ObsidianZyklus Nr. 4 von 12
Tamiljon von Susan Schwarte
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ie kam immer näher. Bedrohlich nah. Ihre Untertanen waren kaum länger als der Mittelfinger einer menschlichen Hand -doch im Vergleich zu ihnen war sie im wahrsten Sinne gigantisch. Wie ein Berg überragte die Königin die wimmelnde Masse der Termiten, die sich wie auf einen unsichtbaren Befehl hin eilig zurückzogen. Die langen Stirnfühler des Rieseninsekts bewegten sich unaufhörlich, empfänglich für jede noch so kleine Schwingung. Ich verharrte völlig reglos und atmete so flach wie nur möglich. In dieser Höhle gab es mindestens drei Kokons. Jörge Javales, mein terranischer Begleiter, und ich waren vor nicht einmal einer Stunde jeder in einen Kokon gesponnen und hierher verschleppt worden. Von meiner Position aus konnte ich einen weiteren, völlig geschlossenen Kokon sehen. Jeder Fluchtversuch war bisher fehlgeschlagen. Ich hatte mehrmals versucht, die Fäden des Kokons zu zerreißen, aber sie umschlossen mich so eng, dass ich nicht genug Kraft aufbrachte. Ich war hilflos ausgeliefert...
Susan Schwarte
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Atlan 3. April 1225 NGZ Vielleicht ist die Königin nur auf lebende Beute aus, äußerte mein Ex trasinn eine Vermutung. Die Königin ist fast einen Meter lang. Bei dieser Größe wird sie von dem, was ihre Ar beiterinnen heranschaffen, nicht satt werden. Und das Fleisch liefert Pro teine für die Produktion ihrer Eier. Die legt sie anschließend womöglich in den älteren Kokons mit bereits verwesendem Fleisch ab. Ich stimmte im Stillen zu. Wenn ich mich tot stelle, verliert sie vielleicht das Interesse an mir, und ich gewinne etwas Zeit. Ich hoffe nur, dass Jörge zu demselben Schluss kommt... Meine Sorge galt in erster Linie Jörge Javales. Er war kein 'ausgebil deter Forscher, sondern Archivar mit Spezialgebiet Geschichte - ein bril lanter Theoretiker, der am besten in einer Bibliothek aufgehoben war. Ich hatte ihm versprochen, ihn le bend nach Hause zu bringen. Sollte die Termitenkönigin sich ihm zu wenden, muss ich etwas unterneh men, schoss mir durch den Kopf. Das sollte allerdings mehr Erfolg haben als bisher, bemerkte mein »besseres Ich«. Ich weiß. Kein Grund, sarkastisch zu werden. Vielleicht kann ich sie durch Rufen auf mich aufmerksam machen. Ich hoffe darauf, dass sie zu erst einen Teil meiner Fesseln lösen muss, um an meinen Körper heran zukommen. Dann kann ich mich vielleicht noch befreien, bevor sie zu beißt ... Ich sehe keinen Ausweg. Du soll
test besser verdammt schnell sein, al ter Mann. Mein Extrasinn gab mir wenig Zuversicht. Die mächtigen Mundwerkzeuge der Königin klapperten und klickten. Aus ihrer Mundöffnung tropfte grünlicher Schleim, der zischend auf dem Boden verdampfte. Womöglich ein Verdauungssekret, mit dem sie ihr Opfer auflöste, um es anschlie ßend aufzusaugen. Es fiel mir schwer, stillzuhalten und abzuwarten, während ich die Bilder meiner lebhaften Fantasie im Geiste sah. Meine Fluchtinstinkte jagten den Adrenalinpegel so in die Höhe, dass der Zellaktivatorchip re gulierend eingreifen musste. Den noch blieb die Pulsfrequenz weiter hin erhöht, und meine Augen sonder ten unkontrolliert Sekret ab. Ich konnte nur hoffen, dass die Re zeptoren an den Antennenfühlern der Termitenkönigin nicht so fein waren, dass sie mein heftig schlagendes Herz spürten. Wobei ich das für unwahrscheinlich hielt, denn in mei nen Ohren dröhnten die vorbeirasen den Blutströme. Viel zu viel Leben in mir. Noch ... Der schwere» geschwollene Insek tenleib hatte das verschwommene Dunkel nun vollends verlassen und präsentierte sich in voller Größe. Milchig weiß war der Termitenkör per, fast durchsichtig, so dass die Pumpbewegungen der seitlich gele genen Tracheenöffnungen gut sicht bar waren. Die riesigen schwarzen Insektenaugen und die ebenfalls schwarzen Mundwerkzeuge wirkten sehr bedrohlich. Durch den schmalen Spalt im Ko kon konnte ich den Kopf der Königin
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genau betrachten. Voller Sorge beobachtete ich die schwärzliche, dampfende Spur, die der herabtropfende Speichel auf dem Boden hinterließ, ich malte mir unentwegt aus, wie es sich anfühlen mochte, wenn die Säure mich traf, sich im Sekundenbruchteil durch die Kleidung fraß und... Genug! Die Riesentermite hatte mich fast erreicht. Weiterhin galt mir ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie spürte wohl, dass in meinem Kokon jede Menge Leben steckte.
Mit langsamen Bewegungen, ähn lieh einem Raubtier, das sich seiner in die Enge getriebenen Beute schon sehr sicher ist, streckte sie ihren Kör per. Sie reckte den Kopf, öffnete weit die Muridwerkzeuge. Die Termitenkonigin verharrte, Ich wollte, konnte es nicht glau ben. So sollte mein Leben enden? Hilflos einem Gegner ausgeliefert zu sein, in einem Kokon gefangen, der keine Gegenwehr zuließ? So ist das Leben, bemerkte mein Extrasinn, der anscheinend begann, sich mit der Lage abzufinden.
Was bisher geschah:
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Stern haufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahr-zehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivi lisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner der Milchstraße nur träumen können ... Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Ge bilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief - Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Dort müssen sie sofort um ihr Leben kämpfen. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Uni versums heraus - eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, um geben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kris tallmond umkreist. Atlan und den Archivar Jörge Javales verschlägt es auf Vinara IV. Dort treffen sie auf Savannen reiter, mit deren Hilfe sie versuchen, zur Zivilisation zurückzufinden. Sie werden in Zwistigkeiten der Afalharo verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termi tenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Über lebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Der 2. Pilot derTOSQMA führt eine Ex pedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent. Hierbei sammeln sie wertvolle Informa tionen über den Planeten Vinara ...
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In meinen mehr als zwölftausend Jahren hatte ich schon ungezählte Male dem Tod ins Auge geblickt. Der Zellaktivator verlieh mir nur relative Unsterblichkeit, ich konnte jederzeit eines gewaltsamen Todes sterben. Bisher hatte ich dem Tod eine Absage erteilt, gleichwohl im vollen Be wusstsein, dass ich nicht immer das Glück haben würde. Und min sollte ich auf diese schmachvolle Weise umkommen? Kannst du dich denn gar nicht be wegen?, fragte der Extrasinn. Er war wohl doch nicht gewillt, dem Tode ins Auge zu blicken. Nein, antwortete ich. Ich schaffe es nicht, diese Fäden zu lockern, um wenigstens die Finger frei zu bekom men. Ein stechender, fauliger Gestank drang so heftig und unvorbereitet in meine Nase, dass ich nur mühsam ei nen reflexartigen Brechreiz unter drücken konnte. Zudem juckte meine Nase, und ich spürte, dass ich jeden Moment niesen musste. Alles, nur das.nicht! Ich schnitt Grimassen, meine Augen tränten noch heftiger -dann war es zum Glück vorüber, zumindest für den Moment. Vielleicht kannst du die Termite erschrecken?, überlegte der Extra sinn. Indem du sie anschreist, dazu die Augen weit aufreißt. Das überrascht die meisten Raubtiere. Ich glaube, die Königin besitzt keine ausreichende Intelligenz, um gänzlich unbeein druckt zu bleiben. Normalerweise müssten ihre Instinkte sie zum Rück zug zwingen. Das könnte funktionieren, stimmte ich zu, hatte jedoch Bedenken hin sichtlich der Konsequenz: Und
dann? Ich kann mich trotzdem nicht bewegen. Die Termite besitzt die In stinkte eines Raubtiers. Sie wird schnell merken, dass ich nur geblufft habe, und erneut angreifen. Die Königin stand nun direkt vor mir. Ein Speicheltropfen löste sich von ihrer Mundöff nung und.traf mei nen Kokon. Es qualmte und stank, als die Flüssigkeit ein Loch in das Gespinst brannte. Ich spürte kalteni Schweiß auf meiner Stirn und berei tete mich auf den Schmerz vor. Doch das Loch war nur oberflächlich. Die unteren Schichten des Gespinstes blieben unberührt und unnachgie big. Diesmal, so schien es, ließ mich das Glück im Stich. Jetzt ist es gleich so weit, dachte ich und kämpfte heftig gegen meine Gefühle an - ohnmächtige Wut und Verzweiflung durchfluteten mich. Nur ein Wunder kann mich jetzt noch retten, ich selbst schaffe es nicht mehr. Die Sekunden dehnten sich qual voll. Ich hatte nur noch einen Wunsch: zu leben! Der aufgerichtete Kopf der Ter mitenkönigin war nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, und der ausgefahrene Mundstachel zielte auf mein rechtes Auge ...
. Auf einmal griff etwas nach mir. Nein, in mich. "Ich spürte, wie mich plötzlich die Kräfte verließen, und ich wäre zu sammengesackt, wenn die starren Fäden des Kokons mich nicht gehal
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ten hätten. Mir wurde schwindlig und schwarz vor Augen, fast verlor ich das Bewusstsein, als der Zellak-tivator erneut seine Leistung erhöhte. Innerhalb weniger Sekunden hatte er meinen Normalzustand wiederhergestellt. Mein Blick klärte sich. Der Mund stachel nahm die Hälfte meines Blickfeldes ein und kam schnell nä her. Reflexartig versuchte ich, mein Gesicht zur Seite zu drehen. Mit einem Ruck sauste der Stachel zurück, und die Termitenkönigin fuhr herum. Sie wurde herumgeris sen, wie von unsichtbarer Hand ge packt und in die Höhe gehoben. Ihr Körper zerschmetterte mit unglaub licher Wucht an der Kavernenwand. Es knackte und knirschte hässlich. Die Termitenkönigin rutschte die Wand hinunter und blieb zerschmet tert am Boden liegen. Ich hatte keine Zeit mich zu fra gen, was da vor sich ging. Der mir ge genüberliegende Kokon begann zu zittern und zu wackeln. Ein leises Zi schen erklang, als das Geflecht zer riss und von innen aufgebrochen wurde. Heraus kam ein fremdes Wesen. Es besaß eine auffallend menschliche Gestalt, die in einem schwarzen Overall steckte. Allerdings war der Kopf absolut haarlos, und die pech schwarze Haut wirkte unnatürlich glatt, wie polierter Stein. Wie Obsidian ohne Einschlüsse, schoss es mir durch den Kopf. Aber das Wesen war keineswegs aus Stein, auch nicht aus Obsidian, sondern aus Fleisch und Blut. Der Blick seiner ra benschwarzen Augen schweifte flink durch die Höhle, so als hielte der
Fremde nach weiteren Gegnern Aus schau. Noch bevor ich reagieren konnte, kam das humanoide Wesen auf mich zu und griff nach den Strän gen meines Kokons. Ohne sichtbare Anstrengung riss der Fremde die Fäden mit bloßen Händen ausein ander. Wie kann das sein?, überlegte ich. Ich bin keineswegs schwach, trotz dem war es mir nicht möglich, einen Faden auch nur zu lockern. Darüber kannst du dir später Ge danken machen, ermahnte mich der Extrasinn. Sieh zu, dass ihr Jörge be freit und verschwindet, bevor die Termiten zurückkehren! Ich atmete befreit auf, als ich der bedrückenden Enge des Kokons end lich entkam. Doch ich nahm mir nicht die Zeit, meine schmerzenden, kribbelnden .Gliedmaßen zu stre cken, sondern lief sofort zu dem letz ten, noch geschlossenen Kokon - und prallte zurück, als ich in Jorges starre graue Augen blickte, über de nen ein milchiger Schleier lag. Nein! Das konnte, das durfte nicht sein. Ich hatte ein Versprechen gegeben. »Hilf mir!«, forderte ich den Frem den auf, während ich-an dem wider standsfähigen Geflecht zerrte. Der Fremde kam wortlos meiner Aufforderung nach. Gemeinsam zo gen wir die Fäden weg und befreiten den Kopf des Archivars, der haltlos nach vorne fiel. Ich legte die Hände an sein Ge sicht. »Sein Körper ist noch nicht kalt. Er kann noch nicht sehr lange tot sein...«, sagte ich erschüttert. Das Bewusstsein einer Schuld, einer wei
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teren, lebenslangen Schuld, drückte wie eine schwere Last auf mir. Zum ersten Mal sprach mein unbe kannter Retter: »Er ist erstickt. Sie haben ihn fehlerhaft eingesponnen.« Wie die Savannenreiter sprach auch er ein altertümliches, schwer fälliges Interkosmo, vermischt mit Dialekten. Ich hatte bis auf wenige unverständliche Wörter keine Ver ständnisprobleme. Allerdings weckte die Behauptung des Fremden sofort Misstrauen in mir. Warum sollten die Termiten ei nen fehlerhaften Kokon spinnen? Jörge Javales hatte sich in seiner hu-manoiden Form weder von mir noch von dem Schwarzhäutigen unterschieden - warum wurde er getötet, während wir beide lebten? Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich hob Jorges Kopf an und be trachtete sein Gesicht. Die Lippen waren bläulich verfärbt - eine äußere Gewaltanwendung konnte ich nicht feststellen, ebenso wenig die genaue Todesursache, 'da ich über keine technischen Hilfsmittel verfügte. »Es tut mir Leid um deinen Beglei ter«, fügte der Fremde hinzu. Ich nickte. »Mir auch.« Nun war ich ganz allein. Zwei Begleiter hatte ich bereits an Bord der »Vergessenen Positronik« verloren und jetzt Jörge. Unsere Expedition stand unter kei nem guten Stern. Aufgrund meiner Erfahrung war ich für die Sicherheit des Archivars verantwortlich gewe sen - und hätte versagt! Mach dir keine Vorwürfe. Du hast getan, was du konntest, befand mein Extrasinn und fügte hinzu: Warum hat der Fremde mit seiner Rettung so lange gewartet, obwohl es ihm au
genscheinlich leicht fiel, freizukom men? Ich zuckte zusammen, als der Schwarzhäutige seine Hand auf mei nen Arm legte. »Wir sollten gehen.« Von allen Seiten drangen Geräu sche an mein Ohr. Das Trappeln und Knacken in den Gängen unserer Höhle kündigte die Termiten an. Sie waren auf dem Weg hierher, um den Tod ihrer Königin zu rächen. Ich war sicher, dass mich ein schrecklicher Tod erwartete, wenn ich zu lange zö gerte. Gegen eine Riesentermite konnte ich kämpfen - nicht jedoch gegen die Übermacht der restlichen Termiten. »Ich kann meinen Begleiter nicht einfach hier lassen«, stieß ich hervor und versuchte, weitere Fäden zu zer reißen, um Jörge zu befreien. Der Fremde hielt mich auf. »Wir haben keine Zeit mehr«, drängte er. »Sie sind.unglaublich schnell! Wenn sie erst einmal hier sind, haben wir keine Chance mehr. Dann sterben wir!« Er packte meinen Arm, hielt ihn fest im Griff und zerrte mich mit sich. Ich sah ein, dass er Recht hatte. Das hat Jörge nicht verdient, dachte ich bitter. Aber du auch nicht, meinte der Ex trasinn. Und du bist noch am Leben.
Wir wählten einen Gang, aus dem kein Geräusch zu hören war. Hinter uns wurde es zwischenzeitlich immer lauter. Ein an- und abschwellendes Summen, das vielfach durch die Gänge hallte, dröhnte in meinen Oh ren. Stöhnend versuchte ich, mein
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Gehör mit den Händen zu schützen, während ich hinter dem Fremden hertaumelte. Der Schwarzhäutige folgte dem Licht. Wir bogen erst nach links, dann nach rechts, in die Seitengänge ab und mieden die dunkleren Gänge, die tiefer in den Bau hineinführten. Wir begegneten einigen wenigen der fingerlangen Tiere, über die wir einfach hinwegrannten. Kurz darauf wurden es mehr. Sie krabbelten an den Wänden und Decken entlang und ließen sich auf uns herabfallen. Andere richteten sich auf, streckten die Fühler und rieben sie aneinander. Sie kommunizierten miteinander und meldeten ihren Artgenossen un seren Standort. Zwei Termiten sprangen in meinen Nacken. Bevor ich mich von ihnen befreien konnte, bissen sie mit ihren kräftigen Mundwerkzeugen zu. Flink, wie sie waren, krochen sie die Stiefelschäfte hoch, fanden den Weg durch die winzigen Löcher in den Stoffbahnen. Auch mein unbekannter Begleiter reagierte empfindsam auf die An griffe. Wir schlugen auf alles, was sich an unseren Körper heftete, und setzten unsere Flucht fort. Die weni gen Insekten konnten uns nicht zu Fall bringen. Ihre Bisse brannten al lerdings unangenehm. »Dort wird es heller!«, rief ich und deutete nach vorn. »Ich spüre einen Lufthauch!«, gab der Fremde zurück, »Ich bin sicher, dort ist ein Ausgang! Schnell!« Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Ich konnte hören, dass von hinten Verstärkung anrückte, und das in gewaltiger Menge.
Das Gift der Termiten tat allmäh lich seine Wirkung. Meine Bewegun gen wurden unsicherer. Trotz des Zellaktivators heilten die Wunden nicht sofort, das Blut gerann kaum. Selbst die wenigen Termiten konnten einem Humanoiden gefährlich wer den ... Endlich fand ich den Ausgang. Die letzten Meter überwand ich mit we nigen Sätzen, dann war ich draußen. Allerdings war die Flucht damit nicht zu Ende. Ich hatte bereits er lebt, in welcher Geschwindigkeit die Termiten schnelle Tiere in der Sa vanne einholten und überwältigten. Wir mussten noch mehr Abstand zwischen uns und den Bau bringen. Der Schwarzhäutige und ich rannten so lange, bis die Lungen nicht mehr mitmachten und die Beinmuskeln sich verkrampften. Der Fremde stol perte und stürzte schließlich, über schlug sich ein paarmal und blieb einfach liegen. Auch ich legte eine Pause ein und atmete erst einmal tief durch. Dabei sah ich mir die Gegend genauer an. Am Himmel neigte sich Verdran in orangefarbener Pracht dem Hori zont zu. Abgesehen von unserem Keuchen war kein Geräusch zu hö ren. »Nichts zu sehen«, stellte ich fest. »Möglicherweise verfolgen sie .uns durch ihre angelegten Gänge.« »Nein.« Der Fremde setzte sich auf ^ Sein flatternder Atem kam all mählich zur Ruhe. »Es ist spät. Die Termiten verlassen ihren Bau nicht vor morgen früh. Zudem brauchen sie eine neue Königin. Die Macht kämpfe sind bestimmt schon in vol lem Gang. Das ist unsere Chance.«
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Ich musterte den Mann prüfend. »Welch ein Glück, dass die Königin so plötzlich starb.« »Mhmm«, brummte mein neuer Begleiter. »Manchmal gehört Glück eben dazu.« Ich entschied mich, weitere Fragen für später aufzuheben, und kauerte mich neben meinen Retter. »Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu danken.« »Mir blieb keine Wahl«, sagte er emotionslos. »Allein hätte ich keine Chance gehabt.« Da hatte er nicht Unrecht. »Den noch ... ohne deine Hilfe wäre ich jetzt tot. Mein Name ist Atlan.« »Ich bin Tamiljon«, stellte sich der Fremde vor. Weitere Erklärungen gab er nicht ab. Ich begnügte mich mit der einsil bigen Auskunft und schlug stattdes-sen vor, etwas Essbares aufzutreiben und einen geeigneten Platz für unser Nachtlager zu suchen. Bei dieser Gelegenheit wollte ich auch nach den Savannenreitern Ausschau halten. 2. Lethem da Vokoban Die Welle schlug über Lpthem da Vokoban zusammen und drückte ihn nach unten. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, Luft zu holen. Der Sog der Unterströmung riss ihn mit sich in einen wirbelnden Strudel hinab. Der Arkonide stemmte sich gegen die Strömung, er schwamm um sein Leben. Das rettende Ufer hatte so trüge risch nah gewirkt. Bis hierher war alles gut gegangen. Doch dann zer
schellte das Rettungsboot am Riff westlich der Insel Salan, und die letzten neun Überlebenden der VER-DRANS GLUT kämpften sich durch das Wasser. Der Strand war keine hundert Meter mehr entfernt und dennoch unerreichbar durch das vorgelagerte Riff mit seinen tödlichen Neeren und scharfzahnigen Felsen. Lethem war stets bereit, immer hart an die Grenze zu gehen, und kal kulierte jedes mögliche Risiko mit kühlem Verstand. Doch diesmal schien er sich verschätzt und die Grenze überschritten zu haben. Der Arkonide stand in der Blüte seiner Jahre, sein Körper war durchtrair niert. Wieso gab er jetzt auf? Nur, weil ihm der Sauerstoff ausging? Lethem kämpfte gegen die auf kommende Panik an. Wenn er hyper-ventilierte, würde er dem zwanghaften Atemreflex erliegen und den Mund öffnen. Dabei ließ dieser Zwang unversehens nach, je stärker der Sauerstoffmangel wurde. Sein Blut wurde dick und träge, die Herztätigkeit sank. Lethem spürte, wie sein Verstand schläfrig wurde. Seine , Bewegungen wurden langsamer, während er immer weiter sank. Auf einmal ließ der Sog nach. Die Strömung hatte ihn freigegeben! Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er sich wenden musste. Al les um ihn herum war aufgewühlt, es gab keine Möglichkeit zur Orientie rung. Lethem sah etwas Schemen haftes vor sich - grau und verwa schen. Mit letzter Kraft steuerte er darauf zu und ertastete porösen, scharfkantigen Felsen. Felsen, be deckt mit Blumentieren! Ihre langen
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»Arme« bewegten sich in der Strö mung, doch sie waren deutlich nach oben gerichtet, orientierten sich alle in eine Richtung ... Lethem da Vokoban hangelte sich nach oben. Er spürte immer mehr, wie der Druck nachließ, obwohl das Singen in seinen Ohren immer stär ker statt schwächer wurde. Seine Brust bebte in pumpenden Bewe gungen, die Lungen schrien nach Sauerstoff. Lethem biss die Zähne zusammen, seine Lippen öffneten sich, doch er atmete nicht ein. Noch nicht... Seine Hände griffen nach dem Fels; automatisch, wie eine Ma schine, zogen sie Lethems Körper weiter und weiter nach oben, in blin dem Gehorsam. Nur noch ein paar Sekunden. Lethem wusste, dass er die Ober fläche erreichen musste, andernfalls würde er es nicht mehr schaffen. Me chanisch zog er sich weiter nach oben, fast am Ende seiner Kräfte. Sein Kopf durchstieß die Wasser grenze, im selben Moment brach sein Widerstand zusammen. Lethems Mund öffnete sich weit, gierig saugte er die feuchte, salzige Luft ein. Der Arkonide stieß den Atem mit einem Brüllen wieder aus, das selbst den Sturm übertönte. Erschöpft sank er zusammen, er war dem Tod noch ein mal von der Schippe gesprungen.
»...ethem ...Ife...« Der Regen prasselte auf sein Ge sicht, dazu die schäumende Gischt, die sich am Riff brach. Der Arkonide kniff die leuchtend roten Augen zu
sammen und versuchte zu erkennen, woher die Lautfetzen kamen. Eine Orientierung war durch den stür misch wehenden Wind fast unmög lich. Für einen kurzen Moment sah er die Frau. Ihr Kopf tanzte über den Wellen, bevor sie in einem Tal ver schwand. »Tasia!«, rief Lethem. Mit kräftigen Schwimmstößen versuchte er, zu ihr zu gelangen. Die Sorge um seine Gefährten, für die er als Leiter der Truppe die Verantwortung trug, ließ ihn Schwäche und Schmerzen vergessen. Doch Tasia war bereits fortgetrie ben, er sah sie gefährlich nah an den Klippen erneut auftauchen. Ihre Arme ruderten kraftlos, und an den hektischen Bewegungen ihres Mun des konnte Lethem sich ausmalen, dass sie viel Wasser geschluckt haben musste. »Verdammt!« Sein Fluch ging in einem Gurgeln unter, als ihm eine Welle genau ins Gesicht schlug. Er musste husten und spie Salzwasser aus. Dann schwamm er weiter in Tasias 'Richtung. Seitlich in seiner Nähe nahm er eine weitere Bewe gung wahr. Enaa von Amenonter kämpfte erschöpft gegen die Wellen an. Ihre dunkelbraunen Augen wa ren weit aufgerissen; sie öffnete den Mund, um ihm etwas zuzurufen. Sie hatte keine Kraft mehr und ging .un ter. Wie Lethem geriet sie in eine Un terströmung, deren Sog sie mit sich hinabzog. Lethem brüllte vor ohnmächtiger Verzweiflung. Welche der beiden Frauen sollte er retten, welche konnte er überhaupt noch retten? Sie waren so nah und trotzdem unend
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lieh weit entfernt. Obwohl Lethem mit aller Kraft gegen die stürmische See ankämpfte, verringerte sich der Abstand zu den Frauen keinen Mil limeter. Ganz im Gegenteil, die Strö mung trug ihn immer weiterf ort. Das Wasser war nicht sein Element, stets aufs Neue wurde ihm die Tatsache bewusst gemacht. Lethem merkte, wie ihn ein Sog er fasste und erneut nach unten riss. Doch diesmal war er gewappnet. Er hatte ausreichend Luft in den Lun gen, um gegen die Strömung anzu kämpfen. Mit wenigen Stößen kam er aus dem Sog wieder heraus und tauchte erneut auf. »Enaa! Tasia!«, schrie Lethem, so laut er konnte. Die Arkonidin konnte er nirgends entdecken. »Lethem! Hier"...«, Enaa lebte! Ir gendwie hatte sie es geschafft, sich an einen Riffzacken zu klammern, der sie gerade so über Wasser hielt. Sie winkte ihm, und Lethem ver suchte, zu ihr zu gelangen. Voller Entsetzen beobachtete er, wie ein gewaltiger, mindestens zehn Meter hoher Brecher Enaa mit krachendem Donner überrollte. Er ver suchte schneller zu schwimmen, ihr zu Hilfe zu eilen. Eine weitere Welle, die sehr viel sanfter war, riss ihn mit. Durch den Schwung überwand Le them die Strecke fast ohne Kraft aufwand. Er schrie aus Leibeskräf ten nach Enaa. Gleichzeitig wurde Lethem be wusst, dass er umgehend einen Halt finden musste, denn der Rücksog des Brechers würde jeden Moment ein setzen. Das Wasser sank bereits und legte das Riff wieder frei. Der Arkonide konnte es kaum
glauben. Enaa befand sich noch ge nau an derselben Stelle, krampfhaft den scharfen Felsen umklammernd. Ihr Körper tanzte wie eine Puppe auf der Wasseroberflächte. »Enaa!« Als sie seinen Schrei hörte, hob sie den Kopf. »Hier bin ich!«, gab sie zu rück. »Ich glaube, ich habe eine Pas sage gefunden!« »Schaffst du es alleine?«, rief Le them. »Tasia ist in Not.« »Ich denke ja. Hilf lieber Tasia. Ich habe einigermaßen Halt gefunden und ...« »Ich komme zurück!«, versprach Lethem. Er nutzte die kurze Pause, bevor sich die nächste hohe Welle bildete, und kämpfte sich weiter durch die Fluten; starker Regen prasselte auf ihn nieder, der Sturm peitschte ihm ins Gesicht, doch er gab nicht auf. Lethem da Vokoban hatte die Stelle, an der er Tasia zuletzt gesehen hatte, fast erreicht. Immer wieder rief er nach ihr, bildete sich ein, einen blassen Arm winken zu sehen, einen schwachen Ruf zu hören. »Halte durch!«, brüllte er mit aller Kraft, die er noch aufbrachte. »Tasia, gib nicht auf! Ich bin gleich bei dir! Wir schaffen es!« Durch den Sturm mit seinem Tosen und Donnern war keine klare Sicht mehr möglich. Hilflos wie ein Ball wurde er von den Wellen hin- und hergeschleudert.
Lethem spürte, wie er gegen einen Felsen prallte. Der Schmerz ließ ihn fast die Besinnung verlieren. Scharfe
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Kanten schnitten in sein Fleisch, die Wunden brannten in dem Salzwasser wie Feuer. Instinktiv klammerte er sich fest, versuchte nach oben zu kommen, aus dem Bereich des aufge wühlten Wassers, um Luft zu schnappen und wenigstens für ein paar Sekunden zur Ruhe zu kom men. »Lethem!« Der Arkonide sah auf, blinzelte durch einen Schleier aus Blut und Wasser. Enaa verharrte noch immer an derselben Stelle. »Ja ...«, krächzte er. »Was ist mit Tasia?«, rief sie. Er schüttelte den Kopf. Dann han gelte er sich langsam weiter, krallte seine Finger und Zehen in das poröse Gestern und kletterte auf die Akonin zu. Als er sie erreicht hatte, kam be reits der nächste Brecher herein. Sie klammerten sich aneinander; Enaas Griff war nach allem, was sie durch gemacht hatten, überraschend kräf tig und fest. Zäh wie eine Katze war sie, nicht umsonst eine geachtete und gefürchtete Nahkämpferin. Lethem hielt den Atem an und zählte die Sekunden. Die Naturgewalten rüttelten und zerrten an den beiden, aber sie hiel ten stand. Gemeinsam. Jetzt erst recht. Als sie wieder Luft bekamen, konnte Lethem die Passage erken nen, die Enaa gemeint hatte. »Wir haben ungefähr zwei Minu ten Zeit«, sagte er zu der Akonin, »bevor die nächste hohe Welle kommt. Bis dahin müssen wir durch sein, sonst werden wir da drinnen zerschmettert.« Sie nickte. »Wenn wir uns gegen
seitig stützen, müssten wir es schaf fen.« Sie krochen in die Passage, zogen und stützten sich gegenseitig, klet terten um ihr Leben. Lethem konnte bereits die Lagune auf der anderen Seite sehen. Sie war ihre Rettung. Der 2. Pilot der TOSOMA achtete nicht auf neue Wunden, verdrängte den Schmerz in den überanstrengten Muskeln. Sein geschundener Körper schrie danach, sich einfach fallen zu lassen, aufzugeben und in eine bes sere Welt hinüberzutreiben... Ein Moment der Unachtsamkeit ließ Lethem abrutschen. Er fiel nach unten und riss dabei Enaa mit sich. Die Akonin konnte ihren Griff nicht rechtzeitig lösen, weshalb sie mit ihm in die Tiefe stürzte. Sie landeten im Wasser und gingen sofort unter. Bis zum Grund waren es ungefähr zweieinhalb Meter. Lethem stieß sich ab und zog Enaa mit nach oben zur Wasseroberfläche. Keu chend schwammen sie auf den Strand zu. Obwohl dies der leichteste Teil war, kostete er .die letzten Kräfte. Die Erschöpfung über mannte beide. Lethem erreichte, das Ufer als Erster. Er packte Enaa, legte den Arm um ihre Taille und schleppte sie mit sich, die letzten, wenigen Meter zum rettenden Ufer. Dann brachen sie zusammen, völlig erschöpft und ausgepumpt.
Als Lethem das Bewusstsein wie dererlangte, spürte er jeden einzel nen Muskel und Knochen. Einen deutlicheren Beweis dafür, dass er
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noch am Leben war, brauchte er nicht. Er rieb die verkrusteten Au genlider, bis er die Augen blinzelnd öffnen konnte, und richtete sich langsam ächzend auf. Der Sturm hatte sich gelegt. La gune und Meer lagen ruhig und friedlich vor ihm, wärm beschienen von Verdran. Der Arkonide genoss die Wärme, seine Lebensgeister kehrten langsam wieder zurück. Neben ihm regte sich Enaa, Nachfahrin der einst mit dem ' Raumer DRORAHS EHRE gestran deten Akonen. Nun war sie in die Fußstapfen ihrer Vorfahren getreten - und ebenfalls gestrandet. Lethem brauchte keinen Spiegel, um zu sehen, dass er keinen Deut besser aussah als Enaa. Ihre Klei dung war zerrissen, ihr Körper war übersät mit Schnittwunden, die blut- und salzverkrustet waren. Blass und erschöpft stand sie vor ihm, mit tiefen Furchen im Gesicht. »Du siehst schrecklich aus«, stellte Enaa fest, als sie Lethem musterte. Lächelnd fügte sie hinzu: »Dafür aber erfreulich lebendig.« Lethem nickte. Er war zu müde, um sich zu freuen. »Es sieht so aus, als hätten wir es geschafft.« Mühsam stemmte er sich auf die Beine, stand taumelnd da und wagte einen ersten Schritt. Nach einigen Dagor-Entspan-nungsübungen fühlte er sich deutlich besser und kräftiger. Enaa hatte ihre eigene Methode, Kontrolle über ihren Körper zu erlangen. Sie verbog ihren Körpeu in alle Richtungen. »Wir sollten die anderen suchen«, schlug Lethem vor. »Ja.«
Sie trennten sich und wanderten jeder für sich durch den grobkörni gen Kies am Strand entlang, nach al len Seiten Ausschau haltend. Le them stockte für einen Moment der Atem, als er Enaas Ruf hörte und sie winken sah. Er lief auf sie zu und folgte ihrem ausgestreckten Finger mit seinem Blick. Auf dem Riff lag ein regloser Kör per. Arme und Beine schaukelten im Wasser sanft hin und her. Der Körper war zerschmettert, fast unkenntlich. Lethem erkannte die Uniform und den schlanken, einst eleganten Kör per. . »Tasia ...«, flüsterte er. Er ließ sich in den Sand sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Nach kurzer Zeit kniete Enaa sich neben ihn und berührte ihn sanft an der Schulter. »Dafür kannst du doch nichts, Lethem. Du darfst dich nicht schuldig fühlen, nur weil du überlebt hast.« »Darum geht es nicht.« »Worum dann?« Lethem seufzte schwer. »Tasia ... Sie war unsere Medoassistentin. Normalerweise hätte sie bei den Ver letzten der TOSOMA bleiben und sie versorgen sollen. Aber ich habe sie nach alter Tradition mitgenommen, die verlangt, dass bei einem Außen trupp stets ein Bauchaufschneider dabei sein muss. Hätte ich mich nicht daran gehalten, wäre sie noch am Le ben! « »Tut mir Leid.« Enaa stand auf. »Wir können immer erst hinterher feststellen, ob eine Entscheidung richtig oder falsch war. Genauso gut hätte Tasia uns allen das Leben ret ten können, wer weiß? Es ist nun ein
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mal so gekommen. Auf einer Expedi tion muss man immer mit Verlusten rechnen, Lethem. Und lernen, damit zu leben.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie weiter in die eingeschlagene Richtung. »Wir sollten auf den Hü gel steigen. Von dort, denke ich, ha ben wir eine sehr gute Rundum sicht.« Lethem erhob sich und folgte ihr.
Neben der Lagune lagen weitere kleine, von Klippen umsäumte Buchten. Richtung Nordosten öff nete sich der Strand mit einer Pas-.sage zum offenen Meer, danach reihten sich wieder Klippen und Riffe aneinander. Der Küste vorgelagert, nicht weit entfernt, zeichnete sich in östlicher Richtung die Insel Salan auf dem Meer ab. Als Lethem und Enaa auf der an deren Seite des Hügels in eine Bucht hinabstiegen, trafen sie auf Ondaix und Kythara. Beide waren nahezu unverletzt. Die Varganin verab reichte dem Springer eine Ohrfeige, um ihn zu sich zu bringen. Er um klammerte immer noch seine dop pelschneidige Streitaxt. Wie er es ge schafft hat, sich damit über Wasser und am Leben zu halten, mögen Ar-kons Götter wissen. Es ist jedenfalls ein Wunder, dachte Lethem bei sich. Die Maghalata der Viin wandte sich Enaa und Lethem zu, als sie die beiden erkannte. Freude erhellte ihr schönes, bronzehäutiges Gesicht. Ohne weitere Umstände untersuchte sie zuerst Enaa, dann Lethem mit ge
übten Griffen und prüfendem Blick, dem nichts entging. »Ich bin froh, euch wohlauf zu se hen«, sagte sie dann. »Ihr habt es un beschadet überstanden. Auch On daix hier. Er braucht nur noch ein wenig, um zu sich zu kommen, er hat wohl einen kräftigen Schlag auf den Kopf erhalten, der Schwellung nach zu urteilen. Aber die Flüche, die er bereits losgelassen hat, zeigen mir, dass er keine Gehirnerschütterung hat.« Ondaix, ein Mann wie ein Bulle, rappelte sich auf und stützte sich auf seine Axt. »Hätte nicht gedacht, ei nen von euch je wiederzusehen«, brummte er. »Deine Axt wird uns sehr nützlich sein«, bemerkte Lethem. Zu viert kehrten sie auf den Hügel zurück. Ondaix ging auf die Jagd, während die anderen Brennholz sammelten und ein kräftiges Feuer anschürten, das weithin sichtbar war und den anderen Überlebenden als Signal dienen sollte. Enaa fand eine kleine Süßwasserquelle und brachte das kostbare Nass in leeren handtel lergroßen Nussschalen. Kythara suchte einige Pflanzen, aus denen sie eine Paste herstellte. In einem leeren Krebspanzer bereitete sie einen Trank zu, den alle zu sich nehmen mussten - zur Stärkung und Vorbeugung gegen Entzündungen. Die Paste wurde auf den Wunden verrieben, und Lethem spürte sofort eine rasche kühlende Linderung. Der Springer kam mit einem reh ähnlichen Tier zurück und über nahm selbst die Zubereitung. »So können wir uns schnell wieder erholen und weiterziehen«, meinte
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Enaa. »Immerhin haben wir es ge schafft, das Iblad-Meer zu durchque ren und den Kontinent zu erreichen.« »Aber nicht alle!«, murmelte On-daix. »Wenn nur dieser Sturm nicht gewesen wäre ... Irgendwie hätten wir die Klippen schon umschifft und die Passage gefunden.« . Als das Essen gegart war, fing es allmählich an zu dämmern. Trotz der misslichen Lage freuten sie sich, ihre Mägen füllen zu können. Das Fleisch des unbekannten Tieres schmeckte nicht einmal schlecht. Enaa hatte zu sätzlich einige Früchte und Beeren gesammelt. Die Akonin drückte deutlich aus, dass sie schon wieder positiv in die Zukunft sah - man hatte überlebt, es gab Nahrung und einen weitgehend sicheren Platz. »Die Übrigen werden auch noch ein treffen, ihr werdet schon sehen.« Die anderen schwiegen, jeder war mit seinen^Gedanken und Schuldge fühlen beschäftigt. Große Freude kam auf, als plötz lich Scaul Helium Falk angestolpert kam. Die Haut des Terraners glänzte stark. Der Schweiß rann ihm aus al len Poren, ansonsten schien er wohl auf zu sein. Für ihn gab es noch aus reichend zu essen. Scaul griff dank bar zu, während er den Erlebnissen der anderen lauschte, bevor er seine, eigene Geschichte zum Besten gab. Nach weiteren drei Stunden stieß Zanargun zur Gruppe. Der Luccia-ner hinkte und hatte eine schwere Wunde an der Schulter. Seine Haltung straffte sich umgehend, als er von den anderen mit großem Jubel begrüßt wurde. Er ließ sich von .Kythara verarzten, vertilgte die Reste des Mahls und berichtete in kur
zen Worten, dass er Cisoph Tonk und Hurakin aus den Augen verloren und den ganzen Tag erfolglos nach ihnen gesucht hatte. Sie ließen das Feuer weiter bren nen und hielten abwechselnd Wache. Kurz vor Mitternacht fing es wieder zu regnen an, dann kam ein kühler, unangenehmer Wind auf. Es war nicht einfach, das Feuer in Gang zu halten. Trotz der großen Erschöp fung gelang es keinem In der Gruppe, Schlaf zu finden. Erst, gegen Morgen zwangen ihre Körper sie zu einer Schlafpause. Auch der Wachtposten schlummerte schließlich ein. Es hatte sich ohnehin niemand dem Hügel ge nähert;
Lethem war vor allen anderen wach und machte sich auf den Weg. Er kletterte den Hügel hinunter und tauchte ins Wasser ein. Es war gerade Ebbe, deshalb konnte er bis zum Riff waten. Bitterkeit umschloss sein Herz, seine Lippen zitterten, als er Tasia Oduriams leblosen Körper in seine Arme nahm und langsam zum Strand zurücktrug. Wie leicht sie doch war - er spürte ihr Gewicht kaum. Dennoch war es eine schwere Last, die der Arkonide mit sich trug. Lethem hob mit bloßen Händen ein Grab für die Arkonidin aus. Als er fast fertig war, kamen die anderen heruntergeklettert und halfen ihm schweigend. Bevor sie sich auf die Suche nach Cisoph Tonk und Hura kin begaben, stärkten sie sich erst einmal. Ondaix' dröhnender Ruf hallte weit über die Küste. Zwei Stunden
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später fanden sie wieder zusammen. Der Springer hatte die Leichname der beiden Vermissten entdeckt, schrecklich enstellt. Sie waren mit der letzten Flut zusammen mit eini gen Wrackteilen an den Strand ge spült worden. Noch einmal mussten zwei Gräber ausgehoben werden. »Was jetzt?«, fragte der Springer schließlich. Die Gefährten schauten Lethem voller Verzweiflung an. Der Arkonide riss sich zusammen und wandte sich an die Gruppe. »Sollen unsere Freunde umsonst ge storben sein? Es kann keinen Zweifel geben, wir werden unsere Mission er füllen! Wir gehen weiter, ins Land der Silbersäulen. Der Uralte Sar-daengar soll sich in der Gebirgsbas-tion Grataar aufhalten. Wir müssen eben einen Umweg in Kauf nehmen, da wir Narador nicht erreicht haben.« »Und wie sollen wir von hier aus nach Grataar kommen?«, brauste Falkauf. »Da kann ich vielleicht helfen«, meldete sich Kythara zu Wort. »Ich weiß, wie wir von hier zur Stadt Bu-lak kommen. Die Stadt liegt in etwa südwestlicher Richtung, nicht weit von hier. Dort könnten wir Transporttiere besorgen, die uns an der Küste entlang nach Narador bringen. Denn von dort aus führt eine Bahnlinie nach Helmdor. Das ist der schnellere Weg, anstatt sich durch die Wildnis zu schlagen.« Enaa verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auffordernd in die Runde. »Worauf warten wir?« Lethem nickte. »Lasst uns aufbre chen.«
3. Atlan Ich fand keine Spuren mehr von den Savannenreitern, auch keine Überreste der Dendibos. Vielleicht war ihnen die Flucht gelungen - ich hoffte es zumindest sehr. Tamiljon hielt ebenfalls Ausschau. Aber nicht nach den Af alharo, schien mir. Er war ein seltsamer, überaus wortkarger Begleiter, der nichts von sich preisgab. Seine Nervosität be reitete mir ernsthafte Sorgen. Ich schloss daraus, dass uns Gefahr drohte. Von wem, das wusste ich al lerdings nicht. Nachdem ich auf meine erste Frage, wie ihm unsere Befreiung ge lungen war, keine Antwort erhielt, musste ich weitere Fragen im Geiste diskutieren. Wenn es ihm rein kräf temäßig gelungen war, sich aus dem Kokon zu befreien, konnte er nur so etwas wie ein Umweltangepasster sein - ein Oxtorner mit einer Kom paktkonstitution. Eine solche Ent wicklung war hier auf Vinara aller dings . unwahrscheinlich, da keine sehr extremen Umweltbedingungen herrschten. Vielleicht war Tamiljon ebenfalls erst vor kurzer Zeit hier ge strandet; dagegen sprach jedoch, dass er viel zu vertraut mit dieser Welt war. Meine Überlegungen brachten mich nicht weiter. Ebenso fragte ich mich, wie die Königin der Termiten zu Tode gekommen war. »Konntest du beobachten, was mit der Königin geschah?«, versuchte ich erneut, Tamiljon aus der Reserve zu locken. Wie beim ersten Mal antwortete er
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nur zögerlich und ausweichend: »Nein. Auf Vinara geschehen öfters seltsame Dinge. Du wirst dich daran gewöhnen müssen.« Den Teufel würde ich tun! Irgend etwas sagte mir, dass Tamiljon an dem Tod der Termitenkönigin betei ligt war. Es gab keine andere Erklä rung. Aber wie? Telekinese?, kam mir mein Extra sinn zu Hilfe. Möglich. Aber wieso handelte er so spät? Wie konnte er überhaupt über wältigt werden, wenn er über Psi-Kräfte verfügt?, wandte ich ein. Mit dem Burschen ist etwas nicht in Ordnung, warnte mich mein Ex trasinn. Dem stimmte ich zu. Ich glaube aber nicht, dass mir von ihm Gefahr droht. Ich bin ihm als Unterstützung sicherlich dienlich. Solange er glaubt, mich zu brauchen, gibt es kei nen Grund zur Sorge. Allerdings kann sich die Stim mung schnell ändern. Du musst stets wachsam, sein!, beschwor mich meine innere Stimme eindringlich. Ich spürte Tamiljons Blick auf mir ruhen und erwiderte ihn gelassen. Ich wollte nicht, dass er sich zu si cher oder gar überlegen mir gegen über fühlte. Er sollte über mich ge nauso nachgrübeln wie ich über ihn. »Du hast viele Fragen, Atlan«, sagte der Schwarzhäutige zögernd. »Einige Antworten habe ich mir inzwischen selbst zusammenge reimt«, antwortete ich und zeigte ein kurzes Lächeln. Ich entschloss mich, ihn noch mehr zu verunsichern. »Wer verfolgt dich?« Er konnte seine Überraschung nicht ganz verbergen. »Ich halte nur
nach Gefahren Ausschau«, behaup tete er. »Aha«,'erwiderte ich. »Und diese Gefahren haben dich in die Fänge der Termiten gebracht.« Er blickte zu Boden, als suchte er dort nach einer Antwort, die mich zufrieden stellen könnte. »Ja. Sie sind hinter mir her«, gab er schließ lich zu. Tamiljon war nicht dumm. Ge nauso wenig hielt er mich für dumm oder naiv. Mir war klar, dass ich nicht erfah ren würde, wer die Verfolger waren, sonst hätte er es mir offenbart. Frü her oder später würde ich es sowieso herausfinden - sobald sie Tamiljons Spur wieder aufgenommen hatten. Es konnten Savannenreiter sein, im merhin befanden wir uns im Grenz gebiet der Stämme Nathal und Shanum. Die Stämme waren vor al lem wegen der Territorienstreitig keiten im Krieg, immerhin gab es hier in der Savanne wenige Ressour cen. Tamiljon und ich litten ebenfalls darunter. In den großen Bein-" und Brusttaschen seines lederartigen An zugs war ebenso wenig zu finden wie in meinen Taschen, mal abgesehen von einigen Motten, die es sich be reits in ein paar Nischen gemütlich gemacht hatten. Wir waren darauf angewiesen, was die Natur uns bot - und das war herz lich wenig. Mehr als ein dürftiges kleines Wasserloch, an dessen Rän dern ein paar genießbare Pilze wuch sen, hatten wir bisher nicht gefun den. Eine magere Ausbeute für zwei gestandene Männer. Tamiljon war nur wenig kleiner als
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.ich, muskulös und kräftig gebaut. Um die Wanderung durchzuhalten, brauchte er sicherlich nahrhaftes Essen. Ich hatte zur Unterstützung den Zellaktivator, der mir eine lange Ausdauer verlieh - aber das leere Ge fühl im Magen konnte auch er nicht wegzaubern. Die Savannenreiter führten dar über hinaus noch eine Art Religions krieg. Vor Urzeiten wurde der Ewige Litrak als »Stammvater« von allen Bewohnern der Spiegelwelten glei chermaßen verehrt. Doch dann kam der Dunkle Sardaengar, und viele wandten sich ihm zu. Vielleicht wurde Tamiljon aus diesem Grund verfolgt. Halte dich nicht auf mit Spekula tionen, ermahnte ich mich. Konzen triere dich auf dein Vorhaben.
Nach unserer asketischen Mahl zeit waren wir einige Zeit gen Nor den gewandert. Ich hatte diese Rich tung eingeschlagen und wusste nicht, ob Ta'miljon einfach mit mir ging oder denselben Weg hatte. Der Schwarzhäutige vertraute mir wei terhin nicht und schwieg beharrlich. Befürchtete er, ich sei von seinen Verfolgern ausgeschickt worden, um sein Vertrauen zu erschleichen? Dass ich dabei selbst Opfer der Termiten geworden war, überzeugte den Schwarzhäutigen ganz offensicht lich nicht von meiner Unschuld. Mir fiel auf, dass Tamiljon ständig einen Stab umklammerte, Er war nicht größer als einen Meter und ei nem Gehstock nicht unähnlich. Als hätte er Angst, den Stab zu verlieren,
hielt Tamiljon ihn ständig in der Hand. Manchmal streichelte er ihn wie ein kostbares Kleinod. Dabei schien sich Tamiljon gar nicht be wusst zu sein, wie auffällig dieses Verhalten war. Der Stab selbst war unscheinbar, das Material erinnerte mich im Aussehen an dunkles Guss eisen, nur dass er viel leichter zu sein schien. Der Knauf bestand aus einem kinderfaustgroßen,.kugelförmig ge schliffenen Schneeflockenobsidian, unter dem ein etwa zwei Zentimeter durchmessender, in vielen Facetten blauweiß glitzernder Kristall einge fasst war. Vielleicht hatte dieser Stab Tamil jon bei seiner Befreiung aus dem Konkon geholfen? Ich deutete dar auf. »Wenn wir wieder in belebtere Gegenden kommen, solltest du nicht so deutlich zeigen, wie kostbar dieser Stab für dich ist.« Tamiljon blieb stehen, starrte zu erst seinen Stab, dann mich an. »Keine Sorge«, sagte ich in beruhi gendem Tonfall. »Ich bin nicht daran interessiert.« »Du ... weißt nicht, was das ist?«, fragte er lauernd. Ich zuckte die Achseln und schickte mich an, weiterzugehen. »Wer bist du?«, fragte Ta,miljon scharf. »Du hast das Auftreten eines Mannes mit Autorität, ich spüre Macht in.deiner Aura, und deine Au gen verraten sehr viel Wissen und Weisheit. Ich bin vierunddreißig, doch du musst mehr als doppelt, viel leicht sogar dreimal so alt sein.« »Nicht ganz«, antwortete ich di plomatisch. Mein biologisches Alter entsprach 36,4 Arkonjahren, was un gefähr 43 Terrajahren entsprach.
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Seit mir die Superintelligenz ES ei nen Zellaktivator überlassen^ hatte, war ich nicht gealtert. Tamiljon fuhr fort: »Dennoch er scheint es mir seltsam, jemanden wie dich ausgerechnet hier draußen in der öden Savanne vorzufinden, allein und ohne Ausrüstung.« Nun grinste ich breit. »Dasselbe trifft auf dich zu, mein Freund. Al lerdings bist du derjenige, der ver folgt wird, nicht ich. Warum beant wortest du meine Fragen nicht? Ich denke, das hängt mit deinem Stab zusammen - es ist deine Sache, ob du darüber sprechen willst. Eines sollte dir jedoch klar sein: Wenn ich dir hel fen soll, dann möchte ich wenigstens wissen, wofür ich meinen Hals ris kiere.« Ich setzte meinen Weg fort und spürte Tamiljons Zögern. Vermutlich umklammerte er seinen Stab noch fester und hielt innere Zwiesprache, ob er mir vertrauen oder besser ver suchen sollte, sich allein weiter durchzuschlagen. »Du weißt es wirklich nicht, oder?«, rief er mir schließlich nach. »Der Kristallstab ist ein Heiligtum der Wächter...« Ich verhielt und drehte mich um. »Dann bist du ein Wächter des Ewi gen Litrak?« »Zuerst will ich wissen, wer du bist!«, gab er in herausforderndem Tonfall zurück. Ich nickte. »In Ordnung. Das bin ich dir schuldig, immerhin hast du mein Leben gerettet.« Ich bemerkte so etwas wie Neugier auf seinem Gesicht und fuhr fort: »Ich befand mich in Gesellschaft der Afalharo, des Stamms der Tulig. Zu
sammen mit ihnen war ich auf dem Weg zu einem frei zugänglichen Ob-sidiantor nahe den Ruinen von Arda-clak. Die Schamanin Dendia hat in einer Vision eine herannahende Katastrophe gesehen. Wir wollten nach Vinara Drei, um das Tempelzentrum des Litrak-Ordens in der Stadt Ma-lenke zu erreichen in der Hoffnung, die Wächter warnen zu können. Leider haben uns die Termiten einen Strich durch die Rechnung gemacht, und ich habe alle Begleiter verloren -einschließlich meines Freundes Jörge.« »Was sah die Schamanin?«, wollte der Schwarzhäutige wissen, der mit einem Mal sehr hellhörig geworden war. »Eine schwarze Schlange um schlingt Verdran, um sie zu fressen. Doch die Schlange wird sich daran verschlucken und von Verdran zer fetzt werden. Ihre Überreste werden auf die Welt herabregnen und Tod und Vernichtung bringen.« Tamiljon erstarrte. »Warum wen den die Tulig sich wegen dieser Vi sion nicht an den Uralten Sardaen-gar, den Herrn der Welten?«, wollte er wissen. »Die Schamanin glaubt, dass er die Katastrophe nicht verhindern kann«, antwortete ich. »Sie meint, der Ewige Litrak sei dazu in der La ge ...« »Der eingekerkert ist!«, brach es aus Tamiljon heraus. »Er ist der Un tote Gott im Eis, gefangen im Caso-reen-Gletscher!« »So sagt es zumindest die Le gende.« »Es ist keine Legende, sondern die Wahrheit!«, behauptete der Fremde.
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»Es heißt auch, dass die Wächter und Ordensmitglieder nie die Hoff nung aufgegeben haben, den Ewigen Litrak eines Tages befreien zu kön nen«, fügte ich hinzu. »Wenn also al les wahr ist - vielleicht sind wir beide in der Lage, ihre Hoffnung ebenso wahr werden zu lassen ...« Tamiljons rechte Hand schloss sich nervös um den Obsidianknauf. »Ich bin kein Wächter«, gestand er. Ich konnte nicht sagen, was mich in diesem Moment mehr erstaunte. Die Offenheit meines neuen Beglei ters oder die Enttäuschung. »Aber ich bin auch kein Anhänger Sardaengars!«, fügjte'er heftig hinzu. »Nun gut«, meinte ich. »Aber du trägst aus irgendeinem Grund einen Kristallstab und bist ebenso auf der Reise wie ich. Wie soll es weiterge hen? Wirst du mich begleiten?« »Wir haben denselben Weg«, ge stand Tamiljon widerwillig. »Auch ich will nach Malenke. Zunächst muss ich jedoch etwas in den Ruinen von Ardaclak erledigen.« »Deswegen hast du das Tor in den Ruinen von Aziin nicht benutzt.« Durch dieses Tor war ich mit Jörge Javales auf Vinara Vier angekom men, hatte es aber nicht mehr zur Umkehr betreten können. Die Be nutzung nicht freigegebener Tore war nur mit einem Kristallstab der Wächter möglich - wie Tamiljon ihn hatte. Wenn ich Tamiljon früher begeg net wäre, hätten wir uns die anstren gende Reise ersparen können. Mein Begleiter Jörge Javales könnte noch leben, da wir den Termiten nicht zum Opfer gefallen wären. Tamiljon ahnte wohl meine Ge
danken. »Es ist eben so, Atlan. Ich muss in die Ruinen von Ardaclak, in die Gruft des Wächters Narmasar Tarmon, um etwas zu erledigen.« »Das sagtest du bereits.« »Ich darf es nicht aufschieben«, drängte der Schwarzhäutige. »Und dann sind da noch deine Verfolger«, erinnerte ich den Frem den. »Ja. Ich muss vor ihnen dort sein.« Ich überlegte. Ich hatte kein Reit tier mehr, keine Ausrüstung, keine Vorräte. Der Weg zu Fuß nach Arda clak zu dem frei zugänglichen Tor war sehr weit. Zurück nach Aziin konnte ich nicht mehr, trotz des Kris tallstabs. Das glitzernde Ding, darin war ich mir sicher, konnte unmög lich Tamiljon gehören. Immerhin hatte der Mann selbst zugegeben, kein Wächter zu sein. Vielleicht hatte er von einem der Wächter den Auftrag bekommen, den Stab nach Malenke zu bringen, und die Verfol ger wollten ihn daran hindern? Ich trat weiterhin auf der Stelle. Immer neue Fragen tauchten auf, auf die ich keine Antworten wusste. Tamiljon behielt seine Geheim hisse für sich; sollte mir recht sein. Ich würde ihm ebenso wenig etwas über mich und die absonderlichen Umstände, die mich hierher ge bracht hatten, erzählen.' Tatsache war jedoch, dass wir zu zweit in jedem Fall besser dran wa ren. Tamiljon musste ähnlich ge dacht haben, sonst hätte er mich nicht befreit. Ein weiterer Grund, sich ihm anzuschließen, war, dass wir dasselbe Ziel hatten. Der Kris tallstab konnte mir vielleicht noch von Nutzen sein.
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»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren«, sagte ich laut.
Tamiljon ließ die Umgebung kei nen Moment aus den Augen und blickte immer wieder wachsam über die Schulter. Das Gelände war ziem lich eben und offen, es gab nur sehr wenig Baumbestand. Verfolger wür den sich also frühzeitig ankündigen, da sie keine Deckung nutzen konn ten. Von den riesigen Termitenbauten hielten wir uns weitestgehend fern. Gelegentlich sahen wir Raubtiere, die uns allerdings kaum Beachtung schenkten. Das größte Problem war unsere Versorgung mit Wasser und Nah rung. Tamiljon war viel zu sehr mit seinen ominösen Verfolgern beschäf tigt, um sich darüber Gedanken zu machen. Ich riss ihn aus seinen Ge danken, als ich in der Ferne eine Herde Pflanzenfresser entdeckte, die sich von einem grünlich schimmernden Streifen Land entfernte. »Vielleicht gibt es dort ein Wasser loch«, machte ich Tamiljon aufmerk sam. Er zögerte, sah dann aber ein, dass wir ohne Wasser und Nahrung nicht lange durchhalten konnten. Wenig später erreichten wir ein größeres, von saftigem Grün, Bü schen und Bäumen umgebenes Was serloch, das, nach den vielen Spuren, zertrampelten Pflanzen und mat schigen Stellen zu urteilen, regelmä ßig von den Tieren der Umgebung ge nutzt wurde. Zu meiner Freude ent deckte ich Fische im Wasser und baute mit Tamiljon aus biegsamen
Ästen eine kleine Reuse, in der bald die ersten blinkenden Schuppentiere zappelten. »Du kommst gut in der Natur zu recht«, bemerkte Tamiljon, als wir schließlich vor dem Feuer saßen und die Fische brieten. Um ihre Verträg lichkeit brauchte ich mir keine Sor gen zu machen. Zum einen hatte mein Magen sich im Lauf der Zeit an vieles gewöhnt, zum anderen wurde durch die zellregenerierende Wir kung des Aktivatorchips umgehend jede giftige Substanz neutralisiert: »Ich bin ein wenig herumgekom men«, antwortete ich. »Es ist wichtig, dass du eine gute Kondition hast. Wir sollten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit wei tergehen ... so lange, wie es eben mög lich ist. Der Weg ist weit und gefähr lich, möglicherweise haben wir nicht immer so viel Glück wie heute.« »An mir soll es nicht liegen, Tamil jon. Ich habe genug Ausdauer.« Er betrachtete mich mit einem lan gen, nachdenklichen Blick, schwieg jedoch. Ich hatte während unserer Rast Zeit, ein Resümee der bisherigen Er kenntnisse zu ziehen. Mehr und mehr kristallisierte sich heraus, dass es sich bei den Geschichten um den Ur alten »Dunklen« Sardaengar und den Ewigen Litrak nicht nur um My then handelte. Hinsichtlich Sar daengar gab es aufgrund der Lebens erinnerungen Neyus Mercova-Bans einige Hinweise, dass er möglicher weise ein lemurischer Tamrat mit suggestiven Paragaben war. Dehn nach den Legenden hatte er sich viele Völker der Vinara-Welten mit purer Willenskraft unterworfen. Und da er
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nach dem Glauben der Af alharo und anderer noch heute existierte, musste er ein Langlebiger oder Unsterbli cher sein wie ich. Aber wer mochte der Ewige Litrak sein, der lange vor Sardaen gar hier »herrschte« und von dem »Dunklen« im wahrsten Sinne des Wortes auf Eis gelegt worden war? Die Legenden besagten, dass Sar daengar Litrak nicht töten konnte, weil er zum einen angeblich un sterblich war, zum anderen mit Litraks Auslöschung alles Leben auf sämtlichen Spiegelwelten enden würde, woran Sardaengar offenbar nicht gelegen war. Also verbannte Sardaengar seinen Gegenspieler in die ominöse Eisgruft, und es bildete sich zu seinem Schutz der Orden der Wächter der Eisgruft. Niemand wusste, welchem Volk die Wächter einst entstammten oder ob sie aus verschiedenen Völkern rekrutiert wurden. , Wegen meiner Aura hatten die Sa vannenreiter geglaubt, ich sei einer dieser Wächter. War es möglich, dass Tamiljon meine Aura ebenfalls spürte? Könnte ich ihm dadurch zur Ausführung seines Vorhabens oder Auftrags nützlich sein? Tamiljon wusste vielleicht, was der Litrak-Orden seit seiner Gründung getan hatte, um dem Untoten Gott beizustehen, auch wenn er kein Wächter war. Immerhin besaß er ei nen Kristallstab. Und ebenso wie ich unternahm er eine Mission, die mit Litrak zu tun hatte - ob im Guten oder Schlechten, konnte ich nicht einmal spekulieren. Dazu wusste ich noch zu wenig über den Schwarz häutigen.
Vielleicht war es ein Fehler von mir, diese Reise zusammen mit Ta miljon zu unternehmen, da wir mög licherweise auf verschiedenen Seiten standen, auch wenn mein Begleiter behauptete, kein Anhänger Sardaen-gars zu sein. Das machte ihn noch nicht zu meinem Verbündeten oder gar Freund. Seine Motive, mich zu retten, erschienen mir mehr und mehr eigennützig, als tatsächlich dem Impuls zu folgen, anderen zu helfen. Ebenso war ich gespannt darauf, wer Tamiljons Verfolger waren, denn vor ihnen fürchtete er sich. Selbst in dieser vergleichsweise idyllischen Ruhepause ließ er nicht davon ab, die Umgegend zu beobachten, jederzeit auf dem Sprung. Den Stab verstaute er ab und zu in seinem breiten Gür tel, meistens jedoch fingerte er ner vös an ihm herum, hielt ihn mal in der linken, mal in der rechten Hand und achtete deutlich darauf, dabei niemals den in der Sonne funkelnden Kristall zu berühren. Über den kugelförmigen Obsidian hingegen strich er gelegentlich mit andächti ger Miene. Ich vermutete, dass der Glitzer stein die Motivation für seine Reise, war, die Summe all seiner Ängste und Hoffnungen darstellte. Und dass dies mit Dendias Prophezeiung und dem gefangenen Gott, im Eis zusam menhing. • Wahrscheinlich würde Tamiljon kein Auge zumachen, solange ich in der Nähe war, aus Sorge um den . Stab. Das* bedeutete, wir würden vermutlich nicht nur den Rest des Tages, sondern auch die ganze Nacht auf Wanderschaft sein.
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Sollte mir recht sein. Eine Reise wie diese hatte ich schon oft in mei nem Leben unternommen. Ich dachte an Jörge Javales, der an der Expedition nicht teilnehmen wollte. Er hatte mir meine Abenteu erlust zum Vorwurf gemacht. Es reizte mich in der Tat, sich nicht nur auf die Sicherheit eines Schutzan zugs verlassen zu müssen. Dies ent sprach meinem Naturell. Das Leben und seine Mysterien erforschen, in all seinen Facetten, direkt und ohne Umwege. Jörge hatte sein Leben verloren, weil er solch ein Leben nicht kannte und weil er sich auf mich verließ. Diese Schuld belastete mich; vor al lem tat es mir Leid, dass ich ihn nicht einmal begraben konnte. Aber das war nun Vergangenheit, mit der ich mich auseinander setzen konnte, wenn dieses Abenteuer hinter mir lag. Jetzt war es wichtig, auf den wei teren Weg zu achten und dem Ge heimnis der Spiegelwelten auf die Spur zu kommen.
4. Sardaengar Plötzlich zuckte ein grellweißes Licht auf, wuchs zu einer Lichtsäule bis zu den Gipfeln des Ograhan-Ge-birges, gefolgt von einem fahlen Aufglimmen der Silbersäulen im Lande Mertras. Sardaengar konnte den Blick nicht lösen, und etwas sprang auf ihn über, hüllte ihn in Licht und Wärme. Er sah den Kristallmond zum Greifen nah, der näher und immer näher kam
und in Sardaengars Kopf eindrang, ihn ganz ausfüllte... Sardaengar spürte, wie die in ihn eingedrungene Macht immer stärker wurde, sein bewusstes Denken be einflusste, allgegenwärtig. Noch konnte er dagegen ankämp fen, vermochte es, das unaufhörliche Flüstern und Wispern zurückzu drängen und nicht nachzugeben. Doch er ahnte, dass er immer schwä cher wurde, je mehr der Einfluss an Kraft gewann. Das Licht in seinem Kopf wurde immer heller und blen dete ihn, verlangsamte seine Gedan ken, schwächte seinen Willen. Er war nicht mehr länger der Dunkle. Das lahmte, entsetzte ihn. Es konnte nicht sein, dass das Licht stärker war als er. Dass es die Herrschaft über ihn gewann. Dass der Uralte Sardaengar die Macht und die Herrschaft verlor, über sich selbst und die Kluft. Das durfte nicht geschehen. Er durfte es niemals so weit kommen lassen. Alles wäre verloren! Auch wenn Litrak nicht den end gültigen Sieg davontragen sollte, wäre es vorbei - für ihn ebenso wie für alle Bewohner der Obsidian-' Kluft. ' Das Licht brachte das Ende. Sardaengar zwang die aufkei mende Panik zurück. Immerhin rüt telte sie ihn aus seiner Lethargie, und das grelle Licht in seinem Verstand ließ etwas nach, wurde gedimmt, bis er fast wieder Herr seiner selbst war. Fast. Er konnte nicht den Willen auf bringen, die fremde Macht ein für alle Mal aus sich zu vertreiben. Dennoch musste er diese Gelegen heit nutzen - Hilfe zu suchen und
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Unterstützung zu finden. Sardaen-gar musste feststellen, was draußen auf den Spiegelwelten vor sich ging. Wodurch war dieser Vorgang ausgelöst worden? Was hatte er übersehen?
Es war sehr schwer, sich zu kon zentrieren. Was für eine Schrilach für einen Machtvollen wie ihn! Sein Zorn wuchs so stark, dass das Licht sich weiter verdüsterte. Seine Kampfkraft erwachte wieder... Dennoch war es mühsam, hinaus zugehen, mit seinen päranormalen Sinnen umherzuschweifen. Der Ur alte Sardaengar tastete nach seinen Vertrauten und Helfern, die sich überall auf Vinara und den Spiegel-' weiten befanden. Sie waren es, die für ihn als Agenten und Händler auf traten, nach seinem Willen Aufträge erfüllten und dafür sorgten, dass . seine Macht erhaltefa blieb. Am wichtigsten für ihij waren die Perlenträger von Helmdor. Sie waren im Namen des Herrn der Welten stets mit" großem Gefolge überall unter wegs. Die Perlenträger kontrollier ten und verteilten die Lithras. Die Obsidiänperlen waren einziges Zah lungsmittel auf denVinara-Welten. Jeder fürchtete und achtete die Ver trauten des Sardaengar, niemand wagte es, sie in Frage zu stellen oder an ihrer Autorität zu rütteln. Mit den Lithras kontrollierten die Perlenträ ger das gesamte wirtschaftliche Sys tem. Wer ihnen den Weg versperrte, wurde seiner Habe und Würde be raubt. Die Perlenträger stellten in gewis ser Weise das Gegengewicht zu
Litraks Orden dar. Der innere Zirkel, in den die am höchsten angesehenen und raffiniertesten von ihnen aufge nommen wurden, unterstand dem di rekten Befehl Sardaengars und han delte nach seinen Anweisungen. Diese Leute wurden im Volksmund auch Perlenschleifer genannt, denn sie gehörten der Gilde der geachteten Obsidian-Perlenmacher an und ver standen sich tatsächlich perfekt auf ihre Kunst. Sie waren Alleskönner, deren wahre Berufung für die wenigs ten Bewohner der Vinara-Welten er sichtlich war. Zu ihnen sprach der Uralte Sar daengar persönlich. Sie wussten, dass der Herr der Welten noch exis tierte und nicht nur eine Legende war. Durch ihre Überzeugung und das Wissen, das ihnen zuteil wurde, strahlten die Perlenträger eine hohe Selbstsicherheit und Autorität aus. Kaum jemand zweifelte daran, dass sie im Auftrag des Herrn der Welten auftraten:
Je länger Sardaengar seine menta len Sinne schweifen ließ, desto bes ser konnte er sich konzentrieren. Er fühlte, wie auch die letzten Reste der Lethargie von ihm abfielen, das Licht in ihm war nahezu erloschen. Wie lange, konnte er nicht sagen, denn er hatte nach wie vor nicht die Kraft, die fremde Macht zu vertreiben. Aber er wollte diesen Augenblick nutzen, um Kräfte zu sammeln. Und Informationen zu erhalten. Bei seinem Streifzug entdeckte der Dunkle plötzlich Fremde. Es waren
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zweifelsohne Neuankömmlinge, die es in die Obsidian-Kluft verschlagen hatte. Sie hatten sich mit einigen Einwohnern zusammengetan und befanden sich auf der Wanderung. Sardaengar berechnete ungefähr ihr Ziel anhand der Richtung, die sie eingeschlagen hatten. Er spürte in ihren Gedanken, was sie vorhatten. Aller Wahrscheinlichkeit nach führte sie ihr Weg nach Helmdor. Da hinter lag Mertras, das Land der Sil bersäulen. Seine Heimstatt. Der Uralte hätte gerne intensiver in den Gedanken der Neuankömm lingen geforscht, aber er durfte sich nicht zu früh verraten und sie war nen. Es war wichtig herauszufinden, was sie vorhatten.
mit hoch erhobenem Schwanz zu rück und ringelte sich schnurrend zu Füßen ihres Herrn zusammen. Ihr haarloser, muskelbepackter Körper schimmerte schwarz wie Obsidian mit einigen grauen Tupfen darin. Die Haut des Gundgie fühlte sich an wie rauer Fels. »Wie sieht es aus?« Esturin Virol kam in Talpeddos Gemach. »Ich habe alles arrangiert«, ant wortete Talpeddo und kraulte Ruras Nacken. Esturin Virol ließ sich neben ihm in einem bequemen Sessel nieder. Ein Diener brachte unaufgefordert die dampfende Wasserpfeife und reichte dem Perlenträger das goldene Mund stück. Esturin Virol nahm einen tie fen Zug und blies den Rauch stoß weise aus. In seine Augen trat ein orangefarbener Glanz, ähnlich Talpeddo bereitete die Abreise der Ver-drans Glut am Himmel. »Hoffentlich klappt das auch mit Gruppe vor, was bedeutete, er er teilte seinem Assistenten und der den Plätzen«, fuhr Esturin nach ei wiederum den Dienern des Gefolges ner Weile mit sanfter Stimme fort. den Befehl, alles Notwendige für die »Ich möchte nicht wieder so unbe Fahrt zu unternehmen. Alles musste quem reisen wie das letzte Mal.« »Sicherlich wird dieses Mal alles schnell und-perfekt erledigt werden. Sitzplätze wurden reserviert und das zu unserer Zufriedenheit erledigt«, Gepäck auf die drei Waggons verteilt, versicherte Talpeddo und grinste schelmisch. »Ich habe dem Eigentü die ausschließlich den Perlen mer der'Bahn die Entziehung der Li schleifern vorbehalten waren. Talpeddo konnte sehr ungeduldig zenz angedroht.« Er griff in eine werden, wenn man seinen Wünschen Schale zu seiner Rechten, die gefüllt war mit giftgrünen Stachelbeeren, nicht sofort nachkam. Als der Assis und warf sich zwei Früchte in den tent, ein Varganen-Halbling, wei tere Auskünfte einholen wollte, Mund. Gleich darauf begannen seine hetzte Talpeddo seine Augen heftig zu tränen, und er Lieblings-Gundgie Rura auf ihn. schnappte nach Luft. Seine Ge Das massige Weibchen fletschte sichtszüge entspannten sich kurz darauf. seine langen Dolchzähne. Uramanya streckte den Kopf zur Nachdem Rura den Assistenten in Tür herein. »Müsst ihr ständig euren die Flucht geschlagen hatte, kam sie
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Verstand benebeln? Das ist eine Schande für unsere Gilde!« »Keineswegs«, erwiderte Esturin Virol. »Nicht alle sind so arm beseelt wie du.« »Ich diene dem Herrn der Welten.« »Wir doch auch, aber müssen wir deswegen in Askese leben? Wir tun doch nichts Verbotenes, mein Lieber, sondern das, was uns zusteht zur Er leichterung unseres schweren Am tes.« »Da wir gerade von Seelen und dem Herrn der Welten sprechen«, platzte Talpeddo aufgeregt heraus, »ich glaube, Sardaengar nimmt ge rade Kontakt mit mir auf... Ohhh...« Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und sank dann schlaff in seinem Sitz zusam men. Die beiden Perlenträger starrten ihn verblüfft an. »Eine Überdosis ...«, vermutete Uramanya abfällig, »Nein, das glaube ich nicht.« Estu rin Virol tastete mit den Fingern an seine Lippen und verharrte in ehr fürchtigem Staunen. '
Ehrwürdiger, mächtiger Herr der Welten, ich bin Euer untertänigster Diener und werfe mich vor Euch in den Staub... Halte ein! O großer Herrscher, ich spüre Eu ren göttlichen Atem, fühle Euren hei ligen Zorn ... Genug! Ich habe einen Auftrag für dich und die anderen, Talpeddo. Selbstverständlich, Herr. Alles, was Ihr wünscht.
Ihr werdet Narador noch nicht ver lassen. Wir sind auf dem Weg nach Helm-dor, hohe Göttlichkeit, in Euren Diensten. Der Plan hat sich geändert. Ihr werdet bleiben und warten. Selbstverständlich, Herr. In einigen Tagen wird eine Gruppe Fremder eintreffen. Es sind sechs, da von zwei Frauen. Du wirst sie erken nen, wenn du sie siehst. Was soll mit ihnen geschehen? Sie werden den Zug besteigen und nach Helmdor fahren. Ihr werdet mitreisen und sie unter Beobachtung halten. Aber unauffällig, hast du ver standen? Sie dürfen es nicht merken. Unternehmt nichts, bevor ich es euch sage. Jawohl; Herr. Jetzt unterrichte deine Gefährten und befolgt meinen Befehl. Ja, Herr. Danke, dass Ihr mich aus erwählt habt, Eure Botschaft in Empfang zu nehmen. Eine wahrlich große Ehre für mich.
. »Was hat er gesagt?«, fragte Estu-rin voller Ungeduld. Talpeddo setzte sich auf und hielt sieh den Kopf. Er seufzte und stöhnte, bevor er in der Lage war zu antworten, »Der Herr hat zu mir gesprochen!«, verkündete er stolz. Uramanya verdrehte die Augen. »Das haben wir auch schon bemerkt, Talpeddo. Was hat er dir offenbart?« Talpeddo berichtete wortgetreu, was Sardaengar den Perlenträgern aufgetragen hatte.
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»Wir müssen also von jetzt an Aus schau nach dieser Gruppe halten«, überlegte Uramanya laut. »Das dürfte nicht allzu schwierig sein, si cher werden sie gemeinsam die Pas sage buchen. Trotzdem werden wir Anweisung an unser Gefolge ertei len, die Augen offen zu halten.« Talpeddos Assistent stürzte her ein. Er sah ziemlich geschafft aus, aber auch erleichtert. »Herr, ich habe alles arrangiert! Es war nicht ein fach, weil der Zug vollkommen aus gebucht ist, aber es wird alles zu Eu rer Zufriedenheit sein!« Talpeddo winkte mit einer Hand ab. »Storniere es.« Der Assistent blieb stehen und starrte seinen Herrn mit großen Au gen an. »W... was?«, stammelte er. »Bist du taub?«, schnaubte Tal peddo. »Drücke ich mich unklar aus? Ich sagte, storniere es! Wie du das machst, ist deine Sache. Wir werden noch einige Tage bleiben. Und wenn wir abreisen, brauchen wir drei Wag gons - egal, ob sie ausgebucht sind oder nicht, verstanden? Unsere Ab reise kann ganz plötzlich sein, zu je der Zeit! Verstanden?« »Wie soll ich das nur schaffen?« »Das ist dein Problem! Hör auf, dich zu beklagen, oder du wirst auf keiner einzigen Vinara-Welt je wie der Arbeit finden! Sei froh, dass du in unserem Stäub wandeln darfst - und jetzt raus hier!« Rura öffnete ihr Maul, in dem ein halber Blues-Kopf Platz gefunden hätte. Sie gähnte herzhaft, wobei sie ihre langen Dolchzähne provozie rend vorreckte. Der Assistent stürzte hinaus, und die drei Perlenträger konnten sein
verzweifeltes Jammern draußen auf dem Gang hören. »Sie wollen also nach Helmdor.« Esturin Virol kratzte sich am Hut. »Wieso wollen die Fremden ausge rechnet dorthin? Und woher kom men sie überhaupt?« Er blickte Tal peddo auffordernd an. »Und wieso wählt unser Herr ausgerechnet dich als Empfänger? Das ist doch noch nie geschehen. Er hat immer mir den Vorzug gegeben.« Er wiegte düster seinen Kopf. »Seltsame Dinge ge schehen dieser Tage...«
Die Dinge auf Vinara waren gere gelt. Aber das war nicht alles; der Uralte Sardaeng'ar hatte vor kurzem auf Vinara Vier jemanden aufge spürt, den er durch seine Aura als ehemaligen Ritter der Tiefe identifi zierte - und erkannte: den Arkoniden Atlan. Sardaengar hatte keinerlei Vor stellung, weshalb Atlan hier war, und hielt den Arkoniden regelmäßig un ter Beobachtung. Zu seinem Erstau nen musste er feststellen, dass der Unsterbliche inzwischen vom Träger eines Mondsplitters begleitet wurde. Dieser konnte allerdings kein Wächter des Litrak-Ordens sein, denn diese waren schon lange tot. Das bedeutete, dass der Träger den Kristallstab unrechtmäßig an sich genommen hatte - aber woher hatte er ihn, und was hatte er damit vor? Zu seiner Erleichterung bemerkte Sardaengar auf seiner mentalen Su che, dass der »Dieb« bereits verfolgt wurde - von einer Gruppe Perlen schleifern. Der Herr der Welten ver
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stärkte die Konzentration und nahm mentalen Kontakt zu einem der Ver folger auf. Der Mann zuckte zusammen und wäre beinahe gestrauchelt, aber er antwortete umgehend: Wie kann ich Euch dienen, Herr? Wer ist der Stabträger, den ihr ver folgt? Tamiljon, Herr. Allerdings haben wir ihn aus den Augen verloren und suchen nach seiner Spur. Ich werde euch den Weg weisen. Doch seid vorsichtig, er ist nicht mehr allein, sondern wird von einem sehr gefährlichen Mann begleitet. Verfolgt die beiden, greift sie jedoch nicht an, sondern bleibt in ausrei chendem Abstand. Sie dürfen euch nicht bemerken. Jawohl, Herr. Wir warten auf Eu ren Befehl. Sardaengar brachte die Gruppe auf den richtigen Weg und erteilte noch einige Anweisungen, bevor er sich wieder zurückzog. Der Uralte Sardaengar wusste, dass es diesmal nicht damit getan war, seine Hand langer loszuschicken. Er musste et was unternehmen, bevor die ihn heimsuchende Macht zu stark wurde. Sardaengar spürte bereits er neut, wie sein Widerstand schwächer wurde und das Licht in ihm auffla ckerte. Das bedeutete, er musste sich Ver bündete suchen. In der »Vergessenen Positrönik« hatte er eine Präsenz entdeckt, die die Ausstrahlung eines Imaginären besaß. Das beunruhigte, erschreckte ihn sogar. Er wusste noch nicht, wie er sich dazu stellen sollte. Vorerst war es besser, sich dem Wesen nicht
zu offenbaren, solange er nicht mehr wusste. Dem Uralten Sardaengar blieb keine andere Wahl. Er verließ Gra taar, seine Bastion im Herzen des Ograhan-Obsidiangebirges, in Mer-tras, dem Land der Silbersäulen. Und er machte sich auf den Weg durch die raue Gebirgsregion zu einem ganz bestimmten Obsidian-tor ... 5.Lethem da Vokoban Es gab nur einen schmalen Pfad, der über steiniges, karstiges Gebiet führte. Ein rauer Wind herrschte, und es regnete wieder einmal. Die Gestrandeten zogen frierend die Kleidung enger um sich und stapften schweigend dahin. Kythara führte die kleine Gruppe an; ihr schien das unfreundliche Wetter nichts anhaben zu können. Das varganische Naturell war sehr robust und widerstandsfähig - Hitze, Kälte und Schmerz konnten einen Angehörigen dieses Volkes kajum be eindrucken. Auf dem Pfad bildeten sich bald kleine Rinnsale, die zwischen den Steinbrocken dahinflössen. Scaul Rellum Falk tat sich schwer unter diesen Bedingungen. Seine mangelnde Kondition machte sich immer mehr bemerkbar. Auf der TOSOMA war der Terraner für die schiffsinterne Kommunikation zu ständig und Zweiter Stellvertreter des Kommandanten. Es war frag lich, ob er jemals zuvor an einem Außeneinsatz teilgenommen hatte.
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Auch der auf Vinara geborene, schwer gebaute Springer Ondaix war kein Freund ausdauernder Fuß märsche. Immer wieder fluchte er vor sich hin und gab seinem Missfallen Ausdruck. Der Luccianer Zanargun war ein Kämpfer, wie er im Buche stand; er scheute keine Herausforderung und passte sich klaglos jeder Situation an. Da seine gedrungene, massige Gestalt an 1,5 Gravos gewöhnt war, hatte er mit der geringeren Schwer kraft auf diesem Planeten keine Pro bleme. Lethem da Vokoban, der Anführer der Gruppe, hatte aufgrund seiner athletischen, durchtrainierten Figur und seiner Selbstdisziplin keine Pro bleme mit solchen Unwegsamkeiten. Düstere Gedanken plagten ihn. Vol ler Selbstzweifel schritt er dahin und schien weder Wetter noch unwegsa mes Gelände zu bemerken. Die Akonin Enaa von Amenonter versuchte, mit Kythara Schritt zu halten; ihr knabenhafter schlanker Körper schlotterte im kalten Regen, aber sie bemühte sich, sich nichts an merken zu lassen. Schließlich verschwand die Küste hinter einem Hügel. Es ging stetig bergab, auf eine bewaldete Region zu. Der Regen hörte wieder auf, die ersten Sonnenstrahlen drückten sich durch die Wolken. Der vom Meer hereinwehende Wind prallte am Hü gel ab. Lethem blickte auf sein Chrono meter, als plötzlich Stille eintrat. Er blieb augenblicklich stehen und sah auf. Seine Gefährten und er waren umzingelt worden. Wie aus dem Bo den gewachsen standen mit Speeren
bewaffnete Wesen ,um sie herum. Schlangenmenschen, schoss es Le them durch den Kopf. Die Fremden waren Humanoide mit grünlich geschuppter Haut und reptiloid anmutenden Köpf en, deren Gesichter allerdings deutlich terra-nische Züge trugen. Sie trugen zweckmäßige, einfache Kleidung aus grob gewebten Stoffen. In ihren Gür teln steckten Waffen und Werkzeuge; Arme und Beine waren unbedeckt. Schuhe trugen sie keine, ihre kräfti gen Reptilienfüße mit den langen, krallenbewehrten Zehen waren äu ßerst trittsicher. Einige der Wesen trugen Stammesnarben oder bunte Tätowierungen, andere hatten ihre haarlosen Köpfe und Gesichter mit Symbolen bemalt. Sie waren zu acht, und ihre Speer spitzen waren auf Lethems Gruppe gerichtet. Lethem da Vokoban hob vorsichtig seine Hände. »Wir kommen in fried licher Absicht«, sagte er betont lang sam. »Unser Boot ist gekentert. Wir sind auf dem Weg nach Bulak, um dort Hilfe zu erbitten.« Die Wesen zeigten zunächst keine Reaktion. Dann trat einer der Schlangenmenschen nach vorne, seine Arme waren scharlachrot ge färbt. Er richtete seine gelblich grü nen Augen auf Lethem, die gespal tene Pupille weitete und verengte sich langsam. Er war etwas kleiner als Lethem und wirkte keineswegs muskulös. Lethem spürte, dass der Schlan genmensch zu allem entschlossen war. Er zeigte keinerlei Angst. Des halb waren sie gut beraten, keine fal sche Bewegung zu machen. Er nahm
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an, dass die Schlangenmenschen nicht lange fackeln würden. Lethem schwieg vorsichtshalber; eine Wiederholung seiner Worte hätte aufdringlich oder überheblich wirken können. Er zuckte mit keiner Wimper, als plötzlich eine lange, gespaltene Schlangenzunge aus dem Mund des Schlangenmenschen schoss und Lethems Wange abtas tete. Die Berührung war feucht und warm, sie verursachte ein leichtes Kribbeln. Der Arkonide widerstand dem Impuls, sich die juckende Wange zu reiben. Der Schlangenmensch zog seine Zunge wieder ein und drehte sich ab rupt um. »Folgt mir«, forderte er die Gruppe auf, in dem auf Vihara übli chen Interkosmo-Kauderwelsch. Seine Stimme war rau, von leisen Zischlauten durchsetzt. Er warf ei nen Blick über die Schulter. »Unter nehmt nichts, in eurem eigenen In teresse.«1 Lethem nickte seinen Gefährten zu. Sie sollten die Warnung beherzi gen. Selbst jetzt griff die Maghalata nicht ein. Lethem schloss daraus, dass es wohl angebracht war, den Schlangenmenschen widerspruchs los zu folgen. /
Nach zwei Biegungen gelangten sie nach Bulak. Die Stadt lag mitten auf einer Lichtung in einer bewalde ten Schlucht. Ein- und mehrstöckige Häuser aus Stein und Lehmziegeln reihten sich der Straße entlang. Die Straßen führten alle zum Ortszen-trum. In der Mitte befand sich ein großer Platz mit einer mächtigen
Feuerstelle im Zentrum und einem Brunnen. Dort stand das größte Ge bäude, vermutlich der Sitz des Stadtoberhauptes. Der Pf ad führte abwärts auf direk tem Weg in die Stadt, wobei er zuse hends breiter und besser begehbarer wurde, je näher sie kamen. Auf dem Platz im Zentrum der Stadt herrschte buntes Treiben. Lau tes Kindergeschrei drang bis an ihre Ohren. Fast alle Bewohner der Stadt schienen zusammenzulaufen, um die Neuankömmlinge argwöhnisch zu bestaunen. Ein Raunen ging durch die Menge. Lethem und seine Gefährten wur den zum großen Haus geführt. Alle Blicke waren auf den Eingang ge richtet. Schweigen trat ein, niemand rührte sich. Lethem fühlte sich unwohl in sei- . ner Haut, und seinen Gefährten er ging es ebenso. »Was werden sie mit uns machen?«, flüsterte Falk Lethem zu. »Das werden doch hoffentlich keine Kannibalen sein oder so et was?« »Wie kommst du denn darauf?«, zischte Lethem ärgerlich. »Hast du denn nicht die Schädel am Wegrand außerhalb der Stadt ge sehen? Aufgespießt auf Speeren?« »Das waren keine menschlichen Schädel, Falk.« »Wozu dann der Aufwand?« »Zur Abschreckung, was sonst?« »Könnte auch ein Ritual sein... Ich meine ... ich finde es unheimlich.« Lethem konnte den Terraner ver stehen. Keiner von ihnen wusste, was mit ihnen geschehen würde. Viel leicht lebten die Schlangenmen schen aus gutem Grund so abge
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schieden. Jeden Moment konnte ei ner zuschlagen ... »Nur nicht nervös werden«, brummte Lethem seinen Gefährten zu. »Das gilt für euch alle!« Plötzlich geschah etwas Erstaunli ches. Die große Tür des Gemeinde hauses schwang auf, und ein farben prächtig tätowierter Schlangen mensch trat heraus. Es war nicht er kennbar, ob es ein Mann oder eine Frau war, äußerlich waren die Ge schlechter der reptiloiden Wesen nicht voneinander zu unterscheiden. Die Menge wich einen halben Schritt zurück, einige neigten die Köpfe und murmelten ehrerbietige Grüße. Vermutlich handelte es sich um das Oberhaupt, das grußlos die Stufen herunterstieg und die Frem den in Augenschein nahm. Ohne ein Wort zu wechseln, drehte sich das Wesen wieder um und ging die Treppe wieder hinauf. Oben ange langt, verharrte es in abwartender Haltung. Gleich darauf kam noch je mand aus dem Haus. Eine Frau! Lethem schätzte sie auf Mitte fünfzig. Sie war klein, gedrun gen und fett. Mit schwerfälligen Be wegungen kämpfte sie sich die Treppe hinunter. Ihre Haut war wie Pergament und die Finger verkrüp pelt. In diesem Augenblick spürte Le them die Berührung einer warmen, weichen Hand auf seinem Arm. »Ich mache das«, sagte Kythara und ging auf die alte Vettel zu.
Kytharas elegante weiße Kleidung war nach all den Geschehnissen
schmutzig und abgerissen. Dennoch wirkte sie königlich, als sie sich vor die Gefährten stellte. Ihr hüftlanges Haar umspielte in einer leichten Brise ihre Taille, ihre Bronzehaut hatte den seidigen Glanz nicht verlo ren. »Ich bin Kythara«, sprach sie mit rauchiger Stimme und breitete die Arme in einer freundlichen, friedli chen Geste aus. Ein Raunen ging durch die Menge der Schlangenmen schen. Auch die alte Vettel zeigte sich sichtlich beeindruckt. »Die Magha-lata!«, stieß sie mit krächzender Stimme hervor. »Ich kenne alle Geschichten über dich, hochgeehrte La-hamu, denn ich bin Adined, Heilerin und Schamanin der Bulaki. Das ändert natürlich alles!« Sie wandte sich dem Oberhaupt zu. »Freunde!«, rief sie voller Pathos und hob die Arme. »Lasst sie uns eh ren!« Der Bann war gebrochen. Die Menge brach in Jubel aus, und die Scheu den Fremden gegenüber war wie weggeblasen. Lethem und seine Gefährten wurden mit Fragen über schüttet. Einige der Stadtbewohner fingen an, den Platz umzuwandeln. Sie schleppten Brennholz herbei, Obst und Gemüse. Ein ziegenähnli ches Wesen wurde zur Feier des Ta ges geschlachtet. Im Nu standen große Schüsseln mit Salaten und Früchten auf Tischen. Die Gestrandeten wurden zur Ta fel des Oberhauptes geführt. Man bot ihnen Platz an und forderte sie auf, von den Speisen und Getränken zu kosten. Lethem und seine Begleiter nahmen dankend an. Die Bulaki
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schafften Vorräte heran, zeigten stolz ihre Waffen, die aussahen wie kurze Speere und Messer. Ondaix' Streit axt fand höchste Bewunderung. Lethem beobachtete, wie Kythara und Adined sich angeregt unterhiel ten. Er hätte gerne gewusst, worüber sie sprachen. Sie benötigten Fortbewegungs mittel für ihre weitere Reise. Die Maghalata verhandelte geschickt mit dem Stadtoberhaupt. Außerhalb der Stadt, auf einer großen Koppel, hatten die Bulaki ihre Lasttiere an gebunden. Sie sahen aus wie Echsen, etwa drei Meter lang und muskelbe packt. »Die Tiere können bis zu einhun-dertzwanzig Kilometer am Tag zurücklegen«, erläuterte Kythara Lethem, der beim Anblick der Echsen nicht schlecht staunte. »Wie weit ist es von hier nach Narador?«, fragte Lethem. »Etwa achthundert Kilometer«, antwortete die Varganin. »Wir könn ten es in vier Tagen schaffen.« »Die Bulaki geben uns die Tiere einfach so?« »Natürlich nicht. Aber das lass meine Sorge sein.« »Die Bulaki sind sehr gastfreund lich. Anfangs hätte ich das nicht er wartet«, stellte Lethem fest. Kythara nickte. »Man kann es ih1-nen nicht verdenken. Früher lebten sie in unmittelbarer Nähe anderer Siedlungen, wurden jedoch immer wieder ausgeraubt und umgebracht. Du musst wissen, die Bulaki sind sehr geschickte Handwerker. Außerdem hat ihre Haut einen hohen Marktwert.« Lethem riss voller Entsetzen die
Augen auf. »Nach dem, was du mir erzählt hast, wundere ich mich, warum sie nicht sofort jeden töten, der ihnen zu nahe kommt.« »Sie sind von Natur aus sehr frjed-fertig«; erklärte Kythara. »Ein fröhliches Volk, das gerne feiert. Das Streben nach Macht und Reichtum bedeutet ihnen nichts, sie können von dem leben, was die Natur ihnen gibt. Ihr einziger Stolz sind die Dar-rikki, ihre Reittiere. Die Bulaki zäh-len_zu den wenigen auf diesem Kontinent, die die Darrikki züchten können. Der Handel mit den Tieren ist sehr einträglich. Wir müssen die Tiere nicht kaufen, sondern können sie uns für unsere Reise leihen.« Lethem überlegte. »Einverstan den. Sag dem Oberhaupt, dass zwei seiner Leute nach Narador mitrei ten sollen. Sobald wir dort ange kommen sind, brauchen wir die Tiere eh nicht mehr. Die Bulaki kön nen anschließend mit den Tieren zu rückkehren.« Der Arkonide hob erstaunt die Brauen, als Kythara plötzlich lachte. »Wieso gehst du davon aus, dass das Oberhaupt männlich ist?«, amü sierte sich die Varganin. »Oh, es ist ... Man kann sie nicht voneinander unterscheiden«, stot terte Lethem peinlich berührt, was einen weiteren Heiterkeitsausbruch zur Folge hatte. »Nun, das ist eben eure Art, du brauchst dich nicht zu rechtferti gen«, sagte Kythara beruhigend. »Aber lass dir gesagt sein, dass es überhaupt keine männlichen Bulaki gibt.« »Wie bitte?« »Ja. Es sind alles Frauen. Ohne
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Ausnahme.« Kythara zwinkerte Le-them zu und wandte sich an Adined, mit der sie offensichtlich noch einiges zu besprechen hatte.
Am 13. April kamen sie vor den Toren Naradors an. Vor ihnen lag eine farbenprächtige Küstenstadt mit einem bunten Flechtwerk an Ge schäftshäusern, Märkten und Taver nen. Gewohnt wurde ausschließlich in den oberen Stockwerken, wobei sich die gesamte Stadt in ethnische Viertel aufteilte, die jeweils haupt sächlich von Springern, Blues, Ako-nen, Arkoniden und Leuten aus Narad, Viirae und Lullivant bewohnt wurden. Jedes Viertel besaß ein ganz eigenes Flair und unterschied sich durch artenspezifische Details. Ein Blue mochte staunend durch ein Viertel der Arkoniden gehen, und ein Springer amüsierte sich nirgends besser als in den Singhallen der Akonen. Allerdings gab es auch Bezirke, in denen ein buntes Vielvölkergemisch herrschte. Im großen Hafen lagen riesige Schoner, Galeeren und kleine Privatyachten vor Anker. Die Mann schaften setzten sich aus allen Teilen der Bevölkerung zusammen, und die Tavernen boten für jeden Ge schmack genau das Richtige. Der Lärm, der im Hafen herrschte, war unübertrefflich; ebenso der Gestank nach Schiffsdiesel, vergammeltem Tang und verwesendem Fisch. Eine empfindliche Nase mochte die Piers und Molen meiden. In den engen Gassen des Hafenviertels mit seinen unzähligen Spelunken roch es nach
warmen Speisen, Alkohol und Ta bak. Dies alles erfuhren die Reisenden von den beiden Bulaki, noch bevor sie Narador erreicht hatten. Lethem glaubte ihnen jedes Wort, er freute sich jetzt bereits auf den aufregen den Duft des Hafenviertels. Ondaix schien ebenfalls begeistert zu sein. Er versuchte, seinen er schöpften Darrikki durch kräftige Tritte in die Flanken anzutreiben. Allerdings streikte das brave Tier, blieb stehen und schüttelte sich hef tig. Zanargun strafte den Springer mit einem scharfen Blick. Es war ohne hin ein harter Ritt gewesen, und statt vier Tagen hatten sie fast fünf ge braucht. Bei Wind und Regen waren die Darrikki kaum vorwärts zu be wegen, hinzu kam,''dass Scaul Rel-lum Falk nach einem Tag bereits einen wunden Hintern beklagte. Immerhin hatte der Terraner sich oben halten können, im Gegensatz zu Ondaix. Durch seine forsche Art kam er öfters in Bedrängnis und wurde von seinem Reittier abgeworfen. Die D.arrikki konnten auch stur sein. Es gab Situationen, in denen die Tiere unverhofft die Richtung wech selten und außer Kontrolle gerieten. Lethem und seine Gefährten waren im Umgang mit den Darrikki unge übt und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Schließlich ban den die Bulaki die Tiere aneinander und führten Lethems Gruppe an ei ner atemberaubenden, sturmumtos ten Küste entlang. Die Reise von Bulak nach Narador war eine harte Prüfung für alle gewe sen, und sie waren heilfroh, als sie die
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rauchenden Kamine der Stadt am Horizont entdeckten. Lediglich die beiden Bulaki schienen ihr Vergnü gen gehabt zu haben. Sie lachten und sangen fast den gesamten Ritt über, bauten jeden Abend mit unerschüt terlich guter Laune ein dürftiges La ger und verteilten die mitgenomme nen Vorräte. Die Schlangenmenschen schienen völlig unempfindlich gegen das Wet ter zu sein; der Regen perlte von ihrer grünlichen Schuppenhaut weitge hend ab und schien sie nicht zu un terkühlen, im Gegensatz zu den Dar-rikki, die mit quäkenden Lauten meckerten. Lethem und seine Gefährten schwangen sich aus den Sätteln ihrer Reittiere. Vor den Toren der Stadt verabschiedeten sie sich von den Bu laki und bedankten sich nochmals für die freundliche Gastlichkeit.
Immerhin - ein Gutes hatte das Wetter: Auf Regen folgte stets Son nenschein. Als Lethems Gruppe Naradors Stadttore passierte,, schien die Sonne Verdran bereits mit voller Intensität vom Himmel und dampfte im Nu die ganze Nässe weg. Lethem beobachtete amüsiert die unsicheren Schritte seiner Gefähr ten; der lange Ritt hatte allen Schwielen und Muskelkater be schert. »Wie sieht es aus?«, fragte er in die Runde. »Benötigt jemand eine Ruhe pause, oder wollen wir auskund schaften, wann der nächste Zug geht?« Sie waren sich sofort einig, so
schnell wie möglich den Zug nach Helmdor zu erreichen. Während der langen Zugfahrt bestand ausrei chend Gelegenheit, sich von den Strapazen zu erholen. Helmdor lag am Rand des Vorge birges, das die Länder Narad und Viirae von M#r£ras, dem Land der Silbersäulen, trennte. Für die rund 1200 Kilometer Bahnlinie benötigte der Zug drei Tage. In Narador herrschte dichter Ver kehr, bis zum Bahnhof brauchten sie eine gute Stunde zu Fuß. Lethems Gruppe machte auf niemanden be sonderen Eindruck, sie unterschied sich kaum von allen anderen, die hier geschäftig unterwegs waren. Wie bereits bei den Bulaki küm merte sich wiederum Kythara um die Passage. Die Varganin betrat den Bahnhof und sprang auf ein Laufband, das die Passagiere zu den je-\ weiligen Schleusen brachte. Als sie das Hinweisschild Helmdor ent deckte, verließ die Maghalata das Beförderungsmittel und begab sich direkt zur Schleuse. Sie reservierte sechs Sitzplätze und warf eine Hand voll Lithras in einen Schacht. Währenddessen warteten die rest lichen Gefährten vor dem Eingang und beobachteten die Leute. Nach einer halben Stunde tauchte die Var ganin vor dem Bahnhof auf. »Der nächste Zug geht leider erst morgen früh, aber immerhin können wir mit fahren. Ich'hatte schon befürchtet, dass der Zug bereits ausgebucht ist, denn dummerweise ist eine Gruppe Perlenträger hier, die nicht weniger als drei Waggons in Beschlag genom men haben.« »Dann haben wir ja doch den Rest
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des Tages und die Nacht frei!«, freute sich Ondaix. »Wann, sagst du, geht der Zug?« »Pünktlich um sieben Uhr drei ßig.« »Ich werde rechtzeitig da sein! Bis morgen!« Bevor ihn jemand aufhalten konnte, war Ondaix in der Menge verschwunden. Lethem wollte ebenfalls die Stadt erkunden. »Wir treffen uns morgen früh um sieben Uhr, hier an dieser Stelle. Jeder kann bis dahin tun, was er möchte. Narador scheint eine Stadt zu sein, die alles bietet...« Keine zehn Sekunden später hattes sich die Gruppe getrennt.
Als Lethem sich auf den Weg zum Bahnhof machte, war es noch dun kel. Am Himmel konnte er ein ein maliges Schauspiel beobachten, das seine Unruhe wachsen ließ. Brocken des »Obsidian-Rings« kollidierten mit dem Kristallmond. Die grell auf leuchtenden Explosionen waren weithin sichtbar. Am Bahnhof war noch nicht viel los. Die Dämmerung setzte gerade ein, als Enaa und Falk auftauchten; bald darauf fand sich der Rest der Gruppe ein. Auch Ondaix, der ziem lich Schlagseite hatte und voller Stolz verkündete, die Nacht voll aus genutzt zu haben. »Wer weiß«, sagte er, »wie oft ich dazu noch Gelegen heit habe!« Dem widersprach niemand. »Schaut!«, rief Zanargun plötzlich und deutete zum Himmel empor. Am Horizont zeigte sich der erste
rotgoldene Schimmer, doch ini Zenit war der Himmel noch nachtblau. In rascher Folge fielen sieben Stern schnuppen vom Himmel. Das war kein gutes Omen. Lethem und seine Gefährten be traten die weitläufige, von der Mpr-gensonne lichtdurchflutete Bahnhofshalle. Zum Bahnsteig auf der anderen Seite war sie völlig offen und gab den Blick frei auf ein schwarzes, dampfendes Ungetüm. Die Lokomotive sah aus wie die mechanische Nachbildung eines bi zarren Drachen, mit vielen Aufbau ten, spitzen Auslegern und fahl schimrnernderi »Schnuppen« aus Obsidian als Zierelemente. Die Scheinwerfer strahlten glutrot durch den überall austretenden, uniherwabernden Dampf, der den Zug wie eine Aura umhüllte und die aufwändig gearbeiteten, verschnör kelten Verzierungen der angehäng ten Waggons verzerrt hervortreten ließ. Aus dem Schlot quoll stoßweise schwarzer Qualm, alles war mit Ruß belegt. Die Lokomotive keuchte und stampfte. Bald würde die Fahrt los gehen. Auf dem Bahnsteig herrschte in zwischen dichtes Gedränge, jeder wollte der Erste auf seinem Platz sein, und die Anweiser hatten alle Hände voll zu tun, Streitigkeiten zu verhindern. Es trat erst etwas Ruhe ein, als ein großes Gefolge erschien. Kythara stieß Lethem leicht an und wies mit einem Kopfnicken auf die Neuan kömmlinge. »Perlenträger«, sagte sie mit einer Spur Verachtung in der Stimme. Ondaix, der hinter ihr
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stand, griff unwillkürlich nach sei ner Axt im Gürtel. Lethem hatte schon einiges über die berühmten »Perlenträger von Helmdor« und ihr Wirken im »Auf trag des Herrn der Welten« gehört, war zuvor aber noch keinem von ih nen begegnet. Sie ließen jeden spüren, dass sie sich als die absoluten Herren ansa hen und die einzig wahre Macht be saßen. Ihr Auftreten verlieh dem Wort Arroganz eine ganz neue Di mension. Wer nicht rechtzeitig aus wich, wurde beiseite gestoßen. Den Perlenträgern voraus gingen vier Blues, die mit Besen den Boden rei nigten und riefen: »Platz! Macht Platz den Herren der Gilde, Bot schaftern des Uralten Sardaengar, Hütern der Lithras!«. Nichts durfte die hohen Herren beschmutzen, nie mand mangelnde Ehrerbietung und Demut zeigen. Die Gefolgschaft der Perlenträger zählte an die hundert. Die meisten waren Blues, aber auch etliche Ver treter anderer Völker waren unter ihrien. Die drei Perlenträger - sie schienen Arkonidenabkömmlinge zu sein - wurden in schaukelnden Sänf ten getragen. Sie trugen pech schwarze, knöchellange Roben mit weiten Ärmeln und hochgeschlosse nem Stehkragen. Ihr herausragendes, unverkennbares Kennzeichen waren etwa fünfzig Zentimeter hohe, orangefarbene Hüte in Form von Obelisken. Über den Schultern tru gen sie Stolen, die beiderseits bis in Hüfthöhe reichten und dieselbe orange Farbe hatten. Am Ende der Stolen und an den Rändern der Hüte war das Symbol der Perlenträger ab
gebildet: die fünf Vinara-Welten, ge kennzeichnet als schwarze Kreise, in einem gleichseitigen Fünfeck ange ordnet, auf weißem Grund mit schwarzem Rand. Lethem sprang reflexartig zur Seite, als dicht neben ihm ein Blue schrillte: »Platz da, zur Seite! Gebt den Weg frei für die ehrenwerten Tal-peddo, Esturin Virol und Uramanya, Herren der Gilde und Perlenträger!« Lethem hielt Zanarguns Arm fest, der nahe daran war, die Beherr schung zu verlieren. »Wir sitzen im selben Zug, gefährde unsere Passage nicht, und errege vor allem keine Aufmerksamkeit!«, zischte er ihm zu. Mit provozierender Umständlich keit verteilte sich das Gefolge auf die drei reservierten Waggons am Ende des Zuges, wo der Rußniederschlag am geringsten war. Die drei Arkoni denabkömmlinge ließen sich immer hin dazu herab, aus den Sänften zu steigen und auf eigenen Füßen ihren Waggon zu betreten. Sie machten da bei den Eindruck, als wäre ihnen die Umgebung völlig gleichgültig, als würden sie niemanden bemerken und wären ganz in ihre eigene Welt versunken. Sie hielten sich für etwas Besseres, das stand außer Frage. Dennoch hatte Lethem für einen kurzen Moment das Gefühl, als be obachte ihn ein Perlenträger mit ei nem gezielten Blick, kurz bevor er im Waggon verschwand. Hatte das etwas zu bedeuten? Le them war jedenfalls alarmiert. Er wandte sich an Zanargun: »Wir müs sen diese Leute beobachten. Wer weiß, ob das Zufall ist...« Immerhin standen sie im Dienst
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des Uralten Sardaengar, und Le-thems Gruppe war zur Residenz des Herrn der Welten unterwegs. Da konnte es einen Zusammenhang ge ben. Der Arkonide wollte kein unnö tiges Risiko eingehen. Als das Gepäck der Perlenträger verladen war, die Gefolgschaft die Waggons betreten hatte, duften end lich die Reisenden einsteigen. »Ist das immer so?«, rief Scaul Rel-lum Falk genervt und murmelte: »Meine Güte, wie kann man es nur auf so einer primitiven, völlig unor ganisierten Welt aushalten...« Der Terraner wurde von den drän gelnden Leuten nach vorn geschubst, die Stufen halbwegs hinaufgehievt und in den Gang getrieben. Es dau erte eine geraume Weile, bis die Gruppe'in dem Durcheinander wie der zusammenfand. Ein schrilles, durchdringendes, lang gezogenes Pfeifen signalisierte den Start. Die Lokomotive erwachte zu Feuer speiendem Leben. Die Kraft wurde über die Treib- und Kuppelstangen auf die Antriebsach sen übertragen, und die Kuppelräder setzten sich in Bewegung. Als die Bremse gelöst wurde, reagierten die geschmierten Laufräder sofort. Anfangs schien es, als könne die Lokomotive die Kraft nicht aufbrin gen, die vielen Waggons zu ziehen. Lautes Fauchen und Ächzen war zu hören. Allmählich bewegten sich die Kolben immer schneller, der Schorn stein stieß eine gewaltige schwarze Wolke aus. Ein scharfer Ruck er schütterte die Passagiere, danach ge wann der Zug allmählich Fahrt.
Falk und Enaa waren nicht gerade begeistert, als Kythara gestand, dass sie keine Sitzplätze reserviert hatte. »Ich habe alles versucht, glaubt es mir«, versicherte die Varganin, aber das war nur ein schwacher Trost. Der Zug war hoffnungslos überfüllt, mit Ausnahme der drei Waggons, die die Perlenträger mit Beschlag belegten. Sich dort einzuschleichen war un möglich, denn der Zugang wurde streng bewacht. Lethem und den anderen blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach einer Sitzgelegenheit zu machen. Sie durchwanderten Wag gon um Waggon, vorbei an ungedul digen Passagieren. Dabei entdeckten sie sanitäre Einrichtungen, die je doch ständig umlagert waren, so dass Zanargun verkündete, er würde sich sehr zurückhalten und lieber bis zum nächsten Halt warten. Ondaix lachte dröhnend. Er schlug vor, sich im Not fall seitlich nach draußen an den Zug zu hängen. Je weiter die Gruppe in die Nähe des Zugwagens kam, desto weniger Passagiere standen auf den Gängen. Kein Wunder, die Luft war rauchver pestet, der Lärm der Lokomotive drang bis hierher durch, und die Waggons rüttelten stärker als die an deren. Im vordersten Waggon, gleich hin ter der Lok, fanden sie endlich freie Plätze in einem Abteil. Dort saß be reits eine lustige Gruppe Viin unbe kannter Herkunft, deren Gesichter rußverschmiert waren, weil sie ver gessen hatten, das Fenster zu schlie ßen. Sie waren guter Dinge, was si cherlich an dem gelbfarbenen, koh-lensäurehaltigen Getränk lag, das sie
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geradezu in sich hineinschütteten. Als sie Lethems Gruppe entdeckten, luden sie sie lautstark ein, sich zu ih nen zu gesellen. »Wir heißen Didaw, Raut, Effried und Ernsth«, stellten sie sich vor. »Wir sind unterwegs nach Achin beim Hain Elkarin.« Enaa hob die Augenbrauen. Didaw beugte sich vor und deutete zum Himmel. »Habt ihr bemerkt, dass etwas Bedeutendes vor sich geht? Wir sehen verglühende Him melskörper und Eruptionen auf dem Kristallmond. Ein seltsames schwar zes Band hat sich gebildet, wie eine tödliche schwarze Schlange, die ih ren Würgegriff langsam zuzieht. Das alles sind bedrohliche Vorzeichen.« Die anderen nickten zustimmend. »Etwas Schreckliches wird auf uns zukommen«, bemerkte Raut, und Ef fried fügte hinzu: »Es wird alles ver ändern.« Für einen Moment herrschte betre tene Stille, denn jedem war klar, dass dies nicht Aberglaube oder hysteri sche Prophezeiung, sondern schlicht die Wahrheit war. Und was Lethem am meisten beschäftigte, war, dass sie nicht wussten, was das für die Obsidian-Kluft bedeutete - und ob sie überhaupt die Chance hatten, wieder nach Hause zu kommen. Auch Atlan war noch immer ver schwunden; ohne den Unsterblichen war eine Abreise, sollte sie möglich werden, undenkbar. »Und wohin fahrt ihr?«, wollte Ernsth wissen. »Nach Helmdor«, antwortete Le them. »Das trifft sich gut! Da könntet ihr doch eine kurze Rast im Hain einle
gen. Ihr seid herzlich eingeladen, euch uns anzuschließen!« »Danke, aber wir müssen umge hend weiter«, lehnte der Arkonide höflich ab. »Und wohin, wenn ich fragen darf?« Lethem fühlte sich unwillkürlich an einen Reporter Arkons erinnert; diese Leute waren niemals »außer Dienst« und witterten sofort interes sante Neuigkeiten, die verbreitet werden mussten. Wenn dieser Mann eine ähnliche Gesinnung hatte, be deutete das, besser eine Antwort zu geben, die ihm weitere Rätsel aufge ben und ihn erst mal beschäftigen würde. »Nach Mertras, ins Land der Sil bersäulen«, antwortete der Arko nide. Jeder im Abteil riss die Augen auf, auch seine eigenen Gefährten, die mit dieser direkten Auskunft nicht gerechnet hatten. »Dann sucht ihr am Ende nach dem Uralten Sardaengar, dem Herrn der Welten?«, stieß Didaw schließlich hervor und fing an zu lachen. »Das haben schon eine Menge versucht, mein Freund. Viel Glück dabei, das könnt ihr brauchen.« Er wackelte mit seinen buschigen schwarzen Brauen und richtete seinen Blick auf Ondaix, der sehnsüchtig auf sein halb volles Glas starrte. Er reichte dem Springer das Glas. »Zum Wohl«, sagte er breit grinsend. »Du wirst es brauchen.«
Die Zeit verging sehr schnell. Le thems Gruppe hatte ausreichend Ge
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legenheit, sich von den bisherigen Strapazen zu erholen. Die Mitreisen den boten jede Menge Unterhaltung, bis hin zum Moritaten-Gesang. Sie fuhren durch urwüchsige Wäl der, an Felsenregionen und steil ab fallenden Schluchten vorbei. »Ich bin sehr froh,!Jdass wir nicht gezwungen sind, zu Fuß zu gehen«, bemerkte Scaul Rellum Falk zufrie den und lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück. Schließlich wurde das Gelände ebener, und als sie die Wälder hinter sich ließen, ging es durch liebliches Grasland. Der Zug gewann auf der schnurgeraden, ebenen Strecke mit einem Mal deutlich an Fahrt. »Wir erreichen ""bald Iszuma.« Ernsth blickte aus dem Fenster. Die Sonne Verdran überzog das Land mit einem intensiv orange leuchtenden Licht, »Man nennt sie auch die Grüne Stadt, denn sie ist sehr offen und weitläufig, die Häuser sind in die Landschaft eingepasst. Hauptanzie hungspunkt ist der riesige Markt. Die Leute kommen von überall her, um dort ihre Waren zu verkaufen oder zu tauschen. Iszuma ist sehr zentral gelegen mit seinen vier gro ßen, gut ausgebauten Ausfallstraßen und der Bahnlinie, die für jede Menge Warentransporte sorgt...« »Die haben noch Fracht dabei? Wo ist die untergebracht?«, unterbrach Zanargun. »Zwischengelagert«, antwortete Ernsth und deutete auf Decke und Boden. »Deshalb sind die Abteile ja auch so niedrig und eng. Sogar Le bendfracht wird da hineingestopft -fragt nicht, in welchem Zustand manche Tiere ankommen...«
»Barbarisch«, brummte der Terra-ner. Der Bahnhof von Iszuma lag am Östlichen Stadtrand. Schon von wei tem war die Menschentraube sichtbar, die auf das Eintreffen des Zuges wartete. Die Lok stieß einen hohen , Pfiff aus und verlangsamte die Fahrt. Der einfahrende Zug hielt mit lautem Zischen auf Höhe einer großen Plattform. Über die Sprechanlage wurde durchgegeben, dass der Aufenthalt etwa eineinhalb Stunden dauern würde. Genug Zeit, sich etwas die Beine zu vertreten. Bewegung geriet in die Menge, als die Türen aufgingen und die Reisenden aus den Waggons strömten. Gleichzeitig wurde mit dem Entladen der mitgeführten Wa ren begonnen, und es rumorte und scharrte überall im Zug. Die Wag gons wackelten wie ein Schoner auf See. Lethem wartete ab, bis sich der größte Trubel gelegt hatte. Der Ar-konide verließ den Zug, ging um die schnaubende Lok herum, die ihn auf befremdliche Weise mit ihren rot glühenden Scheinwerfern zu verfolgen schien, und kletterte über das Gleis auf die andere Seite. Das Land lag weit ausgebreitet vor ihm. Dunkle Bergketten zeichneten sich am Horizont ab, dazwischen waren Wälder zu erkennen, und einige Flüsse durchfurchten blühende Wiesen. Froh darüber, endlich seine Beine strecken und wieder rußfreie Luft at men zu können, ging Lethem einige Schritte am Gleis entlang. Langsam versank die Landschaft in der Däm merung. Das Durcheinander auf der
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Plattform schien kein Ende nehmen zu wollen. Lethems Blick wurde von etwas Ungewöhnlichem am Himmel abge lenkt. Der 2. Pilot der TOSOMA hatte schon von den Goldenen Tech nostädten gehört, sie aber noch nie gesehen. Gleich drei davon schweb ten in unterschiedlicher Höhe über der Stadt und dem Land. Es waren gewaltige, mehrere Kilo meter durchmessende und mehrere hundert Meter hohe goldene Platt formen. Sie hingen schwerelos in der Luft und zogen langsam dahin. Wie die künstlerische Skulptur eines Wolkenschlosses, das auf gigantische Maße umgesetzt worden war. Lethem erkannte zierliche Türmchen, Zwie belkuppeln, verschnörkelte Aufbau ten in Glas und Porzellan; gläserne Brücken, Viadukte, Arkaden. , Die Fassaden wurden durch Balkone, Erker und dicht bepflanzte Terrassen aufgelockert. Lange, in alle Richtungen ragende Kristallstacheln wurden von blau weißen Entladungen und Lichtbo gen umzuckt. An Seifenblasen erin nernde, bis zu dreißig Metern durch messende »Sphären« umperlten in Gruppen die Plattformen,' schienen zu landen, stiegen wieder auf und verschwanden teilweise spurlos. Lethem musste sich eingestehen, niemals zuvor so etwas ästhetisch Vollkommenes gesehen zu haben. Ganz in seiner Nähe, in etwa dreißig Metern Höhe, hing eine der Golde nen Technostädte. Lethem sah flie gende, gold- und messingfarberie, ovalförmige Roboter mit je zwölf Tentakelarmen oben und unten. Die obere Polkalotte leuchtete auf die
Entfernung wie ein facettierter Ru bin; vermutlich befanden sich dort die Sensoren und das »Gehirn«. Sie sahen aus wie die Roboter, denen er nach der Bruchlandung der TO SOMA bereits einmal begegnet war. Was diese Roboter dort taten, war für Lethem allerdings nicht erkenn bar. Lebewesen schien es keine zu ge ben, der Arkonide konnte zumindest niemanden entdecken. Lethem wandte den Kopf. Die Maghalata steuerte direkt auf ihn zu. »Wozu mö gen sie nur gut sein?«, fragte er und deutete auf die Städte. »Das weiß niemand«, antwortete die Varganin. »Es gibt sie schon im mer, sie erhellen unsere Nächte und erfreuen unser Auge bei Tag. Die Städte ziehen einfach so dahin. Wir können sie nicht betreten, Lethem, und du solltest besser ebenfalls nicht daran denken. Ich habe gehört, dass die Ovalroboter sofort angreifen. Oder man löst sich einfach in Luft auf. Jedenfalls ist bisher jeder Ver such gescheitert, denn niemand kehrte je zurück.« Lethem runzelte die Stirn. Kythara, die nur wenig kleiner war als er, warf ihm einen strengen Blick zu. »Ich kenne dieses seltsame Glitzern in deinen Augen und die plötzliche Feuchtigkeit darin. Ich warne dich, mein Freund - versuche nichts Unüberlegtes. Ohne eure Technik, von der du mir berichtet hast, kannst du hier nichts ausrich ten.« »Wir werden sehen«, meinte der Arkonide leichthin. »Warte es ab.«
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Die Zeit in Iszuma verging schnell. Als der erste Pfiff ertönte, leerte sich der Bahnsteig allmählich. Lethem kehrte als Letzter ins Abteil zurück, er hörte Scaul Rellum Falk berich ten: »... einen Blick riskiert. Luxu riös, kann ich euch nur sagen! Die müssen die Waggons schon länger re serviert haben, denn solche Umbau ten kann man, nicht so schnell vor nehmen.« »Redest du von den Perlenträ gern?«, fragte Lethem. Der Terraner nickte. »Ich denke, die haben ihre Abreise tagelang ge plant und vorbereitet, bis sie tat sächlich aufgebrochen sind.« »Ist das normal?«, fragte Zanar-gun. Enaa hob die Schultern. »Bei den Perlenträgern weiß man nie. Sie las sen niemanden in ihre Nähe, wickeln sogar den Handel über ihre Gefolgs leute ab. Ich weiß nicht, ob alle so pompös leben wie diese drei, aber ich denke, wer so viel Wert auf Luxus legt, kann nicht sehr spontan und fle xibel sein.« »Hm.« Lethem legte die Stirn in Falten und zwirbelte nachdenklich seinen langen, eisgrauen Schnurr bart. Die Flügel seiner schmalen Nase weiteten sich leicht. »Worüber denkst du nach?«, fragte Enaa neugierig. »Es ist nur so ein Gefühl«, meinte Lethem und gab Enaa mit einer Geste zu verstehen, dass er sich im Beisein der Fremden nicht weiter darüber auslassen wollte. Irgendetwas sagte ihm, dass die Anwesenheit der Perlenträger kein Zufall sein konnte. Der Zug fuhr an und ließ bald das helle Strahlen der nächtlich be
leuchteten Stadt hinter sich zurück. Lethem verrenkte sich halb den Kopf, denn er wollte noch einmal ei nen Blick auf die Goldenen Tech nostädte erhäschen. Der qualmende Schlot verwehrte ihm die Aussicht. Schnell schloss er das Fenster und klopfte sich ab. Schon bald tauchte der Zug vollends in die Dunkelheit ein, von außerhalb betrachtet mochte er wie ein glühender Feuer wurm wirken, der einsam seinen Weg durch die Nacht suchte. Es ging in schnellem Tempo weiter, der nächste Halt fand bereits kurz vor der Dämmerung statt. Eine Durchsage kündigte die Ankunft im Hain Elkarin an, zu dieser Zeit schliefe'n die meisten der Mitreisen den noch. Didaw und seine Freunde packten in Windeseile ihre Sachen zusammen und verabschiedeten sich in ihrer lautstarken, herzlichen Art von Lethem und lden restlichen Gruppenmitgliedern. Der Zug war noch nicht zum Stillstand gekom men, als sie bereits aus dem Waggon sprangen. Sie winkten ein letztes Mal und verschwanden rasch in der Dunkelheit. Der • Halt dauerte diesmal nicht lange, nur wenige Leute stiegen aus. Einige Reisende warteten darauf, einsteigen zu können, Waren wurden be- und entladen, dann ging es schon weiter. Lethem konnte durch den Qualm erkennen, dass der Bahnhof mitten in einem Wald lag, mit hohen, schlanken Bäumen. Ihre Rinde war glatt und hatte eine grünlich gelb fluoreszierende Maserung. Zwischen den Bäumen hindurch zogen sich be leuchtete Pfade; Leitern und Trep
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pen führten in höhere, teilweise ebenfalls beleuchtete Regionen. , Schon hatten sie den Hain wieder verlassen; der Zug ratterte mit hoher Geschwindigkeit weiter. Fahrplan gemäß würden sie die vorletzte Sta tion Qild gegen Nachmittag des 15. April 1225 NGZ erreichen.
Als sie kurz vor Qild waren, be merkte Lethem eine sonderbare Un ruhe bei Kythara. »Was ist das für ein Halt?«, wandte er sich an Enaa. »Man -nennt Qild den Ort der Kraft«, antwortete die junge Akonin. / »Es gibt dort einen Steinkreis, dem mystische Kräfte nachgesagt werden. Mehr weiß ich auch nicht.« Lethem nickte und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Landschaft draußen. Das Gleis schlängelte sich durch liebliche Auen an einem Fluss entlang, der sich vielfach ver zweigte und dazu einlud, mit dem Boot die Seitenarme zu ergründen. Und genau hier, mitten im Nichts, war auf einer blühenden Wiese ein kleiner Bahnhof eingerichtet wor den, mit einem Wasserspeicher und großen Behältern voller Holz und Kohle. Die Lokomotive hatte schon lange vorher die Fahrt verlangsamt und fuhr im Schritttempo an den schma len, etwa fünfzig Meter langen Steig heran. Laut Fahrplan ging die Fahrt mit Einbruch der Dunkelheit weiter. Der Bahnhof war kaum mehr als eine schlichte Holzhütte, bot jedoch alle Annehmlichkeiten - Restaurants,
Bäder, Souvenirläden. Mit Aus nahme der Perlenträger verließen alle Reisenden den Zug. Ondaix schlug vor, essen zu gehen, er hatte noch einige Lithras übrig, die nicht im Iblad-Meer versunken waren. Der Aufforderung kamen sie gerne nach. , m Nach der Mahlzeit ging jeder sei ner Wege. Die liebliche Landschaft lud geradezu zu einem Spaziergang ein. Lethems Streifzug führte ihn durch einen kleinen, künstlich ange legten Hain. In einiger Entfernung erkannte er Kythara, die jenseits des Gleises mit schnellen Schritten zwi schen den Bäumen verschwand. Von einem unbestimmten Gefühl getrie ben, sah Lethem sich rasch um und folgte der Varganin heimlich. Die Maghalata kannte sich offen sichtlich hier aus. Sie ging zielsicher zwischen den Bäumen hindurch, ab seits aller Wege, und strebte in eine ganz bestimmte Richtung. Lethem achtete darauf, nicht be merkt zu werden. Er wusste, dass das, was er tat, keinesfalls richtig war. Nachdem er seinem ersten Im puls nachgegeben hatte, wollte er unbedingt herausfinden, was die Varganin vorhatte. Sie erreichten eine Lichtung an ei nem idyllischen Waldsee. Dort erhob sich der von Enaa beschriebene Steinkreis mit seinen fünf schät zungsweise sechs Meter hohen Men-hiren aus grob behauenem Obsidian. Über ihren kristallin wirkenden Spitzen tanzten kleine blauweiße Entladungen und Blitze. Lethem verbarg sich hinter einem Baum und beobachtete, wie Kythara
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langsam, in den Kreis ging, dort einen Moment verharrte und sich umsah. Dann setzte sie langsam nieder, schloss die Augen und hob die Arme in Meditationshaltung. Eine Zeit lang geschah gar nichts. Lethem wartete geduldig und beob achtete jede Veränderung, jedes Zei chen. Verdran stand bereits tief am Ho rizont, und ein kühler Wind kam auf, als plötzlich die Anzahl der Entla dungen über den Menhiren zunahm. Die Blitzstrahlen wurden immer län ger, verästelten sich, verbanden sich miteinander und manifestierten sich in einem pulsierenden Glühen, bis sich eine Art Kuppel aus gleißendem Licht über dem Kreis bildete, in des sen Zentrum die Varganin saß. Lethem wollte seine Deckung ver lassen, Kythara retten, als sich aus zwei Menhiren Blitze lösten und di rekt in Kytharas ausgestreckte Arme einschlugen. Der Arkonide erkannte, dass die Varganin nicht verletzt wurde, sie schien es nicht einmal zu bemerken - oder führte dies sogar absichtlich herbei. Lethem wusste weder etwas über Kytharas Vergan genheit noch über sie selbst und ihre Fähigkeiten. Er wusste, dass es eine Menge Legenden gab, aus denen sich ihre vielen Beinamen ableiteten und der Respekt, mit dem man ihr begeg nete. Auch aus den anderen Menhiren schlugen nun Blitze in ihre Arme ein, streiften daran entlang, bis sie in den ausgestreckten Fingern das richtige Ziel fanden. Die Blitze bildeten feine Verästelungen, und die Finger der Varganin wurden in ein glühend pul sierendes Licht getaucht, was wie
derum eine Wechselwirkung mit der Kuppel auslöste, deren pulsierender Lichtschlag sich erhöhte. Lichtfunken sprühten in alle Rich tungen, trafen leise zischend auf Blätter und Blüten. Einige wurden vom Wind eingefangen und inner halb des Steinkreises zu einem Wir bel geformt, der über Kytharas Kopf auf und ab tanzte. Lethem verharrte. Er wusste, dass er nicht hier sein durfte; es kam ihm wie ein Frevel vor, aber er konnte den Blick nicht mehr abwenden, war zu keiner Regung fähig. Und dann sah er es ...
Der Wirbel wurde auf seltsame Weise unscharf, Fragmente formten sich zu Bildern... Lethem da Vokoban konnte zu nächst nichts erkennen, bis seine Au gen sich darauf eingestellt hatten. Langsam begriff er, was diese Imagi nationen darstellten. Um ihn herum verblasste alles, und er starrte wie gebannt auf die sichtbar gewordene Vision. Myriaden funkelnder Lichtpunkte tanzten zunächst wie wild durchein ander, bis sie anfingen zu rotieren. Eine Galaxis von elliptischer Form entstand, umgeben von einem silber nen Schimmer, wie eine,Aura. Die Galaxis zog ihre Bahn durchs Uni versum, ein leuchtender Stern in der Dunkelheit. Lethem starrte gebannt auf ein zweites, noch größeres Gebilde, das ins Zentrum rückte. Eine Spiralgala xis, eine weitere Sterneninsel in schwarzer Finsternis.
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Die beiden Galaxien kollidierten miteinander, die kleinere stieß in die größere hinein, und ein blendendes Licht flammte kurzzeitig auf, als der silberne Schimmer wie ein Schleier zerrissen und ins dunkle Nichts ge schleudert wurde, wo er Funken stie bend .verging. Daraufhin löste sich die kleinere Galaxis auf, wurde assi miliert, bis nur noch der hell leuch tende Kern übrig blieb. Lethem blinzelte und wurde jäh in die Realität zurückgeworfen, als die Illumination abrupt abbrach. Der Arkonide griff sich an den Kopf, ein dumpfes Dröhnen quälte ihn unver mittelt, raubte ihm fast die Sinne. Halb blind taumelte er einen Schritt nach vorne. Weitere Bilder schoben sich in seine Gedanken und hämmer ten auf ihn ein. Ächzend ging Lethem in die Knie, fragte sich, was mit ihm vorging. Der Arkonide schüttelte den Kopf, als könne er damit wieder Gewalt über sich erlangen. Als der Druck in Lethems Kopf nachließ, sah er Kythara vor sich, stehen. Die schöne Varganin bebte vor Zorn. Ihre goldenen Augen glühten, und zum ersten Mal wirkte sie nicht mehr gelassen und überlegen. Voller Schrecken erinnerte sich Lethem, dass Kythara wie alle Var-ganen mentale Fähigkeiten hatte. Sie konnte ihre Gedanken in das Bewusstsein anderer Lebewesen übertragen. Und genau das hatte sie wohl gerade getan. Lethems Bewusstein wurde von ihrem ganzen Zorn überflutet und hatte ihn in die Knie gezwungen. »Kythara«, sagte er, seine tiefe
Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, »ich...« »Schweig!«, herrschte sie ihn an. »Wie kannst du es wagen?« 'Ihre Hand schoss plötzlich herab, ihre Finger legten sich um seinen Hals. Er fühlte den Druck ihrer kräftigen Fin ger auf seinem Kehlkopf. »Spioniere mir nie mehr hinterher, Arkonide! Meine Angelegenheiten gehen dich nichts an!«, fauchte sie. Sie ließ ihn los und verschwand mit schnellen Schritten zwischen den Bäumen. Lethem griff sich hustend an die Kehle und beugte sich vornüber. Übelkeit übermannte ihn, er kämpfte gegen den einsetzenden Würgereiz. Kytharas Gedanken tob ten noch immer in seinem Verstand und bestraften ihn. Lethem wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er sich wieder be ruhigt hatte. Er musste schnell zum Zug zurück, bevor dieser abfuhr. 6. Atlan Der Fußmarsch durch die Savanne war mühsam. Ich war erstaunt, dass Tamiljon bisher durchhielt. Mein schwarzhäutiger Begleiter wurde nicht nachlässig, die Umgebung zu beobachten. Immer wieder hielt er Ausschau nach seinen Verfolgern. Tamiljon wurde immer nervöser, je näher wir an unser Ziel kamen. Ich hatte den Eindruck, dass er allmäh lich an die Grenzen seiner körperli chen Belastbarkeit kam. Der Kris tallstab schien ihm immer mehr zur Last zu werden, weshalb ich das Tempo verlangsamte.
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»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich schließlich. Seine anhaltende Nervo sität ging mir auf die Nerven. »Es ist alles in Ordnung«, behaup tete Tamiljon. »Das glaube ich dir nicht!«, ver setzte ich scharf. »Bist du krank?« »Ich sagte doch, es ist alles in Ord nung!«, gab er ebenso ungehalten zu rück. Dabei fingerte er an seinem Stab herum, und in seinem Augen winkel zuckte es. Er mochte behaupten, was er wollte - mein Begleiter fühlte sich deutlich unwohl in seiner Haut. Viel leicht lag es daran, dass wir uns den Ruinen von Ardaclak näherten. Wir machten Halt und gruben nach Wasser, denn unsere Wasservor räte gingen langsam zur Neige. Mit bloßen Händen hoben wir ein Loch aus, bis sich das kostbare Nass sam melte und sich eine Pfütze bildete. Als ich Wasser nachschöpfen wollte, hörte ich einen schrillen Pfiff eines Vogels über mir. Das Tier stürzte ab und fiel genau in unser Wasserloch. Erstaunt hob ich den toten Vogel auf. Woran ist er so plötzlich gestorben?, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte' keine Erklärung für diesen Vorfall. Ebenso wenig mein Extra sinn. »Es beginnt«, flüsterte Tamiljon. Ich dachte daran, wie mich Ga-mondio und die Schamanin ausdrücklich vor den Ruinen gewarnt hatten. Sie hatten mir geraten, diesen Ort zu meiden, da es dort nicht mit rechten Dingen zuging. »Was hat es mit den Ruinen von Ardaclak auf sich?«, fragte ich di rekt. Tamiljon hob die Schultern. »Ich
war noch nie dort, kenne nur die Ge schichten, die so erzählt werden.« »Glaubst du die Legenden? Viel leicht dienen die Gerüchte nur der Abschreckung, um Neugierige fern zuhalten?« »Möglich. Aber das ändert nichts daran, dass die Ruinen gefährlich sind.« ' »Heißt das, wir brechen ab? So kurz vor dem Ziel?« Tamiljon strich mit einem Finger über den Obsidianknauf seines Sta bes. »Ich muss dorthin, egal was pas sieren mag.« »Dann lass uns weitergehen.«
Wir liefen bis zum Einbruch der Nacht. Die Savanne veränderte sich, der Boden wurde noch trockener. Es war unangenehm heiß, selbst für mein arkonidisches Empfinden. Ich war froh, dass wir unsere Wasservor räte aufgefüllt .hatten, denn hier gab es nichts mehr. Das Gelände wurde hügeliger, so dass man nicht mehr allzu weit blicken konnte. .»Offensichtlich hat schon jemand vor uns den Versuch gewagt ...« Ich deudete nach rechts. Tamiljon zuckte zusammen. Er er schrak, als er ebenfalls das Skelett eines Humanoiden im Sand ent deckte. »Wir werden es scharfen«, stieß er entschlössen hervor und fügte hinzu: »Wir müssen es schaf fen!« Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die Ruinen von Ardaclak umgangen und direkt das Obsidian-tor angesteuert. Doch Tamiljon beharrte auf seinem Vorhaben, was
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mein Interesse nur noch mehr weckte. Er behielt seine Geheim nisse nun lange genug für sich; ich wollte endlich Informationen über den Stab und die ominösen Verfolger erhalten. Am späten Nachmittag überquer ten wir eine Düne und sahen hinter einem Hügel die Stadt Ardaclak mit ihren Ruinen. Vorsichtig erklommen wir den Hügel. Aus sicherer Deckung beobachteten wir die kreisförmig an geordneten Ruinen, bei denen es sich früher mit ziemlicher Sicherheit um Schutzwälle gehandelt hatte. Über all gab es Überreste von Gebäuden und Straßen, und in der Mitte erhob sich eine Stufenpyramide. Mein fo tografisches Gedächtnis rief mir so fort die Pyramide von Yucatän auf Terra in Erinnerung. Bis zum Ende der Savannenwüste war es höchstens ein halber Tages marsch, dahinter begann Grassteppe und schließlich die fast einem Ur wald gleichende Landschaft um die Ruinen. »Ich hoffe, das ist keine Fata Mor gana«, sagte ich, während ich die Ruinen genauer betrachtete. . »Nein«, versicherte Tamiljon. »Dann lass uns morgen erledigen, was notwendig ist, und gleich weiter zum Obsidiantor gehen«, schlug ich vor. »Wir haben schon genug Zeit verloren.« Tamiljon gab keinen weiteren Kommentar ab. Angespornt durch die Nähe der Ruinen, machten wir uns auf den restlichen Weg zur Stadt. Immer häufiger fanden wir tote Vö gel im Sand. Ich nahm an, dass es vertriebene Jungvögel auf der Suche nach einem eigenen Revier waren.
Da es hier draußen nichts gab, gin gen sie elendig zugrunde. Ohne weitere Rast gingen wir bis spät in die sternenlose Nacht hinein. Brennbares für Fackeln gab es hier nicht, so waren wir gezwungen anzu halten. Langsam wuchs auch in mir eine gewisse Unruhe, die ich mir nicht erklären konnte. Über diesem Ort lag etwas Sonder bares. Ich hörte Tamiljons geräusch vollen, schnellen Atem. Wovor hatte mein Begleiter nur solche Angst? Es musste einen triftigen Grund dafür geben. In einem geschlossenen, fensterlo sen Raum konnte es nicht finsterer sein als hier. Dass wir tagsüber, in der Hitze, kein Lebewesen gesehen hat ten, wunderte mich nicht. Falls es in dieser Gegend Tiere gab, waren sie mit Sicherheit nachts aktiv. Wir mussten deshalb auf der Hut sein. »Atlan?«, erklang Tamiljons leise Stimme durch die Finsternis. »Ja?« »Hörst du das auch?« Ich lauschte. Und tatsächlich, da war etwas. Ein leises Flüstern, über all um mich herum. Je intensiver ich lauschte, desto mehr Geräusche ver nahm ich. Das gefiel mir alles nicht. Ich erschrak, als mich Tamiljon am Arm berührte. »Sieh doch«, wisperte er. • A Auf den Hügeln tanzten kleine Lichter. Hin un'd her, auf und ab. Sie zogen sich wie eine Lichterkette die Kämme entlang, bis sie schließlich wieder erloschen. Finsternis kehrte sofort wieder ein. »Was war das?«, fragte ich. »Die verlorenen Seelen der Be wohner Ardaclaks«, antwortete Ta
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miljon zaghaft. »Man warnte mich vor, dass so etwas geschehen würde.« »Unsinn«, brummte ich. »Dafür gibt es sicherlich eine wissenschaft liche Erklärung. An Hokuspokus glaube ich nicht.« »Aber du hast sie doch selbst gese hen, oder?« ' »Natürlich habe ich dasi Es kön nen elektrische Entladungen ioni sierter Luft sein. Es gibt mit Sicher heit eine einfache Erklärung dafür.«
Tamiljon schien ungeheuer froh zu sein, als die Sonne Verdrän aufging. In der Nacht war es klirrend kalt ge wesen. Die ersten -Sonnenstrahlen wärmten uns auf angenehme Weise. Ohne etwas zu essen, machten wir uns auf den Weg. Bald ließen wir die unwirtliche Wüste zurück und erreichten die Steppe. Trotz der Trockenheit und Dürre war der Boden erstaunlich weich und nachgiebig. Die Ruinen von Ardaclak lagen um diese Tages zeit noch im Dunst. »Hier muss.etwas Schreckliches geschehen sein«, bemerkte ich, als ich all die Knochen im Sand ver streut fand. Tamiljon gab keine Antwort. Er war ganz in Gedanken versunken, sein Griff um den Stab war fester ge worden, und seine Schritte wurden schneller. Je näher wir nach Ardaclak ka men, desto unangenehmer wurde der stechende Geruch, der seit geraumer Zeit in der Luft lag. Tamiljon ver krampfte sich zusehends. Wir schli chen uns wie Diebe in die Stadt, stets
darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Für Fragen war keine Zeit, ich hoffte nur, dass ich nicht ins Verder ben rannte. Ich ließ mich ungern auf ein unbekanntes Risiko ein. Deckung gab es jedenfalls genug, wir hatten den ersten Mauerring passiert und waren mittendrin im Savannenwald, wobei die Pflanzen keine besonders gesunde Färbung hatten und die verzweigten Schlin gen und Lianen eher auswuchernden Krebsgeschwüren ähnelten. In eini gen Gräben rann Wasser, plätscherte von Mauerresten herunter, wo die Kanalisation kaputt war. Ich ver mied es, von dem Wasser zu trinken. Mir machten Giftstoffe dank meines Zellaktivators zwar nichts aus, doch Tamiljon war ein »Normalsterbli cher«. Er würde sicher Schaden daran nehmen, und das wollte ich nicht riskieren. Der Schwarzhäutige betrat eine von Moos, Flechten und Gräsern be deckte Allee, die vom Stadtrand aus direkt auf die Stufenpyramide zu führte. Obwohl sie wie die meisten Gebäude nahezu überwuchert war, erkannte man nach dieser langen Zeit den Grundriss und die Höhe des einst imposanten Bauwerks. Ich folgte ihm einige Meter die Al lee entlang, blieb dann stehen und betrachtete den Boden genauer. Die Straße war wenig zugewachsen, ei nige meist höher gelegene Steine la gen frei. Erstaunt bemerkte ich, dass einige dieser Steine makellos sauber waren. Wie war das möglich? »Achtung!«, schrie Tamiljon plötz lich. Noch im selben Moment sprang ich
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beiseite und suchte Deckung in einer. Mauerruine. Mein Begleiter starrte mit großen Augen um die Ecke. Kurz darauf sah auch ich, was ihn so außer Fassung gebracht hatte. Roboter! Die ovalen Maschinen waren etwa eineinhalb Meter hoch, golden- oder messingfarben. Oben und unten hat ten sie je ein Dutzend Tentakelarme. Der obere Teil der Kalotte sah aus wie ein kostbar geschliffener Rubin. Überall in der Stadt waren sie unter wegs und verrichteten ihren Dienst, wenngleich auf seltsame Weise: Mit ihren Tentakelarmen, die bis zu etwa drei Metern ausgefahren werden konnten, gruben oder rissen sie Pflanzen aus und säuberten Boden platten - aber nicht geordnet, son dern mal hier, mal dort. Teilweise wurden die ausgerissenen Pflanzen neben anderen, bereits gesäuberten Platten wieder eingepflanzt. Irritiert beobachtete ich, wie ein Ovalroboter eine Tür in die Öffnung einer Wand einsetzte. Weitere Wände waren nicht vorhanden. Eine Gruppe arbeitete an einem Haus, versuchte eine . Zwischendecke einzuziehen, ohne dass es vier Wände gab, die diese Decke gestützt hätten. Sie pflanzten auf einer Grünfläche Sträucher ein, die schon seit Jahren abgestorben sein mussten, und reno vierten einen Kanal, für den es kei nen Wasserzulaüf mehr gab. Wie kamen die Roboter in die Ein öde der Savanne? Auf dieser primiti ven Welt funktionierten nicht einmal die leichten Schutzanzüge! Es war weit und breit niemand zu sehen, der sich um die Instandhal
tung kümmerte. Ihre Programmie rung musste durch irgendein Ereig nis Schaden genommen hatten, da sie offensichtlich völlig wirre Arbei ten ausführten. Tamiljon hatte sich schnell beru higt, er verließ die Deckung und setzte den Weg auf der Allee fort, ohne sich weiter an den Robotern zu stören. Er kennt diese Roboter, hat sie nur nicht hier erwartet, deshalb sein kur zer Schreck, meldete sich mein Ex trasinn. Aber er hat sie schon einmal gesehen.. Auf einer anderen Vinara-Welt? Er benutzt sicher nicht das erste Mal ein Obsidiantor.
Ohne behelligt zu werden, erreich ten wir die Stufenpyramide. Zu mei ner Überraschung entdeckte ich auf einem Podest vor der ersten Stufe Gamondio und Dendia. Der Häupt ling der Savannenreiter und die Schamanin waren gefesselt! »Atlan!«, rief die Schamanin, und der Häuptling meldete sich erleich tert: »Du lebst! Es ist ein Wunder!« Ich wollte zu ihnen laufen, als Ta-miljon mich festhielt. »Halte dich nicht mit ihnen auf!«, drängte er. »Wir müssen nach dem Eingang zur Gruft suchen. Er muss hier irgendwo sein!« Ich schüttelte Tamiljons Arm ab. »Für jemanden, der mich gerettet hat, ist das eine sonderbare Äuße rung!«, sagte ich scharf. »Ich ver mute schon die ganze Zeit, dass du mich nur aus Eigennutz gerettet hast. Wenn wir das alles hier über
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standen haben, bist du mir einige Er klärungen schuldig, freiwillig oder nicht!« »Meinetwegen«, gab der Schwarz häutige zögernd nach. »Befreie du sie, ich suche inzwischen nach dem Eingang. Aber wir dürfen uns nicht zu lange hier aufhalten, das ist ge fährlich.« »Wie du meinst«, sagte ich kalt und spurtete los, zu meinen Freunden. Fast wäre ich gegen einen Roboter geprallt, der plötzlich aus dem Nichts vor mir auftauchte. Ich warf mich zur Seite und wich um Haares breite seinem nach vorn schießenden Tentakelarm aus, an dessen Ende ein scharfes Messer blinkte. Ich spürte den Luftzug, als das Messer über meinen Rücken fauchte. Ich sprang auf, rekapitulierte ra send schnell die Techniken des Da-gor-Allkampfs und bereitete mich auf einen ungleichen, aussichtslosen Kampf vor. Aber das Messer des Roboters ver senkte sich bereits in einer Spalte zwischen-zwei Steinplatten auf dem Boden und begann, an einer Wurzel zu säbeln. Verblüfft verharrte ich einen Mo ment. Es war gar kein Angriff auf mich gewesen! Der Roboter igno rierte mich. Kopfschüttelnd setzte ich meinen Weg fort und befreite die beiden Savannenreiter von ihren Fesseln. »Was ist geschehen?«, fragte ich. »Ich dachte, ihr seid tot, verschleppt von den Termiten!« »Dasselbe dachten wir von dir«, äußerte Gamondio und schlug mir auf die Schulter. Er war ein junger, mutiger Mann, der sich darauf ver
stand, seinen Stamm mit Herz und Verstand zu führen. Er gefiel mir aus nehmend gut. »Ich freue mich, dich gesund und munter wiederzusehen, lieber Freund!« »Wo ist Jörge?«, erkundigte sich Dendia, die schwerfällige Schamanin mit der Gabe des zweiten Gesichts. Ich zuckte zusammen. »Tot«, Be stand ich leise. »Tamiljon«, ich wies auf den Schwarzhäutigen, der hektisch an den Stufen der Pyramide nach einem Eingang suchte, »hat mich gerettet. Für Jörge kam jede Hilfe zu spät. Er ist erstickt.« »Das tut mir Leid«, sagte Gamon dio mitfühlend. »Es muss ein großer Verlust für dich sein, einen Freund aus der Heimat zu verlieren.« »Ja.« Ich schüttelte die Erinnerung ab. »Aber nun erzählt mir, wie ist es euch ergangen?« Der Häuptling berichtete: »Wir konnten den Termiten entkommen, aber dann sind plötzlich diese Ma schinen aufgetaucht, wie aus dem Nichts, und haben uns hierher ver schleppt. Hier lebt niemand, und wir wissen nicht, weshalb man uns her brachte. Anfangs wurden wir von den Blechkerlen versorgt, doch seit gestern spielen sie total verrückt.« »Sie ignorieren uns einfach«, fügte die Schamanin hinzu. »Du hast es vorhin selbst erlebt, Atlan.« Tamiljons Ruf unterbrach unsere Unterhaltung. Der Schwarzhäutige hatte ein halb verdorrtes Gebüsch beiseite gezerrt und deutete aufge regt auf einen Stein. »Der Eingang! Ich habe ihn gefunden!«
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Wir standen vor einem finsteren Loch, das ins Innere der Pyramide führte. »Die Gruft des Wächters Narma-sar Tarmon«, sagte Tamiljon mit einem ehrfürchtigen Klang in der Stimme und hielt den Stab mit beiden Händen vor sich. »Ich bin am Ziel.« Er schaute mich an. »Gehen wir.« Ich dachte nicht daran. »Bevor ich da hineingehe, will ich wissen, was du hier so Geheimnisvolles zu erle digen hast«, forderte ich Tamiljon auf. Der Schwarzhäutige zögerte. Dendia musterte ihn mit scharfen Blicken. »Du bist kein Wächter«, stellte sie fest. »Woher hast du diesen Stab? Wieso trägst du ihn?« Ich sah Tamiljon auffordernd an. Endlich gab er nach. Er deutete auf den Kristall an dem Stab, den er niemals berührte. »Dies«, erklärte er feierlich, »ist ein Kristall aus Litraks Körper. Der Orden hat die Aufgabe, so viele Kristalle wie möglich zu fin den und zur Eisgruft des Ewigen Litrak zu bringen.« »Und was hat das mit dem toten Narmasar Tarmon zu tun?«, hakte ich nach. »Wie bei allen Wächtern wurde auch bei Tarmons Initiation ein Mondsplitter aus Litraks Körper in seinem Leib versenkt. Und mit ihm begraben, nachdem das Leben ihn verlassen hatte.« In mir gingen sämtliche Alarm glocken los. Wieso werden die Splitter zuerst verteilt, wenn sie dann wieder einge sammelt werden müssen?, überlegte mein Extrasinn. Wo sind die anderen
Wächter, wie viele gibt es, und wie viele Splitter fehlen noch? Er sagte Mondsplitter, erinnerte ich mich. In meinen Visionen sah ich einen Kristallmond. Soll das bedeu ten, dass die Mondsplitter von dort stammen? T&miljon behauptet, sie seien ein TeU von Litraks Körper, so bedeutet das, dass der Ewige Litrak und der Kristallmond womöglich ein und derselbe sind? Die Legenden sprechen von Litrak als Lebewesen. Richtig. Aber wie weit reicht die Definition von Leben, und woher wissen die Viin das? Die Vermutung liegt nahe. Ich hätte Tamiljon all diese Fragen stellen können, aber ich kannte ihn inzwischen zu gut, um zu wissen, dass er darauf keine Antworten ge ben würde. Er hatte gerade so viel of fenbart, um meine Neugier zu we cken und mich dazu zu bewegen, ihn in diese Gruft zu begleiten. »In Ordnung«, sagte ich. »Ich werde dich begleiten.« Gamondio und Dendia lehnten strikt ab, mitzukommen. »Dies ist ein verfluchter Ort. Wir werden hier warten«, sagte die Schamanin. Wir fertigten einige Fackeln. Lange würden sie nicht halten, das war mir klar. Ich hoffte deshalb, dass wir unser Ziel bald erreichen wür den. Tamiljon ging voraus, und ich folgte dem flackernden Licht seiner Fackel.
»Woher weißt du, wie wir gehen müssen?«, erkundigte ich mich,
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während wir die kühlen, feuchten, stellenweise rutschigen Treppen hinunterstiegen und-an einem Kno tenpunkt herauskamen, von dem mehrere stollenartige Gänge ab zweigten. »Der Stab weist mir den Weg«, sagte er, und tatsächlich zeigte der Kristall ein fahles Leuchten, das mal heller, mal dunkler wurde, je nach dem, in welche Richtung der Träger ihn hielt. »Die Splitter erkennen sich und ziehen sich gegenseitig an.« Mir blieb nichts anderes übrig, als Tamiljon zu vertrauen. Anhand meines fotografischen Ge dächtnisses konnte ich mir den Weg durch das Labyrinth genau merken und würde keine Schwierigkeiten haben, wieder herauszufinden. Viele Gänge waren eingebrochen, andere drohten jeden Moment einzustürzen, so dass es sehr gefährlich war, sie zu passieren. Schließlich erreichten wir eine große Kammer. Auch hier war es feucht und unangenehm kühl; die Luft roch abgestanden und modrig. Von irgendwoher fiel durch schmale Ritzen im Gestein fahles Licht her ein. Tamiljon deutete nach oben. »Wir befinden uns direkt unter der Son nenterrasse, der ersten Stufe der Py ramide. Dortgab es einen Eingang für Priester, und zu bestimmten Sonnen ständen wurden Messen zelebriert. Die Bodenplatten wurden von An fang an so ausgelegt, dass Licht durch die Ritzen durchdringen konnte, um die Gruft zu erleuchten und den Geist Narmasar Tarmons unter den Leben den weilen zu lassen.« »Wäre es möglich gewesen, von
oben durchzubrechen und dadurch abzukürzen?« »Ich wollte das Risiko eines Ein sturzes nicht eingehen.« In einer Bodenvertiefung lag eine Art Sarg, dessen Unterbau goldfar ben war, der Deckel hatte eine Be schaffenheit wie gesplittertes Glas. Gemeinsam hoben wir den Deckel an; mit viel Kraftaufwand schafften wir es, ihn abzuheben. In dem Sarg lag das saubere, glatte Skelett eines ungefähr dreieinhalb Meter langen Wesens mit vier Armen und einem halbkugeligen Schädel mit drei leeren Augenhöhlen und ei nem zähnestarrenden Kiefer. Ein Haluter, dachte ich erstaunt. Sieht so aus, stimmte mein Extra sinn zu. Zwischen den Knochen, von einem einzelnen dünnen Lichtstrahl be schienen, funkelte ein facettenrei cher Kristall. Er sah genauso aus wie jener in Tamiljons Stab. Der Schwarzhäutige schien sein Glück kaum fassen zu können. Ta miljon nahm den Splitter mit einem seligen Lächeln an sich und ver staute ihn in seiner Montur. Dann traten wir den Rückweg an.
Wie versprochen warteten Gamon-dio und Dendia am Eingang der Gruft auf uns. Gemeinsam verließen wir die Ruinen von Ardaclak. Die Roboter ignorierten uns auch weiterhin. Ich war dankbar, diese unheimli che Stätte verlassen zu können und vor allem diesen Geruch hinter mir zu lassen. Über uns kreiste ein
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Schwärm schwarzer Vögel. Sie stie ßen schrille, klagende Töne aus, be vor sie abdrehten und irgendwo im Urwald verschwanden. Mein Weg führte mich nun zum Obsidiantor. »Werdet ihr mitkom men?«, fragte ich den Häuptling und die Schamanin. Sie lehnten beide ab. »Wir haben unsere Aufgabe erfüllt«, erklärte Ga-mondio. »Es ist nicht notwendig, unsere Welt zu verlassen, da ihr beide dies übernehmen werdet. Mein Stamm braucht mich dringend. Wie du weißt, befehden wir uns noch immer mit den Nathal. Es mag engstirnig sein, aber es ist wichtig, unsere Lebensgrundlage zu erhalten.« »Das ist es durchaus nicht, Ga-mondio, und ich danke dir für deine Freundschaft und deine Unterstützung«, sagte ich. »Ihr habt einen weiten Heimweg vor euch«, fügte ich mit einem Blick auf Dendia hinzu. Gamondio grinste breit. »Keine Sorge, ich weiß schon, wo wir wilde Dendibos finden, schließlich bin ich ein Afalharo. Wenn ich mich in mei nem eigenen Land nicht auskenne, wer sonst? Mach dir keine Sorgen, Freund Atlan, wir kommen gut zu recht.« Tamiljon ging bereits ein paar Schritte voraus, um mir deutlich zu machen, dass wir uns beeilen muss ten. Offensichtlich hielt er nicht viel von den Savannenreitern, was einen weiteren Minuspunkt für ihn ein brachte. Dendia nutzte den Augenblick, um mich ein wenig beiseite zu nehmen. Ich musste mich zu ihr hinunterbeu gen, und sie raunte mir ins Ohr: »Ich muss dich warnen. Dieser Tamiljon
hat zwar eine Aura, die es ihm er möglicht, den Stab zu tragen - aber es ist nicht dieselbe wie deine, Freund. Und ich weiß, dass er kein Wächter ist.« »Das hat er mir gegenüber bereits zugegeben.« »Das spricht für ihn, aber...« Den dia zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck. »Er ist sonderbar. Leider kann ich dir nichts Genaueres sagen, weil sich mein zweites Gesicht ver dunkelt hat... Auch das fasse ich als schlechtes Vorzeichen auf. Warum jetzt? Etwas stimmt nicht mit diesem Burschen. Sieh dich vor und vertraue ihm keinesfalls!« Ich nahm diese Warnung sehr ernst, passte sie doch zu meinem ei genen Misstrauen, das ich meinem Begleiter gegenüber empfand. »Ich werde vorsichtig sein, Dendia, ich verspreche es dir. Und ich werde meine Mission erfüllen und versu chen, die Obsidian-Kluft und alle Welten zu retten. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.« »Unsere besten Wünsche und alle Hoffnungen gehen mit dir, Atlan. Du bist ein großer Mann, und wir sind stolz darauf, mit dir geritten zu sein. Leb wohl.«
Die beiden Afalharo vom Stamm der Tulig machten sich in südliche Richtung auf, während unser Weg weiter nach Norden führte. Allmählich hatte ich die Fußmär sche satt. Vor allem wollte ich end lich das Tor erreichen, es hatte nun genug Verzögerungen gegeben. Nach den Beschreibungen der Tu
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lig und Tamilj ons Kenntnissen lag es mitten in der ausgedehnten Savanne, auf einem Hügel, weithin sichtbar. Früher führte von Ardaclak aus eine Straße direkt dorthin, doch sie wurde heute nicht mehr benutzt und lag größtenteils unter Savannengras verborgen, Trotzdem diente uns die Straße immer wieder zur Orientie rung, denn gerade die höher gelege nen Stellen waren von Wind, Wetter und Erosionen weitgehend frei von Pflanzen und gut erkennbar. Gegen Abend entdeckte ich auf ei nem weit entferntes Hügel hinter mir Bewegungen. Kleine' dunkle Punkte, die plötzlich wieder ver schwunden waren. Entweder hatten sie mich gesehen, oder sie waren au tomatisch in Deckung gegangen. Da wären sie also, stellte mein Ex trasinn fest. Bei all den Mühen, die sie bisher aufgewendet haben, wun dert es mich, dass sie jetzt so leicht zu entdecken waren. Das fand auch ich verwunderlich. Anscheinend hatten sie ihre Strate gie geändert und wollten Tamiljon zermürben oder zu einer falschen Handlung verleiten. Ich verschwieg meinem Begleiter meine Entdeckung. Ich war sicher, dass er längst Bescheid wusste, denn seit einiger Zeit drehte er sich nicht mehr ständig um. Allerdings lief er schneller. * 7. Li da Zoltral Li da Zoltral brach den Kopier vorgang ab, als sie Geräusche hörte, die sich rasch näherten. Es bestand
kein Zweifel, man hatte sie ent deckt! Hastig verließ sie den Raum, doch es war bereits zu spät, der Fluchtweg war abgeschnitten. Ein fast drei Me ter großes Ungetüm kam um die Ecke, ein bizarres Konstrukt aus bio logischen und mechanischen Ele menten. Die Arme bestanden aus fünf vollmetallischen, miteinander verbundenen Strängen mit Kugelge lenken an »Schultern«, »Ellenbogen« und »Handwurzeln«, die eine Bewe gung in alle Richtungen ermöglich ten. Das biomechanische Monster war mit Scheren, Messern, Sägen und Dolchen bewaffnet. Das Gesicht des Monsters war ab schreckend. Die Kreatur fauchte und zeigte dabei seine messerscharfen Zähne. Aus einer Öffnung im Gesicht schoss eine gelbliche Flüssigkeit, die augenblicklich alles zusammen schmolz, wo sie auf traf. Die Fontäne verfehlte Li, die gut fünf Meter entfernt stand, nur um Haaresbreite; die Frau hatte sich geis tesgegenwärtig zur Seite geworfen, als das Monster um die Ecke bog. Li da Zoltral ließ sich nicht auf ei nen aussichtslosen Kampf ein, son dern ergriff die Flucht. Das biome chanische Monster setzte ihr mit gro ßen Sprüngen nach, und die Frau hetzte zunächst planlos durch die Gänge und Korridore der riesigen Plattform, auf der Suche nach einem kleinen, Durchschlupf. Sprühfontänen spritzten um sie herum und schmolzen die Verklei dung, Wurfpfeile und Minispeere pfiffen an ihren Ohren vorbei. Mit viel Glück entkam Li jedes Mal, aber sie wusste, dass es auf Dauer nicht so
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weitergehen würde. Früher oder spä ter erwischte es sie, spätestens wenn ihr der Atem ausging und sie nicht mehr weiterkonnte. Sie hastete um eine scharfe Ecke in eine Abzweigung und entdeckte eine Schleuse. Der Kodegeber war nicht mehr intakt, wie die meisten energe tischen Waffen und Aggregate. Sie entdeckte eine Notentriegelung, ei nen großen Kippschalter.' Li umfasste den Schalter mit bei den Händen, spannte die' Muskeln und drückte ihn nach oben, doch nichts geschah. Der Schalter ließ sich nicht bewegen. Das Geschöpf kam immer näher. Li da Zoltral riss und zerrte an dem Schalter, schlug seitlich mit dem Fuß dagegen, um ihn zu lockern. Das biomechanische Wesen stampfte auf die Frau zu. Es hatte die -Arme ausgestreckt und seine Waffen aktiviert. Li wurde nervös. Wenn sie jetzt ab brach, konnte sie noch schnell um die nächste Ecke fliehen; ihr Vorteil war ihre Wendigkeit und dass sie klein war. Aber vielleicht brachte sie auch endlich den Hebel in Bewegung, da mit sie durch die Schleuse fliehen konnte. Was sollte sie tun? Mit wilder Ge walt rüttelte Li an dem Hebel, presste sich mit ihrem ganzen Gewicht da gegen. Das biomechanische Ungetüm war nur noch wenige Meter entfernt. Eine Beinklappe öffnete sich, und ein mechanischer Arm holte ein Netz heraus; offensichtlich war nun der Befehl zur Gefangennahme erteilt worden. Das rettete Li vorerst das Leben.
Nun war es zu spät, um zu fliehen. Entweder sie hatte endlich Erfolg, oder... Mit einem letzten scharfen Ruck, der Li beinahe die Schulter ausku gelte, gab der Schalthebel nach und rastete in der oberen Verriegelung ein. Es klackte, und der prismenar tige Zugang öffnete sich. Li hechtete durch die schmale Lücke und schrammte mit Schultern und Hüfte am Metall entlang, was sie allerdings nicht, bemerkte. Auf der : anderen Seite angekommen, sprang sie hastig auf, zog mit ihrem ganzen Gewicht an dem Hebel, der auf dieser Seite sofort nachgab und die Not verriegelung auslöste. Während Li weiterrannte, hörte sie ihren Verfolger gegen die Schleuse prallen; das brachte ihr zu-' nächst einen Vorsprung ein. Sie sah sich um und entdeckte einen schma len Kanal. Vermutlich handelte es sich um einen Wartungskanal, in den sie hineinkletterte und ein Stück weit hineinrobbte, bis sie sich eini germaßen sicher fühlte. Li verharrte und schöpfte Atem, darauf wartend, dass sich ihr häm mernder Herzschlag beruhigte.
Das Getöse erstarb. Anscheinend zog sich das Monster zurück, um ei nen anderen Weg zu suchen. Li nutzte die notwendige Ver schnaufpause für eine kurze Überle gung, wie sie weiter vorgehen sollte. Dieses Ungetüm hatte Li als Feind erkannt. Möglicherweise stand es unter dem Einfluss der im Zentrum des Kristallmonds integrierten Hy
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pertronik, denn die Frau hatte be reits merkwürdige Wechselwirkun gen zwischen der Vergessenen Platt form und dem psimateriellen Kris tallmond bemerkt. Das bedeutete, dass die Zeit mehr denn je drängte. Nicht auszudenken, wenn Litrak erwachte ... Li da Zoltral wusste, dass vor Äo nen Teile von Litraks Bewusstsein mit der Hypertronik des künstlichen Trabanten verschmolzen waren. Aus der Psi-Materie wurde ein kristalli ner Körper geschaffen, der bis zum heutigen Zeitpunkt allerdings hand lungsunfähig blieb - noch. Doch die gesamte Obsidian-Kluft, ursprünglich als Backup-System ge schaffen, war in Aufruhr geraten. Wenn etwas schief ging, wurden un ter Umständen Kräfte freigesetzt, deren Gewalt selbst für die Kund schafterin und Beauftragte des Ko-smokratenroboters Samkar unvorstellbar war. Immerhin maß der Kristallmond 1126 Kilometer im Durchmesser - die Energiefreiset zung würde wahrscheinlich eine ganze Galaxis in den Untergang treiben! Li war klar, dass sie in den Kris tallmond hineinmusste, denn nur im Kern der Hypertronik hatte sie überhaupt eine Chance, die Kata strophe zu verhindern. Unter den jet zigen Bedingungen konnte Li da Zol tral den Mond aber nur erreichen, wenn die Vergessene Positronik in geringer Distanz vorbeidriftete. Derzeit bewegte die Plattform sich auf den Kristallmond zu, die Entfer nung war noch zu groß, die kritische Distanz bei weitem noch nicht er reicht. Also musste es einen anderen Weg geben.
Li konzentrierte sich und rief sich die Informationen über die Struktur der Plattform aus ihrer Erinnerung hervor. Dann fand sie das Gesuchte, merkte sich den Weg dorthin und robbte, so schnell es ging, durch den Schacht. An einer Abzweigung folgte sie ei nem anderen Schacht, der schließ lich in einen großen Raum voller ge stapelter Aggregate und Terminals mündete, möglicherweise ein War-tungs- und Reparaturzentrum. Von hier aus war es nicht mehr weit. Li bog gerade-in eine"n bestimmten Gang ein, als sie plötzlich wieder die ihr bekannten Geräusche hörte. Das biomechanische Ungetüm hatte sie erneut aufgespürt' oder sogar abge passt! Konnte es die Frau orten? Die Beauftragte stieß einen inner lichen Fluch aus und spurtete erneut los. Dem gedämpften Lärm nach zu urteilen, musste der riesige Wächter noch einiges aufholen. Hoffentlich erreichte Li bis dahin den richtigen Saal...
Sich ganz auf ihr Gedächtnis ver lassend, das den Plan wie ein Foto vor ihr inneres Auge projizierte, rannte Li da Zoltral durch die stillen, verlassenen Gänge. Das Ungetüm verringerte allmählich die Distanz zwischen ihnen, je höher und breiter die Korridore wurden. Schließlich erreichte Li einen gro ßen Saal. Auf der gegenüberliegen den Seite zeigte sich eine Öffnung, von einem hellblauen Licht umge ben- das Leuchten des Hoagh, wie Li bekannt war. Dies war die Passage zum Kristallmond, durch die sie un verzüglich treten musste.
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Li rannte auf die Öffnung zu und .drehte kurz den Kopf, als das biome-chanische Wesen ebenfalls den Saal erreichte. Nun, ohne sperrige Wände oder niedrige Decken um sich herum, konnte es ungehindert seine Kräfte entfalten. Mit einem einzigen Sprung überwand das Monster eine Entfernung von zehn Metern. Noch zwei Sprünge, dann hatte es Li erreicht..'. Li konzentrierte sich, verästelte Blitze zuckten durch das Leuchten des Hoagh, eine paranormale Reso nanz stellte sich ein - und Li trat hin ein, genau in" dem Moment, als das Ungetüm sie erreicht hatte. Die stäh lernen Arme griffen ins Leere, das Netz fiel nutzlos zu Boden. Doch etwas stimmte nicht. Li spürte sofort, dass das Eindrin gen in den Kristallmond gescheitert war. Ein grellweißes Licht explo dierte vor ihren Augen, blendete sie, hüllte sie ganz ein ... 8. Atlan Die Verfolger ließen sich entweder aus unerfindlichen Gründen Zeit, oder wir waren schneller als sie. Je denfalls bekamen wir sie bis zum Tor nicht mehr zu Gesicht. Am Morgen des 8. April 1225 NGZ kletterten wir auf einen Hügel, und von dort aus sahen wir auf dem über nächsten Hügel das Tor. Das exakte Pendant zu dem Obsidiantor in den Ruinen von Aziin, wo ich herausge kommen War. Es handelte sich um ei nen sechs Meter hohen und sieben Meter breiten Quader mit einer Stärke von drei Metern. Das Tor be
stand aus grauschwarzem Gestein • und hatte eine vier Meter hohe Öff nung. Wie ein düsteres Mahnmal thronte der Monolith auf dem Hügel, weithin sichtbar in der Savanne. Ein Überbleibsel aus lange vergangenen Zeiten, deren Geheimnis ich lüften wollte. •' ; Von dem auch Tamiljon ein Be standteil war. »Wir müssen das Tor vor deinen Verfolgern erreichen, sonst war alles umsonst«, sagte ich zu meinem Be gleiter. Tamiljon nickte. »Wir müssen je derzeit mit einem Angriff rechnen.« »Du weißt, um wen es sich handelt, nicht wahr?« »Es gibt eine andere Gruppe, die gegen die Ziele meines Ordens arbei tet«, berichtet der Schwarzhäutige zögerlich. »Sprichst du von Sardaengar?«, fragte ich und dachte an die ominö sen Perlenträger von Helmdor. Tamiljon antwortete lediglich mit einer vagen Geste, die Zustimmung oder Ablehnung bedeuten konnte. Wie immer war er zu keinen weiteren Erklärungen bereit. »Es ist vonv größter Wichtigkeit, dass ich das Tor passiere«, fügte er hinzu. »Eine Mission von größter Be deutung hängt davon ab.« »So ist es auch bei mir. Wir sollten versuchen, so schnell wie möglich zum Obsidiantor zu gelangen.« Tamiljon nickte, und wir spurteten los. Zu Fuß mussten wir zunächst den Hügel hinunter, dann das Tal durchqueren, um den nächsten Hü gel erklimmen zu können. Erst dann erreichten wir den Hügel mit dem Obsidiantor.
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»Sie kommen!«, rief Tamiljon. Er warf einen Blick über seine Schulter. Wenn ich mich nicht getäuscht hatte, waren uns zehn Verfolger auf den Fersen. Ich legte keinen Wert auf einen Kampf, noch dazu, da ich kei nerlei Vorstellungen hatte, um wen es sich handelte. Die humanoiden, etwa 1,80 Meter großen Verfolger rückten immer nä her. Kopf und Körper der Fremden waren unter Kapuzen und Kutten verborgen. Als wir das Tor fast erreicht hat ten, spürte ich für einen kurzen Mo ment ein starkes Absinken meiner Leistung. Mein Zellaktivator pochte heftig, dann war alles vorüber. Zwei aus der Reihe der Verfolger wurden plötzlich wie von unsicht barer Hand in die Luft katapultiert und prallten mit hoher Geschwin
digkeit auf den Boden. Durch die Wucht des Aufpralls überschlugen sich die Verfolger ein paarmal und blieben mit gebrochenem Genick reglos liegen. ' Unruhe breitete sich unter den Fremden aus. Als sie erkannten, dass ihre Gefährten tot waren, brüllten sie ihren ganzen Zorn heraus und griffen an. Atlan stellte sich den Angreifern, um Tamiljon die Gelegenheit zu ge ben, das Tor zu passieren ... 9.
Lethem da Vokoban 15. April 1225 NGZ
Kurz bevor der Zug anfuhr, traf Kythara ein und konnte gerade noch zusteigen.
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»Wo warst du denn? Wir haben uns schon Sorgen gemacht«, sagte Enaa aufgeregt. Kythara machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ich hatte zu tun.« Sie warf einen kurzen Blick zu Le-them. Der Arkonide tat so, als wäre nichts vorgefallen. »Ist alles in Ord nung?«, fragte er ruhig. Die Varganin nickte, ohne zu zö gern. »Ja, natürlich. Dieser Ort ist besonders geeignet, um noch einmal Kräfte zu sammeln. Gegen Morgen werden wir Helmdor erreichen, und dann werden wir es nicht mehr so be quem haben.« Lethem dachte intensiv: Es tut mir Leid. Mit ihrer Gabe konnte Kythara bis zu einem gewissen Grad die Gedan ken anderer erahnen. Das hatte we niger mit Telepathie, mehr mit Em-pathie zu tun, aber Lethem hoffte, dass sie in diesem Fall spüren konnte, dass es ihm wirklich aufrichtig Leid tat. Er wollte keinesfalls, dass dieser Zwischenfall das freundschaftliche Band zerstörte, das sich bei einer Gemeinschaft wie dieser, die bereits so viel durchgemacht und viele Verluste erlitten hatte, gebildet hatte. Er konnte es nicht mehr ungesche hen machen, aber wenigstens weitere Auseinandersetzungen vermeiden, indem er zu niemandem darüber sprach. Er blickte Kythara offen in die Augen. Als er sah, dass sich in ih ren Mundwinkeln die zarte Andeu tung eines Lächelns zeigte, ein kur zes Zucken nur, wusste er, dass seine Botschaft angekommen und ange nommen war.
Susan Schwartz
Schwarti
Beruhigt lehnte er sich zurück und dachte darüber nach, was sie tun würden, sobald sie Helmdor erreich ten. Währenddessen ratterte der Zug unermüdlich weiter westwärts durch die Nacht. Die anderen waren längst einge schlafen, als' Lethem immer noch aus dem Fenster starrte. Der Kristall-mond hing riesenhaft und bleich glitzernd über dem Land, teilweise verdunkelt durch die davor schwebenden Brocken des Obisidianrings. Manche dieser Brocken lösten sich aus dem Verband und schlugen in aufwirbelnden Explosionen in dem Mond ein. Kleine Teilchen traten in die Atmosphäre Vinaras ein und sausten als verglühende Stern schnuppen am nächtlichen Himmel dahin. So war es zumindest bisher gewe sen. Doch die Auflösung des Rings ging jetzt rasant voran. In der Ferne sah Lethem einen richtigen Sternre gen. Polarlichter waberten durch die Luftschichten, farbenprächtige Vor hänge aus Grün, Gold, Rot und Sil ber. Durch diese Vorhänge zogen die riesigen, mattgoldenen Techno städte, über denen die schwarzen Brocken hingen. Als ob die Zeit auf einmal schnel ler lief, ballten sich rot geränderte Wolken zusammen, türmten sich zu immer gewaltigeren Bergen auf, die stakkatoartig von Wetterleuchten erhellt wurden. Gleich darauf öffneten sich die Schleusen, und ein schwerer Regen fiel herab, der die Sicht fast völlig verdeckte. Wenige "Minuten später ging der Regen in Hagel über. Faustgroße
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Körner trommelten auf das Zugdach. Mitten in der Einöde hielt die Bahn an. Die ersten Scheiben gingen zu Bruch, von Hagelkörnern durchschlagen. Sofort drängte der Sturmwind fauchend herein, brachte Nässe und Kälte mit sich. Draußen krachte der Donner, Blitze fuhren unaufhörlieh herab, die Luft war elektrisiert, und es stank nach Verbranntem. »Seht.,.«, flüsterte Falk, der durch das Unwetter aufgewacht war, und deutete bleich zu einem zerbrochenen Fenster, das einigermaßen Sicht nach draußen bot.
Lethem schluckte. Aus den Sternschnuppen waren brennende Bälle geworden, die auf den Boden herabfielen. Detonationen der Einschläge brachten den Zug zum Zittern. Trotz des Regens begann das Land zu brennen, als die Glutbälle zerbarsten. »Achtung!«, schrie Enaa. Die Ako nin riss instinktiv den Arm hoch, um sich zu schützen, Und Lethem sah, wie einer der Glutbälle, umgeben von einer Flam menlohe, direkt auf den Zug zu raste ...
ENDE
Atlan und sein geheimnisvoller Begleiter erreichen das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamiljon muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Die beiden werden von Fremden verfolgt, die sie an der Passage hindern wollen. IM ZEICHEN DES KRISTALLMONDES Unter diesem Titel schildert Bernhard Kempen, wie sich Atlan den Gegnern zum Kampf stellt. Band fünf dieser1 zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.
Atlan Obsidlan - erscheint zweiwöchentlich in der Pabel-Moewig Verlag KG; 76437 Rastatt. Internet: wvyw.vpm-online.de. Redaktion: Sabine Krapp, Postfach 2352, 76413 Rastatt. Titelillustration: Dirk Schulz. Druck: VPM Druck KG, 76437 Rastatt, www.vpm-druck.de. Vertrieb: VU Verlagsunion KG, 65396 Walluf, Postfach 5707, 65047 Wiesbaden, Tel.: 06123/620-0. Marketing: Klaus Bollhöfener. Anzeigenleitung: Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt. Anzeigenleiter und verantwortlich: Rainer Groß. Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 29. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Öster reich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m.b.H., Niederalm 300, A-5061 Ahif. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlages. Für unverlangte Manuskript sendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Mai 2004. Internet: http://www.PeiTy-Rnodan.net und E-Mail:
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