ASHES DIE ENDZEIT-SAGA VON WILLIAM W. JOHNSTONE
Band 2
Rebellenkampf von William W. Johnstone
Aus dem Amerikanischen...
25 downloads
292 Views
914KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ASHES DIE ENDZEIT-SAGA VON WILLIAM W. JOHNSTONE
Band 2
Rebellenkampf von William W. Johnstone
Aus dem Amerikanischen von Kim Kerry
Zaubermond-Verlag Schwelm
1. Auflage Originaltitel: Out of the Ashes © 1983 by William W. Johnstone © dieser Ausgabe 2001 by Zaubermond-Verlag und Festa-Verlag www.zaubermond.de / www.Festa-Verlag.de
Umschlaggestaltung: Günther Nawrath Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Druck und Bindung: Wiener Verlag, A-2325 Himberg Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-931407-70-5
Die Welt steht am Abgrund. Der dritte Weltkrieg ist Realität. Milliarden Menschen sterben. Der ExSoldat und Romanautor Ben Raines überlebt wie durch ein Wunder den nuklear-biologischen Holocaust. Er streift durch ein verwüstetes, Land. Gegen seinen Willen wird Raines zum Kopf einer Gruppe von Menschen, die eine neue Gesellschaft ins Leben rufen. Eine Gemeinschaft, die unbefangen von den Fehlern der Vergangenheit in Freiheit und Selbstverantwortung leben will. Doch der wahnsinnige Präsident der ›neuen USA‹ duldet keine Selbstbestimmung und rüstet zum erbitterten Kampf gegen Ben Raines und seine Rebellen. William W. Johnstones kontroverse PostDoomsday-Saga mit ihrer Mischung aus Science Fiction, Action und Sozialkritik fand ungewöhnlich viele Fans: Allein in den USA wurden über 10 Millionen Exemplare verkauft.
EINS
Ein paar Meilen südlich von Fort Valley war Ben von der Interstate abgefahren und hielt sich jetzt in Richtung Osten. »Einfach nur ein bisschen umherstreifen«, sagte er zu April. »Wir müssen uns ja an keinen Zeitplan halten.« Bei einem am Highway gelegenen Städtchen fuhr Ben ab, denn er hatte eine Gruppe älterer Menschen gesehen, die sich um den Vorbau einer Gemischtwarenhandlung versammelt hatten. Als der Lastwagen vor ihnen anhielt, rannten sie wie in Panik davon. »Warum haben sie Angst vor uns?«, fragte April. »Es gibt einen bestimmten Typ von Abschaum auf dieser Welt, der Jagd auf die Schwachen macht. Ich glaube, diese Leute waren Opfer von solchem Schleim. Lass uns mal nachsehen.« Als Ben die Fahrertür des Lastwagens öffnete, fand er sich Auge in Auge mit der Mündung einer doppelläufigen Schrotflinte wieder. Es war, dachte er, als ob er in einen doppelten Abzugskanal schaue. Er hob den Blick, bis er dem des Mannes begegnete, der auf dem Vorbau hinter der Schrotflinte stand. »Ich habe nicht angehalten, um Ihnen irgendwelchen Schaden zuzufügen«, sagte Ben. »Ich bin ein Autor, der versucht, alles aufzuzeichnen, was passiert ist. Wenn Sie in Schwierigkeiten stecken, kann ich vielleicht helfen?« »Nimm die Flinte runter, Homer«, sagte eine Frauenstimme. »Er spricht, als sei er einigermaßen gebildet.«
Die Flinte wurde heruntergenommen, bis sie auf Bens Beine zielte. »Eine komische Bewegung, Söhnchen«, sagte Homer, »und ich verringere deine Reichweite beträchtlich.« Ben zwang sich zu einem Grinsen und sagte zu Juno, er solle bitte aufhören zu knurren. Juno leckte ihm ins Ohr. »Ich weiß, was ein Kaliber 12 definitiv anstellen kann, Sir.« Ben wandte seinen Blick zur Tür des Ladens. Eine ältere Frau stand dort, die ihn ansah. Ben nickte. »Ma’am.« Die Frau fragte: »Welche Hochschule haben Sie besucht, junger Mann?« »Die University of Illinois, Ma’am. Für ungefähr zwanzig Minuten. Ich mochte das College nicht.« Sie lachte. »Was für Bücher haben Sie geschrieben?« Ben fing an, Titel und die verschiedenen Namen, unter denen er geschrieben hatte, herunterzurasseln. Sie winkte ihm, still zu sein. »Das reicht. Einige dieser Bücher waren reinste Pornografie, Ben Raines. Dreck. Die Sexakte waren sehr ausführlich. Wir sind alle erwachsen; wir wissen, wie der Akt vor sich geht.« Ben lachte. »Aber ich wette, Sie haben jedes Wort gelesen, oder, Ma’am?« Sie grinste und kam von dem Vorbau herunter. »Ich habe fünfundfünfzig Jahre lang Englisch unterrichtet, Mr. Raines. Sie müssen lernen, die Adverbien richtig zu positionieren.« »Und vergessen Sie nicht die zusammengesetzten Verben.« »Ja«, sagte sie, indem sie sich auf einem Stuhl niederließ. »Die auch.« Sie zeigte auf April, die im Lastwagen saß. »Sind Sie und diese junge Dame verheiratet, Mr. Raines, oder leben Sie in Sünde?« »Nein, Ma’am, wir sind nicht verheiratet. Und was das InSünde-Leben betrifft, dazu kann ich nichts sagen. Sie glaubt nicht an Gott.«
»Ich bin Nola Browning, junger Mann. Miss Nola Browning, danke schön. Wir alle kommen aus einigen kleinen Gemeinden dieser Gegend und haben uns hier zusammengefunden. Ich werde Sie allen später vorstellen. Wenn man das zarte Alter der jungen Dame bedenkt – sie wird sicherlich noch irgendwann zu Verstand kommen, was Gott betrifft und was Ihm gehört. Falls nicht…« Sie zuckte die Achseln. »Ihr Verlust, nicht seiner. Was unsere Probleme betrifft… nun… es scheint, wir haben hier eine Bande Rowdys und Schläger, die durchs Land streifen und Jagd auf die älteren Leute machen… das heißt, die, die nach dem Willen Gottes überlebt haben.« »Sie waren hier?«, fragte Ben. »Und sind Sie belästigt worden?« Ms. Browning lachte freudlos. »Belästigt, Sir? O ja, das könnte man so sagen. Sie gingen auf uns los… was, Mr. Jacobs? Vor drei Monaten? Ja, etwas in der Art. Sie richteten die Männer übel zu – sie demütigten sie, ich möchte nicht ins Detail gehen. Dann gingen sie wieder. Wir hofften, sie würden nicht zurückkommen. Aber natürlich kamen sie wieder. Das zweite Mal holten sie sich alle Waffen aus der Stadt. Mr. Jacobs versteckte seine Flinte in einem Graben. Sie bekamen das nicht mit. Dann setzten sie alle unsere Fahrzeuge außer Gefecht, so dass wir hier gestrandet sind. Seitdem sind sie noch einige Male zurückgekommen. Zuletzt in der vergangenen Woche. Mrs. Ida Sikes ist die Jüngste von uns allen, sie ist zweiundsechzig. Beim ersten Mal haben sie sich damit abgewechselt, sie zu vergewaltigen. Beim zweiten Überfall zerrten sie Mrs. Johnson aus ihrem Haus und vergewaltigten sie. Eine Frau pro Tour. Mrs. Carson wird die Nächste sein. Sie ist fünfundsechzig, aber immer noch eine sehr attraktive Frau… Nun, sie sind ziemlich pervers, milde ausgedrückt. Also, können Sie uns helfen? Ja? Aber Sie sind
alleine, von denen gibt es jedoch mindestens fünfzehn. Was können Sie schon tun?« Ben lächelte, und Ms. Browning stellte fest, dass sein Lächeln dem eines Menschen fressenden Tigers glich, der gerade in diesem Moment sein Abendessen erspäht hat. »Oh, ich glaube, ich kann mir etwas Passendes für sie ausdenken, Ms. Browning. Ich habe eine Menge Actionbücher geschrieben.« »Ja«, erwiderte die Lehrerin. »Und korrigieren Sie mich, falls ich Unrecht habe, aber habe ich nicht in irgendeiner Kolumne gelesen, dass Sie einmal Söldner waren?« »Ich bevorzuge die Formulierung ›Soldat des Schicksals‹, Ma’am.« »Nun ja… Was Ihre Bücher betrifft… Ich habe Ihre Actiongeschichten sehr genossen, besonders, wenn Ihr Held die Welt von den Gewaltverbrechern befreit hat.« »Nun, wir werden sehen, ob ich nicht einen meiner Helden zum Leben erwecken kann, so dass er uns hilfreich zur Seite steht.« »Ich kann mir vorstellen, dass Sie das können, Mr. Raines. Und werden. Auf mich wirken Sie überhaupt nicht wie ein Weichling.«
»Ben?«, fragte April. »Hmm?« Sie lagen im Bett und warteten auf den Schlaf. »Was für eine Art… Abschaum würde so etwas tun wie das, was diesen Menschen hier passiert ist? Ich meine… ich verstehe es einfach nicht.« Ben lachte leise. »Was ist los, kleine Linke? Findest du etwa, dass die reale Welt ein wenig hart ist? Ich wette, als du auf
dem College warst, hast du immer die richtigen Gruppen unterstützt – linke, natürlich, oder nicht?« Sie versteifte sich neben ihm. »Ich wette, du hast dich auf die Verteidigung jedes lausigen Arschlochs gestürzt, das der Staat auf dem elektrischen Stuhl braten lassen wollte, oder was sie in Florida mit denen tun… getan haben.« »Reite doch nicht darauf herum.« »Ich wollte es nur zur Sprache bringen, das ist alles. Und jetzt überlege mal, ob ich Recht hatte mit meiner Einschätzung. Ich hatte Recht. Also, Ms. Browning – und sie ist eine zähe alte Dame – sagte, sie würden wahrscheinlich morgen zurückkommen. Dann kannst du dir ja ansehen, wie solcher Abschaum aussieht, der so etwas tut. Nachdem ich die Kerle getötet habe.« »Ben Raines: die personifizierte ausgleichende Gerechtigkeit, wie?« »Ich tue nur, was die Gerichtshöfe schon vor langer Zeit hätten tun sollen. Wir hätten niemals mit den öffentlichen Hinrichtungen aufhören dürfen.« Sie erschauerte neben ihm. »Du machst mir Angst, wenn du so redest, Ben. Du klingst, als ob du das genießen würdest… das zu tun.« »Das tue ich.« Ben legte die leichte M-10 weg und lud die Thompson. Er versteckte sie zusammen mit einer Patronentasche voller Ladestreifen und einigen Granaten hinter Futtersäcken, die er in einer Gasse zwischen der Gemischtwarenhandlung und einem verlassenen Laden aufgestapelt hatte. Er legte Patronen in jede Kammer der 45er ein und schnallte beide fest. Dann setzte er sich mit einer Granate in der Hand auf den Vorbau des Ladens und wartete.
Homer Jacobs wachte über die Frauen im Kellergeschoss der örtlichen baptistischen Kirche. Ben hatte ihm eine automatische Schrotflinte gegeben, die er aus einer Polizeistation in Florida mitgenommen hatte: eine Straßenkampfwaffe mit abgesägtem Lauf, geladen mit acht Schuss riesigen Magnums. Er hörte sie lange, bevor er sie sah. Sie kamen in ausgefallenen Wohnmobilen mit laut röhrenden Auspufftöpfen. Rock’n’Roll-Musik dröhnte aus überstrapazierten Lautsprechern – es war ein ärgerlicher Verstoß gegen die Ruhe und Schönheit des frühen Frühlings. Aber, sinnierte Ben, alles, was diese Blödmänner konnten, war Ärger zu erregen. Alles passte zu dem, was Homer, Nola und die anderen ihm erzählt hatten, bis hin zu den aufgemotzten Rädern an den Wohnmobilen. Ben erhob sich und trat von dem Vorbau auf die Straße. Er wollte, dass sie zu ihm kamen – auch wenn er damit ein großes Risiko auf sich nahm. Wenn es bloß drei oder vier gewesen wären, hätte er das 7mm-Gewehr genommen und sie einzeln abgeschossen. Aber da es so viele waren, konnte er nicht riskieren, dass auch nur einer entkam, denn dieser eine würde wahrscheinlich weiteren Abschaum um sich versammeln und zurückkommen, und die Rache an den älteren Leuten würde fürchterlich ausfallen. Nein, er musste all diese Arschlöcher töten. Das Wohnmobil an der Spitze kam lärmend mit quietschenden Reifen zum Stehen. Es waren insgesamt vier Wohnmobile. Ben wusste nicht, dass Ms. Browning sich aus der Kirche gestohlen hatte und sich ihren Weg durch die Gasse in die Gemischtwarenhandlung bahnte. Sie saß hinter dem vorderen Ladentisch und beobachtete Ben. Sie war eine gute Christin
und glaubte fest daran, denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen konnten. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Menschen oder ein Tier schlecht behandelt und würde sich eher in die Zunge beißen, als zu einer zivilisierten Person unhöflich zu sein. Als die Aufhebung der Rassenschranken ihre Schule erreicht hatte, damals in den Sechzigern, war sie nicht in Pension gegangen, wie es so viele ihrer Freunde getan hatten. Stattdessen hatte Nola weiter unterrichtet – an den öffentlichen Schulen. Als Kind war ihr beigebracht worden, ›Nigras‹ für eine Art zu halten, die im Rang unter ihr stünde – oder ganze einhundertachtzig Grad auf der anderen Seite, je nachdem –, und während einige ihrer Eigenarten ihr fremdartig gegenüber ihrer eigenen Lebensart erschienen, lernte sie auch viele außergewöhnliche Negerkinder kennen, die es sich wirklich wünschten, zu lernen. Ms. Nola Browning schloss daraus – und es war für eine Dame aus dem Süden, einem Mitglied der Daughters of the American Revolution und der Daughters of the Confederacy, ein entsetzliches Ergebnis, zu dem sie gekommen war –, dass wir alle Gottes Kinder sind – zur Hölle mit dem Ku-Klux-Klan und George Wallace. Sie wurde von den Daughters of the Confederacy hinausgeworfen, aber das war für Nola in Ordnung – sie mussten ihr Leben leben und sie ihr eigenes. Jetzt jedoch, an diesem Tag, wünschte und hoffte Ms. Nola Browning mit aller Macht, dass dieser junge Mann – jeder unter sechzig war für sie jung –, der mehr Mut als Verstand besaß, jeden einzelnen dieser stinkenden Bastarde, die ihre Stadt terrorisierten, töten würde. Sie hoffte, Gott würde ihr ihre bösen Gedanken und ihre leichte Ruchlosigkeit vergeben. Sie fühlte, dass er das tun würde.
»Na, was haste vor, Sportskanone?« Der Mistkerl auf der Beifahrerseite grinste Ben höhnisch an. Ben wusste, dass das Einzige, was jemand tun kann, der sich in der Minderheit befindet, angreifen ist. Und genau das tat er. Beim Ton der aufheulenden Auspufftöpfe hatte Ben den Stift der Splittergranate gezogen und hielt die Sicherungslasche nach unten. Er lächelte den Mistkerl an. »Weißt du irgendwas über die Verfassungsrechte?«, fragte Ben. »Yeah, Opa – wir alle haben welche.« »Falsch«, erwiderte Ben, indem er den Sicherungsring losließ. Er fiel klingend zu Boden. »Ihr habt eure gerade verloren.« Er warf die Granate in das Wohnmobil. Bevor die Mistkerle ihre ersten Entsetzensschreie ausstoßen konnten, sprang er in den Schutz der aufgestapelten Futtersäcke. Die Granate zermalmte das Wohnmobil, und Ben wusste, dass vier Arschlöcher für immer weg vom Fenster waren. Als er in den Schutz der Futtersäcke sprang, ließ er eine weitere Granate unter das Vorderteil des dritten Wohnmobils rollen. Eine hochexplosive Granate. Die Granate hob die Vorderräder des Wohnmobils in die Luft und setzte den Wagen der Mistkerle in Brand. Während er, auf dem Bauch liegend, seitlich aus dem Stapel herausspähte, legte Ben die Thompson an und drückte ab, wobei er sie verbissen zurückhielt und gegen das Aufbäumen der kraftvollen MP ankämpfte. Er durchsiebte die übrig gebliebenen beiden Wohnmobile. Zumindest hat er diese abscheuliche Musik beendet, fand Nola. Ben leerte die Trommel mit den sechzig Schuss in die Wohnmobile. Dann zog er die beiden 45er heraus und spannte
deren Hähne. Er wartete in geduckter Haltung, das Gewicht auf einem Knie. »O, Jesus Gott!« Der Schrei kam aus dem hinteren Wohnmobil. »Da ist überall Blut und Scheiße. Alle sin’ tot. Gott, schießen Sie nich’ mehr – bitte!« Ben wartete. »Mir kommen raus. Schießen Sie nich’ mehr.« »Mir«, murmelte Ben. Mehr als einer. Mir! Nola zog eine Grimasse. Ungebildetes Proletenpack. Vergib mir, Herr, aber egal, mit welchem anderen Namen man eine Rose auch bezeichnet, sie ist immer noch eine Rose. »Hände hoch in die Luft strecken!«, brüllte Ben. »Sehe ich irgendwas anderes als Haut in euren Händen, seid ihr tot, Bastarde!« Das hätte er vielleicht etwas eloquenter ausdrücken können, dachte Nola. Aber es war entschlossen ausgesprochen, mit ziemlich viel Überzeugung. Zwei junge Männer, anscheinend unverletzt, stiegen langsam aus dem Wohnmobil. Ihre Gesichter waren bleich vor Schock und Unglauben. Vor nur zwei Minuten lief für sie alles perfekt – Könige in ihrem Territorium. Jetzt war ihr Königreich in rauchende Ruinen verwandelt worden. Und noch schlimmer, sie hatten sich in die Jeans gepinkelt. »Du.« Ben sprach einen der Mistkerle an, einen Mann mit einem Pickelgesicht und etwas unter seiner Nase, von dem Ben annahm, dass es ein Schnurrbart sein sollte. »Gesicht nach unten auf die Straße, und denk nicht mal daran, dich zu bewegen.« Der Mistkerl gehorchte augenblicklich. Der dunkle Fleck vorne an der Jeans des anderen schien noch dunkler zu werden. Die älteren Menschen der Stadt erschienen langsam auf der Straße. Homer mit der Straßenkampfwaffe, ein anderer Mann mit einem Seil. Er knüpfte eine Schlinge.
Der Mistkerl, der noch stand, wurde ohnmächtig. Der Möchtegern-Harte, der auf dem Bauch lag, fing an zu schluchzen und zu schreien: »Das könnt ihr nich’ mit mir machen! Ich hab’ Rechte, Mann.« Ben lächelte, das grimmige Zähnefletschen eines Kriegers. »Das haben andere Leute auch, Arschloch. Verletze ihre, und du verlierst deine.« Er drehte sich zu dem Mann mit dem Seil um. Die Schlinge war fertig. »Machen Sie mit ihnen, was Sie für richtig halten.« Das taten sie. Und dieses Problem war auf Dauer gelöst. Die Menschen der kleinen Stadt weinten, als Ben und April abfuhren. Es waren nicht nur Tränen der Traurigkeit, sondern auch der Erleichterung und Dankbarkeit, denn Ben hatte ihr Leben vom Schrecken befreit. Vor der Abfahrt war Ben in eine Stadt in der Nähe gefahren, hatte Läden und Wohnhäuser durchstöbert und ein kleines Arsenal mitgebracht: Gewehre, Pistolen, Schrotflinten und eine ganze Menge Munition. »Ihr wohnt hier ziemlich abgelegen«, sagte Ben zu ihnen. »Ihr solltet euch darüber nicht allzu viele Gedanken machen. Aber das nächste Mal, wenn eine Bande wie diese hier durchkommt – und es wird ein nächstes Mal geben, verlasst euch drauf – lasst sie nicht die Oberhand gewinnen. Ein oder zwei von euch gehen auf die Straße. Der Rest von euch geht in Deckung und hält die Waffen aus den Fenstern – lasst die Bastarde wissen, dass ihr bewaffnet seid und bereit zu schießen. Und zögert nicht zu feuern. Eure Leben stehen auf dem Spiel. Ich habe euch CB-Funkgeräte und zwei Basisstationen mitgebracht und sie für euch aufgebaut. Ihr habt ein Radio für den Fernempfang, um Nachrichten abzuhören. Mir fällt sonst nichts mehr ein, was ich für euch tun kann. Ich habe euch ein paar neue Autos und ein Wohnmobil besorgt und all die
Medikamente, um die ihr gebeten habt. Ich glaube, das wär’s dann.« Alle älteren Leute wollten ihm zurufen: ›Du könntest bei uns bleiben‹. Aber niemand von ihnen sagte es. Sie wussten, dass er genug getan hatte – mehr, als die meisten getan hätten. Ben schüttelte den Männern die Hände und küsste die Damen auf die Wangen. Dann fuhr er davon. Er blickte nicht zurück.
Als die winzige Stadt nicht länger in Sichtweite war, fragte April: »Was passiert mit ihnen, Ben?« »Einige von ihnen werden diesen Sommer an Herzinfarkten sterben, wenn sie versuchen, Gärten anzulegen. Wahrscheinlich werden einige im Winter durch die Kälte sterben oder durch Feuer. Die Medikamente gehen zu Ende. Und wenn sie sehr viel Pech haben, werden weitere solcher Mistkerle sie hier finden.« »Du bist ein solcher Scheißkerl, Ben Raines. Du hättest auch zu mir sagen können, dass alles in Ordnung sein würde.« »Dann hätte ich gelogen.« »Niemand scheint sich je um die alten Leute Sorgen zu machen. Nicht ihre Kinder, nicht der Staat, insbesondere die Bundesregierung – als wir noch eine hatten, heißt das.« »Natürlich nicht, kleine Linke. Die Kinder gehen fort, weil sie keine Zeit mit den alten Menschen vergeuden wollen. Was für ihren Daddy gut genug war, ist für die heutige moderne Jugend nicht länger gut. Der Staat kann sich nicht um sie kümmern, weil er zu beschäftigt damit ist, Geld auszugeben, um mit den Regeln und Weisungen der Regierung Schritt zu halten. Unsere Zentralregierung war viel zu beschäftigt damit, jedes Jahr Milliarden von Dollar zu verteilen, um die Rechte von Verbrechern zu schützen, Programme für Fonds zu gründen, die von Anfang an überhaupt nicht hätten ins Leben
gerufen werden dürfen. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich darum zu kümmern, dass die Gefängnisse nicht mit Vergewaltigern, Straßenräubern, Mördern, Kinderschändern, Erpressern und anderen solchen zweifelhaften Elementen überfüllt sind, dass sie kostenfreie rechtliche Unterstützung bekamen – auf Kosten des Steuerzahlers, wie ich hinzufügen möchte. Dass ständig ein Komitee in Europa präsent war, um sich gegen die Standardisierung der Köpfe von Schrauben auszusprechen – und das ist kein Witz! – und alle möglichen anderen lohnenden Aufgaben. Zum Teufel, warum hatten sie keine Zeit, um sich Gedanken über einen Haufen gottverdammter alter Menschen zu machen? Verstehst du.« Ben spürte Aprils erbosten Blick auf sich. Sie zischte: »Ihr Konservativen kotzt mich wirklich an, weißt du das? Es ist so leicht, Fehler in sozialen Programmen zu finden, oder?« »Ich dachte, den Älteren zu helfen, wäre ein soziales Programm, April. Ich bin absolut dafür. Oder hast du vergessen, worüber wir diskutiert haben?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und weigerte sich, ihn anzusehen. »Ich wollte dich fragen, was du getan hättest, Ben – aber ich glaube, ich weiß es. Körperlich leistungsfähige Sozialhilfeempfänger wären zur Arbeit gezwungen worden, nicht wahr, Ben?« Er blickte einfach geradeaus, auf den Highway. Lass sie alles loswerden, dachte er. »Frauen, die mehr als zwei uneheliche Kinder geboren hätten, wären sterilisiert worden, richtig? Die Todesstrafe wäre Recht des Landes. Aneinander gekettete Sträflinge… und Arbeitslager und Gefangenenarbeit… Ihr Typen seid so krank!« Wie sollte er ihr sagen, dass sie zu einem gewissen Grad Recht hatte, aber in der Hauptsache doch auf dem Holzweg war? Ben hielt den Mund.
»Verdammt, Ben, rede mit mir! Das ist jetzt sowieso alles müßig, oder?« Er seufzte. »Nein, April, es ist nicht müßig. Überhaupt nicht. Eines Tages… irgendwie werden wir aus diesem Sumpf herauskommen und anfangen, alles wieder neu aufzubauen. So sind die Menschen eben. Und wir werden es schaffen. Ich möchte nur nicht, dass wir all die gleichen Fehler wie zuvor machen.« »Aber du möchtest harte, strenge Gesetze, nicht wahr?« »Ja, dafür bin ich.« »Meinst du nicht, dass Kriminelle irgendwelche Rechte haben, Ben?« »Verdammt wenige. So sicher wie das Amen in der Kirche geben sie ihren Opfern auch keine Rechte, oder?« »Ich werde nie, niemals vergessen, wie diese Jungen da geweint haben, Ben. Und du hast geholfen, sie zu erhängen!« »Es waren keine Jungen, April. Es waren Männer, erwachsene Männer, die sich nicht mehr ändern wollten. Denkst du, ich hätte einen Dreizehn- oder Vierzehnjährigen erhängt? Was glaubst du, was für ein Monster ich bin?« Meilen zogen an ihnen vorbei, bevor sie sprach. »Wie weit weg ist Macon, Ben?« »Fünfundzwanzig oder dreißig Meilen westlich von uns.« »Dort gibt es ein College.« »Methodistisch. Ich kann mir vorstellen, dass es dort Menschen gibt. Möchtest du, dass ich dich dort rauslasse, April?« »Ja«, sagte sie sanft. »Das möchte ich, Ben.« An der Hochschule hatte sich wirklich eine ziemlich große Gruppe von Professoren und jungen Leuten versammelt. Und tatsächlich war Ben mehr als nur ein bisschen erleichtert, April los zu sein.
Er überlegte, dass Jerre, die ihre Erfahrungen auf der Straße gesammelt hatte, mehr Verstand in ihrem großen Zeh vereinte als April, die jahrelang am College unterrichtet worden war. So etwas ist sehr oft der Fall. Ben fuhr die Interstate hoch in Richtung Atlanta. Der Lastwagen war kaum gefedert und schüttelte ihn und den Hund durch, aber Ben pfiff während der Fahrt. Irgendwo in der Nähe von Atlanta, dachte er, werde ich die Autohandlungen abklappern und mir einen Lastwagen besorgen, der ein Kassettendeck hat, mir ein paar Sinfonien holen und dann weiterfahren. Juno und ich. Das Land ansehen. Seine Gedanken drifteten zu Jerre, wie sie es oft taten seit dem Tag, an dem sie ihn verlassen hatte. Er fragte sich, wie es ihr ging – hatte sie wohl einen netten jungen Mann gefunden? Er hoffte, sie wiederzusehen. Und er hatte das Gefühl, dass das irgendwann passieren würde. Mit diesem Gedanken hob sich seine Laune. Er drückte die Taste des Kassettenrecorders und begann mit der Aufnahme. Plötzlich dachte er mit unerwarteter und unerklärlicher Wärme an Salina.
Er drehte ab, lange bevor er Atlanta erreichte, und nahm eine Route um die Stadt herum, indem er Landstraßen benutzte. Aber er sah niemanden. Keine Lebenszeichen auf einer mehr als achtzig Kilometer langen Reise durch die Landschaft von Georgia. Das verwunderte ihn. Südlich von Atlanta hatte es Hunderte von Überlebenden gegeben, aber je näher er der Stadt kam, desto mehr schien es so, als habe niemand überlebt. Schließlich gewann seine Neugier die Oberhand. Bei Lawrenceville nahm er die Abkürzung über die Interstate und fuhr in die Innenstadt. Er hielt bei zwei Autohandlungen, bevor er bei der dritten den Lastwagen fand, den er wollte. Dieser war für das örtliche
Sheriffbüro bestellt worden und mit all der Ausrüstung ausgestattet, von der Ben das Gefühl hatte, er würde sie brauchen. Er wanderte durch die Abteilung mit den Kleinteilen, fand einen Kassettenrecorder und installierte ihn. Dann baute er eine neue Batterie ein, wechselte das Öl und trat aufs Gaspedal. Der Motor des Lieferwagens sprang beim ersten Versuch an. »Die amerikanische Wertarbeit ist nicht tot«, murmelte Ben. »Nur die meisten Amerikaner.« Er räumte seine Ausrüstung um und fuhr zu einer Fabrik, wo er den Haupt- und die Reservetanks volltankte; dann fuhr er weiter in die Innenstadt. Eine tote Stadt. Ben begann, riesige Reklametafeln wahrzunehmen. Auf einer stand: BEREUE, DAS ENDE IST NAHE. BEREITE DICH VOR, DEINEM SCHÖPFER ENTGEGENZUTRETEN. Es gab Dutzende wie diese – und eine, auf der zu lesen war: BEN RAINES – SETZEN SIE SICH MIT UNS IN KONTAKT. Er wusste, wer das aufgehängt hatte, und ignorierte es. Er orientierte sich mit Hilfe seiner Straßenkarte und fuhr zur Air Force Base von Dobbins. Er lächelte wehmütig, als er sah, dass die Flugzeuge zerstört worden waren. Er durchstreifte die Basis und versuchte, die Skelette zu ignorieren, die, gekleidet nur in verrottende Lumpen und störrische Fleischstücke, die Straßen übersäten. Ihn überfiel eine Depression, die schlimmste, die er seit Jerres Weggang empfunden hatte. Warum gab es hier keine Überlebenden? Eine gesamte Stadt… ausgelöscht. Warum? Er sprach in sein Mikrofon und dokumentierte seine Depression, sein Gefühl von Verlust und Verwirrung. Juno blickte winselnd durch das offene Rückfenster und erinnerte den Mann auf diese Weise daran, dass er nicht völlig alleine war. Ben schaltete den Recorder aus, tätschelte Junos großen Kopf, setzte den Lastwagen in Bewegung und fuhr zum
Haupttor. Etwas nagte an ihm, ein Verdacht, der diese Stadt betraf. Er konnte es nicht genau bestimmen. Als Ben aus der Basis herausfuhr, kam er am Hauptquartiergebäude vorbei. Ein paar rot-weiß-blaue Fetzen flatterten in der Brise, die oben am Flaggenmast wehten. Ben hielt an. Mit aller Würde, die er aufbringen konnte, ließ er die Flagge herunter.
ZWEI
Am ersten Mai war Ben inmitten der Great Smokey Mountains zu finden, wo er in einer verlassenen Stadt in einem Motelzimmer saß und ein kaltes Mittagessen zu sich nahm. Diese Menschen aus den Bergen sind merkwürdig, fand er! Er konnte an niemanden so nahe herankommen, dass er auch nur ein Wort an ihn hätte richten können. In einer kleinen Stadt südlich von Bryson City hatte einer den Fehler gemacht, auf Ben zu schießen. Ben hatte instinktiv reagiert – und die nächsten langen Stunden damit verbracht, zuzusehen, wie der Mann an einer Bauchverletzung starb. »Warum haben Sie auf mich geschossen?«, hatte Ben gefragt. »Ich habe doch nichts getan.« »Außenseiter«, hatte der Mann gekeucht. »Du hast hier nichts zu suchen. Wir kriegen dich.« »Warum wollen Sie ›mich kriegen‹?« Aber der Mann hatte das Bewusstsein verloren, und Ben hatte die Antwort auf seine Frage nie erhalten – zumindest nicht von dem Mann, den er erschossen hatte. Als er in dem Motelzimmer saß, war Ben erfüllt von Zweifeln und Fragen. Wohin waren all die Menschen aus dieser Gegend gegangen, die Menschen aus Atlanta? Wo lag der Sinn, Jahre mit Schreiben zu verbringen…? Sein Kopf machte einen Ruck nach oben, als Juno leise knurrte, sich erhob und in Richtung Tür schnüffelte. »Wir wollen Ihnen nix Böses, Mister«, erklärte eine Jungenstimme. »Aber wenn dieser große Hund mich anspringt, erschieß ich ihn.«
Ben legte eine Hand auf Junos Kopf und sagte ihm, er solle sich entspannen. Er schaltete den Recorder ein. »Dann kommt rein und setzt euch.« Ein Junge und ein Mädchen, beide um die fünfzehn, erschienen im Türrahmen. Sie sahen aus, als seien sie Bruder und Schwester. Ben deutete auf ein paar Stühle. Der Junge schüttelte den Kopf. »Wir bleiben stehen. Trotzdem danke.« »Was kann ich für euch tun?«, fragte Ben. »Es geht nich’ drum, was Sie für uns tun können«, erwiderte das Mädchen. »Es geht drum, was wir für Sie tun können.« »In Ordnung.« »Sammeln Sie Ihren Kram zusammen und machen Sie, dass Sie von hier wegkommen«, meinte der Junge. »Die kommen heut’ nacht, um Sie sich zu schnappen.« »Wer kommt, um mich zu schnappen – und warum?« »Unsere Leute«, antwortete das Mädchen. Sie war ein sehr hübsches Mädchen, aber die Zeichen von Beschränktheit und Armut forderten bereits ihren Tribut. Die Armut und Beschränktheit ihrer Eltern, dachte Ben. Die Keimzelle – zu Hause, von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Wann werden wir jemals dazulernen? »Ich habe euren… Leuten nichts getan.« »Sie haben unsern Onkel getötet«, entgegnete der Junge. »Heißt das etwa ›nichts getan‹?« »In Notwehr! Euer Onkel hat ohne Grund auf mich geschossen. Alles, was ich getan habe, war, dass ich an einem Flüsschen gestanden und versucht habe, mir mein Abendessen zu angeln.« »Unsere Straßen, unsere Berge, unsere Fische«, meinte das Mädchen.
»Ich verstehe.« Ben sprach die Worte sanft aus. »Und ihr wollt hier keine Außenseiter.« »Das stimmt, Mister.« »Wenn ihr das so stark empfindet, warum warnt ihr mich dann?« Die Frage schien sowohl den Jungen als auch das Mädchen zu verwirren. Der Junge schüttelte den Kopf. »Weil wir nich’ wollen, dass hier noch mehr Menschen umgebracht werden. Und wenn Sie verschwinden, gibts das nich’ mehr.« »Seid ihr einverstanden mit der Einstellung eurer Leute?« »Das liegt nich’ an uns, zu entscheiden, ob wir einverstanden sind«, meinte der Junge. »Das wurde so von Corning beschlossen. Und wenn Sie hier bleiben, Mister, sterben Sie.« »Wer oder was ist ein Corning?« »Der Anführer.« »Ah ja.« Ben lächelte, achtete aber darauf, die jungen Leute nicht zu beleidigen oder sie mit ihrer Art zu sprechen aufzuziehen. »Lasst mich raten: Dieser Corning ist der Größte und Stärkste von euch. Er ist ein religiöser Mann – oder er behauptet es wenigstens – und er hat eine großartige, kraftvolle Stimme und zitiert eine Menge aus der Bibel. Stimmt’s?« »Mister« – die Stimme des Mädchens war leise vor Ehrfurcht – »woher wissen Sie das alles?« Ben sah sie an. »Und ich wette, dieser Corning… ich wette, er mag dich sehr, oder?« »Ich gefall ihm, yeah.« »Zweifellos.« Bens Entgegnung war trocken. Wie schnell einige von uns doch wieder zurückfallen, dachte er. Häuptling eines Stammes. Er stand auf, und die Jugendlichen wichen ihm rasch aus, zurück in Richtung der offenen Tür. »Keine Bange. Ich werde euch nichts tun. Bekommt ihr Ärger, weil ihr hergekommen seid und mich gewarnt habt?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Wir kennen den richtigen Weg zurück. Wir wissen, wo der Wachtposten steht.« Sie begegnete seinem Blick. »Gehn Sie?« »Ja. Ich werde in einer halben Stunde weg sein. Und ich danke euch dafür, dass ihr mich gewarnt habt.« Sie stand vor ihm und starrte ihn an. »Wir sind keine schlechten Menschen, Mister. Wir wollen bloß nix mehr mit eurer Welt zu tun haben, das is’ alles. Warum können nich’ alle einfach so leben, wie sie wollen, und dann würden alle klarkommen?« Ja, warum eigentlich?, dachte Ben, und wieder einmal kamen ihm die Rebellen in den Sinn. Er fühlte sich genötigt, etwas Tiefschürfendes zu dem Mädchen zu sagen, doch ihm fiel nichts Rechtes ein. Stattdessen sagte er einfach: »Weil, meine Kleine, wir dann keine Nation hätten, oder?« Sie blickte erstaunt drein. »Aber wir haben jetzt doch keine, oder?« Und dann waren sie verschwunden. Und eine Viertelstunde später war auch Ben weg.
Er fuhr nach Knoxville, wo er eine große Gruppe von Menschen vorfand, vielleicht fünfhundert Leute oder mehr. »Sind das alle?«, fragte er über eine Tasse Kaffee in einem Gebäude des Roten Kreuzes hinweg. »Nein«, antwortete ihm ein Mann. »Ich glaube, es gibt wahrscheinlich… hmm… vier- oder fünftausend Überlebende in der Stadt… einschließlich der Vorstädte. Aber die restlichen Menschen vegetieren nur so dahin. Sie scheinen darauf zu warten, dass die Regierung kommt, um sie umzusiedeln.« »Sie warten darauf, dass die Regierung kommt, um was zu tun? Vergeben Sie mir, ich wusste nicht, dass wir eine Regierung haben.«
Der Mann lachte. »Yeah? Nun, sie ist ein wenig unzureichend, das gebe ich zu, aber sie ist echt. Sie kommt voran und wird mit jedem Tag größer, wie mir gesagt wurde. Sie haben noch nichts vom Plan der Regierung gehört?« Ben schüttelte den Kopf. »Sie will die Menschen in einigen zentralisierten Gebieten sammeln, jede Gegend in drei oder vier Staaten aufteilen, oder vielleicht auch weniger: Landwirtschaft, Industrie, Geschäftswelt. Dann, nach einer Weile, sollen die Leute in Heimstätten umgesiedelt werden, genau wie es vor zweihundert Jahren war. Wirklich!« Er lachte, als er den ungläubigen Blick Bens bemerkte. »Und wissen Sie was? Die Menschen befolgen die Befehle – das tun sie wirklich, wie Vieh. Die Regierung siedelt zuerst die Leute in den Städten um. Alle aus Atlanta – so wurde mir erzählt – wurden irgendwohin verlegt – nach Columbia, glaube ich – in South Carolina. Das ist erst ein paar Wochen her.« Damit war eine Frage, die in Bens Kopf herumgeschwirrt war, nun beantwortet. »Sie wollen zuerst die Ostküste besiedeln lassen, die Schwerindustriegebiete, dann den mittleren Westen, sozusagen die Kornkammer, Texas und Louisiana wegen Gas und Öl, und den fernen Westen – Kalifornien, Oregon, Washington.« »Und die Menschen lassen es wirklich zu, dass sie wie Vieh zusammengetrieben werden? Dass ihnen vorgeschrieben wird, wo sie leben sollen?« »Sicher. Das sollte Sie nicht überraschen. Der Große Bruder hat das schon seit Jahren so mit uns gemacht. Die meisten Leute stellen nicht einmal den Befehl umzuziehen in Frage.« »Haben wir einen Präsidenten? Oder einen König, oder was auch immer?«
»Ja.« Der Mann kratzte sich am Kopf. »Aber, verdammt, ich kann Ihnen gerade den Namen nicht sagen. Wir sind hier ein bisschen weg vom Schuss. Er lautet… wie diese Hotelkette.« »Hilton Logan.« »Ja, das wars. Aber irgendwie ist das merkwürdig. Ich meine mich zu erinnern, dass er niemals sonderlich begeistert vom Militär war, und doch haben sie ihn als Präsidenten eingesetzt. Ich werde daraus nicht schlau.« Ben ging darüber hinweg. »Sie scheinen den Befehlen ja nicht gerade übertrieben gut zu gehorchen. Fühlen Sie sich nicht danach, umzusiedeln?« »Nun… um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Bis sich die Dinge ein wenig beruhigt haben, werde ich mit den Meinen hier bleiben. Ich habe gehört, auf den tiefen Süden kommen stürmische Zeiten zu.« »Lassen Sie mich raten. Neu-Afrika.« »Das habe ich von Durchreisenden gehört. Einige dieser Leute sind militant. Aber ich kann es ihnen nicht verübeln. Wir – alle von uns – haben seit Jahren Ärger mit den Schwarzen gehabt. Es fällt mir schwer, das auszusprechen, aber es ist wahr. Und ich vermute, wir haben zwei oder drei Jahrzehnte lang überkompensiert. Haben Sie gehört, was in Chicago passiert ist?« »Ja, ich habe es gehört.« »Werden wir jemals miteinander klarkommen, Mr. Raines?« Ben zuckte die Achseln. »Ich hoffe es. Sagen Sie: Da Washington nicht mehr existiert, wo ist nun der Sitz der Regierung?« »In Richmond, Virginia.«
Ben fuhr ohne Pause nach Chapel Hill, North Carolina. Aber die jungen Leute waren schon lange fort.
»Wissen Sie, wohin sie gegangen sind?«, fragte Ben einen oberlehrerhaft aussehenden Herrn. »Nein, Sir, das weiß ich nicht. Es tut mir Leid. Sie haben sich in alle Himmelsrichtungen verteilt. Es waren einige Tausend. Sie wollen die Probleme der Welt lösen, falls ich es richtig verstehe.« Sein Lächeln war traurig. Traurig und wissend. »Ich fürchte, sie werden bald die Wahrheit über die Welt erkennen. Einige von ihnen haben das bereits, wie ich gehört habe.« »Was meinen Sie damit?« »Tot. Eine ziemlich große Anzahl von ihnen. Das habe ich zumindest gehört. Es gibt keinen Beweis dafür. Ist eine Tochter oder ein Sohn von Ihnen bei den jungen Leuten?« »Nein. Nur eine junge Freundin.« »Name?« »Jerre Hunter.« Das Gesicht des Mannes wurde nüchtern. »Es tut mir sehr Leid…« Die Worte trafen Ben hart und führten dazu, dass er sich fast körperlich krank fühlte. »… aber dieser Name ist mir nicht vertraut. Wie ich schon sagte, da waren einige Tausend von ihnen.«
Ben hielt sich in Richtung Norden. An der Grenze nach Virginia versteckte er sorgfältig seine Automatikwaffen. Er behielt nur ein Gewehr und eine Pistole bei sich. Übte die Regierung Macht aus – wenn auch in eingeschränkter Form – standen Recht und Ordnung ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Und die Gesetzeshüter könnten Anstoß am Anblick einer Maschinenpistole nehmen. Außerdem hatte Ben die Vermutung, dass Hilton Logan nicht so ganz mit seinen wahren Gefühlen herausrückte. Ben
glaubte, und das schon seit ein paar Jahren, dass dieser Mann einfach ein wenig geistesgestört war. Er wurde dreimal angehalten, bevor er dreißig Meilen ins Innere von Virginia hineingefahren war. Beim letzten Mal brach sein Ärger aus ihm heraus: »Was zum Teufel geht hier vor? Warum werde ich behandelt wie ein Krimineller?« Das Gesicht des Virginia Troopers war ausdruckslos. Neutral. Unbeeindruckt. Ein Baum. Eine verdammte große Eiche. »Wo sind die Fahrzeugpapiere für diesen LKW?« Aber davon ließ sich Ben nicht in Verlegenheit bringen. Bevor er die Autohandlung verlassen hatte, hatte er sorgfältig einen Kaufvertrag und alle anderen notwendigen Papiere ausgefüllt. Er hatte sie selbst beglaubigt, indem er für den Notar mit der linken Hand unterschrieben und die Kennzeichen eines anderen Lastwagens, der im Laden geparkt war, an seinem LKW befestigt hatte. Es war eine spontane Idee gewesen. Nun war Ben froh, dass er es getan hatte. »Hübsch«, sagte der Trooper, der kein Wort von dem glaubte, was er soeben gelesen hatte. Er gab Ben die Papiere zurück. »Aber ich werde mich nicht mit Ihnen streiten. Was führt Sie nach Richmond?« »Die First Lady – und ich verwende den Ausdruck ganz frei, da ich annehme, dass Logan Fran Piper geheiratet hat oder mit ihr zusammenlebt – und ich kommen aus derselben Kleinstadt in Louisiana. Ich dachte, ich schaue mal auf einen kleinen Schwatz vorbei.« »Präsident Logan hat eine Frau namens Fran geheiratet, yeah, das stimmt…« Der Trooper sah Ben an und schüttelte den Kopf. »Raines, was soll das sein, ein Witz?« »Die, äh… First Lady ist… ich habe das ganz ernst gemeint.« »Sie kennen Sie wirklich?« »Leider ja. Ich habe ungefähr eine Woche lang mit ihr gevögelt, letztes Jahr, direkt nach dem Krieg.«
»Was Sie nicht sagen! Hey, sie sieht klasse aus. War sie gut?« »Hatten Sie jemals eine Schlechte?« Beide Männer lachten über den alten Witz. Das Eis war gebrochen, die Spannung verflogen. Sie waren nun gute Kumpels – sie redeten über Muschis. Sie stellten sich vor, schüttelten sich die Hände. Eine formeller Akt. Ben und Mitch. Sie standen, in ein Gespräch vertieft, inmitten einer stillen Verwüstung. Keine dreihundert Meter entfernt lagen in einem Haus die Knochen einer ganzen Familie herum und verrotteten. Ben informierte den Trooper über alles, was er erlebt hatte, wobei er ganz vorn anfing. Er kürzte das Ganze erheblich, aber erzählte alles Wesentliche. Mitch pfiff durch die Zähne. »Du hast tatsächlich ein solches Waffenarsenal dabei?« Ben zeigte es ihm. »Scheiße!«, rief der Trooper aus. »Würdest du vorschlagen, dass ich besser nicht nach Richmond fahre?« »Nicht, wenn du nicht den Rest deines Lebens im Knast verbringen willst. Das heißt, wenn dich die Soldaten, die Präsident Logan bewachen, nicht gleich erschießen.« »Das Kriegsrecht?« »Eng wie die Muschi einer Jungfrau.« Ben nickte. »Da es unwahrscheinlich ist, dass ich nach Richmond reinfahre, sag mir, was genau hat Logan getan?« »Also.« Der Trooper seufzte und nahm seinen Smoky-TheBear-Hut ab. »Er hat es sich mit einer Menge Menschen verscherzt – Menschen aller Couleur, wie ich hinzufügen darf. Es scheint, als sei Logan doch nicht so verliebt in die Minderheiten, wie man dachte.« »Was meinst du damit?«
»Es heißt, er will Truppen in dieses Neu-Afrika, unten in Mississippi und Louisiana, senden.« »Wann?« »Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass die Nigger dort unten die Befehle missachten – also wird es wohl blutig werden. Und er hat seine eigene kleine Privatarmee, unten in Georgia, angeführt von einem ehemaligen Söldner.« »Wie heißt der Söldner?« »Das Einzige, was ich gehört habe, ist Parr.« »Kenny Parr. Ich kenne ihn, habe mit ihm in Afrika gedient. Er ist keiner von den Guten – ihm ist es egal, für welche Flagge er kämpft.« »Yeah, das habe ich auch gehört. Logan schubst die übrig gebliebenen Bürger herum. Und er sammelt alle Waffen ein. 22er-Flinten und 410er-Gewehre, das ist alles, was die Leute behalten dürfen.« »Hurensohn!«, fluchte Ben. »Ja«, stimmte Mitch zu. »Ich war nie ein Freund der Waffenkontrolle. Aber ich vermute, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich einen Job habe, in dem ich tun kann, was ich seit zehn Jahren getan habe. Obwohl ich das lieber für mich behalte, dass ich mit dem Anführer der Rebellenarmee geredet habe. Logan hat eine Prämie auf sie ausgesetzt.« Das Letzte sagte er mit leiser Stimme. »Und auf mich?« »Nein.« Der Trooper schüttelte den Kopf. »Das nicht.« »Du wusstest von Anfang an, wer ich war?« »Yeah.« »Warum hast du mich nicht… verhaftet, oder was auch immer?« »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mr. Raines, meiner Meinung nach haben die Rebellen nichts getan, was Einsperren oder Töten rechtfertigen würde. Es gibt eine Menge
Beschuldigungen gegen euch, aber keine Beweise. Und… also…« Er ließ den Satz verklingen. »Du bist nicht sicher, dass Logans Handlungen wirklich gerechtfertigt sind?«, beendete Ben ihn. »Ja«, antwortete Mitch mit schwerer Stimme. »Ich glaube, das ist es. Es beunruhigt mich mehr als nur ein bisschen. Ich habe Angst, dass er damit zu weit gehen könnte – wird. Ich glaube einfach nicht, dass er das Recht hat, den Menschen vorzuschreiben, wo sie zu leben oder was sie zu tun haben. Aber bis die Leute anfangen, aggressiv zu werden und sich dagegen auflehnen, werde ich vermutlich damit klarkommen.« »Und wenn sie das tun?« Der große Trooper begegnete Bens Blick. »Ich weiß, wo sich ein Kontingent von Rebellen versteckt.« Ben ging nicht darauf ein. »Was für eine Währung wird jetzt benutzt?« »Einfache alte Greenback-Dollarscheine. Das Lager, in dem die Notfallwährung aufbewahrt wurde, bekam einen direkten Treffer ab. Für eine Weile werden noch eine ganze Menge Millionäre herumlaufen, aber eine neue Notfallwährung wird geprägt, sobald eine neue Münze fest steht und die Druckplatten fertig gestellt sind.« Eine Idee, eigentlich sogar mehrere Ideen auf einmal, tauchte in Bens Kopf auf. »Willst du mir einen Gefallen tun, Mitch?« »Wahrscheinlich. Worum geht es denn?« »Verbreite entlang der Gesetzesvollzugslinie das Gerücht, dass ich tot bin.« Ein dünnes Lächeln huschte kurz über das sonnengebräunte Gesicht des Troopers. »Sie haben es raus – General.« Er drehte sich um und ging davon. »Ich werde mir einen neuen Personalausweis besorgen«, rief Ben ihm nach.
»Gute Idee. Du wirst verdammt schnell ein begehrter Mann sein, vermute ich.« Er blieb an seinem Auto stehen und blickte Ben an. »Wie kommst du darauf?« »Ich habe dieses Buch von dir gelesen, Ben – das, welches die ganzen Kontroversen ausgelöst hat. Mir hat es gefallen. Ich glaube, du wirst sehr schnell eine Menge Leute auf deiner Seite haben. Und vielleicht entscheide ich mich dazu, mich euch anzuschließen. Wir sehen uns.« Ben fuhr auf die Kuppe eines hohen Berges und schaltete den Militärfunk ein, voreingestellt auf 39,2. Einige Minuten lang versuchte er jemanden zu erreichen, doch er erhielt keine Antwort. Er fuhr in die nächstgelegene Stadt und fing an, die Straßen abzufahren, auf der Suche nach der Antenne eines Amateurfunkers. Beim letzten Anlauf fand er eine. Er durchstöberte diverse Läden, bevor er einen tragbaren benzinbetriebenen Generator fand, der groß genug war, um die Anlage anzutreiben. Es war bereits nach zehn Uhr, als er die Anlage schließlich aufgebaut hatte und sie funktionierte. Er brauchte eine weitere halbe Stunde, bis er es geschafft hatte, eine Rebelleneinheit auszumachen. Während dieser Zeit hatte er mit Menschen in Nigeria, Burma, Australien und mit einigen Schiffen auf See gesprochen. »Ich werde nicht fragen, wo Sie sich befinden«, sagte Ben. »Hören Sie mir nur zu. Wie viele Menschen und wie viel Ausrüstung sind bereits im Westen?« »Ziemlich viele, Sir. Aber wir wissen nicht, wozu zum Teufel wir das tun.« »Machen Sie einfach weiter. Also jetzt – ich möchte, dass Sie und Ihre Leute damit beginnen, die kleinen und großen Städte zu durchsuchen. Nehmen Sie alles an Gold und Silber mit, was Sie finden. Außerdem alle Edelsteine. Bringen Sie die Sachen
nach Westen, in die Lager. Und seien Sie vorsichtig, es sind Kopfgelder auf Sie ausgesetzt.« »Ja, Sir, das wissen wir. Sir? Ein neues Land, Sir? Ist es das, was Sie planen?« »Vielleicht. Mir gefällt nicht, was Logan tut.« »Uns auch nicht, Sir. Wann werden Sie sich wieder melden?« »Ich… weiß es noch nicht. Ich glaube einfach nicht, dass ich das tun kann, bevor wir eine andere Frequenz aufgebaut haben. Machen Sie einfach weiter.« »Ja, Sir.«
Ben versteckte sich für ein paar Tage und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er sagte zu sich selbst, wenn er die Rebellen wirklich anführen wolle, dann solle er das zum Teufel auch wirklich tun und endlich damit aufhören, sich ständig den Kopf darüber zu zerbrechen. Aber er konnte sich selbst nicht davon überzeugen, mit seinem Tagebuch aufzuhören und zu handeln. Es war genug Zeit, schloss er schließlich. Er hatte Zeit. Aber in seinem tiefsten Inneren bezweifelte er das. Schließlich fuhr er los und hielt sich leicht in Richtung Süden. Dabei sprach er alle Informationen auf Band, die der Virginia Trooper ihm berichtet hatte, einschließlich der Bedenken des Troopers. Den Namen des Troopers ließ er weg. Auch zeichnete er alles auf, was er über die First Lady wusste (das war einiges), verschwieg aber diskret die Tatsache, dass sie in ihren gemeinsamen Nächten seinen Schwanz gelutscht hatte, als ob er aus Pfefferminz gemacht sei. Manche Dinge sind persönlich. Ben grinste. Er fuhr in Richtung Westen, wobei er wieder auf die Interstate 40 auffuhr. Bei Crossville sah er auf der anderen Seite Fahrzeuge, die alle in Richtung Osten an ihm
vorbeifuhren. Und er schnappte einige interessante Gespräche über CB-Funk auf. »Ich frage mich, wo der alte Junge steckt, ist er wohl nach Westen unterwegs?« Die Frage drang aus dem Lautsprecher. »Keine Ahnung. Aber er sollte besser vorsichtig sein, wenn er nach Nashville reinfährt. Logans Leute drehen ihn sicher gleich um und zeigen ihm den richtigen Weg.« »Yeah«, meinte eine weibliche Stimme. »Nachdem sie ihm alle Waffen abgenommen und ihn ausgequetscht haben, als ob er ein Krimineller sei. Zuerst fragen sie ihn ganz nett. Dann fangen sie an, ziemlich hart zu werden. Oh, also, South Carolina ist wahrscheinlich ganz schön. Es ist nur so, dass ich nicht gerade gerne zu etwas gezwungen werde, was ich nicht tun möchte.« »Wie viele Male haben Sie uns gesagt – damals, als es noch eine Nation gab – dass Menschen ohne Arbeit zum Arbeiten gezwungen werden sollten?« Die Stimme des Fragestellers war unverkennbar die eines Schwarzen. »Vielleicht hatte ich Unrecht, als ich das damals gesagt habe«, gab sie zu. »Nun sieht man das Ganze von einer anderen Seite, oder?« »Aber wir sitzen alle im selben Boot«, sagte der schwarze Mann. »Und ich mag das genauso wenig.« Ben fuhr bei der ersten freien Ausfahrt von der Interstate ab und hielt sich in Richtung Süden. Die Leute dazu zwingen, aus ihren Häusern auszuziehen, dachte er. Der Hurensohn zwingt wirklich die Menschen, gegen ihren Willen woanders hinzuziehen und sich neu zu orientieren. Doch das sieht auf dem Papier immer gut aus, erinnerte er sich selbst. Dabei erinnerte er sich auch daran, dass er das schon beschrieben hatte… verschiedene Male, in seinen Romanen.
»Logan«, sagte er laut, »ich kann dich einfach nicht ausstehen.«
Ben hielt sich an die wenig befahrenen Kreisstraßen und war sehr vorsichtig beim Befahren der Überführungen der Interstates. Die Nacht verbrachte er an der Grenze von Alabama. Beim ersten Sonnenlicht stand er auf und fuhr los, zurück nach Louisiana, aber er plante diverse Stopps entlang des Weges ein. Er traf eine Gruppe von Männern, die außerhalb von Cullman mit landwirtschaftlicher Ausrüstung arbeitete. Sie waren schockiert über das, was Ben ihnen erzählte. »Die Menschen zum Umsiedeln zwingen?«, meinte ein schwarzer Mann. »Aber das ist verfassungswidrig.« »Ich glaube nicht, dass wir eine Verfassung haben«, erwiderte Ben. »Ich wette, dass sie mit der Verhängung des Kriegsrechts ausgesetzt wurde. Die Regierung kann mit der Macht, über die sie verfügt, machen, was sie will.« »Wir sind seit Monaten von der Außenwelt abgeschnitten«, gab ein Mann zu. »Wir waren damit beschäftigt, zu arbeiten und uns wieder ein Leben aufzubauen.« »Dann haben Sie nichts von den Problemen in Chicago, von dem Ärger zwischen den Rassen, gehört?« Niemand hatte etwas davon gehört. Ben erzählte ihnen, was er wusste, und auch von den Plänen für ein Neu-Afrika und was die Regierung mit dieser Idee vorhatte. Der Schwarze vertrat sehr klare Ansichten. »Zur Hölle mit einem neuen Afrika. Ich bin kein Afrikaner, ich bin Amerikaner. Dies hier ist meine Heimat – unsere Heimat.« Er deutete auf die Gruppe, eine Mischung aus Schwarzen und Weißen. »Wir sind alle Freunde, die zusammenarbeiten – einer
für alle, alle für einen. Und kein Hurensohn kann mich von dem trennen, was mir gehört.« Alle stimmten ihm zu. Ein weiteres Gebiet, wo die Probleme zwischen den Rassen gelöst waren. Zumindest für einige Zeit – Ben fügte diese Einschränkung hinzu. Aber es war ein Anfang. »Sie sollten sich besser einige Radios besorgen und versuchen, sich mit dem vertraut zu machen, was passiert ist. Ich vermute, es wird scheußlich werden.«
Ben fuhr nach Mississippi und traf sich dort mit Ike und Megan. Den beiden ging es gut, sie hatten eine kleine Farm bezogen. Ike war sehr ernst: »Ben, ich glaube, dass die Dinge sich sehr schnell zum Schlechten wenden werden. Du weißt von dem Kopfgeld, das auf die Rebellen ausgesetzt ist?« Ben nickte. »Entlang der Grenze wird von deinem Tod gemunkelt. Ich habe Conger und Voltan und einigen anderen gesagt, sie sollen locker bleiben – ich habe es nicht geglaubt.« »Ich fand, es sei das Beste, mich für tot zu erklären.« Ike stimmte zu. »Gute Idee. Nun« – er seufzte – »wir haben versucht, dieses Land wieder in Form zu bekommen – ein bisschen Landwirtschaft zu betreiben. Die Leute müssen essen. Aber… Logan wird hier früher oder später einfallen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Wo sind Tatter und June-Bug?« »Oh« – Ikes Gesicht hellte sich auf und verlor seine Anspannung – »sie haben ein paar Typen aufgetan und sie geheiratet. Wofür auch immer Megan und ich uns zu tun entscheiden… sie sind auf unserer Seite.« Ben blickte Megan an. »Hattet ihr Ärger mit Proleten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es gab nur einen Zwischenfall.« »So’n Scheißbastard kam hierher«, sagte Ike. »Hatte ‘ne große Klappe. Ich kenne ihn von der Highschool. Der Hurensohn hat’s nicht über das neunte Schuljahr hinaus geschafft – er war so dumm, dass er die Schule verließ. Und er fing an, davon zu reden, dass ich Niggerabschaum geheiratet hätte.« »Was ist dann passiert?«, fragte Ben, auch wenn er kaum Anlass dazu hatte, da er Ikes reizbares Temperament kannte. »Ich habe ihn zusammengeschlagen«, erwiderte das ehemalige SEAL-Mitglied ruhig. »Ich habe ihn in die Stadt gebracht und auf den Platz vor dem Gerichtsgebäude geworfen. Die Leute waren seitdem ziemlich freundlich.« Ben musste traurig lächeln. »Wenn du sie nicht dazu erziehen kannst, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern, hau sie zusammen – richtig?« Ike zuckte die Achseln. »Ich habe weder Zeit noch Lust, die Menschen zu erziehen, alter Freund. So wie ich es sehe, sind wir zurückgefallen in der Zeit des wilden Westens. Du machst dein Ding und ich meins. Denke, was immer zum Teufel du denken willst – ich habe kein Recht, dir da irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen – aber beleidige mich und die Meinen nicht, bestiehl mich und die Meinen nicht, versuche nicht, mich und die Meinen zu verletzen, und misshandle mich und die Meinen nicht. Einfach leben und leben lassen. Wenn du Probleme hast, helfe ich dir, aber, bei Gott, wenn ich Probleme habe, solltest du mir vielleicht auch helfen.« »Ike, was denkst du über den Westen? Ich habe dort einige der Rebellen hingeschickt.« »Idaho und Montana?« »Ja.«
»Wild und wunderschön. Alles, was das Herz begehrt. Da wächst gutes Getreide und gedeiht fettes Vieh. Kalt wie ‘ne Hexentitte im Winter.« »Wer will vorgeschrieben bekommen, wo man leben soll?« »Und vorgeschrieben bekommen, welchen Beruf man ausüben soll, um welche Zeit man aufstehen und zu Bett gehen soll und all dieser Mist. Yeah… Das übertrifft alles.« Er erhob sich von Megans Seite. »Ich bin gleich zurück, Ben. Warte einen Moment.« Megan sah Ben an. »Wir werden mit Logan eine Menge Ärger bekommen, oder, Ben?« »Ja. Und sogar ziemlich bald.« »Logan macht mir Angst. Ich habe ihm nie vertraut, viele meiner Freunde haben das nicht getan. Wie war das mit dem Zitat über den ›Mann, der König sein wollte‹?« »Ja. So sehe ich das auch. Ich glaube, er ist geistesgestört.« Ike kehrte mit einem großen Behälter zurück, der wie ein Koffer aussah. Er war aus Metall und hatte elektronische Anschlüsse vorne und eine einklappbare Antenne an der Seite. »Dies ist ein Radiosender mit einer sehr hohen Frequenz, Ben. Ich habe mir mehrere von ihnen bei Keesler auf dem Weg hierher ausgeliehen. Das Ding hat einen Zerhacker eingebaut. Dieses Gerät sendet über einen Bereich von dreitausend Meilen und hat einen weltweiten Empfang.« Er zeigte Ben, wie das Frequenzband justiert wurde. »Dies ist für dich, wenn du mit den Rebellen in Kontakt treten willst. Dies hier ist für mich.« »Falls ich mich dafür entscheiden sollte, nach Westen zu gehen, Ike.« »Zum Teufel, du hast dich doch schon entschieden zu gehen. Ich kenne dich gut genug, um das mitzubekommen.« »… ‘ne ganze Menge hoher Berge dort.« »Also stürme den Gipfel des höchsten, General.«
»Ike? Sei vorsichtig – verstehst du mich?« Der stämmige Navy-Mann lachte. »Gott, General, du machst dir mehr Sorgen als eine alte Glucke. Los, komm, holen wir uns was zu essen. Wir haben noch viel zu besprechen, bevor du abfährst.«
DREI
Ben hatte eigentlich vor, nach Louisiana zu fahren, aber er besann sich anders, da er wusste, dass der einzige Grund für seinen Besuch dort der wäre, Salina zu sehen. Also überquerte er bei Helena im Süden von Memphis den Fluss und fuhr durch Arkansas, wobei er Zeit gewann, indem er Nebenstrecken benutzte. Er fuhr um Little Rock herum und wagte es nicht, noch weiter in den Norden vorzudringen, da von Forth Smith in Arkansas bis ein paar Meilen südlich von Kansas City alles zerstört war – diese Gegend hatte beide Arten von Sprengköpfen abbekommen. Eine Nacht verbrachte er an einem See in den Bergen und fischte im Sonnenlicht des späten Nachmittags. Er fing mehr Fische, als er essen konnte. Er war gerade dabei, sie zu säubern, um sie auf seinem tragbaren Ofen zu braten, als Juno tief aus seiner Brust heraus knurrte. »Wir sind freundlich gesinnt.« Die Stimme kam aus dem Gebüsch. »Ich habe Kinder dabei.« »Kommen Sie her«, sagte Ben, während er eine Hand auf den Kolben seiner Pistole legte. Ein schwarzer Mann und eine schwarze Frau mit mehreren Kindern im Schlepptau traten an die Veranda der Hütte heran. Der Mann streckte die Hand aus. »Pal Elliot.« Er lächelte, während er sich vorstellte. »Das ist Valerie. Und dies«, er deutete auf die Kinder, »sind, in der Reihenfolge ihres Alters, beginnend mit dem Ältesten, Bruce, Linda, Sue und Paul.« Zwei Schwarze, eine Orientalin, ein Inder. Ben schüttelte die dargebotenen Hände und lächelte die Kinder an. »Ben Raines«, erwiderte er. Er setzte sich auf die
Veranda und bedeutete den anderen, das Gleiche zu tun. »Lebt ihr hier in der Gegend?« Pal lächelte. »Nein, wir sind nur auf der Durchreise. Wie eine Menge anderer Menschen. Ich war ein Linienpilot, stationiert in LA. Valerie war Model in New York City. Wir haben uns vor ungefähr sieben Monaten getroffen, glaube ich.« »Vor sechs Monaten«, korrigierte sie ihn mit einem Lächeln. »Die Kinder haben wir unterwegs aufgelesen. Wir haben sie gefunden, als sie ziellos umherwanderten.« »Keine eigenen Kinder?«, fragte Ben. »Nein. Aber er hatte welche.« Sie sah Pal an. »Er hat seine ganze Familie verloren. Und Sie?« Ben schüttelte den Kopf. »Ich war – bin – Junggeselle. Habe meine Brüder, Schwestern und Eltern verloren.« Er schnitt eine Grimasse im verblassenden Licht. »Immer noch schmerzliche Erinnerungen?«, fragte Pal. »Nein, eigentlich nicht. Ein Bruder ist durchgekommen – oben in Chicago. In der Vorstadt, genau gesagt. Wir haben uns getroffen… und hatten einen Streit.« »Carl Raines?«, erkundigte sich Pal. »Das ist der Mann.« »Wir haben diese Gegend durchquert«, sagte Valerie. »Sehr schnell. Es war… unangenehm.« »Also, Leute…« Ben stand auf und rieb sich die Hände. »Was haltet ihr davon, zum Abendessen zu bleiben? Ich habe jede Menge an Fisch.« »Das tun wir gern«, antworteten sie.
»Ich wusste, dass ich diesen Namen schon mal irgendwo gehört habe«, meinte Pal. Es war Abend in den Bergen. Die Luft war sanft vor Wärme, der See schimmerte silbern im Mondlicht.
Die Kinder spielten im Zimmer der Hütte, während die Erwachsenen auf der Veranda saßen und rauchten, redeten und Bier tranken. »Nach der Art, wie Sie über harte Gesetze, Recht und Ordnung schreiben, nahm ich an, Sie seien ein Rassist – zuerst. Dann kamen einige andere Bücher von Ihnen heraus, die mich verwirrten hinsichtlich Ihrer… logischen Argumentation. Wie lautet Ihre politische Philosophie, Ben? Falls es Ihnen nichts ausmacht, mit mir darüber zu sprechen, natürlich.« »Nein, das macht mir nichts aus. Ich… glaube, ich bin sehr schnell apolitisch geworden, Pal – das ganze System hing mir verdammt zum Hals heraus. Darüber habe ich einige Bücher geschrieben. Es hing mir zum Hals heraus, dass die gottverfluchten Vereinigungen um mehr Geld baten, als sie wert waren, indem sie in vielerlei Hinsicht der Regierung ihre Politik diktierten. Ich war der Verbrechen so überdrüssig, die nicht bestraft wurden, hatte es so satt, dass die ACLU ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte. Ach… ich sollte besser gar nicht erst davon anfangen, Pal. Außerdem, wie eine junge Dame vor nicht allzu langer Zeit zu mir sagte, ist das sowieso alles müßig.« »Ist es das, Ben? Was ist mit Logan?«, fragte Pat. Ben lachte leise. »Unser Präsident-den-wir-nicht-gewählthaben? Yeah, ich weiß. Ich nehme an, Ihr gehorcht seinen Umsiedlungsbefehlen nicht?« »Logan kann seine Befehle nehmen und sie sich an den Hut stecken«, meinte Valerie. »Ich habe diesen Mann noch nie gemocht – habe ihm nicht getraut.« Megans Worte. »Ich will mir verdammt noch mal selbst aussuchen, wo ich lebe.« Ben erzählte ihnen von Ike und Megan, von Neu-Afrika und von dem, was die Regierung plante. Und dann erzählte er
ihnen, nur annäherungsweise, von der Idee, die er im Kopf hatte – weil er wissen wollte, wie sie darauf reagieren würden. Beide waren aufgeregt. »Meinen Sie das ernst, Ben?«, forschte Pal, wobei er sich nach vorne lehnte. »Ja, ich vermute, das tue ich. Ich weiß, das ich es ernst meine. Ich habe mich seit Monaten dagegen gewehrt. Ich habe nicht geglaubt, dass die Amerikaner Logans Befehlen gehorchen würden, dass sie sich wie Lemminge auf dem Weg zum Meer anschließen würden und blindlings den Befehlen Folge leisten würden. Ihr habt es doch gesehen, oder?« Pal nickte. »Ja. Während der letzten paar Monate sogar öfter. Die Leute werden zur Umsiedlung gezwungen, viele von ihnen gegen ihren Willen.« »Und Sie wollten durch das Land reisen und darüber schreiben?«, fragte Valerie. »Das wollte ich«, erwiderte er. »Und ihr?« »Die Kinder müssen Unterricht bekommen«, antwortete Pal. »Und mir wurde erzählt, dass ein Mann namens Cecil Jeffrey und seine Frau Lila ein paar wirklich fantastische Dinge auf die Beine gestellt haben, unten in Louisiana.« »Ich habe gerade davon erzählt, was Logan mit Neu-Afrika vorhat«, gab Ben zu bedenken. »Vielleicht passiert das nicht.« »Das können Sie nicht ernsthaft glauben.« »Nein«, sagte Pal leise. »Ich vermute, das wohl nicht. Weiße Menschen haben schon immer Angst vor einer rein schwarzen Nation gehabt, ob ihr es zugeben wollt oder nicht. Aber ich finde, wir müssen es einfach versuchen. Ich habe einen Magistergrad in Naturwissenschaft und Valerie einen in BWL. Sie werden Lehrer brauchen.« »Aber ich habe doch gerade gesagt…« »Ich weiß – ich weiß.« Pal winkte ihm, still zu sein. »Aber nach allem, was passiert ist… nach all dem Schrecken, dachte
ich, dass die Regierung uns vielleicht… in Ruhe lassen würde, uns in Ruhe alles wieder aufbauen lassen würde.« »Sie wissen, dass sie das nicht machen wird.« Pal und Valerie widersprachen nicht. Ben erzählte ihnen von Kasim, dem rassistischen, aggressiven Farbigen. Er schloss mit den Worten: »Ich habe vor, den Mann zu töten, wenn ich ihn je wiedersehe.« »Warum, Ben?«, fragte Valerie. »Sie scheinen ein gerechter Mann zu sein. Aber sogar Sie haben Hass in sich. Warum?« »Weil… er ist nicht das, was ihr Leute braucht, ebenso wenig wie meine Leute den Ku-Klux-Klan. Was wir beide brauchen, ist Verständnis. Das haben wir schon immer gebraucht. Ich wollte Kasim auf halbem Wege entgegenkommen und habe versucht, mit ihm ins Reine zu kommen, aber er will das nicht. Er will es ganz oder gar nicht. Wenn Sie nach Neu-Afrika gehen, falls Logan es weiter existieren lässt – was er nicht tun wird – werden Sie, Sie beide, versuchen, Wahrheit und Wissen und Tatsachen zu vermitteln, auf eine westliche Art. Kasim wird Hass ohne Vernunft vermitteln… in Robe und Turban. Ihr werdet gegeneinander arbeiten. Es wird nicht funktionieren. Ich fände es schön, eine Nation zu haben – einen Staat, wenn man so will – wo wir die Wahrheit, unterstützt durch Tatsachen, lehren, die schönen Künste, die Naturwissenschaften, Englisch, andere Sprachen, gute Musik – die ganze Bandbreite. Ich habe die Theorie – sehr kontrovers – dass wir ganz von vorn anfangen sollen. Bringt eine Gruppe von Menschen zusammen, die farbenblind sind und so frei von Hass und Vorurteilen wir möglich, und sagt: Okay, Leute, so werden wir es machen: Wir, wir alle, werden alles rein waschen und von neuem beginnen. Hier sind die Gesetze, wie wir sie haben wollen. Wir werden nach diesen Gesetzen leben, und sie werden wortwörtlich durchgesetzt… gerecht… immer. Das
werden wir in unseren Schulen lehren – und nur das. Und dann sollte da stehen, was passiert, wenn ein Schüler oder Student aus der Reihe tanzt. Alles wird in einfachem, reinem Englisch gehalten, das leicht zu verstehen und, wie ich hoffe, leicht zu befolgen ist. Die Rede würde mit diesen Worten enden: ›Diejenigen von euch, die das Gefühl haben, dass sie in einer Gesellschaft leben können, wie wir sie befürworten – bitte bleibt. Arbeitet mit uns daran, Vorurteile, Hass, Hunger, schlechte Wohnverhältnisse, schlechte Gesetzgebung, Verbrechen usw. auszurotten. Aber diejenigen von euch, die das Gefühl haben, dass sie nicht in einem System der offenen Gerechtigkeit leben können – verschwindet, zum Teufel!‹« Sowohl Pal als auch Valerie waren ein paar Sekunden still, nachdem Ben seine Rede beendet hatte. Schließlich sagte Pal: »Das, mein Freund, wäre eine beachtliche Gesellschaft, wenn sie funktionieren würde.« »Sie würde funktionieren.« Ben verteidigte seine Theorie. »Falls die Regierung – die Zentralregierung – die Menschen in Ruhe lassen würde. Sie würde funktionieren, weil jeder innerhalb des Systems auf dieses Ziel hinarbeiten würde. Es gäbe keine Meinungsverschiedenheit.« »Finden Sie dieses Konzept nicht ein wenig idealistisch?« »Nein, Valerie, das finde ich nicht. Aber ich würde sagen, dass die Leute, die sich dafür entschieden haben, in dieser Art von Gemeinschaft zu leben, sehr daran arbeiten müssten, sich anzupassen.« »Ben Raines?« Pal blickte ihn an. »Lassen Sie uns in Kontakt bleiben.«
Als er am nächsten Morgen wegfuhr, dachte Ben: Das ist der Typ Mensch, den ich gerne zum Nachbarn und zum Freund
hätte. Gute Menschen, gebildete Menschen, mit Träumen und Hoffnungen und einem Blick auf die Zukunft. Er winkte zum Abschied, als er auf den Highway zuhielt, der ihn nach Oklahoma bringen würde. Am nächsten Tag fuhr er in Richtung Oklahoma City. Er hatte im Lastwagen eine Richtantenne installiert, um ihn vor einem drohenden Zusammentreffen mit Logans Militär oder anderen unfreundlichen Typen rechtzeitig zu warnen. Er hielt oft an, um mit Leuten zu sprechen. Ja, sie hatten von dem neuen Präsidenten gehört und seinen Befehlen, die Menschen umzusiedeln. Aber nein, sie würden das nicht mitmachen. Dies war ihre Heimat, und hier wollten sie bleiben. »Was wird sein, wenn er Leute herschickt, um Sie mit Gewalt fortzuschaffen?«, fragte Ben. Sie wussten nicht, was sie dann tun würden. An der University of Oklahoma traf er eine Gruppe junger Menschen und verbrachte dort zwei Nächte, um mit ihnen zu reden. »Einige von uns waren in der ursprünglichen Gruppe von Chapel Hill«, erzählte ihm eine junge Frau. »Ich glaube nicht, dass noch viele von uns übrig sind.« »Habt ihr Probleme bekommen?«, fragte Ben. Die junge Frau tätschelte Juno und streichelte eine Zeit lang über dessen Kopf, bevor sie antwortete. »Wir waren nicht auf das vorbereitet, was uns erwartete«, gab sie zu. »Wir – die meisten von uns – hatten keine Waffen. Alle aus meiner Gruppe waren in der Stadt geboren und aufgewachsen. Ich hatte nie in meinem Leben eine Waffe abgefeuert. Wir glaubten, die Menschen wollten Hilfe bei der Neuorganisierung – Gärten anlegen… all diese Dinge. Und wir fanden ein paar alte Leute, die das, was wir taten, wirklich schätzten. Aber überall im Land errichten die Menschen ihre eigenen kleinen Regierungen…«
Also war Bens Idee nicht neu, aber er hatte so etwas ja auch nicht erwartet. »… Tja, einige von diesen Leuten wollten uns nicht in ihrer Nähe haben – überhaupt nicht! Wir trafen auch auf religiöse Fanatiker – und ich meine Fanatiker – trafen Überlebenskünstler, Spinner, Irre, Säufer, Durchgeknallte. Was auch immer einem in den Sinn kommen kann, wir haben sie alle getroffen.« Sie schüttelte den Kopf. »Viele unserer Leute gingen in die Städte. Und sie kamen niemals wieder raus. Da fingen wir an, wachsamer zu werden. Wir rüsteten unsere Autos und Jeeps und Lieferwagen mit CB-Funkgeräten aus – und Mann, wie vorsichtig wir wurden. Es war uns bewusst geworden, dass wir uns besser an die Spielregeln halten sollten, wenn wir überleben wollten – wir mussten uns Gewehre besorgen und lernen, wie man mit ihnen umgeht.« Sie wedelte mit der Hand. »Sehen Sie diese etwas über zweihundert Jugendlichen hier, Mr. Raines? Das wars. Mit der Ausnahme einer kleinen Gruppe ist das alles, was von ungefähr dreitausendfünfhundert jungen Leuten übrig geblieben ist. Sie haben Chapel Hill verlassen. Das wars! Ich wusste nie, was dieser Ausdruck, dass da draußen ein Dschungel sei, wirklich bedeuten soll… bis wir… loszogen, um die Welt zu retten.« Ihr Lachen war bitter und passte nicht zu der jungen Frau. Ben blickte um sich, auf die niedergeschlagenen, desillusionierten jungen Menschen. Er dachte: All eure modernen Autos und hübschen Kleider und goldenen Halskettchen und übertriebenen Taschengelder von allzu nachsichtigen Eltern haben euch nicht auf dies hier vorbereitet, was, Kinder? All die fantastischen Reden der Collegeprofessoren haben euch verdammt noch mal nicht das geringste bisschen geholfen, mit der harten Realität
zurechtzukommen. Aber er sprach seine Gedanken nicht aus. »Also was nun, Leute? Gebt ihr alle einfach auf?« Zwei Dutzend Augenpaare wandten sich ihm zu. Feindselige, verletzte Augen. Ben grinste. Er wusste, er hatte einen wunden Punkt getroffen. »Was geht Sie das an, Mann?«, fragte ein Junge. Ben zuckte die Achseln. »Vielleicht nichts. Vielleicht sollte ich einfach weiterziehen. Schwächlinge haben mir noch nie zugesagt.« »Hey!« Die Wortführerin schrie ihn fast an. »Was wollen Sie von uns, Mister? Häh? Wir haben versucht, das zu tun, was uns richtig erschien. Also, okay… vielleicht haben wir es dieses Mal verpatzt – das bedeutet nicht, dass wir es nicht noch einmal versuchen. Also warum halten Sie sich nicht einfach aus unseren Angelegenheiten heraus, okay?« »Und was wollt ihr tun, falls euer Lieblings-großes-Tier-dassich-in-einen-armseligen-Diktator-verwandelt-hat seine Truppen hierher schickt, um euch in ein Umsiedlungszentrum zu bringen? Wenn ihr zusammengetrieben werdet wie dummes Vieh?« »Wir haben bereits über ihn gesprochen. Okay, er ist nicht das, was er zu sein schien. Aber er war verdammt noch mal besser als Nixon, oder?« »Nein«, entgegnete Ben. »Das war – ist er verdammt sicher nicht. Und was zum Teufel wisst ihr denn überhaupt über Präsident Nixon? Ihr wart noch Säuglinge, als Watergate unterging. Alles, was ihr wisst, ist das, was ihr gelesen habt, niedergeschrieben von voreingenommenen Journalisten, und das, womit ihr von hohlköpfigen Collegeprofessoren traktiert wurdet, die so sehr von der Realität losgelöst waren, dass sie gezwungen werden sollten, Kopfhörer zu tragen, die in die Vibrationen der Geschichte eingestöpselt sind.« Er seufzte,
grinste und sagte: »Ich wollte euch keinen Vortag halten, Leute.« »Das ist schon in Ordnung, Mr. Raines«, erwiderte ein junger Mann mit einem Lächeln um die Mundwinkel. »Ich hab das irgendwie genossen. Wie auch immer… wir wissen nicht, was wir tun sollen. Haben Sie irgendeinen Plan?« »Ja. Vielleicht findet ihr ihn gut, vielleicht auch nicht.« Er war für einen Augenblick nachdenklich. Legst du dich fest, Ben? Vielleicht, kam die Antwort. »Aber zuerst lasst mich euch Folgendes fragen: Gab es da keine Gruppe, die gleich von Anfang an gekämpft hat? Die gegen den Abschaum und die Plünderer und all das gekämpft hat?« Er hatte Jerre nicht erwähnt. »Da gab es eine Person«, antwortete die junge Frau, indem sie ihre Worte vorsichtig wählte. »Sie kam nach Chapel Hill mit einer Pistole am Gürtel. Sie ignorierte das Gelächter von vielen von uns – meins eingeschlossen. Sie lief herum und redete mit allen möglichen Gruppen, als ob sie ihren Freundeskreis sehr sorgfältig auswählen wollte. Sie suchte sich ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig Leute heraus. Die verschwanden daraufhin – sie blieben nicht einmal zu den Reden. Die übrigens ein Haufen Scheiße waren«, fügte sie mit einer Grimasse hinzu. »Später habe ich gehört, dass das Mädchen ihre Gruppe dazu brachte, sich Waffen zu besorgen und mit ihnen zu üben. Sie führt sie wie eine Militäreinheit. Sie ist der Boss – da gibt es keinen Zweifel. Ein blondes Mädchen, wirklich hübsch.« Ben lächelte. »Ihr Name war… Sarah… Nein! Jerre, ja genau.« »Wohin ist ihre Gruppe gegangen?« »Nach Westen, glaube ich. Yeah. Sie sagte, sie wollte nach Idaho oder Montana, vielleicht Wyoming.«
Sie hielt inne. »Warum sollte irgendjemand dahin gehen wollen?« »Um frei zu sein«, antwortete Ben. »Könnten Sie das bitte erklären?« Das tat er. Und wusste, er hatte sich festgelegt.
»Wann wird er hier sein, Jerre?«, fragte sie ein junger Mann. Jerre richtete ihre Augen nach Osten. Ihr Gesicht war intensiv gebräunt, so wie ihre Arme; ihr Haar war kurz geschnitten und wies von der Sonne ausgebleichte Strähnen auf. Sie war nicht die Anführerin dieser Gruppe, die den Collegeprofessor Steven Miller, Jimmy Deluce und seine Gruppe aus Louisiana, Nora Rodelo und ihre Freunde, Anne Flood und ihre Gruppe, James Riverson und Belle, Linda Jennings, Al Holloway, Jane Dolbeau, Ken Amato und einige der im Westen stationierten Rebellen umfasste. Aber sie kannte Ben Raines, und Bull Dean hatte Raines die Verantwortung übertragen. Das machte das Mädchen zu etwas Besonderem. »Er wird bald hier sein«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wann, also fragt mich nicht, aber er wird herkommen.« »Es kommt Ausrüstung herein«, rief ein Rebell. Alle gingen der Lastwagenreihe entgegen, die die Bergstraße heraufrollte. Der junge Mann, der die Frage gestellt hatte, legte seinen Arm um Jerres Schultern. »Wirst du dann immer noch mein Mädchen sein, wenn er herkommt?«, fragte er. »Das hängt davon ab.« »Wovon?« »Das werde ich wissen, wenn er herkommt. Dann sage ich es dir.«
Ben verließ die jungen Leute, die über die wesentlichen Gesichtspunkte seines Plans diskutierten und debattierten, und machte sich still davon, mit Juno an seiner Seite. Knapp nördlich von Chickasha fuhr er auf den Highway 81 auf, geradewegs nach Kansas. Er begann immer mehr Menschen zu treffen und verbrachte eine Woche in Kansas. Er wollte Nebraska nicht zu nahe kommen, da dieser Staat diverse Treffer abbekommen hatte und als ›heiß‹ galt. Offensichtlich hatte Logans Plan, die Menschen umzusiedeln, in Kansas nicht viel Erfolg. Als er sie danach fragte, sahen sie ihn an, als ob sie mit einem Dummkopf sprächen. »Dies ist die Kornkammer, mein Sohn«, sagte ein Farmer zu ihm. »Die Regierung braucht Getreide, und wir produzieren es. Nein… ich glaube, sie werden uns in Ruhe lassen. Außerdem habe ich schon damals gesagt, dass Logan ein Idiot ist, als er erstmals das Maul aufriss und große Töne spuckte, vor zwanzig Jahren. Ich glaube immer noch, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat.« Bei Hays fuhr Ben auf den Highway 40 auf und folgte ihm den ganzen Weg nach Colorado. Er sah die Ruinen von Denver, was ihn fast krank machte. Es war eine seiner Lieblingsstädte gewesen. »Was für eine verdammte Schande, nicht wahr?« Die Stimme kam von links. Ben fuhr herum, mit der 9-mm in der Hand. Juno war zum Pinkeln unterwegs. »Brrrr!«, sagte der Mann und hielt seine leeren Hände vor sich. »Mein Sohn, Sie sind schnell mit diesem Ding. Ich bin Ihnen freundlich gesinnt.« Der Mann trug eine Pistole an der Hüfte, aber sie war bedeckt mit dem Leder eines Pistolenholsters, wie es das Militär benutzte. Die Initialen USN waren auf der Seite der Lasche zu erkennen.
Ben steckte die 9-mm in sein Holster. »Navy?« »Da war ich vierundzwanzig Jahre lang. Captain, als der Krieg ausbrach. Chase ist mein Name. Lamar Chase.« »Ben Raines.« Sie schüttelten sich die Hände. »Was ist mit Denver passiert?« »Es hat keinen Treffer abgekriegt, falls Sie das denken. Feindliche Saboteure haben die Basis erwischt, und zwar schwer. Aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht, warum, wahrscheinlich Bosheit, haben sie auch Brandbomben in der Innenstadt platziert, an strategisch äußerst klugen Orten. Die Hauptgasleitungen sind explodiert. Der Wind stand richtig – und Denver gibt es nicht mehr. Ich war zu der Zeit im Urlaub, hatte meine Frau in die Berge mitgenommen und bekam das Ganze nicht mit.« »Ich habe einige gute Erinnerungen an diese Stadt. Oder an das, was davon übrig ist. Ich habe Truppenübungen mitgemacht, oben in Camp Haie.« Der Navy-Mann lächelte. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie einer dieser Jungs sein könnten. Hell-Hound?« »Diese Einheit hat nie existiert, Captain – Sie wissen das.« »Scheiße!«, meinte der Navy-Mann. Ben warf einen näheren Blick auf die Initialen auf der Lederlasche. USNMC. »Doktor?« »Sie haben es erfasst. Sie sehen wie ein typischer Überlebender aus, mein Sohn. Zuerst schießen und die Fragen später stellen.« Er winkte ihn an den Randstein. »Setzen wir uns und reden. Wohin sind Sie unterwegs?« Ben setzte sich zu dem Arzt und redete mit ihm. »Ehrgeiziges Projekt. Viel Glück. Was denken Sie über unseren Präsidenten?« »Ich habe mit seiner Frau gevögelt…« Dr. Chase lachte so sehr, dass ihm Tränen aus den Augen strömten und er sich vom Randstein erheben musste, um sich
die Seiten zu halten. Er wischte sich die Augen und sagte: »Wundervoll. Ich hatte es nötig, mal wieder herzlich zu lachen. Kommen Sie, Ben, essen Sie mit meiner Frau und mir zu Abend. Es gibt da etwas, das ich mit Ihnen diskutieren möchte – wenn Sie der Raines sind, von dem ich glaube, dass Sie es sind.«
Das Abendessen war köstlich gewesen, die Unterhaltung geistreich. »Ich dachte, Sie seien vielleicht derjenige, von dem ich gehört habe«, sagte der Arzt, während er die Hand seiner Frau tätschelte. »Also, was halten Sie von meinem Plan, Ben?« »Ich würde sagen, Sie haben in den vergangenen zehn Jahren in meinem Kopf genistet.« »Ja.« Chase stimmte mit einem leichten Kopfnicken zu. »Ich habe einen Teil davon aus einem Ihrer Bücher entnommen. Es hat mir sehr gefallen. Zwar bin ich nicht in Allem der gleichen Meinung wie Sie – Sie klingen da teilweise etwas nach Orwell – aber mit ungefähr neunzig Prozent Ihrer Gedanken gehe ich konform.« »Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben.« Ben spielte mit seiner Kaffeetasse. »Monate«, versicherte der Navy-Mann ihm. »Davon bin ich überzeugt.« Ben sah ihn mit einem fragenden Blick an. »Sie sagen, Sie haben sich nun festgelegt«, meinte Chase. »In Ordnung, also lassen Sie uns die Sache ins Rollen bringen. Aus dem Radio weiß ich, dass Sie etwa fünftausend Leute haben, die für Sie arbeiten, Ausrüstung transportieren oder bereit sind, Ausrüstung zu transportieren, in diese Gegenden, die Sie ausgewählt haben. In Ordnung, lassen Sie uns beginnen. Logan? Nun… er will König sein«, erklärte Chase weiter. »Jetzt hat er schon so lange seine wahren Gefühle versteckt,
dass ich schätze, der Mann ist ein wenig gestört. Ich glaube wirklich, dass Logan anfangs gesunde Gedanken hatte und etwas Gutes für die Leute tun wollte. Er war ein Idealist, aber das sind Sie bis zu einem gewissen Grad auch. Aber Ihr Idealismus ist pragmatischer Natur, und ich möchte hier nicht paradox klingen. Sie sind ein Konservativer mit einer leichten linken Neigung. Logan ist mit einem Hass auf Waffen aufgewachsen – sie machen ihm Angst. Er hasst das Militär, hasst sogar die Polizei, Autoritäten überhaupt. Aber er wird sie für seine Zwecke benutzen, um seine Ziele zu erreichen. Für Logan wird all das Gute, was er erreichen könnte – gemäß seiner Interpretation des Gesetzes –, für das Land getan werden. Was auch immer das zu der entsprechenden Zeit sein mag. Aber Sie, Ben Raines, Sie haben jahrelang für unsere Gesetze nur Verachtung übrig gehabt, Ihnen sind die gültigen Gesetze des Landes scheißegal. In Ihnen ist eine Härte, die wahrscheinlich zu Ihrem Niedergang führen wird – aber dem müssen wir nicht auf den Grund gehen. Ich kann damit leben, und Sie sind nicht unflexibel. Sie und Logan – und das mag Sie überraschen – sind sich auf eine bestimmte Art ähnlich. Aber während er eine Zusammenarbeit der Staaten befürwortet, sind Sie für freie Länder innerhalb eines Mutterkokons, von denen jedes über sein eigenes Rechtssystem verfügt, aber zu einem gewissen Grad der Mutter gehorcht. Ich stimme mit Ihnen überein. Meiner Meinung nach wäre das aus unserer Nation geworden, hätte kein Krieg die Welt niedergeschlagen. Logan hat ein hartes Stück Arbeit vor sich. Splittergruppen haben sich gebildet. Aber sie haben keinen festen Untergrund, und Logans Leute werden mit der Zeit die Oberhand über sie gewinnen. Aus diesem Grunde glaube ich, dass wir Zeit haben, uns zu sammeln und vorzubereiten.«
Er seufzte. »Ben, ich finde, dass unser Konzept gut und gerecht ist – und ich möchte ein Teil davon sein. Ich werde hier sein und meinen Beitrag leisten, indem ich einige Leute um mich versammle, die in Ihre – unsere – Gesellschaftsform hineinpassen. Davon kenne ich mehr als nur ein paar.« »Ich frage mich, wie viele Menschen unter einer Regierung, wie wir sie befürworten, leben würden – könnten?« »Mehr, als Sie vermutlich denken, Ben. Aber Furcht ist die Basis aller Regierungen. Das ist kein Originalzitat. Ich glaube, Adams stellte diese Behauptung auf. Und Ihre Regierung basiert auf demselben Grundsatz, aber auf einer Art Furcht, die alle, die daran beteiligt sind, akzeptiert haben – freiwillig. Es wird funktionieren.« Zumindest für einige Zeit, dachte der Arzt. Bis der Große Bruder genug Macht gewinnt, um es zu zerstören. Oder versucht, es zu zerstören. Aber wie tötet man einen Traum, eine Idee, für die die Zeit gekommen ist?
Mittlerweile hatte Ben sich an die leeren Interstates und Highways gewöhnt. Schon immer ein Einzelgänger, genoss er die Einsamkeit seiner Reise. Er hörte dem Wind zu, wenn er durch die offenen Fenster sang, eine seufzende, melodische Begleitung seiner Stimme, wenn er ins Mikrofon sprach. Das Tonband verursachte ein zischendes Geräusch, wenn es seine Gedanken, seine Beobachtungen oder seine Pläne für die Zukunft aufnahm; eine verbale Aufzeichnung der schlimmsten Tragödie, die die Erde getroffen hatte, seit Gott die Sintflut gesandt hatte. Hatte Gott dies getan? Über diese Frage grübelte Ben oft nach, wenn er im Bett lag. Aber falls Er das getan hatte – warum? Er hatte mit Sicherheit
nicht nur die so genannten ›guten Menschen‹ verschont. Zumindest hatte Ben noch keinen modernen Noah getroffen. War das Wetter gut und wimmelte der klare Himmel vor funkelnden Diamanten in der Dunkelheit des samtenen Raums, liebte es Ben, den Zeltboden ohne Abdeckung im Freien auszubreiten und unter dem Baldachin der Natur zu schlafen. Er hatte keine Angst, dass etwas oder jemand sich in der Dunkelheit an ihn heranschleichen könnte, denn Juno hatte sich wiederholt als exzellenter Wachhund erwiesen. Ben nahm ihn nie an die Leine, denn obwohl der Eskimohund sich viel herumtrieb, war er selten außer Hörweite. Und Ben träumte. Seine Träume handelten von einer seltsamen Verschmelzung von Jerre und Salina. Dort erlebte er erneut die Liebesnächte mit der blonden Jerre und fantasierte darüber, wie es wäre, mit der dunkelhäutigen Salina zu schlafen. Seine Träume führten dazu, dass er nach dem Erwachen nicht wieder einschlafen konnte, und manchmal war er hinterher reizbar. Und er wusste, er musste sich verdammt schnell eine Frau suchen oder die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Und dieser Gedanke amüsierte ihn, denn er wusste, dass der größte Lügner auf der Welt eine Person war, die behauptete, noch nie masturbiert zu haben… Und der zweitgrößte Lügner auf Erden war seine Frau, die Ben gegenüber immer wieder beteuert hatte, dass sie damit aufhören würde… Onanie war nie Bens Stärke gewesen.
Bei Craig, Colorado, schlug Ben auf dem Highway 13/789 den kürzesten Weg nach Norden ein und wandte sich nach Wyoming, einem wilden und schönen Land. Er fuhr hinüber nach Rock Springs, weiter zum Grand Teton-Nationalpark und dann nach Idaho. Er sah nur sehr wenige lebende Menschen und verbrachte die meiste Zeit damit, Läden und Banken zu
durchstöbern, wo er Diamanten und Gold mitnahm. Wenn die Ausbeute zu groß wurde, versteckte er sie entlang der Strecke, wobei er sehr detaillierte Karten über die Verstecke anfertigte. In den Grand Tetons überkamen Ben plötzlich Gewissensbisse: Bisher hatte er das Funkgerät, das Ike ihm gegeben hatte, noch nicht benutzt. Also nahm er das Gerät in einer kalten, klaren Nacht in Betrieb. »Du Hurensohn!«, brüllte Ike in Mississippi, seine wütende Stimme drang laut aus den Kopfhörern. »Wo zum Teufel hast du verdammt noch mal gesteckt? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, du nichtsnutziges Arschloch! Du…« Megan übernahm das Mikrofon, ihre Stimme war ruhig. »Wie ist es dir ergangen, Ben?«, fragte sie. »Gut, Megan. Ich habe viel vom Land gesehen und kleine Gruppen darauf vorbereitet,… in die Gegend zu gehen, von der wir gesprochen haben. Wie ist die Situation bei euch? Abgesehen davon, dass Ike die Geduld verloren hat…« »Logans Leute waren einmal hier, und es gibt Gerüchte, dass sie zurückkommen werden. Nächstes Mal werden sie wohl ein bisschen ungemütlich, wenn es um unsere Umsiedlung geht.« »Was haben sie über Ikes Waffen gesagt?« »Sie sagten, er müsse sie abgeben.« »Kein Hurensohn nimmt mir meine Waffen ab!«, brüllte Ike im Hintergrund. »Sei still, Ike«, zischte Megan. »Ben? Es wird erzählt, dass Logan sich darauf vorbereitet, gegen diese Schwarzen vorzugehen, die sich in Louisiana und Teilen des südlichen Mississippi niedergelassen haben. Er hat ihnen diesen Herbst als spätesten Termin gegeben. Irgendein Söldner soll die Offensive anführen.«
»Kenny Parr. Ich kenne ihn – er ist kein guter Mensch. Aber Neu-Afrika hatte nie eine Chance, um es gleich zu sagen. Ich habe ihnen das gesagt.« Jetzt war Ike wieder zu hören. »Bereiten wir uns darauf vor, zu handeln, General?« »Ja«, antwortete Ben. Jetzt hatte er den letzten Schritt hin zur völligen Verpflichtung vollzogen. »Ich sehe euch beide in einer Woche oder so.« Ben beendete den Funkkontakt.
Zwei Tage später sprach er mit Dr. Chase und seiner Frau. »Zeit zum Handeln?«, fragte der Arzt. Ben nickte als Antwort. Chase lächelte. »Geben Sie Ihren Plan auf, die Geschichte der Tragödie aufzuschreiben?« »Im Augenblick ja, Doktor. Ich weiß, Sie möchten Teil der Rebellen sein, also sammeln Sie Ihre Leute, und brechen Sie nach Idaho auf.« Er entfaltete eine Karte. »Genau hier. Räumt alles aus, wenn ihr geht. Nehmt alles mit. Ich möchte alles haben, von dem ihr glaubt, dass wir es gebrauchen können. Es rostet und verrottet, falls wir – oder sonst jemand – es nicht nehmen. Also benutzen wir es für den Wiederaufbau.« »Die besten medizinischen Einrichtungen der ganzen Welt.« Chase lächelte. »Ein Traum wird wahr.« »Also, packen wir es an.« »Das hört sich nach einem Befehl an, Mr. Raines.« »Wenn Sie es als solchen nehmen wollen, Captain…« Chase grinste. »Ja, Sir, General.« Er salutierte. Ben erwiderte das Lächeln. »Das ist der nachlässigste militärische Gruß, den ich je gesehen habe, glaube ich.«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Zum Teufel, ich war im medizinischen Korps – nicht einer von euch verrückten Kampfsoldaten.«
Die Menschen lassen sich nur bis zu einem gewissen Maß schikanieren, bevor sie sich zur Wehr setzen. Es bedarf dafür ziemlich viel Herumschubserei, aber selbst bei den sanftmütigen Menschen gibt es eine bestimmte Grenze, die man besser nicht überschreitet. Nach drei Jahrzehnten voller Geldverschwendung, hoher Steuern, einem schrecklichen Krieg ohne Sieg, politischer Umwälzungen, Rassenunruhen, mehreren Fast-Wirtschaftskrisen und schließlich einem Weltkrieg, wie er in der Geschichte noch nie zuvor vorgekommen war, wurden viele Amerikaner, die am Leben geblieben waren… wütend. Nun, da Logans Agenten in kleine Gemeinschaften einbrachen, um die Menschen herumzuschubsen, begegnete man ihnen in vielen Fällen mit Gewalt. Widerstandsgruppen wurden gebildet, hastig zusammengestellt, ohne dass man sich viele Gedanken über die Qualifikation der Mitglieder als Krieger machte. Sie wurden brutal zerschmettert von Logans Privatarmee. Viele Militärangehörige quittierten den Dienst; sie desertierten lieber, als dass sie als Logans Schläger agierten. Die neu organisierten Joint Chiefs of Staff trafen sich, diskutierten über das Thema, und das Oberhaupt der JCs ersuchte um ein Treffen mit Präsident Logan. Admiral Stevens zeigte mit dem Finger auf seinen Oberbefehlshaber und feuerte eine regelrechte Salve ab: »Jetzt hören Sie mir gut zu, Mr. Präsident. Sie werden amerikanische Militärangehörige nicht als unser Äquivalent zu den Black and Tans benutzen, die vor Jahren in Irland eingesetzt wurden.«
»Den was?«, fragte Logan. Er hatte sich nie besonders mit Geschichte beschäftigt. Das Fach langweilte ihn. Admiral Stevens seufzte, beherrschte sich und dachte: Du dummer Hurensohn. Laut sagte er: »Schlägertypen.« »Oh.« »Ich stimme Ihnen zu, Mr. Präsident, wir müssen diese Nation als Ganzes bewahren, aber nicht, indem Amerikaner anderen Amerikanern den Schädel einschlagen. Wir werden die Ordnung bewahren, wie sie von der Verfassung vorgegeben ist, aber soweit es mich betrifft, wird das Kriegsrecht hiermit aufgehoben, und die Verfassung ist wiederhergestellt.« »Ich bin derjenige, der sagt, wann es soweit ist, Admiral. Nicht Sie.« »Mr. Präsident, Ihr Plan ist gut – so weit er reicht – falls, und das ist ein verflucht großes Falls, das amerikanische Volk damit einverstanden ist. Offensichtlich sind es nicht viele Leute. Also lassen Sie sie in Ruhe. Wir sind alle Amerikaner, wir haben alle die gleichen schrecklichen Erfahrungen gemacht und es irgendwie geschafft zu überleben. Meine Leute – das Militär – haben nicht die Männer oder die Zeit oder die Lust, durch dieses in Trümmern liegende Land zu eilen, um die Menschen zu zwingen, aus ihren Häusern auszuziehen. Sie machen da nicht mit. Ich habe Schiffe ohne Kapitäne oder Besatzung, elektronische Ausrüstung ohne jemanden, der sie bedient, Militärbasen, die praktisch leer sind – das ist in allen Sparten gleich. Und es gibt verdammt viele Basen, die in die Luft gesprengt wurden, deren Ausrüstung und Flugzeuge zerstört sind. Und das ist passiert, seitdem die Kriegshandlungen aufgehört haben.« »Diese verdammten Rebellen!«
Der Admiral zuckte die Achseln. »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Möglicherweise glauben sie, wenn Sie eine Söldnerarmee aufstellen können, vermögen sie das auch.« »Ich bin zufällig der Präsident dieser Vereinigten Staaten, Admiral. Ich hätte gerne eine Gruppe von Kämpfern, die mir gegenüber loyal sind – und ich spüre, dass Sie es nicht sind.« Der Admiral versteifte sich wegen der Kränkung bezüglich seiner Loyalität. »Sir, ich bin diesem Land gegenüber loyal – nicht irgendeinem Mann, sondern der Nation als Ganzes. Das Militär hat Ihren Arsch in diesen Stuhl gehievt, und wir können ihn verdammt noch mal auch wieder hinausbefördern.« Logan lächelte. »Nein… ich glaube nicht, dass Sie über die Kriegsstärke verfügen, um das zu schaffen, Stevens.« »Wird das Spiel so gespielt, Logan?« Logan kicherte. »Mein Ball, mein Schlagholz – und meine Regeln.« Der Admiral nickte steif. »Ich verstehe ihren Standpunkt… Sir.« »Bestens. Sie können jetzt gehen.« Nachdem der Admiral steif, als habe er einen Stock verschluckt, den Raum verlassen und die Tür auf seinem Weg nach draußen zugeknallt hatte, hob Logan den Hörer seines Telefons ab. »Ja, Sir«, sagte ein Berater. »Geben Sie mir diesen Söldner, Parr, unten in Georgia.«
Ben bog um fünf Uhr nachmittags in seine Auffahrt ein. Nichts hatte sich verändert, außer dass jetzt Blumen auf dem Rasen wuchsen, wo vorher keine gewesen waren. Neben dem Haus parkte ein Kombi. Seit er den Stadtrand von Shreveport erreicht hatte, waren Ben Hunderte von Schwarzen begegnet. Mit niemandem von
ihnen hatte er Ärger gehabt; sie alle waren freundlich gewesen, hatten ihm zugewinkt und mit ihm geplaudert, wenn er angehalten hatte. Nun, dachte Ben, indem er aus dem Lastwagen ausstieg. Es gibt eine Menge Land. Ich werde kein Blut vergießen, nur für ein kleines Stück Land in Louisiana. Er ließ seine M-10 auf dem Sitz liegen und ging auf dem steinernen Fußweg zur Vordertür. Er fühlte sich irgendwie albern, an seine eigene Vordertür zu klopfen. Aber als er seine Hand hob, um an die Tür zu klopfen, schwang die Tür auf. »Komm herein, Ben Raines«, sagte Salina. »Ich habe auf dich gewartet.« »Hallo, Salina.« Ben erwiderte das Lächeln. Er revidierte seine ursprüngliche Beurteilung von ihr: Sie war nicht nur eine gut aussehende Frau. Sie war wunderschön. »Ich wollte dich gerade hereinbitten, Ben, aber das wäre ziemlich dumm von mir, oder? Dies ist immerhin dein Haus.« Ihre Augen erspähten Juno. »Was für ein schöner Hund! Wie heißt er?« »Juno.« Sie hockte sich hin und hielt ihre Hände ausgestreckt vor sich hin. Juno drängte sich an Ben vorbei und kam zu ihr, wobei er sie fast umwarf vor lauter Eifer, gestreichelt zu werden. Ben ging an ihnen vorbei ins Haus. Es hatte sich nicht viel verändert; nur war das Haus wesentlich hübscher und sauberer als zu der Zeit, als er es verlassen hatte. Er sprach es laut aus. »Du bist ein Junggeselle – ein Mann.« Sie lächelte. »Die meisten Junggesellen haben nicht viel für Hausarbeit übrig.« Ein boshaftes Licht schlich sich in ihre Augen. »Un’«, sie sprach die Worte gedehnt aus, »wir Neger sin’ seit Jahrhunderten drauf dressiert, uns um das Haus unseres Herrn und Meisters zu kümmern, wenn er weg is’, um wichtige Dinge zu erledigen.«
»Hör auf damit, Salina.« Er sah das Blitzen in ihren Augen, und ihm wurde klar, dass sie ihn bloß aufgezogen hatte. Er zahlte es ihr zurück, so gut er konnte. »Du bist doch nur eine Halbnegerin. Also sollte das Haus auch nur halb sauber sein.« »Okay.« Sie lachte. »Unentschieden. Bist du hungrig, Ben? Das Abendessen ist um sieben fertig. Es werden Gäste herkommen. Wir wussten, dass du kommen würdest.« »Und woher?« »Buschtrommeln!« Ben schnitt eine Grimasse, während sie lachte. »Ich werde um sieben hungrig sein, das versichere ich dir.« Die Blitze in ihren Augen flammten auf zu einem Feuersturm. »Nun, ‘s gibt Maisbrot, Rückenspeck und grünes Gemüse.« »Salina…!« Sie lachte. »Denkst du, ich nehme dich auf den Arm?« Das tat sie nicht.
Ben saß mit Salina, Cecil und Lila, Pal und Valerie im Arbeitszimmer. »Wenn ich Euch so sehe, bekomme ich langsam das Gefühl, dass ich der einzige Mondstrahl in einer dunklen Nacht bin«, meinte er. Sie waren nicht beleidigt – das hatte Ben vorher gewusst – sondern stimmten in sein Gelächter ein. Es war wirklich eine dunkle Nacht, und das Haus wurde nur von Lampen und Kerzen erleuchtet. »Wartet noch einen weiteren Monat«, sagte Cecil, »und die volle Leistung ist wiederhergestellt. Das haben mir die Ingenieure gesagt.« Pal lachte und lehnte sich nach vorne, um Ben anzublicken. »Die Wahrheit, Ben: Was war der erste Gedanke, der dir bei Cecils Bericht in den Sinn kam?«
»Manipulation durch die Nigger«, antwortete Ben wahrheitsgemäß. »Du bist ein ehrlicher Mann, Ben Raines«, sagte Lila. »Okay, wie bekämpfen wir diese Art zu denken? Nicht dass du es böse gemeint hättest; ich glaube nicht, dass es so ist. Aber diese… Denkweise ist vielen Weißen so in Fleisch und Blut übergegangen – wie kommen wir darüber hinweg?« »Durch Erziehung und dadurch, dass wir es noch intensiver versuchen. Das ist meine Meinung.« »Erziehung…?« Salina ließ die Frage unvollendet. »Auf beiden Seiten, natürlich.« »Lasst uns heute Abend einfach gesellig sein«, meinte Valerie. »Nervt den armen Mann nicht mit Rassenproblemen. Wir sind nur sechs Leute, alle satt nach einem guten Essen, also lasst uns einfach nur ein bisschen entspannen, ja?« »Das macht mir nichts aus, Valerie«, erwiderte Ben. »Wirklich nicht. Wären die Leute unseres Landes so wie jetzt schon vor Jahren zusammengekommen, hätte so vieles erreicht werden können.« Ben war für einen Moment ruhig, dann fragte er: »Kasim?« »Er ist in der Gegend«, antwortete Cecil. »Als er erfuhr, dass du herkommen würdest, fluchte er und entschied, sich Salinas Einladung zu schenken – die auszusprechen sie sich gezwungen fühlte, muss ich zu ihrer Verteidigung sagen. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich ein Bein ausgerissen, um herzukommen. Er empfindet etwas für Salina, was sie, zu Kasims Bedauern, nicht erwidert.« »Und es niemals tun wird«, fügte Salina hinzu. »Er ist ein Schwein!« »Er ist ein ungebildeter Mann, Salina«, sagte Lila sanft. »Er ist ein Arschloch!«, erklärte Salina mit ausdrucksloser Stimme.
Cecil schüttelte den Kopf und fragte: »Willst du bleiben, Ben?« »Nein. Ich fahre zuerst rüber ins nördliche Mississippi und dann in Richtung Nordwesten.« Er begegnete Cecils ruhigem Blick. »Cecil, so lange, wie ihr Kasim in eurer Gesellschaft habt, kann es nicht funktionieren.« Der Mann zuckte die Achseln. »Ich schätze, du hast Recht; er ist zu hasserfüllt. Aber was soll ich tun, Ben? Ihn töten? Ihn vertreiben?« »Ich weiß, was ich tun würde, Cecil, aber ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Er ist dein Problem. Falls er jemals zu meinem werden sollte, wird er nicht lange ein Problem sein.« Dann berichtete er der Gruppe alles, was er über die neue Regierung wusste, was er gesehen und gehört hatte. Und es überraschte Ben nicht, zu erfahren, dass sie mehr darüber wussten als er. »Ja«, sagte Pal. »Wir hören die Funkübertragungen ab. Aber vielleicht lässt Logan uns lange genug in Ruhe, bis… nun, bis wir stark genug sind, seinen Streitkräften zu widerstehen. Alles, was wir wollen, ist leben und leben lassen.« Ikes Worte, dachte Ben. »Du bist herzlich eingeladen, die Nacht bei uns zu verbringen, Ben«, bot Lila an. Ben lächelte. »Dies ist mein Haus.« Sie richtete den Blick auf Salina. »Dann kommst du vielleicht besser mit uns, Salina.« »Mir gefällt es hier«, erwiderte Salina. Ben konnte ihren Blick im schwachen Licht auf sich spüren. Cecil schüttelte den Kopf und kräuselte missbilligend die Lippen. »Du machst einen Fehler, Mädchen – das wird nur böses Blut hervorrufen. Das musst du doch wissen.« »Das ist meine Entscheidung.«
»Du bist zur Hälfte schwarz und zur Hälfte weiß«, sagte Lila mit einem Anflug von Ärger in der Stimme. »Triffst du hier deine Entscheidung? Ist es das?« »Du bist die Einzige, die über Farben und Entscheidungen redet. Wenn Ben farbenblind ist, bin ich es auch.« Pal und Valerie saßen ruhig da, ohne zu sprechen. Sie hielten sich aus der verbalen Konfrontation heraus, die nun ausschließlich zwischen den beiden Frauen stattfand. »Du weißt, dass Kasim vor Wut schäumen wird, wenn er hört, dass du… die Nacht mit Ben verbracht hast. Und Ben« – sie richtete den Blick auf ihn – »es ist nichts falsch an Sex zwischen zwei Erwachsenen. Aber hier geht es um viel mehr als nur um Sex. Versuche es mal aus unserem Blickwinkel zu sehen.« Ben zuckte die Achseln. »Dann lass ihn doch einen Wutanfall bekommen«, meinte Salina. »Der dumme Bastard ist sowieso schon halb verrückt.« »Salina…« Lila lehnte sich nach vorne und nahm ihre Hände. »Denk darüber nach. Denk…« Salina zog ihre Hände mit einem heftigen Ruck weg. »Ich habe darüber nachgedacht!«, unterbrach sie Lila barsch. »Mein ganzes verdammtes Leben lang habe ich darüber nachgedacht. Wohin gehöre ich? Glaubt mir, ich bin diejenige, die mit dieser Frage leben muss, nicht ihr. Fünfundzwanzig Jahre habe ich damit gelebt. Wenn ich eine Aussage mache, die der – Zitat – ›schwarzen‹ Denkweise widerspricht, springt mir mein weißer Vater ins Gesicht. Wenn ich mit einer Gruppe von Weißen zusammen bin und etwas zur Verteidigung einer schwarzen Person sage, stürzt sich meine Niggermama auf mich. Und jetzt denkt nicht auch nur eine Sekunde lang, dass ich nicht daran gedacht hätte ›überzuwechseln‹. Ich habe nicht nur daran gedacht, sondern es auch getan, viele Male. Hey, ich liebe die weiße Welt. Sie ist frei, und es ist viel einfacher, sich in ihr zu
bewegen. Also, bei Gott« – sie schlug mit einer kleinen Faust auf den Kaffeetisch – »niemand von euch darf sich anmaßen, mir zu sagen, was ich tun darf und was nicht. Ich werde tun, was ich tun möchte und wann ich es tun möchte. Und mit wem auch immer ich es tun möchte.« Sie sprang auf die Füße und rannte weinend aus dem Zimmer. Ben äußerte sich klugerweise nicht zu Salinas Entscheidung und goss sich eine neue Tasse Kaffee ein. Er fragte höflich: »Möchte noch jemand Kaffee?« »Danke, nein«, erwiderte Cecil. Ein kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Stocherst du immer in Hornissennestern, wohin du auch gehst?« »Das ist nicht fair«, meinte Valerie. »Ben hat nichts weiter getan als heimzukommen. In sein Heim.« Lila, die ihre Fassung wiedererlangt hatte, lachte über den schmerzlichen Gesichtsausdruck ihres Mannes und tätschelte sein Bein. Valerie sagte: »Es wird deswegen Ärger geben, Ben. Kasim wird tatsächlich Amok laufen.« »Willie, meinst du?«, entgegnete Ben. Die Worte schlüpften aus seinem Mund, bevor er sie stoppen konnte. Valerie blickte verständnislos drein – sie kannte Kasims Vornamen nicht. »Das ärgert Weiße, nicht wahr?«, fragte Cecil, indem er seine Pfeife stopfte. »Diese Muslimsache, meine ich.« »Ärgert?« Ben schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass ›ärgern‹ das richtige Wort ist. Ich glaube, dass viele Weiße darüber amüsiert sind. Und vielleicht fürchten sie sich auch davor – wenn sie das zugeben würden.« »Hm. Sie fürchten sich. Das tun auch viele Schwarze. Aber dass sie amüsiert sein sollen… Warum?«, fragte Cecil. »Weil sie nicht glauben, dass die Schwarzen ihre Religion ernst nehmen. Sie glauben, dass sie es einzig und allein deshalb tun, um anders zu sein. Turbane und Roben tragen.«
Cecil lächelte. »Fändest du es furchtbar schwierig zu glauben, dass ich ebenfalls darüber amüsiert bin – zumindest bei einigen Schwarzen?« »Nein, überhaupt nicht. Du bist ein gebildeter Mann, und einer, der gerecht denkt.« Juno erhob sich vom Boden, streckte sich und folgte Salina ins Nebenzimmer. Cecil meinte: »Wenn sowohl der Mann als auch das Tier eine Frau akzeptieren, vermute ich, dass der Fall damit erledigt ist.« Er zündete seine Pfeife an. »Sei vorsichtig, Ben Raines, der meiste Druck in Beziehungen zwischen verschiedenen Rassen kommt eher von innen als von außen.« »Dessen bin ich mir bewusst.« Cecil sah ihn an, sein dunkelhäutiges Gesicht war vielsagend in der düsteren Beleuchtung. »Also glaubst du, dass Bildung der Schlüssel für die Akzeptanz einer schwarzen Person durch die Weißen ist, wie?« »Bildung auf beiden Seiten, ja. Und auch Anpassung auf beiden Seiten. Die Keimzelle.« »Ja, das habe ich schon bei dir gelesen. Man muss sich um die Erzieher kümmern, bevor die Dinge sich ändern können, oder wie? Interessant. Obwohl es mich ziemlich an Orwell erinnert.« Das waren Dr. Chases Worte. »… Ich weiß nicht, wie du das schaffen willst«, bemerkte Cecil. »Ich werde dir was sagen, Ben. Ich werde dir etwas sagen, weil wir jetzt hier sind. Ich glaube, du warst zu lange Zeuge der Aktionen zwischen den Rassen und hast dich entschieden, neutral zu bleiben.« Er hob die Hand, als Ben gerade den Mund öffnen wollte, um zu protestieren. »Nein, lass mich das beenden, Ben. Bitte. Lass mich dir versichern, dass die Schwarzen sämtliche Argumente
der Weißen kennen. Wir kennen sie alle auswendig – zum Teufel, wir haben sie unser ganzes Leben lang gehört. Bereit? Gut. In einer Wahl wählen die Schwarzen eher nach der Farbe als nach dem Intellekt, selbst wenn der Schwarze weniger qualifiziert ist als der Weiße. Ja, das ist wahr. Zumindest in fast jeder Wahl, die ich je gesehen habe. Aber, mein Gott, Ben, wie sollten die Schwarzen denn sonst angemessen repräsentiert werden? Ich meine… schließlich sollen wir auf unserem Platz bleiben. Wo zum Teufel auch immer das sein soll. Nigger stehlen. Nun, das ist große Scheiße, und wir beide wissen es. Zumindest die Konnotation, die die Weißen damit verbinden, ist völliger Schwachsinn: dass alle Schwarzen stehlen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie irgendetwas gestohlen. Aber weil ich schwarz bin, bin ich um kein Haar besser als die Schwarzen, die wirklich stehlen. Das macht genauso viel Sinn, als wenn man sagen würde, alle Italiener gehörten zur Mafia. Nigger haben keine Moral; alles, was sie wollen, ist Saufen und Ficken. Warst du häufig in Bars, Ben? Hast du viel Konversation – und ich benutze dieses Wort mit einem Lachen, wenn ich den Intellekt des durchschnittlichen Proleten bedenke – mit Proleten geführt? Muss ich noch mehr dazu sagen? Der Nigger ist faul und will nicht arbeiten. Manche schwarzen Menschen sind faul, ebenso wie manche weißen. Das ist wohl ungefähr gleich. Nigger sind Klugscheißer. Soll heißen: Rede nicht anmaßend mit einer weißen Person. Du bist weniger wert als ich. Streite nicht mit einem weißen Mann. Krieche vor ihm. Ja, Sir – nein, Sir. Nigger sind gefühlsbetont. Ja, viele von uns sind das. Es gibt zwischen Schwarzen und Weißen sowohl einen kulturellen Unterschied als auch einen, der die Pigmentierung betrifft.
Aber es amüsiert mich, Ben, das einige Weiße sagen zu hören. Insbesondere, wenn man jemals Zeuge von dem Treiben in einer weißen Kirche zu Pfingsten war, oder irgendeiner anderen dieser Sorte. Du verstehst, was ich meine, Ben! Ich muss hier wohl nicht fortfahren. Der springende Punkt ist folgender: Wie soll man diese Mythen und Vorurteile in eurer Gesellschaft bekämpfen? Und ja, wir wissen von euren Plänen. Wir haben eine gute elektronische Ausrüstung hier in der Gegend. Unsere Leute haben einige hervorragende Nigger-Manipulation geleistet.« Dieser Satz wurde von einem Lächeln begleitet, und Ben musste lachen. »Ben? Ich habe nicht darum gebeten, hier den Anführer zu spielen. Eines Tages blickte ich auf, und diese Aufgabe wurde mir übertragen. Niemand fragte, ob ich sie wollte. Sie übergaben sie mir einfach. Ich brauche und will kein NeuAfrika. Ich war mein ganzes Leben lang in ›deiner Welt‹ akzeptiert. Mein Vater war Psychiater, meine Mutter Collegeprofessorin. Ich habe den Titel eines Doktors der Philosophie – und nicht von einem eurer rein schwarzen Colleges aus dem Süden. Ich habe hart gearbeitet, um meine akademischen Grade zu bekommen. Mein Vater sorgte dafür – keine Bevorzugung. Ich habe eine verdammt gute Universität mit einer guten Note abgeschlossen. Ich bin seit zehn Jahren verheiratet und habe noch nie mit einer anderen Frau geschlafen.« Er lächelte. »Aber die Versuchung war manchmal fast überwältigend.« Lila bewegte sich an seiner Seite. Schmunzelnd sagte sie: »Ja, rede dich um Kopf und Kragen, Dummkopf.« »Logan?« Cecil spuckte das Wort aus. »Er hasst die Schwarzen und hat das schon immer getan. Diejenigen unter uns, die über eine gewisse Bildung verfügten, haben seine leeren Phrasen durchschaut. Und er wird versuchen, uns zu
vernichten – mit der Hilfe seiner Söldner. Und wahrscheinlich wird er das auch schaffen. Aber wir müssen es einfach versuchen, Ben. Wir müssen versuchen – nein! – wir müssen diesem Weißling zeigen, dass wir ohne seine Hilfe eine christliche, anständige, produktive Gesellschaft errichten können. Kasim? Scheiß auf Kasim! Er hat nicht alle Tassen im Schrank. Er war ein Blödmann von der Straße und wird das immer bleiben. Eines Tages wirst du aufsehen, Ben – ich glaube, schon sehr bald – und die Aufgabe des Anführers wird dir übertragen werden. Genau wie ich willst du sie nicht, aber du wirst sie übernehmen, weil du an deine Träume von einer gerechten Welt, einer gerechten Gesellschaft glaubst. Ich lese in dir wie in einem guten Roman, Ben. Du warst leicht zu durchschauen, als du gesagt hast, dass du nicht bleiben, sondern nach Westen gehen wolltest. Du gehst in die Staaten, die Logan für einige Zeit in Ruhe lassen wird. Und du wirst deine eigene kleine Nation aufbauen. Genau wie wir es hier versuchen. Ich wünsche dir viel Glück – du wirst es brauchen. Ich werde – wir werden – uns dir dort draußen vielleicht anschließen.« »Ihr wärt willkommen, Cecil. Es gibt zu wenige wie dich und Lila und Pal und Valerie.« »Und Salina«, fügte Lila mit einem Funkeln in den Augen hinzu. Ben lächelte. »Und du hast Recht, Ben«, sagte Cecil. »Es liegt am Zuhause. Die Keimzelle.« Bens Worte. »Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an Mozart und Brahms«, erinnerte sich Cecil. »Aber denkst du, der durchschnittliche Weiße aus dem Süden würde das glauben? Keine Chance. Er würde schätzen, es wäre schwarze Musik –
die ich verabscheue –, während er der Musikbox einen Schlag versetzt und sich für das Geheul und Gebrüll der Countrymusik entscheidet. Mein Vater saß immer in seinem Arbeitszimmer und hörte sich gute Musik an, während er, mit einem Brandy in der Hand, seine Fälle durchging. Meine Mutter trank Sherry – keinen Ripple« – er lachte – »wenn sie ihre Unterlagen vom College überarbeitete. Mein Familienleben führte mich hin zu einem gemäßigten, intelligenten Lebensstil. Mein Vater sagte zu mir, wenn ich wolle, könne ich Sport treiben, aber dabei die Dinge im richtigen Verhältnis sehen und immer daran denken, dass es sich hier nur um ein Spiel handle. Und sonst nichts. Nein, Ben, ich bin nicht wie das durchschnittliche schwarze Kind aufgewachsen. Daher weiß ich, dass das, was du sagst, wahr ist. Das Zuhause ist die Keimzelle. Ich bin in die Oper gegangen, Ben. Wirklich! Wie viele gewalttätige Menschen gehen in die Oper? Wie viele ignorante Menschen sehen sich Theaterstücke an und besuchen klassische Konzerte? Wie viele bigotte Personen – aller Rassen – lesen Sartre, Shakespeare, Tennyson, Dante?« Er winkte ab. »Nein, die bigotten und gewalttätigen Ignoranten suchen sich andere, niedere Formen der Unterhaltung. Und ich spreche nicht bloß von Musik. Und weißt du, warum ich den Green Berets beigetreten bin, Ben?« Ben schüttelte den Kopf. »Weil ich Gewalt aus erster Hand miterleben wollte. Da, wo ich aufgewachsen bin, gab es keine Straßengangs. Ich habe es getan, weil ich versuchen wollte, Gewalt zu verstehen.« Er lachte laut und schlug sich aufs Knie. »Na gut, ich habe etwas über sie herausgefunden – ich wurde in Laos in den Hintern geschossen.«
»Das reicht«, meinte Lila. »Ihr beiden solltet den Krieg nicht noch einmal durchkämpfen. Ich habe eure Geschichten alle gehört. Morgen ist ein Arbeitstag. Lass uns nach Hause gehen.« Alle standen auf, und Cecil sagte: »Unsere Völker haben beide einen Weg zu beschreiten, Ben.« »Meinst du, wir schaffen es?« »Ich weiß es nicht. Aber ich wette, dass wir mit deinen Ideen und meinen Ideen einen verdammt guten Versuch machen könnten. Denk darüber nach, Ben Raines.« Nachdem sie sich eine gute Nacht gewünscht und voneinander verabschiedet hatten, da Ben am Morgen abfahren wollte, ging Ben ins Schlafzimmer. »Geht es dir jetzt wieder gut?« »Natürlich«, antwortete Salina. Ihre Stimme klang dünn. »Ich liege ständig im Dunklen und heule und schniefe.« »Hast du alles gehört, was gesagt wurde?« »Ich bin nicht taub, Ben.« »Nun… möchtest du morgen früh mit mir von hier wegfahren?« »Vielleicht bin ich gern hier.« »Sicher. Bleib hier, und wenn du nicht von Parrs Söldnern getötet wirst, kannst du Kasim heiraten und bis an dein Ende glücklich leben.« »Das ist ganz bestimmt die furchtbarste Idee, die irgendjemand äußern könnte. Danke, nein.« »Ich wiederhole: Möchtest du mit mir von hier wegfahren?« »Warum sollte ich?« »Du könntest ein paar Sehenswürdigkeiten zu Gesicht bekommen, die du noch nie zuvor gesehen hast.« »Ben, das ist für einen Autor eine ziemlich dumme Aussage. Falls ich sie noch nie zuvor gesehen habe, würde ich sie natürlich zum ersten Mal sehen.«
»Bitte?« »Dieser Grund ist nicht gut genug, Ben.« »Nun… verdammt noch mal! Ich mag dich, und du magst mich.« »Das ist schon besser. Bist du sicher, dass du mit einem Zebra reisen möchtest?« Ben dachte plötzlich an Megan. »Ich werde allen erzählen, dass du zu lange in der Sonne warst. Aber lass uns eins klarstellen: Wenn ich dir sage, du sollst das Stöckchen holen, legst du dich besser ins Zeug, Baby.« »Fuck you, Ben Raines!« Sie kicherte. »Sowas habe ich auch im Sinn.« Sie schlug die Decke zurück, und Ben konnte sehen, dass sie nackt war. Und wunderschön. »Komm schon her. Ich versichere dir, Weißling, es färbt nicht ab.«
VIER
Ben, Salina und Juno fuhren noch vor dem Morgengrauen in Richtung Süden ab, nach Mississippi. Salina war der Ansicht, es sei das Beste, wenn sie sich von niemandem mündlich verabschiedete; also hinterließ sie eine Nachricht auf einem Zettel. Auch Ben hielt das für das Beste. Juno äußerte keine Meinung – ihm gefiel es einfach, zu reisen. »Ich fragte mich schon, ob ich dogmatisch sei…«, meinte Ben. Schwache rote Lichtstreifen mischten sich am östlichen Himmel mit Grau. »… zumindest habe ich einige starke Ideen. Aber Cecil hat das in aller Deutlichkeit ausgedrückt, oder? Ich mag ihn.« »Stimmst du ihm zu, Ben?« »Ja. Wir stimmen beide darin überein, dass die Keimzelle für die meisten sozialen Probleme im Elternhaus liegt. Doch… meine Lösung dafür ist zu orwellisch – wie er es nannte. Und ich weiß noch keinen anderen Weg.« »Du könntest damit anfangen, dass du alle… wie soll ich sie nur nennen? Proleten?… einsperrst«, schlug Salina vor. Ben hatte den Eindruck, dass sie nicht scherzte. Er dachte: Sie mag vielleicht zur Hälfte weiß sein und fast völlig weiß aussehen – mit einem dunklen Teint – aber sie ist unter Schwarzen aufgewachsen. Die nächsten Monate werden bestimmt interessant. Oder die nächsten Jahre? Der Gedanke kam ihm plötzlich in den Sinn, und er fühlte sich dabei wohl. »Lass mich etwas über die Proleten sagen, Salina«, meinte er. »Ich weiß alles über sie, was man wissen muss. Ich habe Fotos gesehen, die dokumentierten, was während der Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigern in Alabama und
Mississippi passiert ist. Ich habe gesehen, wie sie Hochdruckwasserschläuche auf kleine Kinder gerichtet haben, habe gesehen, wie sie Steine und Flaschen geworfen haben, habe die ausgebombten und ausgebrannten Kirchen gesehen und die Leichen der getöteten Schwarzen. Ich habe viele der Darstellungen des Ku-Klux-Klans gelesen.« Sie schauderte. »Oh Ben…« »Hättest du dir diese Bilder etwas genauer angesehen, Salina, dann hättest du ebenso viel Furcht wie Hass in diesen weißen Gesichtern erkannt.« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und wartete. »Weißt du nicht, dass viele Weiße – wesentlich mehr, als es zugeben würden – Angst vor Schwarzen haben? Der Mythos des schwarzen Menschen – dieser halb tierischen Spezies, die nur ein paar Jahrhunderte vom Affen entfernt ist.« Ein kleines Lächeln kräuselte ihre Lippen. Sie kämpfte dagegen an. Ben fragte nicht, warum sie lächelte. Aber er hoffte, dass sie dabei an Kasim dachte. »Was die Proleten betrifft, Salina, erlaube mir, einen Augenblick lang den Advocatus Diaboli zu spielen. Damals, als die Dinge noch normal waren – wenn du damals auf dem Highway eine Reifenpanne gehabt hättest…« »Benutze mich nicht für dieses Beispiel, Ben«, unterbrach sie ihn. »Ich sehe nicht schwarz aus.« »Okay, dann eben zwei schwarze, tiefschwarze Frauen. Dein aalglatter Dandy im dreihundert-Dollar-Anzug im schicken Wagen hält nicht an, um diesen Ladies zu helfen – nicht in neunundneunzig von einhundert Fällen. Aber irgendein alter Knabe in einem Lieferwagen, der einen Cowboyhut oder eine Baseballmütze trägt und lehmverschmierte Stiefel, der hält an. Ich habe diese Szene über die Jahre hinweg hundertmal beobachtet. Und dieser alte Knabe arbeitet und schwitzt und schlägt sich die Knöchel an und flucht in sich hinein. Aber er
wechselt den Reifen für diese schwarzen Frauen. Üblicherweise. Und unglücklicherweise ändert sich das – deine guten alten Knaben waren die Ersten, die sich freiwillig für einen Krieg gemeldet haben. Nenne sie Proleten, wenn du willst – ich tue es – und viele von ihnen sind es auch. Der springende Punkt, Baby, ist dieser: In den meisten Menschen findet man irgendetwas Gutes, wenn man nur genau genug hinsieht. Vielleicht nicht viel, aber etwas. Natürlich nur, wenn er kein reiner Taugenichts ist, denn dann kann man ewig suchen und trotzdem nichts von ausgleichendem Wert finden.« »Kluckers – Mitglieder des Ku-Klux-Klans – haben ausgleichende Werte?« »Ich glaube, dass viele von ihnen gute, solide Familienväter sind, die für ihre Religion und in ihren Berufen hart arbeiten. Sind das keine ausgleichenden Werte, Salina?« Sie stimmte widerstrebend mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung des Kopfes zu. »Ich habe während meiner Zeit in deinem Haus alle deine Bücher gelesen, Ben. Du hast niemals viel über schwarze Erfahrungen geschrieben.« »Ich weiß nichts über schwarze Erfahrungen – wie du es nennst. Wie kann ich da irgendwas darüber schreiben?« Ein Lächeln umspielte ihren Mund. »Oh… das würde ich nicht sagen, Ben. Ich muss schon sagen, du hast letzte Nacht ziemlich gute Arbeit geleistet, was deine Beschäftigung mit den schwarzen Erfahrungen betrifft.« Ben stöhnte auf. »Sehr witzig, Salina. Yeah. Süß.« Sie lachte über seinen Gesichtsausdruck. »Ich glaube, Ben Raines, tief in dir begraben gibt es eine kleine bigotte Person.« »Da muss ich sicherlich zustimmen.« »Oh?« »Sicher. Ich habe Vorurteile gegen alle, egal von welcher Farbe, die Akzeptanz wollen, aber sich selbst weigern, sich anzupassen – sei es auch nur ein kleines bisschen. Ich stimme
zu, dass jeder das Recht hat, sich so zu kleiden, wie er oder sie will, aber wenn dieser Stil eklatant von der Norm abweicht, hat ein Ladenbesitzer auch das Recht zu sagen: ›Ich werde Sie auf keinen Fall einstellen – Sie würden meine Kunden zu Tode ängstigen‹. Es tut mir Leid, Salina, aber so empfinde ich es. Und bevor du mir ins Gesicht springst, erinnere dich daran, dass Cecil, und Pal auch, wie ich vermute, immer in – Anführungszeichen unten, meiner Welt, Anführungszeichen oben – akzeptiert waren. Sollen wir näher darauf eingehen, warum wohl?« »Oh, Ben! Diese Hypothese könnte ich leicht zerpflücken. Du kennst Cecil nicht so gut wie ich. Für Pal kann ich nicht sprechen – nicht wirklich – aber Cecil ist ein Snob, und, verdammt, ich schätze, du bist auch einer. Was Musik betrifft, den Geschmack bei Kleidung, Theater, Literatur – die ganze Palette eben.« »Also dann: Ein dreifaches Hoch auf den Snobismus, wenn du das meinst. Ja, ich bin ein ziemlicher Snob, Salina. Und ich werde mich verdammt noch mal nicht dafür entschuldigen.« »Mach weiter, Ben«, drängte sie ihn. »Spuck alles aus. Reinige die Luft, verstopfe alle Öffnungen.« Ben warf ihr einen Seitenblick zu und grinste. Sie schnitt eine Grimasse. »Sehr witzig, Ben. Yeah. Süß.« »Da gibt es gar nicht so vieles zu klären, Baby. Erziehung auf beiden Seiten. Anpassung – auch hier auf beiden Seiten…« »Worte, Ben – Worte. Ich habe sie alle schon mal gehört. Wie planst du sie in die Tat umzusetzen?« »Das werde ich nicht tun müssen. Weil die Menschen, die wir um uns versammeln, sie freiwillig anerkennen werden. Das ist, stark vereinfacht dargestellt, die Schönheit der Gesellschaft, die ich befürworte.«
»Korrigiere mich, wenn ich Unrecht habe, Ben. Du willst die Elite aller Rassen haben, und der Rest kann zum Teufel gehen?« »Das ist nicht das, was ich vor Augen habe.« »Aber nahe dran?« »Ähem… Okay. Es ist ein schwieriges Unterfangen, aber wir müssen mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft beginnen. Yeah, es darf einfach nicht wieder so werden wie früher…« »Es scheint, ein Mann namens Hitler hatte einen Plan, der ebenfalls in diese Richtung ging.« »Also wirklich, Salina! Verdammt noch mal. Vergleiche mich nicht mit diesem Schwachkopf.« »Honey…« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Sei nicht böse. Ich vergleiche dich nicht mit Hitler. Ich sage nur, dass es einige Mängel in deiner Logik gibt. Deine Vision ist großartig – zumindest das, was ich darüber weiß. Aber was ist mit den Menschen mit geringerer Intelligenz? Mit denen, deren Einfallsreichtum beschränkt ist? Für die hast du keinen Spielraum gelassen.« »Doch, den habe ich, Salina: Bildung.« »Erzwungene Bildung, Ben?«, fragte sie sanft. »Wenn es sein muss.« »Vielleicht wird es wirklich Zeit dafür«, war ihre Erwiderung. Sie griff nach einer Straßenkarte und blickte zuerst darauf und dann auf die Stadt, durch die sie gerade fuhren. »Ben, wo sind wir?« Ben blickte sich um und fluchte. Sie hatten so erhitzt geredet und gestritten, dass er die falsche Abfahrt genommen hatte. Sie mussten zehn Meilen zurückfahren, um auf die richtige Straße zu kommen.
Auf ihrem Weg durch Mississippi erzählte Ben ihr von Ike und Megan. Sie weigerte sich schlichtweg zu glauben, dass ein Mann, der in Mississippi geboren und aufgewachsen war, eine schwarze Frau heiraten würde. »Wenn ich es dir doch sage«, protestierte Ben. »Ich habe sie getraut, unten in Florida.« »Du hast sie getraut? Gott, was für eine Zeremonie muss das gewesen sein.« »Ich fand sie ganz schön. Außer dem Bier, das aus meinen Ohren lief.« »Eines Tages«, meinte sie in einem Tonfall völligen Unglaubens, »musst du mir davon erzählen.« Sie tätschelte seinen Arm. »Ich lasse es dich wissen, wo und wann.« Sie warf einen Seitenblick auf ihn und murmelte leise etwas vor sich hin.
»Hey, ich will verdammt sein!«, meinte Ike, indem er Salina in eine Bärenumarmung zog und sie auf den Mund küsste. »Der weiße Junge aus Louisiana hat sich ‘ne halbblütige Negerin gesucht. Hören die Wunder niemals auf?« Ben hatte Salina alles über Ikes SEAL-Karriere erzählt. Sie kämpfte gegen seine Umarmung an und gab dann auf. »Lass mich los, du… Wasserfreak!« »Oh, ich mag sie.« Ike grinste und ließ sie los. Megan nahm sie ins Schlepptau und sagte zu ihr, sie solle ihren Mann nicht beachten. Das Salzwasser hätte das wenige Gehirn, das er mal gehabt hätte, zerstört. Ben und Salina blieben zwei Tage bei Ike und Megan und sprachen über ihre Pläne, in den Westen zu gehen. Ike versicherte Ben, dass er seine Schuldigkeit tun werde – seine Leute seien damit beschäftigt, Lastwagen sicherzustellen und
alles zu sammeln, was man zum Wiederaufbau brauchen könne. Sie seien bereit zum Aufbruch. »Waren Logans Leute wieder da?«, fragte Ben. »Werden wohl nächsten Monat wiederkommen.« »Bis dahin werden wir uns niedergelassen haben.« »Werden Salina und du die Sache übernehmen?« »Wir fahren morgen früh.« »Funkt uns an, wenn ihr bereit für uns seid.«
Auf ihrem Weg nach Westen verbrachten Ben und Salina die erste Nacht an einem See an der Grenze zwischen Louisiana und Texas. Salina hatte in ihrem ganzen Leben noch nie gefischt, und Ben hatte viel Spaß daran, ihr die Grundkenntnisse beizubringen. Sie fing einen Flussbarsch und verletzte sich, als sie versuchte, ihn vom Haken zu befreien, und fluchte – sehr unladylike. Sie hielt Ben ihre Hand hin. »Tu was, damit der Schmerz nachläßt.« Ben goss etwas Jod auf den kleinen Schnitt. Nachdem sie ihren Schmerzenstanz beendet hatte, schubste sie ihn in den See und ging, indem sie ihn zappelnd und schreiend zurückließ, zur Hütte zurück. Ben setzte sich auf die Anlegebrücke und schlang eine Decke um sich. Er fluchte und fischte mürrisch weiter. Er fing einige Flussbarsche und säuberte sie an Ort und Stelle für das Abendessen. Es war friedlich am See. Die Sonne ging unter und überflutete das Wasser bis hin zum Ufer mit fantastischen Farbtönen.
Salina saß etwas von ihm entfernt auf einer Liege. Sie trug einen Bikini, der in eine Zigarettenpackung gepasst hätte, wobei noch Platz für ein paar Zigaretten geblieben wäre. Während er sich auf seiner eigenen Liege zurücklehnte, studierte Ben ihr Profil – und ihre Kurven, von denen es viele und aufreizende gab – im Glühen des verblassenden Sonnenlichtes. Sie war eine kleine Frau: ein Meter fünfundsechzig, hatte sie ihm erzählt. Ihre Gesichtszüge waren sanft und fein, ihre Haut von einem zarten Rehbraun. »Warum starrst du mich an?«, fragte sie. Sie drehte ihren Kopf und begegnete seinem Blick. »Weil ich dich gern ansehe. Du bist eine schöne Frau – sicherlich bist du es gewöhnt, von Männern angestarrt zu werden?« »Was hast du gedacht, als du mich angesehen hast? Sei ehrlich.« Ben grinste. »Klar«, sagte sie trocken. »Das. Natürlich.« »Unter anderem«, fügte er hinzu, was der Wahrheit entsprach. »Und der Weißling sagt, dass alle Nigger nur an Sex denken. Ihr kommt besser mit euch selbst ins Reine. Ihr seid Heuchler.« Bens Grinsen wurde breiter: »Nun, ich habe immer gehört, wenn ein Mann nur heiraten muss, soll er eine weiße Frau heiraten. Wenn er ‘ne gute Nummer schieben will, besorgt ihm ein schwarzes Mädchen.« Er wartete auf den Feuersturm. Sie erhob sich langsam von der Liege, kam zu ihm und zog ihn auf die Füße. »Alter Mann« – sie lächelte – »für diese Bemerkung wirst du bezahlen.« »Ich habe bloß wiederholt, was gesagt wird, das ist alles.« Ben zog sie an sich. Einen Moment lang standen sie da, stumm, aber ihre Lippen sprachen leise Botschaften.
»Aha«, flüsterte sie. Hand in Hand gingen sie zur Hütte zurück. Juno saß da und blickte zum dunkler werdenden Himmel auf. Und wenn man seine Gedanken hätte in Worte fassen können, wären es sicher diese gewesen: Menschen tun wirklich komische Dinge. Die Stadt Waco schien schwer getroffen worden zu sein. Aus dem, was sie sehen konnten, schloss Ben, dass weniger als ein Prozent der Bevölkerung überlebt hatte. Baylor war fast völlig verlassen; auf dem Campus waren nur eine Hand voll Leute zu sehen. »Warum, Ben«, fragte Salina, als sie durch die stillen Korridore einer naturwissenschaftlichen Fakultät gingen, »haben in einigen Städten so viele Menschen überlebt und in anderen fast niemand?« Er schüttelte den Kopf, nicht imstande, ihre Frage zu beantworten. Er wusste immer noch nicht, warum er überlebt hatte und andere nicht. Zurück im hellen Sonnenlicht fragte sie ihn: »Warum fährst du immer zu Universitäten und Colleges, Ben?« »Ich suche nach…jemandem.« Salina bemerkte das Zögern. »Ein weiblicher Jemand?« Er erzählte ihr von Jerre. »Hast du sie geliebt – liebst du sie?« »Ein bisschen, ja. Ich mache mir sehr viel Sorgen um sie.« »Hmm«, erwiderte sie. Sie hielten sich in Richtung Westen. Gelegentlich spürte Ben während der Fahrt, wie Salinas Augen ihn prüfend betrachteten, und er wusste, sie hatte Fragen, die sie ihm gerne stellen würde – über Jerre. Ben fragte sich, wie er darauf antworten würde, wenn die Zeit dafür käme. Er glaubte es zu wissen.
Weniger als ein Jahr nach dem weltweiten Krieg gab es wieder eine Regierung in den Vereinigten Staaten, mit Hilton Logan an der Macht. Die Ostküste wurde wieder besiedelt, vom Rand der ›heißen‹ Gegenden im Nordwesten bis hin nach Zentralflorida. Gesetz und Ordnung wurden für die Bürger von neuem eingeführt. Die Mitglieder des ehemaligen Berufsmilitärs sahen zu, wie Logans Armee unter dem Befehl von Colonel Kenny Parr Köpfe einschlug, Waffen konfiszierte, Menschen hin- und herschubste, und lauschte grimmig den Gerüchten über große Gruppen von so genannten Rebellen, die sich in Richtung Westen vorwärts bewegten und dabei ganze Städte ausräumten. Die Männer und Frauen, die zum gesetzmäßigen Militär gehört hatten, hatten jetzt wenig zu sagen und unternahmen nichts, außer sich zu fragen, was Logan als Nächstes tun würde. Logan wählte zu seinem Vizepräsidenten einen Mann, den die Berufssoldaten billigten; einen vernünftigen Mann, der die anstehenden Probleme und Aufgaben gegeneinander abwog und dann handelte, nicht aus Gefühlen heraus, sondern aus Überlegungen darüber, was seiner Meinung nach für das Land das Beste war: Aston Addison. Vielleicht, so dachten die Soldaten, gab es noch Hoffnung für die Nation.
Mitte Juni waren Ben und Salina im Staat Idaho zu finden, ganz am äußeren Rand der Großen Primitiven Zone, an der Südseite der Gabel. Ben hatte mit Ike gesprochen, und diejenigen, die einen freien Staat befürworteten, kamen von überall her nach Idaho. Ben schaltete das Funkgerät ein und meldete sich bei Ike. »Wie viele haben wir, Ike?« »Ungefähr fünftausend, vermute ich, die Rebellen nicht mitgezählt. Wie viele Überlebende sind da, wo du bist, Ben?«
»Verdammt wenige. Es ist wild und wunderschön, Ike.« »Nicht allzu weit von dort entfernt, wo du bist, gibt’s einen Zug von Army Rangers von Fort Lewis… oder besser gesagt, was von Lewis übrig ist. Sie haben sich von Logan abgespalten. Etwas unterhalb von ihnen befindet sich der Rest des SEAL-Teams von der Westküste. Sie halten auch nichts von Logan – aber sie halten viel von dem, was du und ich geplant haben und sind bereit, zu uns zu stoßen. Zum Wiederaufbau. Ich habe mit einigen Leuten aus der Gegend von Kanada gesprochen – sie wurden schlimm getroffen. Sie würden auch gerne mitmischen.« »Okay, Ike – packen wir es an.« »Ich sehe dich in ungefähr einem Monat, Partner. Entschuldigung – General.« »Was weißt du wirklich über Ben Raines?«, fragte Präsident Logan seine Frau beim Abendessen. Die Frage überrumpelte und erschreckte sie. Sie hatte seit Monaten nicht an Ben gedacht. Wusste nicht, ob er tot oder lebendig war. Sie dachte einen Moment über die Frage ihres Mannes nach. »Also… er ist ein ungehobelter Kerl, sehr arrogant, sarkastisch. Aber er ist auch ein sehr starker, widerstandsfähiger Mann – nicht bloß körperlich, sondern auch mental. Ich glaube nicht, dass er vor irgendwas Angst hat. Und er ist recht intelligent. Warum fragst du?« »Er hat die Befehlsgewalt über die Rebellen von Bull Dean.« »Wirklich?« »Ja. Aber ich weiß nicht, ob er die Befehlsgewalt tatsächlich übernommen hat. Zuerst hieß es, er hätte es nicht getan. Dann hieß es, er sei tot. Aber er wurde erst vor einigen Wochen im Westen entdeckt. Es gibt hartnäckige Gerüchte darüber, dass er dort irgendeine Art… Staat… Nation aufbaut. Hat er darüber
nicht irgendwann mal geschrieben? Über eine Art freien Staat?« »Ja. Das ist aber eher ein Schundroman. Warum im Westen?« Logan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Die Offiziere kooperieren nicht richtig mit mir, sie mögen mich nicht. Sie haben mich nie gemocht. Aber verdammt noch mal, ich tue doch nur, was ich für richtig halte und für das Land am besten. Und Colonel Parr ist völlig mit kleineren Revolten beschäftigt. Sobald er und seine Männer eine Gruppe niederschlagen, erscheint sofort die nächste. Mein Gott, man könnte annehmen, ich würde versuchen, ihnen ihr Sexleben wegzunehmen, statt nur ihre Waffen. Woher kommt diese morbide Faszination für Waffen überhaupt? Es ist tatsächlich so, dass Menschen sterben, weil sie um eine Waffe kämpfen. Es ist so dumm, Fran. Blödsinnig.« »Hilton?« Fran berührte seine Hand. »Lass Ben Raines in Ruhe.« Die Parole verbreitete sich im ganzen Land: Geht nach Westen. Wenn ihr den Dreck, der aus Richmond kommt, nicht mögt, geht nach Westen. Besorgt euch Lastwagen und geht nach Westen. Haltet an jeder Nationalgarde- und Reservewaffenkammer und räumt sie aus. Macht das Gleiche mit jeder Militärbasis. Sucht jede verlassene Stadt nach Gold, Silber und Edelsteinen ab. Nehmt jedes Teil an medizinischer Ausrüstung mit, das ihr finden könnt; bringt alles mit, was wir vielleicht gebrauchen können, von Strumpfhosen bis Bulldozern. Aber wenn ihr faul oder unmoralisch seid, wenn ihr lügt, betrügt oder ignorant seid, dann bleibt ihr besser fern… Dann passt ihr nicht in die Gruppe. Sagt den neunmalklugen Anwälten, dass sie verdammt noch mal draußen bleiben sollen; wir wollen sie nicht, brauchen sie nicht. Es wird nur wenige, sehr einfache Gesetze geben, die wörtlich befolgt werden müssen. Keine Unklarheiten. Keine
Ausnahmen. Kein Verhandeln. Keine inoffiziellen Absprachen. Kein Verdrehen von Worten – die Wahrheit zählt. Unsere Nation wird sich ein wenig von dem unterscheiden, an das ihr gewöhnt seid. Wir werden etwas ausprobieren und sehen, ob es funktioniert. Also lasst uns in Ruhe. Die Botschaft verbreitete sich in jedem Staat und in vielen Gegenden. Viele Menschen hörten sie, fanden sie gut und fingen an zu packen. Und viele Menschen hörten sie und sie gefiel ihnen nicht.
»Carl, er ist dein Bruder«, sagte Jeb Fargo. »Was leiert er da an?« Eine große Farm in Illinois; ein Gemeinschaftsunternehmen, das Tausende von Kilometer umfasste. Sie wurde geleitet von einer Gruppe von Männern und Frauen und lief unter keinem offiziellen Namen, aber deren Mitglieder hatten sich insgeheim die Lehren von Hitler und die Mentalität des Ku-Klux-Klans zu Eigen gemacht. Für Logan waren sie hart arbeitende, gottesfürchtige Leute, die keinen Ärger machten, sondern nur den Boden bestellen wollten und das tun, was am besten war, um der verwüsteten Nation wieder zu ihrer früheren Glorie zu verhelfen. Logan liebte sie. Addison fand sie verdächtig. Die Militärs wussten genau, um was es sich bei ihnen handelte. Ungewöhnlich viele Kirchen wurden überall auf ihrem Land gebaut. Aber es war schon irgendwie seltsam: Es gab überhaupt keine Farbigen oder Italiener oder Japaner oder Juden in dem Verein. Und ihre Kirchen lehrten keine Liebe – die Pfarrer predigten Hass. »Ben stand mir nie besonders nahe«, entgegnete Carl. »Der Altersunterschied war zu groß.«
»Wir sollten besser ein Auge auf das halten, was er tut. Vielleicht sogar nächstes Jahr mal ‘n paar Männer hinschicken. Du wärst der Verantwortliche. Du weißt, Carl, ich hatte auch mit dem Land dort für uns geliebäugelt. Gutes Vieh- und Farmland. Es heißt, Carl, dass dein Bruder mit ‘nem Niggermädchen zusammenlebt.« »Ben!« »Das ist das, was ich gehört habe. Zum Teufel, in den Nachrichten, die wir abfangen, ist zu hören, dass alle möglichen unerwünschten Leute auf dem Weg dahin sind: Schlitzaugen, Latinos, Nigger – alle Arten des Abschaums. Wir können das nicht zulassen, Carl. Können nicht zulassen, dass dieses Pack in einem der besten Landstriche dieses Landes Fuß fasst. Bruder oder nicht Bruder, er muss gestoppt werden.« »Wann willst du, dass ich dorthin gehe, Jeb?«, fragte Carl. »Ich werde natürlich gehen.« Der Gedanke an seinen Bruder, wie er gerade eine Niggerin küsste, drehte ihm den Magen um. »Ich werde es Sie wissen lassen, Major Raines«, sagte Jeb.
Viele Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten und Kulturen zogen nach Westen, um sich denen anzuschließen, die bereits dort waren. Da gab es einen jungen Mann namens Badger Harbin, der Ben und Salina in Idaho getroffen hatte. Er erschien einfach eines Tages vor ihnen, stellte sich vor und teilte ihnen mit, dass er bleiben wolle. Ben konnte nicht glauben, dass es jemanden mit dem Vornamen Badger gab, aber der junge Mann versicherte Ben: Doch, so habe sein Daddy ihn genannt.
Sid Cossman war ein New Yorker, einst Besitzer einer Radiostation in der nördlichen Provinz des Staates New York. Er hatte sie verloren, weil er sich geweigert hatte, sich den oftmals diktatorischen Launen der Federal Communications Commission zu beugen. Sid mochte den Großen Bruder nicht. Lieutenant Conger war Befehlshaber des Zuges eines Rebellenkontingents, der aus dem Osten kam. Bridge Oliver kam mit dem SEAL-Team aus Südkalifornien. Ein Mann namens Clint Voltan war Major in der Rebellenarmee, die sich im Westen gebildet hatte.
Und Sam Pyron war dabei, einen Schritt in Richtung Freiheit zu machen. Sam, ein Junge aus West Virginia, saß am Bett seines Großvaters. Er sah zu, wie der alte Mann starb. Die Augen des Großvaters begegneten denen des jungen Mannes. »Verschwinde von hier, Junge. Es gibt nichts, was du für mich tun könntest.« Er hustete Blut und Eiter. »Ich bleib bei dir, Großvater.« »Genau wie deine Mutter – starrköpfig. Junge, hör mir zu. Du musst abhauen!« »Ich verlass dich nicht.« »Du hast einen Bundesagenten getötet, Samuel.« »Er hat angefangen. Er wollte mich zwingen umzusiedeln. Zum Teufel mit ihm. Naja, wahrscheinlich ist er genau dahin gegangen.« »Ich weiß, Sam – ich weiß. Es is’ nich’ gerecht, aber das is’ die große Regierung fast nie. Ich glaub, du setzt dich am besten mit diesen Überlebenskämpfern in Verbindung, die jenseits der Berge leben. Mach dich gleich auf’n Weg.« »Die Rebellen?« »Yeah.«
»Ich dachte, du wärst nicht mit dem einverstanden, wofür die eintreten, Großvater?« »Ich bin nich’ mit allem einverstanden, worüber die geredet haben, aber mit dem meisten davon. Besonders, dass sie dem gemeinen Volk das Gesetz wieder nahe bringen wollen und zurück wollen zum gesunden Menschenverstand.« Er hustete einen Moment lang und hielt dann den Atem an. Schmerz war in seinen Augen zu erkennen. »Vielleicht sollten wir all dieses Elend durchleiden, Junge – ich weiß es nich’. Ich kann es nich’ ändern, ich schätze, dass der Herr etwas damit zu tun hat. Ich vermute, der Herr ist der Dinge, die hier unten passiert sind, furchtbar überdrüssig geworden. Und vielleicht ist das ja ganz gut so. Dieser Rebell, der letzte Woche hier war, sagte, da gibt es einen Mann, der sich im Westen niederlassen will. Er sagte, dass der Kerl ein Land errichten will, wo die Menschen frei leben können – alle Rassen. Dafür is’ es auch höchste Zeit. Und da soll es keine verdammten Anwälte geben, die einen mit hübschen Worten übers Ohr hauen. Das wird das Beste seit dem Maisbrot sein, Sam. Ich hasse die verdammten Anwälte. Dieser Mann da im Westen – wie der Rebell sagte – will die Gesetze so einfach, so schlicht, so leicht zu befolgen machen, dass sogar ein Kind das verstehen kann. Und so sollte es auch sein. Er sagte, so lange eine Person sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern kann und nur ein paar einfache Regeln befolgen, kann sie so leben, wie sie es für richtig hält. Ich hatte den ganzen Ärger schon vor Jahren kommen sehen, noch bevor deine Mama geboren war. Die Situation im Land war schlecht; die Leute wollten nicht mehr für ihren Lebensunterhalt arbeiten, wollten, dass die Regierung für sie sorgte. Die verdammten Vereine gerieten außer Kontrolle. Zu viele Polizisten, zu viele Anwälte, zu viele Gesetze, die der kleine Mann nich’ verstehen konnte. Richter ohne Verstand
ließen schlechte Menschen ohne Bestrafung frei. Nirgendwo Moral. Das musste ja irgendwann vorbei sein.« Er hustete Blut und schnappte nach Luft. »Sam?« Die Hand des alten Mannes tastete nach seinem Enkel, als seine Augen sich durch den nahenden Tod trübten. Er kämpfte gegen die Dunkelheit an. »Ich bin hier, Großvater.« Sam ergriff die faltige Hand. »Ich möchte, dass du dich an das erinnerst, was ich dir jetzt sage, Sam; vergiss es dein Leben lang nicht. Was dein ist, ist dein, vorausgesetzt, du hast es dir erarbeitet und du hast dafür bezahlt – dann hat niemand das Recht, es dir wegzunehmen. Du hast das Recht, das Deine mit allen Mitteln zu verteidigen. Und lass dir nie von einem Anwalt mit raffinierten Worten was anderes einreden. Es gibt keinen Gott in Form einer menschlichen Person, Junge. Doch das haben die Fernsehprediger mit ihrem Spektakel nie kapiert. Bestimmt haben sie gedacht, sie seien Gott – die ganze Zeit haben sie allen anderen erzählt, wie sie zu leben haben, was für Bücher und Zeitungen sie zu lesen haben, was sie im Fernsehen anzusehen haben und im Kino. Ich sage nich’, dass sie nich’ in ihren Herzen gute Menschen waren, nur, dass sie nich’ das Recht hatten, anderen Menschen zu sagen, wie sie leben sollten. Diese TV-Prediger hatten einen Gott-Komplex. Aber sie hatten Unrecht, Sam. Dieser verdammte Logan wird der Untergang von allem sein. Er hat zwei Gesichter, Junge, und ist verrückt wie eine Straßeneidechse! Sam, hör mir zu. Es gibt Regeln, die man befolgen muss, und die kommen von Gott – in Stein gemeißelt und weitergegeben. Die Regeln der Menschen kommen an zweiter Stelle – immer. Kein Rangabzeichen, kein von Menschen gemachtes Gesetz, kein Job bei der Regierung und keine anmaßende Behörde hat den Menschen gemacht, sondern… Gott.«
Erneut hustete er gequält. Er erbrach Eiter und Blut, dann schloss er die Augen. Einige Stunden später glitt er über die Schwelle des Todes. Sam Pyron begrub seinen Großvater im steinharten Boden von West Virginia. Von seiner Familie war sonst niemand mehr am Leben. Sam nahm die alte Winchester seines Großvaters und schlug den Weg zum Highway ein, dorthin, wo der alte Garland gelebt hatte. Garland hatte einen alten Lieferwagen besessen, der seit dem Krieg ungenutzt herumstand. Sam vermutete, dass er mit einer neuen Batterie und etwas Sprit den alten Lastwagen wieder zum Laufen bringen könnte. Dann würde er in den Westen fahren. Er war achtzehn Jahre alt. Da lag etwas in der Art, wie Sam die Bergstraße entlangging, mit einem Gewehr in der Hand, einem Messer am Gürtel und einem kleinen Beutel mit Nahrung über der Schulter – eine gewisse Art und Weise, die eine kenntnisreiche Person vielleicht dazu bringen würde, sich an die Beschreibungen von freien Menschen aus einem anderen Jahrhundert zu erinnern. Männer, die für die Freiheit kämpften und starben, für das Recht, ihr eigenes Leben zu leben, ohne Furcht vor Tyrannei; ihr Leben zu leben ohne Furcht vor den Gesetzlosen oder denen, die anderen ihren eigenen egoistischen Willen mit aller Gewalt aufzwingen wollten. Dieser junge Mann rief Erinnerungen wach an die Männer, die sich selbst Green River Boys oder Rough Riders nannten; an die, die mit den Darby’s Rangers oder Major Rodgers ritten oder an diejenigen, die im Stillen bei Valley Forge gelitten hatten; an die Männer, die am sechsten Juni 1944 die Strände der Normandie gestürmt hatten; und an die Männer, die sich für eine alte Kirche in Texas eingesetzt hatten – genannt ›Alamo‹.
FÜNF
Präsident Logan ließ seinen Vizepräsidenten rufen, um mit ihm gemeinsam Mittag zu essen. Er redete nicht lange um den heißen Brei herum. »Aston, da gibt es eine Gruppe von Leuten, vier- oder fünftausend, vielleicht mehr, die alle nach Westen ziehen. Sie stehlen alles, das nicht niet- und nagelfest ist.« Der Vizepräsident sah von seinem Salat auf. »Warum ziehen sie nach Westen?« »Um sich mit Ben Raines zusammenzuschließen, vermute ich. Sie haben sogar eine Eisenbahnlinie gestohlen.« »Hilton – das ist unmöglich! Man kann keine Eisenbahnlinie stehlen. Die ist feststehend. Vielleicht haben sie die Lokomotiven und Wagen genommen. Aber was wollen sie damit?« »All die Dinge transportieren, die sie stehlen! Aston, sie sind in Militärbasen und Waffenkammern eingebrochen und haben Gott weiß wie viele schwere Geschütze und Bomben und Gewehre mitgenommen, und alles andere, das sie in die Finger bekommen konnten. An vielen Orten gibt es kein Radar mehr. Hoch entwickelte elektronische Ausrüstung, Computer – diese Leute haben alles geraubt, was man sich vorstellen kann. Ein Haufen dieser verrückten Delphine hat eine ganze Basis gestohlen. Alles! Sie haben sogar diese verdammten tragbaren Gebäude mitgenommen!« »Delphine? SEALs?« »Was auch immer. Ja, das ist der Haufen.« »Eine ganze Basis? Hilton, niemand kann eine ganze Basis stehlen!«
»Nun, sie haben es getan. Wahrscheinlich waren auch ein paar verdammte Seabees dabei. Ich habe einmal im Senat eine Rede über diese Gruppen gehalten, daran erinnere ich mich noch gut. Ich sagte, dass die Green Berets und die Rangers und SEALs und all diese Spezialeinheiten aufgelöst werden sollten. Die sind alle irre! Ich sagte…« »Beruhigen Sie sich, Hilton. Das sind alles Einheiten, die sich vom Militär losgesagt haben?« »Einige von ihnen, ja. Ich hasse das Militär.« Hilton war einmal, 1959, von einem Ausbilder gezwungen worden, sich vor seine Kompanie hinzustellen, mit einem M-lGewehr in einer Hand und seinem Schwanz in der anderen, und Folgendes zu deklamieren: This is my rifle, this is my gun. This is for shooting, this is for fun. Das hatte ihn getroffen. Tief. »Schicken Sie das Militär, um sie zu stoppen«, schlug Aston vor. »Das Militär könnte nicht einmal einen Hamster stoppen… Und wenn ich die Männer nicht an der Spitze ersetzen kann, weigern sie sich sogar anzuerkennen, dass ich der Präsident bin. Sie hassen mich. Und Colonel Parr ist viel zu beschäftigt mit den Umsiedlungsarbeiten.« »Hilton, lösen Sie diesen Haufen von Söldnern auf, bevor er außer Kontrolle gerät – er wird sonst zu mächtig.« »Nein, diese Männer sind mir gegenüber loyal, und das ist mehr, als ich über das Berufsmilitär sagen kann. Ich brauche Colonel Parr und seine Männer.« »In Ordnung, dann tun Sie Folgendes für mich: Sprengen Sie diesen Verein in Illinois. Sie wissen, um was für Leute es sich dabei handelt, Hilton.« Logan schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn wir je jemanden brauchen, um irgendeinen Niggeraufstand niederzuschlagen, werden sie sich als sehr nützlich erweisen.«
»Die Schwarzen haben Ihnen vor Jahren geholfen, Ihr Amt zu erlangen«, erinnerte Aston den Mann. Der Präsident ignorierte es. Aston hatte das Bedürfnis, über den Tisch zu langen und Logan zu schlagen. Aber er wusste, er musste einen klaren Kopf behalten. Schon Vorjahren hatte er Logan im Verdacht gehabt, er benutze die Minderheiten nur als Trittbrett – dass er tief in seinem Inneren eine bigotte Person war. Jemand mit einem kühleren Kopf musste in Logans Nähe sein, und, wie er zu seiner Frau gesagt hatte: »Sieht aus, als sei ich das.« »Also, was werden Sie gegen diesen Raines unternehmen?« »Nichts. Es gibt nichts, was ich tun kann. Unsere Ausbreitung ist nicht ausreichend. Wir haben zu viele Agenten in den Bergen von West Virginia, Kentucky, Tennessee und North Carolina verloren, als wir versucht haben, dort Recht und Ordnung einzuführen. Die verdammten Hillbillys schießen auf alles, was sich bewegt.« »Wir brauchen sie für die Arbeit in den Minen.« »Ich weiß, ich weiß. Deshalb musste ich mit ihnen einen Kompromiss schließen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich tue doch nur das, wovon ich glaube – wovon ich weiß – dass es das Beste für das Land ist.« Aston entschuldigte sich und verließ den Tisch. Seine Gedanken hätten Grund für einen Landesverrat sein können.
Im späten August waren alle angekommen. Die Gegend in den drei Staaten sah wie der größte Lagerplatz der Welt aus – und war es wahrscheinlich auch. Ganze Städte waren leergeräumt worden. Jede Unze Edelmetall und jeder Edelsteinsplitter war sorgfältig herausgesucht und mitgenommen worden. Gold, Silber und Edelsteine im Wert von Milliarden von Dollar
wurden nun in Idaho, Wyoming und Montana bewacht. Ben plante, mit ihnen seine neue Währung zu stützen. Obwohl fast ein Jahr vergangen war, hatten viele Menschen immer noch nicht ganz verstanden, was passiert war. Wenn ein Krieg stattgefunden hatte, fragten sie – wer hatte dann gewonnen? Niemand hatte gewonnen. Alle hatten verloren. Als die abgesplitterten Militäreinheiten einzutreffen begannen, begegneten ihnen einige wenige Menschen; argwöhnische Leute. »Kommt das Militär her?«, fragte eine Frau. »Lieber Gott, wir brauchen ganz dringend Hilfe.« »Irgendwie, ja«, sagte ein SEAL zu ihr. »Machen Sie sich keine Sorgen – wir werden Ihnen helfen.« »Sieht aus, als ob Sie bleiben wollen«, bemerkte sie, als sie die wachsenden Ausrüstungs- und Proviantberge betrachtete. »Ja, Ma’am. Das möchten wir.« »Dann sollten Sie besser wissen, dass eine Bande von Verbrechern die Kontrolle über diese Gegend für sich beansprucht. Sie haben schon seit Monaten gestohlen und getötet und vergewaltigt. Sie haben uns unsere Waffen weggenommen und unsere Fahrzeuge unbrauchbar gemacht.« »Wo verstecken sie sich, Ma’am?« »Sie verstecken sich nicht. Sie haben die Stadt Challis übernommen.« »Halten sie jemanden gefangen, Ma’am? Irgendwelche Unschuldigen?« Sie schüttelte den Kopf. Der SEAL lächelte. Er und seine Gruppe kehrten am folgenden Nachmittag zurück. Er sagte zu der Frau: »Sie müssen sich keine Sorgen mehr wegen denen machen, Ma’am. Sie kommen nicht wieder.«
Bei den wenigen Überlebenden in jedem Staat herrschte große Verwirrung, die auf den Mangel an Organisation zurückzuführen war, etwas, das keine Regierung mag. Das Volk – aus dem, wie es der Mythos will, sich die Regierung zusammensetzt und das der Regierung sagen soll, was es will, woraufhin die Regierung das auch tun soll – könnte dann viel zu schnell die Kontrolle erlangen. Der Regierung gefällt der Gedanke daran, dass das passieren könnte, überhaupt nicht. Das ist Furcht einflößend. Die jungen Menschen von den Colleges, die Ben besucht hatte, trafen ein und sahen sich um. Sie waren argwöhnisch, denn sie waren der Ansicht, dass die Alten für das ursprüngliche Schlamassel verantwortlich waren (was der Wahrheit entsprach), und sie waren nicht besonders überzeugt davon, dass dieser neue Staat besser sein könne. Aber sie waren entschlossen, ihm eine Chance zu geben. Jerre sah Ben zuerst aus einiger Distanz, die sie für eine Weile aufrecht erhielt, als ihr klar wurde, dass die Frau, die zusammen mit Ben hier war, mehr als nur eine Freundin war. Dann brachte sie aber schließlich doch genug Mut auf, um mit ihm zu sprechen. »Hi, Ben.« Ben drehte sich von seiner Arbeit um und ließ ein Lächeln über sein Gesicht spielen. Er war sich bewusst, dass Salina ihn genau beobachtete. Er nahm Jerres ausgestreckte Hand, hielt sie einen Moment lang und ließ sie dann los. »Du siehst gut aus, Jerre. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und mich gefragt, ob du es geschafft hast.« Sie nickte, als Emotionen sie überströmten. Sie fragte sich, ob Ben von den gleichen Emotionen erfasst wurde. Das war tatsächlich so, aber nicht in dem Ausmaß, wie es bei ihr der Fall war. »Dies ist Matt.« Sie stellte den kräftigen jungen Mann neben sich vor.
Ben schüttelte die dargebotene Hand. »Ich bin froh, dass ihr beide zu uns stoßen wollt. Es gibt eine Menge zu tun. Werdet ihr hier in Idaho leben?« Jerre schüttelte den Kopf. »Nein, Ben. Wir wollen es drüben in Wyoming versuchen. Vielleicht gehen wir in unserer Freizeit wieder zur Schule.« »Das ist eine gute Idee. Wir werden die Colleges in einigen Monaten wieder öffnen.« Es schien nichts mehr zu sagen zu geben – zumindest nichts, was sie aussprechen konnten. »Wir sehen uns, Ben.« Jerre lächelte. Ben nickte und sah dem jungen Paar nach, wie es davonging. Matt zögerte, dann legte er seinen Arm um Jerres Schultern, auf eine beschützende Art – eine besitzergreifende Art. Ben musste über die Geste lächeln. »War das deine junge Freundin?«, fragte Salina. »Das war sie.« »Nur Freunde, wie?« »Sicher – was sonst?« »Aha.« Sie lächelte. Ike und Megan hatten ungefähr eintausend Menschen mitgebracht, Menschen, die das gewandte ehemalige SEALMitglied auf dem Weg aufgelesen hatte. »Einfach nur Leute«, nannte er sie. »Wie wirst du deinen neuen Staat nennen, Ben?«, fragte Megan. »Meinen?«, entgegnete Ben überrascht. »Das ist nicht mein Staat. Nenne ihn Montana, Idaho und Wyoming. Was sonst?« »Wer ist der Gouverneur?«, fragte Tatter. »Der Leiter – der Verantwortliche?« »Es gibt keinen«, antwortete Ben. »Also dann, Ben Raines…« Sie lächelte. »Ich glaube, dann müssen wir wohl eine Wahl veranstalten.«
»Nominiert bloß nicht mich. Ich bin ein Autor und habe eine Menge zu tun. Ich bin kein Politiker.« Und Ben konnte nicht verstehen, warum alle lächelten.
Der Winter kommt früh in diesem Teil des Staates, und es gab noch viele Vorbereitungen zu treffen. Die wenigen Ortsansässigen, die in diesem Drei-Staaten-Gebiet übrig geblieben waren, waren immer noch nicht so ganz sicher, was um sie herum passierte, obwohl sie wirklich froh waren, die Neuankömmlinge zu sehen. Aber es sah so aus, als ob die Dinge Gestalt annahmen – sehr schnell. Die Lastwagen und Züge und Flugzeuge rollten und rumpelten und röhrten weiterhin herein und transportierten Beute von überall her. Und es trafen noch mehr Menschen ein. Einige von ihnen gehörten zu dem Typ, der nichts geben, aber etwas bekommen wollte. Sie hielten sich nicht lange. Sie wurden schnell verjagt. Manches Mal, wenn es nicht anders ging, erhielten die Friedhöfe Neuzugänge in ihrer Grabesstille. Denn dies war Grenzland, und während der Osten seit drei Jahrhunderten besiedelt war und unter dem Gesetz stand, war ein großer Teil dieses Staates erst seit ungefähr fünfundsiebzig Jahren besiedelt. Der Gerechtigkeit wurde hier hart und schnell Genüge getan, aber so fair, wie Ben es bewerkstelligen konnte, bedachte man die Bedingungen, unter denen seine Leute arbeiteten. Hier brauchte niemand zu stehlen, hier gab es Arbeit für alle, und alle arbeiteten – oder wurden hinausbefördert. Als Logans Gesetze tyrannischer wurden, wehrten sich mehr und mehr Menschen, und Logan konnte noch weniger tun, um Ben Raines und seine Leute mit ihrer abgespaltenen Nation zu stoppen.
Aber Logan konnte etwas gegen diese Schwarzen tun, die entschlossen waren, ein neues Afrika zu erschaffen.
»Logans Söldner haben die Schwarzen aus dem südlichen Louisiana vertrieben«, berichtete Cossman Ben. »Er hat zu ihnen gesagt, wenn sie das Land beackern und die Fabriken wieder in Betrieb nehmen wollen, sollen sie ruhig weitermachen. Aber das Öl und das Gas gehöre der Regierung, Ende des Zitates.« Cossman hatte sich die Kommunikationsausrüstung angesehen und gegrinst, während er sich übermütig die Hände rieb. Nun, da er die Leitung übernommen hatte, konnte und wollte er Funkübertragungen von überall auf der Welt – beziehungsweise aus dem Weltraum – abhören. Innerhalb kürzester Zeit hatten die drei Staaten, die von Bens Volk geführt wurden, wie Logan es formulierte, das beste Kommunikationsnetzwerk auf der Welt, einschließlich öffentliches Radio und Fernsehen, die frei waren von den Beschränkungen der Federal Communications Commission sowie den Drohungen von Interessengruppen, die hartnäckig behauptet hatten (und es wieder tun würden), dass sie ›nur das wollten, was für das Volk das Beste ist‹. »Er wird dort nicht Halt machen«, meinte Ben. »Niemals wird er ein Neu-Afrika zulassen. Ist Cecil Jeffreys dort der Verantwortliche?« »Ja, genau.« »Können Sie ihn an die Strippe bekommen?« »Ich kann es versuchen.« Es dauerte vierundzwanzig Stunden, Cecil zu erreichen. »Ben!« Seine Stimme knisterte durch die Lautsprecher. »Ich habe gehört, du tust dort oben großartige Dinge. Herzlichen Glückwunsch.«
»Ich habe gehört, dass für dich die Dinge nicht so gut laufen.« »Es gab ein paar kleinere Rückschläge«, gab Cecil zu, vorsichtig mit der Formulierung seiner Antwort. Beide Männer wussten, dass der Große Bruder zuhörte und die Unterhaltung überwachte. »Glaube kein Wort von dem, was Logan sagt, Cecil.« »Er sagte, wir dürfen die Fabriken wieder in Betrieb nehmen und das Land beackern, Ben.« »Vielleicht für einige Zeit, Kumpel, aber Logan ist ein Lügner, und du weißt es. Er ist machtgierig und war es schon sein Leben lang. Er wird alles tun, um diese Macht zu erhalten. Sieh dir nur die Verwandlung an, die seine Philosophie erfahren hat.« »Wir müssen es einfach versuchen, Ben. Wie geht es Salina?« »Großartig. Wunderbar.« »Ben? Es wird behauptet, dass du dich von der Verfassung lossagst. Das ist gefährlich, wenn es wahr ist.« »Es ist nicht wahr, Cecil. Wir sagen uns davon nicht los; wir kehren zu ihr zurück.« »Wir haben hier ein paar Leute, die aus dem Norden zu uns gestoßen sind. Sie sagen, ein Killerteam sei auf dich angesetzt. Ich kann nicht genau sagen, wann sie zuschlagen wollen.« Salinas Finger gruben sich in Bens Arm. »Killerteam?« Ben stellte die Frage über die meilenweite Entfernung. »Die Regierung?« »Nein. Jeb Fargo.« »Ich weiß, wer das ist: ein kleines Nazi-Arschloch.« »Das ist alles, was ich weiß, Ben. Also sei vorsichtig; du hast dir viele Feinde gemacht, mehr als du glaubst.« Nachdem die Männer sich Glück gewünscht und verabschiedet hatten, sagte Salina: »Es gibt irgendeine
Verbindung zwischen Logan und Fargo. Ich habe diesem Mann nie getraut.« »Eines Tages wird Cecil aufblicken, und Truppen werden vor seiner Tür stehen. Es muss nur ein Weißer berichten, dass er in Neu-Afrika Ärger hatte; es muss nur einer von Cecils Schwarzen einmal etwas vermasseln, und Logan wird dessen Traum zermalmen.« »Cecils Schwarze, Ben?« »Er ist der Anführer, Honey – also wird die Schuld für das Scheitern ihm zugeschrieben werden.« »Und hier, Ben?« »Ich werde die Schuld bekommen – es ist mein Traum. Aber die meisten Menschen hier sind – jedenfalls jetzt noch – weiß.« »Und das macht einen Unterschied?« »Du weißt, es ist so, Salina.« »Alle erwarten einfach von einem Nigger, dass er es vermasselt, stimmts?« »Das hast du gesagt, Baby, nicht ich.«
Es war schon seit Jahren darüber geredet worden, die Vereinigten Staaten in verschiedene Nationen aufzuteilen. Aber es war noch nie ernsthaft in Erwägung gezogen worden. Bis jetzt. Die Überlebenden flohen – so schien es wenigstens – aus ihren verwüsteten Heimatländern überall auf der Welt, und sie alle gingen in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Amerika. Und Logan mit seinem kleinen Militär schien nicht in der Lage zu sein, die Flut einzudämmen oder den Traum zu töten. Und wie es wahrscheinlich bei vielen Entscheidungen auf höherer Ebene von Staatsoberhäuptern der Fall ist, war es die
Ehefrau des Königs, des Premiers, des Ministerpräsidenten, des Anführers oder des Präsidenten, die die endgültige Entscheidung traf oder zumindest den Plan entwarf. »Die Menschen sind arbeitslos, Hilton«, sagte Fran zu ihm. »Und sieh dir nur all die armen Leute an, die von den Inseln und Europa und Gott weiß woher sonst noch kommen. Beginne mit einer Einberufung. Dadurch haben die Menschen was zu tun. Und sieh dir auch die ganzen ehemaligen Soldaten an, die herkommen. Darunter sind auch Offiziere. Sie werden dir dankbar sein, wenn du ihnen Arbeit gibst, und dafür wirst du ihre Loyalität bekommen.« »Fantastische Idee, Hilton«, meinte Dallas Valentine, der Staatssekretär. »Und wir können diese Offiziere loswerden, die uns nicht ausstehen können.« Hilton stimmte zu und meinte dann: »Aber was ist mit all diesen Leuten, die überall im Land kleine Königreiche errichten?« »Oh, was ist denn das schon?«, sagte Fran mit Schmollmund zu ihm. »Lass sie ihre kleinen, unbedeutenden Königreiche haben – so lange, bis wir es ändern können. Überleg dir mal, was wir kontrollieren: das Öl, das Gas, alle brauchbaren Häfen, alle Schiffe, die Kornkammern. Wir haben viel mehr Lande als Menschen, die es besiedeln könnten. Also lass es diese Leute doch versuchen – du weißt, dass sie scheitern werden, zumindest neunundneunzig Prozent von ihnen. Und wenn das passiert, werden sie von dir Hilfe erwarten, und sie werden zu dir als einem bedeutenden Mann aufblicken, wenn du sie zur Herde zurückführst. Und dann, wenn wir stärker werden, können wir die vernichten, die nicht gescheitert sind.« »Großartige Idee, Hilton«, sagte Dallas. Logan lächelte. Er mochte Jasager um sich herum. Das half ihm, sich gut zu fühlen. Außerdem gefiel ihm der Ausdruck: sie zur Herde zurückführen. Es klang irgendwie religiös. Er
würde Reverend Palmer Falcreek zum Mittagessen ins Weiße Haus bitten… bald. Und mit ihm darüber reden. Falcreek war so ein guter Mann. Er war bereits dabei, ein Komitee auf die Beine zu stellen, das jeden Film boykottieren sollte, der bei dem, was ›Das Neue Hollywood‹ genannt wurde, herauskommen sollte. Falcreek wollte nur gute, saubere, gesunde Unterhaltung. Hunde und Pferde und solches Zeug. Cowboys mit unerschöpflichen sechsschüssigen Revolvern. Nichts von diesem zweideutigen Mist. »Natürlich hast du Recht, mein Liebling«, sagte Hilton. »Warum Blut vergießen?« »Unser Blut«, korrigierte sie ihn. »Du hast Colonel Parr und seine Männer, die alles Physische erledigen. Und Jeb Fargo und sein Verein, falls du sie benutzen musst… für schäbige kleine Aufgaben.« »Jeb Fargo? Was hat er damit zu tun? Seine Leute sind Farmer, Liebling.« Yeah, dachte Fran, mit Maschinenpistolen und flammenden Kreuzen. »Oh, Hilton! Du bist manchmal wirklich schwer von Begriff! Fargo ist ein Klucker aus Georgia. Er wurde vor Jahren aus Mississippi hinausgejagt.« Sie erzählte ihm nicht, dass Fargo auch ein Nazi war. Sie hatte nicht lange gebraucht, um das zu begreifen, was viele Menschen schon Jahre zuvor begriffen hatten: Ihr Ehemann war nicht immer so ganz auf der Höhe. »Klucker?« »Ku-Klux-Klan, mein Schatz.« »Oh, ja. Also… ich wusste das nicht. Ich wusste nur, dass er loyal ist und ein guter, anständiger Kirchgänger. Palmer Falcreek sagt, dass ihm das Wohl des Landes am Herzen liegt.«
Solange er in einem Betttuch herumrennen und Kreuze anzünden kann, dachte Fran. »Natürlich, Liebling.« Sie lächelte ihn an. Unter dem Tisch zog Fran ihren Schuh aus und ließ ihren kleinen Fuß das Hosenbein von Dallas Valentine hinaufwandern, was dazu führte, dass er fast sein Stück Hühnerfrikassee in seinen Schoß fallen ließ. Sie mochte den alten Dallas – er war bestückt wie der alte Knabe, der sie im Schuppen zu vögeln pflegte, als sie noch ein Teenager war. Er hatte einen Schwanz gehabt, der fast dreißig Zentimeter lang war, genau wie Dallas. Er hatte eine Frau, die wie eine Kreuzung zwischen einer Pflaume und einem Eishockeypuck aussah. Keine Winkel, keine Kurven, keine Ebenen. Nur eine große, runde Falte. »Ich glaube, Fran hat die richtige Idee«, sagte Dallas. Aber sicher habe ich das, darauf kannst du deinen Arsch verwetten, dachte Fran. Sobald wir endlich alleine sind und ich deinen Gartenschlauch in die Finger bekomme. »Ich werde darüber nachdenken«, meinte Hilton. Aber alle wussten, dass die Entscheidung gefallen war. Also gab der Präsident die Befehle an die Söldner unter Kenny Parrs Kommando weiter: Mischt euch nicht ein, wenn die Menschen versuchen, so genannte freie Staaten aufzubauen. Schreitet nur ein, wenn die Leute versuchen, die Gegenden für sich zu beanspruchen, die sich bereits unter U. S.-Kontrolle befinden. Und der Präsident ordnete an, dass eine komplette Volkszählung durchgeführt werden und ein Einberufungsbefehl in Kraft treten solle. Nun ging es darum, abzuwarten und Geduld zu bewahren.
Frühling Der harte Winter war vorüber, und die Berge, Täler und Ebenen erblühten mit der Geburt des neuen Kreislaufs der Natur. Das Dröhnen der Traktoren war laut, während die Pflüge die Erde umgruben, um das Land für die Aussaat vorzubereiten. Ben war nun durch das Drei-Staaten-Gebiet unterwegs, in einem Jeep mit Major Clint Voltan. »Endlich zu Hause.« Voltan lächelte, fuhr einen Hügel hinauf und hielt an. »Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Land wieder sehen würde – zumindest nicht als freier Mann. Es ist so friedlich und hübsch hier.« »Warum haben Sie geglaubt, Sie würden es niemals wieder sehen?«, wollte Ben wissen. »Das wissen Sie nicht?« Voltan blickte überrascht drein. »Nein, ich vermute, das tun Sie wirklich nicht.« Er lächelte. »Ich bin ein Mörder, Mr. Raines. O ja. Dies gehörte« – er deutete mit der Hand über die ganze Weite des Landes – »… gehört mir. Meine Ranch. Mir ging es ganz gut, mir und meiner Frau, bis irgendwelche modernen Viehdiebe anfingen, mir mein Rindfleisch davonzutreiben. Meine Frau, die damals gerne morgens ausritt, traf zufällig auf sie. Sie wurde vergewaltigt; und sie ließen sie einfach zurück, nachdem sie sie benutzt hatten – in einem ziemlich schlimmen Zustand. Nun, ich habe nach ihnen gesucht. Ich glaubte, ich hätte die Reifenmuster erkannt. Ich hatte Recht. Es waren drei. Ich fand sie eines Nachts in einer Bar und forderte sie auf, mit der Wahrheit herauszurücken. Einer von ihnen war gerade betrunken genug, zuzugeben, was sie getan hatten. Sie sagten – in aller Öffentlichkeit – dass meine Frau es ihnen angeboten hätte. Ich wusste, dass sie logen. Vor allem, weil meine Frau – was sie nicht wussten – den Verstand verloren hatte. Die Ärzte
sagten zu mir, dass die meisten Frauen mit dem emotionalen Stress bei einer Vergewaltigung zurechtkommen können. Alice – meine Frau – konnte es nicht. Ich habe allen dreien Bauchschüsse verpasst, gleich dort in der Bar; dann blieb ich da stehen und habe zugehört, wie sie schrien und starben.« Er lachte, aber es war ein klägliches Bellen ohne Humor. »Der gute, alte, ehrliche Voltan, der an das System glaubte. Vorher hatte ich nie auch nur ein Knöllchen bekommen. Natürlich… ich wurde von Gesetzes wegen für Mord steckbrieflich gesucht. Ich bin ungefähr ein Jahr lang weggelaufen und habe mich dann den im Westen stationierten Rebellen angeschlossen. Nach dem Krieg ging ich zu der Institution, wo meine Frau eingesperrt gewesen war. Ich habe sie gefunden – natürlich tot. Habe sie begraben.« »Haben Sie je das Gefühl gehabt, Sie hätten das Falsche getan?« Voltan dachte ein paar Sekunden lang darüber nach. »Nein, Sir. Das habe ich nicht. Ich finde, Vergewaltigung hat eine harte Strafe verdient. Meiner Meinung nach sollte, wenn die Vergewaltigung einwandfrei nachgewiesen ist, der Vergewaltiger nicht nur eine harte Strafe verbüßen, sondern auch kastriert werden, wie ein schlechter Zuchthengst.« »Ich stimme Ihnen zu«, meinte Ben. »Werden wir in dieser Gegend nachsichtige Gesetze haben, Mr. Raines?« »Ich hoffe nicht. Clint? Warum stellen Sie mir alle diese Fragen?« Der Rancher-Rebell lächelte. »Nun, Sie wurden irgendwie, insgeheim, gewählt.« »Wie bitte?« »Sie sind gewählt, Mr. Raines.« Und die Worte von Cecil kamen ihm wieder in den Sinn. »Eines Tages wirst du aufsehen, Ben, und die Aufgabe des
Anführers wird dir übertragen werden. Genau wie ich willst du sie nicht, aber du wirst sie übernehmen.« »In Ordnung, Clint«, hörte er sich sagen. »Sollte ich wirklich gewählt werden, werde ich das Amt ausüben.« »Sie werden gewählt werden, Mr. Raines.« »Ich werde Recht und Ordnung unerbittlich durchsetzen.« Er blickte den Rancher an. »Warnen Sie die Leute lieber davor.« »Es wird langsam Zeit, dass in diesem Land jemand hart durchgreift.«
»Zwei Drittel der Weltbevölkerung sind tot«, sagte Cossman. »Hier, zu Hause, sind es über einhundertfünfzig Millionen, und die Zahl wird immer wieder nach oben korrigiert.« Er und seine Gruppe hatten Regierungsbänder abgehört. »Wie hoch ist die Bevölkerungsdichte unseres Drei-StaatenGebietes?«, fragte Ben. »Das kann ich Ihnen ganz genau sagen«, entgegnete ihm ein Berater. Ben war nun seit fast sechs Monaten Gouverneur des DreiStaaten-Gebietes, und er konnte sich weder an den Titel noch an die Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wurde, gewöhnen. »Siebenundsechzigtausendvierhundertzweiundzwanzig Menschen«, offenbarte der Berater. »Unsere letzte Zählung wurde gestern nachmittag abgeschlossen.« »Hmm«, sagte Ben. »Ich dachte, die vorläufigen Schätzungen lagen etwas höher?« »Das stimmt. Wir haben siebenundzwanzigtausend Menschen verloren in den ersten zwei Monaten – äh…« »Seit ich mein Amt angetreten habe«, beendete Ben den Satz. »Du gewinnst welche, du verlierst welche, el Presidente«, meinte Ike. Nach außen hin waren die einzigen Dinge, die Ike
ernst nahm, Megan und seine Ranch. Aber Ike nahm die neue Regierung des Drei-Staaten-Gebietes sehr ernst. Er hoffte inständig, dass sie funktionierte. Und er glaubte, dass sie funktionieren würde – wenn sie nur genug Zeit hätte. Zeit. »Sie haben einfach nicht geglaubt, dass sie sich dem strengen Recht-und-Ordnung-System fügen, das wir befürworten, oder sich ihm anpassen könnten«, meinte Dr. Chase. »Und sie hielten auch nichts von dem, was wir in unseren Schulen etabliert haben.« »Aber« – meinte der Berater – »andererseits gibt es fast zehntausend Menschen, die draußen darauf warten, hereingelassen zu werden. Und die Anzahl wächst täglich um etwa einhundert. Darüber muss eine Entscheidung getroffen werden, Sir. Und zwar schnell.« »Wie viele können wir am Tag überprüfen?« »Wenn wir uns wirklich ranhalten… vielleicht fünfzig. Und da müssen wir uns schon tüchtig ins Zeug legen.« »Ich möchte nicht, dass die Überprüfungen lascher gehandhabt werden. Jede neue Person muss einen Lügendetektortest bzw. PSE-Test durchlaufen, um Hintergrund, Strafregister und Übereinstimmung zu überprüfen. Und die Begabungstests müssen immer noch mündlich durchgeführt werden. Wir haben auf diese Weise eine Menge Möchtegernunruhestifter, Rassisten und Frömmler ausgesondert.« »Diese Anwälte mit dem, was von der ACLU übrig ist, schlagen einen Mordskrach wegen dieser Tests, Sir. Und wegen unserer Gesetze.« Der Berater wirkte unbehaglich, da er nur zu genau wusste, was Ben über die ACLU dachte. Ben starrte ihn an. »Ich dachte, Sie hätten diesen Bastarden gesagt, sie sollen von hier verschwinden.« Der Berater scharrte mit den Füßen. »Sir – sie sagen, wir müssen Gewalt anwenden, damit sie verschwinden.«
»Dann wenden Sie Gewalt an. Alles, was nötig ist, um sie zu entfernen. Sie waren nicht eingeladen – wurden sie das jemals? Ich will sie hier nicht haben.« Ben milderte seinen Ton. »Seht mal, Jungs, ich weiß, sie meinen es gut, und sie haben manches Gute getan – damals, als die Bedingungen mehr oder weniger normal waren. Aber wir haben keine Zeit für haarspalterische, rechtliche Förmlichkeiten. Wir können das nicht gebrauchen, jetzt, wo unsere Gesetze und unser Rechtssystem ausgearbeitet werden. Ihr alle wisst, wie unsere Einstellung ist. Die Menschen haben über alles abgestimmt, überall in diesem Drei-StaatenGebiet. Wir haben seit dem letzten Winter Städteversammlungen einberufen, um die Regeln zu diskutieren, mit denen wir leben wollen. Jetzt sind einundneunzig Prozent der Leute mit unseren Gesetzen einverstanden. Der Rest ist gegangen. Und so wird es in Zukunft sein, oder ihr könnt diesen Gouverneursjob haben und ich kehre zu meinem Journal zurück.« »Ben…«, sagte Dr. Chase. »Nein!« Ben blieb eisern. »Ich kam heute morgen in dieses Büro, und da lag ein verdammtes Papier auf meinem Schreibtisch, in dem ich gebeten wurde, die Todesstrafe für diesen gottverdammten Verbrecher drüben in Minnesota noch einmal zu überdenken.« »Er ist sechzehn Jahre alt, Gouverneur«, meinte ein Berater. »Das ist sein Problem. Sein IQ beträgt einhundertachtundzwanzig. Der Psychiater sagt, er kann richtig von falsch unterscheiden und ist gesund, mental und physisch. Er ist absolut normal. Er hat ein Auto gestohlen, hat sich betrunken und fuhr mit einhundert verdammten Meilen pro Stunde die Hauptstraße runter. Er überfuhr und tötete absichtlich zwei ältere Menschen, deren einziges Verbrechen es war, zu versuchen, eine Straße zu überqueren… gemäß der
existierenden Ampel. Er gab zu, das getan zu haben. Er verspürt keine Reue. Ich würde es noch einmal überdenken, wenn ihm Leid täte, was er getan hat. Aber das tut es nicht. Er hat seine wahren Gefühle zugegeben – er sagte, dass die alten Leute sowieso nicht mehr viel Zeit übrig gehabt hätten, also warum zum Teufel würden sich alle so aufregen? Er ist ein Verbrecher. Und das ist alles, was er je sein wird – falls wir ihn am Leben lassen – was ich nicht vorhabe. Wenn für ihn das Leben anderer so unwichtig ist, dann sollte es ihm auch nicht so wichtig sein, wenn ich seins auslösche. Also, Mr. Garrett…« Ben blickte den uniformierten Mann an, der ruhig auf der anderen Seite des Raumes stand. »… übermorgen um sechs Uhr, bei Tagesanbruch, werden Sie persönlich den jungen Mr. Randolph Green zum festgelegten Exekutionsort begleiten, und Sie werden dafür sorgen, dass er aufgehängt wird, bis er tot ist. Die Zeit der Verbrecher… ist vorbei.« »Ja, Sir«, antwortete Garrett. »Es wird auch Zeit, dass das Gesetz etwas Rückgrat erhält.« Er verließ den Raum. Ben blickte sich um. »Noch irgendwelche Fragen bezüglich der Handhabung der Rechtsprechung?« Niemand hatte noch etwas zu sagen. Ben verließ den Raum, um mit Salina zu Mittag zu essen. »Er ist ein harter Mann«, meinte ein Berater. Ike stand auf und streckte sich. »Es sind harte Zeiten, Bruder.«
SECHS
Es gab viele, die das Drei-Staaten-Gebiet verließen, aber eine weitaus größere Anzahl blieb, und weitere Menschen wollten hinein. Einige derer, die hineinkamen, gingen auch wieder, als sie sahen, was dort passierte, aber die meisten blieben. Das Leben dort war nicht einfach – das sind Wiederaufbau und Anpassung niemals. Sechzehnstündige Arbeitstage waren nicht ungewöhnlich – es gab viel zu tun, und von jedem, der in der Lage dazu war, wurde erwartet, dass er arbeitete, ohne darüber zu jammern. Die neuen, vom Volk bestimmten Gesetze wurden akzeptiert – doch viele dieser Gesetze waren für einige nicht leicht zu befolgen, denn das Volk war zu dem zurückgekehrt, was als Verhaltenskodex bekannt war. Verletzte man den Kodex, so befand man sich in ernsthaften Schwierigkeiten. Wie es ein alter Mann, der lange in Idaho gewohnt hatte, ausdrückte, um das neue System (eigentlich ein altes System) zusammenfassend darzustellen: »Ein Mann hat zwei Möglichkeiten, Blätter aus seinem Garten loszuwerden: Ein kluger Mann harkt sie zusammen, füllt sie in Beutel und trägt sie zum Abfall, wo sie später auf saubere Art und Weise beseitigt werden. Ein dummer Mann zündet sie in seinem Garten an und verschwendet keinen Gedanken an den Rauch, der beim Nachbarn durch das Fenster ins Haus zieht. Wenn jemand nun das Letztere tut, ist er selbst verantwortlich, falls er Streit mit seinem Nachbarn bekommt und es mit einem gebrochenen Kiefer endet. Damals, im guten alten Jahr ‘47, musste ein Mann nicht viel über das nachdenken, was er tat. Hier denkst du verdammt noch mal besser darüber nach – und
zwar sorgfältig. Mir gefällt es hier. Es ist friedlich, nachdem wir die Unruhestifter losgeworden sind.« Viele Straßen, die in das Drei-Staaten-Gebiet führten, waren zerstört – absichtlich, um keinen einfachen Zugang zuzulassen. Schilder standen überall entlang der Grenze, die Reisende warnten, dass die Gesetze in diesen Staaten anders waren als diejenigen, an die sie gewöhnt waren, und dass die Rechtsprechung sehr streng und schnell erfolge. Die Welt taumelte immer noch zwischen Orientierungslosigkeit und fast völliger Auflösung. Millionen von Menschen waren arbeitslos und wussten nicht einmal, wie man einen Fisch fing oder ein Kaninchen häutete oder einen Garten anlegte. Banden von Rowdys und Verbrechern streiften durch das Land, stahlen und vergewaltigten und töteten. Überall, von Grenze zu Grenze, von Küste zu Küste, splitterten Gruppen diverser ideologischer Überzeugungen ab und bauten kleine Gemeinschaften auf, sicher, dass ihr Weg der richtige Weg sei – der einzige Weg. Wahrhaftige, fürsorgliche Christen, halbreligiöse, verrückte Fanatiker, Sektenanhänger sowie links wie auch rechts von der politischen Mitte anzusiedelnde Organisationen errichteten kleine Regierungen. Alle schlugen innerhalb weniger Monate fehl, besonders, als Logans Macht größer wurde, oder sie verrotteten von innen heraus. Nur eine hielt sich länger, und ihre Grundgedanken würden niemals sterben.
Wie verhasst Bens Regierungssystem war, war der Bevölkerung der drei Staaten bis zum Spätherbst des ersten Jahres nicht bewusst. Ben ging ein paar Schritte aus dem Haus, um ein wenig kalte, klare Nachtluft zu schnappen. Juno ging mit ihm, und zusammen wanderten sie ein Stück vom Haus fort.
Als Juno knurrte, ging Ben in die Hocke, und das rettete ihm das Leben. Gewehrfeuer aus einer automatischen Waffe verwandelte die Windschutzscheibe seines Lieferwagens in ein Spinnwebmuster; die Kugeln trafen auf das Metall und prallten davon ab, Funken stoben durch die Nacht. Ben riss die Tür des Lieferwagens auf, öffnete rasch das Handschuhfach und schnappte sich eine Pistole. Er feuerte auf eine dunkle Gestalt, die durch seinen Garten rannte, dann auf eine andere. Beide gingen zu Boden und schrien vor Schmerz. Ein Mann trat aus dem Schatten des Hauses und eröffnete das Feuer, als Ben sich auf den Boden fallen ließ. Überall entlang der Straße gingen Lichter an, und Männer traten mit Gewehren in der Hand auf den Rasen. Ben spürte, wie eine Kugel in seine Hüfte einschlug, ihn zur Seite schleuderte und herumwirbeln ließ; das Geschoss durchschlug sein Bein und trat kurz oberhalb seines Knies wieder aus. Er zog sich auf das andere Knie hoch, legte mit der 9-mm an und schoss dreimal auf die dunkle Gestalt neben dem Haus. Der Mann ging zu Boden, die Waffe fiel ihm aus den Händen. Ben zog sich hoch. Sein Bein und seine Hüfte pulsierten vom Schock der Wunden. Er lehnte sich gegen den Lastwagen, gerade als die Hilfe eintraf. »Holt die Sanitäter!«, brüllte ein Mann. »Der Gouverneur ist angeschossen worden.« »Helfen Sie mir rüber zu dem Mann dort«, sagte Ben. »Er kommt mir bekannt vor.« Als er neben dem gestürzten Mann stand, konnte Ben sehen, wo seine Schüsse ihn getroffen hatten: zwei in den Magen, einer in die Brust. Der Mann war blutüberströmt und lag im Sterben. Er keuchte und spuckte nach Ben.
»Gottverdammter niggerliebender Abschaum«, sagte er. Er schloss die Augen, wand sich in Schmerzen und starb. Badger kam keuchend angerannt, einen Morgenrock über dem Pyjama; seine Hausschuhe klatschten auf den Boden. »Gott, der Gouverneur! Wo ist er?« Ben stand für einige Zeit einfach da und lehnte sich gegen das Haus. Salina kam zu ihm und legte ihre Arme um ihn, als das Heulen der Krankenwagensirene lauter wurde. »Kennst du ihn, Ben?«, fragte sie. »Ich kannte ihn.« Bens Antwort war traurig. »Er war mein Bruder.«
DIE FLÜCHTIGEN JAHRE
EINS
Der Tod von Carl Raines trug mehr dazu bei, das Überleben der drei Staaten zu sichern, als jede andere einzelne Aktion. Es schockierte Logan, als die Neuigkeiten ihn schließlich erreichten; und wie die meisten Menschen, die die Geschichte hörten, folgerte Logan, dass, wenn ein Mann, der so stark an eine Idee glaubte, dass er dafür seinen Bruder tötete… dass man diesen Mann am besten in Ruhe ließ. Und für fast fünf Jahre wurden die Tri-Staaten, wie sie genannt wurden, in Ruhe gelassen. Die Welt, und insbesondere Amerika, begann Gestalt anzunehmen und es stabilisierten sich wieder Recht und Ordnung. In den USA, wo bereits im vierten Jahr junge Männer einberufen und die rangältesten Offiziere durch Männer ersetzt wurden, die Logan gegenüber loyal waren, war das Militär vielleicht sogar das stärkste der Welt. Indem es gemäß der Befehle von Logan handelte, begann das Militär systematisch in einem Staat nach dem anderen, die Menschen zu bekämpfen, die ihre eigenen Formen der Regierung errichtet hatten. Die Nation gehörte wieder zu einem großen Ganzen, ob es den betroffenen Menschen passte oder nicht. Östlich des Mississippi gehörte die Nation sozusagen wieder zusammen – keine Widerstandsnester waren übrig. Und es gab nicht länger ein Gebiet namens Neu-Afrika. Cecil, der wusste, dass es keine Möglichkeit gab, gegen eine Militärdivision nach der anderen zu gewinnen, zog still die Neu-Afrika-Flagge wieder ein und verkündete seinen Leuten, dass der Traum gestorben sei.
Die meisten Schwarzen entschieden sich, dort zu bleiben, wo sie waren, und das Land zu bestellen und in den wieder eröffneten Fabriken zu arbeiten. Aber diese Erfahrung war für Cecil eine bittere gewesen. Cecil und Lila, Pal und Valerie und ungefähr einhundert andere Schwarze verließen den Süden in Richtung Westen und zogen zu den Tri-Staaten. Ben ernannte Cecil sofort zu seinem stellvertretenden Gouverneur und Pal zum Staatssekretär. »Wird das nicht viele Menschen ärgern«, fragte Cecil, »Farbige in hohe Positionen zu berufen?« Ben lächelte. »Du weißt nicht, aus welchem Holz die Leute geschnitzt sind, die in den Tri-Staaten leben.« »Wählst du dir deine Bevölkerung selbst aus?«, fragte Pal. »Ja«, antwortete Ben. »Es ist erstaunlich, wie viel Ärger man dadurch vermeiden kann.« »Und erstaunlich, wie illegal das ist.« Cecils Erwiderung war trocken. »Vielleicht dort draußen.« Ben deutete mit dem Daumen auf das Gebiet außerhalb der Tri-Staaten. »Aber nicht hier drinnen.« »Kasim hat sich für den Guerillakrieg entschieden«, sagte Pal. »Er hat einige tausend Männer und Frauen hinter sich, und es gibt noch viel mehr Leute, die im Stillen das, was er tun will, unterstützen. Es wird blutig werden, Ben, denn dieser Mann ist so voller Hass.« »Hier wird es ebenfalls blutig werden«, meinte Ben. »Eines Tages.«
Von den Hunderten von kleineren und größeren Städten, die einst in den Tri-Staaten gestanden hatten, waren viele zerstört worden, nachdem sie zuerst gründlich untersucht worden und die Gegenstände, die noch zu gebrauchen waren, gerettet
worden waren – alles wurde etikettiert und gelagert. Das Gebiet wurde in Ackerland zurückverwandelt. Die Bewohner, soweit vorhanden, wurden in neuere, schönere Häuser und Wohnungen umgesiedelt, und sie wurden gebeten, sie instand zu halten. Niemand wollte Slums in den Tri-Staaten haben. Die Menschen wurden aus mannigfaltigen Gründen zusammengezogen: um die Energie zu erhalten, um die Regierung zu stabilisieren, um sich leichter um sie kümmern zu können, und um mehr Mittel für Land zur Getreideproduktion aufbringen zu können sowie einen besseren Schutz für die Menschen hinsichtlich Gesundheitsfürsorge, Polizei, Feuerwehr und staatlichen Sozialleistungen. Die älteren Menschen wurden mit Sorgfalt, Anteilnahme und Respekt versorgt. Sie wurden nicht zusammengepfercht und vergessen oder ignoriert. Sorgfältige Planung hielt Einzug in die Bevölkerungszentren. Junge Menschen, Menschen mittleren Alters und ältere Menschen wurden sorgfältig in den Häusern und Wohnungen zusammengruppiert. Diejenigen der Älteren, die arbeiten wollten und konnten, wurden dazu ermutigt. Sie konnten so lange arbeiten, wie sie es wünschten oder bis sie müde waren, und dann nach Hause gehen. Die Kenntnisse von älteren Bürgern sind wertvoll und unermesslich, und Ben wusste das. Altere Mitbürger können die Jüngeren so vieles lehren – wenn diese nur zuhören wollten. In den Tri-Staaten hörten sie zu. Damit dies funktionierte, musste das Tempo verlangsamt, die Schinderei erleichtert und das ehrenamtliche System wiederhergestellt werden – die Arbeitsmoral musste sowohl bei der körperlichen Arbeit als auch bei der Verwaltungsarbeit erneuert werden. Sie wurde erneuert. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gab es keine Wohlfahrt, keine ADC, keine WIC, keine Essensmarken, keine
Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit für alle, und alle Erwachsenen arbeiteten. Alle. Diejenigen, die nicht arbeiten wollten, weil sie meinten, dass der Job, der ihnen angeboten wurde, unter ihrer Würde war, oder aus Faulheit, Apathie oder Gleichgültigkeit, wurden zur nächsten Grenze begleitet und hinausgeworfen. Ihnen wurde gesagt, sie dürften nicht zurückkommen. Es war eine harte Verfahrensweise und, gemessen am amerikanischen Standard, völlig verfassungwidrig. Aber falls Ben sich Sorgen um die Rechtsgültigkeit machte, war diese Sorge jedenfalls nicht ersichtlich. Ben kümmerte sich besonders um die Verteidigung der TriStaaten. Die schwere Artillerie war bereit loszudonnern, gute Taktiken zur Defensive und Offensive waren bereit zur Ausführung. Bunker und Verstecke waren mit dem Nötigen ausgestattet, überprüft und instand gehalten worden. Straßen und Brücken konnten, falls und wenn es nötig wurde, innerhalb weniger Stunden für eine Sprengung verkabelt werden. Radargeräte liefen vierundzwanzig Stunden am Tag. Ferngesteuerte Tretminen konnten jederzeit platziert werden. Es gab Panzer in Hülle und Fülle, und ihre Besatzungen waren gut ausgebildet. Die Streitkräfte der Tri-Staaten rangierten unter den besten der Welt – ihre Ausbildung war eine Kombination aus Special Forces, Rangers, SEAL und Straßenkampf. Jeder, der in den Tri-Staaten lebte, ob männlich oder weiblich, und zwischen sechzehn und sechzig Jahre alt war, war Mitglied bei den Streitkräften. Sie trafen sich nach ihrer anfänglichen dreißigwöchigen Grundausbildung zweimal im Monat und waren jedes Jahr einen Monat im aktiven Dienst. Und die Ausbildung war schonungslos. Jede Einmischung in die täglichen Aktivitäten der Tri-Staaten würde sofortige Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen, und Hilton Logan wusste das. Logan hasste Ben Raines, aber dieser Hass wurde abgeschwächt durch Furcht.
»Es würde uns viel mehr kosten, als es wert wäre, die TriStaaten zu übernehmen«, erklärten die Joint Chiefs Logan. »Raines hat ein Äquivalent zu sieben Divisionen – alle bereit zum Kampf und darauf vorbereitet, bis zum Tode zu kämpfen. Seine Leute sind besser ausgebildet als unsere. Lassen Sie Raines in Ruhe, Mr. Präsident. Denn wenn wir nicht alle töten würden, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, würden sie sich gruppieren und als Guerillas kämpfen, und wir hätten noch einen weiteren Bürgerkrieg auf dem Hals. Die einzige Art, wie wir die Tri-Staaten zu dieser Zeit möglicherweise bekämpfen könnten, wäre mit der Hilfe von Atomwaffen, und das steht vollkommen außer Frage. In zwei oder drei Jahren… vielleicht. Aber nicht jetzt. Nicht, ohne dass es uns teuer zu stehen käme.« Die Tri-Staaten wurden in Ruhe gelassen. Die Regierung in Richmond, die Polizei und Bundesagenten überwachten alles, was in den Tri-Staaten vor sich ging, beobachteten es mit Ehrfurcht und Bestürzung und einem gewissen Maß an Neid. Ben hatte Menschen mit allen möglichen Vorgeschichten und aller Rassen um sich geschart und formte aus ihnen eine hochproduktive Gesellschaft, die praktisch frei von Vorurteilen und Verbrechen war. Und was Logan am meisten ärgerte, war, dass Ben die besten Leute hatte: die besten Ärzte, die besten Wissenschaftler, die besten Computerprogrammierer, die besten Farmer, Finanzplaner usw. – auf der ganzen Linie. Und Bens Gesellschaft funktionierte. Das ärgerte Logan ständig. Die Zentralregierung wusste, dass das Volk der Tri-Staaten sich mit den Indianern des Westens zusammengeschlossen hatte und eng mit ihnen zusammenarbeitete. Und falls sie gegen Ben und seine Leute vorgingen, würden Dutzende von Indianerstämmen sich Ben im Kampf anschließen, und die
Zentralregierung von Richmond war noch nicht stark genug, um sie zu bekämpfen – noch nicht. Im Westen nahmen die übrig gebliebenen Indianerstämme das, wovon sie meinten, dass sie es als Versorgungsmaterial und Ausrüstung brauchten, einfach in Besitz, genau wie Ben und seine Leute es getan hatten. Und nun, mit der Hilfe durch Personal aus den Tri-Staaten, hatten die Indianer das, woran es ihnen seit Jahren gefehlt hatte: Organisation. Die Indianer hielten Versammlungen mit anderen Stämmen ab, um zu entscheiden, was zuerst zu tun sei; und sie arbeiteten zusammen, wobei sie den Hass, den sie jahrhundertelang geschürt hatten, begruben. Wo einst Wassermangel geherrscht hatte, floss das Wasser nun in Strömen, denn mit der Hilfe von Erdbewegungsmaschinen, die man sich von verwaisten Baustellen ›geliehen‹ hatte, und Ingenieuren aus den TriStaaten, hatte man Flüsse umgeleitet. Die Wasserflut half, das Getreide zu bewässern und den Durst von einhundertfünfzig Jahren voller nutzloser Versprechen, gebrochener Verträge und Millionen leerer Worte aus Washington zu stillen. Die Indianer statteten sich mit modernen Waffen, Millionen von gehorteten Schuss Munition, Lebensmitteln in Dosen, Decken, Fahrzeugen, Ersatzteilen und allen anderen Dingen aus, die sie für einen möglichen Krieg gebrauchen könnten – wenn der weiße Mann käme, um Land zurückzufordern, das, um es gleich zu sagen, nicht ihm gehörte. Die Indianer bauten sich neue Häuser mit modernen sanitären Anlagen und fließendem Wasser. Sie verlegten Hunderte Meilen von Wasserleitungen. Sie zweigten Elektrizität für ihre eigenen Gemeinschaften ab und bauten saubere, neue, moderne Schulen und Krankenhäuser. Viele Reservate ähnelten nicht länger einem Albtraum eines Wanderarbeiters aus dem Dschungel. Denn nun hatten die Indianer das wiedergewonnen, was der weiße Mann ihnen genommen hatte:
ihren Stolz. Nun konnten sie als anständige, produktive menschliche Wesen leben – tatsächlich die einzigen wahren Amerikaner. Sie hätten das alles schon vor Jahrzehnten tun können, hätte man ihnen nur die Mittel dazu geboten, anstatt sie wie Tiere zu behandeln. Teams aus Ärzten, Ingenieuren, Sanitätern, Lehrern und Bauarbeitern aus den Tri-Staaten arbeiteten mit den Stämmen zusammen und freundeten sich mit ihnen an. Sie begrüßten den Rat des anderen, und jeder versprach, wenn möglich zu helfen, falls die Zeiten ungemütlich werden würden, womit beide Seiten bald rechneten. Zeit – eine sehr kostbare Ware. Nein, die Regierung in Richmond hatte noch nicht ganz die Kriegsstärke, um die Indianer oder die Rebellen in den TriStaaten jetzt zu stoppen. Die Tri-Staaten und die Indianer mussten warten.
ZWEI
»Ich habe genug vom Warten«, sagte Hilton Logan zu seinem Vizepräsidenten Addison. »Ich weiß, es gibt keine einfache Lösung, aber wir können doch nicht zulassen, dass dies noch lange so weitergeht. Wenn diese beiden Gruppen jemals richtig Fuß fassen – und unsere Geheimdienstler berichten, sie sprechen über eine förmliche Allianz – wird es verdammt schwer werden, sie wieder in die USA einzugliedern. Vielleicht unmöglich.« »Die USA existiert noch, Hilton«, erwiderte Aston, der mehr auf das Trommeln des Regens gegen das Fensterglas zuhörte als dem Präsidenten. Es bedeutete oft einen Vollzeitjob für den Vizepräsidenten, einfach nur das zerzauste Gefieder von Präsident Logan zu glätten. Wusste der Mann nicht, dass seine Frau – die First Lady – mit der Hälfte der Männer in Richmond bumste? Ihre Geheimdienstabteilung verbrachte mehr Zeit damit, ihre Spuren zu verwischen als damit, ihr Leben zu schützen. Aston seufzte. »Wir müssen es etwas vorsichtiger angehen, Hilton – wir wollen doch wohl keinen Bürgerkrieg anzetteln.« »Ich glaube nicht an die Warnungen der Militärs.« Der Präsident sah seinen Freund an. »Die überreagieren immer. Aston, ich kann es nicht glauben, dass Sie meinen, wir sollten gar nichts tun. Die Rebellen und die Indianer einfach so weitermachen lassen, ohne Führung durch die USA?« Darüber lachte der Vizepräsident. »Ich habe nicht gehört, dass sie uns um Hilfe gebeten hätten – Sie vielleicht?« Der Präsident schüttelte den Kopf und weigerte sich zu antworten. Statt dessen gab er sich ganz seinem inneren Hass
auf Ben Raines hin. Er verachtete den Mann. Er weigerte sich, auch nur vor sich selbst zuzugeben, dass es nicht nur Hass war, sondern Eifersucht. Aston erhob sich von seinem Stuhl und goss Kaffee ein. »Mein Gott, Hilton… unsere Führung hat uns dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Unsere Führung kostete die Vereinigten Staaten viele unserer Freunde in Übersee. Unsere Führung ließ die Mittelklasse durch zu viele Steuern ausbluten. Der Niedergang dieser Nation ist auf unsere ständige Einmischung ins Privatleben der Bürger zurückzuführen. Führung, Hilton? Verdammt noch mal!« »Da kann ich Ihnen nicht zustimmen, Aston. Die Leute brauchen einen zentralen Punkt, bei dem sie Rat und Führung suchen können.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Aston, wir müssen den Rebellen das Rückgrat brechen. Vielleicht sollten wir sie hermetisch abriegeln, sie einzäunen, und dann die Indianer zuerst rausholen. Ja«, sann er. »Also, lassen Sie uns den Tatsachen ins Auge sehen. Sie haben drei Staaten gestohlen und haben nicht die Absicht, sie zurückzugeben. Wegen ihres bewaffneten Widerstandes haben auch viele andere in diesem Staat sich geweigert, ihre Waffen auszuhändigen, und wieder andere rüsten sich mit illegalen Waffen. In diesem Land entwickelt sich eine verdammte Schießpulvergesellschaft. Wann werden die Menschen lernen, dass sie, wenn die Regierung Gesetze erlässt, diesen Gesetzen zu gehorchen haben? Es ist zu ihrem eigenen Besten! Nein, Aston, wenn wir die Rebellen in die Unterwerfung treiben können – zum Wohl des ganzen Landes – wird der Rest der Nation sich anschließen.« »O ja«, entgegnete Aston mit Sarkasmus in der Stimme. »Das ist sehr gut. Die Welt taumelt immer noch verwirrt umher und versucht sich von einem mit biologischen und atomaren
Waffen geführten Krieg zu erholen, und Sie versuchen einen neuen Krieg anzufangen. Natürlich nur zum Wohl des Landes. Hilton, lassen Sie die Menschen in den Tri-Staaten in Ruhe.« Hilton Logan massierte sich die Schläfen. Seine Kopfschmerzen waren zurückgekehrt. Das taten sie immer, wenn er über Ben Raines diskutierte. Er dachte: Gott, wie ich diesen Bastard hasse. Sogar Reverend Falcreek hasst ihn. Und der liebt alle Menschen… sogar Jane Fonda, wie er sagt. »Aston«, sagte er müde, »sie haben Menschen erhängt und erschossen, draußen in… den Tri-Staaten.« Er spuckte die Worte aus. »Die Todesstrafe ist Gesetz des Landes.« Das war nicht so, und er wusste es. »Sie haben Straßen abgesperrt – oder sie in die Luft gejagt und den Ort in eine verdammte Festung verwandelt. Colonel Parr will sich nicht einmal in die Nähe davon begeben; er sagt, Ben Raines sei im Kampf einfach fantastisch. Ein verdammter Ex-Söldner ist der Gouverneur von drei Staaten. Das ist unglaublich. Aston, sie weigern sich, meinen Agenten zu gestatten, den Ort auch nur zu betreten und sich umzusehen. Sie haben einen Inspektor der Federal Communications Commission hinausgeworfen – buchstäblich. Irgend so ein Schwachkopf namens Cossman sagte zu ihm, wenn er zurückkäme, würde er ihn teeren und federn. Alle dort tragen eine Waffe. Mein Gott, Aston – sogar die Damen tragen Waffen. Diese Verrückten lehren im öffentlichen Schulsystem Krieg. Das ganze Land ist eine Armee! Sie…« »… haben keine Kriminalität«, unterbrach ihn Aston. »Und keine Arbeitslosigkeit. Und eine gute medizinische Versorgung – für alle – auf einer Gleichheitsbasis. Und gute Schulen und die besten Beziehungen zwischen den Rassen auf der ganzen Welt. Und wissen Sie, wie sie das alles in solch kurzer Zeit bewerkstelligt haben?«
»Ja, verdammt, das weiß ich! Indem sie jede Person hinausgeworfen haben, die sie als unerwünscht empfanden.« »Das ist nur ein Teil davon, Hilton, und das wissen Sie. Nein – sie haben es zum Teil durch Bildung geschafft und teilweise dadurch, dass sie eine Regierung geschaffen haben, die wirklich aus dem und durch das Volk besteht. Es wäre nützlich für uns, von Ben Raines zu lernen.« »Zum Teufel, nein! Niemals!« Aston warf einen dicken Brief auf den Schreibtisch des Präsidenten. »Hier ist es, Hilton. Lesen Sie es. Ben Raines hat das erste Friedensangebot gemacht. Er sagte, sie seien bereit, einen gerechten Anteil an Steuern an die Regierung der Vereinigten Staaten zu zahlen, über dessen Höhe noch entschieden werden muss. Sie wollen unter der amerikanischen Flagge wählen und leben und auch für sie kämpfen, wenn nötig. Aber sie wollen ihre eigenen Schulen führen und ihre eigenen Gesetze. Hilton, es muss nicht noch mehr Blut vergossen werden. Wir könnten mit Ben Raines’ Tri-Staaten einen mächtigen Verbündeten gewinnen.« »Und der Verfassung ins Gesicht spucken?« Aston lächelte grimmig. »Das haben wir schon getan – vor Jahren. Was hat uns das Recht dazu gegeben und ihnen nicht?« »Ich stimme Ihnen darin nicht zu, und das wissen Sie.« Der Präsident drehte sich in seinem Drehstuhl herum, um dem Regen zuzusehen, der gegen das Fenster schlug. Die verdammten Demonstranten waren immer noch da draußen und protestierten gegen irgendetwas. Er wünschte, sie würden alle umfallen und an Lungenentzündung sterben. »Die verdammten Indianer rebellieren auch. Sie nehmen einfach Dinge, die ihnen nicht gehören.« »Genau wie es unsere Vorfahren mit ihnen machten, vor ein paar hundert Jahren.«
»Und das ist alles die Schuld von Ben Raines«, meinte Hilton. »Alles ist seine Schuld. Er… wenn er doch nur tot wäre!« Das Gleiche habe ich auch schon über dich gehört, dachte Aston. »Hilton, das da draußen ist eine brandneue Welt, und wir müssen uns ihr anpassen. Die Zeiten ändern sich, also ändern wir uns mit ihnen.« »Ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten. Ich gebe die Befehle. Ende der Diskussion.« »Die Sache gefällt mir nicht! Hilton, etwas anderes: Es ist fast fünf Jahre her, dass das Militär uns ins Amt gehoben hat. Sagen Sie mir: Wann werden richtige Wahlen abgehalten?« Hilton Logan drehte sich in seinem Stuhl herum und starrte seinen Vizepräsidenten wütend an, dann drehte er sich wieder um, um erneut in den Regen zu blicken. »Wenn ich es sage.« In gewissem Grade hatte Logan Recht, was die Gesetze in den Tri-Staaten betraf. Es wurden tatsächlich Menschen erhängt und erschossen. Es waren über einhundert im ersten Jahr, etwas über fünfzig im zweiten Jahr, zehn im dritten Jahr, und seitdem keine mehr. Es war ein Mythos, dass die Kriminalität nicht kontrolliert werden kann, und die Regierung der Tri-Staaten bewies das, indem sie einfach erklärte, dass sie Kriminalität nicht tolerieren würde, und ihre Worte mit strenger und schneller Rechtsprechung untermauerte. Die Todesstrafe war nicht Gesetz des Landes. Es gab Gefängnisse, und sie waren so, wie Gefängnisse sein sollten: keine besonders angenehmen Aufenthaltsorte, aber mit ausreichend Rehabilitationseinrichtungen, wobei die gewalttätigen Insassen weit entfernt von den nicht gewalttätigen untergebracht waren. Es gab wöchentliche Besuche von Damen, die zu dieser Art von Beschäftigung
neigten – die in den Tri-Staaten legal war… und geregelt… und besteuert. Niemand musste stehlen; es gab Arbeit für alle, die arbeiten wollten, aber alle, die in den Tri-Staaten lebten und in der Lage waren zu arbeiten,… arbeiteten. Während des ersten Jahres in den Tri-Staaten gab es Hochzeiten zwischen den Rebellen, als sie sich einlebten. Steven Miller und Linda Jennings, Al Holloway und Anne Flood, Ben und Salina. »Soso.« Ike grinste. »Wenn der alte Knabe erst mal Geschmack am braunen Zucker gefunden hat, will er ihn nicht mehr missen.« Megan schüttelte den Kopf und versuchte, nicht zu lächeln. »Ike – du bist unmöglich!« Bridge Oliver heiratete eine Dame aus Texas – Abby. Pal Elliot heiratete Valerie. Sam Pyron heiratete ein Mädchen aus dem südlichen Teil von Louisiana, die den Jungen aus den West Virginia-Bergen in jeder wachen Stunde auf Trab hielt. Nora Rodelo heiratete Major Clint Voltan, und die beiden nahmen fünf heimatlose Kinder auf, die sie aufzogen. Ken Amato wurde Programmdirektor des Rundfunksystems in den Tri-Staaten. Nora übernahm gemeinsam mit Steven und Linda die Aufgabe, das Schulsystem der Tri-Staaten wieder aufzubauen. Nach drei Jahren hatten sie vielleicht das beste Schulsystem errichtet, das es auf der Welt gab. Das Schulsystem, das frei von Politik und Bürokratie mit zu viel Verwaltungspersonal gehalten wurde, konzentrierte sich auf die Bedürfnisse des kindlichen Geistes und legte neben dem grundlegenden Bedarf an Bildung des Kindes auch Wert auf strenge Disziplin. Steven Miller, der der Überzeugung war, dass ein Kind gerechte Disziplin nicht nur braucht, sondern auch will, und
dass der kindliche Geist bestenfalls vom Chaos beherrscht wird, leitete ein strenges, aber exzellentes Schulsystem. Seine Lehrer lehrten, oder versuchten zu lehren, wie der junge Mensch seinen Lebensunterhalt verdienen könne, wenn er einmal die Schule verlassen habe. Es wurde Musik, Literatur, sowie Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet – womit bereits in einem frühen Lebensalter begonnen wurde. Und es gab Kurse wie an keiner anderen öffentlichen Schule in Amerika: über Respekt und Fairness dem Nächsten gegenüber… in gewissem Grade. Man lehrte, dass Arbeit der ehrenvolle Weg ist, der eingeschlagen werden muss. Und sie diskutierten offen über Bigotterie, wobei die Kinder lernten, dass nur Menschen mit verschlossenem Geist diese praktizierten. In den Tri-Staaten waren die Schulen zehn Monate im Jahr geöffnet. Jeder Schüler erhielt ab dem Alter von fünfzehn fünf Stunden Waffentraining in der Woche, vierzig Wochen im Jahr, und lernte die Grundlagen des Guerillakrieges. Es gab eine Wehrdienstpflicht. Die Leibeserziehung wurde in den Schulen strikt durchgeführt, vom organisierten Sport bis hin zur ärztlichen Untersuchung. Alle nahmen daran teil, einschließlich der Lehrer, die noch jung genug für hartes körperliches Training waren. Aber sie wurde mit einer Gleichberechtigung durchgeführt, wie sie an anderen öffentlichen oder privaten Schulen selten vorkam. Was den Sport betraf, so legte Ben Wert darauf, dass Spiele nicht mehr waren als – Spiele. Niemand sollte sie zu ernst nehmen. Es ging bei ihnen nicht um Leben und Tod; und sie bedeuteten für die Realität nur sehr wenig. Und wer sich über das Ergebnis eines Spiels ereiferte, war ein Dummkopf. Er brachte den jungen Leuten bei, dass Spiele da waren, damit man an ihnen Spaß hatte, egal, ob man gewann oder verlor,
und falls er das Gefühl hatte, dass die Spiele wichtiger wurden als die schulischen Bestrebungen, schob er ihnen einen Riegel vor, und es gab dann an den Schulen nur noch Aktivitäten, die innerhalb der Mauern stattfanden. Obwohl Ben an der Highschool ein guter Athlet gewesen war, verachtete er die Sportlermentalität und tolerierte sie in den Tri-Staaten nicht. Die Trainer wandelten an den Schulen der Tri-Staaten auf einem schmalen Grat. Die jungen Leute brauchten jemanden, zu dem sie aufsehen konnten, und diese Person fanden sie in Ben und seiner Philosophie. Nach dem Krieg waren die jungen Menschen verwirrt und wussten nicht, was passiert war, um solch eine Tragödie auszulösen.
Ben, der in einem Klassenraum an einem Tisch saß, wo er eine improvisierte Frage-und-Antwort-Stunde abhielt, lachte. »Wie das passieren konnte? Das ist wahrscheinlich die schwierigste Frage, die du mir überhaupt stellen konntest, aber ich werde versuchen, dir eine Antwort zu geben. Ich glaube, dass unser Land begann, in vieler Hinsicht die gleiche Geschichte wie das römische Imperium zu durchleben. Historiker sahen die Gefahr und warnten davor, aber zu wenige hörten zu – bis es zu spät war. Die Römer hatten großartige und teure Programme für das Gemeinwohl. Die hatten wir auch. Die Römer bauten riesige ›Über-Straßen‹. Das taten wir auch. Die Römer begannen über große Lehrer und Philosophen zu spotten. Das taten wir ebenfalls. Sie hatten Unruhen in der Gesellschaft. Das hatten wir ebenfalls. Sie bauten große Arenen, damit die Bürger an Wochenenden hingehen und sich Sportereignisse ansehen konnten. Das taten wir auch. Die römische Regierung hatte zu viel Verwaltungspersonal an der Spitze. Das hatte unsere auch.
Die römische Regierung wurde korrupt. Das wurde unsere auch. Und so weiter, die ganze Liste runter. Und so wie ihre zu Ende war, war es unsere ebenfalls. Hier in den Vereinigten Staaten wurden solche Dinge wie Patriotismus, Ehre oder Liebe zu Gott zu Objekten des Spottes. Eine gerechte Bezahlung für das Tagewerk wurde durch Gier ersetzt, und wenn das Produkt fehlerhaft war, kümmerte das den Arbeiter nicht. Streiks wurden zur Regel statt zur Ausnahme. Gelernte Handwerker gehörten der Vergangenheit an, als das Fließband die Kontrolle übernahm, Waren wurden ohne Rücksicht auf die Konsumenten zusammengestoppelt. Die Verantwortlichen vergaßen, dass wir alle Konsumenten sind. Die Moral sank auf einen bisher unerreichten Niedrigstand. Die Sechziger und Siebziger waren Zeiten des großen Liberalismus in Amerika. Er geriet außer Kontrolle, und wir machten immer mehr Schulden. Wir hatten keine Goldwährung mehr und begannen mehr Geld zu drucken – ohne irgendetwas, um es zu stützen. Es war nur Papier. Blicken wir auf die ganze Welt, können wir feststellen, dass die Gewerkschaften in Großbritannien einen großen Teil der Schuld für den Niedergang des Landes auf sich nehmen müssen. Massive Bodenreformen kamen in Mittel- und Südamerika viel zu spät. Das Wirtschaftssystem in Russland brach schließlich zusammen. Guerillakriege erstreckten sich über den ganzen Globus.« Ben seufzte und dachte einen Moment lang nach. »Die Regierung wurde zu mächtig und mischte sich in alle Details des öffentlichen und privaten Lebens ein. Der Große Bruder wurde aus der Fiktion zur Realität. Unsere Gesetze wurden so vage und tendierten politisch so nach links, dass der Durchschnittsbürger nicht einmal das Recht hatte, das zu beschützen, was ihm gehörte. Jedesmal, wenn eine Regierung
ihren Bürgern die grundlegenden Freiheiten wegnimmt, führt das unausweichlich zu Krieg. Und so war es auch hier.« »Müssen wir für das, was wir hier haben, kämpfen, Gouverneur?«, fragte ein Mädchen im Teenageralter. »Ja«, antwortete Ben. »Und wahrscheinlich schon sehr bald.« »Warum lassen die anderen uns nicht einfach in Ruhe?«, fragte jemand anders. »Was geht die das überhaupt an?« Ben lächelte traurig. »Tja, das haben die Menschen die Regierung gefragt, seit die erste Regierung gebildet wurde. Und die Regierung ist eine zufrieden stellende Antwort bisher noch schuldig geblieben.«
Ben und Salina nahmen zwei Kinder in ihr Haus auf, Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Sie waren hübsch und intelligent und hatten gute Manieren. Natürlich denken das alle Eltern von ihren Kindern. Tina und Jack kamen ursprünglich aus Arizona. Sie hatten von einem Versteck aus beobachtet, wie ihr Vater von einer Bande gewalttätiger Männer erschossen und ihre Mutter wiederholt vergewaltigt und dann bei einem Fluchtversuch – in die entgegengesetzte Richtung des Verstecks der Kinder – getötet wurde. Aber sie hatte ihnen genug Zeit verschafft, dass sie entkommen konnten. Weder Jack noch Tina empfanden Liebe oder Mitgefühl für die Gesetzlosen. Ihre Geschichte war ähnlich wie die fast aller adoptierten Kinder in den Tri-Staaten. Jimmy Deluce, Jane Dolbeau, Jerre Hunter und Badger Harbin blieben unverheiratet. Jimmy flog für die kleine Luftwaffe der Tri-Staaten, Jane und Jerre arbeiteten als Krankenschwestern in einer der vielen gebührenfreien Kliniken in den Tri-Staaten, und Badger wurde Bens Leibwächter.
Das war nichts, was Ben gewollt hätte oder von dem er je gedacht hatte, dass er es brauchte, aber nach dem Mordversuch gab Badger seine neue Aufgabe bekannt und zog ein. Er lebte bei den Raines und wurde zu Bens treuem Schatten. Badger vergötterte den Gouverneur, wie die meisten Rebellen und Einwohner der Tri-Staaten, und wäre durch brennende Reifen gesprungen, hätte Ben das vorgeschlagen. Er war auch hingebungsvoll gegenüber Salina, aber nicht auf eine sexuell offenkundige Weise. Dieser Gedanke war ihm nur einmal in den Sinn gekommen… Salina bemerkte Bagers Aufmerksamkeit, war aber nur amüsiert darüber und erwähnte sie schließlich eines Nachts Ben gegenüber. »Ja, Honey«, sagte Ben, während er das Buch, in dem er gerade las, beiseite legte, »das ist mir auch schon diverse Male aufgefallen. Aber ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Hat er dir irgendwelche Avancen gemacht?« »Oh, Ben!« Sie lachte. »Um Himmelswillen – nein. Ich glaube bloß, dass er ein Mädchen braucht, das ist alles.« Ben lächelte. »Eine Ehefrau, Ben.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Ich spreche hier über ein nettes Mädchen für Badger zum Heiraten.« »Badger ist schüchtern, das ist alles. Ich weiß, er, äh… besucht eine Dame in dem… äh… Haus außerhalb der Stadt.« »Gemeinsam mit einigen hundert anderen Männern«, bemerkte Salina trocken. »Aber aus Jerre und Jane werde ich nicht schlau.« Ben sprach weiter, als seine Frau nichts dazu sagte. Die Gemeinschaften in den Tri-Staaten waren absichtlich klein gehalten, und jeder kannte jeden anderen. »Beide sind jung, gut aussehend und intelligent. Aber beide scheinen so abgesondert von allen anderen. Keine von ihnen hat Verabredungen. Ich habe sie
neulich Badger gegenüber erwähnt, und er hat mich angesehen, als sei ich ein Idiot. Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?« Salina lächelte ihren Mann an. Vor Jahren hatte Ben ihr von Jerre und der Beziehung erzählt, die sie einige Wochen lang geführt hatten. Aber Ben glaubte, das gehöre alles der Vergangenheit an. Salina wusste es besser. Was würde es nützen, ihm zu erzählen, dass Jerre hoffnungslos in ihn verliebt war? Und Jane hatte ebenfalls angefangen, heftig für ihn zu schwärmen. Sie fragte sich, ob die beiden miteinander über ihre Gefühle gesprochen hatten. Was für einen Sinn sollte es machen, ihm zu erzählen, dass die gesamten Tri-Staaten darüber Bescheid wussten? Dass beide von ihnen wussten, dass Salina es wusste? Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Liebling – da gibt es nichts, von dem ich wusste.« »Hmmm.« Ben nahm sein Buch wieder auf und las weiter. Das Thema war vom Tisch. Salina lachte über den Mann, den sie liebte, und erhob sich, um nach den Zwillingen zu sehen. Heute übernachtete eine Freundin bei Tina. Die beiden waren im Schlafzimmer und diskutierten, hauptsächlich über Karate. Ben bestand darauf, dass alle Rebellen und ihre Angehörigen sich zumindest mit irgendeiner Art der Selbstverteidigung vertraut machen sollten – vorzugsweise die, bei denen man auch Töten lernte – und Tina widmete sich Karate und den anderen Arten des Straßenkampfes, die der Berufsarmee der Tri-Staaten beigebracht wurden. Mittlerweile war sie so weit fortgeschritten, dass es gefährlich wurde, und die Siebzehnjährige wurde von ihren Ausbildern für eine ziemlich gemeine und tückische Kämpferin gehalten. Jack dagegen hatte zwei linke Füße, wenn es um waffenlose Faustkämpfe ging. Er konnte die Schnelligkeit für einen Kampf ohne Waffen einfach nicht aufbringen. Aber er liebte Waffen und verbrachte so viel Zeit wie möglich auf dem
Schießplatz. Mit siebzehn war er Experte für ein Dutzend Waffen und ein Scharfschütze in seiner Reserveeinheit. Es gab große Diskussionen, einige von ihnen ziemlich hitzig, zwischen Ben und Steven Miller, was die Ratsamkeit betraf, in öffentlichen Schulen Kriegstaktiken zu lehren. Aber schließlich hatte der Professor Bens Forderungen nachgegeben, da er, nicht allzu zögernd, zustimmte, dass dies in der jetzigen Zeit für die Schulen in den Tri-Staaten grundlegend war. Der Professor gab zu, dass die jungen Leute, falls der Lebensstil der Rebellen erfolgreich sein sollte, lernen mussten, ihn zu verteidigen. Jack reinigte gerade Bens alte Thompson-Maschinenpistole, als Salina sein Zimmer betrat. Der junge Mann blickte auf und lächelte. »Hi, Salina.« Er hielt die Thompson hoch. »Großartig, was?« Salina lächelte und nickte über die ›Großartigkeit‹ der Waffe. »Ja, ich weiß, Jack«, antwortete sie mit sanfter Stimme. »Yeah. Ich vergesse das manchmal, Salina. Du hast schon Kämpfe gesehen, oder?« Ihr Gesicht bekam einen anderen Ausdruck, verhärtete sich. All die Erinnerungen kamen schlagartig wieder und erfüllten ihr Gehirn mit Bildern, die sie angestrengt zu verdrängen versucht hatte: der Horror der Tötungen und Vergewaltigungen in Chicago, das Wegrennen in purem Schrecken tagelang danach. Sie blockte es ab, versiegelte es, schloss die Erinnerungstür. Sie blickte den jungen Mann an, den sie wie ihren Sohn liebte. Sie sah die Waffe in seiner Hand an. »Ja, Jack. Ich weiß, was Kampf bedeutet.« Sie schloss die Tür und ging ins Arbeitszimmer zurück, um mit ihrem Mann zusammen zu sein. »Sprich mit mir, Ben! Leg das verdammte Buch hin, und sprich mit mir!«
Ihr Ausbruch erschreckte ihn, und er hatte fast einen Erstickungsanfall vom Rauch seiner Pfeife. Ben versuchte gerade, die Zigaretten aufzugeben – sie waren Mangelware und schal – und hatte angefangen, Pfeife zu rauchen. Das war auch nicht viel besser. Er sah seine Frau an, die, mit den Händen auf die Hüften gestützt, dastand und ihn anfunkelte. »Was ist los, Salina?« »Ben, wird es einen weiteren Krieg geben? Wird alles, wofür wir so hart gearbeitet haben, zerstört werden?« »Was? Wie bitte?« Ben sah verwirrt aus, nachdem er innerhalb von einer Sekunde von Tara in Georgia zu seiner Frau, die ihn anschrie, umschalten musste. Eine schnelle Reise. »Ich kann dir nicht folgen, mein Schatz.« Sie setzte sich auf den Fußschemel vor seinem Sessel und nahm seine Hände in die ihren. »Gibt es noch mehr Krieg? Werden wir verteidigen müssen, was wir hier haben? Wird Logan Truppen herschicken? Und ist es das wert, Ben?« Er beugte sich nach vorne und legte seine Arme um sie. Er liebte es, wie sie sich anfühlte. Ben war kein gefühlsbetonter Mann und sagte ihr daher selten, dass er sie liebte. Aber er liebte sie sehr. »Ja«, erwiderte er sanft. »Logan hasst mich – uns – und er wird versuchen, uns zu vernichten. Was das ›wert sein‹ betrifft: Bist du glücklich hier?« »Du weißt, dass ich es bin«, murmelte sie, ihr Gesicht an seine Schulter gepresst. »Glücklicher, als ich je gewesen bin. Aber ich frage mich, ob das, was wir tun, für die jungen Menschen, die hier leben, das Richtige ist. Tina ist Expertin im Töten; Jack spielt mit deiner alten Thompson. Das bringt mich einfach aus der Fassung. Diese Kinder haben in ihren jungen Leben genug gesehen. Noch mehr Krieg für sie, Ben?« »Honey, wenn dich das aus der Fassung bringt, nehme ich Jack die alte Thompson weg. Ich werde…«
Sie stieß ihn schroff weg. »Verdammt, Ben! Du begreifst nicht, was ich meine.« Sie stand auf und durchschritt das Zimmer. »Gibt es für uns denn keine gemeinsame Ebene? Können wir mit Logan keinen Kompromiss schließen?« »Ich habe ihm geschrieben, angeboten, uns zu treffen und über einen Kompromiss zu diskutieren. Er hat nicht geantwortet. Du weißt es.« »Dann ist ein Krieg unausweichlich?« »So scheint es zu sein.« Sie verlor die Geduld, durchmaß wütend den Raum und hielt kurz inne, um einen Aschenbecher hochzuheben und ihn gegen die Wand zu schleudern. Sie besann sich eines Besseren. »Scheiße!«, sagte sie und stellte dann den Aschenbecher zurück auf den Kaffeetisch. Ben wusste wie Millionen Ehemänner in einer solchen Situationen nicht, was er tun sollte, oder eigentlich eher, was er getan hatte. »Honey«, sagte er, wobei er sich darauf vorbereitete, in ein Fettnäpfchen zu treten, »lass mich die Klinik anrufen, und der Arzt schickt Jane oder Jerre mit einem Beruhigungsmittel her. Oder ihr beiden könnt einfach nur reden. Das…« Salina wurde plötzlich sehr ruhig. Eiskalt. Sie sprach durch ihre zusammengebissenen Zähne. »O ja, klar. Ruf auf alle Fälle Jane oder Jerre an. Vielleicht versteht eine von ihnen dich besser als ich.« Sie wirbelte herum und marschierte zum Schlafzimmer, ihr Rücken steif wie ein Stock. Sie knallte die Tür so hart zu, dass sich die Türfüllung in der Mitte aufspaltete. Juno rannte unter einen Couchtisch und kippte ihn dabei um, so dass Aschenbecher und Nippsachen auf den Teppich fielen.
Tina und Jack, die sich in der Diele versammelt hatten, um dem Streit der Erwachsenen zuzuhören, schlüpften zurück in ihre Zimmer und schlossen die Türen… leise und schnell. Ben blickte nach rechts und sah Badger in der Diele stehen; das Geschrei hatte ihn aus seiner kleinen Wohnung neben dem Haus getrieben. »Was habe ich getan?«, fragte der Generalgouverneur der Tri-Staaten seinen Leibwächter. »Was habe ich getan?« Der junge Leibwächter schüttelte den Kopf. »Gouverneur, mit allem nötigen Respekt, Sir – jemand sollte Sie aufklären.« »Was zum Teufel soll das heißen?«, brüllte Ben. »Und wer hat Sie überhaupt gefragt?« »Bedauernswert.« Badger runzelte die Stirn. »Einfach ganz bedauernswert.« Er drehte sich um und ging zurück in seine Wohnung. Juno sah ihn an, zeigte Ben die Zähne und trottete dann aus dem Raum. In dieser Nacht schlief Ben einige Stunden auf der Couch im Arbeitszimmer. In den frühen Morgenstunden schlüpfte Salina ins Zimmer, um ihn zu wecken. Zusammen gingen sie in ihr gemeinsames Bett, und Salina schmiegte sich eng an ihn. »Es tut mir Leid, Ben«, flüsterte sie. »Ich sollte der Erste sein, der sich entschuldigt«, entgegnete er, während er sie liebkoste. »Aber ich wusste gar nicht, was ich getan hatte. Und ich weiß es immer noch nicht.« »Ich weiß, Ben.« Sie bewegte sich unter dem Streicheln seiner Hände. »Ich verstehe«, sagte er. Aber natürlich tat er das nicht. Sie lächelte in der Dunkelheit, als er eine Brust berührte, und bewegte eine schlanke Hand seinen Bauch hinunter. Beim Frühstück bereitete Salina Bens Lieblingsessen zu, während er in den Garten ging, um für sie eine Rose von den mannigfaltigen blühenden Pflanzen, die um das Haus herum
wuchsen, abzuschneiden. Sie ließ ihm gegenüber unerwähnt, dass er den halben Busch abgehackt hatte, um eine einzige Rose abzumachen, sondern lachte bloß und dankte ihm, goss ihm noch etwas Kaffee ein und fragte sich, ob sie den verstümmelten Teil wieder aufpfropfen könne. Jack, der für sein zartes Alter sehr taktvoll war, erwähnte nichts von seinen Plänen, später den Schießplatz aufzusuchen, und Tina blieb zu Hause und half ihrer Adoptivmutter im Haushalt. Juno beobachtete das alles mit der Geduld eines Tieres. Das Leben in den Tri-Staaten war wirklich nicht so völlig anders als das in anderen Staaten oder Ländern.
DREI
Die Kommunikationsleute in den Tri-Staaten hatten die beste elektronische Ausrüstung in Amerika – vielleicht sogar der ganzen Welt – denn sie hatten sich während ihrer Suchaktionen nur die allerbesten Geräte angeeignet. Von Horchposten hoch in den Bergen der Tri-Staaten aus überwachten sie täglich Dutzende von Übertragungen, nicht nur aus Amerika, sondern rund um den Globus. Sie hörten dem militärischen Geschwätz zu, knackten die Codes und wussten, was wann wo passierte. Sie wussten, dass die Regierung in Richmond jede ihrer Bewegungen beobachtete und abhörte, genau wie sie ihrerseits die Regierung beobachteten und abhörten. Kenny Parrs Söldner, die Seite an Seite mit dem Berufsmilitär kämpften, waren durch Louisiana und Mississippi gefegt und hatten Kasims kleine Guerillaarmee zerschmettert. Kasim war tot, aber er hatte den Söldner Parr getötet, bevor er gestorben war. Die Nation wurde langsam und unter Schmerzen wieder eins. Die Zentralregierung unter der Führung von Hilton Logan und, wie Ben mutmaßte, dem Militär, übernahm die absolute Kontrolle… wieder. Aber sie hielten sich aus den Tri-Staaten heraus.
Eine kleine Stadt stand fast genau im Zentrum der Tri-Staaten. Ihr Name war in Vista geändert worden, und sie wurde zur Hauptstadt. Ihre Flagge war ein einfarbiges blaues Banner mit drei Sternen in einem Kreis. Eine Verfassung war im ersten
Jahr ausgearbeitet worden, die in vielem mit der Verfassung und der Bill of Rights der Vereinigten Staaten übereinstimmte, aber mehr ins Detail ging und genau darlegte, was die Bürger der Tri-Staaten bekommen würden und was sie erwarten dürften, wenn sie gemäß diesem Dokument lebten. Schon früh wurden die Tri-Staaten in Distrikte aufgeteilt und Wahlen abgehalten, um Sprecher für jeden Bezirk auszuwählen. Am Ende des zweiten Jahres wurde Ben ohne Opposition und ohne Wahlkampagne zum Gouverneur auf Lebenszeit gewählt. Die Gesetze der Tri-Staaten wurden durch eine geheime Wahl festgesetzt und waren beständig gegen Änderungen. Die erste Sitzung der Legislaturperiode (die jedes Jahr einmal abgehalten werden und nicht mehr als zwei Wochen lang dauern sollte) war wahrscheinlich die kürzeste, die je irgendwo aufgezeichnet wurde. Major Voltan, ein Sprecher des zweiten Distriktes, fasste es zusammen: »Warum treffen wir uns? Unsere Gesetze sind festgelegt und können nur durch ein klares Mandat des Volkes geändert werden. Niemand in meinem Distrikt möchte, dass etwas geändert wird.« Und auch nicht in den anderen Distrikten, wie es schien. »Die Verfassung legt fest, dass wir einmal im Jahr eine Sitzung abhalten müssen«, sagte Ben. »Um was zu tun?«, forschte ein Farmer, der als Sprecher fungierte. »Um über Streitfragen zu debattieren«, meinte Cecil. »Was für Streitfragen?« Es gab keine. »Wie der Kongress der Vereinigten Staaten?«, fragte eine Frau. »Wir sollen uns so benehmen wie die?« »Mehr oder weniger«, entgegnete Cecil. »Gott helfe uns.«
Gelächter hallte durch den großen Raum. »Ich beantrage eine Vertagung, so dass wir alle zurück zu unserer Arbeit gehen und etwas Konstruktives tun können«, sagte Voltan. »Ich unterstütze den Antrag.« »Die Sitzung ist vertagt«, sagte Ben. Die Gesetze der Tri-Staaten konstituierten eine zusammengewürfelte Schießpulvergesellschaft, wie die linksgerichtete Presse schrieb – sogar nach einem Atomkrieg wurde die Presse immer noch von Linken kontrolliert. In gewissem Grade hatte sie Recht. Aber die Reporter, die ein wenig mehr Respekt für ihre Leser und Zuschauer hatten – sie waren gegenüber ihren Gegenstücken in der Minderzahl – sahen etwas genauer hin und nannten die Tri-Staaten ein Experiment des Zusammenlebens, das ebenso auf gesundem Menschenverstand beruhte wie auf schriftlich festgehaltenen Gesetzen. Die meisten dieser Reporter schlossen, dass die TriStaaten wahrscheinlich für eine sehr lange Zeit existieren könnten und für Amerika keine Bedrohung darstellten. Und, ja, ihre Bürger schienen dafür zu sorgen, dass die Regierungsform der Tri-Staaten funktionierte, da sie zielbewusst waren und ihre Lebensphilosophien nicht auseinander liefen. Aber konnte diese Regierungsform bei Millionen von Menschen funktionieren? Nein, schlossen sie, das konnte sie nicht. Und sie hatten Recht mit dieser Annahme… in gewissem Grade. Doch die meisten Menschen können sich selbst regieren, wenn erst eine Übereinstimmung über grundlegende Gesetze getroffen wurde – wenn diese Leute extrem achtsam zu Werke gehen und extrem hart daran arbeiten. Und die Tri-Staaten bewiesen es.
Es gab nicht viel Pomp in den Tri-Staaten. Bens Gouverneursvilla war ein Halbgeschosshaus am Stadtrand von Vista. Bei gutem Wetter fuhr er mit dem Jeep zur Arbeit. Ben war viel unterwegs: Er besuchte die Distrikte und hörte sich die Klagen an, falls es welche gab; und es gab wenige. Aber neuerdings gab es eine Frage, die ständig gestellt wurde, eine Frage, die in den Köpfen der Tri-Staaten-Bewohner an erster Stelle stand: Was passiert, wenn wir unsere Grenzen öffnen? Die Bewohner hatten sich in offenen Städteversammlungen getroffen (etwas, das gesetzlich erforderlich war, bevor eine Entscheidung getroffen wurde, die das Leben der Bürger betraf) und schließlich entschieden, dass sie ihre Grenzen für die Öffentlichkeit öffnen würden, falls es Menschen gab, die sie besuchen wollten. Sie waren fast sechs Jahre lang völlig abgeschlossen gewesen. Vielleicht war es Zeit dafür. Aber die meisten blickten der Grenzöffnung mit äußerst gemischten Gefühlen entgegen. Die Kommunikationsleute aus den Tri-Staaten kontaktierten die größeren Fernseh- und Radiosender sowie die größeren Zeitungen und fragten, ob sie über die Grenzöffnung der TriStaaten berichten wollten. Alle wollten. »Jetzt gehts los«, meinte Ike.
Der Fahrer des ersten Busses hielt sein Gefährt zischend an und gab dem Chefkorrespondenten von CBN ein Zeichen, nach vorne zu kommen. »Sehen Sie sich das an, Mr. Charles.« Er zeigte auf ein riesiges, rot-weißes Schild, das fünfundzwanzig Fuß über der Straße in der Luft hing und sich von einer Seite der Straße bis zur anderen erstreckte. Noch andere Busse und Wohnmobile hielten an und entließen ihre
Passagiere. Kameras konzentrierten sich auf das Schild und liefen, klickten und surrten. »Das hängt da noch nicht lange«, meinte ein Reporter aus Portland. »Ich war in den vergangenen sechs Monaten ein halbes Dutzend Mal hier, und die Straße war immer blockiert. Und kein Schild.« Er las die Nachricht. WARNUNG SIE BETRETEN DIE TRI-STAATEN. SIE MÜSSEN AM EMPFANGSZENTRUM HALT MACHEN, UM SICH MIT DEN GESETZEN DIESES STAATES VERTRAUT ZU MACHEN. BETRETEN SIE DIESES GEBIET NICHT OHNE ERLAUBNIS UND KENNTNIS DER GESETZE. SIE MÜSSEN IHREN PERSONALAUSWEIS BEREITHALTEN. WARNUNG Das international bekannte Symbol für »Gefahr – Zutritt verboten« war auf beiden Seiten des riesigen Schildes abgebildet. »Ich glaube, ich möchte nach Hause.« Eine junge Frau grinste. In Wahrheit hätten sie keine zehn Pferde von hier wegbringen können. Die aus Presseleuten, Tontechnikern und Kameraleuten bestehende Gruppe lachte. Clayton Charles legte seinen Arm um die Schultern der Frau. »Komm schon, Judith – wo ist dein Sinn für journalistische Wissbegierde geblieben?« »Nun, der Krieg mit atomaren und biologischen Waffen kam so schnell, dass niemand eine Chance hatte, darüber zu berichten. Also, vielleicht reicht dies hier ja auch.« Larry Spain, Reporter für eine andere Sendergruppe, zeigte auf einen Stahlturm, der sehr denen ähnelte, die vom
Forstdienst verwendet wurden, nur dass dieser hier niedriger war. Der Turm stand innerhalb der Grenzen der Tri-Staaten, auf der anderen Seite der Brücke. »Ein bisschen niedrig für einen Feuerüberwachungsturm«, meinte er. »Sieh noch einmal hin«, sagte ein Freund zu ihm. »Dieser hier verfügt über Maschinengewehre. Jesus! Diese Menschen meinen es ernst.« Niemand sagte etwas, als alle den Turm anblickten. Der Lauf des großkalibrigen Maschinengewehrs war deutlich sichtbar. Stumm stiegen die Männer und Frauen wieder in ihre Wohnmobile und Busse. Einen Augenblick später waren sie die ersten Reporter von außerhalb, die die Tri-Staaten seit deren Gründung (legal) besuchten. Einer der Reporter würde später schreiben: »Der Soldat im Turm machte niemals eine feindselige Bewegung und richtete den Gewehrlauf nie auf uns. Doch es war trotzdem, als habe man zum ersten Mal die Berliner Mauer besichtigt.« Die Fahrzeuge fuhren von der Straße ab und hielten auf einem riesigen Asphaltparkplatz. Weit hinten stand ein lang gestrecktes, niedriges Betongebäude, das weiß angestrichen war. An der Vorderseite und beiden Seiten des Gebäudes waren in mehreren Fuß großen, flammend rot angemalten Blockbuchstaben folgende Worte zu lesen: KONTROLLPUNKT BEIM BETRETEN ODER VERLASSEN – ALLE FAHRZEUGE STOP. »Ich glaube, sie meinen das auch so«, sagte jemand. »Ganz definitiv«, entgegnete jemand anderes.
»Unmissverständlich«, erwiderte Judith. »Ausdrücklich«, trug ein anderer Reporter mit einem Lächeln bei. »Hört auf damit.« Clayton Charles beendete das Geplänkel. Der Busfahrer wandte sich an die Presseleute, bevor sie das Gebäude betreten konnten. Er sprach zur gesamten Gruppe. »Ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich habe Freunde in den TriStaaten, ich bin überprüft und abgefertigt und ziehe nächsten Monat hierher um… Also hören Sie mir zu. Das könnte Ihnen einen gebrochenen Kiefer, einen zerschlagenen Mund oder Schlimmeres ersparen. Was auch immer für einen Eindruck Sie von den Menschen haben, die in den Tri-Staaten leben – verbannen Sie ihn wieder aus dem Kopf, da er wahrscheinlich falsch ist. Auch wenn es sich um Ärzte, Zahnärzte, Farmer, Ladeninhaber oder was auch immer handelt – ich wette, Sie denken, das ist ein Haufen Wilder oder verrückter Terroristen. Wenn Sie das glauben, haben Sie Unrecht. Es sind nur Menschen, die keinen Ärger tolerieren – egal, welcher Art. Das behalten sie besser im Kopf. Die Gesetze sind hier anders. Ich hoffe, dass Sie alle vorurteilslos an diese Sache herangehen – das hoffe ich wirklich.« Ein einzelner männlicher Reporter stand hinten in der Menge und spendete der Rede des Fahrers feierlich Beifall. »Wie beredt ausgedrückt«, sagte er. Der Fahrer sah ihn an und schüttelte dann angeekelt den Kopf, wie es auch viele der Presseleute taten. Barney hatte den Ruf, unhöflich, arrogant und ein Erzklugscheißer zu sein. »Barney«, sagte Judith. »Ich weiß, wir arbeiten für dieselbe Sendergruppe und sollten Kollegen sein und all das, aber wenn wir reingehen, dann bleiben Sie verdammt noch mal weg von mir, okay?«
Barney lächelte und verbeugte sich. Das Empfangszentrum war groß und kühl und gemütlich, ausgestattet mit diversen Stühlen und Sofas. Regale mit Literatur über die Tri-Staaten, ihr Volk, ihre Wirtschaft und ihre Gesetze füllten die Hälfte einer Wand. Ein Tisch mit Doughnuts und zwei Kaffeemaschinen befand sich in der Mitte des Raumes; alkoholfreie Getränke standen rechts auf dem Tisch. Zwischen zwei geschlossenen Türen stand ein vier Fuß hoher und fünfzehn Fuß langer Schalter, der vom Boden bis oben hin geschlossen war. Hinter dem Schalter standen zwei junge Frauen, eine von ihnen Tina Raines. Die Mädchen waren identisch gekleidet: Jeans und helle blaue Hemden. »Guten Morgen«, sagte Tina zu der Menschenmenge. »Willkommen in den Tri-Staaten. Mein Name ist Tina, dies hier ist Judy. Bedienen Sie sich selbst mit Kaffee und Doughnuts oder einem alkoholfreien Getränk – sie sind kostenlos.« Barney lehnte sich auf den Schalter, sein Blick auf Tinas Brüsten. Sie wirkte älter als siebzehn. Barney lächelte sie an. »Alles kostenlos hier, Baby?«, fragte er, wobei seine berüchtigte Anstößigkeit durchklang. Die Worte hatten kaum seinen Mund verlassen, als die Tür zu einem Büro aufgestoßen wurde und ein uniformierter ArmeeRebell heraustrat, mit Master Sergeant-Tressen an den Ärmeln seiner Tigerstreifenuniform. Er war klein, muskulös, tiefbraun gebrannt und sah aus, als sei mit ihm nicht zu spaßen. Er trug eine 45er-Automatik in einem Holster an seiner rechten Seite. »Tina?«, fragte er. »Wer hat das gesagt?« Tina deutete auf Barney. »Der hier.« »Oh, verdammt!«, flüsterte Judith. »Ziemlich«, stimmte Clayton zu. Der Rebell ging auf Barney zu und hielt mit einem Fuß Abstand vor ihm an.
Barney sah plötzlich mitgenommen aus, seine Gesichtsfarbe ähnelte schlecht gewordener Sahne. Die Filmleuchten waren an, und niemandem fiel auf, dass ein Kameramann zu drehen begann und das Ereignis aufnahm. »Ich bin Sergeant Roisseau«, informierte der Rebell den Reporter. »In Zukunft ist es Ihre Pflicht, zweideutige Bemerkungen für sich zu behalten. Ich habe Sie gewarnt; dies ist ein Ein-Fehler-Staat, und Sie haben Ihren bereits hinter sich gebracht.« »Ich… äh… habe nur einen kleinen Scherz gemacht«, sagte Barney. »Ich habe damit nichts Besonderes gemeint.« Das Blut strömte ihm ins Gesicht und verriet die Wahrheit. »Ihr Gesicht sagt, dass Sie ein Lügner sind«, sagte Roisseau ruhig. »Und Sie sind bewaffnet!«, entgegnete Barney blinzelnd. Er war ungehalten – der Strom, mit dem er gewöhnlich schwamm, benahm sich nicht wegen eines kleinen Scherzes so. Egal, wie schlecht der Geschmack auch sein mochte. Roisseau lächelte und schnallte seinen Pistolengurt ab. »Nun, entweder – oder!«, forderte er ihn heraus. Das erschütterte Barney wirklich. Es sah nicht gut für ihn aus. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte nicht mit Ihnen kämpfen.« »Sie haben nicht nur eine schlüpfrige Ausdrucksweise«, meinte Roisseau, »sondern sind obendrein noch ein Feigling.« Barneys Augen verengten sich, aber er hielt weise den Mund. »Okay«, sagte Roisseau. »Wenn Sie sich bei der jungen Dame entschuldigen, vergessen wir das Ganze.« »Ich will verdammt sein!«, entgegnete Barney und sah sich nach Unterstützung um. Niemand trat vor. »Wahrscheinlich«, erwiderte Roisseau. »Aber das ist nicht das unmittelbare Thema.« Er blickte Tina an und blinzelte ihr
zu, Humor in seinen dunklen Augen. »Also, Nachrichtenmann, wenn Sie zu ängstlich sind, um mit mir zu kämpfen, dann kämpfen Sie vielleicht lieber gegen die junge Dame?« »Die Kleine?«, fragte Barney und lachte dann laut heraus. »Was soll das sein, eine Art Spaß?« Judith trat neben Barney. Sie erinnerte sich an die Worte des Busfahrers und hatte das Gefühl, dass an dieser ganzen Sache hier sehr wenig Humor geknüpft war – und wenn doch, dann ging der Spaß auf Barneys Kosten. Und er war nicht sehr witzig. »Barney, beruhigen Sie sich. Entschuldigen Sie sich bei ihr. Sie haben sich danebenbenommen.« »Nein. Ich habe bloß einen Scherz gemacht.« »Niemand hat gelacht«, erinnerte sie ihn und trat zurück, indem sie dachte: Sind die Menschen in diesem Staat humorlos? Oder sind sie nur zu Werten zurückgekehrt, die meine Generation beiseite geschoben hat? »Kommt überhaupt nicht in Frage.« Barney schüttelte den Kopf. »Ihr Leute seid verrückt!« Die Kamera drehte und nahm heimlich alles auf. Roisseau lächelte und sah dann Tina an. »Miss Raines, der… Herr gehört Ihnen. Aber killen Sie ihn nicht gleich. Er braucht nur eine harte Nachhilfestunde, was Manieren betrifft.« Tina stützte ihre linke Hand auf den Schalter und sprang in einer einzigen fließenden Bewegung so graziös wie eine Katze über den Schalter, um dann locker auf ihren Tennisschuhen zu landen. Ruhig stand sie vor dem Mann, der mindestens fünfzig Pfund mehr wog als sie. Sie deutete eine kleine Verbeugung an. Hätte Barney irgendeine Ahnung von asiatischen Kampfsportarten gehabt, wäre er ohnmächtig geworden und hätte sich auf diese Weise einige blaue Flecken erspart.
Tina hielt ihre Hände vor sich, wobei die Handflächen Barney zugewandt waren; dann zog sie die linke zurück an ihre Seite und ballte die Faust. Ihr rechter Fuß war ausgestreckt, anders als bei der Haltung eines Boxers. Ihre rechte Hand war geöffnet, die Handfläche wie eine Messerschneide Barney zugewandt. Ihre Augen wirkten seltsam ausdruckslos. Barney konnte nicht wissen, dass sie sich innerlich vorbereitete. Barney nahm die kleine Linie von Schwielen wahr, die von ihren Fingerspitzen bis zu ihrem Handgelenk reichte. Instinktiv wich er zurück. Fast mit der Schnelligkeit einer zubeißenden Schlange trat Tina mit ihrem Fuß hoch und traf Barney an der Seite seines Gesichtes. Er knallte rückwärts gegen eine Wand und prallte nach vorne ab, überwältigt von der Plötzlichkeit von alledem. Ohne Änderung in ihrem Gesichtsausdruck führte Tina einen Hieb mit der Handkante aus und verpasste ihm einen heftigen Schlag knapp oberhalb der Niere, dann einen schmerzenden Treffer im Gesicht. Barney ging in die Knie, sein Rücken schmerzte, sein Gesicht tat weh, Blut tropfte ihm aus einem Mundwinkel. Er erhob sich langsam, sein Gesicht eine scheußliche Maske aus Hass, Wut, Frustration und Unglauben. »Du Schlampe!«, stieß er hervor. »Du verdammte kleine Fotze.« Roisseau lachte. »Jetzt hast du Probleme, Heißsporn.« Barney trat schlurfend nach vorne, in der Haltung eines Boxers, das Kinn an der Schulter. Er schwang die Faust in einer weiten, schleifenförmigen Bewegung auf Tina zu. Sie lächelte über seine Unbeholfenheit und drehte sich leicht, wobei sie sein rechtes Handgelenk zu fassen bekam. Indem sie die Vorwärtsbewegung seines Schwunges gegen ihn und ihre Hüften zur Hebelwirkung nutzte, warf sie den Mann über sich,
so dass er von einer Wand abprallte. Schnell langte sie hinunter und brachte ihre offenen Hände neben die Seiten seines Kopfes. Dann schlug sie die offenen Handflächen in exakt demselben Moment heftig und hart gegen seine Ohren. Barney schrie vor Schmerz und krümmte sich in Agonie auf dem Fußboden; ein kleines Blutrinnsal sickerte aus dem einen verletzten Ohr. Tina glättete ihr Haar. Sie atmete nicht einmal schwer. Sie sah Master Sergeant Roisseau an. »War das in Ordnung, Sergeant?« Die Reporter bemerkten nun, dass die Lasche von Roisseaus Pistolenhalfter offen und der Kolben der 45er enthüllt war. Und alle waren froh, dass niemand versucht hatte, sich einzumischen. Dann erfolgte vom Boden des Empfangszentrums der Wutschrei eines modernen Mannes des zwanzigsten Jahrhunderts. Unfähig, diese Situation mental oder körperlich zu bewältigen, brüllte der Mann die Worte: »Ich werde dich verklagen!« Plötzlich bebte der Raum vor Gelächter. Nachrichtenkommentatoren, Reporter, Kameraleute und Tontechniker – Leute, die seit Jahren das Beste und Schlimmste der Menschheit festgehalten hatten – sie alle brüllten vor Lachen wegen dieser Worte ihres Kollegen. »Verklagen?« Clayton gelang es, das Wort trotz seines Gelächters hervorzustoßen. »Verklagen? Ein kleines Teenagermädchen verklagen, das dir gerade deinen großen, männlichen Hintern versohlt hat. Wirklich Barney! Ich habe dich seit Jahren davor gewarnt, dass deine große Klappe dir eines Tages Ärger bereiten würde.« Roisseau sprach mit dem Mädchen, das immer noch hinter dem Schalter stand. »Judy, rufen Sie die Sanitäter, und sagen Sie ihnen, dass wir einen Heißsporn mit einer durchgebrannten
Sicherung hier haben.« Er wandte sein Gesicht der Menge der Nachrichtenleute zu. »Sie alle werden in einer Stunde zu einer Pressekonferenz erwartet. Ich schlage vor, dass Sie sich in der Zwischenzeit selbst mit Kaffee und Doughnuts und alkoholfreien Getränken bedienen und mit den Broschüren beschäftigen, die wir für Sie haben.« Er warf einen kurzen Blick auf Barney, der auf dem Boden saß, jammerte und seinen Kopf in den Händen hielt. »Was Sie betrifft, würde ich das Verklagen ganz schnell vergessen. Unsere Regierungsform missbilligt Gerichtsverfahren. Sie würden ohnehin verlieren.« »Ich werde das vor das oberste Gericht bringen!«, brüllte Barney. »Fein. Gouverneur Raines wird eines Tages eins einrichten. In den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren. Ihres erkennen wir nicht an.« »Nun, wer ist die oberste Autorität, was das Recht in den TriStaaten betrifft?«, fragte eine Frau. Roisseau lächelte. »So gut wie jeder in diesem Gebiet… über dem Alter von zehn. Wenn Sie sich mit der Einfachheit unseres Rechtssystems beschäftigen, werden Sie verstehen, was ich meine. Wir verwenden keine lateinische Grundlage oder doppelzüngiges Rechtsgerede. Alles ist in sehr einfachem Englisch gehalten. Wenn Sie fragen, wer das letzte Wort zu einer Streitfrage hat – falls es jemals so weit kommen sollte – das wären dann Gouverneur Raines und ein halbes Dutzend Menschen, deren Namen aus einem Hut gezogen werden.« »Also, das ist das idiotischste Rechtssystem, von dem ich je in meinem Leben gehört habe!«, meinte Larry Spain. »Ich bin sicher, das ist wahr«, erwiderte Roisseau. »Aber von Bedeutung ist nur, dass es für uns funktioniert.« Er ging zurück in sein Büro und schloss die Tür.
Nur wenige Momente später kamen zwei Sanitäter herein und blickten Barney an. Sie stellten fest, er habe eine aufgerissene Lippe, einige Quetschungen, ein leicht beschädigtes Trommelfell – nichts Ernstes – und ein ernsthaft angeknackstes Ego. Sie setzten ihn auf einen Stuhl, sagten zu ihm, er solle sich in einer Klinik melden, falls er Schwindelanfälle haben sollte, tätschelten ihm den Kopf, sagten, er solle aufpassen, was er so von sich gebe, und gingen kichernd wieder. »Eine sehr einfache Gesellschaft haben die hier«, beobachtete ein Reporter. »Leben und leben lassen, während sie dabei stets die Rechte der anderen respektieren, die ihrerseits das Gleiche tun. Sehr grundlegend.« »Und sehr verfassungswidrig«, bemerkte ein anderer. »Ich frage mich…«, Judith dachte laut nach, »… ich frage mich nur, ob es das wirklich ist.« »O Judith, komm schon«, meinte Clayton mit einem Kopfschütteln. »Diese ganze Debatte ist überflüssig. Es gibt keine Regierung der Tri-Staaten. Sie existiert nicht. Die Regierung der Vereinigten Staaten erkennt sie nicht an. Sie existiert einfach nicht.« Mehrere Jeeps fuhren auf das Parkgelände. Die Reporter beobachteten, wie ein halbes Dutzend Rebellensoldaten – männliche und weibliche, alle in Tigerstreifenuniformen – aus den Jeeps ausstieg. Alle Soldaten waren ausgerüstet mit Automatikwaffen und Bajonetten. »Wirklich?« Judith lächelte. Sie deutete auf die Rebellen. »Nun, erzähl nicht mir, dass die Tri-Staaten nicht existieren – erzähl das denen!«
VIER
Bevor sie das Empfangszentrum verließen, wurde jedem Presseangehörigen ein Pass ausgehändigt, der mit BESUCHER – PRESSE ausgezeichnet war. Die Pässe waren von Roisseau datiert und unterschrieben. »Verlieren Sie diese Pässe nicht«, warnte er sie. »Ihr Leute habt keine dauerhaften Papiere mit Stempel, Foto und Seriennummer – unser Äquivalent der Sozialversicherung.« »Wofür sind diese Papiere nötig?«, fragte ein Reporter. »Wir haben vielen so genannten Kriminellen aus Grenzstaaten Asyl gewährt. Einige Polizisten aus diesen Staaten haben versucht, hier hereinzukommen, um sie zu fangen – sie schlichen sich ohne unser Wissen ein. Sie haben es nicht geschafft, aber das hat uns gezwungen, einen festen Personalausweis einzuführen.« »Ich… verstehe das nicht ganz.« Judith blickte von der Broschüre auf, in der sie gelesen hatte. Sie war sehr interessiert an diesem Staat. »Was meinen Sie mit ›so genannte Kriminelle‹?« »Wie Sie wahrscheinlich gelesen oder gehört haben, sind Ihre und unsere Gesetze unterschiedlich. Sehr unterschiedlich. Wenn Sie in anderen Staaten einen Ganoven erschießen würden, der versucht, Ihr Auto, ihr Fernsehgerät oder was auch immer zu stehlen, kommen Sie ins Gefängnis und werden angeklagt. Hier nicht. Natürlich gibt es eine gründliche Ermittlung – wir sind ja keine Tiere – aber wir glauben, dass ein Ganove ein Ganove ist und dass ein Mensch das Recht hat, sein Eigentum vor Raub und Zerstörung zu schützen. Mit Hilfe jeder beliebigen autorisierten Waffe.«
»Auf wie viele Kinder wurde schon geschossen?« »Auf keine. Unseren Kindern wird, nicht nur zu Hause, sondern auch in den öffentlichen Schulen, der Unterschied zwischen richtig und falsch beigebracht – so wie wir ihn verstehen.« »Sie sagten ›autorisierte Waffen‹…?« »Gewehr, Pistole, Messer, Hände, Fäuste, Füße… was gerade verfügbar ist.« Er lächelte. »Unsere Bürger besitzen keine Nuklearwaffen.« Barney schauderte. Er hatte entdeckt, wie schnell Dinge in diesem Staat passieren konnten. Alles wegen eines kleinen Scherzes. »Erklären Sie uns diese festen Personalausweise«, wurde Roisseau gebeten. »Jeder Ausweis ist nummeriert. Dieselbe Nummer ist dem Bankkonto, dem Führerschein und der Adresse der entsprechenden Person zugeordnet. Diese Nummer wird in einer Zentralcomputerbank aufbewahrt. Gemeinsam mit dem Personenstandsregister. Sie kann sehr leicht überprüft werden, und es ist fast unmöglich, eine Identität zu verbergen.« »Was kommt als Nächstes, Sergeant: eine Tätowierung bei der Geburt?« Eine sarkastische Bemerkung. Barney widerstand dem Impuls, zu dem Reporter zu sagen, er solle besser auf seine Worte Acht geben. Sergeant Roisseau lächelte geduldig. »Nein, Sir, es ist bereits nach 1984. Ihre Regierung ist diejenige, die sich gegen ihre gesetzestreuen, Steuern zahlenden Bürger richtet, nicht unsere.« »Wie sieht die Strafe aus, wenn man einen falschen Ausweis bei sich trägt?« Roisseaus Augen waren kalt, als er sagte: »Sie ist unangenehm. Ich hoffe, Sie alle haben einen schönen
Aufenthalt in unserem Gebiet. Er wird so schön sein, wie Sie ihn sich bereiten.«
In jedem Wohnmobil und Bus fuhr ein Mitglied der TriStaaten-Streitkräfte mit. Als sie das Empfangszentrum verließen, erschien ein Soldat und trat vor die Gruppe um Clayton Charles. »Mein Name ist Bridge Oliver. Während der Fahrt zum Haus des Gouverneurs versuche ich Ihnen so viele Fragen wie möglich zu beantworten, und ich zeige Ihnen einige interessante Details. Auf der linken Seite sehen Sie gleich das erste Notruftelefon auf diesem Highway. Sie finden diese Telefone in Abständen von vier Meilen auf jedem wichtigen Highway in den TriStaaten. Sie sind direkt mit einem Hauptquartier der Armee verbunden, abhängig davon, in welchem Distrikt sich der Autofahrer befindet, und sie sind durchnummeriert. Man hebt den Hörer ab, gibt diese Nummer an denjenigen durch, der sich meldet, schildert die Art des Problems, und sofort ist jemand zur Stelle.« »Das ist nichts Neues«, meinte ein Reporter. »Das wurde auch schon in anderen Gebieten ausprobiert… bevor die Bomben fielen. Normalerweise haben Vandalen die Telefone herausgerissen, sie zerstört.« »Sir«, sagte Bridge, »in anderen Staaten wurden – und werden wahrscheinlich immer noch – Verbrecher und Rowdys von Richtern, Psychologen und Blümchen pflückenden Sozialarbeitern verwöhnt und verhätschelt. In Ihrer Gesellschaft, unter Ihren Gesetzen, wird Vandalismus mehr oder weniger als Teil des Erwachsenwerdens eines jungen Menschen akzeptiert. Diese Theorie unterstützen wir nicht. Wie Ihnen bereits gesagt wurde, und noch hundert Mal gesagt werden wird« – bis das endlich in Eure Dickschädel reingeht,
dachte Bridge – »werden Verbrechen, Gesetzlosigkeit hier nicht toleriert. Unseren Kindern wird beigebracht, dass das falsch ist. Das wird ihnen überall, zu Hause, in den Schulen und in den Kirchen, beigebracht.« Derselbe Reporter, der die Frage über die Tätowierung bei der Geburt gestellt hatte, fragte nun: »Was machen Sie mit ihnen, wenn Sie sie erwischen – erschießen Sie sie?« Barney sah aus dem Fenster, während Judith sich mit einem Notizbuch beschäftigte. Bridge behielt die Geduld. Ben hatte seinen Leuten gesagt, dass sie mit Sarkasmus und, unter bestimmten Umständen, mit offener Feindseligkeit von einigen Presseangehörigen rechnen mussten. »Nein, Sir«, antwortete Bridge ruhig, »wir erschießen sie nicht. Ich möchte, dass Sie alle etwas verstehen. Einige von Ihnen – vielleicht alle von Ihnen – scheinen unter dem Eindruck zu stehen, dass wir hier in den Tri-Staaten Wilde sind, oder dass es sich bei Gouverneur Raines um eine Art grausamen Menschenfresser handelt. Sie haben Unrecht. Wir sind alle sehr stolz auf das, was wir hier geschafft haben: Arbeit für alle, die arbeiten möchten; unser medizinisches System; die Ausmerzung von schlechten Lebensbedingungen – aber wir leben hier auch in einer Gesellschaft von Recht und Ordnung. Es stimmt, es ist nicht so, wie ihr Leute Recht und Ordnung kennt, aber wir sind keine Monster. Wir tun eine Menge Dinge anders, als ihr Leute es gewohnt seid. Aber das ist in Ordnung, denn für uns funktioniert es.« »Das ist alles schön und gut, Mr. Oliver. Und ich vermute, auch lobenswert – ihrer Denkweise nach. Aber ich wüsste trotzdem gerne, was mit Jugendlichen passiert, die geschnappt werden. Nur dafür, dass sie ein bisschen Spaß hatten.« »Spaß?«, fragte Bridge. »Spaß? Ist destruktiver Vandalismus Ihre Vorstellung von Spaß?«
»Es ist sicherlich keine Straftat.« »Ist es nicht? Was ist der Unterschied zwischen dem Diebstahl von einer Menge Geld und dem Herausreißen eines teuren Gerätes, das das Leben von jemandem retten könnte?« Der Reporter schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vor, über diese Frage mit Ihnen zu streiten. Das beantwortet meine Frage immer noch nicht.« Bridge seufzte. »Nachdem sie alle wiederholt gewarnt worden sind, keinen Vandalismus zu begehen, und es ihnen in der Schule beigebracht wurde, versuchen wir herauszufinden, warum sie das getan haben. Liegt es an ihrem Familienleben zu Hause? Wurden sie missbraucht? Haben sie ein mentales Problem? Wir versuchen es herauszufinden und den Jugendlichen zu helfen. Aber während wir das tun, müssen sie gleichzeitig auch arbeiten: öffentliche Gebäude streichen oder für die älteren Leute arbeiten, Müll aufsammeln – von dem, wie Sie bemerken werden, wir nicht viel haben – irgendeine Art von Arbeit für das Gemeinwohl. Aber sie geben uns zwanzig Dollar ihrer Zeit für jeden Dollar, den sie zerstört haben.« »Das ist ziemlich hart, finden Sie nicht?« Bridge zuckte die Achseln und versuchte, nicht zu lächeln. Er wusste, dass ihre Lebensart, ihre Philosophie von den jüngeren Medienangehörigen nicht verstanden werden würde. Ungefähr die Hälfte der Journalisten, die nun von überall her in die TriStaaten strömten, waren in den Dreißigern – die Produkte der freizügigen Sechziger und Siebziger, von denen Bridge nur zu gut wusste, dass dies eine Zeit der schlechten Disziplin in den Schulen, der Missachtung von Recht und Ordnung, des Niederganges von Patriotismus, Moral und Werten war. Man konnte die Zeit verantwortlich machen, aber nicht allein das Individuum.
»Was ist mit der Polizei?«, fragte eine Frau. »Ich habe keine gesehen.« »Wir haben keine Polizei«, antwortete Bridge. »Wir beschäftigen Friedensoffiziere. Und wirklich nicht viele davon. Hier bestimmt das Volk sein Leben selbst. Wir haben nur sehr wenige Gesetze, und über sie wird vom Volk abgestimmt, bevor sie in Kraft treten. Eine einundfünfzig-neunundvierzigProzent-Regelung für die Pro- und Kontra-Stimmen reicht uns hier nicht. Es muss viel eindeutiger sein als das. Das mag in Ihrem System als Mehrheit ausreichen, aber nicht hier. Das Leben hier ist einerseits sehr einfach, und andererseits sehr schwierig – falls du die Art von Mensch bist, die gerne andere tyrannisiert, falls du zum Lügen und Betrügen neigst… wirst du es in dieser Gesellschaft nicht schaffen.« »Was passiert mit solchen Menschen?« »Nun, falls du anfängst, über jemanden in dieser Gesellschaft Lügen zu verbreiten, wirst du wahrscheinlich grün und blau geschlagen. Das ist schon einige Male passiert.« »Und was hat die Rechtsprechung mit den beteiligten Parteien gemacht?« »Nichts«, antwortete Bridge mit ausdrucksloser Stimme. »Ich kenne niemanden, ob männlich oder weiblich, der nicht tratscht – das liegt in der menschlichen Natur. Nur darf man daraus keine bösartigen Lügen machen.« »Ich bin überrascht, dass es noch nicht zu Mord und Totschlag gekommen ist, wenn das das Gesetz ist, unter dem Sie leben. Wenn man das ›Gesetz‹ nennen kann, heißt das.« »Es gab ein paar Schießereien«, gab Bridge zu. »Aber nicht in den letzten drei oder vier Jahren. In diesem Gebiet sind wir alle ziemlich einer Meinung.« »Wer schoss auf wen, und warum?«, erkundigte sich Clayton. »Ein Typ hatte sich mit der Frau eines anderen eingelassen. Wie Zeugen betonten, machte er auch dann noch weiter, als die
Frau ihm immer wieder sagte, dass er sie in Ruhe lassen solle. Schließlich ging sie zu ihrem Ehemann und erzählte es ihm. Der Ehemann warnte den Mann – einmal. Die Warnung fruchtete nicht. Eines Nachmittags rief er ihn aus dem Haus und kündigte ihm an, dass er ihn verprügeln würde. Romeo kam mit einer Waffe in der Hand heraus. Schlimmer Fehler. Der Ehemann tötete ihn.« Die Presseleute warteten. Und warteten. Schließlich platzte Clayton heraus: »Nun, was passierte mit dem Mann?« »Nichts, eigentlich.« Bridges Gesicht war unbewegt. »Natürlich gab es eine Anhörung. Der Ehemann wurde freigesprochen, Romeo wurde beerdigt.« »Ist das Ihr Ernst?« »Absolut. Ich habe Ihnen alles gesagt: Es ist nicht leicht, hier zu leben. Aber das ist nur drei… ja, dreimal passiert, seit die Tri-Staaten organisiert wurden. Es gibt da ein altes Sprichwort aus dem wilden Westen: Ein Mann sattelt seine eigenen Pferde und tötet seine eigenen Schlangen. Und wenn ich das erklären muss, dann drehen Sie besser um und sehen zu, dass Sie hier rauskommen.« Der Busfahrer lachte leise. Das Pressekorps beschäftigte sich für einen Moment mit diesem Stück Wildwest-Philosophie… schweigend. Clayton brach das Schweigen, indem er sich räusperte und meinte: »Lassen Sie uns nochmal zum Volk zurückkehren, das sein eigenes Leben bestimmt, falls wir es je verlassen haben. Bitte führen Sie das ein bisschen genauer aus, wenn möglich, bitte ohne das High Noon-Szenario, von dem ich nicht sicher bin, ob Sie da nicht etwas dick aufgetragen haben.« »Ich meine, dass Sergeant Roisseau zu Mr. Barney Weston gesagt hat, dies sei ein Ein-Fehler-Staat, und er hätte seinen bereits hinter sich gebracht – stimmts?«
Barney fühlte, wie er rot anlief. »Mr. Oliver, vielleicht war das unangebracht, aber ich wurde verprügelt und gedemütigt. Finden Sie nicht, dass das etwas zu weit ging?« »Würden Sie es noch einmal tun?«, fragte Bridge. »Ganz sicher nicht!« Bridge lachte. »Nun… Sie haben Ihre Frage gerade selbst beantwortet.« »Mr. Oliver?«, fragte Judith. »Fahren wir hier eine vorher ausgewählte Strecke? Ich habe noch keine Hütten oder armselig aussehende Menschen gesehen. Keine schäbigen Bierstuben. Keine unterernährten Kinder. Nichts, was auf Armut oder Unglück hindeuten würde.« »Ich bin nicht qualifiziert, etwas zum Unglück zu sagen. Ich bin sicher, hier gibt es irgendwo Unglück. Aber ich kann Ihnen garantieren, dass es keinen Hunger und keine Armut gibt. Dieses Problem haben wir gelöst – vollkommen.« Die Journalisten hatten gerade eine Gegend verlassen – Amerika – wo immer noch Menschen an den Nachwirkungen der Bomben starben: krebsähnliche Krankheiten, die von der Strahlenkrankheit herrührten; wo Menschen verhungerten und arbeitslos waren; wo Verbrecherbanden immer noch Teile des Staates durchstreiften; wo die Zeichen der Zerstörung immer noch sehr offensichtlich waren. Nun, wenn Bridge Oliver ihnen erzählte, dass es hier in den Tri-Staaten keine Armut und keinen Hunger gab… das war absurd. »Oh, kommen Sie, Mann!« Claytons Ton war voller Unglauben. »Das ist einfach nicht möglich.« »Vielleicht nicht in Ihrer Gesellschaft, aber hier haben wir das Problem von Hunger und Armut definitiv gelöst. Es steht Ihnen frei, das Land zu durchstreifen und mit den Leuten zu sprechen. Die einzigen hungrigen Menschen, die Sie in den Tri-Staaten finden werden, sind diejenigen, die eine Diät machen.«
»Also, wären Sie so nett, uns zu erzählen, wie Sie das geschafft haben?« »Indem wir alle Slums und Wellblechhüttengegenden abgerissen und neue Häuser gebaut und dabei nicht zugelassen haben, dass ein Gebäude verfällt. Wir haben sehr strenge Regeln, was das Wohnen betrifft, und sie werden durchgesetzt, indem…« »Ich kann mir gut vorstellen, wie«, murmelte Barney. Beim um ihn herum aufkommenden Gelächter errötete er. »Wir haben keine Arbeitslosigkeit – mittlerweile gibt es Jobs, die niemand übernehmen will. Wir eröffnen nach und nach Fabriken, aber die Überprüfungsprozesse nehmen einige Zeit in Anspruch – es ist langwierig und geht langsam vonstatten. Wie ich versucht habe zu erklären: Wir dulden keine Schnorrer. Wir haben hier keine Gewerkschaften und werden es auch nicht zulassen, dass welche hier hereinkommen. Sie sind in unserer Gesellschaft nicht nötig. Sie werden sehen, was ich meine, wenn Sie herumreisen. Unsere Wirtschaft entspricht unserem Wachstum, und die Löhne stimmen damit überein. Die Löhne werden entsprechend der Fähigkeit eines Menschen bezahlt, eine Arbeit auszuführen, und das Geschlecht hat damit nichts zu tun. Das ist eine absolut gleichberechtigte Bezahlung. Es gibt einen Mindestlohn für bestimmte Arten von Arbeit, aber ich weiß, dass Sie – niemand von Ihnen – nirgendwo in den Tri-Staaten einen Ausbeutungsbetrieb finden werden. Das Volk könnte das nicht vertreten.« »Diese Doktrin klingt irgendwie leicht vertraut«, meinte ein Reporter. »Wenn Sie an Sozialismus oder Kommunismus denken, schlagen Sie sich das aus dem Kopf – dann sind Sie auf der völlig falschen Fährte. Können Sie mir irgendein kommunistisches Land nennen – das je existiert hat – in dem die gesamte Bevölkerung bewaffnet war? Nein, niemand von
Ihnen kann das. Glauben Sie mir, wenn die Leute, die hier leben, sich jemals entschließen sollten, dass sie die Regierung nicht mögen, haben sie verdammt noch mal die nötige Feuerkraft, um sie zu ändern. Aber das werden sie nicht tun. Denn, wie ich Ihnen schon gesagt habe, wollen wir es so. Bezüglich des Reichtums: Es wäre sehr schwierig für einen Menschen, Millionär zu werden – nicht unmöglich, aber schwierig. Die Steuern werden ziemlich hoch, wenn man eine bestimmte Einkommensstufe überschreitet. Aber wenn ein Mensch arm ist, ist das seine eigene Schuld, und er kann niemand anders dafür verantwortlich machen. Aber, wie ich bereits sagte: Wir haben hier keine armen Menschen.« »Und keine reichen Menschen.« »Das ist korrekt.« »Die Anzahl der Kirchen hier«, bemerkte eine Frau. »Gibt es da eine Anwesenheitspflicht?« »Nein!« Bridge lachte. »Woher, um alles in der Welt, habt ihr Leute diese komischen Fragen?« »Aber Sie legen viel Wert auf Religion«, meinte Judith. »Stimmts?« Bridge zuckte mit den Achseln. »Einige tun es, einige nicht. Zum Teufel, Leute! Hier ist Prostitution legal.« Die Journalisten sahen sich gegenseitig an – sie glaubten nicht, was sie soeben gehört hatten. »Nun«, sagte Clayton Charles, »damit muss ich mich unbedingt näher beschäftigen.« Der Bus wackelte von dem Gelächter. »So habe ich es nicht gemeint!«, fügte der Chefkorrespondent hinzu, das Gesicht puterrot. Judith schüttelte den Kopf. »Ich bin… immer noch sehr verwirrt über dieses Gebiet. Ich habe gerade miterlebt, wie eine junge Dame – ein Teenager – einen erwachsenen Mann zusammengeschlagen hat, und dies ist offensichtlich
vollkommen in Ordnung so. Es ist klar, dass Sie Ihre jungen Leute lehren, dass Gewalt – auf manche Arten, und abhängig von dem Ereignis, wie ich vermute – akzeptabel ist. Und doch muss ich nur aus dem Fenster sehen, um festzustellen, dass Ihre Gesellschaft religiös ist. Sie behaupten, dass Sie Hunger, Armut und Slums ausgelöscht haben… Das ist der Gipfel des Mitgefühls. Aber die Todesstrafe ist Gesetz des Landes – wie uns erzählt wurde. Die Tri-Staaten wirken, zumindest auf mich, wie eine erstaunliche Kombination aus Gut und Böse.« »Wir stimmen in der Definition des einen Wortes überein, aber nicht in der des anderen«, erwiderte Bridge. Aus irgendeinem Grund mochte er diese Reporterin; er glaubte, dass sie gerecht berichten würde. »Hier in unserer Gesellschaft sind wir, wie ich glaube, zu den Werten unserer Vorfahren zurückgekehrt – teilweise. Es gibt hier ein Ehrgefühl, das Sie in Ihren Staaten nicht haben – das Sie in Ihrer Regierung schon seit Jahrzehnten nicht mehr hatten. Ihr Leute wollt beides, und das wird nicht funktionieren – ich bin erstaunt, dass ihr das nicht verstehen könnt. Wir glauben, dass unser System und euer System immer Welten auseinander liegen werden.« »Was heißt das dann für die Positionen der Tri-Staaten und des Restes von Amerika?«, wurde er gefragt. »Sie befinden sich in einer Lage der getrennten Koexistenz, können aber zusammenarbeiten.« »Aber das verletzt das gesamte Konzept der Vereinigten Staaten.« Bridge warf einen raschen Blick auf den Busfahrer, den Mann, der bald in das Gebiet umsiedeln würde. Der Fahrer lächelte und schüttelte den Kopf. Er versteht es, dachte Bridge. Auch wenn die anderen es nicht tun.
»Ich vermute, so ist es«, sagte Bridge. »Aber das ist nicht unser Problem. Und Ihres ist es nur dann, wenn Sie es dazu machen.« Er setzte sich und drehte den Reportern den Rücken zu.
Die Stadt Vista lag im Licht der Frühsommersonne still und friedlich da. Menschen pflegten Gärten und mähten den Rasen. Kinder spielten auf den Gehsteigen und in Gärten; ihr Gelächter und Verhalten erinnerten an ein Zeitalter, das lange vergangen war. Keine Hupen ertönten, keine Auspufftöpfe dröhnten, keine riesigen Lastwagen rumpelten vorbei. Außer Möbelwagen war keinem Lastwagen die Zufahrt in Wohngegenden gestattet. Wenn es kein Notfall war, durfte in den Tri-Staaten nicht gehupt werden. Es gab Unmengen von Bürgersteigen – alle neu – auf denen man zu Fuß gehen konnte, und es gab Radwege für die Fahrradfahrer. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen waren niedrig angesetzt und wurden strikt durchgesetzt. Zufriedenheit hing in der Luft, eine fast körperlich spürbare Befriedigung, als ob alle schließlich ihren persönlichen Platz unter der Sonne gefunden hätten und damit sehr glücklich seien. Ein Flair von Sicherheit, Ruhe und Frieden umgab die Gegend. Für die Journalisten war das verwirrend. Die Busse und Wohnmobile parkten vor einem Halbgeschosshaus am Stadtrand. In der für zwei Autos konzipierten Garage standen ein Lieferwagen und ein Kombiwagen des neuesten Modells – das heißt des letzten Jahres, in dem Autos hergestellt worden waren. In der Auffahrt stand ein Standardmilitärjeep; an der Rückseite wippte eine Stabantenne in der Luft, ein wasserdichter Pistolenholster war
an der rechten Vorderseite angebracht. Die offene Lasche enthüllte den Griff einer 45er-Thompson-Maschinenpistole. »Sie sind ja völlig sorglos, was Waffen angeht«, bemerkte ein Reporter. »Warum?« Bridge sah ihn an. Er deutete auf die Thompson. »Jemand könnte sie stehlen.« Bridge zuckte die Achseln. »Jedem Menschen in diesem Staat, männlich oder weiblich, ab dem Alter von sechzehn, wurden eine Automatikwaffe und fünfhundert Schuss Munition zugeteilt, außerdem eine Pistole mit fünfzig Schuss Munition, drei Granaten und ein Springmesser. Warum sollte jemand eine alte Thompson stehlen wollen?« »Ach, verdammt noch mal!« Der Reporter geriet in Wut, aber zügelte sich schnell wieder. »Immerhin sind da auch Kinder, wissen Sie.« Da er aus einer großen Stadt kam – die nicht mehr existierte – waren die Kenntnisse des Reporters über Feuerwaffen darauf beschränkt, dass er mit dem Finger zeigen und ›Peng-Peng‹ von sich geben konnte. Aber Bridge hatte die Anweisung, geduldig zu sein. »Sir, sehen Sie das Metallobjekt oben an der Waffe, knapp oberhalb und vor dem Schaft? Der Schaft ist das komisch geformte, lange Ding aus Holz. Sehen Sie es? Gut. Das ist ein Bolzenhebel. Wenn er zurückgezogen und in dieser Position blockiert ist, wie er es jetzt ist, bedeutet das, dass sich keine Munition in der Waffe befindet. In den Tri-Staaten weiß das jeder Zehnjährige.« Wenn Blicke töten könnten, wäre Bridge jetzt umgefallen. Ein junger Mann, der gestärkte und gebügelte Feldkleidung mit Tigerstreifenmuster trug, erschien plötzlich neben der Garage. Er trug Bück Sergeant-Tressen am Ärmel und hatte ein automatisches Sturmgewehr bei sich, das sehr an die russische AK-47/AMK erinnerte. »Wer ist das?«, fragte ein Reporter.
»Der Fahrer und Leibwächter des Gouverneurs. Badger Harbin«, antwortete Bridge. »Machen Sie in seiner Nähe keine plötzlichen Bewegungen, bis er sich an Sie gewöhnt hat.« Badger sah auf die wachsenden Berge von Geräten und dann zu den Männer, deren Aufgabe es war, diese aufzustellen. Er zeigte zur Rückseite des Hauses. »Bringen Sie das alles dorthin. Dort gibt es Tische und Stühle und Steckdosen. Falls jemand von Ihnen bewaffnet ist, geben Sie das jetzt bekannt.« »Niemand von uns ist bewaffnet«, sagte Clayton. Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Was ist los, Sergeant, trauen Sie uns nicht?« »Nein«, entgegnete Badger kurz. Er machte einen Schritt zur Seite und gewährte ihnen Durchgang. Die Menschenmenge wurde auf die Veranda geleitet, wo sie sich hinsetzte. Badger stand neben den Schiebetüren, die ins Arbeitszimmer führten. »Sobald der Gouverneur und Mrs. Raines herauskommen, stehen Sie bitte auf.« »Junger Mann«, entgegnete Clayton bissig, »wir kennen die Etikette.« Badger knurrte eine Erwiderung, und Judith lachte über den Gesichtsausdruck ihres Chefs. Keiner der Journalisten wusste genau, was er von Gouverneur Raines zu erwarten hatte. Aber einige der jüngeren Journalisten hatten ein vorgefertigtes Bild von einem Militärangehörigen im Sinn, der komplett in Uniform gekleidet, mit Orden behängt und mit mindestens zwei Pistolen bewaffnet war und möglicherweise ein Offiziersstöckchen trug, das mit einer Patronenhülsenspitze versehen war. Als Ben und Salina erschienen, waren die meisten gelinde überrascht. Ben trug Bluejeans, Sweatshirt und Cowboystiefel. Salina war mit weißen Levi’s, einem blauen Westernhemd und Tennisschuhen bekleidet.
Sie schüttelten allen die Hände, während Blitzlichter flirrten und Kameras liefen, viele von ihnen auf Badger gerichtet, der angemessen finster dreinblickte. Eine halbe Stunde lang nippte das Pressekorps Kaffee oder kalte Getränke und kaute Hors d’oeuvres. »Ich würde gerne ein paar Bilder von Ihnen beiden gemeinsam machen«, sagte ein Fotograf zu Ben und Salina, »und vom Haus. Würde es Ihnen etwas ausmachen?« »Nein«, antwortete Ben, nachdem er Salina angeblickt und ein kleines Nicken der Zustimmung erhalten hatte. »Schießen Sie los – bildlich gesprochen, natürlich.« Er lächelte. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete der Fotograf, wie Badgers Hände die AK-47 fester fassten. Badger machte viele der Presseleute sehr nervös. Die Kamerateams wanderten um das Haus herum und machten Bilder von diesem und jenem – dem Haus, dem Rasen, dem Garten, der Nachbarschaft. Gouverneur Raines war für viele Amerikaner ein Held, da er sich gegen die Regierung gewendet hatte, gegen ihren Willen seinen eigenen Staat aufgebaut hatte und nun das einzige Gebiet in Amerika – und wahrscheinlich der ganzen Welt – regierte, das frei von Kriminalität und Armut war. So viel war über die Tri-Staaten durchgesickert. Praktisch alles über diesen Mann, seine Familie und seinen Lebensstil war von Interesse. Nach kurzer Zeit kam eine informelle Pressekonferenz in Gange. »Bevor Sie mich mit Fragen bombardieren«, meinte Ben, »möchte ich, dass Sie alle meine Tochter kennen lernen, Tina Raines. Sie arbeitet halbtags im westlichen Empfangszentrum, dem, das Vista am nächsten liegt.« Er drehte sich in dem Moment um, als Tina die gläsernen Schiebetüren öffnete und heraustrat.
Die Presseleute waren für einen Moment lang still, blickten sich gegenseitig an und setzten die Puzzleteile zusammen. Jeder wartete, dass die anderen die erste Frage stellten. Schließlich erbarmte sich Judith. »Wir waren in diesem Empfangszentrum, Gouverneur. Wie viele Tina Raines gibt es in den Tri-Staaten?« »Nur eine, von der ich wüsste. Ich entnehme Ihren Mienen, dass sie dort waren, als Tina ihre… kleine Auseinandersetzung mit einem Ihrer Kollegen hatte.« Barney blickte zu Boden und dachte: Von allen Menschen, mit denen ich mich anlegen könnte, suche ich mir ausgerechnet die Tochter des Gouverneurs aus. Kluger Schachzug. Tolles Timing. »Sie wissen, dass wir da waren«, sagte Clayton. »Ja«, erwiderte Ben. »In diesem Gebiet geschieht nicht vieles, über das ich nichts weiß.« Ein Fotograf der World News Agency knipste, als Tina auf die Veranda trat. Er machte zwei Schnappschüsse von ihr und lächelte. »Noch einmal hallo«, sagte Tina. »Sie sind eine reizende junge Dame«, sagte der Fotograf zu ihr. »Sehr fotogen.« Sie errötete über das Kompliment und setzte sich dann neben ihre Mutter auf die Veranda, rechts hinter das Podium, wo Ben stand. Ben blickte die Presseleute an. »Eine Bitte, bevor wir beginnen. Seien Sie fair mit dem, was Sie über die Menschen, die hier in den Tri-Staaten leben, drucken, senden oder fragen. Wir möchten hier keine Skandalblättchen; Regenbogenpresse ist nicht erlaubt.« Barney riss einige Blätter von seinem Notizblock und zerknüllte die Seiten, während er dachte: Falls ich jemals aus
diesem irren Staat herauskommen sollte, komme ich niemals zurück! »Gouverneur – General – wie sollen wir Sie nennen?«, fragte ein Reporter. »So oder so. Ben. Wie auch immer. Äußerlichkeiten bedeuten hier nicht viel.« »In Ordnung, Gouverneur. Aber das ist eine ziemlich starre Warnung, die Sie uns da haben zukommen lassen. Worüber können wir denn berichten?« »Über alles, was Sie sehen, solange Sie beide Seiten des Themas darlegen. Ist das nicht das, was fairen Journalismus ausmacht?« So wie er sein sollte, dachte Judith. Aber selten ist. »Oh, kommen Sie schon, Gouverneur! Die Menschen sind dogmatisch, egal, wie sehr sie sich bemühen, es nicht zu sein. Objektive Berichterstattung ist seit Jahrzehnten ein Witz gewesen.« Clayton lächelte nach außen dem Reporter zu und innerlich aus Bewunderung für Ben. Bevor er in die Tri-Staaten gekommen war, hatte er sich auf Bens Bücher zurückbesonnen und so viele von ihnen gelesen, wie es die Zeit erlaubte. Er sagte: »Ich erinnere mich, Gouverneur, dass Sie geschrieben haben, dass die Presse es genoss, einen schwarzen Mann zu schicken, um über die Ku-Klux-Klan-Treffen zu berichten. Es hat sich nicht viel geändert – wenn überhaupt.« »So ist es leider immer noch«, sagte Ben. »Die Presse sollte neutral sein, aber sie ist es nicht. Sie ist es schon seit Jahrzehnten nicht.« »Darüber würde ich gerne irgendwann einmal mit Ihnen debattieren.« »Warum nicht? Ich gebe Ihnen eine Antwort, wenn ich sehe, wie Sie über uns berichtet haben.« Die beiden lächelten sich gegenseitig verständnisvoll an.
»General… Für das Protokoll, Sir: Was genau versuchen die Menschen in diesem neuen Staat zu erreichen?« »Wir versuchen es nicht. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, in der eine überwältigende Mehrheit der Bürger – ich würde sagen, zwischen fünfundneunzig und achtundneunzig Prozent – mit den Gesetzen zufrieden sind, unter denen sie leben.« »Verfassungsmäßig? « »Gemäß unserer Verfassung – ja.« »Eine Gesellschaft ohne Menschenrechte.« »Das«, sagte Ben, »und entschuldigen Sie mein Englisch, ist reiner Bullshit. Gesetzestreue Menschen haben jedes Recht, das sie für sich selbst gewählt haben.« »General, glauben Sie, dass die Vereinigten Staaten eine Weltmacht sein könnten, wenn Dutzende von Gruppen wie Ihre absplittern würden, um ihre eigenen kleinen Regierungen zu bilden?« »Seit die Bomben gefallen sind, gibt es keine Weltmächte mehr – nirgendwo. Mit der Ausnahme, vielleicht, der Vereinigten Staaten. Ja, ich glaube, dass die Vereinigten Staaten wieder zu einer Macht werden könnten. Die TriStaaten haben sich nicht von den USA losgesagt – nur von vielen ihrer Gesetze. Ich habe an Präsident Logan geschrieben und ihm mitgeteilt, dass wir einen gerechten Anteil an Steuern an seine Zentralregierung – und es ist seine – bezahlen wollen. Unser Anteil wird nicht groß sein, denn das meiste Geld bleibt hier, damit wir damit machen können, was wir als richtig und das Beste für die Bürger der Tri-Staaten erachten. Wir werden die Bundesregierung um nichts bitten, und wir werden eine ungefragte Einmischung von ihrer Seite nicht dulden. Wir werden die amerikanische Flagge neben unserer hissen; wir werden unter der amerikanischen Flagge leben und auch für sie
kämpfen, falls nötig, als Freund und Alliierter. Unsere Grenzen werden zum Durchqueren für alle offen sein. Wie auch immer, es gibt bestimmte Dinge, die wir nicht tun werden. Wir werden nicht unsere Waffen abgeben oder unsere Armee auflösen. Wir werden nicht unsere Gesetze ändern, um Verbrecher und Außenseiter der Gesellschaft zu verhätscheln. Wir werden uns nicht – völlig – von einer weit entfernten Regierung in Virginia regieren lassen oder uns an das Gemurmel Ihres Obersten Bundesgerichtes halten. Und damit wir uns nicht falsch verstehen, meine Damen und Herren: Wir sind hervorragend darauf vorbereitet, für unsere Freiheit und unsere Überzeugungen zu kämpfen – bis hin zur letzten Person.« Ben schlug mit einer Faust auf das Podium, dass es die Mikrofone zum Rasseln brachte. »Und lassen Sie uns noch ein paar Dinge klarstellen. Als wir in diese Gegend kamen, herrschte Chaos – das ist noch das Beste, was man darüber sagen konnte. Das Volk war verwirrt und unorganisiert – und diese Desorganisation war teils die Schuld der Bundesregierung. Die Bundesregierung wollte die Rückkehr der Bürgerwehren nicht ohne ihre so genannte Führung erlauben. Aber die Bundesregierung war nicht hier, um den Leuten zu helfen. Wir waren es. Die Bundesregierung schickte keine Ärzte, keine Nahrungsmittel, keine Medikamente. Wir taten es. Wir haben das alles getan, und wir haben verdammt viel geleistet. Denken Sie darüber nach. Schreiben Sie darüber. Das sagt sehr viel über unser System aus. Als wir hierher kamen, lebten die älteren Menschen – die meisten von ihnen – in Verwahrlosung. Vegetierten wäre vielleicht ein besseres Wort. Ihre Besitztümer waren ihnen weggenommen worden; sie waren vernachlässigt und lebten in Angst vor Verbrechern und Kleinganoven und Abschaum, über den ihr Leute schon seit Jahren gestöhnt und geschluchzt habt.
Zum Teufel, das ist doch nichts Neues! Alte Menschen haben schon Jahrzehnte in Furcht um ihr Leben verbracht, aber ihr Leute habt nichts dagegen getan, außer über die Rechte von Verbrechern auf der Straße zu stöhnen und zu schluchzen. Wir haben die Verbrecherbanden ausgehoben, sie erschossen oder erhängt, und den älteren Menschen geholfen, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen. Wenn mich das zu einem Diktator oder zu einem Mann mit mangelndem Mitgefühl macht, wie es über mich geschrieben wurde, dann bin ich stolz, genau das zu sein. Und, zu Ihrer Information, die meisten Türen in den TriStaaten sind nicht verschlossen. Das Schloss an meiner Tür funktioniert nicht einmal, und das schon seit vier Jahren. Das sollte Ihnen etwas über die Art, wie wir leben, sagen, über den Frieden, den wir alle hier empfinden. Wir sind hier im Friedenszustand und möchten mit niemandem Ärger. Während Sie hier sind, besuchen Sie unter allen Umständen unsere Krankenhäuser und Forschungsstätten und Tageskrippen und Gemeinschaftszentren und Dörfer. Sprechen Sie mit jedem, mit dem Sie sprechen möchten. Besuchen Sie unsere Schulen, und sehen Sie sich an, was wir getan haben. Und dann vergleichen Sie das, was Sie sehen, mit dem, was Sie gerade verlassen haben, dort draußen« – er holte gestikulierend aus – »in Ihren Vereinigten Staaten. Besuchen Sie unsere Planungsbüros, und sehen Sie sich an, was wir für die Zukunft geplant haben. Sie werden überrascht sein, da bin ich sicher. Aber berichten Sie nicht nur über eine Gesellschaft, die über Kriminelle herfällt; eine, wo sie nicht auf Kosten der Steuerzahler verhätschelt werden. Diesmal, nur dieses eine Mal, berichtet bitte sowohl über das Gute als auch das Schlechte; wägt die Rechte der anständigen Menschen gegen die von Kriminellen ab. Aber berichtet unter allen Umständen, dass die Lebenserwartung von Verbrechern in den Tri-Staaten sehr kurz ist.«
Ein Reporter hob die Hand. »Gouverneur, alles, was Sie sagen, mag wahr sein – ist wahrscheinlich wahr – ich will Ihre Worte nicht in Zweifel ziehen. Es ist leicht zu sehen, dass Sie und Ihr Volk in diesem Gebiet viel Gutes getan haben, aber Tatsache ist, dass Sie alles Material, das Sie in dieses Gebiet gebracht haben, gestohlen haben. Das können Sie nicht bestreiten.« »Ich habe nicht die Absicht, das zu bestreiten«, sagte Ben. »Wir nahmen Dinge aus verlassenen Gebieten, brachten alles hierher und verwendeten die Materialien, die wir gebrauchen konnten. Ihr Leute hättet das Gleiche machen können – aber das habt ihr nicht. Ihr habt wertvolle Materialien im Wert von Milliarden und Abermilliarden – wahrscheinlich Billionen von Dollar verrotten und verrosten lassen.« »Gouverneur« – Judith stand auf – »zu einem anderen Thema – oder vielleicht auch nicht: Auf dem Weg hierher erzählte uns Mr. Oliver, dass Sie hier keine Polizei, aber Friedensoffiziere haben. Würden Sie uns den Unterschied erklären und warum ihre Macht eingeschränkt ist?« »Friedensoffiziere erhalten den Frieden«, sagte Ben einfach und mit einem Lächeln. »Und die Leute hier draußen – ich selbst eingeschlossen – scheinen den Namen lieber zu mögen als Bullen. Was ihre eingeschränkte Macht betrifft, werde ich versuchen, es Ihnen zu erklären, aber dafür schweifen wir hier sehr stark von unserer Gesellschaft und ihren Gesetzen ab. Zuerst, schätze ich, muss ein Mensch hier leben wollen. Sie werden das noch ein Dutzend Mal hören, bevor Sie gehen. Wir sind keine offene Gesellschaft. Es kann nicht einfach jeder herkommen und hier leben. Ich habe keine Zahlen, um dies zu unterstützen, aber ich würde vermuten, dass wahrscheinlich nicht mehr als einer von zehn Menschen in Amerika unter unseren Gesetzen leben könnte oder unter dem Regierungstyp, wie wir ihn haben. In diesem Staat ist alles offen und ehrlich.
Wir haben nur wenige schriftlich niedergelegte Gesetze, und diese sind sehr einfach und schlicht gehalten. Unsere Gesetze werden in den Schulen gelehrt, und unsere jungen Leute werden erzogen, die Gebote und Verbote dieser Gesellschaft zu verstehen. Jeder Mensch mit einem durchschnittlichen Intellekt kann in den Tri-Staaten ein rechtsgültiges Dokument aufsetzen, und es wird vor einem Gericht einfach deshalb anerkannt, weil das Volk dieses Staates sich aus ehrenwerten Menschen zusammensetzt. Das klingt schrecklich selbstgefällig, aber es ist die Wahrheit. Hier bedeutet das Wort eines Menschen so viel wie ein schriftlicher Vertrag. Und hier, so seltsam es Ihnen auch erscheinen mag, funktioniert all dies. Es funktioniert aus einer einfachen, grundlegenden Tatsache heraus: Man muss hier leben wollen. Unsere Friedensoffiziere haben nicht viel anderes zu tun, als gelegentlich einen Familienzank zu schlichten.« Er lächelte. »Und natürlich, wir haben hier auch häusliche Streitereien. Oder sie müssen ab und zu eine Schießerei oder einen Diebstahl untersuchen. Aber diese sind sehr selten. Die Armee patrouilliert ständig, so dass sie die meisten Aufgaben, die mit Gesetzesvollzug zu tun haben, präventiv übernimmt, um es so auszudrücken. Wir glauben, dass ihre Anwesenheit abschreckend wirkt.« Barney sah Badger an und konnte verdammt gut verstehen, warum das so war. »Wie Ihnen wahrscheinlich mittlerweile klar ist«, fuhr Ben fort, »verstößt es in den Tri-Staaten nicht gegen das Gesetz, sich selbst, seine Lieben oder sein Eigentum zu beschützen. Das steht in unserer Verfassung ebenso wie in Ihrer… aber wir setzen es durch. Und es wurden Menschen getötet und verwundet. Alles gebilligt von unseren Gesetzen. Nun werde ich Ihnen etwas sagen, was für Sie alle schwierig zu glauben sein wird. Aber es ist die Wahrheit. Die Tri-Staaten
umfassen ein Territorium von ungefähr dreihundertdreißigtausend Quadratmeilen. Wir haben eine Kriminalitätsrate von 0,025 Prozent pro Kopf. Ich weiß nicht, wie in Gottes Namen eine Gesellschaft eine niedrigere Statistik erreichen sollte. Wir hatten in den Tri-Staaten in den vergangenen zwei Jahren einen einzigen Raubüberfall.« »Was passierte mit dem Räuber?« »Fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit«, antwortete Ben ruhig. »Fünfundzwanzig Jahre!« Ein Reporter sprang auf die Beine. »Mein Gott, General Raines – was für eine Rechtsprechung ist in diesem Staat gültig?« »Das habe ich Ihnen gesagt. Eine harte.« Mehrere Presseleute schauderten. Einige lächelten ungläubig. »Wir haben sehr strenge Gesetze über den Genuss von Alkohol in diesem Staat«, sagte Ben. »Und sie werden wortwörtlich durchgesetzt. Keine Ausnahmen. Falls Sie das bezweifeln, fahren Sie zum Staatsgefängnis und verlangen Sie Mr. Michael Clifford zu sprechen. Er war vor zwei Jahren unser Finanzminister. Er betrank sich eines Nachts und überfuhr ein junges Mädchen. Sie war schwer verletzt. Mr. Clifford verbüßt eine zehnjährige Freiheitsstrafe. Wäre das Mädchen gestorben, hätte die Anklage ›Mord‹ gelautet. Nicht Totschlag – Mord. Und er hätte den Rest seines Lebens mit Zwangsarbeit im Gefängnis verbracht. Keine Bewährung, keine bedingte Haftentlassung. Wir sind keine Abstinenzlergesellschaft; uns ist es egal, ob sich jemand zu Hause die Hucke vollsäuft. Das geht uns nichts an. Bloß fahrt nicht betrunken Auto. Es gibt überall in den TriStaaten Bars und Lokale. Aber es gibt keine außerhalb der Stadtgrenzen, und es gibt ein Limit von zwei Drinks bzw. drei Bieren. Das beruht auf einem System, das auf das Ehrgefühl der Menschen vertraut: Es gibt keine Karten, die gelocht
werden, und keine Undercover-Agenten, die herumschnüffeln. Und bisher hat es funktioniert. Auch hier müssen wir zu dem zurückgehen, was euch Leuten gepredigt wurde, seit ihr hier angekommen seid. Man muss in dieser Art der Gesellschaft leben wollen. Und nicht jeder kann das.« Juno suchte sich diesen Moment aus, um auf die Veranda hinauszuwandern, sich umzusehen, zu gähnen und sich dann auf den Boden fallen zu lassen und einzuschlafen. Er wurde langsam alt, fast neun Jahre, und war auf einem Auge blind, aber immer noch ein schönes Tier. »Das ist ein Wolf«, flüsterte jemand. »Ein Eskimohund«, korrigierte Ben. »Ich habe ihn vor Jahren in Georgia gefunden. Oder besser, er hat mich gefunden. Juno ist harmlos – meistens. Lassen Sie ihn einfach in Ruhe, das ist alles, was er will.« Ben lächelte. »Das ist alles, was wir hier in den Tri-Staaten wollen.« »Gouverneur…« Eine Frau stand auf. »Ich bin Atheistin. Könnte ich in diesem Gebiet leben?« »Natürlich, aber Ihre Kinder würden in den öffentlichen Schulen trotzdem die Bibel, unsere Schöpfung gelehrt bekommen – und es gibt keine andere Art von Schulen. Und es wird auch keine andere geben.« »Und angenommen, ich möchte meine Kinder nicht diesem abergläubischen Geschwätz ausliefern?« »Dann könnten Sie gehen.« »Und damit basta?« »Und damit basta.« »Ihre Art der Regierung ist nicht sehr gerecht, General.« Sie nuschelte das ›General‹. »Es ist gerecht für die Menschen, die es sich ausgesucht haben, unter ihr zu leben. Und darum geht es bei den TriStaaten. Und ich fange an, redundant zu klingen.«
»Sie legen einen solchen Nachdruck auf die Bibel, General«, erwiderte sie, »aber auf mich wirkt es so, als ob in diesem Staat definitiv ein Mangel an Mitgefühl herrscht. Und ich kann die Bibel auch durchaus nicht mit legaler Prostitution in Verbindung bringen.« Ben hatte sofort eine Abneigung gegen die Frau. Schlechte Chemie, vermutete er. »Ich lege keinen Nachdruck auf die Bibel, meine Dame. Wir haben großes Mitgefühl mit den Alten, den Kranken, den Heimatlosen, den Jungen, den Hilflosen, den Not Leidenden, den Menschen in Schwierigkeiten. Unser System ist so angelegt, dass niemand zu stehlen braucht. Aus diesem Grund gehen wir so hart mit Gesetzesbrechern um. Die Kirchen sind für diejenigen, die sie besuchen möchten. Die Bordelle sind für diejenigen, die eine schnelle Nummer schieben möchten.« Hinter ihm unterdrückte Salina ein Stöhnen, und Tina kicherte. Die Frau setzte sich ärgerlich hin. Die Hälfte der Presseleute lachte, die andere Hälfte runzelte die Stirn über Bens Verlust der Contenance. »Einige würden sagen, dass Sie hier eine Sekte haben, Gouverneur.« »Nein.« Ben schüttelte den Kopf. »Das bestreite ich. Davor hatte ich Angst, das gebe ich zu. Anfangs. Wir haben hier keinen klaren und festen Herrscher. Ich weiß, dass das Volk der Tri-Staaten für ihr Regierungssystem kämpfen und sterben würden. Gleichermaßen bin ich davon überzeugt, dass sie nicht blindlings für mich sterben würden. Das ist der Unterschied. Wir alle sind die Begründer des Systems – nicht nur ich.« »Was für Voraussetzungen braucht man, um in diesen Staat einziehen zu können?«, fragte Judith. Ihre Kollegen sahen sie überrascht an. Sie klang, als frage sie aus persönlichen Gründen.
»Es muss für Sie eine Arbeitsstelle geben, und Sie müssen sich sehr inständig wünschen, hier einzuziehen. Sie müssen einwilligen, ein Mitglied der stehenden Bürgerwehr zu werden und die Lebensphilosophie der Tri-Staaten zu unterstützen – ob im Krieg oder Frieden.« »Meinen Sie, es könnte für mich eine Arbeitsstelle geben?«, fragte Judith. »Das könnte ich mir definitiv vorstellen. Wir haben mehrere Radio- und Fernsehstationen eröffnet. Bei unserer Überprüfung Ihrer Leute hatten Sie ein sehr gutes Ergebnis.« Ein Reporter sprang auf die Beine. »Was meinen Sie damit: eine Überprüfung von uns?« »Genau das. Sie wurden alle von unserem Geheimdienst überprüft, bevor Sie hierher kamen.« »Wie? Ich meine… nun, wie?« Ben lächelte. »Das, mein Sohn, ist etwas, das Sie niemals erfahren werden.« Die Tri-Staaten hatten ein gut funktionierendes Netzwerk für das Zusammenziehen von nachrichtendienstlichen Informationen mit hoch entwickelten Computern und Datenbanken. Ihre Höchstfrequenztechnik-Ausrüstung war die beste der Welt. Dutzende von Technikern, die zuvor bei CIA, NASA, NCIC, FBI und anderen angestellt gewesen waren, arbeiteten nun für die Tri-Staaten – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Staates. Sie hatten Zugang zu vielen Computern rund um den Staat. »Sind Sie daran interessiert, uns beizutreten?«, fragte Ben. »Soweit ich weiß, wurden Ihre Mutter und Ihr Vater noch vor dem Krieg von Einbrechern getötet – stimmt das?« Judith nickte. Wie hatte er das herausgefunden? »Ja, ich bin sehr interessiert.« »Hast du den Verstand verloren?«, flüsterte ihr Chef. »Was willst du damit beweisen?«
Judith zuckte als Antwort mit den Achseln. »Meine Damen und Herren, Sie können sich ein paar Tage lang das Land ansehen«, sagte Ben. »Wenn wir uns dann wieder sehen, werde ich gerne weitere Fragen beantworten.« Er drehte sich um und ging ins Haus, Salina und Tina folgten ihm. Badger blockierte mit der AK-47 den Weg. Und die erste Pressekonferenz in der kurzen Geschichte der Tri-Staaten war vorbei.
FÜNF
»Dr. Chase und Legal Officer Bellford warten in der Innenstadt auf euch Leute«, informierte Badger das Pressekorps. »Sagen Sie Ihren Fahrern, dass sie Sie zum Hauptquartier des Distriktes bringen sollen. Es sind nur ein paar Meilen von hier. Dort entlang.« Er deutete die Richtung an. »Da warten Fahrzeuge auf Sie – Jeeps.« »Kostenlos?«, fragte ein Reporter. »Sicher. Warum nicht? Oder wollen Sie lieber einen stehlen?« Der Mann lachte. »Nach dem, was ich über Ihr Rechtssystem gehört habe?« Badger lächelte. »Yeah. Da wird man vorsichtig, nicht wahr?«
Das Auditorium im Gerichtssaal war groß und mit bequemen Möbeln bestückt. Charles Bellford und der Chefarzt Lamar Chase warteten auf die Presseleute. Dr. Chase mochte die Presse nicht besonders, aber er hatte zugestimmt, sich mit ihren Vertretern zu treffen. Seine Abneigung war schon an seiner Eröffnungsbemerkung klar zu erkennen: »Bringen wir es schnell hinter uns. Ich habe wichtige Dinge zu erledigen.« »Sie betrachten ein Treffen mit uns nicht als wichtig?«, wurde er gefragt. »Ich betrachte es als Verschwendung wertvoller Zeit und glaube nicht, dass es zu irgendetwas Konstruktivem führt. Jeder von Ihnen darf mir eine Frage stellen.«
Er sah den Reporter an, der die Frage über die Wichtigkeit des Treffens gestellt hatte. »Sie hatten Ihre bereits. Der Nächste.« Der Reporter setzte sich hin und murmelte: »Ich halte nichts von diesem Ort.« »Dr. Chase, inwiefern unterscheiden sich Ihre medizinischen Einrichtungen von denen… außerhalb?« Chase lächelte. »Gute Frage, Junge. Ich kann alles in einer einzigen Aussage zusammenfassen: Wir haben das beste Forschungszentrum der Welt hier in den Tri-Staaten. Ich sollte es wissen, ich half dabei, den größten Teil der Ausrüstung zu stehlen.« Der Raum hallte vom Gelächter wider. »Unsere Einrichtungen sind exzellent und zu fünfundsiebzig Prozent kostenlos für die Öffentlichkeit. Der Staat bezahlt die ersten fünfundsiebzig Prozent, der Patient den Rest, und der kann in Raten oder durch eine Staatsanleihe bezahlt werden. Aber niemandem wird medizinische Hilfe verwehrt – niemals. Es gibt Ärzte von außerhalb, die uns anflehen, herkommen zu dürfen. Hier werden Ärzte nicht reich, aber in den meisten Fällen haben sie geregelte Arbeitszeiten. Ausnahmen sind Geburtshelfer und Gynäkologen. Hier versorgen Ärzte die Patienten, die einen Arzt brauchen, während gut ausgebildete Sanitäter sich um den Rest kümmern. Das mindert die Belastung ein wenig. Ihr Leute hättet das Gleiche tun können, wäre nicht der größte Teil eurer Ärzte gewinnsüchtig gewesen und die Menschen, die sie betreuten, prozesssüchtig. Wir führen die beste Organbank auf der Welt. Ich habe schon seit Jahren gepredigt, dass es gesetzeswidrig sein sollte, dass ein Mensch mit wertvollen intakten Organen begraben wird. Das ist hier in den Tri-Staaten nicht erlaubt. Im Moment des Todes entnehmen wir jeden Teil des menschlichen Körpers, den wir gebrauchen können.«
»Der Patient hat kein Mitspracherecht?« »Keins. Er dient dem Wohle aller.« »Würdevoll sterben, Doktor – ist das erlaubt in dieser halbreligiösen Gesellschaft?« »Den sarkastischen Teil Ihrer Frage mit dem ›halbreligiös‹ werde ich ignorieren. Ich persönlich bin kein religiöser Mann. Ja, Sterbehilfe ist in dieser Gesellschaft erlaubt. Und das geht niemanden etwas an außer dem Patienten – so wie es überall sein sollte. Natürlich stimmen nicht alle unserer Ärzte damit überein; wir haben in dieser Gesellschaft diverse Philosophien, ebenso wie es in Ihrer der Fall ist. Aber das Recht zu sterben, mit oder ohne Würde, ist die persönliche Wahl und das persönliche Recht eines jeden. Und nicht die gottverdammte Angelegenheit von jemand anders.« Doktor Chase verließ den Raum. »Ein sehr ungehobelter Kerl«, bemerkte jemand. »Aber mitfühlend«, sagte Charles Bellford. »Mr. Bellford, Sie waren früher Bundesrichter. Sie sehen jetzt nicht wie ein Richter aus.« Bellford trug eine Rancherhose, ein Westernhemd und Cowboystiefel. Er lächelte. »Ich muss diese ganzen hochtrabenden Entscheidungen hier nicht fällen, Mr. Charles. Ich bin in erster Linie Rancher oder Farmer und erst an zweiter Stelle Rechtsvertreter. Anwälte und Richter haben in den TriStaaten nicht viel zu tun.« »Sir…« Ein Reporter stand auf. »Ich möchte nicht ignorant erscheinen… aber ich verstehe Ihr Rechtssystem hier nicht. Sicherlich müssen Sie Entscheidungen gegeneinander abwägen.« Bellford schüttelte den Kopf. »Mir ist klar, dass dieser Staat für die meisten von Ihnen ein Schock ist. Aber ich muss nur über sehr wenige Entscheidungen nachdenken. Die Menschen, die hier sein dürfen, sind fast immer erstaunt darüber, wie
störungsfrei unser System funktioniert. Es läuft fast von ganz allein. Und das lässt sich leicht erklären: Wir haben das Gesetz wieder zum Volk zurückgebracht. Sehen Sie: Ich glaube – schon seit Jahren – dass der Anwaltsstand das Gesetz und sich selbst auf einem Niveau zu halten versuchte, das weit über dem Verständnis des durchschnittlichen Menschen lag. Und sie – wir – haben das absichtlich getan. Die Götter in der Höhe, um es so auszudrücken, äußerten Urteilsverkündungen in einer Diktion, die über das Auffassungsvermögen der nicht rechtlich vorgebildeten Mehrheit hinausging. Das war arrogant von uns, und das ist nicht die Art, wie es in den Tri-Staaten getan wird. Unsere Gerichtsverfahren sind anders als sie es außerhalb sind, aber ich versichere Ihnen ein für alle Mal, dass sie das Recht nicht zum Gespött machen. Wir glauben nicht, dass es fair oder gerecht ist, wenn der Staat – wie in Ihrem System – Millionen von Dollar, Ermittler und den brillanten rechtlichen Verstand mehrerer Menschen in einen Fall steckt, und der Angeklagte mit einem Rechtsanwalt und all den Klageschriften im Regen stehen gelassen wird. Das bedeutet nicht Gerechtigkeit für alle, und besonders nicht für arme Menschen. Selbst wenn der Angeklagte sich in Ihrem System ohne jeden Zweifel als unschuldig herausstellt, ist er oft finanziell ruiniert und öffentlich gedemütigt – von der Presse. Wir glauben einfach nicht, dass dies wahre Gerechtigkeit ist. Es gibt hier keine Gesetzestricks, keine raffinierten rechtlichen Winkelzüge, keine Einschüchterung von Zeugen. Wenn eine Frage nicht mit einem einfachen Ja oder Nein aus dem Zeugenstand beantwortet werden kann, erlauben wir der betreffenden Person, das genauer auszuführen.« Er lachte. »Wie Sie alle feststellen können, ist mein Rechtsjargon eingerostet. Und ich bin so froh darüber.
Wie Sie alle wissen, sind Lügendetektor und PSE-Maschinen viel genauer als, na ja, sagen wir, vor zehn Jahren. Und sie werden in den Tri-Staaten in jedem Fall benutzt. In jedem Fall. Wenn noch Zweifel offen bleiben, verwenden wir von Drogen unterstützte Hypnose. Aber selten geht ein Fall so weit.« »Und was passiert, wenn ich mich dieser Art von Behandlung nicht aussetzen will?«, wurde er gefragt. »Sie haben keine andere Wahl«, antwortete Bellford. »Wenn Sie sich weigern, geben Sie damit eine bestimmte Schuld zu. Wir wollen sicher sein, dass die richtige Person bestraft wird. Und ich weiß, und Sie sollten es ebenfalls wissen, dass man sich bekanntermaßen nicht auf Augenzeugen verlassen kann. Ich wünschte, irgendwo in den Tri-Staaten würde gerade ein Fall untersucht, so dass Sie alle unser System in Aktion erleben könnten.« »Sir… erzählen Sie uns etwa, dass derzeit nirgendwo in den Tri-Staaten gegen jemanden verhandelt wird?« »Das ist korrekt. Es tut mir Leid.« »Das ist doch unmöglich!« Bellford lachte. »Vielleicht unglaublich – für euch Leute – aber ganz sicher nicht unmöglich. Soziologen, Psychologen, Psychiater und Ethnosoziologen haben seit Jahren gepredigt, dass die Todesstrafe und strenge Gesetze Kriminelle nicht abschrecken würden. Viele Menschen haben ihnen geglaubt; ich habe es niemals getan. Unsere Gesellschaft beweist, dass sie Unrecht hatten. Einmal in der Woche komme ich her, um über Fälle zu verhandeln… Gewöhnlich lese ich ein Buch, um mir die Zeit zu vertreiben. Offensichtlich machen wir etwas richtig.« »Aber Sie wählen sich die Personen aus, die in den TriStaaten leben dürfen?« »O Gott, ja.«
»Woher wissen Sie dann, dass strenge Gesetze in den anderen Staaten funktionieren würden?« »Ich weiß es nicht. Aber Sie wissen nicht, ob sie nicht funktionieren werden, da sie von Ihnen nie ausprobiert wurden und es wahrscheinlich niemals werden. Aber das ist Ihr Problem; wir haben unsere gelöst. Sie müssen das verstehen: In den Tri-Staaten werden Mord, Kidnapping, bewaffnete Raubüberfälle, der Verkauf von harten Drogen und Verrat alle mit dem Tode bestraft. Und weniger schlimme Verbrechen – und das ist eine paradoxe Aussage – werden auch noch sehr hart bestraft.« »Ihr Rechtssystem erlaubt nicht gerade einen großen Spielraum, was menschliche Fehler angeht, Mr. Bellford.« »Mehr, als Ihnen klar sein dürfte, Sir. Wir haben Berater, die bereit und willens sind, mit jedem zu sprechen, der ein Problem hat – vierundzwanzig Stunden am Tag, rund um die Uhr. Und unser Volk nutzt diese Möglichkeit. Unsere Gesellschaft ist nicht ohne Zwang. Aber wir sind so frei wie nur möglich.« »Sei es, wie es mag, Mr. Bellford. Ich glaube nicht, dass ich in Ihrer Gesellschaft leben möchte.« »Ihre Entscheidung«, wurde der Reporter informiert. »Und unsere.« Barney und seine Gruppe fuhren durch die Landschaft, während die Presse sich über die Tausenden von Meilen der Tri-Staaten zerstreute. Sie bewunderten die hübschen und gepflegten Häuser, die ordentlichen Felder und Wiesen und die offene Freundlichkeit der Menschen. Niemand schien in großer Eile zu sein und den Presseleuten wurde klar, dass die Geschwindigkeit in den Tri-Staaten in der Tat geringer war. Sie wurden von Leuten, die sie nicht kannten, freundlich nach Hause eingeladen und mit Kaffee, Kuchen, Pastete und selbst gebackenem Brot bewirtet. Die Häuser waren offen, die
Haustüren nicht abgeschlossen; bei Fahrzeugen steckten die Schlüssel in der Zündung. »Lass keinen guten Jungen böse werden«, meinte jemand aus Barneys Gruppe sarkastisch. »Ich dachte immer, dass das Blödsinn ist. Gute Jungen stehlen keine Autos. Verbrecher stehlen Autos.« Barney warf ihm einen Seitenblick zu. »Ich wusste nicht, dass du so denkst, Jimmy.« »Du hast mich nie danach gefragt.« Gegen Ende des zweiten Tages hielten Barney und seine Gruppe an, um eine Weile nur in Ruhe dazusitzen und alles, was sie gesehen hatten, zu verdauen. Barney seufzte und schüttelte den Kopf. »Ted, wir haben in zwei Tagen kein einziges Slum gesehen. Ich habe kein Zeichen von Armut gesehen und niemanden, der arm aussah oder so, als sei er über irgendetwas unglücklich. Warum sind an diesem beknackten Ort alle so zufrieden?« »Weil sie das haben, was sie wollen. Ich könnte hier nicht leben, das gebe ich zu. Dafür hure ich viel zu gerne herum.« Er grinste. »Ich würde dafür erschossen werden, dass ich mit der Frau eines anderen rummache. Okay, also, ich könnte hier nicht leben – aber schließlich bin ich ja dazu auch nicht eingeladen worden, oder? Aber diese Menschen sind gerne hier. Zum Teufel, warum lässt die Regierung sie nicht einfach in Ruhe und lässt sie so leben, wie sie wollen? Sie zwingen ihren Lebensstil ja niemandem auf. Das geht Präsident Logan doch überhaupt nichts an.« Jimmy sagte: »Ich stimme dir zu, Ted. Aber ich muss etwas zugeben: Ich würde hier gerne leben. Mann, diese Leute haben hier etwas Gutes am Laufen.«
Barney warf ihm einen kurzen Blick zu. »Die Todesstrafe, Jimmy? Harte Rechtsprechung? Ich wusste nicht, dass du so denkst.« »Du hast mich nie danach gefragt.«
Charles Clayton und seine Gruppe machten an der nördlichsten Grenze der Tri-Staaten Halt. Sie waren seit ein paar Meilen an einem Maschendrahtzaun entlanggefahren. Der Zaun hatte plötzlich begonnen und ging geradewegs in Richtung Osten weiter. Hinter dem Zaun befand sich eine verwüstet aussehende Fläche von fast kahlem Land, gerodet und größtenteils ohne Vegetation. »Sieht aus wie Niemandsland«, meinte Clayton, der auf einen zweiten und dritten Zaun starrte, die das Land durchschnitten. »Ich beginne zu verstehen, warum es hier so wenig Polizei gibt. Wenn ein Mensch drin ist, kommt er nicht mehr raus! Der ganze verdammte Platz ist ein Gefängnis.« Der Kameramann zog eine Broschüre zu Rate. »Das ist der ›Streifen‹, wie er genannt wird. Jesus, könnt ihr euch vorstellen, wie viel Draht für dieses Ding gebraucht wurde?« »Warnschilder alle paar hundert Meter«, sagte Clayton. »Ich frage mich, ob diese Gegend vermint ist.« Ein Militärjeep hielt neben dem Wohnmobil. Er war so schnell und leise vorgefahren, dass er die Männer erschreckte. Die beiden Soldaten, die in den Jeep saßen, trugen Tigerstreifen-Feldkleidung, Springerstiefel und Felduniformmütze. Bewaffnet mit Pistolen und Automatikwaffen, waren sie weder feindselig noch offen freundlich – nur neugierig. »Was gibts?«, fragte der eine. »Sind Sie von der Polizei?« »Nein, Armeepatrouille. Grenzschutz.«
Clayton nickte. »Was würden Sie tun, wenn ich den Drang hätte, da drin herumzulaufen?« Er deutete zu dem Streifen. »Einfach über den Zaun klettern und da hineingehen?« »Nichts«, antwortete der Soldat kühl. »Sie sind erwachsen; Sie sind in der Lage, die Warnschilder zu lesen. Wenn Sie das Risiko eingehen wollen, dort drin verletzt oder getötet zu werden, ist das Ihre Angelegenheit.« »Also gibt es dort Minen«, sagte Clayton. »So lautet das Gerücht.« Der Soldat zündete sich eine Zigarette an. Clayton sah nicht, wie der eine Soldat dem anderen zuzwinkerte. Die Gegend war natürlich nicht vermint, aber sie konnte in sehr kurzer Zeit vermint werden. »Ihr Leute seid Tod und Verletzung gegenüber sehr gleichgültig«, meinte Clayton. »Nein«, widersprach der Soldat, »eigentlich nicht. Wir lieben das Leben, lieben die Freiheit. Darum haben wir uns ausgesucht, hier zu leben. Wir finden nur, dass jeder intelligente Mann und jede intelligente Frau genug Verstand haben sollte, Warnschilder zu respektieren und jeder Gegend fernzubleiben, die mit ›Betreten verboten‹-Schildern gekennzeichnet ist.« »Da gibts immer noch die kleinen Kinder«, sagte Clayton, sein Gesicht heiß und rot. »Ja, das stimmt. Darum sind wir hier, Sir. Aber unseren Kindern wird beigebracht, Warnschilder, Zäune, das Eigentum anderer Menschen und Dinge, die ihnen nicht gehören, zu respektieren. Wie ist das bei Ihren Kindern?« Clayton starrte ihn einen Moment lang wütend an und lächelte dann. »Ich bin angemessen erzogen worden, Soldat, danke.« »Keine Ursache, Sir.« Der Fahrer legte einen Gang ein und fuhr davon.
Clayton seufzte. »Das ist hart, Leute. Ich weiß nicht, wie ich darüber berichten soll. Was sie getan haben, ist, alles auf das Elementare zu reduzieren. Das ist alles. Die simpelste Regierungsform von der Welt. Aber verdammt noch mal!«, fluchte er. »Es funktioniert!« Die Journalisten durchstreiften eine Woche lang die TriStaaten von vorn bis hinten, von Osten nach Westen, wobei einige ihr Bestes gaben, sie zu zerpflücken und das Schlechtmöglichste zu berichten. Sie sprachen mit einigen Menschen, denen diese Regierungsform, die harte Gesetzgebung und die Todesstrafe nicht so ganz gefiel. Ein paar Leute fanden, sie hätten das Recht, betrunken Auto zu fahren – sie könnten genauso gut betrunken fahren wie nüchtern. »Gehorchen Sie den Gesetzen in den Tri-Staaten?«, wurden sie gefragt. »Verdammt, ja! Du gehorchst denen hier besser.« »Hat jemand Sie schlecht behandelt?« »Nein… Nur einmal hab ich eins aufs Maul gekriegt; hab einen Mann einen Lügner genannt. Ein Zahn ging drauf – genau hier – sehen Sie?« Aber wenn die Rede auf die Krankenhäuser kam, die allgemeine Gesundheitsfürsorge, die Pflegeheime, die Tagesstätten, die Rettungsmannschaften und andere Notfalldienste, die Arbeitssituation, die Wohnsituation, die Erholungsgebiete und das tägliche Leben… nun, das stand auf einem anderen Blatt. Yeah, das Leben ist wohl ziemlich gut. Die Presseleute untersuchten den Staat gründlichst. Dann sprachen sie in einem informellen Treffen unter sich über das, was sie gesehen und gehört hatten. »Hier herrscht das Gesetz der Waffe.« »Hat jemand irgendwen gesehen, auf den geschossen wurde?«
Das hatte niemand. »Hier gibt es keinen Hunger, und die meisten Menschen scheinen zufrieden zu sein.« »Man kann erschossen werden, wenn man ein Auto stiehlt.« »Aber es gibt keine Slums oder unzulängliche Unterkünfte.« »Ich kann nicht herausfinden, ob Duelle hier legal sind oder nicht. Ich vermute, sie sind es, irgendwie.« »Die medizinische Versorgung ist die beste, die ich je gesehen habe, und allen Leuten zugänglich.« »Die Todesstrafe ist Gesetz des Landes.« »Es gibt keine Arbeitslosigkeit, und die Löhne sind gut. Dieser Staat ist voller Könner, die stolz auf ihre Arbeit sind.« »Es gibt ganz sicher keine Kriminalität.« »Natürlich gibt es keine. Jeder trägt eine gottverdammte Waffe bei sich! Würdet ihr stehlen, wenn ihr wüsstet, dass ihr für den Versuch erschossen würdet?« »Es ist eine Diktatur.« »Nein, das ist es nicht. Gouverneur Raines ist vom Volk gewählt worden. Ich weiß nicht, was zum Teufel es ist. Das Einzige, das ich weiß, ist… es funktioniert.«
»General«, sagte ein Reporter, »wir waren eine Woche hier, haben uns umgesehen und Fragen gestellt. Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber falls das Ihr Konzept für eine perfekte Gesellschaft ist – könnten Sie sie erreichen, Sir.« Der Garten hinter dem Haus der Raines: nicht mehr so viele Presseleute wie zuvor; eine ganze Menge von ihnen hatten einen Entschluss gefasst und waren verschwunden, um ihre Geschichten aufzuschreiben. »Wir streben nicht nach der perfekten Gesellschaft. Das ist unmöglich, wenn unvollkommene Menschen die Gründer sind.
Wir wollen nur eine, die für uns funktioniert – für die Menschen, die sich entschieden haben, hier zu leben. Wir sind weit von der Perfektion entfernt. Sogar innerhalb unseres eigenen Systems gab es einzelne Fälle von Ungerechtigkeit. Niemand wird dafür irgendeine Entschuldigung vorbringen, außer zu sagen, dass wir Ignoranz, Vorurteile und Aberglauben bekämpft haben… und ich glaube, wir haben sie besiegt. Einige der Menschen, die mit unserer Regierungsform nicht zurechtkamen, haben den Staat verlassen – und wir haben ihnen ihr Land und ihren Besitz abgekauft, wir haben sie nicht bestohlen. Sie haben meist auf ihren Ärschen gesessen und nichts anderes getan als über alles zu meckern, haben sich über alles beschwert und alles kritisiert, was wir taten, gleichzeitig aber die Vorteile unserer Nahrung, unserer Medizin und anderer Hilfe genutzt. Sie konnten nicht verstehen – oder weigerten sich zu verstehen – dass Schwarz und Weiß und Rot und Braun und Gelb alle in der gleichen Farbe bluten. Es gibt keine Diskriminierung in den Tri-Staaten, und keine Hautfarbe wird der anderen vorgezogen. Jeder Mensch, der für eine Arbeit qualifiziert ist, kann sie auch ausführen. Wenn eine Person nicht qualifiziert ist, wird die Arbeit jemand anderem zugeteilt. Sie haben alle den Vizegouverneur und den Staatssekretär interviewt; Sie alle wissen, dass sie schwarz sind. Die Verantwortliche für die Zentralplanung ist Sue Yong. Mr. Garrett, der Vorsitzende für den Gesetzesvollzug, ist ein Indianer vom Stamm der Crow. Und so weiter. Es wäre sehr ungerecht, uns zu beschuldigen, dass wir Vorurteile gegenüber bestimmten Rassen hätten, aber wir suchen uns unsere Leute sehr sorgfältig aus.« »Dann geben Sie zu, dass Ihre Regierungsform in den anderen Staaten nicht funktionieren würde, Gouverneur?« »Oh, sie würde funktionieren, aber dafür wäre eine Menge Erziehung nötig und eine Menge Anpassung. Doch lassen Sie
uns weitermachen. Die Zinssätze unserer Banken sind niedrig – niedriger, als sie in den Vereinigten Staaten in den letzten zwanzig Jahren je waren. Wir haben eine Vollbeschäftigung. Unsere Lohnskala sieht exzellent aus, und wir tun das alles ohne die ständige Bedrohung durch die Gewerkschaften für den Geschäftsmann.« »Planen Sie, ohne Gewerkschaften auszukommen? Wollen Sie sie vielleicht sogar verbieten?« »Ja.« »Und wie?« »Indem wir nur die Menschen hereinlassen, die nicht erwarten, für nichts etwas zu bekommen. Gewinnbeteiligung für alle ist Gesetz in den Tri-Staaten – einer der Gründe, warum es schwierig ist, hier Millionär zu werden. Große Fabriken sind im Besitz der Männer und Frauen, die Fabriken betreiben. Wir haben sehr faire Arbeitsverwaltung-Praktiken. Die verschiedenen Tätigkeitsbereiche bieten hervorragende Möglichkeiten für zusätzliche Leistungen. Unser Fair Labor Practices Board – das übrigens eine Frau leitet – führt ständig Überprüfungen durch, um sicherzustellen, dass die Verwaltung ihren Teil beiträgt, und Gott helfe ihr, wenn sie das nicht tut. Tätigkeitsbeschreibungen sind von A bis Z festgelegt, und dem Boss den Kaffee zu bringen, seine Wäsche abzuholen und sich um die Familienkatze zu kümmern, während er im Urlaub ist, gehört nicht zu den Aufgaben eines Angestellten. Ich habe jetzt Extreme genannt, aber Ihnen dürfte klar sein, worauf ich hinaus will. Wir haben in jedem Laden, in jeder Fabrik, in jedem Beruf Schlichtungsausschüsse. Rentenpläne sind obligatorisch: Das Gewerbe bezahlt ein Drittel, der Arbeitgeber bezahlt ein Drittel, der Staat bezahlt ein Drittel. Fonds können von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle übertragen werden, und es sind keine Auseinandersetzungen damit verbunden. Das Gleiche
hätte in den Vereinigten Staaten vor vierzig Jahren getan werden können. Niemand – ich wiederhole, niemand – arbeitet nur sechs Monate im Jahr, um sich die anderen sechs dem Müßiggang der Arbeitslosigkeit hinzugeben. Wir finden Jobs für die Menschen am selben Tag, an dem sie sie verlieren oder kündigen. Sie gefallen ihnen vielleicht nicht, aber sie werden sie ausführen oder verdammt noch mal verschwinden.« »Was ist mit den Steuern – sind sie hoch?« »Nein. Sie sind wirklich niedrig, und wir können sie so niedrig halten, weil unsere Einkünfte für andere Dinge verwendet werden als für schöne, neue Gefängnisse, nationale Subventionen und Programme, Make-Work-Projekte, Untersuchungen über die Sexualgewohnheiten von Maden und nutzlose Geldzuwendungen. Und wir haben das geschafft, ohne eine Monster-Bürokratie aufzubauen.« Er lächelte. »Das liegt Logan im Magen… Es entspricht vollkommen der Wahrheit, dass wir uns von der Verfassung der Vereinigten Staaten abgewandt haben, doch wir haben uns nicht weiter von ihr entfernt, als Ihre Regierung es in den letzten dreißig Jahren getan hat. Der einzige Unterschied war die Richtung. Ihre Regierung wandte sich nach links, wir wandten uns nach rechts.« »Mr. Raines, die Bundesregierung in Richmond hat erklärt, dass das, was Sie hier getan haben, illegal ist und dass sie Sie schließlich stoppen wird. Ich würde gerne hören, was Sie dazu meinen.« »Nun, Sir«, antwortete Ben, »ich wäre sehr interessiert zu erfahren, wie genau sie uns denn nun stoppen wollen. Die einzige Art, wie sie das möglicherweise tun könnten, wäre ein weiterer Krieg, und sie müssten jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in den Tri-Staaten töten. Das wäre die einzige Art.
Wir wollen in Frieden leben, so lange, wie wir in Ruhe gelassen werden.« Ben lächelte, das Zähneblecken eines Wolfes, das jeden Presseangehörigen erreichte und bei allen Anwesenden ein schauriges Prickeln entlang des Rückgrates auslöste. »Der Mann, der den Befehl erteilt, uns auszulöschen, ist ein toter Mann.« Die Presseleute warteten, rührten sich, blickten sich gegenseitig an. »Die Tri-Staaten sind in Distrikte aufgeteilt«, fuhr Ben fort. »Jeder Distrikt verfügt über ein Team aus fünf Männern und Frauen, alles Freiwillige, alle sehr gut trainiert. Nur sehr wenige Menschen kennen ihre Identitäten. Sie werden Zero Squads genannt, weil das die Chance ist, dass sie ihrer Bestimmung entgehen – zero, null. Sie könnten in der Lage sein, ihre Aufträge innerhalb einer Woche auszuführen; wahrscheinlich wird es mehrere Monate dauern, aber sie werden ihren Auftrag ausführen, glauben Sie mir das. Um uns den Krieg zu erklären, müssen die Befehle dafür von der Spitze kommen: dem Präsidenten, dem Parlament und dem Senat. Falls der Befehl erteilt wird, uns zu zerstören, dann werden der Präsident, der Vizepräsident, jedes Mitglied der Joint Chiefs of Staff und jeder Abgeordnete und Senator, die den Plan billigen… sterben.«
SECHS
Alle Presseangehörigen bis auf eine Frau sprangen in einem Geschrei der Empörung auf. Sich von den Vereinigten Staaten abzuwenden war eine Sache – ein bisschen verwegen, auf eine romantische Art. Aber Massenmord zu planen und auszuführen war etwas ganz anderes, undenkbar – in ihren Köpfen. Nur Judith blieb sitzen und ruhig inmitten des Tumultes im Garten der Raines, ein schwaches Lächeln auf den Lippen – ein Lächeln, das als Bewunderung gedeutet werden konnte. Gouverneur General Raines hatte für eine ziemlich wirksame Versicherungspolice für die Zukunft der Tri-Staaten gesorgt, und sie hatte keine Zweifel, dass er jedes Wort so gemeint hatte. Sie fand die Aussicht, in den Tri-Staaten zu leben, mit jeder Minute aufregender. Badger war auf den Beinen und schwang in der Annahme eines Sturms auf den Gouverneur die AK-47 gegen die Journalisten. Juno stand da und fletschte die Zähne. Ben beruhigte beide mit gelassener Stimme. »Das können Sie nicht ernst meinen?« Ein junger Reporter brüllte die Frage. Sein Ton verriet seinen Schock und seine Empörung. »Das ist Mord!« Ben wartete ab, bis sich der Lärm gelegt hatte und die Journalisten zu ihren Plätzen zurückgekehrt waren. »Und«, sagte Ben, »wenn die Bundesregierung gegen uns vorgeht, indem sie Bomben wirft und Menschen tötet, ist das kein Mord? Vielleicht würden Sie den Begriff ›Krieg‹ vorziehen? Wenn ja, würde ich gerne wissen, wo Sie die Grenze zwischen Krieg und Mord ziehen.«
»Einige der Leute, die Ihre Zero Squads töten würden, Gouverneur, haben möglicherweise nichts mit einem Krieg gegen die Tri-Staaten zu tun. Haben Sie das bedacht?« »Ebenso wenig wie die sehr jungen und die sehr alten Bewohner der Tri-Staaten«, konterte Ben. »Aber sie werden in derselben Weise sterben. Haben Sie daran gedacht?« »Angenommen, sie haben die Möglichkeit zu gehen?« »Angenommen, sie sind gern hier?« »Mr. Raines, ist die Größe Ihrer Armee geheim?« »Nein. Jeder Mensch in den Tri-Staaten ist ein Teil der Streitkräfte. Sie alle kennen ihre Aufgabe und werden sie ohne Zögern ausführen.« »Das sagt mir nichts über die Stärke.« Ben lächelte. »Mehrere Divisionen.« »General, was glauben Sie, wie hoch die Chancen sind, in den Tri-Staaten zu überleben?« »Ich habe keine Ahnung.« Die hatte er. »Wie ich erklärt habe, ist alles, was wir wollen, in Ruhe gelassen zu werden.« »Die Bundesregierung war darin noch nie sehr gut«, bemerkte ein Reporter. »Ja«, stimmte Ben zu. »Wie genau ich das weiß.«
Die Journalisten und Fotografen reisten ab – alle, bis auf Judith. Sie blieb und wurde Einwohnerin und Nachrichtendirektorin einer Fernsehstation. Die Tri-Staaten begannen wieder damit, ihre Angelegenheiten zu regeln: reibungslos, ruhig und sehr effizient. Ein Dutzend Firmen – bedeutende Industriekonglomerate – war im Stillen in die Tri-Staaten eingezogen und hatte Geschäfte eröffnet. Diejenigen, die zum Leben und Arbeiten in die Tri-Staaten kamen, hatten vieles gemeinsam: den Wunsch, ruhig zu leben
und die Mitmenschen in Frieden leben zu lassen; das Bedürfnis, das tägliche Tagewerk für die vollauf genügende tägliche Bezahlung zu leisten. Es gab Raum zur Entspannung in den Tri-Staaten, Raum zum Atmen und Raum, um das Leben zu genießen. Hier gab es keinen Druck.
Amerika – die übrigen achtundvierzig Staaten – kehrte langsam zu einem bestimmten Grad der Normalität zurück. Touristen waren unterwegs und reisten in die Gebiete, die nicht ›heiß‹ oder verboten waren. Anfangs zögernd und zaghaft – denn die Tri-Staaten erhielten eine Menge schlechter Presse – kamen einige Touristen herein. Aber die Tri-Staaten hatten ihre Anzahl limitiert. Dann entdeckten mehr Menschen, dass das Gebiet ein einzigartiger und ruhiger Platz für einen Ausflug war – wenn man keinen Ärger machte. Die Tri-Staaten boten einen ruhigen Urlaub für Familien, mit vielen Möglichkeiten zum Fischen, gutem Essen und anständiger Umgebung ohne Angst vor Verbrechen. Die kriminellen Elemente hielten sich fern von den TriStaaten. Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet, dass in den Tri-Staaten Ärger zu machen die Schlinge oder eine Kugel bedeutete – und zwar sehr schnell. Es gab viele Dinge in den Tri-Staaten, die anders waren, einzigartig und ziemlich experimentell. Ein Reporter nannte es ›Sozialismus des rechten Flügels‹, und zu einem gewissen Grad hatte er Recht, wie auch ein anderer Reporter, der es so ausdrückte: »Es ist ein Staat für all die Leute, die dort leben möchten und die die Fähigkeit besitzen, friedlich zusammenzuleben.« In den Tri-Staaten konnte eine Familie, die mit ihren Rechnungen in Verzug geriet, zu einem vom Staat geleiteten Beratungsservice gehen und um Hilfe bitten. Die Menschen
dort waren freundlich, liebenswürdig und offen und ernsthaft mitfühlend. Wenn die betreffende Familie wegen eines unvorhergesehenen Notfalls ihre Rechnungen nicht bezahlen konnte und ernsthafte Bemühungen unternahm, konnten die Leistungen der öffentlichen Versorgungsbetriebe nicht gesperrt werden, konnten ihnen keine Autos weggenommen werden, konnten keine Einrichtungsgegenstände gepfändet werden. Ein System zur Bezahlung wurde ausgearbeitet. In den Tri-Staaten gab es keine Zwangseintreibungsagenturen. Wie Ben einer Gruppe von Touristen erklärte: »Es ist die moralische und gesetzliche Verpflichtung der Regierung – in diesem Fall der Staatsregierung –, ihren Bürgern zu Diensten zu sein und ihnen zu helfen. Wenn ein Bürger um Hilfe bittet, will und braucht diese Person die Hilfe jetzt sofort, nicht in einem oder drei Monaten. Und in den Tri-Staaten wird die Hilfe dann auch geboten – unmittelbar. Ohne seine Bürger kann der Staat nicht existieren. Der Staat ist nicht zum Schikanieren da oder dazu, Schikanen, in jeder Form, zuzulassen. Und das wird nicht toleriert.«
»Nein!«, sagte Präsident Logan. »Zum letzten Mal, ich werde niemanden für Vermittlungsdienste hinschicken, um mit dem illegalen Gouverneur eines illegalen Staates zu sprechen. Nein!« »Hilton, der Staat ist ein realer Staat«, erinnerte ihn Aston. »Die Leute sind real. Ihre Wirtschaft floriert.« »Ich sage Ihnen, was ich vorhabe. Ich habe vor, die TriStaaten als illegal und politisch nicht existent in den Augen der Regierung der Vereinigten Staaten zu erklären.« »Und?« »Was meinen Sie?« »Was kommt als Nächstes – Truppen?«
»Vielleicht. Ich habe das bereits mit General Russell diskutiert.« »Hilton, um Gottes willen!« Logan ignorierte die Einwände des Vizepräsidenten. »Ich finde, wir sollten uns zuerst auf die aufständischen Indianer konzentrieren, sie wieder zur Vernunft bringen und ihnen das Eigentum wegnehmen, welches sie uns gestohlen haben.« »Nein, Hilton – guter Gott. Was haben sie denn schon Schlimmes angerichtet?« »Wir können für eins dankbar sein: Die Nigger haben sich nicht organisiert. Noch nicht. Ich werde Jeb Fargo und einige seiner Leute an die Spitze setzen, um die Indianer zu vernichten. Ich wusste wirklich nicht, dass sie so militärisch sind.« Er sah seinen Vizepräsidenten an und verstand das Entsetzen in dessen Augen nicht. »Aston, wir müssen diese Nation wieder vereinigen. General Russell hat berichtet, dass wir stark genug sind, um den Rebellen von Ben Raines das Rückgrat zu brechen.« »Hilton, lassen Sie Ben Raines seinen Staat; lassen Sie den Indianern ihr Land. Ich möchte einfach keinen Ärger.« Logan lachte. »Sie sind schlimmer als ein altes Weib, Aston. Suchen Sie nachts unter dem Bett nach Geistern?« »Ich werde vergessen, dass Sie das gesagt haben.« Präsident Logan stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum, um seine Hand auf die Schulter des Vizepräsidenten zu legen. »Es tut mir Leid, Aston. Meine Bemerkung war unangebracht. Ich brauche Ihre Hilfe und Freundschaft.« »Hilton, glauben Sie, dass Raines mit seiner Bemerkung über die Ermordungsteams einen Scherz gemacht hat? Die Zero Squads.« Der Präsident lachte. »Warum, natürlich – Sie nicht?«
»Nein! Ich glaube, das war eine Warnung für uns, sie in Ruhe zu lassen. Ich bin mir todsicher, dass er keinen Scherz gemacht hat. Werfen Sie einen Blick in seine Akte, Hilton, er war sowohl Soldat in der U. S. Army als auch Söldner.« Er blickte seinem Freund und Boss fest an. »Hilton, ich mache mir Sorgen, genau wie eine Menge anderer Menschen in Richmond. Raines hat keinen Scherz gemacht – er meinte jedes Wort so, wie er es gesagt hat. Lassen Sie ihnen ihren Staat.« »Das Gesetz der Waffe, Aston? Nein. Das werde ich nicht tolerieren.« »›Das Gesetz der Waffe‹ ist eine Phrase, die die Presse sich ausgedacht hat. Sie haben Gerichtshöfe und Rechtsprechung.« »Dies sind die Vereinigten Staaten von Amerika, Aston. Vereinigt! Diese Rebellen, weiße und rote, haben sich von den USA abgespalten, um ihre eigenen kleinen Nationen zu bilden. Ich will, dass sie dafür bezahlen.« Der Vizepräsident fühlte einen kalten, flauen Schauder in seinen Eingeweiden, fast wie eine Vorahnung des Verderbens. »Wir alle werden dafür bezahlen, Hilton. Darauf können Sie Gift nehmen.« Die Vereinigten Staaten erholten sich schnell. Neun Jahre waren vergangen seit dem durch atomare und biologische Waffen verursachten Holocaust. Die Menschen hatten sich daran gewöhnt, dass mehrere bedeutende Städte verschwunden waren und es Gegenden gab, die sie niemals würden besuchen können, auch nicht ihre Kinder oder die Kinder ihrer Kinder. Die Menschen gewöhnten sich nach der Umsiedlung schnell ein und nahmen ihr Leben wieder auf… und hörten wieder Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg. Die Tri-Staaten hatten innerhalb ihrer Grenzen mehrere Radiostationen eröffnet, die alle auf einer vierundzwanzigstündigen Basis liefen und über genug
Reichweite verfügten, um im ganzen Tri-Staaten-Gebiet zu senden. Die Programme variierten von reinen Nachrichtensendern über Rock’n’Roll bis hin zu klassischer Musik, so dass etwas für jeden Geschmack dabei war. Die Telefongesellschaft war an die Kommunikationsleute in den Tri-Staaten herangetreten und hatte gefragt, ob sie, bitte, einige Teile ihrer Ausrüstung zurückbekommen könnte? Als Gegenleistung gestattete Ma Bell ihnen eine Zusammenschaltung mit der Ausrüstung in den Tri-Staaten. Die Tri-Staaten konnten nun mit den meisten der anderen Staaten kommunizieren. Als die Kriegsgerüchte stärker wurden, begannen die Vereinigten Staaten, hart gegen ihr Volk durchzugreifen. Zuerst errang die Regierung, die ihre Gesetzgebung neu gründete, die Kontrolle über das Leben der Menschen; Wahlen wurden, als Mittel, die Unterstützung des Volkes zu erhalten, aufgehoben, und den Menschen wurde nun vorgeschrieben, wie sie ihr Leben zu führen hatten. Dann wurde eine neue Gesetzgebung eingeführt, die den Besitz von Schusswaffen kontrollierte – alle Schusswaffen. Gewehre und Schrotflinten mussten abgegeben werden oder wurden den Bürgern gewaltsam abgenommen. Aber die Amerikaner hatten erst kürzlich einen Krieg auf ihrem eigenen Boden erlebt, und sie waren härter geworden. Als die letzte Gewehrsammlung begann, wurden wie zuvor Widerstandsgruppen gebildet. Ben wusste, dass sich die Regierung die indianischen Nationen und die Tri-Staaten absichtlich bis zuletzt aufsparte. Die Indianer und die Rebellen würden am längsten und härtesten um ihre Freiheit kämpfen. In weniger als sechs Monaten hatte die Bundesregierung den meisten neuen Widerstandsgruppen das Rückgrat gebrochen, während derer sie Tausende von Gewehren und Schrotflinten in Besitz nahm,
und sie hatte die Kontrolle über das Leben von fünfundsiebzig Prozent der Menschen wiederhergestellt. Aber es gab trotzdem immer noch viele Guerillaeinheiten, die nicht aufgaben – kompromisslose Menschen, die durchhielten und bis zum Ende gegen die völlige Kontrolle durch die Regierung kämpfen würden.
Es war Winter in den Tri-Staaten, die Temperatur bewegte sich um die zwanzig Grad Fahrenheit, und es schneite. Das Telefon klingelte in den Außendienststellen des Gouverneur-Generals. »Gouverneur…« Bens Sekretärin meldete sich über die Sprechanlage. »Es ist Präsident Logan.« Salina war hergekommen, um mit Ben Mittag zu essen. Sie lächelte, als er ihr zuzwinkerte. »Nanu«, sagte Ben mit einem Grinsen. »Das ist das erste Mal in neun Jahren, dass Logan offiziell unsere Existenz anerkennt.« Er nahm den Hörer ab, woraufhin das Lämpchen aufhörte zu blinken. »Guten Morgen, Mr. Präsident. Wie sieht es in Richmond aus?« »Kalt«, antwortete Logan. »Und nass.« Er machte eine Pause und stieß dann hervor: »Ich möchte mich mit Ihnen und Ihrem Mitarbeiterstab treffen. Wenn wir Ihren… Staat anerkennen sollen, gibt es eine Menge Dinge, die wir besprechen müssen.« Zweitausend Meilen entfernt saß Ben erstarrt da, weil er erkannte, dass die Zeit der Tri-Staaten gekommen war. Denn er wusste, dass Logan die Tri-Staaten nur dann im Schoß der USA willkommen heißen würde, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt wären, und das Volk der Tri-Staaten würde das niemals zulassen. Aber Ben musste Zeit schinden. »Sind Sie noch da, Raines?«
»Ja«, antwortete Ben langsam. »Woher kommt der plötzliche Sinneswandel, Logan?« »Da gibt es eine ganze Menge Gründe, Raines.« Der Hass des Präsidenten glitt durch die langen Telefonleitungen wie eine Schlange. »Einige von denen werden Ihnen nicht gefallen.« Darauf könnte ich wetten, dachte Ben und fragte: »Wann sollen wir uns treffen?« »Nächsten Montag. Zehn Uhr, östliche Zeit. Hier im Kapitol.« Ben überlegte, ob er einen anderen Ort auf neutralem Boden vorschlagen sollte, aber er verwarf diesen Gedanken wieder, da er wusste, dass der Präsident, falls er Ben in einen Hinterhalt locken wollte, überall in ganz Amerika innerhalb von ein paar Stunden Truppen postieren konnte. Er sagte: »Alle meine Leute werden bewaffnet sein, einschließlich mir.« »Nein! Das ist vollkommen inakzeptabel.« »Dann ist ein Treffen ausgeschlossen«, meinte Ben mit ausdrucksloser Stimme. »Muss ich Sie daran erinnern, dass ich der Präsident der Vereinigten Staaten bin? Mein Gott, Raines – trauen Sie mir nicht?« Ben lachte leise. »Hilton, Sie machen wohl Witze. Sie sind bigott, haben die Minderheiten nur benutzt, um gewählt zu werden, und nun rennen Ihre Agenten und Truppen durch das Land, schlagen Leuten den Schädel ein und nehmen ihnen ihre Waffen weg. Das ist zehn Mal schlimmer als zu der Zeit, bevor die Bomben fielen. Also – ob ich Ihnen traue? Zum Teufel, nein.« Einen Moment lang herrschte drückendes Schweigen. »In Ordnung, Raines, machen wir es so. Montagmorgen.« Logan legte auf.
Ben saß für eine lange Zeit einfach nur da und sah zu, wie Salina klöppelte. Sie hob den Blick und begegnete dem seinen. »Jetzt ist es soweit, nicht wahr, Ben?« »Ja. Logan wird uns unmögliche Bedingungen anbieten, in dem Wissen, dass wir sie ablehnen. Und wenn wir das tun, dann wird er sein Gewissen entlasten und gegen uns vorgehen.« »Mit diesen Truppen, die sich im Geheimen überall um uns herum in Position gebracht haben?« »Yeah. Er hindert uns daran, den Indianern zu helfen. Er will sie sich zuerst vornehmen.« Er blickte Salina an. »Salina… ich möchte, dass du hier verschwindest, nach Kanada. Du bist im fünften Monat schwanger; wenn Logan gegen uns vorgeht, wirst du zu dick sein, um zu rennen. Ich…« »Was meinst du mit ›dick‹? Das weise ich entschieden zurück. Ich glaube, ich werde während der Schwangerschaft ziemlich schlank und schön sein.« »Das meine ich nicht, und du weißt es genau. Salina…?« »Nein, Ben. Ich bleibe bei dir. Ende der Diskussion.« Er wusste, dass jede weitere Debatte zwecklos war. Er ließ Pal und Cecil und Ike und die anderen herholen, teilte ihnen die Neuigkeiten mit und erzählte ihnen von seinem Argwohn. »Das glaube ich auch«, meinte Pal. »Ich werde einen niedrigen Alarmzustand anordnen.« »Du musst zurückbleiben, Pal – es darf nicht sein, dass wir beide zur gleichen Zeit fort sind«, sagte Ben. »Wenn ich zurückkehre, werde ich Logans Konditionen öffentlich bekannt geben. Wir überlassen es dem Volk.« »Sie werden niemals etwas anderes akzeptieren als das, was wir haben«, meinte Cecil. »Ja«, erwiderte Ben. »Ich weiß.« Alle gingen wieder und ließen Ben mit seinen Gedanken allein.
Badger hatte im äußeren Geschäftszimmer gewartet, wie üblich. Als die Gruppe gegangen war, schlenderte er ohne Vorankündigung herein, wie üblich. »Was gibts, General?« »Wollen Sie nächsten Montag nach Richmond?« »Eigentlich nicht. Ich bin gerne hier. Aber wenn Sie gehen, komme ich mit.« Ben lachte. »Badger, eine Sache, die ich an Ihnen immer bewundert habe, ist Ihr überschäumender Enthusiasmus.« Badger setzte sich hin und bettete seine AK-47 auf den Knien. »Ja, Sir«, sagte er ernst. Die drei Jets, frühere Privatjets, die jetzt Staatsflugzeuge waren, flogen in Formation in Richtung Richmond. Im vorderen Jet befanden sich Ben und Salina, Cecil und Lila, Ike, Voltan, Steven und Badger. In den beiden anderen Jets saßen zwei Gruppen von Rebellen. Bens persönliche Teams. Achtzehn Männer und sechs Frauen. Sie schwiegen meistenteils, während sie durch die Luft düsten, denn ihnen allen war bewusst, dass ihnen ein Krieg bevorstand. Am Flugplatz in Richmond wurden sie von Vizepräsident Addison, mehreren Beratern und einem Dutzend Geheimdienstagenten empfangen. Ben argwöhnte, dass eine volle Brigade von Truppen um den Flugplatz auf der Lauer lag, und dieser Gedanke amüsierte ihn. Er schüttelte Vizepräsident Addison die Hand und grinste. »Keine Blaskapelle, die spielt? Kein roter Teppich? Keine Menge jubelnder Menschen?«, fragte Ben. »Meine Güte, Ihr mögt mich hier nicht besonders, oder?« Der Vizepräsident starrte Ben in die Augen. »Ich halte nichts von dem, was Logan geplant hat, Raines. Das war nicht meine Idee.« »Das weiß ich. Und das werde ich mir merken.«
Eine halbe Stunde später fuhren sie die Auffahrt des neuen Weißen Hauses hinauf. Das Wetter in Richmond war düster, und Ben erwartete, dass der Empfang von Logan nicht viel besser sein würde. Badger stieg als Erster aus. »Warten Sie hier, Sir«, sagte er zu Ben. Der Leibwächter ging die Treppe des Weißen Hauses hinauf und stellte sich neben einen der riesigen Pfeiler. Die Dienst habenden Leute vom Geheimdienst hielten ihre Hände von ihren Seiten fern, um ihm zu zeigen, dass sie nicht die Absicht hatten, nach einer Waffe zu greifen. »Lassen Sie das Ding nur gesichert«, verlangten sie. Badger nickte. Ein Berater, der neben den Limousinen stand, murmelte: »Der Präsident wird nicht gerade wahnsinnig begeistert sein über diesen Mann und sein Maschinengewehr.« Er warf Ben einen schnellen Blick zu. »Was glauben Sie, was passieren wird, Sir? Glauben Sie, wir planen einen Überfall aus dem Hinterhalt, oder so etwas?« Ben sah den Berater an. Ohne zu lächeln antwortete er: »Ich wäre nicht im mindesten überrascht.« Ein alter Vers tauchte plötzlich in Bens Kopf auf: Dann wirst du bereit sein hindurchzugehen mit dem Bund, durch die Pforte am Ende der Dinge. »Irgendeine Pforte«, murmelte Ben. »Wie bitte, Sir?«, fragte ein Berater. Ben schüttelte den Kopf und ging die Stufen hinauf.
SIEBEN
Die Besucher aus den Tri-Staaten wurden ins Weiße Haus geführt, die Treppe hinauf, und nahmen Platz im Büro des Präsidenten. Das Rebellenkontingent blieb unten, trank Kaffee und plauderte mit den Agenten des Geheimdienstes; beide Gruppen versuchten das Beste aus der angespannten Situation zu machen. Journalisten waren zahlreich erschienen, fotografierten und stellten Fragen. Logan kam herein, ganz Lächeln und Herzlichkeit. Das Oberhaupt der Joint Chiefs war bei ihm. Ben misstraute dem General. Russell war Major in Vietnam gewesen, ein politisierender, heimtückischer Feigling. »Meine Damen und Herren.« Logan lächelte. »Willkommen im Weißen Haus. Es ist so schön, Sie alle hier zu sehen.« Und wenn du erwartest, dass wir das glauben, dachte Salina, bist du dümmer, als du aussiehst. Aber sie lächelte zurück. Ben schüttelte Logan die Hand und lächelte General Russell grimmig an. Die beiden Männer verstanden sofort die Position des jeweils anderen; Ben wurde klar, dass, während Amerika einen Präsidenten hatte, Logan sich die Macht mit dem Militär teilte. Ben wusste in diesem Moment, warum die freien Wahlen Jahr für Jahr hinausgeschoben worden waren. Das Militär bereitete sich darauf vor, die totale Kontrolle über Amerika zu übernehmen. Die Botschaften, die seine Geheimdienstleute abgefangen und entschlüsselt hatten, entsprachen der Wahrheit. Aber Ben wusste auch, dass im Militär Zwietracht herrschte; nicht alle Kommandanten waren mit Logan einverstanden, und damit, dass das Militär in die
schmutzigen Machenschaften der Regierung verwickelt war, und die Truppen wählten ihre Seiten… im Stillen. Die stumme Botschaft in General Russells Augen war leicht zu entziffern: Arrangiere dich mit mir, Raines. Wähle meine Seite. Ben schüttelte unmerklich den Kopf. Der General lächelte und sandte eine stille Botschaft: Du bist erledigt, Raines. Ben erwiderte ohne Worte: Wenn du das versuchst, General – bist du ein toter Mann. Die Botschaften hörten auf. Es gab ein paar Augenblicke beiläufiger Konversation über Nichtigkeiten, bis Mrs. Fran Logan hereinkam, ganz Lächeln und Gastfreundschaft des Südens – für jeden bis auf Ben. Ben gegenüber gab sie sich sehr kühl. Sie zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie Cecil die Hand gab (es färbt ab, wissen Sie), aber dann übernahm ihre gute Kinderstube die Kontrolle, und sie schüttelte höflich die dargebotene Hand und bekämpfte den Impuls, ihre Hand anschließend an ihrem Kleid abzuwischen. Einige Momente später gingen die Damen, sehr zur Entrüstung von Salina und Lila. In den Tri-Staaten waren alle Zusammenkünfte der Regierung öffentlich zugänglich. »Meine Herren«, sagte Logan, »wir haben viel zu besprechen – lassen Sie uns zur Sache kommen.« Ohne auf eine Entgegnung zu warten, befahl er, den Kaffee hereinzubringen. Stille herrschte in dem großen Raum, bis der Berater den Kaffee ein gegossen und den Raum verlassen hatte. General Russell stand auf der anderen Seite des Raumes, entfernt von der sitzenden Tri-Staaten-Partei. »Falls Sie den USA wieder beitreten möchten, Raines«, sagte Logan, »kann das eingerichtet werden.« Ich wette, das kann es, dachte Ben. »Wo ist der Haken?«
Logan lächelte, und General Russell lachte laut. Der Präsident meinte: »In Ihnen gibt es nicht das kleinste bisschen von einem Diplomaten, nicht wahr, Ben?« »Das Fehlen von Diplomatie ist nur einer meiner vielen Vorzüge. Ich frage noch einmal: Wo ist der Haken?« »Frei von der Leber weg?« »Schießen Sie los.« »Ihre Diktatur muss beendet werden.« »Es gibt keine Diktatur in den Tri-Staaten. Ich wurde durch die Stimme des Volkes gewählt.« Logan wischte seine Worte weg, als seien sie nicht gefallen. »Sie müssen sich neben den anderen Staaten einordnen.« »Auf keinen Fall.« »Sie müssen Ihre Grenzen öffnen und jedem Menschen, der dies möchte, die Möglichkeit geben, in den Tri-Staaten zu leben.« »Auf keinen Fall.« »Ihre Gesetze müssen in Einklang mit den richterlichen Entscheidungen unseres Obersten Bundesgerichtes gebracht werden.« Alle Anwesenden aus den Tri-Staaten lachten offen darüber. Logan errötete und sagte dann: »Das Gesetz der Waffe muss aufhören.« Ben stellte die Kaffeetasse mitsamt Untertasse auf einen Tisch. »Jetzt sage ich Ihnen, was wir tun werden und was nicht, Logan: Ich werde nicht dulden, dass Ihre Bundespolizei in unser Gebiet kommt und sich dort niederlässt. Wir kommen gut mit unserem Regierungssystem zurecht, und das ist das Einzige, was zählt. Keine Waffenkontrolle, kein Blumenpflücken oder dass schluchzende Sozialarbeiter uns erzählen, wie man mit Verbrechern umgeht. Und kein Geschwätz von Ihrem Obersten Bundesgericht.«
»Raines, ich biete Ihnen Souveränität als Gegenleistung für ein paar Konzessionen.« Er warf General Russell einen kurzen Blick zu, dann starrte er wieder Ben an. »Sie wissen natürlich, was passieren wird, wenn Sie sich weigern?« Bens Blick war kalt. »Und Sie wissen, was passieren wird, wenn Sie gegen uns Krieg führen.« Logan lachte. »Ich glaube nicht, dass Sie diese… Zero Squads haben.« Aber Vizepräsident Addison sah beunruhigt aus. Logan sagte: »Sie müssen wissen, dass wir die Macht haben, Sie wie eine Wanze zu zerquetschen. Das hatten wir eine Zeit lang nicht, das gebe ich zu. Aber jetzt schon.« »Ja, wahrscheinlich, Logan«, erwiderte Ben. »Aber alles, was Sie erreichen werden, ist ein Bürgerkrieg, und der wird dieses Land aller Wahrscheinlichkeit nach zerreißen.« »Raines, Sie haben dort draußen einige gute Dinge geschaffen – ich werde und kann das nicht leugnen. Ich könnte sogar eine Stelle für Sie in meinem Team finden. Ich könnte Sie gebrauchen. Aber Ihr Staat muss sich unterordnen.« »Unter keinen Umständen.« »Dann sind die Tri-Staaten erledigt.« Logan sprach es gehässig aus. »Werden Sie den Befehl erteilen, alle Säuglinge und alle Alten und Kranken zu töten, Mr. Präsident?«, fragte Cecil. »Wir haben das gesunde Leben, frei von Kriminalität und Bürokratismus, und Sie können das einfach nicht ertragen, ist es nicht so?« Logan errötete, hielt jedoch den Mund. Addison überkam ein Gefühl, als sei ihm schlecht. General Russell lächelte. »Logan«, sagte Ben, »ich kam mit der Hoffnung her, eine Art… Arrangement mit Ihnen ausarbeiten zu können. In
Frieden leben zu können. Unterschiedliche Ideologien, sicherlich – es ist jetzt eine andere Welt – aber trotzdem mit der Hoffnung, dass wir zusammenkommen und in Frieden leben können. Aber Ihre Auffassung von Frieden ist ein Übergriff auf die persönlichen Freiheiten von gesetzestreuen, Steuer zahlenden Bürgern. Ich werde dieses System nicht noch einmal tolerieren – niemals wieder. Logan, diese Zero Squads sind real. Sie existieren. Wenn Sie einen Krieg mit uns anzetteln, wissen Sie, was Ihnen passieren wird, und mit jedem Mitglied des Kongresses, das mit Ihrem Plan übereinstimmt.« »Ich werde die Staaten vereinen«, sagte Logan. »Und ich werde das wahre Gesetz und die wahre Ordnung wiederherstellen. Wir können nicht voneinander getrennt existieren.« Cecil lächelte. »Sie meinen, Sie lassen uns nicht existieren.« Logan ignorierte den Schwarzen. Er starrte Ben hasserfüllt an. »Ich werde Ihren Staat zerstören, Raines.« »Ich habe Sie gewarnt, Logan.« »Ich glaube nicht an Märchen, Raines. Haben Sie einen guten Tag.«
Zurück zu Hause wandte sich Ben an Radio und Fernsehen der Tri-Staaten und erzählte dem Volk von den Ereignissen in Richmond. Jedem, der den Staat lieber verlassen wollte, wurde dringend geraten, sofort zu verschwinden. Einige gingen, die meisten blieben. Sie begannen sich auf den Krieg vorzubereiten. Präsident Logan rief den Ausnahmezustand aus und befahl sämtlichen Flugzeugen, Lastwagen und Bussen zugleich, ihre Touren in die Tri-Staaten zu beenden. Die Telefonverbindungen waren abgeschnitten – blockiert. Truppen errichteten Straßensperren an den Grenzen zu den Tri-
Staaten und verweigerten jedem Einwohner der Vereinigten Staaten die Einreise in das Gebiet. Die kanadische Regierung kooperierte nur sehr halbherzig mit Logans Gesuch, ihre Grenzen abzuriegeln; Ben und sein Volk waren gut mit der neuen kanadischen Regierung zurechtgekommen. Aber schließlich stellte sie sich auf Logans Seite. Das Einfrieren war in vollem Gange. »Ich bitte dich noch einmal, Salina, bitte dich inständig, geh fort von hier, solange es noch Zeit ist.« Ben bemerkte die Haltung ihres Kiefers und bat sie niemals wieder. Die Zentralregierung in Richmond begann überall in den TriStaaten Flugblätter zu verteilen, in denen die Bürger gedrängt wurden, gegen Ben zu revoltieren oder den Staat zu verlassen. Eine Anzahl von Bürgern aus Butte baute am Stadtrand aus weiß angemalten Felsen ein riesiges Zeichen, flach auf dem Boden. Das Zeichen war immens groß, und seine sieben Buchstaben machten den Piloten unmissverständlich klar, was die Einwohner von dem Inhalt der Flugblätter hielten: FUCK YOU. »Wie lange können wir durchhalten?«, fragte Ben die Leiter seiner Ämter. »Medizinisch gesprochen«, meinte Dr. Chase, »Jahre. Wir haben genug Nahrung für Jahre. Genug Heizmaterial für Jahre. Genug Munition für Jahre.« »Es werden keine Jahre werden«, entgegnete Ben. »Sie werden zuerst die Indianer auslöschen, in dem Wissen, dass wir ihnen nicht helfen können, da wir hier eingesperrt sind. Sie werden Mitte des Frühjahrs gegen uns vorgehen, nach der Schneeschmelze. Das Wetter wird dann perfekt zum Kämpfen sein – kühl. Truppen können sich bei dieser Art Wetter besser bewegen. Also, vermint den Streifen; erweitert ihn, wenigstens ein paar Meilen. Verwandelt ihn in eine Hölle. Die Munitionsfabriken sollen sofort mit Vierundzwanzig-Stunden-
Schichten beginnen. Wir haben noch ungefähr neunzig Tage, bevor der Ballon steigt.«
Wie Ben es vorhergesagt hatte, entschied die Regierung der Vereinigten Staaten, dass sie den Indianern jetzt ihre wohlverdiente Strafe erteilen würde. »Das Reservationsland wird immer Ihnen gehören«, sagten die Bundesagenten zu den Indianern. »Wie auch immer, all das Land, das Sie sich nach dem Krieg angeeignet haben, wird der Regierung zurückgegeben, und den Besitzern… falls wir sie finden können.« »Warum?«, fragten die Indianer. »Weil es Ihnen nicht gehört.« »Es gehörte uns schon tausend Jahre, bevor ihr Leute herkamt. Sehen Sie, wir wollen nur wie anständige Menschen leben, das ist alles. Es gibt reichlich Land für alle.« »Ihr Vorschlag wird natürlich in Betracht gezogen. Trotzdem werden Sie in der Zwischenzeit in Ihre Reservate zurückkehren müssen.« »Nein.« »Wie bitte?« Niemand sagt jemals ›nein‹ zu einem Bundesagenten – undenkbar. Wie unverschämt! »Nein. Wir bleiben, wo wir sind.« »Dann, fürchte ich, müssen wir etwas unternehmen, um Sie und Ihr Volk umzusiedeln.« Diese Worte wurden mit einem Lächeln aufgenommen. »Schauen Sie sich um, Mann von der Bundesregierung. Sagen sie mir, was Sie sehen und hören.« Die Männer von der Bundesregierung wurden starr, als sie den Klang von Hebeln hörten, die scharfe Munition in Gewehrkammern schoben. Sie vernahmen das Klicken von Munition, mit der Waffen geladen wurden. Sie sahen die
Entschlossenheit dieser Menschen, aufzustehen und für das zu kämpfen, was schon Jahre zuvor ihnen hätte gehören sollen – was ihnen schon immer gehört hatte. »Dieses Land ist unser Land«, sagten die Indianer. »Sie müssen uns töten, um uns umzusiedeln.« Als die ersten Truppen einmarschierten, um die Indianer umzusiedeln, gaben die Indianer nicht den ersten Schuss ab. Statt dessen versuchten sie, die Kommandanten zu überzeugen. Aber die Truppen hatten ihre Befehle, und die Indianer hatten ihren Stolz.
Als der erste Schuss auf die Indianer abgefeuert wurde, wusste Ben, dass frühe Siege, die sie erringen würden, kurz andauern und wertlos sein würden. Denn sie waren zu wenige, und Logans Truppen waren zu stark. Und Jeb Fargo und seine Leute waren blind vor Hass. Berichte von schlimmsten Foltern und Vergewaltigungen sickerten durch. In einigen Fällen wurden Indianer, die sich ergeben hatten, in einer Reihe aufgestellt und als Zielscheiben verwendet. Mädchen im zarten Alter von zehn und elf wurden vergewaltigt; Jungen wurden sexuell verstümmelt und verbluteten. »Und wir sind als Nächste dran«, sagte Salina. Sie war hochschwanger. Ben orderte jeden Einwohner in den Militärdienst. Er befahl ihnen, ihre Ausrüstung zu nehmen und sich auf den Kampf vorzubereiten oder zu packen, und zu versuchen, sich an den Grenzen zu ergeben. Niemand ging. Die Tri-Staaten wurden nachts völlig abgedunkelt. Tausende von Männern, Frauen und Teenagern zogen Feldkleidung an, ergriffen Waffen und warteten auf den Krieg.
»Ich habe dir gesagt, dass es losgehen würde.« Ike lächelte Ben grimmig an.
Die Indianer kämpften mutig und gut mit den wenigen Waffen, über die sie verfügten, doch sie hatten keine Chance, nicht gegen Fernartillerie und Flugzeuge und CobraKampfhubschrauber und Fallschirmtruppen und Marines – das heißt, diejenigen, die sich entschieden zu kämpfen, denn einige von ihnen taten das nicht. Die Regierung begann, angestachelt durch Jeb Fargo, mit ihrem Verfahren zur Ausrottung. Dabei bekam sie Unterstützung durch viele Weiße, die Indianer hassten. Es lag kein Sinn darin. Es gab reichlich Land für alle, und das Land, das die Indianer beanspruchten, war nicht besonders groß. Aber Regierungen regieren durch Furcht, und sie sind immer im Recht. Regierungen müssen stets von dieser Voraussetzung ausgehen. Der Kampf war blutig und wild und sinnlos. Das einzig Gute, was sich daraus ergab, war der Tod von Jeb Fargo. Am Ende kämpften die amerikanischen Indianer, zerlumpt und schmutzig und krank und gehasst, den Kampf, von dem die meisten dachten, dass es ihr letzter Kampf um ihr Land sein würde. Ihr Land. Die meisten von ihnen wurden zur Strecke gebracht und vernichtet. Der arme, bemitleidenswerte kleine Rest wurde in Reservationen getrieben und allein gelassen. Die Regierung hatte wieder gewonnen – fast. Denn die Regierung wusste nicht, dass eine Kompanie von Berufssoldaten aus den Tri-Staaten sich bei den Indianern befand. Als der Dienst habende Offizier dieser Abteilung sah, wohin der Kampf führen würde, zog er seine Männer und mehr als eintausend Indianer – verschiedener Stämme – ab und
wandte sich mit ihnen nach Oregon. Dort warteten sie auf Befehle von General Raines. Als die letzte Bastion der indianischen Verteidigung fiel, wussten Ben und sein Volk, dass sie die Nächsten sein würden – jetzt war ihre Zeit gekommen. Der Streifen war in einen Vorhof der Hölle verwandelt worden: Minen, Stacheldraht, versteckte Bomben. Infanteristen würden hindurchgehen, aber zu einem fürchterlichen Preis – während die Leiter der Nation sich in Richmond gemütlich zurücklehnten, in angenehmer Umgebung dinierten und Wein aus Kristallkelchen schlürften. Es bleibt immer an den Soldaten hängen. General Ben Raines berief ein Treffen mit den zivilen und militärischen Führern ein. »Wir sind als Nächste dran«, sagte er seinen Leuten. In der Hand hielt er ein Kommunique, das an der östlichen Grenze von einem Boten Logans ausgehändigt worden war. »Der Kongress hat dafür gestimmt, in den Krieg mit uns einzutreten, wenn wir uns nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden ergeben. Sie behaupten, weil wir einen illegalen Staat gebildet und den Indianern in ihrem Kampf gegen die Zentralregierung geholfen haben, seien wir Verräter und müssen behandelt werden wie jede beliebige andere Macht, die versucht, die demokratische Regierung der USA zu untergraben oder zu Fall zu bringen. Wenn irgendjemand von euch aufgeben möchte, werde ich euch ganz sicher keinen Vorwurf machen. Ich weiß, dass wir hier kaum eine Chance haben, und wir sind zu viele, um zu flüchten. Wir werden mehrere Wochen lang die Stellung halten können – höchstens sechs. Dann sind wir erledigt.« Niemand ging oder sprach. »In Ordnung! Hier ist der Plan. Wir haben immer noch einige Schlupflöcher, von denen die Truppen nichts wissen. Die
meisten Frauen mit kleinen Kindern wollten nicht gehen, aber sie mussten. Einige von ihnen haben es nach draußen geschafft.« Er scharrte mit seinem gestiefelten Fuß. »Die meisten von ihnen haben es leider nicht geschafft. Bringt die anderen sofort raus, mit Führern und Proviant. Wenn es irgendjemand von uns schafft rauszukommen, treffen wir uns im kanadischen Sektor fünf wieder. Bringt eure Leute in Position und versteckt Sprengladungen in allem, was ihr zurücklasst. In allem. Vergiftet das Wasser. Verwandelt alles in tödliche Waffen – in Todesfallen. Ich möchte, dass diese Hurensöhne sich an diese kommenden Wochen erinnern. Ihr kennt alle den Drill. Sobald Truppen der Regierung den Boden der Tri-Staaten betreten, halten wir uns an Guerillataktiken. Keine Gefangenen.« Er wandte sich an Voltan. »Sind die Brücken fertig verkabelt?« »Ja, Sir. Die Zeitzünder werden gestartet, sobald unsere Leute sie überquert haben.« »Ich möchte, dass keine einzige Brücke in den Tri-Staaten übrig bleibt. Nicht eine.« »Ja, Sir.« Zu Dr. Chase: »Was ist mit den Menschen in den Krankenhäusern?« »Einige von ihnen können einfach nicht verlegt werden, und sie weigern sich, sich zu ergeben. Sie haben darum gebeten, dass Waffen neben ihren Betten gelassen werden. Ich habe dafür gesorgt. Wir malen rote Kreuze auf die Krankenhausdächer. Vielleicht werden sie nicht bombardiert.« »Ich würde mich nicht darauf verlassen«, meinte Pal. »Cecil, haben die Zero Squads es nach draußen geschafft?« »Ja, Sir. Sie warten alle auf das Signal zum Losschlagen.« »In Ordnung, Leute.« Ben schüttelte seinen Freunden die Hand. »Viel Glück. Lasst uns gehen.«
ACHT
Vergesst nie, es erzählt unsre ganze Geschichte, Von der Geburt des Traums bis zum Tod, Geboren vom Engel der Hoffnung, Vergangen wie die Hoffnung auf Erfolg. Major Samuel Alroy Jones
Der Kommandant der Streitkräfte, Major General Paul Como von der United States Army, senkte seinen Feldstecher und wandte sich an seinen Berater. Die Dämmerung teilte den Himmel mit goldenen Strahlen. Die Männer standen auf der östlichen Seite der Tri-Staaten-Grenze zu Idaho. Corrlo fluchte. »Verdammt noch mal, ich habe eine Woche lang an jeder Grenze dieses Staates gestanden.« Er sprach durch seine zusammengebissenen Zähne. »Ich habe jeden Tag dasselbe gesehen: Nichts! Nicht ein Zeichen von menschlichem Leben. Kein Rauch, keine Bewegung – nichts. Oh, das wird ‘ne verdammt blutige Scheißsache!« Brigadier General Krigel trat heran und schnappte das Ende von Comos Satz auf. »Sie kennen die Antwort, die sie auf unsere Flugblätter gegeben haben. Was sollen wir mit den Zivilisten und den Krankenhäusern und den Pflegeheimen machen?« »In den Tri-Staaten existieren keine Zivilisten«, sagte Como kurz. »Die gesamte Bevölkerung ist eine Armee.« Er dachte lieber nicht über den Rest von Krigels Frage nach, denn dies war der Grund, dass die Air Force sich geweigert
hatte, die Tri-Staaten zu bombardieren; das Militär war entschieden zwiegespalten, was den Krieg mit Bens Volk betraf. »Was gibts Neues aus der Luft?« »Sie sind bei zehntausend Fuß aufgebrochen und sind jetzt bei fünfhundert. Es wurde kein Schuss auf sie abgefeuert. Es gab keine feindliche Handlung gegen uns durch die Bewohner der Tri-Staaten. Überall da sind warme, atmende Körper, aber wir wissen nicht, ob sie freundlich gesinnt, feindselig, jung, alt, weiblich oder männlich sind.« Como seufzte schwer. »Sind die Brücken rund um den Staat gefechtsklar?« Er wusste, dass sie es nicht waren. Krigel räusperte sich. »Nein, Sir. Die Navy SEALs haben sich geweigert hineinzugehen. Sie sagen, sie würden nicht gegen andere Amerikaner kämpfen. Einige der Leute dort drin seien SEALs gewesen.« »Es ist mir scheißegal, was sie gewesen sind! Die Befehle für die SEALS lauteten, die Brücken gefechtsklar zu machen. Ich sollte diese Bastarde eigentlich festnehmen.« »Entschuldigen Sie, Sir, aber wer will die Person sein, die das probiert?« Como ignorierte das und versuchte seinen Ärger unter Kontrolle zu bekommen. Er warf einen Blick auf seine Uhr. »In Ordnung – zum Teufel mit den SEALs.« Er blickte nach Osten. Es war schon viel heller. »Die Luftlandetruppen sollen zusehen, dass sie runterkommen.« »Die Absprunggelände sind nicht vorbereitet worden, Sir.« »Was?« »Sir, die Pfadfinder sind letzte Nacht eingeflogen, aber sie sind alle desertiert und den Rebellen beigetreten. Alle bis auf den letzten Mann.« »Was?«
»Sie haben sich geweigert, die Absprunggelände vorzubereiten. Sir, sie sagten, sie würden nicht gegen andere Amerikaner kämpfen, und jeder, der das täte, sei ein Verräter.« »Verdammt noch mal!«, brüllte Como. Er zeigte mit dem Finger auf Krigel. »Sie sorgen dafür, dass die Luftlandetruppen in die Luft gehen und runterkommen. Starten Sie die Offensive – jetzt sofort. Sie sorgen dafür, dass diese verdammten Rangers die Spitze bilden.« Krigel trat von einem Fuß auf den anderen. Vor diesem Moment hatte er sich gefürchtet. »Wir… haben ein Problem, Sir. Eine große Anzahl der Tri-Staaten-Bewohner… waren… äh…« »Fallschirmjäger, Rangers, Marines, SEALs, Air ForceAngehörige«, beendete der General den Satz an seiner Stelle. »Wundervoll. Wie viele gehorchen noch meinen Befehlen?« »Ungefähr fünfzig Prozent der Luftlandetruppen haben sich geweigert, sich zu beteiligen. Keine Rangers, keine Green Berets, keine SEALs. Ungefähr dreißig Prozent der Marines und der Berufsinfanteristen weigern sich mitzumachen. Sie sagten, Sir, sie würden die Tore der Hölle für Sie stürmen, mit nur einem Mund voll Spucke zum Kämpfen, aber sie meinen, diese Menschen seien Amerikaner und hätten nichts Falsches getan. Sie seien keine Verbrecher.« Diese Neuigkeiten waren keine Überraschung für General Como. Er hatte diesen Einsatz mit General Russell während der Planungsphase diskutiert und hätte fast abgedankt, um in den Ruhestand zu gehen. Aber Russell hatte es ihm ausgeredet. Como war darüber nicht glücklich, aber er war Berufssoldat und befolgte Befehle. Krigel sagte: »General, das ist ein ziviles Problem. Es ist nicht unseres. Diese Menschen dort sind Amerikaner. Sie wollen nur in Ruhe gelassen werden. Sie haben keine geheimen Absprachen mit irgendeiner fremden Macht, und sie
versuchen nicht, die Regierung zu stürzen. Paul« – er legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes – »mir wird immer noch schlecht, wenn ich an diese Indianer denke. Zugegeben, wir haben diese… Dinge… nicht getan, aber wir haben das Kommando über diejenigen geführt, die sie getan haben – einige von ihnen. Es war falsch, und wir sollten Manns genug sein, diejenigen, die verantwortlich für diese… Maßnahmen waren, zu erschießen!« General Como fühlte, wie seine Eingeweide revoltierten; sein Frühstück lag ihm schwer und unverdaut im Magen. Er wusste sehr wohl, was sein Freund gerade durchmachte, und Krigel war sein Freund. Sie waren an der Militärakademie Klassenkameraden gewesen. Aber Befehl war Befehl. Como stellte sich aufrecht hin. Als er sprach, war seine Stimme hart. »Sie sind ein Soldat, General Krigel, und Sie werden den Befehlen gehorchen, oder, bei Gott, ich werde…« »Sie werden was?«, brauste Krigel auf, der die Geduld verlor. »Verdammt noch mal, Paul, wir sorgen hier für einen weiteren Bürgerkrieg. Und Sie wissen es. Ja, ich bin ein Soldat, und ein verdammt guter. Aber, bei Gott, ich bin zuerst Amerikaner. Ist dies eine Nation der freien Menschen, Paul? Wohl kaum! Diese Leute in den Tri-Staaten haben vielleicht andere Vorstellungen, aber…« »Zum Teufel mit Ihnen!«, brüllte Como. »Wagen Sie es ja nicht, mit mir zu streiten. Lassen Sie Ihre Troopers abspringen – jetzt sofort, oder sie werden nicht mehr Ihre Troopers sein. General Krigel, ich mache daraus einen direkten Befehl.« »Nein, Sir«, erwiderte Krigel mit Ruhe und Entschiedenheit in der Stimme. »Diesem Befehl werde ich nicht gehorchen.« Er zog seine Pistole aus dem Gurt und händigte sie General Como aus. »Ich habe es satt, Paul – das wars.«
General Como blickte, mit rotem Gesicht und zitternd, auf die 45er in seiner Hand, dann schlug er seinem Freund mit der anderen Hand ins Gesicht. Blut tropfte von Krigels Mund. Krigel bewegte sich nicht. Como wandte sich an einen Sergeant Major, der während des Austausches zwischen den Generälen unbewegt dagestanden hatte. »Sergeant Major, ich möchte, dass dieser Mann unter Arrest gestellt wird. Wenn er versucht, Widerstand zu leisten, wenden Sie nötigenfalls Gewalt an – alles, was nötig ist, um ihn zu überwältigen. Verstanden?« Er übergab dem Sergeant Major Krigels 45er. Der Sergeant Major griff nach General Krigels Arm und nickte. Er führte den Befehl, der ihm soeben erteilt worden war, nicht gerne aus. Er war in Vietnam Mitglied eines LRRPTeams gewesen – damals, als er noch ein junger Draufgänger gewesen war – und der Gedanke an Spezialtruppen, die gegen Spezialtruppen kämpften, gefiel ihm nicht besonders. Es war falsch, wenn Amerikaner gegen Amerikaner kämpften, egal, wie man es betrachtete. »Ja, Sir«, antwortete der Sergeant Major, aber er dachte: Lass mich nur General Krigel aus dieser Gegend rausschaffen, und, bei Gott, wir werden uns beide Raines’ Rebellen anschließen. Wir und ein Haufen anderer Männer. General Como wandte sich an seinen Berater, Captain Shaw. »Sagen Sie General Hazen, dass er nun das Kommando über die Zweiundachtzigste hat. Er soll dafür sorgen, dass seine Troopers abspringen. Diejenigen, die das nicht tun, sollen unter Arrest gestellt werden. Wenn sie Widerstand leisten, werden sie erschossen. Sagen Sie General Cruger, er soll dafür sorgen, dass seine Marines die Grenzen überqueren und sich ihre Ziele vornehmen. Fangen Sie an. Jetzt sofort! Die Troopers sollten schon längst gelandet sein.«
Shaw nickte, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, wenn schon nicht zur Zustimmung. Der junge Captain war Berufssoldat, und er hatte seine Befehle, ebenso wie, da war er sicher, Raines’ Leute ihre hatten. »Ja, Sir.« Er ging davon. »Sofort, Sir.« General Como zwinkerte mehrere Male rasch hintereinander. Er war den Tränen nahe, und dann weinte er, die Tränen liefen seine sonnengebräunten Wangen hinunter. »Verdammt noch mal«, flüsterte er. »Was für ein widerwärtiger Schlamassel.«
Die kleine Anzahl der ersten Marines-Kompanien und ihre Aufklärer, die die Spitze bildeten, erreichten die Grenze des Streifens und starben dort. Das Gebiet wurde vom Feuer der Artillerie und schwerer Mörser sturmreif geschossen. Bens Leute befanden sich in untertunnelten Bunkern; und als der Beschuss aufhörte, tauchten sie wieder auf. Die Marines errichteten einen Brückenkopf, oder in diesem Fall eine Rundumverteidigung, und nahmen so die ersten fünftausend Meter ein. Sie erreichen immer ihr Ziel – aus diesem Grund sind sie Marines – aber der Preis war scheußlich. Keine Seite kannte Gnade oder Pardon für die andere. Für jeden Meter, der an diesem Vormittag und frühen Nachmittag gewonnen wurde, wurde ein Preis in Form von menschlichem Leiden bezahlt. Die Rebellen aus den Tri-Staaten warteten, bis die Fallschirmjäger auf dem Boden gelandet waren und sich von ihren Fallschirmen befreit hatten, bevor sie das Feuer eröffneten. So lauteten Bens Befehle, und das war der einzige Gnadenakt, der auf einer der beiden Seiten gezeigt wurde. Die ersten Troopers, die im Absprunggebiet landeten, wurden augenblicklich getötet, mit Gewehrfeuer aus schweren 50erMaschinengewehren belegt oder durch Mörserfeuer zerfetzt.
Am Abend des zweiten Tages hatten sich die Regierungstruppen weit bis ins Innere der Tri-Staaten-Grenzen vorgekämpft. Sie strömten von Norden, Süden, Osten und Westen herein, in der Hoffnung, die Rebellen einzukesseln. Aber Bens Leute besannen sich auf Guerillataktiken und verteilten sich; ihre Gruppen hatten höchstens Bataillonsgröße, und die meisten waren von der Größe eines Zuges oder einer Kompanie. Sie schlugen hart zu, dann verschwanden sie, und sie versteckten überall Sprengladungen. Die Regierungstruppen, die die Tri-Staaten stürmten, fanden sehr schnell heraus, wie es in der Hölle wohl zugehen müsse. Alles, mit dem sie in Kontakt kamen, explodierte, schoss auf sie, biss sie oder vergiftete sie. Die älteren Männer hatten gedacht, sie hätten Krieg in seiner schlimmsten Form in ‘Nam erlebt, aber dies überstieg alles, was sie jemals durchgemacht hatten. Zuvor hatten die Mediziner in den Tri-Staaten Rudel von tollwütigen Tieren entdeckt und sie eingefangen. Sie hatten sie so lange wie möglich am Leben erhalten und die infektiösen Bakterienkulturen in den Blutkreislauf jedes warmblütigen Tieres, das sie finden konnten, übertragen. An dem Tag, an dem die Invasion begann, wurden die Tiere überall in der Gegend freigelassen. Es war grausam. Aber ist Krieg das nicht immer? Die Regierungstruppen begannen mit ihren Such-und-zerstörMissionen. Sie drangen in Krankenhäuser und Pflegeheime ein und entdeckten, dass die Patienten bewaffnet waren. Die sehr Alten und Kranken und Sterbenden kämpften ebenso grimmig wie die Jungen und Gesunden. Alte Leute, von deren Körpern Schläuche herabhingen, einige kaum in der Lage zu krabbeln, schleuderten Granaten und schossen auf die Spezialtruppen. Und die jungen Marines, Männer in Springerstiefeln und
Felduniformmützen und Pilotenabzeichen, vergossen Tränen, als sie die alten Menschen bei dem Blutbad töteten. Viele der jungen Soldaten warfen ihre Waffen weg und gingen davon; sie weigerten sich, weiterhin an den Tötungen teilzunehmen. Das war keine Feigheit – nicht im Geringsten. Diese jungen Männer hätten gegen eine Bedrohung der Freiheit bis zum Tode gekämpft, aber die Leute aus den TriStaaten waren keine Bedrohung ihrer Freiheit. Und die jungen Truppenangehörigen lernten schließlich die Lektion, für die ihre Vorfahren bei Valley Forge gestorben waren: Die Menschen haben ein Recht, frei zu sein, in Frieden und persönlicher Freiheit zu leben und zu arbeiten und zu spielen – und sich selbst zu regieren. Viele der jungen Truppenangehörigen desertierten, um sich den Rebellen anzuschließen. Das Universal-Soldier-Syndrom wurde vielen der Truppenangehörigen schmerzlich klar: Ohne uns kann man keinen Krieg führen. Und die Kinder der Tri-Staaten kämpften ebenso. Einige von ihnen, erst zwölf, stellten sich dem Kampf mit dem amerikanischen Militär… sie fragten sich, wie das sein konnte – denn sie glaubten, sie seien Amerikaner. Sie gingen mit Heckenschützengewehren in Deckung und wurden zur Strecke gebracht. Kein Mitgefühl wurde gezeigt. Ein zerschundenes und blutendes kleines Mädchen konnte einem Sanitäter immer noch eine scharfe Granate verpassen und mit ihm gemeinsam sterben. Ob nun richtig oder falsch, Bens Befehle, die jungen Menschen der Tri-Staaten in den Kriegstaktiken zu schulen, zahlten sich nun aus. Ihnen war seit neun Jahren beigebracht worden, ihr Land zu verteidigen, und genau das taten sie jetzt. Die Krankenhäuser mussten mit Artilleriefeuer in die Luft gejagt werden; es war gefährlich, sie zu betreten, da die Patienten bewaffnet und bereit waren zu sterben. Überall, wo
sich die U. S.-Kämpfer hinwandten, explodierte etwas vor ihrer Nase. Die Rebellen hatten mit Tausenden Tonnen von Sprengstoff alles Mögliche versehen und mit Zündungen bestückt. Die Tri-Staaten begannen zu stinken wie eine Jauchegrube. Die Truppen mussten jedes warmblütige Tier töten, auf das sie trafen. Es gab keine Möglichkeit festzustellen, welche Tiere infiziert waren – nicht im Frühstadium. Die Regierungstruppen wurden sehr vorsichtig beim Betreten von Gebäuden, nicht nur wegen des Risikos, dass eine Tür mit einen Zünder versehen war und in die Luft gehen könnte, sondern auch, weil die Rebellen tollwütige Tiere in die Häuser eingesperrt hatten. Es war schrecklich, mitanzusehen, wie ein Hund oder eine Katze mit wütendem Knurren und Schaum vor dem Maul sich in einen Menschen verbiss. Die Truppenangehörigen konnten nicht von dem Wasser trinken, das in den Tri-Staaten zu finden war. Dr. Chase hatte es mit allem infiziert, von Cholera bis hin zu Formen von Milzbrand. In diesem Krieg gab es keine genau gezogenen Grenzen und keine sicheren Sektoren. Die Rebellen wichen nicht in eine bestimmte Richtung zurück und ließen dieses Gebiet dann geklärt zurück. Sie zogen sich zurück und gingen dann nach links oder rechts, führten eine Schwenkung aus, so dass sie hinter den Regierungstruppen auftauchten, um sie aufzureiben und um ein paar Kehlen aufzuschlitzen. Denn die Rebellen kannten das Territorium, und sie waren seit neun Jahren für diesen Einsatz ausgebildet worden. Sie waren Experten in ihren Jobs. Die Regierungstruppen dachten nicht im Entferntesten daran, Gefangene zu machen, ihr Befehl hieß: Totale Vernichtung. Für viele war dies der erste wirkliche Kampf in ihrem Leben. Das erste Mal, dass sie einen wirklichen Krieg miterlebten, das
erste Mal, dass sie ein Menschenleben auslöschten – es gibt nichts, was einen darauf vorbereiten kann. Manchmal rastet das Gehirn im Kampf aus, und ein Soldat tut die Dinge, die notwendig sind, um zu überleben, ohne dass er sich dabei bewusst wäre, dass er sie tut, oder ohne dass er sich hinterher daran erinnert. Die Trainingsroutine übernimmt die Kontrolle. Feuere, bis du das Ping des Schlagbolzens hörst, der ins Leere trifft. Rolle dich leicht und routiniert auf die Seite; lege schnell einen neuen Ladestreifen ein; nimm deine Feuerposition wieder ein, und lege immer auf den dicksten Teil des Körpers des Feindes an, zwischen Hals und Taille. Deine Waffe ist blockiert. Reinige sie. Verfluche sie. Greife dir eine von einem toten Kameraden. Feuere durch die Tränen und den Schweiß und den Dreck hindurch. Manchmal feuert ein Soldat seine Waffe ab, bis sie leer ist, und lädt sie niemals nach, so sehr haben ihn die Hitze und der Schrecken des Kampfes erfasst. Drücke wieder und wieder ab; fühle den imaginären Knall des Kolbens gegen deine Schulter; töte den Feind mit Nichtgeschossen. Bei all dem Jammern, den Schlägen, dem Metall gegen Metall fällt es schwer zu denken. Also tust du es nicht. Das Schreien, das furchtbare Gebrüll der Verwundeten und das Gekreische der Kämpfenden vermischen sich in einer massiven, donnernden Kakophonie in deinem Kopf. Eine Stunde wird zu einer Minute; eine Minute ist die Ewigkeit. Gott! Wird es jemals enden? Nein! Lass es nicht enden; der Höhepunkt ist gewaltig, als ob eine Frau unter dir stöhnt und zum Orgasmus kommt. Bald erkennst du die Wahrheit: Du hattest keinen Orgasmus, du hast dir in die Hose geschissen. Wann hat es angefangen, Rot zu regnen? Dickes Rot. Plötzlich wirst du unzerstörbar. Die können dich nicht töten. Lache dem Tod ins Gesicht. Brülle den Sensenmann an.
Ein Mann, der rennt, um in Deckung zu gehen, wird von einer flackernden Mörsersalve enthauptet, die wie ein Haufen schnatternder Girlies klingt. Das kopflose, nicht menschlich erscheinende Ding rennt noch zwanzig Meter weiter und flattert in schrecklicher Stille mit den Armen. Wie faszinierend. Sieh dir an, wie es rennt. Hinfällt. Still daliegt. Ein Mann kriecht auf seinen Händen und Knien und sammelt seine Eingeweide ein, versucht sie in das gähnende Loch in seinem Bauch zurückzustopfen. Er fällt auf sein Gesicht, zittert, schreit dann und stirbt. Gut. Wenigstens hat das diesem Hurensohn das Maul gestopft. Seine Eingeweide dampfen in der kühlen Luft. Da ist der Feind. Erschieße ihn. Bring das Gewehr an deine Schulter, richte das Gewehr auf ihn – Gott! Es ist eine Sie! Zu spät, du hast schon abgedrückt. Guter Schuss. Du weißt, es ist ein guter Schuss, denn die Fotze fällt komisch hin, irgendwie biegsam, als hätte sie keine Knochen. Dir kommt ein Gedanke: Wie lange ist es her, dass du eine Muschi hattest? Scheiße, Mann! Was für ‘ne Zeit, um an so was zu denken! Drehe dich um, um was zu deinem besten Kumpel zu sagen, der nur einen Meter von dir entfernt im Graben liegt. Entdecke, dass das, was du für roten Regen gehalten hast, in Wirklichkeit Blut ist. Viel Blut. Er lebt noch, aber das Blut schießt geradezu heraus… in einem langen Strahl. Du möchtest dich übergeben, aber hier ist nicht der Ort, um dich zu übergeben, nicht genug Zeit, um dich zu übergeben. Außerdem müsstest du darin liegen. Du riechst den Gestank von Scheiße. Du stellst fest, dass es deine eigene Scheiße ist – in deiner Hose. Deine Augen brennen von dem Rauch des Kampfes und dem beißenden Schweiß. Wische dir mit zitternden Händen das Gesicht ab und reibe dir die Augen. Du reißt dich besser
zusammen, denn da vor dir kommt der Feind heran, fast direkt vor dir. Da ist dieser Kerl von der Bravo Company, der Typ, den du nie wirklich mochtest, weil er ständig mit den vielen Muschis angegeben hat, die er hatte. Er wird nie wieder eine kriegen. Hat eine Kugel direkt zwischen die Augen bekommen; der ganze Gehirnsiff läuft aus. Und plötzlich, zu schnell, ist der Feind überall um dich herum, und du lieferst dir mit ihm einen harten Nahkampf. Wie dumm! Der Feind sieht genau aus wie du. Sein Mund ist offen, seine Augen sind weit geöffnet, in einer Mischung aus Furcht und Erregung, und er ist schmutzig und riecht schlecht. Für den kleinsten Bruchteil einer Sekunden begegnen sich eure Augen. Jedes Gehirn sendet die gleiche Botschaft: Dieser Kerl wird mich töten! Du bist nicht mehr auf den Knien. Wieso habe ich gekniet? Zum Beten, oder was, verdammt noch mal? Aus dem Graben raus. Deine Beine tragen dich. Zitternd, aber du bist okay. Du wirst es schaffen. Du wirst überleben! Drücke ab. Verdammt noch mal! Die Waffe ist leer. Schlage ihm den Gewehrkolben in die Eier, und er schreit und krümmt sich zusammen und kotzt. Lass den Kolben hart auf seinen Nacken niedergehen, höre, wie sein Genick bricht. Er ist erledigt. Einen neuen Ladestreifen in die Waffe. Schieß auf ihn, um sicher zu gehen, dass er wirklich tot ist. Du gehst in die Hocke und versuchst Luft in deine Lungen zu saugen; du bekommst nicht genug Luft. Da ist ein anderer Rebell… Er hat gerade jemanden getötet… Wie heißt er noch? Ein Typ vom dritten Zug. Dir fallen die merkwürdigsten Dinge auf: Der Rebell müsste sich mal rasieren. Stürz auf ihn los, während er dir den Rücken zudreht. Wirkt fast wie im Zeitlupentempo. Stoße ihm dein Bajonett in den Rücken, fühle den harten Widerstand, wenn die Klinge durch Muskeln
schneidet und an Knochen vorbeischrammt. Es ist nicht so einfach wie im Kino. In Filmen ist das immer so sauber und glorreich. Kann mich nicht erinnern, das Bajonett am Halter fixiert zu haben. Was für einen Unterschied macht das schon? Der Rebell schreit und zuckt und windet sich in Schmerzen. O Scheiße! Die Klinge bleibt in seinem Rücken stecken. Christus! Drücke ab, und sprenge die Klinge frei. Wie zum Teufel bist du auf dem Boden gelandet, flach auf dem Rücken? Bin ich okay? Taste mit zitternden Fingern nach unten. Jesus, lass meine Eier nicht verschwunden sein. »Steh auf, du feiger Hurensohn!«, brüllt ein Sergeant. Bin ich gemeint? Verdammt, Sergeant, ich bin hier nicht absichtlich gelandet. Der Sergeant bekommt eine Kugel in den Rücken. Hat wohl die Wirbelsäule durchtrennt; er fällt ganz merkwürdig hin. Du kannst dich nicht an seinen Namen erinnern. Steh auf, um dem Feind gegenüberzutreten. Was ist das, eine Wiederholung? Du hast das doch gerade schon einmal getan. Einige Typen haben eine Frau gefangen genommen und ziehen ihr die Hose runter. Hey, kommt schon, Leute! Sie schreit etwas, als sie sie vergewaltigen. »Willst du ‘ne Muschi, Jake?« Sie reden mit dir, Dummkopf. »Nein.« Jemand brüllt. Ein Rebell. »Bettle, du Motherfucker!«, sagt jemand zu ihm. »Fahr zur Hölle!« Der Rebell schreit seine Erwiderung. Der alte Mann hat gesagt: keine Gefangenen. Also schießt man auf den Rebellen. Aber sie mussten ihm nicht ausgerechnet dorthin schießen. Er schreit. Blick dich um. Ist es vorbei? Yeah – fast. HeiligeMuttergottes-Jesus-Verdammter-Christus-Der-Allmächtige: Sieh dir all die Leichen an. All das Blut und die Scheiße.
Oh Gott, der Sergeant läuft durch die Gegend und schießt den verwundeten Rebellen in den Kopf. Jemand erzählt dir, dass der Gruppenführer tot sei. Du warst Corporal, nun bist du Sergeant. Schlachtfeldbeförderung. Irgendwie scheint das keine großartige Sache zu sein. Du möchtest sagen: »Aber ich will das nicht!« Plötzlich hast du eine 45er in der Hand, und du gehst durch das Blut und das Stöhnen, und die 45er zuckt in deiner Hand und beendet die Schreie. Keine Gefangenen. Auf beiden Seiten. Diese Rebellin schreit immer noch. Sie tun ihr weh. »Fick sie in den Arsch!«, schreit jemand lachend. Du wendest dich ab von dem Anblick und den Geräuschen. Du könntest sie aufhalten, aber du willst das Gesicht vor den Männern nicht verlieren, nicht zu diesem frühen Zeitpunkt deiner Beförderung. Was zum Teufel soll das überhaupt? Sie ist bloß eine Rebellin. Der Feind. Nun ist der Feind tot, als du über das nahezu stille Schlachtfeld wanderst. Aber die Frau schreit da hinten, auf der anderen Seite der Wiese, immer noch. Zum Teufel, ich wünschte, sie würde die Klappe halten. Ein Rebell, der einen schweren Treffer in die Brust abbekommen hat, ist immer noch am Leben. Er sieht mit Trotz in den Augen zu dir auf. Du schießt ihm in den Kopf. Sehen Sie… geben Sie nicht mir die Schuld. Ich befolge bloß Befehlen. Jetzt sind alle Feinde tot, und es ist zu still. Jemand soll was sagen. Aber alle, die du ansiehst, wenden die Augen ab. Die Menschen atmen schwer; jemandem kommt das Frühstück hoch, und er übergibt sich auf den Boden. Jemand anderes betet. Glaubst du, Gott hört zu, nach all dieser Scheiße? »Es ist zu still, verdammt noch mal!« Du wirbelst herum. »Wer hat das gesagt?«
Niemand antwortet. Ein Rebell stöhnt. Du zeigst auf ihn und siehst dann einen deiner Männer an. Du hörst deine Stimme sagen: »Erschießen Sie ihn.« »In Ordnung, Sergeant.« Bum! Der Hang ist so gottverdammt laut. Da ist ein Kerl aus deinem Zug. Er kniet auf dem Boden und hält einen winzigen blauen Vogel in seiner schmutzigen Hand. Der Vogel ist tot. Alle versammeln sich, um einen Blick auf ihn zu werfen. An dem Vogel ist keine Verletzung zu erkennen. Kein Blut. Es erscheint merkwürdig, etwas zu sehen, an dem kein Blut und kein Dreck klebt. Du fragst dich, woran der Vogel gestorben ist. »Hey, Sergeant!«, flüstert jemand. »Wissen Sie was?« »Was?« Deine Stimme klingt komisch. Alt. Diese Frau schreit immer noch, schwach, heiser. »Wir haben gewonnen.«
NEUN
Zur Zeit der Abenddämmerung des fünfunddreißigsten Tages hatten die Regierungstruppen die schwersten Kämpfe hinter sich. Sie hatten die Zangen geschlossen, und der größte Teil der Tri-Staaten war gesichert. Aber der Preis für den Sieg war grausam hoch. Selbst Juno war tot, getötet durch ein Dutzend Schüsse, aber erst, nachdem das alternde Tier einen Major getötet hatte, indem es ihm die Kehle herausgerissen hatte. Nun mussten sich die Regierungstruppen mit Säuberungsaktionen begnügen. Kampftruppen können bezeugen, dass Säuberungen schrecklich sein können. Die Kugel eines Heckenschützen, eine versteckte Sprengladung oder eine Mine kann dich eine Hand, ein Bein oder das Leben kosten. Major General Como war tot, in den Kopf geschossen von einem dreizehnjährigen Mädchen, das eine Pistole geschwenkt hatte, die es von der Leiche eines Fallschirmjägercaptains genommen hatte. Das Mädchen war lebend gefangen genommen und wiederholt vergewaltigt, dann erschossen worden. Jemand hat einmal geschrieben, dass nichts auf der Welt so brutal sei wie amerikanische Kämpfer. Comos Ersatzmann, Major General Goren, überdauerte nur zwei Wochen. Er öffnete das mittlere Schubfach eines Schreibtisches in dem gesäuberten, gesicherten Gebäude, das als sein Hauptquartier gedacht war, und fünf Pfund Nitroglyzerin und Nitrozellulose putzten ihn weg und verteilten ihn überall im Raum, gemeinsam mit einem Colonel
und seinem Sergeant Major. Die Ladung war mit einer verzögerten Zündung versehen: Das Schubfach konnte zehnmal geöffnet werden, und die Ladung schlummerte – beim elften Mal ging sie in die Luft. Säuberungsaktionen. In einer bergigen und stark bewaldeten Gegend westlich und nördlich von Vista bereitete sich die Hauptquartierkompanie der Tri-Staaten-Rebellen auf ihren letzten Kampf vor. Die meisten von ihnen waren schon seit Jahren zusammen: Steven und Linda, James und Belle, Cecil und Lila, Al und Anne, Bridge und Abby, Pal und Valerie, Ike und Megan, Voltan und Nora, Sam und Pam, Jerre und Jimmy Deluce, und Jane Dolbeau, Tatter und June-Bug mit ihren Ehemännern… Ben und Salina. Und einhundert andere, welche die Kompanie ergänzten. Die Kinder, die sich bei ihnen aufhielten, hätten bereits verschwunden und in Sicherheit sein müssen, aber ihnen war der Weg abgeschnitten worden, und sie hatten umkehren müssen. Sie befanden sich nun wieder am Anfang, und ihr Ende wartete bereits um die Ecke auf sie. Es gab einen Weg nach draußen, aber das war eine riskante Angelegenheit. Ben saß da und redete mit den Zwillingen Jack und Tina. »Jack, du musst dich nun um Salina kümmern. Ich werde die Kompanie aufteilen und ein Team für ein Ablenkungsmanöver anführen. Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, hier rauszukommen.« Er tätschelte Jack die Schulter. »Es wird schon funktionieren, mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon durch. Ich bin ein alter Wolf, der immer noch einige Tricks auf Lager hat.« »Dann wirst du später wieder zu uns stoßen?«, fragte Tina, während ihr Tränen die Wangen herunterliefen.
»Klar. Verlass dich drauf.« Ben schüttelte Jack die Hand und küsste Tina. »Los, gesellt euch zu Colonel Elliot. Ich möchte für einen Moment mit eurer Mutter reden.« Salina trat an seine Seite und ließ die Hand in seine gleiten. Beide waren schmutzig vom Gewehrrauch und Dreck und Schweiß. Ben fand, dass sie noch nie schöner ausgesehen hatte als während ihrer Schwangerschaft; sie hatte wie eine staubige Walküre an seiner Seite gestanden und in den schwersten Kämpfen eine M-16 abgefeuert. »Wir hatten nicht viel Zeit zusammen, nicht wahr, Ben?« »Wir haben noch eine Menge Zeit vor uns, Baby«, erwiderte er sanft. Sie lächelte, ein trauriges Lächeln. Wissend. »Das kannst du den Kindern weismachen, General. Aber versuche nicht, mir das vorzumachen.« »Yeah«, brummte Ben wehmütig. »Yeah, ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt.« Er küsste sie, sehr sanft, sehr zärtlich, ohne Leidenschaft oder Lust. Ein Mann, der einer Frau einen Abschiedskuss gibt. Salina griff nach dem Moment. »Gibt es überhaupt irgendeine Chance?« »Keine sehr große, fürchte ich.« Er war ehrlich. Sie versuchte zu lächeln und begann plötzlich zu weinen, leise, fast völlig lautlos. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn. »Ich liebe dich, Ben Raines.« Sie lächelte durch die Tränen hindurch. »Auch wenn du ein Weißling bist.« »Und ich liebe dich, Salina.« Er kämpfte mit den Tränen, um ihr Lächeln zu erwidern. »Un’ jetz’ beweg deinen Arsch hier raus, Baby.« Und sie lachten gemeinsam. Ben half ihr auf die Beine, sah sie einen Moment lang an und ging dann, um sich mit der Gruppe zusammenzutun, die er für das Ablenkungsmanöver anführen würde.
Und ganz plötzlich, ohne Vorwarnung, brach Blut und Gewalt über den ruhigen Waldboden herein. Ein Zug von Fallschirmjägern griff die Rebellen still und tödlich an; der friedliche Wald verwandelte sich in einen Nahkampfplatz. Ben stellte seine alte Thompson auf Vollautomatik ein und leerte den Ladestreifen in die Front der Fallschirmjäger. Er schoss ein halbes Dutzend von ihnen ab. Salina schrie hinter ihm. Ben wirbelte gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie sie von einem Bajonett durchbohrt wurde. Ihr Mund öffnete und schloss sich in stummer Agonie; ihre Hände krochen schlangengleich ihren Bauch hinunter, um nach dem Gewehrlauf zu greifen, in dem Versuch, den scharfen Schmerz aus ihrem Bauch zu reißen. Sie schrie. Das Bajonett hatte sich durch das ungeborene Baby gebohrt. »Jesus Christus!«, brüllte der Trooper, als er sah, was er getan hatte. Er versuchte, die Klinge aus ihrem Bauch zu ziehen. Doch sie steckte fest. Er drückte ab – ein Reflex durch hartes Training anerzogen – und schoss die Klinge frei, wobei er ein halbes Dutzend Kugeln in Salinas Körper jagte. Sie wurde von der Wucht der Explosion nach hinten geschleudert. Ben riss ruckartig seine 45er aus dem Gurt und schoss dem Trooper den halben Kopf weg, gerade als Salina auf dem Boden zusammenbrach. Ihre Hände bewegten sich auf dem blutigen Durcheinander, das einst ihr Bauch gewesen war. Ben war an ihrer Seite, als seine Rebellen ohne Gnade den Kampf gegen die Troopers aufnahmen. Die Troopers waren zahlenmäßig unterlegen und traten gegen rasende Wut an. Sie starben sehr schnell; die Rebellen machten keine Gefangenen. Ben nahm Salina in seine Arme. Er wusste, es gab für sie keine Chance zu überleben. Sie wurde rasch schwächer. »Ich liebe dich, Salina.« Sie sah ihn an und lächelte – zum letzten Mal.
»Das mit dem Baby tut mir Leid, Honey. Aber bei unserem Glück wäre es wahrscheinlich ein Koalabär geworden.« Sie schloss die Augen und starb. Ben versuchte, die schwere Bürde des Schmerzes loszuwerden, die auf seinen Schultern lastete und sein Herz mit kalten Fingern zusammenpresste. Dutzende von Emotionen durchzuckten ihn, als er neben der einzigen Frau, die er je wirklich geliebt hatte, niederkniete. Er berührte ihr Gesicht, schloss ihre Augen, glättete ihr Haar, küsste ihre noch warmen Lippen. Er kämpfte sich in die Wirklichkeit zurück. Dr. Chase zog ihn von Salinas Körper fort. Für einen Augenblick kniete er sich hin und schnitt ihre Umstandshose mit einem Messer auf. Er bedeckte sie mit einer Zeltbahn und erhob sich, um Ben ins Gesicht zu sehen. »Ein Junge«, sagte er. »Vollkommen normal. Hat alle Finger und Zehen. Ihr Aussehen, deine Augen. Das Bajonett hat ihn glatt durchbohrt.« Ben nickte. »Lasst uns gehen!«, brüllte er. »Hier können wir nichts mehr tun. Helfen wir den Verwundeten. Los!« Ike berührte ihn am Arm. »Ben…« »Wir haben keine Zeit zum Trauern, Kumpel. Später.« Die Rebellen wanderten still in den Wald, nahmen ihre Verwundeten mit und ließen ihre Toten zurück; Salina und der Junge lagen inmitten der stillen Toten. Ameisen hatten bereits ihren Marsch über ihr Gesicht begonnen. Sie lag in einer Lache aus gerinnendem Blut, eine Hand auf dem Arm ihres toten Kindes.
Die Rebellen teilten sich auf. Die ersten beiden Gruppen schafften es nicht über den Rand der nördlichen Grenze des Streifens hinaus. Ein Kundschafter entdeckte sie und
informierte die Artillerie per Funk. Niemand entkam dem tödlichen Hagel. Eine andere Gruppe lief in einen Hinterhalt; nur wenige entkamen. Die Kinder lagen da wie Kiesel am Strand, ihre zerbrochenen und zerschlagenen Körper erinnerten grausam an die Rachsucht und die Macht der Regierung. Ein halbes Dutzend Cobra-Kampfhubschrauber machte eine andere Gruppe ausfindig und kam vom Himmel herab, wobei sie sie mit Bordwaffen angriffen. Kurze Zeit vor der Abenddämmerung stand Bens Gruppe plötzlich zwei Kompanien von Regierungstruppen gegenüber. Jimmy Deluce wurde von einem tödlichen Kreuzfeuer erwischt und starb aufrecht stehend, während er den Feind verfluchte. Jack war in einer Gruppe mit seinem Vater gewesen und verließ die Gruppe nun, um einem Freund zu helfen. Jack wurde von M-60-Gewehrfeuer fast auseinander gerissen. Tina warf eine Granate in das Maschinengewehrnest und erledigte es mit einer Salve aus ihrer M-10. Sam Pyron sah zu, wie seine Frau erschossen wurde, und der Junge aus den Bergen von West Virginia kam auf die Füße und schrie fassungslos. Er ging auf die Soldaten zu, schoss mit einer AK-47 aus der Hüfte und verfluchte sie. Er nahm mehr als nur ein paar von ihnen mit in diesen langen Abschied. Ben bekam eine Kugel tief in seine rechte Seite; die Kugel bohrte sich in sein Fleisch und prallte von seinem Hüftknochen ab. Ihre Wucht schmetterte ihn gegen einen Baum und betäubte ihn. Eine Granate mit Erschütterungszünder riss ihn in die Dunkelheit. Ben blieb der Anblick von Paul erspart, wie er von einer Kugel aus einer 45er in den Kopf getroffen wurde. Er sah nicht, wie Valerie vom Feuer eines Automatikgewehrs zerrissen wurde. Viel später wurde ihm mitgeteilt, dass die
Kinder von Pal und Valerie in die Schusslinie gerannt waren, um zu ihm zu gelangen, und in blutige Fetzen gerissen wurden. Voltan starb. Megan wurde gefangen genommen und vergewaltigt und anschließend erschossen. Al, Abby und viele andere starben. Lila geriet vor eine Claymore und wurde in winzige Stücke gerissen. James Riverson half dabei, Ben aus dem Wald und über die Grenze zu tragen. Der große Mann lief und weinte. Seine Belle war tot und ebenso ihre gemeinsamen Kinder. Zu der Zeit, als die Dunkelheit sich über den nun nicht mehr existierenden Tri-Staaten ausbreitete, waren nur wenige Rebellen entkommen. Nicht einmal dreitausend hatten es nach draußen geschafft. Aber Badger und mehrere Dutzend andere waren schon vor Wochen entkommen und hielten sich versteckt. Die Zero Squads.
ZEHN
Logans Senatoren Richards, Goode, Carey und Williams nahmen vor ihrer üblichen Donnerstagnacht-Pokerrunde in Richmond einen Drink. Sie sollten nie dazu kommen, noch Poker zu spielen, und es sollte ihr letzter Drink sein, bevor der Tod sie hinter seinen umwölkten Vorhang aus sonnenloser Ewigkeit mitnahm. Sie alle fühlten sich sicher in dem Wissen, dass drei Geheimdienstagenten sie bewachten. Die Agenten waren zwar da, aber mausetot, dahingerafft von 22erAutomatikwaffen. Williams nahm ruckartig seinen Kopf hoch, vergessen war der neue Drink in seiner Hand. »Habt ihr das auch gehört?« Carey lachte. »Entspann dich, Jimmy. Du glaubst doch wohl nicht an die so genannten Zero Squads, oder?« Senator Jimmy Williams fuhr sich nervös mit den Fingern durch die dünner werdenden Haare. Er antwortete nicht. Draußen zog ein Spätsommergewitter auf; Wetterleuchten tanzte unstet hin und her, und Donner rollte über den Himmel, fast eine unheilvolle Warnung in seinem Rhythmus. Senator Goode lehnte sich vor. »Jimmy, es ist über drei Monate her, dass die Tri-Staaten besiegt wurden. Ben Raines ist tot. Augenzeugen haben es berichtet. Wenn irgendwas passieren sollte, glaubt ihr nicht, dass es mittlerweile passiert wäre?« »Nein,« antwortete Williams. »Das glaube ich nicht. Wir haben zugelassen, dass Frauen und Kinder getötet wurden – abgeschlachtet wurden wie Tiere. Genau wie wir es mit den Indianern gemacht haben. Sie werden uns kriegen. Wir sind tote Männer und wissen es noch nicht einmal.«
Senator Richards sah auf, in die Düsternis der verdunkelten Eingangshalle. »O nein!«, schrie er. »O mein Gott!« Die Senatoren blickten zuerst ihren Kollegen an und dann in die Gesichter voller Hass, Rache und Tod. In der Halle standen zwei Männer und eine Frau. Sie hielten Automatikwaffen mit Schalldämpfern in den Händen. Goode fiel auf die Knie und begann zu beten. Der selbst ernannte ›gute Christ‹ Goode war der Erste gewesen, der für den Krieg gegen die Tri-Staaten gestimmt hatte. Careys Gesicht glänzte vom Schweiß, und ein Tropfen Speichel sickerte ihm aus einem Mundwinkel. Er fing an, seine Hände zu reiben und sich die Lippen zu lecken. Richards ließ seinen Drink auf den Teppichboden fallen. Seine Augen waren weit geöffnet, und er urinierte in seine Shorts. Nur Williams blieb ruhig. »Ich wusste, Ihr würdet kommen«, sagte er. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen Sie in Ruhe lassen. Ich war dagegen, Sie zu bekämpfen.« »Das wissen wir.« Die Frau sprach. »Und aus diesem Grund werden Sie auch am Leben bleiben. Und die Tri-Staaten werden auch wieder leben. Behalten Sie das im Gedächtnis.« »Ja, das werde ich.« Williams bewegte den Kopf ruckweise auf und ab. Die Automatikwaffen begannen ihre Klagelieder zu summen. Richards, Goode und Carey zuckten auf dem Boden und starben. Das Ermordungsteam verschwand so schnell und leise wieder, wie es gekommen war. Es hatte noch viel zu erledigen. Williams saß lange Zeit einfach nur da und sah die abkühlenden Körper seiner Freunde an. Seine Augen bekamen einen wilden Ausdruck. Das Telefon läutete, aber er ignorierte es. Er begann wie ein Kind zu kichern. Das Gekicher wurde zu Gelächter, und er heulte vor Wahnsinn, als in seinem Kopf
Blutgefäße platzten. Er fiel auf dem Fußboden, auf die Knie, weinte und betete. Ein schlimmer Schmerz entwuchs seiner Brust – eine riesige, schwere, vernichtende Last. Er schrie, und sein Herz hörte auf zu schlagen. General Russell orderte einen Kaffeenachschub. Er arbeitete noch zu später Stunde in seinem Büro. Ein Sergeant brachte ihm eine neue Kanne, goss Russel eine Tasse ein. Er öffnete ein Paket Zucker, gab welchen in die Tasse und rührte ihn um. »Ist das alles, Sir?« »Ja«, antwortete Russell. »Sie können gehen.« Er probierte den Kaffee, fügte noch etwas Zucker hinzu und nahm einen weiteren Schluck. Am nächsten Morgen fand man ihn tot auf, sein Organismus voller Gift.
Dallas Valentine und die First Lady, Fran Logan, lagen auf dem Bett, stöhnten und wälzten sich hin und her, beide auf dem Weg zum letzten Gipfel des Höhepunktes. Keiner von beiden hörte, wie die Tür aufschwang. Sie genossen ihren gemeinsamen Höhepunkt, als der Rebell sie aus einer mit einem Schalldämpfer versehenen Maschinenpistole mit 45er-Kugeln übersäte und sich dabei die seidenen Betttücher blutrot verfärbten.
Reverend Palmer Falcreek ging ans Telefon. Eine Stimme sagte: »Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.« »Was zum Teufel haben Sie gesagt?«, fragte Falcreek. »Ich sagte« – die Stimme schallte in Falcreeks Ohr – »öffne die Schublade rechts in der Mitte Deines Schreibtisches, du scheinheiliger Motherfucker!«
»Was erlauben Sie sich, so mit mir zu reden!« Falcreek schäumte. Er öffnete die Schreibtischschublade mit einem Ruck, und das halbe Haus explodierte, als die schwere Sprengladung detonierte.
Senator Higley arbeitete noch zu später Stunde in seinem Büro. Das Gewitter machte ihm keine Sorgen, ebenso wenig wie der Mythos von den Zero Squads. Er verließ sein Büro um halb zehn. Als er die Treppe des Senatsbürogebäudes zur Hälfte hinuntergegangen war, setzte er sich plötzlich hin, zuckte einmal und rollte dann langsam die Stufen hinunter. Aus dem Loch zwischen seinen Augen traten etwas Blut und eine graue Substanz aus. Senator Pough trat auf seine Veranda hinaus, um ein bisschen kühle Nachtluft zu schnappen. Er hörte einen dumpfen Schlag und blickte herab. Zwischen seinen Füßen, auf der Veranda, lag eine zischende weiße Phosphorgranate. Pough blieben nur ein paar Sekunden, um Panik zu empfinden, den Versuch zu machen, wegzulaufen und genau einmal zu schreien, bevor die Granate explodierte und ihn mitsamt dem Haus verbrannte.
Die Abgeordnete Carol Helger ging zur Tür ihrer Wohnung, nachdem es geklingelt hatte, und bekam ein zwölf Zentimeter langes Bajonett in die Brust. Die junge Frau, die die schwere Klinge in sie gestoßen hatte, spuckte auf den Körper, der sich noch immer wand, ließ die Klinge darin stecken und verließ leise das Gebäude.
Die Zero Squads waren fleißig in dieser stürmischen, rachsüchtigen Nacht. Sehr fleißig. Die Zählung ergab schließlich einunddreißig tote Senatoren und vierundsiebzig Abgeordnete. Zwölf Vorstandsmitglieder des Kabinetts waren tot, und die gesamten Joint Chiefs waren von den Zero Squads ausgelöscht worden. Ein paar Mitglieder der Zero Squads schafften es, aus Richmond herauszukommen, um sich wieder mit den im Osten stationierten Rebellen zu vereinen. Die meisten starben in Schießereien mit der Polizei. Nur ein Mitglied der Zero Squads hatte in dieser Nacht des Schreckens nicht gearbeitet. Er schlief tief und fest in einem Motelzimmer dreihundert Meilen von Richmond entfernt. Es war nur eine einzige Person, die er töten musste. Badger Harbin wollte den Präsidenten der Vereinigten Staaten töten.
Richmond geriet in Panik. Niemand konnte eine Schätzung über die Anzahl der Attentäter abgeben, die die Straßen durchstreiften und wahllos töteten. Unschuldige Männer und Frauen wurden während Razzien von Bundesagenten und Polizei getötet, da sie für Rebellensympathisanten gehalten wurden. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen. Die Polizei wurde föderalisiert. Es war der Beginn von Amerikas erstem wirklichem Polizeistaat.
Präsident Logan lächelte und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Er war sehr befriedigt darüber, wie die Dinge liefen. Sieben Wochen waren seit den schrecklichen Ermordungen vergangen, und das Land beruhigte sich langsam wieder. Er war seine untreue Frau los und hatte sich seinen Lebenstraum
erfüllt: Er hatte das Land eisern im Griff. In der vergangenen Nacht hatte er geträumt, er sei der gekrönte König von Amerika. Ja, Logan lächelte, die Dinge liefen genau in den richtigen Bahnen. Und das Beste von allem war, dass dieser verdammte Ben Raines tot war. Dieser verfluchte Unruhestifter war endlich tot und erledigt. Oder etwa nicht? Der Präsident runzelte die Stirn bei dem Gedanken. Seine Agenten schworen, dass Raines tot sei; sie schworen, dass sie ihn und eine blonde junge Frau, die bei ihm war, erschossen hätten. Sie sagten, sie hätten das in Washington getan, in der Nähe der Grenze zu British Columbia. »Verdammt!«, fluchte Logan. Warum hatten sie keine größeren Anstrengungen unternommen, um die Leiche zu holen und zurückzubringen? Man hätte den stinkenden, von Kugeln durchbohrten Leichnam öffentlich ausstellen können, um dem Volk zu zeigen, dass, wenn man der Regierung nicht gehorcht, so etwas passiert. Der Präsident stand auf und streckte sich. Er verließ sein Büro und ging durch die Halle. »Holen Sie meine Leibwächter«, befahl er einem Berater. »Ich will ein bisschen spazieren gehen.« Logan versuchte, jeden Morgen um zehn einen Spaziergang zu machen, ob bei Sonne oder Regen. In den letzten Tagen hatte er das wegen Konferenzen versäumt und war deshalb gereizt. Nun würde er seinen Spaziergang machen. Seinen letzten Spaziergang. Außerhalb des Weißen Hauses, wie es immer noch genannt wurde, auf der anderen Straßenseite, saß in einem Park ein junger Mann, der die Vögel und die Eichhörnchen fütterte und die kühle Brise des Herbstes genoss – ein gut aussehender junger Mann in den späten Zwanzigern oder frühen
Dreißigern. Er sah sehr nach einem äußerst erfolgreichen leitenden Angestellten aus, war sehr modisch gekleidet. Er hatte bereits die Aufmerksamkeit von einem Dutzend vorbeischlendernder Damen erregt. Der junge Mann hatte sie angelächelt und die Frauen dann ignoriert. Scheinbar mit der Zeit beschäftigt, schaute er immer wieder auf seine Armbanduhr.
Ben Raines starrte auf die Spiegelung seines Gesichtes und seines Oberkörpers in dem stillen Wasser des kleinen Baches im nördlichen Idaho. Er sagte: »Herrgott, Mann, du siehst aus, als ob du seziert und dann zurückgeschickt worden wärst.« Ben stand nun in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahr und war völlig ergraut. Sein Gesicht war zerfurcht und sonnengebräunt, der Körper immer noch zäh, die Augen alt. »Nein…« Eine Stimme erklang hinter ihm. »Niemals zurückgeschickt. Zumindest nicht von mir.« Ben drehte sich lächelnd um, um die Frau anzusehen, die ihm in den sehr schlimmen vergangenen Monaten zur Seite gestanden hatte. Sie erwiderte das Lächeln. »Bei der letzten Zählung hattest du neun Narben von Kugeln in deiner Haut.« Sie berührte eine der neueren Narben, die rosa und gekräuselt war. Ihre Berührung wurde intimer, als sie ihre Hand von seiner Schulter zu seiner Brust bewegte und ihre Lippen seinen Mund berührten. »Ich habe in einer Stunde ein Treffen«, erinnerte er sie. Sie grinste. »General, es gab vielleicht mal eine Zeit, in der du eine Stunde durchgehalten hast. Aber nicht, seit ich dich kenne.« Sie lachten gemeinsam. In dem kleinen Park gegenüber des Weißen Hauses legte Badger Harbin seine Hand auf seine Aktentasche. Vor einigen
Wochen hatte er die Neuigkeit gehört, dass General Ben Raines tot sei. Badger wollte das einfach nicht glauben. Und ein Teil von ihm tat es auch nicht. General Ben Raines war ein Mann, der schwer zu töten war. Der Aktenkoffer unter seiner Hand war bereit. Er hatte sorgfältig zehn Pfund C-4-Plastiksprengstoff vorbereitet und in diesen Koffer gepackt. Der Sprengstoff wurde elektrisch gezündet und detonierte, wenn man einen winzigen Schalter, der sich unter dem Griff der Aktentasche befand, umlegte. Badger lächelte. Das Lächeln glich dem des Sensenmannes.
Vizepräsident Addison stand im nun leeren Büro des Präsidenten und focht mit sich selbst im Stillen einen Kampf aus. Der Präsident war seit über dreißig Jahren sein Freund gewesen. Aber Hilton hatte in den letzten Jahren so viele Änderungen in seiner sozialen und politischen Lebensanschauung durchlebt… Aston hatte das Gefühl, den Mann nicht mehr zu kennen, und er schämte sich vor sich selbst, dass er bei einigen von Hiltons Freveltaten an der Menschheit stumm geblieben war. Aston hatte eine Woche nach dem Blutbad an den Indianern an Übelkeit gelitten, und sogar noch länger, nachdem die TriStaaten zerstört worden waren. In beiden Fällen hatte es mehr als ein Gemetzel gegeben: die Nachrichten über Vergewaltigungen und Folter waren bestätigt worden. Hilton hatte diese Neuigkeit weggewischt. »Verräter«, hatte er gesagt und nie mehr davon gesprochen. Der Leibarzt des Präsidenten war zu Aston gekommen und hatte ihm von seinem Verdacht erzählt, dass der Präsident langsam verrückt werde. Aston wollte es nicht glauben. Aber…
»Ja«, murmelte er in die Stille des Büros. »Sein Verstand ist krank.« Und Aston kam zu einem Entschluss: Er würde sich mit den Mitgliedern des Kongresses treffen, die längst das Gefühl hatten, dass das Land sich in die falsche Richtung bewegte. Bestimmte Militärangehörige würden ebenfalls anwesend sein. Sie würden ihre Ideen und Gedanken zusammenwerfen und versuchen, eine Lösung für das Problem zu finden. Ein Staatsstreich ohne Blutvergießen vielleicht? Aber das würde schwierig werden, denn einige Einheiten des Militärs, eine Menge Nationalgarde- und Reserveeinheiten und annähernd die gesamte kürzlich föderalisierte Polizei unterstützte Logan und seine Diktatur. Aston überlegte: Logan ist nicht besser, als es Ben Raines war. In Wirklichkeit – er schnitt bei dem Gedanken eine Grimasse – ist Logan weitaus schlimmer. Ja, Hilton war krank. Aston wanderte über den Teppich und dachte: Mein Gott, wie konnte eine große Nation jemals so weit kommen? Was haben wir in all den Jahren so falsch gemacht? »Wir haben uns mehr und mehr von der Verfassung entfernt, du Idiot!«, sagte er laut. Er ging zum Schreibtisch des Präsidenten, setzte sich hin und fluchte. Er hob den Feldstecher auf, den Hilton benutzte, um die Gesichter der Menschen, die am Weißen Haus vorübergingen, zu studieren. Er justierte die Linsen, bis er Hilton im Sichtfeld hatte, der über den Rasen schritt und auf den Zaun neben dem Bürgersteig zuging. Als Aston das Fernglas höher hob, fiel ihm auf der anderen Straßenseite, im Park, eine Bewegung auf. Er beobachtete einen jungen Mann, wie er langsam über den gekennzeichneten Fußgängerüberweg ging, der auf den
Bürgersteig vor dem Zaun führte. Der junge Mann trug eine Aktentasche. Aston hatte plötzlich das Gefühl, er bekäme einen Herzinfarkt. Seine Brust schmerzte, er hatte Probleme mit der Atmung, und sein Kopf fühlte sich leicht an. »Mein Gott!«, schrie er durch den leeren Raum. »Das ist der Leibwächter. Der Leibwächter von General Raines.« Er griff nach dem Telefon und schlug auf den Knopf, um eine Verbindung zu erhalten. Er ignorierte das Lämpchen, das anzeigte, dass auf der Leitung gerade gesprochen wurde. Er schlug auf einen anderen. Besetzt. Fluchend rannte er aus dem Raum. Draußen hatte der Leibwächter das Tor geöffnet, damit der Präsident hindurchgehen und den Gehweg erreichen konnte. Er war nicht allein, sein Kontingent von Geheimdienstagenten war bei ihm, die einige Schritte vor und hinter ihm gingen. Einer stand auf der Straßenseite neben ihm. Der Präsident bemerkte einen gut gekleideten jungen Mann, der auf ihn zuging. Der junge Mann lächelte, ein warmes, offenes, freundliches Lächeln, und Hilton erwiderte das Lächeln. Hilton wünschte sich, alle würden ihn mögen. Ihm lagen nur die Interessen des Landes am Herzen. Plötzlich fühlte sich Hilton sehr gut. Es war ein wunderschöner Herbsttag. »Paul, rufen Sie den jungen Mann hierher.« Präsident Logan erteilte seinen letzten Befehl. Als der Geheimdienstagent ihn herbeirief, drückte Badger den Knopf des tödlichen Aktenkoffers. Er würde in dreißig Sekunden explodieren.
»Sir!«, rief ein Mann des Geheimdienstes Vizepräsident Addison zu. »Was ist los, Sir?«
»Halten Sie sie auf!«, sagte Aston, der nach Luft rang. »Wen aufhalten, Sir?« Aston rannte an dem Mann vorbei, die Treppe hinunter. In der Eile stolperte er und rollte die Stufen herab, wobei er sich den Kopf aufschlug und eine klaffende Kopfwunde zuzog. Dunkelheit breitete sich um ihn aus. Der Geheimdienstmann rannte hin, um ihm zu helfen.
»Hallo, junger Mann«, sagte Präsident Logan zu Badger. »Ein schöner Tag, nicht wahr?« Badger grinste, während er seine stille Zählung bis zwanzig beendete. Er trat zu dem Präsidenten, die Seite mit der Aktentasche Logan zugewandt. »General Raines sendet seine besten Empfehlungen«, sagte Badger. Und kurz bevor die riesige Explosionskraft die einzelnen Körperteile aller über den Rasen verstreute und sie Vergangenheit werden ließ, fügte Badger hinzu: »Du gottverdammter Hurenso…«
EPILOG
Überlegen Sie, wie sie ein Volk regieren müssen, das glaubt, es sollte frei sein, und annimmt, es sei es nicht. Jeder Plan kann keinen Erfolg haben; er wird nur Unzufriedenheit und Ungehorsam wecken; und ebenso ist es mit dem amerikanischen Staat: Nachdem Sie bis zum Hals in Blut gewatet sind, konnten Sie nur genau dort enden, wo Sie angefangen haben. Burke – erste Rede zur Versöhnung mit Amerika
Ben blickte sich um, aber er sah in Wirklichkeit nicht die mehreren hundert Männer und Frauen, die sein persönliches Kontingent der im Westen stationierten Rebellen bildeten. Nein, seine Gedanken waren weit fort. Er sah Salina im Dämmerlicht außerhalb des Motels – er konnte sich nicht einmal genau erinnern, wo das gewesen war. So lange her – er seufzte – aber trotzdem erst gestern. Und jetzt bin ich schon über das mittlere Alter hinaus, und sie ist tot, rottet im Boden eines Waldes vor sich hin. Und mein Sohn – tot, wie all die anderen, die für das kämpften, woran sie glaubten. Auf beiden Seiten, erinnerte er sich selbst – vorsichtig, widerstrebend. General Krigel war mit seinen im Osten stationierten Rebellen bereit loszumarschieren, ebenso wie Conger im mittleren Norden, Colonel Ramos im Südwesten und General Hazen im mittleren Westen.
Nun hatten sich in den Sümpfen, den Bergen, den Wüsten und Wäldern viele Marines und Fallschirmjäger und SEALs und Rangers und Green Berets und Air Force-Personal sowie Berufsinfanteristen versammelt, die sich geweigert hatten, weiterhin gegen die Tri-Staaten zu kämpfen, und desertiert waren. Sie warteten nun auf Bens Befehle. Der Traum der Rebellen war nicht gestorben; er war so stark wie zuvor. Ob er zu einem wunderschönen Kind erblühte oder sich als schlimmes Krebsgeschwür erwies, würden erst die Zeit und die Geschichte entscheiden können. Und nun war es Zeit: Ben würde die Befehle erteilen, und ein Guerillakrieg würde das Land einmal mehr erschüttern, und vielleicht auch die im Neuaufbau begriffene Welt. Schon wieder. Gott! Er hatte das Kämpfen so satt. Ben schüttelte seine Gedanken von vergangenen und toten Zeiten und Menschen ab und sagte: »Badger hat seinen Auftrag ausgeführt. Logan ist tot. Vizepräsident Addison liegt in einem Krankenhaus im Koma. Viele Militäreinheiten revoltieren gegen die Regierung; einige andere wollen die Regierung übernehmen und Logans Diktatur weiterführen. Es ist für uns an der Zeit, zu handeln und unseren Traum von einem freien Staat wieder aufzubauen.« Ben blickte die Männer und Frauen um sich herum an: Ike, der auf einem Baumstamm saß, seinen rechten Stiefel ausgezogen hatte und seinen großen Zeh betrachtete, der sich durch ein Loch in seiner Socke gebohrt hatte; seine Adoptivtochter Tina, die eine CAR-15 in den Armen wiegte; Jerre, die an seiner Seite stand. Die Indianer, die auf seine Rückkehr gewartet hatten; Judith, die zu einer Kriegerin mutierten Reporterin; James, der immer die Ruhe bewahrte; Cecil, der Doktor der Philosophie, der eine AK-47 in den
Händen hielt; Dr. Chase, der mindestens siebzig und immer noch so zäh wie eine Bergziege war – und genauso störrisch. Ben musste lächeln. Die Menschen, die ihn umringten, hatten unterschiedliche Überzeugungen und gehörten diversen Rassen an: schwarz, weiß, rot, gelb, braun. Zumindest hier, dachte er, ist die Rassentrennung durchbrochen. Aber, Gott, zu welchem Preis? »Dad?« Tina riss ihn kurz in die Gegenwart zurück, aber Ben verlor sich gleich wieder, als er die Augen dem Tal zuwandte, das sich vor ihnen ausstreckte. Weit in der Ferne waren Berggipfel zu sehen. Ein sanfter Dunstschleier lag über der Gegend. Sie war so reizend und so einsam in ihrem Frieden, so still und wunderschön. Wieder einmal schlüpfte Salina in seine Gedanken, und sein Herz schmerzte. Er schämte sich nicht wegen seiner Gefühle. Jerre wusste, dass er Salina liebte und immer lieben würde. Er stand von dem Felsen auf, auf dem er gesessen hatte. Ben war müde, aber er wusste, er durfte das nicht zeigen. Er konnte niemals kündigen. Er blickte seine Rebellen an, die Menschen, die bereit waren, für das zu sterben, von dem sie das Gefühl hatten, dass es richtig war. Er schnallte den Gurt fest, rückte die Patronentasche zurecht und nahm seine alte Thompson. »In Ordnung, Leute«, sagte er. »Fangen wir an.«