JEAN GENET
NOTRE-DAME-DES-FLEURS
Roman
MERLIN VERLAG
Ohne Maurice Pilorge, dessen Tod mir noch immer das Leben verg...
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JEAN GENET
NOTRE-DAME-DES-FLEURS
Roman
MERLIN VERLAG
Ohne Maurice Pilorge, dessen Tod mir noch immer das Leben vergällt, hätte ich dieses Buch niemals geschrieben. Ich widme es seinem Gedächtnis.
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Weidmann, den Kopf in schmale, weiße Bänder gehüllt, als Nonne und als verletzter, zwischen Roggenähren gestürzter Flieger, erschien Euch in einer Fünf-Uhr-Ausgabe, an einem Septembertag ähnlich dem, an dem der Name von Notre-Dame-des-Fleurs bekannt wurde. Sein schönes, von Maschinen vervielfältigtes Gesicht ging über Paris und Frankreich nieder, gelangte bis in den hintersten Winkel vergessener Dörfer, in Schlösser und Hütten, und offenbarte den bekümmerten Bürgern, daß es bezaubernde Mörder gibt, die ihren Alltag streifen, hinterhältig aufgezogen für ihren Schlaf, den sie, unter Benutzung einer Dienstbotentreppe — sie ist im Einverständnis mit ihnen und knarrt nicht — durchqueren. Unter seinem Bild glänzten wie Morgenröte seine Verbrechen: Mord Nummer 1, Mord Nummer 2, Mord Nummer 3, — bis zu sechs verkündeten sie seinen geheimen Ruhm und bereiteten sie seinen künftigen Ruhm vor. Ein wenig früher hatte der Neger Ange Soleil seine Geliebte getötet. Ein wenig später ermordete der Soldat Maurice Pilorge seinen Geliebten Escudero, um ihm etwas weniger als tausend Francs zu stehlen; dann schnitt man ihm zu seinem zwanzigsten Geburtstag den Hals durch, gerade wie er — Ihr erinnert Euch — dem wütenden Henker eine lange Nase schnitt. Ein Schiffsfähnrich schließlich, ein Kind noch, verriet um des Verrats willen: man erschoß ihn. Zu Ehren dieser Verbrechen schreibe ich mein Buch. Dieses herrliche Blütenmeer voll schöner und düsterer Blumen erfuhr ich nur in Form von Bruchstücken: eines wurde mir auf einem Stück Zeitungspapier geliefert, ein anderes erwähnte beiläufig mein Rechtsanwalt, ein drittes erzählten, man kann fast sagen, sangen die Sträflinge, und ihr Gesang wurde zu einem phantastischen Trauergesang (einem De Profundis), ebenso wie die Klagen, die sie am Abend singen, oder wie die Stimme, die die Zellen durchdringt und wirr, verzweifelt, entstellt zu mir gelangt. Am Ende einer Tonfolge zerspringt sie, und dieser Sprung verleiht ihr etwas so einschmeicheln-
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des, als wäre sie von Engelsmusik getragen — wovor mir graust. Denn vor Engeln graust mir wegen ihrer Zusammensetzung, die ich mir folgendermaßen denke: weder Geist noch Materie, weiß, schemenhaft und erschreckend wie der durchsichtige Körper von Gespenstern. Diese jetzt toten Mörder haben dennoch bis zu mir gefunden, und jedesmal, wenn einer dieser Trauersterne in meine Zelle fällt, schlägt mein Herz wild wie der Trommelwirbel, der die Kapitulation einer Stadt verkündet. Darauf folgt eine Erregung, jener vergleichbar, in der ich mich wand und die mich einige Minuten in grotesker Stellung verkrampft ließ, damals, als ich über dem Gefängnis das deutsche Flugzeug hörte und gleich darauf den Einschlag der Bombe, die es nahebei abgeworfen hatte. Im gleichen Augenblick sah ich vor mir ein einsames Kind, das, von einem eisernen Vogel getragen, lachend den Tod säte. Dieses Kind allein entfesselte Sirenen, Glocken, die dem Thronfolger vorbehaltenen hundertundeins Kanonenschüsse, Schreie des Hasses und der Angst. Alle Zellen zitterten, klapperten mit den Zähnen, wahnsinnig vor Schrecken; die Gefangenen stießen gegen die Türen, rollten sich auf dem Fußboden, brüllten, weinten, verwünschten Gott oder beteten zu ihm. Im Flugzeug sah ich — oder glaubte ich zu sehen — ein achtzehnjähriges Kind, und aus der Tiefe meiner Zelle 426 lächelte ich ihm in Liebe zu. Ich weiß nicht, ob es ihr Gesicht ist, ihr wahres Gesicht, das die Wand meiner Zelle mit diamantenem Schmutz bespritzt, aber es kann kein Zufall sein, daß ich mir diese schönen Köpfe mit den leeren Augen aus Zeitschriften ausgeschnitten habe. Ich sage „leeren Augen“, denn alle sind klar und offenbar himmelblau, ähnlich den Messerschneiden, an die sich ein Stern durchsichtigen Lichtes hängt, blau und leer wie die Fenster von im Bau befindlichen Häusern, durch die hindurch man in den Fenstern der gegenüberliegenden Fassade den Himmel sieht. Wie die morgens allen Winden geöffneten, leer und rein geglaubten Kasernen, in denen es in Wahrheit von gefährlichen männlichen, durcheinander in ihre Betten gesunkenen Tieren wim-
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melt. Ich sage „leere Augen“, aber wenn sie ihre Lider schließen, beunruhigen sie mich mehr, als das vorbeigehende heiratsfähige Mädchen die vergitterten Luken der ungeheuren Gefängnisse beunruhigt, hinter denen ein Volk von Mördern schläft und träumt, flucht und spuckt, so daß jede Zelle zu einer zischenden Schlangengrube wird und gleichzeitig etwas von einem Beichtstuhl mit verstaubtem Sergevorhang hat. Diese Augen haben scheinbar kein Geheimnis, wie gewisse verschlossene Städte, Lyon oder Zürich, und sie hypnotisieren mich wie leere Theater, verlassene Gefängnisse oder ausruhende Maschinen, wie Wüsten — denn Wüsten sind in sich abgeschlossen und ohne Verbindung mit dem Unendlichen. Die Männer, die zu solchen Gesichtern gehören, entsetzen mich, wenn ich sie tastend durchstreife; aber welche schwindelerregende Überraschung, wenn ich mich nähere, gebannten Herzens, und in ihrer Landschaft, an der Biegung eines verlassenen Gäßchens nichts entdecke, nichts als Leere — aufrecht, empfindsam und stolz wie eine hochgewachsene Digitalis! Ich weiß nicht, sagte ich, ob es wirklich meine guillotinierten Freunde sind, deren Kopf sich hier befindet, aber an gewissen Zeichen habe ich erkannt, daß sie, die dort an der Mauer hängen, vollkommen geschmeidig sind wie Peitschenriemen und steif wie gläserne Messer, weise wie Wunderkinder und frisch wie Vergißmeinnicht — und ihre Körper sind auserwählt, von entseztlichen Seelen besessen zu werden. Die Zeitungen, wenn sie bis in meine Zelle gelangen, sind zerfleddert, und die schönsten Seiten sind ihrer schönsten Blumen, der Louis, beraubt wie Gärten im Mai. Die stattlichen, unerbittlichen, strengen Louis mit erblühten Geschlechtern, von denen ich nicht weiß, ob es Lilien sind oder ob Lilien und Geschlechter nicht völlig sie selbst sind, so daß ich in Gedanken abends auf den Knien ihre Beine mit meinen Armen umschlinge — soviel Steifheit wirft mich nieder und treibt mich zu Verwechslungen, und die Erinnerung, die ich meinen Nächten als Nahrung zu geben liebe, ist die Erinnerung an Dich, der
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während meiner Liebkosungen regungslos ausgestreckt blieb; nur Dein aufgerecktes und enthülltes Glied ging durch meinen Mund hindurch mit der plötzlich boshaften Rauheit eines Kirchturms, der eine Tintenwolke durchstößt, oder einer Hutnadel, die einen Busen durchsticht. Du rührtest Dich nicht, Du schliefst nicht, Du träumtest nicht, Du warst auf der Flucht, unbeweglich und blaß, eisig, gerade, steif ausgestreckt auf dem flachen Bett wie ein Sarg auf dem Meer, und ich wußte uns keusch, während ich darauf achtete, zu spüren, wie Du in kleinen, ununterbrochenen Stößen lau und weiß in mich rannst. Vielleicht war Dein Genuß nur gespielt. Im Höhepunkt durchstrahlte Dich eine ruhige Extase und legte um Deinen seligen Körper einen übernatürlichen Heiligenschein wie einen Mantel, den Du mit Kopf und Füßen durchstießt. Trotzdem: ich konnte ungefähr zwanzig Photographien auftreiben, und ich klebte sie mit gekautem Brotteig auf die Rückseite der kartonierten Gefängnisordnung, die an der Wand hängt. Einige sind festgesteckt mit kleinen Enden von Messingdraht, die mir der Vorarbeiter bringt und auf die ich bunte Glasperlen aufreihen muß. Von diesen Perlen, aus denen die Sträflinge von nebenan Friedhofskränze machen, habe ich für die makellosesten meiner Verbrecher sternförmige Rahmen hergestellt. Am Abend, wenn Ihr Euer Fenster zur Straße öffnet, drehe ich zu mir die Rückseite der Gefängnisordnung. Ihr Lächeln und ihre Schmollmünder, beide gleich unerbittlich, dringen durch alle Öffnungen, die ich darbiete; ihre Kraft durchströmt mich und läßt mich erigieren. Ich lebe zwischen diesen Abgründen. Sie lenken meine kleinen Gewohnheiten, die, mit ihnen zusammen, meine ganze Familie und meine einzigen Freunde sind. Unter die zwanzig hat sich vielleicht ein Junge verirrt, der nichts getan hat, um das Gefängnis zu verdienen: ein Champion, ein Athlet. Aber wenn ich ihn an meine Wand genagelt habe, so deswegen, weil er für mich am Mundwinkel oder am Rand der Lider das heilige Zeichen der Ungeheuer trägt. Der Spalt auf ihrem Gesicht oder in ihrer starren Gebärde zeigt mir an, daß sie mich sehr wahrscheinlich
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lieben; denn sie lieben mich nur, wenn sie Ungeheuer sind — und man kann also sagen, daß er selbst, dieser Verirrte, sein Hiersein gewählt hat. Um sie mit einem Gefolge und mit einem Hofstaat zu umgeben, habe ich gesammelt, hier und da, auf den bunten Umschlägen einiger Abenteuerromane: einen jungen mexikanischen Mestizen, einen Gaucho, einen kaukasischen Reiter und, auf den Seiten jener Romane, die man sich auf dem Spaziergang von Hand zu Hand reicht, unbeholfene Zeichnungen: Profile von Zuhältern und Apachen mit einem rauchenden Stummel, oder die Silhouette eines Schlägers, der spannt. In der Nacht liebe ich sie, und meine Liebe beseelt sie. Am Tage gehe ich meinen kleinen Beschäftigungen nach. Ich bin die Hausfrau, die darüber wacht, daß keine Brotkrume und kein Aschenstäubchen auf das Parkett fällt. Aber in der Nacht! Die Angst vor dem Aufseher, der plötzlich die elektrische Birne anzünden und seinen Kopf durch das in die Tür eingelassene Schiebefenster stecken kann, zwingt mich zu abscheulichen Vorsichtsmaßnahmen, damit nicht das Rascheln der Laken mein Lustgefühl verrät; aber meine Gebärde, wenn sie auch an Adel verliert durch ihre Heimlichkeit, erhöht meine Wollust. Ich schlendere. Unter dem Laken verhält meine rechte Hand, um das abwesende Gesicht zu liebkosen, dann den ganzen Körper des Geächteten, den ich für diesen Abend zu meiner Beglückung ausgewählt habe. Die linke Hand schließt sich, die Finger formen sich zu einem Hohlorgan, das zu widerstehen sucht, sich schließlich darbietet, sich öffnet, und ein kräftiger Körper, ein Spiegelschrank, tritt aus der Mauer, kommt auf mich zu, fällt über mich und zermalmt mich auf diesem schon von hundert Sträflingen befleckten Strohsack, während ich an das Glück denke, in dem ich versinke, obwohl Gott und seine Engel existieren. Niemand kann sagen, ob ich hier herauskomme, noch, wenn ich herauskomme, wann das sein wird. Mit Hilfe meiner unbekannten Geliebten werde ich also eine Geschichte schreiben. Sie, die an die Wand geklebten, sind meine Helden,
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sie, und ich, der hier eingeschlossen ist. Wenn Ihr weiterlest, werden die Personen, und auch Divine und Culafroy, von der Wand auf meine Seiten fallen wie tote Blätter, um meine Erzählung zu düngen. Ihr Tod — muß ich ihn Euch noch erzählen? Er wird für sie alle der Tod desjenigen sein, der, als er durch die Geschworenen von dem seinigen erfuhr, mit einem rheinischen Akzent nur murmelte: „Darüber bin ich schon hinaus“ (Weidmann). Es ist möglich, daß diese Geschichte nicht durchweg künstlich erscheint und daß man gegen meinen Willen die Stimme des Blutes in ihr gewahr wird: dann bin ich in meiner Nacht mit der Stirn gegen irgendeine Tür gestoßen und habe eine lastende Erinnerung befreit, die mich seit Anbeginn der Welt heimsuchte, vergebt es mir. Dieses Buch will nur ein Bruchteil meines inneren Lebens sein. Manchmal ruft mir der Wärter mit den Samtfüßen durch das Schiebefenster ein „Guten Tag!“ zu. Er spricht mit mir, und ohne es zu wollen, erfahre ich von ihm eine Menge über die Urkundenfälscher, meine Nachbarn, die Brandstifter, die Falschmünzer, die Mörder und die dreisten Jünglinge, die sich auf der Erde rollen und schreien: „Mama, zu Hilfe!“ Er schiebt das Guckloch wieder zu, wobei ein klatschendes Geräusch entsteht, und liefert mich ganz allein all diesen feinen Herrschaften aus, die er hat hereinschlüpfen lassen und die sich in der Lauheit der Laken, der Starre des Morgens winden, um das Ende des Fadens zu suchen, der die Motive entwirren wird und die Mittäterschaft und das ganze grausame und feingesponnene Zubehör, das, neben anderen gelungenen Streichen, einige rosarote kleine Mädchen in blasse Leichen verwandelte. Auch sie will ich vermengen, ihre Köpfe und ihre Beine, mit meinen Freunden an der Wand, und auch mit ihnen will ich diese Geschichte eines Kindes schreiben. Und neugestalten, auf meine Weise und zur Verzauberung meiner Zelle (ich will sagen, daß dank ihrer meine Zelle verzaubert sein wird), die Geschichte von Divine, die ich so wenig kannte, die Geschichte von Notre-Dame-des-Fleurs und, zweifelt nicht daran, meine eigene Geschichte.
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Äußere Kennzeichen von Notre-Dame-des-Fleurs: Größe 1,71 m, Gewicht 71 kg, Gesicht oval, Haarfarbe blond, Augen blau, Gesichtsfarbe matt, Zähne vollständig, Nase gerade. Divine starb gestern inmitten einer so roten Lache ihres ausgespuckten Blutes, daß sie, entschlafend, jener äußersten Selbsttäuschung erlag, dieses Blut sei das sichtbare Gegenstück zu jenem schwarzen Loch, das eine zertrümmerte Geige, die sie bei einem Richter mitten in einem Trödelkram von Beweisstücken gesehen hatte, mit so dramatischer Eindringlichkeit aufzeigte, wie ein Jesus das goldene Geschwulst vorweist, in welchem sein Heiliges Herz in Flammen leuchtet. Soviel über die göttliche Seite ihres Todes. Die andere Seite, die unsere, verlieh ihrem Tod wegen der Ströme von Blut, die über ihr Hemd und ihre Laken geflossen waren (denn brennend, aber nicht etwa unflätig auf den blutigen Laken, hatte sich die Sonne in ihrem Bett zur Ruhe gelegt), die Bedeutung eines Mordes. Divine starb als Heilige, ermordet — durch die Schwindsucht. Es ist Januar, auch im Gefängnis, und heute früh auf dem Spaziergang haben wir uns verstohlen, unter Sträflingen, ein gutes Neues Jahr gewünscht, so ergeben wie es Dienstboten unter sich in der Anrichte tun müssen. Der Oberaufseher hat jedem von uns als Neujahrsgabe ein kleines Tütchen mit zwanzig Gramm grobem Salz geschenkt. Drei Uhr nachmittag. Seit gestern regnet und stürmt es hinter den Gitterstäben. Ich lasse mich sinken wie auf den Grund eines Ozeans, auf den Grund eines düsteren Viertels mit harten, undurchsichtigen, aber leichten Häusern, in den nach Innen gerichteten Blick der Erinnerung; denn der Stoff der Erinnerung ist durchlässig. Der Speicher, den Divine so lange bewohnt hat, liegt auf der Spitze eines dieser Häuser. Sein großes Fenster stürzt die Augen (und entzückt sie) in den kleinen Friedhof von Montmartre hinab. Die Treppe, die zu ihm führt, spielt heute eine bedeutende Rolle. Sie ist, gewunden wie die Gänge der Pyramiden, das Vorzimmer des vorläufigen Grabes von Divine. Von der Straße ausgehend, steigt die Treppe zum Tod hinauf. Sie gelangt zum letzten Fronleichnams-
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altar. Sie riecht nach verfaulten Blumen und bereits nach Kerzenund Weihrauchduft. Sie führt in den Schatten hinauf. Von Stockwerk zu Stockwerk wird sie schmaler, bis sie an der Spitze nur noch ein Hirngespinst mit Azur vermischt ist. Das ist das Stockwerk von Divine. Auf der Straße, unter dem schwarzen Heiligenschein der winzigen, platten Regenschirme, die sie wie Blumensträuße in der Hand halten, warten Mimose I, Mimose II, Mimose halb-IV, Erstkommunion, Angela, Monseigneur, Castagnette, Regina, eine Menge endlich, eine noch sich fortsetzende Litanei von Wesen, die glänzende Namen tragen. In der anderen Hand halten sie, wie Regenschirme, kleine Veilchensträuße, die eine von ihnen, sagen wir: Erstkommunion, zu einer Träumerei verführen, aus der sie verstört und völlig betäubt auftaucht; denn sie erinnert sich an jenen Zeitungsartikel, den einst ein Abendblatt veröffentlichte — ergreifend, wie der Gesang aus einer anderen Welt, doch auch aus unserer Welt: „Der schwarze Samtteppich des Hotels Crillon, auf dem die einbalsamierte sterbliche Hülle der Prinzessin von Monaco in einem silberbeschlagenen Ebenholzsarg ruhte, war mit Parmesanveilchen bestreut.“ Erstkommunion fröstelte. Sie streckte in der Art der Ladies ihr Kinn vor. Dann zog sie es wieder ein und wickelte sich in die Falten einer von ihren Begierden erfundenen Geschichte, in die sie, um jene zu verherrlichen, alle Zwischenfälle ihres farblosen Lebens einbezog, in denen sie Tote und Prinzessin war. Der Regen begünstigte ihre Flucht. Mädchen-Tunten trugen Glasperlenkränze, dieselben, die ich in meiner Zelle herstelle, wohin sie mir den Duft von nassem Moos und die Erinnerung an die Schleimspuren bringen, die, auf den weißen Steinen meines Dorffriedhofes, die Haus- und Nacktschnecken zurücklassen. Alle, Mädchen-Tunten und Jungens-Tunten, Tunten-Huren, Homos, Schwule, von denen ich Euch erzähle, sind am Fuß der Treppe zusammengekommen. Sie schmiegen sich eine und einer an den anderen und schwatzen, piepsen — die Mädchen-Tunten um die Jungens-
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Tunten, die aufrecht, schwindelnd, unbeweglich und schweigsam dastehen wie Äste. Allesamt sind schwarz gekleidet: Hose, Rock und Mantel; aber ihre Gesichter, jung oder alt, glatt oder faltig, sind in farbige Felder unterteilt wie Wappen. Es regnet. In das Geräusch des Regens mischt sich: „Arme Divine!“ „Denkst Du, liebes Kind! Aber bei ihrem Alter war nichts zu machen.“ „Sie hielt nicht mehr zusammen. Sie verlor schon ihre Arschbacken.“ „Ist Mignon nicht gekommen?“ „’Tag, Du!“ „Schau Dir die an, die dort!“ Divine wohnte — denn sie liebte nicht, daß man ihr auf den Kopf trampelte, — im letzten Stockwerk eines bürgerlichen Hauses, in einem würdigen Viertel. Am Fuß dieses Hauses trieb sich jetzt jenes Gewimmel herum, das zu dieser schlüpfrigen Unterhaltung gehörte. Jeden Augenblick wird der Leichenwagen, vielleicht von einem schwarzen Pferdchen gezogen, die Reste von Divine abholen kommen, um sie in die Kirche zu befördern, und dann hierher, ganz nahe, in den kleinen Friedhof von Montmartre, den man von der Avenue Rachel aus betritt. Vorbei kam der Ewige in Gestalt eines Louis. Das Geplapper verstummte. Barhäuptig und sehr elegant, einfach und lächelnd, einfach und geschmeidig, erschien Mignon-les-petits-pieds. In seinem geschmeidigen Gang lag die plumpe Schönheit des Barbaren, der mit kotigen Stiefeln über wertvolle Pelze schreitet. Sein Oberkörper saß auf den Hüften wie ein König auf seinem Thron. Ihn heraufbeschworen zu haben, ist Grund genug für meine linke Hand, durch die durchlöcherte Tasche hindurch... Und die Erinnerung an Mignon wird mich nicht verlassen, ehe ich nicht meine Gebärde beendet habe. Eines Tages öffnete sich die Tür meiner Zelle und rahmte ihn ein. Ich glaubte ihn zu sehen, für die Dauer eines Augenblicks und so feierlich, wie einen auferstandenen Leichnam, eingefaßt von der für Euch unvorstellbaren Dicke der Gefängnismauern. Er erschien mir,
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aufrecht stehend, mit der Anmut, die er nackt ausgestreckt in einem Nelkenfeld besessen hätte. Ich gehörte ihm in der gleichen Sekunde, als hätte er sich (wer sagte das?) durch den Mund in mein Herz ergossen. Er drang in mich, bis dort für mich selbst kein Platz mehr war, so daß ich nun untertauchte zwischen Gangstern, Einbrechern und Louis; und die Polizei, der Täuschung erliegend, nimmt mich fest. Drei Monate lang feierte er auf meinem Körper Feste, schlug er mich unbarmherzig. Ich kroch zu seinen Füßen; ich empfing mehr Fußtritte als ein Putzlumpen. Seit er fortgegangen ist, frei, zu seinen Räubereien, denke ich unablässig an seine Gebärden, die so voller Leben waren, daß er wie in eine Kristallfacette geschnitten zu sein schien, so voller Leben, daß man den Verdacht haben mußte, sie seien unfreiwillig; denn ich halte es für unmöglich, daß sie aus der schwerfälligen Überlegung und aus dem Entschluß entstanden sein könnten. Greifbar bleibt mir von ihm nichts, leider, als der Gipsabdruck, den Divine eigenhändig von seinem, wenn er spannte, riesenhaften Schwanz machte. Was mich mehr als alles andere an ihm beeindruckt, ist die Kraft, also die Schönheit jenes Teils, der vom Anus bis zur Spitze des Penis reicht. Ich werde sagen: er hatte Finger aus Spitzen, seine bei jedem Erwachen ausgestreckten Arme — geöffnet, um nie Welt zu empfangen — verliehen ihm das Aussehen des Jesuskindes in seiner Krippe (die Ferse des einen Fußes auf dem Spann des anderen), sein aufmerksames Gesicht bot sich dar, umgekehrt gegen den Himmel geneigt, und wenn er aufrecht stand, machte er mit seinen Armen dieselbe korbförmige Gebärde wie Nijinski auf alten Photos, auf denen er mit gezackten Rosenblättern bekleidet ist. Sein Handgelenk, geschmeidig wie das eines Geigers, hängt herab, anmutig und entspannt. Und manchmal, am hellen Tage, erwürgt er sich mit seinem lebendigen Arm, dem Arm einer Tragödin. Das ist das beinahe genaue Porträt von Mignon, denn — wir werden das noch sehen — er war genial in der Erfindung von Gebärden, die mich verwirren, und wenn ich sein Bild heraufbeschwöre, so kann
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ich nicht aufhören, ihn zu besingen, ehe nicht meine Hand klebrig wird von meiner befreiten Lust. Ein Grieche, trat er ein bei der Toten, indem er auf der reinen Luft schritt. Ein Grieche, das heißt auch ein Gauner. Als er vorüberging — das offenbarte sich durch eine unmerkliche Bewegung des Oberkörpers —, vollführten sie alle, innerlich, heimlich: Monseigneur, die Mimosen, Castagnette, allesamt, alle Tunten, mit ihren Körpern eine schraubenförmige Bewegung und glaubten, diesen schönen Mann zu umschlingen, sich um ihn zu winden. Gleichgültig und klar wie ein Schlachtermesser ging er vorüber und spaltete sie in zwei Scheiben, die sich wieder vereinigten, lautlos, aber unter Ausscheidung eines leichten Duftes von Verzweiflung, den niemand verheimlichte. Mignon ging die Treppe hinauf, je zwei Stufen auf einmal nehmend, ein weiter und gewisser Aufstieg, der jenseits des Daches, auf den Stufen der blauen Luft, bis zum Himmel führen kann. Im Speicher, der weniger geheimnisvoll war, seit der Tod ihn in ein Grab verwandelt hatte (er verlor seine Zweideutigkeit, nahm wieder mit ganzer Reinheit jenes Äußere unzusammenhängender Sinnlosigkeit an, das ihm die wunderbaren Todeszeichen, die Grabbeigaben verliehen: weiße Handschuhe, ein Lampion, der Rock eines Artilleristen, ein Inventar alles in allem, das wir später aufzählen werden), — im Speicher seufzte die Mutter von Divine, Ernestine, unter den Schleiern ihres Trauergewandes. Sie ist alt. Aber zu guter letzt entgeht ihr nicht die wunderbare Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatte. Der Tod von Divine ermöglichte es ihr, sich zu befreien durch eine äußerliche Verzweiflung, durch eine sichtbare Trauer, sichtbar gemacht durch Tränen, Blumen und Krepp, durch die hundert großen Rollen, die Macht über sie hatten. Die Gelegenheit zerrann ihr einst unter den Fingern während einer Krankheit, von der ich erzählen werde, als Divine, die Sittenlose, noch ein kleiner Dorfjunge war und Louis Culafroy hieß. Von seinem Krankenlager aus betrachtete er das Zimmer, in dem ein Engel (dieses Wort, wieder einmal, beunruhigt mich, zieht mich an und stößt mich ab. Wenn sie Flügel
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haben, haben sie Zähne? Fliegen sie mit diesen schweren Flügeln, mit diesen gefiederten Flügeln? „Diese geheimnisvollen Flügel?“ — Und, weihrauchumhüllt von diesem Wunder: ihrem Engelsnamen, den sie wechseln, wenn sie stürzen?); —einEngel also.ein hellblau gekleideter Soldat und ein Neger (denn meine Bücher, werden sie jemals etwas anderes sein als ein Vorwand, einen azurblau gekleideten Soldaten, einen Engel und einen Neger zu zeigen, die brüderlich mit Würfeln oder Knöchelchen in einem düsteren oder hellen Gefängnis spielen?) eine geheime Unterredung hatten, aus der er selbst verbannt war. Der Engel, der Neger und der Soldat trugen nacheinander die Gesichter seiner Mitschüler, der Bauern, aber niemals das von Alberto, dem Schlangenfischer. Er aber war es, den Culafroy in seiner Wüste erwartete, um seinen brennenden Durst zu löschen mit dem Mund von sternhellem Fleisch. Um sich darüber hinwegzutrösten, versuchte er ungeachtet seines Alters herauszufinden, was ein Glück wäre, das keine Süße kennt, ein reines, wüstes, verlassenes Feld, ein Feld von Azur oder Sand, ein magnetisches Feld, trocken, stumm, wo nichts mehr übrigblieb von Süßigkeit, von Farben und von Lauten. Die Erscheinung auf der Straße zum Dorf, die Erscheinung einer Braut im schwarzen Kleid, eingehüllt jedoch in einen Schleier aus weißem Tüll, glitzernd wie ein junger Schäfer im Rauhreif, wie ein gepuderter blonder Müller oder wie Notre-Dame-des-Fleurs, den er später kennenlernen wird und den ich selbst hier in der Zelle neben den Latrinen sah, eines Morgens — sein verschlafenes Gesicht, rosig und borstig unter dem Seifenschaum — diese Erscheinung gab seinem Traum eine andere Richtung und offenbarte Culafroy schon viel früher, daß Poesie etwas anderes ist als eine Melodie von Kurven auf sanftem Grund, denn der Tüll zerbrach in scharfe, klare, harte, eisige Facetten. Das war eine Warnung. Er wartete auf Alberto, der nicht kam. Dennoch, jeder Bauer und jede Bäuerin, die eintraten, hatten etwas von dem Schlangenfischer an sich. Sie verkündeten ihn, sie waren seine Botschafter, seine Vorläufer, sie trugen vor ihm her einige seiner Fähigkeiten, sie bereiteten
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seine Ankunft vor, indem sie den Weg ebneten. Sie schrien Halleluja. Der eine hatte seinen Gang, der andere seine Gebärde, oder die Farbe der Hose, oder seinen gerippten Samt, oder die Stimme Albertos; und Culafroy, wie alle Wartenden, zweifelte nicht daran, daß auf die Dauer alle diese verstreuten Teile schließlich zusammenpassen und einem wiederhergestellten Alberto gestatten würden, den feierlichen, vereinbarten und überraschenden Einzug in seinZimmer zu halten,den ein toter und lebendiger Mignon-les-petits-pieds in meine Zelle hielt. Als der Dorfgeistliche, der auf die Nachricht hin gekommen war, zu Ernestine sagte: „Madame, es ist ein Glück, jung zu sterben“, antwortete sie: „Jawohl, Herr Graf“, indem sie eine tiefe Verbeugung machte. Der Priester sah sie an. Sie lächelte in das leuchtende Parkett ihrem Spiegelbild zu, das die Pik-Königin aus ihr machte, die Witwe mit dem bösen Einfluß. „Zucken Sie nicht mit den Schultern, lieber Freund, ich bin nicht verrückt.“ Sie war nicht verrückt. „Lou Culafroy wird gleich sterben. Ich fühle es. Er wird sterben, ich weiß es.“ „Er wird sterben, ich weiß es“, so hieß der Satz — und er half ihr zu fliegen; — er war lebendig herausgerissen aus einem Buch, noch blutend, wie wenn man einem Spatz einen Flügel ausreißt (oder einem Engel, sofern er scharlachrot bluten kann), und sie murmelte ihn voller Schrecken, die Heldin dieses ordinären, mit ganz kleinen Lettern auf ein schwammiges Papier gedruckten Romans — schwammig wie, so sagt man, das Gewissen jener abscheulichen Herren ist, die kleine Kinder verderben. „Und so werde ich den Trauergesang um seine Leiche tanzen.“ Es war also notwendig, daß er starb. Und um das Pathos der Handlung noch zu steigern, mußte sie selbst die Ursache seines Todes sein. Hier, nicht wahr, hat die Moral nichts zu suchen, noch die Furcht vor dem Gefängnis, oder vor der Hölle. Bis ins Einzelne trat der
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ganze Medianismus des Trauerspiels vor das geistige Auge Ernestines und so auch vor das meine. Sie würde einen Selbstmord vortäuschen. „Ich werde sagen, er hat sich umgebracht.“ Die Logik Ernestines, die eine Theaterlogik ist, hat mit dem, was man Wahrscheinlichkeit nennt, nichts zu tun; denn die Wahrscheinlichkeit wäre die Leugnung unleugbarer Gründe. Seid nicht erstaunt — Ihr werdet Euch um so besser verzaubern lassen. Die Anwesenheit eines ungeheuren Armeerevolvers in der Tiefe einer Schublade genügt, um ihr vorzuschreiben, was sie zu tun hat. Nicht das erste Mal sind die Dinge Anstifter einer Tat und tragen allein die furchtbare, wenn auch leichte Verantwortung für ein Verbrechen. Dieser Revolver wurde — so scheint es — das unentbehrliche Requisit ihrer Gebärde. Er verlängerte ihren ausgestreckten Tragödinnenarm, er verfolgte sie schließlich, es muß gesagt werden, mit der ihre Wangen zum Glühen bringenden Brutalität, mit der Albertos schwere, seine Taschen ausbeutelnden Hände die Mädchen des Dorfes verfolgten. Aber — so wie ich selbst nur einwilligen würde, einen geschmeidigen Jüngling zu töten, weil sein Tod einen Leichnam hervorbringt, einen noch warmen Leichnam, einen Schatten, den ich umarmen kann, so wollte Ernestine nur unter der Bedingung töten, daß sie dem Entsetzen entgehen könnte, welches das Diesseits ohne Zweifel verbreiten würde (Zuckungen, Vorwürfe aus den bestürzten Augen des Kindes, Blut und Hirn, das umherspritzt); auch wohl um dem Entsetzen eines engelhaften Jenseits zu entgehen oder vielleicht, um dem Augenblick mehr Glanz zu geben, legte sie ihren Schmuck an. So machte ich mir früher meine Kokaineinspritzungen mit einer Kristallspritze, die wie der Verschluß einer Karaffe geschnitten war, und über meinen Zeigefinger zog ich einen ungeheuren Brillanten. Indem sie das tat, wußte sie nicht, daß sie ihre Gebärde verschlimmerte, weil sie sie in eine außergewöhnliche Gebärde verwandelte, deren Einzigartigkeit alles umstürzen konnte. Genau das geschah. Infolge einer Art von sanftem Erdrutsch glitt das Zimmer tiefer, bis es mit einer prunkvollen, goldüberladenen
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Wohnung verschmolz, deren Wände mit granatfarbenem Samt bespannt waren; rote Taftvorhänge dämpften ihre gewichtigen Stilmöbel, große, geschliffene Spiegel lockerten sie auf und kristallbehangene Standleuchter schmückten sie. Von der Decke — wichtige Einzelheit — hing ein riesenhafter Kronleuchter. Der Boden war bedeckt mit dicken violetten und blauen Wollteppichen. Während ihrer Hochzeitsreise nach Paris hatte Ernestine eines Abends von der Straße aus durch die Fenstervorhänge hindurch kurz in diese prächtigen und angenehm durchwärmten Wohnungen hineingeblickt, und brav — noch brav — neben ihrem Mann einherschreitend begehrte sie, in ihnen, mit Gardenal und Blumen, für einen teutonischen Ritter den Liebestod zu sterben. Dann, trotz ihres vier- oder fünfmaligen Todes, war die Wohnung jedoch verfügbar geblieben für ein Trauerspiel, das noch erschütternder war als das ihres eigenen Todes. Ich vermische die Dinge, ich verwirre sie, und Ihr haltet das für kindliche Spiele. Es sind kindliche Spiele. Alle Häftlinge sind Kinder, und nur Kinder sind unaufrichtig, gewunden, klar und wirr. „Schön wäre es jetzt noch“, dachte Ernestine, „wenn er in einer vornehmen Stadt sterben würde, in Cannes oder Venedig, dann könnte ich Pilgerfahrten dorthin unternehmen.“ In einem Ritz absteigen, das umspült wird von jener Adria, die die Gattin oder Geliebte eines Dogen ist, dann, die Arme mit Blumen beladen,einen Saumpfad bis zum Friedhof hinaufklettern und sich auf eine einfache Steinplatte setzen und über diesem weißen, ein wenig gewölbten Stein brüten, ganz eingehüllt in duftenden Schmerz! Die Anordnung des Bühnenbildes, ohne sie deswegen in die Wirklichkeit zurückzuführen, die sie niemals verlassen hatte, nötigte sie, den Traum abzuschütteln. Sie ging den Revolver holen, der seit langem von einer aufmerksamen Vorsehung geladen war, und als sie ihn in der Hand hielt, schwer wie einen aufgerichteten Phallus, begriff sie, daß sie schwanger ging mit einem Mord, daß sie schwer war von einem Toten.
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Ihr, Ihr kennt nicht jenen übermenschlichen oder hellseherischen Zustand des blinden Mörders, der das Messer, das Gewehr oder den Becher hält oder der bereits die Gebärde ausgelöst hat, die in den Abgrund führt. Die abschließende Gebärde Ernestines hätte rasch ausgeführt werden können, aber sie dient, wie übrigens auch Culafroy, einem Text, den sie nicht kennt, den ich niederschreibe und dessen Lösung zu gegebener Zeit erfolgen wird. Ernestine weiß, wieviel armselige Literatur ihre Tat enthält, aber daß sie einer schlechten Literatur gehorchen muß, macht sie in ihren Augen und in den unseren noch ergreifender. Im Drama wie im ganzen Leben entgeht sie der dünkelhaften Schönheit. Jeder überlegte Mord wird eingeleitet von einer Vorbereitungszeremonie, und stets folgt ihm eine Sühnezeremonie. Der Sinn der einen wie der anderen entgeht dem Bewußtsein des Mörders. Alles ist in Ordnung. Ernestine hat eben Zeit, vor einem hochnotpeinlichen Gericht zu erscheinen. Sie schoß. Die Kugel zerschmetterte das Glas eines Rahmens, der eine Ehrenurkunde ihres verstorbenen Gemahls einfaßte. Der Lärm war entsetzlich. Das Kind, von Schlafmitteln betäubt, hörte nichts. Ernestine ebensowenig: sie hatte in die Wohnung aus granatfarbenem Samt geschossen, und die Kugel zerschmetterte geschliffene Spiegel, Kristallgehänge, Gläser, Stuck und Sterne, zerriß Tapeten und zerstörte schließlich den ganzen Bau, der in sich zusammenstürzte, und statt glitzerndem Puder und Blut, statt dem Kristallgehänge des Kronleuchters, fiel etwas graue Asche auf den Kopf von Ernestine, die in Ohnmacht sank. Sie kam wieder zu sich inmitten der Trümmer ihres Dramas. Ihre Hände, vom Revolver gelöst, der unter dem Bett verschwand wie eine Axt auf dem Grund eines Teiches, wie ein Landstreicher in einer Mauer, ihre Hände, leichter als Gedanken, flatterten um sie herum. Seither wartet sie. So sah sie Mignon, im Zustand tragischer Trunkenheit. Er war eingeschüchtert, denn sie war schön und schien verrückt, vor
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allem aber, weil sie schön war. Mußte er sie, da er selbst schön war, fürchten? Leider weiß ich zu wenig oder gar nichts über die geheimen Bande von Menschen, die schön sind und wissen, daß sie es sind, und ich weiß nichts über die scheinbar freundschaftlichen, tatsächlich aber vielleicht haßerfüllten Beziehungen der schönen Jungen untereinander. Wenn sie sich wegen einer Nichtigkeit zulächeln, ist dann irgendwo, ohne ihr Wissen, eine Zärtlichkeit in ihrem Lächeln und spüren sie dunkel deren Einfluß? Mignon bekreuzigte sich ungeschickt über dem Sarg. Seine Verlegenheit gab ihm den Anschein, als ob er sich sammelte; in der Tat war seine Verlegenheit seine ganze Zierde. Der Tod hatte, schwer wie ein Bleisiegel unter einem Pergament, seine Spuren zurückgelassen, — auf den Vorhängen, den Wänden und den Teppichen. Auf den Vorhängen vor allem. Sie sind empfindlich. Sie riechen den Tod und geben ihn weiter wie Hunde. Sie bellen den Tod an durch die Falten, die sich öffnen, dunkel wie der Mund und die Augen der Masken des Sophokles, oder die sich wölben wie die Lider christlicher Asketen. Die Fensterläden waren geschlossen und Kerzen brannten. Mignon, der den Speicher, den er mit Divine bewohnt hatte, nicht mehr wiedererkannte, machte die albernen Bewegungen eines jungen Mannes, der zu Besuch ist. Seine Rührung vor dem Sarg? Null. Er erinnerte sich nicht mehr an Divine. Fast im gleichen Augenblick kamen die Leichenträger und erlösten ihn. Ein schwarzes Gefolge, in welchem bunte Gesichter wie Sterne schimmerten und in das sich der Duft von Puder und Blumen mischte, ging im Regen hinter dem Leichenwagen her. Die runden und platten Regenschirme wogten über dem dahinwandelnden Zug und hielten ihn in der Schwebe zwischen Himmel und Erde. Die Vorübergehenden sahen ihn nicht, denn er hatte sich bereits zehn Meter über den Boden erhoben — so leicht war er; nur die Dienstmädchen und Kammerdiener hätten ihn sehen können, aber es war zehn Uhr morgens, und die einen waren damit beschäftigt, ihrer Herrin die Schokolade zu bringen, während die anderen soeben die
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Tür für die ersten Besucher öffneten. Übrigens war der Leichenzug fast unsichtbar infolge seiner Geschwindigkeit. Der Leichenwagen hatte Flügel an den Achsen. Als erster trat der Priester in den Regen hinaus und sang den „dies irae“. Er raffte seine Sutane und seinen Chormantel auf, genauso, wie man es ihm im Seminar für die Schlechtwettertage gezeigt hatte; seine Bewegung, obwohl unwillkürlich, löste in ihm, von einem adeligen Mutterkuchen, eine Anzahl geheimer und trauriger Wesen. Mit Hilfe eines Stücks von seinem Chormantel aus schwarzem Samt, dem Samt, aus dem die Masken der Fantômas und der Dogenfrauen hergestellt werden, versuchte er auszuweichen, aber der Boden war es, der unter ihm auswich; und wir werden sehen, in welche Falle er fiel. Rechtzeitig hinderte er den Stoff daran, die untere Hälfte seines Gesichtes zu verbergen. Dieser Priester, bedenkt es wohl, war jung; man erriet unter seinem Leichenschmuck den bebenden Körper eines Athleten. Das heißt, daß er, im Ganzen gesehen, verkleidet war. In der Kirche, die Totenmesse, war nur ein „Tut dies im Gedenken an mich“. Sich auf lautlosen Sohlen schweigend dem Altar nähernd, hatte er das Schloß des Tabernakels mit einem Nachschlüssel geöffnet und den Schleier zur Seite geschoben, so wie man um Mitternacht die Doppelvorhänge eines Alkovens zur Seite schiebt; er hatte den Atem angehalten, dann, mit der Vorsicht eines Einbrechers, der die Handschuhe abgestreift hat, den Kelch ergriffen und schließlich, nachdem er sie gebrochen hatte, eine verdächtige Hostie verschluckt. Der Weg von der Kirche zum Friedhof war lang und der Text des Breviers zu bekannt. Nur der Totengesang und der silberbestickte schwarze Chormantel sonderten Zauber ab. Der Priester wandelte im Schmutz, als befände er sich in der Tiefe eines Waldes. „Welchen Waldes?“ fragte er sich. In einem fremden Land, einem böhmischen Wald. Oder vielmehr: einem ungarischen Wald. Wahrscheinlich ließ er sich, als er dieses Land wählte, von der kostbaren Vermutung leiten, daß die Ungarn die einzigen Asiaten Europas sind. Hunnen. Die Hunnis. Attila ist es, der das Gras verbrennt; zwischen den
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Flanken ihrer Pferde und ihren mächtigen und brutalen Schenkeln (wie die, oder vielleicht noch gewaltiger als die Albertos, Mignons und Gorguis) erhitzen seine Soldaten das rohe Fleisch, das sie verschlingen werden! Es ist Herbst. Es regnet im ungarischen Wald. Jeder Zweig, den er beiseiteschieben muß, benäßt die Stirn des Priesters. Man hört nur das Geräusch der Tropfen auf dem nassen Laub. Da es abend ist, wird der Wald immer unheimlicher. Der Priester schlingt den grauen Mantel, den Überwurf, der ihn dort in der Ferne einhüllt, so wie es hier sein Chormantel tut, noch enger um seine herrlichen Lenden. In dem Wald befindet sich eine Sägemühle: zwei junge Leute betreiben sie und jagen. Sie sind unbekannt in der Gegend. Sie sind — der Geistliche weiß das so, wie man im Traum Dinge weiß, ohne sie je gelernt zu haben — um die Welt gefahren. Und so sang der Geistliche hier den Totengesang, wie er ihn dort unten gesungen hätte, gerade in dem Augenblick, in dem er einem der Fremden, dem Jüngeren, begegnete, dem, der das Gesicht des Metzgers aus meinem Dorf hatte. Er kam von der Jagd zurück. Im Mundwinkel ein kalter Zigarettenstummel. Das Wort „Stummel“ und der Geschmack des feuchten Tabaks veranlaßten die Wirbelsäule des Geistlichen, sich aufzurichten und zurückzubiegen mit drei kleinen, kurzen Stößen, die sich wellenförmig durch alle seine Muskeln hindurch verbreiteten bis in die Unendlichkeit, die davon erschauerte und eine Saat von Sternbildern verspritzte. Die Lippen des Jägers senkten sich auf den Mund des Geistlichen, in den sie, mit einem Zungenstoß, gebieterischer als eine königliche Order, den Stummel hineinzwängten. Der Biß warf den Priester zu Boden. Liebesselig gab er auf dem durchnäßten Moos seinen Geist auf. Nachdem er ihn fast entkleidet hatte, liebkoste ihn der Fremde, dankbar, ja fast übertrieben zärtlich, wie der Geistliche feststellte; mit einer Bewegung seiner Schultern rückte er dann die Jagdtasche mit der Wildkatze wieder an ihren Platz, hob die Flinte auf und schritt, ein Apachenlied vor sich hinpfeifend, davon.
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Der Geistliche ging zwischen Mausoleen hindurch, die Tunten stolperten über Steine, durchnäßten sich im Gras und wurden engelgleich inmitten der Gräber. Ein Chorknabe, ein grindiger Schwächling, der keine Ahnung von dem Abenteuer hatte, zu dem der Geistliche soeben ausgezogen war, fragte ihn, ob er seine Mütze aufbehalten könne. Der Geistliche sagte ja. Im Gehen machte er jene den Tänzern eigentümliche Bewegung, die — eine Hand in der Tasche — einen Tango beendeten. Er neigte sich auf sein leicht nach vorn auf die Fußspitze gesetztes Bein, mit dem Knie stieß er gegen den Stoff der Sutane, die hin- und herflatterte wie das nach unten zu erweiterte Hosenbein eines schlendernden Matrosen oder Gauchos. Dann begann er einen Psalm. Nachdem der Zug vor dem bereits ausgehobenen Loch angekommen war, ausgehoben vielleicht von jenem Totengräber, den Divine von ihrem Fenster aus hatte sehen können, wurde der Sarg, in dem die Tote in ein weitmaschiges, weites Spitzenhemd gerollt war, hinabgelassen. Der Geistliche segnete die Grube und gab seinen Sprengwedel an Mignon weiter, der ob seines Gewichtes errötete (denn er war zurückgekehrt zu seiner Rasse, die der Rasse der jungen Zigeuner nahe verwandt war, der Zigeuner, die mit Vergnügen bereit sind, Euch mit Füßen zu treten); dann gab er den Wedel weiter an die Tunten, und die verwandelten die ganze Umgebung in ein einziges Gekreisch von gezierten Schreien und ersticktem Gelächter. Divine schied aus der Welt, wie sie selbst es gewünscht hätte: Übermut und Niedertracht vermengten sich. Divine ist tot, ist tot und eingescharrt... ist tot und eingescharrt. Da Divine gestorben ist, darf der Dichter sie besingen, ihre Legende erzählen: die Saga, die Mär von Divine. Die „Divine-Saga“ verdiente es, getanzt zu werden, gemimt zu werden, nach feinfühligen RegieAnweisungen. Die Unmöglichkeit, sie als Ballett darzustellen, zwingt
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mich, Worte zu verwenden, die mit klaren Gedanken belastet sind; aber ich werde versuchen, sie durch platte, leere, hohle, unsichtbare Sätze aufzulockern. Worum handelt es sich für mich, den Erfinder dieser Geschichte? Indem ich mein Leben neu erlebe, indem ich seinen Ablauf zurückverfolge, will ich meine Zelle erfüllen mit der Wollust, zu sein, was ich einer Kleinigkeit wegen zu sein verfehlte; und um mich in sie hineinzustürzen wie in schwarze Löcher, will ich jene Augenblicke wiederfinden, in denen ich mich in den unergründlichen Schächten der Fallgruben eines unterirdischen Himmels verirrte. Langsam will ich große Massen fauliger Luft verschieben, will ich Fäden abschneiden, an denen Gefühle in Form von Blumensträußen hängen, und aus ich weiß nicht welchem sternenüberglänzten Fluß will ich vielleicht jenen Zigeuner auftauchen sehen, den ich suche, durchnäßt, mit moosigem Haar, Geige spielend und teuflisch versteckt von der scharlachroten Samtportiere eines Nachtkabaretts. Ich werde Euch von Divine erzählen, indem ich, je nach meiner Stimmung, männliche und weibliche Formen vermische, und wenn im Laufe meiner Geschichte einmal eine wirkliche Frau auftritt, so werde ich es schon so einrichten, daß ich einen Ausweg, irgendeine gute Wendung finde, damit keine Verwirrung entsteht.
Divine erschien in Paris, um dort ihr öffentliches Leben zu führen, ungefähr zwanzig Jahre vor ihrem Tod. Sie war damals schlank und lebhaft und sollte so bis ans Ende ihres Lebens bleiben, obwohl sie kantiger wurde. Gegen zwei Uhr morgens trat sie bei Graff am Montmartre ein. Die Kundschaft war aus noch schlammigem, formlosem Lehm. Divine war klares Wasser. In das große, übervölkerte, im Rauch dahindämmernde Café mit den heruntergelassenen Scheiben
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und den auf hohlen Gardinenstangen zugezogenen Vorhängen brachte sie die Frische des Skandals, die die Frische eines morgendlichen Windes ist, so unerwartet leise wie das Schlürfen von Sandalen auf Tempelsteinen, und wie der Wind die Blätter dreht, veranlaßte sie eine Drehung der plötzlich leicht gewordenen Köpfe (närrischen Köpfe), der Köpfe der Bankiers, Ladeninhaber, Gigolos für Damen, Kellner, Pächterobersten und Vogelscheuchen. Sie setzte sich allein an einen Tisch und verlangte Tee. „Guten, chinesischen, mein Junge“, sagte sie. Lächelnd. Für die Kunden war es ein herausforderndes, prahlerisches Lächeln. So das kopfschüttelnde Gerede der Bürger. Für den Dichter und den Leser ist ihr Lächeln geheimnisvoll. Sie trug an diesem Abend eine champagnerfarbene Bluse und eine blaue Hose, die sie einem Matrosen gestohlen hatte, dazu lederne Sandalen an den Füßen. An irgendeinem ihrer Finger, wahrscheinlich war es der kleine Finger, hing ein Stein wie ein brandiges Geschwür. Nachdem der Tee gebracht worden war, trank sie ihn, wie zu Hause, in ganz kleinen Schlucken (ein Täubchen), die Tasse immer wieder absetzend, wobei ihr kleiner Finger aufgerichtet blieb. Hier ihr Porträt: ihr Haar ist kastanienbraun und gelockt; die Locken purzeln ihr in die Augen und auf die Wangen, als ob sie mit einer neunschwänzigen Katze gekämmt worden wäre. Ihre Stirn ist ein wenig rund und glatt. Die Augen singen trotz ihrer Verzweiflung, und ihre Melodie überträgt sich von den Augen auf die Zähne und verleiht ihnen Leben, und von den Zähnen überträgt sie sich auf alle ihre Bewegungen, auf ihre kleinsten Handgriffe, und dieser aus ihren Augen hervortretende Zauber ist es, der sich von Welle zu Welle bis hinab zu ihren nackten Füßen entfaltet. Ihr Körper ist fein wie Bernstein. Ihre Beine können flink werden, wenn sie vor Gespenstern flieht; dann tragen sie an ihren Fersen die Flügel des Schreckens. Sie ist schnell, denn um die Gespenster bei ihrem Lauf irrezuleiten und abzuschütteln, muß sie schneller laufen, als ihr Verstand denkt. Sie trank ihren Tee vor dreißig Augen-
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paaren und strafte Lügen, was die verächtlichen, verdrossenen, bekümmerten, verwelkten Münder sagten. Divine war anmutig und ähnelte doch allen jenen Jahrmarktsgaffern, die auf den seltenen Anblick, die künstlerische Darbietung, die hübschen Spieler lauern und die den ganzen zweideutigen Plunder der Vergnügungsparks hinter sich herschleppen. Bei der geringsten Bewegung, ob sie ihre Krawatte binden oder die Asche ihrer Zigarette abstreifen, setzen sie Spielautomaten in Bewegung. Divine verknotete, knebelte Schlagadern. Ihre Verführungskraft wird unbarmherzig sein. Wenn es nur von mir abhinge, würde ich aus ihr einen jener verhängnisumwitterten Helden machen, die ich liebe. Verhängnisumwittert, das heißt, sie werden bestimmend für das Schicksal derjenigen, die sie mit schreckensstarrem Blick betrachten. Ich würde ihr Hüften aus Stein geben, polierte, flache Wangen, schwere Lider und heidnische Knie von solcher Schönheit, daß sie die verzweifelte Klugheit im Gesicht der Mystiker widerspiegeln. Ich würde sie jedes sentimentalen Zubehörs berauben. Sie muß einwilligen, die gefrorene Statue zu sein! Aber ich weiß ja, der bedauernswerte Demiurg ist gezwungen, sein Geschöpf nach seinem Ebenbild zu formen, und Er hat Luzifer nicht erfunden. Nach und nach werde ich in meiner Zelle dem Granit meine Schauer mitteilen müssen. Lange werde ich allein mit ihm bleiben und ich werde ihm Leben verleihen mit meinem Atem und dem Geruch der Winde, die ich feierlich und sehr sanft fahren lasse. Es wird die ganze Dauer eines Buches brauchen, um ihn aus seiner Versteinerung hervorzuziehen, um ihm allmählich mein Leiden mitzuteilen, ihn allmählich vom Übel zu befreien und behutsam zur Heiligkeit zu führen. Der Kellner, der sie bediente, hatte wohl Lust, höhnisch zu lächeln, aber er wagte es nicht vor ihr, aus Scham. Der Pächter dagegen kam ganz nahe an den Tisch heran und beschloß, sie sobald sie ausgetrunken hätte, zum Verlassen des Lokals aufzufordern, um ihre Rückkehr an einem anderen Abend unmöglich zu machen. Schließlich betupfte sie ihre schneeweiße Stirn mit einem geblümten
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Taschentuch. Dann überkreuzte sie ihre Beine, und man sah an ihrem Knöchel ein Kettchen, das von einem Medaillon verschlossen wurde, welches, wie wir wissen, — wir —, einige Haare enthielt. Sie lächelte in die Runde, und ein jeder antwortete nur durch ein Abwenden des Kopfes: aber eine Antwort war es trotzdem. Im Café herrschte eine solche Stille, daß man alle Laute genau unterscheiden konnte. Das ganze Café dachte, daß das Lächeln (für den Oberst: des Pervertierten; für den Ladeninhaber: der Schwulen; für den Bankier und die Kellner: der Tunte; für die Gigolos: „von der da“ usw.) gemein sei. Divine gab sich geschlagen. Aus einer winzigen Geldbörse von schwarzer Seide zog sie einige Münzen hervor, die sie lautlos auf den Marmortisch legte. Das Café verschwand, und Divine wurde in eines jener Tiere verwandelt — Schimären oder Greife —, die man an die Wände malt; denn ein Kunde, der an sie dachte, murmelte gegen seinen Willen ein magisches Wort: „Homosexualis.“ Das war ihr erster Abend am Montmartre. Sie hielt Ausschau nach Tunten, aber sie hatte keinen Erfolg. Sie war ohne Vorankündigung zu uns gekommen; die Stammkunden des Cafés hatten nicht die Zeit und vor allem nicht die Kaltblütigkeit, mit ihrem Ruf und Weibchen vernünftig umzugehen. Nachdem sie ihren Tee getrunken hatte, ging Divine gleichgültig (so schien es, wenn man sie ansah) hinaus; sie wiegte sich in einer Garbe von Blumen, Knistern und Pailetten aus einer unsichtbaren Falbel um sich streuend. Nun ist sie also entschlossen, von einer Rauchsäule getragen zu ihrem Speicher zurückzukehren, an dessen Tür eine ungeheure Rose aus entfärbtem Seihtuch genagelt ist. Ihr Parfüm duftet stark und ordinär. Schon hieraus darf man den Schluß ziehen, daß sie das Ordinäre liebt. Divine hat einen sicheren, einen guten Geschmack, und es ist ziemlich beunruhigend, daß das Leben für sie, die doch so empfindsam ist, stets etwas Häßliches in Bereitschaft hält und sie in Berührung mit allem möglichen Schmutz bringt. Sie ist verliebt in das Gemeine, weil ihre
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größte Liebe einem Zigeuner mit schwarzer Haut galt. Auf ihm, unter ihm, wenn er, seinen Mund auf den ihren gepreßt, zotige Lieder sang, die ihr durch Mark und Bein gingen, lernte sie den Zauber so vulgärer Stoffe ertragen, wie es Seide und Goldborten sind, die gut zu schamlosen Menschen passen. Montmartre stand in Flammen. Divine durchquerte die bunten Lichter und betrat dann, unberührt, die Finsternis des Mittelstreifens auf dem Boulevard de Clichy, jene Finsternis, die die armseligen alten und häßlichen Gesichter behütet. Es war drei Uhr morgens. Sie ging einen Augenblick in Richtung Pigalle. Sie lächelte jedem Mann zu, der allein an ihr vorüberging. Sie wagten es nicht, oder sie war es, die das übliche Sich-Zieren noch nicht kannte: das Umkehren des Kunden, sein Zögern und seine Unsicherheit, sobald er sich dem begehrten Jungen nähert. Divine war abgespannt, sie setzte sich auf eine Bank, und trotz ihrer Müdigkeit wurde sie ergriffen, war sie hingerissen von der Lauheit der Nacht; sie vergaß sich für die Dauer eines Herzschlages und übersetzte ihre Erregung folgendermaßen: „Die Nächte sind verrückt nach mir, diese Sultaninnen! Mein Gott! Sie werfen mir schmachtende Blicke zu. Ah! Sie wickeln meine Haare um ihre Finger (die Finger der Nächte, der Schwanz der Männer!). Sie tätscheln meine Wange, streicheln meinen Hintern.“ Sie dachte das, ohne sich jedoch etwa zu erheben oder zu erniedrigen zu einer Dichtung, die von der irdischen Welt abgeschnitten gewesen wäre. Das dichterische Wort wird niemals ihre Lage ändern. Sie wird immer die Hure bleiben, die auf Gewinnst ausgeht. Morgens, an gewissen Tagen, kennen alle Männer mit der Müdigkeit einen Anflug von Zärtlichkeit, der sie spannen läßt. Ich habe einmal in der Morgenröte in einer grundlosen Aufwallung meine Lippen auf das eisige Geländer der Rue Berthe gepreßt, ein anderes Mal habe ich meine Hand geküßt; dann wieder hielt ich es nicht mehr aus vor Erregung, ich wünschte, mich selbst zu verschlingen, indem ich meinen weit aufgerissenen Mund über meinen Kopf stülpte, um meinen ganzen Leib und dann das Weltall in ihn hineinzuzwängen,
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bis ich selbst nur noch ein Kloß von Gegessenem wäre, der sich nach und nach auflöste: das ist meine Art, das Ende der Welt zu sehen. Divine bot sich der Nacht dar, um von ihr zärtlich verschlungen und nie wieder ausgespien zu werden. Sie hat Hunger. Um sie herum ist nichts. Die Pinkelbuden sind leer, der Mittelstreifen fast verlassen. Nur einige Horden junger Arbeiter, deren ganze wirre Jugend sich in ihren schlecht geknoteten, um den Fußspann hüpfenden Schuhriemen ausdrückt, kehren vom Vergnügen zurück und streben jetzt in Gewaltmärschen ihren Behausungen zu. Ihre enganliegenden Jacken, wie eine zerbrechliche Hülle oder ein Panzerhemd, schützen die Arglosigkeit ihrer Körper; aber durch das Geschenk ihrer Männlichkeit, die noch so leicht wiegt wie eine Hoffnung, sind sie unverletzlich für Divine. Sie wird nichts machen diese Nacht. So sehr hatte es sie überrascht, daß sich die möglichen Kunden von ihrer Verblüffung nicht zu erholen vermocht hatten. Den Hunger im Bauch und im Herzen, mußte sie wieder zu ihrem Speicher hinaufsteigen. Sie erhob sich, um zu gehen. Ein Mann kam schwankend auf sie zu. Er stieß sie mit dem Ellbogen an: „Oh! Pardon“, sagte er, „ich bitte um Entschuldigung!“ Sein Atem stank nach Wein. „Keine Ursache“, sagte die Tunte. Es war Mignon-les-petits-pieds, der vorüberging. Äußere Kennzeichen von Mignon: Größe 1,75 Meter, Gewicht 75 Kilogramm, Gesicht oval, Haarfarbe blond, Augen blau-grün, Hautfarbe matt, Zähne vollständig, Nase gerade.
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Auch er war jung, fast ebenso jung wie Divine, und ich möchte, daß er es bleibt bis zum Ende dieses Buches. Jeden Tag öffnen die Aufseher die Tür, damit ich aus der Zelle trete und auf dem Hof Luft schöpfen gehe. Einige Sekunden lang begegne ich in den Gängen und Treppenhäusern Dieben und Strolchen, deren Gesicht mir ins Gesicht dringt und deren Körper aus der Ferne den meinen niederwirft. Ich möchte sie unter meinen Händen haben; und dennoch regt mich keiner von ihnen an, von Mignon-les-petit-pieds zu sprechen. Als ich sie in Fresnes kennenlernte, erzählte mir Divine oft von ihm; sie suchte seine Erinnerung, die Spur seiner Schritte überall im Gefängnis, aber ich habe sein Gesicht nie richtig gekannt, und es ist für mich eine verlockende Gelegenheit, ihn im Geiste mit dem Gesicht und dem Wuchs Rogers zu verschmelzen. Von diesem Korsen ist nur wenig in meinem Gedächtnis haften geblieben: eine Hand mit einem zu plumpen Daumen, der mit einem winzigen hohlen Schlüssel spielt, und das unklare Bild eines blonden Jungen, der die Canebière heraufkommt; er hat ein Kettchen, aus Gold wahrscheinlich, über den Hosenschlitz gespannt; sie dient scheinbar als Schnalle. Er gehört zu einer Gruppe von Männern, die auf mich zukommen mit dem unbarmherzigen Ernst von vorwärtsschreitenden Wäldern. Von hier geht mein Dämmertraum aus, während dessen ich darauf verfiel, ihn Roger zu nennen; das ist ein „kleiner Jungenname“, aber er steht fest und sicher auf seinen Füßen. Roger war selbstsicher. Ich war gerade aus dem Gefängnis Chave entlassen worden und wunderte mich, ihn dort nicht getroffen zu haben. Was könnte ich begehen, um seiner Schönheit würdig zu sein? Ich brauchte Kühnheit, um ihn zu bewundern. Nachts schlief ich, mangels Geld, in den schattigen Winkeln der Kohlenhaufen auf den Kais, und jeden Abend nahm ich ihn mit. Die Erinnerung an seine Erinnerung ließ den Platz frei für andere Männer. Seit zwei Tagen vermische ich erneut in meinem Traum sein (erfundenes) Leben mit dem meinen. Ich wollte, daß er mich liebt, und er tat es, natürlich mit jener Unbefangenheit, die bei ihm, um mich lieben zu können,
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zur Perversität hinzukommen muß. Zwei Tage hintereinander habe ich mit seinem Bild einen Traum genährt, der gewöhnlich schon nach vier oder fünf Stunden gesättigt ist, — mag der Junge, mit dem ich ihn speise, noch so schön sein. Jetzt bin ich völlig erschöpft davon, Gelegenheiten zu ersinnen, die ihm erlauben, mich immer noch mehr zu lieben. Ich bin ausgelaugt von den erfundenen Reisen, den Diebstählen, den Vergewaltigungen, den Einbrüchen, den Gefängnisaufenthalten, den Verrätereien, in die wir gemeinsam verwickelt werden würden, an denen der eine durch den anderen, für den anderen und niemals durch oder für sich selbst teilnimmt, bei denen wir selbst und wir allein das Abenteuer sind. Ich bin entkräftet; ich habe Krämpfe im Handgelenk. Die Wollust der letzten Tropfen ist trocken. Ich habe mit ihm, von ihm gelebt: zwischen meinen vier nackten Wänden und in zwei Tagen habe ich alle Möglichkeiten eines Lebens durchlebt; ich habe es zwanzig Mal von vorne begonnen und durcheinandergerührt, bis es wirklicher war als ein wirkliches Leben. Ich habe das Träumen aufgegeben. Ich wurde geliebt. Ich habe dabei, so wie ein Teilnehmer der Tour de France aufgibt, die Erinnerung aufgegeben an seine Augen und an ihre Erschöpfung; ich muß sie mir auf dem Gesicht eines anderen Jünglings pflücken, den ich aus einem Bordell kommen sah. Er hatte runde Beine und ein brutales Geschlecht — so steif, daß ich versucht bin zu sagen, es war knorrig — und sein Gesicht (das einzige, was ich unverhüllt an ihm sah), bat um Asyl wie ein irrender Ritter; diese Erinnerung will nicht erlöschen, wie gewöhnlich die Erinnerung an meine erträumten Gefährten erlischt. Sie treibt dahin. Sie hat weniger Bestimmtheit als im Augenblick der Abenteuer selbst, aber dennoch haust sie in mir. Gewisse Einzelheiten bestehen beharrlicher darauf, zurückzubleiben: dieser kleine, hohle Schlüssel, mit dem er, wenn er will, pfeifen kann, sein Daumen, sein Pullover, seine blauen Augen... Wenn ich weiterschreibe, wird er hervortreten, sich aufrichten und in mich eindringen mit solcher Heftigkeit, daß ich davon Wundmale zurückbehalte. Ich kann nicht mehr widerstehen. Ich mache aus ihm eine Person der
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Handlung, und ich werde sie zu martern wissen auf meine Weise: das ist Mignon-les-petits-pieds. Er wird zwanzig Jahre alt bleiben, obwohl sein Schicksal will, daß er Vater und Geliebter von NotreDame-des-Fleurs wird. Zu Divine sagte er: „Ich bitte um Entschuldigung!“ In seinem Rausch bemerkte Mignon nicht das Seltsame an diesem Spaziergänger mit seiner aggressiven Freundlichkeit: „Na, mein Junge?“ Divine blieb stehen. Eine scherzhafte und gefährliche Plauderei kam in Gang, und dann verlief alles so, wie man es wünschen mußte. Divine nahm Mignon mit zu sich in die Rue Caulaincourt. Das ist jener Speicher, in dem sie gestorben ist und von dem aus man, so wie der Ausguck im großen Mastkorb unter sich das Meer, einen Friedhof, Gräber sieht. Zypressen, die singen. Gespenster, die vor sich hindämmern. Jeden Morgen wird Divine durch das Fenster ihren Staublumpen ausschütteln und den Gespenstern lebewohl sagen. Mit Hilfe eines Fernglases wird sie eines Tages einen jungen Totengräber entdecken. „Gerechter Gott“, wird sie ausrufen, „es steht ein Liter Wein auf dem Grabstein!“ Dieser Totengräber wird mit ihr alt werden und sie verscharren, ohne etwas von ihr zu wissen. Also stieg sie mit Mignon hinauf. Dann, im Speicher, bei verschlossener Tür, entkleidete sie ihn. Nachdem sie ihm Hose, Jacke und Hemd ausgezogen hatte, sah er weiß und eingefallen aus wie eine Lawine. Gegen Abend, eingewickelt in die feuchten, zerknitterten Laken, kamen sie zu sich. „Eine schöne Schweinerei! Mensch, ich glaube, ich war völlig groggy gestern, was, kleiner Lauser?“ Er lachte gezwungen und betrachtete den Speicher. Ein Zimmer mit schrägen Wänden. Auf den Fußboden hat Divine fadenscheinige Teppiche gelegt und an die Wand die Mörder meiner Zellenwände genagelt, sowie jene herrlichen Photographien schöner Jungens, die sie aus der Auslage der Photographen entwendet hat und die das Zeichen der Macht der Finsternis tragen.
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„Das reinste Schaufenster!“ Auf dem Kamin, in einer kleinen Fregatte aus buntem Holz, liegt eine kleine Röhre Gardenal, und das genügt, um das Zimmer aus dem gemauerten Block des Mietshauses herauszulösen und wie einen Käfig zwischen Himmel und Erde schweben zu lassen. Aus der Art, wie er sprach und seine Zigarette anzündete und rauchte, hat Divine entnommen, daß Mignon ein Zuhälter ist. Zuerst hegte sie einige Befürchtungen: verprügelt, ausgeplündert, beschimpft zu werden. Dann empfand sie Stolz darüber, einen Louis zum Genuß gebracht zu haben. Ohne eigentlich vorauszusehen, wie das Abenteuer ausgehen würde, und weniger freiwillig als vielmehr wie der Vogel, der, so sagt man, in das Maul der Schlange hüpft, sagte sie verzaubert: „Bleib“, und fügte zögernd hinzu: „Wenn du magst.“ „Mach keine Flausen, Du hast was für mich übrig?“ Mignon blieb. In diese große Mansarde am Montmartre, von der Divine, durch die Dachluke hindurch zwischen den rosa Musselinvorhängen, die sie selbst angefertigt hat, weiße Wiegen auf einem blauen und ruhigen Meer vorüberziehen sieht, so nahe, daß sie die Blumen unterscheiden kann, aus denen ein vom Tanz gewölbter Fuß hervorsieht, hierhin wird Mignon bald seinen nachtblauen Arbeitskittel bringen, seinen Bund Nachschlüssel, sein Werkzeug, und auf den kleinen Haufen, den diese Dinge am Boden bilden, wird er seine weißen Gummihandschuhe legen, die so ähnlich wie Gala-Handschuhe aussehen. So begann ihr Leben zu zweit, in jenem Zimmer, durch das kreuz und quer die elektrischen Drähte des gestohlenen Heizkörpers, der gestohlenen Radios und der gestohlenen Lampen verlaufen. Sie nehmen das kleine Morgenfrühstück am Nachmittag ein. Tagsüber schlafen sie und hören Radio. Gegen Abend schminken sie sich und gehen auf die Straße hinunter. Nachts, wie üblich, arbeitet Divine an der Place Blanche und Mignon geht ins Kino. Lange Zeit wird Divine Erfolg haben. Beraten und beschützt von Mignon, weiß
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sie bald, wen man bestehlen und welchen Justizbeamten man erpressen kann. Ein Kokainschleier löste die Umrisse ihres Lebens auf, ließ ihre Körper dahingleiten. Sie sind ungreifbar.
Obwohl er ein Gauner war, hatte Mignon ein klares Gesicht. Er war das schöne Männchen, heftig und sanft, der geborene Louis, mit einem so adeligen Gang, daß er stets nackt zu sein schien, ausgenommen jene lächerliche, in meinen Augen rührende Gebärde: der krumme Rücken, den er machen mußte, bald auf einem Fuß, bald auf dem anderen, um seine Hose und seine Unterhose auszuziehen. Heimlich getauft, was soviel heißen soll wie unter die Glückseligen aufgenommen, heilig gesprochen gewissermaßen, wurde Mignon vor seiner Geburt im warmen Bauch seiner Mutter. Man gab ihm jene Art von sinnbildlicher Taufe, die ihn, gleich nach dem Tod, ins Fegefeuer bringen mußte. Kurz gesagt: es war eine der kurzen, aber geheimnisvollen und äußerst dramatischen Zeremonien, die einen feierlich zusammengeschnürten Knoten bilden und zu denen die Engel zusammengerufen und die Stützen der Gottheit und die Gottheit selbst bereitgestellt wurden. Mignon weiß das, aber er weiß es kaum, das heißt, im Laufe seines Lebens — anstatt es ihm mit lauter und vernehmlicher Stimme zu sagen — flüstert ihm irgend jemand, scheint es, solche Geheimnisse ins Ohr. Und diese Nottaufe, aus der sein Leben hervorging, vergoldet sein sich immer mehr entfaltendes Leben, umgibt ihn mit einem lauwarmen, weichen, schwach leuchtenden Heiligenschein und errichtet für dieses Zuhälterleben einen Sockel, der mit Blumengirlanden geschmückt ist, wie der Sarg eines jungen Mädchens mit geflochtenem Efeu — einen groben und dennoch leichten Unterbau, auf dem Mignon schon mit fünfzehn Jahren in folgender Stellung pißt: die Beine gespreizt, die Knie ein wenig
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gebeugt, und von seinem achtzehnten Jahr an mit einem härteren Strahl. Denn, darauf müssen wir besonders verweisen, eine sehr sanfte Weihe hält die zu harte Berührung mit seinen eigenen, lebhaften Kanten von ihm fern. Wenn er sagt: „Ich lasse eine Perle fahren“, oder „ein Perlchen ist gefallen“, so will er sagen, daß er einen Wind in einer bestimmten Weise hat fahren lassen und daß der Wind lautlos untergegangen ist. Wir müssen bewundern, daß er tatsächlich eine Perle von dämmrigem Orient hervorzaubert: dieses Ausströmen, diese gedämpfte Flucht erscheint uns so milchig wie die Blässe einer Perle, das heißt, ein wenig taub. Mignon erscheint uns deswegen wie eine Art gezierter, hindustanischer, prinzessinhafter, perlentrinkender Gigolo. Der Geruch, den er lautlos in das Gefängnis hat entströmen lassen, hat die Mattheit der Perle, wickelt sich um ihn, umhüllt ihn von Kopf bis Fuß, vereinzelt ihn, aber vereinzelt ihn viel weniger als das Wort, das auszusprechen seine Schönheit nicht gefürchtet hat. „Ich lasse eine Perle fahren“ bedeutet, daß der Wind keinen Lärm verursacht hat. Wenn er polternd kommt, so ist es ein Grobian, und wenn es eine Glocke ist, die ihn fahren läßt, sagt Mignon: „Das Strohdach bricht ein!“ Auf wunderbare Weise, durch den Zauber seiner hohen, blonden Schönheit, beschwört Mignon eine Savanne herauf und stößt uns tiefer, herrischer in das Herz der schwarzen Erdteile, als es der Neger, der ein Mörder ist, für mich tun wird. Mignon fügt noch hinzu: „Was für ein Gestank! Ich kann nicht mehr neben mir stehenbleiben!“ Kurz, er trägt seine Schande wie ein mit dem glühenden Eisen auf seine Haut gebranntes Mal, aber dieses kostbare Mal adelt ihn ebenso, wie die Gauner von einst durch die Lilienblume auf ihrer Schulter geadelt wurden. Blaue Augen, die von Faustschlägen herrühren, sind eine Schmach für die Zuhälter; aber ganz anders Mignon: „Meine beiden Veilchensträuße“, sagt er.
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Er sagt auch gelegentlich, wenn er das Bedürfnis hat, zu scheißen: „Ich hab’ die Zigarre schon an den Lippen.“ Er hat nur wenig Freunde. Sobald Divine die ihren verliert, verkauft er sie an die Polente. Divine weiß noch nichts davon: er behält seine Verrätereien für sich. Er liebt den Verrat. Als Divine ihn traf, war er gerade morgens aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er, nachdem er kaltblütig seine Komplizen und andere Freunde, die es nicht waren, verkauft hatte, nur eine Mindeststrafe für Diebstahl und Hehlerei verbüßt hatte. Eines Abends, als man ihn eben aus der Wache entlassen wollte, in die er bei einer Kontrollaktion gebracht worden war, sagte der Kommissar zu ihm, und zwar in jenem barschen Ton, der harmlos klingen soll: „Kannst Du mir nicht verraten, was man bei Euch machen könnte? Du brauchst bloß für uns zu arbeiten, wir kommen schon aus miteinander.“ Er empfand, wie Ihr sagen würdet — Ihr — eine schamlose Liebkosung, die um so süßer war, als sie ihn selbst schamlos dünkte. Er versuchte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, und sagte: „Scheint mir ziemlich gefährlich, Ihr Vorschlag.“ Er bemerkte jedoch, daß er die Stimme senkte. „Da kannst Du bei mir ganz beruhigt sein“, antwortete der Kommissar. „Du bekommst jedesmal hundert Mäuse.“ Mignon nahm an. Die anderen zu verkaufen gefiel ihm, denn das entmenschlichte ihn. Mich entmenschlichen ist mein tiefstes Verlangen. Auf der ersten Seite der Abendzeitung sah er im Geiste wieder das Bild jenes Schiffsfähnrichs, von dem ich gesprochen habe, der wegen Verrats erschossen worden war. Mignon dachte: „Alter Kumpan! Bruderherz.“ Ein kindlicher Spaß, der in seinem Inneren entstanden war, begeisterte ihn: „Ich bin ein falscher Fünfziger.“ Während er die Rue Dancourt entlangging, trunken von verborgener Pracht und — als sei sie ein Schatz — von seiner Schamlosigkeit (denn sie muß uns berauschen, wenn wir nicht von ihrer Gewalt getötet
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werden wollen), warf er einen Blick in den Spiegel eines Geschäfts und sah darin einen von gedämpftem Hochmut leuchtenden, von diesem Hochmut berstenden Mignon. Er sah Mignon in einem Princeof-Wales-Anzug, den weichen Hut ins Auge geschoben, mit klotzigen Schultern, die er beim Gehen nicht bewegte, um auszusehen wie Sebastopol-Ete, und Ete bewegte sie nicht, um auszusehen wie Polodas-Aas, und Polo, um auszusehen wie Tiwi, und immer so weiter: eine Kette makelloser, untadeliger Louis führt zu Mignon-les-petitspieds, dem falschen Fünfziger; und dadurch, daß er sich mit ihnen berührte, daß er ihnen ihren Gang stahl, scheint er sie mit seiner eigenen Gemeinheit beschmutzt zu haben (würdet Ihr sagen); ich will ihn so haben — es macht mir Freude: das Kettchen am Handgelenk, die Krawatte, geschmeidig wie eine Feuerzunge und dann jene schreienden Schuhe, die nur Louis tragen, ganz hellgelb, aus feinem Leder und spitz. Nach und nach, mit Hilfe von Divine, hat Mignon seine durch den monatelangen Zellenaufenthalt abgenutzten Kleider gegen elegante Kammgarnanzüge und duftende Wäsche eingetauscht. Die Verwandlung hat ihn entzückt, denn er ist noch ein Kind. Die Seele des aufsässigen Gauners ist in den abgelegten Kleidern geblieben. Jetzt fühlt er in seiner Tasche, besser, als er früher sein Messer fühlte, neben seinem Schwanz einen Revolver 6/35, über den er seine Hand gleiten läßt. Aber man kleidet sich nicht nur für sich selbst, und Mignon kleidet sich für das Gefängnis. Bei jedem neuen Kauf denkt er an den Eindruck, den er auf seine möglichen Genossen in Fresnes oder La Santé machen wird. Wer sind sie, Eurer Meinung nach? Zwei oder drei Hartgesottene, die ihn nie zuvor gesehen haben, aber die ihn als ihresgleichen anerkennen; einige Männer mit verschlossenem Gesicht, die ihm die Hand reichen oder ihm von weitem, bei der Besichtigung oder bei der Rückkehr vom Spaziergang, aus dem Mundwinkel und mit einem Augenzwinkern ein „Ciao, Mignon“ zuwerfen. Aber vor allem sind seine Genossen arme Schlucker, die sich leicht blenden lassen. Das Gefängnis ist eine Art Gott, so barbarisch wie ein Gott; er opfert ihm goldene Uhren, Füll-
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federhalter, Ringe, Taschentücher, Halstücher und Schuhe. Er träumt weniger davon, sich im Glanz seiner neuen Kleider einer Frau oder seinen täglichen Zufallsbekanntschaften zu zeigen, als davon, wie er in eine Zelle tritt, den Hut ins Auge geschoben, den Kragen seines weißen Seidenhemdes offen (die Durchsuchung hat ihm die Krawatte gestohlen) und darüber den aufgeknöpften englischen Raglan. Und die armen Häftlinge betrachten ihn bereits mit Achtung. Nur durch seine äußere Erscheinung beherrscht er sie. „Die würden Augen machen!“ würde er denken, wenn er fähig wäre, seine Wünsche zu denken. Zwei Gefängnisaufenthalte haben ihn geformt. Nun lebt er den Rest seines Lebens für das Gefängnis. Sein Schicksal hat dessen Gestalt, und ganz dunkel weiß er sich ihm verfallen, vielleicht seit dem Tag, an dem er auf der Seite eines Buches der Bibliothek folgendes Gekritzel las: Seht Euch vor: Primo: Hans Clemens genannt der schwule Hans, Secundo: Robert Martin genannt Robert homo, Tertio: Roger Flague genannt die Tunte, Der schwule Hans ist verknallt in Wiesenklein (Sittenpolizei), Die Tunte in Ferriere und Grandot, Robert homo in Klatschmaul. Das einzige Mittel, dem Entsetzen zu entgehen, besteht darin, sich dem Entsetzen zu überlassen. So lechzte er danach, in einer Art wolllüstigem Begehren, einen jener Namen zu tragen. Übrigens, nun ja, ich weiß, Ihr werdet manchmal dieser gespannten, heroischen Haltung des Verbrechers müde und dann verständigt Ihr Euch mit der Polizei, um wieder in die ausgeraubte Menschheit einzutreten. Divine wußte nichts von dieser Seite Mignons. Hätte sie sie gekannt, so hätte sie ihn dafür nur noch mehr geliebt, denn Liebe ist für sie gleichbedeutend mit Verzweiflung. So trinken sie Tee und Divine weiß, daß sie ihn hinunterschluckt, wie ein Täubchen klares Wasser
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schluckt. Wie ihn der Heilige Geist in Gestalt einer Taube trinken würde, wenn er tränke. Mignon tanzt Javas, die Hände in den Taschen. Wenn er sich hinlegt, leckt ihn Divine. Wenn Divine zu sich selbst von Mignon spricht, faltet sie im Geist die Hände und sagt: „Ich bete ihn an. Wenn ich ihn nackt ausgestreckt liegen sehe, habe ich Lust, auf seiner Brust die Messe zu lesen.“ Mignon hat einige Zeit gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, von „ihr“ zu sprechen und sie in der weiblichen Form anzureden. Aber schließlich gelang es ihm; aber er duldete zunächst noch nicht, daß sie zu ihm wie zu einer Freundin sprach. Dann ließ er sich mehr und mehr gehen, und Divine wagte, zu ihm zu sagen: „Meine Schöne“ — und sie fügte hinzu: „schön wie ein steifes Glied.“ Der Zufall der nächtlichen und täglichen Ausflüge Mignons füllt die Mansarde mit Likörflaschen, Seidentüchern, Parfumflacons und falschen Juwelen. Jedes Stück bringt die Verzauberung des Diebstahls in das Zimmer. Mignon stiehlt in den Auslagen der Warenhäuser, in den parkenden Autos; er bestiehlt seine wenigen Freunde; er stiehlt überall, wo er kann. Am Sonntag gehen Divine und er in die Messe. Divine trägt ein Gebetbuch mit goldenem Verschluß in ihrer rechten Hand. Mit der behandschuhten Linken hält sie den Kragen ihres Mantels zu. Sie gehen wie blind. An der Madeleine angekommen, setzen sie sich unter die Betschwestern der vornehmen Gesellschaft. Sie glauben an die goldverzierten Bischöfe. Die Messe verzaubert Divine. Es ereignet sich dort nichts, was nicht sehr natürlich wäre. Jede Bewegung des Priesters ist klar, hat ihren genauen Sinn und könnte von jedem anderen ebensogut ausgeführt werden. Wenn der messelesende Priester die beiden Teile der durchgebrochenen Hostie zur Konsekration nebeneinander hält, wachsen die beiden Ränder nicht wieder zusammen, und wenn er sie mit beiden Händen in die Höhe hebt, so versucht er nicht, ein Wunder vorzutäuschen. Divine erschauert. Mignon betet, er sagt: „Mutter Gottes in den Himmeln...“
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Manchmal empfangen sie die Kommunion von einem Priester mit gemeiner Fratze, der ihnen böse die Hostie in den Mund schiebt. Mignon geht immer noch wegen des Prunks in die Messe. Wenn sie wieder in ihre Mansarde zurückgekehrt sind, kosen sie miteinander. Divine liebt ihren Mann. Sie bäckt ihm Torten und buttert ihm die Braten. Sie träumt von ihm, wenn er auf dem Abort ist. Sie betet ihn an in jeder Stellung. Ein lautloser Schlüssel öffnet die Tür, und die Mauer bricht auf, so wie ein Himmel zerreißt, um den Mann zu enthüllen, den Michelangelo nackt in seinem Jüngsten Gericht gemalt hat. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat — mit ebensoviel Behutsamkeit, wie es bei einer Kristalltüre nötig gewesen wäre —, feuert Mignon seinen Hut auf das Sofa und seinen Stummel in irgendeine Richtung, am liebsten an die Decke. Divine stürzt sich auf ihren Mann, drückt sich an ihn, leckt ihn und umschlingt ihn; er bleibt fest und unbeweglich, als ob er mitten im Meer das in einen Felsen verwandelte Ungeheuer der Andromeda wäre. Da ihm seine Freunde aus dem Weg gehen, nimmt Mignon Divine manchmal ins „Roxy“ mit. Sie spielen Würfelpoker. Mignon liebt die Eleganz der Bewegung, mit der die Würfel gemischt werden. Er freut sich auch über die Grazie der Finger, die eine Zigarette drehen oder einen Füllfederhalter aufschrauben. Er kümmert sich nicht um seine Sekunden, noch um seine Minuten, noch um seine Stunden. Sein Leben ist ein unterirdischer Himmel, bevölkert von Barmännern, Zuhältern, Tunten, Dirnen und Pikdamen, aber sein Leben ist ein Himmel. Er ist voller Wollust. Er kennt alle Cafés in Paris, deren W.C. ’s einen Sitz haben. „Wenn ich gut scheißen will, muß ich sitzen“, sagt er. Er geht kilometerweit, den Drang zu scheißen sorgsam in seinen Flanken hütend, bis er sich in den mit malvenfarbenem Mosaik getäfelten Aborten des Terminus-Saint-Lazare seines Bedürfnisses mit Würde entledigt.
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Ich weiß nicht viel über seine Herkunft. Divine nannte mir eines Tages seinen Namen; er hieß wohl Paul Garcia. Er wurde wahrscheinlich in einem jener Viertel geboren, die voll sind vom Duft des Kots, den die Bewohner in Zeitungspapier eingewickelt aus allen Fenstern fallen lassen, und wo an jedem Fenster ein Herz aus Flieder hängt. Mignon! Wenn er seinen Lockenkopf schüttelt, sieht man die goldenen Ringe pendeln, die früher seine Vorläufer, die Vorstadt-Piraten, an den Ohren trugen. Der Ruck, mit dem er den Fuß nach vorn setzt, um das untere Hosenbein schwingen zu lassen, ist das Gegenstück zu jener Bewegung der Hacken, mit der die Frauen die Volants ihrer Röcke beim Walzer nach hinten stoßen. So lebt das Paar ohne Wirren. Der Portier am Fuß der Treppe wacht über ihr Glück. Und gegen Abend fegen die Engel das Zimmer und räumen auf. Für Divine sind Engel jene Bewegungen, die ohne ihr Zutun geschehen. Wie süß es für mich ist, von ihnen zu sprechen! Legionen von Soldaten, mit grobem, französisch-blauen oder flußfarbenem Leinentuch bekleidet, Nagelschuhe an den Füßen, schreiten hämmernd über den Azur des Himmels. Die Flugzeuge weinen. Die ganze Welt geht zugrunde in panischem Schrecken. Fünf Millionen junger Männer aller Sprachen werden sterben durch die Kanone, die erigiert und ihren Samen ausspritzt. Ihr Fleisch balsamiert schon die Menschen ein, die wie die Fliegen fallen. Das vergehende Fleisch sondert etwas Feierliches ab. Und ich, ich bin hier völlig ungestört und denke an die schönen Toten von gestern, von heute und von morgen. Ich träume von der Mansarde der Liebenden. Der erste schwere Streit hat stattgefunden und endet in einer liebenden Gebärde. Divine hat mir von Mignon erzählt: eines Abends — zu schlaff, um die Augen zu öffnen — hörte er, wie sie sich in der Mansarde zu schaffen machte. Er fragte: „Was treibst Du?“
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Die Mutter von Divine, Ernestine, die die Wäsche Waschzuber nannte, „wusch jeden Samstag Waschzuber“. Divine antwortete also: „Ich wasche Waschzuber.“ Da es jedoch Badewannen bei Mignon nicht gab, tauchte man ihn gewöhnlich in einen Waschzuber. Heute, oder an einem anderen Tag, aber mir scheint, es war heute, ist er während des Schlafes träumend in einen Waschzuber geglitten. Er weiß nicht, wie man Träume analysiert und denkt nicht daran, es zu tun, aber er ist empfänglich für die Tücken des Schicksals, ebenso wie für die Tricks des Gruseltheaters. Als Divine antwortet: „Ich wasche Waschzuber“, glaubt er, sie hätte es gesagt wie: „Ich spiele Waschzuber“. (Sie hätte auch sagen können: Ich spiele Lokomotive). Er erigiert plötzlich unter der Vorstellung, im Traum in Divine geglitten zu sein. Das Geschlecht seines Traumes dringt ein in die Divine des Traums von Divine: so besitzt er sie gewissermaßen in einer Art geistiger Ausschweifung. Und die folgenden Sätze stellen sich in seinem Gedächtnis ein: „Bis ins Herz, bis ans Heft, bis zu den Hoden, den ganzen Hals voll.“ Mignon hat sich verliebt. Ich möchte mir einmal zum Vergnügen ausdenken, auf wieviel Arten die Liebe die Menschen überrascht. Sie kommt wie Jesus in das Herz der Ungestümen und sie kommt auch heimtückisch wie ein Dieb. Ein Gauner, hier im Gefängnis, erzählte mir eine Art Gegenstück zu jenem berühmten Vergleich, in welchem zwei Nebenbuhler die Bekanntschaft von Eros machen. Das hörte sich folgendermaßen an: „Wie ick anfing, richtig in ihn verknallt zu sein? Det war im Jefängnis. Am Abend sollten wa uns ausziehen vor dem Aufseher, sojar den Schlüpfer, um zu zeijen, daß wa keene Konterbande mitnehm (Schnürsenkel, Feilen oder Rasierklingen und so wat). Also, mit dem Kleenen da war’n wa alle zwee janz nackicht. Ick hab’ mal zur Seite jeschielt, um zu sehen, oba wirklich sone Muskeln hatte wie er jesacht hat. Ick hatte keene Zeit ihn jenau zu betrachten, wir froren wie die Schneider. Er hat sich presto wieder anjezogen. Aber ick habe
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doch bemerkt, daß er knorke war! Na! wie der mir ins Auje gestochen hat (wie ’n Rosenbukett!). Also, Freunde, ick war eifersüchtig wie ’n Bulle. Ehrenwort! Ick war janz fertig (bei diesem Wort erwartet man unweigerlich: Ick habe mir die Fresse eingeschlagen). Det hat ne Weile jedauert, fünf oder sechs Tage ...“ Das weitere geht uns nichts mehr an. Die Liebe bedient sich der allerschlimmsten Fallen. Der wenigst vornehmen. Der seltensten. Sie beutet Zufälle aus. Ist es nicht unglaublich, daß ein Junge seine beiden Finger in den Mund steckte und ihm ein ohrenzerreißendes Pfeifen entlockte gerade in dem Augenblick, in dem meine Seele aufs Äußerste angespannt war, und nur noch diesen schrillen Pfiff erwartete, um von oben bis unten zu zerreißen? Aber hat es den Augenblick jemals gegeben, an dem sich zwei Menschen bis aufs Blut liebten? „Du bist eine Sonne in meiner Nacht. Meine Nacht ist eine Sonne in der Deinen.“ Wir stoßen mit der Stirn aneinander. Aufrecht und von fern durchdringt mein Körper den Deinen, und der Deine, von fern, durchdringt den meinen. Wir erschaffen die Welt. Alles verwandelt sich. . . und das zu wissen! Sich lieben wie zwei sich prügelnde (nicht kämpfende) junge Boxer, die, bevor sie getrennt werden, einander das Hemd zerreißen und die, wie sie nackt sind, verwundert über ihre Schönheit, glauben, sich in einem Spiegel zu sehen. Sie stehen eine Sekunde lang mit offenem Mund da, schütteln ihr zerzaustes Haar, lächeln sich, — wütend darüber, in die Falle gegangen zu sein — mit einem feuchten Lächeln zu und umschlingen einander wie sich zwei Kämpfer im griechisch-römischen Ringkampf umschlingen; während ihre Muskeln genau in die Nahtstellen der Muskeln des anderen einhaken, stürzen sie hin auf den Teppich bis ihr lauwarmer Samen, hochspritzend, eine Milchstraße auf den Himmel zeichnet, in die sich andere Sternbilder einschreiben, die ich zu lesen verstehe: das Sternbild des Matrosen, das des Boxers, das des Radfahrers, das der Geige, das des Spahis, das des Dolches. So entsteht eine neue Himmelskarte auf der Wand von Divine’s Speicher.
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Von einem Spaziergang im Park Monceau kehrt Divine in den Speicher zurück. Ganz steif und schwarz, bricht aus einer Vase ein Kirschzweig hervor, von rosa Blüten in vollem Flug emporgetragen. Divine ist verletzt. Die Bauern auf dem Land haben sie gelehrt, die Obstbäume zu achten, ihre Blüten nicht als Schmuck anzusehen; niemals mehr wird sie sie bewundern können. Der abgebrochene Zweig ist für sie ein Schimpf wie für Euch der Mord eines heiratsfähigen Mädchens. Sie erzählt ihren Schmerz Mignon, der sie auslacht. Er, ein Kind der Großstadt, spottet über die Hemmungen der Bauern. Divine, um die Lästerung vollkommen zu machen und sie gewissermaßen zu überwinden, indem sie sie zu einem Willensakt erhebt, — vielleicht auch aus Überreiztheit — zerreißt die Blüten. Schläge. Schreie. Schließlich Auflösung in Liebe. Denn sobald sie ein männliches Wesen berührt, verwandeln sich alle ihre Verteidigungsgebärden in Zärtlichkeiten. Eine Faust, die geballt war, um einen Schlag zu versetzen, öffnet sich, legt sich, gleitet sanft. So viel Männlichkeit ist zu stark für die schwachen Tunten. Seck Gorgui brauchte nur ein wenig — ohne daß es aussah, als berühre er ihn — den Hügel zu reiben, den sein ungeheures Glied unter seiner Hose bildete, und sie wichen nicht mehr von ihm, — die einen so wenig wie die anderen. Er zog sie gegen seinen Willen, wie ein Magnet die Eisenspäne zieht, bis auf sein Zimmer. Physische Kraft hätte Divine genug, wenn sie nicht die Gegenbewegungen fürchten würde, weil sie männlich sind, und wenn sie nicht jene Scham vor der Grimasse des Gesichts und des ganzen Körpers hätte, von der jede Anstrengung begleitet ist. Sie hatte diese Scham und auch die Scham vor dem männlichen Epithet. Divine sprach die Gaunersprache genausowenig wie die anderen Närrinnen, ihre Schwestern. Ihr Gebrauch hätte sie ebenso aus dem Gleichgewicht gebracht, wie wenn man von ihr verlangt hätte, mit der Zunge und den Zähnen einen Ganovenpfiff auszustoßen, oder nur einfach die Hände in die Hosentaschen zu stecken und dort zu behalten (womöglich noch mit zurückgeworfenen Jackettschößen) — oder wie wenn man ihr gesagt hätte, sie
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müsse die Hose am Gürtel fassen und, von einer Bewegung der Lenden unterstützt, nach oben ziehen. Die Tunten dort oben hatten ihre besondere Sprache. Die Gaunersprache diente den Männern. Sie war die Sprache der Männchen. Sie wurde wie die Männersprache bei den Karaiben zu einem sekundären Geschlechtsmerkmal. Sie ähnelte den farbigen Fittichen männlicher Vögel oder den buntgescheckten Seidenkleidern, die nur von den Kriegern des Stammes getragen werden. Sie war wie ein Hahnenkamm und Sporen. Jedermann konnte sie verstehen, aber sprechen konnten sie nur die Männer, die mit den Gebärden, die sie begleiten, den Bewegungen der Hüften, der Beine und der Arme, der Augen und der Brust zur Welt gekommen sind. Als Mimose eines Tages, in einer unserer Bars während eines Satzes die Worte wagte: „... seine dämlichen Geschichten ...“, zogen die Männer die Augenbrauen in die Höhe; jemand sagte wie drohend: „Die Tunte will den starken Mann markieren.“ Die Gaunersprache im Munde ihrer Männer verwirrte die Tunten, aber weniger die erfundenen Worte, die nur in dieser Sprache vorkommen, verwirrten sie, als die aus der gewöhnlichen Welt stammenden Ausdrücke, die von den Zuhältern vergewaltigt wurden, die sie ihren geheimnisvollen, perversen, unnatürlichen Bedürfnissen anpaßten, in die Gosse und auf ihr Bett warfen. Sie sagten zum Beispiel: „ganz sanft“ oder auch: „gehe hin, Du bist geheilt.“ Jener letzte, dem Evangelium entnommene Satz kam von Lippen, an denen stets eine Krume schlecht ausgespuckten Tabaks hing. Er wurde schleppend ausgesprochen. Er beendete die Erzählung eines Abenteuers, das gut für sie ausgegangen war: „Gehe hin . . .“, sagten die Zuhälter. Sie sagten auch messerscharf: „Mach’ Schluß!“ Und dann: „Das Gas kleindrehen.“ Aber für Mignon hatte der Ausdruck nicht denselben Sinn wie für Gabriel (das ist der Soldat, der noch auftreten wird, aber den schon jetzt ein Satz ankündigt, der mich bezaubert, und von dem ich glaube, daß er nur zu ihm paßt:
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„Wer hier pflanzt, bin ich“.) Mignon verstand: aufpassen. Gabriel dachte: sich dünne machen. Da haben die beiden Tunten vorhin in meiner Zelle doch gesagt: „Wir machen die Pagen.“ Sie wollten damit sagen, sie machen die Betten; mich aber verwandelte ein blitzartiger Einfall, dort, mit gespreizten Beinen, in einen kraftstrotzenden Gardisten oder Reitknecht des Palastes, der die Rolle des Palastpagen übernimmt, genauso, wie gewisse junge Männer Dirnen spielen. Solche Aufschneiderei zu vernehmen, ließ Divine vor Wollust zusammenbrechen. Diese Gaunersprache hatte heimtückisch Abgesandte in die französischen Dörfer geschickt, und Ernestine war bereits ihrem Zauber erlegen. Sie sagte zu sich selbst: „Eine Gauloise, ein Stäbchen, ein Glimmstengel.“ Sie ließ sich in ihren Sessel sinken und murmelte diese Worte, indem sie den schweren Rauch ihrer Zigarette schluckte. Um ihre Träumerei besser zu verbergen, schloß sie sich in ihr Schlafzimmer ein, schob den Riegel vor und rauchte. Als sie eines Abends eintrat, sah sie in der Tiefe des Schattens die Glut einer Zigarette leuchten. Sie erschrak, als wäre sie von einem Revolver bedroht, aber dieser Schrecken dauerte nicht sondern floß zusammen mit der Hoffnung. Von der verborgenen Gegenwart des Mannes besiegt, machte sie einige Schritte und stürzte in den Liegestuhl, aber im gleichen Augenblick verschwand die Glut. Schon beim Eintreten hatte sie begriffen, daß sie im Spiegel des der Tür gegenüberliegenden Schrankes die durch die Dunkelheit vom übrigen Bild getrennte Glut ihrer eigenen Zigarette sah, die sie soeben angezündet hatte, glücklich darüber, das Streichholz in dem düsteren Korridor aufflammen zu lassen. Man kann sagen, ihre wahre Hochzeit fand an diesem Abend statt. Ihr Bräutigam war eine Synthese aller Männer: „ein Glimmstengel“. Eine Zigarette sollte ihr noch einen anderen niederträchtigen Streich spielen. Sie ging auf der Hauptstraße des Dorfes, als sie einem jun-
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gen Gauner begegnete (einem jener zwanzig Gesichter, die ich aus Magazinen ausgeschnitten habe); er pfiff vor sich hin, während ein Stummel in der Ecke seiner kleinen Fresse klebte. Auf der Höhe von Ernestine angekommen, senkte er den Kopf, der dadurch das Aussehen jener Köpfe annahm, die, leicht geneigt, zärtlich zu äugen scheinen, und Ernestine dachte, er betrachte sie mit einer „Unverfrorenheit voller Interesse“; aber es war der Rauch seines Stummels, den der Gegenwind ihm in die Augen blies, sodaß sie juckten und ihn zu dieser Bewegung zwangen. Er legte dabei auch seine Lider in Falten, verzerrte den Mund, und das Ganze wurde als ein Lächeln angesehen. Ernestine richtete sich mit einer plötzlichen, rasch unterdrückten Bewegung auf, und das Abenteuer blieb ohne Fortsetzung; denn der Dorfstrolch, der Ernestine nicht einmal gesehen hatte, fühlte im gleichen Augenblick tatsächlich seine Mundwinkel lächeln und sein Auge zwinkern; mit einer Ganovenbewegung zog er seine Beinkleider in die Höhe und demonstrierte damit, was die Haltung seines wirklichen Kopfes aus ihm machte. Noch andere Ausdrücke versetzten sie in Trance, so wie Ihr durch die folgenden Worte berührt und durch ihre wunderliche Zusammenfügung zugleich beunruhigt sein werdet: „Zeiten und Wunder“, und vor allem: „Eine Prise Hoden à la Tartare“; sie hätte diesen Satz am liebsten gepfiffen und auf eine Javamelodie getanzt. Wenn sie an ihre Tasche dachte, sagte sie zu sich selbst: „Meine Unergründliche“. Auf Besuch bei einer Freundin: „Knabbern Sie ein bißchen.“ „Sie hat Hafer gekriegt“. Von einem schönen Mann, der vorübergeht: „Er steht auf mir“. Wenn die Gaunersprache Divine aus der Fassung brachte, so müßt Ihr nicht denken, daß sie damit nach ihrer Mutter geschlagen war; denn Ernestine hatte sich durch so etwas nie überraschen lassen. „Auf die Palme gehen“, aus dem hübschen Mund eines Gassenjungen zu hören, genügte in den Augen sowohl der Mutter als auch des Sohnes, aus dem, der das Wort aussprach, einen kleinen Querkopf zu machen,
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ein bischen stiernackig und mit dem zerquetschten Gesicht einer Bulldogge, wie es der junge englische Boxer Cane hat, den ich hier unter den zwanzig an der Wand hängen habe. Mignon wurde blaß. Er hat einen rosigen Holländer niedergeschlagen, um ihn zu bestehlen. Zur Zeit ist seine Tasche voller Gulden. Der Speicher lernt die geruhsame Freude kennen, die das Gefühl der Sicherheit schenkt. Nachts schlafen Divine und Mignon. Tagsüber speisen sie allein zusammen, nackt; sie zanken sich, vergessen, sich zu lieben, drehen das Radio an, aus dem es endlos rinnt, und rauchen. Mignon sagt Scheiße, und Divine, um nah, noch näher der Heiligen Katharina von Siena zu sein, die, mit dem Kopf auf seinem Schwanz liegend, eine Nacht in der Zelle eines zum Tode verurteilten verbrachte, — Divine liest den „Detektiv“. Draußen stürmt es. Der Speicher wird anheimelnd durchwärmt von einer Anzahl elektrischer Heizkörper, — ich will ihm ein wenig Ruhe, ja sogar Glück schenken, dem idealen Paar. Das Fenster ist halb auf den Friedhof hinaus geöffnet. Fünf Uhr morgens. Divine hört einen Kirchturm läuten (denn sie wacht). Statt Noten, die davonfliegen, sind es Schläge, fünf Schläge, die auf das Pflaster fallen, und mit ihnen fällt auf dieses Pflaster Divine, die vor drei Jahren, oder vier, zur gleichen Stunde, in den Gassen eines kleinen Städtchens ein wenig Brot zwischen den Abfällen eines Mülleimers suchte. Sie hatte die Nacht damit verbracht, von Gasse zu Gasse zu irren; es nieselte, sie streifte die Mauern, um weniger durchnäßt zu werden, und wartete auf das Angelusläuten (soeben läutet die Glocke zur Frühmesse und Divine lebt wieder in der Angst jener Tage ohne Unterschlupf: der Tage der Glocke), das verkündet, daß die Kirchen jetzt für die alten Jungfern, die wahren Sünder und die Landstreicher geöffnet sind. Im duftenden Speicher verwandelt das Morgenglöckchen sie gewaltsam in jenen Elenden zurück, der in feuchten Lumpen die Messe hören kommt, der kommuniziert, um seine Füße auszuruhen und weniger zu frieren. Der Körper des
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schlafenden Mignon ist warm und berührt seinen eignen. Divine schließt die Augen; in dem Augenblick; in dem ihre Lider sich treffen und sie von der Welt trennen, die die Morgendämmerung erschafft, beginnt der Regen zu strömen und löst in ihr plötzlich eine so vollkommene Glückseligkeit aus, daß sie ganz laut und mit einem tiefen Seufzer sagt: „Ich bin glücklich.“ Sie war am Einschlafen, aber um sie noch stärker des Glücks der verheirateten Frau zu vergewissern, kehren ohne Bitterkeit die Erinnerungen an jene Zeit zurück, da sie Culafroy war und, aus dem Schieferhaus entflohen, in einem kleinen Städtchen scheiterte, wo in goldenen, rosigen oder bleichen Morgenstunden die Landstreicher aufeinander zukommen unter Gebärden, die man brüderlich nennen würde; sie haben die Seele von Puppen; wenn man sie sieht, würde man sie für einfältig halten. Sie haben sich soeben erhoben von einer Alleebank, auf der sie schliefen, von der Bank des Exerzierplatzes, oder sie tauchen auf aus dem Rasen des öffentlichen Parks. Sie vertrauen sich Geheimnisse an über Asyle, Gefängnisse, über Plünderung und Landjägerei. Der Milchmann stört sie kaum. Er gehört zu ihnen. Einige Tage lang gehörte auch Culafroy zu ihnen. Er ernährte sich von einigen in Mülltonnen gefundenen Brotkanten, an denen Haare klebten. Eines Abends, an dem Abend, an dem der Hunger am größten war, wollte er sich sogar töten. Der Selbstmord war seine große Sorge: der Gesang des Gardenal. Manche Anfälle von Niedergedrücktheit brachten ihn dem Tod so nahe, daß ich mich frage, wie er ihm entging, welche unmerkliche Erschütterung — und von wem ausgehend? — ihn vom Rand zurückstieß. Aber eines Tages wird sich wohl in Reichweite meiner Hand ein Giftfläschchen befinden, das ich nur an meinen Mund zu führen brauche; dann warten. Warten in unerträglicher Angst auf die Wirkung der unglaublichen Tat, und den Glanz einer so wahnwitzig unwiderruflichen Tat bewundern, die das Ende der Welt herbeiführt, die Folge einer so unbedeutenden Gebärde. Es war mir niemals aufgefallen, daß die kleinste Unvorsichtigkeit — manchmal sogar weniger als eine Gebärde, eine nicht zu Ende ge-
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führte Gebärde, die man zurücknehmen, auflösen möchte, indem man die Zeit zurückdreht, die so schwach scheint, so nahe und noch dem Augenblick verhaftet, daß man sie auslöschen zu können glaubt, — unmöglich! — daß eine solche Unvorsichtigkeit bis, beispielsweise, zur Guillotine führen kann; es war mir niemals auf gef allen,bis zu dem Tag, wo ich selbst durch eine jener kleinen Bewegungen, die sich ohne Euer Zutun von Euch ablösen, die niemand mehr ungeschehen machen kann, meine Seelein Not gesehen habe und sofort, im gleichen Augenblick, die Not jener Unglücklichen fühlte, denen keine andere Hilfe mehr bleibt als das Geständnis. Und warten. Warten und ruhig werden, weil die Not, die Verzweiflung nur möglich sind, wenn ein sichtbarer oder geheimer Ausweg da ist, — sich dem Tod anvertrauen, so wie Culafroy sich einst den unerreichbaren Nattern anvertraute. Bis jetzt war die Anwesenheit eines Giftfläschchens oder eines Hochspannungskabels niemals zusammengefallen mit jenen Augenblicken der Benommenheit, aber Culafroy, später Divine, lebt in Furcht und erwartet, bald auf die Stunde zu treffen, die das Schicksal erwählt hat, damit der Tod unwiderruflich ihrem Entschluß oder ihrer Ermattung entspränge. In seinen schlaflosen Nächten führten ihn seine Spaziergänge aufs Geratewohl durch die schwarzen Gäßchen der Stadt. Er blieb stehen, um hinter den Fenstern die vergoldeten Innenräume zu betrachten, durch die Spitzenvorhänge hindurch mit ihren aufgestickten Mustern: den Blumen, Akanthusblättern, Amoretten mit Pfeil und Bogen und den gestickten Rehen; und die Innenräume, aus massiven, finsteren Altären gehauen, schienen ihm verschleierte Tabernakel. Vor und an den Seiten der Fenster stellten Lampadarien, wie geweihte Kerzen, die Ehrenwache inmitten noch belaubter Bäume, die sich entfalteten wie die Liliensträuße aus Email, Metall und Stoff auf den Altarstufen einer Basilika. Er erlebte, kurz gesagt, die Überraschungen umherstreunender Kinder, für die die Welt in einem magischen Netz gefangen ist, das sie selbst weben und — mit einer Zehe, die beweglich und hart ist wie die der Pavlova — verknüpfen.
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Diese Art von Kindern ist unsichtbar. Ein Schaffner kann sie nicht unterscheiden, im Straßenbahnwagen, auch die Polizei nicht auf den Bahnsteigen, selbst in die Gefängnisse scheinen sie eingeschmuggelt zu werden, wie Tabak, Tinte zum Tätowieren, Mond- oder Sonnenstrahlen und wie die Musik eines Phonographen. Die bedeutungsloseste ihrer Gebärden beweist ihnen, daß ein Kristallspiegel, den ihre Faust gelegentlich mit einer Silberspinne bestirnt, die Welt der Häuser, Lampen, Wiegen und Taufen, die Welt der Manschen in einen Käfig sperrt. Das Kind, das uns beschäftigt, stand so sehr außerhalb von alledem, daß es von seinem Durchbrennen nichts im Gedächtnis behielt, als: „In der Stadt haben die Frauen, die Trauer tragen, hübsche Kleider.“ Aber seine Einsamkeit befähigte ihn, sich schon von geringfügigem Elend gerührt zu fühlen: eine hockende Alte, die, als das Kind plötzlich auftauchte, ihre schwarzen Baumwollstrümpfe bepißte; vor den Spiegelscheiben der Restaurants, die vom Glanz der Lichter, des Kristalls, des Silbers bersten, und die noch leer sind von Speisenden, nahm er schreckensstarr teil an den Tragödien der befrackten Kellner, dem Austausch brillanter Repliken, an Rangstreitigkeiten, bis die Ankunft des ersten eleganten Paares das Drama zu Boden wirft und zerbricht; Homosexuelle, die ihm bloß fünfzig Centimes gaben und entflohen, mit einem Vorrat Glück für eine Woche; an den großen Abzweigungsbahnhöfen beobachtete er nachts vom Wartesaal aus das Schienengewirr, durch das männliche Schatten hindurchschritten, traurige Signallaternen tragend; er hatte Schmerzen an den Füßen und an den Schultern. Er fror. Divine denkt an jene für den Landstreicher schmerzlichsten Augenblicke: wenn ihn nachts ein Wagen auf der Straße anleuchtete und ihm selbst und dem anderen seine armseligen Lumpen zum Bewußtsein brachte. Mignons Körper brennt. Divine liegt in seiner Buchtung. Ich weiß nicht, ob sie es schon träumt oder ob sie es sich ins Gedächtnis zurückruft: „Eines morgens (es war ganz zu Beginn der Morgen-
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dämmerung) habe ich an Deine Tür geklopft. Ich konnte nicht mehr länger durch Gäßchen und Gäßchen irren und über Lumpenhändler und Abfälle stolpern. Ich suchte Dein Bett, das stets in Spitzen verborgen ist, in Spitzen, in einem Ozean von Spitzen, in einer Welt von Spitzen. Von ganz weit her aus dem Weltall schlug mich die Faust eines Boxers zu Boden und ich rollte in ein winziges Gully.“ Man läutete gerade den Angelus. Jetzt entschläft sie in Spitzen und ihre vermählten Leiber wogen. . .
Heute früh, nach einer Nacht, in der ich mein geliebtes Paar zu sehr liebkoste, werde ich aus dem Schlaf gerissen durch den Lärm des Riegels, den der Aufseher zurückschiebt, der die Abfälle holen kommt. Ich erhebe mich und wanke zu den Latrinen, kaum meinem befremdlichen Traum entronnen, in dem ich die Verzeihung meines Opfers erlangen konnte. Ich war also in das Entsetzen getaucht bis zum Mund. Das Entsetzen drang in mich. Ich kaute es. Ich war voll von ihm. Er, mein junges Opfer, saß neben mir und sein nacktes Bein, anstatt sich über das rechte zu legen, durchbohrte den Schenkel. Er sagte nichts, aber ich wußte sicher, er dachte: „Ich habe dem Richter alles erzählt, man verzeiht Dir. Übrigens, ich bin es, der zu Gericht sitzt. Du kannst gestehen. Und Vertrauen haben; man verzeiht Dir.“ Dann, unvermittelt wie Träume sind, wurde er ein kleiner Leichnam, nicht größer als ein Figürchen auf einer Königstorte oder als ein ausgerissener Zahn; er lag in einem Champagnerkelch inmitten einer griechischen Landschaft mit eingekerbten, verstümmelten Säulen, um die sich, wie Papierschlangen, lange, weiße Bandwürmer rollten und flatterten, — das alles in einer Beleuchtung wie sie Träumen eigen ist. Ich erinnere mich nicht mehr genau an das, was ich tat, aber ich weiß, daß ich glaubte, was er
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mir sagte. Mein Erwachen nahm mir nicht jenes Gefühl der Taufe. Aber die Verbindung wiederherzustellen zu der pünktlichen, greifbaren Welt der Zelle, davon ist keine Rede mehr. Ich lege mich wieder hin bis zu der Stunde, wo es Brot gibt. Die nächtliche Stimmung, der Geruch, der aus den verstopften, von Scheiße und gelbem Wasser überfließenden Latrinen aufsteigt, werfen Kindheitserinnerungen auf wie Maulwurfshügel von schwarzer Erde. Eines erzeugt das andere und nötigt es, emporzutauchen; ein ganzes Leben, das ich unterirdisch und für immer vergraben glaubte, kehrt zur Oberfläche, zur Luft, zur traurigen Sonne zurück, und nimmt einen Verwesungsgeruch an, an dem ich mich weide. Die Erinnerung, die mich am stärksten peinigt, ist die der Toiletten im Schieferhaus. Sie waren meine Zuflucht. Das Leben, das ich fern und verworren durch ihren Schatten und ihren Geruch wahrnahm — ein anheimelnder Geruch, in dem der Duft von Holunder und fetter Erde vorherrschte, denn die Aborte waren ganz am Ende des Gartens, in der Nähe der Hecke — das Leben gelangte seltsam sanft zu mir, schmeichlerisch, leicht, oder vielmehr erleichtert, der Schwerkraft enthoben. Ich spreche von dem Leben der Dinge, die sich außerhalb der Toiletten befanden, von jener ganzen übrigen Welt, die nicht mein kleiner, von Insekten durchlöcherter Bretterverschlag war. Jenes Leben schien ein wenig zu schwanken, in der Art gemalter Träume, während ich in meinem Loch, gleich einer Larve, ein ausgeruhtes nächtliches Dasein führte, und manchmal hatte ich den Eindruck, langsam, wie in einen Schlaf oder einen See oder in einen mütterlichen Busen oder auch in einen Inzest, in den geistigen Kern der Erde einzudringen. Die Zeiten meines Glücks waren niemals Zeiten eines strahlenden Glücks, mein Friede war niemals das, was die Literaten und Theologen einen „himmlischen Frieden“ nennen, und das ist gut so, denn mein Entsetzen wäre grenzenlos, wenn ich von Gott mit der Spitze des Fingers bezeichnet, wenn ich von ihm ausgezeichnet worden wäre; ich weiß sehr wohl, ich würde es nicht überleben, durch ein Wunder von einer Krankheit geheilt zu werden. Das Wunder ist Unrat: der
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Friede, den ich in den Latrinen suchen ging, jener, den ich in der Erinnerung an sie suche, ist ein besänftigender und süßer Friede. Manchmal regnete es, ich hörte das Geräusch der Tropfen, die auf das Zinkdach prasselten; und mein düsteres Wohlbefinden, mein gramvolles Genießen beschwerte sich mit einer Trauer mehr. Ich öffnete die Tür um einen Spalt und der Anblick des triefenden Gartens, des gepeitschten Gemüses, machte mich untröstlich. Ich blieb in dieser Zelle hocken, auf den Holzsitz geschwungen, stundenlang, Seele und Körper dem Geruch und dem Schatten als Beute überlassend, geheimnisvoll erregt, weil der geheimste Teil der Wesen sich eben hier entschleierte wie in einem Beichtstuhl. Im leeren Beichtstuhl fühlte ich das gleiche süße Wohlbehagen. Alte Modezeitungen lagen herum, mit Stichen illustriert, auf denen die Frauen von 1910 einen Muff, einen Sonnenschirm und ein Kleid mit einem Cul de Paris trugen. Ich brauchte lange, ehe ich die Verzauberung dieser abgründigen Mächte auszunutzen verstand, die mich an den Füßen zu sich zerrten, die um mich herum mit ihren schwarzen Flügeln schlugen als wären sie Wimpern eines Vamps, und die ihre Buchsbaumfinger in meine Augen bohrten. In der Zelle nebenan wurde die Wasserspülung gezogen. Unsere beiden Latrinen waren untereinander verbunden, das Wasser gluckst in der meinen, eine Woge von Gestank macht mich noch ein wenig trunkener, meine harte Rute verfängt sich in meiner Unterhose und stößt, befreit von einer Berührung meiner Hand, gegen das Leinen, das sich ein wenig ausbeult. Mignon! Divine! Und ich bin hier, allein. Mignon ist es vor allem, den ich liebkose, denn Ihr zweifelt gewiß nicht daran, daß es im Grunde mein eigenes, wahres oder falsches Schicksal ist, das ich, bald wie Lumpen, bald wie einen Staatsmantel, über die Schultern von Divine breite. Langsam aber sicher will ich sie jeder Art von Glück berauben, damit aus ihr eine Heilige wird. Schon hat das Feuer, das sie verkohlen wird, gewichtige Bande verbrannt; neue fesseln sie: die Liebe.
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Eine Moral wird geboren, die gewiß nicht die gemeine Moral ist (sie steht auf der Höhe von Divine), aber eine Moral ist es doch, sie kennt Gut und Böse. Divine ist nicht jenseits von Gut und Böse, dort, wo die Heiligen leben. Und ich, sanfter als ein böser Engel, führe sie bei der Hand. Hier ist ein „Divinariana“, das ich für Euch zusammengestellt habe. Es handelt sich um einige „Momentaufnahmen“, und es ist Sache des Lesers, selbst die Dauer derselben herauszufühlen, die Zeit, die vergeht, und zu bemerken, daß sie während dieses ersten Kapitels zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt ist.
Divinariana Divine zu Mignon: „Du bist meine süße Betörende!“ Divine ist voller Demut. Sie bemerkt den Luxus nur durch das gewisse Geheimnis, das er absondert und vor dem sie sich fürchtet. In Hotelpalästen wie in den Höhlen der Zauberinnen sind gefährliche Zaubermittel eingeschlossen, die eine unserer Gebärden von einem Stück Marmor, von Teppichen, Samt, Ebenholz und Kristall befreien kann. Sobald sie etwas Geld hatte, dank eines Argentiniers, übte sich Divine im Luxus. Sie kaufte Gepäck aus Leder und Stahl, mit Moschus gesättigt. Sieben oder acht mal täglich nahm sie den Zug, stieg in den Salonwagen, ließ das Gepäck in den Netzen aufstapeln, setzte sich bequem in die Polster bis zur Abfahrt des Zuges, um wenige Sekunden vor dem Pfiff zwei oder drei Träger zu rufen, umzuziehen, einen Wagen zu nehmen und sich zu einem großen Hotel fahren zu lassen, in dem sie blieb, bis der diskrete und prunkvolle Einzug beendet war. Dieses Starleben führte sie eine ganze Woche lang, jetzt weiß sie, wie man auf Teppichen schreitet, wie man mit Lakaien spricht und mit diesen Luxusmöbeln. Sie hat den
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Zauber gezähmt und den Luxus zu Boden gestreckt. Die strengen Kurven und Voluten auf Louis XV Möbeln, auf Bilderrahmen und auf Holztäfelungen geben jetzt ihrem Leben — das sich auf adelige Weise, wie eine doppelte Freitreppe zu entrollen scheint — einen unendlich eleganten Anstrich. Aber vor allem wenn ihr Mietwagen durch ein schmiedeeisernes Gitter fährt oder eine wundervolle Schleife beschreibt, fühlt sie sich als Infantin.
Der Tod ist keine kleine Angelegenheit. Divine fürchtet schon, es werde an Feierlichkeit fehlen. Sie will würdig sterben. Wie jener Fliegerleutnant, der in seiner Galauniform zu kämpfen pflegte, damit der fliegende Tod, wenn er im Flugzeug auftaucht, in ihm den Offizier und nicht den Mechaniker erkenne und betrachte, trug Divine stets ihr fettiges, graues Hochschulzeugnis bei sich.
„Er ist dumm wie der Knopf...“ (Mimose will sagen: einer Stiefelette). Darauf Divine sanft: „ein Hosenknopf.“ Sie trug in ihrem Ärmel ständig einen kleinen Fächer aus Gaze und blondem Elfenbein bei sich. Wenn sie ein Wort aussprach, das sie verwirrte, so zog sie mit der Schnelligkeit eines Zauberkünstlers den Fächer aus ihrem Ärmel, entfaltete ihn und plötzlich bemerkte man jenen aufgeregten Flügel, hinter dem sich der untere Teil ihres Gesichts verbarg. Divine’s Fächer wird ihr ganzes Leben lang um sie herumflattern. Sie weihte ihn ein bei einem Geflügelhändler in der Rue Lepic. Divine war mit einer Schwester hinuntergegangen, um ein Hühnchen auszuwählen. Sie waren schon im Laden, als der Sohn des Hauses eintrat. Divine gluckste, als sie ihn sah, stieß die Schwester an und rief aus, indem sie den Zeigefinger in den Steiß des
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verschnürten, auf der Fleischbank liegenden Huhnes steckte: „Oh! Sieh’ nur, hier, Schönste der Schönen!“ und schnell flatterte der Fächer an ihre rot angelaufenen Wangen. Mit nassen Augen sah sie den Sohn des Hauses weiter an.
Auf dem Boulevard haben Polizisten die betrunkene Divine aufgegriffen. Sie singt mit schriller Stimme den Veni Creator. In allen Passanten entstehen kleine verheiratete Paare im weißen Tüllschleier, die sich auf einen Stoff überzogenen Betschemel knien; die beiden Wachtmeister sehen sich wieder als Ehrenknaben bei der Hochzeit ihrer Kusine. Trotzdem bringen sie Divine zur Wache. Den ganzen Weg lang reibt sie sich an ihnen; sie spannen, halten sie fester gepackt und stolpern eigens, um ihre Schenkel mit denen von Divine zusammenzubringen. Ihre ungeheuren Geschlechter leben, schlagen in kleinen Stößen oder drängen sich in einer verzweifelten und schluchzenden Aufwallung gegen das Tor der Hose aus grobem, blauen Leinen. Sie fordern die Öffnung, wie die Priesterschaft vor der geschlossenen Kirchentür am Palmsonntag. Die kleinen, über den Boulevard verstreuten Tunten, junge und alte, vor deren Augen Divine auf die Melodie eines ernsten Hochzeitsliedes, des Veni Creator, entführt wird, seufzen: „Man wird sie in Ketten legen!“ „Wie einen Matrosen!“ „Wie einen Sträfling!“ „Wie eine Entbundene!“ Die Bürger gehen vorbei. Sie bilden eine Menge, die nichts sieht und nichts hört. Sie werden durch das nichtige Ereignis in ihrem geruhsamen Zustand des Vertrauens kaum unmerklich nur von der Stelle gerückt: Divine wird am Arm geführt, ihre Schwestern beklagen sie. Wieder freigelassen, steht sie am nächsten Abend erneut an ihrem Platz auf dem Boulevard. Ihr blaues Lid ist geschwollen:
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„Mein Gott, meine Schönen, ich wäre fast ohnmächtig geworden. Die Polizisten haben mich gestützt. Sie standen alle um mich herum und wedelten mit ihren karierten Taschentüchern. Sie waren die Heiligen Schwestern, die mir das Antlitz abwischten. Mein Göttliches Antlitz: Kommen Sie zu sich, Divine. Kommen Sie zu sich, kommen Sie zu sich!“ schrien sie, sangen sie. „Sie haben mich in ein düsteres Verlies geführt. Auf die weiße Wand hatte jemand (Oh! dieser Jemand, der sie gezeichnet hat, ich werde ihn suchen zwischen den gedrängten Zeilen, auf den trächtigen Seiten der Fortsetzungsromane, in denen es wimmelt von wunderbar schönen Pagen und Gaunern. Ich knote es auf, löse das Wams und die Kniehosen des einen von ihnen, der Jean-des-Bandes-Noires nachläuft; ich verlasse ihn, wie er, ein grausames Taschenmesser in einer Hand, sein steifes Glied umfaßt von der anderen, aufrecht vor der weißen Wand steht, und hier ist er, ein junger Häftling, wild und unberührt. Er legt seine Wange gegen die Mauer. Mit einem Kuß leckt er die senkrechte Oberfläche und der gierige Gips zieht seinen Speichel an sich. Darauf ein Wolkenbruch von Küssen. Alle seine Bewegungen zeichnen die Umrisse eines unsichtbaren Reiters, der ihn umschlingt und den die unmenschliche Mauer gefangen hält. Schließlich, müde vor Kummer, erschöpft vor Liebe, zeichnet der Page .. .) gezeichnet, meine Damen, eine Farandole von ah — Ja, ja, meine Schönen, träumt nur und spielt betrunken, um dorthin zu fliehen, wovon Euch zu erzählen ich mich weigere; sie waren geflügelt, aufgeblasen, groß, ernst wie kleine Engelchen, prächtige Trunkenbolde aus Gerstenzucker. Um einige von ihnen, meine Damen, die gerader und fester waren als die anderen, waren Waldreben, Winden, Kapuzinerkresse und auch kleine verdrehte Kerle geschlungen. Oh! diese Säulen! Die Zelle flog fort mit rasender Geschwindigkeit: ich war verrückt, verrückt, verrückt!“
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Die süßen Gefängniszellen! Nach der scheußlichen Gemeinheit meiner ersten Verhaftung, meiner verschiedenen Verhaftungen, von denen jede immer die erste ist, die in ihrer ganzen Unwiderruflichkeit in mir erschien durch eine innere Eingebung von atemberaubender, schicksalhafter Schnelligkeit und Helle in genau dem Augenblick, in dem meine Hände in das wie ein Juwel oder wie ein Lehrsatz schillernde Stahlgeflecht eingeschlossen wurden, — nach dieser Verhaftung brachte mir die Gefängniszelle, die ich jetzt wie ein Laster liebe, den Trost meiner selbst durch mich selbst. Der Gefängnisgeruch ist ein Geruch von Urin, Formol und Farbe. In allen Gefängnissen Europas habe ich ihn wiedergetroffen und ich habe schließlich erkannt, daß dieser Geruch der Geruch meines Schicksals ist. Jedesmal wenn ich rückfällig werde, suche ich auf den Mauern die Spuren meiner früheren Gefangenschaften, das heißt meiner früheren Verzweiflungen, Begierden, meiner Reue, die ein anderer Häftling für mich eingraviert hat. Ich erkunde die Oberfläche der Mauern auf der Suche nach der brüderlichen Spur eines Freundes. Denn wenn ich auch niemals wirklich wußte, was Freundschaft wohl bedeuten könne, welchen Widerhall sie in ihrem Herz und vielleicht auf ihrer Haut hervorruft, die Freundschaft zweier Männer füreinander, — im Gefängnis wünsche ich mir manchmal eine brüderliche Freundschaft, stets jedoch für einen Mann meines Alters, der schön sein müßte, in den ich alles Vertrauen hätte und der der Komplize meiner Liebesabenteuer, meiner Diebstähle und meiner verbrecherischen Begierden wäre: obwohl auch das mich nicht belehrt über diese Freundschaft, über den Geruch des geheimsten Innern bei dem einen oder dem anderen der Freunde; denn ich mache aus mir bei dieser Gelegenheit einen Mann, der weiß, daß er keiner ist. Ich erwarte die Enthüllung irgendeines schrecklichen Geheimnisses auf der Mauer zu finden: Mord, vor allem Männermord, oder Verrat einer Freundschaft oder Entweihung der Toten, deren leuchtendes Grabmal ich wäre. Aber ich habe stets nur wenig Worte mit einer Stecknadel in den Gips geritzt ge-
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funden, stehende Redensarten der Liebe oder der Empörung, häufiger noch der Resignation: „ Jojo von der Bastoche liebt seine kleine Frau für’s Leben.“ „Mein Herz der Mutter, meinen Schwanz den Huren, meinen Kopf dem Henker.“ Diese Felsinschriften sind fast immer liebenswürdige Huldigungen der Frau, oder es sind diese schlechten Strophen, die alle Bösewichte von ganz Frankreich kennen: Wenn Ruß nicht mehr schwarz und die Kohle weiß vom Zuchthaus das Gedächtnis nichts mehr weiß. Und jene Pansflöten, die die verstrichenen Tage anzeigen! Und die überraschende Inschrift schließlich, die in den Marmor unter dem Ehrenportal eingraviert ist: „Einweihung des Gefängnisses am 17. März 1900“ und die mich veranlaßt, einen Aufzug amtlicher Persönlichkeiten zu sehen, die feierlich den ersten Häftling bringen, um ihn einzukerkern.
Divine: „Ich habe das Herz auf der Hand, und die Hand ist durchbohrt, die Hand ist im Sack, und der Sack ist zu, und mein Herz gefangen.“
Divine’s Güte. Ihr Vertrauen in die Männer mit regelmäßigen, harten Gesichtern und dichtem Haar, aus dem eine Locke in die Stirn fällt, war vollkommen unerschütterlich; dieses Vertrauen schien dem Zauber zu gelten, den solche Gesichter auf Divine ausübten. Sie hatte sich oft prellen lassen, sie, deren kritischer Geist so lebhaft war. Sie begriff es plötzlich, oder nach und nach, wollte eine
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entgegengesetzte Haltung einnehmen, und der Zweifel des Verstandes kämpfte mit der Weichheit des Gefühls; er siegte und nistete sich in ihr ein. Aber auf diese Weise wird sie nicht weniger betrogen, denn ihre Bosheit richtet sich gegen die sehr jungen Männer, zu denen sie sich hingezogen fühlt. Sie nimmt ihre Erklärungen mit einem ironischen Lächeln oder Wort entgegen, das nur schlecht ihre Schwäche (die Schwäche der Tunten vor dem Hügel auf der Hose Gorguis) und die Anstrengungen verbirgt, die sie machen muß, um ihrer fleischlichen Schönheit nicht zu erliegen (sie hängt ihnen den Brotkorb höher); die jungen Männer dagegen geben das Lächeln sogleich zurück, nur grausamer, als spränge es, ausgeschickt von Divine’s Zähnen, von ihren Zähnen zurück, die schärfer, kälter und eisiger, mit Divine verglichen: von kühlerer Schönheit sind. Aber um sich dafür zu strafen, boshaft mit den Boshaften gewesen zu sein, nimmt Divine ihren Entschluß zurück und demütigt sich vor Kerlen, die nicht verstehen, warum. Ihre Güte geht bis zur Ubertreibung. Eines Tages, bei der Rückkehr vom Gericht, — denn sie ist oft, besonders wegen Rauschgift, in den Zellenwagen gefallen, — fragt sie einen Alten: „Wieviel?“ Er antwortet: „Drei Jährchen. Und Du?“ Sie, die nur zwei bekommen hat, antwortet: „Drei Jährchen.“
Vierzehnter Juli: Überall blau-weiß-rot. Divine kleidet sich, aus Freundlichkeit für sie, die Verachteten, in allen anderen Farben.
Divine und Mignon. Für mich sind sie das ideale Liebespaar. Von meinem übelriechenden Loch aus, unter der rauhen Wolle der Überdecken, die Nase im Schweiß und die Augen weit aufgerissen, allein mit ihnen, sehe ich sie.
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Mignon, aufrecht, die gespreizten Beine in einer bauschigen, himmelblauen Kniehose aus Samt, ist ein Riese, dessen gebogene Füße die Hälfte der Erdkugel bedecken. Er erigiert. So stark und ruhig, daß sich After und Scheiden auf sein Glied wie Ringe auf einen Finger reihen. Er erigiert. So stark und ruhig, daß seine von den Himmeln behütete Männlichkeit die durchstoßende Kraft der Bataillone blonder Krieger besitzt, die uns am 14. Juni 1940, bedächtig, ernsthaft, ohne hinzusehen, in Staub und Sonne marschierend, vögelten. Doch sie sind nur das Bild des gespannten, aufgerichteten Mignon. Ihr Granit verbietet ihnen, als schlangenhafte Louis aufzutreten. Ich schließe die Augen. Divine: das sind tausend Formen, die mich durch ihre Grazie verführen. Sie treten aus meinen Augen hervor, aus meinem Mund, meinen Ellbogen, meinen Knien, und ich weiß nicht, woher noch. Sie sagen mir: „Jean, ich bin glücklich, als Divine zu leben und mit Mignon zusammen zu sein.“ Ich schließe die Augen. Divine und Mignon. Für Mignon ist Divine höchstens ein Vorwand, eine Gelegenheit. Wenn er an sie dächte, würde er mit den Schultern zucken, um sich seines Gedankens zu entledigen, als wäre der Gedanke ein in seinem Rücken festgekrallter Drache. Aber für Divine ist Mignon alles. Sie pflegt das Geschlecht Mignons. Sie liebkost es mit einem Überschwang an Zärtlichkeit und bedenkt es mit den Kosenamen achtbarer, etwas ausgelassener Leute: der Kleine, der Säugling in der Wiege, das Jesuskind in seiner Krippe, der kleine Heißsporn, dein kleiner Bruder, — ohne, daß sie diese Namen ausspricht, erhalten sie doch volle Bedeutung. Ihr Gefühl erkennt sie buchstäblich an. Mignons Rute ist für sich allein der ganze Mignon: der Gegenstand ihrer reinen Ausschweifung, ein Gegenstand reiner Ausschweifung. Wenn Divine sich herbeiläßt, in ihrem Mann etwas anderes als ein heißes, blauunterlaufenes Geschlecht zu sehen, so deswegen, weil sie seine Steifheit, die sich bis zum After erstreckt, verfolgen, weil sie verspüren kann, daß es tiefer in ihren Leib eindringt, daß es der gespannte Leib Mignons selbst ist, an dessen Ende sich ein blasses, ausgelaugtes Gesicht befindet, ein
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Gesicht mit Augen, Nase, Mund, hohlen Wangen, gelocktem Haar und Schweißtröpfchen. Ich schließe die Augen unter den verlausten Decken. Divine hat die Hose ein wenig geöffnet und jene geheimnisvolle Seite ihres Mannes aufgeputzt. Das Schamhaar und die Rute hat sie mit Schleifchen umwickelt und Blumen in die Knopflöcher des Hosenschlitzes gesteckt. (Mignon geht so mit ihr aus, am Abend). Das Ergebnis: für Divine ist Mignon nichts als der herrliche irdische Bote, der fühlbare Ausdruck, das Symbol endlich eines Wesens (vielleicht Gottes), einer im Himmel zurückgebliebenen Idee. Sie haben keine Verbindung untereinander. Divine ist Marie-Antoinette vergleichbar, die, meiner französischen Geschichte zufolge, als Gefangene wohl oder übel die im achtzehnten Jahrhundert blühende Gaunersprache erlernen mußte, um sich mit ihrer Hilfe verständlich zu machen. Arme, teure Königin.
Wenn Divine plärrend sagt: „Sie haben mich vor Gericht geschleppt“, so zaubern diese Worte eine alte Gräfin Solange hervor, die kniend im antiken Schleppenkleid aus Spitzen, von Soldaten an den gefesselten Handgelenken über die Steinfliesen eines Justizpalastes gezerrt wird.
„Ich werde schwach vor Liebe“, sagt sie. Ihr Leben blieb stehen, aber um sie herum floß das Leben weiter; es schien ihr, als steige sie rückwärts die Zeit hinan, und wahnsinnig vor Schrecken über den Gedanken — diese Raschheit — sie könne den Anfang berühren, die Ursache, löste sie schließlich eine Gebärde aus, die ihr Herz sehr schnell wieder zum Schlagen brachte.
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Noch einmal die Güte dieser Närrin. Sie stellt einem jungen Mörder, den wir später kennen lernen werden (Notre-Dame-des-Fleurs),eine Frage. Diese Frage nach einer Kleinigkeit bereitet dem Mörder eine solche Pein, daß Divine sieht, wie sein Gesicht vor ihren Augen zerfällt. Da läuft sie rasch der Pein nach, die sie ihm bereitet hat, um sie einzuholen und festzuhalten, und, über die Silben stolpernd, sich im Speichel verhaspelnd, der vor Erregung Tränen ähnlich wird, ruft sie: „Nein, nein, ich bin es!“
Die Freundin des Paares ist die Närrischste, die ich in der Gegend kenne. Mimose II. Mimose die Große, Mimose die Eine wird jetzt von einem Alten ausgehalten. Sie hat ihre Villa in Saint-Cloud. Da sie Mimose II liebte, die damals Milchjunge war, hat sie ihr den eigenen Namen gelassen. Das II ist nicht hübsch, aber was soll man machen? Divine hat sie zu einem Teeklatsch eingeladen. Sie kam gegen fünf Uhr in die Mansarde. Mit Divine küßte sie sich auf die Wangen, sorgfältig jede Berührung der Körper vermeidend. Mignon begrüßte sie mit einem männlichen Handschlag, und nun sitzt sie auf dem Divan, auf dem Divine schläft. Mignon bereitete den Tee zu: solcherlei Koketterien waren ihm eigen. „Nett, daß Du heraufgekommen bist, Mimo, man sieht Dich so selten.“ „Das bin ich Dir doch schuldig, meine Teuerste. Übrigens, ich bete Dein Häuschen an. Es sieht aus wie ein Pfarrhaus mit dem Park in der Ferne. Ach, wie muß das süß sein, die Toten, Männlein und Weiblein, als Nachbarn zu haben!“ Das Fenster war in der Tat sehr schön. Der Friedhof lag manchmal unter dem Mond. Nachts, von seinem Bett aus, sah ihn Divine klar und tief, im Licht des Mondes. Dieses
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Licht war derart, daß man unter dem Gras der Gräber und unter dem Marmor die gespensterhaften Bewegungen der Toten sehr gut erkennen konnte. Der vom Fenster eingefaßte Friedhof war wie ein helles Auge zwischen zwei gespaltenen Lidern, oder noch besser: wie ein blaues Glasauge — eines jener Augen blonder Blinder — in der hohlen Handfläche eines Negers. Er tanzte, das heißt, er war melodisch und sein Leib bewegte sich wie eine Qualle. Die Beziehungen zwischen Divine und dem Friedhof: er war in ihre Seele eingedrungen, so ungefähr, wie gewisse Sätze in einen Text eindringen, das heißt, ein Buchstabe hier, ein Buchstabe dort. Der Friedhof war in ihr anwesend im Café, auf dem Boulevard, im Kittchen, unter den Decken und in den Pinkelbuden. Oder auch, wenn Ihr wollt, der Friedhof war in ihr anwesend, so etwa wie in Mignon der treue und sanfte, unterwürfige Hund anwesend war, der dem Blick des Louis gelegentlich die dumme und traurige Sanftmut eines Hundeblicks verlieh. Mimose beugte sich in das Fenster, die Mauerlücke der Verstorbenen, und suchte ein Grab mit ihrem ausgestreckten Finger. Als sie es gefunden hatte, kläffte sie: „Ah! altes Weib, Dirne, endlich bist Du krepierd Jetzt bist Du steif, steif unter dem eisigen Marmor. Und ich, ich gehe auf Deinen Teppichen spazieren, Du gemeines Luder!“ „Wie ulkig Du bist“, murmelte Mignon, der sie beinahe auf nuttisch (Geheimsprache) angeschnauzt hätte. „Mignon, ich bin möglicherweise in Dich verliebt, in Deine schreckliche Kraft, Mignon, — aber da, unten in der Grube, das ist Charlotte! Die Charlotte ist das!“ Wir lachten, denn wir wußten, daß die Charlotte ihr Großvater war, der am Ende des Friedhofs in einem Erbbegräbnis lag. „Wie geht es der Luise? (das war der Vater von Mimose). Und Luzie?“ (das war ihre Mutter), fragte Divine. „Ah! Divine, sprich mir nicht davon, es geht ihnen viel zu gut. Sie krepieren nicht, die Arschlöcher. So ein Lumpenpack.“
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Mignon liebte, was sich die Tunten erzählten. Er liebte vor allem, — vorausgesetzt, daß es im kleinen Kreise geschah, — wie sie es sich erzählten. Während er den Tee zubereitete, horchte er, eine gleitende Karavelle auf den Lippen. Mignons Lächeln war niemals reglos. Immer, scheint es, ließ ihn ein leichtes Unbehagen zwinkern. Mehr als gewöhnlich fühlte er sich heute unbehaglich, denn er wird Divine an diesem Abend verlassen müssen: Mimose erscheint ihm im Hinblick auf dieses Ereignis schrecklich, wölfisch. Divine weiß nicht, was sich vorbereitet. Sie wird mit einem Schlag ihre Verlassenheit und die Gemeinheit von Mimose erfahren. Denn die Sache war mit Schwung erledigt worden. Roger, der Mann von Mimose, war zum Kommiß gegangen. „Sie zieht in den Krieg, mein Roger. Sie muß Amazone spielen.“ So sprach eines Tages Mimose vor Mignon, der ihr im Scherz anbot, Rogers Platz einzunehmen. Sie aber nahm an. Unsere Ehen, die Gesetze unserer Häuser sind anders, als die Eurer Häuser. Man liebt sich ohne Liebe. Sie haben nicht das geweihte Gepräge. Die Tunten sind die großen Unmoralischen. Augenblicklich, ohne sich gebunden zu glauben — nach sechs Jahren des Zusammenlebens — ohne zu denken, er könne damit etwas schlechtes oder einfach weh tun, beschloß Mignon, Divine zu verlassen. Ohne Gewissensbisse, nur ein wenig beunruhigt, weil Divine sich vielleicht weigern würde, ihn wiederzusehen. Was Mimose betrifft, so genügt es ihr, einer Rivalin Böses zuzufügen, um glücklich zu sein. Die zwei Nutten piepsten; ihre Reden waren platt neben dem Spiel ihrer Blicke. Ihre Lider zwinkerten nicht, noch knitterten ihre Schläfen; der Augapfel glitt einfach von rechts nach links, von links nach rechts, rollte um sich selbst, und ihre Blicke schienen bewegt zu werden von einem Kugellager. Lauschen wir jetzt, wie sie sich etwas zuflüstern, damit Mignon näher an sie heranrückt und neben ihnen, wie ein Dickhäuter, titanenhafte Anstrengungen unternimmt, sie zu verstehen. Mimose flüstert:
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„Meine Gute, ich mag sie am liebsten, wenn sie noch in der Hose sind. Man schaut sie an, und dann werden sie hart. Verrückt ist das, ganz verrückt! Sie werfen eine Falte, die gar nicht mehr aufhört, die hinunterreicht bis zu den Füßen. Wenn Du sie berührst, folgst Du der Falte, ohne aufzudrücken, bis zu den Zehen. Man meint, der Schöne gleitet abwärts, meine Süße. Ich empfehle Dir dafür besonders die Matrosen.“ Mignon lächelt kaum. Er weiß. Der Schöne Dicke der Männer erregt ihn nicht, aber es wundert ihn nicht mehr, daß er Divine oder Mimose erregt. Mimose sagt zu Mignon: „Du spielst Hausfrau. Du gehst uns aus dem Weg.“ Er anwortet: „Ich mache Tee.“ Als habe er verstanden, daß seine Antwort ihn nicht genug binde, sagte er noch: „Hast Du keine Nachricht von Roger?“ „Nein“, sagte Mimose. „Ich bin die Ganz-Verlassene.“ Sie wollte auch sagen: „Ich bin die Ganz-Verfolgte“. Wenn sie ein Gefühl auszudrücken hatten, das zur Überschwenglichkeit der Gebärde oder der Stimme führen konnte, so begnügten sich die Tunten zu sagen: „Ich bin die Ganz-und-Gar“, und zwar in einem vertraulichen Ton, fast murmelnd, unterstrichen von einer kleinen Bewegung ihrer beringten Hand, die einen unsichtbaren Sturm befriedete. Der Eingeweihte, der zur Zeit der Großen Mimose die wilden Schreie der gewonnenen Freiheit gekannt hatte, und die Gebärden wahnwitziger Kühnheit, die von begehrlichen Gefühlen ausgelöst wurden, die die Münder verzerrten, die Augen strahlen ließen und die Zähne zum Vorschein brachten, wer all das kannte, fragte sich, welche geheimnisvolle Sanftheit an die Stelle der zügellosen Leidenschaften getreten war. Hatte Divine einmal ihre Litanei begonnen, so beruhigte sie sich erst wieder, wenn sie erschöpft war. Als er sie das erste Mal hörte, hatte Mignon sie nur erstaunt angesehen. Das war im Zimmer und er fand es unterhaltend; aber als Divine dann auf der Straße damit begann sagte er:
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„Halt’s Maul, hörst Du, dummes Luder. Willst Du mich vor den Anderen unmöglich machen?“ Seine Stimme war so kalt, so zum Äußersten entschlossen, daß Divine die Stimme ihres Herren erkannte. Sie hielt sich zurück. Aber Ihr wißt, nichts ist gefährlicher als eine Verdrängung. Eines Abends an der Theke einer Zuhälterbar am Place Clichy (die Mignon gewöhnlich vorsichtshalber ohne sie besuchte) bezahlte Divine die Getränke und vergaß beim Aufnehmen des Kleingeldes, das Trinkgeld für den Kellner auf dem Zink zu lassen. Als sie ihr Versehen bemerkte, stieß sie einen Schrei aus, der Spiegel und Lichter zerriß, einen Schrei, der die Louis entkleidete. „Mein Gott, ich bin die Ganz-Verrückte.“ Von links und rechts, mit der mitleidlosen Schnelligkeit der Katastrophen, brachten zwei Ohrfeigen sie zum Verstummen und machten sie klein wie eine Windhündin; ihr Kopf reichte nicht mehr über die Theke. Mignon war außer sich. Er war grün unter dem Neon. Er sagte: „Raus!“ Er, er schlürfte seinen Cognac weiter, bis zum letzten Tropfen. Diese Schreie (Mignon sagt: „Sie verliert ihre Schreie“, genauso, wie er denkt: „Sie verliert ihre Moneten“ oder „Du setzt Fett an“) — diese Schreie waren eine der Schrullen, die Divine von Mimose I gestohlen hatte. Wenn sie mit ein paar anderen auf einer Straße oder in einem Tuntencafé zusammenstanden, so stiegen aus ihren Gesprächen (aus ihren Mündern und ihren Händen) Raketen von Blumen auf, zwischen denen sie sich auf die natürlichste Weise der Welt verhielten, indem sie bedeutungslose Dinge besprachen, die den Haushalt betrafen. »Ich bin gewiß, gewiß die Ganz-Verdorbene.“ ,,Ah! meine Damen, ich bin ja eine solche Nutte.“ »Weißt Du“ (das ei war so langgezogen, daß es das einzige war, was man aufnahm), „weiiisde, ich bin die Ganz-Kummerzerfressene.“ »Ei, ei, schaut Euch bloß die Ganz-Rauschende an.“ Eine von ihnen wurde auf dem Boulevard von einem Polizeikommissar befragt: „Wer sind Sie?“
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„Ich bin eine Betörende.“ Dann, nach und nach, verstanden sie sich, indem sie sagten: „Ich bin die Ganz-und-Gar“, und schließlich: „Ich bin die G’G’.“ Das gleiche galt für die Gebärden. Divine verfügte über eine besonders ausladende: wenn sie das Schnupftuch aus der Tasche zog, beschrieb sie einen ungeheuren Bogen, ehe sie es auf ihre Lippen legte. Hätte jemand die Gebärde von Divine erraten wollen, so wäre er unweigerlich einem Irrtum erlegen, denn bei ihr waren zwei Gebärden in einer einzigen enthalten. Da war einmal die ausgearbeitete Gebärde, die von ihrem ursprünglichen Ziel abgelenkt worden war, und dann jene, die sie fortsetzte und vollendete und die just an der Stelle aufgepfropft wurde, wo die erste aufhörte. Wie sie also die Hand aus der Tasche zog, hatte Divine den Arm ausstrecken und das am Ende entfaltete Spitzentaschentuch schütteln wollen. Es schütteln zum Lebewohl von einem Nichts oder um ein Puder herausfallen zu lassen, das es gar nicht enthielt — ein Parfüm —, nein: es war ein Vorwand. Es brauchte diese ausladende Gebärde, um folgendes atemberaubende Drama zu erzählen: „Ich bin allein. Rette mich, wer kann.“ Mignon hatte, wenn er sie auch nicht ganz austilgen konnte, diese Gebärde verkleinert, die dadurch, ohne geradezu banal zu werden, etwas zwitterhaftes und dadurch fremdartiges erhielt. Er hatte sie, indem er sie überwältigte, überwältigend gemacht. Von diesem Zwang sprechend, hatte Mimose gesagt: „Unsere Männer haben aus uns den Garten der lahmen Weiber gemacht.“ Nachdem Mimose den Speicher verlassen hatte, suchte Mignon einen Grund, mit Divine Streit zu beginnen und sie dann zu verlassen. Er fand nichts. Das machte ihn wütend auf sie; er sagte ihr, sie sei eine schmutzige Hure, und ging. Jetzt ist Divine also allein auf der Welt. Wen soll ich ihr als Geliebten geben? Jenen Zigeuner, den ich noch suche, dessen Figur wegen der hohen Absätze seiner Marseiller Schuhe einer Gitarre ähnelt? An
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seinen Beinen klettert in Windungen die Hose eines Matrosen empor und zwängt ihm kalt die Hinterbacken ein. Divine ist allein. Mit mir. Die ganze Welt, die um die Same herum Wache steht, weiß nichts und begehrt nichts zu wissen von der Bestürzung einer kleinen Zelle, die verloren inmitten anderer Zellen liegt und ihnen so ähnlich ist, daß ich, der ich sie gut kenne, mich oft täusche. Die Zeit läßt mir keine Atempause: ich fühle, wie sie verstreicht. Was werde ich mit Divine anfangen? Mignon — wenn er zurückkehrt — wird nicht lange brauchen, um sich erneut davonzumachen. Er hat Gefallen gefunden an der Scheidung. Divine aber braucht Stöße, die sie bedrängen, aus den Angeln heben, zusammenkleben und zerbrechen und die mir schließlich nichts von ihr lassen als das bißchen Essenz, das ich finden will. So kam es, daß Monsieur Roquelaure (rue de Douai 127, Angestellter der Städtischen Transportgesellschaft), als er gegen sieben Uhr morgens die Milch und den Petit Parisien für sich und Madame Roquelaure — die in der Küche ihr Haar entzauste — holen ging, in dem engen Gang des Hauses auf dem Boden einen Fächer fand, den er zertreten hatte. In den Galalithstiel waren falsche Smaragden eingelassen. Er versetzte den Trümmern einen Lausbubenfußtritt, stieß sie bis zum Gehsteig, dann bis in die Gosse. Es war der Fächer von Divine. In dieser Nacht war Divine zufällig Mignon begegnet und hatte ihn begleitet, ohne ihm wegen seiner Flucht Vorwürfe zu machen. Er hörte ihr zu, vor sich hinpfeifend und vielleicht ein wenig bekümmert. Mimose überraschte sie. Divine begrüßte sie großartig, indem sie sich bis zur Erde verneigte, aber Mimose schrie mit einer Stimme, die Divine zum ersten Mal männlich hörte: „Mach daß Du fortkommst, verdammtes Schwein, verdammte Nutte.“ Das war der Milchjunge... Die Tatsache der zweiten Natur, die nicht widerstehen kann und die erste in einem wilden Haßausbruch hervorteten läßt, ist nicht neu. Wir würden nicht davon sprechen, wenn es sich nicht darum handeln würde, das Doppelgeschlecht der Tunten zu zeigen. Wir werden ihm bei Divine wiederbegegnen.
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Die Sache war also ernst. Mignon, auch hier wieder herrlich feige (ich halte dafür, daß die Feigheit eine aktive Eigenschaft ist, die sich, sobald sie heftig genug geworden ist wie eine weiße Morgenröte, wie ein Irrlicht um die schönen, jünglinghaften Memmen breitet, die sich in ihr wie auf dem Grund eines Meeres bewegen), Mignon geruhte nicht, Partei zu ergreifen. Er hatte die Hände in den Taschen: „Los, bringt Euch um“, sagte er hohnlachend. Das Hohnlachen klingt mir noch in den Ohren, es gehört zu einem Kind von sechzehn Jahren, das eines Abends vor mir stand. Ihr könnt daran ermessen, was Teufelei ist. Divine und Mimose prügelten sich. Divine lehnte gegen eine Hausmauer und versetzte Mimose kleine Fußtritte, sie stieß mit ihren Fäusten ins Leere, von oben nach unten. Mimose — die stärkere — schlug hart zu. Divine gelang es, sich loszumachen und fortzulaufen. Aber im Augenblick, als sie die angelehnte Tür eines Hauses erreichte, hatte Mimose sie bereits eingeholt. Der Kampf ging im Gang weiter, mit halber Stimme und halben Schlägen. Die Mieter schliefen, die Portiersfrau hörte nichts. Divine dachte: „Die Portiersfrau kann nichts hören, weil sie Madame Müller heißt.“ Die Straße war verlassen. Mignon, auf dem Bürgersteig stehend, die Hände noch immer in den Taschen, betrachtete aufmerksam die Abfälle des vor dem Hause abgestellten Mülleimers. Endlich entschloß er sich und ging: „Sie sind zu große Arschlöcher alle beide.“ Unterwegs dachte er: „Wenn Divine ein blaues Auge hat, spuck’ ich ihr in die Fresse. Was für ein gemeines Pack, diese Tunten.“ Aber er kehrte zu Divine zurück. So bekam Divine ihren Louis wieder und ihre Freundin Mimose. Und begann wieder das Leben auf dem Speicher, das noch fünf Jahre dauern sollte. Der Speicher über den Toten. Montmartre bei Nacht. Die Ich-schäme-mich-Narrheit. Wir nähern uns den dreißig... Mein Kopf noch unter den Decken, meine Finger in den Augen und meineGedanken irgendwo verloren, bleibt nur mein Unterleib zurück, vom Kopf gelöst durch meine in die Augen gebohrten Finger und verfault.
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Ein Aufseher geht vorüber; ein Geistlicher tritt ein, spricht aber nicht von Gott. Ich sehe sie so wenig, wie ich weiß, daß ich in der Sante bin. Arme Sante, die sich Mühe gibt, mich zu behalten. Mignon liebt Divine immer mehr, das heißt immer stärker, ohne es zu wissen. Wörtlich, er bindet sich. Aber er vernachlässigt sie immer mehr. Sie bleibt allein auf dem Speicher, sie bringt Gott ihre Liebe und ihren Schmerz dar. Denn Gott — und die Jesuiten haben es gesagt — wählt tausend Weisen, um sich in die Seelen einzuschmeicheln: Goldstaub, einen Schwan, einen Stier, eine Taube, wer weiß was noch? Für einen Gigolo, der durch die Pinkelbuden zieht, wählt er vielleicht einen Weg, den die Theologie nicht verzeichnet hat, vielleicht wählt er die Gestalt der Pinkelbude? Man kann sich auch fragen, welche Form, wenn es die Kirchen nicht gäbe, die Heiligkeit von Divine und von allen anderen Heiligen (ich meine nicht den Weg ihres Heils) angenommen hätte. Wir müssen wissen, daß Divine nicht in der Heiterkeit des Herzens lebt. Sie nimmt, da sie sich ihm nicht entziehen kann, das Leben, das Gott ihr bereitet und das sie zu Ihm führt, auf sich. Gott jedoch ist kein Buch mit Goldschnitt. Vor seinem geheimnisvollen Thron führt sie zu nichts, die plastische Pose, die dem griechischen Auge schmeichelt. Divine verglüht. Ich könnte, ebensowohl wie sie selbst es mir gegenüber tat, ausplaudern, daß die Verachtung, die ich lächelnd oder vor Lachen berstend ertrage, an mir noch nicht abprallt — wird sie es eines Tages? — aus Verachtung der Verachtung, sondern: weil ich nicht lächerlich werden will, weil ich nicht beschmutzt werden will, von nichts und niemand, habe ich mich niedriger als Erde gemacht. Ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich verkünde, ich sei eine alte Hure, kann niemand mich übertrumpfen; ich entmutige die Beleidigung. Man kann mir nicht einmal mehr ins Gesicht spucken. Und Mignon-les-petits-pieds ist wie die anderen; er kann mich nur verachten. Ich habe ganze Nächte über folgendem Spiel zugebracht: Schluchzer in mir erzeugen, sie bis zu den Augen führen, sie dort festhalten und sie nicht hervorbrechen lassen, derart, daß meine Lider am Morgen krank sind —
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wie Stein so hart und schmerzend wie nach einem Sonnenbrand. Aus den Augen hätte der Schluchzer in Tränen verströmen können, aber er bleibt dort, auf meinen Lidern lastend wie der Verurteilte auf der Tür des Verlieses. In diesem Augenblick verstehe ich, daß ich großen Kummer habe. Dann ist die Reihe an einem anderen Schluchzer, aufzusteigen, und dann wieder an einem anderen. Ich schlucke das alles hinunter und spucke es wieder aus in Form von Spaßen. Dann ist mein Lächeln, das, was die anderen meine Großspurigkeit im Unglück nennen, nichts weiter mehr als das stärker als alles übrige werdende Bedürfnis, einen Muskel zu bewegen, um mich von einer Erregung zu befreien. Man kennt ja hinreichend die Tragik eines bestimmten Gefühls, das gezwungen ist, seinen Ausdruck dem entgegengesetzten Gefühl zu entlehnen, um den Häschern zu entgehen. Es verkleidet sich mit dem Flitter seines Rivalen. Gewiß, eine große irdische Liebe würde dieses Unglück zerstören, doch Mignon ist noch nicht der Erwählte. Später erst wird ein Soldat kommen — denn ich möchte, daß Divine von Zeit zu Zeit ein wenig Ruhe findet in der großen Katastrophe ihres Lebens. Mignon ist nur ein Mogler („süßer Mogler“ nennt ihn Divine), und er muß es bleiben, um meiner Erzählung willen. Denn nur um diesen Preis kann sie mir gefallen. Ich sage von ihm wie von allen meinen zufälligen Geliebten, in deren Armen ich mich auflöse: „Möge er aus Gleichgültigkeit geknetet sein, möge er versteinert sein in blinder Gleichgültigkeit.“ Divine wird diesen Satz behalten, um ihn auf Notre-Dame-desFleurs anzuwenden. Divine lacht vor Verzweiflung. Gabriel selbst wird erzählen, ein Offizier, von dem er geliebt wurde, habe ihn bestraft — weil er nur so seine Liebe zeigen konnte.
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Hier hält Notre-Dame-des-Fleurs seinen feierlichen Einzug durch die Tür des Verbrechens, eine Tapetentür, die auf eine schwarze, aber prunkvolle Treppe hinausführt. Notre-Dame steigt die Treppe hinauf, wie sie schon viele Mörder hinaufgestiegen sind, auf die gleiche Weise. Er ist sechzehn Jahre alt, wenn er am Treppenabsatz ankommt. Er klopft an die Tür, dann wartet er. Sein Herz schlägt, denn er ist entschlossen. Er weiß, daß sich sein Schicksal erfüllt; und wenn er weiß (Notre-Dame weiß es oder scheint es besser zu wissen als irgendein anderer), daß sich sein Schicksal in jedem Augenblick erfüllt, so hat er das reine, mystische Gefühl, daß dieser Mord, der Taufe des Blutes zufolge, aus ihm Notre-Dame-des-Fleurs machen wird. Er ist aufgeregt vor oder hinter dieser Tür, als ob er wie ein Verlobter in weißen Handschuhen... Hinter dem Holz fragt eine Stimme: „Was gibt es?“ „Ich bin’s“, murmelt der Jüngling. Vertrauensvoll öffnet sich die Tür und schließt sich hinter ihm. Töten ist leicht; das Herz befindet sich links, der bewaffneten Hand des Mörders genau gegenüber, und der Hals fügt sich so ausgezeichnet in die zwei geschlossenen Hände. Der Leichnam des Greises, des einen der tausend Greise, deren Los es ist, so zu sterben, liegt hingestreckt auf dem blauen Teppich. Notre-Dame hat ihn getötet. Mörder. Er sagt das Wort nicht zu sich selbst, sondern ich höre vielmehr, mit ihm gemeinsam, ein Glockenspiel in seinem Kopf klingen, das aus lauter Maiglöckchen hervorzukommen scheint, aus den Glöckchen aus Porzellan, aus Glas, aus Wasser und aus Luft. Sein Kopf ist ein singendes Gehölz. Er selbst ist eine mit bunten Bändern geschmückte Hochzeitsgesellschaft, die einen Aprilhohlweg hinunterzieht, Orangenblüten auf dem Schwarz der Röcke — die Geige allem voran. Er glaubt zu hüpfen, der Jüngling, von blühendem Grund zu blühendem Grund, bis hin zu der Matratze, in die der Alte seine Pinke einzunähen pflegte. Er dreht sie um und um, schlitzt ihr den Bauch auf, zerrt die Wolle heraus, aber er findet nichts, denn nichts
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ist so schwierig, wie das Geld zu entdecken nach einem eigens seinetwegen begangenen Mord. „Wo hat das Aas bloß die Kohlen verstaut“, sagt er ganz laut. Diese Worte sind nicht artikuliert, sondern sie werden, da sie nur gefühlt sind, zu einem Haufen vermengt aus der Kehle ausgespuckt. Ein Röcheln. Er geht von einem Möbelstück zum nächsten. Er verliert die Nerven. Die Fingernägel bleiben an den Rissen im Holz hängen. Er zerrt die Bezüge herunter. Er will seine Kaltblütigkeit zurückgewinnen, hält ein, um zu verschnaufen, und jetzt (in der Stille), mitten unter den Dingen, die plötzlich jeden Sinn verloren haben, seit ihr Benutzer, den sie gewohnt sind, nicht mehr ist — jetzt fühlt er sich plötzlich in einer monströsen Welt, die aus der Seele der Möbel, der Dinge hervorgegangen ist: Panik ergreift ihn. Er bläht sich auf wie die Haut eines Rinderdarms, er wird riesenhaft, fähig, die Welt zu verschlingen und sich selbst mit ihr — dann sackt er in sich zusammen. Er will sich retten. So langsam wie möglich. Er denkt nicht mehr an den Leib des Ermordeten noch an das verlorene Geld, noch an die verlorene Zeit, noch an die verlorene Tat. Die Polizei muß sich hier verkrochen haben. Schnell fort. Mit dem Ellbogen stößt er an eine Vase, die auf einer Kommode steht. Die Vase fällt, und zwanzigtausend Franken breiten sich graziös zu seinen Füßen aus. Er öffnet die Tür ohne Furcht, geht auf den Treppenabsatz hinaus, neigt sich und betrachtet auf dem Grund dieses schweigenden Brunnens, der zwischen die Wohnungen eingelassen ist, die glitzernde, facettierte Kristallkugel. Dann steigt er hinunter auf dem nächtlichen Teppich und in der nächtlichen Luft, durch das Schweigen der ewigen Räume von Stufe zu Stufe in die Ewigkeit. Die Straße. Das Leben ist nicht mehr ekelhaft. Leichtfüßig eilt er zu einem kleinen Hotel, das zufällig auch ein Stundenhotel ist, und mietet ein Zimmer. Dort kommt, um ihn einzuschläfern, nach und nach die wahre Nacht, die Nacht der Sterne, und läßt sein Herz vor Abscheu höher schlagen: es handelt sich um jenen körperlichen Ekel
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der ersten Stunde, den der Mörder für den Ermordeten empfindet und von dem mir viele Männer erzählt haben. Er verfolgt Euch, nicht wahr? Der Tote ist kräftig. Euer Toter ist in Euch: mit Eurem Blut vermischt, er rinnt in Euren Adern, schwitzt aus Euren Poren, und Euer Herz lebt von ihm, so wie aus den Leichen die Friedhofsblumen sprießen . . . Er dringt Euch aus den Augen, den Ohren, dem Mund. Notre-Dame-des-Fleurs hat das Bedürfnis, seinen Kadaver zu erbrechen. Die Nacht, die sich herniedergesenkt hat, ist es nicht, die das Entsetzen bringt. Das Zimmer riecht nach Hure. Es stinkt und duftet gut. „Um dem Entsetzen zu entgehen“, haben wir gesagt, „ergib Dich ihm mit Haut und Haar.“ Von selbst sucht die Hand des Mörders sein steifes Glied. Er streichelt es über dem Laken, sanft zuerst, mit der Leichtigkeit eines flatternden Vogels, dann drückt er es und umschlingt es heftig: schließlich entlädt er sich in den zahnlosen Mund des erdrosselten Greises. Er schläft ein. Einen Mörder lieben. Ein Verbrechen begehen wollen im Einverständnis mit dem jungen Mestizen auf dem Schutzumschlag des zerrissenen Buches. Ich will den Mord besingen, da ich die Mörder liebe. Ihn besingen ohne Schminke. Ohne etwa zu behaupten, ich wolle mit seiner Hilfe meine Erlösung erreichen, obwohl ich mich nach ihr sehne — möchte ich töten. Ich sprach weiter oben davon: lieber als einen Alten möchte ich einen schönen, blonden Jungen töten; ich würde dann — mit ihm vereint schon durch das sprachliche Band, das Mörder und Ermordeten aneinander fesselt (der eine ist nur durch den anderen) — in Tagen und Nächten verzweifelten Trübsinns von einem gefälligen Gespenst heimgesucht, dessen Geisterschloß ich wäre. Möge mir jedoch der Schrecken erspart bleiben, mit einem sechzigjährigen Toten oder mit einer Frau, jung oder alt, niederzukommen. Ich habe schon genug davon, heimlich meine Mordbegierden durch die Bewunderung zu befriedigen, die ich der kaiserlichen Pracht der
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Sonnenuntergänge zolle. Genug haben sich meine Augen in ihnen gebadet. Kommen wir zu meinen Händen. Aber töten, Dich töten, Jean. Sollte es sich nicht lohnen, zu erfahren, wie ich mich betragen würde, wenn Du Dich sterben sähest durch mich? Mehr als an andere denke ich an Pilorge. Sein aus dem Detektiv ausgeschnittenes Gesicht verdunkelt die Mauer mit seinen eisigen Strahlen, die sein mexikanischer Tod hervorbringt, sein Todeswille, seine tote Jugend, sein Tod. Er überzieht die Mauer mit einem Glanz, der sich nur durch die Gegenüberstellung jener beiden Begriffe schildern läßt, die einander auslöschen: Licht und Dunkelheit. Die Nacht tritt aus seinen Augen heraus und verteilt sich über sein Gesicht, das den Pinien ähnlich wird, an Gewitterabenden — über sein Gesicht, ähnlich den Gärten, in denen ich die Nacht verbrachte: leichte Bäume, die Bresche einer Mauer und Gitter, Gitter, die mich in Aufregung versetzen, girlandenverzierte Gitter. Und leichte Bäume. O Pilorge! Dein Gesicht, wie ein nächtlicher Garten allein in den Welten, in denen sich die Sonnen drehen! Und auf dem Gesicht diese ungreifbare Traurigkeit wie die leichten Bäume im Garten. Dein Gesicht ist düster, als habe sich im hellen Sonnenlicht ein Schatten auf Deine Seele gelegt. Du hast wohl eine leichte Kühle davon verspürt; Dein Körper erschauerte von einem Schauer so fein wie das Fallen — um ihn her — jenes Tüllschleiers, der Dein Gesicht verschleiert mit tausend mikroskopischen Fältchen, fein, leicht und verkreuzt, mehr gemalt als graviert. Schon nötigt mir der Mörder Achtung ab. Nicht nur, weil er eine seltene Erfahrung gemacht hat, sondern weil er sich plötzlich zu einem Gott erhebt, auf einen Altar, der vielleicht auch nur aus wankenden Planken besteht oder azurener Luft. Ich spreche wohlgemerkt vom bewußten, ja zynischen Mörder, der es auf sich zu nehmen wagt, den Tod zu erteilen, ohne sich auf irgendeine Macht oder einen Befehl zu berufen; denn der tötende Soldat übernimmt keine Verantwortung, und auch nicht der Narr, der Eifersüchtige, noch der, der weiß, daß ihm verziehen wird; wohl aber der, den
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man den „Ausgestoßenen“ nennt, der, mit sich selbst als einzigem Gegenüber, noch zögert, sich am Grund eines Brunnens zu betrachten, in den er sich mit geschlossenen Füßen, in einem Sprung von lachhafter Kühnheit wie ein neugieriger Goldschürfer hineingestürzt hat. Ein verlorener Mann. Pilorge, mein Ganz-Kleiner, mein Freund, mein süßer Trank! Dein hübscher, heuchlerischer Kopf ist davongehüpft. Zwanzig Jahre. Du warst zwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt. Und ich...! Ich bin neidisch auf Deinen Ruhm. Ebensowohl wie mit dem Mexikaner, hättest Du es mit mir, wie sie im Gefängnis sagen: treiben können. Der Gang zur Guillotine wäre mir leicht geworden, da andere vor mir diesen Gang angetreten haben, vor allem Pilorge, Weidmann, Ange Soleil und Soclay. Ich bin übrigens nicht sicher, daß er mir erspart bleiben wird, denn ich habe mich in eine große Zahl komfortabler Leben hineingeträumt; mein Geist, bedacht darauf, mir zu Gefallen zu sein, hat mir ruhmreiche oder bezaubernde Abenteuer nach Maß gearbeitet. Das betrüblichste ist wohl — ich denke manchmal daran —, daß die meisten dieser Schöpfungen vollkommen vergessen sind, obwohl sie meine ganze vergangene Geistigkeit bilden. Ich weiß nicht einmal, daß es sie gegeben hat, und wenn es mir jetzt unterläuft, eines dieser Schicksale zu träumen, so erlebe ich es neu, ich gehe an Bord meines Gedankens, ich woge dahin, ohne mich daran zu erinnern, daß ich mich bereits vor zehn Jahren auf ihm einschiffte und daß er entkräftet im Meer des Vergessens verscholl. Welche Ungeheuer leben in meinen Tiefen ihr Leben weiter? Ihre Ausdünstungen, ihre Exkremente, ihr Verfall lassen vielleicht an meiner Oberfläche etwas an Schrecken oder Schönheit aufblühen, das ich als von ihnen erweckt entdecke. Ich erkenne ihren Einfluß, den Zauber ihrer feuilletonistischen Dramen. Mein Geist fährt fort, schöne Schimären zu erfinden, aber bis heute hat keine von ihnen Gestalt angenommen. Niemals. Kein einziges Mal. Jetzt brauche ich nur eine Träumerei zu beginnen, und meine Kehle trocknet aus, die Verzweiflung verbrennt meine Augen, die Scham läßt
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mich den Kopf senken, meine Träumerei zerbricht. Ich weiß: noch ein Glück, das möglich wäre, entzieht sich meinem Zugriff, entzieht sich, weil ich es geträumt habe. Die Niedergeschlagenheit, die darauf folgt, macht mich dem Schiffbrüchigen ähnlich, der sich beim Anblick eines Segels gerettet glaubt, bis er sich plötzlich erinnert, daß das Glas seiner Brille einen Fehler hat, einen Nebel: jenes Segel, das er erblickte. So bleibt aber erreichbar, was ich niemals geträumt habe, und da ich niemals vom Unglück träume, so bleibt mir kaum anderes als Unglück zu leben übrig. Tödliches Unglück, denn ich habe herrliche Tode im Kriege als Held geträumt, andere auch, ruhmbedeckte, niemals aber den Tod auf dem Schafott. Er also bleibt mir. Und was brauche ich, um ihn zu gewinnen? Fast nichts mehr. Notre-Dame-des-Fleurs hatte nichts gemeinsam mit jenen Mördern, von denen ich sprach. Er war — so kann man sagen — der unschuldige Mörder. Ich kehre zu Pilorge zurück, dessen Gesicht und Tod mich verfolgen. Mit zwanzig Jahren, um ihm ein paar elende Kröten zu stehlen, tötete er Escudero, seinen Geliebten. Als er vor dem Gericht stand, spottete er darüber; vom Henker geweckt, machte er sich über ihn lustig; geweckt von dem Geist des Mexikaners, auf dem warmes, duftendes Blut klebte, lachte er ihm ins Gesicht; vom Schatten seiner Mutter geweckt, hätte er ihn zärtlich verhöhnt. So ward Notre-Dame aus meiner Liebe zu Pilorge geboren, mit einem Lächeln im Herzen und auf seinen weißen, bläulichen Zähnen, das ihm die Furcht, die seine Augäpfel weiten wird, nicht entreißen kann. Mignon, müßig, begegnete eines Tages auf der Straße einer Frau von etwa vierzig Jahren, die plötzlich liebestoll nach ihm wurde. Mein Haß auf die Frauen, die sich in meine Liebhaber verlieben, läßt mich bemerken, daß diese auf ihr feistes, rotes Gesicht weißes Reispuder auflegte. Und diese leichte Wolke machte sie einem familiären, transparenten Lampenschirm aus rosa Musselin ähnlich. Von einem Lampenschirm besaß sie den geleckten, familienhaften und Reichtum ausstrahlenden Zauber.
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Mignon rauchte, als er vorüberging, und die Seele der verhärteten Frau hatte sich gerade um einen Spalt hingebend geöffnet, worin sich der von scheinheiligen Dingen ausgeworfene Angelhaken verfing. Ihr braucht bloß eine Öffnung schlecht verschlossen zu halten oder einen Rockschoß Eurer Sanftmut flattern zu lassen, und schon ist es um Euch geschehen. Anstatt seine Zigarette zwischen dem ersten Glied des Zeigefingers und dem Mittelfinger zu halten, klemmte Mignon sie zwischen Daumen und Zeigefinger und deckte sie mit den anderen Fingern der Hand zu, so wie die Männer, und auch schon die kleinen Jungen, am Fuß eines Baumes oder im Angesicht der Nacht gewöhnlich ihren Schwanz in der Hand halten, um zu pissen. Diese Frau (wenn er von ihr zu Divine sprach, sagte er „die Nutte“ und Divine sagte „dieses Weib“) wußte nichts von der Kraft dieser Gebärde, ja, angefangen von bestimmten Einzelheiten, kannte sie nicht einmal die Gebärde selbst; deren Zauber wirkte jedoch dadurch auf sie nur um so rascher. Sie erfaßte, ohne genau zu wissen warum, daß Mignon ein Bandit war; denn für sie ist ein Bandit vor allem ein Mann, der spannt. Sie wurde verrückt nach ihm. Aber sie kam zu spät. Ihre runden Formen und ihre weiche Fraulichkeit wirkten nicht mehr auf Mignon, der jetzt an die harte Berührung einer steifen Rute gewöhnt war. An der Seite der Frau blieb er unbeweglich. Der Abgrund erschreckte ihn. Dennoch unternahm er einige Anstrengungen, um seinen Abscheu zu überwinden und diese Frau an ihn zu binden, damit er von ihr Geld bekäme. Er zeigte sich galant und beflissen. Es kam jedoch der Tag, wo er es nicht mehr aushielt und gestand, er liebe einen — ein wenig früher hätte er „Jungen“ gesagt, doch jetzt mußte er sagen: einen Mann, denn Divine ist ein Mann geworden — einen Mann also. Die Dame war entrüstet und gebrauchte das Wort „Strichjunge“. Mignon ohrfeigte sie und ging. Aber er wollte nicht auf sein Dessert verzichten (Divine war sein Beefsteak), so besann er sich also und erwartete sie eines Tages wieder an der Gare St. Lazare, wo sie täglich, von Versailles kommend, auszusteigen pflegte.
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Die Gare St. Lazare ist der Bahnhof der Filmstars. Notre-Dame-des-Fleurs, noch und schon in seinem leichten, flatternden, jungen, verrückt-schlanken und, um es genau zu sagen, gespensterhaft grauen Flanellanzug, den er am Tage des Verbrechens trug und am Tage seines Todes tragen wird, war gekommen, um eine Fahrkarte nach Le Havre zu kaufen. Gerade als er auf den Bahnsteig hinaustrat, ließ er seine mit zwanzig Scheinen gefüllte Brieftasche fallen. Er fühlte, wie er sie verlor, und blickte hinter sich, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Mignon sie aufhob. Mignon untersuchte sie mit der Ruhe des Schicksals, denn wenn er auch ein echter Einbrecher war, so verstand er es doch, sich in originellen Haltungen wohlzufühlen und einen Gangster von Chicago und Marseiile zu kopieren. Mit dieser Bemerkung, die uns auch gestattet, die Bedeutung des Traumes für den Gauner vorauszusehen, will ich Euch vor allem zu verstehen geben, daß ich mich mit Betrügern von wenig ausgeprägter Persönlichkeit, ohne Heldentum, umgebe, denen ich bei Gelegenheit ein wenig Adel verleihe. Meine Geliebten sind das, was Ihr Gauner von der schlimmsten Sorte nennen würdet. Mignon zählte die Scheine. Er nahm für sich zehn heraus, die er in seine Tasche steckte, und reichte das Übrige dem verdutzten NotreDame zurück. Sie wurden Freunde. Ich lasse Euch volle Freiheit, den Dialog selbst zu erfinden. Wählt aus, was Euch bezaubern kann. Sagt, wenn es Euch gefällt, sie hören „die Stimme des Blutes“, oder sie „lieben sich auf den ersten Blick“ oder Mignon habe an einem unabweisbaren und dem gemeinen Auge unsichtbaren Zeichen den Dieb erkannt... Denkt Euch die verrücktesten Unwahrscheinlichkeiten aus. Ihr geheimes Wesen soll entzückt sein darüber, daß sie sich in der Gaunersprache begegnen. Laßt sie Freunde werden durch einen Schlag auf die Schulter, durch eine plötzliche Umarmung oder durch einen brüderlichen Kuß. Macht, was Euch gefällt. Mignon war glücklich, dieses Geld zu finden; dennoch, mit einem äußersten Mangel an Einfühlungsvermögen fiel ihm nichts besseres ein, als zwischen den Zähnen zu sagen: „Kein Arschloch, der Junge.“
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Notre-Dame war wütend. Aber was tun? Er war hinreichend vertraut mit den Gebräudien von Pigalle-Blanche, um zu wissen, daß es besser ist, sich nicht zu sehr vor einem echten Louis aufzuspielen. Mignon trug deutlich sichtbar die äußeren Kennzeichen des Louis. „Ich muß mich klein machen“, fühlte Notre-Dame innerlich. Er verlor also seine Brieftasche, die Mignon bemerkte. Hier die Fortsetzung: Mignon führte Notre-Dame-des-Fleurs zu einem Schneider, einem Schuster, einem Hutmacher. Er bestellte für sie beide jene Kleinigkeiten, die einen Mann stark machen und ihm großen Zauber verleihen: einen Wildledergürtel, einen weichen Hut, eine schottische Krawatte usw.; dann stiegen sie in einem Hotel der Avenue Wagram ab! Wagram, die von den Boxern gewonnene Schlacht! Sie lebten vom Nichtstun. Sie gingen die Champs-Elysees auf und ab und gestatteten ihrem innigen Beisammensein, sich gegenseitig zu verwechseln. Sie starrten auf die Beine der Frauen; da es ihnen an Geist fehlte, waren ihre Bemerkungen ohne Feinheit. Ihre Gefühlsseligkeit war von keinerlei Spitze zerrissen, und so glitten sie ganz natürlich auf einen schlammigen Grund von Poesie. Sie waren wie Gassenjungen, denen das Schicksal Gold schenkt, und ich finde es nicht weniger unterhaltend, ihnen welches anzubieten, als einen amerikanischen Gauner anzuhören, der — o Wunder — das Wort Dollar im Mund führt und englisch spricht. Sie kehrten müde ins Hotel zurück und blieben lange in den großen Ledersesseln der Halle sitzen. Schon dort entwickelte die Intimität ihre Alchimie. Eine feierliche Marmortreppe führte in Gänge, die mit roten Teppichen ausgelegt waren. Auf ihnen bewegte man sich lautlos. Als Mignon bei einem Hochamt in der Madeleine die Priester über Teppiche schreiten sah, nachdem die Orgel verstummt war, fühlte er, wie ihn das Mysterium des Tauben und des Blinden zu beunruhigen begann; den Gang über die Teppiche findet er im Palasthotel wieder, und während er langsam über das Moos geht, denkt er in seiner Gaunersprache: „Vielleicht stimmt da was nicht.“ Denn am Ende der Gänge in den großen Hotels, wo Mahagoni und Marmor Kerzen entzünden
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und ausblasen, liest man stille Messen. Eine Mischung von Totenmesse und Traugottesdienst läuft dort insgeheim von einem Ende des Jahres zum anderen ab. Man wechselt schattenhaft den Platz. Soll das heißen, daß meine ekstatische Einbrecherseele keine Gelegenheit ausläßt, um in Verzückung zu geraten? Zu fühlen, daß man auf der Spitze der Füße dahinfliegt, während sich die Sohle der Menschen flach auf den Boden legt! Selbst hier und in Fresnes schenken mir die langen, duftenden Gänge, die sich in den Schwanz beißen, trotz der präzisen, mathematischen Härte der Wand die Seele der Hotelratte wieder, die ich sein möchte. Die vornehmen Gäste gingen an den beiden vorüber. Sie entledigten sich ihrer Pelze, Handschuhe und Hüte, tranken Porto und rauchten Craven und Havanna. Ein Groom schwirrte umher. Man fühlte sich wie eine Person in einem Film. Während sie so in diesem Traum ihre Gebärden abwickelten, brüteten Mignon und Notre-Dame-desFleurs insgeheim eine brüderliche Freundschaft aus. Wie hart es für mich ist, sie nicht besser zu paaren, es nicht geschehen zu lassen, daß Mignon, am Glück verzweifelnd, mit einem Ruck seiner Lenden — jenem Felsen der Unbewußtheit und Unschuld — seinen Schwanz, schwer und glatt, so glatt und warm wie eine Säule in der Sonne, tief in den o-förmig geöffneten Mund des jünglinghaften, vor Dankbarkeit zu Staub zerfallenden Mörders treibt! Auch das könnte sein, wird aber nicht sein. Mignon und NotreDame, Euer Schicksal, wie streng ich es auch immer vorzeichnen mag, wird nicht aufhören — in einer sehr gedämpften Weise — aufgewühlt zu werden von dem, was noch hätte sein können und was nicht sein wird, dank meiner. Eines Tages — auf ganz natürliche Weise — gestand Notre-Dame seinen Mord. Mignon gestand Divine. Notre-Dame bekannte, daß man ihn Notre-Dame-des-Fleurs nannte. Eine seltene Geschmeidigkeit war ihnen beiden vonnöten, um sich unbehindert aus den Fallen zu ziehen, die man ihrer gegenseitigen Achtung gestellt hatte. Bei dieser Gelegenheit war Mignon von bezauberndem Zartgefühl.
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Notre-Dame-des-Fleurs lag auf einem Divan. Mignon, zu seinen Füßen sitzend, betrachtete ihn, wie er beichtete. Es war geschehen, was den Mord anbetrifft. Mignon war der Schauplatz eines tauben Dramas ohne Ausbruch. Es rangen miteinander die Angst vor der Mitwisserschaft, die Freundschaft für das Kind und die Neigung, der Trieb, zu denunzieren. Es blieb noch das Geständnis des Gaunernamens übrig. Er kam schließlich, nach und nach an den Punkt. Während der geheimnisvolle Name über die Lippen kam, war es beängstigend, zu sehen, wie die große Schönheit des Mörders sich wand, wie die unbeweglichen, scheußlichen Locken der Marmorschlangen seines entschlafenen Gesichts erregt wurden und in Bewegung gerieten, und Mignon begriff die Schwere eines solchen Geständnisses. Er nahm die herabhängende Hand des Kindes in die seinen. „Verstehst Du, das sind nette Jungens, die mich so genannt haben...“ Mignon hielt die Hand fest. Mit seinen Augen zog er das Geständnis zu sich heran. „Es kommt, es kommt.“ Während des ganzen Vorganges verließen seine Augen nicht die Augen seines Freundes. Von Anfang bis zu Ende lächelte er ein regloses, fest auf seinem Mund geheftetes Lächeln; denn er fühlte, die geringste Erregung seinerseits, das kleinste Zeichen, der leiseste Atemzug, würden zerstören... Er hätte Notre-Dame-des-Fleurs zerbrochen. Als sich der Name im Zimmer befand, geschah es, daß sich der Mörder verwirrt öffnete und wie einen Glorienschein aus seinen erbärmlichen Stücken einen Fronleichnamsaltar emportauchen ließ, auf dem, in Rosen gebettet, eine Frau aus Licht und Fleisch lag. Der Altar wogte auf gemeinem Schlamm, in den er, der Mörder, versank: Mignon zog ihn zu sich heran und focht, um ihn fester zu umarmen, einen kurzen Kampf mit ihm. Es würde mir Freude machen, sie beide in vielen anderen Stellungen zu träumen, wenn nur, sobald ich die Augen schließe, mein Traum noch meinem Willen gehorchte; doch tagsüber wird er gestört von der Unruhe über mei-
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nen Prozeß, und abends entkleidet das Vorspiel des Schlafes meine Umgebung, zerstört die Dinge und Anekdoten, läßt mich am Rande des Schlafes so allein, wie ich es eines abends inmitten einer gewittrigen, leeren Heide war. Mignon, Divine und Notre-Dame fliehen mich im gestreckten Galopp und entführen mit sich den Trost ihrer einzigen Existenz, die nur in mir vorhanden ist; denn sie begnügen sich nicht etwa damit, zu fliehen — sie zerstören sich, lösen sich auf in einer entsetzlichen Gehaltlosigkeit meiner Träume oder besser, meines Schlafs; sie werden mein Schlaf; sie fließen aus in die Materie meines Schlafes und formen ihn. Ich rufe schweigend um Hilfe; mit den beiden Armen meiner Seele — weicher als Algen — gebe ich Zeichen, natürlich nicht an irgendeinen fest an die Erde gefesselten Freund, sondern an eine Art Kristallisation der Zärtlichkeit, deren scheinbare Härte mich an ihre Ewigkeit glauben läßt. Ich rufe: „Haltet mich! Bindet mich fest!“ Ich verschwinde in einem grausamen Traum, der die Nacht der Zellen durchquert, die Nacht der Dämonen, der Verdammten, der Schlünde, der die Münder der Wärter durchquert, die Brüste der Richter, und der mich schließlich ganz, ganz langsam von einem riesigen Krokodil verschlingen läßt, das aus den Ausdünstungen der verpesteten Gefängnisluft gebildet wird. Das ist die Furcht vor dem Urteil. So lasten auf meinen armen Schultern das grausame Gewicht des gerechten Gerichts und das Gewicht meines Schicksals. Wieviel Polizisten, wieviel Inspektoren, denen, wie es so schön heißt, Tag und Nacht die Arbeit über dem Kopf zusammenschlägt, haben sich schon erbittert um die Lösung des Rätsels, das ich ihnen aufgegeben habe, bemüht? Und ich glaubte die Angelegenheit längst zu den Akten gelegt, während sie immer noch suchten, sich mit mir ohne mein Wissen befaßten, die Sache Genet bearbeiteten und sich in der Finsternis meiner annahmen, auf der phosphoreszierenden Spur der Gebärden Genets. Es war mir gut bekommen, die egoistische Masturbation zur Würde
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eines Kults zu erheben! Ich brauche nur mit der Gebärde zu beginnen, und die Wahrheit wird in einer scheußlichen und übernatürlichen Weise transponiert. Alles in mir wird Anbetung. Die äußerliche Vision der Requisiten meiner Gier entrückt mich weit von der Welt. Lust des Einsamen, Handlung der Einsamkeit, in der Du Dir selbst genug wirst im innigen Besitz der anderen, die Deiner Lust dienen, ohne es zu ahnen, — Lust, die selbst im Zustand des Wachens noch Deinen geringsten Gebärden aller Welt gegenüber jene äußerste Gleichgültigkeit und auch jenes linkische Gebaren verleiht, demzufolge Du dich fühlst, als seist Du mit der Stirn gegen eine Granitplatte gestoßen, wenn Du an diesem Tag einen Knaben zu Dir ins Bett gelegt hast. Ich habe eine lange Zeit vor mir, meine Finger fliegen zu machen! Was sind schon zehn Jährchen! Meine gute, meine zärtliche Freundin, meine Zelle! Schlupfwinkel meines einzigen Ich, wie ich Dich liebe! Müßte ich in völliger Freiheit eine andere Stadt bewohnen, so ginge ich zuerst ins Gefängnis, um mich zu den Meinen zu bekennen, zu den Angehörigen meiner Rasse, auch, um Dich wiederzufinden. Gestern hat mich der Untersuchungsrichter rufen lassen. Mir war übel vom Geholper und Geruch des Zellenwagens, der mich von der Same zum Justizpalast brachte; ich erschien vor dem Richter kreideweiß. Gleich beim Eintritt in sein Büro wurde ich gepackt von der Trübsal, die — trotz der staubigen und geheimen Blütenpracht der Verbrecherakten — jene zerborstene Geige um sich verbreitete, die auch Divine sah. Und durch die Vermittlung jenes Christus wurde ich dem Erbarmen geöffnet. Durch ihn und durch jenen Traum, in dem mein Opfer erschien, um mir zu verzeihen. Der Richter lächelte, in der Tat, voller Güte. Ich erkannte das Lächeln meines Opfers in meinem Traume wieder und erinnerte mich, oder verstand erneut, daß mein Opfer selbst Geschworenenrichter sein sollte (und ich verwechselte ihn vielleicht absichtlich mit dem Untersuchungsrichter) und Untersuchungsrichter: ich wußte wohl, daß er mir verziehen hatte, und ich war ruhig,
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sicher, nicht von jener Sicherheit, die durch die Logik erlangt wird, sondern im Wunsche nach Frieden, nach Rückkehr in das Leben der Menschen (es war der gleiche tiefste Wunsch, der Mignon veranlaßte, der Polizei zu dienen, um seinen Platz unter den Menschen wiederzufinden und gleichzeitig aus dem Bereich des Menschlichen herauszutreten durch die gewollte Niedertracht); ich war gewiß, daß alles vergessen war, eingeschläfert von der Verzeihung. Und darauf vertrauend, habe ich gestanden. Der Kanzleidiener hat das Geständnis protokolliert und ich habe unterschrieben. Mein Anwalt war fassungslos, niedergeschlagen. Was habe ich denn gemacht? Wer hat mich betrogen? Der Himmel? Der Himmel, Wohnstatt Gottes und Seines Gerichts. Ich habe den Weg zurückgemacht, durch die unterirdischen Gänge des Justizpalastes, um in meine kleine, schwarze und eisige Zelle, in die Mausefalle zurückzukehren. Ariadne im Labyrinth. Die lebendigste Welt, die Menschen mit dem zartesten Fleisch sind aus Marmor. — Ich säe auf meinem Weg Verwüstung. Mit toten Augen durchquere ich Städte und versteinerte Völker. Aber da ist kein Ausgang. Unmöglich, das Geständnis zurückzunehmen, auszulöschen, am Faden der Zeit zu ziehen, der es gewoben hat, damit er sich abspule und auflöse. Fliehen? Was für ein Gedanke! Das Labyrinth ist gewundener als die Überlegungen der Richter. Der Wärter, der mich führt? Ein Wärter aus massiver Bronze, an den ich am Handgelenk festgekettet bin. In der Phantasie verführe ich ihn, ich knie vor ihm nieder, lege zuerst die Stirn auf seinen Schenkel, öffne andächtig seine blaue Hose... Welcher Wahnsinn! Ich bin erledigt. Warum habe ich nicht, wie ich es wollte, bei einem Apotheker eine Kapsel Strychnin gestohlen, die ich bei mir behalten und bei der Durchsuchung versteckt hätte? Eines Tages, zu müde des Landes der Schimären — dem einzigen, das wert ist, bewohnt zu werden, „denn dergestalt ist das Nichts der menschlichen Dinge, daß außer dem Wesen, welches aus sich selbst existiert, nur das schön ist, was nicht
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ist“ (Pope) —, hätte ich mich, ohne die Tat eitel auszuschmücken, vergiftet. Denn, meine lieben Freunde, ich bin reif für die Strafkolonie. In gewissen Augenblicken versteht man plötzlich ganz den bisher unbemerkten Sinn bestimmter Ausdrücke. Man sieht sie und murmelt sie. Zum Beispiel: „Ich fühlte, wie mir der Boden unter meinen Füßen entglitt.“ Das ist ein Satz, den ich tausendmal gelesen und gesprochen habe, ohne ihn zu leben. Aber es genügte, daß ich beim Erwachen, als mich die Erinnerung an meine Festnahme heimsuchte (sie war geblieben aus dem Alptraum dieser Nacht), zehn Sekunden über ihm verweilte — es genügte, und das, was diesen Ausdruck aus meinem Traum hat entstehen lasseh, hüllt mich ein, oder vielmehr, bringt jene innere, organhafte Leere hervor, die auch aus den Abgründen aufsteigt, in die man nachts mit Gewißheit hinabstürzt. In der vergangenen Nacht bin ich auf diese Weise gestürzt. Kein ausgestreckter, mitleidiger Arm möchte nach mir greifen. Ein paar Felsen könnten mir vielleicht eine steinerne Hand entgegenstrecken, aber gerade weit genug entfernt, daß ich sie nicht packen kann. Ich fiel. Und um den schließlichen Aufprall zu verzögern — denn mich fallen zu fühlen rief jene Trunkenheit in mir hervor, welche die dem Glück im Sturz benachbarte absolute Verzweiflung ist, und auch jene Trunkenheit, die sich vor dem Erwachen fürchtet, die zu den Dingen zurückkehrt, die s i n d , — um den Aufprall auf dem Grunde des Sdilundes zu verzögern und das Erwachen im Gefängnis mit meiner Unsicherheit vor dem Selbstmord oder dem Bagno, um das hinauszuschieben, türmte ich Katastrophen auf und rief Zwischenfälle hervor; den senkrechten Weg des Abgrunds entlang, beschwor ich entsetzliche Hindernisse für meine Ankunft herauf. Am nächsten Morgen erfand ich unter dem Einfluß dieses schlecht zerstreuten Traumes Einzelheiten über Einzelheiten, die einen so belastend wie die anderen, alles in der verworrenen Hoffnung, sie könnten den Tag der Einlösung hinausschieben. Ich sank immer tiefer ein. Dennoch, in meine Zelle 426 zurückgekehrt, verzaubert mich die Gegenwart meines Werkes. Bei den ersten Schritten, die ich, die
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Hände auf den schlingernden Hüften, mache, fühle ich mich durchbohrt von Mignon, der hinter mir geht. Und so bin ich denn wieder mitten in dem tröstlichen Komfort des Hotelpalastes, den es zu verlassen gilt, denn zwanzigtausend Franken reichen nicht ewig. Während seines Aufenthaltes im Hotel war Mignon nicht auf den Speicher hinaufgestiegen. Er hatte Divine ohne Nachricht gelassen, und unser Liebling starb vor Unruhe. Er dachte also an die Rückkehr, als Notre-Dame und er kein Geld mehr hatten. Wie falsche Monarchen gekleidet, kehrten sie in den Speicher zurück, wo für den Mörder mit einigen in Autos gestohlenen Decken ein Lager auf dem Teppich bereitet wurde. Dort schlief er, ganz in der Nähe von Divine und Mignon. Als er sie kommen sah, glaubte sich Divine vergessen und ersetzt. Keineswegs. Wir werden später die Art von Inzest erkennen, die die beiden verband. Divine arbeitete für zwei Männer, von denen einer der ihre war. Bis jetzt hatte sie nur Männer geliebt, die stärker waren als sie und um ein weniges, um ein Haar, älter und muskulöser. Da kam jedoch Notre-Dame-des-Fleurs, der physisch und geistig die Gestalt einer Blume hatte: und sie verknallte sich in ihn. Etwas Neues, eine Art von Machtgefühl (in pflanzlichem, germinalen Sinn) ging in Divine auf. Sie glaubte sich vermännlicht. Eine närrische Hoffnung machte sie stark, derb und kräftig. Sie fühlte, wie ihre Muskeln wuchsen und wie sie selbst aus einem wie ein Sklave von Michelangelo gehauenen Felsen heraustrat. Ohne einen Muskel zu bewegen, aber sich raffend, kämpfte sie in sich, so wie Laokoon das Ungeheuer packt und wringt. Sodann — kühner geworden — wollte sie mit ihren Armen und Beinen aus Fleisch zu boxen anfangen, aber sie bezog auf dem Boulevard sofort eine Menge Prügel, denn sie beurteilte und legte ihre Bewegungen nicht auf Grund ihres Kampfwertes an, sondern auf Grund einer Ästhetik, die aus ihr einen mehr oder weniger galant gedrechselten Gauner gemacht hätte. Ihre Bewegungen, und insbesondere ein Gürtelgriff oder eine Abwehrhaltung, sollten um jeden Preis, selbst um den Preis des Sieges, aus ihr nicht so sehr den Boxer
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„Divine“ als vielmehr einen bestimmten, bewunderten Boxer, manchmal sogar mehrere herrliche Boxer zur gleichen Zeit machen. Sie suchte nach männlichen Gebärden, die selten die Gebärden der Männer sind. Sie pfiff, steckte die Hände in die Taschen, und diese ganze Spiegelfechterei wurde so ungeschickt ausgeführt, daß sie an einem einzigen Abend vier oder fünf Personen zur gleichen Zeit darzustellen schien. Sie gewann dabei den Reichtum einer vielfältigen Persönlichkeit. Sie lief von Mädchen zu Jungen, und der Übergang vom einen zum anderen geschah — weil der Vorgang neu war — stolpernd. Sie lief hinter dem einbeinigen Jungen her. Ihre Gebärden begannen stets als die von Grande Evaporée, dann aber erinnerte sie sich plötzlich daran, daß sie sich männlich zeigen müsse, um den Mörder zu verführen, und sie führte die Gebärde possenhaft zu Ende, und diese Doppelgestalt umkleidete sie wunderlich, machte aus ihr einen bürgerlich aufgemachten, scheuen Clown, irgendeine verbitterte Närrin. Um schließlich ihrer Verwandlung aus dem Weibchen in das harte Männchen die Krone aufzusetzen, erfand sie eine Freundschaft von Mann zu Mann, die sie mit einem jener makellosen Zuhälter verbinden sollte, von deren Benehmen nicht gesagt werden könnte, daß es zweideutig sei. Und um ganz sicher zu sein, erfand sie Marchetti. Seinen Körper hatte sie rasch ausgewählt, denn in der geheimen Phantasie des einsamen Mädchens, das sie war, besaß sie für ihre Nächte einen Notvorrat von Schenkeln, Armen, Oberkörpern, Gesichtern, Haaren, Zähnen, Nacken und Knien, und sie verstand es, all dies zusammenzufügen, um daraus einen lebendigen Mann zu bilden, dem sie eine Seele lieh; — es war immer die gleiche, für jedes ihrer Gebilde: die, die sie selbst gerne gehabt hätte. Einmal erfunden, erlebte Marchetti insgeheim einige Abenteuer an ihrer Seite. Dann, eines Nachts, sagte sie ihm, daß sie genug habe von NotreDame-des-Fleurs, und daß sie bereit sei, ihn abzutreten. Die Abmachung wurde mit einem männlichen Handschlag besiegelt. Hier ist der Traum: Marchetti stolziert ins Zimmer, die Hände in den „Unergründlichen“:
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„Tag, Kleiner“, sagte er zu Divine. Er setzt sich; man bespricht den Handel unter Männern. NotreDame kommt. Er drückt die Hand von Marchetti. Marchetti verpflaumt ihn ein bischen wegen seiner Mädchenvisage. Ich (Divine spricht insgeheim zu sich selbst), — ich tue so als sähe ich ihn nicht mehr. Aber ich weiß genau: Notre-Dame hat es mir zu verdanken, daß er sein Eintagsglück mit Marchetti rindet. (Sein Name ist zu schön, einen Vornamen für ihn zu suchen). Ich beschäftige mich drei Minuten lang in den vier Wänden. Ich richte es so ein, daß ich ihnen den Rücken zudrehe. Ich drehe mich um: ich sehe, wie sie sich schnäbeln und Marchetti läßt sich den Hosenschlitz aufknöpfen. Die Liebe beginnt. Divine hatte sich nicht vermännlicht: sie war älter geworden. Ein Jüngling konnte sie jetzt in Erregung versetzen, das gab ihr das Gefühl, alt zu sein, und diese Gewißheit entfaltete sich in ihr wie ein von Fledermausflügeln geformtes Gewebe. Am gleichen Abend, als sie allein auf ihrem Speicher war, entkleidete sie sich; sie sah ihren weißen, unbehaarten, glatten, trockenen und stellenweise knöchernen Körper mit neuen Augen. Sie schämte sich seiner und beeilte sich, die Lampe zu löschen, denn dieser Körper war der des elfenbeinernen Jesus auf einem Kreuz des achtzehnten Jahrhunderts, und Beziehungen oder etwa gar eine Ähnlichkeit mit der Gottheit oder ihrem Bild waren ihr zuwider. Aber diese Bekümmernis ließ ein neues Frohgefühl in ihr entstehen. Das Frohgefühl, das den Selbstmorden vorauf geht. Divine fürchtete sich vor ihrem Alltag. Ihr Fleisch und ihre Seele wurden bitter. Es ist für sie die Tränenzeit gekommen, so wie wir sagen: die Regenzeit. Sobald sie um sich herum Nacht verbreitet, den Lichtschalter gedreht hat, würde sie sich um nichts in der Welt auch nur um einen Schritt von ihrem Bett entfernen, wo sie sich in Sicherheit wähnt, so, wie sie sich in ihrem Körper in Sicherheit wähnt. Sie fühlt sich wohl behütet durch die Tatsache, in ihrem Leib zu sein. Draußen herrscht das Entsetzen. Dennoch wagte sie eines Nachts die Tür des Speichers zu
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öffnen und einen Schritt in das düstere Treppenhaus hinauszutreten. Die Treppe war erfüllt von den Klagegesängen der Sirenen, die sie in die Tiefe riefen. Genau gesprochen handelte es sich weder um Klagen noch um Gesänge, noch auch um wirkliche Sirenen, aber es war ganz deutlich eine Einladung zum Wahnsinn oder zum Tod durch den Sturz. Wahnsinnig vor Entsetzen kehrte sie in den Speicher zurück. Das war der Augenblick, der dem Rasseln des Weckers voraufgeht. Wenn ihr diese Angst erspart blieb, so machte sie tagsüber Bekanntschaft mit einer anderen Folter: sie errötete. Um ein „ja.“ oder ein „nein“ wurde sie die Ganz-Scharlachrote, die Purpurne, Ihre Eminenz. Man denke nur nicht, sie schämte sich etwa ihres Gewerbes. Zu gut und in zu jungen Jahren schon hatte sie gelernt, stets bis zur Verzweiflung vorzudringen, um nichtin ihrem Alter den Becher der Scham bis zur Neige geleert zu haben. Wenn Divine sich selbst eine alte, schmutzige Hure nannte, so tat sie es nur, um den Spötteleien und Beleidigungen zuvorzukommen. Aber sie errötete um kleiner, trivial scheinender Dinge willen, die wir für bedeutungslos halten, bis zu dem Augenblick wo sie, bei näherem Hinsehen, bemerkte, daß ihr die Röte ins Gesicht gestiegen war, gerade in einem Augenblick, wo man sie ohne Absicht demütigte. Ein Nichts demütigte Divine. Demütigungen von der Art die sie, als sie noch Culafroy war, in die Erde versinken ließen, nur durch die Macht der Worte. Die Worte erhielten für sie wieder die Magie von leeren Schachteln, die von absolut allem entleert sind, was nicht Geheimnis ist. Die Bedeutung der verschlossenen, versiegelten, der hermetischen Worte hüpft in Sprüngen heraus, sobald sie sich öffnen; sie greift an und macht einen sprachlos. Das Wort Filter ist ein Wort der Zauberei; es hat mich zu der alten Jungfer geführt, die Kaffee zubereitet, Chicoree hineinmischt und filtert; durch den Kaffeegrund (das ist ein Zauberkunststück) werde ich zur Zauberei zurückgeführt. Plötzlich, eines Morgens, entdeckt Divine auf diese Weise das Wort Mithridates wieder. Es öffnete sich eines Tages, zeigte Culafroy seine Kraft, und das Kind, von Jahrhundert zu Jahrhundert bis zu den fünfzehnhunderter Jah-
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ren rückwärts schreitend, vergrub sich im Rom der Päpste. Werfen wir einen Blick auf diese Zeit im Leben von Divine. Das einzige Gift, das er sich verschaffen konnte, war der Eisenhut. Jede Nacht, im langen Hausrock mit steifen Falten, öffnete er die Tür seines Zimmers, das auf gleicher Höhe mit dem Garten lag, kletterte über das Geländer — Gebärde des Liebenden, des Einbrechers, der Tänzerin, des Schlafwandlers, des Seiltänzers — und sprang in den von Holunder-, Maulbeer- und Dornsträuchern eingegrenzten Gemüsegarten, in dem man es jedoch verstanden hatte, zwischen den Gemüsebeeten Einfassungen aus Reseden und Ringelblumen anzulegen. Culafroy pflückte im Unterholz Eisenhutblätter, maß sie mit Hilfe eines kleinen Lineals, erhöhte die Dosis bei jedem Mal, rollte die Blätter und verschluckte sie. Aber das Gift hatte die doppelte Wirkung: zu töten, und die, die es tötete, von den Toten zu erwecken. Und es wirkte geschwind. Durch den Mund ergriff die Renaissance von dem Kind Besitz, so wie der Gott-Mensch von dem kleinen Mädchen, das, die Zunge herausstreckend, andächtig jedoch, die Hostie verschluckt. Die Borgias, die Astrologen, die Pornographen, die Prinzen, die Äbte und die Condottieri empfingen ihn nackt auf ihren Knien, die hart waren unter der Seide; er legte seine Wange zärtlich gegen ein erigiertes Glied, das aus Stein war unter der Seide, aus unerschütterlichem Stein, so wie die Brust jazzspielender Neger unter dem perlmuttfarbenen Atlas ihres Kasacks sein muß. Es war in einem grünen Alkoven für Feste, die der Tod beschließt, — in Gestalt von Dolchen, parfümierten Handschuhen oder einer ungeweihten Hostie. Culafroy wurde im Mondschein zur Welt der Giftmischer, Pederasten, Gauner, Magier, Krieger und Kurtisanen, und die Natur um ihn her, der Gemüsegarten, blieben, was sie waren, ließen ihn ganz allein; er war Besitzer und Besessener einer Epoche; in seinem barfüßigen Gang unter dem Mond, zwischen Kohl- und Salatbeeten, in denen ein Rechen und ein Spaten liegen geblieben waren, stand es ihm frei, Brokatstoffe mit hochmütigen Gebärden aufzuheben und hinter sich herzuschleppen. Keine aus der Geschichte
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oder aus einem Roman stammende Anekdote gab der Masse des Traums seine Richtung; nur das Gemurmel einiger magischer Worte verdichtete das Dunkel, aus dem ein Page oder ein Ritter, ein schönes brünstiges Tier, von einer Nacht aus feinem Linnen besiegt, hervortrat ... „Datura fastuosa, Datura stramonium, Belladonna ...“ Da die Frische der Nacht auf sein weißes Kleid fiel und ihn schaudern machte, näherte er sich dem weit geöffneten Fenster; er glitt unter dem Geländer hindurch, schloß das Fenster und legte sich in ein riesiges Bett. Mit Tagesanbruch wurde er wieder der blasse, schüchterne Schüler, der sich unter der Last der Bücher biegt. Aber man hat nicht verzauberte Nächte, ohne daß die Tage Anzeichen aus ihnen zurückbehalten, die für die Seele dasselbe sind wie die Ringe für die Augen. Ernestine kleidete ihn mit einer kleinen, sehr kurzen Hose, über der er eine schwarze Schülerkluft trug, die im Rücken mit weißen Porzellanknöpfen zu schließen war; sie gab ihm geschwärzte Holzschuhe an die Füße, und Strümpfe aus schwarzer Baumwolle, die seine kaum geformten Waden verbargen. Er trug um niemanden Trauer und es war rührend, ihn ganz in schwarz gekleidet zu sehen. Er gehörte zu der Rasse von verfolgten, feuerspeienden Kindern, die früh Falten bekommen. Die Erregungen graben sich in die Gesichter ein, zerstören den Frieden, blähen die Lippen, furchen die Stirn und heben die Brauen in Schauern und feinen Zuckungen. Die Kameraden riefen ihn „Culasse“, und dieser Name, mitten im Spiel gebraucht, verletzte ihn. Aber diese Art von Kindern verfügt, wie die Landstreicher, über bezaubernde oder schreckliche Tricks, um sich flaumige, warme Zufluchtsstätten zu öffnen, in denen man sich an Rotwein besäuft und ungesehen geliebt wird. Durch die Decke der Dorfschule hindurch entfloh Culafroy wie ein gehetzter Dieb, und inmitten der nichtsahnenden Schüler traf er sich, während der heimlichen Pausen, mit Jean-des-Bandes-Noires. Wenn der Unterricht zu Ende war, so kehrte er in das der Schule zunächstgelegene Haus heim; auf diese Weise wurde ihm die Teilnahme an den ketzerischen Spielen der um vier Uhr von Eltern und Lehrern
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befreiten Schüler erspart. Sein Zimmer war ein Verschlag mit Mahagonimöbeln, ausgeschmückt mit farbigen Stichen, Herbstlandschaften darstellend, die er jedoch nicht ansah, weil er kein anderes Gesicht darin entdeckte als das von drei grünen Nymphen. Kinder kümmern sich nicht um die einer herkömmlichen Kindheit zugebilligten herkömmlichen Mythen; die Feen der Buchillustrationen, die dekorativen Ungeheuer sind ihnen gleichgültig; meine Feen waren der schlanke Metzger mit dem gezwirbelten Schnurrbart, die schwindsüchtige Lehrerin und der Apotheker; jedermann war Fee, das heißt: abgeschlossen durch die Aura einer unzugänglichen, unverletzlichen Existenz, durch die hindurch ich nur Gebärden wahrnahm, deren Kontinuität — mithin deren Logik und die Beruhigung, die sie verschafft — mir entging, die mir mit jedem Bruchstück eine neue Frage stellte und die mich, Wort für Wort, beunruhigte. Culafroy trat in sein Zimmer. Sofort ist er in seinem Vatikan, als dessen oberster Priester. Er legt seinen mit Büchern und Heften vollgestopften Sack auf einen Korbstuhl und zieht unter seinem Bett einen alten Kasten hervor. Der Kasten enthält, bunt durcheinandergewürfelt, alte Spielsachen, Alben mit zerrissenen oder zerkniffenen Bildern und einen abgehäuteten Plüschbären, und aus dieser Lagerstatt der Schatten, diesem Grab noch rauchender und strahlender Berühmtheiten zerrt er seine mattgraue Geige hervor, die er selbst angefertigt hat. Seine zögernde Gebärde läßt ihn erröten. Er empfand dieselbe Demütigung, heftiger als die grüne Scham der Verachtung, die er schon vor kaum acht Tagen, bei ihrer Herstellung — nicht ihrer Erfindung — aus dem Kartondeckel des Bilderalbums, einem Stück Besenstiel und vier weißen Fäden als den Saiten empfunden hatte. Es war eine flache, graue Geige, eine zweidimensionale Geige, bestehend nur aus dem Schallkörper und dem Hals, auf dem vier weiße Fäden, deren strenge Geometrie mit dem exzentrischen Körper konstrastierte, ein Geigengespenst webten. Der Bogen war ein Nußbaumzweig, von dem er die Rinde gekratzt hatte. Als Culafroy zum ersten Mal seine Mutter gebeten hatte, ihm eine Geige zu
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kaufen, war sie aufgefahren. Sie war gerade damit beschäftigt, die Suppe zu salzen. Vor ihren Augen stellten sich undeutlich folgende Bilder ein: ein Strom, Flammen, wappenverzierte Oriflammen, ein Absatz Louis XV, ein Page im blauen Trikot und die gewundene, verschlagene Seele des Pagen; aber die Unruhe, die jedes dieser Bilder in ihr erweckte, wie ein Sprung in einen See von schwarzer Tinte, diese Unruhe hielt sie einen Augenblick in der Schwebe zwischen Leben und Tod, und als sie zwei oder drei Sekunden später wieder zu sich kam, durchzuckte sie ein nervöser Schauer, der die Hand, die die Suppe salzte, zittern ließ. Culafroy begriff nicht, daß eine Geige, infolge ihrer verzerrten Formen, seine empfindsame Mutter beunruhigte und daß durch ihre Träume eine Geige spukte, eine Geige in Gesellschaft biegsamer Katzen in Mauerecken und unter Baikonen, wo sich Gauner in die Beute der Nacht teilen und wo andere Apachen um ein Gaslicht schlendern, auf Treppen, die wie lebendig aufgeschlitzte Geigen knarren. Ernestine weinte vor Wut darüber, ihren Sohn nicht töten zu können; denn Culafroy war nichts, was man töten kann, oder vielmehr, wir werden sehen, daß das, was man in ihm tötete, eine neue Geburt ermöglichte: die Ruten, Peitschen, Prügel und Ohrfeigen büßten ihre Macht ein, oder vielmehr: ihre Kraft verwandelte sich. Das Wort Geige wurde nicht ausgesprochen. Um Musik zu studieren, das heißt, um dieselben Bewegungen zu machen, wie ich weiß nicht welcher hübsche Junge aus einem Magazin, bastelte Culafroy das Instrument; aber vor Ernestine würde er das Wort Geige niemals mehr aussprechen. Die Anfertigung geschah im tiefsten Geheimnis, bei Nacht. Am Tage vergrub er sie auf dem Grund des Kastens, in dem er seine alten Spielsachen aufbewahrte. Jeden Abend zog er sie hervor. So gedemütigt, lernte er ganz allein, nach den Anweisungen eines alten, auf dem Speicher gefundenen Lehrbuchs, seine linken Finger auf die weißen Fäden legen. Jede der lautlosen Ubungsstunden erschöpfte ihn. Das enttäuschende Knirschen, das der Bogen den Saiten entriß, ließ eine Gänsehaut auf seine Seele treten. Sein Herz reckte sich und zerfranste in
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den verkrampften Pausen — den Gespenstern der Töne. Seine Erniedrigung verfolgte ihn die ganze Unterrichtsstunde hindurch, er übte in einem Zustand dauernder Scham, heuchlerisch und gedemütigt, wie wir es am Neujahrtag sind. Denn wir flüstern uns unsere Neujahrswünsche heimlich zu, wie selbstbewußte Dirnen und Aussätzige. Da es sich um Gebräuche handelt, die den Herren vorbehalten sind, haben wir häufig das Gefühl, uns ihrer Kleider zu bedienen, um einander zu empfangen. Wir fühlen uns unbehaglich in ihnen, so, wie der Butlerlehrling in seinem Frack ohne Seidenrevers. Eines Abends machte Culafroy eine ausladende, maßlose Tragödenbewegung. Eine Bewegung, die die Grenzen des Zimmers sprengte und in die Nacht hinaustrat, wo sie sich bis zu den Sternen fortsetzte, zwischen die Bären und noch weit darüber hinaus, um dann, ähnlich der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, in das Halbdunkel des Zimmers zurückzukehren und in das Kind, das in ihr ertrank. Er strich den Bogen von der Spitze bis zur Wurzel, langsam, wundervoll; dieser letzte Riß spaltete seine Seele endgültig: die Stille, das Dunkel und die Hoffnung, diese verschiedenen, jedes zu seiner Seite fallenden Elemente zu trennen, ließen den Versuch der Konstruktion zusammenbrechen. Er ließ Arme, Geige und Bogen sinken und weinte wie ein Kind. Die Tränen rannen über sein kleines, flaches Gesicht. Einmal mehr begriff er, daß nichts zu machen war. Das magische Netz, das er versuchte, anzunagen, hatte sich wieder um ihn zusammengezogen und ihn isoliert. Ausgeleert trat er vor den kleinen Spiegel des Frisiertisches und betrachtete sein Gesicht, für das er eine Zärtlichkeit empfand, wie man sie empfindet für einen kleinen, häßlichen Hund, wenn der Hund uns gehört. Das Dunkel, gekommen von man weiß nicht woher, breitete sich aus. Culafroy ließ es geschehen. Nur das Gesicht im Spiegel interessierte ihn, und seine Verwandlungen: die Glasglocke der leuchtenden Brauen, die Schattenaureole, der schwarze Fleck des Mundes und der stets erleuchtete Zeigefinger, der den gesenkten Kopf stützte. Sein gesenkter Kopf nötigte ihn, wenn er sich im Spiegel sehen wollte,
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die Augen zu heben und sich so in der verschmitzten Art der Filmschauspieler zu betrachten: „Ich könnte ein großer Künstler sein.“ Er drückte seinen Gedanken nicht klar aus, aber der an diesem Gedanken haftende Ruhmesglanz ließ Culafroy den Kopf noch ein wenig tiefer senken. »Die Last des Schicksals“, dachte er. In dem glänzenden Palisanderholz des Frisiertisches sah er eine flüchtige Szene, die in ihrem Wesen den vielen anderen Szenen ähnlich war, die ihn häufig heimsuchten: ein kleiner Junge hockte unter einem vergitterten Fenster, in einem dunklen Zimmer, in dem er selbst, die Hände in den Taschen, auf und ab ging. Hauptstädte sprangen mitten aus dem Sand seiner Kindheit empor. Hauptstädte wie Kakteen unter dem Himmel. Kakteen wie grüne Sonnen, spitze Strahlen aussendend, mit Kurare getränkt. Seine Kindheit, wie eine Sahara, winzig klein oder unendlich groß, — wir wissen es nicht — war geschützt von dem Licht, dem Duft und dem Ausfluß des persönlichen Zaubers einer gigantischen Magnolie, die blühend in einen Himmel so tief wie eine Grotte hinaufwächst, jenseits der unsichtbaren und doch gegenwärtigen Sonne. Diese Kindheit verdorrte auf ihrem glühenden Sand; nur manchmal, in Augenblicken, die vorbeischwirrten wie Geschoße, so schmal — schmal wie das Paradies zwischen den Lidern eines Mongolen — ein Blick auf die unsichtbare aber gegenwärtige Magnolie; diese Augenblicke ähnelten in allem jenen Augenblicken, von denen der Dichter sagt: In der Wüste sah ich deinen geöffneten Himmel . . . Ernestine und ihr Sohn bewohnten das einzige Haus im Dorf, das wie die Kirche mit Schiefern bedeckt war. Es war ein umfängliches Gebäude aus gehauenem Stein, rechteckig, und in zwei Quader geteilt durch einen Gang, der sich wie eine heroische Bresche zwischen den Steinen öffnete. Ernestine besaß recht beträchtliche Renten, die
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ihr Mann, als er durch einen Sprung in die grünen Gräben des dort liegenden Sdilosses Selbstmord verübte, für sie hinterlassen hatte. Sie hätte ein Luxusleben führen können, von mehreren Domestiken bedient, zwischen riesigen, von den Teppichen bis zum vergoldeten Plafond aufsteigenden Spiegeln. Sie versagte sich den Luxus und die Schönheit, die den Traum töten. Auch die Liebe. Einstmals hatte die Liebe sie zu Boden geworfen und festgehalten mit dem Griff des Ringers, der gewohnt ist, Bullen niederzustrecken. Mit zwanzig Jahren war sie Anlaß zur Entstehung einer Legende: wenn die Bauern später auf sie zu sprechen kamen, konnten sie sich nicht enthalten, jenes Wesens zu gedenken, dessen Gesicht, außer dem Mund und den Augen, über und über mit Gazestreifen verbunden war, wie das Gesicht eines verletzten Fliegers oder das Gesicht Weidmanns; sie deckte mit den Gazestreifen die dicken Schichten einer Spezialschönheitscreme zu, die ihre Haut vor der Sonnenbräune und dem Heu schützte, wenn sie im Sommer zum Heumachen zu ihrem Vater kam. Aber wie eine Säure war seither die Bitterkeit in sie eingedrungen und hatte ihre Süße angefressen. Jetzt fürchtete sie alles das, wovon man nicht in einfacher und vertrauter Weise — mit einem Lächeln — sprechen kann. Diese Furcht allein bewies, daß die Gefahr eines Rückfalls in die Gewalt der Gier (das ist die Schönheit) bestand. Die Bande, die sie fesselten und auslieferten an jene Mächte, bei deren Berührung oder auch nur Annäherung sie Schwindel erfaßte, waren locker und fest zugleich. Es waren die Kunst, die Religion und die Liebe, die alle umhüllt sind von etwas Heiligem (denn über das Heilige, leider das Geistvolle genannt, wird nicht gelacht noch gelächelt: es ist traurig. Wenn es das Heilige ist, was an Gott rührt, ist Gott also traurig? Gott ist also ein schmerzlicher Gedanke? Gott ist also böse?) und denen wir uns stets mit einer Höflichkeit nähern, die sie behütet. Das Dorf besaß als Sehenswürdigkeiten unter anderem ein altes Feudalschloß, umgeben von Gräben, in denen Frösche quakten, einen Friedhof, das Haus der unehelichen Mutter — und die uneheliche Mutter selbst — und eine
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Brücke mit drei Steinbögen über drei Bögen klaren Wassers, über der jeden Morgen ein dichter Nebel hing, der sich endlich hob und die Szenerie freigab. Die Sonne zerschnitt ihn zu Streifen, die einen Augenblick lang die mageren und schwarzen Bäume wie Zigeunerkinder kleideten. Die blauen und scharfen Schiefern, die Granitsteine des Hauses und die Scheiben der hohen Fenster schlössen Culafroy von der Welt ab. Die Spiele der Jungen, die jenseits des Flusses wohnten, waren unbekannte Spiele, die durch Mathematik und Geometrie kompliziert wurden. Sie spielten sich entlang der Hecken ab und hatten als aufmerksame Zuschauer die Böcke und Füllen auf den Wiesen. Die Spieler selbst, kindliche Komödianten, schlüpften, fern der Schule, fern des Weilers, wieder in ihre ländliche Gestalt, wurden erneut Ochsenhirten, Aufspürer von Amselnestern, Kletterer, Roggenmäher und Pflaumendiebe. Waren sie für Culafroy, ohne daß sie selbst das mit besonderer Klarheit herausfinden konnten, — sie hatten nur einen unbestimmten Verdacht gegen ihn — eine Völkerschar verführerischer Dämonen, so strahlte umgekehrt Culafroy auf sie, unbewußt, einen Glanz aus, den er seiner Abgeschlossenheit, der Raffinesse und der Legende Ernestines und dem Schieferdach seines Hauses verdankte. Sie haßten ihn alle, und doch war da kaum einer unter den Knaben, der nicht von ihm träumte, seinen Haarschnitt beneidete oder die Eleganz seines ledernen Schulranzens. Das Schieferhaus mußte fabelhafte Reichtümer bergen und Culafroy stand in dem Ruhm, langsam zwischen ihnen hindurchzuschreiten, er genoß das Vorrecht, vertrauliche Gebärden wagen zu dürfen wie etwa mit den Fingern auf ein Möbelstück zu trommeln oder über das Parkett zu gleiten oder mitten in einer Szenerie, die ihnen fürstlich schien, zu lächeln wie ein Dauphin, und vielleicht sogar Karten zu spielen. Culafroy schien ein königliches Geheimnis abzusondern. Die Söhne von Königen sind unter Kindern zu zahlreich, als daß die Schulbuben des Dorfes diesen hier hätten ernst nehmen können. Aber sie rechneten es ihm als ein Verbechen an, daß er so offen eine
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Herkunft zeigte, die jeder von ihnen wohlverborgen in sich bewahrte, und die ihre Majestät beleidigte. Denn der königliche Gedanke ist von dieser Welt; besitzt der Mensch ihn nicht kraft fleischlicher Übertragung, so muß er ihn erwerben und sich insgeheim mit ihm schmükken, um vor sich selbst nicht zu tief erniedrigt zu werden. Die Träume und die Träumereien der Kinder kreuzten sich in der Nacht, jeder besaß den anderen ohne dessen Wissen auf gewaltsamste Weise (sie vergewaltigten sich) und fast vollständig. Das Dorf, das sie zu ihrem eigenen Gebrauch neu erschufen, und in dem, wir haben es gesagt, die Kinder allmächtig waren, wurde eingesponnen in die Gewohnheiten, die für sie nichts befremdliches besaßen, nämlich die Gewohnheiten eines Dorfes mit seltsamen Nächten; in diesen Nächten wurden die totgeborenen Kinder gegen Abend begraben, zum Friedhof getragen von ihren Schwestern, in schmalen und lackierten Schachteln aus Kiefernholz, die wie Geigenkästen aussahen; andere Kinder liefen während dieser Nächte in die Waldlichtungen und preßten ihren nackten Bauch, den sie jedoch vor Mondlicht schützten, gegen den kräftigen Stamm der Buche oder Eiche, dort, wo die Rinde abgeblättert war, um auf der zarten Haut der kleinen, weißen Bäuche den austretenden Frühlingssaft zu spüren, — es waren Bäume von der Kraft erwachsener Gebirgler, deren kurze Schenkel die Lederhosen prall machen, daß sie knarren; in diesen Nächten erspähte die Italienerin, im Vorübergehen, die Kranken, die Gelähmten, auf deren Augen sie die Seele pflückte und lauschte, wie sie starben (Greise sterben so wie Kinder geboren werden); sie hielt die Greise fest, auf Gnade und Ungnade, ihre Gnade aber war nicht ihre Gunst: Es ist ein Dorf, dessen Tage nicht minder seltsam sind als die Nächte, wenn die Umzüge, an Fronleichnams- oder Fürbittagen das in der Mittagssonne verkrumpelte Land durchziehen, die Prozessionen, bestehend aus kleinen Mädchen mit Porzellanköpfen, in weißen Kleidern und mit Stoffblumen gekrönt; Meßknaben, die im Wind die grünspanüberzogenen Weihrauchkessel schwenken, Frauen, ganz steif in ihrem schwarzen oder grünen Mohair, und Männer mit
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schwarzen Handschuhen, die einen orientalisch anmutenden, mit aufgesteckten Straußenfedern geschmückten Baldachin tragen, unter dem der Priester mit der Monstranz trottet. Unter der Sonne, zwischen dem Roggen, den Fichten, den Luzernen und in die Teiche stürzend, die Füße gen Himmel.
Dies war ein Teil von Divines Kindheit. Es gab noch viele andere Dinge, die wir später berichten werden. Wir müssen zu ihr zurückkehren. Sagen wir es gleich: ihre Liebe ließ sie niemals den Zorn Gottes, die Verachtung Jesus oder den überzuckerten Ekel der Jungfrau Maria fürchten, niemals bevor Gabriel zu ihr davon sprach, denn sobald sie in sich die Saat jener Ängste aufgehen spürte: Zorn, Verachtung, und göttlichen Ekel, erhob Divine ihre Liebe zu einem Gott, der Gott, Jesus und die Jungfrau Maria überragte, dem SIE sich unterwarfen wie alle anderen, während Gabriel, trotz seines feurigen Temperaments, das oft sein Antlitz rötet, die Hölle fürchtete; denn er liebte Divine nicht. Und wer liebte sie noch, außer Mignon? Notre-Dame-des-Fleurs lächelte und sang. Er sang wie eine Äolsharfe, eine bläulich-schimmernde Brise, die durch die Fäden seines Leibes rann; er sang mit seinem Leib; lieben tat er nicht. Die Polizei verdächtigte ihn nicht. Er verdächtigte nicht die Polizei. So groß war die Gleichgültigkeit dieses Kindes, daß es nicht einmal Zeitungen kaufte: es folgte seiner Melodie. Divine glaubte Mignon im Kino, und Notre-Dame, den Auslagendieb, im Warenhaus, aber . . . in amerikanischen Schuhen, mit einem sehr weichen Hut, das Goldkettchen am Handgelenk — ein Zuhälter von oben bis unten — stieg Mignon gegen Abend die
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Treppe vom Speicher hinab und . . . Es kam der unvermeidliche Soldat. Woher kam er? Von der Straße, aus einer Bar, in der Divine saß? Während sich die Drehtüre im Kreis bewegte, brachte jede Umdrehung, wie der Mechanismus eines venezianischen Glockenturms einen kräftigen Bogenschützen, einen geschmeidigen Pagen, ein Musterstück der Hohen Päderastie zum Vorschein, einen von der Sorte Louis, deren Vorfahren im Elendsviertel hausten, Ohrringe trugen, wenn sie von Fräulein Adna ausgehalten wurden und zwischen deren Beinen, wenn sie auf den Boulevard gehen, schrille Pfiffe hervorgellen und verspritzen. Gabriel trat auf. Ich sehe ihn auch eine fast senkrechte Straße hinunterlaufen, ähnlich wie der verhexte Hund, der durch die Hauptstraße ins Dorf hinunterlief; vermutlich rempelte er Divine beim Verlassen eines kleinen Kramladens an, in dem er soeben eine Überraschungstüte gekauft hatte; gerade läutete die Glocke der Glastür zweimal. Ich hätte Euch gerne von zufälligen Begegnungen gesprochen. Mir ist, als stünde der Augenblick, der sie hervorbrachte — oder hervorbringt — außerhalb der Zeit, als würde der Zusammenprall die Umgebung, Raum und Zeit bespritzen, doch vielleicht täusche ich mich; denn ich möchte von den Begegnungen sprechen, die ich hervorbringe, die ich den Personen meines Buches aufnötige. Vielleicht ist es mit solchen zu Papier gebrachten Augenblicken wie mit belebten Straßen, auf deren Menschenmenge unabsichtlich mein Blick fällt: ein Hauch, eine Zärtlichkeit heben sie aus dem Augenblick heraus, ich bin verzaubert, und ich weiß nicht warum; dieses Gedränge ist Honig für meine Augen. Ich drehe mich um, und wenn ich dann wieder hinblicke, finde ich weder Hauch noch Zärtlichkeit mehr. Die Straße erscheint mir grau wie ein schlafloser Morgen, Klarheit kehrt wieder in mich ein und bringt mir die Poesie zurück, die das Gedicht verjagt hatte: irgendein Jünglingsgesicht, das ich kaum wahrgenommen hatte, mußte seinen Glanz auf die Menge ausgestrahlt haben und war dann verschwunden. Der Sinn des Himmels ist mir nicht mehr fremd. Divine also begegnete
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Gabriel. Er ging vor ihr vorüber und machte seinen Rücken breit wie eine Mauer, wie eine Felswand. Es strömte von dieser Mauer auf die Welt soviel Hoheitsvolles aus, das heißt soviel heitere Kraft, daß sie Divine aus Erz zu sein schien, wie die Wand der Finsternis, von der ein schwarzer Adler mit weit geöffneten Schwingen sich erhebt. Gabriel war Soldat. Die Armee, das ist das rote Blut, das aus den Ohren des Artilleristen rinnt, das ist der kleine, auf seinen Skiern gekreuzigte Schneejäger, ein Spahi auf seinem Wolkenpferd, das plötzlich stillesteht, am Rand der Ewigkeit; das sind die maskentragenden Fürsten und die brüderlichen Mörder der Legion; das ist, bei den Mannschaften der Flotte, jene Klappe, die den Hosenschlitz der erigierenden Matrosen ersetzt, damit sie, wie es entschuldigend heißt, beim Manöver nicht in der Takelage hängen bleiben; das sind endlich die Matrosen selbst, die die Sirenen bezaubern, indem sie sich um die Masten schlingen, wie Huren um ihre Louis; sie wickeln sich in die Segel und spielen mit ihnen wie eine Spanierin mit ihrem Fächer; sie lachen lauthals, oder sie pfeifen, aufrecht auf der Brücke, die sie wiegt, und beide Hände in den Taschen, den echten Walzer der Blauen Jungens. „Und die Sirenen fallen darauf herein?“ „Sie träumen von jener Stelle, wo die Verwandschaft zwischen ihrem Körper und dem Körper der Matrosen aufhört. ,Wo beginnt das Geheimnis?‘ fragen sie einander. Und in diesem Augenblick beginnen sie zu singen.“ Gabriel war Linieninfantrist, gekleidet in himmelblaues Tuch, in ein Tuch, das dick und flockig war. Später, wenn wir ihn aus der Nähe gesehen haben und wenn weniger von ihm die Rede ist, werden wir sein Porträt geben. Divine nennt ihn natürlich Erzengel. Oder auch: „Mein Likör“. Er läßt sich anbeten ohne die Miene zu verziehen. Er ist einverstanden. Aus Furcht vor Mignon, aus Furcht vor allem, ihm weh zu tun, hat Divine nicht gewagt, den Soldaten mit in die Mansarde zu nehmen. Sie trifft ihn abends auf dem Mittelstreifen des Boulevard, und dort erzählt er ihr auf nette Art die
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Geschichte seines Lebens, weil er nichts anderes weiß. Und Divine sagt: „Was Du mir erzählst, Erzengel, ist gar nicht Dein Leben, sondern ein verborgener Teil meines eigenen, etwas, woran ich nur noch nicht gedacht habe.“ Divine sagt ebenfalls: „Ich liebe Dich, als wenn Du in meinem Bauch wärest“, oder auch: „Du bist nicht mein Freund, Du bist ich selbst. Mein Herz oder mein Geschlecht. Ein Zweig von mir.“ Darauf antwortet Gabriel, bewegt, aber vor Stolz lächelnd: „Oh! Du Kupplerin!“ Sein Lächeln ließ auf seinen Mundwinkel ein paar zarte, weiße Schaumkügelchen treten. Fürst-Hochwürden, der ihnen eines Nachts begegnete, die runden Finger zum Ring geschlossen wie ein Priester bei der Predigt, warf Divine zu: „Alter Beutemacher!“ Das war fast wie ein Augenzwinkern. Nachdem er die beiden vereint hatte, enteilte er. Den ganzen Weg über von Blanche bis Pigalle segneten noch andere Spaziergänger die beiden, auf die gleiche Art, und erteilten dem Paar die Weihen. Die alternde Divine schwitzt vor Angst. Sie ist eine arme Frau, die sich fragt: „Wird er mich lieben? Ah! einen neuen Freund gefunden zu haben! ihn auf Knien anbeten, und als Gegenleistung dafür, ganz schlicht, seine Verzeihung erlangen. Vielleicht könnte ich durch eine List seine Liebe gewinnen!“ Ich habe sagen hören, daß man Hunde an sich bindet, indem man täglich einen Löffel vom Urin ihres Herren unter ihre Suppe mengt: Divine versucht es. Bei jeder Mahlzeit, zu der sie den Erzengel einlädt, findet sie einen Weg, um ein wenig von ihrem Urin unter das Essen zu mengen. Geliebt werden. Langsam den Grünschnabel zu dieser Liebe hinführen, wie zu einer verbotenen Stadt, einer geheimnisumwitterten Burg, einem schwarzen und weißen Timbuktu, schwarz und weiß und erregend wie das Gesicht des Geliebten, auf dessen Wange das Gesicht des anderen seinen Schatten wirft. Den Erzengel unterweisen,
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ihn dazu zwingen, die Anhänglichkeit des Hundes zu lernen. Das Kind reglos und doch heiß zu finden, dann fühlen, wie es sich unter den Liebkosungen weiter erhitzt, wie es sich unter meinen Fingern bläht, voller wird, in die Höhe schnellt wie . . . ihr wißt, was ich meine. Divine, geliebtes Wesen! Auf dem Diwan im Speicher windet sie sich, ringelt sie sich wie unter dem Hobel geborene Holzspäne. Sie ringt ihre lebendigen, eingerollten, aufgerollten, weißen, schattenwürgenden Arme. Es ging nicht anders, eines Tages mußte sie Gabriel hier heraufbringen. Die Vorhänge waren zugezogen und die Finsternis um ihn herum wirkte umso massiger, als in ihr seit Jahren, wie ein Duft kalt gewordenen Weihrauchs, die subtile Essenz der hier aufgeblühten Fürze schimmelte. In einem Schlafanzug aus blauer Seide mit weißen Aufschlägen lag Divine auf dem Diwan. Die Haare in den Augen, den Bart rasiert, den Mund rein und die Gesichtshaut mit Ockerwasser geglättet. Trotzdem gab sie sich als die Schlaftrunkene. „Setz Dich.“ Sie deutete mit der einen Hand auf einen Platz neben sich, auf der Diwankante; die Fingerspitzen der anderen Hand streckte sie ihm entgegen. „Wie geht’s?“ Gabriel trug seine Uniform aus himmelblauem Tuch. Von seinem Bauch hing das nachlässig zugeschnallte Koppel herab. So grob war das Tuch und das Blau so zart, daß Divine spannte. Ein feines und ebenso blaues Tuch hätte sie weniger bewegt als grobes, schwarzes Tuch (der Stoff der Landpfarrer und der von Ernestine) oder grobes, graues Tuch (der Stoff der Fürsorgezöglinge). „Kratzt Dich das denn nicht, diese Wolle?“ »Bist Du bekloppt? Ich hab’ ein Hemd und eine Unterhose an. Die Wolle berührt doch nicht meine Haut.“ Erstaunlich, nicht wahr, Divine, daß er mit seinem himmelblauen Anzug wagt, so schwarze Augen und Haare zu haben?
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„Was ich sagen wollte, hier ist Cherrybrandy, nimm soviel Du willst. Reich mir ein Glas herüber.“ Gabriel schenkt sich lächelnd ein Glas Likör ein. Er trinkt. Er sitzt wieder auf der Diwankante. Ein leichtes Unbehagen zwischen den beiden. „Hör mal, es ist so stickig hier, kann ich meine Jacke ausziehen?“ „Oh! Du kannst ausziehen was Du willst.“ Er schnallt sein Koppel auf, zieht seine Jacke aus. Das Knirschen des Koppels läßt in die Mansarde eine Stube schweißtriefender, aus dem Manöver heimkehrender Soldaten eintreten. Divine, ich sagte es schon, ist ebenfalls in himmelblauen Stoff gekleidet, der um ihren Leib fließt. Sie ist blond und unter soviel Stroh scheint ihr Gesicht ein wenig verrunzelt, zerknittert, wie Mimose sagt (Mimose ist boshaft, sie will Divine verletzen); aber dieses Gesicht gefällt Gabriel. Divine, die das wissen wollte, fragt ihn, zitternd wie die Flamme einer Wachskerze: „Ich werde alt, ich geh schon auf die dreißig zu.“ Da besitzt Gabriel soviel unbewußtes Feingefühl, ihr nicht mit einer Lüge zu schmeicheln, die besagt hätte: „Du siehst aber jünger aus.“ Er antwortet: „Aber das ist doch das Alter, wo man sich am wohlsten fühlt. Man versteht alles viel besser.“ Er fügt hinzu: „Das ist das einzig wahre Alter.“ Die Augen, die Zähne von Divine glänzen, und die des Soldaten glänzen ebenfalls. „Hör mal, Dir ist wohl nicht gut.“ Er lacht, aber ich spüre seine Verlegenheit. Sie ist glücklich. Gabriel ist jetzt weich, lehnt sich an sie, blaßblau: zwei Engel, die sich, müde vom Flug, auf einem Telegraphenmast niedergelassen haben und die vom Wind in die Höhlung einer Brennesselgrube geweht werden, können nicht keuscher sein. Eines Nachts wurde der Erzengel zum Faun. Sie lagen Gesicht an
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Gesicht und während er Divine fest an sich preßte, suchte sein plötzlich mächtiges Glied von unten her in ihn einzudringen. Er bog sich ein wenig nach rückwärts und, nachdem er gefunden hatte, glitt er tiefer. Gabriel hatte eine solche Fertigkeit erlangt, daß er, selbst völlig unbeweglich bleibend, seine Rute erschauern lassen konnte wie ein ungeduldiges Pferd. Er stieß zu mit der ihm eigenen blinden Leidenschaftlichkeit und so durchdringend fühlte er seine Kraft, daß er — mit Nase und Kehle — siegestrunken wieherte, so stürmisch, daß Divine glaubte, Gabriel ergreife mit seinem ganzen, Zentaurenleib von ihr Besitz; der Liebesrausch ließ sie ohnmächtig werden wie eine Nymphe im Baum. Das Spiel wiederholte sich häufig. Die Augen Divines wurden glänzend und seine Haut geschmeidiger. Der Erzengel spielte mit Ernst seine Rolle. Er sang innerlich dazu die Marseillaise, denn von diesem Augenblick an war er stolz darauf, Franzose zu sein und gallischer Hahn, ein Stolz, den nur die Männchen kennen. Dann starb er im Krieg. Eines Abends traf er sich mit Divine auf dem Boulevard: „Ich hab Urlaub; ich hab ihn eigens für Dich beantragt. Komm, wir gehen mampfen, ich hab Kohlen.“ Divine hob die Augen zu seinem Gesicht auf: „Ist das wahr, Du liebst mich, Erzengel?“ Gabriel machte eine ärgerliche Bewegung mit den Schultern: „Du verdienst einen Tritt in den Hintern“, sagte er zwischen den Zähnen. „Siehst Du das denn nicht?“ Divine schloß die Augen. Sie lächelte. Mit dumpfer Stimme: „Hau ab, Erzengel. Hau ab, sag ich Dir. Ich will Dich nicht mehr sehen. Du machst mich zu glücklich, Erzengel.“ Sie sprach wie eine Nachtwandlerin, aufgerichtet, steif, und ein starres Lächeln auf ihrem Antlitz. „Hau ab, sonst fall ich Dir in die Arme, oh, Erzengel.“ Sie murmelte: „Oh! Erzengel.“
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Gabriel ging lächelnd fort, mit langsamen, weiten Schritten, denn er trug Stiefel. Er starb im französischen Krieg und die deutschen Soldaten verscharrten ihn dort, wo er fiel, am Gitter eines Schlosses in der Touraine. Divine kann kommen und sich auf sein Grab setzen, und eine Craven rauchen mit Jimmy. Wir können sie erkennen, wie sie dort sitzt, die langen Beine überkreuzt, ihre Zigarette in der Hand, auf der Höhe des Mundes. Sie lächelt und ist beinahe glücklich.
Als sie bei Graff eintrat, erblickte Divine Mimose, die sie ebenfalls sah. Sie gaben sich ein kleines Zeichen mit den Fingern, eineBagetelle. „Guten Tag! Und Deine Notre-Dame, meine Schöne?“ ... „Oh! sprich nicht von ihr. Sie ist entflohen. Notre-Dame ist verschwunden, fortgeflogen. Entführt von den Engeln. Man hat sie mir gestohlen. Mimo, Du siehst mich als Ganz-Untröstliche. Halte eine Andacht, ich werde den Schleier nehmen.“ „Deine Notre-Dame hat die Beine in die Hand genommen? Sie hat die Schenkel in die Hand genommen, Deine Notre-Dame? Aber das ist ja gräßlich. Aber das ist ja eine Nutte!“ „Wir wollen vergessen, wir wollen sie wirklich vergessen“. Mimose wollte, daß Divine sich an ihren Tisch setzte. Sie sagte, sie habe den ganzen Abend keine Kunden. „Ich fühle mich wie auf einem Sonntags-Ball in der Vorstadt. Schön, was? Nimm einen Gin, meine Süße.“ Divine war unruhig. Sie liebte Notre-Dame nicht derart, daß sie gelitten hätte bei dem Gedanken, er könne angezeigt werden, falls er tatsächlich einen bösen Streich auf dem Gewissen haben sollte; aber sie erinnerte sich, daß Mimose sein Photo verschlungen hatte, so wie man die Eucharistie verschlingt, und daß sie heftig beleidigt war, als
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Notre-Dame zu ihr sagte: „Du bist eine richtige Schlampe.“ Trotzdem lächelte Divine, brachte ihr Lächeln ganz nahe an das Gesicht der Mimose, wie um sie zu küssen, und plötzlich standen ihre Gesichter so eng zusammen, daß sie den Eindruck hatten, ihrer Heirat beizuwohnen. Die beiden Tunten waren entsetzt. Immer noch mit ihrem göttlichen Lächeln murmelte Divine: „Du bist mir widerlich.“ Sie sagte es nicht. Der Satz gestaltete sich in ihrer Kehle. Dann aber verschloß sich ihr Gesicht augenblicklich wie Klee in der Dämmerung. Mimose begriff nicht. Divine hatte die seltsame Kommunion der Mimose stets für sich behalten, denn sie fürchtete, daß Notre-Dame, wenn er von ihr erführe, seine Meinung ändern und ihrer Rivalin Avancen machen, mit ihr kokettieren könne. Notre-Dame war koketter als eine Tunte. Er hatte Hurenallüren wie ein Gigolo. Vor sich selbst erklärte Divine ihr Schweigen damit, daß sie NotreDame vor der Sünde des Hochmuts bewahren wolle; denn Divine hatte, wie wir wissen, große Mühe, unmoralisch zu sein und es gelang ihr nur auf großen Umwegen, die ihr Schmerzen bereiteten. In ihrer Person vermengen sich tausend Gefühle und deren Gegenteil; sie verwirren sich, entwirren sich, binden und lösen sich und erzeugen ein närrisches Durcheinander. Divine bezwang sich. Ihr oberster Wunsch war folgender: „Mimose darf nichts wissen; sie ist ein gemeines Aas und sie ist mir widerlich.“ Es handelte sich da um einen reinen Wunsch, der f anz aus den Umständen geboren war. Divine empfand ihn dennoch nicht völlig in dieser Gestalt, denn die Heiligen des Himmels wachten im Hintergrund, und die heiligen Frauen auch; sie erschreckten Divine nicht, weil sie schrecklich sind, das heißt, weil sie böse Gedanken rächen, sondern deswegen, weil sie aus Gips sind, weil ihre Füße auf Spitzen und zwischen Blumen ruhen, und weil sie trotzdem alles wissen. Im Geiste sagte sie: „Notre-Dame ist entsetzlich hochmütig! Und so dumm.“ Das schwang in der ersten Feststellung mit, die sich als natürliche Schlußfolgerung daraus ergab. Aber ihre moralische Einkleidung gestattete ihr, aus-
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gesprochen zu werden. Durch eine Anstrengung, eine Aufwallung von Trotz, kam Divine dahin zu sagen: „Nichts wird sie erfahren, diese schmutzige Hure“ (Mimose), aber noch damit kleidete sie ihren Haß in spielerischen Flitter ein, denn sie sprach von Mimose in der weiblichen Form: „Sie“. Hätte Divine „er“ gesagt, wäre die Sache ernster gewesen. Wir werden das später noch sehen. Divine war nicht eitel genug, zu glauben, Mimose böte ihr einen Platz an, um sich an ihr, an Divine, zu erfreuen. Voller Mißtrauen sagte sie laut: „Ich spiele Sioux.“ „Was machst Du?“ sagte die Mimose. Divine brach in Lachen aus: „Ah! ich bin ja doch ein närrisches Mädchen!“ Offenbar hatte Roger, der Mann der Mimose, etwas gerochen. Er forderte Aufklärung. Divine wußte aus Erfahrung, daß sie es mit Mimose II im Kampf nicht aufnehmen konnte. Denn wenn sie auch nicht feststellen konnte, in welchen Augenblicken der Scharfsinn ihrer Freundin am Werk war, so hatte sie doch manchen Beweis für die Existenz ihres kriminalistischen Verstandes. „Aus einem Nichts zieht sie Schlüsse, die Mimo.“ Niemand konnte so gut wie sie dieses Nichts ausfindig machen und zum Sprechen bringen: „Du gehst weg? Und nimmst Notre-Dame mit? Wie gemein Du bist. Und egoistisch!“ „Hör zu, mein Engel, ich komm’ ein andermal wieder. Ich hab’s eilig heute.“ Divine küßte die Innenfläche ihrer Hand, blies in die Richtung der Mimose (trotz ihres Lächelns hatte Divine plötzlich das ernste Gesicht der Dame auf dem Larousse, die den Löwenzahnsamen in alle Winde sät) und entfloh dann wie am Arm eines unsichtbaren Freundes, das heißt: tollpatschig, müde und getragen. Als Divine sagte, Notre-Dame sei hochmütig und er würde, wenn er erführe, daß Mimose sein Photo verschluckt hat, freundlicher zu ihr sein, täuschte sie sich. Notre-Dame ist nicht hochmütig. Er hätte ohne auch nur zu lächeln, mit den Schultern gezuckt und höchstens
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gesagt: „Sie muß schwer arbeiten, die Kleine. Jetzt frißt sie auch noch Papier.“ Diese Gleichgültigkeit kam vielleicht daher, daß Notre-Dame mit Mimose keinerlei Gefühle gemein hatte und nicht daran dachte, daß man irgendeine Erregung dabei empfinden könne, wenn man sich das Bild eines geliebten Wesens buchstäblich einverleibt, indem man es durch den Mund trinkt. Er wäre unfähig gewesen, darin eine Ehrung seiner Männlichkeit oder seiner Schönheit zu sehen. Wir dürfen daraus schließen, daß er selbst kein Bedürfnis dieser Art hatte. Dennoch, wir werden es sehen, war Ehrfürchtigkeit eine seiner Schwächen. Was Divine anbetrifft, so wollen wir uns merken, daß sie Mimose eines Tages antwortete: „Notre-Dame wird niemals hochmütig genug sein. Ich will aus ihm ein Denkmal des Hochmuts machen“, wobei sie dachte, er solle vor Hochmut versteinern, und dann: aus Hochmut geknetet werden. Die zarte Jugend Notre-Dame’s — denn er hatte Augenblicke, in denen er zärtlich war — befriedigte nicht das Bedürfnis von Divine, die einer brutalen Gewalt unterjocht zu sein wünschte. Es war ganz richtig, wenn sich die Idee des Hochmuts mit der der Statue verband, und wenn sich ihnen beiden die Idee massiger Härte zugesellte. Aber wir sehen, der Hochmut NotreDame’s war nur ein Vorwand. Ich sagte es: Mignon-les-petits-pieds kam nicht mehr auf den Speicher und er traf sich nicht einmal mehr mit Notre-Dame im Tuilerienhain. Er ahnte nicht, daß Notre-Dame über seine Gemeinheiten auf dem laufenden war. In ihrem Speicher lebte Divine nur von Tee und von Kummer. Sie aß ihren Kummer und trank ihn; diese gesäuerte Nahrung hatte ihren Körper ausgetrocknet und ihren Geist angegriffen. Die Pflege, die sie sich angedeihen ließ, die Schönheitssalons, nichts konnte verhindern, daß sie mager war und eine Haut hatte wie ein Leichnam. Sie trug eine Perücke, die sie mit großem Kunstsinn aufsetzte, aber der Tüll, auf dem sie befestigt war, blieb an den Schläfen sichtbar. Puder und Creme verbargen nicht vollständig den Übergang zur Stirnhaut. Man konnte glauben, sie habe
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einen künstlichen Kopf. Zu der Zeit, als er noch auf dem Speicher lebte, hätte Mignon über all diese Zurichtungen lachen können, wenn er nur ein gewöhnlicher Louis gewesen wäre, —aber er war ein Louis, der das Gras wachsen hörte. Er lachte nicht, noch lächelte er. Er war schön und hielt auf seine Schönheit, denn er wußte, mit ihrem Verlust würde er alles verlieren. Die komplizierten Zauberformeln, sie festzuhalten, verursachten ihm keinerlei innere Rührung, sie ließen ihn kalt, entlockten ihm nicht einmal ein grausames Lächeln. Das war natürlich. Soviele alte Mätressen hatten sich vor ihm geschminkt, daß er wußte, Schäden an der Schönheit lassen sich ohne Geheimmittel ausbessern. In Stundenzimmern wohnte er dem raffinierten Sich-Schön-Machen bei, überraschte er das plötzliche Zögern der Frau, die den Lippenstift emporhält. Mehrmals war er Divine beim Ankleben ihrer Perücke behilflich. Er tat dies mit geschickten und, wenn man so sagen kann, natürlichen Bewegungen. Er hatte gelernt, eine auf diese Weise zurechtgemachte Divine zu lieben. Er nahm alle Ungeheuerlichkeiten, aus denen sie zusammengesetzt war, in sich auf. Er ließ sie an sich vorüberziehen: die zu weiße und trokkene Haut, ihre Magerkeit, die ausgehöhlten Augen, die gepuderten Falten, die geklebten Haare, die Goldzähne. Er ließ nichts aus. Er sagte sich, alles dies sei eben so. Der Genuß stellte sich ein und er wurde zum Gefangenen. Der kräftige Mignon mit seinen immer und überall heißen Muskeln und Haaren war vernarrt in eine künstliche Tunte. Die Verschlagenheit von Divine hatte gar keinen Anteil daran. Mignon stürzte sich blindlings in diese Art Verderbnis. Dann war er es nach und nach müde geworden. Er vernachlässigte Divine und verließ sie. In ihrer Mansarde hatte Divine furchtbare Anfälle von Verzweiflung. Ihr Alter bewirkte, daß sie sich nur noch in einem Sarg bewegte. Soweit kam es mit ihr, daß sie keine Bewegung, keine Gebärde mehr wagte; die Leute, die in dieser Zeit zum ersten Mal ihre Bekanntschaft machten, meinten, sie sei farblos. Sie hielt noch auf die Freuden des Bettes und der Markthallen; sie streunte durch die Pinkelbuden, aber jetzt war sie
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es, die ihre Liebhaber bezahlte. Während der Liebeshandlung wurde sie von närrischen Ängsten gequält, zum Beispiel fürchtete sie, ein überschwenglicher Junge könne, wenn sie vor ihm auf den Knien liege, ihr Haar zerwühlen oder seinen Kopf zu heftig gegen den ihren pressen und dadurch die Perücke lockern. Ihre Lust litt unter zahllosen winzigen Sorgen. Sie blieb auf dem Speicher und lebte dort für sich. Tage und Nächte blieb sie liegen, die Vorhänge zugezogen vor dem Fenster der Toten, dem Mauerloch der Verschiedenen. Sie trank Tee und aß Sandkuchen. Dann, den Kopf unter den Laken, kombinierte sie verwickelte Zusammenkünfte, zu zweit, zu dritt oder zu viert, bei denen sich sämtliche Partner verabredeten, um auf ihr, in ihr und für sie befriedigt zu werden. Sie begegnete in ihrer Erinnerung den schmalen aber kräftigen Lenden wieder, den stählernen Lenden, die sie durchbohrt hatten. Sie paarte sie, ohne sich dabei um ihren Geschmack zu kümmern. Sie nahm es auf sich, einziges Ziel all dieser Brunst zu sein und sie spannte ihren Geist an, um sie von allen Seiten gleichzeitig herbeieilen und in derselben Wollust untertauchen zu sehen. Ihr Leib zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Sie fühlte, wie fremde Personen durch sie hindurchglitten. Ihr Leib schrie: „Gott, das ist Gott!“ Erschöpft fiel sie zurück. Die Lust stumpfte bald ab. So schlüpfte Divine in den Leib eines Männchens. Plötzlich sah sie sich stark und muskulös, stark wie Eisen, die Hände in den Taschen, pfeifend. Sie sah, wie sie sich selbst liebte. Sie spürte endlich, wie damals, als sie sich als Mann versuchte, die Muskeln an ihren Schenkeln, Schulterblättern und Armen breiter und härter werden, und das tat ihr weh. Auch dieses Feuer erlosch. Sie vertrocknete. Sie hatte nicht einmal mehr Ringe unter den Augen. Da kramte sie die Erinnerung an Alberto hervor und befriedigte sich an ihr. Alberto war ein Taugenichts. Das ganze Dorf nahm sich vor ihm in acht. Er war ein Dieb, ein brutaler Kerl und ein Schwein. Die Mädchen verzogen den Mund, wenn sein Name in ihrer Gegenwart genannt wurde, aber in ihren Nächten und in den harten
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Arbeitsstunden, wenn ihre Gedanken plötzlich abschweiften, waren sie beschäftigt mit seinen kräftigen Schenkeln, seinen schweren Händen, die ständig seine Taschen aufblähten und seine Flanken streichelten, unbeweglich verharrten oder sich sanft und vorsichtig bewegten, wobei sie den gestrafften oder prall gefüllten Stoff der Hose in Aufruhr brachten. Seine Hände waren breit und fleischig, mit ihren kurzen Fingern, dem prächtigen Daumen und dem eindrucksvollen, massigen Venusberg; sie hingen an seinen Armen herunter, seine Hände, wie Grasnarben. Es war an einem Sommerabend, als die Kinder, die ja gewöhnlich die Verkünder aufwühlender Nachrichten sind, das Dorf davon in Kenntnis setzten, daß Alberto Schlangen fische. „Schlangenfischer, das paßt zu ihm“, dachten die alten Weiber. Das war ein Grund mehr, um ihn zu den Brennesseln zu wünschen. Gelehrte boten eine beachtliche Belohnung für jede Natter, die lebend gefangen wurde. Alberto fing eine, irrtümlich, beim Spiel, lieferte sie lebend ab und erhielt den versprochenen Lohn. So wurde seine neue Beschäftigung geboren, die ihm gefiel und ihn zornig machte auf sich selbst. Er war weder ein Übermensch, noch ein unmoralischer Faun: er war ein Junge voll platter Gedanken, die jedoch von der Wollust bereichert wurden. Er schien ständig entrückt oder ständig betrunken. Es war unvermeidlich, daß Culafroy ihn traf. Im Sommer war es, als er über die Wege schlenderte. Aus weiter Ferne schon, wie er seinen Umriß gewahrte, begriff er, dieses hier sei Schlüssel und Ziel seines Spazierganges. Alberto stand regungslos am Wegrand, fast im Roggenfeld, als ob er jemanden erwarte; seine beiden schönen Beine waren gespreizt, er stand da in der Haltung des Kolosses von Rhodos oder auch, wenn man will, in jener Haltung, die uns, stolz und fest unter ihren Helmen, die deutschen Wachtposten vorführten. Culafroy liebte ihn. Wie er an ihm vorüberging, gleichgültig und tapfer, errötete der Junge und senkte den Kopf, während Alberto ihn mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete. Er war, sagen wir, achtzehn Jahre alt, und dennoch gedenkt Divine seiner wie eines Mannes.
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Folgenden Tages kam er wieder. Alberto stand da, Wachtposten oder Statue, am Wegrand. „Tag“, sagte er mit einem Lächeln, das seinen Mund verzerrte. (Dieses Lächeln war die Besonderheit Albertos, war er selbst. Jedermann konnte seine strähnigen Haare, seine Hautfarbe, seinen Gang haben oder bekommen, nicht so aber sein Lächeln. Jetzt, wenn Divine nach dem entschwundenen Alberto sucht, möchte sie ihn sich selbst aufmalen, indem sie mit ihrem eigenen Mund sein Lächeln findet. Sie gibt ihren Muskeln den Kniff, den sie für richtig hält, der — jedenfalls glaubt sie das, wenn sie spürt, wie ihr Mund sich verzerrt —, der sie Alberto ähnlich macht, bis zu dem Tage, wo sie auf den Gedanken verfällt, vor einen Spiegel zu treten und wo sie erkennen muß, daß ihre Grimassen nichts gemein haben mit jenem Lachen, das wir schon früher als bestirnt bezeichneten.) „Tag“, murmelte Culafroy. Das war alles, was sie sich sagten. Aber von diesem Tag an mußte Ernestine sich daran gewöhnen, ihn nur noch selten im Schieferhaus zu sehen. Eines Tages: „Möchtest Du meine Tasche sehen?“ Alberto zeigte einen kleinen, enggeflochtenen Weidenkorb vor, der mit einem Riemen verschlossen war. An diesem Tag enthielt er nur eine elegante und wutentbrannte Natter. „Soll ich aufmachen?“ „Oh, nein, nein, nicht aufmachen“, sagte er, denn er hatte vor Reptilien noch immer jenen Abscheu, gegen den er machtlos war. Alberto öffnete den Deckel nicht, aber er legte seine harte und sanfte, von den Brombeersträuchern aufgerissene Hand auf den Nacken Culafroys, der beinahe in die Knie gesunken wäre. An einem anderen Tag wanden sich in dem Korb drei ineinander verschlungene Nattern. Über ihren Kopf war eine kleine Haube aus hartem Leder gestülpt, die am Hals mit einem Schnürsenkel zugebunden war. „Du kannst sie anfassen, sie tun Dir nichts.“ Culafroy rührte sich nicht. Ebensowenig wie bei der Erscheinung eines Gespenstes oder eines Himmelsboten hätte er davonlaufen können, aber der Schrecken nagelte ihn fest. Er konnte den Kopf nicht ab-
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wenden, die Schlangen hielten ihn in ihrem Bann, aber er fühlte, er müsse sich übergeben. „Hast Du Schiß? Kannst es ruhig sagen, ich war früher genauso.“ Das war zwar nicht die Wahrheit, aber er wollte das Kind beruhigen. Alberto fuhr mit der Hand kaltblütig, ruhig, überlegen in das Reptiliengewirr und zog ein langes, schlankes Tier hervor, dessen Schwanz sich wie ein Peitschenriemen lautlos um seinen Arm ringelte. „Faß an!“ sagte er, und gleichzeitig führte er die Hand des Kindes zu dem schuppigen, eiskalten Körper; aber Culaf roy schloß die Hand zur Faust und nur die Fingerknöchel berührten die Schlange. So etwas konnte man ja nicht anfassen nennen. Die Kälte kam über ihn. Sie drang ihm ins Blut, und die Einweihungszeremonie ging weiter. Schleier fielen von ernsten, breiten Bildern, von denen Culafroy nichts wußte und deren Einzelheiten sein Blick nicht erkennen konnte. Alberto nahm eine andere Schlange und legte sie auf Culafroys nackten Arm, um den sie sich ebenso ringelte, wie sich die erste geringelt hatte. „Siehst Du, sie tun Dir nicht weh.“ Alberto, spürsinnig, fühlte die Erregung des Kindes anschwellen, so wie seine Rute anschwoll, wenn er sie in den Fingern hielt; er merkte, wie es steif wurde und zu zittern begann. Und wie für die Schlangen die heimliche Freundschaft erwachte. Dabei hatte er noch keine von ihnen berührt, ja, er hatte sie noch nicht einmal gestreift mit dem Tastorgan, den Fingerspitzen, dort, wo sich auf den Fingern ein ganz kleiner, empfindlicher Hügel vorwölbt, mit dessen Hilfe die Blinden lesen. Alberto mußte ihm erst die Hand öffnen und den makaberen, eiskalten Körper in sie hineingleiten lassen. Das war die Offenbarung. Von diesem Augenblick an schien ihm, als dringe ein ganzes Schlangenvolk in ihn ein, klettere an ihm empor und schlängele sich in sein Inneres, ohne daß er dabei etwas anderes empfunden hätte als eine brüderliche Freude, eine Art Zärtlichkeit, und gleichzeitig löste sich Albertos gebieterische Hand nicht aus der seinen, noch auch einer seiner Schenkel von den seinen, und so war er nicht mehr ganz er selbst. Bei ihrem sensiblen Geschmack werden Culafroy und 116
Divine immer gezwungen sein, das zu lieben, was sie verabscheuen, und in diesem Verzicht liegt ein wenig ihre Heiligkeit begründet. Alberto lehrte ihn, wie man die Schlangen fängt. Man muß bis zum Mittag warten, wenn die Schlangen auf den Felsen in der Sonne liegen. Man nähert sich sehr vorsichtig, packt sie am Hals, ganz in der Nähe des Kopfes, zwischen dem gekrümmten Zeige- und Mittelfinger, damit sie weder entgleiten noch beißen können; dann, während sie vor Verzweiflung zischen, muß man schnell eine Haube über ihren Kopf stülpen, die Schnur zuziehen und sie in den Kasten legen. Alberto trug eine geriffelte Samthose, Gamaschen, und die Ärmel seines grauen Hemds waren bis zum Ellbogen aufgekrempelt. Er war schön, wie es alle männlichen Wesen in diesem Buch sind, kräftig und geschmeidig und sich seiner Grazie nicht bewußt. Allein seine harten und widerspenstigen Haare, die ihm über die Augen und bis zum Mund herabfielen, hätten in den Augen des zarten und lockigen Kindes genügt, ihn mit dem Strahlenkranz einer Krone zu umgeben. Sie trafen sich gewöhnlich am Morgen gegen zehn Uhr bei einem Granitkreuz. Sie hielten einen kleinen Schwatz über Mädchen und gingen los. Die Ernte war noch nicht eingebracht. Die metallenen Roggen- und Weizenfelder waren für alle anderen heilig, sie fanden in ihnen eine sichere Zuflucht. Sie drangen ein, Haken schlagend, krochen und fanden sich plötzlich mitten im Feld. Sie streckten sich auf dem Boden aus und warteten, bis es Mittag war. Zuerst spielte Culafroy mit Albertos Armen; am nächsten Tag mit seinen Beinen; an den darauffolgenden Tagen mit allem übrigen, und die Erinnerung daran entzückt Divine, die sich wieder die Wangen hohl machen sieht wie ein pfeifender Junge. Alberto vergewaltigte das Kind von allen Seiten, bis er selbst vor Müdigkeit zusammenbrach. Eines Tages sagt Culafroy: „Ich geh’ nach Hause, Berto.“ »Du gehst? Also dann bis heute abend, Lou.“ Warum „bis heute abend“? Der Satz kam so ungezwungen aus Albertos Mund, daß Culafroy ihn natürlich fand. Er antwortete: »Bis heute abend, Berto.“
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Aber der Tag war zu Ende, sie würden sich erst am nächsten Morgen wiedersehen, und Alberto wußte das. Er lächelte einfältig im Gedanken daran, daß ihm ein Satz entfahren war, den er nicht gedacht hatte. Culafroy seinerseits erklärte sich den Sinn seiner Abschiedsworte nicht näher. Der Satz hatte ihn überwältigt, so wie gewisse naive Gedichte, deren logischer und grammatikalischer Sinn uns erst aufgeht, nachdem wir uns an ihrem Zauber ergötzt haben. Culafroy war einfadi verzaubert. Im Schieferhaus war Waschtag. Auf dem Trockenplatz im Garten bildeten die aufgehängten Laken ein Labyrinth, in dem Gespenster hin- und herglitten. Es war natürlich, daß Alberto ihn hier erwartete. Aber zu welcher Stunde? Er hatte nichts genaueres gesagt. Der Wind bewegte die weißen Laken wie der Arm einer Komödiantin eine Dekoration aus gemalter Leinwand. Die Nacht mit ihrer gewohnten Lindheit wurde dichter und baute eine strenge Architektur auf, mit breiten Flächen, eingezwängt von Schatten. Culafroys Spaziergang begann in dem Augenblick, als der runde, rauchende Mond in den Himmel hinaufstieg. Das Drama würde also hier stattfinden. Wird Alberto kommen, um einzubrechen? Er brauchte Geld, „für seine Puppe“, wie er sagte. Er hatte eine Puppe; das heißt, daß er ein richtiger Kerl war. Vielleicht um einzubrechen, möglich: er hatte sich einmal erkundigt nach der Wohnungseinrichtung im Schieferhaus. Der Gedanke gefiel Culafroy. Er hoffte, Alberto würde auch deswegen kommen. Der Mond stieg zum Himmel hinauf mit einer Feierlichkeit, die darauf berechnet war, die schlaflosen Menschenkinder zu beeindrucken. Tausend Laute, aus denen sich die Stille der Nacht zusammensetzt, drangen auf das Kind ein wie ein tragischer Chor, mit der Zudringlichkeit einer Blechmusik und mit der Fremdheit von Häusern des Verbrechens oder auch von Gefängnissen, in denen — entsetzlich — niemals der Lärm eines Schlüsselbundes zu hören ist. Culafroy ging barfuß zwischen den Laken umher. Er lebte Minuten, die leicht waren wie ein Menuett, Minuten voller Unruhe und Zärtlichkeit. Er stürzte sich sogar in das Abenteuer eines Spitzentanzes, aber die Laken, die herabhängende
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Wände und Gänge bildeten, die wie Leichname so unbeweglichen und heimtückischen Laken konnten sich zusammenschließen, konnten ihn umschlingen und ersticken, wie das in warmen Ländern gelegentlich die Zweige bestimmter Bäume mit unvorsichtigen, in ihrem Schatten ausruhenden Wilden tun. Wenn er den Boden nicht mehr berührte, außer durch eine unbegründete Bewegung mit dem Spann seines gestreckten Fußes, so vermochte ihn diese Bewegung loszulösen, über die Erde emporzuheben und mitten in Welten hinauszuschleudern, aus denen er niemals zurückkehren würde, in einen Raum, in dem nichts mehr ihn aufhalten könnte. Er legte die ganze Sohle seiner Füße auf den Boden, damit sie ihn dort mit größerer Sicherheit festhielten. Denn er wußte, wie man tanzt. Aus einem Heft von Cinemonde hatte er folgendes Thema herausgerissen: „Eine kleine Ballerina in ihrem steifen Tüllkleidchen, die Arme kreisrund über dem Kopf geschlossen und die Zehen, wie eine Lanzenspitze, gegen den Boden gestemmt.“ Unter dem Bild dieser Text: „Die graziöse Ketty Ruphlay, 12 Jahre alt.“ Mit einem erstaunlichen Spürsinn verstand dieses Kind, das niemals einen Tänzer gesehen hatte, niemals eine Bühne, niemals einen Schauspieler, diesen Artikel von einer Seite, in dem von nichts anderem die Rede war als von Tanzfiguren, Entrechats, Battus-jetés, Tutus, Spitzenschuhen, Zwischenvorhängen, Rampen und Ballett. Aus dem Äußeren des Wortes Nijinsky (das aufsteigende N, die herabfallende J-Schleife, der Absprung der K-Schleife und der Sturz des Ypsilon — graphische Form eines Namens, die den Elan aufzeichnen zu wollen scheint, die Abstürze und das Wieder-Abprallen vom Boden eines Künstlers, der nicht weiß, auf welchen Fuß er sich niederlassen soll), erriet er die Leichtigkeit des Künstlers, so wie er eines Tages begreifen wird, daß Verlaine nur der Name eines musikalischen Dichters sein kann. Er lernte allein tanzen, so wie er allein Geigespielen gelernt hatte. Er tanzte also, wie er spielte. Die Gebärden, mit denen er alle Handlungen ausführte, ergaben sich nicht aus der Notwendigkeit der Handlung, sondern waren Teil einer Choreographie, die
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sein ganzes Leben in ein Ballett verwandelte. Es gelang ihm schnell, sich auf die Spitzen zu stellen, und er tat es überall: auf dem Holzplatz, wenn er Holzscheite zusammenraffte, in dem kleinen Stall, unter dem Kirschbaum... Er schlüpfte aus seinen Holzschuhen und tanzte in schwarzen Wollsocken auf dem Gras, indem er sich mit den Händen an die niedrigen Zweige klammerte. Er bevölkerte die Felder mit einer Vielzahl von Figurinen, die Tänzerinnen sein wollten mit einem weißen Tüllröckchen, und die dennoch der blasse Schüler blieben, der in seiner schwarzen Schürze nach Pilzen oder Löwenzahn suchte. Seine große Furcht war, er könne entdeckt werden, vor allem von Alberto. „Was würde ich ihm dann sagen?“ Beim Nachdenken über die Art von Selbstmord, die ihn retten könnte, entschied er sich für das Erhängen. Kehren wir zurück zu jener Nacht. Er verwunderte sich und erschrak über die geringste Bewegung der Äste, über den geringsten Hauch, der ein wenig unvermutet daherkam. Der Mond schlug zehn Uhr. Da kam schmerzliche Unruhe über ihn. Das Kind entdeckte in seinem Herzen und in seiner Kehle die Eifersucht. Jetzt war er sicher, Alberto würde nicht kommen, er würde sich betrinken; der Gedanke, daß Alberto ihn verraten habe, war so stark, daß er sich mit tyrannischer Gewalt in Culafroys Geist festsetzte und ihn veranlaßte, laut zu sagen: „Meine Verzweiflung ist unendlich.“ Im Allgemeinen empfand er, wenn er allein war, kein Bedürfnis, seine Gedanken laut auszusprechen, aber heute befahl ihm sein tiefer Sinn für das Tragische, ein außergewöhnliches Zeremoniell zu beobachten, und so sprach er: „Meine Verzweiflung ist unendlich.“ Er schnaubte, aber er weinte nicht. Die Dekoration um ihn herum hatte ihre unwirkliche, wunderbare Gestalt eingebüßt. Nichts war verändert worden in ihrer Anordnung: es waren immer noch die gleichen weißen Laken auf den durch die Last nach unten gebogenen Eisendrähten, der gleiche mit Funken überspritzte Himmel, aber die Bedeutung war eine andere geworden. Das Drama, das hier stattfand, war in seine pathetische Phase getreten und näherte sich der Lösung: der Schauspieler hatte
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nur noch zu sterben. Wenn ich schreibe, die Bedeutung der Dekoration war nicht mehr dieselbe, so will ich damit nicht behaupten, daß die Dekoration für Culafroy und später für Divine jemals etwas anderes war als das, was sie für jedermann hätte sein können, nämlich: Wäsche, die zum Trocknen über Eisendraht gelegt war. Er wußte sehr wohl, daß er der Gefangene von Bettlaken war, und ich bitte Euch, das Wunderbare gerade hierin zu sehen: er war der Gefangene von vertrauten, aber unbeweglichen Laken im Mondlicht. Im Gegensatz dazu hätte sich Ernestine mit ihrer Hilfe Brokatbehänge oder die Gänge eines Marmorpalastes vorgestellt — Ernestine, die keine Treppenstufe hinaufsteigen konnte, ohne an das Wort Amphitheater zu denken, und die, in der gleichen Lage, nicht verfehlt hätte, in tiefe Verzweiflung zu stürzen und der Dekoration einen anderen Zweck zuzuschreiben, sie umzuwandeln in ein Mausoleum aus weißem Marmor, sie gewissermaßen zu verherrlichen mit ihrem eigenen Schmerz und seiner mausoleumshaften Schönheit. Für Culafroy dagegen hatte sich nichts gerührt, und dieser Gleichmut der Dekoration war sehr bezeichnend für ihre Feindseligkeit. Jedes Ding, jeder Gegenstand war das Ergebnis eines Wunders, dessen Verwirklichung ihn verzückte. Ebenso wie jede Gebärde. Er verstand sein Zimmer nicht, noch den Garten, noch das Dorf. Er verstand überhaupt nichts, nicht einmal, daß ein Stein ein Stein war, und dieses Staunen vor dem, was ist — Dekoration, die vor lauter Sein plötzlich zu sein aufhört —, ließ ihn zur gekrümmten Beute primitiver und einfacher Gefühle werden: Schmerz, Freude, Stolz und Scham ... Er schlief ein wie ein betrunkener Harlekin auf dem Theater, der zwischen seinen flatternden Ärmeln niedergesunken ist, im Gras und unter dem gewalttätigen Licht des Mondes. Am darauffolgenden Tag sagte er nichts zu Alberto. Die Schlangenjagd und das Ausruhen im Roggenfeld waren das, was sie jeden Mittag waren. In der Nacht war Alberto einen Augenblick der Gedanke gekommen, die Hände in den Taschen, um das Schieferhaus zu streunen und zu pfeifen (er pfiff bewunderswürdig, mit langgezogenen, metallenen Tönen,
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und sein Virtuosentum war nicht sein geringster Zauber. Dieses Pfeifen hatte etwas magisches. Es verzauberte die Mädchen. Die Jungen beneideten ihn, weil sie seine Macht begriffen. Vielleicht wäre es ihm gelungen, die Schlangen zu beschwören), aber er kam nicht, denn der Flecken war ihm feindlich gesinnt, besonders wenn er wie ein böser Engel nachts zu ihm hinaufstieg. Er schlief. Sie liebten sich weiter inmitten der Nattern. Divine erinnert sich. Sie denkt, dies sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen.
Eines Nachts auf dem Boulevard traf sie Seck Gorgui. Der große, besonnte Neger, obgleich nur ein Schatten des Erzengels Gabriel, ging auf Abenteuer aus. Er war mit einem kurzhaarigen, grauen Wollanzug bekleidet, der ihm an Schultern und Schenkeln klebte, und sein Jackett war schamloser als das zu enge Trikot, in das Jean Borlin seine runden Eier zwängte. Er trug eine rosa Krawatte, ein cremefarbenes Seidenhemd, Goldringe mit falschen oder echten (was bedeutet das schon!) Diamanten besetzt, und an den Fingerspitzen hatte er wunderbar lange, dunkle Nägel, die an der Wurzel hell waren wie echte, ein Jahr alte Haselnüsse. Augenblicklich fühlte sich Divine wieder als Achtzehnjährige, denn sie hatte den einfältigen, freilich vagen Gedanken, daß Gorgui als Schwarzer und in heißen Ländern Geborener weder ihr Alter, noch ihre Falten noch die Perücke erkennen könne. Sie sagte: „Ach! Dich hier zu treffen! Ich bin wirklich entzückt!“ Seck lachte: „Ja, ja, es geht so“, sagte er, „und Du?“ Divine preßte sich an ihn. Er hielt dem Druck stand, aufrecht stehend, obwohl etwas nach hinten gebogen, regungslos und fest in
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der Haltung eines Schulbuben, der den Ranzen als Schild vor die Brust geschoben hat und sich in seinen nervösen Kniekehlen biegt, um gegen ein Nichts zu pissen, oder auch in der Pose, in der, wie wir gesehen haben, Alberto von Lou entdeckt wurde, als Koloß von Rhodos, in dieser männlichsten der von den Wachtposten eingenommenen Haltungen, mit den gespreizten Schenkeln über den Stiefeln und dazwischen das bajonettbewehrte, bis zum Mund aufragende Gewehr, das sie mit beiden Händen umklammern. „Was treibst Du? Spielst Du Saxophon?“ „Nein, damit ist Schluß, ich lebe in Scheidung. Ich hab’ Banjo fallen lassen“, sagte er. „Ah? Warum? Sie war doch ganz nett, die Banjo.“ Hier überwand Divine ihre gutherzige Natur und fügte hinzu: „Ein klein bißchen füllig, ein ganz kleines bißchen rund, aber im ganzen genommen hatte sie wirklich einen guten Charakter. Und jetzt?“ Gorgui war diese Nacht frei. Er sei gerade dabei, auf den Strich zu gehen. Er brauche Geld. Divine steckte den Schlag ein, ohne zu mucksen. „Wieviel, Gorgui?...“ „Fünf Louis.“ Das war genau. Er bekam seine hundert Franken und folgte Divine in ihre Mansarde. Neger haben kein Alter. Fräulein Adeline könnte uns erzählen, daß sie sich beim Addieren verzählen, denn sie wissen, daß sie zur Zeit einer Hungersnot geboren wurden, beim Tod von drei Jaguaren, während der Mandelblüte, und diese Umstände, vermengt mit Zahlen, lassen Irrtümer entstehen. Gorgui, unser Neger, war flink und kräftig. Eine Bewegung seiner Lenden ließ das Zimmer beben, so wie Village, der schwarze Mörder, seine Gefängniszelle zum Beben brachte. Ich habe versucht, in der Zelle, in der ich heute schreibe, den Aasgeruch neu zu beschwören, den der Neger mit der stolzen Blume um sich verbreitete, und dank seiner gelingt es mir vielleicht, Seck Gorgui etwas mehr Leben zu verleihen. Ich sagte
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schon, wie sehr ich Gerüche liebe. Die starken Gerüche der Erde, der Latrinen, der Hüften der Araber und vor allem den Geruch meiner Fürze, nicht zu verwechseln mit dem ekelerregenden Geruch meiner Scheiße — ich liebe sie so sehr, daß ich mich noch heute unter die Decken kuschele und in der wie eine Tüte zusammengerollten Hand meine zergangenen Fürze sammle, um sie an meine Nase zu führen. Sie öffnen für mich versunkene Schätze von Glück. Ich atme. Ich sauge den Geruch ein. Ich spüre sie durch meine Nüstern fast wie etwas Festes hinuntergleiten. Aber nur der Geruch meiner eigenen Fürze entzückt mich, und die des schönsten Jungen der Welt flößen mir Ekel ein, ja, es genügt bereits, daß ich im Zweifel bin, ob ein Geruch von mir oder einem anderen stammt, um ihn mir unangenehm werden zu lassen. Clément Village also, damals als ich ihn kannte, erfüllte die Zelle mit einem Geruch, der stärker war als der Tod. Die Einsamkeit ist süß. Sie ist bitter. Man meint, der Kopf müsse sich in ihr leeren von allen vergangenen Aufzeichnungen, das ist die Abnutzung, die der großen Reinigung vorauf geht; aber Ihr versteht gewiß über dem Lesen meines Buches, daß davon keine Rede sein kann. Ich war entsetzlich aufgeregt. Der Neger heilte mich ein wenig. Es schien, als genüge seine außergewöhnliche sexuelle Kraft, um mich zu beruhigen. Er war stark wie das Meer. Seine Ausstrahlung war erholsamer als jede Medizin. Seine Gegenwart war beschwörend. Ich schlief. Zwischen den Fingern rollte er einen Soldaten, dessen Augen nur noch zwei Orgelpunkte waren, die von meiner Feder in Notenschrift in sein glattes, rosiges Gesicht gezeichnet wurden; ich kann keinem azurblauen Soldaten mehr begegnen, ohne ihn auf der Brust des Negers liegen zu sehen, und ohne daß mir sofort der Benzingeruch in die Nase sticht, der mit dem seinigen zusammen die Zelle verpestete. Das geschah in einem anderen Gefängnis Frankreichs, in dem die Gänge — so lang wie die der königlichen Paläste — Geometrien bauen und weben, worin — winzig im Vergleich mit den Gängen — in Filzpantoffeln die verrenkten Häftlinge hin- und hergleiten. Auf
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jeder Tür las ich im Vorübergehen ein Schild, auf dem die Kategorie des Insassen verzeichnet war. Die ersten Schilder lauteten: „Einzelhaft“, die folgenden: „Strafkolonie“, andere: „Zwangsarbeit“. Beim letzten bekam ich einen Schlag. Das Bagno nahm unter meinen Augen Gestalt an. Es hörte auf, Wort zu sein, es wurde Fleisch. Ich war niemals am Ende des Ganges, denn er schien mir das Ende der Welt zu sein, das Ende von Allem; doch der Gang gab mir Zeichen, sandte Rufe aus, die mich rührten, und so werde ich gewiß auch bis ans Ende des Ganges gehen. Ich glaube, obwohl ich weiß, daß es falsch ist, auf den Türen steht: „Tod“, oder vielleicht, und das wäre noch schlimmer: „Todesstrafe.“ In diesem Gefängnis, das ich nicht nennen will, hatte jeder Häftling einen kleinen Hof, wo jeder Ziegelstein der Mauer eine Botschaft an einen Freund trug: „B. A. A. von Sebasto — Jacquot von Topol, genannt V. L. F. an Lucien de la Chapelle“, eine Ermahnung an die Mutter als ex-voto, oder ein Pranger: „Polo von der Gyp’s Bar ist ein Spitzel.“ Es war dasselbe Gefängnis, in dem der Oberaufseher jedem Sträfling am Neujahrstag eine Tüte mit grobem Salz schenkte. Als ich in meine Zelle trat, bemalte der große Neger mit blauer Farbe kleine Bleisoldaten, von denen der größte kleiner war als sein kleinster Finger. Er packte sie am Schenkel, so wie früher LouDivine die Frösche packte, dann stellte er sie auf die Erde zurück, wo sie in großer Unordnung trockneten; es war ein winziges und knisterndes Chaos, das der Neger noch dadurch erhöhte, daß er sie auf geile Art miteinander verkuppelte — denn die Einsamkeit schärfte noch seine Geilheit. Er empfing mich mit einem Lächeln und einem Stirnrunzeln. Zurückgekehrt aus dem Zuchthaus von Clairvaux, wo er fünf Jahre verbracht hatte, spielte er hier schon seit einem Jahr die Rolle des Passagiers, der auf seinen Abtransport ins Bagno wartet. Er hatte seine Frau umgebracht, sie auf ein gelbes, mit grünen Blumensträußen verziertes Seidenkissen gesetzt und eingemauert. Das Mauerwerk erhielt dabei die Form einer Bank. Es war ein Jammer, daß ich mich nicht an diese Geschichte erinnerte, die ihr in den Zeitungen gelesen habt. Da dieses Unglück sein
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Leben zerbrochen hat, möge es seinem Ruhm dienen, denn es ist ein schlimmeres Übel als das, Hamlet zu sein und doch kein Prinz: „Ich heiße Clément“, sagte er, „Clément Village.“ Seine groben Hände mit der rosigen Innenfläche marterten, wie mir schien, die Bleisoldaten. Seine runde Stirn, die von Runzeln so frei war wie die eines Kindes (mulierische Stirn, hätte Gall gesagt), neigte sich dicht über sie. „Ich mache Landser.“ Ich lernte, wie man sie bemalt. Die Zelle war voll von ihnen. Der Tisch, das Wandbrett, der Boden waren von diesen winzigen, kalten und leichenharten Kriegern bedeckt, denen ihre Zahl und unmenschliche Kleinheit eine seltsame Seele verlieh. Am Abend schob ich sie mit dem Fuß zur Seite: ich breitete meinen Strohsack aus und schlief mitten zwischen ihnen ein. Wie die Bewohner von Liliput banden sie mich, und um mich zu befreien, bot ich Divine dem Erzengel Gabriel an. Tagsüber arbeiteten der Neger und ich wortlos. Aber ich war sicher, irgendwann einmal würde er mir sein Abenteuer erzählen. Ich mache mir nichts aus dieser Art Geschichten. Gegen meinen Willen denke ich daran, wie oft der Erzähler sie wohl schon hergesagt hat, und mir ist, als wäre sie ein Kleid, das man mir überstülpt, bis... Schließlich habe ich meine eigenen Geschichten. Sie quellen mir aus den Augen. Die Gefängnisse haben ihre stillen Geschichten, und die Wärter haben welche, ja sogar die Bleisoldaten, die innen hohl sind. Hohl! Der Fuß eines Bleisoldaten war abgebrochen, der Stumpf zeigte ein Loch. Diese Gewißheit ihrer inneren Leere entzückte mich und machte mich untröstlich. Zu Hause befand sich eine Gipsbüste der Königin Marie-Antoinette. Fünf oder sechs Jahre lang lebte ich in ihrer Nähe, ohne sie zu bemerken, bis zu dem Tage, wo ihr Chignon auf wunderbare Weise abbrach und ich sah, daß die Büste hohl war. Ich mußte ins Leere springen, um es zu sehen. Was bedeuten also schon diese Geschichten mordender Neger, wenn Mysterien wie das Mysterium des Nichts und des Nein mir Zeichen geben und sich mir offenbaren, sc wie sie sich damals im Dorf LouDivine offenbarten. Die Kirche spielte dabei die Rolle eines Kasten-
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teufels. Obwohl Lou durch die Gottesdienste an Prachtentfaltung gewöhnt war, stürzte ihn jedes kirchliche Fest erneut in Verwirrung, denn aus irgendeinem Versteck sah er plötzlich vergoldete Kandelaber hervortreten, Lilien aus weißem Email, silberbestickte Altartücher, und aus der Sakristei kamen die grünen, violetten, weißen und schwarzen, aus Mohair oder Samt gearbeiteten Meßgewänder, die Chorröcke, die steif en Stolen und die neuen Hostien. Unerwartete und unerhörte Hymnen erklangen, darunter die verwirrendste, der Veni creator, den man bei Traugottesdiensten singt. Der Zauber, der vom Veni creator ausging, war der Zauber der Zuckermandeln und wächsernen Orangenknospen, der Zauber des weißen Tüll (und ihm gesellt sich noch ein anderer Zauber zu, der nämlich, den in eigentümlicherer Weise die Gletscher besitzen — wir sprechen später noch davon) — es war der Zauber der gefransten Armbinden der Erstkommunikanten, der weißen Söckchen. Mit einem Wort, es war der Hochzeitszauber. Es ist wichtig, davon zu sprechen, denn jener Zauber ist es, der das Kind Culafroy in den siebenten Himmel hebt. Ich kann nicht sagen warum.
Der goldene Ring liegt auf dem über das Tablett gebreiteten weißen Tuch. Der Priester trägt es vor das Traupaar, und mit seinem Sprengel macht er kreuzförmig vier kleine Stöße, die auf dem Ring vier kleine Tropfen zurücklassen.
Die Gewölbe und Mauern der Kapelle der Jungfrau sind weißgetüncht, und die Jungfrau trägt eine Schürze so blau wie der Kragen der Matrosen. Im Angesicht der Gläubigen ist der Altar wohlgerichtet; im Angesicht Gottes ist er ein Chaos aus Holz, Staub und Spinnweben.
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Der Klingelbeutel der Kirchendienerin war aus einem Rest rosa Seide gefertigt; er stammte von einem Kleid der Schwester Albertos. Aber Culafroy wurde rasch vertraut mit den Dingen in der Kirchebald konnte ihm nur noch die Kirche des Nachbarfleckens ein neues Schauspiel bescheren. Nach und nach leerte sie sich von ihren Göttern; sie flohen bei der Annäherung des Kindes. Auf die letzte Frage, die er ihnen stellte, erhielt er eine Antwort, die schneidend war wie eine Ohrfeige. Eines Mittags besserte der Maurer die Vorhalle der Kapelle aus. Er war auf die Spitze einer Doppelleiter geklettert und war, wie er dort oben stand, in Culafroys Augen keineswegs ein Erzengel, denn das Kind hatte die Wunderwelt der Kirchenbilder niemals ernst nehmen können. Der Maurer war der Maurer. Ein hübscher Kerl übrigens. Die Samthose, die seine Hinterbacken klar abzeichnete, schlenkerte um seine Beine. Im Kragenausschnitt seines weit geöffneten Hemdes sprang sein Hals aus den harten Brusthaaren hervor wie ein Baumstamm aus dem feinen Gras des Unterholzes. Die Kirchentür war offen. Lou ging unter den Ästen der Leiter hindurch, senkte den Kopf und die Augen unter dem Himmel einer gerippten Samthose und schlängelte sich bis zum Chor durch. Der Maurer, der ihn gesehen hatte, sagte nichts. Er hoffte, der Junge werde dem Pfarrer einen Streich spielen. Culafroys Holzschuhe klapperten auf den Steinplatten bis zu der Stelle, wo sie von einem Teppich bedeckt sind. Unter dem Kronleuchter blieb er stehen und kniete sich sehr zeremoniell auf einen mit Stoff ausgeschlagenen Betschemel. Seine Kniebeugen und Gebärden waren die getreue Nachahmung jener Bewegungen, die Albertos Schwester jeden Sonntag auf diesem Betschemel ausführte. Er schmückte sich mit ihrer Schönheit. Das heißt, Handlungen haben nur so weit einen ästhetischen und moralischen Wert, als diejenigen, die sie ausführen, mit Macht begabt sind. Ich frage mich noch immer, was jene Anteilnahme bedeutet, die sich in mir angesichts eines albernen Liedes genauso regt, wie bei der Begegnung mit einem anerkannten Meisterwerk. Diese Macht wird auf uns übertragen, so daß wir sie in uns fühlen,
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und das macht uns die Bewegung erträglich, mit der wir uns bücken, um in das Auto zu steigen; denn in dem Augenblick, wo wir uns bücken, macht ein unsichtbares Gedächtnis aus uns einen Star oder einen König oder einen Landstreicher (aber auch er ist ein König), der sich in der gleichen Art bückte und den wir auf der Straße oder auf der Leinwand gesehen haben. Wenn ich mich auf die rechte Fußspitze erhebe und den rechten Arm ausstrecke, um meinen kleinen Spiegel von der Mauer herunterzuholen, oder um meinen Eßnapf auf dem Regal zu greifen, fühle ich mich in die Prinzessin T. verwandelt, die ich einmal diese Bewegung machen sah, um eine Zeichnung, welche sie mir gezeigt hatte, an ihren Platz zurückzulegen. Die Priester, die immer wieder die gleichen symbolischen Gebärden machen, fühlen sich nicht von der Kraft des Symbols durchdrungen, sondern von der Kraft desjenigen, der die Gebärden zum ersten Mal ausführte; der Priester, der Divine beerdigte, schmückte sich, als er während der Messe die heuchlerischen Gebärden von Diebstahl und Einbruch wiederholte, mit den Gebärden — spolia opima — eines guillotinierten Gauners. Sobald er also dem Weihwasserbecken am Eingang einige Tropfen entnommen hatte, wuchsen auf Culafroys Leib die Hinterbacken und harten Brüste Germaines, so wie dort später Muskeln wuchsen, und er mußte sie nach der augenblicklich herrschenden Mode tragen. Dann betete er, in guter Haltung und mit Gemurmel, indem er besonderen Wert auf die Neigung des Kopfes und auf die hoheitsvolle Langsamkeit der Bekreuzigung legte. Schattenhafte Anrufe gelangten zu ihm aus allen Winkeln des Chors, von überall her aus dem Gestühl am Altar. Die kleine Lampe leuchtete; am Mittag suchte sie einen Mann. Der Maurer, der unter dem Vordach pfiff, war von dieser Welt, er gehörte dem Leben an, und Lou, ganz allein hier, fühlte sich als der Meister des riesigen Kramladens. Er mußte den Fanfarenrufen antworten und in den Schatten treten, der so voll war wie etwas Festes . . . Schweigend erhob er sich; seine Holzschuhe, die vor ihm den Boden berührten, trugen ihn mit unendlicher Vorsicht über
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die dicke Wolle des Teppichs, und der Duft von altem Weihrauch — so giftig wie der von altem Tabak in einer ausgebrannten Pfeife oder wie der Atem eines Geliebten — dämpfte die Ängste, die bei jeder Bewegung neu und heftig in ihm aufstiegen. Er bewegte sich langsam, seine Muskeln waren müde und weich wie die eines Tauchers; sie waren erstarrt von jenem Geruch, der den Augenblick so sehr hinauszögerte, daß Culafroy weder von hier noch von heute zu sein schien. Der Altar befand sich plötzlich in Reichweite seiner Hand, als habe Lou aus Versehen einen Riesenschritt gemacht, und er fühlte sich als Ketzer. Die Heiligen Episteln lagen umgekippt auf dem Steintisch. Die Stille war eine besondere, eine anwesende Stille, die durch die Geräusche von draußen nicht beeinträchtigt wurde. Sie wurden auf den mächtigen Kirchenmauern zerquetscht wie die faulen, von den Kindern geworfenen Früchte; wenn man sie hörte, störten sie in nichts die Stille. „Cula!“ Es war der Maurer, der rief. „Psst! Schrei nicht in der Kirche!“ Diese beiden Repliken verursachten einen ungeheuren Riß in dem Gebäude des Schweigens, jenem Schweigen der Villen, in die eingebrochen wird. Die Doppelvorhänge des Tabernakels waren nicht ganz zusammengezogen, sie ließen einen Spalt frei, so obszön wie ein offener Hosenschlitz, und dazwischen lugte der kleine Schlüssel hervor, der die Tür verschlossen hält. Culafroys Hand befand sich auf dem Schlüssel, als er wieder zu Sinnen kam, um gleich darauf die Sinne wieder zu verlieren. Das Wunder! Das Blut soll aus den Hostien rinnen, wenn ich eine davon nehme! Die unachtsam erzählten Geschichten der Juden, der ketzerischen Juden, die in die heiligen Leiber beißen, die Geschichten von Wundern oder von Hostien, die von Kinderzungen fielen und die Fliesen oder die Tücher mit Blut befleckten, die Geschichten von simonistischen Räubern haben diesen kurzen Augenblick der Angst vorbereitet. Man kann nicht sagen, Lou’s Herz habe stärker geklopft, im Gegenteil — eine Art Digitalis, die man dort Jungfrauenfinger nennt, verlangsamte seinen Rhyth-
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mus und seine Kraft — und auch seine Ohren dröhnten nicht: das Schweigen trat aus ihnen heraus. Auf den Fußspitzen stehend, hatte er den Schlüssel gefunden. Er atmete nicht mehr. Das Wunder. Er wartete darauf, daß die Gipsstatuen aus ihren Nischen purzeln und ihn zermalmen würden; er war sicher, sie würden es tun; für ihn war es schon geschehen, ehe es noch geschehen war. Er erwartete die Verdammung mit der Ergebenheit des zum Tode Verurteilten; da sie unmittelbar bevorstand, wartete er in Ruhe. Das heißt, er handelte erst, nachdem er die Handlung im Geiste bereits ausgeführt hatte. Die Stille (sie verdoppelte, verdreifachte sich) war im Begriff, die Kirche platzen zu lassen, ein Feuerwerk zu machen aus den Dingen Gottes. Dort war der Kelch. Er hatte ihn geöffnet. Die Tat schien ihm so ungewöhnlich, daß er aus Neugierde sich selbst zusah, wie er sie beging. Der Traum wäre beinahe in sich zusammengebrochen. Lou-Culafroy ergriff die drei Hostien und ließ sie auf den Teppich fallen. Sie gingen zögernd nach unten, segelten wie Blätter, die bei ruhigem Wetter fallen. Und die Stille stürzte über das Kind her wie eine Horde Boxer und ließ ihn den Boden mit den Schultern berühren. Er ließ den Kelch entgleiten, der auf die Wolle fiel und einen hohlen Laut von sich gab. Und das Wunder ereignete sich. Es ereignete sich kein Wunder. Gott hatte sich verkrochen. Gott war hohl. Eine hübsche Form, wie der Gipskopf der Marie-Antoinette, wie die kleinen Soldaten, die Löcher waren, mit ein bißchen Blei darum herum.
So lebte ich inmitten einer Unzahl von Löchern in Menschengestalt. Ich schlief auf einer Matratze, die man auf die Erde gelegt hatte; denn es war nur ein Bett da, in dem Clément schlief; von unten sah ich ihn an, wie er dort, als wäre es eine Bank, ausgestreckt auf dem Altar-
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stein lag. In der ganzen Nacht rührte er sich nur ein einziges Mal, um auf die Latrine zu gehen, und diese Zeremonie führte er im tiefsten Geheimnis aus. Im Verborgenen, in der Stille. Hier ist seine Geschichte, so wie er sie mir erzählt hat. Er kam von Gouadeloupe und war Nackttänzer im Caprice Viennois. Er bewohnte mit seiner Geliebten, einer Sonia genannten Holländerin, eine kleine Wohnung am Montmartre. Sie lebten dort so, wie wir Divine und Mignon ha.ben leben sehen, also ein wundervolles, leichtes Leben, das ein Luftzug zum Platzen bringen kann — so jedenfalls denken die Bürger, die sehr heftig die Poesie im Leben jener empfinden, die Poesie hervorbringen: Negertänzer, Boxer, Prostituierte und Soldaten, — die aber nicht sehen, daß es im Leben dieser Dichter ein irdisches Band gibt; denn es ist voller Schrecken. Im Mai 1939, es ging auf die Morgendämmerung zu, gab es zwischen ihnen eine jener Szenen, die zwischen Huren und Zuhältern an der Tagesordnung sind; denn die Ausbeute war ungenügend. Sonia sprach von Fortgehen. Er ohrfeigte sie. Sie brüllte. Sie beschimpfte ihn auf deutsch, da das Haus jedoch von taktvollen Leuten bewohnt war, hörte niemand etwas. Da verfiel sie auf den Gedanken, ihren unter dem Bett verborgenen Koffer hervorzuzerren, und sie begann schweigend, ihre Wäsche hineinzuwerfen. Der große Neger näherte sich ihr. Beide Hände in den Taschen, sagte er: „Laß das, Sonia!“ Vielleicht hatte er auch eine Zigarette im Mund. Sie stopfte weiter Seidenstrümpfe, Kleider, Schlafanzüge und Handtücher in den Koffer. „Laß das, Sonia!“ Sie stopfte. Der Koffer lag auf dem Bett. Clément stieß seine Geliebte auf den Koffer, sie fiel nach hinten über und ihr verlorenes Gleichgewicht brachte ihm ihre Füße unter die Nase, an denen sie noch die Silberschuhe trug. Die Holländerin stieß einen winzigen Schrei aus. Der Neger hatte sie an den Knöcheln gepackt, er hob sie auf wie eine Puppe, und mit einer schwindelerregenden, einer sonnenhaften
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Bewegung — indem er sich einmal halb im Kreise drehte, schmetterte er ihren Kopf gegen das Gestell des kleinen, kupfernen Bettes. Clément erzählte mir den Hergang in seiner sanften Kreolensprache, in der es keine r’s gibt; das Ende der Sätze dehnte er in die Länge. „Du ve’stehen, Miste’ Jean. Ich schlagen ihre Kopf und ihre Kopf geht auf die Kupferstange kaputt.“ In seinen Fingern hielt er einen kleinen Soldaten, dessen symmetrisches Gesicht nichts als Einfalt ausdrückte und von dem jenes Unbehagen ausging, das auch primitive Zeichnungen verbreiten, Zeichnungen, wie die Häftlinge sie in die Gefängnismauern einritzen und in die Bücher der Bibiliothek kritzeln oder auch auf ihre Brüste, bevor sie sie tätowieren lassen — Zeichnungen von Profilen und darinnen ein Auge en face. Clément erzählte mir dann, welche Ängste er während der Fortsetzung des Dramas ausstand: die Sonne, sagte er mir, schien durch das Fenster der kleinen Wohnung, und er habe niemals zuvor eine Eigenschaft der Sonne beachtet: ihre Bosheit. Sie war das einzige lebende Ding. Die Sonne war mehr als nur Zubehör, sie war ein triumphierender, hinterhältiger Zeuge, ein Zeuge von hoher Bedeutung (Zeugen sind fast immer Belastungszeugen), eifersüchtig wie eine Schauspielerin, die nicht als Star angekündigt worden ist. Clément öffnete das Fenster, und im gleichen Augenblick war ihm, als habe er öffentlich sein Verbrechen eingestanden; die Straße drang als dicke Menschenmenge in das Zimmer ein, brachte Ordnung und Unordnung des Dramas durcheinander und nahm an ihm teil. Diese Fabel-Stimmung hielt eine Weile an. Der Neger lehnte sich zum Fenster hinaus; ganz am Ende der Straße sah er das Meer. Ich frage mich: wenn ich den Geisteszustand eines Verbrechers, der das furchtbare Entsetzen angesichts seiner Tat überwindet, zu rekonstruieren versuche, will ich dann nicht insgeheim erfahren, welche Methode am geeignetsten ist (welche Methode meiner Natur am besten entspricht), damit ich selbst nicht dem Entsetzen erliege, wenn der Augenblick gekommen sein wird? Plötzlich fielen ihm alle Wege, um sich Sonias zu entledigen, gleichzeitig
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ein; sie waren geordnet, verschlungen, gedrängt, sie boten sich ihm zur Wahl an wie in einer Auslage. Er erinnerte sich nicht, je von einem eingemauerten Leichnam gehört zu haben, und doch war es dieser Weg, den er vorgezeichnet fühlte, noch ehe er ihn gewählt hatte. „Ich Türe zusperren und Schlüssel in Tasche gesteckt. Dann ich habe Koffer vom Bett genommen. Ich habe Decken herausgezogen und dann Sonia hinlegen. Das war komisch, Miste’ Jean, ich Sonia so halten. Das Blut hat geklebt auf ihre Wange.“ Nun begann jenes lange, heroische Leben, das einen ganzen Tag dauern sollte. Durch eine mächtige Willensanstrengung entging er der Banalität — er hielt seinen Geist in einer übermenschlichen Sphäre, in der er Gott war und mit einem Schlage eine einmalige Welt schuf, in der sich seine Taten der moralischen Überprüfung entzogen. Er verfeinerte sich. Er wurde General, Priester, Opferpriester, Offiziant. Er hatte geboten, gerächt, geopfert, geschenkt — er hatte Sonia nicht getötet. Er benutzte mit einem verwirrenden Instinkt diesen Kunstgriff, um seine Tat zu rechtfertigen. Die mit einer irren Einbildungskraft begabten Menschen scheinen als Gegengewicht jene große dichterische Fähigkeit zu besitzen: unsere Welt und ihre Werte zu leugnen, um mit überlegener Gelassenheit auf sie einzuwirken. Wie jemand, der sein Entsetzen überwindet, wenn er zum ersten Mal in das Wasser und in die Leere tritt, atmete er tief, und, zur äußersten Kälte entschlossen, machte er sich fühllos und abwesend. Nachdem das Unwiderrufliche vollbracht war, fand er sich damit ab, zog es in seine Berechnungen ein, um sich mit ganzer Kraft dem Widerruflichen zuzuwenden. Wie man einen Mantel auszieht, so entledigte er sich seiner christlichen Seele. Er weihte seine Taten mit einer Gnade, die einem Gott, der den Mord verdammt, nichts schuldig blieb. Er verstopfte die Augen des Geistes. Einen ganzen Tag lang, wie automatisch, folgte sein Körper Befehlen, die nicht von dieser Welt kamen. Es war nicht so sehr das Entsetzen vor dem Mord, das ihn schreckte — er hatte Angst vor dem Leichnam. Das tote weiße Mädchen verwirrte ihn; wahrscheinlich hätte eine tote Schwarze ihn
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weniger beunruhigt. Er verließ also die Wohnung, die er sorgfältig verschloß, und machte sich in dieser ersten Stunde des Tages auf den Weg zu einem Bauplatz, um zehn Kilo Zement zu holen. Zehn Kilo genügten. In einem entfernten Viertel, in der Gegend des Boulevard Sébastopol, kaufte er eine Kelle. Auf der Straße fand er seine menschliche Seele wieder; er handelte wie ein Mensch, er verlieh seiner Tätigkeit einen banalen Sinn: eine kleine Mauer errichten. Er kaufte fünfzig Ziegelsteine, die er in eine benachbarte Straße ziehen und dort auf einer Mietkarre abstellen ließ. Es war schon Mittag. Die Ziegelsteine in seine Wohnung schaffen war ein schwieriges Beginnen. Zehnmal ging er von der Karre zu seiner Wohnung, und jedesmal trug er fünf oder sechs Steine, die er unter einem Mantel verbarg, den er über den Arm gelegt hatte. Als alles Material im Zimmer bereitstand, kehrte er in seinen Himmel zurück. Er entdeckte die Tote; er war jetzt allein. Er legte sie gegen die Mauer, in der Nähe des Kamins; er hatte den Gedanken, sie stehend einzumauern, aber der Leichnam war zusammengekrümmt. Er versuchte, die Beine zu entspannen, aber sie besaßen die Härte von Holz und die endgültige Form. Die Knochen knatterten wie ein Feuerwerk; so ließ er sie zusammengekauert am Fuß der Mauer und begann seine Arbeit. Das Werk eines Genies verdankt vieles dem Zusammenwirken der äußeren Umstände mit dem Schöpfer. Als er seine Arbeit beendet hatte, entdeckte er, daß er mit bewundernswerter Genauigkeit die Form einer Bank geschaffen hatte. Das gefiel ihm. Er arbeitete wie ein Nachtwandler, abwesend und freiwillig; er weigerte sich, den Abgrund zu sehen, um dem Schwindel-Irrsinn zu entgehen, dem gleichen Schwindel, dem hundert Seiten weiter Notre-Dame-des-Fleurs nicht widerstand. Er wußte, wenn er nachgegeben hätte, das heißt, wenn er auf diese strenge Haltung, an die er sich klammerte wie an eine Eisenstange, verzichtete, wäre er abgesackt. Abgesackt, das heißt: zur Polizeiwache gelaufen und in Tränen ausgebrochen. Er war sich klar darüber, und er ermahnte und beschwor sich unter der Arbeit. Während der ganzen Erzählung
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liefen die kleinen Bleisoldaten geschwind durch seine groben, leichten Finger. Ich hörte aufmerksam zu. Clément war schön. Wie Ihr aus Paris-Soir wißt, kam er beim Aufstand in Cayenne ums Leben. Aber er war schön. Er war vielleicht der schönste Neger, den ich je gesehen habe. Wie werde ich das Bild liebkosen, das ich mir in Erinnerung an ihn von Seck Gorgui entwerfe; ich will, daß er ebenso schön sein soll, und ebenso nervig und ebenso roh! Vielleicht wird ihn sein Geschick auch noch schöner machen, so wie die banalen Lieder, die ich hier abends höre, dadurch ergreifend werden, daß sie mir durch Zellen und Zellen schuldiger Bagnosträflinge hindurch zugetragen werden. Seine ferne Geburt, seine Tänze bei Nacht und seine Verbrechen endlich waren die Elemente, die ihn mit Poesie umhüllten. Seine Stirn, ich habe es gesagt, war rund und glatt, seine Augen lachten unter den langen, aufwärts gebogenen Wimpern. Er war sanft und hochnäsig. Mit einer Eunuchenstimme summte er alte Lieder von den Inseln. Schließlich griff ihn die Polizei, ich weiß nicht wie. Die kleinen Soldaten setzten ihre Invasion fort, und eines Tages brachte der Vorarbeiter den Soldaten, der zuviel war. Mit weinerlicher Stimme sagte Village zu mir: „Ich hab genug, Miste. Schauen Sie, Jean, immer noch Landser.“ Von diesem Tag an wurde er schweigsamer. Ich wußte, er haßte mich, ohne daß ich hätte herausfinden können, warum, und auch ohne daß unsere kameradschaftlichen Beziehungen darunter litten. Doch begann er seinen Haß, seine Gereiztheit durch allerlei Kleinlichkeiten zu bekunden, gegen die ich nichts vermochte, denn er war unverwundbar. Eines Morgens, als er sich beim Erwachen im Bett aufsetzte, blickte er in das Zimmer und sah es voller alberner Figürchen, die überall ausgebreitet waren, fühllos und hinterlistig wie ein Volk von Embryos, wie chinesische Henker. Die Truppen gingen in widerwärtigen Wellen zum Angriff auf den Riesen über. Er fühlte sich schwanken. Er versank in einem absurden Meer, und durch den Strudel der Verzweiflung zog er mich mit in den Schiff-
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bruch. Ich packte einen Soldaten. Sie lagen auf der Erde, überall, tausend, zehntausend, hunderttausend! Obwohl ich ihn festhielt, den einen, den ich aufgelesen hatte, in der warmen Höhlung meiner Faust, blieb er eisig und atmete nicht. Im Zimmer war überall etwas Blaues: blauer Lehm in einem Topf, blaue Flecken auf den Wänden und auf meinen Nägeln. Blau wie die Schürze der Unbefleckten Empfängnis, blau wie Email, blau wie eine Standarte. Die kleinen Soldaten schwollen zu einer Dünung an, in der das Zimmer schlingerte: „Schauen Sie!“ Clément saß auf dem Bett und stieß kleine, schrille Schreie aus. Seine langen Arme hoben sich und fielen leblos auf die Knie zurück (wie es Frauen machen). Er weinte. Seine schönen Augen waren geschwollen von Tränen, die ihm bis zum Mund rannen. „Ah! Ah!“ Ich aber, hier, ganz allein, ich erinnere mich nur noch an jenen geschmeidigen Muskel, den er einführte, ohne ihn mit der Hand zu berühren, ich erinnere mich an jenes lebendige Glied, dem ich einen Tempel errichten möchte. Andere erlagen dem gleichen Zauber. Und Divine erlag Seck Gorgui; andere erlagen Diop, N’golo, Smail, Diagne.
Mit Gorgui geriet Divine rasch in Ekstase. Er spielte mit ihr wie die Katze mit der Maus. Er war grausam. Ihre Wange gegen die schwarze Brust gelehnt — die Perücke saß fest — dachte Divine wieder an jene kräftige Zunge und verglich sie mit ihrer eigenen, die weich ist. Alles an Divine ist weich. Weichheit aber, oder Steifheit, sind nur eine Frage der Gewebe, in denen das Blut mehr oder weniger pulsiert, und Divine ist nicht anemisch. Sie ist die, die weich ist. Also: ihr Charakter ist weich, ihre Wangen sind weich, ihre Zunge ist weich, und ihr Schwanz ist schlaff. Das
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alles ist bei Gorgui hart. Divine begreift nicht, wieso zwischen diesen verschiedenen weichen Dingen ein Zusammenhang bestehen kann. Da doch Härte Männlichkeit bedeutet . . . Hätte Gorgui nur ein hartes Ding ... Und da es doch eine Frage des Gewebes ist. Divine kommt zu keiner Erklärung, denn sie denkt nur noch eines: „Ich bin die Ganz-Weiche.“ Gorgui bewohnte nun die Mansarde, er flog auf den Flügeln der Gräber, auf den Säulen der Grabmale. Er brachte seine Wäsche, seine Gitarre, sein Saxophon. Er verbrachte Stunden damit, einfältige Melodien aus dem Gedächtnis zu spielen. Die Zypressen am Fenster hörten aufmerksam zu. Divine empfand für ihn keinerlei besondere Zärtlichkeit, sie bereitete seinen Tee ohne Liebe zu; da aber ihre Ersparnisse dahinschmolzen, hatte sie ihre Arbeit auf dem Trottoir wieder aufgenommen und das vertrieb ihr die Langeweile. Sie sang. Auf ihre Lippen traten ungeformte Melodien, in denen Zärtlichkeit und Schwulst zusammenflössen wie in primitiven Gesängen, die allein die Fähigkeit haben, Erregungen zu erzeugen, wie gewisse Gebete, Psalmen und auch ernste, feierliche Gebärden, die einem primitiven liturgischen Gesetz folgen, aus dem das reine und blasphemische Lachen verbannt ist, jene Gebärden, an denen noch alle Begierden der Götter wie Schmutz kleben: Blut, Furcht und Liebe. Früher trank Mignon billige Pernods; heute trinkt Gorgui aus kostspieligen Likören hergestellte Cocktails, doch dafür ißt er wenig. Eines Morgens, es war vielleicht acht Uhr, klopfte NotreDame an die Mansardentür. Divine lag im duftenden Schatten des arglos auf dem Rücken eingeschlafenen Negers, — duftend wie vielleicht eine Savanne. Die Schläge gegen die Tür weckten sie auf. Wir wissen, daß sie seit einiger Zeit für die Nacht einen Pyjama trug. Gorgui setzte seinen Schlaf fort. Sie wälzte sich auf ihren nackten, heißen Bauch, stieg über ihn hinweg, wobei sie gegen seine feuchten aber festen Schenkel stieß und sagte: „Wer ist da?“ „Ich bin’s.“ „Wer ist ich?“
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„Verdammte Scheiße, erkennst Du mich nicht mehr? Laß mich rein, Divine!“ Sie öffnete die Tür. Der Geruch sprach deutlicher, als es der Anblick des Negers selbst hätte tun können. Notre-Dame begriff. „Was für ein Duft! Du hast einen Mieter. Nicht übel. Hör mal, ich muß mich hinlegen, ich bin völlig fertig. Hast Du Platz?“ Gorgui erwachte. Es war ihm peinlich, zu sehen, daß er spannte, wie man am Morgen spannt. Er besaß eine natürliche Scham, aber die Weißen hatten ihn die Schamlosigkeit gelehrt, und in seiher Wut, ihnen ähnlich sein zu wollen, übertraf er sie. Er fürchtete, seine Bewegung könne lächerlich erscheinen, und so zog er die Decken nicht über sich. Er streckte einfach Notre-Dame, den er nicht kannte, die Hand hin. Divine stellte sie einander vor. „Möchtest Du Tee trinken?“ „Wenn Du meinst.“ Notre-Dame hatte sich auf das Bett gesetzt. Er gewöhnte sich allmählich an den Geruch. Während Divine den Tee zubereitete, schnürte er seine Schuhe auf. Seine Schnürsenkel waren verknotet. Vermutlich hatte er seine Schuhe ohne Licht an- und ausgezogen. Er legte seine Jacke ab und warf sie auf den Teppich. Das Wasser würde bald kochen. Er versuchte, Socken und Schuhe auf einmal auszuziehen, denn er hatte Schweißfüße und fürchtete, der Geruch könnte sich im Zimmer verbreiten. Es gelang ihm nicht völlig, aber seine Füße rochen nicht. Er hielt an sich, um nicht einen Blick auf den Neger zu werfen; er dachte: „Neben diesem Schneeball soll ich schlafen? Er wird doch wohl aus der Falle steigen, hoffe ich.“ Divine war Gorguis nicht ganz sicher. Sie wußte nicht, ob er nicht einer der vielen Spitzel der Sittenpolizei war. Sie stellte NotreDame keine Fragen. Übrigens sah Notre-Dame aus wie gewöhnlich. Weder seine Augen, noch seine Mundwinkel schienen müde, nur seine Haare waren etwas durcheinander. Ein paar auf den Augen. Trotzdem leicht verkatert. Er wartete auf dem Bettrand, die Ellbogen auf den Knien, und kratzte sich den Grind.
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„Kocht sie endlich, Deine Pisse?“ „Ja, es kocht.“ Auf der kleinen elektrischen Platte kochte das Wasser. Divine goß es über den Tee. Sie machte drei Tassen. Gorgui hatte sich aufgesetzt. Allmählich erwachte er darüber, wie die Dinge und Personen, und er selbst zuerst, langsam in ihn einsickerten. Er fühlte: ich bin. Er gab einige schüchterne Gedanken von sich: Hitze — ein unbekannter Junge — ich spanne — Tee — Flecken auf den Nägeln (das Gesicht der Amerikanerin, die einem seiner Freunde nicht die Hand reichen wollte), — acht Uhr zehn. Er entsann sich nicht, daß Divine ihm je von diesem unbekannten Jungen gesprochen hatte. Jedesmal, wenn sie ihn vorstellte, sagte Divine: „Ein Freund“, denn der Mörder hatte ihr ans Herz gelegt, ihn niemals vor einem Unbekannten Notre-Dame-des-Fleurs zu nennen. In der Folge hat das gar keine Bedeutung. Gorgui sieht ihn wieder an. Er sieht sein etwas abgewandtes Profil, seinen Hinterkopf. Es war zweifellos derselbe Kopf, der, mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt, an der Wand hing. Aber er macht sich besser in Natur. Notre-Dame dreht sich ihm ein wenig zu: „Hör zu, Kumpel, Du machst mir ein bißchen Platz. Ich hab’ die ganze Nacht nicht gepennt.“ „Klar, mein Guter, kannst Du. Ich steh sowieso auf.“ Wie wir wissen, entschuldigte sich Notre-Dame nie. Es schien nicht etwa, als stehe ihm alles zu, sondern als müsse alles gerade s o geschehen (und geschehe so tatsächlich), als gelte nichts ihm persönlich, keinerlei Aufmerksamkeit, keine Achtungsbekundung, als verliefe alles in einer Ordnung, die nur eine einzige Möglichkeit kennt. „Divine, willst Du mir bitte mein Zeug reichen?“ sagte der Neger. „Warte, erst bekommst Du Tee.“ Divine reichte ihm eine Tasse und Notre-Dame eine andere. So also fängt das Leben zu dritt wieder an in dieser Mansarde, die sich über die Toten neigt, die geschnittenen Blumen, die betrunkenen Totengräber, die heimtückischen, von der Sonne zerrissenen
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Gespenster. Gespenster sind weder aus Rauch, noch aus durchsichtigen oder undurchsichtigen Gasen: sie sind klar wie Luft. Wir durchqueren sie tagsüber, besonders tagsüber. Manchmal zeichnen sie sich mit Federstrichen auf unseren Gesichtszügen ab, auf einem unserer Beine, indem sie ihre Schenkel über die unsren legen, in einer unserer Gebärden. Divine hat mehrere Tage mit jenem luftig-klaren Marchetti verbracht, der mit Notre-Dame ausriß, und ihn aus der Bahn warf — er hätte ihn fast ermordet — und dessen Gespenst NotreDame niemals durchquerte, ohne in seiner Gebärde funkelnde Fetzen hinter sich herzuziehen, die dem Auge Mignons und seines großen Freundes unsichtbar blieben (er wollte vielleicht „guten Freundes“ sagen, aber eines Tages hat er „schöner Freund“ gesagt). Er nimmt eine Zigarette. Aber Marchetti war es, der sie mit einem gemeinen Schnipsen aus dem Päckchen spritzen ließ. Überall an Notre-Dame hängen die Lumpen des Gespenstes Marchetti herab. Notre-Dame wird dadurch unkenntlich. Diese Gespensterfetzen passen schlecht zu ihm. Er sieht wirklich wie verkleidet aus, aber so, wie sich nur kleine, arme Bauern zur Karnevalszeit verkleiden, mit Unterröcken, Halstüchern, Fäustlingen und Stiefeletten mit Knöpfen und Louis-XV-Absätzen, mit Gugeln, mit aus den Wäscheschränken der Großmütter und Schwestern entwendeten Busentüchern. Nach und nach, Blatt um Blatt, deckt Notre-Dame sein Abenteuer auf. Wahr oder falsch? Beides. Mit Marchetti hat er einen in einem Sekretär versteckten Panzerschrank aufgebrochen. Wie er die elektrische Leitung durchschneidet, die ihn mit der Alarmglocke des Nachtwächters verbindet, legt Marchetti (ein schöner, blonder Korse von dreißig Jahren, Champion im griechisch-römischen Ringkampf) einen Finger auf seine Lippen und meint: „Jetzt ist er still.“ Hockend, auf einem Teppich sicherlich, suchten sie die Kennzahl und fanden sie auch, nachdem sie sich bis zur Verzweiflung in den Kombinationen verwirrt hatten, die ihr Alter, ihre Haare, ihre von Liebe glatten Gesichter, Multipla und Sub-Multipla durcheinanderwarfen. Diese Verschlingungen formten sich schließlich zu einer Rosette und
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die Tür des Sekretärs sprang auf. Sie steckten dreihunderttausend Francs und einen Schatz falscher Juwelen ein. Im Wagen auf der Straße nach Marseille (denn selbst wenn man gar nicht daran denkt, zu fliehen, begibt man sich in einen Hafen nach einem solchen Reibach. Die Häfen sind am Ende der Welt) — im Wagen schlug Marchetti, ohne einen anderen Grund als seine Nervosität, NotreDame an die Schläfe. Sein goldener Siegelring ließ Blut hervorquellen. Schließlich (Notre-Dame erfuhr es später aus dem Geständnis, das Marchetti vor einem Kumpan ablegte), kam seinem Freund der Gedanke, er könne ihn mit seinem Schießeisen abknallen. In Marseiile, nachdem sie geteilt hatten und Notre-Dame ihm die ganze Beute anvertraut hatte, machte sich Marchetti aus dem Staub und ließ das Kind allein. „Ein Schwein, findest Du nicht, Divine?“ „Du warst ja s o verknallt in ihn“, sagte Divine. „Du bist bekloppt.“ Aber Marchetti war schön. (Notre-Dame spricht von dem Pullover, der sich über seinen Brustkasten spannt und er fühlt sehr gut, daß hier der Zauber verschlossen liegt, der einen überwältigt. Die eiserne Hand im Handschuh von Samt.) Das Auge des blonden Korsen war... blau. Der Ringkampf war ... griechisch-römisch. Der Siegelring war ... von Gold. Von Notre-Dame’s Schläfe rann Blut. Aber er verdankte sein Leben dem, der ihn wiedererweckte, nachdem er ihn ermordet hatte. Marchetti gab ihn, gnädig, wie er war, der Welt zurück. In der Mansarde war Notre-Dame zugleich traurig und ausgelassen. Man könnte meinen, er sang ein Sterbelied auf eine Menuettmelodie. Divine hörte zu. Wenn sie ihn fangen, kommt Marchetti in die Strafkolonie, sagte er. Er wird abreisen, in die Strafkolonie. Notre-Dame weiß nicht genau, was das ist, die Strafkolonie; er hatte bloß einmal einen Jungen von den Gerichten sagen hören: „Sie knapsen nicht mit der Strafkolonie . . . “ Er nahm an, es müsse schrecklich sein. Für Divine, die die Gefängnisse und ihre Gäste kennt, präparierte sich Marchetti nach den üblichen Riten; sie
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erklärte Notre-Dame, es sei vielleicht dasselbe wie der feierliche Abschied jenes zum Tode Verurteilten, der die Nacht über, von der Abenddämmerung bis zu dem Morgengrauen, das seinen Kopf in die Kleie rollen sah, alle Lieder sang, die er kannte. Marchetti wird Lieder singen mit der Stimme Tino Rossis. Er wird seinen Wäschesack schnüren. Er wird die Photos seiner schönsten Geliebten heraussuchen. Auch das seiner Mutter. Er wird seine Mutter im Sprechsaal umarmen. Er wird abfahren. Nach dem Meer kommt die Teufelsinsel, kommen die Schwarzen, die Rumfabriken, die Kokosnüsse und die Siedler mit ihren Panamahüten. Die Schöne! Marchetti wird „Schöne“ spielen. Er wird „die Schöne“ sein. Ich bin gerührt, wenn ich daran denke und ich werde weinen vor Zärtlichkeit für seine schönen Muskeln, die jetzt den Muskeln anderer Kerle zu Willen sind. Der Louis, der Champion, der Herzensbrecher wird die Königin des Bagno sein. Seine griechischen Muskeln, wozu werden sie dienen? Sie werden ihn „Blitzlicht“ nennen, bis zur Ankunft eines noch jüngeren Gauners. Aber nein. Und Gott? Hat er Mitleid mit ihm? Ein Dekret verbietet den Abtransport nach Cayenne. Die Bagnosträflinge bleiben bis ans Ende ihrer Tage im Zentralmassiv. Keine Chance mehr, keine Hoffnung mehr auf „die Schöne“. Sie werden sterben mit dem Heimweh nach jenem Vaterland, ihrem wirklichen Vaterland, das sie niemals gesehen haben, und das man ihnen vorenthält. Er ist dreißig Jahre alt. Marchetti wird zwischen vier weißen Wänden bleiben, bis zum Ende des Endes, und um nicht auszutrocknen vor Langeweile wird er jetzt seinerseits in seiner Einbildung jene Lebensläufe ersinnen, die niemals verwirklicht wurden, und die keine Hoffnung haben, jemals verwirklicht zu werden; und das wird der Tod der Hoffnung sein. Randgefüllte Leben, Gefangene einer Zelle in Form eines Würfels. Ich bin’s wohl zufrieden. Soll dieser anmaßende und schöne Louis jetzt auch die Martern kennenlernen, die den Schwachen vorbehalten sind. Wir benutzen unsere Fähigkeiten, um uns glänzende Rollen durch prunkvolle Leben hindurch zuzuspielen; so viel erfinden wir,
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daß wir geschwächt werden für ein Leben der Tat, und sollte sich durch Zufall eine dieser Rollen verwirklichen, so könnten wir nicht glücklich darüber sein, denn wir haben die trockenen Genüsse bereits ausgekostet und wir haben mehr als einmal die Erinnerung an ihre Illusion, an die tausend Möglichkeiten von Ruhm und Reichtum heraufbeschworen. Wir stehen darüber. Wir sind vierzig, fünfzig, sechzig Jahre alt! Wir kennen bloß das kleine, vegetative Elend und wir stehen darüber. Du bist an der Reihe, Marchetti. Erfinde nicht Wege, um reich zu werden, kaufe Dir nicht die Kenntnis eines sicheren Schmugglerpfades, suche nicht einen neuen Trick (sie sind alle alt, uralt), um Juweliere zu begaunern, oder Huren über’s Ohr zu hauen, Pfarrer einzulullen, oder falsche Karten zu verteilen; denn wenn Du nicht das Herz hast, die mögliche Flucht zu versuchen, so mußt Du Dich damit abfinden, alles auf einmal zu haben, mit einem Wurf (ohne Dir genau klar zu machen, was für ein Wurf das sein kann): das, was Dir den Ärger für immer erspart; und genieße es so gut Du kannst, in der Tiefe Deiner Zelle. Denn ich hasse Euch in Liebe.
DIVINAR1ANA (Fortsetzung)
Trotz des Abscheus, den Ihr vielleicht vor ihr empfindet, herrscht Divine noch auf dem Boulevard. Zu einer Neuen (sie ist vielleicht fünfzehn Jahre alt) mit schäbiger Wäsche, die sich mit einem Augenzwinkern über sie lustig macht, sagt ein Louis, indem er sie zur Seite stößt: „Mensch, das ist Divine; Du bist ’ne Schlampe.“
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Divine wurde gegen acht Uhr morgens auf dem Markt getroffen. Mit einem Einkaufsnetz in der Hand erstand sie Gemüse, Veilchen und Eier. Am gleichen Abend fünf Freundinnen beim Tee: „Seht doch, meine Süßen, Divine hat sich mit dem lieben Gott verheiratet. Sie erhebt sich beim Hahnenschrei, um zu kommunizieren, die Ganz-Reuevolle.“ Der Chor der Freundinnen: „Erbarmen, Erbarmen für Divine.“
Am nächsten Morgen: „Meine Kleine, auf der Polizei haben sie Divine nackend ausgezoger. Sie war ganz zerschunden. Sie hat Senge bekommen. Ihr Mignon prügelt sie.“ Der Chor der Freundinnen: „Uh, uh, uh! Divine bekommt Haue.“ Divine jedoch trug auf der Haut ein Büßerhemd, von dem Mignon und die Strichjungen nichts ahnten.
Jemand sagt zu Divine (ein Soldat, der sich wieder anwerben lassen will): „Was soll ich denn anfangen, um zu leben, wenn ich kein Geld habe? Divine: „Arbeiten.“ „Arbeit findet man nicht immer gleich.“ Er will Divine versuchen und beharrt: „Also?“ Er hofft, sie würde antworten oder denken: „Stehlen“. Aber Divine wagt nicht, zu antworten, weil sie an ihr eigenes Verhalten in solch
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einem Fall denkt und sieht, wie sie aus ihrer Hand den Vögeln die Brosamen ihres Hungers gibt. So denkt sie: „Betteln.“
Divine: „Wir haben Radfahrer gesehen, in die Girlanden des von ihnen gepfiffenen Liedes verschlungen; sie fuhren abends mit atemberaubender Geschwindigkeit den himmlischen Abhang der Hügel hinab; wir erwarteten sie im Tal; und als sie unten ankamen waren es kleine Schmutzhäuflein.“ Divine’s Radfahrer flößten mir ein antikes Entsetzen ein.
Ich muß unbedingt wieder zu mir zurückkehren, ich muß mich unmittelbar anvertrauen. Dieses Buch wollte ich schreiben mit den abgewandelten, veredelten Elementen meines Häftlingslebens, aber ich fürchte, es sagt nichts über meine Alpträume. Obwohl ich mich um einen harten Stil bemühe, in dem der Knochen zutage liegt, möchte ich aus der Tiefe meines Gefängnisses ein Buch an Euch schreiben, das erfüllt ist von Blumen, schneeweißen Unterröcken und blauen Bändern. Kein anderer Zeitvertreib ist besser. Die Welt der Lebenden ist mir niemals fern genug. Ich schiebe sie so weit wie möglich von mir fort, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Die Welt weicht zurück, bis sie nur noch ein goldener Punkt ist in einem Himmel von solcher Finsternis, daß der Abgrund zwischen unserer Welt und der anderen sich gewaltig auftut und von der ganzen Wirklichkeit nur noch unser Grab bleibt. Nun beginne ich, das Dasein eines echten Toten zu führen. Ich schneide immer mehr ab, ich merze aus diesem Dasein alle Fakten aus, die winzig146
sten vor allem, die, die mich am schnellsten daran erinnern könnten, daß die wirkliche Welt in zwanzig Meter Entfernung, unmittelbar zu Füßen der Mauern, ausgebreitet liegt. Von meinen Betätigungen suche ich zuerst diejenigen abzustellen, die mich am klarsten daran erinnern könnten, daß sie für eine festgegründete, gesellschaftliche Handlungsweise benötigt werden: einen Doppelknoten in meine Schnürsenkel zu machen würde mich zum Beispiel zu deutlich daran erinnern, daß ich das in der Welt zu tun pflegte, damit sich die Bänder während der kilometerlangen Märsche, die ich mir gewährte, nicht öffneten. Ich knöpfe meinen Hosenschlitz nicht zu. Täte ich es, so wäre ich genötigt, mich wieder vor meinem Spiegel zu sehen, oder am Ausgang der Pinkelbuden. Ich singe, was ich dort drüben niemals gesungen hätte; zum Beispiel dieses abscheuliche: „Wir alten Eulen, Apachen, wir Gauner...“ das mir, seit ich es mit fünfzehn Jahren in La Roquette sang, jedesmal, wenn ich wieder das Gefängnis betrete, einfällt. Ich lese, was ich niemals anderswo lesen würde (und ich glaube daran): die Romane von Paul Féval. Ich glaube an die Welt der Gefängnisse und an ihre verworfenen Gebräuche. Ich bin einverstanden damit, in ihr zu leben, so wie ich, tot, einverstanden damit wäre, in einem Friedhof zu leben — vorausgesetzt, daß ich dort wirklich als Toter lebe. Aber die Ablenkung darf nicht den Unterschied des Verhaltens, sie muß dessen Wesen zum Ziel haben: Man darf nichts Sauberes, nichts Hygienisches tun: Sauberkeit und Hygiene gehören zur irdischen Welt. Man muß sich vom Gerichtsklatsch nähren. Von Träumen nähren. Man soll nicht kokett sein wollen, sich nicht mit anderen, neuen Verzierungen schmücken, als einer Krawatte und Handschuhen: sondern auf die Koketterie verzichten. Nicht schön sein wollen: etwas anderes wollen. Eine andere Sprache gebrauchen. Und glauben, man sei für immer, für die Ewigkeit eingesperrt. Das nennt man „sich das Leben erträglich machen“: auf die Sonntage verzichten, auf die Feste, auf das Wetter. Ich war nicht überrascht, als ich die Gewohnheiten der Häftlinge entdeckte, jene Gewohnheiten, die aus ihnen Men-
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schen am Rande des Lebens machen: Streichhölzer der Länge nach durchschneiden, Feuerzeuge basteln, zu zehnt an einem Stummel ziehen, im Kreis durch die Zelle laufen usw. Ich glaube, ich trug dieses Leben insgeheim bereits in mir, und die Berührung mit ihm genügte, um mir, von außen, seine Wirklichkeit zu enthüllen. Aber jetzt habe ich Angst. Die Zeichen verfolgen mich und ich verfolge sie — geduldig. Sie wollen um jeden Preis mein Verderben. Habe ich nicht auf dem Weg zur Gerichtssitzung auf einer Caféterrasse sieben Matrosen gesehen, die die Sterne befragten, durch sieben Bälle blonden Biers hindurch, um einen runden Tisch herum, der sich vielleicht drehte; und dann einen radfahrenden Jungen, der eine Botschaft von Gott zu Gott bei sich führte, und der zwischen den Zähnen, an einem Eisendraht, einen runden, brennenden Lampion hielt, dessen Flamme ihn rötete und sein Gesicht wärmte? Das Wunderbare ist hier so rein, daß es sich selbst nicht als wunderbar erkennt. Kreise und Kugeln verfolgen mich: Apfelsinen, japanische Billardkugeln, venezianische Laternen, Jongleurringe und der runde Ball des Torwarts im Trikot. Ich muß eine ganze (innere) Astronomie zusammenstellen und regulieren. Angst? Und was kann mir Schlimmeres geschehen als das, was mir geschehen wird? Außer körperlichem Schmerz fürchte ich nichts. Die Moral hängt nur mit einem Faden an mir. Trotzdem, ich habe Angst. Habe ich nicht am Vorabend der Urteilsverkündung bemerkt, daß ich diesen Augenblick acht Monate lang erwartet hatte, obwohl ich niemals an ihn dachte? Es gibt wenig Augenblicke, in denen ich dem Schrecken entgehe. Wenig Augenblicke, in denen ich nicht eine schreckliche Vision oder Wahrnehmung der Menschen und der Ereignisse habe. Selbst, oder vielmehr: vor allem jener Ereignisse, die man gemeinhin als die schönsten ansieht. Gestern, in einer jener engen Zellen der „Mausefalle“, in denen man wartet, bis es Zeit ist, in das Büro des Untersuchungsrichters hinaufzusteigen, waren wir zwölf. Wir standen dicht aneinandergepreßt. Ich stand hinten, in der Nähe der Latrinen und eines Italieners, der lachend alltägliche Aben-
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teuer erzählte. Aber infolge seiner Stimme, seines Akzents und seines Französisch, bebten sie vor Pathos. Ich hielt ihn für ein Tier, das in einen Menschen verwandelt worden war. Ich fühlte, er konnte infolge dieses Vorrechts, das ich ihm zuschrieb, aus mir jederzeit, durch einen einfachen, nicht einmal ausgesprochenen Wunsch, einen Schakal, einen Fuchs oder ein Perlhuhn machen. Vielleicht hypnotisierte ich mich mit diesem Vorrecht, das ich ihm zuschrieb. Einmal tauschte er einige einfältige, langweilige Bemerkungen mit einem kindlichen Louis aus. Er sagte unter anderem: „Ich hab’ die Frau ausgenommen“, und er war plötzlich in der engen Zelle so dicht in meiner Nähe, daß ich glaubte, er wolle mich lieben, und er war plötzlich so grausam, daß ich glaubte, er wollte das: „Ich hab’ die Frau ausgenommen“, so sagen, wie man von einem Kaninchen sagt: „Ich habe es ausgenommen“, nämlich: die Eingeweide herausgezerrt, — oder auch so wie man sagt: „Nehmt den Alten aus.“ Und dann erzählte er noch: „Mit einem Mal sagt der Direktor: ,Ein drolliges Ei sind sie’, aber ich hab’s ihm gleich zurückgegeben und gesagt: ,meine Eier sind auch nicht schlechter als die ihrigen.“ Ich denke an das Wort „ei, ei“ im Mund der Säuglinge. Es ist schrecklich. Der wunderbare Schrecken war so groß, daß mir in der Erinnerung an diese Augenblicke (wir waren gerade beim Würfelspielen) zumute war, als hätten die beiden Jungens ohne Stütze in der Luft gehangen, als schwebten ihre Füße über dem Boden, als riefen sie ihre Antworten in die Stille. Ich glaube mich so genau zu erinnern, wie sie in der Luft hingen, daß mein Verstand gegen meinen Willen herauszufinden sucht, ob sie nicht eine Vorrichtung zur Verfügung hatten, einen verborgenen Mechanismus, eine unsichtbare Feder unter dem Parkett, irgendetwas Einleuchtendes, was ihnen ermöglichte, sich über dem Boden zu halten. Aber nichts dergleichen war möglich, und meine Erinnerung irrt durch den heiligen Schrecken des Traums. Furchtbare Augenblicke — die ich suche — in denen wir unseren Leib und unser Herz nicht ohne Abscheu betrachten können. Überall begegne ich platten, scheinbar ungefährlichen Ereignissen, die mich
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in den ekelhaftesten Schrecken untertauchen lassen: als wäre ich ein Leichnam, der verfolgt wird von dem Leichnam, der ich bin. Da ist der Geruch der Latrinen. Da ist die Hand des zum Tode Verurteilten, die Hand mit dem Ehering; ich sehe wie er sie durch das Schiebefenster seiner Zelle streckt, um den Suppennapf in Empfang zu nehmen, den ihm der Kalfaktor reicht. Er selbst bleibt unsichtbar. Diese Hand ist wie die Hand eines Gottes in einem Jahrmarktstempel, und diese Zelle, in der das Licht Tag und Nacht brennt, ist das Vorzimmer des Todes, in dem Raum und Zeit zusammenfließen — und die Nachtwache dauert fünfundvierzigmal vierundzwanzig Stunden. Da ist Mignon, der mit nacktem Arsch auf der Latrine aus weißem Steingut hockt. Sein Gesicht ist verzerrt. Wenn die warmen Häuflein fallen — nachdem sie zuvor einen Augenblick dahingen — sagt mir eine Woge von Gestank, daß dieser Held vollgestopft war mit Scheiße. Und der Traum verschlingt mich in einem Schluck. Da sind die Flöhe, die mich beißen! Ich weiß, sie sind böse und sie beißen mich — zuerst mit menschlichem, dann mit übermenschlichem Verstand. Kennt Ihr irgendein giftiges Gedicht, das mein Gefängnis in einen Strauß Vergißmeinnicht zerplatzen ließe? Eine Waffe, die den vollkommenen jungen Mann, der in mir haust, umbringt und mich zwingt, einem ganzen Tiervolk Asyl zu geben? Schwalben nisten unter seinen Armen. Sie haben dort mit trockener Erde ein Nest gezimmert. Raupen aus tabakfarbenem Samt schlingen sich in die Locken seiner Haare. Unter seinen Füßen ein Schwärm Bienen und hinter seinen Augen eine Natternbrut, — nichts erregt ihn. Nichts verwirrt ihn, außer den kleinen Kommunikantinnen, die dem Priester die Zunge herausstrecken, wobei sie die Hände falten und die Augen senken. Er ist kalt wie Schnee. Ich weiß, er ist heimtückisch. Gold entlockt ihm ein schwaches Lächeln, aber wenn er lächelt, so hat er die Grazie der Engel. Welcher Zigeuner wäre rasch genug bei der Hand, um mich seiner mit einem schicksalhaften Dolch zu entledigen? Dazu braucht es Raschheit, Augenmaß, völligen
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Gleichmut. Und ... der Mörder würde seinen Platz einnehmen. Er ist heute früh von einem Rundgang durch die Elendsviertel heimgekehrt, er hat Matrosen gesehen und Huren; eine von ihnen hat auf seiner Wange die Spur einer blutigen Hand hinterlassen. Er kann sehr weit fortfahren, aber er ist treu wie eine Taube. Neulich abends hatte eine alte Schauspielerin ihre Kamelie an seinem Knopfloch hängen lassen; ich wollte sie zerknüllen, die Blütenblätter fielen auf den Teppich (aber auf welchen Teppich? meine Zelle ist mit platten Steinen ausgelegt), — fielen als große Tropfen durchsichtigen, lauen Wassers. Jetzt wage ich kaum, ihn anzusehen, denn meine Augen durchdringen sein Fleisch von Kristall, und soviele harte Kanten geben soviele Regenbögen, und deshalb muß ich jetzt weinen. Schluß. Ihr habt nichts davon bemerkt, dennoch, dieses Gedicht hat mich erleichtert. Ich habe es geschissen.
Divine: „So häufig sage ich mir, ich lebe ja gar nicht, daß ich schließlich damit einverstanden bin, zu sehen, wie mich die Leute nicht mehr beachten.“
Während Mignon’s Bekanntschaften infolge seines Doppelspiels an Zahl abnahmen, vermehrte Divine ihre eigenen. Auf ihrem Notizkalender, der wegen seiner Seltsamkeit berühmt war, weil nämlich jede zweite Seite bedeckt war von einem Dickicht von Bleistiftschnörkeln, worüber Mignon beunruhigt war, bis zu dem Tag, an dem Divine ihm gestand, daß diese Seiten die Kokain-Tage waren, mit ihren Abrechnungen, Schulden und Verabredungen, —
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auf diesem Notizkalender lesen wir schon die Namen der drei Mimosen (eine Dynastie von Mimosen herrschte auf dem Montmartre seit den Triumphen Mimosas der Großen, der Kokotte von hohen Gaben); wir lesen den Namen der Königin Oriane, die Namen von Erstkommunion, Entenschnabel, Sonia, Clairette, Vollschlank, Baronin und von der Königin von Rumänien (warum wurde sie Königin von Rumänien genannt? Man erzählte uns eines Tages, sie habe einen König geliebt, sie liebe insgeheim den König von Rumänien, wegen seines zigeunerhaften Aussehens, das ihm sein Schnurrbart und seine schwarzen Haare verliehen.) Wir lesen ferner die Namen von Schwefelsäure, Monika und Leo. Die engen Bars, in denen sie nachts ihr Wesen trieben, kannten nicht die unbekümmerte Fröhlichkeit und Naivität, die man noch auf den finstersten Vorstadtbällen antrifft. Dort wurde geliebt, aber voller Furcht, in einer Atmosphäre von Entsetzen, wie sie auch der bezaubernste Traum erzeugt. Unsere Liebe kennt nur traurige Fröhlichkeit; wir sind zwar geistreicher als die sonntäglichen Liebespaare am Ufer der Flüsse, aber unser Geist zieht auch das Unglück an. Das Lachen blüht hier nur auf aus dem Drama. Es ist ein Schmerzensschrei. In einer dieser Bars: wie jeden Abend hatte Divine auf ihr Haar, wie eine Baronin, einen kleinen Stirnreif aus falschen Perlen gesetzt. Sie ähnelt so dem gekrönten Adler der Heraldiker, ihre Halssehnen treten unter dem Pelz ihrer Boa hervor. Mignon sitzt ihr gegenüber. Um sie herum, an anderen Tischen, die Mimosen, Antinéa und Erstkommunion. Man spricht über die guten Freundinnen, die nicht da sind. Judith tritt ein und verneigt sich vor Divine bis zur Erde: „Guten Tag, Madame!“ „Was für ein Arschloch“, schreit Divine. „Die Puppe hat gesprochen“, sagt ein junger Deutscher. Divine lacht schallend. Die Perlenkrone fällt zu Boden und zerbricht. Beileidsbezeugungen, die aus Schadenfreude eine ganze Skala von Variationen durchlaufen: „Divine ist entthront! ... Sie ist die Ganz-Gefallene! ... Die arme Verstoßene! ...“ Die kleinen Perlen
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rollen in die Sägespäne auf dem Fußboden; sie ähneln den Glasperlen, die die Hausierer für ein paar Pfennige an die Kinder verkaufen, und jene gleichen den Glasperlen, die wir Tag für Tag auf kilometerlange Messingdrähte reihen, aus denen dann in anderen Zellen Friedhofskränze geflochten werden, so wie die verrosteten, auseinandergebrochenen, in Wind und Regen zerfallenen Kränze, die auf dem Friedhof meiner Kindheit umherlagen, und an deren leichten, schwarz angelaufenen Messingdrähten nur noch ein kleiner Engel aus rosa Porzellan mit blauen Flügeln hing. Plötzlich liegen alle Tunten in der Bar auf den Knien. Nur die Männer richten sich steif auf. Divine stößt ein grelles, kaskadenhaftes Lachen aus. Alles horcht auf: das ist ihr Signal. Aus dem offenen Mund reißt sie ihr Gebiß, setzt es sich auf den Schädel und schreit, das Herz in der Kehle — aber dennoch sieghaft —, mit veränderter Stimme und in den Mund eingesunkenen Lippen: „Scheiße, meine Damen, Königin bleibe ich trotzdem.“ Als ich sagte, Divine sei aus reinem Wasser gemacht, hätte ich hinzufügen müssen, daß sie aus einem Block von Tränen gehauen war. Denn diese Gebärde war nur eine Kleinigkeit, verglichen mit der Größe, die sie beweisen mußte, um jene nächste auszuführen: die Krone wieder aus dem Haar zu nehmen, sie in den Mund zurückzulegen und dort festzuhaken. Und es war für sie nicht leicht, eine Königskrönung zu parodieren. Als sie noch mit Ernestine im Schieferhaus lebte: Der Adel besitzt eine magische Ausstrahlung. Der fanatischste Anhänger der Gleichheit, auch wenn er es nicht zugibt, spürt diesen Zauber und unterwirft sich ihm. Dem Adel kann man auf zweierlei Weise begegnen: in Ergebenheit oder mit Hochmut; aber in beiden Haltungen liegt die ausdrückliche Anerkennung seiner Macht. Die Titel sind heilig. Das Heilige umschließt uns und knechtet uns. Es ist Unterwerfung des Fleisches unter das Fleisch. Die Kirche ist heilig. Die langsamen, wie spanische Gallionen mit Gold überladenen Riten mit ihrer uralten Bedeutung — weitab von aller Geistigkeit —
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geben ihr irdische Macht, wie Schönheit und Adel sie besitzen. Culafroy mit dem leichten Leib konnte sich dieser Macht nicht entziehen und so gab er sich ihr wollüstig hin, wie er sich der Kunst hingegeben hätte, wäre er mit ihr vertraut gewesen. Der Adel hat schwerfällige Namen, die fremd klingen, wie die Namen von Schlangen (schon ebenso kompliziert wie die Namen alter, verlorenen Gottheiten), fremd wie Abzeichen und Wappenschilder oder angebetete Tiere, Totems alter Familien, Kriegsrufe, Titel, Pelze, Emaillen, Wappenschilder, die die Familie mit einem Geheimnis umgaben, magisch wie ein Stempel, ein Pergament, ein Epitaph oder ein Grabmal. Er verzauberte das Kind. Sein Gang durch die Zeit — undeutlich und doch gewiß und gegenwärtig — der Gang von rauhen Kriegern, der in sein Leben, wie er glaubte, einmündete (sodaß er sich wie einer von ihnen fühlte) — der Gang, dessen alleiniger Sinn es war, folgendes Ergebnis herbeizuführen: ein blasses, in einem Strohhüttendorf gefangenes Kind — wühlte ihn tiefer auf als ein zeitnaher und sichtbarer Umzug sonnengebräunter Soldaten, deren Anführer er gewesen wäre. Aber er war nicht adlig. Niemand im Dorf war adlig, jedenfalls trug niemand die Spuren einer solcher Herkunft. Aber eines Tages entdeckte er zwischen dem Plunder auf dem Speicher eine alte Geschichte von Capefigue. Tausend Namen von Rittern und Baronen waren in ihr verzeichnet, aber er sah nur einen einzigen: Picquigny. Ernestine hieß mit dem Mädchennamen Picquigny. Ohne jeden Zweifel war sie adlig. Wir zitieren den Abschnitt der „Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Frankreichs“ des Herrn Capefigue (Seite 447): „... eine geheime Vorbereitungssitzung der Stände, abgehalten von Marcel und den Schöffen von Paris. Die Ausführung ging folgendermaßen vonstatten: Jean de Picquigny und mehrere andere Geharnischte begaben sich zum Kastell, in dem der König von Navarra gefangen gehalten wurde. Jean de Picquigny war Statthalter des Artois und die Geharnischten, Bürger von Amiens, richteten Leitern am Fuße der Mauern auf und überraschten die Wachen, ohne ihnen jedoch Schaden zuzufügen ...“ Um genaueres über diese
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Familie zu erfahren, las er die ganze „Geschichte“ Capefigues. Hätten sie ihm zur Verfügung gestanden, er hätte ganze Bibliotheken durchwühlt und Geheimschriften entziffert (auf diese Weise wird man zum Gelehrten „berufen“), aber er entdeckte nichts als diese Insel, die aus einem Meer verführerischer Namen emporgetaucht war. Warum trug Ernestine denn keinen Adelstitel? Wo war ihr Wappen? Kannte Ernestine diesen Abschnitt des Buches, wußte sie von ihrem Adel? Wäre Culafroy weniger jung und verträumt gewesen, so hätte er bemerkt, daß die Ecken der Seite 447 vom Schweiß der Finger schmierig geworden waren. Ernestines Vater kannte das Buch. Das gleiche Wunder hatte es an der gleichen Stelle geöffnet und ihm den Namen gezeigt. Es gefiel Culafroy, daß der Adel Ernestine und nicht ihm selbst gehörte, und bereits hierin könnten wir ein Zeichen seines Schicksals erkennen. Es war ihm recht, wenn er sich ihr nähern konnte, wenn er ihren vertrauten Umgang, ihre Gunstbeweise genießen durfte, so wie viele lieber Günstlinge eines Prinzen als der Prinz selbst sind, und Priester eines Gottes lieber als Gott selbst, denn so können sie Gnade empfangen. Culafroy brachte es nicht fertig, seine Entdeckung für sich zu behalten; da er jedoch nicht wußte, wie er bei Ernestine diese Frage anschneiden sollte, sagte er glatt heraus: »Du bist adlig. Ich hab Deinen Namen in einer alten französischen Geschichte gefunden.“ Er lächelte ironisch, um den Eindruck zu erwecken als verachte er diese Aristokratie, deren Eitelkeit, jedesmal wenn wir in unserem Pensum beim 4. August angelangt waren, vom Schulmeister mit großem Pomp verkündet wurde. Culafroy dachte, Verachtung bezeuge Gleichgültigkeit. Kinder, und vor allem ihr eigenes Kind, schüchterten Ernestine fast ebensosehr ein, wie mich ein Domestik einschüchtert; sie errötete und glaubte sich durchschaut; oder sie glaubte sich durchschaut und errötete, ich weiß nicht genau. Auch sie wollte adlig sein. Sie hatte die gleiche Frage ihrem Vater gestellt, der in der gleichen Weise errötete. Diese Geschichte mußte seit
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langem im Besitz der Familie sein, wo sie mehr oder weniger gut die Rolle einer Pergamentrolle spielte, und vielleicht hatte Ernestine selbst — erschöpft von einer allzu ausschweifenden Phantasie, die aus ihr eine heruntergekommene Gräfin oder eine oder mehrere mit Wappen und Kronen überhäufte Marquise machte — das Buch in den Speicher verbannt, um dessen Magie zu entgehen; aber sie begriff nicht, daß sie sich niemals von dem Buch würde befreien können, solange sie es aufbewahrte; das einzig wirksame Mittel war, es in fetter Erde zu verscharren, es zu ertränken oder zu verbrennen. Sie antwortete nicht, aber hätte er in ihr lesen können, so würde er die Verwüstungen bemerkt haben, die in ihr angerichtet wurden durch jenen nicht anerkannten Adel, dessen sie nicht sicher war und der sie in ihren Augen hoch über die Dorfbewohner und die städtischen Touristen erhob. Sie beschrieb das Wappen. Denn sie war jetzt mit der Heraldik vertraut. Sie war bis nach Paris gefahren, um den d’Hozier durchzuwälzen. Sie hatte darin Geschichte gelernt. Wir sagten es schon, Gelehrte handeln kaum anders, noch aus anderen Motiven. Der Philologe gesteht nicht (er weiß es auch nicht), daß seine Liebe zur Ethymologie aus jener Dichtung kommt (er glaubt es vielleicht oder könnte es glauben, denn es ist eine fleischliche Macht, die ihn anreizt), die in dem Wort „esclave“ (Sklave) enthalten ist, worin sich, wenn er will, die Wörter „clef“ (Schlüssel) und „genou“ (Knie) wiederfinden. Weil er eines Tages erfährt, daß das Skorpionweibchen sein Männchen verschlingt, wird ein junger Mann Entomologe, und ein anderer wird Historiker in dem Augenblick, wo er hört, daß Friedrich II. die Kinder in der Einsamkeit erziehen ließ. Ernestine versuchte, die Schmach dieses Geständnisses — ihre Begierde nach Adel — durch das rasche Geständnis einer weniger verächtlichen Sünde zu umgehen. Diese List ist alt: die List der Teilgeständnisse. Unaufgefordert gestehe ich einen Teil ein, um das, was mich am schwersten belastet, besser verbergen zu können. Der Untersuchungsrichter sagte zu meinem Anwalt, wenn ich Komödie spielte, so spielte ich sie vollkommen. Aber ich habe nicht von
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einem Ende der Beweisaufnahme bis zum anderen Komödie gespielt. Zu meinem Glück machte ich in meiner Verteidigung zahllose Fehler. Der Protokollführer schien zu glauben, ich simuliere Unbefangenheit, die Mutter der Ungeschicklichkeit. Der Richter neigte eher dazu, mir guten Glauben zuzubilligen. Sie täuschten sich alle beide. Es ist richtig, daß ich belastende Einzelheiten zugab, von denen sie zuerst nichts wußten. (Mehrmals hatte ich gesagt: „Es war Nacht“, was in meinem Fall als erschwerender Umstand galt, wie mir der Richter bedeutete, wobei er ebenfalls dachte, ein gerissener Verbrecher würde ein solches Geständnis nicht abgelegt haben: ich mußte also ein Neuling sein. Der Einfall, zu sagen, „es war Nacht“, war mir im Büro des Untersuchungsrichters gekommen, denn aus dieser selben Nacht hatte ich Einzelheiten zu verbergen. Ich dachte schon daran, die Anklage mit einem neuen Delikt auszuschmücken — für die Nacht — aber da ich keinerlei Spuren hinterlassen hatte, maß ich dem keine Bedeutung bei. Dann begann die Bedeutung zu keimen und aufzuschießen — ich weiß nicht warum — und ich sagte mechanisch: „Es war Nacht“, mechanisch, aber mit Nachdruck. In einem zweiten Verhör begriff ich dann plötzlich, daß ich die Fakten und Daten nicht genug durcheinandergemischt hatte. Ich berechnete also mit einer Umsicht und Genauigkeit, die den Richter verblüffte. Das war zuviel Geschicklichkeit. Ich brauchte mich nur mit meinem Fall zu beschäftigen, er hatte zwanzig Fälle. Der Richter verhörte mich also — nicht über das, worüber er mich hätte verhören müssen, wenn er schlauer gewesen wäre oder mehr Zeit gehabt hätte, und wofür ich mir Antworten bereitgelegt hatte — sondern über recht grobe Einzelheiten, bei denen ich mich nicht aufgehalten hatte, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß ein Richter an etwas derartiges denken würde.) Ernestine hatte nicht Zeit genug, um ein Verbrechen zu erfinden: sie beschrieb das Wappen: „Es ist silbern und azurn, zehnfach geschacht, über die volle Breite des Schildes reckt sich ein roter, verzierter Löwe mit goldener Zunge. Am Kopf: Melusine.“ Das war das Wappen der Lusignan. Culafroy lauschte diesem
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wundervollen Gedicht. Ernestine konnte die Geschichte dieser Familie, die Könige von Jerusalem und Prinzen von Cypern zu den ihren zählte, an den fünf Fingern hersagen. Ihr Schloß in der Bretagne soll von Melusine erbaut worden sein, aber Ernestine hielt sich dabei nicht auf: das war eine Sage. Ihr Geist wünschte feste Baustoffe, um das Unwirkliche zu errichten. Sagen sind Wind. Sie glaubte nicht an Feen, an jene Geschöpfe, die erfunden wurden, um die Träumer kühner Allegorien vom rechten Weg abzubringen: die stärksten Wallungen verschaffte ihr die Lektüre eines historischen Satzes: „. . . die englische Seitenlinie . . . die singenden Wappen...“ Sie wußte, sie log. In ihrem Wunsche, sich durch die Abstammung von einem alten Geschlecht auszuzeichnen, erlag sie dem Anruf der Nacht, der Erde und des Fleisches. Sie suchte nach den Wurzeln. Sie wollte sie zu ihren Füßen liegen fühlen, die dynastische Kraft, die brutal war, muskelstark und befruchtend. Die heraldischen Zeichen versinnbildlichen das. Man sagt, die hockende Stellung des Moses von Michelangelo war notwendig wegen der gedrungenen Form des Marmorblocks, den er bearbeiten mußte. Seit jeher begegnen Divine wunderliche Marmorsteine, die sie zur Schaffung von Meisterwerken anhalten. Culafroy hatte dieses Glück im öffentlichen Park, während seiner Flucht. Er schritt durch die Alleen, und wie er am Ende einer dieser Alleen ankam, bemerkte er plötzlich, daß er umkehren mußte, wenn er nicht genötigt sein wollte, den Rasen zu betreten. Er sah sich selbst zu und dachte: „Er drehte sich um sich selbst“, und das Wort „drehen“ — im Flug festgehalten — veranlaßte ihn, eine schwungvolle Kehrtwendung zu machen. Er war schon dabei, einen Tanz mit diskreten, bloß angedeuteten, nur eben die Absicht bekundenden Gebärden zu beginnen, als er merkte, wie die Sohle seines klaffenden Schuhs auf dem Sand schleifte und ein Geräusch von schmachvoller Gewöhnlichkeit von sich gab. (Auch das ist festzuhalten: Culafroy oder Divine, mit ihrem delikaten, das heißt verzärtelten, wohlanständigen Geschmack — denn in der Phantasie teilen unsere
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Helden die Vorliebe junger Mädchen für Ungeheuer — befanden sich ständig in Situationen, die ihnen Ekel einflößten.) Er hörte das Geräusch der Schuhsohle. Er fühlte sich zur Ordnung gerufen und senkte den Kopf. Ganz natürlich nahm er eine nachdenkliche Haltung ein und ging denselben Weg mit langsamen Schritten zurück. Die Spaziergänger des Parks sahen ihn vorübergehen, und Culafroy sah, daß sie seine Blässe bemerkten, seine Magerkeit und seine niedergeschlagenen, wie Murmeln so schweren und runden Lider. Er senkte den Kopf noch tiefer, seine Schritte verlangsamten sich noch weiter, so sehr, daß er nun ganz in die Haltung anrufender Inbrunst geriet und — nicht dachte — sondern in einem gemurmelten Schrei sagte: „Herr, ich bin einer Deiner Erwählten.“ Für die Dauer einiger Schritte zog Gott ihn zu seinem Thron hinan. Divine — kehren wir zu ihr zurück — stand gegen einen Baum gelehnt, auf dem Boulevard. Alle jungen Leute kannten sie. Drei dieser Lümmel näherten sich ihr. Zuerst kamen sie und lachten, wir wissen nicht worüber, vielleicht über Divine; dann sagten sie ihr guten Tag und fragten, was die Arbeit mache. Divine hielt einen Bleistift in der Hand und der Bleistift spielte mechanisch auf den Nägeln, zeichnete eine unregelmäßige Spitze und dann, aufmerksamer, eine Raute, eine Rosette, das Blatt einer Stechpalme. Die Lümmel machten sich über sie lustig. Sie meinten, das müsse doch weh tun, die steifen Schwänze, und die Alten ... mit Frauen sei es doch reizvoller . . . sie seien Louis, sie. . . und noch mancherlei andere Dinge, die sie sicherlich nicht böse meinten, die aber Divine verletzten. Ihre Verlegenheit nimmt zu. Das sind kleine Lausejungen und sie, sie ist dreißig Jahre alt; mit einer Handbewegung könnte sie sie zum Schweigen bringen. Aber — sie sind Männer. Noch jung — aber ihre Muskeln und ihr Blick sind hart. Und alle drei stehen in furchtbarer Starrheit wie Parzen vor ihr. Die Wangen von Divine brennen. Sie tut, als beschäftige sie sich ernsthaft mit der Zeichnung auf ihren Fingernägeln, als beschäftige sie sich nur mit
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ihr: „Hier, das könnte ich ihnen sagen“, dachte sie, „dann glauben sie mir, daß ich nicht eingeschüchtert bin.“ Und sie streckte die Hand aus, zeigte den Kindern die Nägel hin und sagte lächelnd: „Ich führe eine neue Mode ein. Ja, ja, eine neue Mode. Seht ihr, das ist hübsch. Die Frauen — wir und die anderen — lassen uns Spitzen auf die Fingernägel zeichnen. Wir lassen Künstler aus Persien kommen. Sie werden Miniaturen malen, die die Leute mit der Lupe betrachten! Oh! Mein Gott!“ Die drei Gauner waren verwirrt und einer von ihnen sagte für alle anderen: „Du bist ein Aas, Divine!“ Sie gingen. Von diesem Platz und von diesem Augenblick nahm die Mode der persischen Miniaturen auf den Fingernägeln ihren Ausgang. Divine glaubte, Mignon sei im Kino und Notre-Dame, der Auslagenspezialist, sei in einem Warenhaus. In amerikanischen Schuhen, einen sehr weichen Hut auf dem Kopf, das Goldkettchen am Handgelenk, stieg Mignon gegen Abend die Treppe hinunter. Kaum hatte er die Tür des Mietshauses hinter sich, als sein Gesicht die stahlblauen Schatten, seine statuenhafte Härte verlor. Seine Augen wurden sanft, bis sie völlig blicklos waren — zwei Löcher, durch die der Himmel schien. Er ging bis zu den Tuilerien und setzte sich in einen eisernen Sessel. Von Gott weiß woher erschien, in den Wind pfeifend und mit flatternder Stirnlocke, Notre-Dame. Er nahm in einem zweiten Sessel Platz. Es begann folgendermaßen: „Wie steht’s?“ „Ich hab’ die Schlacht gewonnen; das war ja klar. Ich bin jetzt auf einem Fest. Die Offiziere geben mir zu Ehren ein Fest, verstehst Du? Sie haben alle Ursache. Ich verteile die Orden. Und was machst Du?“ „Oh, ich ... ich bin immer noch König von Ungarn. Aber ich hoffe, Du tust etwas, damit ich zum Kaiser des Westens gewählt werde. Capito? Das wird ’ne Wucht, Mignon. Wir bleiben zusammen.“ „’türlich, alte Schlampe.“
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Mignon legte seinen Arm um den Hals Notre-Dame’s. Er wollte ihn küssen. Plötzlich sprangen aus Notre-Dame acht wilde, junge Männer hervor; sie waren platt und schienen sich von ihm zu lösen, als wäre sein Leibesumfang, ja seine ganze Gestalt von ihnen geformt gewesen; sie stürzten sich auf Mignon, um ihn zu erwürgen. Das war das Signal. Er zog seine Hand von Notre-Dame’s Hals zurück und es war alles so still im Park, daß er (der Park) ohne Groll verzieh. Die königlich-kaiserliche Unterhaltung begann wieder. Notre-Dame und Mignon schlangen sich gegenseitig in ihre Phantasie ein, umwanden sich mit Girlanden, so wie zwei Geigen ihre Melodie abhaspeln, wie Divine ihre Lügen um die ihrer Kunden windet, bis sie ein Gewirr bilden, das noch undurchdringlicher ist als das Lianengehölz im brasilianischen Urwald, und keiner von beiden war sicher, daß es das eigene, und nicht das Thema des anderen war, das er fortführte. Diese Spiele spielten sie wachen Geistes, nicht um zu träumen, sondern um zu verzaubern. Sie begannen im Schatten, auf dem Mittelstreifen des Boulevards oder vor lauwarmen Café-crémes, und sie wurden fortgesetzt bis ins Büro des Stundenhotels. Dort sagt man diskret seinen Namen und zeigt diskret seine Papiere; aber die Kunden ertranken allemal in dem reinen und tückischen Wasser Divine’s. Ohne darauf aus zu sein, deckte sie die Lüge auf, mit einem Wort, oder mit einer Bewegung der Schultern, einem Zucken der Wimpern; so wurde sie Ursache einer köstlichen Verwirrung, ähnlich der Erregung, die ich empfinde beim Lesen eines Satzes, beim Anblick eines Bildes, oder beim Hören eines musikalischen Motivs — wenn sich mir endlich ihre Poesie enthüllt. Plötzlich finde ich dann die elegante, überraschende, strahlende, klare Lösung eines Konflikts, der in meinen Tiefen lebte. Der Beweis hierfür ist die große Ruhe, die meiner Entdeckung folgt. Aber so ein Konflikt ist ein Knoten von der Art, die die Matrosen „Hurenknoten“ nennen. Wie sollen wir erklären, daß Divine jetzt dreißig Jahre und älter ist? Denn sie muß in meinem Alter sein, damit ich endlich meinen
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Wunsch, unmittelbar von mir selbst zu sprechen, verwirklichen kann. Ich fühle ein solches Bedürfnis, mich zu beklagen und die Liebe eines Lesers zu gewinnen! Es verging eine Zeit — sie reicht vom zwanzigsten bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahr — in der Divine, die von Zeit zu Zeit, in unregelmäßigen Abständen, unter uns auftauchte, das komplizierte, verschlungene, lockige Leben eines ausgehaltenen Mädchens führte. Sie machte, auf einer weißen Yacht, eine Rundfahrt durch das Mittelmeer und dann weiter bis zu den Sunda-Inseln; sie wogte ständig über sich und ihrem Geliebten, einem jungen Amerikaner, der mit stolzer Bescheidenheit auf sein Gold blickte. Als die Yacht bei ihrer Rückkehr in Venedig festmachte, verliebte sich ein Filmproduzent in sie. Sie lebten einige Monate in einem verfallenen Palast, dessen gewaltige Säle geschaffen schienen für Riesengardisten und Reiter, die auf ihren Pferden liegen. Dann kam Wien. In den Tiefen eines vergoldeten Hotels kauerte sie sich unter die Flügel eines schwarzen Adlers. Sie schlief in den Armen eines englischen Lords in einem Bett mit Vorhängen und Baldachin. Dann kamen die Spazierfahrten in einer klotzigen Limousine und die Rückkehr nach Paris. Montmartre und die Schwestern um die Ecke herum. Neuerliche Abfahrt zu einem eleganten Renaissanceschloß in Begleitung von Guy de Roburant. Sie war eine adlige Burgfrau geworden. Sie dachte an ihre Mutter und an Mignon. Mignon empfing von ihr Postanweisungen, manchmal auch Juwelen, die er einen Abend lang trug und dann rasch verkaufte, um die Diners seiner Freunde zu bezahlen. Dann mehrfache Rückkehr nach Paris und erneute Reisen, und das alles in einem warmen, vergoldeten Luxus. Derart war die Pracht, in der sie sich bewegte, daß ich mir nur von Zeit zu Zeit ihre behaglichsten Details vorzustellen brauche, um die Schmach meines armseligen Häftlingslebens auszulöschen, mich zu trösten, mich zu trösten bei dem Gedanken, daß dieser Luxus existiert. Und gönnt man ihn mir auch nicht, so stelle ich ihn mir doch mit so verzweifelter Inbrunst vor, daß ich schon gelegentlich (und mehr als einmal) dachte, ein Nichts müsse genügen
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— eine leichte, unmerkliche Veränderung meiner Lebenslage — und jener Luxus umgäbe mich, wäre Wirklichkeit, gehörte tatsächlich mir; eine leichte Anstrengung meines Geistes hätte genügt, um mich die Zauberformeln finden zu lassen, die die Schleusen öffnen. Und ich erfinde für Divine die behaglichsten Wohnungen, um mich selbst in sie hineinzuflegeln. Schließlich kehrt sie zurück und mischt sich auffälliger unter die Tunten. Sie erscheint häufig in den winzigen Bars. Sie schüttelt sich, zerzaust ihr Haar und glaubt, mitten zwischen unsere Gebärden — so wie die kleinen Mädchen im Dorf vor den Fronleichnamszug — Rosen-, Pfingstrosen- und Rhododendronblätter, auszustreuen, mit Bewegungen, als ob sie säen würde. Ihre Busenfreundin und -feindin ist Mimose II. Um sie zu verstehen folgt hier die „Mimosariana“:
Zu Divine: „Ich mag es, wenn meine Liebhaber O-Beine haben wie die Jockeys; sie können sie besser um meine Schenkel legen, wenn sie auf mir reiten.“
Die Tunten im Tabernakel. Eine von ihnen, Marquis de? . . .: „Mimose II hat sich das Wappen des Grafen A. . . auf die Hinterbacken malen lassen. Sechsunddreißig adlige Generationen auf dem Arsch; mit farbiger Tinte.“
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Divine hat sie mit Notre-Dame-des-Fleurs bekannt gemacht. Ein paar Tage später hat sie ihr, gutherzig wie sie war, ein kleine Photomatonbild des Mörders gezeigt. Mimose nimmt das Bild, legt es auf die ausgestreckte Zunge, verschluckt es. „Ich bete sie an, Deine Notre-Dame, ich esse den Leib meines Herren.“
Über Divine zu Erstkommunion: „Was stellst Du Dir vor? Divine ist wie die großen Tragödinnen; sie weiß genau, wie man Karten spielt. Wenn die Fassade zusammenbricht, zeigt sie das Profil, und wenn das auch nicht mehr geht, dann den Rücken. Wie Mary Garden. Sie raschelt in den Kulissen.“
Alle Tunten des Tabernakel und der umliegenden Bars über Mimose: „Eine Landplage.“ „Das gemeine Aas.“
„Eine Nutte, meine Lieben, eine Nutte.“ „Eine Teufelin.“ „Venenosa.“
Divine hat keine Mühe, ihr Schmetterlingsdasein zu ertragen. Sie berauscht sich ein wenig an Alkohol und Neonlicht, vor allem aber an den zu Kopf steigenden Gebärden und schillernden Redensarten ihres Milieus. „Dieses tolle Leben macht mich närrisch“, und dabei sagte sie „tolles Leben“ so, wie man sagt „ihre Frisur hat Chic“, oder „das Pflästerchen à la Pompadour“, oder „Tee à la Russe“. Mignon jedoch blieb der Mansarde immer häufiger fern. Er blieb
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ganze Nächte fort. Eine ganze Straße von Frauen, die „rue de la Charbonnière“, hatte ihn eingefangen, und danach eine alleinstehende Frau. Wir werden ihn eine ganze Weile nicht mehr sehen. Er hatte aufgehört, die Auslagen zu plündern; er ließ sich unterhalten. Sein massiver Schwanz tat Wunder und seine Spitzenhände entleerten den Säckel der Kupplerin. Dann war es Notre-Dame, der verschwand, aber ihm werden wir bald wieder begegnen. Was ginge Divine und mich das Schicksal der herrlichen Marchetti an, mahnte es mich nicht an meine eigenen Leiden nach der Heimkehr von meinen Abenteuern (in denen ich mit meinem Ruhm prahlte), und mahnte es Divine nicht an ihre Schwäche. Die Erzählung von Notre-Dame-des-Fleurs betäubt die Gegenwart; denn die Worte, derer sich der Mörder bedient, sind jene magischen Worte, die schöne Gauner ausspucken wie Sterne, so wie jene prachtvolle Sorte Gauner, die das Wort „Dollar“ mit dem richtigen Akzent aussprechen kann. Aber was sollen wir zu einem der erstaunlichsten poetischen Phänomene sagen: daß die ganze Welt — selbst die trostloseste, schwärzeste, ausgeglühteste, bis zum Jansenismus trockene, strenge und nackte Welt der Fabrikarbeiter — daß die ganze Welt in das Wunder der im Winde verlorenen, von unendlich reichen, goldenen, diamantenen, schillernden oder seidigen Stimmen gesungenen Volkslieder eingeschlungen ist; und diese Lieder enthalten Sätze, an die ich nicht ohne Scham denke, wenn ich mir vorstelle, daß sie von den ernsten Mündern der Arbeiter gesungen werden; ich begegne darin solchen Worten wie: Hingabe — Zärtlichkeit — Rausch — Rosengarten — Villa — Marmorstufen — Geliebte — schöner Liebling — Juwel — Krone — oh meine Königin — du süße Unbekannte — goldschimmerndes Gemach — schöne Mondaine — blühender Korb — dein süßer Leib — goldener Abstieg — mein Herz ist voll Verlangen — beladen mit Blumen — Farbe der Dämmerung — rosig und zart — kurz, ich finde Worte voll wilder Pracht, Worte, die ihnen das Fleisch zerschneiden wie ein Dolch mit eingelegten Rubinen. Sie singen sie, ohne vielleicht allzusehr an sie
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zu denken; sie pfeifen sie auch, die Hände in den Taschen. Und ich — armselig und beschämt — schaudere, wenn ich daran denke, daß sich der härteste der Arbeiter zu jeder Stunde des Tages mit zwei Blumengirlanden krönt: aus Reseden und aus Rosen; sie sind erblüht zwischen den reichen, goldenen, diamantenen Stimmen, die wie junge Mädchen sind, einfach und üppig, Schäferinnen und Prinzessinnen. Wie schön sie sind: ihre von den Maschinen gekrümmten Körper schmücken sich wie eine Lokomotive, die eingeweiht wird, und so, wie sich der harte Körper der hunderttausend Gauner, denen man begegnet, mit ergreifenden Worten schmückt; denn eine volkstümliche Literatur, beschwingt, weil ungeschrieben, beschwingt und im Winde von Mund zu Mund fliegend, nennt sie: „Meine kleine Fresse“, „kleiner Filou“, „hübsche Kanaille“, „kleines Aas“ (man beachte: das Wort „klein“ oder „Kleiner“, wenn es sich auf mich bezieht oder auf einen der Gegenstände, die mir nahestehen, verwirrt mich. Selbst wenn jemand nur zu mir sagt: „Jean, deine kleinen Härchen“, oder: „dein kleiner Finger“ verliere ich die Fassung). Diese Worte knüpft sicher ein melodisches Band an junge Männer von übermenschlicher Schönheit, deren Glanz genährt wird vom Unrat des Traums; so mächtig ist die Schönheit, daß sie uns mit einem Schlag in sich aufnimmt, spontan, sodaß wir das Gefühl haben, sie zu „besitzen“ (in des Wortes beiderlei Bedeutung: von ihr voll sein und sie in einer äußeren Vision überwinden), sie so absolut zu besitzen, daß in diesem absoluten Besitz kein Platz bleibt auch nur für die kleinste Frage. Von manchen Tieren besitzen wir so, durch ihren Blick, ihr absolutes Wesen: von Schlangen und von Hunden. Wir durchschauen sie in der Schnelligkeit eines Augenblicks, und so gut, daß wir glauben, sie seien diejenigen, die Bescheid wissen, und das verursacht uns einige Unruhe, vermischt mit Schrecken. Diese Worte singen. Und die kleinen Fressen, die hübschen Kanaillen, kleinen Aase und süßen Gauner verspüren, wie ein Kristall am Finger, die musikalischen Bögen, die hier aufgezeichnet werden müßten, um sie genau wiederzugeben, und die — so scheint es mir,
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wenn ich sie im Lied der Straße kommen sehe — von ihnen nicht bemerkt werden. Aber wenn ich sehe, wie ihre Körper sich biegen oder zusammenziehen, erkenne ich, daß sie den Bogen wohl gefühlt haben und daß ihr ganzes Wesen diese Berührung bezeugt.
Es war dieser schreckliche Teil von Lou-Divines Kindheit, der ihre Bitterkeit mildern sollte. Denn nach ihrer Flucht aus dem Schieferhaus sah man sie im Gefängnis. Einzelheiten über ihre Festnahme zu geben, erübrigt sich. Ein einfacher Wachtmeister genügt, um ihr einen Schauder einzujagen, der eines zum Tode Verurteilten würdig wäre, einen Schauder, durch den jeder Mensch hindurchgegangen ist, ebenso wie jeder Mensch in seinem Leben die Hochstimmung einer Königskrönung gekannt hat. Alle Kinder, die ausreißen, geben vor, geschunden worden zu sein; man würde ihnen nicht glauben, aber sie haben ein solches Geschick, den Vorwand auszuschmücken mit neuen, zu ihnen selbst und sogar zu ihrem Gesicht passenden, besonderen Umständen, daß sich sofort alle Erinnerungen an Romane und Chroniken von gestohlenen, eingesperrten, erniedrigten, verkauften, ausgesetzten, verführten, vergewaltigten und gemarterten Kindern mit einem Schlag wieder einstellen, und daß sogar die mißtrauischsten Leute wie Richter, Pfarrer und Gendarmen bei sich denken: „Man weiß nie“, wobei die langsam aus den überladenen Seiten der Volksbücherei aufsteigenden Schwefeldämpfe sie einlullen, loben und liebkosen. Culafroy erfand eine Geschichte mit einer bösen Stiefmutter. Man sperrte ihn also ins Gefängnis; nicht aus Bosheit oder Hartherzigkeit, sondern aus Gewohnheit. Sein Verlies war düster, eng und bewohnt. In einem dunklen Winkel bewegte sich ein Haufen schmutziger Decken, und ein kleiner, brauner, schmutziger, krauser und lachender Kopf kam zum Vorschein. „Na, Kleiner?“
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Culafroy hatte nie in seinem Leben etwas so schmutziges wie dieses Verlies, noch etwas so filziges wie diesen Kopf gesehen. Er antwortete nicht, er rang nach Luft. Erst die Betäubung, die der Abend mit sich bringt, löste seine Zunge und machte ihn vertrauensselig. „Bist wohl abgehauen von zu Hause?“ Schweigen. „Na hör mal, Du kannst ruhig reden. Vor mir brauchst Du keine Angst haben. Wir sind unter Männern.“ Er lachte und schielte aus seinen schmalen Augen. Als er sich in seinem Bündel brauner Lumpen umdrehte, knirschte es darin wie rostiges Eisen. Was sollte man davon halten? Es war Nacht. Durch die geschlossene Luke leuchtete ein eisiger Himmel mit freien, sich bewegenden Sternen darin. Und das Wunder, diese Katastrophe des Schreckens, brach auf, strahlend wie die Lösung einer mathematischen Aufgabe, bestürzend in seiner Genauigkeit. Der kleine Gangster hob kokett seine Decken auf und fragte: „Sei so gut, hilf mir mein Bein abmachen.“ Er hatte ein Holzbein, das an dem unterhalb des Knies abgeschnittenen Stumpf mit Riemen und Haken befestigt war. Vor körperlichen Gebrechen empfand Culafroy denselben Abscheu, wie vor Reptilien. Das Entsetzen, das ihn vor den Schlangen zurückweichen ließ, packte ihn; aber Alberto war nicht mehr da, um auf ihn durch seine Gegenwart, durch seinen Blick, durch die Auflegung seiner breiten Hände jenes Quantum Glauben zu übertragen, das Berge versetzt. Der andere Junge hatte seine Spangen herausgezogen und den Rest des Schenkels bloßgelegt. In einer äußersten Anstrengung überwand Lou sich selbst. Er streckte die Hand nach dem Holz, als wäre es Feuer, zog es an sich, und als er wieder zu sich kam, preßte er das Gestell gegen seine Brust. Es war jetzt ein lebendiges Glied, ein Individuum, ein Arm oder ein Bein, abgelöst vom Körper durch einen chirurgischen Eingriff. Das Holzbein verbrachte die Nacht, eine schlaflose Nacht, stehend, in einem Winkel, gegen die Mauer gelehnt. Dann bat der kleine Krüppel Lou darum, zu singen; aber Lou dachte
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an Alberto und antwortete, er sei in Trauer, und diese Begründung erstaunte weder den einen noch den anderen. Culafroy hatte sie auch gegeben, damit sie ihm als Schmuck diene und ihn wie schwarzer Musselin gegen Kälte und Verlassenheit schütze. „Ich hab’ manchmal Lust, mich nach Brasilien zu verkrümeln, aber mit meinem verrückten Bein ist das kein Kinderspiel.“ Für den Einbeinigen war Brasilien eine Insel jenseits der Meere und Sonnen, auf der sich Männer mit Athletenschultern und groben Gesichtern abends um Riesenfeuer — so groß wie unsere Johannisfeuer — hocken und gewaltige Orangen in feine, sich kräuselnde Streifen schälen, wobei sie in der einen Hand die Orange und in der anderen ihren Hirschfänger haben, so wie die alten Kaiser auf den Abbildungen den goldenen Globus und das Szepter halten. Dermaßen war er von dieser Vision besessen, daß er sagte: „ ... Sonnen ...“ Das war das dichterische Wort, das von seiner Vision herabfiel und anfing, sie zu versteinern; der nächtliche Kubus der Zelle, in der sich die von dem Wort „Brasilien“ angezogenen Orangen wie Sonnen drehten (und zusammenflössen mit den Beinen eines Akrobaten im azurblauen Trikot, der eine große Sonne um ein Reck ausführte). Dann gab Lou einen bruchstückhaften Gedanken von sich, der seit einiger Zeit in ihm umging. Er sagte: „Was verlangt das Volk?“ Diesen Satz hatte er schon eines Abends, als er sich in einer Art Vorahnung im Gefängnis sah, im Geist gemurmelt. Aber sah er sich damals wirklich im Mahagoni des Frisiertisches, oder verband nicht vielmehr eine unbewußte Wahrnehmung den Ort (sein Zimmer) und den vergangenen Augenblick mit dem Wort und der Gegenwart (aber warum dann diese Erinnerung an das Zimmer?), legte also zwei Ideen übereinander und ließ ihn an eine Vorahnung glauben? Die Kinder schliefen. Später wurden sie in eine Besserungsanstalt oder -kolonie eingewiesen. Als sie dort ankamen, steckte man LouDivine gleich am ersten Tag in die Zelle. Er hockte dort einen ganzen Tag. Er lauschte voller Ahnungen auf das Mysterium dieser fluchbeladenen Kinder („Kinder des Unglücks“ lassen sie sich auf den
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Arm tätowieren). Im Hof hoben kleine, ohne Zweifel staubige Füße in einem sehr langsamen Rhythmus schwere Holzschuhe auf. Man erriet, dies war der Rundgang — versdilossene Lippen — der bestraften Kinder. Während einer Pause hörte er folgendes: „ ... durch das Fenster der Schlosserei.“ „Das ist Germain.“ „Ja, wenn ich ihn heute abend sehe.“ „Hast Du eine Ahnung. Das ist vielleicht eine Arbeit!“ Die Stimme, die er hörte, war gedämpft — wie früher die Laternen der Banditen; sie war auf einen einzigen Punkt gerichtet, mit Hilfe einer um einen strengen Kindermund muschelförmig gelegten Hand. Sie sprach vom Hof aus zu einem Freund in einer Zelle, dessen Antworten Culafroy nicht hörte. Vielleicht kam sie von einem aus dem Zentralgefängnis entwichenen Häftling, der sich in geringer Entfernung vom Kinderbagno aufhielt. So lebte die Anstalt im Schatten all jener blinkenden Sonnen in ihren grauen Zellen — den Männern — und die Kinder erwarteten den Tag, an dem sie alt genug sein würden, sich unter jene Kerle zu mischen, die sie verehrten und von denen sie sich ausmalten, wie sie frech und stolz den Aufsehern die Stirn boten. Die Kinder warteten darauf, endlich wirkliche Verbrechen begehen zu können, als Vorwand, um in die Hölle zu fahren. Die anderen kleinen Gauner im Heim spielten mit viel Geschick ihre Rolle als weissagende Kobolde. Ihr Wortschatz war verdunkelt von Verschwörungsformeln, ihre Gebärden waren faunisch, waldschrathaft, und gleichzeitig spiegelten sich darin dunkle Gäßchen, Schattenlinien, Mauern und erkletterte Zäune. Durch diese kleine Welt schritten, wie Ballerinen auf ihren abstehenden Röcken, die Nonnen; sie hielten gerade so viel Ordnung, daß von derselben nur ein schamloses Hohnlächeln sichtbar wurde. Culafroy komponierte alsbald ein
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großes Ballett für sie. Nach dem Regiebuch traten sie alle in den eingezäunten Hof hinaus, als wären sie, die Grauen Schwestern, Hüterinnen der hyperboräischen Nächte; von Champagner trunken, hockten sie sich auf den Boden, hoben die Arme und bewegten die Köpfe. Schweigend. Dann bildeten sie einen Kreis, tanzten nach Art von Schülerinnen in der Runde, und schließlich, wie kreischende Derwische, drehten sie sich um sich selbst, bis sie vor Lachen berstend hinstürzten, während der Anstaltsgeistliche mit der Monstranz würdig durch sie hindurchschritt. Die Ketzerei des Tanzes — die Ketzerei, ihn erfunden zu haben — verwirrte Culafroy, wie ihn als Mann die Vergewaltigung einer Jüdin verwirrt hätte. Sehr bald, trotz seiner Neigung zur Verträumtheit, oder vielleicht wegen dieser Verträumtheit, wurde er scheinbar den anderen ähnlich. Wenn seine Klassenkameraden ihn von ihren Spielen ausschlössen, so verdankte er das dem Schieferhaus, das ihn zum Prinzen machte. Hier aber war er in den Augen der anderen Jungen nichts weiter als ein aufgelesener Landstreicher wie sie, ein Verbrecher, dessen einzige — allerdings gewichtige — Besonderheit darin bestand, von etwas weit herzukommen. Sein Gesicht voll schlauer Grausamkeit, seine übertrieben obszönen, gemeinen Gesten hatten ein solches Bild von ihm geformt, daß die zynischen und arglosen Kinder in ihm einen der ihren erkannten; und er glich sich an — teils aus Gewissenhaftigkeit, weil er bis ans Ende des Abenteuers diese ihm untergeschobene Person sein wollte, teils auch aus Höflichkeit. Er wollte nicht enttäuschen. Er beteiligte sich an gefährlichen Unternehmungen. Mit einigen anderen aus einer kleinen, wie eine Bande zusammengeschweißten Gruppe half er einen kleinen Diebstahl innerhalb des Heimes begehen. Die Frau Oberin war, wie man sagte, aus einer berühmten Familie. Wer von ihr irgendeine Gunst erbat, erhielt zur Antwort: „Ich bin nichts weiter als die Dienerin der Dienerin des Herrn.“ Ein so hochmütiges Piedestal verwirrt. Sie fragte Lou, warum er gestohlen habe, und er wußte keine andere Antwort als: »Weil die anderen mich für einen Dieb hielten.“
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Die Frau Oberin begriff nichts von dieser kindlichen Sensibilität. Man nannte ihn einen Heuchler. Culafroy empfand übrigens gegen diese Nonne eine Abneigung, die auf seltsame Weise zustandegekommen war: am Tage seiner Ankunft hatte sie ihn in ihrem kleinen Salon — einer kokett ausgeputzten Zelle — zur Seite genommen und ihm vom christlichen Lebenswandel gesprochen. Lou hörte ihr ruhig zu; er fühlte sich veranlaßt, ihr mit einem Satz zu antworten, der mit den Worten begann: „Am Tage meiner Erstkommunion...“ Infolge eines Lapsus sagte er jedoch: „Am Tage meiner Hochzeit...“ Vor Verwirrung verlor er den Boden unter den Füßen. Er hatte das Gefühl, etwas Unschickliches begangen zu haben. Er errötete, stotterte und machte Anstrengungen, wieder aufzutauchen; vergebens. Die Frau Oberin betrachtete ihn mit einem, wie sie es nannte, barmherzigen Lächeln auf den Lippen. Culafroy war erschrocken darüber, aus dem Strudel, den er in sich selbst auf schlammigem Grund erzeugt hatte, in einem weißen Schleierkleid nach oben getrieben zu werden, geschmückt mit einer Krone aus falschen Orangenblüten, und er haßte die Alte dafür, Ursache und Zeugin jenes herrlichen und heimtückischen Abenteuers gewesen zu sein. „Meiner Hochzeit!“ Folgendermaßen waren die Nächte im Heim — oder in der Kolonie: Die Köpfe verschwinden unter den Decken in den festgestellten Hängematten des Schlafsaals. Der Aufseher hat sich in seine Kammer am Ende des Schlaf saals zurückgezogen. Eine halbe Stunde lang herrscht Schweigen, das Schweigen des Dschungels, mit seinen Gerüchen und seinen steinernen Ungeheuern, die auf die unterdrückten Seufzer der Tiger zu lauschen scheinen. Nach dem Ritus erwachen die Kinder von den Toten. Die Köpfe, so vorsichtig wie die von Schlangen, ebenso klug, listig, giftig und böse, richten sich auf; dann verlassen die Leiber ganz die Hängematten, ohne daß die Haken ein Geräusch von sich geben. Das allgemeine Aussehen des Schlafsaals — aus der Vogelschau — wandelt sich nicht. Die Verschlagenheit der Bewohner versteht es, die Decken hochzuziehen, sie aufzu-
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bauschen, als enthielten sie schlafende Leiber. Alles spielt sich unten ab. Rasch treffen sich die Kumpane. Sie kriechen. Die hängende Stadt ist verlassen. Stahlblöcke, auf Feuersteine geschlagen, entzünden den Docht der Feuerzeuge; Zigaretten, so dünn wie Strohhalme, werden zum Glühen gebracht. Man raucht. Ausgestreckt unter den Hängematten, in kleinen Gruppen, werden genaue Fluchtpläne entworfen, die sämtlich zum Scheitern verurteilt sind. Die Bewohner leben. Sie wissen, sie sind frei und die Herren der Nacht; sie errichten ein streng verwaltetes Königreich mit seinem Despoten, seinem Adel und seinen Bürgern. Über ihnen ruhen die verlassenen weißen Schaukeln. Der beliebteste nächtliche Zeitvertreib, der dazu geschaffen scheint, die Nacht zu verzaubern, ist die Herstellung von Tätowierungen. Tausend und aber tausend kleine Nadelstiche durchdringen die Haut bis aufs Blut, und Figuren, die Euch ungereimt erscheinen würden, finden sich an Stellen, wo man sie am wenigsten erwartet. Wenn der Rabbiner die Thora entrollt, ergreift ein Geheimnis mit Schaudern die ganze Haut, wie wenn sich ein Mitbürger vor unseren Augen entkleidet. All das fratzenhafte Blau auf einer weißen Haut verleiht dem Kind, das von ihm bedeckt ist, einen dunklen, aber mächtigen Reiz, so wie eine unbedeutende und reine Säule unter den Einkerbungen der Hieroglyphen heilig wird. Wie ein Totemstab. Manchmal sind es die Augenlider, die bemalt sind, die Achselhöhlen, die Leistenbeuge, die Hinterbacken, der Penis, ja sogar die Fußsohlen. Die Zeichen sind barbarisch und voll Bedeutung, wie es barbarische Zeichen sind: Stiefmütterchen, Bögen, durchbohrte Herzen (von denen Blut tropft), übereinanderliegende Gesichter, Sterne, Mondsicheln, Geschosse, Pfeile, Schwalben, Schlangen, Schiffe, dreieckige Dolche und Inschriften, Wahlsprüche, Warnungen — eine ganze prophetische und furchterregende Literatur. Unter den Hängematten, inmitten jenes magischen Zeitvertreibs, entstehen Liebschaften, entzünden sich und sterben mit dem ganzen Zubehör gewöhnlicher Liebschaften: Haß, Begierde, Zärtlichkeit, Trost, Rache.
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Was die Kolonie zu einem Reich machte, das sich vom Reich der Lebenden unterschied, war der Wechsel der Symbole und, in bestimmten Fallen, der Wechsel der Werte. Die Insassen hatten ihren Dialekt, der dem der Gefängnisse verwandt war, und sie hatten sogar eine besondere Moral und Politik. Das Regierungsprinzip, mit Religion untermischt, war das der Gewalt — der Beschützerin der Schönheit. Ihre Gesetze werden mit großem Ernst eingehalten; sie sind Feinde des Lachens, das sie zerstören könnte. Sie zeigen eine Eignung zur tragischen Haltung, wie sie selten ist. Das Verbrechen beginnt bei der falsch aufgesetzten Baskenmütze. Diese Gesetze sind nicht aus abstrakten Verordnungen hervorgegangen: sie wurden von einem Helden gelehrt, der aus einem Himmel der Kraft und Schönheit zu uns herabstieg und dessen weltliche und geistliche Macht wirklich von Gottes Gnaden sind. Sie entgehen übrigens nicht dem Schicksal der Helden, und im Hof der Kolonie kann man sie alle Tage, mitten unter den Sterblichen, als Schlosser oder Bäekerjungen die Runde machen sehen. Die Hose der jugendlichen Häftlinge hat nur eine Tasche: auch das trennt sie von der Welt. Eine einzige Tasche, auf der linken Seite. Eine ganze Gesellschaftsordnung wird durch diese unbedeutende Abänderung der Kleidung gestört. Ihre Hose hat nur eine Tasche, wie die enganliegende Kniehose des Teufels, die überhaupt keine hat, oder so, wie die Hosen der Matrosen keinen Schlitz haben; es besteht kein Zweifel: sie fühlen sich dadurch gedemütigt, als wären sie eines männlichen Geschlechtsteils beraubt — denn darum handelt es sich. Die Taschen, die in der Kindheit eine so wichtige Rolle spielen, sind für uns das Sinnbild unserer Überlegenheit über die Mädchen. Hier in der Kolonie, und auch in der Marine, ist dieses Sinnbild die Hose, und wenn Du zeigen willst, daß Du ein Mann bist, „verteidigst Du Deine Büx“. Ich bewundere den Mut der Erwachsenen, Seminare eingerichtet zu haben für Kinder, die sich auf die Rolle erträumter Personen vorbereiten, und ich bewundere den Scharfsinn, mit dem diese Erwachsenen erkannten, welche unscheinbaren Veränderungen die Kinder zu kleinen Ungeheuern
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machen, die böse sind, oder anmutig leicht, oder schillernd, oder trübe, oder hinterhältig, oder einfach. Die Kleider der Schwestern trugen die Schuld, wenn Culafroy auf den Gedanken verfiel, zu fliehen. Er brauchte nur einen Plan in die Tat umzusetzen, den die Kleider schon entworfen hatten. Die Nonnen ließen ihre Wäsche ganze Nächte in einer Trockenkammer hängen; sie legten ihre Strümpfe und Hauben in einer Nähstube ab, deren Tür und die Artv sie zu öffnen, Culafroy rasch ausfindig gemacht hatte. Mit der Umsicht eines Spions weihte er einen ausgepichten Jungen in seinen Plan ein. „Wenn einer wollte. . . “ „Also — wir hauen ab?“ „ ... Verdammt!“ „Glaubst Du, wir kommen weit?“ „Klar. Weiter als hiermit“ (er deutete auf seine lächerliche Uniform), „und nachher können wir sammeln gehen.“ Schreit nicht gleich, das sei unmöglich. Das, was jetzt folgt, ist nicht die Wahrheit und niemand ist gezwungen, es für bare Münze zu nehmen. Die Wahrheit ist nicht meine Sache. Aber „man muß lügen, um wahr zu sein“. Und sogar noch weiter gehen. Von welcher Wahrheit will ich sprechen? Wenn ich wirklich ein Sträfling bin, der Szenen aus dem Innenleben spielt (sich spielt), so werdet Ihr nichts anderes verlangen als ein Spiel. Unsere Kinder warteten also auf eine Nacht, die ihren Nerven günstig war, um jeder einen Rock, ein Mieder und eine Haube zu stehlen; da jedoch alle Schuhe, die sie fanden, zu eng waren, behielten sie ihre Holzschuhe. Durch das Fenster des Waschraums stiegen sie auf die dunkle Straße hinaus. Es mußte Mitternacht sein. Das Ankleiden unter einem Vordach war rasch geschehen; sie halfen sich gegenseitig und setzten die Hauben sorgfältig auf ihre Köpfe. Einen Augenblick lang erfüllten sie die Dunkelheit mit Unruhe durch das Rascheln von Wolle, durch die Stecknadeln zwischen den Zähnen und durch das Flüstern von Worten wie: „Zieh meine Schnur
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stramm ... Geh ein Stückchen vor.“ In einem Gäßchen wurden Seufzer aus einem Fenster geworfen. Diese Verschleierung machte aus der Stadt ein dunkles Kloster, eine Toteninsel, ein Tal der Tränen. Es dauerte zweifellos lange, ehe der Kleiderdiebstahl im Heim bemerkt wurde, denn den ganzen Tag lang geschah nichts, um „der Flüchtigen wieder habhaft zu werden“. Sie gingen rasch. Die Bauern wunderten sich kaum; für sie war es eher eine Offenbarung, zu sehen, wie diese zwei kleinen Nönnchen mit ernsten Gesichtern, die eine in Holzschuhen, die andere hinkend, über die Landstraßen dahineilten. Ihre Gebärden waren zauberhaft: zwei feine Finger hoben drei Falten eines schweren, grauen Rockes. Dann krampfte sich ihr Magen vor Hunger zusammen. Sie wagten niemanden um etwas Brot zu bitten, und da sie sich auf der Straße befanden, die zu Culafroys Dorf führte, so wären sie dort ohne Zweifel recht bald angekommen, hätte sich am Abend nicht der Wolfshund eines Schäfers Pierre schnuppernd genähert. Der junge Schäfer, der in der Furcht des Herren erzogen war, pfiff seinem Hund, der nicht gehorchte. Pierre glaubte sich entdeckt. Er machte sich davon, in den Beinen die flinke Angst. Hinkend lief er bis zu einer alleinstehenden Kiefer am Straßenrand und kletterte hinauf. Culafroy besaß die Geistesgegenwart, auf einen anderen, näheren Baum zu steigen. Als er dies sah, kniete der Hund in der Abendluft unter dem blauen Himmel nieder und betete: „Da die Nonnen wie Elstern ihre Nester in Schirmkiefern bauen, o Herr, gewähre mir den Erlaß meiner Sünden.“ Dann bekreuzigte er sich, stand auf und kehrte zur Herde zurück. Seinem Herrn, dem Schäfer, erzählte er das Wunder von den Kiefern, und die Nachricht verbreitete sich noch am selben Abend in allen Dörfern der Umgebung.
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Ich werde weiter von Divine sprechen, von Divine in ihrer Mansarde, zwischen Notre-Dame mit dem Marmorherz und Gorgui. Wäre Divine eine Frau, so empfände sie keine Eifersucht. Ohne Groll würde sie es auf sich nehmen, allein abends unter den Bäumen des Boulevards die Kunden anzusprechen. Was würde es ihr ausmachen, daß die beiden Männer den Abend zusammen verbrachten? Im Gegenteil: eine familiäre Atmosphäre, das Licht eines Lampenschirms würden sie selig machen; aber Divine ist außerdem noch ein Mann. Zunächst ist sie eifersüchtig auf Notre-Dame, der schön und jung ist und ohne Arg. Er läuft Gefahr, den Sympathien seines Namens zu gehorchen: Notre-Dame ohne Falsch und verschmitzt wie eine Engländerin. Er kann Gorgui herausfordern. Das ist leicht. Stellen wir sie uns vor, eines Nachmittags, im Kino, Seite an Seite in der künstlichen Nacht. „Hast Du Deine Saftspritze, Seck?“ Im gleichen Augenblick legt sich seine Hand auf die Tasche des Negers. Oh, verhängnisvolle Geste! Divine ist eifersüchtig auf Gorgui. Der Neger ist ihr Mann, dieser Gauner von Notre-Dame ist hübsch und jung. Unter den Bäumen des Boulevards sucht Divine bejahrte Kundschaft, während das Bangen sie in doppelter Eifersucht zerreißt. Und da Divine ein Mann ist, denkt sie: „Ich muß sie beide ernähren. Ich bin die Sklavin.“ Sie ist verbittert. Im Kino, brav wie zwei Schüler (aber so, wie zwei Schüler, die, und das genügt, den Kopf gemeinsam hinter dem Pult gesenkt haben und die von einer kleinen, närrischen Tat umkreist werden, die jederzeit emporschnellen kann), rauchen Notre-Dame und Gorgui und sehen nur Bilder. Nachher gehen sie ein Bier trinken, ohne sich etwas zu denken, und kehren in die Mansarde zurück; auf dem Heimweg streut NotreDame kleine Kapseln auf das Trottoir, die Gorgui unter seinen eisenbeschlagenen Schuhen explodieren läßt; zwischen ihren Waden platzen Funken so wie Pfiffe zwischen denen der Louis.
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Sie wollen ausgehen, alle drei, sie sind fertig. Gorgui hält den Schlüssel in der Hand. Jeder hat eine Zigarette im Mund. Divine zündet ein Küchenstreichholz an (sie legt jedesmal das Feuer an ihren eigenen Scheiterhaufen), gibt sich Feuer, dann Notre-Dame und reicht die Flamme Gorgui: „Nein“, sagt er, „nicht drei am gleichen Streichholz: das bringt Unglück.“ Divine: „Fang nicht mit so etwas an, nachher weiß man nicht, wo man aufhören soll.“ Sie scheint müde und läßt das Streichholz fallen; jetzt ist sie schwarz und mager wie eine Zirpe. Sie fügt hinzu: „Erst fängt man mit einem kleinen Aberglauben an, und dann fällt man in die Arme Gottes.“ Notre-Dame denkt: „Ganz richtig, in das Bett des Pfarrers.“ Am oberen Ende der rue Lepic steht jenes kleine Kabarett, von dem ich schon gesprochen habe. Es heißt Der Tabernakel. Man zaubert dort, zerreibt irgendwelches Gemisch, legt Karten, befragt den Kaffeesatz und entziffert die Linien der linken Hand (Divine pflegte früher zu sagen, das Schicksal habe, wenn man es befragt, die Neigung, die Wahrheit zu antworten); schöne Schlachtergesellen verwandeln sich dort manchmal in Prinzessinnen mit Schleppenkleidern. Das Kabarett ist klein und die Decke niedrig. Fürst-Bischof regiert. Es kommen dort zusammen: alle, aber ganz besonders Erstkommunion, Banjo, die Königin von Rumänien, Ginette, Sonia, Persephone, Clorinde, die Äbtissin, Agnes, Mimose und Divine. Und ihre Kerle. Jeden Donnerstag bleibt die kleine Tür mit der Klinke für die neugierige oder angelockte bürgerliche Kundschaft geschlossen. Das Kabarett gehört „den wenigen, die rein sind“. Fürst-Bischof gab Einladungen aus. (Fürst-Bischof war eine, die früher einmal sagte: „Jede Nacht bring’ ich einen zum Weinen“ — womit sie Panzerschränke meinte, die sie aufbrach und die unter der Zange knirschten.) Wir tühlen uns zu Hause. Ein Grammophon. Drei Kellner bedienen mit Augen voller Schalk; das Laster, dem sie
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huldigen, ist ein heiteres Laster. Unsere Männer würfeln und pokern. Und wir tanzen. An diesem Abend pflegen wir uns als die zu kleiden, die wir sind. Nichts als kostümierte Närrinnen, die sich an kindlichen Louis reiben. Kurz, kein Erwachsener. Schminke und Licht entstellen zur Genüge, aber oft nehmen wir eine Larve vor das Gesicht, oder tragen einen Fächer, um des Vergnügens willen, sich an der Beinhaltung zu erkennen, am Blick oder an der Stimme, und auch, weil es uns Spaß macht, uns zu täuschen und Namen und Personen zu verwechseln. Dies wäre der ideale Ort, um einen Mord zu begehen, einen Mord, der so geheim bliebe, daß die aufgescheuchten Tunten, von panischem Schrecken ergriffen (obwohl sich, eine von ihnen, in einer Aufwallung mütterlicher Strenge, schnell in einen eifrigen und peinlich-genauen Polizisten verwandeln würde), und die kleinen Louis, mit entsetzensstarren Gesichtern, den Bauch eng an sie gedrückt, vergeblich herauszufinden suchen würden, wer das Opfer und wer der Mörder ist. Ein Verbrechen auf einem Kostümball. Divine hat für diesen Abend die beiden Seidenkleider — Stil 1900 — hervorgeholt, die sie in Erinnerung an vergangene Mittfasten aufbewahrt. Das eine ist schwarz und gagatbestickt; sie schlüpft hinein und bietet das zweite Notre-Dame an. „Bist Du bescheuert? Was sollen die ändern sagen?“ Aber Gorgui beharrt, und Notre-Dame weiß, alle seine Kumpane werden lachen, keiner jedoch wird ihn verhöhnen; denn sie achten ihn. Das Kleid schmiegt sich eng an Notre-Dames Leib; er ist nackt unter der Seide. Er fühlt sich wohl. Seine Beine stehen nahe beieinander, und ihre flaumige, sogar etwas borstige Haut reibt sich beim Gehen. Er beugt sich, dreht sich, betrachtet sich im Spiegel. Das Kleid hat eine Turnüre und bringt seine Kruppe, die an ein Paar Cellos erinnert, gut zur Wirkung. Wir stecken eine Samtblume in sein gesträubtes Haar. Er bekommt von Divine auch noch Riemchenschuhe mit hohen Absätzen aus gelbem Leder, die jedoch unter den Volants des Rockes verschwinden. Sie kleideten sich an diesem Abend sehr rasch an, denn dieses Mal gingen sie zu einem echten Vergnügen.
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Divine zog eine rosa Jacke über ihr schwarzes Seidenkleid und nahm einen pailettenbesetzten Tüllfächer. Gorgui trägt einen Frack und eine weiße Krawatte. Kam die Szene mit dem ausgeblasenen Streichholz. Sie stiegen die Treppe hinunter. Taxi. DerTabernakel. Der Portier, ganz jung und so schön wie möglich, wirft drei schmelzende Blicke. Notre-Dame macht tiefen Eindruck auf ihn. Das Feuerwerk, in das sie eintreten, ist in Seiden- und Musselinvolants, die sich vom Rauch nicht mehr lösen können, zerplatzt. Man tanzt den Rauch. Man raucht die Musik. Man trinkt von einem Mund zum ändern. Die Kumpane begrüßen Notre-Dame mit wildem Geschrei. Er hatte nicht vorausgesehen, daß seine festen Schenkel den Stoff so sehr spannen würden. Es ist ihm schnuppe, wenn man seinen steifen Schwanz sieht, — aber so denn doch nicht, vor den Kumpanen. Er möchte sich verstecken. Er wendet sich zu Gorgui, etwas rosa im Gesicht, und flüstert, indem er auf sein vorgewölbtes Kleid deutet: „Hör zu, Seck, ich muß das irgendwo unterbringen.“ Sein Gesicht verzieht sich kaum zu einem Lächeln. Seine Augen scheinen feucht zu sein; Gorgui weiß nicht, ob vor Spaß oder vor Kummer: so packt er den Mörder an den Schultern, zieht ihn zu sich heran, drückt ihn fest und nimmt den harten Vorsprung, der die Seide ausbeult, zwischen seine Riesenschenkel; er entführt ihn auf seinem Herzen in Walzern und Tangos, die bis zum Morgen dauern. Divine möchte heulen vor Wut, sie möchte die Batisttaschentücher mit ihren Nägeln und Zähnen zerreißen. Aber wegen der Ähnlichkeit dieser Situation mit einer Lage, in die sie früher schon einmal geraten war, fällt Divine plötzlich folgendes ein: „Sie war in Spanien, glaube ich. Sie wurde von Gassenjungen verfolgt, die ,Maricona’ schrien und Steine nach ihr warfen. Sie rettete sich auf ein Abstellgleis und kletterte in einen stehenden Wagen. Die Kinder verhöhnten sie von unten weiter, und durch die Wagentüren hagelte es Steine noch und noch. Divine hockte unter einer Sitzbank; sie verwünschte diese Horde von Kindern mit aller Kraft, sie röchelte vor Haß. Dann fühlte sie deutlich: es war unmöglich, diese Gassen-
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jungen zu verschlingen, sie mit den Zähnen und den Nägeln zu zerreißen, wie sie es gern gewollt hätte; und so begann sie, die Kinder zu lieben. Die Verzeihung entsprang dem Übermaß ihrer Wut und ihres Hasses, und sie wurde ruhig.“ Vor Wut läßt sie sich schließlich herbei, die Liebe zwischen dem Neger und Notre-Dame zu lieben. Um sie herum das Schlafzimmer von Fürst-Bischof. Sie hat sich in einen Sessel gesetzt; auf einem Teppich liegen Masken. Drunten wird getanzt. Divine hat alle Welt erwürgt, und im Spiegel des Schranks sieht sie, wie ihre Hände sich zu verbrecherischen Haken verkrampfen, die aussehen wie die des Blutsaugers von Düsseldorf auf dem Umschlag der Romane. Aber die Walzer nahmen ein Ende. Notre-Dame, Seck und Divine gehörten zu den letzten, die den Ball verließen. Divine war es, die die Tür öffnete, und Notre-Dame — als sei dies das natürlichste von der Welt — nahm Gorguis Arm. Das Paar — einen Augenblick durch das Abschiednehmen auseinandergerissen — hatte sich also plötzlich wieder vereinigt, alle Kniffe des Zögerns überspielend, so daß Divine in der Flanke jenen Biß fühlte, den uns die Verachtung der anderen zufügt. Sie war keine Spielverderberin; so blieb sie nur zurück und tat, als müsse sie ein Strumpfband befestigen. Um fünf Uhr morgens fiel die rue Lepic in gerader Linie bis zum Meer, das heißt: bis zum Mittelstreifen des Boulevard de Clichy ab. Die Morgendämmerung war grau, ein wenig grau, ihrer selbst nicht ganz sicher, als wollte sie eben hinfallen und sich erbrechen. Die Morgendämmerung war von Ekel erfüllt, als sich das Trio noch im oberen Teil der Straße befand. Gorgui hatte seinen Klapphut ganz bieder auf seinen Krauskopf gesetzt, ein wenig über das Ohr geneigt. Seine weiße Hemdbrust war noch steif. Eine große Chrysantheme welkte an seinem Knopfloch. Sein Gesicht lachte. Notre-Dame hielt ihn am Arm. Sie stiegen hinunter zwischen zwei Reihen von Mülleimern voller Asche und ausgerissenen Haaren — jenen Mülleimern, auf die allmorgendlich die ersten schielenden Blicke der Lebemänner fallen, den Mülleimern mit Schlagseite.
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Wenn ich ein Theaterstück mit Frauenrollen aufführen müßte, so würde ich verlangen, daß die Rollen von Jünglingen gespielt werden, und ich würde das Publikum davon durch ein Schild in Kenntnis setzen, das während der ganzen Vorstellung links oder rechts vom Bühnenbild angenagelt bleibt. Notre-Dame in seinem blaßblauen Taftkleid mit dem Saum aus Valenciennes-Spitzen war nicht mehr er selbst. Er war er selbst und seine Ergänzung. Ich bin verrückt nach Verkleidungen. Die eingebildeten Geliebten meiner Gefängnisnächte sind manchmal ein Prinz — den ich nötige, die abgelegte Kleidung eines Bettlers zu tragen — und manchmal ein kleiner Gauner, dem ich königliche Gewänder leihe; den größten Genuß finde ich vielleicht, wenn ich mir in der Phantasie den Erben einer alten italienischen Familie vorstelle, aber einen betrügerischen Erben, denn mein echter Vorfahre wäre ein schöner, barfuß unter dem bestirnten Himmel schreitender Vagabund, der es seiner Kühnheit verdankt, daß er den Platz des Prinzen Aldini eingenommen hat. Ich liebe den Betrug. Notre-Dame stieg also die Straße hinab, wie nur die großen, die sehr großen Kurtisanen hinabzusteigen verstehen — das heißt: ohne übermäßige Steifheit und ohne übermäßiges Wogen, ohne mit den Füßen in die Schleppe zu treten, die gleichgültig das graue Pflaster kehrt und Strohhalme und kleine Äste mit sich führt, sowie einen zerbrochenen Kamm und ein vergilbtes Aronblatt. Die Morgendämmerung klärte sich auf. Divine folgte in ziemlich weitem Abstand. Sie schäumte vor Wut und überwachte die beiden. Der Neger und der Mörder in ihren Kostümen schwankten ein wenig und stützten sich gegenseitig mit den Schultern. Notre-Dame sang: Tarabum dieee! Tarabum dieee! Tarabum dieee! Er sang lachend. Sein klares und glattes Gesicht, dessen Linien und Flächen aus der Form geraten waren durch eine Nacht voller Gelächter, Tanz, Tumult, Wein und Liebe (die Seide seines Kleides war befleckt), bot sich dem anhebenden Tag wie dem eisigen Kuß eines Leichnams. Alle Rosen seiner Haare waren aus Stoff; trotzdem
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waren sie verwelkt auf dem Messingdraht, aber sie hielten sich noch wie eine Blumenbank, die man vergessen hatte, zu gießen. Die Stoffrosen waren tot. Um ihnen ein wenig Sicherheit wiederzugeben, hob Notre-Dame seinen nackten Arm, und die Gebärde dieses Mörders war gewiß nicht brutaler als die der Emilienne d’Alençon, als sie ihren Chignon richtete. Tatsächlich ähnelte er Emilienne d’Alençon. Die Turnüre des blauen Kleides (was man den cul de Paris nennt) rührte den großen, eitlen Neger so sehr, daß er geiferte. Divine sah ihnen nach, wie sie zum Strand hinuntergingen. Notre-Dame sang zwischen den Mülleimern. Stellt Euch irgendeine blonde Eugénie Buffet vor, die im seidenen Kleid, am Arm eines befrackten Negers, eines Morgens in den Höfen singt. Erstaunlich, daß sich keines der Fenster dieser Straße auf das verschlafene Antlitz einer Butter- oder Eierhändlerin oder das ihres Gevatters öffnete. Diese Leute wissen niemals, was unter ihren Fenstern geschieht, und das ist gut so. Sie würden sonst vor Kummer sterben. Die weiße Hand Notre-Dames (Trauerränder an den Nägeln) lag flach auf Seck Gorguis Unterarm. Die beiden Arme streiften sich in einer so zarten Berührung (das Kino war ein wenig schuld daran), daß man, wenn man sie sah, an den Blick Raphaelischer Madonnen denken mußte, jenen Blick, der vielleicht nur wegen der Reinheit seines bloßen Namens so keusch ist; denn er läßt die Augen des kleinen Tobias leuchten. Die rue Lepic ging steil abwärts. Der Neger im Frack lächelte, so wie Champagner einen lächeln läßt; er hatte einen Ausdruck, als gehöre er zum Fest, das heißt: er sah abwesend aus. Notre-Dame sang: Tarabum tarabum dieee! Tarabum dieee! Es war frisch. Die Kühle des Pariser Morgens ließ seine Schultern erstarren, während sein Kleid von oben bis unten zitterte. „Ist Dir kalt?“ sagte Gorgui und sah ihn an. „’bißchen.“ Niemand bemerkte, wie sich Secks Arm um die Schultern von NotreDame legte. Divine ordnete ihr Gesicht und ihre Gebärden, so daß
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beide, als sie sich umsahen, den Eindruck hatten, sie sei mit etwas Praktischem beschäftigt. Keiner von beiden schien sich jedoch wegen der An- oder Abwesenheit von Divine Gedanken zu machen. Man hörte den Morgenangelus, das Klappern eines Milchkastens. Drei Arbeiter fuhren mit dem Fahrrad auf dem Boulevard vorbei, ihre Laternen brannten, obwohl es schon hell war. Ein Schutzmann kam ihnen entgegen, er befand sich auf dem Weg nach Hause, wo er vielleicht ein leeres Bett vorfinden würde (Divine hoffte es, denn er war jung); er würdigte sie keines Blickes. Die Mülleimer rochen nach Ausguß und Putzfrau. Ihr Geruch heftete sich an die weißen Spitzen von Notre-Dames Kleid und an die Festons auf den Volants der rosa Jacke von Divine. Notre-Dame fuhr fort mit Singen und der Neger mit Lächeln. Plötzlich standen sie alle drei am Rande der Verzweiflung. Die wunderbare Straße lag hinter ihnen. Sie befanden sich jetzt auf dem platten, banalen und asphaltierten Boulevard von Jedermann, der so verschieden war von dem geheimen Pfad, auf dem sie soeben gegangen waren in der trunkenen Morgenröte eines Tages, mit seinen Düften, seinen Seidengewändern, seinem Lachen und mit seinen Gesängen durch Häuser hindurch, die ihre Eingeweide verloren, frontal aufgerissenen Häusern, in denen — weiterschlafend — Greise, Kinder und Tunten — wie hübsche Blumenmädchen — und in denen Barmänner zwischen Himmel und Erde schwebten, so verschieden, sage ich, von jenem abgelegenen Saumpfad, daß die drei Kinder auf ein Taxi zugingen, um der Eintönigkeit einer alltäglichen Heimkehr zu entgehen. Das Taxi beförderte sie schon im voraus. Der Chauffeur öffnete die Tür, und NotreDame stieg als erster ein. Gorgui hätte auf Grund der Stellung, die er in der Gruppe einnahm, vorausgehen müssen, aber er wich zurück und gab Notre-Dame den Zugang frei. Man bedenke: ein Louis läßt einer Frau niemals den Vortritt, und noch weniger einer Tunte — was doch in dieser Nacht Notre-Dame für ihn geworden war; Gorgui mußte ihn sehr hoch schätzen. Divine errötete, als er sagte: „Bitte, Danie.“
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Dann, um rascher zu denken — denn wenn sie auch als „Frau“ fühlte, so dachte sie doch wie ein „Mann“ — wurde Divine augenblicklich wieder die Divine, aus der sie herausgeschlüpft war, als sie die rue Lepic hinabstiegen. Man könnte glauben, Divine — so von selbst zu ihrer wahren Natur zurückgekehrt — sei nichts weiter als ein geschminktes Männchen, das seine affektierten Gebärden nicht zügeln kann; aber es handelt sich hier nicht um jenes Phänomen der Muttersprache, auf das wir in ernsten Augenblicken zurückgreifen. Divine mußte niemals, um genau zu denken, mit lauter Stimme für sich selbst ihre Gedanken formulieren. Gewiß, sie hatte schon gelegentlich laut zu sich gesagt: „Ich bin ein armes Mädchen“, aber nachdem sie es empfunden hatte, empfand sie es nicht mehr, und indem sie es sagte, dachte sie es nicht mehr. In Mimoses Gegenwart, zum Beispiel, hatte sie manchmal bei ernsten, aber niemals bei wesentlichen Anlässen als Frau gedacht. Ihre Weiblichkeit war nicht nur Maskerade. Aber daran, vollständig als Frau zu denken, hinderten sie ihre Organe. Denken ist handeln. Um zu handeln, muß man den Leichtsinn beiseiteschieben und seinen Gedanken auf einen festen Grund stellen. Da kam ihr der Gedanke der Festigkeit zu Hilfe, den sie mit dem Gedanken der Männlichkeit verband. In der Grammatik lag dieser Gedanke auf der Hand. Denn Divine wagte zwar das Femininum zu verwenden, um einen Zustand, den sie empfand, zu erklären, aber dergleichen war ihr unmöglich, wenn es sich um eine Tat handelte, die sie ausführte. Und alle „weiblichen“ Urteile, die sie fällte, waren in Wahrheit dichterische Schlüsse. Also war Divine nur in diesem Augenblick echt. Es wäre wissenswert, welchen Platz die Frauen im Denken, und vor allem im Leben von Divine einnahmen. Gewiß, sie selbst war keine Frau (das heißt: kein Weibchen mit einem Rock); sie hatte etwas davon nur insofern, als sie sich dem herrischen Männchen unterwarf, und für sie war auch Ernestine, ihre Mutter, keine Frau. Aber die ganze Frau war verkörpert in einem kleinen Mädchen, das Culafroy im Dorf gekannt hatte. Sie hieß Solange. In den Tagen brütender Hitze blieben sie auf einer weißen
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Steinbank hocken, in einem schattigen Winkel, der so klein, so fein und schmal war wie ein Saum, und ihre Füße hielten sie unter den Schürzen verborgen, damit sie nicht von der Sonne getroffen würden; sie fühlten und dachten gemeinsam im Schütze des Baumes mit den Schneebällen. Culafroy war verliebt, denn als man Solange in die Klosterschule schickte, wurde er zum Pilger. Er besuchte den Felsen von Crotto. Dieser Granitstein diente den Familienmüttern als Abschreckungsmittel; sie bevölkerten die Höhlen zu unserem Entsetzen mit unheilbringenden Wesen, mit Sandmännern und Verkäufern von Schnürsenkeln, Stecknadeln und Losen. Die meisten Kinder kümmerten sich nicht um die von der mütterlichen Umsicht diktierten Geschichten. Nur Solange und Culafroy trugen, wenn sie dorthin gingen — und das geschah so oft wie möglich —, den heiligen Schrecken in der Seele. An einem Sommerabend, in der Schwüle eines verhaltenen Gewitters, gingen sie dort an Land. Der Felsen ragte wie ein Schiffsbug in ein Meer abgeernteter, blonder, bläulich schimmernder Ähren. Der Himmel stieg auf die Erde herab wie ein blaues Pulver in ein Wasserglas. Der Himmel suchte die Erde heim. Es herrschte eine geheimnisvolle und mystische Stimmung, wie in Tempeln, eine Stimmung, die bis dahin nur ein vom Dorfe abgelegener Platz durch alle Jahreszeiten hindurch bewahrte: ein von Salamandern bewohnter Teich, umrahmt von kleinen Tannenhainen, die sich im grünen Wasser idealisierten. Was für erstaunliche Bäume sind solche Tannen; oft und oft habe ich sie auf italienischen Bildern dargestellt gesehen. Sie sind für Weihnachtskrippen bestimmt und nehmen so am Zauber der Winternächte teil, am Zauber der heiligen drei Könige, der musizierenden Zigeuner und Postkartenverkäufer, der Kirchenlieder und der Küsse, die nachts barfuß auf Schlafzimmerteppichen ausgetauscht werden. Immer hoffte Culafroy darauf, eine wunderbare Jungfrau in ihren Zweigen zu entdecken, eine Jungfrau — damit das Wunder vollständig wäre — aus farbigem Gips. Er brauchte diese Hoffnung, um die Natur zu ertragen. Die hassenswerte, undichterische, gefräßige Natur, die alle Geistigkeit ver-
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schlingt. Gefräßig wie der Moloch Schönheit. Dichtung ist eine Vision der Welt, die erreicht wird durch eine manchmal erschöpfende Anstrengung des gespannten Willens. Dichtung ist eine Tat des Willens. Sie hat nichts mit Sich-gehen-lassen zu tun, sie ist kein freier und kostenloser Eintritt durch die Sinne; sie ist nicht etwa dasselbe wie Sinnlichkeit, sondern sie entsteht im Widerspruch zur Sinnlichkeit, samstags zum Beispiel, bei der Reinigung der Schlafzimmer, wenn die Sessel, die roten Samtstühle, die vergoldeten Spiegel und Mahagonitische auf der nahen Wiese abgestellt werden. Solange stand aufrecht auf der Spitze des Felsens. Sie neigte sich ganz leicht nach hinten über, als sauge sie die Luft ein. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen — und schwieg. Sie erwartete einen Donnerschlag oder eine Eingebung, aber nichts dergleichen geschah. Einige Sekunden verstrichen, während derer Schrecken und Freude ein unentwirrbares Dickicht bildeten. Dann sprach sie mit einer tonlosen Stimme: „In einem Jahr stürzt sich hier ein Mann in die Tiefe.“ „Warum in einem Jahr? Was für ein Mann?“ „Dummkopf.“ Sie beschrieb den Mann: er würde dick sein, eine graue Hose tragen und eine Jägerweste. Culaf roy war erschüttert, als habe er von einem Selbstmord erfahren, der soeben hier verübt worden sei, und als läge ein noch warmer Körper unter dem Felsen in den Brombeersträuchern. Rührung übermannte ihn in leichten, kurzen, bedrängenden Wellen und verströmte wieder aus Füßen, Händen, Haaren und Augen, bis sie sich im Rhythmus von Solange’s Erzählung der ganzen Natur mitteilte. Das Drama war kompliziert und wohldurchdacht, wie es einem japanischen Drama zukommt. Sie erzählte mit viel Selbstgefälligkeit; sie hatte die Tonart der tragischen Rezitative gewählt, in denen die Stimme niemals den Leitton erreicht. „Der Mann kommt von weit her, man weiß nicht warum. Wahrscheinlich ist er ein Schweinehändler auf der Heimkehr vom Markt.“ „Aber die Straße ist weit weg. Warum kommt er hierher?“
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„Um zu sterben, Unschuldsengel. Man kann sich doch nicht auf der Landstraße umbringen.“ Sie zuckte mit den Schultern und bewegte den Kopf. Die schönen Haarlocken schlugen ihre Wangen wie bleierne Peitschen. Die kleine Pythia hatte sich niedergehockt. Wie sie so auf dem Felsen die eingeritzten Worte der Prophezeihung suchte, ähnelte sie einem Mutterhuhn, das den Sand aufwühlt, um Körner für seine Küken zu finden. Der Felsen wurde nun für sie ein Platz der Heimsuchung und des Spuks. Sie gingen zu ihm, wie man zu einem Grab geht. Dieses Mitleid mit einem künftigen Toten höhlte sie aus wie der Hunger, oder wie einer jener Schwächezustände, die gegen das Fieber ankämpfen. Eines Tages dachte Culafroy: „Es ist jetzt neun Monate her und Solange kommt im Juni zurück. Sie wird also im Juli hier sein, und der Tragödie, die sie ausgedacht hat, beiwohnen.“ Sie kam. Augenblicklich begriff er, daß sie jetzt einer Welt zugehörte, die anders war als die, in der er selbst lebte. Sie war kein Teil mehr von ihm. Sie hatte sich ihre Freiheit errungen; dieses kleine Mädchen war jetzt wie jene Werke, die seit langer Zeit ihren Hervorbringer verlassen haben: sie sind nicht mehr Fleisch von seinem Fleisch, und so gilt seine mütterliche Zärtlichkeit auch nicht mehr ihnen. Solange hatte jetzt Ähnlichkeit mit jenen erkalteten Exkrementen, die Culafroy am Fuße der Gartenmauer zwischen den Johannisbeersträuchern hinterließ. Wenn sie noch warm waren, empfand er manchmal ein zärtliches Wohlbehagen bei ihrem Geruch, aber er wandte sich gleichgültig — manchmal sogar mit Entsetzen — von ihnen ab, wenn die Zeit, wo sie noch zu ihm gehörten, schon zu lange her war. Und wenn Solange nicht mehr länger das kleine, keusche Mädchen war, die Rippe aus seiner Seite, das kleine Mädchen, das seine Haare zum Mund führte und mit den Lippen liebkoste, so hatte ihn selbst das Leben mit Alberto ausgeglüht. Ein chemischer Prozeß hatte in ihm stattgefunden, und neue Verbindungen waren entstanden. Die Vergangenheit der beiden Kinder war
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bereits hinter die alten Monde versunken. Weder Solange noch Culafroy fanden zu den Worten und Spielen des vergangenen Jahres zurück. Eines Tages gingen sie bis unter die Haselsträucher, wo im letzten Sommer ihre Hochzeit stattgefunden hatte, ihre Hochzeit, eine Puppentaufe, — ein Haselnußfest. Wie er so den Platz wiedersah, dem die Ziegen zu einem stets gleichen Aussehen verhalfen, erinnerte sich Culafroy an die Prophezeiung von Crotto. Er wollte mit Solange davon sprechen, aber sie hatte vergessen. Wenn man genau zählte, so waren dreizehn Monate vergangen, seit sie den gewaltsamen Tod des Kaufmanns verkündet hatte, und nichts war geschehen. Wieder zerfiel eine übernatürliche Gabe vor Culafroys Augen zu nichts. Ein weiteres Gran Verzweiflung kam zu der Verzweiflung hinzu, die ihn bis zu seinem Tode begleiten sollte. Er wußte noch nicht, daß jedes Ereignis in unserem Leben nur Bedeutung erlangt durch den Widerhall, den es in uns weckt, und durch den Grad, in dem es uns der Askese näherbringt. Für ihn, der einen Schock nach dem anderen erlitt, war Solange auf ihrem Felsen nicht „erleuchteter“ als er selbst. Um sich interessant zu machen, hatte sie eine Rolle gespielt: ein Geheimnis war so mit einem Schlag ausgelöscht, aber ein anderes, unergründlicher als das erste, trat vor ihn hin: „Andere als ich“, dachte er, „können spielen, was sie nicht sind. Also bin ich kein außergewöhnlicher Mensch.“ Schließlich überraschte er bei dieser Gelegenheit auch eine der Facetten weiblichen Schillerns. Er war enttäuscht, vor allem aber spürte er, daß ihn eine andere Liebe erfüllte. Auch empfand er ein wenig Mitleid mit dem blassen, zerbrechlichen, ihm so fernen Mädchen. Wie eine Spitze den Blitz, so hatte Alberto alles Wunderbare der äußeren Welt auf sich gezogen. Culafroy erzählte Solange einiges von ihren Schlangenfänger, und wie ein erfahrener Künstler verstand er es, das Geständnis durchblicken zu lassen und zu verschweigen. Sie kehrte die Erde mit einem Haselnußzweig. Manche Kinder haben, ohne unser Wissen, Zaubergeräte in den Händen, und die Einfalt staunt über die in den Gesetzen der Tiere und Familien angerichteten
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Verwirrungen. Ehemals war Solange die Fee der Morgenspinnen — Kummer und Sorge, sagt die Chronik. Ich halte hier ein, um „heute morgen“ eine Spinne zu beobachten, die im schwärzesten Winkel meiner Zelle ihr Netz spinnt. Das Schicksal hat meinen Blick hinterhältig auf sie und ihr Gewebe gelenkt. Das Orakel tut sich kund. Mir bleibt nichts, als mich ohne Haß zu beugen: „Du bist Dein eigenes Los, Du hast Dir selbst Deinen Zauber gewebt.“ Ein einziges Unglück — das schlimmste — kann mir zustoßen. So bin ich also versöhnt mit den Göttern. Die Wissenschaft von den Orakeln stellt mich vor keine Frage, denn sie ist göttlich. Ich möchte zu Solange zurückkehren, zu Divine, zu Culafroy, zu jenen trüben und traurigen Wesen, die ich manchmal verlasse, um mich schönen Tänzern und Gaunern zuzuwenden; aber sogar sie, vor allem sie sind mir fern, seit ich den Schock des Orakels empfangen habe. Solange? Sie hörte die Geständnisse Culafroys wie eine Frau. Sie war einen Augenblick lang verlegen, dann lachte sie und ihr Lachen war von einer Art, als ob auf ihren zusammengepreßten Zähnen ein Skelett umherhüpfe und mit kurzen Schlägen auf sie einhämmere. Inmitten der Felder fühlte sie sich wie gefangen. Man hatte sie soeben gefesselt. Das Mädchen war eifersüchtig. Sie fand mit Mühe genügend Speichel um zu fragen: „Magst Du ihn gern?“ und das Schlucken war schmerzhaft, als sollte sie ein Paket Stecknadeln verschlingen. Culafroy zögerte, ehe er antwortete. Die Fee lief Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Im geeigneten Augenblick, als die Antwort — ein „ja“ — voll und ganz sichtbar auf den Lippen schwebte, ließ Solange den Haselzweig fallen und bückte sich nach ihm; sie nahm eine lächerliche Stellung ein, als die verhängnisvolle Antwort, das hochzeitliche „ja“, herabfiel und sich mit dem Knirschen des Sandes, in dem Solange scharrte, vermengte; die Antwort wurde dadurch gedämpft und der Schock für Solange gemildert. Divine machte keine anderen Erfahrungen mehr mit Frauen.
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Als sie neben dem Taxi stand, brauchte Divine nicht mehr zu denken; sie wurde wieder sie selbst. Anstatt einzusteigen (sie hatte schon den Saum ihres schwarzen Kleides zwischen zwei Finger genommen und den linken Fuß gehoben), wozu Gorgui, bereits sitzend, sie einlud, stieß sie ein grelles Lachen aus, ein Jahrmarktsoder Narrenlachen, wandte sich dem Chauffeur zu und sagte, indem sie ihm ins Gesicht lachte: „Nein, nein. Mit dem Chauffeur. Ich steige immer beim Chauffeur ein. Ätsch.“ Ihre Stimme wurde einschmeichelnd. „Ob er wohl was dagegen hat, der Chauffeur?“ Der Chauffeur war ein kräftiger Kerl, der sein Handwerk verstand (alle Taxichauffeure sind Gelegenheitsmacher und Rauschgifthändler). Der Fächer in den Fingern von Divine entfaltete sich nicht. Nebenbei bemerkt, Divine nahm den Fächer nicht, weil sie irreführen wollte; sie wäre schmerzlich betroffen gewesen, wenn man sie mit einem jener schrecklichen Zitzenweibchen verwechselt hätte. „Oh! diese Frauen, sie sind ja so schlecht, so schlecht, so abscheulich, diese Matrosenhuren, dieses Lumpenpack, diese Schweine. Oh! die Frauen, wie ich sie hasse!“ sagte sie. Der Chauffeur öffnete die Tür zu seinem eigenen Sitz und meinte freundlich lächelnd zu Divine: „Na, Kleiner, steig hier ein.“ „Oh, la, la — dieser Chauffeur, der ist ja, der ist ja ...“ Der prachtvolle Schenkel des Chauffeurs wurde vom Knistern des Tafts durchsiebt. Der Tag war bereits hellwach, als sie in der Mansarde ankamen, aber die Finsternis hinter den zugezogenen Vorhängen, der Geruch des Tees, mehr noch, der Geruch Gorguis, ließen sie in eine magische Nacht versinken. Ihrer Gewohnheit gemäß trat Divine hinter einen Wandschirm, um sich ihres Trauerkleides zu entledigen und einen Schlafanzug überzuziehen. Notre-Dame setzte sich auf das Bett, zündete eine Zigarette an, und während zu seinen Füßen die moosige Masse der Spitzen seines Kleides eine Art von schäumendem Sockel
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bildeten, blickte er — die Ellbogen auf die Knie gestützt — vor sich auf die Hosen, die weiße Seidenweste und die flachen Schuhe Gorguis, die, vom Zufall aufgenommen und augenblicklich geordnet, auf dem Teppich die Gestalt einer von einem ruinierten Gentleman gegen drei Uhr morgens auf den Seinekais abgelegten Hinterlassenschaft annahmen. Gorgui schlief völlig nackt. Divine erschien im grünen Schlafanzug, denn grüne Stoffe paßten im Schlafzimmer gut zu dem ockerfarbenen Puder auf ihrem Gesicht. Notre-Dame hatte seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht. „Legst Du Dich hin, Danie?“ „Ja, ja, warte ein bißchen, bis ich fertig bin mit Rauchen.“ Wie immer antwortete er, als käme seine Antwort aus den Tiefen unergründlicher Gedanken. Notre-Dame dachte an nichts, und das verlieh ihm jenes Aussehen, als wüßte er alles — durch eine Art besonderer Gnade — im voraus. War er der Günstling des Schöpfers? Gott hatte ihn vielleicht eingeweiht. Sein Blick war reiner (leerer) als der der Du Barry nach einer Auseinandersetzung mit ihrem Geliebten, dem König. (Ebenso wie die Du Barry wußte er in diesem Augenblick nicht, daß er geradenwegs zum Schafott hinaufstieg; aber wenn die Literaten erklären, die Augen des kleinen Jesus seien todtraurig in Voraussicht der Leiden Christi, so darf ich Euch wohl bitten, auf dem Grund von Notre-Dame’s Augäpfeln das mikroskopische, dem nackten Auge nicht erkennbare Bild einer Guillotine zu sehen.) Er war wie gelähmt. Divine fuhr mit der Hand durch das Haar von Notre-Dame-des-Fleurs. „Soll ich Dir helfen?“ Sie dachte, sein Kleid aufzuhaken und auszuziehen. „Ja, los, meinetwegen.“ Notre-Dame warf seinen Stummel fort, zerdrückte ihn auf dem Teppich, zog einen Schuh aus, indem er mit der Spitze des anderen nachhalf, und dann den anderen. Divine hakte sein Kleid im Rücken auf. Sie beraubte Notre-Dame-des-Fleurs eines Teils, des hübschesten Teils seines Namens. Notre-Dame war ein bißchen blau.
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Diese letzte Zigarette bekam ihm ziemlich schlecht. Sein Kopf rollte und fiel auf seine Brust, so wie die Köpfe der gipsernen Schäfer auf die Weihnachtskrippe fallen, wenn man ein Geldstück in den Spalt wirft. Er hatte einen Schluckauf vor Müdigkeit und schlecht verdautem Wein. Er ließ sich das Kleid ausziehen, ohne selbst mit der geringsten Bewegung nachzuhelfen, und als er nackt war, hob Divine seine Füße in die Höhe, so daß er ins Bett zurückfiel und gegen Seck rollte. Gewöhnlich schlief Divine zwischen ihnen. Sie erkannte wohl, daß sie sich heute mit der äußeren Bettkante begnügen müsse, und die Eifersucht, die sie beim Hinabsteigen der rue Lepic und im Tabernakel empfunden hatte, kehrte wieder. Bitterkeit stieg wieder in ihr auf. Sie löschte das Licht. Zwischen den schlecht geschlossenen Vorhängen drang ein sehr schmaler Sonnenstrahl ins Zimmer und zerfiel zu blondem Staub. Es war das Hell-Dunkel des poetischen Morgens im Schlafzimmer. Divine legte sich ins Bett. Sofort zog sie Notre-Dame zu sich heran. Sein Leib hatte weder Knochen noch Nerven, seine Muskeln schienen mit Milch genährt. Er lächelte ungewiß. Jenes willige Lächeln, das anzeigt, daß er ein gewisses, nicht übertriebenes Vergnügen empfand; doch Divine bemerkte dieses Lächeln erst, als sie seinen Kopf zwischen ihre Hände nahm, und das zuerst Gorgui zugekehrte Gesicht zu sich gedreht hatte. Gorgui lag auf dem Rücken. Der Wein und die Schnäpse hatten ihn aufgeweicht, so wie sie Notre-Dame aufgeweicht hatten. Er schlief nicht. Divine nahm die geschlossenen Lippen Notre-Dame’s in ihren Mund. Wie wir wissen, roch sein Atem faulig. Es war Divine also daran gelegen, den Kuß auf den Mund abzukürzen. Sie glitt bis ans Ende des Bettes, und im Vorübergehen leckte ihre Zunge den flaumigen Körper Notre-Dame’s, dessen Lust dadurch erwachte. Divine kuschelte ihren Kopf in die Leistenbeuge des Mörders und wartete. Diese Szene wiederholte sich jeden Morgen, einmal mit Notre-Dame, und das nächste Mal mit Gorgui. Sie wartete nicht lange. Notre-Dame drehte sich plötzlich auf den Bauch und führte rücksichtslos mit der Hand ihr noch schlaffes
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Glied in den halbgeöffneten Mund von Divine. Die zog ihren Kopf zurück und preßte die Lippen zusammen. Vor Wut wurde das Geschlecht zu Stein (legt Euch keine Zurückhaltung auf, Ihr Kondottieris, Ritter, Pagen, Wüstlinge, Apachen, laßt ihn steif werden unter euren seidenen Gewändern, preßt ihn gegen die Wange von Divine) und wollte den geschlossenen Mund gewaltsam öffnen, aber er stieß gegen die Augen, die Nase, das Kinn, glitt über die Wange. Das gehörte zum Spiel. Schließlich fand er die Lippen. Gorgui schlief nicht. Er sah das Echo der Bewegungen auf der nackten Kruppe Notre-Dame’s. „Verdammt, ihr gemeinen Kerle, wie kommt ihr dazu, euch wie zwei Schweizer aufzuführen. Meint ihr vielleicht, ich kann das mit ansehen?“ Er rührte sich. Divine bot sich dar und versagte sich zum Spiel. Notre-Dame keuchte. Die beiden Arme von Divine umfingen seine Flanken, ihre Hände liebkosten sie, streichelten sie — aber nur leicht, denn sie wollte die Schauer spüren — mit den Fingerspitzen — wie wenn man unter dem Lid das Rollen des Augapfels fühlen will. Ihre Hände glitten über die Hinterbacken Notre-Dame’s, und da begriff Divine plötzlich. Gorgui ritt auf dem blonden Mörder und suchte, in ihn einzudringen. Eine furchtbare, tiefe, unvergleichliche Verzweiflung trennte sie von dem Spiel der beiden Männer. NotreDame suchte noch immer den Mund von Divine, aber er fand nur die Augenlider, ihr Haar, und mit einer keuchenden Stimme, in der doch ein feuchtes Lächeln schimmerte, sagte er: „Bist Du soweit, Seck?“ „Ja“, sagte der Neger. Sein Atem ging durch Notre-Dame’s blondes Haar und richtete es auf. Ein wildes Treiben begann über Divine. „So ist das Leben“, hatte Divine gerade noch Zeit zu denken. Eine Pause trat ein, eine Art Schwanken. Der Turm der Leiber zerfiel in Schmerz. Divine schob ihren Kopf bis zum Kopfkissen hinauf. Sie war allein, verlassen. Sie empfand keine Lustgefühle mehr, und zum
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ersten Male fühlte sie nicht das Bedürfnis, im Klo die begonnene Liebe mit der Hand zu Ende zu führen. Divine hätte sich ohne Zweifel über die ihr von Seck und Notre-Dame zugefügte Beleidigung getröstet, wenn die Beleidigung nicht bei ihr stattgefunden hätte. Sie hätte sie vergessen. Aber es bestand Gefahr, daß diese Beschimpfung chronisch wurde, denn alle drei schienen sich in der Mansarde für die Ewigkeit eingerichtet zu haben. Sie haßte in gleicher Weise Seck und Notre-Dame und fühlte sehr deutlich, daß dieser Haß aufgehört hätte, wenn der eine den anderen verlassen hätte. Sie wollte sie um keinen Preis in der Mansarde behalten. „Ich denke gar nicht daran, diese zwei Siebenschläfer zu mästen“. NotreDame wurde ihr widerwärtig wie eine Rivalin. Am Abend, als sie alle aufgestanden waren, packte Gorgui Notre-Dame bei den Schultern und küßte ihn lachend auf den Nacken. Divine bereitete den Tee zu und tat, als wäre sie zerstreut. Aber sie konnte nicht verhindern, daß ihr Blick auf den Hosenschlitz von Notre-Dame fiel. Sie wurde von einem neuen Wutanfall geschüttelt: er spannte. Sie glaubte, niemand habe ihren Blick bemerkt, aber sie hob den Kopf eben rechtzeitig, um das höhnische Augenzwinkern aufzufangen, mit dem Notre-Dame den Neger auf sie aufmerksam machte. „Ihr könntet euch wenigstens anständig aufführen“, sagte sie. „Wir tun doch nichts böses“, sagte Notre-Dame. „Ah! findest du!“ Aber sie wollte nicht, daß es so aussah, als tadele sie ein verliebtes Einverständnis oder auch nur, als habe sie es bemerkt. So fügte sie hinzu: „Müßt ihr denn die ganze Zeit Krakeel machen?“ „Wir machen keinen Krakeel, Kleiner.“ Gorgui hatte Notre-Dame losgelassen. Er bürstete seine Schuhe. Sie tranken Tee. Niemals hatte Divine Gelegenheit gehabt, niemals hatte sie daran gedacht, auf Notre-Dame’s Äußeres eifersüchtig zu sein. Aber alles deutet darauf hin, daß diese Eifersucht unterirdisch,
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uneingestanden bestand. Erinnern wir uns an einige kleine Begebenheiten, die wir bloß notiert haben: einmal verweigerte Divine Notre-Dame ihre Wimperntusche; dann die (rasch verheimlichte) Freude, die sie empfand, als sie die abscheuerregende Entdeckung seines verpesteten Atems machte; schließlich — ohne sich selber Rechenschaft darüber abzulegen — heftete sie von allen Photos NotreDame’s das häßlichste an die Wand. Dieses Mal war ihr die physische Eifersucht (jeder weiß, wie bitter sie macht) klar. Entsetzliche Racheakte erfand sie und führte sie in Gedanken aus. Sie kratzte, riß, verstümmelte, zerschnitt, enthäutete und bespritzte mit Vitriol. „Abscheulich verstümmelt soll er werden“, dachte sie. Während sie die Teetassen abtrocknete, führte sie die entsetzlichsten Hinrichtungen aus. Nachdem sie das Trockentuch weggelegt hatte, war sie innerlich wieder rein, aber unter die Menschen kehrte sie nur nach sorgfältigen Abstufungen zurück. Ihre Handlungen wurden davon betroffen. Hätte sich Divine an einer Tunte gerächt, so wäre ihr ohne Zweifel ein Wunder von der Art des Martyriums des Heiligen Sebastian gelungen. Sie hätte einige Pfeile geschleudert — aber anmutig, als wenn sie sagen würde: „Ich werfe Dir ein Augenzwinkern zu“ oder „Ich schmeiß Dir einen Autobus in die Fresse“. Einige vereinzelte Pfeile. Dann eine Salve. Die Umrisse der Tunte wären durch Pfeile bezeichnet worden. Sie hätte sie in einen Kasten voller Pfeile gesteckt, und dann hätte sie ihn zugenagelt. Dieses Verfahren wollte sie gegen Notre-Dame anwenden. Aber dieses Verfahren muß in der Öffentlichkeit ausgeführt werden. Notre-Dame erlaubte zwar alles in der Mansarde, aber er duldete nicht, daß man ihn vor den Kumpanen zurechtwies. Er war empfindlich. Die Pfeile von Divine trafen auf Granit. Sie suchte Streit, und natürlich fand sie ihn. Eines Tages ertappte sie ihn auf frischer Tat, einer Tat, die schlimmer war als Egoismus. Sie waren in der Mansarde. Divine schlief noch. Am Abend zuvor hatte Notre-Dame ein Päckchen „Craven“ gekauft. Beim Erwachen suchte er das Päckchen: es enthielt nur noch zwei Zigaretten. Er bot die eine Gorgui an, behielt die andere und zündete sie
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an. Divine schlief nicht, aber sie hielt die Augen geschlossen und bemühte sich, den Eindruck zu erwecken, als schliefe sie. „Ich will bloß sehen, was sie machen“, dachte sie. Die Lügnerin wußte wohl, dies war nur ein Vorwand, damit sie nicht beleidigt zu scheinen brauchte, wenn man sie bei der Verteilung vergaß. Sie konnte so ihre Würde bewahren. Um die dreißig herum wurde Divine von einem Bedürfnis nach Würde erfaßt. Schon eine Kleinigkeit verletzte sie; sie, die in ihrer Jugend oft eine Kühnheit zeigte, vor der selbst Barmänner erbebten, errötete jetzt und fühlte sich erröten schon bei der geringsten Kleinigkeit, die dann, durch die Geringfügigkeit des Symbols selbst, Situationen heraufbeschwor, in denen sie wirklich das Recht gehabt hätte, sich gedemütigt zu fühlen. Die leichteste Erschütterung — und umso schrecklicher, je leichter sie war — versetzte sie in die Zeiten des Elends zurück. Man wird erstaunt sein, zu sehen, wie Divine mit zunehmendem Alter empfindlicher wurde, wo doch der gemeine Menschen verstand entschieden hat, im Laufe des Lebens werde das Fell dicker. Sie schämte sich natürlich nicht mehr im geringsten darüber, eine Nutte zu sein, die sich vermietet. Wenn nötig, hätte sie sich sogar gerühmt, eine Nutte zu sein, der der Samen aus allen neun Löchern rinnt. Daß die Frauen und Männer sie beleidigten, war ihr ebenfalls gleichgültig. (Bis wann?) Aber sie verlor die Selbstbeherrschung, wurde tiefrot und um ein Haar käme sie nicht mehr zu sich, ohne einen Aufruhr zu verursachen. Sie klammerte sich an die Würde. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor, wie Seck und Gorgui freundliche Mienen machten und sich dafür entschuldigten, daß sie sie beide nicht mitgezählt hatten, als Notre-Dame die Ungeschicklichkeit beging, mit lauter Stimme eine Bemerkung zu machen, (Divine, vergraben in die Nacht ihrer geschlossenen Augen, war untröstlich) — eine Bemerkung, die unterstrich und bewies, daß ein langer und komplizierter Austausch von Zeichen über sie stattgefunden hatte: „Es sind bloß noch zwei Zigaretten da.“ Sie selbst wußte es wohl. Sie hörte das Streichholz knistern. „Sie konnten ja nicht gut eine Zigarette durch-
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brechen.“ Sie antwortete sich selbst: „Aber ja doch, er war verpflichtet, sie durchzubrechen (Er, das war Notre-Dame) oder sogar, sie mir ganz zu lassen.“ Mit diesem Auftritt begann die Zeit, da sie alles, was Seck und Notre-Dame ihr anboten, zurückwies. Eines Tages brachte Notre-Dame ein Päckchen Bonbons an. Hier der Auftritt. Notre-Dame zu Divine: „Willst Du ein Bonbon?“ (aber er war schon dabei, das Päckchen zu schließen, wie Divine bemerkte). Sie sagte: „Nein, danke.“ Einige Sekunden danach fügte Divine hinzu: „Du hast nie wirklich Lust, mir etwas zu geben.“ „Oh doch. Ich habe ein gutes Herz. Wenn ich nicht Lust hätte, Dir etwas zu geben, würde ich es nicht sagen. Ich biete Dir nie etwas zweimal an, wenn ich keine Lust habe, es Dir zu geben.“ Divine dachte beschämt: „Er hat mir nie etwas zweimal angeboten.“ Sie wollte nur noch allein ausgehen. Das einzige Ergebnis dieser Gewohnheit war: der Neger und der Mörder schlossen sich noch enger aneinander an. Die folgende Phase war die der heftigen Vorwürfe. Divine konnte sich nicht länger beherrschen. Die Wut, wie die Schnelligkeit, verlieh ihr geschärfte Sinne. Sie witterte überall Absichten. Oder gehorchte Notre-Dame vielleicht, ohne es zu wissen, dem Spiel, das sie befahl, dem sie befahl, sie zur Einsamkeit und noch tiefer in die Verzweiflung zu führen? Sie überhäufte Notre-Dame mit Beleidigungen. Er war unaufrichtig wie Dummköpfe, die nicht zu lügen verstehen. War er in die Falle gegangen, so errötete er manchmal, und sein Gesicht wurde buchstäblich länger, denn die beiden Falten zu beiden Seiten des Mundes spannten es und zogen es nach unten. Er war bemitleidenswert. Er wußte nicht, was er antworten sollte und vermochte bloß zu lächeln. War das Lächeln auch verzerrt, so entspannte es doch seine Züge und heiterte seinen Sinn auf. Es war, als sei es dabei zerrissen worden, als es, wie ein Sonnenstrahl, einen Dornenbusch, ein Dickicht von Schmähungen durchquerte und dennoch verstand, unversehrt, ohne Blut an den
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Fingern, wieder aus ihm hervorzutreten. Divine in ihrer Wut überschüttete ihn mit Hohn. Sie wurde unbarmherzig, wie sie es sein konnte, wenn sie einen Menschen mit ihrem Haß verfolgte. Letzten Endes aber verursachten ihre Pfeile Notre-Dame keine besonderen Schmerzen — wir sagten bereits, warum —, traf jedoch einmal die Spitze eine empfindlichere Stelle und drang sie ein, so bohrte Divine das Geschoß ins Fleisch bis zur Fiederung, auf die sie heilenden Balsam gelegt hatte. Sie befürchtete einen Ausfall des beleidigten NotreDame, und gleichzeitig war sie böse auf sich selbst, weil sie zuviel Verbitterung gezeigt hatte und — sehr zu Unrecht — annahm, Notre-Dame sei darüber glücklich. Jeder ihrer giftigen Bemerkungen fügte sie ein kräftiges Besänftigungsmittel bei. Da Notre-Dame immer nur auf das Wohlwollen, das ihm entgegengebracht wurde, achtete, — weswegen man ihn vertrauensselig und ohne Arg nannte — vielleicht auch, weil er immer nur das Ende der Sätze mit den Sinnen aufnahm, war es immer nur dieses Ende, das er verstand, und er glaubte, es beschließe eine lange Schmeichelei. Notre-Dame verzauberte die Bemühungen, die Divine machte, ihn zu verletzen, und ohne es zu ahnen, wurde er von bösen Pfeilen durchbohrt. Notre-Dame war glücklich trotz Divine, und dank ihrer. Als er eines Tages jenes Geständnis machte, das ihn demütigte (er sei von Marchetti ausgeplündert und sitzen gelassen worden) hielt Divine die Hände von Notre-Dame-des-Fleurs. Trotz ihrer Ergriffenheit — ihre Kehle war wie zugeschnürt — lächelte sie aufmunternd, auf daß sie nicht gerührt würden bis zu einer Verzweiflung, die — wenn auch nur von kurzer Dauer — ihr Leben gezeichnet hätte, und auf daß Notre-Dame sich nicht in jenem Gefühl der Demütigung auflöse. Er empfand dabei ein sanftes Wohlgefühl, vergleichbar dem Gefühl, das mich in Tränen ausbrechen ließ, als mich der Maítre d’Hôtel fragte: „Wie heißt Du?“ „Jean.“ Und wie er das erste Mal, als ich zur Anrichte kommen sollte, „Jean“ rief. Es tat mir so wohl, meinen Vornamen zu hören. Ich
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glaubte, ich sei eine Familie, die sich durch die Zärtlichkeit der Domestiken und Butler wiedergefunden habe. Heute mache ich Euch dieses Geständnis: ich fühlte immer nur den Schein der heißen Zärtlichkeiten, etwas wie einen mit tiefer Zuneigung erfüllten Blick der, für irgendein schönes Wesen hinter mir bestimmt, durch mich hindurchgeht und mich schwanken läßt. Gorgui dachte kaum, oder er zeigte nicht, daß er dachte. Er spazierte durch das Geschnattere von Divine und achtete auf seine Wäsche. Doch eines Tages sagte der Neger, aus jener Vertraulichkeit mit Notre-Dame heraus, die die Eifersucht von Divine hatte entstehen lassen: „Wir gehen ins Kintopp, ich hab Karten.“ Dann verbesserte er sich: „Ich bin doch ein Arschloch, immer denke ich, wir sind bloß zwei.“ Das war zuviel für Divine; sie beschloß, ein Ende zu machen. Mit wem? Sie wußte, Seck gefiel dieses friedliche Leben, bei dem er ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und Freundschaft hatte, und Divine in ihrer Ängstlichkeit fürchtete seinen Zorn: sicherlich würde er die Mansarde nicht verlassen, ohne zuvor eine Rache zu ersinnen, die eines Negers würdig war. Schließlich hatte sie auch wieder — nach einer längeren Pause — begonnen, das übertrieben Männliche vorzuziehen, und in dieser Hinsicht machte Seck sie wunschlos glücklich. Notre-Dame opfern? Wie? Und was wird Gorgui dazu sagen? Mimose, die sie auf der Straße traf, kam ihr zu Hilfe. Mimose, alte Dame: „Ich hab ihn gesehen! Ba, be, bi, bo, bu — ich bin verknallt in Deine Notre-Dame. Immer gleich frisch, immer gleich göttlich. Divine — das ist sie.“ „Gefällt sie Dir?“ (Unter sich sprachen die Tunten von ihren Freunden in der weiblichen Form). „Willst Du sie?“ „Ach, schau an, sie hat genug von Dir, armes, altes Mädchen?“ „Notre-Dame hängt mir zum Hals heraus. Erstens ist sie dumm, und dann — ich finde sie schlapp.“ „Du kannst ihr nicht ’mal mehr einen Steifen machen.“
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Divine dachte: „Warte, alte Sau, Dich werd ich kriegen.“ „Ernsthaft, Du überläßt sie mir?“ „Du brauchst sie bloß zu nehmen. Wenn Du kannst.“ Gleichzeitig hoffte sie, Notre-Dame werde sich nicht fangen lassen: „Du weißt ja, Du bist ihr widerlich.“ „Ja, ja, ja. Ja, ja, ja. Zuerst bin ich ihnen widerlich, und dann beten sie mich an. Hör zu, Divine, warum sollen wir nicht gute Freundinnen sein? Ich möchte mir Notre-Dame gerne zuschustern. Laß sie mir. Ein Dienst ist des ändern wert, meine Hübsche. Auf mich kannst Du Dich verlassen.“ „Oh, Mimo, was meinst Du wohl, ob ich Dich kenne. Du hast mein volles Vertrauen, mein ganz-Volles.“ „Wie Du das sagst. Hör zu, Ehrenwort, ich bin im Grunde ein gutes Mädchen. Bring sie zu mir, an einem der nächsten Abende.“ „Und Roger, dein Alter?“ „Aber sie haut ab, sie wird Soldat. Was meinst Du wohl, die vergißt mich mit den Offizieren. Ah, ich werde Witwe, ganz-Witwe! Hör zu, ich nehme Notre-Dame und behalte sie bei mir. Du hast sowieso zwei. Du hast sie alle!...“ „Gut, abgemacht, ich werde mit ihr reden. Komm um fünf Uhr zu uns zum Tee.“ „Was für ein gutes Mädchen Du bist, Divine. Komm, hier hast Du einen Kuß. Du bist noch hübsch, weißt Du. Du hast bloß ein paar Fältchen, hübsche Fältchen, und Du bist so gut.“ Es war Nachmittag. Zwei Uhr vielleicht; beim Gehen hielten sie sich mit ihren beiden kleinen Fingern eingehakt. Ein wenig später fand Divine Gorgui und Notre-Dame zusammen. Sie mußte warten, bis der Neger, der nicht mehr von Notre-Dame’s Seite wich, aufs Klo ging. Folgendermaßen bereitete sie Notre-Dame vor: „Hör zu, Danie, willst Du Dir hundert Mäuse verdienen?“ „Womit?“ „Hör zu, Mimose möchte mit Dir schlafen, eine Stunde oder zwei. Roger geht zum Kommiß, sie bleibt allein.“
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„Hundert Mäuse? Na hör mal, das ist nicht genug. Falls Du den Preis gemacht hast — da hast Du Dir nicht viel Mühe gegeben.“ Er lachte höhnisch. Und Divine: „Ich hab keinen Preis gemacht. Hör zu, geh mit ihr, ihr werdet schon einig werden, die Mimose ist kein Filz mit den Jungen, die ihr gefallen. Das heißt, Du machst natürlich was Du willst. Ich wollte es Dir bloß gesagt haben. Jedenfalls kommt sie um fünf Uhr hierher. Nur — Gorgui darf natürlich nicht dabei sein.“ „Wir sollen hier in der Mansarde ficken, mit Dir zusammen?“ „Das nun wieder nicht, Du gehst zu ihr. Du hast genug Zeit, um etwas auszuhandeln. Aber bitte — klau nichts: Klau bitte nichts — sonst haben wir Ärger.“ „Ach so, es gibt was zu Klauen? Aber Du kannst ganz ruhig sein, die eigenen Kumpels bestehle ich nie.“ „Versuch mal, ob Du nicht ’ne Dauerstellung bei ihr bekommen kannst. Warum willst Du kein Louis werden?“ Divine hatte absichtlich und mit viel Geschick vom Diebstahl gesprochen. Das war ein sicheres Mittel, um Danie auf die Beine zu bringen. Und Gorgui? Als er zurückkam, weihte Notre-Dame ihn ein. „Du mußt hingehen, Danie.“ Der Neger sah bloß die fünf Taler. Dann aber kam ihm ein Verdacht; bisher glaubte er, das Geld, das Notre-Dame ausgab, stamme von seinen Kunden; aber die Bedenken, die er heute an ihm bemerkte, brachten ihn auf den Gedanken, er habe vielleicht andere Quellen. Er wollte näheres wissen, aber der Mörder war geschmeidiger als eine Schlange. Notre-Dame hatte seinen Kokainhandel wiederaufgenommen. In einer kleinen, zellenförmigen Bar in der Rue de l’Elysée-des-Beaux-Arts traf er alle vier Tage mit seinem Lieferanten Marchetti zusammen, der pleite nach Paris zurückgekommen war. Das Kokain war Gramm für Gramm in kleine Seidentüten eingenäht, und diese Tüten selbst waren in einem größeren Beutel aus dunklem Stoff untergebracht. Er hatte sich folgendes ausgedacht: er steckte die linke Hand in seine mit einem Loch ver-
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sehene Hosentasche. Mit dieser linken Hand hielt er einen langen Bindfaden, an dem, leise pendelnd, im Innern des Hosenbeins der Beutel aus schwarzem Stoff hing. „Wenn die Säcke von der Polente kommen, laß ich den Bindfaden los, und das Päckchen fällt ganz sachte auf den Boden. Eine saubere Angelegenheit.“ An einem Bindfaden hing er mit einer Geheimverbindung zusammen. Jedesmal wenn Marchetti ihm die Kohlen aushändigte, sagte er: „Wie geht’s, Kleiner“, und dazu warf er ihm einen schmelzenden Blick zu, wie ihn Notre-Dame bei den Korsen gesehen hatte, wenn sie sich auf dem Bürgersteig streiften und dabei murmelten; „Ciao, Rico.“ Marchetti fragte Notre-Dame, ob er Mut habe: „Den ganzen Sack voll.“ „Der Aufschneider“, antwortete jemand. An dieser Stelle kann ich nicht umhin, auf die Argotworte zurückzukommen, die zwischen den Lippen der Louis hervorzischen wie die Perlenfürze aus dem molligen Hintern von Mignon. Unter ihnen ist eines, das mich vielleicht mehr als alle anderen aufregt — oder aufgeilt, wie Mignon immer sagt, grausam wie er ist. Dieses Wort stammt aus einer Zelle der „Mausefalle“, die man ,,die 36 Fliesen“ nannte und die so eng war wie der Längsgang eines Schiffes. Ich hörte, wie über einen kräftigen Wärter folgendes gemurmelt wurde: „Die gemeine Ankerklüse“, und dann, etwas später: „Man sollte ihm den Fockmast in den Arsch bohren.“ Derjenige, der sich so äußerte, hatte uns zuvor gesagt, er sei sieben Jahre zur See gefahren. Der Glanz einer solchen Tat — das Pfählen durch einen Fockmast — ließ mich von oben bis unten zittern. Derselbe Mann sagte ein wenig später: „Oder, wenn Du schwul bist, läßt Du Deine Büchse herunter, und der Richter zielt Dir ins Schwarze . . .“ Aber das war schon zotig; dieses unglückselige Wort zerstörte den Zauber des anderen und ich faßte wieder Fuß auf dem festen Grund der Posse — wogegen das Gedicht stets den Boden unter den Fußsohlen fortzieht und Euch in den Schoß einer wunderbaren Nacht ansaugt. Er
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sagte auch: „Vögelintin, vögelintin“ — aber das war kaum besser. Manchmal, in meinen kummervollsten Augenblicken, wenn mich die Wärter peinigen, singe ich in meinem Innern dieses Gedicht: „Der Gefockte!“ — ohne es auf eine bestimmte Person zu beziehen. Es tröstet mich und trocknet meine nicht hervorgequollenen Tränen, indem es mich über die geglätteten Wogen der Ozeane spazierenfährt — ein Matrose jener Mannschaft, die wir gegen 1700 auf der Fregatte Culafroy sahen. Mignon schlenderte von einem Warenhaus zu anderen. Warenhäuser waren der einzige Luxus, dem er sich nähern konnte, von dem er sich belecken lassen konnte. Es zogen ihn an: der Lift, die Spiegel, die Teppiche (vor allem die Teppiche, die die Arbeit seiner inneren Organe dämpften — die Stille drang ein durch seine Füße, sein innerer Mechanismus schien über einen Filz zu laufen, schließlich spürte er sich selbst nicht mehr); weniger dagegen zogen ihn die Verkäuferinnen an, denn, aus Versehen und noch sehr verhalten, ahmte er manchmal die Gebärden und Ticks von Divine nach. Zuerst hatte er einige von ihnen gewagt, um sich lustig zu machen; sie aber eroberten hinterlistig die feste Stadt, und Mignon merkte nicht einmal, daß er sich gemausert hatte. Erst ein wenig später begriff er — wir werden noch erzählen, auf welche Weise — daß es falsch war, jenes Wort, das er eines Abends ausgerufen hatte: „Der Mann, der einen anderen fickt, ist doppelt so männlich wie die andern.“ Bevor er die Galeries Lafayette betrat, hakte er das goldene Kettchen ab, das gegen seinen Hosenschlitz wippte. Solange er noch auf dem Bürgersteig war, konnte er kämpfen, aber in den Maschen aller dieser niedrigen Gäßchen, die aus den Ladentischen und Auslagen ein bewegliches Netz spannen, war er verloren. Er gehorchte einem „anderen“ Willen, der ihm die Taschen mit Dingen vollstopfte, und wenn er sie in seinem Zimmer auf dem Tisch ausbreitete, erkannte er sie nicht wieder, so wenig war das Zeichen, nach dem er sie im Augenblick des Diebstahls gewählt hatte, der Gottheit und Mignon gemeinsam. In dem Augenblick, da jener Andere von ihm Besitz ergriff, flatter-
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ten aus seinen Augen, seinen Ohren, aus dem ein wenig geöffneten und selbst aus dem geschlossenen Mund Mignons kleine, graue oder rote Merkure mit Flügeln an den Knöcheln. Mignon der Harte, der Kalte, der Unwiderlegliche, Mignon der Louis belebte sich und es war, als träten aus jeder der bemoosten, feuchten Vertiefungen eines steilen Felsens lebendige Pierrots hervor und flatterten um ihn herum wie ein Schwärm geflügelter Schwänze. Zuguterletzt: er mußte es tun, er mußte stehlen. Er hatte sich schon mehrfach in folgendem Spiel versucht: auf eine Auslage, unter die dort feilgebotenen Dinge, und an der unzugänglichsten Stelle, legte er, wie aus Zerstreutheit, irgendeine Kleinigkeit ab, die er an einem entfernten Schalter gekauft und richtig bezahlt hatte. Er ließ die Ware dort einige Minuten liegen, verlor sie aus den Augen und betrachtete die Auslagen in der Umgebung. Wenn die Ware genügend mit dem Rest der Auslage verschmolzen war, stahl er sie. Zweimal wurde er von einem Detektiv ertappt und zweimal mußte sich die Direktion entschuldigen, denn Mignon besaß den Bon, den ihm die Kassiererin ausgehändigt hatte. Es gibt verschiedene Methoden des Auslagendiebstahls, und je nach der Art der Auslage verdient eine dieser Methoden den Vorzug vor allen anderen. Zum Beispiel kann man mit nur einer Hand gleichzeitig zwei kleine Gegenstände greifen (Brieftaschen), man kann sie so halten als seien sie ein einziger Gegenstand und bei ihrer Prüfung verweilen, währenddessen einen in den Ärmel gleiten lassen und den anderen schließlich an seinen Platz zurücklegen, als ob er nicht gefiele. Vor einem Stapel Seidenreste muß man eine Hand unauffällig in die unten offene Tasche seines Mantels stecken. Man tritt so nahe an die Auslage heran, bis man sie mit dem Bauch berührt, und während die freie Hand den Stoff betastet und verschiebt, und die ausgestellten Seidenwaren in Unordnung bringt, gleitet die Hand in der Tasche zum Ladentisch hinauf (immer in der Höhe des Nabels), zieht an dem untersten Stoff des Stapels und holt ihn — denn er ist schmiegsam — zu sich unter den Mantel, der ihn
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verbirgt. Aber ich gebe da Anweisungen, die alle Hausfrauen und Käuferinnen kennen. Mignon zog es vor, das Objekt zu greifen und in einer raschen Parabel von der Auslage in seine Tasche zu befördern. Das war kühn, aber es lag mehr Schönheit darin. Wie Meteore, die vom Himmel fallen, beschrieben die Parfumfläschchen, Pfeifen, Feuerzeuge eine reine und kurze Kurve, um dann einen Höcker auf seinem Schenkel zu bilden. Das Spiel war gefährlich. Ob es eine Kerze wert war, darüber entschied allein Mignon. Dieses Spiel war eine Wissenschaft, die Training und Vorbereitung erforderte wie die Kriegswissenschaft. Zuerst mußte man die Anordnung der Spiegel und ihrer geschliffenen Ränder studieren, auch die, die — schräg an der Decke angebracht — Euch, mit dem Kopf nach unten, in einer verkehrten Welt darstellen, welche die Detektive jedoch durch ein in ihrem Gehirn arbeitendes Verschiebesystem rasch wieder auf die Beine gebracht und ausgerichtet haben. Es galt, auf den Augenblick zu lauern, wo die Verkäuferin in eine andere Richtung blickte und die stets Verrat übenden Kunden nicht hersahen. Und schließlich mußte man noch den Detektiv wiederfinden, so, wie man einen verlorenen Gegenstand wiederfindet, — oder besser noch: wie eine jener Puzzle-Figuren, deren Linien auf den Desserttellern auch zugleich die der Bäume und Wolken sind. Den Detektiv finden. Er ist eine Frau. Das Kino lehrt, neben anderen Spielen, die Natürlichkeit — eine Natürlichkeit, die voller Kunst ist und tausendmal trügerischer als die echte Natürlichkeit. So gut gelang es dem Filmdetektiv, einem Kongressisten oder einer Hebamme ähnlich zu sehen, daß plötzlich die echten Kongressisten und die echten Hebammen Detektivgesichter bekamen, während die echten Detektive, verstört inmitten dieser Unordnung, die die Gesichter vertauscht, am Ende ihrer Kraft, sich entschieden, wie Detektive auszusehen — was keinerlei Vereinfachung darstellte. „Ein Spion, der aussieht, wie ein Spion, wäre ein schlechter Spion“, sagte mir eines Tages eine Tänzerin. (Gewöhnlich sagt man: „Eines Abends eine Tänzerin“.) Ich bin nicht dieser Ansicht.
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Mignon war dabei, das Warenhaus zu verlassen. Aus Trägheit, und um natürlich zu erscheinen, dann auch weil es schwierig ist, sich aus diesem Gewirr — einer Brownschen Bewegung, die so bevölkert und so bewegt, so erregt ist, wie die morgendliche Starre — zu lösen, verweilte er im Vorbeigehen bei der Betrachtung der Auslagen, auf denen Hemden, Klebstofftöpfe, Hämmer, Lämmer und Gummischwämme zu sehen sind. In seinen Taschen hatte er zwei silberne Feuerzeuge und ein Zigarettenetui. Jemand folgte ihm. Als er schon ganz nahe bei der Tür war, die ein betreßter Koloß bewachte, fragte ihn eine kleine Greisin ganz ruhig: „Was haben Sie gestohlen, junger Mann?“ Der „junge Mann“ bezauberte Mignon. Sonst hätte er ausgeschlagen. Die unschuldigsten Worte verursachen den größten Schaden, vor ihnen muß man sich hüten. Fast augenblicklich stand der Koloß neben ihm und ergriff ihn am Handgelenk. Er stürzte über ihn her wie die gewaltigste Woge über den schlafenden Schwimmer am Strand. Durch die Worte der Alten und durch die Bewegung des Mannes öffnete sich Mignon augenblicklich eine neue Welt: die Welt des Unwiderruflichen. Es ist die gleiche Welt, in der auch wir waren, mit einer Besonderheit: anstatt zu handeln und uns als Handelnde zu kennen, wissen wir, wir „werden gehandelt“. Ein Blick — er stammt vielleicht aus unserem Auge — hat die plötzliche, genaue Schärfe des Weissagers, und die Ordnung dieser Welt — verkehrt gesehen — scheint so vollkommen in ihrer Unentrinnbarkeit, daß diese Welt nur noch zu verschwinden braucht. Und das tut sie in einem einzigen Augenblick. Die Welt ist umgestülpt wie ein Handschuh. Zufällig bin ich selbst dieser Handschuh und ich verstehe endlich, daß, am Tage des Gerichts, Gott mich mit meiner eigenen Stimme rufen wird: „Jean, Jean!“ Mignon hatte, ebenso wie ich, zu oft ein solches Weltende erlebt, als daß er, als er nach diesem wieder zu sich kam, gejammert und sich aufgelehnt hätte. Eine Auflehnung hätte höchstens wie Karpfensprünge auf einem Bettvorleger gewirkt und ihn lächerlich gemacht.
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Gefügig, an der Leine und träumend, ließ er sich von dem Portier und dem weiblichen Detektiv in das Büro des Spezialkommissars des Warenhauses, das sich im Kellergeschoß befand, abführen. Er war angeschmiert, abgeblitzt. Am gleichen Abend brachte ihn ein Zellenwagen ins Depot, wo er die Nacht verbrachte mit zahlreichen Vagabunden, Bettlern, Dieben, Gaunern, Louis und Fälschern, lauter Gestalten, die zwischen den schlecht gefugten Steinen von Häusern hervorgekrochen waren, die sich, eines gegen das andere, in finsteren Sackgassen aufgerichtet hatten. Am nächsten Morgen brachte man Mignon und seine Gefährten ins Gefängnis von Fresnes. Dort mußte er seinen Namen sagen, den Namen seiner Mutter und den bis dahin geheim gebliebenen Namen seines Vaters. (Er erfand: — Romuald!) Er gab auch sein Alter und seinen Beruf an. „Ihr Beruf?“ fragte der Schreiber. „Meiner?“ „Natürlich Ihrer, was denn sonst.“ Mignon sah zwischen seinen blühenden Lippen bereits das Wort „Bardame“ hervortreten, aber er antwortete: „Ohne Beruf. Ich schufte nicht.“ Aber diese Worte besaßen für Mignon den Wert und den Sinn des Wortes „Bardame“. Schließlich wurde er ausgezogen und seine Kleider bis zum Saum durchsucht. Der Wärter ließ ihn den Mund öffnen, sah hinein, fuhr mit der Hand durch sein dichtes Haar und streifte, nachdem er sie über seine Stirn ausgebreitet hatte, verstohlen seinen noch hohlen, warmen und bebenden, empfindlichen Nacken, der bereit ist, unter dem leichtesten Streicheln schrecklichen Schaden anzurichten. An seinem Nacken erkennen wir, daß Mignon noch einen bezaubernden Kavalleristen abgeben kann. Endlich sagte er zu ihm: „Bücken Sie sich nach vorn.“ Er bückte sich. Der Wärter sah ihm in den After und sah einen schwarzen Fleck. „ ... ücken!“ schrie er. Mignon bückte sich tiefer. Aber er hatte sich geirrt. „Drücken“ hatte
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der Wärter geschrien. Der schwarze Fleck war ein ziemlich großer Kotklumpen, der täglich an Umfang zunahm und den Mignon bereits mehrfach abzureißen versucht hatte — aber er hätte die Haare mitgehen lassen, oder ein heißes Bad nehmen müssen. „Du hast chinesische Glöckchen“, sagte der Wärter. („Glöckchen“ haben bedeutete jedoch ebenfalls „Angst haben“ — und das wußte der Wärter nicht.) Mignon mit dem edlen Gang, den wiegenden Hüften, den unbeweglichen Schultern! In der Erziehungsanstalt hatte ein Aufseher (er war fünfundzwanzig Jahre alt und war bis zu den zweifellos behaarten Schenkeln mit rostfarbenem Leder gestiefelt) bemerkt, daß die Hemdzipfel der Zöglinge mit Scheiße befleckt waren. Jeden Sonntagmorgen beim Wäschewechsel nötigte er uns daher, unser schmutziges Hemd an den beiden Ärmeln zu halten und vor uns auszubreiten. Mit dem schmalen Ende seiner Lederpeitsche schlug er in das von der Demütigung bereits gemarterte Gesicht des Zöglings, dessen Hemd zweifelhaft war. Wir wagten nicht mehr, auf den Abtritt zu gehen, und wenn uns zu heftige Durchfälle dorthin trieben, hoben wir — nachdem wir unseren Finger an der bereits von Pisse gelben Kalkwand abgewischt hatten (denn Papier gab es nicht) — sorgfältig unseren Hemdzipfel in die Höhe (ich sage jetzt „wir“, damals aber glaubte jeder Zögling, er sei der einzige), und so wurde statt des Hemdes der Hosenboden unserer weißen Hose befleckt. Am Sonntagmorgen fühlten wir uns so heuchlerisch rein wie Jungfrauen. Nur Larochedieu verwickelte sich immer gegen das Wochenende zu in seinen Hemdzipfeln und beschmutzte sie. Aber obgleich es sich um kein ernstes Vergehen handelte, waren die drei Jahre, die er in der Strafanstalt zubrachte, vergiftet von der Angst vor jenen Sonntagmorgen — die ich heute geschmückt sehe mit Girlanden kleiner, von blassen Schimmern ihrer gelben Scheiße geblümten Hemden (vor der Messe) — so daß er Samstagabends seine Hemdzipfel gegen den Kalk der Mauer rieb, um sie zu weißen. Wenn er zu ihm kam, dessen fünfzehn Jahre — am Pranger schon —
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die Form des Kreuzes hatten, blieb der gestiefelte Aufseher mit dem glänzenden Raubtierauge unbeweglich stehen. Ohne absichtliche Geschicklichkeit prägte er seinen harten Zügen (die zu nennenden Gefühle zeichneten sich in ihnen, wegen ihrer Härte, wie eine Last ab) Ekel, Verachtung und Entsetzen auf. Steif aufgerichtet spuckte er mitten in Larochedieu’s Marmorgesicht, das nur auf dieses Spucken wartete. Was uns betrifft, die wir dies hier lesen: wir zweifeln nicht daran, daß die Hemdzipfel und der Hosenboden des Aufsehers vollgeschissen waren. Mignon-les-petits-pieds fühlte also, wie der Seele des Landstreichers Larochedieu zumute ist, dem man in den Hintern spuckt. Aber er achtete kaum auf diesen kurzfristigen Seelentausch. Er wußte nie warum — nach gewissen Erschütterungen war er erstaunt darüber, sich in seiner Haut wiederzufinden. Er sagte kein Wort. Der Wärter und er waren allein im Ankleideraum. Seine Brust barst vor Wut. Scham und Wut. Er verließ das Zimmer, wobei er seinen edlen Hintern hinter sich herschleifte — und an diesem Hintern konnte man erkennen, daß er einen glänzenden Torero abgegeben hätte. Man sperrte ihn in eine Zelle. Hinter Schloß und Riegel fühlte er sich endlich wieder frei und gereinigt, seine Trümmer zusammengeklebt, wieder als Mignon, der süße Mignon. Seine Zelle könnte überall sein. Ihre Wände sind weiß, ihre Decke ist weiß, aber der Boden aus schwarzer Schlacke hält die Zelle auf dem Boden fest und bezeichnet ihren genauen Standpunkt im dritten Stockwerk des Gefängnisses von Fresnes, zwischen tausend Zellen, die sie — obwohl gewichtlos — erdrücken. Hier wären wir also. Die längsten Umwege führen mich endlich hierher zurück, in mein Gefängnis, in meine Zelle. Jetzt könnte ich beinahe ohne Schminke, ohne Umschreibung, ohne Dolmetsch mein Leben hier erzählen. Mein gegenwärtiges Leben.
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Auf der Innenseite der Zellen läuft ein Balkon entlang, auf den sich alle Türen öffnen. Vor den Türen warten wir, bis uns der Wärter öffnet; wir nehmen dabei die Haltung ein, die uns kennzeichnet; jener Landstreicher dort, der seine Mütze in der ausgestreckten Hand hält, zeigt, daß er gewöhnlich vor Kirchentüren bettelt. Wenn sie vom Spaziergang zurückkehren und auf den Wärter warten, ist es für die Sträflinge unmöglich, beim Bücken die Gitarrenserenade zu überhören oder, auf diesem Schanzkleid stehend, nicht zu fühlen, wie das große Schiff unter dem Mond hin- und hergeworfen wird und wohl bald untergeht. Meine Zelle ist eine Schachtel, die die genauen Maße eines Würfels besitzt. Am Abend, .sobald Mignon sich auf dem Bett ausstreckt, entführt das Fenster die Zelle nach Westen, löst sie von dem gemauerten Block und entflieht mit ihr, indem es sie wie einen Nachen ins Schlepptau nimmt. Am Morgen, wenn sich eine Tür öffnet — alle Türen sind in diesem Augenblick geschlossen, und darin liegt ein tiefes Geheimnis, so tief wie das Geheimnis der Zahl bei Mozart oder wie die Nützlichkeit des Chors in der Tragödie — im Gefängnis werden mehr Türen geschlossen als geöffnet — wenn also eine Tür sich öffnet, zieht ein Gummitau die Zelle aus dem Raum zurück, in dem sie schwebte, und stellt sie an ihren Platz zurück: jetzt muß der Sträfling aufstehen. Er pißt aufrecht, gerade wie eine Ulme, in das Latrinenbecken, schüttelt ein wenig seine schlaffe Rute. Die Erleichterung über den abgeschlagenen Urin führt ihn in das tätige Leben zurück, stellt ihn, sachte jedoch, und ohne Härte auf die Erde, löst die Riemen der Nacht, und er kleidet sich an. Mit dem Handfeger kehrt er etwas Asche, etwas Staub zusammen. Der Aufseher geht vorbei, öffnet für fünf Sekunden die Türen, damit wir Zeit haben, unsere Abfälle hinauszutragen. Dann schließt er sie wieder. Der durch das plötzliche Aufstehen verursachte Brechreiz hat den Sträfling noch nicht ganz verlassen. Sein Mund ist voller Kieselsteine. Das Bett ist noch warm. Aber er legt sich nicht wieder hin. Der Kampf mit dem täglichen Mysterium beginnt. Das Eisenbett an der Mauer befestigen, das Brett an der Mauer befestigen,
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den Hartholzstuhl an der Mauer mit einer Kette befestigen; jene Kette ist der Überrest einer alten Ordnung, in der die Gefängnisse Galeeren oder Verliese hießen und in der die Sträflinge wie Matrosen auf den Galeeren fuhren; sie beschlägt die moderne Zelle mit einem romantischen Nebel aus Brest oder Toulon, rückt sie in eine ferne Zeit zurück und läßt Mignon leise frösteln bei der Vermutung, man habe ihn in die Bastille geworfen (die Kette ist ein Symbol einer ungeheuerlichen Macht; mit einer Kugel beschwert, fesselte sie die starren Füße der Galeerensträflinge des Königs); die Seegrasmatratze, trocken und schmal wie die Leichenkapsel einer orientalischen Königin, und die nackte Birne, die von der Decke hängt, haben die Härte von Vorschriften, Knochen und ausgemeißelten Zähnen. Heimgekehrt in den Speicher, wird Mignon nicht mehr vergessen können, wenn er sich setzt, sich hinlegt oder den Tee schlürft, daß es das Skelett eines Sessels oder Divans ist, auf dem er ruht oder schläft. Die eiserne Hand unter dem Samthandschuh ruft ihn zur Ordnung. Man hebe den Schleier. Allein in der Zelle, fast im Rhythmus eines wogenden Busen’s (sie rülpsen wie ein Mund), gewähren die Latrinen aus weißem Porzellan ihren tröstlichen Atem. Sie haben etwas Menschliches.
Der Block-Mignon geht mit kleinen, schlingernden Schritten. Er ist allein in seiner Zelle. Mit seinen Nüstern reißt er Akazienblätter und Veilchen ab; den Rücken zur Tür gedreht, wo stets ein anonymes Auge spioniert, ißt er sie, und mit dem umgedrehten Daumen, an dem er den Nagel der Gebildeten hat wachsen lassen, sucht er neue. Mignon ist ein falscher Louis. Die Anschläge, die er vorbereitet, scheitern plötzlich als poetische Abirrungen. Sein Schritt ist fast immer regelmäßig und unüberlegt: etwas verfolgt ihn. Heute geht
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er in seiner Zelle auf und ab. Er ist tatenlos, was sehr selten vorkommt; denn er ist fast immer in Tätigkeit, heimlich und voller Treue zu seinem bösen Geschick. Er nähert sich dem Gestell und hebt die Hand auf die Höhe, auf der im Speicher, auf einem Möbel, der Revolver liegt. Die Tür öffnet sich unter ungeheurem Getöse der geschmiedeten Schlösser und der Wärter schreit: „Schnell, die Handtücher!“ Mignon bleibt wie angenagelt stehen, in den Händen hält er die Handtücher, die man ihm für die schmutzigen gegeben hat. Dann nimmt er die jähen Bewegungen des Dramas, das zu spielen er sich nicht bewußt ist, wieder auf. Er setzt sich auf sein Bett; er fährt sich mit der Hand über die Stirn. Er zögert. . . Schließlich erhebt er sich und — vor dem an die Wand genagelten Ein-Franc-Spiegel — schiebt sein blondes Haar zur Seite, um, ohne es zu wissen, auf seiner Schläfe eine von einer Kugel herrührenden Wunde zu suchen. Die Nacht löst von Mignon die harte Rinde des bewußten Louis. Im Schlaf wird er zärtlich, aber das Querkissen ist alles, was er greifen, woran er sich klammern, auf dessen rauhes Leinen er zärtlich seine Wange legen kann — die Wange eines kleinen Jungen, der jeden Augenblick in Tränen ausbrechen wird — um zu sagen: „Bleib, ich bitte Dich, Liebling, bleib.“ Auf dem Herzensgrund aller „Männer“ rollt eine Fünf-Sekunden-Tragödie in Versen ab. Konflikte, Schreie, Dolche oder ein Gefängnis, das die Auflösung bringt; der freigelassene Mann war soeben Zeuge und Gegenstand eines dichterischen Werkes. Ich habe lange Zeit geglaubt, ein dichterisches Werk gestalte Konflikte: es löst sie in Wirklichkeit auf. Zu Füßen der Gefängnismauern kniet der Wind. Das Gefängnis zieht hinter sich her alle Zellen, in denen die Sträflinge schlafen; es wirft Ballast ab und macht sich davon. Lauft, Zensoren, die Diebe sind weit. Die Geldschrankknacker kommen. Über das Treppenhaus oder mit dem Lift. Sie klauen mit ihren Klauen. Lassen alles mitgehen. Ziehen das Kleid aus. Der Bürger, um Mitternacht auf seinem Treppenabsatz, ist völlig eingeschüchtert vor Schrecken über das
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Mysterium eines Kindes, das stiehlt, eines Jünglings, der Türen aufbricht; der ausgeplünderte Bürger wagt nicht zu schreien: „Haltet den Dieb!“ Er dreht kaum den Kopf. Der Dieb dreht die Köpfe, läßt die Häuser schlingern, die Schlösser tanzen und die Gefängnisse fliegen. Mignon schläft am Fuß der Mauer. Schlafe, Mignon, Dieb der Nichtigkeit, Dieb der Bücher, der Glockenseile, der Pferdemähnen und -schwänze, der Fahrräder und Luxushündchen. Mignon, listiger Mignon, der weiß, wie man Frauen die Puderdose stiehlt, mit einem schmalen Stöckchen und etwas Klebstoff den Pfarrern das Geld aus dem Almosenkasten, den Betschwestern in der Frühmesse das Täschchen, das sie auf dem Betschemel gelassen haben, den Louis ihre Arbeit, der Polizei ihre Spitzel, den Portiers ihre Töchter oder ihre Söhne — schlafe, schlafe, der Tag ist kaum angebrochen, wenn ein Strahl der heraufkommenden Sonne auf Deinen Haaren Dich in Deinem Gefängnis einschließt. Und die Tage, die folgen, machen Dein Leben länger als breit. Beim Wecken läuft ein Sträfling vom Balkon zur Treppe und schlägt mit der Faust gegen jede Tür. Dreitausend Gefangene, einer nach dem anderen, jeder mit denselben Bewegungen, bringen die schwüle Luft der Zelle ins Schwanken, erheben sich und beginnen ihre kleinen morgendlichen Verrichtungen. Später wird ein Wärter das Schiebefenster der Zelle 329 öffnen, um die Suppe durchzureichen. Er schaut und sagt kein Wort. In dieser Geschichte haben auch die Wärter ihre Aufgabe. Nicht alle sind dumm, aber alle besitzen eine völlige Gleichgültigkeit dem Spiel gegenüber, das sie spielen. Sie haben keine Ahnung von der Schönheit ihres Amtes. Seit kurzem tragen sie eine dunkelblaue Kluft, eine genaue Nachahmung der Fliegeruniform, und ich denke mir, sie haben eine edle Seele und schämen sich, die Karikaturen von Helden zu sein. Sie sind vom Himmel durch die verglaste Decke ins Gefängnis gefallene Flieger. Sie sind ins Gefängnis entflohen. An ihren Kragen kleben noch Sterne, die aus der Nähe weiß und durchbrochen scheinen, denn es ist Tag, wenn wir sie sehen können. Man ahnt, daß sie sich voller Entsetzen aus
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dem Flugzeug warfen (das verletzte Kind Guynemer stürzte, zusammengekrümmt vor Angst; im Sturz wurde sein Flügel zerschmettert von der harten Luft, die es zu zerteilen galt, und aus dem Körper blutete ein regenbogenfarbenes Benzin; das heißt „in den Himmel des Ruhms stürzen“); endlich befinden sie sich in einer Welt, die sie nicht überrascht. Sie können — sie haben das Recht dazu — vor allen Zellen vorbeigehen, ohne sie zu öffnen, und die sanften Gauner mit den demütigen Herzen betrachten. Nein. Daran denken sie gar nicht, denn sie haben kein Verlangen danach. Sie flogen in der Luft: sie spüren kein Verlangen, die Schiebefenster zu öffnen, um durch die wie ein Karo-As geschnittene Öffnung hindurch einen Blick auf die täglichen Gebärden der Mörder und Diebe zu erhäschen, sie zu überraschen, wenn sie ihre Wäsche waschen, ihr Bett einschlagen für die Nacht, wenn sie aus Sparsamkeit — mit ihren groben Fingern und einer Stecknadel — die Fensterritzen zustopfen, oder wenn sie ein Streichholz in zwei oder vier Teile spalten; sie haben kein Bedürfnis, ihnen eine banale — also menschliche — Bemerkung zuzurufen, um zu sehen, ob sie sich nicht augenblicklich in Luchse oder Füchse verwandeln. Sie sind Friedhofswärter. Sie öffnen und schließen die Türen, ohne sich darum zu kümmern, welche Schätze sie enthalten. Ihr ehrliches (paßt auf die Worte „edel“ und „ehrlich“ auf, die ich soeben verwende), ihr edles Antlitz — ein wenig glatt und nach unten gezogen durch den senkrechten Sturz ohne Fallschirm — wird nicht in Mitleidenschaft gezogen durch die Berührung mit Betrügern, Dieben, Tunten, Hehlern, Fälschern, Mordbuben und Falschmünzern. Keine Blume bespritzt ihre Uniform, keine Falte zweifelhafter Eleganz, und wenn ich von einem der Wärter sagen konnte, er gehe auf Samtsohlen, so deswegen, weil er einige Tage danach Verrat üben und in das feindliche Lager überwechseln sollte — das fliegende Lager — um mit der Kasse unter der Achselhöhle geradenwegs in den Himmel zurückzukehren. Ich hatte ihn während der Messe in der Kapelle bemerkt. Im Augenblick der Kommunion stieg der Gefängnisgeistliche vom Altar herab und
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kam bis zu einer der ersten Zellen (denn auch die Kapelle ist in fünfhundert Zellen — aufrecht stehende Särge — geteilt); er trug eine Hostie zu einem Gefangenen, der ihn auf den Knien erwartete. Dieser Aufseher also — der mit der Mütze in der Hand in einer Ecke des Altarpodiums stand, die Hände in den Taschen, die Beine gespreizt, in eben jener Haltung, in der ich mit soviel Vergnügen Alberto wiedersah — lächelte, aber in einer liebenswürdig belustigten Weise, wie ich sie bei einem Wärter nicht für möglich gehalten hätte. Sein Lächeln begleitete das Abendmahl und die Rückkehr des leeren Hostienkelchs, und ich glaubte zu sehen, daß er sich, während er mit der linken Hand seine Eier betätschelte, über den Frömmler lustig machte. Ich hatte mir schon die Frage vorgelegt, was wohl aus der Begegnung eines jungen und schönen Wärters mit einem jungen und schönen Verbrecher entstehen würde. Ich malte mir folgende zwei Bilder aus: einen blutigen und tödlichen Zusammenstoß oder eine funkensprühende Umarmung in zügellosem Keuchen und Picken; aber niemals hatte ich einen solchen Wärter bemerkt, bis ich endlich diesen sah. Von meiner in der letzten Reihe stehenden Zelle aus erkannte ich seine Gesichtszüge nicht gut genug, um ihnen die Umrisse des Gesichts eines jungen und feigen mexikanischen Mestizen zu geben, den ich aus dem Schutzumschlag eines Abenteuerromans ausgeschnitten hatte. Ich dachte: „Kleines Aas, ich bring’ Dich noch zur Kommunion.“ Mein Haß und mein Abscheu vor diesem Gesindel ließen mich noch stärker spannen, ich spürte meine Rute in meinen Fingern anschwellen — und ich schüttelte sie, bis endlich... — ohne meinen Blick von dem noch immer liebenswürdig lächelnden Wärter abzuwenden. Ich kann jetzt zu mir selbst sagen, er lächelte einem anderen Wärter oder einem Mörder zu, und da ich zwischen ihnen stand, ging dieses leuchtende Lächeln durch mich hindurch und löste mich auf. Ich glaubte denken zu dürfen, der Wärter sei besiegt und dankbar. Den Wärtern gegenüber fühlt sich Mignon als kleiner Junge. Er haßt sie und achtet sie. Den ganzen Tag raucht er, bis er auf sein
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Bett kippt. Klare Flecken bilden Inseln in seinen Anfällen von Brechreiz: da ist die Gebärde einer Geliebten, da ist das Gesicht eines jungen Mädchens, bartlos und glatt wie das eines jungen Boxers. Er wirft die Stummel fort aus Freude an der Bewegung. (Was kann man nicht von einem Louis erwarten, der seine Zigaretten selbst dreht, weil das den Fingern eine gewisse Eleganz verleiht, und der Schuhe mit Kreppsohlen trägt, um die Entgegenkommenden durch das Schweigen seiner Schritte zu überraschen, damit sie ihn mit noch größerer Verblüffung betrachten, seine Krawatte sehen, neidisch sind auf seine Hüften, seine Schultern, seinen Nacken, und damit sie für ihn, ohne ihn zu kennen, trotz seines Inkognito, von einem Passanten zum anderen einen blumenreichen, unterbrochenen Zug von Ehrungen erfinden — damit sie diesem Unbekannten eine Art vorübergehende, augenblickliche Souveränität zuerkennen, so daß er schließlich, mit all diesen Bruchstücken der Souveränität, am Ende seiner Tage sein Leben,als Herrscher durcheilt hat?) Am Abend hebt er den über die Zelle verstreuten Tabak auf und raucht ihn. Auf dem Bett ausgestreckt, das Gesicht zur Decke, die Beine gespreizt, schüttelt er mit der rechten Hand die Asche seiner Zigarette ab. Der linke Arm liegt unter seinem Kopf. Dies ist ein Augenblick voller Glück, möglich geworden durch die bewundernswerte Leichtigkeit, mit der Mignon das ist, was seine Haltung am tiefsten ausdrückt und was zu seinem wirklichen Leben wiedererweckt wird. Was könnte er sein, hier, auf einem steifen Bett ausgestreckt und rauchend? Mignon wird niemals leiden oder er wird sich immer aus der Patsche zu helfen wissen, einfach durch die Selbstverständlichkeit, mit der er sich die Gebärden eines vielbewunderten Kerls aneignet, der sich in der gleichen Lage befindet und den er sich mit eben dieser Selbstverständlichkeit erschafft, falls Bücher oder Anekdoten ihm einen solchen Kerl nicht liefern können; und sein Verlangen (aber er bemerkte es zu spät, als er schon nicht mehr zurückweichen konnte) war nicht das Verlangen, Schmuggler, König, Jongleur, Entdecker oder Sklavenhändler zu sein, sondern vielmehr das Verlangen, einer
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der Schmuggler, einer der Könige, Jongleure usw. zu sein, das heißt zu sein w i e einer... In den jammervollsten Stellungen weiß Mignon sich daran zu erinnern, daß dies auch die eines seiner Götter war (und, sollten sie diese Stellung nicht eingenommen haben, so wird er sie zwingen, sie eingenommen zu haben), und seine eigene Stellung wird dadurch geheiligt und mehr als erträglich. (Er ist darin mir selbst ähnlich, wenn ich diese Männer — Weidmann, Pilorge, Soclay — wiedererschaffe in meinem Verlangen, sie selbst zu sein; aber er ist mir sehr unähnlich durch seine Treue zu seinen Geschöpfen; denn ich habe mich schon lange damit abgefunden, ich selbst zu sein. Aber meine Begierde nach einem erträumten glänzenden Schicksal hat eben die tragischen purpurnen Elemente meines gelebten Lebens, wenn man so sagen kann, verdichtet in einer Art äußerster, dichter, fester und schillernder Reduktion; und so habe ich manchmal das vieldeutige Gesicht von Divine, die zunächst einmal sie selbst ist und manchmal gleichzeitig — in ihren Gesichtszügen und Gebärden — die so realen, eingebildeten Wesen ihrer Wahl, mit denen sie in völliger Abgeschlossenheit ihre Streitereien ausficht, die sie peinigen und begeistern und ihr jedenfalls keine Ruhe lassen, die ihr mit Hilfe feiner Verzerrungen der Züge und eines leisen Bebens der Finger jenes beunruhigende Aussehen verleihen, ein Vielfaches zu sein, weil sie stumm bleibt, verschlossen wie ein Grab, und so wie ein Grab vom Unreinen bevölkert). Was könnte er sein, hier, auf einem steifen Bett ausgestreckt und rauchend? „Derjenige, der das ist, was seine Haltung am tiefsten ausdrückt, das heißt: ein eingesperrter Louis, der eine Zigarette raucht, das heißt: er selbst.“ Man begreift wohl, in welchem Maße sich das Innenleben von Divine vom Innenleben Mignons unterschied. Mignon hat Divine einen Brief geschrieben, auf dessen Umschlag er genötigt ist, „Herrn“ zu schreiben, und an Notre-Dame ebenfalls. Divine ist im Krankenhaus. Sie schickt eine Postanweisung über fünfhundert Francs. Ihren Brief werden wir später lesen. Notre-Dame hat nicht geantwortet.
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Ein Aufseher öffnet die Tür und stößt einen Neuen in die Zelle. Bin ich es oder ist es Mignon, der ihn empfängt? Er bringt seine Decken mit, seinen Holzlöffel und seine Geschichte. Gleich bei den ersten Worten unterbreche ich ihn. Er spricht weiter, aber ich bin nicht mehr da. „Wie heißt Du?“ „Jean.“ Das genügt. Wie ich und wie jenes tote Kind, für das ich schreibe, heißt er Jean. Was würde es auch ausmachen, wenn er weniger schön wäre; aber das Unglück verfolgt mich. Jean dort drüben, Jean hier. Wenn ich zu jemandem sage, ich liebe ihn, so bin ich im Zweifel, ob ich es nicht zu mir selbst sage. Ich bin nicht mehr da, denn wieder bemühe ich mich, jene seltenen Augenblicke zu durchleben, in denen er mir gestattete, ihn zu streicheln. Ich wagte alles, und um ihn zu zähmen, willigte ich sogar darin ein, daß er über mich männliche Gewalt ausübte; sein Glied war fest wie das eines Mannes, und sein Jünglingsgesicht war die Sanftheit selbst, so sehr, daß er, wenn er sich ausgestreckt in meinem Zimmer, gerade, unbeweglich, in meinen Mund entlud, nichts von seiner jungfräulichen Keuschheit verlor. Das hier ist ein anderer Jean, der mir seine Geschichte erzählt. Ich bin nicht mehr allein, aber meine Einsamkeit ist dadurch größer als je zuvor. Ich will sagen, die Einsamkeit des Gefängnisses schenkte mir die Freiheit, die hundert Jean Genets zu sein, die ich bei hundert Passanten im Flug aufgefangen hatte, denn hierin bin ich Mignon ähnlich, der ebenfalls dieMignons stahl, die eine unbedachte Gebärde aus all jenen Unbekannten die er gestreift hatte, herausschlüpfen ließ. Aber der neue Jean läßt, ich weiß nicht was, in mich zurückkriechen — wie ein Fächer, der gefaltet wird, die Zeichnungen auf der Gaze. Dabei ist er weit davon entfernt, unangenehm zu sein. Er ist sogar so dumm, daß ich einige Zärtlichkeit für ihn empfinde. Die Augen schmal und schwarz, die Haut dunkel, das Haar struppig und diese wache Miene ... So etwa wie ein griechischer Gauner, den man zu den Füßen einer unsichtbaren Merkurstatue hocken zu sehen
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glaubt, wo er das Gänsespiel spielt und gleichzeitig zu dem Gott hinüberschielt, um ihm seine Sandalen zu stehlen. „Was hast Du ausgefressen?“ „Ich bin Louis. Ich heiße der Marder von Pigalle.“ „Das kannst Du mir nicht weismachen. Schau Dir Deine Klamotten an. An der Pigalle gibt’s bloß Tunten. Erzähl’ schon!“ Das griechische Kind erzählt, wie es auf frischer Tat ertappt wurde, gerade wie es die Hand, mit Geldscheinen vollgestopft, aus der Schubladenkasse einer Kneipe zieht. „Aber ich werde mich rächen. Wenn ich hier herauskomme, werfe ich ihm nachts alle Scheiben mit Steinen ein. Natürlich zieh ich mir Handschuhe an, wenn ich die Steine aufhebe. Wegen der Fingerabdrücke. Ich bin nicht bekloppt.“ Ich lese weiter meine volkstümlichen Romane. Meine Liebe befriedigt sich in ihnen an — als Edelleute verkleideten — Gaunern. Ebenso mein Geschmack am Betrug, mein Geschmack an der Nachahmung, der mich am liebsten auf meine Visitenkarten schreiben lassen würde: „Jean Genet, falscher Graf von Tillancourt.“ Mitten auf den Seiten dieser dicken Bücher mit den breitgedrückten Buchstaben erscheinen Wunder. So wie kerzengerade Lilien aus jungen Männer hervorschießen, die — ein wenig durch meine Schuld — Prinzen und Bettler zugleich sind. Wenn ich aus mir Divine mache, so mache ich aus ihnen ihre Liebhaber: Notre-Dame, Mignon, Gabriel, Alberto, alles Kerle, die zwischen den Zähnen pfeifen und auf deren Kopf man — wenn man genau hinschaute — wie einen Heiligenschein eine Königskrone sehen könnte. Ich könnte es nicht einrichten, daß sie nicht Sehnsucht nach billigen Romanen mit grauen Seiten hätten, grau wie die Himmel von Venedig und London, über die die Zeichnungen und wilden Zeichen der Sträflinge treiben: Augen von vorn gesehen in Profilen, blutende Herzen. Ich lese diese für die Vernunft so törichten Texte, aber die Vernunft beschäftigt sich nicht mit einem Buch, aus dem die vergifteten, gefiederten Sätze auf mich niederstürzen. Die Hand, die sie hinauswirft, zeichnet (und nagelt ihn irgendwo fest)
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den verschwommenen Schattenriß eines Jean, der sich selbst wiedererkennt und sich nicht zu rühren wagt in Erwartung desjenigen, der sein Herz endgültig durchbohrt und es zuckend liegen läßt. Ich liebe bis zum Wahnsinn — so wie ich das Gefängnis liebe — diesen engen, wie ein Abfallhaufen so massigen Druck, der mit blutigen Taten vollgestopft ist wie Leibwäsche, wie Embryos toter Katzen, und ich weiß nicht, ob es die steif aufgerichteten Ruten sind, die sich in harte Ritter verwandeln, oder ob es die Ritter sind, die zu senkrechten Ruten werden. Und dann — im Grunde genommen — ist es wirklich notwendig, daß ich von mir so unmittelbar spreche? Ich finde mehr Gefallen daran, mich in den Zärtlichkeiten zu beschreiben, die ich meinen Geliebten vorbehalte. Es hätte wenig gefehlr, und dieser neue Jean wäre Mignon geworden. Was fehlte ihm? Wenn er mit einem trockenen Ton furzt, macht er eine Bewegung, als sänke er in den Schenkeln ein, wobei er gleichzeitig die Hände in den Taschen behält und seinen Oberkörper ein wenig dreht, als schraubte er ihn. Das ist die Bewegung eines Piloten am Steuerknüppel. Sie beschwört Mignon herauf, an dem ich unter anderem folgende Gebärde liebte: wenn er eine Javamelodie trällerte, machte er einen Tanzschritt und streckte seine Hände so vor sich, als hielten sie die Taille einer Partnerin (je nach Belieben gab er ihr eine schmale oder eine weniger schmale Taille, indem er seine lebhaften Hände auseinanderschob oder einander annäherte); es sah aus, als hielte er das empfindliche Steuer eines Delage auf einer fast geraden Straße; außerdem schien er der aufgeregte Boxer zu sein, der mit seinen flachen und gelenken Händen seine Leber schützt; so war die gleiche Gebärde sehr vielen Helden gemeinsam, die Mignon plötzlich sämtlich verkörperte; und diese Gebärde war zufällig immer jene, die mit der überzeugendsten Kraft die graziöseste Form des Männlichen symbolisierte. Er machte wundervolle Gebärden, vor denen wir in die Knie sinken. Harte Gebärden, die uns anspornen und uns ein Ächzen entlocken wie jener Stadt, deren Flanken ich bluten sah von marschierenden bronzenen
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Statuen — vorwärtsschreitend im Rhythmus von Statuen, die der Schlaf vom Boden hebt. Die in ihren Träumen geborenen Bataillone marschieren durch die Straßen wie ein fliegender Teppich oder wie ein Gummireifen, der in einem langsamen, schwerfälligen Takt fällt und zurückspringt. Ihre Füße stoßen gegen Wolken: da erwachen sie. Aber ein Offizier spricht ein Wort: sie schlafen wieder ein und gehen schlafend weiter, ihre Stiefel sind schwer wie ein Sockel, der Staub sind die Wolken. Ähnlich den Mignons, die durch uns hindurchgegangen sind, fern in ihren Wolken. Sie unterscheiden sich nur durch ihre stählernen Hüften, die sie immer daran hindern werden, sich in schlangenhafte, biegsame Louis zu verwandeln. Ich bin höchst erstaunt darüber, daß der Zuhälter Horst Wessel, wie man sagt, Held einer Legende und einer Ballade werden konnte. Unwissend, fruchtbar wie Goldstaub, fielen sie auf Paris, dessen Herz eine ganze Nacht lang gepreßt schlug. Wir, wir erschauern in unseren Zellen, die singen oder klagen in wilder Wollust, denn der Gedanke an diese Orgien männlicher Tiere verschafft uns Lustgefühle, als wäre uns die Möglichkeit gegeben, einen breitbeinigen Riesen mit einem steifen Geschlecht zu sehen. Als Mignon seit ungefähr drei Monaten hinter schwedischen Gardinen saß — währenddessen traf ich Minderjährige, in deren Gesichtern ich bei aller Jugend so viel Willen, so viel Härte vorfand, daß mir daneben mein armes, weißes Fleisch noch weicher schien und ich keine Spur mehr von dem grausamen Zögling von Mettray entdecken konnte; dabei erkannte ich sie jedoch wieder und fürchtete sie — als Mignon drei Monate im Gefängnis war, ging er nach unten zur Untersuchung. Dort erzählte ihm ein junges Blut von NotreDame. Alles, was ich Euch in einem Stück erzählen werde, erfuhr Mignon abschnittweise, mit Hilfe von Worten, die, im Laufe zahlreicher Untersuchungen, hinter der fächerförmig vorgehaltenen Hand getuschelt wurden. Sein ganzes erstaunliches Leben hindurch wird Mignon — über alles auf dem Laufenden — niemals etwas wissen. So wie er stets in Unwissenheit darüber bleiben wird, daß
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Notre-Dame sein Sohn ist, so wird er — in dieser Geschichte, die der Junge ihm erzählt, — niemals wissen, daß Pierrot-der-Korse ein Spitzname ist, den Notre-Dame für seine Tätigkeit als Rauschgifthändler wählte. Notre-Dame war also bei dem Jungen, der im Begriff war zu sprechen, als der Fahrstuhl des Mietshauses auf dem Stockwerk hielt. Das Geräusch, mit dem er stehenblieb, bezeichnete den Augenblick, von dem an das Unvermeidliche vollbracht werden muß. Ein haltender Fahrstuhl läßt das Herz desjenigen, der ihn hört, klopfen wie der ferne Lärm von Nägeln, die eingeschlagen werden. Er macht das Leben zerbrechlich wie Glas. Es klingelte. Das Geräusch der Glocke, weniger schicksalhaft als das des Fahrstuhls, brachte ein wenig Sicherheit und Alltäglichkeit zurück. Der Junge und NotreDame wären vor Angst gestorben, wenn sie nach dem Geräusch des Fahrstuhls nichts mehr gehört hätten. Der Junge ging die Türe öffnen. „Polizei!“ sagte einer der beiden Männer, indem er mit der Bewegung, die I h r alle kennt, seinen Jackenaufschlag umdrehte. Die Verkörperung des Schicksals ist jetzt für mich das Dreieck, das von den drei Männern gebildet wird, deren Benehmen zu platt ist, um nicht gefährlich zu sein. Stellen wir uns vor, ich gehe eine Straße entlang. Sie stehen alle drei auf dem linken Bürgersteig und ich habe sie noch nicht entdeckt. Sie dagegen haben mich gesehen: der eine geht auf den rechten Bürgersteig, der zweite bleibt links und der letzte verlangsamt ein wenig seinen Schritt und bildet die Spitze des Dreiecks, in dem ich mich fange: das ist die Polizei. „Polizei.“ Er trat in das Vorzimmer. Der ganze Boden war mit einem Teppich bedeckt. Wenn man zulassen will, daß sich unser tägliches Leben — das Leben der zu schnürenden Schuhriemen, der anzunähenden Knöpfe und der auszumerzenden Mitesser im Gesicht — mit Kriminalroman-Abenteuern vermischt, muß man selbst ein wenig die Seele einer Fee haben. Die Polizisten bewegten sich, indem sie eine Hand auf den geladenen Revolver in der Jackentasche hielten.
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An der Hinterwand des Ateliers, in dem der Junge wohnte, befand sich ein Kamin, über dem ein ungeheurer, in einen Kristallmuschelrahmen mit komplizierten Facetten eingefaßter Spiegel angebracht war; einige mit gelber Seide überzogene Sessel standen herum. Die Vorhänge waren zugezogen. Das künstliche Licht kam von einem kleinen Kronleuchter; es war Mittag. Die Polizisten witterten das Verbrechen und sie hatten recht, denn das Atelier gab die erstickende Luft des Schlafzimmers wieder, in dem Notre-Dame keuchend, mit Bewegungen, die die starre Form der Höflichkeit und der Furcht annahmen, den Alten erdrosselt hatte. Rosen und Aronstäbe standen vor ihnen auf dem Kamin. Wie bei dem Alten boten sich die Möbel nur als geschwungene Linien dar, aus denen das Licht mehr hervorzuquellen schien, als daß es sich auf sie gelegt hätte, wie auf Traubenkugeln. Die Polizisten drangen weiter in den Raum vor, und Notre-Dame sah sie näherkommen in einer Stille, die so erschreckend war wie die Stille unbekannter kosmischer Räume. Sie schritten voran, wie er dann selbst, in die Ewigkeit. Sie kamen im richtigen Augenblick. Mitten im Atelier, auf einem großen Tisch, auf der Decke aus rotem Samt, lag ausgestreckt ein großer, nackter Körper. Notre-Dame-des-Fleurs stand aufmerksam neben dem Tisch und beobachtete die Annäherung der Polizisten. Der bedrückende Gedanke an einen Mord kam ihnen, aber im gleichen Augenblick wurde der Mord zerstört durch den anderen Gedanken, er sei nur simuliert; „ein simulierter Mord“ — das Ungereimte einer solchen Aussage, das Ungereimte, das in ihrer Unsinnigkeit und doch in ihrer Möglichkeit liegt, bereitete den Polizisten Unbehagen. Es war handgreiflich, daß sie sich nicht in Gegenwart eines ermordeten und in Stücke geschnittenen männlichen oder weiblichen Körpers befanden. Die Polizisten trugen Siegelringe aus wirklichem Gold und die Knoten ihrer Krawatten waren echt. Sobald — ja ehe sie noch den Tischrand erreicht hatten, sahen sie deutlich, daß der Leichnam eine Wachspuppe war, wie sie die Schneider benutzen. Dennoch, der Gedanke an den Mord verwischte die einfachen Tat-
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sachen des Problems. „Du hast eine Fresse, als wärst Du zu allem fähig.“ Der ältere der Polizisten sagte das zu Notre-Dame, denn das Gesicht von Notre-Dame-des-Fleurs ist ein so strahlend reines Gesicht, daß jedem sofort der Gedanke kommt, es sei falsch, dieser Engel müsse ein Doppelwesen aus Flammen und Rauch sein; denn jeder hat wenigstens einmal in seinem Leben Gelegenheit gehabt zu sagen: „Man hätte ihm den lieben Gott ohne Beichte gegeben!“ und man will jetzt um jeden Preis schlauer sein als das Schicksal. Ein simulierter Mord beherrschte also die Szene. Die beiden Polizisten suchten nur das Kokain, das einer ihrer Spitzel bei dem Jungen entdeckt hatte. „Gebt das Kokain her, schnell!“ „Wir haben kein Kokain, Chef.“ „Also macht schon, Kinder; sonst nehmen wir Euch mit und halten Haussuchung. Davon habt Ihr auch nichts.“ Der Junge zögerte eine Sekunde, drei Sekunden. Er kannte die Methode der Polizisten und wußte, er war gefangen. Er entschloß sich: „Da, nehmen Sie, mehr haben wir nicht.“ Er reichte ein ganz kleines, wie die Tüten mit pharmazeutischen Pulvern gefaltetes Päckchen, das er aus dem Gehäuse seiner Armbanduhr hervorzug. Der Polizist steckte es ein. Westentasche. „Und er?“ „Er hat nichts. Bestimmt, Chef, Sie können nachsehen.“ „Und das da, wo kommt das her?“ Die Puppe. Hier ist vielleicht der Einfluß von „Divine“ erkennbar. Sie ist überall, wo das Unerklärliche auftritt. Sie sät hinter sich, die Närrin, Fallen, heimtückische Falltüren und Verliese auf die Gefahr hin, selbst bei einer Wendung gefangengenommen zu werden, und ihretwegen ist der Geist Mignons, Notre-Dames und ihrer Kumpane mit unsinnigen Gebärden gespickt. Stolz erhobenen Hauptes stürzen sie und werden zu den schlimmsten Schicksalen verdammt. NotreDames junger Freund machte auch Einbrüche, und eines Nachts stahlen er und Notre-Dame aus einem parkenden Wagen einen
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Karton, den sie beim Auspacken voll von scheußlichen Stücken einer auseinandergenommenen Wachspuppe fanden. Die Kriminalbeamten schlüpften in ihre Überzieher. Sie antworteten nicht. Die Rosen auf dem Kamin waren schön, schwer und maßlos duftend. Die Polizisten waren deswegen nicht weniger selbstsicher. Der Mord war falsch und unvollendet. Sie waren gekommen, um das Kokain zu holen. Kokain . . . in Dienstmädchenkammern eingerichtete Laboratorien .. . die explodieren . . . Trümmer . . . Soll das heißen, Kokain sei gefährlich? Sie nahmen die beiden jungen Leute mit zur Zentrale, und am gleichen Abend kamen sie mit dem Kommissar zurück, um eine Haussuchung zu halten, bei der sie dreihundert Gramm Kokain fanden. Aber weder den Jungen noch Notre-Dame ließ man deswegen in Ruhe. Die Polizisten taten, was sie konnten, um ihnen soviel Angaben wie möglich zu entreißen. Sie bedrängten sie mit Fragen, durchsuchten sie bei Dunkelheit, um einige Fäden zu entwirren, die zu anderen Fängen führen könnten. Sie unterwarfen sie der modernen Folter: Fußtritte in den Bauch, Ohrfeigen, Lineale zwischen die Rippen und verschiedene andere Spiele, eines nach dem anderen. „Gestehe!“ schrien sie. Schließlich rollte Notre-Dame unter einen Tisch. Außer sich vor Wut stürzte sich ein Polizist auf ihn, aber ein anderer hielt ihn am Arm zurück, indem er etwas murmelte, um dann laut zu sagen: „Laß ihn, Gaubert. Er hat ja schließlich kein Verbrechen begangen.“ „Der, mit seinem Puppengesicht? Der wär’ dazu fähig. Na ja.“ Zitternd vor Furcht kroch Notre-Dame unter dem Tisch hervor. Man ließ ihn auf einem Stuhl sitzen. Schließlich handelte es sich ja bloß um Kokain, und der andere Junge im Nebenzimmer wurde weniger geschunden. Der Wachtmeister, der dem grausamen Spiel Einhalt geboten hatte, blieb allein mit Notre-Dame. Er setzte sich und bot ihm eine Zigarette an. „Sag mir, was Du weißt. Ist ja nicht weiter schlimm. Ein bißchen Kokain, dafür riskierst Du nicht die Guillotine.“
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Es wird schwierig sein für mich, genau zu erklären und sorgfältig zu beschreiben, was in Notre-Dame-des-Fleurs vor sich ging. Es ist kaum möglich, hier von Dankbarkeit dem milderen Polizisten gegenüber zu sprechen. Die Entspannung, die Notre-Dame durch den Satz: „ist ja nicht weiter schlimm“ empfand — das war es noch nicht. Der Polizist sagte: „Eure Puppe war es, die ihn geärgert hat.“ Er lachte und trank einen Schluck Rauch. Gurgelte. Fürchtete NotreDame eine geringere Strafe? Zuerst kam es ihm aus der Leber, direkt gegen die Zähne, das Geständnis, daß er den Alten ermordet hat. Er sprach das Geständnis nicht aus. Aber das Geständnis stieg höher, immer höher. Wenn er den Mund aufmacht, wird er alles preisgeben. Er fühlte sich verloren. Plötzlich ergriff ihn Schwindel. Er sah sich genau auf dem Giebel eines Tempels, nicht sehr hoch. „Ich bin achtzehn Jahre alt; ich kann zum Tode verurteilt werden“, dachte er sehr rasch. Wenn er jetzt die Finger lockert, fällt er. Ja doch, er fängt sich wieder. Nein, er wird nichts sagen. Es wäre wunderbar, zu sprechen, das wäre der Ruhm. Nein, nein, nein, Herrgott, nein! Ah, er ist gerettet. Das Geständnis weicht zurück, weicht zurück, ohne über die Lippen getreten zu sein. „Ich habe einen Alten umgebracht.“ Notre-Dame ist vom Giebel des Tempels gefallen und augenblicklich schläfert ihn träge Verzweiflung ein. Er ist ausgeruht. Der Polizist hat sich kaum gerührt. „Wen, was für einen Alten?“ Notre-Dame lebt wieder. Er lacht. „Nein, ich habe einen Witz gemacht, ich habe gescherzt.“ Mit einer schwindelerregenden Schnelligkeit kombiniert er folgendes Alibi: ein Mörder gesteht aus eigenem Antrieb und auf blödsinnige Art und Weise, mit unmöglichen Einzelheiten, einen Mord, damit er für verrückt gehalten und der Verdacht von ihm abgelenkt wird. Verlorene Mühe. Notre-Dame wird wieder gefoltert. Es hat keinen Sinn, zu beteuern, er wollte nur spielen. Die Polizisten wollen die
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Wahrheit wissen. Notre-Dame weiß, daß sie sie wissen werden, und weil er jung ist, wehrt er sich. Er ist wie ein Ertrinkender, der gegen seine Bewegungen kämpft und in den dennoch der Friede — Ihr wißt, der Friede der Ertrinkenden — langsam hinabsteigt. Jetzt sagen die Polizisten die Namen aller seit fünf oder zehn Jahren Ermordeten, deren Mörder nicht ergriffen worden war. Die Reihe wird länger; Notre-Dame macht die nutzlose Entdeckung der außerordentlichen Unwissenheit der Polizei. Die gewaltsamen Tode ziehen an seinen Augen vorüber. Die Polizisten sagen Namen her, Namen, und prügeln. Sie bereiten sich darauf vor, endlich, zu Notre-Dame zu sagen: „Vielleicht weißt Du seinen Namen nicht?“ Noch nicht. Sie nennen Namen und starren in das rote Gesicht des Kindes. Es ist ein Spiel. Ein Ratespiel. Werde ich warm? Brenn ich? ... Das Gesicht ist zu verstört, um noch irgendetwas verständliches ausdrücken zu können. Es ist in völliger Auflösung begriffen. Notre-Dame brüllt: „Ja, ja, er ist es. Laßt mich in Ruh!“ Die Haare sind über seine Augen gefallen, er wirft sie mit einer Kopfbewegung zurück, und diese einfache Bewegung, seine seltenste Koketterie, bedeutet ihm die Eitelkeit der Welt. Er wischt kaum den Speichel ab, der aus seinem Mund rinnt. Alles wird so ruhig, daß niemand mehr weiß, was man jetzt tun solle. Von einem Tag auf den anderen wurde der Name Notre-Dame-desFleurs in ganz Frankreich bekannt, und Frankreich ist an Verwirrungen gewöhnt. Diejenigen, die die Zeitungen nur überfliegen, hielten sich bei Notre-Dame-des-Fleurs nicht auf. Diejenigen aber, die auf den Grund der Artikel hinabsteigen, weil sie das Ungewöhnliche wittern, das sie dort jedesmal auf spüren, zogen einen wunderbaren Fang ans Licht: diese Leser, — das waren die Schüler und die verschrumpelten alten Weiber, die in der Tiefe ihrer Provinzen Ernestine ähnlich geblieben sind, alt geboren wie jüdische Kinder, die mit vier Jahren schon das Gesicht und die Bewegungen haben, die sie mit fünfzig haben werden. Es geschah in der Tat für Ernestine, um ihre Abenddämmerung zu verzaubern, daß Notre-Dame einen Alten umge-
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bracht hatte. Immer schon erzählte sie unheilschwangere Märchen und Geschichten, die platt und scheinbar bedeutungslos daherkamen, in denen aber gewisse explosive Worte die Leinwand platzen ließen; durch diese Risse kam, wenn man so sagen kann, etwas von den Kulissen zum Vorschein und man verstand plötzlich mit Bestürzung, warum sie so gesprochen hatte. Sie hatte den Mund voller Märchen und man fragte sich, wie es kam, daß sie so aus ihr hervorquellen konnten, da sie doch jeden Abend nur eine langweilige Zeitung las: ihre Märchen wurden aus der Zeitung geboren wie die meinen aus volkstümlichen Romanen. Sie erwartete den Briefträger, auf der Lauer hinter den Fensterscheiben. Eine innere Erregung wühlte sie auf und wurde immer heftiger, je näher der Augenblick des Posteinwurfs rückte, und wenn sie endlich die durchlässigen, grauen Seiten berührte, aus denen das Blut der Dramen sickerte (das Blut, dessen Geruch sie verwechselte mit dem von Tinte und Papier), wenn sie sie wie eine Serviette über ihre Knie breitete, sank sie, halb tot vor Erschöpfung, in die Tiefen des alten, roten Sessels. Der Dorfpfarrer, der um sich herum den Namen Notre-Dame-desFleurs durch die Luft schwirren hörte, befahl eines Tages von der Kanzel herab, ohne hierzu eine Aufforderung von der Diözese erhalten zu haben, Gebete und empfahl den neuen Kult der besonderen Andacht der Gläubigen. Die ergriffenen Kirchgänger in ihren Bänken sagten kein Wort und dachten keinen Gedanken. In einem Weiler veranlaßte der Name einer Blume, die man „Königin der Wiesen“ nennt, ein kleines Mädchen, das an Notre-Dame-desFleurs dachte, zu der Frage: „Sag, Mama, ist das eine Wundertätige?“ Es fanden noch andere Wunder statt, die wiederzugeben mir die Zeit fehlt. Der schweigsame, fiebrige Reisende, der in einer Stadt ankommt, versäumt nicht, geradenwegs in die Lasterhöhlen, die geschlossenen Viertel, die Bordelle zu gehen. Er wird geführt von einem geheimnisvollen Sinn, der den Ruf der verborgenen Liebe zu ihm trägt; oder vielleicht von dem Benehmen, von der Richtung, die gewisse Stamm-
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kunden einschlagen, die er an sympathischen Anzeichen wiedererkennt, an den Worten, die ihr Unterbewußtsein im Vorbeigehen austauscht und denen er vertrauensvoll folgt. Ebenso machte sich Ernestine geradenwegs auf die Suche nach den winzigen Zeilen der „Vermischten Nachrichten“ — den Morden, Diebstählen, Vergewaltigungen, bewaffneten Überfällen — den „Barrios Chinos“ der Zeitungen. Sie träumte von ihnen. Ihre geraffte Brutalität, ihre Präzision ließen dem Traum nicht Zeit noch Raum, um in sie einzusickern: sie warfen sie zu Boden. Sie erschienen gewaltsam, in grellen Farben, tönend: rote Hände auf dem Gesicht einer Tänzerin, grüne Gesichter, blaue Lider. War diese Flutwelle in sich zusammengesunken, so las sie sämtliche Titel der Musikstücke der Radiospalte; aber niemals hätte sie geduldet, daß eine musikalische Weise in ihr Zimmer dringt, so sehr wird die Poesie selbst von der leichtesten Melodie zerfressen. So also waren die Zeitungen beunruhigend, als wären sie nur von den Spalten der Vermischten Nachrichten gefüllt gewesen, jenen Spalten, die blutig und verstümmelt waren wie Marterpfähle. Und obwohl die Presse dem Prozeß, von dem wir morgen lesen werden, geizigerweise nur 10 Zeilen gewidmet hat, mit ausreichenden Zwischenräumen, um die Luft durchzulassen zwischen zu gewaltsamen Worten: diese zehn Zeilen — hypnotisierender als der Hosenschlitz eines Gehängten, als das Wort „Hanfkrawatte“ oder als das Wort „Zuave“ — diese zehn Zeilen ließen die Herzen der alten Weiber und der neidischen Kinder höher schlagen. Paris schlief nicht. Es hoffte, daß morgen Notre-Dame zum Tode verurteilt würde; es wünschte es. Ohne der sanften, traurigen Abwesenheit der zum Tode Verurteilten zu gedenken, denen, schon tot oder noch lebendig, das Schwurgericht Asyl gewährt, wirbelten die Auskehrer des morgens beizenden Staub in die Höhe, sprengten das Parkett, spuckten und fluchten und lachten mit den Gerichtsdienern, die die Akten ordneten. Die Sitzung sollte pünktlich um 12.45 Uhr beginnen und ab zwölf Uhr öffnete der Portier weit die Türen.
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Der Saal ist nicht majestätisch, aber sehr hoch; senkrechte Linien, wie Schnüre eines lautlosen Regens, herrschen vor. Beim Eintreten erblickt man an der Wand ein großes Bild der „Justitia“, einer in weite, rote Tücher gehüllten Frau. Sie stützt sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ein langes Messer, hier „Schwert“ genannt, das sich nicht biegt. Darunter befindet sich das Podium und der Tisch, an den sich die Geschworenen und der Präsident mit Hermelinpelz und roter Robe setzen werden, um das Kind zu richten. Der Präsident nennt sich „Herr Präsident Vase de Sainte-Marie“. Wieder einmal bedient sich das Schicksal, um zu seinem Ziel zu gelangen, heimtückischer Methoden. Die zwölf Geschworenen sind zwölf biedere Männer, die plötzlich allmächtige Richter geworden sind. Der Saal also hatte sich seit zwölf Uhr gefüllt. Ein Festsaal. Die Tafel war gerichtet. Ich möchte mit Wohlwollen von jener Menge sprechen, die den Schwurgerichtssaal bevölkert; nicht, weil sie NotreDame-des-Fleurs nicht feindlich gesinnt war (was mir gleichgültig ist) — sondern weil sie von tausend dichterischen Gebärden funkelt. Sie erschauert wie Taft. Notre-Dame tanzt am Rand eines mit Bajonetten gespickten Abgrunds einen gefährlichen Tanz. Die Menge ist nicht lustig. Ihre Seele ist traurig bis auf den Tod. Sie zwängt sich in den Bänken, preßt die Knie und Hinterbacken zusammen, schneuzt sich und verrichtet endlich die hundert Bedürfnisse einer Schwurgerichtsmenge, die von soviel Erhabenheit erdrückt wird. Das Publikum strömt nur dann hier zusammen, wenn Aussicht besteht, daß durch ein einziges Wort eine Enthauptung herbeigeführt wird, und wenn es, gleich dem Heiligen Dionys, mit einem abgeschlagenen Kopf in den Händen nach Hause zurückkehren kann. Man sagt manchmal, der Tod schwebe über einem Volk. Erinnert Ihr Euch an die magere, schwindsüchtige Italienerin und daran, daß sie für Culafroy das war, was sie später für Divine sein wird? Hier ist der Tod nur ein schwarzer Flügel ohne Körper, ein von Stoffresten aus leichtem schwarzen Leinentuch zusammengestückelter Flügel, der von einem dünnen Skelett aus Regenschirmstäben ge-
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stützt wird, eine Piratenstandarte ohne Fahnenstange. Dieser Flügel aus leichtem Leinen flattert über dem Palast, den Ihr mit keinem anderen Palast verwechseln dürft, denn es ist der Justizpalast. Der Flügel hüllt ihn in seine Falten; er hatte im Saal eine Krawatte aus grünem China-Krepp zurückgelassen, um ihn zu symbolisieren. Auf dem Tisch des Präsidenten war die Krawatte das einzige Beweisstück. Der Tod, der hier sichtbar wurde, war eine Krawatte; und es ist mir angenehm, daß es so ist: es war ein leichter Tod. Die Menge schämte sich, nicht selbst der Mörder zu sein. Die schwarzgekleideten Rechtsanwälte trugen Akten unter dem Arm und sprachen lächelnd miteinander. Gelegentlich kamen sie ganz nahe und sehr dreist an den kleinen Tod heran. Die Journalisten waren bei den Anwälten. Die Vertreter der Jugendschutzverbände sprachen leise miteinander. Sie stritten um eine Seele. Mußte man um sie würfeln, um sie in die Vogesen zu schicken? Die Anwälte, die trotz ihrer langen, seidenen Roben die Wendung zum Tod nicht so sanft und hastig vollziehen wie die Geistlichen, bildeten Gruppen und lösten sie wieder auf. Sie waren ganz nahe beim Podium, und die Menge hörte sie die Instrumente für den Trauermarsch stimmen. Die Menge schämte sich, nicht selbst zu sterben. Die Religion der Stunde war, zu warten, und einen jungen Mörder zu beneiden. Der Mörder trat ein. Man sah nur grobgehauene Schutzleute. Das Kind wuchs einem von ihnen aus der Seite, während ein anderer ihm die Kette von den Handgelenken nahm. Die Bewegungen der Menge beim Eintritt eines berühmten Verbrechers zu schildern, ist Sache der Journalisten; ich möchte meine Leser auf ihre Artikel verweisen, wenn es ihnen recht ist; denn meine Rolle und meine Kunst bestehen nicht in der Beschreibung großer Massenbewegungen. Trotzdem wage ich es zu sagen, daß alle Augen in dem Heiligenschein, der NotreDame-des-Fleurs umgab, die folgenden Worte eingraviert lesen konnten: „Ich bin die unbefleckte Empfängnis.“ Der Mangel an Licht und Luft hatte den Satz weder zu blaß noch zu aufgedunsen werden lassen. Die Linie seiner geschlossenen Lippen war die Linie
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eines schwermütigen Lächelns; seine hellen Augen kannten nicht die Hölle; sein ganzes Gesicht (aber vielleicht war es für Euch das, was das Gefängnis für die Frau war, als sie dort nachts singend vorüberging: während sich alle Zellen heimlich vom Boden lösten, entführt von den wie Flügel schlagenden Händen der von dem Gesang der Frau überwältigten Gefangenen, blieb das Gefängnis für die Frau eine böse Mauer;) — sein ganzes Gesicht also, seine Erscheinung und seine Bewegungen setzten gefangene Dämonen frei oder schlössen Engel des Lichts mit mehreren Schlüsselumdrehungen ein. Er trug einen sehr jugendlichen, grauen Flanellanzug, und der Kragen seines blauen Hemdes war offen. Seine blonden Haare fielen immer wieder über seine Augen; Ihr wißt mit welcher Kopfbewegung er sie verjagte. Wie er also alle Welt vor sich hatte, machte Notre-Dame, — der Mörder, der bald tot sein, seinerseits ermordet sein wird — mit den Augen zwinkernd, eine leichte Kopfbewegung, die eine lockige Strähne auf den Kopf zurückspringen ließ, die ihm in die Nähe der Nase gefallen war. Dieses einfache Bild entzückt uns, das heißt: es hebt den Augenblick in die Höhe, so wie die Auflösung der Welt den Fakir in die Höhe hebt und in der Schwebe hält. Alles ließ befürchten, daß die Sitzung von jenen grausamen Augenblicken zerhackt würde, die unter den Füßen der Richter, der Rechtsanwälte, unter den Füßen Notre-Dame’s und denen der Polizisten die Falltüren wegziehen, um sie eine kleine Ewigkeit lang als Fakire in der Luft zu halten, bis zu der Sekunde, wo ein etwas zu heftiger Atemzug das in der Schwebe gehaltene Leben zurückbringt. Unter dem lauten Lärm der Nagelschuhe und der Bajonette trat die Ehreneskorte (Soldaten der Kolonialarmee) ein. Notre-Dame glaubte, dies sei das Hinrichtungskommando. Sagte ich es schon? Das Publikum bestand vor allem aus Männern; aber alle diese Männer, dunkel gekleidet, mit Regenschirmen im Arm oder Zeitungen in den Taschen, schauerten mehr als eine Glyzinienallee oder der Spitzenvorhang einer Wiege. Notre-Damedes-Fleurs war schuld, wenn der Schwurgerichtssaal, von einer sonn-
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täglich herausgeputzten, grotesken Menge überflutet, einer Maihecke glich. Der Mörder saß auf der Angeklagtenbank. Die Befreiung von den Ketten gestattete ihm, seine Hände in den Tiefen seiner Taschen unterzubringen; so schien es, als befände er sich irgendwo, das heißt vielmehr: im Wartesaal eines Stellenvermittlungsbüros oder auf der Bank eines öffentlichen Parks, von der aus er einem Hanswurst in einer entfernten Jahrmarktsbude zusieht — vielleicht aber auch, als befände er sich in der Kirche, in der donnerstäglichen Katechismusstunde. Ich schwöre, er erwartete irgend etwas. Einmal nahm er die Hand aus der Tasche und schob, wie vorhin, gleichzeitig mit einem Ruck seines hübschen, kleinen Kopfes die blonde, lockige Strähne zurück. Die Menge hielt den Atem an. Er beendete seine Bewegung, indem er sein Haar nach hinten zu, bis zum Nacken glättete, und durch diese Bewegung finde ich ein seltsames Gefühl wieder: wenn man bei einer durch den Ruhm entmenschlichten Persönlichkeit eine vertraute Bewegung, einen gewöhnlichen Zug entdeckt (denn das ist es: mit einer plötzlichen Kopfbewegung eine Haarlocke verjagen), der die versteinerte Kruste zerbricht, und durch den Spalt — bezaubernd wie ein Lächeln oder ein Versehen — eine Ecke des Himmels sichtbar wird. Ich bemerkte bei einem der tausend Vorläufer Notre-Dame’s, einem Verkündigungsengel dieser Jungfrau, einem blonden, jungen Burschen („Mägde so blond wie Burschen“. . . Ich werde entschieden dieses Satzes nicht müde, der die Verführungskraft des Ausdrucks „ein französischer Gardist“ besitzt), den ich in einer Gymnastikgruppe zu beobachten pflegte. Er war abhängig von den Figuren, zu deren Darstellung er diente, und insofern war er nur ein Zeichen. Aber jedesmal, wenn er ein Knie auf die Erde setzen und, wie ein Ritter bei der Salbung, seine Arme dem Befehl entsprechend ausstrecken mußte, fiel sein Haar über seine Augen und er zerbrach die Harmonie der Gymnastikfigur, indem er es gegen seine Schläfen und dann hinter seine kleinen Ohren zurückstrich; er tat es mit einer Bewegung, die seine zwei Hände eine Kurve zeichnen ließ, und einen Augenblick lang umschlos-
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sen die Hände seinen länglichen Schädel und preßten ihn zwischen sich wie ein Diadem. Es wäre die Bewegung einer Nonne gewesen, die ihren Schleier zur Seite schiebt, wenn er nicht gleichzeitig seinen Kopf bewegt hätte, wie ein Vogel, der sich nach dem Trinken schüttelt. Es war die gleiche Entdeckung des Menschen in einem Gott, die eines Tages Culafroy veranlaßte, Alberto zu lieben wegen seiner Feigheit. Alberto wurde das linke Auge ausgerissen. In einem Dorf ist ein solches Ereignis keine kleine Angelegenheit; schließlich, nachdem ein Gedicht daraus entstanden war (oder eine Fabel — eine Erneuerung des Wunders der Anna von Boleyn: aus dem rauchenden Blut springt ein Strauch vielleicht weißer, ganz gewiß aber duftender Rosen hervor), mußte man aussieben, um die zerstreut unter dem Marmor ruhende Wahrheit bloßzulegen. Dort sah man dann, daß Alberto einen Streit mit seinem Rivalen wegen seines Mädchens nicht hatte vermeiden können. Er war feige gewesen, wie immer, so wie ihn das ganze Dorf kannte, und das sicherte dem anderen den raschen Sieg. Mit einem Messerstich hatte er ihm das Auge ausgestochen. Die ganze Liebe Culafroys blähte sich auf, wenn man so sagen kann, als er von dem Vorgang hörte. Er blähte sich auf vor Schmerz, Heroismus und mütterlicher Zärtlichkeit. Er liebte Alberto wegen seiner Feigheit. Diesem ungeheuerlichen Laster gegenüber waren die anderen blaß und ungefährlich und konnten durch jede beliebige andere Tugend ausgeglichen werden — besonders durch die schönste. Ich verwende das gemeine Wort in seinem gemeinen Sinn, der so gut zu ihm paßt, weil er den fleischlichen Kräften gegenüber am weitesten aufgeschlossen ist: die Tapferkeit. Man kann von einem im Laster erstickenden Manne sagen, daß nicht alles verloren ist, solange er„dieses eine“ nicht besitzt. Alberto aber hatte eben „dieses eine“. Es war also gleichgültig, ob er alle anderen Tugenden hatte; seine Unwürdigkeit wäre nicht größer gewesen. Alles ist noch nicht verloren, solange noch etwas Herz übrigbleibt — aber an Herz hatte es Alberto gerade gefehlt. Dieses Laster zu beseitigen — indem
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man sein Vorhandensein einfach leugnete — daran war nicht zu denken; leicht war es dagegen, seine erniedrigende Wirkung zu zerstören, indem man Alberto für seine Feigheit liebte. Seine Erniedrigung war gewiß, und wenn sie Alberto auch nicht verschönte, so machte sie ihn doch zu einer dichterischen Gestalt. Vielleicht war es ihretwegen, daß Culafroy sich ihm näherte. Der Mut Albertos hätte ihn weder überrascht noch gleichgültig gelassen, nun aber entdeckte er an dieser Stelle einen anderen Alberto, mehr Mensch als Gott. Er entdeckte das Fleisch. Die Statue weinte. Hier kann das Wort „Feigheit“ nicht mehr den moralischen — oder unmoralischen — Sinn haben, den man ihm gewöhnlich beilegt, und der Geschmack Culafroys an einem jungen, schönen, kräftigen und feigen Mann ist kein Fehl, keine Verirrung. Culafroy sah jetzt Alberto zusammengebrochen, mit einem Dolch, der senkrecht im Auge steckte. Würde er daran sterben? Dieser Gedanke veranlaßte ihn, an die dekorative Rolle der Witwen zu denken, die lange Trauerflore hinter sich herziehen und die sich mit kleinen, weißen, kugeligen, gepreßten und wie Schneebälle gekneteten Taschentüchern die Augen betupfen. Er dachte nur noch an die Beobachtung der äußeren Kennzeichen seines Schmerzes; da er ihn aber in den Augen der Leute nicht fühlbar machen konnte, mußte er ihn nach Innen verlegen, so wie die Heilige Katharina von Siena ihre Zelle in ihrem Innern trug. Den Bauern bot sich das Schauspiel eines Kindes, das hinter sich ein zeremonielles Trauergewand herzog; aber sie erkannten es nicht. Sie verstanden weder den Sinn, der in der Langsamkeit seines Ganges lag, in der Neigung seiner Stirn, noch die Unbestimmtheit seines Blicks. Für sie waren das alles nur Posen, diktiert von dem Hochmut, das Kind des Schieferhauses zu sein. Man brachte Alberto ins Krankenhaus, wo er starb: der böse Geist war aus dem Dorf vertrieben. Notre-Dame-des-Fleurs. Sein Mund war leicht geöffnet. Manchmal senkten sich seine Augen auf seine Füße, von denen die Menge hoffte, sie steckten in Bortenpantoffeln. Aus völlig unerfindlichen
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Gründen erwartete man, von ihm eine Tänzerbewegung zu sehen. Die Gerichtsdiener hörten nicht auf, die Akten hin- und herzuschieben. Der kleine, geschmeidige Tod auf dem Tisch rührte sich nicht und schien wirklich tot zu sein. Die Bajonette und die Hacken funkelten. „Das Gericht!“ Das Gericht betrat den Saal durch eine verborgene Tür, die in die Tapetenwand hinter dem Tisch der Geschworenen eingelassen war. Notre-Dame jedoch, der im Gefängnis vom Gepränge des Gerichts reden gehört hatte, stellte sich vor, es werde heute infolge einer Art grandiosen Versehens durch die beiden weit geöffneten Flügel des großen, für das Publikum bestimmten Portals eintreten, ganz so, wie am Palmsonntag die Geistlichkeit, die gewöhnlich aus der Sakristei durch eine an der Seite des Chors angebrachte Tür tritt, die Gläubigen überrascht, indem sie plötzlich in ihrem Rücken erscheint. Das Gericht trat mit der gelassenen Majestät von Fürsten durch eine Hintertür in den Saal. Notre-Dame ahnte im voraus, daß die ganze Sitzung ein abgekartertes Spiel sein und daß man ihm am Ende dieses Abends den Kopf mit Hilfe geschickt aufgestellter Spiegel abschlagen würde. Einer der Wachleute schüttelte ihn am Arm und sagte: „Steh auf!“ Er hatte sagen wollen: „Stehen Sie auf“, aber er hatte nicht den Mut dazu. Der Saal stand, schweigend. Er setzte sich wieder unter Getöse. Monsieur Vase de Sainte-Marie trug ein Monokel. Er warf einen verstohlenen Blick auf die Krawatte und begann mit Hilfe beider Hände in den Akten zu wühlen. Die Akten waren mit Einzelheiten vollgestopft so wie das Büro des Untersuchungsrichters mit Akten vollgestoft war. Der Staatsanwalt saß Notre-Dame gegenüber und rührte sich nicht. Er fühlte, daß ein einziges Wort aus seinem Mund, eine zu alltägliche Geste genügte, ihn in den Advokaten des Teufels zu verwandeln und die Heiligsprechung des Mörders zu rechtfertigen. Dieser Augenblick war schwierig durch-
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zustehen; er lief Gefahr, sein Ansehen zu verlieren. Notre-Dame hatte sich gesetzt. Eine leichte Bewegung der feinen Hand des Präsidenten Vase de Sainte-Marie ließ ihn aufstehen. Das Verhör begann: „Sie heißen Adrien Baillon?“ „Ja, Herr Präsident.“ „Geboren am 19. Dezember 1920?“ „Ja, Herr Präsident.“ „In ...“ „In Paris.“ „Ja. In welchem Bezirk?“ „Im Achtzehnten, Herr Präsident.“ „Ja. Äh. . . Ihr. . . Milieu hat Ihnen einen Spitznamen gegeben. . .“ (Er zögerte, dann:) „Wollen Sie ihn dem Gericht mitteilen.“ Der Mörder antwortete nicht, aber der Name, ohne daß er ausgesprochen worden wäre, entsprang geflügelt dem Kopf, dem Geist der Menge. Er schwebte über dem Saal, unsichtbar, duftend, verborgen und geheimnisvoll. Der Präsident antwortete mit lauter Stimme. „Ja, ganz recht. Und Sie sind der Sohn von . . .?“ „Lucie Baillon.“ „Vater unbekannt. Ja. Die Anklage . . .“ (Hier nahmen die Geschworenen — es waren zwölf — eine bequeme Haltung ein, die jedem von ihnen im besonderen entsprach, weil sie einem gewissen Hang entgegenkam, allen aber die Wahrung ihrer Würde gestattete. Notre-Dame stand noch immer, die Arme hingen an seinem Körper herab wie die jenes gelangweilten und entzückten Königs, der auf den Treppenstufen seines Königlichen Palastes einer Militärparade beiwohnt.) Der Präsident fuhr fort: „. . . in der Nacht vom 7. zum S.Juli 1937, ohne daß Spuren eines Einbruchs feststellbar wären, eingedrungen in die im vierten Stock
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des Mietshauses Rue de Vaugirard Nummer 12 gelegene Wohnung des Herrn Ragon Paul, 67 Jahre alt.“ Er hob den Kopf und blickte Notre-Dame an: „Geben Sie diese Tatsachen zu?“ „Ja, Herr Präsident.“ „In der Untersuchung wird erwähnt, daß Herr Ragon selbst die Tür geöffnet hat. Wenigstens haben Sie das erklärt, ohne es beweisen zu können. Sie bleiben bei Ihrer Aussage?“ „Ja, Herr Präsident.“ „Im Folgenden soll Herr Ragon, der Sie kannte, über Ihren Besuch erfreut gewesen sein und Ihnen Likör angeboten haben. Dann, ohne daß er darauf gefaßt war, haben Sie ihn mit Hilfe . . . (er zögerte) . . . dieser Krawatte erwürgt.“ Der Präsident nahm die Krawatte. „Geben Sie zu, daß die Krawatte Ihnen gehört und bei der Ausübung des Verbrechens als Werkzeug diente?“ „Ja, Herr Präsident.“ Der Präsident hielt die weiche Krawatte zwischen den Fingern; es war eine Krawatte wie eine Geistererscheinung, eine Krawatte, die man ansehen mußte, solange noch Zeit dazu war; denn sie könnte verschwinden, von einer Sekunde zur anderen, oder sich steif aufrichten in der trockenen Hand des Präsidenten; der Präsident fühlte, daß er sich lächerlich machen würde, wenn sich ihre Erektion oder ihr Verschwinden verwirklichte. Er beeilte sich also, das Werkzeug des Verbrechens dem ersten Geschworenen zu reichen, der sie an seinen Nachbarn weitergab, und immer so weiter, ohne daß jemand gewagt hätte, bei ihrer Betrachtung zu verweilen, denn es schien die Gefahr zu bestehen, daß sie sich vor ihren eigenen Augen in eine spanische Tänzerin verwandeln würde. Aber die Vorsicht dieser Herrschaften war eitel, und wenn sie es auch nicht selbst bemerkten, so wurden sie durch die Krawatte in Wirklichkeit doch etwas verändert. Die verschämten Gebärden der Geschworenen schienen im Einverständnis mit dem Schicksal zu sein, das die Ermordung des
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Alten gelenkt hatte; der Mörder verhielt sich regungslos wie ein Medium, das befragt wird; er war eigentlich abwesend in dieser Regungslosigkeit, und all dies, und der Ort dieser Abwesenheit, verdunkelten den Saal, in dem die Augen der Menge klar sehen wollten. Der Präsident redete und redete. Er war jetzt bei Folgendem angelangt: „Und wer weckte in Ihnen den Gedanken, eine solche Mordtat zu wählen?“ „Er.“ Jeder verstand, daß „er“ der tote Alte war, der jetzt wieder eine Rolle spielt, er, verscharrt, verspeist von Würmern und Larven. „Der Ermordete!“ Der Präsident fing an, schrecklich zu schreien. „Der Ermordete selbst ist es, der Ihnen gezeigt hat, wie man ihn umbringen muß? Was soll das heißen? Erklären Sie das.“ Notre-Dame schien gehemmt. Eine zarte Scham hinderte ihn am Sprechen. Seine Schüchternheit ebenfalls. „Ja. Nämlich . . . “ sagte er „. . . Monsieur Ragon hatte eine Krawatte, die ihm den Hals einzwängte. Er war ganz rot. Und dann hat er sie abgenommen.“ Und der Mörder, ganz leise, so als gäbe er seine Einwilligung zu einem schimpflichen Handel oder einer barmherzigen Tat, gestand: „Und da hab’ ich gedacht, wenn ich zuziehe, wird’s schlimmer sein für ihn.“ Und noch etwas leiser, eben gerade für die Bewacher und den Präsidenten (für die Menge war es verloren): „Ich hab’ nämlich kräftige Arme.“ Der Präsident senkte niedergeschlagen den Kopf: „Unglücklicher!“ sagte er. „Und warum?“ „Ich war märchenhaft blank.“ Da man das Wort „märchenhaft“ gebraucht, um ein Vermögen zu bezeichnen, schien es nicht unmöglich, es auch auf die Not anzuwenden. Durch dieses märchenhaft Blanksein wurde Notre-Dame
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auf einen Wolkensockel gehoben: er war ebenso wunderbar glorreich wie der Körper Christi, der sich erhob, um allein, unbeweglich zu verweilen im sonnigen Mittagshimmel. Der Präsident verrenkte seine schönen Hände. Die Menge verrenkte ihre Gesichter. Die Schreiber zerknüllten Kohlepapierblätter. Die Rechtsanwälte hatten plötzlich das Auge von weissagenden Hühnern. Die Wärter zelebrierten. Die Poesie knetete ihren Stoff. Nur Notre-Dame war allein und bewahrte seine Würde, das heißt: er gehörte noch einer primitiven Mythologie an und wußte nichts von seiner Göttlichkeit und seiner Vergötterung. Der Rest der Welt wußte nicht, was denken,, und machte übermenschliche Anstrengungen, um nicht vom Ufer abgetrieben zu werden. Die Hände mit den entwurzelten Fingernägeln klammerten sich an jede Planke, die sich ihnen gerade zur Rettung bot: die Beine überkreuzen oder entkreuzen, einen Fleck auf dem Rock anstarren, an die Familie des Erwürgten denken, in den Zähnen stochern. „Nun, erklären Sie dem Gericht, wie Sie vorgegangen sind.“ Es war grausam. Notre-Dame mußte erklären. Die Polizisten hatten Einzelheiten verlangt, der Untersuchungsrichter ebenfalls, jetzt war das Gericht an der Reihe. Notre-Dame schämte sich, nicht seiner Tat (das war unmöglich), sondern weil er diesselbe zu oft wiederkäuen mußte. Er hatte den kühnen Gedanken, eine neue Version zu geben, so sehr war er es müde, seinen Bericht mit den Worten zu schließen: „Bis er nich’ mehr konnte.“ Er beschloß, etwas anderes zu erzählen. Aber gleichzeitig sagte er genau diesselbe Geschichte her, die er mit denselben Worten den Polizisten, dem Richter, dem Rechtsanwalt und den Psychiatern erzählt hatte. Denn für Notre-Dame ist eine Gebärde ein Gedicht, ausdrückbar nur mit Hilfe eines Symbols, das immer, immer das gleiche ist. Und von seinen zwei Jahre alten Taten blieb ihm nichts, als der schmucklose Bericht. Er las erneut sein Verbrechen, so wie man eine Chronik liest, aber in Wirklichkeit war es nicht mehr das Verbrechen, von dem er sprach. Unterdessen arbeitete die Uhr, die ihm gegenüber an der Wand hing, methodisch weiter;
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aber die Zeit war in Unordnung geraten, so daß sie in jeder Sekunde lange und kurze Zeiträume taktierte. Von den zwölf ehrenwerten Greisen des Schwurgerichts trugen vier Augengläser. Diese waren von der Gemeinschaft mit dem Saal durch das schlecht leitende, isolierende Glas abgeschnitten und verfolgten auf eigene Faust andere Abenteuer. Tatsächlich schien sich keiner von ihnen für diese Mordtat zu interessieren. Einer der Greise strich fortwährend seinen Bart; er war der einzige, der aufmerksam schien, aber wenn man ihn genauer betrachtete, so sah man, daß seine Augen hohl waren wie die von Standbildern. Ein anderer war aus Stoff. Wieder ein anderer zeichnete Kreise und Sterne auf das grüne Tischtuch; im Alltag war er Maler, und sein Humor ging manchmal so weit, daß er buntbemalte kleine Zier-Spatzen auf der Vogelscheuche im Garten anbrachte. Wieder ein anderer spuckte alle seine Zähne in ein blaßblaues — französisch blaues — Taschentuch. Sie erhoben sich und folgten dem Präsidenten hinter die kleine Tapetentür. Die Beratung ist ebenso geheim wie die Wahl eines Anführers vermummter Räuber, oder wie die Hinrichtung eines Verräters in einer Bruderschaft. Die Menge erleichterte sich durch Gähnen, Strecken und Rülpsen. Der Rechtsanwalt Notre-Dame’s verließ seine Bank und näherte sich seinem Klienten: „Nur Mut, Kleiner, nur Mut“ sagte er, indem er ihm die Hände drückte. „Sie haben gut geantwortet, Sie waren offen und ich glaube, die Geschworenen sind für uns.“ Während er sprach, drückte er Notre-Dame’s Hände, hielt ihn fest oder hielt sich fest an ihm. Notre-Dame lächelte. Es war ein Lächeln, das genügte, um seine Richter zu verdammen. Ein Lächeln so voll Azur, daß selbst die Wachleute das Dasein Gottes und der großen Prinzipien der Geometrie spürten. Denkt an das Quaken der Kröte im Mondschein: es ist so rein, des Nachts, daß der Landstreicher auf der Straße stehen bleibt und nicht eher weitergeht, bis er es erneut gehört hat. „Kapieren Sie?“ fragte er augenzwinkernd.
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„Ja, ja, es geht“, sagte der Rechtsanwalt. Die Ehreneskorte präsentierte die Waffen, und das entschleierte Gericht trat aus der Wand. Monsieur Vase de Samt-Marie setzte sich schweigend, nach ihm setzten sich alle anderen mit lautem Getöse. Der Präsident nahm seinen Kopf zwischen seine schönen, weißen Hände und sagte: „Wir werden die Zeugen rufen lassen. Ach ja. Zuerst schauen wir uns den Polizeibericht an. Sind die Inspektoren da?“ Es ist ungewöhnlich, daß der Präsident eines Schwurgerichts aus Zerstreutheit etwas so schwerwiegendes vergißt. Sein Versehen entrüstete Notre-Dame, wie ihn ein Rechtschreibungsfehler (wäre er mit der Rechtschreibung vertraut gewesen) in der Gefängnisordnung entrüstet hätte. Ein Gerichtsdiener ließ die zwei Kriminalbeamten, die Notre-Dame festgenommen hatten, eintreten. Derjenige, der früher die zwei Jahre alte Untersuchung geleitet hatte, war gestorben. Sie gaben einen knappen Bericht der Tatsachen: eine unglaubliche Geschichte, in der ein simulierter Mord zur Entdeckung eines echten Mordes führte. Diese Entdeckung ist doch ganz unmöglich; ich träume. „Für ein Nichts!“ Aber im ganzen finde ich mich etwas besser mit dieser drolligen Entdeckung ab, die zum Tod führt, seit mir der Aufseher das Manuskript weggennommen hat, das ich während des Spazierganges bei mir trug. Ich habe das Gefühl der Katastrophe; dann aber wage ich nicht zu glauben, daß eine solche Katastrophe sich aus einer so winzigen Unvorsichtigkeit logisch entwickeln kann. Und dann denke ich wieder daran, daß die Verbrecher ihren Kopf verlieren wegen einer Unvorsichtigkeit, die so winzig ist, so winzig, daß man das Recht haben müßte, sie auszubessern, indem man noch einmal von vorne beginnt, und daß der Richter damit einverstanden wäre, wenn man ihn darum bitten würde, aber daß man das nicht kann — so unschuldig ist sie. Trotz ihrer Bildung, die sie kartesianisch nennen, werden sich die Geschworenen einige Stunden später vergeblich bemühen, herauszufinden, ob sie Notre-Dame zum Tode verurteilen, weil er eine Puppe erwürgte, oder weil er ein kleines, altes
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Männchen in Stücke schnitt. Die Kriminalbeamten, Anstifter zum Anarchismus, zogen sich zurück, indem sie vor dem Präsidenten eine hübsche Verbeugung machten. Draußen fiel Schnee. Man erriet es an der Bewegung der Hände im Saal, die den Kragen der Überzieher aufstellten. Der Himmel war bedeckt. Der Tod näherte sich verstohlen auf dem Schnee. Ein Gerichtsdiener rief die Zeugen. Sie warteten in einem kleinen Zimmer, das sich seitlich am Saal entlang erstreckte und dessen Tür sich gegenüber dem Verschlag des Angeklagten öffnete. Jedesmal wurde die Tür einen Spalt geöffnet, eben genug, um sie seitlich hindurchschlüpfen zu lassen; einen nach dem anderen, Tropfen für Tropfen, entließ man sie in den Prozeß. Sie gingen bis zur Barriere, wo sie die rechte Hand hoben und „ich schwöre“ antworteten auf eine Frage, die niemand stellte. NotreDame sah Mimosa II eintreten, obwohl der Gerichtsdiener gerufen hatte: „Hirsch, Rene.“ Dann, bei dem Ruf „Berthollet, Antoine“ erschien Erstkommunion, und bei dem Ruf „Marceau, Eugene“ kam Taubenapfel. So verloren in den Augen des verstörten Notre-Dame die kleinen Tunten zwischen der Place Blanche und der Place Pigalle ihren schönsten Schmuck: ihre Namen, sie verloren ihre Blütenkrone, so wie die Papierblume, die der Tänzer in den Fingerspitzen hält, am Ende des Balletts nur noch ein Stiel aus Eisendraht ist. Wäre es nicht besser gewesen, er hätte den ganzen Tanz nur mit einem Stück Eisendraht getanzt? Die Frage ist wert, geprüft zu werden. Die Tunten zeigten sich als das bloße Gerippe, das Mignon unter der Seide und dem Samt jedes Sessels unterschied. Sie hatten sich in Nichtigkeit auf gelöst, und das ist noch das beste, was man bisher gemacht hat. Sie kamen herausfordernd oder schüchtern, parfümiert und geschminkt und drückten sich gewählt aus. Sie waren nicht mehr der Strauch aus Kreppapier, der auf den Kaffeehausterrassen blühte. Sie waren buntgeschecktes Elend. (Woher kamen die Kriegsnamen der Tunten? Zunächst ist zu bemerken, daß keiner von ihnen von denen gewählt wurde, die ihn trugen. Das gilt jedoch nicht für mich. Es ist mir kaum möglich, die Gründe anzugeben, die mich zur Wahl dieser oder
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jener Namen veranlaßten: Divine, Erstkommunion, Mimosa, NotreDame-des-Fleurs, Prinz-Monseigneur sind mir nicht zufällig eingefallen. Zwischen ihnen besteht eine Verwandtschaft, ein Duft von Weihrauch und schmelzenden Kerzen, und ich habe manchmal den Eindruck, sie unter den künstlichen oder natürlichen Blumen in der Kapelle der Jungfrau Maria aufgelesen zu haben, im Monat Mai, unter und neben jener Statue aus gefräßigem Gips, in die Alberto verliebt war und hinter der ich als Kind die Phiole mit meinem Samen verbarg). Einige sprachen Worte, die scheußlich klangen in ihrer Genauigkeit, wie: „Er wohnte rue Berthe Nummer 8“ oder: „Ich habe ihn am 17. Oktober zum letztenmal getroffen. Bei Graff.“ Ein aufgerichteter kleiner Finger, als ob Daumen und Zeigefinger die Teetasse hielten, störte den Ernst der Sitzung, und durch diesen verirrten Strohhalm wurde die Tragik der Handlung sichtbar. Der Gerichtsdiener rief: „Monsieur Culafroy, Louis.“ Gestützt von der hochaufgerichteten, schwarzgekleideten Ernestine, der einzigen wirklichen Frau, die man während des Prozesses sehen konnte, trat Divine ein. Was von seiner Schönheit übrigblieb, stürzte in heilloser Flucht davon. Die Schatten und Linien verließen ihren Posten: das war der Zusammenbruch. Sein schönes Antlitz stieß herzzerreißende Hilferufe aus; Schreie, tragisch wie der Schrei einer Toten. Divine trug einen großen Mantel aus Kamelhaar, braun und seidig. Auch sie sagte: „Ich schwöre.“ „Was wissen Sie von dem Angeklagten?“ sagte der Präsident. „Ich habe ihn lange Zeit gekannt, Herr Präsident, aber ich kann trotzdem sagen, daß ich ihn für sehr naiv, für sehr kindlich halte. Er hat sich mir stets nur von der liebenswürdigsten Seite gezeigt. Er könnte mein Sohn sein.“ Sie sagte außerdem — mit viel Takt — wie sie so lange zusammen gelebt hatten. Von Mignon war nicht die Rede. Divine war endlich die große Persönlichkeit, die zu sein man ihr überall sonst verwehrte. Da ist er nun also wieder, der Zeuge, endlich aus dem Kind
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Culafroy herausgekrochen, das er immer gewesen war! Wenn er niemals etwas Einfaches zuwege gebracht hat, so deswegen, weil es einigen Greisen vorbehalten ist, einfach zu sein, das heißt, rein zu sein, geläutert, vereinfacht wie ein Aufriß, was vielleicht jenen Zustand bezeichnet, von dem Jesus sagte: „ ... wie die kleinen Kinder“; aber kein Kind hat das, was noch nicht einmal die ausdorrende Arbeit eines ganzen Lebens erreicht. Er tat nichts Einfaches, nicht einmal das Lächeln war einfach, das er zu seiner Belustigung aus dem rechten Mundwinkel schickte oder mit zusammengepreßten Zähnen über sein ganzes Gesicht ausbreitete. Die Größe eines Menschen ist nicht nur die Wirkung seiner Fähigkeiten, seiner Geisteskräfte, seiner wie auch immer beschaffenen Talente: sie entsteht ebenfalls aus den Umständen, die ihn gewählt haben, damit er ihnen als Stütze diene. Ein Mensch ist groß, wenn er ein großes Schicksal hat; aber diese Größe ist von der Art sichtbarer, meßbarer Größen. Sie ist die Herrlichkeit, von außen gesehen, und das Elend, vielleicht von innen gesehen, und dann also wäre die Größe poetisch, sofern Ihr zugebt, daß Poesie der Bruch (oder vielmehr: die Begegnung am Bruchpunkt) zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren ist. Culafroy hatte ein elendes Schicksal, und das ist der Grund, weswegen sein Leben aus jenen geheimen Handlungen zusammengesetzt war, von denen jede ihrem Wesen nach ein Gedicht ist, so wie die winzigste Fingerbewegung der Tänzerin von Bali ein Zeichen ist, das eine Welt erschüttern kann, weil sie aus einer Welt kommt, deren vielfältiger Sinn nicht eingestanden werden darf. Culafroy wurde Divine; er war also ein nur für ihn selbst geschriebenes Gedicht, unzugänglich für jeden, der nicht seinen Schlüssel besitzt. Kurz, das ist sein geheimer Ruhm, und er ist dem Ruhm ähnlich, den ich mir selbst zuerkannte, um endlich Frieden zu haben. Und er wird mir zuteil, denn eine Handleserin in einer Jahrmarktsbude hat mir versichert, daß ich eines Tages berühmt sein werde. Was für eine Berühmtheit wird das sein? Ich zittere, wenn ich daran denke. Aber diese Weissagung genügt, um ein altes Bedürfnis von
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mir zu befriedigen, das darin besteht, mich selbst für ein Genie zu halten. Ich trage den Satz der Wahrsagerin in mir wie etwas Kostbares: „Eines Tages wirst Du berühmt sein.“ Ich lebe mit ihm im Verborgenen, wie die Familien, abends, unter der Lampe: immer mit einer strahlenden Erinnerung an ihren hingerichteten Verwandten, wenn sie einen solchen haben. Der Ruhm leuchtet und erschreckt mich. Diese Berühmtheit, als reine Möglichkeit, adelt mich wie eine Pergamentrolle, die niemand zu entziffern weiß, wie eine geheimgehaltene, erlauchte Geburt, wie der Bastardbalken auf dem königlichenWappen, wie eine Maske oder vielleicht eine göttliche Abstammung, etwas von dem vielleicht, was Josephine empfunden hat, die nie vergaß, daß sie das Kind geboren hatte, das die hübscheste Frau des Dorfes werden sollte, — Maria nämlich, die Mutter von Solange, die in der Hütte geborene Göttin, die auf ihrem Körper mehr Wappen trug als Mimosa auf seinenHinterbacken und in seinen Gebärden,-die adliger war als ein Chambure. Diese Art Weihe hatte die anderen Frauen ihres Alters (die anderen, die Mütter von Männern) von Josephine ferngehalten. Im Dorf war ihre Lage ähnlich derjenigen der Mutter Jesu in dem galiläischen Dorf. Marias Schönheit war eine Auszeichnung für den Marktflecken. Die Lage, in der sich die Mutter einer Gottheit befindet, ist verwirrender, als diejenige der Gottheit selbst. Unvergleichliche Gefühle müssen die Mutter Jesu bewegt haben, als sie ihren Sohn trug, und wie er dann lebte, als sie neben einem Sohn schlief, der Gott war — das heißt alles, sogar sie selbst — der veranlassen konnte, daß es keine Welt gebe, daß seine Mutter, daß er selbst nicht seien, ein Gott, für den man dennoch — so wie Josephine für Marie — die gelbe Brühe aus Mais zubereiten mußte. Nicht, als hätte Culafroy als Kind und als Divine ein außergewöhliches Feingefühl besessen; aber Umstände von außergewöhnlicher Seltsamkeit hatten sich für ihn als auserwählten Ort entschieden; ohne ihm davon Mitteilung zu machen, hatten sie ihn mit einem geheimnisvollen Text geschmückt. Er diente einem Gedicht nach den Launen eines Reimes ohne Reim und Vernunft. Später erst, in der
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Stunde seines Todes, konnte er in einem einzigen überwältigenden Augenaufschlag das Leben lesen, das er mit blinden Augen auf sein Fleisch geschrieben hatte. Und jetzt verläßt Divine ihr inneres Schauspiel, diesen tragischen Kern, den sie in sich trägt, und zum erstenmal in ihrem Leben wird sie in der menschlichen Parade ernst genommen. Der Staatsanwalt brachte die Parade zum Stehen. Die Zeugen waren wieder aus dem Türspalt herausgetreten. Da jeder nur eine Sekunde erschienen war, verbrannten sie im Vorübergehen: das Unbekannte brachte sie zum Verschwinden. Die wirklichen Mittelpunkte des Lebens waren jener Zeugensaal — Gerichtshof der Wunder — und das Beratungszimmer. Denn mit allen Einzelheiten wurde das Zimmer, in dem das gemeine Verbrechen stattgefunden hatte, rekonstruiert. Erstaunlich: die Krawatte lag noch da, hingekauert auf den grünen Tisch, blasser als gewöhnlich, weich, aber bereit, aufzustürzen, so wie sich ein schlapper Rowdy auf die Bank der Polizeiwache stürzen würde. Die Menge war unruhig wie ein Hund. Man verkündete, daß der Tod wegen einer Entgleisung Verspätung haben werde. Es war plötzlich dunkel. Schließlich ließ der Präsident den Experten für Geisteskrankheiten aufrufen. Er kam wirklich und wahrhaftig aus der unsichtbaren Falltür einer unsichtbaren Schachtel zum Vorschein. Er saß mitten im Publikum, das davon nichts geahnt hatte. Er erhob sich und trat an die Barriere. Er las den Geschworenen seinen Rapport vor. Von diesem geflügelten Bericht fielen Worte zur Erde wie: „Desäquilibriert... Psychopathie... Fabulist... Splanchnisches System... Schizophrenie... desäquilibriert... desäquilibriert, desäquilibriert, desäquilibriert . . . Äquilibrist“, und plötzlich packend, blutig: „Der Nervus sympathicus“. Er hörte nicht mehr auf: „... Desäquilibriert... halb zurechnungsfähig... Sekretion... Freud... Jung... Adler... Sekretion...“ Aber die heimtückische Stimme streichelte gewisse Silben, und die Gebärden des Mannes kämpften gegen Widersacher: „Vater, hütet Euch zur Linken, zur Rechten“; gewisse Worte in der heimtückischen Stimme sprangen schließlich zurück. Man verstand folgendes: „Was ist ein Übeltäter?
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Eine Krawatte, die im Mondschein tanzt, eine epileptische Decke, eine Treppe, die bäuchlings aufsteigt, ein Dolch, der seit Beginn der Welt vorwärtsschreitet, eine verwirrte Giftphiole, behandschuhte Hände in der Nacht, der blaue Kragen eines Matrosen, eine offene Erbschaft, eine Folge einfacher und harmloser Gebärden, ein lautloser Riegel.“ Der große Psychiater las schließlich seine Zusammenfassung: „Daß er (Notre-Dame-des-Fleurs) psychisch desäquilibriert, gefühllos, amoralisch ist. Dennoch, in jeder verbrecherischen Tat, wie in jeder Tat überhaupt, hat der freie Wille seinen Anteil, der nicht auf die irritierende Kompliziertheit der Umstände zurückgeführt werden kann. Baillon ist also teilweise verantwortlich für seinen Mord.“ Der Schnee fiel. Alles um den Saal herum war Schweigen. Der Schwurgerichtshof war in den Raum entlassen, völlig allein. Er gehorchte bereits nicht mehr den Gesetzen der Erde. Zwischen den Sternen und Planeten hindurch entfloh er pfeilschnell. Hoch in der Luft war er das Steinhaus der Heiligen Jungfrau. Die Reisenden erwarteten keine Rettung mehr von außen. Die Ankertaue waren durchgeschnitten. In diesem Augenblick hätte der bestürzte Teil des Saales (die Menge, die Geschworenen, die Rechtsanwälte, die Wächter) auf die Knie sinken und Kantaten anstimmen müssen, während der andere Teil (Notre-Dame), befreit vom Gewicht seiner fleischlichen Werke (denn die Tötung ist ein fleischliches Werk), wenn er aus sich selbst zu einem Duo geworden wäre, das Duett gesungen hätte: „Das Leben ist ein Traum . . . ein zauberhafter Traum ...“ Aber die Menge hat keinen Sinn für Größe. Sie gehorchte nicht dieser dramatischen Einladung, und nichts war weniger ernst zu nehmen als das, was nun folgte. Notre-Dame selbst fühlte seinen Hochmut erschlaffen. Er sah den Präsidenten Vase de Sainte-Marie zum ersten Mal mit den Augen eines Mannes an. Es ist so süß, zu lieben, und er konnte nicht verhindern, daß er sich in süße, vertrauende Zärtlichkeit für den Präsidenten auflöste. „Er ist vielleicht gar nicht gemein!“ dachte er. Sofort brach seine süße Unempfindlich-
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keit in sich zusammen, und die Erleichterung, die er verspürte, war ähnlich dem Urin, den der Penis nach einer Nacht der Verhaltung entläßt. Erinnert Euch, daß Mignon nach seinem Erwachen sein irdisches Dasein erst entdeckte, nachdem er gepißt hatte. NotreDame liebte seinen Henker, seinen ersten Henker. Und es war schon eine Art schwebender, verfrühter Verzeihung, die er dem eisigen Monokel, den metallenen Haaren, dem irdenen Mund, dem künftigen Urteil gewährte, das auf Grund furchtbarer Schriften ausgesprochen werden würde. Was ist das in Wirklichkeit, ein Henker? Ein Kind, das sich als Parze verkleidet, ein Unschuldiger, den die Pracht seiner Purpurhülle vereinsamt, ein Armer, ein Bedürftiger. Die Kronleuchter und Kandelaber wurden angezündet. Die Staatsanwaltschaft ergriff das Wort. Gegen den jugendlichen, aus einem Block klaren Wassers gehauenen Mörder sagte er nur sehr richtige Dinge, die sich auf der gleichen Ebene bewegten, wie der Präsident und die Geschworenen. Das heißt, daß man die Rentner schützen müsse, die manchmal sehr hoch oben unter dem Dach wohnen, und daß man die Kinder umbringen müsse, die sie erwürgen... Das war vernünftig und wurde in einer sehr feinen, manchmal geradezu edlen Weise gesagt. Indem er sich selbst mit dem Kopf begleitete: „ ... Es ist bedauerlich (in Moll, dann nimmt er wieder die DurTonart auf) ... es ist bedauerlich ...“ Sein gegen den Mörder ausgestreckter Arm war obszön. „Schlagen Sie hart zu“, schrie er, „schlagen Sie hart zu.“ Wenn sie von ihm sprachen, sagten die Gefangenen: „Der Schläger.“ In dieser feierlichen Sitzung veranschaulichte er mit großer Genauigkeit ein an eine massive Tür genageltes Aushängeschild. Verloren im Dunkel der Menge dachte eine alte Marquise: „Die Republik hat schon fünf der Unseren guillotiniert . . .“, aber ihr Gedanke ging nicht tiefer. Die Krawatte lag noch immer auf dem Tisch. Die Geschworenen hörten überhaupt nicht mehr auf, ihre Furcht zu überwinden. Ungefähr in diesem Augenblick zeigte die Wanduhr auf fünf. Während der Rede des Staatsanwaltes hatte sich Notre-Dame
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gesetzt. Der Justizpalast schien ihm zwischen Mietshäusern aufgestellt, am Grunde eines dieser schachtförmigen Innenhöfe, auf die alle Küchen- und Abortfenster münden, in die sich ungekämmte Dienstmädchen beugen und lauschen und, das gespitzte Ohr in der flachen Hand, versuchen, keine der Streitereien zu überhören. Fünf Stockwerke auf vier Fronten. Die Dienstmädchen sind zahnlos und spionieren sich gegenseitig aus; wenn man das Halbdunkel der Küchen durchquert, kann man einige Goldpailletten oder etwas Samt in den geheimnisvollen, kostbaren Wohnungen erhäschen, in denen die Greise mit elfenbeinernen Köpfen ruhigen Auges die Mörder in Pantoffeln näherkommen sehen. Für Notre-Dame ist der Justizpalast auf dem Grund dieses Schachtes. Er ist klein und leicht wie der griechische Tempel, den Minerva in ihrer geöffneten Hand hält. Der Wärter, der links von ihm stand, veranlaßte ihn, aufzustehen, denn der Präsident verhörte ihn: „Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?“ Der alte Landstreicher, mit dem er in der Santé die Zelle teilte, hatte ihm einige passende Worte vorbereitet, die er dem Gericht sagen konnte. Er suchte nach ihnen und fand sie nicht. Der Satz: „Ich hab’s nicht absichtlich getan“ formte sich auf seinen Lippen. Hätte er ihn ausgesprochen, so wäre niemand darüber erstaunt gewesen. Man war auf das Schlimmste gefaßt. Alle Antworten, die ihm einfielen, kamen im Argot daher, und das Gefühl für Anstand flüsterte ihm zu, französisch zu sprechen; aber jedermann weiß, daß in den ernsten Augenblicken die Muttersprache über die anderen Sprachen den Sieg davonträgt. Um ein Haar wäre er natürlich gewesen. Aber natürlich sein, in einem solchen Augenblick, heißt theatralisch sein; seine Ungewandtheit dagegen rettete ihn vor der Lächerlichkeit und gab den Anlaß dazu, daß ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Er war wirklich groß. Er sagte: „’s war sowieso nichts mehr los mit ihm. Er konnte nicht mal mehr spannen.“ Das letzte Wort kam nicht über seine dreisten, kleinen Lippen; trotzdem hielten die zwölf Greise, ganz rasch, gemeinsam ihre beiden
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Hände vor die Ohren, um ihm den Eintritt zu verwehren — diesem Wort, so dick wie ein Organ, das, weil es keine andere Öffnung fand, ganz steif und warm in ihren riesigen Mund eindrang. Die Männlichkeit der zwölf Greise und die des Präsidenten wurde verhöhnt durch die glorreiche Schamlosigkeit des Jünglings. Alles war verändert. Diejenigen, die spanische Tänzerinnen gewesen waren, mit Kastagnetten in den Fingern, wurden wieder Geschworene; der empfindsame Maler wurde wieder Geschworener; der Greis aus Stoff wurde wieder Geschworener; der Bär ebenfalls und der, der Papst war, und der, der Vestris war. Glaubt Ihr mir nicht? Der Saal stieß einen wütenden Seufzer aus. Der Präsident machte mit seinen schönen Händen die Gebärden, die die Tragödinnen mit ihren schönen Armen machen. Drei feine Schauer liefen über seine Robe wie über einen roten Theatervorhang; es war, als hätten sich an den Robenzipfel, in der Wadengegend, die verzweifelten Krallen einer verendenden kleinen Katze festgekrallt, deren Pfotenmuskeln sich in drei kleinen Todeszuckungen verkrampften. Er forderte NotreDame nervös auf, den Anstand zu wahren, und der Vertreter der Verteidigung ergriff das Wort. Indem er unter seiner Robe kleine Schrittchen machte (er machte sie tatsächlich so, wie man kleine Winde fahren läßt), trat er an die Barriere und wandte sich an das Gericht. Das Gericht lächelte. Das heißt: sein Lächeln war von der Art, wie sie die bereits vollzogene ernste Wahl zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten dem Gesicht aufprägt; es war die königliche Strenge der Stirn, die die Grenzlinie kennt — die klar gesehen und geurteilt hat — und die verdammt. Das Gericht lächelte. Die Gesichter ruhten von der Spannung aus, das Fleisch nahm seine alte Schlaffheit wieder an; kleine Schmollmünder wagten sich hervor und zogen sich, rasch erschreckt, wieder in ihr Gehäuse zurück. Das Gericht fühlte sich wohl, sehr wohl. Der Rechtsanwalt mühte sich ab. Er sprach reichlich, seine Sätze hörten nicht mehr auf. Man spürte, daß sie sich, aus einem Blitz geboren, in Kometenschwänze auflösen mußten. Er vermengte das, was er seine Jugenderinnerungen nannte
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(die seiner eigenen Jugend, wo er selbst vom Teufel versucht worden sein wollte), mit Begriffen des reinen Rechts. Trotz einer solchen Berührung blieb das reine Recht rein und bewahrte in dem grauen Speichel seinen Glanz von hartem Kristall. Der Rechtsanwalt sprach zuerst von der Erziehung der Gosse, dem Beispiel der Straße, dem Hunger, dem Durst (mein Gott, sollte er aus dem Kind einen Pere de Foucauld, einen Michel Vieuchange machen wollen?), er sprach schließlich noch von der fast fleischlichen Versuchung des Halses, der so gebaut ist, um eingezwängt zu werden. Kurz, er war weg. NotreDame schätzte diese Beredsamkeit. Er glaubte noch nicht, was der Anwalt sagte, aber er war bereit, alles zu unternehmen, alles auf sich zu nehmen. Trotzdem, ein Gefühl des Unbehagens, dessen Sinn er erst später verstand, zeigte ihm auf dunkle Weise, daß ihn der Anwalt verdarb. Das Gericht verfluchte einen so mittelmäßigen Anwalt, der ihm nicht einmal die Befriedigung verschaffte, das Mitleid zu überwinden, das es normalerweise empfinden mußte, wenn es dem Plädoyer folgte. Was für ein Spiel spielte denn dieser schwachsinnige Anwalt? Hätte er nur ein Wort gesagt, ein kleines oder grobes Wort, so daß sich die Geschworenen wenigstens für den Raum und die Zeit eines mörderischen Blickes in den jugendlichen Leichnam verliebten, und so den erwürgten Alten rächend, sich ihrerseits als Mörder hätten fühlen können, ruhig im Warmen sitzend, und ohne Gefahr, als höchstens die kleine Ewige Verdammnis. Ihr Wohlbehagen verschwand. Mußte man etwa freisprechen, weil der Anwalt ein Klotz war? Aber hat schon jemand daran gedacht, daß das die höchste Verschlagenheit eines Dichter-Anwaltes sein könnte? Napoleon verlor Waterloo, weil Wellington einen Schnitzer begangen hatte, sagt man. Das Gericht fühlte, daß man diesen jungen Mann heilig sprechen mußte. Der Anwalt geiferte. Er sprach in diesem Augenblick von einer möglichen Umerziehung — und in dem für sie reservierten Verschlag pokerten die vier Vertreter der Jugendschutzverbände um das Schicksal der Seele von Notre-Dame-desFleurs. Der Anwalt forderte den Freispruch. Er beschwor. Man
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hörte ihn nicht mehr. Mit dem Geschick, unter lausenden von Augenblicken den Richtigen herauszufinden, um das große Wort anzubringen, sagte schließlich Notre-Dame, sanft wie immer, mit einem bekümmerten Schmollmund und ohne zu denken: „Die Korrida? Machen Sie sich keine Mühe. Da kratz’ ich lieber gleich ganz ab.“ Der Anwalt blieb völlig verdutzt; dann wurde er lebhaft, sammelte mit einem Zungenschlag seine verstreuten Geister und stotterte: „Liebes Kind, ich bitte Sie, liebes Kind! Lassen Sie mich Sie verteidigen. Meine Herren“, wandte er sich zum Gericht (er hätte es ohne Schaden wie eine Königin mit ‚Madame‘ ansprechen können), „er ist ein Kind.“ Gleichzeitig fragte der Präsident Notre-Dame: „Ich möchte doch sehr bitten, was haben Sie gesagt? Wir wollen doch nicht vorgreifen.“ Die Grausamkeit des Wortes entblößte die Richter und ließ ihnen kein anderes Gewand, als nur ihren Glanz. Die Menge räusperte sich. Der Präsident wußte nicht, daß ‚Korrida‘ im Argot die Besserungsanstalt bezeichnet. Zwischen seinen mit gelbem Leder gegürteten, gestiefelten und behelmten Bewachern saß Notre-Dame, gedrungen, plump und unbeweglich auf seiner Holzbank und spürte, daß er eine leichte Gigue tanzte. Die Verzweiflung hatte ihn durchbohrt wie ein Pfeil, wie ein Clown das Seidenpapier eines Kinderreifens; die Verzweiflung war über ihn hinausgeschritten, und ihm blieb nur dieser Riß, der ihn in weiße Lumpen hüllte. Wenn er auch nicht unberührt war, so hielt er doch durch. Die Welt war nicht länger anwesend in diesem Saal. Das war gut so. Alles muß ein Ende haben. Das Gericht kehrte zurück. Der Lärm der Kolben der Ehreneskorte gab das Zeichen. Stehend, barhäuptig verlas das Monokel das Urteil. Zum ersten Mal ließ er dem Namen Baillon ein „genannt NotreDame-des-Fleurs“ folgen. Notre-Dame wurde zum Tode verurteilt. Die Geschworenen standen. Das war die Vergöttlichung. Es ist zu Ende. Als Notre-Dame-des-Fleurs in die Hände seiner Bewacher
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zurückgegeben wurde, schien er ihnen ein heiliges Zeichen zu tragen, ähnlich, wie die antiken Sühneopfer (gleich, ob sie Bock, Ochse oder Kind waren), und mit dem noch heute die Könige und die Juden behaftet sind. Die Wärter sprachen mit ihm und bedienten ihn, als ob sie, im Bewußtsein, daß er die Sündenlast dieser Welt trage, den Segen des Erlösers auf sich ziehen wollten. Vierzig Tage danach, in einer Frühlingsnacht, wurde die Maschine im Gefängnishof aufgerichtet. Im Morgengrauen war sie bereit, zu schneiden. NotreDame-des-Fleurs wurde der Kopf abgeschnitten mit einem richtigen Messer. Und nichts geschah. Wozu auch? Es ist nicht nötig, daß der Vorhang eines Tempels von unten bis oben zerreißt, weil ein Gott seinen Geist aufgegeben hat. Das kann höchstens die schlechte Qualität des Stoffes und sein hohes Alter beweisen. Aber obwohl es sich für mich ziemt, unbeteiligt zu sein, so hätte ich doch nichts dagegen, wenn ein respektloser Schlingel den Vorhang mit dem Fuß durchlöchern würde, um im Weglaufen zu schreien: „Ein Wunder!“ Das ist schillernd und sehr geeignet, als Gerüst zu dienen für eine Legende.
Ich habe die vorhergehenden Kapitel überlesen. Sie sind jetzt vollständig abgeschlossen, und ich stelle fest, daß ich niemandem ein freudiges Lächeln gegeben habe: weder Culafroy, noch Divine, noch Ernestine, noch den andern. Ein Jüngelchen, das ich im Sprechsaal bemerkt habe, erinnert mich daran, und erinnert mich an meine Kindheit, an die Volants auf den weißen Röcken meiner Mutter. In jedem Kind, das ich sehe — aber ich sehe so wenig Kinder — versuche ich, das Kind zu finden, das ich war, es zu lieben für das, was ich war. Aber als ich zur ärztlichen Untersuchung kam und die Mindenjährigen sah, habe ich diese beiden kleinen Bälger betrachtet, und ich bin ganz aufgewühlt weggegangen, denn ich war nicht wie
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sie; als Kind war ich zu weiß, wie ein schlecht gebackenes Brot: ich liebe sie um des Mannes willen, der sie sein werden. Wie sie mit geraden Schultern und in den Hüften rollend vor mir vorbeigingen, sah ich auf ihren Schulterblättern schon den Muskelhügel, der die Wurzel ihrer Flügel bedeckte. Trotzdem möchte ich gerne glauben, daß ich diesem hier ähnlich war. Ich sehe mich in seinem Gesicht wieder, vor allem in seiner Stirn und seinen Augen, und ich war schon dabei, mich völlig wiederzuerkennen, als er — hast Du nicht gesehen — lächelte. Das war nicht mehr ich, denn in meiner Kindheit so wenig wie zu irgendeiner anderen Zeit meines Lebens konnte ich lachen oder auch nur lächeln. Ich zerfiel sozusagen über dem Lachen des Kindes vor meinen eigenen Augen zu Staub. Wie alle Kinder, Jünglinge oder reifen Männer habe ich gern gelächelt, ich habe sogar laut herausgelacht, aber in dem Maße, wie mein Leben in die Vergangenheit rückte, habe ich es dramatisiert. Ich merzte alles Schelmische, alles Leichte, alles Jungenshafte aus und behielt nur die eigentlichen Bestandteile des Dramas übrig: Furcht, Verzweiflung, unglückliche Liebe . . . und ich kann mich nur frei machen von ihnen, indem ich jene wie Sibyllengesichter verzerrten Gedichte deklamiere. Sie lassen meine Seele abgeklärt zurück. Aber wenn das Kind, in dem ich mich wiederzusehen glaube, lacht oder lächelt, so zerbricht es das Drama, das sich entwickelt hat, und das in meiner Erinnerung mein vergangenes Leben darstellt; es zerstört es, verfälscht es, und wäre es nur, weil es eine Haltung zeigt, die die Person selbst nicht haben konnte; es zerreißt die Erinnerung an ein harmonisches (wenn auch schmerzliches) Leben, nötigt mich, zuzusehen, wie ich ein anderer werde und wie sich auf das erste Drama ein zweites pfropft.
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DIVINARIANA (Fortsetzung und Schluß) Hier die letzten Divinariana. Ich habe es eilig, Divine loszuwerden. Ich schütte diese Aufzeichnungen bruchstückhaft, ungeordnet vor Euch aus, und Ihr wollt bitte versuchen, sie zu entwirren, um die wesentliche Gestalt der Heiligen wiederzufinden.
In Gedanken treibt Divine die Mimesis so weit, daß sie die bestimmte Haltung, die Mignon an einer bestimmten Stelle einnahm, wiederholt. Ihr Kopf befindet sich also an der Stelle von Mignons Kopf, ihr Mund an der Stelle seines Mundes, ihr Glied an der Stelle des seinigen usw.; dann kopiert sie so genau wie möglich, — zögernd, denn es muß ein Suchen sein (nur das Suchen verleiht, durch seine Beschwerlichkeit, das Bewußtsein des Spiels) — die Gebärden, die Mignons Gebärden waren. Sie nimmt nach und nach den ganzen Raum ein, den er einnahm. Sie folgt ihm, füllt beständig alles aus, was ihn enthielt.
Divine: „Mein Leben? Es ist ein Jammer, ich bin ein Jammertal.“ Und ein ähnliches Tal — mit seinen schwarzen Pinien im Gewitter — entdeckte ich in den Landschaften meiner phantastischen Reisen unter den dunklen, verlausten Decken der Gefängnisse von überall, und ich nannte es das Tal des Jammers, des Trostes, den Engelsgrund.
Sie (Divine) handelte vielleicht nicht nach den Geboten Christi. Man tadelte sie darum. Sie aber: „Tanzt Lifar etwa von der Oper nach Haus zu seiner Wohnung?“
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Sie war innerlich so losgelöst von der Welt, daß sie sagte: „Was geht es mich an, was X . . . von Divine denkt, die ich einmal war. Was geht mich die Erinnerung an, die er an mich bewahrt. Ich bin eine andere. Jedesmal bin ich eine andere.“ So bekämpfte sie die Eitelkeit. So war sie immer zu einer neuen Niedertracht bereit, ohne Furcht vor der Schande.
Sie schnitt sich die Wimpern ab, um noch abstoßender zu sein. Sie glaubte, so die Schiffe hinter sich zu verbrennen.
Sie verlor ihre Ticks. Es gelang ihr, aufzufallen durch ihre Zurückhaltung. Indem sie ihr Gesicht zu Eis werden ließ. Früher mußte sie unter einer Beleidigung um jeden Preis ihre Muskeln bewegen. Die Angst nötigte sie dazu, sich ein wenig täuschen zu lassen; die Verkrampfung des Gesichts verwandelte es in eine Grimasse, die das Aussehen eines Lächelns hatte. Vereist, ihr Gesicht.
Divine über sich selbst: „Dame der besseren Pederastie.“
Divine konnte es nicht ertragen, am Radio den Marsch aus der Zauberflöte zu hören. Sie küßte ihre Finger, konnte schließlich nicht mehr und dreht den Knopf des Apparats.
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Ihre blasse und himmlische Stimme (eine Stimme, die ich mir für Filmschauspieler erträume, eine Bild-Stimme, eine flache Stimme), wenn sie mir sagt, indem sie mit dem Finger auf mein Ohr zeigt: „Aber Jean, da hast Du ja noch ein Loch.“
Sie geht auf der Straße, geisterhaft. Ein junger Radfahrer geht vorbei, zu Fuß, er hält sein Rad an der Lenkstange. Als er ganz nahe ist, deutet Divine eine Gebärde an (abgerundeter Arm), als wollte sie ihn in der Taille umfassen. Der Radfahrer dreht sich plötzlich Divine zu, die ihn jetzt tatsächlich umfaßt. Er sieht sie einen Augenblick fassungslos an, dann springt er ohne ein Wort auf sein Fahrrad und entflieht. Divine kehrt in ihre Schale zurück und wendet sich wieder ihrem inneren Himmel zu.
Vor einem anderen, schönen jungen Mann ein kurzes Begehren: „Das Noch ist es, das mich an der Gurgel gepackt hat.“ Sie lebt nur noch, um dem Tode zuzueilen.
Der Schwan, von der Masse seiner weißen Federn gehalten, kann nicht den Schlamm auf dem Grund des Wassers finden, noch kann Jesus sündigen. Ein Verbrechen begehen, um sich aus dem Joch der moralischen Mächte zu befreien, bedeutet für Divine, noch immer mit der Moral verbunden sein. Sie will nichts wissen von einem schönen Verbrechen.
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Sie stiehlt und verrät ihre Freunde. Alles kommt zusammen, um — gegen ihren Willen — die Einsamkeit um sie herum aufzurichten. Sie lebt einfach, in Gesellschaft ihres Ruhms, eines Ruhms, den sie sich klein und wertvoll erdacht hat. „Ich bin“, sagt sie „Bernadette Soubirous im Kloster der Caritas, lange vor ihrer Vision. So wie ich, lebte sie ihr tägliches Leben in der Erinnerung, die Heilige Jungfrau geduzt zu haben.“
Es kommt vor, daß eine Kolonne in der Wüste marschiert und daß sich aus ihr — aus taktischen Gründen — ein kleinerer Trupp von Männern löst, der eine andere Richtung einschlägt. Der abgesplitterte Teil kann einige Zeit, eine Stunde oder länger, ganz in der Nähe der Kolonne bleiben. Die Männer der beiden Kolonnen könnten sich sprechen, sich sehen, und sie sprechen sich nicht und sehen sich nicht: sowie die Abteilung einen Schritt in die neue Richtung getan hatte, fühlte sie in sich eine neue Persönlichkeit entstehen. Sie wußte, sie war allein und ihre Taten waren ihre Tat. Diese kleine Gebärde, um sich von der Welt zu lösen, hat Divine hundertmal begonnen. Aber so weit sie sich auch entfernt, die Welt ruft sie zu sich zurück. Sie hat ihr Leben damit zugebracht, sich von einem Felsen hinabzustürzen. Jetzt, wo sie keinen Leib mehr hat (oder wo ihr nur wenig von ihm übrig bleibt, etwas Weißliches, Blasses, Knochiges und zugleich sehr Weiches), entwischt sie in den Himmel.
Divine von sich selbst: „Madame, geborene Geheimnis.“
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Divine’s Heiligkeit. Im Gegensatz zu den meisten Heiligen war sie sich ihrer bewußt. Darin liegt nichts Erstaunliches, denn die Heiligkeit war ihre Art, Gott zu sehen, ja, mehr noch, sich mit ihm zu vereinigen. Diese Vereinigung geschah nicht ohne Schwierigkeit (Schmerzen) auf beiden Seiten. Von Seiten Divines kam die Schwierigkeit daher, daß sie genötigt war, eine feste, bekannte und behagliche Lage zugunsten eines allzu wunderbaren Ruhms aufzugeben. Um ihre Stellung zu erhalten, machte sie, was zu machen sie für gut hielt: Gebärden. Und nun bemächtigte sich ihres ganzen Körpers eine wilde Lust zu bleiben. Ihre Gebärden drückten einerseits furchtbare Verzweiflung aus, andererseits den schüchternen Versuch, ein Zögern; sie suchte das Bindeglied, sie klammerte sich an die Erde, um nicht in den Himmel aufzufahren. Dieser letzte Satz scheint sagen zu wollen, daß Divine eine Himmelfahrt gemacht hat. Davon ist keine Rede. ,In den Himmel auffahren‘ will hier besagen: ohne sich zu rühren Divine verlassen um der Gottheit willen. Das im engsten Kreis stattfindende Wunder wäre von entsetzlicher Grausamkeit gewesen. Sie mußte aushaken, koste es, was es wolle. Gott, der sie schweigend rief, die Stirn bieten. Nicht antworten. Aber Gebärden versuchen, die sie auf der Erde festhielten, die sie wieder an die Materie banden. Im Räume erneuerte sie ihre Gestalt mit neuen und barbarischen Formen: denn in einer Art Eingebung ahnte sie, daß es die Reglosigkeit für Gott zu leicht macht, Euch mit einem gelungenen Catch-Griff an sich zu ziehen. So tanzte sie. Auf dem Spaziergang. Überfall. Ihr Leib bekundete sich beständig. Bekundete tausend Leiber. Niemand wußte, was vorging, niemand kannte die tragischen Augenblicke von Divine, in ihrem Kampf mit Gott. Sie nahm erstaunliche Haltungen ein, erstaunlich, wie die gewisser japanischer Akrobaten. Man hätte sie für eine aufgeschreckte Tragödin halten können, die nicht mehr zu sich selbst zurückfindet und sucht, und sucht. . . Eines Tages schließlich, als sie reglos in ihrem Bett lag und nicht darauf gefaßt war, hielt Gott sie für eine Heilige. Erinnern wir uns jedoch an ein bezeich-
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nendes Ereignis. Sie wollte sich töten. Sich töten. Meine Güte töten. Sie hatte also diesen schillernden Gedanken und verwirklichte ihn: ihr Balkon, früher, im achten Stockwerk eines Mietshauses, ging auf einen gepflasterten Hof. Das eiserne Geländer war durchbrochen, aber von einem Drahtgitter umgeben. Eine der Nachbarinnen hatte ein Baby von zwei Jahren, ein kleines Mädchen, dem Divine Bonbons schenkte, und das sie in ihrem Zimmer empfing. Das Kind lief bis zum Balkon und sah durch das Gitter auf die Straße. Eines Tages faßte Divine einen Entschluß: sie machte das Gitter ab und lehnte es gegen das Geländer. Als das kleine Mädchen zu ihr kam, schloß sie es ein und lief rasch die Treppe hinunter. Im Hof angekommen, wartete sie,daß das Kind, um zu spielen, auf den Balkon hinaustreten und sich gegen das Gitter lehnen würde. Das Gewicht seines Körpers ließ das Kind ins Leere stürzen. Von unten sah Divine zu. Es entging ihr keine einzige der Pirouetten des Balgs. Sie war übermenschlich, wie sie, sogar ohne Tränen, ohne Schreie und ohne Zucken das, was von dem Kind übrig blieb, mit ihren behandschuhten Fingern auflas. Sie bekam drei Monate Vorbeugungshaft für unfreiwilligen Totschlag, aber ihre Güte war abgestorben. Denn: „Was würde es mir nützen, jetzt noch tausendfach gut zu sein? Wo ist das Mittel, dieses nicht gutzumachende Verbrechen zu sühnen? Also, laßt uns schlecht sein.“ Unbeachtet, wie es uns scheint, von der übrigen Welt, starb Divine. Ernestine wußte lange nicht, was aus ihrem Sohn geworden war. Sie hatte ihn, als er zum zweiten Mal durchbrannte, aus den Augen verloren. Als sie endlich Nachricht von ihm bekam, war er Soldat. Sie erhielt einen etwas beschämten Brief, in dem er sie um ein paar Taler bat. Aber sie sah ihren Sohn, der inzwischen Divine geworden war, erst sehr viel später, als sie nach Paris kam, um sich, wie alle Provinzlerinnen, dort operieren zu lassen. Divine lebte damals in recht guten Verhältnissen. Ernestine, die von seinem Laster nichts wußte, erriet es fast augenblicklich und dachte; „Lou hat einen Credit Lyonnais zwischen den Hinterbacken“. Sie machte keinerlei Bemerkung zu
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ihm. Zu wissen, daß sie ein Ungeheuer ausgetragen hatte, weder Männchen noch Weibchen, Abkömmling der Picquigny, zweideutiges Ende einer hochstehenden Familie, deren Mutter die Sirene Melusine war, das beeinträchtigte kaum die Meinung, die sie von sich selbst hatte. Mutter und Sohn standen so weit auseinander, als hätten sie sich aus der Entfernung über einen leeren Raum gebeugt: ein SichStreifen unempfindlicher Haut. Ernestine sagte sich niemals: „Das ist Fleisch von meinem Fleisch.“ Divine sagte sich niemals: „Immerhin ist sie es, die mich in die Welt geschissen hat.“ Nur: Divine war für ihre Mutter ein Vorwand für theatralische Gesten — wie wir anfangs schon zeigten. Aus Haß gegen diese Erznutte Mimosa, die ihre Mutter verabscheute, heuchelte Divine vor sich selbst, ihre eigene ehrfurchtsvoll zu lieben. Diese Ehrfurcht gefiel Mignon, der als guter Louis, als echter Ganove, auf dem Grund seines Herzens, wie man sagt: „einen kleinen Winkel voll Reinheit für sein altes Mütterchen bewahrte“, das er nicht kannte. Er gehorchte den irdischen Geboten, die die Zuhälter beherrschen. Er liebte seine Mutter, so wie er Patriot und Katholik war. Ernestine kam, um Divine sterben zu sehen. Sie brachte einige Linderung, aber an gewissen Anzeichen, die die Landbewohner zu deuten wissen — Vorboten, die deutlicher sprechen als ein Trauerflor — hatte sie verstanden, daß Divine hinüberging. „Er geht“, sagte sie zu sich selbst. Der Herr Pfarrer — derselbe, den wir auf so seltsame Weise die Messe lesen sahen — brachte den lieben Gott. Eine Kerze brannte auf dem kleinen Teetisch, neben einem schwarzen Kruzifix und einer Schale mit Weihwasser, in das ein trockener, staubiger Buchsbaumzweig getaucht war. Für gewöhnlich nahm Ernestine von der Religion nur das, was sie an eigentlich Wunderbarem bietet (nicht das dem Wunder beigefügte Wunder, das das erste Wunder verbirgt); das Wunderbare, das sie in ihr fand, war rein wie Gold. Man urteile selbst: an gewittrigen Tagen, wohl wissend, daß der Blitz manchmal den son-
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derbaren Einfall hat, durch den Schornstein einzudringen und durch das Fenster hinauszufliegen, sah sie sich, von ihrem Sessel aus, die Scheiben durchqueren, wobei ihre Büste, ihr Hals, ihre Beine und ihre Röcke die Steifheit, die Starre eines gestärkten Stoffes bewahrten; sie sah, wie sie auf den Rasen fiel, oder mit geschlossenen Fersen zum Himmel aufstieg, als wäre sie eine Statue: sie fiel hinab oder hinauf in die Luft, so wie man auf alten Bildern die Engel und die Heiligen sieht, so wie, ganz einfach, Jesus in den Himmel aufsteigt, ohne Wolken, die ihn trügen. Das war ihre Religion. So wie sie zu ändern Malen, an Tagen großen Pomps, Tagen mystischer Ausschweifung, zu sich selbst sagte: „Wenn ich mir die Zeit damit vertriebe, an Gott zu glauben?“ Und sie tat es, bis sie anfing, zu zittern. In der Todesstunde glaubte Divine so sehr an Gott, daß sie um eine Entrückungsszene nicht herumkam. Sie sah Gott, wie er ein Ei schlürfte. „Sehen“ ist in diesem Fall eine etwas leichtfertige Ausdrucksweise. Über die Offenbarung kann ich nicht viel sagen, denn letztlich weiß ich davon nur, was mir, mit Gottes Hilfe, in einem jugoslawischen Gefängnis zu erkennen zugebilligt worden war. Man hatte mich von Stadt zu Stadt gefahren, gerade wie es der Zufall der jeweiligen Etappen des Zellenwagens wollte. In jedem der Gefängnisse dieser Städte blieb ich einen Tag, zwei Tage oder länger. Ich kam also an und wurde in ein ziemlich großes Zimmer gesperrt, das schon von etwa zwanzig anderen Häftlingen gefüllt war. Drei Zigeuner hatten darin eine Schule für Taschendiebe aufgezogen. Man ging folgendermaßen vor: während einer der Gefangenen auf der Pritsche ausgestreckt schlief, mußten wir nacheinander aus seinen Taschen, ohne ihn aufzuwecken, bereits dort befindliche Gegenstände herausnehmen und wieder zurücklegen. Schwieriges Abenteuer, denn oft mußte man den Schläfer in einer bestimmten Weise kitzeln, damit er sich im Schlaf umdrehte und die Tasche, auf der er mit dem ganzen Gewicht seiner Schenkel lag, freigab.
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Als ich an der Reihe war, rief mich der Anführer der Zigeuner und befahl mir, zu arbeiten. Unter dem Jackenstoff fühlte ich mein Herz schlagen, und ich wurde ohnmächtig. Man trug mich auf die Pritsche, wo man mich ließ, bis ich wieder zu mir kam. Ich erinnere mich sehr genau an die Anordnung der Bühne. Die Zelle war eine Art langgestreckter Darm, in dem eben genügend Platz war für die in ihrer ganzen Länge aufgestellten Holzpritschen. An einem der Enden, gegenüber der Eingangstür, fiel schräg aus einer leicht gewölbten, mit Gitterstäben versehenen Luke das gelbe Licht, das aus einem unsichtbaren Himmel zu uns kam, genau wie es auf alten Stichen und in Romanen dargestellt ist. Als ich wieder zu Bewußtsein kam, befand ich mich in der Ecke, die dem Fenster am nächsten lag. Ich hockte mich auf, in der Art der Berber oder der kleinen Kinder; meine Füße waren in eine Decke gehüllt. In der anderen Ecke standen, aufrecht in einem Haufen, die anderen Männer. Sie sahen mich an und lachten laut heraus. Da ich ihre Sprache nicht kannte, machte einer von ihnen — indem er auf mich deutete — folgende Bewegung: er kratzte sich die Haare, tat, als habe er eine Laus gefunden und aß sie zum Schein, mit jener Mimik, die wir an den Affen beobachten. Ich erinnere mich nicht, ob ich Läuse hatte. Jedenfalls habe ich niemals welche verschlungen. Mein Kopf war von weißen Schuppen bedeckt. Sie bildeten auf der Haut eine weiße Kruste, die ich mit dem Nagel ablöste und die ich anschließend von diesem Nagel mit meinen Zähnen abstreifte und manchmal verschluckte. In diesem Augenblick verstand ich, was es mit dem Zimmer auf sich hatte. Ich erkannte — für den Bruchteil einer Sekunde — sein Wesen. Es blieb Zimmer, aber Gefängnis der Welt. Durch meinen ungeheuerlichen Abscheu wurde ich verbannt bis an die äußersten Grenzen des Unreinen (der Un-Welt) im Angesicht der anmutigen Schüler der Taschendiebschule; ich sah klar (so wie Ernestine „sieht“), was dieses Zimmer und diese Männer darstellten, welche Rolle sie
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spielten: in der Tat, eine der ersten Rollen im Gang der Welt. Diese Rolle war der Ursprung der Welt, sie stand am Ursprung der Welt. Mir schien plötzlich, dank einer Art außergewöhnlicher Klarheit, daß ich das System begriff. Die Welt und ihr Mysterium schrumpften zusammen, sobald ich von ihr abgetrennt war. Es war ein wirklich übernatürlicher Augenblick,— in seiner Ablösung von allem Menschlichen ähnlich dem Augenblick, den mir die Haltung des Chef-Adjutanten Cesari im Gefängnis von Cherche-Midi verschaffte, als er einen Bericht über meine Sitten verfassen mußte. Er sagte: „dieses Wort da (er wagte nicht „homosexuell“ auszusprechen), wird das in zwei Wörtern geschrieben?“ und mit dem ausgestreckten Zeigefinger deutete er vorsichtig auf das Blatt, ohne das Wort zu berühren. Ich war verzaubert. So wie ich wurde Ernestine von Gottes Engeln verzaubert, das heißt: von Kleinigkeiten, Begegnungen oder zufälligen Zusammenstößen etwa folgender Art: das Spiel einer Fußspitze oder vielleicht der Schnittpunkt der Schenkel der Ballerina, welche in den Tiefen meiner Brust das Lächeln eines geliebten Soldaten erblühen läßt. Sie hielt die Welt einen Augenblick in ihren Fingern und betrachtete sie mit der Strenge einer Lehrerin. Während der Vorbereitungen zur Letzten Ölung erwachte Divine aus dem Koma. Als sie die Kerze sah, das Fanal ihres eigenen Endes, verließ sie der Mut. Sie erkannte, daß der Tod in ihrem Leben stets gegenwärtig gewesen war, aber sein sinnbildliches Gesicht war verborgen durch eine Art Schnurrbart, der die entsetzliche Wirklichkeit dem Tagesgeschmack anpaßte — durch jenen fränkischen Schnurrbart, der, als er unter der Schere fiel, den Soldaten beschämte als wäre er kastriert worden, denn sein Gesicht wurde augenblicklich sanft und zart, blaß, mit einem winzigen Kinn und einer gewölbten Stirn, und es ähnelte plötzlich dem Gesicht einer Heiligengestalt auf einem romantischen Kirchenfenster, oder einer byzantinischen Kaiserin; es war ein Gesicht geworden, über dem man gewohnt ist,
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einen verschleierten Hennin zu sehen. Der Tod war so nah, daß er Divine berühren, daß er mit seinem trockenen Zeigefinger an sie wie an eine Tür klopfen konnte. Sie verkrampfte-ihre steifen Finger und zog an den Laken, die ebenfalls steif wurden und erkalteten. „Aber ich bin noch nicht tot“, sagte sie zu dem Pfarrer, „ich hab die Engel an der Decke furzen hören.“ „. . . Noch nicht tot“, -wiederholte sie für sich, und in wollüstig wogenden, ekelschwangeren und im Ganzen paradiesischen Wolken sieht Divine die Tote wieder — und den Tod der Toten — jene alte Adeline aus dem Dorf, die ihm — und Solange — Geschichten über die Neger zu erzählen pflegte. Als die Alte (seine Kusine) tot war, konnte er nicht weinen; um aber trotzdem seinen Kummer glaubhaft zu machen, kam er auf den Gedanken, seine trockenen Augen mit Speichel zu benetzen. Divine: im Herzen ihres Bauches rollt ein Rauchballen. Dann fühlt sie, wie eine Seekrankheit, die Seele der alten Adeline, von ihr Besitz ergreift, die Seele jener Adeline, deren Knopfstiefeletten mit den hohen Absätzen Culafroy auf Geheiß Ernestines nach dem Tod der Kusine in die Schule anziehen mußte. Am Abend der Totenwache stand er auf, von Neugierde ergriffen. Auf den Fußspitzen verließ er sein Zimmer, in dem aus allen Ecken ein Volk von Seelen hervorkroch und eine Schranke bildete, die er durchqueren mußte. Stark im Gefühl seiner priesterlichen Vollmacht, entsetzt und entzückt, mehr tot als lebendig, trat er unter sie. Die Seelen, die Schatten bildeten ein gewaltiges, zahlreiches Geleit; sie tauchten hervor aus dem Anbeginn der Welt; er zog hinter sich her, bis zum Totenbett, Generationen von Schatten. Das war die Furcht. Er ging barfuß, so wenig feierlich, wie es nur möglich war. So, wie wir annehmen, daß ein nächtlicher Dieb sich bewegt, schritt er nun vorwärts, vielleicht nicht anders, als in den vielen Nächten, in denen er bis zum Schrank geschlichen war, um Zuckermandeln daraus zu stehlen: Zuckermandeln, die Ernestine zur Taufe oder zur Hochzeit geschenkt worden waren und die er voller Ehrfurcht zer-
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kaute, und nicht etwa wie eine alltägliche Nascherei, sondern wie eine heilige Nahrung, ein Sinnbild der Reinheit, und er betrachtete sie mit denselben Gefühlen, wie er die unter einer Glaskugel liegenden Orangenblüten aus weißem Wachs betrachtete: Weihrauchdünste, der Anblick weißer Schleier. Und die Melodie des VENI CREATOR . . . „Und wenn die Totenwächterin an ihrem Platz ist, was wird er dann sagen? . . .“ Aber sie war in der Küche und trank Kaffee. Das Zimmer war leer. Geleert. Der Tod erzeugt einen leeren Raum anders und besser als eine Luftpumpe. Die Bettlaken deuteten Gesichtsumrisse an, so wie der Ton, den der Bildhauer noch kaum berührt hat. Culafroy — mit ausgestreckter Hand und steifen Armen — hebt sie auf. Die Tote war immer noch da. Er näherte sich, um sich weniger zu fürchten. Er wagte, das Gesicht zu berühren und sogar die wie Achatkugeln runden und eisigen Lider. Der Körper schien von der Wirklichkeit befruchtet. Er sprach die Wahrheit. In diesem Augenblick wurde das Kind von einem Schwarm von Erinnerungen an Bücher und an erzählte Geschichten überschwemmt, das heißt: daß das Zimmer der Bernadette Soubirous in der Stunde ihres Todes erfüllt war vom Duft unsichtbarer Veilchen. Instinktiv schnüffelte er also und er bemerkte den Geruch, den man den Geruch der Heiligkeit nennt. Gott vergaß seine Dienerin. Und das war gut so. Erstens soll man die Verschwendung nicht so weit treiben, das Bett einer toten alten Jungfer mit Blumenparfum zu bespritzen; dann soll man sich auch hüten, das Entsetzen in kindliche Seelen zu streuen. Aber von diesem Augenblick scheint der Faden auszugehen, der Culafroy-Divine — auf Grund eines äußerst wohldurchdachten Schicksals — zum Tode führen sollte. Das Vortasten hatte schon viel früher begonnen. Die Untersuchung, — die Nachforschungen — durchgeführt zunächst in der Verzauberung, die durch die ersten Antworten entstanden war, reichte in die fernen, nebelhaften, un-
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durchsichtigen Zeiten zurück, in denen er noch zum Volk der Götter gehörte, ganz wie jene Urbewohner, die sich noch nicht aus ihren urinduftenden Bändern gewickelt haben und die noch jene Würde besitzen, die sie mit den Kindern und Tieren teilen: den Ernst und den mit Recht altehrwürdig genannten Adel. Jetzt — und immer weiter, bis sich die dichterische Vision der Welt ereignet hat — öffneten sich, mit dem erworbenen Wissen, die Windeln. Jedes Verhör, jedes Nachforschen ergab einen immer hohleren Laut, bedeutete den Tod für ihn — die einzige Wirklichkeit, die uns erfüllt. Angesichts der Dinge gab es keine freudige Ausgelassenheit mehr. Bei jeder Berührung dringt sein kleiner Finger — tastend wie der eines Blinden — ins Leere. Die Türen drehten sich von selbst und enthüllten nichts mehr. Er küßte die Alte auf die Augen und die Kälte der Schlangen ließ ihn gefrieren. Er war im Begriff, zu schwanken, vielleicht zu fallen, als die Erinnerung eigens vortrat, um ihm zu helfen: die Erinnerung an die Samthose Albertos; so, wie ein Mann, der durch ein unerwartetes Vorrecht, wie man zu sagen pflegt: einen Blick in den innersten Grund der Mysterien getan hat, sich eilends abwendet, um wieder auf der Erde Fuß zu fassen, so stürzte sich der entsetzte Culafroy mit hingekuscheltem Kopf in die einhüllende und warme Erinnerung an Albertos Hose, in der er beruhigende, tröstende Meisennester wiederzufinden glaubte. Dann kehrte er, getragen von dem vom Himmel gestiegenen Alberto, in sein Zimmer und in sein Bett zurück, wo er weinte. Aber — das sollte Euch nicht überraschen — er weinte darüber, nicht weinen zu können. So starb unsere große Divine: Sie hatte ihre kleine, goldene Uhr gesucht, fand sie zwischen den Schenkeln und reichte sie in der geschlossenen Hand Ernestine, die am Kopfende saß. Ihre Hände vereinigten sich, muschelförmig, die Uhr in der Mitte. Ein unendlicher physischer Frieden entspannte Divine; die Ausscheidungen, eine fast flüssige Scheiße, breiteten sich unter ihr aus zu einem kleinen, lauwarmen See, in dem sie sanft, ganz
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sanft ertrank — so wie das noch warme Schiff eines verzweifelten Kaisers in den Wassern des Nemisees untertaucht — und in ihrer Erleichterung stieß sie einen Seufzer aus, der ihr das Blut zum Mund führte, und noch einen anderen Seufzer: den letzten. So schied sie von hinnen, man kann auch sagen: so ertrank sie. Ernestine wartete. Ich weiß nicht, durch welches Wunder sie plötzlich verstand, daß das Schlagen in ihren verschlungenen Händen vom Tick-Tack der Uhr herrührte. Da sie inmitten von Weissagungen und Vorzeichen lebte, war sie nicht abergläubisch. So machte sie sich allein an die Einkleidung der Leiche und zog Divine einen sehr anständigen, englisch geschnittenen blauen Cheviotanzug über. Nun ist sie also tot. Die Ganz-Tote. Ihr Körper ruht zwischen den Laken. Von Kopf zu Fuß noch immer ein Schiff, mitten im Aufbruch der Eisbänke, unbeweglich und steif, der Unendlichkeit entgegentreibend: du, Jean, liebes Herz, unbeweglich und steif, wie ich schon gesagt habe, auf meinem Bett einer glückseligen Ewigkeit entgegentreibend. Nachdem Divine tot ist — was bleibt mir zu tun übrig? Zu sagen? Ein wütender Wind schlägt heute abend die Pappeln, von denen ich nur die Spitzen sehe, böse gegeneinander. Wie sanft ist heute meine Zelle, da jener freundliche Tod sie wiegt! Wenn ich morgen frei wäre? (Morgen ist Gerichtssitzung). Frei, das heißt, verbannt unter die Lebenden. Ich habe mir eine Seele geschaffen nach dem Maß meiner Wohnstatt. Wie süß meine Zelle ist! Frei: Wein trinken, rauchen, Bürger sehen. Und die Geschworenen morgen? Ich bin gefaßt auf die härteste Strafe, die mich treffen kann. Ich habe mich sorgfältig darauf vorbereitet, denn ich habe mein Horoskop gewählt (nach allem, was ich aus den vergangenen Ereignissen entnehmen kann); es ist die Gestalt des Schicksals. Jetzt, wo ich gelernt habe, ihm zu gehorchen, ist mein Kummer weniger groß. Er hat sich aufgelöst vor dem Unabänderlichen. Er ist meine Verzweiflung, und das, was sein wird, wird sein. Ich habe
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meine Begierden abgelegt. Auch ich bin schon „darüber hinaus“ (Weidmann). Meinetwegen bleibe ich ein ganzes Menschenleben zwischen diesen Mauern. Wen wird man morgen richten? Irgendeinen Fremden, der einen Namen trägt, der auch mein Name war. Ich kann weitersterben bis zu meinem Tod unter all diesen Witwern. Die Lampe, die Waschschüssel, die Gefängnisordnung, der Besen. Und der Strohsack, meine Gemahlin, Ich habe keine Lust, mich hinzulegen. Diese Gerichtssitzung morgen ist eine Feierlichkeit, der man eine Nachtwache weihen muß. Heute abend möchte ich weinen — wie einer, der zurückbleibt — zum Abschied. Aber meine Klarheit ist wie eine Nacktheit. Der Wind draußen wird immer wilder und vermengt sich mit Regen. So liefern die Elemente das Vorspiel zu der morgigen Zeremonie. Heute ist doch der Zwölfte, nicht wahr? Was werde ich beschließen? Die Warnungen, sagt man, kommen von Gott. Sie interessieren mich nicht. Ich habe schon das Gefühl, nicht mehr zum Gefängnis zu gehören. Zerbrochen ist die erschöpfende Brüderlichkeit, die mich an die Männer des Grabes band. Ich werde leben, vielleicht. . . In manchen Augenblicken werde ich von einem brutalen Gelächter geschüttelt; ich weiß nicht, woher es kommt. Es dröhnt in mir wie ein Freudenschrei im Nebel, ein Freudenschrei, der den Nebel vertreiben zu wollen scheint, und der doch keine andere Spur in ihm hinterläßt, als eine Sehnsucht nach Sonne und nach Festigkeit. Und wenn ich verurteilt werde? Ich werde die Sträflingskleider wieder anziehen, und dieses rostfarbene Gewand wird mir augenblicklich die mönchische Gebärde aufnötigen: ich werde meine Hände in meinen Ärmeln verbergen, und die entsprechende Haltung des Geistes wird folgen: ich werde mich reumütig und ruhmbedeckt fühlen, und unter meinen Decken verkrochen — im Don Juan geschieht es, daß die Personen der Handlung auf der Bühne wieder zum Leben erweckt werden und sich umarmen — werde ich zur Verzauberung meiner Zelle für Mignon, für Divine, für NotreDame und für Gabriel ein wundervolles, neues Leben ausdenken.
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Ich habe rührende Briefe gelesen, voller wunderbarer Hinfalle der Verzweiflung und der Hoffnung, voller Gesänge; und andere, die strenger waren. Ich wähle einen aus, den Brief, den Mignon aus dem Gefängnis an Divine schrieb: „Mein Liebling, Ich schicke Dir diesen kleinen Brief, um Dir Nachricht von mir zu geben — aber keine gute. Ich bin verhaftet worden wegen Diebstahl. Schau also, daß Du einen Rechtsanwalt findest, der mich verteidigt. Sieh zu, daß Du ihn bezahlen kannst. Sieh zu, daß Du mir auch eine Postanweisung schicken kannst, denn Du weißt ja, wie dreckig es einem hier geht. Schau auch, daß Du eine Erlaubnis bekommst, mich zu besuchen und mir Wäsche zu bringen. Bring mir den blau-weißen Seidenpyjama. Und Unterhemden. Mein Liebling, ich bin sehr ärgerlich über das, was mir zugestoßen ist. Ich hab kein Schwein, das mußt Du zugeben. Deswegen zähle ich auf Dich und Deine Hilfe. Ich würde Dich gern in die Arme nehmen und streicheln und ganz fest drücken. Erinnere Dich an das Vergnügen, das wir zusammen hatten. Sieh zu, ob Du die punktierte Linie wiedererkennst. Und küsse ihn. Mein Liebling, tausend Küsse sendet Dir Dein Mignon.“
Die punktierte Linie, von der Mignon spricht, ist die Silhouette seines Schwanzes. Ich habe einmal einen Louis, als er an seine Puppe schrieb, spannen sehen: er legte seinen schweren Schwanz auf das Papier auf dem Tisch und zeichnete seinen Umriß. Ich möchte, daß diese Linie zur Zeichnung Mignons dient.
Gefängnis von Fresnes, 1942.
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