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Nach dem tragischen Tod seiner Frau kündigt Tom Webster seine Anstellung an einer englischen Schule und zieht nach Jerusalem. Dort lernt er David Feldberg kennen, einen kauzigen Gelehrten, der ihm ein langgehütetes Geheimnis anvertraut: Er ist im Besitz eines Teils der fehlenden Qumranrollen und fühlt sich verfolgt. Jetzt ist es an Tom, die Schriftrollen, die unsere Ansichten über das Christentum, besonders über die Rolle der Maria Magdalena, umstürzen könnten, aus der Stadt zu schmuggeln und unvoreingenommener Prüfung darzubieten. Aber Tom scheint mit dieser Aufgabe überfordert: Jerusalem, diese schillernde, brodelnde Stadt weckt in ihm dunkle Halluzinationen, treibt ihn immer dichter an den Rand des Wahnsinns … Nach Bellas Tagebuch und Haus der verlorenen Träume ein neuer Psycho-Thriller des in Großbritannien vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichneten GRAHAM JOYCE.
GRAHAM JOYCE im BASTEI-LÜBBE Taschenbuchprogramm 13 508 Bellas Tagebuch 13 615 Haus der verlorenen Träume 13 824 Traumland 13 678 Gefährtin der Nacht
Unheimlicher Roman
Ins Deutsche übertragen von Barbara Först
Scan by celsius232 K&L: tigger Freeware ebook, Juli 2003
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH BAND 13 724
Erste Auflage Februar 1996 Zweite Auflage Februar 1999 © Copyright 1994 by Graham Joyce Published by arrangement with Author All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1996 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Requiem Umschlaggestaltung: C. C. G./Köln Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany, Februar 1999 ISBN 3-404-13724-8
1 Sie gaben sich alle Mühe, die Party zu sprengen. Es war Toms Probejahr an der Schule, und ein Kollege hatte das Besäufnis zum Ende des Schuljahrs ausgerichtet. Tom hatte sein Bier unter einem Stuhl verstaut, bevor er in den Hof zur Außentoilette stolperte. Als er sich seinen Weg zurück erkämpft hatte, fand er das Zimmer voller ungebärdiger Tänzer und setzte sich auf den Fußboden, um nach seinem versteckten Bier zu tasten. Doch statt des Glases erwischte er einen wohlgeformten Knöchel. Der Knöchel saß an einem erstaunlichen Wadenmuskel; in reines Nylon gehüllt, sandte er elektrische Blitze in seine Finger und fand seine unbarmherzige Fortsetzung in dem schönsten Schenkel, den er je in seinem Leben gesehen hatte. Zehn Minuten später hielt er immer noch diesen Knöchel fest und versuchte, ein paar zusammenhängende Worte mit dessen Besitzerin zu wechseln, die ihn jedoch in kühler Weise übersah. »Wenn Sie nicht bald meinen Fuß loslassen«, hatte Katie schließlich gesagt, »dann muß ich mich wohl vorstellen.« Obwohl er betrunken war – und das passierte ihm nicht oft –, hatte Tom in dem Augenblick, als sein Blick vom Knöchel zum Schenkel und dann zu dem honigblonden Zopf darüber gewandert war, gewußt: Sie Ist Es. In jenen Tagen hatte er ganz fest an das Schicksal geglaubt. Katie hatte es offenbar nicht so gesehen; alles, was sie denken konnte, war, daß da ein Betrunkener ihr Bein festhielt. In den ersten paar Minuten hatte sie versucht, das Schlürfen zu ihren Füßen zu ignorieren, in der Hoffnung, daß es aufhören möge. Doch dies geschah nicht. Schließlich hatte sie mit hochgezogenen Brauen gelauscht, während Tom versuchte, Konversation zu machen. Und seltsamerweise schien er dabei 5
nüchterner zu werden. Irgendwann an jenem Abend überredete er sie, ihm ihre Nummer zu geben, und im Laufe einiger Monate war auch Katie der Gedanke gekommen: Ja, ›Er Könnte Es Sein‹. Und kaum ein Jahr nachdem sie sich kennengelernt hatten, heirateten sie. Das war vor dreizehn Jahren. In den ersten zwei Jahren hatte Tom ihren Fuß niemals losgelassen – bildlich gesprochen. Er konnte sein Glück nicht fassen, daß diese elegante und strahlende Frau in sein Leben getreten war; immer wieder mußte er nach oben blicken und nach dem Loch in der Decke suchen, durch das sie heruntergefallen sein mochte. Während dieser Zeit hatte er sich auch sehr besitzergreifend verhalten und jeden anderen Mann verdächtigt, daß er plane, sie ihm wegzunehmen. Katie hatte auf Toms besitzergreifende Art mit ihren eigenen Bedürfnissen reagiert. Sie konnte nie genug von seiner Bewunderung bekommen, und wo andere einer derartigen Aufmerksamkeit müde geworden wären, schien Katies Durst nach Anerkennung unendlich zu sein. Sie blühte auf unter einer Intimität, die alle anderen Dinge und alle anderen Menschen ausschloß. Der Nektar seiner Liebe ließ sie schöner, selbstsicherer und strahlender werden. Katie arbeitete als Marketingberaterin in einer kleinen Firma, und verglichen mit Toms Arbeit wirkte ihre Welt erwachsen und hartgesotten. Doch sie war nicht erwachsener als Tom. Bald schon begann er zu erkennen, daß es Dinge in ihrem Leben gab, die ihr Wesen bestimmten: dunkle Dinge, schlüpfrige Dinge, Dinge, die in den tiefen, feuchten Brunnen ihrer Kindheit gewachsen waren und nun hungrig und lautlos an ihr zehrten und immer größere Anteile der Liebe verlangten, die er ihr zu geben hatte. Vielleicht war es der größte Fehler ihrer Beziehung, daß er ihr nie geholfen hatte, diese Geheimnisse zu ergründen. Er versuchte es einmal, aber sie setzte ihm so starken Widerstand 6
entgegen, daß er es nie mehr wagte, sie in dieser Richtung zu beeinflussen. Was immer diese Geheimnisse auch sein mochten – sie führten dazu, daß sie sich mit solcher Inbrunst an ihn band, daß er fürchtete, alles zu verlieren, wenn sie einmal aufgerührt würden. Und außerdem, so beschloß er, hatten sie sich als Paar ein Gleichgewicht geschaffen, das in hohem Maße Liebe erforderte und erwiderte. Warum sollte er es also in Frage stellen? Er konnte nicht voraussehen oder ahnen, daß eben diese Forderungen eines Tages seine Fähigkeiten übersteigen würden. Doch nun spielte es keine Rolle mehr. Sie war tot. »Wenn es nur darum geht«, sagte Stokes soeben, »wenn es wirklich nur um ein paar gekritzelte Worte auf der Tafel geht …« Also hatte er auch davon gehört? »Nein, es geht nicht nur darum«, erwiderte Tom. »Denn ich kann Ihnen versichern, daß ich schon viele solcher Dinge gesehen habe. Und ich würde es mit Stumpf und Stiel ausrotten. Hören Sie auf meine Worte, ich würde es ausrotten.« Tom hörte auf die Worte seines Schulleiters, indem er aus dem Fenster starrte. »Nein. Ich brauche nur eine Veränderung.« Der heiße Juni wurde vom Regen verwaschen. Es war der letzte Schultag des Sommerhalbjahres in der DovelandsSchule. Die fünfte Klasse war schon vor Wochen verschwunden, und der Regen peitschte den Schulhof, vertrieb den Kindern die Freude an den geplanten Spielen. Tom Webster war über den Schulhof zum Büro des Schulleiters gegangen, nachdem er seinen Schreibtisch ausgeräumt hatte. Eine einsame Mehlbombe war auf dem nassen Pflaster zerplatzt, er konnte sie sehen, als er aus dem Fenster des Büros starrte. Sie lag in einer weißen Pfütze, ein nutzloser kleiner Sack, ein 7
mißglückter Scherz, und blubberte leicht im strömenden Regen. Nach der Entlassungsfeier hatte Tom sich von allen verabschiedet und hastig das Lehrerzimmer verlassen. Er hätte jetzt die übliche Erschlaffung am Ende des Schuljahres nicht ertragen können – die Art, wie die Kollegen nun im Angesicht der Sommererholung nett zueinander wurden. Sie ließen das abgeschlossene Schuljahr wie eine schwere Last von sich abgleiten und setzten nachsichtige Mienen auf. Das Abschiednehmen war immer von der erstaunlichen Trauer über die bevorstehende Abwesenheit der Kollegen gefärbt – Menschen, die im täglichen Umgang eher eine Quelle der Langeweile waren. Tom konnte es nicht mehr ertragen. Alle wollten wissen, was er denn nun zu tun gedenke. »Aber was wirst du denn machen?« fragten sie mit dem wissenden Blick, der zeigte, daß sie alle glaubten, es habe etwas mit Katies Tod zu tun, über den sie sich aber nicht zu sprechen trauten. Er hatte die Fragen mit einem Achselzucken und einem Hochziehen der Brauen abgetan, was natürlich keine Antwort auf ihre besorgten Fragen gewesen war. Bevor er Stokes in seinem spartanisch eingerichteten Büro aufsuchte, hatte er sein Klassenzimmer aufgeschlossen, um ein paar persönliche Habseligkeiten einzusammeln. Er hatte einen Blick in das Bücherzimmer am rückwärtigen Ende der Klasse geworfen. Da waren ein paar Kassetten und Dias, die er seinem Nachfolger vermacht hatte. Seine Schreibtischschubladen enthielten kaum mehr als Notizzettel und einen Umschlag mit Fotografien von Schulausflügen, doch sie mußten ausgeräumt werden. Dann hatte er ein Taschenbuch gefunden, einen Science-fiction-Sammelband, und zwischen zwei Seiten war ein Blatt Papier geschoben. Er hatte es herausgenommen und darauf die Worte gelesen: Dies flüchtige Leben. Kauf Brot und Milch, und ich werde Dich lieben. 8
Katies Schrift. Das Buch mit dem Einkaufszettel als Lesezeichen hatte fast ein Jahr hier gelegen. Immer wieder tauchten solche Dinge auf. Es war fast ein Jahr her, und immer noch tauchten diese winzigen, leblosen Phantome auf, in Schubladen und Schränken und Kommoden und Schachteln. Wenn ein Mensch stirbt, hinterläßt er überall Andenken wie Asche oder Staub in den Leben der Menschen, die nun ohne ihn weiterleben müssen. Es war unmöglich, die Erinnerungen aus dem Haus zu fegen. Sie versteckten sich hinter Kleiderschränken und Geschirrtruhen, hinter Heizungen und lauerten auf Bücherregalen; wie winzige Glassplitter warteten sie auf den Augenblick, wo sie sich tief in die verletzliche Haut des Vorübergehenden bohren konnten. Am Anfang war dies der einzige Geist, mit dem er zurechtkommen mußte, und jedesmal spürte er aufs neue, wie sich sein Hals zuschnürte und das Wasser hinter der Netzhaut sammelte. Er hatte in der Klasse gestanden und die Mitteilung des Geistes in der Hand gehalten, als ihm bewußt wurde, daß jemand in der Tür stand. Es war Kelly McGovern aus seiner Englischklasse. Die Mütter der Siedlung gaben ihren Kindern gern die Namen amerikanischer Berühmtheiten; die Jungen hießen Dean und Wayne – beziehungsreiche Namen für jugendliche Delinquenten mit goldenen Ohrringen; und die Mädchen waren niedliche Kellys und Jodies, doch innen hart wie Nägel. Kelly McGovern war fünfzehn. Eben geworden. Geh weg, hatte Tom boshaft gedacht. Raus hier, du wunderschöne, funkelnde kleine Hexe. »Hi, Kelly«, hatte er lächelnd gesagt. Sie zögerte unter der Tür, hielt etwas in der Hand, das wie ein Geschenk verpackt war. Sie trug den vorschriftsmäßigen schwarzen Schulblazer, einen kurzen schwarzen Rock und schwarze Strümpfe. Das Schulemblem, das auf die Jackentasche über ihren unreifen Brüsten gestickt war, stellte eine 9
leuchtendrote Rose dar. Die Blütenblätter waren so angeordnet, daß es Tom so erschien, als ob die Rose auf ewig einen Tropfen scharlachroten Blutes verströmen müsse. Die klassische Inschrift unter der Rose trug das Motto: Nisi Dominus Frustra. Seine Unfähigkeit, den Schülern diesen Spruch zu erklären, hatte ihn in seinem Entschluß bestärkt, die Schule zu verlassen. »Das ist Latein. Aus den Psalmen. Wenn der Herr nicht über der Stadt wachet, spähet der Wächter vergebens. Es bedeutet, daß ohne Gott alles vergeblich ist.« »Welche Stadt?« Welche Stadt, in der Tat. Sie konnten schon Fragen stellen, was? Die Stadt des verdammten menschlichen Herzens, mein Junge. Du brauchst nicht zu wissen, welche Stadt. Ist ja auch bloß das Motto deiner verdammten Schule. Du brauchst nicht auch noch zu wissen, was es bedeutet. »Was kann ich für dich tun, Kelly?« fragte er. »Ich habe Ihnen ein Abschiedsgeschenk gekauft. Hier.« Sie wagte sich in den Raum und hielt ihm das Paket hin, konnte ihm aber nicht in die Augen schauen. Statt dessen wanderte ihr Blick zu der offenen Tür des Bücherzimmers. Er schloß sie, drehte den Schlüssel herum. Dann hatte er das Paket genommen und ausgepackt. Es war eine brandneue Ausgabe eines Gedichtbandes der Liverpooler Dichter – McGough, Henri Patten. Seine eigene Ausgabe war ihm von einem der Schüler gestohlen worden. Er hatte die Klasse nach dem Unterricht dabehalten und ihnen erzählt, wie sehr er sich über den Streich freue. Er schlug ihnen vor, sie sollten doch noch mehr Gedichtbände stehlen. Dann durften sie gehen. »Das ist sehr lieb von dir. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Sie konnte ihm immer noch nicht in die Augen schauen. Strich ihr kupferfarbenes Haar zurück und stand mit verschränkten Knöcheln reglos da. Er hatte ihre Spannung gespürt, 10
ihre Nervosität, die sich auf ihn übertrug. Es war ansteckend. Sie schien nicht gehen zu wollen. »Ich muß jetzt hier abschließen, Kelly.« »OK.« »Ich muß noch zum Direx. Bevor ich gehe.« Endlich blickte sie zu ihm auf, und ihre blauen Augen glitzerten wie verchromte Fahrradräder. Dann drehte sie sich um und verließ die Klasse, schloß die Tür. Er stieß einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus und sammelte die wenigen Dinge ein, die er mitnehmen wollte. Dann begab er sich über den Hof in das Büro von Stokes. »Es ist nicht zu spät, um die Entscheidung noch einmal zu überdenken«, sagte Stokes gerade. »Auch jetzt noch nicht. Ich meine damit, daß Sie ein guter Lehrer sind. Und es täte mir leid, Sie zu verlieren. Uns allen täte es leid.« Tom hatte den Schulleiter nie ausstehen können; dieser lehnte sich nun über den Schreibtisch und faltete die großen Hände wie zum Gebet. Seine Augen traten ihm aus den Höhlen, als sei dies das wichtigste Gespräch, das die beiden Männer je führen würden – womit er zweifellos recht hatte. Stokes BunkerMentalität führte dazu, daß er äußerst selten sein Büro verließ, und Tom verachtete seine Ansichten über Erziehung. Der Direktor der Dovelands-Schule war ein ABC-Mann: Abendandacht, Blazer und Curriculum, alles war dazu angetan, die Ethik der alten Gymnasien zu pflegen. Er hatte die christliche Andacht in seiner Schule wiederbelebt, obwohl ein Drittel der Schüler Hindus, Sikhs oder Moslems waren; die hassenswerte Schuluniform mußte selbst bei schweißtreibender Hitze getragen werden; und er wachte streng über einen Lehrplan, der selbst die kreativsten Lehrer in eine Zwangsjacke steckte. Tom hatte sich einige kleine Sabotageakte gegen dieses Regime geleistet, sich andererseits aber auch der Dankbarkeit des 11
Direktors versichert, indem er Religion unterrichtete, wozu keiner der anderen Lehrer bereit war. Zynisch dachte er, daß Stokes nun wohl Angst bekam, keinen anderen für das ungeliebte Fach zu finden. »Tom, Sie haben Ihren Verlust noch nicht überwunden, nicht wahr?« Da. Er hatte ausgesprochen, was kein anderer der Lehrer gewagt hatte. Tom mußte zugeben, daß Stokes in den Monaten nach Katies Tod sehr freundlich zu ihm gewesen war, mitfühlend, ja, sogar nachgiebig. »Nein. Wirklich nicht. Das hat nichts damit zu tun.« »Und Sie sind sicher, daß es auch nichts mit den Dingen zu tun hat, die auf der Tafel …« »Nein. Wie ich schon sagte – ich brauche nur eine Veränderung.« »Ernsthaft?« »Ja. Ernsthaft.« Stokes erhob sich. Sein Stuhl kratzte über den Boden. Er kam um den Schreibtisch herum und hielt Tom auffordernd seine große Hand entgegen. »Wenn Sie einmal ein gutes Zeugnis brauchen …« »Dann werde ich mich an Sie erinnern.« Und er war aus dem Büro gegangen. Dreizehn Jahre als Lehrer lagen hinter ihm. Er war fünfunddreißig und hätte noch bis fünfundsechzig weitermachen können – doch nun fühlte er sich schon wie im Ruhestand. Die vergangenen zwölf Monate hatten ihm seine ersten grauen Haare beschert. Die mühevollen Strophen der Andachtshymne noch im Ohr, kletterte er in seinen rostigen Ford Escort. Ein paar Schüler waren immer noch da, als er aus dem Tor der Schule fuhr. Kelly war unter ihnen. Er nickte ihr zu, bevor er auf die Einfahrt zufuhr. Dann senkte er den Fuß aufs Gaspedal und ließ das Erziehungssystem hinter sich.
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2 Zu Hause stieg er fröstelnd ins Bett und schlief sofort ein. Als er erwachte, war es sechs Uhr vorbei, und er war erleichtert, diesmal ungestört geschlafen zu haben. Er versuchte, Sharon zu erreichen. Der Anruf gelangte zwar bis zum Dauerton einer internationalen Telefonverbindung, aber niemand hob ab. Er hatte Sharon seit einigen Monaten nicht mehr gesprochen. Er steckte die Hand in die Tasche und tastete nach dem Stück Papier, das er in seinem Schreibtisch in der Schule gefunden hatte: Dies flüchtige Leben. Oben im Gästezimmer war eine Polstertruhe zur Aufbewahrung von Bettlaken, die zu einem Schrein des Andenkens an seine tote Frau geworden war; sie enthielt all die Dinge, die er nicht im Haus herumliegen lassen wollte, die wegzuwerfen er jedoch nicht den Mut besaß. Fotos, Briefe, Theaterprogramme, Schmuckstücke, die eine Saite in ihm zum Klingen brachten, sogar das Band eines Anrufbeantworters, auf das sie gesprochen hatte. Jedes dieser Objekte war kalt und einsam, nutzlos und schön wie ein Mondstein. Er steckte den Zettel in einen Umschlag mit anderen Papieren. Es war gefährlich, die Truhe zu öffnen; wenn der Deckel gehoben wurde, konnte der ganze Abend darüber vergehen, indem er den gesamten Inhalt auf den Boden verteilte und dazu eine Flasche Scotch leerte. Ein Stück Mondstein, das ihn für Minuten wie in Trance gefangennimmt: ein Foto, an einem geschwungenen Strand an der Ostküste aufgenommen. Als Tom es vor die Augen hält, dehnt sich der weiße Rand der Aufnahme aus, verschwimmt, und die beiden Gestalten treten aus ihrer Pose heraus. Eine der beiden ist Katie, seine hübsche Frau, doch ihr Mund ist in Bitterkeit verzogen. Die andere Gestalt ist Tom. Es ist ein neueres Foto. Im Hintergrund ist der Umriß eines Wracks zu erkennen. Sie haben ein verlängertes Wochenende – Toms Idee 13
– an einem Badeort an der Ostküste verbracht, um herauszufinden, ob man den Schaden noch beheben kann. Tom nimmt seine Kamera wieder und dankt dem Fremden, der sich bereit erklärt hat, von ihnen ein Foto zu machen. Sie drehen sich um und spazieren den Strand entlang zum Wrack, während sie unter ihren Füßen kleine Kiesel zermalmen. Die See wie auch der Himmel haben eine kalte, stahlblaue Färbung angenommen. Die Saison ist schon lange vorbei, und ein Seegewitter hat die Wellen aufgepeitscht und schickt eine steife Brise an den Strand. Sie müssen ihre Kragen hochschlagen, damit der Wind ihnen keinen Sand ins Gesicht bläst. »Ich hoffe nur, daß es nicht zu spät ist«, sagt sie. Er umrundet sie, wirbelt Kiesel auf, packt sie an den Aufschlägen ihres Mantels. »Es war ein Fehler. Das wissen wir beide. Er kann aber wieder gutgemacht werden.« »Ich hoffe, daß du recht hast, Tom«, erwidert sie. Der Wind bläst ihr die blonden Haare in die Augen. »Denn ich glaube, daß die Zeit vorbei ist.« Dann dreht sie sich um und geht den Strand hinauf und sagt etwas, daß sie ihre Sachen packen muß, um abzureisen, aber er kann sie nicht richtig verstehen, weil der Wind ihr die Worte von den Lippen weht wie den Schaum von den Wellen. Er läuft ein bißchen weiter den Strand entlang, bis zu dem Wrack, das dort auf der Seite liegt, das vor hundert Jahren an diesen Strand von seinem Schicksal ereilt wurde. Tom setzt sich auf die verrottenden Planken. Eine einsame graurückige Möwe, die auf grauen Wellen unter dem grauen Himmel schaukelt, schreit ›Hark!‹ und fliegt davon. Eine Welle bricht sich auf den Kieseln. Die Szene verschwimmt, formt sich wieder zu der ursprünglichen Täuschung – trautes Paar in den Ferien, für immer auf Zelluloid gebannt, das Foto in Toms Hand. Mondstein. Die Polstertruhe war voll davon. Schließlich senkte er den 14
Deckel. Wären die Umstände von Katies Tod anders gewesen, so hätte er sie vielleicht in Frieden begraben können. Doch der verrückte Unfall führte dazu, daß er in sich ein Gefühl schrecklicher Ungerechtigkeit nährte. Ein Sturm hatte einen Baum entwurzelt, der auf ihren Wagen gefallen war und ihn zermalmt hatte. Katie war sofort tot gewesen. Wäre sie bei einem normalen Unfall gestorben, so hätte Tom die Tragödie wenigstens auf ein technisches oder ein menschliches Versagen schieben können. Oder wenn sie bei einem Flugzeugabsturz oder einem Brand gestorben wäre. Natürlich wäre er auch dann noch rasend geworden und hätte allem die Schuld geben wollen – was er aber bei diesem Unfall nicht verwinden konnte, war dessen absolute Zufälligkeit. Kein Versagen. Kein Irrtum. Nur ein Teil der Natur, der durch seine zufällig Nähe einen anderen Teil der Natur zerstört hatte. Auch bei einer Krankheit würde Tom das alles Zerfleischende einer schweren Infektion verstanden haben; oder eine Umweltkatastrophe wie ein Erdbeben oder gar eine Flutwelle, wenn man schon soviel in die Waagschale werfen wollte. Aber ein einzelner Baum, der auf ein Auto fiel? Nein; es betraf ihn persönlich. Es war gelenkt, auf ihn gerichtet. Ein Fingerzeig des Jüngsten Gerichts. Wieder wählte er Sharons Nummer. Immer noch keine Antwort. Er fragte sich, wie groß der Zeitunterschied war; vermutlich nicht mehr als ein oder zwei Stunden. Katie hatte zuerst nichts von seiner langjährigen Freundschaft mit Sharon gehalten, die er schon seit dem College kannte. »Alte Flammen sollte man löschen«, hatte sie gesagt. »Oder würde es dir gefallen, wenn ich jeden Monat mit einem anderen meiner alten Freunde ankäme?« »Wir sollten nicht den Kontakt zu jemand verlieren, den wir einst geliebt haben, nur weil wir jetzt jemand anderen lieben.« »Es kommt mir nur seltsam vor.« 15
»Ist aber nichts Seltsames dran.« »Kommt mir aber so vor.« Doch Tom konnte sich als äußerst stur erweisen, und obwohl er Katies Zweifel verstehen konnte, bestand er darauf, mit Sharon einen unschuldigen, lockeren Kontakt aufrechtzuerhalten. Und als Katie in der Beziehung sicherer wurde und Sharon einige Male getroffen hatte, begann sie, dieser Freundschaft zu trauen und schließlich in Sharon eine Freundin zu entdecken. Die beiden Frauen hatten ihre eigene Nähe zueinander aufgebaut, und obgleich sie Tom nie ausschlossen, war es doch eine Weiterentwicklung seiner früheren Beziehung zu Sharon. Seit Katies Tod hatte Sharon zweimal angerufen und zweimal geschrieben, aber Tom hatte sich zu einer Erwiderung nicht in der Lage gefühlt. Nun war er soweit, sie sehen zu wollen. Sie war eine der wenigen Personen, der anzuvertrauen er sich vorstellen konnte. Er grub eine Sonntagszeitung aus, in der mehrere Anzeigen kleinerer Fluggesellschaften standen. Er hatte bereits eine Anzeige mit Kugelschreiber umrundet. Die Fluggesellschaft bot ihre Dienste rund um die Uhr an, also wählte er gleich die Nummer. Fünf Minuten später hatte er einen Flug gebucht, mit seiner Kreditkarte bezahlt. Der Flug ging am nächsten Nachmittag. Seine Hände zitterten leicht, als er anfing, seine Kleider in eine Tasche zu werfen. Ermutigend lächelte ihm ein Foto von Katie vom Kaminsims herunter zu. Er drehte es um. Er wollte nicht, daß sie ihm beim Packen zusah. Vor Reisefieber wälzte er sich die ganze Nacht im Bett. Dann wurde er um drei von dem gewohnten Klopfen an der Tür geweckt. Er stand nicht auf. Er lag da, lauschte. Er wußte, daß es sich in regelmäßigen Abständen wiederholen würde. Er wußte, wer es war. Er war schon vorher einmal an die Tür gegangen, und nie war jemand dagewesen. Er wußte, daß die Hand genau bis Viertel nach vier an die Tür klopfen würde. 16
Dann wäre es vorbei. Heute erschien ihm das Klopfen ein wenig drängender. Aber er würde nicht zur Tür gehen. Er wußte, wer es war.
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3 Unter einem unglaublichen blauen Himmel landete die Maschine auf dem Flughafen von Tel Aviv, entließ ihn auf das heiße Rollfeld. Da er Sharon immer noch nicht erreicht hatte, nahm er den Bus nach Jerusalem. Auf einem Busbahnhof voller exotisch anmutender Menschen stieg er aus und betrachtete staunend die vielen jungen Frauen in der olivgrünen Montur der Armee; gutaussehende Israeli-Mädchen, die ihre automatischen Uzis immer griffbereit trugen. Er stand immer noch da und gaffte einer von ihnen hinterher, als ein Junge mit Sonnenbrille und Walkman ihm ein Flugblatt in die Hand drückte. Es warb mit einem Freibier für ein Jugendhotel. Tom las immer noch den Handzettel, als ihn ein alter chassidischer Jude mit grauen Locken und einem mürrischen Bart unter einer schwarzen Hutkrempe anlächelte und ihm einen weiteren Zettel in die Hand gleiten ließ. Dieser war auf hebräisch geschrieben; auf der Rückseite stand in Englisch: AMERIKANS = AMELIKITES. Die Töchter Zions sind hochmütig und gehen einher mit gereckten Hälsen und mutwilligen Blicken, sie trippeln geziert und lassen ihre Füße klingen. NEIN ZU DEM NEUEN FLUGHAFEN. Tom glaubte das Zitat erkannt zu haben. »Jesaja?« Der alte Chassidim zuckte die Achseln und deutete mit Gesten an, daß er kein Englisch verstand. Dann eilte er davon, um seine Handzettel zwei verblüfften australischen Rucksacktouristen in die Hände zu drücken. Tom nahm sich ein Taxi, einen Mercedes, und gab dem Fahrer Sharons Adresse. Das Taxi stob mit ihm unter die mittelalterlichen Mauern des alten Jerusalem. Banner wehten im Wind. Flaggen und Fahnen flatterten in der Brise hoch über den Zinnen der Altstadt. Die goldene Kuppel des Felsendoms reckte sich in den blauen Himmel. Aus dem rasenden Taxi 18
heraus erhaschte er einen Blick auf honigfarbenes Licht, das die Wolken streifte, alte Gemäuer beleckte und lange Schatten aus den antiken Portalen hervorlockte. Es war wie das Bild auf einer goldumrandeten Briefmarke, die er als Kind in der Sonntagsschule gesammelt hatte; die letzte Marke im Buch, die die Sammlung vollendete. Sein erster Eindruck von Jerusalem. Du bist schön, meine Liebe, schön wie Jerusalem, schrecklich wie ein Heer mit Bannern. Es war ein Jerusalem, das gar nicht existierte. Ein Jerusalem, das er nie wieder sehen würde. Er wollte dem Fahrer befehlen anzuhalten, damit er aus dem Taxi steigen, über den gezackten, vergoldeten Rahmen seiner Vision klettern und in die Geschichte wandern könnte. Statt dessen sah er stumm zu, wie die Vision im Rückfenster des Mercedes verschwand. Als er zu einem späteren Zeitpunkt in die Altstadt zurückkehrte, sollte er verwirrt sein, weil er keine Fahnen fand, keine Mauern mit Wimpeln oder Bannern unter einem strahlenden Himmel. Dies waren nur die Banner seiner eigenen Mythologie; die Wappen und Wahrzeichen des Glaubens. Es gab keine Fahnen; er hatte sich alles nur eingebildet, weil er von Müdigkeit und Aufregung benebelt war, trunken vom Triumph der Ankunft. Doch jetzt hörte er Stimmen hinter den Stadtmauern. Du bist schön. Nach und nach versank die alte Zitadelle hinter dem Hügel, während das Taxi der Shekhem Road folgte, nordöstlich der Altstadt. Schrecklich wie ein Heer mit Bannern. Dies war seine Kindheit und eine Mythologie – in einem Blick vom Rücksitz eines Taxis vereint. Es war der Tag der unschuldigen Ankunft. Als er sein eigenes Spiegelbild in den Rauchglastüren vor Sharons Wohnung sah, dachte er, daß er wie ein Golem aussähe, wie ein Mann, der noch nicht ganz fertig ist. Ein Adam, der den letzten Atemhauch von Gott erwartet. Er spürte, daß ihm 19
etwas fehlte, daß ein lebenswichtiger Funke ihn verlassen hatte. Wieder läutete er. Der lederne Griff seines Koffers überzog sich mit Schweiß, während er wartete. Immer noch keine Reaktion. Er drückte auf die nächste Klingel und hörte eine schläfrige Stimme aus der Sprechanlage krächzen. Tom beugte sich zu der summenden Anlage herunter. »Sprechen Sie Englisch?« »Ja. Ahhhm.« »Ich suche Sharon. Die aus der Nachbarwohnung.« »Die ist weg. Ahhhm.« »Was? Was haben Sie gesagt?« »Weg. Im Urlaub. Ahhhm. Kommt bald wieder.« Das leise Summen der Sprechanlage wurde ausgeschaltet. Er stellte sich einen schläfrigen Israeli vor, der nun wieder nach oben ins Bett ging. Es war Mittag. Blöde starrte er auf die heiße, staubige Straße. Er konnte nichts weiter tun, als sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern und den feuchten Griff seines Koffers zu drücken. Das Wort Golem spukte in seinem Kopf wie ein ferner Schuß jenseits der Wüste. Frischer Schweiß erschien auf seinen Brauen, als er die Marmorstufen vor dem Häuserblock hinunterstieg. Er verließ den kühlen Schatten des Gebäudes und trat hinaus in den blendenden Sonnenschein der Straße. Wo war Sharon? Sein spontaner Entschluß herzufliegen, der ihm zuerst so wagemutig und unbekümmert erschienen war, kam ihm nun verdammt dämlich vor. Er kannte hier niemanden. Er war weit weg von zu Hause und fühlte sich einsam und ziemlich verängstigt. Der Taxifahrer, der ihn hergebracht hatte, hatte ihn übers Ohr gehauen, soviel war sicher. Er bedauerte es, daß er so blaß war. Er kam sich wie eine Zielscheibe vor. Ein anderes Taxi fuhr vorbei, offenbar auf der Suche nach einem Fahrgast. Tom hielt es an und wies den Fahrer an, ihn in das Zentrum des modernen Jerusalem zurückzufahren. »Der Block, wo Sie mich stehen sahen …« fragte er den Fahrer. 20
»Leben dort wohl mehr Juden oder mehr Araber?« Der Fahrer blickte über die Schulter und zeigte dabei einen Mund voller Goldzähne. Offenbar fand er die Frage zu lächerlich, um eine Antwort darauf zu geben. Tom zog das Werbeflugblatt des Hotels hervor, das er am Busbahnhof bekommen hatte. »Wäre das wohl eine anständige Unterkunft für mich?« Der Fahrer warf einen Blick auf das Flugblatt. »Vielleicht nicht so besonders sauber.« »Gibt es denn ein Hotel, das Sie mir empfehlen könnten?« »Hotels werden Sie aber ne hübsche Stange Geld kosten. Ne ganz hübsche Stange.« »Ich hab’ nicht sehr viel Geld.« Indem er beiläufig ein paar Fußgänger anhupte, sagte der Fahrer: »Ich hab’ eine Idee. Was ganz Einfaches. Dann müssen Sie nicht in diese Araber-Bruchbuden.« Das Hotel lag am nördlichen Rand des Mea Shearim, des ultraorthodoxen Judenviertels von Jerusalem, nicht weit von der Altstadt entfernt. Als das Taxi vor einem grauen Backsteingebäude vorfuhr, bemerkte Tom ein großes Schild an der Straßenecke. TÖCHTER VON JERUSALEM: SEID ALLEZEIT BESCHEIDEN IN EURER KLEIDUNG. Das Hotel war einfach, sauber und mutete wie ein Jugendhotel an. Ein junger Mann mit schwarzen Locken, einer Kippa und erschreckend weit aufgerissenen Augen hinter dicken Brillengläsern zeigte ihm ein Zimmer. Es roch nach warmem Staub. Zweifelnd schlug Tom die gelben Laken zurück. Der Junge versicherte ihm, daß sie trotz ihres Aussehens frisch gewaschen seien. Er nahm das Zimmer und bekam Rabatt, weil er mit englischen Pfund bezahlte. Als der Junge gegangen war, stieß Tom die Fensterläden auf. 21
Die langen Strahlen der Nachmittagssonne durchbrachen den Raum und leuchteten auf die Staubbälle, die er durch seine Bewegungen aufgewirbelt hatte. Der Staub machte ihm nichts aus. Es war alter Staub, mythischer Staub. Der Staub von Abraham und Jesus und Mohammed. Der Kehricht der Religionen. Vor dem Fenster wuchs Jasmin in einem dichten Busch, sein kühler Duft vermischte sich mit dem feuchten Geruch des Staubes. Er war erschöpft vom Schlafmangel der letzten Nacht, von der Reise. Er wollte sich nur noch auf das Bett legen und schlafen; doch er fürchtete, daß er dann wieder das Klopfen an der Tür hören würde. Er betete, daß er das hinter sich gelassen hatte, daheim in England. Auf jeden Fall war er sehr erregt durch den Gedanken an Jerusalem. Es war fast erotisch. Er beschloß, wieder auszugehen. Er wollte jetzt einen Spaziergang durch die heiligste Stadt der Welt unternehmen.
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4 »Seien Sie gegrüßt, Monsieur! Willkommen! Enchanté!« Die überschwengliche Begrüßung ließ Tom schon glauben, er habe sich in der Tür geirrt. Um aus seinem Zimmer zu gelangen, mußte er durch eine große Gemeinschaftsküche, in der ein kleiner weißhaariger Mann über den Spülstein gebeugt stand und eine Tasse nebst Untertasse abwusch. Er wandte sich um. »Es stimmt, das hier ist eine Gemeinschaftsküche. Nutzen Sie sie doch bitte. Den Kaffee kann man nicht trinken, vom Tee gar nicht erst zu reden. Aber es kostet nichts.« Er wies auf einen dampfenden Kessel, als enthielte dieser die Reichtümer des Salomon. Dann streckte er seine kleine Hand aus. »David Feldburg. Sind Sie Jude?« »Nein.« »Kann ja nicht jeder sein.« Trotz der Hitze trug er mehrere Strickjacken übereinander, dazu Pantoffeln, die zwei Nummern zu groß waren. Der Taillenzug seiner Hose reichte fast bis in die Achseln und wurde von einem schmalen Ledergürtel gehalten, der eher geknöpft als geschnallt schien. Sein Mund war zu einem leisen Lächeln verzogen. Einige wenige stiftartige gelbe Zähne standen trotzig im feuchten, rosa Mund, wie müde, aber loyale Kämpfer. Er hatte den Körperbau eines Jungen, aber den unbeschwerten Habitus eines Professors. Tom konnte ihn sofort gut leiden. »Komme ich von hier aus zu Fuß in die Altstadt?« »Zu Fuß geht es am besten. Im Foyer haben wir ein paar Stadtpläne. Erlauben Sie.« Er entfaltete eine Touristenkarte und breitete sie auf dem Tisch aus, markierte mit einem Bleistiftstummel, den er aus der Hosentasche zog, einen Punkt. »Wir befinden uns hier, in unseren kleinen Leben.« Er leckte den Stummel an. »Gehen Sie dort weiter, und Sie werden mit 23
größter Wahrscheinlichkeit zum Damaskustor gelangen.« Damaskustor! Jeder Platz, jede Straße in Jerusalem schien elektrisch geladen. Der alte Mann fing an, andere interessante Plätze zu bezeichnen, hörte jedoch damit auf, als er Toms Ungeduld spürte. »Es steht schon Tausende Jahre da. Es wird nicht so schnell verschwinden.« Er lächelte, während er den Plan zusammenfaltete. Tom bedankte sich bei ihm. Der Alte folgte ihm zur Tür. »Wollten Sie auch an der Klagemauer entlangwandern, Monsieur?« »Tom. Mein Name ist Tom. Warum fragen Sie?« »Ich will Ihnen keine Angst einjagen. Aber zu dieser Tageszeit wäre es keine gute Idee. Es hat da einige Zwischenfälle gegeben – Angriffe auf Touristen. Die Araber haben eine neue effektive Methode gefunden; morgens erregt es am meisten Aufsehen, weil dann die meisten Leute unterwegs sind. Natürlich würde ich Sie begleiten, wenn ich jünger wäre, aber mit diesem Bein …« Tom lächelte bei der Vorstellung, daß der alte Mann ein Beschützer sein wollte. »Ich verstehe. Danke für den Rat.« David Feldburg begleitete ihn bis zur Pforte des Hotels. Als Tom die Hügelkuppe erreichte, enthüllte sich die Altstadt aus ihrem Schleier. Wehrhafte Mauern in der Farbe blanker Knochen. Der goldene Felsendom. Der Himmel ein erleuchtetes Blau. Die ganze Stadt war wie ein blankpolierter, vielschichtiger Stein und schwebte in einem perlweißen Nebel, den die Jahrhunderte abgelagert hatten. Die Geschichte war wie ein Stoff aus Perlmutt, immer noch im Begriff, diese Stadt aufzubauen. Seltsam – die Fahnen und Flaggen und flatternden Banner waren nun entfernt. Doch als er genauer darüber nachdachte – vielleicht hatte es nie irgendwelche Banner gegeben. Vielleicht hatte er sich nur eingebildet, sie aus dem fahrenden Taxi vorbeihuschen zu sehen. Vielleicht hatte er auf den Zinnen nur 24
seine eigene Begeisterung gesehen. Er wußte, wie leicht es war, Dinge zu sehen, die gar nicht existierten. Am Damaskustor stauten sich die Menschen; eine Raserei aus Bewegung und Farben und Rufen. Die Brücke, die sich über den alten Graben spannte, war mit Händlern besetzt. Teeverkäufer trugen riesige reichverzierte Silberkessel auf dem Rücken. Gewürzhändler wetteiferten mit Blumenverkäufern und Obstständen. Falafelbuden stießen kleine ölige Rauchwolken aus. Teppichhändler und Perlenverkäufer zeigten ihre Waren. Der Geruch des warmen Straßenstaubs wurde von den Gewürzen und dem Gestank des heißen Olivenöls erstickt. Gutturale arabische Sätze ließen sich über dem Trubel vernehmen. Er fühlte einen Blick auf sich. Er sah auf und erkannte hoch oben auf einer Mauerbrüstung die Silhouette eines israelischen Soldaten, dem die automatische Waffe von der Hüfte herabbaumelte. Hinter dem Soldaten ging die Sonne unter, und Teile seiner Uniform und seines Gesichts lagen bereits im Schatten. Es war ein zeitloses Bild, die Automatik hätte auch ein römisches Schwert sein können. Er war der Soldat auf der Mauer. Er war schon immer dort gewesen. Jemand drückte sich an ihn, er roch einen scharfen Männergeruch, einen uralten Duft. Er steckte sein Portemonnaie in die andere Tasche. Da fühlte er eine Hand auf einer seiner Hinterbacken. Er sah sich nach dem Angreifer um, doch jeder in seiner Nähe schien vollkommen mit seinen Angelegenheiten beschäftigt. Ein kleiner Araberjunge, der wie wild auf einer billigen Flöte blies, starrte ihn an. Erst als er den Torbogen passiert hatte, wurde ihm bewußt, daß er bei dem Angriff den Atem angehalten hatte. Innerhalb des Tores war die Straße kühler und ein wenig ruhiger. Wie in einem Labyrinth zweigten Gassen vor ihr ab. Er kaufte eine Falafel von einem Händler nahe beim Tor. Es schien keine gute Idee. »Ich werde es vermutlich bereuen«, sagte er zu sich selbst. Aber er wollte sich mit den wahren 25
Gerüchen und Aromen vollstopfen. Im wimmelnden arabischen Sukh hasteten arabische Frauen im Purdah gleich schwarzverschleierten Kränzen über die Straßen. Fensterläden wurden aufgeschlagen, und er bemerkte, daß hier nicht mehr so viele Menschen auf der Straße waren. Eine Hand streifte über seinen Schenkel; ärgerlich wandte er sich um, doch wie schon zuvor waren alle möglichen Missetäter beschäftigt. Er verließ den Sukh, folgte ein paar düsteren, schmutzig aussehenden engen Gassen, bevor er sich auf der Via Dolorosa wiederfand, der Prozessionsstraße, auf der Jesus mit dem Kreuz gegangen war. Der geheiligte Weg! Sein Blick fiel auf ein Schild, das die Stelle als eine der Stationen des Kreuzwegs auswies. Ein hübscher junger Araber näherte sich. »Wunderschön, nicht wahr?« Er blickte sich voller Verwunderung um. »Es ist eine Sensation.« »Sind Sie Engländer? Ich mag die Engländer. Was Sie da sehen, ist gar nichts. Kommen Sie mit mir. Ich werde Ihnen etwas zeigen, über das Sie viel mehr staunen werden.« Plötzlich wurde er argwöhnisch. »Was denn?« »Vertrauen Sie mir. Ist nur fünf Meter weiter.« Der Araber stieg den Hang der Via Dolorosa hinauf und wies auf etwas am Boden. Tom folgte ihm vorsichtig. Der Araber deutete auf ein paar Furchen in den Pflastersteinen. »Das«, verkündete er mit stolzem Lächeln, »ist die Stelle, wo die römischen Soldaten um Jesus’ Kleider gewürfelt haben.« »Du machst Witze!« rief Tom aus und beugte sich hinunter, um das Pflaster genauer zu sehen. Tatsächlich konnte er ein paar undeutliche Reliefs erkennen, unleugbar alten Ursprungs, die Quadrate und Kreise bildeten und unterteilt waren. »Ich mache keine Witze«, sagte der Junge. »Das ist eine ganz berühmte Stelle. Es war ein Spiel, das sie mit Würfeln spiel26
ten.« Tom ließ einen Finger über die Furchen in dem warmen Stein gleiten. Als er sich wieder erhob, näherten sich zwei andere Jungen, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten habe. »Gefällt es Ihnen?« fragte der erste. »Es ist erstaunlich.« »War mir ein Vergnügen. Es macht mir Freude, es Freunden aus England zu zeigen.« »Danke sehr.« Der junge Araber lächelte breit. Seine Freunde auch, Zustimmung heischend. »Brauchen Sie einen Führer?« Plötzlich dämmerte es Tom. Er trat einen Schritt zurück. »Nein. Tut mir leid. Ich kann mir keinen Führer leisten.« Der junge Mann lächelte noch immer. »Ehrlich. Ich bin ein guter Führer. Ich kenne jeden Winkel in dieser Stadt.« »Danke, aber die Antwort ist nein.« Die Züge des Arabers verdüsterten sich; auch seine Freunde blickten nun finster. »Würden Sie dann«, fragte er, »etwas für meine Mühe geben wollen?« »Wofür?« »Dafür, daß ich Ihnen dies gezeigt habe.« »Du machst Witze!« Es war klar, daß er es nicht tat. Er streckte eine lederhäutige Hand aus, wartete auf sein Geld. Nun sah er nicht mehr so hübsch aus. Tom blickte sich um. Kein Mensch war in der Nähe. Tom war ein großer Mann, und wenn er auch nie gewalttätig gewesen war, so glaubte er doch, daß er sich wehren konnte. Doch für eine schäbige Münze schien es sinnlos zu sein. Er gab dem Jungen ein paar Schekel und kreidete sein Mißgeschick dem Schicksal an. »Das reicht nicht«, sagte der Araber und trat näher. Tom nickte und faßte ihn scharf ins Auge. »Stell dir mal vor, ich würde dir statt dessen den Schädel gegen die Wand 27
schlagen?« Der Araber sprang zur Seite, als Tom einen halbherzigen Versuch machte, ihm die Münze wieder abzunehmen. Tom ging weiter und ignorierte die Flüche, die hinter ihm laut wurden. Er wußte, daß er der Via Dolorosa nur zu folgen brauchte, um zum Heiligen Grab zu gelangen, aber er war immer noch nervös durch den Zusammenstoß mit diesem jugendlichen Araber. Hastig schritt er die Via entlang und achtete nicht auf die Schilder und die alten Bauten um sich herum. Hier waren nun mehr Touristen. Ein Araber stieß einen Zischlaut aus und winkte ihm zu. Er tat, als habe er es nicht gehört. Am Heiligen Grab sah er enttäuscht die gewaltige Schlange von Pilgern, die darauf warteten, die Grabstätte zu betreten. Man konnte jedoch in die Kirche, die über dem Grab errichtet war: ein riesiges Gebäude mit einer Kuppe, das der GriechischOrthodoxen Priesterschaft gehörte. Die Luft war schwer von Weihrauch; Ikonen zwinkerten aus der rötlichen Düsternis. Am Anfang der Schlange spielte sich eine äußerst unfromme Szene ab: Uniformierte Kirchenwärter zerrten ein paar weinende ältliche Griechinnen in Witwentracht hinweg, die offenbar das Grab nicht verlassen wollten. Die Pilger am Anfang der Schlange hatten lammfromme Gesichter aufgesetzt; die Wärter benahmen sich, als kämen Ereignisse dieser Art alle Tage vor. Tom fühlte sich von dem Aufruhr abgestoßen. Er wanderte um das Grabmal herum bis zu einer Stelle, wo hinter dem Felsen ein Schrein in den Boden eingelassen war. Er blickte auf einen winzigen Altar, der im Glanz goldener und silberner Ikonen funkelte. Kerzen flackerten, und die Felsspalte war von Weihrauch erfüllt. Indem er sich hinabbeugte, konnte er sich mit Mühe in den dunklen Schrein quetschen. »Willkommen!« Eine fette schwarze Spinne mit Menschenkopf sprang aus den Schatten hervor. Tom schrak zurück und stieß sich den Kopf am Felsen. 28
»Willkommen!« Es war ein Priester mit dem Ofenrohr-Hut der Orthodoxen, in schwarze Gewänder gehüllt, der am anderen Ende des Schreins hockte. Der graue Bart reichte ihm bis zur Taille und hing am Gürtel fest. Mit glitzernden Augen nickte er Tom begeistert zu. »Verdammt!« stieß Tom hervor und hielt sich den wehen Kopf. Wieder hörte er im Geiste die scharfen Worte, die er dem Araberjungen zugerufen hatte. »Verdammt!« Dann erinnerte er sich daran, wo er war, und sagte: »Mist! O Jesus!« »Ja! Willkommen!« Das war offensichtlich alles, was der heilige Mann in der englischen Sprache beherrschte. Der Spinnenpriester langte nach oben und berührte Tom an der Augenbraue. Schnell zog er die Hand zurück, gab einen Zischlaut von sich und schüttelte den Kopf. »Schlimm!« Dann drückte er Tom ein kleines Plastikkreuz in die Hand. »Spende!« sagte er und hielt seine Hand hin, aus vollem Herzen lächelnd. Tom warf ihm einen wütenden Blick zu, bevor er nach ein paar Schekeln suchte. Der Spinnenpriester nahm sie und reichte ihm noch ein Plastikkreuz. Ich bin müde, dachte Tom, als er die Grabeskirche verließ. Es ist alles zuviel für den ersten Tag. Er studierte seinen Plan und suchte nach dem kürzesten Weg zum Damaskustor. Die Sonne war hinter den Dächern versunken. Scharfe Schatten krochen von den ranzigen Mauern. Nun, wo die Straßen und Gassen fast menschenleer waren, verfolgte er seinen Weg mit dem Finger auf der Karte und zögerte, weil er merkte, daß er sich verirrt haben mußte. Er kam unter einer Reihe zerfallener Torbögen durch und folgte dann einer engen Kopfsteinpflastergasse mit hohen Mauern bis zu einem Durchgang, der nach Pisse und Chlor und verfaulendem Gemüse stank. Hohl hallten seine Schritte. Als er zu einer menschenleeren größeren Straße gelangte, hielt er an, um wieder auf dem Plan nachzuschauen. Die Straße sollte schnurgerade verlaufen, 29
er aber war eben zweimal links abgebogen. Er war in eine düstere Gegend der Altstadt gelangt, die die Sonne anscheinend nie mit ihren Strahlen erhellte. Dann wurde er von einer Bewegung ein paar Meter weiter abgelenkt, wo eine Gasse unter einem Torbogen endete. An der Seite des Bogens befand sich ein verschlossenes und verfaulendes Gatter. Aus den Schatten unter dem Torbogen winkte ihm eine verschleierte Araberin zu. Ihre Geste war nur schwach angedeutet, doch bezwingend. Sein Instinkt warnte ihn vor einer Falle, doch irgend etwas hielt ihn im Bann, irgendeine geheimnisvolle Fremdartigkeit ihrer Bewegungen. Er tat einen Schritt auf sie zu und wurde von einem Geruch nach Gewürzen überwältigt. Ein stechender, scharfer Geruch, der auf ihn wie Balsam wirkte. Die Frau trug grobgewirkte Kleidung. Der schwarze Schleier reichte ihr bis unter das Kinn. Sie war alt, mit Händen wie verschrumpeltes, gegerbtes Leder. Durch den Schleier konnte er ein blitzendes Auge erkennen. Doch irgend etwas stimmte hier nicht. Tom drehte sich der Magen um. Irgend etwas an der Alten erschreckte ihn. Wieder winkte sie ihm. Dann führte sie einen Finger zum Mund und berührte durch den Schleier den trockenen Finger mit ihrer Zunge. Langsam drehte sie sich um und schrieb mit dem Zeigefinger auf die Rückseite des Torbogens. Der bröckelige Stein zerfiel unter ihrer Berührung wie Puder. Sie schrieb ein D. »Ich muß gehen«, setzte Tom an. »Ich muß …« Die Frau fuhr fort zu schreiben. Mehr Buchstaben erschienen auf der Wand, als hätte sie ein Bildhauer mit dem Meißel eingegraben. Doch die Schrift war Hebräisch, vielleicht auch Arabisch, Tom konnte sie nicht entziffern. Der Duft nach Gewürzen breitete sich aus, fast wurde ihm übel. Er ließ seinen Stadtplan fallen und trat hastig den Rückzug an, überließ die alte Frau ihrem Gekritzel an der Wand. 30
Innerhalb weniger Augenblicke hatte Tom den Weg zurück zum Damaskustor gefunden. Er hielt an und lehnte sich gegen eine Mauer. Er atmete schwer. Er schämte sich. Zwei kleine Jungen, die auf einem Esel vorbeiritten, starrten ihn an. Doch bei der Erinnerung an die alte Frau krampfte sich sein Magen zusammen. Sich lächerlich fühlend, machte er sich auf den Weg durch das Tor. Die Menge war verschwunden. Die Sonne ergoß ihr letztes Licht auf eine tiefhängende Wolkenbank. Als er in sein Hotelzimmer kam, schloß er die Tür hinter sich ab und machte die Fensterläden zu. Er zog die Schuhe aus, legte sich aufs Bett und dachte an Katie. Er weinte, bevor er einschlief. Dann hörte er die Stimme.
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5 »Ich versuche dir zu erzählen, was geschehen ist«, sagte Katie.
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6 »Es ist ganz einfach. Ich habe aufgehört.« »Aber Monsieur. Lehrer zu sein ist so etwas wie eine Berufung. Kein Umhang, den man nach Belieben an und wieder ablegt. Man hört nicht auf, Lehrer zu sein, bloß weil die Regierung einem nichts mehr dafür bezahlt.« »Sagen Sie Tom zu mir.« »Darf man fragen, warum Sie einer so angesehenen und dankbaren Arbeit den Rücken zugekehrt haben?« »Soll ich noch Kaffee aufgießen?« Tom stand auf. »Sie war nie angesehen und nur manchmal dankbar.« David Feldburg lebte für das Gespräch, das wurde Tom allmählich klar. Er lungerte in der Küche herum und wartete auf interessante Konversationspartner. Er war sehr geschickt darin, ein Gespräch von harmlosen Bemerkungen über das Wetter rasch zu wichtigeren Themen zu lenken, bis man sich unvermittelt in einer sehr ernsten Unterhaltung begriffen sah. Es war, als fände man sich mit einemmal vor einem BackgammonBrett wieder, die Finger um den Würfelbecher geschlossen. Es gab einen Rahmen und ein paar bestimmte Regeln für diese Art Gespräche: locker dahingeworfene Bemerkungen waren nicht gestattet, man wählte seine Worte sehr sorgfältig, und jeder achtlos hingeworfene Kommentar konnte ans Licht gehalten und freudig kritisiert werden. Tom hatte David am Morgen in der Küche angetroffen. Oder um es genauer zu sagen – David hatte auf ihn gewartet, während er so tat, als spüle er Tassen aus. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er Tom eine anständige Tasse Kaffee angeboten statt der Matschbrühe, die das Hotel kostenlos ausschenkte. Ein paar Minuten später bestand er darauf, daß sie zusammen frühstücken müßten, und zwar frische Croissants und Pasteten aus einem nahe gelegenen Feinkostgeschäft. Tom 33
schlug vor, sie sollten doch zusammen gehen, aber David zeigte großen Widerwillen, auch nur einen Schritt aus dem Hotel heraus zu tun. Als Tom zurückkehrte, hatte David den Tisch gedeckt. Der Kaffee war fertig. Während sie aßen, entlockte der Alte Tom mit großem Geschick Informationen über sein Leben: daß seine Frau gestorben war, daß er fünfunddreißig war und schon ein wenig in der Welt herumgekommen und daß er ganz plötzlich und aus geheimnisvollen Gründen mit dem Lehren aufgehört hatte. Die Gründe wollte er nicht enthüllen. Tom dagegen erfuhr, daß David in Griechenland geboren war, in Paris, London und im französischen Algerien gelebt hatte. Zusätzlich zu den Sprachen dieser Länder beherrschte er sowohl Hebräisch als auch Arabisch. Seinen Lebensunterhalt, so sagte er, verdiene er als schlecht bezahlter Übersetzer gelehrter Bücher und Artikel. »Und wie war nun Ihr erster Besuch in der Heiligen Stadt?« erkundigte sich David, das Thema in neue Bahnen lenkend. »Enttäuschend.« Tom goß sich frischen Kaffee ein. »Aus dieser Bemerkung entnehme ich, daß Ihr Besuch in Jerusalem eine spezielle Bedeutung für Sie hat?« »Sie meinen, ob ich Christ bin? Ja, das stimmt. Aber ich vergesse es mehr und mehr.« »Warum waren Sie enttäuscht?« »Überall, wo ich hinging, wurde ich geneppt. Christen, Moslems und Juden. Ich war eine Zielscheibe.« »Warum überrascht Sie das? Ist dies nicht die Stadt, wo Ihr Gott die Tische der Geldwechsler umwarf? Sie hat sich seither nicht verändert.« Davids Bemerkung ließ ihn schmunzeln. »Aber ich hoffte darauf, etwas zu spüren. Tief in mir.« »Und Sie haben nichts gespürt?« »Zuerst ja. Ich war in großer Aufregung, als ich mich der Stadt näherte. Dann wurde sie von den Menschen besudelt. Ich 34
meine, das stärkt nicht gerade den Glauben, nicht wahr? Wenn man einen Glauben hat.« »Glauben? Der Glaube, Monsieur, ist die Brücke zwischen der Hoffnung und einer schmutzigen Welt. Wenn er so leicht zerbrechen kann, aus welch armseligem Material haben Sie ihn dann gebaut?« »Glauben Sie denn – als Jude?« David erhob einen Finger zur Decke und setzte sich in seinem Stuhl zurück. »An einem guten Tag ja. An einem Tag, wenn ich einen guten Kaffee und frische Pasteten bekomme und mich mit einem intelligenten Menschen unterhalten kann. Was haben Sie heute vor?« Das Spielbrett der Unterhaltung wurde zusammengeklappt. Tom erzählte ihm von Sharon, erwähnte das Viertel, in dem sie wohnte. »Ist das ein Judenviertel?« »Natürlich. Araber gibt es dort keine.« »Es tut mir leid. Manchmal sehen Juden und Araber für mich so gleich aus. Auf der Straße sehe ich blonde, blauäugige Juden und dunkelhäutige Juden mit braunen Augen. Und doch heißt es, die Juden wären eine Rasse. Wie kann das also sein?« David warf die Hände hoch und schloß die Augen. Dies war offenbar ein neues Backgammon-Spiel. Tom wechselte das Thema und erzählte ihm von seiner Begegnung mit der alten Araberin. David hörte aufmerksam zu. »War das im Christenviertel?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich irgendwie ins Araberviertel geraten. Jedenfalls glaube ich, daß sie Araberin war. Sie hat mich wirklich erschreckt, aber wahrscheinlich war sie nur hinter einem Trinkgeld her, weil sie mir eine Sehenswürdigkeit gezeigt hatte.« »Wahrscheinlich«, sagte David. Tom hatte nicht vor, sich von der Stadt einschüchtern zu lassen. Er hatte kaum etwas gesehen, und diese Stadt war wie ein Buch voller geistiger und altertümlicher Anregungen. Eine 35
Quadratmeile eines religiösen Vulkans. Er wollte in ihren geheimen Teichen schwimmen und ihre Höhlen erforschen. Er wollte neben ihrem glühenden Herzen stehen. Katie hatte immer hierherkommen wollen und hatte es nie geschafft. Barg diese Stadt ein großes Geheimnis? Gab es denn ein Geheimnis? Die Kreuzfahrer hatten Jerusalem für den Mittelpunkt der Welt gehalten, von hier waren die großen monotheistischen Religionen ausgegangen und hatten die Welt wie Flutwellen erobert; seit undenklichen Zeiten hatte man um diese Stadt mit derselben Blutgier gekämpft wie auch heute noch. Sie war ein Ort, der sich immer noch unter dem Zusammenstoß der Kulturen Europas, Afrikas und Asiens im Kreise drehte. Die Landmassen Europas und Afrikas waren wie die gespreizten Beine und Asien wie der Kopf eines riesigen Nußknackers, der in sich die bittersüße Nuß barg, Jerusalem. Und es gab hier etwas – es krachte, splitterte und sickerte. Es sickerte aus den massiven Steinen der ehrwürdigen Gebäude und die Gossen der uralten Gassen entlang. Es floß unter den Füßen der Einwohner. Es glühte düster in den Gruben unter ihren Häusern. Man hätte schon tot sein müssen, um es nicht zu spüren! Sogar der Staub war lebendig, wie ein radioaktiver Stoff. Er bleibt unter den Sandalen kleben, dachte Tom, er setzt sich unter die Nägel, in die Haut, trocknet einem die Kehle aus und macht durstig. Dies alles tut der Staub. Aber er macht einen nicht zu einem besseren Menschen. Und er kann Katie nicht zurückbringen. Dieses Mal näherte er sich der Stadt durch ein anderes Tor. Vor der Stadtmauer schlenderten junge Männer und Frauen in ihren olivgrünen Armeeuniformen, die Uzi-Maschinengewehre um die Schulter geschlungen. Die vielen jungen Frauen in Uniform faszinierten ihn – schöne Mädchen, bewaffnet, stark, selbstsi36
cher, irgendwie unangreifbar. Er war einerseits abgestoßen durch diese Emanzipation mittels Waffen und andererseits von dem Schauspiel seltsam erregt. Die Mädchen erschienen begehrenswerter durch die Waffen. Das Neue Tor gewährte direkten Zugang ins Christenviertel. Er hatte einen anderen Plan aus dem Hotel mitgenommen und einen Stadtführer gekauft. Als er die Grabeskirche erreichte, hatte sich wieder eine Besucherschlange gebildet, und daneben hielt eine beträchtliche Menge Leute in Rollstühlen. Er setzte sich auf eine Steintreppe und studierte den Führer. Es dauerte keine zehn Sekunden, da waren zwei junge Möchtegern-Stadtführer zur Stelle. »Verschwindet!« Was ging bloß vor in dieser Stadt? Man durfte keinen Moment stillsitzen! Wenn man nicht weiterging, wurde man zu einer Zielscheibe! Stillstand war Schwäche! Geh weiter, sonst wirst du gebissen! Man mußte leben wie ein kleiner Fisch und flüchten vor den großen Fischen, die von allen Seiten näher rückten. Er setzte sich wieder auf die Stufen und versuchte, in seinem Stadtführer zu lesen. Enttäuscht stellte er fest, daß man Zweifel hegte, ob das Heilige Grab an seiner authentischen Stelle war. Ein anderer möglicher Platz für die Kreuzigung und die Wiederauferstehung, so hieß es, sei unmittelbar nördlich des Damaskustores. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß das Heilige Grab ein Schwindel sein könnte. Er klappte das Buch zu und suchte nach dem Namen des Autors, vielleicht um zu sehen, ob es von einem Juden oder einem Araber geschrieben worden war, jemand, dem er die Schuld zuschieben konnte. Dieser Platz, so behauptete der Autor, habe immer innerhalb der Stadtmauern gelegen, während die Geschichte lehrt, daß die Kreuzigung außerhalb der Stadt stattgefunden habe. Tom blickte hinüber zu den Reihen der Rollstuhlfahrer, die wie zu einem Rennen aufgestellt waren, und hoffte für sie, daß sie 37
nicht zum falschen Ort gekommen waren. Dieser Platz, so belehrte ihn das Buch, sei von Helena, der Mutter des Konstantin, Herrscher von Byzanz, ausgewählt worden, und zwar dreihundertundfünfzig Jahre nach der Kreuzigung. Helena hatte eine Pilgerfahrt nach Jerusalem unternommen und sei enttäuscht gewesen, als sie keine Heiligtümer sah. Also hatte sie hier eines errichten lassen. Tom klappte das Buch zu. Wieder ging er in die Kirche. Die Wärter scheuchten immer noch die Besucher in die Kapelle und schleusten sie wieder hinaus. Im Hintergrund war der Spinnenpriester immer noch eifrig damit beschäftigt, den Touristen Plastikkreuze in die Hände zu drücken. Tom verließ die Kirche. Er besuchte den Felsendom; er las, daß die goldene Kuppel einst eingeschmolzen worden war, um die Schulden des Kalifen zu bezahlen, und nun aus einer Aluminium-BronzeLegierung bestand. Von dort ließ er sich zurücktreiben zum muslimischen Viertel in Richtung Damaskustor und folgte einer schmalen Straße mit Marktständen, in denen Binsenmatten und Gewürze und exotische Früchte verkauft wurden. Wenn er stehenblieb, um in Ruhe zu schauen, belästigten ihn die Händler. Um ihnen zu entkommen, ging er durch einen düsteren, bogenüberwölbten Durchgang, der in eine Sackgasse führte. Die Sackgasse kam ihm vertraut vor. Es war die Stelle, wo er der alten Araberfrau begegnet war. Er schluckte schwer. Nur einige Meter weiter waren der letzte Torbogen und die Mauer, an die die Alte gekritzelt hatte. Heute war sie nicht da. Tom schob sich vorsichtig bis in den schattigen Winkel; er war neugierig, was sie ihm hatte zeigen wollen. Kein Mensch war in der Nähe. Von der Straße jenseits der Torbögen drang das gedämpfte Murmeln der Markthändler. Er trat näher heran und erkannte sofort den widerwärtig süßen Balsam wieder, den er bei der Begegnung mit der Frau gerochen hatte. An der Wand waren keinerlei Zeichen zu erkennen. 38
Es war ein Zementblock, vermutlich nicht älter als zwanzig oder dreißig Jahre. Er hatte erwartet, etwas Besonderes zu sehen, einen älteren Ziegelstein vielleicht, der dort herausragen mochte. Was immer die Frau auch an die Wand geschrieben hatte, es hatte keine Spuren hinterlassen. Und doch hatte er sie ganz deutlich auf einen Stein schreiben sehen, der wie Puder zerfallen war. Am Fuße der Mauer lag der Stadtplan, den er in seiner Eile fallen gelassen hatte. Er hob ihn auf. Er war immer noch so gefaltet, daß er den Rückweg zum Hotel ablesen konnte. Doch nun war die Stelle, wo sich sein Hotel befand, mit einem dunklen ovalen Fleck markiert. Tom hielt den Plan hoch ins trübe Licht. Was er für einen Fleck gehalten hatte, war vielmehr ein Daumenabdruck. Zuerst glaubte er, der Daumenabdruck sei nur durch ein paar fettige Finger entstanden. Da vernahm er ein sanftes Gurren. Er blickte auf und sah einen Araber mit Kopfschmuck, der aus dem Durchgang zu ihm herüberstarrte. Der Mann schnalzte mit der Zunge und gurrte wieder. Es war ein älterer, beleibter Mann, doch seine Augen blitzten wach und verheißungsvoll. Tom machte einen Sprung nach vorn und bahnte sich mit der Schulter seinen Weg aus der Gasse. Von dieser plötzlichen Bewegung erschreckt, rief ihm der Araber etwas Unverständliches nach. Er hielt nicht an, bis er das Damaskustor passiert hatte. Wieder studierte er den Plan. Nun, im hellen Sonnenlicht konnte er erkennen, daß es so aussah, als sei der Daumeneindruck auf das Papier eingebrannt worden. Es war ohne Zweifel ein kleiner Daumenabdruck, aber er wirkte wie von einer verbrannten Hand. Er blickte um sich, als könne ihm irgendeiner aus der Menge, die um das Damaskustor schwirrte, eine Erklärung dafür geben. Die Touristen und die Händler achteten nicht auf ihn. Er schaute auf zu den Wällen der Stadtmauer. Die alten steinernen 39
Zinnen schienen unter der erbarmungslosen Hitze in Schweiß zu geraten. Tom steckte den angesengten Plan in die Tasche und machte sich auf den Rückweg zu seinem Hotel.
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7 »Ich habe versucht, dir zu sagen, was passiert ist, aber du hörst mir nicht zu. Du hörst mir nicht mehr zu.« »Nein, das stimmt nicht.« »Oh, doch«, erwiderte Katie. »Weißt du, wie schwer das ist? Wenn etwas so schnell vergeht? Wie schwer es ist, es aufzuhalten?« Ihre Stimme war gebrochen. Ihre blauen Augen splitterten wie Eis, tauten, froren wieder, tauten auf. »Weißt du nicht, wieviel Mühe das kostet? Richtige Mühe? Aus den Tiefen. Dies kommt aus den Tiefen. Weißt du, wie schwer es für mich ist? Es tut mir weh, wenn ich nur mit dir spreche. Für jedes Wort muß man bezahlen. Aus den Tiefen.«
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8 »Agoraphobie«, sagte David. »Ich bin mit dem Fluch derer geschlagen, die vor dem Marktplatz Angst haben.« Er begleitete die wörtliche Übersetzung des Begriffs mit einem liebenswerten Lächeln, während er seine Hosen hochzog. Im Verlauf einer Unterhaltung pflegten seine Hosen immer weiter hinunterzurutschen, von den Achselhöhlen bis unter seine Hüften. »Wann sind Sie denn zuletzt ausgegangen?« wollte Tom wissen. »Am Unabhängigkeitstag. 1978.« »Sie sind fünfzehn Jahre lang nicht aus dem Haus gekommen? Wer kauft denn für Sie ein?« David vollführte eine zeitlose Geste. »Die Leute sind nett.« Tom war von seinem Morgenspaziergang in der Altstadt zurückgekehrt, um ein Nickerchen zu machen. Die Junisonne brannte wie ein Glutofen. Der Staub des alten und die Abgase des neuen Jerusalem blieben in der Hitze hängen. Er wunderte sich, wie die Chassidim und die Araberinnen ihre erstickenden schwarzen Gewänder ertrugen; sicher war es wichtiger zu leiden als unwillkommene Gelüste zu erwecken. Nach seinem Nickerchen hatte er David an seinem üblichen Platz in der Küche gefunden; er saß über einer sehr alten Reader’s-Digest-Ausgabe. Tom erzählte von den Ereignissen des Morgens, vermied jedoch jede Anspielung auf den angesengten Stadtplan. Er machte eine Bemerkung über die Schilder in der Nachbarschaft mit den Kleidungsvorschriften für die Frauen. Dies schien David ein wenig zu ärgern. »Wenn man in Rom ist …« »Ist denn jeder Mann in dieser Stadt ein brodelnder Sumpf unbezähmbarer Lust, so daß die Frauen nicht mal ihre Achseln zeigen dürfen?« 42
»Ich befehle euch, Töchter Jerusalems, daß ihr nicht erreget noch wecket meine Liebe, bevor es ihm gefällt.« David schob seine Brille über die Nase hinauf. »Ja, ich kenne das Lied der Lieder. Aber die Frauen müssen bei dieser Gluthitze in schweißtreibende Tücher gewickelt einhergehen, weil die Männer den Anblick eines Musikantenknochens nicht ertragen können.« An diesem Punkt bemerkte David, daß es überhaupt eine nette Erfahrung sein müsse, hinauszugehen. »Die Leute sind nett«, wiederholte er und strich die losen Seiten seines Reader’s Digest glatt. Dann erhob er sich und schritt in einer Weise aus der Küche, daß Tom glauben mußte, er habe ihn entweder verletzt oder traurig gemacht. Tom nahm sich einen Gang über den Ölberg zum Garten Gethsemane vor, abends, wenn es kühler würde. Um bis zur Dämmerung dorthin zu gelangen, würde er sofort aufbrechen müssen. Aber draußen wurde er von einem plötzlichen Impuls zurückgetrieben und kaufte zwei kunstvoll aufgetürmte Eishörnchen für sich und David. Dann fiel ihm auf, daß er nicht einmal wußte, welches Zimmer David bewohnte. Während ihm das Eis in den Händen schmolz, läutete er die Klingel, um den jungen Mann zu holen, der an der Rezeption die Aufsicht führte. Der Junge mit den Locken und der dicken Brille blinzelte wie verrückt, als Tom sich nach der Zimmernummer erkundigte. Er schien sie nicht herausrücken zu wollen. Tom begann, seine Bemühungen zu bedauern. »Es ist doch bloß ein Eis, um Himmels willen!« Diese Anrufung des Himmels brachte schließlich die gewünschte Information. Tom klopfte leise an die Tür. Als David erschien, schaute er die rosafarbene und braune Eiskrem an, die Tom über die Finger rann, nahm die Brille ab und weinte. Er ließ sich in einen alten Armsessel gleiten, aus dessen Rissen in der Polsterung das Roßhaar quoll. Tom folgte ihm ohne Aufforderung ins Zimmer. 43
An allen vier Wänden waren Regale mit Büchern. An einer Wand öffnete sich eine Tür zu einem zweiten Raum, in dem man einen Blick auf ein ungemachtes Bett erhaschen konnte. »Ich habe Ihnen das hier mitgebracht«, sagte Tom unnötigerweise. David beruhigte sich und betupfte seine Augen mit einem schäbigen Taschentuch. »Ich bitte um Verzeihung, Monsieur. Setzen Sie sich doch.« Er stand auf und nahm einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl. »Können Sie es nehmen, bevor es ganz geschmolzen ist?« »Aber natürlich.« David nahm das Eis, als könne es sich jeden Augenblick in einen Schmetterling verwandeln. Tom war erleichtert, als er sah, wie David schließlich seine rosa Zunge in die schmelzende Masse steckte. »Als ich Sie dort stehen sah, erinnerten Sie mich an jemanden. Es war wie ein Bild aus einer lang vergangenen Zeit. Dabei ähneln Sie ihm nicht einmal. Er war viel dunkler. Er hatte braune Augen, Ihre sind blau; seine Haut hatte eher einen gelblichen Ton. Aber es war das Eis, das Ihnen in der Hand zerschmolz. C’est extraordinaire. Irgend etwas in Ihren Bewegungen. Es war der letzte glückliche Augenblick, den wir zusammen verlebten.« »Wer war es?« »Mein Vater. Ich habe ihn vor langer Zeit verloren.« »Wie?« »An einem schrecklichen Ort namens Belsen.« Tom schloß die Augen. Die Geschichte flackerte wie eine alte Wochenschau vor seiner Netzhaut. Schnell rechnete er die Zeitspanne zwischen dem Ende der Konzentrationslager und der heutigen Zeit aus und schätzte, daß David ungefähr fünfundsiebzig sein mußte. Die Geister. Wir alle werden verfolgt, auf welche Art auch immer. »Es ist eine alte Geschichte«, sagte David und rettete Tom aus seiner unbehaglichen Lage. »In dieser Stadt können Sie alle Einzelheiten erfahren, wenn Sie Interesse daran haben. Schaun 44
Sie nur – mein Eis, es ist weg!« Tom bemühte sich, das Thema zu wechseln. »So viele Bücher! Haben Sie etwas über Jerusalem, das ich mir ausleihen könnte?« David nahm einen schweren Band von einem Regal. »Ich würde Sie sehr gern ohne Einschränkungen in dieser Bibliothek herumstöbern lassen, wenn es nur möglich wäre. Aber es gibt da ein paar Dinge, die Sie nicht sehen sollten. Kommen Sie einmal her.« Er schloß einen Schrank auf, dem er ein Bündel Plastikhefter entnahm. Auf dem Tisch breitete er sie aus. In den hitzeverspiegelten durchsichtigen Umschlägen lagen graue Bruchstükke aus Pergament mit Schriftzeichen, die für Tom wie hebräische Schrift aussahen. »Wissen Sie, was das ist? Es sind Teile der Schriftrollen vom Toten Meer.« »Sind sie echt?« »Aber natürlich.« »Was tun Sie denn damit? Ich meine, sind sie nicht ungeheuer viel wert? Ich dachte, die Gelehrten brüten über ihnen.« »Monsieur, Sie scheinen nicht zu wissen, wie viele Teile man gefunden hat.« Tom betrachtete die farblosen Pergamente näher. Sie gaben keine Geheimnisse preis. Als er sich wieder aufrichtete, sammelte David die Hefter ein und schloß sie wieder in den Schrank. »Hier bewahre ich sie auf«, sagte er. Die Bemerkung hatte einen seltsamen Unterton; es war fast, als wolle er, daß Tom sie stehlen sollte. »Ich muß jetzt gehen«, sagte Tom. »Ich will hinauf zum Gethsemane, bevor es dunkel wird.« »Wenn Sie zu Fuß gehen, wird es dämmrig sein, bevor Sie den Ölberg erreichen.« »Ich versuch’s trotzdem.« 45
»Vergessen Sie das Buch nicht. Und danke für das Eis.« Es war doch zu spät, um zu dem Garten hochzusteigen, in dem Jesus verraten worden war. Aber es war auch Nacht gewesen, als die Wachen zum Gethsemane gekommen waren, um Jesus zu verhaften, nachdem Judas ihn verraten hatte; dort hatte er Blut geschwitzt; und dort waren die Schwerter zum Gefecht gezogen worden, bevor sie Jesus abführten. Tom hätte es vorgezogen, den Ort bei Nacht zu sehen; er hätte zum Garten hinaufwandern und sich an der warmen Dämmerung und den süßen Düften des Abends erfreuen können. Doch diese Stadt lehrte ihn das Fürchten. Die ständige Drohung der Gewalt machte die Absicht zunichte, nachts allein herumzuwandern. Touristen waren leichte Beute, und wenn er es auch bis Sonnenuntergang zum Gethsemane schaffen konnte, so zweifelte er doch, vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurückzugelangen. Er stand mit dem Rücken an die mächtigen Quader der östlichen Mauer gelehnt. Hinter ihm funkelte die unechte Goldene Kuppel in der untergehenden Sonne. Auf der anderen Seite des Tals am Fuße des Ölbergs standen die einzigartigen Gemäuer von Absaloms Grabmal und die dunklen Portale, die zu Jakobus’ und Zacharias’ Grabstätten führten. Hinter ihnen auf der Anhöhe lagen verstreut die Grabsteine des jüdischen Friedhofs; dort warteten die Seelen darauf, den Messias am Tag des jüngsten Gerichts zu begrüßen. Gebeine und Staub. Tom erzitterte im Innersten; sein Aufenthalt in Jerusalem war bis jetzt von diesem Flattern in den Eingeweiden bestimmt gewesen, das er seit seiner Ankunft verspürt hatte. Es war, als sei die ausgedörrte Landschaft und er mit ihr von einer zitternden Hand an einem Zipfel gepackt und durchgeschüttelt worden. Wenn er seine Augen nur für einen Augenblick schloß, 46
wurde das Zittern stärker. Da er seinen Spaziergang zum Gethsemane aufgab, wandte er sich wieder der Stadtmauer zu. Was er dort sah, preßte ihm den Magen zusammen. Die Sonne ging am anderen Ende der Stadt unter, streifte die Ränder der Wolken und sandte Strahlen aus, die einem Kinderbild entstammen mochten. Das Licht prallte gegen die goldene Kuppel, die über den Zinnen eben noch sichtbar war. Die Mauern hatten nun den Ton verrottenden Pergaments angenommen. Mitten auf der Stadtmauer, auf halber Höhe zwischen Zinnen und Boden, hing wie eine Fledermaus oder ein Vogel auf Insektenjagd die arabische Frau mit ihrem Schleier. Zwölf Fuß hoch an der Wand. Es gab keine Stützen für die Füße. Die Wand war glatt und senkrecht; doch die Frau hing dort und klammerte sich mit ihren Nägeln fest. Sie trug das gleiche braune Gewand wie vorher und den schwarzen Schleier, der ihr bis unters Kinn reichte. Sie winkte ihm. Seine Eingeweide wurden unter scheußlichem Druck zusammengepreßt. Er fühlte einen Tropfen heißen Urin auf seinem Schenkel und hörte ein Rauschen in den Ohren, als der Boden unter ihm nachgab. In dem blauen Himmel erschien eine Falte, wie unter einem gewaltigen Gewicht aufgeworfen. Ein vertrauter Geruch nach Gewürzen, nach Balsam, wehte zu ihm hin. Die alte Frau kratzte etwas auf die Mauer. In fußhohen Lettern begann sie etwas in arabischer Schrift zu schreiben. Dann gab sie den Versuch auf und kritzelte sorgfältig die lateinischen Buchstaben: DE PR Die Wand zerfiel unter ihrer Berührung wie Puder. Es war deutlich zu sehen, daß sie die Lettern in den Stein ritzte, zwölf 47
oder fünfzehn Fuß hoch über dem Boden. Die verschleierte Frau fuhr fort, mit ihrem gekrümmten Zeigefinger zu schreiben. »Tom! Tom!« Er hörte seinen Namen rufen, als käme die Stimme aus einer anderen Welt. Die Worte gellten aus dem Himmel wie Möwenschreie. »Tom!« Eine Hand wurde auf seine Schulter gelegt. Der Himmel war wieder aus einem Stück. Er konnte atmen. »Tom, was ist? Was ist mit dir?« Es war Sharon. Sharon, seine Freundin. Tom drehte sich zu ihr um, versuchte etwas zu sagen. Doch sein Mund wollte die Worte nicht bilden. Die Frau an der Mauer war verschwunden. Die in den Stein gegrabenen Lettern verblaßten schon, wie eine Schrift im windgepeitschten Sand. »Ich hab’ die ganze Stadt nach dir abgesucht. Ein Nachbar hat mir erzählt, daß ein Engländer zum Haus gekommen wäre. Warum hast du denn keine Adresse oder so etwas hinterlassen?« »Ich … ich wußte nicht, was ich tun sollte.« Tom war verwirrt. Wieder blickte er zur Mauer. »Was ist los? Geht’s dir gut?« »Ich dachte, ich …« »Dir geht’s nicht gut, stimmt’s? Laß dich mal anschauen.« »Es ist bloß mein Magen. Ehrlich.« »Reisekrankheit«, grinste Sharon. »Hast ‘ne Spritze gekriegt, was? Ich hab’ was dagegen. Komm mit, mein Auto steht gleich da drüben.« Tom ließ sich über die Straße führen. Schweiß tropfte von seinen Brauen. Der Schlüsselbund in Sharons Hand klapperte leicht, wie elektrisch geladen. Wieder blickte Tom zur Mauer. »Komm schon, alter Junge. Ich nehm’ dich mit zu mir.«
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9 »Erinnerst du dich noch? Erinnerst du dich an das eine Mal, als ich früher nach Hause kam und dich erwischte?« sagte Katie. »Du hast gerade das Lied der Lieder gelesen. Und ich dachte, o mein Gott, Tom liest schon wieder die Bibel. Weißt du noch, wie ich mich darüber lustig gemacht habe? Wie ich geschimpft habe? Und du sagtest, es wäre das schönste Stück Literatur, das je geschrieben wurde.« »Kann mich nicht erinnern, das gesagt zu haben.« »Doch! Du hast es gesagt! Ich bat dich, mir etwas daraus vorzulesen. Du wolltest nicht. Und da wußte ich es. Da wußte ich es wirklich.« »Was wußtest du?« fragte Tom.
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10 »Erst holen wir dich aus diesem Flohstall da« – Sharon, damit beschäftigt, aus einem Durcheinander von Löffeln und Tassen, Schranktüren schlagend und Schubladen rasselnd mit lauter Musik im Hintergrund einen Tee zu machen – »und dann landest du in dieser Flohkiste.« Sharon war ein Mensch, der viel Raum einnahm; diese Eigenschaft hatte Tom auch als erstes zu ihr hingezogen. In ihrem ersten Jahr am Lehrerausbildungs-College hatten sie sich auf geheimnisvolle Weise zueinander hingezogen gefühlt; das Schicksal hätte zwar zwei passende Seelen miteinander verbinden können, aber das Schicksal hatte es nicht so gewollt. Am ersten Tag in der Englischstunde war Sharon zu spät gekommen und hatte sich auf dem Stuhl neben Tom breitgemacht. Er hatte kaum ein Wort jener ersten Stunde mitbekommen. Er war viel zu fasziniert gewesen von dieser starkknochigen großen Frau mit den langen blonden Locken und dem Wollpullover, aus dem sich einzelne Fäden lösten und dessen Ärmel bis zu den Mittelfingerknöcheln ihrer eleganten Hände reichten. Mitten in der Unterrichtsstunde kniff sie ihn in den Unterarm und sagte: »Gib mir mal ‘nen Bleistift, ja?« Tom war sogleich von ihrem warmen Manchester-Akzent bezaubert gewesen. Seinen Bleistift bekam er nie zurück, aber es war der Beginn der engsten Freundschaft, die er je auf dem College schließen sollte. Es gab keine verborgene sexuelle Anziehung in der ersten Zeit ihrer Beziehung. Später sollten sie dem Sex eine spielerische Einlage gewähren, doch selbst als diese mißlang, blieb ihre Freundschaft bestehen. Tom war zu jener Zeit ein zögernder und unerfahrener Student, der sich mit den Problemen einer nachpubertären Akne herumschlug, und irgendwie schafften sie es, ohne die üblichen Spannungen zwischen Mann und Frau 50
befreundet zu bleiben. Wenn einer fragte, so beriefen sie sich nur zu gern auf eine platonische Beziehung. Nur pflegte Sharon immer zu sagen: »Plutonisch. Es ist plutonisch.« Und niemand, Tom eingeschlossen, wußte, was sie damit meinte. Tom hatte einen Bogen mit Lebensregeln, eine Desiderata, über seinem Bett aufgehängt. Als er Sharon einmal zum Kaffee einlud, las sie die Zeilen in ihrem harschen Manchester-Akzent vor, und als sie zu der Stelle kam, wo es hieß, Meide laute und aggressive Menschen, denn sie sind ein Ärgernis für den Geist, sagte sie: »Na ja, das heißt ja dann wohl, daß ich abhau’n kann, oder?« Worauf Tom das Blatt von der Wand gerissen und in den Papierkorb geworfen hatte. »Eigentlich hat es mir gar nicht gefallen«, erklärte er. »Eine Freundin hat es für mich gekauft.« Sharon, die diesen Akt der Fügsamkeit als Großzügigkeit seinerseits interpretierte, war tief gerührt. Von diesem Augenblick an kamen sie gut miteinander aus. Das Freundschaftsband wurde immer fester und war seit jenem Tag nicht gebrochen worden. Es gab allerdings beträchtliche Unterschiede in bezug auf Temperament und Erziehung zu überbrücken, über die sie sich gegenseitig hinweghalfen, um ihre Freundschaft bestehen zu lassen. »Die Christliche Vereinigung veranstaltet ein Treffen«, hatte Tom während jener ersten Woche gesagt. »Es würde mir eine Menge bedeuten, wenn du mitkämst.« Achselzuckend war Sharon ohne Murren mitgegangen. Später fragte Tom: »Nun, wie fandest du es?« »Willst du, daß ich’s dir ehrlich sage?« »Na klar.« »Der Gesang war völlig platt. Die Gitarren hätte man besser zertrümmern sollen. Die Lieder waren Scheiße, und die Backkartoffeln scheußlich. Außerdem kam ich mir ziemlich dämlich 51
vor, den ganzen Abend mit ‘ner Kerze rumzustehen. Ehrlich, Tom, wenn du das für ‘ne gute Abendunterhaltung hältst, dann bin ich froh, Jüdin zu sein.« Tom war bis zu den Haarwurzeln errötet. Ohne es zu wissen, hatte er eine Jüdin zu einem Treffen der Christlichen Vereinigung geschleppt! Kein Wunder, daß der Kaplan sie so kühl begrüßt hatte. »Tom, nun mal ernsthaft. Die Bar hat immer noch offen. Es würde mir ‘ne Menge bedeuten, wenn du mit mir kommst.« So retteten sie ihre Freundschaft. Und Tom ging es mit den christlichen Versammlungen wie mit seinem Merkblatt der Lebensregeln – er ›vergaß‹, die Versammlungen zu besuchen. Es war nicht so, daß er seinen Glauben als Christ verloren hätte, wie er immer wieder betonte – er mochte bloß keine Backkartoffeln mehr. Sharon und er kritisierten einander nicht mehr, und keiner bat um etwas, bei dem der andere Zugeständnisse hätte machen müssen. Und wenn die Leute fragten: Hey, warum hängst du denn mit dem/der rum, dann antwortete jeder der beiden: Weil er/sie niemals hinter meinem Rücken schlecht über mich spricht. Das brachte die Neugierigen schnell zum Schweigen. Auf dem College war Sharon eine Woche blond gewesen, die nächste braun, dann braunblond, rothaarig, rabenschwarz, füchsig und schließlich sogar leuchtendgrün. Hier in Israel hatte sie blondes Haar mit Strähnen in der Farbe eines Silberfuchses. Ihr Gesicht hatte im Laufe der Jahre zuviel Sonne abbekommen, aber ihre blauen Augen blitzten immer noch wie Chrom. »Du bist wohlgestaltet«, sagte Tom. »Was?« lachte Sharon, während sie sich eine silberblonde Locke aus den Augen strich. »Ich sagte, du bist wohlgestaltet. Du warst es schon immer. Deshalb können dich die Männer nicht in Ruhe lassen.« Tom hatte dies aus ziemlicher Nähe beobachten können. Die 52
Wahrheit aber war, daß auch Sharon die Männer nicht in Ruhe lassen konnte. Während ihrer Studienzeit hatte sie ein Herz ausgebildet, das binnen weniger Tage in Stücke gehen und wieder heilen konnte. Tom fand sie oft in Tränen aufgelöst, oder schlimmer noch – er mußte zuweilen betrunkene junge Männer trösten, die Tränen über Sharon vergossen. Sein eigenes Liebesleben lag zu dieser Zeit so gut wie brach. »Diese Affären«, sagte Tom einmal zu ihr. »Es scheint nicht so, als ob jemand damit überhaupt glücklich wird.« »Glück?« Sharon hatte aufgehört zu weinen, um sich die Nase zu putzen. »Um Glück geht es auch nicht.« »Worum dann?« Pause. »Um Erfahrung«, erwiderte sie. Lange Zeit danach noch hatte Tom gedacht, er lebe vielleicht kein echtes Leben. »Also bist du jetzt nicht mehr Lehrer?« wechselte Sharon das Thema. Tom hatte seit seiner Abschlußprüfung als Lehrer gearbeitet. Sharon hingegen hatte bisher noch keinen Gebrauch von ihrer Ausbildung gemacht. In den letzten Jahren war sie Reiseführerin in Spanien gewesen, hatte auf den Kanaren in einer Immobilienfirma gejobbt, war Helferin in einem Butlin’s Ferienlager gewesen, Betreuerin auf einem Abenteuerspielplatz, Kibuzznik … Und nun lebte sie hier in Israel und arbeitete als Therapeutin alkoholabhängiger Frauen, da sie nebenbei auch ein Psychologiediplom erworben hatte. »Ich konnte es nicht glauben, als ich deinen Brief las.« »Tja. Ich hab’ eben aufgehört.« »Und wirst du mir auch sagen, warum?« Sie sah die Furcht in seinen Augen aufglimmen und wechselte zum zweiten Mal das Thema. »Kümmern wir uns um die praktischen Dinge. Ich hab’ noch ein Zimmer frei. Trink deinen Tee aus, und wir gehen deine Sachen holen. Wie hat’s dir denn gefallen, so nah an Mea Shearim zu wohnen?« »Jeder da sieht aus wie Moses in einem Gehrock aus dem 53
achtzehnten Jahrhundert.« »Chassidim.« Sharon spie das Wort förmlich aus, als brenne es ihr auf der Zunge. »Du mußt die Juden nicht nach diesen Mistkerlen beurteilen. Die meisten Israelis sind weltoffen und können sie nicht ausstehen. Weißt du, daß manche dieser Chassidim nicht mal den Staat Israel anerkennen? Sie wollen keine Steuern zahlen, sie wollen ihre Söhne nicht zur Armee schicken, aber trotzdem wollen sie vor den Arabern beschützt werden.« »Und warum sind sie dann hier?« »Sie warten auf den Messias – nicht auf unseren Messias; Jesus hat ihnen nicht gereicht – und bevor der Messias nicht kommt, wird auch kein Staat Israel ausgerufen.« »Aber wie wollen sie denn wissen, wann der Messias kommt?« »Sie werden’s nicht wissen. Sie werden darüber streiten, wie beim letzten Mal.« »Ernsthaft. Wenn jemand sich für den Messias ausgibt, wie würden sie das wissen?« »Zeichen. Es wird Zeichen geben. Du weißt ja, was ich von ihnen halte, und von meinen Glaubensbrüdern, und von deinen und von den Arabern. Das ist eben Jerusalem. Die Stadt der Zeichen.« Ich weiß es, dachte Tom. Während Sharon vor der Tür des Hotels wartete, bezahlte Tom seine Rechnung. Er wollte sich von David verabschieden, und da er ihn nicht in der Küche fand, begab er sich zu seinem Zimmer und klopfte leise an die Tür. Niemand öffnete, aber er hörte ein Geräusch im Zimmer, also klopfte er noch einmal. Wenige Augenblicke später erschien David, mit einem übergroßen karierten Morgenmantel angetan. Er sah gräßlich aus. »Monsieur«, sagte er und quetschte die Worte heraus, »wie 54
Sie sehen, bin ich unpäßlich.« »Was ist denn los mit Ihnen, David? Sie sehen ja furchtbar aus.« »Ihr Eis hat mir den Rest gegeben. Sie haben gewonnen. Nehmen Sie Ihre Beute.« Er schien kurz vor dem Delirium. »Kann ich Ihnen etwas besorgen? Soll ich jemanden benachrichtigen?« »Nichts und niemanden. Machen Sie das Schlimmste draus, und gehen Sie bitte.« Damit schleppte sich David in das angrenzende Zimmer und kletterte auf das Bett, das mit vielen Laken bedeckt war. Er rollte sich wie ein Fötus zusammen und lag zitternd da. Tom fiel ein, daß Sharon mit laufendem Motor auf ihn wartete. Er fand ein leeres Weinglas und füllte es am Becken mit Wasser, stellte es auf den Nachttisch. Dann ging er hinaus und schloß die Tür behutsam. Er klingelte nach dem jungen Mann, aber niemand erschien. Kein Mensch war in der Nähe. »Scheiße«, sagte er im Auto. »Was ist denn?« »Ein alter Mann lebt hier. Ich wollte ihm Auf Wiedersehen sagen. Jetzt ist er krank, und ich habe Gewissensbisse, ihn allein zu lassen.« »Es ist doch nicht deine Schuld, daß er krank ist, oder?« »Nein.« »Genau«, sagte Sharon und drückte aufs Gaspedal. »Und jetzt – Jerusalem bei Nacht.«
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11 Tom kämpfte mit einem Kater: Sein Mund fühlte sich pelzig an, säuerlich stieß ihm das Maccabee-Bier auf. Sharon hatte ihn durch die Bars von Jerusalem geschleppt, und nicht einmal war Katies Name gefallen. Wieder zurück in der Wohnung, hatte er eine unbequeme Nacht verbracht. In seinen Träumen hatte jemand versucht, zu ihm zu sprechen, ihm etwas ins Ohr geflüstert in einer Sprache, die er nicht verstehen konnte, die ihm jedoch vertraut vorkam. Immerhin hatte keine Hand um Mitternacht an die Tür geklopft. Als er sich nackt auf dem Bett ausstreckte, blieb sein Blick an der winzigen Tätowierung über seinem Knöchel hängen. Immer wenn er einen Kater hatte, betrachtete er diese Tätowierung. Nach zwei Jahren Ehe war Tom, damals ein ganz passabler Mittelfeldspieler in der Sonntags-Mannschaft der Amateurliga, mit seinen Teamkameraden für eine einwöchige Spritztour nach Dublin gefahren. Eines Nachts, als das Guinness in Strömen floß, hatte er eine Art Wette verloren. Seine Buße war dann, sich die Tätowierung machen zu lassen. Tom wählte die Stelle über dem Knöchel, weil er glaubte, daß sie dort am wenigsten auffallen würde. Benebelt wie er war und trotz der Widersprüche seiner erdnußmampfenden, jubelnden und johlenden Kameraden bestand er darauf, die Tätowierung selbst auszusuchen. Als er aus Dublin zurückkehrte, war sie mit Schorf überzogen. »Was zum Teufel ist das?« hatte Katie gefragt und die Bettdecke zurückgeschlagen. »Das ist eine Tätowierung.« »Was?« »Eine Tätowierung.« »Tom! Es sieht eher wie eine Kruste aus.« 56
»Ist es ja auch. Nach einer Weile fällt die Kruste ab, und darunter ist dann eine hübsche bunte Tätowierung.« »Du Arschloch! Du verdammtes Arschloch!« »Vielleicht.« »Was steht denn da?« »Warte, dann wirst du’s sehen.« »Du fährst nach Dublin und kommst mit ‘ner Tätowierung zurück!« Im Laufe der nächsten Tage konnte Katie nicht anders; sie mußte an der trockenen Kruste herumkratzen; ihre langen, gepflegten Nägel rissen sanft daran, bis die trockene Haut mit ein bißchen Blut abging. »Das sind ja die heiligen Farben«, keuchte Katie. Tom wußte nichts von heiligen Farben. Die Tätowierung zeigte ein rotes Herz vor einem Hintergrund in Scharlachrot und Grau und eine verschnörkelte Schrift in Goldgelb. KATIE. UNSTERBLICHE. LIEBE. Katie war gleichzeitig abgestoßen und hingerissen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf – und das tat sie jedesmal, wenn ihr Blick in den nächsten zehn Jahren auf den Knöchel fiel. Tom zog sich an. Sharon war zur Arbeit gegangen. Er schlenderte eine Stunde lang in der Wohnung herum, bevor er beschloß, David zu besuchen. Der verwahrloste, vernachlässigte Gelehrte mit den sackartigen Hosen und dem geknöpften Gürtel tat ihm leid. Ein alter Mann wie David konnte an einem solchen Ort verrotten, ohne daß es einer merkte. Und außerdem schien es in dieser Stadt der Städte das Anständigste, was man tun konnte. »Denk daran, morgen ist Freitag«, hatte Sharon am Vorabend gesagt. »Und was ist damit?« »Die Moslems arbeiten freitags nicht. Die Läden haben zu, es gibt keine Busse und keine Taxis. Die Juden haben den Samstag frei. Und deine Leute am Sonntag.« »Es ist nur eine halbe Stadt.« 57
»Genau.« David war wieder an seinem alten Platz in der Küche und spülte Tassen. »Tom! Ich hörte, daß Sie uns verlassen haben!« Er schien seine Herzlichkeit wiedergefunden zu haben, auch wenn er ein wenig betäubt wirkte. »Ja. Das wollte ich Ihnen gestern erzählen. Geht’s Ihnen jetzt besser?« »Monsieur, können Sie mir vergeben? Es scheint, daß ich Ihnen eine Erklärung schulde.« Er drängte den verblüfften Tom, Baklava aus der Bäckerei zu holen, während David frischen Kaffee aufgoß. Dann scheuchte er Tom in sein Zimmer. »Was für eine Erklärung?« »Zuerst müssen Sie essen!« Tom mußte sich erst mit Baklava vollstopfen, bevor David, sehr formell, verkündete: »Ich glaubte, daß Sie mich absichtlich mit Ihrem Eis vergiftet hätten.« Tom lachte und leckte sich die Finger ab. Dann sah er Davids Augen wie Tintenkleckse hinter seiner Brille vergrößert und erkannte, daß es ihm ernst war. »Sie sind verrückt.« »Ein bißchen paranoid vielleicht, aber verrückt – nein.« »Aber ich laufe doch nicht in der Gegend rum und vergifte die Leute!« »Das weiß ich ja jetzt auch, aber wie ich Ihnen schon sagte, ich habe mich geirrt.« »Aber wer sollte Ihnen so etwas antun?« »Glauben Sie mir, es gibt solche Leute.« »Aber warum?« David erhob sich und öffnete seinen Schrank. »Wegen der Schriftrollen, Monsieur. Wegen der alten Schriftrollen.« Er nahm die Plastikhefter aus dem Schrank. »Und dabei sind sie gar nichts wert.« »Ich kann Ihnen nicht folgen.« David legte die Hefter auf den Tisch und starrte, die Hände 58
auf die Hüften gestützt, aus dem Fenster. »1947 wurden die ersten Rollen von ein paar kleinen Beduinenjungen in Krügen in einer Höhle beim Toten Meer gefunden. Zum Glück dachten sie sich, daß sie etwas wert sein müßten, und brachten sie zu einem Antiquitätenhändler in Jerusalem. In den darauffolgenden Jahren wurden die Höhlen sowohl von Beduinen als auch von Archäologen systematisch abgesucht. Man fand Hunderte dieser Rollen in Einzelstücken – Hunderte. Manche waren der Bibel zuzurechnen, wie die Abschrift des Buches Jesaja, die tausend Jahre älter war als jede bis dahin bekannte Abschrift. Dadurch wurde bewiesen, daß das Alte Testament lange vor diesen Schriftrollen niedergeschrieben worden war und kaum Änderungen enthielt. Manche Schriftrollen hatten aber nichts mit der Bibel zu tun. Sie enthalten neue Werke und haben Titel wie ›Der Krieg der Söhne des Lichts mit den Söhnen der Finsternis‹ und ›Das Handbuch der Disziplin‹ erhalten. Es gab Tausende dieser Einzelstücke. Eine dieser Rollen nun, die sogenannte Tempelrolle, wurde unrechtmäßig von ihrem Finder behalten und gelangte in die Hände eines arabischen Händlers. Ein gewisser Professor Yadin verbrachte Jahre damit, über die Rückgabe dieser Schriftrolle zu verhandeln. Enorme Summen wurden verlangt. Dann brach im Juni 1967 der Sechstagekrieg aus. Professor Yadin war auch ein ranghoher Militärberater. Am Mittwoch des Sechstagekriegs hörte er, daß sich Ostjerusalem in den Händen der Israelis befand. Der Laden des arabischen Händlers lag in diesem Viertel. Yadin schickte zwei Geheimdienstleute zu dem Laden, die ihn aufbrachen und die Schriftrolle konfiszierten. Sie lag in einer Bata-Schuhschachtel, mit einem Handtuch und Zellophan umwickelt, können Sie sich das vorstellen? Sie fanden auch drei Karel-Zigarrenkisten mit anderen Fragmenten, die aber nichts mit der Tempelrolle zu tun hatten. Irgend jemand hatte Kaffee über die Zigarrenkisten verschüt59
tet.« »Woher wissen Sie so genau über die Einzelheiten Bescheid?« Als David sich vom Fenster abwandte, wußte Tom die Antwort bereits. »Ich behielt eine der Zigarrenkisten. Mein Kollege die andere. Die Schuhschachtel und die dritte Zigarrenkiste lieferten wir gehorsam bei Yadin ab.« Tom stand auf und begab sich zu den Heftern auf dem Tisch. Die erdfarbenen Bruchstücke schienen nun mit einer Drohung geladen. »Wollen Sie damit sagen, daß es Leute gibt, die Sie ermorden würden, um dies hier in die Finger zu bekommen?« »Sie wollen mich nicht tot sehen; denn dann könnte ich ihnen ja nicht mehr sagen, wie viele Stücke sie noch suchen sollen. Aber irgendwie haben sie es herausgefunden und wollen sie jetzt haben. Und wenn Sie glauben, ich sei nichts als ein alter Mann, der unter Verfolgungswahn leidet, dann lassen Sie sich sagen, daß sie mich schon besucht haben.« »Besucht?« »Franziskaner-Gelehrte. Universitätsprofessoren, Zionisten und weltliche Wissenschaftler. Repräsentanten des Vatikans. Und Geheimdienstler der israelischen Regierung. Alles sehr freundliche Besucher, die höflich und vorsichtig Fragen stellten, und alle kamen in den letzten zwei Jahren. Und falls Sie sich fragen, was aus meinem Kollegen mit der anderen Zigarrenkiste geworden ist – er starb vor zwölf Monaten. An einem Herzschlag. Warum auch nicht. Er war ein alter Mann wie ich. Aber bevor er starb, gab er mir seine Rollenfragmente. Denn er sagte, daß er Angst habe.« »Aber wenn diese Rollen so wertvoll sind, warum in aller Welt haben Sie sie dann mir gezeigt? Mir absichtlich gezeigt, wo Sie sie aufbewahren? Sogar jetzt könnte ich sie ja noch stehlen.« »Stehlen Sie nur. Bedienen Sie sich. Es sind bloß Fälschungen.« 60
»Fälschungen! Das wird ja immer bunter!« »Ich habe Sie verdächtigt. Ich habe mich von meinem Verfolgungswahn verleiten lassen und Sie geprüft. Als ich krank wurde, glaubte ich fest daran, Sie hätten mich mit dem Eis vergiftet. Ich glaubte, Sie wollten diese Fälschungen stehlen. Übrigens sind es sehr gute Fälschungen. Wenn Sie wirklich hinter ihnen her gewesen wären, hätten Sie den Unterschied gar nicht bemerkt. Aber Sie haben sie ja nicht genommen; Ihre Absichten waren rein.« »Sind das Abschriften der echten Rollen?« »Nein. Diese hier enthalten Informationen über die genauen Berechnungen, die zum Bau eines Tempels zu Zeiten des Herodes benötigt wurden. Die echten Rollen sind viel interessanter.« »Und wo sind sie nun?« David machte eine große Geste, der Jude auf der Bühne. »Monsieur!« »Was für eine dumme Frage. Aber warum haben Sie mir dies alles anvertraut?« Der alte Mann nahm die Brille ab und schwenkte sie in der Hand. »Weil ich will, daß Sie diese Schriftrollen aus Jerusalem hinausbringen.« Tom saugte die Reste des Baklava-Honigs von seinen Fingern.
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12 Warum ich? Warum sollte ich das tun? Warum sollte gerade ich derjenige sein, der Ihnen helfen kann?« »Kann ja nicht jeder sein.« Dies waren Davids Worte gewesen an dem Tag, als er Tom gefragt hatte, ob er Jude sei. »Aber einer muß es sein. Sie haben kein persönliches Interesse an den Schriftrollen. Es ist mir auch gleich, wo Sie die verdammten Dinger hinbringen. Schaffen Sie sie in eine Universität in einer jener großen Städte im Herzen von England, an einen Ort, wo ein ruhiger Theologieprofessor ihnen einen Sinn entlocken mag. Nur schaffen Sie sie hinaus aus Jerusalem.« »Warum können Sie sie nicht einfach an die École Biblique weiterreichen?« David wurde krebsrot; an seiner Stirn sprangen die Adern hervor. »Diese Bastarde! Vierzig Jahre haben sie auf diesen Rollen gesessen und andere Gelehrte nicht einmal in die Nähe gelassen. Sie haben nur ein paar unbedeutende Informationen durchsickern lassen. Nicht einmal hundert von den fünfhundert Manuskripten sind ans Tageslicht gekommen!« »Aber sie müssen sie doch vor Mißbrauch schützen!« »Seien Sie nicht dumm! Haben Sie noch nie etwas von Mikrofilmen gehört! Die Gruppe hat ja noch nicht einmal ABSCHRIFTEN der Schriftrollen aus ihren Pranken gegeben! Erst kürzlich sind ganz zufällig ein paar Aufnahmen zu Gelehrten in den Vereinigten Staaten gelangt. Sie haben mit der Veröffentlichung eben erst begonnen, und schon wird ihre Arbeit als Diebstahl verdammt. Vierzig Jahre lang hat dieses … dieses … Komitee … auf den Schätzen unserer Zivilisation gehockt wie ein Drache in seiner dunklen Höhle. Wenn ich nur an die Gelehrten denke, an meine Freunde, hochgebildete Männer, die inzwischen gestorben sind, und die aus Selbstsucht und Neid und wer weiß welchen Gründen noch am Zugang zu diesen 62
Geheimnissen unserer Kultur gehindert worden sind! Ich könnte weinen!« Er zitterte vor Wut. Von seiner eigenen Raserei erschöpft, sank er auf einen Stuhl, sein Zorn war verraucht. »Und Sie müssen noch etwas wissen«, sagte er, nachdem er sich ein wenig erholt hatte. »Es war die Regierung unter König Houssein, die damals das zu Jordanien gehörende Ostjerusalem beherrschte, die die Kontrolle über die Manuskripte den Gelehrten der École Biblique übertrug. Und es waren christliche Gelehrte, obgleich die Rollen von den Juden stammten. Die mit der Veröffentlichung beauftragte Gruppe setzte sich nur aus Christen zusammen und wurde von einem Dominikanermönch geleitet.« »Wollen Sie damit andeuten, daß sie etwas fanden …« »Natürlich fanden sie etwas! Ein paar der Schriftrollen waren kurz vor oder nach dem Tode Christi verfaßt worden. Diese Information würde vermutlich die Grundlage des christlichen Glaubens unterhöhlen.« »Das ist aber eine gewagte Behauptung.« »Es könnte sein, daß der christliche Glaube auf einer großen Lüge gegründet ist.« »Ich bin Christ«, sagte Tom in säuerlichem Ton. »Warum glauben Sie, daß ich helfen sollte, meinen eigenen Glauben in Frage zu stellen?« David zog die Schultern hoch. »Ich glaube gar nichts. Ich glaube nur, was ich sehe. Und ich glaube, Sie sind ein Mensch, der keine Angst vor der Wahrheit hat.« Keine Angst vor der Wahrheit. Tom dachte an seinen letzten Tag in der Schule: wie der Direktor versucht hatte, ihn zum Bleiben zu überreden, während er durch das regengepeitschte Fenster auf die grünen Spielfelder hinausstarrte und kaum hörte, was Stokes ihm sagte. ›Wenn es nur um ein paar Worte geht, die mit Kreide auf eine Tafel gekritzelt wurden, so kann ich Ihnen versichern …‹ 63
Tom schüttelte den Kopf. David erkannte, daß er in Gedanken weit weg war, und wurde ein wenig sanfter. »Auf jeden Fall kann das Geheimnis der Rollen nicht mehr gewahrt bleiben, auch wenn das Kartell noch so breit auf ihnen hockt. Die Bruchstücke aus meiner Sammlung sind nicht mehr als Teile in einem Puzzle. Ich will Ihnen die Sache nicht aufdrängen.« Ärgerlich und unzufrieden wanderte Tom in die Altstadt zurück. Er zweifelte an den Visionen des Alten und glaubte ihm seine Ängste nicht. Zugegeben, ein paar der Rollenfragmente waren in Davids Besitz gelangt, aber es gab Tausende einzelner Fetzen von Hunderten Manuskripten, soviel wußte er selbst. Wenn die Gelehrten wirklich auf dem Schatz saßen, war es ein internationaler Skandal. Doch nun wollte David ihn als Mitstreiter in sein paranoides Netz einbeziehen, nur weil er ihm eines Tages ein Glas Wasser eingeschenkt hatte. Und was bot er ihm dafür? Die Chance, einen winzigen Beitrag zu einer neuerlichen Verwirrung der unmöglichen Gründe zur Entstehung des christlichen Glaubens zu leisten? Er konnte die Gelehrten durchaus verstehen, die diese Dokumente einem jüdischen Ursprung zuschrieben, aber wenn sie aus der Lebenszeit Jesu stammten, warum konnten es dann nicht ebenso gut christliche Dokumente sein? Und war es ihm wirklich wichtig? Wenn genügend Gelehrte lange genug über den Schriftrollen vom Toten Meer gebrütet und endlich ihre Schlußfolgerungen verkündet hatten, würde es das Leben von irgendeinem Menschen verändern? Als er unter dem Damaskustor hindurchging, seinem Treffen mit Sharon zustrebte, beschloß er, David nicht wiederzusehen. Sharon hatte versprochen, ihn nach der Arbeit vor dem Dungtor zu treffen. Auf seinem Weg zur Klagemauer wanderte er direkt am Tempelberg vorüber. Der Ruf, der aus der AlAqsa-Moschee erscholl, ließ ihn innehalten und lauschen. 64
Es war der Adhan, der muslimische Ruf zum Gebet. Weil der Adhan bis zu fünfmal am Tag erging, gewöhnte sich Tom allmählich an den fremdartigen Klang. Doch heute konnte er erkennen, daß der Ruf von einer lebenden Stimme stammte, nicht von dem üblichen Tonband, das auf einem der Minarette abgespielt wurde. Die Stimme hatte einen anderen Klang, einen anderen Tonfall als alle, die er vorher vernommen hatte. Der Gesang des unsichtbaren Muezzins klang süß; er schwang sich in die Lüfte, als ritte er auf dem warmen Wind. Tom blickte zum Himmel; ein feuriger roter Ball hing über dem Westen der Stadt. Allahu akhbar. La ilaha il Állah Muhammadun rasal Allah. Er kannte die Litanei. Es waren die Worte, die die Moslems als erste den Babys ins Ohr flüsterten, und die letzten, die ein Todgeweihter auf dem Sterbebett vernahm. So begann der Tag, und so endete er. Gott ist groß. Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet. Heute jedoch ließ ihm der Klang des Adhan die Haare auf den Armen zu Berge stehen. Es war, als beuge sich ein Wesen herab, um über seinen Nacken zu blasen. Die Worte wurden im Himmel über der heiligen Stadt freigelassen und flogen wie braune Vögel der Sonne entgegen. Tom war stolz auf seine Kenntnis fremder Religionen; doch dieser Augenblick ergriff ihn, und er erkannte, mit welcher Selbstgefälligkeit er eine vorgeschobene Sympathie für die anderen großen Glaubenssysteme hegte. Außer der sehr kurzen Zeit der Kreuzfahrerzüge war diese Stadt 1500 Jahre in der Hand des Islam gewesen. Nun war es, als hätte dessen Stimme sich plötzlich entrollt und ihn mit der Zunge einer schönen Schlange geschlagen. Einen Augenblick lang schwankte er betört zwischen den Gefühlen der Freude und der Vereinnahmung. Dann eilte er Richtung Klagemauer, ängstlich bemüht, das Tor und die Neustadt auf der anderen Seite zu erreichen, wo die irdischen 65
Geräusche des Verkehrs und der Maschinen alles wieder ins rechte Lot rücken mochten. Aber der Weg wurde ihm versperrt. Um von der El Wad Street zur Klagemauer zu gelangen, mußte man einen Tunnel und ein Drehkreuz passieren, das von bewaffneten israelischen Soldaten bewacht wurde. Tom vernahm Stimmengewirr und spürte die Spannung in der kleinen Menschenmenge, die den Durchgang vor ihm versperrte. Eine Männerstimme erhob sich zu einem unverständlichen Schrei. Schreie hallten auch von den Mauern wider, und dann folgte der gedämpfte Knall zweier Schüsse. Die Menge vor ihm wogte wie eine Welle im Meer, und die Leute begannen in seine Richtung zu rennen. Ein Mann stolperte und fiel mit ausgebreiteten Armen in den Staub. Tom konnte nicht erkennen, was ihm geschah, da die Läufer über ihn hinwegsetzten. Ein rauchender Kanister landete mitten zwischen den Menschen, und Tom stand da und schaute reglos zu. Irgend jemand schrie ihm auf arabisch oder hebräisch etwas zu, er verstand es nicht. Dann faßte ihn ein junger Araber am Arm. »Gas! Schauen Sie nicht zu! Es ist Tränengas!« Mit offenem Mund sah Tom den jungen Mann weiterrennen. Dann entschloß er sich plötzlich, mit der Menge zu laufen. Die Menschen schrien. Er hörte den dumpfen Aufprall, als ein anderer Tränengas-Kanister irgendwo in seinem Rücken abgeworfen wurde. Die Menge rannte zurück, die El Wad hinauf. Seine Beine begannen vor Furcht zu zittern. Als sich eine kleine Gruppe Jugendlicher von der Menge löste und in die engen Gassen zwischen der El Wad und den Mauern des Tempelbergs flüchtete, folgte er ihnen. Sie ließen ihn schnell hinter sich. Da hörte er Schritte näher kommen. Ein israelischer Soldat schob ihn beiseite und verfolgte die Jugendlichen in Richtung Tempelberg. Jemand winkte ihm aus einer Gasse. Drängte. Er konnte im 66
Schatten nicht erkennen, wer es war, aber ein brauner ausgestreckter Arm verhieß Sicherheit. Er rannte auf die Gasse zu. Jäh hielt er inne. Es war die Frau mit dem schwarzen Schleier. Im Dunkel der Gasse hielt sie ihre Lumpen am Hals zusammen. Ihre Hände und Handgelenke waren so trocken und faltig wie die alten Schriftrollen, aber er spürte den brennenden Blick ihrer Augen hinter dem Schleier. Mit zitternder Hand wies sie auf eine eingravierte Inschrift an der Wand. In rauchgelben fußhohen Buchstaben war auf den Stein geschrieben worden: DE PROFUNDIS CLAMAVI Tom konnte es nur einen Augenblick lang betrachten. Dann vernahm er hinter sich ein scharfes metallisches Klicken. Er wandte sich um und sah einen israelischen Soldaten mit einer Automatik, die auf seinen Kopf gerichtet war. Das Gesicht des Soldaten war verzerrt, rot und häßlich vor Angst und Wut. Er bellte irgend etwas Unverständliches. Tom brauchte keinen Dolmetscher, um zu wissen, daß er ihn anschrie, er solle das Viertel verlassen. Der Soldat brüllte noch etwas, und Tom rannte zurück auf die El Wad. Überall waren nun Soldaten. Dünne weiße Rauchfahnen hingen über der Straße. Er versuchte, den Weg zum Damaskustor einzuschlagen, wurde aber barsch ins Christenviertel zurückgestoßen, wo er sich dem Touristenstrom anschloß, dem hinab in Richtung der Grabeskirche. Von dort konnte er die Altstadt durch das Jaffator verlassen. Die Soldaten auf den Zinnen hatten ihre übliche Schläfrigkeit abgelegt und waren nun in Alarmbereitschaft. Mit ihren Waffen, deren Gebrauch sie unten auf der Erde gelernt hatten, schritten sie den Wall entlang. Was auch immer der Anlaß gewesen sein mochte, die unmittelbare Gefahr schien gebannt; doch auf der Straße vor dem 67
Jaffator schwirrten die Gerüchte. Die Leute hingen in kleinen Grüppchen zusammen; Fremde, von einer Vermutung aneinander geschmiedet. Der Klatsch schuf in der Luft einen Geruch wie Ozon nach einem Gewitter. Die Mauern über Jerusalem schienen für einen Augenblick eine Falte zu werfen. Tom lehnte sich gegen eine Wand, um Luft zu holen und die Ereignisse zu verdauen. Seinen Lippen entschlüpfte ein Fluch – er war zugleich ein Gebet.
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13 Sie waren zu einer Party bei dem Lehrer eingeladen, auf dessen Party sie sich einst kennengelernt hatten. Zwölf Jahre waren vergangen, und ihr Gastgeber hatte in dieser Zeit seine Lehrtätigkeit aufgegeben. Nun verkaufte er Lebensversicherungen und trug ein Toupet. Er hatte sich einmal in Katies und Toms Haus eingeladen und eine lederne Aktentasche und einen beeindruckenden Laptop mitgebracht. Er ließ sie mit einem Computerausdruck und der Einladung zu seiner Party zurück. Katie freute sich sehr über die Party und beachtete die Lebensversicherung mit keinem Blick. Tom war gegenteiliger Ansicht, aber Katie setzte sich durch. Tom hatte zugeschaut, wie Katie Lippenstift auflegte und ihren Mund auf den Spiegel drückte. Er wunderte sich, wo sein Sexualtrieb hingeraten sein mochte. Für die Party trug sie Ton in Ton, Elektrischblau an einem Kleid, das mehr Bein zeigte als üblich. »‘n bißchen kurz«, bemerkte er. »Wirklich? Zu sehr?« »Nein, es sieht toll aus.« Er bedauerte, überhaupt etwas gesagt zu haben. In jenen Tagen war es so einfach, ihr Selbstvertrauen anzuknacksen. Auf der Party, auf der sie bekannte Gesichter von früher wiederzusehen hofften, kannten sie fast keinen. Nur die Musik war die gleiche wie vor zwölf Jahren. Tom fragte sich, ob die Leute, von denen die Musik stammte, nun wohl auch Toupets trugen. Das Haus war voller Gäste. Katie wurde sofort vom Gastgeber mit Beschlag belegt, Tom begab sich auf der Suche nach Bier in die Küche. Die Küche wurde von einem Betrunkenen mit einem riesigen bierfeuchten Schnurrbart bewacht. Er hielt drei oder vier gelangweilten Gästen Vorträge. »Es war ein abgekartetes Spiel!« grollte er. »Eine Falle. Ein 69
Riesentheater. Sie hatten es alles ausgemacht, und es ging schief.« Seine hervorquellenden Augen luden zum Streit ein. Keiner zeigte sich gewillt. »Ich meine, verdammt noch mal, ihr werdet denselben Scheiß machen!« Tom schenkte sich ein Bier ein und zog sich in den Salon zurück. Katie war von drei Männern in Anzügen umgeben. Er zuckte zusammen. Was für Männer waren das, die zu einer Party im Anzug gingen? Er entfloh in die Küche, wo jeder der Anwesenden den Augenkontakt mit dem Betrunkenen vermied, der sich nun Tom zuwandte. »Du bist der Messias, stimmt’s?« sagte er. »Ich?« »Ja. Und du mußt es beweisen. Also kennst du alle Prophezeiungen?« »Sollte ich?« »Ja, solltest du. Weil du der Scheiß-Rabbi bist. Jesus war auch so einer, stammte von ‘ner ganzen Ahnenreihe verdammter Rabbis ab. Also kennst du die Heilige Schrift in- und auswendig, stimmt’s?« Eifrig saugte er an dem Schaum an seinem Schnurrbart. Zur Bekräftigung seiner weitschweifigen Reden nickte er heftig. »Ich hasse Leute, die auf Partys über Religionen reden«, scherzte Tom, an die anderen gewandt, die beifällig kicherten. »Ich auch«, sagte der Betrunkene und packte ihn am Arm. »Nimm dir noch ein Bier. Du weißt also, daß du die Prophezeiungen erfüllen mußt. Du heuerst dir irgend so’n blöden Esel an, klar? Bezahlst ‘n Beifallklatscher, der dich nach Jerusalem begleitet, und all den Mist. Du bereitest alles sorgfältig vor.« Er hatte den Habitus eines viktorianischen Theaterdirektors. Tom wollte wieder aus der Küche fliehen, aber er konnte sich nicht loseisen. »Du weißt sogar schon, daß sie dich ans Kreuz nageln werden, weil Jerusalem von falschen Messias-Typen ÜBERSCHWEMMT ist und denen meistens so etwas passiert. Aber jetzt kommt der kleine Zaubertrick: Du hast rausgefun70
den, wie man am Kreuz überlebt, klar? Dann …« Der Betrunkene blickte aufmerksam über Toms Schulter. »Heilige Muttergottes, guck dir mal die geile Biene da in dem blauen Kleid an. Das ist ja ne heiße Tante. Das nenne ich die Stimme Gottes, die …« »Das ist meine Frau«, sagte Tom. »Ach, verdammt. Tut mir leid. Wollte dich nicht kränken.« »Vielleicht sollte ich Ihnen die Zähne einschlagen.« Tom war nicht zum Scherzen zumute. Der Betrunkene schwankte und schaute zu Tom auf – einsneunzig groß und kräftig gebaut. Die anderen Männer zogen sich vorsorglich zurück. Der Betrunkene bot ihm die rechte Wange. »Nun mach schon. Ich verdien’s ja. Schlag mich hier, auf der andern Seite hab’ ich ‘ne Entzündung.« Tom schob das Gesicht des Betrunkenen mit der Handfläche beiseite. Er nahm sein Bier und ging wieder in den Salon. Ein paar Stunden später entdeckte Tom den Betrunkenen, wie er Katie betatschte. Er wußte, daß sie sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte, aber dann erinnerte er sich daran, wie betrunken er selber gewesen war, als er sie zum ersten Mal in diesem Zimmer gesehen hatte. Er gesellte sich zu den beiden. »Ich war grad nur am Entschuldigen«, sagte der Betrunkene, dem das Wasser aus den Augen rann. Er sprühte Speichel in Toms Richtung. »Für mein schlechtes Benehm’.« »Das stimmt«, pflichtete Katie bei. »So war’s.« »Diese Frau war ja die Apotheose für jeden Mann. Sie ist einer der Seraphim. Glaub mir, ich hab’ da die große Erfahrung.« Er schwankte gefährlich. »Also, wir wollten jetzt gehen.« »Paß auf sie auf«, heulte der Betrunkene. »Sie is’ ‘n gottverdammter Seraph.« Der Gastgeber half ihnen an der Tür in die Mäntel. »Wer ist denn der Yeti?« wollte Tom wissen. »Ich muß mich für ihn entschuldigen«, sagte der Gastgeber 71
und pflanzte Katie ein Abschiedsküßchen auf die Wange. »Das ist mein Bruder. Er hat gerade sein Priesteramt niedergelegt.«
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14 Wenn du in diesem Land jemand brüllen hörst Gott ist Groß, dann mußt du dich schleunigst verstecken.« Beiläufig ließ Sharon ihren Ratschlag verlauten, während sie die Stadtmauer der Altstadt entlangschlenderten. Sie kamen nur vom Ziontor bis knapp vor das Damaskustor. Der Rest des Weges war wegen der Schießerei am Vortag abgesperrt worden. Die Zahl der Soldaten auf der Mauer hatte sich verdoppelt. Sie wirkten nervös. »Aber stand denn nichts in den Zeitungen?« »Es gibt nie eine Erklärung. Ein junger Araber ist messerfuchtelnd durch die Straßen gerannt und hat genau das gerufen: Gott ist Groß. Dann hat er zwei Juden angegriffen. Dann wurde er von einem Soldaten erschossen. Darauf jagten die Soldaten sämtliche Araber, die sich gerade in der Nähe befanden, und prügelten sie halbtot.« »Aber warum hat er das getan? Warum dieser Ausbruch?« Sie hielten am Davidsturm an und blickten über das armenische Viertel. Sharon zündete sich eine kleine zerdrückte Zigarette an, und Tom erkannte den Duft des Haschisch. »Du kannst es nicht so erklären, wie du das gewohnt bist. Es ist die Intifada, die palästinensische Widerstandsgruppe. Sie sehen es als einen immerwährenden Kampf, um das Land von den Juden zu befreien; wir betrachten es als ein Aushalten, wir bleiben hier. Ab und zu flammt dieser Streit in solchen Ausbrüchen auf.« »Aber warum muß er erst ›Gott‹ schreien, bevor er loslegt? Das scheint mir so sinnlos.« »Dir ja. Aber für die Palästinenser – und auch für manche der ultraorthodoxen Juden – sind Religion und Politik nicht zu trennen. Genauso, nehme ich an, war es zu Zeiten der Stadtgründung oder zu Lebzeiten Jesu.« 73
»Und wie lange wird es so weitergehen?« »Ich schätze mal, für immer.« Der Spaziergang entlang der Ringmauer war Sharons Idee. Von hier aus, hatte sie Tom gesagt, konnte er sich ein besseres Bild machen, wie die Stadt angelegt war. Und er war froh über ihre Begleitung. Die bewaffneten Soldaten schielten ihr sehnsüchtig nach, und sie nahm ihm den Ruch des naiven Touristen. Mit Sharon fühlte er sich nicht so sehr als Zielscheibe, und ihre Sicherheit und Stärke schützte ihn vor den Geistern der Stadt. Er hatte nun einen Vorgeschmack auf die Gewalt erhalten, die diese Stadt aus sich hervorbringen konnte. Er wußte aber nicht, was ihn am meisten ängstigte; er wartete darauf, ihr erzählen zu können, was ihm alles geschehen war. Doch er fürchtete, wenn er erst einmal anfinge, würde sein Bewußtsein zerbrechen, und er würde nicht mehr fähig sein, die Teile wieder zusammenzusetzen. Sie biß in den Rauch ihres Joints. »Von hier oben betrachtet – was hältst du davon?« »Ich finde es immer noch wunderschön.« Sie zeigte auf die abgeteilten Stadtteile. »Vier Viertel. Jedes trägt seinen Teil zu Ignoranz und Gewalt bei. Siehst du da die Juden an ihrer Klagemauer? Die Hälfte von ihnen weiß noch nicht mal, was das für eine Wand ist! Sie glauben, es war eine Mauer von Salomons Tempel. Hast du gesehen, wie sie ihre gekritzelten Gebete zwischen die Mauerritzen stopfen? Halten sie Gott vielleicht für eine Spinne? Es war nicht die Tempelmauer – es waren die Fundamente der Stützmauer für die Grundfeste der herodianischen Mauer. Herodes, nicht Salomon!« Sie drückte den Stummel ihrer Zigarette an einem Stein aus. »Stell dir mal vor, du vertrödelst deine Zeit damit, gleichgültigen Steinen etwas vorzuflüstern! Und dann gibt’s noch den Mob. Die sind wahrscheinlich noch dümmer. Und alles nur, weil die Mutter eines byzantini74
schen Eroberers so enttäuscht war, als sie auf ihrer allerersten Pilgerfahrt hier nichts fand. Und was haben wir davon? Einen Leidensweg, der auf einer angenommenen Gasse verläuft. Große Kapellen, auf Mutmaßungen erbaut. Kirchen über irgendwelchen Höhlen im Boden. Hast du den Schrein mit der Milch der Jungfrau gesehen? Das ist das Allerbeste. Die Jungfrau hat hier ihre Muttermilch verschüttet, bitte drei Schekel, das ist wirklich das Tollste! Sie wissen nicht, wo Jesus gekreuzigt wurde. Sie wissen nicht, welchen Weg er nahm. Sie wissen nicht, wo er begraben wurde. Es ist alles künstlich! Eine Lüge! Ein Freizeitpark! Ein gottverdammtes byzantinisches Disneyland für alle, die ein bißchen weich in der Birne sind.« Sie zeigte auf das Viertel zur Linken. »Hast du dir schon das armenische Viertel angeschaut?« »Ja.« »Da ist es am schlimmsten. Die ganze Zeit armenische Lieder singen und den Kindern Tänze beibringen, um ein kleines Stück Vergangenheit zu bewahren. Ein kleiner Fleck Armenien in Bernstein konserviert. Dann haben wir die Moslems mit ihrem Felsendom, wo Mohammed zum Himmel aufgestiegen ist, und die gelegentlichen Messerstechereien, weil Gott ja so Groß ist. Ach, was soll das alles.« Sie hatte bereits ihrem Unmut genügend Luft gemacht und verschonte daher die Moslems. Die Ellbogen auf die Mauer gestützt, blinzelte sie über die Dächer hinweg. »Es ist ein Hologramm. Manchmal verachte ich diese Stadt.« »Das weiß ich alles«, erwiderte Tom, »und doch ist sie erstaunlich schön.« »Das ist das Seltsamste daran. Du hast völlig recht. Sollen wir jetzt über Katie sprechen?« Er zog ein Stück Papier aus der Tasche, auf das er drei Worte geschrieben hatte. Er reichte es ihr. »De Profundis Clamavi«, las sie. »Was soll das bedeuten?« »Ich hatte gehofft, du würdest es mir sagen können.« 75
»Sagt mir gar nichts. Ist das Latein?« »Ja. Und ich habe das Gefühl, als sollte ich es kennen. Es war eine Botschaft von jemandem.« »Von wem?« »Von einer Frau.« Er faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in die Tasche. Auch er blinzelte in die Sonne, um ihrem Blick auszuweichen. Er konnte es sich nicht erlauben, ihr zu lange in die Augen zu schauen. »Es ist nicht leicht, Sharon. Nicht leicht. Es war ein schlimmes Jahr.« Er fühlte, wie sie ihm die Hand drückte. »Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, daß ich Halluzinationen habe, seit ich hier bin?« »Halluzinationen? Die soll man auch haben in Jerusalem. Dafür ist diese Stadt da. Sie ist selbst eine Halluzination.« »Ich meine es ernst, Sharon.« »Tut mir leid, Schatz. Hat sich das so angehört, als ob ich dich ärgern wollte? Komm mit, ich kenne ein Café im armenischen Viertel. Da kannst du mir alles über deine Halluzinationen erzählen.«
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15 Der Duft frischgerösteten Kaffees lockte einen von der Straße herein. An einem Samstag, als sie zum Einkaufen in der Stadt gewesen waren, hatten sie hier einen Kaffee getrunken. Aber sie hatten sich nichts zu sagen. Unausgesprochene Wut hing wie eine Schranke zwischen ihnen, während sie in ihre Cappuccino-Tassen starrten. Dann spürten sie die Anwesenheit eines Dritten. »Ich konnte Sie nicht übersehen. Ich mußte zu Ihnen kommen.« Es war der Betrunkene von der Party. Der abtrünnige Priester. Nervös strich er sich über den Schnurrbart. »Ich wollte mich für mein Benehmen neulich auf der Party meines Bruders entschuldigen. Ich war ein richtiger Schwachkopf. In jedem Sinne.« Tom zuckte die Achseln. »Es war halt eine Party.« »Sie haben uns nicht geärgert«, beruhigte Katie. »Es war meine erste Nacht in Freiheit, wenn ich das so sagen darf. Und da hab’ ich zuviel getrunken und einen Narren aus mir gemacht.« »Denken Sie nicht mehr daran«, sagte Tom. »Jedenfalls heiße ich Michael. Michael Anthony.« Sehr förmlich schüttelte er ihnen die Hand. Er blieb einen Augenblick neben ihrem Tisch stehen, als wartete er auf eine Einladung, sich zu ihnen zu setzen. Als er merkte, daß er vergeblich darauf warten konnte, sagte er mit entschlossener Stimme ›Auf Wiedersehen‹ und verließ das Café. Katie warf einen Blick zu Tom. Er schaute weg.
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16 De Profundis Clamavi. Die Worte hatten keinerlei Bedeutung für Sharon. Also blieb nur ein einziger Mensch in ganz Jerusalem übrig, und Tom beschloß, David Feldburg doch noch einmal zu besuchen. Er hoffte, der alte Gelehrte würde fähig sein, aus der Schrift an der Wand einen Sinn zu erraten; oder wenigstens die wortwörtliche Bedeutung der Worte nennen zu können. Bis jetzt hatte er Sharon noch nichts von Davids Anstrengungen erzählt, ihn mit dem Schutz der Rollenfragmente zu betrauen. Geduldig hatte Sharon seinem Bericht über seine Halluzinationen gelauscht. Er zog es vor, es ›Halluzinationen‹ zu nennen, weil das die Erfahrung abschwächte, auch wenn die Frau so wirklich gewesen war wie die Stadtmauer; sie war nicht undeutlich oder durchsichtig gewesen. Sogar seine Erinnerung war intensiv, farbig, und er vermeinte fast das Parfüm zu riechen. Nur die allen Gesetzen der Schwerkraft spottende Demonstration an der senkrechten Wand warf einen Schatten des Zweifels auf die erschreckende Körperlichkeit des Phantoms. »Vielleicht ist sie ja doch ein Mensch«, hatte Sharon in dem armenischen Café unterstellt. »Der von der Wand hing?« »Eine Täuschung durch das Licht?« »Irgend so ein Trick. Und sie spricht auch immer zu mir.« Er erzählte ihr von der Stimme in seinem Kopf. »Es passiert immer kurz bevor ich einschlafe. Dann höre ich diese Stimme. Und es ist, als ob sie mir eine Geschichte erzählt, die ich nicht verstehen kann. Ich weiß nicht, um wen oder was es geht. Als ob sie eine Sprache spricht, die ich fast zu kennen meine und doch nicht beherrsche. Und jedesmal, wenn ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, verliere ich sie – wie ein Radiosender, 78
wenn der Empfang verlorengeht. Gott, es ist so verrückt. Hab’ ich vielleicht zuviel Sonne abgekriegt, was meinst du? Ich fühle mich schon so komisch, seit ich hier angekommen bin. Ich zittere. Zucke. Könnte das von der Sonne kommen?« »Du leidest nicht unter einem Sonnenstich, falls du das damit sagen wolltest.« Sharons Tonfall deutete an, daß sie ganz genau wußte, woran er litt. Aber falls sie es wußte, erzählte sie es nicht. David war nicht an seinem üblichen Platz in der Gemeinschaftsküche. Ungefähr ein Dutzend angeschlagener Tassen mit Tee- und Kaffeerändern stapelten sich um die Spüle herum. Niemand antwortete auf sein Klopfen an Davids Tür, also drückte er auf die Klinke, und die Tür schwang nach innen auf. David lag wieder auf seinem Krankenlager. Diesmal war das Zimmer aufgeräumt und geputzt. Unter seinen grauen Kopf waren ein paar Kissen gestopft. Eine beträchtliche Menge bunter Pillen stand auf seinem Nachttisch aufgereiht, daneben eine Flasche schwarzer Johannisbeersaft. David döste, doch dann öffnete er blinzelnd die Augen. Als er Tom gewahrte, machte er eine schwache Anstrengung, nach seiner Brille zu greifen. »Hat schon wieder einer versucht, Sie zu vergiften?« Linkisch setzte sich Tom auf eine Ecke des Bettes. David hob die schwachen Arme. »Sie werden mir das wohl nie vergessen.« Seine Stimme war kraftlos. Das Weiße seiner Augen war mit gelben Flecken durchsetzt. »Haben Sie einen Arzt kommen lassen?« »Hab’ ich. Einen äußerst unerfreulichen alten Freund.« »Und? Woran leiden Sie?« »Am Übermaß des Lebens, Monsieur. Übermaß des Lebens. Sind viele Tassen in der Küche?« »Eine oder zwei.« 79
»Können Sie mir mal erklären, warum die Leute eine Tasse nicht ausspülen können, nachdem sie aus ihr getrunken haben? Warum nur? Ich bin auf ewig dazu verdammt, Tassen zu spülen.« Unsicher, ob jetzt ein Grinsen angebracht war, rang Tom sich eines ab. »Ich werd’ mal nachschauen, wenn ich gehe.« »Sie wollen mich ja nur aufheitern, nicht wahr? Was führt Sie denn zu mir?« »Ich wollte Sie etwas fragen. Aber Sie sehen nicht so aus, als ob man Sie belästigen sollte.« »Fragen Sie schon.« Tom zog das Papier aus der Tasche und faltete es auseinander. Nach einer unendlich langen Zeit, die David benötigte, um seine Brille hinter jedem Ohr einzuhaken, rückte er sie endlich auf dem Nasenrücken zurecht. Obwohl es sich nur um drei Worte handelte, las er den Zettel, als sei er ein Brief aus der Heimat. Dann faltete er das Blatt wieder zusammen und nahm seine Brille ab, bevor er es zurückgab. »Und? Was heißt es? Was bedeutet es?« »Es ist Latein. Ich weiß genug, um Ihnen sagen zu können, was es heißt. Es heißt: Aus den Tiefen heraus. Oder vielleicht auch: Aus den Tiefen herauf.« »Aus den Tiefen herauf? Aber was bedeutet das?« »Bedeuten? Das ist ein anderes Problem. Sie haben mich gefragt, was es heißt. Ich habe es Ihnen gesagt. Was es bedeuten könnte, ist eine ganz andere Frage.« David schloß die Augen und döste wieder ein. Er sah ganz friedlich aus. Nicht wie ein Mann, den man vergiftet hatte. Das Alter hatte ihn in den Klauen und ihn mit etwas überzogen, das wie eine dünne Eisschicht wirkte. Unter der Decke hob und senkte sich seine Brust, eine sachte Bewegung. Tom beschloß, ihn allein zu lassen. Er erhob sich zum Gehen, aber als er die Klinke berührte, wurde er ans Bett zurückbeordert. »Tom. Könnte ich Sie auch um einen kleinen Gefal80
len bitten?« »Natürlich.« »Gehen Sie an meinen Schrank. Da ist ein Jackett, das geändert werden muß. Ich will es tragen, wenn es mir wieder gutgeht. Ich habe nämlich beschlossen, zum ersten Mal seit Jahren auszugehen.« »Das ist gut, David! Eine großartige Idee! Ist es dies hier?« »Nein. Das aus Harris-Tweed, es hängt ganz hinten. Ja, genau das. Ich habe es vor vielen Jahren in England gekauft. Ein gutes Stück. Ich will jetzt den Harris-Tweed tragen. Aber vorher müssen Sie es zum Schneider bringen und ändern lassen.« Er bestand darauf, daß Tom es zu einem Freund bringen solle, einem ehemaligen Schneider, der für die Änderungen nur ein bescheidenes Entgelt berechnen würde. Besorgt, daß er keine unnötigen Ausgaben tragen müsse, ließ David Tom den Namen des Schneiders aufschreiben, der nur ein paar Straßen weiter wohnte. Er wisse, so versicherte David, über die erforderlichen Maße Bescheid. Das Jackett war alt, doch kaum getragen. Innen war das Markenzeichen von Saville Row. Es roch nach etwas, das Tom mit dem Geruch alter Männer verband, und nach ziemlich viel Mottenpulver aus dem Schrank. Nachdem er es über dem Arm gefaltet hatte, wollte er David fragen, wann er es zurückbringen sollte, aber da war der alte Mann schon eingeschlafen. Auf dem Weg nach draußen klingelte er an der Rezeption. Der Junge erschien. »Man sollte den Hotelbesitzer über den Zustand des alten Mannes in Zimmer Sieben informieren.« Der Junge blickte verwirrt. »Worum geht es?« »Er ist sehr krank.« »Das weiß ich. Aber der Arzt war schon da. Was sollen wir denn noch tun?« »Das weiß ich auch nicht«, gab Tom zu. »Es ist nur – ich 81
glaube, er wird nicht mehr lange leben. Er braucht die richtige Betreuung.« »Er weigert sich aber, ins Krankenhaus zu gehen.« »Aber sollte der Hotelbesitzer nicht über seinen Zustand Bescheid wissen?« »Hier liegt ein Mißverständnis vor«, sagte der Junge. »Er ist der Hotelbesitzer.« »Was? Dieses Haus gehört David Feldburg?« »Ganz recht.« Tom war verblüfft. »Aber er beschwert sich doch immer über den Kaffee!« »Ja.« Tom ging vom Hotel sogleich zum Schneider. Er hätte vorher daran denken sollen, daß dieser am Sabbat geschlossen haben würde; er hatte vergessen, daß es Samstag war. Er zuckte die Achseln und begab sich zur Bushaltestelle, das Jackett immer noch unter dem Arm. An der Haltestelle wartete er vergebens, denn am Sabbat fuhren auch keine Busse. Er mußte wohl ein arabisches Sherut-Taxi nehmen.
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17 An Sharons Wohnung angelangt, drehte Tom den Schlüssel im Schloß, platzte hinein und erwischte Sharon mit einem jungen Araber im Bett. Ihre Zimmertür stand offen: der junge Mann lag auf dem Rücken und Sharon saß rittlings auf ihm. Beide waren nackt. Einen Augenblick stand er reglos da, David Feldburgs Jackett über dem Arm, und glotzte sie blöde an, als rätselte er, was sie da taten. Sie hatten sein Kommen nicht gehört. Dann hob der Araber den Kopf und lächelte dümmlich, als er Tom bemerkte. Tom trat rückwärts aus der Wohnung heraus, die Augen geschlossen, die Wangen rot übergossen. Sharon würde fuchsteufelswild sein. Nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür, und der Mann kam heraus. Sharon, die nun einen seidenen Morgenmantel trug, hielt ihm die Tür auf, während der Araber Tom grüßend zunickte. Sie verabschiedete sich von dem jungen Mann. »Es tut mir leid«, quetschte Tom heraus. »Vergiß es.« »Wirklich, ich …« »Ist nicht schlimm. Willst du einen Kaffee?« Sie kratzte sich am Hinterkopf. »Ich werd’ erst mal duschen gehen.« Als Sharon ins Bad ging, stand Tom in der Tür ihres Zimmers. Das Bett war hastig wieder zugedeckt worden. Das Zimmer roch nach Beischlaf. Er zog sich aus dem Schlafzimmer zurück und drapierte Davids Jackett über eine Stuhllehne. Sharon kam aus dem Bad, im Morgenmantel, die Haut rosig von der Dusche, ein weißes Handtuch um den Kopf gewickelt. Sie hob das Jackett vom Stuhl und fuhr mit den Fingern an dem seidenen Innenfutter entlang. Hinter ihm stehend, zog sie den feuchten Bademantel aus und streifte das Jackett über. »Kühle Seide«, sagte sie und ließ sich auf dem Sofa nieder. Zog sich 83
die Rockschöße über den Schenkel, um ihre Vagina zu verbergen, ein kleines Zugeständnis an die Sittsamkeit. »Hat dich ‘n bißchen geschockt, was? Als du da so reingeplatzt bist?« »Überhaupt nicht!« »Du lügst ja.« »Na ja, ‘n bißchen überraschend war es schon.« »Mein Freund fand das auch. Im übrigen ist er nicht mehr mein Freund. Wir haben uns sozusagen nur voneinander verabschiedet.« »Verabschiedet? So sah es aber nicht aus.« »Er wußte es ja auch nicht.« Sharon lehnte sich auf dem Sofa zurück; ihre übereinandergeschlagenen Beine dampften noch von der heißen Dusche, und ihre Haut blitzte unter dem Jackensaum hervor. »Warum tust du das, Sharon?« »Was?« »Warum mußt du so dasitzen?« »Macht dir das etwas aus? Es tut mir leid, aber bei dir muß ich nie daran denken.« Während sie sich anzog, dachte Tom daran, wie sie eines Abends im College zusammen im Bett gelandet waren. Sie waren betrunken gewesen. Sie litten beide unter unerwiderter Liebe und hatten sich aus Trost an den anderen geklammert. Zwei Tage lang hatten sie so getan, als hätten sie die wahre Liebe entdeckt. Am dritten Tag gaben sie zu, daß es nicht funktionierte. Sie nahmen ihre alte Freundschaft, die offenbar darunter nicht gelitten hatte, wieder auf und sprachen nicht mehr über den Ausrutscher. Wieder erschien Sharon, diesmal angezogen, aber immer noch rosig und duftend von ihrer Dusche. Sie setzte sich neben ihn auf das Sofa und nahm seine Hand. »Du mußt sie ja wahnsinnig vermissen. Ich wollte es eigentlich nicht mal erwähnen. Aber sie war auch meine Freundin, Tom.« »Morgens aufwachen. Das ist das schlimmste. Jeden Morgen, 84
wenn du aufwachst, fällt dir wieder ein, was mit ihr geschehen ist. Jeden Morgen.« »Ich weiß, wie schwer das ist, Tom. Aber es ist jetzt ein Jahr her. Das Leben muß weitergehen. Und ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee war, deinen Job aufzugeben. Ich meine, das hat deinem Leben doch eine Ordnung gegeben.« Tom schwieg. »Ist sonst noch etwas geschehen? Etwas, das dich dazu gebracht hat, die Schule zu verlassen?« Einen Augenblick lang fühlte er sich zurückversetzt; es war der erste Montag des Sommerhalbjahres, an dem ihm die Leere der Osterferien und Katies Abwesenheit immer noch sehr zugesetzt hatten. Er hatte das Klassenbuch mit und war auf dem Weg ins Klassenzimmer. Draußen rauschte der Nieselregen. Die Kinder, die in ihre jeweiligen Klassen strömten, sahen verknittert und bleich aus. Als er die Tür zu seiner eigenen Klasse aufstieß, wurden die Schüler ungewöhnlich still. Mit einer Herzlichkeit, die er nicht verspürte, gab er seiner Hoffnung Ausdruck, sie hätten alle schöne Ferien gehabt; doch dann ließen ihre gemurmelten Erwiderungen ihn stutzig werden. Warum waren sie denn nur so seltsam still? Dann merkte er, daß ihre Aufmerksamkeit auf etwas hinter seinem Rücken gerichtet war. Ein Instinkt. Wenn es nur um ein paar Dinge geht, hatte der Direktor gemeint, wenn es nur ein paar Dinge sind … Der Instinkt hatte ihn dazu veranlaßt, sich ganz langsam umzudrehen. Die ganze Klasse hatte steif auf ihren Plätzen gesessen, während sie darauf warteten, daß auch er die Worte sah, die sie alle bei ihrem Eintreten in das Klassenzimmer gelesen hatten. »Ich weiß es nicht, Sharon. Mag sein.« Es wurde Montag, bevor Tom endlich Davids Jackett zum Schneider brachte. Jacob Sarano war ein wunderlicher kleiner 85
Mann, den nur ein paar Zentimeter von der Größe eines Zwerges trennten. Durch sein weißes Haar, den weißen Schnurrbart und die dicke, schwarze Brille in Verbindung mit seiner Statur wirkte er wie der jüdische Schneider aus dem Märchen. In seiner Werkstatt stapelten sich die Baumwollballen. Eine nackte Schneiderpuppe, von Nadeln durchbohrt, stand einsam im Fenster. Als Tom den Laden betrat, lächelte der Schneider traurig. »David Feldburg schickt mich. Er möchte dieses Jackett geändert haben.« Das Lächeln verschwand von den Lippen des Schneiders. Er kam hinter seinem Ladentisch hervor, schloß die Tür ab und zog die schwarzen Jalousien herab. Nur noch eine nackte Glühbirne an einem verschmorten Kabel erleuchtete den Raum. »Wie ich hörte, liegt David im Sterben.« »Im Sterben? Mag sein. Ich wußte nicht, daß es ihm so schlecht ging. Ich wollte ihm nur einen Gefallen tun.« »Einen Gefallen?« Der Schneider breitete das Jackett auf dem Ladentisch aus. »Wann kann ich es abholen?« »Es dauert nur zwei Minuten. Hier hat man schon angefangen.« Er nahm eine große Schere und trennte das Futter vorsichtig vom Rückenschlitz, wobei er darauf achtete, so dicht wie möglich an den Nähten zu bleiben. »Ich habe David seit zwei Jahren nicht mehr gesehen«, bemerkte er. »Ach? Und ich hatte den Eindruck, Sie seien alte Freunde.« »Alte Freunde, das ist wahr. Wir waren zusammen in Belsen. Da haben wir uns kennengelernt. Ich kann Ihnen erzählen, wie wir Freunde wurden.« Er rückte seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht und machte sich wieder an die Arbeit, indem er nun am Vorderteil sorgfältig das Futter heraustrennte. »Es gab dort einen besonders grausamen Hauptmann, der immer neue Wege ersann, um unser Elend zu mehren. Weil er wußte, daß ich Schneider war, kam er eines Tages mit einer Abschrift der 86
Thora zu mir – ein Pergament, in wunderschönes Leder gebunden, verstehen Sie? Er bestand darauf, ich solle ihm aus den Seiten ein Jackett machen. Können Sie sich so etwas vorstellen, ein Jackett aus der Thora?« Er hielt inne, damit Tom diese Blasphemie nachvollziehen konnte. »Was konnte ich schon tun? Ich rang die Hände. Wenn ich gehorchte, so war es eine Entweihung, wenn ich nicht gehorchte … dann wäre ich vielleicht jetzt nicht hier. David war es, der mir dann sagte, was ich tun sollte.« Eifrig trennte der kleine Schneider das Futter von den Aufschlägen, vorsichtig darum bemüht, daß man den Rest des Futters in einem Stück heraustrennen konnte. »Mach es. Mach ihm seine Jacke, sagte David zu mir. Rede mit dem Rabbi. Such dir jeden einzelnen Fluch heraus und mach daraus die Jacke. Und mach sie, so schön du kannst, damit er sie auch immer tragen will. Die schlimmsten Verwünschungen mußt du innen einnähen, in die Nähe von Herz und Leber und Lunge. Mach sie zu der schönsten Jacke, die er je besessen hat. Wir hatten einen Rabbi im Lager, und der half mir. Ich nahm die Flüche und die Schmerzensklagen aus dem fünften Buch Mose und Jesaja und wo ich sie sonst noch finden mochte; sämtliche Plagen und Krankheiten und Schmerzen. Und dann fertigte ich das allerschönste Jackett. Und der Hauptmann trug es. Er trug es! So – ich bin fertig.« Er legte das Jackett beiseite und breitete das Futter mit der Innenseite nach oben auf dem Ladentisch aus. Nun konnte Tom erkennen, daß dort etwas aufgenäht war: mit sorgfältigen Stichen, damit nichts beulen sollte, waren drei einzelnen Stoffrechtecke eingenäht. Das größte in der Mitte war im Rücken eingesetzt gewesen; die beiden Seitenteile hatten im Vorderteil, rechts und links, ihren Platz gefunden. Zusammen ergaben sie eine Art Triptychon. »Schriftrollen«, sagte Tom. »David hat sie bei mir einnähen lassen. Er sagte, er würde sie 87
eines Tages wiederhaben wollen.« »Das ist ja unglaublich!« Tom untersuchte die Nadelstiche. Mit fast unsichtbaren Fäden waren die Bruchstücke aneinandergeheftet, so daß sich drei Teile ergaben. »So geschickt!« Die Schriftrollen selbst waren in der äußerst unüblichen Form einer Spirale verfaßt – wahrscheinlich sollte man vom äußeren Bogen bis in das dichte Gewirr der Lettern in der Mitte lesen. Sorgfältig faltete der Schneider das Futter zusammen und wickelte es in Seidenpapier. »Nun können Sie sie ihm bringen. Und sagen Sie ihm, ich werde die Jacke flicken, und Sie können sie in ein paar Tagen abholen.« Er begab sich zum Fenster und zog die Jalousien wieder hoch. Dann entriegelte er die Tür. Tom trat nach draußen ins helle Sonnenlicht. »Noch etwas«, sagte er. »Der deutsche Hauptmann. Im Konzentrationslager. Was ist aus ihm geworden?« »Ich weiß es nicht, also kann ich es nicht sagen.« Der kleine Schneider hatte ein mörderisches Glitzern in den Augen. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß er zwei Wochen später an die russische Front geschickt wurde.« Leise wurde die Tür geschlossen. Tom blieb mit den in Seidenpapier gewickelten Schriftrollen auf der Straße stehen. Zuerst mußte er zu David zurück und die Rollen dort abliefern. Das Hotel war zwar nur ein paar Straßen entfernt, doch ihm kam es so vor, als schiele jeder Vorübergehende auf das eingewickelte Päckchen unter seinem Arm. Jedes ultraorthodoxe Gehirn mochte auf geheimnisvolle Weise den Inhalt erkennen: Seht nur! Er hat die Schriftrollen! Die gestohlenen Schriftrollen! Das Vermächtnis der jüdischen Kultur! Die Schrift unseres Volkes! Er schwitzte heftig, als er am Hotel anlangte. Er war etwas ärgerlich, als er an Davids Tür klopfte, verärgert darüber, daß man ihn benutzt hatte. Als keiner öffnete, faßte er nach der Klinke. Die Tür war verschlossen. 88
Er ging den Jungen von der Rezeption suchen. Dessen dunkle Augen wirkten wie geschwollene Kleckse hinter der Brille. »Er ist gestorben«, erklärte der Junge beiläufig. »Gestorben?« »Ja.« Tom stand stumm da, hielt sein Paket fest. Seine Handfläche klebte schweißig am Seidenpapier. »Hat er Familie hier? Irgend jemand, den ich benachrichtigen kann?« »Er hat nie jemanden gehabt. Alles, was er hatte, war dieses Hotel. Kann ich sonst etwas für Sie tun?« Tom schüttelte den Kopf. Der Junge zuckte die Achseln und ging auf sein Zimmer zurück. Dann warf Tom einen Blick in die Gemeinschaftsküche. Im Spülstein stapelten sich schmutzige Schalen und Tassen. Er überlegte, ob er sich das Zimmer aufschließen lassen und die Schriftrollen einfach dort hinlegen sollte. Sollte sich doch ein anderer darum kümmern. Dann wurde ihm bewußt, was David getan hatte, indem er ihm die Rollen übergab: er hatte einen Versuch gemacht, die Dinge auf den Weg zu bringen, bevor er starb; mit dieser Geste hatte er versucht, etwas vom Bodensatz der Tasse seines eigenen Lebens reinzuwaschen. Er wußte, daß Sabbat war, und er wußte, daß er sterben würde, als er Tom das Jackett übergab. Er hätte mit Leichtigkeit selbst das Futter aus der Jacke trennen können. Aber das Problem, was mit den Rollen geschehen sollte, hatte er nun erfolgreich auf Tom übertragen.
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18 »Wie läuft’s denn mit deinem neuen Freund?« »Er ist nicht mein Freund«, protestierte Sharon. »Er ist ein alter Bekannter aus der Collegezeit, mehr nicht.« »Das glaub’ ich nicht. Du kommst rein, bist spät dran und siehst schlecht aus, als ob dich jemand vom Schlafen abhält.« Tobie war die Gründerin und Leiterin des Bet-Ha-KeremRehabilitationszentrums, wo Sharon als Therapeutin arbeitete. Sie hatte die Angewohnheit, ihre Angestellten wie Patienten zu behandeln. Sie saßen in ihrem Büro und tranken Kaffee. »Hör mit dem Bohren auf, Tobie. Immer mußt du rumbohren. Ich seh’ völlig gesund aus, und ich war heute vor dir hier.« »Und wenn ich zu spät komme, dann bist du wohl nicht zu spät, was? Red keinen Stuß, Schätzchen.« ›Red keinen Stuß‹ war ein Ausdruck, den sie einer ihrer Alkoholikerinnen abgelauscht hatte. Tobie legte sich alle vierzehn Tage neue Redensarten zu. »Außerdem bin ich hier die Chefin. Ich kann gar nicht zu spät kommen, das ist ein Widerspruch in sich.« »Er ist nur zu Besuch, aus England, für eine Weile. Das ist alles.« »Ich will nur nicht, daß du dich aufregst. Du weißt doch, wie das hier zugeht: Du regst dich auf, alle meine Frauen regen sich auf. Ich rege mich auf. Wir sind alle wie ein einziges Bewußtsein. Das bringt mich manchmal schon zur Verzweiflung. Also, wenn du Probleme mit diesem englischen Wie-heißt-er-dochgleich hast …« »Tom heißt er.« »Sharon, du lügst mich an.« »Nein, tu ich nicht.« »Ich kenne dich doch.« Tobie war eine dicke, kleine grauhaarige Frau, deren Brille ständig auf der Nasenspitze saß. Sie kam um den Tisch herum und nahm Sharons Gesicht zwischen ihre 90
Hände. »Ich mach’ mir Sorgen um dich. Warum denn nicht? Bumst du mit ihm?« »Tobie!« Sie war die einzige von Sharons Bekannten, die ganz beiläufig solche Worte in den Mund nehmen konnte. »Denn wenn du ihn liebst und nicht mit ihm bumst, ist das schlecht für uns alle. Wir werden alle darunter leiden.« »Hör mal, ich muß jetzt los. Meine Gruppe wartet auf mich.« »Und jetzt willst du nicht mal mit mir darüber reden? Das ist ja schlimmer, als ich dachte.« »Hör zu, ich liebe ihn nicht. Ich bumse nicht mit ihm. Ich möchte mit dir über ihn sprechen, aber über seine Probleme.« »Zur Hölle mit seinen Problemen, Darling, um dich mach’ ich mir Sorgen.« Wenn Tobie Darling sagte, hörte es sich immer wie Darlink an. Es machte Sharon verrückt. »Ein anderes Mal, okay, Tobie?« »Klar.« Sharon begab sich zu der Gruppe, die im Versammlungsraum auf sie wartete. Tobie trank ihren Kaffee aus und verzog das Gesicht. Verdammt, dachte sie. Sharon ist dabei, sich in diesen Kerl zu verlieben. Da steht uns aber ‘ne Scheißzeit bevor.
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19 »Geh mal dran«, sagte Tom. »Geh selber dran.« Das Telefon klingelte weiter. Katie saß auf dem Sofa, die Beine angezogen. Sie hatte sich Arbeit mit nach Hause gebracht. Tom saß am Tisch. Er hatte Stapel von Übungsheften vor sich liegen und strich mit einem Rotstift Fehler an. Das Telefon verstummte. Katie blickte zu Tom, der mit seinen Korrekturen fortfuhr. Ein paar Minuten später begann es wieder zu läuten. Katie warf ihren Kugelschreiber hin und stand auf. Tom hörte ihren Teil des Gesprächs. »Hallo? Ach, hallo. Nein, das macht nichts, was kann ich für Sie tun? Ja, er ist da. Korrigiert Arbeiten. Ja, er ist Lehrer. Nein, ich bin keine Lehrerin und möchte es auch nicht sein. Das ist sehr schmeichelhaft von Ihnen. Ich würde mir darum keine Sorgen machen. Ja, er sitzt neben mir. Ich hole ihn; warten Sie.« Katie legte eine Hand über die Sprechmuschel. »Tom, es ist Michael Anthony.« »Wer?« »Der Mann aus dem Café. Der Betrunkene von der Party. Er will dich sprechen.« »Was will er denn?« »Wie soll ich das wissen?« Sie winkte ihm mit dem Hörer und machte ein wütendes Gesicht. Müde stand Tom auf und nahm den Hörer von Katie entgegen. »Ja?« Katie sah, wie Tom eine Viertelstunde lang fast schweigend lauschte, nur von einem gelegentlichen Grunzen unterbrochen. Am Ende schrieb er eine Nummer auf, verabschiedete sich und legte auf. 92
»Und?« »Er fragte mich um Erlaubnis«, berichtete Tom, »weil er dich bitten wollte, mit ihm am Sonntag nachmittag im Park spazieren zu gehen.« »Was??« »Er war sehr korrekt. Sehr formell. Er wollte, daß alles korrekt zugehe.« »Warum denn ich?« »Er sagt, daß er dich wunderschön findet. Und er sagt, daß er sterben wird. Die Ärzte haben ihm noch sechs Monate, vielleicht ein Jahr, gegeben. Es hat sich angehört wie der letzte Wunsch eines Verurteilten.«
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20 »Ich kann verstehen, wie es gemacht worden ist; man hat die Bruchstücke auf einen sehr feinen Stoff gebügelt, bevor sie auf das Seidenfutter genäht wurden, damit sie nicht in ihre Bestandteile zerfielen.« »Und kannst du mir auch sagen, ob sie wichtig sind?« fragte Tom. »Keine Ahnung. Es ist zwar Hebräisch, aber ich kann es nicht lesen«, erwiderte sie. »Wenn du es unbedingt wissen willst, mußt du sie schon zu jemand bringen, der es kann.« Sharons gebräunte Arme standen wie Tempelsäulen zu beiden Seiten des Schriftrollen-Tuchs. Tom beäugte ihre glatten Muskeln. Er hatte fast vergessen, mit welcher Leichtigkeit sie Selbstvertrauen ausstrahlen konnte. »Von diesen Fragmenten sind viele im Umlauf«, belehrte sie ihn, »auch wenn ich nie eins davon zu Gesicht bekommen habe, außer im Museum. Es kann gut sein, daß ihr ganzer Inhalt sich darauf beschränkt, wie der Tempel gebaut werden sollte. ›Und es sollen vierzig Ellen sein, und hernach zwanzig Ellen, und die andere Mauer soll zehn Ellen messen.‹ Mehr haben die meisten nicht zu vermelden.« »David schien diese hier für sehr wichtig zu halten.« »Du hast mir auch erzählt, daß er glaubte, der Vatikan wolle ihn vergiften lassen. Ich glaube, dein David war ein bißchen weich in der Birne.« »Er sagte nicht, daß es der Vatikan wäre. Ich weiß nicht, wer es war. Hast du irgendeine Idee, wer uns helfen könnte?« »Du mußt schon entscheiden, ob du sie abgeben willst oder nicht. Wenn du sie den jüdischen oder christlichen Autoritäten gibst, siehst du sie nie wieder. Das ist klar. Wir könnten einen Gelehrten finden, der privat einen Blick darauf wirft; aber wenn dort irgend etwas von Bedeutung steht, wird es bald 94
sowieso jeder wissen, daß du die Rollen hast.« »Mist. Was sollen wir also tun?« »Paß auf, ich hab’ da einen Freund. Genauer gesagt, einen ehemaligen Klienten. Ich wollte ihn eigentlich nicht vorschlagen, aber …« »Ahmed El-Asmar«, erklärte Sharon, während sie zum vierten Mal an die Tür hämmerte. »Wahrscheinlich schläft er noch. Und auch wenn ich ihn geweckt haben sollte, so wird er vor dem vierten Klopfen nicht öffnen. Die Dschinn klopfen nur dreimal, jedenfalls hat er es mir so erzählt.« »Die Dschinn?« Sie waren wieder im arabischen Viertel der Altstadt. In seinem nordöstlichen Teil hatte Sharon ihn zu einem zerfallenen mittelalterlichen Haus geführt. Die enge Gasse stank nach Mehltau und Esel. »Dämonen. Ahmed ist kein gewöhnlicher Palästinenser. Und er hält mich für ein bißchen verrückt.« »Warum das?« Sharon blieb keine Zeit zu antworten. Wenige Fuß über ihnen wurde ein Fensterladen geöffnet, und ein schlaftrunkener Araber blinzelte zu ihnen herunter. Tom konnte einen Kopf mit krausem schwarzem Haar und einem dünnen Schnurrbart erkennen. Der Mann starrte sie ein paar Sekunden mit leerem Blick an. »Es ist die verrückte Jüdin«, murmelte er schließlich. Dann zog er den Kopf aus dem Fenster zurück. Ein paar Augenblicke später erschien er wieder im Fenster, um ihnen einen Schlüssel hinunterzuwerfen. Sharon fing ihn und schloß die Tür auf. Innen war es schattig und kühl. Tom folgte Sharon über ein paar steile Steinshafen in einen wohlriechenden Raum, wo sich der Araber in eine Jeans und ein T-Shirt mühte. Er blinzelte und versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Tom schätze ihn auf ungefähr vierzig. 95
Die beiden gaben sich Küßchen auf die Wange, bevor Sharon Tom vorstellte. »Er kommt aus England.« »England?« fragte Ahmed, als hätte Sharon behauptet, er komme aus der versunkenen Stadt Atlantis. »England? Ach, England.« Tom bot ihm die Hand. Der Mann starrte sie einen Augenblick in fasziniertem Schrecken an, bevor er sie schüttelte. »Tee. Ich würde euch gern einen Tee anbieten.« Ohne Aufforderung hatte sich Sharon bereits auf eines der großen Kissen gesetzt, die an einer Wand aufgereiht standen. Ahmed lud Tom ein, das gleiche zu tun, dann stolperte er in die Küche. »Mach dir nichts draus«, sagte Sharon. »Er ist immer noch im Halbschlaf.« »Ich hab’s gehört«, kam die Stimme aus der Küche. »Sind die Leute in England auch so unhöflich? Ich meine, so wie diese verrückte Jüdin?« »Ja«, erwiderte Tom, »sind sie.« »Ich weiß. Bin ja selber dort gewesen. Ich wollte nur sehen, ob du vielleicht ein Lügner bist.« Sie schwiegen, während der Araber den Tee bereitete. Die dicken Steine der Mauern schluckten jeden Laut der Außenwelt, so daß es im Haus wunderbar ruhig war. Die Wände waren mit Wandbehängen in geometrischen Mustern geschmückt. In der Luft hing ein Geruch wie Weihrauch und zugleich ein anderer vertrauter, aber säuerlicher Geruch, den Tom nicht benennen konnte. Ahmed kam mit einem Tablett und ein paar Gläsern zurück. In jedem Glas waren ein frischer Minzezweig und zwei Würfel Zucker. Tom wollte keinen Zucker, aber Ahmed goß bereits den Tee ein. »Wie gefällt dir nun Palästina?« Er reichte ihm die Tasse. »Ich bin mir noch nicht sicher. Es gibt viel Gewalt.« »Ja. Es wird friedlicher werden, wenn wir erst einmal diese Juden los sind.« 96
Sharon lächelte. »Wir sind so wie deine Dämonen, Ahmed. Wir werden immer bei dir sein.« Ahmed sprach zu Tom, als wäre Sharon nicht im Raum. »Sie hat recht. Ich weiß nicht, wer schlimmer ist: die Dschinn oder die Juden. Es würde mir nichts ausmachen, wenn alle so wären wie Sharon, aber die anderen … Allah! Wie ist der Tee?« »Köstlich!« Er legte die Hand auf die Brust, als handle es sich um ein persönliches Kompliment. Dann wandte er sich plötzlich wieder an Sharon. »Du hast mich seit sechs Monaten nicht mehr besucht. Wo bist du bloß gewesen, du Hexe?« Sharon zuckte mit den Schultern und schlürfte ihren Tee. »Was ist sie bloß für eine Freundin, Tom, daß sie mich in sechs Monaten nicht einmal besuchen kommt? Sind die Leute in England so verdammt unhöflich zu ihren Freunden?« »Das hast du ihn doch schon gefragt.« »Ja, das hab’ ich. Tut mir leid, Tom.« »Jedenfalls«, nahm Sharon das Wort, »besuchst du mich auch nie. Ich hab’ dir schon mal gesagt, du sollst mich mal besuchen.« »Na klar! Und mir von ‘nem jüdischen Jüngelchen mit einer Uzi die Hand abschießen lassen, weil ich mich als Araber in meinem Heimatland bewege! Was hältst du davon, Tom? Ein Araber ist nicht einmal in seinem eigenen Land sicher.« »Achte nicht auf das, was er sagt. Er bleibt nicht wegen der Soldaten immer im Haus – sondern weil er Angst vor seinem Dschinn hat.« »Jetzt will sie mich drankriegen. Wenn ich sie nicht so liebte, würde ich sie umbringen. Außerdem ist sie verrückt. Warum? Weil sie nicht an den Dschinn glaubt. Nur Verrückte glauben nicht an den Dschinn. Glaubst du an den Dschinn?« »An einen Dämon?« Tom zögerte. Dann versuchte er eine Antwort: »Also, ich glaube an Gott und daher auch an die Existenz des Teufels … also würde ich annehmen, daß die 97
Antwort wohl ›Ja‹ lautet.« »So!« rief Ahmed aus, als habe Tom damit einen alten Streit beigelegt. »Noch etwas Tee?« Schließlich sagte Sharon: »Wir haben dir etwas mitgebracht, auf das du mal einen Blick werfen sollst.« Tom zog den eingerollten Stoff hervor. Ahmed nahm ihn und breitete ihn auf einem niedrigen Tisch aus. Bevor er mit der Untersuchung begann, nahm er eine selbstgedrehte Zigarette und zündete sie an. Tom erkannte den vertrauten Geruch als Haschisch. Ahmed nahm einen tiefen Lungenzug und betrachtete die Schriftrolle. »Diese Spiralform ist ungewöhnlich. Wie bist du an das Ding gekommen?« »Es fiel mir in die Hände, als ein Mensch starb.« Ahmed starrte die Rolle noch eine Weile an, dann schien er das Interesse zu verlieren. »Könntest du sie für uns untersuchen?« fragte Sharon. »Gibt’s was dafür?« »Nein.« Ahmed nahm einen tiefen Zug und stieß einen Seufzer aus. »Ahmed ist ein glänzender Wissenschaftler«, sagte Sharon zu Tom. »Er kennt die alten Schriften der Hebräer, der Aramäer und der Araber. Auch Latein und Griechisch. Und dann noch Englisch, Französisch, Deutsch und … was noch, Ahmed?« »Die verrückte Jüdin meint, wenn sie mir nur genug schmeichelt, dann werd’ ich diesen Lumpen für sie lesen. Aber da irrt sie sich.« »Spanisch. Berbersprachen. Gauner-Rotwelsch. Was noch? Ehrlich, er ist ein richtiges Sprachgenie. Sein einziges großes Talent. Deshalb sind wir ja auch zu ihm gegangen.« »Und nicht, weil ich so ein netter Kerl bin? Tom, arbeitest du etwa umsonst?« »Wir wissen nicht, was auf diesem Ding geschrieben steht. Aber wir haben allen Grund anzunehmen, daß es sehr wichtig 98
ist«, erklärte Sharon. »Wenn das so ist, kannst du ja eine Abschrift machen und mit deiner Gelehrsamkeit glänzen. Wird dir ‘nen tollen Ruf verschaffen.« »Mein Ruf!« lachte Ahmed zynisch. »Mein guter Ruf.« »Er wird es machen«, sagte Sharon, an Tom gewandt. »Er hat schon ›Ja‹ gesagt.« »Da irrt sie«, entgegnete Ahmed. Immer noch sprachen sie zueinander über Tom. Ahmed begab sich in die Küche und kam mit Obst auf einem Tablett wieder. Mit einem scharfen Messer teilte er Melonen und Orangen in gleiche Teile. Tom staunte über die Präzision, mit der er es tat. Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu. Sie sprachen über die politische Lage, über die letzten Ausschreitungen und die Haltung der Regierung. Niemand redete mehr von den Schriftrollen. Ahmed, der sich über die britische Politik gut informiert zeigte, stellte Tom viele Fragen über die britische Haihang zur Palästinenserfrage. Tom versuchte zu antworten, so gut er es vermochte. Während der ganzen Zeit rauchte Ahmed zwei oder drei seiner selbstgedrehten Zigaretten und war sehr liebenswürdig. Trotz der Neckereien war es offensichtlich, daß er sich mit Sharon gut verstand. Sie erhob sich schließlich, und die beiden gaben sich einen flüchtigen Kuß. Der Stoff mit der Schriftrolle blieb auf dem Tisch liegen. Tom nahm es als Wink von Sharon und erwähnte die Rolle nicht mehr. Ahmed schüttelte ihm die Hand und sagte, er hoffe ihn wiederzusehen. Sharon ging voraus, dann folgte Ahmed und zum Schluß Tom. Als sie den Fuß der Treppe erreichte, öffnete Ahmed die Tür, und Sharon trat nach draußen ins helle Licht. Tom jedoch stellte er sich in den Weg. Er streckte ihm den Kopf entgegen, und einen lächerlichen Augenblick lang glaubte Tom, der Araber wolle versuchen, ihn zu küssen. Aber er flüsterte ihm nur etwas zu. »Du trägst einen Dschinn.« 99
»Was?« »Einen Dschinn. Ich kann ihn sehen. Sie versucht, mit dir zu sprechen, aber du hast deine Ohren vor ihr verschlossen.« »Ich verstehe nicht.« »Hab’ keine Angst. Ich trage auch einen Dschinn. Es gibt ihrer viele. Hör ihr zu. Sie will mit dir sprechen.« Sharon rief ihnen etwas zu, und im nächsten Augenblick war Tom bereits durch die Tür getreten, die sich hinter ihm schloß. Jeder Gedanke an die Schriftrollen war aus seinem Gedächtnis gestrichen. Er stand mitten auf der Straße und war verwirrt. »Er wird sie anschauen«, versicherte Sharon. »Wenn es irgend etwas Interessantes gibt, wird er es rausfinden. Du siehst blaß aus, Tom.« »Ich kenne ihn seit zehn Jahren. Er erzählt immer irgendeinem, daß dieser oder jener einen Dschinn trägt. Du solltest es einfach nicht zur Kenntnis nehmen.« Nach dem Besuch bei Ahmed hatte Sharon das Abendessen gekocht. So heikel sie in bezug auf die Zubereitung des Essens war, so schlampig war sie beim Servieren. Es gab gebratenes Lamm, in Pita gewickelt, dazu einen exotischen Salat. Hungrig schlangen sie alles hinunter. »Aber meine Halluzinationen! Diese Frau! Ich glaube, er hat da etwas gesehen …« Sharon hörte auf zu essen. Sie wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Hör mal. Er mag ja seine Dschinn haben und du deine. Aber man kann die eines anderen doch nicht sehen.« »Und warum nicht?« »Weil deine nur in deinem Kopf existieren, und seine nur in seinem Kopf, darum.« »Und welches sind seine Dschinn?« »Das kann ich dir nicht verraten. Berufsgeheimnis. Ich hab’ 100
ihn kennengelernt, als er zu mir in die Therapie kam. Es ging ihm sehr schlecht, er war schuldbeladen und schwer depressiv. Wurde von allen möglichen Dämonen geplagt, die er selbst geschaffen hatte. Er hat einen brillanten Kopf, dieser Ahmed, und der hatte sich gegen ihn gewandt, um ihn zu quälen.« »Hast du ihm geholfen?« »Ich schmeichle mir, es vielleicht getan zu haben. Und er hat mir geholfen. Er lehnte es ab, die üblichen Rollen von Arzt und Patient zu akzeptieren und bestand darauf, daß ich ihm persönliche Dinge offenbarte, so wie auch er mir vieles anvertraute. Ich hab’ mitgemacht. Und er hat mir viele meiner eigenen Illusionen zerstört – deshalb nennt er mich auch die verrückte Jüdin, ich war nämlich so krank wie er. Danach konnte ich auch nicht mehr an die übliche Arzt-Patient-Beziehung glauben. Er hat mir klargemacht, daß dieses Rollenspiel den Heilungsprozeß eher behindert, statt ihn zu fördern.« »Aber hat er sich denn wieder erholt?« »Er funktioniert wieder, das ist das wichtigste. Ich konnte ihn aber nicht dazu bringen, die Dschinn zu vergessen, die ihn immer noch quälen. Tom, irgendwie hast du dich verändert.« »Ja?« »Es ist etwas in deinen Augen. Du siehst mich so kritisch an. Fast mißtrauisch. Hat dir das Katies Tod angetan?« Tom überhörte die Frage. »Also wie willst du seine Dschinn erklären?« »Oder deine?« »Ja. Oder meine.« »Sex.« »Ach ja! So einfach natürlich!« »Wie die meisten Leute«, sagte Sharon, »magst du es nicht, wenn man dir die Wahrheit über dich sagt.« »Aber das ist so banal! Zu sagen, daß alles nur vom Sex abhängt.« »Dschinn. Dämonen. Spuk. Halluzinationen. Im Grunde ist 101
fast alles Okkulte der Religionen fehlgeleitete sexuelle Energie.« »So sehe ich das nicht.« »Weil du absichtlich vor jeder möglichen sexuellen Erklärung zurückscheust, wenn es darum geht zu beleuchten, was da so offensichtlich unter der Oberfläche brodelt. Du versuchst verzweifelt, es zu leugnen, genauso wie du deine eigene …« »Meine eigene was?« Plötzlich kippte der Mond. »Wen hast du denn zum Schmusen, seit Katie nicht mehr da ist?« »Und ich dachte, wir reden hier über die Dschinn.« »Und ich hab’ dir gesagt, was ich von den Dschinn halte. Du interessierst mich. Ich mache mir Sorgen um dich, Tom.« Ihr Kopf ruhte auf der Rückenlehne der Couch, die blauen Augen waren vor Mitleid verschleiert. Er konnte mit ihrer Intensität nicht umgehen; zu früh hatte sie wieder die alte Vertrautheit beschworen. Nun wollte sie ihm Ratschläge geben, wie einer ihrer Alkoholikerinnen. »Was ist mit Katie passiert?« wollte Sharon wissen. »Und was war in der Schule?«
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21 Gethsemane war eine kühle Oase der Ruhe in der Mittagshitze von Jerusalem. Botaniker behaupteten, daß einige der alten Olivenbäume noch aus der Zeit Jesu stammten. Doch keiner der Bäume konnte im ursprünglichen Garten gestanden haben, denn der war im Jahre 70 abgeholzt worden; aber allmählich wurde Tom seine Skepsis leid. Er trat zum ältesten Baum des Gartens und lehnte seinen Rücken gegen den Stamm. Die Sonne am blauen Himmel war wie das Auge eines Löwen. Er hatte im arabischen Sukh einen Strohhut gekauft, um sich vor ihren unbarmherzigen Strahlen zu schützen, und war allein hinauf in den Garten gestiegen, nachdem er Sharons Angebot, ihn zu begleiten, abgelehnt hatte. Immer noch wich er ihren Fragen aus. Die Sonne brannte durch die schimmernden grünen Blätter des Olivenbaums. Er schloß die Augen und fragte sich, wovor er am meisten floh. Wenn es nur um ein paar Dinge geht, hatte der Direktor gesagt, um ein paar Worte … Er hatte an jenem Tag die Tür zum Klassenzimmer aufgestoßen, und die Kinder waren ungewöhnlich ruhig gewesen. Es roch nach Regen, nach Feuchtigkeit, die aus den schwarzen Blazern dampfte. Sie scharrten verlegen mit den Füßen, seltsam unterwürfig, wollten ihm nicht in die Augen schauen. Langsam wurde er sich bewußt, daß hinter ihm etwas an der Tafel stehen müsse, und wandte sich um. Die Tafel war voller anklagender, meterhoher Buchstaben. Die Klasse verstummte, während sie ihm beim Lesen zusah. Du sollst nicht bumsen eines anderen Mannes Frau, stand da. Du sollst nicht ehebrechen. Mister Webster bumst Schulmädchen. Bastard stand da und Schwanzlutscher und Eier und fick, fick, fick. Ein grobgezeichneter Penis entleerte sich in einen ebenso grobgemalten Mund. 103
Die Stille in der Klasse bedrohte ihn wie eine Woge. Sie schäumte in seinem Rücken, drohte ihn zu verschlingen – eine gewaltige Kraft, die aus den Unverschämtheiten an der Tafel floß und auf ihn zurückprallte. Wieder las er die Worte. Dann nahm er den Schwamm und wischte sie in aller Ruhe weg und schrieb statt dessen mit zitternder Hand: Thema für heute: Was verstehen wir unter dem ›Alten Testament‹? »Nehmt eure Bücher heraus«, sagte er und versuchte, seine Stimme nicht brechen zu lassen. »Schlagt Kapitel zwölf auf.« Im Garten Gethsemane floß ihm ein Schweißtropfen ins Hosenbein. Er sah einen Franziskanermönch die Höhle aus sandfarbenem Stein betreten. Tom strich über den knorrigen Stamm des Olivenbaums, dann beschloß er, dem Mönch zu folgen. Die Höhle war kühl, groß und luftig. Lampen in Alkoven spendeten ein schwaches Licht, das von den Wänden in einem Bernsteinton zurückgeworfen wurde. Der Mönch, in eine braune Franziskanerkutte und Ledersandalen gekleidet, saß auf einem Stuhl an einem Schreibtisch. Er schrieb; und irgend etwas an seinem Auftreten wirkte beruhigend echt. Wenigstens fühlte Tom sich hier nicht mehr wie in einem Freizeitpark. Der Mönch blickte auf und lächelte. Er war ein großer Mann mit dünnem schwarzen Haar und samtenen Augen. »Entschuldigung.« Der Mönch schrieb gar nicht; er benutzte ein Lineal, um Linien auf ein leeres Blatt Papier zu ziehen. Er zog die letzte Linie, dann legte er den teuer aussehenden Kugelschreiber nieder. »Entschuldigung«, flüsterte er und sah zu Tom auf. »Mein Englisch … nicht gut.« Tom hielt sein Stück Papier in der Hand; nun war er nicht mehr sicher, ob er es zeigen sollte. »Es ist nur dies hier. Ich meine, es ist wohl Latein. Ich frage mich, ob Sie es vielleicht kennen.« Der Mönch nahm das Blatt. »De Profundis Clamavi«, sagte Tom ungeduldig. »Aus den 104
Tiefen herauf.« »De Profundis Clamavi«, gurrte der Mönch ermutigend. Er legte den Papierfetzen auf den Tisch und erhob sich von seinem Sitz. Mit hochgerecktem Zeigefinger stand er da, während er krampfhaft versuchte, sich an ein paar englische Wörter zu erinnern. »De Profundis, daas iist Psalm, ja, Psalm ein-uhndert und treißig.« Seine Augen glänzten vor Begeisterung, und seine Stimme war zu einem sanften und beruhigenden Flüstern gesunken. Tom dachte, er sei vielleicht Spanier. »Aus den Tiefen ‘eraus schrei isch zuu diir, mein ‘err. Meine Seele wartet auf den ‘errn, mehr als die, die auf den Morgen warten. Es iist der Psalm der Gnade. Vergebung. Erlösung, ja.« Tom wandte sich um und blinzelte aus der dunklen Höhle in das Licht. Als er den Mönch wieder ansah, waren seine Augen feucht. Der Mönch bemerkte es, lächelte und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der arme Mann glaubt, ich bin durch die Schönheit des Psalms gerührt, dachte Tom. Er kam sich lächerlich vor, kindisch. Wie sollte der Mönch auch wissen, daß er über seinen eigenen Schmerz weinte? Über seinen eigenen Verrat? Denn woran er sich vor allem nicht erinnern konnte, war, was er zuerst verloren hatte – seine Frau oder seinen Glauben. Er dankte dem Mann und wandte sich ab. Er spürte, daß der Mönch ihm nachschaute, als er die Höhle verließ. Als er aus der Kühle trat, traf ihn die Sonnenhitze wie der Atem eines Löwen. Er fühlte sich schwach auf den Beinen, schwindlig. Wieder ging er zu dem alten Baum, nahm den Hut ab und lehnte sich an den Stamm. Hitzewellen ließen den Garten verschwommen erscheinen. Das grelle Licht bleichte die Blätter. Ein plötzlicher Anfall von Kopfschmerzen ließ ihn die Augen schließen. Wenn es nur um ein paar schlimme Worte auf einer Tafel geht, hatte Stokes gesagt, so ist das schon den meisten Lehrern passiert. Jeder, der sich davon angegriffen fühlt, ist eine 105
ebenso traurige Figur wie diejenigen, die Freude an solchen Kritzeleien haben. Aber Stokes hatte sich geirrt. Es ging nicht nur um ein paar Worte. Das Problem hatte sich nicht von selbst gelöst; wieder und wieder war die Tafel bekritzelt gewesen. Er hatte zwar einen Verdacht, aber keinen Beweis. Er begann sogar zu glauben, daß ihn einige seiner Schüler schützen wollten, indem sie die Tafel abwischten, bevor er das Klassenzimmer betrat. Dann wurde der Schuldige schließlich offenbart, aber nicht, weil Tom Nachforschungen angestellt hätte. Zwei Jungen sprachen eines Tages nach dem Unterricht mit ihm und gaben den Namen eines Dritten an, den Tom auch in Verdacht gehabt hatte. Der Junge war ein guter Schüler, ein zwar leicht mißmutiger, aber intelligenter Vierzehnjähriger, der aus geheimnisvollen Gründen vor einiger Zeit eine Abneigung gegen Tom gefaßt hatte. Tom hielt ihn nach dem Unterricht fest und konfrontierte ihn mit den Anschuldigungen. Zuerst leugnete der Junge alles, schließlich aber brach er zusammen und gab einen Teil der Schuld zu. Doch er blieb störrisch dabei, daß er die schlimme Botschaft nur einmal geschrieben habe, obgleich Tom selbst die Tafel sechs oder sieben Mal hatte auswischen müssen. Erst als Tom versprach, den Eltern des Jungen nichts zu erzählen, zeigte sich der Junge zu einer Art Erklärung bereit. Er hatte sich heftig in Kelly McGovern verliebt, die bei Tom in der vierten Klasse Englisch hatte; und Kelly wiederum, so mußte Tom zu seiner Überraschung erfahren, war leidenschaftlich in ihn verknallt. Der Junge war mörderisch eifersüchtig auf Kellys Gefühle für ihren Lehrer. Tom hatte Gnade vor Recht ergehen und den Jungen mit einer Verwarnung davonkommen lassen; doch unter Androhung einer Strafe, falls sich die Ereignisse wiederholen sollten. Auch hatte er dem Jungen versichert, daß es nicht ungewöhnlich sei, wenn eine Schülerin in ihren Lehrer verliebt war, und 106
daß er außerdem ein glücklich verheirateter Mann sei, der keinerlei Interesse an Schulmädchen hege. Nein, es war nie um ein paar Worte auf einer Tafel gegangen, deretwegen Tom seinen Job als Lehrer aufgegeben hatte. Als er die Augen wieder öffnete, sah er die verschleierte Frau. Sie stand unter einem anderen Olivenbaum im Schatten. Sie war nur ein paar Fuß von ihm entfernt – die gleiche alte Araberin, die ihm seit Tagen durch Jerusalem folgte. Doch nun sah sie verändert aus: Die groben braunen Gewänder hatte sie abgelegt; statt dessen trug sie ein verblichenes weißes Gewand. Einen neuen Schleier, aus einem feinen grauen Stoff, halbdurchsichtig. Ihr weißer Umhang im Sonnenlicht blendete ihn fast. Der vertraute Geruch nach Gewürzen wehte wie ein Band in der stillen Luft. Tom blinzelte. Wie sie dort unter dem Olivenbaum stand, war sie kein Geist, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Sie winkte ihm, er möge ihr folgen. Die Frau trat unter dem Baum hervor und begab sich tiefer in den Garten hinein. Tom folgte ihr. Sie gingen zwischen den alten Olivenbäumen, und die Luft brannte mit dem Duft des Balsams. Dann eine plötzliche Bewegung der Blätter, ein Schimmern, als sie zwischen die Bäume trat. Der Balsamduft strömte durch den Garten, als steige er aus Rissen in der ausgedörrten Erde auf. Unversehens drehte sich die Frau um und wartete auf ihn; Tom hatte wieder die Empfindung, daß die Welt eine Falte warf – das Universum bekam Risse und begann zu fließen. Mit ausgestreckten Händen kam die Frau auf ihn zu, und ihr Duft, der Geruch nach Balsam, hüllte alles ein. Sie hob den Schleier, doch ihr Gesicht lag im Schatten, als sie Tom auf den Mund küßte. Er spürte, wie ihre Zunge seine Lippen erforschte, und im nächsten Augenblick war da keine Frau mehr, nur noch die Wahrnehmung einer großen Biene, die in seinen Mund eindrang, und der Schmerz des Stiches im weichen Gewebe seiner Unterlippe. 107
Dann ein Augenblick der Panik, er fühlte sich fallen, und er wußte sofort, daß er das Insekt heruntergeschluckt hatte. Hustend stolperte er zwischen den Olivenbäumen hindurch, tastete sich blindlings zurück zu der Höhle und dem Franziskanermönch.
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22 »Eis brauchen wir jetzt. Du mußt Eis lutschen.« Sharon übernahm das Kommando, beschwor die jüdische Urmutter aus den Tiefen ihrer Seele. Sie hatte eine schwache Salzlösung auf Toms dick angeschwollene Lippe gestrichen und war nun damit beschäftigt, einen Behälter voller Eiswürfel in ein Glas zu leeren. Sie machte sich große Sorgen, als Tom klagte, sein Hals schwelle zu. »Lutsch das Eis auf der anderen Seite, damit es das Salz nicht wegwäscht.« »Dasch Schalsch ischt scheuschlich«, nuschelte Tom. Die Aussprache fiel ihm nicht eben leicht. Sein Gesicht, das sich immer noch weiter aufblähte, nahm allmählich die Form eines Halloween-Kürbisses an. »Laß es doch einfach in Ruhe!« Sharon warf die Hände hoch. »Man stelle sich das mal vor, ein Bienenstich im Mund!« Gleich wird sie anfangen zu sagen oy vey, dachte Tom. Gleich nachdem er von Gethsemane zurückgekehrt war, hatte Sharon sich um ihn gekümmert. Nun drückte sie ihm einen neuen großen Eiswürfel in den Mund. »Stell dir nur mal vor, dieser Mönch wäre nicht dagewesen! Wie ist dieses Biest bloß in deinen Mund gekommen? Ich meine, du hast ihm doch nicht noch gut zugeredet? So was hab’ ich wirklich noch nie gehört. Und du sagst, der Mönch hat den Stachel aus deinem Mund gepult? Mit dem Fingernagel? Ich hoffe bloß, daß er saubere Hände hatte! Stell dir mal vor, wenn du eine Entzündung kriegst! Was für ein Mönch war er denn?« »Franschischkaner.« »Franziskaner? Sind die sauber? Hier, nimm noch einen Eiswürfel!« Tom hatte sich unmittelbar nach dem Stich an den Mönch um Hilfe gewandt. Der Mönch hatte an Toms Lippe gezogen und nach den Überresten des Stachels gesucht. Ein vernünftiges 109
Vorgehen – der Versuch, den Giftstachel zu entfernen, bevor er noch mehr Säure freisetzen konnte. Doch der Mönch hatte Schwierigkeiten, den Stachel zu finden. Als er schließlich behauptete, ihn entfernt zu haben, war Tom sicher, daß er ihn nur hatte beruhigen wollen. Denn Tom wußte, daß das, was ihn gestochen hatte, wie eine Biene war – und doch war es keine Biene gewesen. »Was ist mit dem Biest geschehen?« wollte Sharon wissen und fühlte an seiner Stirn, ob er Fieber hatte. »Ich glaub’, ich hab’ schie verschluckt.« »Verschluckt! Du meinst, sie sitzt jetzt in dir drin? O Gott, ich hoffe nur, daß sie tot ist.« »Natürlich ischt schie tot. Aber schischer bin ich nicht.« Beim Versuch, sie auszuspucken, hatte er gespürt, wie er die Biene verschluckte. Er hatte eine Bewegung im Hals verspürt. Es schien verrückt, doch genau so war es gewesen. »Willst du dich ein bißchen hinlegen?« »Nein. Ich will blosch hier schitschen und mich elend fühlen.« Er konnte Sharon nicht erzählen, was wirklich passiert war. Wie denn? Wie sollte er ihr erzählen, daß er sein Phantom im Garten Gethsemane wiedergesehen hatte und daß sie ihn geküßt hatte, bevor sie sich in eine Biene verwandelte? Tom verbrachte eine äußerst unangenehme Nacht. Er schlief schlecht, hatte Fieberträume. In wildem Wechsel schwangen die Träume von seiner alten Schule bis nach Jerusalem. Er hörte die Stimmen der Schüler und seinen früheren Direktor, wenn es nur um ein paar Dinge geht …; und er hörte die Stimme des Phantoms in toten Sprachen und englischen Wortfetzen reden, wie ein Frequenzsignal von einem Kurzwellensender. Unbarmherzig fuhr die Stimme fort, flüsterte und drängte ihn, versuchte ihm irgendeine phantastische, verworre110
ne Geschichte zu erzählen. Der Name Jesu wurde beschworen und verschwommene Einzelheiten einer stümperhaften Kreuzigung; wieder und wieder wurde der Name Magdalenas genannt, und die Zunge trillerte und klagte in exotischen Wörtern und Sätzen, die hervorströmten wie Insekten und Chimären und verwandelte Vögel, die nicht sterben wollten … Mitten in der Nacht, als er wach lag und ins Dunkel starrte, klopfte eine unbekannte Hand an die Wohnungstür. Da bist du ja wieder. Er horchte, ob Sharon im Nebenzimmer auch von dem Klopfen gestört worden war, aber sie schlief ruhig weiter. Seine Uhr zeigte auf drei. Über eine Stunde lang lag er wach und wartete auf das sanfte, gleichmäßige Klopfen an der Tür. Er sagte sich die Worte des Psalms vor, die der Mönch ihm verraten harte: Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die, die auf den Morgen warten: Ich sage dir, mehr als die, die auf den Morgen warten. Als seine Uhr Viertel nach vier anzeigte, wußte er, daß er nun Ruhe haben würde. Seine Augen brannten von den unterdrückten Tränen. Er fiel wieder in Schlaf. Am Morgen war die Schwellung ein wenig abgeklungen, aber die Stimme in seinem Kopf war immer noch da. Irgendwie klang sie hartnäckig, aber gedämpft, als redete sie hinter Stahltüren. Sharon bereitete ihm ein Obstfrühstück im Entsafter zu. Er trank mit einem Strohhalm. Sie schwiegen. Sharon hatte Katie und seine Kündigung nicht wieder erwähnt, aber das Ungesagte stand zwischen ihnen im Raum, wie eine Verabredung, wie Karten für ein Konzert, das einen nicht lockt und die man an die Wand geheftet hat. Sie gab Bananen in den Entsafter und betätigte den Schalter. »Ich hatte eine Affäre«, sagte Tom plötzlich, das Gurgeln des Entsafters übertönend. »Bevor Katie starb. Das ist alles, wirklich.« 111
Sharon stellte das Gerät aus und setzte sich. Ihre Augen waren wie blanke Münzen. Sie wartete, aber als er nichts mehr sagte, stand sie wieder auf und stellte die Maschine an. »Das ist alles«, sagte Tom. »Mehr ist nicht passiert.« Sharon schaltete das Gerät wieder aus. »Sollen wir ihn anlassen oder abstellen?« fragte sie ironisch. »Abstellen. Es war jemand aus der Schule.« »Eine Lehrerin? Eine Kollegin? Und jetzt hast du Schuldgefühle. Du fühlst dich schuldig, weil Katie starb, während du ihr untreu warst.« »Es ist noch schlimmer. Ich fühle mich schlecht, weil ich keine Schuldgefühle hatte. Denn mit der anderen war es so schön.« »Du fühlst dich schlecht, weil es so schön war?« »Der Sex. Ich war eine Zeitlang wirklich verrückt. Hab’ mich am Verbotenen berauscht.« »Verboten?« »Die Sünde.« »Ach, das? Ich fürchte, das ist nicht gerade mein Gebiet, die Sünde. Ich hab’ Sex nie mit Sünde verbinden können.« »Die Sünde hat einen bestimmten Geruch und Geschmack.« »Und welchen?« »Nach Honig und Feuer, während du vögelst.« »Vorsicht, Tom. Mach Sex kostbar, und du machst ihn gefährlich.« »Und sollte es nicht so sein?« »Nein, das glaub’ ich nicht.« »Ich weiß, wie sich das für dich anhören muß.« »Weißt du nicht.« »Aber ja. Du siehst es ganz zynisch. Du denkst: armer alter Tom, verliert seinen Kopf über eine ganz gewöhnliche Affäre, dann stirbt seine Frau, und er kommt damit nicht klar. Aber wie kann ich dir bloß erklären, wie sehr es weh getan hat. Und wie dumm und häßlich ich mich gefühlt habe … und o Gott, 112
mein Mund tut vielleicht weh!« »Willst du noch Eis?« »Nein. Meine Zähne klingeln ja schon von den verdammten Eiswürfeln. Es sind die Frauen, Sharon. Sie sind so anders als die Männer.« »Hast du das schließlich doch noch rausgefunden!« Tom war nicht in der Stimmung, sich necken zu lassen. Sharons freie Einstellung zur Sexualität verwirrte seine Gedanken darüber, wo denn nun der genaue Unterschied lag. Was die männliche Sexualität anging, so wußte er, daß sie nur notdürftig verborgen war und immer wieder die Oberfläche durchbrach. Die weibliche Sexualität war eher in den Schatten versteckt, besser getarnt – auch wenn man den Unterschied kaum wahrnahm und auch wenn Frauen wie Sharon gelegentlich dieser Wahrnehmung widersprachen. Aber er wußte aus seiner eigenen, wenn auch begrenzten Erfahrung, daß Frauen, war ihre Glut erst einmal geweckt, viel fordernder sein konnten als Männer. Männer, daran gewöhnt, knapp unter der Oberfläche des Meeres zu leben, brachen aus dem Wasser hervor, nur um schnell wieder unter den Wellen zu verschwinden, bis zum nächsten Mal. Frauen hingegen, wenn sie erst einmal den Eingang der Meereshöhle erreicht hatten, blieben dort stehen und brüllten ihre Gefühle heraus. Tom sog Luft durch den Strohhalm und produzierte blubbernde Geräusche am Boden des Glases. »Du würdest das nicht verstehen«, sagte er. Sharon warf ihm einen Blick zu, so alt wie die Zeit.
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23 Langsam ging die Sonne hinter dem Pavillon im Park unter, wie eine polierte Kuppel in einer märchenhaften fremden Stadt. Die Schatten des Spätsommers ergossen sich über das üppige Gras. Schon lag in der Luft der Geruch des Herbstes, ein Hauch von Feuchtigkeit und gelben Blättern. Katie und Michael Anthony schlenderten durch den Park. An den Rosenbüschen am Kinderspielplatz hielten sie an. »Voll erblühte Rosen«, sagte Michael. »Omar Khayyam. Die sieht man überall, wenn die Zeit gekommen ist.« »Darf ich mich bei Ihnen einhaken?« fragte Katie. Sie tat es, und sie spazierten weiter. »Das ist etwas, das ich nie zu fragen gewagt hätte – Ihren Arm zu nehmen. Mein Gott. Wissen Sie, ich will nicht BunjeeSpringen oder Rennen fahren oder mit dem Fallschirm springen. Es geht mir nicht um die großen Dinge, sondern um die kleinen. Ich will einfach dasitzen und die Sonne auf meinem Gesicht spüren; mit einem Freund ein Bier trinken gehen; eingehakt mit einer Frau an einem schönen Nachmittag im Park Spazierengehen. Dafür bin ich dankbar. Und ich danke auch Ihrem Mann.« »Er ist ein guter Mann.« »Wo ist er jetzt?« »Er mußte jemanden treffen.« »Wen denn?« »Er sagte nicht wen oder wo. In letzter Zeit reden wir nicht so viel miteinander.« »Oh, aber das müssen Sie! Ich hätte heiraten sollen. Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht, als ich Priester wurde. Es kommt mir vor, als hätte ich die ganze Zeit gegen meine Bedürfnisse gelebt, und vielleicht hat das diese Zellen in mir dazu gebracht, sich gegen mich zu erheben. Wer weiß? Aber 114
ich weiß, ich hätte heiraten sollen.« »Es ist nicht nur ein Zuckerschlecken, Michael. Sollen wir uns setzen?« Sie ließen sich auf einer Bank nieder, die Sonne im Gesicht. Katie hielt immer noch seinen Arm umfaßt. »Haben Sie deshalb das Priesteramt niedergelegt? Weil Sie der Ehe noch eine späte Chance geben wollten?« »Nein, nein. Jetzt ist es zu spät für mich. Ich hab’s vermasselt. Ich konnte bloß diese Märchen nicht mehr ertragen. Diese verdammte Jungfrauengeburt – Sie müssen entschuldigen, ich hab’ das Fluchen erst vor kurzem gelernt – und diese ganzen anderen verdammten Kindermärchen.« »Sie glauben also nicht daran?« »Glauben? Sehen Sie mal, Jesus war verheiratet. Er war Rabbi, und sie haben geheiratet. Aber die ersten Christen haben es alles gestrichen, als sie die Bibel veröffentlichten. Jesus liebte die Frauen, aber wir dürfen es nicht!« »Was!« »O doch, er hat Frauen geliebt! In den Apokryphen stehen Berichte, daß er seine Anhänger verärgerte, indem er seine Frau in der Öffentlichkeit küßte. Knutschen, das wollen sie nicht haben, was? Und warum, glauben Sie, hat er gewartet, bis seine Jünger fort waren, bevor er sich der SamariterProstituierten am Brunnen näherte? Sie können es selbst nachlesen. Jedesmal, wenn in der Bibel eine Frau an einem Brunnen steht, bedeutet das Zeugung. Fruchtbarkeit. Sex. Es ist ein Muster. Aber man leugnet seine Existenz.« »Ganz schön radikal«, meinte Katie. »Radikal?« Er lachte bitter. »Das ist ein alter Hut! Aber als Priester ist man dazu angehalten, die Augen zu verschließen.« »Also wen hat er dann geheiratet? Jesus, meine ich.« »Machen Sie sich über mich lustig?« »Nein.« »Ich tippe am ehesten auf Maria Magdalena. Sie war eine Tempelpriesterin aus Kanaan und wurde von den Juden als 115
Prostituierte angesehen. Jesus machte sie zur Konvertitin und heiratete sie. Das steht alles bei Johannes im zweiten Kapitel, aber Sie müssen natürlich die zensierten Teile wieder einfügen. Maria Magdalena war immer bei ihm. Erinnern Sie sich an die Szene vor dem Grab, nach der Wiederauferstehung, wo sie ihn nicht erkennt? Sie erkennt ihn nicht, weil er es nicht ist. Die Kirche wollte, daß sie seinen Bruder Jakob ›erkannte‹, damit dieser künftig der Anführer sein sollte, und sie weigerte sich. Verwirrt Sie das? Das gibt sich. Jesu Kirche wurde von diesem Psychopathen Paulus okkupiert. Aber Sie tun schon gut daran, es nicht zu glauben. Halten Sie sich nur weiter an die Märchen.« »O nein!« Er berührte ihren Arm. »Ich habe meinen Glauben nie verloren. Ich habe keine Sekunde lang aufgehört, an Gott oder an Jesus zu glauben. Ich glaube nur nicht mehr an diese ganzen verdammten blöden Geschichten. Hab’ ich Ihnen übrigens schon erzählt, wie gern ich fluche?«
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24 Sharon hatte versprochen, Tom zu den Ausgrabungsstätten Qumran und Masada am Toten Meer zu fahren. Auf dem Rücksitz des Wagens lagen sechs Flaschen Mineralwasser. »Wird heiß da oben«, sagte sie. Sie fuhren mitten durch die Wüste; durch die offenen Fenster drang die heiße, feuchte Luft herein. Es roch nach warmem Staub und Salbei, der am Straßenrand wuchs. Tom blinzelte zu den sanftgeschwungenen Bergen, die in der Ferne unter dem blauen Himmel braun und dunstig wirkten. Am Masada-Felsen stiegen sie aus, und Sharon wies auf den Gipfel. Ein gewundener Pfad zog sich in Serpentinen auf den sphinxartigen Felsen; man konnte aber auch die Seilbahn nehmen. Tom ließ seine Blicke über den erstaunlichen Pfad schweifen. Zwei Menschen mit Rucksäcken bewegten sich langsam darauf empor, Käfern gleich, deren Rückenpanzer in der Sonne blitzten. Es war schon sehr heiß und wurde immer heißer. Hinter ihnen schimmerte die verdorrte Wüstenebene wie Kalk, der Wind hatte bizarre Pyramiden und Kegel auf der Oberfläche geformt. Auf seiner Stirn erschienen Schweißtropfen. »Ich hoffe doch, daß wir mit der Seilbahn fahren«, sagte er. »Der härtere Weg birgt die beste Erfahrung«, sagte sie sybillinisch. »Wir werden das Wasser brauchen.« Sie streckte drei Flaschen in den Rucksack und begann mit dem Aufstieg. Sie legte ein stetiges Tempo vor. Nachdem sie ein kleines Wegstück zurückgelegt hatten, beschloß er, ihr zu erzählen, wie es zu dem Stich der Biene gekommen war. Sie hielt an und nahm die Sonnenbrille ab. Ihr Atem ging schwer. »Du hast also immer noch Halluzinationen? Willst du das damit sagen?« »Sie ist so wirklich wie du. Wenn sie mir erscheint.« Er fand, 117
daß er sich nicht für die Wahrheit entschuldigen oder sie verheimlichen müsse. Sie kletterten weiter. »Seit ich in Jerusalem bin, hatte ich dieses Summen im Hinterkopf. Und es war im Grunde wie das Summen einer Biene, wenn ich es mir mal genauer überlege. Dann wurde es irgendwann zu einem Murmeln. Und jetzt ist es wie ein Vortrag, ein Monolog, der sich in meinem Kopf abspult. Immer kurz vor dem Einschlafen.« »Und was sagt es?« »Das ist jedesmal verschieden: Es versucht, mir die Geschichte der Kreuzigung zu erzählen. Aber irgendwie stimmt sie nicht. Sie ist durcheinander. Verworren.« Sie waren nun mehr als zwanzig Minuten geklettert und hatten ein Drittel des Weges zurückgelegt. Er zog eine Wasserflasche aus dem Rucksack und reichte sie ihr. Beide tranken gierig. »Ich weiß, was du denkst.« »Ich wünschte, du würdest das nicht immer sagen.« »Ich tu’s aber. Du ordnest das alles in deinen psychologischen Kontext ein. In dein Beratungsprogramm. Ich will es einmal hören.« »Ich will dir aber nicht weh tun.« »SAG MIR doch einfach, was du denkst!« Seine Wut erschreckte sie. »Sag’s mir geradeaus! Und nimm die Brille ab. Ich will dir in die Augen sehen.« »Na schön. Hast du jemals vom Jerusalem-Syndrom gehört?« »Nie.« Sie setzte sich auf einen Stein. »Mir scheint, Katies Tod hat eine Menge für dich heraufbeschworen. Da ist diese Affäre und jede Menge Schuldgefühle – es reicht jedenfalls, daß du deinen Job aufgibst und herkommst. Warum gerade hierher? Na ja, ich lebe hier, also bietet sich das an. Aber die Schwierigkeiten mit dem Verlust haben auch mit deinem Glauben, deinem christlichen Glauben zu tun, und der ist verbunden mit Schuld. Was dir in England widerfahren ist, hat deinen Glauben erschüttert, 118
und du bist unter anderem hierher gekommen, um ihn wiederzufinden. Aber so leicht ist das nicht; du kannst ihn nicht in alten Mauern und Steinen finden – er geht tiefer.« »Sprich weiter.« »Du bekommst Visionen. Da erscheint eine Frau und versucht, dir Botschaften zu übermitteln. Das ist nicht so ungewöhnlich in Jerusalem, das kannst du mir glauben. Touristen aller Glaubensrichtungen kommen nach Jerusalem, und manchmal, wenn sich ihre Erwartungen nicht erfüllen, projizieren sie ihre Visionen. Oder brennen Moscheen nieder. Oder schießen auf Menschen. Die Touristenpolizei und die psychologischen Beratungsstellen nennen es das Jerusalem-Syndrom. Ich hab’ in den letzten Monaten mindestens drei solcher Fälle gehabt. Diese Halluzination, diese Stimme – sie ist in Wirklichkeit ein Teil von dir, den du auf die große silberne Leinwand von Jerusalem projizierst. Oh, natürlich will sie dir Botschaften übermitteln – soweit hast du schon recht. Und wichtige Botschaften. Aber es sind Botschaften, die du dir selber mitteilst. Aus dem Dunkel deines Unterbewußtseins. Aus den Tiefen. Diese Botschaften sind gefährlich und sollten sehr ernst genommen werden. Sie handeln von einem Teil deines Selbst, den du abwehrst und unterdrückst; und solange du diese zwei widerstreitenden Teile deines Selbst nicht zusammenführst, läuft deine Persönlichkeit Gefahr, sich zu spalten. Wenn ich sage ›spalten‹, meine ich, daß die klassischen Symptome dieser Neurose, die sogar zur Schizophrenie führen können, genau die Wahnvorstellungen sind, die du mir beschrieben hast; daß du Erscheinungen hast und Stimmen hörst.« Sie setzte ihre Sonnenbrille wieder auf. »Du hast mich gefragt, und jetzt weiß du’s, kurz und bündig.« »Ich schätze, ich sollte dir für deine Ehrlichkeit dankbar sein«, sagte Tom. »Nun ja, das hat sich jetzt vielleicht ein bißchen klinisch 119
angehört, aber ich bin doch immer ehrlich zu dir gewesen, oder nicht? Und außerdem sollte ich wohl noch hinzufügen, daß ich auch nicht mehr unbedingt daran glaube. Das ist nur, was ich gelernt habe. Kann alles eine Rationalisierung sein. Vielleicht hat Ahmed mit seinen Dschinn ebenso recht.« Tom nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Sharon reichte ihm die Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. »Sollen wir jetzt weitergehen?« Er schwieg eine ganze Weile, während sie höher kletterten, und grübelte über Sharons Analyse nach. Auf dem flachen Gipfel des Hügels standen sie in den Ruinen der Festung, wo der Massenselbstmord stattgefunden hatte, und schauten schweratmend auf den Pfad zurück. Dunst hatte sich auf die schwefeligen, leblosen Wasser des Toten Meeres gelegt. An seinen Ufern kauerte die ausgedörrte Erde wie ein Skorpion auf der Jagd. »Und dafür ist die dritte Flasche«, sagte Sharon und goß sich das Wasser über den Kopf. Tom lachte, schnappte sich die Flasche und besprengte sich ebenfalls. Sie spazierten in die Ruinen der Festung. Er hatte sich etwas Romantischeres vorgestellt: die Geister des Massenselbstmords, Schreie gegen die römischen Eroberer, den Schatten des militanten Judentums, aber in den Mauern herrschte nur Leere. Auf dem Rückweg nahmen sie die Seilbahn. Sharon machte eine Aufnahme von Tom auf dem Toten Meer. Er hatte eine Zeitung mitgebracht, um sich in der üblichen Position – zeitunglesend auf den Wellen schaukelnd – fotografieren zu lassen. Mit geschlossenen Augen trieb er auf dem Rücken liegend dahin. Als er sich entspannte, tauchte plötzlich eine Vision der verschleierten Frau in dem Garten auf, wie ein Hai aus dem Nichts. Erschrocken richtete er sich auf. 120
»Was ist los?« fragte Sharon lachend. »Nichts. Ich komme raus.« Sharon führte ihn zu den Schlammtümpeln. Sie häufte ihm Heilschlamm auf Gesicht und Körper und hatte ihn nach wenigen Augenblicken ganz darin eingehüllt. Unter der heißen Sonne trocknete der Schlamm rasch zu einer harten grauen Kruste. Nun war er nicht mehr Tom – er war ein Wesen des Zwielichts, ein Urmensch, ein Golem. Dann häufte er ihr den fließenden Schlamm auf den Bauch und verschmierte ihn über ihrem Magen. Sie wurde ganz ruhig, entspannte sich unter seinen Händen. Er rieb ihr den Schlamm auf Gesicht und Hals und schmierte ihn dann auf ihre Beine. »Dreh dich um«, sagte er ruhig und häufte große schokoladenbraune Schlammbrocken auf ihren Rücken, verteilte ihn auf den Rückseiten ihrer Schenkel. Er kam sich wie ein Töpfer vor. »Laß mich deinen Rücken einreiben«, sagte sie. Der Druck ihrer Fingerspitzen strahlte bis zu seinen Knochen aus, und er spürte, wie ihm unter der Schicht aus seidigem Schlamm heiß wurde. Sie lächelte durch die Schlammaske auf ihrem Gesicht, Augen und Zähne blitzten weiß. Als sie ein Bein über seinen Rücken schwang und sich sanft auf seinem Hintern niederließ, versteifte er sich zunächst, entspannte sich dann wieder. Unter dem Schlamm verspürte er den Beginn einer Erektion – und die wollte er verbergen. Dann saßen sie am Strand; der trockene Schlamm nahm einen aschgrauen Ton an. Während er trocknete, zog er sich zusammen, spannte auf der Haut. Für Tom fühlte es sich an wie ein Penis, der mit Blut vollgepumpt wurde. Er wünschte, er hätte die Badehose ausgezogen; er wollte den Schlamm auf seinem Fleisch spüren. Es gab Duschen am Strand. Jeder sah dem anderen beim Waschen zu, das still und sorgfältig vollzogen wurde. Es war wie ein geheimnisvolles, primitives Ritual. Er fühlte sich rein und verjüngt und lebendig, als habe er eine alte Haut abge121
streift. Irgendein verbrauchter schattenhafter Tom war am Strand weggeworfen worden, wie ein abgelegter Regenmantel, den man in einen der Schlammtümpel geworfen hatte. Am Nachmittag besichtigten sie die Ausgrabungsstätte bei Qumran, doch nun hatte sich eine Mattigkeit seiner bemächtigt. Er fühlte sich wie schwebend, als treibe er dahin. »Jahrelang haben sie angenommen, dieser Ort wäre ein Skriptorium gewesen, wo die Essener diese ganzen Schriftrollen vom Toten Meer verfaßten. Bloß weil man hier ein Tintenfaß gefunden hat, das in eine Tischplatte eingelassen war. Und von den Brunnen haben sie geglaubt, sie wären für rituelle Waschungen gewesen. Jetzt haben sie entdeckt, daß es eine Art Parfümfabrik war und daß das Geld für die Waffen der Zeloten bestimmt war, die da oben auf dem Hügel gestorben sind. Es war eine Fabrik, in der teurer Balsam hergestellt wurde.« Als sie ›Balsam‹ sagte, wehte Tom eine kräftige Wolke des wohlbekannten Dufts zu; die Empfindung war nur kurz, jedoch heftig. Dann war es vorüber. Er blickte über die Mauerreste. Die Hitze waberte aus dem Boden. Hier gab es nichts als ausgedörrte Steine, die brütende Stille und den Geruch nach warmem Staub. »Was ist los?« fragte Sharon. »Sie war hier.« Sharon berührte seinen Arm. »Komm. Laß uns gehn.« Erschöpft kehrten sie nach Jerusalem zurück. Sharon braute einen Kaffee, doch sie tranken ihn nicht. Sie schleuderte ihre Schuhe von sich und döste auf dem Sofa ein. Er setzte sich dazu. Als er aufwachte, war es dunkel, und sie war verschwunden. Dann kam sie wieder, in einen Bademantel gehüllt. Sie kletterte wieder aufs Bett und nahm sein Gesicht in beide Hände. Küßte ihn. »Tu das nicht, wenn du nicht willst«, sagte er. »Aber ich will ja.« Er schlug ihren Bademantel auseinander und ließ ihn von 122
ihren Schultern gleiten. Ihre Brustwarzen waren wie zwei dunkle Knospen. Er drückte seine Lippen darauf. Sie ließ eine Hand in seine Shorts gleiten. Er wurde hart unter ihrer Berührung. Sie wiegte ihn in ihren langen, schlanken Fingern. Ihr Atem war heiß wie die Wüste und ihr Duft wie ein fremdes Gewürz aus dem Basar. Er wollte ihren Bauch küssen, doch sie hinderte ihn daran und sagte: »Ich hab’ meine Tage. Ich blute.« »Das macht doch nichts«, entgegnete er. »Du brauchst wegen mir kein rituelles Bad zu nehmen.« »Es ist nicht wegen dir, ich kann von mir aus nicht.« »Es ist doch bloß gesundes Blut. Das Blut des Lebens! Diese verdrehten alten Propheten wollen, daß du dich selber haßt, weil du eine Frau bist.« Er beugte sich über sie und steckte ihr die Zunge in den Mund. Seine Augen waren wie schwarze Seen im Dunkel des Zimmers. Er schob einen Finger tief in sie hinein, zog ihn wieder heraus und hielt ihn an seine Lippen. Der Geruch ihres Geschlechts erfüllte den Raum. Er konnte ihn an seiner Hand riechen, salzig, mineralisch, wie Salz und Sand des Toten Meeres. »Ich hab’ mich heute immer mehr in dich verliebt.« »Ich weiß.« Sie ahmte seine Geste nach, steckte einen Finger in ihre Scheide und salbte seinen Penis mit ihrem Blut, zog mit ihrem Fingernagel einen Ring um die Eichel. Wieder küßte er sie, und sie legte sich zurück, öffnete sich ihm. Mit Leichtigkeit glitt er in sie, und ihre Hitze überrollte ihn wie ein Feuerball. Seine Gedanken glitten zurück zu den Höhen des Masada – Blitze zuckten über die ausgedörrten Ebenen und das Tote Meer. Sie hatte ihm erzählt, es sei der tiefste Punkt der Erde. Und als er sich in sie entleerte, fühlte es sich an, als falle er in die Tiefe der Erde. Später knipste sie die Nachttischlampe an. Sein Schwanz lag auf seinem Oberschenkel wie ein behelmter Soldat, in den 123
Wäldern erschossen. Schon war ihr Blut an ihm getrocknet, bildete rostbraune Fetzen. Sie beugte sich über ihn, um es anzuschauen, als berge das Blut Runen oder lesbare Prophezeiungen. »Was machst du da?« »Ich lese die Zukunft.« »Ich hab’ sie mal in Teeblättern lesen lassen; das hier ist mir neu.« »Was ist denn das? Schau mal, es sieht wie ein hebräisches Schriftzeichen aus.« Er starrte verwirrt auf das Zeichen. »Es ist ein Bet«, sagte sie. »Die Bibel fängt mit diesem Buchstaben an.« »Komm zu mir«, sagte er. »Komm zu mir.«
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25 »Er ist ein liebenswerter Mensch«, erklärte Katie. »Ein wirklich lieber Mensch. Ich bin froh, daß ich mich mit ihm getroffen habe.« »Worüber habt ihr denn geredet?« fragte Tom. »Über die Bibel. Er haßt Paulus und liebt Maria. Er hat mir den ganzen Nachmittag lang die Bibel auseinandergepflückt. Er wollte es eigentlich nicht, aber ich habe ihn dazu ermutigt.« »Dazu brauchte es nicht viel. Er schwadronierte ja schon darüber, als wir ihn kennengelernt haben. Wirst du ihn wieder treffen?« »Nein. Ich hab’s zwar angeboten, aber er wollte nicht. Er sagte, wenn wir uns wiedersähen, würde er sich in mich verlieben, und das wäre ihm eine Qual. Er sagte, er würde bis in alle Ewigkeit glücklich sein über diesen einen Nachmittag im Park.« »Und was ist mit dir? Könntest du dich in ihn verlieben?« »Nein. Ich habe meine Wahl vor langer Zeit getroffen. Und ich gedenke, dabei zu bleiben.« Tom schnaubte verächtlich. Da wurde sie wütend. Sie sprang auf und schlug ihn mit der Faust vor die Brust. »Weißt du überhaupt, was mir unsere Ehe bedeutet?« rief sie. »Weißt du das? Weißt du, was ich fühle, wenn ich fürchte, daß sie zerbricht? Weißt du, was ich dann fühle? Weißt du, daß ich nicht mehr atmen kann? Ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen!«
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26 Nun hast du es wieder geschehen lassen. Als Sharon am Morgen zur Arbeit fuhr, rätselte sie wie jedesmal, ob sie das Richtige getan hatte. Seit Toms Ankunft in Jerusalem hatte sie sich selbst angefleht, diese besondere Erschwernis ihrer Beziehungen zu vermeiden. Ihr Liebesleben drängte von einem Schiffbruch zum nächsten. Sie hängte sich an die Verletzten. Wurde von ihnen angezogen. Arbeitete mit ihnen. Verliebte sich in sie. Und auch wenn sie nicht wirklich verliebt war – wie bei Tom –, so endete es doch damit, daß sie mit ihnen ins Bett ging. »Du mußt aufhören, mit Männern zu schlafen, bloß weil sie dir leid tun«, sagte sie zu sich selbst. Dann stellte sie das Radio im Wagen an, um ihre Gedanken zum Schweigen zu bringen. Und er war wirklich ein Wrack, der gute alte Tom; angespannt wie ein Trommelfell; und soweit sie es beurteilen konnte, litt er stärker unter Halluzinationen und Sinnestäuschungen als manche der Alkoholiker und Junkies, für deren Therapie sie schließlich bezahlt wurde. Aber sie waren durch eine langjährige Freundschaft verbunden, er und sie, eine seltene Freundschaft von der Art, von der die Volksweisheit gern behauptete, daß sie zwischen Mann und Frau nicht möglich sei. Außerdem meinte sie, dem Gedächtnis an Katie etwas schuldig zu sein; und Katie würde am Ende sogar gutheißen, was letzte Nacht geschehen war. Sharon wußte aus ihrer Arbeitserfahrung, daß sie Tom helfen konnte. Sie war nicht ganz sicher, ob sein Problem daher rührte, daß er mit Katies Tod nicht fertig wurde, oder ob es auf ein Ereignis in der Schule zurückzuführen war oder eine Mischung aus beidem war. Was immer es auch sein mochte, sie konnte ihm helfen. Sie hatte zwei Möglichkeiten, die beide auf begrenzte Weise ihre Wirkung zeitigen mochten. Entweder 126
konnte sie Stunde um Stunde vorsichtig und einfühlsam mit ihm reden, ihm helfen, seinen Problemen ins Auge zu sehen, sein Selbstvertrauen wiederaufbauen, ihn trösten und ihm das Leben in einem positiven Licht zeigen. Oder sie konnte dieselben Ergebnisse erreichen und den kürzeren Weg nehmen, indem sie mit ihm schlief. Na, und wenn schon: wenn sie jetzt letzteres gewählt hatte. Das Leben ist kurz, oder etwa nicht? Das war es, was Katie immer gesagt hatte: dies flüchtige Leben. Ich liebe dieses flüchtige Leben. Es war ihre Lebensweisheit. Und die Inschrift auf ihrem Grab. Als ob sie es gewußt hätte. Hatte sie es gewußt? Oder hatte sie es in jener Nacht nur erraten? Bevor Sharon England verlassen hatte, war sie noch einmal in der Stadt gewesen, um Tom und Katie einen Überraschungsbesuch abzustatten. Sie war mit einer Flasche Frascati gekommen. In dem Augenblick, als sie den Finger auf die Klingel gelegt hatte, war Tom in der Tür erschienen. Er hatte eine lange Ledertasche getragen. »Was ist denn da drin?« »Ein Snooker-Queue. Heute ist Snooker-Nacht«, erklärte Tom. »Mit den Jungs.« »Er kann auch absagen«, hatte Katie erklärt, die nun hinter ihm aufgetaucht war. Sie gab Sharon einen Kuß und nahm ihr die Flasche ab. »Das stimmt. Ich kann absagen.« »Nein, fahrt ihr Jungs ruhig hin und bürstet das grüne Tuch. Ich bleib’ hier mit Katie. Ist es in Ordnung, wenn ich heute nacht hierbleibe? Bis später, Tom.« Die beiden Frauen hatten den Abend mit Tratsch und Gekicher verbracht. Als sie die Flasche geleert hatten, holten sie eine neue aus dem Asien-Laden an der Ecke und nahmen auch einen Videofilm mit, der dort im Angebot war. 127
Katie hatte auf die Abteilung mit den Soft-Pornos gezeigt. »Tom leiht sich jetzt neuerdings solche Schinken aus«, sagte sie traurig. »Ab und zu. Er meint, ich wüßte es nicht.« Sharon nahm ein Video zur Hand; es trug den Titel Unermüdlich. »Wir werden ihn ausleihen. Dann sehen wir ja, was ihn anmacht.« So waren sie zurückgekehrt, hatten noch mehr Wein getrunken und etwas von dem Gras geraucht, das Sharon in einem kleinen Plastikbeutel aufbewahrte. Tom runzelte immer die Stirn, wenn er Dope sah – so konnte Katie nur noch bei seltenen Anlässen dieser Studentenangewohnheit frönen. Nach einer Weile hatten sie den Videofilm aufgelegt und verbrachten die nächste Stunde damit, über das abscheuliche Drehbuch und die unfähigen Schauspieler zu heulen. Schließlich schaltete Sharon den Film ab. »Vielleicht braucht er das«, hatte Katie gesagt. »Zu dritt im Bett.« »Soll das ‘ne Einladung sein?« Sharon wollte einen Scherz machen, aber sie spürte, daß Katie in einer seltenen Stimmung war. »Nein«, sagte Katie, »ich könnte ihn niemals teilen. Nicht einmal mit dir, liebste Sharon, nicht einmal mit dir.« »Wirst du auch noch so denken, wenn er alt und grau ist?« »Dann bin ich nicht mehr da.« »Was meinst du damit, du bist nicht mehr da?« »Ich werde keine vierzig – das habe ich irgendwie schon immer gewußt. Ich werde nie älter als vierzig.« »Nun hör schon auf!« hatte Sharon gemahnt. Aber dabei sah sie Katie, die an den Überresten des Joints sog, scharf an und wußte, daß ihre Freundin es ernst meinte. »Man hat es mir gesagt.« »Gesagt? Ein Arzt, meinst du?« »Nein. Kein Arzt. Irgendein Mann – auf der Straße. Er trat hinter einem Auto hervor und versuchte, meine Hand zu halten. 128
Dann war er verschwunden. Später sah ich ihn wieder. Hast du schon einmal daran gedacht, daß manche von den ganz gewöhnlichen Leuten, die du auf der Straße triffst, gar keine Menschen sind, sondern eine Art Geister?« »Das ist ja unheimlich, Katie.« »Es tut mir leid. Vergiß, was ich gesagt habe. Und sag bitte nichts zu Tom.« Sie konnte Katie nicht dazu zwingen, mehr darüber zu sagen; sie versuchte sogar, es ins Lächerliche zu ziehen. Irgend etwas mußte sie beide erneut zum Lachen gebracht haben, denn als Tom zu Hause anlangte, fand er sie kichernd und wirres Zeug schwatzend vor. Sie waren beide völlig high, und da er kein sinnvolles Wort mehr aus ihnen herausbringen konnte, war er schließlich zu Bett gegangen und hatte sie ihrem Gealber überlassen. Es war das letzte Mal, daß sie Katie gesehen hatte. Nun hatte sie Tom geteilt, auf eine Weise, die man unmöglich hätte voraussagen können. Und sie war sicher, daß Katie, hätte sie Tom in diesem Zustand gesehen, ihr vergeben, ja, es vielleicht sogar gutgeheißen hätte. Sharon blickte zur Stadtmauer empor, während sie die Hativat Yerushalayim zum Berg Zion fuhr. Vor dem blauen Himmel sah sie die Umrisse dreier Soldaten, die ihre Uzis locker umgehängt hatten. Zuweilen erschien es, als fahre man um den Krater eines brodelnden Vulkans – jeden Augenblick mochte er Feuer oder geschmolzenes Gestein ausspucken. Riesige Felsbrocken wurden aus seinem tiefsten Innern geschleudert; sie kühlten ab, verrauchten und härteten zu Religionen; oder sie barsten vor der Zeit, wie die zufälligen Akte der Gewalt bezeugten. Es war ein schrecklicher Druck; sie empfand den Kern der Stadt als eine Art Druckkessel. Jerusalem. Ich lebe schon viel zu lange hier. 129
Als sie auf der Yafo Street unter dem kunstvollen Jaffator einbog, wurde der Empfang des Cool Jazz in ihrem Autoradio gestört; ein Rauschen überlagerte den Sender. Sie drehte am Regler, fand aber keinen neuen Sender auf der Wellenlänge. Als sie nach vorn durch die Windschutzscheibe blickte, warf der Himmel plötzlich Falten und bäumte sich, als habe er eine furchtbare Last zu tragen. Dann stürzte er in sich zusammen. Sharon rang nach Luft und trat hart auf die Bremse; quietschend kamen die Reifen auf der heißen, trockenen Straße zum Stehen. Die Störung im Radio verrauschte, und statt dessen hörte sie eine klare Frauenstimme: Ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen, ich kann nicht … Die Stimme verklang, und wieder ertönte das Rauschen, und endlich vernahm sie wieder das Jazz-Saxophon. Sharon blickte nach oben. Der Himmel war wieder glatt. Hinter ihr ertönte wütendes Hupen. »Du siehst beschissen aus«, sagte Tobie, als Sharon in die Anmeldung des Bet-Ha-Kerem-Zentrums trat. Tobie hielt einen Putzlappen in der einen Hand und eine Plastikflasche mit Sprühschaum in der anderen. Obwohl sie die Chefin war, putzte sie die Fenster, wechselte die Glühbirnen und schleppte einen Satz Schraubenzieher in ihrer Handtasche herum. Sie war die siebzigjährige Gründerin des Zentrums, Anhängerin der Freudschen Psychologie und eine gute Freundin, wenn sie nicht gerade Chefin oder Hausmeisterin spielen mußte. »Und du hättest vor einer halben Stunde hier sein sollen.« »Ich hatte ‘ne Krise«, erklärte Sharon und trug sich ins Buch ein. Tobie hielt das Reinigungsmittel hoch. »Mir ist das egal, Darling. Kannst von mir aus deine Krise haben, deine halben Stunden. Nur kam heute morgen deine alte Freundin Christina an, und sie ist auf der Weißen Wolke und ruft dauernd deinen Namen, hört nicht auf damit. Und kann ich etwa mit ihr sprechen? Keine Chance.« 130
Wenn Tobie ›Weiße Wolke‹ sagte, meinte sie, daß es jemandem wirklich dreckig ging. Christina war eine ehemalige Klientin – im Bet-Ha-Karem-Zentrum wurden Patienten als Klienten bezeichnet –, die sich besonders eng an Sharon angeschlossen hatte. »Wann ist sie hergekommen? Wie geht’s ihr?« »Wie’s ihr geht? Sie kam an die Tür, als die Sonne gerade aufging, und sie war nackt, Darling, nackt.« Tobie sprach es na-cket aus. »Ich geh sofort zu ihr.« »Sachte, sachte, denk daran: die weiße Wolke. Und vergiß nicht, in einer Stunde ist Teambesprechung.« Sharon betrat den Raum, den sie die Weiße Wolke nannten. Man mußte an der Tür die Schuhe ausziehen. Dieser Raum war für die ernsten Fälle: ein dicker Teppich, der alle Geräusche dämpfte, jedes Möbelstück gepolstert. Es war ein Raum, in dem man schreien konnte, weinen und schluchzen. Sie mußten ihn nicht sehr oft benutzen, denn für die meisten Süchtigen war der Entzug lang und undramatisch, etwas, das sie mit ihrem normalen Leben dahinschleppen konnten. Doch manchmal gab es eine Klientin, die in die Weiße Wolke mußte. Christina saß auf dem Boden, in einen weißen Bademantel gehüllt, der dem Zentrum gehörte. Das lange, dunkle Haar fiel ihr ins Gesicht. Sharon konnte ihre verschwollenen Augen unter den langen Strähnen erkennen. Sie durchquerte den Raum und setzte sich leise neben die Frau. »Hi, Schwester«, sagte sie sanft. Keine Antwort. Sie strich der Frau das Haar aus den Augen. »Was machst du bloß für Sachen, kommst nackt hier an?« fragte sie so beiläufig wie möglich. »Was sollte das denn?« »Ich bin nicht deine Scheiß-Schwester«, sagte Christina und blickte zur Seite. »Wie du willst.« »Wo warst du? Wo warst du denn, als ich herkam?« 131
»Ich wohne nicht hier, Christina. Ich bin nicht die ganze Zeit hier. Ich hab’ mein eigenes Leben, weißt du.« Christina war das erste Mal ins Zentrum gekommen, nachdem sie wegen Drogenbesitzes verurteilt worden war. Früher einmal war sie heroinabhängig gewesen und dann auf Methadon entwöhnt worden, hatte es aber nicht geschafft, von diesem Stoff loszukommen. Im Zentrum hatte sie sich bald an Sharon angeschlossen, und das hatte den Durchbruch gebracht; doch dann kam sie zur Beratung zurück, vollgepumpt mit Schlafmitteln. Nach einer weiteren sorgfältigen Therapie bei Sharon hatte sie angefangen zu trinken. Jede ›Kur‹ diente nur dazu, die eine Abhängigkeit durch eine andere zu ersetzen. Es gab eine Leere in Christina, die sie verzweifelt zu füllen suchte. Endlich, nach eingehenden Beratungen und der Aufstellung eines minuziösen Stundenplans, hatte Christina sich als clean bezeichnet. Sie sei nun heil und erfüllt. Sie hatte den Glauben gefunden. Am Tag, als ihnen Christina die gute Nachricht mitteilte, hatte Sharon zu Tobie hinübergeschaut, deren Gesicht, wie ihr eigenes, die Enttäuschung gespiegelt hatte, eine Enttäuschung, die man unter dem Zwang zur positiven Einstellung verbergen mußte. »Das ist ja wundervoll, Darling. Welchen Glauben denn?« »Adventisten«, hatte Christina geantwortet. Sharon hatte sich auf die Lippe gebissen. Tobie, weiser und widerstandsfähiger, hatte sich zusammengerissen und Christina einen Kuß gegeben. Sie hatten ihr beim Packen geholfen und nach einer kleinen Party für das Team und die anderen Bewohnerinnen verabschiedet. »Drei Monate«, hatte Sharon geflüstert, als Christina ihre Tasche durch die Tür schleppte. »Nicht einmal«, hatte Tobie hinzugefügt. »Nicht einmal.« Und sie hatte recht gehabt, sich nur um zwei Wochen geirrt. Hier saßen sie wieder, auf den Anfang zurückgeworfen. »Chri132
stina, willst du mir erzählen, warum du wieder zurückgekommen bist?« »Sha na na na na, sha na na na.« Das war Christinas Masche – sie suchte immer irgendwelche Melodien von Popsongs. Ein leichtgewichtiger Schild, den man oft jedoch kaum durchbrechen konnte. Sharon stieß einen Seufzer aus. Sie war schon so viele Male hier gewesen; es war mühsam, immer wieder von vorn anzufangen. »Ich hab’ keine Zeit für diese Spielchen. Tut mir leid. Es langweilt mich.« »Sha na na na, SHA NA NA, na na na.« »Hör auf mit dem Quatsch, Christina.« »Sha na na na. Willst du wissen, wie sie’s machten? Wie sie’s machten? Machten. Machten. Macht. Macht. Machtachten.« »Was machten? Wer hat was gemacht? Hör mal, ich muß gleich auf eine Teamsitzung.« Mit geschlossenen Augen lächelte Christina, schüttelte den Kopf im Takt zu der eigenen Melodie. »Machten, Machtachten. Machten. Macht. Macht. Machtachten.« Dann knurrte sie plötzlich: »Sie brachen ihm seine verdammten Beine! Brachen ihm die verdammten Beine!« Dann lächelte sie wieder, summte ihre Melodie. »Machten, Macht, Macht, Macht, Machtachten.« »Wer hat wessen Beine gebrochen?« »So haben sie’s gemacht. Wo warst du? Ich kam hierher, und du warst nicht da. Ich hab’ dich gesucht, Sharon. Und du läßt mich fallen. Du sagst, spring doch, ich fang dich auf. Und dann läßt du mich fallen.« Sharon stieß einen gewaltigen Seufzer aus. Sie hatte dies schon viele Male erlebt und nicht nur mit Christina; doch jedesmal schien es fast unmöglich, den Knoten zu lösen. Manchmal hatte sie es satt. Manchmal wollte sie zu den Christinas sagen: Geht doch hin und verfault, ich gebe mein Bestes, und ihr kommt immer wieder, manchmal noch schlimmer als 133
zuvor; ein paar gibt es, denen ich helfen kann, und ein paar wie euch, denen ich nicht helfen kann; warum sollte ich meine Zeit auf die hoffnungslosen Fälle verschwenden? Dann beruhigte sie sich wieder und strich Christina die Haare aus den Augen. »Ich weiß nicht, wo du gewesen bist, Baby. Aber du warst auf jeden Fall weit, weit weg.« Da putzte sich Christina die Nase und rückte näher an Sharon heran, legte den Kopf auf ihre Schulter. Sharon legte schützend den Arm um sie, während Christina leise zu weinen begann.
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27 »Ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen. Ich kann nicht atmen, weil ER nicht atmen kann.«
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28 Warum machte er das bloß? Warum sollte er sich die Arbeit machen, ohne sie bezahlt zu bekommen? Ach, wirf doch mal einen Blick darauf. Einen winzig kleinen Blick. Diese verdammten Schriftrollen. Alle diese Schreiberlinge waren Lügner. Diese Schreiber und Herausgeber und Kopisten und diese ganzen federfuchsenden, tintensudelnden Hodenkritzler in den Schreibsälen. Wirf doch mal einen Blick darauf. Ahmed war ein gewissenhafter Gelehrter. Er heftete die Rolle auf seinen makellosen Schreibtisch und legte Brillenetui, Kugelschreiber, scharfgespitzte Bleistifte und anderes Schreibzeug daneben, als decke er den Tisch für ein Festbankett. Sein Arbeitstisch war eine Insel inmitten des Wirrwarrs aus Dämonen und Drogen, der sein Leben war. Es war ein Altar, ein Ort der Anbetung, der heilsamen Flucht. Er nahm eine große Lupe und spähte zuerst auf seinen Handrücken, um zu sehen, ob seine Hand nach dem nächtlichen Handgemenge mit dem Dschinn noch zitterte. Er konnte ein leichtes Beben erkennen. Das vergrößerte Bild seiner linken Hand ekelte ihn. Die Nägel waren brüchig und an den abgekauten Rändern mit einem grünlichen Farbton überzogen, und die Fingerspitzen wiesen Flecken in der Farbe polierter Eiche auf, das Nikotin. Die Knöchel waren rot und geschwollen, als habe er einen Faustkampf ausgetragen, und die dunklen Haare auf seinen Handrücken bebten empört ob der Untersuchung. War es denn möglich, dachte er, daß man sich im Laufe eines Menschenlebens in einen Dschinn verwandeln konnte? Bei diesem Gedanken ließ er die Hand fallen und wandte sich wieder der Schriftrolle zu. Stinkende Rolle, und kein Geld dabei zu erwarten. Warum tue ich das, wenn ich nicht davon träumte, eines Nachts über die Schenkel dieser herrlichen jüdischen Schlampe zu wandern, 136
für die ich mit Freuden mein Leben gäbe, für die ich mich von den Höhen des Masada stürzen würde in der Hoffnung, auf dem Weg nach unten einen würzigen Kuß aufzufangen. Schlampe! Hure! Mein Gott, ich würde dich lieben bis in alle Ewigkeit, und statt dessen bringst du mir Engländer her und Bruchstücke alter verrotteter Schriftrollen, die ich dann übersetzen soll! Mit einer Schrift in Spiralform, die in einem dunklen Schacht verschwindet, wie das Loch einer Frau, eine Gebärmutter ohne Bedeutung. Sharon, ist dir überhaupt klar, daß, wenn ich dich im Bett hätte, der Dschinn mich VIELLEICHT IN RUHE LASSEN WÜRDE? Es ist hoffnungslos, ich muß erst etwas rauchen, bevor ich mir dieses Teil hier ansehen kann. Ahmed stand vom Schreibtisch auf und drehte mit atemberaubender Geschwindigkeit zwei Joints. Einen zündete er an. Den anderen legte er wie ein Spezialwerkzeug neben seine Schreibgeräte. Eine große Wolke aus blauem Rauch ausstoßend, ließ er sich wieder am Schreibtisch nieder. Er setzte seine Brille mit dem Gestell aus Schildpatt auf und fing an, den äußeren Arm der Spirale flüchtig zu studieren. Nach zwei Minuten sank ihm der Mut. »Stammbäume! Scheiße! Scheiße! Warum tue ich das, wenn ich nicht den Traum hegte, deine Beine auf dem Zauberteppich zu spreizen? Du hassenswerte und doch so schöne Mutter aller Schlampen!« Ahmed hatte schon einige Erfahrungen mit Schriftrollen, sowohl mit Kopien wie echten Fragmenten gesammelt: Er wußte, daß die meisten kaum etwas von Interesse preisgaben. Viele enthielten peinlich genaue Instruktionen, wie der Tempel wiederaufgebaut werden sollte, oder ermüdende Stammbäume, die mit historischen Nichtigkeiten anfingen und endeten. Die Spirale vor ihm schien ihm von letzterer Art zu sein. Er wußte auch einiges über Paläographie und wie man Manuskripte zeitlich einordnete, indem man nach den Formen der 137
Schriftzeichen vorging. Die hebräische Schrift hatte sich im Laufe der Zeit zwischen den ältesten und den jüngsten Schriftrollen verändert, und die vorliegende Rolle war ohne Zweifel ein jüngeres Stück, das zu Zeiten des Herodes geschrieben oder kopiert worden sein mochte. Es konnte eines der letzten Dokumente aus Qumran vor der Belagerung Masadas sein; oder es war nur die Kopie eines viel älteren Schriftstücks. Ahmed nahm seine Lupe zur Hand und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Zusammenstoß hebräischer Buchstaben im Mittelpunkt der Spirale. Dort konnte man die Schrift kaum mehr entziffern, und die Buchstaben waren unglaublich klein. Angewidert legte Ahmed die Lupe hin. »Sharon«, sagte er. »O du Rose Sharon. Ich bin krank vor Liebe.«
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29 Verstummt. Die Stimme in seinem Kopf war verstummt. Keine verworrene Erzählung mehr. Sie war plötzlich nach den Worten Ich kann nicht mehr atmen verstummt. Was war geschehen? Er hatte einen Traum gehabt – einen Alptraum, in dem er keine Luft mehr bekam. Eine furchtbare Last hatte sich in der Nacht auf seiner Brust niedergelassen. Als er darum kämpfte, aus dem Schlaf zu erwachen, hatte er gemerkt, daß nicht er es war, der nicht mehr atmen konnte – es war die Stimme. Die Stimme, die Wesenheit, die Verfolgerin; dieses Ding, das über ihm geschwebt hatte, seit er nach Jerusalem gekommen war. Jeden Tag hatte sie in seinem Kopf geflüstert, nicht ständig, aber immer auf der Lauer liegend; sie begann dort, wo sie aufgehört hatte und sprach zu ihm aus dem Nichts. Nun war sie verschwunden. Eben noch war sie dagewesen, wie ein kaum hörbares Summen aus einer defekten Stereoanlage, und dann war sie abgeschaltet. Er hatte nicht gewollt, daß mit Sharon etwas lief. Deshalb war er nicht nach Jerusalem gekommen. Es konnte zu nichts führen. Er fühlte sich ein wenig schuldig, denn er konnte ihre Erwartungen nicht einschätzen. Er hoffte, er würde sie nicht enttäuschen müssen. Und dann war da noch Katie; so lächerlich es schien, aber in Gedanken stellte er sich Katie vor, wie sie ihn und Sharon von einem höheren Ort aus bei der Liebe beobachtete und dabei kühl seine Vorstellung abschätzte. Wäre er gestorben, so fragte er sich, hätte er es dann lieber gesehen, daß Katie sich in den Armen eines Freundes oder eines Fremden tröstete? Die Antwort mußte natürlich lauten: am besten mit einem, der ehrlich zu ihr war. Sharon war zur Arbeit gefahren, aber ihr intensiver Geruch war ihm geblieben. Der Duft ihres Geschlechts hatte ihn 139
eingehüllt. An seinen Fingern haftete das berauschende Parfüm ihrer Vagina. Was versprachen sich die Menschen vom Sex? Die Antwort war nicht so klar, wie es zunächst den Anschein hatte. Sex bedeutete mehr als das, was die Berufsmäßigen anzubieten hatten: Eine Prostituierte kann nur einem Droug wie dem Niesen abhelfen. Danach kommt die Sehnsucht, der unstillbare Hunger nach dem Augenblick der Transzendenz, die man in den Armen eines anderen erfährt. Dies war das Besondere, das Geschenk, das der eine dem anderen bot. Es konnte gegeben oder zurückgehalten werden; es konnte auch vorgetäuscht werden; aber man konnte es niemals kaufen. Es war ein Zauber der Natur, ein Wunder des Menschen. Es war das Wunder, das die Religion stets zu ersetzen und zu nähren versucht hatte, und stets mit dem gleichen niederschmetternden Ergebnis. Jede Religion hatte da versagt. Überall. Die großen semitischen Religionen hatten das Wunder zu ersetzen versucht, indem sie es als Sünde hinstellten, sie wollten es durch die Moral im Zaum halten, sie wollten es unterdrücken, indem sie die zerstörenden Energien seines beängstigenden Zaubers offen anprangerten. Es war ja so einfach, der Ursprung des Sex lag beim Teufel, und da es die Männer waren, die die Bedingungen definierten, mußten die Frauen die passende hohle Form sein, in der die Dämonen ein Heim finden konnten. Tom kannte diese Dämonen und ihr Wirken. Er roch an seinen Händen, Sharons Meeresdüfte immer noch an den Fingern. Mit dem Geruch schwebten die Erinnerungen heran, manche gleich Engeln, manche gleich Teufeln. Nachdem er in der Schule den Jungen ermahnt hatte, der für die Kritzeleien an der Tafel verantwortlich war, begann ihm das Mädchen aufzufallen, das der Grund für die Eifersucht des Jungen war. Ihm fiel auf, wie sie ihn auf Schritt und Tritt 140
beobachtete, jedes Wort von ihm förmlich einsog, errötete, wenn er sie anredete, und beim kleinsten Tadel erschrak. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie so hübsch wie eine Seidenblume, perfekt bis in die Augenwimpern. Ihr kupfernes Haar glänzte im Licht der Klassenbeleuchtung, und ihr Teint wies einen feinen Unterton auf, wie ein glänzender Apfel. Er konnte verstehen, daß der Junge verrückt nach ihr war; warum sollte er es auch nicht sein? Sie saß stets vorn, fast unter Toms Nase, in einer weißen gestärkten Bluse, durch die er die Umrisse ihrer jungen Brüste erkennen konnte. Über der linken Brust trug sie die blutende Rose ihres Schulabzeichens auf dem Blazer. Er erinnerte sich noch, wie er einmal von diesem Brustabzeichen abgelenkt war und sich einen Augenblick lang nicht entsinnen konnte, was er gerade zu der Klasse sagte. Sie hatte es gemerkt. Sie hatte ihn angelächelt; ein kleiner Sieg für sie. Er hatte nicht zurückgelächelt. Mädchen in diesem Alter besaßen eine geheimnisvolle Anziehungskraft. Kein Wunder, daß reife Frauen die Männer haßten, die auf junge Mädchen aus waren, und es gab genügend Männer dieser Sorte. Doch wenn die Mädchen erst einmal achtzehn waren, begann diese außergewöhnliche Blüte, dieser Glanz, zu schwinden. Die Gesellschaft, die die sexuell aktiven Jahre der Frau in die Zeit ihrer seelischen Reife legte, stand im Widerspruch zur Natur, nach deren Plan die frühe Zeit der Fortpflanzungsfähigkeit in den Schulmädchenjahren lag. Wie sehr es doch die Frauen bedrücken mußte, dachte Tom; Männer hatten es viel leichter. Er wußte, wie sehr es Katie zusetzte, die sich mit ihren Cremetöpfen und ihrer Schminke und ihren Kuren wehrte; doch er hatte sie immer wieder zu überzeugen versucht, daß es im Grunde nichts ausmache, daß sie dies alles hinter sich gelassen hatten. Er war sicher, daß er nicht log. Er glaubte, daß er nicht log. Er hatte die Beine des jungen Mädchens angeschaut, während sie mit den anderen aus der Klasse trippelte. Selbst in 141
diesen tristen Schuluniformen schafften es manche Mädchen, wie Sirenen auszusehen. Die Röcke waren schwarz und aufreizend kurz. Die Strümpfe schmeichelten den jungen Beinen. Geputzte Schuhe mit hohen Absätzen. Lackierte Fingernägel. Straffe Hälse. Brüste wie Knospen; ein Herz, das unter der gestärkten weißen Bluse und der blutenden Herzrose schlug. Und hinter all jenem der Duft der verheißungsvollen Jungfernschaft, der die Luft mit Pheromonen wie Blütenpollen auflud. Geheimnisvolle Anziehung. Es war nichts Geheimnisvolles daran. Hör auf damit, hatte Tom sich gesagt, nachdem sich die Klasse geleert hatte, hör bloß auf damit. Jeder Lehrer phantasierte über seine Schülerinnen, und entweder hegte man diesen Wahn oder riß sich am Riemen. So einfach war das – man mußte sich im Zaum halten. Diese Mädchen waren erst fünfzehn! Solche Phantasien waren geschmacklos, gemein und betrachteten alle Mädchen als Freiwild. Und man konnte diese Phantasien kaum stoppen.
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30 Der zweite Gebetsaufruf vom Tage erscholl über den ausgedörrten Dächern, als Tom sich durch die engen Gassen des muslimischen Viertels zwängte. Die Straßen rochen nach verfaultem Obst, nach Gewürzen und warmem Staub. Die ersten Schatten wirkten feucht, wie eine lebendige Substanz, die aus den Wänden und Torbögen hervorkroch. Es fiel ihm nicht schwer, sich an die Straße zu erinnern. Sharon hatte er nichts davon gesagt, daß er herkommen wollte. Er drückte auf die Klingel und wartete. In Erinnerung an den letzten Besuch läutete er noch ein zweites, ein drittes und ein viertes Mal, bis endlich über ihm ein Gesicht mit krausen, wirren schwarzen Haaren erschien. Ein Paar blutunterlaufener Augen spähten ohne ein Zeichen des Wiedererkennens herunter. Dann fiel ein Schlüsselbund in den Staub zu seinen Füßen, und der Kopf zog sich aus dem Fenster zurück. Im Haus stand die Tür am Kopf der Treppe offen. Er zögerte auf der Schwelle. »Willkommen«, sagte Ahmed ein wenig zögernd. Unsicher kratzte er sich am Kopf. Er trug ein weißes Gewand aus Baumwolle und war barfuß. »Setz dich. Ich mach uns einen Tee.« Tom ließ sich auf einem der Bodenkissen nieder und verbrachte die nächsten zwanzig Minuten damit, die Wandteppiche zu betrachten. Ahmed schien ihn vergessen zu haben. Endlich kehrte er mit einem Tablett Pfefferminztee und kleinen Kuchen zurück. »Du mußt schon meine Aufmachung und meine Verwirrung entschuldigen«, meinte er, »aber letzte Nacht hatte ich einen meiner schwersten Kämpfe mit den Dschinn. Es sind so viele in dieser Stadt. Sie waren in scheußlicher Stimmung, und ich konnte sie kaum beruhigen. Hab’ fast gar nicht geschlafen.« 143
Tom fühlte sich nicht sonderlich befähigt, auf diesen Bericht einzugehen, der zudem von Gähnen und wegwerfenden Gesten begleitet war. Ahmed sprach über seine Dämonen, wie man über schlechtes Wetter klagen mochte; und doch sah er tatsächlich wie ein Mann aus, der die Nacht im Kampf – im körperlichen Ringkampf – mit starken Feinden verbracht hatte. »Gibt es denn da … mehr als einen?« Tom kam sich ein wenig dämlich vor, als er die Frage stellte. Ruhig blickte Ahmed ihn an – vielleicht ein wenig überrascht, daß sich jemand für seine Quälgeister interessierte. Tom nahm einen Schluck des köstlichen Tees, um Ahmeds starrem Blick auszuweichen. »Ja, sicher. Das heißt, natürlich ist es nur einer, der sich in sieben teilt, und diese wiederum in sieben, und so weiter, wenn ich sie nicht daran hindern kann.« Er stand auf, holte eine kleine geschnitzte Kiste und setzte sich wieder hin. Tom dachte, Ahmed wollte ihm etwas aus dieser Kiste zeigen, doch er entnahm ihr nur Zigarettenpapier und ein Päckchen Haschisch. Fachmännisch rollte er Joints und bot dem Engländer einen an. Erst als Tom ablehnte, zündete er den eigenen an. »Ich meine, darum geht’s doch: Man muß den Dschinn daran hindern, sich zu vermehren. Nicht wahr?« »Ja. Sicher.« »Letzte Nacht sind sie mit Pavianköpfen gekommen, Tom, um mich zu verwirren.« »Du kannst dich ja an meinen Namen erinnern!« »Intelligente Leute vergesse ich nicht. Ich find’ es auch sehr schön, wie du rot wirst und deinen Tee schlürfst. Ich habe sehr deutlich zu ihnen gesprochen: Glaubt nicht, daß ihr mich als Affenhorde quälen dürft. Entweder kämpfen wir als Männer oder gar nicht. So eine Sprache verstehen sie sehr wohl.« »Ja?« »O ja. Was haben sie denn davon, wenn man aufgibt? Sie müssen ja gegen dich kämpfen, sonst würden sie sterben.« Tom war völlig verblüfft. »Und ist das nicht genau das, was 144
du willst?« Ahmed nahm einen genüßlichen Zug aus seinem Joint und blies eine lange, dünne Wolke aus blauem Rauch aus. Er blickte Tom an, als täte er ihm ein wenig leid. »Die Schriftrollen. Du bist gekommen, weil du etwas über die Schriftrollen erfahren willst. Du möchtest wissen, was ich herausgefunden habe.« »Ja. Ich hab’ mich schon gefragt, ob du weitergekommen bist. Ich bin ganz schön neugierig auf den Inhalt.« Das war eine Lüge oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Tom hatte zwar ein vages Interesse am Inhalt der Rollen, aber das war nur ein Vorwand gewesen, Ahmed zu besuchen. Ahmed nickte. »Die Schriftrollen. Ja. Sie scheinen sehr interessant zu sein. Sehr interessant.« »Ach ja? Inwiefern?« Ahmed dachte angestrengt nach, bevor er antwortete. »Insofern, als sie ungewöhnlich sind. Ungewöhnlich und ziemlich schwer zu übersetzen. Sie machen mir ganz schön Kopfschmerzen, das kann ich dir versichern. Also komme ich nur langsam voran. Aber in den nächsten Tagen werde ich sie dir erklären können.« Er lächelte dünn; das Lächeln war wie ein klaffender Riß in einer Frucht, und Tom wußte sogleich, daß er ihn anlog. Er hatte die Rollen kaum angeschaut. »Gut«, meinte er. »Bin froh, wenn’s gut vorangeht.« »Ja, es geht voran. Aber nur langsam.« »Sharon sagt, du hast einen erstklassigen Verstand.« Ahmed vollführte eine ironische Geste. »Ich bin auch ganz schön sexy.« »Ich wollte dir nicht schmeicheln, damit du dich mit der Entzifferung beeilst. Ich weiß, daß du das gerade denkst.« Ahmed schien beeindruckt. »Du bist sehr einfühlsam. Du denkst wie ein Araber. Hey, da fällt mir gerade was auf.« »Was denn?« Ahmed starrte angestrengt auf einen Punkt über Toms Schulter. 145
»Dein Dschinn. Er ist verschwunden.« »Tatsächlich?« »Ja. Weg. Ich hatte ihn schon ganz vergessen. Aber als du das letzte Mal hier warst, hat er dir im Nacken gesessen. Wie bist du ihn denn losgeworden?« »Ich bin mir sicher, daß ich es nicht weiß.« Ahmed seufzte. »Wenn du es nicht weißt, wird er ganz sicher zurückkommen.« Um über den Dschinn zu sprechen, war Tom zu Ahmed gegangen. Er hatte gehofft, der Vorwand mit den Schriftrollen würde ausreichen, den Besuch zu rechtfertigen, aber nun war er angenehm überrascht, Ahmed so bereitwillig über seinen Dschinn sprechen zu hören. Am Tage des Besuchs mit Sharon hatte Ahmed behauptet, Toms Dschinn gesehen zu haben. Er fragte sich, was Ahmed ihm noch alles erzählen konnte. Er bat den Araber zu beschreiben, was er damals gesehen hatte. »Es ist keine gute Idee«, erwiderte dieser, »deinen Dschinn zu beschreiben.« »Warum denn nicht?« Ahmed zuckte die Achseln. »Wenn man ihnen Worte widmet, spricht man ihnen Stärke zu. Sie lieben es, Worte wie Federn zu tragen. Bist du Sharons Liebhaber?« »Nein. Warum meinst du, daß es zu ihrer Stärke beiträgt?« »Hast du schon mal eine unserer Moscheen besucht? Es ist verboten, Bilder von Tieren und Propheten oder sogar von Menschen zu malen. Es heißt, nur Allah darf das tun. Außerdem steht im Koran geschrieben, daß wir nicht über die Dschinn oder die Geister und Dämonen sprechen dürfen. Sonst wecken wir sie auf und beschwören sie, und sie werden uns quälen. Warum hast du mich wegen Sharon angelogen?« »Ich weiß nicht, ich hab’s eben getan. Wo ist denn da der Unterschied, wenn der Dschinn schon da ist?« »Also bist du doch ihr Liebhaber?« »Ich will, daß du mir erzählst, was du gesehen hast.« 146
»Ich sah, wie er an dir hing. An deinem Hals, wie ein Leichnam, den man nicht abschütteln kann.« »Wie kommt denn ein Dschinn an einen Menschen?« »Sie sitzen auf Bäumen. Und wenn dann ein Mensch unter dem Baum hergeht, lassen sie sich fallen.« »Wo war denn dieser Baum? In England oder hier in Jerusalem?« »Sei kein Idiot. Sie fallen von einem Baum des Lebens.« »War dieser Dschinn jung oder alt? Mann oder Frau?« »Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diese Frau begehre. Ich glaube, du hast doch gelogen; sag schon, es stimmt, nicht wahr? Ihr beide seid doch zusammen?« »Vielleicht. Ja.« Ahmed stieß einen Klagelaut aus und begrub das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufsah, hatte er Tränen auf der Wange. Dann lachte er. »Immer muß sie mir einer wegnehmen!« »Warst du Sharons Liebhaber?« »Nein, aber ich wäre es gewesen, wenn du sie mir nicht weggenommen hättest.« Tom konnte nicht erkennen, ob er ihn neckte, für ihn den Clown spielte. »Erzähl mir mehr über meinen Dschinn.« »Okay, soviel sollst du wissen: Es war eine Frau, die ich da an dir gesehen habe. Eine sehr alte Frau, die so tat, als sei sie jung. Oder vielleicht war es auch umgekehrt. Wer will das wissen? Vielleicht ist sie Araberin; ich kann es dir nicht sagen. Aber sie spricht viele Sprachen. Aramäisch. Althebräisch. Griechisch. Latein. Sie behauptet, Jesus Christus gekannt zu haben.« Tom spürte, wie ihn ein kalter Schauer überkam. Ihm stieg die Galle hoch. »Ja«, sagte Ahmed und wurde plötzlich ernst. »Ich habe sie gesehen. Nun verstehst du vielleicht, daß Ahmed nicht bloß ein verrückter Doper ist. Glaub mir – die Dschinn gibt es wirklich.« 147
»Ich mußte es nur wissen. Tut mir leid, daß ich dich nicht ernst genommen habe.« Ahmed war nun in einer anderen Stimmung; Tom erkannte, daß er ihm zuvor vielleicht etwas vorgespielt hatte, aber nun hatte er ein verdrießliches Gesicht aufgesetzt. Seine Augen umwölkten sich. »Da bist du nicht der erste. Man kann nicht alles mit Sharons gottverdammtem Psycho-Mist erklären.« »Das würde sie sogar selbst zugeben. Aber was kannst du mir noch über diese Frau erzählen? Weißt du, wer sie ist?« »Ich weiß es nicht. Du aber. Ich kann dir nicht mehr sagen, als ich bereits getan habe. Ich hab’ dir mein ganzes Wissen preisgegeben.« »Dann erzähl mir etwas über deinen eigenen Dschinn.« »Warum sollte ich? Du kommst hierher, du hast nichts, um es mir zu geben. Wie die meisten Touristen kommst du nach Jerusalem und willst nur nehmen. Warum sollte ich einem kalten Engländer die Geheimnisse meines Herzens enthüllen? Warum zum Teufel sollte ich das tun?« »Weil du ein freundlicher Mensch bist. Und wenn du jemanden leiden siehst, willst du ihm helfen.« »Ja, es ist wahr, daß du leidest. Aber warum sollte ich dir meine Hand reichen? Tust du das etwa?« Tom wußte nicht, was er damit meinte. Wollte er vorschlagen, daß er ihn bezahlen sollte? Die düstere Wolke, die eben über Ahmed hinweggezogen war, ließ ihn älter aussehen – er war nicht mehr der witzelnde, jungenhafte Araber, sondern eher ein bedrohlicher, sogar gefährlicher Mann. »Ich sehe schon, was du denkst. Das habe ich nicht gemeint, als ich sagte, du solltest mir deine Hand reichen.« »Was kann ich dir geben?« »Ich vertraue dir etwas an. Du vertraust mir etwas an. Ich werde dir mein Geheimnis erzählen – und du mir das deine.« »Ich habe keine Geheimnisse.« »Dann trink deinen Tee aus und laß uns ›Auf Wiedersehen‹ 148
sagen.« »Warte noch, ich habe doch ein Geheimnis.« »Wie ich es geahnt habe.« Er drehte sich eine neue dünne Haschisch-Zigarette und steckte sie an. Dann wartete er, daß Tom mit seiner Geschichte anfing. »Es wird dir gar nichts sagen. Es wird dämlich klingen. Aber ich werde dir erzählen, warum ich meinen Lehrerjob in England aufgegeben habe. Ich habe es keinem anderen Menschen erzählt – nicht einmal Sharon.« Ahmed lauschte aufmerksam und schweigend, während Tom ihm die wahren Umstände berichtete, durch die er sich gezwungen sah, seine Lehrtätigkeit aufzugeben. Als er zu Ende geredet hatte, stieß Tom einen tiefen Seufzer aus. Der Araber nickte nachdenklich, bevor er seinen Kommentar abgab. »Dies ist der Baum, Tom, von dem der Dschinn auf dich herabgefallen ist. Ein sehr düsterer Baum des Lebens. Und ein sehr alter Dschinn. Ja, im Augenblick ist sie verschwunden, aber wer weiß, ob sie nicht zurückkommen wird. Nun kenne ich dein Geheimnis.« »Ja.« »Ich kann schon verstehen, wie schwer es dir fiel, mir von diesen Dingen zu erzählen. Und nun werde ich dich mit der Geschichte meines eigenen Geheimnisses belohnen.« Zuerst goß Ahmed Tee nach und drehte sich noch eine Haschisch-Zigarette. Er zündete sie an und richtete einen forschenden Blick auf Tom. »Nur die Wahrheit soll über meine Lippen kommen. Denn die Lügen sind unsere Feinde. Hör gut zu, wenn ich dir dies erzähle; ich werde dir jetzt etwas geben, das dir helfen wird, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden.« Tief sog er den Rauch ein, dann durchquerte er das Zimmer. Er legte seinen Mund an Toms Ohr. »Öffne deinen Mund«, krächzte er mit voller Lunge. Er hielt Toms Kinn mit der Hand und blies ihm sanft einen dünnen Strom aus Rauch ein. »Zieh 149
ihn in die Lunge.« Tom inhalierte den Rauch; er war kühler als erwartet, doch das Einarmen verursachte ihm einen leichten Krampf und trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch er behielt den Rauch einen Augenblick lang in der Lunge, bevor er ihn wieder ausstieß. Sein Herz klopfte stark, und er fühlte sich ein wenig benommen. Ahmed kehrte zu seinem Sitzkissen zurück und setzte sich mit gekreuzten Beinen hin, bevor er mit seiner Erzählung begann.
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31 Bismillah al-Rahmani al-Rahim. Im Namen Gottes des Barmherzigen und Gütigen, laß mich diese Geschichte ohne Abweichung oder Fälschung erzählen. Laß nicht zu, daß die Dämonen der Unwahrheit oder die Geister des falschen Zeugnisses meine Zunge umdrehen. Auch wenn niemand als Gott in die Tiefen des menschlichen Herzens blicken und sein Wesen erkennen kann, so laß mich doch die Laterne der rechten Sprache entzünden, auf daß wir aus der Dunkelheit zur Erleuchtung gelangen mögen. Ich hörte zum ersten Mal von den Meistern oder ›Denen, die Ihm nahe sind‹ – wie man sie passenderweise nennen sollte –, als ich an einer eurer englischen Universitäten studierte, in Leicester. Während meines Studiums dort verschwendete ich meine Zeit auf die üblichen Aktivitäten: Ich kümmerte mich wenig um das Alkoholverbot des Islam und war drei Jahre lang immer fürchterlich betrunken und verbrachte meine Tage mit dem Versuch, englische Mädchen ins Bett zu kriegen – was mir manchmal auch gelang. Ich blieb auch nach dem ersten Examen. Ich war Mitglied des islamischen Studentenbundes und ein militanter Aktivist, der sich über viele Dinge furchtbar aufregen konnte, die mir heute nicht mal mehr einfallen wollen. Am meisten Freude machte es mir wohl, den islamischen Studentenbund in Verruf zu bringen. Aber ich kriegte die Quittung dafür, als ich mich in ein dummes Mädchen namens Victoria verliebte. Ich durfte nur einmal mit ihr schlafen, und dann wollte sie nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich weinte und rang meine Hände vor aller Augen. Ich trank reichlich viel Supermarkt-Whisky. Ich kann mich noch erinnern, daß ich an manchen Morgen aufwachte und mein Kopf sich wie eine aufgeplatzte Honigmelone anfühlte. Kennst du dieses Gefühl, nein? 151
Ein Freund namens Rashid, der Vorsitzende des islamischen Studentenbundes, sagte mir, ich solle mich zusammenreißen, ich würde mich an der ganzen Universität zum Narren machen. Er war es dann, der mir half: Ich hörte auf zu trinken und schaffte mit knapper Not meine letzte Dissertation. Rashid nahm mich an einem Wochenende mit, das wir mit ein paar seiner Freunde in Bradford verbrachten. Ich unterhielt mich mit einem von ihnen, und als ich erwähnte, daß ich in Leicester wohnte, erzählte er mir von einem Mann dort, den ich besuchen müsse. Damals hörte ich die Worte ›Meister‹ und ›Die Ihm nahe sind‹ zum ersten Mal. Als ich nach Leicester zurückkehrte, war ich sehr neugierig und begab mich zu der Adresse, die mir genannt worden war; es war ein schmuckloses Haus mit Terrasse im Asiatenviertel der Stadt. Ich hatte keinem von dem Besuch erzählt, doch es war, als würde ich erwartet. Ich läutete, und eine Araberin öffnete mir die Tür, winkte mich ohne ein Wort ins Haus. Sie führte mich in ein Zimmer an der Rückseite des Hauses, in dem gedämpftes Licht brannte. In der Mitte des Raumes saß ein Mann auf dem Fußboden. Ihm gegenüber lag ein Kissen, als habe man es für mich dorthin gelegt. Ich wollte eben den Raum betreten, als er seine Hand hob. »Halt!« sagte er. »Bleib an der Tür. Du hast zuviel Alkohol in dir.« Ich war verblüfft. Ich hatte seit ungefähr drei Wochen keinen Drink gehabt, und das sagte ich ihm auch. »Drei Jahre«, erwiderte er. »Du wirst drei Jahre brauchen, und du darfst in dieser Zeit keinen Tropfen mehr trinken, dann erst werden dich diese Dschinns verlassen haben. Und du mußt aufhören, über Frauen zu jammern, die du nicht haben kannst.« Mein erster Gedanke war, daß jemand mir mit dieser Begegnung eine Falle gestellt haben mußte, aber das war unmöglich. Der Mann, den ich in Bradford kennengelernt hatte, war ein Zufallsbekannter gewesen, den ich angesprochen hatte. Ich spähte verstohlen zu dem Mann, der da auf dem Fußboden saß. 152
Im schwachen Licht war es unmöglich, sein Alter zu bestimmen. Seine Brillengläser spiegelten die Lampen, so daß ich seine Augen nicht erkennen konnte, doch ich sah seine grauen Haare und seine Runzeln. Ich hielt ihn für einen Inder, vielleicht auch für einen Iraner, aber seine westliche Kleidung gab nichts preis. Er sagte: »Ich kann nichts für dich tun, da du vom Alkohol so durcheinandergebracht bist. Komm in einem Jahr wieder.« »In einem Jahr werde ich nicht mehr hier sein. Ich gehe zurück nach Palästina.« Immer noch stand ich in der Tür. Seine Brille blitzte im Licht. »Wenn du in Palästina bleibst, wirst du nicht mehr lange leben«, sagte er. Dann rief er nach der Frau, die die ganze Zeit über hinter mir gestanden hatte, und flüsterte ihr etwas zu. Sie kam zu mir und schob mich in den Flur. Dann schloß sie die Tür. »Sie haben Glück«, sagte sie zu mir. Dann schrieb sie in Arabisch einen Namen und eine Adresse auf ein Stück Papier. »Gehen Sie zu diesem Mann.« Es war eine Adresse in Bagdad. »Bagdad!« Ich schrie es fast. »Warum sollte ich denn nach Bagdad gehen?« Ich war nie in meinem Leben im Irak gewesen und hegte nicht den Wunsch, mich in dieses repressive, militaristische Land zu begeben. »Dann sollten Sie es vielleicht nicht tun«, sagte sie und scheuchte mich zur Haustür. Kurz darauf fand ich mich kopfschüttelnd auf der Straße wieder. Ich hatte nicht die geringste Absicht, in den Irak zu gehen, aber ich behielt den Fetzen Papier. Innerhalb von zwei Wochen war ich nach Palästina, nach Jerusalem zurückgekehrt und fragte mich, was aus mir wohl werden sollte. Ich drehte eine Zeitlang Däumchen und versuchte mich an diesem und jenem. Ich band mir sogar ein Tuch um und warf Steine auf israelische Soldaten. Doch der Spaß hörte auf, als eine ihrer Kugeln meinen Oberschenkelmuskel durchschlug. Nur einen Zoll höher, und du müßtest jetzt einem Eunuchen zuhören. 153
Ich hatte hier nichts verloren. Ich dachte daran, wieder nach England zu gehen. Dann erinnerte ich mich an den Papierfetzen und machte mich auf den Weg nach Bagdad. Das war 1976, nur ein paar Jahre vor der islamischen Revolution im benachbarten Iran und drei Jahre bevor Saddam Hussein Präsident des Irak wurde. Ich überstand eine schreckliche Busreise quer durch den Irak und kam mit dem Gefühl, deprimiert und krank zu sein, in Bagdad an. Als ich aus dem Bus stieg und sogleich in eine Wolke aus Fliegen geriet, wollte ich direkt wieder umkehren. Aber ich tat es nicht; ich begab mich unverzüglich zu der Adresse, die man mir in England gegeben hatte. Man sagte mir, der Mann, den ich suchte, sei fortgegangen. Ich würde ihn in einer kleinen Stadt in der Nähe von Kirkuk finden. Nachdem ich zwei Tage lang geheult und meine Dummheit verflucht hatte, bestieg ich den Bus und fuhr durch die Wüste zurück. Ich hatte nicht die Absicht, den Bus zu verlassen, bevor er Palästina erreichte. Nun stell dir vor, wie mir zumute war, als der Bus in einem Städtchen fünfzehn Meilen vor Kirkuk einen Motorschaden hatte. Ich erkundigte mich nach dem Mann. Keiner kannte ihn. Dann deutete ein vorüberziehender Ziegenhirte auf ein Haus. Ich ging dorthin. Es sah wie das Haus eines ziemlich reichen Mannes aus. Ein öliger Diener befahl mir, ich solle auf der Veranda warten, und dort traf ich einen anderen jungen Mann, einen Iraner namens Mehemet. »Wartest du auf Abd Al-Quadir Al-Karim?« fragte ich ihn. »Die Zunge der Unsichtbaren?« »Ja, ja. Was immer du sagst.« Ich war am Ende meiner Geduld. »Ja, ich warte auf ihn.« »Und ist er ein Meister? Einer Derer, Die Ihm nahe sind?« »Wenn er das ist, steht es uns nicht zu, ihn so zu nennen.« »Zum Teufel. Ist er’s, oder ist er’s nicht?« 154
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. Nun, mir reichte es jetzt. Ich trottete durch das schläfrige Dorf zum Bus. Nur um zu erfahren, daß er abgefahren war. Ich kehrte zu dem Haus zurück. Der Diener war eifrig damit beschäftigt, zwei schwere Taschen mit Decken und Vorräten zu packen. Er gab jedem von uns eine Tasche und befahl uns, ihm in die Wüste zu folgen, wo wir Abd Al-Quadir Al-Karim treffen würden. Er marschierte mit uns sieben Meilen in die Wüste hinaus. Mehemet war sehr still und mürrisch geworden. Was mich betraf, so verfluchte ich die Vorhaut dieses Mannes für die Spiele, die er anscheinend mit uns anstellte. Sein Diener schien nicht gewillt, irgendwelche Fragen zu beantworten, und als er sich endlich, durch meine Hartnäckigkeit zermürbt, zu uns umwandte (er war uns stets drei Schritte voraus), sagte er nur: »Wenn er euer Lehrer ist, wird er euch von seiner Erleuchtung profitieren lassen, ob ihr es wissen werdet oder nicht. Es mag sein, daß er euch Unbehagen verursacht; das wird beabsichtigt und notwendig sein. Er ist sehr bescheiden und wird euch die Weisheit in der euch eigenen Weise entdecken lassen. Wenn ihr ihn kennenlernt, wird er euch beeinflussen, ob ihr es wollt oder nicht.« Rätsel. Das war alles, was man aus diesem verstockten Diener herausbringen konnte. Ich verfluchte ihn ob seiner Dummheit. Ich beschimpfte ihn mit allen Namen, die mir einfielen, und ich kenne nicht wenige, das kannst du mir glauben. Vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir eine Höhle. Es war ein einsamer Ort. Der Diener wies uns an, unsere Decken auszubreiten und hier die Nacht zu verbringen. Vielleicht ahnst du es ja schon, aber Mehemet und ich brauchten fast drei Tage, bevor wir erkannten, daß der schmierige Diener niemand anders war als Abd Al-Quadir Al-Karim. Mehemet und ich verbrachten drei Jahre mit ihm; die meiste Zeit an eben jenem Ort in der Wüste. Es gab Wasser in der Nähe, und um Lebensmittel zu holen, gingen Mehemet und ich 155
in das Dorf. Unsere Bedürfnisse waren sehr gering. Und wir lernten. Wunderbare Dinge. Wir meditierten, und wir beteten. Mit Hilfe der Disziplin kann der Geist von den Sünden und Schwächen der Seele gereinigt werden und dem Himmel, dem Göttlichen zustreben. Ich erlernte die Dichtkunst; unser Lehrer lehrte uns, daß Allah den Mond an den Himmel gesetzt habe, um die Liebesdichtung zu inspirieren. Mehemet erlernte die Kunst, Ton und Vers zusammenzuschmieden, um die Gefühle der Menschen zu beherrschen. Ich meisterte die Kunst der Hypnose. Wir lernten, wie man die Dschinn anruft und beherrscht. Wir lernten auch, daß die Engel Kräfte sind, die in den Fähigkeiten der Menschen verborgen liegen, und wie man sie erwecken kann. Dann nach drei Jahren geschah es, daß unser Lehrer unversehens verschwand. Wir wachten eines Morgens auf, als die Sonne über den violetten Bergen emporstieg und der Mond immer noch am Himmel stand, und Abd Al-Quadir Al-Karim war verschwunden. Wir warteten zwei Wochen auf seine Rückkehr, aber er kam nicht. Schließlich gingen Mehemet und ich zu dem Haus im Dorf zurück, um dort nach ihm zu suchen. Als wir zu dem Haus gelangten, lebte dort eine Familie. Sie leugneten, irgend etwas über Abd Al-Quadir Al-Karim zu wissen. Sie behaupteten, ihre Familie lebe schon seit drei Generationen in diesem Haus. Sie starrten auf unsere Lumpen und sagten uns, wir seien zu lange in der Wüste gewesen. Wir waren fassungslos; ohne unseren Lehrmeister fanden wir uns nicht mehr zurecht. Und überdies mußten wir nun um unser Essen betteln; denn zuvor waren alle unsere bescheidenen Bedürfnisse von ihm erfüllt worden. Wir lungerten ein oder zwei Monate in dem Dorf herum und warteten auf seine Rückkehr. Uns war jämmerlich zumute. Mit der Zeit verschlug es uns Richtung Bagdad, wo wir unseren Lebensunterhalt mit Zauberkunststücken und dem Aufsagen von Gedichten fristeten. 156
Doch das politische Klima hatte sich verändert. Im Iran war die Revolution ausgebrochen, und Saddam Hussein, der neue Präsident des Irak, fürchtete, sein Land könne denselben Weg einschlagen, und führte daher mit voller Absicht den Krieg mit seinem Nachbarland herbei. Landstreicher aus der Wüste wurden äußerst schief angesehen, und ich wußte, wenn wir nicht bald aus diesem Land herauskamen, würden wir in den Krieg gegen den Iran geschickt. »Unser Meister«, sagte Mehemet eines Tages zu mir. »Er war kein Mensch, nicht wahr? Er war ein Geist. Vielleicht ein Dschinn? Ein Engel? Oder ein Dämon?« Ich packte ihn grob am Kragen. »Sag so etwas nicht noch mal!« knurrte ich ihn an. »Niemals!« Wir ließen uns von einem Lastwagen nach Syrien mitnehmen, wo viele besitzlose Palästinenser ihr Dasein fristeten. Wir schlugen uns durch, so gut es ging. Eines Tages weinte Mehemet. Nach all diesen Jahren war er für mich wie ein kleiner Bruder geworden, und ich liebte ihn sehr. Er weinte in Erinnerung an die Zeit, als wir mit unserem Lehrmeister gelebt hatten, als unser Leben so geordnet gewesen war wie der Lauf der Sonne über der Wüste, und wo wir nichts als gehorsame Lehrlinge gewesen waren. »Wir haben unseren Weg verloren«, weinte er. »Wir sind verloren.« »Nein«, entgegnete ich. »Unser Lehrmeister ist immer noch bei uns. Die, Die Ihm nahe sind, haben uns nicht verlassen. Dies ist nur eine Prüfung. Weißt du nicht mehr, wie oft unser Meister uns verunsichert hat und wie die Bedeutung seiner Handlungen uns erst später klargeworden ist? So wird es auch diesmal sein, kleiner Mehemet. Und bis heute haben wir die Prüfung nicht bestanden, denn wir haben gelebt wie die Hunde, als hätten wir alles vergessen, was wir gelernt haben. Wir müssen uns wieder auf unsere alte Art zu leben besinnen.« »Aber wir können nicht zurück in den Irak!« rief er. 157
»Nicht in den Irak. Nach Palästina!« Mit Gottes Hilfe schmuggelte ich Mehemet in meine Heimat. Mehemet staunte, als er Jerusalem zum ersten Mal sah, und bei der Durchquerung der West Bank wurden wir von meiner Familie und meinen Freunden unterstützt. Dann fanden wir einen Ort zwischen Qumran und Jericho, der unseren Vorstellungen entsprach: eine kleine Höhle mit einer nahen Quelle, wo wir leben konnten wie zuvor. Das Leben war einfach, meine Familie versorgte uns mit allem Nötigen. Wir widmeten uns der Meditation und dem Gebiet unter den Sternen. Wie fern schienen mir jetzt meine ausschweifenden Jahre an der Universität von Leicester, Tom. Die Studenten vom islamischen Studentenbund hätten ihren Augen nicht getraut! Nach einer Weile hatten wir uns den Ruf heiliger Männer erworben, und eines Tages brachte uns eine Bauersfrau ihren Sohn, der ein Schwachkopf war, und bat uns, für ihn zu beten. Wie hätten wir uns weigern können? Wir beteten für ihn, wir flehten Allah um Gnade an, und ich versuchte, dem Jungen einige Ideen in den Kopf zu setzen. Und was glaubst du – die Frau brachte ihn dann jede Woche zu uns, und das drei Monate lang. Sie sagte, es sei schon viel besser mit ihm. Ich sage nicht, daß es stimmte, aber sie glaubte daran. Nun kamen auch manchmal andere Menschen, und zuweilen konnten wir ihnen helfen. Wenn sie sich besessen wähnten, taten wir unser Bestes; wir sagten ihnen, wir könnten nur an Allahs Tür klopfen – es liege an ihm, sie auch zu öffnen. Das verstanden sie, und wie auch immer das Ergebnis ausfallen mochte, sie ließen uns immer ein paar Dinge zum Essen als Geschenk da. Doch diese Wiederbegegnung mit den Menschen und besonders die Bewunderung der Frauen beschworen einige Probleme herauf. Einmal kam eine wunderschöne junge Mutter. Ihr Kind litt unter furchtbarem Asthma. Sie konnte uns nichts anbieten außer sich selbst, sagte sie, und dann legte sie das Kind auf den 158
Boden und begab sich in die Höhle, ohne daß wir sie darum gebeten hätten. Soll ich lügen, wenn ich es Allah geschworen habe? Zuerst ging ich hinein, dann Mehemet. Später taten wir alles in unserer Macht Stehende, um dem Kind zu helfen. Die Frau kam nicht mehr wieder. Mehemet und ich schämten uns. Du mußt wissen, daß es im Islam keine Mönche gibt. Es gibt kein Gesetz, das den Zölibat vorschreibt. Nach dieser Erfahrung konnte ich deutlich erkennen, daß Mehemet – wie ich – nun an eine rechtmäßige Ehe dachte. Ohne eine Frau zu leben ist schlimmer als die Prüfungen, die man mit einer Frau durchzustehen hat – vergib mir diese deutlichen Worte. Es gab da die heiratsfähige Tochter eines Ziegenhirten, der auf der anderen Seite des Tals lebte. Sie kam zusammen mit ihrer Familie, die uns den Bruder zur Behandlung brachte, einen Jungen mit einer verkümmerten Hand. Sie war noch keine fünfzehn und von strahlender Schönheit. In meinen Augen war sie der Abendstern. Ich sprach sogleich mit ihrem Vater. Wenn wir reich gewesen wären, hätte er uns mit Freuden auch noch eine Frau dazugegeben, aber so, wie die Dinge standen, war er entsetzt und machte sich mit seiner Familie schleunigst davon. Sie kamen nie wieder. Und dann machte ich den größten Fehler meines Lebens, Tom. Ich beschwor den Dschinn, damit ich dieses Mädchen haben konnte. Ich sagte Mehemet kein Wort über mein Vorhaben. Ich schickte ihn zum Haus meines Vetters, weil ich wußte, daß er dann mindestens drei Tage wegbleiben würde. Dann begann ich mit der Beschwörung. Der Morgen war schön und klar. Noch stand der Mond am Himmel. Die Sonnenstrahlen ergossen sich über die ockerfarbenen Felsen. Zwei Stunden lang führte ich die rituelle Reinigung durch. Dann breitete ich meine rote Gebetsmatte in Richtung Mekka aus und betete zwei Rak’as, worauf ich mir das Gesicht mit 159
rotem Ocker bemalte. An diesem Punkt begann ich, die mächtigen Namen Gottes aufzuzählen; für diesen Dschinn mußten es die Jalali, die Schreckensnamen Allahs sein, und nicht die Jamali, die freundlichen Namen. Als ich sie genannt hatte, begann ich den Namen des Dschinns aufzusagen, den ich nicht einmal dir verraten darf. Dieser Name muß 137 613 mal wiederholt werden. Normalerweise tut man dies im Laufe von vierzig Tagen, aber die Zeit hatte ich nicht und mußte daher das Ritual beschleunigen und einige besondere Beschwörungen und rituelle Reinigungen auslassen; das war eine Verfehlung, für die ich später teuer bezahlen mußte. Am Mittag, als die Sonne unbarmherzig auf mein kahles Haupt niederbrannte, legte ich eine Pause ein. Ich trank ein wenig Wasser und aß ein paar Samen, wie es in der strengen Fastendiät vorgeschrieben war. Danach setzte ich die Wiederholung des Namens fort. Ich hörte erst bei Sonnenuntergang auf, trank ein paar Schluck Wasser und vollzog die Grabesübung. Dazu muß man sich vorstellen, man sei tot, der Leichnam gewaschen und in ein Grabtuch gewickelt und ins Grab gelegt, und die Trauernden seien alle gegangen. Danach wiederholte ich den Namen des Dschinns bis in die frühen Morgenstunden, als der Schlaf mich übermannte. In meinen Träumen erschien mir der Dschinn als ein Schatten. Als ich erwachte, hörte ich das Geräusch des Staubes, der um mich herum in der Wüste niederfiel. Es war fast Vollmond, und jeder Felsen warf einen deutlichen Schatten. Das leise Geräusch, als ob Staub niederfalle, war die Wüste selbst, die nun zum Leben erwachte. Aber da war kein Staub: Als ich mit der Hand über meinen Schlafsack strich, war er sauber. Doch immer noch fiel der weiße Staub wie Schnee und wurde unsichtbar, sobald er den Boden berührte. Am Morgen wiederholte ich das Ritual der Reinigung und begann wieder damit, den Dschinn mit seinem Namen 160
anzurufen. Ich konnte spüren, daß er schon nahe war. Am Mittag versetzte mich die Hitze der Sonne in Furcht, und ich begann die besonderen der neunundsiebzig Namen Allahs anzurufen. Zuerst Al-Hefiz, den Wächter, um die Furcht abzuwehren, dann Al-Muhyi, den Wandler, um alle Geister und Dämonen außer den von mir beschworenen zu vertreiben. Und schließlich Al-Quadir, den Herrn der Macht, damit ich meine Angst bezwang. Ich ritzte das binäre, das ternäre und das quaternäre Rechteck in den Sand und schrieb die Zahlenwerte zu den Namen Allahs, die ich mit den achtundzwanzig Lettern des arabischen Alphabets und den zwölf Tierkreiszeichen verband. Um dieses zeichnete ich das Viereck der Eva und nahm dann meine Beschwörung wieder auf. Bei Sonnenuntergang schrieb ich den Namen des Dschinns auf ein verdorrtes Blatt, verbrannte es und löste es in Wasser auf, das ich trank. Dann fiel ich in Ohnmacht. Wieder wachte ich in der Nacht auf. Diesmal war es der Gesang der Wüste, der mich weckte. Hast du jemals die Wüste singen hören? Es ist ein Geräusch, das dir die Haut sprengen möchte. Es ist ein süßer, ununterbrochener Ton, der von Felsen und Pflanzen und Sand gemeinsam gesungen wird. Er tönte zum Mond hinauf, der nun seine volle Form erreicht hatte. Der Klang würde einen Menschen in den Wahnsinn treiben, wenn er nicht von den Ritualen geschützt ist. Ich schlief nicht wieder ein; ich trank etwas Wasser und setzte mich vor die Höhle auf meine Gebetsmatte. Ich schloß die Augen, versiegelte meine Lippen und sagte mir den Namen im stillen vor, die Zunge fest an den Gaumen gepreßt. Um die Mittagsstunde hatte ich bis 137 612 gezählt; ich mußte den Namen nur noch ein einziges Mal sagen. Aber ich hatte schreckliche Angst. Noch nie zuvor hatte ich den Dschinn ohne meinen Lehrmeister beschworen. Konnte ich ihn denn beherrschen? Konnte ich ihn festhalten? Meine Zunge klebte am 161
Gaumen fest, und mein Verstand weigerte sich, den Namen ein letztes Mal auszusprechen. Ich war gelähmt. Ich spürte die Hitze der Sonne auf meiner Stirn. Irgendwo setzte der Herzschlag der Welt aus. Der Schweiß lief mir in Strömen hinunter. Ich spürte eine Präsenz, die mit furchterregender Geduld auf mich wartete. Dann endlich sprach ich den Namen ein letztes Mal aus und öffnete die Augen. Nichts. Da war nichts. Kein herabfallender Staub. Keine singende Wüste. Nur die Sonne, ein glühender Herd am Himmel. Ich wartete eineinhalb Stunden, über mein eigenes Gefühl der Leere erstaunt. Mein Magen fühlte sich an wie die offene Ebene der Wüste. Die Beschwörung hatte nicht gewirkt. Ich erhob mich, trank einen Schluck Wasser, aß ein Stück Saatkuchen. Ein schreckliches Gefühl der Einsamkeit bedrückte mich. Wo war Mehemet, mein Bruder? Nun vermißte ich ihn. Ich schämte mich, daß ich ihn zum Weggehen überredet hatte. Ich zog mich in den Schatten der Höhle zurück und legte mich hin, fiel sofort in tiefen Schlaf. Als ich erwachte, saß sie neben mir. Ich erwachte mit einem Schrei auf den trockenen Lippen. »Bist du der Dschinn?« kreischte ich und rutschte rückwärts tiefer in die Höhle hinein. »Natürlich nicht«, lachte sie. Ihre Augen waren wie die einer Löwin. Ihr Lächeln war ein glitzernder Fluß. »Kennst du mich nicht? Ich bin die Tochter des Ziegenhirten! Du hast meinen Vater gefragt, ob du mich zur Frau nehmen darfst, und er hat dich zurückgewiesen. Nun, ich habe ihn verlassen, um mit dir zu leben. Ich bin ich!« Es war in der Tat das gleiche Mädchen, mit dem sich meine fieberhafte Vorstellung all diese Monate beschäftigt hatte. Und sie war noch schöner geworden. Ihr Haar war schwarz wie das eines Raben. Ihre glatte Haut hatte die Farbe von Sand. Ich 162
legte mir die Hände aufs Gesicht und dankte Gott, daß er sie mir geschenkt hatte. Ich fragte sie nach ihrem Namen, und sie wollte mir gerade antworten, als ein Schatten über uns fiel. Etwas stand vor der Sonne. Ich blickte auf, und da stand Mehemet, der zurückgekommen war. Er blickte argwöhnisch. »Wann bist du gekommen?« fragte er und ließ seine schweren Vorratstaschen zu Boden fallen. Ich erkannte, daß er glaubte, sie sei die letzten drei Tage bei mir gewesen. Doch da sprang das Mädchen auf die Füße und gab ihm einen Kuß und rief seinen Namen. »Ich bin eben erst gekommen, Mehemet. Ich will euch eine Gefährtin sein. Ich will alles lernen, was ihr beiden mir beibringen könnt. Sagt bitte, daß ich bleiben darf! Schickt mich nicht fort!« Es war offenbar, daß auch Mehemet vollkommen von dem Mädchen gefangen war. Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie schon die Vorräte ausgepackt und fing an, eine Mahlzeit zu kochen. Mehemet blickte mich an und zuckte die Achseln. Die Entscheidung war gefällt. Doch die Entscheidung, die noch ausstand, war die, ob sie Mehemet oder mich wählen würde. In jener Nacht schlief sie ein wenig abseits von uns. Dies ähnelte so gar nicht der Situation, die wir einmal erfahren hatten. Wir konnten sie nicht beide haben; wir kannten einander zu gut und wußten, daß wir es nicht zulassen würden. Und doch waren wir beide vernarrt in sie. Früher oder später mußte sie sich für einen von uns entscheiden. Wir begannen, miteinander zu konkurrieren. Wir benahmen uns abscheulich. Unter dem Vorwand, einen Scherz zu machen, belustigte ich mich über Mehemets Schielen, und er schalt mich wegen meiner großen Nase. Ich vollführte schwierige Aufgaben, um mit meiner körperlichen Stärke zu werben; er hingegen strengte sich an, besonders witzig zu sein. Eine tödliche Werbung war dies, und keiner von uns gab es offen 163
zu. Sie blieb einige Wochen bei uns, und jeden Tag wurde die Haut auf der Trommel ein wenig mehr angespannt. Eines Abends überraschte sie uns mit einem Derwischtanz. Ich glaube, ich hatte immer schon gewußt, was sie war, aber dieser Abend bestätigte meinen Verdacht. Sie wirbelte herum, und der Wüstensand folgte ihren Füßen in einer Spirale aus Rauch. Ihr Rock flog in die Höhe, immer höher, während sie sich drehte, und wir sahen die glatte Haut ihrer kräftigen, schweißgebadeten Schenkel. Ich dachte, der Sand werde gleich Feuer fangen. Ihre Augen glänzten wie der Panzer eines Käfers. Wie eine Kobra reckte die Lust sich in meiner weiten Hose. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine Frau so sehr begehrt. Aber da war Mehemet, gleichfalls verzaubert. Was konnte ich nur tun, um ihn aus dem Weg zu schaffen? Als sie aufhörte zu tanzen, begann die Wüste zu flüstern. Es war der Laut des fallenden Staubes, den ich schon vorher vernommen hatte. Plötzlich fiel mir auf, daß wir ihren Namen nicht wußten, obgleich sie nun schon so viele Tage bei uns lebte. Sie hatte eine erstaunliche Begabung, unsere Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, wann immer wir sie danach fragten. Als sie den Derwischtanz beendete, klatschten wir begeistert, und ich rief sie, sie solle sich zwischen uns setzen. Sie war außer Atem. Der Geruch ihres Schweißes brachte einen zum Wahnsinn. Ich konnte ihren Frauenduft zwischen ihren Schenkeln riechen. In diesem Augenblick war ich entschlossen – Frau oder Dschinn, ich würde jetzt ihren Namen erfahren. Ich sprach sanft zu ihr, streichelte ihr beruhigend das Haar und sah sie fest an, bis ihr die Augenlider schwer wurden. Sie war mir nun ausgeliefert, und ich wollte sie soeben nach ihrem wahren Namen fragen, als Mehemet die Trance brach, indem er eine Zeile aus einem Gedicht zitierte. »Der Schleier des falschen Selbst ist von irdischer Dunkelheit; aber der Schleier des Herzens ist das Leuchten der 164
Liebe!« Plötzlich schreckte sie auf und blickte zu Mehemet. Er war aufgestanden und stand nun mit geballten Fäusten über uns. Der Mond ließ das Weiße seiner Augen und seine Zähne aufblitzen; er wirkte wie ein Dämon. Er hatte die Trance gestört, und ich war wütend. Warum nur hatte er diesen Knittelvers herausgebellt? Sie mühte sich auf die Beine. Sie schien ärgerlich, daß ich sie fast überrumpelt hatte. Dann wandte sie sich zu Mehemet und nahm zärtlich sein Kinn in die Hand. »Stammen diese Zeilen von dir, Mehemet? Du bist ein wahrer Dichter. Komm mit mir auf den Hügel und erzähle mir mehr von deinen Gedichten. Ahmed, bleibst du bitte hier und achtest darauf, daß das Feuer nicht ausgeht?« Sie gab mir zu verstehen, daß ich nicht eingeladen war. Nachdem sie gegangen waren, saß ich in einer Art Fieber da und stellte mir vor, wie sie unter dem leuchtenden Mond einhergingen und Mehemet seine abscheulichen, pompösen Verse zitierte. Es ging nicht. Ich konnte nicht ruhig bleiben – ich mußte ihnen folgen. Ich fand sie mit den Rücken gegen einen Felsen gelehnt. Ich konnte sie aus einiger Entfernung beobachten. Der Mond stand tief und lächelte ihnen zu wie eine wohlwollende Mutter. Sie hatten ihre Arme verschränkt. Sie beugte sich ihm entgegen, und sie küßten sich. Wieder und wieder, und ich sah, wie seine Zunge zu ihrem Mund sprang, und die ihre in den seinen; trotz der Dunkelheit vermochte ich es zu erkennen. Ihre Zungen waren wie kopulierende Schlangen, ihre hungrigen Münder aneinandergeschmiedet. Ich schnappte nach Luft. Ich biß mir vor Schmerz in die Finger. Ich schlug meinen Kopf gegen einen Felsen. Ich konnte es nicht mehr ertragen, zog mich zurück und weinte heiße, bittere Tränen. Ich ging zurück zum Feuer, zitternd vor Kälte, mir wollte nicht warm werden. Lange Zeit saß ich so da. 165
»Du hast das Feuer ausgehen lassen.« Es war Mehemet. Allein. Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Es war immer noch Nacht, auch wenn der Mond uns in seinem weichen Licht badete. »Wo ist sie?« fragte ich. »Das Hochzeitsbett bereiten«, antwortete er einfach. »So hat sie am Ende doch ihre Wahl getroffen.« »Ja. Du bist doch nicht böse?« Ich stand auf und umarmte ihn. »Mehemet, mein kleiner Bruder, der mir teurer ist als alles auf der Welt. Wie könnte ich dir böse sein? Sie hat ihre Wahl getroffen, und da sie den Besseren wollte, hat sie meinen Bruder gewählt. Es ist Gottes Wille.« Mehemet weinte vor Erleichterung und klammerte sich an mich. Er hatte Angst gehabt, daß dies unsere Freundschaft zerstören würde. Er flennte und pries Allah, daß er ihm die Liebe dieser Frau und seines herrlichen Bruders zukommen ließ. Ich hieß ihn niedersetzen. »Aber wir müssen ein paar Dinge tun«, versicherte ich ihm. »Wir müssen das Feuer wieder schüren und ein Hochzeitsfrühstück vorbereiten und den Bräutigam für die Hochzeit bereitmachen. Wann kehrt sie zurück?« »In der Dämmerung.« »Dann haben wir viel zu tun.« Ich legte Holz aufs Feuer, und Mehemet bereitete alles für ein Hochzeitsfrühstück in der Höhle vor. Es war noch eine Stunde bis zur Morgendämmerung. Ich half ihm beim Waschen und Ankleiden, und dann setzte ich ihn an den Eingang der Höhle. »Laß mich für dich beten und dich segnen«, sagte ich zu ihm. »Willst du das tun?« »Ich werde ein besonderes Gebet sprechen. Laß uns die Mächte anrufen, die einem Bräutigam wohl anstehen. Damit du ihrer wert bist. Ich werde dir die Stärke des Löwen geben, 166
damit du sie lieben kannst, bis ihr beide erschöpft seid. Und die Flügel der Dichtung, damit du ihr bei jedem Stoß kostbare Worte zuflüstern kannst!« Mehemet kicherte, während ich um ihn herum einen Kreis in den Sand zog. »Zu deinem Schutz«, erklärte ich. Mit sanfter, beruhigender Stimme begann ich Gebete zu flüstern. Als ich sah, wie Mehemet anfing zu nicken, flocht ich die Schlüsselworte ein. Mehemet war schon oft von mir hypnotisiert worden, und er hatte mir erlaubt, in seinem Gedächtnis bestimmte Worte zu verankern, die den Prozeß der Hypnose beschleunigen sollten. Sein Atmen wurde flacher. Innerhalb weniger Augenblicke fiel er in Trance. Sanft brachte ich sein Bewußtsein an die Oberfläche zurück. »Du bist jetzt wach, kleiner Bruder. Du kannst alles um dich herum erkennen. Schau, wie der Bote der Dämmerung über den Bergrücken kommt. Wie schön er ist! Du aber kannst nicht aus diesem Kreis heraus, um keinen Preis der Welt – selbst wenn ein Löwe dich angreifen sollte. Du kannst nicht einmal einen Arm heben oder eine Braue oder mit einem Muskel zucken. Doch noch wichtiger ist, daß du jetzt nicht sprechen kannst. Kein Wort, keine einzige Silbe, nicht einmal den kleinsten Laut kannst du von dir geben, und wenn ein Adler auf dich herniederstoßen sollte. Was auch viel besser ist, denn es bedeutet, daß ich deinen abscheulichen Gedichten nicht mehr zuhören muß.« Mehemets Augen waren nun weit offen und blickten mich seltsam an. Aber er konnte nicht einmal blinzeln. Dennoch erkannte ich in seinen Augen den winzig kleinen Widerstand, der mir bedeutete, daß ein Teil seiner selbst meinen veränderten Ton wahrgenommen hatte und schon darum kämpfte, dem hypnotischen Befehl zu entkommen. Doch dies, so wußte ich, würde ihm nicht gelingen. »Lieber Mehemet, ein paar Jahre lang habe ich mir nun das 167
Kauderwelsch anhören müssen, das du als Dichtung bezeichnest. Doch nun ist es genug. Öffne deinen Mund. Laß mich das Organ sehen, das diese Beleidigungen ausspricht.« Er öffnete den Mund und streckte langsam seine Zunge heraus. Sein ganzer Körper war steif vor Widerstand. Seine Augen kämpften gegen mich. »O weh. Ich sehe, daß deine Zunge schwarz geworden ist vor lauter scheußlichen Gedichten. Laß dir das eine Lehre sein.« Er würgte ein wenig, und seine Zunge veränderte ihre Farbe von Rosa zu Dunkelrot, dann zu Schwarz. »Wirf sie weg!« rief ich. »Sie ist so schlecht wie die schmutzigen Gedichte, die sie spricht!« Mein Mund schloß sich wieder, und seine Zähne bissen hart auf seine Zungenspitze. »Wie sündig ist doch die Zunge, Mehemet! Die Menschen sollten achtsamer sein mit dem, was sie reden! Sie tun so, als seien die Worte keine wirklichen Dinge. Du und ich jedoch, wir wissen, daß sie auch Sünden sein können. Lebendige Ssssünden, auch wenn ssssie vom Ohr vergessen werden. Ssss. Doch was ist dassss? Wassss höre ich da? Wie seltssssam. Essss isssst, als ob die Zunge in deinem Mund lebendig geworden isssst. Eine lebende Ssssünde!« Schweißtropfen rannen von Mehemets Stirn. Seine Augen rollten wild, als er noch einen letzten angestrengten Versuch machte, der hypnotischen Lähmung zu entfliehen. Nun konnte ich seine Furcht riechen. Und in seinem Mund regte sich etwas und peitschte gegen seine Wangen. »Laß es heraus, Mehemet, bevor es gegen dich kämpft! Bevor es beißt!« Er öffnete den Mund. Ich hörte ihn würgen. Langsam wand sich der schwarze Kopf einer Haubenkobra aus seinem Mund, ringelte sich von den geschwollenen Lippen. Immer noch würgte Mehemet. Er zitterte am ganzen Körper. Die Schlange glitt vollends aus seinem Mund und schwenkte graziös hin und her, bis sie endlich zu seinen Füßen in den Sand fiel. Dort hob 168
sie den Kopf und kroch auf den Kreis zu, der in den Sand gemalt war. Als sie ihn erreichte, konnte sie ihn nicht überqueren. Sie kroch den ganzen Kreisbogen entlang, bis sie wieder an ihrem Ausgangspunkt anlangte. »Ist sie nicht wunderschön, Mehemet?« flüsterte ich schmeichelnd. »Schau dir ihre Zeichnung an. Siehst du, wie sie glänzt? Aber sieh nur, wie sie dem Kreis zu entkommen sucht. Wir müssen sie zu dem Ort zurückschicken, von dem sie gekommen ist.« Die Kobra glitt über Mehemets Füße und über seinen Schenkel, hielt vor seinen Lenden inne. Dann erklomm sie Arm und Schulter. Dort tanzte sie und schob sich langsam zu Mehemets immer noch offenem Mund. Zuletzt verschwand sie mit dem Kopf voran zwischen seinen Kiefern. »Aber sie kann nicht in deinem Mund leben, kleiner Bruder. Sonst wird sie wieder als schlechtes Gedicht herauskommen. Nein, nein, sie muß nach innen wandern!« Mehemet würgte und machte sich steif, als der Kopf der Kobra sich in seine Kehle geschoben hatte. Seine Halsmuskeln zogen sich zusammen, während das Wesen sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts schob. Einen Augenblick später füllte die Schlange seine Luftröhre und drückte gegen die Speiseröhre. Mehemet erstickte. Plötzlich trat er mit aller Kraft aus und fiel auf den Rücken. Immer noch nach Luft ringend, verfiel sein Körper in unwillkürliche Zuckungen. Wild schossen seine Augen umher, bis sie sich schließlich verdrehten und nur noch das Weiße sehen ließen. Er trat den Boden, wand sich, drehte sich. Schließlich verschwand auch der schwarze Schwanz der Kobra in seinem Mund. Mehemets Kopf schlug nun auf den Wüstenboden. Seine Fäuste hieben in den Staub, während sein Todeskampf noch mehrere Minuten andauerte. Endlich zuckte er ein letztes Mal und fiel dann zurück: Alles Leben war aus ihm gewichen, die toten Augen standen weit offen. Ich hob seinen Kopf und blickte in diese tote Augen – sie spiegelten 169
das gelbrosa Licht der einbrechenden Morgenröte. Ich hielt Mehemets leblosen Leib im Arm und fragte mich, was ich tun sollte. Während ich dasaß, spähte die Sonne über die Berge. Irgendein Impuls ließ mich herumfahren, und da stand ein Mädchen. Sie trug ein purpurrotes Kleid für die Hochzeit. »Es hat einen Unfall gegeben«, sagte ich behutsam. »Du weißt ja, daß Mehemet die Fallsucht hatte. Er hat einen Anfall erlitten und dabei seine Zunge verschluckt.« Sie sah mich argwöhnisch an. »Schau doch hin, wenn du mir nicht glaubst.« »Das brauche ich nicht«, erwiderte sie. »Aber ich muß meinen Bräutigam haben.« Als sie weder Trauer noch sonst eine Regung zeigte, wußte ich ganz sicher, daß sie ein Dschinn war. Doch ich fürchtete mich nicht, und ich ging mit ihr in die Höhle, wo Mehemet und ich ein bequemes Lager und ein Hochzeitsfrühstück vorbereitet hatten. Ihre Haut hatte die Farbe von Zimt. Auf ihr lag der Duft der Morgenröte. Das gelbe und kirschfarbene Licht war auf ihren Schultern. Ihr Duft machte mich schwindeln. Sie legte sich für mich hin. Und im Augenblick der größten Erfüllung, im Augenblick des Eindringens, verließ sie ihre irdische Gestalt. In den nächsten drei Stunden wurde ich fast wahnsinnig vor Furcht, weil sie mich an den Füßen nahm und über die ganze Erde wirbelte. Und für die Sünde des Verkehrs mit einem Dämon, einem Dschinn, muß ich seither bezahlen. Jede Nacht vor Beginn der Dämmerung kommt mein Dschinn und verlangt von mir, daß ich mein Ehegelübde jener Nacht einlöse und mit ihr schlafe. Wenn ich nachgebe, nimmt sie eine ihrer furchterregenden Gestalten an und ängstigt mich zu Tode. Deshalb muß ich jede Nacht mit ihr ringen, sie festhalten, bis sie müde wird oder bis der Tag anbricht. Das ist der Dschinn, mit dem ich leben muß, Tom. Noch etwas Pfefferminztee? 170
32 »Michael Anthony ist tot«, berichtete Katie. »Oh«, machte Tom. Das Schweigen zerrte an ihren Nerven. »Er hat gesagt, ich sollte nach Jerusalem fahren. An jenem Tag im Park beschrieb er mir die Stadt, und er sagte, wenn ich führe, würde ein kleiner Teil von ihm weiterleben. In mir. Sollen wir nach Jerusalem fahren, Tom?« »Warum?« »Er sagte, die Stadt sei wie ein gebrochener Spiegel: Man könne sich selbst sehen, aber das Bild, das einem zurückgeworfen werde, sei ein Schock. Und wenn wir hinfahren, könnten wir auch Sharon besuchen.« »Ich glaube nicht.« »Warum ist dir der Gedanke an Sharon so unangenehm? Warum willst du nicht mit mir reden? Ich habe das Gefühl, als hätte ich dich verloren und müßte nun verzweifelt nach einem anderen Weg suchen. Ich komme mir vor wie Maria Magdalena; als ob ich einst einen großen Anteil an etwas genommen hätte und nun an den Rand gedrängt worden bin, und ich weiß nicht, wie das geschehen konnte. Können wir denn nicht fahren, Tom? Können wir nicht nach Jerusalem fahren?«
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33 Nach dem Besuch bei Ahmed erschienen ihm die arabischen Gesichter freundlicher und sanfter. Die Gassen und Durchgänge sahen nicht mehr so düster, die Schatten auf den alten Steinen nicht mehr so bedrohlich aus. Er lächelte die Menschen in den Gassen an, und sie erwiderten sein Lächeln. Das Spinnennetz seiner Furcht war zerrissen; schließlich, so sagte er sich des öfteren, war dies hier eine arabische Stadt. Seit dem siebten Jahrhundert gehörte sie den Moslems, und es hatte nur eine kurze Besetzung durch die Kreuzfahrer gegeben. Nun hatte man die Araber in ein winziges Viertel gedrängt, in ein Ghetto, und die westliche Welt betrachtete sie als gefährliche Eindringlinge. Am Bethesda-Teich drehte er sich plötzlich um, weil er sich verfolgt fühlte. Hastig schritt er die Via Dolorosa entlang, bis ihn sein Instinkt an einer Straßenecke innehalten hieß. Zwei junge, laut schwatzende Araber gingen an ihm vorüber. Er wartete, bis die Straße wieder frei war. Immer noch mit dem Gefühl, daß jemand hinter ihm herspürte, folgte er der Via Dolorosa bis ins Christenviertel. Das warnende Gefühl begleitete ihn. Es war nicht das Phantom; er hatte ein ganz anderes Gefühl als bei der Verfolgung durch die Magdalena. Diesmal war kein Duft, keine geheimnisvolle Regung in der Luft. Es war etwas anderes. Als er den Davidsturm am Jaffator erreicht hatte, wandte er sich demonstrativ um und erhaschte einen Blick auf einen Mann im schwarzen Anzug, der von der Via in eine Seitenstraße verschwand. In der Davidszitadelle wurde eine Art Historienspiel aufgeführt. Er drängte sich durch die Menge, die sich hinter dem Tor versammelt hatte, und schlug den Weg zu den Fußgängerzonen der Neustadt ein.
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Sharon war bei ihrer Arbeit; half ihren Alkoholikerinnen und Drogenabhängigen. »Sie haben Visionen«, hatte sie mit Betonung gesagt. »Sie unterliegen Sinnestäuschungen. Sie werden von Geistern verfolgt.« Sie hatte bis zum Abend zu tun. Er vertrödelte den Nachmittag in ihrer Wohnung, dachte an sie. Als sie kam, drängte er sie gegen die Tür, um ihr die Kleider herunterzureißen, während sie sich liebten. Später erzählte er ihr, wo er gewesen war und was Ahmed ihm erzählt hatte. Er konnte es ruhigen Gewissens berichten, dachte er; immerhin mußte Ahmed Sharon diese Geschichte auch einmal erzählt haben. »Dieser Kobra-Scheiß«, meinte sie nur. »Und was ist mit den Meistern, die in der Wüste leben? Oder Denen, Die Ihm nahe sind, wie Ahmed sie genannt hat?« »Ich weiß nichts von irgendwelchen Meistern.« »Vielleicht meint er ja die Sufi-Mystiker. Die gibt es wirklich.« »Kann sein. Aber Ahmed ist ein Kiffer. Ich hab’ ständig mit solchen Typen zu tun. Du würdest dich wundern, was denen alles einfällt.« »Ist denn seine ganze Geschichte eine Lüge?« fragte Tom. Sie lagen umarmt auf Sharons Bett, schläfrig und benebelt vom Beischlaf, und ließen ihre Worte schleifen. »Sein Freund verschluckte sich an der eigenen Zunge und starb, während er unter dem Einfluß der Hypnose stand. Soviel ist wahr. Aber den ganzen Rest hat er sich aus seinen Schuldgefühlen zusammengedichtet. Und diese Phantome, die ihn angeblich jede Nacht heimsuchen, entspringen nur seiner Phantasie.« »Aber er hält sie für wahr.« »Und du glaubst, deshalb sind sie wahr?« Er dachte einen Moment nach. »Ja.« 173
»Wenn du also an Feen glaubst, heißt das, daß es sie auch gibt?« »Das hab’ ich nicht gemeint.« »Was hast du dann gemeint?« murmelte sie. Schläfrig. Er starrte in die Dunkelheit, wohl wissend, daß diese Frage unbarmherzig zu der nächsten führen mußte, zu der Frage nach seinem eigenen Glauben. In den letzten Tagen war dieser Glaube so etwas wie ein großartiges zerfallenes Gebäude mitten in der Wüste geworden, und es war, als könne man den Zerfall im Zeitraffer beobachten. Der Wind von Jahrhunderten fraß an dem Gebäude, säte Risse und Löcher, mähte es nieder. Wenn es verschwunden war, würde dort nur noch Wüste sein. Und was besonders an dem Haus nagte, war die Erinnerung. »Was ich sagen will«, setzte er wieder an, nicht sicher, ob sie ihm auch zuhörte, »ist, wenn genügend Menschen einen Glauben teilen, dann muß diese Sache im Grunde wahr sein.« Er sprach über GOTT und LIEBE und WAHRHEIT und andere Begriffe, die einer erleuchteten Sprache bedurften. Doch waren diese ganzen Dinge vielleicht nur Schriftzeichen im Sand? Denkmäler vergangener Zeiten? Zerfallene Häuser in der Wüste? Sharon neben ihm war eingeschlummert. Sie hatte kein Wort gehört. In der Dunkelheit, die wie dicke Tinte war, spähte er zu ihr hinüber. Wer war diese Frau, und war etwas falsch an dem, was sie taten? Verletzte es das Andenken an Katie? Wäre sie verletzt gewesen? Und wenn nicht, warum kam es ihm immer noch wie ein Akt der Untreue vor? Wie seine erste Untreue gegen Katie, als er mit ihr selbst im Bett gewesen war. Nein, er hatte seine Phantasien nicht bremsen können. Das war, als hätte er seine Träume verneinen sollen. Und während er seine Frau liebte, hatte sich die vertraute Phantasie abgespult. Es war das erste Mal, daß er beim Zusammensein mit Katie jemand anders an ihrer Stelle gesehen hatte – die junge 174
Kelly McGovern. Es war in der Bücherei hinter dem Klassenraum. Er sah die blutende Herzrose auf der Schuljacke. Hastig zog er das Mädchen aus, und Katies volle Brüste wurden unter seinen Händen zu den zarten Kellys; unter seiner Berührung streckte sich ihr Bauch; ihre Schenkel waren gestrafft; sogar ihr Duft, ihr Geruch hatte sich verändert; und ihre Jungfräulichkeit war auf magische Weise wiederhergestellt. Als er sich in seine Frau ergoß, hörte er seinen Samen in der leeren Höhle seiner Phantasie aufschlagen. Und einen Augenblick später wußte er, daß Katie es gespürt hatte. Seit dem Beginn ihrer Liebe hatten sie eine Zeit vollendeter Gedankenübertragung erlebt, die sich in nichts von der anderer Liebender in der aufregenden ersten Zeit unterschied; es war die telepathische Fähigkeit, durch die man errät, was der Partner als nächstes sagen wird, seine Bedürfnisse erfühlt, sich mit Gesten wie mit einem Geheimcode verständigt, die Gedanken gewährt werden, diese besondere Zeit über die Maßen hinaus auszudehnen, doch dann war sie unversehens zu Ende – in jenem Augenblick des kalten Samenergusses hatte er gewußt, daß sie unwiderruflich zu Ende war. Die besondere Gnade war ihnen entzogen worden; es war ein Gefühl gewesen wie der Tod. Auch Katie hatte es gefühlt. Ihre verletzte und verwirrte Miene hatte alles ausgedrückt, aber sie konnten nicht darüber sprechen. Denn wo lag der Verrat? Es war alles viel zu abstrakt, es fehlte der Bezug zur Wirklichkeit. Doch ihre Augen verrieten ihm, was sie wußte. In ihnen stand ein frostiger Glanz, als sie ihn über die Schulter hinweg anblickte, bis sie ihm schließlich den Rücken zuwandte, sich die Decke über den Kopf zog und so tat, als schliefe sie. Er hatte noch eine ganze Stunde wachgelegen und in die wirbelnde Dunkelheit gestarrt. Ja, es hatte sich angefühlt wie ein Tod. Nun blickte er auf Sharons schlafende Gestalt in der Dunkel175
heit, auf das Haar, das ihr über die Schultern fiel. Er hatte sie schlafend gewähnt, doch ihre Augen waren offen und beobachteten ihn. Ein beunruhigendes Lächeln spielte auf ihren Lippen. Auch ihre Haltung war seltsam – sie hatte einen Arm unter den Kopf geschoben, und es sah aus, als liege sie verrenkt auf dem Bett. Er beugte sich über sie und knipste die Nachttischlampe an. Ein Schauder überfiel ihn. Es war nicht Sharon. Statt ihrer lag dort die Magdalena nackt auf dem Bett. Ihre tätowierte Haut war dunkel und runzlig wie das Fleisch einer getrockneten Feige. Die Tätowierungen, die sie auf den Armen und Beinen trug, stellten unbekannte Zeichen dar, die sich leuchtend von ihrer zimtfarbenen Haut abhoben. Von ihren Augen war nur das Weiße zu sehen, wie bei einer Blinden. Sie tastete über das Bett, streckte blindlings einen Arm nach ihm aus. Rückwärts floh er aus dem Bett und prallte mit dem Rücken hart gegen die Wand. »Was ist los?« fragte Sharon. »Was ist denn?« Er zitterte am ganzen Leibe. Endlich konnte sie ihn beruhigen. »Ich bin’s«, sagte sie. »Ich bin’s doch, Tom.« Die Erscheinung der alten Frau war verschwunden. Da stand Sharon, vollständig angezogen. Sie trug immer noch die Einkaufstüte voller Lebensmittel, mit der sie hereingekommen war. Tom sah sich mit wilden Blicken um, ob er noch etwas von der Alten entdecken konnte. Auch er war angezogen. »Wie lange bist du schon zurück?« wollte er wissen. »Bin gerade eben gekommen«, erwiderte sie, »und finde dich hier, schreiend.« Tom ließ sich von Sharon in die Arme nehmen. Doch er konnte nichts erklären. Im Raum hing immer noch der schwere, vertraute Duft nach würzigem Balsam.
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34 Tom war schon vor einigen Stunden gegangen, doch Ahmed fühlte sich immer noch seltsam verstört. Er hatte die Geschichte seiner Zeit in der Wüste erzählt, weil er sich einmal im Jahr von der Last befreien mußte; es geschah immer um den Zeitpunkt von Mehemets Tod, den er als Beginn seiner schicksalhaften Vermählung mit dem Dschinn betrachtete. Doch er hatte seine Geschichte nicht nur aus eigensüchtigen Motiven erzählt, denn er spürte Toms Leid und konnte es ihm nachfühlen. Er hatte einen Dschinn gesehen, der wie ein blutsaugendes Wesen auf Toms Schulter saß. Sharon in ihrer Überheblichkeit würde dieses Wesen anders genannt haben, er jedoch, Ahmed, hatte es in seinem wahren Wesen erkannt. Er hatte Tom seine Wüstengeschichte erzählt, damit der Engländer erkennen mochte, daß er mit seinem Leid nicht allein war. Da kam ihm ein neuer Gedanke. Waren alle Dschinn weiblich? Oder mußten einer Frau alle Dschinn als Männer erscheinen? Er schüttelte den Kopf, versuchte die Vorstellung zu verscheuchen und drückte seine Haschisch-Zigarette energisch im Aschenbecher aus. Dann ging er zum Tisch und schob das schwarz-weiße palästinensische Tuch beiseite, das er über die Schriftrolle mit der Spiralenschrift gebreitet hatte. Er zog die ersten Aufzeichnungen hervor, die er voller Abscheu beiseite gelegt hatte, als er entdeckte, daß die Schriftrolle mit einem Stammbaum anfing. Indem er die drei äußeren Ringe der Spirale übersprang, begann er seine Übersetzung an einem neuen, willkürlich gewählten Punkt, dem Text von links nach rechts gegen den Uhrzeigersinn bis zum Mittelpunkt der Spirale folgend. Ahmed übersetzte methodisch und mechanisch, er transkribierte ins Englische, fast ohne die Reihenfolge der Worte 177
wahrzunehmen, die er in sein Notizbuch schrieb. Als erfahrener Gelehrter wußte er, daß Althebräisch eine Sprache ohne Vokale war und daß es dem Leser oblag, die Vokale nach dem Verständnis des Textes einzufügen. Die Beziehung zwischen Leser und Text konnte irreführender sein als selbst die Dschinn, und Ahmed hatte eine Arbeitstechnik entwickelt, bei der er sich innerlich von den Worten fernhielt, die seine Notizen ihm nahezulegen schienen. Erst nachdem er ein paar Zeilen geschrieben hatte, versuchte er, aus ihnen einen zusammenhängenden Text zu entwickeln: (So wie) Motten (aus) Kleidern fliegen, so (fliegt) die Falschheit von den Frauen. So (steht es) geschrieben. Und wenn (eine) menstruierende (? ja) Frau zwischen zwei Männer geht, wird einer (von ihm, ihnen) sterben. Zweitausend Ellen von (jedem) Tempel muß ein Haus für die Unreinen zum Gebet (stehen), denn die Unreinen sind (jene mit) Seuchen und Krätze, die Blinden, jene, die kürzlich Geschlechtsverkehr (haben, hatten), und blutende (menstruierende) Frauen. So steht (all dies) geschrieben. Ahmed ließ sich kaum von der Frauenfeindlichkeit des Textes beeindrucken; solche Behauptungen kannte er sowohl aus anderen Schriftrollen als auch aus den Schriften des Alten Testaments. Er schätzte, daß man für eine Entfernung von zweitausend Ellen ungefähr eine halbe Stunde brauchte, und dies stimmte überein mit den Maßeinheiten für den Bau eines Tempels und den üblichen Vorschriften der Schriften. Doch der nächste Abschnitt hielt eine Überraschung bereit. (Wahrer/Gerechter) Lehrer (sagt), daß diese Dinge nicht sind und aus den Mündern (der) Falschen und Gemeinen stammen. Sie (üble) Pharisäer und Schriftgelehrte sind Lügner und hassen Frauen. Hassen (fürchten) (sie) Menstruationsblut, das für die Fruchtbarkeit des Landes unter (dem) Licht des Mondes ausgebreitet. Welkt Reben. Bleicht Stoff. Schwärzt (versengt) Leinen. Verrostet Eisen. Bienen verlassen (ihre) 178
Stöcke. Befreit Felder von (Schädlingen). Besänftigt Stürme auf See. Heilt (Furunkel? und etwas anderes?). Macht (gut) eine unfruchtbare Frau. Wenn es das alles kann, dachte Ahmed, muß ich mir welches besorgen. (Sie) verachten das heilige Zeichen (die Pharisäer) des Mondes (Anbetung) und die weiblichen Priester. Spucken darauf und machen Huren aus denen von Kanaan vom Tempel der Sieben Säulen, wo (dort) der Wahre Lehrer mich fand gegen die Lügner. Der Tempel des Blutbrunnens und die heilige (Berufung, Priesterschaft) nahm mich von (dort) und von Ashtoreth rettete mich vor (ihren) Steinen. Wer ist denn bloß der Erzähler? dachte Ahmed. Wer berichtet hier? Er überlas das Geschriebene von neuem und fuhr fort mit dem Text. Was die erhabenen Dinge belangt, die nicht vom Wahren (Gerechten) Lehrer, sondern vom Lügner Lehrer, dem Verbreiter der Lügen, gesprochen wurden (werden), so (wurden) sie aufgezeichnet, (als seien) sie wahr. So daß er (Lügner) wird die Kranken heilen und die Toten wiederauferstehen lassen im Namen des (Gerechten). Und er sagt (hat gesagt) zu ihm, du bist der LÜGNER VON JERUSALEM, der Verbreiter der Lügen, die Lügnerzunge und der Feind. Dann wird (sein) Bruder gen Osten schauen, und ich (auch). Während er (Lügner?) schaut gen Westen. Dafür ermordete er ihn (ließ er ihn ermorden – vielleicht ist das eine Frage) und (erfüllte er die) Prophezeiung des Leidenden Dieners. Für diese kurzen Passagen hatte Ahmed drei Stunden gebraucht, in denen er nicht einmal aufgeschaut hatte. Nun las er seine Aufzeichnungen und griff instinktiv nach einer seiner schlanken, selbstgedrehten Zigaretten. Er steckte sie zwischen die Lippen, überlegte es sich dann jedoch anders und legte den Joint wieder auf den Tisch zurück. Versuchte, ein paar weitere Zeilen zu übersetzen. 179
Der Alte Lehrer (der Gerechtigkeit) (machte) eine Prophezeiung am mittleren Tag (des, vermutlich Sonnen-) Jahres, daß die Söhne des Lichtes herniederkommen auf die Söhne der Finsternis (und) den Feind aus dem Land treiben. Nicht erfüllt. Das Feuer fällt (fiel) nicht vom Himmel. Für (Verbrechen der) falschen Prophezeiung (wurde?) er hingerichtet. Verwirrung unter allen Menschen. Er (neuer) Lehrer (der Gerechtigkeit) kam und (verspottete) sie und (der Lügner) haßte am meisten die Frauen. Dann machte er sie (durch) diese Hochzeit wütend, eher weil (wegen) Kanaanäischer Riten der Sieben Säulen. Als er (dadurch) diese Schrift rettete, ärgerte dies mehr (als alles andere) die Pharisäer. Ahmed überflog seine Aufzeichnungen. Diese Schrift rettete? Wer ist bloß der Erzähler? Um die Identität des Autors zu ergründen, mußte er vermutlich zum Anfang zurückgehen, zum äußeren Arm der Spirale, und mit der Übersetzung des Stammbaums beginnen, mit der langen Reihe von Namen, mit der die Rolle begann, und hoffen, daß irgendwann der Name des Erzählers auftauchte. Und andere Fragen plagten ihn. Wer war der Lügner? Wer der Lehrer der Gerechtigkeit? Aber all dies konnte nicht geklärt werden, bevor er keinen Schlüssel zu der Sichtweise der Erzählerperson besaß. Es war eine undankbare Aufgabe; mühsam, weil ihm die Namen nicht vertraut waren. Der Stammbaum nannte eine lange Reihe kanaanäischer Namen und endete ärgerlicherweise mit den Namen von Vater und Mutter des Erzählers und der Erwähnung einer Heirat. Weiterhin zählte die Schriftrolle die Ahnenreihe des Ehepartners auf, nannte jedoch nicht seinen Namen. Der Stammbaum des Partners wurde als ›glänzende‹ oder ›schimmernde‹ Ahnenreihe bezeichnet und der Großvater als Jakob-Heli, jüdischer Rabbi und Mitglied der Essener-Sekte genannt. Ahmed packte die Schriftrolle an den Kanten. »Hey!« sagte er leise. »Hey!« 180
35 Jesus konnte nicht den Kreuzweg entlanggegangen sein, da der Weg durch die Stadt zu seiner Zeit anders verlaufen war. Pontius Pilatus konnte sein ›Seht, welch ein Mensch‹ nicht vom Ecce-Homo-Bogen gerufen haben, weil dieser zu jener Zeit noch nicht erbaut war. Das Evangelium gibt den Kreuzigungshügel als außerhalb der Stadtmauern gelegen an – zwar liegt der Ort jetzt innerhalb der Mauern, aber man streitet sich auch über den ursprünglichen Verlauf der Stadtmauer. Es gibt sogar die Theorie, daß die wirkliche Kreuzigung in Qumran stattgefunden habe, das zu jener Zeit als Neu-Jerusalem bekannt war. Es schmerzte Tom, wenn er an die Horden griechischer Witwen dachte, die an den falschen Gedenkstätten weinten. Er war zu dem anderen möglichen Kreuzigungsort, dem Gartengrab, gegangen; er hatte es aufgegeben, nach den authentischen Orten zu suchen, und wollte sich nun ein wenig Frieden gönnen. Nachdem sie ihn in einem Zustand des Schocks vorgefunden hatte, versuchte Sharon ihn wieder aufzurichten. Er war voller Abwehr gewesen, hatte nicht reden wollen. Sie war sich vorgekommen wie ein Einbrecher. Sie war wütend geworden. Nicht nur darüber, was ihm in Jerusalem passiert war; sie hatte überdies alles wissen wollen, was in England vorgefallen war. Er versteckte sich wie ihre Patientinnen im Reha-Zentrum, hatte sie gesagt. Und sie habe keine Zeit für solche Spielchen. Es war ein ernsthafter Streit, der ihn erschreckt hatte, weil es schon so bald nach der Wiederaufnahme ihrer Liebesbeziehung geschehen war. Sie hatte ihn geschüttelt, ihn im wahrsten Sinne des Wortes an den Schultern gepackt. Was ist los, Tom? Warum willst du mir nicht erzählen, was mit dir passiert? Tom zögerte einen Augenblick, als er sich dem Gartengrab 181
näherte. Zwei Möchtegern-Führer kamen heran, winkten, lächelten. »Hallo? Englisch? Hallo?« »Scheiße! Haut bloß ab!« Mürrisch zogen sich die beiden zurück. Warum können sie mich nicht in Ruhe lassen? dachte er traurig. Warum muß jeden Augenblick einer dieser Typen auftauchen? Du darfst nicht anhalten, dir keinen Moment Pause gönnen. Er blickte zu den beiden Männern, die ihn ihrerseits wütend anstarrten. Er hatte überreagiert, konnte sich aber nun nicht mehr bremsen. »Haut bloß ab, wenn ihr wißt, was gut für euch ist!« Er duckte sich unter dem Eingang zum Gartengrab und betrat eine Oase der Ruhe. Die umherschweifenden beutegierigen Tiere, die nur auf das Geld der Touristen aus waren, schienen die Grenzen dieser Oase zu achten. Keiner bat ihn um Schekel; keiner versuchte ihm eine Führung oder irgendeinen Flitterkram aufzuschwatzen. Der Ort, in nächster Nähe des schäbigen arabischen Busbahnhofs gelegen, war die geeignete Szenerie, in der sich ein viktorianisches Gemüt die Kreuzigung vorstellen mochte. Die Leidenschaft des Generals Gordon: ein ruhiger Olivenhain, mit Jasmin und Oleander durchsetzt, und in der Mitte, aus gelbem Sandstein gehauen, ein freigelegtes Grab. Tom setzte sich in eine schattige Laube, die Augen geschlossen, den Kopf in den Händen. Die anderen Menschen, die durch den Garten schlenderten, ließen ihn in Ruhe. Katie, es tut mir so leid, es tut mir so leid. Du hättest diesen Garten geliebt. Warum sind wir nie hierhergefahren? Es schien, als würde er sich in letzter Zeit ständig bei Katie entschuldigen. Wie ein schmelzendes Foto verschwand die Hitze des Morgens in Jerusalem aus seinen Gedanken, und er war im Dartmoor, wanderte mit Katie, sechs Monate vor ihrem Tode. Sie waren froh, dicke Wanderstiefel und wasserdichte Windblusen angezogen zu haben. Über das Moor fegte ein 182
peitschender Wind, der Regengüsse brachte. Vor ihnen türmten sich mächtige schwarze Wolken, schwollen an und füllten den Himmel aus. Sie flüchteten in den Schutz einer einsamen Gruppe Granitfelsen; seltsam aussehende Steine, wie flache und runde Formen, aus Kuchenteig gerollt und übereinander getürmt. Der Regen streifte sie, als sie mit den Rücken zum Felsen kauerten, vom Wind abgewandt. Das Wasser rann ihnen von den Nasen, näßte die Blusen. Die Kleider darunter wurden durchweicht, und eine unbarmherzige Kälte drang ihnen in die Knochen. Katie nahm seine Hand, während sie niederkauerten. »Ich liebe das Moor, wenn es in dieser Stimmung ist«, sagte sie. »Ich liebe es so sehr wie bei gutem Wetter. Nein, eigentlich noch mehr. Ich liebe seine Bedrohung. Du nicht auch? Magst du es nicht auch?« »Ja«, erwiderte er, doch er meinte es nicht. Sie lachte ihn aus und versuchte, ihn zum Lächeln zu bringen, gab ihm ein Stückchen nasse Schokolade, als sei er ein kleiner Junge, den man aufheitern müsse. Doch es klappte nicht. »Freu dich doch«, sagte Katie. »Wir sind naß, na und? In ein oder zwei Stunden sind wir wieder trocken. Was spielt das für eine Rolle? Was ist denn wichtiger, als mit dem Menschen zusammen zu sein, der dir der liebste auf der Welt ist.« »Im Moment fallen mir da ‘ne ganze Menge Sachen ein.« »Freu dich doch. Sag mir, daß du mich liebst.« »Ich liebe dich.« »Nicht so. Schau mir in die Augen, als ob es das Wichtigste ist, was du je in deinem Leben sagen wirst. Als wäre es das Letzte, was du jemals sagst.« Doch dann waren die Sturmwolken mit einem Mal tiefer gesegelt, hatten sich verdunkelt und sie eingeschlossen. Schauer um Schauer waren auf sie niedergegangen, und er gebrauchte dies als Entschuldigung, um seine Augen von ihr abzuwenden, ihrer erdrückenden Bitte zu entrinnen. »Sag es mir, Tom. Sieh mich an und sag, daß du mich 183
liebst.« Er öffnete die Augen und sah den makellosen Himmel über Jerusalem, sein strahlendes Licht. Sie hatte herkommen wollen. Sie wollte, daß sie zusammen hierher fahren sollten, und er hatte es ihr verweigert. Eine kleine Besuchergruppe wurde von einem silberhaarigen, leise sprechenden Engländer durch den Garten geführt. Die murmelnde Stimme hatte ihn aus seinen Erinnerungen erlöst. »… wir möchten es glauben, und deshalb erscheint es uns richtig. Golgatha bedeutete Schädel oder Schädelstätte, und wenn Sie den Hügel dort drüben beachten, können Sie eine schädelähnliche Form erkennen. Es ist auch wahrscheinlicher, daß er an einem öffentlichen Ort gekreuzigt wurde, um ein Exempel zu statuieren, und dies hier ist in frühen Zeiten tatsächlich eine Wegekreuzung gewesen. Kreuzigung war, wie Sie wissen, ein langer, schmerzhafter Tod. Ein Mann konnte drei Tage am Kreuz hängen, bevor er starb, vorausgesetzt, seine Beine konnten sein Gewicht tragen. Wenn sie es nicht trugen, reichte der bloße Druck auf seine Lunge, daß er erstickte, und deshalb pflegten die Römer als eine Art Gnadenakt die Beine der Verurteilten zu brechen, um ihr Ende zu beschleunigen. Aber bei Johannes heißt es, daß sie ihm nicht die Beine gebrochen haben, und so hat sich eine weitere Prophezeiung erfüllt, nämlich, daß ›ihm kein Knochen gebrochen werde‹. Und wenn Sie nun hier herüberschauen wollen, werden Sie das Grab sehen, welches für uns natürlich wundervoll ist, da es leer ist …« Die kleine Gruppe schlurfte davon, um sich das gelbe Sandsteingrab anzuschauen. Tom blickte auf und sah einen Mann im dunklen Anzug, der ihn vom Eingang des Gartens aus beobachtete. Dann verschwand er in aller Ruhe hinter dem Empfangsgebäude. Tom erhob sich und begab sich zum Empfang, doch der Mann war bereits verschwunden. Er verließ den Garten, ohne etwas in den Opferstock zu werfen. 184
36 Ahmed kratzte sich am Kopf, als habe er Läuse. Seine Arbeit an der Übersetzung der Schriftrolle kam nicht gut voran. Nachdem er seinen ersten Versuch über Nacht liegen gelassen hatte, war er am Morgen unbefriedigt zu der Arbeit zurückgekehrt. Aus Gewohnheit überarbeitete er sein Werk neu und fand es mit Fehlern übersät. In einem einzigen Abschnitt entdeckte er die Fehlübersetzung von mindestens sieben Hauptwörtern und vier schwere Grammatikfehler. Auch wenn er sich eine gewisse Wahlmöglichkeit bei der Interpretation zugestehen mußte, konnte er nicht verstehen, wie er so schlampig hatte arbeiten können. Es war fast so, als sei jemand mitten in der Nacht erschienen und habe bestimmte Buchstaben in dem Manuskript umgestellt. Dieser Gedanke scheuchte ihn an seine kleine Polstertruhe, wo er seine Talisman-Sammlung aufbewahrte. Ahmed sammelte Talismane: er sammelte sie, und er glaubte an ihre Kraft. Er war der Kustos eines kleinen privaten Museums. Viele dieser kleinen Gegenstände waren an Fäden gebunden, so daß man sie um den Hals tragen konnte. Manche waren Armbänder oder Ringe, und andere waren schmierige Gebräue aus widerwärtig süßen, undefinierbaren Düften. Wieder andere hatten die Form vertrockneter Tiere, wie Skorpione oder Eidechsen. Seine Sammlung beinhaltete einen Schrumpfkopf und einen mumifizierten Finger. Menschen gegenüber, die von dieser Sammlung wußten, trug er ein gelehrtes Interesse zur Schau, und im Falle der letzteren Objekte traf dies auch zu. Doch er hatte auch andere Gegenstände in Besitz, von denen er glaubte, daß sie einen Schutz gegen das Eindringen der Dschinn darstellten. Die Spiral-Schriftrolle hatte ihn an einen Anhänger erinnert, der echt kanaanäischen Ursprungs war. Er hatte ihn durch eine 185
List bei den archäologischen Ausgrabungen in Ugarit in seinen Besitz gebracht. Nun nahm er ihn vorsichtig aus der Truhe. Es war ein rundes Medaillon, aus polierter geschwärzter Bronze gefertigt und von einem Stück schmutziger Kordel durchbohrt und umschlungen. Es trug ebenfalls eine Inschrift in Spiralform – eine Beschwörung in Keilschrift, die Ahmed trotz all seiner Gelehrsamkeit nicht lesen konnte. Er hielt es für ein Gebet an die Ashtoreth, in Spiralform geschrieben, um ein Labyrinth darzustellen, in dem sich übelwollende Geister verirren mochten. Ahmed hängte sich das Medaillon um den Hals und wandte sich wieder seiner Arbeit an der Schriftrolle zu. Nachdem er seine Verbesserungen beendet hatte, rollte er die Ärmel hoch und machte sich mit neugewonnener Kraft an einen neuen Abschnitt: Er versammelte den Rat der Zwölf, in (dem) vertreten waren die Sikarier und die Zeloten, aber nicht die Pharisäer (und) nicht die Saduzäer, um den Prinzen der Gemeinde zu ernennen. Der Frevelpriester (Lügner) der Pharisäer haßte (er) ihn wegen der Hochzeit zu Kanaan und weil er die Frauen haßte. Dann schlug der heilende Blitz (oder Die Gabel des Blitzes) ein. Er verrückte den Mond (Kalender) am Himmel um (einen) Monat, so war Lehrer der Gerechtigkeit nicht länger unehelich. Dann (nahm ich) teil am Marsch zum Feigenbaum. Der Blitz unter seinem anderen Namen Bethanien (machte) das Schlangengift, und der Lehrer gab Aloe und Myrrhe, um (ihn) wiederauferstehen zu lassen. Wer zur Prophezeiung kommt, wird (den) Feigen-Messias (blühen lassen). Danach die Heilige Schrift, und mit jenen (den gleichen) Mitteln wird der Leidende Diener wiederauferstehen. Vom Rat der Zwölf wissen nur er, der Simon des Blitzes, ich und der Sikarier. Der Blitz gab den Römern ein Geschenk (Bestechung), damit er (seine Beine) nicht aus Gnade gebrochen wird. Ein Schatten fiel über Ahmed. In einer Art Fieber überlas er 186
seine Aufzeichnungen. Dann fing er an, hastig in sein Notizbuch zu kritzeln. Ein Lehrer der Gerechtigkeit. Wird vom ›Frevelpriester‹ verfolgt. Die Erfüllung der Prophezeiung = die Feige trägt erst nach Jahren Früchte, siehe Altes Testament. Der Rat der Zwölf. Der Leidende Diener/Prinz der Gemeinde, vermutlich gestorben. Die Sikarier = die Attentäter vom Marktplatz, eine Untergruppe der Zeloten. Ein anderer Name für Bethanien, der Auferstandene = Lazarus? = Simon Magus, d. h., der Heiler? Und der Sikarier, der in den Plan eingeweiht war = Judas Iskariot? Klingt das nicht vertraut, Ahmed? Sehr vertraut?
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37 »Machten, machten, machtachten, macht, macht, machten.« »Christina, sprich mit mir. Ich bin’s, Sharon. Was hast du genommen?« Als Sharon an diesem Morgen ins Zentrum gekommen war, hatte sie Christina wieder im Raum Weiße Wolke gefunden. Sie löste Tobie ab. Eine der Bewohnerinnen hatte Christina beim Frühstück rosafarbene Kapseln einwerfen sehen, eine halbe Stunde vor Sharons Eintreffen. »Wie ist sie denn an das Zeug gekommen?« hatte Sharon wissen wollen. »Hat’s in irgendeiner Körperöffnung reingeschmuggelt, Darling, das ist doch der übliche Weg.« »Überlaß sie mir, Tobie. Ich kann mich schon darum kümmern. Und sag meiner Tagesgruppe, sie müssen jetzt mal ‘ne Weile allein klarkommen.« Tobie verließ den Raum, und Christina begann sich zu wiegen, schlug mit dem Kopf gegen die gepolsterte Wand. »Machten. Machtachten. Tobie kann mich mal.« »Mach nur so weiter, und du kommst ins Irrenhaus. Wir können das nicht mehr mitmachen. Wir schaffen das nicht, wenn du immer wieder ausflippst. Wir machen hier bloß Ernährung und Makramee, hast du das mitgekriegt?« »Na na na, sha na na na. Willst du wissen, wie sie’s machten macht, macht, machten? Sha na na.« Sharon hatte mit Christina Rückzüge, Entgiftungen, Hochs, Tiefs, Trips, Speed und Beruhigungsmittel, Weiße Wolke und furchtbare Angstzustände durchgemacht. Sie selbst hatte eine schwere Nacht hinter sich und nach dem Streit mit Tom kaum geschlafen. Es machte sie wütend, daß sie nach einem Tag voller Arbeit mit aufsässigen Patienten nach Hause fahren und dann noch Tom vorwerfen mußte, daß er keinen Versuch 188
unternahm, sich einmal zu öffnen; und sie wußte, daß er es tun mußte, um seinen Verlust wirklich zu erleiden. Er war so empfindlich; jedes kleinste Stückchen Information glich einem Seitenhieb, als müsse sie seine Finger brechen, um es herauszubekommen. Er konnte nicht verstehen, daß er sprechen mußte oder schreien oder wüten und weinen – dann würden ihn vielleicht keine Phantome mehr quälen, und er wäre fähig, das Schreckliche zu akzeptieren, das Katie widerfahren war. »Sha na na nan nan na.« »Ich hab’ es satt, Christina.« Eine wichtige Sache, die sie bei der Therapie gelernt hatte, war, auf ihre eigenen Gefühle zu achten. Wenn sie sich über eine der Klientinnen ärgerte, so konnte sie es entweder direkt sagen oder später die Folgen am eigenen Leib spüren. Es war ein Selbsterhaltungstrieb. Jeder, der so tat, als sei er ruhig, ausgeglichen, habe alles unter Kontrolle und lasse sich nicht von der Arbeit berühren, brauchte höchstens zwei Jahre, bis er selbst zum Patienten wurde. Der Übergang von Therapeut zu Klient hatte sich in mehr als einem Fall über Nacht vollzogen. Depression und Hoffnungslosigkeit waren ansteckender als Scharlach. »Ich hab’ deine ganzen Spielchen satt, und mir reicht’s, daß du mir nie etwas zurückgibst. Ich hab’ keine Geduld mehr. Ich hab’ sie verbraucht, und ich werde jetzt Tobie fragen, ob sie dich übernimmt, und wenn sie nicht kann, dann frag’ ich jemand anders. Das war’s.« Sie stand auf. Christina schaukelte weiter. »Machten, machten, machten, ICH SAG’ DIR, WAS PASSIERT IST«, rief sie, als Sharon an der Tür war. »Machten, machten, machten, ich sag’s dir, ich sag’s dir.« Sie wiegte sich noch ein wenig schneller, schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Sharon kam zu ihr zurück und setzte sich wieder hin. »Welche Pillen hast du genommen?« »Macht nichts, macht nichts, macht nichts, ich sag’s dir, ICH SAG’ DIR, wie sie’s machten. Sie machten es. Sie brachen ihm 189
die Beine, ja ja, brachen die verdammten Beine, so haben sie’s gemacht, hey hey, ich versuch’s, brachen die verdammten, er sollte nicht sterben, nein, nein, sollte nicht sterben, er sollte nur da hängen, VERSTEHST DU, WAS ICH, nur da hängen, bis sie ihn abnahmen, nicht tot, nein, nein, überhaupt nicht tot, tat nur so, als sei er tot, damit er leben konnte, die ganze Sache, er SOLLTE NICHT STERBEN, aber du weißt ja wer, du weißt wer, ES WAR SAULUS, der sagte: BRECHT SEINE VERDAMMTEN BEINE, er sagte, brecht ihm die Beine, denn er ist es. Er machte es. So haben sie’s gemacht! Gemacht!« Nun knallte Christina mit dem Kopf gegen die Polsterwand. Sharon versuchte, das heftige Wiegen zu bremsen, indem sie Christina in die Arme nahm. »Wer? Von wem redest du da, Christina? Ich weiß nicht, wen du meinst.« »Wer? Wer? Gut, ich versuch’s zu sagen, ich versuch’s, ich REDE ÜBER JESUS! JESUS! ARMER JESUS! SIE BRACHEN IHM DIE BEINE! SO HABEN SIE ‘S GEMACHT! JESUS! MEIN ARMER JESUS!« Christina hörte auf, sich zu wiegen und brach auf dem Boden zusammen; sie heulte vor Entsetzen, und ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt. Sharon versuchte sie aufzurichten, zu trösten. »Es sind bloß die Pillen, Christina. Du hast einen schlechten … Was hast du genommen?« »Nein o nein, nein, nein. Armer Jesus. Armer Jesus.« Sie war untröstlich. Es war, als erlebe sie alles, was sie erzählte, am eigenen Leibe. Ihr Körper zuckte; Schreie entrangen sich ihrem Mund, erstickten sie. Unversehens hörte sie zu weinen auf. Sie legte sich der Länge nach auf den Boden, den Kopf auf den Nylonteppich gedrückt, der noch feucht war von ihren eigenen Tränen. Dann sagte sie mit klarer Stimme: »Ich bin Maria Magdalena.« »Ja«, meinte Sharon, die nur trösten wollte. »Ist in Ordnung. Und ich bin die Jungfrau Maria.« Christina setzte sich auf, einen unwilligen Ausdruck im 190
Gesicht. Sie strich sich das lange, braune Haar aus den Augen. Dann sprach sie mit der Stimme, die Sharon am Morgen zuvor in ihrem Autoradio gehört hatte. Es war eine Stimme, die sie sofort erkannte. An jenem Morgen hatte sie Sharon dazu veranlaßt, mitten im Verkehr stehenzubleiben, und auch jetzt fuhr sie ihr eisig bis ins Mark. »Warum versuchst du, mich auszuschließen? Ich bin es, Sharon. Ich versuche, dir zu erklären, was geschehen ist.« »Christina!« Christinas Kopf war zur Seite gerollt. Sie zupfte leicht an ihrem Kragen, als tue er ihr weh. »Ich kann nicht atmen«, sagte sie. Die Worte kamen aus Christinas Mund. Aber es war Katies Stimme. »Ich kann nicht atmen, ich kann nicht atmen.« »Ich weiß es nicht, Darling. Ich hab’ hier schon so viele Dinge erlebt, daß meine ganzen Gewißheiten schon vor langer Zeit zusammengebrochen sind.« Sie saßen in Tobies Büro, tranken die zweite Tasse Tee. Nachdem sie Christina mit der Stimme ihrer toten Freundin hatte sprechen hören, war Sharon aus dem Zimmer geflohen und hatte über den Flur geschrien. Tobie war in der Nähe damit beschäftigt gewesen, eine Türangel zu reparieren, und war sofort herbeigeeilt. Sie hatte Sharon einmal prüfend angesehen und sie dann in ihr Büro geführt, gleichzeitig jemand anderen mit der Aufsicht Christinas beauftragt: »Marcia, bist du so lieb und kümmerst dich um Christina in der Weißen Wolke? Ich muß jetzt die Therapeutin beraten.« Doch sie hatte keinen Rat angeboten; sie hatte nur zugehört. »Ich weiß nicht, wie es passiert ist, Tobie; aber irgendwie hat es mich erwischt. Tom kann den Tod seiner Frau nicht verwinden, und jetzt hat er mich angesteckt. Als es zum ersten Mal passierte, konnte ich es ja noch meiner Einbildung zuschreiben, 191
aber wenn du jetzt eben dabei gewesen wärst …« »Was ist genau passiert? Erzähl es mir noch einmal.« »Christina war auf ihrem üblichen ausgeflippten Trip, und dann war es, als würde ein Schalter umgelegt, und sie sprach mit Katies Stimme. Genauso, wie ich sie gestern morgen im Radio gehört habe. Und es war nicht wie Katies Stimme, es war Katies Stimme.« »Und was ist mit diesem Tom? Bumst du mit ihm?« »Tobie …« »Hör mal, kennst du mich nach all den Jahren immer noch nicht? Meinst du, ich würde dich verurteilen?« »Nein. Aber wenn du mir sagst, es ist passiert, weil ich Schuldgefühle habe, schrei ich.« »Dann schrei doch. Es würde dir vielleicht guttun.« »Aber ich hab’ keine Schuldgefühle! Wirklich nicht!« Tobie tippte sich an den Kopf. »Hier drin nicht.« Dann bewegte sie die Hand über ihre große Brust. »Aber hier.« »Dem kann ich nicht zustimmen.« »Hast du vergessen, was du gelernt hast, als du das erste Mal herkamst?« »Wirf es mir nur an den Kopf.« »Ich will dir nichts an den Kopf werfen. Ich möchte nur, daß du dich daran erinnerst, daß wir alle die Patienten sind.« Sharon war zum Bet-Ha-Kerem-Rehabilitationszentrum gekommen, als sie vor sich selbst zugeben mußte, daß sie ein Problem hatte, und zwar ein Problem mit Kokain. Sie hatte achtzehn Monate lang in Saus und Braus mit einem reichen Häusermakler gelebt, und als die Beziehung vorbei war, blieb ihr nur eine teure Sucht, die sie nicht bezahlen konnte. Sie suchte Hilfe und fand sie im Bet-Ha-Kerem. Tobie fiel ihre Fähigkeit auf, mit den anderen Klienten zu fühlen und sie zu unterstützen. Sie hatte wirklich eine besondere Begabung, stellte Tobie fest, und leistete bessere Arbeit als manche der Angestellten im Zentrum. Tobie bot ihr die Arbeit an, zunächst 192
auf Teilzeitbasis, aber Sharon lernte schnell und wurde zur Vollzeitkraft. Tobie war eine Offenbarung. Diese kleine grauhaarige, großbusige jüdische Urmutter, die alle um den Verstand brachte, indem sie jeden mit Darlink titulierte, war der klügste Mensch, den Sharon je getroffen hatte. Ihre Prinzipien waren sehr einfach – an erster Stelle stand die Überzeugung, daß jeder Mensch eine gewaltige Fähigkeit zu Lüge und Selbsttäuschung besitzt und daß jeder für sich selbst das erste Opfer darstellt. Zuerst einmal hört auf, euch selbst zu belügen, sagte sie zu jedem, und dann haben wir vielleicht eine Chance. Und mehr noch – sie sagte zu Sharon, sie solle die Leute nicht hassen, weil sie sich selbst belogen, sie solle sie eher dafür lieben, denn diese Selbsttäuschung sei das Zeichen ihres Menschseins. Der Versuch, mit der Selbsttäuschung aufzuhören, behauptete sie, sei der einzige legitime Anfang für jede Art der Verbesserung. Als nun Tobie Sharon ermahnt hatte, daß sie ›alle Patienten‹ seien, hatte sie eben dies gemeint. Der zweite Grund, warum Tobie Sharon als Mitarbeiterin eingestellt hatte, bestand darin, daß Sharon die ältere Frau an sich selbst erinnerte: Tobie war einst Alkoholikerin gewesen. »Also, was glaubst du?« fragte Sharon, etwas ruhiger. »Tom wird von etwas verfolgt, das ist klar. Er weicht vor irgend etwas aus, das mit dem Tod seiner Frau zu tun hat. Jetzt, wo ihr ein Liebespärchen geworden seid, teilst du seine Neurose, falls man es so bezeichnen kann. Du hast geglaubt, du kannst in sein Bett steigen und ihm damit helfen; ich kenn’ dich doch. Aber du kannst die Gefühle anderer Menschen nicht auf Armeslänge von dir halten, Darling; sie sind wie Geschlechtskrankheiten, diese Gefühle. Schlimmer noch: sie setzen sich auf deinen Rücken und klammern sich fest.« »Jetzt hörst du dich bald so an wie Ahmed mit seinen Dschinn.« »Ach, der. Wie geht’s ihm denn, siehst du ihn manchmal?« 193
»Er hat sich kaum verändert.« »Dieser Ärger, den er hier veranstaltet hat. Nach seiner Therapie hab’ ich das Zentrum nur noch für Frauen gemacht. Trotzdem, bei ihm hast du ein gutes Werk getan.« »Ich bin mir nicht so sicher.« »Und was willst du jetzt mit Tom machen? Kannst du ihn nicht zum Reden bringen?« »Gott, wie ich es versucht habe! Ich weiß, daß da etwas ist, aber es herausbringen … Es ist, als wollte man einen großen Hund durch einen goldenen Ring ziehen.« »Ja«, strahlte Tobie. »Durch seinen Ehering, Darling!« Manchmal hätte Sharon sie ermorden mögen. Am Abend erzählte sie Tom, was geschehen war. Vorsichtig näherte sie sich der Offenbarung, daß es Katies Stimme gewesen war. Sie hoffte, dann würde er endlich mit ihr reden. »Christina hat mir so eine Art Geschichte erzählt. Sie hatte mit Jesus Christus am Kreuz zu tun.« »Das war ein abgekartetes Spiel«, platzte Tom heraus. »Was? Was sagst du da?« Tom sah verwirrt aus. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Es ist mir so herausgerutscht.« »Was meinst du mit einem abgekarteten Spiel‹?« Tom wich ihrem Blick aus. »Sprich mit mir, Tom. Sag es, egal wie.« »Ich kann es nicht erklären.« »Dann versuch’s doch wenigstens mal.« »Die Stimme in meinem Kopf. Ich hab’s dir erzählt, es fing an, als ich nach Jerusalem kam. Sie ging mir im Kopf herum wie ein Tonband, das man nicht abstellen kann. Die Stimme der Frau. Dann schien sich ihre Identität zu verändern. Die Stimme kam wie ein Tagtraum oder in kurzen Momenten gerade vor dem Einschlafen. Ich bin die Zunge, sagte sie. Doch 194
jetzt höre ich sie nicht mehr. Es hörte vor wenigen Tagen auf, nachdem wir uns das erste Mal geliebt hatten. Die Stimme versuchte mir eine Geschichte zu erzählen, eine andere Version der Kreuzigung. Es war ein abgekartetes Spiel. Sie kannten die heilige Schrift. Sie drehten es so, daß Jesus alle Prophezeiungen erfüllen konnte, damit die Menschen davon überzeugt wurden, daß er der Messias war. Es war alles arrangiert. Aber sie wollten nicht, daß er am Ende sterben sollte. Ich weiß nicht. Was soll ich dir denn erzählen?« »Es ist schon gut, Tom. Sag es mir einfach.« »Auf jeden Fall hat es aufgehört. Ganz plötzlich. Nachdem wir uns geliebt hatten, verstummte die Stimme, und ich dachte, nun wäre es vorbei. Aber das Phantom ist mir wieder erschienen. Weißt du noch – der Abend, als du von der Arbeit kamst und ich hier schreiend in der Wohnung saß? Ich dachte, wir beide wären zusammen gewesen. Aber es war jemand – etwas – anderes.« »Ging es in der Geschichte auch darum, daß sie Jesus die Beine gebrochen haben, während er am Kreuz hing?« »Nein. Warum willst du das wissen?« »Weil eine Klientin im Zentrum etwas in der Richtung erzählt hat. Es war zwar ziemlich zusammenhanglos, aber sie sagte immer wieder, daß sie ihm die Beine gebrochen hätten und daß er deshalb gestorben wäre.« »Wenn dich deine Beine nicht abstützen, würde dein eigenes Gewicht so auf die Lunge drücken, daß du erstickst. Ich hab’ jemanden darüber erzählen hören. Sie haben es getan, um das Martyrium zu verkürzen.« »Oder um jemanden zu töten, der eigentlich nicht sterben sollte?« »Ja, das könnte auch daraus folgen. Aber in der Bibel heißt es ja ausdrücklich, daß sie ihm nicht die Beine gebrochen haben. Doch was hat das alles mit mir zu tun, Sharon? Warum erzählt man mir dieses Zeug?« 195
Sie mußte es ihm jetzt sagen. »Tom, ich glaube, es gibt eine andere Stimme hinter der, die du immer hörst.« »Was willst du damit sagen?« »Tom …« Sharon konnte nicht mehr sagen, was ihr im Kopf herumging. Das Telefon klingelte. Einen Augenblick lang dachte sie, es klingeln zu lassen. Dann erhob sie sich und nahm den Hörer ab. »Ja? Ach? Ja. Gut. Aha. Ja. Wirklich. Gut.« Leise legte sie den Hörer auf. »Das war Ahmed. Hat sich ganz aufgeregt angehört. Scheint so, als hätte er doch an dieser Schriftrolle gearbeitet. Er will, daß wir zu ihm kommen.« »Sofort?« »Ja«, seufzte sie. »Sofort.«
196
38 »Du solltest wissen, daß ich die ganze Nacht über deiner verdammten Schriftrolle gebrütet habe. Ich sag’ dir ganz ehrlich: Ich wollte sie eigentlich nicht einmal anrühren. Aber dann quälten mich wieder die Dschinn, und ich dachte, ein paar Stunden intensives Studium könnten sie vertreiben.« Ahmed sah wirklich wie ein Mann aus, der vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte. Seine Wohnung war ungewohnt schmutzig. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Nachschlagewerke und gelehrte Bücher. Die Schriftrolle lag mitten auf dem Tisch unter dem Licht einer schwenkbaren Lampe. Zwar wirkte Ahmed erschöpft, doch sein Mund zuckte angeregt. Beim Sprechen strich er sich über den seidigen schwarzen Schnurrbart. »Und was sehe ich da? Deine verdammte Rolle ist von den Dschinn verpestet. Verpestet! Sie krabbeln über das Ding, saugen es aus. Und jedesmal, wenn ich etwas übersetze, ändern sie es. Ich blinzle einmal, schaue wieder hin, und da steht etwas ganz anderes!« »Ahmed, hör mit dem Quatsch auf. Sag uns, was drinsteht!« »Quatsch?« Der Araber drohte Tom mit einem feingliedrigen braunen Finger, sprach jedoch wütend zu Sharon. »Frag ihn doch! Frag deinen englischen Liebhaber! Er weiß es! Er weiß, daß es kein Quatsch ist!« Dann wandte er sich an Tom und bot in äußerst liebenswürdiger Weise einen Pfefferminztee an. »Gib ihm ein Bier«, grollte Sharon. »Er will bestimmt lieber ein Bier als deinen scheußlichen Tee.« »Sie weiß doch, daß ich Moslem bin. Ich trinke kein Bier.« Sharon sprang von ihrem Kissen auf und ging zum Kühlschrank, der mit einem Palästinensertuch bedeckt war. Sie öffnete die Tür weit und ließ einen Vorrat an Maccabee-Bier sehen. Dann holte sie drei Flaschen heraus und machte sie auf. 197
»Er ist ein ganz gemeiner Hund.« »Ich liebe dich«, sagte Ahmed zu ihr und nahm eines seiner eigenen Biere entgegen. »Komm und leb mit mir. Sei meine Geliebte.« »Ich hab’ mit Tobie über dich gesprochen. Sie läßt dich grüßen.« »Das ist eine schlimme Frau«, sagte Ahmed zu Tom. »Sie hat mich mit ihren Fragen beinahe umgebracht.« »Sie hat ihm das Leben gerettet«, warf Sharon ein. »Ich würde lieber eine Nacht mit tausend Dschinn verbringen, als diese Frau noch einmal leibhaftig zu sehen. Sag ihr bitte, daß ich sie nicht zurückgrüße.« »Nun sag uns etwas über die Schriftrolle, Ahmed!« »Ach ja, die Schriftrolle. Hab’ ich euch erzählt, daß ich die ganze Nacht daran gearbeitet habe? Ich hoffe, ihr wißt das zu schätzen. Tom, zuerst einmal mußt du mir etwas über den Mann erzählen, von dem du sie bekommen hast. Glaubst du, daß er es zu schätzen wußte, welch ein wichtiges Dokument er da besaß?« »Ohne Zweifel. Er litt unter Verfolgungswahn. Dachte, daß alle möglichen Leute versuchten, ihm die Rolle wegzunehmen.« »Er könnte recht gehabt haben. Auf den ersten Blick sieht der Text so aus, als sei er von Jesus Christus selber geschrieben worden.« »Was!!?« sagten Tom und Sharon wie aus einem Munde. »Ich sagte, auf den ersten Blick. Weil der Autor einen Stammbaum anführt, der sich ohne Zweifel auf Jesus bezieht. Sein Vater war Josef, der Essener, sein Großvater Jakob-Heli und so weiter und so fort bis zu König David (ihr müßt entschuldigen, aber ich denke, wir sind erwachsen genug, um nicht an diese Jungfrauengeburt zu glauben). Also glaubte ich zuerst, ich hätte es da mit einem Manuskript eures Messias zu tun. Könnt ihr euch meine Aufregung vorstellen? Im Islam 198
zählen wir ihn immerhin zu den Propheten; und ich mußte eine Stunde lang das Rauchen einstellen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.« »Aber dann stellte sich heraus, daß es doch nicht von Jesus geschrieben war?« meinte Sharon. »Nein. Es wurde offenbar, daß dieser Stammbaum durch eine Eheschließung in die Schrift geraten war. Das muß euch nicht überraschen; es ist ziemlich wahrscheinlich, daß Jesus verheiratet war. Die christliche Kirche hat dies zwar immer aus der Bibel entfernt, aber der Beweis steht in den Apokryphen; und da Jesus ein Rabbi war, wäre es schon sehr seltsam gewesen, wenn er nicht verheiratet war.« »Die Magdalena«, flüsterte Tom. »Maria Magdalena?« echote Ahmed. »Könnte durchaus sein. Aber obwohl es klar ist, daß die Schriftrolle von einer Frau verfaßt wurde, gibt sie ihren Namen nicht an.« »Weiter.« »Wißt ihr noch, daß Jesus auch einen Bruder hatte? »Jakobus«, erwiderte Tom. »In der Bibel wird erwähnt, daß er einen Bruder mit Namen Jakobus hatte.« »Richtig. Aber wer immer diesen Text verfaßt hat, erscheint zuerst als Feind des Jakobus. Die Verfasserin nennt ihn nicht beim Namen und bezeugt auch keinen Respekt vor ihm. Sie nennt den namenlosen Bruder ›Die Schwierigkeit‹ und ›Die Zweideutigkeit‹. Aber hier muß ich mit meiner Interpretation vorsichtig sein, denn alles ist in einer Art Code geschrieben. Es scheint, als habe die Autorin ein zerbrechliches Bündnis mit dieser ›Schwierigkeit‹, also mit diesem Jakobus geschlossen, und zwar gegen einen Feind, den sie wiederholt den ›Lügner‹ oder den ›Lehrer der Lügen‹ nennt. Sie waren in einen Machtkampf über einen Glaubenskult verstrickt. All dieses Gerede über den ›Lügner‹ und den ›Feind‹ und den ›Gerechten‹ kann einen schon in den Wahnsinn treiben, weil man nicht weiß, wen sie da meinen, und es wechselt auch 199
immer wieder, je nachdem, ob sie nun über die Vergangenheit oder die Zukunft reden. Dazu noch Althebräisch, bei dem man nicht weiß, ob es nun heißen muß: ›der Lehrer tötete ihn‹ oder ›er tötete den Lehrer‹. Man muß es deuten. Ich will euch eine übersetzte Passage vorlesen, die ich soweit bereinigt habe, daß der Sinn klarer wird.« Ahmed begab sich zu seinem Schreibtisch und zog ein Blatt Papier hervor, auf dem vieles unterstrichen und zwischen die Zeilen geschrieben war. Er las: »Als der Ruhm der Feigen-Wahrheit innerhalb der Lüge gescheitert war, tat sich der Bruder des Lehrers der Gerechtigkeit mit der Lügenzunge zusammen, und die Parteien von Ost und West führten Krieg. Vor dem Grab kamen zu mir der Lügner und sein Bruder. Aber ich erkannte ihn nicht. Denn er hatte sich zusammengetan mit der Lügnerzunge, die befohlen hatte, man solle ihm die Beine brechen. Alle Prophezeiungen der Feige waren bewässert worden. Jede Wurzel jeder Pflanze. Aber nicht die Erfüllung.« Sharon fröstelte. »Die Feige«, erklärte Ahmed, »ist ein Baum, der Generationen zuvor gepflanzt werden muß, bevor er eines Tages Früchte trägt. Nur die Nachgeborenen können von ihm ernten. Das bezieht sich darauf, daß auch manche Prophezeiungen reifen müssen. Die Autorin gehörte zu einer religiösen Sekte, die versuchte, die Prophezeiungen geschehen zu lassen. Sie war mit der Zentralfigur verheiratet.« »Welche Figur?« fragte Sharon. »Welche Prophezeiungen?« »Es steht alles im Alten Testament. Der Leidende Diener. Der Prinz der Gemeinde. Der Heiler. Der Messias, der auf einem Esel reitet. Hört euch das an: Der Sikarier, der bei dem Plan des Magus geholfen hatte, brachte sich vor Schmerz um. Der Rat der Zwölf zersplitterte. Ich würde mir nicht den Pharisäer zum Gefährten wählen, der den Lehrer hinrichten ließ. Mein Ehegemahl. Mein Lehrer. Mein Leben. 200
Es ist nicht ganz klar«, fuhr Ahmed fort. »Aber irgendein gewaltiger Plan, wie die Prophezeiungen zu erfüllen seien, ging fürchterlich schief. Er wurde vereitelt, ja sogar vermasselt, und der Lehrer der Gerechtigkeit wurde getötet. Dann taten sich dieser andere, den ich für Jakobus halte, und der ›Feind‹ zusammen und versuchten vergeblich, die Autorin dieser Schriftrolle für die neue Bewegung zu gewinnen.« »Ja«, sagte Tom, indem er sich erhob und zum Tisch ging. Er nahm die Schriftrolle zur Hand. »Sie brachen ihm die Beine, während er am Kreuz hing. Er sollte gar nicht sterben. Er hätte überlebt und wäre dann zurückgekehrt, als sei er von den Toten auferstanden.« »Du bist mir schon voraus«, sagte Ahmed, »aber genau das scheint diese Schriftrolle nahezulegen. Erinnerst du dich an Lazarus? Das war der Probelauf. Er nahm eine Droge, irgendein Gift, das den Tod vortäuschte. Sie mußten ihn dann nur noch so lange am Leben erhalten, bis sie das Gift wieder abführen konnten. Die Schriftrolle enthält einen Hinweis auf Aloe und Myrrhe. Aloensaft ist ein starkes Abführmittel. Und Myrrhe entspannt und mildert den Übergang.« Tom wedelte mit der Schriftrolle vor Sharons Nase herum. »Und jetzt sag mir, daß das alles nur in meinem Kopf ist«, meinte er. »Sag mir, daß ich unter Wahnvorstellungen leide. Sag mir, daß es lauter Schuldgefühle sind und daß ich nur darüber reden muß, damit sie verschwinden. Hier steht es doch alles geschrieben! Alles! Wie hätte ich davon wissen sollen? Wie denn?« »Du weißt gar nichts«, erwiderte Sharon. »Ich weiß nur eins: Sie mußten sichergehen, daß seine Beine nicht wegen eines römischen Gnadenakts gebrochen wurden. Und sie haben versagt. Sie wagten ihren Einsatz für die Macht, und sie versagten! Es ging schief! Es ging um alles, und dann mußten sie versagen!« »Beruhige dich«, protestierte Ahmed. »Du regst dich zu sehr 201
auf! Du machst dem armen alten Ahmed noch angst. Setz dich! Trink noch ein Bier. Rauch was. Aber beruhige dich.« Tom legte die Schriftrolle wieder auf den Tisch zurück und ging zu seinem Kissen, wo er mit dem Kopf in den Händen vergraben dasaß. »So ist es besser«, meinte Ahmed. »Nun sag mir mal, wie du von all diesen Dingen wissen konntest.« Tom blickte Ahmed in die sandfarbenen Augen. »Der Dschinn hat es mir erzählt.«
202
39 »Wie kommt’s«, fragte Sharon, »daß ihr keine Kinder hattet, Katie und du?« Sie saßen im Café Akrai, tranken ein Maccabee und gaben vor, die Passanten zu beobachten. Tom nahm einen Schluck Bier. »Und wieso hast du keine?« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Nein. So geht das nicht. Ich stelle dir eine Frage, und du antwortest mir offen und ehrlich, ohne dich in die Defensive gedrängt zu fühlen. So, als wäre ich ein Freund.« Er blickte von der Hand auf seinem Arm zu ihrem Gesicht. Sie hatte die Lippen zusammengepreßt, und in ihren Augen stand etwas, das wie eine beginnende Wut aussah. Falls sie wütend war, konnte er ihr das nicht vorwerfen. Sie steckte mit drin. Er dachte wieder an den Augenblick, als sie Ahmeds Wohnung verlassen hatte. Wie bei seinem ersten Besuch hatte Ahmed Sharon vor sich her aus der Tür geschoben, so daß er kurz mit Tom allein sprechen konnte. »Weiß sie es?« hatte Ahmed geflüstert. »Was?« »Dein Dschinn hat sich geteilt; und nun sitzt er auch auf Sharons Rücken. Das mußt du doch wissen?« Er war Ahmeds unverwandtem Blick begegnet und hatte sich gefragt, ob der Araber damit nur ausdrücken wollte, daß Tom und Sharon ein Paar waren. Dann war er hinaus zu Sharon in die helle Sonne getreten. Sie wartete immer noch auf seine Antwort. »Entschuldige. Sie wollte Kinder, ich aber nicht.« »Warum nicht?« »Kinder zu haben kam mir vor wie ein Tod und ein Neubeginn. Es war, als tappe man in eine Liebesfalle. Ich konnte es einfach nicht.« »Und habt ihr euch deswegen gestritten?« 203
»Nicht öfter als jeden Tag.« Daß sie sich ›jeden Tag‹ gestritten hatten, traf nur auf die letzte Zeit ihrer dreizehn Jahre währenden Ehe zu. Katies biologische Uhr hatte aufgehört zu schlagen und läutete dann plötzlich wie Big Ben. Er dachte wieder daran, wie er sie auf der Party zum ersten Mal gesehen und sie am Fuß gepackt hatte. »Ihr Fuß«, sagte er, plötzlich aus seinem Traum erwachend. »Was?« sagte Sharon. »Ihr Fuß. Hab’ ich dir jemals die Geschichte erzählt, wie ich auf einer Party ihren Fuß fand? Als sie tot war und mir ihre Abwesenheit immer seltsamer erschien, wachte ich eines Nachts auf und entdeckte, daß ich einen ihrer Schuhe in der Hand hielt. Hatte ihn mit ins Bett genommen. Wie ein Hund, verstehst du? Ich hing immer noch an ihrem Schuh. Als ob sie nicht gestorben wäre, sondern nur ihren Fuß aus dem Schuh gezogen hätte.« Er öffnet sich, dachte Sharon. »Du mußt sie wirklich sehr geliebt haben.« Seine Lippen kräuselten sich zu einer mißmutigen Antwort, aber bevor er sprechen konnte, fiel ein Schatten zwischen die Neonleuchten der Bar und den Tisch, an dem sie saßen. Beide blickten auf. Da stand ein kleiner, dunkelhaariger Mann in einem schwarzen Anzug. Er war sonnengebräunt und trug eine Aktentasche. Sein schmeichlerisches Lächeln wirkte so unangenehm wie sein enger Kragen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte er. Tom blickt zu Sharon. »Das ist der Mann, der mich verfolgt hat.« »Es tut mir leid«, erwiderte der Mann. Das Lächeln ließ seine Backenzähne sehen, die leicht gelblich waren. »Darf ich mich setzen?« Er stellte seine Aktentasche unter den Tisch. »Sie wissen vermutlich, wer ich bin?« »Nein«, entgegnete Tom. 204
Der Mann ließ seine Hand hervorschnellen, wobei sein Ärmelaufschlag den halben Unterarm emporrutschte. »Ian Redhead.« Wieder folgte das breite Lächeln, und wieder dauerte es eine Spur zu lang. Dann fügte er hinzu: »Ich bin Engländer.« Tom schüttelte ihm die Hand. Lässig folgte Sharon seinem Beispiel. Der Mann war ein Nervenbündel. Endlich setzte er sich hin. »Natürlich ist es die Schriftrolle, an der wir interessiert sind.« »Wer?« wollte Sharon wissen. Redhead sprach mit großer Hast. »Wir glauben, daß David Feldburg Ihnen die Rolle gegeben hat. Das heißt, wir mußten erst herausfinden, wer der Erbe David Feldburgs war, bevor wir ein großzügiges Angebot für die Schriftrolle unterbreiten konnten; doch die gerichtliche Testamentsbestätigung läßt noch auf sich warten, und man konnte sie ohnehin nicht unter seinen Besitztümern finden. Wir glauben daher, daß er sie Ihnen gegeben hat.« »Das stimmt.« »Das ist mir eine Erleichterung – ich meine, zu wissen, was mit ihr geschehen ist. Wissen Sie, daß wir sie schon seit Jahren von ihm kaufen wollen? Seit Jahren. Haben Sie die Rolle noch?« »Nein.« »Wo ist sie dann?« »Ich habe sie verkauft.« Redhead war niedergeschmettert. »Wem? Wem haben Sie sie verkauft?« Tom blickte Sharon an. »Wie hießen diese Leute noch gleich?« »Irgendein Soundso-Institut.« »Nun sagen Sie bitte nicht, es war diese amerikanische Sekte, die Christadelphians!« »Nein«, erwiderte Tom. »Wer war es, Sharon?« »Die Katholiken?« versuchte es Redhead. »Vielleicht eine 205
jüdische Gruppe?« »Ich glaube, er hat Anglikaner gesagt«, sann Sharon. »Aber das kann nicht sein!« Seine Stimme überschlug sich fast. »Denn ich vertrete die Anglikaner!« »Dann müssen sie uns belogen haben«, warf Sharon hastig ein. »Wieviel haben sie Ihnen gezahlt?« »Sie müssen schon entschuldigen«, meinte Tom, »aber ich denke, daß das nur mich etwas angeht.« Der Unterhändler der Anglikaner schlug auf den Tisch. »Ich meine ja nur, daß mein Angebot ebensogut gewesen wäre. Ich war dafür verantwortlich, die Rolle für uns zu sichern. Ich habe versagt. Sie wissen ja nicht, was das bedeutet.« »Es tut mir leid«, sagte Tom. Ärgerlich blickte Redhead auf. »Sind Sie ein Christ?« »Ja, aber ich vergesse es mehr und mehr.« »Sie können nicht ermessen, wie wichtig diese Schriftrolle für die Christen ist.« »Und für die Juden?« warf Sharon ein. »Sind Sie Jüdin? Ist sie Jüdin? Ich sage ja nicht, daß sie für die Juden nicht auch wichtig wäre. Aber noch wichtiger für uns. Mr. Webster, ich glaube …« »Also kennen Sie meinen Namen.« »Mr. Webster, ich halte Sie für einen Christen, was immer Sie auch sagen mögen. Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen.« Er wuchtete die Aktentasche auf den Tisch und sperrte die Messingschlösser auf. Tom erwartete schon, einen Blick auf gebündelte Banknoten zu erhaschen, doch die Tasche enthielt nichts als ein Durcheinander aus Papieren, Stiften, farbigen Kugelschreibern und Anstecknadeln. Redhead holte eine Visitenkarte hervor und reichte sie Tom. Er wollte eben die Tasche schließen, als etwas Toms Aufmerksamkeit erregte: Es war ein Stapel großer Briefmarken, biblische Szenen in fröhlichen Farben mit Goldrand, die Art, die Kinder für den Kirch206
gang bekommen. Tom wies auf die Briefmarken. »Die habe ich früher auch gesammelt!« »Ich lehre an der Sonntagsschule.« Es klang fast wie eine Entschuldigung. »Hier in Jerusalem.« »Ich hatte eine Sammlung, zu der nur eine Marke fehlte; sie hieß ›Der Tag der Auferstehung‹.« »Was ich noch sagen wollte«, Redhead klappte die Tasche zu, »der Kirche fehlen auch noch einige Marken in ihrer Sammlung. Zum Beispiel diese Schriftrolle. Wenn Sie mir doch noch helfen können, nehmen Sie mit mir Kontakt auf. Meine Adresse steht auf der Karte.« Er erhob sich zum Gehen und schüttelte Sharon zuerst die Hand. »Wer weiß. Vielleicht können wir Ihre fehlende Marke finden.« Dann war er verschwunden, und Tom und Sharon starrten einander an. »Ich hasse Leute, die in Metaphern reden«, sagte er. »Ich denke, daß er nur meinte, daß er die Briefmarke für dich finden könnte.« »Was willst du jetzt tun?« fragte Sharon. Seit Redheads hastigem Verschwinden hatten sie noch ein Bier getrunken. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« »Wie er sagte, daß du doch Christ bist – das hat dich wirklich getroffen, nicht wahr?« »Ich mußte dabei an Katie denken. Sie wurde plötzlich gläubig – ein paar Monate vor ihrem Tod.« »Katie? Sie hatte doch nie irgendeine religiöse Ader.« »Das stimmt. Aber weißt du, wie das mit alten Leuten ist, wenn sie sich auf den Glauben stürzen? So war es auch mit Katie. Ich bin sicher, sie wußte, daß sie sterben würde.« Niemand hätte erstaunter sein können als Tom, als Katie ihn wenige Monate vor ihrem Tode bat, sie in die Kirche zu begleiten. Ihre religiösen Impulse hatten sich bisher immer in einem vagen Glauben an New-Age-Phänomene ausgedrückt; gotische 207
Kathedralen konnten sie nicht beeindrucken, Steinkreise schon. Deshalb war Tom so verblüfft, als sie ihn eines Morgens beim Lesen der Sonntagszeitung unterbrach, indem sie »Erntedankfest« sagte. »Erntedankfest?« hatte er ungläubig wiederholt. Er lungerte im Morgenmantel herum, sah erstaunt und dümmlich drein. Sie hätte auch sagen können Tottenham Hotspurs, White Hart Lane, Drei Uhr. »Nein, danke.« »Du hast doch mal einen Glauben gehabt. Hast du mir jedenfalls immer erzählt.« »Hatte ich auch. Jetzt nicht mehr. Außerdem dachte ich, du seist eher an den Mysterien des Orients interessiert.« »Ach, das ist doch das gleiche, Tom. Es geht doch nur darum, daß man dankbar ist!« »Dankbar wofür?« »Herrgott noch mal! Ist es wirklich schon so schlimm?« Dann war sie zu ihm gekommen, hatte die Arme um ihn geschlungen, ihn geküßt. »Komm doch bitte, bitte mit.« »Warum?!!« »Weil etwas geschehen wird, Tom. Ich kann es fühlen. Als könnte der Himmel jeden Moment aufbrechen und irgend etwas von der Farbe dieser Tätowierung herauskommen.« Er hatte auf seine Tätowierung gestarrt, um Katie nicht ansehen zu müssen. Er wollte nicht zu dem verfluchten Erntedankfest gehen und sagte es auch. Zu seinem Erstaunen hatte sie dann geweint. Es war lange her, seit Katie geweint hatte, um ihren Willen durchzusetzen, aber nun saß sie schluchzend und schluckend da, als sei er, der nun vor ihr stand, ein Mann, der seine Frau zu prügeln pflegte. Er hätte nachgeben können, aber es war ihm nun mal zu einem Prinzip geworden. Am Ende war sie allein gefahren. Als er sie am Abend wiedersah, fragte er, ob es ihr gefallen hätte. Sie schüttelte nur den Kopf und sprach den ganzen Abend kein Wort mehr zu ihm. Wieder ein Band zerrissen. 208
»Ich wollte nicht zu dem verdammten Erntedank –« »Was?« sagte Sharon. »Was schimpfst du da?« Tom wurde sich bewußt, wo er war. »Es ist nur … Es ist, als hätte sie gewußt, daß sie sterben würde.« »Das ist doch Unsinn, Tom.« Doch Sharon erinnerte sich an Katies Worte, als sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. »Komm mit mir zum Gethsemane«, drängte er plötzlich. »Was, jetzt? So spät?« »Ja, jetzt.« Er stand auf. »Wozu denn? Die Tore werden geschlossen sein. Es führt zu nichts.« »Ich muß es tun. Ich will eine Kerze für Katie anzünden. Kommst du mit? Ihr zum Gedenken?« Wenn er es so darstellte, wie konnte sie da ablehnen? Obwohl sie keine Lust verspürte, bei Nacht den Garten aufzusuchen. Sie konnte den Ort nicht einmal bei Tageslicht ausstehen: Für sie, wie für viele Juden, waren die christlichen Gedenkstätten mit einer Art Anklage befleckt und weckten Assoziationen an die Rolle des Sündenbocks, die den Juden seit dem Mittelalter aufgebürdet wurde. Es roch nach Verrat und Leid, und das machte den Garten Gethsemane eher unheimlich. Sie mißtraute diesem Ort. Man konnte schon erkennen, daß er für Tom eine seltsame Energie abstrahlte. Eine Biene hatte ihn hier in den Mund gestochen; wenigstens war dies das einzig Wirkliche, daß sie aus seiner verworrenen Erzählung der Ereignisse jenes Tages hatte entnehmen können. Nein, sie verspürte nicht die geringste Lust, im Dunkel der Nacht dort hinaufzusteigen, aber was sollte sie tun, wenn er sie so darum bat? Sie fuhr durch die Stadt, und er saß in grimmigem Schweigen auf dem Beifahrersitz. Sie fand einen Parkplatz, und sie schritten die Böschung empor zu dem Tor des Gartens, in dem der Verrat stattgefunden hatte. Wie Sharon vorausgesagt hatte, waren die Tore geschlossen, doch in der Höhle, wo Tom den Franziskanermönch getroffen 209
hatte, brannte ein kleines, gelbes Licht. Tom ergriff Sharon bei der Hand und führte sie vom Tor weiter den Hügel hinauf, bis sie eine Stelle fanden, an der sie in den Garten klettern konnten. Ohne auf Sharons Protest zu achten, stieg Tom hinein und zog sie hinter sich her. Die Mondsichel wurde hin und wieder von den vorüberziehenden Wolken verdeckt, spendete aber ein wenig Licht. Die schimmernden Blätter der geisterhaften Olivenbäume sahen aus, als habe man sie wie einen Haufen Silbermünzen in den dunkelblauen Himmel gepreßt. Tom stützte sich gegen einen der knorrigen Stämme. »Was tun wir bloß hier?« stöhnte Sharon. Da sah Tom etwas zu seinen Füßen: Halbvergraben in der verdorrten Erde am Fuß des Olivenbaums steckte eine kleine Bibel. Er rettete sie aus dem Staub. Sie war schon ziemlich alt und fast verrottet. Irgendein Besucher oder Pilger mußte sie fallen gelassen und vergessen haben, oder vielleicht hatte er sie als Opfergabe dort liegen lassen. Tom schlug aus Neugier eine Seite auf, aber alles, was er erblickte, war ein schlanker, schneckenartiger Wurm, der sich durch sämtliche Seiten hindurchgebohrt hatte. Der Wurm schlängelte sich aus seinem Loch, wand sich zum Ende der Seite und erreichte Toms Daumen. »Uh!« Angewidert schleuderte er die Bibel zu Boden. »Was ist denn?« »Da war so eine Art Made.« »Ich hab’ nichts gesehen.« Auch Sharon hatte sich über das aufgeschlagene Buch gebeugt. Doch sie hatte nur eine weiße Seite gesehen. »Komm weiter.« Als sie sich dem Höhlenschrein näherten, konnten sie einen Mönch im Habit der Franziskaner erkennen, der an einem schräggeneigten Tisch saß und irgendeine Schreibarbeit verrichtete. Es erinnerte Tom an die Arbeit des Mönches, den er zuvor hier gesehen hatte, am Tag, als die Biene ihn stach: Auch 210
dieser zog Linien auf einem Blatt Papier. Doch es war nicht der gleiche Mann. Zuerst glaubte Tom, in der braunen Kutte stecke ein Kind. Als er jedoch näher trat, erkannte er, daß der Mann ein Zwerg war. Und nicht nur das, er war auch noch schwarz. Er mußte das Schlurfen ihrer Füße im Staub gehört haben, denn er blickte von der Arbeit auf und legte den Kopf schief, als lausche er. Tom und Sharon zogen sich in den Schutz der Bäume zurück. Der Mönch legte die Feder hin, rutschte von seinem hohen Stuhl und wackelte auf den Eingang der Höhle zu. Da sahen sie, daß seine Augen fast weiß waren – mit dem weißen Häutchen der Erblindeten überzogen. Tom entfuhr ein Laut. Der Mönch erstarrte und wandte ihnen das Gesicht zu. Er strengte sich sichtlich an, etwas zu hören, das Weiße seiner Augen zitterte heftig. Er rief etwas, das sie nicht verstanden. Dann auf englisch: »Ist da jemand?« Sie hielten den Atem an. »Mensch oder Geist?« rief er wieder. »Sprich zu mir.« Ein paar Augenblicke später begab er sich zurück an seinen Schreibtisch, kletterte auf den Stuhl und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Können wir jetzt gehen?« »Noch nicht«, sagte Tom. Sie zogen sich zwischen die Olivenbäume zurück, und Tom führte sie zu der Stelle, wo er der Magdalena begegnet war. »Hier«, sagte er, umarmte sie grob und küßte sie. Sharon lachte und warf ihm die Arme um den Hals, dann nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände. Seine Zunge bohrte sich in ihren Mund, und sie fühlte, wie ihr unter dem Druck seines Kusses schwindlig wurde. Seine Hand öffnete den Knopf ihrer Jeans, und sie spürte, wie der Reißverschluß mit einem leisen raspelnden Geräusch hinuntergezogen wurde. Er fuhr ihr mit einer Hand in den Slip und ließ einen Finger in sie 211
hineingleiten. Sharon wand sich, um ihm zu entkommen. »Nein«, flüsterte sie. »Nicht hier, Tom.« Doch er war beharrlich, drängte sich gegen sie. Unter dem Druck seines Körpers richteten sich ihre Brustwarzen auf. Sie befreite ihre Lippen, um etwas zu sagen. »Nicht hier, Babe. Komm schon, Tom. Laß uns gehen.« Tom hörte nicht auf sie. Sie wich zurück, lächelte ihn an und hielt die Hände hoch, um ihm zu bedeuten, er möge aufhören. Da warf er sich nach vorn, packte sie an den Gürtelschlaufen ihrer Hose, wirbelte sie herum und drängte sie gegen die rauhe Rinde eines Olivenbaums. Im nächsten Augenblick hatte er seine Daumen in den Bund ihrer Jeans und ihres Slips gehakt und zog ihr beides auf die Knöchel herunter. Während er sie mit seinem Gewicht gegen den Baum drückte, nestelte er an seiner eigenen Hose herum. Dann versuchte er, seinen angeschwollenen Penis in ihren Anus zu stecken. Sharon riß sich los und schlug Tom ihre geballte Faust an den Kopf. Ein wohlgezielter Hieb; er traf ihn mit Wucht am Ohr und ließ ihn taumeln. Er sank auf ein Knie nieder, legte die eine Hand schützend auf sein Ohr und wischte sich mit der anderen über den Mund. Seine Erektion klang ab. »Was ist denn bloß los, Tom?« zischte Sharon, während sie die Jeans hochzog. »Was zum Teufel ist bloß mit dir los?« »Es tut mir leid. Es tut mir leid.« »Leid? Scheiß drauf!« Sharon stürmte schon davon, auf den entfernten Teil des Gartens zu, wo man einen Eingang in die Büsche geschlagen hatte, Tom, immer noch auf einem Knie hockend, sah ihr nach, wie sie zwischen den Bäumen verschwand. Er blieb eine Weile hocken, in die Dunkelheit unter der Mondsichel. Was geschieht mit dir? Was geschieht hier, Mann? Er verlor die Kontrolle, mehr und mehr. Er wußte, was er da eben getan hatte, aber er wußte nicht, warum. Er war von 212
einem wilden Trieb ergriffen worden, der wie eine Woge über ihn hereingebrochen war. Irgend etwas in ihm versuchte, sich zu befreien. Nein, er war nicht besessen. Wie einfach wäre das gewesen – zu sagen, daß er für einen Augenblick von einem Geist besessen war. Wenn es vielleicht auch nicht er selbst gewesen war, der Sharon angesprungen hatte, so doch ein Teil seiner selbst: irgendein Teil von Tom, der versuchte, sich zu befreien und die Herrschaft zu übernehmen. Aber es geschah langsam, Stück für Stück, wie Stiche, die einer nach dem anderen aufplatzten. Jede Stimme ein neuer Stich. Jedes Phantom ein neuer Riß. Jede Wahnvorstellung, jeder Ausbruch ein neuer Befreiungsversuch. Er hatte Angst vor dem, was noch kommen mochte. Nach einer Weile kam Sharon langsam und müde zwischen den Bäumen zurück. Sie kniete sich neben ihn. Ihre Wut war verraucht. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Mir ist, als bräche ich auseinander«, sagte Tom. »Es ist schon gut«, sagte sie in sein Ohr. »Es ist gut.« Eine Träne erschien in seinem Augenwinkel; sie wischte sie mit dem Daumen fort. »Nein, es ist nicht gut«, meinte Tom. »Gar nicht gut.« »Ich bin ja da. Ich bin da.« Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küßte ihn zärtlich auf den Mund. Dann öffnete sie ihre Bluse und legte seine Hand auf ihre Brust. »Willst du das hier, Tom? Willst du das?« »Ja. Ja.« Sharon drückte ihm die Brust gegen den Mund. Sie wiegte ihn, und er nuckelte an ihr wie ein Baby. Dann hieß sie ihn sich auf der staubigen Erde niederlegen. Sie nestelte ihm die Hose auf und legte ihre kühlen Finger um sein Glied, benetzte die Hand mit ihrem Speichel. »Ich wollte dich nicht …« Er fröstelte. »Schhhh …« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Dann schlüpfte sie aus ihrem Hemd und ließ ihre Brüste sehen, 213
bevor sie die Jeans auszog und nackt vor ihm stand. Er konnte ihre Erregung riechen; ihr Geschlecht duftete im Nachtwind wie ein Band aus Duft, das sich um ihn schlang. Und dann war da noch ein anderer Geruch, der ihm bekannt vorkam, vermischt mit dem köstlichen Duft ihres Verlangens. Es war der Geruch nach Balsam. Er blickte zu Sharon auf, die über ihm stand, aufregend und doch furchtbar wie die Galionsfigur an einem Geisterschiff – und da sah er, daß es gar nicht Sharon war. Es war sie, die er die ganze Zeit am meisten gefürchtet, doch auch am meisten gewollt hatte. »Katie. O Katie.« »Ich mußte kommen.« »Katie.« Sie kniete vor ihm, nahm sein Gesicht in ihre kühlen Hände. »Nicht weinen. Du weißt ja nicht, wie schwer es gewesen ist. Ich habe versucht, einen Weg zu dir zu finden. Du weißt nicht, wie schwer das ist.« Sie war warm und aus Fleisch und Blut. Er schmeckte seine Tränen in ihrem Mund, als er sie küßte. Sie schmeckte genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. »Die alte Frau. War das die Magdalena –« begann er. »Ich war es. Als ich versuchte, dich zu finden. Sprich nicht, Tom. Liebe mich. Liebe mich, Tom.« Sie sank zurück in den Staub und zog ihn sanft über sich. »Liebe mich, Tom«, murmelte sie immer wieder. »Liebe mich.« Sie spreizte die Beine, öffnete sich für ihn. Tom legte ihr die Hand auf den Bauch. Aber dort, wo ihr Geschlecht sein sollte, war etwas anderes: ein offenes Buch, nicht vor ihrem Körper, sondern wie ein Teil ihres Fleisches. Die aufgeschlagenen Buchdeckel wurden aus den Innenseiten ihrer Schenkel gebildet, ihre Schamhaare formten auf den Seiten eine geheimnisvolle Schrift. Und als hätte nun ein stürmischer Wind zu wehen begonnen, fingen die Seiten zu flattern an, wie ein Kartenspiel, 214
das schnell durchgeblättert wird. Als die Seiten wieder still lagen, war ein Loch in ihnen, und es schien, als fräße es darin, als faulte es. »Bitte!« sagte Tom. »Bitte!« »Liebe mich, Tom, liebe mich.« »Bitte!« »De Profundis«, zischte Katie. Sie warf den Kopf zurück und lachte meckernd und böse, bis ihr ganzer Leib in Zuckungen geriet und über dem Buch zusammenfiel. Plötzlich fing das Buch Feuer, und Asche und Funken sprühten in den Himmel, bis nur noch ein Brandgeruch übrigblieb, dem ein letzter Hauch Balsam anhaftete. Tom warf den Kopf zurück und heulte. Als er aufblickte, stand eine schattenhafte Gestalt über ihm. Es war der kleine Mönch, dessen Augäpfel wild in dem dunklen Gesicht rollten. Er zeigte in die falsche Richtung. »Mensch oder Geist?« rief er. »Bist du ein Mensch oder ein Geist?«
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40 »Himmel, nein«, sagte Tom zu Sharon, nachdem er Tobie zum ersten Mal gesehen hatte. »Daraus wird einfach nichts.« »Gib ihr eine Chance«, zischte Sharon. »Unterschätze sie bloß nicht. Und denk dran, sie tut’s mir zu Gefallen.« Tobie hatte seit der Zeit, als Ahmed Amok gelaufen war, keine Männer mehr im Bet-Ha-Kerem aufgenommen, weder als Tagespatienten noch als Bewohner. Während seiner schlimmsten Krise war es Ahmeds Bravourstück gewesen, bei Nacht in die Zimmer der Frauen einzubrechen oder die Tagespatientinnen in einem kleinen Zimmer in die Enge zu treiben. Nackt und in einem Zustand äußerster Erregung pflegte er dann ein simples Küchenmesser zu präsentieren und die Frauen zu bitten, ihm doch das abzuhacken, was er zu jener Zeit als die Wurzel aller seiner Probleme betrachtete. Abgesehen davon, daß er einige Frauen mit dieser ungewöhnlichen Bitte in Angst und Schrecken versetzte, tat Ahmed keiner etwas zuleide und war im Grunde eine größere Gefahr für sich selbst als für irgendeinen anderen. Tobies größte Angst zu jener Zeit bestand darin, daß eine der Frauen aus der wirbelnden Schwärze ihrer eigenen Krise heraus Ahmeds Aufforderung ernst nehmen würde. Sharon mußte Tobie hart bearbeiten, bevor sie sich bereit erklärte, Tom kennenzulernen. »Schau mal, ob du ihn nicht zum Reden kriegst«, hatte sie gesagt. »Mit mir will er einfach nicht reden.« »Ich arbeite doch schon vierundzwanzig Stunden am Tag. Was soll ich denn noch tun?« »Bleib von meiner Tagesgruppe weg. Laß den Buchhalter in Ruhe. Hör auf, hinter der Haushälterin her zu sein. Und misch dich nicht in der Küche ein.« »Eine halbe Stunde. Das ist alles. Ich gebe ihm eine halbe 216
Stunde.« Sharon gab ihr einen Kuß. »Du bist die Beste.« »Laß mich bloß in Frieden. Ist er eine Walnuß oder eine Zwiebel?« Der Code der Therapeuten drückte sich in Obst und Gemüse aus. Manche Leute ließen sich so leicht abschälen wie eine Orange und offenbarten eine klebrige, schwammige Masse im Innern. Andere zerbrachen erst nach einem Kampf – das waren die Walnüsse. Zwiebeln waren sehr tückisch, da man glaubte, man könne Lage für Lage abschälen, doch dann ging es nicht weiter. Manchmal war man beim Schälen der Zwiebeln selbst derjenige, der zu weinen anfing. »Zwiebel«, sagte Sharon. Nachdem sie Tobie überredet hatte, Tom ›die Zwiebel‹ zu sehen, mußte Sharon nun Tom ›die Zwiebel‹ überreden, Tobie ›das Messer‹ zu sehen. »Auf keinen Fall«, hatte Tom gesagt. Doch Sharon war entschlossen; sie erinnerte ihn, in welchem Zustand er gewesen war, als sie vergangene Nacht in den Garten zurückgekommen war. Nachdem er sie durch sein rauhes Vorgehen verletzt hatte, war sie davongeschlichen und wollte fortfahren. Aber als sie beim Auto angelangt war, hatte sich der erste Ärger gelegt. Sie hatte im Wagen gesessen und ihre Gedanken geordnet, weil sie ihm etwas Passendes sagen wollte, wenn er zum Auto kam. Es verging eine ganze Weile, bevor sie anfing, sich Sorgen zu machen. Dann hatte sie sein Heulen gehört. Als sie ihn erreichte, versuchte der kleine Mönch gerade, dem nackten, staubbedeckten Tom auf die Beine zu helfen. Er heulte Katies Namen. »Danke«, hatte Sharon zu dem Mönch gesagt. »Ich nehme ihn jetzt mit.« »Er ist sehr verwirrt«, hatte der Mönch gesagt, während seine riesigen blinden Augen sie irgendwo am Himmel suchten. 217
»Ja. Das stimmt. Das stimmt.« Sie brachte Tom dazu, daß er sich anzog, und der Mönch öffnete ihnen das Tor. »An was kannst du dich denn noch erinnern, Tom?« Das Schlimme war, daß er sich an alles erinnerte. »Gib doch zu, daß du in Schwierigkeiten steckst«, sagte Sharon. »Und da du nicht mit mir reden willst – sprich mit Tobie.« Sharon hatte nicht nachgegeben und ihm keine Ruhe gelassen, bis Tom schließlich einwilligte, sie an diesem Tag zur Arbeit zu begleiten, um Tobie kennenzulernen. Als Tobie ihn zum dritten Mal ›Darling‹ nannte, entwickelte Tom einen ernsthaften Haß auf die Frau. Dann behauptete sie, sie könne nicht mit ihm reden, bevor Sharon nicht am Nachmittag nach Hause führe. »Viel zuviel zu tun, Darling. Und Sharon hat auch zu viel zu tun, als daß du ihr im Weg stehen kannst.« Also wurde er fortgeschickt mit der Aufforderung, später wiederzukommen. Bevor er das Zentrum verließ, schaute er noch einmal nach Sharon, die sich mit einigen Frauen in der Küche unterhielt. Alle schwiegen, als er den Raum betrat. »Nun?« erkundigte sich Sharon. Tom schüttelte den Kopf. »Es wird nicht klappen.« Sharon ließ ihre Augen zu Plutonium-Pfeilen werden. »Na schön«, lenkte er ein. »Nur die eine Stunde.« Dann ging er, wobei er wußte, daß die anderen Frauen Sharon nun über ihn ausfragen würden. Wie geheißen erschien er wenige Minuten, bevor Sharon das Zentrum verließ. Sie nahm ihn beiseite, gab ihm einen Kuß und ließ ihn versprechen, daß er es ernsthaft versuchen werde. Dann brachte sie ihn in einen makellosen, magnolienfarben gestrichenen Raum mit Nylonteppich und nylongepolsterten Stahlrohrstühlen, die in einem Kreis standen. Hier sollte er auf Tobie warten. 218
Nach einer Viertelstunde steckte Tobie den Kopf zur Tür herein und winkte ihm zu, wobei sie mit den Fingern zuckte wie eine Spinne. »Bin bald da, Darling. Bis gleich.« Dann war sie wieder fort. Tom zappelte weitere zwanzig Minuten auf seinem Stuhl herum, bevor Tobie endlich erschien. Inzwischen war er schon äußerst unruhig und verärgert. Er konnte nicht wissen, daß Sharon zum Abschied zu Tobie gesagt hatte, sie solle ihn warten lassen, bis er nervös wurde. Tobie nahm Platz. »Möchtest du einen Kaffee?« »Nein«, erwiderte er kalt. »Ich aber. Ich möchte jetzt einen Kaffee.« Sie verschwand für weitere fünf Minuten und kam mit einem Tablett und zwei Tassen zurück. Sie setzte sich wieder und rieb sich die Hände. »Ist es auch bequem so? Ich mag diese ganzen leeren Stühle nicht. Dann denke ich immer, das Zimmer wär’ voller Geister.« »Mir gefällt es ganz gut.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher.« »Sehr schön. Na, dann laß uns mal Kaffee trinken, bevor wir anfangen. Schwarz oder mit Milch?« Tom ließ es zu, daß sie ihm einen Kaffee aufnötigte. Tobie machte ein großes Gewese, indem sie ihm Zucker anbot, den er ablehnte, und einen Ingwerkeks, den er nahm. Schließlich, war das Kaffee-Ritual vorüber, die Tassen standen auf den Stühlen neben ihnen, und Tobie war bereit anzufangen. »Nun, Darling. Da sitzen wir nun. Was wolltest du mir denn erzählen?« »Wie bitte?« fragte Tom. »Ich habe Sharon so verstanden, daß du mir etwas erzählen wolltest. Dann mal los. Ich bin bereit.« Mit großer Geste legte sie eine Hand hinters Ohr. »Siehst du, ich höre dir zu.« »Sie machen wohl Witze.« »Witze? Warum sollte ich Witze machen?« »Da muß ein Mißverständnis vorliegen. Sharon stellte es 219
vielmehr so dar, als hätten Sie mir etwas zu sagen.« »Honey, ich kenne dich doch nicht besser als Adam.« Ungläubig schüttelte Tom den Kopf. Tobie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich will dich ja nicht drängen, Darling, aber wir haben nicht die ganze Nacht Zeit. Genauer gesagt nur eine halbe Stunde. Du weißt, ich muß mich um den Geburtstag einer unserer Damen kümmern. Wir backen dann immer Kuchen und sorgen für die anderen hübschen kleinen Dinge, weißt du?« Tom starrte sie ungläubig an. Was fand Sharon an dieser Idee? Warum saß er bloß hier und hörte dieser zerstreuten alten Tante mit ihren blaugetönten Haaren und ihren Geburtstagstorten zu? »Sharon meinte, es wäre eine gute Idee, weiter nichts.« Tobie lächelte lieblich und schien dann von einem winzigen Fleck auf ihrem Rock abgelenkt, an dem sie nun angeregt rieb. »Sie meinte, ich müßte reden.« »Reden? Über was denn, Darling?« »Sie glaubt … Sharon glaubt, daß ich gerade eine Art Krise durchmache.« »Ach, und warum glaubt sie das?« »Aus vielen Gründen. Hauptsächlich wegen gestern nacht. Aber …« »Erzähl mir von gestern nacht.« Tom stieß einen Seufzer aus. »Also, ich fand mich nackt im Garten Gethsemane wieder, das ist der wichtigste …« »Und so was ist normal für dich, Darling?« »Normal? Natürlich nicht! Ich pflege nicht …« »Ich frage ja bloß, Darling. Stimmst du mir zu, daß es eine Krise ist?« »Nicht eine richtige Krise, eher eine …« »Also, wenn das keine Krise ist, was ist es dann? Ich meine, wenn man na-cket im Garten Gethsemane rumläuft?« »Moment mal«, entfuhr es Tom. »Sie baten mich zu reden, und jedesmal, wenn ich anfange, müssen Sie mich unterbrechen!« 220
Tobie rutschte mit den Pobacken auf ihrem Stuhl herum und strich sich das Haar eng an den Kopf. Dann entbot sie Tom ein unglaublich liebenswertes Lächeln. »Tut mir leid, Darling!« Erschöpft unternahm Tom einen neuen Versuch. »In Ordnung. Ich gebe ja zu, daß ich gestern nacht, da oben in Gethsemane, durchgedreht bin.« »Durchgedreht? Was ist schon durchgedreht? Vielleicht hattest du bloß ein paar Bier zuviel. Warum auch nicht. Manchmal möchte ich mich auch ausziehen und verrückte Sachen machen. Ja, guck nicht so. Auch in meinem Alter kann man das noch wollen.« »Es waren aber nicht ‘n paar Bier zuviel.« »Also was war es dann für eine Verrücktheit?« »Ich weiß es nicht. Das erste war, daß ich, nun ja, daß ich versucht habe, Sharon zu vergewaltigen.« »Vergewaltigen? Ich dachte, ihr wärt schon zusammen! Bumst du sie nicht sowieso?« Tom war an solch freizügige Rede bei einer älteren Dame nicht gewöhnt, die so aussah, als solle sie lieber Chutney oder Marmeladen einmachen. Sie sah seine Ablehnung. »Was ist denn? Kann ich mit dir nicht wie mit einem Erwachsenen reden? Laß uns mal eins klarstellen, Darling. Dein Daddy hat deine Mummy gefickt, und deine Mummy deinen Daddy. So wie meine Eltern das getan haben und alle andern auch. Sonst wären wir nicht hier. Das ist eins der beiden Dinge, die du mit absoluter Sicherheit weißt. Das andere ist, daß du eines Tages sterben wirst. Alles andere steht deinen Mutmaßungen offen. Und wenn wir nicht mal über Sex und Tod wie Erwachsene reden können, ohne beides für ein schmutziges Thema zu halten, dann brauchen wir gar nichts mehr zu sagen – oder du sprichst besser mit einem Rabbi oder mit einem deiner Priester. Klar?« Tom fühlte sich geziemend gerügt. »Ja, wir sind zusammen. Und es war auch nicht gerade eine Vergewaltigung, aber ich wollte … Sie sagte ›Nein‹, und ich hörte einfach nicht auf sie, 221
und das hab’ ich noch nie zuvor getan, bei ihr nicht und bei keiner anderen Frau. Ich weiß nicht, warum ich mich so benommen habe.« »Was hast du denn da gewollt?« »Wo?« »Da oben im Gethsemane.« »Ich weiß nicht. Es schien mir gestern eine gute Idee, dort hinzugehen.« Es folgte eine lange Pause, in deren Verlauf Tobie erriet, daß er kaum mehr über seine Gründe sagen würde, warum er sich dort aufgehalten hatte. »Dann laß es uns mit einer anderen Frage versuchen. Wie hast du dich gefühlt, als du Sharon so behandelt hast?« »Schlecht. Einfach nur schlecht.« »Nein. Das sind deine Gefühle jetzt. Versuch noch einmal, die Frage zu beantworten.« Er dachte nach. »Ich war wütend.« »Du warst wütend auf Sharon. Was hat sie getan, um dich so in Wut zu bringen?« »Es war nicht Sharon. Sie hatte nichts getan. Ich war nicht auf sie wütend.« »Auf wen warst du dann wütend?« »Wie?« »Ja. Wenn du nicht wütend auf Sharon warst, auf wen dann?« Tom schwitzte. Er hatte Angst. Auf seiner Braue bildete sich Schweiß. Er zerrte an seinem Ohrläppchen. »Ich … Es ist nicht …« »Darling«, unterbrach sie ihn und blickte auf ihre Uhr. »Ich weiß, daß ich dir eine halbe Stunde versprochen hatte, aber nun muß ich mich beeilen.« Sie hatte sich schon vom Stuhl erhoben und der Tür zugewandt. »Gerade, wo es interessant wurde, findest du nicht auch? Kommst du morgen wieder um die gleiche Zeit? Und spül bitte diese Tassen in der Küche aus, tu 222
mir den Gefallen, ja?« Tom hatte sich gleichfalls erhoben. Er blickte ihr mit ungläubigem Staunen nach. Nachdem sich die Tür hinter Tobie geschlossen hatte, kratzte er sich am Kopf und ertappte sich dabei, wie er die Kaffeetassen einsammelte. Er trug die Tassen in die Küche, wo er eine Frau mit einem Vorhang langer dunkler Haare und einem Gesicht so weiß wie der Mond antraf. Sie war eine der Frauen gewesen, die zuvor mit Sharon geredet hatten. Mit verschränkten Armen stand sie an das Abtropfbrett der Spüle gelehnt und sah ihn abschätzig an. Sie rückte kein Stück beiseite, als er die Tassen unter dem Hahn ausspülte und zum Trocknen auf das Abtropfbrett stellte. »Ich bin Christina«, sagte sie dann. »Bist du Sharons Freund?« »Ja.« »Das wußte ich. Ich weiß eine ganze Menge«, meinte Christina. »Ich durchschaue dich. Ich weiß ganz genau, was mit dir los ist.« »Na, toll«, sagte Tom. So schnell er konnte, verließ er das Zentrum.
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41 Als Sharon in ihre Wohnung zurückkehrte, war sie froh, daß Tom eine Sitzung mit Tobie hatte, froh, eine Stunde für sich zu haben. Es war nicht, weil sie Tom satt hatte – im Gegenteil, es war die Tiefe ihrer Gefühle, die ihr Angst einjagte. Was sie zunächst für einen besonderen Gnadenakt, für eine Art mütterlicher Zuneigung gehalten hatte, kam nun einer Liebe gefährlich nahe. Nun war sie dankbar für diese einsame Stunde, in der sie die Situation überdenken konnte. Paradoxerweise benutzte Sharon den Sex, um die Männer auf Distanz zu halten. Es war, als wollte sie sagen: Näher kommst du nicht an mich heran; wer ich bin, geht dich nichts an, na, kommst du damit klar? Manche Männer drehten durch; kräftige Kerle waren schon in Tränen ausgebrochen. Sharons Haltung hatte ihr jede Menge Vorwürfe und Schimpfnamen eingebracht – Schlampe, Hexe, Hure. Denn die männliche Eitelkeit verlangt nach der sexuellen Eroberung auch ein gewisses Maß an Hingabe, um sie wie eine Trophäe davonzutragen. Wenn diese Hingabe nicht erfolgte – und bei Sharon war es meistens nicht der Fall –, wurden die Männer verdrießlich oder wütend. Sharons Gleichgültigkeit wurde als bedrohliches Verhalten ausgelegt. »Du und Tom, ihr wart ein Paar, stimmt’s? Am College?« hatte Katie sie einmal ganz offen gefragt, als Sharon sie besucht hatte; angeblich war sie in die Stadt gekommen, damit sie zusammen in ein feministisches Theaterstück gehen konnten. Doch die altbekannten Sprüche hatten beide unsäglich gelangweilt, und so hatten sie nach der Pause die Vorstellung verlassen. Der zweite Akt fand dann in einer Wein-Bar statt. Die unverblümte Frage hatte Sharon erröten lassen. »Ja. Es ist aber nur einmal passiert. Und es ging völlig daneben – wir waren betrunken.« Katie hatte ihr zugezwinkert. Sharon versuchte, ihre rotangelaufenen Wangen mit den Händen zu 224
kühlen. »Wir hatten uns beide ganz schön vollaufen lassen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob wir’s richtig gemacht haben. Als wir dann am nächsten Morgen aufwachten, stank es fürchterlich nach Curry und Knoblauch und Mundgeruch. Es war überhaupt nicht romantisch.« »Hat euch das auseinandergebracht?« »Ja«, log Sharon. »Ja, ich glaube schon.« Sofort hatte sie die Lüge bedauert; Katie wollte ehrlich zu ihr sein, wollte ein mögliches Hindernis ihrer Freundschaft aus dem Weg schaffen, das wie ein Elefant schlafend zwischen ihnen lag – und sie hatte Katie betrogen, indem sie ihr die Antwort gab, die Katie ihrer Meinung nach hatte hören wollen. In Wahrheit war sie nach dieser besoffenen, stumpfen Nacht enttäuscht gewesen, hatte es aber nie zugegeben. Vor Katie nicht, vor Tom nicht, und lange Zeit nicht einmal vor sich selbst. Das Gespräch in der Wein-Bar war ins Stocken geraten, als zwei gutaussehende, angetrunkene junge Männer mit identischem Haarschnitt zu ihnen an den Tisch getreten waren. »Toll!« rief Katie. »Jetzt werden wir aufgeheitert. Setzt euch, Jungs, und laßt mal hören, was ihr so auf der Platte habt.« Sie hatten die beiden Männer, die an die zehn Jahre jünger sein mochten, gnadenlos geneckt. Als die Sperrstunde näher rückte, grub Sharon dem einen ihre Fingernägel in den Oberschenkel. »Kennst du das, wenn’s soweit ist, und die Mädels aufs Klo gehn, um über euch zu tratschen?« »Häh?« meinte er und zuckte zusammen. »Was?« »Und ihr bestellt uns in der Zwischenzeit ‘n Tequila Slammer? Kann ruhig ‘n Doppelter sein.« Dann hatte sie Katie zur Toilette gedrängt. »Was hast du vor?« kicherte Katie aus der Zelle, während sie ihren Slip hinunterstreifte. »Hast du Lust?« rief Sharon aus der anderen Zelle. Katie kicherte nur noch mehr. 225
Als sie herauskam, stand Sharon vor dem Spiegel und tat so, als untersuche sie ihre Augenbraue. »Ich meinte, hast du Lust?« »Was meinst du?« »Sollen wir mit zu ihnen gehn? Du kannst Tom ja erzählen, ich hätte dich in einen Nachtclub geschleift.« Katie hatte aufgehört zu lachen. Sie fing Sharons Blick im Spiegel auf. »Nein, Sharon. Darum geht es hier nicht.« Und Sharon hatte sich noch schuldiger gefühlt; vor allem deswegen, weil Katie gewußt hatte, daß Sharon sie nur prüfen wollte. Sie hatte gewußt, daß Sharon sich nicht einmal entfernt für einen der beiden Jungen interessierte. Sie hatte gewußt, daß Sharon sie dazu bringen wollte, Tom zu betrügen. Katie hatte es gewußt, und Sharon hatte es gewußt. Doch sie hatten nie jene verworrene Komplizenschaft, die zwischen Frauen besteht, zugeben können, und Sharon hatte keine andere Wahl, als sie mit eiserner Stirn zu leugnen. Sie waren wieder zum Tisch zurückgekehrt, auf dem bereits große Tequila Slammers auf sie warteten. »Tja«, meinte Sharon und schob das Glas zurück. »Ich war echt in Stimmung für ‘ne stürmische Nacht, aber meine Freundin will nicht, und wir Mädels halten nun mal zusammen.« Sie entsann sich noch genau der Miene des einen, der wahrscheinlich die teuren Cocktails bezahlt hatte. Dieses Ereignis war vielleicht der einzige Makel, der auf ihrer Freundschaft lag, und er wurde übersehen, wenn nicht gar verziehen. »Du solltest aus dem Sex keine Religion machen«, hatte Sharon auf der Heimfahrt bemerkt. »Warum nicht?« hatte Katie geschnappt. »Die Christen haben das getan.« Seit jenem Abend waren drei Jahre vergangen. In ihrer Wohnung in Jerusalem schleuderte Sharon ihre Schuhe von sich und zündete im ganzen Raum Kerzen an. Sie zog die Rolläden herunter, um das Zimmer zu verdunkeln. Es war ein Ritual, das 226
sie im Laufe der Zeit entwickelt hatte, um sich von den Anforderungen ihrer Arbeit zu erholen. Doch diesmal wollte sie in Wirklichkeit über Tom nachdenken. Mozarts Requiem. Es war ihr Lieblingsstück, bei dem sie allen Streß vergessen konnte. Es weckte keine religiösen Gefühle in ihr; vielmehr fand sie darin etwas, in das sie sich einspinnen konnte, bis sie sich selbst vergaß. Oft fiel sie in Schlaf oder pendelte zwischen Wachen und Schlafen am Rande des Bewußtseins hin und her. Die Unnachgiebigkeit des Requiems führte sie auf einen Gang aus schlüpfrigem, schwarzen Vinyl, fast so, als drehe sie sich selbst auf den spiralförmigen schwarzen Rillen der Platte – und die Rillen vertieften sich und wurden steiler, während ihr Geist mühelos zwischen ihnen dahinfloß. Und während sie durch ein schwindelerregendes Kontinuum geschleust wurde, von den äußeren Rändern des Schlafes umweht, den Flügeln des Traumes umfächelt, veränderte sich die Musik, wurde für einen Augenblick zu splitterndem Licht und dann wieder zu einem Ton, doch nun war es eine Stimme, verführerisch, vertraut, beharrlich: Hilf ihm. Du mußt ihm helfen. Tick. Tick. Tick. Das Geräusch weckte Sharon. Sie lag dösend in ihrem Sessel. Der Tonarm war am Ende der immer noch rotierenden Schallplatte angelangt. Sie wußte, daß sie eingeschlafen sein mußte, doch da war immer noch diese Stimme, die in ihrem Kopf flüsterte. Die Kerzen waren nur ein kleines Stück heruntergebrannt, die stillen Flammen strahlten ein weiches gelbes Licht aus. Tick, tick, tick machte der Plattenspieler. Sie tappte hinüber zur Stereoanlage, hob den Tonarm ab und stellte das Gerät aus. Als sie sich umdrehte, erstarrte sie und ließ den Tonarm achtlos auf das kostbare schwarze Vinyl zurückfallen. Eine Frau stand in der Tür zum Schlafzimmer. Sie war nackt und blickte nicht auf Sharon, sondern auf das schwere Buch, 227
das sie vor sich hielt. Auf den Konturen ihrer braunen Haut waren verblaßte Tätowierungen zu erkennen. Ein Gesicht voller Linien, wie eine Straßenkarte der Stadt, und Augen wie blankpolierte schwarze Tonscherben. »Katie?« flüsterte Sharon. Doch es war nicht Katie. Die Gestalt fuhr fort zu lesen, mit Lippenbewegungen, als lese sie laut vor. Sie schien Sharons Anwesenheit nicht wahrzunehmen. Dann blätterte sie eine Seite um. Das Pergament zerknitterte unter ihrer Hand und verwandelte sich in einen weißen Vogel, dessen Federn mit der altertümlichen Schrift bedeckt waren. Der weiße Vogel hüpfte aus dem Buch und flog in unnatürlich langsamen Bewegungen auf Sharon zu; hinter sich ließ er das Bild eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen. Eine neue Seite wurde umgeblättert, die sich sogleich in einen zweiten Vogel verwandelte, und dann noch eine, und noch eine. Die weißen Vögel flatterten durch das Zimmer, kreisten langsam um Sharon, bis sie, einer nach dem anderen, aus dem offenen Fenster flogen.
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42 »Bevor du heimgekommen bist, habe ich von der Magdalena geträumt.« »Du auch? Bist du sicher, daß es nur ein Traum war?« »Nein. Ich bin nicht sicher. Ich hab’ im Sessel gedöst. Dann bin ich aufgestanden, und sie war da. Ich hab’ einmal geblinzelt, und sie war fort.« »War es ein Dschinn?« »Vielleicht. Vielleicht auch etwas anderes, das so tat, als wäre es ein Dschinn. Ich weiß ja nicht, was ein Dschinn ist.« »Ich glaube, ich weiß es fast.« »Glaubst du, daß sie uns beobachtet, wenn es dunkel ist?« »Ja.« »Glaubst du, sie schaut zu, wenn wir uns lieben? Daß sie uns eben zugeschaut hat?« »Ja. Sie lauert in der Dunkelheit und beobachtet uns. Mir macht es nichts mehr aus.« »Ohhh … wenn du meinen Bauch küßt so wie jetzt. Laß uns wieder Liebe machen. Wenn wir uns lieben, kann der Dschinn nicht in mich hineinkommen. Ich habe Angst, daß sie in mich eindringen.« »Und du hast keine Angst, wenn ich in dir bin?« »Nie. Aber ich habe Angst, daß die Liebe in mich eindringt. Ich habe Angst, dich zu lieben, Tom.« »Ist die Liebe denn ein Dschinn?« »Ja. Es muß ja so sein. Die Liebe ist ein Dschinn, der im Dunkeln lauert und darauf wartet, in dich einzudringen.« »Nein. Der Dschinn kommt, wenn die Liebe vorbei ist, wenn er genug gesehen hat.« »Du hast recht. Die Liebe weicht der Langeweile. Die Liebe wird müde. Sie will wandern. Aber wenn sie geht, läßt sie eine furchtbare Leere zurück – eine offene, blutende Wunde. Einen 229
Platz für den Dschinn. Deshalb habe ich solche Angst vor der Liebe. Bring mich nicht dazu, dich zu lieben, Tom. Tu es nicht.«
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43 »Was ist nun mit Katie? Warum willst du mit keinem über Katie reden?« Tobie war sehr direkt. Sie schlürfte ihren Kaffee und stellte die Tasse klirrend auf die Untertasse. Bei dieser zweiten Sitzung hatte sie Tom aufgetragen, den Kaffee selbst zu kochen, und ihn gerügt, als er vergessen hatte, Kekse aus der Küche mitzubringen. »Ingwerplätzchen, Darling. Im Schrank sind Ingwerplätzchen. Ohne die kann ich nicht arbeiten.« Tom hatte nicht nur Ingwerkekse, sondern auch Christina in der Küche gefunden. Sie saß vor dem Resopaltisch, und ihre langen Haare hingen zu beiden Seiten eines Wasserglases hinab, aus dem sie noch nicht getrunken hatte. »Hallo«, hatte er sie freundlich begrüßt. Sie hatte ihn nicht beachtet, nicht einmal aufgeschaut. Als er in den Raum zurückkehrte, in dem auch die erste Sitzung stattgefunden hatte, hatte Tobie die Stühle umgestellt. Zwei standen einander gegenüber, und ein dritter daneben. »Warum steht da noch ein Stuhl?« fragte Tom leichthin. Tobie zuckte die Achseln. »Vielleicht kommt ja noch jemand anders, vielleicht auch nicht. Was ist nun mit Katie?« »Was soll mit ihr sein?« Tobie streckte den Arm aus und legte ihm ihre kleine rosige Hand auf den Arm. »Du kennst doch diese Idee, daß man loslassen soll. Das ist kein Witz. Es ist sehr wichtig.« »Ja.« »Also, erzähl mir etwas über Katie.« »Was wollen Sie denn wissen?« »Wo tut es weh, Darling? Wo tut es weh?« Tom sah verblüfft drein. Tobie wirkte müde. »Genau das ist es, warum ich mich nicht mehr mit Männern abgebe. Ihr seid alle zu dumm. Warum 231
sollte ich meine Energie verschwenden? Damit du so tust, als wüßtest du nicht, worüber ich spreche? Ich tue das nur für Sharon. Okay. Wie du willst. Fangen wir mit dem Begräbnis an. Was kannst du mir darüber erzählen?« »Sie wurde verbrannt. Die übliche Routine. Es ging ganz schnell. Den Pfarrer hat sie nicht einmal gekannt. Er hielt eine Standardpredigt. Vorhang zu. Fertig. Der nächste bitte.« »Du klingst bitter.« »Was sonst?« Was sonst, in der Tat, dachte Tom. Der Tod brachte einen in die Gewalt eines Rituals, und entweder kam man damit klar oder blieb furchtbar unzufrieden zurück. Es war die institutionelle Tüchtigkeit, die ihn bei Katies Bestattung am meisten gestört hatte, die korrekte Abwicklung der Geschäfte. Irgend etwas an der Art, wie der Pfarrer die Zeremonie begonnen hatte, war Tom furchterregend erschienen – es hatte auf ihn gewirkt wie eine sanfte Gangschaltung, ein flüsternder Dynamo; da waren ein paar ölige Worte, die über den Sarg gesprochen wurden, so wie man einen Vorhang zuzieht. Man kam sich vor wie bei einer Hinrichtung, doch statt des Strickes sah man nur die offene Falltür. Dann wurde man weggeführt und in ein Auto mit lautlosem Motor geschoben. Das Abschiednehmen war nun vorüber, aber es hatte niemanden berührt, nichts bewirkt. Es war, als betrachte man einen Film über ein Begräbnis – und beim Verlassen der Kapelle hatte es sogar noch drehbuchreif geregnet. Hinterher kamen sie dann alle und murmelten ein paar Worte des Beileids, bevor sie heimfuhren; du aber bliebst zurück mit dem Gefühl, daß der Körper immer noch am Seil hing, strampelnd, tretend und schreiend. »Wie ist sie denn gestorben, deine Frau?« »Ein Baum ist auf sie gefallen.« »Nicht gerade eine normale Art zu sterben.« »Sie fuhr mit dem Wagen. Der Wind war ziemlich stürmisch. Nicht ungewöhnlich für England im Herbst. Der Sturm hatte 232
eine ganze Menge Bäume entwurzelt. Einer davon landete auf ihrem Wagen.« »War sie allein?« »Ja.« »Ziemliches Pech.« »Pech? Ein Unglück war es.« »Und warum fühlst du dich so mies deswegen?« Tom blickte auf. »Ich finde das nicht gerade einfach, verstehen Sie?« »Weiß ich, Darling. Ich finde es auch nicht einfach. Und wenn man mit diesen Dingen erwachsen umgeht, heißt das noch lange nicht, daß sie einfach sind.« Tom stürzte in einen Abgrund des Schweigens. Falls er darauf wartete, daß Tobie ihm heraushalf, so wartete er vergebens. Fünf Minuten verstrichen, aber man hätte nicht sagen können, wann jede Sekunde sich rundete und in die heulende Leere einging. Endlich blickte er hoch und sah, daß ihre sanften, meergrauen Augen geduldig in die seinen schauten. »Was?« »Du wolltest mir eben erzählen, warum du dich so mies deswegen fühlst.« Die Tür ging auf. Christina spazierte ins Zimmer und ließ sich ohne Einladung oder Erlaubnis auf dem dritten Stuhl nieder. Tom blickte Tobie an. »Wir haben hier so eine Art System, Darling. Jeder hilft jedem. Das heißt, niemand ist Patient, und niemand ist Arzt. Christina und alle anderen Frauen hier haben Erfahrungen und Einblicke gewonnen, die uns helfen können.« Christina sah stur geradeaus. Falls Tobie vorschlagen wollte, Christina solle als eine der Therapeutinnen agieren, dann konnte Tom sich nur noch fragen, wie tief er gesunken war. »Tief genug«, sagte Christina. »Was?« »Du hast es ja gehört.« »Ich hab’s wohl gehört, aber ich verstehe nicht …« 233
»Ach, Scheiße.« »Werde nicht feindselig«, beschwichtigte Tobie. »Er ist es doch, der feindselig wird«, sagte Christina. »Aber ich hab’ doch nur …« Christina hörte nicht auf ihn und wandte sich an die ältere Frau. »Ich versuche ja, dankbar zu sein, Tobie, ich versuch’s wirklich. Aber hör dir nur an, was er rausläßt. Wie soll da einer dankbar sein? Sein Hirn ist ja nicht in seinem Schädel. Scheiß drauf, wenn er so weitermachen will, verdrück’ ich mich wieder.« Ihr Stuhl fiel hintenüber, als sie aufstand und den Raum verließ. Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, blickte Tom fragend auf Tobie, die sich das Haar am Hinterkopf glattstrich. Dann sagte sie: »Du wolltest mir eben erzählen, warum du dich so mies deswegen fühlst.« Wie seltsam – sie schien die Worte in genau dem gleichen Tonfall zu wiederholen wie eben, bevor Christina hereingeplatzt war. Tom blickte auf den Stuhl. Er stand wieder aufrecht, aber er hatte nicht gesehen, wie Tobie ihn aufgehoben hatte. »Du siehst verwirrt aus, Tom.« »Worüber hat sie da gesprochen?« »Wer, Darling?« »Christina. Was meinte sie mit ›dankbar sein‹?« »Da komm’ ich nicht mehr mit, Honey. Was hat denn Christina mit dir zu tun?« »Sie ist doch gerade reingekommen …« Tobie blickte ihn verblüfft an, »… und hat den Stuhl umgeworfen.« »Niemand war hier, Darling. Weder Christina noch sonst jemand.« Tom blickte sie scharf an, er argwöhnte, daß sie ein Spiel mit ihm veranstaltete. »Warten Sie mal.« Er stand auf, verließ das Zimmer und stahl sich den Flur entlang zur Küche. Christina saß noch am Tisch und starrte vor sich hin, auf das unberührte Glas Wasser. »Sind Sie eben in die Sitzung gekommen? So 234
antworten Sie doch.« Christina regte sich nicht. Wütend beugte sich Tom zu ihr herunter. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Dann zog sie die Lippen über den Zähnen zurück; es war fast ein Lächeln und doch eine höhnische Grimasse. Tom begab sich wieder in das Zimmer zurück. »Jetzt siehst du aber wirklich aufgeregt aus«, meinte Tobie. »Sag mir doch, was dich so aufregt.« »Verdammt noch mal! Ich sah – oder ich glaubte zu sehen, wie Christina ins Zimmer kam. Sie saß auf dem Stuhl da. Sie sagte etwas darüber, ob man sich dankbar fühlt oder nicht.« »War es das?« Tobie wies auf ein handgeschriebenes Schild an der Wand, auf dem stand: Sei Dankbar All Jenen, Die Du Hier Triffst, Weil Sie Dir Die Chance Geben, An Dir Selbst Zu Arbeiten. Tom seufzte. »Also kennst du Christina schon? Sharon hat sich wirklich Mühe mit ihr gegeben. Ich werde dir jetzt mal etwas über sie erzählen: Sie ist wie ein Radiosender, der alle möglichen Dinge aus der Luft aufgreift. Wenn sie loslegt, hat man keine Ahnung, was dabei herauskommen wird; Störungen, Piratensender, Polizeifunk. Ihr Empfang steht nie still, was wir auch mit ihr anstellen. Nein, Tom, sie ist nicht ins Zimmer gekommen. Das war jemand anders. Und wir wissen sehr wohl, wer das war, stimmt’s, Darling?« »Ach ja?« »Ja. O ja, wir beide wissen, wer es war.« »Sie war auf der Heimfahrt von der Kirche. Es war an einem Sonntag.« »War sie denn gläubig?« »Erst in den letzten Monaten, bevor sie starb; davor eigentlich gar nicht. Ich war derjenige, der zumindest einen rudimen235
tären Glauben hatte. Sie hat sich früher immer darüber lustig gemacht – so wie Sharon. Im Grunde war es Sharon, die mich am College von der Religion entwöhnt hat.« »Natürlich. Aber wir reden jetzt über Katie, nicht über Sharon.« Tobie ließ es nicht zu, daß er vom Thema abwich. »Es war unglaublich windig an jenem Morgen. Schon bevor sie losfuhr.« Tom entsann sich noch der Farbe des Himmels – wie erhitzter Stahl, der sich unter Hammerschlägen beulte. Er erinnerte sich daran, mit welcher Wucht der Wind die herbstlichen Baumwipfel peitschte, während sie sich ins Auto setzte. Sie hatte ihn wieder gefragt, ob er sie begleiten wollte; mittlerweile war es zu einem Ritual zwischen ihnen geworden. Jeden Sonntag fragte sie, und er lehnte ab: »Kommst du mit?« »Nein.« Doch an diesem Morgen hatte er hinter der Bitte einen bestimmten Unterton, ein Drängen vernommen. Die Frage läutete wie eine Glocke. An jenem Morgen hatte sie sich besonders hastig geschminkt, das Make-up auf die Haut geschmiert, als versuchte sie, die darunterliegenden Risse zu verdecken. Dann sprang das Auto nicht an. Er wußte noch, wie er mit einem mutlosen Gefühl hinter der Tür gestanden hatte, während der Anlasser im Hof schnarrte, wieder und wieder. Der nächtliche Regen hatte die Zündkerzen feucht werden lassen. Er fürchtete, sie würde sich anders besinnen und zu Hause bleiben. Schließlich hatte er seine Schuhe übergestreift und war hinausgegangen. Hatte die Motorhaube hochgestemmt und die Kontakte eingesprüht, bevor er sich selbst ans Steuer setzte. Dabei hatte er wütend gemurmelt: »Spring an, verdammt, spring doch endlich an.« Endlich war der Wagen hustend angesprungen. Schmutzige Abgaswolken wehten im Wind, während er den Motor auf Touren brachte. Sie hatte sich dann wortlos hinters Steuer gesetzt. Sie gaben sich keinen Kuß; sie blickten einander nicht 236
einmal an. Sie fuhr los. Es war das letzte Mal, daß Tom sie lebend gesehen hatte. »Wolltest du nicht mit ihr fahren?« erkundigte sich Tobie. »Ich wäre sowieso nicht mitgefahren.« »Sowieso? Was meinst du damit?« »Ich mußte … ich hatte an jenem Morgen eine Verabredung. Ich mußte jemanden treffen, aber ich wäre ohnehin nicht mit ihr gefahren.« Die Kirche, die Katie damals besuchte, lag ungefähr zwölf Meilen von ihrem Haus entfernt. Es gab zwar auch Kirchen in der näheren Umgebung, doch diese Kirche stammte aus dem Mittelalter, war aus Sandstein erbaut, halb angelsächsisch, halb römisch. Sie hatten sie auf einem Spaziergang zufällig entdeckt, und Katie hatte sich auf der Stelle verliebt – in den schiefen Glockenturm und die bizarren Inschriften der Grabsteine aus dem siebzehnten Jahrhundert; in die verwitterten Wasserspeier und die Schnitzereien in dem jahrhundertealten polierten Holz; in das zersplitterte Taufbecken und den Duft der verwelkten Blumen; in die Buntglasfenster und in die vielen Bibelsprüche, die wie gestapelte Gesangbücher in die steinernen Wände eingelassen waren. Und am meisten hatte sie der Kirche größter Schatz beeindruckt, der unter dem Glockenturm stand: in einer kleeblattförmigen Nische an der Ostwand befand sich eine seltene Statue der Maria, der Schutzheiligen der Kirche, vor dem Zerfall der Jahrhunderte bewahrt. Es war nicht die Jungfrau Maria, nicht die Mutter, sondern die dunkle, schattenhafte, die geschlechtliche Maria. Sie trug ihr Haar lang hinabhängend und war in einen Umhang gekleidet. In der Hand hielt sie ein Gefäß mit Balsam. Sie blickte nach Südosten, dorthin, wo sich nach dem Kompaß Jerusalem befinden mußte, zumindest behauptete das die Legende. Die Magdalena, die vom Turm aus Wache hielt. »Mir ist gerade etwas eingefallen«, sagte Tom zu Tobie. 237
»Das war mir vorher gar nicht in den Sinn gekommen. Die Kirche, die sie immer besucht hat, war die Kirche der Maria Magdalena.« »Ist das wichtig?« »Nein. Ja. Ach Gott, ich weiß es nicht.« »Hört sich aber so an.« »Wenn Sie es sagen.« »Dann laß es uns mal anders versuchen. Wen wolltest du denn an jenem Morgen treffen?« »Niemand. Es ist nicht wichtig.« Tobie blickte auf ihre Uhr. »Wir müssen jetzt Schluß machen, Tom. Spülst du bitte die Tassen aus? Und vielleicht kannst du mir dann morgen erzählen, wen du an jenem Morgen treffen wolltest.« In der Küche war niemand. Tom war erleichtert, Christina nicht mehr sehen zu müssen. Sorgfältig spülte er die Tassen, dann trocknete er sie ab und stellte sie in den Schrank – Tobie hatte mit ihm geschimpft, weil er es beim letzten Mal nicht getan hatte. Als er das Haus verließ, saß Christina auf der Treppe in der Sonne. »Hey, du«, rief sie. Zögernd blieb er stehen. Sie blickte zu ihm auf, mit der Hand die Augen beschattend. Sie sagte: »Katie läßt dich grüßen.«
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44 An manchen Stellen des Tunnels reichte Sharon das schwarze Wasser bis an die Schenkel. Sie watete in Shorts und Plastiksandalen. Der bleistiftdünne Strahl ihrer Taschenlampe spiegelte sich im Wasser und ließ die Oberfläche aussehen, als triebe Rauch darauf. Sie leuchtete auf die Wände und auf die Decke, die kaum höher war als ihr Kopf. Der Gang war direkt aus dem Felsen gehauen. Stumpf glänzten die gezackten braunen Steine. Hinter ihr war ein Plätschern zu hören. Ahmed war gestolpert und gegen die Wand getaumelt. Keiner sagte ein Wort; schweigend wateten sie zweihundert Meter weiter. »Wieso bist du noch nie hier unten gewesen?« wollte Ahmed wissen. »Ich find’s nicht so besonders spaßig.« Der Hezekiah-Tunnel war angelegt worden, um zur Zeit der Belagerung Wasser aus einer verborgenen Quelle in die Stadt zu leiten. Es war der einzige Ort, an dem Ahmed mit Sharon über die Dschinn hatte sprechen wollen. Als Sharon am Abend von der Arbeit gekommen war – nachdem sie Tom einen Kuß gegeben hatte, bevor er zu einer seiner Sitzungen mit Tobie ging –, hatte sie plötzlich beschlossen, Ahmed zu besuchen. Wie immer öffnete er die Tür erst nach dem vierten Klopfen. Er hatte sich den Kopf geschoren. Sie sagte nichts dazu. Von Zeit zu Zeit pflegte er sich den Kopf zu scheren, weil er behauptete, daß die Dschinn sich am liebsten an die Haare eines Menschen hängten, und daß deshalb Mönche und Nonnen und andere gläubige Menschen sich die Haare abschnitten, wenn sie ihr Gelübde ablegten. Sharon bemerkte jedoch, daß Ahmed ein wenig abgespannt aussähe. »Ich habe eine Woche lang kein Haschisch geraucht. Keinen Alkohol, gar nichts. Nicht mal Zigaretten.« »Das wird dir nur guttun. Und die Dschinn werden dich in 239
Ruhe lassen.« Sein bitteres Lachen rief einen Hustenanfall hervor. »Du weißt gar nichts. Ohne das vermehren sich die Dschinn mit jeder Sekunde. Du hast ja keine Ahnung.« »Ich glaube, ich bin von einem Dschinn überfallen worden, Ahmed.« »Ich weiß«, erwiderte er ernst. »Ich hab’ erwartet, daß du mir das erzählen wirst.« Ahmed sprach in zwei Arten über die Dschinn; meistens geschah es in der Form lebhaften Neckens, als sei seine beständige Erwähnung von Geistern und Dämonen ein irrer Witz zwischen ihm und dem Zuhörer, als wisse er, daß es Unsinn sei, würde es aber niemals zugeben. Dann wieder konnte er ernsthaft mit leiser, tiefer Stimme über die Dschinn reden, und die anderen begannen sich zu fragen, ob er sich auf ihre Kosten einen Scherz erlaube. »Ich habe ihn gesehen.« »Irgend etwas geschieht mit mir. Und ich verstehe es nicht. Ich weiß nur, daß es irgendwie mit meinen Gefühlen für Tom zu tun hat.« »Du bumst immer noch mit diesem verdammten Engländer, wenn du statt dessen mich haben könntest!« rief er ärgerlich. »Schau dich doch nur mal an. Ist ja ekelhaft! Du bist in ihn verliebt!« »Vielleicht.« »Hüte dich vor der Liebe. Sie ist der schlimmste aller Dschinn.« »Nun mal ernsthaft, Ahmed. Ich will mit dir reden.« »Ich bin ganz ernst. Aber ich spreche nicht gern über die Dschinn. Das ist der sicherste Weg, sie zum Vorschein zu bringen.« »Ahmed. Was hast du ihm erzählt? Was hast du ihm in den Kopf gesetzt? Was immer es auch sein mag, es greift nun auch auf mich über.« »Aha. Jetzt endlich glaubst du auch an die Dschinn. Du 240
kriegst Ahnungen. Du willst also, daß ich deinem Freund helfe? Na schön, ich werd’s vielleicht tun, aber hier will ich nicht darüber reden. Ich will nicht, daß sie alle heute nacht hierher kommen. Paß auf, wir machen jetzt einen Spaziergang.« »Sollen wir zur Stadtmauer gehen? Ich laufe so gern an der Mauer lang.« Sie fühlte sich immer unsicher, wenn sie ohne Begleitung war. »Bist du verrückt? An der Mauer wimmelt es von Dschinn. Das ist ihr Lieblingsplatz in der Stadt. Manche von ihnen sind sogar als israelische Soldaten verkleidet. Nein. Es gibt nur einen Ort in der ganzen Stadt, wo wir sicher über sie reden können.« »Aber wo denn?« Ahmed legte ihr die Hand auf den Arm. Er flüsterte. Mit dem geschorenen Kopf und den glühenden Augen sah er aus wie ein Irrer. »Ich werde dir zeigen, wie man die Dschinn zum Vorschein bringt. Du wirst es nur ein einziges Mal zu sehen bekommen – und glaub mir, dann wirst du es nicht noch mal erleben wollen.« Am Ende ihrer Geduld, aber unfähig zu widersprechen, war Sharon Ahmed aus der Wohnung gefolgt. Zuerst waren sie zu ihr gefahren, damit sie ein paar passende Sachen anziehen konnte. Dann zu dem Tunnel, wo Ahmed anscheinend eine bekannte Persönlichkeit war. Der Aufseher grüßte ihn und versicherte ihnen, daß die letzten Touristen schon vor einiger Zeit gegangen waren. Er wolle jetzt schließen, sagte er, damit niemand mehr hineinkomme. Sharon fragte sich, wieviel Zeit Ahmed wohl hier unten verbringen mochte. Er sagte ihr, daß man eine halbe Stunde durch den Tunnel wandern müsse, bis man am Teich von Siloah rauskäme. Sie wateten hinein, das Wasser stieg und fiel, der Tunnel wurde breiter und enger, die Decke war zuweilen so niedrig, daß sie gebückt gehen mußten. Das Licht ihrer Taschenlampen zitterte 241
auf den feuchten Wänden. Sharon hielt an, als sie einen Lichtschein über ihrem Kopf gewahrte. »Was ist?« keuchte Ahmed. Sie zeigte nach oben, und das winzige Licht bewegte sich und erlosch. Ahmed drängte sich an ihr vorbei, und sie folgte ihm. Dann sah sie wieder das Licht und erstarrte. »Da ist einer«, zischte sie. Geduldig wandte Ahmed sich um. »Sei kein Idiot. Das ist der Widerschein deiner eigenen Lampe.« Als sie die Markierung erreichten, die die halbe Strecke des Tunnels anzeigte, wies Ahmed auf die Stelle, an der die Äxte der Arbeiter sich einst getroffen hatten, als sie während der Belagerung von entgegengesetzten Seiten aufeinander zugruben. »Dies ist der sicherste Ort in der ganzen Stadt. Hier können wir die Dschinn erscheinen lassen und dabei ziemlich sicher sein. Aber nicht ganz. Gib mir mal deine Lampe.« Er knipste beide Lampen aus, und sie befanden sich in urzeitlicher Dunkelheit. Es war kalt im Tunnel. Und außer einem gelegentlichen Tröpfeln an den Wänden war es still wie in einem Grab. Ahmed sprach in der Dunkelheit. Sie hörte, wie er durch das unsichtbare Wasser watete. Langsam umrundete er sie. »Dies ist der älteste Teil der Stadt. So alt wie die Kanaanäer. Älter. Hier gab es eine Siedlung, lange bevor David kam und dieser Stadt ihren Namen gab. Sie wurde erbaut …« »Warum läufst du um mich rum? Du machst mir angst …« »HALT DIE KLAPPE, DU HEXE! Sag nichts! Jetzt muß ich wieder von vorn anfangen!« Sharon war durch diesen plötzlichen Ausbruch erschüttert. Sie zweifelte nun, ob es so klug gewesen war, hierherzukommen. Sie hatte immer Vertrauen zu Ahmed gehabt, während andere nur Angst vor ihm hatten. Bis zu diesem Augenblick hatte sie immer geglaubt, er würde nie etwas tun, das sie verletzen konnte; nun aber fühlte sie, daß er kurz vor einer neuen Krise stehen könnte. Die Anzeichen waren vorhanden: 242
der geschorene Kopf, der plötzliche Rückzug von den Drogen, seine Sprunghaftigkeit. »Dies ist der älteste Teil der Stadt«, begann er wieder und umrundete sie, watete vorsichtig durch das Wasser, während er die Worte in gleicher Reihenfolge wiederholte. Sie konnte seinen sanften Atem zwischen jedem Satz vernehmen und das leise Plätschern seiner Waden im Wasser. »Er wurde erbaut um diese Quelle, die Gihon-Quelle, denn die Leute jener Zeit hatten den Ort erkannt. Er war und ist der Mittelpunkt der Erde. Es ist ein Ort der Zeugung. Und wie ein Same verhaftet ist dem Gedächtnis der Pflanze, aus der er entstand, so ist dieser Ort dem Gedächtnis seines Ursprungs verbunden. Der Hindu nennt diesen Ort ein Chakra. Der Ureinwohner ein Jiva. Ich nenne ihn die Wiege der Dschinn. Die Stadt Jerusalem ist über diesem Ort erbaut. Meine Leute erzählen, daß der Felsen unter der Goldenen Kuppel nur ein riesiger Stöpsel ist, um die Kräfte dieses Ortes daran zu hindern, in die Welt zu entweichen.« Ahmed hatte seine Kreise nun enger gezogen. Sie konnte seinen Atem an ihrem Nacken spüren. Sie wollte ihm sagen, daß er ihr angst mache, aber sie fürchtete sich zu sprechen. »Doch es gibt ein Leck. Dampf entströmt diesem Ort. Die Stadt ist wie ein großes Gehirn, über einem Abgrund erbaut, von den Dämpfen ihrer eigenen Träume betäubt.« Langsam zog er sich in die Dunkelheit zurück. Seine Stimme wurde leiser, war nun nicht mehr als ein Flüstern. »Im Wahn träumend. Und dies ist der Ort, wo den Dschinn der Lebenshauch eingeblasen wird. Hier werden sie ins Leben geträumt. Hier beginnt ihre Existenz.« Er war verschwunden. Es gab nichts als Dunkelheit. Sie horchte nach dem Laut seines Atems, konnte aber nichts hören. Sie lauschte angestrengt auf ein Plätschern, das seine Schritte im Tunnel verraten würde, aber es herrschte Stille. Alles, was sie hören konnte, war ihr eigener Atem und ihr eigener Herz243
schlag. »Ahmed.« Leise. Dann lauter: »Ahmed!« Ihre Stimme hallte durch die Höhle, erschreckte die Felsen. »Du Mistkerl, du hättest mich besser nicht allein …« Ihre Stimme verklang und verschwand in den Felsspalten. Er hatte beide Lampen mitgenommen. Sie watete ein paar Meter vorwärts und fand sich einen Augenblick lang nicht mehr zurecht. Welchen Weg waren sie denn gekommen? Stimmte es überhaupt, daß sie die Tunnelmitte erreicht hatten? Sie watete weiter und schrie auf, als sie gegen einen nassen Felsen stieß. Mit suchenden Fingern ertastete sie die Wand. Sie merkte, daß sie sich mit den Fingernägeln festhielt, als schwebe sie in Gefahr, in einen Abgrund zu fallen. Da spürte sie die Anwesenheit eines anderen Wesens im Tunnel. Sie vernahm ein leichtes Atmen. Ihre Haut schien sich nach außen zu stülpen, wie ein Handschuh. Sie versuchte zu sprechen – doch es wurde nur ein abgehacktes Krächzen. »Ahmed.« Keine Antwort. Doch da war etwas im Wasser, nur wenige Fuß von ihr entfernt. Eine solide, große Masse, hart und kalt. Wieder spürte sie, wie ihre Haut sich wie unter einer Säure zusammenzog. Ihr kam die Galle hoch. Sie fühlte, wie das Ding größer wurde, näher rückte. Sie hielt sich mit den Händen an der Wand fest. Im nächsten Augenblick blähten sich ihre Nüstern wie bei einem vertrauten Duft. Zwei dünne Lichtstrahlen leuchteten über das Wasser. Vor ihr aus dem schwarzen Fluß erhob sich eine lebensgroße Statue aus Stein. Es war das mittelalterliche Bildnis einer Frau mit wehendem Haar, aus verwittertem Stein gehauen. In der Hand hielt sie ein Gefäß mit einer Salbe. Der Stein schien unsagbar kalt. Sharon streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Auf den kalten grauen Wangen aus Stein verdichtete sich das Kondenswasser wie gefrorener Atem. 244
Als Sharons Finger die feuchte Steinwange berührten, sprang Wärme aus ihren Fingerspitzen, und das Wesen veränderte sich; es war nun nicht länger Stein, sondern Fleisch und Blut. Es war die alte Frau mit dem zurückgestreiften schwarzen Schleier, die tätowierte Magdalena; das Wasser tropfte von ihr herab, sie hatte den Arm ausgestreckt und hielt kein Salbengefäß, sondern einen toten weißen Vogel auf ihrer flachen braunen Hand. Sharon warf sich nach hinten gegen die Wand, während sich ein erstickter Schrei ihren Lippen entrang. Doch als das Bild der Magdalena vor ihr in die Höhe wuchs und sich mehr und mehr aus dem Wasser erhob, schien eine Strömung im Wasser es zu zerbrechen, und die Gestalt wandelte sich ein zweites Mal. »Christina!« stieß Sharon hervor. Vor ihr stand ihre Patientin. Christina trug Jeans und T-Shirt und lächelte sie selig, fast irre an. Sie reagierte nicht auf Sharons Schrei. Sie veränderte sich schon wieder. Nun wurde sie zu Katie. Katies Hände lagen zu beiden Seiten ihres Mundes. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt, und sie schien zu rufen, schien sich über den Abgrund der Zeit bemerkbar machen zu wollen. Sharon griff sich mit der Hand an ihre zugeschnürte Kehle. »Was? Was ist, Katie?« rief sie. Doch Katie, von ihrem eigenen Schweigen gequält, fuhr fort, lautlos über den Abgrund zu rufen. Ein Zittern durchlief die Erscheinung, und nun wurde sie zu einem Steinidol, einer kanaanäischen Göttin, aus gelbem Stein gehauen. Sharon konnte sie nur einen Augenblick betrachten, dann verwandelte sie sich wieder, wie ein Kaleidoskop, diesmal in eine scheußliche, unmenschliche Gestalt, die den Arm nach ihr ausstreckte: halb Reptil und halb Insekt, wie eine längst ausgestorbene Kreatur des Meeres, ein glänzender Käfer, der mit gezackten Gliedmaßen nach ihr tastete. Als sich die Gestalt ein letztes Mal veränderte, war ihr Gesicht zu Sharons offenem Mund geworden, in einem lautlosen Klage245
schrei verzerrt. Sharon war erstarrt, sie konnte nicht einmal schreien. Ahmed hielt sie in den Armen, versuchte sie zu beruhigen. Sie konnte keines seiner Worte verstehen. Als er sie rasch weiterführte, blickte sie immer noch wild um sich, voller Furcht, noch einmal den scheußlichen Geist zu sehen, der aus dem flüssigen Dunkel nach ihr gegriffen hatte. Als sie den Teich von Siloah am Ende des Tunnels erreichten, setzte sie sich hin und brach in Tränen aus. Ihr eigenes Spiegelbild im Teich sah aus wie immer. Ahmed saß neben ihr und strich ihr von Zeit zu Zeit über die Schulter. »Was war das?« wollte sie wissen. »Der Dschinn natürlich.« »So sieht der Dschinn aus?« »Ich weiß nicht, wie er für dich aussieht. Sie nehmen für jeden eine andere Gestalt an.« »Aber das letzte, das ich gesehen habe – war das die wirkliche Erscheinung?« »Das kann ich dir nicht sagen. Du selber gibst ihm die Gestalt. Jede Gestalt.« »Aber wenn du sie erscheinen lassen kannst so wie jetzt, kannst du sie dann auch wieder verschwinden lassen?« »Das kann ich nicht. Dafür bin ich viel zu sehr in meinen eigenen Dschinn verliebt.« Sie blickte ihm in die sandfarbenen Augen. Sie hätte nicht sagen können, ob er vollkommen verrückt war oder unglaublich weise. Dann sah sie ihr eigenes Spiegelbild im Teich und brach wieder in Tränen aus.
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45 Wen hatte er an jenem Tage getroffen? An dem Tag, als Katie gestorben war, als Katie einen Baum entwurzelt hatte, ihn angezogen, aus der Erde, aus dem Wind gezaubert hatte, gebetet hatte, er möge ihr auf den Kopf fallen, damit sie ein Opfer wurde, gequält, dargeboten. Er machte sie für ihren Tod verantwortlich. Sie hatte es gewollt. Gewünscht. Geschehen lassen. Damit er die Schuld tragen mußte. Mit wem hatte er sich an jenem Tage verabredet? Tobies Schlußfrage spukte ihm im Kopf herum, als er abends ein Taxi nahm, um zu Sharon zu fahren. Vielleicht hätte er die Frage sogar beantwortet, wenn diese kleine jüdische Gorgone nur nicht so selbstsicher wäre. Sie wußte es sofort, fast instinktiv, wenn sich die Leute unbewußt ihre Wunden leckten, und riß dann wie zufällig an dem Schnitt, den man mit sich herumtrug. Diese pummelige, faßbusige Hexe mit den blaugefärbten Haaren hatte es gewußt, und sie hatte nicht einmal versucht, ihr Wissen zu verbergen. Wäre sie nicht so selbstgefällig gewesen und so mühelos zum Kern der Sache vorgedrungen, hätte er es ihr vielleicht erzählt. Aber im Augenblick fragte er sich nur, wie er es hatte zulassen können, so ausgefragt zu werden. Und was war das überhaupt für ein Haus? Was für eine Therapie mochten sie erst den Insassen des Zentrums anbieten? Was sollte dieser ganze Scheiß, daß jeder an der Sitzung teilnehmen durfte, während man die intimsten Dinge offenbarte? Wer war denn diese Christina, und warum sollte so eine Irre seine Trauer belauschen dürfen? Warum sollte er überhaupt mit so einer in einem Zimmer sitzen müssen? Weil diese blaugetönte, Darlink faselnde jüdische Mamma meinte, es sei eine besonders liberale Idee, wenn jeder beim Abwasch helfen mußte. Er war furchtbar wütend. Er bohrte die Fingernägel in seine 247
Hände, während er in der Abendsonne durch die heißen Straßen schritt. Zwei junge Chassidim, die Bärte am Kragen festgesteckt, hörten ihn mit sich selber reden und blickten ihn im Vorbeigehen fragend an. Er warf ihnen einen wütenden Blick zu. Er konnte es ihr nicht sagen. Und er würde es auch nicht tun. Sie würde es auf jeden Fall Sharon erzählen. Und keine von ihnen konnte es verstehen. Denn sie waren Frauen. Sie konnten nicht abschätzen, womit er fertig werden mußte. Ihre Reaktionen waren vorhersagbar, festgelegt. Was wußten Frauen schon davon? Was gab den Frauen das moralische Recht, über das Verhalten der Männer und die Tiefe ihrer Begierden ein Urteil zu fällen? Und dabei mußten sie es doch wissen! Ohne ihre Macht zu kennen, wußten sie intuitiv, wie man die Begierde weckt, und zwar schon in sehr jungen Jahren. Die Mädchen in der Schule erröteten vom ersten Tage an vor Erstaunen, weil sie die unterschwellige Spannung spürten. Die höhere Schule fiel mit den Jahren der Pubertät zusammen, und das war kein Zufall. Im zweiten Jahr hatten sie schon gelernt, wie man mit der Anziehung umging. Im dritten Jahr aalten sie sich in ihrer Ausstrahlung, und damit waren die Lehrjahre der sexuellen Macht bestanden; sie war an diesen armen Schweinen, den heranwachsenden Jungen, erprobt worden. Zwar standen die Jungen den Mädchen an Reife nach, doch ihre Hormone kochten und brodelten, bis sie geradezu verrückt wurden, wie angeturnte Kids auf einer TeenagerParty. Und während im rosaroten Klassenzimmer die Wolken der ungebärdigen Pheromone wehten und die Luft vor geheimen Zeichen vibrierte, erwartete man von diesen armen, dummen Ochsenjungen, daß sie lernen sollten! Diese Mädchen aus der vierten Klasse – Mädchen wie Kelly McGovern, mit ihren Blutrosenzeichen und den gestärkten weißen Blusen und den aufreizend kurzen Röcken und den hochhackigen Schuhen an den jungen Beinen. Kelly wußte, 248
wie sie einen Zentimeter zu nahe rücken konnte, während er ihr Heft korrigierte; wie sie nur zwei Knöpfe an ihrer Bluse offenstehen lassen mußte, damit ihre weiße Brust beim Vorbeugen zitterte wie ein Taubenjunges, das aus seinem engen Nest fliehen will; und wie sie mit einem scheuen Lächeln über die Schulter zu ihrem Platz zurückgehen mußte – mit einem Lächeln, das ihm zeigt, daß er so reagiert hat, wie sie es wünscht; ein Lächeln, das andeutet, wie sehr sie ihn beherrscht … Erst im Jahr zuvor war es einem Lehrer namens Mike Sands, einem fähigen und ambitionierten Mann, so ergangen. Das Gerücht über seine Affäre mit einer Schülerin der fünften Klasse war schon bald ein offenes Geheimnis. Die Ungläubigkeit seiner Kollegen wandelte sich bald in offene Feindseligkeit, und innerhalb einer Woche wurde er von einem beliebten und geselligen Kollegen zum Aussätzigen des Lehrkörpers. Besonders die Frauen schienen es persönlich zu nehmen und sprachen mit Bitterkeit davon, als seien sie selbst durch seinen Machtmißbrauch ausgenutzt worden; die Männer schlugen in die gleiche Kerbe und verachteten ihn für seine Schwäche – wenn auch manchmal der Neid aufblitzte und in Humor verpackt wurde. »Der arme Mann«, hatte Katie gesagt, als Tom ihr davon erzählte. Der arme Mann? Keiner hätte so eine Meinung vertreten – Katie war die einzige, von der er Worte des Mitleids vernahm. »Armer Mann? Er ist ein Scheißkerl«, hatte Tom gesagt. »Er hat seine Stellung mißbraucht. Er verdient jede mögliche Strafe.« Er hatte gehört, wie seine Stimme schrill wurde. »Alles, was er tun mußte«, erwiderte Katie, »war, sie in Ruhe zu lassen. Aber das konnte er nicht. Und so ist er immer tiefer gefallen.« Katie überraschte ihn oft mit ihren ungewöhnlichen Behauptungen. »Es ist der Sex, nicht wahr? Wir kommen einfach nicht damit klar. Darum haßt die Religion den Sex 249
auch so sehr. Sie will uns vor uns selbst retten. Wenn wir keine Sicherheit haben, können wir uns selbst nicht trauen.« »Es ist ein Kampf«, hatte er zugestimmt. »Ja?« »O ja.« Er hatte versucht, es ironisch klingen zu lassen, sie aber hatte nur den Ernst herausgehört. Mike Sands reichte seine Kündigung ein, bevor sie ihn feuern konnten. Tom erfuhr nie, ob ihn eine andere Schule noch genommen hatte. Er war verschwunden, doch sein Name spukte noch einige Zeit im Lehrerzimmer herum. Dann ging das Schuljahr zu Ende, und eines Morgens kam Tom in die Klasse und fand die gemeinen Beschuldigungen an der Tafel. Es war nicht wahr, es war alles Unsinn, und er hatte es hingebogen, das Rätsel gelöst und den Jungen gefunden, seine besitzergreifende Eifersucht für das McGovern-Mädchen verstanden. Er hatte dem Jungen erklärt, er wisse, daß Kelly der üblichen Lehrerverliebtheit nachhinge. Er war sanft gewesen. Er hatte den Jungen mit einer Verwarnung davonkommen lassen. Aber nun sah er Kelly in einem anderen Licht. Sie schien im wahrsten Sinne des Wortes eine Aura erworben zu haben, eine neue Lebendigkeit, ein goldenes Licht. Ihre Aufmerksamkeit begann ihn zu verwirren, ja, zu erregen. Wenn sie am Ende der Stunde herumtrödelte und immer als letzte den Raum verließ, konnte er nicht umhin zu sehen, wie der Saum ihres Rocks vom Rucksack hochgezogen wurde, so daß man noch mehr vom Oberschenkel sehen konnte. Diese zufällige Entblößung bei jeder Gelegenheit. Und wie sie sich beim Schließen der Tür umsah, nur um zu sehen, ob er ihr auch nachschaute. Jesus, dachte er, sie ist erst fünfzehn, und sie nimmt mich an die Leine. Tom war sehr gelangweilt gewesen, als er am Ende eines anstrengenden Tages vergleichende Religionswissenschaft unterrichten mußte – doch da war Kelly mit einer Frage gekommen. 250
»Warum nehmen wir nicht das Lied der Lieder durch?« Die anderen Schüler verließen langsam die Klasse. Sie hatte ihn nach dem Lied der Lieder gefragt, und er wußte nicht den Schimmer einer Antwort. »Bitte?« »Wir haben jetzt diese ganzen Hindus und Moslems und Buddhisten durchgenommen, warum dann nicht auch das Lied der Lieder?« »Das ist keine Religion, Kelly. Es ist ein Buch aus dem Alten Testament. Ein Hochzeitslied.« Er tat so, als suche er etwas in seiner Schreibtischschublade, nur um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. »Ich weiß. Der Freund meiner Schwester ist auf dem College, und er sagte mir, das Thema wäre viel zu schwer für einen Religionslehrer.« »Da muß er ja Ahnung haben, was?« Nun blickte er ihr in die Augen. Sie warf das kupferfarbene Haar zurück und befeuchtete ihre rosafarbenen Lippen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Das trübe Licht der Klasse strahlte gelb auf ihrem Gesicht und ihren Lippen. »Warte«, sagte er und erhob sich eilig von seinem Stuhl. »Ich hol’ dir ein Exemplar, dann kannst du es nach Hause nehmen und in Ruhe lesen.« Die Schlüssel rasselten in seiner Hand, während er die Tür des Bücherzimmers aufschloß. Sein einziger Gedanke war, ihr das Buch zu geben und sie so schnell wie möglich aus der Klasse zu scheuchen. Er konnte es nicht ertragen, mit ihr allein zu sein. Bei den Bücherregalen fühlte er sich sicher, doch die ganze Zeit war ihm bewußt, daß sie genau vor der Tür stand. Er knipste das Licht an und ließ seinen Blick an den Reihen vergessener Bücher entlangwandern. Er suchte nach etwas Passendem in großen Druckbuchstaben und mit trockenen wissenschaftlichen Fußnoten, am besten in moderne Sprache gefaßt, das für eine fünfzehnjährige, in ihren Religionslehrer verknallte Sirene das Richtige sein mochte. 251
Er hatte gerade seinen Arm nach einem der hohen Borde ausgestreckt, als die Tür aufging und Kelly das Zimmer betrat. Sie schloß die Tür hinter sich. Er hatte immer noch die Hand auf dem Regal liegen. »Was machst du denn hier?« Sie gab keine Antwort. Sie stand mit überkreuzten Beinen da und hatte die Hände vor dem Schoß zusammengefaltet. Die Augen zu Boden gerichtet. »Das ist nicht gut, wenn du hier hereinkommst«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Warum nicht?« »Weil es nicht gut aussieht.« »Warum nicht?« »Geh bitte, Kelly.« »Ich glaube nicht, daß Sie das wollen. Ich glaube, Sie haben mich gern.« »Ja. Aber es wäre besser, wenn du jetzt gingst. Wirklich.« Da wußte er, daß er schon zuviel gesagt hatte. Er hatte mit diesen wenigen Worten alles zugegeben. Er hätte nur sagen müssen: »Geh hinaus«, doch er hatte es nicht getan. Nun fühlte er sich wie gelähmt. Es kam von ihr, sie strahlte eine Spannung aus, steckte ihn an. Etwas zog an seinen Armen. Er ballte die Fäuste. In dem engen Raum konnte er ihren Atem riechen, fast schmecken – er war süß vor Begierde, sauer vor Furcht. Alle Lehrer, das wußte er, hatten schon einmal diese Phantasie gehabt. Die meisten würden es leugnen; den wenigsten war es wirklich passiert. Sie hielt den Blick gesenkt, während Tom, der immer noch an dem Bücherregal mit den Schulbibeln lehnte, schluckte und versuchte, das Rauschen in seinen Ohren unter Kontrolle zu bringen. Sein Blick fiel auf ihre sanft schwellende Brust unter der blutenden Rose. Ihr Atem ging in kurzen Stößen, und er erkannte, daß sie von der gleichen Furcht ergriffen war wie er. Dann hob sie die Augen. Hätte sie es nicht getan, hätte sie weiter den Blick abgewandt, so wäre 252
der Augenblick vielleicht vorübergegangen, und sie wären gerettet gewesen; so aber blickte sie auf, blinzelte ihn an, und das goldene Licht fing sich gleich kleinen Drahtschlingen in ihren Augen, und im nächsten Augenblick lagen seine Hände auf ihrer Taille, und seine Zunge war in ihrem rosa Mund. Sie küßten sich lange Zeit, ineinander verstrickt, und sie ließ sich in seine Arme sinken, bis sie sich wieder voneinander lösten. »Das darf nicht passieren«, sagte er. »Ich liebe dich nicht.« »Das ist schon in Ordnung.« »Das ist nicht in Ordnung. Es ist nicht richtig.« Aber es war, als versuche man, einen Zug aufzuhalten, in dem man vom Rande der Gleise winkte. Sie tat nichts, starrte ihm nur in die Augen, während er ihren Rock aufknöpfte und herunterzog. Sie keuchte, als er seine Daumen in ihre Strümpfe und ihren Schlüpfer hakte und sie bis auf die Knöchel hinunterzog. Da hörten sie, wie die Tür des Klassenzimmers geöffnet wurde. Sie erstarrten. Schritte. Ohne zu blinzeln blickte sie ihn an. Jemand öffnete eine Schublade, schloß sie wieder. Wieder Schritte. Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. »Warte«, sagte er. Er verließ den Raum und kam mit den Schlüsseln zurück, sperrte die Tür von innen zu. Dann räumte er einen Stapel Übungshefte vom Sitz eines alten Sessels. Er schob sie in den Sessel, streifte ihr die Schuhe und das unordentliche Knäuel aus Strümpfen und Unterhosen ab. Sie machte sich an seiner Hose zu schaffen. Sein Glied war schon angeschwollen, und er führte ihre Hand dorthin. Sie hielt ihn sanft. Er verzehrte sich im Feuer. Ihr Duft machte ihn schwindeln; es war ein Duft, ihr Duft, der ihn an einen feurigen Balsam erinnerte. Von fern hörte er die Worte: Meine Schwester, meine Gefährtin ist ein umfriedeter Garten; eine versiegelte Quelle, ein Brunnen. Wieder bebte sie, als er sie innen mit einem Finger berührte. 253
Er war erstaunt, wie feucht sie war, und er nahm an, daß sie nicht mehr Jungfrau war. »Gott, o Gott.« »Es ist in Ordnung«, meinte sie. »Ich hab’ es schon gemacht.« Jesus, nun mußte sie ihn auch noch beruhigen! Er küßte sie wieder, und dann knöpfte er ihre Bluse auf und befreite ihre weißen Mädchenbrüste aus dem überflüssigen Büstenhalter, küßte eine jede. Seine Küsse sprudelten über ihren Bauch. Er hätte zu gern seine Zunge in sie gesteckt, aber er wußte nicht, wieviel Erfahrung sie hatte, und wollte nichts tun, das sie erschrecken oder ekeln könnte. Erwache, o Nordwind; und fliege gen Süden; wehe über meinen Garten, so daß seine Düfte ausfliegen können. Laß meinen Geliebten in diesen Garten kommen und seine herrlichen Früchte essen. Statt dessen benetzte er seinen Finger und ließ ihn wieder in sie gleiten, und sie zuckte vor Lust zusammen. Ihre Augen blitzten ihn an, voller Bewunderung, was er mit ihr anstellte, und sie atmete heftig und schnell, während er in sie eindrang und sie streichelte. Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung an der Tür, und mein Herz schlug schnell. Ich erhob mich, um meinem Geliebten zu öffnen; und von meinen Händen tropfte Myrrhe, und meine Finger voll süßem Myrrhenduft lagen auf dem Türknauf. Dann schlossen sich ihre Finger fester um seinen Schwanz, und sie zog ihn sanft zu sich. Er spreizte ihre Schenkel und ließ eine Hand unter ihren Po gleiten, bevor er in sie eindrang. Sie bäumte sich auf und stieß kleine Schreie aus, und er mußte ihr die Hand auf den Mund legen; sie biß ihn in die Finger. »Tu das nicht«, mahnte er. »Keinen Laut.« »Schon gut. Ich tu’s nicht wieder.« Er liebte sie abwechselnd sanft und aggressiv; vor allem wollte er, daß es für sie eine gute Erfahrung sein sollte. Vor 254
dem Erguß wollte er sich zurückziehen, aber sie war so heiß und so eng, daß er es nicht vermochte. Als es zu Ende war, zog er sich eilig und schuldbewußt an. Sie tat dasselbe. Dann entriegelte er die Tür und sah sich um, ob auch niemand da war. »Sieh mal«, sagte er, als sie aus dem kleinen Raum trat, »sieh mal …« »Es ist in Ordnung«, sagte sie. »Ich werde zu niemand etwas sagen. Jetzt, wo ich’s weiß, werde ich nichts sagen.« Sie hob ihren Rucksack von seinem Schreibtisch und schwang ihn auf ihren Rücken. Dieses Mal verrutschte ihr Rock nicht, und obwohl sie lächelte, blickte sie sich nicht nach ihm um. Er sah ihr nach, wie sie den Flur entlanglief und über den Hof, wie irgendein Schulmädchen, das nach dem Unterricht nach Hause geht. Wie sollte er Tobie oder Sharon von all dem erzählen? Was konnten sie schon darüber wissen? Die Bedürfnisse der Frauen waren den Männern ein großes Geheimnis; und doch maßten die Frauen sich an, das Geheimnis des anderen Geschlechts zu verstehen. Wie sollten sie es denn verstehen? Sie hatten nie in dem heulenden Wind gestanden. Sie hatten nie ihre Hand in diese Flamme gelegt. Wie sollten sie je erraten, womit Männer zu leben hatten: wie die Natur ihnen ihre kühle Hand um das Geschlecht legte und es hundertmal am Tag mit einem eleganten, geschmückten Finger berührte, um die allzeit bereite Eichel aufzustacheln? Was wußten sie schon darüber? Einen Augenblick lang verspürte er die tiefe Wut der Patriarchen des Alten Testaments gegen die Frauen, gegen ihre ungeheure Macht, Sex zu gewähren oder zu versagen; zu reizen und zu spielen; zu beherrschen; zu demütigen; und zu Scham und Schande zu verdammen.
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46 »Ich werde nicht mehr zu Tobie gehen«, verkündete Tom, als er zu Sharon kam. »Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben.« »Er ist wütend«, stellte Sharon fest. »Er hat auch mal ›Hallo‹ sagen können«, bemerkte Ahmed, der es sich in Toms Lieblingssessel bequem gemacht hatte und ein Maccabee-Bier trank. »Ich dachte, du trinkst kein Bier.« Tom öffnete den Kühlschrank und nahm sich selbst eins, dann ließ er sich neben Sharon auf das Sofa fallen. »Was hat sie dir denn getan?« »Nichts, das ist es ja gerade. Es ist einfach eine Zeitverschwendung. Die ganze Zeit redest du nur, drehst dich im Kreis. Und das soll dann helfen. Es hilft aber nicht. Lauter Süchtige dort, wie? Also, die meisten von denen sind einfach süchtig nach Reden.« »Da hast du recht«, stimmte Ahmed zu und schwenkte seine Flasche. »Und diese Alte da, das ist die schlimmste. Sie wird versuchen, dir den Kopf abzuschälen wie bei ‘ner Orange.« Tom zuckte zusammen. »Ich geh’ auf jeden Fall nicht mehr hin.« »Was du uns schon die ganze Zeit erzählst.« »Mach’s wie ich«, riet Ahmed. »Bleib weg da. Es ist wie ein Wartezimmer für Dschinn. Sharon und Tobie nehmen sie dieser und jener Frau ab, die in das Zentrum kommt, und dann hocken die Dschinn da und warten auf solche wie dich und mich, Tom, damit sie uns auf den Rücken springen können. Glaub mir, dieses Haus ist kein gesunder Ort.« »Du bist ja verrückt«, meinte Sharon. »Du lachst? Hast du heute noch nicht genug gesehen? Hey, Tom, die Frau hat geglaubt, daß die Arbeit in diesem Haus sie immun gemacht hätte. Aber jetzt glaubt sie auch nicht mehr 256
daran.« »Wovon redet er da?« »Von nichts.« »Netter Haarschnitt, Ahmed«, bemerkte Tom. »Macht er sich über mich lustig? Ja? Dann werd’ ich ihm jetzt mal was sagen. Eines Tages wirst du auch so einen Haarschnitt haben.« Wütend funkelte ihn der Araber an. Sharon, die einen ernsthaften Stimmungsumschwung befürchtete, wechselte das Thema. »Ahmed hat weiter an den Schriftrollen gearbeitet. Er muß dir noch ein paar Dinge erzählen. Ich hol’ dir ein frisches Bier.« »Es ist eine ziemlich anstrengende Arbeit.« Ahmeds Stimme war ungewöhnlich leise geworden. »Je mehr sich die Wortspirale dem Mittelpunkt nähert, desto kleiner werden die Zeichen, und desto schwerer kann man sie entziffern. Und der Inhalt wird dichter. Aber ich glaube, daß es sehr wichtig ist. Letztes Mal habe ich dir erzählt, daß sich die Bewegung nach dem Tode Jesu am Kreuz gespalten hat. Magdalena wurde an den Rand gedrängt, als Jesu Bruder Jakobus versuchte, sich zum Anführer der neuen Bewegung zu machen. Sie versuchten, Maria dazu zu bringen, Jakobus als den auferstandenen Jesus aus dem Grab zu erkennen. Zuerst ließ sie sich nicht dazu bewegen. Doch dann erschien eine dritte Kraft, ein Mann, den Maria als einen der Hetzhunde des Kaiphas beschreibt. Dieser Mann war ein Pharisäer, ein Mitglied der Glaubenswächter. Maria beschreibt ihn als Frauenhasser, als Opportunist und Lügner, der zum Christentum konvertiert war und eine Anhängerschaft aufgebaut hatte, indem er den Sikarier – Judas Iscariot – zum Sündenbock machte für seinen Anteil an dem Plan, der schiefging. Dieser Mann ging mit Jakobus nach Damaskus. Auf dem Weg wurde er – der Lügner – von Dämonen oder Dschinn geplagt, die vorgaben, der Geist von Jesus zu sein. Und von da an behauptete der Lügner, daß er von Jesus ermächtigt sei, zu den Gläubigen zu sprechen. 257
Obwohl sie ihn nicht beim Namen nennt – außer Lügner und Frauenhasser –, glaube ich, daß mit diesem Mann Saulus gemeint sein muß, ursprünglich einer der Verfolger Jesu, der später der Heilige Paulus wurde. Maria beschreibt auch noch einen zweiten Streit innerhalb der Bewegung. Da der Lügner ein Frauenhasser war, versuchte er, alles in Jesu Lehren, das er nicht leiden konnte, auszumerzen. Jakobus und Magdalena vereinbarten eine kurze Waffenruhe, um den Lügner aus Jerusalem zu vertreiben. Sie hatten Erfolg, und er ging gen Westen. In Ephesus wurde er vertrieben und auf Kreta ins Meer zurückgeworfen, weil man dort schon wußte, wer er war. Dann begab er sich nach Korinth und Rom und suchte unter den Adeligen nach Konvertiten.« »Wenn der Lügner Paulus war …« begann Tom. »Schließlich setzte der Lügner sich durch. Er wurde der große Apostel. Der vorherrschende Geist der christlichen Kirche. Bis zum heutigen Tag.« Sie brachen ihm die Beine. Sie brachen ihm die Beine. »Aber wenn das der gleiche Mann ist«, sagte Tom. Sie brachen ihm die Beine. »Ich meine, wenn das der gleiche Mann ist …« »Was?« fragte Sharon und hielt ihm ein Bier unter die Nase. »Nichts«, sagte er und schob das Bier beiseite. »Nichts. Hört mal, ich bin müde. Ich werd’ mich jetzt hinlegen, wenn ihr nichts dagegen habt. Mir geht’s nicht so gut.« Er ließ Ahmed und Sharon im Wohnzimmer zurück und zog sich im Schlafzimmer aus. Er zitterte heftig, und plötzlich wurde ihm eiskalt, als habe er Fieber. Er zog sich die dünnen Laken über die Schultern und rollte sich zusammen. Ahmeds murmelnde Stimme, die vom Wohnzimmer herüberdrang, noch im Ohr, schlief er ein.
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47 Als er aufwachte, war ihm kalt. Vor dem Fenster heulte der Wind, zerrte an den Zweigen der Esche, die auf der anderen Seite der Straße stand. Er setzte sich auf und blickte sich panisch im Zimmer um. Der Körper neben ihm regte sich. Katie blinzelte ihn an. Er war zu Hause. Er war in England. Katie lag neben ihm im Bett und kuschelte sich an seine Wärme. »Was ist denn?« murmelte sie. Die Augen vom Schlaf verklebt. Sie roch nach Schlaf und nach dem Atem des Schläfers. »Katie. Katie.« »Was ist denn los?« Er stand auf und ging zum Fenster, riß die Vorhänge auf. Heftig schüttelte der Wind die grünen Wipfel. Die Straße war naß. Die grauen Schieferplatten auf dem gegenüberliegenden Haus glänzten unter dem schlüpfrigen Regen. Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheibe. Katie saß aufrecht im Bett, die Sorge um ihn stand ihr im Gesicht geschrieben. »Katie, ich hatte einen Traum. Du wirst es nicht glauben. Komm zu mir, laß dich umarmen. Du warst tot. Du wurdest von einem fallenden Baum erschlagen. Und ich war in Jerusalem bei Sharon. Und du hast mich verfolgt. Und Maria Magdalena hat mich verfolgt. O Katie!« »Es ist alles gut. Ich bin ja hier. Ich bin ja hier.« »Ich kann dir nicht mal die Hälfte von allem erzählen.« »Warst du bestürzt? Weil ich tot war?« »Ich verlor mich. In Jerusalem. Es war alles so wirklich.« »Ich werde uns erst mal einen Kaffee kochen.« Sie streifte einen Morgenmantel über. »Vielleicht war es ja ein Zeichen.« »Ein Zeichen?« »Jerusalem. Maria Magdalena. Vielleicht solltest du zur 259
Abwechslung doch mal mit in die Kirche kommen.« »In die Kirche? Ja, vielleicht. Mir ist so seltsam zumute.« Ein Leuchten erschien in ihren Augen. »Ja? Willst du wirklich? Hey, mit dir muß ja etwas passiert sein.« Er hörte sie nach unten tappen, den Wasserkessel füllen, hörte, wie die Tassen aus dem Wandschrank genommen wurden; vertraute, beruhigende Geräusche. Wieder blickte er aus dem Fenster. Kaum Verkehr auf der Straße. Es war Sonntag. Der Wind flüsterte ums Haus. Der Zeitungsjunge kam die Straße herauf. Er las beim Gehen einen Comic, folgte automatisch dem vorgeschriebenen Weg und steckte von Zeit zu Zeit nachlässig die Hand in die Zeitungstasche. Alles wirkte so banal und wunderbar sicher. Tom vernahm, wie die Zeitung in den Briefschlitz gesteckt wurde und auf die Fußmatte fiel. Er wackelte im tiefen Flor des Schlafzimmerteppichs mit den Zehen, dann stand er auf, zog einen Bademantel über und begab sich nach unten. Er schlug die Sonntagszeitung auf. Doch irgend etwas war an der Titelseite verkehrt; er konnte das Impressum nicht lesen. Und die Schlagzeile war in einer fremden Schrift geschrieben, die ihn an die hebräischen Zeichen aus seinem Traum gemahnte. Da tauchte Katie hinter ihm auf und nahm ihm die Zeitung aus der Hand. Sie öffnete die Haustür und rief den Zeitungsjungen zurück. »Paß doch mal auf, was du einem gibst«, sagte sie lächelnd und reichte ihm die Zeitung. Der Junge lief rot an. »Entschuldigung«, quetschte er heraus. Er wühlte in seiner Tasche herum und brachte ihre übliche, mit Beilagen gespickte Sonntagszeitung zum Vorschein. Tom blickte auf das Datum. Der 30. Oktober; im Traum war seine Frau an diesem Tag gestorben. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Eine angebrochene Flasche Rotwein auf dem Couchtisch, daneben zwei Kristallgläser mit angetrockneten 260
Weinresten. Er ließ sich in einen Sessel fallen und barg den Kopf in den Händen. Es kam ihm vor, als habe er monatelang geträumt; sein Kopf war immer noch verwirrt. Er fühlte sich ein wenig fiebrig. Eine Jüdin. Irgend etwas über eine Schriftrolle in Spiralenform. »Geht’s dir gut, Tom?« Katie stand mit dem Kaffee neben der Couch, aus den Tassen kräuselte sich der Dampf. »Ja. Ja. Ich bin …« »Hast du das ernst gemeint, daß du mit mir in die Kirche kommen willst?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe versprochen, jemanden zu treffen. Ich kann nicht absagen.« Die Worte stürzten ohne Nachdenken heraus, als habe er sie vorher auswendig gelernt. Es war die Erklärung, die er ihr an den meisten Sonntagen gab; es war zu einem Reflex geworden. Die Enttäuschung in ihrem Gesicht war nicht zu ertragen. »Einen Augenblick dachte ich schon, du meinst es ernst«, sagte sie und stand auf, um die Vorhänge aufzuziehen. Tom fühlte einen kurzen Schrecken, als er sich ausmalte, was sich hinter den Vorhängen verbergen könnte. Erleichtert nahm er wahr, daß dort draußen immer noch der winzige Rosengarten im Innenhof war und ebenso die rote Ziegelmauer. »Warte. Ich hab’s mir anders überlegt. Ich komme mit.« »Wirklich?« »Ja, wirklich.« Es war die Macht seines Traums, in dem sie gestorben war. Er hatte geträumt, daß sie genau an jenem Tag auf dem Heimweg von der Kirche gestorben war, am 30. Oktober. Der Sturm hatte einen Baum entwurzelt, der dann auf ihren Wagen gefallen war. Auch wenn es nur ein Traum war, so konnte er es nicht ertragen, sie allein fahren zu lassen. Er würde mit ihr kommen und sie auf dem Heimweg aufheitern. Es stimmte schon, daß er eine Verabredung hatte; aber darum würde er sich später kümmern. 261
Im Traum war er für Katies Tod verantwortlich gewesen. Er hatte ihr Tausende kleiner Verletzungen zugefügt. Sie hatte gespürt, daß seine Liebe zu ihr zu schwinden begann, und von diesem Augenblick an war ihr Tod beschlossen gewesen. Es war ein doppeltes Sterben; wenn die Liebe welkte, so mußte auch Katie sterben. Sie hatte es so verfügt. »Ich würde sterben ohne deine Liebe«, pflegte sie zu sagen. Es war ihr tödlicher Ernst gewesen. Im Traum hatte er eine Tätowierung am Bein: Katies Name auf einem Hintergrund greller Farben. Er schob seine Socke hinunter, um seinen Knöchel zu begutachten. Da war keine Tätowierung. Der Sturm nahm an Heftigkeit zu, als sie die Stadt verließen und zu der Landkirche der Maria Magdalena fuhren. Die Bäume neigten sich in absurden Winkeln, wie Überlebende einer Katastrophe, die immer noch versuchten, sich vor dem Wind zu schützen. Abgerissene Zweige und Äste mit Blättern lagen auf der Straße. Nur wenige andere Autofahrer schienen sich hinausgewagt zu haben. Katie saß am Steuer. »Du bist sehr still«, bemerkte sie und schaltete in einen höheren Gang. »Ich denke immer noch nach.« »Ich weiß«, sagte sie besänftigend. »Du versuchst es zu verstehen.« »Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.« »Nicht. Jetzt bist du ja hier.« Als sie zur Kirche gelangten, wirkte der Himmel wie geschwollen, in der Farbe einer Beule. Der Sandsteinturm der Kirche lehnte sich gegen den Wind wie ein Schiff in voller Takelage, das gegen gewaltige Sturmwolken ankämpfen muß. Sie stiegen aus dem Wagen. Der überdachte Kirchhofseingang schaukelte leicht im Wind, die große Eibe auf dem Friedhof ächzte und schwankte, und sogar die verwitterten Grabsteine schienen in Gefahr – jeder wirkte wie ein kleines Boot in 262
einem sturmgepeitschten Hafen. »Wir sollten besser reingehen, bei diesem Wind«, sagte Katie und schloß das Auto ab. Sie näherten sich der Zuflucht der Kirche. Eine hohe Doppelleiter aus Aluminium lehnte gegen den Turm und reichte bis zu der Kleeblattnische, in der die Statue der Maria Magdalena stand; es war, als hätte jemand versucht, das Standbild zu retten oder zu stehlen. Der heftige Wind ließ die Leiter gegen die Sandsteinwand des Turms klappern. Ein Tischlerhammer war an eine der unteren Sprossen gehängt worden. Tom hatte eine Vorahnung drohenden Unheils. Das Gefühl wurde stärker, als Katie ihre Hand auf den Eisenring der Kirchentür legte. Sie öffnete sie einen Spalt, wandte sich dann ihm zu. »Komm schon«, flüsterte sie mit einem Lächeln. »Bleib nicht da draußen stehen.« Tom zögerte vor dem Portal. Der Wind zerzauste ihm das Haar, warf die Aluminiumleiter klappernd gegen den Turm. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann nicht.« »Sei nicht dumm, Tom. Komm rein.« Sie schlüpfte durch die Tür und ließ ihn allein vor dem Portal stehen. Der eisige Wind heulte um die Sandsteinkirche wie ein räuberischer Geist. Der Himmel wurde zunehmend dunkler. Es war noch nicht einmal Mittag, doch dem Licht nach hätte es Mitternacht sein können. Er nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Er blickte auf. Da oben war nichts als ein halbes Dutzend steinerner Wasserspeier, die mit hervorquellenden Augen und hängenden Zungen auf ihn herabgrinsten. Regen tropfte wie Speichel von einer der Zungen. Er blickte wieder weg und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare, unfähig, sich zu bewegen. Dann schaute er auf zu der Magdalenenstatue, und was er da sah, ließ ihn einen Schritt rückwärts tun. Sie schien ihre Haltung verändert zu haben. Ihre Augen ruhten nun auf ihm, und ihr Arm, der einst das Gefäß mit der Salbe gehalten hatte, schien in einem anderen Winkel gebogen, 263
wies herab auf ihn. »Ich kann es nicht tun, Katie! Ich kann nicht hineinkommen!« Während er noch schrie, hörte er ein tiefes kehliges Knurren aus den Kehlen der Wasserspeier-Geschöpfe, und im nächsten Augenblick bellten und winselten alle sechs Köpfe wie tollwütige Hunde. »Katie!« Über dem Lärm der kläffenden Kreaturen hörte er seine Frau, die ihm aus der Kirche etwas zurief. »Du weißt, was du zu tun hast, Tom! Du weißt es!« Tom blickte auf Leiter und Hammer. Er nahm den Hammer in die Hand und machte sich an den Aufstieg. Die Leiter ächzte und schwankte. Der Wind packte ihn mit mächtiger Faust, als er die untere Reihe der Wasserspeier erreicht hatte. Der erste geiferte und spuckte, als Tom den Hammerschlag direkt auf sein Gesicht richtete. Der Hammer schlug ohne Widerstand in den weichen Sandstein, und der Wasserspeier zerbarst zu einer kleinen Staubwolke. Den zweiten und den dritten ereilte das gleiche Schicksal. Keuchend und weinend stieg er zu der zweiten Reihe der Wasserspeier hoch. Doch während er kletterte, hatten sich die Köpfe der Kreaturen verändert. Wie gelähmt hielt sich Tom an den Leitersprossen fest. Das erste Gesicht gehörte David Feldburg, der ihn anflehte, die Schriftrollen zu nehmen. Auch die anderen Wasserspeier hatten sich verändert; es waren die Köpfe des Gelehrten Ahmed und von Tobie aus dem Rehabilitationszentrum. »Bitte, Tom!« flehten sie. »Bitte!« »Laß dich nicht täuschen, Tom!« drang Katies Stimme aus der Kirche. »Laß dich nicht täuschen!« Immer noch weinend schwang Tom den Hammer gegen das erste Gesicht und verwandelte es zu Staub. Dann führte er zwei schnelle Schläge gegen die anderen beiden. Der Wind blies den 264
Staub hinweg. Steinsplitter segelten zu Boden, landeten am Fuße der Leiter. »Komm herein!« rief Katie. »Komm herein!« Eine mächtige Böe fegte um den Turm, hob die Leiter auf ein Bein und drückte sie von der Wand weg. Die Leiter schwankte einen Augenblick im Leeren, bevor sie wieder gegen die Mauer fiel. Tom erholte sich von seinem Schrecken. Er war nur noch ein paar Leitersprossen von der Magdalena entfernt. Der Wind blies ihm nun mit Orkanstärke ins Gesicht, während er sich die übrigen Sprossen hinaufkämpfte und zum Schutz gegen den Sturm die Augen zukniff. Er atmete in kurzen Stößen. Als er bei der Statue anlangte, streckte er die Hand aus, um sie zu berühren. In dem Augenblick, als seine Finger den kalten Stein berührten, peitschte ihn der Wind wie mit einer riesigen Pfote, stürzte die Leiter um und warf sie in die Dunkelheit des Friedhofs. Tom spürte, wie er fiel, sich in endlosen Spiralen in der Dunkelheit verlor. Er landete auf seinen Füßen im Innern der Kirche. Er stand genau in der Tür. Eine kleine Gemeinde, ungefähr ein Dutzend Menschen, war nahe dem Altar versammelt. Nur Katie schien ihn zu bemerken. Sie lächelte. »Was machst du hier, Katie?« Sie schüttelte den Kopf, fand die Frage offenbar lächerlich. »Der Morgen, Tom. Wir warten auf den Morgen.« Sie wandte sich ab. Als er die Wände der Kirche anblickte, sah Tom die Schändung. An drei Stellen hatte man die ockerfarbenen Wände mit spiralenförmigen Wörtern besprüht; es war stets das Wort LÜGNER, das immer kleiner gesprüht worden war. Bei näherem Hinsehen entdeckte er, daß sich die Worte LÜGNER LÜGNER LÜGNER in der Spirale wiederholten, bis die Buchstaben in einem häßlichen Klecks in den Zentren der Spiralen unleserlich wurden. Tom näherte sich dem Altar. Ein leises Murmeln stieg aus 265
der Versammlung auf. Eine steinerne Wendeltreppe hatte sich vor dem Altar aufgetan, und die Gemeinde machte sich, vom Pfarrer geführt, an den Abstieg. Auf jede Stufe war ein geheimnisvoller hebräischer Buchstabe gemeißelt. Tom vernahm einen flüsternden Gesang, während er hinter Katie stand und auf die Treppe zugeschoben wurde. »Lügner, Lügner, Lügner.« Er stimmte in dem Gesang ein. »Lügner, Lügner, Lügner.«
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48 »Und hast du in dem Traum irgendeine Befriedigung verspürt, als du diese Gesichter eingeschlagen hast?« fragte Tobie. »Bei Ihrem«, betonte Tom. »Ich weiß noch, daß ich besonders befriedigt war, als ich zu Ihnen kam.« Tobie lachte kokett. »Wie ich das geahnt habe, Darling. Wie konnte ich denn nur wissen, daß du das sagen würdest?« »Müssen denn wirklich die Untoten dabei sein und zuhören?« Tom warf einen Seitenblick auf Christina, die seit Beginn der Sitzung dabei gesessen hatte. Sie hatte den Stuhl umgedreht und die Hände unter dem Kinn gefaltet. Von Anfang an hatte sie Tom nicht ein einziges Mal aus den Augen gelassen und kein einziges Wort gesagt. »Ich erlaube meinen Klienten nicht, sich zu beschimpfen«, sagte Tobie gelassen. »Ihr könnt so offen zueinander sein, wie ihr wollt, aber Beleidigungen gibt es hier nicht.« Irgend jemand steckte den Kopf zur Tür herein und sagte, daß Tobie dringend am Telefon verlangt werde. »Redet miteinander, Kinder, ich bin gleich zurück. Redet nur.« Nachdem er drei Minuten lang Christinas Schweigen und unverwandtes Starren ertragen hatte, sagte Tom: »Immerhin sind wir uns einig, daß Sie diesmal wirklich hier sind. Ich fing schon an zu glauben, Sie wären auch ein Geist. Ein ganz netter Trick, den Sie da abgezogen haben.« Christina sagte nichts darauf. Sie blinzelte einmal, sehr langsam. Tom schüttelte den Kopf. Hinter dem strähnigen Vorhang aus Haar und dem blassen, verhärmten Gesicht mußte sie einmal sehr schön gewesen sein. Durch ihre selbststrafende Magersucht hatte sie sich die Figur eines Teenagers eingehandelt. »Ich weiß, daß du mich vögeln willst«, sagte sie plötzlich. »Was?« 267
»Ich weiß es.« »Da würd’ ich lieber eine Leiche vögeln.« »Hast du doch schon getan.« Tom starrte sie finster an. Christina zuckte nicht einmal mit der Wimper. Schweigend saßen sie ein paar Minuten da, bis Tobie zurückkam. »Habt ihr beiden es nett gehabt? Habt ihr miteinander geredet?« »Ja«, sagte Tom. »Nein«, sagte Christina. »Gut«, meinte Tobie. »Gut.« »Frag ihn mal was über Schulmädchen«, schlug Christina vor und erhob sich von ihrem Stuhl. »Er vögelt Schulmädchen.« Tom warf ihr sengende Blicke nach, als sie den Raum verließ. Christina schaute nur kurz über die Schulter zurück. »Nun«, meinte Tobie. Tom starrte immer noch wütend auf die geschlossene Tür. »Keine Angst, Tom. Ich hab’ dich ja gewarnt, Christina fängt diese Sachen einfach auf. Sie weiß aber nicht wie, das kannst du mir glauben. Sie pickt ein paar Bruchstücke auf, und das ist alles, was sie kann. Ich hab’ so eine Ahnung, daß es mit ihrer Krankheit zu tun hat.« »Krankheit? Was ist denn das bloß für ein Haus, das Sie hier leiten?« »Laß uns mal sagen, daß mich kaum noch was überraschen kann. War es das Schulmädchen, das du an jenem Tage treffen mußtest?« Tom nickte. »Du hattest eine Affäre mit ihr?« »Sie war eine meiner Schülerinnen. Ich habe sie an dem Tag getroffen, um Schluß zu machen. Wir trafen uns meistens sonntags, wenn Katie in der Kirche war. Es war nur ein paarmal. Ich wußte, daß es Wahnsinn war, aber ich konnte nicht aufhören.« 268
»Und warum wolltest du Schluß machen?« »Ich wollte mich mit ihr treffen, um ihr zu sagen, daß es ein Ende haben müsse. Ich war wieder zur Vernunft gekommen. Ich erkannte, was ich ihr antat, was ich Katie antat und mir selbst. Ich mußte sie verlassen. So hatte ich es beschlossen.« »Und Katie ist an jenem Tag gestorben?« Tom wischte eine einzelne heiße Träne fort. »Ich habe es mit Kelly durchgefochten. Ich fühlte mich krank. Ausgehöhlt. Dann kam ich heim und ging ins Bett. Das Telefon weckte mich. Es war die Polizei. Ein Baum war auf Katies Wagen gefallen. Auf der Heimfahrt. Ein Baum. Vom Sturm entwurzelt.« »Und es ist schwer, so eine Sache nicht persönlich zu nehmen.« »Ich weiß, was Sie von mir denken. Ich weiß, daß Sie das so sehen. Nun, vielleicht stimmt auch alles, was Sie von mir denken …« »Hör auf«, unterbrach ihn Tobie. »Hör sofort auf.« Sie beugte sich vor und legte ihm beide Hände auf den Unterarm. Zum ersten Mal fiel Tom auf, wie jung ihre Augen waren. Während die meisten Leute ihres Alters Augen wie eingetrocknete Perlen besaßen, vom Verlust der Lebensfreude trübe geworden, waren Tobies Augen von einem warmen Leuchten erfüllt. »Laß mich erst einmal eins klarstellen, Tom: Ich bin kein Richter. Dafür bin ich nicht da. Ich habe zuviel in meinem Leben falsch gemacht, um irgend jemanden verurteilen zu dürfen. Das mußt du um meinetwillen verstehen. Ich sehe, wie du leidest, und das bringt mich dazu zu sagen, hey, ich leide auch. Du siehst also, wenn ich dich dazu bringe, darüber zu reden, könntest du aufhören, dich selbst zu verurteilen. Denn das ist der schlimmste Richter, den es gibt.« »Danach hat es aber nicht aufgehört. Sie hat über die Affäre Bescheid gewußt. Sehen Sie, ein Junge aus der Schule, ein Freund von Kelly, ist eifersüchtig geworden. Er hat es gewußt 269
oder erraten. Er fing an, Sachen über mich an die Tafel zu schreiben. Ich erwischte ihn, und ich brachte die Sache in Ordnung, zumindest glaubte ich das. Aber dann begann ein anderer – und ich glaube nicht, daß er es war, vielleicht war es Kelly selbst –, Briefe an Katie zu schicken, in denen alles verraten wurde. Katie zeigte mir eines Tages die Briefe, und ich gab alles zu. Natürlich war sie furchtbar verletzt. Aber ich versprach ihr, ich würde das Mädchen nicht mehr treffen. Dann, nach Katies Tod, fingen die Schmierereien auf der Tafel wieder an. Ich kam morgens in die Klasse, und da standen scheußliche Anschuldigungen, manchmal waren es Worte, von denen ich nie zuvor gehört hatte. Schreckliche Worte. Ein paar Wochen vergingen, und es passierte wieder. Es konnte nicht derselbe Junge gewesen sein, denn der war auf eine andere Schule geschickt worden. Und es war immer am Freitag morgen. Einmal hatte ich eine Vorahnung, daß es wieder passieren würde, und ich richtete es so ein, daß ich über Nacht in der Klasse bleiben konnte, um den Täter vielleicht am Morgen zu erwischen. Es war leicht, die Putzfrauen hinters Licht zu führen, denn es gibt ein Bücherzimmer … am hinteren Ende der Klasse ist ein Raum für Bücher, und dafür habe ich meinen eigenen Schlüssel. Ich sperrte die Klassenzimmertür zu und setzte mich auf einen Stuhl in dem kleinen Raum, ließ die Tür ein wenig offenstehen. Ich blieb die ganze Nacht wach. Vielleicht bin ich aber doch ein wenig eingedöst, bevor die ersten Lehrer und die Schüler erschienen, denn als ich das Bücherzimmer verließ, stand es schon da: die übliche Litanei schmutziger Worte, in riesigen Buchstaben auf die Tafel gemalt. Und die Tür zum Klassenzimmer war immer noch verschlossen. Aber nun wußte ich, wer es getan hatte. Ich hätte es schon die ganze Zeit wissen sollen. Als ich mir die Handschrift genauer besah, stellte ich fest, daß es ihre war, nur in Druckbuchstaben. Es war Katies Schrift.« 270
Tobie blinzelte unbeeindruckt. »Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich reichte die Kündigung ein. Ich mußte fort. Und der einzige Mensch, der mir einfiel, war Sharon, hier in Jerusalem. Aber Katie ist mir gefolgt. Sie hat mich aufgespürt. Sie ist hier. Sie wird mich nicht gehen lassen, Tobie. Nie.« Schweigend saßen sie eine Weile da. Tom hatte den Blick abgewandt. Schließlich sagte Tobie: »Ich denke, wir haben heute einen langen Weg zurückgelegt. Ich glaube, für heute reicht es. Ich werde dir einen Tee kochen, bevor ich gehe, aber ich möchte, daß du mir etwas versprichst. Versprich mir, daß du es auch Sharon erzählst. Sie macht sich große Sorgen um dich, und du willst nicht mit ihr reden. Wirst du es tun?« Tom zuckte die Achseln. »Das reicht nicht. Ich will, daß du es versprichst. Versprichst du’s mir, Tom?«
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49 Rabin und Arafat sprachen miteinander. Die Führer der israelischen Regierung und der Palästinensischen Befreiungsbewegung standen kurz davor, einen historischen Kompromiß einzugehen. Juden und Araber redeten miteinander, aber Tom und Sharon nicht. Tom zog sich mehr und mehr in sein Schneckenhaus zurück. Tobie hatte Sharon erzählt, daß Tom zwar begonnen habe, sich in den ›Sitzungen‹ zu öffnen – sie sei sich jedoch sicher, daß er noch viel mehr zu verarbeiten habe. Sharon hatte sich absichtlich von dieser Entwicklung zurückgehalten, weil sie hoffte, Tobie dadurch Raum zum Arbeiten und Tom eine Atempause zu verschaffen. Sie hoffte auch – gegen jede Einsicht –, daß Tobie ihn von Katie losbringen könne, so daß sie ihn für sich haben konnte. Doch das Gegenteil war eingetreten; er entglitt ihr. Jeden Tag mehr. Selbst wenn sie sich liebten und sie sich mit ihrem Erfindungsreichtum und ihrer Glut überrascht hatten, klammerte er sich an sie wie ein Mensch, der spürt, daß er dem Ertrinken nahe ist. Zuweilen pflegte er sie bei der Liebe mit einer Art Ehrfurcht und Angst anzublicken, als könne ein winziges Nachlassen der Konzentration bewirken, daß sich einer von ihnen in ein Insekt verwandelte. Er schien sich nicht ausliefern zu können, nicht einmal in den innigsten Augenblicken. Und dies war es, was sie von ihrer Liebe, ihren Orgasmen erwartete: Sie wollte die totale Unterwerfung, die Auflösung. Sie wollte eine Liebe ohne Bedingungen. Sie wollte diese Liebe, weil sie es satt hatte, sich selbst zu belügen. Sie hatte fünfzehn Jahre damit vergeudet, sich einzureden, sie sei nicht in Tom verliebt. Nun hatte sie es satt. Sie hatte Tom die ganze Zeit über etwas vorgemacht. Sie hatte Katie während all dieser Jahre belogen. Und sie hatte sich 272
selbst belogen. Diese Lüge war vielleicht die schlimmste und die, die am schwersten zu ertragen war. Sharon wußte, daß sie gelogen hatte, weil sie nichts gewagt hatte. Die Unfähigkeit zum Wagnis war ihr als junges Mädchen aus der Erkenntnis erwachsen, daß man die Liebe unterdrücken mußte, verstecken, verbergen. Sie hatte schon sehr früh gelernt, daß die Offenbarung des Feuers, das Vorzeigen der lodernden Fackel das Liebesobjekt erschreckte, so daß es vor der Flamme flüchtete. Gib alles, und du bekommst nichts zurück. Ungezähmte Liebe trifft auf ungezähmte Verachtung. Niemand, so scheint es, will oder braucht absolute Hingabe oder die Unterwerfung. Im Alter von vierzehn Jahren hatte Sharon diese teuflische, altbekannte Lektion gelernt, als sie sich bedingungslos einem Mann hingab, der mehr als doppelt so alt war wie sie. Er hatte ihr die Unschuld genommen und sie mit einem Gefühl der Empörung zurückgelassen, daß ihre Hingabe nicht erwidert worden war. Im tiefsten Innern, in jenem Refugium, in das die Seele sich zurückzieht, um ihre Wunden zu lecken oder zu sterben, hatte sie sich geschworen, niemals mehr soviel Schmerzen zu erdulden. Und so hatte sie das getan, was fast jedem gelingt: Sie hatte den Instinkt der Liebe eingesperrt. Im Zaum gehalten. Sie hatte einen Umhang darüber geworfen, so daß ihr glänzendes, unerträgliches Licht nur noch einen schwachen Schein verbreitete; und sie beherrschte diese Kunst so gut, daß sie es sogar vor sich selbst verbergen konnte. Als sie dann Tom kennengelernt und eine Faust sich um ihr Herz gekrampft hatte, versteckte sie sich hinter einem kühlen Gebaren; als er dann später zufällig mit ihr im Bett landete und die Faust sich enger schloß, ertränkte sie ihre Gefühle im Alkohol; und als er dann heiratete, und sie spürte, wie ihr der Atem stockte, löste sie besonnen die Finger um ihr Herz, indem sie mit seiner Frau Freundschaft schloß, obwohl sie wußte, daß Katie nicht zu ihm paßte, wie sie zu ihm gepaßt hätte …; und 273
als sie schließlich hörte, daß Katie bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen war, hatten sich bei ihr Trauer und unpassende Hoffnung und Dankbarkeit in einer ihr widerlichen Weise vermischt. Eine Zeitlang hatte sie sich selbst gehaßt und wieder einmal ihre wahren Gefühle unter einem Sumpf zynischer Zweifel und Handlungen verborgen. Und als dann das fast Undenkbare geschehen und Tom nach Jerusalem gekommen war – zu ihr –, da war sie ausgegangen und hatte sich einen beliebigen Mann genommen: jenen jungen Araber, als Gegenmittel zum Schlangengift dieser schrecklichen, lähmenden, herzergreifenden Krankheit; sie hatte es sogar so eingerichtet, daß Tom sie dabei erwischen mußte. Der Kopf und das Herz! Wie sie es liebten, mit einem zu spielen! Mit welcher Inbrunst sie einander betrogen und beraubten! Und an diesem Tag, mit einem unendlich blauen Himmel über Jerusalem, mit blitzenden goldenen Kuppeln und stolzen Türmen und einem Glauben, der hochstieg wie eine Hitzewelle, fanden sich Rabin und Arafat zum Gespräch! Der Jude und der Araber brachen gemeinsam das Brot, und Tom war ihr ferner denn je. Sharon entsann sich, daß sie einen Auftrag zu erledigen hatte. Tobie hatte sie gebeten, einen Brief an eine frühere Klientin zu überbringen, die in der Nähe von Mea Shearim lebte. Nachdem sie den Brief abgeliefert hatte, lenkte Sharon ihre Schritte zum Ghetto. Sie war neugierig, wie die ultraorthodoxen rechten Juden auf den politischen Durchbruch reagieren würden. Es hatte schon Demonstrationen gegen die Einigung gegeben, so wie auch einige der Anhänger der fanatischen Hamas in Gaza auf die Straße gegangen waren. Ein Schuld hing am Eingang des Ghettos: FRAUEN SEID ALLZEIT BESCHEIDEN
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Es war in abblätternder Goldfarbe auf eine schwarze Tafel geschrieben. FORDERT NICHT DIE SCHLECHTIGKEIT HERAUS Bescheidenheit, so wußte sie, bedeutete, weder Knie noch Knöchel zu entblößen, die Arme und sogar die Ellbogen bedeckt zu lassen. Sie stand vor dem Eingang des Ghettos in einer ärmellosen Bluse und einem Rock, der ihr nur bis zu den Knien reichte. Sie war schon vorher im Ghetto gewesen, allerdings passend gekleidet. Doch in diesem Augenblick verspürte sie eine plötzliche Wut auf diese Juden, die unrechtmäßig einen Teil Jerusalems annektieren und allen, die ihr Viertel betraten, ihr frauenfeindliches Gesetz aufzwingen durften. Müssen wir denn für den brodelnden Sumpf eurer Begierde verantwortlich sein? dachte sie. Müssen die Frauen eure Dämonen tragen? Ihr eigener Dämon drängte sie, hineinzugehen. Von innen wirkte Mea Shearim wie eine Filmkulisse. Enge Straßen, Dutzende altertümlicher Läden, deren Waren bis auf die Bürgersteige ausgebreitet lagen. Chassidische Juden eilten vorüber, und fast jeder von ihnen trug die Kleidung der litauischen Aristokraten aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ich bin Jüdin, dachte sie, ich mag dieses Land; aber was habe ich mit diesen Leuten gemein? Mehr als einmal hatte sie schon die ganze Nacht bei Ahmed gesessen und mit seinen verrückten Freunden – arabischen Fundamentalisten – diskutiert, die mit diesen Leuten hier sehr viel gemeinsam hatten. Zwei Frauen gingen an ihr vorüber, warfen ihr aus dem Augenwinkel Blicke zu. Sie hatten geschorene Köpfe. Sie wußte, daß sie zu Hause Perücken – Perücken! – im Schrank hatten, die sie zu besonderen Gelegenheiten trugen. Ein alter Mann mit Methusalem-Bart knurrte sie aus einem Ladeneingang an; vielleicht war es auch nur ein Räuspern. Sie hielt inne und lächelte ihn an. Wieder 275
knurrte er. »Bin ich zu schnell gegangen?« fragte sie in einwandfreiem Hebräisch. »Oder zu langsam?« Der Alte erwiderte nichts darauf. Sie ging weiter. An einer Straßenecke standen ein paar junge Männer und redeten über die Friedensgespräche. Sie fing die Worte ›Verräter‹ und ›Betrug‹ auf. »Rabin und Arafat sind die Friedensstifter«, sagte sie laut. »Ihr solltet Gott danken. Diese Männer wagen ihr Leben für den Frieden!« Erstaunt starrten die Männer sie an; ihre Augen verschwammen hinter den Brillengläsern. Sie ging weiter, spürte ihre bohrenden Blicke auf Rücken und Hintern. Mach, daß du hier rauskommst, sagte sie zu sich. Was willst du denn damit beweisen? Sie begab sich tiefer ins Ghetto. Ghetto! Wie seltsam, daß der Rest der Welt mit diesem Begriff einen Ort beschrieb, in dem man eingesperrt war, während sie ihn hier zu einer kulturellen Festung machten: einen Ort, in den Fremde, ja sogar Zeit und Geschichte, nicht eindringen konnten. Raus hier. Du hast hier nichts zu suchen. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand, an die religiöse Graffiti gesprüht waren, und nahm eine Zigarette aus der Schachtel. Als sie sie anzünden wollte, traf etwas auf die Wand neben ihrem Kopf. Sie ließ die Zigarette fallen. Eine kleine Staubwolke hing in der Luft, und zuerst glaubte sie, es wäre eine Kugel gewesen. Dann sah sie den Stein, der zu ihren Füßen lag. Raus hier! Beweg dich! Doch sie richtete sich auf und schrie trotzig: »Ich bin Jüdin! Dies ist auch mein Land! Ihr seid nicht die einzig wahren Juden!« Als sie sich umschaute, sah sie eine Gruppe bärtiger und bebrillter junger Chassidim, die sie aufmerksam anstarrten. 276
Jeder von ihnen konnte den Stein geworfen haben. Hast du das gewollt? Ja? Sie wandte sich um und ging den Weg aus dem Ghetto, den sie gekommen war. Im Wagen hielt sie das Taschentuch vors Gesicht und weinte. Nicht wegen der Geschehnisse im Ghetto oder weil sie Angst hatte, sondern wegen Tom. Tom konnte sie nicht lieben, weil er besessen war. Er war von der Vorstellung seiner toten Frau besessen, und Vorstellungen, das wußte Sharon, konnten die Menschen zerreißen wie Dämonen. Vorstellungen waren wie Geister; nein, das stimmte nicht, sie waren Geister. Manche waren Schutzengel, und manche waren unreine Geister. Sie beherrschen dich, versuchen dich, kämpfen mit dir, führen dich an der Nase herum. Sie können dir großen Schaden zufügen. Auch die Liebe war ein Geist – wer wollte das leugnen? Ein guter Engel oder ein widriger Wind? Wie sonst sollte man das Verhalten des Menschen erklären? Wenn du vom Dämonen-Engel der Liebe besessen bist, steigt deine Temperatur an, deine Hände wollen dir nicht mehr gehorchen, und du ertappst dich an Orten, die du lieber meiden solltest. Du belügst dein eigenes Herz, so wie sie es bei Tom getan hatte. Und Tom hatte keinen Platz für den Dämonen-Engel der Liebe, weil er besessen war. Er war wie die Stadt, wie Jerusalem. Eine Stadt, die von jedem Turm und jeder Kuppel die Liebe verkündete, von jeder Turmspitze und jedem schlanken Minarett. Und doch hatte sie keinen Platz für Liebe, denn es war eine Stadt, die in all ihren Vierteln von den unreinen Ideen des Fundamentalismus besessen war. Selbstversessene Glaubenseiferer und religiöses Fieber. Auf Türmen und Mauern der Stadt hockten kranke Dämonen, Dschinn, auf den Zinnen postiert, um die Mauern gegen die Armeen der Liebe zu verteidigen, gegen Armeen, die auf unheimliche Weise den Verteidigern ähnelten. 277
So war es auch mit Tom. Er war ein besetztes Gebiet. Sie konnte ihm nicht näherkommen. Und sie konnte es ihm auch nicht sagen, daher saß sie in ihrem Wagen vor der Stadtmauer von Jerusalem und weinte.
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50 »So. Das wär’s«, sagte Tobie. »Das Rätsel ist gelöst. Es gibt nichts mehr zu sagen.« Tom war zerstreut. Der Gedanke, daß Sharon jeden Augenblick das Zentrum verlassen konnte, lenkte ihn ab, und einige der Dinge, die sie ihm letzte Nacht gesagt hatte, glühten in ihm nach. An diesem Morgen war sie schon zur Arbeit gefahren, bevor er Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen. Sie hielten es wie in einem Wetterhaus: Tom ging erst zu seinen Sitzungen mit Tobie, wenn Sharon das Zentrum verließ; auf diese Weise konnten sie Raum schaffen zwischen Sharons beruflichem Interesse an seinen Fortschritten und ihrer Beziehung. Aber es wurde immer schwieriger. Er wußte, daß Tobie und Sharon über ihn sprachen: Vertraulichkeit war nach Tobies Auffassung nur eine weitere Spielart des Versteckens. Und dann sprach er natürlich mit Sharon über die Sitzungen. Aber vergangene Nacht hatte sie ein paar Dinge gesagt, die ihn sehr erstaunten. »Was?« »Ich sagte, es ist wirklich vorbei. Gestern hast du mir alles gesagt und erzählt, daß Katie für diese Kritzeleien auf der Tafel verantwortlich war. Was soll man dem noch hinzufügen?« Tom blickte in Tobies lächelndes Gesicht, witterte eine Falle. An diesem Nachmittag hatte sich nicht nur Christina zu ihnen gesellt, sondern auch noch zwei andere Frauen, Rachel, die er noch nie hier gesehen hatte, und Rebecca, die im Zentrum lebte. Rachel besaß mitfühlende braune Augen und sanfte schwarze Locken; wären die tief eingegrabenen Sorgenfalten nicht gewesen, hätte sie ein Model sein können. Rebecca sah wie eine potentielle Serienmörderin aus. Die drei jungen Frauen beugten sich auf ihren Stühlen vor, als erwarteten sie eine sofortige Aufklärung. Tobie hingegen lehnte sich im Stuhl zurück, die Knie nebeneinander, die Hände entspannt im 279
Schoß. »Warum hört sich das so an, als ob Sie’s nicht ernst meinen?« »Meine ich’s nicht ernst? Sollte es einen Grund geben, warum ich’s nicht ernst meine?« sagte Tobie. »Katie hat etwas auf die Tafel geschrieben, obwohl sie tot war.« »Sie mögen ja nicht an Geister glauben«, entgegnete Tom, »aber es gibt ‘ne Menge Leute, die’s tun.« »Ich glaube an Geister«, warf die Serienmörderin ein. »Ich auch«, pflichtete Christina bei. Die dritte, Rachel, lächelte nur süß. »Hab’ ich denn gesagt, daß ich nicht an Geister glaube?« fragte Tobie. »Hab’ ich das?« »Ja«, erwiderte Tom bitter. »Sie haben vielleicht eine hübsche kleine Theorie, die die Existenz von Geistern zugibt, ohne daß Sie an sie glauben müssen. Ich bezweifle nicht, daß Sie sie wegrationalisieren können. Ich sage Geist. Sie aber sagen Schuld.« »Hübsche Theorien? Darling, in meinem ganzen Leben gibt es nichts Hübsches, das kann ich dir versichern. Aber wenn du wissen möchtest, was ich von Geistern halte, will ich dir eines sagen: Wir lachen ja über die mittelalterlichen Vorstellungen von Geistern und Gespenstern und Dämonen, nicht wahr? Die moderne Psychologie hat auch Begriffe dafür: Halluzination, Projektion, Übertragung. Das ist unser modernes Glaubensbekenntnis samt Gebet. Es kommt alles aus dem gestörten Selbst, nicht wahr? Aber in zweihundert Jahren haben sie vielleicht neue Konventionen geschaffen und ein neues Verständnis darüber entwickelt, wie Menschen von Energie, von Geisterkräften, beeinflußt werden. Dann lachen sie über unsere simple Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts. Also Tom, warum kannst du mir nicht ein verdammtes bißchen glauben, wenn ich mir ab und zu mal ein verdammtes bißchen vorstellen kann?« Tom erschrak. Es war das erste Mal, daß Tobie vor ihm 280
geflucht hatte, und die erste Gelegenheit, bei der sie ihre Maske der netten, alten kleinen Dame fallen gelassen hatte. Sie sah nun ziemlich wütend aus. Die anderen drei Frauen starrten ihn ebenfalls an, als seien sie der Meinung, daß es nun höchste Zeit für ihn sei, sich besser zu benehmen. »Es tut mir leid …«, begann er. »Muß dir nicht leid tun. Sei nur ehrlich. Leid tun sich hier genug.« »Das stimmt«, fügte Christina geheimnisvoll hinzu. »Und ehrlich gesagt, werden wir auch ein bißchen ungeduldig.« »Was wollt ihr denn noch? Ich hab’ doch schon gestern alles erzählt. Hab’ es mir von der Seele geredet.« »Na, großartig«, meinte Christina. »Ja, irre«, pflichtete die Serienmörderin bei. Tom war erstaunt, wie schnell sich die Stimmung gegen ihn gewandt hatte. »Immerhin«, meinte Tobie, »geht es um mehr als nur um deine Gefühle. Auch andere Leute leiden.« Sharon? Spielte sie etwa auf Sharon an? Letzte Nacht hatte Sharon sich selbst übertroffen. Sie hatte, obwohl ihre Instinkte dagegen waren, die Wohnung für Tom geschmückt, ein Essen gekocht, Kerzen angezündet und ihm die Wahrheit erzählt. »Immer schon?« hatte Tom nach fünfzehn Sekunden erstaunten Schweigens gefragt. »Immer schon.« »Im College schon?« »Vom ersten Tag an, als ich dich getroffen habe. Und fast alles, was ich seither getan habe, tat ich, um dich zu beeindrukken oder aber zu dir hinzulaufen oder vor dir zu flüchten. Schrecklich, nicht?« »Ja?« »Ich meine, wenn man es die ganze Zeit verbirgt. Wenn kaum ein Tag verging, an dem ich nicht an dich gedacht habe. 281
Wenn ich so tun mußte, als freute ich mich, daß du geheiratet hast. Wenn ich vor mir selbst so tun mußte, als würde ich mir keine Hoffnungen machen, als Katie starb.« »Ich kann kaum glauben, was du mir da erzählst.« »Solltest du aber. Du weißt nicht, was es mich gekostet hat, dir das zu erzählen. Du warst die ganze Zeit in mir, hast mich wie ein Geist verfolgt. Und dennoch konntest du ja nichts dafür.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Du brauchst auch nichts zu sagen. Du mußt auch nichts tun. Ich mußte es dir nur sagen, das war alles. Ich mußte mein Verhalten ändern und es dir erzählen.« »Fühlst du dich denn jetzt besser?« »Ich fühle mich besser, und ich fühle mich schlechter.« Sie waren ins Bett gegangen, aber nun stand zuviel zwischen ihnen: Sharons Offenbarung, seine Geständnisse in den Sitzungen bei Tobie, der Geist von Katie, der seltsamerweise näher rückte, wenn er versuchte, ihn fortzureden. Alle diese Dinge schwebten wie Dolche in der Dunkelheit, zielten auf seinen Kopf. Als Tom sie nicht lieben konnte, weinte Sharon heiße, bittere Tränen. »Ja«, plapperte Christina, »andere Leute erwischen den Fallout.« Rachel, die bis zu diesem Augenblick keinen Ton von sich gegeben hatte, lächelte süß und sagte: »Was wir meinen, ist dies: Was wäre, wenn wir an Geister glauben, und was wäre, wenn es doch nicht Katie war, die diese Sachen an die Tafel geschrieben hat?« Tom blickte von einer zur anderen. Rebecca und Rachel sahen ihn aufmerksam an. Tobie beobachtete ihn mit schiefgelegtem Kopf. Christina blinzelte gelangweilt. »Erzähl uns, was da an der Tafel stand«, bat Tobie. Tom räusperte sich. »Es war nur Schmutz. Kindische Schmierereien.« 282
»Sag uns welche.« »Ihr kennt das doch, ›Der Lehrer fickt‹ und solche Sachen …« »Da.« Tobie hielt ihm einen dicken Filzstift entgegen. Sie nickte zu der glänzenden weißen Tafel hinter ihm und drückte ihm den Stift in die Hand. »Schreib sie auf.« »Muß das sein?« »Keine Angst. Nichts, was du schreiben wirst, kann uns erschrecken.« »Auf keinen Fall«, stimmte die Serienmörderin zu. Mit hölzernen Bewegungen stand Tom auf und trat an die Tafel. Er schüttelte kurz den Kopf, als wolle er sich von einem unnötigen Ritual distanzieren. Dann schrieb er ruhig das Wort ficken in großen Buchstaben auf die Tafel. Er blickte zu der Gruppe. Tobie nickte Zustimmung. Daraufhin schrieb er: Der Lehrer fickt Jungfrauen. »Du hast mir doch erzählt«, meinte Tobie gelassen, »daß es Katies Handschrift war. Könntest du sie nachmachen?« Er zuckte die Achseln, wischte das Geschriebene aus und schrieb es noch einmal in einer runden, femininen und doch entschiedenen Schrift. Dann schrieb er hastig Kelly McGovern lutscht Mr. Websters Schwanz. Dann begann er noch schneller zu kritzeln, als müsse er eine aufgestaute Wut loswerden. Sie läßt ihn in den Arsch. Er kommt in Kellys Fotze. Seine Hand huschte immer wilder über die Tafel, hallte die weiße Fläche. Es war fast, als sei seine Hand von ihm losgelöst: kein Teil seines Körpers mehr, sondern ein flügellahmer Vogel oder ein Käfer, der über die weiße Fläche sauste und nach einem Versteck suchte. Die Tafel füllte sich mit wütenden, verrückten Buchstaben. Er begann, den Platz zwischen den Buchstaben auszufüllen. Nun schwitzte er stark, während er immer neue kindische Schimpfwörter zwischen die ersten Sätze kritzelte. Endlich, als die Tafel schon einem Netz aus schwarzen Fäden glich und nichts mehr lesbar war, fiel sein Arm kraftlos herab. 283
Er wandte sich seinem Publikum zu. »Zufrieden?« »Ja«, sagte Tobie. »Sehr.« »Können wir jetzt gehen?« fragte Christina. »Ja, ihr könnt gehen, jetzt, wo wir es wissen.« Christina und die Serienmörderin standen auf und verließen den Raum, als hätten sie ihm oder Tobie einen Gefallen erwiesen, indem sie dieser Sitzung beiwohnten. »Was soll das heißen, jetzt, wo wir es wissen?« Toms Stimme überschlug sich fast. »Ich glaube, du weißt es auch«, sagte Tobie. Rachel, die geblieben war, lächelte mitfühlend. »Was meinen Sie? Was soll das heißen?« Die beiden Frauen blickten ihn schweigend an. Dann dämmerte es ihm. »Ich hab’s«, nickte er lächelnd. »Ihr meint, ich hab’s getan. Ihr wollt sagen, ich hab’ das ganze Zeug an die Tafel geschrieben, stimmt’s? Wollt ihr das damit sagen?« »Es scheint mir«, meinte Tobie, »daß du derjenige bist, der es sagt.« »Sie sind ja verrückt.« »Schätze, das sind wir alle, Tom. Wenigstens ein bißchen.« »Sie wollen damit sagen, ich könnte mir selbst so was antun?« »Tom, sieh den Tatsachen ins Gesicht. Du fühltest dich schuldig an Katies Tod. Vielleicht glaubst du, wenn du bei ihr gewesen wärst, hättest du nicht die Verabredung mit dem Mädchen getroffen. Oder daß du an jenem Morgen mit ihr hättest fahren sollen. Auf jeden Fall gibst du dir die Schuld. Und du kannst dir nicht vergeben, nicht wahr? Es wäre vielleicht alles einfacher, wenn du Katie geliebt hättest.« »Scheiße, Tobie.« »Ja, das ist das Schwerste. Das Allerschwerste. Wenn du Katie geliebt hättest, wäre alles anders. Du hättest anders um sie trauern können. Denn was du dir wirklich nicht verzeihen 284
kannst, ist die Sünde, sie nicht geliebt zu haben. Du glaubst, das hat sie getötet. Du glaubst, daß sie von dem Augenblick an starb, an dem du aufgehört hattest, sie zu lieben. Der zweifache Tod. Der Tod aus Mangel an Liebe. Hat sie das nicht auch selbst gesagt: ›Ich sterbe, wenn du mich nicht mehr liebst.‹ Hat sie das nicht gesagt? Also, Tom, du mußt mir schon glauben, daß du keine solche Macht besitzt. Und trotzdem mußt du dich jeden Tag aufs neue selbst bestrafen – wegen dieses unverzeihlichen Verbrechens, sie nicht genug geliebt zu haben.« »Scheiß drauf, Tobie.« »Selbstbestrafung, Tom. Ist hier ganz groß angesagt.« »Ich sagte: Scheiß drauf.« »Denk mal über das nach, was ich gesagt habe. Du hast keine andere Wahl.« Tobie erhob sich. »Wenigstens bist du in deiner Feindseligkeit jetzt ein wenig offener. Ich werde dich hier mit Rachel eine Weile allein lassen. Sie hat dir etwas zu sagen.« Tobie verließ den Raum und schloß die Tür mit einem Klikken. »Haben Sie das gesehen?« rief Tom Rachel zu. »Kann man dieser Frau glauben?« »Setz dich«, sagte Rachel. »Setz dich neben mich. Ich muß dir etwas erzählen.« Tom ließ sich in den Stuhl Rachel gegenüber fallen; sie stand auf und zog ihren Stuhl nahe zu ihm heran. »Ich war auch einmal eine Patientin von Tobie. Sie hat mich gebeten, heute zu kommen und mit dir zu reden. Ich war tablettensüchtig, hatte Eßanfälle, hab’ all diese Geschichten durchgemacht. Manches davon hing mit diesen merkwürdigen Anrufen zusammen, die ich damals erhielt. An jedem Abend, wo ich allein war, erhielt ich obszöne Anrufe eines Unbekannten. Ich erstattete Anzeige bei der Polizei, änderte meine Telefonnummer, aber nichts half. Die Anrufe hörten nicht auf. Dann kamen Briefe, und zwar nicht nur an mich, sondern auch an alle Leute, die mir nahestanden. Die Briefe zählten mit haarsträubender Genauig285
keit meine perversen sexuellen Vorlieben auf. Ich liebte Orgien. Ich liebte es, ausgepeitscht zu werden. Ich liebte es, die Scheiße meines Liebhabers zu essen. Natürlich waren es Lügen, aber kannst du dir vorstellen, wie meine Eltern sich fühlten, als sie diesen Unflat mit der Post bekamen? Ich kann dir nicht sagen, was ich diesem Mann antun wollte, falls ich je herausgekriegt hätte, wer er war. Na, du kannst dir ja denken, worauf die Geschichte hinausläuft. Tobie hat mir gezeigt, daß ich diejenige war, die die Briefe abschickte. Die Anrufe mögen am Anfang ja echt gewesen sein, das weiß ich nicht mehr so genau. Aber ich weiß, daß ich nur dann Anrufe erhielt, wenn ich allein war.« Tom hörte Rachels Geschichte nur mit halbem Ohr zu. Er erinnerte sich an die Nacht, als er in der Schule geblieben war und sich im Bücherzimmer versteckt hatte, bei verschlossener Tür. Er wußte genau, daß er geschlafen hatte und daß die Worte auf der Tafel erschienen waren, während er schlief. »Und ich«, fuhr Rachel fort, »bin hier, um dir zu erzählen, daß solche Dinge vorkommen. Natürlich wollte ich es zuerst nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte nicht einmal von der Hälfte dieser bizarren Praktiken gehört, die ich mir da andichtete. Aber als es mir gezeigt wurde; als es Stück für Stück zusammengetragen wurde; als ich schließlich vor mir selbst zugab, was eine dunkle Seite in mir vollbrachte; da fing es an, mir besserzugehen. Das ist alles, was ich dir sagen wollte, Tom. Und ich kann auch nicht länger bleiben: Ich hab’ Familie und muß jetzt wieder nach Hause. Aber Tobie hat mich gebeten, dir meine Geschichte zu erzählen. Rede mit ihr: Sie ist eine großartige Heilerin. Ein bißchen seltsam, aber eine große Heilerin.« Rachel stand auf und bot ihm die Hand. »Ich möchte dir alles Gute wünschen.« Matt, schweigend schüttelte Tom die dargebotene Hand. Rachel zögerte, dann strich sie ihm zärtlich über die Schulter. 286
»Bye«, sagte sie. »Ich sag’ Tobie Bescheid, daß ich gehe. Sie will dich bestimmt nicht allein lassen.« Rachel ging hinaus. Tom saß allein in der niederschmetternden Stille. Tobies Worte hallten in ihm nach. Der Suchscheinwerfer einer schrecklichen Wahrheit war auf ihn gerichtet worden. Es brannte wie Feuer. Das Geräusch einer zuschlagenden Tür im Flur ließ ihn aufschrecken. Er sprang vom Stuhl auf und zerrte einen Schrank von der Wand, wuchtete ihn vor die Tür. Tom mauerte sich ein.
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51 Als Sharon in ihre Wohnung zurückkehrte, blinkte das rote Lämpchen auf dem Anrufbeantworter. Bevor sie das Band zurückspulen ließ, öffnete sie den Kühlschrank und nahm ein Maccabee-Bier heraus, schlug den Verschluß ab und schubste die Kühlschranktür mit ihrem Hinterteil zu. Sie hatte es nicht ertragen können, Tom zu sehen, und hatte daher das Zentrum verlassen, bevor er dort eintraf. Es war ein scheußlicher Tag gewesen. Von einer schlaflosen, durchweinten Nacht erschöpft, war sie bei der Arbeit kaum zu gebrauchen gewesen. Tobie war äußerst gereizt gewesen, und alle Bewohnerinnen des Zentrums hatten mit den Launen ihrer Periode zu tun gehabt. Sharon hatte nie verstanden, warum Frauen, die eng beieinander lebten, ihre Zyklen aufeinander einstellten; aber im College war es genauso gewesen, und im Kibbuz, und jetzt auch hier im Zentrum, und es zeugte nicht gerade von einer weisen Voraussicht der Natur. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Nun mußte sie Tom gegenübertreten, nachdem sie ihn mit dem ganzen Gewicht ihrer Besessenheit beladen hatte. Sie hatte sofort erkannt, daß es ein Fehler war, alles auf einmal zu beichten. Immer noch ließ es sie innerlich schaudern: Sie war auf einige sehr unterschiedliche Reaktionen vorbereitet gewesen, aber nicht auf dieses verblüffte Schweigen. Tom war einfach nur erstarrt. Nach der Arbeit war sie zu Ahmed gefahren, dem sie alles noch einmal gestanden hatte. Ahmed war in seltsamer Stimmung gewesen, hatte still auf seinem Kissen gelegen, mit dem geschorenen Kopf genickt und Sharon zugehört. Als sie schließlich schwieg, hatte er gesagt: »Nun hast du also gelitten, so wie ich gelitten habe.« »Wie hast du gelitten?« 288
»Wir sind uns gleich, du und ich. Wir beide sind verdammt, weil wir einen Menschen lieben, der uns bloß mag. Es ist schlimm, nur gemocht zu werden, wenn man geliebt werden will. Es wäre leichter, wenn man gehaßt würde.« Sie blickte in die feuchten Augen des Arabers und erkannte, von wem er sprach. »Nein, Ahmed, sag so etwas nicht.« »Es ist wahr. Ich habe es immer gefühlt.« Sie stand auf. »Es tut mir leid, Ahmed, ich muß jetzt gehen. Das ist alles zuviel auf einmal. Ich kann es nicht ertragen.« »Siehst du, wie schnell sie vor unserer Liebe fliehen? Vor dir wie auch vor mir?« »Es tut mir so leid.« »Wenn er sagt, es tut ihm leid, dann wirst du wissen, ob er es ernst meint.« Ahmed war nicht aufgestanden, um sie hinaus zu begleiten. Sie war durch das Araberviertel geeilt und hatte eine halbe Stunde lang im Wagen gesessen, bevor sie endlich heimfuhr. Das rote Lämpchen blinkte immer noch. Sie stellte das Bier hin, erhob sich vom Stuhl und drückte auf die Abspieltaste. »Hi Sharon, hier ist Tobie. Sei ein Schatz und komm so schnell wie möglich her. Dein Tom hat sich in der Weißen Wolke eingesperrt.«
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52 Das Hämmern an der Tür wurde leiser. Die Stimmen, die nach ihm riefen, verstummten. Nachdem er den Schrank vor die Tür gestellt hatte, stapelte er Tische und Stühle davor; nun konnten sie die Tür nicht mehr aufbrechen. Er saß gegen die Wand gelehnt. Das hämmernde Geräusch wurde schwächer, es war fast zweitausend Jahre entfernt. Sie saß ruhig neben ihm. Er hatte nicht gesehen, wie sie hereingekommen war. Eines ihrer schlanken Beine hatte sie untergeschlagen, und Tom konnte erkennen, daß sie unter dem weißen Baumwollkleid nackt war. Sie schwitzte, der weiße Baumwollstoff klebte an ihren Brustwarzen und an ihren Schenkeln. Sie entblößte ihre junge Scham, eine duftende Wolke aus rosa Fleisch und spärlichem, kupferfarbenem Haar. Es war Kelly, Kelly McGovern. Das Mädchen aus seiner Klasse. Ein enttäuschter Ausdruck lag auf ihren leicht geöffneten Lippen. »Warum nicht?« »Kelly. Wie kommst du hierher?« »Warum hast du es nicht geschehen lassen?« »Kelly, es tut mir leid. Es tut mir so leid.« »Es gibt nichts, was dir leid tun könnte. Es war nur in deinem Kopf. Eine Schullehrer-Phantasie. Ich wollte, aber du hast es nicht zugelassen. An jenem Tag, im Bücherzimmer – unsere Leidenschaft hatte uns zusammengebracht. Du aber küßtest meine Hand und schicktest mich fort. Du hast mich fortgeschickt!« »Manchmal«, sagte Tom, »manchmal glaube ich, das war die schlimmere Sünde. Daß ich dich fortgeschickt habe. War dies der Anfang des Unglücks?« »Diese Verabredungen mit mir. Sonntagsmorgens im Park. Du hast mich nie angerührt. Weißt du, was du getan hast? Du hast dich auf dem Altar deiner eigenen Lust geopfert. Dich für 290
deine Phantasien durchbohrt. Und du fingst an, dir selbst zu glauben. Du mußtest dich für etwas bestrafen, was du nie verbrochen hattest.« »Sie wußte, daß ich dich begehrte. Es hat sie umgebracht. Das Wissen hat sie umgebracht.« »Nein. Das stimmt nicht. Es war alles nur in deinem Kopf.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. Diese Berührung kalten Feuers, der Geruch ihres Schweißes, der Duft ihrer reifenden Fraulichkeit ließ die Furcht in ihm aufwallen. »Ich habe versucht, dir zu erklären, was geschah«, sagte sie. »Doch du bist vor mir davongelaufen. Die ganze Zeit wollte ich es dir erklären. Du mußt es wissen.« Er versuchte zu sprechen, zu betteln, sie möge ihn in Frieden lassen, aber die Zunge war ihm im Munde verdorrt. Er konnte kein Wort herausbringen. Sie beugte sich zu ihm herüber, und er konnte ihre kleinen Brüste durch den leichten Stoff erkennen. Sie küßte ihn, steckte ihm die Zunge in den Mund. Er schloß die Augen. Er wußte, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Nichts war geschehen an jenem Tag. Er hatte sie fortgeschickt, und dabei hatte er sie mehr begehrt als sein Leben. Es war die Wahrheit. Er widerstand der Verführung, und als er die Augen öffnete, hatte sie sich verändert. Sie war zu einer anderen Frau geworden – älter, dunkel, stark und schön. Sie roch nach Balsam. Ihr Haar, das wie ein schimmernder schwarzer Wasserfall herabfiel, hatte sie über eine Schulter zurückgestrichen. Ihre gesalbte Haut war zimtfarben. Sie hatte rosalackierte Fußnägel und trug Fußspangen, an denen kleine Glocken befestigt waren. Auf ihren bloßen Unterarmen waren Tätowierungen, von denen jede ein unbekanntes Sagentier darstellte. Er wußte, sie war die Maria Magdalena. Nicht die alte Frau, die ihn durch die staubigen Gassen Jerusalems verfolgt hatte, sondern die junge, begehrenswerte Maria Magdalena. »Hör zu. Ich habe versucht, dir zu erklären, was geschah. 291
Katie hat mich gebeten, dir zu helfen. Ich ließ dir meine Schriftrolle zukommen. Die Kreuzigung. Ich war nur eine Frau gegen viele Männer; weil ich seine Frau war, hatte ich zwar ein paar Anhänger, aber was konnte ich schon tun? Ich war ausgestoßen, nach Qumran ins Exil verbannt. Weißt du, wie es ist, wenn man ausgeschlossen wird? Während meiner Arbeit in der Balsamfabrik in Qumran habe ich die Rolle geschrieben. Ich erzählte ja darin, daß wir die Prophezeiungen auswendig kannten. Wir ließen sie geschehen. Wir wußten sogar, wie man das Kreuz überlebt – mit Schlangengift und Aloe und Myrrhe. Aber es war der Feind, der Pharisäer, der Frauenhasser, der uns entzweite. Wie er unsere Liebe gehaßt hat! Er hegte einen Verdacht. Er befahl, daß die Beine meines Liebsten am Kreuz gebrochen werden sollten, um sein Ende zu beschleunigen, damit die Prophezeiung nicht erfüllt werden konnte. Das war unser Verfolger, Saulus, der Jesu Lehren annahm und verfremdete, sie durch seinen eigenen Frauenhasser-Wahn ersetzte. Der heilige Paulus, der Apostel der Lüge. Mein Liebster verkündete eine große Lehre: daß der Grund für alle Probleme des Menschen in seinem eigenen Herzen zu suchen ist. Doch Katie bat mich, dir das eine zu sagen, Tom: Das Wunder ist geschehen. Nach seinem Tod ist er reiner Geist geworden und verfolgt seine eigene Kirche. Wie ein Dschinn lauert er und verfolgt die Lügner, die in seinem Namen richten und predigen und hassen. Er ist wie ein schwaches Gedächtnis im Hirn eines Christen, der vergessen hat, daß er Christ ist.« Mit dem Daumenballen wischte sie ihm eine Träne aus dem Auge. Dann streifte sie das Kleid ab und kniete vor ihm nieder. Auf ihren Oberschenkeln blühten weitere Tätowierungen; ihre Brüste schmückten sagenhafte Geschöpfe, wanden sich unter ihrem Nabel – Bilder der sieben Geister, die aus ihr entsprungen waren. Geschickt zog sie ihn aus, und dann beugte sie sich herab und nahm sein erigiertes Geschlecht in den Mund. Die 292
Beine gespreizt, setzte sie sich auf ihn, ließ sich auf den Speer gleiten und begrub seinen Kopf in ihrem langen Haar, bis er fast ohnmächtig wurde. Er gab sich ihr hin. Er spürte sich nicht mehr. Ihr Leib streckte sich und glänzte wie ein gespanntes Stahlseil. Geschmeidig bewegte sie sich auf ihm, bis plötzlich ihr Leib wie eine Peitsche zuckte, wieder und wieder. Ihr Atem kam in immer kürzeren Stößen, und dann wurde sie steif, faßte ihn fester und drückte seine Hoden, bis er sich in sie ergoß; ihre lackierten Fingernägel rissen die Haut an seinem Rücken auf, während er zitterte und sich bäumte. Ihm schwindelte. Er spürte, wie sein Bewußtsein sich zusammenfaltete – wie ein Stern, der seine Strahlen zurückzieht und wieder aussendet. Als er wieder zu sich kam, hing sie noch an ihm, ihr feuchtgeschwitztes Haar klebte an seinem Gesicht. Er war immer noch in ihr, leergepumpt, und als er sich zurückzog, bemerkte er die Spuren von Menstruationsblut auf seinem erschlafften Glied. Sie roch fremd. Er löste sich von ihr. Es war nicht die Maria Magdalena. »Du«, keuchte er. »Ich wußte, daß du mich wolltest. Ich wußte es. Wußtes. Wußtes.« Christina lächelte ihn an, als habe sie eine schwierige Aufgabe vollbracht. »Wie bist du hier hereingekommen?« Sie zeigte auf ein offenes Fenster an der rückwärtigen Wand des Zimmers. Inzwischen purzelten die Stühle und Tische, die die Tür versperrten, zu Boden. Es gab ein kratzendes Geräusch, als der Schrank aus dem Weg geschoben wurde. »Nicht«, murmelte Tom. »Bloß nicht.« Er zerrte seine Hose hoch und hatte keine Zeit, Hemd oder Schuhe zu suchen, bevor die Tür eingebrochen wurde. Er schwang ein Bein durch das offene Fenster. Sharon war die erste einer Gruppe Frauen, die ins Zimmer stürmte. »Tom, komm zurück!« rief sie. »Komm zurück!« 293
»Christina!« rief Tobie aus, als sie die rot angelaufene, nackte Frau sah, die kichernd auf dem Boden lag. »Wußte. Wußtes. Wußtes.« »Komm zurück, Tom! Komm zurück!«
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53 Während der abendliche Aufruf zum Adhan von der Moschee erscholl, und das Licht vor seinem Fenster von Türkis zu Zitronengrau wurde, drehte sich Ahmed eine neue HaschischZigarette – seit Sharons Weggang vor zwei Stunden hatte er ununterbrochen geraucht. Als er den Joint anzündete und befriedigt den Rauch ausstieß, hörte er ein Klopfen an der Tür. Dreimal. Da dies der Ruf des Dschinn war, rührte er sich nicht von der Stelle, sondern nahm noch einen genießerischen Zug. Er fand es seltsam – sogar gewagt –, daß ein Dschinn sich zu dieser Tageszeit melden sollte, wo der süße Klang der Shahada, des Glaubensbekenntnisses, von der Moschee herüberscholl. Auf jeden Fall ging Ahmed nie nach Einbruch der Dämmerung aus – das war ihm viel zu gefährlich in einer so verrückten Stadt wie Jerusalem, wo man die Dschinn in Massen antreffen konnte. Doch dann hörte er es zum vierten Male klopfen, zögernd zuerst, dann entschlossen. Ahmed regte sich, blinzelte, rieb sich die Augen. Er hievte sich auf die Füße, stolperte zum Fenster und blickte hinaus. Hatte er nun Halluzinationen oder … Auf seiner Schwelle stand der Engländer, ohne Hemd und Schuhe. Ahmed mußte zweimal hinschauen, bevor er ihn erkannte. »Bist du ein Mensch oder ein Dschinn?« »Wirf mir die Schlüssel herunter.« Ahmed war nicht sicher, ob er wirklich die Schlüssel hergeben sollte. Er zog sich vom Fenster zurück, um nachzudenken, doch dann besann er sich eines Besseren und warf den Schlüsselbund herunter. Die Schlüssel glänzten im Dämmerlicht, während sie einen Bogen durch die Luft beschrieben. Innerhalb weniger Sekunden hatte der Engländer die Tür aufgeschlossen und war die Treppe hinaufgestiegen. 295
Ahmed nahm die Schlüssel und trat einen Schritt zurück. Tom trug nur seine Hosen. Seine Füße waren schwarz, mit dem schmutzigen Staub der Straße bedeckt. Schweiß und Staub klebten auf seiner Brust. Sein Haar war zerzaust und stand wirr vom Kopf ab, und seine Augen schweiften ruhelos über alle Gegenstände im Raum. »Allah«, sagte Ahmed. »Du ähnelst ja mehr einem Dschinn als der Dschinn selbst.« »Ich muß mit dir sprechen.« »Tee? Ach, zum Teufel mit dem Tee. Nimm ein Bier. Hier, halt das mal.« Ahmed reichte Tom den rauchenden Joint, während er im Kühlschrank herumwühlte. Tom blickte das Ding in seiner Hand an, dann nahm er einen tiefen Zug und behielt ihn in der Lunge. Als Ahmed mit dem Bier kam, wollte er den Joint zurückgeben. »Ach, behalt ihn nur«, sagte Ahmed. »Ich hab’ das Zeug so satt. Ich hör’ jetzt auf damit. Setz dich.« Tom setzte sich mit gekreuzten Beinen auf ein Kissen. Ahmed zuckte zusammen, als er die schmutzigen Füße auf dem sauberen Stoff sah. Es war als Witz gemeint, als er sagte, der Engländer gleiche einem Dschinn, doch es entsprach der Wahrheit: Tom sah wirklich aus wie jemand, der auf dem Wege war, sich in einen Dämon zu verwandeln. Ahmed dachte darüber nach, ob es möglich war, daß jemand während der Spanne eines Menschenlebens zu einem Dschinn werden konnte. Er hatte so etwas noch nie gehört, hielt es aber für möglich. »Was schaust du denn so?« fragte Tom. »Entschuldige. Hab’ ich dich angestarrt? Ich bin in letzter Zeit so zerstreut. Willst du über die Schriftrolle reden?« »Zum Teufel mit der Rolle. Ich will sie nicht. Du kannst sie haben. Ich schenk’ sie dir, wenn du mir sagst, was ich wissen muß.« 296
Ahmed wußte, wann er vorsichtig sein mußte. »Sag mir, was du wissen willst.« Tom sog gierig an dem Joint und behielt den Rauch lange Zeit in der Lunge, bevor er ihn wieder ausstieß. »Ich will wissen, wie man einen Dschinn los wird.« Ahmed sah ihn unverwandt an. »Keiner weiß, wie man einen Dschinn los wird.« »Aber du mußt doch ein paar Ideen haben! Du mußt es doch selber versucht haben!« »Bitte! Beruhige dich! Ich hab’ nie versucht, meinen Dschinn loszuwerden. Er ist meine Strafe. Meine Sühne.« »Was? Bist du etwa in dein eigenes Leid verliebt?« »Du denn nicht?« Tom sah niedergeschlagen aus. Er stand auf und strich unruhig durch das Zimmer. Als er die Schriftrolle aufgerollt auf dem Schreibtisch liegen sah, spähte er auf die Spirale unbekannter Worte. »Ich gebe dir den Rat, dem Ding nicht zu nah zu kommen. Es wimmelt von Dschinn.« »Das mit dem Mädchen war erlogen«, gestand Tom. »Weißt du noch, wie wir uns gegenseitig unsere Geheimnisse gebeichtet haben? Ich hab’ gelogen. Ich hab’ sie nicht einmal angerührt.« »Das hatte ich mir schon gedacht.« Tom setzte sich wieder. Der Joint war aufgeraucht. Bestürzt ließ er den Kopf hängen. Sie sprachen nicht mehr. Tom wechselte die Stellung, ließ den Kopf auf die dicken, weichen Kissen hinter sich fallen. So saßen sie schweigend da. Vor dem Fenster verdichtete sich das Zwielicht zur Dunkelheit. Ab und zu konnte man draußen Laute vorübergehender Passanten vernehmen. Er schläft ein, dachte Ahmed. Er ist erschöpft. Ich muß ihm etwas geben. Auf allen vieren kroch er über den Boden. Er nahm die Kette mit dem kanaanäischen Talisman ab und legte 297
sie Tom um den Hals. Auf den Fersen hockend begann er, ihm etwas einzuflüstern. »Die Dschinn bewohnen eine unendliche Anzahl von Persönlichkeiten, und jeder zeigt eine andere Facette. Du mußt in deinen Träumen nach dem guten Dschinn suchen und ihn bitten, für dich zu vermitteln. Biete ihm ein Geschenk an und dann bete. Das ist alles, was ich dir sagen kann.« Tom war in Schlaf gesunken. Ahmed ließ ihn allein. Tom hielt vor der Kirche. Der Beifahrersitz neben ihm war leer. Der Sturm heulte um das Auto wie eine Todesfee und hätte fast die Tür abgerissen, als Tom ausstieg. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, das Kirchhofstor ächzte, der Kirchturm wiegte sich gefährlich schräg im Wind. Wieder schien er wie ein Schiff, von der grausamen See bedrängt, ein Schiff voller verlorener Seelen. Die Grabsteine wie Treibgut im Gefolge des sturmgepeitschten Schiffes. Die riesige Esche wie ein gesplitterter Hauptmast. Eine einsame Glocke läutete in der Dunkelheit. Wo war Katie? Er zwängte sich durch das Kirchhofstor. Sie sollte hier sein. Sie sollte bei ihm sein. Von den Bäumen gerissene Zweige türmten sich auf dem Friedhof. Eine Krähe, die auf dem Turm landen wollte, wurde in den schwarzen Himmel geschleudert. Er blickte zum Turm empor. Der Wind malte Klauenspuren auf den Sandstein. Eine Aluminiumleiter stand gegen den Turm gelehnt. Über einer der unteren Sprossen hing ein Maurerhammer. Als Tom aufschaute, sah er eine Bewegung in der Kleeblatt-Nische unter den Zinnen des Turms. Die Statue der Magdalena war verschwunden. Nun stand Katie dort, das Haar vom Wind zerzaust, ein weißes Gewand aus kostbarer Seide um ihren Leib geschlungen. Rauchschwarze Wolken türmten sich am Himmel. Sie hielt sich nur mit den Zehen am bröckelnden Stein der 298
Nische fest. Sie blickte auf ihn herab. Der Sturm wurde heftiger. Er wußte, daß er Schutz suchen mußte, aber er hatte Angst, sich dem Portal zu nähern. Plötzlich wurde es aufgerissen, und die eisenbeschlagene alte Eichentür schlug hart gegen die Mauer. »Komm herunter, Katie! Ich kann nicht hineingehen! Nicht ohne dich, Katie! Ich kann nicht hineingehen!« Doch der Wind packte die Leiter wie einen Strohhalm und schleuderte sie ins Dunkel des Friedhofs. Katie konnte nicht herunterkommen. Nun grub der Wind an dem Mörtel zwischen den Steinen des Kirchturms. Tom konnte sehen, wie der Staub zwischen den Steinen unter Katies Füßen weggesogen wurde. Dann folgten ganze Steine. Der Turm wackelte. Katie breitete die Arme weit aus wie ein Vogel und warf sich auf ihn herab. Er sah sie fallen. Seine Augen waren auf die ihren gebannt, während sie durch die Luft stürzte, sein Blick schien den ihren anzuziehen. Ihre Augen berührten einander. Er spürte keinen Aufprall. Im Augenblick des Auffangens löste sich die Szene in Luft auf, und er befand sich im Innern der Kirche. Katie war verschwunden. Auf die Wände waren Sätze in häßlichen Spiralen geschrieben. LÜGNER. Die Gemeinde am Altar schob sich langsam vorwärts; einer nach dem anderen folgte einer Wendeltreppe unter dem Boden, deren Stufen mit hebräischen Schriftzeichen bemalt waren. David Feldburg war unter den Leuten, lächelte ihm freundlich zu. Katie war nirgends zu sehen. Der Pfarrer war Michael Anthony, der abtrünnige Priester, der ihm nun winkte, den anderen zu folgen. »Ich kann nicht kommen! Ich muß nach dem Morgen Ausschau halten!« Michael Anthony schien ungeduldig zu werden. Die übrigen Gemeindemitglieder hielten inne und sahen sich um, verstört über das, was ihre Prozession aufhielt. Im gleichen Augenblick sah Tom, daß sich etwas in der Kirche verändert hatte. In jeder 299
Darstellung von Jesus Christus, in jedem Gemälde, jedem Holzschnitt und jedem Buntglasfenster war das Bild Jesu durch eine Frau ersetzt worden, eine nackte, aufreizende Frau, die den Kreuzestod erlitt. Maria Magdalena hatte den Platz des Gekreuzigten eingenommen. Ihre Farben waren Scharlach und Purpur, Grau und Gold. »Vermittele du für mich«, bat er. »Erzähl ihr, was geschehen ist. Sag ihr, daß ich alles weiß.« Michael Anthony blickte angespannt, als wisse er nicht, was Tom sagen wollte. »Du mußt für mich vermitteln«, beharrte Tom. »Bete für mich. Bitte sie, mich in Ruhe zu lassen. Sag ihr, daß ich den Inhalt der Schriftrollen bekannt machen werde. Sag ihr, daß ich es für sie tue. Und gib ihr das hier.« Tom öffnete den Mund und zwängte seine Finger tief hinein. Mit einem leichten Würgen erbrach er eine dicke, lebende, summende Biene in seine Hand. Sie rollte in seinen zur Tasse geformten Händen hin und her, als er sie dem Pfarrer entgegenhielt. Michael Anthony nahm die Biene an und nickte, als habe er verstanden. Er begann, sie mit dem Zeigefinger zu streicheln, und zog sich zu seiner Gemeinde zurück, die wieder mit dem Abstieg in den Spiralbrunnen begonnen hatte. Er konnte hören, wie die Biene in den Händen des Pfarrers summte. Tom dankte der Magdalena mit einem kurzen Gebet, bevor er sich wieder in den tosenden Sturm begab. Der Summton des Telefons weckte ihn. Er saß aufrecht. Ahmed war im Schlafzimmer und sprach, wie es schien, mit Sharon am Telefon. »Ja, er ist jetzt hier.« Der Araber sprach mit gesenkter Stimme. »Nein, er schläft. Ich glaube, er ist völlig erschöpft. Nein, nein, er wird schon nicht weglaufen.« 300
Tom hievte sich aus den Kissen. Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht, versuchte seine Gedanken zu ordnen. Ein Seidenhemd hing über der Rückenlehne eines Stuhls. Er streifte es über. Im Flur fand er Turnschuhe von Ahmed. Leise schlüpfte er aus der Wohnung, während Ahmed Sharon immer noch versicherte, daß er Tom nicht aus den Augen lassen würde.
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54 Tom betrachtete sich im Spiegel; mit weitaufgerissenen Augen sah er zu, wie seine Haare auf den Boden des Barbiersalons fielen. Die Schere des arabischen Barbiers wisperte in seinen Ohren, schnippte wunderlich nahe am Schädel entlang. Der Mann hatte einen aufwendigen Stil: Seine Hand befand sich in ständiger Bewegung, ließ die Schere über Toms Kopf schwebten oder durch die Luft sausen. Sie blitzte im Spiegel, wie ein seltsamer Vogel, der herniederstieß und sich auf Toms Kopf zu setzen suchte. Als er mit dem Schneiden fertig war, nahm der Barbier einen Elektrorasierer zur Hand und führte ihn in sauberen parallelen Linien über den Kopf. Plötzlich war Katie an Toms Seite, eine Hand leicht auf seine Schulter gelegt, und sah der Prozedur im Spiegel zu. Sie trug das Haar zum Zopf geflochten. Ihre Augen hatten die Farbe der grauen See. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid, daß ich dir das antun mußte. Aber ich mußte einen anderen Weg finden, um dich zu erreichen. Ich mußte durch dieses Mädchen erscheinen. Wie sonst hätte ich dich finden sollen? Du schließt mich ja aus. Du und Sharon – ihr schließt mich beide aus.« »Was willst du?« fragte Tom. »Die Preise hängen an der Wand«, erwiderte der Barbier, ohne sich bei seiner Arbeit stören zu lassen. »Deine Liebe«, sagte Katie. »Warum?« »Damit sich niemand betrogen fühlt«, antwortete der Barbier. Er schaltete den Elektrorasierer aus und begann ein Rasiermesser zu schärfen, mit dem er sein Werk vollenden wollte. »Weil ich dich liebe. Ich werde dich immer lieben.« »Kann ich dir trauen?« »Wenn Sie nicht mal mehr Ihrem Barbier trauen können«, erwiderte der Mann und ließ die Klinge aufblitzen, »wem 302
dann?« »Du kannst mir trauen«, versprach Katie. »Du kannst mir trauen.« »Wie sieht es aus?« »Es sieht gut aus«, sagte der Barbier. »Es sieht gut aus«, sagte Katie. Tobie spazierte am Barbiersalon im arabischen Viertel vorüber und erblickte einen Mann mit geschorenem Kopf, der eben den Barbier bezahlte. Der Mann kam ihr bekannt vor, doch sie schritt weiter, denn es drängte sie, Tom zu finden. Sie fühlte sich nicht sonderlich wohl dabei, nachts im arabischen Viertel herumzulaufen, aber sie hatte Sharon versprochen, sich mit ihr in Ahmeds Wohnung zu treffen. Nachdem Tom sich im Zentrum verbarrikadiert hatte, hatte Tobie auf Sharon gewartet, bevor sie sich gewaltsam Einlaß verschaffte. Als sie schließlich den Schrank beiseite geschoben hatten, fanden sie Christina nackt auf dem Boden und das Fenster an der Rückfront des Hauses offen. Darauf war Sharon zu ihrer eigenen Wohnung gefahren, in der Hoffnung, Tom möge dort sein. Als er jedoch nicht erschien, hatte sie Ahmed angerufen. Nachdem sie Ahmed aufgetragen hatte, Tom festzuhalten, rief sie Tobie an und bat sie, sich mit ihr bei Ahmed zu treffen. Tobie war wütend auf sich selbst, weil sie Toms Reaktion nicht vorausgesehen hatte. Bei jedem Klienten pflegte sie sorgfältig abzuwägen, wieviel Druck er wohl ertragen konnte und wieviel Wahrheit sie diesem bestimmten Menschen zumuten konnte. Vielleicht, so grübelte sie, war dies ja der Unterschied zwischen Männern und Frauen; der letzte Fall dieser Art war Ahmed gewesen, als er Amok gelaufen war. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder einen Mann ins Zentrum zu lassen. 303
Wäre Tom eine Frau gewesen, so wäre er unter dem Druck zusammengebrochen, hätte geheult und sich an die anderen Frauen um schwesterlichen Trost gewandt. Statt dessen hatte er die Flucht gewählt. Tobie erkannte, daß die männliche Sexualstruktur ein sprunghaftes Element enthielt, das ihre wohldurchdachten Therapiepläne stets zunichte machen mußte. Die Fähigkeit zur Selbsttäuschung war trotz aller gegenteiliger Mythen in Männern stärker vorhanden als in Frauen. Und doch hätte sie nie Christinas Rolle in dieser Krise voraussehen können. Als sie die schmale Gasse entlangschritt, blieb sie plötzlich auf der Stelle stehen, drehte um und marschierte zum Barbiersalon zurück. Der Mann mit dem geschorenen Kopf kam in diesem Augenblick aus der offenen Tür. »Tom«, sagte Tobie leichthin. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.« Tom erstarrte. Er blickte nach links und schien einen Moment zu lauschen, als erwarte er eine Eingebung. Als er wieder Tobie anblickte, sprühten seine Augen Feuer, schienen nur noch aus Pupillen zu bestehen. »Hi Tobie. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.« Tobie zögerte. »Sag mal, Tom, willst du nicht mit mir kommen? Ich bin ein bißchen nervös – so allein nachts in diesem Viertel. Vielleicht begleitest du mich ein Stück?« »Wo wollen Sie denn hin?« »Ich dachte, ich schau mal bei Ahmed vorbei. Warum kommst du nicht mit?« Tom lauschte wieder, bevor er Antwort gab. »Kann nicht, Tobie. Ich muß woanders hin.« »Wohin? Wohin mußt du gehen?« Diesmal entstand eine lange Pause. Tom ließ sich ungeheuer viel Zeit mit der Antwort. Tobie kannte dieses Symptom, doch es war wie immer äußerst irritierend. »Nach Mea Shearim.« »Mea Shearim? Was willst du denn da, Tom? Was hast du in 304
Mea Shearim zu suchen?« Schweigen. Lauschen. »Ich habe etwas zu erledigen. Ich muß dort jemanden treffen.« »Erledigen? Was ist denn los, Tom?« »Da war ein Mann in Mea Shearim. Er hat einen Stein nach Sharon geworfen. Das können wir uns nicht gefallen lassen, Tobie. So ein Benehmen.« »Hey, komm doch mit, Schatz. Laß uns zu Sharon und Ahmed gehen. Wo es gemütlich ist. Komm schon, gib mir deinen Arm und komm mit.« Tom war schon im Rückzug begriffen, fing an zu rennen. »Kann nicht, Tobie! Hab’ was zu erledigen! Seh euch später!« Und fort war er, in den Schatten der Gassen und Torbögen verschwunden. Tobie wußte, daß es keinen Zweck hatte, ihn zu verfolgen, also ließ sie ihn ziehen und strebte schnell auf Ahmeds Wohnung zu, wo Sharon auf sie wartete. »Er ist auf dem Weg nach Mea Shearim. Hallo Ahmed, wir haben uns ja lange nicht gesehen«, grüßte Tobie. »Nach Mea Shearim? Starr sie nicht so an, Ahmed. Wo bleibt denn deine Gastfreundschaft?« Ahmed konnte den Blick nicht von Tobie wenden. »Ich entschuldige mich, du böse alte Frau. Setz dich, setz dich. Du mußt schon entschuldigen; passiert mir schließlich nicht alle Tage, daß die schrecklichste Frau der Welt mein Heim besucht. Kann ich dir etwas anbieten?« »Dafür haben wir keine Zeit. Ich bin eben auf der Straße in Tom hineingerannt; er sieht zum Fürchten aus. Er hat sich den Kopf scheren lassen, und ich denke, je früher wir ihn überreden, mit uns zu kommen, desto besser für ihn.« »Du hast recht«, stimmte Ahmed zu. »Er war vorhin hier. Er hat mein Hemd und meine Schuhe gestohlen. Während der ganzen Zeit, die er hier war, hat er seinem Dschinn zugehört. Jetzt guckt mich nicht so an! Ich sag’ euch, der Dschinn hat 305
ihm die ganze Zeit ins Ohr geflüstert. Er steht schwer unter dem Einfluß seines Dschinns.« »Aber du sagtest doch, er sei auf dem Weg ins Ghetto«, meinte Sharon. »Was will er denn da?« »Er sagte, er müsse etwas erledigen. Irgendein Mann hat dich mit einem Stein beworfen, und er müsse es in Ordnung bringen.« »Das stimmt, einer der Chassidim hat einen Stein geworfen, als ich neulich dort war. Ich muß es ihm wohl erzählt haben.« »Diese Chassidim werden ihn in kleine Stücke hacken, wenn er einen Aufstand im Jüdischen Ghetto anzetteln will«, sagte Ahmed. »Laßt uns gehn«, sagte Sharon. »Kommst du mit, Ahmed?« »Seid ihr verrückt? Ich, ein Palästinenser, soll nach Mea Shearim gehen? Mach keine Witze.« »Wir sind ja bei dir.« »Noch schlimmer. Und außerdem ist es dunkel. Ich gehe im Dunkeln nie aus.« »Wir brauchen dich«, sagte Tobie. »Wir müssen ihn finden.« »Was bin ich denn diesem Engländer schuldig? Er hat mein Hemd gestohlen. Er hat meine Schuhe gestohlen.« Er blickte Sharon an. »Was hat er mir noch gestohlen? Ich kann nicht. Glaubt mir, wenn ich könnte, würde ich mit euch kommen. Aber es ist Nacht, und ich würde alles aufs Spiel setzen. Mein Dschinn wird dort draußen auf mich warten.« »Ich bitte dich«, sagte Sharon. »Ahmed, ich brauche deine Hilfe.« »Aber die Nacht«, flehte Ahmed. »Gute Nacht.« »De Profundis«, sagte Katie an seiner Seite; ihre rechte Hand ruhte sanft auf seiner Schulter. »Aus den Tiefen herauf. Ich habe dir alles erzählt. Marias Schriftrolle ist dir offenbart worden. Nun weißt du, wie es geschehen konnte; wie der 306
Lügner uns betrogen hat. Nun weißt du, wer der wahre Lügner ist.« Behutsam führte sie ihn durch die Gassen des arabischen Viertels. Hinter ihnen lagen die Türme der Moschee und der erleuchtete Felsendom, vor ihnen die ebenfalls angestrahlten Kirchturmspitzen, in einen exotischen Umhang aus tiefstem Schwarz gehüllt. Als sie in die belebteren Straßen gelangten, spürten sie eine Spannung in der Luft, eine Bitterkeit inmitten der drückenden Hitze. Es waren zu viele junge Männer auf den Straßen, und alle unterhielten sich in gedämpftem und doch aufgeregtem Ton. Sie kamen an zwei nervösen Soldaten vorbei, die in einem Zustand höchster Alarmbereitschaft waren. Irgend etwas war geschehen oder sollte noch geschehen. »Was ist denn da los?« »Es wird einen Aufstand geben«, erwiderte sie. »Komm weiter.« Als sie in der Nähe von Salomons Steinbruch an die Stadtmauer gelangten, verstärkte Katie ihren Griff an seiner Schulter. Sie hielten an. Sie zeigte auf den Umriß eines Soldaten, der auf der Mauer Wache hielt. Er stand mit dem Rücken zu ihnen. Als er langsam, das automatische Gewehr im Arm, die Brüstung entlangschritt, sah Tom das unverkennbare Zucken eines Schwanzes zwischen den Beinen des Mannes. Unmöglich! Doch da war es wieder, der glänzende schwarze Bogen eines unheimlichen Schwanzes, der hin und her peitschte. Eine Faust preßte Toms Eingeweide zusammen. Er fühlte, wie ihm übel wurde. »Schhhhh.« Katie hielt sein Gesicht in ihren kühlen Händen. Er spürte, wie sie seinen Blick beherrschte, mit ihren meergrauen Augen einfing. »Nun siehst du den Dschinn zum ersten Mal in seiner ursprünglichen Gestalt«, erklärte sie. Während ihm der Schweiß in die Augen rann, blickte Tom wieder zu dem Soldaten auf der Mauer. Instinktiv schien dieser 307
ihn zu gewahren und begann sich langsam aus dem Schatten zu bewegen; das Gesicht lag noch im Dunkeln, drehte sich jedoch langsam in ihre Richtung. Der unheimliche Schwanz peitschte wieder hin und her, und allmählich tauchte das Gesicht aus dem Schatten auf. »Schnell.« Katie wirbelte ihn in eine Seitengasse. »Du darfst sie nicht merken lassen, daß du ihre wahre Erscheinung durchschaust. Niemals. Verstehst du?« Doch Tom zitterte heftig, erschrocken über die Körperlichkeit der Dschinn. Er taumelte gegen eine Wand und erbrach sich im Schatten. Katie legte ihm die Hand auf den Rücken und schob ihn die Gasse entlang. Sie kamen am Damaskustor raus. Es war eine Erleichterung, die Altstadt zu verlassen. Die Luft schien süßer, leichter zu werden. Am Damaskustor wimmelte es von Menschen, und auf der Straße herrschte dichter Verkehr. Wieder ruhte ihre Hand sanft auf seiner Schulter, als sie ihn zum arabischen Busbahnhof geleitete. Er hielt inne, um noch einen Blick auf die Mauer zu werfen; auf der Brüstung waren zwei weitere Soldaten. »Die Soldaten«, sagte er. »Nein, nicht alle sind Dschinn. Die Dschinn verkleiden sich als Soldaten oder auch als ganz normale Leute. Aber das weißt du ja.« »Das weiß ich.« Sie führte ihn zur Tankstelle, wo er einen Benzinkanister erstand, den er mit drei Litern Benzin füllen ließ. Dann kaufte er zwei Plastikflaschen Orangeade. Kurz hinter dem Busbahnhof hielt er an und trank. Er fühlte sich fiebrig und schwitzte stark. Nachdem er eine halbe Flasche getrunken hatte, schüttete er den Rest beider Flaschen in die Gosse. Dann füllte er das Benzin in die Flaschen und ließ den Kanister mit dem restlichen Benzin stehen. Zusammen machten sie sich auf den Rückweg zum Damaskustor. »Der Lügner haßte die Frauen, denn er sah in uns die 308
Quelle der Unreinheit. Er haßte auch Jesus, weil dieser die Frauen liebte. Als Jesus der Maria Magdalena die sieben Dämonen austrieb, gewann er sie aus dem Tempel der Kanaanäer für seine eigene Bewegung. Er wollte, daß auch Frauen Priester seien, den Männern gleichgestellt; der Lügner aber haßte diese Vorstellung. Der Lügner verachtete sein eigenes Fleisch. Er verachtete die menschliche Schwäche. Nach der Kreuzigung sah der Lügner seine Zeit gekommen. Er usurpierte den Glauben und verbreitete ihn im Westen. Marias Bestrafung wurde beschlossen. Es war, als hätte man ihr die Zunge herausgerissen. Nein, es war nicht der Lügner, der auf seiner berühmten Reise nach Damaskus von Christus zum Glauben bekehrt wurde – es war der Glauben Christi, der von dem Lügner entstellt wurde.« »Wir gehen nicht nach Mea Shearim, oder?« fragte Tom. »Nein. Ich wollte nur etwas Zeit gewinnen. Und wir sind auch schon da.« Sie waren an der Kreuzung der Derekh Shekem angekommen, genau gegenüber dem Damaskustor, und standen nun vor dem Portal der gewaltigen Kirche des Heiligen Paulus. »Der Tempel des Lügners. Paulus, der Frauenhasser. Der das Fleisch verachtete. Die irdische Liebe vergiftete. Der falsche Prophet und Apostel der Lüge. Geißel der Frauen. Vater der Dschinn. Der größte Lügner von allen.« Tom blickte auf die Front der Kirche. Dunkelheit umhüllte die Mauern gleich schwarzen Schwingen. Er stieg die Stufen hinauf und ging hinein. Sharon, Tobie und Ahmed liefen schweigend durch die Straßen. Die beiden Frauen hatten sich bei dem Araber eingehakt, der völlig verängstigt war und nur langsam weiterschritt. Sie kamen an vielen Grüppchen aufgeregter junger Männer vorbei, die bei ihrem Herannahen ihr Gespräch unterbrachen und ihnen 309
feindselige Blicke zuwarfen. »Was sagen sie?« fragte Tobie. »Ist etwas im Gange?« »Du kennst doch die Intifada«, erwiderte Ahmed. »Etwas ist immer im Busch.« »Aber die Friedensgespräche …« »Nicht jeder ist für Arafat. Du weißt doch, daß die Hamas versuchen wird, die Gespräche zum Scheitern zu bringen.« Die Luft war von der Ahnung des drohenden Aufstands erfüllt. Das Ereignis warf seinen gewalttätigen Schatten voraus. Die Mauern, die die Straßen umschlossen, schwitzten vor Erwartung, und die Abflußkanäle führten stinkende Gerüche mit sich. »Bei Allah, könnt ihr es denn nicht fühlen? Laßt uns bloß aus der Altstadt verschwinden«, flehte Ahmed. »Es wimmelt hier vor Dschinn. Sie warten auf Leichen.« Am Damaskustor blickte er zu den schwitzenden Brüstungen hinauf und schauderte. Einen Augenblick lang glaubten die beiden Frauen, daß sie ihn nicht durch das Tor bringen konnten. Er schien wie angewurzelt. Er wollte nicht sagen, was er sah. Er war wie ein störrischer Faden, der nicht durch das Nadelöhr gehen will. Eine Abteilung Soldaten kam durch das Stadttor hereinmarschiert und drängte die Gruppe Jugendlicher zurück, die unter dem Torbogen herumlungerte. Die heftige Bewegung der Menge und die sie begleitenden Protestschreie brachen den Bann, und Tobie und Sharon gelang es, Ahmed durch das Tor zu scheuchen. Vom Tor waren es nur ein paar Minuten Weg bis zum Ghetto Mea Shearim. Sie gingen an der Pauluskirche entlang. Sharon blickte auf und erhaschte einen Blick auf den Schatten eines Mannes, der das Portal der Kirche durchschritt und irgend etwas an die Brust gedrückt hielt. »Wir sollten uns beeilen«, meinte Tobie. »Warum tu ich das nur?« heulte Ahmed. »Warum?« 310
»Weil du Sharon liebst«, erwiderte Tobie. »Du bist die schrecklichste Frau, die mir je begegnet ist«, gab Ahmed zurück. Am Eingang des Ghettos blieb Sharon unter dem Schild mit der Aufschrift FRAUEN KLEIDET EUCH ALLZEIT BESCHEIDEN stehen. »Scheiße. Schaut mal, was ich anhabe.« Sie trug eine Shorts, die ihre sandfarbene Haut über dem Knie sehen ließ, und eine ärmellose Bluse. Hoffnungsvoll blickte sie die beiden anderen an, aber keiner hatte etwas, das er ihr zum Überziehen anbieten konnte. Immerhin trug Tobie lange Hosen und ein Sweatshirt. »Das kann auch nicht schlimmer sein, als mit einem Palästinensergesicht herumzulaufen«, meinte Ahmed. »Doch«, sagte Sharon. »Die Töchter Jerusalems haben stolze und hochmütige Hälse.« »Was?« »Vergiß es. Kommt, wir haben keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen.« Sie traten durch den schmiedeeisernen Torbogen und in das Ghetto, als sei es Dantes Inferno. Dann suchten sie die Straßen ab, zutiefst mißtrauisch, doch nach außen hin mit einer Sicherheit, die keiner von ihnen verspürte. Die bärtigen, Hut und Schal tragenden Chassidim warfen ihnen zwar Blicke zu, ließen sie jedoch in Ruhe. Ein alter Mann kam aus einem kleinen Laden und ließ, als er Sharon gewahrte, eine Tüte mit Äpfeln zu Boden fallen. Die roten Äpfel rollten in den Rinnstein. Es war eine übertriebene theatralische Vorstellung, eine Zurschaustellung des Protests. »Ich kenne ein paar Leute hier«, meinte Tobie. »Sie könnten uns helfen.« »Bleib nicht zu lang«, bat Sharon. »Ich fühle mich sicherer, wenn du bei mir bist.« Tobie tauchte tiefer in das Ghetto ein. Sharon und Ahmed blieben in der Randzone, spazierten eine Straße mit Laternen 311
entlang. Ein ältlicher Chassidim mit krummem Rücken und wallendem weißen Bart stand in einer Tür und beäugte sie mit Adlerblick. Als sie an ihm vorübergingen, brüllte er plötzlich los: »WIR SIND HIER NICHT IN NEW YORK. WIR SIND IN YERUSHALAYIM!« »Bleib nah bei mir«, sagte Sharon. »Bleib du nah bei mir.« »Sollen wir uns die Hände geben?« »YERUSHALAYIM!« »Scheint keine gute Idee zu sein.« Sie eilten von dem Alten fort, der ihnen immer noch hinterherschrie, und bogen um eine Straßenecke, damit sie aus seinem Blickfeld kamen. Sogleich erkannten sie ihren Fehler. Eine Gruppe junger Chassidim stand ein paar Meter entfernt unter einer Straßenlaterne. Weiterzugehen bedeutete, daß sie an ihnen vorbei mußten; zurückzuweichen hätte feige ausgesehen. Sie setzten also ihren Weg fort. Die jungen Männer schwenkten die Köpfe herum, wobei ihre Locken zitterten, und das Licht der Laternen spiegelte sich in ihren Brillengläsern. »Ziemlich viel Scheiße in der Nachbarschaft«, bemerkte einer von ihnen. Sharon knurrte etwas auf hebräisch, das Ahmed nicht verstand. Es brachte die jungen Männer einen Augenblick zum Schweigen. Dann spie ihnen einer im Vorübergehen vor die Füße. »Hure.« »Achte nicht drauf«, flüsterte Ahmed. »Tom, wo steckst du nur?« Sie ließen die jungen Männer hinter sich und hofften, sie würden einen Weg zurück zum Eingang des Ghettos finden. Statt dessen gerieten sie in eine Sackgasse. Eine andere Seitengasse war auch nicht der richtige Weg, sondern führte sie nur zu einer Straße mit noch mehr Läden und feindseligen Männern, die wie Krähen unter dem schwachen Schein der Laternen zusammenhockten. Alle schienen hinter gewaltigen 312
schwarzen Bärten die Zähne zu blecken. »Bring uns bloß hier raus«, drängte Ahmed. »Ich versuch’s ja. Ich versuch’s.« Sie kamen in einen viereckigen Innenhof, auf dessen eine Wand in fußhohen Lettern der Slogan JUDENTUM UND ZIONISMUS SIND EINANDER ENTGEGENGESETZT gesprüht war. Sharon hielt inne und versuchte, sich den Weg nach draußen vorzustellen. »Es hat keinen Zweck. Wir müssen genau den Weg zurückgehen, den wir gekommen sind.« »Anscheinend nicht«, erwiderte Ahmed. Sharon blickte in die gleiche Richtung wie er. Der Rückweg wurde durch eine große Gruppe Chassidim versperrt, die ihnen in den Innenhof gefolgt waren. Sie wirkten ganz ruhig – und unglaublich bedrohlich in ihren langen schwarzen Gehröcken und den breitrandigen Hüten. Jeder von ihnen trug eine Brille, als seien Brillen auch ein Teil der Uniform der UltraOrthodoxen. Hinter den Brillengläsern waren ihre Augen vergrößert und erregt. Eine andere Straße, die auch von dem Hof abzweigte, füllte sich gleichfalls mit den schwarzgewandeten Zuschauern. »Zeit für Verhandlungen«, meinte Ahmed. Irgendeiner schrie das hebräische Wort für Hure. Eine andere Beleidigung, auf Palästinenser gemünzt, flog Ahmed an den Kopf. Aus dem Nirgendwo kam ein Hagel kleiner Steine und prasselte gegen die Mauer hinter ihren Köpfen. Man konnte unmöglich erkennen, wer sie geworfen hatte. Die Männer schienen seltsam reglos. Dann erblickte Sharon einen erhobenen Arm und spürte, wie ein Stein sie am Bein traf. Ein heftiger Schlag, der Schmerz auslöste. Sie schnappte nach Luft, taumelte zur Seite. Ein Ziegelstein flog durch die Luft und verfehlte Ahmeds Kopf um wenige Zentimeter. Nun regnete es Steine und Ziegel. Sharon spürte, wie ihre Wange von einer scharfen Kante aufgerissen wurde. Steine krachten gegen die Mauer in ihrem Rücken. Als sie die Hände 313
über dem Kopf zusammenschlug, sah sie, daß Ahmed auf die Knie gefallen war; er kauerte am Boden und versuchte, sich gegen den Hagel der Steine zu schützen. Dann kam er wieder auf die Beine und stellte sich gegen die Geschosse; er nahm Sharon in den Arm und versuchte verzweifelt, sie mit seinem Körper abzuschirmen. Sie fielen zu Boden. So schnell, wie er angefangen hatte, hörte der Steinhagel wieder auf. Sie vernahmen laute Rufe; erst Hebräisch, dann Englisch. Als sie durch die Lücken zwischen ihren Fingern spähten, sahen sie einen hochgewachsenen jungen Chassidim näher kommen, der vor Wut brüllte. Sharon dachte, er wolle ihnen auch noch einen Tritt verpassen. Doch als er sie erreichte, hielt er an und wandte sich ihren Peinigern zu. Sein Hut war in den Staub gefallen. Er hatte einen dichten schwarzen Bart, und sein Kopf wurde schon kahl. Er war rot vor Anstrengung. Seine Korkenzieherlocken bebten vor Wut. Schützend breitete er die Arme vor Sharon und Ahmed aus, die immer noch auf dem Boden kauerten. »Feiglinge!« brüllte er seine eigenen Leute an. »Feiglinge! Warum tut ihr das? Werft eure Steine doch auf mich! Ist da einer unter euch, der gut genug ist, den ersten Stein zu werfen? Ist da einer?« Keiner gab Antwort. Die Menge schwieg. Der kahlköpfige Beschützer warf seinen Kopf zurück und stieß einen fast unmenschlichen Schrei der Verachtung aus. Er drehte sich um und blickte wütend auf Sharon und Ahmed herunter. Auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. Seine Augen zuckten. Er wandte sich wieder an die Menge. »Nur einer von euch! Ist da einer unter euch, den Gott erwählt hat, einen Stein zu werfen? Wenn da einer ist, so wirf ihn nach mir!« Er hob einen Stock auf und schrieb in rasender Wut ein paar Worte in den Staub, dann warf er den Stock beiseite. »Geht nach Hause! Geht nach Hause, und laßt diese Leute in Ruhe!« 314
Keiner regte sich. Der Mann ging drohend auf die erste Reihe der Schaulustigen zu, die sogleich zerbrach und sich zu zerstreuen begann. Dann brach die zweite Reihe auf und ließ sich auseinandertreiben, angespornt von dem chassidischen Juden, der sie bedrohte und anbrüllte, ob es einer wage, ihn anzugreifen. Dann tauchte Tobie auf einmal neben ihm auf, sie war offenbar mit ihm befreundet. Sie half Sharon, die Schnittwunden im Gesicht und an den Armen hatte, auf die Beine. Auch Ahmed war verwundet. Der Retter kam zurück in den Innenhof, um seinen Hut zu holen. »Bring diese Leute nicht noch mal hierher, Tobie.« »Es war meine Schuld«, gestand Sharon. »Ich hab’ die beiden hierhergelotst.« »Du bist Jüdin«, sagte er zu ihr. »Du weißt, daß diese Menschen wie Kinder sind. Du hast ihre schlimmsten Instinkte geweckt. Es tut mir leid. Komm nicht wieder hierher.« Er geleitete sie zum Eingang des Ghettos. Tobie sagte rasch etwas auf hebräisch. »Bring sie nur hier heraus«, erwiderte der Mann und nahm die Brille ab. Er trocknete sich mit einem weißen Taschentuch die Stirn. »Bring sie nur hier heraus.« Tom schritt durch das düstere Portal und schloß das Tor. Viele Kerzen flackerten in der gewaltigen Kirche: Opfergaben, jede mit einem leise geflüsterten Gebet entzündet. Falsche Gebete, dachte Tom. Jede Kerze war eine Lüge. Ein einsamer Betender kniete in einer Bank nahe dem Altar. Der Kopf des Mannes ruhte auf seinen gefalteten Händen. Toms Schritte hallten in der Kuppel wider, als er einen Platz in einer Bank weit hinter dem Mann einnahm, die Plastikflaschen an die Brust gedrückt. Er wartete, daß der Mann aufstand und die Kirche verließ. Die Kerzen der Lüge brannten langsam. Gelegentlich zitter315
ten sie in einem Luftzug. Tom dachte an Katie, die draußen geduldig auf ihn wartete. Sie hatte ihm nicht sagen müssen, was er zu tun habe. Er wußte es ohnehin. Maria Magdalena hatte ihnen die Wahrheit gezeigt. Maria, die Heilige; Dschinn, Engel, Dämon und Inspiration. Über dem Altar hing ein Kreuz, das den Leib des verratenen Christus trug. Aber es war nicht Judas, der ihn verraten hatte, es war Paulus. Denk dran, sann Tom, während er auf der Bank kniete und so tat, als bete er, die Wahrheit eines Glaubens hängt von der überlieferten Version ab. Marias Version war totgeschwiegen worden. Man hatte sie ausgeschlossen, weil sie sich weigerte, den Mann, der im Garten vor dem Grab erschien, als Christus zu erkennen. Denn Maria hatte gewußt, daß die Sendung des Messias ein geplantes, bühnenreifes Ereignis sein sollte, untergraben von Paulus, dem Apostel der Lüge, dem Frauenhasser. Hör auf, dich selbst zu strafen, Tom, hatte Tobie gesagt. Hör auf damit. Doch er konnte Buße tun. Er konnte den Schrein des Feindes zerstören, Katie zuliebe. Usurpator. Lügner. Maria Magdalena war die Wahrheit. Paulus war die Lüge. Der Gläubige vor ihm regte sich. Er wird nicht gehen, dachte Tom. Wieder blickte er auf den Mann, der im Gebet vornübergebeugt saß, und hatte das Gefühl, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Irgend etwas an der Gestalt des Mannes hatte Tom in Alarm versetzt. Er fühlte, wie ihm schlecht wurde, in seinem Magen lastete ein bleiernes Gewicht. Das Gefühl wurde stärker. Die Tür hinter ihm schwang auf, und ein Luftzug wehte herein, ließ die mottenweißen Kerzenflammen einen Augenblick lang wild flackern. Dann fiel die Tür wieder zu. Er hörte, wie jemand die Kirche betrat und sich in eine der Bänke hinter ihm setzte. Als er sich umwandte, sah er die Dinge plötzlich aus einer anderen Perspektive. 316
Er saß nicht mehr im hinteren Teil der Kirche. Nun kauerte er in einer Bank vor dem Altar, in der gleichen Haltung, in der er zuvor den einsamen Gläubigen gesehen hatte. Als er über die Schulter in den hinteren Teil der Kirche spähte, sah er, daß die Gestalt, die gerade eingetreten war, seinen Platz eingenommen hatte. Er preßte die Plastikflaschen gegen die Brust. Er konnte die Gesichtszüge des schattenhaften Neuankömmlings nicht erkennen, der nun in der Bank kniete. Wieder blickte er zum Altar. Die Kirche begann zu schwitzen. Die Altartücher, die Gipsheiligen, das goldene Kreuz, alles vergoß klebrige, widerliche Tränen. Die bleierne Kugel in seinem Magen breitete sich aus. Tom wischte sich mit dem Handrücken die Augen. Wieder veränderte sich die Perspektive. Ein Lidschlag versetzte ihn zurück in die Bank im hinteren Teil der Kirche, von wo aus er wieder den einsamen Gläubigen am Altar betrachtete. Er erhob sich und ging zum Altar, näherte sich langsam der gebeugten Gestalt. Zuerst ging er mit ausholenden Schritten, doch als er näher kam, verlangsamte er seine Schritte. Ein metallischer Geschmack erfüllte seinen Mund, als er hinter der Gestalt hielt. In seinen Ohren ertönte ein Klingeln. Er schwankte unter einem plötzlichen Schwindel. Unter der Bank sah er etwas Dickes, Schlängelndes, mit einem öligen Glanz. Es blitzte dunkel in den Schatten. Faul, schlangengleich peitschte es den Boden. Tom schrak zurück. Wieder bewegte sich das Ding, rollte sich zu seiner vollen Länge aus, dann wieder zusammen. Nun konnte er erkennen, daß es keine Schlange war. Das Ding ringelte sich durch die Rücklehne der Bank und war am Rückgrat mit dem Körper des Gläubigen verbunden. Ein Schwanz. »Der Dschinn«, stieß Tom hervor. Er kämpfte gegen das Gefühl des Brechreizes, das ihm in die Kehle stieg. Da vernahm er einen Laut hinter sich. Rasch blickte er sich um. Am Eingang der Kirche stand nun eine andere Gestalt an der Stelle, wo Sekunden zuvor er selbst 317
gewesen war. Er blickte wieder auf die Kreatur in der Kirchenbank. Sie war verschwunden. Irgendwie hatten sie wieder die Positionen vertauscht. Nun näherte sich ihm die Gestalt aus dem hinteren Teil der Kirche, und er konnte deutlich den schwarzen Schwanz erkennen, der über den Teppich in der Mitte des Kirchenschiffs peitschte. Der nahende Dämon trug etwas an die Brust gedrückt. Es waren zwei Plastikflaschen mit einer gelben Flüssigkeit. Das Geschöpf im Kirchenschiff rückte näher, fing an zu laufen. Als er zurückschrak, veränderte sich die Perspektive aufs neue: Nun verfolgte ihn der Dschinn vom Altar aus. Jedesmal, wenn Tom die Veränderung der Perspektive wahrnahm und sie zu unterdrücken suchte, veränderte sich sein Standpunkt, bis er schließlich von beiden Seiten gleichzeitig bedrängt wurde. Er prallte mit einem Dschinn zusammen, der sein eigenes Gesicht besaß. Der doppelte Dämon sprang ihn an, fällte ihn nieder. Im Augenblick des Aufpralls wurde jeder Laut erstickt. Die Kerzenflammen erloschen, ohne ausgeblasen worden zu sein. Jede Flamme war wie eine winzige weiße Blume, die ihren Schein ausdehnte, bis sich die einzelnen weißen Kreise zu einer Wand aus blendendem Licht vereinten. Hinter der Wand aus Licht ertönte ein ferner Schrei, der allmählich lauter wurde, sich zu einer erschreckenden Höhe steigerte … Zuerst zersplitterte der Laut die Wand aus weißem Licht mit haarfeinen Rissen, dann durchbrach er sie, so daß die Zeit durch den Riß hereinströmen konnte und die Kerzen wieder zu brennen begannen. Tom erkannte, daß der Schrei seiner eigenen Kehle entströmte. Die Benzinflaschen entglitten ihm und rollten auf den Boden. Er taumelte in ein schmiedeeisernes Gestell, auf das ein Dutzend brennender Kerzen gesteckt war. Das Gestell stürzte auf die beiden Plastikflaschen mit dem Benzin. Tom stand vor der Kirche, hielt sich die Kehle, schnappte nach Luft. Niemand war zu sehen. Katie war verschwunden. 318
»Du warst es, Katie«, sprach Tom in die dichter werdende Dunkelheit. »Die ganze Zeit nur du.« Schreie hallten vom Damaskustor. Tom vernahm Schüsse, einen, zwei. Aus der offenen Kirchentür schlängelte sich Rauch ins Freie. Er strauchelte die Stufen vor der Kirche hinab, stolperte und kam wieder auf die Füße. Da war niemand, der die Feuersbrunst in der Kirche bemerkt hätte. Tom rannte zu dem Spektakel am Damaskustor. Als Sharon, Ahmed und Tobie über die Ha Nevi’im Road zum Damaskustor gelangten, zeichnete sich der Aufstand bereits ab. Ein Haufen Demonstranten wurde von einer kleinen Einheit Soldaten unter den Kreuzfahrerbogen des Tores zurückgedrängt. Sie zwangen die Menge zurück in das Nadelöhr des Betonwalls, der den trockenen Graben überspannte. Doch mehr und mehr Araber erschienen unter den Zinnen der Stadtmauer. Die schwitzenden Gesichter in der Menge wurden von den Lichterketten erhellt, mit denen die Zinnen behängt waren, und die jungen Araber, die hinter der Menge erschienen waren, drängten Ahmed, Tobie und Sharon zum Torbogen hin. »Das ist schlimm«, sagte Ahmed. »Wirklich schlimm.« »Da brennt es«, meinte Tobie und wies auf die Rauchschwaden, die von der Kirche des Heiligen Paulus aufstiegen. »Sie haben die Kirche in Brand gesetzt.« Sie lauschten den umherschwirrenden Gerüchten: Eine Demonstration von Hamas-Anhängern in Ostjerusalem hatte mit dem Tod eines Soldaten geendet. Die Soldaten hatten zurückgeschossen und ein junges Mädchen getötet. Die Leute waren sehr wütend und rempelten die israelischen Wehrpflichtigen, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten, um das Tor zu halten. »Laßt uns hier abhauen«, riet Tobie. »Da!« rief Sharon freudig und zeigte auf eine Gestalt, die unter dem Kreuzfahrerbogen an die Wand gedrängt stand. »Ist das nicht dein Hemd, Ahmed?« Ahmed nickte mißmutig. Es war Tom; er trug Ahmeds 319
Seidenhemd, und sein Kopf war geschoren. »Wir müssen ihn da rausholen«, sagte Sharon. Aber es gab keinen Weg durch das Gedränge. Gerüchte begannen sich in der Menge auszubreiten: Die Juden hätten die Kirche angezündet, um die Schuld auf die Araber zu schieben. Die Christen hätten als Vergeltung eine Moschee in Brand gesetzt. Ahmed verfiel in Panik. »Ich kann hier nicht bleiben«, zischte er. »Guckt euch nur diese Menschen an. Jeder fünfte ist ein Dschinn!« Tobie nahm seine Hand. »Bleib dicht bei uns.« »Ich fürchte mich vor der Nacht«, sagte Ahmed. »Ich auch«, gab Tobie zurück. »Ich auch.« Plötzlich brach der Polizeikordon auf, und ein Aufschrei war zu hören, als sich die Menge ihren Weg bahnte. Menschen fielen unter dem Ansturm auf die Knie. Zwei Männer sprangen in den trockenen Graben, um dem Gedränge zu entkommen. Männer kämpften, um die freizubekommen, die unter die Füße der Menge geraten waren. Hinter ihnen tauchten weitere Araber auf und drängten sie in das Gewühl. Es war heiß in der Menge; Spannung und aufgestaute Gewalt hingen über ihr wie Rauch aus einem brennenden Reifen. Von oben war das Getrampel von Stiefeln zu hören, als eine neue Einheit Soldaten ihre Posten auf der Mauer einnahm und durch die Zinnen Maschinengewehre auf die tobende Menge richtete. Sharon packte Tobie am Arm, die immer noch Ahmed an der Hand hielt. Sie zerrte sie vorwärts. »Kommt schon.« Sie folgten der Menschenflut durch das Tor. Die erste Reihe der Polizisten hatte sich in die Stadt zurückgezogen und drängte in den Sukh, die Demonstranten folgten und sangen, riefen den Namen Gottes, stießen die Fäuste gen Himmel und schrien Kampfparolen. Die drei wurden durch das Tor in das Rechteck innerhalb der alten Mauern gespült. »Gott ist groß!« schrie ein junger Araber Tobie ins Gesicht. »Nicht an einem Tag wie heute!« schrie Tobie zurück. 320
Ahmed hielt sich den Kopf. »Da!« rief Sharon wieder; sie hatte gesehen, wie Tom um eine Ecke gedrängt wurde, aus dem Sukh hinaus. »Er hat’s geschafft. Kommt mit.« Doch nun kam eine Kohorte vom Herodestor anmarschiert; und man brüllte sie an, zurückzugehen. Sie drückten sich gegen die Wand, während die Soldaten vorbeidrängten und die Menge wieder unter den Bogen des Damaskustores trieben. Sharon riß sich von den anderen los und rannte zu der Stelle, wo sie Tom gesehen hatte. Tobie und Ahmed folgten ihr. Tom hatte Angst. Er hatte sich der Menge im Nadelöhr des Tores angeschlossen, um sich zu verstecken, um die brennende Kirche zu fliehen. Er wurde in die Altstadt gedrängt, als die Menge den Polizeikordon durchbrochen hatte. Und während er im heißen Gesang der Aufgebrachten dahintrieb, hatte er in den dunklen schwitzenden Gesichtern erkannt, daß jeder fünfte oder sechste ein scheußlich verkappter Dschinn war, der die Menschen zur Gewalt trieb und aufgeregt mit seinem glänzenden grauschwarzen Schwanz schlug. Die Dschinn, so hatte er festgestellt, konnten ihre Schwänze nach Belieben auftauchen oder verschwinden lassen; sie zogen sie absichtlich ein, wenn sie sich erkannt fühlten. Katie, wo bist du? Ich brauche dich. Katie. Kelly. Maria. Sharon. Er war verwirrt. Er kam sich vor wie ein treibender Korken auf dem Fluß und wußte nicht, was er in dieser aggressiven Menge zu suchen hatte. Er entsann sich, mit Benzin bewaffnet in die Kirche gegangen zu sein, wußte aber nicht mehr, was dort geschehen war. Er erinnerte sich, zum Damaskustor gerannt zu sein. Er wußte nur, daß er von hier verschwinden mußte. Zu Sharon flüchten. Sie würde ihm helfen. Vor ihm auf der Straße wurde eine Phalanx von Menschen 321
zusammengetrieben, aus dem Sukh herausgejagt. Plötzlich fingen alle an zu rennen. Um ihnen zu entkommen, flüchtete er sich in den Schutz einer engen Gasse. Der Ort war ihm vertraut; er war schon einmal hier gewesen. Plötzliche Furcht ergriff ihn. Da war er wieder, dieser Geruch nach Balsam, die Erinnerung an einen Duft, eine Mischung aus Moschus und Jasmin. Dies war der Ort, an dem er der Maria Magdalena zum ersten Mal begegnet war, an seinem ersten Tag in Jerusalem. Der Ort, an dem er die verbrannte Karte gefunden hatte. Er spürte, daß sie hinter ihm war, darauf wartend, daß er sich umdrehte. Er hatte Angst, daß er dann nicht die schöne Maria sehen würde – nicht die junge, anziehende Magdalena, sondern ein aussätziges Weib, von der Zeit entstellt und mit einem Antlitz so leblos wie das Tote Meer. Aber als er sich umdrehte, war nichts zu sehen. Kein Mensch – keine Frau, kein Dschinn, nichts. Sie war verschwunden. Irgendwie wußte er, daß sie ausgetrieben worden war und wie Katie für immer verschwunden bleiben würde. Er hatte keine Zeit, sich zu wundern, denn nun erschienen nach atemloser Flucht zwei junge Araber, die sich ihre Palästinenserschals vor die Gesichter gebunden hatten. Sie rannten in die Gasse und hielten erschrocken inne, als sie Tom sahen. Als sie sich von ihrem Schreck erholt hatten, kletterten sie über die Mauer am Ende der Gasse. Der erste schwang seine Beine über die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Der zweite erfolgte, doch als er über den Mauerrand rutschte, fiel etwas Schweres klirrend auf die Steine zu Toms Füßen. Verzweifelt blickte der Junge zurück. Dann beschloß er, es liegenzulassen. Tom blickte zu Boden. Es war ein Leichtgewehr mit kurzem Lauf. Er hob es auf.
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Ahmed und Tobie folgten Sharon, die vor den Soldaten und der Menge im Tor davonrannte. Sie lief durch eine Straße, in der die Schreie aufgeregter, wild durcheinander rennender Jugendlicher erklangen, die immer noch nach einem Ventil für ihre Wut suchten. Der größte Teil der Menge hatte sich in den Verzweigungen des Sukh verlaufen und wurde nun von dort in die Seitengassen abgedrängt. Immer näher klangen ihre Schreie und Gesänge. Es schien, als hätten sie Tom verloren. Ahmed hielt die Suche für hoffnungslos. Er hatte Tobies Hand fahren lassen, als die ältere Frau unbedingt Sharon folgen wollte; dann war er ihnen widerwillig hinterhergelaufen. Er fürchtete sich in der Menge. Er wollte nach Hause. Überall witterte er Gefahr. Zu oft hatte er in jüngeren Jahren solche Tumulte gesehen oder sogar mit entflammt; er hatte ein Gespür dafür entwickelt, wenn Schlimmes bevorstand. Er wußte, wie die Dschinn eine Menschenmenge aufstacheln konnten, damit sie sich ein Opfer suchte. Und er wußte, wie sehr die Dschinn die Nacht liebten. Er eilte hinter Sharon und Tobie her, die ihm zwanzig Meter voraus waren. Da sah er zwei vermummte Jugendliche aus dem Sukh hervorbrechen und in eine schmale Gasse flüchten. Er trat in die Gasse und sah ihnen nach und war erstaunt, als sie plötzlich anhielten. Da war der Engländer! Tom stand am Ende der Gasse mit dem Rücken zur Wand und blickte verwirrt und verängstigt. Die Jungen beachteten ihn nicht und kletterten über die Mauer, wobei der eine etwas verlor. Rufe und Getrampel hinter ihm veranlaßten Ahmed, sich umzublicken; er gewahrte zwei israelische Soldaten, die aus dem Gedränge des Sukh hervorbrachen und die Jungen verfolgten. Als er wieder zur Mauer sah, hob Tom gerade das Gewehr auf, das ihm zu Füßen gefallen war. »Nein, Tom! Nicht!« Er stürmte die Gasse entlang und entriß dem verblüfften Engländer das Gewehr. »Wirf es weg, du Narr!« Er hob den Arm, um das Gewehr über die Mauer zu 323
werfen. Er schaffte es nicht mehr. Einer der Soldaten, die nun am Eingang der Gasse angelangt waren, gab den Befehl, dann folgte der Schuß. Die Kugel traf Ahmed in die Taille. Zwei weitere Kugeln des anderen Soldaten, der kniend zielte und schoß, durchschlugen seine Brust und seine Kehle. Ahmed taumelte gegen die Mauer. Sein warnender Ruf hatte Tobie und Sharon zum Eingang der Gasse gebracht. Tobie schrie einen der Soldaten auf hebräisch an und trommelte auf seinen Arm. Sharon hinderte den anderen, zu Ahmeds zerfetztem Körper hinzulaufen. Schon drang das Blut in seine Kleider. Sie hob seinen Kopf hoch. Er war bereits tot, aber sie war zu erschrocken, um es zu erkennen. Sein Kopf fiel matt zurück, und Blut und Speichel tropften aus seinem Mundwinkel. Sharon küßte Ahmeds blutigen Mund. Sie wiegte seinen Kopf in ihrem Schoß und blickte zu Tom hoch, um eine Hilfe oder eine Erklärung flehend, die er ihr nicht geben konnte. Mit dem Rücken zur Wand konnte Tom nur in sprachlosem Entsetzen auf sie herunterstarren. Er blickte von Sharons fragenden Augen zu dem Blut auf den Lippen des Arabers. Da sah er deutlich, wie eine dicke Biene aus Ahmeds Mund krabbelte, als sei sie aus einem Zauber des Blutes entstanden. Die Biene saß einen Augenblick ruhig da, dann erhob sie sich in die Luft und mühte sich in quälenden Windungen nach oben, in den dufterfüllten Nachthimmel über Jerusalem. Tom blickte ihr nach.
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55 Der Himmel über Jerusalem war von reinstem Blau. Paul Redhead, der Agent der Anglikaner, nahm seine Sonnenbrille ab und erhob sich, als Tom auf seinen Tisch im Café zuschritt. Nervös streckte er die Hand aus – ein wenig hastig, so schien es, da er sie eine Weile in der Luft halten mußte, bevor Tom nahe genug gekommen war, sie zu schütteln. Tom setzte sich, und Redhead rief nach dem Kellner. Er hatte auf Toms Anruf reagiert, und sie hatten verabredet, sich im Café Akrai in der Fußgängerzone der Neustadt zu treffen. Tom bestellte sich einen Kaffee. »Ich bin froh, daß Sie mich angerufen haben«, sagte Redhead und setzte die Brille wieder auf. Er sah aus, als sei ihm in seinem schwarzen Anzug viel zu warm. Er schob zwei Finger zwischen Kragen und Hals und lehnte sich vertraulich nach vorne. »Wußten Sie, daß das hauptsächlich ein Café für Schwule ist?« »Ach nein?« meinte Tom unschuldig. »Kaum zu glauben!« Es war Sharons Vorschlag gewesen. Sie sagte, wenn Tom den Anglikanern unbedingt etwas geben müsse, so solle es im Café Akrai geschehen. Seit Ahmeds Tod waren zwei Wochen vergangen. Sie gab sich alle Mühe, ihren Sinn für Humor wiederzugewinnen. »Ich reise heute nachmittag ab«, sagte Tom. »Ich konnte nicht fahren, ohne Ihnen dies zu geben.« Er legte einen großen braunen Umschlag auf den Tisch. »Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Das ist nur eine Kopie. Ich will nichts dafür haben.« Redhead blickte den Umschlag an, ohne ihn zu berühren. »Die Magdalenen-Schriftrolle? Was ist denn mit dem Original passiert?« 325
»Es ist wie mit den Schlüsseln zum Heiligen Grab. Ich kann sie nicht den Christen anvertrauen und nicht den Juden. Also habe ich sie einem arabischen Gelehrten gegeben. Er ist ein Freund des Mannes, der sie für mich entziffert hat.« »Stimmt es, daß der Mann erschossen wurde?« »Ja.« Ein Kellner brachte Toms Kaffee. »Der Gelehrte, der sie jetzt hat, versprach mir, sie zu veröffentlichen. Ich beschloß, es sei nur fair, wenn ich Ihnen dann eine Kopie gäbe. Auch dem Israel-Museum habe ich eine Kopie gegeben. Ich bin sicher, Sie alle werden einen anderen Weg finden, wie die Rolle zu verstehen ist.« »Ich nehme an, wir sollten Ihnen dankbar sein. Obwohl wir schon gern das Original gehabt hätten.« »Wie ich schon sagte, man kann Ihnen die Geschichte nicht allein anvertrauen.« Nachdenklich blickte ihn Redhead hinter seinen dunklen Gläsern an. Das Sonnenlicht blitzte auf ihnen wie Sterne. »Seien Sie nicht so hart mit uns. Diese Stadt kann die Leute arg in ihren Bann ziehen. Man liest vielleicht ein heiliges Buch; und am nächsten Tag schlägt man es wieder auf und könnte schwören, daß jemand die Worte verändert hat. So eine Stadt ist das.« »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.« Redhead zog seine Brieftasche hervor und legte einen Schein unter seine Untertasse. Dann stand er auf und bot Tom die Hand. »Ich muß gehen. Ich muß Ihnen wenigstens für die Kopie danken. Kommen Sie gut nach Hause.« »Danke.« »Fast hätte ich’s vergessen. Ich habe hier etwas für Sie.« Er wuchtete seine lederne Aktentasche auf den Tisch, klappte die Schlösser auf und holte etwas heraus. Er reichte es Tom. Es war eine große Briefmarke mit perforiertem, vergoldetem Rand von der Art, wie sie Kinder in der Sonntagsschule sammeln. Darauf war eine makabre und lächerliche Szene dargestellt – 326
eine Unzahl Skelette, die aus der Erde und ihren zersprengten Särgen aufstiegen und ihre Knochen in einem ekstatischen Tanz schüttelten. »Hey«, meinte Tom. »Der Tag der Auferstehung. Jetzt habe ich den Satz komplett.« Redhead lächelte kurz, nahm dann seine Aktentasche und schritt Richtung Altstadt davon. Tom sah ihm nach: ein schwitzender Mann in einem unpassenden, schwarzen englischen Anzug unter der heißen Sonne des Mittleren Ostens. Er ließ die Marke in die Reste seines Kaffees fallen. Nach einer Weile verließ er das Café und schlenderte langsam auf die Altstadt zu. Sharon wollte ihn vor der Stadtmauer treffen und ihn zum Flughafen fahren. Nach der Schießerei hatte Tom den Beginn seiner Genesung gespürt; er sah keine Dschinn mehr, er bildete sich keine Dämonen mehr ein. Aber er war immer noch jeden Tag zu Tobie ins Zentrum gegangen, denn wieder hatte er sich schuldig am Tod eines Menschen gefühlt. Weder Sharon noch Tobie machten ihm Vorwürfe, und da sie wußten, wie er unter der Last seines Kreuzes wankte, hatten sie alles Erdenkliche getan, ihm diese Last zu erleichtern. Aber er wollte heim, zurück nach England. Er hatte Sharon gefragt, ob sie mitkommen wolle. Er hatte sie sogar gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, aber dazu war sie zu klug und lehnte beide Vorschläge ab. »Du hast zu lange Zeit mit dem Gefühl verbracht, daß du Katie nicht geliebt hast. Ich will nicht, daß du das noch mal durchmachst.« Immerhin hatte sie versprochen, ihn vor Weihnachten zu besuchen. Er schritt die Shekhem entlang, den Hügel hinab, von dem aus er den ersten Blick auf Jerusalem geworfen hatte, vom Rücksitz eines rasenden Taxis. Am Fuß des Hügels konnte er Sharons Wagen erkennen. Sie wartete auf ihn, lehnte mit gekreuzten Armen an der Motorhaube. Als sie ihn oben auf dem Hügel sah, winkte sie. Bevor er zu ihr ging, hielt er inne, 327
um einen letzten Blick auf die Altstadt zu werfen. Die goldene Kuppel des Felsendoms stach aus der Ansammlung pfefferweißer Gebäude hervor, die sich wie ein Aufschrei dem reinen Himmel entgegenreckten. Der Duft warmen, würzigen Staubes kitzelte in seiner Nase, und einen Augenblick lang fühlte er einen heiligen Schrecken bei dem Gedanken an das, was er nun hinter sich ließ. Dies war keine Stadt; es war vielmehr ein lebendes Wesen, aus Blut und Lehm und Staub und Träumen geformt. Einen Augenblick lang war er vor der schrecklichen Schönheit dieser Stadt wie erstarrt. Jerusalem, der Wachtraum, der Alptraum, die Stadt der Dschinn, der Sitz der Wahrheit inmitten der Lüge, ein Stöpsel auf den drohenden Wassern, eine Quelle des Blutes und der Gewalt, eine Phantasie und ein Hologramm, Mittelpunkt der Welt, Ort des Schlachtens und der Erlösung, Versprechen des Friedens. Die lebendige Stadt war ein Sinnbild für die Quelle des ganzen Unglücks, für das menschliche Herz mit seiner endlosen Fähigkeit zu Selbsttäuschung und Lüge; doch eines Tages mochte es auch die Rettung des Menschen sein. Der Klang von Sharons Hupe riß ihn aus seinen Träumen. Er hob den Blick zum Ölberg und zu den Umrissen der Hochhäuser jenseits der Altstadt. Dann ging er den Hügel hinunter zu Sharon, die auf ihn wartete. ENDE