mal in diesem dreckigen Loch hausen…« Roul Potter räusperte sich, um dann die Katze aus dem Sack zu lassen. »Hör mir zu, Jan! Wir haben einen unterirdischen Gang gegraben. Er ist fertig. Ein Wort von dir, und wir machen die Mücke, bevor es dämmert.« Auf Rivel wirkte die Nachricht berauschend wie Champagner. Keine Sekunde zweifelte er an Potters Worten. »Wo mündet der Gang?« fragte er. »In dem Wäldchen, jenseits des Außenzauns. Ungefähr achtzig Yard von hier«, antwortete Jason Clanton kaum hörbar. »Wie steht es mit Geld und Klamotten? Schließlich können wir uns nicht in unserem gekennzeichnetem Khakizeug unter die folks mischen«, gab Rivel zu bedenken. Wigmore lachte verhalten, um zu antworten: »Uns stehen fünftausend Pfund zur Verfügung, dazu Zivilzeug und sogar ein Austin-Wagen, der in der Scheune eines Farmers steht. Und wir haben Sten-Maschinenpistolen. Zwar ein bißchen aus der Mode gekommen, doch immerhin…« »Ihr habt also draußen Helfer?« fragte Rivel interessiert. »Ja, mein kleiner farbiger Militärattaché«, bestätigte Clanton. »Er hat Angst, ich packe aus. Auch möchte er nicht, daß er ausgewiesen wird. In London läßt es sich nämlich weitaus flotter leben als bei ihm daheim.« »Nun, was ist?« drängte Butch. »Packen wir’s an?« »Bedarf das noch einer Frage? Wir hauen ab«, erklärte Rivel. 25 �
»Der Fraß hier findet meinen Zuspruch nicht.« Die Männer jubelten verhalten. Schließlich fragte Potter: »Wie, denkst du, sollen wir vorgehen, Jan? Wir richten uns da ganz nach deiner Mütze.« »Ich habe euch von den isolierten, offensichtlich funktionierenden Gehirnen erzählt, und daß ich mir einige Namen und Daten in bezug darauf notiert habe. Sie sind unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt. Eine Anschrift lautet: Marjo Trim, 13 Percy Street, London W 1. Die Dame, mit deren Gehirn ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, war zu Lebzeiten Computerspezialistin bei einer Londoner Bank. Bei ihr sollten wir mit unseren Ermittlungen beginnen und in Erfahrung bringen, wie Mrs. Trim gestorben ist und wem sie testamentarisch ihr Gehirn vermacht hat.« Die Männer bekundeten je nach Temperament unterschiedlich ihr Einverständnis und begannen gegen Mitternacht mit ihren Fluchtvorbereitungen. Punkt 1.30 Uhr war alles soweit abgeschlossen, daß sie sich daran machen konnten, das Etagenbett von der Wand zu rücken und die Fußbodenbretter vom Einstieg in den unterirdischen Gang abzuheben und lautlos eines auf das andere zu legen. Als erster kletterte Jason Clanton in den Tunnel, der etwa drei Yard unterhalb der Erdoberfläche verlief, eineinhalb Yard breit und nur vier Fuß hoch war. Nach Clanton machte Rivel sich an den Abstieg. Er begann sofort auf allen vieren hinter Jason herzukriechen, der seine Taschenlampe mit den Zähnen hielt und schon ein schönes Stück weit gekommen war. Hinter sich hörte er das Keuchen von Poul Potter und Butch Wigmore. Schweißgebadet erreichten die vier nach dreißig Minuten den Aufstieg am Tunnelende. Als sie den Gang verließen, sogen sie gierig die frische Nachluft in ihre Lungen. Ein letzter Blick voll 26 �
unbeschreiblichen Triumphes durch die lichten Baumreihen auf den angestrahlten Lagerzaun – dann trotteten sie hinter Clanton her, der die Spitze übernahm, zu der nahen Farm, wo der Wagen abgestellt worden war. Nachdem sie die Austin-Limousine aus der Scheune gezogen hatten, ohne daß sich weit und breit etwas gerührt hätte, nahmen sie in dem Fahrzeug Platz. Wigmore hatte das Steuer übernommen. Bevor er den Wagen startete, horchte er in die Nacht. »Hört ihr’s, Freunde?« fragte er mit schiefgelegtem Kopf. »Die Sirenen von Camp Baumder! Jetzt haben die Schlafmützen unsere Flucht entdeckt…« »Sieh zu, daß wir fortkommen, Butch«, mahnte Clanton. »Wenn sie uns jetzt schnappen, atmen wir für ein Jahrzehnt garantiert gesiebte Luft.« * Im dunkelblauen City-Anzug, Regenschirm und Boilerhut war Jan Rivel nicht wiederzuerkennen. Ebenso wie seine drei Freunde aus dem Militärknast, die vorteilhaft ihr Äußeres verändert hatten. Sie sahen ihm erwartungsvoll entgegen, wie er aus der National Travel Bank kam und dann zu ihnen in den Wagen stieg. »Was hast du herausgefunden, Jan?« fragte Butch aufgeregt. »Wann hat Marjo Trim ihr Eßbesteck abgegeben? Hat sie den Inhalt ihrer Simulierkugel vermarktet?« »Haltet euch fest«, sagte Rivel, der geistesabwesend schien. »Mrs. Trim soll sich bester Gesundheit erfreuen!« »Wie das, ohne Gehirn?« Potter sah Rivel mißtrauisch von der Seite an. »Hast du mit ihr persönlich gesprochen?« »Ging nicht«, antwortete Rivel. »Marjo Trim ist seit einem Jahr nicht mehr bei der Bank beschäftigt.« 27 �
»Wo arbeitet sie jetzt, wenn man von ›arbeiten‹ im hirnlosen Zustand überhaupt reden kann?« fragte Wigmore. »Sie arbeitet überhaupt nicht mehr und lebt von einer kleinen Rente. Wir haben also die besten Aussichten, Mrs. Trim zu Hause anzutreffen. Eine Äußerung einer ehemaligen Kollegin von ihr gibt mir besonders zu denken.« »Welche Äußerung, Jan?« wollte Jason Clanton wissen. »Die Bankangestellte, mit der ich gesprochen habe, sagte, Marjo habe mal einer schweren Kopfgrippe wegen vierzehn Tage das Bett hüten müssen. Wieder halbwegs genesen, habe sie alle ihre Fähigkeiten in bezug auf das Computerwesen verloren, beziehungsweise verlernt gehabt. Früher eine Expertin auf dem Gebiet der Datenverarbeitung, sei sie nun nicht mehr in der Lage gewesen, das kleine Einmaleins herzusagen. Die Bank hat sie daraufhin entlassen, und es gab keine Gewerkschaft, die sich für Mrs. Trim starkgemacht hätte.« »Höchst interessant«, meinte Potter nachdenklich. »Das erinnert mich an die beiden Transusen im Gasthof ›White Bear‹, von denen du uns erzählt hast, Jan. Die waren im Kopfrechnen auch schwach.« »An diese seltsame Übereinstimmung habe ich auch schon gedacht«, erwiderte Rivel. »Ich bin dafür, wir fahren zur Percy Street und erkundigen uns bei Mrs. Trim, wie der Inhalt ihres Kopfes beschaffen ist!« »Du hast es gehört, Butch«, mahnte Clanton. »Wirf die Karre an und steig aufs Gas! Wir haben noch eine Menge zu tun!« Wigmore ließ den Motor kommen. Geschickt rangierte er vom bankeigenen Parkplatz auf die Straße und zwängte den Wagen in eine dürftige Lücke des rollenden Verkehrs. Wegen des Stoßverkehrs zwischen zwölf und eins benötigte er zur Percy Street fast eine Stunde. Er hielt hundert Yard vor Nummer 13, einem Altbau mit klassizistischer Fassade, und 28 �
wollte schon aussteigen. Aber Rivel hinderte ihn daran. »Du bleibst im Wagen sitzen, Butch, und hältst die Augen offen. Wir sind spätestens in einer Stunde zurück.« »Warum gerade ich?« maulte Wigmore. »Weil es dir noch an Erfahrung im Umgang mit Hirnlosen mangelt«, flachste Clanton. Die Männer stiegen aus und schlenderten zum Haus Nr. 13. Sechs ausgetretene Steinstufen führten sie aufwärts in den Flur im Hochparterre. Links, in zwei langen Reihen, waren die Briefkästen. Rechts an der schadhaften Flurwand stand ein Kinderwagen für Zwillinge, deren mörderisches Geschrei mit dem Geruch von Irish Stew durchs dämmerige Treppenhaus wehte. Clanton nahm die Treppe in Angriff. Rivel und Potter folgten ihm bis zur vierten Etage. Die Tür zu Mrs. Trims Wohnung war in einem scheußlichen Lila gestrichen, das die Augen mehr störte als der Speichel einer Vogelspinne. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Rivel gab den Kameraden zu verstehen, sich rechts und links des Wohnungseingangs zu postieren und ihre Sten-Maschinenpistolen feuerbereit zu halten. Seine Erfahrung als Kommandoführer sagte ihm, daß hier etwas oberfaul war! Dennoch oder gerade wegen dieses Gespürs, klopfte er an die Türfüllung und rief munter: »Hallo, Mrs. Trim! Darf ich hereinkommen? Ich komme vom Kundenservice des Gardening Centre und spreche wegen der von Ihnen bestellten Topfpflanzen vor. Sie erinnern sich?« In der Wohnung von Marjo Trim blieb es still. Dann polterte ein Stuhl zu Boden und wurde ein langgezogener Schnarchton hörbar, der ihnen einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. »Los«, zischte Rivel. Auch er zog glattflüssig seine Sten unter dem Jackett hervor. Mit dem Fuß stieß er die Wohnungstür auf 29 �
und sprang in die Diele. Er durchquerte sie und prallte unter dem Durchgang zum Wohnzimmer entsetzt zurück, wahrend Clanton und Potter hinter ihm einen Schrei ausstießen. Drei seltsame Mischwesen standen ihnen gegenüber, gegen die das in dem unheimlichen Haus bei Baston on-the-Hill wie ein herausgeputztes Osterlamm anzuschauen war… * Alle drei glichen Wesen aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld. Sie waren aufgerichtete Zweibeiner, fast sieben Fuß hoch und stark behaart. Lemuroid waren ihre Köpfe mit schnauzenartigem Gebiß. Ihre Greifhände waren im Grund genommen übergroße Hummerscheren, die auch die eigentümlichen Schnarchlaute verursachten. Rosarote trüffelartige Auswüchse ersetzten die Augen. Die Taillen waren tentakelbewehrt. Sie liefen in weichen Lippenpaaren aus, die eine klebrige Substanz absonderten. Die drei Kreaturen umstanden Marjo Trims Leiche, die ohne sichtbare äußere Verletzungen auf dem Teppich lag. Der Ausdruck wahnsinnigen Entsetzens, den der Tod auf ihrem Gesicht hinterlassen hatte, sowie die weitgeöffneten Augen deuteten darauf hin, daß allein der Anblick der drei monströsen Wesen gereicht hatte, um sie den Schocktod sterben zu lassen. Die drei waren nicht in der Lage, sich auf das plötzliche Erscheinen der Männer einzustellen. Doch dann begannen sie aufgeregt ihre Tentakel auf sie zu richten und verlangend die hummerscherenartigen Greifhände zu öffnen und zu schließen. Lange durften Rivel, Potter und Clanton nicht mehr zögern. Da sie nicht das geringste Verlangen verspürten, eine der Mischkreaturen oder gar alle drei dem Londoner Zoo als kuriose Attraktion zu erhalten, rissen sie das Gesetz des Handelns an sich. Sie spritzten auseinander, suchten hinter Sessel und umge30 �
stürzten Möbeln Deckung und eröffneten ein konzentrisches Feuer auf die Monsterwesen, das kaum hörbar war, weil ihre Waffen mit Schalldämpfern versehen waren. Die Geschosse trafen ihr Ziel, lösten aber keine voraussehbare Reaktion der Körpermassen aus. Nicht die geringste Muskelkontraktion. Kein Schmerzenslaut. Ein unbestimmbarer Auslösemechanismus, vermutlich als genetische Information in ihre Zellen eingebaut, verwandelte ihre Struktur in eine regellose Zellmasse. Zu einem Gemisch aus vielen anorganischen und organischen Substanzen, in denen Eiweißfäden und Zellnutzstoffe wie Fette, Lipoide und Glykogen zu erkennen waren. Dieser scheußliche Zellbrei wurde zusehends dünnflüssiger und floß zum ungeheuren Erstaunen der Männer vom Wohnzimmer in die nebenan liegende Küche. Nicht etwa, um hier einzutrocknen oder zu verdunsten, sondern um zielstrebig die gekachelte Wand aufwärts zu fließen, sich ins Spülbecken zu wälzen und in den Abguß zu ergießen, wie einer vorprogrammierten Zweckbestimmung folgend. Schließlich war auch der letzte Rest der Masse verschwunden, und Roul Potter setzte schnell den Gummistopfen darauf, um im nachhaltigen Schrecken zu stammeln: »Habt ihr eine Erklärung dafür?« »Mich darfst du nicht fragen«, erwiderte Clanton mit zitternder Stimme. »Ich habe in Biologie nicht aufgepaßt. Aber erkundige dich doch mal bei Jan…« Rivel legte seine Maschinenpistole auf den Küchentisch. »Ich weiß nur, daß es auf unserer guten britischen Insel einen Menschen geben muß, der ungeheuer viel von den Kriterien des Lebens versteht«, sagte er nachdenklich. »Diesem verbrecherischen Genie ist es gelungen, Zellen der verschiedensten Art nach Belieben miteinander zu verschmelzen, ihnen genetische Codes mit ganz bestimmten Wirkungsmechanismen einzubauen, 31 �
menschliche Ersatzteile werden zu lassen und sie Tierkörpern aufzupfropfen, ohne daß es dabei zu Abstoßungen kommt.« »Immunabwehrreaktionen«, sagte Clanton. »Richtig«, bestätigte Rivel. »Wenden wir uns lieber der Frage zu, was die animalischen Burschen von Mrs. Trim gewollt haben.« »Eine berechtigte Frage«, meinte Potter wichtig. »Ich glaube, sie wollten Marjo Trim töten!« »Ein Abenteuer suchten die ganz bestimmt nicht«, warf Clanton ironisch ein. »Warum haben sie die kaum fünfzigjährige Frau getötet? Ich will es euch verraten. Dieser geniale Kerl, den Jan soeben erwähnt hat, wollte nicht, daß Mrs. Trim mit uns redete. Er fürchtete, man könne ihm auf die Schliche kommen.« »Angenommen, es stimmt, was du sagst, sind auch jene Opfer gefährdet, deren Daten Jan besitzt«, sagte Potter nachdenklich. »Mit Mrs. Trim können wir leider nicht mehr sprechen. Aber wir können uns ihren Kopf ansehen und vielleicht feststellen, wie man ihm das Gehirn entnommen hat. Bestimmt nicht durch die Nase, wie das bei altägyptischen Mumienbestattungen der Fall gewesen ist.« Rivel nickte Zustimmung, nahm seine Maschinenpistole wieder an sich und ging ins Wohnzimmer zurück. »Ich möchte wissen, wie die drei ins Haus und in die Wohnung gelangt sind«, sagte er über die Schulter zurück. »Sie waren unbekleidet und nicht zu übersehen.« »Vielleicht hat dein genialer Schelm sie in einem Kanister hierher gebracht und in flüssigem Zustand durch den Briefkastenschlitz der Wohnungstür in die Diele geschüttet. Hier haben sie sich möglicherweise zu jenen Wesen manifestiert, als die wir sie kennengelernt haben«, meinte Potter. Wenig später standen die Ex-Offiziere vor der Leiche Marjo Trims. 32 �
Die Tote war klein und zierlich und trug ein schlichtes braunes Wollkleid. Ihre tiefschwarzen Haare waren schulterlang. Die plüschgefütterten Hausschuhe lagen in Fensternähe. Die Beine waren unbestrumpft. »Sieh du nach, du bist der Boß«, sagte Potter zu Rivel. Der kniete an der Seite der Toten nieder und strich vorsichtig die Haare von dem ihm zugekehrten Ohr zurück. Man mußte schon sehr genau hinsehen, um die feine Narbe in der Kopfschwarte erkennen zu können. Rivel tastete sie ab und lokalisierte schließlich eine kreisrunde Fläche, mit einem Durchmesser von etwa sechs Zoll. Als er sich aufrichtete, sagte er: »Mrs. Trims Schädel wurde zwecks Entnahme ihres Gehirns trepaniert. Anstelle des entnommenen muß sie ein künstliches zum Ersatz eingesetzt bekommen haben. Ein Gehirn mit geringerem Leistungsvermögen, das in etwa dem IQ eines zehnjährigen Schulmädchens entspricht. Kein Wunder, daß bei dem Leistungsabfall die Bank auf Mrs. Trims Mitarbeit keinen Wert mehr gelegt hat. Übrigens scheint mir der trepanierte Knochenlappen durch ein silbernes Einsatzstück ersetzt worden zu sein. Wir könnten also, wenn wir wollten, die silberne Schädeldecke abheben und einen Blick in das Schädelinnere werfen. Doch würde uns das die Polizei verargen.« Die Männer schwiegen betroffen. Dann richtete Clanton an Rivel die Frage: »Wohnt eines der Opfer dieses verbrecherischen Wissenschaftlers zufällig in der Nähe Londons? Wenn ja, sollten wir uns sputen, wenn wir es noch lebend antreffen wollen. Hier können wir ohnehin nichts tun, als anonym die Polizei zu verständigen, in der Hoffnung, daß sie uns nicht für Mrs. Trims Mörder hält. »Dan Pullman. Er wohnt in Greenwich«, antwortete Rivel. »In einer Stunde könnten wir dort sein.« »Wer war oder ist Pullman?« fragte Potter. 33 �
»Du wirst es nicht für möglich halten, Jason. Er ist von Beruf Parfümriecher.« »Ach du meine Güte«, entfuhr es Potter. »Ein Mann also, der aufgrund seines ausgeprägten Geruchvermögens Parfüme kreiert für angesehene Kosmetikfirmen.« »Ja, so etwas Ähnliches wird es wohl sein«, bestätigte Rivel. »Ich habe mir sagen lassen, daß Parfümriecher gutes Geld verdienen…« Eine Stunde nach dem Betreten der Wohnung Marjo Trims verließen Clanton, Potter und Rivel sie wieder, ohne daß irgendein Hausbewohner sie gesehen, oder ein Passant auf der Straße Notiz von ihnen genommen hätte. Als sie zu Butch Wigmore in den Austin stiegen, sagte der ganz aufgeregt: »Soll ich euch mal verraten, was soeben in den Nachrichten durchgekommen ist?« »Sag’s, Butch, oder laß es bleiben«, gähnte Clanton. »Die National Travel Bank wurde von unbekannten Tätern um stolze zehn Millionen Pfund Sterling erleichtert.« »Ein Bankraub? Wann soll das denn gewesen sein?« fragte Rivel stirnrunzelnd. »Kein Bankraub. Der Computer der Bank wurde von unbekannten Tätern dahingehend manipuliert, einen der streng geheimen Geldtransporte mit ständig wechselnden, vom Computer ausgewählten Fahrtstrecken umzuleiten. Mehr dazu konnte und wollte der Polizeisprecher noch nicht sagen.« »Ich weiß, woher die Informationen stammen«, sagte Rivel erschüttert. »Sie wurden in dem unheimlichen Haus bei Baston onthe-Hill dem Mrs. Trim gestohlenen und isolierten Gehirn abgefragt!« * 34 �
Das schmucke Einfamilienhaus der Pullmans lag in der Ewisham Road in Greenwich. Im Vorgarten war eine Frau um die vierzig damit beschäftigt, Unkraut längs des Gartenwegs zu jäten. Butch Wigmore hielt dem Anwesen gegenüber und fragte, ob er diesmal mitkommen dürfe. »Du kannst dich in der Nachbarschaft umhören, Butch. Jason wird dich begleiten«, entschied Rivel. »Roul und ich versuchen mit Dan Pullman ins Gespräch zu kommen. Es sieht nicht so aus, als ob er in letzter Zeit unliebsamen Besuch gehabt hätte. Komm Roul, gehen wir…« Rivel öffnete den Wagenschlag auf seiner Seite und hob die Beine aus dem Fahrzeug. Während er und Potter die Straße überquerten, gingen Clanton und Wigmore zu dem Pub weiter unten. In der Hoffnung, dort etwas über den Parfümriecher zu erfahren. Von den Wirtsleuten oder Gästen, das war egal. Die behäbige Frau im Vorgarten des Hauses richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf, als sie das Gartentor gehen hörte. Die rechte Hand in die schmerzende Hüfte gestemmt, blickte sie den näherkommenden fremden Gentlemen neugierig entgegen. Höflich lüftete Rivel seinen Boilerhut, während Potter sich etwas bedeckt hielt und aufmerksam die nähere Umgebung beobachtete. »Habe ich die Ehre mit Mrs. Pullman zu sprechen?« fragte Jan gemessen. »Mein Name ist Rivel. Das ist mein Kollege Potter.« »Ja, ich bin Mrs. Pullman. Um es frei herauszusagen: Ich kaufe nichts an der Tür!« Rivel lächelte gequält. »Es ist nicht unsere Absicht, Ihnen etwas zu verkaufen, liebe Frau. Wir bitten lediglich um ein Gespräch mit Ihrem Gatten.« »Mein Mann ist tot. Wenn Sie glauben, ihm noch irgendwelche 35 �
Äußerungen entlocken zu können, müssen Sie sich schon auf den Friedhof von St. Alphage begeben!« »Tot? Das tut uns leid! Eine französische Parfümfirma hätte sich gern seiner Nase versichert. Sagen Sie – seit wann ist Mr. Pullman tot?« »Er starb vor sieben Monaten.« »Mhm, war er krank?« »Nein. Er wurde von einem Auto angefahren, als er mit dem Fahrrad bei einbrechender Dunkelheit die Straße nach Blackheath befuhr. Er starb noch am Unfallort.« »Hatte er Kopfverletzungen davongetragen?« »Na, hören Sie mal! Für einen Vertreter der Parfümindustrie stellen Sie recht merkwürdige Fragen«, entrüstete sich Mrs. Pullman. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben«, mischte sich Potter ein. »Es geht um eine an Sie auszuzahlende Prämie. Mehr können wir Ihnen im Augenblick nicht verraten.« »Eine Prämie? In welcher Höhe?« fragte Mrs. Pullman flink und speichelte ihre strichdünnen Lippen ein. »Es handelt sich immerhin um fünftausend Pfund. Um noch mal auf die Frage meines Kollegen Rivel zurückzukommen. Der unumgänglichen statistischen Erhebungen wegen: Starb Mr. Pullman an irgendwelchen Kopfverletzungen? War vielleicht sein Schädel geöffnet?« »Dans Kopf ist bei dem Bums heil geblieben. Eine gebrochene Rippe war ihm ins Herz gedrungen. Ich sehe schon, worauf Sie hinaus wollen. Man reibt sich daran, weil er noch zu Lebzeiten seine Nieren und seinen Kopf einem medizinischen Institut für anatomische Zwecke vermacht hat. Für den Fall seines Ablebens.« »So ist es, nur wollten wir es nicht so direkt sagen«, schaltete Rivel sofort. »Welchem medizinischen oder wissenschaftlichem 36 �
Institut hat Dan seine Nieren und seinen Kopf vermacht?« »Ich weiß es nicht. Er hat nie mit mir darüber gesprochen.« »Hat er Geld dafür bekommen?« »Soviel mir bekannt ist, ja.« »Nennen Sie uns bitte die Höhe der Summe.« »Ich kenne sie nicht.« »Aber Sie werden uns sicher sagen können, wie besagtes Institut nach dem Tod Ihres Mannes an dessen Kopf und Nieren gekommen ist.« »Ein Mitarbeiter des besagten Instituts sprach deswegen bei dem Bestattungsunternehmen vor, das meinen Mann bettete und zur letzten Ruhe trug. Dieser Mitarbeiter besaß alle notwendigen Unterschriften Dans.« »Besaß er auch die behördliche Genehmigung?« »Ich vermute es.« »Welches Beerdigungsinstitut hat Ihren Mann beigesetzt, Mrs. Pullman?« »Navenby in London… Was ist nun mit der Prämie? Ich könnte sie gut gebrauchen.« »Wir geben Ihnen in den nächsten Tagen Bescheid, Mrs. Pullman«, sagte Roul Potter verbindlich. »Haben Sie einstweilen Dank für Ihre bereitwillige Auskunft.« »Lassen Sie recht bald von sich hören«, rief die Frau ihnen nach. Dann krümmte sie den Rücken wieder, um sich der Beschäftigung des Unkrautjätens weiter hinzugeben. Als Potter und Rivel beim Wagen ankamen, waren Butch und Jason noch nicht aus der Pinte zurück. Sie kamen jedoch wenig später und nahmen im Austin Platz. »Pullman hat sein Gehirn irgendeinem obskuren wissenschaftlichen Institut vermacht«, erklärte Rivel ihnen. »Ich bin überzeugt davon, daß er von seinen Geschäftspartnern mit einem Auto überkarrt wurde, weil sie sein natürliches Ableben nicht 37 �
abwarten und möglichst rasch zu seinem Gehirn kommen wollten. Wir wissen jetzt, daß dieser Monstermacher sich Menschenhirne auf verschiedene Art und Weise beschafft. Da Mrs. Pullman übrigens nichts Genaues über das seltsame Geschäft Dans, des Geruchsfetischisten, weiß, ist ihr Leben auch nicht bedroht. Was habt ihr in der Pinte erfahren?« Wigmore fuhr an und Clanton neben ihm sagte: »Wir hatten das Glück, im Pub einen ehemaligen Schulfreund von Pullman anzutreffen. Auch er sprach von dem Unfall, und daß der Lenker des Kraftfahrzeugs Unfallflucht begangen habe und bis heute nicht ermittelt werden konnte. Der Mann sagte uns noch etwas. Erzähle, Butch.« »Also, das war so«, begann Wigmore. »Der Mann goß sich den Gin, den wir ihm spendiert hatten, hinter den Knorpel und kam mit der Neuigkeit heraus, daß es seit etwa zwei Monaten einen neuen hochqualifizierten Parfümriecher in der Gegend gibt. So dicht gesät sind diese Geruchsspezialisten nun auch nicht, um an dieser Tatsache einfach vorüberzugehen!« »Hat der Mann dir die Adresse des Parfümriechers gegeben?« fragte Potter. »Ja, sie war ihm geläufig. Sein Name: Horace Soane. Wohnhaft hier in Greenwich, 7 Pelton Road. Es soll ein modernes Apartmenthaus sein, das überwiegend von alleinstehenden Personen bewohnt ist.« Potter blickte die Kameraden an. »Was haltet ihr davon, wenn wir bei Soane vorbeischauen, bevor wir in die City zurückfahren? Mir schwant nämlich Unheil!« »Selbstverständlich statten wir ihm einen Besuch ab«, sagte Rivel, der ähnliche Befürchtungen wie Potter hegte. »Sobald wir den riechenden Horace auf der Liste abgehakt haben, geht es zum Beerdigungsinstitut Navenby. Dort nämlich wurde, was ihr, Butch und Roul, noch nicht wißt, dem toten Dan Pullman 38 �
der Kopf vom Rumpf getrennt!« * Sie trafen Horace Soane nicht zu Hause an, und so erhob sich für Rivel, Clanton und Wigmore die Frage, ob man wieder gehen oder widerrechtlich die Tür zur Wohnung des Parfümriechers aufbrechen sollte. Rivel hatte gewisse Bedenken, die Clanton mit den Worten zu zerstreuen versuchte: »Mensch, Jan, mach’ dir nicht ins Hemd! Mich haben sie bei den Flügeln, weil ich Geheimnisverrat getrieben haben soll. Butch hat sein Mädchen kahlgeschoren und auf die Straße gejagt. Roul, der unten im Wagen sitzt, ist in den Augen der Militärrichter auch ein schlimmer Finger. Du schließlich stehst unter Mordverdacht. Und da hast du Skrupel, eine dösige Tür aufzubrechen?« »Selbst wenn ich wollte, Jason. Ich habe so etwas noch nie gemacht«, bekannte Rivel verlegen. »Du vergißt, noch bin ich britischer Offizier und kein Einbrecher!« »Ich werde das übernehmen.« Butch Wigmore schob die beiden von der Tür fort und machte sich mit einem starken Taschenmesser am Türschloß zu schaffen. Nach fünf Minuten hatte er es, ohne allzuviel Lärm zu machen, geschafft. Vorsichtig öffnete er die Wohnungstür und lud mit der übertriebenen Gestik eines japanischen Türstehers zum Nähertreten. Rivel und Clanton gingen von der Diele gleich ins Wohnzimmer durch, während Wigmore sich auf einen Stuhl der Diele niederließ, um für sie die Sicherung zu übernehmen. Soane hatte aus seiner Wohnung eine Mädchenfalle gemacht. So gab es in ihr ein schwellendes Polsterbett mit Heimkino und Radio in der Konsole, Spiegel en masse und seitlich der Polsterecke eine gutsortierte Hausbar, die nur einen Fehler hatte: Der 39 �
Bierzapfhahn tropfte. Das alles und einiges mehr war von tollen Lampenelementen raffiniert ausgeleuchtet, während ein irre teures HiFi-System aus hochgetürmten Tape-Decks über DreiwegeLautsprecherboxen sanfte Musik mit unerhörtem Genuß zu Gehör brachte. Clanton war so frei, sich an der Bar einen Whisky auf Kosten des abwesenden Hausherrn zu genehmigen. Anschließend unterzog er den Schreibtisch am rechten Fenster und den Bücherschrank einer genauen Prüfung. »Weißt du, was mir auffällt?« sagte er schließlich zu Rivel gewendet, der offenbar mit einem Gerät, das Ähnlichkeit mit einem Plattenspieler besaß, nichts anzufangen wußte. »Ich sehe nirgendwo Fachliteratur oder dergleichen! Das Wissen über Parfüme und ihre Grundstoffe pi-pa-po kann Soane doch nicht wie ein Heuschnupfen angeflogen sein!« »Jason, ich glaube ich habe des Rätsels Lösung«, sagte Rivel. »Würdest du dich bitte mal hierher bemühen?« Clanton ging zu Rivel. Er sah auf das Gerät, das eine ganze Ecke ausfüllte, und fragte, was das sei. Rivel deutete auf den Plattenteller. »Die Matrize auf dem Teller gleicht haargenau denen, die ich in dem Haus bei Baston on-the-Hill gesehen habe. Und zwar in Verbindung mit den isolierten Gehirnen, die mit Elektroden gespickt und mit dem Computer verbunden waren. Ich bin mir beinahe sicher, daß die Matrize hier mit Dan Pullmans geistigem Eigentum und mit seinen Gedächtnisinhalten beladen ist. Speziell mit codierten Informationen und Leistungsträgern seines peripheren Riechapparats.« »Und wie, glaubst du, ist Soane in den Besitz von Pullmans außerordentlichem Geruchsvermögen gelangt?« fragte Clanton staunend. »Indem er die Matrize wie eine Schallplatte abgespielt hat«, er40 �
klärte Rivel. »Sieh dir den Tonarm an! Er arbeitet auf Laserbasis, und dort an der Wand das helmartige Gerät mit den vielen Elektroden und Sensoren. Vermutlich werden sie am Kopf angebracht, dann fließt über sie das konservierte Wissen auf der Matrize ins Gehirn des Hörenden hinüber.« »Das möchte ich wissen, Jan. Von Parfüms weiß ich nur, daß sie entsetzlich teuer sind.« Clanton stülpte sich das helmartige Gerät über den Kopf und befestigte die selbsthaftenden Elektroden an Schläfen und Stirn. Dann nahm er in einem Drehsessel Platz und machte sich mit den Knöpfen, Skalen und Schaltern einer Steuerkonsole vertraut, die Teil des seltsamen Abspielgeräts war. »Ich glaube, ich hab’s«, sagte er nach einer Weile. »Höre lieber auf damit«, mahnte Rivel. »Wir wissen nicht, was im Endeffekt dabei herauskommt.« Doch Clanton hatte das Gerät schon eingeschaltet. Der Plattenteller mit der Matrize begann sich unüblich schnell zu drehen. Ein feiner Laserstrahl tastete die aufgeprägten Codierungen ab. Clanton lag völlig entspannt im Sessel vor der Anlage und ließ die etwa zehnminütige Prozedur des »Überspielens« über sich ergehen. Als das Gerät automatisch aussetzte, löste er die Elektroden und nahm vorsichtig den Helm vom Kopf. »Und?« fragte Rivel ihn, bis zum Platzen gespannt. »Sag’ irgend etwas über Parfüme, und was du so riechst…« Clanton lächelte von oben herab. »Behaupte nur, du wüßtest nicht, daß Parfüme meist alkoholische Lösungen von natürlichen oder synthetischen Riechstoffen sind?« »Das weiß ich zur Not noch.« »Also, der Kopfgeruch eines Parfüms besteht in der Regel aus Blumenölen und flüchtigen Aldehyden«, dozierte Clanton. »Für die Blumenöle verwendet man ätherische Öle oder synthetische Riechstoffe. In Modeparfümen überwiegen tierische Riechstoffe und Holzduftstoffe. Um das Haften der Düfte zu bewirken, wer41 �
den sogenannte Fixateure zugegeben. Im übrigen solltest du mal deine Socken wechseln, Jan Rivel. Oder sind es gar meine Socken, die so qualmen?« »Das ist der Nachteil, wenn man vor seinen Häschern auf der Flucht ist«, knurrte Rivel. In diesem Augenblick platzte Butch Wigmore in ihren Disput. »Es kommt jemand die Treppe herauf. Ich glaube, es ist der Riecher…« »Den schnappen wir uns«, sagte Rivel grimmig. »Gleich in der Diele…« * Horace Soane ließ – vor der Wohnungstür angekommen – ein erstauntes: »Nanu«, hören. Ausdruck seiner Feststellung, daß das Türschloß demoliert war. Clanton gönnte ihm die Zeit nicht zu weiteren Überlegungen. Er riß die Tür von innen auf, bekam den Dandy bei Schlips und Kragen zu fassen und zog ihn in die Diele. Clanton arbeitete mit militärischer Exaktheit, stellte sich den überraschten Soane zurecht und schoß ihn mit einer gestochenen Geraden ins Wohnzimmer auf das rote Lotterbett. »Tun Sie mir nichts«, winselte Soane, im Versuch sein längliches Pferdegesicht abzudecken. »Ich gebe Ihnen alles Geld, das ich im Hause habe.« »Was hast du beruflich gemacht, bevor du dich entschlossen hast, Parfümriecher zu werden?« fragte Clanton drohend, während er sich die Jacke auszog und die Hemdärmel nach oben rollte. »Ich war Betriebsschlosser.« »Nicht gerade ein artverwandter Beruf, Freundchen«, konstatierte Rivel sarkastisch. Er hatte sein Jackett aufgeknöpft und 42 �
spielte selbstversunken mit seiner Sten-Maschinenpistole. Butch Wigmore wollte da auch nicht untätig bleiben. Er hatte sein Taschenmesser aufgeklappt und demonstrierte die Schärfe der Schneide, indem er sich ein Haar ausriß und es in der Luft in zwei Teile schnitt. Horace Soane zeigte sich ungeheuer beeindruckt und zur konstruktiven Mitarbeit bereit. »Wer hat dir die Idee eingeblasen, in Dan Pullmans Fußstapfen zu treten?« fragte Butch. »Es war Dan selbst, er gab immer an, wie gut sein Geruchsvermögen sei und wie klotzig er verdiene. Daraufhin sprach ich mit den ›Leuten‹. Ich zählte ihnen dreißigtausend Pfund, die ich geerbt habe, bar auf den Tisch des Hauses, und sie packten die Sache an. Ein Jahr dauerte es, bis es dann soweit war.« »Womit ›so weit war‹?« fragte Rivel. »Dan, der in erheblichen Geldschwierigkeiten steckte, weil er das Bingospielen nicht lassen konnte, mit einem Darlehen unter die Arme zu greifen. Sie ließen sich dafür sein Gehirn überschreiben.« »Das können wir uns denken, Horace«, unterbrach Clanton den vor Angst zitternden Soane im Pepita Jackett mit Samtkragen. »Wer sind ›die Leute‹?« »Ich kenne ihre Namen nicht. Ihre Ansprechpartnerin heißt Alice.« »Etwa Alice Ridley?« »Kann schon sein. Die ›Leute‹ gelten in bestimmten Kreisen als Geheimtip für eine neue Variante von Intelligenzverbrechen. Hinter vorgehaltener Hand spricht man auch von der ›Genossenschaft der Hirnlinge‹. Dann, eines Tages, bekam ich von Alice die Matrize mit genauer Gebrauchsanweisung. Es sollten weitere folgen.« »Eine Art Kursus für Anfänger und Fortgeschrittene«, bemerk43 �
te Butch. »Erinnert mich irgendwie an den Nürnberger Trichter. Wie lange war Dan Pullman schon tot, als du in den Besitz der ersten Matrize gelangtest?« »Vielleicht drei Wochen?« »War dir bekannt, daß die ›Leute‹ Pullman töten würden, um vorzeitig an seinen, ihnen vermachten Kopf heranzukommen?« »Nein. Allerdings habe ich mir so etwas gedacht.« »Du hast also billigend Dan Pullmans gewaltsamen Tod in Kauf genommen, um in den Besitz seines enormen Fachwissens und – mehr noch – seines eklatanten Geruchsvermögens zu kommen! Dafür gehörst du eigentlich gemaßregelt, Horace«, verkündete Clanton mit hohler Stimme. »Aber wir lassen dich laufen, sofern du uns sagst, wer die ›Leute‹ sind und wo wir sie finden können.« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Soane. »Ich schwöre es. Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir? Es gibt viele andere, die sich der Dienste der Genossenschaft der Hirnlinge bedient haben. Politiker, Neureiche und viele andere.« »Werde konkret, Horace«, mahnte Butch. Soane hob die schmalen Schultern. Sie waren nicht viel breiter, wie eine Flunder zwischen den Augen ist. »Etwas Genaues weiß ich nicht.« »Dann halte gefälligst dein Maul… Das Haus hat schon einen Müllschlucker!« Rivel wandte sich an Clanton. »Pack die Matrize ein, Jason. Sie geht als Beweismittel an Scottland Yard. Das Abspielgerät machst du unbrauchbar.« »Okay, Jan. Bin schon unterwegs«, sagte Clanton und ging in die Ecke mit dem Abspielgerät. »Zurück zu dir«, fuhr Rivel zu Soane gewendet fort. »Wir werden dich vorerst in Ruhe lassen. Solltest du aber versuchen, mit den Hirnlingen Verbindung aufzunehmen, um sie vor uns zu warnen, kommen wir zurück und lassen dich über die Klinge 44 �
springen.« »Wenn Sie gestatten, werde ich ein paar Sachen packen und für eine Weile nach Irland verschwinden, wo ich Verwandte habe«, versprach Soane. Ihm war anzusehen, daß es ihm damit ernst war. Die Matrize wohl verpackt, verließen Clanton, Wigmore und Rivel schließlich Soanes Wohnung, um nach London City zurückzufahren. * Es war gar nicht so einfach, bis zu Walt Navenby vorzudringen, der im Kosmetikraum seines Bestattungsunternehmens eine Tote schminkte, bis sie wie das blühende Leben aussah. »Gentlemen, ich muß doch sehr bitten«, näselte der Bestatter vorwurfsvoll. Er trug eine rote Gummischürze über dem weißen Kittel und hatte eine Art Tuschekasten in der Hand, dessen Karmesinrot die am meisten beanspruchte Farbe war. »Kommen Sie heraus, oder möchten Sie, daß wir uns hier mit Ihnen unterhalten?« fragte Rivel kalt und ohne auf die Proteste der Angestellten zu hören, die hinter ihm stand und ihnen notgedrungen den Weg in diese Kellerräume gewiesen hatte. »Sind Sie vom Yard?« fragte Navenby. Seine melancholischen Hundeaugen flackerten unsicher. Ausdruck seines schlechten Gewissens? Clanton grinste breit. »Wir sind von der Army, Walt«, erklärte er. »Mein Freund hat dich etwas gefragt!« »Worum handelt es sich?« »Um Dan Pullman aus Greenwich«, antwortete Butch. »Okay, ich komme. Führen Sie die Herren in den Kondolenzraum, Elisa. Ich komme gleich nach.« »Aber nicht vergessen«, mahnte Butch. 45 �
»Folgen Sie mir bitte«, sagte die Angestellte mit säuerlicher Miene. Sie war pummelig wie ein Stoffbär, trug von Berufs wegen ein schwarzes Kostüm und das haselnußbraune Haar im Herrenschnitt. Sie gingen wieder nach oben und nahmen in dem Raum Platz, wo Navenby die Hinterbliebenen individuell zu beraten pflegte. Der Bestatter kam zehn Minuten später. Seinen Kittel hatte er ausgezogen. Sein schwarzer Binder saß so korrekt wie die einstudierte Leichenbittermiene. »Nun, Gentlemen«, begann er, nachdem er seine Angestellte hinausgeschickt hatte. »Was kann ich für Sie tun?« »Sie können uns sagen, ob Sie Mr. Pullman, bevor er eingesargt wurde, den Kopf genommen haben, oder ob es einer der ehrenwerten Herren von der Genossenschaft gewesen ist«, begann Jan Rivel. »Aber Sir, davon kann doch nicht die Rede sein! Ich habe lediglich Mr. Pullmans Schädel trepaniert und ihm das Großhirn entnommen, das er posthum einem wissenschaftlichen Institut vermacht hat.« »Sie als Bestatter sind nicht befugt, Ihren Kunden Organe zu entnehmen. Wie kommen Sie überhaupt dazu?« fragte Rivel empört. »Ich tat es aus reiner Gefälligkeit, Sir.« »Nicht für Geld?« wollte Butch Wigmore wissen. »Nun, ich habe eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten.« »Wieviel?« »Fünfhundert Pfund.« »Machen Sie diese schrecklichen Eingriffe öfter, Mr. Navenby?« »Wo denken Sie hin!« »Es war also das erstemal?« »Fast das erstemal, Sir. Was tut man nicht alles für die Wissen46 �
schaft? Sie dürfen mir da keinen Strick draus drehen.« »Haben Sie Mr. Pullmans Gehirn überbracht?« »Nein, die junge Lady holte es ab. Sie hatte alles Notwendige für den Transport dabei. Gefrierbox, ein Spezialliquor, Sauerstoff und einen schnellen Wagen.« »Sie sprechen von Alice Ridley, nicht wahr?« »Warum fragen Sie mich, wenn Sie es eh schon wissen?« Navenby warf Jan Rivel einen ärgerlichen Blick zu. »Wann haben Sie Miß Ridley zuletzt gesehen?« »Gestern erst, Sie brachte mir einen Scheck.« »Gestern? Das kann nicht sein. Miß Ridley ist tot«, sagte Rivel, dessen Herz hart gegen die Rippen schlug. »Tote überbringen keine Schecks, Sir. In meiner Eigenschaft als Bestatter werde ich doch wohl wissen, wann ein Mensch tot ist und wann nicht. Miß Ridley machte auf mich einen quicklebendigen Eindruck.« »Wo wohnt Miß Ridley«, fragte Clanton. »Nicht die leiseste Ahnung«, antwortete Navenby. »Wofür war der Scheck gedacht?« setzte Wigmore die Vernehmung des Bestatters fort. »Für eine ganz bestimmte Gewebeprobe.« »Hat Miß Ridley Ihnen gesagt, wann sie wieder kommt?« »Nein, mit keinem Wort. Sie hatte es eilig, fortzukommen.« »Erzählen Sie uns etwas über das ›wissenschaftliche Institut‹«, forderte Clanton den Bestattungsunternehmer auf. »Ich weiß so gut wie nichts darüber, Sir. Nicht mal, wo es sich befindet«, beteuerte Navenby. »Erinnerlich ist mir nur das, was Miß Ridley eher beiläufig erwähnte.« »Nämlich?« »Daß das Institut den Geheimnissen des Lebens auf der Spur sei. Sie sprach von künstlich geschaffenen Bakterien, mit ganz bestimmten Anweisungen programmiert. Sie sollen unter ande47 �
rem in der Lage sein, menschliches Erbgut zu verändern und beinahe jede Zelle spontan milliardenfach zu vermehren.« Clanton und Rivel wechselten einen bedeutsamen Blick miteinander. Dann fragte Rivel im Gedanken an die Mischwesen: »Hat Miß Ridley zufällig auch etwas über Falschinformationen und den daraus resultierenden Mißbildungen verlauten lassen?« Navenby dachte nach und schüttelte seinen Kopf. »Ich wüßte nicht, Sir. Jedenfalls ist mir eine solche Äußerung von ihr nicht erinnerlich.« »Was machen wir mit ihm?« fragte Butch Wigmore, während er mit dem Kinn auf den Bestatter deutete. »Am liebsten möchte ich ihn in einen seiner Container für sterbliche Hüllen legen.« Navenby erbleichte und sah Rivel an, der sich räusperte und bestimmte: »Wir lassen Mr. Navenby in Ruhe, wenn er uns verspricht, zukünftig keine Organe und Gewebeteile an das besagte Institut mehr zu liefern. Andernfalls hetzen wir ihm Scotland Yard auf den Hals, was zumindest den Entzug seiner Lizenz bedeuten würde… Etwas anderes, Navenby.« Rivel zeigte auf das Telefon auf dem Schreibtisch. »Gestatten Sie, daß ich ein Gespräch führe?« »Bitte, Sir«, sagte der Bestatter, der sichtlich erleichtert war. »Okay, dann warten Sie bitte draußen, bis ich telefoniert habe. Butch, begleite Mr. Navenby.« »Wird gemacht«, sagte Wigmore und forderte Navenby auf, ihm zu folgen. * »Mit wem willst du telefonieren, Jan?« fragte Clanton stirnrunzelnd. »Mit Colonel Bacon«, antwortete Rivel und drehte bereits die 48 �
Anschlußnummer seines Strafverteidigers in Lincoln. Henry Bacon war im Haus und kam persönlich an den Apparat. Als er hörte, mit wem er sprach, tobte er: »Rivel, sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Was haben Sie sich dabei gedacht, als Sie mit den drei Galgenvögeln aus Camp Baumder-Prison ausbrachen? Ich kann unter den gegebenen Umständen nichts mehr für Sie tun und habe deshalb Ihre Verteidigung niedergelegt.« »Das ist zwar bedauerlich, jedoch nicht zu ändern, Colonel«, entgegnete Rivel, der die Ruhe selbst war. »Meine Kameraden Potter, Clanton und Wigmore unterstützen mich tatkräftig in dem Bemühen, meine Unschuld zu beweisen. Sie haben die Bezeichnung ›Galgenvögel‹ nicht verdient. Ich kann Ihnen versichern, daß uns jetzt bereits Ermittlungsergebnisse vorliegen, die meinen angeblichen Mord an Miß Ridley ad absurdum führen.« »Wenn Sie tatsächlich Entlastungsmaterial sammeln konnten, so stellen Sie sich der Polizei, und ich will sehen, was ich für Sie tun kann. Nehmen Sie doch Vernunft an, Jan!« »Tut mir leid, Colonel. Ich denke nicht daran, mich den Behörden zu stellen. Die vierzehn Tage in Camp Baumder haben mir gereicht… Aber lassen Sie mich auf den Grund meines Anrufs kommen: Wurde Miß Ridleys Leiche autopsiert?« »Nein, warum sollte sie? Die Todesursache steht doch einwandfrei fest«, antwortete Bacon verwundert. »Dann kann ich von der Annahme ausgehen, daß Miß Ridleys Leiche inzwischen von der Staatsanwaltschaft freigegeben wurde?« »Das ist richtig.« »Wurde sie bereits zur letzten Ruhe gebettet?« »Ja, schon vor zehn Tagen. Was soll diese Fragerei, Jan?« »Sagen Sie mir bitte, wo Miß Ridley bestattet wurde, Colonel.« »Auf dem Friedhof von Timberland. Das ist ein kleines Dorf 49 �
unweit des Flusses Witham. Eine alte Tante von ihr wohnt dort.« »Danke, Colonel. Das wollte ich von Ihnen wissen. Ich lasse zu gegebener Zeit von mir hören.« »Hallo, so hören Sie doch!…« Rivel hatte den Hörer bereits in die Gabel zurückgelegt. Er sah Clanton an, der nachdenklich seine Schuhspitzen betrachtete. »Du ahnst bestimmt, was ich vorhabe, oder?« Clanton hob den Kopf und grinste. »Du willst uns zu Grabschändern machen.« »Es muß sein, Jason! Das begreifst du doch. Navenby behauptet, Alice gestern noch gesehen und gesprochen zu haben. Ich nehme ihm das unbesehen ab. Folglich erhebt sich die Frage, wer nun in der Gemeinde Timberland begraben liegt.« »Eine Kopie von Miß Ridley, was denn sonst?« »Das ist auch meine Vermutung. Deshalb bin ich dafür, daß wir uns Gewißheit verschaffen.« »Okay, wann fahren wir nach Timberland?« »Wenn wir gleich losfahren, könnten wir uns kurz nach Mitternacht an die Arbeit machen.« In diesem Augenblick betrat Wigmore den Kondolenzraum. »Können wir wieder hereinkommen?« fragte er. »Natürlich«, sagte Rivel. Er wühlte in seinen Taschen nach Kleingeld und fragte den Bestatter, der hinter Wigmore hertrottete: »Was schulde ich Ihnen für das Gespräch, Walt?…« * Es wurde Mitternacht. Sturm und Regen begünstigten das Vorhaben der vier Freunde. Noch in London hatten sie Schaufeln, Hacken, Taschenlampen, einen ausreichenden Vorrat an Batterien und eine Sofortbildka50 �
mera mit Blitzlichtgerät gekauft. Als der zwölfte Schlag der Kirchturmuhr verhallte, schwang Jan Rivel sich als erster auf die brüchige Friedhofsmauer. Er legte sich flach auf die Mauerkrone und ließ seine Augen über das Gräberfeld wandern. Ein kräftiger Nordwestwind brach sich hohl an den Grabsteinen und Kreuzen. Unweit von ihnen klagte ein Käuzchen. Ab und zu trat der bleiche Mond hinter den Wolken hervor und verlieh den Schatten der Nacht ein beklemmendes Eigenleben. Rivel ließ sich von Wigmore den Seesack mit den Geräten reichen und rief den Freunden leise zu, daß alles in Ordnung wäre. Während er den Seesack auf der anderen Seite der Mauer an einer Leine zu Boden ließ, jumpten Wigmore, Clanton und Potter gelenkig über das Hindernis. Clanton erbot sich, die Spitze zu übernehmen. Dann bewegten sie sich auf der Suche nach Miß Ridleys Grab, dem neueren Teil des Bestattungsfeldes zu. Der Boden war vom Regen aufgeweicht und schlüpfrig. Obwohl die Luft frisch war, haftete ihr unverkennbar der Geruch der Verwesung an. Potter eckte irgendwo an. Als er sich nach dem Gegenstand bückte, hielt er einen alten Totenschädel in der Hand, den er schnell fallen ließ. Clanton blieb so plötzlich stehen, daß Wigmore, der hinter ihm ging und nicht aufgepaßt hatte, auflief und leise zu fluchen begann. »Hier, gleich links. Ein relativ frisches Grab«, raunte Clanton, griff nach einer Kranzschleife und leuchtete sie kurz mit der Taschenlampe an, um zu lesen: ›Ruhe in Frieden, Alice Ridley. Ich werde Dich nie vergessen. Deine Tante Hazel.‹ »Butch, du hältst mit Roul Wache, während Jason und ich die Kränze beiseiteschaffen und buddeln«, entschied Rivel, der es 51 �
möglichst schnell hinter sich bringen wollte. Während Wigmore und Potter ihre Maschinenpistolen hervorholten und sich hinter den nächsten Büschen postierten, trug er mit Clanton die wenigen Kränze zur Seite. Dann holten sie die Hacken und Schaufeln aus dem Seesack. Obwohl es nach wie vor in Strömen regnete, ging ihm die Arbeit flott von der Hand. Es dauerte deshalb auch keine halbe Stunde, da stieß Rivels Schaufelblatt gegen ein hartes, dumpf widerhallendes Hindernis. Die beiden verdoppelten ihren Einsatz und hatten wenig später den Deckel des Sarges freigelegt. Clanton wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Einer von uns wird wohl hinunter müssen, um die Sargverschlüsse zu lösen«, sagte er. »Ich gehe«, sagte Rivel, mit einem Anflug von Mut. »Schließlich ist es meine Leiche. Du kannst inzwischen Roul Bescheid sagen, daß er die Kamera bereithält.« »Wird gemacht.« Clanton rief leise nach Potter, der schattengleich neben ihnen auftauchte und die Kamera aus dem Seesack holte, um sie schußbereit zu machen. Rivel wischte sich die lehmverschmierten Hände an der Arbeitshose ab und begann mit dem Abstieg. Er löste vorsichtig die Sargverschlüsse, verschaffte sich im Anschluß daran einen festen Halt und hob den Deckel so weit, daß Clanton und Potter ihn zu fassen kriegten und ihn hochkant hinter dem Sarg abstellen konnten. Den Atem gestaut, schaltete Rivel seine Taschenlampe ein. Ihr kreidiges Licht fiel auf eine junge Lady im langen weißen Totengewand. In ihren gefalteten Händen lag ein kleiner Blumenstrauß, bereits verwelkt. Das aschblonde Haar der Toten floß in weichen Linien auf die schmalen Schultern herab. Das Gesicht war von durchscheinender Blässe und überirdisch schön. Deut52 �
lich waren die dunkelblauen Würgemale an ihrem Hals unterhalb des Kinns zu erkennen. Rivel spürte grenzenlose Traurigkeit. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte. Die Tote war Alice Ridley! »Nun, was ist, Jan?« ließ Clanton sich schließlich vernehmen. »Es ist Miß Ridley«, rief Rivel hinauf. »Hast du sie dir auch genau angesehen?« »Ja, natürlich.« »Soll ich Fotos machen?« fragte Potter. »Wozu?« fragte Rivel niedergeschlagen zurück. »Ich habe einen hohen Einsatz riskiert und verloren! Kommt, helft mir den Sarg zu schließen…« »Immer sachte, Jan«, sagte Clanton. »Wir sind doch davon ausgegangen, daß Miß Ridleys Kopie hier bestattet wurde. Ein zellularer Aufbau ihrer selbst sozusagen.« »Ich habe mich eben getäuscht«, sagte Rivel. »Eine Kopie kann einfach nicht so vollkommen sein.« »Wie war das mit den Mischwesen in Mrs. Trims Wohnung?« ließ Clanton nicht locker. »Erinnerst du dich, Jan? Wir schossen auf die drei Biester mit den Hummerscheren als Greifwerkzeuge. Unmittelbar darauf verwandelten sie sich in eine reglose Zellmasse zu einem dünnflüssigen Brei.« »Aufgrund einer genetischen Information«, sagte Rivel. »Sie waren eben darauf programmiert.« »Das mag zutreffen, was die Fähigkeit des Zellbreis angeht, die Wände hinaufzufließen und durch den Abfluß des Spülbeckens zu verschwinden, um sich einer eventuellen Analyse zu entziehen. Was ich sagen möchte ist, daß möglicherweise eine von außen einwirkende Gewalt, wie eine Schußverletzung zum Beispiel, Mischwesen und Körperkopien schlagartig ihren strukturellen Zellaufbau verlieren läßt.« 53 �
»Jason hat recht«, meinte Potter. »Ich sehe die Sache genauso.« »Und was soll ich eurer Ansicht nach tun?« begehrte Rivel zu wissen. »Aus dem Grab herauskommen, damit ich einen Schuß auf die Leiche abgeben kann«, antwortete Clanton entschlossen. Er hatte sich von Wigmore die Maschinenpistole geben lassen und lud sie durch. »Den Tatbestand der Leichenschändung zu allem Überfluß lasse ich nicht zu«, entgegnete Rivel bestimmt. »Jan, das ist die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob Miß Ridley vor uns liegt, oder eine Kopie von ihr«, sagte Potter beschwörend. »Komm aus dem Grab, oder leg deinen Oberkörper ein wenig nach rechts, damit du Jason nicht in die Schußlinie gerätst.« »Nein, ich dulde nicht, daß auf die Tote geschossen wird«, beharrte Rivel. »Wie willst du dich sonst von dem Verdacht befreien, ein Mörder zu sein?« fragte Potter hitzig. »Nun mach schon Platz!« Das Hin und Her ging noch eine Weile fort. Von den anderen unbemerkt, hatte Butch Wigmore schließlich sein schweres Taschenmesser gezogen, es aufgeklappt und in der Hand zum Wurf ausgewogen. Erst als die Klinge wie ein fahler Blitz dicht über Rivels linken Unterarm hinwegzischte, um der Toten bis zu den Griffschalen ins Herz zu dringen, hörten Rivel, Potter und Clanton zu streiten auf. Alle vier glaubten einen leichten dumpfen Knall zu hören, als ob ein unter Spannung stehendes Gefäß geborsten wäre. Freudige Überraschung und namenloses Grauen hielten sich in ihnen die Waage, als sie sahen, daß mit Miß Ridleys Leiche eine Veränderung vor sich ging. In wenigen Sekunden zerfloß ihr Gesicht. Ihr aschblondes Haar löste sich auf. Die Hände verblaßten wie auf einer alten Fotografie von Daguerre. Das Totenhemd 54 �
zeigte große nasse Flecken; unten floß ein Zellbrei aus vielen anorganischen und organischen Substanzen, der milchigweiß verdunstete. Oben stand Potter und machte ein Foto nach dem andern. Als die Filmkassette in der Sofortbildkamera nichts mehr hergab, war ›Miß Ridley‹ verschwunden und der Beweis erbracht, daß es sich nie um ihre Leiche gehandelt hatte, sondern um eine täuschend ähnliche Zellkopie, auf die sogar die Beamten der Mordkommission hereingefallen waren! Rivel stieß einen Jubelschrei aus. Er sprang aus der Grube und umarmte Wigmore, der die Initiative an sich gerissen und somit den Makel des Mörders von ihm genommen hatte. Potter und Clanton schlossen den Sarg und schaufelten ihn zu. Sie hatten gerade die Kränze auf den Grabhügel gelegt, als Wigmore plötzlich einen leisen Schrei ausstieß und mit ausgestreckter Hand auf eine nahe Buschgruppe zeigte. Die Männer drehten sich um und verspürten erneutes Grauen. Vor den Büschen stand eine schwarze Gestalt, wie sie unheimlicher nicht sein konnte… * Langsam schwebte die Gestalt näher. Von einer Kapuze gerahmt, ein knochiges Gesicht, wie mit Pergament überzogen. Ein funkelndes Augenpaar und ein zahnloser Mund schienen von einer grünlichen Aura umgeben. Aus weiten Ärmeln des bodenlangen Mantels ragten dürre Knochenhände mit spitz auslaufenden Fingernägeln. Jason Clanton faßte sich als erster. Er richtete den vollen Schein seiner Taschenlampe auf die gespensterhafte Erscheinung, die sich zu ihrer bodenlosen Erleichterung als eine alte Frau entpuppte, die mit hoher dünner Fistelstimme das Wort an Potter 55 �
richtete: »Was habt ihr Halunken am Grab meiner Nichte zu suchen?« »Sie sind Miß Ridleys Tante Hazel?« fragte Rivel. »Ja, und wer seid ihr?« krächzte die Alte. »Ich habe gesehen, wie ihr das Grab meiner Nichte zugeschaufelt habt. Dafür Hölle und Verdammnis über euch!« »Bitte fassen Sie sich«, sagte Rivel. »Freuen Sie sich mit uns. Alice lebt! Sie ist nicht tot!« Hazel Ridley legte die rechte Hand hinter das linke Ohr. »Was sagen Sie da? Alice soll nicht tot sein?« »Sie lebt«, verkündete Potter enthusiastisch. »Gestern wurde sie noch in London gesehen.« »Und wer liegt im Grab meiner Nichte, wenn nicht Alice?« fragte die alte Frau, mißtrauisch von einem zum andern blickend. »Niemand mehr«, antwortete Wigmore. »Sie, Mrs. Ridley, haben einer menschenähnlichen Kopie ihrer Nichte das Begräbnis gerichtet. Diese Kopie zerfloß zu einem Zellbrei, als ich sie verletzte. Sehen Sie sich bitte diese Fotos an, als Beweis dafür, daß ich die Wahrheit sage.« Butch Wigmore zog die Bilder aus der Tasche und reichte sie der alten Frau. Rivel schützte die Bilder mit seinem Schlapphut vor Regen. Clanton leuchtete sie mit seiner Taschenlampe an. Lange blickte Hazel Ridley auf die Fotos. Als sie den Blick ihrer eingesunkenen Augen auf Wigmore zurückholte, sagte sie voll Abscheu und Zorn: »Ich habe mir doch gleich gedacht, daß James mit seinen frevlerischen Machenschaften dahintersteckt.« »Wer ist James?« fragte Clanton hellhörig. »Mein Bruder: Alices Onkel. Er vertritt Vaterstelle an dem Mädchen und hat sie in Australien zur Gen-Ingenieurin ausgebildet.« 56 �
»Ihr Bruder ist Gen-Ingenieur?« fragte Potter. »Er ist Molekularbiologe. Bis vor zwei Jahren war er am Institut für Zellphysiologie in Melbourne tätig. Dann ist er mit Alice und seinem engsten Mitarbeiter Frederic Baxter nach Großbritannien zurückgekehrt. Wie ich mit Schaudern aus den Fotos ersehe, ist es ihm möglich, genetisch identische menschliche Kopien herzustellen…« »Jawohl, auf dem Gebiet genetischer Variationen scheint Ihr Bruder James einsame Spitze zu sein, Madam«, sagte Potter ironisch. »Wissen Sie, warum er, Alice und sein engster Mitarbeiter Baxter Australien den Rücken gekehrt haben?« »Ich denke, ein Forschungsauftrag hier in England war der Grund«, antwortete Hazel Ridley. »Jedenfalls sagte Alice so etwas, als sie mich vor einem halben Jahr besuchte.« »Ist Ihnen bekannt, wo Ihr Bruder James seiner Forschungsarbeit nachgeht?« fragte Rivel, der auf die Antwort der Unheimlichen gespannt war. »Möglicherweise im Haus unseres vor Jahren gestorbenen Bruders Ron, des leiblichen Vaters von Alice. Er war Farmer in der Gegend von Baston on-the-Hill, wenn Sie wissen, wo das liegt. Farm und Haus gehören heute meiner Nichte.« »Ihr Bruder James hat in der Tat bis vor wenigen Tagen dort experimentiert«, sagte Rivel. »Können Sie uns etwas über ein mögliches Ausweichquartier sagen, Mrs. Ridley?« »Leider nein. Ich habe mich nie um James’ Angelegenheiten gekümmert. Wir mochten uns nicht sehr.« Fröstelnd hob Hazel Ridley die dürren Schultern. Für sie schien das Thema abgeschlossen zu sein. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Gentlemen, wenn Sie mich nach Hause bringen würden.« »Selbstverständlich«, sagte Clanton. »Erlauben Sie uns bitte eine letzte Frage: Was veranlaßte Sie, bei diesem Mistwetter auf den Friedhof zu gehen?« 57 �
»Nennen Sie es eine innere Stimme oder wie Sie wollen«, raunte die alte Frau, drehte sich um und schritt den morastigen Weg entlang, der sie zum Friedhofausgang führte. * Ein weiteres Opfer des Molekularbiologen James Ridley hieß Hank Davis, wohnhaft Dartmoor. Zwei Tage nach ihrer nächtlichen Buddelei auf dem Friedhof von Timberland trafen die vier flüchtigen Army-Angehörigen gegen 7.00 Uhr morgens in Dartmoor ein, um festzustellen, daß Davis’ Adresse mit der des berüchtigten Zuchthauses von Dartmoor identisch war. Butch Wigmore parkte den Wagen unweit der Zuchthauspforte und bemerkte sarkastisch: »Erhebt sich nun die Frage, ob Hank Davis Insasse von Dartmoor ist oder Bediensteter. In beiden Fällen dürfte es verdammt schwierig sein, an ihn heranzukommen.« »Ja, das ist dumm«, schloß Roul Potter sich Wigmores Meinung an. »Oder hat jemand von euch Lust, an der Zuchthauspforte zu fragen, wo Hank sein Gehirn gelassen hat?« »Seht mal«, rief Jason Clanton plötzlich. »Da wird gerade einer entlassen.« Die Männer blickten durch die Windschutzscheibe nach vorn. Tatsächlich hatte sich die kleine Eisentür neben dem großen Haupttor geöffnet. Ein älterer hagerer Mann im nagelneuen Fürsorgeanzug, einen Pappkarton an der linken Hand, trat zögernd aus dem Zuchthausbereich ins Freie und blickte wie ein Erwachender in die Gegend, während die Tür hinter ihm von einem uniformierten Beamten geschlossen wurde. »Fahr schon los«, zischte Clanton Wigmore zu. »Wir nehmen den Exhäftling ein Stück des Weges mit. Vielleicht kann er uns sagen, was es mit diesem Hank Davis für eine Bewandtnis hat.« 58 �
Wigmore ließ den Wagen anrollen. Hundert Yard weiter hielt er neben dem Hageren, kurbelte das Seitenfenster hinunter und sagte zu ihm in kumpelhaftem Ton: »Steig ein, old Chap, oder willst du noch länger Maulaffen feilhalten?« Mißtrauisch bückte der Mann auf die vier Insassen des Fahrzeuges. Er räusperte sich und erwiderte rauh: »Sollte Ellington, der Hehler, euch geschickt haben, so seid ihr umsonst gekommen. In Zukunft packe ich keinen Tresor mehr an. Erst recht nicht für ihn! Die zwölf Jahre, die ich für den letzten Bruch bekommen habe, reichen mir!« »Wir kommen nicht von Ellington, kennen ihn nicht mal«, ließ Jan Rivel sich vernehmen. »Wir sind lediglich an einigen Auskünften über Hank Davis interessiert. Brauchbare Informationen lassen wir uns auch etwas kosten. Sie kennen doch, Hank?« »Klar kenne ich Macken-Davis. Wo fahrt ihr hin, Jungs?« fragte der Hagere launig. »Ich bin Frank Davenport, genannt, Frank der Schränker.« »Mal so gefragt, Frank: Wohin möchtest du denn?« »Wenn’s geht nach London. Meine Schwester Betty lebt dort. Die Gute hat sich bereit erklärt, mich aufzunehmen.« »Okay, Frank, steig hinten ein! Wir bringen dich zu deiner Schwester in London«, sagte Rivel freundlich und öffnete dem Mann den Wagenschlag. Davenport setzte sich zu Potter und Clanton auf die hintere Sitzbank. Seinen Pappkarton nahm er auf die Knie. Er atmete tief durch, streifte die hohe Außenmauer des Zuchthauses mit einem erleichterten Blick und sagte zu Wigmore: »Gib Gas, Sonny! Diese Bruchbude kann mir nicht schnell genug aus den Augen kommen…« »Tu mein Bestes«, sagte Butch, wendete den Wagen und fuhr über die holperige Straße nach Moretonhampstead zurück. 59 �
Clanton gab Davenport eine Zigarette und ließ ihn die ersten Züge in Freiheit ausgiebig genießen. Nachdem Frank die Zigarette zur Hälfte geraucht hatte, kam er von selbst auf das Thema Davis zurück. »Sie haben mich nach Macken-Davis gefragt. Ob der Junge gut daran getan hat, sich mit einer Einwilligung zu dem medizinischen Experiment eine Haftverkürzung einzuhandeln, wage ich stark zu bezweifeln.« »Was weißt du von diesem Experiment, Frank?« fragte Jan Rivel. »Warum sitzt Hank in Dartmoor ein?« »Davis verbüßt eine lebenslängliche Zuchthausstrafe wegen Mordes. Er hat seine Freundin umgebracht. Sicher habt ihr von seinem Fall gehört: ›Geheimdienstagent tötet Nachtklubsängerin‹. Das war Hank.« »Ich erinnere mich schwach. Das muß vor drei oder vier Jahren gewesen sein«, sagte Roul Potter. »Jawohl, vor dreieinhalb Jahren«, bestätigte Davenport. »Eines Tages wurde Hank zum Direktor gerufen. Ich weiß deshalb so genau Bescheid, weil er mir hinterher alles erzählt hat und ich Kalfaktor im Gefängnislazarett war. Einige führende Geheimdienstleute und Army-Offiziere schlugen Hank vor, sich für ein medizinisches Experiment zur Verfügung zu stellen. Es ginge ihnen darum festzustellen, sagten sie, ob es möglich sei, sein geheimdienstliches Wissen aus den Tiefen seines Unterbewußtseins zu holen.« »Also ein Experiment mit Hanks Gehirn, oder ein stereotaktischer Eingriff«, warf Jason Clanton ein. »Genau das«, bestätigte Davenport eifrig. »Man sagte Hank für den Fall seiner Einwilligung zu, ihm eine Amnestie zu gewähren. Das heißt, ihm den Rest der Strafe zu erlassen.« »Natürlich willigte Davis ein«, konstatierte Potter. »Wer hätte das an seiner Stelle nicht getan, Buddy, frage ich 60 �
dich?« »Und wie ging es weiter?« »Eines Tages holten sie Hank mit einem Ambulanzwagen ab.« »Wann war das?« »Na, ich würde sagen, vor neun Monaten. Vier Tage später, nachdem sie ihn abgeholt hatten, brachten sie ihn wieder. Hank wurde auf meine Krankenabteilung gelegt und trug einen weißen Verband um den Kopf. Hank hatte sich völlig verändert. Äußerlich und in seinem Wesen. Er starrte stundenlang apathisch vor sich hin und behauptete in den wenigen lichten Momenten, die er hatte, daß man ihm sein Gehirn gestohlen habe.« »Was war mit der ihm zugesagten Entlassung?« fragte Butch Wigmore, ungeachtet dessen, daß er im rasanten Tempo einen Lastwagen überholte. »Davis sitzt noch immer in Dartmoor«, stieß Davenport voll Haß hervor. »Jetzt sagen die Knastärzte, er wird erst dann entlassen, wenn es ihm ›körperlich und seelisch‹ besser geht.« »Was sagt Davis dazu?« »Was soll er schon groß dazu sagen? Wenn er seinen aggressiven Turn drauf hat, tobt er und will jedem an den Kragen. Eines Tages – aber diese Story kommt euch teuer zu stehen, Jungs!« »Wieviel?« fragte Rivel. � »Na, sagen wir hundert Pfund.« � »Gib sie ihm, Jason«, wandte sich Rivel an Clanton und bat Davenport fortzufahren. »Eines Tages also machte Hank mir einen interessanten Vorschlag. Ich sollte herausfinden, was mit seinem Gehirn los sei.« »Wie ›herausfinden‹?« »Und vor allen Dingen wie«, fügte Potter den Worten Clantons an. »Na, mit einer Röntgenkontrastdarstellung natürlich.« »Aber Sie haben doch keine Ahnung davon«, warf Rivel ein. 61 �
»Wenn Sie neun Jahre im Zuchthauslazarett beschäftigt sind, kennen Sie sich hinterher besser aus als der Knastarzt selbst«, erklärte Davenport mit nachsichtigem Lächeln. »Und haben Sie Davis’ Kopf geröntgt?« fragte Clanton mit angehaltenem Atem. »Jawohl, habe ich, nachdem Hank mir fünfhundert Pfund hingeblättert hatte.« »Wie, um Himmels willen, kommt Davis in Dartmoor an fünfhundert Pfund, Frank?« »Wie kommt Biomasse von der Kuh aufs Dach?« fragte Davenport zurück. »Also, ich machte eine Luftdarstellung seiner Hirninnenräume, und was glauben Sie, was ich auf den Szintigrammen sah?… Sozusagen die stark vereinfachte ›Volksausgabe‹ eines menschlichen Gehirns! Es war wesentlich kleiner als Hanks angeborenes Gehirn, hatte weniger Furchen und Windungen, und man konnte deutlich die Verbindungsnähte zum Rückenmark und zu den Nerven- und Blutgefäßen sehen. Kurzum: Hanks Gehirn glich dem eines Primaten. Sein Leistungsvermögen beschränkte sich auf das unbedingt Notwendige.« »Haben Sie Hank gesagt, daß man ihm ein künstliches Ersatzgehirn eingepflanzt hat?« fragte Rivel mit vor Empörung heiserer Stimme. Davenport erbat sich eine Zigarette. Seine Antwort kam stockend und leise: »Nein, ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht. Ich gab Hank sogar die fünfhundert Pfund zurück und sagte ihm, daß mit seinem Gehirn alles in bester Ordnung sei. Es brauchte nur ein wenig Zeit, um sich von den Strapazen des Eingriffs zu erholen.« »Hat Hank es Ihnen abgenommen?« »Ich hatte den Eindruck, er klammerte sich geradezu an meine Worte.« 62 �
»Konnte Hank sich an seine geheimdienstliche Tätigkeit zurückerinnern?« »Keine Spur. Sein Gedächtnis ist wie ein Sieb«, erklärte Davenport. »Früher war Hank ein brillanter Denker und Analytiker. Er überflog mit den Augen eine Buchseite und konnte sie, Wort für Wort, Satz für Satz herunterrasseln. Heute muß er seinen kargen Zuchthausverdienst unter Zuhilfenahme seiner zehn Finger ausrechnen, wird er mit einfachen Sortierarbeiten beschäftigt.« Davenport schüttelte sich, als ob er das Grauen, das ihn gefangen hielt, von sich abschütteln wollte. »Reden wir von etwas anderem«, sagte er plötzlich mit hektischer Betriebsamkeit. »Verratet mir, Jungs, wie die Girls heutzutage sind. Ich habe mir sagen lassen, bei weitem nicht mehr so wie vor zwölf Jahren…« * Tags darauf sprachen die vier Freunde auf der Flucht bei der Familie Keller in Maidstone vor. Gordon Kellers Anschrift war die vierte und letzte, die Jan Rivel sich in dem unheimlichen Haus bei Baston on-the-Hill hatte notieren können.. Da sie alle vier keine passionierten Schachspieler waren, war ihre Überraschung groß, als sie erfuhren, daß Gordon, obwohl erst sechzehnjährig, schon britischer Schachgroßmeister war. Davon hatte nichts auf der Karteikarte der Apparatur mit Gordons Gehirn gestanden. Mrs. Keller machte auf sie einen verhärmten Eindruck. Sie war etwa vierzigjährig und ging beträchtlich in die Breite, was darauf schließen ließ, daß sie seelischen Kummer mit Freßorgien kompensierte. »Ich wußte, daß es einmal soweit kommt«, sagte Mrs. Keller leise, die ihre Besucher für Polizeibeamte hielt. »Kommen Sie 63 �
herein! Ich werde ein Geständnis ablegen.« Die vier dachten nicht daran, den Irrtum zu korrigieren. Im Gegenteil! Sie gaben sich betont amtlich. Im Living-Room übernahm Jan Rivel die Befragung der deprimierten Frau: »Am besten, Sie fangen ganz von vorn an, Mrs. Keller«, sagte er einfühlsam. »Darf ich mich setzen?« fragte die Frau. »Natürlich. Das ist Ihr Haus«, sagte Rivel. Der Stuhl ächzte unter ihrem stattlichen Gewicht. Mit leiser Stimme begann sie zu erzählen: »Ihnen dürfte von Amts wegen bekannt sein, daß ich in zweiter Ehe mit Oliver Keller, von Beruf Schausteller, verheiratet bin.« »Ist uns bekannt«, sagte Potter unbestimmt. Er hatte ein Notizbuch aus der Tasche gezogen und machte sich Notizen. »Mein Mann haßte Gordon, und der Junge haßte seinen Stiefvater nicht minder. Als Gordon eines Tages mit einem Messer auf meinen Mann losging, schlug der ihm einen schweren Gehirndefekt an. Daraufhin ließ mein Mann Gordon in eine, wie er sagte, ›Spezialklinik‹ bringen, aus der Gordon nach sechs Wochen als Idiot entlassen wurde. Seit seiner Entlassung steht der vormals superintelligente Junge Tag für Tag auf der zugigen Bühne des Abnormitätenkabinetts meines Mannes. Er bewegt sich roboterhaft, muß sich Nadeln und andere spitze Gegenstände in Brust und Wange stechen sowie andere Torturen über sich ergehen lassen, die von den Zuschauern belacht werden.« »Warum sind Sie nicht dagegen eingeschritten?« fragte Clanton, mühsam beherrscht. »Weil ich die Schläge meines Mannes fürchte«, antwortete Mrs. Keller kaum hörbar. »Insofern bin ich mitschuldig am traurigen Schicksal meines Jungen. Vor vier Wochen erst fielen mir per Zufall Notizen meines Mannes in die Hände. Ihnen entnahm ich mit Schaudern und Entsetzen, daß man Gordon in besagter ›Spe64 �
zialklinik‹ das Gehirn herausoperiert und es durch ein künstliches ersetzt hat!« »Nennen Sie uns den Grund dafür, Mr. Keller«, sagte Butch Wigmore. »Mein Mann hat Gordons Gehirn an eine Computerfirma verkauft! Diese Firma nun hat Gordons Fähigkeiten und enormes Wissen seinem Gehirn abgezapft und programmiert seitdem ihre Schachcomputer der zweiten Generation damit.« »Verteufelt«, entfuhr es Potter. »Besitzen Sie die Aufzeichnungen Ihres Mannes noch?« »Nein, er hat sie mir abgenommen und verbrannt.« »Was hat Ihr Mann für Gordons Gehirn bekommen?« fragte Wigmore. »Hunderttausend Pfund, wovon ihm allerdings dreißigtausend in Rechnung für das neue Gehirn gestellt wurden.« »Bestimmt erinnern Sie sich noch an die genaue Anschrift der Computerfirma, Mrs. Keller?« ergriff Jason Clanton das Wort. »Ja, es ist die Firma Johnson & Johnson Ltd. in Barnet bei London. Verhandlungspartner meines Mannes war ein Gentleman namens Swinburn.« »Als ›Gentleman‹ würde ich ihn gerade nicht bezeichnen«, sagte Jan Rivel ironisch, um die berechtigte Frage nachzuschieben: »Warum sind Sie mit den Aufzeichnungen über das scheußliche Verbrechen Ihres Mannes nicht zur Polizei gegangen, Mrs. Keller?« »Ich sagte es Ihnen doch bereits: Weil ich mich vor meinem gewalttätigen Mann fürchte. Außerdem, wer hätte mir das schon abgenommen? Das mit den ausgetauschten Gehirnen, meine ich.« »Was hat Ihr Mann mit dem Geld gemacht?« fragte Potter. »Er hat das Abnormitätenkabinett erweitert und neu streichen lassen sowie einen neuen Wohnwagen angeschafft.« 65 �
»Wo finden wir Ihren Mann, Mrs. Keller?« »In Southend-on-Sea. Dort ist zur Zeit Jahrmarkt.« »Wieso sind Sie nicht bei ihm?« »Weil mein Mann es vorzieht, seine Geliebte bei sich zu haben, ein junges rothaariges Ding mit lüsternen Augen und sinnlichen Lippen…« »Wir werden uns darum kümmern«, sagte Rivel, der die Welt nicht mehr verstand. »Vorerst müssen wir Sie bitten, zu niemand etwas über unser Gespräch zu sagen! Wir werden später noch mal wegen Ihres Sohnes Gordon auf Sie zukommen.« »Sie verhaften mich nicht?« Mrs. Keller war aufgestanden und blickte verständnislos von einem zum andern. »Wir sehen im Augenblick davon ab«, erklärte Clanton mit wichtiger Miene. »Würden Sie uns jetzt bitte hinausbegleiten?« »Aber gern«, sagte Mrs. Keller nach wie vor verwirrt, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und öffnete die Tür zum Flur. * Es herrschte Trubel und Ausgelassenheit auf der Festwiese von Southend-on-Sea. Kinderkarussells, Riesenrad, Autoscooter und Achterbahn standen hoch in der Publikumsgunst. Aber auch Erfrischungsbuden, Bierzelte, Fisch- und Eisstände erfreuten sich regen Zuspruchs. Vor dem Abnormitätenkabinett gar lauschte eine erwartungsvolle Menschenmenge den reißerischen Anpreisungen des stimmgewaltigen Besitzers im grünfleckigen Frack: »Ladies and Gentlemen! In der ersten Abteilung sehen Sie Samantha, die Dame ohne Unterleib. Jedem meiner verehrten Gäste, der das Fehlen ihres Abdomen in Abrede stellt, steht die Möglichkeit offen, sich durch Anfassen desselben davon zu überzeugen, wo Samantha anfängt und wo sie endet… In der 66 �
zweiten Abteilung, verehrte Herrschaften, präsentieren wir Ihnen Bill und Berti, die Siamesischen Zwillinge aus Schottland in ihrem unnachahmlichen Rüpeltanz, der Sie zu Begeisterungsstürmen hinreißen wird! Zwei stämmige Beinpaare agieren zusammen in einem Schottenkilt, und dreimal dürfen Sie raten, was Bill und Berti darunter tragen…« Der schwergewichtige Schausteller wieselte über die Vorbühne zu einem etwa sechzehnjährigen Jungen, der eine silberglänzende Montur trug, gräßlich geschminkt war und dastand, als ob er einen Ladestock verschluckt hätte. Mit wesenlosem Blick starrte er ins Leere. Keller faßte seinen Stiefsohn bei den Schultern und kantete ihn nach allen Seiten. Dann ließ er sich von seiner rothaarigen Assistentin einen riesigen Pappschlüssel reichen. Zur Gaudi des Publikums setzte er ihn zwischen den Schulterblättern des Jungen an, um ihn wie ein Spielzeug ›aufzuziehen‹. Daraufhin stelzte Gordon roboterhaft über die Vorbühne, umrauscht von den exzessiven Klängen einer Kirmesorgel. Seine Extremitäten und den Kopf bewegte er dabei so ruckartig, daß man sich des unguten Eindrucks nicht erwehren konnte, eine menschenähnliche Maschine vor sich zu haben. Gordon blieb am jenseitigen Bühnenende stehen, um in Reglosigkeit zu verharren, während Keller sein Megaphon hob und fortfuhr: »In der dritten Abteilung sehen Sie Gordon, den Robotmensch! Sie werden staunen und das Bedürfnis haben, ihn kräftig durchzuölen wie eine gute Maschine, die gut funktionieren soll. Er wird weder auf die Verführungskünste meiner hübschen Assistentin Jeanette reagieren, noch auf die spitzen und scharfen Schneidewaren aus Sheffield. Und Sie werden erleben, wie er, mit rotglühenden Zangen gezwackt, bar menschlicher Regungen sein Programm herunterspult… Für das einstündige grandiose 67 �
Spektakel, wie es Southend-on-Sea bis dato noch nicht erlebt hat, zahlen Sie, verehrtes Publikum, nicht hundert, nicht fünfzig, sondern sage und schreibe ganz bescheidene zehn Pence! Kinder und Invaliden die Hälfte… Hereinspaziert, Herrschaften! Die Vorstellung ›Show der Superlative‹ beginnt in wenigen Minuten!« Die Kirmesorgel setzte erneut ein. Kellers Assistentin und Geliebte war in das Tragegeschirr einer dicken Pauke geschlüpft und bearbeitete das Kalbfell unter Zuhilfenahme eines Schlegels. Angewidert blickte Jan Rivel die Kameraden an seiner Seite an. Sie hatten die Waffeln in ihren Händen über dem makabren Schauspiel völlig vergessen und kochten vor Wut und Empörung. »Ich kann mir nicht helfen, Boys, aber ich bin dafür, diesem Schwein eine gehörige Tracht Prügel zu verabreichen.« »Wüßte nicht, was ich lieber täte«, sagte Jason Clanton. »Aber es gibt Polizisten auf der Festwiese. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir auf der Flucht sind.« »Wir sollten uns dennoch den Schausteller vorknöpfen«, meinte Roul Potter, während er einen Mann beobachtete, der zur Kasse des Abnormitätenkabinetts drängte und einen kleinen Kanister mit sich führte. Der Mann bewegte sich ähnlich automatenhaft wie Gordon, der immer noch auf der Vorbühne stand, wenngleich auch mit einer Persenninge abgedeckt wie eine Maschine. »Ich gehe zur Kasse hinauf, wo jetzt Kellers Schnalle sitzt und sage ihr, einige Herren vom Finanzamt wünschten ihn zu sprechen. Und zwar hinter seiner Schaubude. Dort können wir Keller die notwendigen Fragen in bezug auf die ›Spezialklinik‹ stellen, ohne daß uns gleich die Polizei in die Quere kommt.« »Okay, halten wir es so«, sagte Rivel, während er sich die Knöchel seiner Rechten rieb. »Zwitschere ab, Butch… Bis du an der 68 �
Kasse dran bist, haben wir hinter der Abnormitätenbude Aufstellung bezogen.« Wigmore nickte kurz und schloß sich jenen Kirmesbesuchern an, die Kellers Show sehen wollten. Potter, Clanton und Rivel schlenderten weiter, machten hinter den Schießbuden einen Bogen und gelangten schließlich zur Rückseite des Abnormitätenkabinetts. Sie postierten sich am Notausgang, begutachteten den funkelnagelneuen Wohnwagen in den Farben Grün und Weiß und warteten auf Oliver Keller, den Schausteller. Der kam wenig später durch den Notausgang getänzelt und führte sich ganz in der Art eines Schmierenkomodianten auf. Hinter ihm, Butch Wigmore, der in Erwartung der Dinge, die da kommen mußten, unverschämt grinste. Keller dröhnte: »Gentlemen, mein Etablissement ist bis zum letzten Platz ausverkauft. In wenigen Minuten beginnt die Vorstellung. Ich kann Ihnen also leider erst nach der Show Rede und Antwort stehen. Im übrigen habe ich meine Steuern immer pünktlich und gewissenhaft entrichtet.« »Sie haben Ihren Stiefsohn Gordon nicht steuerlich gemeldet, Mr. Keller«, sagte Jan Rivel. »Offensichtlich sehen Sie in Gordon lediglich ein totes Requisit!« Kellers Gesicht bekam eine törichte Note. »Nicht steuerlich gemeldet? Ich höre wohl nicht recht. Der Junge ist meschugge! Soll ich einem Irren etwa den vollen Lohn zahlen? Er hat freie Kost und Logis, das dürfte doch wohl…« »… genügen«, ergänzte Potter grimmig, und landete einen Aufwärtshaken auf Kellers schwammigem Kinn. Der Schlag trieb den Schausteller durch den Notausgang in seine Schaubude. Potter sprang nach und zischte: »Du hast Gordons Gehirn vermarktet, beutest ihn aus und be69 �
sitzt die Frechheit, ihn als meschugge hinzustellen? Wer hat den verbrecherischen chirurgischen Eingriff an dem Jungen vorgenommen? Wo befindet sich die Spezialklinik, wo der GehirnTransfer vorgenommen wurde? Spuck’s aus, Oliver, oder ich mach’ aus dir eine Abnormität, gegen die Frankenstein ein Waisenknabe ist!« Keller wurde blaurot im Gesicht und rang nach Luft. In seiner Empörung suchte er vergeblich nach Worten. Die Zuschauer auf den rotgestrichenen Holzbänken johlten vor Vergnügen und hielten das Spektakel für den Auftakt der Show. Zumal Keller jetzt auf die Bühne flüchtete, von Potter und Clanton verfolgt. Wigmore und Rivel blieben unten beim Notausgang. Plötzlich sprang der komische Kerl mit dem Kanister von seinem Sitz. Er rannte den Mittelgang entlang zur Bühne vor, riß den Verschluß vom Füllstutzen und schleuderte den Behälter auf die Bühne. Während die gallertartige Masse aus dem Kanister auf die Bretter floß, jagte der Mann aus den Bankreihen vorbei zum Ausgang. Da sich ihm niemand in den Weg stellte, gelang es ihm, aus dem Abnormitätenkabinett zu flüchten und unerkannt zu entkommen. »Aufgepaßt, Roul, Jason«, schrie Rivel den Freunden auf der Bühne zu. Seine Warnung kam beinahe zu spät. Aus der dickflüssigen Masse baute sich, einer zwingenden Zellprogrammierung folgend, ein echsenartiges Ungeheuer mit geschupptem, grünschillerndem Rumpf auf. Der häßliche Kopf war in zwei Kiemenhälften gespalten, die dolchähnliche Zahnreihen sehen ließen. Seinen Schwanz verstand das Biest wie der Skorpion sein Körperende mit Giftstachel zu gebrauchen. Vermutlich lief er auch in einen Giftstachel aus. Die Beine der Chimäre waren ungewöhnlich hoch und dicht behaart. Anstelle der Sohlen hatte sie 70 �
klauenartige Greifwerkzeuge, insgesamt sechs. Die beiden vorderen packten den wie gelähmt stehenden Schausteller und schmetterten ihn zu Boden. Potter und Clanton hatten sich gerade noch rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich schnellen können. Sie wußten von der Verwundbarkeit der aus verschiedenen Tierteilen bestehenden Ungeheuer. Sie holten deshalb die Sten-Maschinenpistolen unter ihren Jacken hervor und eröffneten das Feuer auf die unheimliche Kreatur, die ihr kurzes Leben einem genialen wie gewissenlosen Molekularbiologen verdankte. Die Schüsse zeigten Wirkung. Schwer verletzt zerfiel die Chimäre zu einer Gallertmasse, die rasch dünnflüssig wurde und verdunstete, bevor die Minute herum war. Oliver Keller indes war und blieb Realität. Er lag auf der Bühnenmitte – tot. An seinem Körper waren keine Verletzungen zu erkennen, die Rückschlüsse auf die Todesursache zugelassen hätten. Es hatte den Anschein, als ob der Schausteller einem Herzschlag erlegen sei. Die atemlose Spannung unter den anwesenden Zuschauern hielt weiter an, bis plötzlich ein Mann aufsprang, der wild in die Hände klatschte und brüllte: »Bravo, das war die beste Nummer, die ich gesehen habe! Zugabe!« Immer mehr Zuschauer klatschten Beifall. Eine Frau rannte zur Bühne und schrie wie in Ekstase: »Jawohl, Zugabe! Im Fernsehen kriegt man so etwas nie zu sehen!« »Los, nichts wie weg von hier«, sagte Clanton zu Potter. »In wenigen Minuten weiß man, daß das hier blutiger Ernst war und kein Firlefanz!« Sie verstauten rasch ihre Waffen und verließen unter dem Bei71 �
fall der Zuschauer die Bühne, um mit Rivel und Wigmore das Etablissement der Abnormitäten durch den Notausgang zu verlassen. Um Passanten und etwaigen Polizisten nicht aufzufallen, gingen die vier Detektive in eigener Sache ohne Eile zu ihrem in der Nähe geparkten Wagen. Sie nahmen in ihm Platz und griffen erst mal nach Zigaretten. »Was jetzt?« fragte Potter, nachdem die Spannung von ihm gewichen war. »Swinburne in der Computerfirma Johnson & Johnson Ltd«, antwortete Jan Rivel verbissen. »Drück deine Zigarette aus, Butch! Bis Barnet bei London sind es etliche Meilen.« Wigmore startete den Motor und knurrte: »Bin gespannt, welche Zellviecher uns in Barnet erwarten. Was wir unbedingt brauchten ist ein Erfolgserlebnis. Sollte Swinburne inzwischen etwas zugestoßen sein, können wir allmählich einpacken!« * »Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?« Diese Frage richtete Richard Swinburne, Sales-Director der Computerfirma Johnson & Johnson Ltd. an seine Besucher, Roul Potter, Jason Clanton, Butch Wigmore und Jan Rivel. Swinburne war rasch als ein über Leichen gehender Manager erkannt worden, dessen verbindlicher Charme nur Fassade war. »Wir kommen auf die Empfehlung Mr. Kellers«, begann Jan Rivel vorsichtig. »Keller, Keller, muß ich den Gentleman kennen?« fragte Swinburne, die sorgfältig gezupften Augenbrauen fast bis zum Ansatz seines gewellten Braunhaars hochgezogen. »Oliver Keller, von Beruf Schausteller«, half Clanton in vertrau72 �
lichem Ton nach. »Ihre neueste Schach-Computergeneration ist auf das Verständnis des Stiefsohnes Gordon aufgebaut.« Swinburnes Pupillen verengten sich. Der Mann, der einen modisch geschnittenen, grauen Flanellanzug trug, war auf der Hut und voller Mißtrauen. Er blickte durch das geöffnete Fenster auf die Dächer von Barnet. »Ich bin für die Programmierung unserer Schachcomputer nicht zuständig, kann Ihnen folglich nichts Verbindliches sagen. Vielleicht lassen Sie kurz anklingen, worum es sich handelt?« »Wir könnten uns gut vorstellen, daß Sie, mithin Johnson & Johnson Ltd., Ihre Produktion gern um einige Skat-ComputerSerien erweitern würden.« »Daran denken wir bereits«, sagte Swinburne, süffisant lächelnd. »Aber reden Sie ruhig weiter. Ich höre.« »Ihr Hauptproblem dürfte es sein, einen Skatchampion mit hohen spielerischen Qualitäten zu finden, um mit dessen Wissen Ihre Skatcomputer zu programmieren. Das kostet eine Menge Geld.« »Das ist nicht abzustreiten, allein wegen der nie schlafenden Konkurrenz.« »Sehen Sie! Hier nun können wir mit dem südamerikanischen Skatmeister Alfredo Perez aufwarten, um es genau zu sagen: mit dem Kopf des Señors, mitsamt Inhalt!« »Und wie gelangen Sie an Perez’ Kopf mitsamt Inhalt? Ich denke, Perez, der mir als ein hervorragender Skatspieler mit enormem Spielwitz bekannt ist, gibt ihn nicht freiwillig her.« »Danach wird Perez erst gar nicht gefragt. Er schuldet unserer Organisation eine Menge Geld und kann nicht zahlen. Wir haben das vorausgesehen und uns seinen Kopf überschreiben lassen, was Perez enorm witzig fand. Allerdings jetzt nicht mehr.« »Wo ist Perez?« fragte Swinburne, erstmals Interesse zeigend. »Noch auf dem europäischen Kontinent. Wir können ihn zu je73 �
der Zeit einfliegen lassen und ihn der Spezialklinik frisch und frei Haus liefern. Allerdings müßten wir dazu wissen, wo Prof. Ridley und Dr. Baxter zur Zeit arbeiten.« »Sie kennen die Herren?« fragte Swinburne merklich aufgelockert. »Ja, wir kennen den Forschungsauftrag«, antwortete Clanton mit unveränderter Miene. »Angenommen, wir wären an Ihrem Angebot interessiert, Mr., eh, Clanton. Wie hoch würden sich Ihre Forderungen belaufen? Aber bitte, bleiben Sie auf dem Teppich!« »Wie üblich: hunderttausend in bar, davon dreißigtausend Pfund für Señor Perez’ Ersatzhirn.« »Warum sparen Sie sich nicht diese Ausgaben, Gentlemen?« fragte Swinburne kopfschüttelnd. »Oder gibt es etwa einen zwingenden Grund, dem Südamerikaner das Leben zu erhalten?« Butch Wigmore hob die rechte Hand. »Immerhin ersparen wir uns eine eventuelle Mordanklage, wenn wir Perez mit einem künstlichen Gehirn weiterleben lassen.« »Nun, Sie müssen wissen, was Sie tun. Mein Problem ist das nicht. Wann können Sie liefern?« »Wann würde es Ihnen passen, Mr. Swinburne.« »Ich müßte das mit Prof. Ridley klären. Ich kann im Augenblick nicht sagen, ob er gegenwärtig Kapazitäten zur Durchführung von Gehirn-Transplantationen frei hat.« »Können wir nicht an Ihrer Stelle mit Ridley reden?« fragte Clanton und zog blitzschnell seinen Kopf in die Schultern. Ein albatrosähnlicher weißer Vogel mit langem, lanzenähnlichem Schnabel sauste wie ein gefiedertes Geschoß mit angelegten Flügeln durch das geöffnete Fenster. Sein roter Schnabel bohrte sich in Swinburnes rechte Schläfe, durchschlug den Schädel mit unheimlicher Wucht und trat an der linken Schläfenhälf74 �
te wieder aus! Swinburne war schon tot, als sein Oberkörper vornüber auf die Schreibtischplatte fiel, den Vogel am Kopf. »Verdammt«, knurrte Clanton perplex. »Allmählich beginne ich mich nach meinem kleinen Militärgefängnis in Camp Baumder zurückzusehnen. Was machen wir jetzt?« »Nimm dein Taschenmesser zur Hand und ritz’ den Vogel an«, sagte Rivel zu Wigmore. »Ich möchte wissen, ob die Weihnachtsgans echt ist oder wieder nur so eine vertrackte Zellspielerei von Ridley und Konsorten!« »Nein, laß das bleiben, Butch«, mahnte Roul Potter. »Wenn sich das Vögelchen in eine Zellsuppe verwandelt, die rasch verdunstet, wird man sagen, wir hätten Swinburne umgebracht. Sieht man aber den Vogel in seinem Kopf stecken, wird jedermann an einen, wenn auch höchst ungewöhnlichen Unfall glauben.« Wigmore steckte sein Taschenmesser wieder ein und gab Potter recht. Alle drei erhoben sich aus den schweren Besuchersesseln des komfortablen Direktorbüros und warfen, bevor sie es verließen, einen letzten nachdenklichen Blick auf Swinburne und seinen Vogel. Im Vorzimmer schloß Rivel als Letzter die ledergepolsterte Doppeltür zu Swinburnes Büro. Zu der Sekretärin, die aufgehört hatte Zeitung zu lesen, sagte er: »Mr. Swinburne, Ihr Chef, bat uns, Ihnen auszurichten, daß er für die nächsten zwei Stunden nicht gestört zu werden wünscht. Er bittet Sie auch, keine Telefongespräche durchzustellen.« »Danke, Sir«, sagte die Sekretärin lächelnd. »Dann werde ich die Zeit nützen und zu Tisch gehen.« »Tun Sie das«, reagierte Rivel jovial und bat die junge Dame, einen Blick in ihre Zeitung werfen zu dürfen. Ihm war nämlich die Überschrift einer für sie unter Umständen bedeutsamen Notiz ins Auge gesprungen. 75 �
Die Sekretärin reichte Rivel die Zeitung. Jan las, während die anderen ihm über die Schulter blickten, um mitzulesen: Lincoln. Baston on-the-Hill zum militärischen Sperrbezirk erklärt. Das Oberkommando des 7. Armeekorps der Territorial-Armee teilt mit, daß weite Gebiete der Grafschaft Lincoln mit der Ortschaft Baston on-theHill für die Dauer von vierzehn Tagen wegen umfangreicher Manöver mit sofortiger Wirkung zum militärischen Sperrbezirk erklärt worden sind. Sämtliche Straßen und Wege, die in das Manövergebiet führen, sind gesperrt. Die Polizei bittet die Autofahrer dringend, die eingerichteten Umleitungen zu benutzen und den Anordnungen der Militärpolizei unbedingt Folge zu leisten… Rivel gab die Zeitung an die Sekretärin zurück und wechselte mit den Freunden einen grimmigen Blick. Dann verließen sie das Vorzimmer, die Computerfabrik. Eine Stunde später waren sie bereits unterwegs in die Grafschaft Lincoln. * Woodhall lag außerhalb des militärischen Sperrbezirks und war vorerst Endziel von Jan Rivel, Butch Wigmore, Jason Clanton und Roul Potter. Nachdem sie sich im Landgasthaus ›Hunting Lodge‹ ausgiebig gestärkt hatten, begaben sie sich zu Fuß zum Haus des Reverend, das außerhalb auf einem kleinen Hügel lag, den der Volksmund Strawberry-Hill nannte. Reverend Garner war ein würdiger, weißhaariger Geistlicher, der über eine beträchtliche Portion Humor verfügte. Er lud seine Besucher zu einem Glas selbstgemachten Obstweines in seine Studierstube. Nachdem man sich hier zugetrunken und über das Wetter geredet hatte, fragte der Reverend lächelnd: »Nun, meine jungen Freunde, wo drückt der Schuh?« 76 �
»Erlauben Sie uns vorab die Frage, ob Sie noch Verbindung zu Ihrem Amtsbruder in Baston on-the-Hill haben.« Die Arme über die Brust verschränkt, sah Jason Clanton erwartungsvoll den Mann an. »Leider nein«, antwortete Garner mit betrübter Miene. »Ich weiß nicht mal, wo mein Kollege, Reverend Holt, und seine Gemeinde sich seit der Evakuierung vor fünf Monaten befinden.« »Wann wurden die Leute von Baston evakuiert, und durch wen?« fragte Rivel, der glaubte, sich verhört zu haben. »Vor fünf Monaten, und zwar auf Veranlassung der Army«, antwortete der Reverend verwundert.« »Wurden alle Bewohner der Ortschaft evakuiert?« fragte Rivel weiter. »Restlos alle, Mr. Rivel.« »Das kann nicht sein, Sir. Vor knapp fünf Wochen war ich in Baston on-the-Hill, um bei Constable Brooks Anzeige zu erstatten. Später habe ich im Gasthof zum ›Weißen Bären‹ ein Steak gegessen. Ich erinnere mich genau an die beiden Girls, die mich bedient haben. Eine hieß Ethel. Den Namen der anderen weiß ich nicht mehr.« »Es gibt keinen Constable Brooks in Baston! Es hat auch nie einen dort gegeben«, sagte der Reverend kopfschüttelnd. »Und das Gastwirtsehepaar des ›White Bear‹ heißt Bruns. Es ist übrigens kinderlos und machte alles allein. Kellnerinnen hätten sie auch gar nicht bezahlen können. Ich persönlich war lange nicht mehr in Baston, habe aber gehört, daß dort Fremde wohnen, die so ganz anders sein sollen wie die Leute in dieser Gegend sonst.« Rivel überlegte, um dann den Reverend nach Prof. Ridley und dessen Haus bei Baston on-the-Hill zu fragen. Garner genehmigte sich noch ein Glas von seinem Wein und antwortete, während er sich gegen die Lehne seines Sessels zu77 �
rücklegte: »Zufällig kenne ich Prof. Ridley und dessen Tochter Alice. Ich schätze beide sehr, obwohl ich erhebliche Bedenken in bezug auf ihre Forschertätigkeit hege. Es ist nicht gut, wenn der Mensch dem Schöpfer aller Dinge ins Handwerk zu pfuschen versucht!« »Sie sprechen von den nicht ungefährlichen Gen-Manipulationen des Professors, nicht wahr?« fragte Potter. Garner nickte schwer. »Ja, mein junger Freund. Eben dieses Teufelswerk meine ich!« »Wann haben Sie den Professor zuletzt gesehen? Wann seine Tochter Alice? Wann seinen Mitarbeiter Dr. Baxter?« fragte Jan Rivel. »Ich sah Prof. Ridley vor drei Tagen. Übrigens in Begleitung seiner Tochter. Dr. Baxter ist mir unbekannt.« »Wo war das?« fragte Wigmore den Geistlichen. »Vor seinem Haus bei Baston.« »Also kurz bevor diese Gegend dort zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden ist?« »Exakt einen Tag davor.« »Vermutlich waren die Ridleys im Aufbruch begriffen, da Haus und Farm mitten im Sperrbezirk liegen«, äußerte Clanton seine Meinung. Reverend Garner schüttelte den Kopf. »Mir hatte es eher den Anschein, als ob die Ridleys gerade erst angekommen wären. Ich sah Möbelwagen von der Straße in den Privatweg zum Haus einbiegen. Vollbeladen. Andere fuhren leer davon.« »Und Sie täuschen sich nicht?« fragte Rivel zweifelnd. »Ganz gewiß nicht«, beteuerte der Reverend lächelnd. »Haben Sie auch den Vorbesitzer der Ridleyschen Farm gekannt? Den Farmer Ron Ridley?« »Aber ja. Ron war ein gottgefälliger Mann. Ein vorzüglicher Landwirt. Er war anders als sein Bruder James, der in den fünf78 �
ziger Jahren nach Australien ging und jetzt wieder hier ist. Übrigens…« Reverend Garner legte seinen Oberkörper vor, um in vertraulichem Tonfall fortzufahren: »Sie sollten sich nicht am hellen Tag in der Öffentlichkeit zeigen! Die Fahndung nach Ihnen, Gentlemen, wurde seit gestern in dieser Gegend verstärkt.« »Sie wissen also, wer wir sind«, konstatierte Wigmore. »Ja, meine Freunde. Um es frei heraus zu sagen: Ihnen, allen vier, sieht man den Offizier von weitem an. Ich wußte gleich, daß ich die entwichenen Army-Offiziere von Camp Baumder vor mir habe. Auch habe ich darüber nachgedacht, warum die Militärpolizei wieder verstärkt nach Ihnen fahndet. Hauptsächlich in dieser Gegend.« »Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?« fragte Clanton gespannt. »Ich glaube, die Army fürchtet, daß Sie im sogenannten Manövergebiet zu Erkenntnissen gelangen, die die allerhöchste militärische Geheimstufe betreffen.« »Darf ich den Faden mal weiterspinnen, Reverend?« fragte Jan Rivel erregt. »Aufgrund Ihrer Aussagen betreffs der Rückkehr der Ridleys in ihr Haus steht für mich fest, daß die Molekularbiologen im Auftrag der Army an einem Geheimprojekt arbeiten! Per Zufall gelangte ich in Ridleys Labor. Nachdem ich wegen der unheimlichen Vorgänge dort bei dem vermeintlichen Constable Brooks Anzeige erstatten wollte, wurde mit einer identischen menschlichen Kopie Miß Ridleys ein Mordfall konstruiert, um sich vor weiteren Nachforschungen durch mich, den ausgewiesenen Mörder, zu schützen!« »Well, das ist es«, rief Clanton aufspringend. »Mit Hilfe der Army baute man blitzschnell die Laboratorien in Ridleys Haus ab und baute sie woanders hin. Du standest bei dem vorgenommenen Lokaltermin plötzlich als Lügner da, dem der eigene Verteidiger, Colonel Bacon, kein Wort glaubte. Am Tatort sprach ja 79 �
auch alles gegen dich… Der grundlegende Fehler der Army war es, dich als Mörder Miß Ridleys zu uns auf die Bude im Militärgefängnis Baumder zu legen, denn wir hatten einen hübschen Tunnel gegraben und konnten mit dir fliehen.« »Ich verstehe zwar nicht alles von dem, was Sie gesagt haben, aber es drängt mich, Ihnen meine Hilfe anzubieten«, ließ Reverend Garner sich vernehmen. »Ich glaube nämlich, daß Sie in der Lage sind, diesem Landstrich den Frieden Gottes wieder zu geben und den Machenschaften der Ridleys ein rasches Ende zu bereiten. Dazu möchte ich mit meinen bescheidenen Kräften beitragen.« »Wir nehmen jede Hilfe an, insbesondere Ihre, Reverend«, sagte Rivel froh und reichte dem Geistlichen bewegt die Hand. »Weisen Sie uns eine Möglichkeit, wie wir unbemerkt in das militärische Sperrgebiet gelangen können.« »Sie wollen nach Baston on-the-Hill?« »Und zur Farm der Ridleys.« »Da ist dieser errichtete elektronische Zaun. Ihn zu überwinden, dürfte nicht so einfach sein«, gab Garner zu bedenken. Er lächelte pfiffig und fuhr fort: »Doch wie wäre es, wenn ich mit meinem alten Landrover zu einem zwischen uns abgesprochenen Zeitpunkt den elektronischen Warn- und Sicherungszaun durchbreche und die Alarmeinheiten auf mich ziehe? Sie könnten an einer anderen Stelle unbehelligt das Hindernis überwinden, ins Sperrgebiet eindringen und Ihre Arbeit, die Sie sich vorgenommen haben, verrichten.« »Eine sehr gute Idee, Reverend. Aber was wird die Army mit Ihnen machen?« fragte Clanton. »Was kann sie schon mit einem Gottesmann tun, der, vom eigenen Obstwein beschickert – Herr, vergib mir dieses gräßliche Wort – ›zufällig‹ ihren Zaun beschädigt? Die Militärpolizei wird mich verhören und schließlich laufen lassen. Dafür wird notfalls 80 �
mein Bischof sorgen, den ich vorher informieren werde.« »Und wann starten wir unsere gemeinsame Aktion?« fragte Potter mit funkelnden Augen. »Ich schlage vor gegen 23.00 Uhr. Eine Stunde vor Mitternacht«, sagte Rivel. »Es fehlt uns jetzt eigentlich nur eine Landkarte von dieser Gegend, mit dem von Ihnen eingezeichneten Verlauf des elektronischen Zauns.« »Mit einer Karte kann ich dienen. Auch weiß ich, wo und wie der Zaun verläuft«, sagte Reverend Garner. »Eine günstige Stelle, an der Sie in den Sperrbezirk eindringen können, kenne ich unweit von Baston on-the-Hill.« Der Geistliche trat an einen alten, handgeschnitzten Schrank heran und entnahm ihm eine große Generalstabskarte. »Damit wäre alles geritzt«, rief Wigmore voller Tatendrang. Und Clanton sagte: »Machen wir uns an die Arbeit…« * Von Zeit zu Zeit rollte ein Army-Jeep mit aufmontiertem Maschinengewehr die einspurige Straße nach Baston on-the-Hill entlang. Die Besatzung bestand jeweils aus vier Militärpolizisten. Potter, Clanton, Wigmore und Rivel lagen im Graben links der Straße. Keine zehn Yard von dem elektronischen Warn- und Sicherungszaun entfernt, der parallel zum Saum eines Mischwaldes verlief, hinter dem die kleine Ortschaft lag. Ihre Waffen und Drahtscheren lagen griffbereit. Die Hände von Clanton und Potter waren durch Lederhandschuhe geschützt. Der Mond spendete genügend Licht, um auf künstliche Lichtquellen verzichten zu können. Nach 23.00 Uhr sah Jan Rivel zum wiederholten Mal auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr. Er wollte gerade monieren, daß 81 �
sich beim alten Steinbruch, weiter östlich noch immer nichts tat, als eben dort dumpfe Schüsse und der auf- und abschwellende Ton von Sirenen hörbar wurde und Sekunden später rote Leuchtkugeln vom Himmel auf die Erde schwebten. »Der Reverend hat seinen Landrover in den Zaun gesetzt«, frohlockte Potter und griff nach seiner Drahtschere, um den Zaun anzurobben. »Stop, Roul«, rief Rivel leise. »Warten wir erst mal ab, ob sich auf dieser Straße etwas tut!« »Ich sehe die Lichter eines näher kommenden Fahrzeuges«, warnte Wigmore in diesem Augenblick. »Es scheint sich um einen Wagen der Alarmeinheit zu handeln. Lassen wir ihn erst vorüber.« Kurze Zeit darauf jagte der Landrover an ihnen vorüber. Seine Rücklichter kamen rasch außer Sicht. Die Staubschleppe senkte sich allmählich. »Jetzt«, befahl Rivel und robbte durch das betaute Gras die Böschung zum Zaun hinauf. Potter und Clanton setzten, bei dem Hindernis angekommen, ihre Drahtscheren an und schnitten ein hinlänglich großes Loch in den starren Metallzaun, ohne daß die Sensoren der Sicherungsanlage erneut Alarm, und zwar in ihrem Sektor, ausgelöst hätten. Ein Beweis dafür, daß durch Reverend Garners Husarenstück der Stromkreislauf der Warnanlage unterbrochen worden war. Nacheinander krochen die vier durch das Loch in den Zaun und tarnten es mit Ästen und Zweigen, bevor sie sich auf den Marsch nach Baston on-the-Hill machten. Die Freunde waren etwa eine halbe Stunde durch den Wald gegangen, als der aromatische Rauch einer brennenden Zigarette sie warnte und lautlos, wo sie gingen und standen, zu Boden sinken ließ. 82 �
»Sieh nach, was vor uns los ist«, raunte Rivel dem rechts neben ihm liegenden Clanton ins Ohr. Jason nickte kurz und schob sich schlangengleich weiter. Nach etwa sieben Minuten war er zurück, um Auskunft zu geben: »Hundert Yard vor uns, auf einer Waldlichtung, steht ein Schützenpanzerwagen. Die Crew schläft fest bis auf den vierten Mann. Er ist es, der auf Wache raucht. Das Fahrzeug trägt eine blaue Kennzeichnung. Auch der Posten hat eine blaue Binde am rechten Oberarm. Es scheint sich also tatsächlich um ein Manöver zu handeln. Wir sind auf ein Fahrzeug der Blau-Partei gestoßen. Umgehen wir die Lichtung?« »Nein, das tun wir nicht«, antwortete Rivel feixend. »Wir nehmen die vier gefangen, knebeln sie sorgfältig und schlüpfen in ihre Kampfanzüge. Mit dem Schützenpanzerwagen fahren wir nach Baston. Wenn wir dort die Lage geklärt haben, geht es weiter zur Farm der Ridleys und benützen die Schnellfeuerkanone unseres Kampfwagens, um etwaige Mischwesen abzuwehren! Hat jemand von euch etwas gegen meinen Vorschlag einzuwenden?« »Nein, die Idee ist exzellent. Sie erspart uns das Laufen und gibt uns ausreichende Mittel zur Verteidigung in die Hand.« Clanton sprach für Wigmore und Potter mit. Die Männer stimmten ihr weiteres Vorgehen ab und schoben sich danach lautlos an die im silbernen Mondlicht liegende Waldlichtung heran. Während Rivel, Clanton und Wigmore im Schutz der Bäume zurückblieben, robbte Potter den wacheschiebenden Soldaten an, der beim Fahrzeug auf einer Munitionskiste saß und vor sich hindöste. Potter wuchs dicht hinter dem Mann in die Höhe und betäubte ihn mit einem Handkantenschlag. Jetzt kamen auch die anderen drei, um die Restcrew des Schützenpanzers außer Gefecht zu setzen. In Windeseile zogen sie ih83 �
ren Opfern die Stiefel und Kampfanzüge aus, fesselten und knebelten sie mit den eigenen Waffengurten und schleiften ihre Körper von der Lichtung in den Wald. Nachdem sie ihre Gesichter mit einer Paste geschwärzt hatten, die sie in der Kartentasche des Panzerkommandanten gefunden hatten, nahmen sie von dem modernen Kriegsfahrzeug Besitz und fuhren damit nach Baston on-the-Hill, ohne unterwegs einem Militärfahrzeug, gleich welcher Partei, zu begegnen. * Baston lag wie ausgestorben. Kein Hund bellte, und in den niedrigen Häusern brannten nur vereinzelt Lampen. Auf Rivels Geheiß fuhr Wigmore, der den Schützenpanzer steuerte, zum Haus von Constable Brooks. »Wartet hier auf mich«, bat Rivel. »Ich habe mit dem Dorfpolizisten ein Wort zu reden.« Schon kletterte Rivel aus dem Turm des Kampfwagens. »Mach nicht so lange, Jan«, rief Clanton ihm leise nach. »Die unnatürliche Ruhe sagt mir, hier ist irgend etwas faul!« Rivel überprüfte seine Waffe und trat die Haustür auf, um über den Korridor in die Amtsstube zu stürmen, in der zwar Licht brannte, aber niemand war. Rivel ging hinter die Barriere und warf einen Blick in das aufgeschlagene Ereignisbuch auf dem Schreibtisch. Die letzte Eintragung war ein halbes Jahr alt! Die Leitungsschnur des Telefons war durchtrennt, und das nicht erst seit neuestem… Unschlüssig rückte Rivel an den verschiedenen, zumeist verstaubten Gegenständen herum. Eine olivgrüne Kampfration erregte seine besondere Aufmerksamkeit. Diese Ausführung war selbst ihm als Offizier fremd. Die gewachste Schachtel beinhaltete keinerlei Konserven oder sonstige gängige Nahrungsmittel. 84 �
Auch fehlten die obligaten Zigaretten und Pulvertees. Diese Kampfration bestand ausschließlich aus blaßgrünen Tabletten. Sie sahen wie solche aus Badesalz aus, schienen aber aus hochkonzentriertem Eiweiß mit biologischen Grundsubstanzen zu bestehen. Rivel schob die Kampfration in eine Tasche seines Battledress und durchsuchte die anderen Räume des niedrigen Fachwerkhauses. Auch in der Schlafkoje war der Dorfpolizist nicht. Das Bett sah aus, als ob es seit Jahr und Tag nicht mehr benutzt worden sei. Das Oberbett war mit einer Staubschicht bedeckt. Spinnen hatten von Bettpfosten zu Bettpfosten ihre kunstvollen Netze gezogen. Kopfschüttelnd verließ Rivel das Haus und kletterte wieder auf den Schützenpanzer. Clanton in der Nebenluke sagte zu ihm: »Butch hat mit dem Funkgerät die Ätherwellen abgegrast. Aber nichts! Die Manövereinheiten halten strikte Funkstille. Was ist mit dem Constable, Jan. Hast du ihn getroffen?« »Nein, der Vogel ist ausgeflogen«, antwortete Rivel. Er zeigte mit ausgestreckter Hand auf den Landgasthof jenseits des Dorfteiches. Es brannte Licht dort. »Vielleicht finden wir Brooks dort.« Rivel rief Wigmore zu, den ›White Bear‹ anzusteuern und unter den Bäumen des Restaurantgartens das Fahrzeug abzustellen, damit man es nicht gleich von der Straße aus sah. Butch startete den schweren Motor. Der Kampfwagen rollte an. Als die vier wenige Minuten später die Schankstube des ›Weißen Bären‹ betraten, sahen sie zwar keinen einzigen Gast an den Tischen, wohl aber die beiden Mädchen. Sie standen, die eine im roten Rock zur weißen Bluse, die andere im blauen, hinter dem Tresen und wischten Gläser aus, an denen absolut nichts auszusetzen war. 85 �
Rivel wurde das fatale Gefühl nicht los, daß die Mädchen seit seiner Verhaftung hier die endlos langen Wochen mit Gläserspülen zugebracht hatten. Er trat in ihre Nähe, während Potter, Wigmore und Clanton an einem der Tische Platz nahmen, und fragte diejenige, die er für Ethel hielt: »Hallo, erkennen Sie mich wieder, Ethel? Sie sind doch Ethel?« Das Mädchen blickte ihn aus beleidigend gleichgültigen Augen an und sagte: »Jawohl, ich bin Ethel. Aber Sie kenne ich nicht, Sir.« »Sie und Ihre Schwester haben mir doch vor fünf Wochen Brombeerpastete aus der Kühlvitrine heraus verkauft«, sagte Rivel. »Das mag schon sein. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.« Ethel legte das Wischtuch ab. »Möchten Sie etwas essen und trinken, Sir?« »Ja, das möchten wir gern. Bringen Sie uns vier Steaks mit Beilagen, dazu vier Biere für meine Freunde und mich«, sagte Rivel. »Sehr wohl, Sir. Wird sofort erledigt.« »Bestelle für die beiden Holden je ein Steak und etwas zu trinken mit«, rief Wigmore aufgekratzt. »Sie haben eh nicht viel zu tun und können uns ein wenig Gesellschaft leisten.« »Also, Sie haben es gehört. Sechs Steaks, vier Bier und für Sie und Ihre Schwester eine halbe Flasche Champagner«, sagte Rivel zu dem Mädchen gewendet. Dann fragte er: »Wieso sind Sie beide noch in Baston? Das hier ist ein militärisches Sperrgebiet.« »›Militärisches Sperrgebiet‹?« fragte Ethel verständnislos. Sie drehte sich ihrer Schwester zu. »Maid, was kann das sein, ein ›militärisches Sperrgebiet‹?« »Laß dich von den beiden nicht vergackeiern, Jan«, rief Clanton lachend. »Man hat die Damen wohl als eine Art Marketenderinnen hier behalten, oder hierher gebracht, damit die tapferen Manöverkrieger zwischenrein ein Bier trinken und etwas essen kön86 �
nen. Komm, setz dich her zu uns…« Widerwillig löste Rivel sich vom Tresen, während Ethel vier Bierflaschen öffnete und ihre Schwester in die Küche ging. Fast könnte man meinen, die beiden hätten ihr bißchen Grips an die ›Gehirn GmbH‹ verkauft«, sagte Rivel nachdenklich und nahm sich eine Zigarette aus dem Päckchen, das Clanton ihm hinhielt. »Und wenn schon«, sagte Wigmore überheblich. »Ich würde mich gern mit einer der beiden für eine Stunde ins Heu legen. So etwas Dralles wie die hat meiner Mutter Sohn lange nicht mehr in den Armen gehalten.« »Unterlaß’ diese losen Redensarten«, verwies Clanton ihn ärgerlich. »Oder hast du vergessen, wozu wir hier sind? Sobald wir gegessen haben, fahren wir zur Farm der Ridleys. Ich bin jetzt schon gespannt darauf, was uns dort an Zellviechern erwartet…« Als die herrlich duftenden Steaks auf rustikalen Holztellern und eine Schüssel Salat mit Roquefort-Dressing auf dem Tisch standen, zog Wigmore Ethel auf die Knie und schäkerte: »Ich werde jetzt naschen, mein Täubchen. So jung kommen wir nicht mehr zusammen. Fleisch macht sinnlich, oder hast du das nicht gewußt?« Angewidert stieß Ethel den Holzteller weg, den Wigmore ihr unter die Nase hielt. Mit überraschender Kraft machte sie sich von ihm frei und floh, von ihrer Schwester gefolgt, aus dem Schankraum in die Küche. »Ich glaube, ich habe eine Vegetarierin erwischt«, kommentierte Wigmore komisch seufzend, und griff nach seinem Besteck. »Was soll die Poussiererei, Butch?« grollte Clanton. »Sofort gehst du in die Küche und entschuldigst dich bei dem Girl!« »Das würde ich auch sagen«, meinte Rivel mit verweisendem Blick auf Butch. 87 �
»Na schön, wenn ihr das unbedingt wollt…« Verstimmt stieß Wigmore seinen Stuhl zurück und trödelte in die Küche. Als er nach fünf Minuten zurückkam und sich wieder setzte, sagte er, während er sich verdutzt die linke Wange kratzte: »Wir haben doch für die Mädchen Steaks geordert, ohne daß von ihrer Seite Einwände laut geworden wären.« »Well, ihre Steaks stehen hier. Wenn die Schwestern nicht bald kommen, werde ich sie mir einverleiben. Die Steaks und nicht die Schwestern«, sagte Potter kauend. »Also ich komme in die Küche«, fuhr Wigmore ziemlich verbiestert fort. »Und was sehe ich da? Die beiden Schönen sitzen hinter Tellern, auf denen große, grüne Tabletten liegen. Stellt euch das vor! Sie futtern Tabletten mit Messer und Gabel und reagieren auf köstliche Steaks mit Widerwillen und Ekel!« »Kommt mir höchst sonderbar vor«, murmelte Potter mit fettglänzendem Mund, während Jan Rivel in eine Tasche seines Kampfanzugs griff, die Ration aus dem Haus des Constable herauszog, ihr eine der grünen Tabletten entnahm und sie auf der flachen Hand Butch mit der Frage hinhielt: »Waren es solche Tabletten?« »Ja, haargenau die gleichen. Wie kommst du daran, Jan? Und was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?« rief Wigmore martialisch. »Was ich schon lange ahne, scheint furchtbare Realität zu sein«, verkündete Rivel. »Diese Mädchen, Constable Brooks, ja, alle derzeitigen Bewohner von Baston on-the-Hill sind künstlich geschaffene Menschen!« * »Entschuldige, Jan, du mußt dich irren«, meinte Wigmore erregt. � »Oder willst du etwa behaupten, daß ich als Mann auf ein künst88 �
liches Wesen reagiere wie auf eine vollbusige Filmschönheit?« Potter und Clanton war der Appetit vergangen. Sie schoben ihre Teller weit von sich, und Potter sagte: »Jan hat meiner Ansicht nach recht, Butch. Denk’ doch bitte mal an die völlig identische Kopie der Alice Ridley, deren Sofortbildfotos du in deiner Tasche trägst? Sie hätte Jan beinahe ein Lebenslänglich wegen Mordes eingebracht. So gut und täuschend ähnlich, wie die war!« »Das will ich jetzt wissen!« Wigmore kam erneut von seinem Stuhl. Entschlossen und stur ging er zum Tresen und betrat durch die angelehnte Tür den angrenzenden Raum und die Küche. Die warnenden Zurufe seiner Kameraden ignorierte er. Butch traf Ethel allein an. Sie hatte inzwischen ihr Tablettenmenü beendet und stand vor dem Besenschrank. Mit dem Rücken zu dem Dosenöffner, der an der Außentür des Schranks befestigt war. Ethel lächelte bieder. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?« fragte sie monoton. Wigmore starrte auf ihren großen Busen, der sich gleichmäßig hob und senkte. Nein, dachte er bei sich, Jan muß sich irren. Von wegen künstlich geschaffener Mensch… Das Girl war echt! Der Sex geradezu erdhaft dumpf… Animalisch! »Du könntest für den lieben Butch eine ganze Menge tun, Girly«, flötete Wigmore erregt. Er zeigte besitzergreifend seine starken Zähne und näherte sich dem Mädchen in wiegendem Gang. Vor ihr angelangt, riß er Ethel ungestüm in die Arme und küßte sie. Das Mädchen reagierte mit einem wütenden Biß in Wigmores Unterlippe, die zu bluten begann. Aber eben diese Abwehrreaktion entzündete in Butch Wigmore die Fackel der Begier. Er packte Ethel bei den Schultern und drückte sie mit aller Kraft gegen die Tür des Besenschranks, in der Absicht die Widerspensti89 �
ge zu zähmen. Ohne zu wissen oder es gar zu wollen, hatte Butch Ethels Oberkörper auf den kantigen Dosenöffner gedrückt und sie dabei am rechten Schulterblatt leicht verletzt. Er vernahm einen dumpfen Laut und wurde von Panik erfaßt: Ethel welkte im Schnellverfahren… Ihr draller Körper verdorrte. Das Gesicht versackte in unzähligen grauen Runzeln. Tief fielen die eintrübenden Augen in den Kopf zurück, der kaum von einem behaarten Totenschädel zu unterscheiden war… Diese Phase des körperlichen Zerfalls wurde von einer weiteren abgelöst, die ähnlich derjenigen war, die sie bei dem Mischwesen beobachtet hatten. Was von ihrer Körpersubstanz noch vorhanden war, gab die typisierende Darstellung menschlichen Gewebes auf und gerann zu einem regellosen Zellbrei, der ihm bald um die Sohlen seiner Kampfstiefel schwappte. Schreiend flüchtete Butch Wigmore aus der Küche in den Schankraum zurück. »He, Kumpel, was ist mit dir? Siehst ja aus wie Braunbier und Spucke«, rief Clanton aufspringend. »Jan hat recht«, keuchte Wigmore, während er sich die blutende Lippe mit dem linken Handrücken abtupfte. »Die Girls sind künstlich! Bei der geringsten Verletzung werden sie suppig. Nein, diesem Phänomen geht ein Alterungsprozeß im Zeitraffertempo voraus! Hört ihr es? Im Dorf wird geschossen…« Die anderen hörten es jetzt auch. Irgendwo belferte ein Maschinengewehr. Das Geknatter von Maschinenpistolen klang schon bedenklich nahe. Angstschreie erhoben sich schrill über die kurzen harten Schläge explodierender Handgranaten. Leuchtkugeln schaukelten an Fallschirmen vom Himmel nieder. »Nichts wie raus hier und in den Schützenpanzerwagen«, schrie Jason Clanton. Er stülpte seinen Stahlhelm auf, griff nach der Maschinenpistole, die auf dem Nebentisch lag, und trieb die 90 �
anderen mit kernigen Flüchen zur Eile an. Die vier rasten aus dem Schankraum, waren mit wenigen Sätzen bei dem Schützenpanzer und nahmen darin Platz. Rivel hieb ein Geschoßmagazin in die Halterung der Schnellfeuerkanone und entsicherte sie. Im Turmluk neben ihm machte Clanton das Maschinengewehr gefechtsklar. »Wir bleiben vorerst hier stehen, um uns ein Bild von der Lage zu machen«, rief Rivel zu Wigmore hinunter. »Wenigstens so lange wir unentdeckt bleiben…« »Moment mal«, ließ Potter sich vernehmen. »Das hier ist keine Manövermunition, sondern scharfe! Also ballert nicht wild in der Gegend herum!« »Sieh mal, rechts«, sagte Clanton zu Rivel. »Die machen alles nieder, was ihnen in die Finger fällt.« Jetzt sah es auch Rivel – mit nicht geringerem Entsetzen als Jason Clanton. Jenseits des Dorfteichs drangen die Männer eines Stoßtrupps in die Häuser und Gehöfte ein und trieben die Bewohner auf die Straße. Frauen und Männer – Kinder waren nicht unter ihnen – zeigten die kreatürliche Angst von kleinen Leuten. Ihre Schreie gellten durch das brennende Dorf. Wer zu flüchten versuchte, wurde mit Waffengewalt daran gehindert, um in der gleichen Weise in die Zellularstruktur zu zerfallen wie im Fall Ethel. Rivel atmete erleichtert auf, weil dort drüben, keine hundert Yard von ihnen entfernt, nur künstlich geschaffene Kreaturen in Menschengestalt ›vergingen‹. Als er sich von Potter ein starkes Nachtglas reichen ließ, erkannte er, daß die Angreifer gleich groß waren, sich glichen wie ein Ei dem anderen und an ihren rechten Oberarmen rote Binden trugen. Es handelte sich seiner Ansicht nach um die gleiche Einheit, die vor fünf Wochen durch Baston on-the-Hill marschiert war. 91 �
Drüben erhielt der Stoßtrupp laufend Verstärkung durch neu eintreffende Jeeps und Kettenfahrzeuge. Die Soldaten im Battledress saßen ab und schwärmten wie eine kampferprobte Einheit aus. Jetzt bemerkte Rivel auch Soldaten der Blau-Partei. Trotz heftiger Gegenwehr konnten sie dem Druck der energetischen Angreifer nicht standhalten. Langsam wichen sie zum jenseitigen Ortsende zurück. Plötzlich stutzte Rivel. Er hatte inmitten des dichten Kampfgetümmels Constable Brooks erkannt! Der Polizist hatte einen Revolver in seiner rechten Hand und schoß aus nächster Nähe auf einen Rot-Soldaten, der, getroffen, zu einer formlosen Zellmasse zerfiel und eine schillernde Pfütze bildete, in der seine Maschinenpistole lag. Rivel ließ das Glas sinken und rief Clanton zu: »Bei den Roten handelt es sich um Billigsoldaten aus Ridleys Retorte! Jetzt wissen wir auch, um welches Forschungsprogramm es geht! Die Army erprobt hier den Einsatz künstlicher Soldaten unter kriegsähnlichen Bedingungen.« »Mit einem Unterschied, Jan«, sagte Clanton gepreßt. »Die Blau-Soldaten, deren Uniform und Farbe wir tragen, sind so echt, wie du und ich und sie sind verwundbar! Nicht wenige von ihnen sind bereits durch die ungestüm angreifende Robotsoldateska verletzt worden.« Im Innern des Schützenpanzerwagens lachte Potter schrill. Auch Wigmore auf dem Fahrersitz befreite sich von seinen inneren Spannungszuständen, indem er laut zu fluchen begann. Er brüllte: »Achtung, Schützenpanzerwagen von links! Das Fahrzeug hat einen blauen Balken. Ist also eines der unsrigen.« Der Schützenpanzerwagen war vom gleichen Typ wie ihrer. Wild feuernd preschte er an dem Gasthof vorüber, stoppte fünf92 �
zig Yard unterhalb des Anwesens und stieß mit hoher Geschwindigkeit zurück, um in den Restaurantgarten einzubiegen und direkt neben ihnen zu halten. Im Turm lehnte ein Oberleutnant. Das Gesicht geschwärzt wie sie. Er gestikulierte heftig mit beiden Händen und brüllte mit überschnappender Stimme: »Was, zum Henker, stehen Sie mit dem Gerät hier herum, anstatt in den Kampf einzugreifen? Sehen Sie denn nicht, Sergeant, daß die Biester uns irgendwie ausgetrickst haben? Nach menschlichem Ermessen hätten sie erst im Morgengrauen in Baston onthe-Hill sein können. Aber sie sind vor uns hier! Sie umrunden mit Ihrem Fahrzeug den Dorfteich links. Ich greife mit meiner Besatzung von rechts an. Wir nehmen die Roboter in die Zange und vernichten sie, bevor sie uns am Wickel haben. Ist das klar?« Rivel dachte an die Männer, die, von Müttern geboren, gegen ungeborene menschenähnliche Zellwesen von unvorstellbarer kriegerischer Grausamkeit kämpfen mußten. »Zu Befehl, Sir«, rief er dem Kommandanten des Schützenpanzerwagens neben ihrem Fahrzeug zu. »Ich attackiere den Gegner von links. Sie tragen gleichzeitig den Angriff von rechts vor.« Rivel zog sich in den Turm zurück und schloß die Luke. Wigmore motzte zwar herum, daß er nicht daran denke, für die Army, die ihnen soviel Ungemach bereitet hatte, gegen heimtückische ›Wegwerfsoldaten‹ in den Krieg zu ziehen. Er startete aber dann doch das schwere Fahrzeug und folgte dem des Oberleutnants auf dem Restaurantgarten und auf die von Bränden erhellte Straße. Dank des schwungvoll vorgetragenen Angriffs der beiden Schützenpanzerwagen gelang es der Blau-Partei, den Kampf zu ihren Gunsten zu entscheiden und den Gegner aus Baston onthe-Hill hinauszuwerfen. Als am nächsten Morgen blutrot die Sonne aufging, wischte 93 �
sich Rivel den Schweiß aus den brennenden Augen. Zu den Kumpels sagte er, die müde und ausgepumpt in ihren Sitzen lagen: »Man sollte Ridley, dessen Tochter, Dr. Baxter und die für dieses Massaker Verantwortlichen glattweg aufhängen!« * Drei Stunden später. Die vier hatten sich in einem klaren Bach, weitab von der Straße, gewaschen und frisch gemacht. Danach hatten sie ein karges Frühstück zu sich genommen und sich im Schatten ihres sorgfältig getarnten Schützenpanzerwagens für einige Stunden niedergelegt. Von sich aus hatte Butch Wigmore die Wache übernommen. Jan Rivel träumte ungereimtes Zeug. So sah er Butch Wigmore um die schlafenden Kameraden herum einen wahren Indianertanz der Freude vollziehen. Das Seltsame daran war, daß Butch den künstlichen Girls aus dem Landgasthof ›White Bear‹ so ähnlich wie ein Zwillingsbruder sah. Gleichzeitig verspürte er die atembeklemmende Bedrängnis enggeschnürter Fesseln an seinem Körper. Rivel zwang sich dazu, wach zu werden. Es kostete ihn einige Mühe, die schweren Lider von den Augen zu haben. Was er sah, deckte sich vollinhaltlich mit seinem Traum. Wigmore hatte Clanton, Potter und ihn gefesselt. Sein Gesicht wies den gleichen stupiden Gesichtsausdruck auf wie das Ethels. Es gab für die unheimliche Verwandlung des Freundes nur eine Erklärung: Butch hatte sich durch Ethels Biß in seine Unterlippe infiziert und war schon weitgehend unnormal geworden! »Bist du verrückt geworden?« hörte Rivel Jason Clanton schreien. »Was fällt dir ein, uns zu fesseln? Sofort schneidest du die Riemen durch, oder du beziehst eine Tracht Prügel, die sich ge94 �
waschen hat.« Auch Potter schimpfte, trat sogar nach Butch mit dem Ergebnis, daß der hart und brutal reagierte und Roul in Höhe seiner Rippen traf. Rivel schluckte im Zorn. »Butch, bist du von allen guten Geistern verlassen? Jeden Moment können Billigsoldaten der RotPartei auftauchen und uns ausschalten, ohne daß wir uns zur Wehr setzen könnten.« »Ich habe Rot schon benachrichtigt, Jan«, sagte Wigmore hämisch. »Und zwar über das Funkgerät. Sie werden bald hiersein und euch zu Prof. Ridley bringen, der den dringenden Wunsch geäußert hat, euch zu sehen.« »Butch, wir sind in den zurückliegenden Tagen und Wochen allzeit gut und verständnisvoll gewesen«, sagte Potter vorwurfsvoll. »Sag’ uns bitte, was wir falsch gemacht haben, womit wir deinen gemeinen Verrat verdient haben?« »Ja, warum tust du das, Butch?« schob Clanton die Frage nach. »Warum ich das tue?« Wigmore hob die Schultern und sann nach. »Ich weiß es nicht, Jason, ich weiß nur, daß ich es tun muß!« Wigmore hob lauschend den Kopf und konstatierte bar jeder Erregung: »Ich höre sie kommen…« In der Tat war das Mahlen schwerer Panzerketten und das Dröhnen hart beanspruchter Motoren zu hören. Dann brach krachend ein Chieftain-Panzer durch das Gehölz, um keine zehn Yard von ihnen entfernt zu halten. Dem ersten Tank folgten zwei weitere und ein Mannschaftswagen mit aufgesessenen Soldaten, die auf die rauhen Kommandoworte eines Offiziers hin absaßen und mit angeschlagenen Maschinenpistolen einen Kreis um sie und den Schützenpanzerwagen der Blau-Partei zu bilden begannen. Schaudernd blickten Rivel und die wehrlosen Freunde in die harten, gleichförmigen Gesichter der künstlichen Wesen, die al95 �
lesamt aussahen, als entstammten sie ein und derselben Form. Rivel begriff, daß der Molekularbiologe seinen Schöpfungen nur eben soviel Intelligenz mitgegeben hatte, wie für rauhes Kriegshandwerk unbedingt notwendig war. Clanton, Potter und er mußten es geschehen lassen, daß sie von den Soldaten aufgehoben und in den Mannschaftswagen geworfen wurden wie Kartoffelsäcke. Anschließend saßen die Soldaten wieder auf. Bis auf die wenigen, die den Schützenpanzerwagen, der den vier Freunden so gute Dienste geleistet hatte, mit Benzin übergossen, um ihn sodann anzuzünden. Zeichen dafür, wie sehr das Tun der künstlichen Krieger von einprogrammiertem Feinddenken beherrscht wurde. Die Fahrt verlief durch eine Talsenke und endete nach einer Stunde unmittelbar hinter dem Landhaus der Ridleys auf deren Farm. Das letzte, was die Freunde hier von Butch Wigmore zu sehen bekamen, war, wie er an ein Fahrzeug gelehnt mit sichtlichem Appetit eine grüne Ernährungstablette aß. Ein sechsköpfiges Kommando brachte Potter, Clanton und Rivel in einen Raum im Obergeschoß. Nachdem die Rotsoldaten den Raum, mit Stahlgitter vor den Fenstern, verlassen hatten, ohne die drei von ihren Fesseln befreit zu haben, sagte Potter hoffnungsschwach: »Jetzt können uns nur noch die Jungs von der Blau-Partei helfen!« »Du tätest gut daran, nicht darauf zu bauen«, sagte Rivel mit bitterem Lachen. »Erstens haben wir vier ihrer Leute außer Gefecht gesetzt und ihnen einen Schützenpanzerwagen abgenommen. Zweitens arbeitet Ridley, der zweifellos unser erbittertster Feind ist, für Rot und Blau!« Clanton wollte dazu etwas sagen, doch zwei Rotsoldaten und ein Zivilist betraten den Raum. Sie befreiten Jan Rivel von seinen 96 �
Fesseln und forderten ihn auf, ihnen zu folgen. Rivel widerstrebte es, die Kameraden allein zu lassen. Doch Potter hieß ihn gehen und schloß: »Vermutlich bringt man dich jetzt zu Ridley. Wir wissen, daß du bei ihm unsere Sache mitvertrittst. Auf baldiges Wiedersehen, Jan!« »Auf baldiges Wiedersehen, Roul und Jason«, echote Rivel und trat auf den Flur. Sie gingen ein gutes Stück des Korridors entlang und betraten schließlich den Korb eines Personen- und Lastenaufzugs. Die Fahrt ging abwärts und endete nach Rivels Gefühl in einem unterirdischen, gut ausgebauten Gewölbe, tief unter den Kellerräumen des Hauses. Der Zivilist, der einen hochgeschorenen Kneiferkopf sein eigen nannte, deutete lakonisch auf eine schwere Panzertür, um kurz angebunden zu sagen: »Wir gehen da hinein, Mr. Rivel.« Ein Rotsoldat betätigte einen Hebel seitlich der Tür, die darauf ächzend zurückschwang und den Durchgang in einen wohnlichen Aufenthaltsraum freigab. Rivel betrat den Raum, der von bläulich-fahlem Kunstlicht überflutet wurde. Rechterhand war eine gediegene Cocktailbar. Der Mann auf dem Hocker davor mußte James Ridley, der Molekularbiologe, sein. Bei der jungen Lady hinter der Bar handelte es sich zweifellos um Alice Ridley. »Hier bringe ich dir Oberleutnant Rivel, James«, sagte der Zivilist hinter Rivel. »Ich bin gewiß, daß er uns einen Drink nicht abschlagen wird…« * Wie in Trance ging Rivel zu der Bar, während die Rotsoldaten � 97 �
den Aufenthaltsraum wieder verließen und sich hinter ihnen die schwere Stahltür schloß. Rivel klemmte sich auf einen Barhocker neben Ridley, der ihn unverfroren musterte. Der Mann war etwa Mitte fünfzig, untersetzt und mit einem weißen Labormantel bekleidet. Von seinen graugrünen Augen ging etwas Zwingendes aus. Sein schmaler, strichdünner Mund verriet Härte gegen sich selbst und andere. Auffallend waren Ridleys hohe Stirn und das unentwegte Spiel seiner überschlanken Hände. »Was darf ich Ihnen anbieten?« fragte Alice Ridley, im Gegensatz zu ihrem damaligen rüden Verhalten jetzt die Freundlichkeit in Person. Sie trug eine schulterfreie Batistbluse und einen engen Wickelrock. Rivel warf ihr einen mißtrauischen Blick zu, worauf sie lächelnd versicherte, die ›echte‹ Alice zu sein. »Geben Sie mir einen Whisky pur«, bat Rivel, mit einem Blick nach links, wo Dr. Baxter stand und eine Olive aus seinem Cocktailglas fischte. »Einen Whisky pur für den Lieutenant«, wiederholte Alice die Bestellung und griff nach der Flasche auf dem Regal. Ridley räusperte sich dezent. »Sagen Sie, Mr. Rivel, wie kommen Sie eigentlich dazu, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen?« fragte er in schleppendem Tonfall. »Wir haben durch Sie und Ihre Freunde eine Menge Ärger gehabt« »Und Sie haben mir mit der Kopie Ihrer Stieftochter einen Mord angehängt, was ich auch nicht gerade als feinen Zug von Ihnen bezeichnen möchte«, gab Jan bissig zurück. »Bitte – das geschah auf Veranlassung der Militärs. Ihre Neugier sollte die zur Zeit stattfindenden Manöver nicht gefährden. Sie sind sich doch hoffentlich der enormen Bedeutung einer künstlich geschaffenen Soldateska bewußt? Wenn meine Billigkrieger halten, was sie versprechen, steht in Zukunft ein uner98 �
schöpfliches Reservoir an menschlichen Kopien zur Verfügung, das je nach Programmierung Verwendung finden kann. Menschen würden dadurch geschont und nicht mehr auf den Schlachtfeldern verbluten. Meine Billigkrieger würden für sie Stellvertreterkriege führen.« »Ihr Whisky«, sagte Alice und schob Rivel das Glas hin. »Sie haben Ihre Forschungstätigkeit nicht nur auf die Herstellung von künstlichen Menschen beschränkt«, warf Rivel ein, nachdem er einen Schluck genommen hatte. »Sie haben in schändlicher Weise mit menschlichen Gehirnen experimentiert und Verbrechen begangen, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Ich erinnere nur an Gordon Keller. Nach der Entnahme seines Gehirns tritt er in der Abnormitätenschau seines Stiefvaters als ›Gordon der Robotmensch‹ auf.« Rivel schwenkte seinen Blick auf Alice Ridley ein. »Sagen Sie doch mal etwas dazu, Verehrteste! Oder wollen Sie mir weismachen, davon nichts gewußt zu haben?« »Was ereifern Sie sich, Mr. Rivel?« fragte Alice nonchalant. »Wir arbeiten in viele Richtungen und können nicht immer in der Wahl unserer Mittel zimperlich sein. Unser Forschungsprogramm verschlingt eine Unmenge Geld, das Militär beteiligt sich nur mit etwa sechzig Prozent der entstehenden Unkosten.« »Wollen Sie behaupten, daß unsere militärische Führung Ihre verbrecherischen Geschäfte mit Menschenhirnen gutheißt?« fragte Rivel fassungslos. Prof. Ridley lachte schallend. »Die Militärs und die Geheimdienste, mit denen wir zusammenarbeiten, oder mal anders gesagt, die unsere Auftraggeber sind, kennen nur die eine Seite der Medaille. Sie sind an der Enträtselung der Funktionsprinzipien des Lebens interessiert, an DNA-Transplantantionen und rekombinierten Plasmiden. Kurzum an Billigkriegern.« Ridley rutschte von seinem Barhocker und machte eine einladende Handbewe99 �
gung. »Kommen Sie, Mr. Rivel! Ich will Ihnen das größte Geheimnis dieses Jahrhunderts offenbaren… Sie werden sehen und staunen und mir sowie Dr. Baxter die kleinen Nebenspielereien verzeihen!« Ridley bewegte sich auf eine Tür seitlich der Bar zu und öffnete sie. Rivel folgte. Auch Dr. Baxter und Alice schlossen sich an. Durch eine Unterdruckschleuse gelangten sie in eine Umkleidekammer, wo Baxter Rivel aufforderte, einen der bereit hängenden sterilen Schutzanzüge überzuziehen. Nachdem jeder von ihnen einen solchen Anzug mit Gesichtsmaske trug, übernahm Baxter die Spitze und führte sie in ein langes, mit grünen Fliesen ausgekacheltes Gewölbe, das mit sargähnlichen Behältern in großer Zahl bestanden war. In diesen gläsernen Behältern wuchsen in einer opalisierenden Flüssigkeit menschliche Kopien jenes Typs heran, die als Billigsoldaten Verwendung fanden. Mehrere Behälter oberhalb der gläsernen Wannen enthielten alle biochemischen Substanzen, Säuren und Träger ganz bestimmter Eigenschaften, die Voraussetzung für die Erschaffung künstlicher Wesen waren. Rote, grüne, blaue und gelbe Schläuche führten von den Behältern nach strengen Basenpaarungsregeln zu den Inhalten der Wannen und sorgten für beinahe explosionsartige Entwicklungen. Rivel war dermaßen über das, was er sah, schockiert, daß er kaum eines Wortes fähig war. Schließlich ermannte er sich und fragte Ridley: »Wirklich beeindruckend. Wie lange brauchen Ihre Geschöpfe, um fertig den Wannen zu entsteigen?« »Von ihrer Grundlegung bis zu ihrer vollständigen Reifung benötigen sie genau vierundzwanzig Stunden«, antwortete Alice anstelle ihres Vaters. »Weitere vierundzwanzig Stunden benötigen wir, um sie so einzustellen, daß sie ihren künftigen Aufgaben, gleichwie, gewachsen sind.« 100 �
»Wir können jedoch den Werdungsprozeß erheblich beschleunigen, falls dies sich als notwendig erweisen sollte«, ließ Dr. Baxter sich erstmalig zum Thema vernehmen, lächelte grausam und fuhr dozierend fort: »Wir werden später von Ihnen eine Kopie ziehen, die bereits nach einer Stunde ausgereift sein wird!« Jan rollte seine Schultern vor lauter Unbehagen. »Und wozu soll das gut sein?« fragte er, von Baxter auf Ridley blickend. Der Professor nickte gewichtig. »Eine berechtigte Frage, Mr. Rivel. Wir können Ihre und Ihrer Freunde Einmischung nicht ungestraft lassen und haben deshalb beschlossen, Sie, danach die anderen Gentlemen, gegen Ihre und die anderen Kopien kämpfen zu lassen. Falls Sie überleben, Ihr zweites Ich im Kampf auf Leben und Tod bezwingen, werden Sie und Ihre Freunde weiterleben – wenn auch mit einem vereinfachten Gehirn.« Das alles klang so furchterregend, daß Rivel in Panik geriet, sich umdrehte und aus dem Gewölbe flüchten wollte. Ein kurzer greller Pfiff Dr. Baxters genügte jedoch, um sechs Rotsoldaten auf den Plan zu rufen, die sich auf Rivel warfen und ihm mit einer Impfpistole, die ein starkes Betäubungsmittel enthielt, das Bewußtsein raubten. Als Jan nach einer Stunde, mit schmerzenden Gliedern und keines klaren Gedankens fähig, erwachte, lag er festgeschnallt auf dem Operationstisch einer modernen Ambulanz. Prof. Ridley, Alice und Dr. Baxter bemühten sich um ihn in einer nicht zu definierenden Art. Die drei trugen grüne Operationsmäntel, Kopfhauben und den obligatorischen Mundschutz. Als Ridley sah, daß Rivel bei Bewußtsein war, fragte er freundlich: »Nun, wie fühlen Sie sich, Mr. Rivel?« »Mir ist übel«, murmelte Jan, dem die Zunge übergroß und pelzig in der Mundhöhle lag. »Aber Sie sind frei von Schmerzen?« 101 �
»Nein, Schmerzen habe ich nicht – bis auf das komische Gefühl in der Herzgegend.« »Das rührt von der Punktierung her. Ich habe einige Zellen entnommen, desgleichen Ihrer Leber, den Nieren und allen anderen Organen. Wir benötigen dieses Material zur Grundlegung Ihrer Kopie sowie für die chemische Chirurgie an eben diesen Zellen. Wie Sie wissen, gilt es eine Unmenge von Informationen und Eigenschaften zu übertragen. Schließlich soll Ihre Kopie nicht viel schlechter sein als das Original…« »Sie haben mit dem Teufel einen Pakt geschlossen«, krächzte Rivel. Vergeblich bäumte sich sein geschundener Körper gegen die breiten Lederriemen auf, die ihn an den Tisch fesselten. »Regen Sie sich nicht auf, Mr. Rivel! Sie brauchen Ruhe und Gelassenheit… Bevor ich mich Ihrem Gehirn und dem Rückenmark zuwende, wird Dr. Baxter Sie narkotisieren. Also, versuchen Sie sich zu entspannen…« »Nein, das können Sie doch nicht mit mir machen«, schrie Rivel, starr vor Entsetzen und konnte nicht verhindern, daß Dr. Baxter die Narkosemaske auf sein Gesicht senkte. Erneut verlor Jan das Bewußtsein, und ungerührt fuhr Prof. Ridley, von seiner Stieftochter Alice assistiert, fort, ihm Gewebeproben zu entnehmen. * Jan Rivel atmete auf, als er im Kreis seiner Kameraden aus tiefer Bewußtlosigkeit erwachte. Dann sah er mit Schrecken, daß es Potter und Clanton nicht besser als ihm ergangen war. Beide lagen wie er in einem ganz gewöhnlichen Hospitalbett. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um festzustellen, daß sie sich nach wie vor in dem Landhaus der Ridleys befanden. »Hallo«, rief Jan mit schwacher Stimme. »Könnt ihr mich hö102 �
ren?« Als Zeichen dafür, daß er verstanden hatte, hob Roul Potter die rechte Hand, während Clanton versuchte sich aufzusetzen und mit heiserer Stimme krächzte: »Wir hören dich, Jan. Auch uns hat Ridley Körperzellen und Gewebeproben entnommen, um von uns Kopien herzustellen, gegen die er uns kämpfen lassen will. Schon morgen, wie er zynisch bemerkte. Allein der Gedanke daran frustriert mich. Können wir denn nichts tun, um das Blatt zu wenden?« »Du vergißt, daß wir eingeschlossen sind«, sagte Potter verzweifelt. »Außerdem hat uns die Tortur, die wir gerade erst hinter uns haben, derart geschwächt, daß wir zur effektiven Gegenwehr gar nicht in der Lage sind.« »Stehen denn noch Wachen vor der Tür?« fragte Rivel. »Wer sieht eigentlich nach uns?« »Die Wachen, bestehend aus künstlichen Soldaten, wurden auf Geheiß von Ridley abgezogen. Das habe ich hören können, als man uns in diesen Raum verlegt hat«, sagte Potter. »Wer uns ärztlich versorgt, das wird sich noch herausstellen. Vorsicht, es kommt jemand…« Die Männer schlossen die Augen und gaben sich den Anschein, erschöpfter zu sein, als sie es in Wirklichkeit waren. An den Schritten hörten sie, daß eine Einzelperson den Raum betrat. Ihr Schritt kam ihnen irgendwie bekannt vor. Als sie unter den Augenlidern hervor einen Blick riskierten, erkannten sie zu ihrem ungeheuren Erstaunen Butch Wigmore. Potter fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch, um ihn anzuzischen: »Was, zum Teufel, willst du hier, du Verräter? Willst du dich an unserem Unglück weiden? Verschwinde, du hast aufgehört, ein menschliches Wesen zu sein!« Wigmore ließ den Kopf hängen. Er war auf der Mittellinie des 103 �
Raumes stehen geblieben und sagte dumpf: »Roul, das Menschliche in mir hat über die Einflüsse von außen gesiegt. Und weißt du, wieso das so ist? Nachdem ich die grüne Ernährungstablette gegessen hatte, wurde mir furchtbar übel. Ich mußte brechen, doch dann fühlte ich mich besser und erkannte, was ich angerichtet habe.« »Du Kanaille machst uns was vor«, reagierte Clanton ärgerlich, während seine Augen nach einem Gegenstand in Griffnähe suchten, den er Wigmore an den Kopf werfen konnte. »Laß es gut sein, Jason«, sagte Rivel zu dem aufgebrachten Clanton. Lange forschten seine Augen in Wigmores Gesicht, das sich wieder zu seinem Vorteil verändert hatte. »Hat man dich zu uns geschickt, oder bist du freiwillig hier, Butch?« fragte er. »Man hat mich dazu abkommandiert, um für euer Wohlergehen zu sorgen«, antwortete Wigmore freimütig. »Allerdings wissen die Ridleys und Dr. Baxter nicht, daß mit mir eine Verwandlung zum eigenen Ich vor sich gegangen ist. Sie glauben nach wie vor felsenfest daran, daß ich, durch Ethels Biß in die Unterlippe infiziert, ihren künstlichen Kreaturen näher stehe als euch. Ich tue alles, um sie darin noch zu bestärken, und daß ich meine Rolle gut spiele, könnt ihr an meinem Hiersein ermessen.« Wigmore deutete auf die rote Armbinde, die er um den rechten Ärmel seines tarnfleckigen Kampfanzugs trug. »Seht ihr? Dieses Ding ist so eine Art Freipaß für mich. Ich kann mich ungehindert im ganzen Haus bewegen. Ihr hättet Ridleys Gesicht sehen sollen, als ich die blaue Armbinde gegen die rote austauschte. Er sah darin sich und seine Forschungsarbeit voll bestätigt.« »Was meint ihr?« fragte Potter, erst Clanton und dann Rivel. »Können wir ihm Glauben schenken?« »Ich glaube schon«, antwortete Rivel zögernd. »Jedenfalls kann Butch die Scharte wieder auswetzen. Wir werden sehen…« Er drehte seinen schmerzenden Kopf wieder Wigmore zu. »Wie 104 �
lange liegen wir jetzt hier, Butch?« »Den zweiten Tag.« »Wann soll das Experiment mit unseren Kopien stattfinden? Unser Kampf gegen sie?« »Morgen vormittag.« »Wäre es dir unter Umständen möglich, telefonisch mit Colonel Bacon Verbindung aufzunehmen?« »Leider nein«, antwortete Wigmore. »Es gibt nur einen Telefonapparat hier, und der ist ständig unter Verschluß.« »Und wenn du versuchst, mit einem Car zu flüchten, um Hilfe herbeizuholen?« fragte Potter. »Die Fahrzeuge auf der Farm werden von Rotsoldaten streng bewacht. Um sie benutzen zu können, benötigt man einen Fahrbefehl, und den stellt nur Dr. Baxter aus.« »Wie lange soll das Manöver noch andauern?« fragte Clanton. »Noch eine ganze Woche.« »Und wie sieht’s aus?« »Rot gewinnt und siegt auf der ganzen Linie.« »Kopien besiegen ihre Originale?« fragte Rivel entsetzt. »Wie ist das möglich?« »Es müssen Ridley ein paar Gene mit hineingerutscht sein, von denen er keine Ahnung hatte. Jedenfalls lernen die Kopien furchtbar schnell. Sie scheinen über einen sechsten Sinn zu verfügen und ahnen im voraus, was der Gegner vorhat. Selbst Ridley werden diese künstlichen Rabauken allmählich unheimlich. Gestern abend zum Beispiel konnte ich ein Gespräch zwischen ihm und Dr. Baxter verfolgen. Und zwar in der Bibliothek des Hauses, wo ich mit Alice Schach spielte. Ridley sprach sich dafür aus, die aggressivsten seiner künstlichen Billigtruppe mit Nanostatin zu behandeln. Damit ist ein Bakterienstamm bestückt, der mit entsprechenden Genen sofortige Zwergwüchsigkeit bewirkt und sie schließlich wie Eintagsfliegen umkommen läßt. Es genü105 �
ge nämlich nicht mehr, so Ridley, diese Burschen zu verletzen und auf ihren Zerfall zu warten, da sie weitgehend immun seien.« »Und was hielt Baxter von dem Vorschlag seines Chefs?« fragte Potter. »Baxter trat dafür ein, vorerst noch zu warten. Er sieht die Lage weit weniger gefährlich und meint, eine Verselbständigung ihrer künstlichen Wesen wäre allein wegen der genetisch eingebrachten Schutzmechanismen nicht möglich.« »Wenn sich Baxter da nicht irrt«, sagte Clanton, um Butch Wigmore zu fragen: »Hast du eine Ahnung, wie dieses Nanostatin angewendet wird?« »Du wirst furchtbar lachen, Jason«, antwortete Wigmore. »Es findet in der Hauptsache als Spray Verwendung. Über die Nase gelangt es ins Gehirn, wo es über die Thymusdrüse die Schrumpfung bewirkt.« »Wenn wir das Zeug in unseren Besitz bringen könnten, um es gegen unsere Kopien und alle auf der Farm stationierten Rotsoldaten anzuwenden, wäre das eine große Chance für uns, Ridley und seinen künstlichen Wesen den Garaus zu machen«, sinnierte Rivel. »Ich weiß, wie ich an Nanostatin herankomme«, sagte Wigmore. »Es gibt hier ein Magazin mit Antikörpern zur Immunisierung, Blutplasmen, Plasmiden, DNS-Elementen und Enzymen, um nur einige zu nennen. Dort befindet sich auch Nanostatin für verschiedene Anwendungsbereiche.« »Du weißt verdammt gut Bescheid«, knurrte Potter mit neu erwachtem Mißtrauen. »Das kommt daher, weil heute morgen eine Ladung Aminosäuren angekommen ist, die ich auf Geheiß Alices registrieren und lagern mußte. Dieses Material soll späteren Experimenten dienen. Und dann noch etwas…« Butch Wigmore schlich zur 106 �
Tür und riß sie auf, um festzustellen, ob sie belauscht wurden, was nicht der Fall war. Er kehrte zu den bettlägerigen Freunden zurück und senkte die Stimme: »Mir gelang es, zwei Handgranaten beiseite zu schaffen.« »Wo hast du die Teufelseier?« fragte Clanton. »Bring sie her! Ich will die verdammte Teufelsbrut, die unter dem Namen Ridley firmiert, in die Luft sprengen!« »Die Sprengkörper befinden sich in meinem Zimmer, unter Dielenbrettern versteckt. Du mußt Geduld haben, Jason. Im Augenblick komme ich nicht dran. Zunächst werde ich versuchen an das Nanostatin heranzukommen und es in einem günstigen Moment euch zuzuspielen. Und zwar kurz bevor morgen vormittag die Kampfspiele beginnen. Das gilt auch für die Handgranaten. Vertraut mir, Jungs! Ich werde tun, was in meinen Kräften steht…« Wigmore trat erst an Clantons Bett heran, reichte ihm die Rechte und gab im Anschluß daran auch Potter und Rivel die Hand. Dann verließ er mit eiligen Schritten den Raum und drehte den außen steckenden Schlüssel im Schloß. * Am nächsten Morgen servierte Butch auf Anordnung Ridleys große T-bone-Steaks mit Kartoffeln in Alu-Folie und pro Kopf und Nase fünf Flaschen Bier. Da Butch nicht allein war, konnte er nicht reden wie er wollte. Dafür sagte Alice Ridley, die an der Tür zurückgeblieben war: »Stärken Sie sich, Gentlemen! Es steht Ihnen ein schwerer Gang bevor!« »Darf man Näheres wissen?« knurrte Rivel, der mit galligem Blick die Bernardelli-Flinte unter Alices rechtem Arm streifte. »Warum nicht, Mr. Rivel?« antwortete die Lady im grünen Jagdanzug. »Um in etwa die Gleichheit Ihrer Chancen zu wah107 �
ren, werden Sie, mit Dreizack und Schwert, nach Art der alten Römer gegen Ihre Kopien in der Rolle als Gladiatoren kämpfen!« »Und wo sollen diese zirzensischen Spiele stattfinden?« fragte Potter griesgrämig. »In der Halle des Hauses. Dr. Baxter und einige Gehilfen werden Ihnen gleich Helme, Beinschienen, Brustpanzer und Waffen bringen. Sie täten übrigens gut daran, wenn Sie darauf verzichten würden, sich Chancen auszurechnen. Unsere Soldaten werden ein waches Auge auf Sie haben.« »Würden Sie jetzt bitte gehen, Miß?« grollte Clanton übellaunig. »Ich möchte mich meinem Steak zuwenden.« »Tun Sie das«, erwiderte Alice lachend und sagte zu Wigmore: »Kommen Sie, Butch! Lassen wir die Gentlemen allein…« »Sehr wohl, Madam«, murmelte Wigmore und folgte Alice Ridley mit staksigem Gang auf den Flur. Schweigend machten Potter, Clanton und Rivel sich über das Essen her. Die Punktionen und anderen Eingriffe vom Vortag hatten sie gut überwunden. Sie fühlten sich stark genug, um den Kampf gegen ihre Ebenbilder zu wagen. Kaum hatten sie den letzten Bissen hinuntergeschlungen, einige Flaschen Bier nachgespült, kam Dr. Baxter mit zwei künstlichen Soldaten herein, die bis an die Zähne bewaffnet waren. Sie postierten sich zu beiden Seiten der Tür und ließen vier weitere Rotsoldaten passieren, die in Körben römische Wehrgehänge, Helme und Waffen mit sich schleppten. »Ziehen Sie Ihre Schlafanzüge aus und diese Rüstungen an«, befahl Ridley, mit seiner goldenen Taschenuhr spielend, die er an der Kette baumeln ließ. »Und beeilen Sie sich bitte! Ihre Kopien warten schon!« »Und – sind sie gelungen?« fragte Clanton giftig. »O ja, prächtig sogar«, antwortete der Mann voller Stolz. »Was sie Ihnen gegenüber an Intelligenz missen lassen, haben wir an108 �
derweitig wett gemacht. Lassen Sie sich überraschen!« Wohl oder übel mußten die drei Freunde die halbwegs passenden Rüstungen anziehen, die bunten Helmbüsche und Purpurmäntel gaben ihnen ein kriegerisches Aussehen. Sie prüften die Schneiden ihrer Schwerter und Spitzen der Kurzlanzen. Sie flochten die Wadenriemen ihrer römischen Legionärsstiefel neu und reklamierten das Fehlen von Schutzschilden. »Sie sollen sich nicht hinter den Schilden zur Ruhe begeben, sondern Ihre Gegner fortgesetzt angreifen«, bemerkte Baxter dazu. »Wir verzichten auf die Darbietung von Einzelkämpfen«, fuhr er fort. »Der Kampf geht also drei gegen drei. Kommen Sie jetzt! Wir wollen Prof. Ridley und die anderen nicht länger warten lassen.« Einer der Rotsoldaten öffnete die Tür zum Flur. Zwei andere gingen voraus, ihnen mußten Potter, Clanton und Rivel folgen. Den Schluß bildete Baxter, der sich von einem weiteren Rotsoldaten eine Maschinenpistole hatte geben lassen, deren Mündung er auf die ›smarten Römer‹, wie er sagte, richtete. Des Eisenzeugs ungewohnt, gingen die drei etwas steif und ungelenk über die Freitreppe nach unten. Mit weißen Stricken war ein großes Karre markiert worden. Die hohen Fenster der Halle waren wegen der schweren Vorhänge davor nicht zu sehen. Außer Ridley und Tochter waren noch drei Herren in Zivil, vermutlich Agenten des Geheimdienstes, anwesend. Sie alle bildeten einen Zuschauerblock, der sich auf der rasch gezimmerten Tribüne niedergelassen hatte. Die Herren spendeten überaus blasiert Beifall, als die drei den kurzen Weg von der Freitreppe zum Ring inmitten der Halle gingen. Rivel verspürte eine Wut und marschierte geradewegs auf einen höheren Offizier los. »Sir, Sie lassen das hier zu?« fragte er mit vor Empörung versa109 �
gender Stimme. Der Angesprochene zwirbelte seinen Schnurrbart und musterte Rivel aus kalten Fischaugen. Er trug an seiner Uniform die taktischen Zeichen einer Spezialtruppe für die ABC-Kriegsführung. »Sie sind First-Lieutenant Rivel, nicht wahr?« fragte er. »Jawohl, Sir. First-Lieutenant Rivel. Dort sind meine Kameraden Potter und Clanton.« »Entwichen aus dem Gefängnis des Militärcamps von Baumder. Mann, Sie, Potter und Clanton sollten diese Chance nutzen und mit einem kleinen Experiment Ihre Lage verbessern. Wenn einer vor Gericht für Sie gutsprechen kann, dann ich, General Clark!« »Sir, wir weigern uns entschieden, an diesem ›Experiment‹ teilzunehmen«, sagte Jan Rivel mit gefestigter Stimme. »Merken Sie denn noch immer nicht, daß Sie und Ihre Geheimdienstler gewissenlosen Gen-Manipulateuren aufgesessen sind, die nebenher im Trüben fischen?« »Zur Kenntnis genommen, Rivel«, schnarrte der Mann. »Sie und Ihre Kameraden werden jetzt Ihre verdammte Pflicht für unsere Army tun oder Sie werden mich kennenlernen! Ab dafür! Ich will nichts mehr hören…« Zwei Billigsoldaten aus der Retorte packten Rivel und drängten ihn mit brutaler Gewalt zum Ring. Potter, Clanton und Rivel kletterten in den Ring und suchten die ihnen zugewiesene Ecke auf. Zu ihrer Freude stellten sie fest, daß Butch Wigmore ihr Ringbetreuer war. Er hatte neben sich einen Plastikeimer mit Wasser stehen, einige feuchte Handtücher zur Hand, und was man sonst noch benötigte, um ›seinem Mann‹ die Ringschlacht überstehen zu helfen. Dr. Baxter kam im weißen Leinenzeug in den Ring. Er ging in die entgegengesetzte Ecke, um hier auf seine Schützlinge zu 110 �
warten, die jeden Augenblick aus einem der rückwärtigen Räume die Halle betreten mußten. »Aufgepaßt«, flüsterte Butch Wigmore Rivel zu, ohne die Lippen zu bewegen. »Unter dem großen Schwamm im Eimer liegen drei Spraydosen mit Nanostatin. Haltet euch bis zu Beginn der dritten Runde! Dann schnappt sich jeder eine Dose und sprüht das Zeug auf seinen Gegner. Anschließend richtet ihr die Düsen auf die Billigsoldaten in eurer Nähe. In dem allgemeinen Durcheinander werfe ich eine Handgranate. Ihr nutzt die Panik, um zum Fenster, ganz links außen, zu laufen. Hinter dem Vorhang habe ich drei Maschinenpistolen abgestellt.« »Okay, Sohn, aber wie kommen wir hier weg?« fragte Jan leise, während Butch seinen Brustpanzer blank wienerte. »Draußen vor dem Portal steht der Wagen des Generals. Den nehmen wir.« Wigmore kniff verschwörerisch das rechte Auge zu und begann mit der Behandlung von Potter, der alles mitgehört hatte und wenig später Clanton unterrichtete. Erneutes Händeklatschen, diesmal bedeutend stärker als ihnen zugedacht. Die drei Kopien marschierten auf, wegen der schlechten Lichtverhältnisse, die in der hinteren Halle herrschten, nicht gleich zu erkennen. Ähnlich herausgeputzt und bewaffnet wie sie, näherten sie sich dem in vollem Lampenschein liegenden Ring. Als sie über die Seile kletterten und in ihre Ecke gingen, sahen Potter, Clanton und Rivel voller Schrecken, was Baxter mit den Worten: ›Lassen sie sich überraschen‹, gemeint hatte. Jede Kopie besaß zwei Armpaare und verstand sie nach dem ersten Eindruck auch zu gebrauchen! Vergeblich suchten Potters Augen nach einem Ringrichter. Schließlich wandte er sich an Baxter in dessen Eigenschaft als Betreuer der drei Kopien: »Das ist unfair, Baxter! Hier wird nicht gemogelt!« 111 �
»Was unfair ist und was nicht, bestimme ich«, erwiderte der Mann breit grinsend. »Das Manko, nur zwei Waffenarme zu besitzen, machen Sie und Ihre beiden Freunde durch mehr Intelligenz wett. Machen Sie sich bereit! Der Kampf wird gleich beginnen!« Die Kopien bekamen von Baxter scharfe Schwerter und Netze gereicht. Beides verstanden sie vortrefflich zu handhaben. Es war schon erschreckend mitanzusehen, wie ihre oberen Arme beidhändig mit den Schwertern agierten, während die Hände des unteren Armpaares äußerst geschickt mit den grobmaschigen Fangnetzen hantierten. Dann gingen die drei Kopien in Front zu ihren Originalen, und erstmalig wurde die frappierende Ähnlichkeit zwischen ihnen sichtbar. Original und Kopie glichen sich jeweils wie eineiige Zwillinge, wenn man von dem zweiten Armpaar absah. Sie näherten sich einander und maßen sich mit unfreundlichen Blicken. Trotz des Grolls seiner Kopie gegenüber im Herzen, schlug Rivel seinem Gegner gegenüber einen moderaten Ton an. Potter und Clanton hielten es ähnlich so, wie er nebenher bemerkte. »Hallo…« »Hallo, Jan«, klang es gleich zurück. »Wie fühlst du dich?« fragte Rivel, das Original. »›Fühlen‹? Tut mir leid, Jan. Dieser Angriff ist für mich ohne Sinngehalt«, antwortete Rivel, die Kopie. »Anders gefragt: Macht es dir nichts aus, mich umzubringen, oder von mir umgebracht zu werden?« »Ich kann die Frage nicht beantworten, Jan. In meinen Ohren klingt sie paradox. Meine Devise lautet: Entweder du oder ich!« »Schade«, sagte Rivel, das Original. »Unter anderen Vorzeichen hätten wir uns gewiß prächtig verstanden. Was hältst du von unserem Publikum?« »Es will Blut sehen und zu neuen Erkenntnissen gelangen.« 112 �
»Wenigstens sind wir hierin einer Meinung. Weißt du, mich wurmt, daß sie sich an dem bevorstehenden Schlachten regelrecht ergötzen. Der Titanenkampf zwischen Originalen und Kopien gibt ihnen etwas. Sieh dir nur Alice Ridley an! Sie empfindet ein geradezu orgiastisches Vergnügen daran.« »Wieder ein Wort, mit dem ich nichts anzufangen weiß«, sagte Rivel, die Kopie. »Was hältst du davon, wenn wir, statt uns gegenseitig zu zerfleischen, Front gegen unsere Zuschauer machen, Jan?« fragte das Original seine Kopie. »Ein bestechender Gedanke, wie ich zugeben muß, doch bin ich leider nicht darauf programmiert«, antwortete die Kopie dem Original. Gern hätte Rivel das Gespräch fortgesetzt, doch Baxter klatschte energisch in die Hände und rief: »Gentlemen, der Vorstellung ist Genüge getan. Kehren Sie in Ihre Ringecke zurück. Der Kampf beginnt, sobald der Gong ertönt! Jede Runde dauert fünf Minuten. Sieger ist, wer seinen Gegner getötet hat…« Rivel drehte sich um und ging in seine Ecke, wo er zu Potter und Clanton sagte: »Der Gedanke, ein Ebenbild zu töten, hat etwas Frustrierendes für mich.« »Du mußt dagegen angehen«, zischte Butch Wigmore ihm zu. »Für euch gilt, die ersten beiden Runden zu überstehen. Mit dem Gongschlag zur dritten Runde seid ihr am Drücker. Ich sage nur ein Wort: Nanostatin!…« Kaum hatten sie ihre Purpurmäntel abgelegt, ertönte der Gong. In gebückter Haltung, als Linkshänder das Schwert links gepackt, die kurze Lanze in der rechten Hand, schob Rivel sich auf die Ringmitte zu. Aus den Augenwinkeln heraus gewahrte er Jason Clanton, der die Kurzlanze bevorzugte und Roul Potter, der 113 �
gelassen wirkte. Rivel konzentrierte sich voll und ganz auf die Rivel-Kopie. Dennoch wäre es der beinahe gelungen, ihm das Netz überzuwerfen. So schnell und elanvoll war ihr Ausfall auf ihn. Rivel hütete sich vor dem Versuch, mit dem Schwert die Maschen des Netzes zu durchtrennen. Er wich vor dem erneuten Vorprellen seines Gegners zurück und ging seinerseits zum Angriff über. Innerlich beglückwünschte er sich, als halbwegs passabler Fechter nicht gänzlich chancenlos zu sein. Es gelang ihm sogar, seiner Kopie eine tiefe Fleischwunde am linken Oberarm beizubringen. Obwohl der klaffende Schnitt im Muskelfleisch schmerzhaft sein mußte und blutete, äußerte die Kopie keinerlei Schmerzempfindungen. Rivel begnügte sich mit reinen Defensivmaßnahmen, wobei er versuchte, die Schwächen seines Gegners herauszufinden. Roul Potter schien die seines Gegenüber bereits bemerkt zu haben. Er setzte die stahlbewehrte Spitze seines rechten Legionärsstiefels seiner Kopie in den Schritt und katapultierte sie so gegen die Seile. Dann ertönte der Gong. Schweratmend kehrten die drei Freunde zu Butch Wigmore in die Ecke zurück und ließen sich von ihm mit dem Schwamm den Schweiß aus den Gesichtern waschen. »Seid vorsichtig«, flüsterte Butch, während er ihnen Service gab. »Die künstlichen Burschen machen jetzt ernst! Dr. Baxter hat sie angewiesen, einen Zahn zuzulegen!« »Okay, wir werden auf der Hut sein.« Clanton überlegte, ob er es schaffte, überraschend in Baxters Ecke aufzutauchen und dem Mann das Schwert ins Herz zu rammen. Der Gong zur zweiten Runde ertönte. Diesmal wurde es wirklich ernst. Die Kopien griffen an wie tollwütige Hunde und stießen dabei heisere Urschreie aus, die 114 �
den Zweck verfolgten, den Gegner zu demoralisieren. Das Publikum feuerte sie begeistert mit Zurufen an. Rivel packte die Wut, fintete geschickt und jagte seinem Gegner die Lanze in die Seite. Trotz der schweren Verwundung blieb der auf den Beinen und focht weiter. Roul Potter mußte indes Jason zu Hilfe kommen, obwohl er selbst alle Hände voll zu tun hatte, um sich seines Gegners zu erwehren. Clantons Kopie war es nämlich gelungen, ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen. Von dem überaus starken Schlag geprellt, hing sein rechter Arm gelähmt und nutzlos an der Seite herunter. Potter stabilisierte die Lage, indem er Clantons Gegner einen Arm abhieb. Er konnte allerdings nicht vermeiden, daß er selbst eine Stichwunde in den linken Oberschenkel erhielt. Obwohl das Kampfgeschehen noch unentschieden schien, war abzusehen, daß die Kopien an Ausdauer und Kampfwut ihren Originalen überlegen waren. Sowohl Rivel als auch Potter und Clanton gaben sich keinen Illusionen hin, mehr als fünf Runden zu überstehen. Nach endlos langer Zeit ertönte endlich der Gong, und sie kehrten in ihre Ringecke zurück. Butch Wigmore gab ihnen Service und schob mit dem rechten Fuß den Plastikeimer in Griffnähe der drei. »Schnappt euch die Spraydosen erst, wenn der Gong ertönt! Und dann nichts wie ran!« Rivel nickte und preßte die rechte Hand auf das rebellierende Herz. Potter und Clanton streiften mit raschem Blick das Fenster, hinter dessen bis zum Boden reichenden Vorhang Maschinenpistolen für sie bereit lagen. Dann ertönte der Gong zur dritten Runde. Fast gleichzeitig griffen die Freunde in den Plastikeimer. Zu ihrer Überraschung waren die Spraydosen kleiner als gedacht. Ihre Größe erlaubte es 115 �
ihnen, sie von der gegnerischen Ecke unbemerkt in der hohlen Hand zu verstecken, wozu sie allerdings die Lanzen zurücklassen mußten. Mit der Beinarbeit erstklassiger Boxer näherten sich Rivel, Potter und Clanton der Ringmitte, wo ihre Gegner mit gezückten Schwertern bereits auf sie warteten. Wie auf Kommando hoben sie die Hände mit den Spraydosen und belegten ihre völlig überraschten Kopien mit breiten Fahnen des abgesprühten, fein verteilten Nanostatin. * Die Wirkung war erschreckend und verblüffend zugleich. Alle drei Kopien schrumpften unter eigentümlichen Lauten zur Größe von Gartenzwergen zusammen. Mit ihren verschwommenen Körperkonturen wirkten sie wie riesige Gummibären, die Asterix und Obelix spielen. Eher bedauernswert als komisch anzusehen, hatten sie gegen ihre drei Originale, denen sie immer weniger glichen, keine Chancen mehr. Sie drehten sich um und wollten flüchten. Zwei von ihnen gelang es sogar. Den dritten erwischte Clanton mit dem Schwert. Er nagelte damit seine Kopie auf dem Boden fest und zertrat sie wie eine Laus. Dr. Baxter hatte sich nach Sekunden lähmenden Entsetzens als erster von dem Schock erholt. Aber sein Schrei, der die Rotsoldaten aktivieren sollte, ging unter in der Explosion der von Butch Wigmore geschleuderten Handgranate. Im Nu herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander, das in eine Panik auszuarten drohte. Von den anwesenden Gästen und künstlichen Soldaten achtete keiner mehr auf die Freunde. Sie hatten den Ring verlassen, waren zu dem Fenster geeilt und griffen nach den Maschinenpistolen, um sich notfalls den Weg ins Freie zu erkämpfen. 116 �
Rivel befand sich schon kurz vor dem Portal, als Prof. Ridley sich ihm in den Weg warf. Er sah aus, als ob er den Verstand verloren hätte, und kreischte mit überschnappender Stimme: »Ihr habt mein Lebenswerk zerstört! Zur Strafe werde ich Killerzellen über die Menschheit schicken!« »Sie werden gar nichts mehr«, knurrte Rivel mörderisch, drosch den Drahtbügel seiner Maschinenpistole unter Ridleys Kinn und stürmte über den wie vom Blitz getroffenen und zu Boden gestürzten teuflischen Experimentator zum Portal, um hier unter dem Feuerschutz seiner Kameraden beide Torhälften aufzureißen. Die vier Freunde stürzten ins Freie und blickten sich vergeblich nach dem Wagen des Generals um. Der Chauffeur des Fahrzeuges mußte es woanders abgestellt haben. Andere Fahrzeuge waren ebenfalls nicht auszumachen. Dafür näherten sich ihnen ein Dutzend dieser künstlichen Soldaten in Tarnanzügen und roten Binden am Oberarm. Seltsamerweise eröffneten sie nicht das Feuer. Sie wirkten irritiert und schienen vor etwas auf der Flucht zu sein. »Laßt sie, solange sie nicht schießen«, rief Rivel. »Wir versuchen uns zur Straße durchzuschlagen.« Die vier wichen den Rotsoldaten aus und tauchten hinter den Büschen unter, die noch deutlich die Schußspuren der Flinte Alice Ridleys trugen. Plötzlich blieb Butch Wigmore stehen. Er zeigte auf einen Entlüftungsschacht, den man zwischen den Bäumen leicht übersah. »Das ist der Durchlaß, der zu den Laboratorien hinunterführt«, erklärte er und griff in eine Tasche seines Kampfanzuges, um die zweite Handgranate herauszuziehen, zu entsichern und zu zünden. »Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig«, zählte Butch. Dann schleuderte er den eierrunden Sprengkörper in den Entlüftungsschacht. 117 �
»Das hättest du bleiben lassen sollen, Butch«, sagte Rivel. »Wer weiß, was aus dem Durcheinander aus Bakterienkulturen, Zellen und Plasmiden alles entsteht, wenn die Handgranate explodiert!« Ein dumpfes Grollen drang aus der Tiefe der Erde zu ihnen herauf. Ein Schwall heißer, ekelerregender Luft trat aus dem Entlüftungsschacht. Die Handgranate war explodiert. »Wir müssen weiter«, mahnte Clanton. »Die Verfolger sind uns dicht auf den Fersen!« Ringsum waren jetzt Schüsse zu hören, die Luft wurde vom Dröhnen mehrerer tieffliegender Hubschrauber erfüllt. Zu allem Überfluß bekamen sie plötzlich Feuer von vorn. Eine stärkere Einheit, gleich der Rotpartei oder Blaupartei zugehörig, versuchte ihnen den Weg zur Straße zu verlegen. »Zurück«, brüllte Rivel. »Wenn wir Glück haben, steht mein Wagen noch hinter dem Haus. Vielleicht gelingt uns damit der Durchbruch.« Feuernd zogen sich die Männer wieder auf das Landhaus zurück. Als sie sich dem Entlüftungsschacht zum zweiten Mal näherten, quoll aus ihm ein braungrauer Zellbrei heraus, in dem vereinzelt die Konturen von Billigsoldaten oder deren Gliedmaßen zu erkennen waren. Unaufhörlich wälzte sich die Masse aus dem Schacht, begrub Sträucher unter sich und kletterte an den Baumstämmen aufwärts. Rivel konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, eine lebende Substanz vor sich zu haben, die wie eine Riesenamöbe waberte und deren Gefährlichkeit nicht abzuschätzen war. »Weiter«, mahnte Clanton erneut, übersprang ein Rinnsal der breiigen Zellmasse und übernahm die Spitze. Sie erreichten die Auffahrt, als dort in kurzer Folge vier Kampfhubschrauber landeten, aus denen Männer in weißen Schutzanzügen und Atem118 �
geräten sprangen. Wer von ihnen nicht bewaffnet war, trug ein Tornistergerät auf dem Rücken und hatte die dazugehörige Absprühlanze in der geschützten Hand. Rivel glaubte schon, alles habe sich gegen sie verschworen, und der Gegner würde Verstärkung erhalten, als einer der Männer aus den Helikoptern sein Atemgerät abnahm und ihnen zurief: »Hierher, Kameraden! Legt die bereitliegenden Schutzanzüge an!« »Henry«, jubelte Jan, der Colonel Bacon in dem Rufer erkannt hatte. In seiner ungeheuren Erleichterung gab er eine Feuersalve in die Luft ab. Er kümmerte sich nicht mehr um die Schießerei und lief, von Potter, Wigmore und Clanton gefolgt, zu dem Helikopter hin, bei dem Bacon stand. Henry Bacon packte ihn beim Arm und drängte ihn zum Einstieg des Drehflüglers. »Nicht so lahm! Springt in die Schutzanzüge und nehmt hinten im Hubschrauber Platz! Ich werde euch später alles erklären…« Jan Rivel jumpte in den Helikopter. Der Sergeant nahm ihn in Empfang und drückte ihm ein umfangreiches Paket, bestehend aus Schutzanzug, Stiefeln, Handschuhen, Kopfschutz und Atemmaske in die Arme. Potter, Clanton und Wigmore erging es genauso. In fliegender Hast entkleideten sie sich. Der Sergeant duschte sie mit einer Spezialflüssigkeit ab. Dann durften sie frische Wäsche überziehen und danach die Schutzanzüge. Sie waren noch nicht ganz fertig damit, als Colonel Bacon zu ihnen in den Hubschrauber stieg und dessen Besatzung anwies zu starten und nach Camp Baumder zurückzufliegen. Der Helikopter hob vom Boden ab und nahm Kurs auf Camp Baumder. Unter ihnen zog nach wenigen Minuten der elektronische Zaun durch und veranlaßte Clanton zu den Worten: 119 �
»Ich bin gar nicht mal so böse darüber, von Ihnen in den Militärknast von Camp Baumder zurückgebracht zu werden, Sir. Das Leben dort war geradezu beschaulich, wenn man es mit den fünf Wochen vergleicht, die hinter uns liegen.« Henry Bacon grinste breit. »Sie können das Militärgefängnis vergessen, Clanton. Das gilt auch für Ihre Freunde. Die Verfahren wurden aufgrund Ihrer unbestreitbaren Verdienste bei der Aufhellung von Mißständen innerhalb der Army eingestellt. Sie werden allerdings vier Wochen in Quarantäne zubringen müssen, beziehungsweise so lange, bis feststeht, daß Sie im Umgang mit verfremdeten Zellen keine Schäden davongetragen haben.« »Dürfen wir da auch essen, was wir wollen?« fragte Potter. »Wunschkost, Mr. Potter«, erwiderte Bacon schmunzelnd. Rivel räusperte sich. »Henry, würden Sie uns bitte sagen, was Sie anderen Sinnes gemacht hat? Bis vor kurzem noch standen Sie im anderen Lager.« »Das stimmt nicht ganz, Jan«, gab Bacon Auskunft. »Oder haben Sie vergessen, daß ich bei dem Lokaltermin vor fünf Wochen versprochen habe, einen Kriminologen für die weitere Beweismittelaufnahme zuzuziehen? Das habe ich getan. Dabei stellte sich mehr und mehr heraus, daß Ihre Angaben der Wahrheit entsprachen. Ich brachte den MI5 auf Trab, und unser Geheimdienst stieß bald auf eine Gruppe von hohen Army-Offizieren und Männern anderer Geheimdienste, die von der fixen Idee besessen waren, Großbritanniens Berufsheer durch künstliche Soldaten zu ersetzen, die aus Prof. Ridleys Retorte stammten. Wir trafen in aller Eile alle notwendigen Vorbereitungen, diesem Spuk ein Ende zu bereiten und die Zellkulturen und was sonst noch an Widernatürlichkeiten vorhanden war, total zu vernichten. Sie haben noch sehen können, wie unsere ABC-Spezialeinzeiten ihre Aufgabe lösten. Sie verfügten über neue Mittel, die jede wie auch geartete Zellanhäufung, die nicht natürlichen Ur120 �
sprungs war, vernichtete. Prof. Ridley, Dr. Baxter und Alice Ridley werden nie mehr die Möglichkeit zu Gen-Manipulationen haben!« »Ich wünschte, Sir, darauf könnten wir einen trinken!« »Nichts leichter als das«, meinte Colonel Bacon, drehte sich nach dem Sergeant um und sagte, während er sich die Hände rieb: »Jetzt ist es an der Zeit, die eigens dazu eingebrachte Whiskyflasche zu öffnen und die Gläser bereit zu halten, Sergeant!« ENDE
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