Stephen R. Donaldson
DIE CHRONIKEN VON THOMAS COVENANT
9
Die Pfade des Schicksals
Ins Deutsche übertragen von Horst...
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Stephen R. Donaldson
DIE CHRONIKEN VON THOMAS COVENANT
9
Die Pfade des Schicksals
Ins Deutsche übertragen von Horst Pukallus
Knaur
IMPRESSUM Titel der amerikanischen Originalausgabe AGAINST ALL THINGS ENDING Verlagsgruppe Random House Deutsche Erstausgabe 07/2011 Redaktion: Momo Evers Copyright • 2010 by Stephen R. Donaldson Copyright • 2011 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.heyne.de Printed in Germany 2011 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-453-53396-7
BUCH Seit ihrer Rückkehr in das Land sucht Linden Avery verzweifelt nach ihrem Adoptivsohn Jeremiah. Diener des Verächters haben den Jungen in ihrer Gewalt, seine Leiden sind unvorstellbar groß. In ihrer Verzweiflung holt Linden ihren Geliebten Thomas Covenant mit Erdkraft und Wilder Magie in das Land zurück - und weckt damit die Schlange des Weltenendes. Die Weisen des Landes sind sich einig: Die Tage bis zum Ende aller Dinge und allen Lebens sind gezählt. Aber damit nicht genug: Gewaltsam aus dem Bogen der Zeit herausgerissen, ist der Geist von Covenant dem Zweifler verwirrt. Es scheint, dass all das Leid, das sie über das Land, seine Bewohner und Thomas Covenant gebracht hat, Linden ihrem Sohn keinen Schritt näher gebracht hat. Linden setzt alles auf eine Karte: Gemeinsam mit den wenigen Gefährten, die ihr geblieben sind, und einigen Feinden, die sie - teils nicht aus freiem Willen - begleiten, fordert sie das Schicksal heraus, entreißt dem Land seine dunkelsten Geheimnisse und zerbricht fast daran. Auch wenn all ihre Entscheidungen nur noch weiter ins Verderben zu führen scheinen, setzen sie und ihre Gefährten die Suche nach Jeremiah fort - bis an den Rand ihrer Kräfte und weit darüber hinaus. Nur eines gelingt Linden nicht: Den Pfad zu verlassen, den der Verächter für sie ausgelegt hat. Seine Truppen sind bereit… AUTOR Stephen Donaldson hat mit den Chroniken von Thomas Covenant eines der größten phantastischen Epen der modernen Zeit geschaffen. Er lebt in New Mexico und schreibt gerade Band zehn der Chroniken. Bei Heyne liegen vor: Die Macht des Rings (enthält Der Fluch des Verächters, Der Siebte Kreis und Die letzte Wallstatt), Der Bogen der Zeit (enthält Das Verwundete Land, Der Einholzbaum und Der Ring der Kraft) sowie Die Runen der Erde und Die Rückkehr des Zweiflers.
Für Perry Donaldson eine Tochter, auf die ein Mann stolz sein kann
Danksagung
Die Unterstützung, die ich bei meiner Arbeit an »Die Chroniken von Thomas Covenant« im Allgemeinen und Die Pfade des Schicksals im Besonderen erhalten habe, verdient mehr Dankbarkeit, als ich angemessen ausdrücken kann. John Eccker und Robyn Butler waren unentbehrlich: gewissenhaft, über alle Erwartungen hinaus großzügig und zur rechten Zeit unerbittlich. Außerdem hat ihr tapferes Bemühen, selbst meine schwächsten Passagen wohlwollend aufzunehmen, einen gewissen versponnenen Charme. Aus ganz anderen Gründen möchte ich Christopher Merchant danken. Ohne seine spezielle Mitwirkung hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. Und die ganze Idee einer »Danksagung« wäre bedeutungslos, wenn sie nicht auch Jennifer Dunstan einschlösse, die mir Auftrieb gibt.
Inhalt Erster Teil »Um die Zerstörung der Erde zu bewirken«
Zweiter Teil »Nur die Verdammten«
Glossar
Erster Teil
»Um die Zerstörung der Erde zu bewirken«
1 Die Last von zu viel Zeit
Thomas Covenant kniete im üppigen Gras von Andelain, als wäre er nach einem Sturz aus äonenweiter Ferne dort aufgekommen. Die Himmel und Zeiten füllten ihn gänzlich aus. Er hatte unzählige Jahrtausende innerhalb der wesentlichen Schöpfungsstrukturen zugebracht, hatte an allen Manifestationen des Bogens der Zeit teilgenommen: Er war so wenig menschlich wie die Sterne und ebenso einsam gewesen. Er hatte alles gesehen, alles gewusst - und versucht, es zu bewahren. Von Anbeginn der Erde bis zum Heranreifen der Erdkraft in dem Land - von den tiefsten Wurzeln der Berge bis zu den fernsten Konstellationen - war er Augenzeuge gewesen und hatte verstanden und hatte gedient. Über die Zeitalter hinweg hatte er sein einzigartiges Ich für die Verteidigung von Gesetz und Leben eingesetzt. Aber jetzt konnte er solch unendliche Visionen nicht mehr bewahren. Linden hatte ihn wieder sterblich gemacht. Sein gewöhnliches Fleisch und Blut weigerten sich, seine Macht und sein Wissen, den ganzen Umfang seines Verständnisses zu halten. Mit jedem Schlag seines vergessenen Herzens wurde der Hauch der Ewigkeit und die Ahnungen, die sie mit sich brachte, in ihm hinfortgespült, sickerte wie Schweiß durch seine neue Haut und gingen verloren. Und doch war da noch immer mehr in ihm, als er ertragen konnte. Die Last von zu viel Zeit wirkte so tiefgreifend wie eine Orogenese, das sich Bilden neuer Gebirge durch das Verschieben von Kontinentalplatten: Sie setzte seinen gewöhnlichen Verstand unter einen Druck, der anderswo Erdbeben oder tektonische Verschiebungen zur Folge gehabt hätte. Die erzwungene Verwandlung ließ Thomas Covenant verwundbar zurück. Als die Struktur dessen, was er gewusst und verstanden und gedacht und begehrt hatte, in einem ihm so fremd gewordenen Augenblick nach dem anderen einstürzte, wurde sein Denken, das ihn durch ganze Äonen getragen hatte, durch diese Verschiebungen und Erschütterungen auf irritierende Weise gestört. Und auch wenn Bewusstsein oder tatsächliches Empfinden ihm noch
fern waren, erkannte er, dass er von Bedürfnissen umgeben war - von Menschen und Geistern, die sich versammelt hatten, um Lindens Entscheidungen mitzuerleben. Dunkel ragten die mächtigen Bäume um jene Senke, in der er zwischen den Hügeln von Andelain kniete, vor dem finsteren Himmel auf. Doch ihre Schatten verblassten in dem strahlenden Schein von Loriks Krill, der von wilder Magie brannte, in dem geisterhaften Leuchten der vier Hoch-Lords, deren Anwesenheit die Ausmaße von Covenants Krise definierte, und vor Linden Averys Glanz. Zeitlos wie Wachposten - hoch aufragend und majestätisch - standen die toten Lords in den vier Haupthimmelsrichtungen, um die finalen Konsequenzen ihres eigenen Lebens zu beobachten und vielleicht darüber zu urteilen. Berek und Dameion, Lorik und Kevin: Covenant kannte sie so gut - oder hatte sie so gut gekannt -, wie sie sich selbst kannten. Er spürte Bereks Empathie, Dameions Besorgnis, Loriks Kummer und Kevins vehemente Ablehnung. Und er verstand ihre Anwesenheit. Sie waren aus der gleichen Sorge erschienen, die ihn in dieser Nacht von den Gesetzesbrechern hervorgelockt und eskortiert hergeführt hatte. Doch als er nun - nur kurz, ganz kurz, zwischen zwei hämmernden Herzschlägen - das Wesen der Hoch-Lords begutachtete, entdeckte er, dass er nicht länger einer der Ihrigen, nicht mehr eins mit ihnen war. Ihre Gedanken waren ihm so altertümlich und fremdartig geworden wie die Sprache der Berge. Jedes Pulsieren des Blutes in seinen Adern raubte ihm ein Stück mehr von sich selbst. Auch Caer-Caveral und Elena verstand er. Sie verharrten hinter ihm auf dem ansteigenden Rand der Senke: Caer-Caveral in die asketische Aufopferung seiner Jahrhunderte als Andelains Forsthüter gehüllt; Elena kummervoll und mit gebrochenem Herzen wegen ihres blinden Vertrauens, das sie gegen ihren Willen in den Dienst des Verächters geführt hatte. Auch wenn die Gesetzesbrecher die Statur der Hoch-Lords besaßen - Bereks und Dame-Ions machtvolle Größe, Loriks Heldenmut, Kevins Schmerz -, waren sie durch ihren selbst gewählten Tod, ihre freiwillige Beteiligung an den Auflösungen, die Covenants Rückkehr in die Sterblichkeit ermöglicht hatten, in ihrem Wert vermindert worden. Nun hatten sie ihren Zweck erfüllt. Sie blieben im Hintergrund und
überließen es Covenant, sich in seinen eigenen Unzulänglichkeiten zu verlieren. Wäre er dazu imstande gewesen, hätte er vielleicht Infelizitas begrüßt nicht aus Wertschätzung für das egozentrische Verhalten der Elohim, sondern weil er wusste, welches Verhängnis Linden ihnen gebracht hatte. Von allen Völkern der Erde würden die Elohim als Erste ausgerottet werden. Die Verheerungen, die alle Herrlichkeiten der Welt zerstören sollten - bei den Elohim würden sie beginnen. Auch dieses Grauen nahm er nur noch bruchstückhaft wahr, wie das Blinken eines fernen Signalfeuers, bei dem er bereits vergessen hatte, vor was es hatte warnen wollen. Sein menschliches Sehvermögen verschwamm, als weinte er - Tränen der Macht, Tränen des Wissens. Schreckliche Zukünfte hingen von den Insequenten, aber auch von Anele ab; das sah Covenant deutlich. Aber die Bedeutung dessen, was er sah, und die Rolle, die die Insequenten oder Anele dabei spielen würden, tropften hinab in die Spalten seines schwindenden Verstandes der Ewigkeit und versickerten wie Blut. Das Ausmaß des Verlustes, das Linden ihn zu ertragen zwang, überstieg seine Kraft, war nicht auszuhalten - und wuchs trotzdem immer weiter an und brachte ihn Schritt für Schritt um alles, wozu der Tod, reine wilde Magie und der Bogen der Zeit ihn befähigt hatten. Mit jedem gelebten Augenblick wurden die Risse, die seine Seele durchzogen, breiter und tiefer. Die Schlange des Weltendes kam näher, verkörperte Tod und Verderben, und es war Covenant, als könnte er ihren heißen Atem im Nacken der Erde spüren. Die Haruchai kannte er, auch die Ranyhyn und die Ramen. Ihre Namen waren ihm entfallen, aber die Trauer, die er mit den Haruchai, die einst die Bluthüter und seine Freunde gewesen waren, verband, war geblieben. Im Namen ihres uralten Stolzes und ihrer Demütigung waren sie Verpflichtungen eingegangen, die nur mit Trauer enden konnten. Drei von ihnen waren so verstümmelt worden, dass ihre rechten Hände der seinigen glichen; der vierte Mann hatte das linke Auge verloren. Sie hätten dem Ruf ihrer toten Vorfahren folgen sollen. Covenant unterdrückte den Impuls, ihre Unnachgiebigkeit zu verfluchen. Stattdessen fand er Trost in der Gesellschaft der Ranyhyn und der
Ramen, obwohl er in keiner Menschensprache hätte erklären können, weshalb sie ihn trösteten. Er wusste nur, dass sie nie versucht hatten, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Und dass die Ranyhyn Linden so deutlich gewarnt hatten, wie sie nur konnten. Ebenso wie die Ramen schienen auch die Pferde die Haruchai misstrauisch zu beobachten, als stellten die Halbhand-Krieger eine Gefahr dar, an die Covenant sich nicht erinnern konnte. Den Steinhausener erkannte er mehr an dem Orkrest und dem Schicksal, das ihm auf die Stirn geschrieben stand, als an seinen Gesichtszügen oder seiner Ergebenheit. Der junge Mann hatte seinen Untergang gewählt, als seine Finger erstmals einen Sonnenstein umschlossen hatten. Er konnte seinen Lebensweg nun nicht mehr ändern, ohne sich selbst aufzugeben. Alle, die an diesem Ort, diesem transzendenten Übergang, in Lindens Nähe geblieben waren, beobachteten Covenant fassungslos oder bestürzt oder verbittert. Er aber war noch immer nicht vollständig unter ihnen angekommen, war sich ihrer nur schemenhaft bewusst, als wären sie Gestalten an den Rändern eines Traumes. Seine ersten Augenblicke eines noch blassen konkreten Bewusstseins waren auf Linden konzentriert. Die Qualen auf ihrem geliebten, vom Gram gezeichneten Gesieht fesselten ihn und bewahrten ihn so davor, sich in dem zerklüfteten Labyrinth seines Verstandes zu verlieren. Linden stand wehrlos nur wenige Schritte von ihm entfernt. Sein Ring und ihr Stab waren ihr aus den kraftlosen Fingern gefallen, und im Silberglanz des Krill wirkten die deutlich hervortretenden schwarzen Flecken auf ihren Jeans wie manifestierte Anklagepunkte. Der rote Flanellstoff ihrer Bluse war eingerissen und durchlöchert, als hätte sie ein Dornengestrüpp überwinden müssen, um zu ihm zu gelangen. Sie schien alle Hoffnung, alle Entschlossenheit verloren zu haben und wirkte so allumfassend niedergeschlagen, als hätte er sie verraten. Ihr Anblick, ungetröstet und untröstlich, vervielfachte den Druck, unter dem er stand, verankerte ihn jedoch zugleich erneut in seiner Sterblichkeit. Lindens Zustand war seine Schuld. Er hatte das Gesetz, das ihn verpflichtet und erhalten hatte, allzu oft missachtet. Vor wenigen Augenblicken oder mehreren Menschenleben hatte er sie gefragt: Oh, Linden. Was hast du getan? Es hatte kein Entsetzen in
dieser Frage gelegen, eher eine Art Ehrfurcht, die er vor ihr empfand. Er hatte sie über den gesamten Bogen der Zeit hinweg geliebt, und sie hatte sich die Fähigkeit erworben, über das Schicksal von Welten zu bestimmen. Getan, Zeitenherr?, hatte Infelizitas gefaucht. Sie hat die Schlange des Weltendes geweckt. Aber aus Infelizitas hatte er sich nichts gemacht; ihn interessierte lediglich das Schicksal ihres Volkes. … alle Elohim werden verschlungen werden. Unwillkürlich erinnerte er sich an seine eigenen Sünden, und sie erschienen ihm realer als die Menschen oder Lebewesen, die ihn umgaben. Obschon er unter keinen Umständen mit ihr hatte reden dürfen, hatte er Linden gesagt Vertrau auf dich selbst, Du brauchst den Stab des Gesetzes und Tu etwas Unerwartetes. Durch Anele hatte er sogar mit ihren Freunden gesprochen, deren Namen und Bedürfnisse nun bereits wieder in den Spalten seines Bewusstseins versickert waren. Und er hatte an Linden appelliert, ihn zu finden, hatte Linden entgegen aller Notwendigkeiten, die Erde und Land zusammenhielten, dazu getrieben, die unbeschreibliche Katastrophe seiner Wiederauferstehung zu ermöglichen. Noch immer begriff er nicht recht, was Lindens Gefährten taten. Seit seinem Hinscheiden war sein Verstand niemals auch nur eine Sekunde lang getrübt gewesen; jetzt aber bewegten Menschen sich aus Gründen, die ihn verwirrten. »Schänderin!«, brüllte einer der Haruchai und wollte sich auf Linden stürzen. Er hätte ihr mit einem einzigen Faustschlag den Schädel zertrümmern können. Aber ein anderer Haruchai - der Mann, der ein Auge verloren hatte - fing den Angreifer ab und zwang ihn mit einem Hagel von Fausthieben zum Rückzug. Auch die beiden anderen Haruchai wollten sich auf Linden stürzen, doch der erste von ihnen brach unter einem Ansturm der Ramen und des Steinhauseners zusammen, und der Hufschlag eines falben Hengstes der Ranyhyn traf den dritten Haruchai an der Brust und ließ ihn zurücktorkeln. »Ja!«, rief Kevin Landschmeißer. »Mordet sie! Sie hat den Tod verdient!« Aber Berek Halbhands machtvolle Stimme widersprach ihm: »Halt!
Beherrscht euch, Haruchai! Zwischen dem Zeitenherrn und der Auserwählten gehen Dinge vor, die ihr nicht begreifen könnt. Damit habt ihr nichts zu schaffen!« »Diese Nacht ist heilig«, fügte Dameion Riesenfreund ruhiger hinzu. »Euer Streben ist unziemlich. Sogar mächtigere Wesen würden sich hier nicht einmischen.« Elena schien geweint zu haben. Caer-Caveral stand etwas von ihr entfernt, als wollte er sich von ihrem Unglück distanzieren. Und tatsächlich stellten die Haruchai ihren Angriff ein - vielleicht aus Respekt vor den Hoch-Lords, vielleicht aus irgendeinem persönlichen Grund. Covenant verstand das nicht. Er hätte leichter erklären können, weshalb die Flammengeister nicht interveniert hatten. Aber die Haruchai waren einfach zu menschlich und für die Verteidigung Andelains unentbehrlich. Trotzdem schwieg er weiter. Sein eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen reichte für nichts und niemanden außer Linden aus. Auch sie bewegte sich jetzt, als hätte der Angriff der Haruchai sie aus ihrer Erstarrung geweckt. Jede Faser ihres Körpers schrie vor Schmerz und Zorn, als sie jetzt rasch auf ihn zutrat. Ihre Leidensgestalt schien über ihm aufzuragen, als sie den Arm hob, und als sie dann zuschlug, war er zu verwirrt, um den Kopf wegzudrehen oder sich zu verteidigen. »Zum Teufel mit dir!«, schrie sie, und das Leid in ihrer Stimme berührte ihn. »Warum hast du nichts gesagt? Du hättest es mir sagen können …!« Während Covenant vor Staunen über das vergessene Gefühl körperlicher Schmerzen nach Luft schnappte, sank Linden vor ihm auf die Knie, schlug die Hände vor das Gesicht, schluchzte und weinte, als risse eine unbekannte Macht sie mitsamt ihrer Wurzeln aus sich selbst heraus. Er kannte den Grund ihrer Qualen, und sie schmerzten ihn, aber was ihn endlich zu vollem Bewusstsein in seinem Menschenkörper brachte, war das feurige Brennen nach ihrem Schlag. Erstmals seit seinem qualvollen Tod und seiner Verklärung nahm er die sanfte Frische von Andelains Luft wahr, die ihm in der über den Hügeln liegenden Dunkelheit kühl und würzig erschien. Sie hätte beruhigend wirken sollen, aber das tat sie nicht. »Oh, Linden«, keuchte er leise. Obwohl er fürchtete, sie könne seine
Berührung zurückweisen, versuchte er, die Arme um sie zu legen. Seine Bewegungen waren eingerostet, unbeholfen, schwach, fast gefühllos. Dennoch drückte er sie an seine Brust. »Ich hätte gar nichts sagen dürfen. In deinen Träumen. Durch Anele. Die Gefahr war zu groß. Aber ich hatte Angst, du würdest die Hoffnung verlieren. Ich konnte dich nicht…« Seine Stimme versagte, und er schluckte trocken. »Ich durfte dich nicht im Stich lassen. Du hast nichts falsch gemacht. Es ist meine Schuld. Ich war zu schwach.« Ja, er war zu schwach, war zu menschlich gewesen - selbst noch im Bogen der Zeit. Ich konnte es nicht ertragen, dich leiden zu sehen, und dich denken zu lassen, du seist allein, dachte er. Ich würde dich vor den Konsequenzen dessen, was du getan hast, gern bewahren, wenn ich nur wüsste, wie. »Irgendwas nicht in Ordnung?«, fauchte Infelizitas. »Du redest wirr, Zeitenherr. Deine Umwandlung ist ein nicht wiedergutzumachendes Übel. Sie hat dich ruiniert. Siehst du nicht, dass Linden die Vernichtung der Erde herbeigeführt hat?« Wut und Erdkraft umstrahlten die Elohim wie ein Gewand aus desillusionierten Edelsteinen. Selbst in ihrem Zorn war sie schön, aber Thomas Covenant sah sie nicht, konzentrierte sich nur auf Linden: ihren von Schluchzern geschüttelten Körper in seinen Armen, ihr weiches Haar an seiner Wange. Von ihrem Schmerz gefangen achtete er nicht auf Infelizitas’ Selbstsucht. Doch Lorik Übelzwinger wandte sich nun an die Elohim. »Schweig«, knurrte er. »Die Schuld - falls es überhaupt eine gibt - liegt ebenso gut bei dir wie bei ihm oder ihr. Du fürchtest nur um dich. Die Erde ist dir gleichgültig. Trotzdem gibt es hier viel, was über deine Eigenliebe hinausgeht.« Kevin fiel ihm ins Wort. »Nein!«, drängte er, »die Elohim spricht wahr. Habe ich die Verdammnis erlitten, ohne etwas dazuzulernen? Linden hat eine Entweihung vollzogen, die jede Vorstellung sprengt. Auch wenn der Zeitenherr es nicht weiß - die Gedemütigten wissen es. Und die Auserwählte weiß es ebenfalls.« »Genug, Sohn des Lorik«, gebot Berek. »Die Entscheidung über das Leben liegt bei denen, die Liebe und Tod kennen. Uns steht es nicht zu,
zu urteilen oder zu verdammen. Nur die Zeit gehört uns ebenso wie den Lebenden. Welten werden nicht in Augenblicken erschaffen, und sie gehen auch nicht binnen eines Augenblicks zugrunde. Vieles muss noch geschehen, bevor die Taten der Auserwählten ihre letzte Frucht tragen.« Während Covenant Lindens von Kummer und Schrecken verkrampften Körper umschlungen hielt, versuchte er zu begreifen, was er verloren hatte. Er musste sich möglichst viel seines Wissens bewahren; aber eine lethargische Gefühllosigkeit hinderte ihn daran. Als er Kevin von Verdammnis und Entweihung sprechen hörte, veränderten die tektonischen Platten seines Verstands ihre Lage zueinander. Seine Konzentration verflog, und er schien aus der Gegenwart zu gleiten. Er hielt weiterhin Linden in den Armen; sah noch immer, dass die Haruchai sich nur mit Mühe beherrschen konnten, sich nicht auf ihn zu stürzen; fühlte weiter die sorgenvollen Emotionen der toten Hoch-Lords. Die Ramen und die Ranyhyn, der Steinhausener und ein einziger Haruchai hielten sich bereit, Linden notfalls zu verteidigen. Gleichzeitig aber erinnerte Covenant sich an … Der Steinhausener hatte sich hinter Linden gestellt, hatte ihr sanft die Hände auf die Schultern gelegt. »Ah, Linden.« Seine Stimme klang kummervoll. »Weine nicht. Ich verstehe nur wenig von dem, was sich ereignet hat. Aber ein erlauchter Geist hat erklärt, dass uns noch Zeit bleibt. Hast du das nicht gehört? Gewiss können die hier versammelten Mächte viel bewirken. Und wir haben noch nicht versucht, deinen Sohn zu befreien. In seinem Namen …« Der junge Mann sprach weiter, aber Covenant achtete nicht mehr darauf. Er erinnerte sich an Kevins Konfrontation mit Lord Foul im Kiril Threndor, der Höhle der Macht tief im Donnerberg. Teile seines Verstands erlebten in diesem Augenblick den Beginn jenes lang vergangenen Rituals der Schändung mit, als überlagerte es hier und jetzt Linden und ganz Andelain. An diesem Ort zwischen Raum und Zeit war Kevins Verzweiflung so lebhaft wie die Hell-Dunkel-Effekte der stark facettierten Steine an den Höhlenwänden: sein Selbsthass; sein Wunsch, sich selbst zu bestrafen. Seine enttäuschte Liebe und sein Versagen unterstrichen das Flackern von Lord Fouls Bösartigkeit. Wäre Covenant damals wirklich anwesend gewesen, hätte er versucht, Kevins Vorhaben zu verhindern. Er hätte
keine andere Wahl gehabt; sein eigener Verstand wäre von Kevins Verzweiflung wie mit abgebrochenen Nägeln zerkratzt und durch die scharfen Blicke Lord Fouls zerfetzt worden. Aber Covenant konnte nicht bleiben, um zu beobachten, wie das Ritual sich seinem Höhepunkt näherte. Er kannte es bereits und war außerstande, die Bilder zu kontrollieren, die sich entlang der Verwerfungen in seinem Inneren zeigten. Eines führte zum anderen, aber jeder Weg in eine falsche Richtung. Statt tatenlos zu beobachten, wie Kevin sich selbst verriet, folgte er Lord Foul zurück durch die Zeit. Während Linden in seiner Umarmung um ihre Beherrschung rang und der Steinhausener sie zu beruhigen oder aufzumuntern versuchte, erlebte Covenant die wenigen Jahrzehnte mit, in denen der Verächter sich in den Großrat der Lords eingeschlichen hatte - als a-Jeroth akzeptiert, weil keiner der Lords sagen konnte, weshalb er ihm nicht recht traute. Und seine Erinnerungen wanderten weiter. Gegen seinen Willen durchlebte er die Jahrhunderte, in denen Lord Foul ohne das Wissen des Großrates oder irgendeines Vorgängers der Lords im Unterland gelebt hatte. Gekannt hatten ihn damals nur die Forsthüter, die das geschwundene Bewusstsein des Einholzwaldes bewahrten. Jene wilde Kraft der Forsthüter und der Koloss am Wasserfall waren es gewesen, die den Verächter in jenen Jahrhunderten in seine Grenzen gewiesen hatten. Lord Foul hatte sich sogar vor den Wüterichen versteckt, bis es ihm durch die allmähliche Schwächung des Interdikts gelungen war, sie seinem Befehl zu unterstellen. In der Zwischenzeit hatte er aus den unheimlichen Bewohnern der Sarangrave-Senke und des Großen Sumpfes neue Diener für sich herangezogen, Fouls Hort erbaut, sein Heer verstärkt, seine Macht ausgebaut und unablässig weiter nach dem nützlichsten aller Banne gesucht, der in den Tiefen des Donnerbergs verborgen lag. Aber davor … Einmal mehr versuchte Covenant, seine unfreiwillige Zeitreise zu beenden, denn Lindens Kummer quälte ihn und ihre Gefährten starrten ihn an, als erwarteten sie eine erlösende Offenbarung von ihm. Aber es gelang ihm nicht. Davor … Davor hatte der Verächter sich vorübergehend mit den Insequenten befasst, sie aber bald wieder aufgegeben, weil ihre Theurgien zu fremdartig waren, als dass sie ihm hätten dienen können. In
Erdregionen, die so abgelegen waren, dass selbst die Riesen sie nie besucht hatten, verbarg er sich unter den Halbmagiern von Vidik Amar, denen eine beschränkte Magie zu Gebote stand. Als er sie für seine Zwecke korrumpiert hatte, fielen sie übereinander her, um sich im Namen des Verächters abzuschlachten. Auch die Zuvor hatte er mit seinen Ressentiments Seelenbeißer infiziert. Sie hatten sich als sehr empfänglich für seine negativen Einflüsterungen gezeigt, konnten ihm aber kaum helfen, seine Ziele zu erreichen. Und davor hatte der Verächter ein durch Misserfolge gekennzeichnetes Zeitalter bei dem listigen Volk verbracht, aus dem eines Tages Kasreyn von dem Wirbel hervorgegangen war. Noch etwas weiter zurück hatte Lord Fouls erfolglos versucht, sich der Schlange des Weltendes zu nähern, hatte sie aber nicht direkt wecken und lediglich ihren Schlaf stören können, indem er den Einholzbaum beschädigte. Aber der Wächter des Einholzbaums war gegen ihn immun. Covenant erinnerte sich an die Ursachen der Frustration des Verächters, an die Wurzeln seines stetig wachsenden bedrohlichen Zorns. Er erkannte die geheime eigene Verzweiflung des Verächters, die dieser sogar vor sich selbst verbarg, um sie stattdessen an seiner Umgebung auszulassen. Mit einer jähen Bewegung befreite Linden sich aus Covenants Armen. Er konnte sie nicht daran hindern, konnte nicht einmal versuchen, sie zu verstehen: Er sah und spürte sie nur durch die Schleier von Lord Fouls Vergangenheit. Ihr Gesicht war tränennass, und sie zitterte vor unterdrücktem Schluchzen. Ihre Schmerzen waren so stark wie die Kevins und ebenso quälend. Aber ihre Notlage war grausamer als seine. Auch Linden hatte eine Schändung verübt - aber sie hatte sie überlebt. Jetzt unterdrückte sie mit fast übermenschlicher Anstrengung neue Tränen, während sie zu sprechen versuchte: »Du hättest nur. Du hättest mir bloß. Sagen müssen. Wie ich Jeremiah finden kann.« Sie ballte die Fäuste, schlug sich damit selbst ins Gesicht. »Dann hätte ich nicht …« Ihr Gesicht war verzerrt, als wäre sie dicht davor, wie eine Wölfin zu heulen. Der einäugige Haruchai war an ihre Seite getreten. »Das konnte er nicht, Auserwählte«, sagte er nüchtern. »Er musste schweigen. Ich habe versucht, dich zu warnen. Aber du konntest nicht auf mich hören. Du
verzeihst nichts und nimmst keine Ratschläge an.« Wie Covenant schien Linden auch ihn nicht zu hören. Aber Covenant erinnerte sich. Weitere Geister, auf die es Rücksicht zu nehmen gilt… … werden kommen, um die Notwendigkeit von Freiheit zu bestätigen. Trotzdem waren die Worte des Haruchai zu frisch; sie kamen nicht gegen das Bild an, wie Lord Foul durch Hunderte oder gar Tausende von Jahrhunderten schritt. Und Linden brauchte ihn, das spürte Covenant mit irgendeinem Teil seines Ichs. Sie brauchte etwas von ihm, das er ihr nicht geben konnte, solange er zwischen Bruchstücken der Vergangenheit gefangen war. Trotz seiner eigenen verwirrenden Qualen konnte er sie nicht bewusst ignorieren. Er konnte auch dem Druck der Erinnerungen, die ihn von ihm selbst trennten, nicht länger standhalten. »Schlag mich«, keuchte er heiser. Seine Stimme war so schwach und rau, dass er sie kaum hörte. »Schlag mich noch einmal.« Ein Aufflammen, das Schock oder Scham oder Wut sein konnte, brannte Lindens Tränen fort; aber sie zögerte nicht. Ihre ganze Verbitterung lag in dieser Geraden, die seinen Backenknochen traf. Körperlicher Schmerz. Erst ein Schock, dann das Brennen abgeschürfter Haut. Der schmerzhafte Ruck, mit dem sein Kopf nach hinten flog. Luft, die ihn hätte heilen sollen, in seiner Lunge. Er sah sie wieder so klar. Als hätte ihr Schlag alle Verwirrung beiseitegefegt. »Tut mir leid«, sagte er; das war die beste Antwort, die er geben konnte. »Es ist zu viel Zeit in mir. Ich kann sie nicht behalten, aber Bruchstücke …« Ihre Verzweiflung ließ ihn verstummen. Er sagte nicht, was sie hören musste. Der Steinhausener - Liand, so hieß er - bemühte sich, sie zu trösten, aber seine Worte und seine sanften Hände erreichten sie nicht. Der Haruchai hieß Stave. Sein einzelnes Auge musterte Covenant mit strengem Ernst. Linden war von Kräften an diesen Ort gebracht worden, die auf ihre Weise so groß waren wie die Mächte, die Covenant zu zerreißen drohten - zu den Toten, vor Loriks Krill und zur Vernichtung der Welt. »Ich konnte es dir damals nicht erzählen«, ächzte er. »Ich konnte nichts
sagen. Das konnte keiner von uns.« Auch nicht die Toten um ihn herum. »Die Notwendigkeit der Freiheit… Sie ist absolut. Jeder muss seine Entscheidungen selbst treffen. Davon hängt alles ab. Hätte ich dir gesagt, wie du deinen Sohn finden kannst - oder dich davor gewarnt, den Krill so zu benutzen, wie du es getan hast -, hätte ich deine Entscheidungen beeinflusst. Ich hätte das Wesen dessen verändert, worüber du zu entscheiden hattest.« Das Wesen der Risiken, die sie hatte eingehen müssen. »Das ist Lord Fouls Art. Er beeinflusst die Entscheidungen anderer. Als du auf dem Weg hierher angegriffen wurdest, hat er nicht versucht, dich aufzuhalten. Seine Verbündeten haben gegen dich gekämpft, um deine Entschlossenheit zu stärken. Weil du glauben solltest, das Richtige zu tun.« »Seine Diener haben ihre eigenen Bedürfnisse«, wandte sich nun Infelizitas an Linden. Ihre Stimme klang eisig, gallenbitter. »Manche glauben gar nicht, ihm zu dienen. In ihrer Torheit bilden sie sich ein, sie handelten in eigenem Namen oder ihre Ziele seien hehrer als die seinigen. Aber sie sind nicht imstande, den ganzen Umfang seiner Pläne zu erfassen. Und am Ende tragen all ihre Taten - wie die deinigen - doch dazu bei, Lord Fouls Ziele zu erreichen. Haben wir dich nicht gewarnt, dich vor der Halbhand in Acht zu nehmen? Haben wir nicht mit den Menschen des Landes gesprochen, um sicherzustellen, dass du vorgewarnt warst?« »Genug, Elohim«, verlangte Bereks Schatten. »Deine Notlage ist nicht vergessen. Lass nun den Zeitenherrn sprechen, solange er es noch kann.« Covenant achtete nicht auf Infelizitas, und auch Berek ignorierte er. »So durfte ich nicht mit dir umgehen«, fuhr er, noch immer an Linden gewandt, fort. »Ich durfte mich unter keinen Umständen in deine Entscheidungen einmischen. Ich hatte ohnehin schon zu viel riskiert. Willst du jemandem die Schuld dafür geben, nehme ich sie gern auf mich. Aber wenn es noch Hoffnung für die Erde gibt - überhaupt noch die kleinste Hoffnung -, dann liegt sie in deinen Händen. Das war schon so, als Joan dich hergebracht hat, und daran hat sich nichts geändert. Freiheit ist nicht nur eine Voraussetzung für die Anwendung wilder Magie, sie ist auch für unser Leben notwendig. Ohne sie verwandelt sich letztlich alles in Verachtung.«
Linden richtete sich abrupt auf, wich einige Schritte vor ihm zurück. Er sah, dass sie kurz davor war, erneut in Tränen auszubrechen, aber dieses Mal ließ sie es nicht zu. »Nein!«, krächzte sie heiser und voller Enttäuschung. »Das stimmt nicht. So funktioniert die Sache nicht. Du bist derjenige, der die Welt rettet. Ich will nur meinen Sohn retten.« Trotz seiner eigenen Verfassung - seines schwer hämmernden Herzens, das er jahrtausendelang nicht mehr gebraucht hatte; seiner vor Anstrengung keuchenden Lunge; des Brennens in seinem Gesicht, wo ihr Schlag ihn getroffen hatte; der Qualen, mit denen die Zeit aus seinem Körper rann - fühlte er mit Linden. Sie hatte allen Grund, sich verraten zu fühlen. Sie hatte geglaubt, er liebe sie … Und das stimmte auch. Er liebte sie wirklich. Er hatte sie in jedem Augenblick geliebt, den der Bogen der Zeit jemals enthalten hatte. Hätte er sie nicht geliebt, hätte er nie die Kraft gefunden, sich im Kampf gegen den Verächter zu opfern. Aber gerade deshalb schreckte er vor dem Anblick ihres Zorns und ihres Kummers zurück und versank erneut wie Treibgut in den von tiefen Rissen durchzogenen Erinnerungen, die seinen Willen und Verstand zu feinem Pulver zu zerreiben drohten. Aus Gründen, die er nicht recht verstand, betrachtete er die in Brauntöne gekleidete Gestalt des Eggers. Der Insequente saß noch immer auf seinem Streitross, als ginge ihn alles, was um ihn herum vorging, nichts an. Aber seine tief in den Höhlen liegenden Augen fixierten hungrig den Weißgoldring und den Stab, die Linden scheinbar achtlos hatte fallen lassen. Der Egger hatte den Vizard gekannt. Natürlich hatte er ihn gekannt. Und der Vizard hatte Wissen besessen, das dem Egger fehlte. Durch einen genialischen Einfall oder eifriges Selbststudium hatte der Vizard die fast mythische Bedeutung, den potenziellen Nutzen von Jeremiahs Talent für komplizierte Konstruktionen erkannt. Und er hatte danach gegiert, sich dieses Talent für sich selbst zu sichern. Er hatte darin die Möglichkeit gesehen, sich eines Tages zum Herrscher über die Elohim aufzuschwingen. Damit würde er beweisen, dass er der Größte seines Volkes war. Aber er hatte einen verhängnisvollen Fehler gemacht: Er hatte versucht, die von dem Egger ausgehende unterschwellige Gefahr aus dem Weg zu räumen. Durch ihre Zielsetzung mussten die Absichten des Eggers die
Pläne des Vizards subtil durchkreuzen. Erreichte der Egger sein Ziel, würde Jeremiah aus Lord Fouls Händen befreit werden - und danach bestimmt für den Vizard unerreichbar sein. Aus diesem Grund hatte der Vizard gegen die wichtigste Beschränkung verstoßen, die die Insequenten sich selbst auferlegt hatten: Um die eigenen Ambitionen verwirklichen zu können, hatte er versucht, die Pläne des Eggers zu durchkreuzen. So wurde der Vizard aus der Erinnerung seines Volkes getilgt und verlor Namen und Leben. Die geballte Willenskraft aller Insequenten hatte seine Vernichtung bewirkt. Von seinem früheren Platz zwischen den unzähligen Augenblicken des Bogens aus hatte Covenant beobachtet, wie der Vizard gescheitert und gestorben war. Wie vor ihm schon die Mahdoubt … Auf irgendeiner anderen Bewusstseinsebene verstand Covenant, dass hier und jetzt Egger nicht versuchen würde, Ring und Stab an sich zu nehmen - nicht solange Infelizitas bereit stand, ihm Widerstand zu leisten, und die Feuergeister kommen würden, um ihren Konflikt zu beenden. Aber solche Bedenken würden den Egger nicht mehr lange bremsen können. Plötzlich trat Stave vor und schlug Covenant an Lindens Statt erneut ins Gesicht. Der Haruchai dosierte seinen Schlag sorgfältig: Er war weniger kräftig als Lindens Boxhieb, obwohl er Covenant spielend leicht den Hals hätte brechen können. Aber er genügte. Erneuerter Schmerz brachte Covenant in die Gegenwart zurück. Sofort stürzten sich zwei andere Haruchai auf Stave und zerrten ihn grob zurück, obwohl er sich nicht wehrte. Als die Ramen ihm zur Hilfe kommen wollten - sogar der erblindete Mähnenhüter mit den verbundenen Augen -, hielt Stave sie mit einem einzigen Wort auf. Covenant, der den verwundeten Zorn in Lindens Blick kaum ertrug, versuchte nochmals, ihr zu antworten. »Ja, ich weiß. Obwohl du das Schicksal der Erde bereits verändert hast, glaubst du noch immer nicht, dass du so etwas kannst. Du willst nur deinen Sohn finden. Dabei kann ich dir nicht helfen. Ich weiß nicht, wo er ist. Früher einmal habe ich es gewusst. Aber dieses Wissen ist fort. Einfach fort.« Er war bereits jetzt nur mehr eine leere Hülse seines früheren Ichs, und mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag nahm die Summe seiner
Erinnerungen weiter ab. Er glaubte zu wissen, dass er sich einst bemüht hatte, Jeremiahs Verstand vor Lord Fouls schädlichem Einfluss zu schützen, aber er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. »Alles, woran ich mich erinnere, ist zerbrochen, und mit jedem Augenblick schwindet es mehr. Mein Verstand reicht nicht aus, um es zu bewahren.« Zurück blieben nur Fragmente, verborgen in den Spalten seines Bewusstseins. Geriet er zufällig in eine dieser Spalten, verlor sein Verstand die Verbindung zu seinem ungewohnt neuen Körper. »Linden?«, fragte Liand bittend. »Was sollen wir tun? Was bleibt uns noch? Wir können ihn nicht weiter schlagen. Kann er sich wirklich nicht daran erinnern, wo …« »Nein.«Linden schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein.« Sie wich einen Schritt zurück, und der strahlende Glanz des Krill erhellte ihre Gestalt, ließ ihre Gesichtszüge jedoch im Schatten. »Das ist falsch. So kann es nicht sein. Sag mir: Was sollte ich tun? Als du mich aufgefordert hast, dich zu finden, was hätte ich da deiner Ansicht nach erreichen können?« Schweig, dachte Covenant. Lasst mir Zeit, mich zurechtzufinden. Sekundenlang standen ihm Riesen-Schiffe vor Augen, zogen ihn mit sich hinab. Er sah, wie die Steinschiffe der Entwurzelten von Turiya Sippenmörder versenkt wurden, während die Riesen in ihren Häusern den Tod erwarteten. Der Sog der kenternden Schiffe schien ihn mit sich in die Tiefe zu reißen. Keines von ihnen war auf See geblieben; alle waren nach Coercri zurückgekehrt, um mit Kielen und Ruderblättern aus Güldenfahrt ausgerüstet zu werden, damit sie heimfinden und ihre lange Zeit der Trauer beenden konnten … Covenant schüttelte den Kopf. Um Lindens willen musste er in der Gegenwart bleiben. Schwankend, mit ungelenken Bewegungen zwang er sich dazu, sich aufzurichten und ihr zuzuwenden. »Das hängt nicht von mir ab.« Er konnte seine Hände und Füße kaum mehr spüren. »Ich wollte nur nicht …« Seine Finger zuckten unwillkürlich, als griffe er nach etwas, aber er merkte es nicht. Sie waren so unnütz wie das Wissen, das aus ihnen herausgeblutet war. »Dieser alte Mann. Der Bettler. Der Schöpfer. Er hat dich im Stich gelassen, noch ehe du überhaupt hergekommen bist. Ich wollte nicht, dass du glaubst, ich hätte dich ebenfalls im Stich gelassen.« »Der Zeitenherr ist geschwächt«, erklärte Infelizitas Linden. Ihre Stimme
klang rau, wie nach einer großen Anstrengung. »Ehe er weniger wurde, als er war, hoffte er, es würde dir gelingen, ein weniger tödliches Mittel zu finden, um den Abgrund zwischen den Lebenden und den Toten zu überbrücken. Er träumte davon, du könntest dir dieses erweiterte Bewusstsein verdienen oder es ihm entlocken, ohne diese Schöpfung zum Untergang zu verdammen.« Du würdest dich nicht von fälschlicher Liebe dazu verleiten lassen, das Ende aller Dinge zu bewirken! Vielleicht hatte Infelizitas recht behalten. Oder auch nicht. Auch diese Erinnerungen hatte waren Covenant gänzlich verloren gegangen. Wenige Schritte hinter dem Krill hatten die Haruchai - die Gedemütigten - Stave losgelassen. Covenant konnte sich fast an ihre Namen erinnern. Stave wandte sich an Infelizitas: »Dann fällt die Last dir zu, Elohim. Auch dein Wissen ist groß. Wo ist der Sohn der Auserwählten? Wie können die Verderbnis und ihre Diener besiegt werden? Wie kann die Schlange wieder in Schlaf versetzt werden?« Endlich gelang es Covenant, mit seinem fragmentierten Verstand Mahrtiir, den Mähnenhüter, zu identifizieren. Im Kampf um Erstes Holzheim war er schrecklich verwundet worden. Und die junge Frau und der Mann in seiner Begleitung waren … sie waren … Einmal mehr suchte Covenants trauernder Blick Lindens Gesicht. Die Ramen, die den Mähnenhüter begleiteten, waren seine Seilträger. Pahni und Bhapa. »Habe ich nicht schon davon gesprochen?«, erwiderte Infelizitas. »Wie die Trägerin des Weißgoldes ist ihr Sohn - und auch der des Zeitenherrn und seiner Gefährtin - ein Schatten auf unseren Herzen. Ihr Sohn ist vor uns versteckt worden. Und die Schlange lässt sich nicht wieder in Schlaf versetzen. An Bergen gemessen ist sie nicht sehr groß, nicht größer als eine Hügelkette. Ein Erdbeben könnte sie verschlingen. Aber ihre Stärke übersteigt alles Vorstellbare. Nichts und niemand kann sie aufhalten. Trotz aller Widerstände wird sie fressen und gewaltig wachsen, bis sie irgendwann das Herz der Erde verschlingt. Dann hört alles Leben, hört sogar die Zeit zu existieren auf. Und auch wir müssen uns damit abfinden, dass unser Ende gekommen sein wird.« »Ein Grund mehr, sich an ihr zu rächen«, knurrte Kevins Schatten. »Sie soll für ihre Verbrechen büßen, wie ich für die meinigen gebüßt habe. Die Gedemütigten dienen dem Land falsch, wenn sie ihr weiterzuleben
gestatten.« Elena stöhnte, als teilte sie den Zorn des Landschmeißers - und hasse sich dafür. Caer-Caveral betrachtete sie verbittert und finster, sagte aber nichts. »Schweig, Sohn des Lorik«, befahl Hoch-Lord Berek. »Ich warne dich nicht noch einmal! Deine Verbrechen sind noch nicht wirklich geahndet worden. Darüber werden deine Väter sprechen, noch ehe diese Nacht vergangen ist. Bis du gehört hast, was in unseren Herzen ist, wirst du aufhören, die Auserwählte anzuklagen.« Die Gedemütigten schienen eher auf Kevin als auf Berek zu hören. Sie verbeugten sich vor dem Letzten aus der Linie des Lord-Zeugers, als wollten sie seine Verzweiflung anerkennen und seinen Rat ehren, aber sie griffen Linden nicht nochmals an. Stattdessen bauten sie sich zwischen Covenant und Infelizitas auf. Einer von ihnen sagte: »Wir brauchen Gewissheit, Elohim.« Galt, so hieß er. Unter seiner ausdruckslosen Miene vibrierte seine Stimme vor Spannung. »Schwörst du, dass hier wahrhaftig Thomas Covenant, Ur-Lord, Zweifler und Weißgoldträger, vor uns steht, der in Fleisch und Blut vom Tode auferstanden ist?« Covenants Augen fühlten sich so unzuverlässig an wie seine Hände. Kälte oder Betäubung ließen ihn trotz Andelains klarer Luft nur verschwommen sehen. Dennoch merkte er, dass die Emotionen und Äußerungen der Wesen, die Linden umgaben, sie noch immer nicht erreichten und sie ebenso wenig trösteten. Sie schien Kevins bittere Vorwürfe ebenso wenig wahrgenommen zu haben wie Infelizitas’ Anklagen und Bereks indirekte Verteidigung. »Selbstzweifel?«, fragte der Egger die Haruchai spöttisch. »Auch ihr seid nicht mehr, was ihr einst wart. Diese Wahrheit muss jedem klar sein, der Zeuge der Theurgie der Auserwählten gewesen ist. Nur die absolute Wiederauferstehung des Zeitenherrn konnte die Ichbezogenheit der Elohim so nachhaltig stören.« Die Gedemütigten achteten nicht auf den Insequenten. Galt und Branl und - Covenant klammerte sich an den Namen - Clyme machten wie ein Mann kehrt, um erneut das Resultat von Lindens hochriskantem Wagnis zu beobachten - ihn, Covenant, selbst. Seinen Körper. Galt schien für alle Haruchai außer Stave zu sprechen, als er sagte:
»Dann befiehl uns, Zweifler, Zeitenherr. Enthülle uns, was getan werden muss. Wir kennen den Verrat deines treulosen Sohnes und den Wahnsinn der Auserwählten. Dir werden wir mit letzter Kraft dienen.« Covenant versuchte sich auf Galt zu konzentrieren, aber der Krill lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, lockte ihn mit Bildern dessen, was ihm einst als Zeit vertraut gewesen war. In Splittern und Bruchstücken, in Defekten erhaschte er Blicke auf Loriks lange, mühsame Suche nach einem Stein, der sich zu dem Juwel formen ließ, das das Herzstück des Dolchs bildete: Eine Suche, die ihn tief unter den Melenkurion Himmelswehr geführt hatte, indem er von der Würgerkluft aus dem Schwarzen Fluss gefolgt war - bis er ein Kristallfragment gefunden hatte, das durch äonenlangen Kontakt mit dem Blut der Erde perfekt geworden war. Als sähe er durch ein gesprungenes Glas, beobachtete Covenant, wie Lorik das Metall des Krill schmiedete, wobei er sich bemühte, es wie Weißgold aussehen zu lassen. Für die Herstellung von echtem Weißgold fehlten ihm die Rohstoffe Gold und Palladium, aber aus ererbten und angenommenen Überlieferungen kannte er sich mit Legierungen aus und arbeitete mit Erzen, die sich miteinander vermengen ließen, bis sie eine stabile Fassung für die feurige Reinheit des Kristalls bildeten. Hätte Covenant sich treiben lassen, hätte er an Loriks Seite stehend zusehen können, wie der mürrische Hoch-Lord bei seinen Beschwörungen am Schmiedefeuer schwitzte … Aber Linden brauchte etwas von Covenant - etwas, das seine verlorenen Erinnerungen nicht liefern konnten. Und er hatte sie schon zu oft enttäuscht. Schlich er sich jetzt davon, brach er sein Versprechen. Ein Versprechen, das er gegeben hatte, weil er nicht geschwiegen, sondern zu ihr gesprochen hatte. Vertraue auf dich selbst. Tu etwas Unerwartetes. Auch in seinem benommenen Zustand glaubte er, sie am äußersten Rand des Kevinsblicks hängen zu sehen. Ihr Gefühl, verraten und verlassen worden zu sein, konnte sie entscheidend schwächen. Jeder kleinste Anstoß - Infelizitas’ offenkundige Panik und Wut, die Machenschaften des Eggers, Kevins Verdammung, die Zurückweisung durch die Gedemütigten - konnte sie in einen Abgrund stürzen lassen, aus dem es keine Rettung mehr geben würde. Einmal mehr klammerte sich Covenant verzweifelt an die Gegenwart und bemühte sich schwankend, der Forderung der Haruchai
nachzukommen. Vorläufig konnte er sie nicht von Lindens Bedürfnissen unterscheiden. »Was werdet ihr tun?«, fragte er die Haruchai. »Wenn ich euch keine Befehle erteile? Wenn ich mich zu respektieren weigere, was ihr euch angetan habt?« In seinem Namen waren ihnen Finger der rechten Hand abgenommen worden, aber diese Ehre wollte er nicht. Branls Augen weiteten sich. Clyme schien leicht zusammenzuzucken. Galt jedoch zögerte jedoch nicht: »Dann reite ich nach Schwelgenstein, um die Meister vor der Schändung durch die Auserwählte zu warnen. Branl und Clyme bleiben bei ihr, um weiteres Unheil zu verhüten. Dein Ring wird dir zurückgegeben. Beanspruchst du den Stab des Gesetzes nicht für dich, wird er nach Schwelgenstein überführt, um dort für die Verteidigung des Landes aufbewahrt zu werden.« Liand lag der Einwand schon auf den Lippen, Mahrtürs finstere Miene zeugte von Widerstand, und die Ranyhyn scharrten unruhig mit den Hufen. Nur Linden schien den Gedemütigten nicht gehört zu haben. Sie starrte Covenant an, als erfüllte er sie mit unermesslichem Schrecken. »Dann hört zu«, forderte Covenant Galt so nachdrücklich auf, wie es sein verwirrter Verstand zuließ. »Und passt gut auf. Ich erzähle euch das nur einmal. Die Flammengeister haben es erlaubt. Sie erhalten Andelain, und sie haben es ihr erlaubt. Höllenfeuer, bedeutet euch das etwa nichts?« Während die Erinnerungen weiterhin von ihm abfielen und sich dabei anfühlten wie Teile seiner Seele, versuchte er, Lindens entsetztem Blick standzuhalten. »Linden.« Geschwächt durch Entkräftung und Reuegefühle - durch die Gefühllosigkeit seiner Finger und seinen wie betäubten Verstand - hatte er Mühe, sich verständlich zu machen. »Ich will es noch einmal sagen. Ich weiß, dass deine Lage schwierig ist. Ich weiß, dass du glaubst, alles in deiner Macht Stehende getan zu haben. Aber du musst weitermachen. Und ich vertraue dir. Hast du verstanden? Ich glaube an dich. Ich werde alles tun, um dir zu helfen. Wenn es noch irgendetwas gibt, das …« Linden zuckte zusammen, als hätte er ihr mit dem Gegenteil seiner Absichten gedroht. Auf ihrem Gesicht vermischten sich neue Schmerzen mit altem Kummer. »Siehst du das?«, fragte sie Liand oder Mahrtiir oder
Stave. Ihre Stimme zitterte, als verblutete sie innerlich. »Er hat recht. Er kann sich kaum auf den Beinen halten. Irgendetwas in seinem Inneren zerbricht. Ich habe ihn zurückgeholt, aber dabei etwas falsch gemacht. Er ist nicht ganz. Und er hat Lepra.« Darauf wusste Covenant keine Antwort. Schon fast im Zusammenbruch begriffen wandte er sich nochmals an die Gedemütigten. »Was euch betrifft, befehle ich euch …« Seine Stimme wurde heiser und versagte; er konnte niemandem etwas befehlen. Aber weil er Linden liebte, schaffte er es, noch ein paar Worte zu finden. Sie kamen ihm vor wie seine letzten Worte auf dieser Welt. »Sie ist wichtiger als ich. Wenn ihr euch entscheiden müsst: Beschützt nicht mich, beschützt sie. Sie ist die einzige Hoffnung für das Land.« Er wollte noch mehr sagen, aber seine Wunden waren zu viel für seinen sterblichen Körper. In seinem Inneren vermengten sich Erdzeitalter, und er schlug wie vom Blitz gefällt der Länge nach vorn ins Gras.
2 Unbefriedigte Bedürfnisse
Linden Avery stand mit starrem Blick wie gelähmt da, als hätte sie endlich die wahre Bedeutung ungeheuren Entsetzens entdeckt. Nichts in ihrem Leben hatte sie auf die Folgen ihrer Verzweiflung vorbereitet. Vor langer Zeit hatte sie den Selbstmord ihres Vaters miterleben müssen; aus Angst und Mitleid hatte sie bei ihrer Mutter Sterbehilfe geleistet; sie hatte gesehen, wie Thomas Covenant in seinem früheren Leben erstochen wurde - und wie der Verächter ihn später nochmals ermordete. Ein Wüterich hatte sie gelehrt, ihre eigene Fähigkeit, Böses zu tun, zu fürchten. Unter dem Melenkurion Himmelswehr war sie gezwungen gewesen, gegen ihren Adoptivsohn zu kämpfen. Aber solche Dinge waren trivial geworden. Sie waren zu unbedeutend, zu menschlich, um sie jetzt belasten zu können. Ihr Verstand schien außerstande zu sein, Wörter zu bilden. Sie konnte weder auf Liands sorgenvolle Empathie noch auf die Unterstützung der Ramen oder Staves unerschütterliche Loyalität reagieren. Die Feindseligkeit der Haruchai bedeutete ihr nichts. Weder Infelizitas noch der Egger waren auch nur im Geringsten wichtig für sie. Und doch war sie nicht benommen oder betäubt. Ihre Reue war nicht durch Weinen erschöpft, ihre Wut und ihr Abscheu nicht durch körperliche Gewalt, und auch Covenants stammelnde Rechtfertigungsversuche oder seine unbefriedigende Bestätigung hatten sie nicht zum Schweigen gebracht. Was sie vor allem ausfüllte war überbordende Bestürzung. Bestürzung, nicht Verzweiflung. Verzweiflung war Dunkelheit, ein zugenagelter Sargdeckel. Ihre Bestürzung war eher eine moralische Erschütterung, eine Schockreaktion darauf, dass ihre gesamte Realität bis zur Unkenntlichkeit verzerrt war. Als sie erkannt hatte, dass Covenant nicht ganz war, hatte sie jeden gewöhnlichen Verlust von Hoffnung oder Zuversicht hinter sich gelassen. Der Preis für ihre Tat war unvorstellbar hoch. Die einzigen Sätze, die ihr noch blieben, hatten andere gesprochen; und sie hatten wie Alarmsirenen geschrillt. Sie hat die Schlange des Weltendes geweckt.
Sie liebte das Land. Sie liebte Thomas Covenant und Jeremiah. Die Ramen und die Ranyhyn und die Riesen. Liand und Stave und den armen Anele. Trotzdem hatte sie alle zum Untergang verdammt. Durch die Wiedererweckung Covenants hatte sie Lord Foul einen lang gehegten Wunsch erfüllt. In ihr liegt der Schlüssel zur Vernichtung der Welt… Obwohl Anele, Sunder und Hollian sie zu warnen versucht hatten. Er hat nichts von deiner Absicht gewusst. Auch die Ranyhyn hatten es versucht; vielleicht hatten alle es versucht. Im Zorn liegt Kraft, Auserwählte. Aber er kann auch zu einer Falle werden. Vor einigen Tagen hatte sie geträumt, sie sei zu Futter für Ungeheuer geworden, die von Aas lebten. Zuversichtlich und grausam hatte der Verächter ihr eine Vision seiner Absichten geschickt. Trotzdem hatte sie alle Vorsicht in den Wind geschlagen. Vor Zorn über die Leiden ihres Sohns hatte sie eines der Gesetze missachtet, die das Leben erst ermöglichten, die Erde überhaupt existieren ließen - eines der Gesetze, die sie hätte befolgen sollen. Durch eine einzige ungeheuerliche Tat hatte sie alle Versprechen gebrochen, die sie jemals gegeben hatte. Gutes lässt sich nicht mit schlimmen Mitteln erreichen. Dies war das Ergebnis. Covenant lag ihr zu Füßen, im verratenen Gras Andelains. Die alte Narbe auf seiner Stirn war so unsichtbar wie der blutige Riss in seinem T-Shirt; aber sein leuchtendes Silberhaar war Anklage genug. Vor langer, langer Zeit hatten Lord Fouls Versuche, ihn zu töten, ihn von Schlacke und giftigem Hass befreit. Die Verwandlung seines Haars war nur eine Folge dieser schlimmen Caamora. Das grelle Licht des Krill schien sich jetzt auf sein Haar zu konzentrieren - und auf seine Halbhand mit den fehlenden Fingern. Sie schienen nach Linden ausgestreckt zu sein, als flehte Covenant sie weiterhin an, obwohl sie es doch gewesen war, die den Weltuntergang eingeleitet hatte. Er war nur ohnmächtig, da war sie sich sicher. Die Grausamkeit dessen, was sie ihm angetan hatte, hatte ihm nicht das Herz gebrochen. Die Ausübung katastrophal großer Macht hatte ihre Sinne fast unerträglich geschärft, und ihre Nerven zitterten unter einem Übermaß an Wahrnehmungsvermögen. Sie sah deutlich, dass Covenant durch Schock und Überanstrengung und nicht durch eine Verwundung gefällt worden war. Körperlich hatte ihre Tat ihm nicht geschadet. Aber sein Verstand
… 0 Gott, sein Verstand! Von Sprüngen durchzogen glich er einem Tongefäß unmittelbar vor dem Zerspringen. Die einzelnen Bestandteile seiner Persönlichkeit waren weiterhin intakt, klammerten sich in gewisser Weise aneinander. Wurde die Zeit jetzt angehalten - ging dieser Augenblick nicht in den nächsten über -, konnte das Gefäß vielleicht noch Wasser halten, und ein geschickter Töpfer hätte es vielleicht sogar wieder gebrauchsfähig machen können. Aber Linden wusste nicht, wie man die Zeit aufhielt. Sie wusste nur, wie man sie zerstörte. Welten werden nicht in Augenblicken erschaffen, hatte Bereks Geist gesagt. Auch vernichtet werden können sie nicht von einem Augenblick zum anderen. Trotzdem hatte Linden Avery, Auserwählte, Ring-Than und Trägerin des Weißgolds, das Ende aller Dinge unvermeidlich gemacht. Außerdem litt Covenant an erneut aufgeflammter Lepra. Die Krankheit hatte die meisten Nerven seiner Finger und Zehen absterben lassen. Auf den Handflächen und -rücken, auch an den Fußsohlen hatte er gefühllose Stellen. Aber zumindest das war nicht Lindens Schuld, sondern eine Nebenwirkung von Kevins Schmutz. Dieser zähe Dunst, der Gesundheitssinn und Gesetz beeinträchtigte und jede Manifestation von Erdkraft störte, hatte Covenant noch schlimmer getroffen. Er war zu einem von der Zeit Verstoßenen geworden: ein Ausgestoßener seiner eigenen Natur und seines langen Kampfes gegen den Verächter, ein Sinnbild für die nicht zu beseitigende Gefahr, in der das Land schwebte. In dem Leben, das sie verloren hatte, hätte sie seinen angegriffenen Verstand vielleicht nicht heilen können, sehr wohl aber seine körperliche Erkrankung. Ihre frühere Welt hatte Medikamente gegen das Wüten dieser Krankheit entwickelt. Hier aber kam Linden sich hilflos vor. Und sie fürchtete sich vor dem, was passieren könnte, wenn sie Erdkraft und Gesetz anwandte, um zu versuchen, seine Krankheit oder seinen Verstand ohne seine Zustimmung zu heilen. Auch sie selbst war zu einem Symbol geworden: die Verkörperung von Verlust und Scham und unbeachteter Warnungen. Sie hatte ihr Leben in eine Wüste verwandelt, in der sie nicht zu leben wusste. Und ich vertraue dir. Ich werde alles tun, um dir zu helfen. In ihrer Verzweiflung hatten Covenants Versicherungen wie Spott
geklungen. In diesem Augenblick war kein Teil ihres Ichs mehr imstande, sich der Verzweiflung ihrer Freunde anzunehmen. Liand und Stave; Mahrtiir, Pahni und Bhapa; die Ranyhyn … Linden konnte ihnen nichts mehr geben. Hätten die Gedemütigten oder die Gesetzesbrecher, Infelizitas oder der Egger, sie jetzt angesprochen, hätte Linden sie nicht hören können. Trotzdem waren in dieser Nacht Mächte anwesend, die sie sehr wohl erreichen konnten. Als Berek Halbhands gewaltige Stimme verkündete: »Nun ist es an der Zeit, vom Ritual der Schändung zu sprechen«, taumelte sie wie von einem Schlag getroffen zurück. Lorik Übelzwinger wandte sich an den ersten Hoch-Lord. Grimmig und hager fragte der Geist des KriH-Herstellers: »Stünde das nicht mir zu?« »Gewiss«, bestätigte Berek. Sein im eigenen Silberglanz sanft strahlender Körper schien im Widerschein des Krill klarere Formen anzunehmen. Das Licht des Kristalls schien noch immer von Eifer und wilder Magie zu pulsieren, aber das änderte nichts an seiner Erhabenheit und schien seine Kraft eher noch zu verstärken. »Aber du weißt recht gut, dass es Worte gibt, die ein Sohn, der seinen Vater enttäuscht zu haben glaubt, nicht hören kann. Die Liebe zwischen ihnen verhindert Gehorsam.« Liand starrte ihn sichtlich verwundert an, Stave beobachtete ihn aufmerksam, die Ramen schienen abzuwarten. Nur allmählich begriff Linden, dass die Aufmerksamkeit der Toten nicht ihr galt. Obwohl sie miteinander sprachen, war ihre Ausstrahlung nicht auf sie, sondern auf Kevin Landschmeißer gerichtet, der geisterhaft blass im Osten stand, als erlebte er, dass seine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden … und erwarte nun, nicht nur für seine eigenen, sondern auch für Lindens Verbrechen bestraft zu werden. Diese Erkenntnis zerrte an ihr, ließ ihre Bestürzung etwas schwinden. Wie sie hatte Kevin mit schlimmen Mitteln nur Schlimmes bewirkt. Seine Qualen rührten - und erreichten sie. Wie Berek vor ihm wandte sich nun auch Dameion an Lorik: »Das stimmt in der Tat!« Aus seinem heiteren Lächeln sprachen jetzt Traurigkeit und Zuneigung. »Glaubst du nicht, dass ich deine Taten und deinen Mut ebenso anzweifle wie du selbst, obwohl du mein Sohn bist,
den ich von Herzen liebe? Empfindest du nicht Bitterkeit darüber, dass du dem Vorbild, das ich dir gegeben habe, nicht gerecht geworden bist? Und hörst du auf mich, wenn ich schwöre, dass du für alle deine Bemühungen meinen Stolz verdient hast? Willst du glauben, dass meine Worte nicht nur von Liebe, sondern von wirklichen Verdiensten inspiriert sind?« Hoch-Lord Lorik nickte sichtlich widerstrebend. »Dann fällt es mir zu, zu sprechen«, verkündete Berek. Seine Füße drückten das üppige Gras nicht nieder, als er langsam vortrat. »Kevin, Sohn des Lorik, höre und beherzige, was ich sage«, verlangte er streng und sanft zugleich. »Zwischen uns existiert kein Band außer den Überlieferungen der Lehre und der Hoch-Lordschaft. Unsere Blutsverwandtschaft ist zu entfernt, um mich zurückhalten zu können. Deshalb kann ich offen sagen, dass deine Vorväter wegen des von dir angerichteten Schadens bekümmert, aber nicht etwa beschämt sind.« Während er sich bewegte, schien er Linden, dem Krill und Covenants regloser Gestalt näher zu kommen. Hätte er Linden auch nur flüchtig angesehen, wäre sie erneut zusammenzuckt, aber sein Blick blieb stetig auf den Landschmeißer gerichtet; seine Schritte würden sie an ihr vorbei zu Loriks Sohn führen. Gleichzeitig setzten sich auch Dameion und Lorik in Bewegung. Sie näherten sich Kevin absichtlich langsam, damit er spürte, dass er nicht bedroht wurde. Kevins Blick raste zwischen den Anwesenden hin und her; er wirkte verängstigt, was so gar nicht zu der sanften Heiterkeit Andelains passte. Vielleicht, so dachte Linden, glaubte er, die Worte und das Benehmen seiner Vorfahren seien bewusste Täuschungsmanöver, die seine Qualen noch steigern sollten. Oder er fürchtete, sie würden seine Leiden herunterspielen und damit andeuten, seine Verzweiflung sei für niemanden wichtig außer für ihn selbst. An seiner Stelle hätte Linden ähnliche Befürchtungen gehegt. Trotzdem wich Loriks Sohn nicht zurück. Vielleicht konnte er nicht; vielleicht verhinderte der Befehl, der ihn hergebracht hatte, jedes Wort und jede Tat, die seinen Schmerz hätten lindern können. Trotz ihrer eigenen Notlage - oder gerade deshalb - bedauerte Linden ihn.
»Nur die im Herzen Großen kennen große Verzweiflung.« Bereks klare, freundliche Stimme schien von den verlorenen Sternen widerzuhallen. »Du wirst geschätzt und geliebt - nicht wegen der Folgen deines Extremismus, sondern vielmehr wegen der Leidenschaft, die dich zur Schändung getrieben hat. Diese Eigenschaft hat auch Anstoß zu dem Schwur Haruchai gegeben. Sie war also nicht falsch.« Langsam versammelten der erste Hoch-Lord und seine Nachkommen sich vor Kevin. »Zweifellos kann solche Leidenschaft unermessliche Schmerzen verursachen. Aber sie hat den Verächter nicht freigesetzt. Das kann sie nicht. Auch unter irrtümlichen Voraussetzungen kann nichts, was aus Liebe und Entsetzen getan wird - oder sogar aus Selbstverachtung -, den Verächter ans Ziel seiner Wünsche führen.« Berek, Dameion und Lorik waren jetzt nahe genug heran, um Kevin berühren zu können. »Er kann nur von jemandem befreit werden, der von Wut getrieben keine Rücksicht auf die Konsequenzen nimmt.« Starr vor Angst stand Kevin seinen Vorfahren gegenüber, und der Krill blendete ihn mit seinem Silberglanz. »Hoch-Lord Kevin, Sohn des Lorik«, schloss Berek. »Andere mögen in dieses Extrem verfallen sein - oder sich zu ihm aufgeschwungen haben. Du aber hast dies nicht getan. Keiner von uns, die wir hier versammelt sind, kann mit Bestimmtheit sagen, dass er an deiner Stelle nicht ebenso gehandelt hätte.« »Ein wahres Wort in diesen schlimmen Zeiten, mein Sohn«, murmelte Lorik mit rauer Stimme. »Wenn ich nicht oft oder deutlich genug von meinen Anfällen von Verzweiflung erzählt habe oder davon, wie nahe ich mehrere Male dem Ritual der Schändung war, war ich wirklich kein guter Vater, und deine Vorwürfe müssen nicht dir selbst, sondern mir gelten.« Bei diesen Worten seines Vaters schien etwas in Kevins Innerem zu zerbrechen. Linden war, als hörte sie die Ketten, in denen sein Geist gelegen hatte, zerreißen, als er sich Loriks Umarmung öffnete. Lorik schloss seinen Sohn in die Arme und drückte ihn fest an sich, und Kevins Augen reflektierten erstaunten Silberglanz, als erst Dameion und dann auch Berek Vater und Sohn in die Arme schlossen. Von seinen Vorfahren umarmt und gehalten weinte Kevin, als endlich Erleichterung in seine gequälte Seele einzog. Und während er weinte, schien er durch
die Theurgie des Krill - oder durch Andelain - verwandelt zu werden. In der sie umgebenden Nacht wurde er kurzzeitig zu einem Leuchtturm: strahlend hell und erhaben. Dann verblasste er, bis er nur noch aus Nebelfetzen bestand, die seine Umrisse nachbildeten, bis sie sich auflösten und vergingen. Gleichzeitig verblassten auch Lorik und Dameion, als sie den letzten ihres Geschlechts zur Ruhe geleiteten. Nur Berek blieb zurück. Sein Wissen um Streben und Verzweiflung leuchtete aus ihm, als er sich nun Linden zuwandte. Der Moment, in dem sie zusammengezuckt wäre oder den Kopf eingezogen hätte, war vorüber. Auch den Blick der ersten Halbhand erwiderte sie nicht. In der Senke gab es eine weitere Gestalt, die nicht weniger litt als Kevin und ebenso trauerte. Berek hätte den Balsam seines Mitgefühls anderswo anbieten sollen. Linden hatte keine Verwendung dafür. Aber sie hatte sich getäuscht: Berek kam nicht, um sie zu trösten. Sein Tonfall wurde schärfer, als er zu sprechen begann. Seine Worte schienen wie ein Fuder Steine auf sie herabzuprasseln. »Linden Avery, ich kenne dich kaum. Trotzdem sehe ich, was du geworden bist. Du bist über die Heilerin hinausgewachsen, die einst mein Herz angerührt hat, weil sie Hoffnung in einem Meer aus Leid und Reue bot. Nun hast du dich in einen Galgenbühl verwandelt - auf einem kargen Boden, getränkt von Wut und Vorwürfen. Deshalb musst du dich noch einmal selbst übertreffen, während die Welt auf den Untergang wartet. Gelingt dir dies nicht, wird das Leid aller hier Versammelten kurz und grausam sein. Bestürzen dich die Folgen deiner Taten? Dann versuche eine Wiedergutmachung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du nicht mehr dienen und heilen wirst. Die Frau, die in mein Lager gekommen ist, um gegen den Tod anzukämpfen, hätte diese von ihr bewirkte Schändung niemals zugelassen.« Linden hörte ihn, aber sie achtete nicht auf seine Worte. Der Galgenbühl barg Wahrheiten, von denen Berek und seine Nachkommen nichts wussten. Zorn war nur ein Aspekt dessen, was sie in Caerroll Wildholz’ Reich und bei ihrer Feuerprobe auf dem Melenkurion Himmelswehr gelernt hatte. Durch ihre Statur und Macht hatten die alten Lords ihr geholfen, über sich selbst hinauszuwachsen. Jetzt fühlte sie sich zu den Gesetzesbrechern hingezogen.
Zu Elena, Tochter Lenas und Covenants, die das Gesetz des Todes außer Kraft gesetzt hatte, weil sie Kevins Schmerz für echt gehalten - und weil sie wie Linden die Warnung der Ranyhyn missachtet hatte. Auch Linden war eine Gesetzesbrecherin. Und sie konnte nicht behaupten, in das erlösende Mysterium eingeweiht zu sein. Jenes Mysterium, das es Caer-Caveral ermöglicht hatte, das Gesetz des Lebens zu brechen, damit Covenants Geist weiter den Bogen der Zeit bewachen konnte, obwohl sein Körper ermordet worden war - und damit Hollian und ihr ungeborener Sohn wieder leben konnten. Der tote Forsthüter von Andelain hätte Linden nicht verstanden. Nur Elene konnte sie jetzt verstehen, nachdem auch Linden die Warnung der Ranyhyn missachtet hatte und alle ihre Entscheidungen zu Katastrophen geführt hatten. Linden ging um Covenants hilflos ausgestreckte Gestalt und das grelle Licht des Krill herum, ließ dabei ihren Stab und Covenants Ring achtlos im Gras zurück, durchquerte die Senke und näherte sich dem letzten Forsthüter und Hoch-Lord Elena. Sie spürte, wie Bereks Schatten sie beobachtete, spürte, wie er versuchte, ihren Seelenzustand oder die Richtung ihrer Gedanken auszuloten. Aber sie hatte keine Aufmerksamkeit für ihn übrig, und schließlich hörte sie ihn leise seufzen. Ungetröstet verblasste auch er und folgte seinen Nachkommen, als hätte Linden ihn fortgeschickt. Mit dem Verschwinden dieser ehrfurchtgebietenden Gestalten - und der Flammengeister, die vor Lindens großem Unrecht geflüchtet waren begannen ihre Gefährten aus ihrem Schock und ihrer Verzauberung zu erwachen. Liand und die Ramen wurden unruhig, waren sichtbar besorgt. Der Gedemütigte und sogar Stave sahen Linden nach, als missbilligten sie ihre Weigerung, Berek Halbhand zur Kenntnis zu nehmen und sich vor ihm zu rechtfertigen. Der Egger beobachtete Linden angespannt, während Infelizitas’ Verzweiflung sie weiterhin umtanzte wie zerborstene Juwelen. Linden ignorierte auch sie und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf die Gesetzesbrecher, die Covenant aus der Zeit begleitet hatten, um Lindens dringendstes Bedürfnis zu erfüllen. Elena schien ihren Blick nicht erwidern zu können und studierte stattdessen aufmerksam das Gras zu Lindens Füßen. Ihre Züge waren von Kummer und Bedauern verzerrt und ihr zerrauftes, vom grellen
Licht des Krill erleuchtetes Haar umrahmte sowohl ihre Verbitterung als auch ihre nackte Abscheu vor sich selbst. Unter anderen Umständen hätte Linden vielleicht aus Mitgefühl geschwiegen. Elena war Covenants Tochter, und so hätte Linden aus reiner Freundlichkeit versucht, diesen Geist so rücksichtsvoll zu behandeln, wie sie es einst mit Joan getan hatte. Aber auch Roger war ein Kind Covenants, und deshalb beschloss Linden, keine Geduld mit Elena zu haben. Linden hatte ein Verbrechen verübt, und sie konnte es sich nicht leisten, Elenas Schwächen mehr zu tolerieren als ihre eigenen. Sie brauchte eindeutige Reaktionen, klare Antworten. Alles andere würde nicht genügen. Ja, dachte Linden, sie war eine Art Galgenbühl geworden. Ihr Kummer wegen Kevin Landschmeißer glich Caerroil Wildholz’ Trauer um seine Bäume - und um seine Zukunft. Und der Kummer würde ihr auch bleiben. Aber die darin liegende Verwundbarkeit war bereits in dem unfruchtbar gewordenen Boden versickert. Wie der ehemalige Forsthüter der Würgerkluft war Linden über das Ausmaß ihrer eigenen Unzulänglichkeit entsetzt. Aber sie war nicht zornig wie er und hatte niemanden, auf den sie ihre Schuld abwälzen konnte. Ihr Kummer war zu groß, als dass sie Rücksicht auf Elenas Zerbrechlichkeit hätte nehmen können. Vielleicht verstand Elena, wie reich Kevin von Berek, Dameion und Lorik beschenkt worden war. Auch wenn ihr Geist Lindens Blick mied, schien er sich nach einem kleinen Zeichen der Vergebung zu sehnen. In ihre Haltung mischten sich Hoffnung mit nackter Angst vor einer Zurückweisung. Doch Linden hatte Hoffnung und Verzweiflung zu weit hinter sich gelassen, um Elena zu trösten. Covenants Tochter brauchte seinen Zuspruch, nicht den ihrigen. Mit halblauter Stimme, angespannt und verbittert, forderte sie: »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.« Diese Worte galten ebenso ihr selbst wie der kummervollen Elena. »Damit bewirkst du nichts. Du hast genug gelitten. Sag mir, was ich jetzt tun soll.« Sag mir, wie ich ertragen kann, was ich getan habe. Sie brauchte eine Antwort. Aber anscheinend hatte sie - wie Elena selbst - die Toten falsch eingeschätzt. In ihrer früheren Gestalt hätte Elena Covenant vielleicht geholfen - jetzt aber konnte sie es nicht. Nur ein Echo von Lindens Verzweiflung verzerrte ihre Züge, sie warf den Kopf
in den Nacken, und aus der Tiefe ihres trostlosen Herzens schrie sie ihr Leid den zum Untergang verurteilten Sternen entgegen. Dann blitzte sie im Licht des Krill kurz auf, folgte den fernen Vorfahren ihrer Hoch-Lordschaft aus der Senke heraus in die Nacht und war verschwunden. »Elena!«, rief Linden. »Komm zurück! Ich brauche dich!« Ich brauche dich, um Jeremiah zu retten. Denn er ist der Einzige, den ich noch retten kann. Aber ihr Appell verhallte einsam zwischen den nachtdunklen Bäumen und blieb ohne Antwort. Linden fing den Blick ihrer Gefährten auf. Sie starrten sie an, als hätte ihr Verhalten ihnen einen Stich ins Herz versetzt. Schließlich war es Caer-Caveral, der das Wort ergriff, und seine Empörung strahlte aus jeder Linie seiner Geistergestalt: »Du urteilst zu hart, Weißgoldträgerin. Selbst dem Landschmeißer ist Trost zuteilgeworden. Fühlt dein Herz kein Mitleid mit Elena, der Tochter Lenas, deren Kühnheit und Unbesonnenheit sie dazu zwangen, sich im Dienst des Verächters aufzureiben?« »Darum geht es nicht, verdammt noch mal«, wehrte Linden ab. »Mitgefühl kann keinen von uns retten. Irgendwer muss mir sagen, was ich tun soll.« Der tote Forsthüter verschränkte die Arme, legte sein Szepter in die linke Armbeuge und musterte sie abweisend und erbarmungslos. »Schluss jetzt mit deinen Protesten. Sie sind unbegründet. Wir haben keine Ratschläge für dich.« Linden schlug sich mit beiden Fäusten an die Schläfen. Wäre Caer-Caveral mehr als ein Trugbild gewesen, hätte sie ihn gepackt und durchgeschüttelt. »Dann sag mir, warum du mir nicht helfen willst. Als Covenant zuvor hier war, hast du ihm alles gegeben« - Ratschläge und den rätselhaften Hohl und den Standort des Einholzbaums. Der Forsthüter und Covenants Tote hatten jeden Schritt auf seinem Weg zu Tod und Triumph vorbereitet. »Warum hast du dich damals nicht um ›die Notwendigkeit der Freiheit« gekümmert? Er ist Thomas Covenant. Er hätte seinen Weg auch ohne dich gefunden. Aber ich weiß allein nicht weiter.« »Weshalb willst du mich verlassen?«
Caer-Caveral starrte sie finster an, als schüttelte er die Erinnerungen an seinen Todesgesang von sich ab. »Vieles hat sich verändert, seit der Zweifler unter den Lebenden gewandelt ist. Du bist in der Tat verlassen worden - von den Toten ebenso wie vom Schöpfer der Erde. Wie kann es anders sein, wenn alle deine Taten nur Ruin bewirken?« Er musterte sie aufmerksam, ehe er weitersprach: »Aus Mitleid«, begann er, obwohl sein Tonfall keineswegs mitleidig klang, »will ich bemerken, dass der Zweifler allein nach Andelain gekommen ist, weil kein Gefährte es wagen wollte, ihn zu begleiten. Er hatte weder deinen Gesundheitssinn noch den Stab des Gesetzes. Die Ranyhyn hatten ihn nicht gewarnt. Er kannte nur Liebe und Mitgefühl. Deshalb war er bedürftiger als du. Aus diesem Grund hat er Geschenke erhalten. Trotzdem haben die Toten keine seiner Entscheidungen beeinflusst. Er ist weder gekommen, um Anleitung zu erbitten noch um um Hilfe zu bitten. Tatsächlich ist er keinen Weg gegangen, den er nicht selbst gewählt hatte - oder den du nicht für ihn bestimmt hast. Du hast Gefährten, Auserwählte, die dir weiter treu dienen. Brauchst du Rat, musst du dich an sie wenden. Sie besitzen kein Wissen, über das du nicht auch verfügst, aber ihre Herzen sind nicht in Finsternis gefangen.« Abrupt ließ Caer-Caveral die verschränkten Arme sinken, packte sein Szepter mit einer Faust und ließ das knorrige Holz über seinem Kopf kreisen, als gäbe er den Einsatz zu einer seit Jahrtausenden nicht mehr gespielten Melodie. So entfernte er sich in die Nacht hinaus und ließ Linden allein am Rand der Senke zurück. Im Schein des Krill erinnerten Andelains Bäume Linden an Erdgötter. Hinter ihr lagen der verkohlte Stumpf des früheren Lebens des Forsthüters, der Krill selbst und Thomas Covenants bewusstlos hingestreckte Gestalt. Die Sorgen und Leidenschaften ihrer Gefährten zerrten an ihr, und im Gras zwischen ihnen lagen der Stab des Gesetzes und Covenants Weißgoldring, als bildeten diese Werkzeuge der Macht die Achse, um die sich das Schicksal von Welten drehte. Einen Augenblick lang sehnte Linden sich danach, einfach wegzugehen. Etwas Ähnliches hatte sie einst in Andelain getan, als ihre Ängste um und vor Covenant eine Mauer zwischen ihnen errichtet hatten. Sie könnte ins Dunkel gehen, sich zwischen den sanften Hügeln verlieren. Vielleicht würde die Natur mit ihrer lindernden Güte ihr Schuldgefühl
mildern, ihr gequältes Herz besänftigen. Sie könnte weiter und weiter gehen, bis nichts mehr von ihr übrig war und die schwere Last der Bedürfnisse des Landes, die sie nicht befriedigen konnte, auf andere Schultern überging. Aber damit hätte sie Jeremiah im Stich gelassen - ihn ebenso im Stich gelassen, wie sie selbst verlassen worden war. Auch ihre Freunde hatten Besseres von ihr verdient. Und nach allem, was Linden ihm angetan hatte, hatte auch Covenant mehr verdient. Linden dachte an das zurück, was Mähnenhüter Mahrtiir ihr vor einigen Tagen erklärt hatte: Dass darin der Irrtum von Kevin Landschmeißer gelegen hatte … und auch der des großen Kelenbhrabanals. Als alle Hoffnung verloren war, hatten sie sich der Verzweiflung ergeben. Hätten sie weitergekämpft, sich gegen ihren Untergang gestemmt, hätte sich vielleicht irgendein unvorhersehbares Wunder ereignet. An unvorhersehbare Wunder glaubte Linden nicht mehr. Für die war Covenant zuständig - und sie hatte ihn zum Krüppel gemacht. Trotzdem kehrte sie der sie umgebenden Dunkelheit den Rücken und ging langsam den Hang hinunter, hin zu ihren Freunden, den Ranyhyn, den Gedemütigten und Infelizitas und dem Egger. Keiner von ihnen kümmerte sich um den bewusstlosen Covenant, obwohl die Gedemütigten bei ihm Wache hielten. Sie waren vorsichtig mit ihm - aus Ehrfurcht zurückhaltend oder weil sie fürchteten, sie könnten ihm unabsichtlich schaden. Trotzdem wussten alle, die Linden beobachteten, zu viel. Für alle, die auf ihrer Seite standen, war ihre Tat ein Stachel im Herzen. Ja, Liand und den Ramen fehlte das Wissen des Eggers, Infelizitas’ erdumspannendes Bewusstsein und das kollektive Gedächtnis der Haruchai, und keiner ihrer Freunde - oder ihrer Gegner - konnte es mit dem einzigartigen Verständnis der Ranyhyn aufnehmen. Aber sie alle besaßen Gesundheitssinn; Wahrnehmungsvermögen. Der Vorwurf der Elohim, Linden habe die Vernichtung der Erde heraufbeschworen, mochte für Liand und die Ramen, vielleicht sogar für Stave und die Gedemütigten abstrakt geklungen haben. Trotzdem wussten sie, dass sie Augenzeugen einer unumkehrbaren Katastrophe geworden waren; dass Linden alle Warnungen gerechtfertigt, alle schlimmen Prophezeiungen erfüllt hatte. Wenn deine Taten ins Verderben führen, wie es unvermeidlich ist…
Du bist imstande, Schreckliches zu tun. Woher hatten der Egger und sogar die Gräuelinger gewusst, wie schlimm sie ihre Gefährten enttäuschen würde? Linden schüttelte den Kopf. Genug davon! Sie straffte die Schultern, näherte sich dem Krill und Covenants schlaffer Gestalt und versuchte erst gar nicht, ihr schweres Herz hinter einem Schleier aus Reue und Scham zu verbergen. Wenn sie die Schlange des Weltendes wirklich geweckt hatte, wollte sie die Konsequenzen erdulden, soweit das menschenmöglich war. Bhapa und Pahni wichen ihrem Blick aus - während Pahni sich an Liand klammerte und ihren Schock und ihr Entsetzen an seiner Schulter verbarg, betrachtete Bhapa angelegentlich das Gras vor seinen Füßen, als fürchtete er, unter Lindens Blick in Tränen auszubrechen. Der Verband über Mahrtiirs Augen hingegen war zu schmal, um seinen wilden Zorn verbergen zu können. Stave hatte seinen Gleichmut zurückgewonnen - oder ihn nie verloren. Seine Haltung war fragend, nicht ablehnend. Aber die anderen Gedemütigten waren weniger zurückhaltend. Unter ihrer vertrauten Dienstbarkeit ließ ihr Wunsch, sich auf Linden zu stürzen, sie erzittern. Covenant hatte die Haruchai angewiesen, sie, Linden, zu beschützen. Aber sie schienen nicht länger bereit zu sein, auf ihn zu hören. Die Ranyhyn hingegen hielten sich bereit, Linden erneut zu verteidigen. Als sie sich ihnen näherte, wieherte Hyn leise, sorgenvoll und resigniert, als machte die Stute sich Vorwürfe. Trotz allem, was Linden getan hatte, hielten die Pferde ihr weiter die Treue. Falls sie Infelizitas oder den Egger für das Schicksal des Landes verantwortlich machten, ließen sie es sich nicht anmerken. Doch von all ihren Freunden war es allein Liand, der sie ansah und mit ihr sprach. Jede Spur jugendlicher Würde war aus seinem Gesicht verschwunden und das Selbstbewusstsein als Steinhausener war verflogen. Den Sonnenstein hatte er in seinen Beutel gesteckt und ließ ihn auch jetzt dort. Linden hatte ihn noch nie so klein und mutlos gesehen. Die pechschwarzen Bogen seiner Augenbrauen unterstrichen seine Unsicherheit. Sie erwartete, dass er eine Erklärung, eine Rechtfertigung einfordern, ihr Vorwürfe machen würde. Er und alle anderen hatten sich dieses Recht
verdient. Aber das tat Liand nicht. Stattdessen fragte er mit vor Mitgefühl heiserer Stimme: »Willst du ihn nicht heilen?« Er deutete hilflos auf Covenant. »Linden, die Schmerzen seiner Wiedergeburt zerreißen ihn. Er kann die Größe seines Geistes nicht bewahren. Und er leidet an einer weiteren Krankheit, die ich nicht verstehe, obwohl sie im Vergleich zu seinem gestörten Geist unerheblich zu sein scheint. Der Stab des Gesetzes liegt dort.« Liand zeigte auf den mit Eisen beschlagenen und mit Runen verzierten Ebenholzstab. »Willst du ihm nicht die Wohltat seiner Flamme gönnen? Er hat mehr erlitten, als ich mir vorstellen kann. Willst du seinen jämmerlichen Zustand nicht lindern?« Es lag kein Vorwurf in Liands Stimme, aber trotzdem schüttelte Linden den Kopf. Sie war zu bestürzt, und die Fertigkeit, überlegt zu handeln, kehrte erst allmählich zurück. »Findest du nicht«, hakte Liand nach, »dass ich schon genügend Schaden angerichtet habe?« Linden dachte nach. Covenant wurde von keiner Macht beschützt, die ihre Berührung hätte zurückweisen können, aber sie konnte seinen Geisteszustand nicht beeinflussen, ohne mit ihrem Gesundheitssinn in ihn einzudringen. Von ihm Besitz zu ergreifen. Vor langer Zeit hatte sie solche Dinge getan; seither wusste sie, dass dieses Eindringen so schlimm wie eine Vergewaltigung war. Außerdem konnte sie nicht voraussehen, wie irgendwelche Veränderungen von Covenants beeinträchtigter Transzendenz sich auswirken würden. Langjährige Erfahrung hatte sie gelehrt, dass jedes Bewusstsein, das sich nicht selbst heilte, vermutlich für immer gestört war. Und was dieses Thema betraf, hatten die Ranyhyn sie deutlich genug gewarnt. Sie hatten ihr gezeigt, wie es vermutlich enden würde, wenn sie Covenant ihren Willen aufzwang. Oder auch Jeremiah. Manche Übel ließen sich auf keine Weise so verdrehen, dass sie anderen Zwecken als ihren eigenen dienten. Manipulierte sie Covenant in diesem Zustand zu ihrem Vorteil, war sie nicht besser als der scheußliche Sukkubus, der sich an Jeremiahs Hals festgesaugt hatte. Vielleicht würde irgendein hartnäckiger Überlebenstrieb Covenant helfen, sich im Labyrinth seines von Rissen und Spalten durchzogenen Verstands zurechtzufinden. Linden aber würde es nicht versuchen.
Liand zuckte bei ihrer Antwort zusammen - wegen der Worte selbst oder wegen des scharfen Klanges ihrer Stimme in der milden Nacht. Pahni erstickte ein Wimmern an seiner Schulter, und Mahrtiirs finsteres Schweigen ließ Linden vermuten, er lege sich Argumente zurecht, um sie vielleicht doch noch zu überzeugen. Aber Linden ignorierte ihn, und sie machte sich auch nicht die Mühe, ihren Stab oder Covenants Ring aufzuheben. Jeremiahs kaputtes Spielzeug in ihrer Tasche genügte ihr ebenso wie das Einschussloch und die kleinen Risse in ihrer Bluse. Ohne die Feindseligkeit in den Blicken der Gedemütigten zu beachten, ging sie zu Infelizitas. Jetzt, da die Krise von Lindens Macht überwunden war, überstrahlte das Echo wilder Magie von Loriks Krill nicht länger das Leuchten der Elohim, und Infelizitas erstrahlte erneut als bewundernswürdige Erscheinung aus Lieblichkeit - und Erschaudern und bestürztem Hochmut. Ihr reich geschmücktes Gewand umhüllte sie wie aus Edelsteinen und Vorwürfen gewebte Tränen. Im Widerspruch liegt Hoffnung - das hatte die Mahdoubt einst zu Linden gesagt -, und vor ihr waren es Covenants Worte gewesen, und die von Hoch-Lord Mhoram. Die Mahdoubt war um Lindens willen Wahnsinn und Tod verfallen, Covenant lag wie zerschmettert im Gras, und Mhoram hatte Linden nie gekannt. Ohne Vorrede sagte Linden: »Die Toten sind fort.« Sie zweifelte nicht daran, dass Sunder und Hollian bereits Abschied von ihrem Sohn genommen hatten und Grimme Blankehans die Schwertmainnir verlassen hatte, damit sie bedenken konnten, was sie alles verloren hatten. »Und Covenant kann mir nicht helfen«, fuhr sie fort. »Ich habe ihn zu schwer verletzt.« Auch das Wissen des Eggers, die Frucht langen Eifers und langer Gier, ließ sich nicht mit dem unsterblichen Bewusstsein der Elohim vergleichen. »Also bleibst nur noch du übrig. Sag du mir, wie ich meinen Sohn finden kann.« Der Egger hatte behauptet, das wolle oder könne Infelizitas nicht. »Weißgoldträgerin«, antwortete die Elohim scharf. »Du hast selbst gefragt, ob das Unheil, das du angerichtet hast, nicht schon genügt. Willst du Verderben durch Wahnsinn verschlimmern? Dein Sohn ist eine Scheußlichkeit. Wozu er missbraucht wird, ist noch abscheulicher. Hat Berek Halbhand nicht gesagt, dass du dich aufs Neue selbst übertreffen musst? Damit meinte er, dass du dich von diesem wahnwitzigen
Verlangen nach deinem Sohn frei machen musst.« Linden schüttelte den Kopf. Infelizitas’ Worte huschten wie Schemen an ihr vorbei: wirkungslos und ohne ein Ziel zu finden. Solange sie für Verzweiflung taub blieb, war Linden gegen Vorwürfe Dritter immun und zog es zudem vor, Infelizitasens Interpretation der Worte des Hoch-Lords Berek keinen Glauben zu schenken. Als hätte sie die Worte der Elohim nicht vernommen, forderte Linden: »Dann sag mir, wie ich die Schlange aufhalten kann.« »Die Schlange aufhalten?« Die Stimme der Elohim brach beinahe. »Glaubst du, dass solch ein Wesen sich irgendwie behindern oder aufhalten lässt? Deine Unwissenheit ist so groß wie deine Vergehen es sind.« Hinter Linden lachte der Egger glucksend und absolut freudlos. »Dann klär mich auf«, verlangte Linden. »Heile meine Unwissenheit. Wieso existiert solch ein Wesen überhaupt? Zu welchem Zweck? Was hat den Schöpfer dazu gebracht, die Schlange des Weltendes zu erschaffen? Wollte er die eigene Schöpfung vernichten? War alles ›alles Leben und alle Zeit‹ - nur ein grausames Experiment, um zu sehen, wie lange es dauern würde, bis wir alles falsch machen?« »Närrin!«, erwiderte Infelizitas aufgebracht. »Wie hätte der Schöpfer sonst eine lebendige Welt erschaffen können? Du bezeichnest dich selbst als Heilerin. Wie kannst du dann nicht wissen, dass das Leben nicht ohne den Tod existieren kann?« Ihre Stimme verfing sich zwischen den Bäumen und webte ein Netz aus Sorge und Abscheu. »Vom kleinsten Grashalm bis zur wildesten Sandgorgone oder den Skurj kann alles Lebende nur existieren, weil es den Keim des eigenen Untergangs in sich trägt. Würden Lebewesen nicht altern und sterben, würden sie bald alles sonstige Leben und Zeit und Hoffnung verdrängen. Deshalb altert alles Lebendige und stirbt irgendwann. Und ist seine Lebensspanne lang, wird dafür seine Fortpflanzungsfähigkeit verringert.« Während die Elohim sprach, kamen Lindens Freunde näher und scharten sich um sie; nur Bhapa und die Gedemütigten blieben bei Covenant zurück. »Dem Schöpfer wäre es zweifellos möglich gewesen«, fuhr Infelizitas fort, »innerhalb des Bogens der Zeit beliebig viele Himmel und Erden zu erschaffen. Aber er konnte sich keine lebendige Welt vorstellen, die kein
Mittel enthielt, um ihren eigenen Untergang zu bewirken.« Infelizitas’ Blick wanderte zu dem Egger und glühte nun vor Zorn. »Dieser schamlose Insequente dort drüben beweist, wie töricht seine Gier ist. Er stellt sich vor, wie er mit Hilfe von Erdkraft und wilder Magie die Schlange vernichtet und so den Fortbestand der Erde sichert. Aber mit der Schlange würde auch alles Leben vergehen. Ihre Macht kann nicht bekämpft werden, ohne völliges Chaos auszulösen. Solange unsere Erde besteht, ist die Schlange nützlich. Der Egger träumt von Ruhm, aber er wird nur die eigene Vernichtung ernten.« Der Egger lachte erneut, volltönend diesmal und frei von Heiterkeit. »Du verkennst mich, Elohim«, sagte er. »Aber so begegnest du uns Insequenten schon seit undenklichen Zeiten. Ich bin keine Weißgoldträgerin, gefangen in einem Sumpf aus Unwissenheit und fehlgeleiteter Liebe. Ich habe andere Wünsche, andere Ziele, die über derartigen Egoismus weit hinausgehen.« Die Feindseligkeit zwischen dem Insequenten und der Elohim interessierte Linden nicht, denn sie konnte ihr nicht nützen. Aber noch ehe sie intervenieren konnte, wandte sich Stave an Infelizitas: »Wie kommt es dann, dass die Elohim keinen Tod kennen? Wieso ist euch die Hoffnung und der Untergang alles anderen Lebens erspart geblieben? Ich kann keine Verdienste entdecken, die es rechtfertigen würden, dass es für euch keinen Tod gibt.« »Erbärmlicher Wicht!«, fauchte Infelizitas. »Wie kannst du es wagen, das zu behaupten? Wir Elohim lassen uns nicht von deinesgleichen beleidigen!« Als ihr Blick auf Linden fiel, zügelte Infelizitas ihren Zorn, als hätte Linden eine gewisse Gewalt über sie - einen Einfluss oder eine Bedeutung, die Linden selbst nicht enträtseln konnte. Mit gepresster Stimme erklärte Infelizitas: »Wir Elohim unterliegen nicht dem Tod, weil unser Lebenszweck unsterblich ist. Wir pflanzen uns nicht fort, verändern uns nicht und sterben auch nicht, weil wir als Aufseher der Schlange erschaffen wurden. Von Zeit zu Zeit haben wir bei Gefahren für das Leben auf oder in der Erde eingegriffen. Aber unsere wahre Bestimmung, unser Wyrd, erfordert, dass wir den Schlaf der Schlange behüten. Du musst verstehen, Weißgoldträgerin, dass wir nicht die Macht haben,
diesen Schlaf zu erzwingen. Unsere Aufgabe ist es, zu beschwichtigen und zu befrieden. So dienen wir durch unsere bloße Existenz allen niederen Lebensformen der Erde. Wenn wir gegen Unrecht wie die Skurj oder die Dezimierung des Einholzwalds einschritten, achteten wir darauf, so zu handeln, dass die Schlange nicht in ihrem Schlaf gestört wird. Und wenn wir zuließen, dass aus unserem Wesen Autoritäten wie die Forsthüter oder der Koloss am Wasserfall geschaffen wurden, stärkten wir zugleich die Vitalität des Einholzbaums, damit wir in Frieden gelassen werden.« Während sie sprach, schienen ihre Worte die hoch aufragenden Bäume, die tiefe Nacht und das Licht des Krill mehr und mehr zu einer Elegie zu verweben - zart wie Silberglöckchen und voller Traurigkeit. »Unser Zweck ist Frieden, der zugleich Mittel und Ergebnis unserer Selbstbetrachtung ist. Die Forsthüter - und andere - sind unsere Stellvertreter, ebenso wie wir Stellvertreter des Schöpfers sind. Sie dienen an unserer Stelle als Wall und Bastion des Schöpfers und bewahren das Leben, das strebt und lebt, während wir die Erde bewahren.« Die Elegie wurde zu einem Klagelied und pulsierte nun vor Bitterkeit. »Trotzdem erzählen selbst solche Opfer nicht die ganze Geschichte unseres Wertes für die Erde. Den Einholzbaum habe ich schon genannt. Unter Verzicht auf friedfertige Träume von uns selbst haben wir uns bemüht, alle Gefahren für dem Baum abzuwehren - denn in dem gleichen Maße, in dem die Schlange den Tod bewirkt, erhält er das Leben. Und so begann der wahre Niedergang der Erde in dem Augenblick, in dem ein Insequenter zum Wächter des Einholzbaumes wurde. Der Listenreichtum des Theomach war groß, aber sein viel gerühmtes Wissen hat für diese Last nicht ausgereicht. Obwohl er den Tod des Theomach bewirkte, reichten auch Kraft und Tapferkeit des Haruchai Brinn nicht aus. Solche Taten haben die Heiligkeit des Einholzbaumes verringert - und den Schlaf der Schlange weniger tief werden lassen. Unsere Tragödie besteht darin, dass der auf unseren Herzen liegende Schatten schwarz geworden ist. Mit unserer Kraft allein lässt sich das Unheil nicht mehr abwenden. Die Schlange ist geweckt und heißhungrig, und wir können sie nicht wieder in Schlaf versetzen. Durch deine
fehlgeleitete Liebe, wie der Inse-quente sie richtig genannt hat, hast du uns verdammt, Weißgoldträgerin. Deinetwegen werden wir als erste Opfer den Hunger stillen müssen, den du heraufbeschworen hast.« Während Infelizitas auf Staves Frage antwortete, wurde Linden zunehmend gereizt. Obschon sie die Enthüllungen der Elohim in gewisser Weise anerkennen musste, hatten sie keinen Einfluss auf ihre eigene Lage und milderten diese auch nicht ab. Deine Reue wird deine Kraft übersteigen, sie zu ertragen. Linden brauchte Fakten, Einzelheiten, um genau verstehen zu können, was sie ausgelöst hatte. Berek Halbhand hatte gesagt, dass Welten weder in einem Augenblick erschaffen noch vernichtet würden und dass noch vieles würde geschehen müssen, ehe ihre, Lindens Taten ihre letzte Frucht trügen. Daran klammerte Linden sich - und forderte mehr von Infelizitas. »Also gut«, knurrte sie. »Das habe ich begriffen. Aber was passiert jetzt? Die Schlange ist wach. Irgendwo. Was wird sie tun? Wie wird sie die Erde vernichten? Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Wie lange die Welt noch existieren würde, war ihre einzige Sorge. Die Schlange war Covenants Problem, nicht ihres - und nur er konnte es lösen. Sie aber musste vor dem Ende ihre eigene Aufgabe zu Ende bringen. …du bist noch nicht fertig. Diese Wahrheit hatte Covenant erkannt. Und er hatte eingestanden, dass sie Erfolg haben könnte. Sie ist die Einzige, die das schaffen kann. Linden zog es vor, zu glauben, er habe damit die Erfüllung ihrer noch verbleibenden Pflicht gemeint. »Die Schlange hat lange, sehr lange geschlummert.« Infelizitas sprach sanft, aber ihre Miene war von Abscheu und Entsetzen verzerrt. »Nach dem Erwachen ist sie heißhungrig. Wie jedes Lebewesen muss sie fressen. Und als ihre Aufseher sind wir zugleich ihre Nahrung. Das bedingt unser Wyrd. Die Schlange muss sich von uns ernähren. Erst wenn sie sich an Elohim satt gefressen hat, wird sie sich ihrer größeren Aufgabe zuwenden. Sollten einige Elohim nicht verschlungen werden, überleben sie nur, um Zeugen des Endes aller Dinge zu werden und so ins endgültige Dunkel hinüberzugehen.« … sich von uns ernähren. Von allen Elohim. Linden hätte schockiert sein sollen, aber sie hatte einmal mehr nicht richtig zugehört und konnte nicht innehalten, um die Kosten ihres Tuns abzuwägen. Infelizitas hatte ihr
nicht gegeben, was sie brauchte, und so versuchte Linden es erneut. »Wie lange dauert das alles? Stunden? Tage? Wochen?« Die Stimme der Elohim klang halb erstickt vor Zorn und Tränen: »Wir werden versuchen, unser Ende hinauszuzögern, weil wir nicht anders können. Um unserem Los zu entgehen, werden wir fliehen und uns in möglichst weiter Ferne verstecken, sodass die Schlange uns einzeln aufspüren muss. Aber sobald sie Nahrung aufnimmt, wächst auch ihre Kraft. Bevor eine Handvoll Tage vergeht, wird ihre Macht uns entdecken und verschlingen. Dann existiert auf der Erde niemand mehr, der ihr Einhalt gebieten kann.« Einmal mehr lachte der Egger freudlos auf, aber niemand beachtete ihn. »Also gut«, sagte Linden energisch. »Eine Handvoll Tage. Das ist nicht viel.« Stave oder die Gedemütigten hätten die Elohim vielleicht noch länger ausgefragt. Wie Linden selbst verziehen die Haruchai nichts, und es gab vieles, was sie Infelizitas hätten vorwerfen können. Mahrtiir mochte vielleicht gegen das Schicksal der Ranyhyn protestieren, das die Elohim angedeutet hatte. Linden würde sie vorbringen lassen, was immer sie wollten. Jetzt aber murmelte sie mehr zu sich selbst: »Ich muss mich dieser Sache stellen. Das kann ich nicht länger aufschieben.« Sie erwartete, dass der Egger ihr einen Handel vorschlagen würde. Einen Tausch. Untätigkeit oder Zupacken waren ihre einzigen Alternativen und Jeremiah brauchte sie. Tu es also, ermahnte Linden sich selbst. Solange du noch kannst. Als sie sich von Infelizitas abwandte, gesellten Liand und die Ramen sich zu ihr, doch kurz darauf trat ihr der Mähnenhüter in den Weg, sodass sie nicht anders konnte, als sein zerstörtes Gesicht mit der Augenbinde zu betrachten. »Ring-Than«, begann er schroff. »Auserwählte. Hier gibt es vieles, das wir nicht verstehen. Wir sind Ramen, Diener der großen Ranyhyn. Seit Jahrtausenden sind wir damit zufrieden. Wir haben nichts mit dem Schicksal von Welten zu schaffen. Aber es gibt etwas, worüber ich sprechen muss.« Linden starrte ihn an - das Gesicht starr, wie ausdruckslos, vielleicht sogar so unversöhnlich wie die Haruchai. Dabei war Mahrtiir ihr Freund. Ihretwegen hatte er sein Augenlicht - und damit gewiss auch einen Teil seiner Selbstachtung - verloren. Sie überwand sich und sagte: »Ich höre.«
Der Mähnenhüter wählte seine Worte mit Bedacht: »Wir haben die Worte der anderen gehört, und so will ich nicht leugnen, dass der Schaden durch die Wiedererweckung des ersten Ring-Thans gewaltig und schrecklich ist. Aber die Tat ist nun einmal getan. Niemand kann sie mehr rückgängig machen. Und seine Bedürftigkeit ist unmittelbar und gegenwärtig. Ihn jetzt zu heilen, kann nicht ändern, was geschehen ist, aber es könnte viel dazu beitragen, künftigen Schaden abzuwenden.« Linden seufzte innerlich. Sie hatte dieses Risiko bereits zurückgewiesen. Um ihrer Freunde willen antwortete sie: »Genau erklären kann ich das alles nicht. Wer nie besessen war, kann sich nicht vorstellen, wie es ist, an Herz und Seele manipuliert zu werden. Allein das wäre schon schlimm genug. Aber diese Sache hier ist schlimmer. Ein zerbrochener Verstand lässt sich nicht so leicht heilen wie eine Schnittwunde, ein Beinbruch oder eine Infektion. Ein einziger Fehler würde genügen, um …« An der Grenze des Wanderns hatte sie versucht, von Anele Besitz zu ergreifen, um seine Wahnvorstellungen oder seine Verwundbarkeit zu mildern. Nachträglich war sie ihm dankbar, dass er sie abgewiesen hatte. Wahrscheinlich hätten ihre Bemühungen ihm auf irgendeine heimtückische Weise geschadet. Linden war weder klug noch selbstlos genug, um ihm ihre Wünsche zu vermitteln, ohne seine Integrität zu beschädigen. Sie hatte Jahre gebraucht, um diese Lektion zu lernen. »Würde ich mich jetzt einmischen, würde ich ihn zum zweiten Mal wiedererwecken. Ich würde ihm die Fähigkeit rauben, eigene Entscheidungen zu treffen.« Sich selbst zu retten oder zu verdammen. »Nach allem, was ich getan habe, hat er zumindest ein Minimum an Respekt verdient.« »Linden«, murmelte Liand besorgt und kummervoll, »ist es wirklich unrecht, dass du einen Mann, den du einmal geliebt hast, zu neuem Leben erweckt hast? Ich begreife bis zu einem gewissen Grad, welche Gefahr …« »Das tust du nicht«, unterbrach ihn Galt. »Auch wenn Linden Avery nicht die Schlange des Weltendes geweckt hätte, wäre ihre Tat doch eine so schlimme Entweihung wie jeder Sturz - und ebenso fatal. In ihrem eigenen Namen und aus keinem anderen Grund als um des eigenen
Herzens willen, hat sie Gesetze verletzt, von denen der Fortbestand des Lebens abhängt. Das Ergebnis ist ein Zerfall von Notwendigkeit, von Tat und Konsequenz.« Seine Stimme klang mitleidslos. Durch ihn sprachen die Gedemütigten ihr Urteil. »Daraus kann nur Böses entstehen. Eine Frau, die solche Verbrechen begangen hat, verübt bestimmt auch andere. Ihr darf nicht gestattet werden, weitere Gräueltaten zu begehen.« Linden hatte verstanden. Die Gedemütigten würden nicht zulassen, dass sie jetzt und hier versuchte, Covenant beizustehen. Der Mähnenhüter und seine Seilträger strafften sich; Mahrtiir hielt plötzlich seine Garotte in Händen. Aber da sich weder die Haruchai noch die Ranyhyn bewegten, hielten sich auch die Ramen zurück. »Trotzdem«, bemerkte Stave ausdruckslos, »werdet ihr keine Hand gegen sie erheben. Der Zweifler hat euch Duldsamkeit befohlen. Die Ranyhyn haben ihre Absicht bekräftigt, sie gegen euch zu verteidigen. Und auch ich würde nicht untätig zusehen - kein Freund der Auserwählten wird untätig zusehen. Vielleicht würden sogar die Riesinnen, die sie zur Riesenfreundin ernannt haben, ihr ihre Treue beweisen. Wollt ihr der Auserwählten euren Willen aufzwingen, müsst ihr es mit allen aufnehmen, die sich hier in ihrem Namen versammelt haben. Und ihr müsst einen ausdrücklichen Befehl von Ur-Lord Thomas Covenant missachten.« Linden ignorierte die Vorwürfe der Gedemütigten ebenso wie Staves Verteidigungsrede. Stattdessen wandte sie sich an den Egger - etwas anderes blieb ihr nicht mehr übrig. Alles andere hatte sie schon falsch gemacht. Lord Fouls Befreiung war unvermeidlich. Trotzdem blieb ihr noch eine Aufgabe. Wenn der Egger ihren Stab und Covenants Ring begehrte, würde das Ergebnis anders ausfallen, als er zu erwarten schien. Aber noch ehe Linden den Egger ansprechen konnte, fesselte ein erstaunter Ausruf Liands und eine Bewegung unter den Ramen ihre Aufmerksamkeit. Als sie ihren Blicken folgte, sah sie Riesinnen aus dem nächtlichen Dunkel auftauchen. Vom Licht des Krill geisterhaft angestrahlt schritten Raureif Kaltgischt und ihre Schwertmainnir in die Senke hinab, Anele in ihrer Mitte. Anele wirkte ruhig und gefasst. Linden sah sofort, dass seine schützende Verrücktheit intakt war. Zusammenhanglosigkeit umgab ihn wie ein Kokon. Aber er hatte inmitten seines inneren Aufruhrs einen Ort der
Ruhe gefunden - oder war dorthin geführt worden. Fast glaubte sie, seine Eltern hätten ihm eine gewisse Zielstrebigkeit mitgegeben: eine Erkenntnis der Notwendigkeiten, die sein wirres Streben erzwangen. Denk daran, dass er die Hoffnung des Landes ist, wenn deine Taten ins Verderben führen, wie es unvermeidlich ist. Offenbar waren Sunder und Hollian überzeugt, ihr Sohn werde auch nach dem Erwachen der Schlange eine wichtige Rolle spielen. Im Gegensatz zu Anele strahlten die Riesinnen wilde Kraft und grimmige Entschlossenheit aus. Ihre finsteren Mienen zeigten, dass sie wussten, was hier geschehen war - vermutlich hatte der Geist von Grimme Blankehans es ihnen kurz vor seinem Verschwinden mitgeteilt. Vielleicht hatte Blankehans den Schwertmainnir erklärt, weshalb die Toten zu verhindern versucht hatten, dass die Lebenden sich an Lindens Entscheidungen beteiligten oder sie behinderten. Aber schon bald stellte sich heraus, dass der ehemalige Kapitän des Riesen-Schiffs Sternfahrers Schatz ihnen noch mehr gesagt hatte. Nach einem bedauernden Blick auf den bewusstlosen Covenant nickten sie Linden knapp zu, bedachten den Egger und die Gedemütigten mit einem bedrohlichen Funkeln in den Augen, ignorierten sowohl Stave als auch Liand und die Ramen und näherten sich stattdessen fordernd und zornig Infelizitas. Instinktiv wandte auch Linden sich der Elohim zu, um zu erfahren, was die Riesinnen auf den Plan gerufen hatte. Infelizitas’ Blick veränderte sich, wurde gebieterisch, während sie in sanftes Strahlen gehüllt emporschwebte, bis sie sich in Augenhöhe mit den aggressiv funkelnden Blicken der Schwertmainnir befand. »In grauer Vorzeit«, begann Raureif Kaltgischt ohne jede Ehrerbietung, »haben unsere Vorfahren sich durch Lügen verleiten lassen, eine Übereinkunft mit den Elohim zu treffen. Dass dieses Abkommen ein Schwindel war, ist uns inzwischen klar. Und jetzt ist es ohne unsere Schuld gebrochen worden. Wir fordern Wiedergutmachung.« Linden verstand nicht, wovon die Riesinnen sprachen. Eine Übereinkunft? Welches Abkommen? Infelizitas rümpfte hochmütig die Nase. »Und glaubst du, dass es mir zukommt, Wiedergutmachung zu gewähren?« »Wie könnte es anders sein?«, fragte die Eisenhand. »Die Vereinbarung
wurde auf euren Wunsch hin getroffen, und die Unaufrichtigkeit war die eurige. Mit unredlichen Ausflüchten und einschmeichelnden Täuschungen habt ihr einen handfesten Vorteil versprochen, um eine abscheuliche Gegenleistung zu erlangen, die kein Riese, der jemals gelebt hat, euch wissentlich gewährt hätte. Nun fordert ihr dieses durch Lügen erlangte Geschenk ein - und der Vorteil ist gestrichen worden. Folglich muss unsere Leistung zurückerstattet werden.« Linden erinnerte sich dunkel, die Riesen der Suche einst von einer Übereinkunft sprechen gehört zu haben. Zehn Jahre ihres Lebens war das nun her, aber es war ihr dennoch im Gedächtnis geblieben. Die Augen der Elohim blitzten wie Brillantfeuer. »Deine Schlussfolgerung ist falsch, Riesin. Ich gestehe dir zu, dass unsere Übereinkunft ohne eure Schuld gebrochen worden ist. Ich gebe jedoch zu bedenken, dass eure geistlosen Vorfahren ihre grenzenlose Unklugheit geflissentlich vor sich selbst verschwiegen haben. Wir haben sie zu keiner falschen Auffassung verleitet, wir haben ihre fehlerhaften Schlussfolgerungen lediglich geduldet. Auch das Brechen unseres Abkommens haben wir keinesfalls verschwiegen. Dass der Sohn der Meerjungfrau es für angebracht hält, dem wahnsinnigen Kastenessen zu dienen, geschieht weder auf unsere Veranlassung hin noch mit unserem Einverständnis. An Kastenessens Bösartigkeit und Esmers Verrat sind wir unschuldig.« Ja. Linden nickte stumm. Esmer. Das war es! »Trotzdem«, wandte Kaltgischt ein, »habt ihr die Riesen betrogen. Und die Last der Wiedergutmachung liegt bei dir.« »Du täuschst dich«, erwiderte Infelizitas. »Gewiss, ich kann euch die Gabe, in Zungen zu reden, zurückgeben - eine Gabe, die der Meer-Sohn euch wieder nehmen wird, sobald ich geflüchtet bin, wie ich muss. Aber ich kann das Geas, das euren Verwandten Langzorn bindet, nicht auflösen.« Linden fuhr zusammen, als sie diesen Namen hörte; Liand hielt den Atem an. Aber Infelizitas sprach ohne Pause weiter. »Derartige Wiedergutmachung …« Das Wort klang aus ihrem Mund verächtlich. »… kann ich nicht gewähren. Das Abkommen, das du betrügerisch nennst, ist ohne Zwang oder Überredung freiwillig geschlossen worden. Als Gegenleistung für die Gabe, in Zungen zu
reden, haben wir das Leben eines noch ungeborenen Riesen gefordert zu einem Zeitpunkt und unter den Umständen unserer Wahl. Sollten wir das nicht auf eine für Riesen unmissverständliche Weise ausgedrückt haben, liegt der Fehler bei euch. Wegen eines Missverständnisses oder einer Selbsttäuschung habt ihr Riesen uns euer Wort gegeben. Diese Übereinkunft gilt. Das Geas, das wir gefordert haben, war einst in Gang gesetzt worden, um jetzt erfüllt zu werden. Es kann nur aufgehoben werden, wenn die Umstände seiner Ablegung rückgängig gemacht würden. Aber wir werden unsere Vergangenheit nicht ändern, denn das würde die Zerstörung des Bogens der Zeit beschleunigen - und solange wir leben, klammern wir uns ans Leben.« »Aber die Übereinkunft war ein Betrug, Elohim«, protestierte Frostherz Graubrand. »Willst du die Fähigkeit, Sagen zu erzählen, mit dem Wert eines Lebens gleichsetzen?« »Eine Sage ist ein Leben«, stellte Infelizitas fest. »Trotzdem«, fuhr Graubrand fort, »habt ihr unseren Ahnen vorenthalten, dass ihr eine Waffe wolltet, die imstande war, den Tod von Linden Riesenfreundin zu bewirken. Hätten sie gewusst, dass ihr das Leben irgendeines Riesen für irgendeinen Zweck beanspruchen wolltet, hätten sie euch empört abgewiesen und euch den Rücken gekehrt.« Infelizitas schnaubte verächtlich. »Es gab keine Unehrlichkeit. Unsere Absichten gehen nur uns etwas an. Wir ziehen es vor, sie niemandem mitzuteilen. Ich gestehe dir zu, dass eure Ahnen uns gründlich missverstanden haben. Trotzdem sind sie auf unseren Vorschlag eingegangen. Hältst du das für Unrecht, musst du die Schuld bei denen suchen, deren Begierde, die vielen Zungen der Erde verstehen zu können, stärker war als ihr Wunsch, uns Elohim zu verstehen. Für ihre Bereitwilligkeit, ihre Nachkommen durch eine Übereinkunft zu binden, die du jetzt verdammst, darfst du nicht uns verantwortlich machen.« Großer Gott, dachte Linden. Die Elohim hatten das alles geplant. Schon vor Jahrtausenden! Langzorns Wahnsinn war nicht Erdsicht, sondern Manipulation gewesen. Und alles nur, um diesen Augenblick zu verhindern. Durch Täuschung seiner Vorfahren hatten die Elohim sich die Macht gesichert, ihn auf Linden zu hetzen - in der Hoffnung, er werde sie töten, noch ehe sie Andelain mit dem Stab und Covenants Ring betrat.
»Das war skrupellos«, hörte sie sich sagen, obwohl sie hatte schweigen wollen. »Lord Foul wäre stolz auf euch. Wolltet ihr meinen Tod, hättet ihr mich selbst töten können. Gelegenheit dazu hattet ihr reichlich. Andere Leute hereinzulegen, damit sie einem die Schmutzarbeit abnehmen, ist nicht nur kurzsichtig. Es ist selbstmörderisch. Ihr hättet Verbündete haben können. Jetzt wird niemand mehr traurig sein werden, wenn ihr als Erste sterbt.« … sind wir nicht allem gewachsen? Wir sind die Elohim, das Herz der Erde. Wir stehen im Mittelpunkt von allem, was lebt und sich bewegt und existiert. Kein anderes Wesen oder Bedürfnis darf über uns urteilen … Das, hatte Esmer selbst zugegeben, diese Arroganz, diese Egozentrik, ist Schatten genug, um das Herz jedes Wesens zu verdunkeln. »Wohl gesprochen, Mylady!« Der Egger klatschte laut Beifall. »Ich beginne zu glauben, dass es Hoffnung für die Erde gibt, wenn alle Listen außer der meinigen versagt haben.« Aber niemand interessierte sich für ihn. »Du prangerst dich selbst an, Linden Avery«, behauptete Galt ausdruckslos. »Der Schwindel der Elohim ist auch der deinige.« Diesen Vorwurf musste Linden akzeptieren. Auch sie war selbstsüchtig, vielleicht sogar arrogant gewesen. Du musst an mir zweifeln. Eine andere Entschuldigung für ihr Handeln hatte sie nicht. Keine als ihre Sehnsucht nach Thomas Covenant und ihre Liebe zu Jeremiah. Raureif Kaltgischt und auch die anderen Riesinnen wandten sich von Infelizitas ab und gesellten sich zu den Ranyhyn und den Gedemütigten, neben denen sie vor dem Nachthimmel mit seinen verlorenen Sternen und dem unendlichen Dunkel hoch aufragten. Vielleicht hatten sie gar nicht ernstlich erwartet, irgendwelche Zugeständnisse von Infelizitas zu erlangen. »Deine Gewissheit mag berechtigt sein, Haruchai«, erklärte die Eisenhand Galt. »Trotzdem hat Grimme Blankehans, dessen Tapferkeit und Opferwillen eure Vorfahren gekannt haben, uns versichert, dass die Toten nicht so vorschnell urteilen. Vielleicht hätten Cail und andere eurer Vorfahren sich bemüht, euch umzustimmen, wenn ihr bereit gewesen wäret, auf sie zu hören. Mit dem verehrten Blankehans haben wir über viele Dinge gesprochen
…« Die Stimme der Eisenhand klang so hart wie der Stein ihres Breitschwerts. »… auch über die Schlange des Weltendes. Er hat die Notwendigkeit der Freiheit mit Worten beschworen, die so eindringlich sind, dass wir sie unmöglich ignorieren können. Er hat uns nicht von Linden Riesenfreundins Seite abberufen, um uns die Freiheit zu nehmen, nach eigenem Entschluss zu handeln - er wollte verhindern, dass die Ereignisse uns zu einer überhasteten Reaktion provozieren. Und er hat ausführlich berichtet, was die Riesen der Suche alles über Thomas Covenant und Linden Avery erfahren haben.« Linden hörte fast widerstrebend zu. Sie wollte ihre Aufmerksamkeit auf den Egger konzentrieren, aber ihr neues Verständnis für Langzorns Notlage setzte ihr ebenso zu wie die Erinnerung an Blankehans’ Tod in seinem trotzigen Kampf gegen die eigene Besessenheit. Liand stand an ihrer Seite und lauschte der Eisenhand mit leuchtenden Augen, als ahnte er bereits, was sie enthüllen würde. »Dass sie sterblich und deshalb fehlbar sind«, fuhr die Anführerin der Schwertmainnir fort, »lässt sich nicht leugnen. Aber das gilt auch für Riesen und Haruchai - und nun auch für die Elohim. Und Blankehans hat uns an die tiefe Liebe der Ersten der Suche, Pechnases und seine eigene erinnert. Thomas Covenant und Linden Avery haben sich diese Liebe der Riesen durch ihre Tapferkeit und Entschlossenheit, ihre gewährte Freundschaft und letztlich durch ihre Weigerung, sich dem Diktat der Verzweiflung zu unterwerfen, verdient. Ja, er gab zu, dass wir gute Gründe haben, an Linden Riesenfreundin zu zweifeln. Aber er hat auch betont, dass wir allen Grund haben, auf die Lektionen vergangener Jahrtausende, auf den Wert von Treue und Vertrauen zu setzen. Er versicherte uns, dass er in erster Linie nicht sie, sondern um sie fürchtet. Hütet euch wie die Toten vor scheinbaren Gewissheiten, hat er uns gedrängt, und handelt so, wie es euch eure Herzen eingeben. Haruchai, unsere Herzen neigen sich Linden Avery und auch Thomas Covenant zu. Die in seiner Wiedererweckung liegenden Gefahren liegen ebenso auf der Hand wie jene, die von Linden Riesenfreundins Unerbittlichkeit und Macht ausgehen. Thomas Covenant hat großes Leid erlitten, und die Finsternis in Linden Riesenfreundin muss jedem auffallen, der sie betrachtet. Trotzdem bleibt Thomas Covenant jener Mann, der sich zum Retter des Landes aufgeschwungen hat. Und Linden
Avery hat mehrfach bewiesen, dass sie unerwartete Heilungen bewirken kann. Habt ihr den Drang, ein Urteil zu fällen«, schloss die Eisenhand, als ballte sie die Faust, »könnt ihr dies untereinander tun. Wir werden nicht auf euch hören. Trotz unserer Ungewissheit haben wir uns entschieden, unserer eigenen Vergangenheit - und jener von Thomas Covenant und Linden Avery - treu zu bleiben.« Erst vor wenigen Tagen hatte Kaltgischt Linden erklärt: Nach unseren Kindern sind Sagen unser größter Schatz. Aber ohne Gefahr und Wagemut, Seelenstärke und Ungewissheit kann es keine gute Geschichte geben. Taten und Ereignisse ohne ein Element der Gefahr fesseln selten. Und den Genuss haben die Ohren, die hören, nicht der Mund, der spricht. Ebenso wie Branl und Clyme erwiderte auch Galt den Blick der Eisenhand, ohne zu blinzeln. Zugleich tauschten die Haruchai stumm ihre Gedanken aus und respektierten so zumindest in diesem Punkt die Entscheidung der Riesinnen. Nur Stave konnte hören, was sie sagte, schwieg jedoch. »Wisst ihr, was …«, setzte Linden an, aber dann versagte ihr die Stimme. Verzweiflung füllte ihren Mund wie Sand oder Asche, und sie schluckte trocken ehe sie fortfuhr: »Wisst ihr, was Anele zugestoßen ist? Hat Blankehans …« 0 Gott, Blankehans! Der zugelassen hatte, dass ein Wüterich von ihm Besitz ergriff, damit Lord Fouls Diener in Stücke gerissen werden konnte. »… hat er etwas über ihn gesagt?« Kaltgischt schüttelte den Kopf und ihre Stimme wurde sanft: »Von dem Alten wissen wir nur, was unsere Augen uns zeigen. Wir sehen, dass er Trost bei seinen Toten gefunden hat, aber sein Zustand darf unsere Entscheidungen nicht beeinflussen. Ich vermute, dass Blankehans deshalb nicht von ihm gesprochen hat.« »Wahrscheinlich hast du recht«, murmelte Linden wie zu sich selbst. »Seine Freiheit ist ebenso unerlässlich wie die jedes anderen. Wüssten wir, was in ihm vorgeht, würden wir uns vielleicht auf irgendeine Weise einmischen.« Weiter gegen die Wirkung der Riesinnen auf sie ankämpfend, bereitete Linden sich darauf vor, sich erneut dem Egger zuzuwenden. Du hast Gefährten, Auserwählte … Sie hatte reichlich Freunde; das hatten die Schwertmainnir unmissverständlich klargestellt. … die in deinem Dienst
nicht erlahmt sind. Nur Infelizitas und die Gedemütigten stellten sich noch gegen sie. Aber das änderte nichts an den Tatsachen. Sie hatte das Ende der Welt in Gang gesetzt. Es ließ sich nicht mehr aufhalten. Sie hatte nur noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen. Sollte sie nicht ihren Stab und Covenants Ring wieder an sich nehmen? Sie lagen noch immer im Gras - achtlos hingeworfen, als hätten sie Linden verraten. Solange sie Ring und Stab nicht an sich nahm, waren sie für sie wertlos. Vielleicht, überlegte sie, sollte ich auch versuchen, Loriks Krill an mich zu nehmen. Sein Strahlen verteidigte Andelain, aber nun war Andelain dem Untergang geweiht. Loriks Dolch war vermutlich die größte Leistung der Alt-Lords gewesen - und doch konnte der Krill die Hügel nicht retten. Auf der anderen Seite würde der Krill vielleicht weiter Kraft aus Joans Ehering ziehen können, wenn sie Covenants Ring nicht mehr hatte. Vielleicht konnte der Krill sie selbst retten. Oder Jeremiah. Für kurze Zeit. Mehr verlangte sie gar nicht. Sie war zu weit gegangen und hatte zu viel getan, um mehr zu erwarten als ein paar kostbare Augenblicke. Trotzdem zögerte sie, ohne zu wissen, weshalb. Der Stab des Gesetzes gehörte ihr. Und den Ring hatte Covenant ihr in gewisser Weise vererbt. Aber auf den Krill hatte sie kein Recht, keinen Anspruch. ›Glaubst du noch immer, dass Infelizitas dich daran hindern wird, mich zu Jeremiah zu bringen? Auch jetzt noch?‹, wollte sie den Egger fragen, aber sie tat es nicht. Die Entscheidung darüber standen weder der Elohim noch dem Insequenten zu; Linden musste sie selbst treffen. Doch noch ehe sie einen Entschluss fassen konnte, hob Mähnenhüter Mahrtür rückartig den Kopf. »Schatzbeeren!«, blaffte er unvermittelt, als wäre er verwundert oder beschämt darüber, dass ihm das nicht früher eingefallen war. »Seilträger, sucht Aliantha!« Bhapa und Pahni wechselten einen erstaunten Blick, und in ihrer Verwirrung sah Pahni kurz zu Liand hinüber, zögerte jedoch nicht, ihrem Mähnenhüter sofort zu gehorchen. Kurz darauf schlängelten sie sich zwischen den Ranyhyn hindurch und spurteten den sanft geneigten Hang
hinauf, bis sie aus dem Lichtkreis des Krill gerieten und in der Nacht verschwanden. »Mähnenhüter?«, fragte Stave, und auch Kaltgischt, Graubrand und die anderen Riesinnen blickten Mahrtür verständnislos an. »Der erste Ring-Than braucht Heilung«, sagte der Mähnenhüter schroff. »Hier gibt es vieles, was mein Verständnis übersteigt - aye, sogar meinen Wunsch nach Verständnis. Aber auch wenn ich nicht sehen kann, spüre ich, dass seine Leiden teilweise auf körperlicher Schwäche beruhen. Sein Körper ist zu schwach und gebrechlich, um seinem Geist gewachsen zu sein. Kein Balsam, das die Ramen kennen, kann Geist- und Seelenschmerzen seiner Wiedergeburt lindern. Aber die Aliantha wird die dringendsten Bedürfnisse seines Körpers erfüllen. Vielleicht gibt ihm das die Kraft, wieder zu erwachen - und vielleicht sogar die Kraft zu sprechen.« Stave nickte, und auch die Mienen der die Riesinnen entspannten sich. »Mähnenhüter!«, rief Liand erfreut aus. »Selbst als Blinder siehst du noch klarer als ich. Aliantha, in der Tat! Wieso war das nicht unser erster Gedanke statt unser letzter?« Weil du abgelenkt warst, sagte Linden sich sarkastisch. Wie ihre Gefährten hatte auch Linden sich auf andere Formen des Heilens konzentriert. Ob sie Covenants Blick je wieder würde begegnen können? Oder dem ihrer Freunde, die sie getäuscht und missbraucht hatte? Nein, dachte sie, ich werde meine Gefährten nicht den dunklen Absichten des Egger und den damit einhergehenden Gefahren aussetzen. Ja, Covenant hatte ihr sein Vertrauen ausgesprochen: Sie ist die Einzige, die das schaffen kann. Aber tatsächlich hätte Linden seinen kranken und verwirrten Zustand leichter ertragen, wenn er sie schroff zurückgewiesen hätte. Dass er ihr weiterhin vertraute, erschien ihr wie eine grausame Ironie des Schicksals. In dem mit üppigen Gaben gesegneten Andelain brauchten die Seilträger nicht lange nach Schatzbeeren zu suchen. Erst kam Pahni mit einer Handvoll grüner Beeren zurück, kurz darauf erschien Bhapa im Licht des Krill am oberen Rand der Senke. Mähnenhüter Mahrhrtiir näherte sich Covenant vorsichtig, kniete neben dem Zweifler nieder, wälzte ihn behutsam auf den Rücken und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen so hin, dass er Covenants Kopf auf
seine Schienbeine betten konnte. Linden wandte sich bewusst ab und griff stattdessen nach ihrem Stab, der noch immer am Boden lag. Einen Augenblick fürchtete sie, Erdkraft und Gesetz seien aus ihm gewichen, aber dann spürte sie, dass der Stab heil und unbeschädigt war. Seine gleichmäßige Wärme ließ ihre Hand sicher werden, als sie Covenants Weißgoldring aufhob und sich die Kette über den Kopf streifte. Ihre eigenen Absichten erschreckten sie. Noch mehr als ihr Stab symbolisierte Covenants Ehering den Sinngehalt ihres Lebens. Trennte sie sich von solchen Dingen, würde ihr nichts mehr bleiben. Nichts außer Jeremiah. Jeremiah, der in Not war. Behielt sie zuletzt nur ihren Sohn, würde sie auch damit zufrieden sein müssen. Jetzt, befahl sie sich selbst. Tu es jetzt. Linden umklammerte den Stab, bis ihre Fingerknöchel schmerzten. Dann schritt sie durch das üppige Gras auf den Egger zu. Der reich wie ein Höfling gewandete Insequente saß ein Dutzend Schritte entfernt auf seinem gewaltigen Schlachtross; als Linden näher kam, rollte das Tier mit den Augen; die Muskeln seiner Flanken zitterten. Trotzdem blieb es unter der beruhigenden Hand des Eggers steif stehen. Die bodenlosen Abgründe der Augen des Insequenten betrachteten Linden gierig, versuchten aber nicht, sie in ihre Tiefen zu ziehen. Einer selbstgefälligen Obszönität gleich umspielte ein Lächeln seine Lippen. Seine Macht, dachte Linden grimmig, während sie weiterging, ist nicht anders als seine Kleidung: erworben, nicht angeboren. Unter seinem herablassenden Gebaren, seinem Machthunger und seinen verwirrenden Zauberkünsten war er ein gewöhnlicherer Mann als Liand aus Steinhausen Mithil. Aus den Augenwinkeln warf Linden einen Blick auf ihre Gefährten. Die Ranyhyn hatten einen weiten Kreis um Covenant, Mahrtür, die Seilträger, Liand und die Gedemütigten gebildet; hinter den Ranyhyn versammelten sich die Riesinnen, und selbst die Aufmerksamkeit der Elohim galt mehr Covenant als Linden und dem Egger. Nur Stave folgte ihr, und so stand der verstoßene Haruchai schließlich als Einziger an ihrer Seite. Obgleich Linden sich bemühte, nicht auf das zu achten, was Mahrtür mit
Covenant tat, spürte sie seine Anspannung und Besorgnis, als er sich vom Pahni eine Schatzbeere geben ließ und sie aufbiss, um den Kern zu entfernen. Er konnte nicht wissen, was geschehen würde, wenn er Covenant mit Aliantha fütterte. Er konnte nur sich selbst treu bleiben und auf die Großmut des Landes vertrauen. Mit einem Finger teilte er Covenants Lippen, schob ihm die Beere in den Mund und massierte dessen Kehle, damit der Bewusstlose die Aliantha auch hinunterschluckte. Linden wandte sich abrupt ab und starrte nun grimmig in die Augen des Egger, als wäre sie gegen seine Überlegenheit gefeit. Schroff sagte sie: »Du hast gesagt, du könnest mich zu meinem Sohn bringen.« Es gibt einen Dienst, den unter allen Lebewesen nur ich dir erweisen kann. »In der Tat.« Die Stimme des Insequenten war tief und leicht heiser vor Gier, sein Blick schien sie verschlingen zu wollen. »In der Tat. Ich kenne nicht nur die Lage seines Verstecks, sondern auch die Mittel, durch die er bislang verborgen worden ist. Und wie die törichte Mahdoubt dir erzählt hat, kann ich mich in der Gegenwart von einem Ort zum anderen bewegen, wie es mir gefällt.« Um sich selbst zu beruhigen, warf Linden erneut einen Blick auf Covenant. Die Zeit, in der er nicht auf die Aliantha auf seiner Zunge reagierte, erschien Linden wie eine Ewigkeit. Aber Mahrtür war geduldig. Selbst wenn Covenant nicht schluckte, würde er über die Mundschleimhaut etwas von der Heilkraft der Beere aufnehmen. »Die Schlange des Weltendes kommt«, antwortete sie dem Egger schließlich mit so fester Stimme, wie ihr bebendes Herz es gestattete. »Dagegen bist auch du machtlos. Veranlasst dich das, über manches anders zu denken? Über irgendetwas? Begehrst du noch immer, was ich besitze?« Die Verantwortung, die der Stab des Gesetzes und Covenants Ring mit sich brachten? Ein erneuter Blick zu Covenant zeigte Linden, dass Riesinnen, Gedemütigte, Seilträger, Liand und selbst die Ranyhyn den gefallenen Zeitenherrn aufmerksam studierten. Linden spürte das kollektive Seufzen der Schwertmainnir, als Covenant reflexartig schluckte. Und schon bereitete der Mähnenhüter die nächste Schatzbeere vor.
»O ja, Lady«, bestätigte der Egger eifrig. »Und ich bin in Bezug auf die Schlange nicht so unwissend, wie Infelizitas es sich ausmalt. Die Erde muss nicht vernichtet werden, wie sie jetzt behauptet. Mit der Macht, die ich aus deiner Hand empfangen werde, und durch Mittel, die die Elohim sich kaum vorzustellen wagen, werde ich demonstrieren, dass kein Untergang unvermeidlich ist - außer der Vernichtung, die alle treffen wird, die es wagen, sich mir entgegenzustellen.« »Also gut.« Linden zögerte einen Augenblick, um sich zu vergewissern, dass sie sich ihrer Sache sicher war. Aber die Möglichkeit, dass Covenant erwachen könnte, änderte nichts an ihrem Entschluss. Sie musste ein letztes, allumfassendes Risiko eingehen, denn etwas anderes zu tun blieb ihr nicht mehr. »Also gut«, sagte sie, »bist du so arrogant oder blind - oder so clever -, dann sag mir, was du mir im Tausch dafür bietest.« Ohne erkennbare Anstrengung schwebte Infelizitas plötzlich neben Linden und dem Egger in der Luft und starrte ihn voll glühender Empörung, Linden jedoch voller Verachtung an. Im nächsten Augenblick verwandelte das kleine Tal sich in ein Lichtermeer, als Scharen von Flammengeistern aus allen Richtungen in die Senke strömten und sie in sanftes Licht tauchten. Linden sah sich unwillkürlich um, als hätte ein möglicher Konflikt zwischen der Elohim und dem Insequenten sie auf den Plan gerufen, aber die Flammengeister schienen weder sie noch Infelizitas oder den Egger wahrzunehmen. Stattdessen versammelten sie sich um Mahrtür und Covenant. Infelizitas forderte Lindens Aufmerksamkeit. »Linden Avery«, sagte sie, zornig und verzweifelt, »Weißgoldträgerin, das darfst du nicht. Bist du mit dem, was du in dieser Nacht angerichtet hast, noch nicht zufrieden? Der Insequente spricht von Kräften, die er nicht verstehen kann. Er wird das Ende der Elohim beschleunigen, und das nur für flüchtigen Ruhm, während die Welt ohnedies untergeht.« Stave ignorierte die Elohim, und er hatte auch keinen Blick für Covenant oder die Flammengeister übrig. Als hätte Infelizitas nicht gesprochen, sagte er: »Nimm dich in Acht, Auserwählte. Ich traue dem Wort dieses Insequenten nicht. Der Tausch, der dir vorschwebt, fällt eindeutig zu seinen Gunsten aus. Möglicherweise viel zu sehr. Mit wilder Magie und dem Gesetz, vielleicht durch Hoch-Lord Loriks Krill verstärkt, gewinnt
er ungeheure Macht - und du bekommst dafür nur deinen Sohn. Vielleicht erweist er sich als machtlos gegen die Schlange und richtet schreckliches Unheil an, das allen, die noch kurz am Leben sind, nichts als Verzweiflung bringt.« Linden hörte kaum, was die beiden sagten. Von der Rückkehr der Flammengeister überrascht, beobachtete sie, wie sie züngelnd den bewusstlosen Covenant umgaben. Ihr sanfter, orangeroter Lichtschein überlagerte den unmenschlichen Silberglanz des Krill. Mit zarten Klängen, die an die kleinsten Glocken eines fernen Glockenspiels erinnerten, setzten sie sich in Scharen auf seine Arme und Beine, seinen Körper, sein Gesicht. Und jede Berührung bedeutete eine Infusion mit ihrer geheimnisvollen Lebenskraft. Gemeinsam durchwebten sie ihn mit Gesundheit, heilten seinen überanstrengten Körper. Trotz ihrer Großzügigkeit konnte Linden kein Anzeichen dafür erkennen, dass die Flammengeister auch seinen verwirrten Geist heilen konnten oder würden. Auch seine Lepra blieb unbeeinflusst. Sie gehörte zu ihm. Vielleicht war sie aus irgendeinem Grund notwendig. Sobald ein Flammengeist Covenant seine Gabe gewährt hatte, tanzte er davon, damit eine andere kleine Flamme seinen Platz einnehmen konnte. Beruhigt wandte sich Linden wieder Infelizitas und dem Egger zu und richtete ihre Antwort an Stave und die Elohim: »Das macht mir keine Sorgen. Täuscht er sich und kann die Schlange nicht aufhalten, stirbt er wie wir alle. Aber vielleicht behält er recht. Er hat nicht so lange und angestrengt auf diese Sache hingearbeitet, nur um ein paar Tage lang eine inhaltslose Überlegenheit genießen zu können. Und ich werde meinen Sohn befreien. Ich kann nichts anderes bewirken, aber ich kann zumindest versuchen, seine Leidenszeit zu beenden und ihn noch einmal in den Armen halten, ehe die Schlange uns verschlingt. Wenn wir am Ende beide sterben müssen, so soll zumindest sein letzter Gedanke sein, dass ich ihn liebe.« Stave betrachtete Linden mehrere Herzschläge lang forschend, dann nickte er: »Dann bin ich zufrieden.« »Aber ich nicht!«, kreischte Infelizitas - ein seltener Gefühlsausbruch, der Linden an Esmer erinnerte. »Weißgoldträgerin, du bist die Fleisch gewordene Verwüstung. Deine Narretei ist zu groß, um anders bezeichnet zu werden. Begreifst du nicht, dass der Egger den Elohim ein
Schicksal zugedacht hat, das weit schlimmer ist als bloße Vernichtung?« Noch ehe sie weitersprechen konnte, lachte der Egger verächtlich. »Du irrst dich, Elohim, wie es deine Gewohnheit ist. Habe ich erlangt, was ich begehre, bleiben du und deinesgleichen unbelästigt und können ihre Insolenz auf jede Weise ausleben, die ihnen gefällt. Ich werde siegen oder untergehen. Unterliege ich, bleibt eure Notlage unverändert. Siege ich, erhaltet ihr euren rechtmäßigen Platz im Leben auf der Erde zurück. Aus deinen Klagen spricht nichts als Engstirnigkeit und Selbstmitleid.« »Glaubst du etwa«, fragte Infelizitas hitzig, »dass dein Wort in solchen Dingen Gewicht hat? Das hat es nicht. Diese Sache ist nichts als eine komplizierte Schikane, die dir deine Wünsche erfüllen soll. Du bist sterblich, Insequenten Dein Menschenverstand kann den wirklichen Umfang deines aussichtslosen Unterfangens nicht ermessen.« Linden holte tief Luft, aber noch ehe sie Infelizitas und den Egger anweisen konnte, die Klappe zu halten, hörte sie Covenants Stimme. Die Flammengeister hatten ihn wiederbelebt. Während sein Kopf noch auf Mahrtiirs Schienbeinen ruhte, sprach er leise: kaum mehr als ein Hauch in der ruhelosen Nacht. Dennoch trug seine Stimme, als besäße er die Autorität, über das gesamte Tal zu gebieten. »Hat jemand von euch eine bessere Idee?« Linden fuhr herum, als hätte er die Hand ausgestreckt und sie am Arm gepackt. Die um ihn versammelte Menge war zurückgewichen, und die Flammengeister umtanzten ihn noch immer. Trotz der Entfernung zwischen ihnen sah Linden sein blasses Gesicht erschreckend deutlich. Weder Aliantha noch die Flammengeister hatten seine grundlegenden Defizite beseitigen oder seine Krankheit heilen können. Er glich weiter einem Invaliden, der zu gebrechlich war, um stehen zu können; vielleicht sogar zu geschwächt, um klar denken zu können. Mit ihrem Gesundheitssinn konnte Linden fast die Bruchlinien erkennen, von denen ausgehend Risse das Muttergestein seines Verstands durchzogen. Trotzdem behielten Covenants Gesichtszüge ihre zwingende Strenge. Fast erschien er ihr wie ein gefallener Prophet, der niedergestreckt worden war, noch ehe er das Schicksal des Landes verkünden konnte. Unter seiner weißen Mähne leuchtete einer Anklage gleich die Narbe auf seiner Stirn. Siehst du?, schien sie zu sagen. Dies ist meine Sterblichkeit. Mein Schmerz. Und du bist schuld daran.
Während Linden ihn betrachtete, wanderte Covenants Blick von einem der Umstehenden zum anderen. Alle - selbst die Gedemütigten schwiegen. Covenants Autorität hielt sie ebenso in Schach, wie sie die Atmosphäre des kleinen Tals beherrschte. »In diesem Fall …« Er schien sich seiner Sache trotz seiner Schwäche sicher zu sein. »… sollten wir die Führung Linden überlassen, denke ich. Sie kann diese Art Entscheidung treffen. Wir anderen können es nicht.« Er holte tief Luft und sammelte sich, ehe er hinzufügte: »Mhorham wäre damit einverstanden.« Aus Infelizitas’ Mund stieg ein verzweifelter Klagelaut aus der Senke hinaus in die Nacht; dann verschwand sie, als hätte Covenant sie verbannt; als wäre ihre Sache ohne die Unterstützung des Zeitenherrn verloren. Ein leises Lachen lenkte Lindens Aufmerksamkeit auf den Egger, dessen Züge beim Verschwinden der Elohim vor selbstgefälligem Triumph strahlten. Ich wünschte, dachte Linden, ich könnte ihn einfach niederstrecken.
3 Mit dem Schicksal feilschen
Ohne nachzudenken kehrte Linden dem Egger den Rücken zu, lief zu Covenant hinüber und begutachtete mit all ihren Sinnen ihren ehemaligen Geliebten. War es möglich, dass die Flammengeister seinen von Rissen durchzogenen Verstand geheilt hatten? Dass sie die Wirkung der unheimlichen Flämmchen unterschätzt hatte? Dass sie ihn wiederhergestellt hatten? Hatte er überhaupt gewusst, was er sagte, als er Linden so nachdrücklich unterstützt hatte? Als er Infelizitas solches Grauen eingeflößt hatte, dass die Elohim verzweifelt geflüchtet war? Sie hastete zwischen Ranyhyn, Haruchai und den Riesinnen hindurch und vorbei an Liand und den Seilträgern, aber Linden sah niemanden von ihnen. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt Thomas Covenant. Scham und Verzweiflung waren zumindest vorübergehend vergessen. Von dem Mähnenhüter gestützt, saß Covenant jetzt aufrechter, lehnte an Mahrtiirs Brust, die Narbe auf seiner Stirn von ihr abgewandt. Dass Linden auf ihn zukam, schien er nicht zu bemerken. Vielleicht wusste er nicht einmal, dass er gesprochen hatte. Während Linden sich mit angehaltenem Atem auf die Unterlippe biss, konzentrierte er sich darauf, eine Schatzbeere nach der anderen aus Pahnis und Bhapas Händen in Empfang zu nehmen. Obwohl er sichtlich hungrig war, kaute er langsam und sorgfältig. Die Kerne gab er Liand, der sie bereitwillig im Gras verstreute. Linden, die Covenant so gut studierte, wie es möglich war, ohne in seinen Verstand einzudringen, musste feststellen, dass es den Flammengeistern nicht gelungen war, die Risse zu schließen, die seine Gedanken durchzogen. Auch seine Lepra hatten sie nicht geheilt. Kevins Schmutz behinderte sie trotz der Kraft, die sie aus Loriks Dolch zogen. Die Flammengeister hatten seinen Körper gestärkt, aber der Mann, der Covenant einst gewesen war, war noch nicht wiederhergestellt. Vielleicht würde dies nie gelingen. Linden hatte ihn zu weit über die Grenzen des Gesetzes getrieben, und jetzt schien er außerhalb aller
herkömmlichen Definitionen von Gesundheit zu existieren. Die vielfältigen Wunder Andelains und des Landes konnten sein Fleisch nähren, aber sie waren nicht imstande, ihn in den Bereich einfachen Menschseins zurückzuholen. Als sie ihn so sah - wach und verdammt und auf eine Art stärker werdend, die ihn nur dazu befähigen würde, noch mehr Schmerzen zu erleiden -, hätte Linden am liebsten wieder geweint, aber sie tat es nicht. Die Folgen ihres Zorns, ihrer Torheit und ihrer Hoffnung hatten sie ausgedörrt zurückgelassen. Ihr Inneres glich einer wasserlosen Wüste. Nur undeutlich nahm Linden wahr, dass die Flammengeister ein glockenzartes, untröstliches Klagelied sangen und sich allmählich entfernten. Sie hatten getan, was in ihren Kräften stand, und zogen sich nun zurück, als wollten sie nicht Zeugen der weiteren Ereignisse werden. Gleichzeitig wandten die Ranyhyn sich ab und trabten gen Süden davon. Linden registrierte beides kaum. Covenant, versuchte sie zu sagen, fand aber keine Worte, um auszudrücken, was sie von ihm brauchte. Sie fühlte sich wie ausgebrannt. Das Erwachen der Schlange hätte sie vielleicht ertragen können, wenn es ihr nur gelungen wäre, Covenant so wiederzuerwecken, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Doch ihr ungeheuerlicher Machtmissbrauch hatte etwas bewirkt, das schlimmer war als jedes Scheitern. Es gab nichts, das sie als Entschuldigung für diesen Frevel hätte vorbringen können. Doch ihre Freunde bemerkten ihre Verzweiflung. Mahrtür hob den Kopf, und auch Pahni sah zu Linden auf; kurz flammte Hoffnung in den Augen der jungen Seilträgerin auf, um dann ebenso rasch wieder zu erlöschen. Bhapa hingegen betrachtete Linden, als hätte er seinen Glauben verloren und versuche nun mit aller Macht, ihn zurückzugewinnen. Die Gedemütigten schienen sie zu ignorieren, und Anele hatte sich in dem üppigen Gras zu Covenants Füßen ausgestreckt und schlief dort mit einer Hand auf dem Mund, als befürchtete er, er könnte im Traum etwas ausplaudern. Allein die Riesinnen wandten sich Linden erwartungsvoll zu. Liand zögerte kurz, dann kam er heran und sah sie an, sanft und fragend und voller Freundlichkeit. Er streckte die Hände aus und umfasste ihre Schultern, als wollte er sie beruhigen. »Linden«, begann er ruhig, »zu viel ist vorgefallen. Zu viele dieser
Ereignisse gehen über meinen Horizont. Wir haben erfahren, dass jetzt die letzte Krise der Erde bevorsteht, aber solche Behauptungen verblassen gegenüber den Wundern und Schrecken dessen, was du bewirkt hast. Ich spüre, dass dich andere Notwendigkeiten unter Zugzwang setzen, und ich habe die Absicht, sie zu respektieren, wie ich sie von Anfang an respektiert habe - und wie ich es bis zuletzt tun werde. Eines muss ich dich jedoch fragen. Mir ist bewusst, dass du das Geschehene besser begreifst als jeder Steinhausener oder Ramen. In einer Form übersteigt dein Verständnis sogar das der Meister, deren Erinnerung Jahrtausende umfasst. In einer anderen ist es dem reichen Wissen dieser Riesinnen überlegen, obwohl sie weite Reisen gemacht und Gefahren bestanden haben, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Dennoch frage ich dich: War es nicht unmöglich für dich, das Ergebnis deines Tuns vorauszusehen? Teilst du dir nicht mit all deinen Gefährten - Meistern und Riesen und Ramen gleichermaßen - die Unfähigkeit, in die Zukunft zu schauen? Und macht dich diese uns allen fehlende Gabe, dieser Mangel an Weitblick nicht eigentlich schuldlos? Als wir auf den Felsen im Salva Gildenbourne von den Skurj angegriffen wurden, habe ich unser aller Leben aufs Spiel gesetzt. Ich habe den Orkrest und den Stab des Gesetzes genutzt, um Regen zu machen - ein Versuch, der alles überstiegen hat, was ich an Wissen und Geschicklichkeit und Kraft besaß. Dass wir aus Kastenessens Falle entkommen sind, macht meinem Weitblick keine Ehre. Ich war nur töricht, töricht und verzweifelt. Dennoch hat meine Narretei sich in Hoffnung verwandelt; aber nicht durch eigenes Zutun, sondern mit Hilfe der Dämondim-Brut und durch deine weitaus größere Macht. Linden, meine Freundin …« Liand stockte kurz, als ihn Mitgefühl übermannte, dann gewann er seine gewohnte Würde zurück. »Lässt sich das Gleiche nicht auch von dir sagen? Kann irgendein Wesen, irgendeine Macht mit Sicherheit behaupten, dass deine Narretei sich nicht mit Hilfe einer Lehre oder Theurgie …« Dabei sah er kurz zu Covenant hinüber. »… die wir nicht vorhersehen können, in Hoffnung verwandeln kann?« Linden schüttelte den Kopf. Sie hörte seine Aufrichtigkeit, spürte sie in den Händen, die ihre Schultern umfassten. Trotzdem wies sie sie zurück.
Sie hatte allzu viele Warnungen missachtet. Die Visionen beim Rösserritual der Ranyhyn mochten schwierig zu interpretieren gewesen sein; auf die Bilder, mit denen Lord Foul sie während ihres Übertritts in das Land gepeinigt hatte, traf das nicht zu. »Dieses Mal nicht«, antwortete sie schroff. »Ich hätte es wissen können. Ich wollte mich nur von nichts aufhalten lassen.« Unter dem Melenkurion Himmelswehr hatte sie erlebt, dass sie ohne Covenant nichts war. Ihr Bedürfnis, Jeremiah zu befreien, erforderte mehr von ihr, als sie in sich hatte. Und sie verzieh nichts. Ihre Reaktion kränkte Liand. Vielleicht schmerzte sie die Ramen und die Schwertmainnir - oder rechtfertigte die Gedemütigten. Aber Covenant lenkte sie ab, noch ehe irgendjemand protestieren konnte. Unsicher löste er sich von Mahrtür, kam schwankend auf die Beine und betrachtete stirnrunzelnd die um ihn Versammelten. Als er Linden ansah, merkte sie, dass sein Blick nicht wirklich ihr galt. Stattdessen schien er an ihrer Stelle jemand anders zu sehen: vielleicht eine andere Version ihres Ichs oder eine völlig andere Frau. »Stellt euch den Schöpfer und den Verächter als Brüder vor«, sagte er in geistesabwesendem Tonfall. »Oder als Doppelgänger. Aber das stimmt nicht wirklich. Die Begriffe sind zu groß, um mit Worten ausgedrückt zu werden. Aber auf diese Weise kann man wenigstens versuchen, sie zu verstehen. Sie sind so wahr wie die Aussage, die Sterne seien die Kinder des Schöpfers. Oder dass der Bogen der Zeit einem Regenbogen gleicht. Man könnte sagen, Schöpfung und Verachtung seien identisch, aber sie sind zugleich so unterschiedlich, dass sie gar nichts gemeinsam zu haben scheinen. Alles ist ein Paradoxon. So muss es sein.« In einem logischeren Geisteszustand hätte er vielleicht gesagt: Im Widerspruch liegt Hoffnung. »Covenant?«, fragte Linden, als wäre sein Name ihr gegen ihren Willen entrissen worden. Wie ein Echo auf ihre Worte sprang der Mähnenhüter auf: »Ring-Than?« Covenant reagierte nicht darauf. Vielleicht hatte er sie nicht gehört. Stattdessen wandte er sich an Liand. »Dein Orkrest-Vergleich gefällt mir.« Er sprach, als setzte er eine ungezwungene Unterhaltung fort, die der Steinhausener und er früher
begonnen hatten. »Allerdings trifft er nicht wirklich zu. Du hast kein anderes Leben als dein eigenes riskiert. Dein Versuch, Regen zu machen, hat die Gefahr, in der ihr euch schon befandet, nicht vergrößert. Erdkraft und das Gesetz können die Skurj nicht aufhalten, solange Kevins Schmutz noch da ist. Trotzdem hast du recht. Überraschungen gibt es immer. Und manchmal sind sie nützlich.« Die ihn umgebenden Riesinnen wurden unruhig. Sie hatten zu viele Sagen über den Zweifler, den Ur-Lord gehört, aber keine dieser Geschichten passte zu dem Mann, der jetzt in Covenants Körper steckte. Linden versuchte es nochmals. »Covenant? Wo bist du? In deinem Verstand? Woran erinnerst du dich?« »Linden?« Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wäre er überrascht, sie vor sich stehen zu sehen - als hätte er erwartet, sie werde wie Infelizitas flüchten. Trotzdem blieb seine Art unbeteiligt, fast nonchalant. »Erinnerst du dich an Diassomer Mininderain?« »Nein.« Ihre Reaktion war weit persönlicher als seine. »Ja, meine ich. Aber ich kenne sie nur dem Namen nach. Sunder hat uns von ihr erzählt.« Als er Covenant und sie vor Jahrtausenden aus Steinhausen Mithil fort und durch die Schrecken des Sonnenübels geführt hatte. »Der Rede der Sonnengefolgschaft hat sie erwähnt.« Covenant nickte. »Genau. Das ist fast richtig.« Als wiederholte er Zeilen, die er erst vor wenigen Augenblicken gehört hatte, rezitierte er: Und Diassomer Mininderain, Des Meisters Gemahlin, Gefährtin der Macht, Herrin von der Sterne und Himmel Sein, Walterin über Reiche und ihre Zwietracht, Sie befolgte wohl, geht die Erzählung, a-Jeroths von den Sieben Höllen Erwählung. Trotz ihrer Verwirrung erinnerte Linden sich an andere Zeilen: O komm, Feinsliebchen, lass dich berücken … Covenant war in eine private Felsspalte gestürzt. Diassomer Mininderain hatte nichts mit Linden, dem Dilemma ihrer Freunde oder dem bevorstehenden Weltuntergang zu schaffen. Diese Frau war nur eine von der Sonnengefolgschaft propagierte Sagengestalt gewesen, die Lord Fouls üble Zwecke hatte fördern sollen.
»Covenant, bitte«, flehte Linden ihn an, obschon sie wusste, dass sie am wenigsten von allen das Recht hatte, ihn zurechtzuweisen. »Rede vernünftig. Wir brauchen dich. Ich brauche dich. Hilf uns, wenn du kannst.« Ein Schauder durchlief ihn, und er verzog kurz das Gesicht, als hätte sie ihm ans Herz gegriffen. »Tut mir leid.« Seine Hände zuckten, begannen immer wieder neue Gesten und vollendeten sie nicht. »Es gibt so viele Stränge. Ich will sie auseinanderhalten … Aber ich weiß nicht, wie.« Dann kehrte er ins Unverbindliche zurück. »Sind Schöpfung und Verachtung wichtig für die Ewigkeit - sind sie Bestandteil dessen, was Ewigkeit bedeutet -, sind vielleicht auch andere Dinge wichtig. Eines könnte Gleichgültigkeit sein. Ein anderes vielleicht Liebe. Sie sind alle das Gleiche. Und sie sind alle verschieden.« »Covenant!« Linden schaffte es nicht, ihre Verzweiflung zu unterdrücken. »Bitte! Wir brauchen dich hier!« Wir sollten die Führung Linden überlassen, denke ich. Hatte er damit ihre Absicht gemeint, auf die Forderungen des Eggers einzugehen? Sie kann diese Art Entscheidung treffen. Wir anderen können das nicht. Sie hatte schon so viel Unheil angerichtet… Liands aufrichtiges Gesicht schloss sich Lindens Bitte stumm an, und auch Raureif Kaltgischt wandte sich an den Zweifler, als hoffte sie, ihn daran erinnern zu können, wer er war: »Covenant Riesenfreund, du hast die Toten der Stadt des Heimwehs von ihrem langen Kummer erlöst. Willst du uns jetzt nicht einen Balsam für unseren Schmerz, unseren Zorn gewähren?« Doch Covenant war noch immer in seinen Gedanken gefangen und ließ durch nichts erkennen, dass er die Eisenhand gehört hatte. »Alte Sagen - ich meine wirklich alte Geschichten wie die Schöpfungsmythen - sind immer wahr. Natürlich nicht wortwörtlich. Wörter sind nicht gut genug. Und jeder Erzähler ändert die Geschichten nach seinen eigenen Bedürfnissen ab. Aber die Geschichten selbst bleiben trotzdem wahr. Wie die Version der Sonnengefolgschaft vom Zweck der Erde und der Zeit. Oder die Sage von Diassomer Mininderain. Nichts davon ist ihre Schuld. Sie kann es einfach nicht verzeihen.« O komm, Feinsliebchen, lass dich berücken!
Weder Herz noch Lust kennt dein Gemahl. Vergiss ihn in zweisam’ Verzücken. Froh treff ich des Betrügers Wahl. Das voller Verlockung und Zaubersach’ a-Jeroth von den Sieben Höllen sprach. Linden merkte, dass sie ihn nicht noch weiter anflehen konnte. Sie erinnerte sich hilflos daran, dass es ihr nie gelungen war, sich aus dem Griff ihrer Vergangenheit oder dem des Landes zu befreien. Mit a-Jeroth die Herrin entrann. In Furcht floh Diassomer und Grausen Des Meisters Gefilde und Bann. Auf Erden birgt sie ihr Haupt mit Zausen, Ringsum erschallt, ihr Weh zu machen, a-Jeroths von den Sieben Höllen Lachen. »Sie war - oder ist, ist es vielleicht immer gewesen - ein Aspekt der Ewigkeit. Vielleicht war sie die Liebe. Die ewige Liebende. Und vielleicht ist beim Sturz des Verächters auch sie gefallen. Verachtung ist nicht das Gegenteil von Liebe. Das wäre Gleichgültigkeit. Liebe hat mehr mit Verachtung und Schöpfung zu tun als mit Gleichgültigkeit.« ›Vergib!‹, fleht sie in Pein und Schmerz. Es martert sie des Verräters Hohn. ›Übel gedieh’s mir, sein Schmeicheln im Scherz. Mich sehnt’s, zu ehren meines Meisters Thron.‹ In den Ohren gellt ihr, nah der Umnachtung, a-Jeroths von den Sieben Höllen Verachtung. »Aber in der Zeit gefangen zu sein, ist für Liebe anders als für Verachtung.« Covenant runzelte nochmals die Stirn. »Das sind alles nur Wörter.« Dann griff er sein Thema wieder auf. »Es hat den Verächter erzürnt, aber Diassomer Mininderain wahnsinnig gemacht. Der Verächter hat sie reingelegt. Und der Schöpfer kann sie nicht befreien, ohne zu demontieren, was er geschaffen hat. In gewisser Weise ist sie Joan ähnlich. Wenn Wörter irgendeinen Sinn ergeben. Wenn Joan nicht
so menschlich schwach wäre.« Voll Zorn ist der Meister, Feuer und Wut. Vergeltung hält er in den Händen. Zur Fehde schreitet er, ganz Schwert und Glut, Wider Trug und Verrat, so die Lande schänden. Vertan und verwirkt sind aller Zauber Tiick’ Und a-Jeroths von den Sieben Höllen Glück. Mininderain bürdet der Meister Buße auf, Gebrochner Treue wird der Himmel zum Raub. Belässt allein ihr viel Kinder zuhauf, Geweiht dem Verrat bis in Tod und Staub. Darauf ward der Erdkreis ein Höllental Zu a-Jeroths von den Sieben Höllen Qual. »Der Verächter muss so viel Leid wie möglich verursachen, um freizukommen. Das hilft ihm, die eigene Verzweiflung zu bekämpfen. Diassomer Mininderain ernährt sich von allem, das noch zu lieben imstande ist. Sie isst … Aber das ist nicht alles, was sie tut. Sie hasst weiter. Sie war ebenso verantwortlich für die Entstehung der Meerjungfrauen wie Kastenessens sterbliche Geliebte. Und sie hat irgendetwas mit Kevins Schmutz zu tun.« Linden konnte ihm längst nicht mehr folgen. Covenant beschwor Unmengen von Erinnerungen und Paradoxien und verlorener Zuneigung herauf. Er schien den Punkt dessen, was er zu sagen versuchte, erreicht zu haben, aber sie konnte nicht erraten, was das sein könnte. Als er verstummte und sich umsah, als hätte er alles deutlich erklärt, stellte sie die erste Frage, die sie in ihrem ausgetrockneten Herzen finden konnte. »Warum habe ich dann diesen alten Mann nicht gesehen? Der mir einmal erklärt hat: ›Es gibt auch Liebe auf der Welt.‹ Wieso hat er mich nicht gewarnt?« Du bist in der Tat verlassen worden - von den Toten ebenso wie vom Schöpfer der Erde. Wie kann es anders sein, wenn alle deine Taten nur in den Ruin führen? Hätte der Alte sie angesprochen - hätte sie auch nur einen Blick auf ihn erhascht -, hätte sie gewusst, was seine Anwesenheit bedeutete. Dann
hätte sie Jeremiah vielleicht retten können. Covenant spannte seine Gesichtsmuskeln an, und plötzlich war er vor ihr präsent, in jeder Beziehung hellwach, war nach Andelain und in die Nacht und das Leuchten des Krill zurückgekehrt. Das raue Mitgefühl in seiner Stimme klang so vertraut, dass ihr das Herz schmerzte. »Vielleicht hat er aufgegeben. Vielleicht weiß er, dass er nichts ausrichten kann.« Vergiss ihn in zweisam’ Verzücken. Die Riesinnen, von ihrer instinktiven Leidenschaft für das Leben angetrieben, fielen ihm ins Wort: »Was, seine Schöpfung aufgeben? Die ganze Erde?« Aber ihre Ungläubigkeit machte keinen Eindruck auf Linden, die sich innerlich leer fühlte. Natürlich hatte der Schöpfer sich abgewandt. Er hatte einen Blick in sie geworfen und erkannt, was sie war. Nun war er mit ihr fertig. Auch Linden war mit ihm fertig. Er hatte sie im Stich gelassen. Indem sie Riesinnen und Ramen ignorierte, versuchte sie, Covenant durch reine Willenskraft daran zu hindern, ihr wieder zu entgleiten. »Was ist mit Jeremiah? Du weißt alles, was seit deiner Ermordung durch Lord Foul geschehen ist. Vielleicht sogar alles, was sich jemals ereignet hat. Lord Foul hat Verbindung mit Jeremiah aufgenommen, bevor ich vor zehn Jahren mit dir hierhergekommen bin. Roger behauptet, der Verächter habe ihn in der Hand.« Er gehört Foul seit Jahren. Und die Mahdoubt hatte gesagt, dem Jungen wurde schon in frühen Jahren a-Jeroths Zeichen aufgedrückt. »Stimmt das?« Hatte Jeremiah den Croyel aufgefordert, Besitz von ihm zu ergreifen? Gab es überhaupt keine Hoffnung für ihn? Covenant senkte kurz den Kopf, und als er sie wieder ansah, war sein Mund wutverzerrt, und in seinen Augen spiegelte sich das kämpferische Glitzern des Krill. »Ich habe getan, was ich konnte, ohne den Bogen zu gefährden«, sagte er, jedes Wort hart und unverrückbar wie Granit. »Vielleicht war das genug. Falls nicht, werden wir dafür sorgen, dass es reicht. Dieser Junge hat nicht verdient, was ihm zugestoßen ist. Höllenfeuer, Linden, er war fast noch ein Kleinkind. Ich weigere mich zu glauben, dass er damals Entscheidungen getroffen hat, die sich nicht rückgängig machen lassen.« Covenant sah sekundenlang an ihr vorbei, als blickte er in unendliche
Fernen. »Es gibt Dinge, die der Verächter nicht begreift. Die er nicht verstehen kann, so clever er auch ist. Wie der Schöpfer - wie wir alle hat er einen blinden Fleck. Manche Dinge kann er einfach nicht sehen.« Dann kehrte seine Aufmerksamkeit so konzentriert zu ihr zurück, dass sie glaubte, seine Hände auf ihren Wangen zu spüren, obwohl er nicht näher an sie herangetreten war oder die Arme gehoben hatte. »Hör mir zu, Linden. Nichts von der Liebe, mit der du deinen Sohn überhäuft hast, war vergeudet. Das ist undenkbar. Bis wir mehr darüber wissen, was ihm zugestoßen ist, musst du auf dich selbst vertrauen.« Energisch ergriff nun Stave das Wort: »Ur-Lord, ist es vorstellbar, dass der Schöpfer sich von der Auserwählten und der Erde abgewandt hat, weil er nicht länger gebraucht wird?« Covenant verzog überrascht oder bedauernd den Mund. »Ah, Teufel«, seufzte er. »Warum nicht? Vorstellbar ist alles. Zumindest bis die Schlange genug Nahrung findet.« »Lässt sich darüber Genaueres sagen, Riesenfreund?«, warf Raureif Kaltgischt ein, ehe Stave weitersprechen konnte. »Lässt die uns verbleibende Zeit sich in Tagen statt Stunden messen?« Covenant nickte zerstreut, und die Geistesabwesenheit schien sich erneut in seinem Geist einnisten zu wollen. »Berek hat recht. Realitäten zu erschaffen, braucht seine Zeit. Das gilt auch für ihre Vernichtung. Ich bin nicht mehr Bestandteil des Bogens der Zeit. Ich kann ihn nicht mehr beschützen. Aber das heißt nicht, dass er zusammenbrechen wird, während wir hier stehen und darüber sprechen.« Stave ließ nicht locker. »Ur-Lord«, drängte er, »ist es vorstellbar, dass der Rückzug des Schöpfers seiner Schöpfung nützt?« Covenant bedachte den verstoßenen Meister mit einem finsteren Blick. »Denk meinetwegen, was du willst. Teufel, glaub es sogar, wenn du kannst. Deine Erklärung ist so gut wie jede andere. Ich kann mir nicht vorstellen, worin der Nutzen bestehen sollte. Aber vielleicht ist das nur einer meiner blinden Flecken.« Schroff fügte er hinzu: »Alles ist besser, als einfach aufzugeben.« Mit seinem verbliebenen Auge und undurchdringlicher Miene betrachtete Stave ihn, als hätte der Zweifler seine Argumentation bestätigt. So ist es immer. Linden erinnerte sich daran, was Mahrtür gesagt hatte,
ehe sie mit ihren Gefährten das zerstörte Erste Holzheim verlassen hatte. Man muss etwas versuchen, auch wenn die Sache aussichtslos erscheint. Die Alternative wäre Verzweiflung. Und manchmal geschieht ein Wunder, das uns erlöst. Offenbar teilte Stave die Ansicht des Mähnenhüters. Überraschungen gibt es immer. Und manchmal sind sie nützlich. Linden musste einen letzten Versuch unternehmen. Und Stave würde sie dabei ebenso unterstützen wie Liand und die Ramen. Was die Riesinnen betraf, war sie sich nicht so sicher, vermutete jedoch, dass ihre Kinderliebe den Ausschlag geben würde. Und die Gedemütigten … würden sich ihr natürlich weiterhin widersetzen. Aber Covenant hatte ihnen ja bereits befohlen, sie nicht zu behindern. Dennoch: Soweit es in ihrer Macht lag, wollte Linden allen das Risiko ihres letzten Wagnisses ersparen. »In diesem Fall«, sagte sie und hoffte dabei auf eine Bestätigung von Covenants Einverständnis mit dem, was sie plante, »sollte ich mein Gespräch mit dem Egger fortführen.« Sie hätte Covenant noch viele Fragen stellen wollen, aber dazu fehlte ihr der Mut. Hätte sie sich gestattet, sie mit einfachen Worten auszudrücken - »Glaubst du wirklich, dass ich noch zu etwas Gutem imstande bin?« oder »Liebst du mich noch?« -, wäre sie vielleicht auf die Knie gesunken. Jede Antwort, wirklich jede, wäre mehr gewesen, als sie hätte ertragen können. Bevor Covenant jedoch antworten konnte - bevor sie sich mit oder ohne sein Einverständnis abwenden konnte -, ergriff Galt das Wort. »Zweifler, das darfst du nicht zulassen.« Seine Stimme war ungewohnt leidenschaftlich und scharf wie eine Klinge. »Die Schlange zu wecken war eine Schändung. Jetzt auf die Suche nach ihrem Sohn zu gehen und dabei auf das Wort dieses Insequenten zu bauen, ist blanker Wahnsinn.« Mit ihrem Gesundheitssinn nahm Linden Covenants Ausstrahlung überdeutlich wahr: Er stand kurz vor einem weiteren Sturz. Vor seinem Verstand tat sich ein Abgrund auf. Sie hielt den Atem an, weil sie fürchtete, er werde hineinfallen. Aber etwas in Galts Tonfall oder die eigene Entschlossenheit hielt ihn davon ab, über den Rand des Abgrunds zu stolpern. »Es ist vernünftiger, als du glaubst.« Seine Schroffheit nahm Galts
Forderung die Spitze. »Wir sind nicht stark genug. Ich bin nicht ganz hier. Wegen Kevins Schmutz ist ihr Stab nur eingeschränkt brauchbar. Und sie weiß nicht wirklich, wie man den Ring einsetzen kann. Ich wollte, dass sie ihn bekommt, aber trotzdem … Sie ist nicht seine rechtmäßige Trägerin. Wie die Dinge stehen, haben wir nicht genug Macht.« Seine Halbhand zeigte ihre Leere. »Oder die richtige Art von Macht. Wir können die Schlange nicht aufhalten. Während wir herauszufinden versuchen, wie die Erde sich retten lässt - wenn das überhaupt möglich ist -, können wir genauso gut etwas Nützliches tun.« »Zweifler«, protestierte Galt. »Ur-Lord. Ring-Than. Du musst mich anhören. Linden Averys Vorhaben ist unerträglich. Sie gibt alle Hoffnung auf und bekommt dafür nur ihren Sohn - und das nur, wenn auf das Wort dieses Insequenten Verlass ist. Wir haben gelernt, ungewohnte Wertschätzung für die Mahdoubt zu empfinden, aber die Insequenten als Volk sind so grausam und verächtlich wie die Elohim. Sie verfolgen nur ihre eigenen Ziele. Und wenn der Egger das Weißgold und den Stab des Gesetzes an sich gebracht hat, wird er die Schlange weniger wirkungsvoll bekämpfen können, als es Linden Avery könnte, weil er nicht ihr rechtmäßiger Träger ist. Sicherlich gibt es andere Taten, zu denen wir imstande sind, um vielleicht die Folgen dieser Schändung zu beseitigen. Du darfst nicht zulassen, dass …« Covenant bemühte sich noch immer, nicht zu fallen - das merkte Linden deutlich -, aber er konnte sich nicht halten. Während sie ihn beobachtete, stürzte er in sich selbst, rutschte einen inneren Abhang hinab. Aus Gründen, die sie nicht verstand, schickte er sie mit einer Handbewegung fort und zu dem Egger hinüber. Dann legte er Galt einen Arm um die Schultern und drehte ihn von ihr fort. »Hör zu«, sagte er leichthin, in nonchalant lockerem Tonfall, »habe ich dir schon erzählt, wie der Theomach es geschafft hat, den Elohim als Wächter des Einholzbaums zu verdrängen? Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir gesprochen haben. Die ganze Welt besteht aus Geschichten. Vielleicht habe ich noch nicht alle erzählt. Er wurde nicht als Wächter bezeichnet, sondern war der Ernannte. Der erste Ernannte. Immer wenn jemand sich dem Baum näherte, erschien er
in anderer Gestalt. Und er nutzte verschiedene Namen. Aber er hat jedem den Weg vertreten. Bis der Theomach ihn überlistet hat.« Trotz seines Tonfalls wirkte Covenant, als wäre er aus den Fugen geraten, durch seinen Sturz verwirrt, als er die drei Gedemütigten mit sich zog. Trotzdem gelang es ihm irgendwie, sie zu fesseln - oder vielleicht fühlten die Meister sich auch nur verpflichtet, ihn zu betreuen. Jedenfalls ersparte er Linden so indirekt die Einwände der Gedemütigten, und sie zwang sich, sich erneut dem Egger zuzuwenden. Stave und Liand wichen ihr nicht von der Seite, und auch Mahrtür schloss sich ihnen an, nachdem er seine Seilträger angewiesen hatte, sich mit Branl, Galt und Clyme um Covenant zu kümmern. Nach kurzem Zögern entsandte die Eisenhand einige ihrer Schwertmainnir, die mithören sollten, was Covenant den Gedemütigten vielleicht enthüllen würde. Mit ihren übrigen Gefährtinnen schloss Kaltgischt sich Mahrtür an. Der Egger wartete, wo Linden ihn zurückgelassen hatte unerschütterlich wie ein Marmorstandbild. Sein Reitmantel fiel ihm in lockeren Falten von den Schultern, und im Lichtschein des Krill glänzten die bernsteingelben Perlen auf seinem Wams seltsam feucht, als sonderten sie dumpfe Theurgien ab. Sein adrett gestutzter Bart war erwartungsvoll vorgereckt. Sein Reittier wurde einmal mehr nervös, als Linden sich näherte, behauptete aber erneut seine Stellung. »Lady.« Der Egger neigte in ernstem Spott das Haupt. »In solch einer Nacht bin ich duldsam, was Unterbrechungen betrifft. Trotzdem ist es schon spät, und die Zeit ist gekommen, dass meine langen Mühen endlich Früchte tragen müssen. Für meinen Triumph kann es keinen passenderen Rahmen geben als das Banas Nimoram und die Erweckung der Schlange. Die Elohim hat das Feld geräumt und ist mit ihrer Arroganz und ihrem Selbstmitleid in den hintersten Winkel der Erde geflüchtet. Nun müssen wir über deinen Sohn sprechen.« Linden erinnerte sich nur allzu gut an seine verlockenden Versprechungen: Es gibt einen Dienst, den unter allen Lebewesen nur ich dir erweisen kann. Sie sehnte sich danach, sich seiner Verachtung widersetzen zu können. Aber sie hatte sich selbst, ihre Freunde und Thomas Covenant - und die gesamte lebende Welt - in eine Krise gestürzt, auf die sie außer dem extremsten Opfer keine Antwort wusste.
Und ihr Entschluss stand bereits fest. Obwohl sie die darin liegende Gefahr erkannte, wusste sie keinen anderen Ausweg. »Ja, das müssen wir.« Sie funkelte ihn an, als könnte sie trotz ihrer Verzweiflung noch immer unter Gleichgestellten mit ihm verhandeln. »Nur gibt es dabei ein Problem. Du willst viel, bist aber nicht bereit, etwas zu geben. Du behauptest, Jeremiahs Aufenthaltsort zu kennen, behauptest, mich zu ihm bringen zu können. Aber du hast mir bisher keinen einzigen Grund genannt, weshalb ich dir glauben sollte. Aus meiner Sicht könnte alles ein bloßes Täuschungsmanöver sein. Mein Gott, Jeremiah ist vor Esmer und den Elohim verborgen. Soviel ich weiß, kann auch Covenant nicht feststellen, wo er ist. Wie soll ich also glauben, dass ausgerechnet du als Einziger weißt, wo er gefangen gehalten wird? Wie soll ich glauben, dass allein du mir helfen kannst, dorthin zu gelangen?« »Du beurteilst mich falsch, Lady.« Der Egger lachte leise glucksend. »Ich behaupte nicht, dass kein anderes Wesen imstande ist, sein Versteck aufzuspüren, obwohl feststeht, dass der Meer-Sohn und die Elohim es nicht können. Ich behaupte auch nicht, dass kein anderes Wesen dich zu ihm bringen kann. Aber ich stelle fest, dass kein anderes Wesen ihn aufspüren und dich zu ihm bringen kann.« Noch ehe Linden antworten konnte, fragte Stave scharf: »Auch andere Wesen kennen seinen Aufenthaltsort? Dann benenne sie, Insequenter.« Sie erwartete, dass der Egger sich weigern würde, aber das tat er nicht: »Das unnatürliche Wissen der Urbösen und Wegwahrer ist zu vielem imstande. Aber ich bin nicht bereit, ihre Sprache zu eurer Belehrung zu übersetzen. Das tut auch der Meer-Sohn nicht, der sie über alle Maßen fürchtet. Und er hat die Riesinnen ihrer einstigen Gabe beraubt, die Sprache solcher Wesen zu verstehen. Lady«, fügte der Egger dann mit einem Anflug von Schadenfreude hinzu, »dir bleibt nichts anderes übrig, als meine Hilfe im Tausch gegen diese Werkzeuge der Macht, die ich begehre, anzunehmen.« »Du irrst«, widersprach Linden. »Ich kann mich auch weigern. Tatsächlich ist das der einzig vernünftige Weg, nachdem du mir noch immer keinen Grund gegeben hast, dir zu glauben. Aus deinem ganzen Verhalten spricht Unaufrichtigkeit. Warum sollte ich dir einfach so vertrauen?«
Er grinste unter seinem Schnurrbart. »Und muss ich deshalb dir vertrauen? Muss ich dich in der kühnen Hoffnung, dass du dann Wort halten wirst, zu deinem Sohn bringen? Nein, Lady. Ich habe das ganze Ausmaß deiner Narretei miterlebt. Ich denke nicht daran, dich für ehrenwert zu halten, nur weil du möchtest, dass ich es tue.« Dieses Argument verblüffte Linden; ihr fiel nichts ein, was sie dagegen hätte vorbringen können. Hätte sie an seiner Stelle jemandem vertraut, der das Gesetz gebrochen hatte, um Covenant von seinem Platz im Bogen der Zeit hierherzuholen? Sie wollte glauben, dass sie in ihrem Herzen Platz für eine Mutter gefunden hätte, die ihr Kind zu retten versuchte; dass sie nicht so egoistisch und gleichgültig wie der Egger gewesen wäre. Aber sie hatte schon unter Beweis gestellt, dass sie imstande war, alle denkbaren Konsequenzen zu ignorieren, um zu bekommen, was sie wollte. Und sie war weiterhin bereit, für Jeremiah alles zu riskieren. Aber sie durfte nicht vorgeben, dem Egger moralisch überlegen zu sein. Sein Misstrauen war so legitim wie das ihrige und ebenso gerechtfertigt. Esmer hatte einmal gesagt: Was böse erscheint, braucht nicht von Anbeginn an böse gewesen zu sein - und muss nicht bis in alle Ewigkeit böse bleiben. Das wollte Linden jetzt von sich sagen, aber sie wusste, dass der Egger darüber nur lachen würde. »Dann lass dir etwas einfallen«, murmelte sie. »Wir stecken in einem Patt fest. Vielleicht weißt du einen Ausweg.« Sie konnte ihm Covenants Ring und ihren Stab doch nicht ohne irgendeine Rückversicherung überlassen …? »Lady«, antwortete er ohne das geringste Zögern, »dass ich wahr spreche, wird dadurch bestätigt, wer und was ich bin. Das Wort jedes Insequenten ist kostbar wie ein Schatz. Wir sprechen keine Unwahrheit. Das würde das Wissen herabwürdigen, das wir verehren. Als Lügner würde ich aufhören, der zu sein, der ich bin. Ich gestehe dir jedoch zu, dass du mich nicht kennst. Dir kann mein bloßes Wort nicht genügen. Deshalb verpfände ich dir meinen Eid - und du hast Grund zu der Annahme, dass solch ein Eid mich verpflichten wird. Ebenso wie ich zuvor meinen Absichten gegen deinen Verstand und Geist und Körper abgeschworen habe, schwöre ich jetzt, dass ich das Versteck deines Sohnes kenne und dich zu ihm bringen kann. Als
Gegenleistung für deine Werkzeuge der Macht schwöre ich weiterhin, dich und deinen Sohn nach eurer Wiedervereinigung an einen Ort deiner Wahl zurückzubringen. Damit du beruhigt sein kannst, rufe ich auch diesmal wieder alle Insequenten als Zeugen an. Halte ich diesen zweiten Schwur nicht, wie ich den ersten gehalten habe, bete ich darum, dass die Rache meines Volkes an mir grausam und langwierig sein möge.« Linden tat ihr Bestes, um der schwarzen Leere seines Blickes zu begegnen. »Das ist alles?« Ihre Stimme war kaum lauter als vom Wind über dürre Erde gewehtes Herbstlaub. Sie konnte nur mit Mühe schlucken. »Das ist dein Eid?« Der Lichtschein des Krill zeigte ihr jede Linie seines Gesichts, aber er konnte nicht in die Tiefen seiner Augen vordringen. »Ja«, bestätigte der Egger, »wenn wir uns einig sind.« Aus seinem Tonfall klang unterschwellige Fröhlichkeit. »Lege den Weißgoldring und den Stab des Gesetzes in meine Hände, dann halte ich meinen Schwur in der Form, in der ich ihn abgelegt habe. Weigerst du dich, bin ich nur mehr durch den Schwur gebunden, den die Mahdoubt mir auf Kosten ihres Verstands, ihrer Nützlichkeit und ihres Lebens abgerungen hat.« Nach Auskunft des Theomach waren die Insequenten selten kleinlich, wenn ihre Wünsche sich gegen die der Elohim richteten. Linden griff seufzend nach der Halskette, an der sie Covenants Ring trug. »Linden«, murmelte Liand fast ängstlich, »das macht mir Sorgen. In einem Punkt stimme ich den Gedemütigten zu. Der Egger kann unmöglich so viel Macht ausüben, wie du deinem Stab und dem Weißgoldring abgerungen hast. Ist nicht sicher, dass die Hoffnung des Landes, so schwach sie auch sein mag, weiter schwinden wird, wenn du ihm seinen Wunsch erfüllst?« »Steinhausener …«, begann Mahrtür barsch, aber Liand ließ sich nicht unterbrechen. »Und ist nicht sicher, dass dein Sohn weiter von der scheußlichen Kreatur, der du den Namen Croyel gegeben hast, besessen sein wird? Wie willst du ihn von dieser Bestie befreien, wenn du weder Erdkraft noch wilde Magie gebrauchen kannst?« »Kein Wort mehr, Liand«, sagte der Mähnenhüter nachdrücklicher. »Jeder Freund der Ring-Than teilt deine Befürchtungen. Trotzdem liegt die Entscheidung bei ihr, nicht bei uns. Und unter den Ramen gibt es
keine Eltern, die nicht wie sie entscheiden würden. Nur Einwände der Ranyhyn könnten uns umstimmen, aber … sieh dich um!« Seine Handbewegung umfasste die Senke. »Sie haben das Tal verlassen. Das bestätigt ihr Vertrauen in die Ring-Than.« Die Abwesenheit der großen Pferde machte Linden keine Sorgen. Sie würden zurückkehren, wenn sie gerufen oder gebraucht wurden. »Sie ist ihrem Herzen bis in unsere gegenwärtige Lage gefolgt«, schloss Mahrtür. »Bleibt sie nicht auf diesem Pfad, wäre alles, was sie gewagt und verloren hat, vergebens gewesen.« Auf Befehl des Mähnenhüters verstummte Liand, und Raureif Kaltgischt nickte zustimmend. Falls Stave mit Liand oder Mahrtür einer Meinung war, sagte er es nicht. Er hatte Söhne unter den Meistern, die daran beteiligt gewesen waren, ihn aus ihrer geistigen Gemeinschaft auszuschließen. Trotzdem hatte er über sie - und alle Kinder der Haruchai - gesagt: Sie werden stark geboren, und es ist ihr Geburtsrecht, zu bleiben, wer sie sind. Hatte Covenant Linden nicht vor langem erklärt, Lord Foul könne seine Ziele nicht durch Entscheidungen wie die erreichen, die sie hier traf? Sie hielt Covenants Ehering in der linken Hand, als wöge sie das Gewicht ihrer Kapitulation ab. Ihre Rechte umfasste den Stab wie damals unter dem Melenkurion Himmelswehr - als wären ihre Finger noch immer verkrampft und versiegelt durch Blut und Schmerzen. Dem Egger nun ihre Arme entgegenzustrecken, kostete sie solche Anstrengung, dass sie fürchtete, in ihrem Gehirn könnten Äderchen platzen. Das Grinsen des Eggers wurde zu einer an Mord oder Wahn gemahnenden Grimasse, als er sich nun aus dem Sattel beugte, um die Werkzeuge der Macht aus ihren Händen entgegenzunehmen. Doch kurz bevor er nach Stab und Ring greifen konnte, ließ eine Stimme ihn innehalten - eine Stimme, die auch Linden noch nie gehört hatte. Ihr Timbre lag zwischen der hellen Stimmlage des Theomach und dem volltönenden Bass des Eggers, und sie lispelte etwas, was ihre Worte leicht affektiert klingen ließ. »Deshalb bin ich hergekommen.« Der Egger, dessen Blick vor Überraschung und Empörung funkelte, hob ruckartig den Kopf, und die Riesinnen und Mahrtür griffen nach ihren Waffen, als sie sich herumwarfen, um dem Neuankömmling entgegenzutreten. Stave wich nicht von Lindens Seite.
Linden ließ die Arme sinken, als wäre die doppelte Last zu schwer für sie geworden. Dann drehte sie sich um. Von Norden her kam ein Fremder auf einem dürren Klepper mit spatenförmigem Kopf in die Senke geritten. Das Tier war derart ausgemergelt, dass es unter der unglaublichen Leibesfülle seines Reiters hätte zusammenbrechen müssen, aber trotz seiner deutlich hervortretenden Rippen und des durchgesessenen Rückens trug das Tier seinen Reiter mit der Störrigkeit eines Maulesels und einer stummen Bösartigkeit, als wartete es seit undenklichen Zeiten auf eine Gelegenheit, sich an ihm zu rächen. Doch Linden streifte das Pferd nur mit einem Blick. Sein Reiter fesselte ihre Aufmerksamkeit. Die groteske Leibesfülle, das sah sie jetzt, wurde durch die Kleidung des Neuankömmlings überbetont, und er schien ganz in Bänder gekleidet zu sein: in Tausende bunter Bänder aus allen nur vorstellbaren Geweben. Im Lichtschein des Krill grellbunt leuchtend, flatterten und strömten sie von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, als wickelten sie sich ständig ab, ohne sich jemals ganz zu lösen. Unabhängig von der Stille der Nacht und den eigenen Bewegungen des Reiters flatterten sie nach allen Richtungen und umgaben ihn wie ein Halbschatten aus windbewegtem Stoff: ein persönlicher Kokon aus Kirschrot und Fleischrosa und Granatrot, Beige und Elfenbein. Türkis und Smaragdgrün und Azurblau, dunklem Samtblau und Gelbtönen, die von Rötlichgelb und Schwefelgelb bis zum blassesten Gold reichten. Seine bloßen Hände hielten die Zügel seines Reittiers umklammert, als wäre er noch nie geritten; und sein Gesicht prägten ständig erstaunt aufgerissene Augen, eine Nase wie eine üppige Pilzknolle und Lippen, deren Plumpheit sich nur durch Gefräßigkeit erklären ließ. Darunter wogten, von wehenden Bändern verdeckt, vermutlich mehrere Kinne, die der holperige Gang seines Pferdes erzittern ließ; aber sein Bändergewand verbarg solche Einzelheiten. In einer Kakophonie aus Bändern und Farben ritt er auf die Gruppe um Linden und den Egger zu, bis er fast in Reichweite der Waffen der Schwertmainnir war. Dann brachte er sein störrisches Pferd zum Stehen. »Du!«, fauchte der Egger, der ihn offensichtlich kannte. »Hat das schlimme Ende der Mahdoubt nicht vermocht, dich von deiner Narretei zu kurieren? Willst du, dass dein geliebtes Fleisch sich in Rabenaas
verwandelt?« Der Neuankömmling ignorierte ihn, sah stattdessen zwischen zwei Riesinnen hindurch Linden an, bewegte die Arme, dass seine Bänder wirbelten, und schien sich im Sattel zu verbeugen. »Lady«, verkündete er mit in Fett erstickter Stimme, »durch einen glücklichen Zufall bin ich rechtzeitig eingetroffen.« Seine Lippen lenkten von seinem Bemühen ab, würdig zu wirken. »Es gibt Dinge, die bedacht werden müssen, ehe dein Handel mit dem Egger abgeschlossen wird.« Während sie ihn anstarrte, sprach er weiter: »Mit deiner gütigen Erlaubnis möchte ich mich dir vorstellen.« Er hob einen Finger, als wollte er prüfen, aus welcher Richtung die Brise kam, die sie nicht spürte - oder um den Egger davor zu warnen, ihn zu unterbrechen -, und fuhr fort: »Ich bin der Eifrige. Wie du vermutlich erraten hast, bin ich einer der Insequenten. Tatsächlich bin ich weitläufig mit dem Egger verwandt, bin jedoch im Gegensatz zu ihm ein Gefolgsmann - sofern Insequente Gefolgsleute sein können - der Mahdoubt. Allerdings fehlen mir ihre Güte und ihr großes Zeitwissen, und ich kann keinen Anspruch auf ihre erwiesene Tapferkeit erheben. Dennoch schätze ich ihr Beispiel hoch. Meine Wertschätzung geht so weit, dass ich ihr wie einer Führergestalt folge, auch wenn ein flüchtiger Blick auf meine Person dir sagen muss, dass ich keiner Führung bedarf.« Sein salbungsvolles Selbstvertrauen ließ ihn lächerlich wirken. »Wenigstens das ist halbwegs wahr«, knurrte der Egger. »Wer im Umkreis von hundert Meilen um den Eifrigen ein Festmahl zubereitet, findet ihn bei sich am Tisch, noch ehe der erste Gang serviert wird.« Diesmal drohte der Eifrige ihm mit dem Zeigefinger: eine deutliche Warnung, den Mund zu halten. Und er erwartete offenbar, dass der Egger gehorchen würde. »Lady«, fuhr er fort, »du kannst mich als einen Freund betrachten.« Jedes seiner Worte glich einem Klacks Sahne. »Zweifellos glauben manche, die Insequenten wüssten nichts von Freundschaft. Und zweifellos haben sie Gründe für ihre Überzeugung. Du wirst jedoch anders denken. Du hast die Diskretion und Rücksichtnahme des Theomach gekannt, den der Egger als den Größten unseres Volkes ablösen möchte. Und die Mahdoubt hat dir als Freundin und Verbündete gedient. Du wirst mir gestatten, dir zu beweisen, dass meine Natur so
gütig wie die ihrige ist, auch wenn ich nicht ihre Weisheit und Standhaftigkeit besitze.« Liand legte Linden schweigend eine Hand auf den Arm, als wollte er sich vergewissern, dass sie beide noch körperlich existierten und nicht unabsichtlich ins Traumreich mit seinen unendlichen Möglichkeiten abgetrieben waren. »In der Tat ein wahres Wunder«, rief Raureif Kaltgischt. »Hätten wir Aussicht auf längeres Leben, würden wir solche Geschichten überall, wohin wir segeln, sehr gern hören - aye, und uns dessentwegen glücklich schätzen.« »Genug!«, verlangte der Egger finster. »Sag dein Begehr und verschwinde, Einfaltspinsel. Du kannst nicht so verrückt sein, dich hier einmischen zu wollen. Und somit erfüllt deine Anwesenheit keinen Zweck, und dein Geschwätz vergeudet die Zeit aller, die es hören.« Der Eifrige würdigte ihn keiner Antwort und vollführte stattdessen mit erhobener Hand eine knappe Bewegung. Augenblicklich löste sich ein langes Band aus seiner Kleidung und schlängelte sich auf den Egger zu. Anfangs war es schneeweiß, nahm dann aber in der Luft die Erd- und Lehmfarben der Kleidung des Eggers an und wurde, obschon es zwischen den übrigen Bändern im Gewand des Eifrigen verankert blieb, rasch länger. Und als es den Egger erreichte, begann es sich um seinen Kopf zu wickeln und verringerte den Abstand immer mehr, bis es schien, als würde es bald sein Gesicht, seine Augen oder seinen Mund bedecken. Linden hielt unwillkürlich den Atem an. War das möglich? Konnte der Eifrige den Egger erdrosseln? Mit einem Stoffband? Beide waren Männer, Menschen wie sie selbst. Ihre Theurgie verdankten sie nur ihrem durch langes Studium erworbenen Geheimwissen. Liands Finger gruben sich in ihren Arm, und die Riesinnen sahen mit offenen Mündern zu, als schwankten sie zwischen Belustigung und Besorgnis. Einige Augenblicke lang schlug der Egger wütend nach dem Band. Aber es wich ihm aus und war ebenso schwer zu treffen wie ein Mückensch warm. Dann schien der Egger plötzlich aufzugeben, ließ die Hände sinken und legte sie auf sein Wams, wo seine Finger seltsame Muster auf den bernsteingelben Perlen, mit denen es bestickt war, beschrieben. »Pah!«, schnaubte der Eifrige verächtlich. »Was sollen deine Perlen
gegen mich ausrichten? Du hältst dich für würdig, über das Schicksal der Erde zu bestimmen? Also gut. Ich werde mit dir reden, während die Lady sich bemüht, ihre Gedanken zu ordnen.« Mit düsterer Miene fuhr der Eifrige fort: »Wir Insequenten kennen deine Absichten. Uns ist auch bewusst, dass die Vernichtung allen Lebens droht. In der Tat sagen manche unter uns voraus, dass viel vom Wert deines Schwurs und den Folgen deines Begehrens abhängen wird; und viele Jahrhunderte des Studierens haben uns gelehrt, dass es in der Natur der Gier liegt, andere in die Irre zu führen. Wer von Gier beherrscht wird - wie ich für mich selbst eingestehe -, spricht manchmal wahr, um die Wahrheit zu verbergen. Lassen wir etwas Derartiges zu, kannst du deinen Schwur halten und die Lady trotzdem betrügen, weil sie die in deinen Worten verborgenen Auslassungen nicht entdecken kann. Deshalb bin ich gekommen und verkörpere durch meine Person den gemeinsamen Willen unseres Volkes. Noch nie hat eine Sache oder Notlage es vermocht, die Insequenten von ihren einsamen Studien fortzulocken, die einzige Grundlage unserer vielfältigen Talente sind. Trotzdem begehren wir zu leben, wie das Leben selbst Fortdauer begehrt. Das drohende Ende aller Wünsche und Begierden steht nun unübersehbar bevor. Geht die Welt unter, bleibt kein Insequenter übrig, um ihren Untergang zu beklagen. Allein aus diesem wichtigen Grund haben wir unsere Einsamkeit aufgegeben, um unsere Absichten in meiner Person vereinigen zu können. Ich verkörpere alles, was unser Volk zu dem gemacht hat, was es ist. Als Beweis und Siegel dafür, dass ich der bevollmächtigte Gesandte der Insequenten bin, soll dir diese kleine Machtdemonstration dienen.« Die Bänder um sein Haupt flatterten und verdrehten sich wie aus eigenem Antrieb und schienen erst länger, dann kürzer zu werden, als sie wie bei einem geheimnisvollen Ritual wogten. In silbernen Schimmer getaucht vollführten sie ein delikates Maskenspiel. Und noch ehe Linden - und offenbar auch der Egger - erraten konnte, was es bedeuten mochte, verschwand das Schlachtross des Eggers zwischen seinen Beinen. Als sein Pferd sich in Luft auflöste, plumpste der Egger schwer ins Gras, und landete mit unwillkürlichem Grunzen und einem erbitterten Fluch. Das Lachen der Riesinnen befeuerte seinen Zorn als er aufsprang, und Linden erwartete, dass er nun zu irgendeinem Gegenangriff übergehen
würde. Aber stattdessen zog er nur sein Wams zurecht und warf sich seinen Reitmantel flott wie zuvor um die Schultern. Obwohl seine Aura vor Zorn sprühte, schien er in der Magie des Eifrigen etwas zu sehen, das Linden entging: etwas, das zur Zurückhaltung mahnte. Der Eifrige blickte lächelnd auf seinen Landsmann hinab: »Wir wollen uns in keiner Weise in deinen Handel mit der Lady oder deine nachfolgenden Absichten einmischen. Tatsächlich habe ich Anweisung, dich darin zu unterstützen. Auch die traditionellen Selbstbeschränkungen unseres Volkes werden wir achten. Trotzdem bin ich gekommen, um als Bedingung zu stellen, dass allein die Lady über die Einhaltung deines Schwurs zu urteilen hat.« Einen Augenblick lang wirkte der Egger schockiert; dann verfinsterten Wut und Empörung seine Miene, und fast schien es, als wollte er einen Fluch ausstoßen, als der Eifrige fortfuhr: »Sie allein wird bestimmen, was zum Umfang deines Schwurs gehört und was nicht. Und wir werden deinen Schwur erst als erfüllt ansehen, wenn sie sich zufrieden erklärt.« Er lächelte. »Außerdem werde ich dich im Namen all jener Insequenten, die du angerufen hast, begleiten. Du überlegst zweifellos, wie du deinen Schwur umgehen kannst - und genau das werde ich verhindern. Und der Zufall kann es wollen, dass du meine Hilfe brauchst.« In auffälligem Gegensatz zu seiner großspurigen Art verfinsterte für den Bruchteil eines Augenblicks ein gehetzter Ausdruck die Miene des Eifrigen, als er von Hilfe sprach. Linden blinzelte und starrte die beiden Männer benommen an. Einen Schwur halten und ihn dennoch brechen? Wie kam es, dass sie die Befürchtungen des Eifrigen nicht recht begriff? Ihr Wunsch, ihren Sohn zu befreien, musste weiterreichende Folgen haben, als sie bislang geahnt hatte - auch wenn sie sich weiß Gott nicht vorstellen konnte, wie diese aussehen mochten. Plötzlich knurrte Mahrtür: »Komm zum Schluss, Insequenter. Die Ring-Than hat genügend Freunde. Deine angebliche Fürsorge bedeutet nichts. Sprich offen oder schweige. Nenne den Verrat, den der Egger verüben wollte, damit wir den Wert deiner Absichten einschätzen können.« Der Eifrige nickte, dann erwiderte er unerwartet ernst: »Mähnenhüter, das kann ich nicht. Denk nicht schlecht von mir, wenn ich feststelle, dass
jeder Versuch, die Taten und Entscheidungen der Lady zu lenken oder zu beeinflussen, zu Recht als grobe Einmischung betrachtet würde. Ich habe den Auftrag, dafür zu sorgen, dass der Schwur des Eggers strikt eingehalten wird. Aber es ist nicht meine Aufgabe, der Lady bei seiner Auslegung Hilfestellung zu geben. Weil ich den Egger persönlich nicht leiden kann, wäre es mir gewiss ein Vergnügen, seine Pläne zu durchkreuzen. Habe ich nicht zugegeben, selbst anfällig für Gier zu sein? Hier verkörpere ich jedoch den vereinten Willen der Insequenten. Jedes Abweichen von diesem Entschluss würde das geheiligte Verbot durchbrechen, das die Insequenten so lange leben und gedeihen lässt. Würde ich dir antworten, würde ich mein eigenes Todesurteil sprechen und nichts als Kummer und Sorgen bewirken.« Diese Argumentation kannte Linden bereits. Der Theomach und die Mahdoubt hatten - jeweils auf ihre eigene Art - ähnliche Argumente vorgebracht. Als sie begriff, dass der Eifrige versuchte, einen ebenso geraden Weg wie sie zu gehen - dass seine Mehrdeutigkeiten allein durch die spezielle Ethik der Insequenten bedingt waren -, fand sie wenigstens ihre Stimme wieder. Obwohl sie kaum wusste, was sie sagen wollte, schlug sie unsicher vor: »Dann wollen wir fair spielen. Kann der Egger nicht zu Pferd sitzen, solltest du nicht aus dem Sattel auf ihn herabsehen können.« Oder auf sie. Der Egger bedachte sie mit einem Blick seiner leeren Augen, den Linden nicht zu deuten vermochte, und der Eifrige überraschte Linden erneut, indem er in schallendes Gelächter ausbrach. »Wohl gesprochen, Lady. Kein Wunder, dass die Mahdoubt große Stücke auf dich gehalten hat, auch wenn deine vielen Extravaganzen mir unüberlegt erscheinen. Ich bin weder mächtiger noch fehlerloser als der Egger. Ich bin nur dazu ausersehen worden, den Willen der Insequenten durchzusetzen.« Noch immer lachend sandte er nach allen Seiten chartreuse-gelbe und pechschwarze Bänder aus, die mit Karmesinrot und Himmelsblau durchwoben waren. Sie schienen losgelöst von ihm zu schweben, als könnten sie sich jeden Augenblick losreißen; aber er verlor sie nicht, und sie lösten sich auch nicht. Statt dessen bewirkten sie zu Lindens Verblüffung, dass sein Reittier verschwand. Anders als der Egger stürzte der Eifrige jedoch nicht zu Boden sondern
schwebte in seine bunten Bänder gehüllt sanft ins Gras, als wäre seine massige Gestalt leicht wie eine Feder. Von diesem Schauspiel entzückt lachten die Riesinnen mit ihm, und der sichtlich erfreute Eifrige sah mit kindlichem Staunen zu ihnen auf, bewegte die Arme und ließ die Bänder seines Gewands einem Freudentanz gleich durcheinanderflattern. Ihre flüchtige Heiterkeit berührte Linden nicht. Aber sie gab ihr Gelegenheit, sich zu sammeln und nachzudenken. Welches Täuschungspotenzial mochte im Schwur des Eggers liegen? Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie Covenant und seine Begleiter wahr, der sie und die Insequenten ignorierte oder mied und die Gedemütigten und die ihnen folgenden Riesinnen und Ramen zum Rand der Senke geführt hatte. Dort angekommen, kehrte er nun wieder um und machte sich langsam auf den Rückweg zu dem abgestorbenen Baumstumpf und Loriks Krill. Sein Benehmen wirkte noch immer zusammenhanglos, schien zwischen Verständnis und Verwirrung zu wechseln. Linden, die sich daran erinnerte, was er zuletzt gesagt hatte, wandte sich leise an Stave: »Worüber reden sie?« Sie nickte zu Covenant und den Meistern hinüber. »Hat er sie über den Theomach aufgeklärt? Oder die Insequenten?« Stave konnte die mentale Kommunikation der Haruchai weiterhin mithören, obwohl er selbst gelernt hatte, seine eigenen Gedanken vor ihnen zu verschließen. Er antwortete ebenso leise: »Der Ur-Lord spricht nicht von dem Theomach. Sein diesbezügliches Angebot scheint er im nächsten Augenblick vergessen zu haben.« Vielleicht, dachte Linden, meinte er damit: sobald es seinen Zweck, die Gedemütigten abzulenken, erfüllt hatte. »Stattdessen wandert er kreuz und quer durch die Anfänge der Geschichte der Haruchai und erzählt Sagen, die niemand je vergessen hat. Die Riesinnen scheinen darüber erfreut zu sein, und die Ramen behalten die Gedemütigten weiterhin scharf im Auge.« »Werden sie den Eifrigen angreifen?«, fragte Linden besorgt. »Galt und die anderen meine ich?« Vor langer Zeit waren die drei Haruchai ohne Vorwarnung über den Egger hergefallen. »Nicht, solange sie dem Zweifler die Treue halten. Sie sehen keine
Zukunft für das Land, die nicht auf Thomas Covenant beruht.« Linden seufzte. Auch sie sah keine Zukunft … Aber das war nicht ihre Hauptsorge. Es gab Wichtigeres. Erneut wandte sie sich der Herausforderung zu, die der Egger für sie darstellte. … es liegt in der Natur von Gier, andere in die Irre zu führen. Sie konnte nicht einmal vermuten, welche geheimen Absichten sich unter der Oberfläche seines Schwurs verbergen mochten, aber sie war sich einer Frage sicher, die er noch nicht beantwortet hatte. »Also gut«, murmelte Linden, als es um sie herum wieder still geworden war, und starrte in die dunklen Augen des Eggers: »Ich weiß, was ich dir angeboten habe. Ich weiß, was du zu tun geschworen hast, wenn ich meinen Verpflichtungen nachkomme. Aber ich weiß nicht, warum du noch auf unserem Handel bestehst. Die Schlange des Weltendes kommt.« Woher hatte er gewusst, dass sie die Schlange wecken würde? »Was kann der Besitz meines Stabes und Covenants Ring dir noch bringen?« Immerhin hatte er sein Begehren nach Stab und Ring zum Ausdruck gebracht, bevor das Schweigen von Covenants Geist sie in ihrer Entschlossenheit bestärkt hatte, Covenants Wiedererweckung zu versuchen. »Du bist nicht so verrückt, zu glauben, dass sie dich beschützen könnten, wenn der Bogen der Zeit einstürzt. Aber du hast mir bislang verschwiegen, was du glaubst, erreichen zu können. Du hast behauptet, Infelizitas irre sich, was die ›Vernichtung der Erde‹ betrifft.« Kein Untergang ist unvermeidlich. »Ich will, dass du mir erklärst, was du beabsichtigst, nachdem wir Jeremiah gerettet haben.« »Das tue ich nicht«, erwiderte der Egger sofort. »Die Anschuldigungen des Eifrigen treffen nur scheinbar zu. Meine Absichten gehen nur mich etwas an. Ich denke nicht daran, sie mit Leuten zu besprechen, auf deren Hilfe ich nicht angewiesen bin.« Noch ehe Linden sich eine Antwort überlegen konnte, warf der Eifrige ein: »Zweifellos hast du den Wunsch, von solchen Dingen zu schweigen. Ich muss dir jedoch versichern, dass ich nicht schweigen werde.« Das klang äußerst selbstsicher - aber der leise ängstliche Unterton entging Linden trotzdem nicht. »Die mir anvertraute Macht kannst du unmöglich negieren. Die Lady - und nur die Lady -, wird die Bedingungen deines Schwurs festsetzen. Dieser Vorzug ist ihr als Antwort auf deine Gier
gewährt worden. Du wirst sie zufriedenstellen oder auf ihre Werkzeuge der Macht verzichten müssen.« »Tue ich das«, widersprach der Egger hitzig, »muss die ganze Welt untergehen.« »Schon möglich«, gab der Eifrige zu, den diese Aussicht nicht zu schrecken schien. »Oder vielleicht hast du unrecht. Meine Sorge - und die der Mächte, die ich anrufen kann - gilt vor allem der Zufriedenheit der Lady im Umgang mit dir.« »Ich tu es nicht, weil…«, versuchte der Egger, doch der Eifrige unterbrach ihn und wandte sich mit besorgtem Lächeln an den in Bänder eingesponnenen Insequenten: »Muss ich die mir verliehene Macht erst demonstrieren?« Linden spürte, dass die beiden sich ein Duell lieferten, auch wenn äußerlich nicht das Geringste davon zu sehen war. Der Eifrige lächelte weiter, während der Egger ein finsteres Gesicht machte. Maßen die beiden ihre Kräfte, so dachte Linden, taten sie dies auf eine Weise, die an den unheimlichen und stummen Kampf der Mahdoubt mit dem Egger erinnerte. Fast erwartete Linden, einer von ihnen werde flackern und verblassen. Hinter ihr hatte Covenant derweil den Krill erreicht, umrundete ihn langsam und betrachtete ihn, während er leise mit den Gedemütigten, den Schwertmainnir und den Seilträgern sprach. Die Gefühle der Haruchai blieben Linden wie immer verborgen, aber sie spürte Bhapas wachsende Verwirrung und Pahnis Sehnsucht nach Liands Nähe. Die Riesinnen hörten aufmerksam, aber verständnislos zu, als spräche Covenant eine fremde Sprache. Plötzlich zuckte der Egger mit den Schultern, und als er seine Aufmerksamkeit nun ihr zuwandte, wirkte er entspannt und gelassen. Ohne Vorrede verkündete er: »Infelizitas glaubt, dass ich die übernatürlichen Gaben deines Sohns für meine Zwecke nutzen möchte. Das sieht sie durchaus richtig.« Für Linden veränderte sich blitzartig alles. Ein Schock lief Flammenzungen gleich von Kopf bis Fuß über ihren Körper; die Realitäten schienen zu taumeln und zu schwanken; aus ihrem Herz fiel der Boden heraus - direkt in die unergründlichen Augen des Eggers. Sie rang nach Atem, versuchte zu schreien: Du Dreckskerl, du
Schweinehund! Aber sie brachte kein Wort heraus. Du wolltest ihn benutzen? Nach allem, was er schon erlitten hat? Der Eifrige strahlte sie an, als wäre er mit dem Ergebnis seiner Beharrlichkeit zufrieden. »Linden!«, protestierte Liand. »Deinen Sohn? Ist dieser Inse-quente so herzlos, wie er den Elohim vorwirft?« 0 Gott. Linden zwang sich dazu, tief durchzuatmen; kämpfte darum, ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. Sie hatte Ihre Macht noch nicht abgegeben: Sie konnte sich noch immer anders entscheiden. Sie allein wird bestimmen, was zum Umfang deines Schwurs gehört und was nicht. Der Eifrige hatte angedeutet, er werde verhindern, dass der Egger gegen ihren Willen etwas mit Jeremiah anstellte. Sie konnte es sich leisten, sich den Rest der Rechtfertigung des Eggers anzuhören. Dieser Gedanke, diese Hoffnung oder diese Wunschvorstellung war es, die Linden die Kraft gab, mit zusammengebissenen Zähnen zu verlangen: »Weiter!« »Trotzdem weiß Infelizitas nicht«, fuhr der Egger fort, »welche Verwendung ich wirklich beabsichtige. Sie bildet sich ein - und fürchtet -, dass ich ähnliche Absichten hege wie der Vizard. Das wäre der ›ewige Verlust‹, den sie verabscheut. Sie glaubt, dass ich ein Gefängnis für die Elohim bauen will - und töricht genug bin, mir einzubilden, die Schlange werde sich harmlos zurückziehen, wenn sie von ihrer natürlichen Nahrung abgeschnitten wird. Aber so närrisch bin ich nicht. Die Elohim sind kaum mehr als weise gemachte Erdkraft. Kann die Schlange sich nicht von ihnen ernähren, verschlingt sie andere, bis ihr Hunger gestillt ist. Darin gleicht sie jedem anderen Tier. Die Elohim einzukerkern, würde zwar meinen Stolz befriedigen, aber nicht viel mehr bewirken. Lady …« Der Egger zögerte kurz, sah zu dem Eifrigen hinüber und zuckte dann nochmals mit den Schultern. »Ich beabsichtige, Gesetz und wilde Magie von deinem Sohn gebrauchen zu lassen. Hat er beides zur Verfügung, besitzt er genügend Macht, um ein Gefängnis zu erschaffen, in das die Schlange sich begeben muss, ohne es wieder verlassen zu können. Du kannst das nicht an meiner Stelle bewirken. Dafür gibt es viele Gründe, von denen ich nur zwei nennen will.
Erstens fehlt dir meine Kenntnis solcher Theurgien. So extrem deine Wünsche auch sein mögen, verstehst du nicht, welche Hilfe dein Sohn genau braucht. Du kannst dich nicht von Einsichten leiten lassen, die du nicht gewonnen hast. Deine Intervention würde den Misserfolg deines Sohns garantieren. Zweitens besitzt er allein kein ausreichendes Wissen, um das Gefängnis zu erschaffen, das ich mir vorstelle. Ihm war noch kein jahrhundertlanges Studium zur Vervollkommnung seiner Talente gegönnt. Deshalb muss ich auf das Einverständnis des Croyel setzen.« Linden verstand ihn sofort, fast gegen ihren Willen. Der Croyel: dieser scheußliche Sukkubus, den sie zuletzt an Jeremiahs Hals hängen gesehen hatte, wo er ihm Leben und Verstand aussaugte, während er ihm Macht verlieh. Instinktiv begriff sie, dass der Egger ihren Sohn unter der Kontrolle dieses Scheusals lassen wollte. Der finstere Insequente brauchte mehr als Erdkraft und wilde Magie und Jeremiahs Talent für kunstvolle Bauten: Er brauchte das Wissen des Croyel und seine speziellen Fähigkeiten. Die bloße Vorstellung machte sie maßlos zornig. Um Jeremiahs willen hätte sie den Egger am liebsten niedergeschlagen, ihn totgetrampelt. Und um Jeremiahs willen beherrschte sie sich. Sie glaubte der Behauptung des Eggers, allein er könne sie zu ihrem Sohn bringen. »Wirst du das zulassen?« Liand schleuderte dem Eifrigen seine eigene Wut und Verzweiflung entgegen. »Ist es bezeichnend für eurer Volk, dass ihr ein Kind leiden lasst? Hatte einzig die Mahdoubt ein mitfühlendes Herz?« Der Eifrige verzog das Gesicht zu einer kummervollen Miene und schwieg. Seine Bänder umflatterten ihn unschlüssig, doch seine Emotionen bedeuteten Linden nichts. Sie allein wird bestimmen … Und wir werden deinen Schwur erst als erfüllt ansehen … »Du sagst mir noch immer nicht die Wahrheit«, stellte sie fest. »Du wolltest meine Macht, seit wir uns erstmals begegnet sind. Du wolltest Jeremiah und den Croyel. Aber du hast nicht gewusst, dass ich die Schlange wecken würde. Das konntest du nicht wissen. Wie also soll ich dir jetzt vertrauen können?« Der Egger funkelte sie mit seinem nachtdunklen Blick an. »Lady, ich
wiederhole, dass die Insequenten keine Unwahrheit sprechen. Die Erweckung der Schlange war für meine Wünsche nicht notwendig. Zum einen wäre sie mit dem Wissen, das ich besitze, und der Macht, die ich bald besitzen werde, ebenso leicht schlafend wie wachend einzufangen gewesen. Tatsächlich wollte ich ursprünglich den Elohim für immer jeglichen Zweck und Wert rauben und die Welt vor dem Untergang bewahren, indem ich dafür sorgte, dass die Schlange nie mehr geweckt werden konnte. Das ist nun nicht mehr möglich. Daher habe ich meine Absichten der Extravaganz deiner Narretei angepasst.« »Meinetwegen.« Linden wollte nicht zeitraubend diskutieren. »Weiter!«, wiederholte sie scharf. »Komm zum Ende!« Der Egger seufzte, weigerte sich aber nicht: »Die Gerissenheit des Croyel und seine schaurige Magie sind für die Erreichung meines Zieles unerlässlich. Das wirst du nicht zulassen, solange du imstande bist, es zu verhindern. Deshalb ist es zur Rettung der Erde unerlässlich, dass an deiner Stelle ich deinen Stab und den Weißgoldring besitze.« Linden wandte sich an den Eifrigen. »Und wenn ich unsere Übereinkunft nicht so verstanden habe? Was dann?« Farbige Bänder umwehten seine füllige Gestalt, signalisierten Gewissheit, tarnten Besorgnis. »Dann behält dein Wille die Oberhand, Lady. Der Egger muss auf seine Absichten mit deinem Sohn verzichten oder aufhören, nach deinen Werkzeugen der Macht zu streben. Die Insequenten als Volk werden kein anderes Ergebnis dulden.« Stave sah kurz zu der Gruppe um Covenant und den Krill hinüber. Dann richtete er seinen Blick auf den Egger. »Es gibt noch einen weiteren Punkt zu berücksichtigen. Hat Infelizitas vorhin wahr gesprochen, müssen wir akzeptieren, dass es kein Leben ohne den Tod geben kann. Die Schlange des Weltendes ist für den Fortbestand der Erde unerlässlich. Wenn dein Wagnis glückt… muss die Einkerkerung der Schlange dann nicht alles Leben beenden? Wird nicht die gesamte Schöpfung in unfruchtbare Kahlheit verfallen?« »Wohl gesprochen, Haruchai«, murmelte Mahrtür. »Der Egger ist fleischgewordene Verblendung. Seine Gier wird alle Zerstörung beschleunigen.« Linden hörte Staves Worte, aber ihre Aufmerksamkeit galt weiterhin
dem Egger. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, als hätte es die Grenze seiner Belastbarkeit erreicht. Zwang er sie jetzt, Farbe zu bekennen falls er seine Gier meistern konnte -, war Jeremiah für sie verloren. Er würde allein und unter Folterqualen sterben, während die Welt unterging. »Ich warte.« Ihre Stimme blieb fest. Der Egger hatte Staves Frage nicht beantwortet. »Was soll es also sein?« Forderte er sie auf, sie solle doch versuchen, Jeremiah ohne seine Hilfe zu finden, würde sie, so dachte sie, sicherlich zusammenbrechen. Doch statt Linden zu antworten, wandte der Egger sich an den Eiferer. »Du verlangst viel«, knurrte er einem gereizten Raubtier gleich. »Von der Lady wollte ich drei Dinge. Auf eines habe ich bereits verzichtet. Es ist mir durch die unverzeihliche Einmischung der Mahdoubt genommen worden. Träumst du wirklich davon, ich könnte auf weitere meiner Wünsche verzichten?« Dann wandte er sich an Linden, und sein Tonfall war scharf wie Säure: »Der vereinte Wille der Insequenten ist mir Befehl genug. Lady, ich bin bereit, mich deiner Auslegung meines Schwurs zu unterwerfen. Meine Absichten in Bezug auf deinen Sohn setze ich aus - zumindest vorläufig. Dennoch wird dein Triumph leer sein. Du durchkreuzt meine Absichten vergeblich. Haben wir deinen Sohn befreit, bleiben die einzigen Werkzeuge, die der Erde Hoffnung geben, in meinem Besitz. Du kannst dich nach Kräften bemühen, deinen Sohn von dem Croyel zu befreien. Zu diesem Bemühen habe ich dir keine Hilfe geschworen. Und wenn du scheiterst, wie es unvermeidlich ist - wenn du machtlos vor dem Weltuntergang stehst -, werde ich dich fragen, ob du zufällig die Bedingungen für deine ›Zufriedenheit‹ überdacht hast.« Im nächsten Augenblick fügte er ruhiger hinzu: »Die Untergangsprophezeiungen der Elohim verdienen nicht, dass man ihnen Glauben schenkt. Ihre Sorge gilt nur dem eigenen Überleben. Wird die Schlange eingekerkert, hören sie vielleicht wirklich auf zu existieren. Aber die Erde und alles andere Leben haben überdauert, während die Schlange geschlafen hat. Wird sie eingekerkert, werden sie fortbestehen. Ich habe nicht die Absicht, sie zu morden.« Linden hätte den Eifrigen fragen können, ob die Worte des Eggers der Wahrheit entsprachen, aber sie zitterte so sehr, dass sie ihrer Stimme
nicht traute. Jetzt, sagte sie sich. Tu es jetzt. Ehe er sich die Sache anders überlegt. Jetzt war die Zeit gekommen, kompromisslos zu handeln. Sie würde dem Egger den Stab des Gesetzes und Covenants Ehering übergeben. Sobald sie ihre Muskeln dazu bringen konnte, ihr zu gehorchen … Infelizitas hatte Linden erklärt: Deine Reue wird deine Kraft übersteigen, sie zu ertragen. Das immerhin glaubte sie der Elohim. Trotzdem war sie bereit, jede Last zu tragen, um ihren Sohn zu retten. Schon vor langem hatte sie erkannt, dass selbst Thomas Covenant und das Land ihr nicht so viel bedeuteten wie Jeremiah. Und Covenant hatte gesagt: Wir sollten die Führung Linden überlassen, denke ich. Vielleicht war ihm dabei bewusst gewesen, welche Konsequenzen seine Unterstützung haben würde. »Also gut.« Sie hatte ihre Stimme noch nicht ganz unter Kontrolle, aber das störte sie nicht. »Ich kann nicht sofort aufbrechen, weil ich noch einiges zu erledigen habe. Aber ich möchte diesen Handel abschließen … solange der Eifrige durch seine Anwesenheit dafür sorgt, dass du ehrlich bist.« Nichts erhellte den dunklen Blick des Eggers, aber mit einem Mal belebte sich jede Linie seiner eleganten Erscheinung, und seine Aura entflammte in erneuerter Gier. »Linden?«, murmelte Liand besorgt. »Ring-Than«, fragte der Mähnenhüter, »bist du dir deiner Sache sicher?« Aber sie wollten nur zur Vorsicht mahnen und versuchten nicht, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Trotz allem glaubten beide weiterhin an sie … Stave war ein Haruchai; seine Gedanken und Gefühle blieben ihr verborgen. Trotzdem vertraute sie darauf, dass er sich nicht einmischen würde - und dass er sie warnen würde, falls die Gedemütigten näher kamen, um sie an der Ausführung ihres Vorhabens zu hindern. Sie mussten wissen, was Linden tun wollte. Dennoch hielt Covenants Konzentration auf den Krill sie an seiner Seite. Ungewohnt besorgt, beinahe ängstlich sagte Raureif Kaltgischt: »Dieser Kurs gefällt mir nicht. Linden Avery, ich habe dir den Namen Riesenfreundin gegeben. Wir werden dir nichts in den Weg legen. Aber ich fürchte, dass du Meere befährst, die so unerforscht und gefährlich sind wie der Seelenbeißer, auf dem jeder Kurs in die Verzweiflung
führt.« Linden fühlte mit ihren Freunden, aber es gab nichts, was sie hätte sagen können, um sie zu beruhigen. Sie hegte ähnliche Befürchtungen wie ihre Gefährten - und das aus gutem Grund. Sie kannte ihre eigenen Unzulänglichkeiten besser als jeder andere. Nach reiflicher Überlegung machte sie den letzten Schritt auf den Egger zu. Ohne das Zittern unterdrücken zu können, das ihr alle Kraft raubte, versuchte sie, beide Hände gleichzeitig zu heben; versuchte es und schaffte es nicht. Covenants Ring lag in ihrer geschlossenen Linken; aus der Faust baumelte die Kette herab, an der sie in den vergangenen zehn Jahren ihre einzige Erinnerung an seine Liebe getragen hatte. Ihre Rechte hielt den Stab des Gesetzes umklammert. So zögerte sie noch einen Augenblick, zwischen selbst auferlegten Schmerzen hin- und hergerissen. Erst vor Tagen oder Jahrzehnten hatte sie Roger Covenant diesen Ring verweigert, obwohl sie ihn irrtümlich für seinen Vater gehalten hatte. Jetzt hielt sie Covenants Ehering wie im Fieber zitternd dem Egger hin. Er schnappte sich die Kette und riss ihr den Weißgoldring aus der Hand, als fürchtete er, sie könnte sich die Sache doch noch anders überlegen. Den Stab des Gesetzes loszulassen erforderte noch mehr Anstrengung nicht weil Covenants Ring weniger emotionales Gewicht besaß, sondern weil der Stab ihr gehörte. Mit ihm hatte sie Zäsuren beseitigt, Wunden geheilt und das Sonnenübel ausgetilgt. Aus bloßem Holz hatte sie etwas geformt, das Waffe und Werkzeug zugleich war. Caerroil Wildholz persönlich hatte ihren Stab als Geschenk mit Runen verziert. In ihren Träumen hatte Covenant gesagt, sie brauche den Stab. Es bedurfte fundamentaler Selbstverleugnung, ihren Griff zu lockern. Linden hatte das Gefühl, ihre Seele zu verkaufen, die Notwendigkeit der Freiheit zu verraten. Sie verzichtete freiwillig darauf, selbstständige Entscheidungen zu treffen. So viel von sich selbst hätte sie für keinen außer Jeremiah aufgeben können. Dieser Junge hat nicht verdient, was ihm zugestoßen ist. Die hämische Freude des Eggers, als er ihr den Stab entriss und hochhielt, als er Stab und Ring wie Siegstrophäen hochreckte, war mehr, als sie ertragen konnte. Sie wandte den Blick ab. »Sieh her, mein Volk!«, rief der Egger zu den Sternen hinauf. »Sei
Zeuge und erzittere! Bald werde ich mich als größter aller Insequenten beweisen - als der größte, der je gelebt hat!« Hätte Linden ihn dabei beobachtet, hätte sie vielleicht allen Mut verloren. Ihre Gefährten schienen kein Wort herausbringen zu können. Sie hatten nicht an ihren Visionen teilgehabt. Die Vorstellung, sie habe die Schlange geweckt, musste ihnen vage irreal erscheinen: unmöglich, unvorstellbar. Aber sogar Liand, der am wenigsten erfahrene, am wenigsten gebildete ihrer Freunde, begriff die ungeheure Bedeutung ihrer Kapitulation vor dem Egger. Ganz in ihrer Nähe flatterten die Bänder des Eifrigen unschlüssig, als versuchten sie, sein heimliches Entsetzen zu tarnen. Der Gedanke, dass sie ohne Macht nicht länger für den Weltuntergang verantwortlich gemacht werden konnte, hätte ihr vielleicht gewisse Erleichterung schenken sollen; aber stattdessen fühlte sie sich, als hätte sie sich eine Verletzung beigebracht, die sie unmöglich überleben konnte.
4 Nach Unweisheit
Linden Avery wäre am liebsten ins weiche Gras gesunken und hätte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Sie war von Scham erfüllt, auf die sie kein Anrecht hatte. Als sie dem Egger gegeben hatte, was er wollte wenn auch vielleicht nicht, als sie Thomas Covenant gewaltsam aus dem Bogen der Zeit gerissen hatte -, hatte sie genau gewusst, was sie tat. Sie hatte ihre Entscheidung bewusst getroffen. Sie konnte sich nicht damit herausreden, unverschuldet in diese Lage geraten zu sein. Helft ihr mir?, wollte sie fragen, obwohl sie kaum wusste, wer noch bereit oder imstande sein würde, ihr zu Hilfe zu kommen. Bitte? Du hast Gefährten, Auserwählte. Brauchst du Rat, musst du dich an sie wenden. Von ihnen hatte einzig Liand sich etwas Theurgie bewahrt - und sie hatte seinen Rat ignoriert. Sie hatte auf keinen ihrer Freunde gehört. Zu deprimiert, um noch länger vor dem Egger zu stehen, ging Linden zögernd auf Covenant zu. Wenigstens vorläufig bereitete er ihr trotz seiner unkontrollierbaren Aussetzer und seiner Lepra die geringeren Schmerzen. In Andelain würde er sicher sein - alle ihre Gefährten würden hier sicher sein -, wenn der Egger sie mit sich nahm. Solange Loriks Krill die wilde Magie von Joans Ring reflektierte, konnten die Flammengeister alles Unheil abwenden. Sogar Kastenessen und die Skurj, auch Roger und Esmer wurden so daran gehindert, mit ihrer Bösartigkeit in das Land zwischen den Hügeln einzudringen. Trotzdem waren solche Dinge Linden kein Trost. Die ungewohnte Leere ihrer Hände machte sie verwundbar, und sie war sich der orientierungslosen Verzweiflung, mit der ihre Freunde ihr folgten, als sie sich nun von dem Egger abwandte, nur allzu deutlich bewusst. Das Einschussloch in ihrer Bluse hatte keine Bedeutung mehr, seit der rote Flanell nicht mehr Covenants Ehering bedeckte. Stattdessen ließen ihre Todeswunde, der Stoffstreifen, den sie für das Gewand der Mahdoubt abgerissen hatte, und die von Ästen und Zweigen verursachten kleinen Risse sie äußerlich so hinfällig erscheinen, wie sie sich innerlich fühlte.
Jeremiahs roter Rennwagen in den Tiefen ihrer Tasche war nun ihr einziger Halt. Ihr Sohn brauchte sie, und Linden wusste kein anderes Mittel, um ihn zu retten. Auf dem Boden der Senke schritt Covenant noch immer langsam um den leuchtenden Krill herum und studierte ihn, als könnte der Dolch ihn irgendwie in der Zeit verankern, wenn er nur die richtige Methode dafür fände. Dabei monologisierte er halblaut, nur um - so schien es - seine Begleiter zu beschäftigen. Vielleicht aber, so dachte Linden, versuchte er auch lediglich, sich möglichst viele seiner zersplitterten Erinnerungen zu bewahren. Die Gedemütigten, Pahni, Bhapa und drei oder vier Riesinnen bildeten einen lockeren Kreis, der Covenant und den verkohlten Stumpf von Caer-Caverals Leichnam umgab. Riesinnen und Seilträger gleichermaßen erweckten den Eindruck, als hätten sie den Versuch aufgegeben, aus Covenants Äußerungen eine zusammenhängende Geschichte herauszuhören. Der ausdrucklose Stoizismus der Gedemütigten tarnte ihre Hoffnung, aber sie schienen darauf zu warten, dass der U-Lord und Zweifler wieder jener Mann werden würde, den sie einst gekannt hatten. Erst jetzt erkannte Linden, dass die Gedemütigten nun keinen Grund mehr hatten, sie persönlich anzugreifen. Wollten sie verhindern, dass Erdkraft und wilde Magie zukünftig missbraucht wurden, würden sie den Egger angreifen müssen, der schon bewiesen hatte, dass er gegen sie immun war. Und ging es gegen Branl, Galt und Clyme, würde der Eifrige als Insequenter vermutlich zu dem Egger halten. Linden hätte nicht sagen können, wie er seine Bänder oder seine sonstige Magie einsetzen würde, aber sie bezweifelte nicht, dass sie höchst wirksam sein würden. Trotz seines Lispeins und seiner lächerlichen Fettleibigkeit hatte er sie davon überzeugt, dass er über gewaltige Macht verfügte - zum Guten wie zum Bösen. Sonst wäre der Egger nie auf seine Bedingungen eingegangen. Linden, die sich schweigend nach einem beruhigenden Wort aus dem Mund des Mannes sehnte, dem sie so sehr geschadet hatte, studierte Covenant aufmerksam. Sie würde bald mit ihm sprechen müssen, noch ehe die Geduld des Eggers - oder des Eifrigen - erschöpft war. Sie wollte glauben, sie sei noch imstande, einige nicht destruktive Entscheidungen
zu treffen, die wenigstens die Sicherheit ihrer Freunde garantieren sollten, wenn sie mit dem Egger aufbrach, um den Croyel zu finden, der als Blutsauger an Jeremiahs Hals hing. Aber sie fürchtete, ihre Übereinkunft mit dem Insequenten könnte sie den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit gekostet haben. Selbst Liand, Stave und Mahrtür würden jetzt vielleicht nicht mehr auf sie hören, wenn Covenant nicht Partei für sie ergriff. Schaffte Covenant es nicht, aus den Spalten herauszukommen, die seinen Verstand durchzogen, würde er ihr nicht helfen können. Aber er war noch in den Weiterungen der Zeit gefangen, schien steuerlos auf einer Sargassosee aus Erinnerungen zu treiben, die ihm nichts mehr nützen konnten. Und seine Lepra … o Gott sie verschlimmerte sich unter der Decke von Kevins Schmutz. Hier in Andelain waren die Auswirkungen des Schmutzes abgeschwächt - vielleicht milderten die Flammengeister das Übel, das Kastenessen, Esmer und der Wüterich Moksha über das Oberland gebracht hatten. Trotzdem war Kevins Schmutz weiter vorhanden: Linden nahm ihn deutlich wahr, wenn sie nachts zu den Sternen aufsah. Covenants Hände und Füße waren bereits fast völlig gefühllos. Verschlimmerte sein Zustand sich weiter, war es nur mehr eine Frage der Zeit, wann auch sein Sehvermögen leiden würde. Er bewegte sich unbeholfen, als hätte er die Kontrolle über seine Muskeln eingebüßt oder verlernt, und trotzdem schien er sich seiner Krankheit nicht bewusst zu sein. Seine Aufmerksamkeit galt allein dem Krill - oder dem nicht vorhersehbaren Abgleiten seiner Gedanken. »Jemand«, bemerkte er, als griffe er etwas zuvor Gesagtes wieder auf. »Ich weiß nicht mehr, wer. Ich möchte glauben, es sei Mhoram gewesen, aber vielleicht war es Berek. Als er auf dem Rückmarsch vom Gravin Threndor die Reste seines zersprengten Heeres sammelte. Er sagte …« Covenant schloss kurz die Augen und zitierte dann mit gerunzelter Stirn, als wäre es anstrengend, sich zu erinnern: »›Es gibt kein Geschick, das so böse oder verhängnisvoll ist, dass Mut und klarer Blick dahinter keine andere Wahrheit entdecken könnten.‹« Dann sah er nacheinander Galt, Branl und Clyme an. »Versteht ihr das? Es müsste verständlich sein. Aber wenn ihr es nicht begreift …« Covenant setzte sich steif wieder in Bewegung und umrundete Loriks Krill, als versuchte er, seine eigene Verwirrung zu umkreisen und sie so
einzudämmen. »Eigentlich ist alles meine Schuld. Ich habe euch gebeten, Schwelgenstein zu beschützen, aber ich habe mich nicht klar ausgedrückt. Niemand kann euch einen Vorwurf machen, wenn ihm nicht gefällt, wie ihr euer Versprechen gehalten habt. Ich habe euch nicht gesagt, dass ihr beschützen solltet, was Schwelgenstein bedeutet.« Er schien zu glauben, dass die Meister - ebenso wie Linden - seine Verzeihung begehrten, und er versuchte scheinbar noch immer daran zu glauben, dass alles, was das Land an den Abgrund gebracht hatte, notwendig gewesen war. Während Covenant sprach, stellte Liand sich neben Mahrtür und fragte leise: »Mähnenhüter, wäre es nicht gut, Bhapa und Pahni Heilerde suchen zu lassen? Unter Andelains Reichtümern und Wundern müsste welche zu finden sein. Ich weiß nicht, ob Thomas Covenants Verstand geheilt werden kann - oder ob der Versuch schädlich wäre, wie Linden behauptet hat. Aber diese seltsame Krankheit, die an seinem Fleisch nagt…« »Nein!« Mit fast hörbarem Ruck kehrte Covenant in die Gegenwart zurück und war plötzlich wieder gegenwärtig: lebensgroß wie ein Seher. »Keine Heilerde«, sagte er scharf. »Ich erwarte nicht, dass ihr das versteht. Aber ich brauche dies hier.« Er wies seine Hände vor. »Sie müssen gefühllos sein. Das macht mich nicht nur zu dem, der ich bin. Es macht mich zu dem, der ich sein kann.« Noch ehe der Mähnenhüter oder der Steinhausener antworten konnten, schritt Covenant um den toten Baumstumpf herum auf Linden zu, hielt aber inne, als er zwischen ihr und dem leuchtenden Krill angelangt war. Auch sie blieb stehen - hilflos, als hätte er ihr befohlen, Abstand zu halten. Mit Stave neben und den Riesinnen hinter sich wartete sie, die selbst keine Worte mehr fand, ab, was er sagen würde. Der Lichtschein des Krill hinter ihm verschattete seine Züge, und sie konnte den Ausdruck darin nicht erkennen. Die Narbe auf seiner Stirn glich einer blassen Falte auf seinen Gedanken. »Linden.« Er sprach, als zerrisse ihr silbern umrandeter Name ihm das Herz. »Es tut mir leid. Ich hätte es dir früher sagen müssen.« Aus seinem Tonfall sprachen Selbstvorwürfe. »Wenn ich bei klarem Verstand hätte bleiben können.« Von einer nicht zur Sache gehörenden Erinnerung abgelenkt, schien er
an dieser Stelle abzuschweifen. »Ich habe einmal praktisch das Gleiche gemacht. Das Land hat mich gebraucht, aber ich habe mich abgewandt. Darüber haben wir schon einmal gesprochen. Ich wollte dich nur daran erinnern.« Linden schien es, als versuchte er, allzu viele Dinge gleichzeitig zu sagen, und sie spürte, wie er darum kämpfte, seine Gedanken zu organisieren. »Mhoram hat mich aufgefordert, mir deswegen keine Sorgen zu machen. Ich sollte wissen, dass es verschiedene Motive gibt, die Lord Foul einfach nicht dienen können. Auch wenn der Verächter sich noch so sehr windet, kann er sie nicht so verdrehen, dass sie ihm geben, was er begehrt.« Selbst irregeleitet zu sein ist kein Akt der Liebe oder des Entsetzens oder des Selbsttadels -, wirksam genug, um dem Verächter seine Wünsche zu gewähren. Er kann nur von jemandem befreit werden, der von Zorn getrieben die Konsequenzen seines Tuns verachtet. Dann sah Linden, wie Covenant seine Entschlusskraft sammelte. Die eigene Unbeholfenheit machte seine Stimme barsch: »Aber davon wollte ich eigentlich nicht reden. Ich werde den Krill an mich nehmen.« Er wollte was tun? Die Riesinnen hielten den Atem an; Raureif Kaltgischt knurrte eine unverständliche Verwünschung. Selbst Anele bewegte sich unruhig im Schlaf, als hätte ihn fernes Donnergrollen gestört. Liand setzte zu Widerspruch an, brach aber ab, als Mahrtür jäh seinen Arm umklammerte und Pahni an seine Seite trat. Bhapa starrte den Zweifler mit großen Augen an, und Linden erwartete fast, dass die Flammgeister zurückkehren und Covenant aufhalten würden. Die Gedemütigten erstarrten, als hätte ihr Glaube an den Ur-Lord sich bestätigt. »Ich weiß«, murmelte Covenant. »Dann bleibt Andelain unverteidigt ein Gedanke, bei dem mir selbst ganz übel wird. Ohne ihn haben die Flammengeister nicht die richtige Art Kraft, um seine Grenzen zu verteidigen. Sie werden nicht verhindern können, dass … Aber einer von uns sollte irgendeine Waffe haben. Wohin wir auch unterwegs sind, werden wir sie brauchen können. Solange Joan noch lebt - solange sie ihren Ring hat -, kann diese Klinge praktisch alles durchschneiden.« Er zögerte. »Hoffentlich macht mich das nicht zu jemandem, der ›ohne Rücksicht auf die Folgern handelt.« Während er Worte zu suchen schien, nutzte Linden ihre Gelegenheit und
fragte rasch: »Wohin ziehen wir?« In Wirklichkeit hatte sie nicht die Absicht, Covenant - oder sonst jemanden - mitzunehmen. »Der Egger will es mir nicht sagen.« »Ah, Teufel, Linden«, murmelte Covenant angewidert. »Wenn ich es wüsste - wenn ich mich daran erinnern könnte -, würde ich es sagen.« Er schlug sich mit dem Handballen seiner Halbhand an die Stirn. »Hier drin herrscht schreckliches Durcheinander.« Er verzog sein Gesicht zu einem grimassenhaften Grinsen. »Willst du mich nicht nochmals schlagen, droh mir mit Heilerde. Erstaunlich, wie mir das hilft, mich zu konzentrieren. Aber wir werden eine Waffe brauchen«, fuhr er fort. »Das weiß ich mit Sicherheit. Du solltest nicht alles allein tun müssen. Und das ist auch mein Problem. Ich habe schon zu vieles falsch gemacht. Selbst als Bestandteil des Bogens bin ich zu menschlich gewesen … Und ich habe dich in diese Sache hineingeritten.« Zuvor hatte er sich vorgeworfen, sie irregeführt zu haben, indem er im Traum und durch Anele mit ihr gesprochen hatte. »Ich sollte wenigstens versuchen, dir zu helfen, deinen Sohn zu retten.« Als machte er sich auf eine Tortur gefasst, drehte er sich langsam nach Loriks Krill um. »Warte!«, sagte Linden. »Das will ich nicht.« Noch vor Kurzem hatte sie geglaubt, alles weggegeben zu haben. Jetzt merkte sie, dass sie sich geirrt hatte. Und sie musste ihn daran hindern, sie zu begleiten und ihretwegen noch mehr zu riskieren. »Du hast mir versprochen …« Einst, vor Jahrtausenden hier im Land, hatte Thomas Covenant geschworen, er werde nie mehr Macht ausüben. »Ja, ich weiß«, antwortete er über die Schulter hinweg. »Ich wollte unschuldig wirken. Impotent oder hilflos. Mir ist kein anderes Mittel eingefallen, um Lord Foul zu stoppen. Aber du hattest von Anfang an recht. Manchmal genügt es einfach nicht, nur unschuldig oder unwissend oder sogar gut zu sein. Vielleicht sind wir alle wie Esmer. Wollen wir Gutes tun, müssen wir dabei Böses riskieren. Das Risiko auf uns nehmen, dass wir in Wirklichkeit böse sind.« Während Covenant sprach, glaubte Linden Dr. Berenfords Stimme zu hören. Schuld ist Macht. Als der alte Arzt sie vor zehn Jahren gebeten hatte, ihm bei Covenant zu helfen, hatte er das Thema eines der Romane Covenants zusammengefasst: Nur die Verdammten können gerettet
werden. Ebenso wie Covenant war auch Linden eine Gefangene ihrer Erinnerungen. »Dies ist nicht das erste Versprechen, das ich breche«, schloss er hastig. »Aber vielleicht bleibt es das letzte.« Sie wollte ihn daran hindern, den Krill zu nehmen, hätte um Andelains willen eingreifen müssen. Aber Covenant hatte bereits nach der unauslöschlichen Kraft des Dolchs gegriffen, und weder Stave noch die Gedemütigten machten den geringsten Versuch, ihn daran zu hindern. Aber Covenant würde den Krill nicht herausziehen können. Er war jetzt wieder nur ein Mensch, und die Klinge saß tief im Holz. Im Lauf der Jahrhunderte war der Baumstamm hart wie Eisenholz geworden. Tatsächlich, so dachte Linden, hätte er nicht einmal imstande sein dürfen, den Dolch zu berühren. Linden hatte seine Hitze gespürt, und um sich nicht zu verbrennen, hatte Sunder ihn in ein Tuch gewickelt mitgebracht. Trotzdem legte Covenant jetzt beide Hände um den Griff der Waffe. Seine Schultern wölbten sich, als er zu ziehen begann. Als Silhouette im Lichtschein des Krill schien er überlebensgroß schwarz und bedrohlich - aufzuragen, während er versuchte, die Klinge aus dem verhärteten Holz zu reißen. Linden konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie spürte, wie seine Muskeln zitterten. Und … Großer Gott! … sie nahm den Übelkeit erregenden süßlichen Geruch wahr, mit dem sein Fleisch zu brennen begann. Der Dolch war nicht nur heiß; er war plötzlich viel zu heiß. Plötzlich einströmende Kraft ließ seinen Schmuckstein weiß glühend leuchten: Joans Kraft. Die einer rechtmäßigen Weißgoldträgerin … Kein gewöhnlicher Stoff hätte Covenant genug Schutz bieten können. Er würde sich die Hände bis auf die Knochen verbrennen, noch bevor er den Krill herausziehen konnte. »Linden!«, keuchte Liand. Pahni und Mahrtür mussten ihn zurückhalten. »Linden.« Die halbe Klaue von Covenants rechter Hand rutschte ab. Zwischen seinen Fingern quoll Rauch hervor; der Geruch nach verbranntem Fleisch wurde stärker; aber er gab sich nicht geschlagen. Er hakte die beiden verbliebenen Finger seiner Rechten um die Parierstange des Dolchs und zerrte weiter gegen die seit Caer-Caverals Tod bestehende
Umklammerung an. Ich brauche dies hier. Sie müssen gefühllos sein. Jetzt brannte der Schmuckstein des Krill sich direkt in seine Handfläche. Im nächsten Augenblick mussten seine Hände Feuer fangen; dann würden sie für immer verkrüppelt sein. Aber er schien keine Schmerzen zu spüren und ließ nicht erkennen, dass er wusste, woher der Geruch kam. Seine Lepra ermöglichte ihm, den Dolch weiterhin zu umklammern - aber sie hinderte ihn auch daran, zu erkennen, wie schlimm er sich selbst verletzte. »Covenant Riesenfreund!« Mit einem Mal ragte Raureif Kaltgischt über ihm auf. »Zurück! Dies ist eine Caamora, ein Reinigungsritual der Riesen. Willst du dich verstümmeln und ewig ein Krüppel bleiben? Solche Schmerzen kann dein Fleisch nicht ertragen! Lass mich an deiner Stelle …« Joan tat das alles, Joan. Irgendwie erkannte sie - oder Turiya Herem -, dass Covenants Hand denKrill umklammerte. Bestimmt leitete der Riesen-Wüterich sie an, aber die wilde Magie war die ihrige. Trotzdem zerrte Covenant mit aller Kraft weiter und knurrte leise vor Anstrengung, als es ihm nicht gelang, die Klinge herauszuziehen. In Lindens Kehle stieg ein Schrei wie Gallenflüssigkeit auf. Sie schluckte ihn herunter, damit sie sich nicht übergeben musste. »Eisenhand!«, blaffte Stave. »Hilf mir!« Der ehemalige Meister war mit einem Satz neben Covenant, ließ sich auf ein Knie sinken und begann mit beiden Fäusten gegen den Baumstumpf zu hämmern, als könnte er ihn zertrümmern. Aber das Holz war zu hart; zu alt und hätte einer Axt ebenso leicht widerstanden. wie seinen Fausthieben. Dennoch folgten Galt, Branl und Clyme seinem Beispiel: Sie waren kaum einen Herzschlag hinter ihm. Ihre Fausthiebe erschütterten den abgestorbenen Baumstamm bis in die Wurzeln hinein. Nun schien die Erde die Schmerzen aufzunehmen, die Covenant zum Loslassen hätten zwingen sollen. Im nächsten Augenblick trafen Kaltgischts massive Fäuste den Baumstumpf wie Vorschlaghämmer. Ein lautes Poltern hallte durch die Senke, und Anele knurrte leicht im Schlaf; dann ließ der zweite Schlag der Eisenhand das Holz und mit ihm das letzte Andenken an Caer-Caveral wie von einem Blitzstrahl getroffen zersplittern.
Im selben Moment spürte Linden, wie der Boden unter ihren Füßen zu beben begann, spürte, wie Realitäten sich aneinanderrieben. Die Bäume und sogar die Grashalme von Andelain schienen vor Angst zu zittern wie Espenlaub. Covenant, der plötzlich freikam, taumelte rückwärts und wäre auf den Rücken geknallt, wenn Frostherz Graubrand ihn nicht aufgefangen hätte. Vor Anstrengung oder weil er jetzt doch Schmerzen fühlte, stieß er ein tiefes Heulen aus, und der Krill flog ihm aus den Händen. Silbrige Lichtstrahlen kreiselten durchs Geäst der umstehenden Bäume, und als der Dolch ins Gras fiel, schmolzen auf dem Schmuckstein rauchende kleine Hautfetzen wie Wachs. In dem intermittierenden Licht sah Linden das Fleisch von Covenants Fingern und Handflächen Blasen werfen … Dieser Anblick löste einen Tumult aus Geschrei und Bestürzung aus. Ohne Covenants Verbot zu beachten, befahl der Mähnenhüter seinen Seilträgern: »Heilerde! Sofort!« Während Pahni und Bhapa losrannten, beeilte Liand sich, Graubrand zu helfen, Covenant zu stützen. Mit einer Hand hielt der Steinhausener seinen Orkrest umklammert, als könnte er ihn damit heilen. »Haruchai!«, brüllte die Eisenhand. »Schwertmainnir! Ein Feind bewirkt trotz der Flammengeister Böses in Andelain! Seid wachsam! Vielleicht folgt ein Angriff!« Wie Linden hatte Kaltgischt Joans Wut gespürt; aber die Eisenhand wusste nicht, dass das Joans Zorn war. Covenant streckte wie bittend die Hände aus. Seine Atemzüge waren ein raues schmerzhaftes Keuchen. Fast ohne zu merken, was sie tat, griff Linden nach der Kraft des Stabes. Der Egger hielt ihn in den Händen, aber er gehörte ihr, sie konnte seine Kraft spüren. Schon einmal zuvor in den Höhlen der Wegwahrer - hatte sie Erdkraft aus dem von ihr entfernten Stab gezogen. Sie konnte ihn auch weiterhin benutzen … nur diesmal nicht. Das heiße Besitzstreben des Eggers blockierte sie; das schwarze Holz war voller Gesetz und Magie, aber weder Feuer noch Heilkraft folgte ihrem Ruf. »Ich werde ungeduldig, Lady«, schnarrte der Egger. »Schluss mit diesen Verzögerungen. Komm jetzt mit!« Seine Worte sollten verächtlich klingen, aber Linden hörte ihn sehr gut. Er war nicht ungeduldig; er war besorgt. Sie erriet instinktiv, dass er nicht wollte, dass Covenant sich mit dem Krill bewaffnete, und deshalb
ignorierte sie ihn. Hätte sie gewusst wie, hätte sie die Flammengeister gerufen. Der Anblick von Covenants verbrannten Händen brach ihr fast das Herz. Der Eifrige näherte sich nun Covenant mit watschelnden Schritten, während sein buntes Gewand sich immer mehr aufplusterte. In einer Wolke aus flatternden Farben schob er sich weiter vor, bis er Covenants Hände deutlich sehen konnte. Dann schickte er mit weit ausholender Geste bunte Bänder aus, die auf den Zweifler zuwogten. »Joan«, keuchte Covenant, während er noch immer gegen unmenschliche Schmerzen ankämpfte. Karmesinrote und irisierende Bänder fanden seine Hände, und die Schwertmainnir wollten sie wegschlagen, hielten dann aber inne und beobachteten stattdessen, was geschah. Der fast unbeachtet im Gras liegende Krill begann abzukühlen. Er blieb zu heiß, als dass Linden, Liand oder die Ramen ihn ohne Gefahr hätten berühren können; aber der gewaltige Kraftfluss, der Covenant verletzt hatte, nahm rasch ab. »Sie oder der Turiya hat gespürt, was ich tue.« Auch Liand, der weiterhin seinen unnützen Sonnenstein umklammerte, sah zu, wie die Bänder sich um Covenants grausig verbrannten Finger wanden. »Es war Joan. Sie hat versucht, mich daran zu hindern.« Wie zärtliche Liebkosungen glitten die Bänder über seine Haut und legten sich nahtlos übereinander, während sie Verbände bildeten, die weiter Bestandteil der Kleidung des Eiferers blieben. Ihre Theurgie blieb Lindens Sinnen verborgen. Trotzdem trat die Wirkung sofort ein. Während Lindens Puls sich langsam wieder normalisierte, verschwanden Covenants Schmerzen wie Wasser in sonnenheißem Sand. Erleichterung überflutete sie, und Linden wäre fast gestürzt. »Wenn diese arme Frau sich konzentrieren könnte«, seufzte Covenant. Allmählich begann er leichter zu atmen. »Wenn Foul sie nicht so schlimm verletzt hätte …« »Gut gemacht«, verkündete der Eifrige mit öliger Befriedigung, »auch wenn ich das als Einziger sage.« Eine weitere Handbewegung trennte Covenants Verbände von seinem flatternden Gewand und bewirkte, dass ihre Enden sich versiegelten. »Darf ich dir etwas raten, Zeitenherr? Dann
lass die Verbände an deinen Händen. Schmerzen zu lindern erfordert weniger komplizierte Magie, als Fleisch zu heilen. Außerdem wirst du solchen Schutz sicher noch zu schätzen wissen. Mein Geschenk kann sich nur als segensreich erweisen, wenn es dort bleibt, wo es ist.« Covenant schien nicht zu hören, was der Eifrige sagte. Seine Stimme wurde kräftiger, als er schloss: »Sie wollte mich töten, aber sie hat selbst zu starke Schmerzen. Wahrscheinlich versucht sie es später erneut, aber im Augenblick hat sie alles getan, wozu sie imstande war.« Woher er das wusste, konnte Linden sich nicht vorstellen, stimmte ihm aber innerlich zu. Auch sie hatte Joans wilden Zorn erkannt und war mit der Labilität von Joans geschädigtem Verstand vertraut. Der Mähnenhüter begutachtete Covenant durch seine Augenbinde hindurch, schien dann mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, hob sein Gesicht zum Nachthimmel und stieß einen wiehernden Schrei aus, um die Seilträger zurückzurufen. Als dieser Ruf durch die Nacht hallte, verließen Linden ihre Kräfte. Zwischen den Riesinnen kniete sie nun im Gras - sie besaß einfach nicht mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Trotzdem beobachtete sie weiter Covenant, der seine bandagierten Finger sichtlich verwundert krümmte und streckte. Sie atmete erst wieder normal, als er sich bückte, um wieder nach dem Krill zu greifen. Als er ihn aufhob, beleuchtete der Lichtschein sein Haar wie silbernes Feuer, aber diesmal verbrannte der Dolch ihn nicht. Mit einer Miene, als beglückwünschte er sich selbst, zog der Eifrige sich an den Rand der Senke zurück. Sein Verhalten - und Covenants Reaktion - bestätigte, dass die Gefahr vorüber war. Linden ließ sich seufzend zurücksinken, bis sie mit um die Knie geschlungenen Armen und dahinter verstecktem Gesicht auf dem Boden saß. Sie hatte dem Egger zu rasch nachgegeben. Nun war sie wertlos. Der Egger bemühte sich, selbstbewusst zu wirken, als er wiederholte: »Ich bin ungeduldig, Lady. Willst du die Qualen deines Sohns verlängern?« Aber niemand beachtete ihn. Während Mahrtürs Ruf unter den Bäumen verhallte, begann die Anspannung der Riesinnen sich zu lösen, und die Gedemütigten umringten Covenant, als wollten sie ihn gegen seine Gefährten
abschirmen. Gleichzeitig kehrte Stave unter die Riesinnen und auf seinen Platz neben Linden zurück. Anele hingegen schlief weiter, als wäre nichts geschehen. Es gab Dinge, die Linden tun musste; dessen war sie sich sicher. Sie musste Fragen stellen. Entscheidungen treffen - oder auf ihnen bestehen. Initiativen ergreifen. Der Egger hatte recht. Jetzt wurde es doch sicher Zeit, darauf zu bestehen, dass er seinen Teil der Vereinbarung erfüllte? Aber ihre leeren Hände schienen mehr zu wiegen als in jener Zeit, in der sie den Stab getragen hatten, und ohne Covenants Ring fehlte ihr der Mut, den Kopf zu heben. Bald, sagte sie sich. Bald … Im Augenblick wollte sie sich lediglich in sich selbst verkriechen und versuchen, in jenes Reich der Erinnerung oder der Hilflosigkeit zu gleiten, in dem sie für nichts verantwortlich gemacht werden konnte. Er hat versucht, mich aufzuhalten. Er hat nichts von deiner Absicht gewusst. Wahrscheinlich versucht sie es später wieder. In der Nacht nach den Kämpfen ums Erste Holzheim hatte Linden sich im Traum als Kadaver gesehen. Jetzt aber musste Joan ihre verbliebenen Kräfte sammeln - oder ihre Gedanken - und konnte es nicht. Covenant betrachtete den Krill und seine verbundenen Hände eine Zeit lang, als hätte er vergessen, was sie bedeuteten. Dann aber schien er sich aus dem Sog der Vergangenheit zu befreien und bat die Gedemütigten stirnrunzelnd um etwas, in das er Loriks Waffe wickeln konnte. Als kleiner zusätzlicher Schutz, sagte er, für den Fall, dass Joan ihren Angriff unerwartet erneuerte. Umgehend riss Galt einen handbreiten Streifen vom unteren Rand seines Kittels ab. Das pergamentartige Gewebe war trotz seiner Weichheit haltbar wie Segeltuch, Galt aber riss es ohne erkennbare Anstrengung durch und hielt dem Zweifler den Stoffstreifen hin. Covenant nickte anerkennend und wickelte den ockerfarbenen Stoff um den Krill, dessen Schmuckstein nun kaum mehr leuchtete. In dem plötzlichen Dunkel, in dem nur Sternenschein herrschte, steckte er das Bündel in den Hosenbund seiner Jeans, bedankte sich jedoch nicht bei Galt; seine Anerkennung schien Grenzen zu haben. Stattdessen wandte er sich an die Eisenhand, und Linden spürte seinen ständigen Kampf darum, in der Gegenwart zu bleiben, als er abrupt sagte: »Eure Vorfahren haben nicht die ganze Wahrheit erfahren, als sie wegen eurer
Gabe, in Zungen zu sprechen verhandelt haben. Die Elohim haben euch irregeführt, wenn sie nicht glatt gelogen haben.« In grauer Vorzeit haben unsere Vorfahren sich durch Lügen dazu verleiten lassen … Vage wünschte Linden sich Erleuchtung durch die Flammengeister, die Mut und klaren Blick befördern konnten, aber die Geister kehrten nicht zurück. »… eine schwindelhafte Übereinkunft mit den Elohim abzuschließen«, sagte Covenant gerade. Linden wusste nicht, wieso er dieses Thema jetzt aufgriff. »Ist das nötig, Covenant Zeitenherr?« Das nächtliche Dunkel schien nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre Stimme zu umschatten. »Es ändert nichts mehr.« »Gewiss«, bestätigte Covenant. »Aber es hilft uns zu verstehen, was auf dem Spiel steht. Auf lange Sicht - falls es eine lange Sicht gibt - sind wir alle besser dran, wenn wir wissen, warum Langzorn so wichtig ist. Ich frage mich, weshalb ihr ihn nicht nach Elemesnedene gebracht und die Elohim aufgefordert habt, ihn zu heilen. Habt ihr die ganze Zeit über gewusst, was mit ihm nicht in Ordnung war? Habt ihr gewusst, dass sie nicht helfen würden?« Er hielt inne, konzentrierte sich und fügte hinzu: »Je mehr du mir erklärst, desto weniger bin ich auf Erinnerungen angewiesen.« »Der Stab des Gesetzes ist vorläufig dein«, sagte der Eifrige zu dem Egger. »Willst du nicht seine Flamme nutzen, diese schweren Herzen zu erleichtern?« »Ihre Last geht mich nichts an«, gab der Egger zurück. »Ich will nur endlich weiter.« Kaltgischt betrachtete Covenant mit in die Hüften gestemmten Fäusten. Aus ihrer Haltung sprach Ärger, Verbitterung, aber unter der Oberfläche gärten dunklere Gefühle. »Was sagt ihr, Riesinnen?«, fragte sie schroff. »Muss ich hier im herrlichen Andelain von unserem alten Fehler sprechen, während die vielleicht letzte Gefahr der Erde sich vor uns auftürmt?« »Sprich, wovon du willst«, warf der Egger ein, »wenn die Lady mir gestattet hat, unsere Vereinbarung zu erfüllen. Überredet sie nur dazu, mich jetzt zu begleiten. Sobald ich die Schlange aufgehalten habe, bleibt
euch genügend Muße für alle möglichen Geschichten.« Die Gruppe um Covenant ignorierte den Insequenten, und Kaltgischts Gefährtinnen wechselten unbehagliche Blicke. Wie die Haruchai schienen auch sie ohne Feuer oder Mondschein oder wilde Magie recht gut zu sehen. Schließlich sagte Frostherz Graubrand leise: »In dieser Nacht voller Gefahren habe ich keine Lust auf Geheimnisse oder Schamgefühle. Linden Riesenfreundin hat ihre Geheimnisse offengelegt und ihre innersten Absichten offenbart. Fürchten wir jetzt, in ihrer Gegenwart gedemütigt zu werden? Du hast Mitverantwortung für Langzorns Wahnsinn übernommen, aber der Fehler liegt weder bei dir noch bei uns. Er ist den Machenschaften der Elohim geschuldet, wie der verehrte Grimme Blankehans klargemacht hat. Wir sollten uns unsere alte Narretei eingestehen und es dabei bewenden lassen. Den Genuss haben die Ohren, die hören, nicht der Mund, der spricht.« Mehrere Schwertmainnir murmelten ihre Zustimmung. »Sobald ich die Schlange aufgehalten habe …«, wiederholte der Egger, aber der Eifrige unterbrach ihn: »Die Wünsche der Lady gehen vor, Ungestümer.« Sein Lispeln wurde stärker, als verspottete er den Egger. »Sie wird uns begleiten, wenn es ihr passt - auf ihre eigene Art, auf eigene Weise. Bis dahin wirst du dich damit abfinden müssen, geduldig zu warten.« »Das tue ich nicht«, widersprach der Egger hitzig. Der Eifrige zögerte kurz. Als er schließlich antwortete, sank seine Stimme fast zu einem Flüstern herab: »Muss ich deinen wahren Namen nennen, um dich zum Schweigen zu bringen?« Der Egger biss die Zähne zusammen und ballte zornig die Fäuste. »Das tust du nicht. Das wäre eine klare Einmischung. Die würde dich das Leben kosten.« Trotzdem riskierte er keine weitere Provokation. Noch immer beachtete keiner die beiden Insequenten, und Raureif Kaltgischt wandte sich stattdessen Covenant zu: »Also gut, Thomas Covenant, Zeitenherr und Erdfreund. Ich will von der Wahrheit sprechen, die uns enthüllt worden ist, und erklären, warum Riesen ebenso zu Fehlern neigen wie jedes andere Volk der Erde.« Linden, die ihre Stirn auf den Knien ruhen ließ, gestattete der Nacht, sie wie ein Gefäß der Dunkelheit zu füllen. Weshalb Covenant die
Riesinnen auszufragen versuchte, war ihr egal. Ihr war nur wichtig, dass er darum kämpfte, gegenwärtig zu bleiben; dass er vielleicht Mittel finden würde, ihr Versagen zu heilen. Ein Mittel, sie vor den Konsequenzen zu bewahren … Du urteilst zu hart, Weißgoldträgerin. Sie hätte versuchen sollen, Elenas lange Qualen zu mildern. Aber es gab nichts, was Linden für Covenants Tochter hätte tun können, ehe sie nicht irgendeine Form von Barmherzigkeit für sich selbst entdeckt hatte. Dass dieses Abkommen in Wirklichkeit ein Schwindel war, war ihr inzwischen klar. Langzorn hatte versucht, sie umzubringen, weil die Elohim ihren Tod wollten. »Deine Frage, Thomas Covenant«, begann Kaltgischt, »betrifft die Gabe, in Zungen zu reden, wegen der die Riesen einst mit den Elohim verhandelt haben. Auf vielen Reisen haben wir Riesen die Erfahrung gemacht, dass die Völker der Erde Geschichten erzählen, um sich zu unterhalten, zu trösten oder zu tarnen. Sie verschweigen Aspekte, die ihnen missfallen, und heben Dinge hervor, die sie erfreuen. Unzählige Jahrtausende lang haben wir eine andere Überzeugung vertreten. Weil wir glauben, dass den Genuss die Ohren haben, die hören, nicht der Mund, der spricht, haben wir unsere Geschichten ganz oder gar nicht erzählt - und sind immer stolz darauf gewesen. Jetzt aber müssen wir Genuss in der Erkenntnis finden, dass unsere Vorfahren auf Machenschaften und entstellte Wahrheiten hereingefallen sind. Und noch mehr: Wir müssen sie für eine Blindheit ehren, die teilweise vorsätzlich war. Sie waren so von ihrer Gabe, in Zungen zu sprechen, und sich selbst begeistert, dass sie das Angebot der Elohim nie genau unter die Lupe genommen haben. Wir müssen Genuss in der Erkenntnis finden, dass Langzorn zum Teil auch durch den Verrat seines eigenen Volkes zu Leid und Wahnsinn verdammt wurde.« Linden hörte nur mit halbem Ohr zu. Die Erinnerung an die gegen sie gerichtete Mordgier des geistesgestörten Riesen beschäftigte sie mehr als der Bericht über diesen Handel, den sie vor langer Zeit von Grimme Blankehans gehört hatte. Vielleicht, so dachte sie, wäre es für alle außer Jeremiah besser gewesen, wenn Langzorn sie umgebracht hätte. Auch Anele hatte sie gewarnt: Die Not des Landes geht alle jetzt Lebenden an. Ihre Kosten müssen alle tragen, die jetzt leben. Daran kannst du nichts
ändern. Versuchst du es, bewirkst du womöglich nur Ruin. Linden seufzte. Sie war dennoch entschlossen, ihre Freunde zurückzulassen, wenn sie den Egger begleitete. Sobald sie wieder zu Kräften gekommen war … Grimmig fuhr die Eisenhand fort: »Dir und Linden Avery, die damals die Sonnenkundige war, ist erzählt worden, wir hätten diese Gabe für die Sage von Baghoon dem Ungezogenen und Thelma Zweifaust, die ihn gezähmt hat, erhalten. Das ist wahr - in dem Sinn, dass unsere Vorfahren es vorgezogen haben, das zu glauben. Jetzt wissen wir, dass die Elohim nicht die Sage selbst, sondern nur eine ihrer Facetten für wertvoll gehalten haben - und unsere Bereitschaft, heiter darüber zu reden. In ihren Augen hat unsere Heiterkeit ihre Absicht gerechtfertigt. Die Sage selbst will ich nicht erzählen. Mir geht es hier nur darum, die vermeintliche Großzügigkeit der Elohim anzuprangern. Im Kern geht es um Folgendes: Nach den vielen Streichen und Untaten, die ihm seinen Beinamen einbrachten, wurde Baghoon unfreiwillig und gewaltsam in die raue Obhut von Thelma Zweifaust überstellt. Thelma war eine Riesin von gewaltiger Körperkraft, legendärer Aggressivität und erstaunlicher Hässlichkeit. Aus eigenem Entschluss lebte sie als Einsiedlerin, denn wer sie kannte, fürchtete sie, und sie hatte nur Verachtung für solche Besorgnis übrig, die sie für Feigheit hielt. Baghoon wurde ihr trotz seiner verzweifelten Proteste als Diener geschickt, weil unsere Vorfahren seine Gegenwart nicht länger ertragen konnten. Kein anderer Riese konnte ihn bändigen, und sein neuer Platz in Thelmas Diensten wurde als gerechter Lohn für seine Untaten angesehen.« Kaltgischt seufzte. »Welche Mittel sie fand, ihn zu zähmen, und dass die beiden sich zusammenrauften und auf ihre Art miteinander glücklich wurden, erklärt unser Vergnügen an dieser Sage. Die Elohim haben den Humor der Riesen jedoch falsch gedeutet - oder bewusst auf andere Weise ausgelegt. Der Aspekt der Sage, der sie reizte und dazu bewog, uns die Gabe anzubieten, in Zungen zu reden, war der auf Baghoon ausgeübte Zwang, nicht sein unerwartetes Ergebnis. Sie erkannten deutlich unsere Begierde - sogar unseren Hunger - nach Freundschaft und Wissen in aller Welt. Und sie konnten sich davon überzeugen, dass wir nicht davor zurückschreckten, einen der Unseren einem vermeintlich
schlimmen Schicksal auszuliefern, wenn wir keine andere Möglichkeit mehr sahen. Das entsprach ihrer eigenen Art, wie das Los jedes ihrer Ernannten beweist. Aber von solchen Dingen wurde nicht gesprochen. Stattdessen haben sie nur ihr eigenes Entzücken betont. Und sie haben einen Tauschhandel vorgeschlagen: die Gabe, in Zungen zu reden, gegen die Sage von Thelma und Baghoon - mit allem, was diese Sage beinhaltet.« Die Eisenhand erwiderte weder Covenants noch Lindens Blick. Sie betrachtete das Gras zu Füßen der Haruchai, als erwartete sie einen Urteilsspruch - obschon ihre Gefährtinnen und sie schon lange über sich selbst geurteilt hatten. »Weil unsere Vorfahren sich vom Glanz der Elohim hatten blenden lassen«, fuhr sie fort, »und sich die angebotene Gabe sichern wollten, haben sie sich nicht weiter mit dem Inhalt der Sage befasst. Stattdessen haben sie dem Tauschhandel freudig und blind zugestimmt. Erst jetzt, wo der Schaden sich nicht wiedergutmachen lässt, haben wir die ganze Wahrheit erfahren. Den Eifer unserer Vorfahren, den Handel abzuschließen, haben die Elohim als Zusage interpretiert, in ferner Zukunft Anspruch auf die unter Umständen nur widerstrebend geleisteten Dienste eines noch ungenannten Riesen zu haben. Leider irregeführt«, fügte sie schroff hinzu, »oder womöglich freiwillig haben unsere Vorfahren sich damit einverstanden erklärt, Verlorensohn Langzorn für jeden Zweck zu opfern, den die Elohim wünschten.« Kaltgischt sah Covenant an, als wäre sie bereit, sich jedem Vorwurf zu stellen, und Trotz und Sorge schwangen in ihrer Stimme mit, als sie schloss: »Dieses Verständnis hat Grimme Blankehans uns gewährt oder vielleicht auferlegt, damit wir die Entscheidungen, die Linden Riesenfreundin treffen musste, besser verstehen konnten. Aye, und auch ihre Taten. Wir sollten unbedingt begreifen, dass die Irrtümer und auch die Fehler der Riesen zahlreich und schwerwiegend sind. Damals haben wir Leben und Leiden eines Staramesgenossen für eine bloße Gabe der Elohim hingegeben. Deshalb müssen wir uns davor hüten, Irrtümer und Fehler bei anderen zu suchen - speziell bei Linden Riesenfreundin, deren Narretei sich noch als Klugheit erweisen kann - ebenso wie das unbedachte Entzücken unserer Vorfahren nur Kummer und Sorgen bewirkt hat.«
Im Sternenschein sah Linden nicht mehr als das Leuchten von Covenants silbergrauem Haar; trotzdem wusste sie, noch ehe er sprach, dass er weder Raureif Kaltgischt noch ihr Volk tadeln würde. Seine Körpersprache kündete von Mitgefühl und dem Kampf gegen erneutes Abgleiten, als er mit rauer Stimme sagte: »Danke, das hilft. Jetzt weiß ich wieder, warum ich die Riesen immer geliebt habe. Salzherz Schaumfolger war zu einer Zeit mein Freund, als ich noch gar nicht wusste, was Freundschaft ist. Und er hat einen besseren Zweck für sein Leben gefunden, als ich mir jemals hätte vorstellen können.« Einen Augenblick später fügte er hinzu: »Jedenfalls hat Langzorn keinen Erfolg gehabt. Können wir Linden lange genug am Leben erhalten, verlieren die Elohim das Interesse daran, was er tut. Vielleicht lassen sie ihn dann los, und er kann etwas Frieden finden.« Linden hoffte, dass Kaltgischt darüber lachen würde. Etwas Frieden. Bevor die Welt unterging. Die Riesinnen verstanden doch wohl, dass das ein Scherz war? Sie wollte noch einmal ihr freimütiges Lachen hören, ehe sie Abschied von ihnen nahm. Aber weder die Eisenhand noch ihre Gefährtinnen lachten. Stattdessen sagte Kaltgischt feierlich: »Nach diesem Maßstab hat Salzherz Schaumfolger zu den größten aller Riesen gehört. Wir ehren ihn wie Grimme Blankehans und Ankertau Seeträumer. Wenn die Tage, die uns noch bleiben, uns günstig sind, erhalten wir hoffentlich Gelegenheit, gleich ihnen die Fehler unserer Vorfahren wiedergutzumachen.« Noch ehe Covenant antworten konnte, trat Mahrtür vor. »Deine Worte bereiten mir Kummer, Riesin.« Er sprach zögernd, als behinderten ihn Gefühle, die er nicht aussprechen wollte. »Alle Lebenden machen irgendwann Fehler. Das ist bei den Ramen nicht anders. Hätten wir die Ranyhyn nicht veranlasst, das Land zu meiden, auch nachdem das Sonnenübel besiegt war, hätten viele der gegenwärtigen Ereignisse vermieden werden können. Ihre Anwesenheit hätte die Gedanken und Entscheidungen der Meister bestimmt mäßigen können. Reicht euer Bestreben, Langzorns Qualen zu lindern, nicht als Rechtfertigung aus, müssen eure Tapferkeit und eure Opfer im Kampf gegen die Skurj genügen. Eine einzelne Narretei kann unmöglich schwerer wiegen als tausend - nein, tausendmal tausend - Beweise für Tapferkeit und Großzügigkeit.
Und es spricht für eure Vorfahren, finde ich, dass die Elohim ihre Absichten nicht ohne bewusste Täuschung erreichen konnten.« Linden nickte. Sie erinnerte sich, wie Mahrtür ihr gestanden hatte: Ich will Taten vollbringen, die in der Erinnerung der Ramen weiterleben werden, wenn ich nicht mehr bin. Vielleicht lag ihm daran, die lange Abwesenheit seines Volkes und der Ranyhyn wiedergutzumachen. Er hatte gesagt, sein Volk sei zu vorsichtig, um bleibende Spuren zu hinterlassen. Bevor Kaltgischt antwortete, verbeugte sie sich leicht. »Ich danke dir für deine Höflichkeit, Mähnenhüter der Ramen. Unsere Reue - aye, und unser Zorn - gehören uns allein. Wir lassen sie nicht leicht fahren. Aber deine Freundlichkeit und dein Mitgefühl wärmen unsere Herzen. Wir werden sie in ehrender Erinnerung behalten.« Plötzlich knurrte der Egger: »Schluss jetzt mit diesen kleinlichen Überlegungen. Die Schlange bewegt sich bereits. Wie Infelizitas euch erklärt hat, ist sie noch nicht groß, aber ihre Macht ist stets größer als ihre Masse. Handeln wir nicht - und das schon bald -, überlebt keiner von euch, um eure Irrtümer und Fehler zu beklagen.« Seine Worte setzten Mahrtürs Mitgefühl ebenso herab wie Kaltgischts kummervolle Aufrichtigkeit. Noch ehe sie erkannte, wie zornig sie war, war Linden bereits aufgesprungen und forderte: »Schweig jetzt! Du hast kein Recht, über irgendeinen von uns zu spotten. Du warst ungefähr so ehrlich wie die Elohim, was nicht gerade viel ist, also halt endlich die Klappe!« Die auf dem Galgenbühl gelernten Lektionen halfen ihr offenbar, die Grenzen der eigenen Schwäche - ihr allzu großes Mitleid - zu überwinden. »Dennoch, Lady«, erwiderte der Egger, »bin ich derjenige, der Weißgold und den Stab des Gesetzes besitzt, und du bist machtlos.« Dunkelheit verschattete seine Züge, aber sein Blick fühlte sich wie eine Drohung an: schwarz und bodenlos. »Verachte mich jetzt, wenn das dein Wunsch ist. Aber der Tag wird kommen, an dem du mich anflehst, deinen Sohn zu benutzen, wie immer es mir gefällt. An diesem Tag wirst du erkennen, dass du Grund hast, deine Schikanen und Verzögerungen zu bereuen, ohne die sicher vieles hätte gerettet werden können.« »Das ist zweifellos deine Überzeugung«, warf der Eifrige ein. Linden
bemerkte, dass sich etwas an dem bänderumwogten Insequenten verändert hatte; das übergroße Selbstbewusstsein war verschwunden und hatte einer besorgten Miene Platz gemacht. Vielleicht hatte er sich selbst erschreckt, als er gedroht hatte, den wahren Namen des Eggers preiszugeben. »Etliche Insequente haben sich eingehend mit Fragen von Prophezeiungen, Vorausschau und Konsequenzen befasst, um ein Zeitbewusstsein zu entwickeln, das mit dem des Theomach vergleichbar ist. Manche dieser Adepten sehen jedoch ein Ergebnis und andere das Gegenteil voraus. Ohne den Zeitenherrn ist der Bogen der Zeit geschwächt. Die Möglichkeiten vervielfachen sich mit jedem Wort und jeder Tat. Du tätest gut daran, zu berücksichtigen, dass deine Hast Ereignisse provozieren und Wege eröffnen kann, die dir nicht gefallen werden.« Die Wildheit im Blick des Eggers zerrte an Lindens Sinnen: Sie konnte hören, wie er mit den Zähnen knirschte, und spürte, wie seine Finger auf den Perlen trommelten, mit denen sein Wams bestickt war - aber er beherrschte sich und schwieg. Hätte der Eifrige den wahren Namen des Eggers genannt, hätte er sich eingemischt und sein Ende besiegelt. Aber das hätte ihr auch Macht über den Egger verliehen. Linden hatte beide Insequenten herzlich satt. Angewidert wandte sie sich wieder Covenant und ihren anderen Gefährten zu. Unerwarteter Zorn hatte sie aus ihrer trägen Leere auffahren lassen. Nun war sie bereit. »… sicher hätte vieles gerettet werden können.« Als sie Covenant betrachtete, sah sie, dass er wieder aus der Gegenwart gefallen war. Sein Verstand war in einer unwegsamen Wildnis unterwegs - von Spalten durchzogen wie jene Trümmerlandschaft, in der Joan ihren Wahn auslebte, indem sie Schmerzen projizierte, die einzelne Zeitsegmente zerstörten. Zumindest vorläufig war sie verloren; unerreichbar. Anele hingegen war endlich aufgewacht. Er rappelte sich auf und sah sich um, als suchte er eine Richtung oder ein Ziel, das allein seine Blindheit wahrnehmen könnte. Vielleicht durch die wohltuende Luft und das üppige Gras von Andelain oder das Eingreifen Sunders und Hollians beschwichtigt, wirkte er fast normal, als er murmelte: »Die Zeit ist gekommen. Anele muss Stein haben. Er erinnert sich an seinen Vater
und seine Mutter. Er muss Stein haben.« Dann sog er prüfend die Luft ein und schien die Aliantha zu wittern, die Pahni noch in Händen hielt. Covenant hob ruckartig den Kopf. »Was war das?« fragte er. »Was war das? Hast du Stein gesagt?« Er klang irritiert, als wäre er zwischen widersprüchlichen Erinnerungen gefangen. »Auch ich erinnere mich an deine Eltern. Wozu brauchst du Stein?« Falls Anele ihn hörte, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen näherte der Alte sich Pahni und streckte stumm die Hände aus. Sie gab ihm ihre Schatzbeeren, die er gierig zu verschlingen begann, als hätte er tagelang gefastet. Linden seufzte. In lange zurückliegender Zeit, die ihr wie ein vergangenes Leben erschien, hatte Anele sie aufgefordert: Suche gewachsenen Fels. Das älteste Gestein. Nur dort hat sich die Erinnerung erhalten. Die letzten Tage des Landes sind gezählt. Ohne Unterbindung bleibt zu wenig Zeit. Im Nachhinein klang das prophetisch. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, was er damit gemeint hatte. »Covenant.« Sie versuchte bewusst, ihre Stimme wie einen Peitschenknall klingen zu lassen, um ihn damit hoffentlich aus seinem inneren Labyrinth zurückzuholen. »Verstehst du, wovon Anele redet?« Covenant erwiderte ihren Blick mit ausdrucksloser Miene. »Sunder hatte seinen Orkrest«, murmelte er. »Hillian hatte den Lianar. Sie waren keine Lords, aber beide waren voller Erdkraft. Es geht immer um Holz oder Stein.« Ohne Vorwarnung hob er die Fäuste und hämmerte damit an die Schläfen. »Verdammt, wenn ich mich nur erinnern könnte …!« Diese unerwartete Gewalt ließ Linden zusammenfahren. »Thomas Covenant«, sagte Kaltgischt sanft. »Riesenfreund.« Auch Branl, Galt und Clyme hielten sich bereit, den Zweifler vor sich selbst zu schützen. Covenant winkte ab. »Der Egger weiß Bescheid«, keuchte er. »Die Elohim sind nicht die einzige Nahrung. Die Schlange kann immer bekommen, was sie braucht. Aber Elohim sind die richtige Nahrung. Solange es welche gibt, will die Schlange keine andere Nahrung. Je besser sie sich verstecken, desto mehr Zeit bleibt uns. Aber wenn sie genug gefressen hat…« Er versuchte diesen Satz zu Ende zu bringen und brachte doch trotz aller
Mühe die Worte nicht heraus - als verlöre sein Verstand den Boden unter den Füßen, während er auf einer Oberfläche stünde, die so glitschig wäre wie der zu Erdblut führende Tunnel. Linden verstand ihn ebenso wenig wie sie Anele verstand. Trotzdem hatte er sie auf eine Idee gebracht, hatte ihr indirekt ein Argument geliefert, einen Hebel, an dem sie ansetzen konnte. Jetzt, sagte sie sich. Jetzt oder nie. Jeremiah brauchte sie - oder sie ihn. Weitere Verzögerungen würden nur ihre Zweifel stärken und ihr vielleicht die Fähigkeit rauben, überhaupt etwas zu unternehmen. Als spräche sie mit der Dunkelheit, fragte sie: »Liand, können wir etwas Licht bekommen?« Auch ohne das Leuchten des Krill verlor Andelain nichts von seiner faszinierend geheimnisvollen Art. Die Hügel wirkten so vollständig wie zuvor. Zweifellos hatte der junge Steinhausener nicht das Bedürfnis, deutlicher zu sehen, als sein Gesundheitssinn ihm gestattete. Außer Linden hatte niemand dieses Bedürfnis. Trotzdem kam er ihrem Wunsch sofort nach. Er zog das Stück Sonnenschein aus seiner Gürteltasche, hielt es auf der flachen Hand und beschwor sein überliefertes Erbe. Von dem Orkrest ging ein weißes Licht aus, dass wie reingewaschen wirkte; sein Leuchten griff stetig weiter in das kleine Tal hinaus und tauchte Lindens Gefährten in helles Licht. Weiß angestrahlt wirkten sie zunächst geisterhaft, fast so gespenstisch wie zuvor die Toten: eine kleine Gruppe, die Covenant und Linden wie Bittsteller umgab. Dann erst gewannen sie ihre Substanz zurück. »Danke«, sagte Linden, »das hilft.« Alle in ihrer Umgebung sollten sehen, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte, von der sie sich nicht mehr abbringen lassen würde. Einige Sekunden lang stellte sie sich Staves einäugigem Blick, dem ausdruckslosen Starren der Gedemütigten, Raureif Kaltgischts besorgtem Stirnrunzeln und der Ungewissheit der Seilträger. Sie betrachtete nacheinander die Gefährtinnen der Eisenhand, dann Mahrtür und Covenant. Anele nickte sie zu, obwohl nichts darauf hinwies, dass er sie überhaupt wahrnahm. In ihrem Wohnzimmer hatte Jeremiah einst eine Nachbildung des Donnerbergs gebaut. Dem Alten verdankte sie einen Hinweis … Suche gewachsenen Fels.
Auch wenn sie alle anderen zurückließ, konnte sie wenigstens Anele mitnehmen. Zuletzt konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf Liand, als wäre er der Sprecher all ihrer Freunde und Ungewissheiten; als wäre er der Einzige, den es zu überzeugen galt. Während Covenant in der Vergangenheit unterwegs war, konnte er nichts gegen ihr Vorhaben einwenden. »Es wird Zeit«, sagte Linden mit ruhiger, beinahe fester Stimme. »Anele und ich begleiten den Egger.« Und vermutlich den Eifrigen. »Aber nur er und ich.« Um sich herum spürte sie, wie sich der Herzschlag der anderen beschleunigte, aber sie sah weiter nur Liand an. Konnte sie ihn überzeugen … Ah, Liand. Ich wollte, ich könnte dich verschonen. Teufel, ich wollte, jeder von uns könnte dich verschonen. … würden die anderen vielleicht seinem Beispiel folgen. Seine dichten Augenbrauen wölbten sich erstaunt, und die Einwände drängten sich so rasch in seinem Mund zusammen, dass er zunächst keinen davon herausbrachte. Das Licht seines Orkrests flackerte kurz. In diesen Augenblicken der Ungewissheit wirkte er jünger und verwundbarer, als litte er unter einer persönlichen Zurückweisung. Linden gab sich einen Ruck: »Ihr anderen habt Wichtigeres zu tun. Ihr bleibt hier.« Wo Andelain sie eine Zeit lang erhalten würde. »Jeremiah ist mein Sohn. Ich darf ihn nicht im Stich lassen. Dazu habe ich diesen Handel abgeschlossen. Aber ich will seinetwegen nicht auch eure Leben riskieren. Und das Land braucht Verteidiger«, fuhr sie rasch fort, um Liands Einwänden zuvorzukommen. »Es braucht dich, Liand, und den Sonnenstein. Es braucht Covenant und den Krill. Es braucht Riesen und Haruchai und Ramen und Ranyhyn. Selbst wenn es nicht so viele Feinde und Ungeheuer gäbe, die uns Sorgen machen, müsste jemand irgendwas gegen die Schlange unternehmen. Jemand muss dafür sorgen, dass möglichst viele Elohim überleben …« Um die Schlange aufzuhalten oder zu schwächen. »… und dieser Jemand bin nicht ich. Ich besitze keine Macht mehr.« Keine Macht - und keine Ahnung, wie sie ihren Sohn aus den Fängen des Croyel befreien sollte. »Ich bin nicht diejenige, die Welten rettet.
Ich selbst weiß kaum mehr, was Hoffnung ist.« Sie verstummte und machte sich auf einen Proteststurm gefasst. Sie hatte alles auf Covenant gesetzt und ihn schmählich im Stich gelassen. »Aber wenn es noch Hoffnung gibt - falls sie noch existiert -, ist sie auf euch angewiesen. Ich muss zu Jeremiah. Ich kann nicht anders. Ihr müsst hierbleiben.« Der Nachdruck, mit dem sie sprach, schien Liand die Sprache zu verschlagen. Er öffnete und schloss den Mund, schwieg noch immer, und sein Blick zeigte ihr, dass ihre Aussagen ihn mehr erschütterten, ihn betroffener machten als zuvor Covenants Wiedererweckung. Der Gleichmut der Meister mochte ein Ausdruck von Zufriedenheit sein, aber Staves Miene zeigte deutlich, dass er nicht einverstanden war. Wie Liand schwieg auch Mahrtür. Hinter seiner Augenbinde schien er Lindens Bedürfnisse gegen die des Landes, ihre Wünsche gegen die seinigen abzuwägen. Pahni hingegen versuchte nicht einmal, ihre Freude darüber zu verbergen, dass Liand ein gefährliches Abenteuer erspart bleiben sollte. Sorgenvoll und hin- und hergerissen studierte Bhapa Linden und versuchte Anzeichen dafür zu erkennen, dass ihr Entschluss nicht endgültig war. Aber die Riesinnen … Raureif Kaltgischt war die Erste, die in Gelächter ausbrach, in das ihre Gefährtinnen fast augenblicklich einstimmten. Ihre lärmende, hemmungslose Fröhlichkeit erfüllte die Nacht; sie schien alles Dunkel weit zurückzudrängen. Gemeinsam lachten sie, bis ihnen Tränen übers Gesicht liefen - sie lachten, als wäre Gelächter eine Art Caamora: ein Reinigungsritual das sie geläutert zurückließ. Unter den Sternen hallte das kleine Tal von riesenhaften Lachsalven wider. Zuvor hatte Linden sich danach gesehnt, die Schwertmainnir lachen zu hören. Jetzt entmutigte ihre Heiterkeit sie, schien ihre Absichten zu durchkreuzen. Einst war sie wie Stein gewesen; jetzt war sie zerbrechlich wie ungebrannter Ton. Wie konnte sie darauf bestehen, ihre Freunde zu beschützen, wenn die Riesinnen ihre Argumente, ihre Bitten so lächerlich fanden? »Ah, Linden Riesenfreundin«, sagte die Eisenhand glucksend, als ihre Lachanfälle nachließen. »Du bist wahrhaft erstaunlich. Deine Worte klingen kummervoll, aber das sind sie in Wirklichkeit nicht. Sie sind ein Hirngespinst. Glaubst du, dass irgendein Riese darauf verzichten würde,
dich bei solch einem Abenteuer zu begleiten? Ha! Die von exotischen Gefahren ausgehende Verlockung ist viel zu groß. Und wir könnten nichts dazu beitragen, die Elohim zu erhalten. Wir haben kein Talent dafür, ihre Verstecke aufzuspüren - und würden das auch gar nicht wollen. Der Weltuntergang und die vielen anderen Gefahren, die das Land bedrohen, werden warten müssen, bis du deinen Sohn befreit hast. Tun sie das nicht, sind sie ohnehin zu gewaltig, um mit deinen Mitteln bekämpft zu werden. Wir werden dich begleiten, Linden Riesenfreundin - mit oder ohne deine Einwilligung. Wir können nicht anders, wenn wir die Gabe, uns zu freuen, nicht verlieren wollen.« Ihre Gefährtinnen glucksten hörbar entzückt ihre Zustimmung. Als Liand das hörte, hellte seine Miene sich auf. Ihr Lachen vertrieb seinen Kummer. Auch die Anspannung von Mahrtiirs innerem Konflikt löste sich. Obwohl er treu zu Linden hielt, war er erleichtert, eine Verantwortung abgeben zu können, die seine Vorstellung von sich selbst überstieg. Bhapas Reaktion glich der Mahrtiirs, und Pahni war in erster Linie eine Seilträgerin der Ramen: Trotz aller Ängste um Liand würde sie ihrem Mähnenhüter folgen, wohin er sie auch führte. Innerlich ächzend sah Linden, wie die vier sich auf die Seite der Riesinnen stellten. Jetzt würde sie Kaltgischt und ihre Gefährtinnen erst recht nicht mehr überreden können, sie nicht zu begleiten. Dazu zwingen konnte sie die Riesinnen nur, wenn sie dem Egger erklärte, ihre Auslegung ihrer Übereinkunft erfordere, dass er sie ausschloss. Wählte sie diesen Weg, würde der Eifrige sie unterstützen. Sie würde auf seine Magie zurückgreifen müssen, weil sie keine eigene mehr besaß. Aber die Riesinnen hatten sie angerührt; sie fühlte sich zutiefst bewegt. Ihr Lachen erschien ihr so unwiderstehlich wie Jeremiahs Not. Die Gedemütigten nickten mürrisch. »Unter diesen Umständen«, sagte Galt, »werden wir euren Weggang bedauern. Das ist Verrücktheit mit Verrücktheit potenziert. Zweifellos ließe sich ein besserer Zweck finden, für den ihr Mühe und Leben opfern könntet. Du weißt hoffentlich, dass weder wir noch der Ur-Lord uns diesem törichten Unterfangen anschließen. Vielleicht können er und die Flammengeister von Andelain und Hoch-Lord Loriks Krill hier eine Bastion gegen das Chaos errichten. Vielleicht sind von den Toten neue Ratschläge zu erlangen. Und wir
zögern nicht, auf den Zweifler zu vertrauen, obwohl er nicht mehr völlig er selbst und somit schwächer als früher ist. Solange die Erde besteht, halten die Meister zu Thomas Covenant. Aber das tun wir hier, statt im Bann irgendeines Insequenten.« Was Galt sagte, traf Linden wie ein Stich ins Herz. Aber das war doch eigentlich, was sie wollte? Covenant im sicheren Andelain zurückzulassen? Nach allem, was sie getan hatte, um ihm zu schaden und ihn auszunutzen, war sie ihm zumindest das schuldig. Und trotzdem wollte sie sich nicht von ihm trennen. Selbst Jeremiah konnte Covenants Platz in ihrem Herzen nicht ausfüllen. Wie er war sie in einer Spalte in ihrem Inneren gefangen. Aber bei ihr handelte es sich um einen emotionalen Riss, nicht um bruchstückhafte Erinnerungen. Sie wartete und konnte sich nicht entscheiden. Der Egger jedoch zögerte nicht mehr, sondern verkündete mit lauter Stimme: »Eure Diskussionen sind zwecklos, bloßes Geplänkel, während die Zeit gegen uns arbeitet. Ihr versucht die Lady zu überreden, aber ich höre nicht auf euch. Mein Schwur gilt nur ihr gegenüber. Ich denke nicht daran, mich mit ihren Gefährten zu belasten.« »Doch, das tust du«, sagte der Eifrige, »wenn das ihre Interpretation ist.« Wie sein Selbstbewusstsein war auch sein Lispeln schwächer geworden. »Sollte sie ihren Sohn ohne Begleitung suchen wollen, werden ihre Wünsche durchgesetzt. Will sie jedoch nicht ohne ihre Freunde, ganz ohne Macht…« Seine Stimme verstummte, wie im Flattern seiner Bänder verweht. Lindens Unentschlossenheit verflog schlagartig. Der Tonfall des Eggers bewirkte, dass sie sich auf unerwartet festem Boden wiederfand. Von einem Augenblick zum anderen verwarf sie ihren ursprünglichen Entschluss. Er wollte, dass sie ihre Gefährten zurückließ - und sie traute ihm nicht. Er brauchte ihre Hilflosigkeit. Sonst konnte er nicht zuversichtlich glauben, sie werde ihm zuletzt Jeremiah für seine Zwecke ausliefern. Die Riesinnen und die Ramen, Liand und Stave … sie alle konnten imstande sein, ihrem Sohn auf ungeahnte Weise zu helfen. Sie glaubte, für Anele werde es gewachsenen Fels geben. Sie konnte es ertragen, Covenant mit den Gedemütigten und dem Krill in Andelain zurückzulassen, wenn das bedeutete, dass eine gewisse Hoffnung für das
Land erhalten blieb. Jetzt wandte sie sich dem Egger zu und kapitulierte nochmals, aber nicht vor ihm. Nicht vor ihm. »In diesem Fall«, sagte sie laut und deutlich, »habe ich mir die Sache anders überlegt. Ich möchte meine Freunde mitnehmen.« Die Not des Landes geht alle jetzt Lebenden an. »Und ich habe gesagt«, antwortete der Egger aufgebracht, »dass ich nicht auf euch höre. Dies ist mein Vorhaben. Das dafür notwendige Wissen ist mein. Ich dulde nicht, dass alles, was ich ersehnt und begehrt habe, auf diese Weise korrumpiert wird.« Der Eifrige fuhr zusammen und verdrehte die Augen. Sekundenlang machte er den Eindruck, er werde sich abwenden und flüchten. Aber dann kam ihm frischer Mut oder irgendein Zwang zur Hilfe. Heiser sagte er: »Lady, es ist mir ein Vergnügen und eine von den Insequenten auferlegte Pflicht, dir mitzuteilen, dass der wahre Name des Eggers …« Der Egger giftete ihn an: »Schweig, du Narr! Verrätst du mich auf diese Weise, verrätst du auch dich selbst. Gibst du meinen Namen preis, erhält die Lady die Macht, mir zu befehlen. Damit durchkreuzt du meine Absichten - und gehst durch die eigene Tat zugrunde. Aber das lasse ich nicht zu. Statt von dir ruiniert zu werden, verzichte ich lieber ganz auf mein Vorhaben. Was dann, Fettwanst, Schwachkopf, Wichtigtuer? Willst du mich zum Aufgeben zwingen und die Erde ihrem Schicksal überlassen, nur um dein lächerliches Ego zu befriedigen? Muss ich die Lady ihren Sohn betreuen lassen, solange sie noch kann? Erkennst du nicht, dass weder du noch der vereinte Wille der Insequenten den unausweichlichen Weltuntergang aufhalten können? Du kannst das Versteck des Sohns der Lady nicht aufspüren. Ohne ihn bist du verloren. Dann ist alles verloren.« »Dieses Ergebnis haben einige der Insequenten vorausgesehen«, antwortete der Eifrige, und seine Bänder flatterten. »Andere glauben das Gegenteil. Einigkeit herrscht jedoch darüber, wie wichtig die Lady ist. In einem Ausmaß, das du dir nicht einzugestehen wagst, hängt das Schicksal des Lebens auf der Erde ebenso von ihr wie von ihrem Sohn ab. Trotzdem ist das nicht die eigentliche Streitfrage. Vielmehr geht es um
Folgendes: Reichen meine Erklärungen oder die Wünsche der Lady aus, um dich einzuschüchtern? Ist dein Zweck oder dein Stolz so fragil, dass du keinen Widerstand ertragen kannst? Andernfalls musst du dir eingestehen, dass deine Gier es dir verbietet, von dem eingeschlagenen Weg abzugehen.« »Meine Gier?«, blaffte der Egger verächtlich. Seine Finger zuckten nach der Magie seiner Perlen und Rüschen. »Ich bin keine wandelnde Verkörperung von Fressgier. Zwischen uns kann es keine Vergleiche geben. Wo ich jahrhundertelang beflissen mein Leben riskiert habe, hast du immer nur gefressen. Mich kannst du nicht einschüchtern! Du überschätzt die Wirkung deines Wanstes.« Der Eifrige täuschte fehlendes Selbstvertrauen vor, als er antwortete: »Damit beweist du Unwissen statt Weisheit. Gewiss, ich schätze meinen Körper, genau wie ich alle Nahrung schätze. Aber wenn ich in den letzten Tagen meines Lebens schlemmen kann, fürchte ich den Tod nicht. Ich gehe gern in Sattheit und Überfluss unter, während die Schlange die Erde verschlingt.« Dann veränderte sich sein Tonfall. Von einem Augenblick zum anderen wurde er schärfer, ähnelten seine Worte Wurfmessern, die aus seinem Gewand zu kriechen schienen. »Ich hege jedoch auch keine Skrupel, dich zu verraten. Ich habe Angst, aber ich hege keine Skrupel. Zwingst du mich dazu, sorge ich dafür, dass du deinen Plan nicht aufgeben kannst. Reite meinetwegen fort. Verzichte auf dein Vorhaben. Das wird dir nichts helfen. Ich brauche nur deinen wahren Namen auszusprechen, damit die Lady alles von dir bekommt, was sie nur wünscht.« »Und wenn du meinen wahren Namen gesagt hast«, erwiderte der Egger mit einer Stimme dick wie Urschlamm, »gebe ich deinen preis.« Er schien seine Wut kaum mehr beherrschen zu können. Aber sein Gegenspieler gab nicht nach. »Dann kann die Lady uns beiden ihren Willen aufzwingen. Für mich ist damit nichts verloren. Wie du schon festgestellt hast, werden meine Taten mich verdammen. Aber du wirst erleben, wie alles, was du je begehrt hast, verblasst und zerfließt.« Vielleicht bluffte der Eifrige nur; das konnte Linden nicht beurteilen. Unter seiner extravaganten Magie war er so gewöhnlich wie sie; so leicht zu enträtseln wie Liand oder die Ramen. Aber die externe Macht seiner
Bänder verdeckte einige Aspekte seiner Aura und machte ihre Sinneswahrnehmungen unvollkommen. Trotzdem glaubte sie bereits zu wissen, wie alles ausgehen würde. Der Egger würde nachgeben. Seine Gier war so bodenlos wie seine Augen. Sie beherrschte ihn. Sie wandte sich von den beiden Insequenten ab und zwang sich dazu, vor Covenant hinzutreten. Sie wollte eine Möglichkeit finden, Abschied von ihm zu nehmen - wenn nicht von ihm, dann doch von der Liebe, die sie einst verbunden hatte. Vor langer Zeit hatte sie Seidensommer Glanzlicht singen gehört: Ich weiß nicht Wenn Das oder das gehört wird. Linden hoffte, dass sie mit Jeremiah nach Andelain zurückkehren würde. Aber sie besaß keine Macht mehr, Ereignisse nach ihrem Willen zu gestalten; keine Macht außer der Unterstützung durch den Eifrigen. Hatte der Egger seine Verpflichtungen erfüllt, konnte alles Mögliche passieren. Covenants Aufmerksamkeit irrte weiter durch das Labyrinth seiner Erinnerungen, fragmentiert und verloren. Vielleicht würde er sie gar nicht hören. Trotzdem musste sie es versuchen. Sie konnte sich nur allzu leicht vorstellen, dies sei ihre letzte Gelegenheit … Mit heiserer Stimme begann sie: »Covenant…« Ach, Covenant! »… was passiert ist, tut mir herzlich leid. Ich habe alles falsch gemacht.« Seit die Mahdoubt sie in die Gegenwart zurückgebracht hatte. »Ich hätte dir vertrauen sollen.« Sie hätte wenigstens versuchen müssen, das Schweigen der Toten zu verstehen. »Jetzt müssen wir Abschied nehmen.« Ihre Freunde standen still hinter ihr, und sogar der Egger und der Eifrige verstummen. »Das Einzige, was mich nicht ängstigt, ist der Gedanke, dich hier zurückzulassen. Du kämpfst noch, aber ich weiß, dass du es schaffen wirst, einen Weg aus deiner Verwirrung zu finden.« Sie rang sich ein tapferes Lächeln ab. »Bis ich zurückkomme, weißt du vermutlich, wie
das Land gerettet werden kann.« Den Plänen des Eggers traute sie nicht; sie vermutete intuitiv, ihm werde nicht gestattet werden, sie in die Tat umzusetzen. Das Land hatte zu viele mächtige Feinde. »Das würde mich nicht überraschen. Kannst du es nicht, kann es keiner.« Mit einer Plötzlichkeit, die sie überraschte, sie fast zusammenzucken ließ, wurden Covenants Pupillen klar. Er reckte das Kinn leicht vor, was seine strengen Züge und die Dringlichkeit seines grauen Blicks unterstrich. Noch ehe sie reagieren konnte, knurrte er unwillig: »Nein, verdammt noch mal!« Linden glaubte, aus seinem Tonfall barsche Zuneigung herauszuhören. »Nachdem du dir solche Mühe gegeben hast, mich wiederzuerwecken«, verkündete er, »musst du mich jetzt wenigstens mitnehmen. Ich bin vielleicht nicht sehr ansehnlich, aber du brauchst mich. Und ich brauche weiß Gott dich. Vorläufig bin ich noch zu verwirrt, um selbstständig handeln zu können. Nur du kannst es schaffen, mich zusammenzuhalten. Jeweils immer für ein paar Minuten. Und wir haben reichlich Zeit…« Die Meister reagierten prompt. Galt baute sich zwischen Linden und Covenant auf, als wollte er verhindern, dass sie den Zweifler für sich beanspruchte. Branl und Clyme packten Covenant von beiden Seiten am Arm. »Ur-Lord, nein.« Eine fast unterschwellige Andeutung von Gewaltbereitschaft beeinträchtigte Galts sonstigen Gleichmut. »Das werden wir nicht zulassen. Das dürfen wir nicht. Die Not des Landes erfordert, dass du bleibst.« Die Ramen waren spürbar angespannt, und auch Liands Herzschlag flatterte; die Schwertmainnir ballten die Fäuste. Doch niemand sprach oder bewegte sich. Auch Stave intervenierte nicht, obwohl er gewusst haben musste, was die Gedemütigten tun würden. Lindens übrige Gefährten schienen auf ein Zeichen von ihm oder Linden zu warten oder von Covenant. …du brauchst mich. Linden schlug das Herz bis zum Hals. Covenants Worte lösten eine Flut von Emotionen aus, die ihre Verteidigungslinie einzureißen drohte. Ihr lag so viel daran, dass er sie begleitete, wie sie wollte, dass er in Andelain blieb. Bitte, versuchte sie zu sagen. Das brauchst du dir nicht anzutun. Aber ihre alte Sehnsucht nach seiner Nähe und seinem
unwiderstehlichen Mut ließen sie schweigen. »Ihr habt unrecht«, erklärte der Zweifler Galt. »Habt ihr nicht zugehört? Ich habe es euch gesagt. Müsst ihr wählen, sollt ihr sie wählen.« Er wehrte sich nicht, aber aus seinem Tonfall sprach keine Zuneigung mehr. Seine Stimme klang rau, wie von der Schwierigkeit, seine auseinanderstrebenden Gedanken zu kontrollieren, aufgeschürft. »Ich weiß, dass ihr den Insequenten nicht traut. Das solltet ihr auch nicht. Aber ihr glaubt, weitere Verstöße gegen eure Verpflichtungen vermeiden zu können, wenn wir zu viert hierbleiben. Tut mir leid, das wird nicht funktionieren. Ab jetzt wird alles noch schlimmer. Wollt ihr mit darüber entscheiden, was anderswo passiert, müsst ihr euch die Hände schmutzig machen. Könnt ihr nicht sehen, dass ich zerbrochen bin? Wir sind alle irgendwie beschädigt. Zerbrochen oder verstümmelt. Bis ins Mark verletzt. Bleiben wir hier, können wir nichts heilen, nichts verhindern.« Galt trat nicht zur Seite; Clyme und Branl ließen Covenants Arme nicht los. Aber als Galt zu sagen begann: »Die Meister …«, quiekste seine Stimme, sodass er eine Pause machen und trocken schlucken musste. »Die Meister«, wiederholte er, »haben beschlossen, vorerst nicht über Linden Avery zu urteilen. In dieser Phase der Unsicherheit sollten wir Gedemütigten jegliche Entweihung verhindern. Dabei haben wir versagt. Erfahren unsere Stammesgenossen, was sich hier ereignet hat, werden sie uns verurteilen, wie wir uns selbst verdammen. Nun werden wir den Preis für unser Versagen bezahlen. Gehört dazu, dass wir uns deinem Willen entgegenstellen, Zweifler…« Ihm stockte erneut die Stimme. »Sind wir gezwungen, wegen unserer Überzeugung zu handeln, dass Linden Avery jetzt der Verderbnis dient… Dann werden wir tun, was getan werden muss, um eine weitere Schändung zu verhindern.« Vor endlos langer Zeit hatte Lord Foul Linden versichert: Die Haruchai dienen mir, wenn auch unwissentlich. »Höllenfeuer, Galt!«, erwiderte Covenant, ohne zu zögern. »Du hättest Cail begleiten sollen. Du hättest ihn mit dir reden lassen sollen. Habt ihr euch je die Mühe gemacht, euch zu fragen, weshalb Lord Foul und Kastenessen und der verdammte Egger und sogar mein verlorener Sohn es auf Jeremiah abgesehen haben? Seid ihr nie auf die Idee gekommen, dass er entscheidend wichtig sein muss? Ist euch nicht klar,
dass die Tatsache, dass nicht einmal die Elohim ihn ausfindig machen können, bedeuten muss, dass hier Kräfte im Spiel sind, die ihr nicht verstehen könnt? Kräfte, von denen ihr nichts wusstet, als ihr Meister geworden seid? Hölle und Blut! Ihr geht Verpflichtungen ein, zu denen ihr steht. Das respektiere ich. Aber selbst das Urgestein der Erde bewegt sich, wenn es muss. Wäre gewöhnlicher Fels nicht so klug, sich zu verändern, gäbe es hier nichts, worauf ihr stehen könntet.« Linden hielt den Atem an, während sie hoffte oder darum betete oder sich einfach wünschte, Covenant werde es gelingen, die Gedemütigten zu überzeugen. Natürlich wäre es ein Leichtes für sie gewesen, das Ergebnis in ihrem Sinne zu beeinflussen. Hätte sie dem Eifrigen erklärt, ihre Interpretation der Vereinbarung mit dem Egger schließe Covenant mit ein, hätten die beiden Insequenten ihn leicht von den Meistern trennen können. Trotzdem sagte sie nichts. Sie hatte ihm ihre Wünsche schon auf eine Weise aufgezwungen, die ihr jetzt inakzeptabel erschien. Sie war weiter der Überzeugung, das Land brauche die unerschütterliche Loyalität der Haruchai. Und ihre langjährige Berufserfahrung mit geistig und emotional Behinderten sagte ihr, dass Covenants Versuch, sich hier durchzusetzen, seine Rückkehr zur Normalität fördern konnte. Je länger er sich mit gegenwärtigen Ereignissen und Personen befasste, desto rascher würde er sich hoffentlich wieder in den Griff bekommen. Das war ein unerwarteter Hoffnungsschimmer, an den sie sich jetzt klammerte. Trotzdem sah sie in Galt nichts, was auf Kompromissbereitschaft oder Nachgeben hingedeutet hätte, und von dem Sonnenstein erhellt wirkten Clyme und Branl ausdruckslos wie Holzfiguren, deren Gesichter durch jahrhundertlange Unnachgiebigkeit leer geworden waren. »Trotzdem sind wir kein Fels, sondern bleiben Haruchai«, erwiderte Galt. Soweit sein Charakter das überhaupt zuließ, klang seine Stimme bittend, fast flehend. »Gestein trifft keine Entscheidungen, Ur-Lord. Es gibt nur Kräften nach, denen es nicht widerstehen kann. Wahlfreiheit und Kampf sind unser Geburtsrecht. Wir sind die Meister des Landes, weil wir uns entschlossen haben, das Versprechen unserer Vorfahren voll und ganz zu erfüllen. Und wir …« Seine Handbewegung umfasste Branl und Clyme. »… sind Gedemütigte, weil wir uns diese Ehre erkämpft haben.
Wir sind die Avatare des damaligen Versagens der Bluthüter und dürfen nicht erneut versagen. Du darfst nicht von uns verlangen, dass wir billigen, dass du den Egger und Linden Avery begleitest. Dazu müssten wir etwas anderes werden, als wir sind.« Covenant schüttelte den Kopf. »Aus eben diesem Grund werdet ihr mich ziehen lassen. Und deshalb werdet ihr uns begleiten. Noch kein Haruchai hat jemals die Chance bekommen, eine Schändung ungeschehen zu machen. Oder mitzuhelfen, sie in etwas anderes umzuformen. Eine Chance, die Kehrseite des Misserfolgs kennenzulernen. Und ihr habt nie eine Chance gehabt, euch von dem zu erholen, was der Vizard euch angetan hat. Cail hätte euch das sagen können, wenn ihr bereit gewesen wäret, ihm zuzuhören.« Vielleicht, so dachte Linden, wurden die Fragmente seines Verstand nur von Adrenalin zusammengehalten. Oder vielleicht wollte er wirklich nicht von ihr getrennt werden. Vielleicht ging Jeremiahs Notlage ihm nahe, ehrlich nahe. Er war zu solchem Mitgefühl imstande. Aber ohne Zweifel beschäftigte ihn das Los der Gedemütigten. »Was wäre außerdem die Alternative?«, fügte er wie mit einem Schulterzucken hinzu. »Zurückzubleiben würde nichts bewirken. Die Schlange ist nicht hier. Auch Lord Foul ist nicht hier. Wollen wir sie aufhalten, müssen wir sie aufsuchen, wo sie sind. Das bedeutet, dass wir Kastenessen und den Skurj und Roger und Zäsuren und Wüterichen und sogar Joan gegenübertreten müssen. Wenn ihr glaubt, dass wir das alles aus eigener Kraft schaffen können - dass wir nicht möglichst viele Freunde und Verbündete brauchen -, habt ihr den Verstand verloren.« Fast ohne zu merken, was sie tat, hob Linden eine Hand, um durch den zerschlissenen Flanell ihrer Bluse Covenants Ring zu berühren; um sich seines kalten Trosts zu vergewissern, wie sie es jahrlang getan hatte. Aber der Ring war fort, und ihre Hände waren ohne den Stab leer. Liand umklammerte den Orkrest so krampfhaft, dass sein Licht zitterte und wechselnde Schatten über die um Covenant gruppierten Gestalten warf. Endlich schaltete sich Stave ein, der dicht neben Linden stand: »Der Zweifler hat gesprochen. Ihr werdet gehorchen. Wie wollen die Gedemütigten sich sonst vor mir rechtfertigen?«. Galt sah erst Branl, dann Clyme an. »Bleibt uns nichts anderes übrig?«,
fragte er laut, statt die Frage nur in Gedanken zu stellen. Beide schüttelten leicht den Kopf - so leicht, dass Linden fast das in ihrem Blick glitzernde Bedauern oder ihre Resignation entging. »Dann«, verkündete Galt, »werden wir uns auf diese Weise rechtfertigen.« Er warf sich so blitzschnell herum, dass Linden die Bewegung kaum bemerkte, und ließ einen Schlag gegen ihr Gesicht folgen, der tödlich hätte sein können. Lindens Tod hätte ihre Vereinbarung mit dem Egger beendet. Er würde Covenants Ring und den Stab mitnehmen und Jeremiah aus Lord Fouls Händen befreien, um ihn für seine eigenen Zwecke zu benutzen. Nach den unmenschlichen Begriffen der Meister würde das Lindens vielen Entweihungen ein Ende setzen. Doch Galts Schlag traf sie nicht. Stave hob eine Hand und fing ihn mühelos ab, als hätte er diesen Angriff schon geahnt, ehe Galt sich herumwarf. Das Klatschen von Fleisch auf Fleisch ließ Linden zusammenzucken, aber es schadete ihr nicht. Liand schrie erschrocken auf, die Ramen griffen verspätet nach ihren Garotten, und Kaltgischt und zwei ihrer Riesinnen näherten sich mit geballten Fäusten. Aber Galt schlug nicht noch mal zu oder versuchte auch nur, seinen Arm aus Staves Griff zu befreien. Stattdessen nickte er knapp und trat zurück. Gleichzeitig ließen Branl und Clyme Covenant los und wiesen ihre leeren Hände vor, als wollten sie zeigen, dass auch sie sich ergaben. »Dein Gefolge scheint sich noch einmal vergrößert zu haben«, erklärte der Eifrige dem Egger. Das klang wieder selbstgefällig. »Du wirst es sicher begrüßen, dass weitere Zeugen die großartige Verwirklichung deiner Pläne miterleben werden.« Der Egger murmelte einen leisen Fluch, aber Linden konnte nicht verstehen, was er sagte. Sie verharrte unbeweglich, wagte kaum zu atmen, fürchtete, dass alles, was sie jetzt sagen oder tun konnte, den Bann brechen, das Mysterium des soeben Geschehenen zerstören würde. Irgendwie war es Stave dem Ausgestoßenen und Thomas Covenant dem Zweifler gelungen, die Gedemütigten umzustimmen.
5 Vorbereitungen
Linden Avery wusste kaum, was sie empfinden sollte. So viele widersprüchliche Emotionen überfluteten sie, dass sie sich kaum noch in ihnen zurechtfand. Auf dem Grund ihres Herzens hatte die Verzweiflung eine Felsklippe gebildet, über die starke Wirbel und Strömungen nach allen Richtungen hin verliefen. Sie hatte Covenant unter schrecklichen Opfern wiedererweckt, hatte sich die Möglichkeit verschafft, zu ihrem Sohn zu gelangen, indem sie alle Mittel, ihm zu helfen, aus der Hand gab. Trotzdem hatte Covenant bestätigt, dass er weiterhin an sie glaubte, sie unverdienterweise noch immer unterstützte. Tatsächlich hatte er sich so überzeugt für sie eingesetzt, dass selbst die Gedemütigten - die Gedemütigten! - eingelenkt hatten. Linden war Covenant verzweifelt dankbar für alles, was er gesagt und getan hatte: für alles, das darauf hinzuweisen schien, seine Liebe könnte groß genug sein, um sogar ihr gewaltiges Verbrechen zu überdecken. Andererseits schwächte diese Einstellung sie. Wie Liands damaliges Mitgefühl in Schwelgenstein beeinträchtigten Covenants Schlussfolgerungen ihre Kontrolle über sich selbst. Nach der widersprüchlichen Logik ihrer Gefühle setzte er sie herab, indem er leugnete, dass sie alles falsch gemacht hatte. Verdiente sie alle Zurückweisung, wusste sie wenigstens, wo sie stand. Tadel sagte ihr, wer sie war. Er gab ihrem Leben Sinn. Ohne ihn war sie weniger als machtlos: Sie war unbedeutend. So brachte ihr die Dankbarkeit zugleich Hoffnung und Verzweiflung. Vielleicht gehörte das dazu, wenn man Freunde hatte oder sogar Liebe fand: Man wurde kleiner, unzulänglicher und fehlbarer, als sich mit Worten ausdrücken ließ - und war dadurch nicht mehr allein. Nicht mehr allein schuldig oder allein notwendig. In diesem Fall war ihre Position jetzt der Staves entgegengesetzt. Ausgestoßen zu werden hatte ihm die Kraft gegeben, sich allein, ganz von seinem Volk isoliert zu behaupten. Und das hatte es ihm wiederum ermöglicht, auf eine Weise ihr Freund zu werden, die kein anderer
Haruchai verstehen konnte - weil sie auf einem einsamen Beschluss, nicht auf kollektiver Notwendigkeit beruhte. Vor langem hatten Covenants Umstände denen Staves geglichen. Als Paria auf der Häven Farm hatte er den Mut und die Kraft gefunden, Joan ohne fremde Hilfe zu versorgen. Auch Linden war einst allein gewesen. Allein und stark. Jetzt war ihr Dilemma ins Gegenteil verkehrt worden. Anerkennung und Zustimmung und Vertrauen hatten sie geschwächt. Gemeinsam hatten die Riesinnen und die Ramen, Liand und Stave, Covenant und sogar die Gedemütigten ihr alle Wahlmöglichkeiten geraubt. Sie wusste nicht recht, ob sie das würde ertragen können. Jetzt saß sie wieder im Gras, umschlang ihre Knie mit den Armen und verbarg ihr Gesicht. Sie brauchte Zeit, um sich von der Freude und den Schrecken von Covenants Aussagen zu erholen. Habt ihr euch je die Mähe gemacht, euch zu fragen, weshalb Lord Foul und Kastenessen und der verdammte Egger und sogar mein verlorener Sohn es auf Jeremiah abgesehen haben? Roger und der Croyel träumten davon, Götter zu werden. Covenant glaubte offenbar, Jeremiahs Notlage und die des Landes seien nicht voneinander zu trennen. Um Linden herum schienen auch ihre Freunde etwas Zeit zu brauchen. Stave und die Meister beobachteten einander leidenschaftslos, aber Pahni und Bhapa starrten Clyme, Galt und Branl unverhohlen an, als hätten sie solche Männer noch nie gesehen. Mahrtür schien die Gedemütigten ähnlich überrascht zu studieren. Vielleicht fragte er sich, wie weit man dem unerwarteten Paradigmenwechsel der Meister trauen konnte. Auf Liands Gesicht stand eine Mischung aus Ehrfurcht und Befriedigung. Weil er die Unbeugsamkeit der Meister sein Leben lang gekannt hatte, hielt er Covenants Erfolg offenbar für eine Großtat. Und Covenant hatte Liands instinktive Erwartungshaltung gerechtfertigt. Der Steinhausener hielt den Orkrest hoch, als wäre er stolz darauf, dem Zweifler leuchten zu dürfen. Zirrus Gutwind und Rahnock tauschten murmelnd ihre Bedenken in Bezug auf die Gedemütigten aus. Grobfaust, Spätgeborene und Onyx Steinmangold erinnerten einander - sicher unnötigerweise - an verschiedene Riesen-Sagen über Thomas Covenant. Raureif Kaltgischt
sprach mit Frostherz Graubrand und Sturm-vorbei Böen-Ende über die unabsehbaren Zufälligkeiten eines Marsches mit dem Egger und dem Eifrigen. Sie wussten nicht, wohin die Reise gehen würde oder was sie nach der Ankunft erwartete. Trotzdem stellten sie sich die potenziellen Gefahren vor und dachten schon jetzt über mögliche Reaktionen nach. Gleichzeitig wies die Eisenhand ihnen kleinere Aufgaben zu. Graubrand sollte wie bisher Linden beschützen, während Böen-Ende für Anele verantwortlich war. Steinmangold und Spätgeborene würden sich um Liand beziehungsweise Mahrtür kümmern; Rahnock und Rüstig Grobfaust sollten Pahni und Bhapa übernehmen. Die Sorge um Covenant überließen sie den Gedemütigten. Unterdessen wurde Anele immer unruhiger, als spürte er als Einziger einen Drang zur Eile. Covenant aber war wieder abgeglitten, murmelte erschöpft von der Entstehung der Sandgorgonen in der Großen Wüste und schilderte sich selbst das blinde Zusammenwirken von Erdkraft, Stürmen und kahlem Sand, das sich in diesen wilden Ungeheuern manifestierte. Sein starkes Stirnrunzeln und die hochgezogenen Schultern erweckten den Eindruck, als fürchtete er diese Erinnerungen - oder seine Unfähigkeit, ihre Bedeutung abzuschätzen. Seine verbundenen Hände vollführten Gesten, die niemand verstand. Auf dem Hang hinter Linden stehend knirschte der Egger un-überhörbar frustriert mit den Zähnen, während der Eifrige rastlos mit seinen Bändern spielte. Liand - natürlich er - machte sich als Erster von seinen persönlichen Sorgen frei. Den Sonnenstein weiterhin in Händen, kam er zu Linden und kniete vor ihr nieder. Sie hob nicht den Kopf, sah ihn nicht an. Trotzdem konnte ihr Gesundheitssinn ihre Augen ersetzen, und seine Besorgnis verstärkte die emotionalen Wirbel und Strömungen, die sie wie Treibgut mit sich rissen. »Linden«, sagte er leise, sodass nur sie ihn hören konnte. »Linden Avery. Ich sehe den Kummer, der dein Herz zerfrisst. Jeder hier sieht ihn. Sogar Anele ist dessentwegen beunruhigt, und ich bin sicher, dass der Zweifler versuchen würde, dich zu trösten, wenn er bei klarem Verstand wäre. Willst du dich nicht damit trösten, dass deine Freunde den Wunsch haben, dich überallhin zu begleiten? Ich spreche nicht von
den Haruchai. Sie tun, was sie tun müssen. Das tut sogar Stave. Und ich spreche nicht von den Riesinnen, die sich für Extreme und Gefahren begeistern können. Nein, Linden, ich spreche von den einfacheren Gefährten, die von Anfang an auf deiner Seite gestanden haben. Mähnenhüter Mahrtür, Bhapa, Pahni und mir fehlt die vererbte Erdkraft, die Haruchai und Riesinnen vor allem anderen auszeichnet. Sogar Anele besitzt Macht, über die wir nicht verfügen. Trotzdem haben wir in deinem Namen gekämpft. Wir haben es mit Dämondim und Skurj, Kresch und Höhlenschraten aufgenommen. Und wir haben zwei Zäsuren überdauert. In der zweiten habe ich deine Gedanken mit dir geteilt und so den Schmerz und die Kraft, und das Dunkel und die Sehnsucht erfahren, die deinen Geist ausmachen. Willst du nicht anerkennen, dass wir uns entschlossen haben, bei dir zu bleiben, obwohl wir wissen, dass du den Weltuntergang riskiert hast? Willst du nicht zulassen, dass unser Vertrauen deinen Kummer mildert?« Linden konnte ihn nicht ansehen. Sie konnte ihm ihr Verhalten auch nicht erklären. Stattdessen sagte sie leise: »Ich hätte Mitleid mit Elena haben sollen, aber ich konnte es nicht. Ich bin froh, dass du mich begleitest. Ich bin froh, dass ihr alle mitkommt. Aber ich bin zerbrochen wie Covenant. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen - irgendwo - und weiß nicht, wie ich wieder herauskommen soll.« Sie spürte, wie Liand sich bei ihrer Antwort versteifte. Zunächst glaubte sie, ihn verletzt zu haben, aber dann verstand sie. Er fühlte sich nicht abgewiesen, sondern griff auf die Würde zurück, mit der er oft auf ihre Versuche, ihn zu verschonen, reagiert hatte. »Dann«, erklärte er ihr streng, »gibt es keinen anderen Weg für dich. Du musst ihn gehen oder untergehen. Erhebe dich jetzt und gestatte dem Egger, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Mit jeder Verzögerung wird deine Lage und die deines Sohns misslicher.« Trotz ihrer Verwirrung war Linden überrascht, dass Liand aus Steinhausen Mithil die Autorität besaß, ihr Anweisungen zu erteilen. Er schüchterte sie ein; das tat er wirklich. Und lieferte ihr zugleich neue Gründe, ihm dankbar zu sein. »Also gut«, antwortete sie schließlich. »Ich habe verstanden. Lass mir nur noch einen Augenblick Zeit. Sag allen, dass sie sich marschbereit machen sollen. Wir brechen bald auf.«
Als Liand jetzt aufstand und sich abwandte, schien er einen Teil ihrer strudelnden und wirbelnden Emotionen mitzunehmen. »Seilträger«, hörte sie Mahrtür sagen, »unsere Gesellschaft braucht Wasser und Verpflegung. Wir haben viel ohne Rast und Nahrung durchgemacht. Jetzt brauchen wir Aliantha und einen Wasserlauf, an dem wir unseren Durst stillen können.« Bhapa beeilte sich, dem Befehl seines Mähnenhüters nachzukommen, und Pahni zögerte lange genug, um Liand einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, aus dem heimliche Sorge sprach. Dann gehorchte auch sie. »Aye, Mähnenhüter«, bestätigte die Eisenhand. »Die Ramen sind ebenso vorausschauend wie höflich. Aus vielen Gründen trauern wir um die Riesen, die das Land Entwurzelte nennt. Zu unserem Kummer trägt bei, dass ihr Schicksal uns daran gehindert hat, ihre Geschichten über die Ramen und die Ranyhyn zu hören.« Während seine Seilträger in entgegengesetzte Richtungen davontrabten, antwortete Mahrtür: »Eure Gesellschaft hat sich schon oft als segensreich erwiesen. Ich bezweifle nicht, dass das auch weiter der Fall sein wird. Aber die Ramen sind kein redegewandtes Volk. Und selbst für ihre Begriffe gelte ich als wortkarg. Aber auch wenn mein Mund leer ist, ist mein Herz übervoll.« »Du stellst dein Licht unter den Scheffel, Mähnenhüter«, erwiderte Gutwind schmunzelnd. »Wären wir im Zweifel, ob wir zu Linden Riesenfreundin halten sollen - was wir nicht sind -, würden wir trotzdem freudig einem Mann folgen, der spricht wie du.« Also gut, sagte Linden sich. Du kannst es schaffen. Bloß noch eine letzte Anstrengung. Los, fang schon an! Und dann hob sie den Kopf und kam langsam auf die Beine. Covenant hielt die Augen geschlossen und schien im Stehen zu schlafen, aber Linden spürte den Aufruhr, der in ihm herrschte. Der im Hosenbund seiner Jeans steckende Krill pulsierte ab und zu von neuer Hitze. Vielleicht stellte Joan, von Turiya angeleitet, seine Verwundbarkeit auf die Probe. Der Wüterich und sie waren zweifellos stärker geworden, als Linden Covenant aus dem Bogen der Zeit herausgebrochen hatte. Sie würden ihn verletzen oder töten, wenn sich Gelegenheit dazu bot. Vorerst jedoch gaben sie sich offenbar damit zufrieden, ihn zu testen und abzuwarten.
Linden wollte Covenant fragen, was mit Andelain und den Flammengeistern geschehen würde, wenn die geheimnisvolle Kraft von Loriks Krill anderswo wirkte, aber im Grunde konnte sie es sich selbst denken. Roger und seine Höhlenschrate waren weder ehrgeizig noch zahlreich genug, um in Andelain einfallen zu wollen. Und sie hielt Kastenessens von Schmerzen angefachte Wut für zu zielstrebig, als dass sie auch die Hügel umfasst hätte. Sein Zorn galt vor allem den Elohim, aus deren Reihen er stammte; er machte sich nichts aus Gras und Bäumen und Gesundheit und Schönheit. Aber die Skurj - ihre Gefräßigkeit konnte von der hier reichlich vorhandenen Erdkraft angelockt werden. Und selbst wenn Kastenessen seine Ungeheuer aus irgendwelchen Gründen anderswohin schickte, konnten die Sandgorgonen kommen. Mit Staves Hilfe hatte sie ihnen genug Ablenkung geboten, um sie zu beschäftigen, bis der Weltuntergang sie überraschte. Geblieben waren ihnen jedoch Reste von Samadhi Sheols bösartigem Geist - und der Hass des Wüterichs auf Bäume war so dauerhaft und unersättlich wie die Wüteriche selbst. Wie der Salva Gildenbourne konnte Andelain für die Sandgorgonen ein Festmahl darstellen. Linden musste den Gedemütigten zustimmen: Sie hatte viel zu viel aufgegeben, als sie die Bedingungen des Eggers angenommen hatte. Die Tatsache, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte, war ihr kein Trost. Während sie darauf wartete, dass die Seilträger zurückkamen, überzeugte sie sich davon, dass Jeremiahs zerdrücktes Rennauto tief in einer ihrer Jeanstaschen steckte. Konnten Covenant und ihre Freunde Jeremiah nicht von dem Croyel befreien, konnte dieser eine Gegenstand, den er aus seinem früheren Leben mitgebracht hatte, das Einzige sein, was sie noch von ihm besaß. Liand trat etwas beiseite, sodass sein Orkrest Linden und Covenant beleuchtete. »Linden«, sagte er sanft, »eine Frage bleibt noch. Was sollen wir tun, um Anele zu erhalten? Wir können nicht sagen, wohin wir gelangen werden, und haben längst alles eingebüßt, was wir aus Schwelgenstein mitgebracht haben. Nur die Waffen der Riesinnen bleiben, um ihn zu beschützen, aber ich fürchte, dass sie diese selbst brauchen werden.« Anele, dachte Linden. 0 Gott! Denk daran, dass er die Hoffnung des
Landes ist, wenn deine Taten ins Verderben führen, wie es unvermeidlich ist. Von all ihren Gefährten erschien ihr der Alte am meisten und zugleich am wenigsten hilfsbedürftig zu sein. Vielleicht war er auch der Wichtigste - oder der Unwichtigste - von allen. Aber am Tag seiner Entführung durch Roger hatte Jeremiah in ihrem Wohnzimmer zwei erstaunliche Bauten errichtet. Aus bunten Plastikbausteinen hatte er große Gebilde geschaffen: Schwelgenstein und den Donnerberg, den alten Gravin Threndor. Vor zehn Jahren - und vielen Jahrtausenden - waren Covenant und sie durch die Schrathöhlen bis zu der Höhle Kiril Threndor vorgedrungen, um Lord Foul gegenüberzutreten. Seit sie in Jeremiahs Kielwasser ins Land versetzt worden war, hatte sie gelernt, seine letzten freiwilligen Schöpfungen als Führer oder Anweisungen … oder als Warnungen zu begreifen. Sie wäre gewiss nicht nach Andelain gezogen, um Covenant wiederzuerwecken, wenn sie nicht zuvor den Stab des Gesetzes gefunden und nach Schwelgenstein gelangt wäre, wo sie Rogers heimtückischem Glanz erlegen war. Jetzt glaubte sie zu wissen, wohin der Egger sie mitnehmen würde - zum Guten oder zum Bösen. Leider konnte sie sich einer alternativen Deutung von Jeremiahs Bauten nicht verschließen. Hatte Lord Foul ihren Sohn tatsächlich seit Jahren in der Hand, waren diese Darstellungen von Schwelgenstein und dem Donnerberg vielleicht nicht freiwillig entstanden. Stattdessen konnten sie Instrumente einer Manipulation sein: Tricks, die sie dazu bringen sollten, dem Verächter zu dienen. Aber in der Halle der Geschenke hatte Steve von den Kindern seines Volkes gesprochen. Hatte gesagt, dass es ihr Geburtsrecht sei, zu bleiben, wer sie sind. Und er hatte gefragt: Weißt du bestimmt, dass das nicht auch auf deinen Sohn zutrifft? Linden wünschte sich so sehr, das auch von ihrem Sohn sagen zu können, dass sie sich davor fürchtete, es auszusprechen. Ich weigere mich zu glauben, dass er damals Entscheidungen getroffen hat, die sich nicht rückgängig machen lassen. Linden seufzte und wandte sich wieder Liand zu: »Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen um Anele machen müssen. Vermute ich richtig, liegt unser Ziel unter der Erde. Dort sind wir von Fels umgeben. Von altem
Gestein. Von der Art, die er versteht. Du warst dabei«, sagte sie, als sie sich erinnerte. »Im Salva Gildenbourne. Als wir vor dem ersten Angriff der Skurj die Riesinnen kennengelernt haben. Er hat im Sand etwas gehört oder gelesen.« In den Überresten von Felsen, die schon alt gewesen sein mussten, als Covenant erstmals in das Land gekommen war. Dort hatte Anele von der Notwendigkeit gesprochen, das Böse zu verbieten - eine Notwendigkeit, die einst der Koloss am Wasserfall verkörpert hatte. Aber diese Macht existierte längst nicht mehr. Sie war mit dem Verschwinden des Einholzwaldes und der Forsthüter untergegangen. Ohne Verbot reicht die Zeit nicht aus. »Aye«, bestätigte Liand. »Und damals hat er dich angewiesen: ›Suche gewachsenen Fels. Das älteste Gestein. Nur dort hat sich die Erinnerung erhalten.« Aber woraus schließt du, dass dein Sohn unter der Erde eingekerkert ist?« Vergiss Verstehen. Vergiss Absichten. Vergiss die Elohim. Auch sie sind gefährdet. Auch das hatte Anele damals gesagt. Wie so viele Äußerungen des Alten war auch diese drängend wie eine Prophezeiung und ebenso rätselhaft gewesen. Jetzt - zu spät - verstand Linden, was er gemeint hatte. Und sie verstand noch etwas anderes. Stand er auf gewachsenem Fels oder wenigstens auf Resten davon, verkündete Anele Wahrheiten. Auch wenn sie vielleicht nicht alle verstand, musste sie sie hören und sich möglichst daran halten. Du musst wie Bäume, wie Baumwurzeln werden. Gewachsenen Fels suchen. Linden zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mit Sicherheit. Aber Lord Foul versteckt seine Geheimnisse mit Vorliebe unter Gestein. Nichts anderes ist stark genug, um sie zurückzuhalten.« »Das muss ich glauben«, gab der junge Mann zu. »Trotzdem fürchte ich um Anele. Der Zweck, der unter seinem Wahnsinn lauert …« Liand schüttelte sich, um seine vor Beklommenheit verspannten Schultern zu lockern. »Linden, ich fürchte nicht nur um ihn. Aus Gründen, die ich nicht nennen kann, fürchte ich Anele selbst, obwohl er nie jemandem schaden würde, wenn er nicht gerade besessen ist.« Linden erwiderte den besorgten Blick des Steinhauseners nur flüchtig.
Dann sah sie weg. »Wahrscheinlich solltest du auf deinen Instinkt vertrauen. Aber was du spürst, nehme ich nicht wahr. Ich habe den Eindruck, dass er für sich selbst gefährlicher ist als für sonst jemanden.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Ich wollte, ich wüsste, was Sunder und Hollian zu ihm gesagt haben. Oder was sie für ihn getan haben. Ich wollte, ich wüsste, was sie über ihn wissen.« Aber sie hatte niemanden, den sie hätte fragen können. Wenn Covenant nicht zufällig eine einschlägige Erinnerung hatte und imstande war, sie zu erklären, konnte sie nur darauf warten, dass die Ereignisse die Gründe für Aneles Verhalten aufdeckten. Also tat sie das Einzige, was sie in ihrer Situation tun konnte: Sie wartete. Wenig später kehrten die beiden Seilträger zurück. Bhapa und Pahni brachten Hände voller Schatzbeeren, und Bhapa hatte jenseits des Ostrandes der Senke einen Bach entdeckt. Raureif Kaltgischt und ihre Schwertmainnir überließen es den Haruchai und den Ramen, Wache zu halten, und schwärmten in verschiedene Richtungen aus - einige suchten weitere Aliantha, andere nahmen den Weg zum Wasser. Während Bhapa und Pahni die üppig grünen Beeren Linden und Liand, Anele und Stave anboten, versuchte Branl die Aufmerksamkeit des Zweiflers zu wecken. Aber Covenant blieb in seinen Erinnerungen gefangen. Linden aß ein paar Beeren, nachdem Anele sich die Hände hatte füllen lassen. Sie würde mehr brauchen; das wusste sie. Und sie würde auch an den Bach gehen müssen. Vorerst aber schickte sie Liand, Pahni und Bhapa zur Wasserstelle und suchte eine Gelegenheit, mit dem Eifrigen zu sprechen. Nur von Stave und Mahrtür begleitet stieg sie den sanft geneigten Hang zu dem grellbunten Insequenten hinauf. Der Egger beobachtete sie misstrauisch, als sie näher kam, sagte aber nichts. Er hielt Covenants Ring in einer Faust umklammert, als versuchte er, mit bloßer Kraft wilde Magie aus ihm herauszupressen. Den Stab des Gesetzes hielt er wie einen Schild an seine Brust gedrückt. »Lady.« Der Eifrige verbeugte sich mit einer Fanfare aus flatternden Bändern. »Zweifellos nähert sich der Augenblick, in dem wir dieses Tal der Tränen verlassen werden. Und zweifellos sind wir uns in der
Hoffnung einig, dass angenehmere Ereignisse vor uns liegen. Offenbar bleiben jedoch Ungewissheiten, die dich bedrücken. Ich will gern versuchen, dich zu beruhigen, soweit ich das kann, ohne die Absichten des Eggers zu beeinträchtigen. »Ohne sie noch mehr zu beeinträchtigen«, murmelte der Egger finster. Dann hielt er demonstrativ den Mund. Linden konnte nicht beurteilen, wie weit der Eifrige vertrauenswürdig war, aber sie quittierte seine Verbeugung mit einem Nicken. »Ich bin dir dankbar für alles, was du schon getan hast.« Ihre Dankbarkeit schien in einem Meer aus Sorge zu treiben, aber sie wollte nicht von ihren Ängsten sprechen. »Leider fallen mir keine Fragen zu dem Egger ein, die du beantworten könntest. Ich wollte dich etwas anderes fragen. Der Egger scheint zu glauben, dein einziger Antrieb sei Gefräßigkeit. Aber mich überzeugt das nicht. Worum es dir geht, ist nicht so einfach. Wenn man zu Recht behaupten kann, dass alle Insequenten von Gier beherrscht werden …« Nach Wissen, nach persönlichem Ruhm oder selbstlosen Diensten. »… wonach gierst du dann? Warum hat dein Volk dich zu dieser Aufgabe bestimmt? Was versuchst du für dich selbst zu erreichen?« Der Eifrige schmückte sich mit flatternden Bändern, während er sie anstrahlte. »Trotz deiner vielen Torheiten bist du scharfsinnig, Lady, vielleicht sogar klug. Diese Eigenschaften haben dir bestimmt auch schon andere bestätigt.« Der Theomach hatte sie clever und klug genannt. Aber sie hatte doch bestimmt genügend Fehler gemacht, um ihn zu widerlegen? »Dass der Egger verächtlich auf mich herabsieht«, fuhr der Eifrige ohne Pause fort, »ist nicht ganz unberechtigt.« Sein Lispeln wurde mit jedem Satz stärker. »Trotzdem führt seine Verachtung ihn in die Irre. Gefräßigkeit gestehe ich ein. Schlemmerei ist jedoch nur eine Manifestation meines einzigartigen Hungers, den du als Gier bezeichnet hast. Meine Appetite beschränken sich keineswegs nur auf fleischliche Genüsse. Lady, mein wahrer Hunger richtet sich auf alles, was ganz und gar einzigartig ist. Ich begehre noch nie da gewesene Genüsse, die sich nicht wiederholen lassen. Meine glückliche Fülle verdanke ich nicht Wiederholungen oder großen Mengen, sondern vielmehr der Tatsache,
dass ich alles zu finden und zu genießen versuche, was unsere Erde an Nahrung bietet. Und ich begehre auch andere Einzigartigkeiten. Ich möchte alles, was der Welt oder mir neu ist oder wegen seiner Flüchtigkeit nicht wiederkehren wird, schmecken und sehen und hören und fühlen und tun. Und ich will Gefühle genießen, die kein anderes Lebewesen jemals empfinden kann oder empfinden wird. Wegen dieser Eigenschaft - und als Gefolgsmann der Mahdoubt - bin ich auserwählt worden. Die Insequenten sind der Überzeugung, dass ich dein Vertrauen nicht enttäuschen kann, ohne meine eigene Gier zu verraten. Ich habe die Paarung der Mcor nur deshalb beobachtet, weil noch kein anderer Insequenter, überhaupt kein intelligentes Wesen dies jemals getan hat. Aus demselben Grund habe ich auf den mächtigsten Gipfeln der Erde gestanden - auch auf dem großen Melenkurion Himmelswehr. Trotzdem sind das mindere Freuden, weil irgendwann der Tag kommen kann, an dem auch andere sie genießen. Dies hier …« Seine Bänder breiteten sich aus, bis sie die ganze Senke mit allen ihren Ereignissen zu umfassen schienen »… war wirklich noch nie da. Und es wird sich nie wiederholen. Und meine Anwesenheit hier war noch nie da, ist unwiederholbar, herrlich einzigartig. Ich spreche für die Insequenten als Volk. Was sie mir an Macht verleihen konnten, besitze ich. Solch ein Zusammentreffen hat es noch nie gegeben. Nun mag kommen, was mag, es wird sich nie wieder ergeben. Und kein anderes Lebewesen wird jemals seine flüchtigen Freuden genießen. Sieh mich jetzt, Lady, auf einem Höhepunkt meiner Gier.« Leuchtend bunte Bänder umwogten ihn, als bildeten sie mit ihm eine Tapisserie aus freudiger Begeisterung. »Mich wird man niemals für den Größten aller Insequenten halten. Auch werden meine Taten nicht das Schicksal der Erde bestimmen. Trotzdem bin ich so frei, zu behaupten, dass noch kein Insequenter die Erfüllung gefunden hat, zu der ich hier gelange. Selbst der Egger mit seiner Prahlerei wird ihr nicht einmal nahe kommen.« Linden starrte ihn an und versuchte, den tieferen Sinn seiner langatmigen Rede zu enträtseln. Obwohl die Bänder einen Teil seiner menschlichen Aura verbargen, erkannte sie, dass er die Wahrheit sagte. Aber wie würde jemand wie er in einer kritischen Situation reagieren? Dass es Krisen geben würde, stand fest: Sie kannte den Verächter zu gut, um etwas anderes zu glauben. Wie würde ein Mann, der einzigartige
Empfindungen suchte, sich verhalten, wenn ein Kampf bevorstand, bei dem er den Tod finden konnte? Er hatte angedroht, den wahren Namen des Eggers preiszugeben - das größte Verbrechen, das ein Insequenter verüben konnte -, aber das konnte ein Bluff gewesen sein. Während Linden über diese Frage nachdachte und überlegte, wie sie den Eifrigen sonst auf die Probe stellen könnte, erklärte der Egger ihm finster: »Aber du weißt nichts von den Orten tief unter der Erde.« Der dicke Insequente zog die Brauen hoch, als hätte der Vorwurf des Eggers einen wunden Punkt berührt. »Das ist wahr«, gab er in etwas gedämpfter Stimmung zu. »Ich fürchte sie. Tatsächlich sind schon Insequente auf der Suche nach Wissen in ihren Tiefen umgekommen. Ich brauche nur die Auriferenz zu nennen. In uralter Zeit«, erklärte er Linden, »lange vor der des Theomach, hat sie in den Tiefen der Erde nach altem, unermesslichem Wissen geforscht. Wie später der Theomach wollte sie zur Größten aller Insequenten aufsteigen, aber letztlich hat sie nur Verstand und Leben verloren. Trotzdem hatten die Insequenten nichts mit ihrem Tod zu schaffen. Vielmehr ist sie Übeln erlegen, die zu grausig waren, als dass man sich damit befassen wollte. Aus diesem Grund hat unser Volk das Land weitgehend gemieden, denn es findet, dass seine Gefahren seine geheimnisvolle Großartigkeit weit übersteigen. Die Ausnahmen sind selten und meist geheim - auch wenn klar ersichtlich ist, dass der Egger zu ihnen gehört. Durch mein eigenes Tun«, schloss er, »ist mein Schicksal an deines und das des Eggers gekettet. Ich habe nicht den Wunsch, meine Tage in Schrecken zu beenden.« Linden erwartete eine sarkastische Antwort des Eggers, aber er grinste nur verächtlich und schwieg. Ruhig sagte Stave: »Auserwählte, die Schwertmainnir, Seilträger und der Steinhausener sind erfrischt, und Aneles Hunger ist gestillt. Jetzt musst du mit dem Mähnenhüter den Bach aufsuchen. Du brauchst Wasser, damit du bei Kräften bleibst.« Er hatte recht; das wusste Linden. Dennoch zögerte sie, die Befragung des Insequenten vorzeitig zu beenden. Der Egger hatte indirekt zugegeben, dass Jeremiahs Versteck unter der Erde lag, und die
übertriebene Selbstdarstellung des Eifrigen hatte sie nicht beruhigen können. Wenn er schon jetzt fürchtete, was ihm zustoßen könnte … Aber sie hatte den Verdacht, dass mehr Fragen nicht auch mehr Antworten liefern würden. Und Jeremiah war dem Croyel schon viel zu lange ausgeliefert. Bitte, wollte sie den Eifrigen auffordern, lass uns nicht im Stich. Nicht, solange dieses Ungeheuer meinen Sohn hat. Aber sie wusste, dass sie nicht beredt genug war, um ihn dazu verpflichten zu können. Er verstand die drohenden Gefahren doch sicher selbst …? Und so nickte sie dem Eifrigen nochmals zu - eher bittend als dankbar und ließ sich von Stave und Mahrtür wegführen.
Als der Mähnenhüter und sie ihren Durst gestillt, Aliantha gegessen und zu den anderen zurückgekehrt waren, waren auch ihre Gefährten bereit. Liand schien den Orkrest ganz Selbstverständlich zu beherrschen, aber Covenants Fähigkeit, Loriks Krill zu benutzen, war bestenfalls unberechenbar. Griffen Joan und Turiya ihn in einem kritischen Augenblick an, konnte der Dolch ihm mehr schaden als nutzen. Die Gesellschaft würde auf Wucht, Waffen und Geschicklichkeit der Riesinnen und die resolute Kampfkraft der Haruchai vertrauen müssen. In den Tiefen der Erde konnten die Talente der Ramen nur wenig nützen. Linden selbst hatte nichts beizutragen. Mahrtür hingegen glühte trotz seiner Blindheit und seiner allen Ramen gemeinsamen Platzangst vor grimmigem Eifer. Im Dunkel unter der Erde konnte der Verlust seines Augenlichts sich als Vorteil erweisen. Und sein heißer Wunsch, Taten zu vollbringen, die in der Erinnerung der Ramen weiterleben werden, wenn ich nicht mehr bin, war unverändert stark. Bhapa hatte zu große Selbstzweifel, um die Vorfreude seines Mähnenhüters zu teilen. Trotzdem beruhigte Mahrtiirs Verhalten ihn offensichtlich. Pahnis Angst um Liand hingegen nahm stetig zu. Sie stand dicht neben ihm, als hätte sie am liebsten alle Zurückhaltung fallen lassen und sich an ihn geklammert. Weil die Ramen ihren Mähnenhütern verpflichtet waren, würde sie allen Gefahren trotzen und notfalls im Kampf ihr Leben opfern. Trotzdem war ihre Sorge um Liand stärker als
alle sonstigen Ängste. Ich wollte, ich könnte dich verschonen. Teufel, ich wollte, jeder von uns könnte dich verschonen. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Liand selbst teilte Pahnis Besorgnis keineswegs. Als Linden ihm gestattet hatte, sie aus Steinhausen Mithil zu begleiten, hatte sie ihm die Möglichkeit eröffnet, das Land und sich selbst zu entdecken: eine Entdeckung, die ihm weiterhin spannend erschien. Ohne es zu wollen, hatte sie ihm einen Glanz verliehen, dem sie misstraute, während Liand ihn genoss. Dadurch war er zu dem ersten richtigen Steinhausener seit der Zeit des Sonnenübels geworden. Und er besaß jetzt neue Kräfte, die ihn vielleicht erhalten würden, wenn und falls Linden das Vertrauen, das er in sie setzte, enttäuschte. Die Riesinnen wirkten ähnlich wie Mahrtür grimmig und aufgeregt. Mit ihrer Kenntnis der Erde konnten sie die Gefahren vermutlich besser abschätzen als jeder Ramen. Andererseits liebten sie Geschichten voller Gefahren und Wagemut. Und sie liebten Stein: Sie fürchteten sich nicht davor, Jeremiah - oder ihr Schicksal - in den Tiefen der Erde zu suchen. Linden sah schon jetzt voraus, dass sie dort mehr Freude finden würden als der Mähnenhüter. Wie die Gedemütigten blieb auch Stave ganz er selbst: unergründlich in seiner Konzentration auf den Kern jeder Situation; seiner bewussten Zurückweisung allen Kummers. Aber Anele wurde zusehends ungeduldig. Linden konnte den Grund für seine Ruhelosigkeit nicht erraten, aber sie zeigte sich in seinen angespannten Schultern, seinen zuckenden Fingern und der Art, wie er ruckartig den Kopf bewegte, als hörte er zahlreiche Stimmen. Seine Augen, milchig und blicklos, waren in ruheloser ständiger Bewegung, als fürchtete er, aus dem üppigen Gras könnten Ungeheuer auftauchen. Und Covenant, der Mann, den Linden geliebt und verloren hatte, wie sie ihren Sohn geliebt und verloren hatte: Obwohl er körperlich anwesend war, blieb er ähnlich wie Jeremiah allein, schien unter einem geistigen oder spirituellen Trümmerberg begraben zu sein und bemühte sich noch immer, sich aus ihm zu befreien. In sich zurückgezogen sprach er unerklärlicherweise von einer Zeit, als Lord Mhoram und er in die Verräterschlucht hinabgeblickt hatten, aus der ein Heer von Höhlenschraten marschiert war.
»So unendlich viele«, murmelte er. »Mehr als man zählen kann. Lord Foul setzt sie in seinen Kriegen als Kanonenfutter ein. Im Kampf gegen Hile Troy hat er Tausende von ihnen geopfert. Und weitere Tausende gegen Schwelgenstein. Sie sind intelligent genug, um nützlich zu sein. Sie sind nur nicht klug genug, um Lügen zu erkennen. Sie sind so gute Soldaten, dass man darüber leicht vergisst, wie schändlich sie getäuscht worden sind. Teufel, sie brauchen keine Kriege. In den Schrathöhlen haben sie alles, was sie brauchen. Sie wollen keine Stoßtruppen sein. Auch der arme Seibrich nicht … Sein einziger wirklicher Fehler war, dass er auf Lord Foul gehört hat. Danach hatte der Verächter ihn in der Hand.« Immer wieder schlug Covenant die verbundenen Fäuste aneinander, als hoffte er, der Schmerz werde ihn in die Gegenwart zurückkatapultieren. Der feuchte Glanz in seinen Augen ließ vermuten, dass er weinte. Das war alles ihre Schuld. Ihre. Trotzdem blieb er irgendwie Thomas Covenant - der Mann, der Lord Foul zweimal besiegt hatte. Die tiefen Falten in seinem Gesicht, seine hagere Gestalt und auch die Tränen in seinen Augen verliehen ihm ernste Autorität. Er erinnerte an einen vom Unglück verfolgten, aber trotz seines elenden Zustands befehlsgewohnten Herrscher. Im Licht von Liands Sonnenstein leuchtete sein Silberhaar wie ein Banner. Die Verbände an seinen Händen - kirschrot und fleischrosa, durchscheinend und smaragdgrün - waren so grotesk, dass sie seine würdevolle Erscheinung nur noch betonten. Lindens Augen brannten, als sie Covenant mit seinen Leiden und seinem unerschütterlichen Elan betrachtete. Im Vergleich zu ihm fühlte sie sich schwach und klein. Das lag in seiner Natur - oder in der ihrigen. Trotzdem hatte seine Wirkung auf sie sich verändert. Seit er sie gegen die Gedemütigten unterstützt hatte, sehnte sie sich danach, sich seiner als würdig zu erweisen, und das an Liebe zurückzugewinnen, was sie während seiner scheinbar endlosen Abwesenheit im Bogen der Zeit eingebüßt haben mochte. Sie vertraute darauf, dass er reagieren würde, wenn sie ihn brauchte. Was die Gedemütigten betraf, war Linden sich ihrer Sache weniger sicher. Die drei hatten ihre Überzeugung schon einmal gewechselt. Das konnten sie jederzeit wieder tun. Aber als sie endlich zu Stave sagte:
»Also los! Ich habe uns alle viel zu lange aufgehalten«, setzten die Meister sich mit Covenant in Bewegung. Galt, Branl und Clyme beharrten stoisch auf ihren Recht, an sich selbst zu glauben. Wie sollen die Gedemütigten sich sonst in meinen Augen rechtfertigen? Zweifellos fürchteten sie Kummer mehr als jede Gefahr. Der Vizard hatte sie zu gründlich unterwiesen. Als Haruchai konnten sie nicht zwischen Kummer und Demütigung unterscheiden. Linden nahm ihren ganzen Mut zusammen und setzte sich an die Spitze ihrer Gefährten, die bereit waren, ihr letztes Wagnis mit ihr zu riskieren. »Lange genug gezögert, Lady?«, schnarrte der Egger. »Die Schlange frisst bereits. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ihr Hunger das Fundament der Erde erzittern lässt. Wirst du mir wenigstens gestatten, meinen Teil unserer Vereinbarung zu erfüllen?« Linden starrte in die schwarze Leere seiner Augen, als hätte sie alle Angst verloren. »Eines muss klar sein.« Ihre Stimme klang brüchig und heiser, aber sie zitterte nicht. »Was du von mir wolltest, hast du bereits. Du bringst mich jetzt zu meinem Sohn. Uns alle. Wenn wir ihn gerettet haben, bringst du uns alle zurück. Und Jeremiah kommt mit uns.« »Das habe ich schon gesagt«, antwortete der Egger. »Das habe ich geschworen. Ich werde meinen Schwur halten.« Der Eifrige nickte. »Keine Sorge, Lady.« Seine Ängstlichkeit war zurückgekehrt und ließ seine vollen Lippen schmal erscheinen. »Das Wort jedes Insequenten ist unverbrüchlich. Wissen ist ein strenger Schatz. Es duldet keine Falschheit. Sollte der Egger nicht tun, wozu er sich verpflichtet hat, verliert er alles, was er sich verschafft hat. Und …« Seine Bänder schienen zu zucken. »… ich komme mit, um darauf zu achten, dass er seine Verpflichtungen erfüllt.« »Also gut.« Der Gedanke an Jeremiah beherrschte Linden, als sie sich an den Egger wandte. »Sag uns, was wir tun sollen.« Seine Stimme klang vor Eifer scharf, als er kommandierte: »Stellt euch zusammen. Wir kommen rascher voran, wenn die Riesinnen diejenigen tragen, die damit einverstanden sind. Der Eifrige und ich vereinigen unsere Theurgien, um zu verhindern, dass deine viel zu zahlreichen Begleiter sich nachteilig auswirken.« Linden drehte sich nach Liand und den Ramen um. Als sie sah, dass alle einverstanden waren, nickte sie der Eisenhand wortlos zu.
Kaltgischt machte ihren Gefährtinnen ein Zeichen. Darauf nahmen Spätgeborene, Rahnock und Grobfaust sofort die Ramen auf ihre Arme. Steinmangold hob Liand auf und setzte ihn auf ihren muskulösen Unterarm. Während Böen-Ende Anele aufhob, übernahm Frostherz Graubrand Linden. Nur Zirrus Gutwind, die im Kampf gegen die Skurj einen Arm verloren hatte, und Kaltgischt selbst waren unbelastet, als die Schwertmainnir eine geschlossene kleine Schar bildeten. Stave stand neben Graubrand, und die Gedemütigten bildeten mit Covenant ein Quartett in der Nähe der Eisenhand. Linden spürte allgemeines Unbehagen. In dieser Formation konnten die Riesinnen nicht ihre Schwerter ziehen; nur die Haruchai würden sofort auf eine plötzliche Bedrohung reagieren können. Trotzdem wehrte sich niemand gegen den Befehl des Eggers. Der Eifrige und er stellten sich auf gegenüberliegende Seiten der kleinen Schar. Während der Egger seine Finger in komplizierten Mustern über die Perlen gleiten ließ, mit denen sein Wams bestickt war, und dabei Beschwörungsformeln murmelte, schickte der Eifrige bunte Bänder aus, die Linden und ihre Freunde umschlossen. Ihre Enden berührten sogar die Schultern des Eggers, der sie jedoch ignorierte. Stattdessen murmelte er: »Schluss mit deiner Magie, Jüngling. Sie stört nur.« Linden verstand, was er meinte. Der Sonnenstein war ein Werkzeug der Erdkraft; er drückte Liands Stärke im Rahmen der Vorgaben des Gesetzes aus. Der Egger wollte diese Grenzen offenbar überschreiten, wie er es immer tat, wenn er sich an andere Orte versetzte. Liand schien einen Augenblick über die Aufforderung des Eggers nachzudenken. Dann zuckte er mit den Schultern, hielt den Orkrest nur noch locker in der Hand und ließ sein Licht allmählich erlöschen. Aber er steckte ihn nicht wieder in seine Gürteltasche zurück. Im Sternenschein warteten Linden und ihre Gefährtinnen als dunkle Schatten darauf, dass der Egger mit seinen Vorbereitungen fertig wurde. Linden hielt den Atem an. Sie war zu Jeremiah unterwegs; das sagte sie sich wieder und wieder. Nach so langer Zeit, nach so vielen Kämpfen und Unzulänglichkeiten, so vielen bitteren Siegen und kostspieligem Versagen. Bald würde sie neuen Mut aufbringen müssen, um zu ertragen, was sie sehen würde: den Croyel, der sich am Rücken ihres
hilflosen Sohnes festklammerte, aus seiner Halsschlagader trank und den leeren Geist ihres Jungen mit wildem Hass erfüllte. Und sie musste darum beten, dass zumindest einer ihrer Gefährten die Macht besitzen würde, das Ungeheuer zum Loslassen zu zwingen … Freiwillig würde der Croyel nicht zulassen, dass sie Jeremiah in die Arme schloss. Niemals. Linden wartete an Graubrands Steinpanzer gelehnt - und versuchte zu hoffen. Sie spürte keine um sie herum zunehmende Kraft. Nichts Unheimlicheres als Andelain selbst schien die Nacht zu erfüllen. Aber sie hatte die eigentümliche Magie der Insequenten nie wahrnehmen können. Wie die Zauberei des Theomach und der Mahdoubt drückte die des Eggers sich in einer Dimension der Realität oder Zeit aus, die Lindens Wahrnehmungsvermögen überstieg. Sie wusste nicht, dass irgendetwas geschehen war, bis die Sterne, die dunklere Nacht hinter den Bäumen und die Hügel selbst in bodenloser Schwärze verschwanden. Dann umschlossen Kälte und gewachsener Fels sie und alle ihre Gefährten, als wäre der Deckel eines Sarkophags geschlossen worden.
6 Suche gewachsenen Fels Von den Gedemütigten eng bewacht, schrak Thomas Covenant aus Erinnerungen an die Höhlenschrate auf und fand sich auf der langen, schmalen natürlichen Felsbrücke wieder, die den Abgrund zwischen dem gewachsenen Fels des Donnerberges und dem Portal zur Verlorenen Tiefe überspannte. Die Magie der Insequenten und seine Sorge um Linden hatten ihn aus seinen Erinnerungen gerissen. Möglicherweise begriff außer ihm niemand, wie schwer sie hier verletzt werden konnte. Covenant sah nichts. Die Finsternis tief im Berginneren war absolut. Um hierher zu gelangen, hätte er vermutlich mehrere Tage lang mühsam aus den nächsten Höhlen und Gängen der Höhlenschrate absteigen müssen. Trotzdem hatte er kein Gefühl für den schrecklichen Abgrund, der unter seinen Füßen gähnte, und nahm den alten Staub in der stillen, abgestandenen Luft kaum wahr. Die Kälte hatte ihn noch nicht erreicht. Er war von Lepra gefühllos und besaß keinen Gesundheitssinn, der ihm ermöglicht hätte, seine näheren Umstände zu identifizieren. Trotzdem war der alles durchdringende Dunst von Kevins Schmutz fast erstickend. Er war seinem Ursprung gefährlich nahe: dem lebenden Übel, das Kastenessen und Esmer und der Wüterich Moksha angezapft oder eingespannt hatten, um den Nebel zu erzeugen, der den Stab des Gesetzes behinderte. In unmittelbarer Nähe dieses gewaltigen Übels waren Linden, Liand und die Ramen plötzlich blind und fast so benommen wie er. Aneles geerbte Erdkraft konnte ihn dagegen immun machen, aber selbst das Wahrnehmungsvermögen der Haruchai und der Riesinnen musste hier versagen. Binnen Sekunden würden Lindens Gefährten blind wie Mahrtür und taub und gefühllos wie Stein sein. Ohne eine Gefahr zu ahnen … Trotz der absoluten Finsternis wusste Covenant genau, wo er stand. Aus der Perspektive des Bogens der Zeit hatte sein Geist diesen Ort zu oft besucht, um sich zu irren. Noch vor wenigen Stunden war er mit der Verlorenen Tiefe - und der schmalen Felsbrücke, die ihren einzigen
Zugang bildete - schmerzlich vertraut gewesen. Als er sich jetzt daran erinnerte, fiel ihm auch ein, dass selbst der Egger in seiner Gier nie weiter als bis zu dieser Brücke vorgedrungen war. Die Aussage des Insequenten, er kenne den Aufenthaltsort von Lindens Sohn, beruhte nicht auf eigener Beobachtung, sondern auf anderen Wissensformen. In kleinen Schritten breitete sich ein dumpfer Schmerz in Covenants Brust aus, und dieses Gefühl rief eine Art Panik hervor. Vielleicht hatte die Ursache von Kevins Schmutz schon wahrgenommen, dass Weißgold und der Stab des Gesetzes, der Orkrest und Loriks Krill anwesend waren - von der Gegenwart von Riesinnen und Haruchai und gewöhnlichen Menschen ganz zu schweigen. Aber auch er war jetzt wieder ein Mensch - und im nächsten Augenblick spürte er, dass ihm kein Ansturm blinden Hasses, sondern Sauerstoffmangel zusetzte. Die eisige Luft war zu alt und enthielt zu wenig Sauerstoff, um ihn erhalten zu können. Er begann zu ersticken. Keiner sprach. Niemand hatte bisher gesprochen. Die ganze Gesellschaft wirkte wie gelähmt, bewegungslos wie durch Schock oder Entsetzen. Durch Dunkelheit oder Kälte oder Sauerstoffmangel. Aber dann begann Anele zu husten, und die Riesinnen bewegten sich, um Platz für die Haruchai zu machen. Jäh befiel Covenant eine weit dringlichere Angst. »Keine Bewegung!«, keuchte er. »Keiner darf sich bewegen!« Er hätte mehr sagen wollen. Höllenfeuer! Wisst ihr nicht, wo wir sind? Aber ein Hustenanfall nahm ihm die Stimme. Bei jedem Atemzug schien Staub seine Lunge zu füllen. Die natürliche Felsbrücke war schmal. Wer von ihr stürzte, würde lange genug fallen, um sich den Tod zu wünschen, ehe er aufschlug. Linden?, versuchte er zu rufen, ohne das Wort herausbringen zu können. Er hatte jahrtausendelang nicht mehr gehustet. Ohne sich in dieser Zeit mit Muskeln und entzündetem Gewebe abgeben zu müssen, hatte er verlernt, damit umzugehen. Der Husten zerriss ihn beinahe, bis ihm wie bei einem Schwindelanfall der Kopf schwirrte. Dann hörte er Lindens Stimme. »Liand«, keuchte sie angestrengt. »Orkrest.« Scheinbar endlos lange geschah nichts. Die Plötzlichkeit, mit der Liand seinen Gesundheitssinn verloren hatte, musste ihn überwältigt haben, aber vielleicht war er auch nur von Dunkelheit und Entsetzen gelähmt.
Und in der Finsternis konnte ihm niemand helfen. Der Egger, so dachte Covenant, hätte die Initiative ergreifen sollen. Schließlich waren sie durch seine Schuld hier. Aber vielleicht war es ihm nur recht, seine Gefährten - seine Opfer - in den Abgrund stürzen zu sehen. Er hatte nicht geschworen, sie vor den Gefahren dieser Reise zu beschützen. Wahrscheinlich gefiel ihm die Idee, Linden und ihre Freunde auf diese Weise loswerden zu können. Er hatte keine Erfahrung mit Lindens Stab. Also würde der Eifrige … Verdammt, hier unten war es kalt! Covenant empfand Zorn und Empörung wegen seiner Unfähigkeit, mit dem Husten aufzuhören und stattdessen den Mund zu öffnen, Luft zu holen und zu sprechen. Was nutzte seine Wiedererweckung, wenn er nicht mal den eigenen Körper beherrschte? Der Eifrige fürchtete die tiefen Orte der Erde. Aus guten Gründen. Mehrere Ramen rangen keuchend nach Luft. Die Riesinnen vergrößerten trotz Covenants Warnung vorsichtig die Abstände zwischen sich. Sie hatten keine Angst vor Kälte oder Dunkelheit oder gewachsenem Fels; sie wollten etwas mehr Platz, um leichter atmen zu können. Oder vielleicht wollten sie mehr Raum, um die Menschen, die sie trugen, verteidigen zu können. »Hört auf den Zweifler!«, verlangte Stave, als könnten bloßer Sauerstoffmangel, Dunkelheit und Kälte ihn nicht beeindrucken. »Steinhausener, gehorche der Auserwählten.« Die Riesinnen blieben stehen, und Liands Keuchen verriet, dass er sich irgendwo in der Dunkelheit bemühte, seine Konzentration wiederzufinden. Langsam begann Licht aus der rechten Faust des jungen Mannes zu dringen. Anfangs wurde das Leuchten nur zögerlich heller. Die Schwertmainnir nahmen als dunkle, schwere Schemen Gestalt an. Die Gedemütigten erschienen um Covenant gruppiert, als hätten sie sich aus durchsichtigen Schatten materialisiert. Linden lehnte nach Atem ringend an Graubrands Brustpanzer. Auf Böen-Endes Arm hatte Anele entsetzt die Hände vor das Gesicht geschlagen. Allmählich wurde Liand stärker. Die Wirkung angewandter Erdkraft reinigte die Luft in seiner unmittelbaren Umgebung, sodass er leichter
atmen konnte. Plötzlich leuchtete der Sonnenstein viel heller und vertrieb die Dunkelheit. Liand ließ einen erstickten Schrei hören. »Stein und Meer!«, blaffte die Eisenhand. Ihre Gefährtinnen knurrten Flüche und Verwünschungen. »Oh Gott«, wiederholte Linden, »o Gott …« - so leise, als fürchtete sie den Klang der eigenen Stimme. Kalte Echos wiederholten jedes Wort. Wie Liand begannen nun alle, bessere Luft zu atmen. Sie wurden stärker - stark genug, um zu erkennen, wie extrem ihre Lage war. Covenant, die vier Haruchai und die acht Riesinnen standen kurz vor dem Scheitelpunkt der natürlichen Brücke und hatten ihr Ziel vor Augen. Einige Schritte vor ihnen murmelte der Egger noch immer Zaubersprüche oder Beschwörungsformeln. Die Nachhut bildete der Eifrige, der erstickte Proteste ausstieß. Die Bänder hatte er eingezogen; sie umschlossen seine korpulente Gestalt jetzt wie eine Rüstung. Unter ihren Füßen stieg die glatte natürliche Brücke in sanftem Bogen an und fiel dann leicht zum Portal der Verlorenen Tiefe hinunter ab: zu einem hohen Torbogen, hinter dem nichts als undurchdringliche Schwärze lag, die selbst das Licht des Sonnensteins nicht durchdringen konnte. Dort hätten ganze Scharen eindringen oder aus dem Portal hervorkommen können, aber hier war die Brücke kaum mehr als zwei Riesen-Schritte breit. Sie wirkte zu zerbrechlich, um so viel Gewicht tragen zu können. Über diesen Steinbogen hatten die Gräuelinger einst ihr Reich verlassen, um ihr Wissen mit dem der übrigen Welt zu vergleichen. Und so hatten sie Zweifel, dann Hass und zuletzt Verderben kennengelernt. Sie waren nicht durch Körper behindert worden. Auch ihre Schöpfung, die Dämondim, hatten sich selten damit abgegeben, in Körper zu schlüpfen. Und mit Ausnahme ihrer Lehrenkundigen waren die Urbösen, die sich einst in den Lehrenwerken abgemüht hatten, einen Kopf kleiner als Covenant und zierlicher als Pahni gewesen. Noch kleiner waren die Wegwahrer. Keiner von ihnen hatte eine massive Brücke gebraucht. Aber das Licht von Liands weiß strahlendem Orkrest reichte noch weiter. Trotz seiner Bedrückung schickte er Licht in einen riesigen Felsendom, der ihre Gestalten auf der Bücke winzig erscheinen ließ.
Über ihnen bildete ein unregelmäßiges Gewölbe die Decke einer riesigen Höhle. Von dem gewachsenen Fels hing eine Anzahl spitz zulaufender Stalaktiten herab, die massiven Türmen aus knorrigem Holz glichen. Alle glänzten feucht. Zwischen ihnen reflektierten Quarz und andere Kristalle das Leuchten des Orkrests an einem Firmament glitzernder Sterne. Keiner der Stalaktiten hing direkt über der Brücke, aber sie sahen so massiv aus, als könnte allein der Luftzug bei ihrem Vorbeifallen die Felsbrücke einstürzen lassen. Von ihren Spitzen tropften dünne Rinnsale, die Covenants Blick mit sich zogen. Nach unten. Hinab. Noch tiefer. In einen Abgrund, der bodenlos zu sein schien. Trafen die Rinnsale irgendwo weit unter der Brücke auf Felsen, war ihr Platschen zu entfernt, um hörbar zu sein. Die Tiefe schien Covenant zu rufen. Schwindel erfasste seinen Kopf, seinen Magen. Er schwankte, ohne es zu merken. Galts Hände umschlossen mit eisernem Griff seine Oberarme, aber davon spürte er nichts. Alle um ihn herum schienen zurückzuweichen, bis sie unerreichbar waren, ihm nicht helfen konnten. Kaltgischt knurrte Fragen, die ihm nichts bedeuteten. Sein Kopf schwirrte, und er hatte das Gefühl, sein Verstand zehre sich selbst auf. Sein Geist hatte vergessen, was Schwindel war; sein Körper erinnerte sich gut daran. Es drängte ihn, sich in den Abgrund zu stürzen und seinen wirbelnden Schwindel zu befriedigen, indem er wie das Wasser fiel und fiel, bis sein Körper nach endlosem Sturz in die Tiefe erlöst wurde. Hätte Galt ihm eine Chance gegeben … »Nein«, keuchte der Eifrige nach Atem ringend. »Ich kann nicht. Der Egger hat sich getäuscht.« Vor Angst klang seine Stimme schrill. »Die Brücke wird bewacht. Wir dürfen nicht fallen!« Wie ein Trugbild seiner selbst flüchtete der Eifrige von dem Portal weg zu dem gewachsenen Fels im Inneren des Donnerberges. »Zurück«, zischte Kaltgischt. »Folgt dem Eifrigen. Sofort! Aber vorsichtig. Dieser Stein ist unvorstellbar alt. Vielleicht ist unser Gewicht
zu viel für ihn.« Vom Klang ihrer Stimme schienen Risse im Fels zu entstehen, die ihn wie die Spalten in Covenants Verstand durchzogen. Er stellte sich vor, wie Granitbrocken sich von den Rändern des Bogens lösten und den Rinnsalen in den Abgrund folgten. Die Brücke hatte einzustürzen begonnen. Oder sie würde bald einstürzen. Schwindel machte sein Gleichgewicht labil, lähmte sein menschliches Wahrnehmungsvermögen. »Nein!«, widersprach Clyme. »Der Egger lässt uns genauso im Stich wie der Eifrige. Dieses verrückte Unterfangen muss mit einer Katastrophe enden, wenn wir zulassen, dass der Träger von Ring und Stab allein vorausgeht.« »Das tut er nicht«, wandte Linden ein. »Er hat versprochen, uns zu Jeremiah zu bringen. Und wieder zurück. Hält er sein Versprechen nicht, zerstört er sich selbst.« Ihre Stimme bildete einen Anker der Vernunft in Covenants wirbelndem Verstand. Vor ungezählten Jahrtausenden war er mit Schwindel vertraut gewesen. Manchmal hatte er damit umgehen können. Und Linden hatte recht; natürlich hatte sie recht. Außerdem hatte der Egger … In einem weiteren lichten Moment erinnerte Covenant sich, dass der Egger dieses Portal nie geöffnet hatte. Vielleicht wusste er nicht, wie es sich öffnen ließ. Oder wie man den Stab des Gesetzes benutzte. Und Lindens Schmerz war ihm egal. Die Brücke war ein Zugang; sie war jedoch auch eine Falle. Ein Bollwerk. Verteidigt. Machte der Egger einen Fehler, würde er sie einstürzen lassen. »Sofort!«, drängte Kaltgischt. »Über Alternativen denken wir nach, sobald wir wieder festen Fels unter den Füßen haben.« Ohne die Zustimmung der Gedemütigten abzuwarten, machte sie sich daran, die Brücke zu verlassen, wobei sie so sanft auftrat, wie ihre Größe es nur zuließ. Frostherz folgte ihr sofort mit Linden. »Bringt Covenant mit!«, befahl Linden, was eher bittend klang. Von den Rändern der Brücke stürzten weiter Felsbrocken in die Tiefe, aber jetzt begriff Covenant, dass er sich das nur einbildete.
»Pfui!«, knurrte der Egger. »Dass der Eifrige feige ist, überrascht mich nicht. Mit seiner Wahl haben die Insequenten sich selbst verraten. Aber ich habe nicht mit Feigheit bei denen gerechnet, die sich als Freunde der Lady bezeichnen. Ich hole euch nach, sobald ich für eine sichere Überquerung garantieren kann.« Wieder vor sich hinmurmelnd überquerte er die Felsbrücke wie ein Mann, für den zu viel auf dem Spiel steht, als dass er sich Angst gestatten dürfte. Die Tiefe jenseits der Brückenränder lockte Covenant; sie verdrehte ihm den Kopf wie der Sirenengesang der Meerjungfrauen. Aber Galt ließ ihn nicht los. Branl und Clyme standen links und rechts neben ihm, als wollten sie verhindern, dass er sich losriss - als wäre er jemals kräftig genug gewesen, um sich gegen die Haruchai zu behaupten. Covenant kämpfte weiter gegen den Schwindel an, der ihn erfasst hatte. Mühsam klaubte er Bruchstücke von Vernunft aus der schlechten Luft, und Liands leuchtender Sonnenstein reinigte die Atmosphäre weiterhin, aber das genügte nicht. Covenants Schwindel war alt und hartnäckig und er musste sich jedes kleine Stück Selbstbeherrschung erst mühsam wieder erkämpfen. Er erinnerte sich an den Abstieg vom Kevinsblick. Einmal hatte Salzherz Schaumfolger ihn getragen, aber zweimal hatte er den Abstieg durch reine Willenskraft allein geschafft. Und der Egger hatte das Portal zur Verlorenen Tiefe bisher nicht geöffnet. Wilde Magie würde ihn dabei im Stich lassen. Er würde den Stab des Gesetzes brauchen. Und Listenreichtum. Und Subtilität. Obwohl er keine Zeit gehabt hatte, sich mit dem Gebrauch des Stabes vertraut zu machen. Das Portal war der Grund. Es erklärte, weshalb der Egger alle hierher statt direkt zu Jeremiah transportiert hatte. Die Verteidigungsanlagen der Gräuelinger für ihr Reich waren komplex und trickreich. Betrat er die Verlorene Tiefe nicht korrekt, konnte das gesamte unterirdische Gebilde einstürzen. Oder er und alle in seiner Begleitung konnten auf indirektere und grausame Weise umgebracht werden. Erinnerungen konnten ihm helfen - oder in den Wahnsinn treiben; so viel verstand Covenant. Verständnis bedeutete Vernunft. Und Vernunft bildete Inseln in den Strudeln seines beschädigten Bewusstseins: klar strukturierte Räume, in denen er zu sich selbst finden konnte. Allmählich
begriff er, was Galts Hände an seinen Oberarmen bedeuteten; er begriff es und war ihm dafür dankbar. In einer Richtung näherte der Egger sich dem Scheitelpunkt der Brücke; in der anderen bewegten sich die Riesinnen vorsichtig zur diesseitigen Höhlenwand. Sie gingen in einer Reihe vor Covenant und den Gedemütigten her und entlasteten so den Felsbogen von immer mehr Gewicht. Die Eisenhand und Graubrand hatten das Ende der natürlichen Brücke schon erreicht, und ohne auf Lindens Proteste zu achten, hatte Stave sie begleitet. Spätgeborene mit Mahrtür war nur drei bis vier Schritte hinter ihnen; dahinter kamen Onyx Steinmangold und Liand. Covenant begann eine gewisse Stabilität zurückzugewinnen. Vielleicht, dachte er, während er weiter dem Drang widerstand, sich in den Abgrund zu stürzen, vielleicht sollte er die Gedemütigten auffordern, ihn zu dem Egger zu bringen. Wie der Insequente hatte auch er den Stab des Gesetzes noch nie benutzt, und seine verbundenen Hände waren fast völlig gefühllos. Wie gut oder gründlich die Verletzungen geheilt waren, konnte er nicht beurteilen, aber vielleicht würde er sich an etwas erinnern können. Vielleicht konnte er aus seinen schwächer werdenden Erinnerungen etwas Nützliches ausgraben, das der Egger brauchte … Er mochte nicht daran denken, was in den Abgründen unter ihm lauerte. Trotzdem und aus Gründen, die er nicht kannte, war sein Bedürfnis, Jeremiah zu retten, ebenso stark wie das Lindens. Und trotzdem empfand er instinktiv Angst vor der Verlorenen Tiefe. Dort wimmelte es von Erinnerungen an Ereignisse und Mächte, die so fremdartig und alt waren, dass sie ihn Dutzende von Jahrtausenden weit von der Gegenwart und jeder Möglichkeit, Linden zu helfen, wegzerren konnten. Er war nicht zuversichtlich, dass er imstande sein würde, sich gegen seine Erinnerungen zu behaupten, solange die Konsequenzen seiner Wiedererweckung ihn bei jedem Schritt zu verraten drohten. Vielleicht wusste der Egger bereits, wie sich das Portal öffnen ließ, ohne eine Katastrophe auszulösen. Wütend auf sich selbst drängte er seine Beschützer, den Schwertmainnir zu folgen. Zirrus Gutwind war die letzte Riesin; sie folgte Grobfaust, die Bhapa trug, langsam von der Felsbrücke. Covenant, der sich bemühte, trotz weicher Knie auf den Beinen zu bleiben, sah angestrengt geradeaus und
fixierte über Gutwinds Schultern hinweg den zerklüfteten Fels der Höhlenwand. Der Abgrund zog ihn weiter magisch an, aber er weigerte sich, zur Seite zu sehen. Noch ein Schritt, dann würde Sturmvorbei Böen-Ende die Brücke verlassen. Dann würde sie um das Gewicht von fünf Riesinnen entlastet sein; Linden, Mahrtür, Liand und Anele würden in Sicherheit sein. Und Graubrand und Steinmangold hatten ihre Last schon abgesetzt. Nun standen sie mit Kaltgischt am Rand des Abgrunds und hielten sich bereit, jeden aufzufangen, der vielleicht würde springen müssen. Im Gegenlicht bildete ihr Atem unheimlich wirkende große Dampfwolken, und hinter ihnen schlängelte sich ein primitiver Tunnel in die mitternächtlichen Tiefen des Donnerbergs davon. Im Licht des Sonnensteins sah Covenant, dass der Tunnel kaum hoch genug war, dass die Riesinnen darin hätten stehen können; noch ehe er hinter der ersten Biegung außer Sicht kam, verengte er sich stark. Wo er jedoch in die Höhle austrat, öffnete er sich wie ein Fächer aus verhältnismäßig ebenem Obsidian, der Adern aus Malachit aufwies. Böen-Ende und Spätgeborene erreichten den Tünneleingang. Die Gedemütigten, die Covenant weiterhin wie einen Gefangenen oder Invaliden zwischen sich führten, passten ihr Tempo dem Gutwinds an, die vor ihnen die Brücke hinunterging. Covenant, der nun glauben konnte, dass die Brücke halten würde, gewann allmählich seinen Gleichgewichtssinn zurück. Mit jedem Schritt konnte er dem Drang, sich in den Abgrund zu stürzen, besser widerstehen. Vermutlich um zu verhindern, dass Anele dem Abgrund zu nahe kam, setzte Böen-Ende den Alten am Tunneleingang in der Nähe der Stelle ab, wo der Obsidian allmählich auslief. Dann machte sie kehrt, um Spätgeborene zu begrüßen. Aus Gründen, die er nicht greifen konnte, empfand Covenant plötzlich etwas Sorge um Anele. Wie der Egger konnte auch er Verderben bewirken. … denk daran, dass er die Hoffnung des Landes ist. Das hatte irgendjemand gesagt: jemand, dem Covenant vertraute. Wenn deine Taten ins Verderben führen … Seine Erinnerungen wirkten zufällig, unfreiwillig; unmöglich zu kontrollieren. Risse und Spalten behinderten ihn auf allen Seiten, schnitten ihn von gewöhnlichen Menschen ab. …
wie es unvermeidlich ist. Trotzdem hing Lindens Blick an ihm - mit der Verzweiflung einer Frau, die glaubte, er halte ihr Schicksal in seinen gefühllosen Händen. Hölle und Blut, sie fror bestimmt entsetzlich … Vermutlich zitterte er selbst; das wusste er nicht bestimmt. Aber die kleinen Risse in ihrer Bluse standen ihm so deutlich vor Augen wie das Einschussloch über ihrem Herzen. Die Kälte würde wie Wasser durch den roten Flanell eindringen. Bei jedem Ausatmen stieß ihre Lunge eine flüchtige Atemdampfwolke aus. Sie hatte so viel aufgegeben und noch mehr verloren. Viel zu viel. Während Covenant ihrem Blick begegnete, wurde er um ihretwillen stärker. Jede Sekunde, die er in der Gegenwart verweilte, kostete ihn wertvolle Erinnerungen; sie raubte ihm unwiderruflich das unbeschreibliche Wissen, das ihm die Möglichkeit eröffnet hatte, aus dem Bogen der Zeit zu Linden zu sprechen. Sein Bewusstsein dafür, was er tun musste - und weshalb -, war bereits in unbestimmte, undefinierbare Fragmente zerfallen. Aber Linden brauchte ihn. Auf irgendeine Art, die er nicht mehr definieren konnte, brauchten die Erde und das Land und Jeremiah ihn ebenso, wie er Linden brauchte. Jetzt erhöhte er grimmig sein Tempo und zog die Gedemütigten mit, als er auf diese Weise näher an Zirrus Gutwind heranrückte. Der in seinem Hosenbund steckende Krill pochte in unregelmäßigen Abständen, aber Covenant ignorierte ihn. Als Rüstig Grobfaust mit Bhapa die Brücke verließ, begannen Kaltgischt, Graubrand und Steinmangold aufzuatmen. In wenigen Augenblicken würden auch Gutwind, Covenant und die Gedemütigten in Sicherheit sein. Weil Covenant keinen Gesundheitssinn besaß, konnte er den Egger nicht spüren. Er zweifelte nicht daran, dass der Insequente das andere Ende der Brücke erreicht hatte, aber er hatte keine Vorstellung davon, was der Gierige dort tun oder wie seine Bemühungen wirken würden. Trotzdem riskierte er lieber keinen Blick über die Schulter, weil er wusste, dass der Abgrund ihn sofort wieder in seinen Bann schlagen würde. Wie Linden hatte er zu viel aufgegeben und verloren. Hoffentlich würde ihr Gesundheitssinn trotz ihrer Nähe zu dem wilden Ursprung von Kevins Schmutz nicht völlig unterdrückt sein. War die von
Liand eingesetzte Erdkraft imstande, die Luft hier unten zumindest teilweise zu reinigen, konnte sie vielleicht auch bewirken, dass Linden einen Teil ihres Wahrnehmungsvermögens behielt. Und konnte sie noch sehen, würden die Sinne der Riesinnen und der Haruchai bestimmt ihre angeborene Vitalität behalten. Die Ramen und vielleicht auch Liand selbst mochten den Eindruck haben, so gefühllos wie Covenant zu sein, aber ihre Sinneswahrnehmungen würden nicht ganz oberflächlich sein. Als er jetzt die Brücke verließ und auf Obsidian und Malachit stand, fühlte Covenant sich nutzloser als in dem Augenblick, in dem Linden ihn wiedererweckt hatte. Er hatte keine Vorstellung davon, was er zu ihr oder ihren Gefährten sagen sollte. Die Ramen und selbst die Riesinnen schienen aufzuatmen, als alle zumindest vorläufig in Sicherheit waren, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann jemand sich damit befassen würde, was der Egger tat - oder nicht tat -, und fragen würde: Was nun? Und Covenant konnte sich an etwas, das alle wissen mussten, trotz aller Anstrengung nicht erinnern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die tief ins Erdinnere verbannte Übelgewalt das Eindringen von Theurgie in ihr Reich bemerken würde. Loriks Krill und Liands Orkrest würden Aufmerksamkeit erwecken. Äonenlanger Dämmerschlaf würde sie vielleicht noch eine Zeit lang lähmen, aber dann würde sie reagieren. Und wenn oder falls Linden zu Jeremiah vordrang, würden Kastenessen und Esmer und die Elohim und sogar die ins Erdinnere verbannte Übelgewalt wissen, wo sie zu finden war … Auch wenn Covenants Gefährten das vielleicht noch nicht bewusst war, konnten sie sich nur an den Eifrigen wenden, um Antworten zu erhalten. In seinem Bändergewand stand der Insequente in Aneles Nähe am Tunneleingang. Er kehrte dem Abgrund den Rücken zu, sah auch niemanden an. Profitierte er auf irgendeine Art von Liands Anwendung von Erdkraft, ließ er sich nichts davon anmerken. Statt dessen atmete er weiter schwer, als hätte er sein Fett und seine Angst meilenweit durch die Tiefen der Erde getragen. Die unzähligen Bänder, aus denen sein Gewand bestand, schienen ihn eng wie eine schützend geballte Faust zu umgeben. Hatten Wille und Macht seines Volkes ihn verlassen? Er wirkte überwältigt - zu eingeschüchtert, um Lindens Wünsche durchsetzen zu
können. Nutzlos wie Covenant… Covenant merkte, dass ihn bis auf Anele und den Eifrigen alle ansahen. Selbst Lindens engste Freunde beobachteten ihn so aufmerksam, als erwarteten sie, er werde irgendein Wunder vollbringen. In dieser schwierigen Lage den Befehl übernehmen. Ihnen sagen, was sie tun sollten. Sie besaßen offenbar noch genug Gesundheitssinn, um zu erkennen, dass sein Verstand funktionierte. Wie er gehofft hatte, wurde Kevins Schmutz durch die Erdkraft des Orkrests etwas abgemildert. Auch Lindens Blick hing an ihm. Sie war ihm unendlich kostbar und zutiefst verletzt. In einem anderen Leben - dem Leben, das sie verdiente - hätte er sie in die Arme geschlossen und an sich gedrückt, bis ihre Einsamkeit nachließ. Aber er konnte ihr hier nichts nützen - nicht in seinem gegenwärtigen Zustand. »Höllenfeuer«, murmelte er, nur um das Schweigen zu brechen, »das war spannend!« Während er versuchte, sich mit gefühllosen Händen das Gefühl von Vergeblichkeit vom Gesicht zu reiben, fragte er: »Kann irgendjemand sehen, was der Egger tut? Ich habe Angst davor, mich nach ihm umzusehen.« Keiner der Angesprochenen sah weg. Auch die Gedemütigten betrachteten ihn ausdruckslos. Leise antwortete Raureif Kaltgischt: »Der Egger hat den Torbogen oder das Portal jenseits der Brücke erreicht. Er hat sich am Rand der extremen Dunkelheit, die das Erbe des Steinhauseners nicht durchdringen kann, auf ein Knie niedergelassen. Vielleicht bereitet er Beschwörungen vor, vielleicht auch nicht. Den Weißgoldring drückt er sich mit einer Faust an die Stirn. Mit der anderen Hand hält er den vor ihm stehenden Stab des Gesetzes senkrecht. Soviel ich erkennen kann, scheint er keine Magie einzusetzen, sondern mit gebeugtem Haupt zu verharren, als sänne er nach.« Der Rand des Abgrunds war zu nahe. Wasser tropfte oder floss in kleinen Rinnsalen von den Spitzen der Stalaktiten, als träte das Lebensblut der Erde Tropfen für Tropen aus. Das Netz aus Malachitadern, das den Obsidian unter Covenants Stiefeln definierte oder zerriss, rief die Illusion hervor, dort flösse etwas unaufhörlich in Richtung Abgrund.
»Er versucht, einen Zugang zu finden.« Covenant war kaum bewusst, dass er sprach. Die Besorgnis des Eifrigen war ansteckend. Sie erzeugte Schwindel. »Hinter diesem leeren Bereich liegt die Verlorene Tiefe. Die Heimat der Gräuelinger, als es noch Gräuelinger gegeben hat. Dort haben sie sich fortgepflanzt - ebenso wie die Dämondim und die Urbösen. Aber die Verlorene Tiefe ist geschützt. Kann der Egger sie nicht öffnen, kommen wir nicht hinein. Deswegen sind wir hier. Deshalb sind wir nicht schon bei Jeremiah. Dort kann niemand hinein, wenn nicht zuvor das Portal geöffnet wird.« Stave und die Meister betrachteten ihn stumm, als könnte sie nichts von alldem überraschen; Linden jedoch starrte Covenant düster an. Sie war leichenblass; ihre Wangen waren blutleer, und auch in den Gesichtern von Liand und den Ramen standen namenlose Ungewissheit und Zweifel. Unter ungeheuren Steinmassen begraben, erweckte selbst der Mähnenhüter den Eindruck, er könne eingeschüchtert werden. Covenant bemühte sich, seine Erinnerungen in Worte zu fassen: »Dieser Abgrund … durch ihn haben die Gräuelinger sich geschützt. Sich isoliert. Er ist mehr als nur eine Kluft. Dort unten lauert eine schreckliche Macht. Hölle und Blut«, keuchte er. »Es ist so schwierig. Ich kann nicht denken …« Jedes Wort war so gefährlich wie ein Sturz in den Abgrund. Er sprach in weißen Dampfwolken, die sich in Nichts auflösten. »Als die Gräuelinger diese Brücke erbauten, haben sie ihr den Namen Wagnis gegeben. Aber eine einfache Übersetzung wird ihr nicht gerecht. Mit ›Wagnis‹ haben sie nicht nur die schreckliche Macht in der Tiefe gemeint. Und sie wollten nicht nur ausdrücken, dass sie Vorkehrungen getroffen haben, damit die Brücke einstürzt, wenn jemand versucht, die Verlorene Tiefe zu betreten, ohne die Zugangsformel zu kennen. Vielmehr war die Brücke auch ihr Wagnis. Für ihren Bau haben sie alles riskiert. Wer sie waren. Wie sie sich selbst sahen. Sie war ihre einzige Verbindung zum Rest des Landes. Zum Rest der Erde. Verließen sie die Verlorene Tiefe über diese Brücke, konnte alles, was sie je erstrebt, getan oder erreicht hatten, vernichtet werden. Solange sie isoliert blieben, konnten sie glauben, vollkommen zu sein. Aber sie waren clever genug, um zu wissen, dass die Erde groß ist. Schon das Land ist groß. Dort konnten sie Wesen und Mächten
begegnen, die sie armselig aussehen lassen würden. Das Wagnis haben sie geschaffen, weil sie viel zu intelligent waren, um sich mit vermeintlicher Perfektion zufriedenzugeben, die nicht erprobt war. Nüchtern verglichen. Kritisch bewertet.« Das würden die Haruchai besser verstehen als jeder andere. Hinter sich hörte er Anele erregt irgendetwas murmeln. Aber Lindens Blick hielt ihn gefesselt, und er wollte den Blickkontakt keine Sekunde lang abreißen lassen. Hätte er während seines Aufenthalts im Bogen der Zeit in ihre Augen - in ihr Herz - blicken können, wäre er vielleicht damit zufrieden gewesen, bis ans Ende aller Tage dort zu bleiben. »Weiß der Egger, wie man das Portal öffnet?« Lindens Frage schmerzte Covenant. Seine bruchstückhaften Erinnerungen wurden immer wertloser, je dringender er auf sie angewiesen war. All diese im Bogen verbrachten Jahrtausende, vergeudet… Mit heiserer Stimme gestand er: »Das musst du den Eifrigen fragen. Ich habe es vergessen. Wenn ich es jemals gewusst habe.« Covenant wusste nicht, wie sich das Portal öffnen ließ; er erinnerte sich nur, dass wilde Magie den Egger vernichten konnte. Bei dieser Aufgabe musste der Egger sich auf den Stab des Gesetzes verlassen. Der Linden gehörte. Sie studierte ihn kurz, als hoffte sie, die bloße Kraft ihrer Sehnsucht könnte Erinnerung erzwingen, aber der Druck, der sich in ihr anstaute, musste irgendwie abgebaut werden; das merkte Covenant auch ohne Gesundheitssinn. Während sein Herz hilflos hämmerte und die Kälte immer fühlbarer wurde, wandte sie sich ab und zog seine Aufmerksamkeit mit sich. Ihre Lippen waren blass und kalt, als sie dem Insequenten die gleiche Frage stellte. Wozu hätte der Eifrige sonst darauf bestanden, Linden und ihre Gefährten zu begleiten? Der Insequente sah sie nicht an und ließ stattdessen einige seiner Bänder auf vage Art wogen, die eine Verneinung suggerierte. »Dabei kann ich ihm nicht helfen«, antwortete er nervös. »Mit dieser Sache hat er sich als einziger Insequenter sein Leben lang beschäftigt. Ich besitze kein Wissen - weder erworben noch verliehen -, mit dem ich sein Dilemma erleichtern könnte.«
Covenant, den Lindens Verzweiflung schmerzte, hakte sofort nach: »Wozu bist du dann hier? Dein Volk hat dich nicht nur deshalb ausgewählt, weil du eine Vorliebe für neue Erfahrungen hast. Es muss an etwas Konstruktiveres gedacht haben. Wozu hätte es dich sonst entsandt?« Der Eifrige zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Sein Bändergewand dehnte sich bei jedem heiseren Atemzug aus und schrumpfte wieder zusammen. Trotzdem schien Covenants Frage eine gewisse Empörung oder Entschlossenheit in ihm geweckt zu haben. Mit erneuerter innerer Kraft richtete er sich auf und drehte sich langsam um. Kirschrote und himmelblaue Bänder wischten ihm wie aus eigenem Antrieb den Schweiß von Stirn und Hängebacken. »Ich habe dafür zu sorgen, dass der Egger tut, was er geschworen hat. Ich werde ihm helfen, wenn ich kann. Vorerst habe ich eine andere Aufgabe, Zeitenherr, die der vereinte Wille der Insequenten mir aufgedrängt hat. Ich habe dich hierhergelockt, damit du bei mir statt neben dem Egger stehst. Ihm kannst du nicht helfen. Aber hier ist es vielleicht möglich, einen Teil deines vergessenen Wissens wiederherzustellen. Bei denen unter uns, die eifrig Vorzeichen und Prophezeiungen erforschen, gibt es Meinungsunterschiede in Bezug darauf, wie unser Vorhaben enden wird. Trotzdem stimmen alle darin überein, dass wir in diesem Augenblick an diesem Ort sein müssen. Hier ist uns eine Gelegenheit sicher, die nicht wiederkehren wird und unbedingt erstrebenswert ist.« »Welche Gelegenheit?« Lindens Stimme bebte. »Wie hilft sie uns, meinen Sohn zu finden?« »Das tut sie nicht…«, begann der Insequente. Noch ehe er weitersprechen konnte, warf Raureif Kaltgischt ein: »Steinhausener, diese Beleuchtung ist ein wahrer Segen.« Covenant verstand, dass sie versuchte, die Spannungen in ihrem Umfeld abzubauen. »Kann der Orkrest vielleicht auch Wärme spenden? Die Ramen sind natürlich abgehärtet und an Wetterextreme gewöhnt. Das gilt auch für uns Riesinnen und die Haruchai. Aber Linden Riesenfreundin leidet hier, wie auch du leiden musst. Und den Zeitenherrn scheint nur seine Gefühllosigkeit zu schützen.«
Covenant wusste es besser. Der Zustand seiner Hände und Füße bot ihm keinen Schutz. Finger aus Eis hatten ihren Weg durch seine Kleidung zu seinem noch nicht wieder vertrauten Fleisch gefunden, und er bebte im Rhythmus zu Lindens Zittern. Aber selbst in Pergament gewickelt schützte der Krill durch seine Wärme Covenants Innerstes. Und jedes Mal wenn Joans Gedanken den eingesetzten Schmuckstein berührten, gewann er neue Wärme hinzu. Ohne es zu wollen, tat sie ihm damit etwas Gutes. Linden war mehr gefährdet. »Das tut sie nicht«, wiederholte der Eifrige. »Trotzdem ist sie nützlich.« Liand, der Linden jetzt genauer betrachtete, antwortete der Eisenhand besorgt: »Das habe ich noch nicht versucht. Aber die Fähigkeiten des Orkrests haben meine Vorstellungskraft immer wieder übertroffen. Kann er Licht geben, die Wirkung von Kevins Schmutz mindern und die schlechte Luft hier unten reinigen, kann er vielleicht auch Wärme ausstrahlen. Ich will versuchen…« »Wodurch nützlich?«, wollte Linden wissen. »Auserwählte«, sagte Stave ausdruckslos, obwohl das ein verkappter Befehl war. »Sieh nach Anele.« Linden schien den ehemaligen Meister kaum zu hören. Ihre Aufmerksamkeit blieb auf den Eifrigen konzentriert. Aber Covenant zwang sich dazu, zu dem Alten hinüberzusehen. Wie konnte er das nur vergessen haben? War dies nicht der Zweck, zu dem er wiedererweckt worden war? Damit er sich erinnerte … und die anderen warnte? Die Flecken auf Lindens Jeans hätten ihn daran erinnern müssen … Als Pahni Covenants Blick folgte, holte sie geräuschvoll Luft. Liand, der bei seinem Versuch, sich auf den Sonnenstein zu konzentrieren, gestört wurde, wirkte kurzzeitig verwirrt, dann erstaunt; und auch Mahrtür wandte sich Lindens erstem Gefährten blindlings zu. »Ist er besessen?«, fragte Sturmvorbei Böen-Ende hörbar in Sorge um den Alten, der ihr anvertraut worden war. »Oder ist das eine neue Form seiner Verrücktheit? Stein und Meer! Mich ärgert es, dass ich nicht richtig sehen kann!« Linden wandte sich mit einem leisen Aufschrei von dem Eifrigen ab. Anele lag wie freiwillig ergeben mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem unebenen Obsidian auf dem Bauch. Unter seinem hageren
Körper schlängelten sich grüne Adern radial nach außen, als verkörperten sie Sonnenstrahlen. Irgendwie erweckte der Malachit dabei den Eindruck, als pulsierte er im Rhythmus von Aneles Herzschlag. Die Adern glichen den Flecken auf Covenants Kleidung, als er einst durch den Wald von Morinmoss gezogen war. In Covenants Augen wirkte Anele nur schwach und gebrechlich, als wäre er gefällt worden. Aber Liand murmelte verwundert: »Siehst du das, Linden?« Was?, hätte Covenant am liebsten gefragt. Aber im nächsten Augenblick flüsterte Linden: »Das ist keine Besessenheit. Das ist Erdkraft. Er steht davon in Flammen. Sein Geburtsrecht … Ich habe es noch nie so stark erlebt. Oder so dicht unter der Oberfläche.« Mit respektvoller, fast ehrfürchtiger Miene wich der Eifrige vor Anele zurück, und mit einer Stimme, als würden Felsen und Sorge und Kummer zusammengepresst, sagte der Alte laut und deutlich: »Es ist hier.« Diese Worte - oder der Klang von Aneles Stimme - erweckten Erinnerungen in Covenant… Suche gewachsenen Fels. … Erinnerungen, die so frisch und deutlich waren, dass er sie nie hätte vergessen dürfen. Der Egger hatte Linden und ihre Gefährten in so tiefe Gesteinsschichten geführt, dass kein Mensch, der sie zu deuten imstande war, sie jemals berührt hatte. Im Salva Gildenbourne hatte Anele versucht, Linden etwas zu erklären. Wer hatte ihn sonst noch gehört? Wer außer Covenant vor seiner Wiedererweckung? Stave? Liand? »Hier, Anele?«, fragte Linden. »Was ist hier? Was erzählt dir der Fels?« Was hatte die ererbte Kraft des Alten geweckt? »Das Holz der Welt hat vergessen.« Aneles Stimme klang so hart wie der Stein. »Es kann sich nicht regenerieren. Es braucht Hilfe. Aber dieser Stein erinnert sich.« Covenant erinnerte sich stattdessen an andere Dinge. An eine andere Zeit. An einen fernen Ort. Aber Holz ist zu kurzlebig. Alle einstige Größe ist vergessen. Linden erwartete eigentlich, dass Aneles Körper sich verkrampfen
würde, während seine Finger versuchten, sich in den Obsidian zu krallen, aber sein gesamter Körper wirkte schlaff, als verschmölze er allmählich mit dem Stein unter ihm. Nur seine Stimme blieb kräftig; hellwach: »Es muss ein Verbot geben.« Ohne Verbot reicht die Zeit nicht aus. Die Riesinnen hatten sich um Linden und Stave, Liand und den Alten versammelt. Sie bildeten instinktiv einen schützenden Kordon, obwohl es im Augenblick nichts gab, was sie für Anele hätten tun können. Liand hielt den Orkrest hoch. Sein Licht warf die grotesken Schatten der Schwertmainnir auf die zerklüfteten Tunnelwände. Ihre Atemdampfwolken breiteten sich aus und verschwanden, als saugte die Dunkelheit sie auf. Die Gedemütigten blieben dicht bei Covenant. Er vermutete, dass sie ihn aufhalten würden, wenn er versuchte, zu Anele zu gelangen. Sie hatten dem Erbe des Alten - überhaupt jedem Gebrauch von Erdkraft - nie recht getraut. »Anele«, flüsterte Linden. »Erzähl mir mehr.« »Sogar hier wird es gespürt«, sagte der Alte, als antwortete er ihr. »Geschrieben. Beklagt.« Aber seine Worte waren keine Antwort: Aneles Aufmerksamkeit galt allein den Malachitadern im Obsidian. Er reagierte auf die ältesten Geheimnisse der Welt, nicht auf Linden. »Die Erweckung der Schlange. Sie verschlingt die Magie der Erde. Alles Leben. Aber ihr Hunger ist allzu groß. Ist alle geringere Nahrung erschöpft, muss sie in das Land kommen.« Geringere Nahrung? Damit musste der Alte die Elohim meinen. Aber Covenant war sich seiner Sache nicht ganz sicher. Seine eigenen Erinnerungen waren zu frisch. Es gibt zu viel. Macht und Gefahr. Bösartigkeit. Verderben. Und zu wenig Zeit. Die letzten Tage des Landes sind gezählt. Auf irgendeiner Ebene wusste er jedoch, dass Anele recht hatte. Die Schlange war dabei, die Magie der Welt aufzufressen. Aber sie brauchte mehr, als irgendein Elohim, als alle Elohim ihr geben konnten. Durch ihr ureigenstes Wesen würde die Schlange Lord Foul geben, was der Verächter schon immer begehrt hatte. Covenant wusste nicht, wie Linden es schaffen würde, diese Verantwortung zu tragen. »Hört ihn wohl«, riet ihnen der Eifrige mit gedämpfter Stimme. »Dies ist
vorausgesagt worden. Es ist verborgenes Wissen, das seit dem ersten Tagesanbruch unter dem Bogen der Zeit nur den Elohim bekannt war. Ihr müsst auf ihn hören.« »Wir hören ihn sehr gut«, knurrte Raureif Kaltgischt. Sie wollte den Insequenten offenbar zum Schweigen bringen. »Die Schlange wird kommen.« Aneles Stimme nahm allmählich einen rituellen, fast liturgischen Klang an, als rezitierte er eine heilige Wahrheit. »Sie muss kommen. Sie wird kommen und so die letzte Krise der Erde herbeiführen. Hier wird sie ihre endgültige Nahrung entdecken.« Du musst wie Bäume, wie Baumwurzeln werden. Gewachsenen Fels suchen. Liands erhobener Arm zitterte vor Kälte und Anstrengung. Der Sonnenstein bebte mit und erzeugte Schatten wie aufgewirbeltes Herbstlaub. Staves einzelnes Auge spiegelte seinen Glanz in einer Serie von Lichtblitzen wider, als blickte er ins feurige Innere der Apokalypse. »Hier?«, fragte Linden noch immer flüsternd. Beraubt oder verlassen? Covenant konnte keinen Unterschied erkennen. »In der Verlorenen Tiefe? In diesem Abgrund? Welche Nahrung?« Sie musste doch wissen, dass Anele sie nicht hörte? … das notwendige Verbot des Bösen. Gab es keine Hoffnung für die Erde, gab es auch keine für Jeremiah oder für irgendeine Liebe. »Wird es nicht verboten, erhält sie Erdkraft«, sagte Anele hörbar besorgt und erschüttert. »Wird sie nicht mit den vergessenen Wahrheiten von Stein und Holz - von Orkrest und Verweigerung - bekämpft, erlangt sie Leben. Das wahre Lebensblut aus dem Innersten des Herzens der Erde. Trinkt die Schlange des Weltendes das Blut der Erde, gewinnt sie solche Macht, dass sie den Bogen der Zeit zerstören kann.« »Anele!«, rief Linden. »Welche vergessenen Wahrheiten?« Aber der Alte konnte sie nicht hören und schwieg. Vielleicht war er von seiner Prophezeiung erschöpft eingeschlafen. Zum Melenkurion Himmelswehr, dachte Covenant benommen. Natürlich. Nicht hier. Nicht in der Verlorenen Tiefe, auch nicht sonst wo unter dem Donnerberg. In diesen Tiefen hatte der Verwüster zu viel Böses verborgen. Die Schlange brauchte konzentrierte reine Erdkraft,
das Lebensblut der Erde. So rein wie der Orkrest. So rein wie der Zorn der Forsthüter, in deren Macht es gestanden hatte, zu verweigern, was sie nicht… »Geschafft!«, verkündete der Eifrige sichtlich befriedigt. »Alles ist wie vorhergesehen eingetreten. Und als einziger Insequenter bin ich Zeuge gewesen. Der Egger selbst hat kein einziges Wort davon gehört. Er macht sich nichts aus den Freuden solcher Erscheinungen.« Einige der Riesinnen ballten die Fäuste und funkelten den Insequenten unwillig an, doch die meisten ignorierten ihn. Die Gedemütigten beobachteten gleichmütig, wie Linden sich über Anele beugte. In Liands unstetem Licht schienen die Ramen zu schrumpfen, als würden sie durch den Verlust des weiten Himmels und der Ebenen, von Sonnenschein und der Ranyhyn kleiner. … das notwendige Verbot des Bösen. Wie hatte er das nur vergessen können?
7 Das Wagnis überqueren
Linden Avery hatte das Gefühl, gleichzeitig in verschiedene Richtungen gezogen zu werden. Ihr blieb keine Zeit, zu verstehen, was sie hörte oder spürte oder brauchte. Während sie im unsteten Licht von Liands Orkrest an Aneles Seite kniete, merkte sie, dass Covenants Verstand den Bezug zur Gegenwart verlor; fühlte ihn erneut abstürzen. Aber dagegen konnte sie nichts tun, gar nichts. Sein Dilemma überstieg ihre Fähigkeiten bei weitem. Ohne ihren Stab und seinen Ring kannte sie nur noch ein einziges Ziel: Jeremiah. Auch das konnte jetzt unmöglich geworden sein. Ihre Gefährten und sie waren auf der falschen Seite einer bodenlosen Kluft versammelt. Dort unten lauert eine schreckliche Macht. Und die Kälte war inzwischen fast unerträglich. Dass der Egger sich durch Eide verpflichtet hatte, war Linden nur ein schwacher Trost. Dort kann niemand hinein, wenn nicht erst das Portal geöffnet wird. Der Schock, sich in dieser abgeschlossenen Höhle wiederzufinden, in der sie kaum atmen konnte und die ihren Gesundheitssinn beeinträchtigte, war weniger groß als ihre Angst, der Egger werde es vielleicht nicht schaffen, das Portal zur Verlorenen Tiefe zu öffnen. Die Schlange des Weltendes kam ins Land. Hier wird sie ihre endgültige Nahrung entdecken … Das wahre Lebensblut aus dem Innersten des Herzens der Erde. Linden konnte sich nicht vorstellen, wie jemand so viel Macht finden und gebrauchen sollte, dass er die Schlange des Weltendes stoppen konnte. Vielleicht wären Covenant und wilde Magie früher dazu imstande gewesen. Aber sein Verstand arbeitete unzuverlässig, und Linden hatte seinen Ring dem Egger überlassen. Allerdings glaubte sie nicht, dass es dem Egger gelingen würde, Covenants Ring zu behalten. Sie hielt es nicht einmal für wahrscheinlich, dass es ihm gelingen würde, ihren Stab zu behalten. Er verließ sich zu sehr darauf, dass Wesen wie Esmer und die Elohim nicht imstande waren, Jeremiah aufzuspüren. Und es gab weitere Feinde …
Zum Teil hatte sie dem Egger auch nachgegeben, weil sie vermutete, dass stärkere Kräfte als ihre menschliche Verzweiflung seine Absichten in Bezug auf ihren Sohn durchkreuzen würden. Aber zuerst musste das Portal geöffnet werden. Durch einen Fehler, durch jeden Fehler, konnte der Egger den fragilen Brückenbogen zerstören und dadurch Jereamiahs Los besiegeln. Ihr Stab des Gesetzes und Covenants Ring würden auf ewig verloren sein. Und: Dorf unten lauert eine schreckliche Macht - eine weitere Warnung, die Linden nicht ignorieren durfte. Äußerlich wirkte Linden ganz ruhig. Ihre Hände zitterten nicht. Die eigene Atemwolke nahm ihr nicht die Sicht. Trotzdem erschauderte ihr Herz, als wäre ihr zu kalt, um sich bewegen zu können … … so kalt, wie ihr in jenem vergangenen Winter im Land gewesen war, in dem Roger Covenant und der Croyel sie verraten hatten. Schließlich ergriff Raureif Kaltgischt mit rauer Stimme das Wort. »Zweifellos haben wir wertvolle Einsichten gewonnen, und in diesem Punkt hat der Eifrige wahr gesprochen. Auf diese Weise haben wir von der gefährlichen Lage der Welt erfahren, was sonst nicht möglich gewesen wäre. Trotzdem hat das keinen Bezug zur Gegenwart. Es ist nur wichtig, wenn es uns gelingt, Linden Riesenfreundins Sohn zu befreien und den Gefahren dieser Unterwelt zu entgehen.« Keinen Bezug zur Gegenwart. Ja. Die Stimme der Eisenhand schien alle ihre Riesinnen aus den Schatten zu holen, die Liands unstete Lichtquelle warf. Ihr Tonfall stellte ihre gewohnte Stabilität wieder her. Linden glaubte hören oder spüren zu können, wie die Echos der ausgestorbenen Gräuelinger zurückwichen. … wenn wir nicht beides tun… Vom Geschmack der abgestandenen Luft angewidert, holte sie widerstrebend tief Luft. Die Atmosphäre in der Höhle stagnierte zu sehr, als dass ein bloßer Orkrest viel hätte bewirken können. … wenn wir nicht beides tun … Kaltgischt hatte den Bann von Aneles Äußerungen gebrochen. Nun war Linden an der Reihe. Aber sie wollte zu viel gleichzeitig. Wollte dem Egger helfen oder ihn zumindest warnen, Anele verstehen und Covenant auffangen, den sie innerlich zusammenbrechen fühlte. Glaubte, ihr genüge es, Jeremiah zu finden, ihn ein letztes Mal in die Arme zu schließen - oder versuchte
zumindest, es zu glauben. Aber es war nicht die ganze Wahrheit. Sie musste dafür sorgen, dass er von dem Croyel befreit wurde. Und sie würde niemals ohne Covenant leben können. Um ihrer selbst willen sollte Covenant wieder ganz werden. Dann würde sie sich seine Wiedererweckung vielleicht verzeihen können. Aber er war auch aus weniger selbstsüchtigen Motiven wichtig. Wenn sie in diesem Dunst aus Stagnation und eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit schon nicht klar denken konnte, konnte sie sich zumindest bewegen. Auf die Beine kommen. Etwas unternehmen. Vom Herzen ausgehend durchlief ein Zittern ihren Körper. Es nutzte nichts, sie war zu schwach. Schon die kleine Anstrengung, den Kopf zu heben, war zu viel für sie. Nach kurzer Pause fragte Mähnenhüter Mahrtür zögernd: »Ist es denkbar, dass auch der Egger wahr gesprochen hat?« Das klang zaghaft, als wäre er sich seiner selbst nicht sicher. »Was er mit dem Weißgold und dem Stab des Gesetzes und dem Sohn der Ring-Than vorhat… reicht das aus, um die Schlange auf- und sie vom Blut der Erde fernzuhalten?« Stave antwortete nüchtern: »Aneles Worte lassen etwas anderes vermuten. Seiner Ansicht nach ist die Erinnerung an das erforderliche Wissen nur hier zu finden. Der Egger versteht die Schlange nicht.« »Dann liegt die Last auf den Schultern des Zweiflers«, stellte Galt fest. »Die Versprechen des Eggers sind hohl.« »Durchaus nicht«, wandte der Eifrige ein. Er sprach laut, aber sein besorgter Blick und die hektisch geröteten feisten Backen straften seinen Tonfall Lügen. Trotz der Kälte war sein Gesicht mit Angstschweiß bedeckt. »Zweifellos kann er nicht alle Dinge bis zu ihrem Ende voraussehen. Und vielleicht werden seine Absichten manchmal durch Arroganz oder Unwissenheiten beeinträchtigt. Trotzdem muss er seinen ursprünglichen Schwur halten. Tut er es nicht, geht er in Wahnsinn zugrunde. Die Insequenten, die mich beauftragt haben, ihn zu kontrollieren und zu unterstützen, sehen einen möglichen Ausgang und zugleich einen anderen voraus. Manche sagen Weisheit und Rechtfertigung vorher, wo andere nur Anzeichen für einen Misserfolg sehen. Möglicherweise sind beide gleich einsichtsvoll, gleich inspiriert und mit Irrtümern behaftet. Daraus schließen sie, dass das Schicksal der Erde zu komplex ist, um
sich sicher vorhersagen zu lassen. Deshalb bin ich entsandt worden, um in Zweifelsfällen zu entscheiden. Vielleicht glaubt a-Jeroth von den Sieben Höllen, die Zukunft deutlich sehen zu können. Tut er das, vertrauen die Insequenten darauf, dass er sich irrt.« »Vermutlich hast du recht«, sagte Covenant abrupt. »Aber worauf willst du hinaus?« Seine Stimme riss Linden aus ihrer Unbeweglichkeit, und plötzlich stand sie wieder und beobachtete Covenant, der im Schutz der Gedemütigten aus sicherer Entfernung in den Abgrund starrte. Linden hatte sich genügend Gesundheitssinn bewahrt, um zu erkennen, dass Covenant nicht in die Gegenwart zurückgekehrt war. Er war ein Prophet aus der Vergangenheit, der mit Geistern sprach. Auf dem Irrweg durch seine Erinnerungen antwortete er auf Fragen, die kein jetzt lebendes Wesen gestellt hatte. »Ihr könnt sie nicht töten«, knurrte er, als widerte seine Antwort ihn an. »Ist sie nicht so alt wie Lord Foul, könnte sie es doch fast sein. Und sie ist ebenso gefährlich geworden. Der einzige Unterschied ist, dass sie nicht denkt. Sie fühlt. Er strebt nach Dingen, die sie sich nicht einmal vorstellen kann - und er ist weit geduldiger. Die meiste Zeit verbringt sie schlafend, weil sie keine andere Möglichkeit weiß, ihre Frustration zu ertragen.« Dann schien Covenant in eine neue Spalte geraten zu sein. Er verstummte. Seine verbundenen Hände zuckten, als wollten sie etwas Greifbares festhalten - eine grundlegende Tatsache oder Einsicht, an die er sich klammern konnte. Aber er fand keine. Liand räusperte sich. »Linden.« Er war hörbar bemüht, weniger eingeschüchtert zu klingen als Mahrtür. »Der Egger macht nichts. Versucht er irgendeine Anrufung oder Beschwörung, tut er es schweigend, bewegungslos. Sollte sein Wissen sich als ungenügend erweisen …« Der Steinhausener seufzte und verstummte. »Die Insequenten«, verkündete Clyme ernst, »überschätzen ihre Fähigkeiten oft. Mit ihren Künsten überrumpeln sie die Ahnungslosen, aber sie können sich nicht selbst retten.« Der Eifrige schien protestieren zu wollen, schluckte seine Worte aber
doch hinunter. Ganz wie Covenant stand Linden einen Augenblick lang einfach nur da, als wäre auch sie in Erinnerungen gefangen, aus denen sie nicht entkommen konnte. Aber ihr gelang es, sich notwendige Dinge ins Gedächtnis zurückzurufen. Der Egger hatte ihr einst erklärt, er wolle diesen seltsamen Stock, an den sie sich klammere, als könnte er sie, Linden, beschützen. Den Stab des Gesetzes, ihren Stab. Mit wilder Magie und Trauer und Liebe hatte sie die Lebenskraft Vains und Findails zu einem Werkzeug des Gesetzes verschmolzen. Unter dem Melenkurion Himmels wehr hatte ihr Stab sich im Kampf schwarz verfärbt. Vor zehntausend Jahren hatte Caerrroil Wildholz ihn durch Runen definiert. Sein Lehrenwissen hatte dazu beigetragen, Covenant wiederzuerwecken. Weiterhin begehre ich den Ring aus Weißgold, den du unter deinem Gewand verborgen trägst. Wilde Magie. Die Krux und der Schlussstein des Bogens der Zeit. Der Ring verkörperte im Prinzip Thomas Covenants Geist in der kostbaren, aber doch nicht ganz reinen Goldlegierung seines Eherings: Symbol und Manifestation seines vergänglichen Menschentums. Und zuletzt will ich den grenzenlosen Zorn aus der Mitte deines Herzens. Er wird mich nähren, wie es die Dämondim nicht konnten. Damals hatte Linden ihn nicht verstanden; jetzt aber begriff sie. Er hatte das Erbe des Galgenbühls angesprochen. Ihr Zorn und ihre emotionale Extravaganz sollten ihm helfen, Jeremiah und dem Croyel seinen Willen aufzuzwingen. Aber die Mahdoubt hatte ihn daran gehindert, sich Linden zu unterwerfen, und nun wusste Linden endlich den Grund dafür. Anders als der Egger wusste sie, dass zu dem Galgenbühl mehr gehörte als Wut und Morden, Tod und Vergeltung. Wozu hatte der Forsthüter der Würgerkluft ihr sonst eine Frage gestellt, die sie nicht hatte beantworten können? Ja, weil die Mahdoubt sich geopfert hatte, konnte Linden sich auf den Egger einlassen, ohne befürchten zu müssen, dass er sie vereinnahmen würde. Hatte er sie erst einmal zu Jeremiah und dem Croyel geführt, würde sie weiter imstande sein, um ihren Sohn zu kämpfen. Irgendwie. Jetzt nickte sie zu dem Egger hinüber und versuchte, auf das
erwartungsvolle Schweigen ihrer Gefährten zu antworten. »Ich sollte zu ihm gehen.« In ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme schwach und substanzlos wie eine Traumgestalt. »Um dieses Portal zu öffnen, braucht man mehr als Erdkraft und das Gesetz. Deshalb wollte der Egger nicht nur meinen Stab und Covenants Ring. Er wollte mich. Die Urbösen und die Wegwahrer könnten uns helfen, aber sie sind nicht hier, hätten uns nicht herbringen können. Der Eifrige sagt, dass er vorerst nichts tun kann. Und ich bin den Gräuelingern wenigstens schon einmal begegnet.« Du verfolgst einen Zweck, der nicht dein eigener ist, und hast kein Ziel. »Das ist mehr, als der Egger behaupten kann. Als er angefangen hat, sie zu studieren, waren sie längst ausgestorben. Was er über sie weiß, ist aus verschiedenen Quellen zusammengetragen. Ich sollte versuchen, ihm zu helfen, ehe er einen Fehler macht, der uns alle das Leben kostet.« Linden beobachtete weiter Covenant, weil sie hoffte, er werde sie hören und darauf reagieren, zwang sich dann aber, sich nach ihren Freunden umzudrehen. Sie sah nacheinander Liand, dann Mahrtür und seine Seilträger, zuletzt die Riesinnen an, bevor sie hinzufügte: »Außer jemand von euch hat eine bessere Idee.« Liand konnte seine Sorge nicht verbergen und versuchte es auch gar nicht. Er schien den größten Teil seiner Kraft darauf verwenden zu müssen, den leuchtenden Orkrest hochzuhalten. Der Mähnenhüter senkte den Kopf, als wollte er seine Verwirrung, seine Schwäche tarnen. Pahni klammerte sich an Liands freien Arm und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, als suchte sie dort Trost. Bhapa schluckte mehrmals, machte den Mund auf und zu, schien Worte für seinen Kummer zu suchen. Dann sah er sich hilflos um und gab auf. Die alle anderen hoch überragenden Riesinnen erwiderten Lindens Blick offen. Einige von ihnen wirkten leicht verlegen, vielleicht weil es ihnen widerstrebte, sich ihre Unsicherheit und Besorgnis anmerken zu lassen. Graubrand und Rahnock studierten Linden, als versuchten sie ihre Fähigkeit abzuschätzen, sie zu überraschen. Aber Raureif Kaltgischt grinste wie die Klinge eines Krummsäbels: kalt und mit rasiermesserscharfer Schneide. »Linden Riesenfreundin, wir haben typisch riesenhaften Leichtsinn bewiesen, als wir uns dafür entschieden, den Egger zu begleiten. Diese
Unklugheit jetzt widerrufen zu wollen, würde uns in den Augen aller, die unsere Geschichte hören werden, Schande machen.« Die Eisenhand zuckte übertrieben mit den Schultern. Ernsthafter fuhr sie fort: »Untätig zu verharren, bewirkt nichts. Covenant Zeitenherr hat uns gewarnt, und wir täten gut daran, auf ihn zu hören. Findest du, dass deine Bekanntschaft mit den Gräuelingern oder deine Vertrautheit mit dem Stab des Gesetzes dem Egger helfen könnte, hoffe ich nur, dass er dein Angebot nicht ausschlägt.« Die anderen Schwertmainnir nickten. Nur Galt und Branl schüttelten den Kopf, und Clyme fragte: »Welche Magie besitzt du noch, Linden Avery, die unsere Bedürfnisse erfüllen kann? Hast du dich nicht freiwillig aller wichtigen Ressourcen beraubt?« Noch ehe Linden antworten konnte, hob Mahrtür ruckartig den Kopf, trat einen Schritt vor. »Was geht dich das an, Schlafloser?« Die alte Feindseligkeit gegenüber den Meistern machte seine Einschüchterung wett. »Ihr habt klargemacht, dass ihr euch nur dem Zeitenherrn verpflichtet fühlt. Warum behindert ihr die Ring-Than bei einem Versuch, der ihn ebenso retten kann wie uns?« »Spätere Ereignisse …«, begann Clyme. »… könnt auch ihr nicht voraussehen, Haruchai«, warf der Eifrige unerwartet ein. »Die Lady wünscht ihren Sohn zu befreien. Welche sonstige Rechtfertigung für ihr Tun verlangt ihr noch?« »Spätere Ereignisse«, wiederholte Clyme, »werden vielleicht zeigen, dass die Lady, wie du sie nennst, ihre Entweihung fortsetzen will. Hat die Mahdoubt nicht unter Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft, die Kapitulation zu verhindern, die Linden Avery jetzt plant?« »Schluss jetzt!« Linden schlang die Arme um ihren Oberkörper, um nicht sichtbar zu zittern. »Ich werde nicht kapitulieren. Tue ich das, sehe ich Jeremiah nie wieder. Dann bleibt nichts von mir übrig.« Auf alles andere hatte sie bereits verzichtet. »Zügelt euren Stolz«, forderte Stave die Gedemütigten auf. Das klang distanziert und uninteressiert, aber die Lichtreflexe in seinem Auge erweckten den Eindruck, als lachte er leise. »Keine Tat, kein Wagnis der Auserwählten kann das Gewicht der Anwesenheit des Zweiflers oder eurer Treue zu ihm mindern. Im Guten wie im Bösen bleibt er Ur-Lord Thomas Covenant, der Zweifler. Und hat er euch nicht befohlen, sie
gewähren zu lassen? Solange ihr keine andere Anweisung habt, dient ihr ihm schlecht, wenn ihr euch gegen seine Wünsche aussprecht.« Falls die Gedemütigten über Staves Ratschlag oder ihre eigenen Verpflichtungen diskutierten, taten sie es schweigend. Jedenfalls erhoben sie keine weiteren Einwände. »Also gut.« Linden gab sich keine Gelegenheit, noch länger zu zögern. Auch wenn ihr nicht leicht schwindlig wurde wie Covenant, lauerten in den Tiefen der Höhle trotzdem unzählige Schrecken. Hätte sie sich die Zeit genommen, über sie nachzudenken … »Bleibt hier«, forderte sie daher ihre Freunde auf. »Kommt erst nach, wenn ihr seht, dass ich - oder der Egger - Erfolg gehabt haben. Es hat keinen Zweck, dass ihr schon jetzt etwas riskiert. Und ich glaube nicht, dass Krill oder Orkrest hier viel nützen können.« »Mach dir um uns keine Sorgen«, antwortete Kaltgischt trocken. »Niemand von uns will in dieser Schreckenskluft den Tod finden.« »Gut.« Linden nickte, mehr um sich selbst Mut zu machen, als Zustimmung auszudrücken. »Solange Liand die schlimmsten Auswirkungen von Kevins Schmutz zurückdrängt, könnt ihr vermutlich von hier aus verfolgen, was dort drüben passiert.« Während ihre Gefährten warteten und zusahen, atmete Linden tief durch und setzte sich in Richtung Brücke in Bewegung. Als Stave Anstalten machte, sie zu begleiten, schickte sie ihn nicht zurück. Aus ihrer angstvoll zögerlichen Perspektive wirkte die Brücke - das Wagnis - schmaler und weniger massiv als beim ersten Anblick. Für ihren Bau haben sie alles riskiert. Wer sie waren. Wie sie sich selbst sahen. Genau wie Linden alles riskierte. Und die Decke der gewaltigen Höhle ragte dräuend wie Gewitterwolken über ihr auf. Hell-dunkel-Reflexe huschten einem Wetterleuchten gleich über die Stalaktiten, und jeder dieser mächtigen nassen Tropfsteine war schwer genug, um die Brücke zu zerschmettern, wenn er abbrach und auf sie fiel. Stave ging so dicht neben ihr, dass ihre Schultern einander streiften. Trotz ihrer Angst um ihn - um alle ihre Gefährten - begrüßte Linden den Beistand, den seine übermenschliche Stärke, seine scharfen Sinne ihr gewährten. Seine unbedingte Loyalität konnte eine wertvolle Stütze sein, wenn oder falls ihre Ängste sie zu lähmen drohten.
Eigentlich ganz leicht, versicherte Linden sich selbst, als sie und der ehemalige Meister gemeinsam den Bogen des Wagnisses betraten. Ein kurzer Weg, kaum zweihundert Schritte lang. Ließ sie ihren Blick auf die gegenüberliegende Felswand gerichtet, ohne in die Tiefe zu sehen … Trotzdem schien der schwarze Abgrund nach ihr zu greifen, als wollte er sie von der Brücke reißen. Und die Finsternis schien zu leben. Linden konnte noch immer die gespannte Aufmerksamkeit ihrer Freunde hinter sich spüren; nur Covenant ließ nicht erkennen, ob er merkte, was sie tat. Aber sie entfernte sich mit jedem Schritt weiter von Liand und dem Licht. Als das Leuchten seines Sonnensteins abnahm, wurde auch ihr Gesundheitssinn schwächer. Bald würde sie ihre Gefährten gar nicht mehr wahrnehmen können. Außer sie drehte sich nach ihnen um … Sie kam sich feige vor, als sie Stave leise bat: »Lass nicht zu, dass ich falle. Diese Kluft… Sie zieht mich an.« Staves Schulter berührte die ihrige. »Sogar hier, Auserwählte, sehen wir Haruchai nur etwas schlechter. Unser Sehvermögen ist weitgehend intakt. Dieser Steinbogen ist sicher. Das Gewicht aller Riesinnen könnte ihn gefährden. Das unsrige tut es nicht.« Er überlegte kurz, dann fügte er hinzu: »Dennoch dürfen wir nicht zaudern. Hier lauert Böses. Seiner Bösartigkeit fehlt das typische Übelwollen des Verächters, aber es ist trotzdem böse.« Linden glaubte ihm; sie vertraute auf seine Wahrnehmungen. Das Licht wurde schwächer, als der Brückenbogen weiter anstieg, und die sauerstoffarme Luft ließ ihre Lunge schmerzen. Mit jedem Schritt gelangte Linden tiefer in winterliche Erinnerungen an klirrende Kälte voller Manipulation und Verrat, an Jeremiahs Versklavung. Als ihr Wahrnehmungsvermögen abnahm, verlor Linden auch die Fähigkeit, den Egger zu sehen. Sein graubraunes Gewand war jetzt nicht mehr von dem dunklen Portal zu unterscheiden. Hätte er einen Zugang gefunden und ihn ohne sie durchschritten, hätte sie nichts davon gewusst. Aber Stave hätte es ihr natürlich gesagt … Und der Insequente hatte einen Eid geleistet. Die Beschränkungen, die der Mahdoubt den Tod gebracht hatten, galten auch für ihn. Auf beiden Seiten des Wagnisses lief Wasser unaufhörlich in kleinen Rinnsalen die Stalaktiten hinunter und fiel wie böse Omina; dann überschritten Stave und sie den Scheitelpunkt der Brücke und stiegen ins
Dunkel ab. Linden war praktisch blind, und eine irrationale Gewissheit, dass sie begann, zum ungeschützten Brückenrand hin abzudriften, ergriff von ihr Besitz. Eisige Finger drangen durch ihre Kleidung, um ihr Fleisch zu martern, und sie konnte das Wimmern, das ihr in der Kehle steckte, kaum zurückhalten. Dann fasste Stave sie am Arm, um sie zu stützen. »Beruhige dein Herz, Auserwählte«, sagte er. »Der Egger erwartet dich. Er scheint die eigenen Bemühungen eingestellt zu haben. Jetzt sieht er dir misstrauisch und hoffnungsvoll entgegen. Ich glaube, dass er die Folgen eines Fehlers fürchtet - und dass diese Angst ihn gelähmt hat. Er wird deine Hilfe annehmen, denn seine Alternative heißt Demütigung und Tod.« Linden verließ sich darauf, dass Stave das Verhalten des Eggers richtig deutete. Sie hatte keine andere Wahl. Nur sein zupackender Griff an ihrem Oberarm hinderte sie daran, auf die relative Sicherheit des breiten Granitbandes am Fuß der Brücke zuzuhasten. Sie wollte von dem Wagnis herunter. Während sie langsam ins Dunkel hinabschritt, wurde ihre innere Gewissheit, die Brücke werde Risse bekommen und einstürzen, so stark, dass sie Linden mehr zusetzte als schlechte Luft, Kälte und sogar ihr eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen. Ihr Herz pochte so laut, dass sie kaum hörte, wie Stave ankündigte: »Die Auserwählte kommt, um dir Hilfe anzubieten, Insequenter. Ein höflicher Mann würde sie mit Licht empfangen, um ihr den Weg zu erleichtern.« »Betrachtest du dich jetzt auch als Richter in Höflichkeitsfragen, Haruchai?«, fragte die geschmeidig tiefe Stimme des Eggers. »Wo du sonst ohne Rücksicht auf den Stand derer, denen du begegnest, nur kämpfst oder Verachtung bezeugst? Meine Kenntnis von Höflichkeit übersteigt die deinige ebenso wie meine Macht. Sieh her!« Vor Linden und kaum ein Dutzend Schritte entfernt erschien ein bernsteingelber Lichtschein, als alle Perlen, mit denen das Wams des Eggers bestickt war, gleichzeitig zu leuchten begannen. Sie gaben trübes Licht, das kaum mehr sehen ließ als den Insequenten und seine unmittelbare Umgebung, aber es reichte aus, damit Linden erkannte, wohin sie die Füße setzte. Die Brücke endete an einem starken Widerlager aus gewachsenem Fels unmittelbar vor dem hohen Portal, das den Eingang zur Verlorenen Tiefe
bildete. Das bräunlich gelbe Licht des Eggers reichte nur bis zur senkrechten Ebene des Portals; dort wurde es von reiner Schwärze aufgesogen, die glatt und undurchdringlich wie poliertes Ebenholz war. Trotzdem konnte Linden ihn und das Ende der Brücke recht gut sehen, und in der über ihr hängenden Dämmerung erkannte sie, dass der Torbogen mit fremdartigen Symbolen geschmückt war, die sie noch nie gesehen hatte. Auf beiden Seiten des Portals erstreckte sich das Felsband mehrere Schritte weit - breit genug, um auch den Riesinnen Platz zu bieten. Und in der Mitte dieser Granitfläche kniete der Insequente noch immer ebenso auf den Knien, wie Raureif Kaltgischt ihn geschildert hatte: auf einem Knie, Covenants Ring in einer erhobenen Hand an der Stirn, Lindens Stab vor sich auf den Fels gestützt. Die Kette, an der sie den Ring getragen hatte, hing leicht pendelnd zwischen seinen Fingern, als hätte Lindens Kommen seine Konzentration gestört. Seine unergründlichen Augen beobachtenden sie, wie verkleinerte Ausgaben der Tiefen der Höhle: menschlicher als die Kluft, aber kaum weniger tödlich. »Der Haruchai spricht von Unterstützung, Lady«, bemerkte der Egger in gespielter Verachtung, aber sein Versuch gelang nicht recht. »Glaubst du denn, dass ich irgendwelche Hilfe von dir benötige?« »Natürlich.« Ein letzter innerlicher Schwung trug Linden von der Brücke, und sie blieb vor Erleichterung zitternd stehen. Trotz der Kälte gab der dauerhafte Granit unter ihren Stiefeln ihr etwas Selbstsicherheit zurück. »Das hast du von Anfang an gewusst. Du hast versucht, dieses Portal allein zu öffnen, aber du kannst es nicht. Und du darfst keinen Fehler riskieren.« Als Stave ihren Arm losließ, umklammerte sie den seinigen als Stütze. »Diese Symbole …«, sagte sie mit einem Blick in die Höhe zu dem Insequenten. »Kannst du sie deuten? Was besagen sie?« Der Egger studierte sie, als reute ihn der Schwur, den die Mahdoubt ihm abgerungen hatte. »Ihre Bedeutung ist kein großes Geheimnis. Sie verkünden nur, dass hinter diesem Portal das Reich und die Wohnstatt der souveränen Gräuelinger liegt - Herrscher dieses Reichs, groß in Lehre und Wissen, kampfbereit gegen alle Eindringlinge. Und die Symbole raten jedem, der so viel Verstand besitzt, dass er sie lesen kann,
hier umzukehren. Wer dort unbefugt eindringt, stürzt sich nur selbst ins Verderben.« Dann zuckte er mit den Schultern. »Souverän oder nicht, die Gräuelinger sind längst ausgestorben. Von ihren Nachkommen haben nur die wenigen Urbösen und Wegwahrer überlebt, die sich manchmal bemühen, dir zu dienen. Das hier drohende Verderben fürchte ich nicht. Habe ich die Beschränkungen erst einmal aufgehoben, existiert kein Übel mehr, das mich schrecken könnte.« »Mit anderen Worten«, erwiderte Linden, »hast du nach wie vor keine Ahnung.« Ihre Verachtung war ebenso hohl wie die seinige: Sie fror zu sehr und fühlte sich zu eingeschränkt, musste zu angestrengt nach Atem ringen. »Ich kann dir helfen, glaube ich. Wenn du mich lässt.« »Dich ›lassen‹, Lady?«, meinte der Egger, als wäre dieser Gedanke nicht sonderlich interessant. »Ich hindere dich an nichts. In welcher Form wünschst du meine Erlaubnis?« Galgenbühl, hätte sie antworten können. Wut. Morden. So stellst du dir die Gräuelinger vor. So hätten sie auf Eindringlinge reagiert, glaubst du. Du denkst, dass ich Schwärze mit Schwärze öffnen kann. Doch Linden vergeudete ihre schwindenden Kräfte nicht mit dem vergeblichen Versuch, seine irrigen Auffassungen richtigzustellen. Vor Sauerstoffmangel war ihr bereits leicht schwindlig, und das Leuchten der Perlen des Eggers trug nichts dazu bei, die Luft zu reinigen. Bald würde sie zu schwach sein, um sich auch nur auf den Beinen zu halten. Keuchend erklärte sie: »Indem du mich meinen Stab gebrauchen lässt.« Noch ehe er etwas einwenden konnte, fügte sie hinzu: »Ich verlange ihn nicht zurück. Aber dass du ihn in der Hand hältst, blockiert mich irgendwie. Lass ihn mich nur anfassen.« Lass mich für kurze Zeit wieder ich selbst sein. »Lass mich ausleihen, was er leisten kann. Vielleicht kann ich mich durch die Wachen vorantasten. Sehe ich sie, kann ich das Portal vielleicht öffnen.« Während der Egger sie prüfend betrachtete, als suchte er ein Anzeichen für einen Täuschungsversuch, fragte Stave nüchtern: »Woher das Zögern, Insequenter? Wie kommt es, dass du die Hilfe der Auserwählten fürchtest, wenn die Verlorene Tiefe dich angeblich nicht schreckt?« Der Egger machte ein finsteres Gesicht, ging jedoch nicht auf Staves Herausforderung ein. Stattdessen musterte er Linden, bis er etwas
entdeckte, das ihn befriedigte. Dann nickte er. Er ließ die Kette an Covenants Ring einen Bogen beschreiben, als genügte das als gönnerhafte Geste, und sagte brüsk: »Versuch es also, Lady.« Linden fühlte sich unendlich schwach; am liebsten hätte sie sich auf dem Boden ausgestreckt und ihren Stab am unteren Ende berührt; mehr wäre nicht nötig gewesen. Aber Stolz oder Hartnäckigkeit hielten sie auf den Beinen, und so baute sie sich schlotternd vor dem Insequenten auf und bemühte sich, ihr Zittern zu unterdrücken. Dann streckte sie beide Hände aus und schloss die Finger um den Stab des Gesetzes. Der Kontakt mit dem warmen Holz glich einer Wiedergeburt. Sie konnte nicht beurteilen, wie sehr Kevins Schmutz sie beeinträchtig! hatte, bis ihre Nerven das heilende Pulsieren von Erdkraft und Gesetz, die präzise Aufklärung durch Caerroil Wildholz’ Runen fühlten. Nun erkannte sie, wie schwach und oberflächlich ihr Sehvermögen ohne Wahrnehmungsgabe gewesen war. Gott, wie hatte sie das nur ertragen? Wie hielten die Menschen des Landes, die niemals Gesundheitssinn besessen hatten, ihr Leben aus? Ihre Existenz in ihrer eigentlichen Welt, die sie verloren hatte, war durch ihre früheren Stunden oder Monate mit Covenant entscheidend umgewandelt worden. In dieser Zeit hatte sie gelernt, den spirituellen Kern aller Dinge - den unter allem verborgenen Lebenspuls aus Vitalität und Erstaunen - zu sehen und zu hören, zu berühren und zu schmecken. Sie wusste nicht, wer sie geworden wäre, wenn sie das Land nie erlebt hätte; aber sie ahnte, dass sie emotional verkrüppelt geblieben wäre - beschädigt und verzweifelnd wie ihre Eltern. Das Erbe des Selbstmordes ihres Vaters und des Todes ihrer Mutter hätten sie weiterhin definiert. Jetzt aber schien sich alles um sie herum erneut zu entfalten, aufzublühen, als wäre sie in eine neue Dimension der Realität eingetreten. Sie fühlte das verstockte Alter der Felsen unter ihren Stiefeln, die Gleichgültigkeit der abgestandenen Luft, die spezifische Stabilität und Belastbarkeit des Wagnisses, das schwerfällige Abwärtsstreben der Stalaktiten und das Gemenge aus Eilfertigkeit und Unterwürfigkeit, mit dem das Wasser sich sammelte, um die knorrigen Tropfsteine herabzufließen und wie Zeitenrinnsale in die bodenlose Kluft zu fallen. Sie nahm die Ängste und Begierden des Eggers, aber auch
Staves unbeirrbare Kraft wahr, als würden sie ihr direkt auf die Haut gedrückt. Sie wurde sich ihres eigenen Körpers bewusst - seiner angeborenen Unzulänglichkeiten, seines unbändigen Überlebenstriebs -, als leuchteten ihre Adern und Nerven, ihre Muskeln und Sehnen von innen heraus. Und in der Tiefe weit unter ihr spürte sie das Böse rastlos lauern … Aber das waren nur die passiven Wirkungen des Stabes. Sobald sie Erdkraft aus ihm zu ziehen begann, wich die Stagnation aus ihrer Lunge; sie konnte wieder frei atmen. Frische Energie durchströmte ihre Adern wie die Wirkung von Heilerde. Sie erkannte, wie Liand sich tapfer, aber zusehends müder abmühte, seinen Orkrest leuchten zu lassen; identifizierte jede einzelne Riesin, Mahrtür und seine Seilträger, die drei Gedemütigten. Sie fühlte Aneles Schlummer und Covenants zielloses Auf- und Abgehen. Sie hätte sogar die genaue Stelle bezeichnen können, wo Loriks Krill - in Pergament eingewickelt und voller ungeahnter Möglichkeiten - im Hosenbund von Covenants Jeans steckte. Trotzdem beanspruchten drängendere Empfindungen Lindens Aufmerksamkeit. Während der Egger sie gespannt musterte und Stave sie beobachtete, als hätte sich nichts verändert, nahm sie die Anwesenheit komplexer Theurgien wahr. Die Schwärze, die das Portal zur Verlorenen Tiefe ausfüllte, war nicht neutral; sie bestand aus brodelnden Magien. Sie waren keineswegs nur auf das Portal beschränkt, sondern erstreckten sich in langen Ketten und bildeten ein nachtschwarzes Geflecht um die gesamte Länge des Wagnisses. In mancher Beziehung erinnerten die schwarzen Stränge des Portals an Jeremiahs kunstvolle Bauten, und hätte Linden versucht, ihrem Fluss von einem Ort zum anderen zu verfolgen, hätte sie sich in einem Labyrinth ohne Ausgang wiedergefunden. Aber Jeremiahs Gebilde war eine Tür gewesen - eine nur für ihn benutzbare Tür. Das Geflecht um die Brücke hingegen diente der Zerstörung: Wurde auch nur ein einziger Strang angerissen, würde das Geflecht sich verwinden und dabei den Granitbogen zerstören - und im nächsten Augenblick würde die Brücke nur noch aus Gesteinstrümmern bestehen, die endlos in die Tiefe fielen. Beim ersten Ansturm von Erdkraft erkannte Linden, dass die Wächter des Wagnisses den Dämondim glichen. Ohne greifbare Form wären sie
Wille und Tat ausgeliefert, wenn es keinen alles umschließenden Zauber gäbe, der sie vor Auflösung bewahrt. Stell dir vor, sie seien durch Stränge aus Wissen und Zweck miteinander verbunden. Und der Egger hatte ihr erklärt, er habe den Trick gelernt, sie zu verinseln. Aber sein Wissen reichte offenbar nicht aus, um die hiesige Magie auszuschalten oder er war außerstande, die Ähnlichkeit zwischen der Art, wie die Gräuelinger den Dämondim Gestalt gegeben hatten, und dem Schutzmechanismus am Zugang zu ihrem verborgenen Reich zu erkennen. Er wusste nicht, wie man den Stab gebrauchte … In gewissem Ausmaß war das Geflecht, das die Brücke bedrohte, Talmi; ein Ablenkungsmanöver. Wer nicht versuchte, in die Verlorene Tiefe einzudringen, konnte die Brücke auch mehrmals unbeschadet überqueren. Das wirklich gefährliche Gewirr befand sich hier, von den kryptischen Symbolen des Torbogens eingefasst. Jede Berührung eines falschen Stranges würde die Katastrophe auslösen. Zupfte man dagegen an dem richtigen Strang, würde sich die Verlorene Tiefe öffnen. Und zerschnitt man diesen Strang, verlor das nachtschwarze Geflecht seine Fähigkeit, die Brücke zum Einsturz zu bringen. Ja, natürlich, dachte Linden und seufzte innerlich. Wenn die Sache nur so einfach wäre. Mit Erdkraft und dem Gesetz an dem richtigen Strang zu zupfen oder ihn zu durchtrennen, war vermutlich nicht weiter schwierig. Aber diesen Strang inmitten der die Sinne verwirrenden Lehren der Gräuelinger aufzuspüren, war bestimmt so mühsam wie die Suche nach der Zäsur, mit der die Dämondimhorde den Weltübel-Stein herbeigeschafft hatte. Und diesmal konnte sie sich nicht an den flüchtigen Spuren der Horde orientieren. Sie musste auch ohne das ihren Gesundheitssinn verstärkende Sekret der Urbösen und Wegwahrer auskommen. Aber das war nicht ihr einziges Problem. Als Linden ihre Wahrnehmungsgabe weiter ausgreifen ließ, machte sich das in den Tiefen der Kluft hausende bösartige Wesen plötzlich stärker bemerkbar. Ein paar ängstliche Herzschläge lang fürchtete sie, es erhebe sich - aber das tat es nicht. Linden erkannte jetzt die Wahrheit. Die Kreatur schien sich nur zu erheben, weil sie so gewaltig, so mächtig war. Und noch schlimmer: Sie war empfindungsfähig. O Gott, das Böse lebte
nicht nur, sondern besaß auch ein Bewusstsein. Es schlief - das konnte Linden spüren -, aber es war unruhig, zu bewussten Aktionen imstande. In ihrer Bösartigkeit übertraf diese Kreatur den Weltübel-Stein wie das Meer einen See, und diese Kraft richtete nur deshalb weniger Schaden an, weil sie so ungeheuer tief im Erdinneren vergraben war. Trotzdem erschien sie Linden schrecklicher als eine Horde von Skurj oder Sandgorgonen. Gegen ein Wesen dieser Art konnte nur wilde Magie helfen; der Stab des Gesetzes wäre machtlos gewesen. Als Linden nun in die Tiefe starrte, wurde ihr mit Schrecken klar, dass das Böse dort unten die Quelle von Kevins Schmutz war. Vielleicht unabsichtlich, aber eindeutig lieferte diese Kreatur die Energie, die Kastenessen, Esmer und der Wüterich Moksha umgeformt hatten, um ihren schädlichen Dunst entstehen zu lassen. Schafften sie und ihre Gefährten es nicht, Jeremiah zu befreien und mit ihm zu flüchten, ehe dieses Wesen ganz erwachte … Am liebsten hätte Linden jetzt Covenant zur Hilfe gerufen. Schließlich hatte sie ihn doch deshalb gezwungen, ins Leben zurückzukehren? Damit er ihr die Last abnahm, gegen Ungeheuer bestehen zu müssen? Ihr fehlte sein Instinkt für »unmögliche« Lösungen. Ohne ihn waren sie und Jeremiah und alle ihre Freunde verloren. Doch Covenant fand sich noch immer nicht in sich selbst zurecht. Während Linden zauderte, verlangte der Egger plötzlich: »Sprich, Lady.« Er war hörbar um Strenge in seiner Stimme bemüht, klang jedoch eher ängstlich. »Wolltest du mir nicht beweisen, dass ich deiner Hilfe bedarf?« Leiser fügte er hinzu: »Wir dürfen es nicht wagen, allzu lange hier zu verweilen.« Natürlich; er war lehrenkundig genug, um die Gefahr zu erkennen, die unruhig in der Tiefe schlummerte. Von eigenen Ängsten angestachelt, wandte Linden sich ihm ruckartig zu und fauchte ihn dann - den Stab noch immer in beiden Händen - an: »Du weißt nichts, habe ich recht? Du redest und redest, du erzählst uns gern, dass du die Welt retten wirst, aber du hast keine Ahnung, was zu tun ist, wenn diese Kreatur aufwacht.« Der Insequente zuckte zusammen. Irgendetwas in der Tiefe seiner Augen ließ auf Angst schließen. Trotzdem ließ er weder den Stab des Gesetzes noch den Weißgoldring los. In seinen Ruhmesträumen hatte er den Trick
gelernt, die Wächter zu vereinzeln, noch ehe seine Anwesenheit das in der Tiefe schlummernde Übel störte. »Dann will ich eingestehen, Lady«, flüsterte er heiser, »dass ich deine Hilfe wahrhaft brauche. Die Methode, Dämondim zu verinseln, greift hier nicht. Daher wollte ich das ungeschriebene Wissen aus der Tiefe deines Herzens. Deine Begegnung mit der uralten Theurgie der Würgerkluft - der Theurgie, die diese Runen geschrieben hat - hat dir ein Geheimnis enthüllt, auch wenn du es vielleicht selbst nicht verstehst. Ich hätte es zu gebrauchen gewusst, aber die Mahdoubt hat mich daran gehindert, es an mich zu bringen. Daher bleibt dies deine Aufgabe. Lady, wir gehen hier alle miteinander zugrunde, wenn du dich nicht in deine finsterste, unversöhnlichste Wut versetzt. Du musst Hass und Rache verkörpern oder sterben.« Linden funkelte ihn an, als wären ihre dunkelsten Leidenschaften auf ihn konzentriert. »Dieses Übel ist den Haruchai unbekannt«, warf Stave ein, »und zu fern, um deutlich wahrgenommen zu werden. Trotzdem erkennen wir, dass es noch schlummert. Vielleicht ist keine übermäßige Eile geboten.« Der ehemalige Meister hatte unrecht. Linden musste aus der Höhle und von dem Wagnis fort, ehe die Nähe von so viel Bösartigkeit ihre Nerven ruinierte. Fand und zerschnitt sie nicht genau den richtigen magischen Strang, würde sie Jeremiah niemals erreichen. Die Ranken der Gräuelinger umgaben nicht nur die Brücke, sondern reichten auch nach innen. Ein Fehler, der Linden hier unterlief, musste in der Verlorenen Tiefe ein Chaos auslösen und konnte Jeremiah für immer isolieren - oder töten. »Dann gib mir den Stab«, verlangte sie leise. »Lass ihn los. Ich gebe ihn dir zurück, wenn ich den Zugang gefunden habe. Halte ich mein Versprechen nicht, brauchst du die deinigen nicht zu halten. Das vergesse ich bestimmt nicht. Aber ich kann es nicht mit dir und dem Bann aufnehmen, solange die Gefahr besteht, dass das Ungeheuer in der Kluft aufwacht.« Der Insequente fletschte die Zähne zu einer barbarischen Grimasse: wild und drohend. Einen Augenblick lang glaubte Linden, er werde sich weigern und das ungeheure Risiko, das Portal selbst zu öffnen, auf sich nehmen. Seine Gier …
Aber unter der Maske scheinbarer Überlegenheit war seine Angst so groß wie die ihrige, und sie wuchs - und so bemühte er sich, seinen Stolz zu überwinden, und überließ ihr wortlos den Stab mit den eingeschnitzten Runen. »Auserwählte«, sagte Stave wie bestätigend. »Linden.« Linden nahm ihren Stab sofort entgegen und trat näher an das nachtschwarze Gewirr aus Magien heran, das ihren Weg zu Jeremiah versperrte, während sie mit aller Intensität die Anwesenheit Covenants herbeisehnte. Auch wenn er ihr nicht helfen oder sie anleiten konnte, würde er wenigstens verstehen, worin der Egger irrte. Thomas Covenant hatte die ehemaligen Bewohner dieses Orts aus der Perspektive des Bogens der Zeit gekannt. Er war Zeuge jeder Manifestation ihres gefährlichen Wissens geworden, hatte ins Herz ihrer absurdesten Geheimnisse geblickt. Er würde verstehen, dass der Insequente durch seine Gier irregeführt worden war. Das Wissen des Eggers über die Gräuelinger war zu neu: Er hatte es gewonnen, als ihr Selbsthass schon seit Jahrtausenden aus dem Land verschwunden war. Aber Linden hatte ihnen gegenübergestanden, als sie auf dem Höhepunkt ihrer Verachtung gestanden hatten. Und Covenant hatte sie gekannt, als sie zu Recht als bewundernswert und erhaben gegolten hatten. Nach Esmers Schilderung hatten sie in Höhlen gelebt, die reich geschmückt und majestätisch wie Schlösser waren, und ihre gewaltige Macht und ihr gesamtes Wissen in deren Ausgestaltung gelegt. Ein Erdzeitalter lang unterdrückten sie die schaurigen Übel, die in den Tiefen des Donnerbergs lauern … Covenant hatte Verachtung und Bestrafung schon längst den Rücken gekehrt, ehe Lord Foul ihn getötet hatte. Die schützenden Barrieren der Gräuelinger ließen sich durch keine Macht überwinden, die auf Zorn und dem Wunsch nach Vergeltung basierte. Wesen, die alles riskiert hatten, um das Wagnis zu errichten, hatten es nicht im Zorn getan und keinen Wunsch nach Vergeltung gekannt. Es sei denn, dachte Linden plötzlich, es sei denn, die Gräuelinger hätten ihre Barrieren errichtet, nachdem die Wüteriche sie gelehrt hatten, sich selbst zu hassen. Dann war es denkbar, dass nicht der Egger, sondern sie selbst unrecht hatte - dass sie im Begriff war, ihren letzten Fehler zu begehen.
Tief unter ihr bewegte sich eines der schaurigen Übel. Sein Schlaf war gestört. Unweigerlich würde es bald erwachen. Seine Ausstrahlung setzte Linden zu, bis ihre Zuversicht zerrüttet war. Als sie, von ihrer alten Lähmung befallen, zögerte, trat Stave näher an sie heran und legte seine Rechte auf ihre Schulter, als könnte er ihren inneren Aufruhr spüren. »In deiner Gesellschaft«, bemerkte er, »und nicht ohne Mühe habe ich gelernt, dass Zweifel wertvoll sein kann.« Er sprach untypisch beiläufig, als versuchte er bewusst, ihre Beklommenheit zu zerstreuen. »Andererseits liegt es in der Natur des Bösen, sich von Angst zu nähren, Misstrauen und Tatenlosigkeit aus Zweifel zu erzeugen. Und das Böse verführt, selbst wenn es schläft. Auserwählte, du musst dein Herz gegen seinen Lockruf verschließen. Sind die Sagen der Lords wahr, haben die Gräuelinger das nicht getan. So haben sie sich mit dem Verhängnis eingelassen.« Linden blieb keine andere Wahl: Sie musste sich auf ihren ersten Eindruck verlassen; darauf vertrauen, dass die wirre, sich selbst komplizierende Schwärze der Barriere keine Folge von finsterer Verbitterung und Selbsthass, sondern ein Ausdruck wachsamer Majestät war. Tat sie das nicht, würde sie in lähmender Untätigkeit verharren. Mit aller Kraft richtete sie sich auf, nahm die Schultern zurück und sogar eine Hand von dem Stab, um sich das Haar aus der Stirn zu streichen. Dann berührte sie kurz Staves Finger - eine kleine Dankesgeste - und nahm den geschnitzten ebenholzschwarzen Stab wieder in beide Hände. … verschließe dein Herz … Leichter gesagt als getan. Ihre Sinne gegen die schläfrige Wildheit des Übels abzuschotten, war schwierig. Aber sie hatte als Chirurgin in der Notaufnahme gearbeitet, war dafür ausgebildet, sich nur auf die Verletzung vor ihr zu konzentrieren. Mit dieser Art Konzentration hatte sie einst Jeremiahs verbrannte Hand operiert. Ohne an irgendetwas anderes zu denken, hatte sie ihm zwei Finger amputiert - und die anderen sowie den Daumen gerettet. Weil sie dies geschafft hatte, konnte er die verbliebenen Finger so geschickt gebrauchen wie ein Taschenspieler. Allmählich verlor die Aura des Übels die Kraft, zu stören und zu zerreißen. Strang für Strang konzentrierte Linden ihr Wahrnehmungsvermögen auf das sich windende Geflecht am Eingang zur Verlorenen Tiefe.
Es war dort, dessen war sie sich sicher. Der entscheidende Knoten, der die Krux oder den Eckstein der Barriere der Gräuelinger bildete, lag in dem Vexiergeflecht des Portals, nicht anderswo. Sonst hätten die Wesen ihr Reich nicht verlassen und wieder betreten können. Irgendwo in dieser nachtschwarzen Masse, die sich wie ein Schlangennest wand - dunkel wie Vipern, flink wie Nattern -, war der eine Theurgiestrang versteckt, der alle anderen unschädlich machen würde. Als sensorische Herausforderung war Lindens Aufgabe entmutigend, schien gar unmöglich zu sein. Außer dass die Barriere wimmelte, war sie eigenartig formlos: Sie wies keine Begrenzungen oder Unterteilungen auf; keine Formen außer denen von Strängen in steter Bewegung. Alle ihre Andeutungen führten zu Verwirrung. Aber als Linden ihre Ängste überwand, zeigte sich, dass sie nicht ganz ohne Ressourcen war. Ihre Begegnung mit den Gräuelingern hatte ihren Gesundheitssinn geprägt. Sie hatte ihre unheimliche Parästhesie kennengelernt. Sie konnte die Bedeutung der Stränge nicht erkennen; aber sie konnte hören, dass sie eine besaßen. Sie konnte die strikte Oberhoheit riechen, die sie bei ihrer Erschaffung durchdrungen hatte. Als sie ihre Sinne öffnete, konnte sie fast die nachlässige Gewandtheit schmecken, mit der die Gräuelinger diese Barriere errichtet hatten, die sie für eine triviale und weitgehend überflüssige Vorsichtsmaßnahme gehalten hatten. Nun wusste sie wenigstens bestimmt, dass der Egger sich getäuscht hatte. Geruch und Geschmack der Barriere drückten weder Zorn noch den Wunsch aus, jemandem zu schaden. Die Gräuelinger hatten sie aus Vorsicht, nicht aus Angst oder Hass errichtet. Linden, die den Stab nur dazu benutzte, ihre Wahrnehmung zu schärfen, streckte langsam eine Hand aus und ließ sie leicht über die Oberfläche des schwarzen Gewimmels gleiten. Durch diese Berührung hörte sie auf das Wissen, das diese Sperren geschrieben hatte. Es sprach keine Sprache, die Linden verstand. Das unbeschreibliche Wissen der Gräuelinger würde sie nie erfassen. Trotzdem war es präzise und folgerichtig wie Caerroil Wildholz’ Runen. Obwohl sie seine Bedeutung nicht enträtseln konnte, ließ sie sich von der bloßen Tatsache leiten, dass es Bedeutung besaß. Seine Logik floss mit Zweck und Ziel unter ihren Fingern hindurch.
In dieser oder jener Form führte jeder Strang, jede Andeutung, jeder geheimnisvolle Klang oder Geruch, zu den rätselhaft geheimnisvollen Absichten der Gräuelinger hin oder von ihm weg. Im Wesentlichen bestand ihre Aufgabe also daraus, Verständnis zu haben: Sie musste nicht die Barriere, sondern die Gräuelinger selbst verstehen. Das Gewirr ihrer Abwehrmaßnahme war ein Spiegelbild ihrer vielschichtigen Herzen. Vor Jahrtausenden hatte sie ihre beharrlich um sich selbst kreisenden Debatten, ihre vielfältig widersprüchliche Selbsterforschung wer und was sind wir? - gehört und geschmeckt und gefühlt. Und vor langer Zeit hatte Esmer sein Bestes getan, ihr die souveränen, voneinander isolierten Gräuelinger zu erklären. Ein Erdzeitalter lang hatten sie den Elohim geglichen: abgeschottet und unbeteiligt, an nichts interessiert, das ihre geheime Existenz nicht betraf. Aber wo die Elohim sich um nicht viel anderes als die Betrachtung ihrer inhärenten Schönheit gekümmert hatten, waren die Gräuelinger Schöpfer von Schönheit gewesen, die sich an ihrer Schöpferkraft begeistert hatten und trotz der Sterilität ihres Lebens von Natur aus kreativ gewesen waren. Und durch diese Kreativität, diesen Impuls, über sich selbst hinauszugreifen, waren sie auf die Idee gekommen, sich eine mögliche Welt vorzustellen, die sie übertreffen könnte. Anders als die Elohim waren sie imstande gewesen, sich solche Dinge vorzustellen. Dass die Gräuelinger durch ihre Öffnung nach außen letztlich in die Falle des Selbsthasses getappt waren, bekümmerte Linden. Aber diese Tragödie hatte keine Auswirkungen auf ihre jetzigen Bemühungen. Die Barriere hatten die Gräuelinger vor ihrem Aufbruch zur Selbstfindung errichtet - vor ihrer Suche nach einem Kontext, der ihre Definition ihrer selbst klären konnte. Aus ihrer Magie sprach die Geisteshaltung, in der sie ihre Suche begonnen hatten, nicht ihr betrübliches Ergebnis - Zorn und Ruin. Und tatsächlich: Unter den Strängen und Ranken war keine Spur eines Übels verborgen. In der Barrikade entdeckte sie nur Sehnsüchte. Der Sinngehalt der verschlungenen Magien floss hier zusammen: an einem bestimmten Kreuzungspunkt innerhalb des allgemeinen Aufruhrs. Sie konnte ihn nicht sehen, hören oder fühlen, aber die sensorische Verworrenheit der Gräuelinger war ihr vertraut, und sie ließ sich von
ihrer eigenen Desorientierung leiten. Danach vergaß sie das lauernde Übel, vergaß auch den Egger, und ihre Gefährten jenseits der Kluft beeinflussten sie nicht mehr. Sie brauchte sich nur an Staves ruhige Hand auf ihrer Schulter zu erinnern, um bereit zu sein. Durch seine unbeirrbare Treue gestützt, ließ sie einen dünnen Faden Erdkraft aus dem Stab austreten, und indem sie dem Geschmack von Lauten, dem Geruch von Schwärze, dem greifbaren Gewirr von Bedeutungen vertraute, führte sie ihren Faden behutsam in das Durcheinander aus Strängen. Ihr Faden war kaum mehr als ein Hauch, ein zu Gold gesponnener Wunsch. Aber sie war vorsichtig, unendlich vorsichtig. Sie stellte ihn den fließenden Strängen nicht entgegen, sondern ließ ihn mit dem Strom treiben, damit die getarnte Struktur der Barriere Erdkraft in ihr Herz mitnahm. Und als der Goldfaden den Nexus der Theurgie erreichte, handelte sie noch vorsichtiger. Kaum atmend - kaum zu denken wagend - wickelte sie ihren Faden um den entscheidend wichtigen Strang. Als sie den Strang mit Erdkraft umschlang, roch sie die Warnungen des Eggers, schmeckte den Griff von Staves Hand. Ominöse Farbwechsel ließen den Fels erbeben, auf dem sie stand. Um ihren Kopf kreisten wie ein Rabenschwarm rosarot und schwefelgelb glitzernde Leuchtpunkte von der Brücke, den Stalaktiten, den Höhlenwänden. Aber Linden ignorierte alles. Zumindest hier gab es keinen Raum mehr für Zweifel. Jetzt oder nie. Siegen oder untergehen. Jeremiah brauchte sie. Mit Eisen beschlagenes Holz auf Granit, ein kurzes Aufstoßen des Stabes zog den Faden fester. Ihr zartes Garn aus Erdkraft spannte sich wie Karmesinrot, roch straff wie Eisen. So kappte sie den entscheidenden Strang. Einen wilden Zeitschock, einen Augenblick stärkster Wirkung lang umschwirrten Illusionen von Nachtschwärze sie wie gebrochene Ankertaue, setzten ihr wie Furien zu. Ruinöse Schlangen flüchteten sich windend in alle Richtungen. Dann stand das Portal offen, und aus der Verlorenen Tiefe leuchtete perlmuttfarbenes Licht wie ein Willkommen. Hätte Stave sie nicht aufgefangen, wäre Linden zusammengebrochen. Sie brauchte seine Stärke, um ihre verwirrten Sinne vom Rande des Chaos zurückzuholen.
Anfangs schien das Leuchten zu wabern wie die Dampfwolken ihrer keuchenden Atemzüge. Sie glaubte, das sanfte Wogen seiner Pastelltöne wie die Düfte eines fernen Festmahls zu riechen; dann sanken ihre Wahrnehmungen in gewöhnliche Dimensionen zurück. Als der Egger sprach, klang seine Stimme menschlich. »Das, Lady …« Ihm schien vor Überraschung und Verwunderung die Stimme zu stocken. Als er fortfuhr, klang sie heiser. »Das muss ich neidlos anerkennen. Das war ausgezeichnet gemacht.« Aber dann schlug ihre Wirkung auf ihn durch: der Effekt ihrer Fähigkeit, ihn zu übertreffen. Nachdrücklicher forderte er: »Jetzt will ich meinen Stab zurück.« Irisierendes Licht in wechselnden Farbtönen glitzerte zwischen den Stalaktiten, füllte das hohe Gewölbe über dem Wagnis mit Andeutungen von Herrlichkeit. Linden nickte vielleicht. Oder auch nicht - das wusste sie nicht bestimmt. Sobald der Stab ihre Hand verließ, spürte sie erneut Kevins Schmutz, der sich fast augenblicklich wie ein Deckel auf sie herabsenkte, in sie einsickerte wie Gift. Ihr Gefühl, einen Verlust erlitten zu haben, war so stark, dass sie leise wimmerte. Sie war am Ende. Mehr konnte sie nicht tun. Irgendwo in der Ferne verkündete Raureif Kaltgischt: »Es ist so weit, Schwertmainnir. Linden Riesenfreundin hat uns den Weg geöffnet. Wir müssen unsere Schutzbefohlenen rasch und behutsam einzeln über das Wagnis tragen. Die Meister werden mit Covenant Zeitenherr tun, was getan werden muss. Der Eifrige soll selbst sehen, wie er zurechtkommt. Aber die anderen wollen wir sicher hinüberbringen.« »Tröste dich, Auserwählte«, sagte Stave halblaut. »Du warst erfolgreich, wo der Egger nichts ausrichten konnte. Du hast dir Zugang zum Verlies deines Sohnes verschafft. Wir werden ihn bald aufgespürt haben. Und wenn du ihn befreit hast, versetzt der Egger uns an einen Ort deiner Wahl. Dort lässt die grausame Wirkung von Kevins Schmutz nach, sodass du wieder du selbst bist.« »Gewiss«, bestätigte der Egger, »und ich wünsche keine weiteren Verzögerungen.« Das sagte er scharf, aber seine Forschheit war nur gespielt. Linden hatte ihn gedemütigt. »Die Vorsicht deiner Riesinnen steigert schon jetzt unsere Gefahr. Nur mein Schwur hindert mich daran,
vorauszueilen, während deine Schranzen trödeln.« Als Linden sich zu sammeln versuchte, merkte sie, dass ihre körperliche Verfassung sich rasch besserte. Das Leuchten aus dem Portal schien gegen Luftmangel und Kälte zu wirken. Die Luft blieb kühl, und ihre Lunge schmerzte bei jedem Atemzug. Aber sie konnte atmen, ohne zu frösteln - und ohne das Gefühl, vielleicht bald ersticken zu müssen. Irgendwie hauchte die restliche Theurgie der Verlorenen Tiefe der Atmosphäre um das Wagnis neues Leben ein. Und ihre Empfänglichkeit für das Übel in den Tiefen der Kluft war verschwunden: ein zweifelhafter Segen. Weil sie seinen Zustand nicht mehr beurteilen konnte, fürchtete sie aus einem Reflex heraus, es sei schon auf dem Weg nach oben. Andererseits beeinträchtigte die Wahrnehmung seiner Bösartigkeit nicht länger ihre Entschlusskraft. Ja, sie hatte ihren Stab zum zweiten Mal hergegeben und hätte am liebsten geweint. Aber Trauer war wie Bedauern ein Luxus, den sie sich nicht gönnen durfte - nicht hier. Als sie wieder ohne Staves Hilfe stehen konnte, drehte sie sich um und beobachtete, wie ihre Gefährten das Wagnis überwanden. Kaltgischt hatte das Ende der Brücke schon fast erreicht, und Onyx Steinmangold war mit Liand auf dem Arm über den Scheitelpunkt hinweg. Hinter ihr kamen die drei Gedemütigten, die Covenant sicher zwischen sich führten. Und am jenseitigen Ende warteten die übrigen Riesinnen darauf, Mähnenhüter Mahrtür, Pahni, Bhapa und Anele ins Licht zu tragen. Liand hatte seinen Sonnenstein erlöschen lassen, den Orkrest wieder in der Gürteltasche verstaut. Er wirkte müde, als er jetzt an Steinmangolds Brustpanzer lehnte. Covenant schien Branl, Clyme und Galt ernsthaft etwas zu erklären; sein Geisteszustand blieb dabei jedoch ungewiss. Gegen Kevins Schmutz konnte die Magie der Verlorenen Tiefe nichts ausrichten. Der alles beeinträchtigende Smog war zu neu, um von der aufgegebenen Lehre der Gräuelinger beeinflusst werden zu können. Als Kaltgischt Linden, Stave und den Egger erreichte, bedachte sie Linden mit einem anerkennenden, stolzen Lachen. Nun waren Spätgeborene und Mahrtür auf der Brücke. Hinter den übrigen Riesinnen, in der Nähe des geäderten Fächers aus Obsidian, war der Eifrige fast kugelförmig in seine Bänder gehüllt, als kauerte er sich
zusammen vor Furcht. Sobald Steinmangold Liand abgesetzt hatte, hastete er zu Linden hinüber; schloss sie kraftvoll in die Arme. Dann trat er stirnrunzelnd zurück, um sie besorgt zu mustern. »Linden …«, begann er. »Diese Blindheit regt mich auf. Ich kann nicht erkennen, ob … Haben deine Anstrengungen dir etwa geschadet?« Frostherz Graubrand folgte Spätgeborener, während Sturm-vorbei Böen-Ende mit Anele auf sicheren Abstand zu ihr achtete. Linden schüttelte den Kopf. Sie wusste keine andere Antwort. Der Egger biss sich auf die Unterlippe, spielte mit den Fingern, war erkennbar ungeduldig. Aber er drückte seine Frustration nicht mit Worten aus. Rahnock mit Pahni. Rüstig Grobfaust mit Bhapa. Spätgeborene erreichte das Felsband vor dem Portal, setzte Mahrtür aber nicht ab, als sie sicheren Boden unter den Füßen hatte - und er verlangte es auch nicht. Ohne Wahrnehmungsvermögen war er gänzlich blind; hilfloser als Anele, der an Böen-Endes Brustpanzer gelehnt weiterschlief. Unter seiner Augenbinde war der Mähnenhüter schlimmer versehrt als Zirrus Gutwind, die eben als letzte Riesin über die Brücke kam. Sie hatte nur eine Hand und den Unterarm verloren … Der Eifrige blieb weiterhin eng in sein Bändergewand gewickelt. Wenige Augenblicke später gelangten Rahnock und Grobfaust bei ihren Gefährtinnen an. Dann passierte Gutwind den Scheitelpunkt der Brücke und der Eifrige stand wie zuvor bewegungslos da: ein schwachbunter Klumpen, der am Eingang des Tunnels hinter ihm kaum zu erkennen war. »Feigling«, knurrte der Egger unwillig. »Klotz am Bein. Jammergestalt. Wahrlich eine Verkörperung des Willens aller Insequenten. Und dafür habe ich hingenommen, dass meine Pläne beeinträchtigt wurden.« Komm schon!, dachte Linden schwach. Sie fühlte sich dem Egger gegenüber körperlos wie die Gräuelinger, hilflos wie die Dämondim. Wir müssen Jeremiah retten. Dort unten lauert eine schreckliche Macht. Zuvor hatte der Eifrige seine Ängste beherrschen können, so schlimm sie auch gewesen sein mochten. Jetzt schien er das nicht mehr zu können, obwohl Linden die unmittelbare Gefahr beseitigt hatte. Was also fürchtete er wirklich? Sein Widerstreben ließ sie vermuten, er habe nicht
die Wahrheit über sich erzählt - oder nicht die ganze Wahrheit. Als Gutwind jedoch das Wagnis hinter sich brachte und ihren Gefährtinnen befriedigt zunickte, bewegte sich der dicke Insequente. Im Schatten der Brücke begann er, die bunten Stoffstreifen seines Gewands zu lockern, wurde in der Ferne scheinbar größer, als Farben und Bänder sich streckten, bis sie ihn mit einer Art Aura umgaben. Ihr Fächeln glich einem Zittern: zaghaft und unbestimmt wie Dampfschleier. Trotzdem hatte er ein Mittel gefunden, seine Ängste zu zügeln, oder wurde von anderen Kräften angetrieben. Von wogenden Bändern gehoben, begann er plötzlich, über dem Fels zu schweben. Und sobald er Höhe gewann, trugen Farben, die mächtig wie Beschwörungen waren, ihn vorwärts. In einer Wolke aus Bändern schwebend bewegte er sich in Richtung Brücke. Dann stieg der Eifrige noch höher, gewann mit jedem Wogen seines Gewandes mehr Schwung. Lächerlich und majestätisch zugleich schwebte er in die Höhe, bis sein Kopf ins Licht aus der Verlorenen Tiefe geriet. Einige Bänder trugen ihn, indem sie sich auf die Brücke stützten; andere verankerten sich zwischen den Stalaktiten. Während er über die Kluft segelte, veränderten sie ihre Ankerpunkte, um ihn schwebend zu erhalten. Vielleicht bildete er sich ein, durch diese Art der Fortbewegung der Aufmerksamkeit des Bösen in der Kluft entgehen zu können. Der Egger schlug ein humorloses Lachen an. »Der Eifrige verkörpert in der Tat alle Wünsche und Fähigkeiten der Insequenten. Seine Ängstlichkeit und Arroganz sind typisch für unser Volk. Darin zeigt sich, wie töricht ihr Anspruch ist. Für die Erde wäre es besser gewesen, sie hätten nicht auf ihre Seher und Auguren gehört. Kommt!«, befahl er Lindens Begleitern gebieterisch. »Dieser Aufenthalt ist zwecklos. Auch durch Verlängerung wird er nicht sinnvoller.« Dann machte er sich mit verächtlichem Schnauben auf den Weg in die leuchtende Verlorene Tiefe. Niemand folgte ihm. Jeremiahs Not quälte Linden wie eine unbehandelte Verletzung. Sie hätte den Egger überholen sollen; hätte aus endlosen Tagen voller Kummer und Unzulänglichkeiten zu ihrem Sohn flüchten sollen. Aber sie war von der Öffnung des Portals noch körperlich und geistig erschöpft und fühlte
sich zudem außerstande, ohne Covenant und ihre Freunde weiterzuziehen - und von diesen bewegte sich niemand. Selbst Liand und Stave nicht. Stattdessen standen alle wie in Bereitschaft, während sie die Ankunft des Eifrigen beobachteten. Nur Covenant, Anele und Mahrtür achteten nicht auf den durch die Luft schwebenden dicken Insequenten. Und nur Covenant sprach. In den Abgrund spähend murmelte er: »Sie wird weiterwachsen. Immer wenn sie frisst. Immer wenn jemand, der nicht weiß oder sich nicht darum kümmert, wie gefährlich sie ist, hier herunterkommt.« Er ließ kein Anzeichen von Schwindel erkennen; offenbar erlebte er ein Gespräch, das vor langer Zeit stattgefunden hatte, erneut. Rosa und beige und zart grünlich beleuchtet machte der Egger fluchend halt, und schließlich begann der Eifrige nach dem Scheitelpunkt des Wagnisses seinen Abstieg, verkürzte die Bänder während er weitertrieb allmählich, sodass er auf die Brücke zusank. An ihrem Ende schwebte er nur noch zwei Handbreit über dem Fels und setzte dann sanft wie eine Seifenblase auf dem Felsband auf. Sein rundes Gesicht war gerötet, als hätte er die Grenzen seiner Ausdauer überschritten. Schweißbäche liefen ihm über Stirn und Wangen, färbte die an seinem Hals anliegenden Bänder dunkel. Seine Augen glitzerten im reflektierten Licht der pastellfarbenen Beleuchtung. Sobald der Eifrige wieder festen Boden unter den Füßen hatte, machte er zwei unsichere Schritte auf Linden zu, dann blieb er stehen. Obwohl er ihr zugewandt war, wich er ihrem Blick aus. »Der Wille der Insequenten ist ein Geas«, sagte er keuchend. »Ich kann ihm nicht widerstehen, auch wenn mein Herz leidet.« Vielleicht war das als eine Art Entschuldigung gemeint. »Ich muss mich überwinden. Tue ich es nicht, lasse ich dich und mein Volk, aber auch die lebende Erde im Stich.« Die »Eisenhand nickte. »Geas oder Tapferkeit«, antwortete sie, »beides hat ausgereicht. Und vielleicht musst du nicht wieder solche Gefahren bestehen. Der Weg steht nun offen. Haben wir erreicht, was wir wollten, werden der Egger und du uns aus diesen Tiefen fortbringen können, ohne dass wir die Brücke nochmals überqueren müssen.« An Linden gewandt fügte sie hinzu: »Gehen wir jetzt deinen Sohn suchen? Hier jedenfalls bewirken wir nichts.«
Linden gab keine Antwort. Sie fühlte sich von dem Schweiß auf dem Gesicht des Eifrigen, von der nackten Angst in seinem Blick wie hypnotisiert. Das Gefühl, am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt zu sein, ließ sie nicht los. Irgendein benommener Teil ihres Ichs steckte weiter im Gewimmel der nachtschwarzen Stränge der Barriere fest und wusste nicht, wie sie sie abschütteln sollte. Dann jedoch fasste Stave sie an dem einen und Liand sie an dem anderen Arm und drehten sie in Richtung des Eingangs. Als Linden den Egger, der ihren Stab und Covenants Ring in den Fäusten hielt, als Silhouette vor dem Mondsteinlicht sah, raffte sie sich aus ihrer Benommenheit auf. Auch wenn sie sich leer fühlte, hatte sie zu viel geopfert, um jetzt aufzugeben. Und so geleiteten Stave und Liand Linden vor den nachdrängenden Riesinnen hinab in die Verlorene Tiefe.
8 Reich geschmückte, majestätische Höhlen
Mit ihren Freunden, die sie wie ein Gefolge umgaben, betrat die Auserwählte das verlassene Reich und die Lehrenwerke der Gräuelinger. Sofort umgaben Kaltgischt und mehrere Schwertmainnir Linden, Stave, Liand und die Seilträger. Abenteuerlust stand ihnen ins Gesicht geschrieben, und sie trugen den Kopf hoch. Hinter ihnen folgten Sturmvorbei und Spätgeborene mit Anele und Mahrtür. Die Nachhut bestand aus den Gedemütigten, Covenant in ihrer Mitte. Der Egger war sich zu sicher, seine Feinde - die einzig wichtigen Feinde - besiegt zu haben. Er würde unvorbereitet sein - und darauf zählte Linden. Anfangs konzentrierte sie ihre schwindende Aufmerksamkeit ganz auf den Egger. Wie die Mahdoubt und der Egger, vermutlich sogar wie der Theomach in die Mittel und Symbole seines Geheimwissens gekleidet, wartete er weiter auf Linden. Selbst jetzt noch war er durch seine Eide gebunden. In seiner Ungeduld stieß er mit dem eisenbeschlagenen Ende des Stabes auf dem polierten Steinboden hinter dem Portal auf, aber dieser kleine Aufprall erzeugte lediglich Wölkchen aus Mondstein und Perlmut, die kurz schimmerten, ehe sie sich wieder auflösten. Als sie nahe genug heran war, um ihn von seiner Ungeduld zu erlösen, machte der Egger kehrt, um erneut die Führung zu übernehmen. Linden, die sich noch immer ganz auf den Egger konzentrierte, nahm ihre Umgebung kaum wahr, bis sie Liand geräuschvoll einatmen hörte oder fühlte und die halblauten Ausrufe der Riesinnen spürte. Unwillkürlich, als besäße sie an Willen und Kraft nur, was sie von ihren Gefährten erhielt, hob sie den Kopf und betrachtete den hoch gewölbten Vorraum, der in die Verlorene Tiefe führte. Sein Anblick schockierte sie wie eine tektonische Verschiebung: ein knirschendes Mahlen der Knochen der Erde, die so tief vergraben waren, dass seine Stoßwellen Stunden oder gar Tage brauchen würden, um sich an der Oberfläche bemerkbar zu machen. Sie konnte sich den Vorraum nicht als Höhle vorstellen, obwohl er so
groß wie jener zu sein schien, in der vor langer Zeit in Schwelgenstein das Sonnenfeuer genährt worden war. Der riesige Saal erstreckte sich höher und weiter, als ihre Sinne wahrnehmen konnten. Und jede Handbreit seiner Wände, der gewölbten Decke und des Fußbodens war glänzend poliert, sodass der Fels makellos glänzte. Tatsächlich war der bearbeitete Stein die Quelle des Leuchtens, das die Verlorene Tiefe erhellte. Alle Linien und Kurven, Ebenen und Bögen strahlten in eigentümlich sanftem Licht, das aus sich überlagernden, ständig wechselnden Farbtönen bestand. Bei jedem Herzschlag begegnete Linden eine neue Kombination aus blassestem Zinnober und zartestem Hellblau, dazwischen bloße Andeutungen von Senfgelb und Lindgrün und Lehmbraun. Der Saal an sich war riesig und wundervoll. Aber das war nicht der Auslöser für ihren Schock. Dieser Raum schien nur dafür geschaffen worden zu sein, etwas aufzunehmen, das ein Kunstwerk gewesen sein musste; die Verfertigung von Schönheit und Staunen … Ganz ohne Zweifel war der Saal von Lieblichkeit erfüllt. Durch ihr Eintreten waren Linden und ihre Gefährten bereits in die Außenbereiche eines kunstvoll erbauten Schlosses gelangt, das reich an Schönheit und fantasievoller Großzügigkeit war. Das Gebilde war nicht massiv, bestand vielmehr nur aus Umrissen, die wie Pinselstriche in die Luft gesetzt waren; Linien und Bögen aus … Knochen? Halb durchsichtigem Kristall? Glatten Travertinsäulen? Hätte es nicht vollendet gewirkt, hätte es ein Modell eines Gebäudes sein können, das die Gräuelinger hatten errichten wollen: eine dreidimensionale Skizze in Perlmutt. Dennoch war kein Detail vernachlässigt worden. Strebebögen griffen von den Umrissen des Bergfrieds aus, verbanden ihn mit einem Kranz aus eleganten Türmen. Balkone und Zinnen gliederten die Rundmauern des massiven Bergfrieds und der zierlicheren Türme. Erker und Schmuckelemente betonten die Turmkronen; niedrige Mauern verbanden Wehrgänge und Brustwehren. Die am Fuße des Bergfrieds herabgelassene Zugbrücke suggerierte Zugang zu prachtvollen Sälen und elegant geschwungenen Treppen: ein Feenschloss ohne Mauern, Barrieren, Substanz.
Und es war vertraut. Linden kannte es schon. In den letzten Tagen ihres früheren Lebens hatte ein exaktes Duplikat die Diele des Hauses ausgefüllt, in dem sie mit Jeremiah lebte. In dieser nüchternen Umgebung hatte es so traumhaft magisch gewirkt, dass sie ihn nicht gebeten hatte, es wieder abzubauen. Trotzdem hatte es nur gestanden, bis Roger Covenant auf der Suche nach ihrem Sohn und dem Ring seines Vaters wie eine Abrissbirne hindurchgebrochen war. Jetzt verstand sie, dass Jeremiah dieses Gebilde gesehen hatte. Er hatte es gesehen. Sein Schloss war nicht aus dem Rohstoff seiner hermetisch verschlossenen Fantasie entstanden, sondern er hatte dieses hier kopiert. Das sagte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war - und es war ein weiterer Beweis dafür, dass Jeremiahs Geist tatsächlich schon jahrelang das Land besucht hatte, ehe Roger ihn ihr gestohlen hatte. Das in seinem Zimmer aufgebaute Rennbahngebilde war eine Tür gewesen. Zumindest in diesem Punkt hatten Roger und der Croyel die Wahrheit gesagt. Staunen, Erinnerungen und namenlose Ängste ließen sie instinktiv innehalten, und sie kam erst wieder zu sich, als Liand halblaut drängte: »Linden! Dein Sohn ist sicher in der Nähe. Und die Ungeduld des Eggers wächst. Wir dürfen nicht trödeln.« Es kostete sie Mühe, den Steinhausener anzusehen. Dabei war ihr Blick eigenartig distanziert, als kennte sie ihn gar nicht mehr. »Lady!«, knurrte der Egger. »So töricht der Jüngling oft ist - in diesem Punkt spricht er wahr. Die Verlorene Tiefe spiegelt den ganzen Umfang der Träume ihrer Schöpfer wider. Säle und Lehrenwerke sind weitläufig, erstrecken sich über Meilen hinweg. Wir brauchen uns nicht in ihnen zu verlieren, aber all unsere Mühen sind vergebens, wenn du dein Staunen nicht unterdrücken kannst. Dieses Reich bleibt kaum weniger gefährlich als das Übel in der Kluft.« Drängend schloss er: »Wir müssen uns beeilen!« Du hast recht, sagte Linden sich. Du hast. Recht. Trotzdem setzte sie sich nicht wieder in Bewegung. Verstreute und zertretene Spielautos hielten sie fest: Trümmer, die Roger bei seinem gewaltsamen Eindringen in ihr Haus zurückgelassen hatte. Sie erkannte Omina in dem Schloss; jede Linie seiner Wälle prophezeite schmerzlichen Verlust. »Spar dir deine Ermahnungen, Insequenter.« Die Eisenhand schien mehr entzückt als verärgert zu sein. »Wünschst du Eile, sollst du sie
bekommen. Aber kurz, nur ganz kurz müssen wir unser Erstaunen befriedigen.« Sie sah sich um, als verblüffte sie der bloße Umfang ihrer Verwunderung. »Wir sind Riesen, wir lieben Stein in jeder Form, aber wir haben noch niemals solche Pracht gesehen. Dies ist absolute Vollkommenheit …« Sie breitete die Arme aus, als hätte sie am liebsten das ganze Schloss umarmt. »Makellos wie eine himmlische Melodie. Wahrlich, Insequenter, ihr Lied ist fast vernehmbar …« Einige der Schwertmainnir nickten, die anderen verharrten verzaubert in stummem Staunen. »Du wirst schon bald deine Freude daran haben, wie wir uns beeilen«, schloss Raureif Kaltgischt. Sie seufzte schwärmerisch oder ehrfürchtig. »Aber nicht sofort. Nicht jetzt gleich …« Ihre Stimme verklang, während sie das hoch aufragende Gebilde studierte. »Linden!«, drängte Liand. »Linden, hör mir zu. Dieser Ort ist wahrhaft gefährlich, obwohl ich die Gefahr nicht genau bezeichnen kann.« Als Steinhausener hätte er so verzaubert sein sollen wie die Riesinnen. »Ich weiß nur, dass schlimme Vorahnungen mir das Herz beschweren. Wenn nicht alles fehlschlagen soll, müssen wir auf den Egger hören.« Mein Sohn, mein Sohn! Linden erinnerte sich bewusst an den Croyel, der wie ein unterernährtes Kind auf Jeremiahs Rücken hing; an die in sein Fleisch gebohrten Zehen und Krallen; an die Reißzähne, die sich in seinen Hals gruben, damit er das Blut des Jungen trinken konnte. Dann war sie wieder in Bewegung zwischen Liand und Stave, die sie an den Armen hielten, während der Egger mit großen Schritten vorausging. Als kenne er keine Angst, führte der Insequente sie geradewegs ins Herz des nur angedeuteten Schlosses. Irgendwo hinter Linden murmelte der Eifrige: »Hab keine Angst. Hier ist das Wissen des Eggers zuverlässig.« Aber die Furcht verlieh seiner Stimme einen klagenden Unterton. »Bleiben wir unter seiner Führung, droht uns keine Gefahr. Ich werde zweifellos in Erinnerungen an die zahllosen Wunder dieses Reichs schwelgen, wenn …«Er verstummte, als scheute er sich davor, diesen Satz zu Ende zu bringen. Einen Augenblick lang fürchtete Linden, nur Stave, Liand und sie folgten dem Egger, doch ein Blick über die Schulter hinweg zeigte ihr
die Gedemütigten, die mit Covenant zwischen sich folgten. Covenant selbst schien alles gleichzeitig zu beobachten, als versuchte er, sich alle zeitlosen Erinnerungen an das Schloss und die Höhle ins Gedächtnis zu rufen. Auf Linden aber achtete er nicht. Dann hörte sie in einiger Entfernung Mahrtiirs Stimme. »Sind die anderen schon vorausgegangen? Warum bewacht ihr die Ring-Than nicht?« Das klang gereizt, ärgerlich vor Hilflosigkeit. Als Linden einen langen Hals machte, konnte sie endlich sehen, wie die Riesinnen ihre Verzauberung abschüttelten und sich in Bewegung setzten. Spätgeborene trug weiterhin den Mähnenhüter; Böen-Ende hatte Anele auf dem Arm. Hinter den beiden bildete Zirrus Gutwind mit den Seilträgern die Nachhut. Der Egger schritt durch den Bergfried, als existierte er überhaupt nicht; aber Linden widerstrebte es, ihn zu verlassen. Auf irgendeine metaphysische Weise hatte Jeremiah hier ein Abbild seines Herzens gefunden. Sie wollte jede Linie, alle Winkel und Kanten des Schlosses genau betrachten, bis sie verstand, was ihr bisher verborgen geblieben war; bis sie wusste, wie sie Jeremiah von seinen Qualen befreien konnte. Eine unmögliche Hoffnung. Wie die Flecken auf ihren Jeans war der Text, den das Schloss verkörperte, nicht zu entziffern. Auch wenn sie ihn jahrelang studierte, würde er ihr nichts verraten - und ihr blieben keine Jahre. Die ihr verbleibende Zeit ließ sich bestenfalls in Tagen messen. Zornig beschleunigte sie ihren Schritt. Nachdem sie nun in Bewegung waren, holten die Riesinnen und der Eifrige hinter ihnen sie mühelos ein. Mit ihren Gefährten schritt Linden auf dem Weg zur jenseitigen Wand des Saales zwischen den äußeren Türmen hindurch. Vor ihr taten sich mehrere Gänge auf, alle mit pulsierendem Leuchten angefüllt. Hinter manchen lagen schmale Korridore, die sich bald außer Sicht schlängelten; andere waren fast so hoch wie die Vorhalle von Schwelgenstein und schienen endlos weit durch leuchtenden Fels zu führen. Der Egger wählte einen davon, ohne im Geringsten zu zögern, und führte sie eilig hinein. Bei jedem seiner Schritte berührte der Stab des Gesetzes den Fels und ließ kleine irisierende Wölkchen aufsteigen. Linden glaubte, die Atemzüge ihrer Freunde mehr zu spüren als zu hören. Statt Luft atmeten
sie Farben und Düfte. Der Gang führte in einen weiteren Saal, der kleiner als der erste, aber dennoch rund und weitläufig genug war, um Platz für einen Akazienoder Jacaranda-Hain zu bieten - und hoch genug, um Zedern aufnehmen zu können. Seine riesige Größe ließ die in seiner Mitte aufragenden dunklen Felsen kleiner erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren. Über einem niedrigen Sockel aus unbearbeitetem Basalt ragte zerklüfteter Fels auf: knorrig und unheimlich. Der Sockel bildete zwei Seitenteile, die lückenhaft mit Zähnen besetzten Kiefern glichen. Und zwischen ihnen schien es einen Sitz zu geben, als wäre die gesamte Felsformation in Wirklichkeit ein Thron. Innerhalb der Perfektion der Saalwände wirkte der aufgerichtete Fels verstümmelt, verkrüppelt durch Bosheit oder Gleichgültigkeit. Linden konnte sich nicht vorstellen, was die Gräuelinger dazu gedrängt hatte, dieses Gebilde zu erschaffen, aber sie fragte den Egger nicht nach einer Erklärung. Sie fühlte sich davon abgestoßen. Es schien zu stinken wie ein Misthaufen. War es wirklich eine Skulptur, verkörperte sie steingewordene Verachtung. Zum Glück hastete der Egger mit großen Schritten an Kiefern und Sitz vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Wieder ohne zu zögern entschied er sich für einen Gang hinter dem Thron und verschwand so rasch darin, als wollte er sich von dem üblen Felsgebilde distanzieren. Aus unerklärlichen Gründen zitterte Linden und war froh darüber, dass Stave und Liand sie weiterhin an den Armen hielten; dann folgten sie dem Insequenten. Dieser Korridor war gerade, nichtssagend und lang - lang genug, um Linden erkennen zu lassen, dass ihr Sehvermögen irgendwie zu verschwimmen schien. Das Leuchten des Steins wurde weniger eine Sache des Gesichtssinns und mehr eine fließende Serie von Empfindungen auf ihrer Haut: kurze Liebkosungen zart wie Küsse; kleine Kratzer, die nicht schmerzten; ein Kitzeln wie von Federn, mehrfach ein warmer Atemhauch. Die Farben glichen einem Murmeln ihrer Gefährten. Wie der Egger und ihr Stab wirbelte auch Linden bei jedem Schritt dünne Staubwolken auf. Erneut verfiel Linden in eine Parästhesie: eine durch das unberechenbare Erbe der Gräuelinger ausgelöste neurale Verwirrung. Überreste ihrer
Lehre existierten noch; bald würde Linden dem Egger durch Schmecken und Riechen, aber auch durch dünne Schleier aus leuchtendem Nebel folgen müssen. Auf heimtückische Weise wurde sie in die Irre geführt fort von allem Kontakt mit einer gewöhnlichen Existenz. Ohne Gesundheitssinn konnte Linden nicht beurteilen, wie die verbliebene Theurgie der Gräuelinger sich auf ihre Gefährten auswirkte. Sie hatte ihnen nur wenig von ihrer arrangierten Konfrontation mit den Schöpfern der Dämondim erzählt: Worte reichten nicht aus, um die von den Gräuelingern ausgelöste Desorientierung zu beschreiben. Erstaunlicherweise blieb Staves Hand an ihrem Oberarm ebenso ruhig wie die Liands. Irgendwie schafften es die beiden, sich nicht verwirren zu lassen, und setzte den Riesinnen oder ihren übrigen Gefährten etwas zu, ließen sie es sich ebenfalls nicht anmerken. Ähnliche Dislokationen hatte Linden schon früher erlebt. Trotzdem war sie nicht auf das Bild vorbereitet, das sich ihr bot, als der Saal sich nun vor ihr öffnete. Als hätte sie die Schwelle zu einer gänzlich anderen Definition der Realität überschritten, betrat sie einen Raum, der so riesig, prachtvoll und majestätisch wie ein Palast war, und sie hatte den Eindruck, als kehrten ihre Wahrnehmungen hier erneut in normale Dimensionen zurück. Von diesem Ort war die komplexe Macht der Gräuelinger gänzlich verbannt - oder sie hatten mit ihrem Lehrenwissen eine Illusion erschaffen, die noch indirekter und verwirrender war als Parästhesie. Nur ein vages Kribbeln, ein fast unterschwelliges Missbehagen warnte Linden, dass ihre Sinne weiterhin verwirrt waren, die Substanz des von ihr Wahrgenommenen erheblich verändert war. Allem Anschein nach stand sie im Ballsaal eines Herrenhauses oder Palastes, der Wohnstätte irgendeines mächtigen Wesens, das von ungeheurem Reichtum umgeben lebte. Auf dem polierten Marmorboden überlagerten sich kostbare Teppiche in allen Richtungen - üppig wie Polster, reich gewebt wie Gobelins und zugleich durchsichtig, klar wie Licht, solide und kaum greifbar. An den Stirnwänden des Saales schwangen sich Freitreppen mit Stufen und Geländern aus makellosem Kristall wie Flügel in die Höhe. Aus dem Teppichmeer ragten in genau gleichen Abständen fein ziselierte Glaskandelaber auf, die fünf- bis sechsmal größer als die Riesinnen waren und sich hoch über ihren Köpfen zu weit ausladenden Armen verzweigten, die wie Edelmetall
funkelten. Sie trugen Kronleuchter, jeweils mit Dutzenden oder Hunderten von Lampen besetzt, die reinweiß wie Sterne leuchteten. An den Wänden brannten goldene Fackeln, deren Feuer den Saal mit friedlicher Ruhe zu erfüllen schienen, und in der Mitte des Raums sprudelte ein Springbrunnen aus Eis - durchsichtig klar gefroren - der hohen Saaldecke entgegen. Er reichte bis zur Höhe der Kronleuchter hinauf, wo er sich in ständige Wasserschleier teilte, deren feine Tropfen wie geschliffene Brillanten glitzerten. Trotzdem floss kein Wasser nach. Kein Tropfen fiel. Das Eis war so bewegungslos, als wäre es nicht durch Kälte, sondern in angehaltener Zeit erstarrt. An der Saaldecke darüber ließen Mosaiken, prächtig wie Chöre, ihre Stimmen von Wand zu Wand erschallen. Linden konnte ihr Staunen nicht unterdrücken und sah sich wie verzaubert in dem Palast um. Selbst Stave und die Gedemütigten waren sprachlos vor Überwältigung, entfernten sich von ihr, ließen sogar Covenant stehen, hatten nur Augen für die kristallen glitzernden Wunder ihrer Umgebung. Auch Liand wanderte ziellos umher, während die Riesinnen vor allem die filigranen Kandelaber und den auf rätselhafte Weise erstarrten Springbrunnen bestaunten. Einige von ihnen bückten sich, um die Muster der kostbaren Teppiche mit den Fingern nachzuziehen. Liand und die Seilträger verrenkten sich Wie ekstatische Traumgestalten die Hälse, um den Tanz der Kronleuchter zu beobachten, den Klängen der Mosaiken zu lauschen. Trotz seiner Blindheit schien auch Mähnenhüter Mahrtür von der ihn umgebenden Pracht wie benommen zu sein. Anele war aufgewacht, zappelte auf Böen-Endes Arm und bat sie, ihn abzusetzen. Als er auf dem polierten Marmorboden stand, verharrte er stumm und wandte verzückt den Kopf hin und her. Aus irgendeinem Grund hatte der Eifrige sich wieder eng in sein Gewand gehüllt. Dann sank er in einem Berg aus grellen, nicht recht zueinanderpassenden Farben zu Boden, wo er sich wie ein trostbedürftiges Kind vor und zurück wiegte. Auch Covenant hatte sich entfernt. Er stand vor einer der Wandfackeln und starrte in die ruhige Flamme, als hätte ihre stille Sanftheit ihn verzaubert. In ihrem Trancezustand konnte Linden nicht sehen, wohin der Egger
verschwunden war, und es war ihr auch egal. Der Palast beherrschte sie, als wäre ihr Geist oder Verstand von Staunen aufgezehrt worden. Hier konnte sie vielleicht dazu gelangen, nichts zu kennen und zu fühlen, konnte stillen Frieden finden - bis sie durchsichtig wurde wie der Springbrunnen und die Freitreppen, die Teppiche und die Kronleuchter. Einige Zeit schien zu vergehen, bis sie zum Kern ihres Staunens vordrang und die Wahrheit erkannte: das eigentliche Geheimnis dessen, was die Gräuelinger auf dem Höhepunkt ihrer Macht erschaffen hatten. Dank einer früheren Begegnung mit ihrer Theurgie sah Linden, dass der gesamte Palast und alles, was er enthielt - Wände und Teppiche, Glaskandelaber, der erstarrte Springbrunnen, die Girlanden der Kronleuchter, die melodisch klingenden Mosaike und sogar die goldene Pracht der still brennenden Wandfackeln - aus Wasser bestand. Aus Wasser, rein und makellos. Die Magie, die sie verzauberte, war die Magie, die diesen Bau erschaffen hatte; jene Magie, die den Palast weiterhin erhielt, obschon seine Schöpfer seit Jahrtausenden von der Erde verschwunden waren. Der Palast war eine Skulptur, ein höchst sublimes Kunstwerk: ein fast unheimlicher dauerhafter Triumph von Gestaltungswillen über die fließende Unbeständigkeit der Zeit. Esmer war den Gräuelingern kaum gerecht geworden, als er sie grandios und bewundernswert genannt hatte. Ihr Wissen war in der Tat schrecklich und unvergleichlich - und alle ihre Werke waren von Lieblichkeit erfüllt. Dass solche Wesen sich zu Selbsthass hatten verleiten lassen, war eine Abscheulichkeit. Eine von vielen. Die Geschichte des Landes und der Erde war mit den Überresten von Gräueltaten übersät, für die Lord Foul verantwortlich gemacht werden musste. Trotzdem nahm Linden keinen Anstoß, hatte keinen Wunsch, etwas zu unternehmen. Ihre heitere Gelassenheit wurde nur durch ein leichtes Unbehagen an ihren Nervenenden gestört. An diesem Ort, in diesem überirdischen Meisterwerk verdienten die zahlreichen Untaten des Verächters keine Beachtung. Sie konnte in grenzenloser Zufriedenheit versinken, die besser als jede Sprache erklärte, warum die Gräuelinger so lange gebraucht hatten, um sich aus der Verlorenen Tiefe hervorzuwagen. Ähnlich wie sie hätte Linden gezögert, den Sinn ihres Lebens anderswo aufs Spiel zu setzen.
Seit sie nun das Geheimnis des Palastes kannte, sah sie es überall ganz deutlich. Tosende Wasserfälle hatten das Material zu den Kandelabern mit den Kronleuchtern geliefert. Seen, still wie der Glimmermere, hatten sich in Wände verwandelt. Bäche, die im Frühling über Steine rauschten, waren zu Teppichen geworden, zu klingenden Mosaiken. Der Springbrunnen war ein erstarrter Geysir. Eine Andeutung von Besorgnis bereitete ihrem Körper noch immer Unbehagen, aber Linden hatte vergessen, was sie bedeutete. Hätte Anele sich nicht direkt vor ihr aufgebaut und so ihr Staunen über all diese Wunder gestört, hätte sie vielleicht gar nicht gemerkt, dass er seine Passivität beendet hatte. »Anele«, sagte er übertrieben deutlich, als bereite ihm das Sprechen Schwierigkeiten. »Hört Glocken. Läuten. Sie beunruhigen … Er begehrt. Braucht. Sucht.« Einen Augenblick lang schien er den Faden verloren zu haben. Dann machte er weiter, wo er aufgehört hatte. »Erlösung.« Seine Hände zitterten, als er sie ausstreckte und auf ihre Schultern legte. Die Berührung war nachdrücklich, aber so sanft, dass Linden sie kaum spürte. Dennoch fühlte sie, wie ein kleiner Schock sie durchlief, als hätte er die Hindernisse ihrer Bluse und ihrer unnatürlichen Ruhe überwunden, um ihren Körper mit Erdkraft aufzuwecken. Wasser, dachte sie. Das war das Geheimnis. Seine erstarrte Fluidität drückte die fließende Verwirrung, die die Gräuelinger gewöhnlichen Wahrnehmungsformen, sterblichen Verständnisweisen aufzwangen, perfekt aus. In der Vergangenheit des Landes hatte sie eine eingeengte Manifestation dieser Verwirrung kennengelernt. Hier hätte sie Gerüche gesehen, Farben gerochen, Stimmen geschmeckt - wenn die Gräuelinger nicht Wasser und Theurgie zu ewigem Eis hätten werden lassen. Während Anele sie an den Schultern gefasst hielt, merkte Linden, dass auch sie gedämpftes Glockengeläut hörte. Ehe er sie loslassen konnte, nahm sie eine seiner Hände in die ihrige und drückte sie an ihr Herz. Dann sah sie sich um und versuchte, die Geräuschquelle zu entdecken. Sie fand sie zwischen Liand und einem der hohen Kandelaber. Während der Steinhausener das Glitzern der Kronleuchter in stillem, entzücktem Delirium studierte, stieß der Egger immer wieder mit einem Ende von Lindens Stab auf den Teppich, auf dem er stand. Jeder dieser sanften
Stöße erzeugte ein silberhelles Klingen, das an drängende ferne Glockensignale erinnerte. Ohne Aneles Hand zwischen ihren hätte Linden den Insequenten vielleicht wieder aus den Augen verloren oder ihn vergessen, aber die Wirkung der Haut des Alten auf ihrer, das fast greifbare Pulsieren seiner ererbten Kraft stärkte ihr Wahrnehmungsvermögen. Erdkraft erklärte ihr, was der Egger tat. Er bemühte sich, dem Stab des Gesetzes Feuer zu entlocken, um so den Bann des Palastes zu brechen. Linden beobachtete ihn lediglich mit der Oberfläche ihres Verstands; empfand nur distanzierte Neugier. Trotz Aneles indirekter Beschwörung hätte sie nach wenigen Augenblicken das Interesse verlieren und wieder wegsehen können. Aber während sie den Egger betrachtete, schien er plötzlich in Flammen zu stehen. Er und der Stab und seine Entschlossenheit, sich Jeremiah für eigene Zwecke zu sichern, wurden zu einer Feuersäule, als er sich jetzt in Bewegung setzte und auf eine reich verzierte Treppe jenseits des Springbrunnens zuschritt. Von Magien verwirrt hatte er seinen Eid vergessen - Linden mitzunehmen. Oder vielleicht hatte sein Drang, den Verführungen des Wassers zu entkommen, ihn dazu gezwungen, sie zu vernachlässigen. Als er sie zurückließ, regte sich etwas in Lindens Innerem. Ohne Aneles Hand loszulassen, setzte auch sie sich in Bewegung. Erdkraft. Sie war der Schlüssel. Linden brauchte Erdkraft - mehr als der Alte ihr geben konnte. Sein Erbe war zu tief in seinem Inneren verborgen, wurde durch Schichten aus Wahnsinn abgeschirmt. Sie brauchte eine direktere Quelle … Sie brauchte ihren Gesundheitssinn. Linden, die sich bewegte, wie Anele gesprochen hatte - als erforderte jeder Schritt eine mühsame, präzise Anstrengung -, trat auf Liand zu und zog dabei den Alten hinter sich her. Keiner ihrer Gefährten ließ erkennen, dass er sie sehen konnte; dass er überhaupt wusste, wer sie war. Niemand konnte ihr helfen. Ebenso wie Anele sich vor ihr aufgebaut hatte, machte Linden jetzt vor dem Steinhausener halt. Liand war ihr erster wahrer Freund gewesen, nachdem sie ihren Sohn verloren hatte. Er hatte ihr die Flucht aus Steinhausen Mithil und mit Anele vor den Meistern ermöglicht, als sie keinen anderen Helfer oder Führer gehabt hatte. Er vertraute ihr trotz allem, was sie getan hatte,
glaubte an sie. Er würde sie doch jetzt bestimmt erkennen? Würde doch sicher reagieren, wenn sie ihn ansprach? Er begrüßte Linden mit einem kurzen Stirnrunzeln. Dann starrte er an ihr vorbei oder durch sie hindurch, als wäre sie zu spektral geworden, um ihn zu stören. »Liand.« Sie konnte nur sprechen, weil sie weiter Aneles Hand umklammert hielt. »Hör mir zu.« Der Egger stieg die Treppe hinauf. Er schien wie von Flammen getragen hinaufzuschweben. »Ich brauche den Orkrest.« Der junge Mann reagierte nicht. Der Palast hatte ihn in seinen Bann geschlagen. Sein flüchtiges Bewusstsein, dass Linden vor ihm stand, war wieder verflogen. Linden hätte ihn am liebsten geohrfeigt, aber das konnte sie nicht. Sie wollte in seine Gürteltasche greifen und den Sonnenstein herausholen, aber dazu fehlte ihr die Kraft. Sie hatte selbst zu viel aufgegeben und kannte den Preis solcher Opfer. Er hatte es nicht verdient, von ihr um sein Erbe gebracht zu werden. Gegen ihre eigene Verzauberung, die eigene Schwäche ankämpfend, zog sie Anele dichter an Liand heran. Nachdem sie ihre Finger mit den seinigen verflochten hatte, damit der Alte sich nicht losreißen konnte, legte sie seine freie Hand auf Liands Schulter. Mit reiner Willenskraft forderte sie Anele stumm auf, dem Steinhausener einen Schock zu versetzen, wie er es zuvor bei ihr getan hatte. Trotz seiner Verrücktheit schien Anele zu erfassen, was sie beabsichtigte; oder er hatte eigene Gründe für seine Verzweiflung, eigene fragmentierte Bedürfnisse. Seine zitternde Hand streichelte Liands Schulter … … und Liand fuhr zusammen. Seine schwarzen Augenbrauen gingen in die Höhe. Sein Blick konzentrierte sich auf Linden. Er musterte sie, als sähe er sie durch Wasserschleier. Auf dem oberen Treppenabsatz verschwand der Egger durch einen Vorhang. »Liand«, wiederholte Linden, »hör mir zu.« »Li…« Er versuchte ihren Namen zu sagen. »Lin…« »Hör mir zu«, verlangte sie: ein schwacher Laut, zu entfernt und unsicher, um Aufmerksamkeit zu erzwingen. »Ich kann dir nichts erklären. Ich verstehe selbst nichts. Aber wir brauchen Erdkraft. Um uns
daran zu erinnern, wer wir sind. Wir brauchen den Orkrest.« Selbst die Riesinnen, selbst die Haruchai waren für sie unerreichbar. Der Palast hatte ihre angeborenen Stärken gegen sie selbst gewendet. Und keiner von ihnen besaß irgendein Werkzeug der Macht. Covenant trug weiter Loriks Krill, aber er war in seine Vergangenheit zurückgetaumelt, ehe Lindens Gesellschaft das Wagnis überquert hatte. Nichts was sie tun oder sagen konnte, würde gegen die Kraft seiner Erinnerungen ankommen. Sie musste dem Egger folgen. Wenn Liand sich nicht etwas mehr zusammenriss; wenn er nicht etwas wacher wurde … Anele packte fester zu. Diesmal gelang es Liand, ihren Namen zu sagen. »Linden?« »Orkrest«, wiederholte sie. Ihre Stimme zitterte wie Aneles Arme. Der Alte hatte sie schon mehr als einmal gerettet. Er hatte sie aus ihrer Lähmung geholt, als sie sich auf der Suche nach dem Stab des Gesetzes erstmals in eine Zäsur gewagt hatte. »Wir brauchen ihn.« Liands Verwirrung richtete sich einen Augenblick lang gegen den Alten. Dann durchlief ein Zittern seinen Körper. »Orkrestl«, murmelte er mit schwacher Stimme. »Den hatte ich vergessen …« Mit unbeholfenen Fingern, als hätte Anele ihn nicht nur mit Erdkraft, sondern auch mit Altersschwäche und Gebrechlichkeit angerührt, öffnete der Steinhausener seine Gürteltasche und brachte den Sonnenstein zum Vorschein. Scheinbar endlose Sekunden lang betrachtete Liand den auf seiner Handfläche liegenden Stein stirnrunzelnd. Er verfiel wieder der Magie des Palastes; oder Linden verfiel ihr. Sein Orkrest sei gar kein Stein, dachte sie träge: Er bestand aus unglaublich konzentriertem Wasser, das ihm eigentlich durch die Finger hätte rinnen müssen. Bald würden dort nur noch ein paar durchsichtige Tropfen liegen. Obwohl sie Aneles Hand umklammert hielt, driftete Linden ab. Wie Liand würde sie ganz in Staunen aufgehen und vergessen, dass sie sich verirrt hatte. Doch Liand löste sich nicht auf. Stattdessen schlossen seine Finger sich um den Orkrest, und Linden erinnerte sich, dass der Egger verschwunden war. Anfangs leuchtete der Sonnenschein nur wie das sanfte Strahlen der
Verlorenen Tiefe: perlmuttfarben und vermischt, von der Illumination der Gräuelinger nicht zu unterscheiden. Aber schon diese leichte Veränderung seiner Eigenschaften schien Liand Kraft zu verleihen. Er umklammerte den Orkrest fester. In kleinen Schritten erlangte der Sonnenstein allmählich wieder die vertraute reinweiße Leuchtkraft. Gleichzeitig kehrte Lindens Bewusstsein ihrer selbst zurück. Der Egger, dachte sie schockiert. Jeremiah! Der Eifrige lag in sein Gewand gehüllt abseits, als hätte er sich für sein Begräbnis eingekleidet. Keiner war mehr da, der darauf bestehen konnte, dass der Egger seinen heiligen Schwur hielt. Liand brachte heller leuchtende Erdkraft hervor. Lindens Herz jagte, als ertränke sie … »Gut, gut«, keuchte sie. »Weiter so!« Von den Kronleuchtern tropften Echos wie Kaskaden aus Brillanten herab. »Lass Anele nicht los. Wir müssen den Egger einholen.« Liand schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. »Was ist mit den Riesinnen?« Seine Halssehnen traten deutlich hervor. »Mit Pahni und den Ramen? Wenn wir sie im Stich lassen …« Linden setzte sich in Richtung Treppe in Bewegung, zog Anele hinter sich her und hoffte, dass er Liand mitziehen würde. »Dafür ist jetzt keine Zeit.« Ihre Lunge schien sich mit Wasser zu füllen. »Wir kommen zurück, wenn wir wissen, was der Egger treibt.« Sie wurde selbst zu Wasser. »Wir müssen Jeremiah finden.« Sie schämte sich bereits, dass sie ihren Sohn vergessen hatte. Anele verstärkte seinen Griff. Verrückt oder nicht, er folgte ihr bereitwillig. Und er ließ den Steinhausener nicht los. Nach kurzem Zögern gab Liand seinen Widerstand auf. Linden und Anele drängten ihn gemeinsam in Richtung Treppe. Kraft erzeugte mehr Kraft. Je mehr Erdkraft Liand dem Orkrest entlockte, desto müheloser konnte er das Leuchten noch verstärken. Auf der Spur des Eggers stürmte Linden die Treppe hinauf wie eine heranbrandende Welle. Wenn wir sie im Stich lassen … Sie verließ ihre übrigen Freunde; verließ auch Covenant. Hätte sie eine Schilderung der Gefahren des Palastes gehört, hätte sie vermutet, die Unnachgiebigkeit der Haruchai würde sie beschützen. Die Riesinnen und die Ramen waren offen für Freude und
Ehrfurcht; sie waren schutzlos. Aber Stave und die Gedemütigten … Trotzdem waren die Haruchai ebenfalls schutzlos. Auch sie waren trotz ihres zur Schau getragenen Stoizismus für Staunen und Großzügigkeit empfänglich. Wie hätten Hoch-Lord Kevin, der Großrat der Lords und die Riesen und Ranyhyn sie sonst dazu bringen können, den Eid der Bluthüter abzulegen? Wie hätte der Vizard sie sonst demütigen können, wenn nicht durch Spott über die Tiefe ihrer Leidenschaften? Wenn Stave und die Meister wieder zu sich kamen, würden sie bestimmt ebenfalls Scham empfinden. Clyme und Branl und Galt, sicher auch Stave, würden hart mit sich ins Gericht gehen. Haruchai verziehen nichts … Trotzdem kehrte Linden nicht um. Jeremiah war wichtiger. Ihre anderen Gefährten würde sie abholen, sobald sie nicht mehr fürchten musste, was der Egger tun könnte. Oben an der Treppe hingen schwere Portieren wie Wasserfälle vor einem bogenförmigen Durchgang: ein Weg aus dem Saal hinter Linden; vielleicht sogar einer aus dem Palast selbst. Die Magie dieses Orts hinderte sie daran, auch nur die geringste Spur des Eggers zu entdecken; aber sie hatte gesehen, wie er den Vorhang geteilt und hinter ihm verschwunden war. Vor dem Wasser, das wie halb durchsichtiger Brokat in Gold und Silber und raffinierten Türmalintönen wirkte, machte sie kurz halt, um sich zu vergewissern, dass sie Anele fest an der Hand hatte und durch ihn weiter mit Liand verbunden war. Dann führte sie die beiden durch die flüssigen Portieren. Hinter dieser Barriere spürte Linden sofort, dass sie den Bereich des Palastes verlassen hatte. Das Gefühl, in Wasser und Theurgie ertrinken zu müssen, verschwand schlagartig, und ihre gestörten Wahrnehmungen kehrten zurück. Vor ihr schlängelte sich ein schmaler Gang durch gewachsenen Fels. Wie alle Steinflächen der Verlorenen Tiefe war er glänzend poliert; der Korridor mit einladend wirkendem Licht erfüllt. Hier tarnte die Beleuchtung jedoch nicht den noch in der Luft hängenden Geruch von Kraft und Flamme aus dem Stab oder die zurückgebliebene schwache Ausstrahlung der eigenen Zauberkunst des Eggers. Im Eilschritt folgte Linden mit Anele und Liand dem Korridor.
Der Gang wand und schlängelte sich heimtückisch wie eine Natter. Weitere Passagen oder Säle zweigten links und rechts ab, aber Linden ignorierte sie. Weil sie den Egger witterte, war sie sich ihres Weges sicher. Liand atmete keuchend, weil er von seinen früheren Anstrengungen jenseits des Wagnisses erschöpft war, aber sein Schritt blieb gleichmäßig, und Anele bewies wieder einmal seine unwahrscheinliche Zähigkeit. Linden aber wurde durch das Bild Jeremiahs vor ihren Augen angetrieben. Sie glaubte ihren Sohn ganz in der Nähe. Wenn der Insequente seinen Schwur hielt… Mit einer Geraden, einer Kurve, einer Abzweigung nach der anderen wirkte der Korridor wie ein Labyrinth: ein Ort, an dem Absichten und Leben eingebüßt wurden. Trotzdem spürte Linden keine in den Wänden verborgenen Geheimnisse, keine versteckten Kreuzungen, keine tarnenden Reflexe. Hatten die Gräuelinger oder Roger oder der Croyel oder der Wüterich Moksha Fallen aufgestellt, in die sie gehen sollte, konnte Linden sie nicht entdecken. Und die von dem Egger zurückgebliebene Aura und Interferenzen blieben unverändert stark. Dann bogen Linden, Anele und Liand um eine Ecke, und plötzlich führte der Korridor in einen runden Saal, den eine Kuppel überwölbte: eine durch einen fleckenlosen Boden mittig geteilte Kugel. Auch diesen Raum konnte sie sich nicht als Höhle oder Kaverne vorstellen. Er war zu vollkommen symmetrisch, um natürlich entstanden sein zu können. Wie der Fußboden leuchteten die gewölbten Wände, die sich genau über dem Mittelpunkt des Saales trafen, von dem typischen Mondsteinglanz der Verlorenen Tiefe. Der Saal war nicht so groß wie der erste, den sie betreten und verlassen hatte; im Vergleich dazu wirkte er fast intim, obschon er leicht Platz für die Schwertmainnir und mehrere Dutzend ihrer Gefährtinnen geboten hätte. Jedenfalls kam sich Linden hier ziemlich klein vor. Seine Wirkung auf sie wurde nicht durch die Tatsache vermindert, dass er durch Zeit oder Theurgie gelitten hätte. Der polierte Fußboden und die vier Portale in den Wänden ließen keine Schäden oder Anzeichen von Veränderungen erkennen. Dem Portal, durch das Linden mit ihren Gefährten hereingekommen war, lag ein weiteres genau gegenüber; die beiden anderen waren gleich weit von ihnen entfernt. Da sie mit der
gewohnten Genauigkeit der Gräuelinger errichtet waren, könnten diese Korridore die vier Himmelsrichtungen eines geheimnisvollen Kompasses bezeichnen. Aber vom Scheitelpunkt der Kuppel hing ein grober Felsklotz oder -brocken herab, der aus Travertin hätte bestehen können: stumpf und unbearbeitet, porös, dunkel wie ein Fleck vor dem leuchtenden Stein. Und von diesem missgebildeten Klumpen liefen acht Arme oder Grate die Wände hinunter, als wären sie über Äonen hinweg von herabtropfendem Wasser zurückgelassen worden. Hier war die Luft wärmer, als sie sonst wo in der Verlorenen Tiefe gewesen war, und gemahnte an heiße Quellen voller Mineralstoffe. Trotzdem konnten diese Formationen nicht durch Zeit und Wasser entstanden sein. Vier von ihnen griffen geradewegs nach den Portalen in den Wänden aus, wo sie sich verzweigten, wie um die Korridore zu betonen oder zu unterstreichen; die vier anderen klebten genau in der Mitte zwischen den Öffnungen an den Kuppelwänden - und wo die dunkle Masse jedes Zweiges oder Grates den Fußboden erreichte, verschmolz sie mit dem polierten Stein und hörte wie abgeschnitten auf, als würde sie nicht länger gebraucht. Naturkräfte hätten Überreste des Steinmaterials auf dem glatten Boden hinterlassen. Und dass es hier merklich wärmer war - auch das war unnatürlich. Linden wusste, woher diese Wärme kam. Sie kannte die Wärmequelle sehr gut. Ihr wieder erstarkter Gesundheitssinn versicherte ihr, der Felsbrocken und die Grate aus lavaartigem Material seien jünger als der Kuppelsaal, den sie entstellten - weit jünger sogar. Sie mussten innerhalb des letzten Jahres dort hingekommen sein, vermutlich erst in den letzten Monaten. Das Steinmaterial wirkte zerbrechlich; es war so porös, als müsste es bei der ersten Berührung zerbröseln -, aber Linden wusste bereits, dass es für seinen Zweck haltbar genug war. Sie hatte hier etwas Ähnliches zu finden erwartet, obschon sie sich nicht hätte vorstellen können, welche Form es annehmen würde. Dann befreit meinen Sohn, hatte sie von Infelizitas gefordert. Gebt ihn mir zurück. Das werden sie nicht tun, hatte der Egger ihr erklärt. Das können sie nicht.
Der Travertin war das Gebilde, das Jeremiah vor den Elohim verbarg: vor Infelizitas und Kastenessen ebenso wie vor Esmer. Der Gebrauch, den Roger und der Croyel von Jeremiahs Talenten gemacht hatten, tarnte ihren Sohn vor jeder übersinnlichen Wahrnehmung, jedoch nicht vor dem indirekteren menschlichen Wissen des Eggers - oder vielleicht dem seltsamen Lehrenwissen der Urbösen und Wegwahrer. Die Dämondim-Abkömmlinge hätten sie nicht hierherbringen können. Sie bewegten sich auf eine Weise, die Linden nicht imitieren konnte. Vielleicht hatten sie sogar versucht, ihr zu sagen, wo sie suchen musste; aber Esmer hatte sich geweigert, ihre Sprache zu übersetzen. Fast in der Mitte des Kuppelsaals stand der Insequente, den Stab des Gesetzes zwischen seinen Füßen auf den Steinboden gestellt, hielt er Covenants Ring hoch über seinen Kopf. Aber er versuchte nicht, ihre Macht zu gebrauchen; noch nicht. Stattdessen starrte er in den beißend gelben Blick des Croyel, als versuchte er, den Willen und die Macht dieses deformierten Wesens mit seinen unergründlichen dunklen Augen zu verschlingen. Die Bestie hing weiterhin auf Jeremiahs Rücken: ein haarloses Ungeheuer von der Größe eines Säuglings, hager und unersättlich. Seine Finger umfassten Jeremiahs Schultern, während die Zehen sich in seine Rippen gruben, wie Krallen ins Fleisch eindrangen. Reißzähne zerfleischten seine Halsseite, damit der Croyel sein Blut trinken, seinen Verstand aussaugen konnte. Seine Augen glühten, als heulten und kreischten sie, aber noch setzte die Kreatur nicht bereits ihre ganze Kraft gegen den Egger ein. Stattdessen schien sie es zu genießen, ihm trotzen zu können. Zwischen diesen beiden Antagonisten stand Jeremiah mit hängendem Kopf, als wäre er nicht viel mehr als eine Marionette des Croyel: ein Mittel, seine Bösartigkeit zu definieren und auszudrücken. Jeremiahs trüber, unscharfer Blick betrachtete den Boden mit der Leere eines Jugendlichen, der längst keine Hoffnung mehr hat. Von schlaffen Lippen floss ein dünner Speichelfaden in den Bartflaum an seinem Kinn; seine Arme hingen nutzlos an den Seiten herab; die Finger baumelten kraftlos, als wären sie zu nichts nütze - als hätten sie nie etwas gehalten, das so gewöhnlich und menschlich wie ein rotes Rennauto war. Er war ein missbrauchter Junge, dessen einziger Ausweg aus dem
Gefängnis seines beschädigten Verstands die Wildheit des Croyel war. Aber er lebte.
9 Das Verderben beschleunigen
I m Laufe der Zeit wirst du die Frucht meiner Bemühungen sehen. Linden konnte Lord Foul hören, als stünde er neben ihr und lache wie eine Hyäne. Dient dein Sohn mir, wird er es in deiner Gegenwart tun. Das hatte Jonathan unter dem Melenkurion Himmelswehr getan. Er tat es auch jetzt. Oder der Croyel benutzte seinen willenlosen Körper und geknebelten Verstand als Vehikel für seinen barbarischen Hunger. Als wäre sie sich ihrer Herrschaft über den Jungen gewiss, starrte die Bestie den Egger mit Spott in ihrem grausamen Blick an. Morde ich ihn, werde ich es vor dir tun. Denk daran, wenn du versuchst, ihn von mir zurückzuholen. Mit trübem, leerem Blick hielt Jeremiah sich nur auf den Beinen, weil der Croyel ihn dazu zwang. Die nur scheinbare oder übertragene Wachheit und Aufregung, die Linden auf dem Gesicht ihres Sohns gesehen hatte, ehe sie den Sukkubus enttarnt hatte, fehlte jetzt. Jegliches Anzeichen dafür, dass er seine Umgebung bewusst wahrnehmen könnte, war verschwunden. Entdeckst du ihn, beschleunigst du nur seinen Untergang. Während der Egger sich bemühte, den Croyel zu meistern, und nur Verachtung erntete, stand Linden hilflos, durch Verzweiflung wie gelähmt da. … das schwöre ich. Indirekt, ganz indirekt hatte der Verächter sie gedrängt, die Schlange des Weltendes zu wecken, indem sie Covenant wiedererweckte. Lord Foul hatte die Umstände geschaffen und den Anstoß gegeben, dessen ihr krankes Herz bedurft hatte. Durch Kummer und Verzweiflung hatte er sie ermutigt, ihre Macht abzugeben, damit sie hierhergebracht werden konnte, wo sie gezwungen sein würde, Augenzeugin zu sein, ohne eingreifen zu können. Damit ihre Hilflosigkeit angesichts von Jeremiahs Leid sie endlich doch zerbrechen würde. Aber der Verächter hatte sie unterschätzt. Wieder einmal. Er hatte nicht
verstanden, wie viel sie für ihren Sohn zu leiden bereit war, und ahnte nicht, wie scharf ihre beschädigte Wahrnehmungsgabe wieder war. Er wusste nicht, dass sie hörte, welch gewaltiger Schmerz sich unter Lord Fouls Siegesgewissheit verbarg. »Linden?«, keuchte Liand. »Ist dies die Notlage deines Sohns? Du hast sie uns geschildert, aber Worte …« Er schüttelte den Kopf. »Linden, diese Bestie … dieses Ungeheuer … Was sie deinem Sohn antut, ist widerlich!« Als ballte sie selbst die Faust, spürte Linden, wie seine Finger sich um den Orkrest schlossen. In seinem Zorn entlockte er ihm mehr Erdkraft und noch mehr. Ließ der reinweiße Glanz des Sonnensteins sich als Waffe verwenden, wollte er damit den Croyel angreifen. Sein Angriffsdrang war so deutlich wie ein Schrei. Liand war zu anständig, um Gräueltaten dulden zu können - ein Handicap, unter dem Linden nicht litt. Sie hatte vor, ihn daran zu hindern. Sie brauchte nur den Gesundheitssinn, den sie seinen Bemühungen verdankte. Sie würde nicht zulassen, dass er sich aufopferte. Bevor sie den Steinhausener jedoch aufhalten konnte, hob der Croyel Jeremiahs verstümmelte Hand. Ohne sich von dem brennenden Blick des Eggers stören zu lassen, veranlasste das Ungeheuer den Jungen, nachlässig in Liands Richtung zu deuten. Heiß wie der Atem eines Raubtiers schlug plötzlich eine Woge von Magie über dem jungen Mann zusammen. Sie schleuderte ihn fort; warf ihn mit großer Gewalt gegen einen der dunklen Grate aus Travertin. Der Aufprall, der Liand vermutlich einige Knochen brach, hätte beinahe auch Lindens Konzentration zerstört. Hellrotes arterielles Blut schoss aus seinem Mund und spritzte auf den polierten Steinboden. Mit schlaffen Gliedern sackte Liand wie eine mit Polsterwatte ausgestopfte Puppe zusammen, fiel nach vorn und blieb auf dem Bauch liegen. Offenbar fühlte der Croyel sich von Liand - oder dem Orkrest - mehr bedroht als von dem Egger. Oder von Linden. Der augenblicklich wirkungslos gewordene Sonnenstein glitt aus Liands kraftloser Hand, rollte ein Stück weit fort und blieb ein, zwei Schritte von seinen Fingern entfernt liegen. Lindens Gesundheitssinn verflog augenblicklich, wurde durch ihre Nähe
zu dem Ursprung von Kevins Schmutz denaturiert. Übergangslos verlor sie das Gefühl für das wahre Ausmaß von Jeremiahs Leiden, Liands Verletzungen und die Bösartigkeit des Croyel. Im selben Augenblick riss Anele sich von ihr los. Sein Mund war zu einem stummen Klagelaut verzerrt, als er durch den Gang hinter ihnen in Richtung Palast flüchtete. Linden ließ ihn laufen; er konnte ihr jetzt nicht mehr helfen. Vielleicht würde seine Rückkehr bewirken, dass der Zauberbann, unter dem ihre übrigen Gefährten standen, gebrochen wurde. Sie würden zu lange brauchen … Ein Teil ihres Ichs sehnte sich danach, an Liands Seite zu eilen; ihn zu untersuchen und festzustellen, wie schwer verletzt er war; ihm zu helfen, so gut sie es vermochte. Ein anderer Teil brannte darauf, sich mit einem großen Satz auf den Sonnenstein zu stürzen, der ihr hoffentlich einen Teil ihres Gesundheitssinns zurückgeben würde. Aber sie zwang sich dazu, unbeweglich stehen zu bleiben. Der Croyel konnte sie so leicht zerschmettern, wie er Liand die Knochen gebrochen hatte. Gegen ihn war sie machtlos. Sie wusste, was sie tun würde. Ihre Entscheidung stand schon fest. Aber sie musste den richtigen Augenblick dafür abwarten. Ihr Augenblick würde kommen, wenn der Egger und das Ungeheuer abgelenkt waren. Wo war Roger? Covenants Sohn hätte Jeremiah und den Croyel doch bestimmt nicht unbewacht gelassen? Darauf vertraute Linden. War Roger auf sich allein gestellt, genügte ihm die Macht von Kastenessens Hand nicht, und das galt auch für die komplexen Magien des Croyel. Wie die Bestie war Roger auf Jeremiahs übernatürliche Talente angewiesen. Ohne sie konnten Roger und der Croyel nicht die Zerstörung des Bogens der Zeit überleben, um Götter zu werden. Das Duell zwischen dem Insequenten und dem Croyel wurde allmählich weniger heftig oder veränderte sich. Linden bemerkte den Wechsel, als der Egger die Schultern bewegte und eine etwas andere Haltung einnahm. Er musste beschlossen haben, seine Taktik zu ändern. »Wagst du es, mich herauszufordern?« Trotz der Verachtung, die aus dem Blick des Croyel sprach, lag nur Triumph in der Stimme des Insequenten. Im Gegensatz zu Jeremiahs Schlaffheit war er eine stolze Gestalt mit straffen Muskeln, eleganter Kleidung und herrischer Allüre.
»Du siehst, dass mein Fleisch und Blut nicht anders ist als das des Jungen, den du unterjocht hast. Deshalb glaubst du, mir überlegen zu sein. Aber das ist ein gewaltiger Irrtum. Zu deinem Nachteil weigerst du dich, meinen Blick zu erwidern. Hast du nicht erkannt, dass ich den Stab des Gesetzes zu gebrauchen gelernt habe? Und bald werde ich die unvergleichliche Macht des weißen Goldes einsetzen. In diesem Augenblick werden mein Wissen und meine Macht vollkommen sein. Zweifellos sind deine Stärken altehrwürdig und groß. Dennoch kannst du nicht hoffen, dich gegen mich zu behaupten.« Das Ungeheuer löste kurz seine Zähne von Jeremiahs Hals, um den Egger anzugrinsen. Dann nahm es sein grausiges Mahl wieder auf. »Noch kannst du hier auf Unterstützung hoffen«, fuhr der Insequente fort. »Die von dir errichtete Barriere blockiert Freund und Feind gleichermaßen. Selbst die Halbhand, die dein Gefährte und Verbündeter war, kann nicht in diesen geschützten Raum eindringen.« Kann nicht …? Linden horchte auf. Vielleicht sagte der Egger die Wahrheit. Vor dem Kampf um Erstes Holzheim hatte er den Zauber zerspellt, mit dem Roger sich und seine Höhlenschrate getarnt hatte. Also hätte der Egger doch sicher Gefahr gewittert, wenn Roger in der Nähe gewesen wäre? Aber als Roger eingetroffen war, um den Egger und Esmer und Linden anzugreifen, hatte er den Croyel zurückgelassen. Er war ohne Unterstützung des Croyel, ohne seine Theurgie zum Angriff vorgerückt. Trotzdem behauptete sich die tiefe Verachtung des Eggers gegen den bösartigen Blick des Ungeheuers: »Oh, ich bezweifle nicht, dass er deinen Aufenthaltsort kennt, was die Elohim nicht tun. Ich bin mir sogar sicher, dass er an deinem Entschluss, dich hier zu verbergen, mitgewirkt und dir den Weg hierher erleichtert hat. Aber als du die Barriere errichtet hast, die eine Entdeckung durch die Elohim verhindert, hast du auch ihn ausgesperrt. Kastenessens Hand ist ihm angewachsen, ist ein Teil seines Körpers geworden. Und Kastenessen ist ein Elohim. So hat deine eigene Gerissenheit dich mir ausgeliefert. Keine andere Macht kann dir zu Hilfe kommen. Du bist mein.« Der Insequente schwenkte den Stab und ließ eine sonnenhelle Flamme in die Kuppel aufsteigen. Unabsichtlich stellte er damit Lindens Gesundheitssinn wenigstens teilweise wieder her.
Roger hatte Linden erklärt, Kastenessen strebe nur nach der Vernichtung seines eigenen Volkes, und sie glaubte ihm. Kastenessens Schmerzen beherrschten ihn. Er hatte keine anderen Wünsche mehr. Durch Esmer hatte er sich schon einmal gegen den Egger gestellt, und er würde es wieder tun, wenn sich Gelegenheit dazu bot - aber nur, weil er verhindern wollte, dass der Egger sein Volk rettete. Er legte keinen Wert darauf, Jeremiahs Talente für eigene Zwecke zu nutzen. Roger und der Croyel hatten andere Ambitionen. Das Ungeheuer imitierte die Demonstration des Insequenten auf seine Weise, indem er nochmals eine Geste mit Jeremiahs Halbhand vollführte. Linden zuckte zusammen. Sie erwartete einen unsichtbaren Schlag, durch den sie Bewusstsein und Namen und Leben verlieren würde, aber die Macht des Croyel richtete sich nicht gegen den Egger. In dem Kuppelsaal war überhaupt nichts von Energie zu spüren. Stattdessen spürte sie einen Ruf. Sofort begannen Kinder, die einer Inkarnation von Säure glichen, aus den Portalen der übrigen Korridore zu quellen. Linden kannte sie nur allzu gut. Sie waren Skest, »Säurekinder«: Wesen aus lebendem Vitriol, deformiert und korrosiv; trotz ihrer Kleinwüchsigkeit tödlich. Von innen heraus faulig grün leuchtend, als stammten sie auf unerklärliche Weise von dem Weltübelstein ab, vernichteten sie ihre Feinde, indem sie sterbliches Fleisch auflösten und Sehnen und Knochen in breiige Pfützen verwandelten. Einst hatten sie dem Lauerer der Sarangrave gedient; in neuerer Zeit hatte Linden sie jedoch als Pfleger Joans gesehen. In Eiseskälte, von Hornissen und Wahnsinn umgeben, hatte Linden in einer Zäsur gefangen beobachtet, wie die Säurekinder sich um Joans körperliche Bedürfnisse kümmerten, während der Wüterich Turiya mit der Geistesgestörtheit der schwachen Frau spielte. Linden hätte nicht erwartet, hier auf sie zu treffen. Jetzt erriet sie, dass die Skest einen ähnlichen Dienst an Jeremiah verrichteten und so den Croyel durch den enteigneten Körper ihres Sohns ernährten. Tatsächlich hielten sie Jeremiah um der Bestie willen am Leben - und für Lord Fouls finstere Zwecke. Die Skest waren jedoch auch die Verteidiger des Croyel. Sie strömten so zahlreich aus den Korridoren heran, dass sie den Egger vermutlich
würden überwältigen können. Linden, die ihn so genau wie irgend möglich beobachtete, glaubte zu erkennen, dass er noch nicht wusste, wie man Covenants Ring wilde Magie entlockte. Mit dem Stab konnte er jedoch feurige Erdkraft einsetzen. Er würde kämpfen, um sich selbst zu schützen. Aber wenn eines der Säurekinder ihn berührte, nur ein einziges … Würde die Magie, die ihn von Stave und den Gedemütigten geschützt hatte, hier ausreichen? Das bezweifelte Linden. Er war sterblich; so menschlich wie sie oder Jeremiah. Seine Fähigkeit, tätliche Angriffe abzuwehren, konnte ihn vermutlich nicht vor der gefährlicheren Berührung durch smaragdgrüne Korrosion schützen. Und Skest waren keine Dämondim - oder Dämondim-Abkömmlinge. Er konnte sie nicht einfach von sich selbst abkoppeln. Und während er sich gegen die Skest verteidigte, konnte der Croyel zuschlagen, wann er wollte. Der Insequente erkannte diese Gefahr sofort. Er wich einige Schritte von Jeremiah und dem Croyel zurück; umgab sich mit Flammen. Seine Lippen murmelten Flüche, während er Covenants Ring umklammert hielt. Linden fühlte seine Verzweiflung, als er sich abmühte, den Ring leuchten zu lassen. Aber er trug ihn nicht rechtmäßig. Das hatte auch sie nicht getan. Trotzdem gehörte Covenants Ring ihr weit mehr als dem Egger. Sonst hätte sie Anele und sich selbst nicht beim Einsturz der Aussichtswarte Kevinsblick retten können. Inzwischen war eine Hundertschaft von Skest in den Kuppelsaal geströmt, und hinter ihnen drängten weitere heran. Einige verbrannten mit heller Flamme, als das Feuer des Stabes sie erfasste; sie schrumpften zu Säurelachen zusammen, die schäumend Blasen warfen und große Löcher in den Granitboden fraßen. Aber sie waren zahlreich und erhielten ständig Verstärkung. Bald würden sie so viele sein, dass sie den Egger umzingeln konnten. Genug, um Linden zu bedrohen; genug, um sie auf der Stelle umzubringen oder zumindest von ihrem Sohn zu trennen. Liand würde nach kurzer Agonie sterben. Jetzt!, dachte sie. Jetzt musst du handeln. Und endlich bewegte sie sich. Einen Misserfolg konnte sie sich nicht leisten. Sie hatte nur einen
Bruchteil ihres Gesundheitssinns zurückgewonnen, aber er reichte aus, um sie anzuleiten. Der Croyel hatte Liand mit schrecklicher Wucht getroffen. Der Steinhausener war schwer gegen einen der verkalkten Grate der Barriere geprallt, die sich über die Wände des Kuppelsaals zogen. Als Linden den Grat genauer betrachtete, sah sie, dass der Aufprall ihn geschwächt hatte. In der Hoffnung, dass die Skest nicht auf sie achten würden, huschte sie zu dieser Stelle hinüber. Der Travertin war porös und zerbrechlich; dessen war sie sich sicher. Und an dieser einen Stelle war er beschädigt; trotzdem bestand er aus Stein, der ohne weiteres nachgab. Linden bückte sich und packte die rissige Ablagerung; grub die Finger in die raue Oberfläche, bis ihre Nägel splitterten und ihre Haut blutig war; zerrte an dem Grat, bis ihre Handflächen aufgeschürft waren. Der Stein gab nicht nach. Hinter ihr brüllte der Egger Flüche und Beschwörungen in fremden Zungen. Wie Pechklumpen brennende Skest fraßen die Perfektion des polierten Fußbodens fort; der Croyel löste sich noch einmal von Jeremiahs Hals, um den Insequenten anzufletschen. Die hämische Freude der Bestie traf Lindens Nacken wie eine erste Berührung mit Säure. Ihre Hände waren nicht kräftig genug. Ein Teil ihres Ichs beweinte ihre Schwäche, aber dieser Teil gehörte zu der Linden Avery, die sie unter dem Melenkurion Himmelswehr zurückgelassen hatte. Die Linden Avery, die mit Caerroil Wildholz und der Mahdoubt auf dem Galgenbühl gestanden hatte, zögerte nicht lange. Sie kam wieder hoch und trat wuchtig gegen den beschädigten Teil des Grats; traf ihn mit dem Stiefelabsatz. Ihr Fuß glitt ab, und Linden wurde durch den eigenen Schwung nach vorn geworfen. Als ihre Kniescheibe den Travertin traf, glaubte sie, den Knochen splittern zu fühlen. Ihre von Erdkraft belebten Nerven spürten das erste Aufflackern von wilder Magie, als der Egger Covenants Ring beschwor. Der Dreckskerl würde siegen … Trotz der Schmerzen trat Linden nochmals zu. Fast ohne zu merken, was sie tat, kreischte sie dabei die Sieben Worte. »Melenkurion abatha!« Ihr zweiter Tritt traf gut. »Duroc minas mill!« Der dritte Tritt ließ ein faustgroßes Stück aus Jeremiahs Gebilde
brechen. »Harad khabal!« Die innere Kraft des Gebildes verflog schlagartig. Die porösen Grate verloren ihre dunkle Farbe; der Travertin erschien sofort in einem natürlicheren Grau. Linden, die sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte, stand einer Horde von Skest gegenüber. Sie hatte kaum Zeit, tief Luft zu holen, heftig ihre Tränen wegzublinzeln, über den Schmerz in ihrem Knie zu stöhnen. Dann erschien plötzlich Roger Covenant, der sich direkt hinter dem Egger materialisierte. In ekstatischem Triumph rief Roger: »BLÖDmann!« Aus seiner rechten Hand schoss ein Magmastrahl, als er den Körper des Eggers zwischen den Schulterblättern durchbohrte. Einen Augenblick lang starrte der Egger Kastenessens Hand und die verkohlte Wunde an, wo Rogers Faust aus seiner Brust austrat. Er schien nicht begreifen zu können, was ihm zugestoßen war. Dann riss Roger seinen Arm zurück, und der Insequente brach tot zusammen. Der Stab und Covenants Ring fielen ihm aus den Händen. Die Skest wichen unverständliches Zeug zwitschernd zurück. Auf Anweisung von Roger oder dem Croyel bildeten sie einen Kreis um Roger, Jeremiah und die Leiche des Eggers. Falls auf den Korridoren noch weitere Skest warteten, drängten sie nicht in den Kuppelsaal nach. Dieses Mal war Lindens Gesundheitssinn nicht wieder geschwunden, aber sie hatte zu starke Schmerzen, um den Unterschied zu bemerken. Roger war hier. Er brauchte sich nur noch zu bücken und den Ring seines Vaters aufzuheben. Die Skest ließen ihm reichlich Platz. Zur gleichen Zeit konnte er den Stab des Gesetzes aufheben, wenn er das wollte. Damit wäre sein Sieg vollständig. Linden hatte getan, was sie konnte - aber das war zu wenig gewesen. Sie hatte den Bann von Jeremiahs Gebilde gebrochen. Bestimmt würden die Elohim jetzt seinen Aufenthaltsort entdecken können. Dass Roger aufkreuzen würde, hatte sie erwartet, aber sie hatte auch geglaubt, dass zumindest einer der verstreuten Elohim sich zum Eingreifen bemüßigt fühlen würde. Oder wenn keiner aus Infelizitas’ Volk eingreifen wollte, würde vielleicht Kastenessen intervenieren … oder Esmer … Hier konnten Roger und der Croyel ihre Macht kombinieren. Sie konnten durch Zeit und Raum entkommen, wie sie es schon einmal getan hatten.
Aber kein Elohim kam. Auch Esmer nicht. Und der Eifrige hatte es nicht geschafft, den Willen der Insequenten durchzusetzen. Liand war schwer verletzt; vielleicht lag er sogar im Sterben. Anele war geflüchtet; Lindens übrige Gefährten standen ganz im Bann des geheimnisvollen Palastes. Wegen der Schmerzen in ihrem Knie laut schluchzend warf sie sich der Länge nach auf Liands Orkrest. Gab der Sonnenstein ihr auch nur einen Bruchteil ihres Gesundheitssinns zurück, würde sie nach Erdkraft und dem Gesetz greifen können. Sie brauchte ihren Stab nicht in Händen zu halten, um ihn benutzen zu können. Sie brauchte nur ein kleines bisschen Gesundheitssinn … Eine Gestalt stürmte an ihr vorbei in den Kuppelsaal. Sie hatte keine Ahnung, wer oder was es war; Schmerzen und Verzweiflung machten sie für alles außer dem Orkrest blind. Auch Rogers trotzigen, empörten Aufschrei hörte sie kaum. Als ihre begierig ausgestreckten Finger sich um den Sonnenstein schlossen, spürte sie nichts. Überhaupt nichts. Der Orkrest war nur ein Steinbrocken. Sie konnte ihn nicht sehen, seine verborgene Vitalität nicht wahrnehmen. Völlige Verzweiflung schlug wie eine Woge über ihr zusammen. Dann flutete sie wieder zurück. Linden war zu hektisch, um darin zu ertrinken oder sich von ihr wegschwemmen zu lassen. Sitzend stemmte sie sich hoch und holte aus, um Roger den Sonnenstein an den Kopf zu werfen: Die letzte verzweifelte Tat einer Frau, deren Schicksal besiegelt war. Covenants Ring lag noch immer unter den Kringeln der Halskette halb verborgen in der Nähe von Jeremiahs nackten Füßen; der geschnitzte ebenholzschwarze Stab war nur eine Armlänge von ihm entfernt. Roger hatte noch nicht versucht, diese Werkzeuge der Macht an sich zu bringen, hatte noch keine Zeit dazu gehabt. Und da sah Linden in strahlend hellem Silberglanz Thomas Covenant. Irgendwie hatte er es geschafft, seinen Erinnerungen zu entfliehen, den Zauberbann des Palastes abzuschütteln. Er musste Rogers Macht - oder die des Croyel - gespürt und erkannt haben, dass Linden ihn brauchte. Covenant, der gerade mit Loriks Krill hatte zustoßen wollen, stand mit erhobener Hand vor seinem Sohn. Er hielt den Dolch in beiden Händen, als hätte er damit Kastenessens Hand abtrennen oder zumindest unbrauchbar machen wollen. Aber Roger hatte den Dolchstoß seines
Vaters mit einem Schwall aus Hitze und Gesteinsschlacke abgewehrt. Covenant, der weiter zuzustoßen versuchte, stand mit seiner Klinge wie erstarrt in der Hochofenglut von Rogers Macht. Die beiden hatten einander nicht körperlich berührt; ihre Angriffe begegneten sich in der Luft zwischen ihnen. Rogers feurige Theurgie hielt Covenants Klinge mit Karmesinrot und Schwefelgelb umklammert, die flüssig und tödlich wie Lava waren. Covenant antwortete mit der Heilsmächtigkeit wilder Magie, die durch Hoch-Lord Loriks gewaltiges Lehrenwissen kanalisiert und gebündelt wurde. Der reine Schmuckstein des Krill glich einem größer werdenden Anziehungspunkt aus weißer Glut. Allzu starker Weißglut. Linden brauchte keinen Gesundheitssinn, um zu erraten, dass Joan ihren Wahnsinn ausschüttete, um ihrem früheren Ehemann möglichst umfangreich zu schaden. Joan oder Turiya Herem hatten auf irgendeine Art erfasst, dass Covenant den Krill in beiden Händen hielt - und was er damit wollte. Während er gegen ihren Sohn ankämpfte, setzte sie ihren eigenen Ring ein, um zu versuchen, Covenant verglühen zu lassen. Direkt angreifen konnte sie ihn nicht - sie war nicht anwesend, und ihre eigene Notlage behinderte sie. Aber wenn sie genügend wilde Magie durch den Schmuckstein ausströmen ließ, wurde der Krill vielleicht so heiß, dass er Covenant das Fleisch von den Knochen brennen würde. Und Roger gebot über die Essenz der Skurj, die durch Kastenessens gewaltige Macht vervielfältigt wurde. Selbst ein Riese hätte solche Hitze nicht ertragen können. Die Lepra hatte Covenants Finger taub und gefühllos gemacht. Der Eifrige hatte ihm die Hände mit bunten Streifen aus Magie und Wissen bandagiert. Der Griff des Krill war in Pergament gewickelt. Trotzdem war die gegen Covenant gerichtete Gewalt zu stark. Linden beobachtete entsetzt, wie das Pergament schwarz wurde, sich wellte und an den Rändern zu brennen begann. Die Verbände des Eifrigen hielten noch einen Augeblick länger stand; dann begannen auch sie zu schwelen. Die Skest wichen jammernd an die Wände des Kuppelsaals zurück, und der Croyel schien auf eine Gelegenheit zum Angriff zu warten. »Hölle und Blut, Roger!«, rief Covenant mit vor Schmerzen heiserer Stimme aus. »Das brauchst du nicht zu tun! Es gibt bessere Antworten!«
»Wie kommst du darauf, dass ich Antworten will?«, fragte Roger scharf. »Du kannst nicht länger den Helden spielen, Dad!« Das Wort »Dad« sprach er wie einen obszönen Fluch aus. »Es wird Zeit, dass jemand dich in die Schranken weist! Ich bin nur froh, dass ich dieser Jemand sein werde!« Der Glanz des Krill blendete Linden beinahe; sein Echo von wilder Magie war unerträglich hell. Gott!, dachte sie. Großer Gott, im ganzen Land muss es Zäsuren geben; Joan versucht, den Bogen der Zeit ganz allein einzureißen … Jäh auflodernde Flammen brannten die Bänder von Covenants Händen. Bald würde er zu schwer verletzt sein, um den Krill weiterhin halten zu können. Von einem silbrigen Schein umgeben, der durch Karmesinrot und Bösartigkeit grausam verfärbt war, sah Linden eine weitere Gestalt in den Kuppelsaal stürmen. Stave, der inmitten der stürmischen Magien nur undeutlich erkennbar war, machte einen Satz, als wollte er sich an der Seite Covenants in den Kampf stürzen. Aber stattdessen streckte er sich in der Luft und landete der Länge nach auf dem Steinfußboden. Sein Schwung ließ ihn weiterrutschen - unter den Flammen und der Hitze hindurch, die von Kastenessens Hand, Joans Ring und Loriks Krill ausgingen. Covenant widerstand Rogers Angriff, weil Joans Bemühungen die Macht des Krill vermehrten, aber sein jetzt ungeschütztes Fleisch starb dabei; Flammen fraßen an seinen Fingern. Nur der Gestank von Rogers Magma überdeckte den Geruch nach verbranntem Fleisch. Roger konzentrierte sich ganz auf seinen Vater; der Croyel hingegen schien zu heulen, als die Bestie Jeremiahs Arm hob, um ihren Hass auf Stave herabzuschleudern. Doch der Haruchai hatte den Croyel überrascht. Noch ehe das Ungeheuer ihm seinen Hass entgegenschleudern konnte prallte Stave gegen die Leiche des Eggers und stieß den toten Insequenten mit ausgestreckten Armen gegen Jeremiah. Der unerwartete Anprall bewirkte, dass Jeremiah den Boden unter den Füßen verlor. Ungelenk fiel er über den Leichnam und störte so die Magie des Croyel. Der Croyel versuchte, Stave durch Jeremiah festzuhalten, aber er bekam ihn nicht zu fassen. Stave war zu schnell, riss Covenants Ring an sich,
wälzte sich zur Seite, wich Jeremiahs Händen aus … … wälzte sich zu dem Stab des Gesetzes und über ihn. Dann glaubte Linden, Stave ihren Namen rufen zu hören. Aus dem Kern widerstreitender Theurgien kam ein schwarzer Schaft wie ein Speer genau auf sie zugeflogen, als zielte er auf ihre Brust. Sie ließ den Sonnenstein fallen. Ein bloßer Reflex ermöglichte es ihr, eine Hand auszustrecken und den Stab aus der Luft zu fangen. Im selben Augenblick wurde sie verwandelt. Stave. Natürlich. Wie immer, wenn sie ihn am dringendsten brauchte. Von allen Haruchai verstand nur er es, seine Gedanken zu verbergen. Vielleicht hatte diese Gabe - oder die ungeheure Disziplin, die Voraussetzung dazu war - den Zauberbann des Palastes abgeschwächt. Er musste Lindens Abwesenheit gespürt und sich losgerissen haben, als keiner ihrer Gefährten dazu imstande war. Hätte Aneles überstürzte Rückkehr ihn alarmiert, hätte er nicht erst versucht, die anderen aus ihren Träumen zu reißen. Der Stab des Gesetzes gab Linden augenblicklich ihren Gesundheitssinn zurück. Erdkraft stellte sie wieder auf die Beine. Das zerfetzte Fleisch ihrer Finger und Handflächen schien von selbst zu heilen; die Schmerzen in ihrem Knie ließen sofort nach. Der Haruchai hatte Linden ihr wahres Erbe zurückgegeben; ihr Geburtsrecht. Jeremiah hatte sich bereits wieder aufgerappelt. Der Croyel hatte genügend Zorn angesammelt, um Stave jeden Knochen im Leib zu brechen. Ohne auch nur einen Herzschlag lang zu zögern, warf Linden Feuer und Gesetz in den Kampf. Am liebsten hätte sie ihr Feuer überall gleichzeitig eingesetzt. Liand brauchte sie. Covenant brauchte sie dringend. Stave war den Theurgien des Croyel schutzlos ausgeliefert. Die Skest konnten jeden Augenblick wieder vorrücken, wenn Roger oder der Croyel es ihnen befahl. Bestimmt würde doch einer von ihnen - vielleicht sogar beide - seine Macht gegen sie richten? Gab Linden ihnen Gelegenheit dazu, konnten sie sich aus der Gefahrenzone teleportieren. Aber sie war durch ihre Sterblichkeit gehandicapt. Sie konnte sich nicht auf so viele Gefahren gleichzeitig konzentrieren. Linden vertraute darauf, dass Stave allein zurechtkommen würde … dass
Roger und der Croyel mit Liand fertig waren … dass die Skest zu verängstigt waren, um erneut vorzurücken … und richtete ihre Verzweiflung gegen Covenants Sohn. Waren Covenants Hände verstümmelt oder weggebrannt, wusste sie kein Mittel, sie zu heilen. Wie Staves Auge, wie Mahrtiirs Augen würden sie für immer verloren sein. Covenant würde Loriks Krill nicht mehr halten können, und er würde zu starke Schmerzen haben, um seinem Ring wilde Magie zu entlocken. Linden weinte um ihren Sohn; aber sie kämpfte für ihren ehemaligen Liebhaber. Sie hatte Roger schon einmal besiegt. Sie hatte seine Wildheit und die des Croyel gegen sich gehabt und war siegreich geblieben. Aber hier wurde sie durch Kevins Schmutz behindert, und sie konnte nicht auf die überlegenen Energien von Erdblut zurückgreifen. Sobald Covenant aus diesem Kampf ausschied - sobald Roger und der Croyel ihre Kräfte gegen sie vereinen konnten -, würde sie sterben. Magma und Bösartigkeit würden sie auslöschen. Doch Covenant schaffte es irgendwie, seine grässlichen Schmerzen, seine Blasen werfende, teils verkohlte Haut zu ertragen. Roger konnte Kastenessens Faust nicht auf Linden richten, weil er gezwungen war, sich gegen seinen Vater zu verteidigen. Noch ehe der Croyel Stave treffen konnte, sprang der Haruchai vom Fußboden auf. Unglaublich schnell riss er ein Bein hoch, um gegen Jeremiahs Kopf zu treten. Die Bestie auf dem Rücken des Jungen konnte ihm nicht ausweichen, aber ihr heftiges Zurückzucken verminderte die Wirkung von Staves Fußtritt. Jeremiahs Kopf flog zur Seite; Blut und Speichel sprühten von seinen Lippen; er torkelte. Die Skest stoben jammernd auseinander, um nicht in Berührung mit ihrem Herrn zu kommen. Aber Jeremiah ging nicht zu Boden. Mit einem Satz war Stave wieder bei ihm. Als Jeremiah an die Wand prallte, stand er zum nächsten Tritt bereit. Aus Jeremiahs Mund lief ein dünner Blutfaden. Trotzdem war der Croyel unversehrt. Vielleicht konnte kein rein körperlicher Angriff ihm etwas anhaben. Wilder Trotz schäumte in seinem Blick, als seine Reißzähne sich noch tiefer in den Hals des Jungen gruben. Jeremiahs Halbhand zuckte unwillkürlich hoch - und Stave taumelte
zurück, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Er konnte nicht hoffen, den Croyel besiegen zu können. Das hätte ihm sekundenschnell den Tod gebracht. Aber es war ihm gelungen, das Ungeheuer für kurze Zeit daran zu hindern, Roger gegen Covenant und Linden beizustehen. Solange sie konnte, richtete Linden das Stabfeuer gegen Rogers Gesicht; gegen seine hasserfüllte Version der Züge seines Vaters. Runen und Schwärze, Hektik und Tränen und Verzweiflung gaben ihr die Kraft, Roger dazu zu zwingen, sich von Covenant abzuwenden. Covenant sank hilflos auf die Knie. Von seinen verkrampften Fingern stieg Rauch auf, aber er ließ den Krill nicht los. Als wäre sein Fleisch untrennbar mit dem Dolch verbunden - mit ihm verschmolzen -, hielt er ihn umklammert, während er wieder auf die Beine zu kommen versuchte. Der Schmuckstein des Krill strahlte weiterhin silbern, aber sein Leuchten begann jetzt schwächer zu werden. Joans Kenntnis seiner Situation nahm offenbar ab. Sie war zu schwach, um die Anforderungen, die Turiya an sie stellte, erfüllen zu können. Ein rascher Blick zeigte Linden, dass Covenants Hände nie wieder ganz heil sein würden. Mit genug Zeit und Ruhe würde sie seine Finger vielleicht von dem Krill lösen können, ohne dass allzu viel Haut abgerissen wurde. Vielleicht ließen sie sich auch strecken und so weit heilen, dass er sie wieder abbiegen konnte. Aber selbst wenn sie ihre ganze Kunst aufwandte, würden sie ihre frühere Beweglichkeit nie mehr zurückerlangen, sondern gefühllose Stummel bleiben … Weil sie abgelenkt war, ließ sie zu, dass ein Strahl von Rogers Zorn ihre Wange streifte. Er konnte sie schlimm verbrannt, vielleicht sogar entstellt haben; trotzdem fühlte sie keinen Schmerz. Auch ihre gebrochene Kniescheibe spürte sie nicht. Sie hatte weder Jeremiah und den Croyel noch die von den Skest drohende Gefahr vergessen; sie hatte auch Liand und Stave nicht vergessen. Aber im Augenblick kämpfte sie, als wäre nichts anderes wichtiger als der Schaden, den Covenants Hände genommen hatten. Indem sie sich mit den Sieben Worten anspornte, zwang sie Roger dazu, von seinem Vater zurückzuweichen. Irgendwie gelang es Covenant, sich wieder aufzurappeln. Jede
Bewegung war schriller Schmerz; aber er wich nicht zurück. Stattdessen folgte er Roger und ließ dabei den Krill weiter auf Kastenessens Hand gerichtet. Gemeinsam würden Linden und er Roger vielleicht besiegen können. Linden wusste, dass Roger den Tod fürchtete, und sie glaubte nicht, dass er zulassen würde, dass seine verpflanzte Macht - seine Halbhand Schaden erlitt. Ertrug Covenant seine Schmerzen noch etwas länger, konnte es ihm vielleicht gemeinsam mit Linden gelingen, Roger aus dem Kuppelsaal zu vertreiben. Unbeabsichtigt störte Stave ihre Konzentration. Weil sein erster Angriff auf den Croyel erfolglos geblieben war, versuchte er jetzt etwas anderes: Er warf Covenants Ring in die Höhe. Überrascht und begierig verfolgte der Croyel die Auf- und Abwärtsbewegung des Weißgolds; in seiner Gier nach wilder Magie vernachlässigte das Ungeheuer seine Verteidigung und versuchte, sich den Ring aus der Luft zu krallen. Mit der ganzen Kraft und Geschwindigkeit eines Haruchai traf Staves Faustschlag den Croyel zwischen seinen glitzernden Augen. Der Kopf der Bestie flog so heftig nach hinten, dass seine Zähne aus Jeremiahs Hals gerissen wurden; doch der deformierte Kopf schnellte gleich wieder nach vorn, und die vor Zorn funkelnden Augen fixierten Stave. Als Stave den Ring auffing, ihn mit der Faust umschloss, riss Jeremiah einen Arm hoch. Stave wurde in die Luft geschleudert; flog auf die wartenden Skest zu. Stave! Nicht einmal seine außergewöhnlichen Reflexe konnten ihn jetzt noch retten. Er würde in lebender Säure aufkommen. Sein Herz - oder Lindens - würde vielleicht noch zweimal schlagen können, ehe die Säure der Skest ihm das Fleisch von den Knochen fraß. Er würde unter Folterqualen einen raschen Tod sterben. Linden, die nicht anders konnte, warf sich herum, wandte sich von Roger ab. Mit dem Feuer speienden Stab in beiden Händen projizierte sie ihre gesamte Macht mit einer sichelförmigen Bewegung auf die Skest und bemühte sich verzweifelt, sie niederzumähen, zu Asche zu verbrennen, um Platz für Stave zu schaffen. Es gelang ihr fast. Dutzende der Säurekinder gingen in Flammen auf,
zerfielen und ergossen dickflüssiges Feuer über den Granitboden. Vitriol zerfraß Teile des Leichnams des Eggers. Stave, der seinen Körper in der Luft verdrehte, kam mit den Füßen voraus in einer Lache aus brennender Flüssigkeit auf. Er wollte sich mit einem Satz in Sicherheit bringen, aber Säure spritzte über seine Füße und Unterschenkel; fraß sich in seine Muskeln. Fast verkrüppelt schaffte er es noch, außerhalb der Vitriollache zu Boden zu gehen. Dann versuchte er zu stehen, aber das konnte er nicht. Die Säure hatte sich zu tief in seine Muskeln gefressen. Auf dem Granit brannte sie noch immer. Linden nutzte einen Augenblick, den sie eigentlich nicht verlieren durfte, um Staves Beine mit ihrem eigenen Feuer zu bestreichen. Während sie den eigenen Tod erwartete, dämmte sie den Schaden mit Erdkraft ein. Dann überließ sie Stave seinen Verletzungen und warf sich herum, um sich wieder den Angriffen Rogers und des Croyel zu stellen, die ihr Verderben sein konnten. Als sie herumfuhr, sah sie jedoch, dass Roger ihre Ablenkung nicht genutzt hatte, seine Kräfte für einen tödlichen Strahl zu sammeln. Der Croyel hatte seinen Angriff auf Stave nicht fortgesetzt. Die beiden hatten sich wider Erwarten nicht zusammengetan, um Covenant auszuschalten. Stattdessen waren sie aufeinander zugehastet, hatten bereits die Arme erhoben, um ihre Magien zu einem Portal zu vereinigen. So waren sie kurz davor, aus dem Kuppelsaal zu verschwinden. Ihre vereinten Kräfte würden sie in eine Zeit oder an einen Ort versetzen, an dem Linden sie unmöglich wieder aufspüren konnte. Covenant hatte gesehen, was sie taten, musste ihre Absicht verstanden haben und taumelte auf sie zu, um den Krill zwischen sie zu stoßen, ehe sie ihr Zauberwerk vollenden konnten. Aber er kam zu spät. Linden fühlte ihre Macht anwachsen, als er zu weit entfernt war. Und er befand sich genau zwischen ihr und den beiden. Sie konnte ihr Feuer nicht auf Roger und den Croyel richten, ohne Covenant zu versengen. Linden glaubte zu hören, dass Stave ihr etwas zurief; sie zum Angriff drängte. Vermutlich glaubte er, Covenant würde wollen, dass sie keine Rücksicht auf ihn nahm. Trotzdem erstarrte sie eine Zehntelsekunde lang.
Und in diesem Augenblick erschütterte ein Knall wie ein Donnerschlag den Kuppelsaal. Der Fußboden riss an einem Dutzend Stellen. Geysire aus Geröll oder Trümmergestein stiegen auf; der ganze Kuppelsaal schlingerte, als hätte er sich aus seiner Verankerung losgerissen. Von feuriger Theurgie getragen materialisierte Esmer sich zwischen Roger und Jeremiah. »Nein!«, brüllte Cails Sohn mit Stentorstimme. »Das lasse ich nicht zu!« Die durch seine Ankunft ausgelöste Druckwelle trieb Roger und Jeremiah auseinander. Rauchende Säure versickerte in Spalten und Gesteinsschutt. Linden hatte kaum Zeit, den Übelkeit erregenden plötzlichen Gallegeschmack in ihrer Kehle wahrzunehmen. Von Schock halb benommen sah sie, dass Esmers körperliche Verfassung sich seit seinem letzten Auftauchen verschlechtert hatte. Er war offenbar nicht imstande, die Verletzungen zu behandeln, die er beim Kampf um Erstes Holzheim erlitten hatte. Die Blut und Schmutzflecken auf seinem zerrissenen Umhang waren unverändert, aber seine schwärenden Wunden sonderten jetzt übel riechende Flüssigkeiten ab. Der eitrige Gestank seiner Verletzungen war menschlicher und zugleich widerlicher als der von Rogers Halbhand. Esmer hatte Linden erzählt, Kastenessen wolle ihn leiden lassen, weil er ihr geholfen habe. Sein Zorn ist grenzenlos. Aber trotz seiner schlechten Verfassung hatte er sich seine Kräfte bewahrt und konnte noch immer so zerstörerisch sein wie ein Wirbelsturm. »Närrin!«, fauchte er Linden an. Die dunklen Meere seiner Augen schäumten. »Du hast Kastenessen merken lassen, dass du deinen Sohn gefunden hast!« Fallende Steine trafen Lindens Kopf und Schultern, prasselten auf Covenant, Stave und Liand herab. Verspätet nutzte sie Erdkraft, um diese sichtbaren Zeichen von Esmers Macht abzuwehren. Wie bei dem Erdbeben unter dem Melenkurion Himmelswehr schützte sie sich selbst und damit auch ihre Gefährten. Und ebenso wie damals war ihr kaum bewusst, was sie tat. »Und wenn schon?«, antwortete sie ebenso laut. »Du bist schon hier!« Hilfe und Verrat. »Ich weiß, dass du tust, was immer er verlangt!«
Ein Gesteinshagel ging auf die Skest nieder und ließ viele von ihnen auf dem von Spalten durchzogenen Boden verenden. Die Überlebenden flüchteten in die Korridore, aus denen sie gekommen waren. »In dieser Sache«, widersprach Esmer heftig, »diene ich ihm nicht! Aber die Skurj werden es tun! Sie, die nicht genannt werden darf, wird es tun!« Die Geysire spuckten weiter Gesteinstrümmer, die Roger und Jeremiah taumeln ließen und dazu zwangen, ihre Köpfe mit den Armen zu schützen, sodass sie vorerst handlungsunfähig waren. Mit ihrem Stab lenkte Linden weiter den Granithagel von ihren Gefährten und sich selbst ab. Wo …? Linden erwartete, dass Urböse und Wegwahrer sie umschwärmen würden. Sie halten Wache gegen mich. Immer wenn Esmer ihr geholfen oder sie bedroht hatte, waren diese Wesen erschienen, und sie hatten sich stets bereitwillig für ihre Verteidigung aufgeopfert. Diesmal jedoch erschienen sie nicht. Esmer war zu schnell gewesen oder zu überraschend gekommen … Während Linden sich und ihre Freunde mit Feuer schützte, brandete Esmer wie eine gewaltige Woge gegen Roger an, begrub Covenants Sohn wie ein Brecher unter sich. Die beiden verschwanden augenblicklich. Aus eigenen Gründen - oder auf Befehl Kastenessens oder im Auftrag von Lord Foul - nahm Esmer Roger mit sich fort. Der Steinhagel hörte so jäh auf, wie er begonnen hatte, und die Verzweiflung des Croyel ließ Jeremiah kurz aufheulen. Der Junge schwenkte hektisch die Arme. Mit einer Hand rief oder beorderte er die Skest in den Kuppelsaal zurück. Mit der anderen schlug er Covenant beiseite, als wären Covenants Gegnerschaft und seine Schmerzen trivial. Dann richtete er Zorn wie einen Rammbock gegen Linden. Sie begegnete ihm mit Erdkraft; blockte ihn ab. Aber er rannte mit solcher Gewalt gegen ihre Barriere an, dass der Stab in ihren Händen bockte. Der Zorn des Ungeheuers drängte sie zurück. Seine Verzweiflung war so groß wie die ihrige. Skest stürmten zum Angriff vor, und Covenant taumelte davon. Seine Hände schienen mit dem Krill verschmolzen zu sein.
Stave schaffte es durch reine Willenskraft, wieder auf die Beine zu kommen. Er hielt noch immer Covenants Ring in der Faust. Die Halskette baumelte zwischen den Fingern hervor. Auf schwer verletzten Beinen humpelnd näherte er sich Liand. »Verteidige dich, Auserwählte«, keuchte er heiser. »Rette deinen Sohn. Gegen die Skest komme ich nicht an. Ich kümmere mich um Liand.« Alles wurde ihr zu viel. Die Skest waren zu zahlreich. Der Croyel war zu stark. Und Linden konnte nicht auf Erdblut zurückgreifen, um sich größer zu machen, als sie tatsächlich war. Trotzdem warf sie sich von Liebe und Fürsorge - und neuer Angst getrieben nach vorn. Covenant, Liand und Stave waren dem Tod nahe; und sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, Jeremiah weiter der Grausamkeit des Croyel auszuliefern. Aber ihre Notlage erforderte, dass sie den eigenen Sohn angriff, um den Croyel zu treffen. Erschaudernd setzte sie Erdkraft wie einen verzweifelten Aufschrei ein. Esmer hatte ihr geholfen. Wo war der Verrat, den seine widersprüchliche Natur erforderte? Ich bin dafür gemacht, zu sein, was ich bin. Bedingte sein Verrat, dass sie Jeremiah nur retten konnte, indem sie ihn angriff? Indem sie ihn tötete? Dann würde ihr Horror den Verächter entzücken. Aber das hielt sie für unwahrscheinlich. Lord Foul wollte Jeremiahs Tod nicht. Esmer hatte ihr einmal erklärt: Dein Sohn ist unermesslich kostbar. Auch wenn der Verächter sich an ihrer Verzweiflung weidete, wollte er nicht, dass sie Jeremiahs Tod herbeiführte. Er hatte noch Verwendung für ihren Sohn … … von meinem geheimen Absichten will ich nicht sprechen. Nein, dieser Kampf diente weder Lord Fouls noch Kastenessens Zwecken; vor allem nicht, seit der Croyel daran gehindert worden war, mit Jeremiah zu flüchten. Esmer hatte seinen Verrat noch nicht enthüllt oder er hatte ihn so raffiniert getarnt, dass Linden ihn nicht sehen konnte. Während ihr Stab Feuer spuckte, versuchte Linden, sich nicht nur auf den Croyel, sondern auch auf die Skest zu konzentrieren, was ihr jedoch nicht gelang. Das Ungeheuer, das sich von Jeremiah ernährte, war zu stark. Und es schien imstande zu sein, eine Legion missgebildeter Kinder, leuchtend und tödlich, aufmarschieren zu lassen. Stave hatte es geschafft, Liand vom Fußboden aufzuheben, aber seine
verletzten Beine hinderten ihn daran, mit ihm zu flüchten. Covenant, der sichtlich Schmerzen litt, hatte sich aufgerappelt und stützte sich an die Wand, gegen die Jeremiah ihn geschleudert hatte. In seinen grausig entstellten Händen pulsierte der Krill mit wechselnder Leuchtkraft, als wäre er sich seiner Verwendung nicht ganz sicher. Zumindest vorerst blieb ihm Joans Bösartigkeit erspart. In dieser kurzen Erholungspause taumelte er mühsam auf den entführten Jungen zu. Wie Stave war er zu schwer verletzt, um sich rasch bewegen zu können, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Nur seine Hartnäckigkeit hielt ihn aufrecht. In verzweifelter Hast wechselte Linden zwischen den Zielen hin und her. Sie setzte dem Croyel zu, so stark sie nur konnte, und richtete das Feuer ihres Stabes auf die Skest, bis sie zerplatzten und verbrannten. Sobald sie zurückgedrängt waren, beeilte sie sich, wieder den Croyel anzugreifen. Nahm sie die Zielwechsel nicht rasch genug vor, würde das Ungeheuer Zeit haben, seine Kräfte zu einem tödlichen Angriff zu sammeln … oder die Skest würden an ihre Gefährten herankommen … oder … Alles zusammen überstieg ihre Kräfte. Als Covenant stolperte und zusammensackte, konnte sie nichts mehr tun, um ihn zu retten. Galt fing Covenant auf, ehe der Zweifler zu Boden ging. Im nächsten Augenblick war auch Clyme bei ihm. Gleichzeitig legte Branl sein ganzes Gewicht in einen Schlag gegen Jeremiahs Kopf. Der Croyel zuckte zurück, dann traf er Branl mit seiner Theurgiefaust. Der Gedemütigte wurde zurückgeschleudert und prallte mit solcher Gewalt an die gegenüberliegende Wand, dass er sich alle Knochen hätte brechen können. Nur die übermenschliche Zähigkeit der Haruchai bewahrte ihn vor Verletzungen, die schlimmer als Staves hätten sein können. Bevor der Croyel nochmals angreifen konnte, stürmte Raureif Kaltgischt mit Graubrand und Rahnock dicht auf den Fersen in den Kuppelsaal, und aus dem zum Palast führenden Korridor schlängelten sich Bänder wie leuchtende Nattern herein. Sie umschlangen Stave und Liand, brachten den Haruchai und den Steinhausener vor den Skest in Sicherheit. Ein weiteres Band stellte Liands Sonnenstein sicher. Sobald der Weg frei war, stürzten weitere Riesinnen sich in den Kampf. Statt ihrer Füße gebrauchten sie ihre Schwerter aus Stein und Eisen. Ihre angeborene Feuerfestigkeit machte sie nicht immun gegen lebende
Säure, bot aber gewissen Schutz vor Säurespritzern von erschlagenen Skest. Die Riesinnen wurden weniger stark verbrannt als Stave. Der Croyel versuchte, sie von den Beinen zu holen, aber sie waren zu zahlreich und zu stark. Und als das Ungeheuer, das von Jeremiah Besitz ergriffen hatte, sich auf einzelne Gegner zu konzentrieren versuchte, schlugen Bänder ihm ins Gesicht, klatschten gegen seine Augen. Grobfaust und Steinmangold lösten ihre steinernen Brustpanzer, ließen sie von den Schultern gleiten. Sie gebrauchten ihre Panzer wie Spaten oder Keulen, um Skest zu zerquetschen und sich dabei vor Säurespritzern zu schützen. In wenigen Augenblicken hatten sie freien Raum um Covenant, Galt und Clyme geschaffen. Der Steinboden schien zu dampfen, wo Säure auf Granit zerfloss; die Riesinnen umgaben Linden mit einem schützenden Kreis. Der Croyel versuchte fieberhaft, seine Macht überallhin zu projizieren; aber seine Angriffe zeigten immer weniger Wirkung. Linden, der das Eintreffen ihrer Freunde neue Kräfte verliehen hatte, setzte dem Ungeheuer mit Erdkraft zu. Während Säuredämpfe ihre Lunge reizten, blockierte sie die Magie des Croyel, lenkte sie ab, richtete sie gegen die Skest. Aus dem relativ sicheren Korridor schickte der Eifrige die Bänder, aus denen sein Gewand bestand, um den Croyel zu stören. Bunte Stoffstreifen belästigten das Ungeheuer, als wären sie lebendig. Verendende Skest füllten den Kuppelsaal mit ihren flüssigen Klagelauten. Felsbrocken aus dem Fußboden lösten sich zischend auf, aber die Rüstungen der Riesinnen aus Stein und Eisen hielten der Säure stand. Dann stellte der Croyel plötzlich seine Angriffe ein. Mit einem Chor aus zitternden Klagelauten machten die überlebenden Skest kehrt und flüchteten; ließen ihren Herrn im Stich. Die Riesinnen schienen unbeweglich erstarrt zu sein. Ineinander verschlungene smaragdgrüne und granatrote und himmelblaue Bänder wurden in den Korridor zurückgezogen. Linden ließ instinktiv ihr Feuer erlöschen. Covenant stand hinter Jeremiah. Galt neben ihm stützte den Zweifler. Clyme hielt Jeremiah an den Schultern gepackt, damit der Junge nicht ausweichen konnte. Mit verletzten Händen hatte Covenant den Krill zwischen Jeremiahs
Hals und der Kehle des Croyel geschoben. Die rasiermesserscharfe Dolchklinge hatte dem Ungeheuer schon einen blutenden Schnitt beigebracht. »Hör mir zu«, keuchte Covenant dem Croyel ins Ohr. »Pass gut auf!« Jedes Wort wurde schmerzhaft heiser hervorgestoßen. »Du weißt, dass ich dich nicht umlegen kann, ohne Jeremiah zu töten. Ich besitze nicht die richtige Macht, um ihn am Leben zu erhalten, wenn ich dir die Kehle durchschneide. Das weiß ich. Aber du kennst mich nicht. Du weißt nicht, wie weit ich zu gehen bereit bin. Hättest du dieses Messer, würdest du mich sofort umbringen. Stell mich also nicht auf die Probe.« Mit zusammengebissenen Zähnen wiederholte er: »Stell mich also nicht auf die Probe.« Im Hintergrund des starren Blicks des Ungeheuers sah Linden angstvolles Entsetzen wie Hexengebräu brodeln. Als Covenant sprach, begann der Schmuckstein des Krill wieder heller zu leuchten. Bald schien sein gleißend helles Licht den ängstlichen Blick der Bestie, ihre scharfen Reißzähne, ihre Bösartigkeit zu überstrahlen. Jeremiahs durch Weißglut exponierte Knochen wurden unter seinem verwundbaren Fleisch sichtbar. Die Covenants Körper überflutende Hitze verzog sein Gesicht zu einem Schrei, den er mit aller Macht unterdrückte. Mit finsteren Mienen, als litten auch sie große Schmerzen, hielten Galt und Clyme den Zweifler aufrecht und verhinderten zugleich, dass der Croyel zurückweichen konnte. Schließlich gab Lindens verletztes Knie nach. Hätten Bhapa und Pahni sie nicht an den Armen festgehalten, wäre sie der Länge nach auf den mit Gesteinstrümmern übersäten Saalboden geschlagen. Dass Esmer mit einem Schwarm von Urbösen und Wegwahrern zurückgekommen war, wusste sie nur, weil ihr plötzlich übel wurde.
10 Mit üblen Mitteln
Linden, die nur von den Seilträgern aufrecht gehalten wurde, stand wie eine Ruine ihrer selbst da: ein von Konsequenzen überwuchertes verfallendes Gebäude. Die Werkzeuge, die sie an den Egger abgetreten hatte, waren ihr wiedergegeben worden. Die Wärme des Stabes blieb in ihren Händen zurück. Solange Stave lebte, würde er Covenants Ring nur ihr selbst übergeben. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie nun mit solchen Kräften anfangen sollte. Die Kosten … Die Kosten hatte Linden selbst verschuldet, und sie waren zu hoch. Sie hatte alle ihre Freunde in gefährliche Nähe des Ursprungs von Kevins Schmutz gebracht. Sie hatte zugelassen, dass Liand schwer verletzt, vielleicht sogar getötet worden war. Sie hatte gesehen, wie Stave durch Säure fast zum Krüppel geworden war; war Augenzeugin von der Ermordung des Eggers gewesen. Ohne die beiden aufhalten zu können, hatte sie beobachtet, wie Esmer Roger in Sicherheit gebracht oder ins Verderben geführt hatte. Sie hatte gekämpft und gekämpft, sich gegen Mächte gewehrt, die ihr überlegen waren. Durch ihre Schuld waren Covenants Hände … Dies war das Ergebnis. Die Leiche des Insequenten lag von Säure angefressen und zerfließend auf dem von Rissen durchzogenen Granitboden. Und Esmer war zurückgekehrt. Gegen ihn konnte sie sich nicht verteidigen. Die Tatsache, dass in seinem Kielwasser auch die letzten Urbösen und Wegwahrer angekommen waren, tröstete sie nicht im Geringsten. Linden hatte seit ihrer ersten Nacht in Andelain nicht mehr geschlafen; hatte außer einer Hand voll Schatzbeeren nichts gegessen. Ihre emotionale Verfassung glich ihrer Bluse: am unteren Saum fehlte ein Stück, mit dem das Gewand der Mahdoubt geflickt worden war; sie war von der hektischen Flucht durch den Salva Gildenbourne zerrissen, von Blei und Tod durchschlagen worden. Die Flecken auf ihren Jeans versinnbildlichten ihr Schicksal: ins Wasser geschrieben, nur grüner Grassaft. Unvergossene Tränen erfüllten ihr Herz.
Auf einem Bein stehend, um ihr verletztes Knie zu entlasten, fühlte sie weiter das Beben von Esmers Macht in den Gesteinstrümmern auf dem Saalboden. Bhapa und Pahni stützten sie auf beiden Seiten. Ganz anders als Mahrtür schien der ältere Seilträger nicht unter dem Gefühl zu leiden, von meilenhohen Felsschichten erdrückt zu werden, ohne zu wissen, ob er Sonnenschein, weite Ebenen und die Ranyhyn jemals wiedersehen würde. Weil er Selbstzweifel gewöhnt war, galt seine Besorgnis nicht ihm selbst, sondern dem Mähnenhüter und seinen Gefährten. Pahni dagegen war nicht nur von Kräften und Gefahren eingeschüchtert, die andere Ramen nie erlebt hatten, sondern hatte auch schreckliche Angst um Liand. »Ring-Than«, flüsterte sie drängend. »Ring-Than, hör mir zu. Liand ist schwer verletzt. Er ist dem Tod nahe. Ring-Than - Linden Avery -, ich liebe ihn. Ich flehe dich an, ihn zu heilen.« Linden verstand. Liand brauchte sie. Stave ebenfalls. Und vielleicht auch Branl, obwohl der Meister ihre Hilfe zurückweisen würde. Die Verbrennungen der Riesinnen verlangten ebenfalls Aufmerksamkeit. Aber ihr Herz weinte um Jeremiah, der im Griff des Croyel wie eine schlaffe Marionette dastand. Seine Knochen leuchteten, als stünden sie in Flammen. Sie beobachtete die scharfe Schneide des Krill an der Kehle des Ungeheuers, das todbringende Leuchten des Schmucksteins und Covenants unglaublichen Mut… und konnte sich nicht bewegen. Nur Covenant machte ihr ein wenig Hoffnung. In Loriks Klinge hatte er ein Mittel gefunden, den Croyel zu beherrschen. Aber nicht mehr lange. Joans Kraft, die ihm schon unwiderruflich geschadet hatte, leuchtete mit jeder Sekunde heller … Gott, wie Joan ihn hassen musste! Oder vielleicht verkörperte er alles, was sie an sich selbst hasste. Auch die Tatsache, dass sie von Turiya Herem besessen war, reichte kaum als Erklärung für ihre jetzige konzentrierte Gewalttätigkeit aus. Der Wüterich konnte sie nur am Leben erhalten, ihre Wut immer wieder anfachen und ihre Ausbrüche entzückt beobachten. Er konnte nichts für ihre jahrelangen selbst verschuldeten Qualen. Linden wusste nicht, warum Covenant nicht längst mit einem Aufschrei zusammengebrochen war. In gewissem Maß schützte ihn seine Lepra.
Die Nähe zu dem Ursprung von Kerins Schmutz hatte seine Krankheit verschlimmert. Die Nervenbahnen in seinen Händen waren abgestorben oder zumindest schwer geschädigt. Aber trotzdem … War das sein Geheimnis? Der Schlüssel zu seiner unglaublichen Tapferkeit? Hatten Entfremdung und Gefühllosigkeit ihm übermenschliche Fähigkeiten verliehen? Um Linden herum versammelten sich ihre übrigen Gefährten. Böen-Ende trug Anele, der wieder eingeschlafen war. Spätgeborene hatte weiter Mahrtür auf dem Arm, während Onyx Steinmangold den bewusstlosen Liand in den Armen hielt. Stave, der auf angefressenen Beinen humpelte und schreckliche Schmerzen haben musste, die er sich zur Kenntnis zu nehmen weigerte, ging vor dem Eifrigen her; der in Bänder gehüllte Insequente folgte ihm unsicher, unterdrückte seine Ängste und zwang sich dazu, sich zu Lindens Freunden zu gesellen. In einem Knoten aus Stoffstreifen brachte er Liands Orkrest mit. Zwischen den Riesinnen standen Urböse und Wegwahrer leise bellend aufrecht oder auf allen vieren: ein halblautes Kläffen, aus dem Tadel oder Besorgnis sprach. Die Eisenhand berührte mit der Klinge ihres Steinschwerts drohend Esmers Nacken, doch Esmer ignorierte sie, als wären ihre Größe und gewaltige Kraft trivial; gänzlich bedeutungslos. In seinem Blick schimmerte Verzweiflung; er schien wie Lindens Herz zu weinen. Esmer machte keine Bewegung - ebenso wie Raureif Kaltgischt. Sie hatte nur Augen für Jeremiah und Covenant und den Krill. Mahrtür fragte heiser: »Stehen wir dem Croyel gegenüber?« Der Stab in Lindens Händen schien seinen Gesundheitssinn teilweise wiederhergestellt zu haben. »Ist der Sohn der Ring-Than von diesem Ungeheuer besessen?« Keiner antwortete ihm. Wie Pahni hatte Esmer nur Augen für Linden. Der Eifrige beobachtete Cails Sohn erkennbar ängstlich. Alle anderen schienen von Covenants erbittertem Widerstand gegen Joan wie gebannt zu sein. Seine Hände würden nie mehr richtig heilen. Seine Narbe reflektierte Silber wie ein in seine Stirn eingeschnittener Schrei. Seine silberne Mähne erschien wie Feuerzungen aus wilder Magie; sein Verstand schien in Flammen zu stehen. Trotz seiner
Krankheit erlitt er grausame Schmerzen … Fast als erwartete er nicht, von jemandem gehört zu werden, keuchte er: »Joan weiß, was ich tue.« Es klang wie ein Klageruf. »Oder Turiya weiß es. Sie ist jetzt stärker. Ich kann den Bogen nicht mehr beschützen. Ich halte nicht mehr lange durch.« Linden hätte sich bereitwillig um seinetwillen verstümmeln lassen; aber sie wusste nicht, wie Joans Wahnsinn sich blockieren ließ. Das hatte sie noch nie gewusst. Covenant hinderte den Croyel an der Flucht. Clyme hielt Jeremiah fest. Mit klarer Befehlsstimme rief Stave: »Branl! Galt!« Die Gedemütigten mussten seine Gedanken gehört, seinen Befehl verstanden haben. Während Branl rasch vortrat, riss er vom Saum seines ockergelben Gewands einen Stoffstreifen ab. Dann tauschte er den Platz mit Galt, der Covenant stützte, und gab ihm den Streifen. Galt umwickelte sofort seine Rechte mit dem Stoff und streckte sie aus, um Covenant den Krill aus den Händen zu nehmen; um an seiner Stelle den Croyel zu bedrohen. Linden hielt unwillkürlich den Atem an; biss sich auf die Unterlippe. Sie fürchtete, Covenants Hände würden zu verbrannt sein, um sich öffnen zu lassen, erwartete, dass das Fleisch sich von den Knochen lösen würde, wenn er versuchte, die Finger zu strecken - oder wenn Galt dies gewaltsam tat. Ohne zu merken, dass sie sich bewegt hatte, stand sie auf einmal neben Covenant, ließ das freundliche Feuer von Erdkraft aus dem Stab züngeln. Während Galt seine Hand nach dem Krill ausstreckte, hüllte sie Covenants Unterarme in milde Flammen, um seine Adern zu füllen und seine Finger zu retten. Vorübergehend ignorierte sie die schreckliche Notlage ihres Sohns. Stattdessen konzentrierte sie sich einzig und allein auf die Aufgabe, Covenants Hände zu erhalten, damit er loslassen konnte. Trotz aller Selbstbeherrschung entrang sich Covenant bei dieser Anstrengung ein Schrei: ein schockierendes Aufheulen. Aber Galt bog ihm vorsichtig die Finger auf, während Linden seine Schmerzen mit Erdkraft linderte. So ließ er Finger für Finger los. Branl zog Covenant sofort weg, während Galt nun mit Hoch-Lord Loriks Krill in der Hand die Aufgabe akzeptierte, den Croyel in Schach zu halten. Zugleich umklammerte er mit der linken Hand Jeremiahs
Schulter, damit Clyme von ihm wegtreten konnte. Sobald Covenant den Krill nicht mehr in der Hand hielt, erlosch Joans Wildheit. Der Wüterich Turiya oder sie musste seine Abwesenheit spüren, die ihre Bemühungen jetzt nutzlos machten. Der Schmuckstein nahm flackernd seine gewöhnliche Helligkeit ein. Der Krill blieb heiß, aber er konnte Galts bandagierte Hand nicht verletzen. Während alle anderen schwiegen, sagte Stave in dem noch in der Luft hängenden beißenden Säuregeruch nüchtern: »Gut gemacht.« Die Gedemütigten schienen sein Lob zu ignorieren. Branl hielt Covenant weiter auf den Beinen, aber Linden umarmte ihn trotzdem, hüllte ihn in Erdkraft und Dankbarkeit ein. Hatte er gewusst, dass sie ihn brauchte? Dass sein eigener Sohn hier aufgekreuzt war, um dafür zu sorgen, dass Jeremiah in seiner Opferrolle verharrte? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie oder worauf Covenant reagiert hatte. Trotzdem hatte er es irgendwie geschafft, um ihretwillen - oder um Jeremiahs willen - aus dem Labyrinth seiner Erinnerungen und den verwirrenden Wundern des rätselhaften Palastes herauszufinden. »Linden.« Covenants Stimme war kaum mehr als ein tonloses Flüstern. Sie glaubte, das Pochen seiner Schmerzen in ihren Armen zu fühlen. »Hilf Liand. Wir brauchen ihn.« Er war zu schwach und zu schwer verletzt, um sich zu bewegen. Trotzdem schien er sie wegzuschieben. »Wir brauchen ihn.« Ich wollte, ich könnte dich verschonen. Aber ich sehe keine Möglichkeit dazu. Pahni zupfte so energisch an Lindens Ärmel, wie sie sich traute. »Ring-Than, ich flehe dich an.« In ihren Augen standen Tränen. »Willst du nicht auf mich hören, tu wenigstens, was der Zeitenherr sagt. Liand braucht Heilung.« Mahrtür sagte etwas zu Pahni - ein Tadel? eine Ermahnung? -, aber Linden verstand seine Worte nicht. Er war zu weit entfernt; oder ihre Sinne waren durch Covenants extremen Zustand und die gezähmte Wildheit des Croyel und Jeremiahs Hilflosigkeit betäubt. Im nächsten Augenblick plärrte Esmer laut: »Weißgoldträgerin, das ist Wahnsinn! Bedeutet es dir nichts, dass ich gekommen bin, oder dass diese Dämondim-Abkömmlinge mich dazu überredet haben, sie in deinem Namen ins Verderben zu führen? Willst du den Rest deines
Lebens so vergeuden, indem du den Ruin akzeptierst, den mein Verrat dir bringen muss? Ist dieser Tod wirklich dein Herzenswunsch?« Die Eisenhand drückte ihr Schwert fester an seinen Hals. »Schweig, Meer-Sohn«, knurrte sie unwillig. »Linden Riesenfreundin braucht eine Atempause. Viele von uns, die wir uns ihre Freunde nennen, haben sie im Stich gelassen. Aber jetzt werden wir ihr diese kurze Pause verschaffen. Ich bin mir sicher, dass mein Schwert dich nicht verletzen kann. Aber wenn ich dein Leben nicht haben kann, will ich wenigstens dein Schweigen haben.« Esmer würdigte Kaltgischt keines Blickes. »Durch meine Hand und deine eigene Torheit«, warnte er Linden, »steht der Tod aller, die du liebst, unmittelbar bevor. Bald wird keiner der hier Versammelten noch imstande sein, die Verwüstung der Erde zu beklagen. Willst du dieses Ergebnis nur deshalb billigen, weil ich Sinnlosigkeit predige? Bist du jetzt der Überzeugung, dass alle Liebe, alles Leben untergehen muss?« Die Eisenhand ließ fluchend ihr Schwert sinken und hob die rechte Faust. Mit allen Muskeln und ihrem ganzen Gewicht schlug sie Esmer ins Gesicht. Sie war eine Kriegerin; sie hatte die Instinkte einer Kriegerin. Linden hörte das trockene Klatschen, als Knöchel auf Haut und Knochen trafen. Esmers Kopf schnellte nach hinten und flog gleich darauf wieder nach vorn. Aus einer Platzwunde am Backenknochen sickerte Blut. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als unterdrückte er einen Zornausbruch, aber er nahm Raureif Kaltgischt nicht einmal mit einem Blick zur Kenntnis. Trotzdem schwieg er nun. Linden sackte leicht zusammen, als hätte sie eine neuerliche Niederlage erlitten. … sehe keine Möglichkeit dazu. Die Vorstellung, Covenants Wunden unbehandelt zu lassen, zerriss ihr das Herz. Sie hatte erst angefangen … Trotzdem zwang sie sich dazu, einen Schritt zurückzutreten. Sie sah jetzt weder Jeremiah noch Galt, weder den Croyel noch den Krill an. Hilf Liand. Wir brauchen ihn. Sie wollte Jeremiah in den Armen halten, ehe die Welt unterging. Dazu
war sie hergekommen, nachdem sie alle übrigen Ziele nicht erreicht oder aber geopfert hatte. Aber solange der Croyel ihn beherrschte, konnte sie ihn nicht einmal berühren. In diesem einen Punkt war ihr Gesundheitssinn eine Schwäche. Die Bösartigkeit des Ungeheuers war zu intim; sie musste bei Linden Übelkeit auslösen. Und der Croyel konnte auch sie unter seine Herrschaft zwingen, wenn sie ihren Sohn umarmte. … nur weil ich Sinnlosigkeit predige? Dem alten Mann, der Prophetengestalt in dem ockergelben Gewand, die sie hätte warnen sollen, dass Jeremiah und sie gefährdet waren, ehe Roger ihren Sohn entführt hatte. Durch seinen Rückzug hatte er sie verraten. Hätte er sie gewarnt, wäre sie geflüchtet, hätte Jeremiah an einen Ort gebracht, an dem Roger ihn nicht hätte aufspüren können. Jede Gräueltat, die seither verübt worden war - jede Abscheulichkeit, die Jeremiah und das Land erlitten hatten, jedes Verbrechen, das sie selbst verübt hatte -, hätten vermieden werden können. Mit jedem Schritt wurden die Schmerzen in ihrem verletzten Knie schlimmer. Aus ihrer verbrannten Wange sickerte Flüssigkeit. Die durch Esmers Gegenwart bewirkte Übelkeit setzte ihr zu. Aber all das musste sie überwinden können. Weil sie gebraucht wurde, benutzte sie den Stab, um ihren Magen zu beruhigen, ihre versengte Wange zu heilen und ihre zersplitterte Kniescheibe zu flicken. Dann achtete sie nicht mehr auf die eigene Verfassung, um sich ganz auf Liand konzentrieren zu können. Er hing schlaff in Steinmangolds Armen. Aus einem Mundwinkel pulsierte noch ein Blutfaden: ein schwindendes Rinnsaal. Beim Aufprall auf das von Jeremiah geschaffene Gebilde konnte er sich das Rückgrat gebrochen haben. Bestimmt hatte er Rippenbrüche, ein perforiertes Zwerchfell und vielleicht auch eine Lungenverletzung. Und sein Kopf war heftig an die Wand geknallt. Linden stellte sich eine Gehirnblutung, ein Ödem und verschiedene Traumata vor. Gehirnschaden. Koma. »Liand.« Pahni murmelte seinen Namen immer wieder; beschwor ihn, am Leben zu bleiben. »Liand.« Steinmangold erbot sich, ihn abzusetzen, aber Linden schüttelte den Kopf. Kam er mit irgendwelchen Überresten von Skest in Berührung … Ich wollte, ich könnte dich verschonen. Der Eifrige musste als Blitzableiter für ihren Zorn auf sich selbst
herhalten. »Gib ihm den Sonnenstein! Er gehört nicht dir.« »Du sprichst wahr«, murmelte der feiste Insequente, »er gehört nicht mir.« Das klang beschämt, fast reumütig. »Ich gebe ihn sehr gern zurück.« Bunte Bänder seines Gewandes schlängelten sich zu Liand hinüber. Geschickt wie Finger praktizierten sie den Sonnenstein wieder in seine Gürteltasche. Dann zogen die Bänder sich zurück, und Linden verbannte den Eifrigen aus ihren Gedanken. Als sie ihren verletzten Freund studierte, fühlte sie sich besiegt, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Er war zu schwer verletzt - und sie völlig ausgepumpt. Selbst der Stab konnte die leeren Reservoire ihres Gehirns nicht gleich auffüllen. Linden musste weinen. Tat sie das nicht, würde sie vor Zorn wahnsinnig werden. Ihr ehemals steinernes Herz war in Andelain gebrochen, als sie die Folgen von Covenants Wiedererweckung gesehen und begriffen hatte. Das feurige Amalgam aus Extravaganz und Zurückhaltung, das sie aus der Vergangenheit des Landes zu ihrer Begegnung mit den Toten getragen hatte, war zu etwas geworden, das unsteuerbar und verantwortungslos war. Beherrschte es sie jetzt erneut, würde sie in der Tat ohne Rücksicht auf Konsequenzen von Zorn getrieben sein. Aber sie sie hatte lange genug in Notaufnahmen gearbeitet, und ihre Ausbildung saß tief. Sie konnte sich nicht weigern, den Patienten vor ihr zu behandeln. Selbst wenn Liand nicht ihr erster Freund gewesen wäre … »Wieso gerade er?« Ihre Stimme bebte vor Wut. »Ich war hier. Der Egger war hier. Covenant und Stave waren schon unterwegs. Aber das Ungeheuer hat uns ignoriert. Es hat nur Liand verletzt.« Niemand antwortete ihr, und Linden erwartete auch keine Antwort. Trotzdem hatte sie diese Frage stellen müssen. Sie konnte ihr vielleicht helfen, ihre professionelle Distanziertheit teilweise zurückzugewinnen die Fähigkeit, Verletzungen als zu lösende Probleme anzusehen, statt sie als Anklagepunkte zu betrachten. Für den Angriff auf Liand musste es einen Grund geben. Der Croyel hatte zweifellos gesehen, dass sie machtlos war. Und er hatte bewiesen, dass er dem Egger gewachsen war. Aber trotzdem … Liand war nur Liand. Und sein Orkrest war nur ein Sonnenstein, im Vergleich zu
Weißgold und dem Stab des Gesetzes ganz unbedeutend. Wieso hatte die Bestie sich die Mühe gemacht, Liand auszuschalten, obwohl der Egger ihr mit solcher Macht in den Händen gegenübergestanden hatte? Warum hatte sie den Steinhausener gefürchtet? Liand hatte wieder und wieder bewiesen, dass er mit dem Orkrest die Auswirkungen von Kevins Schmutz bekämpfen konnte. Der Sonnenstein besaß gewisse Macht gegen Unrichtigkeit: ein Potenzial für spirituelle Wiederherstellung, das Linden nicht abschätzen oder definieren konnte. Covenant hatte recht. Wollte der Croyel Liands Tod, musste Linden ihn dringend retten. Er würde gebraucht werden. Irgendwie. Auch wenn diese Überlegung vielleicht nicht distanziert oder klar genug war, genügte sie trotzdem. Willst du den Rest deines Lebens so vergeuden Nein, das wollte Linden nicht. Sie entlockte ihrem Stab erneut Feuer und reinigte damit die Luft von ätzenden Säuredämpfen und dem Geruch von verbranntem Fleisch. Dann trat sie näher an Steinmangold heran und hüllte Liand in heilende Flammen. Behutsam, aber auch ängstlich drang sie mit ihren Sinnen in ihn ein und versuchte, Art und Ausmaß seiner Verletzungen zu diagnostizieren. »Wahnsinn«, wiederholte Esmer. Sein Ärger klang wie fernes Donnergrollen. »Jede Verzögerung beschleunigt deinen Tod, und trotzdem lässt du dir Zeit, als könnte kein Bann oder Verrat dir etwas anhaben. Ist das Leben des Steinhauseners wirklich deinen Untergang wert?« »Meer-Sohn …«, begann die Eisenhand warnend. Mähnenhüter Mahrtür unterbrach Kaltgischt. »Achtung, Schwertmainnir. Gebraucht die Ring-Than den Stab, erneuert sich jedes Mal der Gesundheitssinn. Ich erkenne jetzt die Bösartigkeit, die den Jungen dort drüben - zweifellos Linden Averys Sohn - beherrscht. Und ich entdecke den Krill in der Hand eines Meisters. Warum lebt dieses …« Seine Stimme klang empört. »… dieses Ungeheuer noch? Seht ihr nicht, dass der Junge Folterqualen leidet?« Dass er selbst unnütz war, schien Mahrtür noch mehr aufzubringen. Er machte Anstalten, vom Arm der Riesin zu klettern, und forderte Spätgeborene auf: »Setz mich ab und gib mir den Krill! Ich werde handeln, wo euch die Entschlusskraft fehlt!«
Als Spätgeborene noch zögerte, keuchte Covenant: »Nein. Mahrtür, hör mir zu. So kannst du den Croyel nicht erledigen.« Seine Stimme war vor Schmerzen heiser. »Das kannst du zwar, aber du würdest dabei auch Jeremiah töten. Nicht einmal die Elohim wissen, wie man einen Croyel tötet, ohne auch seinen Wirt umzubringen. Er ist zu tief in ihn eingedrungen. Wir können ihn nicht einfach herausschneiden. Jeremiah ist wichtig. Wir dürfen sein Leben nicht aufs Spiel setzen. Vorerst müssen wir uns damit begnügen, den Croyel unter Kontrolle zu haben.« »Und wieso ist der Junge wichtig?«, wollte Mahrtür wissen. »Das frage ich mit allem Respekt, Ur-Lord.« Sein Tonfall klang alles andere als respektvoll. Sprichst du von seinem Wert für die Ring-Than oder für das Schicksal der Erde? Und wie kann er befreit werden, wenn das Ungeheuer und er eins sind?« »Beruhige dich, Mähnenhüter«, warf Spätgeborene ein, um Covenant zu schonen. »Dein Unterscheidungsvermögen kehrt zurück. Sieh auch ohne Augen genau hin. Spürst du die Angst des Ungeheuers? Gewiss, seine Bösartigkeit ist unbeschreiblich. Trotzdem erkennt es …« Die Riesin sprach mit Mahrtür, aber sie schien eher den Croyel zu warnen. »Es ist sich darüber im Klaren, dass jeder Befreiungsversuch und jeder Angriff auf uns damit enden würde, dass ihm die Kehle durchgeschnitten wird. Der Meer-Sohn behauptet, dass wir unser eigenes Ende beschleunigen. Da brauchen wir nicht noch den Tod von Linden Riesenfreundins Sohn zu provozieren.« Mahrtür kämpfte fluchend gegen seine Frustration an, aber er widersprach nicht und verlangte auch nicht länger, dass Spätgeborene ihn absetzte. Linden achtete nicht auf ihn. Liands Notlage war viel zu extrem. Der menschliche Körper war so wenig robust - so fragil und kostbar. Ein einziger Schlag konnte genügen, um sein Leben auszulöschen, als bliese man eine Kerze aus. Der Steinhausener brauchte die Intervention von Erdkraft, und er brauchte sie sofort. Dass er noch lebte, verdankte er allein seiner Jugend und Stärke. Kurz sah Linden zu Steinmangolds strenger Miene auf, dem harten Glitzern ihrer Augen, den wie versteinerten Gesichtszügen. Dann versuchte die Auserwählte, sich daran zu erinnern, dass sie einst eine
Heilerin gewesen war. Indem sie Liand weiter in sanfte Flammen gehüllt ließ, begann sie am Mund und verfolgte die Blutung von dort nach innen, weil das der leichteste Weg war. Blut würde sie zum Kern seiner Verletzungen führen. Dort konnte sie dann ihre Auswirkungen beurteilen. Während sie ihren Gesundheitssinn hineinschickte, spürte sie, wie Stave ihr die Kette mit Covenants Ring über den Kopf streifte. Trotz Esmers rätselhafter Fähigkeit, wilde Magie zu blockieren, schien sein geringes Gewicht sie zu beruhigen. Kopfschüttelnd murmelte Frostherz Graubrand: »Das schrille Geschnatter dieser Dämondim-Abkömmlinge geht mir auf die Nerven. Als Riesin bin ich Verständnis gewöhnt. Aber ihre Sprache bleibt mir ein Rätsel.« »Ha!«, rief Kaltgischt aus. »Das ist deine Chance, Esmer Meer-Sohn. Du wünschst zu reden. Und durch deine Schuld bleibt uns die Gabe von Zungen verwehrt. Sprich also! Erkläre uns, was diese Geschöpfe uns sagen wollen.« »Närrin«, wehrte Esmer mürrisch ab. »Sie sagen nichts, was ich nicht bereitwillig übersetzen würde, wenn ihr zuhören wolltet.« »Augenblick«, warf Spätgeborene ein. »Nur einen Augenblick, wenn ich bitten darf, Eisenhand.« Ihr breites Gesicht mit den wässrigen Augen war voller Kummer. »Es gibt so vieles, wovon wir nichts wissen. Ist Stave dazu imstande, sollte er erzählen, was hier geschehen ist, ehe der Eifrige uns aus unserer Betäubung geweckt hat. Verstehen wir, was sich ereignet hat, können wir dem Meer-Sohn vielleicht eher entgegenkommen.« Der Eifrige flatterte mit den Bändern seines Gewandes, um die Aufmerksamkeit der anderen zu erwecken, und sagte dann bescheiden: »Mit Verlaub … Obwohl dieser Haruchai das nicht zugeben will, ist er schwer verletzt. Die Säure der Skest hat ihre Kraft nicht verloren. Sie brennt sich immer tiefer. Und mein Wissen reicht für die Heilung solcher Wunden nicht aus. Es genügt auch nicht mehr, um die Schmerzen des Zeitenherrn zu lindern. Beide werden darauf angewiesen sein, an den Talenten der Lady zu partizipieren.« »Nur weiter so!«, murmelte Esmer verächtlich. »Lasst alle sprechen, die Lust dazu haben. Wozu braucht diese weise und mächtige Gesellschaft ein Bewusstsein für ihr drohende Gefahren? Und was sollte sie mit den kümmerlichen Ratschlägen von Dämondim-Abkömmlingen anfangen?«
»Anders als dieser Haruchai«, fuhr der Eifrige fort, der sich trotz Esmers Einspruch an Raureif Kaltgischt wandte, »sind seine Stammesgenossen wirklich gedemütigt worden. Er hat es geschafft, sich von dem Zauber der Gräuelinger frei zumachen. Sie konnten das nicht. Trotzdem ist keiner so tief gesunken wie ich. Ich war stolz auf das Vertrauen, das die Insequenten in mich gesetzt haben - und habe erfahren müssen, dass ihr Vertrauen töricht war. Mein Untergang ist besiegelt. Gestattet mir nur, noch möglichst viel wiedergutzumachen.« »Gedemütigt zu werden«, erwiderte Stave, »kann so viele Formen annehmen, Insequenter, wie erniedrigt zu werden.« Seine raue Stimme verriet seine Schmerzen. »Trotzdem gibst du nicht auf, sondern strebst weiter. Vielleicht können meine Stammesgenossen von deinem Beispiel profitieren.« Offenbar wollte er die Gedemütigten daran erinnern, dass die Haruchai sich schon früher von Verpflichtungen losgesagt hatten, die ihrer Ansicht nach gescheitert oder gegenstandslos geworden waren. Dem Blutfaden folgend stieß Linden auf Rippen, die sich in Liands Lunge gebohrt hatten. Ihre Enden führten sie zu den Stellen, wo sie zersplittert waren. Und sie führten Wegweisern gleich zu gebrochenen Wirbeln und gequetschten Nerven weiter. In ihrem früheren Leben hätte sie genug tun können, um ihm das Leben zu retten. Aber selbst ein Team von Neurochirurgen hätte vielleicht nicht verhindern können, dass er lebenslänglich behindert blieb. Hier im Land übertraf ihre Kraft jedoch Skalpelle und Katgut, Tupfer und Klammern. Ihre Wahrnehmungsgabe war so präzise wie Liands dünnste Ader, seine kleinste zerrissene Nervenbahn. Und mit dem Stab des Gesetzes konnte sie … Ließ Linden sich Zeit, hielt ihre überanstrengte Kraft durch, konnte sie alles tun, worum Liands schwer verletzter Körper sie anflehte. Aber es gab weitere Anforderungen … Obwohl dieser Haruchai das nicht zugeben will, ist er schwer verletzt. Wozu braucht diese weise und mächtige Gesellschaft ein Bewusstsein für ihr drohende Gefahren? Covenants Hände schienen um fachkundige Versorgung zu betteln. Sie konzentrierte sich grimmig auf Liand und versuchte, alles andere auszublenden.
»Dann sprich«, forderte Kaltgischt den Insequenten auf. »Erzähl deine Geschichte. Aber fasse dich kurz. Ich bezweifle nicht, dass die Warnungen des Meer-Sohns berechtigt sind. Wir müssen sie uns bald anhören.« »Kurz.« Der Eifrige nickte. Nachdem er sich bequemer hingesetzt hatte, erläuterte er: »Es war der ungewohnte Zauber der Gräuelinger, der uns in ihrem Palast aus Wasser und Lehrenwissen in seinen Bann geschlagen hat. Eine Zeit lang habe ich in Erfahrungen geschwelgt, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können. Ich wusste, was die Lady und der Zeitenherr und der Egger taten, war aber nicht geneigt, sie zu beobachten. Das Gewebe meiner Entschlossenheit - das gestehe ich offen - war zu locker gewoben, um die Wunder des Palastes abhalten zu können. Aufgeschreckt hat mich jedoch das Hinscheiden des Eggers. Sein Tod hat den Willen der Insequenten in meinem Inneren geweckt. Es war nicht meine Absicht, seinen Ruin zu verursachen oder zuzulassen; er hätte meine Hilfe gebraucht, und ich habe sie nicht geleistet. Aus Unaufmerksamkeit habe ich zugelassen, dass aus ihrer Einmischung in seine Angelegenheiten eine wirkliche Konfrontation wurde. Mein eigenes Schicksal ist unausweichlich. Zunächst trägt das Geas meines Volkes mich jedoch weiter. Ich muss versuchen, den Schwur des Eggers zu erfüllen. Deshalb habe ich alle geweckt, die ihm nicht gefolgt waren. Was dann geschehen ist, wisst ihr alle. Aber ehe wir diesen Saal betreten haben, hat sich Folgendes ereignet…« Der Eifrige beschrieb knapp, was geschehen war. Dann fügte er hinzu: »Dass die Dämondim-Abkömmlinge erst jetzt gekommen sind, hat sicher etwas zu bedeuten. Vielleicht haben sie erkannt, dass seine ersten Bemühungen den Sohn der Lady dem Krill ausliefern würden. Oder vielleicht war er schneller als sie. In beiden Fällen konnten oder wollten sie sich nicht gegen ihn stellen. Aber nun sind sie gekommen. Daraus muss ich schließen, dass sie hoffen, irgendeine neue Bösartigkeit verhindern zu können.« »Natürlich«, schnaubte Esmer. »Ich staune über die Erkenntnisse der Insequenten, die nur von ihrer Unwissenheit übertroffen werden.« Während Linden arbeitete und von der potenziell tödlichen Lungenverletzung zu den potenziell lähmenden Wirbelverletzungen überging, hörte sie, wie Bhapa Mahrtür etwas zuflüsterte. Dann
verkündete der Mähnenhüter abrupt: »Seilträger Bhapa sieht die Dinge klar. Auch wenn die Ring-Than sich um Liand bemüht, reicht ihre Theurgie über seine Wunden hinaus. Bhapa hat entdeckt, wie Stave geholfen werden könnte.« Kaltgischt fluchte halblaut. »Er sieht wahr. Schwertmainnir, wir haben uns durch Ablenkung blenden lassen.« »Steinmangold?«, befahl sie. »Rahnock?« Steinmangold, die Liand hielt, damit Linden ihn behandeln konnte, nickte wortlos. Ohne Stave um Erlaubnis zu fragen, hob Rahnock den Haruchai hoch und setzte ihn so auf Steinmangolds Schultern, dass seine verletzten Beine auf beiden Halsseiten vor Linden herabbaumelten. Dort wurden sie von den Fußsohlen bis zu den Knien vom Überschuss ihres Feuers bestrichen. So verschaffte Linden Stave indirekt etwas Erleichterung, während sie sich weiter auf Liand konzentrierte. Gleichzeitig spürte sie, wie Branl und Clyme mit Covenant herankamen und hinter ihr stehen blieben. Offenbar wollten sie Rahnocks Beispiel folgen. Linden fühlte sein Widerstreben, aber seine Verbrennungen ließen ihm keine andere Wahl. Covenant wehrte sich nicht, als Branl und Clyme seine Arme hoben, um seine grausig verbrannten Hände auf Lindens Schultern zu legen. Glaubten die Gedemütigten, versagt zu haben, wie der Eifrige angedeutet hatte, konnten sie ihm irgendwann den Dienst aufkündigen; bisher hatten sie es jedoch nicht getan. Trotzdem kümmerte Linden sich weiter nur um Liands Verletzungen. Ihre Bemühungen, seine Wunden zu entdecken und zu heilen, erforderten ihre ganze Aufmerksamkeit. Am Rand ihres Gesichtsfelds nahm sie jedoch wahr, dass ihre Flammen auch Covenants Hände und Staves Beine bestrichen. Wie die Rückgabe von Covenants Ring wirkte diese Erkenntnis stabilisierend. Jetzt brauchte sie nicht mehr zu fürchten, dass Stave und Covenant leiden mussten, während sie sich Liands annahm. Linden beschwor noch mehr Erdkraft herauf und tat weiter, was sie konnte. »Trotzdem trödelt ihr noch.« In Esmers Sarkasmus mischte sich eine Spur von Verzweiflung. »Kennt euer Wunsch nach dem Tod oder dem
Weltuntergang keine Grenzen?« Die Eisenhand seufzte. »Mäßige deinen Zorn, Meer-Sohn. Er ist zwecklos. Wir sind, wer wir sind, und müssen handeln, wie wir es tun. Daran können weder deine Einwände noch dein Versuch, uns in Panik zu versetzen, etwas ändern.« »Vielleicht könntest du deine Aufzählung drohender Gefahren damit beginnen, dass du die Abwesenheit aller Elohim erklärst, Meer-Sohn«, schlug der Eifrige vor. »Sind sie nicht ›allem gewachsen‹, wie sie selbst behaupten? Hat die Lady diesen Kuppelsaal nicht ihren Blicken enthüllt? Und fürchten sie nicht ihren Sohn? Weshalb intervenieren sie dann nicht um ihres eigenen Heils willen?« »Sie intervenieren nicht«, knurrte Esmer, »weil sie dafür kein Bedürfnis sehen. Durch meine Taten sowie durch meine Anwesenheit habe ich dafür gesorgt, dass der Sohn der Weißgoldträgerin nicht überleben wird. Was haben sie also noch zu befürchten außer der Schlange? Kann der Junge ihnen nicht mehr gefährlich werden, brauchen sie nur mehr den Hunger der Schlange zu fürchten.« »Dann erzähl uns«, sagte Kaltgischt mit klingenscharfer Stimme, »wie du unseren Untergang bewirken wirst. Nachdem du es kaum erwarten kannst, wollen wir hören, wie deine Taten und deine Anwesenheit sich auswirken werden.« Nach der einfacheren Aufgabe, Liands Rippen und Lunge zu heilen, beanspruchte die Reparatur seines Rückgrats Lindens restliches Durchhaltevermögen aufs Äußerste. Hier waren die Schäden unglaublich komplex. Aber jetzt steckte sie tief in dieser Arbeit, und die unerschöpfliche Vitalität des Stabes half ihr dabei. Mit Gesundheitssinn und Erdkraft entdeckte sie die Knochensplitter von Wirbeln, die auf sein Rückenmark drückten. Diese Splitter schob sie beiseite, um das Rückenmark reparieren zu können, ehe sie erneut verschoben und geduldig ausgerichtet wurden. Als dann alle wieder an ihrem Platz waren, machte Linden die zersplitterten Wirbel ganz, bis die strukturelle Integrität von Liands Rücken wiederhergestellt war. Als Nebeneffekt linderte sie gleichzeitig die Schmerzen in Staves Beinen und Covenants Händen. Nun würden Staves Verletzungen im Lauf der Zeit heilen, Covenants Finger und Handflächen jedoch nicht. »Durch die hier entfalteten Energien«, fuhr Esmer fort, »ist Sie, die nicht
genannt werden darf, ganz geweckt worden.« Als er sprach, jagten Kummer und Zorn wie Böen durch seine Stimme. »Sie erhebt sich bereits jetzt, um eure Seelen zu verschlingen. Gegen ihren Zorn könnte nur weißes Gold etwas ausrichten. Aber solange ich in der Nähe des Rings bin, kann es keine wilde Magie geben. Trotzdem ist das nicht schon die Summe eurer Gefahren oder meines Verrats.« In Esmers Stimme vibrierte seine Wut auf sich selbst. »Ich habe den Sohn des Zeitenherrn aus diesem Saal entfernt. Dadurch habe ich das Kind der Weißgoldträgerin an der Flucht gehindert. Aber ich habe Kastenessen Halbhand nicht etwa getötet. Stattdessen habe ich ihn in die Schrathöhlen zurückgebracht. In seiner Gier nach Ewigkeit fürchtet er, dass der Sohn der Weißgoldträgerin auf ewig für ihn verloren ist. Schon in diesem Augenblick sammelt er ein Heer von Höhlenschraten, die ihm helfen sollen, den Jungen zurückzuholen - und um sich davon zu überzeugen, dass kein noch so unwahrscheinlicher Zufall euch vor dem Untergang retten kann.« In seiner Überraschung schickte der Eifrige einen Wirbel von Bändern aus, die sich von den Wänden des Kuppelsaals abstützten. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße, das Perlmutt der Gräuelinger, das Silber des Schmucksteins des Krill, das gelbe Feuer des Gesetzes reflektierte. Wie in einem Kokon aus Trance murmelte er: »Das ist gewisslich wahr. Ungefähr zwei Meilen über uns liegen die Schrathöhlen. Dort strömen Tausende von Höhlenschraten zusammen. Sie folgen dem Ruf der Halbhand zu den Waffen. Jahrtausende sind vergangen, seit ihnen Seibrich Felswürms Auferstehung verweigert wurde, aber sie haben ihren Zorn darüber nicht vergessen.« Von Erinnerungen abgelenkt ließ Linden einen Augenblick die Hände sinken. Ihre Sinne standen an der Schwelle des Traumas, das Liands Schädel und Gehirn erlitten hatten, aber sie trat nicht ein … Auferstehung verweigert… Vor langer Zeit hatten die Höhlenschrate versucht, ihren längst toten Herrscher auferstehen zu lassen. Pechnase und die Erste der Sucher hatten ihr Ritual gestört und zugleich auch Linden und Covenant gerettet. Später hatte Covenant ihr Ritual gegen die Höhlenschrate gekehrt, damit die Riesen im Kiril Threndor, in der
Höhle der Macht, zu Linden und dem Stab des Gesetzes vordringen konnten. Linden bezweifelte nicht, dass der Zorn der Höhlenschrate sich über Jahrhunderte hinweg erhalten hatte. Und sie war keine Gehirnchirurgin. Die Myriaden von Möglichkeiten jedes Neurons waren erschreckend. Mit Erdkraft und einem einzigen Fehler konnte sie Liands Verstand ganz auslöschen. Aber eine Erinnerung an ihre Kämpfe unter dem Donnerberg zog weitere nach sich. Mit dem Stab des Gesetzes hatte sie das Sonnenübel besiegt nicht indem sie es überwältigt, sondern indem sie es in sich aufgenommen und seine Bösartigkeit durch ihre Liebe zu Covenant und dem Land umgewandelt hatte. Und zuvor hatte sie Covenant aus der ihm aufgezwungenen Erstarrung zurückgeholt, indem sie seine Notlage zu der ihrigen gemacht hatte. Vielleicht, so dachte sie unter Pahnis flehendem Blick, konnte sie das auch für Liand tun. Machte sie dabei einen Fehler, würde statt des Steinhauseners eher sie selbst die Folgen tragen müssen. »Außerdem«, sagte Esmer mit einer Stimme wie Nordwind und Hagelwetter, »hat Samahdi Sheol die Sandgorgonen gerufen. Sie haben bereits angefangen, den Salva Gildenbourne niederzulegen. Bald wird der Wüterich ihnen jedoch verhängnisvollere Aufträge erteilen. Und Kastenessen weiß jetzt, dass ihr hier seid. In seinem Zorn bietet er die Skurj auf. Obwohl Sie, die nicht genannt werden darf, unfehlbar siegen wird, will er euren Untergang selbst herbeiführen. Er fürchtet den Kerker, den der Sohn der Weißgoldträgerin für ihn erbauen könnte. Und er ist entschlossen, den Ursprung von Kevins Schmutz zu verteidigen.« Während Esmer diese Gefahren aufzählte, schien der Eifrige auf unerklärliche Weise stärker, seiner selbst sicherer zu werden. Sein Gesichtsausdruck suggerierte Wissen oder Fähigkeiten, die Esmer besaß. Aber er sagte kein Wort. Wie der Egger konnte er die Gesellschaft aus den Tiefen des Berges transportieren. Außer Gefahr bringen. »Diese Wesen …« Cails wegwerfende Handbewegung galt den Urbösen und Wegwahrern. »… haben dir schon mitgeteilt, dass sie nicht gegen die Skurj bestehen können. Die bieten dir Ratschläge an, aber sie können euch nicht retten. Sie, die nicht genannt werden darf, ist nur durch
Weißgold aufzuhalten. Aber selbst in dieser Aufzählung fehlt noch a-Jeroth von den Sieben Höllen. Und auf Moksha Jehannums Drängen befiehlt Kastenessen weiteren Verrat.« Zusammenzuckend, als brennte der eigene Verrat in seinen schwärenden Wunden, verstummte Esmer. Um ihn herum gaben die Urbösen und Wegwahrer Knurrlaute von sich, die keiner aus der Gesellschaft deuten konnte. »Nenne sie«, verlangte Kaltgischt, als Esmer nicht weitersprach. »Zähle deine Schandtaten vollständig auf.« Konflikte brodelten in Esmers Blick. »Das tue ich nicht. Sie werden euch enthüllt, wenn es nötig ist. Deshalb muss die Weißgoldträgerin mich beachten. Ihr muss ich die wachsende Schuld meiner Verbrechen zurückzahlen.« »Vielleicht«, schlug der Eifrige mit einer Andeutung seines selbstgefälligen Lispeins vor, »täuschst du dich. Vielleicht brauchtest du Heilung statt Beachtung. Die Gifte in deinen Wunden korrumpieren deine Gedanken. Du hast eine zu hohe Meinung von deinem Verrat.« Esmer biss die Zähne zusammen, als hätte er am liebsten Blitz und Donner gegen den Insequenten geschleudert; aber er gab keine Antwort. Linden ignorierte die beiden. Liands Kopfverletzungen waren zugleich leichter und ernster, als sie erwartet hatte. Obwohl er einen Schädelbruch erlitten hatte, waren zum Glück keine Knochensplitter ins Gehirn eingedrungen. Aber die Gehirnprellung war schwerwiegend. Das Ödem übte immer mehr Druck auf sein Gehirn aus, sperrte die Blutzirkulation ab und bewirkte falsche Signale von Neuronen. Diese Schwellung konnte ihm bald den Tod bringen. Heilerde hätte ihn sicher gesund gemacht, Linden aber war zu erschöpft und unsicher dazu. Sie stand vor so vielen weiteren Schwierigkeiten, und ihr Vorrat an Mut reichte schon jetzt nicht mehr aus. Doch Angst hatte keinen Platz in der Arbeit, für die sie sich entschieden hatte, als sie den Stab geschaffen hatte, und Liands Schmerzen waren nicht mit dem Sonnenübel vergleichbar. Wie Linden waren sie nur menschlich. Und so stellte Linden Avery sich ihrer Aufgabe. Seufzend breitete sie sich mit dem Feuer ihres Stabes in ihm aus, um auch seine Gehirnverletzung zu heilen.
Galt erklärte Esmer abrupt: »Dies ist das Chaos, für das du Stave verantwortlich machen wolltest.« Der Gedemütigte stand hinter Jeremiah und dem Croyel, hielt das Ungeheuer weiter mit Loriks Dolch in Schach. »Weil du Cails Sohn bist, von Haruchai abstammst, machst du sein Volk für deine gespaltene Persönlichkeit verantwortlich. Trotzdem fallen deine Taten auf dich selbst zurück. Sie bringen Verderben, weil du dich dafür entscheidest. Begehst du Verrat, liegt die Schuld bei dir. Du darfst sie weder bei Cail noch den Haruchai suchen.« »Und wenn schon?«, fragte Esmer mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Kannst du meinen Herzenswunsch, dass ich nie geboren worden wäre, nicht erkennen? Wem soll ich also die Schuld an meiner schändlichen Geburt geben? Du behauptest, dass ich mich bewusst entscheide. Auch Cail hat sich entschieden. Die Meerjungfrauen haben das nicht getan. Es liegt nicht in ihrer Art. Sie verkörpern die Kräfte von Verführung und Rache, sonst nichts. Auf ihre Art sind sie so unbeseelt wie Sturm und Windstille. Deshalb ist ihnen kein Vorwurf zu machen. Besäße ich die Macht, meinen Tod bewirken zu können, würde ich gern untergehen. Aber das kann ich nicht. Auch aus diesem Grund muss ich mir die Weißgoldträgerin Untertan machen.« Die brachiale Gewalt von Liands Schmerz, als er ihrer wurde, blendete Linden zunächst. Sie taumelte wie von einem Keulenschlag getroffen. Sie konnte nicht mehr selbst stehen; sie hatte Mühe, ihren Stab in den Händen zu behalten. Zum Glück brauchte sie nur einen Augenblick, um sein Ödem in sich selbst zu übernehmen. Dann ließ ihre Willenskraft nach, und sie sackte zusammen, während glühende Messer in ihr Gehirn zu stechen schienen. Hätten die Seilträger sie nicht gestützt, wäre sie zusammengebrochen. Der Stab glitt ihr aus den Fingern. »Ring-Than!«, sagte Pahni erschrocken. Sekundenlang war ihr Schock über Lindens Schwächeanfall so stark wie ihre Sorge um Liand. Weder Bhapa noch sie fingen den Stab auf. Als er klappernd auf den Steinboden fiel, verschwand alle Erdkraft aus dem Saal. Marthür konnte sich nicht beherrschen und knurrte einen Fluch. Nun war er wieder wirklich blind. »Darf ich?« Der Eifrige streckte die Bänder seines Gewands aus, um
Pahni und Bhapa Linden abzunehmen. »Auch wenn es mir bisher nicht gelungen ist, meinen Wert zu demonstrieren, werde ich das bald können.« Er trug sie behutsam zur Wand des Kuppelsaals und lehnte sie an den polierten Stein. »Die Lady ist in schlimmer Verfassung, aber das gibt sich wieder. Die Schmerzen des Steinhauseners setzen ihr zu. Sie ist selbst nicht verwundet.« Als er Linden hingesetzt hatte, befahl er: »Legt ihr den Stab des Gesetzes in die Arme. Vielleicht wirkt seine Berührung beruhigend.« Bhapa gehorchte, ohne zu zögern. Schon nach wenigen Augenblicken spürte Linden das warme Holz an ihrer Brust. Aber sie war vor Schmerzen wie gelähmt und konnte die segensreiche Theurgie des Stabes nicht abrufen. Liand begann sich stöhnend in Steinmangolds Armen zu bewegen. Als er den Kopf zu heben versuchte, rief Pahni leise seinen Namen. »Meine Hände!« Covenants Stimme war vor Sorge heiser. »Ich brauche meine Hände. Hölle und Blut! Ich muss den Krill halten können.« Dann stöhnte er. »Oh, Linden! Was hast du dir angetan? Das hättest du nicht … Ich habe nur zu helfen versucht. Ich wollte nie, dass dies passiert.« Aus diesem Grund muss ich mir die Weißgoldträgerin Untertan machen. Linden sah nichts, hörte nichts. Das Leuchten der Wände war erloschen. Dunkelheit erfüllte die Welt: Finsternis und Niederlage. Gemeinsam erfüllten sie alle Prophezeiungen Esmers. Wie hatte Liand das ertragen? Bewusstlosigkeit war sein einziger Trost gewesen, der Linden jedoch verwehrt blieb. Ihre einzige Verteidigung war die Dunkelheit, aber die genügte nicht. Dann drang eine Stimme durch ihre Schmerzen. Jemand - vielleicht Stave - sagte nachdrücklich: »Trink, Auserwählte.« Sie spürte kaltes Eisen an ihren Lippen. Irgendwo im Dunkel roch sie Vitrim. »Die Wegwahrer bieten dir Hilfe an. Die Urbösen kümmern sich bereits um die Hände des Zweiflers. Können sie das Fleisch nicht heilen, soll er wenigstens keine Schmerzen leiden. Auch ich werde ihren Balsam annehmen, obwohl du mich schon fast geheilt hast. Du musst jetzt trinken.« Jeremiah begann zu lachen. Das klang wie das Keckem von Ghulen. Dieser Laut verwandelte die Messer in Lindens Kopf. Ihre Wunde wurde
übergangslos zu etwas ganz anderem. Ihr Sohn konnte nicht lachen. Er konnte es einfach nicht. Das wusste sie. Mit der Macht des Gebots hatte sie erkundet, was es mit seiner Besessenheit wirklich auf sich hatte. Der Croyel lachte durch ihn; er gebrauchte Lunge, Kehle und Mund ihres Jungen, um seine Bösartigkeit auszudrücken. »Ah, da bist du also, Mom.« Verachtung und Angst ließen seine Stimme beben. Sie zerschnitt Linden wie die Messer der Traumata, die sie Liand abg enommen hatte. »Gefällt dir, was du bisher erreicht hast? Du wirst mich nicht lange festhalten können. Sie, die nicht genannt werden darf, wird dich lebend fressen, aber mich nicht anrühren. Ich würde ihr nicht schmecken. Und Roger wird mich ohnehin bald holen kommen. Aber weißt du, was das Schönste ist?« Er versuchte, in überlegenem Tonfall zu sprechen, was ihm jedoch nicht recht gelang. »Du täuschst dich in Bezug auf mich. Die Mahdoubt hat die Wahrheit erkannt, sie sich aber selbst wieder ausgeredet. Ich gehöre dem Verächter. Mit Haut und Haar. Seit ich vor zehn Jahren meine Hand in dieses Freudenfeuer gelegt habe. Ich habe sogar gelernt, mich darüber zu freuen. Du hast immer wieder versucht, mich zu erreichen, du hast dich so ernstlich abgemüht, dass ich einfach lachen musste.« Jeremiah … Der Croyel oder er bewirkte, dass Linden am liebsten laut geschrien hätte. Sie sehnte sich nach dem weiß glühenden Zorn, der sie auf dem Galgenbühl erhalten hatte; aber diese granitene Entschlossenheit hatte sie eingebüßt. Linden war zu schwach und blind und erschöpft, um sie in ihrem Inneren wieder finden zu können. »Du kannst dir nicht vorstellen«, fuhr ihr Sohn spöttisch fort, »wie viel Spaß es gemacht hat, dich hierherzudirigieren. Mit Legosteinen! Anfangs hast du mir Sorgen gemacht. Du warst so schwer von Begriff! Aber nach deiner Ankunft in Schwelgenstein hast du geglaubt, alles zu verstehen. Danach musste ich nur noch warten.« »Schluss damit!«, blaffte Covenant, als könnte er dem Croyel befehlen. »Das glaubt dir niemand. Dies hier hast du nie gewollt, sonst wärst du jetzt nicht so verängstigt.« Seine Stimme klang unerwartet kräftig. Mit Lehrenwissen und Vitrim hatten die Urbösen mehr für ihn getan, als Linden hatte tun können. »Du wolltest, dass wir hierherkommen«, fuhr Covenant fort. »Das
bezweifle ich nicht. Sobald die Schlange aufgewacht war, konnte Lord Foul aufatmen. Er ist sich sicher, dass er dem Bogen entkommen wird. Deshalb ist er jetzt nur auf Unterhaltung aus: Er versucht möglichst viel Unheil zu stiften, während er abwartet. Das tut ihr alle: die Wüteriche und du, Lord Foul und mein Sohn. Aber dies hier hast du nicht gewollt. Es ist dir - euch allen - nie in den Sinn gekommen, dass wir hier aufkreuzen und euch gefangen nehmen könnten. Du hast nicht mit ihr gerechnet.« Damit musste er Sie, die nicht genannt werden darf, meinen. »Ihr ist es egal, wie du schmeckst. Sie verschlingt alles. Du hast auf Roger vertraut. Aber nun bist du wie wir in Gefahr und deshalb völlig verängstigt. Lass also deine höhnischen Bemerkungen«, schloss Covenant streng. »Weise ich Galt dazu an, bringt er dir gern ein paar Schnitte am Hals bei - nur zur Erinnerung daran, dass auch du sterblich bist.« Jeremiah gab keine Antwort. Offenbar fürchtete der Croyel den Krill zu sehr, als dass er Covenants Androhung auf die Probe stellen wollte. Während Liands Ödem auf ihr Gehirn drückte, konnte Linden sich nicht vorstellen, noch mehr Schmerzen empfinden zu können. Jede Steigerung hätte sie doch ins Koma sinken lassen müssen? Ich gehöre dem Verächter. Der Quälgeist ihres Sohns hatte ihr bewiesen, dass sie unrecht hatte. Blindheit und unerträgliche Schmerzen drängten sie dazu, große Schlucke von dem Vitrim zu nehmen, das Stave ihr an die Lippen hielt. Das kalte Getränk der Dämondim-Abkömmlinge schmeckte abgestanden und modrig, von Schimmel oder Alter eingedickt. Trotzdem trank sie gierig davon. Vitrim besaß nicht die heilende Vitalität von Heilerde; aber es brachte neue Kraft. Auf seine Weise war es nicht weniger reichhaltig und vital als Erdblut. Als Linden davon trank, halfen seine Energien ihr, das Trauma von Liands Verletzung zu absorbieren. Lichtblitze schössen durch ihre Finsternis und ließen sie jeweils kurz sehen, als öffnete und schlösse sich ein Kameraverschluss. Wie Illusionen aus Lichtwahrnehmungen und Sinnenverwirrung erschienen ihr Covenant, der Jeremiah gegenüberstand … Stave, der dicht neben ihr kauerte … Bhapa, der sich herumdrückte, während Pahni Liand umarmte. Die Lichtblitze zeigten ihr auch einen in ihrer Nähe postierten Wegwahrer.
Linden war noch zu schwach, um mehr zu tun, als die Finger zu bewegen. Aber sie brauchte den Stab nicht fest zu umfassen, um sein potenzielles Feuer, seine Bereitschaft zu spüren. Sie schloss die Augen, um die Lichtblitze auszusperren, die an Reflexe von polierten Stahlklingen erinnerten, und griff nach Erdkraft. Feuer und das Gesetz brachten ihr allmählich Linderung. Nach einiger Zeit war sie imstande, den Stab fest zu umfassen. Dann kam sie mühsam auf die Beine. Ihr Kopf tat weiter weh und schickte schrille Schmerzsignale ihr Rückgrat entlang, durch ihre Brust, in ihre Gliedmaßen. Aber die Schmerzen ließen mit jedem Herzschlag nach. Bald würde sie wieder denken und sprechen und planen können. Als ihr Gesundheitssinn zurückkehrte, änderte das Wesen ihrer Notlage sich jedoch; es wurde umgewandelt. Durch die Theurgie der Wahrnehmungsgabe erhielten die körperlichen Schmerzen einen scharfen Beigeschmack von Unrecht. Auf fast unterschwelliger Ebene hörte oder spürte sie den Puls von etwas Bösem und Hungrigem, das aufstieg. Sein Rhythmus war tief wie die Verschiebung tektonischer Platten, wie die sich aufstauende Gewalt eines Erdbebens. Sie, die nicht genannt werden darf, ist ganz geweckt worden. Sie wird größer werden. Indem Linden ihre instinktive Angst verdrängte, beobachtete sie ihre Gefährten. Willst du den Rest deines Lebens so vergeuden? Die Eisenhand hatte ihr Schwert von Esmers Hals genommen. Stattdessen bildete sie jetzt mit zwei weiteren Schwertmainnir einen Ring um ihn und hielt Wache gegen Gefahren, gegen die sie nichts ausrichten konnten. Spätgeborene und Böen-Ende hatten weiter Mahrtür und Anele auf dem Arm. Rahnock wachte über Steinmangold und Liand, während Grobfaust sich bereithielt, notfalls Galt zu helfen. Zwischen ihnen hockten die übrigen Urbösen auf allen vieren, als warteten sie auf irgendein Zeichen oder einen Befehl. Sie bieten dir Rat an … Aber ihr Lehrenkundiger stand vor Covenant. Während Covenant halblaut vor sich hinfluchte, benutzte das schwarze Wesen ein Messer aus rot glühendem Eisen, sprühend und dampfend, um sich auch in die andere Handfläche zu schneiden. Sein ätzend scharfes Blut tropfte auf
Covenants Verbrennungen. Der Anblick seiner Hände schmerzte Linden wie eine weitere selbst zugefügte Wunde. Das Blut des Lehrenkundigen fraß sich wie Vitriol in sie hinein, aber seine Wirkung war segensreich. Das Wesen opferte Tropfen für Tropfen von seinem Lebensblut, das verkohlte Haut wegätzte und die Schmerzen von rohem Fleisch linderte. Aber auch die Wirkung der übermenschlichen Gaben des Lehrenmeisters war beschränkt. Covenants Finger waren geschwollen und verstümmelt; ihre vorderen Glieder waren bereits abgestorben. Konnte Linden die Magie des Urbösen durch Erdkraft verstärken, würden seine Hände vielleicht eingeschränkt benutzbar bleiben. Auch wenn sie schwach blieben, würde er wenigstens damit greifen können … Aber sie würde die ersten Glieder aller Finger am Gelenk amputieren müssen, um zu verhindern, dass die Nekrose weiter fortschritt. Wenigstens würde er dabei nichts spüren: seine Lepra und der glühende Krill hatten die dortigen Nerven absterben lassen. Was seine Handflächen betraf… Der Lehrenkundige hatte viel getan, um sie zu erhalten. Sie würden mit grässlichen Narben bedeckt, aber in ihrer Funktion intakt sein. Trotzdem würden auch sie für immer gefühllos bleiben. In anderer Beziehung waren Lindens Gefährten verhältnismäßig heil davongekommen. Die natürliche Robustheit der Riesinnen hatte sie die schlimmsten Wirkungen der Skest rasch wegstecken lassen. Staves Beine trugen noch Verätzungen wie Bissspuren, aber er schien keine Schmerzen zu haben, als er jetzt neben Linden stand. Auch Branl schienen seine Gehirnerschütterung und seine Prellungen nicht weiter zu stören. Liand, den Pahni rührend umsorgte, während Steinmangold ihn auf den Armen trug, erholte sich allmählich, war aber noch sehr schwach. Die Geschmeidigkeit der Seilträger hatte sie Säure und Verletzungen vermeiden lassen. Anele bewegte sich ruhelos auf Böen-Endes Arm, als beunruhigte ihn bevorstehendes Unheil, das er nicht nennen konnte. Der Mähnenhüter studierte alle Details seiner Umgebung mit seinem wiederbelebten Gesundheitssinn, als hätte er die Absicht, sie seinem Gedächtnis einzuprägen. Die Wegwahrer boten auch den übrigen Anwesenden nacheinander Vitrim an und ignorierten dabei nur Esmer, den Eifrigen und Jeremiah.
Branl half Covenant, aus einem Becher zu trinken, aber keiner der Gedemütigten trank auch nur einen Schluck daraus. Zuvor hatte der Eifrige behauptet, sein Untergang sei unausweichlich. Aber jetzt benahm er sich nicht wie ein Mann, der sich dem Untergang geweiht sieht. Stattdessen erinnerte seine Art wieder an die Selbstgefälligkeit, die er in Andelain an den Tag gelegt hatte. Vielleicht hatte er neues Zutrauen zu den Kräften gewonnen, die sein Volk ihm anvertraut hatte. Esmer dagegen schien schäumend Frustration zu versprühen. Seine Augen glichen einer windgepeitschten See. Die schwärenden Wunden unter seinem zerfetzten Umhang sonderten Eiter und Verzweiflung ab. Die Platzwunde von Kaltgischts Schlag blutete noch immer. Dass er Lindens Aufmerksamkeit suchte, war klar wie ein Schrei. Sie erkannte, wie dringlich sein Appell war. Willst du dieses Ergebnis billigen …? Außer ihren eigenen Sinneswahrnehmungen spürte sie das Pochen eines unterirdischen Pulses. Er schlug an ihre Nerven wie der harte, gehetzte Schlag des Herzens des Gravin Threndor. Sie, die nicht genannt werden darf, ist ganz geweckt worden. Aber weder Cails Sohn noch das sich nähernde Übel hatte Linden aus der Versenkung in Liands Wunden geholt. Zurückgebracht hatte sie der Spott des Croyel - und Covenants Reaktion darauf. Ich gehöre dem Verächter. Esmer konnte warten. Und der Lehrenkundige setzte seine Bemühungen fort, Covenants Hände zu retten. Auch die beiden konnten noch etwas warten. Im Augenblick wollte Linden nichts dringender, als dafür zu sorgen, dass sie Jeremiahs Quälgeist nie wieder sprechen hörte. Ich habe sogar gelernt, mich darüber zu freuen. Covenant hatte gesagt: Nicht einmal die Elohim wissen, wie man einen Croyel tötet, ohne auch seinen Wirt umzubringen. Aber Linden hatte vor, das selbst auszuprobieren. Indem sie Flammen wie die Schnüre einer Geißel ausschickte, setzte sie ihre Macht ein, um dem Croyel den Garaus zu machen. Covenants gestammelten Protest ignorierte sie. Trotz ihrer Nähe zum Ursprung von Kevins Schmutz hatten Erdkraft und Gesetz ihr einen Teil ihres Gesundheitssinns zurückgegeben. War es tatsächlich unmöglich,
das Ungeheuer zu erledigen, ohne dabei auch Jeremiah umzubringen, würde sie ihre Symbiose rechtzeitig erkennen, ehe sie ihre ganze Macht einsetzte. Mit der Angst der Bestie, der schlaffen Gesichtszüge ihres Sohns, Galts stoischer Miene und dem klaren Silberglanz des Schmucksteins des Krill vor Augen projizierte Linden ihre Sinne in den scheußlichen gelben Blick des Croyel… … in ein Chaos, das so absolut wie eine Zäsur oder das Sonnenübel, aber weit dogmatischer war … … und stellte fest, dass sie ihre Umgebung jetzt durch Jeremiahs Augen sah. Mit seinem leeren, unscharfen Blick sah sie ihr eigenes betroffenes Gesicht, während sie zu begreifen versuchte, was aus ihm geworden war. Falls Jeremiah noch eigene Gedanken hatte, konnte Linden sie nicht entdecken. Sein Verstand war zu einem brodelnden Malstrom aus Angst und Bösartigkeit geworden; die Leidenschaften des Croyel füllten ihn ganz aus. Die Stimme seiner eigenen Identität - falls er noch eine besaß war viel zu schwach, um inmitten der Gier des Croyel nach Flucht und Mord gehört zu werden. Das haben sie meinem Sohn angetan! In einem Ausbruch von Kummer und vergeblicher Liebe ließ sie Feuer wie einen Schrei unter der Kuppel auflodern. Covenant hatte recht: Der Croyel saß zu tief in ihrem Sohn. Er hielt Jeremiahs gekaperte Persönlichkeit zu gründlich besetzt, um daraus vertrieben werden zu können - nicht solange Kevins Schmutz sie behinderte. Hätte sie versucht, ein Leben vom anderen zu unterscheiden, hätte sie bestimmt auch ihren Sohn umgebracht. Krank vor Enttäuschung und Verbitterung hatte sie das Gefühl, eine Grausamkeit zu begehen, als sie sich von Jeremiah abwandte. Ihre Gefährten starrten sie an, als wäre sie vom Rand einer weiteren Fehleinschätzung zurückgetreten, die so fatal gewesen wäre wie Covenants Wiedererweckung. Liand versuchte ihren Namen zu sagen. Und Covenant seufzte: »Linden.« Seine Stimme klang aufrichtig traurig. »Das tut mir so leid. Ich habe versucht, dich zu warnen.« Aber sein Mitgefühl konnte sie jetzt nicht trösten. Linden brauchte keinen Trost; sie brauchte ein Ventil für ihren Zorn und ihre Bitterkeit. Sie fuhr herum und ging wild wie eine Sandgorgone oder einer der Skurj
auf Esmer los. »Na schön‹«, sagte sie gefährlich leise. »Du willst, dass ich dir zuhöre. Sprich also. Aber zuerst musst du mir etwas erzählen. Mir beweisen, dass es sich lohnt, dir zuzuhören. Woher hast du gewusst, dass ich den Gräuelingem begegnen würde, als wir am Glimmermere miteinander gesprochen haben? Wie konntest du wissen, dass ich Grundkenntnisse ihrer Geschichte brauchen würde?« Aus Lindens Perspektive hatte sich noch keines ihrer Erlebnisse ereignet, als sie mit Cails Sohn gesprochen hatte. Verlief sein Leben ebenso linear wie ihres … »Das habe ich nicht gewusst«, wehrte Esmer empört ab, als wäre ihre Frage ein Affront. »Ich wollte nur die Anwesenheit und den Zweck der Urbösen erklären. Wie ich es schon mehrmals getan habe.« Linden biss sich auf die Unterlippe; schluckte die Flüche hinunter, die ihr auf der Zunge lagen. »Dann sag, was du sagen wolltest. Raus damit!« Ein letzter Rest von Liands Trauma pochte in ihrem Kopf. »Du hast uns schon früher verraten. Du verrätst uns in diesem Augenblick.« Indem er sie daran hinderte, Covenants Ring zu gebrauchen. »Du wirst uns schon bald wieder verraten.« Sie bezweifelte nicht, dass er das versuchen würde. »Ich kann mir nicht einmal ausmalen, was du tun müsstest, um so großen Schaden wiedergutzumachen.« Er versuchte ihren Blick zu erwidern, sah aber rasch wieder weg. In seiner Miene kämpften Wahrheiten und Lügen miteinander. »Ich biete keine Worte an.« Er sprach, als zwänge seine gespaltene Persönlichkeit ihn dazu, jedes Wort beißend scharf zu betonen. »Ich spreche nur, um den beschädigten Metallgegenstand zu erbitten, den du deinem Sohn unter dem Melenkurion Himmelswehr abgenommen hast.« Esmer fuhr leicht zusammen, als fürchtete er, Linden könnte ihn ins Gesicht schlagen. »Was?« Während ihre Gefährten Cails Sohn überrascht und verwirrt anstarrten, steckte Linden eine Hand in die Tasche, um Jeremiahs demoliertes rotes Rennauto zu berühren. »Ich soll dir ein Spielzeug geben?« Ihr einziges Andenken an den Jungen, den sie so viele Jahre geliebt hatte. »Bist du übergeschnappt? Ich denke nicht daran, dir …« »Weißgoldträgerin!«, rief Esmer, als hätte sie ihm den Todesstoß versetzt. Aber er beherrschte sich sofort wieder. Ruhiger fügte er hinzu:
»Du bekommst es zurück.« Seine Augen waren feucht wie seine Wunden. »Trotzdem muss ich es haben. Ich muss es in der Hand halten.« Dann war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. »Siehst du nicht, wie ich leide? Hörst du nicht, dass mein Kummer das Maß des Erträglichen übersteigt? Weißgoldträgerin, ich flehe dich an! Gib mir Gelegenheit zu einer kleinen Entschädigung für die Abscheulichkeiten, die ich gegen dich verübt habe.« »Linden«, murmelte Liand. »Vielleicht wäre es ratsam …« »Ring-Than«, warf Mahrtür streng ein. »Dieses gequälte Wesen strebt immer danach, Hilfe wie auch Verrat zu üben. Seine inneren Kämpfe haben wir zu unserem Nachteil miterlebt - aber auch zu unserem Vorteil. Und ich vergesse nicht, dass er seine Wunden bei der Verteidigung der Dämondim-Abkömmlinge erhalten hat, deren Treue außer Zweifel steht. Ich verstehe sein Verhalten nicht. Aber ist es nicht vorstellbar, dass er jetzt versucht, eine kleine Wiedergutmachung für seine Untaten zu leisten?« Linden sah zu Esmer hinüber. Mit den Fingern tastete sie die Stellen ab, wo der Croyel Jeremiahs Rennauto beschädigt hatte. Dieses Spielzeug hatte ihr Sohn mitgenommen, als Roger ihn entführt hatte: seine letzte Tat aus freier Entscheidung - und die einzige, die nichts mit seinen Kunstbauten zu tun gehabt hatte. Hatte er es auf Anweisung von Lord Foul mitgenommen? Weil er dem Verächter gehörte? Oder versinnbildlichte es etwas anderes? Hatte irgendein geheimer, abgeschotteter Teil seines Ichs das kleine Auto mitgenommen, weil er es brauchte? Weil es ihn tröstete? Weil es ihn an sie erinnerte? Weil er ihr etwas zu sagen versuchte …? In der Halle der Geschenke hatte Stave von den Kindern der Haruchai gesprochen - und von seinen eigenen Söhnen. Sie werden stark geboren, und es ist ihr Geburtsrecht, zu bleiben, wer sie sind. Dann hatte er gefragt: Weißt du bestimmt, dass sich das Gleiche nicht auch von deinem Sohn sagen lässt? Dort, in der Sicherheit von Schwelgenstein, hatte sie geantwortet, als legte sie ein Versprechen ab: Ich werde glauben, dass er das Recht hat, er selbst zu sein. Seit damals hatte sich nichts Wesentliches geändert. Der Croyel hatte Jeremiah noch immer in seiner Gewalt - und er war weiterhin ein
Lügner. Während er wie die leere Hülle eines Jungen in ihrer Nähe stand, fiel es ihr schwerer, darauf zu vertrauen, irgendein wesentlicher Teil seines Charakters habe sich unverändert erhalten. Trotzdem hatte sich eigentlich nichts geändert. In Andelain hatte Covenant erklärt: Ich kann nicht glauben, dass er Entscheidungen getroffen hat, die sich nicht rückgängig machen lassen. Sie musste auf irgendetwas vertrauen. Was böse erscheint, braucht nicht von Anfang an böse gewesen zu sein und muss nicht bis in alle Ewigkeit böse bleiben. Vielleicht traf das auch auf Esmer zu. »Also gut.« Mit zitternden Fingern zog sie den roten Renner aus der Tasche. Sein Anblick zerriss ihr das Herz. »Aber ich will ihn zurückhaben.« Esmer machte keine Bewegung. Wie Caerroil Wildholz es auf dem Galgenbühl mit dem Stab des Gesetzes gemacht hatte, ließ er das demolierte Spielzeugauto aus ihrer Hand zu sich herüberschweben. Dann fing er das Metall aus der Luft und umschloss es mit beiden Händen so sanft, als hätte er einen Schmetterling oder ein ähnlich empfindliches Wesen gefangen. Einige Augenblicke lang umgaben Energien seinen Kopf wie Sturmwolken. Seine Finger schienen zu verschwimmen und zu schmelzen. Dann warf er das rote Rennauto hoch, als erwartete er, es werde wie ein geflügeltes Wesen flatternd auffliegen. Linden trat instinktiv zwei Schritte vor und fing das Auto auf, als es zu fallen begann. Es war wieder ganz. Esmer hatte es perfekt restauriert. Linden konnte nicht erkennen, dass es jemals beschädigt gewesen war. Hätte irgendeine Kraft es auf seiner Bahn festgehalten, hätte es endlos durch die Kurven von Jeremiahs Rennbahngebilde flitzen können. Um Zeugen zu haben, hielt sie den roten Renner hoch, damit ihre Gefährten ihn sehen konnten; aber sie achtete nicht auf ihre Reaktionen. Stattdessen zeigte sie das Spielzeug absichtlich Jeremiah und dem Croyel, weil sie hoffte, das kleine Auto werde ihrem Sohn wie ein Hoffnungsstrahl erscheinen - und dem Croyel als eine Bedrohung. Dann nickte sie Esmer zu: eine Dankesgeste. Sie fand keine Worte für ihre Dankbarkeit; auch nicht dafür, dass sie sich schämte, Esmer verdächtigt zu haben.
Die erneuerte Perfektion des Rennwagens bewirkte, dass sie den Tränen nahe war. Zugleich sah sie darin einen Vorwurf: eine Erinnerung an das Ausmaß, in dem sie Jeremiah im Stich gelassen hatte. Sogar Esmer, der Verrat beabsichtigte, hatte mehr für ihren Sohn getan, als sie konnte. Und Esmers Geschenk konnte keines seiner Verbrechen ungeschehen machen. Linden behielt ihre Gefühle für sich. Es gab nichts, was sie hätte sagen können, ohne sofort in Tränen auszubrechen. Als alle Umstehenden das Rennauto gesehen hatten, steckte sie es wieder ein. Dann wandte sie sich an Covenant, sprach dabei aber indirekt den Eifrigen an. »Es wird Zeit.« Irgendwie schaffte sie es, das erste Mitgefühl in Covenants Blick zu ertragen. Der Lehrenkundige hatte für seine Hände getan, was er konnte. Sie selbst hatte nichts getan. »Dieses Unbekannte … was immer sie ist … Sie kommt.« Weil sie war, wie sie war, versuchte sie nicht, ihre Schwäche, ihre vielen Niederlagen zu bemänteln. »Wir müssen weiter.« Trotz seiner Schmerzen schien Covenant ihr ins Herz zu blicken. Sie sah Verständnis und Trauer in jeder Falte seines Gesichts, jeder kleinen Bewegung seiner Augen. Er hatte sie gedrängt, ihn zu finden - und sich selbst die Schuld an dieser Aufforderung gegeben. Seine ganze Miene zeigte, dass er ihr keine ihrer Taten vorwarf; sie für nichts verantwortlich machte, was daraus entstanden war. Wie Linden sprach er jedoch nicht aus, was er empfand. Stattdessen legte er die Hände auf den Rücken, als wollte er nicht, dass sie sich für sie verantwortlich fühlte. »Du hast recht.« Er war sichtbar bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr seine Hände schmerzten, aber seine Stimme war trotzdem heiser davon. »Sie kommt näher.« Dann sah er an Linden vorbei zu dem Eifrigen hinüber. »Wenn du das ohne den Egger kannst …?« Der Eifrige nickte, ohne zu zögern. »Gewiss. Hier befürchte ich nicht, die Absichten meines Volkes zu enttäuschen. Dafür reicht die mir übertragene Macht aus. Jedoch …« Er sah sich unter den Anwesenden um. »… wird mir die Aufgabe erleichtert, wenn wir weniger weit verstreut sind. Riesinnen, seid ihr bereit, die Lady und ihre Gefährten zu tragen, wie ihr es schon früher getan habt?« »Aye«, bestätigte die Eisenhand prompt. »Um aus dieser Falle zu
entkommen, würden wir sogar die Dämondim-Abkömmlinge auf dem Rücken wegtragen.« Frostherz Graubrand näherte sich sofort Linden. Rahnock zog Pahni von Liand weg, während Grobfaust Bhapa auf den Arm nahm. »Und ihr Meister«, fuhr der Eifrige fort. »Gestattet ihr einer Riesin, den Zeitenherrn zu tragen?« Branl und Clyme nickten. Mit ihrer Erlaubnis hob Zirrus Gutwind Covenant auf. Obwohl sie im Kampf gegen die Skurj eine Hand und den Unterarm bis zum Ellbogen verloren hatte, brauchte sie nur einen Arm, um ihn an ihren Brustpanzer gelehnt zu tragen. »Dann versammelt euch um mich«, wies der Insequente sie an. Zu Galt sagte er: »Bring den Sohn der Lady so nahe her, wie du wagst.« Galt benutzte stoisch gelassen den Krill und seine Hand auf Jeremiahs Schulter, um den Jungen näher an den Eifrigen heranzuschieben. Linden wurde hochgehoben und fand sich auf ihrem vertrauten Platz auf Graubrands Arm wieder. Sie überzeugte sich rasch davon, dass Covenants Ring weiter an der Kette um ihren Hals hing. Dann nahm sie ihren Stab fest in beide Hände. Gleichzeitig entfaltete der Insequente Schleifen und Bänder aus buntem Stoff, mit denen er die Gesellschaft umgab. Ein flatternder Streifen wand sich um Lindens Schulter und Graubrands Arm; andere lagen auf den Armen oder Schultern ihrer Gefährten. Mit dem Krill am Hals wehrte der Croyel sich nicht, als ein rötlich gelbes Band sich um seinen deformierten Kopf legte. Binnen weniger Augenblicke hatte der Eifrige alle außer Esmer und den Dämondim-Abkömmlingen mit seinen Bändern an sich gefesselt. Plötzlich begannen die Wegwahrer und Urbösen wieder zu kläffen. Aus ihrem rauen Lärm sprach ein Drängen, das Esmer sich nicht zu übersetzen bequemte. Die Wegwahrer hasteten durch den Korridor davon, der in den Palast aus verzaubertem Wasser führte. Die Urbösen machten Gesten, deren Sinn verborgen blieb. Sie bieten dir Rat an … Vielleicht verstanden sie nicht, wie viel Macht der Eifrige besaß. … aber sie können dich nicht retten. Der Puls des näher kommenden Übels wurde stärker. Über die kleine Lücke zwischen Steinmangold und Rahnock hinweg
hielten Liand und Pahni sich an den Händen. An Gutwinds Brustpanzer gelehnt versuchte Covenant eine Stellung zu finden, die für seine Verbrennungen weniger schmerzhaft war. Dann gab er auf. Mit zusammengebissenen Zähnen barg er die Hände an seiner Brust. »Nein«, stöhnte Anele, »nein. Lieber die Schlange. Die frisst nur. Sie hasst nicht.« Sein verwirrter Verstand gaukelte ihm Bilder vor, die ihn ängstigten. Das breite Gesicht des Eifrigen wirkte plötzlich entschlossen. »Lebwohl, Meer-Sohn«, sagte er lispelnd zu Esmer. »Weiterhin viel Vergnügen bei deinem Verrat. Aber wir werden nicht verweilen, um zu erleben, wie jeder ausgeht.« Er zog die bunten Bänder straffer an und begann in einer Sprache, die so unverständlich war wie die gutturalen Laute der Dämondim-Abkömmlinge, Beschwörungen zu flüstern. Das Drängen der Urbösen wurde zu einem wilden Knurren. Esmer mischte sich nicht ein. Er musterte den Insequenten nur mit einem verächtlichen Blick, der Linden unwillkürlich zusammenzucken ließ. Cails Sohn wusste etwas, das der Eifrige nicht wusste. Auch die Wegwahrer und Urbösen wussten es. Der Insequente schloss die Augen, als wollte er alle Ablenkungen ausschließen. Er skandierte lauter. Die Bänder seines Gewands lockerten und strafften sich im Rhythmus seiner Beschwörung. Weitere Stoffstreifen - in gedecktem Granatrot, kräftigem Pechschwarz und leuchtendem Himmelblau - umflatterten ihn, als versuchte er, so das Drängen der Urbösen zu dämpfen. Esmer schwieg noch immer. Die Stimme des Eifrigen wurde immerzu lauter. Sein Sprechgesang begann zwischen schroffen Befehlen und inständigem Flehen zu oszillieren. Auf Stirn und Wangen erschienen Schweißperlen. Speichel und Verwünschungen sprühend spuckte er unverständliche Wörter aus. »Da kommt sie«, flüsterte Covenant heiser. Das unterschwellige Pulsieren bedrohlicher Bösartigkeit kam näher. Es untermalte die wachsende Verzweiflung des Insequenten. Dann riss er die Augen auf. Auf seinem Gesicht, in seinem Blick stand jähe Betroffenheit. »Du!«, sagte er anklagend zu Esmer. Cails Sohn zuckte mit den Schultern: eine verächtliche Geste. »Die
vereinten Kräfte der Insequenten haben dich mächtig gemacht, aber das Wesen deines Wissens nicht verändert. Die Theurgien, mit denen du Entfernungen überwinden kannst, sind eine schwache Imitation wilder Magie.« In seiner Verachtung schwang Verzweiflung mit. »In meiner Gegenwart sind sie machtlos.« Esmer hatte weiteren Verrat angekündigt. Er wird euch enthüllt, wenn er nötig ist. Roger hatte von ihm gesagt: Er ändert seine Meinung allzu oft. Irgendwo steckt immer ein Fehler. Diesmal gab es jedoch keinen. Seinetwegen war Lindens Gesellschaft in der Verlorenen Tiefe gefangen.
11 Privater Unflat
Da kommt sie. Vor Schock benommen starrte Linden Covenant an. In meiner Gegenwart sind sie machtlos. Ihre Gefährten stierten voller Verzweiflung Esmer an. Die Riesinnen waren zu verblüfft, um zu protestieren oder auch nur zu fluchen. Mahrtür knirschte hilflos mit den Zähnen. In Pahnis Augen standen Tränen, während sie Liands starke Hand umklammerte. Im Perlmuttglanz der Wände wirkte Bhapa blass und verstört, als wäre er kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Nur die Gedemütigten wirkten geradezu befriedigt. Sie waren von Anfang an gegen die Entscheidungen gewesen, die sie alle hergeführt hatten. Trotz des scharfen Krill an seinem Hals fletschte der Croyel grinsend die Zähne. Jeremiah, den er sich völlig unterworfen hatte, wirkte so geistig leer wie früher in Covenants Haus Häven Farm. Seine Schlaffheit ließ an Scheiterhaufen, Feuersbrünste denken. Sie, die nicht genannt werden darf, kam aus dem Abgrund herauf. Linden fühlte dieses schlimme Übel kommen. Gegen ihren Zorn könnte nur Weißgold etwas ausrichten. Trotzdem konzentrierte ihre Aufmerksamkeit sich weiter auf Covenant. Sie konnte nicht wegsehen. Da kommt es? In die betroffene Stille hinein fragte Linden: »Hast du davon gewusst?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Warum hast du uns nicht gewarnt?« Covenant schüttelte den Kopf. »Ich habe es nur vermutet.« In seinem Tonfall klangen die erlittenen Qualen an. Seine Augen suchten die Wände ab, als wären allein sie von seinen Erinnerungen übrig geblieben; als suchte er Erlösung in Erinnerungen, die sich ihm entzogen. »Er hat weiteren Verrat angekündigt. Ich habe angenommen, er halte irgendetwas vor uns verborgen.« »Wollt ihr vor dem Verderben fliehen«, verkündete Esmer streng, »müsst ihr das Wagnis überqueren und einen nach oben führenden Gang finden. Hier wärt ihr verloren. Aus der Verlorenen Tiefe gibt es keinen Ausweg.
Seht nur!« Seine wegwerfende Handbewegung galt den Urbösen. »Noch in diesem Augenblick flehen sie euch an, ihnen zu folgen.« »Der Meer-Sohn spricht wahr.« Der Eifrige zitterte von vorweggenommenem Horror. »Ich bin besiegt, von Nützlichkeit und Namen und Leben blockiert. Auch das gehört zur Summe meiner Misserfolge. Wissen und Wollen der Insequenten werden durch die Anwesenheit des Meer-Sohns zunichtegemacht. Ich bin ein leeres Gefäß, das nur mehr auf das unvermeidliche Ende wartet.« »Linden Riesenfreundin!«, sagte Kaltgischt scharf. Ihre Hände waren kampfbereit zu Fäusten geballt. »Was ist dein Begehr?« »Auserwählte«, drängte Stave sie, bevor Linden die Sprache wiederfand. »Wir müssen es wenigstens versuchen. Sonst gönnen wir dem Verderber einen Triumph, den er noch nicht errungen hat.« Mit bewusster Willensanstrengung, die ihr das Herz zu zerreißen schien, zwang Linden sich dazu, nicht mehr Covenant anzusehen. Instinktiv mied sie jedoch Staves ruhigen Blick und Kaltgischts gespannte Erwartung. Stattdessen sah sie zu Mahrtür hinüber, als hielte nur seine Blindheit einen Rat für sie bereit. Man muss etwas versuchen, auch wenn die Sache aussichtslos erscheint. Das hatte der Mähnenhüter ihr erklärt. Und manchmal geschieht ein Wunder, das uns erlöst. Er ließ sich selbst durch den Verlust seines Augenlichts nicht unterkriegen. Allen Hindernissen zum Trotz hatte Linden ihren Sohn aufgespürt. Nun musste sie ihn retten. Irgendwie. Sie war kurz davor, zu zerbrechen; in Niederlagen zu ertrinken. Das spürte sie. Aber sie wusste auch, dass Mahrtür recht hatte. Vor langer Zeit hatte Covenant dieselbe Überzeugung vertreten. Sicher auf Frostherz Graubrands Arm entlockte sie ihrem Stab mehr Licht und Gesundheitssinn. Dann zwang sie sich dazu, den Blick der Eisenhand zu erwidern. »Flucht«, sagte sie mit leiser, klarer Stimme. »Ich vertraue den Urbösen. Sie wollen uns führen. Also los!« Ihre Gesellschaft musste das Wagnis überwinden, ehe Sie, die nicht genannt werden darf, hoch genug heraufgekommen war, um angreifen zu können - und das Portal der Verlorenen Tiefe war ziemlich weit entfernt.
Raureif Kaltgischt rief, ohne zu zögern: »Schwertmainnir!« Spätgeborene warf sich sofort herum, um Mahrtür in den Gang zu tragen, durch den die Wegwahrer verschwunden waren. Onyx Steinmangold folgte ihr dichtauf mit Liand. Als Nächster kam der von Angst getriebene Eifrige, dessen flatternde Bänder den Korridor ausfüllten, um ihm zu helfen, schneller voranzukommen. Graubrand blieb dicht hinter dem Insequenten, und Stave trabte neben Linden her. Zirrus Gutwind, die Covenant trug, hastete von Clyme und Branl begleitet hinter Graubrand her. Während Linden durch den Gang weggetragen wurde, spürte sie, wie die übrigen Riesinnen ihre Lasten aufnahmen. Als Letzter stieß Galt Jeremiah mit dem Croyel an, damit er sich in Bewegung setzte. Kaltgischt blieb bei ihnen, um dafür zu sorgen, dass sie nicht trödelten - und um sicherzustellen, dass Galt nicht die Kontrolle über das Ungeheuer verlor, das von dem Jungen Besitz ergriffen hatte. Zwischen allen flitzten die Urbösen mit, die aufmunternd oder warnend kläfften. Esmer hielt ohne erkennbare Anstrengung mit Graubrand und dem Eifrigen mit. Linden wollte ihren Sohn in ihrer Nähe haben, aber sie verstand, warum Galt und Kaltgischt die Nachhut bildeten. Der Croyel war nicht entmachtet; er war bloß verängstigt. Entschied er sich dafür, einen Angriff zu riskieren, würde er von dort hinten aus dem Rest der Gesellschaft am wenigsten schaden können. Die Riesinnen legten ein schwindelerregendes Tempo vor. Die glatten Mondsteinwände des Korridors flitzten nur so vorbei. Linden starrte nach vorn, konzentrierte sich auf den Stab und ihre Wahrnehmungsgabe und umgab ihre Gefährten mit Erdkraft, die wie Sonnenlicht leuchtete. Alle brauchten so dringend Gesundheitssinn wie sie selbst. Die Urbösen schraken vor der Gewalt ihres Stabes zurück. Einige wenige rannten voraus; andere ließen sich zurückfallen. Im Prinzip war ihnen das Gesetz stets abträglich. Aber sie hatten mehrfach bewiesen, dass sie seine Wirkung zumindest für kurze Zeit ertragen konnten. Darauf zählte Linden jetzt. Sie war nicht zuversichtlich, dass ihre Freunde und sie imstande sein würden, den Versuchungen des Palastes ohne Feuer und Gesetz zu widerstehen. Das Vorrücken des Übels wurde jetzt von einem spürbaren Dröhnen
begleitet. Sein Puls vibrierte in Lindens Knochen. Sie erwartete fast, die Korridorwände erzittern zu sehen. Aber die Gewalt des erwachten Übels war nicht körperlich; noch nicht. Sie pulsierte in Lindens Kopf, nicht im Stein der Wände. Ohne ihren Gesundheitssinn hätte sie das machtvolle Pulsieren vielleicht nicht einmal wahrgenommen. Wie aus großer Ferne hörte sie Covenant murmeln: »Höllenfeuer! Das wird knapp. Wir müssen uns beeilen.« Die Riesinnen rannten bereits so schnell, wie sie nur konnten. Graubrands keuchende Atemzüge rasselten in Lindens Ohren. Ihr war unbegreiflich, wie Stave es schaffte, neben ihr zu bleiben. Galt und die Eisenhand fielen mit Jeremiah und dem Croyel zurück. Esmer dagegen hatte keine Mühe, mit dem Tempo der Schwertmainnir mitzuhalten. Vor Linden stürzten Spätgeborene und nach ihr Steinmangold durch Vorhänge aus erstarrtem Wasser in die komplexen Wunder des Palastes. Auf einer der kristallenen Freitreppen gesellten sich die Wegwahrer zu ihnen: weniger als ein Dutzend der grauen Geschöpfe, die letzten Überlebenden ihrer Art. Sobald der Eifrige und einige der Urbösen erschienen, liefen die Wegwahrer die Treppe hinunter voraus - eine Aufforderung an die Gesellschaft, ihnen zu folgen. Im nächsten Augenblick stürmte Graubrand durch die Vorhänge, und Linden fühlte einen Nervenschock, als wäre sie ins eisige Wasser des Glimmermere gestoßen worden. Sie verbreitete weit mehr Erdkraft als zuvor Liand: Ihr Feuer hätte alle Verwirrung wegbrennen müssen. Aber die Magien, die den Palast existieren ließen, waren hartnäckig und dauerhaft. Lindens Konzentration ließ momentan nach, sodass die unheimlichen Illusionen der Gräuelinger fast Besitz von ihr ergriffen. Teppiche reich wie Bildteppiche. Spiegelglatt polierter Marmor. Der Springbrunnen und die Kronleuchter … die Mosaiken … Dann bekam sie sich selbst - und den Stab - wieder in den Griff. Während Graubrand immer vier Stufen auf einmal hinuntersprang, kämpfte Linden gegen die Wirkung von Illusionen an, die ihr Verständnis überstiegen. Gutwind folgte Graubrand fast auf den Fersen die Treppe hinunter. Vor Linden hatte Spätgeborene schon den halben Weg zum Ausgang des Palastes zurückgelegt. Hinter Gutwind, Branl und Clyme stürmten Riesinnen und Urböse in einem Durcheinander aus schweren Schritten und der Flinkheit leichterer Gestalten nach unten. Von Wandleuchten aus
Wasser und Feuer erhellt kam Rüstig Grobfaust mit Bhapa durch die Vorhänge. Sie schienen die Letzten zu sein. Die Eisenhand, Jeremiah und Galt waren so weit zurückgefallen, dass Linden sie kaum noch ausmachen konnte. »Langsamer!«, forderte sie Graubrand auf. »Langsamer. Unser Vorsprung ist zu groß. Ich kann sie nicht mehr beschützen.« Verliefen Galt und Kaltgischt sich, konnte sich der Croyel vielleicht befreien. Die Macht des Krill beruhte nicht auf Erdkraft; sie konnte die Sinne des Meisters und der Eisenhand nicht verankern. Der Croyel war stark genug, um beide zu ermorden, wenn die von Galt ausgehende Gefahr schwächer wurde. Wie als Reaktion auf ihre Befürchtungen kehrten einige Urböse um und liefen Unverständliches kläffend wieder die Treppe hinauf. »Sei unbesorgt, Weißgoldträgerin.« Esmer hasste es sichtlich, unter diesen Umständen für die Dämondim-Abkömmlinge dolmetschen zu müssen. »Die Urbösen wachen über den Haruchai und deinen Sohn auch über die Riesin. Der Croyel kann den Krill nicht abschütteln.« »Überlass das ihnen«, forderte Covenant Linden auf. »Wir sind alle sicherer, sobald wir hier heraus sind. Du brauchst dich nicht so anzustrengen, um uns zusammenzuhalten.« Linden hatte gesagt, sie vertraue den Urbösen… Diese Geschöpfe wussten doch bestimmt, wie man den Theurgien der Schöpfer ihrer Erzeuger begegnete? Sie hatten sich doch bestimmt genug von diesem unwägbaren Lehrenwissen bewahrt? Sie biss sich auf die Unterlippe, dann zwang sie sich dazu, Jeremiahs Schicksal in den Händen der Dämondim-Abkömmlinge zu lassen. Graubrand und Gutwind rannten hinter dem Eifrigen, Spätgeborener und Steinmangold her, als verfolgten sie noch immer Langzorn. Sie schienen den mit Teppichen ausgelegten Marmorboden in einem undifferenzierten Wirbel aus Aspekten und Bildern zu überqueren. Lichter und Schmucksteine kreiselten wie eine Sternenkatastrophe vorbei. Der Palast war Linden riesig erschienen, als sie ihn zuvor staunend durchwandert hatte; aber das Tempo der Schwertmainnir ließ ihn flüchtig wie eine Fata Morgana erscheinen. Spätgeborene und Onyx Steinmangold verschwanden, halb durch das Gewand des Eifrigen verdeckt, auf dem sich anschließenden Korridor. Grobfaust polterte im
Takt zu dem hungrigen Puls des Übels die letzten Stufen hinunter. Linden verlor allmählich jeglichen Kontakt zu Jeremiah. Auch die Urbösen, die zurückgehastet waren, um ihn zu beschützen, konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Dann trug Graubrand sie in den nächsten Korridor hinaus. Marmor und Mosaiken verschwanden so schlagartig und gründlich, als wären sie mit einem Messer aus der Realität herausgeschnitten worden. Ein Sturm aufkommender Hysterie stellte Lindens Selbstbeherrschung, ihre Konzentration auf Erdkraft auf eine harte Probe. Ich lasse meinen Sohn im Stich … Sie hatte zu nichts und niemandem genug Vertrauen, um nicht instinktiv alarmiert zu sein. Vor ihr saß der Mähnenhüter ruhig und hellwach auf Spätgeborenes Arm, als die Schwertmain den Wegwahrern folgte. Liand, den die Energie des Stabes mit neuer Vitalität erfüllte, wurde sichtlich stärker und schüttelte die Nachwirkungen seiner Verletzungen ab, während Steinmangold mit ihm rannte. Der Eifrige setzte seine Bänder in einem tollen Wirbel ein, der das Jagen seines furchtsamen Herzens widerzuspiegeln schien. Covenant schien dagegen schwächer zu werden. Die Schmerzen, die seine Brandwunden verursachten, nagten immer mehr an seiner Selbstbeherrschung. Trotzdem klammerte er sich grimmig an die Gegenwart. Wie Stave machten Clyme und Branl den Eindruck, als könnte sie kein drohendes Verderben erschrecken. Neben Linden war Esmer von einer Aura aus gegensätzlichen Leidenschaften umgeben: Wut und Verachtung, Erwartung und Abscheu - und ein Kummer, der unheilbar wie seine Wunden war. Hinter ihnen bewegte Anele seinen Kopf ruckartig von einer Seite zur anderen. Sein gesamter Körper bebte von wirren Ängsten. Aber er tat nichts, um Böen-Endes Schritte zu behindern. Pahnis Aura kündete von großer Angst um Liand, aber die anerzogene Disziplin der Ramen ließ sie schweigen. Und Bhapa hatte die Entschlossenheit zurückgewonnen, es für Linden - und für Mahrtür - mit jeglicher Gefahr aufzunehmen. Trotz seiner nackten Angst hockte er leicht nach vorn gebeugt auf Grobfausts Unterarm, als wäre er bereit, sich in den Abgrund, in den Rachen der Bestie zu stürzen. An Linden rauschte dieser Korridor wie der vorige vorbei: ein Strom aus
Perlmutt und Panik und Erdkraft; Flüchen und Ängsten. Mit zwei sehr einfachen Mitteln - Beeilung und lange Schritte - verkürzten die Riesinnen alle Entfernungen. Graubrand trug Linden in den nächsten Saal, bevor Linden mitbekam, dass Spätgeborene, Steinmangold und der Eifrige schon den makellosen Saal erreicht hatten, in dessen Mitte ein Felsen wie ein missgestalteter Thronsessel aus dem Boden ragte. Dieses zerklüftete Gestein glich einem der Saaldecke zugewandten aufgerissenen Rachen. Noch jetzt wirkte der verkrüppelte Sessel unbeschreiblich scheußlich, als hätten die Gräuelinger hier ein Abbild oder eine Nachahmung von etwas weit Abscheulicherem geschaffen. Linden war an der Grenze ihres Durchhaltevermögens angelangt: Sie konnte die Trennung von ihrem Sohn nicht länger ertragen; sie konnte ihre innerste Überzeugung, dass sie ihn im Stich ließ, nicht länger ignorieren. »Halt!«, rief sie den Riesinnen zu. »Ich darf nicht weiter. Ich muss auf Jeremiah warten!« Zirrus Nordwind hatte Covenant bereits in den Thronsaal gebracht. Böen-Ende, Rahnock und Grobfaust waren dicht hinter ihr. Aber Jeremiah blieb außerhalb von Lindens Wahrnehmungsbereich. »Lady, wir haben es eilig!« Die Worte schäumten förmlich über die Lippen des Eifrigen. »Bleibt uns noch eine kleine Hoffnung, liegt sie jenseits des Wagnisses. In der Verlorenen Tiefe können wir nach Belieben gejagt und verschlungen werden. Wir müssen uns beeilen, über den Abgrund zu kommen!« Urböse und Wegwahrer erhoben ihre Stimmen wie Hunde oder Krähen; aber Linden wusste nichts damit anzufangen. »Und was ist, wenn sie sich zwischen uns erhebt?«, fragte Linden scharf. »Wenn wir auf einer Seite der Kluft sind - und Jeremiah auf der anderen? Das lasse ich nicht zu! Wir müssen zusammenbleiben. Was wir schon getan haben, ist vergebens, wenn wir nicht zusammenbleiben.« Noch ehe der Eifrige protestieren konnte, warf Mahrtür ein: »Ich halte zu der Ring-Than, Riesinnen, wie ich es von Anfang an getan habe. Außerdem müssen wir annehmen, dass es vielleicht keine Erlösung für das Land geben wird, wenn wir ihren Sohn nicht retten.« »Hast du Angst davor, bei uns zu bleiben, Insequenter«, fügte Stave ausdruckslos hinzu, »kannst du gehen. Auch ich halte zu der
Auserwählten. Und ich glaube, dass die Schwertmainnir niemals Gefährten preisgeben würden.« »Aye«, keuchte Frostherz Graubrand. »Wir sind Riesinnen, nicht wahr? Haben wir uns Gefährten erwählt, stehen wir ihnen bei oder gehen mit ihnen unter. Außerdem«, fügte sie an, »sind uns Kinder kostbar. Wir können und wollen Linden Riesenfreundin unsere Unterstützung nicht versagen.« Die anderen Schwertmainnir nickten, aber Clyme stellte nüchtern fest: »Wir stimmen dem Eifrigen zu. Hier zu verweilen, beschwört nur Unheil herauf. Kann das Land erlöst werden, liegt sein Heil bei dem Zweifler, nicht bei Linden Averys Jungen. Außerdem …« Sein Tonfall wurde schärfer. »… fragen wir uns, ob Esmers Gegenwart ausreicht, um wilde Magie zu unterdrücken, wenn Weißgold sich in der Hand seines rechtmäßigen Trägers befindet. Linden Avery«, befahl er, »übergib den Ring dem Ur-Lord. Lass uns feststellen, ob er so machtlos ist, wie dieser Nachkömmling von Meerjungfrauen uns glauben machen möchte.« O Gott. Dieser Befehl traf Linden mitten ins Herz. Vielleicht hatte Clyme recht. Der Ring … Auch in falschen Händen ist er noch ziemlich stark. Aber er erwacht erst zu richtigem Leben, wenn sein rechtmäßiger Besitzer ihn bewusst einsetzt. Vielleicht reichte Esmers Macht wirklich nicht aus, um den wahren Weißgoldträger zu blockieren. Auf Graubrands Arm sitzend wandte Linden sich Covenant zu. Ohne Rogers Verstellungskunst entdeckt zu haben, hatte sie sich einst geweigert, den Ring zu übergeben. In Andelain hatte sie ihn nach langem innerem Kampf dem Egger überlassen. Diesmal zögerte sie keine Sekunde lang. Sie streifte sich die Halskette mit einer Hand über den Kopf und hielt dann Covenant seinen Ehering hin. »Hier«, sagte sie fordernd; bittend. »Nimm ihn. Für mich ist er zu gefährlich. Auch wenn Esmer nicht hier wäre, könnte ich uns nicht retten.« Nicht vor Ihr, die nicht genannt werden darf. Bis zu diesem Augenblick war Covenant anscheinend zu sehr mit seinen Schmerzen beschäftigt gewesen, hatte wegen seiner Verletzungen nicht reagieren können. Ihren Appell hörte er jedoch. Jetzt erwiderte er Lindens Blick so schmerzlich betroffen und entmutigt, als hätte sie ihn
aufgefordert, sie zu verraten - oder sich selbst. Sein Haar glich einer silbernen Lohe, als stünden seine Gedanken vor Verzweiflung in Flammen. Trotzdem verweigerte Covenant sich ihr nicht. Vielleicht fühlte er sich für ihre Notlage verantwortlich; und er war kein Mann, der Verantwortung scheute. Seine verbrannten Hände zitterten, als er sie ausstreckte. Er würde seinen Ring nicht ergreifen, ihn aber zwischen den Handflächen halten können. Branl oder Clyme konnten ihm die Halskette über den Kopf streifen. Vor Wut schäumend sagte Esmer mit gepresster Stimme: »Ihr nehmt meinen Verrat zu leicht.« Er war so rasch bei Covenant, dass Linden diese Bewegung kaum wahrnahm. Branl und Clyme griffen nach Esmer; auch Stave versuchte ihn aufzuhalten. Sie kamen zu spät. Cails Sohn konnte ungehindert mit einem Finger auf die Narbe mitten auf Covenants Stirn tippen. Dann ließ er sich von Stave und den Gedemütigten wegziehen. Covenants Blick wurde schlagartig unscharf. Er runzelte die Stirn, als beschäftige ihn eine Frage, die niemand außer ihm hören konnte. Seine Arme sanken herab. Esmer hatte ihn nicht körperlich verletzt - das sah Linden deutlich. Covenants Narbe leuchtete einen Augenblick lang blendend weiß auf, als wäre sie soeben entstanden. Dann verblasste sie wieder und ließ keine Spur einer neuen Verletzung erkennen. Trotzdem hatte Esmer genug Schaden angerichtet. Linden, die Gallengeschmack im Mund hatte, kämpfte gegen plötzliche Übelkeit an. Covenant verdrehte die Augen nach oben, und sein Kopf sank schlaff gegen Gutwinds Brustpanzer, als er ins Labyrinth seiner zerklüfteten Erinnerungen eintauchte. Dabei war er nicht verletzt; auch sein Verstand war heil geblieben. Aber er war nicht mehr ansprechbar, hatte wieder den Kontakt zur Gegenwart verloren. Statt Esmer oder die Haruchai oder auch nur Linden wahrzunehmen, wanderte er durch die Tiefen der Zeit. Während die Riesinnen sich schützend um Linden und Covenant scharten, verkündete Esmer: »Dies war das letzte meiner Verbrechen.« Seine Stimme klang vor Kummer heiser. »Ich brauche nur noch bei euch
zu bleiben, um Kastenessens Bösartigkeit und den Hass der Meerjungfrauen zu befriedigen. Sie, die nicht genannt werden darf, macht sich nichts aus meinen Untaten, aber andere Mächte werden euer Ende bejubeln.« In Lindens Kehle stieg ein Schrei auf: genügend Erdkraft, um die Decke zerspringen und Trümmer herabregnen zu lassen. Aber ehe sie ihn ausstoßen konnte, rief Liand ihren Namen, und die schlichte Menschlichkeit in seinem Ruf ließ sie innehalten. Sie erinnerte Linden daran, dass die Gefahr zu groß war. Sie konnte sich keine offensichtliche Verzweiflung leisten. Nicht jetzt; nicht solange der Croyel noch Jeremiah beherrschte. Trotzdem brauchte sie irgendein Ventil für ihre Verzweiflung, ihre frustrierte Liebe. Beide waren zu extrem, um sich unterdrücken zu lassen. Covenant war unansprechbar. Er war wieder unansprechbar. Aus einem Reflex heraus ließ sie seinen Ring an der Kette fallen. Sie sah nicht, dass Stave ihn auffing, bevor er den Boden erreichte. Von einem Augenblick zum anderen veränderte sie ihre Macht. Statt ihre Kraft mit Schreien zu vergeuden, richtete sie ihr Feuer auf Covenants Hände und regulierte es so, dass seine Heilwirkung am größten war. Mit äußerster Anstrengung von Gesundheitssinn und Willenskraft schob sie alles Unnötige beiseite, um die nötige - und notwendigerweise nur partielle - Restaurierung, die der Lehrenkundige begonnen hatte, nunmehr abzuschließen. Zumindest für einen Augenblick schienen der Saal und der Thron, ihre Freunde und sogar Esmer zu verschwinden. Sie vergaß sogar Jeremiah und den Croyel. Sie konzentrierte jeden Aspekt ihres Ichs, alle zugänglichen Ressourcen, alle frustrierte Leidenschaft nur auf Covenant. Der Urböse hatte gute Vorarbeit geleistet: Er hatte das Grundgerüst aus Knochen gesichert, Muskeln und Sehnen möglichst erhalten, verbrannte Haut restauriert und die Handflächen abheilen lassen. Aber die schlimmsten Verbrennungsfolgen existierten weiter. Covenants Fingerund Daumenspitzen waren bereits von Nekrose erfasst. Dieses Absterben würde sich bald tief in ihn hineinfressen, sein Gewebe zerstören und sein Blut vergiften. Wurde es nicht gestoppt, würde es eine Blutvergiftung auslösen, an der er letztlich zugrunde gehen würde. In Krankheit und Erinnerungen verloren konnte er weder protestieren
noch trauern, als Linden ihren Stab dazu benutzte das jeweils erste Glied seiner Finger zu amputieren. War sie damit fertig, würde er weiter Finger haben. Er würde sie weiter gebrauchen können. Und weil seine Nerven abgestorben waren, würde er bei der Amputation keine Schmerzen empfinden. Sah er nicht an sich selbst herab, würde er vielleicht sogar vergessen, dass sie ihn mehr zu einer Halbhand gemacht hatte, als er zuvor gewesen war. In Augenblicken, die ihr lang erschienen, obwohl sie kurz sein mussten, bemühte sie sich um Covenant, wie sie einst ihren Sohn versorgt hatte. Sie kauterisierte offen liegende Blutgefäße, beseitigte potenzielle Infektionen und brachte die Blutzirkulation in seinen Fingern wieder in Schwung. Trennte abgestorbenes Fleisch von lebendem. Förderte auch die Schorfbildung. Zuletzt füllte sie seine Adern mit sanftem Feuer, das Heilerde imitierte. Alles war unwiderruflich. Was er verloren hatte, würde er nie zurückbekommen. Aber sie tat, was sie konnte. Für kurze Zeit wurde sie wieder eine Ärztin, ohne sich Sorgen wegen des Preises zu machen, den sie vielleicht dafür würde zahlen müssen. Aber als sie Liand ihren Namen wiederholen hörte, gewann der Teil ihres Ichs, der Jeremiah nicht vergessen hatte, wieder die Oberhand. Von lautem Kläffen der Urbösen und Wegwahrer begleitet kamen Raureif Kaltgischt und Galt von den Gedemütigten mit Jeremiah und dem Croyel in den Thronsaal gestürmt. Galt schien sich nur darauf zu konzentrieren, seinen Gefangenen unter Kontrolle zu behalten. Aber die Eisenhand musterte einen aus der Gesellschaft nach dem anderen, und ihre Miene schien zu fragen, warum sie haltgemacht hatten. Dann bemerkte sie Covenant, und ihre Schultern sanken entmutigt herab. »Der Zeitenherr ist wieder nicht ansprechbar.« Zirrus Gutwind erklärte ihr verbittert: »Daran ist der Meer-Sohn schuld. Er behauptet jetzt, seine Untaten seien abgeschlossen. Ich höre keine Falschheit in seiner Stimme. Trotzdem glaube ich ihm nie wieder etwas.« Esmer zuckte zusammen, als hätte Gutwind ihn stärker getroffen als mit einem Schlag ins Gesicht. Seine Augen wurden glanzlos wie Nieselregen. Aber er protestierte nicht.
Der Lärm der Dämondim-Abkömmlinge schwoll an, ohne dabei verständlicher zu werden. Dann sank er zu einem halblauten Murmeln herab. Linden musterte Jeremiah; suchte nach Anzeichen dafür, dass er während ihrer Trennung zu leiden gehabt hatte. Aber er wirkte bis auf die Tatsache unverändert, dass der Krill ihn vor den Zähnen des Croyel bewahrte. Wenigstens diese kleine Erholung war ihm gewährt worden. Das Ungeheuer trank nicht länger sein Blut. Trotzdem blieben seine Krallen ins Fleisch des Jungen gebohrt, den es weiter in seiner Gewalt hatte. Als sie den Croyel betrachtete, drehte er den Kopf zur Seite, um den missgebildeten Thron mit bösartigem Entzücken anzustarren. Ein Grinsen ließ seine Reißzähne sehen. Als zwänge die Haltung des Ungeheuers sie dazu, fragte Linden unwillkürlich: »Was ist mit diesem Ding?« Ihre Stimme bebte. »Mit diesem Thron? Hat jemand ihn schon einmal gesehen? Wisst ihr, was er verkörpert?« Sie erwartete keine Antwort von Esmer, obwohl sie sich sicher war, dass er oder die Dämondim-Abkömmlinge ihr hätten antworten können. Aber vielleicht wusste der Eifrige … Der Insequente schüttelte mit so elender Miene den Kopf, als spürte er schlimmere Gefahren als den Rachen eines Ungeheuers auf sich zukommen. Branl sagte nüchtern: »Die Haruchai haben nichts gehört oder gesehen, mit dem er sich erklären ließe. Das gilt auch für sonstige Geheimnisse, die in der Verlorenen Tiefe verborgen sein könnten.« Plötzlich hob Jeremiah den Kopf. Wie der Croyel grinsend sagte er: »Dies ist eine Kopie von a-Jeroths Thron im Ridjeck Thome, Lord Fouls Hort. Eine genaue Kopie. Vielleicht hat Lord Foul hier gesessen, als er noch glaubte, sich alles Gewünschte durch Heere und Kriege verschaffen zu können. Die Gräuelinger haben ihn erbaut, ehe sie aufgehört haben, sich selbst zu vergöttern, und versucht haben, mit ihrer Macht etwas Vernünftiges zu tun. Dies ist eine Huldigung.« Das Grinsen des Croyel war so grausam wie sein Durst nach Jeremiahs Blut. Linden scheute instinktiv vor dem Thron zurück. Sein Anblick verstörte
sie mehr als Covenants fragmentierte Geistesverfassung. Huldigung?, dachte sie verbittert. Nein! Der Croyel log wieder - oder verdrehte die Wahrheit. Die Dämondim waren von Lord Foul getäuscht und ausgenutzt worden. Die Urbösen hatten ihm über Jahrtausende hinweg gedient. Die Gräuelinger kannte Linden jedoch aus eigener Anschauung, und sie glaubte nicht, dass sie sich jemals dazu herabgelassen hätten, dem Verächter zu dienen. Oberhalb des Glimmermere hatte Esmer sie damals in dieser Ansicht bestätigt. »Linden Riesenfreundin«, sagte die Eisenhand drängend. »Die Besorgnis des Eifrigen bedeutet nichts Gutes für uns, fürchte ich. Wir müssen versuchen, das Wagnis zu überqueren, bevor Sie, die nicht genannt werden darf, aus dem Abgrund heraufsteigt. Und …« Dabei wandte sie sich an Galt. »… der Junge darf uns nicht länger aufhalten. Meister, ich erkenne deine Aufgabe an. Ich respektiere sie. Aber sie behindert uns. Wenn du gestattest, werde ich an deiner Stelle den Krill halten, während ich zugleich Linden Riesenfreundins Sohn trage. Bestimmt ist jeder Kontakt mit dem Croyel schädlich, aber ich bin dagegen gepanzert.« Sie klopfte auf ihren Brustharnisch aus Stein. »Und dann können wir endlich mit unseren Gefährten Schritt halten.« Wie Covenant, wenn auch auf andere Art, büßte Linden ihre Beherrschung der Gegenwart ein. Sie hatte zu lange gekämpft; hatte sich wieder und wieder verausgabt … Die Erinnerung an die Gräuelinger, die einst Bewunderung verdient hatten, hatte sie an ihre Eltern erinnert, denen sie ihre schwersten Albträume verdankte. Und sie wusste nicht, wie sie die grausame Gier des Croyel noch länger ertragen sollte. Der Haruchai schien kurz zu zögern. Vermutlich besprach er mit Branl und Clyme die Auswirkungen von Kaltgischts Vorschlag. Dann gelangten die Gedemütigten zu einem Entschluss. Galt nickte der Eisenhand zu und trat etwas zurück, damit sie Platz hatte. Kaltgischt trat rasch hinter ihn. Sie griff über ihn hinweg und legte ihre Hand auf seine Rechte, die den Krill umfasst hielt. Ihre Hand ließ seine zwergenhaft erscheinen: Als sie die Parierstange des Dolchs zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, konnte Galt den Griff loslassen, der weiter mit Pergament umwickelt blieb. Danach packte er Jeremiah sofort
an beiden Armen, damit der Junge - oder der Croyel - sich nicht losreißen konnte, ehe Kaltgischt ihn sicher im Griff hatte. Im nächsten Augenblick bückte die Riesin sich, um ihren freien Arm um Jeremiah zu schlingen. Sie presste den Croyel zwischen sich und dem Jungen gegen ihre Rüstung, hielt den Dolch an den Hals des Ungeheuers gedrückt und richtete sich nun mit beiden auf. Der Croyel grinste weiter, als hätte er in dem zerklüfteten Thron ein Rettungsversprechen gesehen. Nach einem Blick zu Linden hinüber, wandte die Eisenhand sich an ihre Gefährtinnen. »Aufgepasst, Schwertmainnir, jetzt müssen wir wirklich rennen. Lassen wir die Verlorene Tiefe nicht hinter uns, bevor das Ungeheuer aus der Kluft angreift, sehen wir Sonnenschein und weite Himmel oder Hoffnung nie wieder. Dann erleben wir nicht mehr mit, ob die gegenwärtige Gefahr für die Erde abgewehrt werden kann oder nicht.« »Aye«, knurrte Graubrand über Lindens Kopf hinweg. »Niemand, der überlebt, um unsere Geschichte zu hören, soll sagen können, dass wir nicht gerannt sind.« Stave hielt wortlos Covenants Ring hoch, damit Linden ihn wieder an sich nehmen konnte. Aber sie schüttelte den Kopf. Er gehörte Covenant, und in Esmers Gegenwart konnte sie ohnehin nichts damit anfangen. Außerdem war er bei Stave sicherer. Er würde ihn Linden zurückgeben, wenn oder falls sie ihn nutzen konnte. Die Wegwahrer spurteten voraus, und der Eifrige segelte dicht hinter ihnen her. Die Riesinnen folgten sofort - aber in neuer Formation: Frostherz Graubrand mit Stave neben und Raureif Kaltgischt hinter sich übernahm die Spitze. Dann kam Zirrus Gutwind, die Covenant trug und von den drei Gedemütigten umringt wurde, während Esmer sie mit einigem Abstand begleitete. Dann kamen Sturmvorbei Böen-Ende und Onyx Steinmangold mit Anele und Liand. Auf Mahrtiirs Wunsch folgten ihnen Rüstig Grobfaust und Rahnock, die Bhapa und Pahni trugen. Spätgeborene und der Mähnenhüter bildeten die Nachhut. Mahrtür sah die Ramen offenbar als die entbehrlichsten Mitglieder der Gesellschaft und sich selbst als weniger wertvoll als die jungen Seilträger. Zwischen allen liefen die Urbösen umher, als trieben sie die Riesinnen und die vier Haruchai an. Aber die schwarzen Gestalten achteten
trotzdem auf etwas Abstand zu dem leuchtenden Stab des Gesetzes. Von den dahinjagenden Riesinnen übernahm Linden allmählich eine neue Dringlichkeit. Ihr Herz hämmerte zu dem unterirdischen Rhythmus, den Sie, die nicht genannt werden darf, unerbittlich vorgab. Sie merkte, dass sie feuchte Hände hatte. Das Leuchten des Krill hinter ihr erzeugte Halbschatten, die auch die sanft schimmernden Wände und ihr leuchtender Stab nicht ganz überstrahlen konnten. Vor ihr fühlte die Angst des Eifrigen sich mehr und mehr wie ein Wehklagen an. Es war jedoch nicht laut genug, um die zunehmende Wildheit der Ausstrahlung des Ungeheuers übertönen zu können. Linden schaffte es nicht, ihre Nerven gegen dieses massive Pulsieren abzuschotten. Die Schwertmainnir rannten scheinbar mühelos mit großen, federnden Schritten. Linden hätte sich auf Sie, die nicht genannt werden darf, vorbereiten und ihre Wahrnehmung für Färbung und Timbre dieses Übels schärfen müssen. Wie hätte sie es sonst bekämpfen sollen? Aber sie wusste schon jetzt, dass sie zu schwach war, um sich gegen solche Macht behaupten zu können. Und Esmer hatte ihr versichert: Gegen ihren Zorn könnte nur weißes Gold etwas ausrichten. Statt sich auf einen Kampf vorzubereiten, überlegte sie, wie Cails Sohn sich umstimmen ließe. Verließ Esmer sie wieder, würde der Eifrige sie alle in Sicherheit bringen können. Oder Covenant gelang es, in die Gegenwart zurückzukehren. Vielleicht würde er mit wilder Magie schaffen, was Linden unmöglich leisten konnte. Das Gefühl unmittelbar drohender Bösartigkeit bestätigte, dass Kaltgischt mit ihrer Befürchtung recht gehabt hatte: Gelangen wir nicht aus der Verlorenen Tiefe, ehe das Ungeheuer aus der Kluft angreift, sehen wir Sonnenschein und weite Himmel oder Hoffnung nie wieder. Ihre ganze Gesellschaft würde sterben, wenn Linden kein Argument einfiel, das überzeugend, heimtückisch oder verletzend genug war, um Esmer umzustimmen. Von Gebell und Verzweiflung angetrieben, rannten die Riesinnen unermüdlich weiter, huschten wie Schemen durch die Korridore. Sie erreichten die Halle des vorgelagerten Kastells und durchquerten sie, als wäre das elegante Feenschloss unbedeutend. Auf dem letzten Teilstück
zum Portal der Verlorenen Tiefe steigerten sie ihr Tempo sogar noch. Die fieberhafte Hast des Eifrigen nahm Linden die Sicht nach vorn. Trotzdem wusste sie, dass das Portal nicht mehr weit entfernt war. Sie spürte die Form der Steine, der Kluft und der Stalaktiten; sie fühlte den unaufhaltsamen Aufstieg des Ungeheuers. Schwarze Begierden wurden zu einem Brüllen, das anschwoll, als stieße irgendeine unbeschreibliche Kraft ein gewaltiges Tor auf. Nur mehr Augenblicke, nur noch wenige Augenblicke. Die Sanduhr des Schicksals aller war fast abgelaufen. Dann blitzte vor Lindens Sinnen ein Eindruck von Offenheit und Weite auf. Der von seinem bunten Streifengewand getragene Eifrige folgte den Wegwahrern auf das Felsband am Fuß des Wagnisses - der schmalen Steinbrücke über die Kluft - hinaus. Die Wegwahrer flitzten sofort auf die Brücke. Der Eifrige, der jetzt höher schwebte, um sich von dem Abgrund möglichst zu distanzieren, folgte ihnen. Aber Linden forderte Graubrand keuchend auf: »Halt! Halt!« Graubrand, die eben durch das Portal der Verlorenen Tiefe rannte, zwang sich dazu, hart am Rand der Kluft anzuhalten, um dort auf Lindens Anweisungen und ihre Kameradinnen zu warten. Tief unter sich sah Linden das Ungeheuer wie feurige Lava aufsteigen. Anfangs war seine Macht so groß, dass Linden sie nicht deutlich erkennen konnte. Sie glich einem formlosen flammenden Rachen, der die gesamte Kluft ausfüllte. Aber als Linden sich zur Konzentration zwang, erkannte sie, dass Sie, die nicht genannt werden darf, weder ein flammender Rachen noch formlos war. Die Bestie war nicht einmal feurig; so wirkte sie lediglich, weil ihre Macht so extrem war. Und sie besaß Gesichter … 0 Gott, sie besaß Gesichter. Dutzende, Hunderte von Gesichtern. Fratzen illustrierten die aufsteigende Kraft in gespenstischer Folge: alle unterschiedlich; alle so riesig, dass immer nur drei bis vier gleichzeitig zu sehen waren; alle verzerrt und verzweifelt, als heulten sie in Todesqualen. Alle nur Frauengesichter. Sie veränderten sich ständig, wechselten fast übergangslos von einer gequälten Fratze zur nächsten. Trotzdem war jede einzelne klar sichtbar, deutlich zu erkennen. Hätte Linden sie gekannt, hätte sie ihre Namen aufsagen können.
Linden begriff instinktiv, was geschehen würde, falls das Ungeheuer ihre Gefährten und sie einholte. Die Männer würden hingeschlachtet, in Stücke gerissen werden; aber die Frauen würden einzeln verschlungen werden. Die Schwertmainnir, Pahni und sie selbst würden ein Teil dieser … dieser … Sie, die nicht genannt werden darf, war der Ursprung von Kevins Schmutz. Kastenessen und Esmer hatten sie geformt und manipulierten sie; ihre Energie bildete einen Schleier, der Wahrnehmungsfähigkeit und Gesundheitssinn behinderte. Der von ihr ausgehende Zauberbann verdunkelte das Gesetz und behinderte die Erdkraft; die natürlichen Kräfte des Lebens waren für sie nur Belanglosigkeiten. Trotzdem war sie weder geschwächt noch ausgepowert. Sie besaß die Macht, Berge zu versetzen; allein die Motivation dafür schien ihr zu fehlen. In der Nähe solchen Übels schaffte Linden es nur mühsam, ihren Stab weiter leuchten zu lassen. Nach dem Kampf um Erstes Holzheim hatte sie geträumt, Aas zu sein. Dieser Zauberbann gab ihr das Gefühl, schon tot zu sein; tot und verwesend. Von knurrenden Urbösen in kleinen Schwärmen begleitet kamen die Riesinnen nacheinander durch das Portal. Obwohl die Urbösen laut kläfften, um die Gesellschaft dazu zu bewegen, das Wagnis sofort zu überqueren, blieben Kaltgischt und Gutwind bei Graubrand und Linden stehen. Die Gedemütigten wachten weiter über Covenant. Als Steinmangold nach Böen-Ende auf die Felsterrasse kam, fragte sie, warum ihre Gefährtinnen haltgemacht hatten; sie bekam jedoch keine Antwort. Die anderen Riesinnen waren wie Linden von der Bösartigkeit des Ungeheuers gelähmt. Mit einem Blick in die Tiefe meinte Stave leidenschaftslos: »Vielleicht hat der Zweifler deshalb von Diasssomer Mininderain gesprochen. Vielleicht wollte er uns unsere Gefahr begreiflich machen.« Trotz der großen Entfernung musste der Eifrige ihn gehört haben. Aus der Höhe über dem Scheitelpunkt der Brücke rief der Buntgekleidete: »Sie ist auch die Auriferenz! Unter denen, die uns vernichten werden, leidet auch eine Insequente! Um ihr Los nicht teilen zu müssen, haben viele aus unserem Volk das Land gemieden.« Esmer fügte streng hinzu: »Sie, die nicht genannt werden darf, enthält
auch Kastenessens sterbliche Geliebte. Sie war Emereau Vrai, eine Tochter von Königen; sie hat es gewagt, diesen alten Bann zu nutzen, um die Tänzerinnen der See zu erschaffen. Deshalb ist sie verschlungen worden.« Linden glaubte zu wissen, das Ungeheuer sei Diassomer Mininderain, die Covenant ihr geschildert hatte: die machtvolle Gefährtin … Dann waren seine - ihre - Fähigkeiten unermesslich. Statt sich gewaltsam einen Weg aus der Tiefe zu bahnen, um die Erde zu verwüsten, war sie wahnsinnig geworden und in unruhigen Schlummer verfallen, weil sie mehr als nur einfache Vernichtung begehrte. Stattdessen hungerte sie nach lebenden Menschen, die lieben und selbst geliebt werden konnten. Und sie war zu nahe. Sie war doch bestimmt zu nahe? Linden und ihre Freunde würden das Wagnis nicht mehr rechtzeitig überqueren können. Sie musste Esmer überreden oder vertreiben. Jetzt oder nie. Die meisten Urbösen waren schon auf die Brücke gelaufen. Die Zurückgebliebenen schlossen sich zum Schutz vor dem Stab zu einem Keil zusammen. Alle gestikulierten aufgeregt knurrend und bellend, um der Gesellschaft zu bedeuten, sie solle das Wagnis überqueren. »Linden!«, rief Liand bittend. »Wir müssen weiter!« Linden wandte sich grimmig an Esmer. Aus der Erinnerung an das bedrückende Vermächtnis ihrer Eltern stellte sie die kränkendste Frage, die sie sich ausdenken konnte. »Stört es dich nicht, dass Cail sich seines Sohnes schämen würde?« Esmers Miene verfinsterte sich schlagartig. Seine Augen blitzten. »Und stört es dich nicht, Weißgoldträgerin«, entgegnete er scharf, »dass du über ein Mittel verfügst, meine Gleichgültigkeit zu beenden, und es nicht gebrauchst?« Sie starrte ihn verständnislos an. »Ich meine den Krill des Hoch-Lords«, sagte Esmer stöhnend. »Er kann mir das Leben nehmen.« Trotz der Gefahr, in der sie schwebten, wechselten die Schwertmainnir erstaunte Blicke. Liands Verzweiflung konnte Linden fast körperlich spüren. Der Schock der Ramen zerrte an ihren Nerven. »Begehrst du nicht, die Tat selbst auszuführen«, fuhr Esmer fort, »kannst du einen der Haruchai damit beauftragen. Mit meinem Tod endet die Wirkung meiner Anwesenheit. Der Insequente besitzt wieder alle seine
Fähigkeiten. Der Verstand des Zeitenherrn kehrt in die Gegenwart zurück. Die Riesinnen erhalten wieder die Gabe, in Zungen zu reden. Das weiße Gold ist in deinen Händen wieder so machtvoll wie zuvor. Töte mich, Weißgoldträgerin. Mach meinen Qualen ein Ende. Findest du dein Leben lebenswert, musst du meines beenden.« »Du bist…« Linden setzte die Verzweiflung ihrer Gefährten so sehr zu, dass sie sich verhaspelte. »Das ist…« Aber dann fing sie sich. »Klar doch! Ich soll dich umbringen. Mit dem Krill. Wunderbar. Nur kommt dabei der Croyel frei.« In Freiheit war das Scheusal vielleicht stark genug, um sie und sogar die Riesinnen in den Abgrund zu stoßen. »Und ich verliere meinen Sohn.« Esmer zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst.« Sein Blick blieb unnachgiebig. »Jede Tat hat ihren Preis, keine ist ohne Gefahr. Aber du musst jetzt handeln. Habe ich nicht gesagt, dass ich mein Ende herbeisehne? Und deine Chancen verschlechtern sich mit jedem Augenblick. Mein Tod wird Sie, die nicht genannt werden darf, nicht von ihrem Beutezug abhalten.« Ohne erkennbaren Grund fügte er hinzu: »Die Urbösen und Wegwahrer haben weiter den Wunsch, dir zu dienen. Sie sind in vielen Dingen geschickt.« »Linden Riesenfreundin!«, knurrte die Eisenhand. »Ich will dich nicht beeinflussen. Aber du musst dich rasch entscheiden! Das Übel kommt näher!« Für wenige Augenblicke - nur einen Herzschlag lang - war Linden durch die möglichen Folgen von Esmers Appell wie gelähmt. Sie konnte Covenant in die Gegenwart zurückholen. Sie konnte wieder wilde Magie anwenden. Die dem Eifrigen verliehenen Fähigkeiten würden zurückkehren. Dann schlug ihr Herz wieder, echote den Lebenspuls von Dutzenden oder Hunderten gequälter Frauen, und sie erkannte, dass sie in Wirklichkeit gar keine Wahl hatte. Alle ihre Optionen waren unerträglich. Esmer eiskalt ermorden. Jeremiah wieder verlieren. Oder ein unbeschreibliches Massaker zulassen. Die Dämondim-Abkömmlinge drängten sie weiter in Richtung Steinbrücke. »Lauft!«, forderte sie Raureif Kaltgischt auf. »Covenant als Erster! Dann
Jeremiah! Seht zu, dass möglichst viele von uns rüberkommen! Ich komme zuletzt. Ich bin dem Ungeheuer nicht gewachsen, aber vielleicht kann ich es ablenken.« Kaltgischt warf sich sofort herum und scheuchte Gutwind, die Covenant trug, mit einer Handbewegung in Richtung Brücke. Während Gutwind und die Gedemütigten vorausspurteten, wies Kaltgischt Steinmangold und Böen-Ende an, ihr einzeln zu folgen. Nach ihnen würden Rahnock, Grobfaust und Spätgeborene kommen. Wild durcheinanderkläffend rannten auch die restlichen Urbösen los. Einige Sekunden später waren nur noch Stave und Esmer bei Graubrand und Kaltgischt; Linden, Jeremiah und dem Croyel. »Kaltgischt …!«, protestierte Linden. »Nein, Riesenfreundin.« Der Blick der Riesin war kämpferisch, ihr Lächeln grimmig. »Du hast deine Wahl getroffen. Das tue jetzt auch ich. Solange der Meer-Sohn bei dir ausharrt, werde ich tun, was ich in deinem Interesse für richtig halte. Vielleicht«, fügte sie rasch hinzu, »ist dein Sohn an deiner Seite sicherer als anderswo.« Linden glaubte zu verstehen. Griff die Riesin Esmer an, während sie selbst, Jeremiah und der Croyel auf der Brücke exponiert waren. Und mit dem Stab konnte sie die Magien des Ungeheuers vielleicht lange genug eindämmen, bis Kaltgischt es wieder unter Kontrolle bringen konnte. Eine geringe Chance. Besser als gar keine. »Los!«, keuchte Linden wieder gegen Brechreiz ankämpfend. »Sofort. Ich tue, was ich kann.« Kaltgischt nickte, dann lief sie zu dem Wagnis. Graubrand und Stave folgten ihr dichtauf. Esmer blieb in Lindens Nähe. Sie hatte vergessen, wie schmal die Brücke wirkte … und wie zerbrechlich. Verdrängt hatte sie auch die gewaltige, bedrohliche Masse der Stalaktiten. Als Graubrand sie auf die Brücke trug, schien die Tiefe sich wie eine Kluft aus ihren schlimmsten Albträumen zu öffnen. Und das Übel; Gott, das Übel! Gepeinigte Fratzen reckten sich in verrücktem Wechsel nach oben und bemühten sich, frisches Leben zu verschlingen. Sie, die nicht genannt werden darf, kam nicht rasch herauf, aber ihr Aufsteigen war so unaufhaltsam wie die Kräfte, die den Melenkurion Himmelswehr gebildet hatten.
Mit dem Stab, dessen Licht ihr unbedeutend erschien, in den Händen erreichte Linden eine ganz neuartige Dimension des Fühlens und der Wahrnehmung: eine Dimension konzentrierter, unverfälschter Angst. Nun verstand sie, weshalb ihre Eltern den Tod vorgezogen hatten. Jedes andere Ende wäre besser als ein Sturz in diese unergründliche Tiefe; in diese korrupte Entstellung von Lust und Liebe. Irgendwo kreischte der Eifrige, sie sollten sich beeilen. Von der fächerartigen Obsidianplatte am einzigen Höhlenausgang riefen Riesinnen ermunternde Worte. Linden, die ihren ganzen Mut zusammennahm, versuchte abzuzählen, wie viele ihrer Gefährten schon in Sicherheit waren; aber das schaffte sie nicht. Das Kläffen der Urbösen und Wegwahrer klang in ihren Ohren verzweifelt. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke verständigten Kaltgischt und Graubrand sich durch irgendein Zeichen. Sie waren keine Haruchai; sie konnten sich nicht durch Telepathie verständigen. Trotzdem waren sie als Kriegerinnen seit Jahrhunderten aufeinander eingespielt. Sie bewegten sich, als besäßen sie einen gemeinsamen Verstand. Kaltgischt warf sich plötzlich herum. Im selben Augenblick machte Graubrand abrupt halt, sprang einen Schritt zurück. Ohne Jeremiah loszulassen oder den Krill vom Hals des Croyel zu nehmen, versetzte die Eisenhand Esmer einen gewaltigen Tritt. Trotz seiner zahlreichen Talente konnte er offenbar nicht Gedanken lesen. Kaltgischts Fußtritt traf ihn voll. Und sie war eine Riesin: doppelt so groß wie er und viel schwerer. An der Grenze des Wanderns hatte er Staves Angriff erkennbar mühelos abgewehrt; aber der Eisenhand der Schwertmainnir war er nicht gewachsen. Ihr Tritt beförderte ihn von der Brücke, ließ ihn kopfüber in die Gier von Diassomer Mininderain und Emereau Vrai und unzähliger weiterer betrogener Frauen stürzen. In einer anderen Realität hätte eine von ihnen Lindens Mutter sein können. Oder Joan. Kaltgischt machte keine Pause, keine Zehntelsekunde lang. Sie beendete ihre Drehung und rannte sofort wieder los. Hinter ihr setzte Graubrand sich in Bewegung, polterte stampfend über die Brücke. In dem aufgeregten Kläffen der Dämondim-Abkömmlinge hörte Linden
schrille Besorgnis. Fast wider Willen verfolgte sie Esmers Sturz. Sie beobachtete, wie Kiefer aufgerissen wurden, um ihn sich aus der Luft zu schnappen … … und sah ihn verschwinden, bevor die Zähne zuschnappen konnten. Die Eisenhand konnte nicht geglaubt haben, ihn wirklich vom Leben zum Tod befördern zu können. Er stammte von Elohim ab; sie musste gewusst haben, dass er dem Übel entgehen würde. Sie hatte nur versucht, eine Abwesenheit zu schaffen, die Covenant oder dem Eifrigen die Chance geben würde, sich zu erholen. Aber ehe Kaltgischt, Graubrand oder Stave zwei Schritte gemacht hatten, schoss eine Hand aus Theurgie nach oben, um die Brücke zu ergreifen. Unwiderstehliche Kraft schloss sich um den Steinbogen und zog daran. Im nächsten Augenblick, in weniger als einem Augenblick, praktisch sofort spürte Linden, dass die Brücke erzitterte und kreischend nachgab. Dann zerbarst der gesamte Brückenbogen in Steintrümmer. Die greifbare Realität schien zu verschwinden, als hätte sie nie existiert. Der Rückstoß der ausgeübten Kraft schleuderte Kaltgischt, Graubrand und Stave in die Höhe. Als sie wieder herunterkamen, hatten sie nichts mehr unter sich. Nichts außer einem Hagel aus Granitbrocken … und Ihr, die nicht genannt werden darf. Kaltgischt, Jeremiah und der Croyel, Graubrand mit Linden, Stave: sie alle stürzten mit den Steintrümmern in die Tiefe. Esmer stand schon wieder auf der anderen Seite der Brücke zwischen Covenant und dem Eifrigen. Irgendjemand jammerte klagend. Der Croyel? Linden selbst? Der Abgrund war voller Stimmen. Sie hatte ins Herz des Übels geblickt; sie wusste, dass sie nicht sterben würde. Stave und Jeremiah würden augenblicklich ermordet, der Croyel in Stücke gerissen werden. Aber Lindens Ende würde schlimmer sein. In all diesen kreischenden Fratzen sah Linden ihr Schicksal, das Ergebnis ihrer falschen Entscheidungen. Die Opfer waren dem Übel nicht anheimgefallen, weil sie Böses gewollt hatten, sondern weil sie Fehler gemacht hatten. Nun gierten sie endlos nach jeder Frau, die lieben konnte, wie sie einst geliebt hatten. Sie würden Linden und Kaltgischt und Graubrand verschlingen und
ihren Geschmack genießen. Lindens Seele war bereits Aas. Sie, die nicht genannt werden darf, würde sie mit mehr Genuss verspeisen als jede Riesin. Aber schneller als sie in die Tiefe stürzte, schoss ein Säurestrahl an ihr vorbei. Die Urbösen hatten sofort einen Keil gebildet, um ihr Lehrenwissen zu konzentrieren. Schwarzes Vitriol ergoss sich in die Kluft. Als die Säure laut klatschend auftraf, stieß das Übel einen gellenden Schrei aus, der die Höhle erzittern ließ. Die wimmelnden Fratzen fuhren auseinander. Die starke Hand der Theurgie löste sich in wirkungslosen Nebel auf. Gleichzeitig schlangen frenetisch herabschießende Bänder sich um Linden und Graubrand; rissen sie wieder hoch. Der Ruck ließ Linden wie ein Peitschenhieb zusammenzucken, sodass sie beinahe ihren Stab verloren hätte. Weitere Bänder - zwei, drei Dutzend bunte Stoffstreifen fingen Kaltgischt und Jeremiah mit dem Croyel ein. Auch Stave wurde von Bändern umschlungen und in die Höhe gerissen. Wie Drahtseile gestrafft zogen die Bänder, aus denen das Gewand des Eifrigen bestand, seine abgestürzten Schützlinge wieder nach oben. Flüssige Kraft ergoss sich in den Wirbel aus gequälten Fratzen. Sie detonierte wie Donnergrollen inmitten der gellend lauten Schreie. Einige Dutzend Urböse konnten Ihr, die nicht genannt werden darf, nichts Ernstliches anhaben; das würden sie selbst am besten wissen. Aber sie lenkten das Ungeheuer ab. Und sie waren nicht allein. Ein etwas schwächerer Kraftstrahl echote von den Höhlenwänden wider und brach sich an den Stalaktiten. Die Wegwahrer …! Sie waren nicht zahlreich genug, um es mit der rohen Gewalt der Urbösen aufnehmen zu können. Und sie hatten ihr Lehrenwissen ihrem Wyrd angepasst; hatten dabei einen anderen Weg eingeschlagen als ihre schwarzen Verwandten. Trotzdem führten sie einen machtvollen Schlag, und die durch Alter und Gewicht spröden Stalaktiten waren brüchig. Mit ohrenbetäubendem Knirschen und Krachen fielen gigantische Steinsäulen wie Projektile in die Gesichter in der Kluft. Jeder Fehler hätte die Stoffbänder des Eifrigen zerreißen, Linden und Jeremiah zerschmettern können. Aber die Wegwahrer wussten genau,
was sie taten. Ihre Steinspeere fielen nur am jenseitigen Rand des Abgrunds. Die mehrfache Rettungsaktion beanspruchte die Kräfte des Eifrigen aufs Äußerste. Linden wurde nur gefährlich langsam in die Höhe gezogen. Vor ihren Augen blühten immer wieder dunkle Flecken auf, die ein Echo des Krachens zu sein schienen, mit denen immer neue Stalaktiten abbrachen. Graubrand hielt sie an sich gepresst, sodass Linden kaum atmen konnte. Aber sie nahm den Druck der angespannten Muskeln der Riesin kaum wahr. Ihr Stab leuchtete nicht mehr, und sie hatte ihren Gesundheitssinn verloren. Das Übel hatte sich ihren Nerven eingeprägt. Von Dunkelheit und verzerrten Bildern umgeben, nahm sie fast nur noch das Kreischen der verlorenen Seelen wahr. Der Rand der Kluft, an dem ihre Gefährten kauerten oder standen, war noch endlos weit entfernt. Sie würde ihn nie erreichen. Nun bekam der Insequente jedoch Hilfe. Grobfaust und Rahnock setzten Bhapa und Pahni ab. Von den anderen Schwertmainnir gehalten, packten die beiden Riesinnen zu und holten die Bänder des Eifrigen wie Trossen ein. In blinder Wut reckte Sie, die nicht genannt werden darf, sich in die Höhe. Grobfaust, Rahnock und der Eifrige verdoppelten ihre Anstrengungen. Wenige Augenblicke später konnten andere Riesinnen Graubrand und Kaltgischt packen. Spätgeborene, die sich darauf verließ, dass Mahrtür sich festklammern würde, packte die Ränder von Graubrands Brustpanzer und zerrte sie daran über den Rand der Kluft. Onyx Steinmangold trug Liand auf einem Arm, während sie der Eisenhand aus dem Abgrund half. Sobald das Gewicht der Riesinnen von dem Eifrigen genommen wurde, zog er rasch auch Stave herauf. Obwohl Liand noch schwach war, entlockte er dem Orkrest ein Leuchten. Sein reinweißes Licht drängte die Wildheit des Übels zurück. Er unterstützte den Eifrigen und die Schwertmainnir mit Erdkraft. Der Insequente rang keuchend nach Atem, als hätte er die Riesinnen auf den Schultern getragen. Eine gefährliche Blässe überzog sein Gesicht, und er schwankte, als hätte er weiche Knie. Im Widerschein der Kraft aus der Tiefe sahen die Schweißlinien, die sich über sein Gesicht zogen, wie Schnitte aus.
Linden brauchte einige Augenblicke, um zu merken, dass sie wieder atmen konnte. Bestimmt würden ihre Rippen später schmerzen; vorläufig waren sie nicht einmal zu spüren. Vor ihren Augen schienen schwarze Blüten zu explodieren. Sie, die nicht genannt werden darf, erfüllte die ganze Welt mit ihrem Gebrüll. Esmer, der zwischen den Riesinnen stand, beobachtete sie verächtlich. Irgendwo in Lindens Nähe verkündete Galt: »Man braucht nicht in Zungen reden zu können, um zu verstehen, dass die Dämondim-Abkömmlinge zur Flucht drängen. Die Wegwahrer laufen schon voraus, um uns zu führen. Wir müssen ihnen rasch folgen.« Die Eisenhand hatte vielleicht »Aye!« gekeucht, aber Linden war sich ihrer Sache nicht sicher. Ein Natterngezücht aus Übelkeit und Angst schlängelte sich durch ihre Eingeweide. Als Graubrand sich jetzt mit ihr aufrichtete, vergrößerten die schwarzen Flecken in ihrem Blickfeld sich, bis sie alles verdeckten und die Welt verschwinden ließen. Einige Minuten oder Stunden lang existierte Linden im Reich der Toten. Sie hatte zu viele qualvoll verzerrte Gesichter gesehen, die sie den Aasfressern auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert hatten. Für sie bestand das Übel aus kriechenden Wesen, die giftig und widerlich waren. Sie nagten sich aus ihrem verwesenden Körper ins Freie: Spinnen und Tausendfüßler, Maden und lange Würmer. Am liebsten hätte sie sich die Haut vom Leib gekratzt, um sie loszuwerden. Aber ihre Albträume lähmten sie. Sie war tot; sie war der Tod. Sie hatte Blut an den Händen … Dann ließen Graubrands stampfende Schritte, die laut keuchenden Atemzüge der Schwertmain sie langsam wieder zu Bewusstsein kommen. Linden kehrte ängstlich zu sich selbst zurück. Das Gefühl, giftige Insekten kröchen über ihren Leib, klebte wie Angstschweiß an ihr. Kiefer und Zangen verbissen sich unter ihrer Kleidung in sie. Aber es gab keine Spinnen, keine Tausendfüßler, keine giftigen Insekten. Linden spürte sie nur. Graubrands hartnäckiger Kampf konnte Linden nicht von dem erlösen, was sie geworden war. An den massigen Körpern von Kaltgischt und Zirrus Gutwind vorbei erreichten Linden weiße Lichtblitze von Liands Sonnenstein. Steinmangold und er führten die Gesellschaft hinter den Wegwahrern her. Aber die Schwertmainnir rannten nicht mehr. Der von dem Abgrund
und der Verlorenen Tiefe wegführende Tunnel war zu einem schmalen Gang mit unebenem Boden geworden, den der Gesteinsschutt von Äonen bedeckte. Die Riesinnen trugen weiter alle ihre Gefährten außer den Haruchai, aber sie mussten sich jetzt vorsichtig bewegen. Immer wieder verengten Felsvorsprünge den Korridor, sodass sie sich seitlich hindurchzwängen mussten. Linden besaß weder Kraft noch Gesundheitssinn. Stave hatte weiter Covenants Ring in Verwahrung. Sie wurde bei lebendigem Leib aufgefressen; alle, die ihr etwas bedeuteten, würden sterben. Zerfressene Gesichter und Tausendfüßler waren Versprechen, die nicht gebrochen werden konnten. Und Esmer blieb absichtlich in ihrer Nähe, um zu verhindern, dass sie wieder Kraft gewann. Seine zahlreichen Wunden erinnerten an schwärende Pestbeulen. Sie hätte erwartet, den Eifrigen vorn bei Liand zu sehen. Aber der Insequente war nicht dort. Nur die Gedemütigten begleiteten Liand und Steinmangold, Covenant und Gutwind, Jeremiah mit dem Croyel und Kaltgischt. Ohne ihren Gesundheitssinn konnte Linden Covenants Zustand nicht beurteilen. Sie konnte sich nicht von der Fäulnis reinigen. Aber sie hatte keinen Grund zu der Annahme, er sei aus dem Chaos seiner Erinnerungen entkommen - nicht solange Esmer in ihrer Nähe war. Graubrands breite Brust und massive Schultern blockierten Lindens Blick nach hinten. Aber als die Schwertmain sich dann seitlich durch eine Engstelle schob, konnte Linden ihre nachfolgenden Gefährten beobachten. Linden sah sie vor einem Hintergrund aus Feuer und Angst: dunkle Gestalten, die vor dem Zorn des Übels herstolperten. Die Windungen und Verengungen des Korridors konnten Sie, die nicht genannt werden darf, offenbar nicht aufhalten. Trotz ihrer schrecklichen Größe und ihrer Vielzahl von Identitäten schien sie ihre Gestalt beliebig verändern zu können. Darin glich sie Spinnen, Kakerlaken, Ungeziefer: Kein Spalt war klein genug, um sie fernzuhalten, keine Höhle groß genug, um nicht von ihr angefüllt zu werden. Kein nur physisches Hindernis würde sie aufhalten können. Giftige Aasfresser lauerten in jeder Ritze und Spalte. Weil der Korridor so eng war, würde sie Lindens Gefährten wahrscheinlich nacheinander verschlingen müssen, aber das konnte die
ungeheure Energie des Übels nicht beeinträchtigen. Als Silhouetten sah sie Sturmvorbei Böen-Ende, die Anele trug, Rahnock mit Pahni und schemenhaft weitere Riesinnen - vermutlich Grobfaust und Spätgeborene mit Bhapa und Mahrtür. Soviel sie erkennen konnte, waren noch alle Schwertmainnir auf den Beinen. Aber ihre Eindrücke waren viel zu undeutlich, um Gewissheiten sein zu können. In dem sich dahinschlängelnden Korridor gab es zu viele Schatten. Die ihr nachfolgenden Riesinnen glichen Menhiren auf Stelzen: verzerrt und unbeholfen. Von dem Insequenten - oder den Urbösen - war nichts zu sehen. Dann drehte Graubrand sich wieder nach vorn, um auf dem mit dem Gesteinsschutt von Äonen bedeckten Boden rascher voranzukommen, und Linden konnte nicht mehr nach hinten beobachten. »Der Eifrige?« Hysterie ließ ihre Stimme rau klingen. Obwohl sie wusste, dass das nichts helfen würde, schlug sie nach dem imaginären Krabbeln unter ihrer Bluse, ihren Jeans. »Wo ist er? Haben wir ihn verloren?« Esmer würde es wissen, falls Graubrand und Stave darüber keine Auskunft geben konnten. Ohne die Fähigkeiten des Eifrigen … Cails Sohn würdigte sie keiner Antwort. »Der Insequente«, keuchte Graubrand, »hat geschworen, den Urbösen beizustehen. Aber wie er das schaffen wollte, kann ich mir nicht vorstellen.« Gegen Sie, die nicht genannt werden darf, konnte man nicht mit bunten Bändern bestehen. »Trotzdem ist er hinter uns zurückgeblieben.« »Kannst du sehen, was er tut?«, fragte Linden. »Das kann ich nicht. Das Übel blockiert meine Sinne.« »Er übertrifft alle Erwartungen«, stellte Stave fest. Der Orkrest oder seine angeborene Widerstandskraft gegen Kevins Schmutz erhielt dem ehemaligen Meister seine Wahrnehmungsgabe. »Dass er Angst hat, ist unverkennbar. Trotzdem unterstützt er mit seinen Fähigkeiten die Anstrengungen der Urbösen. Sein Gewand kann dem Übel nichts anhaben. Das können auch die Urbösen nicht. Aber wenn es weiter vordringen will, wehren das Gewand des Insequenten und ihr Lehrenwissen seine Theurgie ab. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass das Übel nur langsam vorankommt.«
Linden wusste, was Angst war. Was der Eifrige jetzt tat, hätte sie nicht geschafft. Sie war mit nagenden, giftigen Insekten bedeckt, von hungrigem Ruin bedroht. Schloss sie die Augen, sah sie ungeahnte Schrecken unter sich; beobachtete, wie grausige Macht den Egger vernichtete; fühlte sich ins Bodenlose stürzen… Sie hatte ihre eigene Mutter umgebracht. Sie verdiente, was immer ihr bevorstand. Wild um sich starrend versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit auf die zerklüfteten Wände des engen Korridors zu konzentrieren. Sie wollte glauben, dass sie halten würden. Dass die Welt zusammenhalten würde. Aber das konnte sie nicht. Bald würde ein Ungeheuer, das Qualen und Verzweiflung genoss, die Wurzeln des Berges verschlingen. Sie schlug sich auf ihre zerfressene Haut, aber auch das brachte keine Linderung. Außerhalb des Bereichs von Liands Licht war die unterirdische Finsternis absolut. Unermessliche Meilen von Granit und Schiefer waren wie das langsam strömende Erdblut unter dem Gravin Threndor mit Quarz und Obsidian und fremdartigen Erzen durchsetzt. Vor langer Zeit hatte Linden geglaubt, die Schrathöhlen lägen tief, die Höhle des Erdbluts noch tiefer. Aber bis zu diesem Augenblick war ihr die wahre Bedeutung von »tief« entgangen. Eigentlich hätte sie hier nicht atmen können dürfen. Die seit Äonen hier unten eingeschlossene Luft musste zu abgestanden sein, um noch Leben erhalten zu können. Kein Wunder, dass Frostherz Graubrand keuchend nach Atem rang. Offenbar verbesserte Liand die Luft mit Erdkraft. Aber er konnte nicht genug tun. Lindens Gefühl, an Atemnot zu leiden, schien mit jeder Minute stärker zu werden. Das Gestein selbst glich vergegenständlichter Atemnot. Ihre Lunge quälte sich in ihrer Brust, als würde sie von Panik und Granit zusammengepresst. Vor langer, langer Zeit hatte Liand ihr in Schwelgenstein gezeigt, wie sie ihrem Stab Erdkraft und Gesetz entlocken konnte, selbst wenn sie durch Kevins Schmutz völlig blind war. Damals hatte Kastenessens schlimmer Nebel jedoch hoch über Linden gehangen, und sie war durch starke Barrieren aus gewachsenem Fels geschützt ungefähr zweihundert Meilen von seinem Ursprung entfernt gewesen. Jetzt war Sie, die nicht genannt werden darf, ganz nahe … Erschöpft und verängstigt konnte Linden nicht glauben, dass sie jemals imstande sein würde, die finstere Magie
des Übels zu überwinden. Und ohne das wohltuende Feuer ihres Stabes konnte sie das Gefühl, an ihrer Haut, ihren Nerven fräßen Insekten, nicht loswerden. So musste sie über kurz oder lang den Verstand verlieren. Sie brauchte Hilfe, aber niemand konnte ihr helfen; nicht im Augenblick. Die Flucht der Riesinnen war zu anstrengend, als dass sie ihr hätten beistehen können. Und die wenigen Blicke, die ihr den Weg nach vorn zeigten, legten die Vermutung nahe, der Korridor werde bald unpassierbar werden. Er begann sich zur Seite zu neigen, wurde enger und schlängelte sich einem unterirdischen Riss folgend durch Kalkstein und lockeren Schiefer. Vor Liands Orkrest schien sein Boden gefährlich schief zu werden. Linden vertraute den Wegwahrern. Sie bemühte sich, ihnen zu vertrauen. Aber sie schienen die Gesellschaft auf einen Weg zu führen, dem nur sie folgen konnten. Vielleicht würden Linden, die Haruchai und die Ramen es schaffen, hinter den kleineren Geschöpfen her weiterzukriechen, wenn der Gang fast in die Waagrechte kippte. Aber die Schwertmainnir würden festsitzen. Und wenn Kaltgischt den Croyel freiließ … »Ha!« Liands Schrei hallte von den Felswänden wider: ein Schrei der Erleichterung. »Die Wegwahrer haben uns nicht in die Irre geführt! Hier geht es weiter.« Als der Korridor sich noch stärker neigte, ging Raureif Kaltgischt plötzlich in die Hocke, lehnte sich mit dem Rücken an die untere Wand. Indem sie Jeremiah und den Croyel mit einem Arm an sich presste und den Krill in der freien Hand hielt, gebrauchte sie ihre Beine, um sich mit dem Kopf voran weiterzuschieben. Der Fels schien viel zu rau zu sein, um diese Art Fortbewegung zu gestatten, aber ihr starker Brustpanzer bot ihr guten Schutz. So konnte sie weiter in Bewegung bleiben. Vor der Eisenhand gebrauchte Gutwind eine Schulter und ihren verstümmelten Arm, um sich voranzuschieben, während sie weiter Covenant trug. Auf Graubrands Aufforderung drehte Linden sich so zur Seite, dass sie den Brustpanzer der Riesin mit beiden Händen umfassen und ihr Handgelenk mit den Beinen umklammern konnte. Ihren Stab hielt sie mit dem Oberkörper an die Schwertmain gedrückt, während die Riesin ihre Hände gegen die untere Wand stemmte und sich geschickt auf allen vieren fortbewegte.
Immer wenn Linden Graubrands Körper berührte, wurden die Maden zu noch größerer Qual. Dicht hinter ihnen folgte Böen-Ende Graubrands Beispiel. Aneles Augen glitzerten im Licht des Orkrests und des Krill mehrmals kurz auf, aber er schien zu verstehen, was Böen-Ende vorhatte. Der sich verengende Korridor verhinderte, dass Linden an der Beschützerin des Alten vorbeisehen konnte. Dann erlosch Liands Licht so plötzlich, als seien Steinmangold und er in einen Abgrund gestürzt. Die Gewissheit, dass sie gescheitert waren, presste Linden die Brust zusammen. Schwärme ekliger Wesen hatten sich so tief in sie hineingefressen, dass sie fürchtete, nie mehr atmen zu können. Irgendwie fand sie die Kraft, sich weiter an Frostherz Graubrand zu klammern. »Hier!«, rief Gutwind laut. »Der Gang wird breiter! Halten der Eifrige und die Urbösen durch, erreichen sie einen Teil, der leichter zu verteidigen ist.« Trotz Bissen und einem Gewimmel, das keine greifbare Form hatte, schien Linden einen Gedanken Covenants aufzunehmen, als leckten Fragmente ihrer Vergangenheit aus seinen chaotischen Erinnerungen. Als sie erstmals gemeinsam in das Land gekommen waren - als sie damals in Steinhausen Mithil eingesperrt gewesen waren -, hatte Sunder auf Covenants Drängen die Stirn Covenants mit dem Sonnenstein der Steinmeister berührt. Damit hatte Sunder Covenants Ring zum Leben erweckt, wilde Magie durch den Orkrest ausgelöst. Linden konnte vielleicht etwas Ähnliches versuchen - wenn es ihr gelang, nahe genug an Liand heranzukommen. Jede Andeutung von Gesundheitssinn würde ihre Verzweiflung, ihren bevorstehenden Zusammenbruch vertreiben. Statt Aas würde sie dann vielleicht Erdkraft und das Gesetz wählen können. Und sie würde die Flamme ihres Stabes dazu benutzen können, ihr Fleisch zu reinigen. Wenn sie nur hätte atmen können … »Bring mich zu Liand, so schnell du kannst«, keuchte sie mit letzter Anstrengung. »Ich brauche seinen Orkrest.« Graubrand nickte wortlos. Sie bekam nicht genug Luft, um sprechen zu können.
Jetzt verschwanden auch Gutwind und Covenant. Rauhreif Kaltgischt, die Jeremiah und den Croyel fest an sich gedrückt hielt, rutschte weiter vorwärts. Das Ungeheuer grinste Linden an. Das Grinsen ließ seine Reißzähne sehen. Kaltgischt machte halt. Als sie sich mitsamt ihrer Last aufrichtete, prallte sie nicht etwa an die Decke des Spalts. Stattdessen verschwand sie mit Jeremiah und dem Croyel in einer Ausbuchtung im Fels. Ein halbes Dutzend Herzschläge später kam Graubrand dort mit Linden an, und Linden atmete die etwas bessere Luft in der Umgebung des Sonnensteins ein. Als Graubrand der unteren Wand den Rücken zukehrte, hob Linden das Gesicht. An den Riesinnen vor ihr vorbeiströmend gelangte für einen Augenblick schwindelerregende reine Luft zu ihr. Hier kreuzte ein breiterer Riss sich mit dem Felsspalt. Der neue Gang verlief anfangs eben, um dann steil ins abgekapselte Dunkel aufzusteigen. Im Lichtschein des Orkrests war zu sehen, dass die Wegwahrer bereits die Steigung nahmen. Unter ihren Händen und Füßen lösten sich uralte Erdbrocken, als flitzte dort ein Mäuseheer davon. Steinmangold und Liand hatten schon fast den Fuß des Anstiegs erreicht. Aber hinter ihr, hinter Gutwind mit Covenant, hatte Kaltgischt haltgemacht, um kurz zu rasten. Dabei hielt sie Jeremiah so, dass das Gesicht des Croyel von Linden abgewandt war. Die Hand, mit der sie den Krill umklammert hielt, war unbeirrbar stetig. Sie musste Lindens Bitte gehört haben. Graubrand würde an ihr vorbeilaufen müssen, um Steinmangold mit Liand einzuholen. Sein Vorsprung war zu groß. Jetzt fiel das Leuchten des Dolchs genau auf Lindens Gesicht. Es erzeugte dunkle Schatten auf dem Fels der Wände, ließ Facetten von Quarz und Glimmer wie plötzliche Inspirationen aufblitzen und wurde mit schwächerem Glanz von dem Wasser zurückgeworfen, das an einigen Stellen aus dem Fels sickerte. Das Gefühl, unter Lindens Kleidung wimmelten Insekten, verstärkte sich noch. Vor dem Lichtschein sicher, suchten Dutzende von Beißwerkzeugen nach zartem Fleisch. Das konnte Linden nicht länger ertragen; sie konnte nicht warten, bis Graubrand den Steinhausener erreichte.
Etwa in der Mitte zwischen Gutwind und Kaltgischt stand Esmer und beobachtete seine Umgebung so gleichmütig, als interessierten ihn die Vorgänge tief unter dem Donnerberg nur am Rande. »Schneller«, keuchte Linden heiser, als wäre sie dem Ersticken nahe. Graubrand, die selbst nach Atem rang, rappelte sich auf, näherte sich mit großen Schritten der Eisenhand. Vor Jahrtausenden hatte wilde Magie den ursprünglichen Stab des Gesetzes zerstört, aber Linden war zu verzweifelt, um sich davon abhalten zu lassen. Sobald sie konnte, streckte sie ihren eigenen Stab aus. In verzweifelter Hast hielt sie ein eisenbeschlagenes Ende mitten in das Leuchten des Schmucksteins. Einen schrecklichen Augenblick lang fühlte sie nichts, absolut nichts. Wie denn auch? Der Krill war kein Orkrest; ihr Stab war nicht aus Weißgold. Und sie besaß keinen Gesundheitssinn. Sie konnte ihre Bedürfnisse nicht fokussieren. Sie konnte nur versuchen, zu beten, während in ihrer Kehle mühsam unterdrückte klagende Jammerlaute aufstiegen. Dann berührte sanft anschwellende Energie mit spürbarer Wärme ihre Hände … Linden riss den Stab hastig wieder an sich, drückte ihn an ihre Brust und konzentrierte ihren ganzen Überlebenswilllen auf das schwarze Holz mit den eingeschnitzten Runen. Trotz der Behinderung durch die Magie des Übels sickerten schwache neue Lebensimpulse in ihre angegriffenen Nerven. Sie klammerte sich an diese Vitalität, schürte sie. Forderte mehr. Bettelte um sie. Die neue Kraft wurde in kleinen Schritten stärker. Eine blasse Flamme, zart und vergänglich wie Elmsfeuer, lief den Stab entlang. Weil sie zu schwach war, erlosch sie wieder. Aber eine zweite nahm ihren Platz ein, dann eine dritte - und die dritte breitete sich aus. Sie zeichnete kurz die Runen nach, als wären sie mit Öl getränkt. Dann entzündete sie weitere Feuer. Ein Bündel Feuerstrahlen stieg auf, als kämen sie aus Lindens Brust. Freundliches, wohltuendes Licht wie Sonnenschein erfüllte die Höhle. Wenig später stand Linden mitten in einer Flammensäule aus Erdkraft und Leben.
Lindens Stärke wurde auf allen Seiten von Kevins Schmutz eingeengt. Ihre neue Kraft war fast lächerlich im Vergleich zu den Energien, die sie bei anderen Gelegenheiten entfesselt hatte. Trotzdem machte sie ihr neuen Mut, deutete mögliche weitere Verwandlungen an. Sie würde genügen. Sie musste genügen. In fiebriger Hast zog sie die Flamme eng um sich; kleidete sich in diese feurige Lohe. Dann machte sie sich daran, jeden befallenen Quadratzentimeter ihres Körpers durch reinigendes Feuer zu säubern. Das Zwicken und Nagen, das Krabbeln, das hektische Gewimmel von Hysterie: eines nach dem anderen fiel verglüht oder zerquetscht von ihr ab. Als Linden alle zu Asche verbrannt hatte, musste sie jedoch feststellen, dass sich nichts geändert hatte. Ihre Überzeugung, zu Aas geworden zu sein und jedem, der mit ihr zu tun hatte, den Tod zu bringen - ihre eigentliche Verzweiflung -, saß zu tief, als dass irgendein selbst erzeugtes Mittel sie hätte heilen können. Sie war in tiefster Seele krank, und die alles verzehrenden Fratzen von Ihr, die nicht genannt werden darf, kamen mit jeder Sekunde näher. Trotzdem konnte sie wenigstens wieder leichter atmen. Sie konnte sehen. Die widerwärtige Invasion von Spinnen und Tausendfüßlern war abgewehrt. Auch ihre Gefährten atmeten die frische Luft tief ein. Kaltgischt bedachte Linden mit einem dankbaren Grinsen. Staves ausdruckslose Miene verriet keinerlei Zweifel. Esmer betrachtete Linden jedoch, als wäre seine Krankheit ihre. Beim weiteren Anstieg waren die Wegwahrer hinter einem Felsvorsprung in der Wand der Spalte verschwunden. Auf der Schräge unter ihnen wartete Steinmangold mit Liand, winkte die anderen dringend heran. Im Licht des Orkrests und ihres Stabes sah Linden, dass Gutwind und die Gedemütigten ebenfalls haltgemacht hatten. Sie mussten gespürt haben, dass Kaltgischt und Graubrand stehen geblieben waren. Linden musterte Covenant lange genug, um bestätigt zu finden, dass er weiter in der Vergangenheit der Welt gefangen war. Dann machte sie sich daran, ihre übrigen Gefährten zu begutachten. Aneles Furchtsamkeit zerrte an ihren Nerven. Böen-Endes Besorgnis wuchs, als ihre Gefährtinnen sich hinter ihr versammelten. Trotzdem
ignorierte Linden sie und zwang sich dazu, ihre Sinne weiter ausgreifen zu lassen. Hinter den Riesinnen spürte sie das beißende Vitriol der Urbösen in raschen, kurzen Stößen. Dazwischen war das fieberhafte Geplapper der Beschwörungen des Eifrigen zu hören, der mit ihnen gegen das unheilvolle Knirschen von Zähnen und Schmerzen ankämpfte … Sie, die nicht genannt werden darf, war zu nahe. Neuerliche Panik ergriff Linden. »O Gott!« Sie hatte zu viel Zeit für sich selbst aufgewendet. »Wir müssen weiter!« »Aye«, knurrte die Eisenhand. Sie brauchte keine weitere Aufforderung. Mit Jeremiah und seinem Unglück auf einem Arm und dem unheimlich bedrohlichen Krill in der anderen Hand setzte sie sich in Richtung Anstieg in Bewegung. Trotz ihrer langen Anstrengung und ihrer anspruchsvollen Last schaffte sie sogar einen kurzen Spurt. Graubrand folgte ihr sofort, hastete über das feuchte Geröll und den Schutt auf dem Boden der Spalte hinweg. Hinter ihr folgten Böen-Ende und die restlichen Schwertmainnir. Als Graubrand den mit Schotter bedeckten Steilanstieg in Angriff nahm, spürte Linden, wie der Eifrige sich aus dem schräg geneigten Riss hinter ihr zwängte. Sie nahm ihn jetzt deutlich wahr. Sein angestrengtes Keuchen zerrte an ihren Nerven, als er sich jetzt auf Stoffstreifen, die sich an den rauen Wänden verankerten über den Boden erhob. So machte er Platz, damit die Urbösen unter ihm hindurchhuschen konnten. Dann stieg Linden Brandgeruch in die Nase … … der von dem Insequenten ausging. Sein Gewand hatte den größten Teil seiner Farben eingebüßt. Dutzende der ehemals bunten Bänder waren schwarz verkohlt oder zu spröden Fäden versengt worden. Seine schwitzende Hektik hinterließ einen kupfrigen Geschmack auf ihrer Zunge; sie spürte seine bittere Angst, seine nachlassende Entschlossenheit, seine Verzweiflung. Trotzdem flüchtete er nicht vor den Urbösen her. Stattdessen verankerte er sich hoch über ihnen, deckte auf diese Weise ihren Rückzug. Als sie aus dem schrägen Riss getrottet kamen, wirkten die schwarzen Wesen abgekämpft und unsicher; in die Flucht getrieben. Wegen der räumlichen Enge hatten sie ihre Keilformation auflösen müssen; so war es ihnen nicht mehr möglich gewesen, ihre Theurgien zu kombinieren.
Daher hatten einige von ihnen schreckliche Wunden erlitten. Linden nahm mehrere Wesen mit verletzten Händen und Füßen, auch mit fehlenden Gliedmaßen wahr. Sie spürte, wie einige Urböse auf das nasse Geröll sanken und nicht wieder aufstanden. Durch die Wildheit des sie verfolgenden Übels hindurch roch sie das beißend scharfe Pulsieren unnatürlichen Bluts. Sie waren die Letzten ihrer Art. Nun wurden sie nacheinander massakriert. Noch schwankend formierten sie sich in der Höhle zu einem neuen Keil. Linden konnte nicht abschätzen, wie viele fehlten. Zehn? Oder mehr? Trotzdem machten sie sich bereit, den Kampf fortzusetzen. Lange Augenblicke später tauchte ihr Lehrenkundiger mit seinem spitzen kurzen Eisenstab aus dem Felsspalt auf. Sobald er als Größter und Stärkster der Urbösen seine angestammte Position an der Spitze des Keils einnahm, war die Energie der gesamten Formation schlagartig wieder fokussiert. Ein Chaos aus kreischenden Fratzen drang in den Felsspalt vor. Es füllte den gesamten Raum zwischen den Wänden aus. Die Urbösen reagierten mit einem Strahl aus ätzender, korrosiver flüssiger Kraft. Ihre Magie war zu schwach, um das Übel ernstlich beschädigen zu können; aber sie bewirkte, dass die Fratzen zögerten … Während Sie, die nicht genannt werden darf, ihre zahlreichen Ichs zu neuerlicher Verfolgung antrieb, wichen die Urbösen zurück. Das Übel war sich seiner Opfer anscheinend sehr sicher. Es machte sich nicht die Mühe, sich zu beeilen. So konnten die Dämondim-Abkömmlinge sich etwas von ihrem selbst gewählten Feind absetzen. Lindens Angst um ihre Verbündeten bewirkte, dass ihre Konzentration etwas nachließ. Die Flamme ihres Stabes wurde schwächer. Sofort spürte sie erneutes Krabbeln in ihren Stiefeln, am Hosenbund ihrer Jeans, unter ihrer Bluse. Heißhungrige albtraumhafte Spinnen und Tausendfüßler nahmen ihr unterbrochenes Festmahl begierig wieder auf. Sie hörte sich selbst wimmern: ein dünner schwacher Laut wie der Schrei eines sterbenden Kindes. Sie versuchte damit aufzuhören, ihre Kehle gegen heraufquellende Hysterie, die gallenbitter schmeckte, abzuschotten, und konnte es nicht. Sie glich einem bereits in Verwesung
übergegangenen unbestatteten Leichnam, der jedem grausigen Hunger hilflos ausgeliefert war. Plötzlich zerriss ein anderer Schrei die Luft: ein so extremes Heulen, dass es mit Blut aus der Kehle des Eifrigen zu kommen schien. Mit einer Demonstration von roher Kraft, die Linden erstaunte, rissen seine Bänder riesige Blöcke aus den Felswänden. Nein, er tat mehr als nur das. Er riss nicht nur Felsblöcke heraus. Irgendwie gelang es ihm, die Wände zueinanderzuziehen, indem er an ihnen zerrte, bis sie einstürzten. Sekundenschnell verschüttete eine Gesteinslawine die gesamte Öffnung des Felsspalts. Die bloße Masse des Bergsturzes erschütterte die noch stehenden Wände. Nasser Schutt und Geröll überspülten die Füße der Schwertmainnir, rissen sie mit. Der gewachsene Fels schien den Schrei des Eifrigen verstärkt zurückzuwerfen. Hunderte von Tonnen Granit und Malachit, Schiefer und Travertin prasselten auf das Übel herab. Die Steinmassen begruben alle Fratzen unter sich. In ihrer Panik vergaß Linden den Eifrigen und die Urbösen; vergaß das Übel und die quälenden Insektenbisse; vergaß sogar, dass sie ihrem Stab nur mehr wenig Erdkraft entlocken konnte. Übergangslos brach sie in eine flammende Eruption aus. Rutschte die Schräge zu weit ab, konnte das Gestein die Riesinnen unter sich begraben. Jedenfalls konnte ein Bergrutsch den Aufstieg unmöglich machen. Wenn sie ihn nicht mit Feuer und dem Gesetz aufhielt, ihn irgendwie zum Stehen brachte … Das abrutschende Gestein hätte viel zu schwer für Linden sein müssen; aber sie ignorierte sein fatales Gewicht, seine gewaltige Bewegungsenergie. Fast ohne zu wissen, was sie tat, verankerte sie die Schräge, bis das durch den Bergsturz ausgelöste Beben verebbte. Mahrtür versuchte Lindens Namen zu rufen, aber mit neuem Staub versetzte Luft nahm ihm den Atem. Spätgeborene rief keuchend nach oben: »Wir sind unverletzt! Die Urbösen auch!« Ein angestrengtes Luftholen. »Den Eifrigen kann ich nicht sehen!« »Auch wir sind unverletzt!«, antwortete Steinmangold mit kräftigerer Stimme. Sie, die nicht genannt werden darf, war jedoch nicht besiegt. Sie war keineswegs vernichtet oder auch nur verwundet. Sie war nur
vorübergehend aufgehalten worden. Ihre Macht griff bereits durch den Bergsturz, zerrte heulend an Lindens wunden Nerven. In wenigen Augenblicken würde sie sich einen neuen Durchlass erzwingen. Krabbelnde Insekten unter Lindens Kleidung brachten sie wieder zu sich selbst zurück. 0 Gott, sie waren überall! Sie existierten nicht. Trotzdem genossen sie ihr totes Fleisch, als wäre sie schon vor langem gestorben. Dutzende von einverleibten Fratzen - unzählige Frauen, die unvorstellbare Qualen litten - gierten danach, sie ihrerseits zu verschlingen. Irgendwie hielt sie durch, bis das rutschende Geröll wieder stabilisiert war. Dann zog sie ihre Kraft wieder ab und rief mit schwacher Stimme den Eifrigen. Ohne ihn konnte die Gesellschaft nicht aus diesen Tiefen entkommen. Die Urbösen und die Wegwahrer wussten offenbar, wohin sie sich wenden mussten. Aber die Verlorene Tiefe lag viel zu weit unter den tiefsten Schrathöhlen. Keiner von Lindens Gefährten konnte so hoch hinaufsteigen oder den Dämondim-Abkömmlingen auf ihren Pfaden folgen. Sie brauchten die Fähigkeit des Insequenten, sie an einen anderen Ort zu versetzen. Aus der Ferne antwortete eine erschöpfte Stimme: »Ich habe mich verausgabt. Ich kann nicht mehr.« »Kannst du dich bewegen?«, rief die Eisenhand. »Notfalls schaffen wir es, dich zu holen!« »Nein.« In der Antwort des Eifrigen schwang ungeheure Erschöpfung mit. »Ihr braucht eure Kraft für die Flucht. Ich komme nach, so gut ich kann.« »Wir lassen dich nicht zurück!«, widersprach Kaltgischt nachdrücklich. »Ich wünsche auch nicht, zurückgelassen zu werden.« Er schien zu schwach zu sein, um weiterleben zu können. »Ihr müsst fliehen. Deshalb muss ich euch folgen. Ihr, die nicht genannt werden darf, kann ich nicht nochmals gegenübertreten.« Im nächsten Augenblick fügte er hinzu: »Wenn die Lady nur die Luft reinigen könnte …« Linden schluckte ihren Widerwillen gegen den eigenen Körper - die eigene Existenz - hinunter und wischte Staub beiseite, brannte Stagnation weg. Dann umgab sie sich selbst mit Theurgie, bis sie einer Flammensäule glich. Wieder leise wimmernd versuchte sie, Spinnen und
Tausendfüßler von ihrem Leib zu vertreiben. Mehr konnte sie nicht tun. Vor und hinter ihr machten die Schwertmainnir sich an den Aufstieg, kämpften in dem losen Geröll um festen Halt. Graubrand arbeitete sich mühsam nach oben vor. Über den Riesinnen kläfften die Wegwahrer aufmunternd oder zu größerer Eile mahnend. Hinter der Masse der Gesellschaft beeilten die Urbösen sich, den Aufstieg zu bewältigen. Lichter versuchten, den Raum zu füllen: ganz vorn Liands Sonnenstein, dann Loriks Krill, Lindens persönliches Feuer, das düstere Glosen des Eisenspießes des Lehrenkundigen. Aber sie waren zu schwach, um das Dunkel zurückzudrängen. Mitternacht und riesige Felsmassen engten sie ein, drohten sie zu erdrücken. Innerhalb des Spalts schien der Boden endlos anzusteigen, als strebten hier Geröll und Feuchtigkeit und abgestandene Luft einem unerreichbaren Himmel zu. Linden klammerte sich an ihre Sorge um den Eifrigen, bis sie Andeutungen seiner Gegenwart spürte, die den Riesinnen und den Urbösen folgten. Er war tatsächlich zu erschöpft, zu verausgabt, um Schrecken zu empfinden. Trotzdem stützte er sich weiter auf seine Bänder, die in Ritzen und an kleinen Felsvorsprüngen Halt fanden. Irgendein Rest von Angst oder Entschlossenheit trieb ihn weiter voran. Sobald Linden sich seiner gewiss war, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst und bemühte sich, nicht laut zu jammern. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um den Abscheu zu verdrängen, den die krabbelnden Insekten bei ihr erzeugten. Hinter ihr drang das Übel durch den Bergsturz: mit einem Ausbruch, der die Luft verpestete und die Wände erzittern ließ. Vor der Gesellschaft schien der natürliche Korridor in unvorstellbare Höhen anzusteigen. Aber von solchen Dingen wollte sie nichts wissen. In Flammen gehüllt und vor sich hin singend, damit sie nicht stöhnte oder wimmerte, kämpfte sie gegen das Gefühl an, gekniffen und gebissen zu werden - gegen Verführungen zur Verzweiflung. Aber Linden kam nicht dagegen an. Im Grunde ihres Herzens lauerte die Überzeugung, sie habe dies alles verdient. Das Übel hatte recht. Sie hatte ihre Mutter getötet und ihren Sohn im Stich gelassen. Nun konnte sie nur noch darauf warten, verschlungen zu werden. Allmählich wurde Linden jedoch von der segensreichen Wirkung von
Erdkraft durchdrungen. Angedeutete Fehlreaktionen wichen aus ihren Nerven. Der Kern ihrer Verzweiflung blieb unangetastet; unheilbar. Der Gebrauch ihres Stabes brachte ihr jedoch eine gewisse oberflächliche Erlösung. Zögernd begann sie wieder, ihre Umgebung wahrzunehmen. Jetzt hörte sie Graubrands tief in ihrer Brust keuchenden erschöpften Atem; fühlte Graubrands Muskeln zittern. Vor ihnen stieg die Eisenhand, die Jeremiah und den Croyel und den Krill trug, stoisch weiter; aber ihr Schritt war zu einem grimmigen Stapfen geworden. Zwischen Raureif Kaltgischt und Onyx Steinmangold - zwischen dem Schmuckstein des Krill und Liands Orkrest - torkelte Gutwind wie eine Frau, die sich nie ganz von ihrer schweren Verletzung erholt hatte. Trotzdem kämpfte sie sich mit Covenant auf dem Arm von Wand zu Wand taumelnd immer höher. Der Boden unter den Füßen der Riesinnen hätte sie vielleicht überhaupt nicht getragen, wären Schiefer und Geröll nicht feucht, durch das unaufhörlich aus den Wänden rieselnde Wasser verdichtet gewesen. Andererseits stiefelte Esmer wie mühelos hinter Gutwind her. Der Aufstieg schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Stave hielt mit Graubrand Schritt, als wäre er gegen Erschöpfung immun. Und die Gedemütigten umgaben Gutwind und Covenant, als könnte nichts und niemand sie aufhalten. Hinter Linden kamen nacheinander die übrigen Schwertmainnir: Sturmvorbei Böen-Ende mit Anele auf dem Arm, Rahnock, die Pahni trug, Rüstig Grobfaust mit Bhapa, Spätgeborene mit Mahrtür. Danach folgte schwer gezeichnet und erschöpft die schwarze Horde der Urbösen. Über ihnen bewegte der Eifrige sich die Wände entlang. Weil er zum Gehen zu müde war, hangelte er sich an seinen Bändern bergauf. In der Ferne tobte und raste Sie, die nicht genannt werden darf. Das wilde Chaos aus Fratzen folgte ihnen ohne Eile, langsam wie eine hereinkommende Flut und ebenso unaufhaltsam. Das Böse, das Diassomer Mininderain und Emereau Vrai und unzählige andere verschlungen hatte, war sich seiner Beute sicher. Die geruhsame Verfolgung durch das Übel schien zu bedeuten, dass die Gesellschaft praktisch gefangen war; dass die Wegwahrer Linden und ihre Gefährten in eine Sackgasse geführt hatten.
Linden wollte gern glauben, dass die grauen Wesen wussten, was sie taten. Sie sind nicht ohne Gerissenheit. Aber sie schaffte es nicht, sich selbst zu diesem Optimismus zu bekehren. Sie war zu lange passiv gewesen; hatte zugelassen, dass sie sich geschlagen fühlte. Jetzt musste sie mehr werden als nur irgendein weiteres Opfer. Anstrengungen müssen gemacht werden, auch wenn es keine Hoffnung geben kann. Transformationen waren möglich. Dies war der richtige Zeitpunkt dafür. Linden, die damit Maden und Würmer riskierte, verbreitete Erdkraft; sie ließ ihr Feuer sich in der Felsspalte ausbreiten, bis es alle Riesinnen erfasste. So vollständig, wie das im Bann des Übels und ohne die Urbösen zu gefährden möglich war, teilte sie sich die Urkraft des Landes mit diesen Frauen, die sich abmühten, sich selbst zu übertreffen, um sie und Covenant und Jeremiah und die Erde vor dem Untergang zu bewahren. Die Abscheulichkeit des Croyel und Jeremiahs geistige Leere behinderten Linden, aber sie ließ sich davon nicht abhalten. Als grässliche Wesen sich wieder unter ihrer Kleidung über ihren Körper hermachten, bemühte Linden sich, sie zu ignorieren, wenigstens ein paar Augenblicke lang. Sie waren nicht real. Sie waren nur eine geistige oder seelische Störung, ein physisches Leiden. Sie biss die Zähne zusammen und weigerte sich, sie zur Kenntnis zu nehmen. Kurz - allzu kurz - badete sie jede der Schwertmainnir in Licht und Feuer, um etwas Müdigkeit aus ihren schmerzenden Muskeln und etwas Niedergeschlagenheit aus ihren betrübten Herzen zu waschen. Solange sie die lästigen Bisse der Spinnen und Tausendfüßler noch ertragen konnte, bedachte sie auch den Eifrigen mit einer kleinen Dosis neuer Lebenskraft: ein Geschenk, das er erschreckend bereitwillig annahm. Aber dann hörte sie sich erneut wimmern, und ihre Selbstbeherrschung bröckelte rapide. In panischer Hast richtete sie ihr Feuer gegen Käfer und Würmer und Spinnen, die nicht existierten. Schritt für Schritt wurde sie in einen Zustand getrieben, der Joans Wahnsinn ähnelte. Ihr Stab verlor seine Wirksamkeit - oder sie büßte ihre Fähigkeit ein, ihn zu gebrauchen. Transformationen waren unmöglich. Bald würden neue Schwärme über Linden herfallen, um sie zu zwicken und zu beißen, bis sie den Verstand verlor. Vielleicht würde
sie sich irgendwann nach der grausamen Umarmung des Übels sehnen. Aber noch nicht. Bitte, lieber Gott. Noch nicht. Dann hörte sie Liands Stimme von oben durch den Felsspalt hallen. »Hier ist der Anstieg zu Ende! Die Wände weichen zurück! Ab hier scheint der Weg weniger anstrengend zu sein!« Ein Rascheln von erneuerten Anstrengungen durchlief den Felsspalt. »Gerade noch rechtzeitig«, keuchte Rahnock oder Spätgeborene. »Stein und Meer! Bin ich denn keine Riesin? Aye, und eine Närrin dazu. Ich hätte mir mehr Ausdauer zugetraut.« »Wirklich närrisch«, bestätigte eine weitere Riesin heiser. »Hast du die Tage gezählt, an denen wir um Langzorns Leben oder unser eigenes gerannt sind? Man könnte fast glauben, wir täten seit einem Erdzeitalter nichts anderes mehr.« Halt durch, ermahnte Linden sich, als versuchte sie, ein eingeschüchtertes Kind zu ermutigen. Durchhalten! Irgendwo über ihr verschwand das Licht von Liands Sonnenstein. »Dort liegt eine Höhle …« Die Stimme des Eifrigen war ein brüchiges Krächzen. »… riesig, feucht, vielerorts beengt. Sonst nehme ich nichts wahr.« »Aye«, bestätigte Gutwind nach Atem ringend. »Riesengroß. Feucht. Beengt. Ein Tümpel, länglich, mit stehendem Wasser.« Vielleicht sagte sie noch mehr, aber ihre Stimme wurde abgeschnitten, als sie den Felsspalt verließ. Linden wand sich unter dem Ansturm von Spinnen, dem Zwicken der Tausendfüßler. Sie, die nicht genannt werden darf, stieg weiter wie die Flut an. »Linden Riesenfreundin … sie leidet!«, verkündete Frostherz Graubrand von keuchenden Atemzügen unterbrochen. »Ich sehe keine Wunde … trotzdem leidet sie!« »Vielleicht«, warf Stave ausdruckslos ein, »ist das eine Auswirkung des Übels. Auch ich erkenne keine Verletzung, aber dass sie leidet, ist unübersehbar. Ich denke, dass ihre Kräfte, mit denen sie uns immer wieder übertroffen hat, zugleich auch eine Schwäche sind. Ihre Wahrnehmungsgabe macht sie für das Böse des Übels angreifbar.« Linden riss sich zusammen. Sie versuchte unwillkürlich, den widerlichen Insekten auszuweichen, die krabbelten und zwickten. Stave täuschte
sich. Sie hatte niemanden übertroffen. Sie war schwach, weil sie im Unrecht war. Sie gehörte unter die Gemarterten, die das Übel bereits verschlungen hatte. Jedes Insekt, jede Made, jeder Wurm war eine Anklage. Gutes lässt sich nicht mit schlimmen Mitteln erreichen. Sie fühlte sich wie Aas, weil sie Schändungen, Entweihungen vorgenommen hatte. Vor ihr schlurfte Kaltgischt aus dem Felsspalt, nahm dabei das Leuchten des Krill mit. Im nächsten Augenblick erreichte Graubrand den Höhleneingang und stolperte hindurch. Linden hatte plötzlich den Eindruck, von unendlichen Weiten umgeben zu sein. Stagnation schien jede ihrer Bewegungen zu behindern, als wäre Graubrand mit ihr in Treibsand geraten. Und überall in der Ferne plätscherte und lief Wasser: eine unermessliche Vielzahl von Tropfen und Rinnsalen, die so zahlreich waren, dass es wie Regen im Inneren des Berges klang. Auf Graubrands Arm geriet Linden in leichten Nieselregen aus unbestimmbarer Richtung. Mit einer Reflexbewegung richtete sie ihr Feuer nach oben. Die Höhle war tatsächlich riesig. Für Lindens benommenen Blick erschien sie groß genug, um ganz Schwelgenstein aufnehmen zu können, obwohl das sicher nicht stimmte. Die Lichter der Gesellschaft ließen die Decke ahnen, reichten aber nicht bis zur jenseitigen Wand der Höhle, sodass Linden keine Möglichkeit hatte, ihre Fläche abzuschätzen. Ihre unmittelbare Umgebung glich jedoch einem leicht geneigten flachen Becken, dessen tiefster Punkt etwas links von ihr lag. Dort hatte Wasser, das über Äonen hinweg herabgetropft war, sich zu einem Tümpel angesammelt, der so alt und abgestanden war, dass er unmöglich irgendwelches Leben enthalten konnte. Im Lauf der Jahrtausende war das anfängliche Brackwasser durch eine hohe Konzentration an Mineralstoffen im Gegenteil sogar giftig geworden. Der Tümpel wirkte klein, weil die Höhle so riesig war. In anderer Umgebung hätte er als kleiner See gegolten. Von der Mitte aus erbebte er zum Pulsieren des herankommenden Heißhungers des Übels. Die kleinen Wellen breiteten sich ringförmig aus, brandeten schüchtern gegen die Travertinumrandung des Tümpels. Das Wasser tropfte von den Spitzen von Stalaktiten von der Größe der Wachttürme von Schwelgenstein. Und unter jeder herabhängenden
Steinsäule hatte sich ein Stalagmit gebildet. Enge … An vielen Stellen waren die Tropfsteine zusammengewachsen, bildeten ungestalte Säulen mit eingezogenen Taillen. An anderen schien der über Jahrtausende hinweg gelöste Kalk eine Vereinigung herbeizusehnen, strebte Tropfen für Tropfen unendlich geduldig in die Höhe und nach unten. Und überall in der Umgebung dieser monolithischen Ablagerungen fiel aus kleineren Rissen in der porösen Höhlendecke leichter Regen. So weit die Lichter der Gesellschaft reichten, hatten sich auf jeder nassen Oberfläche Muschelformen und Wirbel gebildet, die zart wie Klöppelspitze und scharf wie Rasiermesser waren. Graubrand streckte die Zunge heraus, um ein paar fallende Tropfen aufzufangen, und spuckte sie dann angewidert aus. Ihre Gefährtinnen, die sie umgaben, bedachte sie mit einem säuerlichen Kopfschütteln. Regentropfen klatschten auf Lindens Stirn, liefen ihr in die Augen und brannten. Heftig blinzelnd suchte sie die Höhle nach hoffnungsvollen Anzeichen oder einem Fluchtweg ab. Links von ihr wurde das Becken schmaler. Jenseits des Tümpels mindestens so weit entfernt, wie eine Riesin werfen konnte - bildete eine nach innen gewölbte Granitwand, die sich nicht durch bloßes Wasser abtragen ließ, das untere Ende der gewaltigen Höhle. Die gegenüberliegende rechte Wand konnte Linden nicht ausmachen; vielleicht erstreckte die Höhle sich dort unendlich weit in die Finsternis. Aber dort stieg das Becken leicht an und gewann stufenförmig an Höhe, bis es von mitternächtlicher Schwärze geschluckt wurde. In dem Felsspalt hinter der Gesellschaft quoll das Übel weiter ohne Hast nach oben, war sich seiner Beute offenbar sicher. Herzschläge erzeugten immer größere Wellen auf der Oberfläche des Tümpels. Trotzdem machten die Riesinnen kurz halt, um wieder zu Atem zu kommen - und sich eine Ausdauer vorzustellen, die keine von ihnen mehr besaß. Gleichzeitig verstärkte sich das widerwärtige Krabbeln auf Lindens Haut. Sie musste ihre ganze noch verbliebene Willenskraft aufwenden, um die Qualen abzuwehren, die ihr nicht existente kleine Wesen bereiteten. Hunderte, vielleicht sogar Tausende von ihnen krochen über Lindens Körper, um sie ihre zahllosen Untaten büßen zu lassen. Unter Esmers verächtlichem Blick hatten die Wegwahrer sich rechts neben Linden versammelt, wo sie offenbar auf den Eifrigen und die
Urbösen warteten. Inzwischen standen jedoch alle Schwertmainnir auf dem schrägen Boden der Höhle, bemühten sich, wieder zu Atem zu kommen, und sahen sich besorgt um. Kurze Zeit später trafen fünf bis sechs Dutzend Urböse in einem schwarzen Strom ein. Gleich danach kam der stark hinkende Eifrige auf Kaltgischt und Graubrand zugetaumelt. Er schleifte Bänder seines Gewands wie erledigte Dinge hinter sich her und ließ den Kopf hängen, als besäße er nicht mehr den Willen, jemandem ins Gesicht zu sehen. Die grauen Dämondim-Abkömmlinge rannten sofort zu der Schräge am rechten Höhlenrand und forderten Lindens Gesellschaft kläffend auf, ihnen zu folgen. Die Wegwahrer schlossen sich ihnen ohne zu zögern an. Unter Führung ihres Lehrenkundigen knurrten die schwarzen Wesen dringende Aufforderungen, die wie Flüche klangen. Esmer trottete hinter ihnen her, als setzte er voraus, dass die anderen das ebenfalls tun würden. Aber die Riesinnen bewegten sich nicht. Vielleicht konnten sie nicht mehr. Zwischen ihnen standen Stave und die Gedemütigten: geduldig, stumm, unergründlich. Vielleicht machten Lindens versagende Abwehrkraft ihnen Sorgen. Oder auch nicht. Besprachen sie Entscheidungen, die sie vielleicht würden treffen müssen, taten sie das schweigend. »Was müssen wir jetzt tun?«, fragte die Eisenhand mit schwacher Stimme. »Das Böse des Übels gleicht selbst einem Berg. Wir haben bisher nur Andeutungen seiner wahren Macht gesehen. Es hat uns in aller Ruhe hierher verfolgt…« Ihre Handbewegung umfasste die Höhle. »Hier wird es sich ausdehnen, um uns zu verschlingen. Wir rennen weiter, wenn wir rennen müssen. Aber wir können weder schnell noch weit rennen. Und diese Höhle scheint unendlich groß zu sein. Sie, die nicht genannt werden darf, wird sich sicherlich auf uns stürzen, wie es ihr beliebt.« Ihre Stimme verhallte in der Höhle: ohne Echo und niedergeschlagen. Mähnenhüter Mahrtür, den Spätgeborene trug, knurrte bedrückt: »Man sagt uns Ramen nach, einen Instinkt für offenen Himmel zu haben. Das ist wahr. Aber unser Gabe kann uns hier nicht helfen. Diese Felsmassen sind zu gewaltig. Sie bedrücken unser Herz. Wollen wir weiter flüchten, müssen wir den Wegwahrern vertrauen.
Ihre Treue steht außer Zweifel. Und Esmer Meer-Sohn hat bestätigt, dass sie listenreich sind. Ich bin anzunehmen bereit, dass sie uns in guter Absicht hierhergeführt haben - aye, und dass sie uns jetzt drängen, ihnen zu folgen. Ich kann nichts anderes glauben.« Feuchtigkeit lief als kaltes Rinnsal an Lindens Hals hinunter. Sie hatte ebenso viel - mehr - Grund wie jeder andere, ihr Vertrauen auf die Wegwahrer zu setzen. Aber sie war zu abgelenkt und verwirrt, um zu sprechen. »Achtung!«, befahl Branl plötzlich. »Das Übel ist nicht unsere einzige Gefahr!« Die anderen Haruchai und er hatten sich umgedreht. Jetzt starrten sie sichtlich besorgt zu dem tieferen Teil der Höhle jenseits des Tümpels hinüber. Durch Jeremiah spottete der Croyel: »Du passt nicht auf, Mom. Der richtige Spaß geht gleich los.« Raureif Kaltgischt zog mit dem Krill eine dünne Schmerzlinie quer über die Kehle des Ungeheuers. »Solange ich lebe«, fauchte sie mit zusammengebissenen Zähnen, »schweigst du gefälligst.« Jeremiah ließ ein leises Miauen wie ein Echo der Angst des Croyel hören. Dann sank sein Unterkiefer herab, und sein Mund blieb offen stehen. Linden starrte benommen zum unteren Ende des Tümpels hinüber. Wasser tropfte auf ihren Kopf, sickerte auf scheußliche Weise durch ihr Haar. Der Nieselregen ließ die Züge ihrer Gefährten verschwimmen. Als sie es schaffte, ihre Aufmerksamkeit auf die nach innen gewölbte Granitwand zu konzentrieren, sah sie, dass Branl recht hatte. An mindestens einem halben Dutzend Stellen hatte etwas Unrechtes begonnen, das harte Gestein zu zersetzen. Mit erschreckender Geschwindigkeit breitete sich erstickender Gestank wie von Wundbrand durch die unbewegte Luft aus. Was dort geschah, erkannte sie so sicher, als hätten Käfer und Maden ihr die Wahrheit ins Ohr geflüstert. »Mähne und Schweif!«, rief Bhapa aus. »Linden!«, rief Liand erschrocken. Seine Hand, die den Orkrest hielt, zitterte sichtbar. »Linden.« Linden ignorierte sie beide. Krankheiten, die krabbelten und stachen,
forderten ihre Aufmerksamkeit. So oder so würde sie für den Tod ihrer Freunde, aller ihrer Gefährten verantwortlich sein. »Ring-Than!«, blaffte Mahrtür sofort. Dann forderte er die Riesinnen auf: »Setzt uns ab. Kaltgischt Eisenhand, hör mir zu! Wir müssen tun, was wir können, um euch die letzten Kräfte zu erhalten. Wir sind hier zu nichts nütze. Nur unsere Waffen und unsere Tapferkeit können uns vielleicht beschützen. Setzt eure Lasten ab! Lasst uns ohne eure Hilfe rennen! Ich befürchte nicht, dass wir schneller sein werden als ihr.« Anstrengungen müssen gemacht werden … Der Lärm der Urbösen und Wegwahrer übertönte die Geräusche tropfenden Wassers, das nur zu ahnende Kreischen des gequälten Granits. Aber selbst die nervöse Anspannung der Dämondim-Abkömmlinge konnte das lauter werdende Dröhnen des heranrückenden Übels nicht übertönen. Kaltgischt zögerte einen Augenblick, als hätte ihr Mut sie verlassen. Dann biss sie die Zähne zusammen, nahm die Schultern zurück. «Schwertmainnir, der Rat des Mähnenhüters ist klug. Ich trage weiter den Jungen und den Croyel, aber ihr müsst Linden Riesenfreundin und Covenant Zeitenherrn den Haruchai anvertrauen. Der Mähnenhüter und seine Seilträger werden sich um den Steinhausener und den Alten kümmern. Ihr müsst die Hände frei haben, um das Schwert führen zu können.« Ihre Gefährtinnen gehorchten sofort. Während Graubrand und die übrigen Riesinnen ihre Schützlinge absetzten, wandte Kaltgischt sich an den Eifrigen: »Brauchst du …?« Er schüttelte den Kopf. »Ich will euch nicht behindern. Reicht die Macht der Insequenten nicht aus, mich zu erhalten, werde ich zweifellos untergehen. Aber ich will um mein Leben kämpfen, solange ich kann.« Er rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Vielleicht gleicht ein Übermaß an Angst mein Defizit an Tapferkeit aus.« Stave fasste Linden am rechten Arm. Liand packte links zu. Die Gedemütigten umringten Covenant, sobald Zirrus Gutwind ihn absetzte. Pahni warf Liand einen flehenden Blick zu, dann ergriff sie Aneles Hand und zog den Alten mit sich zu Bhapa und Mahrtür hinüber. Der ältere Seilträger hakte den erblindeten Mähnenhüter unter, um ihn führen zu können.
Tausendfüßler waren in Lindens Ohren gekrabbelt. Sie hörte sie dort schnattern. Sie klammerte sich an ihren Stab, als könnte er ihr helfen, bei Verstand zu bleiben. Gesetz und Erdkraft besaßen jedoch keinen eigenen Willen: Sie konnten nur leisten, was Linden von ihnen verlangte, und der Regen schien ihre Fähigkeit, etwas zu fordern, weggeschwemmt zu haben. Auch Caerroil Wildholz’ Runen konnten nicht verhindern, dass die helle Flamme jetzt zu flackern begann und zu erlöschen drohte. »Lauft!«, befahl die Eisenhand streng. »Wir kommen gleich nach.« Als fürchtete sie, Linden könnte sie nicht verstanden haben, fügte sie hinzu: »Meine Gefährtinnen und ich folgen euch, sobald wir können.« Liands Orkrest, der Schmuckstein des Krill und unregelmäßiges Stabfeuer beleuchteten den Weg, auf dem die Gesellschaft den Dämondim-Abkömmlingen folgte. Galt, Clyme und Branl zogen Covenant hastig mit sich. Bhapa und Mahrtür schlossen fast sofort zu ihnen auf. Das taten auch Pahni und Anele. Der Alte rannte bereitwillig mit. Obwohl er vielleicht nicht recht begriff, was um ihn herum vorging, war ihm Flucht schon immer vertraut. Solange er von Fels umgeben war, brauchte er nicht sehen zu können. Um nicht zu stürzen, verfiel Linden, die Stave und Liand mit sich zogen, nur in leichten Trab. Sie konnte den Blick nicht von dem Granit wenden, der die Höhle am linken Rand begrenzte - von den ständig größer werdenden schwärenden Stellen; von der aufsteigenden Gewalt, die den Tümpel aufwühlte. Der Gestank von Eiter und Verwesung sammelte sich um ihn herum an, bis er ihre Lunge bei jedem Atemzug füllte. Plötzlich explodierten Magma und Zersetzung nach außen, überschütteten den Höhlenboden mit einem Hagel von Granitsplittern. In den herausgeätzten Löchern erschienen Skurj: erst fünf bis sechs, dann zehn, dann fünfzehn. Sie glitten mit teuflisch aufgerissenen Krakenkiefern in die Höhle. Ihre mehrfachen Zahnreihen, ihre scharfen Reißzähne loderten mit der Wildheit glühender Lava. Ankündigungen von Verderbnis heulten durch den Wald aus Tropfsteinsäulen. Die Ungeheuer machten kurz halt, als müssten sie erst Witterung von ihrer Beute aufnehmen. Dann nahmen sie mit fließenden Schlängelbewegungen die Verfolgung auf. »Habe ich euch nicht gewarnt?«, fragte Esmer verbittert.
Sie waren schnell. 0 Gott, sie waren schnell. Linden hatte vergessen, wie … Vor den Ungeheuern explodierte der Felsspalt in einer Detonation aus feurigem Hunger. Irgendein primitiver Instinkt ließ die Skurj ausweichen, als Sie, die nicht genannt werden darf, tobend in die Höhle stürmte. Eine Masse aus schrecklichen Energien mit Dutzenden oder Hunderten von Fratzen wälzte sich vorwärts. Die Wildheit des Übels zerschmetterte Stalaktiten und Stalagmiten, bombardierte die Oberfläche des Tümpels mit Chaos, versetzte den Skurj Hammerschläge, die sie nicht zu spüren schienen. Herabtropfendes Wasser wurde augenblicklich zu Dampf, wenn es die Haut der Bestien traf. Aber an Sie, die nicht genannt werden darf, kam kein Regen heran. Obwohl Linden durch ihr Leiden und ihre stolpernde Fortbewegung verwirrt war, hatte sie den Eindruck, das Übel und die Skurj nähmen keine Notiz voneinander. Auf ihre unterschiedliche Weise wurden sie von Hunger beherrscht, der keinerlei Ablenkung duldete. Nach dem ersten Ausweichen schlängelten die Skurj sich rasch hinter ihrer Beute her; sie umgingen umgestürzte Tropfsteinsäulen und Gesteinstrümmer, ohne sich von der größeren Macht und Bösartigkeit des Übels aufhalten zu lassen. Und als das Übel sein Vordringen rasch beschleunigte, wobei es sich weiter ausdehnte, tat es das nur, um seine wilde Gier zu befriedigen. Die von den Wegwahrern und Urbösen in die Höhe geführten Flüchtlinge rannten, so gut sie konnten. Die Riesinnen verfielen in ein schwerfälliges Schlurfen, das sie fast mit Anele und den Ramen Schritt halten ließ: erst recht mit dem schnellsten Tempo, das Liand und die Haruchai Covenant und Linden abverlangen konnten. Abgebrochene Tropfsteine warfen Schatten, die im grausigen Licht von Reißzähnen und Bosheit, im Leuchten des Krill und des Sonnensteins, Lindens unstetem Feuer zuckend tanzten. Überall erzeugte fallendes Wasser zart reflektierende Lichtstreifen. Hoch aufragende Stalagmiten wurden umgangen, während Übel in Lindens Ohren heulten. Sie wünschte sich, sie könnte aufhören, die verpestete Luft zu atmen; sehnte sich danach, ihr verseuchtes Fleisch mit Flammen zu läutern. Aber das konnte sie nicht.
Die Flüchtenden rannten, stolperten und rannten, aber alle Anstrengung war vergebens. Das Übel und die Skurj holten sie zwar nur langsam ein, kamen einen quälenden Schritt nach dem anderen näher, aber das Ergebnis war vorhersehbar. Die Höhe und der Anstieg schienen endlos zu sein - und die Schwertmainnir waren bereits erschöpft. Linden selbst war zu ausgepumpt, um allein rennen zu können. Liand hatte nicht genug Zeit gehabt, sich von seinen Verletzungen zu erholen. Irgendwann würden sogar die Haruchai schwach werden. Maden fraßen an Lindens Augen. Spinnen füllten ihre Ohren. Tausendfüßler krochen zwischen ihren Beinen, während Käfer ihre Brüste genossen. Sie nahm nicht wahr - konnte es nicht -, dass die Dämondim-Abkömmlinge ihren Vorsprung vergrößerten und die Gesellschaft näher an die vor ihnen liegende Höhlenwand heranführten. Sie hörte weder Mahrtiirs heiseren Schrei noch Raureif Kaltgischts gekeuchte Antwort. Ihr Zugriff auf Erdkraft wurde schwächer, und sie spürte nur noch Schmerzen, reale und imaginäre, bis Liand sie verzweifelt schüttelte und dabei rief: »Linden! Die Wegwahrer! Die Urbösen!« In einem Nebel aus Verzweiflung und Schmerzen und Hass unternahm sie einen letzten Versuch, nach vorn zu blicken. Irgendwo vor den Ramen hatten die grauen und schwarzen Wesen ein Felsband an der Höhlenwand entdeckt. Es zog sich hinter der Gesellschaft aus großer Höhe bis zum Höhlenboden hinunter. Die Dämondim-Abkömmlinge waren schon dabei, es zu erklimmen. Linden erschien das Felsband gefährlich schmal, aber es musste breiter sein, als es aussah. Als die Wesen die zwei- oder dreifache Höhe einer Riesin erreicht hatten, machten sie halt. Dort konnten die Wegwahrer sich zu einer kompakten Gruppe zusammenschließen. Auch die Urbösen hatten Platz, einen Angriffskeil zu bilden. Sie gestikulierten wie Wahnsinnige zu der Gesellschaft hinunter. Ihr tumultartiges Kläffen kam fast der Wut des Übels, der Raserei der Skurj gleich. Die Ramen zögerten keine Sekunde lang. Als sie mit Anele das Felsband erreichten, machten sie sich sofort daran, es zu erklimmen. Wenige Augenblicke später brachten die Gedemütigten Covenant dazu, ihnen zu folgen. Auch der stark hinkende Eifrige blieb ihnen auf den Fersen.
Am Fuß des Felsbands blieb Esmer stehen, um auf Linden, Stave und Liand zu warten. Der Feuersturm hinter der Gesellschaft spiegelte sich wie Wahnsinn in seinen Augen. Linden verstand nichts mehr. Das Felsband führte zu dem Übel und den Skurj zurück. Für Kastenessens Monster würde seine Höhe ein unbedeutendes Hindernis sein - und überhaupt keines für Sie, die nicht genannt werden darf. Trotzdem schleppten Stave und Liand sie grimmig weiter auf Esmer zu. Als er sich in Bewegung setzte, um zu der Gesellschaft aufzuschließen, hasteten sie hinter ihm her. Nun konnte sie das Übel und die Skurj sehen. Sie konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Dampfwolken hinter sich herziehend flössen die Ungeheuer wie Lava zwischen abgebrochenen Tropfsteinsäulen hindurch. Das sich ausbreitende Übel war so angewachsen, dass es Stalagmiten unter sich begrub und Stalaktiten abbrach. Es schien sich voranzuwälzen und präsentierte jeden Augenblick neue Fratzen und aufgerissene Münder und gellende Schreie. Seine Urgewalt ließ es näher erscheinen, als es tatsächlich war; näher als die Monster. Linden, die sich an letzte Vernunftreste klammerte, bemühte sich, die wahre Entfernung abzuschätzen. Das Übel und die Skurj waren weiterhin mindestens einen Riesen-Steinwurf entfernt. Sie, die nicht genannt werden darf, bewegte sich jedoch langsamer, schien die Hilflosigkeit ihrer Opfer zu genießen. Alle Riesinnen würden das Felsband noch erreichen, zu der Stelle hinaufsteigen können, wo die Dämondim-Abkömmlinge haltgemacht hatten. Sie würden Zeit haben, den Augenblick, in dem sie verschlungen werden würden, zu erwarten und zu fürchten. Linden überlegte sich, ob es besser wäre, sich in den Rachen der Skurj zu stürzen. Ihre glühenden Zähne würden ihr weitere Verletzungen ersparen. Sie wollte nicht Bestandteil der niemals endenden Qualen des Übels werden. Kaltgischt würde Jeremiah beschützen, solange sie konnte. Bald würden sie jedoch beide hingeschlachtet werden. Dabei würde doch auch der Croyel den Tod finden? Selbst wenn das Übel solche Kost verschmähte, kannten die Skurj weder Vernunft noch Skrupel; sie würden alles fressen. Nein. Linden umklammerte den Stab und ihren nachlassenden Verstand,
bis ihre Knöchel schmerzten. Nein, das stimmte nicht. Esmer war noch hier. Zu weiterem Verrat imstande. Auf Befehl Kastenessens konnte er Jeremiah und den Croyel von hier entführen, wann immer er wollte. Dann würde Jeremiah wenigstens überleben. Und vielleicht würde eine der anderen Mächte der Erde sich seiner erbarmen, bevor alles endete. Diese düstere Aussicht war nicht genug. Linden brauchte mehr. Ihre brüchige Konzentration war ganz auf das Übel und die Skurj konzentriert. Sie merkte kaum, dass sie sich nicht mehr bewegte. Stave und Liand hatten sie zu den zusammengedrängten Wegwahrern gebracht; aber ihre Freunde und die grauen Wesen und ihre eigene Bewegungslosigkeit lagen außerhalb der Grenzen ihres Bewusstseins. Die Reste ihres Herzens waren voll von Jeremiah, und sie sah nichts als das Übel und die Skurj; spürte nichts außer Tod und Verdammnis, die unmittelbar bevorstanden. Ihren Gefährten würde vielleicht noch Zeit bleiben, voneinander Abschied zu nehmen, ehe sie abgeschlachtet wurden. Liand schrie ihr etwas ins Ohr, aber sie hörte ihn erst, als Stave ihr einen Becher Vitrim an die Lippen setzte und ihr den Kopf nach hinten neigte, damit sie trinken konnte. Die moderig schmeckende Flüssigkeit füllte Lindens Mund, zwang sie zum Schlucken. Dann lief sie durch ihre Speiseröhre hinunter: ein wohltuendes Brennen, unbedeutend angesichts von Ihr, die nicht genannt werden darf, und Kastenessens Monstern, aber trotzdem voller Vitalität und unsagbar numinos. Aus einem Reflex heraus schluckte sie weiter, bis sie den Eisenbecher geleert hatte; und während sie das tat, schienen Aasfresser aus ihren Augen und Ohren zu krabbeln und an ihrem Hals hinabzukriechen, um sich in ihrer Kleidung in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig loderte das Stabfeuer wieder hell auf. Durch geschenkte Kraft reanimiert, nahm sie ihre Umgebung plötzlich wieder wahr. Die Wegwahrer waren eilig dabei, Vitrim an Lindens Gefährten zu verteilen: erst an die Riesinnen und Liand, danach an die Ramen und Anele und den Eifrigen. Graubrand hielt Kaltgischt einen Becher, in ihren Pranken nur fingerhutgroß, an die Lippen. Während Esmer düstere Beschwörungen murmelte, als wollte er seine Macht verstärken, gaben die grauen Dämondim-Abkömmlinge den Gedemütigten einen Becher und beobachteten, wie Branl Covenants Kopf festhielt, damit Galt ihm
Vitrim einflößen konnte. Die Wegwahrer waren selbst der Erschöpfung nahe, das erkannte Linden jetzt deutlich. Trotzdem setzten sie ihren Dienst fort. Obwohl die Becher klein waren, wurden die Riesinnen sichtbar stärker. Frisch belebt hob der Eifrige den Kopf, nahm die hängenden Schultern zurück. Einige seiner Bänder streckten sich, schnippten ihre verkohlten Enden ab. Selbst Covenant wirkte weniger verschwommen, als wären die Umrisse seiner Gegenwart jetzt klarer definiert. Aber er blieb in seinen Erinnerungen gefangen. Die Urbösen heulten bestürzt oder zornig im Chor auf. Alle zeigten plötzlich auf die Höhlendecke. Ihr Lehrenkundiger benutzte seinen kurzen Eisenspieß oder Szepter, um auf einen bestimmten nassen Fleck zwischen den Stalaktiten zu deuten. Von Vitrim wie elektrisiert konnte Linden endlich wieder die eigene Verfassung einschätzen. Ihr Wahrnehmungsvermögen sagte ihr, dass die zugeführte Energie nicht ausreichen würde. Sie hatte nur einen kleinen Teil ihrer Ressourcen aufgefüllt - und diese Erholung würde nicht lange vorhalten. Die Nähe des Übels beeinträchtigte ihre Fähigkeit, Erdkraft zu gebrauchen. Sie war vielleicht zu einem letzten Feuerstrahl imstande. Aber er würde zu schwach ausfallen, um Ihr, die nicht genannt werden darf, zu schaden, und die Skurj überhaupt nicht beeindrucken. Bald würden diese Teufel nahe genug heran sein, um angreifen zu können. Die Urbösen heulten und kläfften weiter, als forderten sie etwas … … etwas, das Linden nicht identifizieren konnte. »Linden!«, schrie Liand sie an. »Du musst etwas tun! Nur du kannst helfen! Ich verstehe die Urbösen nicht!« Sein Sonnenstein war bedeutungslos geworden. Schwerter und Muskeln allein waren wertlos. Mit Loriks Krill würde die Eisenhand vermutlich einen wirkungsvollen Streich führen können. Danach würde sie untergehen - und der Croyel würde mit Jeremiah entkommen. Jetzt oder nie. Esmer hatte den Riesinnen die Fähigkeit geraubt, das Drängen der Urbösen zu verstehen. Linden spürte bereits, wie das Vitrim in ihren Adern zu Asche wurde. »Gottverdammt noch mal, Esmer.« Sie besaß nicht mehr die Kraft, die Stimme zu erheben. »Du hast mehr als genug Schaden angerichtet. Jetzt
könntest du wenigstens übersetzen.« Cails Sohn betrachtete sie mit Beschämung wie blutrote Gischt in den Augen. Verachtung und Qualen wechselten sich auf seinem Gesicht ab. Aus seinen nicht bedeckten Wunden sickerte weiter Blut. Lindens Magennerven verkrampften sich neuerlich vor Übelkeit, aber sie sah nicht weg. Ihr matter Blick forderte Esmer auf, sich über den Preis seines Verrats Rechenschaft abzulegen. Krampfartiger Abscheu verzerrte seine Züge. Widerstrebend knurrte er: »Die Urbösen wollen, dass du erkennst, dass das von der Decke kommende Wasser irgendeinen Quell haben muss. Wie du sicher weißt…« Sein Tonfall besagte: Wie sogar du sicher weißt.»… sammelt der Seelentrost den größten Teil der Bäche und Flüsse des Oberlands und ergießt sich in die Tiefen des Gravin Threndor. Diese Fluten traten später beschmutzt als der Unratfluss zutage. Aber hast du jemals über den Weg dieser Wassermassen auf ihren Jahrtausenden in den Tiefen des Donnerbergs nachgedacht? Die Urbösen versichern dir, dass der Seelentrost an den Schrathöhlen vorbei in Tiefen fällt, die außer ihnen keiner mehr kennt. Dort bildet er Seen, sammelt sich in Klüften und füllt die Finsternis aus, bis er zuletzt wieder ins Unterland austritt.« Esmer sah nach oben. »Die Urbösen behaupten, in der Decke dieser Grabkammer eine schwache Stelle entdeckt zu haben.« Dann machte er demonstrativ den Mund zu, schien hart auf das eigene Elend zu beißen. Die Urbösen tobten und heulten und gestikulierten wie Inkarnationen von Wahnsinn. Unter ihnen reckte Sie, die nicht genannt werden darf, sich höher und verbreitete ihre Bosheit weiter, als träumte sie davon, zu fressen, bis sie die ganze Höhle ausfüllte. Einige der Skurj kamen geradewegs auf die Flüchtenden zu. Die anderen bogen seitlich aus, vielleicht um der Gesellschaft den Rückzug abzuschneiden; vielleicht um selbst das Felsband zu erklimmen. »Linden!«, rief Liand. »Wasser! Wasser!« Aber sie hörte ihn kaum. Ihr Blick folgte dem Eisenspieß des Lehrenkundigen zur Höhlendecke hinauf. Im Leuchten von Reißzähnen und Wildheit glaubte sie die genaue Stelle zu erkennen, auf die er deutete - als hätte der Lehrenkundige sie durch reine Willenskraft für sie sichtbar gemacht.
Die Letzten der Dämondim-Abkömmlinge hatten sich wiederholt großzügig für sie geopfert. Dennoch wollten sie weiterleben. Das wollte auch Linden. Solange Jeremiah Hilfe brauchte und Covenant blieb, um das Land zu erlösen. Ein Feuerstrahl mehr blieb ihr nicht. Nur einer. Danach war sie erledigt, im Guten wie im Schlechten. Er musste zählen. Damit wären ihre Eltern nicht einverstanden gewesen. Sie hatten den Tod gewählt. Aber sie weigerte sich noch einen Augenblick länger, ihr Vermächtnis zu erfüllen. Spinnen und Würmer konnten sie nicht noch mehr quälen, als sie es bereits getan hatten. Linden sammelte ihre Kraft für eine Flamme, dann flüsterte sie die Sieben Worte, während sie Erdkraft an die Höhlendecke schleuderte. »Melenkurion abatha.« Schwankend am Rand eines inneren Abgrunds stehend richtete sie ihren Feuerstrahl auf den nassen Fleck, den der Lehrenkundige ihr gezeigt hatte. »Duroc minas mü.« Sie legte jedes verbliebene bisschen Liebe und Angst und Sehnsucht in das mit Runen verzierte Holz des Stabes, bis sich ein feuriger Theurgiestrahl bildete, der brutal wie ein Rammbock war. »Harad khabaal.« Tausendfüßler und Schrecken behinderten sie. Die Nähe des Übels schränkte sie ein. Das Beispiel ihrer Eltern versprach Sinnlosigkeit, erbärmliches Versagen. Als Auflehnung dagegen zielte Linden mit dem Feuerstrahl… … und die Decke hielt. Sie war jedoch nicht allein. Beinahe gleichzeitig mit ihrem Feuer schoss aus dem Keil mit dem Lehrenkundigen an der Spitze ein gewaltiger Vitriolstrahl in die Höhe. Fremdartige Magien - korrosiv wie Säure, sauer wie Selbsthass - trafen den Fels an der Stelle, auf die Lindens Feuerstrahl zielte. Traf ihn und detonierte. Der doppelte Aufprall von scharfer Säure und heißer Flamme riss eine Steinkaskade aus der Höhlendecke. Aus dieser Bresche tropfte Wasser, als hätten Linden und die Urbösen
einen verstopften Wasserspeier teilweise frei gemacht. Ein Poltern, kehlig und unergründlich wie der wilde Puls des Übels, hallte von den Tropfsteinsäulen wider. Ein Beben durchlief das Gestein, ließ das Felsband erzittern. Nasser Gesteinsschutt, den subtile Erschütterungen tief im Berg gelockert hatten, regnete herab. Die gesamte Höhle stöhnte wie ein verwundeter Titan. Gequälte Fratzen, die noch ein Stück weit entfernt waren, jammerten Linden weiter an. Ihr Vater hatte sich vor ihren Augen das Leben genommen. Ihre Mutter hatte sie um Sterbehilfe angefleht. Die Qualen von Käfern und Maden steigerten sich wieder. »Achtung! Vorsicht!«, rief die Eisenhand. »Dieses Band kann abbrechen.« Sie, die nicht genannt werden darf, kreischte aus einem Dutzend Kehlen. Sogar die Skurj machten halt, als wären sie imstande, Überraschung zu empfinden. Im nächsten Augenblick riss die beschädigte Höhlendecke auf. Eine gigantische Faust aus Wasser schleuderte große Felsblöcke auf den Höhlenboden. Aus der Bresche begann das Wasser eines aufgestauten Sees mit einem Tosen zu fallen, als hätten sämtliche Wasserfälle des Landes sich vereinigt. Donner erfüllte die Luft, als ginge die Welt unter. Eine Lawine aus Wasser schmetterte auf die Skurj herab; prasselte gegen die grausige Masse des Übels. Der Tumult verstärkte sich noch, als aus höher gelegenen Höhlen Wasser nachströmte. Kochend heißer Dampf stieg auf, als Kastenessens Monster getroffen wurden, aber diese Ausbrüche gingen sofort in der Sintflut unter. Das Übel versuchte auszuweichen, doch das gelang ihm nicht. Die Wassermassen schwemmten es weg, begruben es unter sich. In steinerner Agonie ächzend entleerte der Gravin Threndor sein Innerstes, als wäre ein Firmament aus Wasser aufgerissen worden. Kaltgischt brüllte Warnungen, die niemand hören konnte. Andere Riesinnen schrien lautlos, als wären sie plötzlich stumm geworden. Jeremiah schien zu heulen, als müsste er die unaussprechliche Verzweiflung des Croyel ausdrücken. Mit Mineralstoffen versetzte Wasserschleier durchnässten die Gesellschaft und nahmen Linden die Sicht, weil sie nicht rasch genug blinzeln konnte, um klar sehen zu können. Sie ließ den Stab fallen und
rieb sich mit beiden Händen das Gesicht; schlug sich auf Nacken, Brust und Beine. Bevor das Bergbeben den Stab außer Reichweite rollen lassen konnte, bückte Liand sich, um ihn aufzuheben. Das Felsband begann abrupt zu erzittern. Es löste sich von der Höhlenwand. Esmer hielt es auf. Die Kraft, die er bei anderen Gelegenheiten dazu benutzt hatte, Geysire aufsteigen zu lassen, gebrauchte er jetzt dafür, den Fels zu stabilisieren. Ein Schauder durchlief das steile Band, aber es brach nicht ab. Wasser strömte tosend in die Höhle, ergoss sich wie eine Sturzflut über den sanft abfallenden Höhlenboden. Es hatte das Übel und die Skurj bereits überflutet. Rötliche Feuer und Gewalt glosten in seinen Tiefen, in denen die Monster ums Überleben kämpften; während das Übel zwischen überfluteten Stalagmiten Halt zu finden versuchte. Wie im Fieber zitternd fürchtete Linden, die Skurj würden überleben. Sogar unter Wasser leuchteten ihre Reißzähne noch, als nähmen sie daraus Mineralstoffe auf, um ihre vor Hass glühenden Herzen zu nähren. Um ihr Leben kämpfend wurden sie in den tieferen Bereich der Höhle geschwemmt. Unabhängig von ihrem Schicksal konnte Linden sich nicht vorstellen, dass eine Macht, die so stark und virulent war wie Sie, die nicht genannt werden darf, einfach ertrinken würde. Trotzdem wischte sie sich die Augen und schlug nach unsichtbaren Insekten und hoffte … Und manchmal geschieht ein Wunder, das uns erlöst. Selbst wenn das Übel sich nicht sammeln und noch mal angreifen konnte, hatten Linden und alle ihre Gefährten nicht mehr lange zu leben. Die gewaltige Wasserflut brandete gegen die untere Höhlendwand, brach sich dort und kam schäumend zurück. Und sie stieg gleichzeitig weiter an. Über Jahrhunderte aufgestautes Quell- und Regenwasser aus dem Land würde die Höhle anfüllen, bis alle Luft verdrängt war. In der Ferne gloste weiter Feuer unter dem Wasser. Blutrote Streifen färbten die Flut; ob sie von den Skurj oder dem Übel stammten, wusste Linden nicht. Als der neue See anwuchs, veränderte sich auch der Donner. Wasser, das nicht auf Stein, sondern auf eine Wasserfläche fiel, war weniger laut.
Linden konnte wieder undeutlich die Stimme der Eisenhand hören. »Die Skurj ertrinken! Sie ertrinken, aber das Übel lebt weiter! Und das Wasser fließt teilweise in die Verlorene Tiefe ab! Es steigt jetzt viel langsamer!« Kaltgischt fügte etwas über Zeit und Esmer an, das Linden nicht verstand. Der Eifrige schien mit anderen Insequenten, die unsichtbar blieben, zu diskutieren. Liand und Stave riefen Linden Bitten oder Warnungen zu. Aber in ihre Ohren waren wieder ihr aufgebürdete imaginäre Käfer gekrochen. Sie konnte einzelne Worte nicht von dem Tosen uralter Wassermassen unterscheiden. Hatte das Steigen des Wasserspiegels sich tatsächlich etwas verlangsamt, war dieser kleine Aufschub unbedeutend. Er machte keinen Unterschied. Während Spritzwasser in ihren Augen brannte, glaubte Linden zu sehen, dass einige der Unterwasserfeuer erloschen. Aber sie konnte sich ihrer Sache nicht sicher sein. Krabbelnde Insekten nährten sich von ihr; raubten ihr mit kleinen Bissen und Stichen das Leben. Donner und Versagen wurden zu Mattigkeit. Ihre Eltern sprachen lauter als jeder ihrer Gefährten. Mit den Stimmen des Übels kündigten sie ihr Verzweiflung an. Wie sie hatte Linden ihr Ende verdient. Sie hatte es sich mit Leiden und Unrecht und Schwäche verdient. Niemand hatte das Recht, Jeremiah leiden zu lassen. Keiner außer Thomas Covenant konnte hoffen, das Land retten zu können. Aber es gab nichts mehr, was Linden für sie hätte tun können. Sie war nicht einmal überrascht, als die gesamte Oberfläche der schäumenden Flut in Brand geriet. Bloßes Wasser konnte Ihr, die nicht genannt werden darf, niemals schaden. Die uralten Gifte, mit denen die Wassermassen versetzt waren, schienen sie im Gegenteil zu nähren. Nun hatte sie ihre eigene Antwort auf die Überflutung durch uraltes Wasser gefunden. Unter dem steilen Felsband standen Chaos und schäumende Fluten in Brand, als wären sie in Öl verwandelt worden. Wasser, das gegen Wände und Stalagmiten brandete, erzeugte feurige Spritzer, die fast die beschädigte Höhlendecke erreichten. Stimmen riefen nach Linden, aber sie sagten ihr nichts. Erschöpft und in unerträglichen Qualen ergab sie sich endlich der Lähmung, vor der sie
ihr Leben lang geflüchtet war: der Hilflosigkeit, die das unentrinnbare Verhängnis ihrer Eltern gewesen war; aus der Linden vor zehn Jahren Covenants Ermordung zugelassen und die sie dem Wüterich Turiya ausgeliefert hatte. Aas. Als das Übel sich zwischen der Gesellschaft und dem Ende der Höhle aus den brennenden Fluten erhob, sank Linden auf die Knie. Tief in ihrem Inneren kapitulierte etwas Wesentliches.
12 Sie, die nicht genannt werden darf
Wie ein Gespenst hielt Thomas Covenant sich in verschiedenen Realitäten gleichzeitig auf, ohne sich auf irgendeine auszuwirken. In einer Realität sah er alles, was um ihn herum geschah. Er beobachtete alle Ereignisse von dem Augenblick an, in dem Esmer seine Stirn berührt hatte, bis zu dem, als er neben der auf die Knie gesunkenen Linden stehend über das tosende Flammenmeer hinweg Sie, die nicht genannt werden darf, betrachtete. Er fühlte alles, fürchtete alles. Aber er besaß keinen Willen, keine Macht, etwas zu unternehmen. Er konnte nichts tun, um seinen Gefährten zu helfen. Er konnte nur mitfühlen und trauern und schweigend stöhnen und sich ängstigen. In dieser Dimension befand der Teil seines Ichs, der Entscheidungen traf, sich außer Reichweite. Covenant wanderte in seinen Erinnerungen an andere Orte, wo nichts von ihm verlangt wurde, weil alles längst passiert war. Vielleicht war es nützlich, sich diese Menschen und Orte und Taten in Erinnerung zu rufen; vielleicht auch nicht. Aber dort wurde er nicht gebraucht. Er war lediglich ein Zuschauer, unwirklich wie ein Traumbild, zwischen den Fragmenten und Trümmern vergangener Dinge, zerstörter Zeiträume. Und weil seine Erinnerungen bruchstückhaft waren, wusste er nicht, wie er sich in ihnen zurechtfinden sollte. Ihre Reihenfolge stimmte nicht mehr; sie konnten ihn nicht zu sich selbst zurückführen. Esmer hatte ihn in ein Reich aus Verwirrung und widersprüchlichem Wissen versetzt, in dem jede Regung seines Herzens durchkreuzt wurde. Statt auf die Notlage der Gesellschaft, die schreckliche Sintflut, die Linden in der Höhle ausgelöst hatte, oder ihr abschließendes Versagen angesichts des wieder aufgetauchten Übels zu reagieren, hing Covenant Erinnerungen nach. Als die Gesellschaft zuvor aus der Verlorenen Tiefe geflüchtet war, hatte er davon gesprochen, dass die Urbösen ihr Wyrd vor Jahrtausenden umgedeutet hatten. Die Dämondim waren nicht dumm gewesen; sie hatten auch die Urbösen nicht dumm geschaffen. Sogar die Wegwahrer durch Unfälle oder Fehlschläge bei Zuchtversuchen entstanden - konnten
logisch denken und waren lehrenkundig, zu abstrakten Schlussfolgerungen imstande. Ihre schwarzen Vettern waren für den verächtlichen Gebrauch, den Lord Foul von ihnen gemacht hatte, viel zu intelligent gewesen. Ihr Wyrd, wie sie es anfangs aufgefasst hatten, drückte ihren Selbsthass aus: Lieber das Ende aller Dinge propagieren und so sterben, als verunstaltet und verächtlich auf einer für Schönheit bestimmten Welt leben. Erst als Tausende von ihnen in den Kriegen des Verächters gefallen waren, hatten die Urbösen erkannt, dass die Logik ihres Dienens nur zu einer Schlussfolgerung führen konnte. Aber in dem Kampf vor den Toren von Herrenhöh hatten die Wegwahrer durch Einsatz und Tapferkeit bewiesen, dass es auch andere Möglichkeiten gab. So hatten die Wegwahrer die Urbösen angestoßen, sich selbst infrage zu stellen. Deshalb hatten die schwarzen Dämondim-Abkömmlinge sich nach der Niederlage Lord Fouls in die Verlorene Tiefe zurückgezogen, um in ihrem Lehrenwissen und ihren ältesten Sagen eine Antwort auf die durch die Wegwahrer verkörperte Herausforderung zu finden. Jenseits der unauslöschlichen Verdienste der Gräuelinger hatten die Urbösen die Geschichte ihrer Vorfahren erforscht, bis zu der Ära erforscht, in der die Gräuelinger das Wagnis überquert hatten und in die Fänge der Wüteriche geraten waren. In der Verlorenen Tiefe hatten die Wunder alter Lehre die Urbösen daran erinnert, dass sie von Wesen abstammten, die nicht von Selbsthass beherrscht gewesen waren. Dort entdeckten sie auch, dass ihre frühesten Vorfahren Wahrheiten erkannt hatten, die die Zeit überspannten: Wahrheiten, die ihnen nun ermöglichten, zukünftige Ereignisse vorauszusagen. Sie erkannten klar, wohin ihr Dienst bei dem Verächter sie letztlich führen würde - und was sie würden tun müssen, um Lord Fouls Zorn zu entgehen. Sie zögerten. Jahrhundertelang grübelten sie darüber nach, woher sie kamen, was sie waren und was sie vielleicht sein wollten. Und irgendwann gelangten sie zu neuen Schlussfolgerungen. Das Ergebnis war, dass sie nach eifrigem Studium in mühseliger Arbeit Hohl erschufen. Hohl und Handschellen. Aber während die Schwertmainnir, die Linden und ihre Gefährten
trugen, den Wegwahrern folgten, sank Covenant noch tiefer. Andere Erinnerungen ließen ihn die Urbösen vergessen. In einer anderen Spalte betrachtete Covenant ein Bild, das nicht existierte, das niemals existiert hatte - außer als Symbol oder Metapher für eine unaussprechlichere tiefere Wahrheit. Das Bild einer jungen Frau. Einer jungen Frau frisch von Liebreiz und Selbstfindung. Einer Frau, die von neuer Leidenschaft sprühte, die bereit war, die Bewunderung, die ihr ganzes Leben definieren würde, zu gewähren und zu empfangen. In seinen Augen war sie der Grund dafür, dass Männer und Frauen die Liebe entdeckten; die Ursache jedes gesunden, heiligen Begehrens. Als er sie studierte, sah er, wie sie betrogen wurde. Ihre Geschichte war mit der von Diassomer Mininderain identisch: verführt und belogen; der Finsternis überlassen. Als die Erde erschaffen wurde, war sie erniedrigt worden; als der Bogen der Zeit errichtet wurde, war sie eingesperrt worden. Sie war Mininderain und Emereau Vrai und die Auriferenz und Dutzende oder Hunderte weiterer Frauen. Indirekt war sie auch Lena und Joan. Letztlich verkörperte sie die Geschichte jeder Liebenden, die jemals benutzt oder missbraucht und weggeworfen worden war. Die Geschichte von Ihr, die nicht genannt werden darf. Von ihrer Not zutiefst bewegt sah Covenant zu, wie sie aus dem Flammenmeer aufstieg, und verstand, dass hinter ihrer erschreckenden Bösartigkeit und Gier eine grundlegende verzweifelte Wehklage lag: die alles verzehrende Trauer eines Herzens, das keine andere Antwort auf absoluten Verrat wusste. Vielleicht aus Absicht - vielleicht aus Grausamkeit - hatte Esmer ihn an diesen Ort inmitten seiner chaotischen Erinnerungen geschickt. Sie hätten kostbar für ihn sein können, wenn er nach ihnen hätte handeln können. Aber sie gehörten zur Vergangenheit, die er nicht mehr ändern konnte. Auch Covenant verlor sich in Erinnerungen an Liebe und Verlust. Trotzdem wusste er weiter genau, was um ihn herum vorging. Er sah und hörte und fühlte; er nahm so großen Anteil, dass die Not seiner Gefährten ihm das Herz zerriss. Vor allem verstand er, auch wenn das nichts nützte, Lindens lange Leidensgeschichte. Er beobachtete, welche Wirkung es auf sie gehabt hatte, ihren Sohn zu finden und den Jungen
nicht von dem Croyel befreien zu können. Er sah die Aussichtslosigkeit ihres Entschlusses, aus der Verlorenen Tiefe zu flüchten. Als sie die Kraft gefunden hatte, seine Hände zu behandeln, war er fast schmerzhaft stolz auf sie gewesen. Und als sie von der Brücke in den Abgrund gestürzt war, war die Sinnlosigkeit seines Wunsches, ihr nachzuspringen, eine Qual gewesen. Mit dem sagenhaften Urteilsvermögen eines Gespensts hatte er die Folgen ihres Sturzes in Höllenqualen bedacht. Die Verzweiflung, die ihren nachlassenden Verstand erfasste, sich von ihm nährte, hatte er erlebt, als hätte sie seine sein sollen. Trotzdem hatte sie nicht aufgegeben, sondern verbissen weitergekämpft. Als ihre Entschlusskraft, die der Kern ihres Wesens war, zuletzt versagt hatte, hatte er vor allem Erleichterung für sie empfunden. Später, falls sie überlebte, würde sie das Schlimmste von sich denken. Im Augenblick hatte sie jedoch gewisse Ablenkung von ihren Qualen gefunden. Aber sie würde wahrscheinlich nicht überleben. Sie und Covenant und alle ihre Gefährten hatten den Tod vor Augen. Sein eigenes Hinscheiden erschien ihm nicht sehr bedauerlich. Linden überschätzte ihn. Aber die anderen … Aus Gründen, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, waren Linden und Jeremiah für das Land wichtig. Seine Zukunft hing auch von Liand und Anele ab. Mähnenhüter Mahrtür und seine Seilträger wurden dringend gebraucht. Ohne Stave und die Meister und die Riesinnen gab es keine Hoffnung. Covenant rechnete auch den Eifrigen mit, der als Einziger wusste, wie die Gesellschaft gerettet werden konnte. Und er vergaß die Dämondim-Abkömmlinge nicht, die sich weiter danach sehnten, ihren instinktiven Selbsthass zu kompensieren. Jeder, der in Lindens Namen - oder dem des Landes - so weit vorgedrungen war, hatte eine Rolle zu spielen. Sogar Esmer konnte vielleicht noch die Kraft aufbringen, statt Kastenessens Lakai der Sohn seines Vaters zu sein. Selbst Covenant… Er hätte viel dafür gegeben, das auch von Roger glauben zu können. Aber Roger war der Sohn seiner Mutter, nicht der seines Vaters, und Joan hatte ihren Weg ins Verderben schon vor langem gewählt. Wie Elena konnte sie dem, wozu sie sich selbst gemacht hatte, nur mehr durch den Tod entrinnen. Covenant war aus dem Bogen der Zeit geholt worden. Die
Verantwortung für den Bogen war ihm abgenommen worden. Aber Joan und Roger existierten weiter. Sie waren die Last, die er zu tragen hatte. Deshalb musste auch er überleben. Sie, die nicht genannt werden darf, hatte nicht die Absicht, auch nur eines ihrer Opfer leben zu lassen. Esmer würde es zweifellos schaffen, ihrer Gier zu entkommen. Auch der Croyel würde es bestimmt versuchen, wobei er Jeremiah mitnehmen würde. Und die Urbösen und Wegwahrer konnten es vielleicht schaffen, ihrer Vernichtung zu entgehen. Aber alle anderen … Durch Esmers Verrat gehörten nun auch sie zu Covenants Last. Und Covenant liebte Linden. Auf unterschiedliche Weise liebte er alle ihre Freunde und Begleiter - sogar die Meister, die sich selbst bis an den Rand der Vernichtung des Landes irregeführt hatten. Es gab sonst niemanden, der sie hätte retten können. Aber er fand sich nicht zurecht. Als er seine Umstände näher betrachtete, begann er jedoch zu glauben, er sei nicht völlig hilflos. Verrat hatte fast erklärtermaßen Schwachstellen. Das galt auch für Esmers. Die Gedemütigten hatten Covenant Vitrim eingeflößt, und diese moderige Flüssigkeit hatte unnatürliche Ähnlichkeit mit Heilerde. Sie imitierte die überlegene Heilkraft dieser Erde zumindest teilweise. In Andelain war ihm Heilerde angeboten worden, aber er hatte sie abgelehnt. Er hatte auf Lepra und Gefühllosigkeit bestanden. Sie macht mich nicht nur zu dem, wer ich bin. Sie macht aus mir, wer ich sein kann. Jetzt stachelten der Modergeschmack und die Energie von Vitrim ihn dazu an, er selbst zu sein: ein leprakranker Paria, der gar nicht daran dachte, dem Verächter zu gehorchen. Weil es ein künstliches Elixier war, konnte es seine Nerven nicht wiederbeleben. Aber es machte ihn stärker … Und es gab noch eine weitere Schwachstelle. Esmers Wirkung auf ihn hatte keine Ähnlichkeit mit der Starre, die die Elohim einst gegen ihn eingesetzt hatten. Die Elohim hatten ihn von Verstand und Gefühl, von jeder Art Reaktion getrennt. Esmer hatte ihn nur aus dem Gleichgewicht gebracht, ihn in das Labyrinth aus fragmentierter Zeit gestoßen. Er konnte weiter denken und fühlen und streben. In dieser Beziehung war er nur verwirrt, nicht hilflos. Und was
verloren werden konnte, ließ sich auch wieder finden. Stieg er hoch genug und nutzte seine Erinnerungen richtig, konnte er vielleicht durch eigene Anstrengung in seine physische Gegenwart zurückkehren. Wenn Esmer ihn nicht wieder herunterholte. Wenn. Er musste es versuchen. Das Übel kam näher. Nach unzähligen Jahrtausenden im Bogen geriet Covenant in Zeitnot. Sie, die nicht genannt werden darf, erhob sich wie ein Scheiterhäufen aus dem Flammenmeer. Sogar aus der Entfernung schien sie die Gesellschaft zu überragen. Obwohl Esmer sich alle Mühe gab, das Felsband zu stabilisieren, ließ ihr Zorn es erzittern. Aus keinem erkennbaren Grund, außer dass sie Riesinnen und tapfer waren, standen außer Raureif Kaltgischt alle Riesinnen mit gezückten Schwertern am Rand des Felsbands. Sie mussten wissen, dass keine gewöhnliche Waffe ihre Feindin verwunden konnte; trotzdem stellten sie sich ihr entgegen, weil sie sich weigerten, ihre Niederlage einzugestehen. In dieser Beziehung hätten sie Salzherz Schaumfolgers Töchter sein können. Hinter ihnen trug Raureif Kaltgischt weiter Jeremiah auf dem Arm und hielt mit der anderen Hand dem Croyel den Krill an die Kehle. Trotz der fast körperlich spürbaren Wildheit des Übels starrten Jeremiahs trübe Augen ins Leere. Aus einem Mundwinkel lief ihm ein Speichelfaden. Aber der Croyel hatte sein grausames Grinsen eingebüßt. Das Ungeheuer grub seine Krallen noch tiefer ins Fleisch des Jungen und schien sich auf einen letzten Trick vorzubereiten: irgendeine Demonstration von List oder Stärke, die ihm vielleicht das Leben retten würde. Stave zögerte nicht lange: Er nahm Linden auf die Arme und trug sie zur Höhlenwand, damit die Riesinnen Platz hatten, um ihre Schwerter führen zu können. Ihr schlaffer Mund und leerer Blick sagten Covenant, dass sie jetzt so unansprechbar war wie ihr Sohn. Sie hatte zu viel durchgemacht… Er konnte nur stumm drum beten, dass in ihrem Inneren noch etwas lebte und liebte, das nach gewisser Erholungszeit wieder ansprechbar sein würde. Clyme und Branl hatten ihn bereits vom Rand des Felsbands zurückgezogen. Galt stand vor ihm wie Brinn oder Bannor: ein Bild
tapferer Entschlossenheit wie das der Riesinnen - und ebenso vergeblich. Zugleich hatten die Seilträger Liand mit dem Stab, ihren Mähnenhüter und Anele so weit wie irgend möglich vom Rand weggeführt. Dort hockte Anele an die Wand gelehnt da, als versuchte er, mit seinem ausgemergelten Körper in den Fels hineinzukriechen. Unverständliches Zeug murmelnd schlug er sich mehrmals ins Gesicht. In ihrer Nähe hüllte der Eifrige sich eng in sein teilweise verkohltes Gewand, als hoffte er gegen jegliche Vernunft, seinen massigen Leib mit bunten Bändern schützen zu können. Die Panik in seinen Augen glitzerte noch heller als der reflektierte Feuerschein. Weiter oben auf dem Felsband kläfften die Wegwahrer und Urbösen hektisch: schneidend scharfe Laute, die Verwünschungen sein oder Verzweiflung ausdrücken konnten. Ihr Knurren und Bellen schien Esmer zu gelten. Esmer, in Wunden und Lumpen gekleidet, ignorierte die Dämondim-Abkömmlinge. Sein Bemühen, die von ihm Verratenen zu verachten, schien gescheitert zu sein. Er wirkte betroffen, als er das näher kommende Übel beobachtete. In ihrer Vorfreude auf das bevorstehende Festmahl reckte Sie, die nicht genannt werden darf, sich glühend höher und heulte, als forderte sie Rache. Bald würde sie die Gesellschaft überragen. Plötzlich krächzte der Croyel mit Jeremiahs Stimme: »Esmer. Schaff uns von hier fort, Esmer.« Raureif Kaltgischt verstärkte warnend ihren Druck; aber das Monster war zu verängstigt, um auf den Schmerz zu achten, den der Krill ihm zufügte. »Das war nicht vorgesehen«, keuchte der Croyel. »Sie hätte nicht imstande sein sollen, die Skurj aufzuhalten. Jetzt musst du uns retten.« Nur Jeremiahs schlaffe Züge und sein trüber Blick bewiesen, dass der Junge nicht für sich selbst bettelte. »Du wirst es nicht bereuen. Kastenessen wird dir verzeihen. Er wird dich heilen. Tut er es nicht, zwingen wir ihn dazu. Aber du musst uns von hier wegschaffen.« Das war der Weg aus seinem Inneren, den Covenant brauchte. Hätte Linden den Croyel hören können, hätte ihr sein Missbrauch Jeremiahs das Herz zerrissen. In ihrem gegenwärtigen Zustand blieb ihr dieser
Schmerz glücklicherweise erspart, aber Covenant empfand ihn an ihrer Stelle. Ihr Schmerz war seiner. Das erinnerte ihn … Schlag mich. Schlag mich noch mal. In Andelain hatten körperliche Schmerzen ihn zu sich gebracht, zumindest vorübergehend. Er hatte die Verbindung zwischen seinem Körper und seinem Verstand gestärkt. Diesmal genügte der Gedanke daran, wie Linden leiden würde, wenn sie wieder zu Bewusstsein kam. Vitrim hatte ihm Kraft gegeben. Und er war der rechtmäßige Weißgoldträger. Er war indirekt von wilder Magie umgeben, die Esmer nicht blockieren konnte oder wollte. Esmers Einfluss trotzend kehrte Thomas Covenant aus der Vergangenheit des Landes in die Gegenwart zurück. In Esmers Blick stand sofort Betroffenheit. Er wich zurück, als fürchtete er, was der Zweifler geworden war. Covenant, der Cails Sohn ignorierte, wandte sich von ihm ab. Seine Hände und Füße waren weiter gefühllos, tot. Aber sie waren nicht nutzlos. Linden verdankte er, dass er die Finger krümmen konnte. Im rechten Augenblick - wenn er ihn erlebte - würde er den Krill ergreifen und führen können. Aber er brauchte Loriks Dolch nicht jetzt. Der Krill würde Sie, die nicht genannt werden darf, nicht aufhalten können. Dazu brauchte er andere Mittel. Wie viel Zeit war vergangen? Das Übel hatte das Felsband noch nicht erreicht, aber es konnte zuschlagen, wann es wollte. Hatte es die Veränderung in ihm wahrgenommen? Wollte es ihn zuerst ausschalten? Sah es in ihm ein Abbild des Ersten, der es verraten hatte? Vielleicht. Das war denkbar. Er bezweifelte nicht, dass ihm noch Spuren dessen anhafteten, was er Lena - und auf andere Weise auch Elena angetan hatte. Sie, die nicht genannt werden darf, konnte ohne weiteres seine Ähnlichkeit mit dem Verächter erkannt haben. Aber wenn sie erwartete, dass er Angst haben und versuchen würde, Sühne für seine Verbrechen zu leisten, würde sie enttäuscht werden. Die Haruchai quittierten Covenants Rückkehr mit geweiteten Augen und hochgezogenen Augenbrauen. Sie leisteten keinen Widerstand, als er Branls und Clymes Hand abschüttelte und an Galt vorbei nach vorn trat.
Mit zwei Schritten war er bei Stave und Linden. »Achtung, Schwertmainir«, rief Mahrtür ihnen halblaut zu. »Der erste Ring-Than ist wieder unter uns.« Seine Stimme hätte zu leise sein sollen, um den feurigen Lärm des Übels zu übertönen. Trotzdem hörten die Riesinnen ihn. Gutwind, Graubrand und Spätgeborene drehten sich ruckartig um und starrten Covenant an. Ihre Gefährtinnen traten einen Schritt vom Rand des Felsbands zurück. Linden lag kraftlos in Staves Armen. Sie sah nichts, hörte nichts. In ihrer zerschlissenen, durchlöcherten Bluse und den grasfleckigen Jeans sah sie wie ein obdachloses Kind aus; sie schien fast zu schwach zu sein, um weiteratmen zu können. Nur einen Augenblick lang erinnerte Covenant sich daran, sie schon einmal so gesehen zu haben. Als er sie aus den Händen der Sonnengefolgschaft gerettet hatte, war sie ähnlich träge, ebenso besiegt gewesen; Turiya Herem hatte sie berührt, und sie hatte sich in ihr Inneres geflüchtet, um der Bösartigkeit des Wüterichs zu entgehen. Aber sie hatte sich wieder erholt. Nach einiger Zeit war sie zu Covenant zurückgekehrt. Er musste glauben, das sie es auch diesmal tun würde. Lord Foul hatte behauptet, ihr Schicksal sei ins Wasser geschrieben. Vielleicht hatte der Verächter wahrer gesprochen, als er geahnt hatte. Covenant, der die Leichtigkeit verfluchte, mit der er sich ablenken ließ, blendete weitere Erinnerungen, weniger dringende Gebete aus. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er zwang sich grimmig dazu, statt Linden Stave anzusehen. Er brauchte kein Wort zu sagen. Staves jäh glitzernder Blick zeigte, dass der Haruchai verstanden hatte. Um ihrer Gefährten willen - damit keiner ihn missverstehen konnte -, zwang Covenant sich dazu, laut zu sagen: »Ich will meinen Ring. Ich gebe ihn später zurück. Falls wir dies hier überleben.« Stave nickte feierlich schweigend. Indem er Linden weiter stützte, öffnete er die andere Hand und hielt dem Zweifler seinen Ehering an der Kette hin. Covenant, der erst lernen musste, mit den kürzlichen Amputationen umzugehen, umklammerte die Kette. Damit sie ihm nicht entglitt, hakte er unbeholfen zwei Finger darunter. Dann streifte er sie sich so über den Kopf, dass der Ring auf seiner Brust lag.
»Ich gebe ihn später zurück«, wiederholte er, bevor er sich umdrehte, um es mit Ihr, die nicht genannt werden darf, aufzunehmen. Sie wälzte sich näher. Ihre Hitze schlug gegen sein Gesicht, trocknete seine Augen aus: die Wut des brennenden Sees und die Leidenschaft des Übels. Wäre er nicht völlig durchnässt gewesen, hätte seine Kleidung Feuer fangen können. Die aufgerissenen Münder der Fratzen des Ungeheuers ließen ihre Zähne sehen. Ihr schrilles Kreischen übertönte des Tosen der herabstürzenden Wassermassen. Der dumpfe Puls ihres Herzschlags ließ seine Knochen erzittern. Am anderen Ende der Höhle begannen die Flammen zu erlöschen, als die Flut die letzten Skurj vernichtete. Aber das Übel ließ das Feuer in seiner Umgebung noch höher auflodern. Flammenzungen griffen nach den Spitzen von Stalagmiten, nach abgebrochenen Stalaktiten und dem harten Travertin, Granit und Kalkstein; aber die Hitze verletzte nur die exponierte Haut seines Gesichts und seiner Arme. Während Sie, die nicht genannt werden darf, sich auf ihren Angriff vorbereitete, erhob er seine Stimme gegen sie. »Hör mir zu!«, rief er mit aller Autorität, die er in die Stimme legen konnte. »Du kannst uns umbringen, wann immer du willst! Aber erst solltest du mir zuhören! Du hast vergessen, was du bist!« Sie, die nicht genannt werden darf, zögerte hoch aufgereckt wie überrascht. Empört oder sehnsuchtsvoll fauchte Esmer: »Du bist übergeschnappt. Ich weiß nicht, wie du zurückgekehrt bist. Das ist mir auch egal. Aber bildest du dir ein, mit Ihr, die nicht genannt werden darf, vernünftig reden zu können?« Covenant kehrte Esmer weiter den Rücken zu. Er hatte keine Aufmerksamkeit für ihn übrig. Keine Aufmerksamkeit - und keine Zeit. »Du hast vergessen, wer du bist!«, rief er zu dem unsterblichen Wesen hinauf. »Aber das ist noch nicht alles. Du hast vergessen, dass du hier unten gefangen bist! Das war nicht der Schöpfer. Er hat dich damals geliebt. Er liebt dich noch jetzt. Und wir waren es todsicher nicht. Oder eines deiner übrigen Opfer. Nein, es war der Verächter, a-Jeroth von den Sieben Höllen. Du hast vergessen, dass er dich zu dem gemacht hat, was du heute bist.
Du hast vergessen, dass er dich reingelegt hat. Er ist dein schlimmster Feind, aber du dienst ihm, weil du alles vergessen hast!« Von Covenants Kühnheit betroffen wand das Übel sich, als wären seine Worte Schläge. Gequälte Fratzen fletschten in wilder Folge die Zähne, kreischten und verschwanden - überrollt oder absorbiert. Mit einer Stimme, die so gewaltig war, als spräche die Höhle selbst, antwortete Sie, die nicht genannt werden darf: »Du sprichst mit mir! Du sprichst mit mir! Ich werde dich verschlingen - ich werde euch alle verschlingen - und trotzdem hungrig bleiben! Auch wenn ich Welten verschlänge, würde ich nicht satt werden!« Covenant biss die Zähne zusammen und weigerte sich einzugestehen, dass er entsetzt war. »Du hörst nicht zu«, entgegnete er, als kennte er keine Angst. »Das solltest du aber. Du solltest wenigstens merken, dass der Verächter dich zu seiner Sklavin gemacht hat.« Flammen züngelten und tanzten. »Du denkst daran, dich zu wehren?« Sämtliche Fratzen des Übels feixten höhnisch. »Nur zu! Ich mag es, wenn meine Beute zappelt.« Covenant schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang nüchtern beherrscht. »Du sollst zuhören, habe ich gesagt. Ich werde mich nicht wehren. Natürlich tue ich das nicht.« Gegen Esmers Fähigkeit, wilde Magie zu unterdrücken, wäre vielleicht nicht einmal er selbst angekommen. Und wäre ihm das gelungen, hätten die Folgen schrecklich sein können. Ein Kampf dieses Ausmaßes konnte eine Katastrophe auslösen, den Bogen der Zeit zerstören. Nein, er würde seinen Ring hoffentlich besser gebrauchen können. »Ich will dir nur etwas zeigen.« »Zeigen?«, wiederholte das Ungeheuer. »Du willst mir etwas zeigen? Wenn ich vergessen habe, wer oder was ich bin, habe ich auch die Bedeutung eines bloßen Objekts oder einer Vorführung vergessen.« »Aber nicht das hier.« Mit dem Rücken seiner Halbhand hob Covenant seinen Ring hoch. »Du wirst es erkennen, sobald du einen Blick darauf wirfst.« Seine Liebe zu Linden und dem Land und dem Leben glich einer Melodie, die das Tosen des Wassers, das Brausen der Flammen übertönte; sie schien von Wänden und Decke der Höhle wiederzuhallen. »Ich rede nicht von Weißgold oder wilder Magie. Ich rede davon, was dieser Gegenstand ist: ein Ehering. Er symbolisiert alles, was du dir je gewünscht hast. Alles, was du verloren hast.
Sieh ihn dir an!«, drängte er. »Betrachte ihn genau. Er verkörpert Liebe und Versprechen, die nie gebrochen wurden. Er symbolisiert Leidenschaft und Treue, die ewig andauern. Lauter Dinge, die du zu bekommen gehofft hast, als der Verächter dir ins Ohr geflüstert hat.« Weiter auf der Suche nach Worten, die sie beeindrucken würden, fuhr er fort: »Dass er die Erde vernichten will, ist nicht sein schwerstes Verbrechen. Nein. Schlimmer ist, dass er dich belogen hat. Dass er dich belogen hat. Keine Gräueltat an Sterblichen kann schlimmer sein, weil auf Sterbliche der Tod wartet. Deine Leiden enden niemals.« Seine Behauptungen - oder die tiefere Bedeutung seines Eherings schienen das Übel zu schockieren. Es reckte sich höher, wich aber zugleich von dem Felsband zurück. Die Qualen auf seinen vielen Fratzen schienen sich zu vervielfältigen. Frauen, die Lena oder Joan hätten sein können, wimmerten und klagten. Ihre Stimme sank zu einem brüchigen Flüstern herab. »Kleiner Mann. Mensch. Narr. Du weißt nichts von Kummer und Leid.« »Das stimmt«, bestätigte Covenant, obwohl seine Erfahrungen mit Verlust und Trauer so alt wie der Bogen waren. »Unser Leben ist zu kurz. Kein Sterblicher kann ewigen Schmerz verstehen. Aber wir sind bereit, es zu versuchen. Und wir wollen mit ihm Schluss machen. Lass uns in Frieden ziehen. Dann geben wir dir die Freiheit wieder.« Manche Versprechen waren zu schrecklich, um gehalten zu werden. Dies war eines davon. Trotzdem konnte er nur hoffen, dass er die Wahrheit sagte. Bestimmt würde Sie, die nicht genannt werden darf, durch die Zerstörung des Bogens der Zeit freikommen. Aber er bezweifelte, dass der Weltuntergang sie von ihren Qualen befreien würde. Sie brauchte mehr als nur Zerstörung. Ihre Qualen würden andauern, bis dem Verächter das Handwerk gelegt worden war. Bis sie wieder lieben und vergeben lernte. »Freiheit?«, rief sie verbittert aus. »Du willst mir die Freiheit wiedergeben? Ich kann dich nicht hören, kleiner Mann. Du bist zu klein, um meine Schmerzen mildern zu können.« Während Hunger und Flammen zu zögern schienen, wandte er sich ab. »Esmer.« Cails Sohn zuckte zusammen. »Zeitenherr?« Die Riesinnen beobachteten die Ereignisse weiter verständnislos
schweigend. In Liands Blick leuchtete Ehrfurcht oder Angst. Ohne Esmer zu beachten, musterten die Haruchai Covenant ausdruckslos. Vielleicht trauten sie ihm zu, zu wissen, was er tat… Wie Linden und alle anderen hatten sie mehr von ihm verdient. Covenant wies mit dem Daumen über die Schulter. »Sie hat vergessen, wer sie ist.« Er nahm bewusst Risiken auf sich, die ihn entsetzten. »Willst du es ihr nicht sagen? Willst du ihr nicht ihren wahren Namen sagen?« Esmer stammte von Elohim ab; er kannte viele Geheimnisse der Erde. »Nein!« Esmers Entsetzen ließ das Felsband erbeben. In seinem Blick lag stürmische Sorge. »Das kann ich nicht. Das will ich nicht! Begreifst du nicht, dass ihr Vergessen wichtig ist? Es ist unerlässlich! Denke an das Beben, das den Landbruch hervorgerufen hat. Es hat sich ereignet, als sie eingesperrt wurde. Der Verrat an ihr und ihr Zorn und ihre Tränen darüber haben diesen Teil des Landes in seinen Grundfesten erschüttert. Wird ihr Name ihr wieder gesagt - oder bekommt sie die Möglichkeit, sich an ihn zu erinnern -, folgt ein so gewaltiger Wutausbruch, dass der Gravin Threndor zerplatzt. Sie bleibt hier. Ich bin nicht mehr lange da. Aber du und alle deine Gefährten werden untergehen. Das gilt zweifellos auch für deinen Sohn. Trotzdem werden Kastenessen und a-Jeroth und die Wüteriche überleben. Die Skurj und die Sandgorgonen und deine frühere Ehefrau werden überleben. Und auch der Zerfall des Donnerbergs wird die Schlange des Weltendes nicht aufhalten.« »Sag es mir!«, heulte das Übel begierig drängend. »Du bist mir gleichgültig.! Sag mir, wer ich bin!« Esmer schüttelte den Kopf. »Etwas so Törichtes kannst du nicht von mir verlangen. Darauf lasse ich mich nicht ein.« »Dann verschlinge ich dich!« Ohrenbetäubend laut. »Ich zerknacke deine Knochen und sauge ihr Mark aus! Ich reiße dein Fleisch in Fetzen - als Futter für mein ewiges Wehklagen. Ich …« Covenant unterbrach sie, als wäre er jenseits des Todes zu völliger Furchtlosigkeit gelangt. »Nein, das tust du nicht.« Feuer und Zorn versuchten, sich über ihn hinwegzusetzen. »Außerdem werde ich dafür sorgen, dass du bei Bewusstsein bleibst, damit du an den Qualen dieser anderen, die ich verschlinge, teilhaben kannst.«
Fratze nach Fratze klagte wie arme Sünder im Fegefeuer, ohne Erlösung zu finden. Covenant drehte sich erneut nach dem Übel um. »Nein«, wiederholte er streng, »das tust du nicht.« Er hatte Grund zu der Annahme, dass Sie, die nicht genannt werden darf, auf ihn hören würde. Trotzdem sprach er mit dem Nachdruck der Zeit, als machten die Äonen des Bogens seine Argumente unwiderlegbar. »Ich bin noch nicht fertig. Vielleicht gibt es andere Antworten. Ich brauche nur ein wenig Zeit. Flüchten können wir nicht. Das weißt du. Du musst mir nur etwas Zeit lassen.« Indem er Selbstbewusstsein vortäuschte, das er unmöglich besitzen konnte, kehrte er ihr nochmals den Rücken zu. Möglicherweise verblüffte seine Unverschämtheit Sie, die nicht genannt werden darf. Oder vielleicht hatte er in ihrem wilden feurigen Herzen den Wunsch danach geweckt, etwas über ihr wahres Ich zu erfahren. Frauen schrien Drohungen aus vielen Kehlen, aber sie rückte nicht weiter vor, um ihn zu verschlingen. Covenant sah sich langsam nach seinen Gefährten um, musterte einen nach dem anderen. Dann erklärte er ihnen betrübt: »Tut mir leid, dass das notwendig ist. Ich tue es nur ungern. Aber dies ist mein letzter Versuch. Klappt er nicht, fällt mir nichts mehr ein.« Das stimmte nicht ganz. Eine seltsame Gewissheit hatte ihn erfasst: eine Sicherheit, die er niemandem hätte erklären können, nicht einmal sich selbst. Er hatte einen weiteren Schachzug in Reserve. Aber das Übel sollte ihm glauben. Esmer sollte ihm glauben. Damit sie beide warteten. Jeremiah wand sich plötzlich in Kaltgischts Armen, versuchte sich zu befreien. »Du Dreckskerl!« Die Angst und Wut des Croyel brannten in seinem Blick. »Du Scheißkerl! Willst du nicht wenigstens kämpfen, kannst du mich gleich umbringen. Mom würde dich anflehen, wenn sie wüsste, was du tust. Wenn sie nicht so erbärmlich schwach wäre. Wenn sie jemals erkannt hätte, warum du dich damals Foul ergeben hast - weil du zu feig bist, um wirklich zu kämpfen.« Raureif Kaltgischt, die etwas vor sich hinmurmelte, bewegte ihre Hand mit Loriks Krill, sodass jetzt seine Spitze gegen die Kehle des Ungeheuers drückte. Im Blick des Croyel flackerte jähe Angst. Das Monster ließ Jeremiah wieder zusammensinken.
Mähnenhüter Mahrtür räusperte sich. »Achte nicht auf den Croyel, Covenant Zeitenherr.« Trotz seiner Blindheit - oder vielleicht ihretwegen - schien er die massive Einschüchterung durch die Masse des Donnerbergs als Erster abgeschüttelt zu haben. »Wir verstehen deine Weigerung zu kämpfen. Für die Meister kann ich dabei nicht sprechen. Die Schwertmainnir werden bestimmt für sich selbst sprechen. Aber wir, die ersten Freunde und Gefährten der Ring-Than, sind gegenwärtig damit zufrieden, das Ergebnis deiner Bemühungen abzuwarten.« »Der Mähnenhüter hat wie immer gut gesprochen«, knurrte die Eisenhand. »Verwunderlich, dass jemand, der im Herzen so aggressiv ist, so höflich sein kann.« »Danke, dass ihr mich unterstützt«, sagte Covenant mit zusammengebissenen Zähnen. »Aber im Augenblick brauche ich euch nicht. Ich brauche Anele.« Pahni starrte ihn besorgt an, als fürchtete sie um den Alten. Liand fragte, als spräche er mit sich selbst: »Anele?« »Er besteht zum Teil aus Erdkraft«, erklärte Covenant ihnen. »Sie ist ihm angeboren« - als Erbteil seiner verwandelten Eltern. »Er kann Dinge tun, die selbst Berek und die übrigen Hoch-Lords nicht tun konnten.« Von der Angst getrieben, der Hunger des Übels könnte jeden Augenblick stärker werden als der Wunsch, seinen wahren Namen zu erfahren, wandte Covenant sich an den Alten. Die Gedemütigten beobachteten ihn, als versuchten sie, das Risiko einer Entweihung abzuschätzen. Wird ihr Name ihr wieder gesagt - Esmer betrachtete Covenant erstaunt und angewidert -, folgt ein so gewaltiger Wutausbruch, dass der Gravin Threndor zerplatzt. »Anele«, sagte Covenant strenger als eigentlich beabsichtigt. »Du stehst auf Fels. Seine Erinnerungen erfüllen dich so sehr, dass du kaum weißt, was um dich herum vorgeht. Aber ich glaube, dass du manche Dinge noch verstehst. Ich möchte, dass du Liand um seinen Orkrest bittest. Ich muss vernünftig mit dir reden.« Aneles Mondstein-Augen glitzerten. Er richtete sie kurz auf Covenant und sah sofort wieder weg, als wäre er so beängstigend wie Sie, die nicht genannt werden darf. Sein Kopf ruckte von einer Seite zur anderen. Seine runzligen Hände schienen Bitten aus der Luft zu pflücken.
»Ich höre.« Seine Stimme zitterte. »Ich verstehe nichts. Dieser Fels kennt zu viel Böses. Er erinnert sich an Schrecken. Sein Flehen füllt meine Ohren.« Abrupt ohrfeigte er sich, erst links, dann rechts, als wollte er die verwirrenden Stimmen in seinem Kopf so zum Schweigen bringen. Dann streckte er einen dünnen Arm fordernd nach Liands Orkrest aus. Liand zögerte nicht, sondern überließ Anele den Sonnenstein. Als Aneles Finger ihn umschlossen, warf er den Kopf zurück und schrie laut, als wäre ihm ein Dolch in die Brust gestoßen worden. Hinter Covenant hörten die Fratzen des Übels sekundenlang zu heulen auf, als hätte sie die Verzweiflung in Aneles Aufschrei erschreckt. Als hätten sie sie wiedererkannt… Im nächsten Augenblick schwemmte ein Schwall Theurgie aus dem Orkrest die geistige Verwirrung des Alten weg. Von einem Herzschlag zum nächsten wurde seine Art vernünftig, als wäre er plötzlich für die Myriaden uralter Stimmen von Granit und Kalkstein und Verrücktheit taub geworden. Als Anele den Kopf wieder senkte, fixierten seine blinden Augen Covenant. Er richtete sich langsam auf und nahm die Schultern zurück. Auf nicht recht erklärbare Weise wirkte er plötzlich wie ein Lord. In dem Tumult aus Feuer und Wildheit und fallendem Wasser sagte er: »Zeitenherr.« In seinem Tonfall vermengten sich Sorge und Ernst. Spritzwasser tropfte aus seinem spärlichen Bart. »Ich flehe dich an. Mach es nicht.« »Tut mir leid, Anele.« Innerlich verfluchte Covenant sich selbst. »Du hast schon zu viel durchgemacht. Aber mir bleibt hier keine andere Wahl. Wir brauchen deine Hilfe.« Anele, der den Orkrest wie einen Talisman umklammerte, protestierte: »Ich bin nicht für dies hier um den Verstand gebracht worden.« »Ja, ich weiß.« Covenant verstand instinktiv, was der Alte meinte, obwohl er nicht hätte sagen können, wie oder weshalb. Diese Erinnerungen schienen gelöscht zu sein. Er wusste nur, dass Anele irgendeinen Teil des Schicksals der Erde in seinen knorrigen Händen hielt - und dass seine Zeit noch nicht gekommen war. »Aber wenn wir nicht überleben, bekommst du nie eine Chance, das zu beenden, was du angefangen hast.
Ich glaube, dass du mit den Toten reden kannst. Ich glaube, dass Sunder und Hollian dich hören können.« Covenant machte eine Pause, um Mitleid hinunterzuschlucken. »Und ich denke, dass sie vielleicht ein Mittel wissen, um uns zu helfen.« Vorläufig war das alles, was er wollte: eine Möglichkeit, das Übel davon abzuhalten, sie zu verschlingen. Irgendwie. Anele machte ein kummervolles Gesicht. »Mein Vater und meine Mutter sprechen nur in Träumen zu mir.« Er wirkte erbärmlich, von lebenslangem Kummer und Erniedrigungen, von einem Leben voller Enttäuschungen über sich selbst zerrissen. »In Träumen bin ich stumm. Aber in Andelain habe ich nicht geträumt, und sie haben mich trotzdem beraten. Hier bin ich nicht stumm. Ich werde sie fragen. Antworten sie mir nicht, kann ich weiter nichts tun.« Ich auch nicht, hätte Covenant am liebsten gesagt. Aber er behielt seine Angst für sich. Laut erklärte er dem Alten: »Sie werden antworten. Sie lieben dich. Sie lieben das Land. Teufel, sie lieben sogar mich. Und sie haben nicht vergessen, was Linden mir bedeutet.« Uns allen bedeutet. Anele nickte vage; er hörte nicht mehr zu. Seine Lider flatterten. Dann schloss er die Augen. Er begann Gebete oder Beschwörungen zu murmeln, die zu leise waren, um in der Kakophonie aus tosenden Wassermassen und verzweifelt jammernden Stimmen gehört zu werden. »Zeitenherr?« Liands Frage klang vorwurfsvoll. »In unseren Augen ist die Wiederherstellung seines Verstands durch den Orkrest qualvoll für ihn. Was können die Toten uns bieten, um seine Qualen zu rechtfertigen, wenn sie uns nicht gleich vernichten, indem sie das Übel benennen?« »Schweig, Steinhausener.« Der in seine Bänder gehüllte Eifrige sprach kaum vernehmbar. »Dieser Versuch ist sicherlich lohnend. Ich glaube nicht, dass die Toten todbringendes Wissen über dieses Übel besitzen.« Covenant hob seine verstümmelte Halbhand. Wartet. Er beobachtete Anele weiter. Wartet einfach. Sie, die nicht genannt werden darf, verharrte weiter untätig über ihm, als hoffte sie auf eine Offenbarung. Dann stieß Bhapa einen wortlosen Schrei aus. Covenant wandte sich ruckartig von Anele ab, als die Geister von Sunder und Hollian zu beiden Seiten des ersten Opfers des Verächters Gestalt annahmen.
Vor den brennenden Wassern, der feurigen Wildheit des Übels und den mächtigen Stalaktiten waren die silbern leuchtenden Toten nur schemenhaft sichtbar: der Steinmeister und die Sonnenseherin. Inmitten der in der Höhle tobenden Mächte wirkten sie unvollständig, als fehlte ihnen die Kraft, sich ganz zu manifestieren. Trotzdem waren sie wie ihr Sohn voller Erdkraft. Obwohl sie kaum mehr als Silhouetten waren, widerstanden sie den Flammen, ertrugen das Donnern der Wassermassen. Sie betrachteten Anele kurz mit schmerzvollem Bedauern. Bevor er oder Covenant sprechen konnte, nickten sie sich zu, als wären sie sich über etwas einig geworden. Wir können hier nichts ausrichten. Covenant hörte sie in seinem Kopf. Vielleicht hörten alle sie. Wir taugen nur dazu, ihr Leid und ihren Zorn zu bezeugen. Trotzdem ist eure Notlage unverkennbar. Wir werden auf eine andere Art Hilfe dringen. Dann verschwanden sie so plötzlich, wie sie gekommen waren … »Wartet!, rief Covenant stimmlos. Das galt nicht Sunder und Hollian, sondern seinen Gefährten. Anele hielt Liand in verzweifelter Hast den Orkrest hin. Sobald Liand ihn wieder an sich genommen hatte, brach der Alte auf dem bebenden Fels zusammen. Im nächsten Augenblick barg Sturmvorbei Böen-Ende ihn wieder in ihren Armen. … und das Gespenst von Hoch-Lord Elena erschien direkt vor Ihr, die nicht genannt werden darf. Als Elena das Übel sah, begann sie zu kreischen wie jede Verdammte, die jemals verschlungen worden war. Wie vor Überraschung oder weil es sie erkannte, antwortete das Übel seinerseits mit Schreien. Elena war deutlicher sichtbar als Sunder oder Hollian: eine leuchtende Konzentration aus Schmerz, dem Schaden, den sie angerichtet hatte, und dem Zweck, für die Lord Foul sie gebraucht hatte. Das Heulen des Übels und ihr eigenes wurden miteinander höher, lauter. Es glich einem Feuersturm aus Schreien. Die Qualen der Verdammten zerrissen die Luft, marterten Covenants Gehör. Liand und die Ramen hielten sich die Ohren zu. Einige der Riesinnen zuckten zusammen. Aus den Augenwinkeln des Insequenten trat Blut aus.
Covenant verstand. Oh, er verstand recht gut … Sunder und Hollian hatten eine kluge Wahl getroffen. Elena hatte geliebt, war verraten worden und hatte gelitten. Und sie war Covenants Tochter, die seit Jahrtausenden unter Selbsthass litt: perfektes Futter für das Übel. Der perfekte Köder. Solche vollendeten Qualen konnte das Übel unmöglich ignorieren. Aber als Sie, die nicht genannt werden darf, den Rachen aufriss, flüchtete Elena ans Ende der Höhle. Covenants Tochter war eine Gesetzesbrecherin; aber sie war einst ein Hoch-Lord gewesen. Vor langer Zeit war sie dem Bösen zum Opfer gefallen - und von ihrem Vater befreit worden. Ihre Angst davor, verschlungen zu werden, wog schwerer als die Strafen, die sie sich selbst auferlegte. Als erinnerte sie sich daran, die Tochter ihres Vaters zu sein, versuchte sie jetzt verzweifelt zu fliehen. Das tobende Übel nahm sofort die Verfolgung auf; es streckte lange Arme aus Theurgie aus, um Elena in der Luft einzufangen. Irgendwie gelang es ihr jedoch, ihnen auszuweichen. Und während Sie, die nicht genannt werden darf, sie verfolgte, zwang Covenant sich dazu, sich abzuwenden. Mit geballten verstümmelten Fäusten und Zorn und Reue in seinem jagenden Herzen baute er sich vor Esmer auf. In dem Chaos aus Schreien knurrte er: »Du hast dich endlich für eine Seite entschieden, nehme ich an.« Sein letzter Schachzug. Esmer hatte Blut auf den Wangen. »Das habe ich nicht.« Seine Verzweiflung war so groß wie die Elenas. »Ich diene der Wildgoldträgerin, wie ich Kastenessen diene.« »Aber nicht sehr gut. Dies ist alles Verrat. Gewiss, du hast uns ein paar Dinge erzählt, die nützlich hätten sein können, wenn wir nicht so gut wie tot wären. Aber unter den jetzigen Umständen zählen sie kaum.« Verzweiflungsschreie gellten durch die Höhle. Laute Wehklagen ließen Stalaktiten von der Decke brechen; erzeugten Wellen auf der steigenden Flut. Die Schwertmainnir wichen zurück, um ihre Gefährten mit einem engen Kordon zu umgeben. Einige von ihnen beobachteten Elenas Flucht. Andere starrten Covenant an, als hätte er sie entsetzt. »Ich tue, was ich tun muss.« Wie Anele schien Esmer um Gnade zu
flehen. »Ihr könnt mich nicht retten. Früher habe ich von meinem Todeswunsch gesprochen. Aber dieser Weg steht euch nicht mehr offen.« »Ich weiß«, bestätigte Covenant. »Trotzdem gibt es noch einen Ausweg.« Elenas Schreie zerrissen ihm das Herz. »Eine Möglichkeit, beiden Seelen in deiner Brust zu dienen. Hilfe und Verrat zur gleichen Zeit.« Esmer schüttelte so heftig den Kopf, dass rote Tropfen sprühten. »Ich kann nicht begreifen, weshalb du nicht erlöst worden bist. Das ist Wahnsinn! Ich habe denen, die dir zu dienen wünschen, reichlich Gelegenheit gegeben. Das ist mein Dienst an der Weißgoldträgerin. Trotzdem werde ich abgewiesen.« Covenant hatte keine Ahnung, was Esmer damit meinte. Aber er hatte keine Zeit, dieser Frage nachzugehen. Erste Ausläufer von Macht hatten den toten Hoch-Lord bereits erfasst. Die Fratzen rissen ihre zahlreichen Münder auf, um Elenas Gespenst zu verschlingen. Linden hatte ihr das Geschenk verweigert, das Berek, Dame-Ion und Lorik Hoch-Lord Kevin gewährt hatten. Jetzt wurde sie geopfert… Covenant hatte keine Zeit. »Versuch nicht, das Thema zu wechseln«, knurrte er. »Sieh uns an, Esmer. Wir sind erledigt. Ist das deine Art, Linden zu dienen, ist sie nur lachhaft. Schaden kannst du ihr nicht mehr. Du kannst nur dafür sorgen, dass wir alle sterben. Kastenessen genügt das vermutlich. Aber du hast die Sache nicht ganz durchdacht. Du hast dir nicht überlegt, was passiert, wenn Sie, die nicht genannt werden darf, meinen Ring bekommt. Das ist dann nicht nur Verrat.« Covenant bemühte sich, gallenbittere Ängste hinunterzuschlucken, ehe er feststellte. »Das ist der Verrat schlechthin. Mit solcher Art Macht …« »Sie ist sich selbst genug«, widersprach Esmer. Seine Augen schwammen in Blut, das Rinnsale von Scham auf seinen Wangen bildete. »Sie macht sich nichts aus solchen Theurgien. Ihr werdet in der Tat verraten, aber nicht von mir.« Das Übel stieß plötzlich einen lauten Triumphschrei aus. Ein letztes Aufbäumen, dann schnappten mahlende Kiefer Elenas Stimme aus der Luft.
Elena! Covenant warf sich herum, aber Riesinnen nahmen ihm die Sicht. So sah er nicht, wie seine verlorene Tochter von den vielen Mündern von Ihr, die nicht genannt werden darf, verschlungen wurde. Er sah nur die turmhoch aufragende Wildheit des Übels, als es Elena verschlang … … die keine Vergebung gefunden hatte. Dies war seine Schuld, seine. Nicht von mir. Von wem also sonst? Covenant fiel außer ihm selbst niemand ein. Wer sonst hatte Linden und ihre Gefährten oder auch Elena so schlimm im Stich gelassen, dass man dieses Versagen Verrat nennen musste? Er drehte sich wieder grimmig nach Esmer um. Wütend und kummervoll knurrte er: »Ja, natürlich. Sie ist sich selbst genug. Das verstehe ich. Sie will meinen Ring, weil er ein Ehering ist. Weißgold ist ihr egal. Auch wilde Magie kann sie nicht unsterblicher machen. Aber der Ring wird alle ihre Opfer zu Ungeheuern machen.« Er war das Symbol und Werkzeug von allem, was sie je begehrt hatten; von allem, das ihnen geraubt worden war. »Dann werden sie endlos morden können. Sie werden nicht mal auf die Schlange warten müssen. Teufel, sie werden die Schlange gar nicht brauchen. Und sie fangen vermutlich mit Kastenessen an, nur weil er sie benutzt. Aber das ist noch längst nicht das Ende. Damit endet alles, und daran bist du schuld! Das kannst du nicht wollen. Nicht wenn du noch Cails Sohn bist.« Fast als wäre ihm das nachträglich eingefallen, fügte er hinzu: »Lässt du uns jetzt laufen, kannst du uns jederzeit wieder erwischen. Gefällt das Kastenessen nicht, kannst du ihm erklären, dass du ihm das Leben gerettet hast.« Münder und Zähne und Flammen rückten von Neuem gegen das Felsband vor. Esmers Kummer war so lebhaft wie die Gier des Ungeheuers. »Ich gedenke meines Vaters.« »Dann tu etwas, um das zu beweisen. Lass sie meinen Ring nicht bekommen.« Einen Augenblick lang schien Esmer zu zögern, mit sich selbst zu kämpfen. Stürme wühlten das Blut in seinen Augen auf. Winde und Kreischen zerzausten sein Haar, zerrten an seinem zerrissenen Umhang,
quälten sein verwundetes Fleisch. Völlig überraschend wurde die Gesellschaft von Hagelschlossen wie von Steinschlag bombardiert. Dann hüllte er sich in ein Nichts und verschwand. Der hämische Jubel des Übels war laut genug, um die Welt ertauben zu lassen. Hungrige Begierde und Zorn schwappten über das Felsband. Covenant hatte keine Zeit mehr, die Dämondim-Abkömmlinge flüchten, um ihr Leben rennen zu sehen, wobei sie Zauberformeln blafften, die sie unsichtbar machen sollten. Aber Esmer war fort. Als hätte er sein ganzes Leben lang auf diesen einen Augenblick gewartet, schlang der Eifrige seine Bänder um die Gesellschaft und entführte sie alle ins Dunkel.
Zweiter Teil
»Nur die Verdammten«
1 Die Leidenden
Thomas Covenant, der Linden an sich gedrückt hielt, lehnte sitzend an einem Felsblock, der halb im Sandboden einer flachen Senke vergraben war. Das Gelände um sie herum war überwiegend kahl, durch Dürre und uralten Missbrauch bar jeglicher Vegetation. Aber ein paar verkümmerte Bäume, verdreht wie Krüppel, hielten sich noch am Rand der Senke. Hier und da klammerten sich Grasbüschel mit schlanken, spitzen Halmen an feuchte Stellen. Er hoffte auf Aliantha, hatte aber bisher noch keine gesehen. Sein Kopf dröhnte noch vom Kreischen und Flammen und dem Tosen von Wassermassen; sein Herz war von Kummer schwer. Jedes Mal wenn er in Lindens schlaffes Gesicht blickte, sah er Elenas unverfälschtes Entsetzen, als sie von Ihr, die nicht genannt werden darf, verfolgt wurde. Er wusste nicht, wie er um seine Tochter trauern sollte. Im Osten ging über dem Rand der Senke die Sonne auf. Sobald sie höher stieg, würde er seinen Platz wechseln, in den Schatten des Felsblocks umziehen müssen. Aber sein sandiges Fleckchen würde noch eine Zeit lang im Schatten liegen. Also blieb er vorläufig, wo er war, und streichelte weiter sanft Lindens Haar. Es war schmutzig, von Schweiß und Fett und Staub klebrig. Sie hatte zu viel durchgemacht… und in ihrem jetzigen Zustand war sie außerstande, für sich selbst zu sorgen. Aber der Zustand ihres Haars bedeutete ihm nichts. Seine Hände waren zu gefühllos, um das zu spüren. Seit sie ihn ins Leben zurückgeholt, ihn mit Sterblichkeit verstümmelt und die Schlange des Weltendes geweckt hatte, war erst eine Nacht vergangen. Wie viel Zeit blieb noch, bis die Schlange mit ihrem Hunger hierhergelangte, um sich in den Tiefen des Melenkurion Himmelswehr an Erdblut zu laben? Drei Tage? Vier? Jedenfalls nicht genug. Wird ihr nicht Einhalt geboten, erhält sie Erdkraft. Hätte ihn jemand gefragt, wieso er hier saß und ihr Haar streichelte, obwohl seine Nerven abgestorben waren und er nicht wusste, ob sie seine Berührung spürte, hätte er vielleicht gesagt, er bete.
Sobald der Eifrige die Gesellschaft aus der Verlorenen Tiefe hierhergebracht hatte, hatte Covenant Linden von Stave übernommen. Weder der ehemalige Meister noch ein anderer von Lindens Freunden hatte Einspruch erhoben, als er sich so an den Felsen gelehnt hingesetzt hatte, dass sie zusammengerollt und bewusstlos an seiner Brust liegen konnte. Dann hatte er sich die Kette mit dem Ring über den Kopf gezogen und sie wieder Linden umgehängt. Die Gedemütigten drückten ihre Missbilligung darüber aus, aber er erklärte ihnen: »Ich wollte eigentlich nie so viel Macht. Als ich gestorben bin, ist es mir endlich gelungen, sie abzugeben.« Das hatte er schon vorher mehrmals versucht - immer erfolglos. »Ich will sie nicht wiederhaben. Nicht auf diese Weise.« Die meisten seiner Gefährten waren zu Tode erschöpft. Keiner widersprach ihm. Den Stab des Gesetzes legten sie in Lindens Nähe in den Sand, damit sie ihn erreichen konnte, wenn es Covenant gelang, sie ins Bewusstsein zurückzuholen. Dann stolperten sie davon, um irgendwo zu schlafen. Er wusste genau, wo sie waren. Natürlich wusste er das. Der Schock seiner Wiedererweckung hatte ihn nicht um so einfache Dinge wie seine Kenntnis der Geographie des Landes gebracht. Er brauchte nicht den Kopf zur Seite zu drehen und an dem Felsblock vorbeizusehen, um festzustellen, dass die zerklüftete Felsklippe des Landbruchs, keine halbe Meile von ihm entfernt, hoch in den Morgenhimmel aufragte. Statt die Gesellschaft nach Andelain zurückzubringen, hatte der Eifrige sie im Unterland zwischen dem Landbruch und dem von Wasserläufen durchzogenen unwirtlichen Sumpfland der Sarangrave-Senke abgesetzt. Die Ausläufer des Donnerbergs - und der dunkle Trichter des Unratflusses - lagen mindestens sechzig bis fünfundsechzig Meilen weiter nordwestlich. Aus dieser Entfernung war der Berg selbst nicht sichtbar. Covenant überlegte unbestimmt, ob die Wasser, die den Unratfluss, den Lebensverschlinger und den größten Teil der Sarangrave speisten, völlig abgeschnitten waren. Vermutlich gab es im Gravin Threndor unterhalb der tiefsten Höhlenseen weitere Quellen, aus denen Bäche in den verunreinigten Seelentrost flössen. Und der Große Sumpf und die Sarangrave-Senke würden ihr fauliges Lebensblut nicht so schnell ins
Meer der Sonnengeburt ergießen. Die Schlange des Weltendes würde den Melenkurion Himmelswehr längst erreicht haben, bevor das weite Reich des Lauerers auszutrocknen begann. Er wollte den Insequenten fragen, weshalb er die Gesellschaft hier abgesetzt hatte. Aber das hatte Zeit bis später. Der Eifrige hatte von seiner verliehenen Kraft verschwenderisch Gebrauch gemacht. Die Anstrengung, die nötig gewesen war, um alle außer den Dämondim-Abkömmlingen aus den Tiefen des Donnerbergs hierher zu versetzen, hatte ihn kreidebleich und zitternd zurückgelassen. Sobald er seine Schützlinge in dem ausgetrockneten Flussbett abgesetzt hatte, hatte er sich von Kopf bis Fuß in seine bunten Bänder gehüllt. Dann war er zusammengesackt, wo er stand. Covenant ließ ihn ruhen. Er konnte eigene Vermutungen über die Ortswahl des Insequenten anstellen. Kevins Schmutz hing nicht auch über dem Unterland. Kastenessen - oder der Wüterich Moksha - hatten keinen Grund gesehen, den Nebel so weit nach Osten ausgreifen zu lassen. Hier würden Linden, Liand und die Ramen ihre natürliche Wahrnehmungsgabe wiederfinden. Und der Stab würde wirkungsvoller sein. Außerdem hatte der Eifrige so dafür gesorgt, dass die gesamte Masse des Donnerbergs zwischen der Gesellschaft und den Skurj oder den Sandgorgonen lag. In Bezug auf die Sandgorgonen hatte Esmer gesagt: Sie haben bereits angefangen, den Salva Gildenbourne niederzulegen. Und er hatte Schlimmeres angekündigt. Aber von ihnen ging keine unmittelbare Gefahr aus; sie waren zu weit entfernt. Kastenessen konnte seine Skurj rascher schicken, aber selbst diese Ungeheuer würden einige Zeit brauchen, um solche Entfernungen unterirdisch zurückzulegen. Der Eifrige hatte Covenant und Linden und ihren Freunden eine dringend benötigte Ruhepause verschafft. Trotzdem konnten sie sich nicht gegen die Schlange des Weltendes verteidigen. Vielleicht gab es überhaupt keine Verteidigung gegen sie. Und das Problem, das Roger verkörperte, blieb ungelöst. Schon in diesem Augenblick sammelt er ein Heer von Höhlenschraten, die ihm helfen sollen … Erfuhr er, wohin der Eifrige Jeremiah gebracht hatte, konnte er vermutlich schneller angreifen als Kastenessen. Jedenfalls würde er alles tun, was in seiner beträchtlichen Macht stand, um sich
Jeremiah und den Croyel zurückzuholen. Die beiden waren sein Portal zur Unsterblichkeit. Trotzdem befasste Covenant sich jetzt nicht mit solchen Dingen. Obwohl er sich praktisch nur bewegte, um zu atmen, galt seine ganze Aufmerksamkeit Linden. Auf ihrem bedrückten Gesicht sah er Erinnerungen an Joan. Die kleinen Muskeln in den äußeren Augenwinkeln zuckten gelegentlich, als litte sie Schmerzen, denen sie nicht entrinnen konnte. Seinetwegen war Elena von Ihr, die nicht genannt werden darf, verschlungen worden. Erinnerungen an seine Exfrau schienen ihn mehr zu bedrücken als die letzte Krise der Erde. Ihr Versuch, seine Hände zu zerstören, zeigte deutlich, dass sie eine Gefahr war, der er sich würde stellen müssen. Dazu würde er Loriks Krill brauchen. Trat er Joan ohne eine wirkungsvolle Waffe entgegen, würde sie ihn in Flammen aufgehen lassen. Aber der Krill wurde auch hier gebraucht. Nur durch ihn war der Croyel zu beherrschen. Kam das Ungeheuer frei, würde es augenblicklich verschwinden, Jeremiah mitnehmen und dabei jeden ermorden, der es aufzuhalten versuchte. Um Covenant wiederzuerwecken, hatte Linden die Erde geopfert. Er weigerte sich, sie und ihren Sohn zu opfern, nur um sich von persönlicher Verantwortung zu befreien. Innerlich zerrissen streichelte Covenant ihr Haar und betete und wartete. Außer Clyme, Branl und Stave, die am Rand der Senke Wache hielten, und Galt, der es übernommen hatte, den Croyel zu zähmen, damit Raureif Kaltgischt ruhen konnte, war nur noch Mahrtür auf den Beinen. Zuvor hatte er die Seilträger ausgeschickt, um sie trotz ihrer Erschöpfung das Gelände erkunden und Wasser suchen zu lassen. Sie waren noch nicht zurück, und alle anderen hatten sich im Sand ausgestreckt, um etwas zu schlafen. Jetzt blickte Mahrtür nach Osten, als erhoffe er sich von den ersten Sonnenstrahlen auf seinem augenlosen Gesicht irgendeine geheimnisvolle Offenbarung. Zum Glück hatte Sturmvorbei Böen-Ende daran gedacht, ihren Brustpanzer abzulegen, damit er Anele als Bettstatt dienen konnte; durch den Steinpanzer geschützt schlief er wie die Riesinnen. Auch Liand schlief erschöpft. Sein langer Gebrauch des Orkrests so kurz nach seiner Heilung durch Linden hatte selbst seine jugendlichen Kräfte und sein
Durchhaltevermögen als Steinhausener überfordert. Stoisch wie eine Steinsäule aus braunem Marmor hielt Galt Loriks Krill an die Kehle des Croyel. Die Klinge verhinderte, dass die Zähne des Ungeheuers Jeremiahs Hals erreichen konnten; sie hinderte den Croyel daran, von seinem Blut zu trinken. Aber Covenant konnte nicht beurteilen, ob der Sukkubus schwächer wurde. Er sah nur, dass Jeremiah wie eine Stoffpuppe aussah: knochenlos schlaff. Der trübe, verschwommene Blick des Jungen war leer wie ein frisch ausgehobenes Grab. Von Jeremiahs Rücken aus musterte der Croyel die ohnmächtige Gestalt Lindens. Sein tückischer Blick zeigte nur allzu deutlich, dass er sich ihren Tod wünschte. Mahrtür sah in regelmäßigen Abständen zu Jeremiah und dem Croyel hinüber; beobachtete sie mit anderen Sinnen als seinem verlorenen Gesichtssinn. Dann blickte er wieder nach Osten, als wartete er auf eine Erscheinung. Aber als die Sonne seine Stirn beschien und den schmutzig gewordenen Augenverband erwärmte, zuckte er leicht mit den Schultern. Steif vor Enttäuschung wandte er sich Covenant und Linden zu. »Bei den Ramen gibt es eine alte Sage«, begann er abrupt, »die von Hile Troy handelt. Wie ihr wisst, stammte er nicht aus dem Land und war von Geburt an augenlos. Der Sage nach hat die Sonne des Landes ihm trotz seiner Blindheit wahres Sehvermögen geschenkt. Hier ist das Sonnenlicht nicht von Kevins Schmutz verunreinigt. Daher habe ich mich der Hoffnung hingegeben, ich könnte mein Augenlicht zurückbekommen.« Zum Entkommen der Gesellschaft aus der Verlorenen Tiefe und vor Ihr, die nicht genannt werden darf, hatte er nichts beitragen können. Seine Nutzlosigkeit erbitterte ihn offensichtlich. »Aber meine Hoffnung war eine Illusion. Außer dass wir den Ranyhyn dienen dürfen, erhalten wir Ramen keine Geschenke.« Covenant erwartete, dass er hinzufügen würde, selbst diesen Dienst werde er bei einer Rückkehr zu seinem Volk aufgeben müssen. Als Blinder würde er als unwürdig gelten, den großen Pferden zu dienen. Stattdessen wechselte der Mähnenhüter das Thema. »Die Seilträger werden bald zurückkehren und melden, wo sie Wasser gefunden haben. In der abgelaufenen Jahreszeit hat es hier reichlich
geregnet. Aus alten Sagen wissen wir, dass es in diesem Gebiet nur wenige Quellen gibt - und noch weniger, deren Wasser nicht giftig ist. Zwischen Landbruch und Sarangrave-Senke sind viele Schlachten geschlagen worden. Viele Verteidiger des Landes sind hier gefallen aye, und auch viele Diener Fangzahns. Ihr Blut und ihre Magie haben das Erdreich für Jahrtausende verseucht. Dieser Wasserlauf ist jedoch durch Regenfälle im Oberland entstanden. Fließt der Bach nicht hier, muss er in der Nähe zu finden sein. Wir werden unseren Durst löschen können, haben aber bisher keine Aliantha oder sonstige Nahrung.« Covenant nickte. Sein eigener Durst war durchaus spürbar, aber im Vergleich zu den Entbehrungen der Riesinnen und der Ramen, Liands und Aneles und natürlich Lindens sicherlich unbedeutend. Sie alle konnten nur schlafen, weil ihre Erschöpfung größer als ihr Durst war. Aber er verstand nicht, weshalb der Mähnenhüter ihm Dinge erzählte, die er bereits wusste. Indem er weiter zärtlich Lindens Haar streichelte, wartete er darauf, dass Mahrtür weitersprechen würde. Nach kurzer Pause nickte der Mähnenhüter nach Südosten. »Dort ist eine Zäsur unterwegs. Ich dachte, das Fehlen von Kevins Schmutz würde die Kraft solcher Übel verringern. Aber seine Ausstrahlung …« Mahrtür berührte sein Gesicht mit einer Hand. »… zeigt vielmehr, dass es an Kraft gewonnen hat.« Wahrscheinlich hatte er recht. Lange ehe Lord Foul seinen Ridjeck Thome erbaut und bezogen hatte, hatte über Teilen des Unterlands ein schlimmer Gifthauch gehangen. Aus den verseuchten Flüssen, die aus dem Donnerberg strömten, hatten sich bösartige Wesen erhoben. Der Lauerer der Sarangrave war in Ausdünstungen bitterer Theurgien zum Leben erwacht. Und die Wüteriche hatten inmitten der bösartigen Geister dieser Region Gestalt angenommen. Von dem Koloss am Wasserfall aufgehalten, hatten sie viele ihrer Schandtaten südöstlich des späteren Horts von Lord Foul verübt. Im Lauf der Zeit hatten sie so viel Schaden angerichtet, dass dieses Gebiet als Verwüstete Ebenen bekannt wurde. Covenant konnte gut glauben, dass Zäsuren im Unterland florierten, wo von alters her viel Unrecht passiert war. Vor allem südlich des Donnerbergs. »Kommt sie hierher?«, fragte er den Mähnenhüter.
Mahrtür schüttelte den Kopf. »Gegenwärtig zieht sie nach Norden, wo sie die Moraste und Sümpfe der Sarangrave-Ebene verwüstet.« »Dann mach dir ihretwegen keine Sorgen.« Covenant dachte kurz an die Verwüsteten Ebenen zurück, wie sie einst gewesen waren, bevor sie vergiftet worden waren. Dann rutschten die Trümmer seiner Erinnerungen wieder durcheinander und begruben diese Bilder unter sich. »Wir haben dringendere Probleme.« Seine Handbewegung bezeichnete Lindens Katatonie, aber er dachte dabei an Joan. Er wusste nicht mehr genau, wo der Wüterich Turiya sie versteckt hielt. Auch diese Erinnerung war leider verschüttet. Aber er konnte Vermutungen anstellen. Mahrtür wurde schroffer. »Ich habe weder die Notlage der Ring-Than noch die ihres Sohns vergessen«, stellte er nachdrücklich fest. »Was sie durchlitten hat, scheint ihren Elan gebrochen zu haben.« Das klang ätzend scharf. »Auch unsere eigene Gefahr will ich nicht gering schätzen. Ich habe weder Beistand noch Ratschläge anzubieten. Ich rede nur, um mich selbst sprechen zu hören und zu wissen, dass ich weiter unter den Lebenden bin.« Seine grimmigen Gesichtszüge zeigten, dass er lieber tot gewesen wäre. Covenant seufzte unhörbar. Um ihn herum gab es so viele Schmerzen, und er konnte keine davon heilen. »Du darfst Linden nicht unterschätzen«, sagte er barsch. »Diesen Fehler machen allzu viele.« Auch Sunder und Hollian, die es besser hätten wissen müssen. »Teufel, das tut jetzt sogar sie. Bisher hat sie sich immer erholt. Wir müssen ihr nur Zeit lassen, dann findet sie selbst wieder ihren Weg.« Falls seine gefühllose Berührung sie beruhigte oder tröstete, war ihr nichts davon anzumerken. Der Mähnenhüter trat einen Schritt näher. »Ich habe keine Angst um sie, Zeitenherr. Ich fürchte um dich.« Covenant wartete. Das überraschte ihn nicht; er fürchtete selbst um sich. Seine neue Sterblichkeit war mit zu vielen Mängeln behaftet. »Ich gestehe ein«, fuhr Mahrtür fort, »dass du mir ein Rätsel bist. Du übersteigst mein Begriffsvermögen. Schon aus diesem Grund gehört meine Lehenstreue mehr der Ring-Than als dir.« Covenant wollte etwas Zustimmendes sagen, aber Mahrtür gab ihm
keine Gelegenheit dazu. »Trotzdem habe ich wahrnehmen können, dass Sie, die nicht genannt werden darf, das Gespenst von Hoch-Lord Elena verschlungen hat.« »Ja.« »Sie ist deine Tochter.« Covenants Erinnerungen schmerzten wie alte Wunden. Sein Kummer drängte ihn zu lautem Wehklagen. Aber er behielt ihn für sich. »Die Tat, die sie ins Verderben gestürzt hat, war deine. Erzähl mir nicht, dass du dir nur Aneles Vernunft und seinen Dienst sichern wolltest. Das will ich gar nicht hören. Ich gestehe dir zu, dass du nicht vorhersehen konntest, was geschehen würde.« Der Mähnenhüter betonte jedes Wort so sorgfältig, als müsste er sich beherrschen, um nicht zu schreien. »Trotzdem war es deine Tat.« Covenant erwiderte seinen Blick, so ruhig er nur konnte. »Ja.« Fast anklagend verkündete Mahrtür: »›Gutes lässt sich nicht mit schlimmen Mitteln erreichem, lehren die Wegwahrer. Ich werfe dir nicht vor, dass du den Krill aus Andelain mitgenommen hast. So hast du die Entführung des Sohns der Ring-Than ermöglicht. Auch bezweifle ich deine Tapferkeit nicht. Deine Hände sind Beweis genug, dass du nicht davor zurückschreckst, den Preis für deine Entscheidungen zu zahlen. Aber über Jahrtausende hinweg - vom Augenblick ihrer Zeugung bis zu ihrem letzten Sturz unter dem Gravin Threndor - hast du deiner Tochter nichts als Unglück gebracht. Deiner Tochter, Zeitenherr. Deshalb fürchte ich dich.« Weil er selbst litt, wandte Covenant ein: »Aber wir leben noch …« Der Mähnenhüter unterbrach ihn. »Durch schlimme Mittel. Oder willst du die Opferung deiner Tochter als gut bezeichnen? Die Ring-Than würde das nicht tun. Und sie würde ihren Sohn unter keinen Umständen opfern.« »Nein, das täte sie nicht«, bestätigte Covenant. »Ich übrigens auch nicht. Schließlich lebt er noch. Aber«, beteuerte er, »ich habe nicht gewusst, was geschehen würde.« Das musste er deutlich feststellen. Er schleppte ohnehin schon mehr, als er eigentlich tragen konnte. »Sunder und Hollian haben Elena ausgewählt. Ich hatte nichts damit zu tun. Und ich bin noch nicht fertig.« »Nicht fertig?« Mahrtür blaffte ein humorloses Lachen. »Willst du es um
Hoch-Lord Elenas willen noch einmal mit Ihr, die nicht genannt werfen darf, aufnehmen?« »Das wird sich zeigen«, knurrte Covenant. Lindens Gewicht auf seiner Brust war eine Anklage, die er nicht zurückweisen konnte. Ihre schmutzige Flanellbluse, durchlöchert und zerrissen, hatte so viel mitgemacht wie sein altes T-Shirt und seine Jeans. »Ich habe mehr Schaden angerichtet, als ich ertragen kann. So ist es schon immer gewesen. Aber wir leben noch. Das bedeutet, dass wir weiter eine Chance haben.« Ruhiger schloss er: »Dass ich weiter eine Chance habe.« Branl sprang plötzlich von dem Wall, der die Senke umgab, und näherte sich Covenant und Mahrtür. »Davon wollen wir nichts mehr hören, Mähnenhüter«, sagte er schneidend scharf. Eine Drohung… die Loyalität der Gedemütigten saß tief. »Du bist ungerecht - dem Zweifler wie den Toten gegenüber.« Mahrtiirs Augenverband unterstrich seine finstere Miene. »Wieso das?« Er schien Streit zu suchen. Sein Gefühl, unnütz zu sein, brauchte irgendein Ventil. »Dass Hoch-Lord Elenas schmachvolle Zeugung sie einen hohen Preis gekostet hat«, antwortete Branl, »lässt sich nicht leugnen. Trotzdem kann der Ur-Lord nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was sie aus ihrem Leben gemacht hat. Die Folgen ihrer Taten lassen sich weder mit den Umständen ihrer Geburt noch mit ihrer Abstammung entschuldigen. Sie hat sich dafür entschieden, Kevin Landschmeißer von seinem rechtmäßigen Platz unter den Toten zu sich zu rufen. Das hat der Ur-Lord nie getan. Ihre spätere Versklavung durch den Verderber war keine Entscheidung und kein Wunsch des Zweiflers, sondern eine Folge ihrer eigenen Torheit. Dass ihr Geist niemals dem Verderber gedient hat, war ein Geschenk des Ur-Lords an sie. Mit Unterstützung von Kräften, die ein Forsthüter vom Koloss am Wasserfall heraufbeschworen hat, hat er ihre Verzauberung beendet, als sie sich nicht selbst von dem Bann befreien konnte.« Sein physisches Leben hatte Covenant nicht vergessen. Er wusste noch, dass er Elena befreit hatte, indem er den ursprünglichen Stab des Gesetzes vernichtet hatte. Hätte er das nicht getan, hätte sie ihn umgebracht. Aber diese Verzweiflungstat hatte wiederum Lord Fouls Rückkehr zur Macht und die Schrecken des Sonnenübels erleichtert.
Offenbar ließ Schlimmes sich mit guten - oder zumindest notwendigen Mitteln erreichen. Die Kiefer des Mähnenhüters mahlten, als kaute er mögliche Antworten durch. Aber ehe er sich für eine entschied, erklärte Covenant Branl: »Nein, Mahrtür hat recht. Elena hat keine weiteren Qualen verdient. Wir alle treffen Entscheidungen, und keiner von uns kann vorhersagen, was daraus entstehen wird. Aber mit den Folgen müssen wir trotzdem leben. Ich habe nicht gewusst, was geschehen würde, als ich Anele gebeten habe, mit den Toten zu sprechen. Aber das mindert meine Verantwortung dafür nicht im Geringsten.« »Und haben die Toten sich nicht auch entschieden?«, warf Branl ein. »Hat nicht auch Elena Gesetzesbrecherin eine Entscheidung getroffen?« Covenant nickte. »Ja, das hat sie getan. Und sie hat dafür gebüßt. Sie büßt noch jetzt dafür. Aber das ändert nichts an dem, was ich getan habe. Ich habe um Hilfe gebeten. Meine Mitschuld ist nicht dadurch erledigt, dass ich mir die Hilfe, die ich bekommen habe, nicht selbst ausgesucht habe.« Während Covenant sprach, sackte Mahrtür sichtbar zusammen. Sein Ärger wich bedrückter Niedergeschlagenheit. Er schwieg, während Branl nach einer Schwachstelle in Covenants Argumentation suchte. Als er jedoch keine fand, sagte der Mähnenhüter unsicher: »Zeitenherr, ich erflehe deine Verzeihung. Ich habe meine Antwort bekommen. Das Urteil dieser Haruchai, die sich selbst verstümmelt haben, beeinflusst mich nicht. Aber ich erkenne jetzt, dass mein Zorn sich gegen den Falschen gerichtet hat. In Wahrheit habe ich keinen Grund, dir irgendetwas vorzuwerfen. Das habe ich nur getan, weil die Verlorene Tiefe mich meiner selbst beraubt hat. Ich habe erfahren müssen, dass ich ein Nichts bin, das weder der Ring-Than noch den Ranyhyn dienen kann. Dieses Wissen ist bitter für mich. Ich ertrage es nicht mit Anstand.« Ich weiß, dachte Covenant bedrückt. Mahrtiirs Schmerz war nur eine der vielen Qualen, gegen die Covenant kein Gegenmittel hatte. Branl musterte den Erblindeten, zog fragend eine Augenbraue hoch. Im nächsten Moment sagte er: »Das verstehen wir nicht. Wie kann ein bloßer Ort einen Mähnenhüter der Ramen herabsetzen? Du bist, wer oder was du bist, durch den Verlust gewöhnlichen Augenlichts an Stärke,
Voraussicht und Tapferkeit ungeschmälert. Noch haben undurchdringlicher Fels oder uralte Zauberbanne dich herabsetzen können. Etwas anderes zu denken, heißt nur, den Einflüsterungen der Verderbnis zu erliegen.« Mit einer Bewegung, die zu rasch ablief, als dass Covenant ihr hätte folgen können, hielt Mahrtür seine Garotte in den Händen. »Machst du mir Vorwürfe, Schlafloser? Findest du, dass mein Bild von mir selbst dieser Gesellschaft oder der Ring-Than oder dem Land schadet?« Covenant, der eine zustimmende Antwort Branls erwartete, stöhnte innerlich. Aber der Gedemütigte antwortete ausdruckslos: »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe es auch nicht gemeint. Du bist ein Mähnenhüter der Ramen. Wegen ihrer Treue zu den Ranyhyn steht ihr bei den Haruchai seit der Zeit der Bluthüter in hohem Ansehen. Auch wenn du auf unsere Meisterschaft herabsiehst, kannst du nicht an meinem Wort zweifeln. Sollte irgendeine Anschuldigung zwischen uns stehen, kommt sie aus deinem Inneren, nicht aus irgendeinem Urteil der Gedemütigten oder der Meister.« Trotz seiner gefühllosen Hände streichelte Covenant weiter Lindens Haar. »Er sagt die Wahrheit, Mahrtür. Das weißt du. Er ist ein Haruchai. Er lügt niemals. Ich verstehe, wie es ist, sich nutzlos zu fühlen. Aber damals war ich schwächer als du jetzt. Bei meiner ersten Ankunft im Land habe ich mich an die Idee geklammert, ich sei hilflos. Ich habe darauf gebaut. Ich wollte die Last, die dazugehört, dass man imstande ist, für etwas einzustehen, nicht schultern. Ich habe lange gebraucht, um das Bedürfnis, mich schwach zu fühlen, endlich zu überwinden.« Er hatte gelernt, dass nur die Verdammten erlöst werden können. »Natürlich«, gab er zu, »hatte ich Hilfe. Sehr viel Hilfe.« Atiaran, Mhoram. Bannor. Salzherz Schaumfolger. Triock. Sogar Lena, die er vergewaltigt und verlassen hatte. »Aber die hast du auch. Und du hast noch einen weiten Weg vor dir.« Das hatte Covenant schon einmal gesagt, aber er wusste nicht mehr, weshalb. »Du musst erst wieder zurückkommen.« Mahrtiirs Kiefermuskeln verkrampften sich. Die Halssehnen traten deutlich hervor. Als führte er einen Schlag oder bereitete sich darauf vor,
einen einzustecken, sagte er krächzend: »Meister, ich sehe mich gezwungen, auch deine Verzeihung zu erflehen. Liegt Freude in den Ohren, die hören, wie die Riesen sagen, nicht in dem Mund, der spricht, dann müssen auch Tadel und Reue in den Ohren liegen, die hören. Indem ich die Meister für ihr Urteil gescholten habe, habe ich mir angemaßt, über sie zu urteilen. Das war mein Fehler.« Branl betrachtete den Mähnenhüter prüfend. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, als er Mahrtiirs Entschuldigung mit einer leichten Verbeugung annahm. Mahrtür wandte sich erneut an Covenant. »Erhalte ich Gelegenheit, deinen Rat zu befolgen, Zeitenherr, werde ich es tun.« Dann wandte er sich ab, als hoffte er, seine Selbstvorwürfe tarnen zu können, indem er ihnen den Rücken zukehrte. Der Haruchai reagierte mit einem Schulterzucken, bevor er wieder seinen Platz zwischen Clyme und Stave einnahm, die am Rand der Senke Wache hielten. Covenant studierte einige Augenblicke lang Mahrtiirs angespannte Haltung. Der Mähnenhüter tat ihm leid; Teufel, alle taten ihm leid. Vielleicht, dachte er säuerlich, ist es nur gut, dass ich mich an vieles nicht mehr erinnern kann. Vielleicht war das entscheidend. Hätte er sich daran erinnern können, worüber er auf der Hochebene über Schwelgenstein mit Mahrtür gesprochen hatte - oder mit Liand oder Bahni und Bhapa -, hätte er der Versuchung, sein Handeln zu erklären, vielleicht nicht widerstehen können. Für Mahrtür wäre es bestimmt ein Trost gewesen, dass er noch eine wichtige Rolle zu spielen hatte. Aber dieses Wissen würde seine Entscheidungen, sein weiteres Handeln beeinflussen. Direkt oder indirekt würde es sich auf die ganze Gesellschaft auswirken. Und Covenant wäre für diese Änderung verantwortlich. Linden und ihre Freunde würden sich von Erkenntnissen leiten lassen, die sie nicht durch eigene Anstrengung gewonnen hatten. Letzten Endes wären sie nicht mehr wirklich frei gewesen. Aber davor wurde Covenant durch die ihm auferlegte Sterblichkeit bewahrt - im Guten wie im Bösen. Er lief nicht mehr Gefahr, zu viel zu sagen … Höllenfeuer, murmelte er im Stillen vor sich hin. Kein Wunder dass nur Leute wie Roger und Kreaturen wie der Croyel Götter werden wollten.
Die zu diesem Status gehörende Machtlosigkeit hätte einen Basaltbrocken geängstigt. Für jemanden, dem Glück und Wohlergehen oder auch nur das Überleben anderer am Herzen lag, war absolute Macht ebenso schlimm wie Machtlosigkeit. Der Schöpfer konnte nur Welten erschaffen oder zerstören; er konnte nicht über sie herrschen, sie fördern, ihnen beistehen. Er war einfach zu stark, um sich innerhalb der Beschränkungen der Zeit zu verwirklichen. So betrachtet war Vergessen Covenants einzige wirkliche Hoffnung. Auch wenn er sich dringend erinnern wollte, brauchte er diese spezifische Form der Unwissenheit; brauchte sie unbedingt. Nichts weniger konnte ihn daran hindern, die Notwendigkeit von Freiheit zu missachten. Allmählich stieg die Sonne über den Rand der Senke. Ihre Strahlen erreichten Covenants Gesicht: eine Berührung, die in diesem ausgetrockneten Landstrich zu einem Fluch werden konnte. Weiter im Schatten schliefen die Riesinnen auf dem Boden der Senke auf Sand, Steinen und spärlichem Gras. Auch Liand und Anele schliefen. Galt, dessen Hand auf Jeremiahs Schulter lag, hielt dem Croyel den Krill an die Kehle. Der Junge stand da, als wäre er zu blöde, um Durst oder Müdigkeit zu spüren. Die Lippen des Croyel bewegten sich, als gierten sie nach Jeremiahs Hals oder formten wortlose Beschwörungen. Auf dem Wall über der restlichen Gesellschaft standen Stave, Branl und Clyme unbeweglich stumm wie Statuen. Covenant veränderte seine Haltung etwas, damit die Sonne ihm nicht in die Augen schien. Bald würde er Linden in den Schatten des Felsblocks bringen müssen. Aber Schatten war kein Wasser. Er würde sie nicht lange schützen können. Wenn sie endlich wieder zu Bewusstsein kam, würde sie sich heftige Vorwürfe wegen ihrer vorübergehenden Abwesenheit machen. Sie würde glauben, ihren Sohn und ihre Freunde und das Land im Stich gelassen zu haben. Aber Covenant wusste es besser. Wie Jeremiah nach seiner Verstümmelung durch Feuer und den Verächter einen Weg gefunden hatte, um zu überleben, nachdem jede andere Form des Weiterlebens unerträglich geworden war. Und Covenant erfasste intuitiv eine Wahrheit, die Linden vielleicht nicht erkennen würde, obwohl sie sie schon früher am eigenen Leib erfahren
hatte. Wenn sie einem Schmetterling gleich aus ihrem Kokon schlüpfte, würde sie andere Stärken zeigen, als sie bisher besessen hatte. Sie würde eine andere Frau sein - und vielleicht nicht einmal selbst wissen, was sie geworden war. Ich habe keine Angst um sie, Zeitenherr. Auch in diesem Punkt stimmte Covenant mit dem Mähnenhüter überein. Indem er sich eine Hand schützend über die Augen hielt, suchte er auf Lindens Gesicht ein Anzeichen dafür, dass sie vielleicht bald aufwachen würde. Linden war aschfahl und sichtlich erschöpft, fast blutleer. Die zarten Linien ihres Gesichts wirkten ausgezehrt. Die Muskeln ihrer Mundwinkel zuckten immer wieder vor Schmerzen, die er mit seiner gewöhnlichen Wahrnehmung nicht verstand. Er ahnte, dass sich ihre Augen unter den Lidern hastig bewegten, als zuckte sie vor Albträumen zurück. Manchmal verkrampften sich ihre Finger, als versuchte sie, ihren Stab zu ergreifen. Ihre Lippen bildeten Worte oder Klagelaute wie Bitten, auf die er keine Antwort wusste. Je länger sie bewusstlos blieb, desto mehr würde die Erfahrung, sich in ihren Träumen zu verstecken, sie letztlich verändern. Die Sonne erwärmte seine Wange. Als er blinzelte, fühlten seine Augen sich entzündet an. Sie waren von den Erschütterungen und den mit Mineralstoffen versetzten Wasserschleiern unter dem Gravin Threndor gerötet. Austrocknung ließ ihn verschwommen sehen. Es wurde Zeit, dass er sich einen Platz im Schatten suchte. Dann beschloss er, noch etwas länger auf Bhapa und Pahni zu warten. Linden lastete wie ein Mühlstein auf seiner Brust; ihm widerstrebte es jedoch, sie zu verlagern. Fast ohne zu merken, dass er eine Entscheidung getroffen hatte, begann er zu sprechen. Er senkte den Kopf, murmelte sanft ihren Namen. Beinahe flüsternd versuchte er Worte zu finden, die sie erreichen würden. »Ich liebe dich, Linden«, sagte er fast seufzend. »Weißt du das? Vielleicht fällt es dir schwer, dir das vorzustellen, weil so viel Zeit vergangen ist. Aber es ist wahr. Ich habe dreieinhalb Jahrtausende damit verbracht, mich daran zu erinnern, wie viel du mir bedeutest - und mir zu wünschen, ich hätte es besser verstanden, dir das zu sagen. Deshalb habe ich versucht, dich zu warnen und dir zu raten, als ich
meine verdammte Klappe hätte halten sollen. Ich wusste nur nicht, wie ich dir sonst hätte sagen sollen, dass ich dich liebe. Solltest du Fehler gemacht haben - was ich nicht glaube -, darfst du dir deswegen keine Vorwürfe machen. Du hast sie nur gemacht, weil ich dich nicht in Ruhe lassen konnte.« Stave, Clyme und Branl standen mit dem Rücken zu ihm auf dem niedrigen Wall, der ihr Lager umgab, hatten den Landbruch vor sich oder sahen in die Weiten der Sarangrave-Senke hinaus. Vielleicht wollten sie dem großen Covenant die Illusion vermitteln, ungestört zu sein. Mit seiner Hand auf Jeremiahs Schulter drehte Galt den Jungen und den Croyel weg, damit Covenant nicht durch Jeremiahs Leere und die Bösartigkeit des Ungeheuers abgelenkt wurde. Die Gedemütigten und der ehemalige Meister verstanden offenbar, was Covenant zu bewirken versuchte. »Linden«, fuhr er fort. »Ich glaube, dass du mich hören kannst.« Er sprach leise, um den Kummer und das Bedauern in seiner Stimme zu tarnen. »Das glaube ich, weil du jetzt wie Jeremiah bist - und er kann mich hören. Der Croyel hört dir nicht als Einziger zu. Aber das ist noch nicht alles. Ich glaube, dass Jeremiah dich immer gehört hat. Nichts, was du jemals zu ihm gesagt hast, ist ungehört verhallt. Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht glaube, dass er Lord Foul dient. Er hat dir immer zugehört. Du hast ihm ein Leben geschenkt, das nicht nur aus Schmerz bestand. Dir verdankt er jahrelange Liebe und Fürsorge. Du hast ihm gezeigt, dass er nicht allein ist, obwohl er dir nicht sagen konnte, dass er dich hört. Gewiss, Lord Foul hat ihn als Erster erreicht. Der Verächter hat ihm sein feuriges Mal aufgedrückt. Aber Jeremiah ist wie wir alle: Er besteht aus mehr als aus der Summe seiner Wunden. Eine verletzte Hand macht ihn noch nicht zu jemandes Eigentum. Und danach hast du ihn für dich beansprucht. Du hast ihn auf die einzige Weise gewonnen, die zählt indem du ihn beharrlich geliebt hast. Was Lord Foul ihm seither angetan hat, ist zu spät gekommen. Davon bin ich überzeugt. Eines Tages wirst auch du davon überzeugt sein. Du hast ihn den Unterschied zwischen Liebe und Bosheit gelehrt.« Einige der Riesinnen schliefen unruhig, als schlügen sie im Traum alte Schlachten oder flüchteten in den Tiefen des Donnerbergs bis zur
völligen Erschöpfung. Raureif Kaltgischt schnaubte mit geschlossenem Mund leise vor Auflehnung oder Verzweiflung. Zirrus Gutwind umklammerte ihren Armstumpf, bis ihre Fingerknöchel weiß wurden und die Sehnen ihrer Hand hervortraten. Trotzdem schien keine der Schwertmainnir kurz davor zu sein, wieder aufzuwachen. »Und seit damals…« Covenant versuchte, kräftiger zu sprechen, aber das konnte er nicht. Seine Kehle war zu trocken, und Wehklagen erfüllten sein Herz. »Höllenfeuer, Linden. Als ich dir geraten habe, etwas Unerwartetes zu tun, konnte ich nicht ahnen, dass du mich so oft überraschen würdest.« Er wollte nicht, dass sie seinen Kummer hörte. Sie würde sich dafür verantwortlich fühlen. »Die vermeintlich unmöglichen Dinge, die du geschafft hast, ergeben eine ganze Liste. Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, was du in Wirklichkeit getan hast, wie schwierig alles war oder wie viele unterschiedliche Mächte versucht haben, dich daran zu hindern. Beginnen könnte ich mit der Flucht aus Steinhausen Mithil und vor den Kresch, um die Ramen zu finden, oder damit, dass du auf der Suche nach deinem Stab eine Zäsur riskiert hast, oder mit dem genialen Trick, die Dämondim mitzunehmen, als du aus der Vergangenheit entkommen bist.« Eigentlich hätte er mit dem erstaunlichen Gebrauch von wilder Magie beginnen sollen, mit dem sie Anele und sich selbst beim Einsturz des Kevinsblicks gerettet hatte; aber er wusste nicht mehr, dass sie dieses Kunststück vollbracht hatte. »Aber du wirst dir das alles nicht zuschreiben lassen. Du wirst sagen, dass du es nicht allein geschafft hast, dass du Hilfe hattest, dass du es nicht allein hättest schaffen können. Darin will ich dir nicht widersprechen. Natürlich hattest du Hilfe. Wir alle hatten Hilfe. Das schmälert deine Erfolge nicht.« Die höher steigende Sonne hatte ihr Gesicht erreicht. Lindens Kopf lag so auf seiner Brust, dass die Sonnenstrahlen ihre geröteten Augen trafen, auch wenn die Lider zusammengekniffen waren. Um ihr etwas Erleichterung zu verschaffen, beschattete Covenant ihre Augen mit einer gewölbten Hand. »Aber denk mal darüber nach, Linden. Jeremiah ist jetzt nur bei uns, weil du das Gebilde zerstört hast, in dem er versteckt war. Dabei hat dir niemand geholfen. Niemand außer dir hätte Liand wieder auf die Beine
bringen können. Und dass ich noch Hände habe, die ich gebrauchen kann, verdanke ich nur deiner Heilkunst. Allein dafür bin ich dir so dankbar, dass ich nicht weiß, wie ich es ausdrücken soll.« Solange Leben in seinem Körper war, hing alles davon ab, ob er fähig war, Dinge zu ergreifen und festzuhalten. An den erwärmten Felsen des Landbruchs erzeugten Aufwinde allmählich eine leichte Brise. Sie machte die Sonnenwärme erträglich, konnte seinen Durst aber nicht lindern. Seine Stimme war zu einem angestrengten Krächzen geworden. Seine brennende Zunge schien geschwollen zu sein, und er hatte das Gefühl, beim Schlucken Sand in der Kehle zu haben. »Aber damit hast du dich noch längst nicht begnügt. Dir verdanken wir, dass wir Sie, die nicht genannt werden darf, überlebt haben.« Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Stave sich umgedreht hatte, um ihn zu beobachten. Auch die Gedemütigten taten nicht mehr so, als hörten sie nicht zu. Sie wollten wissen, was er meinte. Er dachte an die gequälte und verzweifelte Elena. Sie war seine durch Vergewaltigung gezeugte Tochter gewesen, und er hatte sie nicht daran gehindert, Erdblut zu trinken, obwohl er sie verdächtigte, wirre oder gefährliche Absichten zu hegen. Nun war ihr Schmerz von den größeren, wilderen Qualen des Übels absorbiert worden … … weil Linden ihr das Mitgefühl verweigert hatte, das Kevin Landschmeißer von seinen Vorfahren zuteilgeworden war. Covenant wollte Linden versichern, sie habe richtig gehandelt. … etwas Unerwartetes tun. Etwas, das niemand hätte erwarten können. Tatsächlich hatte sie Salz in Elenas Wunden gerieben. Linden hatte dafür gesorgt, dass Elenas Qualen so frisch und nackt waren, dass Sie, deren Name nicht genannt werden darf, sie unmöglich hatte ignorieren können. Er wollte sagen, manchmal lasse sich Gutes mit grausamen Mitteln erreichen. Aber das konnte er nicht. Die Worte schmerzten zu sehr. Sie hätten Linden nicht geholfen, sich selbst zu verzeihen. Und sie trugen keineswegs dazu bei, seine eigene Reue zu mindern. Dennoch hielt er sie für wichtig. Die Aussage, Gutes lasse sich nicht mit schlimmen Mitteln erreichen, setzte eine Definition von »schlimm«
voraus, die Lindens spezielle Verzweiflung außer Acht ließ. Aber er sprach nicht von Elena. Er wollte nicht, dass die Haruchai ihn hörten. Sie würden über Linden und ihn urteilen, wie sie über sich selbst urteilten. Stattdessen murmelte er mit versagender Stimme: »Du hast uns öfter gerettet, als ich zählen kann. Ohne dich wäre keiner von uns mehr am Leben.« Damit war er fertig. Er hatte nichts mehr zu sagen und kaum mehr Kraft. Sie würde aufwachen oder auch nicht. Die Entscheidung lag ganz bei ihr. Als er den Kopf hob, sah er Stave nicken, ehe er wieder wachsam den Horizont absuchte. Vielleicht war der ehemalige Meister befriedigt. Oder vielleicht erkannte er nur an, dass Covenant sich bemüht hatte. Später bat Covenant Stave, ihm dabei zu helfen, Linden in den weitergewanderten Schatten des Felsblocks zu verlagern. Er war zu schwach, um sie allein zu bewegen. Aber während Stave ihm half, bemerkte der Haruchai, dass die Seilträger des Mähnenhüters zurückkehrten. »Sie wirken gestärkt. Ich vermute, dass sie Wasser gefunden haben.« Covenant wusste nicht, wie lange er noch würde durchhalten können. Wie seine Sorge um Linden war auch der Durst eine Art Fieber geworden, das ihm das Gehirn verdorren ließ. Vor sich hinmurmelnd wich er so weit wie möglich in den Schatten des Felsblocks zurück, während Stave Linden hochhob. Dann nahm er sie wieder in den Arm, sodass ihr Kopf auf seiner Brust ruhte. Mit verschleiertem Blick sah er die jetzt von ihrem Mähnenhüter begleiteten Seilträger näher kommen. Pahni und Bhapa schienen sehr lange fort gewesen zu sein. Sie mussten weit marschiert sein. Er konnte sich nicht vorstellen, woher er oder der Eifrige oder selbst die Riesinnen die Kraft nehmen sollten, es ihnen gleichzutun. Während Covenant sich einzureden versuchte, überhaupt gehen zu können, sagte Clyme barsch: »Stave!« Stave, der die Kränkung, laut herumkommandiert zu werden, mit einem knappen Schulterzucken abtat, kehrte auf den Wall um die Senke zurück. Gleichzeitig sprangen Clyme und Branl herunter, um die Ramen zu begrüßen. Sobald die Seilträger ihren Wasserfund meldete, sagte Clyme: »Wenn es sich irgendwie machen lässt, müssen der Gesellschaft weitere Anstrengungen erspart bleiben. Wir werden versuchen, Wasser
herzuschaffen.« »Wir haben keine Gefäße«, stellte Mahrtür fest. »Und wir haben nirgends Aliantha gesehen«, fügte Bhapa hinzu. Clyme ignorierte den Seilträger. »Wir finden irgendeine Möglichkeit«, erklärte er Mahrtür. Mit einer Hand deutete er auf Anele, der zusammengerollt in Böen-Endes Brustpanzer schlief. »Wegen ihrer Form sind die Rüstungen der Riesinnen gut geeignet. Dazu brauchen wir nur eine der Schwertmainnir zu wecken.« »Die sind aus Stein«, wandte der Mähnenhüter ein. »Allein ihr Gewicht…« Branl schnitt ihm das Wort ab. »Das verlangen wir nicht von dir, Mähnenhüter. Diese Last tragen wir ohne eure Hilfe. Stave hält inzwischen allein Wache.« Mahrtür zögerte einen Augenblick, als traute er das nicht einmal den übermenschlich starken Haruchai zu. Dann nickte er. »Seilträger Bhapa und ich begleiten euch. Sobald Seilträgerin Pahni die Eisenhand geweckt hat, steht sie gemeinsam mit Stave Wache.« Pahni gehorchte sofort. Nach einem sorgenvollen Blick zu Liand hinüber kniete sie neben Raureif Kaltgischt nieder. Aus dem kleinen Beutel an ihrem Gürtel holte sie eine Prise Amanibhavam. Sie zerrieb die getrockneten Blätter zwischen den Fingern und hielt sie dann Kaltgischt unter die Nase. Covenant hatte einmal Amanibhavam - ein für Menschen giftiges Heilkraut für Pferde - gegessen: eine Verrücktheit, die ihm jedoch vermutlich das Leben gerettet hatte. Kaltgischt schnaubte wegen des Geruchs und drehte den Kopf zur Seite. Im nächsten Moment hob sie den Kopf und blinzelte den trüben Film aus Durst und Erschöpfung weg. Pahni wandte sich zufrieden ab und stieg zu Stave hinauf. »Eisenhand«, sagte Clyme, »wir brauchen deine Rüstung, um darin Wasser zu transportieren.« Kaltgischt glotzte ihn verständnislos an. Sie schien Mühe zu haben, das Gesagte zu begreifen. Dann brachte sie ein Nicken zustande. Mit ungelenken Fingern löste sie die seitlichen Verschlüsse ihres Brustpanzers. Danach wälzte sie sich zur Seite, sodass Brust- und Rückenplatte liegen blieben.
Von dem schweren Stein befreit rappelte sie sich schwankend auf und beobachtete, wie Clyme und Branl sich nach den Hälften ihrer Rüstung bückten, um sie aufzuheben. Als sie sah, dass die beiden ihrer Aufgabe gewachsen waren, zog sie ein Steinfläschchen aus einem Schlitz in ihrem Brustpanzer und leerte seinen restlichen Inhalt: ein paar Tropfen Diamondraught. Dann steckte sie das Fläschchen in ihren Gürtel und stolperte zu Frostherz Graubrand hinüber. Ohne zu versuchen, ihre Gefährtin zu wecken, kniete sie neben ihr nieder und fing an, die Verschlüsse von Graubrands Rüstung zu lösen. Stück für Stück gelang es ihr, Graubrand langsam zur Seite zu wälzen. Graubrand öffnete die Augen und sah blinzelnd zu Kaltgischt auf. Sie runzelte die Stirn, während sie versuchte, mit der Zungenspitze ihre Lippen zu befeuchten. »Eisenhand«, krächzte sie schmerzhaft. »Was …?« »Schlaf weiter, wenn du musst«, antwortete Kaltgischt heiser vor Durst. »Steh auf, wenn du kannst, und hilf mir. Wir müssen in unseren Brustpanzern Wasser holen.« Graubrand schüttelte benommen den Kopf. »Ob ich kann?«, krächzte sie. »Nenne ich mich nicht selbst die Stärkste aller Schwertmainnir? Bist du imstande, Wasser zu tragen, kann ich wenigstens ebenso viel tun.« Riesen-Flüche murmelnd, um sich selbst anzuspornen, rappelte Frostherz Graubrand sich auf. Als sie das Gleichgewicht zurückgewonnen hatte, zog sie ebenfalls ihr Fläschchen heraus und kippte sich die letzten Tropfen Diamondraught in den Mund. Covenant sah ihre starken Muskeln zittern, als Kaltgischt und Graubrand die beiden Teile von Graubrands Rüstung aufhoben, und erinnerte sich unwillkürlich an andere Szenen. Vor seinem inneren Auge erschienen Bilder: Salzherz Schaumfolger, der ihn durch die unerträgliche Magma des Glutaschenkamms trug; Grimme Blankehans, der sich anstrengte, den Wüterich Sheol davon abzuhalten, aus seinem Körper zu fliehen. Seine Erinnerungen reichten zu weit zurück. Lindens Erschöpfung an seiner Brust war nur eine von vielen Lasten, die um seine Aufmerksamkeit wetteiferten. »Halt durch«, murmelte er und meinte damit sich genauso wie sie. »Es dauert nicht mehr lange. Bald bekommen wir Wasser.« Graubrand und der Eisenhand gelang es irgendwie, trotz ihrer schweren
Last auf den Beinen zu bleiben. Obwohl sie schwächer als Branl und Clyme wirkten, schafften sie es gemeinsam, Graubrands Brustpanzer zu tragen. »Also los!«, forderte Kaltgischt den Mähnenhüter keuchend auf. »Bevor uns unser letztes bisschen Kraft verlässt.« Mahrtür wandte sich rasch Covenant zu. Seine knappe Verbeugung, bevor er sich abwandte, war ein Versprechen. Von Bhapa geleitet führte er Clyme und Branl, Kaltgischt und Graubrand aus der Senke hinaus. Die beiden Schwertmainnir schwankten gefährlich, aber sie hielten sich aufrecht. Unbezähmbar blieben sie auf den Beinen und marschierten weiter. Covenant fühlte sich, als hätte er sie im Stich gelassen - obwohl er nicht hätte sagen können, wodurch. Sein Gefühl der Enttäuschung von sich selbst schien keinen bestimmten Namen zu haben. Jedenfalls hatte er Linden im Stich gelassen. Eine Zeit lang vergaß er, ihr Haar zu streicheln. Seine Schultern sackten herab, sodass seine verstümmelten Hände im Sand ruhten. Wie seine Erinnerungen drohte ihre Steifheit, ihn in das von Rissen durchzogene Labyrinth der Vergangenheit zu ziehen. Aber dann murmelte er einen Fluch und zwang sich dazu, die Arme wieder zu heben. Das Gefühl, Linden zu berühren, blieb ihm verweigert. Nur die wiederholte Sanftheit seiner Liebkosungen konnte ihn ein wenig trösten. Aber ihm war bewusst, wie tief er sie durch sein Schweigen in Anwesenheit der Toten und seine wiederholten Absenzen verletzt hatte. Er wusste, dass er sie auch in Zukunft bestimmt noch öfter verletzen würde. Und er wusste, was er Elena angetan hatte. Er versuchte nicht, Trost für sich selbst zu finden. Andere waren trostbedürftiger als er. Die Zeit konnte er nicht messen. Er war noch nicht wieder an einen gewöhnlichen 24-Stunden-Rhythmus gewöhnt - oder er war zu ausgetrocknet, um ihn spüren zu können. Die Sonne wanderte weiter; der Schatten des Felsblocks wurde kleiner. Der Landbruch schien zu schrumpfen, als das Licht sich veränderte. Aber solche Dinge sagten ihm nicht, wie lange Mahrtür und die anderen schon fort waren - oder wann sie zurückkommen würden.
Es war noch Frühling; das wusste er bestimmt. Trotzdem lastete die Sonnenhitze auf ihm, bis er vergaß, dass er vor wenigen Stunden nass bis auf die Haut gewesen war. Linden schien ständig schwerer zu werden. Der Tag würde heiß, allzu heiß werden … Je mehr der Landbruch im Dunst verschwamm, desto mehr sah Covenant ihn als Barriere. Furcht einflößend … unüberwindbar. Sein Anblick ließ ihn fürchten, er werde das Oberland nie wiedersehen. Seine Sehnsucht, vor dem Weltuntergang noch einmal durch Andelain zu ziehen, war ein neuer Schmerz, unvorhergesehen und unheilbar. Er besaß kein Mittel gegen irgendeinen Kummer. Als Galt nachdrücklich sagte: »Ur-Lord, die anderen kehren zurück. Sie bringen Wasser«, brauchte er einen Augenblick, um zu begreifen, was er gesagt hatte. Ein Blick den ausgetrockneten Fluss entlang zeigte Covenant sechs Gestalten, vier davon klein. Die in der Hitze flimmernde Luft verzerrte ihre Umrisse und ließ sie schwanken. Aber sie wurden stabiler, als sie näher kamen. Bei ihrer bedächtigen Annäherung wurden sie allmählich konkreter, bis er zuletzt glauben konnte, sie seien real. Clyme, Branl und zwei Riesinnen. Mahrtür und Bhapa. Covenant beugte sich gespannt nach vorn, aber auch davon wachte Linden nicht auf. Die Schwertmainnir waren offenbar wieder zu Kräften gekommen, als sie reichlich hatten trinken können. Ihre Bewegungen waren gleichmäßig, sie spiegelten ihre hartnäckige Vitalität wider. Die beiden Haruchai trugen ihre vollen Wassergefäße fast so mühelos wie sie. Die Hälften der Brustpanzer waren so groß, dass sie viel Wasser enthielten. Plötzlich sagte der Croyel: »Das wird euch nichts nützen.« Jeremiahs Stimme klang verächtlich scharf. »Diese Geschichte ist noch längst nicht vorbei. Der Eifrige hat euch keinen Gefallen getan. Trinkt, so viel ihr wollt. Gratuliert euch dazu, dass ihr noch lebt. Das macht keinen Unterschied. Der fette Insequente ist nicht so clever, wie er glaubt.« Auf Lindens Stirn erschienen Falten. Dass der Croyel mit der Stimme ihres Sohnes sprach, schien sie zu beunruhigen. Die Muskeln der äußeren Augenwinkel zuckten heftiger. Aber trotzdem wachte sie nicht auf.
»Schweig, Bestie«, verlangte Galt. »Glaubst du, dass es mir Gewissensbisse bereitet, dir deinen hässlichen Kopf abzuschneiden? Dieser Junge, den du quälst, hat für mich keinen Wert. Und Linden Avery kann in ihrem jetzigen Zustand nicht für ihn bitten. Mich würde es nicht stören, die Ursache deines Todes zu sein.« Covenant fragte sich, ob der Meister seine Drohung wahr machen würde. Zum Glück ließ der Croyel es nicht darauf ankommen. Als die sechs die Ruhenden erreichten, sagte Mähnenhüter Mahrtür, als gäbe seine Blindheit ihm das Recht, Befehle zu erteilen: »Der Insequente soll als Erster trinken. Wir brauchen dringend seine magischen Kräfte.« Auch er wirkte stärker, weil er offenbar seinen Durst gelöscht hatte. Aber er konnte sein Gefühl der Nutzlosigkeit - und seinen Abscheu darüber - nicht ganz verbergen. »Ist noch Diamondraught da, muss es die Ring-Than bekommen. Auch sie braucht Wasser, aber in ihrem jetzigen Zustand würde sie nicht viel trinken. Vielleicht kann die stärkere Wirkung von Diamondraught sie wachrütteln.« »Aye«, bestätigte die Eisenhand. Obwohl sie wieder erholt wirkte, schwang die körperliche Anstrengung in ihrer Stimme mit. Sie setzte ihre Hälfte von Graubrands Brustpanzer umständlich sorgfältig ab. Dann ging sie zu Spätgeborener hinüber, die im Schatten liegend schnarchte: ein heiserer Laut tief in ihrer Kehle, erschöpft und unregelmäßig. Kaltgischt öffnete ihren Brustpanzer und zog das Steinfläschchen heraus. Sie brauchte es jedoch nur kurz zu schütteln, um festzustellen, dass es leer war. Kaltgischt ließ es verärgert fallen und ging weiter, um ihr Glück bei Onyx Steinmangold zu versuchen. Gleichzeitig trug Graubrand ihr Gefäß zu dem Eifrigen hinüber; Clyme stellte seines neben Spätgeborener ab, und Branl kam zu Covenant. Nur die Behutsamkeit, mit der er Kaltgischts Brustplatte in den Sand stellte, ließ erkennen, dass der Stein und das Wasser selbst für ihn schwer waren. Bhapa hatte das Flussbett bereits verlassen, um sich zu Pahni zu gesellen. Jetzt kam Stave herunter und blieb vor Covenant stehen. »Du musst trinken, Zeitenherr.« Er streckte die Arme aus. »Ich halte inzwischen die Auserwählte.« Obwohl Covenant durch seinen Durst und den Wunsch nach Wasser abgelenkt war, glaubte er, aus dem Tonfall des früheren Meisters eine
gewisse Besorgnis herauszuhören. Aber Covenant bewegte sich nicht. Vergebliche Mühen und stumme Reue verstopften seine Kehle. Er konnte kaum sprechen. »Zuerst Linden. Ich kann nicht … Nach allem, was sie durchgemacht hat.« Er hatte sie aufgefordert, ihn zu finden. Was hatte er anschließend von ihr erwartet? Dass sie sein Schweigen passiv hinnehmen würde? »Ur-Lord«, begann Branl, dann verstummte er, als die Eisenhand mit Steinmangolds Fläschchen auf sie zukam. »Hier ist Diamondraught«, sagte Kaltgischt. »Nur ein paar Tropfen, fürchte ich. Aber es wird für Riesen destilliert, und Linden Riesenfreundin ist ein Mensch. Vielleicht genügen einige Tropfen.« Von Durst benommen starrte Covenant die Riesin an. Einen Augenblick lang verstand er nicht, wieso sie auf ihn zu warten schien; wieso auch Branl und Stave warteten. Dann merkte er, dass Lindens Wange an seiner Schulter lag. So konnte sie nicht trinken. »Du hast recht«, erklärte er Stave krächzend. »Nimm sie mir lieber ab.« Stave bückte sich sofort nach Linden. Mit leichtem Stirnrunzeln über seiner leeren Augenhöhle hob er sie mit beiden Armen so hoch, dass ihr Kopf mit leicht geöffnetem Mund nach hinten fiel. Covenant empfand ihre Abwesenheit von seiner Brust wie einen Trauerfall. Statt sich abzuwenden und aus Branls Becken zu trinken, sah er zu, wie Kaltgischt ein halbes Dutzend bernsteingelber Tropfen aus Steinmangolds Fläschchen in Lindens Mund träufelte. Linden schien automatisch zu schlucken. Aber eine Wirkung des starken Getränks ließ sich nicht erkennen. »Ich kann nicht in sie reinsehen«, knurrte Covenant. Er war ein Leprakranker; er besaß keinen Gesundheitssinn. »Was ist los? Hilft das Zeug?« Die Eisenhand runzelte unwillig die Stirn. »In Linden Riesenfreundin kann niemand hineinsehen. Auch nicht in dich, Zeitenherr, oder in ihren Sohn. Diamondraught ist ein potentes Stärkungsmittel. Ich vertraue darauf, dass es sie kräftigen wird. Aber ich sehe keine Anzeichen für ein baldiges Erwachen.« Branl und Stave nickten zustimmend. Kaltgischt hob das Fläschchen hoch und fügte hinzu: »Bestimmt ist Wasser ein zusätzlicher Segen.«
Covenant glaubte, etwas Zustimmendes gemurmelt zu haben, aber er war sich nicht ganz sicher. Ihm gingen zu viele Erinnerungen durch den Kopf. Vor langer Zeit hatte Atiaran ihm erklärt: Du bleibst mir verschlossen …Ich sehe dich nicht. Andere hatten es ähnlich ausgedrückt. Ich weiß nicht einmal, ob du gesund oder krank bist. Natürlich krank, hatte er mit einer Verbitterung geantwortet, die Lenas Mutter nicht verdient hatte. Ich habe Lepra. Daraufhin hatte sie aus einem alten Lied zitiert: Ein Paradox ist, wer da wandelt, Mit dem Weißgold der Magie, Alles ist er, doch ein Nichts, Held und Tor, Voll Macht und hilflos. Kann das Land verheeren oder retten Mit einem Wort aus seinem Mund, Sei es trügerisch oder wahr. Verwüsten oder retten wird er das Land, Der wirr ist am Geist und doch gesund, Kalt und doch voll Leidenschaft, Verloren und zugleich gefunden. Zweifellos fühlte er sich wirr am Geist und doch gesund. Und zunehmend verwirrt. Er hatte seinen Ring hergegeben, würde ihn nicht zurückfordern. Auf diese oder andere Weise formte ihn seine Lepra. Er verlor den Kontakt zur Wirklichkeit… Aber dann packte Branl ihn an den Schultern. Der Gedemütigte zog ihn auf den Knien rutschend unaufhaltsam zu Kaltgischts Brustplatte hinüber. Durst und Wasser verankerten Covenant wieder in der Gegenwart. Er tauchte das ganze Gesicht ein und trank, solange er die Luft anhalten konnte. Als er wieder den Kopf hob, sodass ihm Wasser vom Gesicht aufs Hemd tropfte und in der Brise kühlend wirkte, fühlte er sich wie getauft; wie auf irgendeine unbeschreibliche Weise erneuert. Mund und Kehle waren frisch ausgespült. Kein Kummer, kein Schmerz und keine
Verantwortung waren von ihm genommen worden. Aber er konnte sie wieder ertragen. Und er war nicht allein. Als er sich mühsam aufrappelte, sah er, dass alle Riesinnen auf den Beinen waren. Sie tranken nur sparsam, denn für Frauen ihrer Größe war der Wasservorrat der Gesellschaft klein. Aber sie bekamen genug, um ihre Schwäche zu überwinden. Wer noch etwas Diamondraught besaß, trank es jetzt, so wenig es auch war. Die anderen ließen zu, dass Frostherz Graubrand ihnen Arme und Schultern massierte, um sie aufzumuntern. Auch Liand wachte auf und trank, bis sein verschwommener Blick wieder klar wurde. Dann kam er unbeholfen auf die Beine, betrachtete Linden und überzeugte sich davon, dass sie körperlich unversehrt war. Er sah kurz zu, wie Kaltgischt ihr aus einer Steinflasche Wasser einflößte. Seine offene Miene zeigte all seine Befürchtungen deutlich. Im nächsten Augenblick schüttelte Liand sich jedoch und wandte sich ab. Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen winkte er Pahni aufmunternd zu. Als sie sein Winken erwiderte, überzeugte er sich noch davon, dass der Sonnenstein wieder in dem Beutel an seinem Gürtel steckte. Dann hielt er Ausschau nach einem Weg auf den Wall, um sich zu der jungen Seilträgerin zu gesellen. Als Sturmvorbei Böen-Ende Anele anstieß, warnte Covenant sie: »Lass ihn auf dem Brustpanzer. Ich weiß nicht genug über ihn.« Er hatte zu viel vergessen. »Dieser Sand … er war früher mal Stein. Vielleicht ist er sicher. Oder vielleicht zeigt er Kastenessen, wo wir sind.« Jedenfalls war Kastenessen nicht der einzige Unhold, der den Alten bemerken oder Besitz von ihm ergreifen konnte, wenn er auf festgebackenem Sand stand. »Ganz recht, Zeitenherr«, stimmte Böen-Ende zu. »Nachdem ich ihn unter solchen Mühen so weit getragen habe, ist mir unser Anele ans Herz gewachsen. Unter seinem Wahn verbirgt sich Tapferkeit. Ich bete darum, dass der Tag kommen wird, an dem man das auch von Langzorn sagen können wird.« Dann hielt sie Anele mit einer Hand fest und schleifte ihren Brustpanzer durchs Flussbett zu dem nächsten Wassergefäß. Zum Glück versuchte er nicht, sich loszureißen, obwohl er sichtlich nach Wasser gierte. In ihrem geschwächten Zustand hätte sie ihn vielleicht nicht bändigen können.
Aber er schien damit zufrieden zu sein, sich in seiner Wiege sitzend von ihr ziehen zu lassen. Der Eifrige hatte als Erster sein Gesicht in einen Wasserbehälter gesteckt, aber er gehörte zu den Letzten, die sich aufrappelten. Eine Zeit lang stand er nur da, entfaltete versuchsweise seine Bänder und inspizierte sein beschädigtes Gewand. Seine fleischigen Wangen waren schlaff, und schlimmere Mängel als nur Durst trübten seinen Blick. Irgendwann raffte er sich jedoch zu einer Art Entschlossenheit auf. Auf seinen krummen Beinen kam er mühsam auf Covenant und Linden, Kaltgischt, Stave und Branl zugewankt. Einige seiner Bänder lagen wie erschöpft im Sand, als er tief Luft holte und zu einer großen Rede ansetzte. »Ein jämmerliches Ende meines früheren Stolzes«, begann er. »Zweifellos sollte ich erklären, dankbar zu sein. Solange die Erde besteht, kann kein anderer Insequenter behaupten, Taten wie ich verrichtet oder die Wunder erblickt zu haben, die ich gesehen habe. In Wahrheit bin ich jedoch beschämt. Aye, beschämt und traurig dazu. Meine Ängste und Unzulänglichkeiten haben einen hohen Preis gefordert. Jetzt, wo mein Ende bevorsteht, ergibt die Bilanz meines Lebens nur, dass ihr und eure Gefährten weitere Gefahren ohne meine Unterstützung werdet bestehen müssen. An sich ist das eine feine Leistung. Oh, gewiss, fein und passend. Ich muss eure Verzeihung erflehen, dass ich darüber nicht froh bin.« Covenant starrte ihn an. Du hast uns alle gerettet, wollte er sagen. Wie viel mehr verlangt dein Volk von dir. Aber der Eifrige ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Hier trennen sich unsere Wege, Zeitenherr, obwohl es noch einen Dienst gibt, den ich dir erweisen zu können hoffe, falls die Insequenten zustimmen, mein Leben zu verlängern. Habe ich mich etwas gesammelt, werde ich euch verlassen, aber darum beten, zurückkehren zu dürfen wenn auch nur für kurze Zeit.« Jäh besorgt protestierte Covenant: »Augenblick! Du musst bleiben! Wir haben noch viel zu besprechen.« Innerlich zuckte er zusammen, wenn jemand ihn Zeitenherr nannte. Er hatte zu viele Titel. Sie glichen Prophezeiungen, die er nicht erfüllen konnte. Aber der Eifrige hatte eben gesagt: Jetzt, wo mein Ende bevorsteht …
Was zum Teufel ging hier vor? Was hatte Covenant nicht mitbekommen? Er improvisierte, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und fragte: »Du willst uns verlassen? Jetzt?« Während Linden bewusstlos da lag, vielleicht für immer verwundbar blieb? »Obwohl wir noch nicht mal angefangen haben, nach Mitteln zu suchen, die Schlange aufzuhalten?« Linden hatte nur einen kleinen Teil des Wassers getrunken, das Kaltgischt ihr einzuflößen versucht hatte. Unter den Lidern tanzten ihre Augen albtraumhaft weiter. »Hast du dein Geas wirklich schon erfüllt? Hat dein Volk nie mehr gewollt? Dem Egger Skrupel einflößen und dafür sorgen, dass er seine Versprechen hält? Ist das alles, was dich interessiert?« Der Eifrige winkte unbehaglich ab. »Zeitenherr, nein. Aber da du kein Insequenter bist, kannst du nicht wissen, dass die verschiedenen orakelhaften Visionen meines Volkes bedeutungslos gemacht worden sind. In einem Punkt stimmen alle, die das Wissen besitzen, um wahrsagen zu können, jedoch überein. Alle haben vorausgesagt, dass das Schicksal der Lady in Wasser geschrieben ist. Als sie und die Urbösen die Höhle im Gravin Threndor überflutet haben, sind deshalb alle Prophezeiungen weggeschwemmt worden.« Während Covenant und Kaltgischt ihn forschend betrachteten, erläuterte der Eifrige: »Mit diesmal vereinten Kräften haben die Insequenten viele Eventualitäten vorhergesehen, aber der Tod des Eggers gehörte nicht dazu. Auch die Tat der Lady nicht. Sein Tod hat einen Preis, der dich nicht zu kümmern braucht. Ihre Tapferkeit ist etwas anderes. Indem sie Wasserfluten ausgelöst hat, hat sie den Kurs aller heuristischen Bemühungen geändert. Beides - der Tod des Eggers wie die Überspanntheit der Lady - hat dazu geführt, dass ich an deiner oder ihrer Seite keinen Zweck mehr erfülle. Durch meine Schwäche als Bevollmächtigter der Insequenten habe ich gegen eine Grundvoraussetzung unserer Existenz verstoßen. Jetzt ist das Schicksal aller Dinge unentzifferbar geworden. Die Insequenten engagieren sich nicht, wenn alle Straßen ins Ungewisse führen und sie kein Wissen besitzen, das sie anleiten kann.« »Wie das?« Covenant machte ein verwirrtes finsteres Gesicht. Die Sonne schien plötzlich heißer geworden zu sein. Auf seiner Stirn standen
Schweißperlen, als spannte er jeden Muskel seines Körpers an. »Das verstehe ich nicht. Du behauptest, Lindens letzte Tat habe alles verändert? Wie ist das möglich?« Der Eifrige hob schmutzige Bänder zu einem Schulterzucken. »Das weiß ich nicht. Die Insequenten wissen es nicht. Wir wissen nur, dass eine tiefe Ungewissheit, die wir nicht interpretieren können, bewirkt worden ist. Ihr segelt in unerforschten Meeren, Zeitenherr. In dieser letzten Krise der Erde kann ich nicht länger an eurer Seite stehen.« »Stein und Meer!«, blaffte die Eisenhand. »Du sprichst in Rätseln, Insequenter. Du spottest über unser Unverständnis. Glaubst du, dass wir uns mit Spreu zufriedengeben, wenn die letzte Krise der Erde, wie du sie nennst, wahres Wissen erfordert?« »Riesin«, antwortete der Eifrige mild, »ich erwarte weder Zustimmung noch Missbilligung. Mit allem Respekt - mit größter Hochachtung vor allem, was ihr getan habt - verlange ich nur, als ehrlich anerkannt zu werden. Ich biete kein wahres Wissen an, weil ich keines besitze. Die Prophezeiungen der Insequenten sind über den Haufen geworfen worden. Deshalb müssen die Ratschläge eurer eigenen Herzen genügen, euren zukünftigen Kurs festzulegen.« »So wird zuletzt auch der Insequente weise«, behauptete Branl. Covenant und Kaltgischt erklärte er: »Wir haben seine Anwesenheit von Anfang an missbilligt. Wir werden sein Verschwinden nicht bedauern.« Covenant unterdrückte den impulsiven Drang, den Gedemütigten zurechtzuweisen. Die Verdienste des Eifrigen um ihre Gruppe waren über jeden Tadel erhaben. Aber für den Zweifler waren noch viele Fragen offen. Er begann zu vermuten … Er trat etwas näher an den Eifrigen heran. »Trotzdem verlange ich Auskunft«, knurrte er. »Wieso hier? Warum hast du uns nicht ins Oberland gebracht? Dort sind die meisten unserer Feinde. Welchen Zweck hat es, uns hierherzubringen?« »Aye«, stimmte Raureif Kaltgischt zu. »Dieses Gebiet kennen wir nicht. In den Geschichten der Riesen der Suche kommt es nicht vor. Wir können seine Gefahren nicht abschätzen. Es verdunkelt unseren Zweck.« »Die Gedemütigten kennen das Unterland«, stellte Branl nüchtern fest. »Wir werden seine Gefahren einschätzen.« Seine Haltung forderte Kaltgischt auf, ihm zu widersprechen.
Stave nickte zustimmend. Der Eifrige ging nicht auf diese Unterbrechung ein. »Ah, Zeitenherr.« Einen Augenblick lang mischte sich Bedauern in seine Müdigkeit. »Willst du, dass ich eingestehe, dass ich dich wie den Egger im Stich gelassen habe? In gewissem Ausmaß ist das leider wahr. Ich hatte den Wunsch, euch einige Meilen weiter abzusetzen.« »Wieso hier?«, wiederholte Covenant drängend. »Leider«, fuhr der Insequente fort, »war ich zu schwach, um meine Absicht zu verwirklichen. Außerdem war die Magie des Croyel gegen mich und hat meine Bemühungen behindert.« Indem er einige Bänder ausrollte, deutete er auf ihre Umgebung. »Trotzdem besitzt auch dieses Gebiet Vorteile, die du bestimmt erkennen wirst. Erstens bleibt euch jegliche Beeinträchtigung durch Kevins Schmutz erspart. Für dich, Zeitenherr, bedeutet das wenig. Trotzdem ist ungetrübte Wahrnehmung für deine Gefährten sehr wichtig. Zweitens habe ich euch eine - wenn auch nur kurze - Ruhepause verschafft, während der ihr sicher seid. Im Oberland, aber auch im Gravin Threndor, haben eure Feinde ihre Macht im Norden und Westen konzentriert. Hier können sie nicht gleich über euch herfallen. Sie müssen erst den Donnerberg passieren und über drei Dutzend Meilen zurücklegen. Du bist tollkühn, Zeitenherr, aber auch klug. In eurer jetzigen Notlage wirst du eine Erholungspause nicht gering schätzen.« Damit hatte der Eifrige recht, das wusste Covenant. Aber das Fehlen von Kevins Schmutz wurde durch schwieriges Gelände wettgemacht, durch knappe Wasservorräte und das völlige Fehlen von Nahrung. Waren seine Gefährten gezwungen, am Rand der Sarangrave-Senke auf Nahrungssuche zu gehen … Lindens Zustand und seine Unfähigkeit, sie ins Bewusstsein zurückzuholen, machten Covenant reizbar. Er bemühte sich, seine Stimme zu glätten. »Du wolltest uns noch weiter transportieren. Dafür musst du einen Grund gehabt haben. Wenigstens den müsstest du uns erklären können. Was hätten wir gewonnen, wenn du Erfolg gehabt hättest?« Der Eifrige seufzte kummervoll. »Diese Frage musst du selbst beantworten, Zeitenherr. Habe ich nicht gesagt, dass ich dich nicht anleiten kann? Wie die Toten im teuren Andelain schweigen - wie du
selbst geschwiegen hast -, muss auch ich jetzt schweigen.« Bevor Covenant Einwände erheben konnte, fügte der Insequente hinzu: »Ich möchte jedoch anmerken, dass Zäsuren in großer Zahl über die Verwüsteten Ebenen ziehen. Manchmal beeinflussen sie Horrim Carabal, den ihr als Lauerer der Sarangrave kennt. Dann drohen im Marschland und den Sümpfen der Sarangrave-Senke Gefahren, wie sie das Unterland noch nie erlebt hat.« Covenant stöhnte innerlich; aber er war nicht überrascht. Der Eifrige sprach von Dingen, an die er sich hätte erinnern können sollen. Vielleicht versuchte er indirekt sogar, Covenants Erinnerungen anzustoßen. Du brauchst den Ring, hatte Covenant Linden an der Grenze des Wanderns erklärt. Er nährt die Zäsuren. Gab es im Unterland Zäsuren »in großer Zahl«, konnte es dafür mehr als eine Erklärung geben. »Dieser Lauerer kommt auch in unseren Sagen vor«, sagte die Eisenhand grimmig. »Die Riesen der Suche haben seine Macht kennengelernt. Sprich von ihm, Insequenter, wenn du sonst nichts preisgeben willst. Bedroht der Lauerer uns gegenwärtig? Ist das Ungeheuer imstande, seine vielen Arme über diese Wüste hinweg auszustrecken?« Der Eifrige sah Covenant an, als wartete er auf seine Erlaubnis, Kaltgischt antworten zu dürfen. Als Covenant jedoch schwieg, wandte der Jünger der Mahdoubt sich an die Eisenhand. »Ganz entschieden nicht. Horrim Carabal ist ein Geschöpf des Wassers und der Sümpfe, der bitteren Ausflüsse der Übel im Gravin Threndor. Sein Revier ist weitläufig; trotzdem wird es durch das Vorkommen belebender Gifte eingegrenzt. Der Lauerer kann jeden Tümpel, jeden Wasserlauf der Sarangrave-Senke bewohnen. Trotzdem ist seine Macht zwischen den Stromschnellen und Untiefen des Lebenverschiingers am größten, und er scheint keine Theurgie zu besitzen, die über die Grenzen seines Reviers hinausreicht.« Falls Kaltgischt diese Antwort als beruhigend empfand, so ließ ihre Miene nichts davon erkennen. Trotzdem dankte sie ihm mit einer ernsten Verbeugung. »Zweifle nie an unserer Dankbarkeit, Insequenter. Dass wir dir bisher kaum für deine Mühe gedankt haben, liegt nur daran, dass wir erschöpft sind - und auch ängstlich, seit wir nun wissen, dass unser Schicksal in Wasser geschrieben steht. Erhalten wir jemals Gelegenheit,
nach Riesenart alles ausführlich zu erzählen, wird unser Bericht zeigen, wie es in unseren Herzen aussieht. Vorerst nenne ich dich in freundschaftlicher Verehrung ›Steinbruder‹. Solange wir leben, wird kein Jota von deiner Tapferkeit und deinen Verdiensten vergessen werden.« Der Eifrige verbeugte sich, wobei er sein Gewand ausbreitete, und verbarg dabei das Gesicht. Seine Haltung ließ darauf schließen, dass er dicht davor war, in Tränen auszubrechen. Linden brauchte den Krill, um den Croyel in Schach zu halten. Ohne Loriks Dolch war Covenant hilflos. Covenant schüttelte grimmig das Chaos seiner Erinnerungen ab. Sie waren zu verworren, um nützlich zu sein. »Hol es der Teufel«, sagte er zu dem Eifrigen, als hätte er keinen Grund, wie Kaltgischt dankbar zu sein. »Nehmen wir mal an, ich verstünde, was hier vorgeht. Eure Prophezeiungen müssen für irgendwas gut sein. Sonst wären wir nicht mehr am Leben. Aber wir stehen vor einem dringenderen Problem. Kannst du Linden helfen? Kannst du sie erreichen? Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht. Vielleicht befindet sie sich auf dem Weg der Besserung. Oder vielleicht glaubt sie, versagt zu haben, und quält sich deswegen …« Bei diesem Gedanken brach ihm kurz die Stimme. »Je länger sie in diesem Zustand verharrt, desto schlimmer ist alles, wenn sie aufwacht, fürchte ich.« Wenn sie überhaupt wieder aufwachte. »Kannst du ihr helfen, zurückzufinden?« »Auch diese Antwort«, seufzte der Insequente, »musst du in deinem Inneren finden.« Seine Stimme klang vor Erschöpfung oder Kummer schwach. »Der Zustand der Lady übersteigt mein Wissen. Ich kann dir weder raten noch ihr helfen.« Er zögerte, dann fügte er widerstrebend hinzu: »Ich merke nur, dass ihr Todeswunsch weiter besteht. Oder ist es der ihres Sohns? Erfordert seine oder ihre Notlage den Tod anderer? Die Dinge sind unbestimmbar geworden. Jede kleine Strömung verändert sie. Ich kann keine deiner Befürchtungen lindern. Verlasse ich euch nicht, Zeitenherr, kann ich nicht zurückkehren.« Der Eifrige machte bewusst einen Schritt rückwärts, um Proteste und Einmischungsversuche abzuwehren. Covenant folgte ihm jedoch. »Halt! Wir sind noch nicht fertig.«
Vor langem hatte Linden ihm von ihren Eltern erzählt: Er wusste bereits genug über ihren Todeswunsch. Trotzdem hatte der Eifrige zu viele Andeutungen in der Luft hängen lassen. »Zeitenherr?« Die Augen des Insequenten glitzerten in seinem geröteten Gesicht. »Nichts ist so einfach, wie du es hinstellst«, knurrte Covenant. »Für dich steht etwas, über das du nicht reden willst, auf dem Spiel. Du hast selbst gesagt, dein Ende stehe bevor … du hast weit mehr für uns getan, als wir hätten erhoffen dürfen, aber hier spielt sich auch etwas ab, das nur dich betrifft. Irgendetwas, das mit dem Egger zusammenhängt.« Sein Tod hat einen Preis, der euch nicht zu kümmern braucht. »Ich will wissen, worum es sich handelt. Bist du irgendwie selbst verdammt, haben wir ein Recht darauf, zu erfahren, wie viel die gewährte Hilfe dich kostet, findest du nicht auch?« Der Eifrige wand sich verlegen. »Du fragst sehr private Dinge, Zeitenherr. Aber die sind meine Last, nicht eure. Ich möchte sie einigermaßen würdevoll tragen.« Der Bebänderte suchte die Wälle der Senke ab, als halte er Ausschau nach einem Fluchtweg. »Du durchforschst mich, Zeitenherr, zu meinem großen Unbehagen. Und ich wiederhole, dass ich nicht zurückkehren kann, wenn ich jetzt nicht weggehe.« Indem er weiter Covenants Blick erwiderte, fügte er zögernd hinzu: »Trotzdem muss ich meine Schande eingestehen. Mein Fehler kann nicht verziehen werden, wenn ich nicht darüber spreche. Jedoch nur kurz.« Auf bunte Stoffstreifen gestützt begann der Eifrige: »Als unsere Seher und Wahrsager ihre Prophezeiungen ausgesprochen und das dem Egger aufzuerlegende Geas ausgearbeitet hatten, sahen sie natürlich gleich, dass ihr Kurs gefährlich war. Ich habe erwähnt, mit welchen Argumenten mein Volk seine Absicht gerechtfertigt hat. Aber diese Schlussfolgerungen waren falsch. Gewisslich! Sie basierten auf einer künstlichen Trennung zwischen bloßer Auferlegung und tatsächlicher Einmischung, die durch den Gang der Dinge allzu leicht aufgehoben wird. Um diese Gefahr zu vermindern, wurde das Geas zweifach gestaltet: um dem Egger aufzuerlegen, dass die Lady über die Erfüllung seines Eides entscheiden sollte, und danach zur Förderung seines eigenen Strebens.
Durch solche Hilfe hofften die Insequenten, sich gegen jeden Verstoß gegen die notwendigen Beschränkungen unseres Lebens als Volk absichern zu können. Trotzdem wollte niemand diese Aufgabe übernehmen. Das Risiko, sich einzumischen, erschien allen zu groß. Die Tapfersten und Mächtigsten unter uns weigerten sich, diese Gefahr zu schultern. Deshalb habe ich sie an ihrer Stelle auf mich genommen.« Der Eifrige seufzte. »Für einen Insequenten bin ich noch jung, unbekümmert und selbstsicher obendrein, wie du gewiss bemerkt hast. Aber du hast bestimmt auch gemerkt, dass ich nicht zaghaft bin. In meiner Gier nach dem Einzigartigen, absolut Neuartigen habe ich bislang alles ausgespart, was mich geängstigt hat. So hatte ich keinen rechten Begriff von meiner Gefahr oder von eurer oder davon, welchen Kummer meine Entscheidung bringen könnte. Stattdessen habe ich meine neue Rolle unter den Insequenten genossen. Ich bin ein Jünger der Mahdoubt«, erklärte er wie schon in Andelain, als bäte er um Verständnis - vielleicht auch um Vergebung. »Meine Absicht war gut. Mein spezieller Hunger wird nie befriedigt. Und weil ich jung bin, war ich mit meiner Unwissenheit zufrieden. Ich habe mich erboten, dem Willen der Insequenten Geltung zu verschaffen, ohne die möglichen Kosten zu bedenken. Aber ich habe meinen Auftrag nicht erfüllt. Ich habe mein Geas und dich und die ganze Erde im Stich gelassen. Von der Magie der Gräuelinger gefesselt und von den Schrecken der Verlorenen Tiefe entsetzt habe ich den Egger im Kampf gegen seine Feinde alleingelassen. So habe ich seinen Tod und das Ende seiner Pläne zugelassen. Durch meine Ängstlichkeit und Schwäche wurde aus einer spitzfindig auferlegten Verpflichtung eine echte Einmischung. Nun steht mir das Verderben bevor, das ich selbst verschuldet habe. Wenn mir die letzten von meinem Volk verliehenen Fähigkeiten entzogen werden, scheide ich dahin und hinterlasse als Rechtfertigung für mein Leben nur die Tatsache, dass ihr weiterlebt.« Verdammt! Covenant bemühte sich um eine Antwort. Er hatte vermutet … aber er hatte auch gehofft, seine Vermutung sei falsch. Schwach protestierte er: »So muss es aber nicht kommen.« »Wirklich nicht?« Der Insequente wedelte ungläubig mit seinen
Bändern. »Wie das, Zeitenherr?« Covenant bemühte sich um Gegenargumente. »Können deine Leute dich für einen weiteren Dienst am Leben erhalten, können sie dich unendlich lange weiterleben lassen. Sag ihnen, dass wir dich brauchen. Sag ihnen, dass wir ohne dich nicht überleben können. Verdammt noch mal! Sag ihnen, dass sie nicht überleben werden, wenn du uns nicht hilfst. Die ganze Erde …« »Zeitenherr«, unterbrach der Eifrige ihn sanft tadelnd. »Auch das wäre Spitzfindigkeit. Habe ich nicht von Schicksal und Wasser gesprochen? Die Insequenten würden solche Behauptungen nicht glauben. Das tue ich selbst auch nicht. Unsere Einschränkungen sind unerlässlich. Ohne sie können wir nicht sein, wer wir sind.« Ehe sonst jemand Einwände erheben konnte, schloss der Eifrige seine flatternden Bänder eng um sich und verschwand, als hätte er sich in Luft aufgelöst. … das Verderben, das ich selbst verschuldet habe. Irgendwann in ferner Vergangenheit hatte Covenant einmal jemanden sagen hören: Kein Verhängnis ist so schwarz und tief, dass Mut und klarer Blick dahinter nicht eine weitere Wahrheit entdecken könnten. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wie diese Wahrheit aussehen könnte. Nach dem Verschwinden des Insequenten musste Covenant zwanghaft an Wasser denken. … in Wasser geschrieben … Strömungen und stehende Tümpel. Die Brustpanzer als Wassergefäße reichten nicht aus. Das konnten sie nicht. Nur die Eisenhand, Graubrand, zwei Haruchai und die Ramen hatten direkt aus dem Bach trinken können, wo immer er war. Wie Covenant - und vermutlich Linden - litten auch die anderen trotz ein paar Schlucken weiter unter quälendem Durst. Er versuchte sich abzulenken, indem er sich möglichst viel über den Lauerer, die Sarangrave-Senke und die Verwüsteten Ebenen ins Gedächtnis zurückrief. Aber er scheute davor zurück, als seine Bemühungen ihn zu den Kurash Qwellinir und dem Glutaschenkamm, zu den Trümmern von Fouls Hort führten. Darauf war er nicht vorbereitet, und er besaß gegenwärtig keine Macht. Wasser war Leben.
Es bedeutete auch Erosion. Schreckliche Stürme. Sintflutartige Regenfälle, die Berge wegschwemmen konnten. Flutwellen. Und im glasklaren, erfrischenden Wasser des Glimmermere: Taufe. Covenant wünschte sich sehnsüchtig, der Eifrige hätte ihn dorthin versetzen können. Mit Linden. Auf dass sie von ihren Leiden erlöst wieder gereinigt und erdkraftmächtig, voller Liebe gewesen wäre. Wünschen allein half nichts. Zum Glück war Mähnenhüter Mahrtür praktischer veranlagt. Nachdem er die Gesellschaft eine Zeit lang blicklos gemustert hatte, verkündete er: »Auch wir müssen weiter. Obwohl dieses Gebiet verseucht ist, führt der Bach, den die Seilträger gefunden haben, jetzt im Frühjahr frisches Regenwasser. Und er ist nicht weit entfernt. Die Strecke scheint nur weit zu sein, weil wir schwach sind. Dort können wir unseren Durst ganz löschen, baden und ausruhen. Haben wir das getan, sind die vor uns liegenden Schwierigkeiten vielleicht besser zu bewältigen.« »Aye«, sagte Raureif Kaltgischt. »Der Rat des Mähnenhüters ist wie immer klug. Leider sind wir …« Ihre Handbewegung umfasste die übrigen Riesinnen. »… zu erschöpft, um jemanden tragen zu können. Aber der Bach ist nicht allzu weit entfernt, wie der Mähnenhüter gesagt hat, und führt reichlich gutes Wasser. Außerdem gibt es dort mehr Schatten.« Covenant nickte. Er wusste nichts anderes vorzuschlagen. Absolut nichts. Stave sah jedoch zu Kaltgischt auf. »Was ist mit Anele? Du weißt noch nicht, wie sehr er leidet - oder welches Leid er bewirken kann -, wenn er besessen ist. Auf nackter Erde ist er Empfänger und Werkzeug von Kastenessens Wut. Er kann nicht selbst zum Bach gehen. Das dürfen wir nicht von ihm verlangen.« Kaltgischt sah weg. »Die Gedemütigten …« »Die fürchtet er«, stellte Stave fest. »Er würde sich nie von ihnen anfassen lassen.« Als wollte er Staves Aussage bestätigen, kauerte Anele sich zusammen, verbarg den Kopf in seinen Armen und stöhnte halblaut. Die Eisenhand seufzte. »Dann trage ich ihn, wenn die Meister bereit sind, meine Rüstung zu tragen.« Branl stimmte sofort zu. Galt, Clyme und er wussten so gut wie Stave,
welche Gefahren Anele bedrängten, sobald er auf etwas anderem als Stein stand. »Dann sollten wir aufbrechen«, sagte Covenant unbestimmt. Der ungewohnte Sonnenschein kam ihm unnatürlich heiß vor. »Ich schwitze zu stark. Ich brauche mehr Wasser.« Am liebsten hätte er Linden selbst getragen. Er sehnte sich danach, sie in den Armen zu halten, sie zu beschützen - und er wollte sich nicht vor seiner Verantwortung für ihren Zustand drücken. Aber ihm fehlte die Kraft dazu. Stave hätte sie rennend zum Bach tragen können; Covenant wäre vermutlich keine hundert Schritte weit gekommen. Um ihn herum machten die Riesinnen sich zum Abmarsch bereit. Kaltgischt hob Anele aus Sturmvorbei Böen-Endes Brustpanzer und hielt ihn so zart wie möglich. Frostherz Graubrand half Böen-Ende, ihre Rüstung anzulegen; danach war Böen-Ende ihr behilflich. Auf Mahrtiirs Befehl übernahmen Bhapa, Pahni und Liand den Dienst als Ausgucke, während Branl und Clyme die beiden Teile von Kaltgischts Rüstung aufhoben. Galt, der dem Croyel weiter Loriks Dolch an die Kehle gedrückt hielt, stieß Jeremiah an, damit er sich in Bewegung setzte. Covenant trug Lindens schwarzen Runenstab selbst. Er hätte ihn nicht gebrauchen können und wollte das nicht einmal versuchen. Aber er konnte sich darauf stützen. Und er hoffte, dass die Nähe zu Erdkraft und Gesetz ihn davon abhalten würde, sich wieder im Labyrinth seiner Erinnerungen zu verirren. Mühsam setzte sich die Gesellschaft in Bewegung. Eine Zeit lang zogen sie über unebenes flaches Gelände, das an ein längst ausgetrocknetes Überschwemmungsgebiet erinnerte: ausgedörrter graubrauner Boden mit Adern in Ockertönen, kristallinem Weiß, Andeutungen von Grünspan und Rost; kleine Bodenerhebungen und Reste ehemaliger Wasserläufe; gelegentlich Inseln aus hartem Gras, das wie Strandhafer aussah. Die leichte Brise frischte allmählich auf, bis von Covenants Stiefelabsätzen und den Füßen und Sandalen seiner Gefährten bei jedem Schritt zarte Staubwölkchen aufstiegen. Der Wind war Fluch und Segen zugleich. Er kühlte Covenant das Gesicht - und erhöhte zugleich seinen Flüssigkeitsverlust. Dadurch sah er allmählich immer verschwommener, bis er die Spuren Kaltgischts und Graubrands vor sich kaum noch erkennen konnte.
Aber dann zeigte die Eisenhand auf eine niedrige Hügelkette, die Wind und Wetter über Äonen hinweg bearbeitet hatten, bis sie verformten Titanenknochen glich. Dort liege die Barriere, erläuterte sie, die den Bach - eigentlich schon einen kleinen Fluss- aus seinem ursprünglichen Bett abgelenkt habe. Zwischen diesen Hügeln, die von gewundenen flachen Tälern durchzogen seien, als hätte dort ein Betrunkener gepflügt, gebe es Wasser im Überfluss. »Zu anderer Jahreszeit«, fügte sie heiser hinzu, »würde der Zufluss aus dem Oberland vielleicht nicht für unsere Bedürfnisse ausreichen. Aber wie wir bei der Verfolgung Langzorns festgestellt haben, hat es hier reichlich geregnet. In naher Zukunft werden wir bestimmt noch vieles fürchten müssen - aber Durst gehört nicht dazu.« Covenant konzentrierte sich auf Staves Rücken, als erwartete er, die Schultern des ehemaligen Meisters herabsacken zu sehen, weil er Lindens Gewicht nicht mehr tragen konnte … Blödmann, murmelte er vor sich hin. Stave würde weitermarschieren können, bis die Welt unterging. Aber weil Covenant seine Gefährten automatisch nach den eigenen Fähigkeiten beurteilte, befürchtete er jeden Augenblick das Schlimmste. Wasser, sagte er sich im Stillen. Wasser ist die Lösung. Weshalb? Das wusste er nicht. Seit Esmer zugelassen hatte, dass die Gesellschaft Ihr, die nicht genannt werden darf, entkam, hatte er vielleicht gar nichts mehr richtig verstanden. Trotzdem entschied er sich dafür, an Wasser zu glauben. Teufel, an irgendetwas musste man doch glauben, nicht wahr? Konnte er Linden nicht retten, würde er niemanden retten können. Bhapa und Pahni hatten ihren Gefährten gut gedient. Auf der Wassersuche hatten die Seilträger auch einen leichten Weg durch die Hügel erkundet. Obwohl Covenant und einige Riesinnen beim Aufstieg aus der Ebene ein paarmal stolperten, waren sie nie wirklich in Gefahr, zu stürzen. Über ihnen waren Liand und die Seilträger auf den Hügelkämmen unterwegs, um Ausschau zu halten. Liand blieb links, um nach Süden zu beobachten. Bhapa und Pahni, die erfahrener waren, suchten den Norden ab, aus dem am ehesten Gefahr drohte. Kaltgischt trug Anele mit zusammengebissenen Zähnen und trotzigem Schritt, als sollte sich der Alte nur erdreisten, ihr zu schwer zu werden.
Einige Schritte hinter ihr schlurfte Jeremiah bergauf: mit Galts Hand auf seiner Schulter und dem grausamen Croyel auf seinem Rücken. Der Junge bewegte sich so unsicher wie Covenant, aber er ließ kein Zeichen von Schwäche erkennen. Solange das Ungeheuer auf Rettung hoffte, konnte sein Wirt vermutlich länger marschieren als alle anderen mit Ausnahme der Haruchai. Leichtes Gefälle, danach ein weiterer Anstieg. Durch die Form der Hügel bedingt, umspielten kleine Staubwirbel, durchsichtig wie Geister, die Knöchel der Marschierenden. Hier und da ragten kantige Granitblöcke und von Wind und Wetter abgerundete Sandsteinbrocken aus dem feinen Gesteinsschutt, der die Hügel bedeckte. »Bald«, keuchte Kaltgischt mit zusammengebissenen Zähnen. »Bald.« Aber keiner antwortete ihr. Immer wenn Covenant durch den Schatten eines Felsblocks schlurfte, wurde es düster um ihn, als versagten seine Augen. Nur Mut!, dachte er. Klare Sicht. Ha! Solche und ähnliche Dinge waren Einbildung; er konnte sich nicht mehr an sie erinnern. Trotzdem ließ er den Abstand zu Stave nie zu groß werden. Linden brauchte ihn. Oder sie würde ihn irgendwann brauchen. Oder sie würde ihren Stab brauchen. Schwäche war letzten Endes nur Schwäche; daran erinnerte er sich. Sie war so menschlich wie Durst - und ebenso unvermeidlich. Aber mehr bedeutete sie nicht. Sie ließ sich wie Schmerzen ertragen. Wozu war sie überhaupt da, wenn sie nicht auf Dauer angelegt war? Vielleicht hatte es weitere Auf- und Abstiege gegeben. Covenant wusste es nicht mehr. Schwache Luftwirbel brachten Stimmen mit sich, die wie entfernte Gespensterrufe klangen. Dann fand er sich plötzlich in einer trogartig ausgebildeten Scharte zwischen vor Alter ausgebleichten Hügeln wieder. Mit vor Austrocknung verschwommenem Blick sah er auf den Bach hinunter. Im Sonnenschein glänzte das Wasser unter dem weiten Himmel wie Quecksilber. Nur ein kleines Stück unter ihm rauschte die Strömung um eine Biegung des Bachbretts und brach sich murmelnd an den Felsen, die das andere Ufer begrenzten. Auf der Innenseite der Biegung hatte sich durch angeschwemmtes Material ein Strand gebildet. Wo der Trog sich zum Bach hin öffnete, lag ein Sandstrand, in den von Wind und Wasser
abgeschliffene Felsbrocken eingebettet waren. Von der Sonnenhitze getrieben torkelte Covenant halb fallend ans Ufer hinunter. Stave mit Linden war vor ihm. Kaltgischt mit Anele. Galt mit Jeremiah. Marthiir. Zwei weitere Riesinnen. Auf Zuruf des Mähnenhüters kam auch Liand von seinem Hügel, sodass der Süden vorübergehend unbewacht war. Covenant ignorierte sie alle. Steifbeinig und unbeholfen ließ er Lindens Stab in den Sand fallen, stolperte ans Wasser und ließ sich nach vorn plumpsen, als hätten seine Knie plötzlich nachgegeben. Wie war es so weit mit ihm gekommen? Wie viel von seiner Persönlichkeit hatte er eingebüßt? Ein Goldjunge mit tönernen Füßen. Covenant tauchte das Gesicht in das aus dem Oberland herabströmende Wasser und trank gierig. Seinem ausgetrockneten Körper schmeckte es wie feinstes Mineralwasser. Ein flüssiger Segen! Lass mich dir auf den Weg helfen. Als er Luft brauchte, ertastete er im Bachbett Sand und die Steine und stemmte sich hoch. In seiner Erleichterung stammelte er sinnlose Worte. Sie konnten Versprechen oder Prophezeiungen sein - oder Verwünschungen. In der Strömung planschend wusch er sich Arme, Gesicht und Haar; spülte so viel Müdigkeit und Anstrengung ab, wie er nur konnte. Ein kräftiger Stoß bringt dich weit… Dann senkte er den Kopf und trank noch mal. Die reichen Segnungen des Landes hatten ihn selbst hier gefunden. Aber was für ein schwerfälliger Bursche du bist! Wasser war die Antwort. Todsicher. Er wusste nicht, weshalb, aber das wusste er bestimmt. Zuletzt hob er den Kopf, wischte sich das Wasser aus den Augen und betrachtete die übrige Gesellschaft. Soviel er beurteilen konnte, hatten Liand und die meisten Riesinnen sich bereits satt getrunken. Branl hatte die Seilträger abgelöst, damit sie zu ihrem Mähnenhüter zurückkehren konnten. Im Augenblick übernahm Böen-Ende Anele von der Eisenhand, damit Kaltgischt erneut trinken konnte. Aus einer kleinen Steinflasche, die Diamondraught enthalten hatte, gab Rüstig Grobfaust Anele zu trinken, während Spätgeborene
Jeremiahs Kopf leicht nach hinten drückte und Wasser in seinen schlaffen Mund goss. Trotz seiner Verwirrtheit schluckte der Junge gierig. Als Spätgeborene ihr Fläschchen nachfüllte, trank er es noch mal leer. Offenbar befriedigte die Magie des Croyel nicht alle seine körperlichen Bedürfnisse. Natürlich nicht, sagte Covenant sich, während er Jeremiah beobachtete. Wozu hätte der Junge sonst die Skest gebraucht? Die Fähigkeit des Croyel, ihn am Leben zu erhalten, hatte ihre Grenzen. Zuletzt wandte Covenant seine Aufmerksamkeit Linden zu. Sie lag weiter von Albträumen geplagt und leise wimmernd in Staves Armen. Der ehemalige Meister stand mit ihr am Bachufer, als wäre er bereit, den Preis ihrer Sterblichkeit bis ans Ende aller Tage zu tragen. Aber seine Treue würde sie nicht retten können; davon war Covenant überzeugt. Wie ihr Sohn würde sie sich im Labyrinth ihres Verstands nicht mehr zurechtfinden, bis etwas oder jemand eingriff. Das war seine Aufgabe. Er konnte niemanden bitten, sie an seiner Stelle anzugehen. Schließlich verdankte er Linden sein neues Leben. Triefnass platschte er aus dem Wasser. Zu seiner Überraschung war er weiter schwach. Er hatte zu viel über gewöhnliches Menschsein vergessen … natürlich brauchte sein Körper Zeit, sich von den Anstrengungen zu erholen. Er verlangte zitternd nach Schlaf und Nahrung. Aber er glaubte nicht, dass Linden noch länger würde warten können. Mit Wasser in den Augen wandte er sich an Stave und forderte ihn auf: »Lass sie mich halten.« Der Haruchai zog eine Augenbraue hoch. »Ur-Lord?« Raureif Kaltgischt trat eilig einen Schritt vor. »Ist das klug? Was hast du vor, Covenant Zeitenherr?« Auch Clyme kam näher. Vielleicht glaubte er, Covenant erwarte oder brauche seine Hilfe. Covenant sah die Eisenhand nicht an. »Ich will sie stromabwärts tragen«, erklärte er Stave. »Außer Sicht.« Hinter den nächsten Felsen, der ihm in seinem geschwächten Zustand fast unerreichbar erschien. »Wenn sie aufwacht, sollte ich mit ihr allein sein. Sie würde kein Publikum haben wollen.« Davon war er überzeugt. Aber er wollte auch aus persönlichen Gründen
mit ihr allein sein. Was er beabsichtigte, würde auch ohne Zeugen schmerzhaft genug sein. Und Stave würde ihm bestimmt in den Arm fallen, wenn sonst niemand rasch genug reagierte. »Ha!«, grunzte Kaltgischt. »Dafür bist du ganz sicher zu schwach, fürchte ich. Ich sehe einen Sturz und Knochenbrüche voraus. Unabsichtlich könntet ihr beide Schaden leiden.« »Das weiß ich«, antwortete Covenant. »Aber ich kann sie nur erreichen, wenn ich mit ihr allein bin. Ich muss mit ihr allein sein.« Ich liebe sie. »Und sie mit mir.« Eher zornig als selbstsicher fügte er hinzu: »Wenn ich sie zurückgeholt habe …« Falls ihm das gelang. »… wird sie euch sagen, dass ich das Richtige getan habe.« Linden hasste doch sicher, wo sie jetzt war? Hasste und fürchtete es? »Dann solltest du sie von Stave an den Ort deiner Wahl tragen lassen«, schlug Kaltgischt vor. »Dort lässt er dich mit ihr allein, damit du tun kannst, was notwendig ist.« Covenant machte sich bereit, diesem Kompromiss zuzustimmen, aber Stave sagte sofort: »Das tue ich nicht.« Ohne die sorgenvollen Blicke der Umstehenden zu beachten, konzentrierte Covenant sich ganz auf den ehemaligen Meister. »Bestimmt nicht? Wie weit willst du diese Sache noch treiben? Soll das heißen, dass du mir nicht traust? Nach allem, was dein Volk und ich gemeinsam durchgemacht haben? Höllenfeuer, Stave! Sie braucht mich. Dazu muss ich mit ihr allein sein.« Stave erwiderte seinen Blick gelassen. »Trotzdem.« Nichts in der Miene des Haruchais deutete darauf hin, dass er sich umstimmen lassen könnte. »Ich bleibe an der Seite der Auserwählten. In guten wie in bösen Zeiten halte ich zu ihr.« »Stave«, warf Mahrtür ruhig ein. In seinem Tonfall lag keine Zurechtweisung. »Hier geht es nicht darum, wer treuer zu ihr hält. Der Wunsch des ersten Ring-Thans setzt dich keineswegs herab. Aber auch ich fürchte, dass er zu schwach ist, um sie zu tragen. Andererseits ist sicher, dass sie uns zurückgegeben werden muss. Was schadet es, wenn er dazu mit ihr allein sein will? Du lässt sie nicht im Stich, wenn du ihm hilfst, sie so wiederzubeleben, wie er es für richtig hält.« »Trotzdem«, wiederholte Stave. Covenant, der ihn im Stillen verfluchte, bot an: »Pahni kann
mitkommen. Sie kann uns aus einiger Entfernung beobachten.« Vielleicht würde er seinen Kummer und seine Scham ertragen können, wenn er glaubte, die junge Seilträgerin sei zu weit entfernt, um eingreifen zu können. »Sie kann um Hilfe rufen, wenn Linden welche braucht.« Schroff fügte er hinzu: »Am besten überlässt du sie mir einfach.« Er wusste, dass Kaltgischt und Mahrtür recht hatten: Er war nicht stark genug. Aber der Kampf, den es bedeuten würde, Linden bis hinter den Felsen zu tragen, konnte ihm nützen. Er würde ihn darauf vorbereiten, was er … Clyme stellte nüchtern fest: »Wir Gedemütigten halten zu dem Zweifler, wie wir bereits gesagt haben. Leistest du ihm Widerstand, Stave, wenden wir Gewalt an. Wir übernehmen es an deiner statt, Linden Avery an eine Stelle zu tragen, die der Ur-Lord uns bezeichnet.« »Nein, das tut ihr nicht«, knurrte Covenant sofort. Er kehrte Stave den Rücken zu und drohte den Gedemütigten mit seinen verstümmelten Fäusten. »Hier wird nicht gekämpft, verdammt noch mal! Dafür steht zu viel auf dem Spiel, und jeder von uns wird gebraucht.« Clymes starrer Blick verriet nicht, was er dachte. Aber er widersprach dem Zweifler nicht. Covenant wandte sich zitternd wieder an Stave. »Du vertraust mir«, sagte er so beherrscht wie möglich, »oder eben nicht. Das respektiere ich. Es gefällt mir nicht, aber ich respektiere es. Kannst du mich nicht mit ihr allein lassen, müssen wir einfach darauf warten, dass sie von allein aufwacht.« Liand hatte sich genähert, bis er neben dem Mähnenhüter stand. Dort ergriff er Pahnis Hand. »Stave«, sagte er bittend. »Ich verstehe hier nichts. Ich weiß nur, dass du Lindens altbewährter treuer Freund bist. Willst du nicht ihretwegen nachgeben? Thomas Covenant und Linden sind mir beide verschlossen. Trotzdem glaube ich, dass es zwischen ihnen Liebe gibt. Sie hat ihn nicht nur ins Leben zurückgeholt, weil er ihr gegenüber geschwiegen hat oder weil sie Angst um ihren Sohn hatte oder weil sie sich nicht zutraute, das Land allein zu retten. Nein, sie hat ihn auch deshalb zurückgeholt, weil sie ihn liebt. Kannst du dir nicht vorstellen, dass sein Wunsch, sie jetzt wiederzubeleben, nicht weniger liebevoll und nicht weniger notwendig
ist?« Staves Blick glich einer Herausforderung. »Und wenn er - wie schon sie selbst - weitere Motive hat? Was dann, Steinhausener?« »Stein und Meer!«, murmelte die Eisenhand. »Du urteilst zu hart, Haruchai.« Ihre Stimme klang ungeduldig. »Jeder Lebende hat weitere Motive. Auch wir Riesinnen haben welche. Wir dienen nicht Linden Riesenfreundin allein - oder Covenant Zeitenherrn mit ihr. Außerdem sind wir auf der Suche nach dem Sinn unseres Lebens. Wir wollen uns an den Gefahren dieser Zeit messen. Um das Überleben unserer Art zu sichern, müssen wir gegen die Vernichtung der Erde ankämpfen. Und wir haben Verlorensohn Langzorn nicht vergessen. Es ist unser inniger Wunsch, ein Mittel gegen seinen Schmerz zu finden. Ich bezweifle nicht, dass das auch für die Ramen gilt. Ebenso ist das Herz des Steinhauseners voller Konflikte, obwohl seine Liebe sicher rein ist. Und das Herz des Alten, den wir lieben gelernt haben, gleicht einer Schlangengrube aus wirren Motiven. Deshalb bemühen wir Riesen uns, alle Geschichten ausführlich zu erzählen. Uns liegt daran, die vielfältigen Komplikationen des Lebens und der Herzen unter keinen Umständen zu beschneiden. Freude liegt in den Ohren, die hören, nicht in dem Mund, der spricht.« Mit in die Hüften gestemmten Fäusten schloss Kaltgischt: »Deshalb solltest du deine eigenen Motive überprüfen, Stave. An deiner Lehenstreue habe ich nicht den geringsten Zweifel. Sie ist rein wie die Sonne. Aber richtet dein jetziger Widerstand sich nicht außer gegen den Zeitenherrn auch gegen die Gedemütigten? Ist es nicht vielleicht so, dass du sie jetzt in seiner Person abweist, nachdem sie zuvor dich zurückgewiesen haben?« Mehrere der Schwertmainnir murmelten ihre Zustimmung. Im Gegensatz dazu machte Mahrtür ein finsteres Gesicht, als wäre er an Staves Stelle verwirrt. Bhapa starrte angelegentlich ins Wasser und ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Liand und Pahni hielten sich nervös an den Händen. Aber Covenant ließ die Schultern hängen, als wäre er unterlegen. Er hatte nie vorgehabt, Stave in diese peinliche Lage zu bringen. Bei seiner Konzentration auf Lindens Not und die eigene Reue hatte er nicht bedacht, dass sein Bedürfnis, mit ihr allein zu sein, den ehemaligen
Meister auf eine harte Probe stellen würde. Und er kannte den unbeugsamen Stolz der Haruchai nur allzu gut. Anscheinend konnte er wie Linden nicht versuchen, Gutes mit anderen als zweifelhaften Mitteln zu bewirken. Staves Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte. Die Narbe, wo er ein Auge verloren hatte, schien jegliches Mienenspiel zu verhindern. Als er sprach, verblüffte seine Antwort Covenant. »Du beurteilst mich richtig, Riesin. Ich will meine Besorgnis nicht verhehlen. Mir gefällt es nicht, dass der Ur-Lord seine Absichten nicht preisgibt. Wie will er die Auserwählte von ihrer Qual erlösen? Das sagt er nicht. Dennoch gestehe ich ein, dass ich stolz bin, obwohl ich viel über Demut und Bescheidenheit gelernt habe. Und ich habe gelernt, dass Stolz ein schlechter Ratgeber ist. Daher werde ich die Wünsche des Ur-Lords erfüllen. Sollten die Gedemütigten meine Einwilligung als Unterwerfung betrachten …« Er zuckte mit den Schultern, hob Linden etwas höher. »Sie sind Meister, die von ihrer vermeintlichen Pflicht irregeführt werden.« Ein Seufzer der Erleichterung lief durch die versammelte Gesellschaft. Covenant fühlte sich sekundenlang schwächer, als hätte die Sonne angefangen, ihm das Blut aus den Adern zu saugen. Trotzdem zwang er sich dazu, scheinbar selbstsicher zu antworten. »Dann gehen wir am besten gleich«, schlug er heiser vor. »Je früher, desto besser. Keine Ahnung, was in ihr vorgeht, aber es ängstigt mich.« Staves Nicken schien eine zustimmende Verbeugung einzuschließen. Der Mähnenhüter räusperte sich. »Seilträgerin Pahni, sobald der erste Ring-Than einen Ort gefunden hat, der seinen Vorstellungen entspricht, tust du, was er dir befiehlt. Bis dahin achtest du auf seine Schwäche. Auf Staves Armen kann Linden Avery nichts passieren, aber Thomas Covenant könnte straucheln. Deine erste Aufgabe besteht darin, auf ihn zu achten.« Pahni warf Liand einen besorgten Blick zu, aber sie antwortete, ohne zu zögern: »Wie du wünschst, Mähnenhüter.« Covenant merkte endlich, dass er Lindens Stab nicht mehr in den Händen hielt. Er bückte sich mühsam und hob ihn aus dem Sand auf. »Falls sie ihn braucht«, erklärte er den Umstehenden. Dann forderte er
Stave und Pahni auf: »Los jetzt. Stärker werde ich nicht.« Er würde eine gewisse Art Schwäche brauchen: die Art, die inspirierte Verzweiflung erzeugte. Covenant wandte sich dem Bach zu und folgte ihm stromabwärts zu dem mit Felsblöcken übersäten Hang, der das nach Osten abfließende Wasser verdeckte. Als Pahni und Stave ihm folgten, traten die Schwertmainnir zur Seite, um sie durchzulassen. Stave trug Linden mit gewohnter Leichtigkeit. Über Pahnis Gesicht zog irgendeine dunkle Gefühlsregung, aber sie ließ sich dadurch nicht in ihrer Wachsamkeit beirren. Covenant hatte die erste Steigung fast erreicht, als er Aneles Stimme hörte. Er sah sich unwillkürlich um; sah den Alten in der Wanne aus Sturmvorbei Böen-Endes Brustpanzer sitzen. Mit einer Hand fuhr der alte Mann über die Innenfläche der steinernen Rüstung. Die Finger der anderen glitten durch den Sand und machten Zeichen wie Hieroglyphen. Deutlicher als sonst sprechend sagte Anele: »Dieser Stein erinnert sich nicht an Linden Avery, Auserwählte Erdfreundin. Anele dagegen sehr wohl. Die Welt wird ihresgleichen nicht wiedersehen.« Die Worte des Alten verfolgten Covenant wie eine Voraussage von Misserfolg, als er sich daran machte, die Steigung zu bewältigen … ihresgleichen nicht wiedersehen. Gelang es ihm nicht, Linden wiederzubeleben, würde er aus Anele einen Propheten machen. Weil er abgelenkt war, stolperte er und wäre hingefallen, wenn Pahni ihn nicht am Arm festgehalten hätte. Nach einem Augenblick der Panik erinnerte er sich daran, wie wichtig es war, darauf zu achten, wo er war und was er tat, aufzupassen, wohin er die Füße setzte, und bereit zu sein, die Hände zu benutzen. Während er sich zwischen Felsblöcken hindurcharbeitete, beherzigte er wieder die vernachlässigte Disziplin, die sein Leiden von ihm forderte: die Vorsicht eines Leprakranken. Seine Augen sagten ihm, dass manche Felsen von Wind und Wetter glatt geschliffen waren, während andere rau und zerklüftet, gefährlich waren. Seine Hände konnten solche Unterschiede nicht ertasten. Er konnte sich nicht auf sie verlassen, wenn er versuchte, sich auf Felsen oder auf Lindens Stab zu stützen. Zwischen manchen Felsblöcken lagen fast strohgelbe helle Flecken: abgerutschtes altes Schiefermaterial, das so alt war, dass es seine ursprünglichen Farben vergessen hatte. Seine
Wahrnehmung verengte sich allmählich immer weiter darauf, geeignete Griffe und Tritte zu finden. Dass Stave etwas oberhalb von ihm Schritt hielt, Pahnis Wachsamkeit, die leichte Brise oder das murmelnde Rauschen des Bachs … alle diese Dinge registrierte er kaum noch. Eine Zeit lang dachte er nicht einmal mehr an Linden oder an Angst. Vor Anstrengung keuchend erreichte er den ersten Hügelkamm. Als er auf der anderen Seite hinunterstolperte, kam die restliche Gesellschaft außer Sicht. Der nächste Hügel schien etwas weniger steil zu sein. Covenant fühlte sich bereits schwach genug, um jede Menge Verzweiflung zu empfinden. Trotzdem war er noch nicht so weit. Vielleicht würde er niemals so weit sein - nicht für dies hier. Jenseits des flacheren zweiten Hügels, jenseits der zweiten Biegung des Bachs fand er, was er suchte. Unter ihm schlängelte sich der Wasserlauf auf eine schmale Sandbank am Ausgang eines Trockentals zu und wieder von ihr weg. Gleich anschließend wurde der Bach zwischen Granitfelsen eingeengt, die er über Jahrtausende hinweg ausgewaschen hatte, bis ein Tümpel mit tieferem Wasser entstanden war. Von seinem Standort über dem Bach ließ die Tiefe dieses Tümpels das Wasser dunkel, fast unergründlich tief erscheinen. Er hätte ein Brunnen sein können, der bis ins Herz des Unterlands hinabreichte. Teufel, dachte Covenant. Verdammter Mist! Aber er blieb nicht stehen. Von Pahni und dem Stab des Gesetzes gestützt, begleitete er Stave zu der sandigen Stelle am Bachufer hinunter. Ein Goldjunge mit tönernen Füßen. Weil er das Zögern satthatte, ließ er den Stab einfach fallen und begutachtete den nächsten Hügelkamm nördlich von ihnen. Dort ragte ein Felsblock von der Größe einer kleinen Hütte über der Horizontlinie auf. »Siehst du den großen Felsen dort drüben?«, fragte er Pahni. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. »Von dort aus kannst du zusehen.« Ihretwillen fügte er hinzu: »Verlass dich auf deinen Instinkt. Glaubst du, dass wir Hilfe brauchen, rufst du Stave.« Sie gehörte zu den Ramen; aber Stave war ein Haruchai. Er würde weit schneller reagieren. Zweifel und Stetigkeit wechselten sich in rascher Folge im Blick der jungen Seilträgerin ab. »Ich werde tun, was du wünschst«, bestätigte sie,
»wie mein Mähnenhüter mir befohlen hat.« Dann fügte sie nachdrücklich hinzu: »Und ich werde auf die Stimme meines Herzens hören.« Pahni wandte sich sofort ab und begann den Hügel zu ersteigen. Trotz ihrer Müdigkeit schien sie geschmeidig und elegant zur Kammlinie hinaufzugleiten. Jetzt, sagte Covenant sich. Jetzt oder nie. Tu es jetzt. Wurde er noch schwächer, konnte er jeden Augenblick der Länge nach hinschlagen. Er drehte sich nach Stave um und streckte die Arme aus. »Ich will, dass du außer Sicht bleibst«, sagte er energisch, als wäre er nicht kurz davor, zusammenzuklappen. »Meinetwegen hinter Pahnis Felsen. Mit deinen Sinnen weißt du vermutlich so rasch wie sie, was hier geschieht. Aber ich möchte, dass du wartest, bis sie dich warnt. Vertrau mir, so lange du irgend kannst. Oder vertraue ihr. Du kannst Linden nicht mehr verehren als ich. Und du brauchst sie weniger dringend.« Stave betrachtete ihn. »Du glaubst, dass die Seilträgerin mich warnen wird. Du weißt schon jetzt, dass ich Gefahr spüren werde.« Covenant erwiderte seinen Blick, streckte weiter schweigend die Arme aus. Nach kurzem Zögern legte Stave Linden auf Covenants vor Schwäche zitternde Arme. Dann wandte der ehemalige Meister sich wortlos ab und folgte Pahni den Hügel hinauf. Wie sie bewegte er sich müheloser, als Covenant sich vorstellen konnte. Offenbar traute Stave Covenant zumindest so weit. Wenigstens bis zu dem Felsen. Vielleicht würde er die typische Unnachgiebigkeit der Haruchai soweit vergessen können, dass er Covenants Erfolg oder Misserfolg abwartete. Vor Anstrengung zitternd beobachtete Covenant, wie Pahni und Stave zu dem Hügelkamm hinaufstiegen. Er ignorierte seine Schwäche und blieb stehen, bis die Seilträgerin den von ihm bezeichneten Felsen erreicht hatte; bis Stave dahinter verschwunden war. Erst dann machte er sich mit unsicheren Trippelschritten auf den Weg ans Bachufer. Seine gefühllosen Füße konnten sich den Weg nicht ertasten. Stattdessen nahm er einfach an, der angeschwemmte Sand falle zum Wasser hin gleichmäßig ab. Aufs Geratewohl oder die Vorsehung des Landes
vertrauend torkelte er geradewegs in die Strömung. Er ging sofort zu dem Tümpel mit tieferem Wasser weiter. Zu dem Brunnen … Das Glück war ihm hold. Seine Stiefel stießen erst an unsichtbare Felsbrocken im Bachbett, als das Wasser bereits einen Teil von Lindens Gewicht trug. So konnte er das Gleichgewicht bewahren, auch als er mehrmals stolperte. › Er sah Linden nicht ins Gesicht. Hätte er sich gestattet, jetzt ihre Hilflosigkeit zu betrachten - die geliebten Linien von Mund und Nase, die sorgenvoll gerunzelte Stirn mit einer kleinen Falte zwischen den Augenbrauen -, wäre seine Entschlossenheit zerbröckelt, fürchtete er. Die hektischen Augenbewegungen hinter den Lidern würden ihm den Rest geben. Er würde mit steifen Knien aufhören, sich zu bewegen, keinen weiteren Schritt mehr machen, unter Tränen um Hilfe rufen. Covenant biss die Zähne zusammen, bis sein Unterkiefer schmerzte, starrte angestrengt geradeaus und schlurfte in tieferes Wasser weiter. Sobald der Wasserspiegel seine Oberarme erreichte, sodass er annehmen konnte, das Bachbett falle ab hier ab, ließ Covenant Lindens Beine ins Wasser gleiten. Bedeckte ihren Mund fest mit einer Hand. Hielt ihr mit seinen amputierten Fingern die Nase zu. Dann holte er tief Luft und ließ sich mit Linden ins Dunkel sinken. Als sie schließlich nach Luft zu ringen begann, ließ er sie nicht los.
2 Versuch eines Neubeginns
Linden Avery ertrank in Ihr, die nicht genannt werden darf. Diese Wahrheit war ihr bewusst, und ihr Entsetzen war grenzenlos. Sie hatte in den Tiefen des Donnerbergs eine Überflutung ausgelöst. Ihretwegen waren gelöste Giftstoffe und in Jahrtausenden angesammelte Wassermassen in die Höhle hinabgestürzt. Sie hatten ihre Gefährten aus der Existenz geschwemmt; Jeremiah und Covenant wie Treibgut mit in die Tiefe gerissen. Alle, die sie jemals geliebt hatte, waren nicht mehr. Aber bloßes Wasser konnte ihr jetzt nicht mehr schaden. Sie war ihrem Sohn und ihrem einzigen Geliebten nicht in den Tod gefolgt. Stattdessen war sie von kreischender Gier verschlungen worden. Sie, die nicht genannt werden darf, hatte Linden absorbiert. Durch verratene Leidenschaft und Wut gepeinigt und zugleich erhalten, hatten Emereau Vrai und Diassomer Mininderain und die Auriferenz und Elena und eine große Schar verlorener Frauen Linden für sich beansprucht. Sie war von den Folgen ihrer Taten im Namen Jeremiahs und Covenants verschlungen worden. Ihr eigener Name war zu Agonie geworden. Sie verstand Elenas Anwesenheit nicht. Aber sie stellte sie auch nicht infrage. Solange der Bogen der Zeit hielt, würde ihr Name stets Agonie bedeuten. Und selbst dann … ah, dann! Stimmen wie ihre eigene bejammerten Qualen, die niemals enden konnten. War die gesamte Schöpfung vernichtet, würde Sie, die nicht genannt werden darf, allein zurückbleiben. Ihr Leid würde weiterexistieren. Sie war ein unsterbliches Wesen: eine Idee so notwendig und grenzenlos wie Schöpfung und Bosheit. Qualen würden sich über die absorbierten Sterne, über die heilvollen Definitionen von Zeit, über alle Begriffe hinaus bis ins Unverständliche ausdehnen. Sie konnten nicht sterben, also auch nicht zum Stillstand kommen. Der Verrat, aus dem das Übel entstanden war, ließ sich nicht mehr heilen. Linden kannte diese Frauen, diese Opfer in ihrer Verdammnis. Sie waren eins mit Ihr, die nicht genannt werden darf, aber auch wieder sie selbst -
so individuell wie ihre psychischen Verletzungen. Linden beteiligte sich hilflos an ihrem gelenkten Hunger, ihrer zwanghaften Gier nach Nahrung und Gemetzel. Aber sie kannte Elena am besten, weil auch sie Covenants Tochter verraten hatte. Trotz des Beispiels, das Berek und Dameion und Lorik ihr gegeben hatten, hatte Linden sich Elena Gesetzesbrecherin, der durch Vergewaltigung gezeugten Tochter Lenas, verweigert. Linden hatte kein Mitleid gewährt, wo es am nötigsten gebraucht wurde. Weil sie selbst eine Gesetzesbrecherin war, kannte sie die Zwänge und Leidenschaften, aus denen Elena gehandelt hatte, sehr gut. Trotzdem hatte Linden sich geweigert oder es versäumt … Sie hatte dieses Schicksal verdient. Daran gab es nichts zu deuteln. Trotzdem kreischte sie wie die Myriaden von anderen: schrie aus ganzer Seele, wütete, um noch mehr Schmerz zu erzeugen, und war verloren. Auf dem Galgenbühl war sie die Frau geworden, die Thomas Covenant wiedererweckt hatte. Aber auch eine Frau, die kein Mitleid für Elena übrighatte. Bald würde sie auch Emereau Vrai sein: die Frau, der ihr EZo/um-Liebhaber geraubt worden war; die aus Wut und Trauer die Meerjungfrauen erschaffen hatte. Sie würde die Auriferenz sein, deren Gier sie so wagemutig wie den Egger gemacht hatte - und ebenso töricht. Zuletzt würde sie Diassomer Mininderain sein und die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit war, dass Covenant sie nicht im Stich gelassen hatte. Niemals! Alles war Rogers Schuld gewesen. Aber seither hatte Linden sich selbst verraten. Und ihre Freunde. Und das Land. Und ihren Sohn. Sie war an ihrem Unglück selbst schuld. Dass ihr Körper nach Luft zu gieren begann, verstand sie nicht gleich. Sie war verschlungen worden. Wie konnte sich da nach etwas anderem als Verderben und Erlösung sehnen? Trotzdem erfasste ihr neues Bedürfnis sie: ein unwillkürlicher Kampf um nichts außer Luft. Verkrampft kämpften ihre Muskeln gegen Einengung, Blockade und Schwerkraft. Ihr Lungengewebe schien zu platzen und zu bluten. Instinktiv zerrte sie an dem Arm, der ihren Oberkörper umschlang; an den Händen, die ihr Mund und Nase zuhielten. Als sie sich nicht befreien konnte, zerkratzte sie Haut, die offenbar nicht ihre war, weil sie nichts
spürte. Anscheinend presste sich ein Kopf an ihren, sodass eine Wange eng an ihrer lag. Sie versuchte die Augen zu erreichen und sie auszukratzen, um eine Chance zu bekommen, wieder zu atmen … Dann hoben Hände sie hoch. Sie waren kräftiger als Sie, die nicht genannt werden darf. Stark genug, um das Fundament einer neuen Realität zu sein; kräftig genug, um sie aus ihrer Verzweiflung zu heben. Durch einen verhallenden Chor aus kreischenden Frauenstimmen befreiten sie Linden aus der tödlichen Umarmung, den erstickenden Händen an Mund und Nase. Ehe sie versuchen konnte, Wasser einzuatmen, hoben die Hände sie in Luft und Sonne. Die Luft und Sonne der Lebenden. Linden rang nach Luft, um ihre Brust mit Überleben zu füllen. Nun wurde sie von einer einzelnen Hand gehalten, die den Rückenteil ihrer Bluse gepackt hielt. Inmitten der verklingenden Kakophonie glaubte sie eine drängende Stimme keuchen zu hören: »Ring-Than! Linden Avery!« Eine Stimme, die sie vielleicht kannte, gab ihr ihren Namen wieder. War das möglich? Eigentlich nicht. Sie, die nicht genannt werden darf, hätte das nie gestattet. Trotzdem gehörte diese Stimme Pahni. Das Licht auf Lindens Gesicht war Sonnenschein, und sie atmete Luft. Die Flüssigkeit, in der sie trieb, war Wasser, kein konzentrierter Schmerz. Sauberes Wasser. Frisches Wasser. »Ring-Than, hörst du mich?« Kein Zweifel, das war Pahnis Stimme. Klatschnasses Haar bedeckte Lindens Gesicht. Wasser lief ihr unabsichtlich in den Mund. Während sie hustete, versuchten Albträume das Tageslicht zu verdunkeln, die Gegenwart ihrer Retter zu verfinstern. Aber sie hatten Linden längst nicht mehr so fest im Griff wie zuvor. Sie wurden mit jedem erkämpften Atemzug schwächer. Sie lag irgendwo im Wasser: gerettet und unterstützt. »Ring-Than! Hier ist dein Stab!« Das Übel konnte sie nicht mehr erreichen. Neben ihr fragte Stave: »Kannst du den Ur-Lord retten, Seilträgerin,
wenn Linden ihren Stab an sich nimmt? Reicht deine Kraft dafür aus? Er ist wieder zusammengesackt und kann nicht schwimmen. Hilfst du ihm, ist meine Aufgabe einfacher. Wir müssen aus der Strömung heraus. Sie wird stärker, und wir könnten nach diesen Felsen in Stromschnellen geraten.« Linden spürte keine Strömung. Sie war schwach - oder sie war noch nicht vollständig in ihren Körper zurückgekehrt. Aber sie spürte Covenants Ring, der an seiner Kette um ihren Hals hing. »Aye.« Pahnis klare Stimme übertönte das vielstimmige Murmeln fließenden Wassers. »Der Stab ist in der Tat wundervoll. Obwohl ich ihn nur kurz in den Händen gehalten habe, bin ich stärker denn je.« »Dann hilf mir«, wies Stave sie an, »während sie wieder zu sich kommt. Wir müssen sie an Land bringen.« Linden hörte sie laut und klar. Jetzt begann sie zu verstehen, was die beiden sagten. Der Stab. Ihr Stab. Die Strömung. Schwimmen. Und Covenant. Sie lebten alle. Gott, sie lebten! Vor Anstrengung zitternd zwang sie sich dazu, das Kinn zu heben, und holte tief Luft, ohne Spritzwasser in den Mund zu bekommen. Dann schaffte sie es, die Hände lange genug zu heben, um sich das Haar aus der Stirn zu streichen. Sonnenschein. Statt der schrecklichen Finsternis von Höhlen: Sonnenlicht. Die blassen Umrisse von Hügeln. Ein blauer Himmel wie ein Geschenk, das frei von Gewalt war. Irgendwo im Hintergrund ihres Bewusstseins hallten Echos der jammernden Stimmen des Übels nach. Aber sie waren nur eine schreckliche Erinnerung. Als sie kein Wasser mehr in den Augen hatte, sah sie Pahni neben sich schwimmen. Mit einer Hand hielt ihr die junge Seilträgerin den Stab des Gesetzes hin, ihren mit Runen verzierten ebenholzschwarzen Stab. Mit der anderen umklammerte sie Covenants Schulter, um Stave zu helfen, seinen Kopf über Wasser zu halten. Pahni gegenüber sorgte Stave mit kräftigen Beinstößen dafür, dass Linden und Covenant über Wasser blieben. Covenant trieb schlaff im Wasser. Sein Kopf hing kraftlos nach hinten. Er wirkte ohnmächtig; verlassen.
Unter der Oberfläche stiegen dünne Blutfäden von seinen Unterarmen hoch und lösten sich auf. Linden musste ihn gekratzt haben. Wie damals Joan … als Linden vor langer Zeit Covenant kennengelernt hatte, hatte Joan ihm den Handrücken zerkratzt, hatte sein Blut gekostet und war dadurch vorübergehend wieder zur Vernunft gekommen. Linden wollte Schwimmbewegungen machen. Sie brauchte Covenant. Sie wollte ihn berühren. Aber dazu war sie zu schwach. Zu sehr voller Echos von gequälten Stimmen. Sie konnte nur ihren Stab umklammern und sich treiben lassen. Dies war der Stab des Gesetzes, machtvoll durch Erdkraft. Unter dem Melenkurion Himmelswehr hatte sie ihn benutzt, um mehr Macht zu entfalten, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Linden hatte sie in Schwärze umgewandelt. Obwohl sie die Runen, mit denen er verziert war, nie hatte lesen können, stand seine Rechtmäßigkeit außer Zweifel. Er gehörte ihr. Auf seine eigene Weise war er ebenso ein Teil ihrer selbst wie das Blut in ihren Adern. Als sie ihre Finger fester um ihn schloss, schien er sie aus einer schrecklichen Abwesenheit zurückzurufen. Der Himmel wurde heller, das Wasser kälter. Als die Vitalität des Stabes durch Hände und Arme in ihre Brust floss, nahmen Stave und Pahni immer mehr Gestalt an, bis sie ihr wieder deutlich vor Augen standen. Die gequälten Stimmen versanken wieder in dem Abgrund, aus dem sie gekommen waren. Der Sonnenschein auf ihrem Gesicht erschien ihr wie das Licht der Auferstehung. Linden begann instinktiv mit Schwimmbewegungen. Dabei streckte sie eine Hand aus, um Covenant am Arm zu packen. Vielleicht konnte sie Pahni und Stave helfen, ihn vor dem Untergehen zu bewahren. Wie sie wieder zu seinem Ring gekommen war, wusste sie nicht, aber das war ihr auch egal. Sie wollte an nichts denken, sich an nichts erinnern - außer an Covenant und Sonnenschein, Pahni und Stave. Dann übernahm Pahni Covenants schlaffen Körper von Stave. Während Stave Linden quer durch die Strömung schob, schwamm die junge Seilträgerin von den Felsen weg und zog dabei Covenant auf dem Rücken liegend hinter sich her. Mit Staves Hilfe erhob Linden sich hoch genug im Wasser, um zu sehen, dass Pahni auf einen kleinen Strand aus angeschwemmtem Sand in einer
Biegung des Baches zuhielt. Der Kontakt mit dem Stab stärkte ihren Gesundheitssinn mit jedem Augenblick weiter. Ihr war undeutlich bewusst, dass sie in einem Tümpel, der tiefer als der übrige Bach war, unter Wasser gedrückt worden war. Das musste Covenant getan haben. Wieso hätten seine Unterarme sonst geblutet? Er musste sie untergetaucht festgehalten haben, weil jeder andere Versuch, sie aus ihren Albträumen zu reißen, gescheitert war. Covenant hatte eine Möglichkeit gefunden, sie zu retten, als sie selbst nicht dazu imstande gewesen war. Sie hätte ihn am liebsten umarmt, wenn das möglich gewesen wäre, ohne Pahni zu behindern. Ihr gerettetes Herz sehnte sich danach, ihn in die Arme zu schließen. Das hätte Jeremiah weder in ihrer Umarmung noch in ihrem Herzen ersetzt, aber sie war eine Frau, die berühren und umarmen musste. Sie sehnte sich nach dem Trost, den Körperkontakt brachte. Und Covenant hatte sie gerettet; davon war Linden überzeugt. In seinen Armen würde sie ihre Beteiligung an Ihr, die nicht genannt werden darf, vielleicht vergessen können. Er war Thomas Covenant; er würde ihr verzeihen. Trotz allem, was sie ihm - und Elena - angetan hatte. Aber wie sie würde er vielleicht sich selbst nicht vergeben. Dann sah sie, wie Pahni wieder festen Boden unter die Füße bekam. Die Schultern der Seilträgerin kamen aus dem Wasser; nun konnte sie Covenant leichter hinter sich herziehen. Im nächsten Augenblick begann auch Stave, sich mit Linden zu dem sandigen Uferstück vorzuarbeiten. Sobald Linden das Bachbett unter ihren Stiefeln spürte, befreite sie sich aus seinem Griff und beeilte sich, Covenant zu folgen. Wasser spritzte, als sie sich mit Händen und Füßen gegen die Strömung voranarbeitete. Vor ihr machte Pahni halt. Linden schloss mit fast verzweifelt wirkender Hast zu den beiden auf. Noch bis zur Taille im Wasser stehend warf sie ihren Stab Pahni zu, damit sie Covenant nicht versehentlich mit Erdkraft verletzen konnte. Die junge Frau riss erstaunt die Augen auf, aber sie hob rechtzeitig eine Hand, um den Stab in der Luft aufzufangen. In einem Ausbruch von Kummer und Sehnsucht warf Linden sich nach vorn. Als sie auf Covenant fiel, umschlang sie ihn mit beiden Armen. Ihre Umklammerung wurde enger, als sehnte ihr Körper sich danach,
seinen zu berühren, und ihr Gewicht zog beide unter Wasser. Linden spürte kaum, wie das Wasser über ihnen zusammenschlug. Stattdessen ließ seine Lepra ihre Nerven unangenehm kribbeln. Die Zerstücklung seines Verstands und seiner Erinnerungen tat ihr weh wie die eisig jammervolle Leere in der Mitte einer Zäsur. Trotzdem existierte er zumindest. Er war real und lebendig: der Thomas Covenant, der sie mit seiner Liebe genährt hatte, bis sie ihn ihrerseits lieben gelernt hatte. Wenigstens vorläufig genügte ihr das. Ganze Welten konnten gerettet werden, solange Covenant am Leben blieb. Seine geistige Leere schmerzte sie. Natürlich tat sie ihr weh. In seinem jetzigen Zustand konnte er nicht auf ihre Umarmung reagieren. Teile seines Ichs waren zu benommen, um sie zu erkennen. Trotzdem klammerte sie sich an ihn, als wäre er der Fels, an dem sie ihr eigenes Leben, Jeremiahs Schicksal und die Rettung des Landes verankert hatte. Und während sie ihn an sich gedrückt hielt, blitzte zwischen ihnen ein Silberfunke auf. Von Covenants Ring ausgehend schien er durch Lindens zerfetzte Bluse zu leuchten, bis er ihre Gesichter mit silbernen Möglichkeiten erhellte. Dann erlosch er ebenso schnell wieder. Wilde Magie. Nur eine Andeutung, trotzdem … wilde Magie. Mit einem gewaltigen Ruck, der ihm fast den Atem raubte, kehrte Covenant zu sich selbst zurück und begann zu kämpfen, um an die Oberfläche zu gelangen. Im nächsten Augenblick rissen Hände sie nach oben. Linden ließ Covenant rasch los, damit Pahni und Stave ihn an Land ziehen konnten, ehe er Wasser in die Lunge bekam. Danach richtete sie sich selbst auf. Von Stave gestützt kam sie in einer Kaskade aus im Sonnenschein glitzerndem Wasser auf die Beine. Während sie sich nasses Haar und kleine Rinnsale aus dem Gesicht wischte, sah sie Covenant entgeistert vor sich stehen. Er war vor Kummer und Erleichterung so schwach, dass er kein Gleichgewicht finden konnte. »Oh, Linden …«, keuchte er. Im Sonnenschein glänzte die Narbe auf seiner Stirn wie eine Anklage. »Verdammt noch mal. Ich hätte dich fast …« »Sag es nicht.« Auch sie rang nach Atem. Einige der Bande, in denen ihr
Herz gelegen hatte, waren gesprengt worden; jetzt schien es ihrer Lunge kaum noch Platz zu lassen. »Das ist unwichtig. Du hast mich gerettet.« »Auserwählte.« Staves Schroffheit tat Linden in den Ohren weh wie ein Schrei aus der Vergangenheit. »Er hat dich in Lebensgefahr gebracht.« Pahni nickte benommen, als teilte sie Covenants Verwirrung. Linden schüttelte den Kopf, streifte ihr tropfnasses Haar hinter die Ohren. »Das ist mir gleich.« Erinnerungen an Elena und kreischende Fratzen bildeten einen Kloß in ihrem Hals, den sie erst hinunterschlucken musste, bevor sie weitersprechen konnte. »Ihr wisst nicht, wo ich gewesen bin.« Staves Tonfall veränderte sich. »Auserwählte?« Seine unwiderstehlichen Hände drehten sie sanft zu sich um. »Linden?« Weil sie nicht ausdrücken konnte, was sie empfand, griff sie unwillkürlich nach ihrem Stab. Pahni ließ ihn sofort los; Linden zog ihn an sich und hielt ihn mit beiden Armen wie einen Schutzschild an ihren Körper gedrückt. »Sie, die nicht genannt werden darf, hat mich verschlungen«, sagte sie noch immer keuchend. »Oder ich hatte den Eindruck, sie habe es getan. Ich war ein Teil des Übels und konnte mich nicht mehr befreien. Ich konnte es nicht! Bis Covenant …« Obwohl Stave sie weiter an den Schultern hielt, sah sie zu Covenant hinüber. »Wie du das geschafft hast, ist mir egal. Du warst meine einzige Chance, und du hast mich gerettet.« Ihre Bestätigung ließ ihn aufatmen. Sie konnte sehen, wie seine strengen Selbstvorwürfe etwas aufweichten. Er versuchte sogar ein verzerrtes Lächeln. Indem er die Arme leicht ausbreitete, deutete er auf sich selbst: auf seine körperliche Erscheinung oder geistige Präsenz. »Dann sind wir also quitt.« Quitt? Niemals! Linden wollte sich erneut in seine Arme werfen; wollte spüren, wie er ihre Umarmung aus eigenem Antrieb erwiderte. Ein Teil ihres Ichs hatte sich jahrelang danach gesehnt, umarmt zu werden und selbst zu umarmen; war dahingesiecht wie eine Pflanze ohne Sonne und Regen. Er war nicht Jeremiah; er konnte aus eigenem Antrieb handeln … Aber ehe sie sich bewegen konnte, sah sie ein rasches besorgtes Aufblitzen in seinen Augen. Er hob die Hände, um sie abzuwehren; stolperte einige Schritte rückwärts. »Fass mich nicht an!« Irgendein privater Konflikt unterminierte ihn; Linden spürte seine Ausstrahlung. Er
sprach kaum laut genug, um sich trotz des Wasserrauschens verständlich machen zu können. »Bitte nicht, Linden. Ich bin noch nicht so weit. Ich habe zu viel von mir selbst verloren. Ich fürchte mich davor, was ich zu werden scheine. Oder was ich vielleicht werden muss. Darüber muss ich mir erst im Klaren sein, bevor ich …« Seine Stimme versagte. Schmerz trübte seinen Blick. Er biss die Zähne zusammen. Mit sichtlicher Anstrengung schloss er: »Fass mich einfach nicht an. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.« Linden sah gekränkt weg. Die Klarheit des Lichts und die Sauberkeit des Wassers schienen übergangslos steril und trostlos, unwichtig geworden zu sein. Genauso gut hätte er vorwurfsvoll fragen können: Was hast du getan? Irrational glaube sie, er könne das Übel in ihr noch erkennen sprungbereit geduckt, um erscheinen zu können, sobald es eine Gelegenheit witterte, Schaden anzurichten. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Einige Augenblicke später merkte Linden jedoch, dass sie nicht überrascht war. Was hatte sie anderes erwartet? Ein jubelndes Willkommen? Liebesbeteuerungen? Für die Frau, die ihn in seine unvollkommene Sterblichkeit zurückgeholt hatte? Die die Schlange des Weltendes geweckt hatte? Es war nur passend, dass Covenant nicht von ihr berührt werden wollte. Es war nur passend, dass ihr Stab schwarz wie die Verlorene Tiefe war. Und es änderte nichts. Linden nickte vor Selbstbeherrschung steif. »Also gut.« Sie musste sich räuspern. »Das ist verständlich, denke ich.« Sie sah Covenant nicht wieder an; wich auch Staves stetigem Blick aus. Stattdessen betrachtete sie das Wasser, das rauschend um ihre Knie schäumte. »Erzählt mir, was passiert ist. Wieso leben wir noch? Wo sind die anderen? Wo ist Jeremiah? Wie geht es ihm?« »Vorerst ist nichts zu befürchten, Auserwählte«, antwortete Stave prompt. »Alle sind in Sicherheit. Mit List und Verzweiflung hat der Ur-Lord Esmer dazu überredet, uns zu verlassen. Danach hat der Eifrige uns hierhergebracht. Ich bin mir meiner Sache nicht sicher, aber ich glaube, dass auch die Urbösen und die Wegwahrer dem Zorn des Übels entgangen sind. Wir befinden uns hier im Unterland südöstlich des Donnerbergs -
zwischen der gewaltigen Felsklippe des Landbruchs und den Gefahren der Sarangrave-Senke. Deine Gefährten erwarten dich stromaufwärts. Nur der Eifrige hat uns verlassen, aber seine Rückkehr angekündigt, um uns einen letzten Dienst zu erweisen. Alle sind erschöpft und von Entbehrungen gezeichnet, aber es hat keine weiteren Verwundungen mehr gegeben. Dein Sohn wird weiter von Galt mit Loriks Krill bewacht. Den Weißgoldring hat der Zweifler dir selbst zurückgegeben. An diesen Ort sind wir auf sein Drängen hin versetzt worden. Mit welcher Absicht, wissen wir nicht.« Das war alles zu viel: Linden konnte es nicht aufnehmen. Und es änderte auch nichts. Fass mich einfach nicht an. Sie starrte weiter in die rastlosen kleinen Wellen des Bachs. Im Moment war ihr nur wichtig, dass Jeremiah in der Nähe war. Als Staves Verstummen ihr sagte, dass er ausgeredet hatte, löste sie eine Hand von dem Stab, schöpfte etwas Wasser aus dem Bach und benetzte damit ihr Gesicht, als ließe sich die Verzweiflung abspülen. »Das ist noch nicht alles«, sagte Covenant schroff, »aber du brauchst den Rest nicht gleich zu hören.« In seinem Tonfall lag Sorge wie eine schlimme Vorahnung. »Du sollst nur wissen, dass wir hier nicht vor Esmer sicher sind. Ich habe ihn nicht dazu überreden können, uns in Zukunft nicht mehr zu verraten. Er wird es wieder versuchen, sobald er eine Möglichkeit gefunden hat, Kastenessen und dir gleichzeitig zu dienen.« Auch das war mehr, als sie zunächst begreifen konnte. Impulsiv antwortete sie: »Das ist mir egal. Ich bin nur froh, dass du es geschafft hast, Jeremiah zu retten.« Hätte sie jetzt erfahren müssen, dass er nicht mitgekommen wäre, wäre das ein vernichtender Schlag gewesen. »Alles andere …« Statt zu weinen zuckte sie mit den Schultern. »Das kannst du mir später erklären.« Fass mich nicht an. »Das ist wahr gesprochen«, stellte Stave nachdrücklich fest. »Dass der Ur-Lord Esmer überredet hat, war notwendig, und dass er dich untergetaucht hat, war offenbar ebenfalls notwendig. Weiter über solche Dinge zu sprechen, hat keinen Zweck.« Was er sagte, war offenbar für Pahni bestimmt, um sie anzuweisen, niemandem zu erzählen, was Covenant getan hatte. Damit war Linden sehr einverstanden. Zumindest das war sie Covenant schuldig. Auch
wenn seine abweisende Art Dankbarkeit unmöglich machte, änderte sie nichts daran, dass er ihren Verstand aus der Umklammerung des Übels befreit hatte. Es war sein Verdienst, dass sie weiter hoffen durfte, ihren Sohn vor dem Croyel retten zu können. »Auserwählte«, fuhr Stave fort, »willst du nicht aus dem Wasser kommen?« Er deutete mit einer Hand auf die sandige Stelle am Ufer. »Dort kannst du deine Kleidung trocknen und dich in der Sonne wärmen und über alles sprechen, wonach dir der Sinn steht.« Linden schüttelte den Kopf. Ihre nasse Kleidung störte sie nicht. Und sie war noch nicht so weit, sich den Entscheidungen zu stellen, die sie würde treffen müssen. Sich der unmöglichen Zukunft zu stellen. Ihre Erinnerungen an das Ungeheuer auf Jeremiahs Rücken waren schlimm genug, aber die Gegenwart würde noch schlimmer sein. Wie Covenant war ihr Sohn jemand, den sie nicht berühren durfte. »Ich brauche ein Bad«, erklärte sie Stave innerlich ächzend. Vor allem brauchte sie etwas Zeit, um ihr emotionales Gleichgewicht zurückzugewinnen. »Vielleicht bringst du Covenant inzwischen zu den anderen zurück.« Sie konnte es noch immer nicht ertragen, seinen Blick zu erwidern. »Pahni kann bei mir bleiben. Wenn ich wieder etwas ansehnlicher bin …« Bei dem Gedanken an ihr strähniges Haar und ihre schmutzige Kleidung verzog sie das Gesicht. »… hilft sie mir, euch zu finden.« »Auf Befehl meines Mähnenhüters habe ich Thomas Covenants Wünsche zu erfüllen, Ring-Than«, antwortete Pahni. »Ist der Zweifler jedoch einverstanden, bleibe ich sehr gern bei dir.« Ihr Tonfall deutete an, dass sie sich notfalls über Mahrtiirs Befehl hinwegsetzen würde. »Hol es der Teufel«, seufzte Covenant. »Warum denn nicht?« Linden hörte Bedauern in seiner Stimme. »Nach allem, was du durchgemacht hast, hast du es verdient, eine Zeit lang allein sein zu dürfen. Komm jetzt, Stave.« Er streckte eine Hand nach der Schulter des Haruchais aus. »Ich bin ziemlich erledigt. Ich glaube nicht, dass ich es ohne deine Hilfe schaffen kann.« »Geh nur«, murmelte Linden automatisch. Sie wollte, dass er sie allein ließ, wollte ihn am liebsten sogar vergessen. Aus Notwehr war sie darauf fixiert, ein Bad zu nehmen; sie konnte es kaum noch erwarten, ihre Kleidung abzulegen. Auch wenn sie keine Seife hatte, konnte sie den
feinen Schwemmsand als Scheuermittel benutzen, um ihren Körper von den vielen Schmutzflecken zu befreien. Pahni warf Stave einen raschen Blick. »Tu mir den Gefallen, Stave, und bitte sag Liand, dass es mir …« Sie verbesserte sich. »… dass es uns gut geht.« Linden war vage überrascht, als sie hörte, wie die Seilträgerin mit Stave sprach. Ihre engsten Freunde gingen vertrauter miteinander um als frührer. Hauptsächlich war das bestimmt Staves Verdienst. Er hatte das anfängliche Misstrauen Liands und der Ramen durch seine unbeirrbare Loyalität widerlegt. »Verlass dich darauf«, sagte Stave, während er sich Covenants Arm über die Schultern legte. »Kommt nach, wenn die Auserwählte so weit ist. Vorläufig gibt es keinen Grund zur Eile.« »Damit will er sagen«, murmelte Covenant, »dass wir kein Essen haben, sodass ihr gut daran tut, euch eure Kräfte einzuteilen.« Dann wandten Stave und er sich ab, hielten auf den sandigen Uferstreifen und den nächsten Hügelkamm zu. Liegt dort Norden?, fragte Linden sich flüchtig. Ja, versicherte ihr Gesundheitssinn ihr. Oder vielmehr Nordwesten. Aber solche Dinge verwarf sie sofort wieder. Ihre Wahrnehmungsgabe war so scharf wie Loriks Krill, und ihr war peinlich bewusst, wie schmutzig ihr Haar, ihr Körper, ihre Kleidung war. Während Stave und Covenant triefendnass aus dem Bach stiegen und den Rückweg antraten, überzeugte sie sich davon, dass Jeremiahs »geheiltes« Rennauto weiter tief in ihrer Tasche steckte. Als Linden ihre schmerzenden Rippen, ihre gebrochene Kniescheibe und ihr zerschrammtes Schienbein untersuchte, zeigte sich, dass alles gut verheilt war. Also hakte sie auch dieses Thema ab. Während Stave und Covenant hinter dem nächsten Hügelkamm verschwanden, stützte Linden sich im Wasser stehend auf ihren Stab und versuchte, den ersten Stiefel auszuziehen. Aber das schaffte sie nicht. Ihr Stiefel war voller Wasser und schien an ihr zu kleben; oder sie war zu schwach. Pahni war sofort neben ihr. »Wenn du gestattest, Ring-Than …« Bevor Linden antworten konnte, tauchte die junge Seilträgerin bereits unter. Weil sie beide Hände gebrauchen konnte, hatte sie keine Mühe, Linden den Stiefel mitsamt der Socke auszuziehen.
Linden wechselte dankbar den Fuß und hielt Pahni den anderen Stiefel hin. Danach richtete die Seilträgerin sich wieder auf, holte tief Luft und wischte sich das Wasser aus den Augen. »Lass mir einen Augenblick Zeit, Ring-Than, damit ich deine Stiefel zum Trocknen auf einen Felsen stellen kann.« Sie nickte zum Ufer hinüber. »Dann komme ich wieder und wasche deine Kleider, während du badest.« Linden knöpfte bereits ihre Bluse auf. »Wirf sie einfach ans Ufer. Sind sie später unbequem, fällt mir schon irgendwas ein.« »Wie du wünschst.« Pahni wandte sich ab und warf LindensStiefel auf den sandigen Uferstreifen. Dann streckte sie eine Hand nach Lindens Bluse aus. Der rote Flanell war durchlöchert. Linden begutachtete kummervoll die Ein- und Ausschusslöcher vorn und hinten. Vermutlich konnte sie von Glück sagen, dass die Kugel ihren Körper glatt durchschlagen hatte. Sie wusste nicht, wie sie sich selbst geheilt hatte. Wäre das Geschoss in ihrem Körper geblieben … Indem sie so viele Fehler gemacht, so viele Risiken auf sich genommen hatte, hatte sie Lord Foul anscheinend genau das verschafft, was er wollte. Aber sie weigerte sich, ihre Entscheidungen nachträglich zu hinterfragen. Bedauern war kostspielig; es ließ einen so erschöpft zurück wie jeder Kampf. Wollte Covenant ihre Liebe nicht, konnte er sich zum Teufel scheren. Sie hatte ihren Sohn gefunden. Jetzt würde sie sich darauf konzentrieren, ein Mittel zu finden, um ihn von dem Croyel zu befreien. Nachdem sie ihre Bluse Pahni überlassen hatte, ging sie leicht in die Hocke, um mühsam ihre Jeans auszuziehen. Als Linden sie in den Händen hielt, sah sie, dass Nässe oder irgendein Lichtreflex die grünen Grasflecken von der Grenze des Wanderns deutlicher als bisher hervortreten ließ. Die Jeans glichen ihrem Stab: in einer Sprache beschriftet, die Linden nicht lesen konnte. In der Würgerkluft hatte Caerroil Wildholz über Linden gesagt: Sie trägt die Zeichen von Fruchtbarkeit und hohem Gras. Zudem hat sie den Preis des Schmerzes gezahlt. Und das Siegel der Bedürfnisse des Landes ist ihr aufgedrückt worden. Aus diesen Gründen hatte er sie am Leben gelassen.
Und er hatte sie gebeten, die Last einer Frage auf sich zu nehmen … Wie kann es im Land weiter Leben geben, wenn die Forsthüter versagen und untergehen, was unvermeidlich ist, und niemand übrig bleibt, um über seine kostbarsten Schätze zu wachen? Wir wurden aufgestellt, um sie statt des Schöpfers zu schützen. Muss es geschehen, dass Schönheit und Wahrheit ganz verschwinden, wenn wir einst nicht mehr sind? Linden hatte dem altehrwürdigen Wächter der Würgerkluft eine Antwort versprochen, aber sie wusste nicht, wie sie ihr Versprechen jemals halten sollte. Mit gerunzelter Stirn warf sie ihre Jeans Pahni zu, als wollte sie sich so von ihrer Verantwortung befreien. Ihren Stab klemmte sie zwischen Felsen ein, damit die Strömung ihn nicht mitreißen konnte. Trieb er trotzdem ab, würde Pahni ihn rasch zurückholen. Bedauern ließ sich abweisen. Verzweiflung war eine andere Sache. Wie in einem Akt der Selbstverleugnung sank Linden im Wasser auf die Knie, schöpfte feinen Schwemmsand aus dem Bachbett und verteilte ihn in ihrem Haar, auf ihrer Kopfhaut. Dann scheuerte sie sich sauber … Das tat weh, aber dieser Schmerz war ihr willkommen. Später saß Linden, die ihre nasse Kleidung, aber weder Socken noch Stiefel trug, auf einem flachen Stein am Bachufer und ruhte sich aus, während ihre Füße die kühle Liebkosung des strömenden Wassers genossen. Ihre Haut fühlte sich wie mit grobem Sandpapier behandelt an, und auf dem Kopf hatte sie sogar ein paar blutende Stellen. Aber das machte ihr kaum etwas aus. Im Vergleich zu allem anderen waren solche Schmerzen belanglos. Ihre Socken lagen zum Trocknen neben ihr auf dem Stein. Die Stiefel ließ sie vorerst liegen, wo Pahni sie hingeworfen hatte. Der Stab des Gesetzes lag quer über ihren Knien. Mit den Fingern fuhr sie die eingeschnittenen Runen nach. Sie konnten alles Mögliche bedeuten, aber Linden wollte glauben, sie seien eine Prophezeiung von Hoffnung. Von Kevins Schmutz unbehindert, musste sie mit ihrem Stab und Covenants Ring eigentlich zu fast allem imstande sein. Bestimmt konnte sie für Jeremiah hier mehr tun als in der Verlorenen Tiefe? Mit untergeschlagenen Beinen und sehr aufrecht saß Pahni in Lindens Nähe auf einem weiteren flachen Stein. Auch sie hatte gründlich
gebadet. Jetzt starrte sie mit Anspannung in den Schultern und Schatten im Blick in das vorbeiströmende Wasser. Linden konnte noch nicht wieder klar denken und mitfühlen. Pahnis Konfliktsituation war jedoch unübersehbar. Innerlich seufzend forderte Linden sie ruhig auf: »Erzähl mir, was dich bedrückt, Pahni. Ich könnte versuchen, es zu erraten, aber es ist besser, wenn du es mir einfach erzählst.« »Ach, Ring-Than«, antwortete die junge Frau ebenfalls seufzend. »Ich bin nur ein unbedeutendes kleines Wesen inmitten der Großen und der Schrecken der Welt. Meine Sorgen sind es nicht wert, dass du dich mit ihnen abgibst.« Fass mich nicht an. Dann wandte die Seilträgerin sich ihr zu. Indem sie Lindens Blick freimütig erwiderte, sagte Pahni: »Aber Liand ist kein unbedeutendes Wesen. Ganz sicher nicht. Er ist der erste wahre Steinhausener seit Jahrhunderten, Träger des wundersamen Sonnensteins und …« Ihre Stimme stockte einen Augenblick. »… und mein Geliebter. Seine Kühnheit und Tapferkeit sind der Stoff, aus dem Riesen-Sagen gemacht werden. Sogar die Ranyhyn sollten davon hören. Um seinetwillen will ich jetzt reden.« Linden wusste, was kommen würde. Trotzdem zwang sie sich dazu, schweigend zu warten. Vorsichtig fuhr Pahni fort: »Es wird immer klarer, dass Anele im Auftrag des Zeitenherrn gesprochen hat, als er auf der Hochebene über dem Glimmermere das Wort ergriffen hat. Seine Prophezeiungen verdankte er dem Raum und Zeit überspannenden Bewusstsein des Zeitenherrn.« Linden nickte. »Ja, ich erinnere mich.« Ich wollte, ich könnte dich verschonen. Teufel, ich wollte, jeder von uns könnte dich verschonen. Aber ich sehe keine Möglichkeit dazu. »Dann erinnerst du dich bestimmt auch daran«, fuhr die Seilträgerin fort, »dass Aneles Worte Liand zu dem Orkrest geführt haben, der ihn seither begeistert. Aber er hat auch von einem schweren, vielleicht tödlichen Schicksal gesprochen, dem niemand entgehen kann oder darf. Ring-Than …« Pahnis Stimme versagte erneut. Sie senkte den Blick und fragte so leise, dass das Wasserrauschen ihre Stimme fast übertönte.
»Verstehst du die Prophezeiung des Zeitenherrn jetzt besser? Über meinen Horizont geht sie hinaus. Du hast es durch Tapferkeit und Voraussicht und Liebe auf einen Platz zwischen den Mächtigen dieser Erde geschafft… aye, und du kannst ihnen widerstehen, wenn es nötig ist. Kannst du ein Licht in die Finsternis meines Herzens werfen? Darum bitte ich dich um Liands willen, der von Anfang an dein Freund und Gefährte war und in seiner Treue niemals wankend geworden ist.« O Pahni, hätte Linden am liebsten ausgerufen, du brichst mir das Herz! Sie hatte seit dem Tag um Liand gefürchtet, an dem er darauf bestanden hatte, ihr zur Flucht aus Steinhausen Mithil zu verhelfen. Aber sie hatte keine Ahnung, worauf Covenants Andeutungen abzielten. Sie kann es schaffen. Sag ihr, dass ich das gesagt habe. Und sonst gibt es keinen, der auch nur den Versuch wagen dürfte. Linden hielt den Stab etwas fester, als könnte er ihr Mut verleihen, und antwortete: »Tut mir leid, Pahni, das kann ich nicht. Auch wenn du etwas anderes glaubst, bin ich weder tapfer noch mit irgendeiner Art Voraussicht begabt. Die Zukunft ist für mich ebenso finster, wie sie dir erscheint. Deine Frage musst du Covenant stellen …« Falls er die Erinnerung daran nicht eingebüßt hatte. »Oder ich kann ihn danach fragen, wenn dir das lieber ist.« Pahni kniff die Lippen zusammen. Sie blinzelte heftig, während sie aufs Wasser hinausstarrte. »Ich entdecke Wahrheit in deinen Worten«, sagte sie dann. »Aber ich begreife nicht, wie sie wahr sein können. Du bist Linden Avery, Linden Riesenfreundin, die Ring-Than, die Auserwählte wie ist es da möglich, dass du mir nichts anzubieten hast?« »Das verstehst du nicht«, antwortete Linden strenger als beabsichtigt, »aber das solltest du eigentlich. Du hast dich als unbedeutendes kleines Wesen bezeichnet. So fühle ich mich. Ständig.« Ihre Handbewegung umfasste ihre Umgebung. »Ich bin zu klein für dies alles. Ich will meinen Sohn retten. Kann ich das nicht, soll er möglichst lange sicher sein. Mehr habe ich mir nicht vorgenommen. Alles andere …« Sie hatte viele Versprechen gemacht, die sie nicht halten konnte. Selbst Covenants Wiederbelebung war ein Versprechen, das sie bereits gebrochen hatte, indem sie ihn nicht vollständig ins Leben zurückgerufen hatte. »Der Rest ist zu viel für mich. Den müssen andere übernehmen.« Die junge Frau runzelte die Stirn. »Ich entdecke Wahrheit in deinen
Worten«, wiederholte sie. Dann fuhr sie nachdrücklicher fort: »Trotzdem glaube ich, dass du dich in Bezug auf dich selbst irrst. Wieder und wieder hast du das in dich gesetzte Vertrauen des Zeitenherrn gerechtfertigt. Wieder und wieder hast du zu unserer Errettung Wunder bewirkt. Bezeichnest du dich als unbedeutendes kleines Wesen wie ich, beurteilst du dich sehr ungerecht.« »Nein, das tue ich nicht«, widersprach Linden nachdrücklicher. »Du begreifst noch immer nicht, was ich sagen will. Liand ist nicht klein und du ebenfalls nicht. Gibt es noch irgendwelche Größe auf der Welt, ist es eure.« Und die Covenants. »Größe hat nichts mit Macht zu tun. Sie hängt davon ab, was man ist. Du bist so selbstlos, dass ich wie vor den Kopf geschlagen bin. So machst du dich von Tag zu Tag größer. Ich dagegen schrumpfe.« Von Schwäche und Entsetzen gelähmt war sie von ihr, die nicht genannt werden darf, verschlungen worden: Sie kannte die Wahrheit. Wozu hätte sie Covenant sonst so dringend gebraucht? Weshalb hätte er sie sonst abgewiesen? Die junge Frau hatte sich ihr wieder zugewandt. Ganz ohne ihre sonstige gewinnende Schüchternheit sagte sie: »Dann bleibt dir keine andere Wahl, Ring-Than - obwohl du die Auserwählte genannt wirst. Du musst deinen Sohn aus den Klauen des Croyel befreien. Tätest du es nicht, würdest du in ewiger Verbitterung leben, und Fangzahns Triumph über dich wäre vollständig.« Linden setzte sich auf. »In diesem Fall…« Sie zog ruckartig die Füße aus dem Bach und stand auf. »… sollten wir rasch damit anfangen, was wir … nun, was wir zu tun haben. Ich hoffe sehr, dass du unrecht hast. Aber ich bezweifle es.« Was ihren Sohn betraf, hatte sie die einzige bedeutsame Entscheidung damals vor Jahren getroffen, als sie ihn adoptiert hatte. Mit elegant flüssigen Bewegungen erhob Pahni sich ebenfalls. Ihre Begierde, zu Liand zurückzukehren, war fast mit Händen greifbar, als sie sich beeilte, Lindens Stiefel zu holen. Aber Linden hatte es nicht eilig. Sie war nur verärgert. Hinter ihrem Zorn steckte jedoch eine gewisse Angst. Covenant hatte sie bereits abgewiesen. Wollte er auch nichts von den Entscheidungen und Verantwortlichkeiten wissen, die sie ihm zugedacht hatte - wies er damit
alle ihre Gründe zurück, ihn wiederzuerwecken… Sie wusste nicht, ob sie imstande sein würde, ihm gegenüberzutreten. Nach ihrem Marsch in der trockenen Hitze über von der Sonne verbrannte Hügel war Linden trotz ihrer nassen Stiefel und feuchten Socken in Schweiß gebadet, als Pahni und sie die Gesellschaft wieder erreichten. Vom letzten Hügelrücken aus sah sie Stave und Covenant, Galt mit Jeremiah, Liand und Anele, die Riesinnen, Mähnenhüter Mahrtür und Bhapa. Ein Blick genügte, um Linden zu bestätigen, dass alle ausgeruht waren und genug getrunken hatten. Wenigstens vorläufig hatten die meisten ihre angeborene Zähigkeit zurückgewonnen. Jetzt saßen sie wartend im Schatten einiger Felsblöcke am Bach. Auf benachbarten Hügelkämmen hielten Clyme und Branl Wache. Linden konnte sich nicht vorstellen, wie der Gesellschaft so weit von allen Feinden entfernt eine andere Gefahr als Hunger drohen sollte. Trotzdem war sie den Gedemütigten für ihre Wachsamkeit dankbar. Ebenso wenig konnte sie sich vorstellen, warum der Eifrige sie hierhergebracht hatte, wo sie nichts ausrichten konnten. Sie verstand auch nicht, weshalb der Insequente sie hier verlassen hatte. Liand begrüßte Pahni und sie mit einem Jubelruf. Statt mit seinen noch spärlichen Kräften hauszuhalten, sprang er auf und lief ihnen bergauf entgegen. Mit einem liebevollen Lächeln für Pahni umarmte er zuerst Linden. Seine Umarmung war kurz: ein flüchtiger Abklatsch der innigeren Umarmungen, nach denen er sich sehnte. Trotzdem stabilisierte sie Linden. Sie erinnerte sie trotz ihrer überreizten Nerven und innerlichen Verletzungen daran, dass sie auch nach ihrer Zurückweisung durch Covenant nicht allein war. Sie hatte weiterhin Freunde, die stark und treu waren. Falls Covenant sich weigerte, die Gesellschaft zu führen, würde sich vielleicht eine andere Lösung finden. Die Begrüßung durch die Schwertmainnir war weniger impulsiv, aber alle Riesinnen erhoben sich von ihren Ruhelagern, sprachen erleichtert Lindens Namen aus und waren sichtbar froh, mit eigenen Augen feststellen zu können, dass sie ihren Albträumen entronnen war. Anele saß weiter in Böen-Endes Brustpanzer, ohne Lindens Rückkehr
zur Kenntnis zu nehmen. Im Gegensatz dazu begrüßte Mahrtür sie mit einer anerkennenden Verbeugung, und Bhapa winkte ihr schief grinsend zu. Aber Jeremiah zeigte keine Reaktion, und der Croyel ignorierte sie. Aus irgendwelchen Gründen folgte der Blick des Ungeheuers jetzt Liand. Die Gedemütigten ließen sich wie üblich nicht anmerken, was sie dachten oder empfanden. Linden, die sich auf ihren Stab und Liand stützte, kam langsam den Hügel herab. Unterwegs studierte sie Covenants kümmerliche Versuche, sich ein Lächeln für sie abzuringen. Um sich selbst zu schützen, versuchte sie zu denken: Scher dich zum Teufel! Aber sie schaffte es nicht, ihn anzusehen und dabei so etwas zu denken. Zumindest vorläufig war er sehr präsent. Obwohl er sie abgewiesen hatte, wünschte sie ihm, dass seine Absenzen seltener werden würden, je besser er seine lange Vergangenheit bewältigte. Wie Linden selbst wurde er weniger, als er einst gewesen war. Zumindest in diesem Punkt verstand sie seinen Drang, sich von ihr zu distanzieren. Jeremiah hätte sie am liebsten gar nicht angesehen. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass sein Zustand unverändert war. Aber schon ein flüchtiger Blick auf seine schlaffe Haltung, die trüben Augen, den sabbernden Mund und die mit erstem Bartflaum bedeckten Wangen bestätigte, dass er weiter der Gefangene des Croyel war. Und die tyrannische Bösartigkeit des Ungeheuers war ungebrochen. Trotz der erschreckend scharfen Klinge des Krill an seinem Hals glitzerten in seinen Augen unbestimmte Drohungen, und seine Kiefer mahlten, als könnten sie es kaum erwarten, sich wieder in Jeremiahs Hals zu graben. Die Bisswunden an den Stellen, wo das Ungeheuer sich von seinem Blut ernährt hatte, waren unverschorft offen; sie bluteten jedoch nicht und ließen keine Anzeichen einer Entzündung erkennen. Zumindest vorläufig hatte Linden nicht den Mut, das Risiko einer Behandlung einzugehen. Falls der Croyel irgendeinen konkreten Grund hatte, auf Rettung zu hoffen, konnte Linden ihn nicht erkennen - jedenfalls nicht, ohne das Feuer ihres Stabes zu gebrauchen. Aber das würde sie demnächst tun, nahm sie sich vor. Ursprünglich war sie vor der Gedankenwelt des Croyel - und ihrer engen Verbindung mit der Jeremiahs zurückgeschreckt. Aber nun verfügte sie über andere Mittel.
Reichte der Stab des Gesetzes nicht aus, konnte sie dank ihres ungehindert analytischen Gesundheitssinns wilde Magie so präzise einsetzen, dass sie den Croyel vernichten konnte, ohne ihrem Sohn zu schaden. Aber sie war noch nicht bereit. Körperliche Anstrengungen hatten sie erschöpft, zu schwach für übermäßige Risiken zurückgelassen. Sie brauchte Zeit, um sich zu erholen, ehe sie die Herausforderung, ihren Sohn aus seiner Notlage zu befreien, auf sich nahm. Außer Covenant und Anele waren jetzt alle ihre Gefährten auf den Beinen. Aber als Linden einige Schritte von Covenant entfernt im Schatten eines Felsblocks zu Boden sank, nahmen die Riesinnen dankbar seufzend ebenfalls Platz. Liand und die Ramen folgten ihrem Beispiel. Vielleicht unbewusst bildeten sie einen weiten Halbkreis, der von Linden bis zu Covenant reichte, ohne Anele auszuschließen. Linden, die nicht wusste, was sie sagen oder wie sie beginnen sollte, fragte verlegen:»Habt ihr schon irgendwas beschlossen?« »Ohne dich?«, schnaubte Covenant, aber sein Schnauben galt anscheinend nicht ihr. Stattdessen schien er auf sich selbst wütend zu sein. »Du vergisst, mit wem du sprichst. Auf irgendeine Weise sind wir alle von dir abhängig.« Er verzog das Gesicht. »Zumindest sind sie das.« Seine verstümmelte Hand deutete auf den Halbkreis. »Jedenfalls würde es keinem von uns einfallen, ohne dich Pläne zu schmieden.« Ich weiß, dass das schwer ist. Ich weiß, dass du glaubst, am Ende deiner Kräfte zu sein. Aber du bist noch nicht fertig. Zuvor hatte Covenant die Gedemütigten angewiesen, ihr behilflich zu sein; aber Linden war nicht zuversichtlich, dass sie das nochmals tun würden. Und sein Bestreben, sich von ihren übrigen Gefährten abzugrenzen, schmerzte sie. Darauf war sie ganz entschieden nicht vorbereitet gewesen. Sie war darauf angewiesen, dass er ihr und den anderen sagte, was sie tun sollten. Trotzdem musste Linden irgendetwas sagen. Mit einer Hand über den Augen, um sie vor der grellen Sonne zu schützen, tat sie ihr Bestes. »Dann sollten wir vermutlich mit dem Offensichtlichen beginnen. Vielleicht kann Stave uns sagen, wo wir Nahrung finden können.« Er kannte dieses Gebiet. Die Haruchai als Rasse vergaßen nie etwas. »Viel
mehr interessiert mich jedoch…« Sie schluckte schmerzlich; ihre Kehle war schon wieder ausgetrocknet. »Wieso hat der Eifrige uns verlassen? Und wieso hat er uns hier abgesetzt?« Covenant zuckte mit den Schultern: eine Geste wie ein Zusammenfahren. »Er hat sich abgesetzt, weil er glaubt, dem Untergang geweiht zu sein. Dass er den Egger absichtlich behindert hat, bedeutet sein Ende, und er will uns noch einen letzten Dienst erweisen, bevor er zerfällt. Wahrscheinlich hofft er darauf, dass sein Volk ihn noch etwas länger zusammenhält. Was das Gebiet hier betrifft … er hat von einer Atempause gesprochen. Abstand zu unseren Feinden. Gelegenheit, uns zu erholen, vielleicht sogar nachzudenken.« Covenant machte ein finster zweifelndes Gesicht. »Er hat noch etwas anderes angedeutet, sich aber nicht sehr deutlich ausgedrückt.« Während Linden den Schock zu verarbeiten versuchte, dass der Eifrige sich für Jeremiah und sie aufgeopfert hatte - dass er dem Beispiel der Mahdoubt folgend auf seinen eigenen Ruin hingearbeitet hatte -, setzte Raureif Kaltgischt Covenants Antwort fort, als wollte sie ihm den Rest ersparen. »Außerdem war der Eifrige der Überzeugung, dass die Flut, die du unter dem Gravin Threndor ausgelöst hast, die Gefahren dieser Zeit erheblich verändert hat. Er glaubt, sie habe die Prophezeiungen seines Volkes weggespült. Jetzt ist dein Schicksal ›in Wasser geschriebene Deshalb kann er keinen nützlichen Rat mehr anbieten.« In Wasser geschrieben. Linden verzog unwillkürlich das Gesicht. Auf ihrer Flucht aus Steinhausen Mithil hatte der Verächter ihr selbst erklärt, ihr Schicksal sei in Wasser geschrieben. Vorläufig verstand sie nichts. Ihre Gefährten hatten erst zu reden begonnen - und schon zu viel gesagt. Wie konnte etwas, das die Urbösen und sie getan hatten, das Schicksal des Landes verändern oder Lord Fouls Manipulationen beeinflussen? Das war doch wohl nicht denkbar? Der Eifrige unterbrach ihre wirren Überlegungen. »Und daher«, verkündete er wie aus dem Nichts, »kehre ich zurück, um mein gegebenes Wort zu halten.« Mit wirbelnden bunten Bändern materialisierte er sich in dem Halbkreis, den Lindens Gefährten bildeten.
»Die Insequenten haben beschlossen«, teilte er der verwunderten Gesellschaft mit, »eurem Bedürfnis nach Unterstützung bis zu diesem Ausmaß entgegenzukommen.« In seiner Stimme klang kaum noch etwas von seinem früheren arroganten Lispeln an. »Dank ihrer Macht und ihres Wissens werde ich gnädig verschont, um euch den versprochenen letzten Dienst erweisen zu können.« Die Bänder seines Gewands trugen oder umklammerten mindestens zwei Dutzend Bündel in allen Größen: Bettrollen, schwere Säcke, volle Wasserschläuche. Mit diesen Lasten, die den Halbkreis fast ausfüllten, war er wie eine Karawane beladen. Linden erfasste intuitiv, dass die Säcke voller Lebensmittel und Weinflaschen waren. Im nächsten Augenblick fiel ihr auf, dass er noch schmutziger und zerzauster war, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Tatsächlich sah er aus wie jemand, der durch den Dreck geschleift und verprügelt worden ist. Sein regenbogenbuntes Gewand war schlammig; die meisten Bänder hingen in Fetzen herab. Bei Tageslicht wirkte sein ehemals selbstzufriedenes Gesicht schmal und elend, als wäre er auf unerklärliche Weise abgemagert. Trotzdem hielt er sich aufrecht und spielte den Starken, der er nicht länger war. Sein angestrengtes Lächeln sollte vermutlich beruhigend sein. »Hier«, sagte er heiser, »ist ein Festmahl, das selbst Riesinnen sättigen müsste.« Er legte seine Bündel nacheinander ab. »Unter den Insequenten ist der Eifrige nicht der einzige Jünger der Mahdoubt. Euch soll aus eurer Notlage geholfen werden. Schlemmt ihr ungehemmt, reichen diese Vorräte für zwei bis drei Tage. Teilt ihr sie klug ein, braucht ihr keinen Hunger zu fürchten, während ihr die letzte Krise der Erde durchlebt.« Covenant glotzte ihn geradezu an. Die Schwertmainnir waren im ersten Augenblick zu verblüfft, um zu reagieren. Dann sprangen sie gemeinsam auf und griffen nach den Säcken des Eifrigen. Sogar Anele setzte sich von der Aussicht auf Essen elektrisiert ruckartig auf. »Himmel und Erde!«, krähte Liand. Er war mit einem Satz auf den Beinen und stürmte auf den Insequenten zu, um ihn zu umarmen. Der Eifrige wirkte im ersten Augenblick völlig verblüfft; er war so erstaunt, als hätte Liand ihn tätlich angegriffen. Aber dann schlang er
seine bunten Bänder um den Steinhausener. Sein schmal gewordenes Gesicht strahlte vor Freude und Überraschung. In wenigen Augenblicken hatten die Riesinnen genug ausgepackt, um alle zu speisen: Lammkeulen und Brathühner und gebratene Gänse, ganze Räucherschinken, Unmengen von Frisch- und Dörrobst, große Käseräder und köstlich duftende backfrische Brotlaibe. Diese Gerüche und ihr Hunger überwältigten Linden fast, bis sie kaum noch etwas anderes als ihre innere Leere spürte. »Du musst es ihnen gesagt haben«, krächzte Covenant. Auch er war jetzt auf den Beinen. »Du musst ihnen gesagt haben, wie dringend wir dich brauchen.« »Oh, gewiss, Zeitenherr.« Der Eifrige bemühte sich vergebens, seine Stimme leicht arrogant und unbesorgt klingen zu lassen. »Hier siehst du das Ergebnis.« Er deutete auf die Bündel. »Um euretwillen bleibe ich noch eine Zeit lang verschont.« »Dann sag es ihnen noch mal. Höllenfeuer! Ich sehe, dass du praktisch vor unseren Augen stirbst. Sag ihnen, dass wir ohne dich verloren sind.« »Zeitenherr, besteh nicht darauf.« Die Augen des Eifrigen lagen tief in ihren Höhlen. Er starrte Covenant wie ein zum Hungertod Verurteilter an. »Sollen wir uns selbst verdammen? Begnügt euch mit dem, was ihr habt. Ich bleibe bei euch, solange ich kann. Dann muss ich euch verlassen. Die Alternative …« Er schüttelte sich. »Die Alternative wäre der Verlust von Zweck und Name und Leben für unsere Rasse. Stellen wir uns gegen das, was wir sind, werden wir zu nichts.« Kaltgischt und ihre Gefährtinnen servierten rasch einen Teil der Vorräte auf dem Verpackungsmaterial: auf Quadraten aus einem unbekannten Gewebe, dessen Imprägnierung es luft- und wasserdicht machte. Während sie ein Mahl für alle vorbereiteten, versuchten sie selbst schon Lamm und Käse, naschten von Früchten und kosteten Wein aus urnenartigen großen Tonkrügen. Sein Duft erinnerte Linden an den frischen Duft von Frühlingswein, nur fehlte ihm eine deutliche Duftnote von Aliantha. Trotz ihres Hungers dachte Sturmvorbei Böen-Ende daran, Anele Essen hinzustellen, damit der Alte nicht in Versuchung geriet, den Schutz seiner Steinschale zu verlassen. Während Bhapa und Pahni dem Beispiel der Riesinnen folgten und
Essen für ihren Mähnenhüter und sich selbst holten, funkelte Covenant den Eifrigen an. »Wir sollen uns begnügen, was? Mit dem, was wir haben, rätst du uns? Und hältst du das für wahrscheinlich? Verdammt noch mal, ich verlange nicht, dass sie ihre Identität preisgeben. Sie sollen nur eine Ausnahme machen. Gott im Himmel!« Covenants Augen glänzten wie von Tränen feucht. »Du verhungerst, und wir wissen nicht einmal deinen Namen.« Die um sie herum im Sand Sitzenden hörten zu, während sie aßen. Selbst der Croyel schien aufmerksam zu lauschen. Linden konzentrierte sich auf jedes Wort - und versuchte, sich mit ärztlicher Distanziertheit gegen persönliche Anteilnahme zu wappnen. Covenant hatte recht: Auch für den Eifrigen hatte die grausame Notwendigkeit, die Verstand und Leben der Mahdoubt aufgezehrt hatte, schon begonnen. Das erkannte sie deutlich. Sie bedauerte ihn, wie sie die Mahdoubt bedauert hatte. Aber sie hörte trotzdem nicht zu essen auf. Die eigenen Bedürfnisse forderten ihr Recht. Zwischen Wachstuchquadraten sitzend stopfte sie sich mit Käse und Obst und Schinken voll; trank gierige Schlucke von dem likörartig starken Wein; aß weiter und versuchte, sich zu langsamem Kauen anzuhalten. Auf gewisse Weise war Essen auch ein Mittel gegen Kummer. Es wirkte gegen Verzweiflung. Als Antwort auf Covenant schien der Eifrige laut nachzudenken: »Für sich allein ist mein Leben nicht weiter wichtig. Obwohl ich mein Hinscheiden bedaure, wird es euch weder Kraft noch Zielbewusstsein kosten. Und es ist nur angemessen, dass die Verantwortung für das Schicksal der Erde von denen getragen wird, deren Leben außerhalb der Grenzen unseres Wissens begonnen hat. Auch die Schlange des Weltendes lebt und bewegt sich außerhalb dieser Grenzen. Der Dienst an den Völkern der Erde ist zweifellos notwendig. In diesem Dienst habe ich die Rolle des Insequenten gespielt. Aber die letzte Aufgabe fällt euch zu, das steht außer Zweifel.« Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, aber der Croyel unterbrach ihn. »Wer füttert mich?«, knurrte der Sukkubus missmutig. »Ich kann nicht von Luft und Wunschträumen leben. Und von euch kann keiner die Schlange aufhalten. Ich …«
Linden sprang instinktiv auf; hielt dabei ihren Stab umklammert. Das Ungeheuer verstummte sofort. Jeremiahs Blick blieb trüb und leer, als hätte er keinen Laut von sich gegeben. Am ganzen Leib zitternd stand Linden vor den von Galt Bewachten. Gott, wie sie sich den Tod des Croyel wünschte! An den Rücken ihres Sohns geklammert schien er alles zu verfälschen, was sie jemals für Jeremiah getan hatte. Seine unerbittliche Bösartigkeit … nur die Tatsache, dass sie nicht wusste, wie sie ihm schaden konnte, ohne Jeremiah zu verletzen, hielt sie davon ab, ihren Stab zu gebrauchen. Aber bald, versprach sie dem Ungeheuer im Stillen. Bald bin ich so weit. Dann finde ich ein Mittel, dir das Herz aus dem Leib zu reißen. Fast ohne es zu wollen sah Linden jedoch auch, dass Jeremiah wirklich Stärkung brauchte. Weil sie ihn möglichst wenig angesehen hatte, war ihr sein stummer Hunger entgangen. Jetzt stand er ihr deutlich vor Augen. Trotzdem schreckte sie davor zurück, ihn selbst zu füttern. Von den Augen und Reißzähnen des Croyel drohten zu viele Gefahren. Und sie konnte weder das Ausmaß seiner Verzweiflung noch die Kraft seiner Magie abschätzen. Vielleicht würde das Ungeheuer Jeremiah dazu veranlassen, nach ihrem Stab und dem Weißgoldring zu greifen. Vielleicht glaubte es, sich durch Theurgie befreien zu können, ehe der Krill ihm die Kehle durchschnitt. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren. Über die Schulter hinweg fragte sie widerwillig: »Liand, hilfst du mir bitte?« Er sprang sofort auf. Aber bevor er näher kommen konnte, fauchte der Croyel erbittert: »Halt diesen Lümmel von mir fern!« Wut und Angst verzerrten Jeremiahs Stimme. »Tust du es nicht, sollst du erfahren, was wirklicher Schmerz ist.« In der Verlorenen Tiefe hatte das Scheusal nicht Linden, sondern Liand angegriffen. Sie wusste nicht, weshalb - aber sie beherzigte seine Warnung. Linden brachte den Steinhausener mit einer Handbewegung zum Stehen. »Entschuldigung, das hatte ich vergessen. Dich scheint er mehr zu fürchten als mich.« »Das ist merkwürdig«, antwortete Liand sichtlich nervös. »Für ein so
mächtiges Wesen stelle ich keine Gefahr dar. Trotzdem zeugt sein Verhalten von Angst. Darüber muss ich nachdenken. Ich will nicht noch mal verletzt werden, aber vielleicht…« Linden schüttelte den Kopf. »Nicht gleich jetzt.« Sie wollte ihn unter keinen Umständen aufs Spiel setzen. In dieser Beziehung verstand sie Pahnis Angst sehr gut. »Im Augenblick braucht Jeremiah nur Essen. Bhapa? Bist du so freundlich?« Der ältere Seilträger suchte sofort eine Handvoll Obst, einen Kanten Brot, eine Ecke Käse, etwas Schinken und einen Wasserschlauch zusammen und kam damit zu Linden, die weiter vor Jeremiah stand. »Ich bin bereit, Ring-Than«, erklärte er ihr. »Habe ich nicht gesagt, dass mein Leben dir gehört, soweit der Mähnenhüter oder die Ranyhyn nichts anderes bestimmen? Was du wünschst, soll geschehen.« Linden atmete tief durch und hielt kurz den Atem an. »Dann hoffe ich, dass du ihn füttern kannst«, sagte sie. »Ich wage mich nicht zu nahe an ihn heran.« Sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Sohn. »Ich weiß nicht, wozu die Bestie imstande wäre, wenn sie meinen Stab in die Hände bekäme. Oder Covenants Ring.« Bhapa nickte. »Wie du wünschst, Ring-Than.« Er war sichtlich angespannt, zögerte aber keine Sekunde lang. Mit einem Schritt gelangte er an Jeremiahs Seite. Als Erstes versuchte er vorsichtig, ihn mit einem Stück Melone zu füttern. Einen, zwei Herzschläge lang schien der Junge gar nicht zu merken, dass er Essen auf der Zunge hatte. Dann machte er plötzlich den Mund zu. Nachdem er gekaut und geschluckt hatte, riss er ihn wieder auf. Danach aß er ein Stück Käse, dem etwas Brot und Schinken folgten. Er ließ sich von Bhapa den Kopf in den Nacken drücken, damit er Wasser trinken konnte. Schon bald aß er so rasch, wie Bhapa ihn füttern konnte. Linden, der die eigene Schwäche verhasst war, kehrte ihrem Sohn den Rücken zu und ging zu dem Eifrigen hinüber. Der in der Mitte des Halbkreises stehende Insequente hatte sichtlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie hatte den Eindruck, er schwinde dahin - er schien bereits wieder an Gewicht verloren zu haben -, und sein Anblick zerriss ihr das Herz. In der Verlorenen Tiefe hatte er aufopferungsvoll dafür gekämpft, Linden und ihre Gefährten am Leben zu erhalten. Er hatte sie davor gerettet, von Ihr, die nicht genannt werden
darf, verschlungen zu werden. Dafür musste er jetzt büßen. Wie die Mahdoubt… Aber Lindens Bedürfnisse waren stärker als ihre Sorge um ihn. Sie wusste sonst niemanden, den sie hätte befragen können. Also biss sie sich auf die Unterlippe und zwang sich dazu, seine Notlage zu ignorieren. »Weißt du eine Erklärung dafür?« Der Eifrige musterte sie besorgt. »Lady?« »Wieso hat der Croyel Angst vor Liand? Weshalb nicht vor mir?« »Darüber weiß ich leider nichts.« Seine Stimme wurde allmählich schwächer. »Bei ihren Weissagungen haben die Insequenten sich nicht mit dem Steinhausener befasst. Und da ihre Voraussagen nun zu Wasser geworden sind, wie ich deinen Gefährten zu erklären versucht habe, habe ich nichts mehr zu geben, Lady. Mit mir geht es zu Ende.« »Dann sprich, solange du noch kannst«, forderte Linden, die sich wegen ihrer Selbstsucht hasste. Aber dies war ihre einzige Chance. »Du hast gesagt, die Überflutung habe alles verändert. Mein Schicksal soll jetzt ›in Wasser geschrieben sein. Aber das verstehe ich nicht. Ein Loch in die Decke zu schlagen, war nicht meine Idee. Ich wusste nicht mal, dass das möglich war - und erst recht nicht, wo es eine Schwachstelle gab. Ich habe nur getan, was die Urbösen wollten.« Das war ihr letztes Aufbäumen gewesen, ehe sie dem Übel unterlegen war. »Mit dieser Überflutung hatte ich eigentlich nur wenig zu tun. Wie kann sie alles verändert haben?« »Ah, Lady«, seufzte der Eifrige. »Mein Ende rückt näher, und ich weiß keine rechte Antwort. Wir Insequenten wissen keine. Vielleicht war die Flut in Wirklichkeit nicht deine Tat, sondern die der Urbösen. Diese Wesen sind in jeder Beziehung rätselhaft, und ihr seltsames Lehrenwissen ist einzigartig. Aber wenn du dich mit bloßer Spekulation zufriedengeben willst …«Er seufzte nochmals. »Lady, ich habe beobachtet, dass deine wahre Stärke weder auf dem Stab des Gesetzes noch auf Weißgold beruht. Vielmehr liegt sie in der Kraft deiner Persönlichkeit, die von überallher Beistand und Verbündete anzieht, sogar bei a-Jeroths ehemaligen Dienern. Du hast dir die Loyalität der Mahdoubt ebenso gesichert wie meine und die der Dämondim-Abkömmlinge. Solche Freunde …« Seine
Handbewegung umfasste ihre Gefährten. »… hast du nicht, weil du irgendwelche Magien gebrauchst, sondern weil du Linden Avery, die Auserwählte, bist. Diese Macht trotzt aller Voraussicht und Wahrsagung. Und sie ist eindeutig stärker als der Listenreichtum a-Jeroths, der keine Lehenstreue kennt, die sich nicht auf Besitz oder andere Herrschaftsformen gründet.« Solche Freunde … damit gelang es dem Insequenten fast, Linden zu Tränen zu rühren. Aber für Tränen war ihr Herz zu traurig. Noch ehe sie antworten konnte, wandte der Eifrige sich ab. »Lebe wohl«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ich muss fort.« Mit sichtlicher Anstrengung zog er die Reste seines Gewands aus dem Sand und hüllte sich in sie. Anfangs schienen die Bänder ziellos auseinanderzudriften, als hätten sie ihren Zweck vergessen. Aber als er einen kleinen Laut wie ein Schluchzen hören ließ, versammelten sie sich um ihn. Flatternd machten sie ihn unsichtbar. Nach langen Sekunden, in denen alle betroffen schwiegen, wandte Covenant sich an Linden. »Er hatte übrigens recht«, sagte er schroff. »Lord Foul mag teuflisch clever sein, aber er kann nie erraten, was wir tun werden, wenn er uns in die Falle gelockt hat. Auch wenn er noch so sorgfältig plant und manipuliert, ist er nie auf uns vorbereitet.« Aber seine Behauptung war ihr kein Trost. Das konnte sie nicht sein: Sie kam von einem Mann, der sich nicht von ihr berühren lassen wollte. Nach einiger Zeit aß Linden weiter. Das taten auch ihre Gefährten. Keinem - ihr selbst am allerwenigsten - schien es nach Reden zumute zu sein. Falls sie die Fähigkeit besaß, Beistand und Verbündete anzuziehen, war der Preis dafür zu hoch. Dem Land und allen ihren Gefährten wäre mit Verzweiflung besser gedient gewesen. Zumindest in diesem Punkt begann sie allmählich Verständnis für Lord Kevin zu haben. Um sich zu betäuben, trank Linden zu viel Wein, sodass sie bald in einer Strömung, die langsam und unaufhaltsam wie der Bach war, davonzutreiben schien. Gott, war sie müde … jeder Preis war zu hoch. Während die Riesinnen noch aßen, streckte sie sich im Sand aus und schlief ein.
In der Nachmittagshitze wachte sie in der prallen Sonne schwitzend kurz auf. Sie studierte einige Augenblicke lang den Himmel, um zu sehen, ob sich etwa ein Wetterumschwung ankündigte. Dann suchte sie sich einen Platz im Schatten und schlief sofort wieder ein. Diesmal wachte sie erst wieder auf, als ihre Gefährten sich bewegten. Selbst mit geschlossenen Augen spürte sie, dass der Stab des Gesetzes in ihrer Nähe an einem Felsblock lehnte. Schatten bedeckten sie, lagen über dem Bach, dem sandigen Uferstreifen, dem Fuß der Hügel und linderten die Sonnenhitze. Zu den Bewegungen, die sie hörte, kamen wieder Essensgerüche und das leise Murmeln der Riesinnen. Und als sie sich darauf konzentrierte, spürte sie wieder Covenants Abwesenheit. Von Erinnerungen und seiner Sterblichkeit umfangen irrte er durch das Labyrinth seines Verstands; dabei verkrampften und entspannten seine Gesichtszüge sich mehrfach, als erinnerte er sich an Schrecken. Falls Linden geträumt hatte, hatte sie keine Erinnerung daran. Aber sie hatte die durchlebten Schrecken, das Kreischen der auf ewig Verdammten und das Gewimmel von Tausendfüßlern nicht vergessen. Nach einigen Augenblicken hob sie den Kopf und setzte sich auf, um sich umzusehen. Ihr Sohn stand weiter von Galt kompromisslos festgehalten im Schatten; die scharfe Klinge des Krill verhinderte, dass der Croyel seine Zähne in Jeremiahs Hals schlug. Die Seilträger waren irgendwo unterwegs - zweifellos im Auftrag Mahrtiirs. Aber der Mähnenhüter stand neben Stave, als behielte er Covenant trotz seiner Blindheit im Auge. Mahrtür wirkte ungeduldig, als wartete er auf eine Gelegenheit, mit dem ersten Ring-Than zu sprechen. Covenants weißes Haar leuchtete im Schatten; es hob sich so deutlich von seiner Umgebung ab, dass es fast zu strahlen schien. Anele hockte in der Wölbung von Böen-Endes Brustpanzer und knabberte sichtlich zufrieden einen Schinkenknochen ab. Im Gegensatz zu ihm lehnte Liand unruhig an dem Felsblock mit dem Stab und studierte Linden von der Seite her. Über seinen Augen wölbten sich die dichten schwarzen Brauen düster wie Rabenschwingen. Während sie sich Schlaf aus den Augen blinzelte, begutachtete sie die in ihm aufgestaute Spannung und erkannte sie sofort wieder. Auch als er beschlossen hatte, die hilfsbedürftigen Einwohner der Siedlung Erstes Holzheim mit Gesundheitssinn zu beschenken, und
später nochmals, als er die Idee gehabt hatte, Regen zu machen, um die Skurj zu bekämpfen, hatte seine Aura aus dieser Mischung von Besorgnis, Entschlossenheit und Tatkraft bestanden. Linden konnte sich denken, was Liand vorhatte. Aber das würde ihn Gefahren aussetzen, die sie unmöglich vorhersagen konnte. Und sie musste erst ihre eigenen Argumente vorbringen, ihre eigenen Schachzüge versuchen. Sie hoffte, dass es ihr gelingen würde, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, bis es nicht mehr nötig war. Zum Glück war er noch nicht so weit, seinen Entschluss ankündigen zu wollen. Betont beiläufig teilte er Linden mit: »Bhapa und Pahni sind mit dem Auftrag unterwegs, Feuerholz zu sammeln, weil es nachts kalt werden wird, wenn die Hügel die gespeicherte Wärme abgestrahlt haben. Aber ich glaube, dass sie mit fast leeren Händen zurückkommen werden. In dieser kargen Landschaft…« Liand deutete auf ihre Umgebung. »… werden sie weit laufen und wenig finden.« Sie räusperte sich. »Vielleicht am Bach?« An seinen Ufern musste es doch irgendwo Büsche und Bäume geben? »Möglich«, gab er zu. »Auch mir wäre der Trost eines Feuers lieb. Wir haben zu viel Dunkelheit erlebt.« Dann zuckte er mit den Schultern. »Aber ich werde nicht auf diese Aussicht vertrauen.« Linden nickte innerlich erleichtert. Sie griff nach ihrem Stab und kam auf die Beine. Ihre Gefährten hatten den Wasserlauf in einem niedrigen Einschnitt erreicht, der zu breit war, um als Schlucht bezeichnet zu werden. Der Boden bestand größtenteils aus Sand und feinem Geröll von den Hügeln, aus dem aber unterschiedlich große einzelne Felsblöcke ragten. Hinter einem davon hatte Linden geschlafen; an einem anderen lehnte der sitzende Covenant. Aber der sandige Streifen, auf dem die Gesellschaft zuvor gesessen hatte, war weitgehend frei. Einige der Riesinnen waren ohne Hast mit den Vorbereitungen für eine zweite Mahlzeit beschäftigt. Sie hatten offenbar gut gegessen und geschlafen. Linden, die sich an ihre Erschöpfung unter dem Donnerberg erinnerte, freute sich, als sie sah, dass sie einen Großteil ihrer Vitalität zurückgewonnen hatten. Raureif Kaltgischt bedachte Linden mit einem aufmunternden Grinsen. Frostherz Graubrand begrüßte sie mit einer Verbeugung nach Riesenart;
Spätgeborene grinste ebenfalls und lockerte ihr Langschwert in der Scheide: eine Geste wie ein Versprechen. Die übrigen Schwertmainnir waren mit den Bündeln beschäftigt, die der Eifrige mitgebracht hatte. Als Linden ihren Blick nach Westen richtete, sah sie die Steilwand des Landbruchs über den vorgelagerten Hügeln aufragen. Die hinter der Felsklippe stehende Spätnachmittagssonne ließ ihren von Wind und Wetter zerklüfteten Rand deutlich hervortreten. Die Sonne stand schon so tief, dass nur noch Branl und Clyme, die auf Hügelkämmen Wache hielten, angestrahlt wurden. Bald ist es so weit, sagte sie sich, als sie wieder an Jeremiah dachte. Sie würde den Versuch, ihn von dem Croyel zu befreien, nicht mehr lange hinausschieben dürfen. Mit neuem Selbstvertrauen versuchte sie, sich eine Methode auszudenken, Covenants Absenzen beizukommen, ohne ihn unter Wasser zu drücken oder auf den Kopf zu schlagen oder ihm anzudrohen, ihn zu heilen. Oder Besitz von ihm zu ergreifen. Sie wusste aus Erfahrung, dass solche Methoden mehr schaden als nützen konnten. Wie die Herrschaft des Croyel über Jeremiah - wenn auch mit ganz anderem Zweck - hätten sie seine persönliche Freiheit beschnitten. Außerdem hatte er nachdrücklich versichert, er wolle ein Leprakranker bleiben: leidend und gefühllos und behindert. Aus ihr unbegreiflichen Gründen klammerte er sich an seine Krankheit, als definierte - oder schützte - sie ihn. Hätte Linden versucht, Covenant ihren Gesundheitssinn und ihre Heilkraft aufzuzwingen, hätte sie ihn unabsichtlich beschädigen, ihn vielleicht um lebenswichtige Erinnerungen bringen können. Oder sie hätte ähnlich verwirrt enden können wie er. Sie durfte nicht wieder zulassen, dass sie die Warnungen der Ranyhyn vergaß. Weil sie sich ihrer selbst nicht sicher war, gesellte sie sich zu Stave und Mahrtür. Der ehemalige Meister schien nicht weiter auf Covenants unruhigen Schlaf zu achten, aber der Mähnenhüter beobachtete den Zweifler mit gespannter Aufmerksamkeit. »Wir müssen ihn irgendwie erreichen«, sagte sie ohne lange Vorrede. »Wir sind hier hilflos, und diese Atempause kann nicht lange anhalten. Wir haben wichtige Entscheidungen zu treffen. Aber das können wir
nicht ohne ihn.« »Mit deiner Erlaubnis, Ring-Than«, antwortete Mahrtür halblaut, »will ich es versuchen. Ich habe den Zeitenherrn so genau studiert, wie meine Sinne es zulassen. Und ich kenne alle Sagen der Ramen über seine lange Vergangenheit. Vielleicht gelingt es mir, ihn in die Gegenwart zurückzuholen.« »Bitte«, sagte Linden sofort. »Fast alles ist einen Versuch wert.« Nichts, wozu Mahrtür imstande war, würde Covenant schaden können. Der Mähnenhüter nickte. Um den Hals trug er noch immer seine aus Amanibhavam geflochtene Girlande. Sie war ausgefranst und wies Blutflecken auf, ihre gelben Blüten waren verwelkt, aber sie hielt weiter zusammen. Das langfasrige Gras war zu einem festen Seil geflochten. Mahrtür knipste eine trockene Blüte ab und zerrieb sie in seiner Handfläche zu Pulver. Selbst das vertrocknete Gras gab einen anregenden Duft ab, der Linden sofort in die Nase stieg. »Frisch gepflückt«, sagte Mahrtür förmlich, »ist Amanibhavam nur für die Ranyhyn genießbar. Trotzdem hat es viele gute Eigenschaften. Der Sage nach hat der erste Ring-Than davon gegessen, ohne daran zu sterben. Allerdings hat er den Verstand verloren. Aber im Wald von Morinmoss ist er wieder zu sich gekommen. Ich hoffe sehr, dass der Duft des Grases ihn wecken und zu sich selbst zurückführen wird.« Er kniete neben Covenant nieder und schloss ihm mit der freien Hand sanft den Mund. Dann hielt er ihm die Handfläche mit Amanibhavam unter die Nase und wartete. Die Wirkung trat rasch ein. Covenant, der im Schlaf ein finsteres Gesicht machte, wich so ruckartig zurück, dass er sich den Kopf an dem Felsblock anschlug. Seine Augen flogen auf. »Hölle und Blut«, flüsterte er. »Diese Frau hat mich geheilt. Ich habe sie umgebracht, glaube ich.« Im Salva Gildenbourne hatte Anele ihr erklärt: Der Morinmoss hat das Bündnis, den Weißgoldträger erlöst. Der Alte hatte offenbar recht gehabt. Wieder einmal. Während Linden ihn beobachtete, blinzelte Covenant Erinnerungen aus seinem Blick und kehrte in die Gegenwart zurück. Heute sind diese Tage vergessen. »Linden«, sagte er heiser. »Ich freue mich, dass mit dir alles in Ordnung ist.« Dann fuhr er zusammen und rieb sich vorsichtig den Hinterkopf.
Dabei lächelte er beinahe. »Vielleicht schlägst du nächstes Mal weniger fest zu.« Alle einstige Größe ist vergessen. Im nächsten Augenblick runzelte er nochmals die Stirn. »Nein, warte. Du hast mich nicht geschlagen. Das war Amanibhavam. Ich erinnere mich an den Geruch. Und an den Morinmoss.« Während er sich weiter den Hinterkopf rieb, murmelte er: »Ich muss ihn mir selbst angeschlagen haben.« Als ihre erste Erleichterung abklang, sagte Linden sich, dass sie nicht so überrascht hätte sein sollen. Schließlich hatte sie schon bei anderen Gelegenheiten gesehen, welche Wunder Amanibhavam bewirken konnte. Das Gras war nur eine der vielen Segnungen, an denen das Land so reich war. Die einzige wirkliche Überraschung war, dass Mahrtiirs vertrocknete Girlande noch so wirksam war. »Das freut mich auch.« Sie versuchte, wie Covenant zu lächeln. Aber das schaffte sie nicht. Fass mich einfach nicht an. »Mir hätte es nicht gefallen, Gewalt anwenden zu müssen.« Damit meinte sie: Ich brauche dich. Bitte hilf mir. »Und dich unter Wasser zu drücken, wäre eine Art Overkill gewesen.« Sie meinte: Bitte liebe mich. Trotz allem. Covenant verzog den Mund zu einem humorlosen Lächeln. Er streckte Stave wortlos eine Hand hin. Als der Haruchai ihn hochgezogen hatte, sagte er: »Wir haben ungeheuer viel zu besprechen.« Dann sah er zu dem aufgetragenen Mahl hinüber. »Aber vielleicht sollten wir erst essen. Ich kann kaum glauben, dass ich schon wieder hungrig bin.« Im nächsten Augenblick legte er Mahrtür eine Hand auf die Schulter. »Danke, Mähnenhüter. Ich glaube nicht, dass einer von uns überleben könnte, wenn Linden nicht Freunde wie dich hätte.« Die Antwort des Mähnenhüters bestand aus einer förmlichen Verbeugung. Sein Gesichtsausdruck war wegen des Verbands schlecht zu erkennen, aber seine Aura kündete von tiefer Befriedigung. Als Linden und Covenant sich der Gesellschaft zuwandten, sahen sie alle Riesinnen breit grinsen. Einige von ihnen schüttelten halblaut glucksend den Kopf. Raureif Kaltgischt hieß die beiden mit einer weit ausholenden Geste zu den Vorräten des Insequenten willkommen. »Nun ist es wieder wie damals, als wir Linden Riesenfreundin im Salva
Gildenbourne begegnet sind«, sagte die Eisenhand mit gedämpftem Humor. »Die Kürze eurer Geschichten ist anstrengend für unser Gehör; ›Overkill‹, fürwahr! Solche Ausdrücke müssen uns amüsieren. Werden ganze Leben so verdichtet, ihre Bedeutung mit einem einzigen Wort ausgedrückt…« Sie fand diese Vorstellung offenbar lächerlich. »Ah, meine Freunde, darüber müssen wir einfach lachen. Wie könnten wir eure Grausamkeit euch selbst gegenüber sonst ertragen? Leider, leider«, fuhr sie mit gespieltem Ernst fort, »haben wir uns an die Hast von Leuten angepasst, die ihr Leben nach Jahrzehnten, nicht nach Jahrhunderten zählen. Und unsere enge Vertrautheit mit Gefahr in mannigfachen Formen hat uns gelehrt, dass wir uns bei Gelegenheiten wie dem Sinken von Dromonds oder der Vernichtung von Welten den Wechselfällen des Lebens fügen müssen.« Die anderen Riesinnen schmunzelten erneut, und Frostherz Graubrand lachte sogar laut. Anscheinend hörten sie aus der Idee, sie seien mit dem Untergang von Welten vertraut, einen Scherz heraus. »Wir würden es vorziehen«, schloss Kaltgischt, »den Rest dieser Jahreszeit - oder dieses Jahres - damit zu verbringen, Geschichten auszutauschen. Aber wir erkennen eine Notlage, wenn sie uns ins Gesicht starrt, auch wenn wir wahrhaft Riesen und von Natur aus töricht sind. Solange die letzte Krise der Erde droht, werden wir uns bemühen, uns so prägnant wie ihr auszudrücken. Sobald wir noch mal gegessen haben, wollen wir versuchen, ein Riesen-Palaver abzuhalten, das kurz genug ist, um eure Geduld nicht übermäßig zu strapazieren.« Damit verbeugte die Eisenhand sich theatralisch, während ihre Schwertmainnir frenetisch klatschten. Linden betrachtete sie nachdenklich. Seltsam, dachte sie, dass sie ganz vergessen hatte, wie Riesen sich in ausgelassener Stimmung benahmen. Und noch seltsamer war, dass sie schon so bald nach den durchlittenen Strapazen wieder lachen und klatschen konnten. Aber Covenant erklärte ihr laut flüsternd: »Keine Sorge, sie beruhigen sich bald wieder. Manchmal müssen sie einfach eine kleine Rede halten.« Das wurde mit Lachen und anerkennenden Pfiffen quittiert, als hätte er eine besonders schlagfertige Antwort gegeben. Covenant lächelte dankend, bevor er sich an einem der Stoffquadrate niederließ. Linden, die sich plötzlich entfremdet, wie ein Gespenst bei einem
Festmahl fühlte und voller Sorgen und Ängste war, die niemand teilte, zögerte noch. Covenant kannte die Riesen besser als sie; er schien zu ihnen zu gehören. Und sie konnte seine Lockerheit nicht imitieren. Auch in diesem Punkt war sie ihm nicht gewachsen. Sie überlegte kurz, ob sie sich etwas Essen holen und es in Jeremiahs Nähe stehend zu sich nehmen sollte. Die Teilnahmslosigkeit ihres Sohns, die Bösartigkeit des Croyel und Galts Misstrauen hätten zu ihrer Stimmung gepasst. Aber dann nahm Liand ihr die Entscheidung ab, indem er ihre Hand ergriff und sie zu sich herunterzog, sodass sie zwischen Covenant und ihm saß. Seufzend ließ sie sich von Graubrand ein kleines Stoffquadrat als Teller geben. Wenig später kamen Bhapa und Pahni in der Abenddämmerung einen Hügel herunter. Pahni setzte sich neben Liand und umarmte ihn kurz, während Bhapa dem Mähnenhüter meldete, dass sie nicht mal genug Holz für ein kleines nächtliches Wachfeuer gefunden hatten. Seine Haltung ließ erkennen, dass er damit rechnete, getadelt zu werden, aber Mahrtür antwortete mild: »Mach dir nichts daraus, Seilträger. Dieses Gebiet ist zu kahl. Ein Feuer wäre behaglich gewesen, aber sein Fehlen betrübt uns nicht.« Er nickte zu dem aufgetragenen Mahl hinüber. »Iss jetzt und ruh dich aus, solange du kannst.« Dann wurde er energischer. Mit vertrauter Schärfe in der Stimme fügte er hinzu: »Denk daran, dass du der Mähnenhüter bist, wenn ich nicht mehr bin. Du trittst das Amt ohne Huldigung und feierliche Einführung an, aber du musst meine Pflichten trotzdem übernehmen. Dafür bist du besser geeignet, als du glaubst.« Während er sprach, lief Linden unwillkürlich ein kalter Schauder über den Rücken. Sie verstand Mahrtür recht gut. Ihm war gesagt worden: Du hast einen langen Weg vor dir, bis dein Herzenswunsch sich erfüllt. Sieh nur zu, dass du zurückkommst. Der Mähnenhüter versuchte, Bhapa auf seine Nachfolge vorzubereiten. Wie Pahni brannte Mahrtür darauf, zu erfahren, was Covenants Weissagungen bedeuteten. Das Land braucht dich. Bhapa empfand den gleichen Wunsch. Das sah Linden ihm an, als er sich vor Mahrtür verbeugte und dann Platz nahm. Aber er hatte auch Angst. Durch Anele hatte Covenants Geist Bhapa und Pahni namentlich
erwähnt. In gewisser Weise habt ihr beiden die schwierigste Aufgabe. Ihr müsst zusehen, dass ihr überlebt. Und ihr müsst dafür sorgen, dass sie auf euch hören. Linden vermutete oder befürchtete, dass damit die Meister gemeint waren; aber sie konnte sich nicht vorstellen, was diese Aussage bedeuten sollte. Vom Unterland aus waren Schwelgenstein und seine Hüter effektiv außer Reichweite. Auf sie würden sie nicht hören. Sie hatte ihnen schon zu viele Gründe geliefert, sich ihrer selbst zu schämen. Als sie zu essen begann, kaute sie langsam und war zu beunruhigt, um zu genießen, was sie schmeckte. Und sie mied den Wein. Nachträglich gesehen erschien es ihr als Fehler - vielleicht sogar als fataler Fehler -, den Meistern irgendeinen Grund gegeben zu haben, sich ihrer selbst zu schämen. Demütigungen waren ihnen zu sehr vertraut, und sie wussten nicht, wie man trauerte. Um sie herum aß die Gesellschaft gut, aber nicht reichlich, zumindest nicht im Vergleich zu ihrem ersten Mahl. Als Riesinnen brauchten Kaltgischt und ihre Gefährtinnen länger, um satt zu werden. Aber nachdem sie den Rest des schweren Weins des Eifrigen getrunken hatten, waren auch sie fertig. Sie standen gemeinsam auf, um die noch verbliebenen Vorräte einzupacken. Nachdem die Schwertmainnir die Vorräte in Säcken und Bündeln verpackt und die Bettrollen und Wasserschläuche abseits gelagert hatten, setzten sie sich wieder. Wie zuvor bildeten sie dabei einen Halbkreis. Gleichzeitig nahm Covenant wieder seinen Platz an dem Felsblock ein, an dem er mit dem Rücken lehnen konnte. Als sähe sie sich als seine Gegenspielerin, nahm Linden ihm gegenüber Platz. Covenant hatte sie abgewiesen; sie musste jetzt auf Distanz zu ihm achten. In der herabsinkenden Abenddämmerung lag der Stab des Gesetzes mitternachtsschwarz quer über ihren Knien. Pahni und Liand, die sich in ihrer Nähe niederließen, hielten sich an den Händen: ein subtiles Zeichen ihrer engen Bindung. Und Stave stand hinter dem Felsen, an dem Linden mit dem Rücken lehnte. Mahrtür und Bhapa saßen jedoch zwischen den Riesinnen. Auch diesmal war der Halbkreis so groß, dass er Anele in seiner schützenden Steinwanne einschloss. Außerhalb der Gesellschaft stand Jeremiah im Lichtschein des Krill als Silhouette sichtbar, als wären der Croyel und er in ihre eigene Düsternis
gehüllt. Der Silberglanz erhellte Galts Gesicht, reflektierte seinen ausdruckslosen Blick, aber der übrige Körper war nur zu ahnen. Silberne Strahlen reichten in den Halbkreis hinein und bewegten sich im Rhythmus zu Jeremiahs Atemzügen, bis sie Covenant fanden. Dann schienen sie sein weißes Haar in Brand zu setzen; aber seine Augen blieben im Schatten. Soviel Linden beurteilen konnte, hatte der Eifrige die Gesellschaft in unhaltbarer Lage zurückgelassen. Hier waren sie zu weit von ihren Feinden entfernt. Und weder hier noch sonst wo konnten sie etwas tun, um die Schlange des Weltendes aufzuhalten. »Also gut«, begann die Eisenhand abrupt, »ein Riesen-Palaver, das der lakonischen Ausdrucksweise von Menschen und dem Stoizismus der Haruchai entgegenkommt. Wahrlich eine schwierige Aufgabe! Trotzdem müssen wir sie irgendwie bewältigen. Zweifellos hat jeder von uns seine Bedürfnisse, hegt Zweifel und hat Fragen. Wie sollen wir also vorgehen?« Direkt oder indirekt schienen alle Anwesenden Kaltgischts Frage an Linden zu verweisen. Aber während ihre Freunde auf eine Antwort warteten, ergriff Covenant das Wort. »Im Augenblick sind wir zu schwach. Überall im Oberland beeinträchtigt Kevins Schmutz Linden und ihren Stab. Und solange es Zäsuren gibt, darf sie nicht riskieren, den Ring zu gebrauchen.« Er nannte ihn nicht seinen Ring - oder ihren. »Wir brauchen mehr Macht. Kastenessen ist für Kevins Schmutz verantwortlich. Seinen Fortbestand verdankt er Ihr, die nicht genannt werden darf, aber Kastenessen hat ihn in die Welt gesetzt. Gemeinsam mit Esmer und dem Wüterich Moksha. Wir müssen etwas gegen ihn unternehmen.« »Und gegen Joan«, warf Linden schroff ein. Sie war darauf angewiesen, wütend zu sein. Fass mich nicht an. Nur so konnte sie jetzt seinen Widerpart spielen. »Ja, ich weiß.« Covenant rieb sich mit seinen verkrüppelten Fingern das Gesicht; fuhr sich damit durchs Haar. In der nur durch Silberblitze erhellten Dämmerung sahen seine Hände verstümmelt aus. »Und gegen Joan.« »Und Roger«, fuhr Linden fort. »Richtig«, sagte Covenant seufzend. »Gegen meinen Sohn. Auch das
weiß ich.« »Außerdem«, warf Mahrtür ein, »hat der Eifrige von Sandgorgonen und Skurj gesprochen, die den wertvollen Salva Gildenbourne verwüsten. Und er hat uns gewarnt, dass der Sohn des ersten Ring-Thans ein Heer aus Höhlenschraten zusammengezogen hat.« »Aber wie sollen wir gegen solche Übel bestehen können«, fragte Liand, »wenn wir nur wenige an der Zahl und schwach sind? Wenn die Entfernung zu groß ist? Und können wir leugnen, dass der Eifrige unser mächtigster Verbündeter war? Er hat uns nicht verraten, aus welchen Gründen er uns hierhergebracht hat. Trotzdem muss es diese Gründe geben. Gefährden wir uns nicht selbst, wenn wir sie bewusst missachten?« »Die Entfernung braucht uns nicht zu schrecken«, antwortete der Mähnenhüter, ohne zu zögern. »Unsere Ranyhyn kommen, wenn wir sie rufen. Und die Riesinnen haben gezeigt, dass sie rennen können. Die Meilen sind hinderlich, aye, aber nicht unsere erste Sorge.« Bei dem Gedanken an Hynyn spürte Linden einen Stich ins Herz. Mahrtür hatte recht. Die großen Pferde würden kommen. Und Hynyns Treue war ein gewichtiges Argument gegen die bedrohlichen Bilder, die Linden während ihrer Teilnahme an dem Rösserritual gesehen hatte. Aber die Hilfe der Ranyhyn konnte noch warten. Sie hatten Linden gewarnt - und sie hatte ihre Warnungen nur allzu oft in den Wind geschlagen. Mit Stahl in der Stimme erklärte Raureif Kaltgischt ihnen jetzt: »Uns geht es in erster Linie um die Schlange des Weltendes. Im Vergleich dazu sind Kastenessen und Thomas Covenants ehemalige Frau so unbedeutend wie Sandgorgonen und bloße Skurj. Und was die Schlange betrifft, müssen wir vor allem die von Anele verkündeten Erkenntnisse beachten. Auch wenn er unübersehbar geistesgestört ist, stehen seine besonderen Gaben außer Zweifel.« Covenant schüttelte den Kopf. Aber falls er Einwände hatte, sprach er sie nicht aus. Beim Gedanken an den Alten fuhr Linden leicht zusammen. Am Fuß des Wagnisses auf Obsidian liegend, hatte Sunders und Hollians Sohn die Klage der ältesten Gesteinsschichten des Berges angestimmt. Sogar hier wird es gespürt. Geschrieben. Beklagt. Die Erweckung der
Schlange. »Wir sind Riesinnen«, murmelte Zirrus Gutwind, die dabei ihren Armstumpf massierte, »und lieben Meer und Fels. Wir erinnern uns gut daran, was der Alte gesagt hat. Er hat von der Gefräßigkeit der Schlange gesprochen, die so unerlässlich ist wie der Tod fürs Leben.« Ist alle geringere Nahrung erschöpft, muss sie in das Land kommen. »Aye«, bestätigte die Eisenhand. »Und in seiner Offenbarung war kein Platz für Ungewissheit oder Zweifel.« Hier wird sie ihre endgültige Nahrung entdecken. »Ja, ich weiß«, murmelte Covenant finster. »Daran erinnern wir uns alle. Das war nichts, was man so leicht vergisst.« Wird es nicht verboten, erhält sie Erdkraft. Das wahre Lebensblut aus dem Innersten des Herzens der Erde. Als läutete er die letzten Stunden der Erde ein, hatte Anele ihren bevorstehenden Untergang verkündet. Trinkt die Schlange des Weltendes das Blut der Erde, gewinnt sie solche Macht, dass sie den Bogen der Zeit zerstören kann. »Also gut«, wiederholte die Eisenhand grimmig. »Erinnern sich alle daran, fehlt nur noch eine Erklärung. Unser Verständnis von ›Erdblut‹ reicht dafür nicht aus. Wir kennen keine Erzählungen von solch tiefen Geheimnissen. Und Linden Riesenfreundin hat kaum mehr als Andeutungen über ihren Aufenthalt in der Vergangenheit des Landes gemacht. Da wir der Schlange entgegentreten sollen, wüssten wir gern mehr über ihre ›endgültige Nahrunge« Covenant hielt den Kopf gesenkt. Linden, die an Roger und Jeremiah unter dem Melenkurion Himmelswehr dachte, war zu aufgewühlt, um zu antworten. Jeremiah und den Croyel betraf diese Frage nicht. Aber Stave antwortete gewohnt stoisch. »Nur ein Haruchai hat mit Erdblut zu tun gehabt und ist mit dem Leben davongekommen: der Bluthüter Bannor. Deshalb ist unser Wissen nicht auf zufällig mitgehörte Gespräche der Lords beschränkt.« Linden glaubte zu sehen, wie Erinnerungen an Bannor schemenhaft durch Covenants finsteren Blick zogen. Aber er unterbrach Stave nicht. Charakteristisch knapp erzählte Stave den Riesinnen, was Linden und Covenant - indirekt auch Liand und die Ramen - bereits wussten. Er sprach von Erdkraft in reinster, konzentrierter Form: von Magie, die so stark war, dass sie die Macht des Gebots verlieh. Und er schilderte, was
sein Volk über ihre Gefahren wusste. »Deshalb war Hoch-Lord Dameion Riesenfreund der Überzeugung, sie sei zu gefährlich, um irgendwie verwendet zu werden. Solch absolute Macht übersteigt alles menschliche Vorstellungsvermögen. Sie übersteigt, was Menschen an Voraussicht und Beherrschung zu leisten vermögen. Wer sie besitzt, kann nur ruiniert werden.« »Das heißt also«, murrte Kaltgischt, »dass wir deiner Ansicht nach kein Erdblut suchen dürfen, um der Schlange zu gebieten, in den Schlaf zurückzukehren.« Stave zuckte mit den Schultern. »Nährt die Schlange sich von Erdkraft, wird sie selbst zu Erdkraft. Aber kann Erdkraft Erdkraft unterdrücken? Willst du mit der Macht des Gebots Leben und Tod von der Erde verbannen?‹« Die Gesellschaft schwieg für lange Augenblicke. Linden spürte die stille Verzweiflung, die sich ihrer Gefährten bemächtigte, spürte ihr unerfülltes Sehnen nach Verständnis. Sie wollten wissen, was zu tun war. Keiner von ihnen gehörte zu den Leuten, die angesichts drohender Gefahren untätig bleiben konnten. Aber es gab kein Ventil für ihre Leidenschaft und Entschlossenheit. Und Linden konnte sie nicht anleiten. Sie konnte nur für sich selbst sprechen - und für sich hatte sie ihre nächsten Schritte bereits geplant. Als kein anderer auf Staves Herausforderung einging, vermutete Liand zögernd: »Vielleicht liegt die Erkenntnis, die wir brauchen, anderswo in Aneles Äußerungen. Hat er nicht festgestellt, dass die Schlange Vernichtung bringen wird, wenn sie nicht ›mit der vergessenen Wahrheit von Stein und Holz bekämpft‹ wird? Was ist diese Wahrheit?« Covenants Antwort bestand aus einer Grimasse. »Weiß der Teufel. Sollte ich es jemals gewusst haben, kann ich mich nicht daran erinnern. Alles ist einfach zu viel. Den größten Teil habe ich schon vergessen. Und bei jeder Rückkehr vergesse ich noch mehr. Mahrtür sagte streng: »Trotzdem ist es vielleicht angebracht, auch über andere Aspekte von Aneles Verkündung nachzudenken. Er hat nicht nur von Erdblut und einer vergessenen Wahrheit gesprochen, sondern auch zu einem ›Verbot‹ gedrängt.« »Darauf haben die Forsthüter sich verstanden«, gab Covenant zu. »Sie haben den Koloss am Wasserfall erschaffen. Als Verbot gegen die
Wüteriche. Aber es hat irgendwann versagt.« Sein Stirnrunzeln verbarg seine Augen weiter vor dem Licht des Krill. Nur sein verwandeltes Haar glänzte weiter silbrig. »Zu viele Bäume wurden niedergemetzelt. Mit jedem gefällten Baum wurden die Forsthüter schwächer. Und damit sind wir wieder bei der Machtfrage. Nicht einmal Berek war stark genug, um tun zu können, was sie getan hatten. Bevor Kevins Lehre verloren ging, haben die Lords etwas benutzt, das sie als ›Warnwort‹ bezeichnet haben. Aber im Vergleich zu dem Koloss war ihre Version eines Verbots eher schwächlich.« Alle einstige Größe ist vergessen. »Falls dieses Wissen bei den Insequenten weiterlebt«, stellte Stave mit grimmigem Unterton fest, »hat der Eifrige nicht davon gesprochen.« Frostherz Graubrand hob den Kopf. »Zweifellos besitzen die Elohim, was uns fehlt.« »Und du erwartest Auskunft von ihnen?«, erkundigte Covenant sich. »Wenn wir eine Möglichkeit fänden, sie zu fragen?« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind zu sehr damit beschäftigt, um ihr Leben zu rennen. Vermutlich würden sie uns nicht mal wahrnehmen - außer wir täten etwas, das sie noch mehr ängstigt als die Schlange …« Er ließ die offensichtliche Vergeblichkeit dieser Idee in der Luft hängen. Den Sagen nach, die Linden in unterschiedlichen Fassungen gehört hatte, hatten die Waldhüter ihr Verbot durchgesetzt, indem sie einen Elohim in dem Koloss eingesperrt hatten. Jetzt, davon war sie überzeugt, dachten Infelizitas und ihr Volk nicht mehr an Selbstaufopferung. Sie waren dem Tod schon zu nahe. »Nachdem wir die Elohim bereits genannt haben«, knurrte Raureif Kaltgischt, »will ich unsere Sorgenliste um einen Namen erweitern. Die Schwertmainnir erinnern sich an Verlorensohn Langzorn, der mit Absichten, die wir nicht verstehen, im Land weiter auf freiem Fuß ist. Durch die Wiedererweckung Thomas Covenants ist das ihm von den Elohim auferlegte Geas hinfällig geworden. Ist es jetzt von ihm genommen worden? Stiftet sinnlose Wut ihn zu weiteren Morden an? Wir sind Riesen, und er ist einer von uns. Wir können ihn nicht vergessen.« Langzorn hatte versucht, Linden zu ermorden. Mehr als einmal. Aber welchen Vorteil hätte ihr Tod den Elohim jetzt noch bringen können?
Im nächsten Augenblick stand Mähnehüter Mahrtür auf. Er trat ungeduldig in die Mitte der Versammlung. »Diese Aufzählung von Gefahren bringt uns nicht weiter«, sagte er unwillig. »Uns ist einmal eine gewisse Belehrung zuteilgeworden. Solange besserer Rat fehlt, müssen wir uns darauf verlassen. Willst du nicht davon sprechen, Zeitenherr?« Covenant zuckte zusammen. »Wie meinst du das?« Auch Linden fuhr zusammen. Sie wusste, was kommen würde. »Auf der Hochebene über Herrenhöh«, antwortete Mahrtür, »hast du mit einem der ersten Gefährten der Ring-Than gesprochen. Mit Aneles Stimme hast du uns Prophezeiungen und Ratschläge übermittelt. Wir haben deine Worte nicht vergessen, aber ihre Bedeutung entgeht uns. Willst du sie nicht jetzt erläutern, damit wir unseren weiteren Weg deutlicher vor uns sehen?« Covenant rieb sich erneut mit seinen gefühllosen Händen das Gesicht, als wollte er sich daran erinnern, dass seine Handflächen und die Fingerstummel noch existierten. So entzog er sich für kurze Zeit der Illusion, von dem Blinden unter seiner Augenbinde hervor forschend gemustert zu werden. Dann hob er den Kopf und erwiderte Mahrtiirs blickloses Starren. Mitleid oder Bedauern ließ seinen Blick verschwimmen. »Tut mir leid, aber ich kann mich nicht erinnern. Und ich fürchte mich davor, es zu versuchen. Manchmal lässt das Graben in der Vergangenheit mich abgleiten. Wenn das passiert, weiß ich nicht, wie ich in die Gegenwart zurückfinden kann.« »Amanibhavam bringt dich zurück«, antwortete der Mähnenhüter sofort. »Natürlich«, bestätigte Covenant. Das klang wie eine Verwünschung. »Und wenn du etwas in dieser Art tust, verschwindet jedes Mal ein weiteres Stück dessen, woran ich mich zu erinnern versuche. Meines Wissens endgültig. So schwinde ich dahin und kann erst recht nicht wieder werden, was ich einmal war.« Er schien die Aufmerksamkeit der Gesellschaft zu ertragen, so lange er konnte. Dann schlug er die Fäuste aneinander. »Seht ihr?«, fauchte er. »Deshalb hätte ich nichts sagen sollen, solange ich noch Teil des Bogens war. Deshalb habe ich nichts gesagt, bis ich wiedererweckt worden bin. Und nun seht ihr mich an, als dächtet ihr, ich wüsste, was wir tun sollen.
Aber ich bin jetzt wieder ein Mensch. So fehlbar wie jeder andere. Und ich habe nicht die gleichen Dinge erlebt …«Er stöhnte frustriert oder protestierend. »Eure Erfahrungen fehlen mir. Ich bin nicht auf eurem Wissensstand. Nur zu beobachten, was passiert, ist weniger lehrreich, als eigene Erfahrungen zu sammeln. Höllenfeuer und blutige Verdammnis!«, rief er plötzlich aus. »Haben wir dies alles durchgemacht …« Seine Armbewegung schien die ganze Welt einzuschließen. »… ohne euch davon zu überzeugen, dass unverdientes Wissen gefährlich ist?« Er sah sich trotzig in der Runde um, als erwartete er Widerspruch. Als niemand das Wort ergriff, sprach er mit heiserer Stimme halblaut weiter: »Selbst wenn ich mich an absolut alles erinnern könnte, würdet ihr eure Entscheidungen allein treffen müssen. Und ich könnte euch nichts von dem erklären, was sich ereignet hat. Dafür bin ich nicht qualifiziert, weil ich es nicht miterlebt habe. Bis ihr durch eigenes Nachdenken den richtigen Weg findet, könnte ich euch nur in die Irre führen. Ich muss ein Leprakranker bleiben. Mein Verstand muss so bleiben, wie er jetzt ist. Andere Verteidigungsmittel besitze ich nicht.« Fass mich nicht an. Ich habe Angst davor, wozu ich mich entwickle. Während Linden krampfhaft die Hände faltete und sich auf die Unterlippe biss, ließ die Eisenhand das Schweigen der Gesellschaft sich verstärken, bis es so dicht erschien wie die fortschreitende Abenddämmerung. Dann verkündete sie, als beendete sie damit eine Diskussion: »Wir Riesen sind mit den Gefahren unverdienten Wissens vertraut. Und wären wir das nicht, enthielten Linden Riesenfreundins nüchterne Erzählungen genügend Warnungen davor. In einem Punkt hat der Mähnenhüter wahr gesprochen: Unsere Unwissenheit auf vielen Gebieten zu beklagen, führt zu nichts. Vielmehr gilt es nun, Vertrauen zu haben - zu uns selbst und zu ihr, deren Herz uns in diese Sargassosee geführt hat. Linden Riesenfreundin, wir hören uns sehr gern an, was du vielleicht sagen möchtest.« Sie hätte am liebsten ihr Gesicht in den Händen verborgen. Und dabei ausgerufen: Wie kommt ihr darauf, dass ich die Antwort weiß? Gefällt euch, was ich bisher geleistet habe? Aber solche Klagen waren so wertlos wie Selbstmitleid. Und sie hatte schon längst auf ihr Recht
verzichtet, Entscheidungen und Konsequenzen mit einem Schulterzucken beiseitezuschieben. Von der Grenze des Wanderns bis nach Andelain hatte sie ihre Freunde unter Druck gesetzt oder dazu überredet, ihr zu folgen. Sie konnte jetzt nicht behaupten, ihren eigenen Weg nicht schon festgelegt zu haben. Mit schwacher Stimme antwortete Linden: »Ich kann keinem von euch raten, was ihr tun sollt. Ich habe zu viele Fehler gemacht, deren Folgen ihr dann tragen musstet. Ich kann euch nur sagen, was ich tun werde.« Sie holte bebend tief Luft und hielt den Atem an, bis sie glaubte, ohne Zittern in der Stimme sprechen zu können. Dann fuhr sie fort: »Manchmal kommt es mir vor, dass mein gesamtes Wissen aus meiner Zeit als Notärztin stammt. Ich habe gelernt, mir ein Problem nach dem anderen vorzunehmen. Und mit dem Problem anzufangen, das direkt vor mir liegt. Wir haben jetzt Jeremiah. Er ist hier bei uns. Und dass er wichtig ist, liegt auf der Hand. Also werde ich mit ihm anfangen.« Setzte der Stab des Gesetzes die falsche Art Kraft frei, um den Croyel zu vernichten, ohne ihrem Sohn zu schaden? Davor würde ihr Gesundheitssinn sie bewahren, der hier nicht durch Kevins Schmutz beeinträchtigt wurde. Und genügte das Gesetz nicht, konnte es ihr wenigstens ermöglichen, irgendwie Covenants Ring zu gebrauchen. Kasreyn von dem Wirbel hatte Weißgold einmal folgendermaßen charakterisiert: Seine Unvollkommenheit ist das Paradoxon, aus dem die Erde besteht, und aus ihm kann ein Meister vollkommene Werke erschaffen, ohne irgendetwas befürchten zu müssen. Linden hatte keinen Grund, diese Einschätzung anzuzweifeln. »Als Erstes«, murmelte sie, »will ich noch etwas schlafen. Dann werde ich alles für Jeremiah tun, was mir nur einfällt.« Weil sie wusste, dass der Croyel sie hören konnte, fügte sie lauter hinzu: »Wenn ich stark genug bin, um die Schlange des Weltendes zu wecken, müsste ich diesem Ungeheuer wenigstens Angst machen können.« »Na also!« Covenants Tonfall klang befriedigt und sorgenvoll zugleich. »Eine von uns hat einen Plan. Das Nächste zuerst. Das erscheint vernünftig. Die Eisenhand hat recht. Es wird Zeit für etwas Vertrauen. Ihr habt gehört, was der Eifrige gesagt hat. Irgendwie hat sie alles verändert. Selbst der großmächtige Lord Foul weiß nicht, was alles
geschehen wird. Und vielleicht kann sie Jeremiah tatsächlich retten. Vielleicht ist er der Einzige von uns, der gerettet werden muss. Außerdem …« Er breitete die Hände aus. »Ohne sie wären wir niemals bis hierhergekommen.« Weil sie Freunde hatte … Linden entdeckte einen Unterton in seiner Stimme: eine Andeutung von komplexen Absichten oder Wünschen. Tiefere Beweggründe? Eine spezifische Hoffnung oder ein Bedürfnis, das er für sich behielt. Das wusste sie nicht - und etwas anderes war ihr wichtiger. Er hatte ihr Vorhaben gebilligt. Erneut. Trotzdem biss sie sich auf die Unterlippe, als hätte er soeben ein Urteil über sie gesprochen.
3 Um jeden Preis
Wenig später verließen die Riesinnen den Halbkreis. Raureif Kaltgischt stand als Erste auf; aber Graubrand, Rahnock und die anderen folgten ihr bald. Ihre Frustration war nicht zu übersehen. Trotzdem waren sie deutlich erkennbar nicht bereit, noch mehr von Linden zu verlangen oder von Covenant. Stattdessen entfernten sie sich auf Anweisung der Eisenhand ein Stück weit. Etwas weiter stromaufwärts ließen sie sich nieder und bildeten einen kleinen Kreis. In gedämpftem Tonfall, der bei den Zurückgebliebenen nur als leises Murmeln ankam, sprachen sie miteinander und hielten ihr weniger komprimiertes Riesen-Palaver ab. Linden konnte nicht hören, was sie sagten, und versuchte es auch gar nicht. Sie waren Riesinnen; Linden vertraute ihren Herzen mehr als dem eigenen. Sie saß weiter an ihren Felsblock gelehnt: Covenant gegenüber, aber ohne ihn anzusehen. Liand und Pahni blieben in ihrer Nähe - eine Solidaritätsbezeugung, die sie zu schätzen wusste, aber eigentlich nicht wollte. Und Stave war weiter hinter ihr postiert, als machte seine Ergebenheit ihn immun gegen alle Zweifel. Solch blinde Treue basierte zu sehr auf Stärken, die sie nicht besaß. In einiger Entfernung kontrollierte Galt weiter Jeremiah und den Croyel. Vor dem jetzt dunkel purpurrot gewordenen Himmel kaum zu erkennen fern und unbeweglich wie Felsformationen - standen Branl und Clyme Wache gegen Gefahren aus allen Richtungen. Wo die Schwertmainnir im Sand gesessen hatten, ging Mähnenhüter Mahrtür, der seine innere Anspannung nicht verbergen konnte, ruhelos auf und ab. Linden spürte seinen immer wieder aufblitzenden Verdruss, seinen zähneknirschenden Ingrimm über seine Nutzlosigkeit. Sein Aufund Abmarschieren wirkte wie eine Protestkundgebung. Er schien mehr zu wollen, als sie von dem Zweifler erhalten hatten. Bhapa, der in Lindens Nähe hockte, gab sich große Mühe, seine Besorgnis vor Mahrtür zu tarnen. Er hielt den Kopf gesenkt und versuchte, möglichst keinen Schatten auf Mahrtiirs Aufmerksamkeit zu
werfen. Aber wenn Bhapas Augen das Leuchten des Krill reflektierten, konnte Linden jedes Mal beobachten, wie sie den Mähnenhüter rasch musterten und wieder wegsahen. Mahrtür sehnte sich danach, Entschlusskraft beweisen zu können; Bhapa tat das nicht. Er wollte, dass der Mähnenhüter alle Entscheidungen für ihn traf. Anele, der gegen Ungeduld immun zu sein schien, war eingeschlafen. Manchmal schnaubte und schnarchte er, zuckte immer wieder und veränderte dabei seine Haltung, als versuchte er, mit Sturmvorbei Böen-Endes Rüstung zu verschmelzen. Trotzdem war sein Schlaf tief: der fast bewusstlose Erschöpfungszustand der Alten, der Überspannten und der Verängstigten. Linden glaubte zu wissen, dass er nicht aufgewacht wäre, wenn sie seinen Namen gerufen hätte. Lass ihn schlafen, dachte sie. Er hat genug durchgemacht, um jede Menge Schlaf zu verdienen. Damit, das wusste sie, war er nicht allein. Sie selbst wollte auch bald schlafen, aber vorerst kribbelten ihre Nerven noch von ungelösten Problemen. Nach einiger Zeit merkte sie, dass ein Teil ihres Ichs darauf wartete, dass Covenant das Wort ergriff. Covenant oder Mahrtür. Gegen alle Vernunft hoffte sie auf etwas, das ein wenig Licht ins Dunkel bringen würde. Aber der einzige Lichtschein kam von dem Krill und der zu Nacht werdenden Abenddämmerung. Linden stand mit einem leisen Seufzer auf. Als Liand sich aufrappeln wollte, um sie zu begleiten, hielt sie ihn mit einer Hand auf der Schulter davon ab. Stattdessen forderte sie Stave mit einem Blick zum Mitkommen auf, als sie durch den Sand zum Bach ging. Am Bachufer ließ sie sich auf einem großen flachen Stein nieder. Übers Wasser hinausblickend legte sie den Stab quer über ihre Knie und versuchte, einen Namen für einige ihrer vielen Bedürfnisse zu finden. Neben ihr stehend wartete Stave schweigend darauf, dass Linden das Wort ergriff. Nach einigen Augenblicken murmelte sie kaum lauter als das Rauschen des Bachs: »Jedes Entkommen hat seinen Preis. Das weiß ich seit langem. Irgendein Preis ist immer zu zahlen. Aus der Verlorenen Tiefe herauszukommen …« Ihr widerstrebte es, sich an das Übel zu erinnern. »… war schwierig, und ich glaube, dass wir noch immer dafür zahlen.
Vielleicht wirkt deshalb alles irgendwie verschwommen. Wir haben noch nicht ganz gezahlt.« »Auserwählte«, antwortete Stave ruhig, als wäre ihr Titel ein Kommentar zu dem, was sie gesagt hatte. Linden gab ihm Gelegenheit, mehr zu sagen. Als er jedoch schwieg, fuhr sie fort. »Du hast mir gesagt, Covenant habe Esmer dazu überredet, uns zu verlassen. Aber du hast mir nicht erzählt, wie er das geschafft hat.« Durch List und Verzweiflung … »Oder wie er überhaupt Zeit dazu hatte. Meiner letzten Erinnerung nach …« Sie schüttelte den Kopf wie um eine albtraumhafte Erinnerung abzuwehren. »… waren wir alle kurz davor, zu sterben.« Staves Tonfall klang nüchterner, als er antwortete: »Die Bemühungen des Zweiflers hat Anele ermöglicht.« Linden drehte den Kopf zur Seite, um den ehemaligen Meister zu betrachten. Anele …? »Anfangs hat der Zweifler selbst versucht, das Übel umzustimmen«, berichtete Stave. »Dann hat er den Alten um Unterstützung gebeten. Vielleicht weil Anele auf Stein gestanden oder weil die drohende Gefahr stärker als sein Wahnsinn war, hat er auf den Appell des Zweiflers hin Verbindung zu seinen Eltern unter den Toten aufgenommen. Als Antwort darauf sind Sunder Steinmeister und Hollian Sonnenseherin vor uns erschienen, als das Übel eben zuschlagen wollte. Aber sie haben sich fast augenblicklich zurückgezogen. An ihrer Stelle ist der Geist von Hoch-Lord Elena erschienen oder zu unserer Rettung entsandt worden. Ihre Qualen waren so ungeheuer groß, Auserwählte, dass sie das Übel von uns abgelenkt hat. Während es sie zu verschlingen suchte, hatte der Zweifler Gelegenheit, Esmer unsere sofortige Vernichtung auszureden.« Linden war ehrlich verblüfft. Anele hatte das geschafft? Er hatte das geschafft? Auf Covenants Drängen hin? Wie hatte der Alte das fertiggebracht? Und woher hatte Covenant gewusst, dass Anele dazu imstande war? Jetzt wusste sie zumindest, wieso Elena ihr in ihren Albträumen erschienen war. Großer Gott! Covenant hatte seine eigene Tochter geopfert. Vielleicht nur indirekt, weil er nicht genau gewusst hatte, was Anele tun oder wie die Sache ausgehen würde. Trotzdem …
Linden hatte jedoch kein Recht, ihm deshalb Vorwürfe zu machen. Unter den Toten in Andelain hatte sie Elenas gequältem Schatten jegliche Form der Absolution verweigert. Unabsichtlich hatte sie dafür gesorgt, dass Elenas Geist genau die Nahrung war, nach der das Übel gierte. An dem grausigen Ende des von Ihr, die nicht genannt werden darf, verschlungenen Hoch-Lords war Linden ebenso schuld wie Covenant oder Anele und seine Eltern. Zutiefst erschüttert konnte sie keine Worte für die Fragen finden, die sich aus dem ergaben, was Stave ihr berichtet hatte. Und auf seine Weise musste er ihre Erschütterung sicherlich spüren. Trotzdem blieb seine Stimme unbeteiligt nüchtern, als er jetzt fortfuhr: »Die Argumente, mit denen der Ur-Lord Esmer verbannt hat, werden dafür sorgen, dass Cails Sohn nicht wieder zuschlägt.« Ah, Gott. Um Verständnis bemüht fragte Linden: »Weißt du, wie Covenant das geschafft hat? Wie hat er Esmer dazu überredet, uns zu verlassen?« Stave zögerte einen Augenblick. »Das weiß ich nicht bestimmt, Auserwählte«, gab er zu. »Der Zweifler hat von Gefahr für Kastenessen gesprochen, wenn das Übel in Besitz von Weißgold käme. Aber wieweit Esmer auf ihn gehört hat, war unklar. Ich hatte den Eindruck, Esmer vertraue darauf, dass andere Wesen oder Mächte an seiner Stelle Hilfe und Verrat gegeneinander ausbalancieren würden. Er hat verkündet: › Ich kann nicht begreifen, weshalb du nicht erlöst worden bist. Ich habe denen, die dir zu dienen wünschen, reichlich Gelegenheit gegeben. Trotzdem werde ich abgewiesene Und er hat protestierend gesagt: › Ihr werdet in der Tat verraten, aber nicht von mir.‹ Die Bedeutung seiner Worte jedoch …« Der Haruchai zuckte mit den Schultern. …die dir zu dienen wünschen… Linden gelang es nicht, diese Aussage zu deuten. Alle denkbaren Freunde und Verbündeten waren doch um sie versammelt gewesen, als das Übel sie bedroht hatte? Die Ranyhyn zählten nicht dazu. Sie hätten nicht in die Verlorene Tiefe mitkommen können. Wer also …? »Verdammt«, murmelte sie. Nicht die Elohim: Das war ausgeschlossen. »Ich kapier es nicht. Und ich habe Leute satt, die zu glauben scheinen, in Rätseln zu sprechen sei ihr Lebenswerk.« Selbst Covenant war nicht ganz frei davon. »Ich möchte nur einmal jemandem
begegnen, der kein Blatt vor den Mund nimmt.« Stave hätte behaupten können, das treffe auf die Haruchai zu; aber er überraschte sie, indem er sagte: »Das tun die Dämondim-Abkömmlinge. Dass wir ihre Sprache nicht verstehen, ist unser Fehler, nicht ihrer. Sie haben nicht die Absicht, uns daran zu hindern, sie zu verstehen.« Linden nickte langsam. Er hatte natürlich recht. Die gemeinsame Entschlossenheit der Urbösen und Wegwahrer mochte nach menschlichen Begriffen unerklärlich sein, aber sie hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihre Absichten zu verdeutlichen. Wäre Esmer nicht gewesen … Zum Teufel mit ihm! »Also gut«, sagte sie nach kurzer Pause unsicher, »das war nicht fair.« Dann fügte sie hinzu: »Auch die Gedemütigten sprechen nicht in Rätseln. Sie sind nur zurückhaltend. Und misstrauisch.« Sie standen auf schwankendem Boden, der ihnen wie Treibsand erscheinen musste. Was sie bisher in Lindens Gesellschaft getan hatten, hatte immer weiter von ihren ursprünglichen Idealen weggeführt. »Wie denken sie über dies alles?« Linden machte eine vage Handbewegung, als meine sie damit den Bach und die im Sternenschein liegenden Hügel. »Sie lassen mich nun schon seit Tagen gewähren - vermutlich weil sie nicht glauben, dass ich überleben werde. Aber sie sind nicht damit einverstanden, das steht verdammt fest! Was werden sie tun?« Sie waren verstümmelt worden, um Covenant zu ähneln. In gewisser Beziehung besaßen sie sonst nichts mehr. Stave überlegte kurz. Als er antwortete, klang sein Tonfall trotz seines angeborenen Gleichmuts aufbrausend. »Einfach zu behaupten, ihnen missfalle alles, was bisher geschehen ist, wird ihnen nicht gerecht. Grundlage ihrer Existenz als Meister ist der Wunsch …« Er korrigierte sich. »… der Zwang, jegliche Schändung zu verhindern. Die Taten Kevin Landschmei-ßers, die nach der Demütigung durch den Vizard kamen, haben die Herzen meiner Stammesgenossen auf eine Weise verhärtet, die sie nicht erkennen. Tatsächlich habe ich die Verhärtung meines eigenen Herzens erst erkannt, als mein Denken durch das Rösserritual verändert wurde. Mir war nicht als Tatsache bewusst, dass wir Scham und Trauer als schrecklicher als jedes andere Schicksal empfinden.
Wird dieses Land unter dem Stiefel des Verächters zertreten, werden die Meister die Schuld nicht bei sich suchen. Sie werden alle ihr Äußerstes geben und den Preis dafür ohne Kummer oder Bedauern zahlen. Lassen sie jedoch irgendeine neue Schändung zu, die sie hätten verhindern können, verliert ihr Leben dadurch allen Sinn. Daraus entwächst die Meisterschaft meines Volkes in jeglicher Form.« Auf unterschiedliche Weise hatte Stave ihr schon früher von solchen Dingen erzählt. Diesmal hatte seine Perspektive sich jedoch verändert. »Sie waren nicht immer so?«, fragte Linden nachdenklich. Wie die Gedemütigten waren ihr die Haruchai, die sie einst gekannt hatte, unnachgiebig wie Basalt erschienen. »Keineswegs«, versicherte Stave ihr. »Als unsere Vorfahren in das Land kamen, um im Kampf die Lektionen zu vergessen, die der Vizard ihnen erteilt hatte, waren sie noch imstande, Dankbarkeit zu empfinden. Dank der Großzügigkeit Lord Kevins und seines Großrats konnten sie glauben, ihre schmerzliche Demütigung lasse sich durch Dienen heilen. Deshalb haben sie den Eid der Bluthüter abgelegt. Und deshalb haben sie gehorcht, als Kevin Landschmeißer ihre Abwesenheit befahl. Sie begriffen nicht, dass er das tat, um sie vor dem Diktat seiner Verzweiflung zu schützen. Selbst in der Zeit der neuen Lords blieb ihnen eine gewisse …« Der ehemalige Meister schien das rechte Wort zu suchen. »… Sanftheit erhalten, auch wenn sie gut verborgen war. Aber ihr Begriff von Dienen - und von sich selbst - wurde zerstört, als Korik, Sill und Doar zu Lakaien der Verderbnis geworden sind. Und ihr abscheulicher Gebrauch durch die Sonnengefolgschaft hat ihre Herzen erst recht verhärtet. Nun sind sie die Meister. Uns sind die Gedemütigten beigeordnet. Ihr größter Wunsch ist es, dich deiner Macht zu berauben, damit du sie nicht mit der Vorstellung von irgendeiner neuen Schändung beunruhigen kannst.« 0 Gott! Linden wollte sich verteidigen, in eigener Sache argumentieren, und konnte es nicht. Vor langem hatte der Wüterich Turiya ihr das Gleiche erzählt. Als stünde die letztliche Wahrheit über sie außer Zweifel, hatte er gesagt: Du wirst geschmiedet, wie Eisen geschmiedet wird, um das Ende der Welt zu bewirken. Angesichts von Vernichtung wirst du dazu getrieben werden, alles zu vernichten.
Und der Verächter hatte sie bereits dazu angestiftet. Sie hatte die Schlange geweckt… Aber Stave war noch nicht fertig. »Andererseits hast du den Zweifler in unsere Mitte gebracht«, fuhr er steif fort. »Den Ur-Lord Thomas Covenant. Für alle Haruchai, auch die Meister, ist er die wahre Halbhand, der Übel-Ender, der Lebensspender. An Hoch-Lord Berek Halbhand haben wir keine eigenen Erinnerungen; wir kennen ihn nur aus Sagen. Aber bei Thomas Covenant, dem Zweifler, sieht die Geschichte ganz anders aus. Er hat den Gedemütigten ausdrücklich verboten, sich gegen dich zu stellen. Er hat sie sogar aufgefordert, dir treu zu sein. Und seine Taten in deinem Namen - seine ganze Art dir gegenüber - bestätigen seine Wünsche. So sind die Gedemütigten in eine widersprüchliche Lage geraten, aus der sie keinen Ausweg wissen. Sie verabscheuen dein Tun, in dem sie eine Entweihung, eine Schändung sehen. Andererseits steht vor ihnen der Zweifler, um dessentwillen sie verstümmelt worden sind, damit sie ihm ähnlich sehen. Durch seine bloße Gegenwart widerlegt er ihre Auffassung von dem, was als Schändung zu gelten hat. Nun müssen sie ihm den Gehorsam verweigern und deswegen Kummer leiden - oder dich akzeptieren und sich beschämen lassen. Beide Möglichkeiten sind unerträglich. Trotzdem müssen sie als Haruchai eine Wahl treffen. Aber das können sie nicht… und müssen es tun … und können es nicht… und müssen es tun.« Staves zorniger Unterton verschwand, und er fügte beinahe sanft hinzu: »Allein aus diesem Grund verzichten sie darauf, sich gegen dich zu stellen, Linden. Stattdessen dienen sie weiter dem Zweifler. Er ist der Ur-Lord, die Halbhand. Sie vertrauen darauf, dass er diesen Widerspruch wird auflösen können.« Seine Feststellung klang wie ein Versprechen, das Hoffnung hätte machen sollen. Aber sie konnte Linden nicht trösten. Sie gehörte nicht zu den wahren Helden des Landes. Ihre Liebe war zu klein, zu spezifisch, zu menschlich. Und sie trug eine zu schwere Last aus Zorn und Finsternis, um Hoffnung schöpfen zu können. Covenant hatte ihre Liebe zurückgewiesen. Wie konnte sie da auf irgendeine Hoffnung bauen, die auf seiner Unterstützung basierte?
So ruhig wie möglich fragte Linden: »Wie hast du das geschafft, Stave? Wie bist du so anders geworden?« In Schwelgenstein hatte er ihr diese Frage beantwortet. Trotzdem musste Linden sie erneut stellen. »Du siehst Dinge, die die anderen Meister nicht sehen. Und bist mitfühlender.« Vorhin hatte er sie erstmals mit ihrem Vornamen angesprochen. »Wie ist das passiert?« Stave zögerte keinen Augenblick. Als hätte er sich mit der Wahrheit längst arrangiert, antwortete er: »Die Ranyhyn haben über meinen Stolz und meine Beschämung gelacht. Und die Freundlichkeit ihres Lachens hat mir die Angst vor Trauer genommen. Durch das Bad in den geheimnisvollen Wassern ihres Sees, das mich mit ihnen und mit dir vereint hat, bin ich zu mir selbst erweckt worden.« Sekunden später merkte Linden zu ihrer Erleichterung, dass ihre Augen voller Tränen standen. Sie flössen wie der Bach und schienen ihr ebenso Trost zu gewähren. Zumindest konnte sie jetzt wieder weinen. Vielleicht war ihre abgrundtiefe Verzweiflung doch weniger tief, als sie befürchtet hatte. Später kehrte sie auf den sandigen Uferstreifen zurück, auf dem Covenant mit Liand, Pahni und Bhapa saß. Während Mahrtür auf und ab ging und Anele schnarchte, stand Galt mit Jeremiah und dem Croyel wie eine Statue aus der Halle der Geschenke da: eine eng geschlossene Gruppe, deren Zweck im ersten schwachen Sternenschein nicht klar ersichtlich war. Weiter stromaufwärts setzten die Schwertmainnir ihr Riesen-Palaver fort - absichtlich leise sprechend, um ihre Gefährten nicht zu stören. Linden, der bewusst war, dass sie dringend Ruhe brauchte, streckte sich im Sand aus und legte einen angewinkelten Arm wie ein Kissen unter ihren Kopf. Aber dann wollte sie doch lieber nicht schlafen. Sie hatte Angst vor ihren Träumen. Stattdessen, nahm sie sich vor, würde sie sich nur entspannen und nachdenken und planen, bis sie bereit war, die Herausforderungen anzunehmen, vor die Jeremiahs Notlage sie stellte. Aber der Sand schien sich ihren Konturen anzupassen, gab unter ihrem Gewicht so bequem nach wie ein gutes Bett. Zwischen zwei Gedanken versank sie wie ein Stein in einem beruhigenden Strom aus Schlaf. Als sie aufwachte, wusste sie sofort, dass es nach Mitternacht war. Der
Tag würde erst in einigen Stunden anbrechen. Und die Nacht war mondlos. Außer dem unpersönlich kalten Glitzern der Sterne war die einzige Lichtquelle das geisterhafte Leuchten von Hoch-Lord Loriks Krill. Sein Schmuckstein schickte silberne Lichtstrahlen an Jeremiah und dem Croyel vorbei, als wäre Linden in der körperlosen Welt der Toten erwacht. Von seinem Platz am Rand der sandigen Fläche aus beobachtete Covenant sie mit Silberglanz wie das Aufblitzen wilder Magie in seinen Augen. Ob auch er geschlafen hatte, konnte Linden nicht beurteilen. Sicher wusste sie nur, dass er sich jetzt hellwach auf sie konzentrierte, als verkörperte sie zukünftige Entwicklungen, die ohne sie niemals Wirklichkeit werden konnten. Überall in dem kleinen Canyon waren Riesinnen wie Anele in erschöpften Schlaf gesunken. Liand und Pahni schienen sich etwas von der Gruppe abgesetzt zu haben, um ungestört allein sein zu können. Bhapa hatte sich aus seinen Ängsten und Zweifeln in tiefen Schlaf geflüchtet. Die Eisenhand, Frostherz Graubrand und Onyx Steinmangold blieben jedoch wachsam, auch wenn sie an Felsblöcke gelehnt entspannt ruhten. Vor dem Nachthimmel kaum sichtbar hielten Clyme und Branl auf ihren Hügelkämmen Wache. Und Mahrtür ging weiter auf und ab, als könnte er seine Frustration dadurch in erträgliche Portionen aufteilen. Um die Schlafenden nicht zu stören, war er ans Bachufer gegangen, an dem er jetzt auf und ab marschierte. Mit dem Stab des Gesetzes in einer Hand stand Linden so leise wie möglich auf. Während sie sich Sand von den Jeans klopfte, überzeugte sie sich davon, dass Jeremiahs Rennauto noch in ihrer Tasche steckte; dass Covenants Ring weiter an seiner Kette um ihren Hals hing. Nun war es Zeit - auch wenn sie nicht wirklich bereit war. Vielleicht würde sie das nie sein. Trotzdem stand ihr Entschluss fest. Jetzt oder nie. Wie oft hatte sie das schon zu sich selbst gesagt? Aber als sie sich Galt und Jeremiah zuwandte, sprach Covenant sie an. Sein heiseres Flüstern klang, als fräße eine Säge sich durch verrottetes Holz. »Linden, hör mir zu«, verlangte er. Sie wandte sich ihm zu. Nach kurzem Zögern ging sie zu ihm hinüber, damit er nicht die Stimme zu erheben brauchte.
»Was gibt es«, fragte sie halblaut. War ihm etwas eingefallen? Irgendetwas, das ihr bei Jeremiahs Befreiung helfen konnte? »Ich möchte, dass du etwas weißt«, antwortete er. »Was du auch tun musst… ich stehe hinter dir. Vor allem glaube ich, dass du das Richtige tust. Das hast du selbst gesagt. Das Wichtigste zuerst. Alles andere kann warten.« Mit einem Anflug von grimmigem Humor fügte er hinzu›: »Schließlich besteht keine Gefahr, dass unsere übrigen Probleme sich von selbst lösen. Aber…« Seine Stimme stockte. Als er weitersprach, schien er sich zum Sprechen zu zwingen. »Wilde Magie ist wie ein Leuchtfeuer. Vor allem jetzt. Beschließt du, sie jetzt anzuwenden - und denk daran, dass ich auf deiner Seite stehe -, wissen viele unserer Feinde plötzlich, wo wir sind. Sie werden es spüren. Selbst wenn sie keine Elohim sind.« Er breitete unbeholfen die Hände aus, als wollte er ihr zeigen, dass sie leer waren. »Bitte glaub mir, Linden, dass ich dir keine Ratschläge erteile. Ich versuche nicht, dir vorzuschreiben, was du tun oder lassen sollst. Nimm dich nur gut in Acht. Hier gibt es mehr als nur eine Art Gefahr. Zäsuren sind nicht die einzige Gefahr, mit der man rechnen muss, wenn man Weißgold gebraucht.« Linden nahm die Anspannung in seiner Stimme wahr; aber sie hörte nicht richtig zu. Sobald ihr klar wurde, dass er außer einer Warnung nichts zu bieten hatte, ließ ihre Aufmerksamkeit schlagartig nach. Sie durfte nicht noch ängstlicher sein. Nicht jetzt. Nicht wenn ihre erste und wichtigste Verpflichtung die Rettung Jeremiahs war. Warnungen hatte sie schon genügend gehört. Als antwortete sie auf Covenants Appell, sagte sie: »Kastenessen weiß also, wo Joan ist.« »Das ist hier nicht …!«, begann Covenant plötzlich aufgebracht. Aber dann beherrschte er sich. In milderem Tonfall sagte er: »Natürlich weiß er das. Höllenfeuer, Linden, ich glaube schon fast, dass ich es weiß. Oder dass ich es wissen würde, wenn ich mich nur daran erinnern könnte. Oder dass ich es erraten können müsste. Damit will ich eigentlich nur sagen, dass ich hinter dir stehe.« Vermutlich meinte er: Was auch passiert. »Ich habe Vertrauen zu dir.« Seine Antwort fiel wie ein Funke in den Zunder ihrer Gefühle. Bevor sie sich beherrschen konnte, flüsterte eine Stimme, die sie kaum als ihre
erkannte: »Das sagst du immer, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Du hast gesagt, dass ich dich nicht anfassen soll!« Glaubst du, dass ich irgendjemanden genug lieben könnte, um Jeremiah in seinem jetzigen Zustand zu belassen? Er wirkte einen Augenblick lang so betroffen, dass Linden fürchtete, er könnte in Tränen ausbrechen. Aber er fing sich rasch wieder. Allein die Reflexionen in seinen Augen ließen noch Zweifel ahnen, als er schroff sagte: »Ich bin zerbrochen, Linden. Das habe ich dir gesagt. Ich weiß nicht, was ich werde, und ich weiß nicht, was ich deshalb werde tun müssen. Zu dir habe ich Vertrauen - aber um mich selbst mache ich mir Sorgen.« Covenant zeigte mit einem amputierten Finger auf Jeremiah. »Versuch alles, was dir nur einfällt. Wir brauchen ihn.« Dann zog er sich in sich selbst zurück. Seine Erinnerungen hatten ihn nicht in Beschlag genommen; das war offensichtlich. Trotzdem hatte er eine Barriere gegen Linden errichtet. Sie starrte ihn noch einige Sekunden lang an, als könnte sie ihn durch reine Willenskraft dazu bringen, ihren Blick zu erwidern. Gott, wie sie sich wünschte, er würde …! Aber es gab nichts, was sie hätte sagen können. Und sie hatte kein Recht, ihm Vorwürfe zu machen. Nicht nachdem sie ihm so sehr geschadet hatte. Linden wandte sich niedergeschlagen Jeremiah, Galt und dem Croyel zu. Sie zögerte kurz, um sich zu sammeln und ihre Willenskraft zusammenzunehmen. Dann sagte sie zu Galt: »Komm, wir wollen die anderen schlafen lassen, solange sie können. Hinter dem nächsten Hügelkamm stört das Licht nicht mehr.« Vielleicht konnte sie in freiem Gelände auf eine Eingebung von den Sternen hoffen. Der haarlose Schädel des Croyels warf einen Schatten über Galts Gesicht, sodass Linden sein zustimmendes Nicken nur erahnen konnte. Er zog Jeremiah von den Schlafenden weg zu einem sanft ansteigenden Hügel nördlich des Lagers hinüber. Unterwegs malte der Schmuckstein des Krill verzerrte Lichtgebilde wie surreale Omina auf das Schiefergeröll des Hügels. Linden folgte ihm auf ihren Stab gestützt. Stave hielt an ihrer Seite mit ihr Schritt. Kaltgischt und Graubrand standen auf, um sie zu begleiten,
und überließen es Steinmangold über die anderen zu wachen. Mit ihren Nerven konnte Linden Mahrtiirs Unentschlossenheit spüren - und wusste genau, wann er zu einem Entschluss kam. Er verließ den Bach, ging zu Covenant hinüber und blieb vor ihm stehen, bis Covenant einen vertrauten Fluch murmelte und sich aufrappelte. Dann folgten die beiden Kaltgischt und Graubrand. Als Galt die Steigung in Angriff nahm, wobei er sich seinen Weg der Dunkelheit sorgfältig suchte, sagte Stave ruhig: »Auserwählte, es gibt noch etwas, das du nicht weißt.« »Ja?«, fragte Linden, damit er weitersprach, während sie sich auf den unebenen Untergrund konzentrierte. »Als du aus der Verlorenen Tiefe kommend nicht ansprechbar warst«, antwortete er, »hat der Zweifler den Eifrigen um Hilfe für dich gebeten. Er hat sich deine Rückkehr gewünscht - wie natürlich alle deine Gefährten. Aber der Eifrige hat sich außerstande erklärt, dir zu helfen.« Stave machte erneut eine Pause. Als er weitersprach, hörte Linden Andeutungen von Zorn und Sorge in seiner Stimme. »Ich muss seine Worte exakt wiedergeben, denn ich kann sie nicht deuten. Der Insequente hat dem Zweifler erklärt: ›Der Zustand der Lady übersteigt mein Wissen. Ich kann dir weder raten noch ihr helfen. Ich merke nur, dass ihr Todeswunsch weiter besteht.‹« Linden zuckte unwillkürlich zusammen. »›Oder ist es der ihres Sohns?‹, fuhr Stave fort. ›Aber spreche ich von ihrem Tod oder dem ihres Sohns? Erfordert seine oder ihre Notlage den Tod anderer? Die Dinge sind unbestimmbar geworden. Jede kleine Strömung verändert sie. Ich kann keine deiner Befürchtungen lindern.‹« Ausdruckslos fuhr der ehemalige Meister fort: »Ich habe mich bisher gescheut, darüber zu sprechen. Was nützen weitere Prophezeiungen, wenn dein Schicksal jetzt wirklich ›in Wasser geschrieben ist? Die Worte des Eifrigen können ungeheuer wichtig oder ganz trivial gewesen sein. Weil ich Wahrsagung nicht von Banalität unterschieden konnte, wollte ich dich nicht zusätzlich beunruhigen.« »Aber jetzt?«, fragte Linden schärfer als eigentlich beabsichtigt. »Wieso erzählst du mir das jetzt?« »Jetzt«, antwortete Stave, »habe ich Angst um dich. Versagst du hier, erwartet dich ein schreckliches Ende. Hast du jedoch Erfolg …«Er
schien über die möglichen Konsequenzen nachzudenken. »… weiß niemand, was aus den Klauen des Croyels hervorgehen wird. In Bezug auf diesen Punkt ähnelt meine Einstellung der des Zweiflers. Auch mir geht es darum, dir zu versichern, dass ich an deiner Seite stehe, um dich vor drohenden Gefahren zu warnen.« »Also gut«, murmelte Linden. Obwohl der Anstieg, den Galt gewählt hatte, unschwierig war, atmete sie schwerer als nötig. »Der Eifrige hat also geglaubt, dass einer von uns einen Todeswunsch hat. Oder sich Tod wünscht. Oder wünschen wird. Na und? Ist das überraschend? Die Schlange des Weltendes kommt. Da geht es überall um Tod.« Ihr Vater hatte vor ihren Augen Selbstmord begangen. Das Leben ihrer Mutter hatte sie selbst beendet. Dass sie Ärztin geworden war, hatte als Versuch begonnen, das Vermächtnis ihrer Eltern auszutilgen. Wandte sie sich jetzt von Jeremiah ab, blieben ihr nichts als Warnungen und Untergangsprophezeiungen. Staves einzige Antwort bestand aus einem nachdrücklichen Nicken, als stünde er bedingungslos hinter ihr. Jetzt habe ich Angst um dich. Das erschreckte Linden. Die Schlichtheit dieser Aussage ließ sie erst recht bedrohlich klingen. Aber in ihrem früheren Leben hatte sie unzählige Krisen meistern müssen; sie wusste, wie gefährlich es war, in Panik zu verfallen. Seit damals hatte sie sich so verändert, dass die Ärztin Linden Avery nicht mehr zu existieren schien. Aber als sie jetzt mit unbestimmter Angst den Hügel hinaufstapfte, spürte sie alte Reflexe zu neuem Leben erwachen. Ihr Gespür für drohende Gefahren löste Reaktionen aus, die so eingeübt waren, dass sie fast automatisch abliefen. Allmählich beruhigten sich ihre Nerven. Mit jedem Schritt verlor sie etwas von ihrer Angst und begann wieder leichter zu atmen. Du kannst es schaffen, versicherte Linden sich. Wenn sie nicht in Panik geriet. Und sie war nicht allein. Natürlich wurde sie von einigen ihrer Freunde begleitet, aber an die dachte sie jetzt nicht. Nein, was Jeremiahs Besessenheit anging, stand das Land selbst hinter ihr. Seine Gaben waren ihre Helfer, ihr Operationsteam: Lindens Gesundheitssinn, der Stab des Gesetzes, Loriks Krill, sogar wilde Magie. Inmitten einer Landschaft, die einstige Kämpfe und Blutvergießen verwüstet und trocken zurückgelassen hatten, waren Jeremiah und sie an einem Ort unterwegs,
an dem Gesundheit und Selbstbestimmung und sogar Vernunft sein Geburtsrecht waren. Außerdem konnte sie mit weiterer unverlangter Hilfe rechnen. Liand, den Pahni mit untrüglichem Instinkt geweckt hatte oder der allein aufgewacht war, folgte Covenant und Mahrtür. Mit einer Hand hielt der Steinhausener seinen Orkrest hoch, so dass er die Nacht wie künstlicher Sonnenschein erhellte: eine wundervolle kleine Erscheinung, menschlich und vergänglich. Sein Licht überstrahlte bereits das kalte Glitzern der Sterne. Linden hätte ihn am liebsten weggeschickt. Sie wollte ihn schonen. Um Jeremiahs willen tat sie es nicht. Mehr Freunde. Mehr Unterstützung. Mehr Erdkraft. Hier, vielleicht sonst nirgends im Land, konnte sie schaffen, was sie sich vorgenommen hatte. Wenn sie vorsichtig war. Ihr Herzschlag war kraftvoll - deutlich spürbar, aber nicht ängstlich -, als Stave und sie den Grat einige Schritte nach Galt und Jeremiah erreichten und auf einem Hügelkamm haltmachten, der sich einem verkrümmten Rückgrat gleich vom Landbruch ausgehend nach Südosten schlängelte. Der Hügelkamm war ein exponiertes Band aus Gips, das sich in fahlem Weiß von dem dunkleren Gelände abhob: als blasser Pfad nach Südosten. Um Linden herum ließ kalt glitzernder Sternenschein die Konturen der Landschaft erahnen. Nach Süden hin waren die Hügel auf einer Seite höher als auf der anderen. Sie wurden allmählich niedriger, während sie zu den Tümpeln und Sümpfen der Sarangrave-Ebene hin abfielen. Von ihrem erhöhten Standort aus schien sie auch bei Nacht meilenweit sehen zu können; trotzdem entdeckte sie kein Anzeichen der Sarangrave selbst. Dieses gefährliche Gebiet lag hinter weiteren Hügeln oder war für ihre Sinne einfach noch zu weit entfernt. Die über die von der Sonne verbrannten Hügel wehende Brise war kühl, fast kalt und etwas feucht; sie trug jedoch nichts von dem wuchernden und verrottenden grünen Wildwuchs der Sarangrave oder der gefährlichen Gier ihres Lauerers mit sich. Clyme, der sich schwarz von den sanfteren Farbtönen von Sandstein und Mineralien abhob, stand einen guten Steinwurf weit auf einem Hügel im Norden. Auf der anderen Seite des Canyons hielt Branl nach Süden
beobachtend Wache. Galt hatte Jeremiah auf dem höchsten Punkt des Hügelkamms haltmachen lassen. Jetzt drehte er den Jungen, sodass er Linden zugekehrt war. Als Linden und Stave ebenfalls stehen blieben, trafen die Eisenhand und Frostherz Graubrand hinter ihnen ein. Covenant stapfte von Liands Sonnenstein erhellt mühsam den Hügel herauf - in krassem Gegensatz zu dem leichteren, selbstbewussten Schritt des blinden Mähnenhüters. Bald würden auch Pahni und Liand den Fuß des Hügels erreichen. Also gut, sagte Linden zu sich selbst. Es ist so weit. Sie stellte sich so hin, dass der Schatten von Jeremiahs Kopf verhinderte, dass der durchdringende Silberschein des Krill sie blendete, stützte sich auf den Stab und überlegte, welche Möglichkeiten sich ihr boten. Vor langer Zeit - und ohne ihren Stab zu Hilfe nehmen zu können - war sie trotz Covenants natürlicher Widerstandfähigkeit gegen solche Angriffe mehrmals tief in sein Bewusstsein eingedrungen. Bei einer Gelegenheit hatte sie eine Freisetzung von Macht aus seinem Ring ausgelöst. Ein andermal war sie in ihn eingedrungen, um ihn von den Machenschaften der Elohim zu befreien. Und mehrmals hatte sie sich für die extremste Lösung entschieden und versucht, von ihm Besitz zu ergreifen. Weil seine Bereitschaft, sich selbst in Gefahr zu bringen, sie ängstigte, hatte sie versucht, ihn daran zu hindern … Etwas Ähnliches konnte sie jetzt bei Jeremiah versuchen. In der Verlorenen Tiefe hatte sie gesehen, dass der Croyel sein Leben und seinen Verstand unzertrennlich mit dem ihres Sohnes verbunden hatte. Sie konnte die beiden nicht einfach voneinander trennen. Aber es gab noch andere Möglichkeiten. Der Croyel würde sich zweifellos zur Wehr setzen. Mit dem landesweit besten Werkzeug für Erdkraft und Gesetz in ihren Händen würde Linden vielleicht seine Abwehr durchdringen können. Vielleicht würde sie die bösartige Umklammerung des Croyels Nervenstrang für Nervenstrang durchtrennen oder veröden können. Und wenn ihr das gelang, wenn sie das schaffte, ohne Jeremiahs Bewusstsein zu verändern oder auch nur anzurühren … Die Ranyhyn hatten sie davor gewarnt, von ihrem Sohn Besitz zu ergreifen. Galt würde dem Ungeheuer auf Lindens Anweisung sofort die Kehle
durchschneiden. Der Krill würde die Theurgien des Croyels so mühelos durchtrennen wie sein Fleisch. Wenn … Ihr Versuch konnte fehlschlagen. Diese Aufgabe würde so schwierig sein wie ihre Bemühungen, Schwelgenstein vor dem Weltübelstein in den Händen der Gräuelinger zu bewahren. Zugleich würde sie weit mehr Feingefühl erfordern. Linden würde fast übernatürliche Präzision und Sorgfalt aufbringen müssen. Irgendein Fehler, jeder Fehler konnte Jeremiahs Bewusstsein für den Rest seines Lebens schädigen. Und der Croyel konnte sich als zu stark für sie erweisen. Das bezweifelte Linden zwar, weil ihr Zugang zu Gesundheitssinn und Erdkraft hier durch nichts behindert wurde. Aber vielleicht würde die Widerwärtigkeit des Monsters sich als unerträglich erweisen. Es konnte Linden so verletzen wie das Sonnenübel - aber mit voller Absicht. Während sie in Jeremiah eindrang, konnte der Croyel in sie eindringen … War das Ungeheuer imstande, in mehr als nur einen Verstand einzudringen, würde es vielleicht versuchen, Jeremiah und sie zu beherrschen. Aber das würde Galt nicht zulassen. Auch Liand und Covenant nicht. Und wenn Lindens erste Befreiungsversuche fehlschlugen, hatte sie noch immer Covenants Ring. In der Verlorenen Tiefe hatte Esmer gesagt, nur Weißgold könne Ihr, die nicht genannt werden darf, widerstehen. Dann genügte es doch sicher auch, um die Magien des Croyels hinwegzufegen? Vielleicht konnte Linden mit roher Gewalt erreichen, was sie durch Präzision und Sorgfalt nicht hatte erlangen können. Also gut. Hinter Linden erreichten Pahni und Liand den fahlweißen Hügelkamm. Der Orkrest warf sein mildes Licht auf Jeremiahs schlaffen Körper und den Bartflaum auf seinen Wangen. Er vermenschlichte seinen verständnislos trüben Blick. Linden überzeugte sich nochmals davon, dass sie Jeremiahs Rennauto - so mehrdeutig wie die Runen, mit denen ihr Stab geschmückt war - in der Tasche hatte. Dann fasste sie den Stab so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und machte sich daran, das Wesen der Herrschaft des Croyels über ihren Sohn zu erforschen. »Passt gut auf«, murmelte sie, ohne jemanden explizit anzusprechen. »Ich weiß nicht, worauf ich mich hier einlasse. Ich will versuchen, dieses
Ding zu vertreiben. Gelingt mir das, kann alles ziemlich schnell passieren.« Der Croyel konnte sich einen neuen Wirt suchen oder sich sonst wie verteidigen. »Und sollte das nicht klappen, brauche ich vielleicht Hilfe, um wieder von ihm loszukommen.« Jeremiah hob unerwartet den Kopf. Trotz der Leere in seinem Blick sprach er beißend sarkastisch. »Tu ruhig dein Bestes …« Angst oder Spott, »… wenn du glaubst, etwas erreichen zu können. Du kannst nicht mal die Runen auf seinem Stab lesen. Geht es um Macht, gleichst du einem Kind, das mit dem Feuer spielt. Du weißt zu wenig, um etwas anderes zu bewirken als den Tod deines Sohns. Wenn du das wirklich willst.« »Ach, red keinen Unsinn!«, sagte Linden ungeduldig. »Hast du vergessen, wie es war, als du letztes Mal versucht hast, dich gegen mich zur Wehr zu setzen? Hast du schon vergessen, wie verängstigt du warst? Du hast dein Bestes getan, und ich bin weiter hier.« Indem Linden Avery die Auserwählte bläuliches Feuer wie ein Flammenbanner aus ihrem Stab austreten ließ, stürzte sie sich in den Kern von Jeremiahs versklavtem Verstand. Dort einzudringen war einfacher, als sie sich vorgestellt hatte. Der Croyel war hilflos gegen diese spezielle Manifestation von Erdkraft und Gesundheitssinn - oder legte keinen Wert darauf, sich dagegen zu wehren. Und Jeremiahs natürliche Barrieren waren zu schwach, um ihr zu widerstehen. Von einem Herzschlag zum nächsten fand sie sich in einer Umgebung wieder, die an einen Friedhof in der Abenddämmerung erinnerte; in einem Zwielicht, das so düster und körnig war, als hätte es vielleicht niemals hellen Sonnenschein gekannt; an einem Ort, der mit schlecht gepflegten Gräbern einer gefallenen Armee übersät war. Als wäre die Luft mit feinem Mitternachtsstaub versetzt, hüllte Grau die unregelmäßigen Grabhügel ein, die sich nach allen Seiten erstreckten, so weit Lindens Sinne reichten. Anfangs verstand sie ihre Bedeutung nicht und wusste auch nicht, wo sie war. Die Dämmerung war verlockend und scheinbar unermesslich tief, als hätte das versagende Licht keine Quelle. Über ihr leuchteten keine Sterne. Der Himmel war undurchdringlich schwarz, leer wie das Innere eines Grabgewölbes. Nichts bewegte die Luft - weder Hitze noch Kälte noch Erkenntnis. Hier wuchs nichts oder duftete oder ließ ein Lebenszeichen erkennen. In dem schwachen Licht
war nichts als diese ungeheure Menge von Gräbern zu sehen: den bestatteten Überresten großer Heerscharen. Verwirrt und plötzlich ängstlich vergrößerte Linden den Erfassungsbereich ihrer Sinne. Sie drückte gegen das flache schwarze Himmelsgewölbe, drang mit ihrem Wahrnehmungsvermögen in den Boden ein und versuchte, die maßlose Trauer des Dämmerlichts zu erfassen. Allmählich begann sie zu sehen. Als Erstes erkannte sie nur, dass hinter dem Deckel oder Himmel mehr steckte, als sie ursprünglich angenommen hatte. Irgendeine Macht war dort am Werk, hielt ihn zu, verschloss ihn hermetisch. An den Grenzen ihres Gesundheitssinns spürte sie die Gegenwart einer finsteren Entschlossenheit. Von Angst getrieben erhöhte sie den Druck. Richtig: Entschlossenheit. Als Linden sich auf ihre Wahrnehmungsgabe konzentrierte, hörte oder roch sie ihre bittere Gewalt und Bösartigkeit; ihren Hass; ihre grausige Kraft. Sie glich einem Netz: verworren und zugleich geordnet, in ihrer planmäßigen Verwirrung absichtlich. Sie lag fest über dem Himmelsgewölbe, als sollte sie unbedingt verhindern, dass der Deckel jemals aufginge. Aber sie bedeckte nicht nur den Himmel. Als Linden sich auf die Farben und Laute ihrer wilden Theurgien einstellte, zeigte sich, dass sie das weite Gräberfeld vollständig umschloss. Tief unter ihren Füßen war das sich windende Netz ebenso ausgespannt wie hoch über ihrem Kopf: ein Grabmal aus Magien, aus dem weder Leben noch Tod entkommen konnte. Und es war warm: so warm wie die abstoßende Kraft, die Jeremiah eingesetzt hatte, als Roger und der Croyel sie in die Vergangenheit des Landes gelockt hatten. Warm und bösartig. Zögernd wagte Linden, das Feuer ihres Stabes ins Dämmerlicht zu richten. Aber ihre Flammen blieben unsichtbar. Sie schienen so wirkungslos zu sein wie das letzte Atemholen eines Sterbenden. Trotzdem spürte sie ihre Anwesenheit, nahm sie mit ihrem Gesundheitssinn wahr. Anscheinend konnte ihre Macht die Dämmerung nicht vertreiben. Aber sie war da - und Linden konnte sie für ihre Zwecke nutzen. Sie erinnerte sich an Visionen beim Rösserritual und bündelte ihre
Kräfte, um äußerst vorsichtig an einem der Netzknoten zu ziehen. Das Netz reagierte augenblicklich. Von genau dieser Stelle zuckte ein Blitz herab. Gleißend hell und gespenstisch beleuchtete er die Gräberreihen von einem Horizont zum anderen. Als Linden instinktiv zurückwich, schloss die Dämmerung sich über der Landschaft wie ein unsichtbarer Donnerschlag, der zu gewaltig war, um von sterblichen Ohren gehört zu werden. Aber der Blitzstrahl traf nicht Linden, sondern ein ungefähr ein Dutzend Schritte von ihr entferntes Grab. Der kahle Erdhügel begann sofort zu brodeln. Für kurze Zeit schien er schäumend Blasen zu werfen, als hätte die Gewalt des Blitzes das Erdreich verflüssigt. Dann fiel der Grabhügel in Klumpen auseinander, während sich etwas unter ihm herausarbeitete. O Gott! Etwas Lebendes … Eine Hand krallte aus der Erde. Eine rechte Hand, eine Halbhand, der Zeige- und Mittelfinger fehlten. Noch mehr Erde wurde hochgedrückt. Klumpen rollten von kleinen Hügeln. Staub stieg in die stehende Luft auf, machte die Dämmerung noch bedrückender. Dann bahnte sich ein Kopf den Weg ans Licht. Jeremiahs Kopf. Entsetzt und wie gelähmt beobachtete Linden, wie ihr Sohn sich aus der Erde heraus wühlte: erst mit dem Kopf und einem Arm; dann mit dem anderen Arm und der Brust. Sobald er beide Hände aufstützen konnte, drückte er sich mit gewaltiger Anstrengung höher, wobei er nach allen Seiten Erdklumpen verstreute. Er war nackt. Und er war unversehrt, von dem Kugelhagel nicht gezeichnet. Als er endlich leicht schwankend dastand, weil seine Waden und Füße noch im Erdreich steckten, warf er Linden einen jammervollen Blick zu. Seine Augen hatten ihre Schlammfarbe behalten. Aber sie waren klar. Und bei vollem Bewusstsein. Er schien Linden so deutlich zu sehen wie sie ihn. Einige Sekunden lang bewegte sein Unterkiefer sich, als hätte er das Sprechen verlernt. Dann sagte er: »Mom.« Seine Stimme klang wie das Niederrieseln von aufgewirbeltem Staub. »Hilf mir.« In diesem Augenblick wusste Linden, dass er niemals dem Verächter
gehört hatte. Kein Diener Lord Fouls hätte sie um Hilfe … Aber bevor sie antworten konnte, begann er zu verschwimmen und sich aufzulösen. Nicht spürbare Brisen gingen durch ihn hindurch, als hätte er nicht mehr Substanz als Nebel und ebenso wenig Bedeutung. Während Linden noch mit sich selbst kämpfte, weil sie nicht wusste, ob sie etwas rufen oder zu ihm eilen sollte, löste Jeremiah sich allmählich auf wie ein ausgetriebener Geist. Bald war er ganz verschwunden; war so dämmerig und ewig lichtlos geworden wie die Luft, die ihn absorbierte. Als der letzte Überrest seiner Bitte verdunstete, bildete die Erde seines Grabs wieder einen kleinen Hügel, der ihn verbarg. Bald wies nichts mehr darauf hin, dass er jemals aus dem Totenreich auferstanden war. Als wäre der grelle Blitzstrahl eine Offenbarung gewesen, verstand Linden plötzlich, wo sie war. Sie verstand alles. Sie befand sich in einer Nachbildung von Jeremiahs Verstand, einer durch Gesundheitssinn und Erdkraft erschaffenen Konkretisierung seiner Gefangenschaft. Das um das Gräberfeld geknotete Netz aus Magien versinnbildlichte die Macht des Croyels, der Jeremiah beherrschte. Mit grausamen Energieblitzen sicherte das Ungeheuer sich, was es von dem Jungen brauchte: Sprache, Bewegungen, Gesten und Erinnerungen, mit denen der Croyel sich als Jeremiah ausgeben konnte. Und die Gräber, die unendlich vielen Gräber, nachlässig aufgeschüttete Hügel, die sich weiter erstreckten, als Lindens Sinne reichten … Großer Gott! Die Gräber waren Jeremiahs Gedanken. Sie versinnbildlichten das Arbeiten seines gefangenen Verstands: jeder Gedanke mit Händen greifbar wie eine Leiche, zugleich vergänglich wie Nebel - und in seinem Inneren lebend begraben. Begraben. Lebend. In seinem Inneren. Diese blitzartige Eingebung ließ sie alles vergessen, was Ängstlichkeit oder Lähmung hätte sein können. An Entsetzen erinnerte sie sich noch Entsetzen und unerträgliche Wut -, aber alle Empfindungen, die sie hätten einengen oder behindern können, verschwanden wie ausgetrieben. Jeremiah! Wenn ein Blitzstrahl genügte, um Fragmente seines Ichs auferstehen zu lassen, konnte sie mit Erdkraft und Zorn alle
auferwecken. Sie konnte alle Gräber in Brand setzen, mit Feuer alle Facetten der Identität, die sich nie als seine manifestiert hatte, auferstehen lassen. Sie konnte sie zu Tausenden und Abertausenden in sich aufnehmen, bevor sie verdunsteten und wieder begraben wurden. Und dann konnte sie … Auch wenn sie von Jeremiah Besitz ergriffen hatte, würde sie in seiner Krypta bleiben. Und der Croyel würde gegen sie kämpfen. Oh, er würde kämpfen! Er würde seine gesamte List, seine ganze angeborene Kraft und jedes Quäntchen seines angelernten Wissens einsetzen, um auch Linden zu seiner Gefangenen zu machen. In Jeremiahs kleinerer Welt glichen die Magien des Croyels einem weiten Firmament. Aber Linden … ah, sie existierte außerhalb von Jeremiahs Verstand. Sie besaß eine separate Identität und einen Körper, an den der Croyel nicht herankam. Und sie war nicht die einzige Feindin des Ungeheuers. Galt würde keine Sekunde zögern, ihm die Kehle durchzuschneiden. Die Angst davor würde den Croyel im Kampf gegen sie behindern. Sie konnte es schaffen! Sie, Linden Avery, die schon die Schlange des Weltendes geweckt hatte. Dazu brauchte sie Jeremiahs Verstand nur mit genügend Erdkraft und Zorn zu mobilisieren und von ihm Besitz zu ergreifen. Aber sie hatte erlebt, wie es war, besessen zu sein. Sie kannte den Preis dafür. Mit ihren metaphysischen Händen - dem Griff von Gesundheitssinn und Offenbarung - fühlte sie die Runen, die ihren Stab definierten, erwachen und glühen. Sie schienen heiß genug zu sein, um ihr das Fleisch von den Knochen zu brennen. Linden konnte sie nicht lesen. Trotzdem interpretierten ihre Nerven sie, als wäre ihre Bedeutung durch Schmerzen lesbar geworden. Sie besaß genügend Macht. Sie konnte Jeremiahs Verstand zurückholen. Aber würde ihr Sohn es ihr danken, dass sie eine Form der Besessenheit durch eine andere ersetzte? Selbst wenn sie die Integrität seines innersten Ichs nur verletzte, um ihn zu retten? Linden konnte alles vergessen, nur das Rösserritual der Ranyhyn nicht. Nicht noch einmal. Nicht während feurige Runen die unauslöschlichen Qualen, die Caerroil Wildholz erlitten hatte, in ihre Hände brannten.
Das chiffrierte Mitgefühl des Forsthüters hatte ihre Anstrengungen unterstützt, Thomas Covenant aus dem Totenreich zurückzuholen. Damals hatte sie geglaubt, zufällig auf den einzigen Zweck der Runen gestoßen zu sein. Jetzt wusste sie es besser. Muss es geschehen, dass Schönheit und Wahrheit ganz verschwinden, wenn wir einst nicht mehr sind? Auf dem Galgenbühl hatte sie Caerroil Wildholz ein Versprechen gegeben. Er dachte nicht daran, sie es vergessen zu lassen. Das ihrem Stab entlockte Feuer war sichtbar geworden; aber es gab weder gelbes Licht noch Kornblumenduft ab. Stattdessen verbreitete es in der hier herrschenden Düsternis Schwalle und Ströme dunkelster Schwärze. Die Runen in Lindens Händen forderten Erinnerung, und selbst Erdkraft war zu Verzweiflung geworden. Die eigene Notlage führte sie zu dem Rösserritual zurück. Von Gräbern umgeben erinnerte sie sich an die Verschmelzung von Herz und Verstand, die sie mit Hyn und Hynyn erlebt hatte; an die Bilder, die sie erschreckt hatten … Als Erstes hatten die Ranyhyn ihr die Geschichte von Hoch-Lord Elena aus ihrer Perspektive erzählt, wie sie sie jetzt sahen. Sie hatten zugegeben, die Entwicklung falsch eingeschätzt zu haben, und die Gründe genannt, weshalb ihre Bemühungen ins Gegenteil verkehrt worden waren. Und dann … o Gott, dann hatten sie dieselbe Geschichte noch mal erzählt, als handelte sie nicht von Elena, sondern von Linden. Sie hatten ihr ihre angeborene Fähigkeit zu Entweihung und Schändung vor Augen geführt. Und nachdem sie Linden bis ins Innerste entsetzt hatten, waren sie noch einen Schritt weitergegangen … Auf der Basis von Lindens eigenen Erlebnissen mit Turiya Herem und Moksha Jehannum hatten die Ranyhyn ihr Jeremiahs Notlage geschildert, wie sie ihnen erschien. Sie hatten betont, Teilnahmslosigkeit sei seine einzige Verteidigung: Er könne die gefährdeten Fragmente seines Ichs nur durch Verstecken retten. Und als sie geglaubt hatte, nicht noch mehr ertragen zu können, hatten sie den nächsten Schritt getan. Sie hatten Linden dazu gebracht, sich als der besessene Jeremiah zu sehen. Dieses Bild hatten sie mit Thomas Covenant in seiner von den Elohim bewirkten Starre überlagert. Und sie hatten ihr die Konsequenzen
ihres heißen Wunsches, die beiden zu befreien, vor Augen geführt. In unfreiwilligen Visionen hatte Linden gesehen, wie als Folge ihres Entschlusses, Covenant wiederzuerwecken, die Schlange des Weltendes erwachte. Und noch schlimmer: Sie hatte gesehen, wie das geliebte Gesicht ihres Sohnes sich auflöste und widerwärtig wurde: gemein wie die Bosheit des Verächters und ebenso abscheulich. Mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln hatten die Ranyhyn ihr demonstriert, dass die Lösung nicht daraus bestehen konnte, von anderen Besitz zu ergreifen. Hauchte sie jeder einzelnen von Jeremiahs unzähligen Leichen mit Feuer und Magie ihr Leben ein, beging sie ein Verbrechen, für das es keine Rechtfertigung geben konnte. In der Erinnerung daran hätte Linden im Dämmerlicht der Qualen ihres Sohns am liebsten laut aufgeschrien. Aber das tat sie nicht. Wie die Ranyhyn war sie noch nicht fertig. Auch wenn die Flamme ihres Stabs schwarz geworden war, verkörperte sie weiterhin Macht. Damit konnte sie weiter versuchen, die Schreckensherrschaft des Croyels zu brechen. Das konnte sie tun, ohne Jeremiahs Seele zu berühren. Gleich der erste Versuch zeigte jedoch, dass sie sich getäuscht hatte. Lindens energischer Feuerstoß löste einen weiteren Blitz aus dem Verteidigungsnetz des Croyels aus. Dieser Blitz traf einen weiteren Grabhügel, der sofort zu brodeln begann. Wieder arbeitete Jeremiah sich aus dem Erdreich heraus. Als er dann vor ihr stand, sagte er mit einer Stimme wie Dämmerlicht und schwebender Staub: »Mom, tu das nicht. Genau das will Lord Foul.« Dann verschwand er; löste sich auf; kehrte lebend ins Totenreich zurück. Linden begann die Sieben Wörter zu rufen - und erreichte damit nur, dass wieder ein erschreckend greller Lichtstrahl durchs Dämmerlicht zuckte. Ein weiterer Avatar von Jeremiahs Elend erhob sich; sprach seine kurze, verzweifelte Bitte; versank wieder in seinem Grab. Eine schreckliche Erkenntnis ließ sie neben einem der unzähligen Gräber auf die Knie sinken. Sie konnte nicht… oh, sie konnte nicht! Nicht auf diese Weise. Sie konnte nicht für die Befreiung ihres Sohns kämpfen, solange sie in seinem Inneren blieb. Tatsächlich würden ihre Bemühungen seine Abwehrkraft schwächen. Ihr Kampf gegen den Croyel würde seine Qualen verschlimmern, bis sie zu ewiger
Verdammnis wurden. Jeremiah gehörte nicht dem Verächter. Noch nicht. Linden hatte ihn gesehen, ihn gehört. Seine Gräber hielten ihn gefangen und schützten ihn zugleich. Aber wenn die eigene Mutter diesen Schutz zerstörte … An Herz und Seele verwundet würde er Lord Foul anheimfallen. Ganz gleich, ob sie ihn befreien konnte oder nicht. Auf den Knien liegend litt Linden unter den gleichen bestürzten Qualen, die ihr nach dem Rösserritual zugesetzt hatten. Die Vorstellung, sie könnte ihrem Sohn das antun - nicht in Visionen, sondern in greifbarer Realität… Daran hätte sie zerbrechen können. Vielleicht wäre das normal gewesen. Aber sie zerbrach nicht. Sie war noch nicht am Ende. Sie besaß weitere Machtmittel. Sie konnte andere Wege beschreiten. Linden sprang wie von einem plötzlichen Fieberanfall erfasst auf. Sie verstärkte absichtlich den Druck, mit dem ihre Hände die brennenden Runen umschlossen. Von der Bösartigkeit des Croyels in Jeremiahs Verstand gefangen versuchte sie, mit ihren physischen Stimmwerkzeugen - Kehlkopf, Mund, Zunge und Lippen - laut zu rufen. Liand, hilf mir! Hol mich hier raus! Vielleicht gelang ihr das, und Liand hörte sie. Oder er hatte einfach nur ihre Gefahr gesehen und darauf reagiert. Wie ein jäher Sonnenstrahl berührte das wohltuende Leuchten ihren Nacken und die linke Gesichtshälfte. Berührte ihn und blieb dort. Im nächsten Augenblick hatte sie Mühe, das Gleichgewicht zu halten, als ihre Stiefel wieder den im Sternenschein fahlweißen Hügelkamm entdeckten. Jeremiah stand unbefreit vor ihr. Der Croyel fletschte die Zähne zu einem raubtierhaften Grinsen. Seine gelben Augen, die das Leuchten des Sonnensteins reflektierten, funkelten triumphierend. Stave fing sie sofort auf; stützte sie. Zwischen ihren Händen krochen ebenholzschwarze Flammen über den Stab und ließen die Runen deutlicher hervortreten. Aber die Flammen hatten schon zu verblassen begonnen. Sie waren bereits verblasst. Nur der tief in ihren Fingern und Handflächen sitzende Schmerz erinnerte an Caerroil Wildholz’
Ermahnung. Von dem schwarzen Feuer alarmierte Riesinnen riefen Lindens Namen. Mähnenhüter Mahrtür murmelte halblaute Verwünschungen. Liands freie Hand umfasste ihren Arm, als wollte er sich so versichern, dass sie unverletzt war. Linden schüttelte die Hand ab. Sie wies alle zurück. Sie hatte keine Zeit für Erklärungen - und keine Worte dafür, was geschehen war. Sie musste handeln, sofort handeln, solange die Bilder von den Qualen ihres Sohns noch klar und scharf wie Glassplitter in ihrem Gedächtnis steckten. Covenant versuchte etwas zu sagen, aber seine Worte klangen rätselhaft wie Runen, waren unmöglich zu deuten. Weil Linden ihren Angriff nicht mit Hilfe des Schmucksteins des Krill vortragen wollte, fürchtete sie sich davor, gleichzeitig zwei Werkzeuge der Macht in den Händen zu halten und zu gebrauchen. Jedes für sich allein wird deine Kräfte übersteigen … In fieberhafter Hast drückte sie Stave ihren Stab in die Hände. Liand hätte vielleicht versucht, ihn zu benutzen; Stave würde das nicht tun. Dann zog sie sich die Kette mit Covenants Ring über den Kopf. Indem sie ihren Zeigefinger wie früher Covenant in den Reif schob, ballte sie die Faust um die Kette. Mit der anderen Hand zog sie Jeremiahs Rennauto aus der Tasche und hielt es wie einen Talisman vor sich hoch. Linden wusste nicht, wie sie ihre Absicht verwirklichen sollte. Der Weißgoldring gehörte nicht ihr; auch fehlte ihr Covenants natürliche Vertrautheit mit wilder Magie. Aber gerade deshalb - und weil ihr Gesundheitssinn weiter kristallklar war - vertraute sie auf sich. Ihre begrenzten Fähigkeiten und ihre Sinne würden sie daran hindern, ernstlich Schaden anzurichten. Und wenn ihre Bemühungen Kastenessen - oder Joan - ihren Aufenthaltsort verrieten, war ihr das egal. Jeremiahs Notlage wog schwerer als alle anderen Gefahren. Durch ihr Inneres flitzend, als wäre sie sich ihres Weges völlig sicher, erreichte sie die Geheimkammer, in der ihr sonst ungenutzter Zugang zu wilder Magie lag. Ohne auch nur haltzumachen, riss sie die Tür auf: In diesem Augenblick gab der Ring einen weißen Lichtblitz ab, der an die Blitze erinnerte, die kurzzeitig Avatare ihres Sohns aus ihren Gräbern hatten auferstehen lassen. Das war wilde Magie, die sich nicht beherrschen lassen wollte. Ihr Glanz blendete Linden. Ihre ungebändigte
Macht schien die Nacht zum Tag zu machen. Aber die potenzielle Zerstörungskraft des Rings erschreckte Linden nicht. Sie hatte sein Feuer schon bei anderen Gelegenheiten mehr als einmal angerufen. Sie war der Überzeugung, es meistern zu können. Es war nur zu stark, weil sie es so überstürzt gerufen hatte. Sobald sie alle Dimensionen seiner Stärke begutachtet hatte, würde sie es ihren Absichten entsprechend genauer dimensionieren. Seine Unvollkommenheit ist das Paradoxon, aus dem die Erde besteht… Aus dem Augenwinkel heraus sah sie in Loriks Krill nackte Gier glitzern. Covenants erbitterter Fluch bestätigte ihren Verdacht; die grimmige Bestürzung der Riesinnen bestätigte ihn. Joan - oder der Wüterich Turiya Herem - hatte sie bereits wahrgenommen. Binnen Sekunden konnte der Krill so heiß werden, dass er Galts Hände wie zuvor Covenants schädigen würde. Diese Möglichkeit ignorierte Linden jedoch. Sie wollte rasch arbeiten; sie würde fertig sein, bevor der Meister Schaden litt. … und mit ihm kann ein Meister vollkommene Werke erschaffen, ohne irgendetwas befürchten zu müssen. Während Liand und die Ramen sie anstarrten, holte Linden ihre Macht vom Himmel und machte sich daran, ihr eine nadelscharfe Dolchspitze wie die Flamme eines Schneidbrenners zu geben. An der Peripherie ihrer Wahrnehmung spürte sie, wie die restlichen Schwertmainnir, die Bhapa mitbrachten, den Hügelkamm erstürmten. In ihrem gewölbten Brustpanzer trug Sturmvorbei Böen-Ende Anele mit sich. Der Alte war jetzt wach, hockte sichtbar angespannt da und schien Linden zu beobachten. Ihr Wildfeuer und das Leuchten von Loriks Schmuckstein schienen sich in seinen blinden Augen zu spiegeln; in ihnen zu brennen. Linden ignorierte ihre Gefährten jedoch. Ihr Herz war nur auf Zorn und Weißgold fixiert: auf Energien, die chaotisch genug waren, um den Himmel zu zerreißen, und rein genug, um das Gehirn des Croyels zu verwüsten. Das war schwer … ah, das war schwer. Schwieriger als eine Zäsur zu erschaffen, um aus der Vergangenheit des Landes zu entkommen; mühsamer als gewaltige Macht heraufzubeschwören, um Covenant wiederzuerwecken. Vor langer Zeit hatte er sie gewarnt, dass wilde
Magie sich ansammelte; dass sie mit jedem Gebrauch stärker wurde; dass ihr Feuer sich nie eindämmen lassen wollte. Inzwischen kannte sie diese Gefahren aus eigener Anschauung. Aber sie war nicht nur Linden Avery die Auserwählte. Sie war weiß Gott die Sonnenkundige! Ihr durch nichts behinderter Gesundheitssinn ermöglichte ihr Empfindungen und Urteile, zu denen selbst Thomas Covenant nicht imstande gewesen wäre. Wirkliches Chaos brauchte sie nicht zu befürchten - schließlich gehörte der Ring nicht ihr. Und das Blut in ihren Adern war Zorn. Er hatte alle sonstigen Gefühlsregungen ihres Lebens ersetzt. Um Jeremiahs willen brachte Linden einen Grad von Beherrschung auf, der die Fähigkeiten jedes rechtmäßigen Weißgoldträgers vermutlich übertroffen hätte. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln schmiedete sie eine silberne Klinge, die das Gehirn des Croyels durchstoßen sollte, ohne das Gräberfeld von Jeremiahs Bewusstsein zu verwüsten. Als die Waffe fertig war, trat sie dichter an ihren Sohn heran. Indem sie das Rennauto hochhielt, damit Jeremiah es sehen konnte - damit es als Anker oder Eckstein für seine begrabenen Gedanken dienen konnte -, zielte sie mit wilder Magie wie mit einem zugespitzten Schrei mitten ins Gesicht des Ungeheuers. Gleichzeitig entsandte sie jedoch Wahrnehmungsvermögen wie Ranken aus dringenden Bitten und Zärtlichkeit in Jeremiahs Verstand. Diesmal drang sie weniger tief ein; ergriff nicht ganz von ihm Besitz. Stattdessen streckte sie ihre Sinne nur weit genug aus, um seinen Zustand beurteilen zu können, während sie den Croyel bedrohte. Starr vor Anstrengung keuchte sie mit zusammengebissenen Zähnen: »Mit dir ist es aus, du Dreckskerl! Ich mache Schluss mit dir. Lass ihn frei oder stirb! Pardon wird nicht…!« Der Blick des Monsters ließ sie verstummen. Seine gelben Augen flackerten angstvoll. Übler Schweiß, der wie die Ausdünstungen eines Schlachthauses stank, glänzte auf seiner haarlosen Haut. Einen Augenblick lang glaubte Linden, sie könnte Erfolg haben. Der Croyel verstand doch sicher, dass sie ihn unbarmherzig töten würde? Er würde doch bestimmt weiterleben wollen? Dann merkte sie jedoch, dass der starre Blick der Bestie nicht sie,
sondern Liand fixierte. Der Croyel fürchtete ihn noch immer mehr, als er Linden fürchtete. Das hatte er von Anfang an getan. Einen Herzschlag später heulte Jeremiah schmerzlich auf. In seinem Inneren begannen von allen Seiten Kräfte sein vergrabenes Bewusstsein heimzusuchen. Grelle Energieblitze trafen Dutzende, Hunderte von Gräbern gleichzeitig. Brodelnde Erde umgab Aspekte seiner selbst, als sie sich auf die Füße schlängelten. Aber diesmal klangen die Blitzstrahlen nicht ab, sobald er auf den Beinen war. Nein, dieses Mal dauerten sie an … Sie verbrannten und verbrannten ihn, bis jeder auferstandene Avatar wimmernd zu Asche geworden und damit wirklich tot war. Der Croyel grub Momente aus Jeremiahs Verstand nicht nur aus, sondern vernichtete sie gänzlich. Dutzende oder Hunderte seiner verborgenen Gedanken waren schon verglüht. Wie viele davon konnte das Ungeheuer zerstören, bevor Linden es vernichtete? Tausende? Zehntausende? Hunderttausende? Dann würde der Verstand ihres Sohns gelähmt bleiben. Diese Schäden würden endgültig sein. Vor Wut und Entsetzen hätte Linden den Schädel des Croyels am liebsten mit wilder Magie durchbohrt. Damit hätte sie Jeremiahs Qualen fast augenblicklich beenden können. Sie würde tausend Stücke von ihm verlieren, zehntausend oder hunderttausend. Aber das Gräberfeld war riesig; fast endlos. Wie jeder Verstand. Ein geschickt stimuliertes Gehirn konnte erstaunliche Schäden überwinden. Aus ihrem früheren Leben kannte sie einige solcher Fälle. Und dort hatte sie ohne die Heilkraft ihres Stabs auskommen müssen … Trotzdem zwang sie sich dazu, nicht weiterzumachen. Wich einen Schritt zurück. Ließ das Feuer von Covenants Ring erlöschen, so schnell sie konnte. Riss sich den Reif vom Finger; stopfte Ring und Rennwagen so tief wie möglich in ihre Jeanstaschen. Nahm ihre Drohung zurück. Denn der Croyel… Sie zitterte am ganzen Leib, bis sie das Blitzgewitter in Jeremiahs Innerem abklingen spürte. … fürchtete Liand mehr als sie. Liand und den Orkrest.
Covenant rief ihren Namen. Wie lange versuchte er schon, ihre Aufmerksamkeit zu erregen? Das wusste sie nicht. Sie weinte wieder, konnte gar nicht mehr aufhören. Höllenfeuer, Linden!, rief er vielleicht. So geht es nicht! Dafür ist wilde Magie nicht geeignet! Das wusste sie jetzt auch. Staves starke Arme stützten sie, bis ihr Zittern etwas abzuklingen schien. Da er ihren Tränenstrom nicht zum Versiegen bringen konnte, tat er, was er konnte, indem er ihr den Stab des Gesetzes in die Hände legte. Er hatte gesagt: Solltest du versagen, wird das Ergebnis schrecklich für dich sein. Und sie hatte eindeutig versagt. Trotzdem hatte er sich geirrt. Solange Liand nicht versagte … Einen Augenblick lang schienen die Sterne um Linden zu kreisen, als hätte sie auch den Himmel in Aufruhr versetzt. Der Sonnenstein leuchtete weiter, erhellte ihre unmittelbare Umgebung. Der Schmuckstein von Loriks Krill pulsierte von Andeutungen von Gier und Mordlust. Trotzdem erschien Linden der schwarze Himmel so drückend schwer und hermetisch dicht wie ein Sarkophagdeckel. Indem sie von dem Abgrund von Jeremiahs Schicksal zurückgetreten war, hatte sie sich wieder klein gemacht: zu klein, um in den desolaten Weiten von Nacht und Sternen, der harten Wahrheit von kahlen Hügeln und bröckelndem Gestein noch irgendeine Bedeutung zu haben. Aber Linden konnte ihre Bedeutungslosigkeit ertragen. Sie war damit zufrieden. Wenn nur Liand nicht versagte. Obwohl sie noch bis ins Knochenmark hinein zitterte, nahm sie von dem Haruchai die Last ihres Stabs entgegen. Die Berührung der Runen war für ihre Hände noch immer schmerzhaft, aber das Brennen ließ allmählich nach. Bald würde sie sich wieder mit dem blank polierten Holz trösten können. Um Linden herum ragten acht Riesinnen wie Menhire vor dem Nachthimmel auf. Liand stand leicht nach vorn gebeugt neben ihr, hielt den Orkrest umklammert und brannte sichtlich darauf, mit Linden zu reden - brannte wie ein Mann darauf, der den Sinn seines Lebens entdeckt hat. Einige Schritte von ihnen entfernt schien der blinde Mahrtür über Covenant zu wachen. Die Gedemütigten konnten das nicht: Clyme und Branl blieben auf ihren selbst gewählten Posten, und Galt
hatte alle Hände voll zu tun. Hinter Liands rechter Schulter wartete Pahni mit sonnengelben und silbernen Reflexen in ängstlich geweiteten Augen. Einige Schritte hinter den anderen Schwertmainnir trug Böen-Ende weiter Anele in ihrem abgelegten Brustpanzer. Während der Alte Linden und Liand, Jeremiah und den Croyel beobachtete, bewegte er den Kopf angstvoll ruckend von einer Seite zur anderen, als wäre er versehentlich an einen inneren Abgrund geraten. Mit einer Hand machte er zupfende Bewegungen in Liands Richtung, als versuchte er, die Aufmerksamkeit des Steinhauseners auf sich zu lenken. Etwa in der Mitte zwischen Anele und Mahrtür stand Bhapa, der sichtlich beunruhigt war, weil er nicht wusste, welche Pflichten er den beiden Blinden gegenüber hatte. »Linden Riesenfreundin …«, begann die Eisenhand. Aber ihr schienen die Worte für das zu fehlen, was sie sagen oder fragen wollte. Ihre starken Kiefer zermahlten Emotionen, die sich nicht ausdrücken ließen. »Das habe ich befürchtet«, murmelte Covenant. »Tut mir schrecklich leid, Linden. Manchmal muss man einfach …« Er brachte diesen Gedanken nicht zu Ende. Wie zuvor Jeremiah versank er in Schweigen, als wäre es ein Grab. Mit ruhigem Nachdruck sagte Liand: »Linden, ich fühle mit dir - und mit deinem Sohn. Trotzdem ist mein Kummer mit Begierde vermengt, auch wenn es selbstsüchtig ist, so zu fühlen. Solange der Junge unter uns ist, besteht noch Hoffnung. Und ich habe meine Kraft noch nicht erprobt.« Sein Sonnenstein leuchtete wie ein Versprechen. Liand war der erste wahre Steinhausener seit Jahrtausenden. Er war im ganzen Land einzigartig. Linden hätte am liebsten ausgerufen: Red nicht nur davon! Erklär mir nichts! Tu es einfach! 0 Gott, er ist dort drinnen lebendig begraben! Aber sie hielt sich zurück. Wie sie selbst mussten auch andere Leute ihre eigenen Entschlüsse fassen. Liand würde tun, was in seinen Kräften stand. Irgendwie schaffte sie es, sich zu beherrschen, während er nach Worten für seine Aufregung suchte. »In Schwelgenstein«, sagte er beinahe flüsternd, »hast du von dem Orkrest gesprochen. Ich hatte erfahren, dass er notfalls Licht gibt und
Aneles Gedankensplitter verständlich machen kann. Diese Erkenntnisse hast du durch Lehrenwissen ergänzt, das sich seither als wertvoll erwiesen hat. Und du hast…« Er schien vor Verwunderung und Vorfreude zu glühen, die an Ekstase grenzten. »Linden, du hast von Heilen gesprochen. Nachdem du mir erklärt hattest, dass der Orkrest imstande ist, die Wirkung von Kevins Schmutz aufzuheben, hast du von Heilen gesprochen. Von einer Heilung des Geistes, nicht des Fleisches. Daraus ist sicherlich die ursprüngliche Verwendung des Sonnensteins als Wahrheitsprobe entstanden.« Während Linden vor Ungeduld mit den Zähnen knirschte, fuhr Liand nachdrücklicher fort: »Mein Herz sagt mir, dass die Notlage deines Sohns letztlich ein geistiges Leiden ist. Besitzt der Orkrest die Macht, Aneles Zusammenhangslosigkeit zu bündeln, kann er vielleicht auch Jeremiahs Seele vor Verwüstungen bewahren. Wie sollte ein Wesen wie der Croyel eine Wahrheitsprobe bestehen können? Ich verstehe mich nicht auf den Gebrauch von Erdkraft …« Während er sprach, schien er vor Lindens Augen zu wachsen, solider zu werden. »Trotzdem versichern mein Herz und meine Augen mir, dass die Magien des Orkrests diesem Ungeheuer ein Gräuel sein müssen. Linden Avery, ich bitte um deine Erlaubnis, die Befreiung deines Sohns versuchen zu dürfen.« Bevor Linden antworten konnte, wandte Onyx Steinmangold ein: »Und wenn der Croyel sich als stärker erweist als du? Was dann? Wir alle haben gesehen, wie Linden Riesenfreundins Flamme schwarz geworden ist. Hoffentlich nur vorübergehend. Aber wie willst du dich behaupten, wenn sie, die sich mit Erdkraft auskennt, so behindert werden kann? Liand von Steinhausen Mithil, ich erkenne deinen bereitwilligen Mut an. Ich bin stolz darauf, dich zu meinen Gefährten zu zählen. Aber wenn du ins Herz dieses verlorenen Jungen blickst, wird das Wesen, von dem er besessen ist, in deines blicken. Dann bleibt vielleicht keine Hoffnung mehr, die unseren Kummer lindern kann.« Tu es einfach, Liand, wollte Linden ihn auffordern. In besseren Zeiten hätte sie vielleicht hinzugefügt: Ich habe Vertrauen zu dir. Aber während Sorge ihr noch die Kehle zuschnürte, spürte sie plötzlich, wie die Übelkeit erregende Migräne-Aura einer Zäsur sich schlagartig zwischen den Hügeln ausbreitete.
Sie warf sich herum und beeilte sich, ihre Sinne zu fokussieren. Auch die sie umgebenden Riesinnen suchten eilig den Horizont ab. Bhapa, der ein Stöhnen nicht unterdrücken konnte, hastete zu Mähnenhüter Mahrtür. »Beschützt Anele!«, keuchte der Alte hektisch. »Er ist die Hoffnung des Landes! Sie hat es auf ihn abgesehen!« »Sie ist dort drüben, Auserwählte«, verkündete Stave, indem er nach Nordosten deutete. »Sie windet sich mindestens eine Meile weit von uns entfernt. Vorerst kann sie uns nicht gefährden. Aber sie rückt näher heran. Ändert sie die Richtung nicht oder löst sich nicht auf, musst du sie bekämpfen.« Er hatte recht. Sobald Linden den Sturz, wie die Haruchai sagten, ausfindig machte, nahm sie ihn deutlich wahr: ein Miasma aus Verderbnis - tückisch wie ein Hornissenschwarm und massiv wie der Wachtturm von Schwelgenstein -, das sich durchs Gesetz der Zeit wühlte. Die Zäsur taumelte von einer Seite zur anderen, woran aber nicht das Gelände, sondern anscheinend die Launen und Impulse von Joans Wahnsinn schuld waren. Aber sie schob sich näher heran … Verdammt! »Staves Blick ist scharf«, knurrte die Eisenhand. »Ein großes Übel rückt gegen uns vor. Sein Pfad ist erratisch, aye, aber es hastet auf seine Weise heran. Wollen wir nicht vor ihm auseinanderstieben, müssen wir uns irgendwie verteidigen. Ist das eine Zäsur? Ein Sturz? Ihr habt von solchen Übeln gesprochen, aber wir haben noch keines zu Gesicht bekommen.« Niemand antwortete ihr. »Ich weiß nicht, was du vorhast«, knurrte Covenant Liand an, »aber du solltest dich beeilen. Joan wird sich nicht mit nur einer zufriedengeben. Das lässt Turiya nicht zu. Sie versucht es noch mal, bis sie die richtige Entfernung gefunden hat.« Linden sah rasch zu dem Croyel hinüber - und hätte fast aufgeschrien. Die hässliche Fratze des Ungeheuers strahlte triumphierend. Sie erstarrte einen Herzschlag lang, während ihre gesamte Realität in Bruchstücke zerfiel. Ein abgetrennter Teil ihres Ichs erinnerte sich daran, wie sie Joans Verstand im Kern einer Zäsur entdeckt hatte: eine einsame Gestalt, die längst hätte zugrunde gehen sollen; eine Verrückte, die so schwach und verletzt war, dass nur der von dem Wüterich Turiya ausgeübte Zwang und die Bemühungen der Skurj sie noch am Leben
erhielten. Zwischen tobenden Meeren und einer Trümmerwüste stehend, setzte sie Impulse von wilder Magie ein, um kleine Stein- und Zeitstücke zu zerstören und aus zerspelltem Granit, aus Sequenzen und Kausalität Zäsuren zu erschaffen. Außer ihrer zerbrochenen Humanität und ihrer Unfähigkeit, unabhängige Entscheidungen zu treffen, hinderte sie nichts daran, den gesamten Bogen der Zeit aus seinen Fundamenten zu reißen. Gleichzeitig glotzte ein anderer Teil Lindens stumm den Croyel an, als wollte sie fragen: Wieso hast du keine Angst? War das Monster nicht ebenso gefährdet wie sie alle? Die geringste Berührung durch den Sturz musste den Croyel doch so wirkungsvoll vernichten wie jeder physische Tod? Wieso war Turiya Herem bereit, die Vernichtung eines Ungeheuers zu riskieren, das sowohl Roger als auch Lord Foul lebend haben wollten? Aber für das alles hatte Linden keine Zeit. Beim nächsten Herzschlag war ihr Verstand plötzlich wieder heil und konzentriert. »Geh!« Sie stieß Liand zu Jeremiah hinüber. »Rette ihn, wenn du kannst! Zäsuren sind mein Problem.« Dann riss sie den Stab des Gesetzes hoch und flehte ihn um Feuer an. Schlug Joan nochmals und aus geringerer Entfernung zu … Konnte der Wüterich so viel Vernunft erzwingen … Im nächsten Augenblick loderten dunkle Flammen aus dem Stab, und Linden fühlte die Nachwirkungen des Gebrauchs des Weißgolds abklingen. Trotz der erzwungenen Schwärze fühlte diese ihr gehörende Feuersbrust sich in ihren Händen richtig an. Und sie war nicht Joan. Sie konnte sich frei entscheiden. Erdkraft und Gesetz konnten den Schaden heilen, den wilde Magie angerichtet hatte. Solange Joan es nicht schaffte, im genau richtigen Augenblick genau die Stelle zu treffen, an der Linden stand, würde sie Liand beschützen können. »Ring-Than, nein!«, rief Pahni. »Das darfst du nicht zulassen! Ich flehe dich an! Die Gefahr ist zu groß!« Sie meinte die Gefahr für Liand. »Schweig, Seilträgerin!«, blaffte Mahrtür. »Darüber hast du nicht zu befinden.« Aber Pahni ignorierte ihren Mähnenhüter. »Liand, bitte. Du bist mein Liebster! Ich flehe dich auf den Knien liegend an, wenn dich das umstimmt. Überlass diese gefährliche Aufgabe anderen, die nicht so
geliebt werden.« Linden beobachtete den heranziehenden Sturm aus Übel und hielt sich bereit. Aber sie beobachtete Liand genauer als die Zäsur und betete darum, dass er nicht versagen würde. Dass der Sonnenstein nicht in seiner Faust zu Staub zerfallen würde. Liand wandte sich von Jeremiah ab, um Pahni zu umarmen. So leise, dass Linden ihn kaum hörte, forderte er die Seilträgerin auf: »Fürchte um mich, Liebste. Ich fürchte selbst um mich. Aber in Linden Averys Gesellschaft, in deinen Umarmungen und dem Orkrest habe ich mich gefunden, obwohl ich nicht wusste, dass ich verloren war. Gebe ich hier nicht mein Äußerstes, werde ich weniger, als ich für mich erstrebe. Dann bin ich der Talente, die ich in dir entdeckt habe, nicht würdig.« »Aber wenn du umkommst …«, jammerte Pahni. »Komme ich dabei um«, erwiderte er so zärtlich, dass Linden das Herz schmerzte, »bist du noch da, um dem Land, den Ranyhyn und der Ringträgerin zu dienen, wie es deine Pflicht ist. Meine Liebe bleibt für immer bei dir. In Kummer liegt Kraft. Wie du sie gebrauchen wirst, rechtfertigt mich.« Während Liand Pahni an sich gedrückt hielt, manifestierte sich im Dunkel der Nacht eine zweite Zäsur. Diese erschien mit ihren zerstörerischen Schrecken links von Linden und näher als die erste; viel näher. Wie ein Vulkanausbruch zerriss sie die Luft kaum ein halbes Dutzend Schritte von Clymes Position auf dem nördlichen Hügelkamm entfernt. Dann wollte das Chaos aus Augenblicken nach ihm greifen. Aber er brachte sich übernatürlich schnell mit einem Satz in Sicherheit. Während er die Hügel nach weiteren Gefahren absuchte, achtete er darauf, dem Sturz nicht zu nahe zu kommen. Wie die erste Zäsur hielt auch diese auf Jeremiah und den Croyel zu, als würde sie von dem hellen Leuchten von Loriks Krill angezogen. »Bald wäre gut«, stieß Covenant durch zusammengebissene Zähne hervor: »Jetzt wäre besser.« Damit konnte er Linden ebenso meinen wie Liand. Liand schob Pahni sanft von sich fort, hielt seinen Sonnenstein hoch und schritt auf Jeremiah zu. Die triumphierende Miene des Croyels war schlagartig verschwunden.
Die ängstliche Erwartung in seinem Blick hätte ein Echo der Beklommenheit sein können, die Linden empfand. Während Liand auf ihn zutrat, machte er sein Licht heller und noch heller. Es beleuchtete Jeremiahs schlaffe Züge wie eine kleine Sonne, die dem nächtlichen Dunkel trotzend das schweißnasse Gesicht des Ungeheuers deutlich hervortreten ließ. Linden, die sich hin- und hergerissen fühlte, wollte sich auf die Zäsuren konzentrieren - und konnte es nicht. Sie musste diese kreiselnden Übel aufhalten. Aber ihr Bedürfnis, zu beobachten, was sich zwischen Liand und dem Croyel abspielte - was mit ihrem Sohn geschah -, war stärker. »Höllenfeuer, Linden!«, rief Covenant erschrocken. »Pass auf! Joan ist noch nicht fertig. Sieh den Krill an! Jeremiah zu retten, nützt nichts, wenn uns eine Zäsur erwischt!« Der Schmuckstein, um den Hoch-Lord Lorik herum seinen Dolch geschmiedet hatte, pulsierte wie ein Herz in Ekstase. Zäsuren sind nicht das einzig Schlechte, das passieren kann … An Joans Angriffen war Linden schuld; das wusste sie. Schließlich hatte sie ihren Standort verraten. Aber die Anstrengung, die es erfordert hätte, sich von Liand und Jeremiah abzuwenden, war zu groß für sie. Trotzdem musste sie es tun. Versagte Liand jetzt … Versagte er ihretwegen … Vor Stress zitternd hob Linden die schwarzen Flammen, um Barbarei und Wahnsinn abzuwehren. … wenn jemand Weißgold gebraucht. Fast in Tränen wandte sie sich dem Sturz zu, der sich ihr von Clymes Hügelrücken kommend entgegenschlängelte. Er war näher. Sie versuchte sich erneut einzureden, sie könne das schaffen. Sie hatte schon andere Zäsuren dadurch zerstört, dass sie die Struktur des Gesetzes und die Leidenschaft der Erdkraft wiederhergestellt hatte. Das konnte sie auch diesmal tun. Das ließ sich doch bestimmt wiederholen? Aber Liand streckte die Hand aus, um Jeremiahs Stirn mit seinem Sonnenstein zu berühren, und hier waren keine Urbösen oder Wegwahrer in der Nähe, um Linden zu helfen, über sich selbst hinauszuwachsen. Das Schmettern der dritten Zäsur hätte sie der Länge nach hinschlagen lassen, wenn Stave sie nicht aufgefangen hätte. Sie traf den Hügelkamm direkt hinter ihr. Mitten in der Gesellschaft.
Während in Lindens Kopf Alarmglocken schrillten, drehte Stave sie um, damit sie die neue Gefahr vor sich hatte. Heftige Übelkeit machte sie fast handlungsunfähig. Die Zäsur war nicht allzu groß - nicht nach den Maßstäben anderer Übel, mit denen sie schon zu tun gehabt hatte. Aber sie brodelte und wand sich genau dort, wo … Großer Gott! … genau dort, wo Covenant und Mahrtür und mehrere Riesinnen gestanden hatten! Im ersten Ansturm von Panik schaffte Linden es nicht, ihre Gefährten zu zählen. Sie wusste nicht, ob einer von ihnen verschluckt worden war. Der Sturz war höchstens zehn Schritte von Liand und Jeremiah entfernt. Dann schlug ihr Herz hämmernd weiter, und sie sah Covenant, den Mahrtür am Arm gepackt hielt, den Hang hinunterstürmen. Graubrand hatte Pahni zur Seite gerissen. Überall wichen Riesinnen der Zäsur mit großen Sprüngen aus. Sturmvorbei Böen-Ende torkelte in verzweifelter Hast rückwärts … … und stolperte … … und kippte Anele aus ihrem Brustpanzer. Mit dem nächsten Herzschlag wurde Linden ganz Flamme. Gott, sie hasste Zäsuren! Sie kannte dieses Übel; kannte es mit allen Sehnen und Nerven ihres Wesens. Sie hatte es zu oft am eigenen Leib verspürt. Sie brauchte nur Wahrnehmungsgabe und Furcht, um Erdkraft auf die komplexen Verzerrungen zu richten, die das notwendige Gesetz der Zeit zerstörten. Wäre sie stärker, besser oder bei klarerem Verstand gewesen, hätte sie vielleicht durch die Zäsur hindurch Joans verletztes Herz erreichen können. Aber es kostete weniger Kraft, den Sturm selbst abzuwehren. Weil sie an die Gebote von linearer Ursache und unvermeidlicher Wirkung glaubte, konnte Linden sie zusammenstückeln, wie sie einst einen Flicken von ihrer Bluse auf das Gewand der Mahdoubt gesetzt hatte. Unter gefühllosen Sternen schleuderte sie schwarzes Feuer in die Zäsur und begann mit ihrer Vernichtung. Sie brauchte nicht jeden abgetrennten Augenblick einzufangen und wieder richtig einzuordnen. Diese Arbeit nahm ihr die lodernde Flamme ihres Stabes ab. Und Caerroil Wildholz’ Runen machten die Theurgien
des Holzes spezifischer, entschiedener als Lindens eigene Instinkte für Gesundheit und Vollständigkeit. Die Zäsur begann fast augenblicklich zu implodieren. Das Zusammentreffen so unterschiedlicher Energien in Joans Malstrom führte zu einer Verpuffung, die zusammenschrumpfte, während sie ausbrannte. Binnen Augenblicken verschwand die Zäsur, als hätte sie nie existiert als wäre sie von der souveränen Richtigkeit der geheilten Zeit eingeatmet worden. Trotzdem lauerten in der Nacht weitere kreischende Gefahren. Die Zäsur, die in Clymes Nähe entstanden war, rückte näher heran. Auch Joans ursprünglicher Angriff setzte seine unbeholfen ruckartigen Bewegungen fort. Und Anele hatte sich auf Schotter und Geröll aufgerappelt: auf bröckelndem Gips und Sandstein, schiefrigen Platten und dem mürben Schutt von Erosion und längst vergessenen Kriegen. Anele! Er strahlte rohe Kraft aus, die so erschreckend wie die Zäsuren, aber viel bewusster war: voller Absichten und tobender Wut. Mit herrischen Gesten, die keinen Widerspruch duldeten, scheuchte er Riesinnen beiseite und räumte Hindernisse aus dem Weg. In seinen blinden Augen gloste ein rötlich gelber Lichtschein wie von Urweltschwefel: der Farbton der Reißzähne der Skurj. Heulend rannte er gegen Liand an. Kastenessen hatte von dem Alten Besitz ergriffen. Von Schmerzen gepeinigt war der Elohim gekommen, um den Croyel zu retten und Jeremiah zu entführen. Linden konnte nicht schnell genug reagieren. Sie war zu sehr Mensch; zu erschrocken. Aber Stave war bereits losgespurtet, um Anele den Weg zu verstellen. Vor langer Zeit hatte der ehemalige Meister im Kampf gegen eine Horde Dämondim ein Auge verloren. Trotzdem hatte er Anele damals niedergeschlagen und den Alten in Sicherheit gebracht. Jetzt zögerte er nicht, sich Kastenessens Sturmlauf in den Weg zu stellen. Ein Kraftblitz schleuderte Stave wie eine Handvoll ausgebleichter Knochen zur Seite. Liand, der im Herzen des reinen Lichts seines Orkrests stand, schien die
Gefahr nicht zu bemerken. Ohne auf das ihn umgebende Dunkel zu achten, berührte er Jeremiahs Stirn mit dem Sonnenstein: Summe und Symbol seines Geburtsrechts als Steinhausener. Galt sah die drohende Gefahr. Natürlich sah er sie. Sein ausdrucksloser Blick beobachtete Anele. Aber der Meister bewegte sich nicht, weil er uncharakteristisch zwischen widersprüchlichen Pflichten schwankte. Er hielt Loriks Krill umklammert. Und er war schnell. Er hätte Kastenessens Wut den Todesstoß versetzen können. Hätte Anele umbringen können. Weil er der ererbten Erdkraft des Alten ohnehin nicht traute, hätte er ihn bedenkenlos ermorden können. Aber das konnte er nicht, ohne den Croyel freizulassen. Sowie das Ungeheuer keine scharfe Klinge mehr an seinem Hals spürte, würde es sich zweifellos auf Kastenessens Seite schlagen. Es konnte Galt aufhalten oder vernichten, bevor der Gedemütigte Anele schaden konnte. Vielleicht überlegte Galt, ob er Jeremiah und den Croyel töten sollte, bevor er sich gegen Kastenessen stellte. Vielleicht hatte er nicht genug Zeit, um alle Konsequenzen sorgfältig abzuwägen: Covenants Befehle gegen die Sache von Kevins Schmutz. Wie Elena kreischend schleuderte Linden endlich schwarze Erdkraft gegen den Elohim. Aber sie kam zu spät. Anele schüttelte ihr Feuer wie Wasser ab, als er mit beiden Händen Liands Kopf umfasste. Von Kastenessens Macht getrieben füllte der Alte den zerbrechlichen Schädel des Steinhauseners mit Lava. Liands Kopf zerplatzte in einer Wolke aus Blut und Knochen und Gehirnmasse. Nun warf Sturmvorbei Böen-Ende sich nach vorn. Sie rammte den Alten; schlang ihre Arme um die von Anele ausgehende feurige Lohe; stieß ihn an Liand und Jeremiah, Galt und dem Croyel vorbei. Sie ignorierte nicht nur die mörderische Hitze in ihrer Umarmung, den augenblicklichen Temperaturanstieg wie bei einem Hochofenanstich, sondern dachte irgendwie auch daran, sich beim Sturz auf den Rücken zu wälzen, sodass Anele keinen Kontakt mehr mit Erde hatte. Im letzten Augenblick bevor Böen-Ende ihn rammte, gelang es Anele jedoch, den Orkrest aufzufangen, als er aus Liands leblosen Fingern fiel. Linden sah den Alten deutlich. Kastenessen wollte den Sonnenstein vernichten …
… bis die Riesin Anele vom Erdboden hochriss. Als Böen-Ende vor Schmerzen knurrend in losgetretenem Geröll auf dem Rücken aufkam, verschwand Kastenessens Macht. Der Orkrest wurde dunkel. Obwohl der Schmuckstein des Krill weiter hungrig pulsierte und die Gier der Zäsuren weiter anschwoll, schien nächtliches Dunkel auf die Hügel herabzusinken, als wäre ein Sarkophagdeckel zugefallen. Galt blieb starr stehen wie eine geschnitzte Statue in der Halle der Geschenke. Jeremiah stand als leere Hülse da, während der Croyel auf seinem Rücken keckerte und spuckte. Liand sank in einem Blutschwall auf die Knie; lehnte sich allmählich nach vorn, bis er wie zerknirscht an Jeremiahs Beinen lehnte. Wenn deine Taten ins Verderben führen … Anele, der bewusstlos in Böen-Endes Armen lag, hielt weiter den erloschenen Sonnenstein umklammert, als hinge sein Leben davon ab. … denk daran, dass er die Hoffnung des Landes ist. Nur die näher rückenden Zäsuren hinderten Linden daran, wie ein verletztes Kind laut zu jammern.
4 Anstrengungen müssen gemacht werden
Zeit- und Klagestürme erfüllten die Nacht. Irgendwo verlieh der Wüterich Turiya Joans Schwäche durch reine Brutalität eine gewisse Zielstrebigkeit; zwang sie dazu, ihre Anstrengungen zu verdoppeln. Kurz nachdem Linden die nächste Zäsur aufgelöst hatte, wühlte eine vierte den Bach auf der Sohle des Canyons auf und wirbelte den Sand, in dem sie mit ihren Gefährten gegessen und geschlafen hatte, zu einem Migränetornado auf. Eine fünfte hätte beinahe Branl erwischt, als er zu der Gesellschaft zurückspurtete. Er konnte sich nur retten, indem er sich kopfüber einen Felshang hinunterstürzte. Eine sechste entstand einen Steinwurf entfernt auf dem Hügelkamm und schlängelte sich näher. Danach gab es keine mehr. Der Wüterich musste Joans Kräfte restlos erschöpft haben. Trotzdem schlängelten sich jetzt fünf wild chaotische Gebilde auf Jeremiah zu - oder auf den Krill. Linden konnte sie nicht alle abwehren. Andere Stürme, die sie durchtobten, machten es ihr unmöglich, sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Liand. Dass er so geendet hatte, war ihre Schuld. Trotz seiner Jugend und Unwissenheit hatte Linden ihm gestattet, sie auf ihrer Flucht aus Steinhausen Mithil zu begleiten. Sie hatte ihn nach Schwelgenstein mitgenommen, wo er sich zu dem ersten wahren Steinhausener seit vielen Jahrtausenden entwickelt hatte. Und sie hatte ihm praktisch befohlen, sein Leben für Jeremiah zu riskieren. Liand! Sie hatte die Geste gesehen, mit der Anele von Liand den Orkrest und Vernunft gefordert hatte: die einzigen Mittel gegen seine Besessenheit. Aber weil sie anderweitig unter Druck gestanden hatte, hatte sie diese Bitte des Alten ignoriert. Liand! Dies war das Ergebnis. Weiter auf den Knien liegend lehnte Liand an Jeremiahs Beinen, ruhte dort mit aufgeplatztem Schädel, als betete er zu einem Götzen. Das alles hatte Handir in gewisser Weise vorhergesagt. In Bezug auf Anele hatte die Stimme der Meister festgestellt: Aber die Erdkraft in ihm
lässt sich nicht negieren. Deshalb werden seine Taten unabhängig von seinen Absichten der Verderbnis dienen. Nun hatte Anele Liand ermordet! Das war zu viel. Linden wollte Liand in den Armen halten und ihren Schmerz, ihre Trauer hinausschreien; wollte sich aus dem Leben weinen. Doch die Zäsuren rückten näher. Sie hatten es auf Jeremiah abgesehen. Joan schickte keine weiteren, aber diese fünf lösten sich nicht auf. Stattdessen tobten sie wie auf viel zu kleinem Raum eingepferchte Hurrikane. Joan oder Turiya Herem hatte sie stark gemacht. Und der Bogen der Zeit wurde nicht mehr von Thomas Covenants Geist verteidigt. Schaffte Linden es nicht, ihre Trauer und ihr Entsetzen beiseitezuschieben - und das sofort -, waren alle verloren, die sie liebte. Sie würden in äußerste Verlassenheit und grausame Kälte mitgerissen werden. In den Zustand, in dem Joans Verrücktheit enden würde. Tumultartiges Stimmengewirr drang an Lindens Ohr, aber Covenants Stimme schien nicht darunter zu sein. Stave sagte deutlich drängend ihren Namen. Sie hörte ihn nicht einmal. Von Stürmen erschüttert konnte sie den Blick nicht von Liand und Jeremiah wenden. Die Gier, die den Schmuckstein des Krill überschwänglich hatte pulsieren lassen, hatte abzuklingen begonnen. Jetzt kämpfte der Croyel darum, sich zu befreien. Endlich fürchtete er die Zäsuren doch. Jeremiah hob den Kopf; riss die Hände hoch. Er griff hinter sich, krallte nach Galts Unterarm und versuchte, die Hand mit dem Dolch von der Kehle des Ungeheuers wegzuziehen. Damit riskierte Jeremiah, dass die scharfe Klinge ihn am Hals verletzte. Trotzdem bemühte er sich weiter, den Croyel zu befreien. Der Gedemütigte stand unbeweglich. Er ließ nicht erkennen, ob die Hitze wilder Magie ihn verletzt hatte. Unnachgiebig wie Loriks Dolch widerstand sein Unterarm allen Bemühungen Jeremiahs. Die Eisenhand blaffte Befehle, versammelte die Schwertmainnir. Sturmvorbei Böen-Ende hielt Anele weiter auf dem Rücken liegend umklammert, als wollte sie ihn erdrücken. Pahni flitzte nach vorn und warf sich auf Liand. In der allgemeinen Verwirrung rief Mahrtür laut Bhapas Namen.
Der ältere Seilträger gehorchte sofort und hastete zu Linden hinüber. Aber sie nahm ihn kaum wahr. Sie stand nur noch, weil Stave sie stützte. Zäsuren heulten sie aus allen Himmelsrichtungen an. Ihre bloße Unrichtigkeit bewirkte, dass sie sich am liebsten die Seele aus dem Leib gekotzt hätte. Bhapa schien etwas unter ihrer Nase zu zerreiben. Dann schien er ihre Zunge mit einem staubfeinen Pulver zu betupfen. Nichts davon war verständlich … … bis sie mit geschlossenem Mund schluckte; durch die Nase einatmete. Das bittere Brennen von Amanibhavam ließ Linden sofort in Flammen aufgehen, als bestehe sie aus Zunder - nur dafür geeignet, Großbrände zu legen, die das Gerüst ihres ganzen Lebens verzehren würden. Sie brauchte Feuer. Oh, sie brauchte es! Mit einem unabsichtlichen Rempler aus Erdkraft und Verzweiflung beförderte sie Bhapa sich überschlagend den Hügel hinunter. Sie sah ihm unwillkürlich nach, konnte es sich aber nicht leisten, genau zu verfolgen, was aus ihm wurde. Die Zäsur, die Clyme vertrieben hatte, war nur einen Herzschlag von ihm entfernt. Bhapa war nicht schnell genug, um sich aufzurappeln und seitlich wegzuspurten. Auch das war ihre Schuld. Vier weitere Zäsuren rückten gegen sie vor, aber Linden würdigte sie keines Blickes. Indem sie Flüche ausstieß, als wären sie die Sieben Wörter, schleuderte sie Erdkraft und Gesetz einer Furie gleich in das grausige Gebilde, das Bhapa bedrohte. Vielleicht löschte sie es aus. Vielleicht misslang ihr das. Sie wartete das Ergebnis nicht ab. Wie eine Chirurgin in einem Feldlazarett nahm sie sich nicht die Zeit, auf Lebenszeichen zu achten oder ihre Arbeit zu überprüfen. Von Stave gestützt machte sie rasch kehrt. Vier weitere Zäsuren. Vier nicht hinnehmbare Risse im notwendigen Gewebe der Zeit. Ihr Stab war ein mitternächtlich dunkler Strich in Lindens Händen, als sie ihn um ihren Kopf wirbelte und schwarzes Feuer in allen Richtungen wie die Geißel eines Titanen einsetzte. Ihre Theurgie hatte sich gewandelt, aber Linden nahm keine Veränderung wahr. Das Neue reflektierte genau ihre Einstellung. Blind vor Zorn und Kummer wusste sie nicht, ob sie einen oder alle
Stürze ausgelöscht hatte. Ihr eigenes Feuer verzehrte sie. Vor wenigen Augenblicken war sie noch hilflos, gelähmt gewesen. Sie hatte nur untätig zusehen können, wie Liand ermordet wurde. Aber hätte jetzt Lord Foul oder Joan oder Roger oder irgendein anderes grausames Übel vor Linden gestanden, hätte sie versucht, es zu zerschmettern. Ich nehme nur wahr, dass ihr Bedürfnis nach Tod groß ist. Gottverdammt richtig! Schreie begleiteten Lindens kummervollen Sturmlauf, ihre untröstlich lodernden Flammen. Vielleicht kamen sie von ihr selbst. Ganz deutlich hörte sie nur die Schreie und Wehklagen der Opfer von Ihr, die nicht genannt werden darf. Als Antwort auf das Brodeln und die Verzerrungen der Stürze umgab sie sich und ihre Gefährten und den Hügelkamm mit einem Wirbelwind. Aber sie nahm kaum mehr wahr, was sie tat. Von Schmerzen und Kummer angestachelt oder gebrochen schleuderte Linden Schwärze in den Nachthimmel, bis sie die Sterne auszuradieren schien. Bis Stave eine Hand nach ihrem Stab ausstreckte und ihn festhielt. Bis ihre Gewalt und Staves eiserner Griff ihr den Stab fast aus den Händen rissen. Bis die Energie, die Zorn und Amanibhavam ihr verliehen, versagte. Im nächsten Augenblick verflog alle Erdkraft, sodass nur noch Loriks Krill sich gegen die alles verschlingende Nacht behauptete. Schluchzend und keuchend sank Linden in Staves Arme. »Es ist geschafft, Linden.« Seine Stimme klang unnachgiebig wie gewachsener Fels. Er schien zu wissen, welchen Preis sie für das Erreichte - und das nicht Erreichte - hatte zahlen müssen. »Mehr ist nicht nötig. Wilde Magie und Entweihung sind vorüber. Wir leben noch.« So brachte er Linden Wort für Wort von den Stürmen zurück. Jeder Satz schien ein zerbrochenes Stück von ihr wiederherzustellen. Als sie an ihn gelehnt dastand, erkannte sie, dass Stave sie im letzten Augenblick vor einer Katastrophe bewahrt hatte, die so schlimm wie ihr Eintauchen in Sie, die nicht genannt werden darf, gewesen wäre. Aber er konnte sie nicht heilen. »Sobald du kannst«, fuhr er fort, als spräche er zu der Nacht, »wirst du feststellen, dass wir nur Liand verloren haben. Prellungen und Schnittwunden gibt es reichlich. Und Kastenessens Feuer haben den
Schwertmainnir hart zugesetzt. Aber sie sind Riesinnen - gegen Hitze und Flammen abgehärtet - und werden ihre Brandwunden überleben. Zum Glück hat Mahrtür den Zweifler in Sicherheit gebracht. Er ist wieder einmal abwesend, aber unverletzt. Auch dein Sohn steht unversehrt da …« Linden spürte Staves Schulterzucken. »… wenn man von den vielen Grausamkeiten des Croyels absieht. Sechs Stürze haben uns angegriffen, Linden. Trotzdem leben wir noch.« Vielleicht hatte er sie trösten wollen. Aber sie war untröstlich. Sie kam sich in seinen Armen wie ein irreparabel beschädigtes menschliches Wrack vor. Trotzdem kehrte ihr Gesundheitssinn in kleinen Schritten zurück. Als ihr Blick wieder klar wurde, sah sie, dass Stave die Wahrheit gesagt hatte. Auf dem Grat über ihr ragten die Riesinnen vor dem Nachthimmel auf. Der Schmuckstein von Loriks Krill beleuchtete ihre Gestalten mit silbrigen Lichtstreifen, die wie Schnitte aussahen. Zirrus Gutwind hatte Mahrtür Covenant abgenommen. Linden erkannte vage, dass Covenant wieder in seinen chaotischen Erinnerungen gefangen war. Gutwind trug ihn auf einem Arm, als wollte sie ihn vor sich selbst schützen. Frostherz Graubrand kam mit schwerem Schritt auf Linden und Stave zu, während Bhapa den Felshang heraufgeklettert kam. Gesicht und Arme der Riesin waren mit schmerzhaften Brandwunden bedeckt, und sie hatte eine weiter anschwellende Beule - darunter vermutlich eine Gehirnerschütterung - an der linken Schläfe. Am rechten Unterarm und der Hand hatte sie blutende Schürfwunden. Trotzdem war sie im Grunde genommen heil geblieben. Das galt auch für Bhapa. Er hatte blutige Hautabschürfungen, aber diese Verletzungen waren oberflächlich. Zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht in einem anderen Leben - würde Linden sie behandeln können. Beide, Graubrand und der Seilträger, studierten Linden, als wollten sie sich vergewissern, dass sie noch bei Verstand war. Dann rief Graubrand über eine Schulter hinweg der Eisenhand etwas zu, und Raureif Kaltgischt gab diese Mitteilung an ihre Gefährtinnen weiter. Linden Riesenfreundin ist weiterhin unter uns. Sie hat keine sichtbaren Verletzungen erlitten. Auch Galt und Jeremiah waren unverletzt. Der Croyel versuchte nicht mehr, sich zu befreien. Der Junge stand schlaff und mit leerem Blick da,
als hätte das Ungeheuer seine Marionettenschnüre losgelassen. Seine Schlafanzughose war von der Taille abwärts mit Blut und Gehirnmasse bedeckt. Sturmvorbei Böen-Ende rappelte sich auf, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass Anele den Erdboden nicht berührte. Der Alte hing ohnmächtig in ihren Armen, als hätte ihn jeglicher Wille, jegliches Bewusstsein verlassen. Aber er umklammerte weiter Liands Orkrest, als könnte der Sonnenstein ihm wiedergeben, was er verloren hatte. … die Hoffnung des Landes. Linden spürte neuerliche Wehklagen, die aus ihr hervorbrechen wollten. Sie biss sich auf die Unterlippe; hielt sie gewaltsam zurück. Jeder Aufschrei, den sie sich jetzt gestattete, würde Elenas Kreischen sein und Emereau Vrais und Diassomer Mininderains. Er würde den komprimierten Zorn und Ruin auf dem Galgenbühl ausdrücken. In Jeremiahs Schatten kaum sichtbar hatte Pahni Liand in die Arme geschlossen. Sie kniete auf Gips und Schiefer und drückte ihren Geliebten an sich, während das letzte Blut aus seinem aufgeplatzten Kopf auf ihre Schulter sickerte. Sie wirkte so unbeweglich wie der Steinhausener, so wenig fähig wie er, Atem zu holen. Trotzdem ging von der jungen Seilträgerin Verzweiflung wie eine laute Totenklage aus. Ihr Schmerz drohte Linden das Herz zu zerreißen. Böen-Ende trug Anele behutsam auf den Grat hinauf, wo Kaltgischt und Gutwind bei den anderen Schwertmainnir standen. Auf sanftes Drängen Graubrands zwang Linden sich dazu, Staves stützenden Arm abzuschütteln. Während Stave und Bhapa sich bereithielten, sie aufzufangen, falls sie stolperte, schleppte sie sich zu ihren Gefährten hinauf. Zu ihren Freunden. Die Liand nicht weniger geliebt hatten als sie selbst. Mahrtür hatte sich wie beschützend vor Gutwind und Covenant aufgebaut. Seine blinden Augen beobachteten Lindens Annäherung. In seiner Haltung erkannte sie die grimmige Wildheit eines Raubvogels. Clyme und Branl standen wie sprungbereit links und rechts von Gutwind. Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch nicht Linden, sondern Anele, und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Die Lichtreflexe des Krill in ihren Augen wirkten bedrohlich. Sie hatten vergebens über die Gesellschaft gewacht. Und sie hatten die von Anele ausgehende Gefahr
von Anfang an vorhergesehen. Linden fürchtete sie instinktiv. Sie waren Haruchai, Meister, die Gedemütigten - und sie hatten versagt. Machten sie Galt nicht für Liands Tod verantwortlich, würden sie Anele beschuldigen. Um ihnen hoffentlich zuvorzukommen, krächzte Linden heiser: »Anele dürft ihr keinen Vorwurf machen. Er hat es nicht absichtlich getan.« Vor Tagen hatte Anele seine Gefährten gedrängt, ihm den Sonnenstein zu geben, wenn er ihn verlangte. »Die Erdkraft ist sein«, antwortete Branl, ohne sie anzusehen. »Nur sie hat ihn dazu befähigt, solchen Besitz zu ertragen. Auch die Verrücktheit ist sein. Die Offenheit für Verderbnis ist sein. Solche Makel befördern stets eine Entweihung. Wer soll die Last seiner Taten schultern, wenn er es nicht tut?« »Ich«, sagte Linden, die Mühe hatte, ihre Ohren vor dem Tumult erinnerter Schreie zu verschließen. »Das war mein Fehler.« Sie hatte nichts anderes verdient. »Mir ist es nur um Jeremiah gegangen. Ich habe aufgehört, auf Anele zu achten.« Clyme und Branl wandten sich ihr beide zu, musterten sie streng. Du besitzt große Macht. Aber zweifelst du wirklich daran, dass wir obsiegen würden, wenn wir es für notwendig hielten, sie dir zu entreißen? Mahrtür ignorierte die Anspannung der Gedemütigten. Zwischen Nacht und Silber stehend warf er ein: »Sprich nicht von einem Fehler, Ring-Than. Diese Tat hat Kastenessen verübt. Er und kein anderer.« Unterdrückte Trauer schärfte den Zorn des Mähnenhüters. »Etwas anderes zu behaupten, heißt Verzweiflung in Form von Schuldzuweisungen zu befördern.« »Ich habe aufgehört, auf ihn zu achten«, wiederholte Linden beharrlich. »Ich habe es geschehen lassen. Jeder von uns hätte euch sagen können, was Kastenessen tun würde, sobald Anele gewöhnliche Erde berührte, ohne …« Ihr stockte die Stimme. 0 Liand! Sie konnte seinen Namen nicht aussprechen. »Ohne den Sonnenstein. Ich bin an allem schuld, weil ich ihn ignoriert habe.« Galt hätte Liand vielleicht warnen können. Aber sie hatte gesehen, wie Cail von seinen Stammesgenossen blutig geschlagen worden war. Sie hatte erlebt, wie Stave aus der Gemeinschaft der Meister ausgestoßen
worden war. Um Galts, aber auch um ihrer selbst willen bestand sie jetzt darauf, alle Schuld auf sich zu nehmen. Mahrtür gab jedoch nicht nach. »Und ich will nichts von Schuld hören!«, polterte er. »Anstrengungen müssen gemacht werden. Darüber haben wir schon gesprochen, Ring-Than. Auch wenn keine Hoffnung besteht. Dein Sohn muss befreit werden. Also hat Liand versucht, ihn zu retten. Das Wort Schuld entwertet das Opfer des Steinhauseners.« Der Mähnenhüter senkte mit sichtlicher Anstrengung die Stimme. »Nur ein unglücklicher Zufall hat Anele aus Sturmvorbei Böen-Endes Schutz entkommen lassen. Was Kastenessen daraufhin tun würde, war zweifellos vorhersehbar. Aber der Angriff solcher Zäsuren - aye, von Zäsuren mit bestimmten Zwecken - war es nicht. Und es war nicht Unaufmerksamkeit, die zu Aneles zufälliger Freisetzung geführt hat. Sturmvorbei Böen-Endes Stolpern war eine Folge ungeahnter Gefahren. Willst du Schuld zuweisen, musst du auch sie nennen. Tatsächlich musst du alle Riesinnen unter uns benennen und alle schmähen, die gelernt haben, den Steinhausener zu lieben. Wie du haben wir die Not des Alten und seinen Wunsch gekannt, den Orkrest halten zu dürfen, wenn irgendein Aspekt seines Wahnsinns Klarheit erforderte. Hör mich wohl, Ring-Than«, verlangte Mahrtür scharf. »Du wandelst auf Pfaden, die Fangzahns Bösartigkeit dir bereitet hat. Wenn du von Schuld sprichst, begibst du dich in seinen Dienst.« Linden senkte den Kopf unter dem Gewicht seines Zorns. Als spräche sie mit sich selbst, seufzte sie: »Du verstehst mich nicht.« Außer Covenant hatte sie nie jemand wirklich verstanden. Lord Foul kannte sie besser, als Mahrtür es tat. Sie, die nicht genannt werden darf, kannte sie besser. »Was ich getan habe, ist alles, was ich besitze. Habe ich das nicht, bin ich nichts. Ich habe Anele ignoriert. Ich habe die Schlange geweckt. Ich bin Roger gefolgt, als er sich als Covenant ausgegeben hat.« Verzweiflung erschien sinnvoll. Die neue Schwärze der Erdkraft in ihren Händen gefiel ihr. »Übernehme ich keine Verantwortung, könnte ich genauso gut tot sein.« Die drei Gedemütigten beobachten sie, als hätte sie ihr tiefstes Misstrauen gerechtfertigt. Sie spürte, dass Bhapa widersprechen wollte. Auch Stave schien Einwände erheben zu wollen. Aber Raureif Kaltgischt sprach als Erste.
»Genug.« Wie um Nachsicht bittend legte sie Clyme eine Hand auf die Schulter. »Linden Riesenfreundin, nun ist es genug. Wenn Freude in den Ohren liegt, die hören, dann müsste ich dir mit Lachen antworten. Das tue ich nur deshalb nicht, weil ich dich nicht noch trauriger machen will.« Frostherz Graubrand murmelte etwas Zustimmendes. Mehrere andere Riesinnen nickten. »Du verlangst von dir selbst Vollkommenheit«, fuhr Kaltgischt fort, »obgleich Irrtum und Pech das Los aller sind, die leben und sterben. Du hast Lasten auf dich genommen, vor denen selbst Riesen zurückschrecken würden. Dafür ehren wir dich. Wenn du zwischendurch mal stolperst, wie es Sturmvorbei Böen-Ende getan hat … Nun ja.« Die Eisenhand drückte Clymes Schulter kurz fester, dann ließ sie ihn los. »Unter Riesen würdest du vielleicht Stolperfuß genannt werden.« Sie nickte stirnrunzelnd zu Spätgeborener und Böen-Ende hinüber. »Danach würdest du bestimmt oft gehänselt werden. Aber niemand würde dir einen Vorwurf machen. Die Caamora würde dich von allem Kummer und Schmerz befreien. Dann würdest du dich erheben, deine Last wieder schultern und von allen, die dich begleiten, so hoch geachtet werden wie zuvor. Auch ich«, gestand sie ein, »habe mir gelegentlich Schuld zugewiesen. Jetzt weiß ich, dass das falsch war. Mein Herz war rein, als ich den Schlag geführt habe, der Verlorensohn Langzorn in den Wahnsinn getrieben hat. Spätgeborene hatte ein reines Herz, als sie durch einen unglücklichen Zufall Langzorn die Flucht ermöglicht und so Woge Wellengeschenks Tod verursacht hat. Sturmvorbei Böen-Endes Herz war rein, als sie gestolpert ist. Und auch du hattest ein reines Herz, Linden Riesenfreundin, als du deine Aufmerksamkeit und deine Sehnsucht auf deinen Sohn statt auf Anele konzentriert hast. Wenn ich dich bemitleide, dann tue ich das nur, weil dein Fleisch zu schwach ist, um die heilende Kraft des Feuers zu erfahren. In den Worten des Mähnenhüters liegt Weisheit.« Kaltgischt schüttelte betrübt den Kopf. »Du hingegen hast mit der Stimme der Verzweiflung gesprochen.« Hätte die Eisenhand jemals Lindens Albträume gehabt, hätte sie diese Stimme wiedererkannt. Sie war das Umherhuschen widerlicher
Aasfresser; das Kreischen der Opfer des Übels. Seit Linden sich Ihr, die nicht genannt werden darf, ergeben hatte - nein, seit sie auf dem Galgenbühl gestanden hatte -, kannte sie keine Vergebung mehr. Sie zog es vor, sich auch jetzt nicht daran zu erinnern. Oberflächlich betrachtet verstand sie Kaltgischt jedoch. Sie verstand Mahrtür. Oberflächlich konnte sie ihren Argumenten zustimmen. Und sie hatte ihr unmittelbares Ziel erreicht: Sie hatte die Vorwürfe der Gedemütigten von Galt und Anele abgelenkt. »Also gut«, murmelte sie, ohne den Kopf zu heben. »Ich verstehe. Liand ist tot.« Sie sprach seinen Namen aus, als wäre er so gefährlich wie der Krill. »Der Croyel hat Jeremiah weiterhin. Darauf kommt es an. Jetzt von mir zu reden, lenkt nur ab. Wir vergeuden Zeit.« Sie zwang sich grimmig dazu, ihre Gefährten anzusehen. »Wir sollten uns darauf konzentrieren, was wichtig ist.« Die Riesinnen hatten kein Holz für eine Caamora. Wie Linden und die Ramen und sogar Stave würden sie irgendein anderes Mittel finden müssen, um über ihren Verlust hinwegzukommen. Pahni schien darauf gewartet zu haben, dass Linden Liands Tod zur Kenntnis nehmen würde. Jetzt ließ sie ihn zu Boden sinken und schob seine Gliedmaßen sanft zurecht, als sollte er bequem liegen. Dann sprang sie auf und stürzte sich auf Linden. Mit dem Licht des Krill hinter ihr lag das Gesicht der Seilträgerin im Schatten. Aber ihre Qualen eilten ihr voraus. Schmerzliche Vorwürfe trafen Linden wie ein Schlag ins Gesicht. Sie fuhr zusammen, noch bevor Pahni sie erreichte. Stave war schneller als die junge Frau. Er trat vor, um sie abzufangen, aber Pahni machte halt, bevor seine Hände sie berührten. Sie schien kaum zu merken, dass sie ihre Garotte straff zwischen den Fäusten hielt. Ihre Brust hob und senkte sich so angestrengt, dass sie sekundenlang kein Wort herausbrachte. »Seilträgerin«, sagte Mahrtür scharf. »Beruhige dich.« In seinem Tonfall konkurrierten Zorn und Mitgefühl miteinander. »Das ist unziemlich. Pahni ignorierte ihn. »Ring-Than!«, rief sie mit brüchiger Stimme, in der aufkommende Hysterie mitschwang. »Mach ihn wieder lebendig!« »Pahni!« Jetzt knallte die Stimme des Mähnenhüters wie eine Peitsche. »Beruhige dich! Ist solches Benehmen einer Seilträgerin würdig?«
Sie achtete weiter nicht auf ihn, sondern verlangte hektisch keuchend: »Du musst ihn wieder lebendig machen!« Linden war so erschrocken, dass sie sich kaum protestieren hörte: »Das kann ich nicht.« »Du musst aber!«, kreischte Pahni. »Er ist mein Liebster! Und sein Tod war sinnlos! Er hat sich in deinem Namen geopfert, aber das war sinnlos!« »Pahni!«, drängte Mahrtür. Er streckte die Hände aus, um sie zurückzuhalten oder zu umarmen. So flüssig, dass Linden ihre Bewegungen kaum wahrnahm, schlang Pahni ihre Garotte um Mahrtiirs Handgelenke und zog sie mit einem Ruck zusammen. Im nächsten Augenblick war sie an ihm vorbei, riss die Arme hoch und benutzte das gestraffte kurze Seil dazu, Mahrtür von den Beinen zu holen. Branl fing ihn auf, bevor er zu Boden ging. Clyme hielt sich bereit, einen weiteren Angriff abzuwehren. Aber Pahni hatte sich schon wieder Linden zugewandt. Sie hielt ihre Garotte für Lindens Hals bereit. »Du wirst mir zuhören, Ring-Than!«, rief sie mit einer Stimme wie Nordwind und Hagelwetter. »In Andelain hast du deinen eigenen Geliebten wieder lebendig gemacht! Jetzt wirst du mir meinen zurückgeben! Was du dafür brauchst, ist alles da. Weißgold. Der Stab des Gesetzes. Der Krill von Hoch-Lord Lorik. Und dort…« Sie ließ die Hände erhoben. »… liegt Liand ermordet! Bist du herzlos? Ich weiß, dass du es nicht bist. Deshalb musst du ihn ins Leben zurückholen!« Mahrtür war wieder auf den Beinen. Jetzt bewies er, dass auch er schnell sein konnte. Trotz seiner Blindheit packte er Pahnis Garotte zwischen ihren Fäusten. Dann war er hinter ihr, bog ihr die Arme auf den Rücken und hielt sie dort umklammert. »Pahni«, ächzte Bhapa. »O Pahni! In seiner Stimme klang unterdrücktes Weinen an. »Das darfst du nicht. Das darfst du nicht.« »Ring-Than!« Die junge Seilträgerin wehrte sich strampelnd gegen Mahrtiirs harten Griff. »Ich verlange, dass du auf mich hörst!« Jedes ihrer Worte hinterließ eine blutige Kratzwunde wie von Krallen. »Das kann ich nicht«, wiederholte Linden. Sie ließ plötzlich ihren Stab
fallen. Als wollte sie sich selbst bestrafen, holte sie Covenants Ring aus der Tasche und warf ihn auf die Erde. Dann trat sie vor, um Pahni und Mahrtür in die Arme zu schließen. »Ich täte es, wenn ich es könnte«, seufzte sie in Pahnis Ohr. »Ich täte es deinetwegen. Auch wenn ich ihn nicht selbst geliebt hätte.« Auch wenn sie nicht schon gegen so viele Gesetze verstoßen hätte. »Aber ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht. Ich weiß nicht, wo er ist.« Die Seilträgerin hatte stillgehalten, während sie zuhörte. Jetzt wehrte sie sich wieder. »Er liegt dort!«, rief sie empört, als wollte sie die Zähne in Lindens Hals schlagen. »Seine Leiche liegt dort!« »Ja, ich weiß.« Wie Bhapa weigerte auch Linden sich, in Tränen auszubrechen. »Das sehe ich. Aber ich weiß nicht, wo sein Geist ist. In Andelain hatte ich Covenant direkt vor mir. Ich habe seinen Körper nicht gebraucht, weil sein Geist da war.« Damit war jeder Aspekt seines verlorenen Körpers definiert gewesen. »Er war weiter er selbst. Aber diesmal habe ich nur Liands Körper. Ich kann seinen Geist nicht zurückrufen …« Auch wenn sie seine schwere Kopfverletzung hätte heilen können. »… weil ich nicht weiß, wo er ist. Vielleicht ist er unter den Toten in Andelain. Das hoffe ich. Aber Andelain liegt außerhalb meiner Reichweite. Ich kann ihn nicht aufspüren, erst recht nicht bitten, wieder zu leben. Und ich kann keinen neuen Geist für seinen armen Leib erschaffen. Ich weiß einfach nicht, wie.« Sie besaß nichts von dem Lehrenwissen der Alt-Lords. Sogar Caerroil Wildholz’ Runen blieben ihr ein Rätsel. »Was ich produzieren würde - wenn ich es überhaupt könnte -, wäre am Ende nicht Liand.« Diesmal durchbohrte sie der Klang seines Namens aus ihrem eigenen Mund wie ein Speer. Vor ihren Augen schien alles nochmals abzulaufen: Anele, der brutal die Hände zusammenschlug; die jäh brodelnde Lava; das Gemenge aus Blut, Knochen und Gehirnmasse. Sie biss aufseufzend die Zähne zusammen, um ihren Schmerz zu unterdrücken, statt ihn Pahni ins Ohr zu schreien. Die junge Seilträgerin wand sich noch kurze Zeit in Mahrtiirs Griff und Lindens Umarmung. Dann wurde ihr Körper so plötzlich schlaff, als hätte sie zu atmen aufgehört. Linden, die Pahni für ohnmächtig hielt, ließ sie los. Der Mähnenhüter
lockerte seinen Griff und veränderte seine Haltung, um sie in die Arme schließen zu können. In diesem Augenblick riss Pahni sich los. Sie führte einen wütenden Schlag gegen Lindens Gesicht: einen Schlag, der Linden von den Beinen geholt hätte, wenn Stave ihn nicht abgefangen hätte. So streifte Pahnis Faust nur Lindens Jochbein; ließ sie leicht zurücktorkeln. Vor ihren Augen blitzte kurz ein Sternenfeuerwerk auf. »Er ist mein Liebster!«, klagte Pahni und flüchtete. Mahrtür versuchte nicht, sie aufzuhalten. Als Rahnock ihr den Weg vertreten wollte, blaffte der Mähnenhüter: »Tu es nicht!«, und Rahnock ließ die junge Frau an sich vorbei. Pahni spurtete in die Nacht davon; stürmte den Südhang des Hügels hinunter. So verließ sie fast augenblicklich den Bereich, den der Schmuckstein des Krill erhellte. »Mähnenhüter«, protestierte Bhapa bittend. Mahrtür stand da, als sähe er Pahni nach. In einer Hand hielt er die Garotte. Im nächsten Augenblick winkte er Bhapa zu sich heran. »Folge ihr, Seilträger«, wies er ihn halblaut an. »Tu dein Bestes, damit sie nicht zu Schaden kommt. Aber misch dich nicht in ihren Schmerz ein. Sie hat ihre erste Liebe verloren. Solche Bindungen sind oft tief und lebenslänglich, aber immer reißend wie Fangzähne.« Während der ältere Seilträger davonhastete, wandte der Mähnenhüter sich indirekt an Linden. »Sie ist eine Ramen. Sie kommt wieder zur Besinnung, wenn sie gebraucht wird.« Dann wandte er sich Linden zu; schien sie unter der Augenbinde hervor zu studieren. »Ring-Than«, sagte er steif, hörbar verärgert. »Ich bitte dich im Namen meiner Seilträgerin um Verzeihung. Sie würde nicht so leiden, hätte sie nicht hören müssen, wie der Zeitenherr Liands Ende praktisch angekündigt hat.« Ich wollte, ich könnte dich verschonen. »Trotzdem ist sie eine Ramen und hat sich zu Unerhörtem hinreißen lassen. Die Hand gegen die Ring-Than zu erheben, ist unentschuldbar. Aber ich muss es entschuldigen. Deshalb bin ich bereit, alle Konsequenzen zu tragen, die du für nötig hältst.« Mahrtür … Linden, die ihrer Stimme nicht traute, trat auf den Mähnenhüter zu und umarmte ihn. Das war die einzige Sprache, die ihr
im Augenblick zur Verfügung stand. Anfangs blieb er gekränkt starr aufgerichtet: unnachgiebig wie ein Haruchai. Dann spürte sie seine Starrheit jedoch schwinden, als hätte er ihre Zustimmung gewonnen. Sie wollte sich an seiner Schulter ausweinen und konnte es nicht. Ihre Gefühle waren zu extrem. Liands Tod und Jeremiahs Notlage ließen in ihrem Herzen keinen Raum für irgendwelche Anzeichen von Schwäche. Noch ein paar Sekunden, dann trat sie zurück. »Die Konsequenz ist«, sagte Rahnock barsch, als erwartete sie Widerspruch, »dass alle Pahni von den Ramen entschuldigen müssen.« »Unser Mitgefühl ist ihr sicher«, erwiderte die Eisenhand mild tadelnd. »Uns braucht niemand zu drängen, damit wir ihre Trauer und ihren Zorn tolerieren. Daher fordere ich weiter gehende Konsequenzen. Auch Linden Riesenfreundin sollte sich entschuldigen.« Bevor Linden etwas dazu sagen konnte, ergriff Clyme das Wort. »Die Gedemütigten entschuldigen sie nicht. Was geschehen ist, war alles eine Folge ihrer Grenzüberschreitungen. Wir haben versucht, ihren Gesetzesbruch in Andelain zu verhindern, aber man ist uns in den Arm gefallen. Dieses Manko lässt sich nicht wiedergutmachen. Und weil wir die Gedemütigten sind, ehren wir jetzt den zurückgekehrten Zweifler. Trotzdem müssen Schritte gegen drohende Entweihungen oder Schändungen unternommen werden. Wir sind Haruchai. Wir sind Meister. In früheren Zeiten waren wir Bluthüter. Wir tolerieren nichts. Und wir gestatten nichts.« »Was gestatten, Schlafloser?«, fragte Mahrtür scharf. »Was werdet ihr nicht tolerieren?« Mehrere Riesinnen scharten sich um ihn, um notfalls eingreifen zu können. Zirrus Gutwind zog sich etwas zurück, um Covenant aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Stave reagierte jedoch nicht. Er wusste, was die Gedemütigten dachten. »Du hast gesehen, wie schwarz Linden Averys Flamme jetzt brennt«, antwortete Clyme ausdruckslos. »Du hast gesehen, dass sie mit einem Makel behaftet ist. Du kannst nicht länger daran zweifeln, dass Erdkraft gefährlich ist. Deshalb werden wir dem Alten den Orkrest wegnehmen und ihm keinen Zugang mehr zu seinen Magien gestatten. In seinen Händen kann selbst der Sonnenstein zu einem Werkzeug der Verderbnis
werden.« Als bedürfe ihr Verhalten keiner weiteren Rechtfertigung, gingen Clyme und Branl auf Sturmvorbei Böen-Ende mit Anele zu. »Nein!, rief Linden aus. Gott, sie hatte die Gedemütigten missverstanden. Schon wieder! Aus Angst um Galt und Anele, aber auch um sich selbst hatte sie voreilig falsche Schlussfolgerungen gezogen. Kaltgischt versperrte den beiden Gedemütigten mit einem Arm den Weg, ohne sie jedoch zu berühren. Mit granitener Stimme verkündete sie: »Trotzdem werdet ihr Linden Riesenfreundin die Höflichkeit erweisen, ihren Einwand anzuhören. Ihr wollt Anele sein einziges Stück Vernunft rauben. Dabei hat er uns gut gedient und ist viel missbraucht worden. Wir werden nicht untätig zusehen, wie jemand ihm schadet.« Vielleicht aus Respekt vor der Eisenhand oder vielleicht weil Linden die Attribute ihrer Macht abgelegt hatte, blieben Branl und Clyme stehen, warteten ab. Stave war lautlos wie ein Gespenst an Böen-Endes Seite getreten. »Sag, was du einzuwenden hast, Linden Avery«, forderte Branl sie auf. »Wir werden deine Einwände erwägen.« Linden spürte, dass ihre Gefährten sie beobachteten. Den Stab und Covenants Ring ließ sie absichtlich vor sich liegen. Waren die Gedemütigten in einem Widerspruch gefangen, den sie nicht auflösen können, wie Stave behauptet hatte, waren sie vielleicht für ihre Argumente empfänglich … Teufel, sie waren vielleicht fast menschlich. Vorstellbar war, dass Lindens freiwillige Machtlosigkeit sie eher umstimmen würde als alle Worte. Nachdem sie ihre Verzweiflung so gut wie möglich gemeistert hatte, antwortete sie ruhig: »Vielleicht ist die Art und Weise, wie ich Erdkraft gebrauche, zu Verderbnis geworden.« Das konnte sie nicht beurteilen. »Vielleicht stimmt das auch nicht. Aber es hängt mit den Runen zusammen.« Die ein Ausdruck von Caerroil Wildholz’ Macht waren. Das Vermächtnis des Galgenbühls. »Als ich in Jeremiah war, hatte ich den Eindruck, sie seien lebendig geworden. Vielleicht haben sie meinen Stab verändert.« Ihn neu interpretiert. »Oder auch mich. Ich weiß nur nicht, wie«, obwohl sie den Grund dafür vermuten konnte. »Aber an der Erdkraft hat sich nichts geändert. Ihr habt erlebt, wie ich die Zäsuren vernichtet habe. Ihr habt gesehen, dass die Erdkraft sich nicht verändert
hat. Auch der Sonnenstein ist unverändert. Er wird niemals Lord Foul dienen. Anele braucht ihn. Der Orkrest ist sein einziger wirksamer Schutz. Und zugleich schützt er uns.« Mühsam beherrscht fügte sie hinzu: »Hätten wir ihm den Stein gegeben, als er ihn verlangt hat, wäre Kastenessen nicht an ihn herangekommen. Dann würde Liand noch leben.« Linden konnte sich nicht vorstellen, wie Anele den Sonnenstein gebraucht haben würde - und mit welchen Folgen für seine geistige Klarheit. In Andelain hatte er einige Zeit mit den Geistern seiner Eltern verbracht. Vielleicht hatten die beiden ihm Einsichten vermittelt, die er dringend gebraucht hatte. Denkbar war auch, dass Covenant dafür gesorgt hatte, dass Liand durch den Sonnenstein umkam, damit er von Anele beerbt werden konnte. Der Alte hätte den Orkrest nie finden oder für sich behalten können. Das hätten die Meister niemals zugelassen. Die ausdruckslosen Mienen der Gedemütigten tarnten ihre Reaktion, aber Linden ließ sich nicht einschüchtern. »Auch so hätten wir beinahe Galt und Jeremiah verloren. Und Kastenessen ist weiter Kastenessen. Sowie er eine Chance sieht, schlachtet er uns alle ab. Könnt ihr Anele nicht vertrauen, solltet ihr wenigstens Sunder und Hollian trauen. Eure Vorfahren haben sie gekannt. Das wisst ihr. Würden Sunder und Hollian ihm jemals eine Schändung zutrauen, hätten sie ihn ›die Hoffnung des Landes‹ genannt? Und sie haben es uns ermöglicht, aus der Verlorenen Tiefe zu entkommen. Wie kann es schlimmer sein, Anele den Sonnenstein zu belassen, als ihn Kastenessens Einflüssen auszusetzen?« Clyme und Branl studierten Linden. Ihre Gesichter lagen im KrzZZ-Schatten: Sie wirkten gefährlich wie das nächtliche Dunkel - und ebenso unberechenbar. Vor Selbstbeherrschung zitternd schloss Linden: »Warum fragt ihr nicht Covenant nach seiner Meinung, bevor ihr eure Entscheidung trefft? Früher oder später kehrt er in die Gegenwart zurück. Die Suche nach dem Orkrest war seine Idee. Vielleicht erinnert er sich daran, weshalb Liand ihn bekommen sollte.« Die Eisenhand der Schwertmainnir nickte. »Gut gesprochen.« »Aye«, knurrte Frostherz Graubrand, als ballte sie dabei die Fäuste.
»Linden Riesenfreundins Rat ist vernünftig. Sogar als Riesin habe ich spüren müssen, wie Kastenessens Berührung einem das Fleisch verbrennt. Ich stimme ihrer Vorsicht zu.« Danach ließen die Gedemütigten eine lange Pause eintreten. Vielleicht diskutierten sie über Lindens Appell. Vielleicht hatten sie ihn bereits zurückgewiesen. Sie konnte ihre Mienen nicht deuten. Galt, der hinter Jeremiah und dem Croyel stand, stellte fest: »Ich erfülle hier keinen Zweck, außer dieser widerlichen Kreatur als Geisel zu dienen. Würde eine Riesin mich ablösen, hätte ich keine Angst davor, es noch mal mit Kastenessen aufzunehmen.« Ungewohnt schroff fragte Stave ihn: »Und bist du als Gedemütigter und Haruchai im Kampf gegen einen Elohim, der sich mit den Skurj vereinigt hat, so viel wert wie eine Riesin?« »Ich wiederhole«, erwiderte Galt, »dass ich keine Angst davor hätte …« Stave unterbrach ihn. »Außerdem gehörst du zu den Meistern. Dieser Dienst setzt voraus, dass du furchtlos bist. Darüber hinaus verlangt er Sorge um das Allgemeinwohl, um die Erhaltung deiner Gefährten und des Landes. In diesem Punkt hast du schon versagt. Du hast den Steinhausener nicht vor der drohenden Gefahr gewarnt. Du hast nicht versucht, Kastenessen auszuweichen - weder um Liands noch um des Sohns der Auserwählten willen. Sprich mir also nicht von Furchtlosigkeit, wenn du dieser Gesellschaft mit weniger als vollem Einsatz gedient hast.« Im Leuchten des Krill funkelten Galts Augen; sie verrieten Wut, die ihm sonst nicht anzusehen war. Linden fürchtete unwillkürlich einen Angriff auf Stave. Mehrere Herzschläge lang war nichts zu hören außer der ruhelosen Anspannung der Riesinnen, Mahrtiirs ärgerlichem Schnauben und leisen Windgeräuschen. Dann nickten die drei Gedemütigten gleichzeitig. »Das genügt uns als Antwort«, verkündete Clyme. »Vorläufig wollen wir den Rat des Ur-Lords abwarten. Entscheiden wir uns später für einen anderen Kurs, werden wir das deutlich sagen. Wir wollen keine Feindseligkeit gegen die Riesinnen, die wir ehren. Außerdem hat der Zweifler uns angewiesen, Linden Avery zu Diensten zu sein.« Trotz ihrer persönlichen Finsternis atmete Linden vorübergehend erleichtert auf. Auch Raureif Kaltgischt atmete auf: ein sanftes Brausen
aufgestauter Anspannung. Dann gestand sie ein: »Auch das war gut gesprochen.« Die anderen Schwertmainnir wechselten einige Worte miteinander. Mahrtür wandte sich ab, als hätte er Mühe, einen bissigen Kommentar zu unterdrücken. Nachdem die Eisenhand einige Worte mit Onyx Steinmangold gewechselt hatte, sagte sie förmlich: »Wir sind Riesen. Wir sehnen uns nach einer reinigenden Caamora. Hier gibt es jedoch kein Holz für unseren Kummer. Wie sollen wir also Liand von Steinhausen Mithil betrauern?« Betrauern? In Linden weckte allein diese Vorstellung Beklemmungen. Gestattete sie sich jetzt, zu trauern, würde sie ihre Gefühle vielleicht nicht im Zaum halten können. Aber wie konnte sie nicht um Liand trauern, der ihnen allen so viel gegeben hatte? Sie hatte noch nicht einmal etwas getan, um die Brand- und Schürfwunden ihrer Gefährten zu versorgen. »In früheren Zeiten«, warf Stave ein, »als jedes Steinhausen noch von Rhadhamaerl genährt wurde, haben Liands Vorfahren ihre Gefallenen in Hügelgräbern beigesetzt.« Kaltgischt dachte über seinen Vorschlag nach; dann nickte sie energisch. »Das sollten wir ebenfalls tun. Vielleicht ist es ein glücklicher Zufall, dass geeignetes Gestein hier selten ist.« Ihre Handbewegung umfasste den Hügelrücken. »Wir werden graben und uns anstrengen müssen, um unter der Erde dieser Hügel an gutes Material heranzukommen. Wir wollen versuchen, unserem Schmerz durch diese Mühsal Ausdruck zu verleihen.« Ihre Gefährtinnen gaben nacheinander ihre Zustimmung zu erkennen. »Nein«, sagte Linden jedoch. Dann korrigierte sie sich. »Nicht sofort, meine ich. Wenn es euch recht ist, möchte ich eine Zeit lang mit ihm allein sein.« Sie konnte ihren Kummer nicht lindern, indem sie Steine schleppte. »Ich möchte von Liand Abschied nehmen. Bevor ihr einen Steinhügel über ihm auftürmt.« Obwohl keine der Riesinnen sprach, war ihre Reaktion sehr deutlich zu spüren. Sie zögerten, auf Lindens Wunsch einzugehen; ihnen fehlten einfach die Worte für den Schmerz, den Linden empfand. Stave und die Gedemütigten sagten nichts. Aus unerfindlichen Gründen hielt der
Croyel sich mit Spott und Sarkasmus zurück. Aber Mahrtür hob eine Hand, um Zirrus Gutwinds Arm zu berühren. »Komm, Riesin«, forderte er sie ruhig auf. »Wir wollen nachsehen, was noch von der großzügigen Spende des Eifrigen übrig ist. Auch wir Ramen müssen Liands Tod beklagen. Aber es liegt in unserer Natur, das durch Laufen zu tun, wie Seilträgerin Pahni jetzt läuft - und Seilträger Bhapa vielleicht auch. Ich werde meinem eigenen Kummer Ausdruck verleihen, sobald feststeht, wie sehr uns die Zäsuren geschadet haben.« Gutwind, die Covenant trug, schloss sich schweigend dem Mähnenhüter an, als er sich bergab auf dem Weg zu dem Lager am Bach machte, in dem die Gesellschaft ihre Vorräte zurückgelassen hatte. Auch die anderen Riesinnen nickten Linden zu und folgten den beiden. Aber nicht mehr schweigend. Die Eisenhand begann leise zu singen. »Es gibt keinen Tod, der nicht tief empfunden wird, Keinen Schmerz, der nicht durch Mark und Bein geht. Aller Kummer gleicht der endlosen Brandung des Meeres, Ihrem Brausen und Wogen, das keine Spuren hinterlässt, Sondern nur Sand statt zu Stein gewordener Ewigkeit.« Frostherz Graubrand fiel bei der zweiten Zeile ein, Rahnock bei der dritten. Zeile für Zeile brachte eine Riesin sich mit ihrer Traurigkeit ein, bis zuletzt alle mitsangen. Noch vor dem Ende der zweiten Strophe war Kaltgischts Totenklage zu einem Choral geworden. »Doch Stein überdauert, überdauert auch die Brandung: Er wird zu Sand, und doch bleibt die Welt aus Stein. Werden Küsten abgetragen, entstehen anderswo neue Berge, und so ist das traurige Lied der See keine Totenklage: Es ist ein Gebet zu Felsen, die an die Himmel stoßen.« Zur Ruhe von Stein, der irgendwann dem Meer begegnet: »Eine große Harmonie, die Jubel und Klage zugleich ist. Diese Musik ist die Antwort der Erde auf Schmerzen, Die mähliche Erlösung, die uns von den Knien erhebt, Sodass jäher Tod Verlust, aber auch Gewinn bedeutet.« Sturmvorbei Böen-Ende trug wie bisher Anele, der weiterhin bewusstlos
war, aber weiter den Sonnenstein umklammerte, als hinge sein Leben davon ab. Als die letzten Riesinnen den Grat verließen, trennten Clyme und Branl sich und gingen nach Norden und Süden auseinander, um ihre unzulängliche Wache wieder aufzunehmen. Auch Stave verschwand im Dunkel, entfernte sich aber nicht allzu weit. Und Galt, der Jeremiah vorsichtig den mit Felsblöcken übersäten Hang hinunterführte, folgte den Schwertmainnir. Bald war Linden mit Liands Leiche allein. Unter unbarmherzig kalt scheinenden Sternen mit ihm allein. Linden betrachtete kurz ihren Stab und Covenants Ring, hob sie aber nicht auf. Stattdessen bewegte sie sich langsam auf Liands leblose Gestalt zu. Gewinn, dachte sie dabei. 0 Liand! Sie sank neben ihrem Freund auf die Knie und senkte den Kopf, bis ihre Stirn fast das weiße Gestein des Hügelgrats berührte. Im Widerspruch liegt Hoffnung. Vielleicht stimmte das. Aber sie konnte noch keine erkennen. Ihr einziger Trost war, dass Jeremiah nicht Lord Foul gehörte. Wäre das der Fall gewesen, wie der Verächter offenbar glaubte, hätte er seine Gedanken nicht in Gräbern verbergen müssen. Als Linden endlich in den Canyon zurückkehrte - mit ihrem Stab in der Hand, Covenants Ring an der Kette um ihren Hals, mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht -, brach im Osten bereits der neue Tag an und ließ die Hügel als zerklüftete Silhouette hervortreten. Stave hatte sich zu ihr gesellt, als sie den Abstieg begonnen hatte; aber er hatte nichts gesagt, keine Fragen gestellt. Und auch sie hatte geschwiegen. Was hätte sie sagen können, das Stave nicht schon gehört hatte? Sie stiegen schweigend auf dem schiefrigen Untergrund ab, bis sie den tiefen Sand am Bachufer und das ungeduldige Murmeln des Wassers erreichten. Dort fanden sie ihre Gefährten damit beschäftigt, ihre Vorräte zu sortieren, die eine von Joans Zäsuren durcheinandergewirbelt hatte. Im Licht des Krill sah Linden, dass mehrere Bündel übrig geblieben waren. Die meisten Bettrollen waren ebenso fortgewirbelt wie einige Wasserschläuche und zwei, drei Säcke mit Lebensmitteln. Aber der größte Teil der von dem Eifrigen mitgebrachten Vorräte war noch da. Das war ein glücklicher Zufall, auf den sie nicht zu hoffen gewagt hatte.
Aber er berührte sie nicht. Anele war jetzt wach und aß ein bescheidenes Mahl, das Spätgeborene für ihn zubereitet hatte. Durch Böen-Endes Brustpanzer geschützt aß er mit einer Hand, während er mit der anderen weiter den Orkrest umklammerte. Er ließ jedoch keine Anzeichen dafür erkennen, dass der Kontakt mit dem Sonnenstein ihn von seiner Verrücktheit geheilt hatte. Als Linden ihn aufmerksamer betrachtete, sah sie, dass er seine ererbte Erdkraft tief in seinem Inneren vergraben hatte, als fürchtete er ihr Zusammenwirken mit dem Orkrest. Nicht zum ersten Mal vermutete sie, er wolle gar nicht bei Verstand sein. Nicht im Augenblick; nicht schon jetzt. Er schien zu fürchten, was Vernunft ihm auferlegen - oder von ihm fordern würde. Auch Mahrtür aß eine Kleinigkeit. Jeremiah kaute und schluckte, was Rahnock ihm in den Mund steckte, und trank, was sie ihm anbot, ohne irgendeine Reaktion erkennen zu lassen. Aber die Riesinnen hatten offenbar beschlossen, sich ihre Rationen für später aufzuheben. Und Covenants Geistesabwesenheit war auf den ersten Blick ersichtlich. Bruchstückhafte Erinnerungen hielten ihn gefangen, machten ihn so wenig ansprechbar wie Jeremiah. Als wäre Lindens Schweigen ein Befehl, sprach niemand. Raureif Kaltgischt und die anderen Riesinnen beobachteten sie unauffällig; behielten des Gesehene für sich. Der Mähnenhüter aß auf und trank etwas Wasser. Dann lenkte er Lindens Aufmerksamkeit mit einer Handbewegung auf sich und deutete ernst auf Covenant. Als sie nicht reagierte, seufzte er schwer. Es kostete ihn offenbar einige Überwindung, die Nachtstille zu durchbrechen, als er sagte: »Wie die Seilträger muss ich laufen, Ring-Than, um meinen Kummer loszuwerden. Soll ich versuchen, Thomas Covenant zu wecken? Ob seine Abwesenheit grausam oder beruhigend ist, kann ich nicht beurteilen. Deshalb liegt die Entscheidung bei dir.« Ein Teil Lindens wollte Covenant in Ruhe lassen. Auch sie wollte in Ruhe gelassen werden. Aber ihr Bedürfnis nach ihm war größer. »Also gut.« Ihre Stimme klang leicht eingerostet, als hätte Linden vergessen, wie man sie gebrauchte. »Du kannst es ja versuchen. Wir müssen zu viele Entscheidungen treffen, und ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Vielleicht kann er sich jetzt an mehr erinnern …«
Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Ihre letzte Entscheidung hatte Liand den Tod gebracht. Mahrtür nickte knapp. Er hatte es eilig. Nachdem er eine verwelkte Blüte von seiner umgehängten Girlande geknipst hatte, zerrieb er sie zwischen den Fingern, während er sich Covenant näherte. Er ging neben ihm in die Hocke. Mit einem stummen Blick zu Zirrus Gutwind hinauf bat er sie um Hilfe. Als er Amanibhavam zuletzt auf diese Weise angewendet hatte, hatte Covenant sich den Kopf an einem Felsen angeschlagen. Gutwind reagierte darauf, indem sie hinter Covenant niederkniete und ihm ihre Hand unter den Kopf legte. Ihren Armstumpf hielt sie bereit, um ihn zu bremsen, falls er sich zur Seite warf. In den Silberblitzen von Loriks Krill beobachtete Linden, wie Mahrtür Covenant den Mund zuhielt und ihm das Pulver unter die Nase hielt. Sie sah, wie Covenant einatmete, und glaubte die jäh einsetzende Wirkung von Amanibhavam im eigenen Blutkreislauf zu spüren. So plötzlich, dass Mahrtür zurückzuckte, während Covenant seine Hand wegschlug. »Du bist nicht hier«, knurrte Covenant. »Du siehst nicht, was Kastenessens Haft ihn kostet.« Seine Heftigkeit war erschreckend wie ein Schrei. »Die Elohim glauben, dass er es verdient hat. Ich weiß nicht, wie es möglich sein soll, solche Qualen zu verdienen.« Lindens Gesundheitssinn erkannte die Wahrheit. Covenant blieb in irgendwelchen Erinnerungen gefangen. Er sprach, als hätte er an Kastenessens Seite gestanden, als die grausige Aufgabe, die Skurj zu bändigen, den Elohim in den Wahnsinn getrieben hatte. Mahrtür kam kopfschüttelnd auf die Beine. »Entschuldige, Ring-Than«, sagte er barsch. »Er ist zu weit weg. Amanibhavam kann ihn jetzt nicht zurückholen.« Linden seufzte. »Dann geh jetzt.« Auf ihre Weise war sie ebenso desorientiert wie Covenant. »Tu, was du tun musst. Wenn du zurückkommst, können wir versuchen …« Sie wusste nicht, wie sie ihr Gefühl der Hilflosigkeit ausdrücken sollte. »… uns irgendwas einfallen zu lassen.« Die Antwort des Mähnenhüters bestand aus einer ernsten Verbeugung. Dann verließ er die Gesellschaft und schritt auf der Sohle des Canyons nach Norden aus. Dabei steigerte er allmählich das Tempo, bis er blind
dahinspurtete. Bald konnte Lindens Gesundheitssinn ihn nicht mehr wahrnehmen. Auch er hatte Liand geliebt. Ohne Raureif Kaltgischts Blick zu erwidern, murmelte Linden: »Liand hat ein Hügelgrab verdient, wenn ihr bei eurem Vorhaben bleiben wollt.« Die Eisenhand nickte. »Gleich. Erst muss ich dich etwas fragen. Linden Riesenfreundin, deine Wahrnehmungsgabe übersteigt unsere. Vielleicht kannst du meine Frage beantworten.« Mehrere Riesinnen, die mit der Sichtung und Verpackung der Vorräte des Eifrigen fertig waren, versammelten sich um die beiden. »Wir haben gehört«, begann Raureif Kaltgischt, »dass Anele vernünftig wird, wenn er den Orkrest berührt. Aber jetzt hält er den Sonnenstein in der Hand - und wird nicht verwandelt…« »Ich weiß«, sagte Linden trübselig. »Das sehe ich auch.« »Dann habe ich eine Doppelfrage. Schützt der Orkrest ihn noch vor Besessenheit, wenn er die Kraft verloren hat, ihm die Vernunft zurückzugeben? Wozu hält Anele ihn weiter umklammert, wenn er das nicht mehr tut? In anderen Händen - vielleicht denen des Zeitenherrn oder deinen -, könnte er uns vermutlich mehr nützen.« Der Sonnenstein konnte Covenant zwingen, in der Gegenwart zu bleiben. In diesem Fall würde er ihn bestimmt zurückweisen. »Und wenn Anele sich nicht mehr im Orkrest wiederfindet«, fuhr Kaltgischt fort, »bist du dann nicht schuldlos an Liands Tod? Während sein Geist verwirrt bleibt, hätten die aus deiner Unaufmerksamkeit entstandenen Taten sich nicht ändern lassen. Beweist sein Zustand nicht, wie unklug es ist, Schuld auf sich zu nehmen? Gibt es dir nicht Grund, dich schuldlos zu fühlen?« Linden schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie wich Kaltgischts Blick weiter aus. »In diesem Zustand ist er sogar noch verwundbarer.« Allein mit Liands Leichnam hatte sie keine Vergebung gefunden. »Der Orkrest wirkt nicht auf ihn …« Sie musterte den Alten, um ihre Wahrnehmung bestätigt zu finden. »… weil er es nicht zulässt. Meistens löst er die in seinem Körper gespeicherte Erdkraft aus - oder Aneles Magie entlockt dem Sonnenstein Erdkraft. Dann ist er vernünftig. Aber jetzt …« Linden zuckte steif mit den Schultern. »Er hält sich irgendwie versteckt. Ich weiß nicht, wie er das schafft. Aber er scheint seine Verrücktheit zu
brauchen.« Wie als Antwort darauf murmelte der Alte: »Anele fürchtet sich.« Seine Stimme machte Linden auf ihn aufmerksam. Sie bewegte sich langsam auf ihn zu. »Anele?« In der Wölbung von Böen-Endes Brustpanzer sitzend wiegte er den Kopf. Silberne Lichtblitze des Krill betonten das milchige Weiß seiner Augen. Mit einer Hand drückte er sich den Sonnenstein an den Magen, als wollte er unaufhörlichen Hunger besänftigen. Mit der anderen klopfte er rhythmisch auf die Steinplatte, ohne auf seine schmerzenden Fingerknöchel zu achten. »Er fürchtet sich davor, zu versagen - oder Erfolg zu haben.« Während er sprach, wiegte er sich im Takt zu seinem Klopfen. »Er trägt Fesseln aus Scham und Entsetzen. Mord. Vergeblichkeit. Irrtum. Größere Geister sprechen von Hoffnung. Sie begreifen nicht, dass er alt und schwach ist. Unfähig. Er muss und kann nicht. Muss. Kann nicht.« Indem er »Muss« und »Kann nicht« wie ein Mantra wiederholte, klopfte er weiter auf den Stein, ohne seine Zuhörer zu beachten. »Anele?«, fragte Linden nochmals sanft, als spräche sie mit einem Kind. »Anele?« Die Vorstellung, er wisse, was er Liand angetan hatte, war schmerzhaft. »Lass es einfach geschehen. Lass es geschehen. Ich weiß, dass es wehtut. Aber es hilft uns vielleicht, alles zu verstehen. Dann können wir uns besser um dich kümmern.« »Muss«, wiederholte der Alte wie ein Echo seiner selbst. Vielleicht hatte er sie gar nicht gehört. »Kann nicht.« Linden biss die Zähne zusammen; unterdrückte einen Fluch. Zumindest mit einigen von Aneles Gefühlen war sie gut genug vertraut, um sie als schmerzlich zu empfinden. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll«, gestand sie der Eisenhand bedrückt. »Ich sollte ihm vertrauen, denke ich. Seine Eltern waren meine Freunde. Und sie haben in seinen Träumen zu ihm gesprochen, bevor er erstmals nach Andelain gekommen ist. Vor langer Zeit hat er irgendwann beschlossen, verrückt zu sein - von blind ganz zu schweigen -, weil er nicht ertragen konnte, was mit ihm geschah, wie er sich selbst gesehen hat oder was er unter Umständen würde tun müssen. Aber er ist weiter der Sohn seiner Eltern. Ich muss glauben, dass er ihr gutes Herz geerbt hat. Irgendwann wird er mein
Vertrauen rechtfertigen.« Bisher war alles, was Anele für die Gesellschaft - oder das Land - getan hatte, ihm auferlegt oder entrissen worden. Tatsächlich waren Wahnsinn, Blindheit und Überleben die einzigen Entscheidungen, die er selbst getroffen hatte. Raureif Kaltgischt trat näher an Linden heran und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Wir sind ganz deiner Meinung. Wir haben den Alten lieb gewonnen. Und wir erkennen keine Ähnlichkeit zwischen seiner Not und der von Verlorensohn Langzorn. Aus Sorge um ihn beten wir darum, dass ›irgendwann‹ nicht mehr lange auf sich warten lässt.« Damit billigte sie Lindens Wunsch, Liands Geburtsrecht in Aneles Händen zu lassen. Dann wandte die Eisenhand sich ab. Ihre Gefährtinnen forderte sie auf: »Kommt, Schwertmainnir. Weil wir keine andere Caamora haben, müssen wir mit Schweiß und Steinen trauern.« Die anderen Riesinnen machten sich sofort bereit, das Lager zu verlassen. Sie schienen mit grimmigem Eifer darauf bedacht zu sein, gegen den eigenen Schmerz vorzugehen. Nur Zirrus Gutwind schloss sich ihnen nicht an. Sie deutete mit einer Grimasse auf ihren verstümmelten Arm, richtete sich aus ihrer knienden Haltung auf und blieb in Covenants Nähe stehen. Linden glaubte den bevorstehenden Sonnenaufgang riechen zu können. Bald würde das Morgengrauen den Boden des flachen Canyons erreichen. Natürlich mussten die Riesinnen auf ihre Art Trauerarbeit leisten. Wie hätten sie darauf verzichten können? Trotzdem fühlte sie das primitive Bedürfnis, sie zurückzuhalten. Sobald sie Liand durch ihre Trauer geehrt hatten, würde die Gesellschaft Entscheidungen treffen müssen. Aber sie hatte keine Ahnung, was zu tun war - oder wie sie sich verhalten sollte, wenn sie aufgefordert wurde, Entscheidungen zu treffen. Sie hatte Jeremiah im Stich gelassen. Und sie hatte Liand geopfert, ihn für ihr Versagen büßen lassen. Was sollte sie ihren Freunden antworten, wenn sie neue Fragen stellten? Sie zwang sich dazu, Raureif Kaltgischt zuzunicken. »Ich warte hier. Vielleicht erholt Covenant sich. Oder Pahni und Bhapa kommen zurück. Vielleicht gibt es etwas, das ich für die beiden tun kann.« Jedenfalls hatte sie nichts getan, um die Schnitt- und Brandwunden der
Riesinnen - oder Staves - zu heilen. Auch wenn sie den Gedemütigten etwas anderes versichert hatte, fürchtete sie die Schwärze ihrer Macht. »Das wäre gut«, bestätigte die Eisenhand. »Wir kommen zurück, wenn wir befriedigt sind.« Ohne ein weiteres Wort kehrte die Anführerin der Schwertmainnir dem Bach den Rücken zu und schritt davon. Von ihren Gefährtinnen begleitet stieg sie ins Morgengrauen hinauf, bis sie alle - nur noch durch ihre kummervolle Ausstrahlung erkennbar - mit der Dämmerung eins wurden. Innerlich seufzend beobachtete Linden einige Augenblicke lang das silbrige Leuchten des Krill; betrachtete Galts rigiden Stoizismus und die stumme Bösartigkeit des Croyels und Jeremiahs schlaffe Teilnahmslosigkeit. Dann fragte sie sich, ob Stave ihr mit Einsichten zu ihren Dilemmata würde helfen können, wie er es schon mehrmals getan hatte. Aber seine Chance, sich zu äußern, würde ebenso kommen wie die der Gedemütigten. Alle ihre Gefährten würden zweckfrei äußern können, was sie auf dem Herzen hatten. Ohne Covenant … Ihr Bedürfnis nach einer liebevollen Berührung pochte wie eine tief sitzende Wunde. Covenant hatte sie abgewehrt; aber er war vorläufig nicht ansprechbar. Jetzt ging Linden zu ihm hinüber. Sie legte ihren Stab ab, setzte sich neben Covenant und lehnte sich zutiefst betrübt mit an seinen Felsen. Zirrus Gutwind hatte sich abgewandt. Ihre Aufmerksamkeit galt ihren fernen Gefährtinnen, an deren Anstrengungen sie indirekt teilhatte. Staves Verhalten legte den Schluss nahe, er lese Galts Gedanken oder belausche Clyme und Branl, statt Linden und Covenant zu bewachen. Der Croyel schien mit geschlossenen Augen zu ruhen. Jeremiahs leerer Blick erinnerte an die Fensterhöhlen eines verlassenen Gebäudes. Linden konnte fast glauben, mit Covenant allein zu sein. Eine Zeit lang studierte sie sein Profil: die markante Linie des Unterkiefers, die scharf geschnittene Nase, die potenzielle Empathie seines Mundes. Im Licht des Krill erschien seine silberne Mähne wie konkretisierte wilde Magie. Zaghaft, jederzeit bereit, ihre Hand zurückzureißen, berührte sie seine
Wange mit dem Handrücken. Covenant ließ keine Reaktion erkennen. Die Haut unter ihren Fingern strahlte schwach grimmige Kälte und absoluten Ruin aus - ein kaum wahrnehmbares diffuses Gefühl. Sie konnte sich vorstellen, dass er durch das eiskalte Herz einer Zäsur in seinem Inneren zog, in einer eisigen Wildnis gefangen war, in der ihre Liebkosung ihn nicht erreichte. 0 Covenant. Sie hatte ihn nie Tom, nicht einmal Thomas genannt: immer nur Covenant. In ihren Augen wurde er durch Übereinkünfte und Versprechen definiert. Ohne sie hätte sie nicht lernen können, ihn zu lieben. Sie beugte sich weiter zu ihm hinüber und flüsterte kaum hörbar: »Ich wollte, du kämst wieder zurück. Ich brauche dich. Ohne dich kann ich es nicht schaffen.« Er reagierte noch immer nicht. Sekunden später durchlief ihn ein innerlicher Schauder, als fröre er tatsächlich in den leeren Weiten einer lebensfeindlichen Eiswüste. Covenant hatte sie davor gewarnt ihn zu berühren. Aber dieses Verbot war doch bestimmt sinnlos, solange seine Erinnerungen ihn beherrschten? Sein Fleisch würde doch sicher ihre menschliche Wärme begrüßen? Linden rückte behutsam etwas näher an ihn heran. Zaghaft, als riskierte sie, ein Band zu zerreißen, das so empfindlich wie Vertrauen war, ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken. Als er weder zusammenzuckte noch sie abwies, gestattete sie sich, sich an ihn zu kuscheln; ließ ihre Stirn an seiner Wange ruhen. Später legte sie ihm einen Arm leicht über die Brust. In dieser Haltung spürte sie seine Abwesenheit sehr deutlich, so schmerzhaft wie eine Wunde. Trotzdem zog sie sich nicht zurück. Das Gefühl, er strahle Eiseskälte aus, wurde stärker; sie hoffte, ihm helfen zu können, der Kälte zu widerstehen. Und sie brauchte diese Berührung. Weil sie Jeremiah nicht retten konnte, war Covenants unfreiwillige Umarmung, leer und gefahrvoll, vielleicht das Äußerste, was sie an wahrer Zärtlichkeit zu erwarten hatte. Einige Zeit später erfüllte sich ihre Hoffnung. Der Ehering in ihrer Bluse reagierte von selbst auf seine Bedürfnisse und begann sanfte Wärme abzustrahlen. Und bald linderte diese Wärme sein Frösteln. Er kehrte
nicht in die Gegenwart zurück, aber vielleicht hatte er den Weg in ein nicht so bitterkaltes Gebiet seiner Erinnerungen gefunden. Danach kühlte der Weißgoldring wieder ab. Covenant war anscheinend nicht mehr auf ihn angewiesen - oder befand sich nun außer Reichweite. Trotzdem beruhigte dieser Energieschub Linden, als hätte er ihr ein Zeichen gegeben. Einige ihrer Ängste schwanden, als sie auf die Sonne wartete und auf die Fertigstellung von Liands Hügelgrab und auf Entscheidungen, die sie nicht treffen konnte. Scheinbar so zögerlich wie Linden ging die Sonne endlich hinter dem beengten Hügelhorizont auf. Hätte sie nach Westen geblickt, hätte sie den Steilabfall des Landbruchs schon früher im Sonnenlicht gesehen. Aber sie kuschelte sich weiter an Covenant, weil es ihr widerstrebte, auch nur eine Sekunde dieses kostbaren Kontakts zu verlieren, bis sie den Sonnenschein direkt auf sich spürte. Sobald er seine Zäsur hinter sich ließ, würde er sie bestimmt wegstoßen. Als die Sonne höher stieg, wurde Linden jedoch unsicher. Stave hatte gehört, wie Covenant ihr verboten hatte, ihn zu berühren. Bei hellem Tageslicht konnte sie den ehemaligen Meister nicht ignorieren. Sie zwang sich widerstrebend dazu, ihr Gewicht zu verlagern, bis sie nicht mehr von Covenant, der von alledem nichts ahnte, sondern wieder von dem Felsblock gestützt wurde. Die Sonne auf ihrem Gesicht war angenehm: Balsam nach einer kühlen Nacht. Später, das wusste Linden, würde es wärmer werden, bis auch dieser Tag für die Jahreszeit zu heiß erschien. Aber dann würde die Hitze das kleinste ihrer vielen Probleme sein. Nachdem sie Arme und Rücken gestreckt hatte, nahm sie den Stab des Gesetzes an sich und stand steif auf. Stave begrüßte sie mit einer Verbeugung. Falls er - oder übrigens auch Galt oder Zirrus Gutwind - ihr Verhalten missbilligte, behielten sie ihre Meinung für sich. Gutwind hatte sich nicht bewegt. Ihre Aufmerksamkeit war weiter auf ihre Gefährtinnen konzentriert, obwohl sie wegen eines vorgelagerten Grats nicht zu sehen waren. Offenbar war ihr Gesundheitssinn so stark, dass die Riesin wusste, was die anderen gerade taten. Dank ihrer Wahrnehmungsgabe teilte sie die Trauer der anderen auf die einzige ihr mögliche Art.
Hätte Linden den Stab benutzt, hätte sie ihre Sinneswahrnehmungen so erweitern können, dass auch sie Liands Grab gesehen hätte. Aber solange sie nicht musste, wollte sie die Riesinnen nicht arbeitend oder trauernd beobachten. War das Hügelgrab fertiggestellt, würde Liand eingeschlossen, völlig unsichtbar sein. Stattdessen fragte sie Stave leise: »Sind sie schon fast fertig? Er schien kurz über ihre Frage nachzudenken, dann antwortete er: »Ich glaube nicht.« Mit Branls und Clymes Augen konnte er die Riesinnen sehen. »Das Gestein in der näheren Umgebung ist größtenteils zu porös und erodiert; nicht haltbar genug, um sie zufriedenzustellen.« »Aye«, seufzte Gutwind, ohne sich nach ihnen umzusehen. »Deshalb«, fuhr Stave fort, »suchen sie in weitem Umkreis nach Felsblöcken, die ihre Trauer ausdrücken und eine angemessene Ehrung für den Steinhausener darstellen. Ich bezweifle, dass sie ihr Vorhaben für beendet erklären werden, bevor die Sonne mittags ihren höchsten Stand erreicht.« »Aye«, wiederholte Gutwind. »Bedenkt man, was das Land - und die Erde - jetzt braucht, arbeiten sie zu gewissenhaft. Während sie sich plagen, verrinnt die uns noch verbleibende Zeit. Aber wir sind Riesen. An ihrem Kummer gemessen arbeiten sie in größter Eile. Außerdem …« Sie sah erstmals zu Linden hinüber. »… gibt es Folgendes zu bedenken: Wir haben unseren Weg noch nicht gefunden. Uns drohen zahlreiche Gefahren, und wir haben bisher nicht festgelegt, auf welchem Kurs wir diese Klippen umschiffen wollen. Angesichts unserer Unschlüssigkeit bewirken die Bemühungen meiner Gefährtinnen keine Verzögerung.« Mittag?, dachte Linden. Gut. Sie war noch nicht so weit. Sie wusste nicht, wie sie sich dazu bringen sollte, an etwas anderes außer Covenant und Jeremiah zu denken. Sie betete für Covenant, aber er blieb weiter abwesend. Die Spalte, in die er gefallen war, war zu tief. Die höher steigende Sonne war so heiß, dass auf seiner Stirn Schweißperlen standen, aber er blieb unansprechbar, als hätte er das Land und Linden und den eigenen Körper vergessen. Für ihn war die Zeit zu einem Irrgarten ohne Ausgang geworden. Inzwischen kehrte Mahrtür als Erster zurück.
Der Mähnenhüter kam aus Osten durch den weiten Canyon getrabt - so trittsicher, als ersetze sein Gesundheitssinn ihm das Augenlicht. Er atmete schwer, und seine Kleidung war durchgeschwitzt, aber Linden sah ihm an, dass er begonnen hatte, sich von seinem Kummer zu erholen. Er wirkte ruhiger, durch körperliche Anstrengung besänftigt. Trotz seiner Augenbinde wirkte er so kampflustig wie je zuvor. Aber seine Aura aus Zorn und Selbstvorwürfen war verschwunden. Er blieb kurz vor Linden stehen, um sie mit einer vertrauten Verbeugung nach Art der Ramen zu begrüßen. Aber er sprach sie nicht an, wartete auch nicht ab, ob sie sprechen würde. Stattdessen trabte er bis an den Bach weiter, wo er sich ins Wasser stürzte und sich von der Strömung mittragen ließ, die ihm Staub und Schweiß vom Körper spülte. Erst als er außer Sicht kam, fiel Linden ein, dass sie ihn hatte fragen wollen, ob er Pahni gesehen habe. Wenig später erschien die junge Seilträgerin jedoch aus einem der nach Süden wegführenden Seitentäler. Schwer atmend und mit zitternden Knien kam sie quälend langsam auf Linden zu. Ihre Haut war mit einer Staubschicht im fahlen Graubraun ihres Lederwamses und ihrer Leggings überzogen. Ihr mit Schweiß und Staub bedecktes Gesicht glich einer Maske, aus der die unnatürlich geweiteten Augen einer Frau starrten, die sich selbst nicht mehr erkennt. Bevor sie den Sandstreifen erreichte, stolperte sie. Von Kummer getrieben hatte sie sich völlig verausgabt… Linden wollte ihr instinktiv zu Hilfe eilen. Aber Stave war schneller; viel schneller. Als Pahni auf ein Knie sank und nach vorn sackte, erreichte er sie, fing sie auf. Aber er zog sie nicht hoch. Sorgsam darauf bedacht, ihren Stolz nicht zu verletzen, stützte er sie nur, bis sie selbst wieder auf die Beine kam. Dann ließ er sie los. Mit ausdrucksloser Miene begleitete er sie, ging an ihrer Seite, während sie auf leicht abfallendem Gelände den Boden des Canyons erreichte. Dann erschien Bhapa auf dem Hügel hinter den beiden. Lindens Wahrnehmungsgabe zeigte ihr, dass er weniger erschöpft als Pahni war und weniger erleichtert als Mahrtür. Aus Sorge um die junge Seilträgerin war er mehr gelaufen, um über sie zu wachen, statt seinen Kummer abzubauen. So war er letztlich stärker und zugleich kummervoller als sie. Um Pahnis willen wandte Zirrus Gutwind sich von der mühsamen Arbeit
ihrer Gefährtinnen ab. So wortlos wie die Seilträgerin legte sie Pahni eine Hand auf die Schulter, führte sie zu Anele und nötigte sie, sich zu dem Alten zu setzen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte Anele sein Essen nicht angerührt, seit er zuletzt gesprochen hatte. Statt dessen kauerte er in Sturmvorbei Böen-Endes Brustpanzer, starrte blind ins Leere und hielt den Sonnenstein mit beiden Händen umklammert, als brauchte er ihn und wiese ihn zugleich zurück. Vor dem für Anele bestimmten Mahl sitzend, schien Pahni so wenig Appetit zu haben wie der Alte. Ihr Blick war fast so leer wie seiner. Aber Gutwind ließ die Seilträgerin dort zurück und ging davon, um einen Wasserschlauch zu holen. Als sie ihn Pahni an die Lippen hielt, griff Pahni danach und trank gierig. Linden seufzte innerlich erleichtert. Offenbar wollte die junge Frau trotz ihrer Trauer um Liand weiterleben. Wenig später gesellte Bhapa sich zu Linden, Gutwind und Stave. Beim letzten Abstieg war er wieder einigermaßen zu Atem gekommen. Vor Linden verbeugte er sich, wie Mahrtür es getan hatte: ernst und schweigend. Aber zu der Riesin sagte er heiser: »Nimm den Dank eines Seilträgers entgegen, Zirrus Gutwind. Deine Freundlichkeit und Fürsorge gegenüber allen Gefährten ist ein Geschenk, das man nicht genug rühmen kann. In meinen langen Jahren als Seilträger habe ich Schmerz kennengelernt, der die Kraft eines Mähnenhüters auf die Probe stellen würde.« Dann nickte er zu Pahni hinüber. »Aber ich habe zuvor noch nie erlebt, dass eine Ramen vor Kummer fast gestorben wäre.« Pahni hatte zu essen begonnen. Sie nahm kleine Bissen und kaute sie qualvoll langsam, als hätten sie keinen anderen Zweck als ihr Überleben zu sichern. Sie schien nicht gehört zu haben, was Bhapa sagte. »In den Leben, die wir kennen«, fuhr der ältere Seilträger fort, »ist unsere Liebe zu den Ranyhyn ein bewährtes Mittel gegen Trauer. Wie könnten unsere Herzen sich nicht aufschwingen, wenn wir die großen Pferde in ihrer Herrlichkeit sehen? Aber diesmal muss Pahni dreifach trauern. Ihr Geliebter ist tot, die Ring-Than hat sie notwendigerweise abgewiesen, und hier gibt es keine Ranyhyn. Meine Dankbarkeit für deine Rücksichtnahme …« Bhapa schluckte angestrengt, konnte seine Stimme nicht wiederfinden. Er schien kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen, obwohl sein
Körper keine Flüssigkeit entbehren konnte. Jetzt senkte er den Kopf, als schämte er sich seiner Gefühle. Strenger als beabsichtigt fragte Linden: »Hast du nicht daran gedacht, ihr Ranyhyn zu rufen? Naharan hätte bestimmt geantwortet. Und Pahni hätte weniger leiden müssen …« Dann verstummte sie, war wütend auf sich selbst. Sie war nicht zornig auf Bhapa. Es war ihr eigener Beitrag zu Pahnis Leid, der sie ärgerte. Bevor sie sich entschuldigen konnte, hob Bhapa ruckartig den Kopf. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, sah sie seine Augen zornig blitzen. »Die Ranyhyn leben nicht, um uns zu dienen«, sagte er mit einer Stimme wie Sandpapier. »Wir haben ihnen nichts zu befehlen. Wir leben, um ihnen zu dienen. Bevor du zu uns gekommen bist, hat kein Ramen sie jemals geritten. Indem sie uns ermöglicht haben, dich auf deiner gefährlichen Suche zu begleiten, haben sie uns schon zu viel Ehre angetan. Nur ein Mähnenhüter könnte mehr von ihnen erbitten.« »Tut mir leid«, antwortete Linden so sanft wie möglich. »Das hätte ich nicht vorschlagen sollen. Ich weiß, dass es falsch war. Ich bin nur durcheinander, weil ich anscheinend nichts für Pahni tun kann.« Bhapa funkelte sie weiter an; er schien nicht bereit zu sein, ihre Entschuldigung anzunehmen. Sie hatte seinen Stolz als Ramen verletzt. Aber Zirrus Gutwind legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn mit sich fort. »Komm, Seilträger«, sagte sie dabei. »Du hast meine Rücksichtnahme gelobt, also lass mich sie jetzt beweisen. Du musst so ausgehungert sein wie Pahni. Ich bitte dich, setz dich zu ihr und iss, damit du wieder zu Kräften kommst. Wir werden bald auf dein Herz und ihres und alle unter uns angewiesen sein.« Gutwind führte Bhapa mit sanftem Nachdruck zu Pahni und setzte ihn neben die junge Seilträgerin. »Danke«, murmelte Linden. Das war wenig genug, aber zu mehr war sie im Augenblick nicht imstande. Das tröstliche Gefühl, sich an Covenant lehnen zu können, war verschwunden, durch die Nachwirkungen von Liands Tod erodiert. Und Pahnis Verzweiflung weckte Erinnerungen an Sie, die nicht genannt werden darf. Zirrus Gutwind nickte schulterzuckend. Sie sah kurz zu Stave hinüber, als wollte sie ihn bitten, auf die Seilträger zu achten. Dann konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Gefährten.
Der Croyel hielt die Augen geschlossen. Jeremiah starrte weiter ins Leere, als brauchte er keinen Schlaf - oder kenne keinen Unterschied zwischen schlafen und wachen. 0 Gott, dachte Linden. Wiederbelebte Spinnen und Tausendfüßler krochen über ihren Körper. Covenant, bitte wach auf. Ich gehe hier in die Brüche. Aber Covenant hörte ihre Bitte nicht oder ging nicht darauf ein. Er lehnte leicht schwitzend an seinem Felsblock, als wäre er ebenso gefangen wie Jeremiah, als wären seine Erinnerungen Gräber. Nach einiger Zeit kam der Mähnenhüter gegen die Strömung watend zurück. Als er näher kam, sah Linden, dass er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Kleidung gewaschen hatte. Er hatte sogar seine Augenbinde ausgewaschen. Dann hatte er sie sich wieder um den Kopf gebunden, um die leeren Augenhöhlen zu bedecken. Nachdem er Linden und ihre verringerte Gesellschaft betrachtet hatte, wandte er sich an seine Seilhüter. Bhapa sprang sofort auf. Vielleicht weil er sich wegen seines verbliebenen Zorns schämte, verbeugte er sich, als akzeptierte er eine Zurechtweisung. Mahrtür sprach ihn jedoch nicht an. Stattdessen wandte er sich, noch bis zu den Knöcheln im Wasser stehend, mit ruhiger Autorität an Pahni, als wüsste er, dass man ihm gehorchen werde. »Seilträgerin Pahni, Bhapa braucht deine Hilfe. Er muss baden. Darauf musst du bestehen. Er ist ein Seilträger, der nur wegen der Abwesenheit anderer Mähnenhüter noch nicht in ihren Stand eingeführt worden ist. Seine Erscheinung ist unziemlich.« Linden hatte erwartet, dass Mahrtür direkter auf Pahnis Schmerz eingehen würde. Aber er kannte ihr Wesen besser als Linden. In Pahnis gegenwärtigem Zustand würden Tröstungsversuche sie nur schwächen. Stattdessen lenkte er ihre Aufmerksamkeit von Trauer und Erschöpfung weg nach außen. Linden konnte Pahnis Gesicht nicht sehen, aber sie spürte, wie die junge Frau zusammenzuckte. Im nächsten Augenblick rappelte die Seilträgerin sich jedoch schwankend auf. Obwohl sie Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten, verbeugte sie sich vor ihrem Mähnenhüter. Dann wandte sie sich schwach wie ein Fohlen an Bhapa. »Komm, Bhapa.« Ihre Stimme versagte kurz wie von Kummer überwältigt. »Ramen widersprechen
nicht, wenn ein Mähnenhüter befiehlt.« Sie nahm Bhapas Hand und führte ihn an den Bach, als wäre auch er geblendet worden. Wie Mahrtür vorausgesehen hatte, reagierte Pahni, wenn sie glauben konnte, gebraucht zu werden. Hätte Linden auch nur einen Augenblick lang geglaubt, Covenant würde ähnlich reagieren, hätte sie vielleicht versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Einige Zeit später kamen Raureif Kaltgischt und die anderen Schwertmainnir, die ihre abgelegten Rüstungen trugen, von dem Hügel zurück. Auf ihre Weise wirkten sie so ermüdet wie Bhapa - und ebenso unschlüssig. Aber ihre Kraft war ungebrochen. Obwohl sie Steine und das Meer liebten, glichen sie Balken, die biegsam nachgeben konnten, statt zu splittern. Um Liand zu ehren, hatten sie sich angestrengt, aber bei weitem nicht verausgabt. Nachdem sie Linden, Stave und die Ramen begrüßt und ihre Trauer mit Zirrus Gutwind geteilt hatten, gingen sie als Erstes an den Bach, um Schweiß und Staub abzuwaschen und sich satt zu trinken. Danach setzten sie sich zu einem frugalen Mahl zusammen. Während die anderen Schwertmainnir dann wieder ihre Rüstung anlegten, wandte Raureif Kaltgischt sich an Linden. »Linden Riesenfreundin«, sagte die Eisenhand förmlich, »wir haben zu lange getrauert. Der Tag schreitet fort, und das tun zweifellos auch die Feinde des Landes. Wir dürfen nicht länger untätig bleiben. Wir …« Sie deutete auf ihre Gefährtinnen. »… möchten euch das Werk unserer Hände zeigen. Begleitest du uns an Liands Grab? Von seinem Grabhügel aus können wir unseren Kurs zum Guten oder Bösen festlegen.« »Gut, ich komme mit«, antwortete Linden, obwohl sie das Grab lieber nicht gesehen hätte. »Mir fällt auch nichts Besseres ein.« Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen, fügte sie hinzu: »Wie es mit uns weitergehen soll, meine ich. Ich habe auf Covenant gesetzt. Ich habe gehofft, Jeremiah befreien zu können. Jetzt bin ich so hilflos wie sie. Kommt Covenant nicht wieder zu Bewusstsein, wirst du die Entscheidungen für uns treffen müssen. Gemeinsam mit Stave und Mahrtür. Ich will keine mehr treffen.«
Die Folgen ihrer Unzulänglichkeit umgaben sie auf allen Seiten. Sie hatte schon zu viel Schaden angerichtet. Und sie war durch ihre Albträume verändert worden, durch Fehler und Schwächen sonder Zahl. Raureif Kaltgischt runzelte die Stirn. »Du unterschätzt dich. Dass du nicht verzeihst, ist in der Tat klar. Aber wie ich schon gesagt habe, hast du bisher beängstigend schwere Lasten auf dich genommen. Deshalb erkenne ich an, dass du eine längere Atempause brauchst. Sind Stave und die Ramen einverstanden, werden wir die nötigen Entscheidungen treffen. Erheben die Meister Einspruch, müssen sie ihre eigenen Wünsche vorbringen.« »Das werden wir tun«, stellte Galt nüchtern fest. Der Mähnenhüter studierte Linden und Kaltgischt. Dann nickte er. »So soll es geschehen, Eisenhand der Schwertmainnir. Trotzdem will ich betonen, dass die Ramen zu der Ring-Than halten. Wird sie wieder Linden Avery die Auserwählte, wie es unvermeidlich ist, ist ihr Wort uns Befehl - ohne Rücksicht auf Verluste.« 0 Gott! … wie es unvermeidlich ist… Stave demonstrierte seine eigene Loyalität, indem er etwas näher an Linden herantrat. Sein einzelnes Auge beobachtete Galt leidenschaftslos. Der Meister hatte bereits zu erkennen gegeben, dass er sich nicht damit begnügen wollte, den Croyel in Schach zu halten. Wie Clyme und Branl würde er sich vielleicht schon bald gezwungen sehen, sein Handeln nach anderen Prioritäten auszurichten. Kaltgischt erwiderte Mahrtiirs Nicken. »Dann sind wir uns einig, Mähnenhüter. Auch wir wollen Linden Riesenfreundin bis zum Ende folgen. Mir liegt nur daran, sie unter diesen schwierigen Umständen zu entlasten.« Diesmal verbeugte Mahrtür sich. »Dann lass uns jetzt gehen, um Liands Grab zu ehren, so gut wir es vermögen. Die Standhaftigkeit des Steinhauseners soll uns ein Leitstern für zukünftige Entscheidungen sein.« Raureif Kaltgischt verbeugte sich ihrerseits, dann bückte sie sich nach ihrer Rüstung. Frostherz Graubrand, Spätgeborene und Rüstig Grobfaust hatten ihre Rüstung schon wieder angelegt und lockerten ihre Langschwerter in den
Scheiden. Jetzt hob Grobfaust Anele aus Sturmvorbei Böen-Endes Brustpanzer. Der Alte reagierte nicht darauf. Er schien die Betriebsamkeit um ihn herum gar nicht wahrzunehmen. Seine Gedanken blieben auf etwas fixiert, das außer ihm niemand wahrnehmen konnte: das Dilemma seines persönlichen Widerspruchs, muss und kann nicht in ständigem Wechsel. Wenig später war Böen-Ende bereit, Anele wieder zu tragen. Die anderen Riesinnen rückten ihre Rüstung zurecht und warfen sich Säcke mit Vorräten über die Schulter. Galt wartete keine Aufforderung ab, sondern drehte Jeremiah mitsamt dem Croyel um und machte sich daran, ihn vorsichtig den Hang zu dem weißen Grat hinaufzuschieben. Zirrus Gutwind erbot sich, Covenant zu tragen, aber davon wollte der Mähnenhüter nichts wissen. »Bisher hat kein Mittel angeschlagen«, erklärte er ihr. »Aber vielleicht bewirkt körperliche Anstrengung, dass die Ansprüche seines Körpers sich gegen die seines Geistes durchsetzen.« Gutwind gab schulterzuckend nach und gesellte sich zu den übrigen Schwertmainnir. Wenig später waren Linden und ihre Gefährten in Bewegung und stiegen wieder den mit Felsblöcken übersäten Hang zu der Stelle hinauf, an der Liand den Tod gefunden hatte. Ihre Freunde wollten ihr alle Entscheidungen abnehmen - aber nur bis sie sich imstande fühlte, wieder die Auserwählte zu sein: die Frau, an die zu glauben sie sich entschieden hatten. Sie verstanden nicht, dass Liands Tod und ihr Blick in Jeremiahs Verstand und die kreischende Macht des Übels sie die Wahrheit über sich selbst gelehrt hatten. In ihrem Innersten war sie Aas. Fraß für Geier und Maden. Sie wollte keine Entscheidungen mehr treffen. Das war ihre einzige Verteidigung gegen die Machenschaften des Verächters.
5 Vermächtnisse
Linden, die ihren Stab und Covenants Ring und Jeremiahs wiederhergestelltes Rennauto trug, als wären sie bedeutungslos, stieg mit Mahrtür und Stave den Hang hinauf wie eine Frau, die den Galgenbühl ersteigt. Die Hügel erschienen ihr jetzt steil; schwieriger als in ihrer Erinnerung. Eine Art moralischer Schwäche ließ ihre Muskeln erlahmen. Sie wollte Liands Grabhügel nicht sehen - und konnte sich doch nicht weigern. Wie die Umstände ihrer Gesellschaft erforderte das Ergebnis von Lindens Bemühungen, ihren Sohn zu befreien, mehr Mut, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Nur Thomas Covenant konnte die Herausforderung von Tod und Verderben siegreich bestehen - davon war sie überzeugt. Nur sein Instinkt für unberechenbare Siege … Aber sie wusste nicht, wie sie ihn erreichen sollte. Am liebsten wäre sie umgekehrt und für immer davongegangen. … wie es unvermeidlich ist… Leider hatte sie ihr Recht, Entscheidungen zu treffen, aus der Hand gegeben. Ihre Freunde hatten versprochen, sie ihr vorläufig abzunehmen. Die Besichtigung von Liands Grab war nur die Erste von vielen Entscheidungen. Schicksalsergeben kämpfte Linden sich durch Geröll und Schiefer bergauf, bis sie den Hügelkamm erreichte. Dort ließen die Brauntöne der Umgebung den Grat aus Gips unnatürlich deutlich, fast reinweiß wie Kreide hervortreten. Entlang des Grats glitzerten unzählige Glimmer- und Quarzsplitter wie verheißungsvolle Omina. In jeder Brise wären bei jedem Schritt der Riesinnen bestimmt kleine Staubwolken aufgestiegen, aber die Luft stand still wie in einem Mausoleum. Nicht Staub, sondern Dunst und trockene Hitze ließen den Himmel gelblich braun erscheinen. Unmittelbar vor der Gesellschaft dominierte das Werk der Riesinnen den Osten: ein langer ovaler Hügel, der sich quer über den Grat erstreckte. Mit Schweiß und Kraft und Liebe hatten Raureif Kaltgischt und ihre
Gefährtinnen Felsen von der Größe von Kresh und Höhlenschraten und sogar Mustangs aufgetürmt, um Liand die letzte Ehre zu erweisen. Einige der Felsbrocken hatten die Größe kleiner Hütten. Auf abstrakte Weise war Linden bewusst gewesen, dass die Riesinnen gigantische Kräfte besaßen und lange schwer gearbeitet hatten. Trotzdem staunte sie jetzt über die Größe des Grabhügels. Liand hatte ein Hünengrab erhalten, das eines Königs würdig gewesen wäre. Es wirkte endgültiger als sein verstümmelter Leichnam. 0 Liand! Trotz ihres Widerwillens, dessen sie sich heimlich schämte, spürte Linden, wie ihre Augen von Tränen brannten, die sie nicht vergießen konnte. Nichts würde sie über den Tod des Steinhauseners hinwegtrösten können. Aber sie hatte das Gefühl, die Riesinnen hätten ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. »Nur eine kleine Geste«, erklärte Kaltgischt ihnen leicht verlegen. »Als Riesinnen wollten wir ein Stück diesen Grat abtragen, um eine Terrasse für den Grabhügel zu schaffen. Aber die Zeit hat gegen uns gearbeitet, und wir mussten unsere ursprüngliche Absicht aufgeben.« »Trotzdem«, stellte Mahrtiir nachdrücklich fest, »habt ihr gut gearbeitet. Seid versichert, dass eure Arbeit gut ist.« Statt zu sprechen, verbeugte Stave sich nach Art der Haruchai: erst vor der Eisenhand, dann vor dem hohen Grabhügel. Covenant reagierte noch immer nicht. Zerklüftete Erinnerungen hielten ihn gefangen. Clyme, der auf dem nächsten Hügel im Norden stand, kehrte der Gesellschaft den Rücken zu. Das tat auch Branl im Süden. Die beiden Gedemütigten schienen ihre Gefährten zu ignorieren, aber Linden verstand ihre Wachsamkeit. Sie hatten ihre vielen Feinde nicht vergessen. Joans nächtlicher Angriff hatte demonstriert, dass sie selbst hier - Dutzende oder Hunderte von Meilen von offenkundigeren Gefahren entfernt - nicht sicher waren. Clyme und Branl setzten voraus, dass die letzten Verteidiger des Landes nirgends sicher sein würden. »Wenn wir gut gearbeitet haben«, sagte Raureif Kaltgischt abschließend, »sind wir zufrieden. Ich erkläre unsere Trauer und Totenehrung für abgeschlossen. Nun wollen wir über unseren weiteren Kurs beraten. Wir können nicht untätig bleiben, während die Schlange droht, alles zu
vernichten, was wir gekannt und geliebt und gebraucht haben.« Ihre Worte waren vielleicht für Linden bestimmt; aber Linden stand mit gesenktem Kopf da und reagierte nicht darauf. Was hätte sie auch sagen können? »Unsere Feinde sind rasch aufgezählt«, antwortete Mahrtür grimmig. »Die ehemalige Gattin des Zeitenherrn strebt unsere Vernichtung an. Nur ihr Wahnsinn bewahrt uns vor endlosen Zäsuren. Weiterhin hören wir, dass sein Sohn Höhlenschrate zusammenzieht, um sich das Kind der Ring-Than und den Croyel zurückzuholen. Kastenessen dürfte bei nächster Gelegenheit wieder zuschlagen - schlimmstenfalls mit großen Verlusten für uns. Außerdem ist es seine Theurgie, die Kevins Schmutz erzeugt, der im Oberland alle Erdkraft behindert. Und wir haben erfahren, dass Sandgorgonen und Skurj den Salva Gildenbourne verwüsten. Vielleicht wagen sie sogar, Andelain zu verwüsten, weil der Krill das Herz der Lieblichkeit des Landes nicht mehr beschützt.« Zumindest dafür war nicht Linden, sondern Covenant verantwortlich gewesen. Nur so hatte die Gesellschaft Jeremiah gefangen nehmen können. »Das sind wahrhaft erschreckende Gefahren«, stellte Mahrtür fest, »grausig und perfide. Außerdem existiert Esmer, der zwanghafte Verräter, natürlich weiterhin. Und wir dürfen die Schlange selbst, die sich zu den Wurzeln des Melenkurion Himmelswehrs vorwühlt, nicht vergessen.« Der Mähnenhüter machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Von geringeren Kreaturen wie Kresh und Skest, die selbst nur Diener sind, will ich gar nicht reden. Auch nicht von dem Wüterieh Turiya, der nichts ist, wenn er nicht bei seinem Opfer ist. Das Nachdenken über Verlorensohn Langzorn überlasse ich den Schwertmainnir, die seine Notlage besser verstehen. Die Inse-quenten haben sich von uns abgewandt. Nicht weiter eingehen will ich auf den Lauerer der Sarangrave, obwohl wir seinem Revier gefährlich nahe sind. Alte Sagen schildern ihn als Vielfraß ohne Geist und Verstand. Sprechen muss ich jedoch von Moksha Jehannum. Wo er wühlt und arbeitet und was er damit erreichen will, bleibt uns jedoch verborgen. Ebenso wenig darf ich Sie, die nicht genannt werden darf, unerwähnt lassen. Einmal geweckt, kann dieses Übel sich weiter ausbreiten und
gewaltige Schäden anrichten. Und ganz oben steht das größte Scheusal von allen: Fangzahn in Person, der Verächter von Land und Leben. Wenn nicht auch Fangzahn Einhalt geboten wird, kann es keine Antwort auf die Schlange geben.« Mahrtiir machte erneut eine Pause, in der er sein Gesicht mit der Augenbinde einem nach dem anderen zuwandte. Von dieser kritischen Musterung nahm er Linden absichtlich nicht aus. Nachdem er seinen Gefährten etwas Zeit gelassen hatte, seine Analyse zu verarbeiten, fragte er: »Was sagt ihr dazu? Ist meine Aufzählung vollständig?« Die Riesinnen scharrten unbehaglich mit den Füßen. Trotz ihres angeborenen Muts und ihrer Widerstandskraft wirkten manche von ihnen eingeschüchtert. Pahni stand wie eine Frau im Schockzustand da. Bhapa war nervös, hätte offenbar am liebsten die Flucht ergriffen. Zwischen den beiden stehend murmelte Covenant etwas, das wie ein Katalog der Baumarten im Einholzwald klang. Aber Anele war auf Böen-Endes Arm verstummt, schien außer dem Orkrest und Angst nichts mehr wahrzunehmen. Linden wollte sich nicht dazu äußern. Sie fühlte sich durch Mahrtiirs Aufzählung aller Gefahren bedrückt, fast wie unter einer Steinlawine begraben. Als jedoch niemand das Wort ergriff, zwang sie sich dazu, zu sagen: »Einer von uns sollte die Elohim wenigstens erwähnen. Sie sind jetzt bestimmt alle auf der Flucht vor der Schlange. Aber Infelizitas wollte todsicher nicht, dass wir Jeremiah retten. Nachdem wir ihn nun haben, ist sie womöglich verzweifelt genug, um sich einzumischen.« Kaltgischt studierte die Gesichter der anderen wie zuvor der Mähnenhüter. Als feststand, dass sonst niemand sprechen wollte, nickte sie knapp. »Dann sind wir uns also einig. Die Geschichte ist vollständig, auch wenn ihre unverbrämte Kürze schmerzt. Nun müssen wir darüber sprechen, was unsere Herzen uns eingeben.« Mit einem Blick zu Bhapa und Pahni hinüber fuhr sie fort: »Und hier darf sich niemand ausschließen. Jeder Gedanke, jede Erkenntnis und jede Befürchtung muss gehört werden.« Sie schien zu befürchten, die Seilträger könnten zu schüchtern oder erschöpft sein, um sich zu äußern. »Jedes Wort kann den rechten Weg weisen - aber nur, wenn es ausgesprochen wird.« Mahrtür wandte sich ebenfalls an seine Seilträger. »Hört sie wohl. Der
Befehl der Eisenhand ist auch meiner. Ich verstehe, dass es schmerzt, etwas zu sagen, dem widersprochen oder das abgelehnt wird. Aber unsere Not erfordert das. Ohne Schmerzen zu riskieren, ist nichts zu gewinnen.« Bhapa nickte mit gequälter Miene. Pahni überraschte Linden jedoch, indem sie antwortete: »Der Eifrige hat gesagt, das Bedürfnis der Ring-Than nach Tod sei groß.« Das klang vage, fast benommen. Nichts in ihrem Blick verriet, dass sie sich der eigenen Verbitterung bewusst war. »Ich sehe kein Anzeichen dafür, dass ihr Bedürfnis befriedigt ist.« Mach ihn wieder lebendig! Ich täte es, wenn ich es könnte. Dass Mahrtür zusammenzuckte, war unübersehbar. Aber er wies die junge Frau nicht zurecht. Wie zu Lindens Verteidigung sagte Frostherz Graubrand: »Der Rückzug der Insequenten ist bedauerlich. Unser Kummer über den Tod des Eifrigen wird dadurch verschärft, dass wir keine weitere Erklärung für seine Voraussagen mehr erhalten können.« Nach kurzer Pause ergänzte Onyx Steinmangold: »Wir können auch nicht die Urbösen oder Wegwahrer zu Hilfe rufen. Ihr Lehrwissen ist zweifellos groß, und wir sind selbst Zeugen ihrer rätselhaften Macht geworden. Solange Esmer lebt, ist unsere Gabe, in Zungen zu sprechen, jedoch blockiert. Vielleicht könnte Linden Riesenfreundin sie weiter rufen, aber selbst dann würden wir ihre Ratschläge nicht verstehen.« Die Eisenhand warf streng ein: »Sich mit Fragen zu beschäftigen, die niemand beantworten kann, hat keinen Zweck. Wir müssen über Taten nachdenken, die im Rahmen unserer Fähigkeiten liegen.« »Dann lass uns alle Taten ausschließen, die außerhalb unserer Fähigkeiten liegen, Eisenhand«, schlug Rahnock vor. Das klang nach schwarzem Humor, aber ihre Miene blieb ernst. »Weder die Sandgorgonen noch die Skurj verdienen Beachtung. Mit bloßer Kraft und unseren Schwertern ist solchen Wesen nicht beizukommen.« Rüstig Grobfaust nickte zustimmend. »Ausschließen sollten wir auch die Schlange selbst und Sie, die nicht genannt werden darf, und Fangzahn Verächter. Zweifellos werden wir gegen solche Übel bestehen müssen nur werden Körperkraft und Schwerter nicht viel gegen sie ausrichten. Wer wilde Magie und Erdkraft und …« Sie sah zu Galt hinüber. »…
oder Hochlord Loriks Krill einsetzen kann, muss unseren Kurs festlegen. Wir können es nicht.« Linden erhob keinen Einspruch, der zwecklos gewesen wäre. Auch wenn das falsch war, zählten Grobfaust und die anderen offenbar weiterhin auf sie. Trotzdem konnte sie ihnen nicht wirklich widersprechen. Die Riesinnen dachten nur praktisch; ihre Schlussfolgerungen waren vernünftig. Kaltgischt musterte ihre Gefährtinnen kurz. Dann gestand sie ein: »Wir können uns auch nicht gegen Esmer Meer-Sohn behaupten. Da müssen wir uns auf die Urbösen und Wegwahrer verlassen. Was die Elohim betrifft, wissen wir nicht genug über ihre Notlage, sodass unsere Überlegungen unzulässig vereinfacht sind. Nachzudenken brauchen wir nur über die Ehemalige des Zeitenherrn, ihren Sohn mit seinem Heer von Höhlenschraten und den wahnsinnigen Kastenessen.« Nur?, fragte Linden sich. Nur? Aber bevor sie ihre Stimme fand, warf Mahrtür scharf ein: »Und über den Sohn der Ring-Than und den Croyel. Diese Last ist durch Liands Tod nicht geringer geworden.« »Aye«, bestätigte Raureif Kaltgischt. »Ich höre dich, Mähnenhüter. Trotzdem lässt seine Not sich nur durch Theurgie beheben. Solange Linden Riesenfreundin von dem Croyel blockiert wird und Covenant Zeitenherr abwesend ist, können wir nichts für den Jungen tun.« »Ganz recht«, knurrte Mahrtür zustimmend. Linden biss sich auf die Unterlippe und versuchte zu erraten, zu welcher Schlussfolgerung die Riesinnen und die Ramen gelangen würden. »Also«, fuhr Kaltgischt fort. »Die Ehemalige des Zeitenherrn. Ihr Sohn. Kastenessen.« Ihr Blick glitt über die Gesichter ihrer Gefährtinnen. »Bei anderer Gelegenheit könnt ihr mir zu solcher Kürze kondolieren. Aber im Augenblick …« Sie wandte sich an die beiden Haruchai. »Meister. Stave. Ihr habt noch nicht gesprochen. Seid ihr mit unseren Beratungen einverstanden? Oder gibt es etwas, das hinzugefügt oder weggelassen werden muss, bevor wir weitermachen?« Obwohl ihre Mienen ausdruckslos blieben, wechselten der Gedemütigte und der ehemalige Meister einen messerscharfen Blick, der Linden einen kalten Schauder über den Rücken laufen ließ. Sie konnte nicht hinter die Fassade beider Männer sehen, aber sie spürte … Als spräche er mit der Luft statt mit Kaltgischt oder Stave, sagte Galt:
»Ich rede, wenn ihr mit euren Beratungen fertig seid.« »Und ich antworte dir«, versprach Stave. Ohne weitere Erklärung sah er zu Raureif Kaltgischt auf. »Ich rate dringend dazu«, erklärte er ihr, »den Meistern in Schwelgenstein eine Art Vorwarnung zukommen zu lassen. Aber ich weiß nicht, wie sich das bewerkstelligen ließe. Ist die Aussage der Elohim glaubhaft, bleiben uns nur noch wenige Tage, und selbst ein Reiter auf einem Ranyhyn würde länger brauchen, um Herrenhöh zu erreichen.« Stave zuckte leicht mit den Schultern. »So bleiben meine Wünsche für meine Stammesgenossen unerfüllt.« Mit gewisser Förmlichkeit schloss er: »Eisenhand der Schwertmainnir, ich erkläre mich mit euren Entscheidungen einverstanden.« Raureif Kaltgischt antwortete darauf mit einem Nicken, das ernst wie eine Verbeugung war. Dann sagte sie zu allen: »Jetzt müssen wir unseren Kurs noch mehr vereinfachen. Sogar dringend, wie ich glaube. Welche der drei Gefahren, die wir ausgewählt haben, stellt die größte oder unmittelbarste Bedrohung dar?« Linden schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sie wollte sich keineswegs in Kaltgischts - oder Mahrtiirs - Führertum einmischen, aber jetzt antwortete sie, ohne lange zu überlegen. »Dringlichkeit ist nicht das Problem. Dringend sind sie alle …« Die Rettung Jeremiahs vielleicht am meisten. »Die Schwierigkeit liegt darin, sie zu finden. Ich kann nicht mal vermuten, wo Joan ist. Aber Esmer und der Eifrige haben uns gesagt, dass Roger im Donnerberg ist.« Irgendwo unter den Höhlenschraten. »Und Kastenessen muss ebenfalls dort sein, weil er das Übel braucht, damit es Kevins Schmutz erhält. Sie dort aufzuspüren, erscheint unmöglich, was aber vermutlich nicht stimmt. Kommen wir ihnen nahe genug, brauchen wir sie nicht aufzuspüren. Dann finden sie uns.« Sie verstummte abrupt. Eigentlich hatte sie etwas ganz anderes sagen wollen. Sie hatte gute Gründe dafür, weitere Verantwortung abzulehnen. Und sie bezweifelte, dass die Gedemütigten sich irgendwelchen Entscheidungen anderer fügen würden. Aus Verzweiflung argumentierte sie gegen sich selbst. »Zumindest wissen wir, wo Jeremiah ist.«
Wir müssen ihm irgendwie helfen. Bitte. Nach kurzer Beratung mit ihren Gefährtinnen sagte die Eisenhand nachdenklich: »Die Entfernung ist nicht unüberwindbar. Die restlichen Vorräte des Eifrigen lassen sich strecken, sodass sie für mehrere Tagesmärsche reichen. Trotzdem plagen mich Bedenken. Ich fürchte die Plötzlichkeit, mit der Covenant Zeitenherrs Ehemalige zuschlagen kann. Und die Schrathöhlen im Donnerberg, von denen wir gehört haben, bilden ein uns unbekanntes Labyrinth, in dem die Höhlenschrate sich bestens auskennen. Bestimmt werden der Sohn des Zeitenherrn und seine Verbündeten uns an einem Ort und zu einer Zeit zum Kampf stellen, die möglichst ungünstig für uns sind.« Linden äußerte sich nicht dazu. »Außerdem«, fuhr Raureif Kaltgischt fort, »widerstrebt es mir, die Absicht des Eifrigen zu ignorieren. Aye, er hat sie nicht ausdrücklich genannt, aber der hohe Preis, den er für seinen Dienst gezahlt hat, nimmt mich für ihn ein. Wir können nicht einfach voraussetzen, dass unsere Gegenwart hier wertlos ist.« »Ginge es nach dir, Eisenhand«, sagte Marthiir schroff, »wären wir also wieder am Ausgangspunkt angelangt. Wir können keinen Kurs nach irgendwohin festlegen. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass die hiesigen Ereignisse …«Er deutete auf Liands Grabhügel. »… uns als Leitstern dienen sollten. Aber seine Bedeutung entgeht mir.« Er murmelte frustriert einen Fluch. »Deshalb kann ich nichts weiter raten.« Bhapa trat plötzlich einen Schritt vor. »Vielleicht …«, begann er, um gleich wieder zu verstummen, als erschreckten ihn die eigenen Gedanken. »Sprich, Seilträger«, befahl der Mähnenhüter ihm sofort. Bitte, wiederholte Linden, wenn auch nur für sich selbst. Jemandem muss etwas einfallen! Bhapa schien nach Worten zu suchen. »Zuvor …« Er schluckte trocken. »… als Seilträgerin Pahni zurückgekommen ist.« Nach einem zögernden Blick zu Linden hinüber zwang er sich dazu, Mahrtiirs augenlose Musterung zu ertragen. »Die Ring-Than hat gefragt, warum wir nicht die Ranyhyn gerufen haben, um Pahni in ihrem Kummer zu trösten. Ich habe …« Wieder dieses Schlucken. »… respektlos geantwortet, weil ich Achtung gegenüber den Ranyhyn vermisst habe. Aber jetzt…« Seine Stimme versagte erneut.
Mahrtiir wartete ungeduldig. Raureif Kaltgischt wiederholte fragend: »Aber jetzt …?« Der junge Seilträger errötete heftig. Dann stieß er hervor: »Vielleicht würden die Ranyhyn einwilligen, unseren Kurs festzulegen, wenn wir sie rufen und uns ihrer Weisheit anvertrauen würden. Sie sind die Ranyhyn«, betonte er, als hätte jemand Einwände erhoben. »Obwohl sie den Ramen und ihren Reitern stets erlaubt haben ihren Weg zu wählen, besitzen sie Einsichten, die unsere übertreffen. Vielleicht können sie feststellen, wo die Ehemalige des Zeitenherrn sich aufhält. Oder vielleicht erkennen sie, welche Absichten der Eifrige hatte. Vielleicht entscheiden sie sich dafür, seine abgebrochene Reise fortzusetzen. Bestimmt wäre jedes Ziel, das die Ranyhyn billigen, unserer jetzigen Ratlosigkeit vorzuziehen.« An dieser Stelle unterbrach Mahrtiir ihn. »Genug, Seilträger«, sagte er überraschend milde, obwohl er sichtlich aufgeregt war. »Dieser Rat kommt unerwartet. Ich verstehe jetzt, weshalb du gezögert hast, ihn vorzubringen. Solche Überlegungen stellen Ramen nicht an. Vor der Ankunft der Ring-Than haben wir Ramen jedoch auch nie gewagt, die Ranyhyn zu reiten. Aber als sich dann Gelegenheit dazu bot, haben sie bereitwillig ihr Einverständnis erklärt. Ich bezweifle nicht, dass sie auch diesmal einverstanden wären.« Sein Eifer belebte die Gesellschaft. Die Riesinnen hoben die Köpfe, als witterten sie einen Hauch von Hoffnung. Hyn!, dachte Linden. Hynyn. Naharan und Bhanoryl, Mhornym und die anderen. Bei ihrem kargen Rösserritual hatten Hyn und Hynyn es verstanden, ihre Besorgnis auszudrücken, ohne Lindens Entscheidungen zu manipulieren. Und sie hatten Stave dazu überredet, trotz des erbitterten Widerstands der Meister in Zukunft ihr die Treue zu halten. Lindens viele Fehler hatten sie gelehrt, den Ranyhyn zu vertrauen. Plötzlich sehnte sie sich mit allen Fasern ihres Herzens nach Hyn: nach der stolzen Haltung, der Lebhaftigkeit der Stute, nach der Zuneigung in ihrem sanften Blick, nach der Sicherheit ihres Schritts. Hyn würde wissen, was … Mit hell klingender Stimme fragte Mahrtiir: »Was sagst du, Eisenhand der Schwertmainnir? Weil uns guter Rat fehlt, wissen wir nicht weiter.
Und ich glaube, dass Liands Standhaftigkeit der Treue der Ranyhyn so nahe gekommen ist, wie es einem Menschen möglich ist. Entscheiden wir uns dafür, uns ihrer Führung zu überlassen, werden seine Offenheit und Tapferkeit in der Tat unser Leitstern sein.« Raureif Kaltgischt beriet sich erneut halblaut mit ihren Gefährtinnen. Als sie wieder das Wort ergriff, leuchteten ihre Augen. »Die Schwertmainnir«, kündigte sie an, »sind wahrhaft zufrieden. Unser Wissen über die Ranyhyn ist dürftig. Aber wir haben ihre Pracht und ihre Dienstwilligkeit erlebt. In unseren Augen verkörpern sie das Wunder und das Geheimnis von Andelain auf perfekte Weise. Und wir wissen, wie ehrfürchtig sie von allen verehrt werden, deren Erfahrung unsere übersteigt. Sobald Galt den Willen der Gedemütigten kundgetan hat, wollen wir gern den Ruf hören, der solche Pferde zu Hilfe holt - aye, und uns gern von ihnen anleiten lassen.« Während sie sprach, nahm Bhapa die Schultern zurück. Seine Verlegenheit hatte sich gewandelt: Sie wurde zu glühendem Stolz, den Linden noch nie bei ihm erlebt hatte. Und Pahnis ausdruckslos starrer Blick verlor etwas von seiner Trübheit. Die Aussicht auf ein Wiedersehen mit den Ranyhyn schien ihre Erschöpfung und ihren Kummer zu mildern. Lindens eigene Vorfreude verblasste jedoch fast augenblicklich wieder. Sie hatte vergessen, dass Galt versprochen hatte, sich als Letzter zu äußern, und fürchtete, was er sagen würde. »Sprich endlich!«, forderte Stave den Meister brüsk auf. »Dein Schweigen ist ungerecht und verletzend zugleich. So würdigst du Gefährten herab, die ihr Leben deiner Ehre und deinem Dienst anvertraut haben.« Sein Tonfall dämpfte die anfängliche Hochstimmung der Ramen. Auch Kaltgischt runzelte jetzt die Stirn, und Rüstig Grobfaust schien Anstoß nehmen zu wollen. Spätgeborene zuckte unangenehm überrascht leicht zusammen. Galt nickte Stave zu. »Das werde ich tun.« Dann wandte er sich der Gesellschaft zu. »Während der Zweifler nicht bei sich ist«, sagte er ausdruckslos, als spräche er von etwas Unwichtigem, »sind wir mit eurem Wunsch einverstanden, auf die Ranyhyn zu vertrauen. Weil wir sie durch unsere
Erinnerungen an die Bluthüter aus alten Zeiten kennen, bezweifeln wir nicht, dass sie uns gut führen werden.« Nichts in seinem Tonfall verriet seine Absichten, als er hinzufügte: »Sobald sie hier sind und sich mit euren Wünschen einverstanden erklärt haben, schneide ich dem Croyel die Kehle durch.« Ein Ruck, als hätte eine Zäsur sie gestreift, ging durch die Gesellschaft. Bhapa protestierte laut, und Mahrtiirs Garotte schien wie von selbst in seine Hände zu springen. »Stein und Meer!«, brüllte Raureif Kaltgischt. »Bist du verrückt, Haruchaü« Zwei weitere Riesinnen griffen nach ihren Schwertern, ohne sie jedoch zu ziehen. Schwüle Stille lag in der Luft, erschwerte jeden Atemzug. Linden machte instinktiv einen Schritt auf Jeremiah zu und entlockte dem Stab des Gesetzes panikartige Schwärze. Seine Flamme lohte scharf umrissen und düster wie der Stab selbst, ein schwarzes Lodern vor dem gelblich braunen Himmel. Aber Linden nahm sie nicht wahr. Sie sah nur Galts leidenschaftslose Miene, das vergebliche Zähnefletschen des Croyels und die Wildheit in seinen glühenden Augen. Mahrtiir und die Eisenhand riefen gleichzeitig Lindens Namen. Benommene Verwirrung bemächtigte sich der restlichen Gesellschaft. Galts Faust umschloss den Krill fester. Er hielt Jeremiah weiter an der Schulter gepackt; studierte Linden wie ein Mann, der niemals blinzelt. Aber Stave, der Lindens Flamme ignorierte, brachte seine erhobene Hand wie eine Barriere zwischen Galt und sie. »Halt ein, Auserwählte«, sagte er scharf. »Wenn es sein muss, bitte ich dich darum. Er ist ein Haruchai, ein Meister, einer der Gedemütigten. Wählt er den Tod, kann selbst deine Macht seine Hand nicht aufhalten.« »Muss«, murmelte Anele fast unhörbar. »Kann nicht.« Linden, die mitternächtliches Feuer wie Flächenblitze über den Hügelkamm verbreitete, warf sich herum und funkelte Covenant an. »Du musst ihn stoppen!«, rief sie mit einer Stimme, die dunkel war wie ihre Flamme. »Du hast es ihnen wieder und wieder gesagt! Du hast mich immer unterstützt, seit ich dich zurückgebracht habe!« Und Esmer hatte Jeremiahs zerdrücktes Rennauto wieder heil gemacht. Das ließ doch auf eine mögliche Rettung ihres Sohns hoffen? »Lass nicht zu, dass er das tut!« Covenant stand unsicher zwischen Bhapa und Pahni. Er sah Linden nicht
einmal an. In Erinnerungen verloren wirkte er so erbärmlich wie ein beraubtes Grab. Seine Kaumuskeln verkrampften und lösten sich, verkrampften und lösten sich im Rhythmus seines stummen Herzschlags. »Linden Avery.« Stave sprach fast schreiend laut. »Lösche dein Feuer. Der Zweifler kann nicht antworten. Wäre er dazu imstande, würde er dem Gedemütigten bestimmt Einhalt gebieten. Aber das kann er nicht. Und solch befleckte Erdkraft ist sicherlich ein Lichtsignal für jedes lehrenkundige Wesen, das auf unsere Vernichtung sinnt. Ich habe gesagt, dass ich Galt antworten werde. Das tue ich auch. Aber zuvor musst du dieses unheilvolle Schauspiel beenden.« Lindens Verstand schien endlich ihr Tun, ihre Verzweiflung einzuholen. Trotz der Wut, die in ihren Ohren dröhnte - Wut oder Angst -, hörte sie Stave. Covenant konnte ihr nicht helfen; nicht in diesem Zustand. Und sie hatte nie einem Haruchai mit Erdkraft oder wilder Magie entgegentreten wollen. Staves Stammesgenossen waren Freunde des Landes, wenn auch nicht ihre. … deine Macht kann seine Hand nicht aufhalten. Wie in Fieber- oder Kälteschauern zitternd keuchte Linden: »Also gut. Also gut. Antworte ihm. Sofort!« Jeder Muskel ihres Körpers schmerzte, als sie sich dazu zwang, ihre Raserei zu dämpfen und das schwarze Feuer erlöschen zu lassen. Vorübergehende Erleichterung ließ die Riesinnen, die Ramen aufatmen. Doch sie verflog rasch wieder. Sogar Aneles blinde Augen schienen Linden zu folgen, als sie sich wieder nach Galt umdrehte. Nur Jeremiah ließ kein Anzeichen dafür erkennen, dass ihm seine Gefahr bewusst war - nur Jeremiah und Covenant nicht. »Sprich, Galt«, forderte Stave ihn auf. »Schildere deine Absichten, damit deine Gefährten sie verstehen können. Dann höre meine Antwort.« »Das werde ich tun«, wiederholte Galt. »Andere haben gelegentlich ihre Absichten verschleiert. Aber wir sind die Gedemütigten, Meister und Haruchai. Wir verachten solches Verhalten.« In Lindens Ohren klang jedes seiner Worte wie der dumpfe Takt eines Klagelieds. »Unsere Gründe sind zahlreich«, begann er. »Der geringste ist, dass ich dieses Scheusal nicht auf den Rücken von Bhanoryl oder irgendeines anderen Ranyhyns setzen will. Alle Haruchai ehren die Ranyhyn. Ich
werde ihnen kein Ungeheuer wie den Croyel aufbürden.« Mahrtiir erwiderte sofort: »Du bürdest niemandem etwas auf, Meister.« Sein Zorn war ebenso scharf wie der Galts. Er hielt seine Garotte weiter zwischen den Fäusten gestrafft. »Die Ranyhyn werden dich und den Jungen und das Ungeheuer tragen - oder eben nicht. Ihre Entscheidungen hast nicht du zu treffen.« Galt ignorierte den Mähnenhüter. Er wandte sich mehr an die Riesinnen als an Stave, die Ramen oder Linden, als er sagte: »Ein gewichtigerer Grund ist, dass meine jetzige Aufgabe mich behindert. Bei dem tödlichen Angriff auf den Steinhausener konnte ich nicht handeln, ohne die Freilassung des Croyels zu riskieren. Diese Vergeudung meiner Kraft, wenn alle Kräfte gebraucht werden, lasse ich auf keinen Fall mehr zu.« Standhaft wie eine Basaltsäule antwortete Stave: »Überlass den Krill mir, wenn deine Ungeduld stärker als deine mangelhafte Selbstbeherrschung ist. Ich bin bereit, dir diese Last abzunehmen.« Auch ihn ignorierte Galt. »Ein noch gewichtigeres Argument ist«, sagte er mit einer Stimme, die wie das Dröhnen von Begräbnistrommeln klang, »dass dem Jungen nicht geholfen werden kann. Das ist ohne jeden Zweifel bewiesen worden. Dafür gibt es zahlreiche Zeugen.« Nein, widersprach Linden sofort. Nein. Aber der Gedemütigte reagierte nicht auf ihren stummen Protest. »Linden Averys verrückte Suche nach ihrem Sohn hat mit unwiderruflichem Verderben geendet. Statt für eine gute Sache zu kämpfen, haben wir in ihrem Namen viele bittere Gefahren erduldet, ohne mehr zu gewinnen als weiteren Kummer und Sorgen. Jetzt übersteigt unser Bedürfnis, den Croyel tot zu sehen, den Wert des Lebens des Jungen. Der Zweifler hat uns befohlen, Linden Averys Wünsche zu erfüllen. In seinem gegenwärtigen Zustand ist uns das unmöglich. Wir müssen dienen, wie wir es als Meister geschworen haben.« »Hier ist deine Argumentation fehlerhaft«, verkündete Stave. »Du maßt dir mehr Weitblick an, als du in Wirklichkeit besitzt. Ein Fehlschlag bedeutet nicht, dass weitere folgen müssen. Dass die Auserwählte bisher kein Mittel gefunden hat, ihren Sohn zu retten, bedeutet nicht, dass sie das nicht kann oder nicht tun wird. Wer etwas anderes behauptet, maßt
sich Gewissheit in Bezug auf Taten und Ereignisse an, die noch in der Zukunft liegen.« Ja, dachte Linden. Bitte. Ich will es noch mal versuchen. Sobald mir eine neue Methode einfällt. Ich brauche nur etwas Zeit. Galt ignorierte Stave jedoch weiterhin. Er schien jetzt ausschließlich mit den Riesinnen zu sprechen, als hielte er die übrige Gesellschaft wegen falscher Loyalitäten für verdächtig. »Am schwersten wiegt jedoch folgender Grund: Müssen wir uns später unseren Feinden stellen, wird der Zweifler den Krill brauchen. Hoch-Lord Lorik hat seine Klinge und den Schmuckstein mit machtvoller Theurgie ausgestattet. Aber wie meine Kraft ist diese Theurgie vergeudet, wenn sie wie jetzt eingesetzt wird. Sie ist restlos vergeudet, obwohl sie dringend benötigt werden wird. Der Zweifler hat den Krill nicht unter großen Opfern an sich gebracht, nur um den Jungen gefangen zu nehmen und zu erhalten. Er hat weit ernstere Notfälle vorausgesehen, sonst hätte er niemals zugelassen, dass vielleicht ganz Andelain verwüstet wird. Er kann nicht den Untergang Andelains gewollt haben, um Linden Averys unrettbares Kind zu erhalten.« Darauf reagierten die Schwertmainnir mit finsterem Schweigen. Linden spürte, wie der Zorn der Riesinnen wuchs. Raureif Kaltgischts vorgerecktes Kinn schien Galts Argumente einzeln zurückzuweisen. Über Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg hatten die Meister die Riesen zurückgewiesen … Falls Stave wegen Galts Einstellung frustriert war, ließ er sich nichts davon anmerken. Stattdessen gab er weitere Antworten. Nur sprach er jetzt so langsam, dass er die Worte zu dehnen schien, als wollte er seinen Feststellungen besonderes Gewicht verleihen. »In diesem Fall, Gedemütigter«, sagte Stave, als hätte er sich Covenants Autorität angeeignet, »wirst du dich zurückhalten, bis der Zweifler wieder bei sich ist. Deine übrigen Behauptungen sind wertlos; sie sind als Ergebenheit getarnte Ungeduld. Aber dein Argument, dass der Zweifler den Krill brauchen wird, ist unwiderlegbar. Andererseits steht seine Abwesenheit eindeutig fest. Solange er in diesem Zustand verharrt, kann er den Krill nicht benötigen. Und es ist weder ehrlich noch ehrenwert, den Jungen grundlos zu töten. Das wäre Mord.
Sind die Gedemütigten so tief gesunken? Morden sie, obwohl die Haruchai es bisher stets abgelehnt haben, solche Verbrechen zu billigen?« Diesmal erwiderte Galt den Blick von Staves einzelnem Auge. Er bewegte kurz seine Finger am Griff des Krill, fasste Jeremiah weniger hart an. Als er dann antwortete, glaubte Linden aus seinem Tonfall subtiles Unbehagen herauszuhören. »Vielleicht will es der Zufall, dass die Berührung des Krill den Zweifler zu sich bringt.« Noch immer gedehnt sprechend antwortete Stave: »Vielleicht aber auch nicht. Dann ist der Sohn von Linden Avery der Auserwählten geopfert worden, und du hast nichts erreicht, und dein hehrer Anspruch auf Pflichterfüllung ist zum Gespött geworden.« Linden applaudierte Staves Antwort im Stillen. Innerlich brannte sie darauf, zu hören, was Galt als Nächstes sagen würde. Aber er gab keine Antwort. Ohne Vorwarnung duckten Stave und der Gedemütigte sich plötzlich, als wollten sie einander an die Kehle springen. Dann packte Stave sie am Arm, riss sie von Galt und Jeremiah weg … … und drehte sie so rechtzeitig um, dass Linden sehen konnte, wie Clyme den Hügel, auf dem er Wache gehalten hatte, heruntergerannt kam. Mit der rechten Hand hielt Clyme einen langen Speerschaft gepackt. Die Speerspitze und seine linke Schulter waren blutig. Dort wies sein Kittel einen Riss auf. »Vorsicht!«, brüllte Stave. »Wir werden angegriffen!« Während Clyme den Steilhang herunterkam, verschwand sein Aussichtspunkt auf dem Hügel in einer Explosion, die Erde und Steine aufwirbelte. Um Linden herum rissen Riesinnen ihre Schwerter aus den Scheiden. Raureif Kaltgischt erteilte ihnen keine Befehle: Sie waren Schwertmainnir und wussten, was sie zu tun hatten. Mit einigen großen Schritten bildeten sie ein Verteidigungsbollwerk vor ihren kleineren Gefährten. Alle Riesinnen, die Vorräte getragen hatten, warfen ihre Bündel nach Süden von dem Grat. Die Eisenhand schwang probeweise ihr Breitschwert, um ihre Armmuskeln zu lockern.
Während die Riesinnen sich kampfbereit machten, rief Stave: »Der Sohn des Zweiflers rückt mit Höhlenschraten gegen uns vor! Clyme hat sie nicht wahrgenommen, weil sie durch Glammer getarnt waren. Erst ein Speer in der Luft hat ihn gewarnt!« Sie können nicht hier sein, wollte Linden protestieren. Wir sind zu weit vom Donnerberg entfernt. Aber sie bekam kaum Luft und hatte die Stimme verloren. Wieder einmal hatte Roger Covenant die Gesellschaft überrumpelt. Höhlenschrate, die zum Angriff vorstürmten, hätten Staubwolken aufwirbeln müssen - außer bei völliger Windstille oder wenn die Angreifer sich nur auf felsigem Untergrund bewegten. Oder Rogers Glammer war so wirkungsvoll, dass er ihre Annäherung vollständig getarnt hatte. Mähnenhüter Mahrtiir befahl seinen Seilträgern grimmig, Covenant zu beschützen. »Dabei unterstützt Branl euch sicher! Überlasst die Ring-Than Stave und mir!« Linden sah einige Augenblicke lang nichts als Clymes überstürzte Flucht. Der massive Speer war aus Stein; trotzdem trug er ihn mühelos. Zwischen dem Grat und dem Hügel, auf dem er Wache gehalten hatte, lagen mehrere Hügelkämme, die immer niedriger wurden. Clyme verschwand in einem Tal, dann tauchte er - noch immer ziemlich weit entfernt - wieder auf. Dann fühlte sie einen stummen Schock. Mehr mit ihrem Gesundheitssinn als mit den Ohren hörte sie ein reißendes Geräusch, als schlitzten Krallen einen Vorhang auf. Im nächsten Augenblick wurden ihre Feinde sichtbar, als wären sie durch irgendeine gewaltige Magie hierher versetzt worden. Eine Welle von Höhlenschraten - Dutzende von ihnen - war bereits über den Hügel hinweggebrandet, auf dem Clyme Wache gehalten hatte. Weitere kamen über die Hänge auf beiden Seiten gestürmt: groß und schlaksig, mit unverhältnismäßig langen Gliedmaßen, keulenförmigen Köpfen, rot leuchtenden Augen, ungeheuren Kräften. Jeder hatte irgendeine Waffe: primitive zweischneidige Schwerter, Keulen wie Rammböcke, massive Speere, aus Feuerstein gehauene Streitäxte. Wie ihre Artgenossen, die nach der Zerstörung von Erstes Holzheim angegriffen hatten, trugen sie Brustpanzer aus gewachsenem Fels aus
den Tiefen des Gravin Threndor. Und sie wurden immer mehr: weit mehr als die Felsblöcke, die Liands Grabhügel bildeten; mehr als Linden jemals gesehen hatte; mehr als genug, um selbst Riesinnen wie Treibgut fortzuschwemmen. Wie …? Roger, der mit dem Sturmlauf der Angreifer nicht mithalten konnte, hockte auf den Schultern eines Höhlenschrats. Triumph und Schadenfreude verzerrten sein Gesicht, ließen jede Ähnlichkeit mit seinem Vater verschwinden. Seine rechte Faust glühte machtvoll wie tiefrotes Magma. Er schien die Wildheit eines Dutzends Skurj in dieser Hand zu halten: ein Stück von Kastenessens essenziellem Zorn und seinen Qualen. Wie waren die Höhlenschrate und er so schnell aus so riesiger Entfernung hergekommen? Als einzige Riesin blieb Sturmvorbei Böen-Ende etwas zurück. Sie hielt ihr Langschwert in der Rechten. Auf dem linken Arm trug sie Anele, der sich in panischer Angst klein zu machen versuchte. »Eisenhand!«, rief sie laut, um das Geschrei der Höhlenschrate zu übertönen. »Was soll ich tun? Der Alte behindert mich!« Kaltgischt suchte rasch die Formation ihrer Schwertmainnir ab, registrierte Lindens Schock und wandte sich mit einem Fluch ab. »Setz ihn auf den Grabhügel! Auf Stein passiert ihm hoffentlich nichts! Bei dieser Überzahl müssen wir darauf vertrauen, dass er Speeren ausweichen kann!« Aus Liands Orkrest würde Anele hoffentlich so viel Vernunft ziehen, dass er sich ducken und ausweichen konnte. Während Böen-Ende gehorchte, erklärte die Eisenhand Linden schroff: »Gegen diese Horden können wir nicht bestehen - auch nicht gegen solche Theurgie! Wir brauchen deine Hilfe!« Das verstand Linden. 0 ja, sie verstand es! Trotzdem war sie wie gelähmt, von Schrecken und Verwirrung überwältigt. Kastenessen musste Roger gesagt haben, wo sie waren, wo Galt den Croyel in seiner Gewalt hatte. Aber wie hatten Roger und seine Höhlenschrate so rasch herkommen können? Ihres Wissens konnte er ohne Hilfe des Croyels weder sich noch andere auf magische Weise an andere Orte versetzen. Anele schien zu erkennen, welche Gefahr ihm drohte. Er kletterte in verzweifelter Hast die Felsblöcke hinauf, bis er den höchsten Punkt des
Grabhügels erreicht hatte. Dort suchte er nach einer Nische oder Spalte zwischen den Felsen, nach einem Versteck für sich. Mit gellendem Dämonengeheul strömten die Höhlenschrate über die nächsten Hügelkämme. Ihr uralter Blutdurst - vor allem nach dem Blut von Riesen - war legendär. Zumindest in ihren Augen er war gerechtfertigt. Pechnase und die Erste der Suche hatten entscheidend dazu beigetragen, die Auferstehung Seibrich Felswürms zu verhindern. Clyme und Branl erreichten den weißen Grat, auf dem die anderen standen, weit vor den angreifenden Kreaturen. Sekundenschnell begutachteten sie die Formation der Riesinnen, registrierten, dass Bhapa und Pahni Covenant an den Armen hielten, und verständigten sich telepathisch mit Galt. Dann schloss Clyme sich den Schwertmainnir an, während Branl sich zwischen Covenant und der anstürmenden Horde aufstellte. Die Seilträger forderte er ausdruckslos auf: »Notfalls flüchtet ihr mit dem Zweifler. Er muss unbedingt gerettet werden.« »Wie …?«, versuchte Linden Stave zu fragen. Aber die Frage blieb ihr im Hals stecken. Über die Schulter hinweg erklärte er Galt: »Ich biete dir nochmals an, mit dir zu tauschen. Duldung ist besser als ein Mord. Willst du kämpfen, überlass mir den Krill.« Galt antwortete, ohne zu zögern: »Das tue ich nicht. Den bekommst du höchstens auf Befehl des Zweiflers. Ich weiß, dass du den Croyel niemals umbringen würdest. Lieber würdest du zusehen, wie alle Verteidiger des Landes abgeschlachtet werden.« Stave sah zu Anele hinauf, streifte Linden mit einem kurzen Blick. Dann zuckte er mit den Schultern. Entspannt und hoch motiviert machte er sich bereit, sie zu verteidigen. Ihre Freunde brauchten sie. Und sie würde Covenant kein zweites Mal wiedererwecken können; nicht wenn er hier den Tod fand. Sie würde so viele Höhlenschrate wie nur möglich verbrennen müssen. Sie würde Roger mit äußerster Kraft widerstehen müssen. Hier, wo sie nicht durch Kevins Schmutz behindert wurde, konnte sie mächtig sein … Lindens größte Sorge galt jedoch Jeremiah. Dadurch war sie wie gelähmt. Sie konnte sich nur allzu leicht die flüssige Bewegung von Galts Arm vorstellen, mit der er dem Croyel mit dem Krill die Kehle
durchschnitt… »Wie«, brachte sie endlich krächzend heraus, »sind sie so schnell hergekommen?« »Das weiß ich nicht genau«, antwortete Stave, den diese Frage nicht sehr zu interessieren schien. »Aber ich vermute, dass Kastenessen ihnen mit seinen seltsamen Magien geholfen hat. Durch Anele hat er unseren Standort gekannt. Und das wäre nicht der erste Fall. Schon der Angriff des Sohns des Ur-Lords und seiner Höhlenschrate auf Erstes Holzheim wäre bei normaler Fortbewegung nicht möglich gewesen. Die Entfernung vom Gravin Threndor war zu groß, und die Höhlenschrate besitzen nur wenig Theurgie. Trotzdem ist es dem Sohn des Ur-Lords gelungen, uns zu überfallen, als wir wie hier verwundbar waren. Urteilt man nach Esmers Zustand, tut Kastenessen nichts, um die Not von Dienern, mit denen er unzufrieden ist, irgendwie zu lindern. Vielleicht erklärt das, warum der Sohn des Ur-Lords auf den Schultern eines Höhlenschrats geflüchtet ist, nachdem er gegen uns unterlegen war.« Aus der Kakophonie des wilden Geschreis der Höhlenschrate wurde rhythmisches Heulen, ein Schrei nach Blut. In ihrem Eifer warfen mehrere Höhlenschrate schon ihre Speere. Aber sie hatten noch nicht einmal den Fuß des Hügels erreicht, so dass alle Würfe zu kurz waren. Die wenigen Speere, die in der Nähe auftrafen, wurden von den Riesinnen aus der Erde gerissen und mit erstaunlicher Gewalt zurückgeschleudert. Die Gesellschaft hatte den Vorteil einer hoch gelegenen Stellung. Roger und seine Horden würden bergauf kämpfen müssen. Trotzdem hätte selbst die Hälfte der Höhlenschrate imstande sein müssen, den Grat zu erstürmen. Stave forderte Linden nachdrücklich auf: »Halt dich bereit, Auserwählte.« Aber sie war schon zu spät dran. Mit einem wilden Aufschrei schleuderte Roger eine weitere Ladung von Schwefel und Lava. Linden bemühte sich verzweifelt, ihrem Stab Feuer zu entlocken, sich auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren. Sie konnte Galt nur von seinem Vorsatz abbringen, indem sie die Angreifer zurückschlug; nur mit diesem Argument konnte sie ihn überzeugen. Aber ihre Verwirrung behinderte sie bei dem Versuch, Erdkraft aufzubieten.
Rogers Wildheit krachte ungehindert in den Grabhügel. Anele! Schwere Felsblöcke wurden hochgeschleudert, zerplatzten in der Luft. In einem Hagel aus Steinbrocken und -splittern wurde fast ein Drittel des Grabhügels weggerissen. Einige kleinere Fragmente gingen auf Clyme und die Riesinnen nieder, aber die meisten Trümmer stürzten auf den Hang hinter ihnen. Roger hatte das Grab angegriffen, den Grabhügel. Er versuchte, Anele zu töten. Oder den Sonnenstein zu vernichten. Einen Herzschlag lang, nicht länger, suchte Linden den Scheitel des Grabmals nach dem Alten ab, nach ihrem ersten Begleiter, der Hoffnung des Landes. Sie entdeckte ihn fast augenblicklich auf der Südseite des Hünengrabs, wo er vor Angst schnatternd hockte. Dann griff sie um Jeremiahs und ihrer Freunde willen tief in ihr Inneres und entlockte dem willigen Holz des Stabs einen Feuersturm. Lindens Flamme war schwarz wie der Stab selbst - wie die lichtlosen Tiefen der Berge. Und als sie in den blassen Himmel loderte, strahlten die in den Stab eingeschnitzten Runen wie reines Silber, als drückten sie Carroil Wildholz’ Zorn und Trauer aus. Geheimnisvolle Symbole gaben ihre Zustimmung. Sie machten Linden stärker. Ihr Gegenangriff glich einer stürmischen Glutwalze, die Roger fast von den Schultern des Höhlenschrats geworfen hätte. Hätte er sich mit weniger als Kastenessens entweihter Hand verteidigt, wären ihm die Knochen bis aufs Mark versengt worden. Aber sein Magma hielt ihre Glutwalze scheinbar mühelos auf, als wäre Roger ihr in jeder Hinsicht gewachsen. »Ring-Than, Ring-Than!«, keuchte Bhapa, als hätte sie ihn erschreckt. Stave beobachtete die schwarz gewordene Erdkraft mit leichtem Bedauern im Blick. Er schien das wahre Ausmaß von Lindens Verwandlung noch immer nicht begriffen zu haben. Liands Tod hatte eine Veränderung abgeschlossen, die auf dem Gräberfeld von Jeremiahs Verstand begonnen hatte - den Wandel, den Sie, die nicht genannt werden darf, Lindens Träume, sie sei Aas, und der Galgenbühl ausgelöst hatte. Unter ihr erreichten die ersten Höhlenschrate den Fuß des Hügels.
Tobsüchtig wie ein Mob und bösartig wie Kresh setzten sie wild durcheinanderschreiend zu einem Sturmlauf an. Die Eisenhand ließ sie einen Augenblick gewähren. Dann rief sie: »Stein und Meer!«, und stürzte sich mit Frostherz Graubrand und Rüstig Grobfaust in den Kampf gegen die steigende Flut. Aus der tobenden Horde kommende Speere durchschnitten die Luft. Einige wenige gerieten in den Bereich von Lindens schwarzer Flamme, wurden sofort pulverisiert und rieselten harmlos zu Boden. Stave fing einen auf, wehrte einen anderen damit ab und warf den Speer zurück alles mit einer einzigen flüssigen Bewegung. Pahni und Bhapa rissen Covenant vor einem Speer zurück, der ihn sonst durchbohrt hätte. Branl schnappte sich zwei weitere Speere aus der Luft. Als er sie zurückwarf, zerschellte der erste an der primitiven Rüstung des Höhlenschrats; aber der zweite traf die Kehle eines Angreifers, der zurücktorkelte und ein halbes Dutzend Höhlenschrate mit sich zu Boden riss. Kaltgischt, Graubrand und Grobfaust verschwendeten ihre Kraft nicht an Brustpanzer. Mit gewaltigen Rundschlägen, die so wirkungsvoll waren wie Lindens Flamme, trafen sie Arme und Beine, ungeschützte Hälse und Köpfe. Als die ersten Getroffenen die von unten Nachdrängenden zum Sturz brachten, ließen die drei Schwertmainnir sich zurückfallen. Sie zogen sich freiwillig auf den höheren Grat zurück. Gleichzeitig stürzten Spätgeborene, Rahnock und Onyx Steinmangold sich in den Kampf, um die Gefährtinnen durch ihren eigenen Angriff zu entlasten. Steinmangold hatte einen Speer erbeutet. Jetzt kämpfte sie mit zwei Waffen, schwang ihr Langschwert und stieß mit dem Speer zu, als hätte sie das jahrhundertelang geübt. Die rasche Folge von Gegenangriffen, erst drei, dann noch mal drei, ließ den Angriff stocken, raubte ihm den Schwung. Immer mehr Höhlenschrate stürzten über die Gefallenen. Manche verloren den Boden unter den Füßen. Andere taumelten zur Seite. Als Kaltgischt, Graubrand und Grobfaust sich wieder zu dem anderen Trio gesellten, drängten sie die Angreifer gemeinsam zurück. In dem Durcheinander aus stürzenden Körpern und spritzendem Blut wurde aus dem ersten Ansturm der Höhlenschrate eine wilde Flucht. Aber trotz ihres Blutdursts waren sie denkende Wesen. Zu viele von ihnen auf einmal hatten versucht, die Gesellschaft frontal anzugreifen.
Jetzt änderten sie ihre Taktik. Aus den hinteren Reihen schwenkten viele Dutzend Höhlenschrate nach Westen, um den Grat außerhalb der Reichweite der Schwerter der Riesinnen zu besetzen. Andere erstiegen ihn im Osten, als wollten sie den beschädigten Grabhügel als Deckung benutzen, während sie sich zum Angriff auf die Riesinnen sammelten. Linden sah, was sie taten, aber sie achtete nicht weiter darauf. Sie konzentrierte sich mit ganzem Herzen darauf, Roger einen unaufhörlichen Strom aus ebenholzschwarzem Feuer entgegenzuschicken. Die Runen leuchteten wie eingeschnitzte silberne Magie, während sie versuchte, Rogers Abwehrkräfte zu schwächen, ihm seinen vielfachen tückischen Verrat heimzuzahlen - und zugleich Galt daran zu hindern, dem Croyel doch die Kehle durchzuschneiden. In Galts eisernem Griff heulte das Scheusal Roger und den Höhlenschraten Anfeuerungsrufe oder Anweisungen zu. Schaum tropfte von seinen Reißzähnen wie Geifer. Aber trotz seiner Bösartigkeit und Verzweiflung wagte er nicht, seine Kehle an den Krill zu drücken, um die Zähne in Jeremiahs Hals schlagen zu können. Zirrus Gutwind, die einarmige Riesin, verließ ihre Gefährtinnen, um sich den aus Westen herandrängenden Höhlenschraten entgegenzustellen. Clyme, der mit dem Chaos unter sich offenbar zufrieden war, schloss sich ihr an. Sturmvorbei Böen-Ende machte sich allein auf den Weg um den Grabhügel, um die aus Osten drohende Gefahr abzuwehren. Branl vertraute Covenant den beiden Seilträgern an, um Clymes Platz unter den übrigen Riesinnen einnehmen zu können. Ein aussichtloser Kampf. Anfangs hatten nur zehn, zwölf Dutzend Höhlenschrate versucht, den Grat zu erstürmen, aber nun folgten ihnen weitere Horden, als wäre ihre Zahl unermesslich. Die wiederholten Ausfälle der Eisenhand und ihrer Schwertmainnir waren in gewissem Ausmaß erfolgreich gewesen. Der steile Hang unter ihnen war durch blutigen Schlamm glitschig geworden. Die dort Heraufdrängenden rutschten immer wieder aus, kamen nur mühsam voran, waren verwundbar. Aber im Osten und Westen gewannen Massen von Waffen und roten Augen unaufhaltsam an Boden. Kaltgischt würde bald gezwungen sein, zur Unterstützung von Gutwind und Böen-Ende weitere Schwertmainnir zu entsenden. Dann würde der Frontalangriff effektiver werden.
Von seinem Hügel aus schien Roger diesen Kampf an drei Fronten zu ignorieren. Wie die Höhlenschrate hatte er jedoch seine Taktik geändert. Auf den Schultern seines Trägers sitzend stellte er Lindens schwarzem Feuer Magie wie flüssige Schlacke entgegen, bis er einen keilförmigen Wall geschaffen hatte, der ihre Flamme ablenkte. Dann schleuderte er mit der Plötzlichkeit eines Krampfs nochmals rot glühende Lava gegen den Grabhügel. Zirrus Gutwind stürzte sich laut brüllend auf ihre Feinde. An ihrer Seite kämpfte Clyme nicht weniger verbissen. Graubrand blutete aus Schnittwunden an Armen und Beinen. Spätgeborene trug ähnliche Wunden. Kaltgischts Brustpanzer war von Speer- und Schwertspitzen zerschrammt; Keulen hatten Splitter von dem behauenen Stein abplatzen lassen. Linden kam fast zu spät, um den Grabhügel, in dem Anele sich verkrochen hatte, zu schützen. Im letzten Augenblick merkte sie jedoch, was Roger beabsichtigte. Wilde Aufregung klopfte in ihren Schläfen, als sie seinen Lavastrahl zur Seite lenkte. Er streifte das entfernte Ende des Hügels und ließ Felsbrocken und Steinsplitter auf die Höhlenschrate im Osten herabregnen, ohne jedoch die Felsen zu beschädigen, zwischen denen Anele kauerte. Der Alte schien zu kreischen, aber Linden hörte nur das wütende Gebrüll der Höhlenschrate und das bösartige Zischen von Rogers Angriff. Pahni und Bhapa, die allmählich zurückgehen mussten, zogen Covenant mal hierhin, mal dorthin, um Speeren, Wurfäxten und Steinwürfen auszuweichen. Selbst jetzt ließ er keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass er jemals aus seinen Erinnerungen zurückkehren würde. Trotzdem glaubte Linden zu spüren, wie Galts Hand sich fester um den Krill schloss. Nur von seinem Gesundheitssinn geleitet, stürzte Mähnenhüter Mahrtiir sich plötzlich den Hang hinunter, landete in Schlamm, rollte sich ab und prallte gegen die Beine von Höhlenschraten, die sich bemühten, auf dem glitschigen Boden Halt zu finden. Statt zu versuchen, einzelne Angreifer außer Gefecht zu setzen, setzte er die Füße ein, trat gegen Knöchel und Knie und kämpfte unterhalb ihrer Waffen darum, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auf dem von Blut und Eingeweiden glitschigen Hang war er damit unerwartet erfolgreich. Unter der
Eisenhand und ihren Gefährtinnen bildete sich eine schmale Schneise, als hätte er den Höhlenschraten die Füße abgeschlagen. Mahrtiir würde binnen kurzem tot sein, unter dem Gewicht fallender Körper erstickt, auch wenn keine Waffe ihn durchbohrte. Aber solange er lebte, verursachte er solches Chaos, dass zwei der Schwertmainnir anderswo eingesetzt werden konnten. Spätgeborene rannte schwer atmend los, um Zirrus Gutwind und Clyme zu unterstützen. Grobfaust, die ganz mit Blut bedeckt war, folgte Sturmvorbei Böen-Ende um den Grabhügel. Trotzdem erreichten immer mehr Höhlenschrate den lang gestreckten Grat. Jetzt brauchten sie sich nicht mehr hochzukämpfen. Auf zu Staub zertretenem Gips sammelten sie sich im Osten und Westen. Allein die Tatsache, dass der Grat ziemlich schmal war, hinderte sie daran, die Riesinnen sofort zu überwältigen. Gemeinsam mit Clyme kämpften Gutwind und Spätgeborene wie Berserker. Gewaltige Kraft und ihre jahrzehntelange Ausbildung bewirkten Verheerungen. Aber die Höhlenschrate waren zu zahlreich … Böen-Ende und Grobfaust, die hinter dem Grabhügel kämpften, konnte Linden nicht sehen; aber sie bezweifelte nicht, dass sie bald überwältigt werden würden. Branl brauchte nicht gebeten zu werden, dem Mähnenhüter beizustehen. Wie ein von einer Brustwehr geworfener Felsblock stürzte er sich über die Hangkante in das Getümmel um Mahrtiir. Stave würdigte Galt keines Blicks, bevor er losrannte, um Branls Platz bei Kaltgischt und Steinmangold, Graubrand und Rahnock einzunehmen. Schreie und Gekreisch mischten sich in den Schlachtgesang der Höhlenschrate … und trotzdem griffen sie weiter an. Von Angst um Jeremiah getrieben änderte Linden ihre Taktik. Statt Roger direkt anzugreifen, zielte sie jetzt tiefer. Mit einem schwarzen Feuerstrahl ließ sie den Höhlenschrat verglühen, der Covenants Sohn trug; verwandelte ihn augenblicklich in Asche. Und als Roger fluchend und mit den Armen rudernd zu Boden ging, richtete sie ihr Feuer wie einen Flammenwerfer auf die Höhlenschrate in seiner Umgebung. Bevor er sich aufrappeln konnte, waren alle verglüht, die ihn hätten beschützen können. Als sie sich dann wieder Roger zuwandte, stand er allein auf seinem Hügel: eine kleine Insel aus absoluter Wildheit über der
wogenden See aus Höhlenschraten und dem Gemetzel. Rahnock sank mit einer Streitaxt im rechten Oberschenkel auf ein Knie, während ihr Langschwert den Hals des Angreifers durchbohrte. Bevor weitere Höhlenschrate sie überwältigen konnten, riss Stave die Axt heraus, stürzte sich in den Kampf und hinterließ eine breite Spur aus abgehackten Gliedmaßen und eingeschlagenen Schädeln. Vor Schmerzen stöhnend zog Rahnock ihr Schwert heraus und humpelte mit der ebenfalls verletzten Frostherz Graubrand neben sich hinter Stave her. Gemeinsam säuberten die beiden Schwertmainnir und der ehemalige Meister eine etwa zimmergroße Fläche am blutbefleckten Rand des Grats. Dort kletterte Branl mit Mahrtiir auf dem Rücken über die Kante. Der Gedemütigte war über und über mit Blut bedeckt; Mahrtiirs Körper war von einem Netz aus Schnittwunden überzogen. Aber beide lebten. Kaltgischt schickte Onyx Steinmangold mit einer wortlosen Geste zu ihren hinter dem Grabhügel kämpfenden Gefährten. Die Eisenhand schien durch Schläge und Leichen zu waten; sie schwang ihr Breitschwert mit unverminderter Wucht, während sie Graubrand und Rahnock unterstützte. Im nächsten Augenblick, vielleicht im übernächsten, würden sie alle niedergemacht werden. Alle Riesinnen. Alle Haruchai außer Galt, dazu Mähnenhüter Mahrtiir. Außer Linden würde dann niemand mehr übrig sein, um Covenant und die Seilträger, Galt, Jeremiah oder Anele zu verteidigen. Bhapa und Pahni, die das voraussahen, machten sich daran, mit Covenant auf der Nordseite des Grats abzusteigen. Sie würden nicht weit kommen. Galt hielt sich doch sicher bereit, dem Croyel die Kehle durchzuschneiden, um sich mit dem Krill in den Kampf stürzen zu können? Linden konnte kaum glauben, dass er so lange abgewartet hatte. Nein!, nahm sie sich vor: ätzend wie Vitriol, bitter wie die Erde des Galgenbühls. Nein! Das lasse ich nicht zu! Die Sieben Worte kreischend verdoppelte sie ihren pechschwarzen Angriff auf Covenants Sohn. Von den eisenbeschlagenen Enden ihres Stabs loderten ihm Flammen entgegen, die so schwarz waren wie der Kern erloschener Sonnen. Zwischen den Eisenbändern flammten
Caerroil Wildholz’ Runen voller ungeahnter Möglichkeiten. Konnte sie Roger stoppen, ihn töten, würden die Höhlenschrate vielleicht aufgeben. Und Galt würde vielleicht darauf verzichten, Jeremiahs Tod herbeizuführen. Aber dann gab sie selbst auf. Vor Überraschung büßte sie ihre Konzentration ein, als sie spürte, wie Anele von dem Grabhügel herunterstieg. In einer Hand hielt er den Orkrest, der wie ein Mittel gegen Besessenheit leuchtete. Die Mondsteinaugen des Alten strahlten wie Sonnenschein, unterstrichen seine ererbte Erdkraft. Nein, Anele, tu das nicht! Er war bereits jedem Schlag, jedem Hieb ausgesetzt, den sie nicht abfangen konnte. Durch Waffenklirren und Schmerzensschreie hörte sie den Singsang, in dem der Alte seine Zwänge wiederholte. »Muss.« »Kann nicht.« Als er über die letzten Felsen hinunterstieg, sank sein »Kann nicht« jedoch zu einem Wimmern herab. Und das »Muss« wurde zu einem heiser gekrächzten Schrei. Von Osten und Westen kämpften sich Höhlenschrate weiter heran, als wäre eine Falle kurz davor zuzuschnappen. Zusätzliche Angreifer erreichten den Grat knapp außer Reichweite von Kaltgischts Breitschwert, von Graubrands und Rahnocks Langschwertern. Obwohl Stave und Branl effektiv mitkämpften, reichten drei Riesinnen nicht aus. Durch seine Wunden geschwächt konnte Mahrtiir nicht mehr stehen oder kämpfen. Im Westen mussten Gutwind, Spätgeborene und Clyme gegen ihren Willen zurückweichen. Steinmangold, Grobfaust und Böen-Ende tauchten in erbitterte Rückzugsgefechte verwickelt hinter dem Grabhügel auf. Sie alle genügten nicht. Linden blieb keine andere Wahl: Sie musste darauf verzichten, Roger Covenant zu erledigen. Ihr eigener Tod und der ihrer Gefährten stand unmittelbar bevor. Schnitt Galt dem Croyel jetzt die Kehle durch, kam sein Entschluss zu spät: Auch die rätselhaften Magien des Krill konnten nicht so viele Angreifer aufhalten. Tat er es jedoch nicht, würde auch er getötet werden, und das Scheusal würde mit Jeremiah entkommen. So oder so würde Covenant bald nach der übrigen Gesellschaft fallen.
Indem Linden die Sieben Wörter wie Flüche schrie, richtete sie den schwarzen Zorn ihres Stabs gegen die nächsten Höhlenschrate. Von ihrer Macht und Wildheit getroffen, gingen sie wie Spanholz in Flammen auf und taumelten als Sterbende laut schreiend davon. Aber während sie die ihr gefährlichsten Angreifer verglühen ließ, konnte sie nichts tun, um Roger zu behindern. Endlich konnte er auf jede beliebige Weise angreifen. Das tat er jedoch nicht. Statt dessen hielt er sich mit seiner Wildheit zurück. Mit in die Hüften gestemmten Armen auf seinem Hügel stehend schrie Roger seinen Triumph übers Schlachtfeld hinaus. Weitere Höhlenschrate drängten heran, wurden in Brand gesetzt und starben. Die bei ihrer Verbrennung entstehende Hitze versengte Linden fast die Augen. Sie nötigte die Riesinnen, Stave und die beiden Gedemütigten zum Rückzug, bei dem sie einen letzten Kordon um Linden und Galt, Jeremiah und den Croyel bildeten. Trotzdem wogte Rogers Heer weiter durch die brennenden Überreste ihrer Gefallenen vorwärts. Covenant und die Ramen mussten anscheinend als verloren abgeschrieben werden. Hell und rein leuchtend wie die Verkörperung von Zwang oder Verderben drängte Anele sich in die Mitte des Kordons. Während Linden dem Stab weiter einen Feuersturm entlockte, sagte er deutlich: »Dies ist der wahre Grund. Sunder mein Vater und Hollian meine Mutter haben mich gedrängt, es zu tun, aber ich bin mir meiner Bestimmung stets bewusst gewesen. Ich lebe nur noch, weil ich die letzte Hoffnung des Landes bin.« Seine Augen hatten genau Farbe und Helligkeit des Sonnensteins, als er vor Jeremiah hintrat. Er streckte beide Hände nach dem Kopf des Jungen aus. Mit einer hielt er den Orkrest umklammert; die andere blieb geöffnet, als wollte er Jeremiahs Wange streicheln. Von Kastenessen besessen hatte er sich Liand auf ähnliche Weise genähert. Diesmal war er bei Verstand. Die Wechselwirkung zwischen der Erdkraft des Orkrests und seiner ererbten Magie beschützte ihn. In den gelben Augen des Croyels glitzerte namenloses Entsetzen. Trotzdem machte Jeremiah keine Abwehrbewegung. Er glotzte Anele stumm an, verstand offenbar nichts. Wieder Erwarten berührte der Alte ihn jedoch nicht. Er wurde
unterbrochen. Völlig ohne Vorwarnung stürzte Esmer wie ein Meteor vom Himmel. Covenant hatte ihm vorgeworfen, Kastenessens Vermächtnis Cails Erbe vorzuziehen. Ihr werdet in der Tat verraten, hatte Esmer geantwortet, aber nicht von mir. Seine Ankunft ließ Lindens Macht verfliegen. Sie schien die Nerven ihrer Hände zu lähmen, sodass sie den Stab gefühllos umfassten. Brechreiz ließ ihre Magennerven rebellieren. Esmer war über und über mit schwärenden Wunden bedeckt. Stinkende Infektionen befleckten seinen Umhang, und seine Miene kündete von grässlichen Qualen. Schmerzen sprühten wie Gischt aus seinen Augen. Trotzdem brachte er Erschütterungen mit sich, die den Grat beben und Felsblöcke von dem Grabhügel rollen ließen. Erdstöße brachten die Riesinnen ins Wanken. Auch Linden hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Aufheulende Höhlenschrate wichen erschrocken zurück. Anele wurde beiseitegeschleudert. Er blieb wie ein Bündel Lumpen auf dem weißen Grat liegen. »Verwüstung!«, kreischte Esmer und schritt auf den Alten zu. Anele hielt verzweifelt den Sonnenstein hoch, konnte aber sonst nichts tun. Unaufhaltsam wie ein Wirbelsturm hob Esmer die Arme, als wollte er den Himmel aufreißen und Chaos auf die letzte Hoffnung des Landes herabregnen lassen. So plötzlich, wie Esmer erschienen war, materialisierten sich innerhalb des Kordons zwei Dutzend Urböse und Wegwahrer, als wären sie durch Esmers Gewalt heraufbeschworen worden. Seine Hände waren zu Fäusten geballt in den Himmel gereckt. Aber bevor er Ruin herabregnen lassen konnte, stürzte der Lehrenkundige sich auf seine Arme. Mit einem Ausbruch von Energie, der wie ein Donnerschlag über die Hügel hallte, ließ der Lehrenkundige eiserne Fesseln um Esmers Handgelenke zuschnappen. Im selben Augenblick verschwand Lindens Übelkeit. Esmers gesamte Macht verschwand schlagartig. Die Erschütterungen, die den Grat erbeben ließen, klangen rasch ab. Die gefesselten Hände sanken hilflos herab. Sie enthielten nichts, was Anele hätte gefährden können. Als Esmer auf die Knie sank, schluchzte er laut. Linden hörte aus seinem Schluchzen Erleichterung heraus: eine lange
ersehnte, nie gewährte Erlösung, die sich nicht in Worte fassen ließ. In der Ferne kreischte Roger wütend auf. Er machte sich sofort daran, einen Lavastrom zu erzeugen, der das Fleisch der Schwertmainnir zerfetzen und Lava ins Herz ihres letzten Abwehrrings hämmern würde. Die Höhlenschrate heulten zustimmend. Rogers Wut spornte sie wieder an. Ihre Waffen schwingend gingen sie erneut zum Angriff vor. Ihn würde es nicht kümmern, wie viele von ihnen fielen. Nun hatte Anele sich wieder aufgerappelt. Er drängte sich an Esmer vorbei und hastete auf Jeremiah zu. Seine Augen und der Orkrest leuchteten wie kleine Sonnen. Linden spürte, wie Rogers Macht sich ansammelte, als stünde ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Sie glaubte, Aneles Dringlichkeit und das Entsetzen des Croyels fast schmecken zu können. Und sie sah, mit welcher Anspannung Galts Hand das Heft des Krill umklammerte. Um sie herum formierten die Riesinnen sich zu einem letzten Abwehrkampf. Gleichzeitig bildeten die Dämondim-Abkömmlinge rasch einen Angriffskeil mit ihrem Lehrenkundigen an der Spitze. Aber sie konnte ihnen nicht helfen. Alles passierte viel zu schnell. Esmer in Handfesseln. Urböse, Wegwahrer, Anele. Die Hoffnung des Landes. Jeremiah passiv wie eine Marionette. Die kompakten Massen der Höhlenschrate. Roger Covenant. Der Schmuckstein des Krill begann grell zu leuchten, als Joan ihn mit wilder Magie erfüllte. Bald würde die Klinge heiß genug sein, um Galt die Hand zu verbrennen. Joan - oder der Wüterich Turiya - wollte, dass er den Dolch fallen ließ; wollte den Croyel befreien. Linden brauchte reichlich rohe Kraft, um alle Angriffe gleichzeitig abwehren zu können, und wusste nicht, wie sie sie aufbringen sollte. Sie hörte, wie um sie herum gekämpft wurde; spürte, wie der Keil aus Urbösen und Wegwahrern sein Lehrenwissen zu einem tödlichen Vitriolstrahl sammelte; fühlte Rogers verzweifelten Versuch, sie zwischen so vielen Leibern hindurch anzugreifen. Aber sie sah die Wurfaxt nicht, die, sich im Sonnenschein überschlagend, auf Anele zuflog. Galt sah sie. Und als Haruchai hatte er noch Zeit, über die Axt, den Druck der Höhlenschrate und die Verwundbarkeit der Gesellschaft nachzudenken. Er hatte Zeit, den Alten zu betrachten, dem er misstraute,
und seine Wahl zu treffen. Statt Jeremiah und den Croyel zur Seite zu ziehen - und statt dem Scheusal die Kehle durchzuschneiden, um seinen Gefährten mit Loriks Krill beistehen zu können -, warf er sich herum. Er kehrte der Wurfaxt blitzschnell den Rücken zu, ohne Jeremiah aus Aneles Reichweite zu bringen. Fast genauso schnell war Anele mit einem Satz vor dem Jungen. Die Axt war aus Feuerstein, schwer wie eine Steinkeule. Ihre schartige Schneide traf Galt zwischen den Schulterblättern und grub sich tief genug ein, um die kompromisslose Rechtschaffenheit seines Herzens zu zerschneiden. Blut und Leben spritzten aus der Wunde, nahmen jegliche Entschlossenheit mit sich. Als die Finger kraftlos wurden, rollte der Krill aus seinem Griff und fiel zu Boden. Dann sackte Galt in sich zusammen, als gäben alle seine Gelenke plötzlich nach. Einen Augenblick lang - nur für Bruchteile einer Sekunde - war der Croyel frei. Aber sein Fluchtversuch kam zu spät; oder er hatte seine Chance falsch eingeschätzt. Er klammerte sich weiter an Jeremiah. Statt sich zur Seite zu werfen, schlug er die Zähne in den Hals des Jungen, um wieder an seinen namenlosen Magien teilzuhaben. Zu spät. Zu langsam. Anele drückte bereits seine Hände und den Sonnenstein an die Seiten von Jeremiahs Kopf. Jetzt sorgte er dafür, dass sein Geburtsrecht sich in den Jungen ergoss, und benutzte den Orkrest als Trichter, um sein lange bewahrtes Erbe in Jeremiahs Leere fließen zu lassen. Dabei zerfiel der Sonnenstein in seiner Hand zu Staub. Er war den Kräften, die ihn durchströmten und aus ihm abflössen, nicht gewachsen. Trotzdem erfüllte er seinen Zweck. Unverfälscht reine Erdkraft lief wie ein Feuer durch Jeremiahs Adern. Sie durchdrang ihn jäh, erfüllte seine Brust, lief durch seinen Körper, leuchtete durch seine Haut. Und aus der Grabstätte seines Geistes gelangte durch das stetige Pochen seines Herzens die reiche Essenz von Gesundheit und Gesetz in den Rachen des Croyels. Verspätetes Erkennen füllte die Augen des Ungeheuers mit Entsetzen, als sein eigenes unreines Blut in Flammen aufging und verbrannte …
Roger und der Croyel schrien beide laut auf, als antworteten sie einander; als litten sie gemeinsam. Dann durchlohte eine Feuersbrust, auf die das Scheusal nicht gefasst war, es wie eine Feuerwalze trockenes Unterholz. Der Sukkubus auf Jeremias Rücken zerplatzte: von innen heraus durch Energien verzehrt, die er nicht unterdrücken, nicht mal eindämmen konnte. Blut und Eingeweide spritzten nach allen Seiten, dampften in der heißen Sonne und verletzten niemanden. Jeremiah stand weiter mit offenem Mund und trübem Blick da teilnahmslos wie eine leere Hülle seiner selbst. Trotzdem war jetzt nicht der Croyel frei, sondern er selbst. Das Ungeheuer, das ihn benutzt und gequält hatte, war vernichtet worden. Von Anele, der nach Luft ringend vor Jeremiahs Füßen lag. In dem Alten war kein Rest Erdkraft zurückgeblieben, der seinen Leib noch einmal hätte aufrichten können. Aber er war endlich wieder bei Verstand, lächelte. Linden wollte wie Esmer schluchzen; Jeremiah in die Arme schließen, bei dem sterbenden Anele niederknien. Aber dafür hatte sie keine Zeit.
6 Abschiednehmen
Um Linden und Jeremiah herum tobten wilde Kämpfe. Innerhalb des Kordons, der von Stave, Clyme, Branl und den Riesinnen gebildet wurde, lagen Galt tot und Anele sterbend in ihrer Nähe. Esmers Schluchzen war verstummt, als hätten die Handfesseln es wirkungslos gemacht. Die Urbösen und Wegwahrer hatten ihren Keil zwischen zwei Schwertmainnir hindurchgeschoben. Die letzten Überlebenden ihrer Rasse schleuderten flüssige Schwärze, um Lindens Gefährten vor Roger zu schützen. Die von ihrer dunklen Theurgie getroffenen Höhlenschrate brachen zusammen, um qualvoll zu verenden. Trotzdem würde der Kordon nicht mehr lange halten. Die Höhlenschrate waren zu zahlreich, und Rogers Lavaströme erschütterten den Grat immer wieder. Vor den Füßen ihrer Gefährtinnen lag Onyx Steinmangold, von einem Keulenschlag bewusstlos. Rahnock kämpfte auf ein Knie gesunken, weil ihr verwundetes Bein sie nicht mehr tragen konnte. Frostherz Graubrand, die durch einen Speerstoß verwundet war, tat es ihr gleich. Aber ihre Langschwerter erwiesen sich als immer weniger wirkungsvoll gegen die wilde Brutalität der Angreifer. Rüstig Grobfaust, die den rechten Arm nicht mehr bewegen konnte, musste ihr Schwert mit der Linken führen. Der Brustpanzer von Spätgeborener, der zu viele Treffer hatte einstecken müssen, hing zersplittert von ihren Schultern herab. Die Eisenhand, Zirrus Gutwind und Sturmvorbei Böen-Ende waren durch den Blutverlust aus vielen Wunden geschwächt; aber auch sie kämpften mit dem Mut der Verzweiflung weiter. Wie die Schwertmainnir waren die restlichen Haruchai schwer verwundet. Trotzdem kämpften sie weiter gegen ihre Feinde, als wären sie mächtig wie Riesinnen und unnachgiebig wie Granit. Sie zertrümmerten primitive Rüstungen mit Faustschlägen und Tritten, brachen Hälse und Gliedmaßen, schlugen Schädel ein - und konnten doch nicht siegen. Hätten die Urbösen und Wegwahrer nicht eingegriffen, wäre jeder
Haruchai, jede Riesin längst tot, in Rogers glühender Lava verbrannt gewesen. Ätzende Magien absorbierten jedoch einen Teil seiner Wut; lenkten einen weiteren Teil ab. Und er verschleuderte seine Macht wie ein Wahnsinniger, der für Nachdenken oder Sorgfalt zu verrückt war. Der Verlust des Croyels - und damit auch Jeremiahs - hatte ihn anscheinend durchdrehen lassen. Höhlenschrate, die ihm zufällig in die Quere kamen, verglühten. Seine Schreie echoten von allen Seiten, als wäre der Himmel ein Gewölbe, gestaltlos und versiegelt. Mahrtiir war an den Rand des Schlachtfelds gekrochen. Er konnte sich nicht mehr verteidigen, und Bhapa war der Einzige, der ihn noch beschützen konnte. Der ältere Seilträger hatte Covenant Pahni überlassen. Nun hielt Bhapa mit finster entschlossenem Blick und seiner Garotte in den Händen bei dem Mähnenhüter Wache. Aber im Mittelpunkt des Gemetzels stand Jeremiah genauso da wie zuvor, als er besessen gewesen war: schlaff und geistesabwesend, ohne einen Funken Bewusstsein in seinem trüben Blick; passiv wie ein Toter. Sein ganzer Körper pochte von Erdkraft, Aneles letztem Geschenk. Aber diese neue Stärke änderte nichts. Sie hatte seinen Verstand nicht wiederhergestellt. Sobald Roger alle anderen erledigt hatte, würde er Jagd auf Covenant machen; das stand für Linden fest. Lord Foul würde ihren Tod - und Covenants - als Sieg betrachten, auch wenn Roger vielleicht anders dachte. Covenants Sohn hatte den Croyel und Jeremiah gebraucht. Der Croyel kann das Talent deines Sohns nützen. Er wird uns eine Tür machen - ein Portal zur Ewigkeit. Er wird uns helfen, Götter zu werden. Diese Hoffnung hatte sich für Roger zerschlagen. Nun würde er auf den Verächter vertrauen müssen. Das alles war zu viel. Zu viel. Linden konnte es nicht ertragen. Alle ihre Freunde. Jeremiah und Covenant. Schon zuvor hatte sie sich hektisch und überwältigt gefühlt. Jetzt war sie vor Verzweiflung außer sich. Weil ihr keine andere Wahl blieb, verwandelte sie sich in den Galgenbühl: ein Fleisch gewordenes Schlachtfeld. Auch in Gips und Schlamm, in den er gefallen war, leuchtete Hoch-Lord Loriks Krill weiter. Sein Schmuckstein pulsierte im Takt von Joans Wahnsinn. Auch sie war eine rechtmäßige Weißgoldträgerin. Nur ihre
Depressionen und die Tatsache, dass der Wüterich Turiya sie beherrschte, schränkte ihren Zugang zu wilder Magie ein. Linden hatte genug von Zögern, von Lähmung, von Schwäche. Von Menschlichkeit. Sie ließ den Stab des Gesetzes absichtlich vor Jeremiahs Füße fallen. Dann streifte sie die Kette mit Covenants Ring über ihren Kopf. Indem sie die Halskette in der Faust behielt, steckte sie sich den Ring an den rechten Zeigefinger. Ohne weitere Vorbereitungen bückte sie sich, um den pulsierenden Schmuckstein des Krill mit Covenants Ehering zu berühren. Vor langer Zeit hatte sie beobachtet, wie er etwas Ähnliches tat, als er einen Auslöser oder Katalysator gebraucht hatte: eine Kraftquelle, die stärker als sein instinktives Zögern war. Aber sie war nicht zögerlich; jetzt nicht mehr. Und Esmers Einfluss blockierte sie nicht länger. Er würde sie nie mehr behindern. Aber sie hatte kein Recht darauf, Weißgold zu benutzen. Sie brauchte Hilfe. Sowie der Ring den Schmuckstein berührte, verwandelte sie sich in eine silbrige Flammensäule. Linden brauchte noch ein, zwei Herzschläge, um die ausgeliehene Kraft mit ihrem Gesundheitssinn zu erproben, damit sie sicher sein konnte, sie zu beherrschen. Dann verließ sie den einbrechenden Kordon ihrer Freunde, um Verderben in die Reihen der Feinde zu tragen, als wäre sie dafür geboren, Tod und Gemetzel zu verbreiten. Der Kampf war so rasch zu Ende, dass Linden selbst darüber erschrak. Während ihre Freunde und die Dämondim-Abkömmlinge - zu erstaunt, entsetzt oder verwundet, um zu reagieren - zusahen, mähte sie alle Höhlenschrate auf dem Grat nieder, ließ den Hügel zersplittern, auf dem Roger stand, und ließ flüssiges Feuer vom Himmel regnen. Als Überlebende zu flüchten versuchten, ließ Linden sie laufen. Aber sie hätte Roger zugesetzt, bis sie seinen letzten Tropfen Blut mit wilder Magie verdampft hatte, wenn er sich nicht erst hinter Hügeln versteckt und sich dann mit Lava geschützt hätte, während er auf den Schultern eines Höhlenschrats flüchtete. Als ihm die Flucht gelang, schrie auch Linden laut auf: ein Schrei aus ungezügelter wilder Magie, das den Verächter herauszufordern schien. Sie rief nach Liand, sie klagte um Anele, sie bejammerte die Schmerzen ihrer Gefährten, bis ihre Kräfte versagten. Dann wurde es endlich dunkel
um sie. Alle ihre Lasten fielen von ihr ab, und es gab keine Macht mehr, die sie verletzen konnte. Als Linden wieder zu Bewusstsein kam, saß sie an einen Felsblock am Fuß von Liands Grabhügel gelehnt. Irgendjemand musste sie dort hingesetzt haben. Musste ihr Covenants Ring wieder umgehängt, den Stab des Gesetzes quer über die Knie gelegt haben. Vermutlich Stave. Er stand jetzt über ihr und beobachtete sie, während Blut von seinen Fingerspitzen und dem Saum seines zerrissenen Kittels tropfte. Ihr ganzes Wesen entsetzte sich darüber, was sie getan hatte. Aber sie konnte es nicht mehr ungeschehen machen. »Du warst nicht lange bewusstlos, Linden«, antwortete der frühere Meister, bevor sie die Energie aufbrachte, ihn auszufragen. »Wir haben gerade erst damit begonnen, unsere Wunden zu zählen.« Seine Stimme klang eigenartig gepresst, war von Gefühlen heiser, die sie bei ihm nicht kannte. »Wärst du jedoch nicht aufgewacht, hätte ich dich geweckt. Wir sind dringend auf deine Hilfe angewiesen. Von uns allen haben nur der Zweifler, die Seilträger und dein Sohn keine schweren Verletzungen.« Dann machte er kehrt und ging davon, als könnte er ihren Anblick nicht länger ertragen. Weiter blutend gesellte er sich zu den Gestalten, die um Jeremiah, Galt, Anele und Esmer herum knieten oder lagen. Bei dem Gedanken an Anele versuchte Linden, auf die Beine zu kommen. Lebte er noch? Sie versuchte es und schaffte es nicht. Hätte sie stehen können, hätte sie Leichen gesehen. Hunderte. Tausende. Sie würde gezwungen sein, das Ergebnis ihres Akts der Verzweiflung zu betrachten. Als sie sich mit vor Erschöpfung verschwommenem Blick umsah, erkannte sie die schwarzen Gestalten von Urbösen und die grauen von Wegwahrern, die zwischen ihren Gefährten umherhuschten. Trotz des starken Blutgeruchs nahm sie undeutlich den Modergeruch von Vitrim wahr. Die Dämondim-Abkömmlinge versuchten also noch immer, ihnen zu helfen. Ihr modriges Getränk schien alles zu sein, was Mahrtiir und einige der Riesinnen noch am Leben erhielt. Soviel Linden beurteilen konnte, nützte Vitrim Anele nichts, obwohl er es nicht zurückwies. Und Esmer wies es leise, aber nicht spöttisch lachend zurück, als sei er darüber hinaus, irgendetwas zu sich zu nehmen.
Dass die Urbösen und Wegwahrer Esmer freundlich behandelten, war Linden nicht recht erklärlich. In ferner Vergangenheit hatten sie seine Handfesseln geschmiedet, weil sie diesen Tag vorausgesehen hatten. Seit Linden ihnen erstmals begegnet war, waren die Dämondim-Abkömmlinge ihr jedes Mal zur Hilfe gekommen, wenn Esmer sie bedroht hatte. Aber jetzt bewiesen sie ihm Mitgefühl? Jahrhunderte, sogar Jahrtausende lang hatten sie zu den gefürchtetsten Dienern des Verächters gehört… Linden schloss die Finger um das warme Holz ihres Stabs und versuchte erneut, sich hochzustemmen. Das leuchtende Silber von Caerroil Wildholz’ Runen war verschwunden. Sie waren wieder stumme magische Zeichen. Aber der Stab hatte die tiefe Schwärze ihres Feuers behalten. Sie konnte sich kein Feuer vorstellen, das ihn jemals wieder reinigen würde. Trotzdem blieb er der Stab des Gesetzes, ein Werkzeug von Erdkraft und Gesundheit. Als Linden ihn um etwas Kraft bat, gewährte er ihr seine vertrauten Gaben. Sie kam auf die Beine und stützte sich zitternd auf ihn, bis sie wieder sicher stand. Wohin sie auch blickte, war der Erdboden mit Blut und Unrat verschmutzt, mit abgehackten Gliedmaßen und verstümmelten Leichen übersät. Weggeworfene Waffen und zerspellte Rüstungen bedeckten den Grat. Wo das Hauptgemetzel stattgefunden hatte, war der weiche Gips so verfärbt, dass nur noch einzelne weiße Flecken auszumachen waren… Sie überlegte kurz, ob sie den Grat säubern sollte. Das wäre ihre nächste Aufgabe gewesen. Ein Scheiterhaufen für die Toten: irgendeine Form der Genugtuung für die verratenen Hügel. Aber dann spürte sie, wie Thomas Covenant mit kraftvollem Schritt aus Süden herankam, als hätte er vor, eine schwere Last aus Zorn und Tadel abzuladen. Gleichzeitig war unverkennbar, dass Anele näher an den letzten Abgrund seines Lebens heranglitt. Stürzte er hinein, würden andere ihm bald folgen und auch sie waren ihre Freunde. Wie Liand hatten sie ihr weit mehr gegeben, als sie jemals von ihr bekommen hatten. Indem Linden Avery die Schultern zurücknahm, um den stummen Vorwürfen der Toten zu begegnen, verließ sie den Grabhügel, um wieder so zu tun, als wäre sie eine Heilerin. Als Erstes ging sie zu Jeremiah. Mit einer Hand streichelte sie seine
schlaffe Wange - nur lange genug, um sich davon zu überzeugen, dass er weiter in seinem Inneren gefangen blieb. Diese Tatsache kränkte sie. Trotzdem war es eine Tatsache, dass er von dem Croyel befreit war … Wenigstens in diesem Punkt hatte das Versprechen seines wiederhergestellten Rennautos sich erfüllt. Obwohl die empfangene Erdkraft ihn mit Vitalität bereicherte, ließ er nicht erkennen, ob er diese neue Kraft nutzen konnte. Aber die von den Zähnen des Scheusals stammenden offenen Wunden an seinem Hals hatten schon zu verheilen begonnen. Linden schloss ihn kurz in die Arme. Sie hatte allzu lange ohne den einfachen Trost, ihn berühren zu dürfen, auskommen müssen. Dann während Covenant noch immer zu weit entfernt war, um über sie urteilen zu können - wandte sie sich den Leiden ihrer verwundeten Gefährten zu. Von den Riesinnen erwiderten nur Raureif Kaltgischt und Frostherz Graubrand Lindens bedauernden Blick. Sturmvorbei Böen-Ende kniete neben Rahnock, drückte beide Hände auf ihre Hüfte und versuchte, eine Blutung zum Stehen zu bringen. Trotz eigener Verletzungen nahm die einarmige Zirrus Gutwind bei Onyx Steinmangold eine Herzdruckmassage vor, als fürchtete sie, Steinmangold könnte sonst aufhören zu atmen. Steinmangolds Brustpanzer war dabei hinderlich, aber Gutwind besaß offenbar nicht mehr die Kraft, ihn ihr abzunehmen. Spätgeborene, die sich mühsam bewegte, als hätte sie Rippenbrüche, bemühte sich, Graubrands Bein über dem in ihrem Oberschenkel steckenden Speer abzubinden. Nach einem Blick zu Linden hinüber arbeitete Kaltgischt an Rüstig Grobfausts ausgerenktem rechtem Arm weiter. Von den Urbösen und Wegwahrern bekamen alle Vitrim, die es trinken konnten oder wollten. Durch ihr geheimnisvolles Mittel gestärkt hatte Mähnenhüter Mahrtiir sich so weit erholt, dass er Covenants Rückkehr stehend erwarten konnte. Und Bhapa stand neben ihm. Beide kehrten Linden den Rücken zu. Aber sie sah an ihrer steifen Haltung, an ihren verkrampften Schultern, dass sie sich darauf vorbereiteten, den Zorn des Zweiflers an ihrer Stelle zu ertragen. Sie hätte vielleicht versucht, etwas zu sagen, obwohl alle Worte, die sie kannte, wie weggebrannt waren. Aber Staves Anblick verschlug ihr die Sprache.
Er saß mit gespreizten Beinen in Schmutz und gerinnendem Blut: so unbeweglich, dass er kaum zu atmen schien. Mit beiden Händen hielt er Galt an seine Brust gedrückt. Die letzten Tropfen von Galts Lebensblut vermengten sich mit den roten Flecken auf seinem Kittel. Galts Hände waren vor Schmerzen verkrampft. Aber Stave sah den Toten in seinen Armen nicht an. Stattdessen betrachtete er den Landbruch, als sähe er mit dem Herzen an der hohen Felswand und dem Salva Gildenbourne und den Ebenen und Schwelgenstein vorbei zum Westlandgebirge hinüber. Aus seinen Augen quollen Tränen. Sie liefen über seine Wangen in die Schnittwunden, die sein Gesicht verunstalteten. Stave sah nicht zu Linden auf. Mit gebrochener Stimme erklärte er ihr oder der fernen Heimat der Haruchai: »Er ist mein Sohn. Er ist sich bis zuletzt treu geblieben.« Als wäre das Galts Grabinschrift. … es ist ihr Geburtsrecht… Ah, Stave. Linden wollte mit ihm weinen und konnte nicht. Dein Sohn? Das wusste ich nicht. Weder Galt noch er hatten ihre Verwandtschaft jemals auch nur angedeutet. Trotzdem war es Galt gewesen, der sich dafür entschieden hatte, sein Leben für Jeremiah zu opfern, damit Anele den Croyel austreiben konnte. So hatte Galt zuletzt doch auf seinen Vater gehört. Die übrigen Meister - alle Haruchai - waren stolz darauf, sich niemals Kummer anmerken zu lassen. Nicht jedoch Stave. Während seine Tränen flössen, sehnte Linden sich danach, bei ihm bleiben zu können. Wenigstens das war sie ihm schuldig. Für ihre Wahrnehmungsgabe waren die Wunden ihrer übrigen Freunde jedoch so hörbar wie Hilfeschreie. Sie konnte das Einsetzen potenziell tödlicher Infektionen, die sich verstärkenden brennenden Schmerzen förmlich spüren. Nicht einmal aus Dankbarkeit für Jeremiahs Rettung durfte sie Staves Kummer noch länger teilen. Zum Glück war keine der Riesinnen dem Tod so nahe wie Anele. Auch Clyme und Branl nicht, obwohl sie die Hilfe der Dämondim-Abkömmlinge zurückgewiesen hatten. Steinmangolds Herz schlug unter Gutwinds gleichmäßigem Druck wieder stetig weiter. Die Fetzen von Esmers Kleidung flatterten, als zerrten unsichtbare Winde an ihr, aber seine alten Wunden schienen ihn nicht zu stören. Als Linden die
Gesellschaft begutachtete, gelangte sie zu dem Schluss, die Schwertmainnir könnten noch etwas länger ohne sie auskommen. Auch wenn sie nicht bei Stave bleiben durfte, musste sie einige Augenblicke bei dem Alten verbringen, der sich für Jeremiah geopfert hatte. Anele lag nur wenige Schritte von den Riesinnen entfernt. Hatte ihn nicht jemand in Sicherheit geschleift, hatte der Alte es irgendwie geschafft, diese kleine Strecke während Lindens Ausbruch von wilder Magie kriechend zurückzulegen. Jetzt lag er mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken, starrte blicklos in den Himmel und atmete mühsam keuchend, als wäre seine Lunge mit Blut gefüllt. Seine Augen leuchteten nicht mehr im Widerschein des Orkrests; sie waren wieder trüb und blind. Trotzdem hatte er keine Angst. Linden kniete neben ihm nieder, versuchte seinen Namen zu sagen. Aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst. »Linden Avery«, keuchte der Alte mit blutigem Schaum vor den Lippen. Er musste ihre Gegenwart gespürt haben. »Auserwählte und Sonnenkundige. Empfange meinen Dank - und mein Lebewohl.« Sie umklammerte ihren Stab und bemühte sich, ihm Erdkraft zu entlocken. Aber Anele flüsterte heiser: »Tu das nicht. Nicht heilen. Nicht klagen. Meine Zeit ist abgelaufen. Ich war die Hoffnung des Landes. Nun habe ich diese Gabe weitergegeben. Ich bin meinem Erbe treu geblieben.« Seine Brust verkrampfte sich von kleinen Erstickungsanfällen, aber er kämpfte darum, weiterzusprechen. »Nun kann ich bei Sunder meinem Vater und Hollian meiner Mutter stehen, ohne mich schämen zu müssen. Zögerst du mein Ende hinaus, können sie meinen Geist erst später in die Arme schließen.« Linden gehorchte kummervoll. Es wäre unerträglich gewesen, Anele kein angemessenes Lebewohl zu entbieten. Nach einigen Augenblicken zwang sie sich dazu, ihm zu antworten. »Von Hoffnung verstehe ich nichts.« Ihr Herz war voller Finsternis. »Aber Sunder und Hollian sind bestimmt immer stolz auf dich gewesen sind. So stolz wie ich.« Ihre Stimme stockte. Sie hatte zu kämpfen, um weitersprechen zu können. »Du hättest Jeremiah einfach leiden lassen können, aber das hast du nicht getan. Du hast es nicht getan.« »So bin ich wieder ganz geworden«, seufzte Anele. Seine Stimme war ein heiseres Röcheln. »Ich bin zufrieden.«
Dann schloss er die Augen vor allem, was er verloren oder geopfert hatte. Sein Körper sank langsam in sich zusammen, bis er der Erde zu gehören schien. Es gibt keinen Tod, der nicht tief empfunden wird, Keinen Schmerz, der nicht durch Mark und Bein geht. Jetzt verstand Linden, wie notwendig sein Wahnsinn gewesen war. Ohne ihn - ohne diese Form der Tarnung - hätten Kastenessen oder Lord Foul entdecken können, dass Anele für ihre Absichten mit Jeremiah weit gefährlicher war als Liand oder der Orkrest. Sogar gefährlicher als Linden selbst. Dann hätte Kastenessen den Alten vielleicht bei erster Gelegenheit an der Grenze des Wanderns ermordet. Aller Kummer gleicht der endlosen Brandung des Meeres, Ihrem Brausen und Wogen, das keine Spuren hinterlässt, Sondern nur Sand statt zu Stein gewordener Ewigkeit. Wie schon bei Stave wäre Linden am liebsten einige Zeit bei Anele geblieben. Sie stand grenzenlos tief in seiner Schuld; er hatte mehr verdient als ihr schwaches Lob. Aber sie konnte nichts mehr für ihn tun, und die Not anderer verlangte Hilfe. Sie fühlte sich öde und blutbefleckt wie die Hügel, als sie mühsam aufstand, ihren Stab fest umklammerte und sich nach den Riesinnen umdrehte. Einige von ihnen waren kurz davor, sich zu Galt und Anele zu gesellen. Und Liand. Einer der Wegwahrer stand vor ihr, schnüffelte feucht, um ihre Witterung aufzunehmen. Das Wesen bot ihr einen kleinen Eisenbecher mit Vitrim an. Linden nahm ihn dankbar entgegen, leerte ihn mit drei unsicheren Schlucken. Als das scharfe Stärkungsmittel der Dämondim-Abkömmlinge ihre Nerven erreichte, entlockte sie ihrem Stab wieder Feuer: Flammen, die niemals dazu hätten dienen dürfen, Tod und Verderben zu verbreiten. Obwohl ihr Feuer schwarz war, bestand es weiter aus Erdkraft, verkörperte weiterhin das Gesetz. Indem Linden ihre Verzweiflung verdrängte, wandte sie sich den Schwertmainnir zu und nahm ihre fast
vergessene Tätigkeit als Heilerin auf. Dabei hörte oder spürte sie, wie Covenant den Hügel heraufkam. Er war von einer ihr vertrauten Aura von Wildheit umgeben, die aber noch nie zu solchem Blutvergießen wie heute geführt hatte. Pahni, die weiter mit Liands Tod und ihrem eigenen Kummer beschäftigt war, trottete benommen hinter Covenant her. Linden ignorierte ihn; überließ es Mahrtiir und Bhapa, ihn zu begrüßen oder aufzuhalten. Sie hatte die Riesinnen schon zu lange warten lassen. Ihr Gesundheitssinn registrierte rasch alle potenziell tödlichen Wunden, von denen manche schmerzhafter als andere waren. Dann hüllte sie Onyx Steinmangold in einen Kokon aus Erdkraft und Gesetz, um ihren Puls zu stabilisieren, während schwarze Flammen Heilkräfte in blutende Platzwunden und tiefe Schnitte, starke Prellungen und durchtrennte Muskeln und Sehnen massierten. Linden konnte Steinmangold jedoch nicht gründlich behandeln - noch nicht. Es gab zu viele weitere Verletzungen. Sobald sie Steinmangolds Zustand stabilisiert hatte, nickte sie Zirrus Gutwind aufmunternd zu und wandte sich ab, um Rahnocks verwundetes Bein in Flammen zu hüllen. Bevor Covenant die halbe Strecke zum Grat hinauf zurückgelegt hatte, rief Esmer leise: »Weißgoldträgerin. Ich muss bald fort. Dazu erbitte ich deine Erlaubnis. Willst du dir nicht die Zeit nehmen, mir zu bestätigen, dass ich endlich gerechtfertigt bin? Mit schlimmen Mitteln ist Gutes bewirkt worden.« Linden würdigte ihn keines Blickes. Als sie die schlimmsten Folgen von Rahnocks Wunde weggebrannt hatte, hüllte sie Spätgeborenes Oberkörper in schwarze Flammen, damit ihre gebrochenen Rippen weder Herz noch Lunge durchstießen. Erdkraft blieb Erdkraft. Lindens Gesundheitssinn ermöglichte ihr, trotz ihrer tief sitzenden Verbitterung Wunden zu säubern und zu heilen. Nebenbei zischte sie Esmer zu: »Du hast dich endlich für eine Seite entschieden - und Verrat gewählt.« Wären die Urbösen und Wegwahrer nicht gekommen … »Wie rechtfertigt dich das?« In ihrem befleckten Zustand fühlte jede versuchte Heilung sich mehr wie ein Akt der Gewalt an. Sobald Spätgeborene wieder leichter atmete, ging Linden zu Frostherz Graubrand weiter. Sorgfältig arbeitend verschloss sie zerrissene
Blutgefäße, damit Raureif Kaltgischt den Speer ohne großen Blutverlust herausziehen konnte. »Ich habe mich für nichts entschieden«, antwortete Esmer wie der seufzende Wind, der nur ihn berührte. »Auf Kastenessens Weisung habe ich mich bemüht, den Croyel zu erhalten. Deinetwegen habe ich mich zugleich bemüht, deinen Sohn zu erhalten. Wenn ich die Gaben des Jungen weiter einsperrte, würde ich dich verraten. Wenn ich ihn lebend in deiner Obhut beließe, würde ich Kastenessen verraten. So habe ich mich bemüht, meine Martern zu vervollkommnen.« Und Jeremiahs Qualen unter der Herrschaft des Croyels hätten angedauert! Linden begann erbittert um sich zu schlagen, drosch auf Kaltgischt Rauhreifs und Rüstig Grobfausts Wunden ein, als wollte sie sie bestrafen. Die Riesinnen ertrugen ihre Gewalt schweigend. Sie erduldeten Lindens rauen Beistand wie eine Caamora. »Aber bei einer Gelegenheit habe ich eine Entscheidung getroffen«, fuhr Esmer fort. »Indem ich die Urbösen und Wegwahrer samt ihren Handfesseln an diesen Ort geholt habe, habe ich mich gegen meinen Großvater gestellt. Willst du leugnen, dass ich für meine Taten gelitten habe?« Das klang, als wollte er Linden um Verzeihung bitten. Er kniete hilflos da, hatte flehentliche Bitten wie Regen in den Augen. Die Eisenfesseln an seinen Handgelenken verhinderten jeglichen Gebrauch seiner Macht. Linden, die aufgebracht und durcheinander war, bemühte sich um Selbstbeherrschung. Die Schwertmainnir hatten ihr Leben für sie eingesetzt. Für Jeremiah. Für Covenant. Sie verdienten, sanft geheilt, statt ausgepeitscht zu werden. Während sie darum kämpfte, ihr Herz zu dieser Aufgabe zu verpflichten, hüllte sie Sturmvorbei Böen-Ende rasch in Flammen. Dann kehrte sie zu ihrem Ausgangspunkt bei Onyx Steinmangold zurück, begann sorgfältiger zu arbeiten und strebte nun nach Vollständigkeit. Willst du leugnen, dass ich gelitten habe? Von Clyme und Branl gefolgt verließen Mahrtiir und Bhapa den Grat, um Covenant entgegenzugehen. Die beiden Gedemütigten waren so schwer verletzt, dass sie hinkten. Trotz ihrer Zähigkeit wirkten sie so schwach, als könnten sie jeden Augenblick der Länge nach hinschlagen.
Aber der Mähnenhüter - selbst schwer verletzt und nur durch Vitrim gestärkt - lehnte ihre Begleitung nicht ab. Sie hielten Covenant ungefähr ein Dutzend Schritte unterhalb des Grats auf, aber Linden konnte nicht hören, was sie sagten. Jedenfalls brachte es ihn dazu, stehen zu bleiben und ihnen zuzuhören. Obwohl sie sich auf Steinmangold konzentrieren musste, wollte sie Esmer fragen: Woher haben die Urbösen gewusst, was passieren würde? Woher hast du es gewusst? Aber eine andere Frage drängte sich vor. »Warum hat Lord Foul es auf Jeremiah abgesehen? Mit oder ohne den Croyel ist er nur ein Junge.« Verschlossen und unzugänglich. »Was verspricht der Verächter sich von ihm?« Wie eine ersterbende Brise flüsterte Esmer: »A-Jeroths Pläne sind mir verborgen. Ich weiß nur, dass er danach hungert, die Talente des Jungen nützen zu können. Vielleicht sieht er irgendeine obskure Gefahr. Oder vielleicht braucht er diese Talente, um seine Absichten verwirklichen zu können. Jedenfalls giert er danach, deinen Sohn zu besitzen. Solche Dinge kümmern Kastenessen nicht. Obwohl der Wüterich Moksha entsprechende Andeutungen macht, hört Kastenessen nicht auf ihn.« Roger wollte ein Portal zur Ewigkeit. Aber Linden war zu erschöpft, um diese Idee weiterzuverfolgen. Die nächste Verletzung, dann die übernächste erforderte ihre gesamte Konzentration. Auch Steinmangolds angeborene Zähigkeit würde zu ihrer Heilung beitragen, aber den größten Teil würde doch Linden leisten müssen … Plötzlich drang Covenants Stimme an ihr Ohr: ein Aufschrei, aus dem Wut oder Verzweiflung sprach. »Verdammt noch mal! Warum hat mich keiner geschlagen? Mir den Arm gebrochen? Irgendwas versucht? Ich hätte vielleicht helfen können!« »Wie?«, fragte Mahrtiir. Linden hörte ihn deutlich. »Du bist kein Krieger. Du besitzt keine Werkzeuge der Macht.« »Das weiß ich!« Covenant schrie fast. »Aber ich wäre eine verdammt gute Ablenkung gewesen.« Ruhiger fügte er hinzu: »Wenigstens hätte ich an Galts Stelle den Krill halten können. Dann würde er vielleicht noch leben.« Mit zusammengebissenen Zähnen beendete Linden die Versorgung Steinmangolds. Sie schloss einen Moment die Augen, rang um
Selbstbeherrschung. Dann richtete sie Erdkraft und Gesetz auf Zirrus Gutwind. Gutwind war nicht gefährdeter als die anderen Riesinnen. Sie war Linden nur näher. »Weißgoldträgerin.« Esmers Appell klang so schwach, als hätte er alle Hoffnung verloren. Trotzdem trug er sein Begehren erneut vor. »Ich kann diesen Zustand nicht länger ertragen. Das will ich auch gar nicht. Mit mir soll es ein Ende haben, wenn du es gewährst. Ich flehe dich weiter an, mir zu bestätigen, dass ich gerechtfertigt bin. Wenn du schon nicht Cails Stimme aus einer meiner anderen Taten heraushörst, willst du dann nicht eingestehen, dass das Kommen der Urbösen diesmal nützlich war. Ihre Hände haben mich ins Verderben gestürzt. Und die Befreiung deines Sohns ist ein Verrat an Kastenessen und a-Jeroth gleichermaßen.« Gequetschte Nerven. Aufgerissene Blutgefäße. Muskeln und Sehnen und Bänder angerissen oder durchtrennt. Überall Infektionen. Großflächige Prellungen. Schmerzhafte Blutergüsse. Alles von dem Gestank von Blut und Schmutz und sinnlosem Morden überlagert. Linden wünschte sich mehr Vitrim. Sonst würden die Bedürfnisse der Riesinnen ihre Kräfte übersteigen, fürchtete sie. Und sie hatte noch nichts für Stave oder Mahrtiir getan. Oder für die Gedemütigten. Mit mir soll es ein Ende haben … Mit vor Anstrengung heiserer Stimme erklärte Branl Covenant: »Wir haben es als unsere wichtigste Aufgabe gesehen, dich am Leben zu erhalten, Ur-Lord. Darin stimmen wir mit Linden Avery überein. Du bist unentbehrlich. Wir haben keinen Grund gesehen, dein Leben im Kampf aufs Spiel zu setzen.« »Wieso«, fragte Covenant scharf, »habt ihr dann nicht wenigstens Jeremiah an einen sicheren Ort gebracht?« Aber bevor die Meister darauf antworten konnten, knurrte er: »Nein, spart euch die Antwort. Ich weiß es schon. Ihr habt auf einen Grund gewartet, dem Croyel die Kehle durchschneiden zu können. Damit ihr oder Linden oder irgendwer den Krill benutzen konnte.« Eine Waffe, die Linden dazu befähigt hatte, die Schlange des Weltendes zu wecken. Als wollte er sich selbst geißeln, fuhr Branl fort: »Aber Galt hat sich von
Stave ebenso umstimmen lassen wie von Linden Avery.« Covenant ließ nicht locker. »Trotzdem ist dies teilweise eure Schuld.« Damit konnte er den Kampf oder Galts Tod oder die zahlreichen Wunden meinen. »Ich möchte, dass ihr einmal im Leben die Konsequenzen akzeptiert!« Diesmal sprach Clyme. Seine Stimme klang noch schwächer als die Branls, noch stockender. Durch Blutverlust und alte Empörung, durch den Ausgang einer alten Demütigung verbittert, die sein Volk nie vergessen hatte, fragte er: »Wann hätten die Haruchai sich je geweigert, den Preis für ihre Taten zu zahlen?« »Ich rede nicht von euren verdammten Taten«, knurrte Covenant. »Ich rede davon, sterblich zu sein. Nicht allem gewachsen zu sein… Das habt ihr jetzt davon. Ihr seid beide zu schwer verwundet. Ihr werdet euch von Linden heilen lassen. Das sind die Konsequenzen, die ihr akzeptieren müsst. Tut ihr es nicht, lasse ich euch bei Gott zurück.« Die Gedemütigten oder der Mähnenhüter schienen etwas so leise eingewandt zu haben, dass Linden es nicht hatte hören können. Aber sie hörte Covenant barsch antworten: »Das ist weniger schwer, als ihr vielleicht denkt. Ich brauche den Ranyhyn nur zu befehlen, euch nicht reiten zu lassen. Glaubt ja nicht, dass sie es nicht tun würden! Sie haben sich vor mir aufgebäumt, verdammt noch mal!« Linden zog Kraft aus seinem fehlgeleiteten Zorn. In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hatte sie gelernt, seinen Unmut zu lieben. Sie wusste, was er bedeutete: Betroffenheit und Mitgefühl, die sich als Vorwürfe tarnten. Und er war zurückgekommen - um des Landes willen, wenn auch nicht ihretwegen und um Jeremiahs willen. Falls er noch mal fiel, würde er den Weg zurückfinden. Sie verdankte ihr Leben den Haruchai. Weil Covenant darauf bestand, würden Clyme und Branl sich dazu überwinden, ihr Gelegenheit zu geben, einen Teil ihrer alten Schuld abzutragen. Nachdem sie Gutwinds Blutung zum Stehen gebracht und die letzten Spuren einer Infektion beseitigt hatte, nahm sie sich nicht die Zeit, die Dämondim-Abkömmlinge um etwas Vitrim zu bitten. Als sie sich Rahnock und Spätgeborener zuwandte, um ihre Wunden zu versorgen, stellte sie fest, dass sie Esmer jetzt antworten konnte. »Also gut.« Linden sprach, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Das
akzeptiere ich. Dass du die Urbösen hergebracht hast, sollte nicht nur ein Ausgleich sein. Sie waren ein Geschenk. Du hast Jeremiah gerettet, auch wenn du es nicht eigenhändig getan hast. Du hast seine Rettung ermöglicht.« Sie selbst hatte kläglich versagt. Und sie hatte gesehen, welchen Preis er für seine einzige wirkliche Entscheidung hatte zahlen müssen. In Erinnerung daran, was sie Elena verweigert hatte, fügte sie hinzu: »Aus meiner Sicht hast du praktisch ein Wunder vollbracht. Vielleicht reicht das aus, um alles Übrige zu kompensieren.« Esmer verzog das Gesicht; vielleicht versuchte er zu lächeln. »Dann gewähre mir ein Ende, Weißgoldträgerin.« Obwohl Linden entschlossen war, sich bei ihrer Heiltätigkeit nicht unterbrechen zu lassen, erstarrte sie jetzt. »Wie?« Mit einem einzigen Satz hatte Esmer wieder ihre ganze Verzweiflung geweckt. »Du kannst nicht…« Liand und Anele waren tot. Staves Sohn war tot. Sie hatte sie auf dem Gewissen. »Du kannst nicht erwarten, dass ich …« »Der Krill des Hoch-Lords liegt dort drüben.« Esmer nickte zu Jeremiah hinüber. »Er reicht aus, um mich zu töten. Du brauchst ihn mir nur ins Herz zu stoßen, damit ich Frieden finde.« Joans Wahn ließ den Schmuckstein nicht mehr pulsieren. Trotzdem leuchtete der Stein weiter, reagierte auf die ferne Theurgie ihres Rings. »Verdammt, Esmer!« Linden fluchte, um nicht zu jammern. Sie merkte, dass ihre Erdkraft schwächer wurde. Fast wäre ihr der Stab entglitten. »Du kannst mich nicht einfach auffordern, dich zu ermorden!« Nicht nachdem sie dieses Gemetzel verschuldet hatte … Untereinander schnatterten die Urbösen und Wegwahrer Unverständliches. Esmers Blick wurde vorwurfsvoll. »Dann muss ich bleiben, was ich bin eine leere Hülle -, bis die Schlange mich verschlingt.« Das ist nicht mein Problem!, wollte Linden protestieren. Zu viele weitere Wunden warteten darauf, von ihr versorgt zu werden. Alle ihre Gefährten … Sie hätte Cails Sohn einfach den Rücken zukehren sollen. Aber das konnte sie nicht. Sie hatte Tausende von Lebewesen abgeschlachtet. Er war der Einzige, der den Tod wirklich brauchte. »Linden Riesenfreundin …«, begann die Eisenhand wie stöhnend. Dann verstummte sie, weil ihr die Worte fehlten.
Stave schob plötzlich Galts Leiche zur Seite. Nachdem er seinen toten Sohn sanft auf die blutbefleckte Erde gelegt hatte, stand er auf und bückte sich nach Loriks Krill. Dann ging er mit dem Dolch in der Hand zu Esmer hinüber. Ohne das kleinste Zögern, den geringsten Zweifel erkennen zu lassen, stieß er Esmer den Dolch in den Rücken. Stave! Einen Augenblick lang waren Esmers Züge von Freude verklärt. Er hatte noch Zeit, einen dankbaren Blick gen Himmel zu schicken. Einen Herzschlag später verschwand er wie verblassender Rauch und ließ als einziges Zeichen dafür, dass er jemals existiert hatte, nur die Handfesseln zurück: Symbol und Auflösung seines unter Zwängen handelnden Wesens. Falls eine Spur seines Geists in der Luft zurückblieb, konnte Linden sie nicht sehen. Die Urbösen und Wegwahrer begannen wie auf ein Zeichen hin wild zu kläffen. Dann verstummten sie ebenso schlagartig wieder. Stave ließ den Dolch wütend oder angewidert fallen. Lindens verwirrtem Blick begegnete er völlig gelassen. »Das war kein Mord«, stellte er starr wie jeder seiner Stammesgenossen fest. »Das war ein Gnadenakt.« Nachdem er Linden gezeigt hatte, dass er bereit war, ihre Reaktion zu akzeptieren, wie immer sie auch ausfallen mochte, wandte er sich ab. Die Handfesseln blieben sekundenlang in dem Schlamm aus Blut und Gips liegen. Dann begannen sie zu verrosten. Der Zweck, für den sie geschmiedet worden waren, hatte sich erledigt. Jetzt schienen die Auswirkungen von Jahrtausenden das schwarze Eisen aufzulösen. Linden konnte zusehen, wie die rostigen letzten Überreste der Arbeit der Urbösen zerfielen. Bald waren sie nur noch ein weiterer Fleck auf dem dunkel gesprenkelten Weiß des Grats. Linden wünschte sich, auch sie könnte zu Rußflocken zusammensinken. Sie sehnte sich danach, Schluss machen zu können … Aber von ihr wurde erwartet, eine Heilerin zu sein, und sie hatte bereits Liands Tod zugelassen. Sie hatte ihrem Sohn nicht helfen können. In Andelain hatte sie Covenants kummervoller Tochter die einfachste Freundlichkeit verweigert. Auf diesem Grat hatte sie mehr Höhlenschrate niedergestreckt, als sie zählen konnte. Das Vermächtnis ihrer Eltern
hüllte ihre Seele wie ein Leichentuch ein. Aber sie konnte nicht vorgeben, fertig zu sein. Und Stave hatte ihr eine Last abgenommen. Sein Gnadenakt war ebenso für sie bestimmt gewesen wie für Esmer. Sie verstand seinen Abscheu. Kummervoll und wütend auf sich selbst entlockte Linden Avery ihrem Stab weitere schwarze Flammen und nahm ihre Arbeit wieder auf. Stave würde sie bald brauchen. Mahrtiir ebenfalls, jedoch weniger dringend. Aber die Schwertmainnir kamen zuerst - aus dem einfachen Grund, weil sie ihr näher waren. Sie hatte Frostherz Graubrands Verletzungen bis auf einige Schürfwunden behandelt und arbeitete tief in Rüstig Grobfausts verletztem Körper, als Covenant, der die Gedemütigten und die Ramen wie ein Gefolge hinter sich herzog, den Grat erreichte. Sein kraftvoller Auftritt ließ Linden jäh innehalten. Ihr Mund war plötzlich trocken; der Blutgeruch in der Luft verschlug ihr den Atem. In ihrem Bemühen, sich daran zu erinnern, dass sie einst eine Ärztin gewesen war, hatte sie vergessen, wie viel er ihr bedeutete - und wie sehr sie fürchtete, von ihm getadelt zu werden. Außer den Seilträgern war sie die Einzige aus der Gesellschaft, die keine Spuren ihrer Taten trug. Selbst Jeremiah war mit Galts und zuvor mit Liands - Blut bespritzt worden. Wie konnte Covenant sie betrachten, ohne Widerwillen zu empfinden? Trotzdem verdrängte ihre Erleichterung darüber, dass Covenant unversehrt war, diese Befürchtung. Und als er ihren Blick erwiderte, sah sie, dass sein Zorn verraucht war. Er hatte ihn an den Gedemütigten ausgelassen. Jetzt wirkte er beschämt, als hätte er sie und alle anderen im Stich gelassen. In seinem Blick lag eine Art moralischer Übelkeit, die sich jedoch nicht gegen sie richtete. Die durch seine Silbermähne hervorgehobene Narbe auf seiner Stirn suggerierte einen Instinkt für Selbstvorwürfe, der im Lauf der Zeit verblasst, aber nie ganz verheilt war. Darin war er ihr ähnlich. Den Unterschied zwischen ihnen machte der Galgenbühl aus. Und Sie, die nicht genannt werden darf, und zügelloses Morden. Wo das Schicksal der Erde auf dem Spiel stand, hätte Thomas Covenant nicht wie sie gehandelt. Er hätte irgendeine andere Lösung
gefunden. »Tut mir leid«, sagte er mit gepresster Stimme, als hätte nicht Linden, sondern er Grund, Vorwürfe zu fürchten. »Ich habe mich zu lange im Bogen aufgehalten. Ich kann mich nicht gegen wilde Magie verteidigen.« Er deutete mit einer Hand auf den Krill. »Joan kann mich gewissermaßen aus der Ferne steuern. Diesmal hat sie mich zurückgebracht. Ich soll dort sein, wo ich verwundet werden kann. Aber vorher …« Er zuckte zusammen. »Vielleicht hat sie mich niedergehalten. Oder ich weiß einfach nicht, wie ich aus meinen Erinnerungen herauskommen kann.« Die Riesinnen musterten ihn ernst. Mahrtiir betrachtete Covenant durch eine antrocknende Blutkruste. Bhapa begutachtete das Schlachtfeld kummervoll. Pahni sah sich um, als hätte sie sich in ein Ödland verwandelt; als wäre alles Leben in ihren Augen erstorben. Einen Augenblick lang herrschte allgemeines Schweigen. Die Dämondim-Abkömmlinge standen unbeweglich da, als salutierten sie. Dann fand Raureif Kaltgischt ihre Stimme wieder. »Dennoch lebst du, Zeitenherr.« Trotz ihrer Schmerzen sprach sie sehr präzise - wie eine Frau, die ihr Breitschwert mit einem Wetzstein schärft. »Mehr war nicht nötig. Linden Riesenfreundin hat genügt.« Covenants Blick glitt über die Anwesenden. Schroff erwiderte er: »Das sehe ich. Ich hätte geglaubt, dies alles …« Seine Kopfbewegung bezeichnete das Schlachtfeld. »..-. sei unmöglich. Kastenessen und Roger, die arme Joan und selbst Lord Foul müssen sich jetzt die Haare raufen.« Mit dieser einfachen Feststellung schien er einen Sieg zu würdigen, der Linden entsetzte. Dann schüttelte er sich, fuhr sich mit seinen Fingerstummeln durchs Haar, runzelte bedauernd die Stirn. »Leider können wir es uns nicht leisten, hier auf einen weiteren Angriff zu warten.« Zu dem Lehrenkundigen sagte er: »Ihr bleibt hoffentlich noch eine Weile bei uns. Ihr habt schon praktisch alles gerettet, was zu retten war. Aber Linden braucht mehr Vitrim. Das brauchen wir alle. Und wir haben Fragen, die ihr wenigstens zu beantworten versuchen könntet.« Der Lehrenkundige nickte nur. Darauf begannen Wegwahrer, die Runde durch die Gesellschaft zu machen und allen ihre eisernen Becher
anzubieten. In der Hoffnung, irgendwann wieder frei atmen zu können, ließ auch Linden sich einen Becher geben. Aber statt ihn zu leeren, beobachtete sie weiter jede Bewegung Covenants, hing weiter an seinen Lippen. Er hatte recht: Sie brauchte Nahrung. Sie fühlte sich so schwach, dass sie kaum stehen konnte. Aber sie brauchte noch etwas anderes von ihm. Etwas Persönlicheres als seine Bereitschaft, über das von ihr angerichtete Gemetzel hinwegzusehen. Im nächsten Augenblick sprach er sie direkt an. »Du musst weiterarbeiten, Linden. Du bist nach wie vor die Einzige, die das kann. Wenn du mit den Riesinnen fertig bist, braucht Stave dich. Mahrtiir braucht dich. Auch die Gedemütigten werden sich von dir behandeln lassen.« Sein Tonfall wurde schärfer. »Das will ich ihnen geraten haben!« Seufzend fügte Covenant hinzu: »Wir sind die Letzten unserer Art. Wir können es uns nicht leisten, noch jemanden zu verlieren.« Nun wich er Lindens Blick aus. Stirnrunzelnd trat er auf den Krill zu. »Darauf habe ich lange gewartet.« Er bückte sich, um den Dolch aufzuheben, zögerte dann jedoch. Der Schmuckstein pulsierte nicht mehr. Stattdessen sandte er ein stetiges Licht aus, das im Sonnenschein blass wirkte. Joans Konzentration war gestört; sie war zu schwach, um eine bestimmte Absicht zu verfolgen. Aber sie - oder Turiya Herem - würde sofort spüren, wenn er Loriks Waffe in die Hand nahm. Vielleicht würde Joan dann erneut zuschlagen. Covenant war schon einmal schwer geschädigt worden. Er sah sich zögernd nach irgendeiner Art Schutz um. Aber er schien davor zurückzuschrecken, den gefallenen Höhlenschraten ein Stück Stoff oder Leder abzunehmen. Endlich zwang er sich dazu, sich Aneles Leiche zu nähern. Durch Verlegenheit und gefühllose Finger behindert riss er Stoffstreifen von dem vielfach geflickten Kittel des Alten. Das Kleidungsstück war zerrissen und schmutzig, durch viele Jahrzehnte von Vernachlässigung und Entbehrungen befleckt, aber noch immer sauberer als alles, was die Höhlenschrate trugen. Covenant hatte das Gefühl, das Opfer des Alten zu entwerten, als er genügend Stoff abriss, um den Griff des Krill zu umwickeln und seine Hände zu schützen: Aneles letztes Geschenk, das
er ohne die Einwilligung des Alten an sich nahm. Damit machte Covenant sich auf den Weg, um Lorik Übelzwingers Meisterwerk aufzuheben. Linden hob schockiert ihren Becher mit Vitrim an die Lippen und trank. Sie brauchte … Oh, sie hatte viele Bedürfnisse. Covenants Verhalten empörte sie. Es erschien ihr uncharakteristisch gefühllos. Und trotzdem wusste sie nicht, was er sonst hätte tun sollen. Dass er gefühllos sein konnte, hatte er bewiesen, als er sie aufgefordert hatte, ihn nicht anzufassen. Sobald die grau braune Flüssigkeit ihrem erschöpften Körper neue Vitalität schenkte, gab sie dem Wegwahrer den Eisenbecher zurück und entlockte ihrem Stab wieder schwarzes Feuer. Während Linden die Heilung Grobfausts abschloss, sprach Raureif Kaltgischt mit ihren Gefährtinnen. Die Eisenhand war sichtlich erschöpft; aber ihre Stimme war klar, auf Granit gegründet. »Sammelt unsere Vorräte ein«, wies sie die wiederhergestellten Schwertmainnir an. »Bringt sie zum Bach hinunter. Covenant Zeitenherr sieht ein Bedürfnis nach Eile. Trotzdem müssen wir uns waschen und etwas essen. Wir wollen uns am Bach versammeln, um zu trinken und zu baden und über unseren Kurs zu beraten. Und wenn diese tapferen Urbösen und Wegwahrer uns begleiten, sind sie vielleicht auch bereit, uns zu antworten oder zu beraten.« »Aye«, bestätigten Frostherz Graubrand und Onyx Steinmangold wie aus einem Mund. Von Erschöpfung und frisch verheilten Wunden steif humpelten sie bergab, um die Vorratsbündel einzusammeln. Mähnenhüter Mahrtiir, der aus zahlreichen Wunden blutete, konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Trotzdem behielt er seine Autorität. Auf Bhapa gestützt wies er Pahni an, Jeremiah mitzunehmen und den Riesinnen zu folgen. »Bereite eine Mahlzeit für sie und uns zu«, sagte er, »während sie trinken und sich waschen und ausruhen.« Die junge Frau gehorchte sofort, ohne irgendeine Gefühlsregung erkennen zu lassen. Sie ergriff Jeremiahs Hand und zog den teilnahmslos passiven Jungen mit sich. Covenant, der den eingewickelten Krill in den Hosenbund seiner Jeans gesteckt hatte, folgte ihr sofort. Branl und Clyme wollten sich ihm anschließen, aber Covenant knurrte: »Ich habe euch gewarnt!«, und die beiden blieben stehen. Linden billigte die Anweisung des Mähnenhüters und Pahnis Gehorsam.
Sie wünschte sich, ihr Sohn hätte solches Gemetzel niemals mit ansehen müssen. Auch sie würde leichter atmen, wenn ihr kein Blutgeruch mehr in die Nase stieg. Aber Covenants Verhalten empfand sie weiter als kränkend. Er achtete noch immer auf Abstand zu ihr… Zum Glück waren weder bei Raureif Kaltgischt noch Sturmvorbei Böen-Ende Arterien oder lebenswichtige Organe verletzt. Und sie hatten nichts von der Wucht von Rogers wilden Lavaströmen abbekommen. Ihnen drohten die schlimmsten Gefahren von Infektionen und der Vielzahl erlittener Wunden. So war Linden mit ihnen viel schneller fertig als mit den anderen Riesinnen. Sobald Linden mit ihrer Verfassung zufrieden war, wandte sie sich Mahrtiir zu. Stave, Branl und Clyme ließ sie nur deshalb noch warten, weil sie als Haruchai abgehärteter und belastbarer als jeder Ramen waren. Während Linden Mahrtiirs zahlreiche Schnittwunden behandelte, die größtenteils von schmutzigen Waffen infiziert waren, stiegen Kaltgischts Gefährtinnen zum Bach ab, bis nur noch die Eisenhand zurückblieb. Sie sah sich nach etwas um, mit dem sie ihr Breitschwert säubern konnte. Dann ließ sie das Steinschwert Riesen-Flüche murmelnd fallen. Trotz ihrer langen Anstrengungen und dem Stress verheilender Wunden ging sie zu den Felsblöcken, die von Liands Grabhügel gerollt waren, und machte sich daran, sie neu anzuordnen. So mühte Raureif Kaltgischt sich allein ab, einen kleineren Grabhügel für Anele aufzuhäufen. Ich bin meinem Erbe treu geblieben. In seinem Wahnsinn hatte Anele mehr gelitten, als Linden sich auch nur vorstellen konnte. Sie schien ihre Fähigkeit zu verlieren, zwischen Trauer und Versagen zu unterscheiden. »Das genügt, Ring-Than.« Mahrtiirs Aussage widersprach seiner Verfassung, denn er blutete weiterhin aus mehreren Wunden. Trotzdem trat er einen Schritt zurück, um zu zeigen, er brauche keine weitere Behandlung. »Stave hat seinen Sohn verloren, damit deiner am Leben bleibt. Und meine Angst um die Gedemütigten ist größer als mein Misstrauen. Auch sehend und gesund hätte ich keinen Dienst wie ihren leisten können.« Seine Stimme klang jetzt niedergeschlagen. »Selbst
gedemütigt, wenn auch auf andere Weise, erbitte ich deine Hilfe für sie.« Linden ließ ihr Feuer erlöschen. Diesem Appell konnte sie sich nicht verschließen. Aber zuvor umarmte sie Mahrtiir, drückte ihn an sich, wie sie es bei Covenant nicht tun konnte, und akzeptierte die Verantwortung für sein Blut auf ihrer Haut und ihrer Kleidung. Dann ging sie davon, um Staves schwerere Verletzungen zu heilen. Die Urbösen und Wegwahrer blieben, wo sie waren. Nachdem sie ihre Becher weggesteckt hatten, schienen sie Linden mit Nasen und Ohren zu studieren, als warteten sie auf sie. Ruhig, aber bestimmt schickte Mahrtiir auch Bhapa zum Bach hinunter. Der Mähnenhüter selbst blieb jedoch auf dem Grat zurück. Für diese Aufgabe war Linden nicht tapfer genug. Wie Anele und Liand hatte Stave ihretwegen zu viel geopfert. Sie hätte sich denken können, dass seine Vaterliebe stark sein würde. … wie ein Feuer in uns, das in der Tiefe brennt. Aber nichts bereitete auf den Anblick eines Haruchais mit Tränen in den Augen vor … Er hatte Esmer ohne zu zögern ermordet. Trotzdem floss sein Leben trotz seiner übermenschlichen Zähigkeit aus ihm. Griff sie nicht ein, würde er letztlich verbluten. Linden blieb in dem blutigen Schlamm auf ihren Stab gestützt vor ihm stehen. Mit ihrem Gesundheitssinn begutachtete sie sein verletztes Gesicht, die blutenden Schultern, seine mit Wunden übersäten Arme und den blutenden Oberkörper. Als Stave ihren Blick erwiderte, senkte sie den Kopf. »Hilft es dir«, fragte sie mit dünner Stimme, »wenn ich sage, dass es mir leidtut? Stave, es tut mir schrecklich leid. Ich habe diese Axt nicht kommen gesehen. Sonst hätte ich …« Linden beherrschte sich mühsam. Sie hatte sagen wollen, sie hätte versucht, sie aufzuhalten. Aber Stave hatte Ehrlichkeit verdient. Widerstrebend gestand sie ein: »Ich hätte darum gebetet, dass Galt so reagiert, wie er es getan hat. Aber es tut mir trotzdem leid. Ich wollte nicht, dass er stirbt. Ich bedaure alles, was dir zugestoßen ist.« Um ihretwillen war er von den Meistern ausgestoßen worden. »Ich würde nichts ändern wollen«, beteuerte sie, während seine Verletzungen stumm protestierten. »Erstmals seit Roger ihn entführt hat, muss Jeremiah nicht mehr leiden. Wer weiß, vielleicht hat er sogar eine
Chance, wieder aus sich herauszukommen.« Und Covenant lebte, auch wenn er ihre Liebe jetzt zurückwies. »Aber ich wollte …« Stave unterbrach sie. »Lass das, Linden.« Seine Stimme war kaum lauter als ein Seufzen; trotzdem brachte sie Linden zum Schweigen. »Wünsche dir nichts. Bedaure nichts. Hat deine lange Bekanntschaft mit Haruchai dich nicht gelehrt, dass mein Stolz auf meinen Sohn ebenso groß ist wie meine Trauer um ihn?« Darauf wusste Linden keine andere Antwort als die Kraft ihres Stabs. Sie hatte auf dem Galgenbühl gestanden, war zu einer Inkarnation dieses Hügels geworden: unfruchtbar und bitter. Sie hatte sich Elena in Andelain verweigert und war der nicht wiedergutzumachenden Wildheit und dem Leid von Ihr, die nicht genannt werden darf, erlegen. Ihre einzige Antwort waren schwarze Flammen. Linden verfolgte, wie seine Wunden sich schlossen, als sie sich um sie kümmerte, und achtete darauf, keine verborgenen Schäden, keinen Infektionsherd zu übersehen. Gleichzeitig brannte sie auch Blut und Schmutz von seiner Haut und versuchte zu glauben, damit genug getan zu haben. Als sie fertig war, wandte sie sich wie weinend ab, obwohl ihre Augen trocken, so tränenlos wie die sie umgebende Landschaft war. Jetzt sah sie, warum Mahrtiir nicht schon gegangen war. Trotz seines geschwächten Zustands versuchte er, der Eisenhand zu helfen. Im Vergleich zu ihrer glich seine restliche Kraft der eines Kindes. Trotzdem räumte er kleinere Steine weg, um ihr die Arbeit zu erleichtern, stabilisierte Felsblöcke, die sie heben wollte, und richtete Aneles Gliedmaßen aus, bevor sie mit Felsen bedeckt wurden. Raureif Kaltgischt war nicht mehr allein. Während Linden zusah, ohne eine Hand rühren zu können, erhob Stave sich mit Galt auf den Armen. Er stapfte schweigend zu Kaltgischt und Mahrtiir hinüber, legte seinen Sohn neben Anele ab und begann dann ebenfalls, der Eisenhand zu helfen. Mit der für Haruchai typischen Hartnäckigkeit und Sturheit trug er seinen Teil zu dem neuen Grabhügel bei. Verdammt noch mal!, dachte Linden. Zum Teufel mit ihnen. Sie hatten Besseres verdient. Die Schlange des Weltendes war hierher unterwegs. Sie würde sie alle verschlingen. Trotzdem bestanden sie darauf, sich
selbst treu zu bleiben. Voller Bedauern für ihre Freunde zwang Linden Avery sich dazu, sich der Herausforderung der Gedemütigten zu stellen. Clyme und Branl standen wie bröckelnde Denkmäler da. Als Linden sich ihnen zuwandte, behauptete Clyme mit Grabesstimme: »Wir brauchen deine Hilfe nicht.« Er war einem Zusammenbruch, seinem Tod, dem Weltuntergang nahe, aber weder Branl noch er wirkten im Geringsten ängstlich. Ihre offensichtlichen Schmerzen brachten Linden gegen sie auf. »Ja, ich weiß«, antwortete sie scharf. »Ihr wärt lieber tot. Dann brauchtet ihr keine weiteren Widersprüche aufzulösen. Aber Covenant braucht euch, also haltet gefälligst die Klappe. Entzieht euch mir oder lasst mich arbeiten.« Keiner der beiden erhob eine Hand gegen sie, als Linden sie mit Flammen erfüllte, als wären Erdkraft und Gesetz ihr einziges Ventil für Zorn und Scham, die Triebfedern ihrer Verzweiflung. Als Linden dann endlich zum Bach abstieg, folgten die Urbösen und Wegwahrer ihr: ein Zug aus rauen Wesen, die besser auf allen vieren laufen statt auf zwei Beinen gehen konnten. In der Verlorenen Tiefe waren zwei Drittel von ihnen umgekommen. Aber die meisten Wunden der Überlebenden waren schon geheilt, so groß war die Heilkraft ihres unheimlichen Lehrenwissens. Vor Linden schritten Clyde und Branl aus, als wären sie nie verletzt gewesen, als hätten sie nie an sich selbst gezweifelt. Obwohl ihre zerfetzte Kleidung und die vielen frischen Narben ihre Selbstsicherheit Lügen straften, hielten sie den Kopf hoch und sahen sich wie unnachgiebige Männer um. Als die Gedemütigten sich dem Sandstreifen näherten, auf dem Covenant mit zunehmend finsterer Miene auf und ab marschierte, verbeugten sie sich, als hätte er ihre Rechtschaffenheit als Haruchai niemals kompromittiert. Dann trennten sie sich, um die nächsten Hügel zu besteigen und dort wieder über die Gesellschaft zu wachen. Linden sah mit einem Blick, dass die Schwertmainnir gebadet und gegessen hatten. Ihre abgespülten Rüstungen trockneten in der Sonne, und die Riesinnen waren sichtbar stärker. Zwischen ihnen sitzend kaute Jeremiah nachdenklich auf einem Stück Trockenfleisch herum. In
Abwesenheit seiner Mutter hatte Pahni oder Bhapa sich um ihn gekümmert. Trotzdem blieb sein trüber Blick leer, teilnahmslos, ein Wall gegen mögliche Verletzungen von außen. »Linden …«, begann Covenant, dann verstummte er. Widerstreitende Gefühle schienen ihm die Stimme zu rauben. Seine Kiefermuskeln traten hervor, als er damit kämpfte, was er empfand, aber er sagte nichts außer ihrem Namen. Ohne seinen zwiespältigen Blick zu erwidern, nickte Linden den beunruhigt wirkenden Riesinnen, dem besorgten Bhapa und der benommen wirkenden Pahni zu. Vor Erschöpfung und zu vielen Anforderungen heiser erklärte sie ihnen: »Kaltgischt baut einen Grabhügel für Anele und Galt. Mahrtiir und Stave helfen ihr dabei. Sie müssten bald nachkommen.« Selbst ihre Kraft und Entschlossenheit konnte nicht mehr lange vorhalten. Dann ging sie an ihren Gefährten vorbei weiter. Am Bachufer ließ sie den Stab fallen, als verkörperte er mehr Verantwortung, als sie tragen konnte. Mit leeren Händen watete sie in den Bach hinaus, bis das Wasser ihr von oben in die Stiefel lief, ihre Knie erreichte, ihr bis zur Taille reichte. Als es tief genug war, tauchte sie unter. Wie ein kleines Kind hoffte sie wider alle Vernunft, das Wasser werde frisch und reinigend wie das des Sees Glimmermeere sein. Aber sie konnte nicht abwaschen, was sie gesehen und getan und gefühlt hatte. Die Finsternis in ihr ließ sich nicht aufhellen. Kein wegen der Schneeschmelze Hochwasser führender Bach konnte sie verwässern. Wie die Heilkraft, mit der sie die Verletzten behandelt hatte, konnte ein bloßer Bach ihre Sünden nicht wegspülen. In Andelain hatte Bereks Geist über Lord Foul gesagt: Er kann nur von jemandem befreit werden, der von Wut getrieben keine Rücksicht auf die Konsequenzen nimmt. Seit damals hatte sie sich als gutes Werkzeug erwiesen. Wäre Jeremiah nicht vor dem Croyel gerettet worden … Aber ihr Sohn war befreit worden. Konnte der sanfte Druck der Strömung ihr Herz nicht beschwichtigen, wusste sie andere Antworten. Verzweiflung hatte sie jahrlang studiert: Als Ärztin kannte sie sich damit aus. Außerdem konnte sie weiter hoffen, Jeremiah werde es im Lauf der Zeit gelingen, aus seinen Gräbern aufzuerstehen. Und die nicht
vorhersagbare Wirkung von Covenants Instinkt für Erlösung konnte die Lektion, die Linden auf dem Galgenbühl gelernt hatte, irgendwie ebenso kompensieren wie das Leid, das sie mit Ihr, die nicht genannt werden darf, geteilt hatte. Unter Wasser spülte sie ihr Haar und bemühte sich, Staub und Jammer von Gesicht und Armen zu waschen. Allmählich wurde sie ruhiger. Als sie wieder auftauchte und sich Wasser aus den Augen wischte, konnte sie die besorgten Blicke ihrer Gefährten erwidern, ohne zusammenzuzucken. Klatschnass und froh darüber stieg sie aus dem Wasser, um ihren Stab und ihre übrigen Lasten wieder aufzunehmen. Als sie näher kam, bot Bhapa ihr Essen an: Brot, das noch keine Zeit gehabt hatte, hart zu werden, Trauben, etwas Käse und Schinken. Er brachte auch einen vollen Wasserschlauch mit. Sie dankte ihm für seine Fürsorge, setzte sich und begann zu essen. Linden war hungriger, als sie für möglich gehalten hätte. Trotz allem, was sie erschreckt oder entsetzt hatte, vergaß der Körper seine eigenen Bedürfnisse nicht. Covenant blieb stehen, um sie zu beobachten. Sie spürte, dass seine innere Spannung anstieg, wusste aber nicht, wie sie zu deuten war. Wenig später nahm er einen neuen Anlauf: »Linden … Die Zeit läuft uns davon. Ich weiß, dass du Entsetzliches durchgemacht hast. Du hast zu viel verloren. Das habt ihr alle. Aber wir sollten …« Er schien darauf bedacht zu sein, sich möglichst von ihr fernzuhalten. Ruhig weiterkauend hob Linden eine Hand, um ihn zu unterbrechen. Als sie hinuntergeschluckt hatte, fragte sie: »Ist dir was eingefallen, das einen Unterschied macht? Etwas, das wir verstehen können?« Er schüttelte den Kopf. Schatten wie Gewitterwolken verkomplizierten seinen Blick. »Dann sollten wir auf Stave, Mahrtiir und Kaltgischt warten.« Linden wies ihn zurück, weil sie sich selbst abgewiesen fühlte. »Sie müssen sich waschen und etwas essen. Und sie haben ein Recht darauf, zu hören, was du zu sagen hast.« Sie erwartete, dass er ihren Einwand zurückweisen würde. Die Autorität dazu besaß er; schließlich war er Thomas Covenant. Aber er tat es nicht. Er funkelte sie nur kurz an, als wünschte er sich, in ihr Herz blicken zu
können. Dann marschierte er weiter im Sand auf und ab. Die Urbösen und Wegwahrer waren um die Schwertmainnir herum ausgeschwärmt, sodass sie Linden und ihre Gefährten in einem Halbkreis umgaben. Jetzt begannen sie leise zu knurren und zu kläffen, als verlangten sie gehört zu werden. Frostherz Graubrand hob ruckartig den Kopf. Überraschung stand auf den Gesichtern der Riesinnen: Überraschung und jähe Freude. Während Onyx Steinmangold und ihre Gefährtinnen aufgeregt miteinander flüsterten, wandte Graubrand sich dem Lehrenkundigen zu und verbeugte sich mit der Förmlichkeit, die dem Herrscher über wertvolle Verbündete zusteht. »Unsere Ohren sind geöffnet worden«, sagte sie so ernst, wie ihr Eifer und ihre Erleichterung es zuließen. »Wir hören dich und achten auf deine Worte, um eure Tapferkeit und die uns erwiesenen Dienste zu ehren.« Der Lehrenkundige antwortete mit einem kehligen Knurren, das Linden nichts sagte - und Covenant und den Seilträgern ebenso wenig. Aber Graubrand verbeugte sich erneut, diesmal breit grinsend, als wäre in ihrem Inneren etwas freigesetzt worden. Spätgeborene und Sturmvorbei Böen-Ende lachten halblaut und vergnügt. Auch die anderen Riesinnen lächelten zumindest. »Linden Riesenfreundin«, sagte Graubrand, »du darfst unsere Freude nicht verkennen. Es ist die Rückkehr unserer Gabe, in Zungen zu reden, die uns vergnügt macht, nicht das, was diese Tapferen sagen. Trotzdem sind ihre Worte harmlos. Der Lehrenkundige will nur, dass wir verstehen, dass die Urbösen und Wegwahrer uns verlassen müssen. Vorerst haben sie getan, was ihr Wyrd ihnen diktiert…« Die Riesin machte eine Pause, um Linden zu erklären: »Bei ihnen hat ›Wyrd‹ mehrere Bedeutungen, von denen mir keine ganz klar ist.« Dann sprach sie weiter. »Jetzt wollen sie nach tieferem Verständnis suchen, weil ihre hier verrichteten Taten sie nicht befriedigen. Aber bevor sie uns verlassen, sind sie bereit, alle Fragen zu beantworten, die wir stellen möchten, sofern ihr Wissen dafür ausreicht.« Linden war wie vor den Kopf geschlagen. Jetzt? Wo ihre Gefährten und sie gerade erst Rogers Angriff überlebt hatten? Die Liste von Dingen, die sie wissen wollte, erschien ihr endlos lang. Aber sie war ziemlich erschöpft; sie konnte nicht klar genug denken, um sich an alle Punkte
erinnern zu können. Trotzdem war das Angebot des Lehrenkundigen eine seltene Chance, die sich vielleicht nicht noch mal bieten würde. Covenants Augen schienen im Sonnenschein Feuer zu fangen. Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf den Lehrenkundigen zu, als wollte er ihn mit einer Salve von Fragen durchlöchern. Aber als das schwarze Wesen in seine Richtung schnüffelte und unbeholfen eine menschliche Verbeugung imitierte, verbeugte er sich seinerseits, ohne jedoch zu sprechen. Dann sah er zu Linden hinüber. Nicht zum ersten Mal schien er zu zögern, in ihrer Gegenwart den Befehl zu übernehmen. Alle Dämondim-Abkömmlinge waren verstummt. Die Riesinnen scharten sich enger um Linden, Covenant und den Lehrenkundigen. Bhapa, der zwischen Schüchternheit und Neugier hin- und hergerissen wurde, schloss sich ihnen an. Pahni blieb jedoch bei Jeremiah. Als hätte sie kein Interesse, keinen Lebenszweck mehr, außer zugewiesene Aufträge auszuführen, beschäftigte sie sich damit, den Jungen zu füttern, solange er kauen und schlucken wollte. Unter dem Druck von Covenants Blick stellte Linden die erste Frage, die ihr in den Sinn kam. »Woher haben sie es gewusst?« Graubrand legte fragend den Kopf schief. »Vielleicht verstehen die Wesen dich, Linden Riesenfreundin. Aber ich leider nicht.« Linden fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt, um sich dazu zu zwingen, präziser zu formulieren, was sie dachte. »Von Esmer wissen wir, dass sie seine Handfesseln in der Verlorenen Tiefe geschmiedet haben. Das müssen sie vor Jahrtausenden gemacht haben. Woher haben sie gewusst, dass sie diese Handfesseln eines Tages brauchen würden? Wie konnten sie wissen, dass er überhaupt existieren würde?« Hatte sie Esmer richtig verstanden, hatte er die Wesen schon vor seiner Geburt gedrängt, ihn zu begleiten. »Woher haben sie gewusst, wie Esmer sein, was er tun oder was erforderlich sein würde, um ihm das Handwerk zu legen?« Der Lehrenkundige begann sofort eine längere Antwort zu kläffen. Graubrand, die Mühe hatte ihm zu folgen, versuchte simultan zu
dolmetschen. »Das sind Fragen, die mit unserem Lehrenwissen zusammenhängen. Sie lassen sich nicht in eurer Sprache ausdrücken. Wir haben in der Verlorenen Tiefe gearbeitet, wo der Gefesselte uns nicht entdecken konnte, weil unsere Anwesenheit durch den Hunger und die Bösartigkeit von Ihr, die nicht genannt werden darf, getarnt wurde. So haben wir die Säuberung überlebt, der alle unsere Stammesgenossen zum Opfer gefallen sind. Auf unsere Weise haben wir die Niederlage des Gefesselten, die Vereinigung der Haruchai mit den Wesen, die ihr Meerjungfrauen nennt, und den Beginn des Kampfes des wahnsinnigen Elohims gegen seine Verbannung beobachtet. Aus diesen bedeutungsschweren Vorzeichen haben wir geschlossen, was folgen würde. Bestimmt wussten wir das so wenig, wie wir unserer Sache sicher sein konnten, als wir Hohl geschaffen haben, um ihn gegen den Gefesselten einzusetzen. Dabei war uns klar, dass …« Graubrand hob plötzlich frustriert die Hände. »Lehrenkundiger, ich erflehe deine Verzeihung. Du sprichst von Dingen, die über meinen Horizont gehen.« Die Wegwahrer antworteten leise knurrend und kläffend, als machten sie Vorschläge. Aber die Riesinnen schüttelten verständnislos den Kopf, und die Dämondim-Abkömmlinge verstummten. Daraufhin verzichtete Frostherz Graubrand auf eine wörtliche Übersetzung und versuchte lieber, den Sinn des Gesagten wiederzugeben. »Linden Riesenfreundin, die Urbösen haben Möglichkeiten gesehen. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Sie haben Möglichkeiten gesehen und sich darauf vorbereitet. Der Lehrenkundige betont jedoch, dass sie nicht wussten, dass Esmer kommen und sie Jahrtausende weit in die Zukunft transportieren würde. Aber sie werden nicht alt und sterben wie wir, und sie haben sich in der Verlorenen Tiefe sicher gefühlt. Dort wollten sie über Jahrhunderte hinweg einfach abwarten, bis die Möglichkeiten zu Gewissheiten wurden oder sich als Trugbilder erwiesen. In den vergessenen Höhlen unter dem Gravin Threndor und in ihren Lehrenwerkstätten hatten sie genug Beschäftigung. Aber als Esmer erschienen ist, haben sie ihn gekannt. Allerdings ist auch
dieses Wort nur eine ungefähre Umschreibung. Sie haben Möglichkeiten gesehen, die zu Fleisch geworden waren. Daher haben sie eingewilligt, ihn zu begleiten, weil sie vorausgesehen haben, dass sein Charakter eines Tages durch ihre Fesseln würde gebändigt werden müssen.« Frostherz Graubrand, die durch ihr fremde Überlegungen zunehmend verwirrt wurde, zuckte ratlos mit den Schultern. »Auch hier«, fügte sie eilig hinzu, »betont der Lehrenkundige ausdrücklich, dass die Urbösen das nicht gewusst haben. Sie haben nur…« Sie verstummte. Dann protestierte sie, als spräche sie mit sich selbst: »Stein und Meer! Ich bin eine Riesin, nicht wahr? Wie kommt es dann, dass mir die Worte fehlen?« »Mach dir deswegen keine Sorgen«, murmelte Covenant rau. »Du machst deine Sache gut.« Und Rüstig Grobfaust fügte hinzu: »Wir sind keine Elohim, Graubrand. Dass wir nicht mehr als Riesen sind, bedeutet nicht, dass wir deshalb weniger sind.« Graubrand ballte die Fäuste und schluckte ihren Verdruss hinunter, bevor sie unbehaglich schloss: »Sie sind nur dem Pfad der Möglichkeiten gefolgt und haben die Kulmination abgewartet.« Der Lehrenkundige schien befriedigt zu sein. Er versuchte keine weiteren Erläuterungen. Möglichkeiten?, dachte Linden. Das ist alles? Ihr eigenes Denken, ihre eigenen Erfahrungen waren mit denen der Urbösen und Wegwahrer nicht kompatibel. Die fremdartige Denkweise dieser Geschöpfe glich Caerroil Wildholz’ Runen: Sie überstieg Lindens Fähigkeiten, sie zu interpretieren. Covenant beobachtete sie mit eigentümlicher Intensität im Blick; aber er stellte vorerst keine eigenen Fragen. Also gut, sagte sie sich. Also gut. Das sind die Tatsachen. Einen Schritt nach dem anderen. Während sie den augenlosen schwarzen Kopf des Lehrenkundigen betrachtete, fragte sie Graubrand: »Was hat sich verändert? Lange Zeit haben sie Lord Foul gedient. Dann haben sie ihm den Dienst aufgekündigt. Sie haben sogar angefangen, gegen ihn zu arbeiten.« Irgendetwas hatte sie dazu gebracht, ihr Wyrd neu zu definieren. »Weshalb haben sie das getan?« Der Lehrenkundige antwortete mit einer raschen Folge kehliger Laute.
Diesmal schien seine Erklärung Graubrand jedoch weniger zu verwirren. »Zwei … Einsichten? Erkenntnisse? … haben sie dazu veranlasst, die Bedeutung ihres Wyrds zu überdenken. An erster Stelle stand Folgendes: In den Dienst des Gefesselten sind sie mit Versprechungen gelockt worden. Sobald seine Pläne verwirklicht seien, hat er ihnen versichert, würden sich ihre kühnsten Träume erfüllen, ohne gegen die strikten Auflagen ihres Wyrds zu verstoßen. Wie er würden sie sich als Götter wahrnehmen - in Form und Substanz und Lehrenwissen und Wert den Dämondim, ihren Schöpfern, weit überlegen. Danach haben sie in seinem Namen gestrebt.« Frostherz Graubrands Stimme klang fester, als die Wegwahrer und einige der Urbösen jetzt leise knurrten und blafften. Das klang wie eine Aufmunterung. »Im Lauf der Zeit wurde ihnen jedoch bewusst - wie denn auch nicht? -, dass er alle Lebewesen außer sich selbst abgrundtief verachtete. Sie hielten sich für die Ersten seiner Diener, mächtiger und notwendiger als selbst die Wüteriche, denn die Wüteriche brauchten gestohlene Körper und missachteten das Lehrenwissen der Dämondim. Noch weniger wussten die Wüteriche das gewaltige Wissen und die Theurgien der Urbösen zu schätzen. Außerdem waren sie so versklavt, dass sie sich selbst verloren hatten. Sie waren sie außerstande, sich klare Ziele zu setzen, die ihr Herr ihnen nicht befohlen hatte. Und die Urbösen waren zahlreich, die Wüteriche nur wenige. Schon deshalb mussten die Urbösen die wertvollsten Diener des Gefesselten sein. Aber das waren sie nicht. Stattdessen wurden sie verachtet. Tatsächlich erschien seine Verachtung für sie ihnen so unerforschlich wie die größten Geheimnisse der Erde. Und keines seiner Versprechen wurde gehalten. Zuletzt erkannten sie, dass seine Verachtung sogar ihren Selbsthass übertraf. Das bewog sie dazu, ihm den Dienst aufzukündigen, sich von ihm abzuwenden.« Von leisen Rufen und Knurrlauten gedrängt fügte Graubrand hinzu: »Jedes Abwenden bedingt jedoch eine Hinwendung, und ihnen fehlte ein neuer Zweck, eine neue Vision ihres Wyrds, der sie sich hätten zuwenden können.« Hier machte sie eine Pause, als versuchte sie, den komplizierten Wendungen der Darstellung des Lehrenkundigen zu folgen.
Als wollte er ihr ein Stichwort geben, warf Covenant ein: »Dann erschienen die Wegwahrer auf der Bildfläche. Das war ihr eigentliches Geschenk an das Land. Eine unterschiedliche Interpretation.« »Aye«, bestätigte Graubrand, als der Lehrenkundige bellte. »Du sprichst von der zweiten Einsicht oder Erkenntnis, die die Urbösen auf ihren gegenwärtigen Weg gebracht hat. In der unbeirrbaren Gegnerschaft ihrer kleineren, schwächeren und weniger zahlreichen Artgenossen haben sie eine Art Stärke erkannt, die sie nicht besaßen. Sie war weder Lehrenwissen noch rohe Kraft. Aber sie konnte Weisheit sein, die ihre übertraf.« Graubrand gestand betrübt ein: »Weisheit ist ein kümmerlicher Ausdruck dafür, was der Lehrenkundige meint. Sein Begriff umfasst die Erkenntnis der Grundlagen aller Existenz. Der wesentliche Punkt ist jedoch folgender: Die Wegwahrer hatten aufgehört, sich selbst zu hassen. Sie hatten diesen Selbsthass abgelegt oder überwunden. Sie wurden durch ich kann es nicht besser ausdrücken - Liebe in den Dienst des Landes gedrängt. Ihr Motiv war nicht Abscheu, sondern positives Denken.« Die Riesin machte erneut eine Pause, während sie mit den sich daraus ergebenden Folgerungen kämpfte. Einige ihrer Gefährtinnen schienen ihr helfen zu wollen, behielten ihre Ideen jedoch für sich. Im nächsten Augenblick seufzte Graubrand, als gestünde sie eine Niederlage ein. »Das«, fuhr sie fort, »haben die Urbösen nicht verstanden. Sie konnten es nicht begreifen. Aber sie haben erkannt, dass in der Gegnerschaft der Wegwahrer kein Zorn lag. Auch hier fehlen mir wieder die rechten Worte. Die Wegwahrer haben gekämpft, wurden überwältigt und sind untergegangen - ohne Zorn oder Protest. Stattdessen haben sie sich betragen, als genügte ihr Dienst als Rechtfertigung für ihre Interpretation ihres Wyrds. Als wäre es allein dadurch gerechtfertigt und verwirklicht. Auch wenn die Urbösen das nicht verstanden, erkannten sie, dass ihr Dienst für den Gefesselten nichts Vergleichbares für sie bereithielt. Sie bekamen Versprechen, und sie wurden geopfert, aber die ruhige Gewissheit der Wegwahrer blieb ihnen verwehrt. So war es nur logisch, dass sie sich dem Studium von Möglichkeiten hingaben. Und als diese Möglichkeiten sich in Hohl bewahrheiteten - auch in Linden Riesenfreundins Stab des Gesetzes und Covenant Zeitenherrs
Verwandlung -, haben die Urbösen, die jetzt unter uns sind, ihre Studien weitergeführt.« Als der Lehrenkundige verstummte, stellte Linden fest, dass Covenant sie aus dem Augenwinkel heraus beobachtete. Er schien sich absichtlich zu beherrschen, als hoffte er noch, sie werde irgendwann die richtige Frage stellen. Vielleicht wünschte er sich, sie werde seinen Rat einholen. Dann würde er enttäuscht werden. In diesem Augenblick wollte sie keine Ratschläge. Sie wollte eine wirksame Methode, den Urbösen dafür zu danken, dass sie Esmer gestoppt hatten. »Dann erzähl mir, was ihr Wyrd ist«, sagte sie. »Was bedeutet es?« Im nächsten Augenblick schüttelte sie jedoch den Kopf. »Nein. Das ist nicht, was ich fragen wollte.« Wierd, Würd, Wyrd, Wort, Wurm: Linden hatte schon zu viele Erklärungen gehört. Auch weitere würden ihr nicht helfen, dieses Phänomen zu verstehen. »Bevor wir Schwelgenstein verlassen haben, habe ich ihnen ein Versprechen gegeben. Ich habe gesagt, wenn sie jemals eine Möglichkeit fänden, mir zu sagen, was sie von mir brauchen, sollten sie es bekommen. Dieses Versprechen möchte ich halten.« Sie sehnte sich danach, wenigstens eines ihrer Versprechen zu halten, nachdem sie Anele bereits im Stich gelassen hatte. Tatsächlich war jeder, der ihr jemals vertraut hatte, ins Verderben gerannt. Jetzt wandte sie sich direkt an den Lehrenkundigen: »Ihr habt so viel für uns getan. Für uns alle. Sagt mir, wie ich mich dafür revanchieren kann.« Dutzende von Stimmen bellten durcheinander. Das klang wie das Kläffen einer Hundemeute auf der Fuchsfährte. Frostherz Graubrand bemühte sich, alle zu verstehen. Dann schlug sie die Fäuste aneinander: eine Geste des Protests. »Ich bitte euch!«, ächzte sie. »Ich kann nicht alles auf einmal aufnehmen. Höre ich mehr, als ich verstehen kann, bekomme ich gar nichts mehr mit.« Das tumultartige Kläffen brach schlagartig ab. Der Lehrenkundige, der mit geweiteten Nasenlöchern prüfend die Luft einsog, verstummte ebenfalls.
Graubrand wandte sich beschämt an Linden. »Ich bin dieser Aufgabe nicht gewachsen. Vor allem die Wegwahrer sind begierig, ihr Wyrd zu erklären, aber ich höre nur wenig, was ich weitergeben kann. Manche sprechen von Wert und Andersartigkeit. Andere erwähnen Verwandlung oder Wiedergeburt. Aber was sie damit wirklich meinen, entgeht mir.« Sie sah sich nach den Schwertmainnir um, bat stumm um Hilfe. Aber die anderen schüttelten den Kopf, um zu zeigen, wie verwirrt sie selbst waren. »Anscheinend vermengen sie Begriffe auf eine Weise, die ich nicht verstehe«, erklärte sie Linden verlegen. »Setzen sie ihren eigenen Wert wirklich mit dem der Erde gleich - oder versuchen sie, irgendeinen subtilen Unterschied auszudrücken? Sehnen sie eine Veränderung ihrer selbst herbei, um besser in die Welt zu passen, oder wollen sie die Welt nach ihrem Bild verändern? Sie scheinen ihren Kurs nach vielen Leitsternen zu richten. Ich kann ihnen dabei nicht folgen.« Nun sprach der Lehrenkundige wieder. Als er fertig war, nahm Graubrand die Schultern zurück und musterte Linden scharf. »In Bezug auf einen Aspekt deiner Frage ist ihre Antwort klar. Dein Stab des Gesetzes ist seinem Wesen nach für sie feindlich, obwohl sie sich in Maßen davor schützen können. In dieser Beziehung, Linden Riesenfreundin, begehren sie nichts, was du ihnen geben könntest.« Linden seufzte innerlich. Sie brauchte eine andere Antwort. Etwas Greifbares, etwas Erreichbares: etwas, das sie wirklich tun konnte, um ihre seit langem bestehende Schuld auszugleichen. Etwas, das die Last ihrer zunehmenden Finsternis erleichtern konnte. Aber bevor sie Worte für ihr Bedauern finden konnte, trat Covenant auf den Lehrenkundigen zu. »Unter diesen Umständen«, erklärte er dem Wesen, »habe ich eine Frage.« In seinem Tonfall schwang potenzieller Zorn mit, den er jedoch strikt im Zaun hielt. »Esmer hat behauptet, nicht er habe uns in der Verlorenen Tiefe verraten. Aber Teufel noch mal! Er war als Einziger dort. Der Egger war bereits tot, und Roger war fort, und Kastenessen hat die Skurj geschickt, und Sie, die nicht genannt werden darf, ist nur, was sie ist. Wovon hat Esmer also gesprochen? Wie sind wir verraten worden?« Frostherz Graubrand, die wegen dieser Frage - oder wegen Covenants
Benehmen - die Stirn runzelte, drehte sich wieder nach dem Lehrenkundigen um. Einige Augenblicke lang reagierten alle Urbösen und Wegwahrer mit Schweigen. Dann stieß der Lehrenmeister rasch eine rau gebellte Antwort hervor. Graubrand, die diesmal wörtlich übersetzte, verkündete: »Der Meer-Sohn und Haruchai hat von uns gesprochen.« Covenant wartete steif und fordernd. Wieder ein kurzes Blaffen, diesmal wie das Jaulen eines eingesperrten Hundes. »Er hat unsere Absicht gekannt. Er hat sie verabscheut und zugleich ersehnt. Er hat euch für verraten gehalten, weil wir ihm unsere Fesseln nicht angelegt haben. Hätten wir das getan, hättet ihr ohne weitere Anstrengung oder Gefahr flüchten können.« »Ah, jetzt kommen wir endlich weiter«, murmelte Covenant halblaut. Dann fragte er streng: »Warum habt ihr es also nicht getan? Ihr hättet uns jede Menge Leid ersparen können. Ich will nicht einmal erwähnen, was ich Elena angetan habe.« Seine Selbstbeherrschung ließ ihn einen Augenblick im Stich. »Sie ist meine Tochter!« Er beherrschte sich sofort wieder. »Aber wir hätten Linden beinahe verloren. Blut und Hölle! Ihr wisst, was auf dem Spiel steht. Wieso habt ihr das riskiert?« Linden wollte etwas einwenden. Das hatten die Urbösen sicherlich nicht verdient? Aber seine Leidenschaft - und seine Frage - hielt sie gefangen. In Covenant braute sich ein Sturm zusammen. Er entstand irgendwo jenseits des Horizonts ihres Verständnisses. Brach er los, würden Menschen oder Wesen oder Kreaturen sterben. Indirekt hatten die Urbösen Elena zum Untergang verurteilt. Ihr Opfer in der Verlorenen Tiefe musste ihn entsetzt haben. Diesmal war das Schweigen länger. Als der Lehrenkundige schließlich antwortete, sprach er ausführlich, fließend und drängend. Aber Graubrand versuchte keine Übersetzung, bevor er zu Ende gesprochen hatte. »Entschuldigung«, sagte sie dann. »Ich wollte sichergehen, dass ich den Lehrenkundigen richtig verstanden habe.« Aus ihrem Blick sprachen lebhafte Verwirrung und Spekulationen. »Seine Antwort lautet folgendermaßen:
Wären deine Bemühungen, das Übel zu bannen, fehlgeschlagen, Zeitenherr, hätten wir zu intervenieren versucht, weil das unsere Pflicht gewesen wäre. Zuvor haben uns jedoch andere Möglichkeiten blockiert. Ihre Form und Substanz, wie wir sie verstehen, lässt sich nicht in eurer Sprache ausdrücken. Die Riesin hat ihr Bestes getan. Wir machen ihr keinen Vorwurf. Aber unsere Zunge ist zu Assoziationen und Bedeutungen fähig, die sie unmöglich begreifen kann. Und wir können sie ihr nicht erklären. Bitte bedenke jedoch eine Sache. Wir konnten nicht sicher sein, dass der Meer-Sohn keine Gegenmaßnahmen ergreifen würde. Er hat die Absicht hinter unseren Fesseln gekannt. Er hat euch als verraten bezeichnet, weil wir nicht eingegriffen haben. Aber sein ganzes Wesen war auf Widersprüche gegründet. Er hat jede seiner Taten herbeigesehnt und zugleich verabscheut. Obwohl er sich die Erlösung durch unsere Fesseln wünschte, hätte er uns daran hindern können, sie ihm anzulegen. Deshalb haben wir es für nötig gehalten, ihn mit den Fesseln zu überrumpeln. Dazu kommt Folgendes: Wie hätte die ungeheure Macht des Dolchs des Übelzwingers für deine Zwecke nutzbar werden sollen, wenn wir anders gehandelt hätten. Die Waffe war notwendig, um den Croyel in Schach zu halten. Er, den ihr Esmer nennt, hatte noch nicht zu erkennen gegeben, was er gegen den Alten, den Erben von Erdkraft, unternehmen wollte. Auch die eigenen Absichten das Alten waren noch nicht bekannt. Und wir hatten Grund zu der Befürchtung, dass die Haruchai gegen ihn einschreiten würden. Vielleicht unabsichtlich hätten sie den Tod des Croyels verhindern können. Wir sehen nur Möglichkeiten, Zeitenherr. Wir können keine Ereignisse voraussagen. Aber es hat viele Vorzeichen gegeben. Von ihnen geführt haben wir keinen Weg zu dem jetzigen Ergebnis gesehen, der nicht die Niederlage Esmers und die Zustimmung der Haruchai erforderte. Aus diesen Gründen haben wir die Gefahren des Übels in der Verlorenen Tiefe und des wirkungslosen Weißgolds riskiert, obwohl wir wussten, dass die Ereignisse sich als tödlich für dich und die Erfüllung unseres Wyrds erweisen könnten.« Als Graubrand verstummte, schien ihre ganze Körpersprache um Covenants Verständnis zu werben; oder um Lindens. Linden fand keine Antwort. Die komplexe Denkweise dieser Wesen
machte sie benommen. Sie erkannten Vorzeichen, die für sie kaum wahrnehmbar, praktisch unsichtbar waren. Wie hatten sie voraussehen können, dass Esmers Angriff Galt umstimmen würde? Einen Augenblick lang wirkte auch Covenant wie vor den Kopf geschlagen. Dann wandte er sich schief grinsend an Linden und die übrige Gesellschaft. »Da haben wir es!«, sagte er fast heiter. »Deshalb sind wir nicht zum Untergang verdammt. Ganz gleich, was Lord Foul vorhat. Er ist nicht der Einzige, der vorausdenken kann. Es ist noch immer möglich, ihn zu überrumpeln.« Seine Bestätigung schien noch in der Luft zu hängen, als er sich jetzt an den Lehrenkundigen wandte. »Ich hoffe, dass ihr meinen Dank akzeptiert. Aus meiner Sicht habt ihr bewiesen, dass ihr alles verdient, was ihr euch auch nur wünschen könntet.« Er schluckte trocken, dann fügte er rau hinzu: »Was Elena zugestoßen ist, war meine Schuld, nicht eure.« Als der Lehrenkundige antwortete, übersetzte Frostherz Graubrand barsch: »Die Urbösen und Wegwahrer begehren nichts von dir, Zeitenherr. Deine Absichten sind ihnen gleichgültig. Sie erbitten nur Linden Riesenfreundins Erlaubnis, euch verlassen zu dürfen.« Linden hatte das Gefühl, von allen Urbösen und Wegwahrern beobachtet zu werden. Als warteten sie auf eine Äußerung, die auf Verständnis schließen ließ. Auf etwas, das rechtfertigen konnte, was … Aber sie war nicht Covenant. Wie die Dämondim-Abkömmlinge sah er Grund zu Hoffnungen, die Linden nicht teilen konnte. Kaum anders als Jeremiah, aber auf völlig andere Weise, war sie in ihrer eigenen Gedankenwelt gefangen. Trotzdem war ihre Dankbarkeit so real wie die Covenants. Und sie glaubte nicht, dass diese Wesen ihr den geringsten Teil der Verzweiflung, in die Sie, die nicht genannt werden darf, sie gestürzt hatte, hätten ersparen können. Linden verdrängte bewusst ihr Bedauern darüber, sich bei den Dämondim-Abkömmlingen nicht revanchieren zu können; ließ sich auch keine Überraschung über Covenants Reaktion anmerken. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr zerzaustes Haar. »Oh, geht nur, wenn es sein muss«, sagte sie wie seufzend. »Meinen
Segen habt ihr.« Was hätte sie ihnen sonst anbieten können? »Covenant hat völlig recht: Ihr hättet wirklich alles verdient.« Dann fügte sie hinzu: »Mein Versprechen gilt weiter. Sollte euch jemals etwas einfallen, das ich für euch tun kann, braucht ihr es nur zu sagen.« Ihre Antwort schien die wie gebannt lauschenden Wesen zu erlösen. Der Lehrenkundige verbeugte sich rasch vor ihr, wie er sich vor Covenant verbeugt hatte. Sämtliche Urbösen und Wegwahrer folgten seinem Beispiel. Dann ließen sie sich auf alle viere nieder und begannen zu laufen, rannten wie ein Rudel Wildtiere stromabwärts davon. Bald kamen sie außer Sicht, aber Linden hatte das Gefühl, dieser abrupte Abschied beweise, dass sie die Dämondim-Abkömmlinge enttäuscht hatte. Zu spät fiel ihr ein, dass sie den Lehrenkundigen hätte bitten können, ihr Caerroil Wildholz’ Runen zu übersetzen. Wieder einmal hatte sie versagt… Jeremiah und ihre Freunde und das Land brauchten die ruhige Gewissheit, die die Urbösen in den Wegwahrern gefunden hatten - und die Linden nicht besaß. Covenant begann bald wieder, auf und ab zu gehen. Die Riesinnen diskutierten einige Zeit lang über die Dämondim-Abkömmlinge. Dann ließen sie sich im Sand nieder, um ihre Waffen zu reinigen oder sich auszuruhen. Als Jeremiah nicht mehr kauen und schlucken wollte, schob Pahni ihm keine Bissen mehr in den Mund. Mit Bhapas Hilfe bereitete sie eine Mahlzeit für Raureif Kaltgischt, den Mähnenhüter und Stave vor. Danach packten die Seilträger die Vorräte der Gesellschaft neu ein. Während Bhapa sich sichtbar besorgt mit dieser einfachen Arbeit ablenkte, behielt er den Horizont, an dem ihre abwesenden Gefährten auftauchen mussten, weiter im Auge. Linden wandte sich jedoch ab und suchte sich einen Platz am Bach, an dem sie allein sein konnte. Dort starrte sie mit leerem Blick in das zu Tal schießende Wasser, das in Ufernähe kleine Wirbel bildete, und versuchte sich einzureden, ihr Gebrauch von Covenants Ring sei keine Gräueltat gewesen. Gutes lässt sich nicht mit schlimmen Mitteln erreichen. Andererseits wären sie und alle anderen abgeschlachtet worden, wenn sie nicht so viele Höhlenschrate erledigt hätte. Und wäre Roger mit ihr und
den Riesinnen und den Gedemütigten und den Ramen fertig gewesen, hätte er Jagd auf Covenant gemacht, um seinen Triumph zu vervollständigen. Was hätte sie sonst tun können? Aber sie war noch keineswegs überzeugt. Bestimmt wäre eine andere Lösung möglich gewesen - wenn nicht für sie, dann für andere? Sie war so viel weniger, als sie hätte sein müssen: Ihre Kenntnis von Lehrwissen und Gesetz und der eigenen Macht reichte nicht aus, um ihre Freunde zu verteidigen, ohne ihre Feinde abzuschlachten. Hinter ihr begannen der Sand und die Hügel wärmer zu werden - kein reiner Segen. Die Wärme beruhigte überreizte Muskeln und Nerven, trocknete Lindens Kleidung … und machte sie wieder durstig. Die Stimme des Bachs lockte, aber Linden ignorierte sie. In einem Gewirr aus Emotionen und Mängeln gefangen, aus dem sie nicht entkommen konnte, wurde sie ruhelos wie das Wasser, sorgenvoll wie Bhapa. Ungeduldig wie Covenant. Als die Eisenhand, Mahrtiir und Stave endlich wieder in Reichweite ihrer Sinne kamen, sprang sie erleichtert auf und begann ihnen entgegenzugehen, bevor sie merkte, dass die drei nicht allein waren. Der Eifrige folgte ihnen dichtauf: immer wieder stolpernd, als wäre er zu schwach, um sich noch lange auf den Beinen halten zu können. Aus einleuchtenden Gründen waren Kaltgischt, Mahrtiir und Stave sehr erschöpft, auch wenn Staves Stoizismus seinen Zustand weitgehend tarnte. Die Eisenhand und der Mähnenhüter schlurften mit zitternden Knien dahin, waren unsicher auf den Beinen und ernstlich dehydriert. Im Gegensatz zu ihnen wirkte Stave nur träge, benommen und außerstande, sich zu konzentrieren. Er reagierte weder auf Bhapas Begrüßung noch die Zurufe der Riesinnen. Trotzdem befand der Insequente sich in noch schlechterer Verfassung. Die Bänder hingen an seinem Körper herab wie lange Hautfetzen: schmutzige Streifen aus Leid und Verlust. Die ehemals korpulente Gestalt in seinem Gewand war dahingeschmolzen, sodass er jetzt nicht nur hager, sondern wie ein Mann im letzten Stadium von Schwindsucht aussah. Auszehrung oder Verfall ließ Wangen, Augenhöhlen und sogar Lippen hohl erscheinen. Vom Unterkiefer hingen lose Hautlappen herab. Während er schwankend herankam, irrte sein Blick von einer Seite zur
anderen, als besäße er nicht mehr die Kraft, ihn bewusst zu steuern. Er schien nicht wahrzunehmen, dass er wie nicht ganz gescheit kicherte. Diese Laute umgaben ihn wie Bruchstücke einer Melodie, wie aus den Fugen gegangene Vernunft. Die Eisenhand und Mahrtiir ignorierten ihn. Ohne mehr als ein Nicken für ihre Gefährten übrig zu haben, schlurften sie stumm weiter, bis sie den Bach erreichten und sich hineinfallen lassen konnten. Aber Stave machte in der Gesellschaft halt. Er verbeugte sich vor Linden und nickte Covenant vage zu. Mit heiserer Stimme, die so ausgetrocknet zu sein schien wie die Hügel, berichtete er: »Die Arbeit ist getan. Anele und Galt liegen unter einem Grabhügel. Der Eifrige ist aufgetaucht, als wir fertig waren.« Linden starrte ihn an, versuchte seinen Namen zu sagen. Aber sie konnte ihn nur angaffen. Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte Stave Kaltgischt und dem Mähnenhüter. Im Bach blieb er erst stehen, als das Wasser so tief war, dass er ganz untertauchen konnte. »Höllenfeuer«, knurrte Covenant, ohne jemanden anzusehen. »Hölle und Blut.« Linden trat instinktiv auf den Eifrigen zu; hielt dabei ihren Stab bereit. Aber sobald sie ihn aus der Nähe betrachtete, sah sie, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Die Kräfte, die ihn zerstörten, waren unaufhaltsam, so grausam wie zu viel Zeit. Er brauchte die Art Barmherzigkeit, die Stave Esmer gewährt hatte. Alle sonstigen Mittel mussten in seinem Fall versagen. Graubrand und zwei weitere Schwertmainnir kamen näher, um die Jammergestalt des Eifrigen genauer zu betrachten. Dann schüttelten sie den Kopf. Mit Mitleid im Blick traten sie wieder zurück, überließen den Insequenten Covenant und Linden. »Ich bin missverstanden worden.« Auch Covenants Stimme klang mitleidig. »Als ich dir gesagt habe, dass sie eine Ausnahme machen sollen, habe ich nicht dies gemeint.« Sein Mitgefühl verdichtete sich zu Zorn. »Sie haben nicht zugehört, verdammt noch mal!« »Gesagt«, gluckste der Eifrige. »Zuhören. Erzählen.« Seine Stimme quiekste, dann sank sie wieder zu einem Bass herab. »Insequente lassen sich nichts sagen. Eine Beschränkung für alle. Eine Ausnahme zerstört
alles. Alles Leben. Sie hören zu. Oh, sie hören zu. Manche trauern. Aber man befiehlt den Insequenten nicht, alles Leben zu vernichten.« »Was?«, protestierte Linden, die sich nicht mehr zurückhalten konnte. »Alles Leben? Soll das heißen, dass jeder Insequente stirbt, dass die ganze Rasse stirbt, wenn sie dich leben lassen?« »Zuhören«, wiederholte er. »Der Eifrige erzählt. Ihr hört nicht zu.« Bunte Bänder schlängelten sich um ihn. »Eine Beschränkung für alle. Eine Beschränkung für alle.« Auch sein erbärmlicher Zustand war eine Folge von Lindens Bedürfnis, ihren Sohn zu retten. Während Covenant kummervoll schwieg, murmelte Onyx Steinmangold betroffen: »Das ist ein Geas, nicht wahr? Von solchen Dingen hat er manchmal gesprochen. Der Wille der Insequenten beherrscht ihn weiter, obwohl er am äußersten Rand seines Lebens steht.« »Solch ein Gemetzel«, sagte der Eifrige, als antwortete er ihr. Er kicherte leise. »Großer Tod, aye. Groß und notwendig. Aber unzulänglich.« Sein Blick irrte hin und her, als verfolgte er flirrende Sonnenstäubchen. »Er genügt nicht.« Innerlich seufzend versuchte Linden, sich nicht auszumalen, was er vermutlich meinte. »Handelt es sich wirklich um ein Geas«, warf Zirrus Gutwind ein, »ist es sicherlich unvollständig. Ich will nicht glauben, der Insequente habe sich hier nur auf Befehl der Insequenten einfinden müssen, um zu demonstrieren, dass sein Ende besiegelt ist. So herzlos können sie unmöglich sein.« Keine ihrer Gefährtinnen äußerte sich dazu. Covenant biss die Zähne zusammen und beherrschte sich so krampfhaft, dass seine Kiefermuskeln wie Knoten hervortraten. Der Eifrige hatte so viel mehr getan, als Linden von ihm hätte verlangen dürfen. Dies war sein Lohn. Hinter ihr stieg Stave aus dem Bach. Das taten im nächsten Augenblick auch Raureif Kaltgischt und der Mähnenhüter. Stave kam zu Linden und Covenant, während Kaltgischt steif zu den Schwertmainnir hinüberging. Gleichzeitig hastete Bhapa mit Essen für seinen Mähnenhüter den Hang hinunter. Linden fürchtete, Mahrtiirs aggressiver Stolz werde erfordern, dass er
Bhapa ignorierte. Aber der Mähnenhüter war anscheinend entschlossen, die Tatsache zu akzeptieren, dass auch er gedemütigt worden war. Er legte Bhapa einen Arm um die Schultern und erkannte die Besorgnis des Seilträgers an, indem er eine Kleinigkeit aß. Dabei ging er jedoch weiter, bis er wieder neben Linden stand. Bei ihren Gefährtinnen erwarteten die Eisenhand kollektive Umarmungen, bei denen sich jeweils zwei, drei Riesinnen in die Arme schlossen. Von Spätgeborener erhielt sie zwei Handvoll Fleisch und Obst und begann sofort zu essen. Danach wandte sie ihre Aufmerksamkeit Linden, Covenant und dem Eifrigen zu. Linden fand keine Worte für das, was sie empfand und befürchtete; aber Covenant schien sich nicht länger beherrschen zu können. »Gutwind hat recht«, knurrte er den Eifrigen an. »Deine Leute haben dich nicht zurückgeschickt, nur um uns zu beweisen, dass wir dich nicht retten können. Du bist hergekommen, um etwas zu sagen. Es gibt noch etwas, das du tun musst.« Der Eifrige wurde jäh von Krämpfen geschüttelt, als hätte er einen Stromstoß erhalten. Sein Kopf flog nach oben; sein ganzer Körper zuckte. Mit ganz anderer Stimme, gepresst und wie unter Zwang stehend, verkündete er: »Während ihr fernbleibt, verschwören sich anderswo die Ereignisse gegen eure Verteidigung des Landes.« Er schien jemand anders zu zitieren, seine Sprechweise nachzuahmen. »Nördlich des alten Gravin Threndor haben die Sandgorgonen sich mit den Skurj vereinigt. Es war unsere Hoffnung, dass sie ihre Wildheit in gegenseitiger Vernichtung verausgaben würden. Aber diese Hoffnung ist enttäuscht worden. Unterschätzt haben wir das Ausmaß von Kastenessens Befehlsgewalt über die Skurj, den Listenreichtum des Wüterichs Moksha und die Wirksamkeit der Fetzen des Wüterichs Samadhi, die in den Sandgorgonen weiterbestehen. Allen Erwartungen zum Trotz haben diese grausigen Ungeheuer ihre Kräfte gebündelt. Jetzt verwüsten sie gemeinsam den Salva Gildenbourne; richten unter den Bäumen und Grünland solche Schäden an, dass ihr Anblick euch Tränen entlocken würde.« Einen Augenblick lang schien das Geas des Insequenten ins Wanken zu kommen. Der Eifrige sackte zusammen; taumelte wie jemand, der sich
kaum noch auf den Beinen halten kann. Dabei lachte er leise glucksend, als amüsierte er sich über die eigene Schwäche. Seine schockierenden Mitteilungen rissen Linden aus ihrer dumpfen Verzweiflung. Dass er die Wahrheit sagte, bezweifelte sie keine Sekunde lang. … diese grausigen Ungeheuer … »Stein und Meer!«, knurrte Raureif Kaltgischt hörbar entsetzt. Auch einige der anderen Riesinnen ließen Flüche hören. Mehrere fingen an, wieder ihre Rüstung anzulegen. … haben ihre Kräfte gebündelt. Fast unmittelbar darauf wurde der Eifrige jedoch von neuen Krämpfen heimgesucht. »Die Verwüstung ist großflächig und total«, fuhr er fort, »und hinterlässt nichts als den Gestank von verfaulter Erde. Aber sie ist nicht sinnlos. Auch wenn Kastenessen vielleicht tatsächlich weder Voraussicht noch Taktik kennt, ist es bei Moksha anders. Und Samadhi versteht seinen Bruder. Die Skurj und Sandgorgonen wollen nicht nur Rache. Auch richtet ihre Wildheit sich nicht gegen das heilige Andelain. Stattdessen streben sie dem Gravin Threndor zu. Versteht ihr, was das bedeutet? Sie streben zum Gravin Threndor, weil ihr die Schlange des Weltendes nicht bekämpfen könnt, solange die üble Theurgie von Kevins Schmutz die Lady behindert. Wollt ihr Kevins Schmutz abschaffen, müsst ihr erst Kastenessen ausschalten - und er hält sich in den Schrathöhlen verborgen, wo er auf die grenzenlose Wildheit von Ihr, die nicht genannt werden darf, zurückgreifen kann. Versucht ihr also …« Covenant nickte knapp. »Ja, ich verstehe«, murmelte er finster. Aber der geistesabwesende Insequente achtete nicht auf ihn. »Versucht ihr also, in den Berg einzudringen, werden Sandgorgonen und Skurj sich euch entgegenstellen. Dazu kommen zweifellos ganze Horden von Höhlenschraten. Eure Feinde werden zahlreich und schrecklich sein.« »Ich habe gesagt, dass ich verstehe«, fauchte Covenant. Seine Hände umklammerten den eingewickelten Krill, obwohl er das nicht zu merken schien. »Höllenfeuer! Das brauchst du nicht noch mehr auszumalen. Und du bist nicht nur hergekommen, um uns zu warnen. Du hast noch einen weiteren Grund.«
Linden hielt unwillkürlich den Atem an. Die Schwertmainnir beobachteten den Eifrigen mit der Aufmerksamkeit von Kriegerinnen. Mahrtiir stand wie kampfbereit an Lindens Schulter. Die Insequenten behielten den Eifrigen weiter im Griff. Er verausgabte offenbar die letzten Kräfte, als er keuchte: »Das Schicksal der Lady steht in Wasser geschrieben. Alle Prophezeiungen sind weggewischt. Trotzdem bleibt ihr Bedürfnis, Tod zu bewirken. Daraus schließen wir, dass sie Verbündete braucht.« Linden zwang sich dazu, langsam auszuatmen, aber ihr Herz hämmerte weiter. »Obwohl es in der Erde zahlreiche Mächte gibt, können wir sie nicht heraufbeschwören. Die Elohim wollen dir nicht helfen. Und die Insequenten selbst können zu diesem Zweck nicht dienen. Gegen Wüteriche sind wir weitgehend hilflos - ebenso gegen Sie, die nicht genannt werden darf. Die Gefahr, dass wir gezwungen werden, uns gegen dich zu wenden, ist allzu groß.« Covenant wurde sichtlich unmutiger. »Zur Sache! Wer käme noch infrage?« Diesmal schien der Eifrige ihn zu hören. »Wir sehen keine Alternative zu den Haruchai, die jedoch nicht auf uns hören. Kein Insequenter kann sie beeinflussen. Würden wir an sie appellieren, würden sie die Ohren verschließen und bleiben, wie sie sind.« »Das wäre Selbstmord«, protestierte Linden impulsiv. »Natürlich würden sie sich weigern. Sie können unmöglich gegen Sandgorgonen und Skurj kämpfen.« Aber Mahrtiirs Stimme übertönte ihre, als er fragte: »Wem werden die Schlaflosen dienen?« Gleichzeitig wandte Covenant ein: »Was soll das alles? Auch wenn die Ranyhyn uns tragen, kann keiner von uns rechtzeitig nach Schwelgenstein gelangen. Die Schlange ist dort, bevor die Meister auch nur erfahren, dass wir sie brauchen. Und danach sind alle Bemühungen vergeblich.« Der Eifrige wartete leichenblass und starr darauf, dass wieder Schweigen herrschte. »Hol es der Teufel«, murmelte Covenant mit einem Blick zu ihm hinüber. »Redet meinetwegen weiter. Ich halte jetzt den Mund.«
Mit der Stimme des Eifrigen antworteten die Insequenten: »Dies ist unser letzter Auftrag für den Eifrigen. Die Haruchai vermögen viel. Wählt diejenigen unter euch aus, auf die sie am ehesten hören werden. Er wird sie nach Schwelgenstein versetzen, wo sie zugunsten des Landes plädieren können. Er selbst wird dann nicht länger leben und leiden müssen. Aber vielleicht bleibt etwas Hoffnung zurück.« Bevor sonst jemand reagieren konnte, verkündete Mahrtiir mit heller, klarer Stimme: »Ist das dein Wort, Insequenter, werden meine Seilträger dich begleiten.« Pahni hob ruckartig den Kopf, wandte sich von Jeremiah ab. Bhapa, der jäh blass geworden war, wirkte erschrocken. Das Versprechen des Mähnenhüters schien den Eifrigen - oder sein Volk - zu befriedigen. »Das ist gut«, bestätigte er oder es. »Dem Zeitenherrn würden die Haruchai nichts abschlagen. Trotzdem hat er eine andere Aufgabe, von der er sich nicht ablenken lassen darf.« Dann verließ das Geas den hinfälligen Mann, der im Sand zusammensackte. Auf Händen und Knien, nicht mehr durch die Bänder seines Gewands gestützt, stieß er ein anfallartiges heiseres Lachen aus. Die Seilträger?, dachte Linden. Die Seiltragerl O Gott! Das hatte Covenant vorausgesehen … Er starrte den Sterbenden finster an, als wollte er mehr hören…. eine andere Aufgabe. Die Riesinnen hatten sich alle Mähnenhüter Mahrtiir zugewandt. Raureif Kaltgischt, die sein Gesicht mit der Augenbinde studierte, meinte unsicher: »Das wäre zu viel verlangt. Bestimmt könnten Stave oder einer der Gedemütigten …?« »Auf mich würden die Meister nicht hören«, stellte Stave nüchtern fest. »Und die Gedemütigten lassen Covenant nicht allein. Es wäre zwecklos, sie dazu aufzufordern.« »Dann eine Riesin?«, fragte die Eisenhand. »Die Meister haben uns jahrhundertelang erklärt, dass wir bei ihnen nicht willkommen sind. Trotzdem möchte ich glauben, dass sie ihre einstige Hochachtung für die Entwurzelten und später für die Riesen der Suche nicht vergessen haben.« »Nein.« Der Mähnenhüter sprach, als wäre sein Wort Gesetz. »Diese Aufgabe übernehmen meine Seilträger. Sie ist ihnen vorausbestimmt. Sie werden sie nicht ablehnen.«
…ihr beiden habt die schwierigste Aufgabe. Ihr müsst zusehen, dass ihr überlebt. Und ihr müsst dafür sorgen, dass sie auf euch hören. Aus demselben Grund konnte Mahrtiir die Seilträger nicht begleiten. Covenant hatte ihm geraten, einen anderen Weg zu nehmen. Du hast einen langen Weg vor dir, bis dein Herzenswunsch sich erfüllt. Sieh nur zu, dass du zurückkommst. »Mähnenhüter, nein!«, rief Bhapa erschrocken aus. »Ich flehe dich an!« Linden wollte ihm instinktiv zustimmen. Sie fürchtete Covenants Prophezeiungen. Alle schienen auf Tod hinauszulaufen. Auf sie würden sie nicht hören. Sie hat ihnen schon zu viele Gründe geliefert, sich ihrer selbst zu schämen. Aber dann trat Pahni eifrig vor. »Ja!« Ihre sanften Augen blitzten wie die eines Raubvogels. »Ich werde den Meistern Liands Tod zu Füßen legen und eine Erklärung fordern. Sie halten sich für die Nachkommen der Bluthüter. Ich werde einen ähnlichen Dienst von ihnen fordern. Komm, Bhapa!«, forderte sie ihn auf. Engagiert und gebieterisch streckte sie dem älteren Seilträger die Hand hin. »Kein Seilträger darf zögern, wenn der Mähnenhüter spricht und das Bedürfnis des Landes klar ist.« Der Eifrige ließ unverständliche glucksende Laute hören. Er war zu schwach, um noch lachen zu können. Mit einer Art Mitgefühl in der Stimme fragte Mahrtiir: »Willst du mich widerlegen, Bhapa? Bist du zur Begleiterin der Ring-Than bei ihren Abenteuern bestimmt worden, weil du für geringere Aufgaben ungeeignet warst? War Whrany nicht bereit, dich zu tragen, obwohl bis zu jenem Tag noch kein Ramen ein Ranyhyn geritten hatte? Und hat Rohnhyn sich dir nicht freiwillig angeboten, als Whrany den Tod gefunden hatte? Der Zeitenherr hat von Vertrauen gesprochen. Nun wird es Zeit, dass Seilträger Bhapa von den Ramen auf sich selbst vertraut.« Aus Bhapas Miene sprach Panik; in seinem Blick glitzerte nackte Angst. Sein Gesicht war aschfahl geworden. Aber dann verbeugte er sich bebend vor seinem Mähnenhüter. Als er Pahnis Hand ergriff, zitterte seine Hand wie Espenlaub. Mit sichtlicher Anstrengung löste Covenant seine Finger von dem Krill. »Tut mir leid«, murmelte er, ohne dabei jemanden anzusehen. »Sollte das meine Idee gewesen sein …« Er verzog das Gesicht. »Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe. Ihr hättet eine Erklärung
verdient, aber ich weiß wirklich keine.« Linden verwünschte ihn innerlich. Unter anderen Umständen hätte sie wahrscheinlich protestiert. Sie wusste nicht, wie sie Liands Tod ertragen sollte - oder Aneles, sogar Galts. Sie wollte nicht auch noch Bhapa und Pahni verlieren. »Zeitenherr«, keuchte der Eifrige heiser. Covenant trat näher an ihn heran. »Ja?« Der Insequente drängte hörbar angestrengt und so deutlich wie möglich: »Merk dir Mishio Massima.« Covenant starrte ihn an. »Ist das dein wahrer Name?« Ließ er sich damit heraufbeschwören? Selbst so kurz vor dem völligen Zusammenbruch. Der Sterbende lachte heiser. »Das ist mein Reittier.« Im nächsten Augenblick erfasste das Geas der Insequenten ihn ein letztes Mal. Es riss ihn hoch, wobei er den Kopf in den Nacken warf, als müsste er laut schreien. Bunte Bänder schlängelten sich um ihn; sanken zu Boden; flatterten wieder hoch. Seine Hände griffen wie Krallen in die Luft. »Es ist genug«, sagte er, als würden die Worte ihm einzeln entrissen. »Wir sind zufrieden. Dies ist das Ende des Eifrigen. Besteht die Erde weiter, wird er als Größter aller Insequenten geehrt werden.« Dann griffen die Stoffbänder seines Gewands nach Bhapa und Pahni. So schnell, dass die Seilträger nicht mehr Lebewohl sagen konnten, riss er sie an sich und verschwand mit ihnen. Linden trat unwillkürlich einen Schritt vor, als wollte sie ihnen folgen. Das Verschwinden der beiden schien eine Lücke zu hinterlassen, die sie ausfüllen wollte. Aber Stave hielt sie sofort auf, und sie konnte natürlich nirgends hin. An ihrer Seite sackte Mahrtiir wie ein Mann zusammen, der einen plötzlichen Verlust erlitten hat. Nachdem seine Seil träger nun fort waren, wirkte er verunsichert, als hätte er sie fortgeschickt, damit sie sich demütigen lassen mussten. Das Verhalten Handirs und der übrigen Meister in Schwelgenstein lieferte dem Mähnenhüter keinen Grund zu der Annahme, Bhapa und Pahni könnten Erfolg haben. Linden hoffte, eine der Riesinnen werde etwas sagen, um Mahrtiir zu beruhigen. Sie selbst konnte es nicht. Aber Covenant hatte sich schon
wieder in Bewegung gesetzt; lief weiter auf und ab. »Höllenfeuer«, murmelte er vor sich hin. »Sein Reittier?« Er wiederholte diese Frage mehrmals, dann drehte er sich ruckartig nach der Gesellschaft um. Auch wenn Bhapa und Pahni - und der Eifrige - abrupt verschwunden waren, lenkte sein Verhalten die Aufmerksamkeit aller auf ihn. »Ich brauche den Namen seines verdammten Pferdes nicht zu wissen«, krächzte er. »Ich muss fort.« Dann fluchte er nochmals: Flüche, die allen längst so vertraut waren, dass sie wie Bitten klangen. Linden war sprachlos verblüfft, Stave zog leicht die Augenbrauen hoch, und die Schwertmainnir waren offen überrascht, als er wiederholte: »Ich muss fort.« Selbst auferlegter Zwang ließ seine Stimme schroff klingen, als er hinzufügte: »Ich weiß, dass das recht plötzlich kommt. Reden wir nicht davon, dass ich meistens wertlos bin. Linden, du glaubst noch immer, dass du mich brauchst. Sonst hättest du nicht so viel auf dich genommen, um mich zurückzuholen. Bestimmt ist es scheußlich, mich jetzt weggehen zu sehen. Teufel, mir würde es an deiner Stelle nicht anders ergehen. Aber ich muss fort. Und du kannst nicht mitkommen. Bevor ich mir Sorgen wegen anderer Dinge mache, muss ich etwas allein erledigen.« … er hat eine andere Aufgabe. Während Linden noch damit kämpfte, diesen Schlag zu verwinden, zuckte er verlegen mit den Schultern. »Na ja, nicht ganz allein. Ich nehme Clyme und Branl mit. Bis ich zurückkomme, müsst ihr ohne die beiden auskommen.« Seine Hände umklammerten den umhüllten Krill, als hinge sein Leben davon ab. … von der er sich nicht ablenken lassen darf. Die verwirrten Riesinnen mühten sich ab, eine Antwort zu finden. Mahrtiir beobachtete Covenant offen kummervoll. Sogar Staves ausdruckslose Miene ließ gewisses Missfallen erkennen. »Ist das irgendeine neue Erinnerung?«, fragte die Eisenhand schließlich. »Besitzt du Wissen oder Verständnis, das du noch nicht enthüllt hast?« Linden achtete jedoch auf niemanden außer den Mann, der sie einst geliebt hatte - und jetzt nicht zulassen wollte, dass sie ihn berührte. »Covenant …«, keuchte sie unbewusst nach Atem ringend. »Covenant!«
Er wies sie ab. »Wovon redest du eigentlich?« Gott, er wies sie tatsächlich zurück. »Ich brauche … wir brauchen … Verdammt noch mal, Covenant! Das Land braucht dich, wenn wir dir alle gleichgültig sind.« Seinetwegen hatte Linden die Schlange des Weltendes geweckt. Die Folgen ihrer Verzweiflung oder Narretei konnte sie nicht ohne ihn ertragen. »Linden, du musst mir zuhören.« Sein Blick brannte von Emotionen, die sie nicht deuten konnte. In seinen Augen loderten trübe Feuer von Verlust oder Mitleid oder reiner Wut. »Ich rede von Joan.« Einen Augenblick lang hob er den Krill, als wollte er ihn Linden in die Brust stoßen. Dann verzog er das Gesicht. Er steckte die eingewickelte Waffe wieder in den Hosenbund seiner Jeans. Mit leeren Händen, als wäre er hilflos, versuchte er eine Erklärung. »Sie ist nicht nur eine Weißgoldträgerin, die die ganze Welt in eine Wüste verwandeln kann, wenn sie lange genug lebt. Und sie leidet nicht nur Höllenqualen, weil der verdammte Turiya und die verfluchten Skest sie nicht sterben lassen. Sie war meine Frau. Sie ist Rogers Mutter. Dafür bin ich ihr etwas schuldig.« Damit konnte er Wiedergutmachung oder Vergeltung meinen. »Sie ist mein Problem. Bevor ich mich um Jean gekümmert habe, kann ich nichts anderes tun.« Während Linden nach Luft rang, trat Raureif Kaltgischt vor. Um Covenants Emotionalität entgegenzuwirken, sprach sie nüchtern wie Stein. »Covenant Zeitenherr, ich erkenne jetzt, dass du abgewartet hast, bis der Krill nicht mehr dazu benötigt wird, Linden Riesenfreundins Sohn zu beschützen. Diese Zurückhaltung ehrt dich. Aber der Eifrige hat von Sandgorgonen und Skurj gesprochen - und von der unbedingt notwendigen Reaktion auf die Art und Weise, wie Kastenessen den Stab des Gesetzes und alle Erdkraft in Fesseln gelegt hat. Sind das nicht wichtigere Dinge als die Notlage einer einzigen Wahnsinnigen?« »Hölle und Blut!« Covenant ballte seine nutzlosen Fäuste. »Ich habe den Eifrigen gehört. Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Aber ich habe bereits meine Tochter geopfert. Ich kann erst weitermachen, wenn ich mich mit Joan auseinandergesetzt habe. Manchmal muss man Dinge tun, die
wichtiger sind als die Rettung der Welt. Manchmal können wir niemanden retten, bevor wir unser eigenes Leben nicht in Ordnung gebracht haben.« »Aber warum weist du dann unsere Hilfe zurück?«, wandte die Eisenhand ein. Ihre Stimme blieb gleichmäßig ruhig. »Hier sind acht Riesinnen, ein Mähnenhüter der Ramen, Stave von den Haruchai und Linden Riesenfreundin. Unsere gemeinsamen Kräfte sind sicher nicht so erbärmlich, um wertlos zu sein.« Aber ihre Argumente - oder ihre Ruhe - schienen Covenant zu verärgern. »Großer Gott!«, rief er aus. »Hört denn keiner von euch richtig zu? Ihr könnt nicht mitkommen, weil es zu gefährlich ist. Joan erzeugt Zäsuren. Eine einzige, die zur falschen Zeit am falschen Ort ist, kann bewirken, dass niemand mehr übrig ist, der versuchen könnte, das Land zu verteidigen. Außerdem …« Covenant beherrschte sich mit sichtlicher Anstrengung; sprach in ruhigerem Tonfall weiter. Er nahm die Schultern zurück und wandte sich an Linden. »Du hast andere Dinge zu tun.« »Zum Beispiel?« Benommenheit wurde zu einem Dröhnen in Lindens Ohren. Schwarze Punkte flirrten wie Schemen durch ihr Blickfeld. Ihre Schwäche war ihr einziges Argument. »Wie sollen wir uns ohne dich behaupten können. Wir haben es kaum geschafft, Roger und die Höhlenschrate zu überleben.« Und Esmer. »Wir wissen nicht einmal, wie wir Jeremiah helfen sollen. Was können wir deiner Meinung nach gegen Kastenessen und Skurj und Sandgorgonen und Moksha Jehannum ausrichten? Gegen Lord Foul und die verdammte Schlange des Weltendes?« Warum willst du unbedingt von mir weg? »Linden, hör auf«, verlangte Covenant. Seine mühsame Zurückhaltung war sichtlich anstrengend. »Du schüchterst dich nur selbst ein. Alles ist viel einfacher, als du es darstellst. Ich erwarte, dass du tust, was du immer getan hast. Etwas Unerwartetes. Worauf du dich weiß Gott verstehst. Du hast mich öfter überrascht, als ich zählen könnte. Darin bist du unübertrefflich. Hab einfach Vertrauen zu dir selbst. Das ist alles. Der Rest erledigt sich von selbst. Tut er es nicht …« Covenant zuckte seufzend mit den Schultern. »Dann
hättest du ohnehin nichts dagegen tun können.« Linden atmete tief durch, holte dann nochmals Luft. Stave stützte sie weiter. »So einfach ist das nicht.« Die schwarzen Punkte verblassten allmählich. »Weißt du überhaupt, wo du Joan suchen musst?« Covenant erwiderte ihren Blick. »Ich kann es mir denken. Der Eifrige hat uns nicht ohne Grund hierhergebracht. Ich vermute, dass ich jetzt nur weiterziehen muss. Finde ich sie nicht, findet sie mich.« Bevor Linden weitere Einwände erheben konnte, fragte Mähnenhüter Mahrtiir ohne Vorrede: »Gehst du zu Fuß?« »Teufel, nein.« Covenants Aufmerksamkeit galt nicht mehr Linden. In Gedanken hatte er sich offensichtlich schon von ihr abgewandt. »Dafür haben wir keine Zeit. Clyme oder Branl kann die Ranyhyn rufen.« In einem Ausbruch von Empörung fragte der Mähnenhüter: »Was wird dann aus deinem Schwur, dass du niemals reiten wirst? Muss ich dich eidbrüchig nennen? Hast du den großen Pferden, die sich vor dir aufbäumten, nicht versprochen, sie nie zu bitten, dich zu tragen?« »Das habe ich«, gestand Covenant ein. Indem er die Unsicherheit und Verzweiflung der Gesellschaft ignorierte - und ohne weiter auf Linden zu achten -, marschierte er steifbeinig durch den Sand auf den Ausgang des Canyons zu. »Wie oft muss ich noch über Vertrauen reden? Mein Gott, sie sind Ranyhyn. Ihnen wird schon was einfallen.« Linden sah ihm nach, als verließe er sie. Nach einigen kurzen, nervösen Schritten rief er zu den Hügeln hinauf: »Es ist Zeit! Ruft die Ranyhyn!« Er blieb jedoch nicht stehen, um die Antwort Branls oder Clymes abzuwarten. Stattdessen steigerte er sein Tempo und hastete zwischen Felsblöcken hindurch weiter, als hätte er es eilig, Joan gegenüberzutreten. Eilig, sein Leben zu beenden. Die Gedemütigten mussten ihn gehört haben. Ein einsamer Pfiff zerriss Linden das Herz. Zwischen den kahlen Hügeln klang er so verzweifelt wie ein Klageruf in einer lichtlosen Höhle. Clyme oder Branl pfiff zum zweiten Mal. Und ein drittes Mal. In der Ferne kamen drei Pferde den ebenen Canyon entlanggetrabt. Zwei von ihnen waren Ranyhyn: Naybahn und Mhornym. Ihre sternförmigen Blessen leuchteten im hellen Sonnenschein.
Das dritte Tier war das Schlachtross des Eggers. Der große braune Hengst, der unwillig oder besorgt den Kopf hochwarf, trabte sichtlich widerstrebend zwischen Naybahn und Mhornym mit, als wäre es von den Ranyhyn gegen seinen Willen dazu gezwungen worden. Als die Pferde näher kamen, tauchten Clyme und Branl auf, die über die gefährlichen Steilhänge hinunterspurteten, als gäbe es für sie kein Straucheln. Sie erreichten Covenant im letzten Augenblick, bevor die Ranyhyn und das Schlachtross schnaubend zum Stehen kamen. Die Gedemütigten begrüßten ihre Reittiere zeremoniell feierlich. Vielleicht sprachen sie Begrüßungsworte oder rituelle Formeln, die schon uralt gewesen waren, als Covenant erstmals das Land besucht hatte. Aber Linden weigerte sich, sie zu hören. Erst als sie sah, wie Covenant sich in den Sattel des Eggers schwang, wurde ihr klar, dass er nichts von den Vorräten der Gesellschaft mitgenommen hatte. Er hatte kein Essen, kein Wasser, keine Decken. Covenant hatte gesagt, er werde zurückkommen; aber er benahm sich wie ein Mann, der nicht damit rechnet, zurückzukehren. Wieder einmal opferte er sich, um die Menschen, an denen ihm am meisten lag, zu retten. Gab es niemanden wie sie? Wirklich nicht? Das bezweifelte sie. Aber er war fraglos einzigartig. Vielleicht hatte er sich deshalb von ihr abgewandt. Sie war ihm nie ebenbürtig gewesen.
7 Vertrauensbeweise
Zwischen acht Riesinnen, die sie turmhoch überragten, Stave und Mahrtiir, den unerschütterlich Standhaften, und Jeremiah, der ein unansprechbares menschliches Wrack blieb, stand Linden Avery allein und starrte hoffnungslos zu der ersten Biegung des Canyons hinüber, hinter der Thomas Covenant, Branl und Clyme außer Sicht waren. Hätte sie sich in einem Spiegel betrachten können, hätte sie eine traurige Gestalt gesehen, erschöpft und ungepflegt. Ihr Haar kannte seit unzähligen Tagen weder Seife noch Bürste mehr. Ihre Gesichtszüge waren von Sorgen und Verlusten gezeichnet. Der Flanellstoff ihrer Bluse war mit herausgezogenen Fäden und kleinen Schnitten bedeckt, von denen das Einschussloch über ihrem Herzen der größte war. Der Stoffstreifen, den sie vom Saum für das Gewand der Mahdoubt abgerissen hatte, schien keine Bedeutung mehr zu haben: Er ließ sie nur noch mehr wie einen Flüchtling aus einem besseren Leben aussehen. Die Grasflecken ihrer Jeans waren so unentzifferbar wie Caerroil Wildholz’ Runen. Und der Stab des Gesetzes, der rußschwarz verfärbt war, obwohl sein Schaft so rein wie der Kern des Einholzbaums hätte sein sollen … Aber seine Bedeutung entgeht mir. Sogar seine Flamme war unter ihren Händen schwarz geworden, als spiegelte sie ihren Seelenzustand wider. Covenants Weggang hatte eine offene Wunde in ihr hinterlassen. Ohne seinen Ring war er hilflos gegen Zäsuren und Chaos. Er konnte nicht einmal die zerbrochenen Erinnerungen steuern, die ihn oft plötzlich überfielen. Und Joan kannte ihn: Sie - oder der Wüterich Turiya - würde seine Hand an Loriks Krill spüren. Linden wollte von ganzem Herzen glauben, er reite nicht in den Tod, aber diese Hoffnung wollte sich nicht einstellen. Sein Weggang hatte sie schutzlos zurückgelassen. Trotz seiner Verletzbarkeiten hatte sie auf eine Weise, die sich mit Worten kaum ausdrücken ließ, auf ihn vertraut. Doch er hielt seine Exfrau für wichtiger, wollte sich dringender um sie kümmern. Ich bin praktisch
Joans Marionette. Ich kann nichts anderes tun, bevor ich mit ihr fertig bin. Du hast andere Dinge zu tun, hatte er zu Linden gesagt, aber sie konnte sich nicht vorstellen, welche das sein sollten. Weil Jeremiah von allen Menschen, die sie geliebt hatte und die ihr Leben geformt hatten, als Einziger zurückgeblieben war, ließ sie den Stab fallen und ging zu ihm hinüber. Sie umarmte ihn, drückte ihn fest an sich und suchte Halt an der Gestalt, die sie über so viele Jahre hinweg ernährt und umsorgt hatte. Er war nur die Hülle des jungen Mannes, der er hätte sein sollen. So war er eigentlich immer gewesen; diese Teilnahmslosigkeit hatte seinen Einfluss auf Linden nie vermindert. Und jetzt wusste sie, wie er sich getarnt hatte. Sie hatte auf dem Gräberfeld seines Geistes gestanden. In gewisser Weise verstand Linden jetzt, wie er den Martern des Croyels - und Lord Fouls - widerstanden hatte. Aber sie verstand nicht, weshalb die Erdkraft, die Anele ihm geschenkt hatte, ihren Sohn nicht aufgeweckt hatte. Dieses Rätsel ging über ihren Verstand. Alle Dimensionen ihres Gesundheitssinns nahmen die Vitalität seiner neuen Theurgien deutlich wahr. Sie hätte genügen müssen - und reichte trotzdem nicht aus. Während Linden sich an ihren Sohn klammerte, räusperte Raureif Kaltgischt sich. »Linden Riesenfreundin.« Ihre Stimme war heiser vor Erschöpfung. Reichlich Wasser und ein wenig Essen hatten ihre verausgabten Kräfte nicht regenerieren können. Trotzdem klang ihre Stimme grimmig. »Der Tag entflieht uns. Bald wird die Sonne den Rand des Landbruchs erreichen, und wir stehen noch immer hier. Wir dürfen nicht länger zögern. Die Schlange des Weltendes wird nicht abwarten, bis wir bereit sind, ihr gegenüberzutreten.« Linden drückte Jeremiah noch fester an sich. Dann ließ sie ihn los. Die Eisenhand hatte recht. Das schräg von Westen einfallende Sonnenlicht warf lange Schatten, die wie böse Omina nach Covenant ausgriffen. Die Tatsache, dass die Schlange als abstrakter Begriff erschien - als bloßes Wort, nicht als unmittelbare Gefahr -, machte sie nicht weniger wichtig. Linden ließ ihren Sohn stehen und wandte sich der Anführerin der Schwertmainnir zu. Als sähe sie Kaltgischt zum ersten Mal, fiel ihr jetzt auf, welch scharfe Linien die Anstrengungen der letzten Zeit in ihr Gesicht geschnitten
hatten. Die Eisenhand trug die Spuren von ungeheuren Anstrengungen als Falten auf der Stirn, um die Augen und um die Mundwinkel. Schwach wahrnehmbares Muskelzittern begleitete jede ihrer Bewegungen. Soweit Mahrtiirs Gesicht nicht von der Augenbinde bedeckt war, sah es Kaltgischts ähnlich. Sein Körper war zusammengesunken: Er hielt sich wie ein Mann, der sich selbst verstümmelt hatte, indem er seine Seilträger weggeschickt hatte. Von den dreien, die hart gearbeitet hatten, um Anele und Galt würdig zu bestatten, ließ nur Stave nicht erkennen, welchen Preis er dafür bezahlt hatte. Seine Verletzungen waren innerlich, durch seine Haltung als Haruchai und seinen Stoizismus getarnt. Zum Glück hatten die anderen Riesinnen sich etwas besser erholt. Sie hatten so erbittert gekämpft wie Raureif Kaltgischt; hatten ebenso schlimme Wunden davongetragen. Und ihre Heilung, die sie Linden verdankten, war grausam schnell vor sich gegangen - und hatte ebenfalls ihren Preis gefordert. Spätgeborene bewegte sich noch immer vorsichtig. Rahnock und Frostherz Graubrand hinkten, und auch Onyx Steinmangold schien nicht ganz sicher auf den Beinen zu sein. Trotzdem hatten sie sich länger ausgeruht und mehr gegessen als die Eisenhand. Sie sahen aus, als könnten sie ihre Rüstung tragen, Säcke mit Vorräten schultern und marschieren - zumindest eine Zeit lang. Dafür konnte Linden dankbar sein. »Also gut«, antwortete sie Kaltgischt seufzend. »Ich habe diese Gegend ohnehin satt. Aber trotzdem stellt sich noch die Frage, welches Ziel wir uns vornehmen und was wir dort erreichen wollen.« Verbittert fügte sie hinzu: »Immer unter der Voraussetzung, dass wir unterwegs nicht überfallen werden. Covenant …« Linden schluckte Galle und Kummer hinunter. »Dass er uns so im Stich gelassen hat… Das ändert einiges.« In Wirklichkeit änderte es alles. »Vielleicht sollten wir noch mal über unsere ganze Situation nachdenken.« Raureif Kaltgischt wollte etwas antworten, aber Mahrtiir kam ihr zuvor. »Ring-Than.« Seine Stimme war vor Erschöpfung so heiser, dass sie fast wie ein Stöhnen klang. »Willst du nicht noch einmal versuchen, deinen Sohn zu wecken, bevor wir über solche Dinge beraten?« Ohne seine
Seilträger war er ein anderer Mann, er wirkte kleiner, vielleicht auch zerbrechlicher. Bisher hatte er sich immer darauf verlassen können, dass Pahni und Bhapa seine Blindheit kompensieren würden. »In seinem jetzigen Zustand bleibt er hilflos. Und seit du zuletzt versucht hast, ihn zu sich zu bringen, hat sich viel verändert. Kannst du nicht jetzt ein Mittel finden, ihn aus seiner Teilnahmslosigkeit zu wecken?« Linden schüttelte den Kopf. Sie suchte nach den richtigen Worten, um Wahrnehmungen zu beschreiben, die ihr längst klargeworden waren. Wie oft muss ich noch über Vertrauen reden? Sie hatte allzu viele Fehler gemacht. Noch schlimmer: Sie hatte zu oft die gleichen Fehler gemacht. Sie musste glauben, es könnte bessere Lösungen geben; aber sie wusste nicht, wo sie zu finden waren. Mit bewusster Anstrengung zwang sie sich dazu, zu sagen: »Er ist nicht hilflos in seinem Körper gefangen. Das wäre ein falsches Bild. Er ist wie Anele. Er hat diese Möglichkeit gewählt. Sie ist… war sein einziges Abwehrmittel. Das verdient einigen Respekt. Ich weiß nicht, wie er sich sonst hätte schützen können. Vielleicht sitzt er jetzt dort drinnen fest«, schloss sie, um Protesten zuvorzukommen. »In diesem Zustand befindet er sich schon ziemlich lange. Vielleicht will er raus und findet sich nur nicht zurecht. Aber um ihm helfen zu können, müsste ich noch tiefer in ihn eindringen.« Viel tiefer; tief genug, um ihn aus seinen Gräbern zu zerren. »Ich müsste Besitz von ihm ergreifen. Und das ist grundsätzlich falsch. Die Ranyhyn haben mich davor gewarnt. Sie haben mir gezeigt, was schiefgehen kann, wenn ich darauf bestehe, Leuten, die das Recht haben, eigene Entscheidungen zu treffen, Gewalt anzutun.« Mehr als einmal und auf verschiedene Weise hatte Anele ihren Impuls zurückgewiesen, ihn zu heilen. Vor dem Rösserritual hatte Stave trotz seiner von Esmer stammenden Verletzungen das Gleiche getan. »Ich bin früher Ärztin gewesen. Eine Heilerin für Leute mit Geisteskrankheiten. Dabei habe ich vor allem gelernt, dass ich sie nicht heilen konnte.« Gott, dieses Eingeständnis fiel ihr schwer! Sie hatte gelernt, die Wahrheit in Bezug auf ihre Patienten zu akzeptieren. Aber das von ihrem eigenen Sohn zu sagen … »Sie mussten sich selbst heilen. Meine einzige wirkliche Aufgabe hat daraus bestanden, ihnen zu helfen, sich so sicher zu fühlen, dass sie es riskieren konnten, sich selbst zu
heilen. Ich bin keine große Heilerin mehr.« Dazu hatte Linden zu viel gemordet. »Aber in jemanden einzudringen, ist nach wie vor falsch. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.« Weil Moksha Jehannum in sie eingedrungen war. »Und weil ich es selbst getan habe.« Bei Covenant. »Covenant will immer, dass ich mir selbst vertraue, aber damit kann ich nicht viel anfangen.« Weil das unmöglich war. Dafür habe ich schon zu viele Fehler gemacht. Aber den Ranyhyn zu vertrauen, kommt mir vernünftig vor. Sie haben sich große Mühe gegeben, mich zu warnen.« Linden mochte sich nicht an die Bilder erinnern, mit denen sie ihren Kopf angefüllt hatten. »Es wird Zeit, dass ich aufhöre, sie zu ignorieren, glaube ich.« Anstrengungen müssen gemacht werden, hatte Mahrtiir ihr vor vielen Tagen erklärt, auch wenn die Sache hoffnungslos erscheint. Aber er hatte auch gesagt: Und manchmal geschieht ein Wunder, das uns erlöst. Linden erwartete Einwendungen. Wie sollten ihre Gefährten verstehen, was sie zu sagen versuchte? Keiner von ihnen war von Wüterichen in Besitz genommen worden, hatte Joans schaurige Qualen mit ihr durchlitten oder war Aas geworden. Aber Kaltgischts einzige Reaktion bestand aus besorgtem Stirnrunzeln. Keine der anderen Riesinnen erhob Einwände. Stave betrachtete Linden ausdruckslos; akzeptierte sie schweigend. Aber Mahrtiir … Der Mähnenhüter entspannte sich sichtlich. Linden schien ihn von einer heimlichen Last, einem unausgesprochenen Zweifel befreit zu haben. Er nahm die Schultern etwas zurück, bevor er verkündete: »Dann sehe ich keinen Grund, von unserem Vorhaben abzurücken. Ursprünglich hatten wir uns darauf geeinigt, uns der Führung der Ranyhyn zu überlassen. Mit dieser Entscheidung war ich einverstanden. Das bin ich noch jetzt. Da wir so wenige sind, können wir keinen besseren Weg einschlagen. Stave von den Haruchai soll die großen Pferde rufen. Wir wollen unseren Vorsatz erneuern, uns ihrer Führung anzuvertrauen.« Sein Rat war ein Geschenk. Linden wollte keine weiteren Entscheidungen mehr treffen müssen. Und in einem Punkt war sie den Ramen ähnlich: Sie empfand die bevorstehende Ankunft der Ranyhyn als Erleichterung. Die Freundlichkeit in Hyns Augen, die Sicherheit im langen Schritt der Stute gewährten ihr tröstliche Erleichterung, die so
spürbar war wie eine Liebkosung. Die Eisenhand dachte kurz über Mahrtiirs Ratschlag nach. Einen Augenblick lang begutachtete sie auch die Reaktionen ihrer Gefährtinnen. Als sie sich wieder Mahrtiir und Linden zuwandte, erschien ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht. »Mähnenhüter, deine Worte sind nicht nur töricht, sondern in gewissem Grad sogar verrückt. Schon deshalb sind wir entzückt, sie zu hören. Sind wir nicht Riesen? Lauter Toren? Und hegen wir nicht den Wunsch, uns mit aller Kraft gegen die völlige Verwüstung der Erde zu stemmen? Welches Schicksal wäre da angemessener, als Leben und Leidenschaft dem Willen von Tieren zu unterwerfen, die keine Rechenschaft über ihre Absichten ablegen können? Zuvor haben wir uns für diesen Weg entschieden, weil wir keinen anderen gesehen haben. Jetzt wählen wir ihn, weil er unsere Herzen erfreut. Sollten Erde und Zeit wider Erwarten überdauern, wird es später Sagen von Riesinnen geben, die es wagten, den Weltuntergang auf Geheiß nichts für ungut, Mähnenhüter - bloßer Pferde zu riskieren.« Auch Mahrtiir grinste jetzt. Im Gegensatz zu Kaltgischts Grinsen und dem der anderen Riesinnen war sein Gesichtsausdruck jedoch schärfer, wild und brennend wie ein Racheversprechen. Hätten Roger oder Kastenessen oder selbst Lord Foul in diesem Augenblick den Mähnenhüter sehen können, dachte Linden, hätten sie vielleicht gespürt, wie sich ihre Magennerven vor Angst verkrampften. Stave nickte nacheinander Linden, Mahrtiir und den Riesinnen zu, dann hob er eine Hand an den Mund und begann das Rufritual seiner Vorfahren aus der Zeit der Bluthüter und des Großrats der Lords. Drei Pfiffe, jeder gellend laut. Linden hatte kaum Zeit, verwundert den Kopf über die rätselhafte Magie zu schütteln, die es den Pferden von Ra ermöglichte, Stunden oder Tage oder Monate im Voraus zu wissen, wann und wohin sie gerufen werden würden, sodass sie prompt zur Stelle sein konnten. Dann hörte sie die gedämpften Hufschläge von Pferden, die über den verdichteten Sand des Canyons galoppierten. Eigentlich hätte sie nicht imstande sein dürfen, die Hufschläge schon aus dieser Entfernung zu hören. Vielleicht trug der Schall nur deshalb so weit, weil die Pferde Ranyhyn waren: Majestätisch und unbeschreiblich, vital wie der Erdkraftpuls des Landes und göttlich wie die Hügel von
Andelain. Nur wenig später kamen sie jedoch in Sicht. Weil der Uferstreifen wegen der verstreuten Felsblöcke zu schmal war, galoppierten sie hintereinander her: Erst der stolze Hynyn, ein prächtiger Rotschimmel, dann Hyn, ein Apfelschimmel mit ausgeprägter sternförmiger Blesse, dann Narunal, rotbraun und lebhaft - ungestüm wie Mahrtiir, so energiegeladen wie er. Einen Augenblick lang glaubte Linden, dies seien alle Pferde. Hinter Narunal tauchte jedoch ein weiterer Rotschimmel auf, der Hynyns Sohn sein musste, weniger muskelbepackt, mit nicht ganz so breiter Brust und etwas kleiner. Hynyn, Hyn und Narunal: Stave, Linden und Mahrtiir. Die letzten drei der zehn Personen, die mit widerwilliger Zustimmung der Meister Schwelgenstein verlassen hatten. Und ein Reittier für Jeremiah. Ein Reittier für Jeremiah, der zwar kein Reiter war, aber gut das Gleichgewicht halten konnte und so sicher auf seinem Ranyhyn sitzen würde wie auf einem Pferd aus Stein. Linden hatte beobachtet, wie Naybahn und Mhornym Branl und Clyme davongetragen hatten. Sie glaubte, dass sie Rohm, Hrama und Bhanoryl nie wiedersehen würde; ihre Reiter waren tot. Was Rohnhyn und Naharan, Bhapa und Pahni, betraf, wusste sie nicht, was sie denken sollte. Sie hielt es für nicht sehr wahrscheinlich, dass es den beiden gelingen würde, die Meister umzustimmen. Aber Jeremiah hatte ein Reittier! Auf dem Rücken eines Ranyhyns war er sicherer, als er in ihren Armen gewesen wäre. Und vielleicht… oh, vielleicht konnte das Reiterlebnis dazu beitragen, ihn aus seiner Isolation zu führen oder zu locken. In ihren Jahren am Berenford Memorial Hospital hatte sie schon seltsamere Dinge erlebt. Manchmal genügte eine bloße Berührung wenn es die richtige Berührung war, die im richtigen Augenblick von dem richtigen Menschen kam. Ihre Umarmungen waren nicht die Beruhigung, die Jeremiah brauchte; vielleicht war auch sie nicht dafür geeignet. Trotzdem nahm sie sich vor, sich mit jeder Art Trost abzufinden, die dazu beitrug, ihn wieder zu sich kommen zu lassen. Stave und Mahrtiir reagierten ganz unterschiedlich auf die Ankunft der Ranyhyn. Während die Riesinnen sie erstaunt und fasziniert zugleich
beobachteten, sprach der ehemalige Meister förmlich von Landreitern und Stolz-Trägern, Sonnenfleisch und Himmelsmähnen. Gleichzeitig warf der Mähnenhüter sich mit ausgestreckten Armen vor ihnen zu Boden und drückte die Stirn auf eine Art, die ehrfürchtig und jubelnd zugleich war, in den Sand. Die Pferde hatten offenbar keine weite Strecke zurücklegen oder Entbehrungen ertragen müssen. Sie mussten die Hügel sehr rechtzeitig verlassen und einen ziemlich direkten Abstieg aus dem Oberland hierher gekannt haben. Mit majestätisch erhobenem Haupt kam Hynyn stampfend vor Stave zum Stehen und wieherte triumphierend trotzig. Hyn tänzelte anmutig, als sie an den Riesinnen vorbei auf Linden zukam. Wem die Zuneigung der Stute gehörte, war klar, als sie ihre weichen Nüstern an Lindens Schultern drückte und getätschelt werden wollte. Das tat Linden bereitwillig, ohne jedoch Hyns Gefährten aus den Augen zu lassen. Narunal machte vor Mahrtiirs ausgestreckten Armen halt, wieherte eine leise Aufforderung. Mahrtiirs Ehrerbietung schien den Hengst ungeduldig zu machen: Er wollte, dass der Mähnenhüter aufstand. Das vierte Pferd blieb einige Schritte hinter den anderen stehen. Der jüngere Rotbraune fixierte Jeremiah, aber Linden konnte den Ausdruck in seinem Blick nicht deuten. War das Stolz? Vorfreude? Oder etwa Angst? Als Hynyn nochmals wieherte, kam Mahrtiir wieder auf die Beine. Er klopfte Narunal auf den Hals und schien intuitiv mit dem Ranyhyn zu kommunizieren. Dann wandte er sich Linden zu. »Ring-Than«, sagte er förmlich, »dies ist Khelen, einer der jungen Hengste der Herde. Jugend zu Jugend … er ist gekommen, um deinen Sohn zu tragen, wenn du einverstanden bist. Er braucht deine Einwilligung. Er besitzt noch nicht den Stolz seines Vaters, aber er weiß, dass er sich erbietet, eine Aufgabe zu übernehmen, die gefahrvoll und erhaben zugleich ist. Willst du ihm gestatten, sich deines Sohns anzunehmen? Er ist bereit, mit seinem Leben für ihn zu bürgen.« Linden konnte sich nicht vorstellen, woher der Mähnenhüter solche Dinge wusste. Doch sie glaubte ihm. Knapp, aber höflich antwortete sie: »Bitte sage Khelen meinen Dank. Mein Einverständnis hat er.« Mahrtiir antwortete mit einer Verbeugung nach Art der Ramen, ohne jedoch etwas zu sagen. Er konnte zweifellos darauf vertrauen, dass die
Ranyhyn Linden verstanden. Statt weiterzugeben, was sie gesagt hatte, warf er sich herum und sprang mit einem Satz auf Narunals Rücken. Tatsächlich schien er auf seinen Sitz zu schweben, als hätte er sein Leben lang geritten; als wären die Seilträger und er nicht die ersten Ramen, die jemals auf einem Ranyhyn gesessen hatten. Khelen bewegte sich zögernd einige Schritte auf Jeremiah zu. »Ebenfalls mit deinem Einverständnis, Linden Riesenfreundin«, sagte Sturmvorbei Böen-Ende lebhaft. Sie wartete Lindens Antwort jedoch nicht ab, sondern hob Jeremiah hoch und setzte ihn auf Khelens Rücken. Linden hielt den Atem an. Der junge Hengst stand einige Sekunden lang bewegungslos da. Falls der Gestank von Jeremiahs Schlafanzug ihn störte, ließ er sich nichts davon anmerken. Aber Khelen schien auf eine Reaktion des Jungen zu warten, auf ein ängstliches Zusammenzucken oder eine Andeutung von Entspannung. Doch Jeremiah ließ keine bewusste Reaktion erkennen. Sein Verstand war zu tief vergraben. Er saß so da, wie er zuvor gestanden hatte: mit schlaffen Lippen und trübem Blick, ohne zu merken, dass sich in seinen Mundwinkeln Speichel sammelte. Nun ja, sagte Linden seufzend. Vielleicht, wenn Khelen zu traben beginnt… oder zu galoppieren … Khelen warf den Kopf hoch und wieherte fragend. Hynyn antwortete mit einem Schnauben, das befehlend klang. Der jüngere Rotbraune begann, sich von dem Bach zu entfernen, und trug den Jungen wie einen kostbaren Schatz. Als Linden jetzt zu Stave hinübersah, kam er, um ihr auf Hyns Rücken zu helfen. Obwohl Linden seit vielen Tagen nicht mehr geritten war, übertrug sich Hyns vertraute Fähigkeit, Lockerheit und Stabilität, zu kommunizieren, fast augenblicklich auf sie. Während Stave sich auf Hynyn schwang, nickte Linden Raureif Kaltgischt zu, deren breites Grinsen an Pechnase erinnerte. »So gehen wir nun auf einen neuen Kurs«, verkündete die Eisenhand, »törichterweise und froh darüber. Zahlreich waren die Wechselfälle unserer Reise und extrem ihre Heimsuchungen. Jeder neue Kurs war unvorhergesehen wie der Seelenbeißer, ebenso unvorhersehbar - und manchmal kaum weniger gefährlich. Gleichwohl glaube ich, dass wir
noch kein Meer befahren haben, das ebenso unerforscht ist, wie das vor uns liegende. Hätten wir die Kraft zu Überschwang, würden wir von unserer Freude darüber singen, dass wir in der Sargassosee des Schicksals der Erde von dem namenlosen Mysterium dieser Ranyhyn geleitet werden.« »Aye«, stimmte Frostherz Graubrand schroff zu. »Und wenn wir unseren Atem für Wichtigeres aufsparen, vertrauen wir darauf, dass Freude in den Ohren liegt, die hören, nicht in dem Mund, der nicht singt.« Rahnock warf sich lachend einen Sack mit Vorräten über die Schulter. Obwohl Onyx Steinmangold nicht ganz sicher auf den Beinen war, nahm sie ebenfalls einen - mit den letzten Vorräten und Wasserschläuchen des Eifrigen. Zirrus Gutwind hob die Bettrolle auf und warf sie leise lachend Stave zu, als wäre sie ihr zu schwer. Der Haruchai fing sie auf, als wäre sie gewichtlos, und legte sie über seine Oberschenkel. »Ring-Than?«, fragte Mahrtiir in einem Tonfall, als hätte Hynyns stolzer Übermut auf ihn abgefärbt. »Klar«, murmelte Linden. Sie beobachtete wieder Jeremiah, als könnte ihre Aufmerksamkeit ihn aufwachen lassen. »Ich denke, du kannst den Ranyhyn mitteilen, was wir wollen.« Irgendwie. »Weigern sie sich, werden wir es bald erfahren.« Der Mähnenhüter blaffte wie einer der Urbösen. Dann beugte er sich tief über Narunals Hals und streichelte ihn, während er in einer Sprache, die wie leises Wiehern klang, mit dem Hengst sprach. Linden glaubte den Namen Kelenbhrabanal zu hören, aber der Rest blieb unverständlich. Falls die Riesinnen ihn verstanden, lachten sie nur halblaut, überprüften ihre Waffen und machten sich zum Aufbruch bereit. Narunal antwortete mit einem Wiehern, das so durchdringend klar wie das Hynyns war. Mahrtiirs Hengst machte sofort kehrt und trabte den Weg zurück, auf dem er gekommen war. Hynyn folgte ihm, ohne dass Stave ihm irgendein sichtbares Zeichen gegeben hätte. Danach kam Khelen, der seine Hufe so vorsichtig setzte, dass Jeremiah nicht durchgerüttelt oder sonst wie gestört wurde. Hyn, die beruhigend schnaubte, reihte sich hinter Khelen ein. Und dahinter kamen die acht Schwertmainnir unter Führung von Raureif Kaltgischt, während Rüstig Grobfaust die Nachhut bildete. Offenbar hatten die Ranyhyn beschlossen, wenigstens so viel
Verantwortung für den Einfluss der Gesellschaft auf das Schicksal des Landes zu übernehmen. Solange der Canyon sich nach Westen schlängelte und sein Boden weitgehend hindernisfrei war, folgten die Ranyhyn ihm. Als die Gesellschaft den Kampfplatz mit den Gräbern hinter sich ließ, wurden die Hügel allmählich auf beiden Seiten niedriger. Von Zeit zu Zeit sah Linden jetzt im Norden und Süden ferne Landschaften: Kahle Hügel, zwischen denen mit Erde und Geröll ausgefüllte Senken lagen, die vielleicht ausgetrocknete Sümpfe waren. Als Narunal und die anderen Ranyhyn das schmaler werdende Bachufer verließen und auf eine Ebene hinaustraten, die mit feinem Geröll und Sand bedeckt war, verblüfften sie Linden dadurch, dass sie nach Südosten hielten. Hätten sie nicht eigentlich nach Nordwesten traben müssen? Zum Donnerberg, wenn nicht sogar in Richtung Salva Gildenbourne? Dort verwüsteten Skurj und Sandgorgonen den Wald, um Kastenessen zu schützen. Aber die Pferde suchten sich vorsichtig einen anderen Weg zwischen messerscharfen Feuersteinsplittern hindurch. Folgten sie Covenant? Bei diesem Gedanken schlug Lindens Herz höher. Er hatte angedeutet, er werde Joan in der Richtung suchen, die der Eifrige aus der Verlorenen Tiefe kommend eingeschlagen hatte, in dieser Richtung. Glaubten die Ranyhyn, Covenant werde Lindens Hilfe brauchen, wenn er endlich seiner Ex-frau gegenübertrat? In diesem Falle sollten sie sich beeilen. Sie fürchtete mehr, ihn durch eine Zäsur zu verlieren, als sie seine Zurückweisung fürchtete, die vielleicht nur ein Versuch war, sie zu schonen. Aber die Gesellschaft konnte sich nicht beeilen, noch nicht. Die Pferde mussten aufpassen, wohin sie traten. Und die Riesinnen … Sie stapften unbeirrbar weiter, als spürten sie die scharfen Steine nicht, und wirbelten mit jedem schweren Schritt kleine Staubwolken auf. Sie bewegten sich mühsam wie Frauen, die schwere Felsbrocken zu schleppen haben. »Stave?« Linden bemühte sich, ihre Stimme nicht zu erheben und vor allem nicht ängstlich klingen zu lassen. »Lässt sich feststellen, ob Covenant in diese Richtung unterwegs gewesen ist?« Stave sagte nichts. An seiner Stelle antwortete Mahrtiir: »Die Ranyhyn
sind von ihrem Weg zu uns abgewichen. Aber vor uns liegt die Fährte dreier Pferde, davon eines beschlagen. Ich vermute, dass wir Naybahn, Mhornym und dem Pferd des Eggers folgen. Seit ich das Augenlicht verloren habe«, gestand er über seine Behinderung wütend ein, »bin ich kein guter Fährtenleser mehr. Aber dass der Zeitenherr und die Gedemütigten hier geritten sind, ist klar. Vorläufig ist ihr Weg der unsere.« »Lässt sich sagen …?«, begann Linden. Sie wusste nicht, wie eng die Kommunikation Mahrtiirs mit Narunal und den übrigen Pferden war. »Lässt sich sagen, ob wir ihm weiter folgen werden?« »Ring-Than, das kann ich nicht.« Dieses Eingeständnis störte den Mähnenhüter offenbar nicht. »In dieser Beziehung ist das Band zwischen den Ranyhyn und ihren Ramen …« Er schien das richtige Wort zu suchen. »… nicht sehr ausgeprägt. Wir sind die Diener der großen Pferde, sonst nichts. Und unser Dienst konzentriert sich im Kern auf Dienen. Wir machen uns nicht wichtig, indem wir mehr zu begreifen versuchen, als uns zugestanden wird.« »Du weißt also nicht, was sie vorhaben?« »Ganz recht«, bestätigte Mahrtiir gelassen. Linden starrte seinen Rücken finster ab. »Woher weißt du dann, dass sie verstehen, worum wir sie bitten?« »Ring-Than.« Jetzt klang die Stimme des Mähnenhüters etwas irritiert. »Dass wir nicht versuchen, die Gedanken der Ranyhyn zu erraten, bedeutet nicht, dass sie unsere nicht lesen können. Wie wären wir sonst imstande, ihnen zu dienen, wenn sie uns nicht verstünden? Der Zeitenherr hat von Vertrauen gesprochen. Und du warst einverstanden. Möchtest du dein Einverständnis widerrufen, kannst du das jederzeit tun. Befiehl Hyn, was dein Herz dir eingibt. Ich werde das Ergebnis dann interessiert verfolgen.« Linden spielte einen Augenblick lang mit dem Gedanken, seine Herausforderung anzunehmen. Sie wollte eine weitere Chance, mit Covenant zusammen zu sein. Ihn zu beschützen, wenn sie konnte. Zu verstehen, warum er sich von ihr abgewandt hatte. Aber dann schüttelte sie den Kopf und widerstand dem Drang, sich selbst zu ohrfeigen…. von Vertrauen gesprochen. Sie brauchte irgendein Mittel, um ihren sich beschleunigenden Abstieg ins Dunkel aufzuhalten,
und wusste aus Erfahrung, dass die Logik der Verzweiflung unwiderstehlich war, wenn sie nicht mehr vertrauen konnte. Irgendwann würde sie ihr erliegen … Noch vor wenigen Tagen hatte sie ihre Gefährten gedrängt, ihr zu misstrauen. Alles schön und gut, aber nur beschränkt aussagekräftig. Sie hatte an sich selbst gezweifelt; deshalb hatte sie die Gewissheit gebraucht, dass ihre Freunde ihre Entscheidungen selbstständig trafen. Letztlich hatte Lindens Beharren darauf jedoch den Schluss nahegelegt, sie habe an ihnen gezweifelt. Hatte Kevin Landschmeißer nicht aus diesem Grund Zuflucht zum Ritual der Schändung genommen? Er hatte sich die Schuld an der Notlage des Landes gegeben - und keiner anderen Macht zugetraut, was er selbst nicht konnte. Nun hatte Mahrtiir sie eigentlich herausgefordert, die Wahrheit zu bekennen, was ihre Zweifel betraf; aber das durfte sie nicht. Sie hatte schon zu viel Unheil angerichtet. Ihr blieb eigentlich nichts anderes mehr übrig, als sich an ihre Freunde und die Ranyhyn zu klammern. Letztlich würde jede Alternative sie zu Ihr, die nicht genannt werden darf, zurückführen. Ihr Schweigen schien Mahrtiir zufriedenzustellen. Er saß aufrecht, hielt den Kopf hoch und konzentrierte sich auf den Weg vor Narunal, als er die Gesellschaft in ein Gebiet mit Schiefer und Sandstein führte, die ein Gletscher abgelagert hatte. Die Ranyhyn hätten ihr Tempo steigern können, aber das taten sie nicht. Selbst wenn Covenant und die Gedemütigten nur getrabt waren, mussten sie jetzt einige Meilen Vörsprung haben. Trotzdem bewegte Narunal sich weiterhin, als hätten die Ranyhyn keine andere Aufgabe, als die Kräfte der Riesinnen zu sparen. Als hätten Linden und ihre Gefährten sich dafür entschieden, auf eine Illusion zu setzen. Als hegten die Ranyhyn die Absicht, Linden tiefer in Verzweiflung abgleiten zu lassen. Als die Sonne hinter dem Rand des Landbruchs versank und das oft geschundene Unterland in Schatten hüllte, begannen Zäsuren zu erscheinen. Anfangs kamen sie sporadisch und flüchtig; häufig waren sie nur im Vergleich zu ihrem Auftreten im Oberland. Sie tanzten in
Intervallen übers Land, das durch alte Schlachten und Verwüstungen, Theurgie-Stürme und Plünderungen verheert worden war, tanzten und flackerten und erloschen harmlos. Aber mit der über den Hügeln herabsinkenden Nacht kamen die Zäsuren häufiger und dauerten länger. Auch ihre Wucht verstärkte sich, sodass sie Zeit und Steine und Luft zu einem Chaos aufwirbelten. Wenn sie verschwanden, schien das dabei entstehende jähe Vakuum allen die Luft aus der Lunge zu saugen. Irgendwo näherte sich Joans Hysterie offensichtlich einer Krise. Linden konnte nur vermuten, dass Covenant in die richtige Richtung unterwegs war - und dass Joan wusste, dass er kam. Joan oder Turiya Herem: Es gab keine brauchbare Unterscheidung, außer dass Joan schwächer war als der Wüterich. Aus Lindens Sicht war Joans Schwäche Covenants einzige Hoffnung. Der Krill und die Gedemütigten konnten ihn nicht vor chaotischen Wirbeln schützen, die zerstörerisch wie Tornados waren. Das hätten nicht einmal Ranyhyn gekonnt - und er saß nur auf dem Streitross des Eggers. Trotz des erratischen Stotterns und Quietschens der Zäsuren behielten Narunal, Hynyn, Hyn und Khelen ihre Fähigkeit, Futter und Wasser zu finden. Irgendwie entdeckten sie kleine Bäche in Felsspalten und überraschende Grasklumpen in Senken, die auf den ersten Blick ausgetrocknet gewirkt hatten. Ohne von Covenants Fährte abzuweichen, fanden sie auch mehrere Ansammlungen von Aliantha. Als Folge der Kriege und Verheerungen durch den Verächter wuchsen hier nicht genug Schatzbeeren für die Bedürfnisse der Riesinnen. Trotzdem hielten einige Beeren, sparsame Zuteilungen aus den Vorräten des Eifrigen und etliche Gelegenheiten, die Wasserschläuche nachzufüllen, die Riesinnen auf den Beinen. Nur von Sternenschein erhellt, zu dem sich schwaches erstes Mondlicht und das wilde Leuchten brodelnder Zäsuren gesellten, zog die Gesellschaft weiter. Die Ranyhyn waren anscheinend zu dem Schluss gekommen, sich keine Rast leisten zu dürfen. Linden, der die überraschenden Ausbrüche von Zäsuren zusetzten, war sich ihrer Umgebung immer weniger bewusst. Die Einzelheiten von Gesteins- und Geländeformationen verschwammen zusehends. Außerdem fühlte sie einen Sturm kommen. Ihre Hautnerven entdeckten
Luftwirbel, stürmisch auffrischende Winde und rasch wechselnden Luftdruck - lauter Folgen der Gewalt der Zäsuren. Aber sie versuchte nicht erst, die Stärke des Sturms abzuschätzen. Die Auswirkungen von Joans Wahnsinn fesselten ihre Aufmerksamkeit. Kam eine Zäsur ihnen zu nahe, musste sie bereit sein. In ihrer Konzentration auf Gefahren war sie überrascht, als die Pferde anhielten. Sie hatten ein flaches Tal zwischen Basaltfelsen erreicht, die so glatt waren, dass sie den schwachen Sternenschein zurückwarfen. Ein kleiner Bach schlängelte sich über den Talboden nach Osten; an seinen Ufern wuchsen zähe Gräser und dazwischen mehr Aliantha, als die Gesellschaft bisher gefunden hatte. Dort stiegen erst der Mähnenhüter, dann Stave ab. Während Narunal und Hynyn wegtrotteten, sagte Mahrtiir ruhig: »Wir brauchen eine Rast. Die Ranyhyn werden über uns wachen.« Die Schwertmainnir, die im Chor leise seufzten und ächzten, versammelten sich um Linden und Hyn, Jeremiah und Khelen. Einige von ihnen lockerten ihre Brustpanzer und ließen ihre Steinschwerter ins Gras fallen. Während Sturmvorbei Böen-Ende Jeremiah von seinem Pferd hob, machten Rahnock und Onyx Steinmangold sich daran, Essen auszupacken. Die Riesinnen waren nervös; häufiger auftretende Zäsuren und das offenbar heraufziehende schlechte Wetter machten ihnen Sorgen. Aber sie mussten diese Gelegenheit nutzen, um zu essen und zu schlafen. Als Khelen hinter Narunal und Hynyn hertrabte, stieg auch Linden ab und ließ die Stute laufen. Stave hatte ihr Bettzeug schon ausgebreitet, aber sie ignorierte es. Stattdessen fragte sie Mahrtiir. »Hat Covenant hier gerastet?« Wie der Mähnenhüter und die Riesinnen sprach sie leise. Sie kannte das Unterland nicht und wusste nicht, welche Gefahren hier drohten. Laute Geräusche in der Nacht konnten ihre Anwesenheit verraten … »Ich denke, dass er es getan hat«, bestätigte der Mähnenhüter fast flüsternd. »Seine Fährte führt hierher. Hier sind Schatzbeeren gepflückt worden. Aber seine Rast war kurz. Wäre er länger geblieben, wären die Hufspuren deutlicher ausgeprägt.« »Wie weit ist er voraus?« »Ungefähr fünf Meilen.« Das klang jedoch weniger sicher. »Bestimmt
nicht mehr als zehn. Bei höherem Tempo wären die Hufspuren deutlicher, die Schritte länger.« Linden versuchte sich vorzustellen, was der Vorsprung Covenants bedeutete. Allerdings reichten ihre wenigen Erfahrungen im Unterland nicht so weit nach Süden. Bewusst leise sprechend fragte sie Stave nach ihrer jetzigen Position. Um sie herum war den Schwertmainnir nicht anzumerken, ob sie ihnen zuhörten. Stattdessen bereiteten sie eine Mahlzeit zu, sammelten Aliantha, legten ihre Rüstungen ab oder massierten einander die schmerzenden Muskeln. Trotzdem spürte Linden die Last ihrer indirekten Aufmerksamkeit. Nur Jeremiah schien nichts zu hören und zu verstehen. Die allen Haruchai gemeinsamen Erinnerungen waren präzise. »Gegenwärtig«, sagte er ohne Zögern, »folgen wir dem dürren Streifen Land zwischen den Ausläufern des Landbruchs und den Sümpfen der Sarangrave-Ebene. Dieser Streifen ist nicht breit. Seine räumliche Enge dürfte erklären, warum wir hier dem Zweifler folgen. Wo wir jetzt rasten, verläuft der Landbruch nach Osten weiter. Steigern die Ranyhyn ihr Tempo nicht, bleibt das Gelände ungefähr noch einen Tag ziemlich gleich. Dann jedoch erreichen wir die östlichen Steilwände des Landbruchs und das Südende der Sarangrave. Dort stehen die Reste des Kolosses am Wasserfall hoch über uns, während hinter ihm der Landwanderer rauschend von den Ebenen von Ra stürzt, um der Fluss Trümmerschwemme zu werden.« »Aye«, bestätigte Mahrtiir mit gedämpftem Knurren. »Und in dem Abschnitt des Landbruchs, der die Ebenen von Ra begrenzt, gibt es zahlreiche gute Aufstiege. Dort sind Fangzahns wilde Heerscharen in alter Zeit ins Oberland gestürmt und haben als Erste die Ranyhyn und ihre Ramen überfallen.« Stave nickte. »Jenseits der Sarangrave erstrecken sich die Verwüsteten Ebenen durchs Unterland - nach Osten bis zum Meer der Sonnengeburt und weiter nach Südwesten, als den Haruchai bekannt ist. Dort dürften die Ranyhyn vom Weg des UrLords abweichen, wenn sie nicht schon vorher versuchen, den Landsturz zu überwinden. Unser Weg - und seiner - ist dann nicht mehr den Gefahren der Sarangrave und des Lauerers ausgesetzt.
Etwas südöstlich des Kolosses«, fuhr er fort, »liegen auf einem Vorsprung der Felsklippen die Trümmer von Fouls Hort. Zwischen dem Koloss und dieser finsteren Behausung erstrecken sich die Verwüsteten Ebenen - noch mit Spuren der Bösartigkeit des Verächters -, dann die Zerspellten Hügel, ein Labyrinth, das Ahnungslosen zur Falle werden kann, und schließlich die längst abgekühlten Lavaströme, die einst der Glutaschenkamm waren. Zur Zeit des ersten Triumphs des Zweiflers über die Verderbnis war der Glutaschenkamm die letzte Verteidigungslinie vor Fouls Hort, dem alten Ridjeck Thome. Aber nach seiner Zerstörung durch den Sieg des Ur-Lords ist die Lava ins Meer geflossen, bis ihre Quellen versiegt waren. Die Meister reisen selten dorthin, weil sie keinen Sinn darin sehen, Orte zu besuchen, an denen sich noch Erinnerungen an die schlimmsten Gräueltaten des Verächters halten. Gelegentlich haben sie sich jedoch davon überzeugt, dass sein ehemaliger Schlupfwinkel tatsächlich weiter unbewohnt ist.« Einige Augenblicke lang hörte Linden kaum, was Stave sagte. Er hatte eine Erinnerung ausgelöst, die ihre Ohren verschloss und ihr Herz fast zum Stehen brachte. Joan. Eine Wüste aus Steintrümmern, der Rand einer zerklüfteten Felsklippe. Das unverkennbare Rauschen und Verebben einer endlos gegen Felsen anrennenden Brandung. Und Turiya Herem. Oh, Covenant! Er wollte … Er war dorthin unterwegs. Dann nahm Linden den grellen Lichtschein und das wirbelnde Chaos einer Zäsur wahr. Mit rasendem Herzen versuchte sie instinktiv, ihrem Stab Erdkraft zu entlocken. Im nächsten Augenblick waren ihre Sinne schlagartig wieder scharf gestellt, und sie erkannte, dass die Zäsur zu weit entfernt war, um der Gesellschaft schaden zu können. Wenn sie jedoch näher kam … Das tat sie nicht. Binnen weniger Sekunden schlängelte sie sich nach Osten davon, vergrößerte die Entfernung. Dann verschwand sie mit der Plötzlichkeit eines Donnerschlags. Linden atmete tief durch, lockerte ihren Griff um den Stab und versuchte, ihr jagendes Herz zu beruhigen. Großer Gott! Covenant…
Der Sturm, den so viele zeitliche Unterbrechungen heraufbeschworen, nahm an Stärke zu. Aber diese Gefahr war leichter zu ignorieren. Sie hatte das Gefühl, die Hammerschläge ihres Herzens müssten ihre Worte übertönen. »Dorthin ist Covenant unterwegs.« Stave schien zu verstehen, was sie meinte. »Vielleicht«, sagte er schulterzuckend. »Oder vielleicht liegt sein Ziel weiter südlich. Oder …« Linden unterbrach ihn. »Er will zu Fouls Hort.« »Weißt du das bestimmt, Ring-Than?«, fragte Mahrtiir mit gepresster Stimme. Und Raureif Kaltgischt erkundigte sich: »Wie kommst du darauf?« »Sie ist Joan«, antwortete Linden, als wäre das Antwort genug. »Wo sollte sie sonst sein?« Aber dann zwang sie sich dazu, ihre Vermutung zu erläutern. Ein Felsvorsprung, der ins Meer hinausragte. Verwüstet, als Covenant den Weltübelstein zerstört hatte. »Ich habe sie gesehen. Ich war selbst dort. Du aber nicht«, erklärte sie Mahrtiir. Das hatte er gesagt, als sie in Schwelgenstein darüber gesprochen hatten. »Ich rede von dieser ersten Zäsur. Von der, die uns zu dem Stab geführt hat. Die Ranyhyn und die Urbösen haben dich beschützt.« Sie wandte sich an Stave. »Und du hast dich nicht hineinsaugen lassen. Du hast den Wüterich erkannt. Du warst stark genug, um dich fernzuhalten. Aber ich konnte das nicht. Ich war in Joans Verstand gefangen. Ich habe gesehen, was sie gesehen hat, und gehört, was sie gehört hat. Das hat mit dazu beigetragen, alles so schrecklich zu machen.« In den Intervallen zwischen ihren Herzschlägen stand ihr diese Erinnerung lebhafter vor Augen als irgendeiner ihrer Gefährten, deutlicher als der sich zusammenbrauende Sturm oder die unergründlichen Gefahren dieser Nacht. »Ich habe die Überreste der eingestürzten Klippe gesehen. Ich habe die Brandung gehört. Covenant ist zu Fouls Hort unterwegs.« Die Riesinnen musterten sie prüfend, aber sagten vorläufig nichts, denn im Gegensatz zu ihr hatten sie keine Erfahrung mit Zäsuren. Stave dachte über Lindens Aussage nach, dann nickte er. »Ich kann dir nicht widersprechen. Muss der Zweifler seinem Verhängnis im Ridjeck Thome gegenübertreten, ist das nur angebracht und passend. Aber aus dieser Einsicht erhellt sich noch nicht, welchen Weg wir wählen sollten.
Auserwählte …« Seine Worte klangen nachdrücklicher, obwohl er die Stimme nicht erhob. »… der Eifrige hat von einem Bedürfnis nach Tod gesprochen. Seiner Worte eingedenk muss ich feststellen, dass kein Gebiet des Landes mehr Gemetzel erlebt hat als die Verwüsteten Ebenen. Die Verwüstungen des Oberlands verblassen gegenüber den unzähligen Fällen von Gewalt und Blutvergießen, die den Namen Verwüstete Ebenen mehr als rechtfertigen. Ihr Zustand ist eine direkte Folge der Bösartigkeit des Verächters. Ist es deshalb nicht plausibel, dass die Antwort auf dein angebliches Bedürfnis dort liegt?« Linden ignorierte ihn. Im Westen leuchtete und knisterte die nächste Zäsur. Eine Meile weit entfernt? Weniger? Sie erlosch gleich wieder, aber Linden zuckte trotzdem zusammen. Gott, Joan trieb sich selbst zum Wahnsinn … Sie wusste, dass Covenant kam. In Linden braute sich ein Sturm zusammen. »Verdammt noch mal!«, rief sie aus. »Wir müssen ihn aufhalten.« Ihn gehen zu lassen, war ein weiterer schlimmer Fehler gewesen. »Wir müssen ihn einholen und aufhalten!« Die Eisenhand starrte sie an. »Obwohl wir noch jämmerlich schwach sind und die Ranyhyn nur im Schritt gehen wollen? Wie soll uns das gelingen? Und hat der Zeitenherr uns nicht verboten, ihm zu folgen?« »Er hat gesagt, das sei zu gefährlich«, stellte Linden richtig. Eine Ausrede, um sie verlassen zu können. »Aber er sieht die Sache verkehrt. Das ist zu gefährlich für ihn. Er baut darauf, dass Joan an ihrem Bedürfnis, ihn zu verletzen, zerbrechen wird, bevor sie ihm ernstlich schaden kann.« Was hätte er sonst tun sollen? Loriks Krill schützte ihn nicht vor wilder Magie. »Aber er setzt nicht nur sein eigenes Leben aufs Spiel. Er riskiert alles!« Sie merkte nicht, wie laut ihre Stimme geworden war. »Und das tut er ohne mich! Ich bin die Einzige, die ihn beschützen kann, und er hat sich eiligst von mir abgesetzt!« »Wahnsinn«, bestätigte Kaltgischt gelassen. Falls Lindens Ausbruch sie beunruhigte, ließ sie sich nichts anmerken. »Reine, unverfälschte Torheit.« Es klang wie ein heimliches Lachen. »Wäre ich nicht selbst geistesgestört, was auf die traurige Tatsache zurückzuführen ist, dass ich eine Riesin bin, könnte ich behaupten, sein Verhalten sei fast so verrückt
wie unseres. Er weiß nur, mit wem er wettet - und wie und weshalb. Von uns kann man das nicht behaupten. Wir sind darüber hinausgegangen, denn wir können weder unseren Feind noch die eigenen Absichten benennen.« Bevor Linden antworten konnte, riet Frostherz Graubrand ihr freundschaftlich barsch zu: »Hör nicht auf sie, Linden Riesenfreundin. Die Eisenhand macht lahme Scherze. Sie will nur sagen, dass in so extremen Situationen wie der unsrigen alle Risiken ziemlich gleich sind. Thomas Covenant setzt alles auf die eigene Kraft und Erfindungsgabe und auf die brüchige Extravaganz einer besessenen Weißgoldträgerin. Wir dagegen haben beschlossen, unser Schicksal und das des Landes, der ganzen Erde den Ranyhyn anzuvertrauen. Die Zeit - falls sie überdauert wird zeigen, wer klüger gewesen ist.« »Und stimmt es nicht auch«, warf Mahrtiir ein, »dass wir durch Zäsuren und andere Übel stärker gefährdet sind als der Zeitenherr? Wir sind vergleichsweise viele und entsprechend verwundbar. Die Gedemütigten und er sind nur zu dritt. Also können sie bestimmt nicht mehr Schutz benötigen als wir.« »Außerdem«, stellte Stave nüchtern fest, »hat der Zweifler dir eine andere Aufgabe zugewiesen. Versuchst du jetzt, ihn zu retten, verhinderst du vielleicht einen wichtigeren Zweck, den wir nicht verstehen.« Dagegen lehnte Lindens ganzes Ich sich auf. Das versteht ihr nicht! Sie wusste fast nicht mehr, wie sie die Finsternis abwehren sollte, die ihr Herz zu füllen drohte. Ich will etwas Sinnvolles tun. Ich kann nicht zulassen, dass Joan ihn ermordet. Aber das war es nicht, was er von ihr wollte. Ich erwarte, dass du tust, was du immer getan hast. Etwas Unerwartetes. Und sie hatte bereits ihre Chance verpasst, ihm zu helfen; das wusste sie. Als sie zugelassen hatte, dass er davonritt, hatte sie auf das Recht verzichtet, sein Schicksal zu teilen - oder ihn aufzufordern, ihres zu teilen. Jetzt war es zu spät, sich die Sache anders zu überlegen. Keiner ihrer Fehler ließ sich ungeschehen machen. Ermordete Joan Covenant, konnte Linden niemanden außer sich selbst dafür verantwortlich machen. Vertrauen war ein bitterer Scherz und sie hatte vergessen, wie man lachte. Linden wich den besorgten Blicken ihrer Gefährten aus und versuchte so
zu tun, als hätte sie ihr emotionales Gleichgewicht wiedergewonnen. »Also gut. Ich habe verstanden.« Sie wollte die verfehlten Beruhigungsversuche der anderen nicht mehr hören. »Ich wollte nur, ich könnte bei ihm sein. Macht euch keine Sorgen um mich. Ich glaube, ihr braucht alle Ruhe. Versucht möglichst zu schlafen. Ich suche mir einen Platz mit Aussicht. Die Ranyhyn können uns nicht retten, wenn eine Zäsur zu nahe kommt.« Sie wandte sich ab, weil sie hoffte, dadurch weitere Diskussion vermeiden zu können. Da sie nicht wusste, ob sie bei dieser Dunkelheit die glatten Basaltfelsen würde erklettern können, folgte sie der Fährte der Pferde talauswärts. Sie hörte die Riesinnen besorgt tuscheln, spürte Mahrtiirs sorgenvolle Aufmerksamkeit und Staves nüchternen Blick. Jeremiahs Teilnahmslosigkeit machte klar, dass er sie nicht brauchte. Linden packte ihren Stab fester und zwang sich dazu, rascher auszuschreiten. Ihre Eltern hatten sie gelehrt, mit Verzweiflung umzugehen; aber es gab auch andere Methoden. Einige hatte sie von ihren Patienten im Berenford Memorial Hospital gelernt. Wenig später erreichte Linden jenseits des Basalts einen Südhang, aber als sie ihn erstieg, war der Grat so niedrig, dass sie nach allen Seiten kaum einen Steinwurf weit sehen konnte. Also ging sie weiter und erstieg den etwas höheren nächsten Hügel. Dort oben konnte sie ungefähr eine Dreiviertelmeile weit in die Runde sehen. Genügte das? Sie wusste es nicht. Aber dieser Aussichtspunkt gefiel ihr. Hier konnte sie die von ihren Gefährten ausgehenden Schwingungen nicht mehr spüren. Und der Boden war mit losen Steinen bedeckt, von denen einige für ihren Zweck scharf genug waren. Obwohl sie auf ihre Weise ebenso erschöpft war wie die Schwertmainnir, musste sie wach bleiben. Hunger und Durst konnten für gewisse Zeit verhindern, dass sie einschlief. Auch die Kälte konnte nützlich sein. Aber sie brauchte mehr, hatte andere Pläne. Irgendwo in der Nacht wieherte ein Ranyhyn leise fragend. Das war doch sicher Hyn? Linden wusste nicht, wie sie ihr antworten sollte, und der Ruf wurde nicht wiederholt. Sie hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Aber als sie auf unbequemen Steinen sitzend den zunehmenden Luftturbulenzen ausgesetzt war,
nahmen ihre Nerven die Annäherung Staves wahr. Er brachte einen Wasserschlauch und eine Handvoll Schatzbeeren mit. Auf einer Schulter trug er die Bettrolle. Linden fand sich seufzend damit ab, seine Anwesenheit zu ertragen zumindest eine Zeit lang. Zum Glück sagte Stave nichts. Stattdessen gab er ihr den Wasserschlauch und ließ die Bettrolle in ihrer Nähe fallen. Danach stand er bewegungslos neben ihr und hielt die Aliantha in der hohlen Hand, damit Linden sich nach Belieben einzelne Beeren nehmen konnte. Er hatte seinen Sohn verloren, damit ihrer gerettet werden konnte. Vermutlich verstand er mehr von ihren Emotionen, als sie sich eingestehen mochte. Um seinetwillen gab sie sich Mühe, etwas zu trinken und langsam einige Beeren zu essen - ihm Dankbarkeit zu bezeugen, indem sie die Vitalität der Aliantha genoss. Aber seine Anwesenheit erwies sich als zu stressreich. Schon nach kurzer Zeit trank Linden mit gierigen Schlucken aus dem Wasserschlauch. Im nächsten Augenblick sammelte sie die restlichen Beeren in ihrer Hand, damit er keinen Grund hatte, noch länger zu bleiben. Doch er ging nicht. Er war Stave, der ihr Treue geschworen und dafür einen extrem hohen Preis gezahlt hatte. Wenig später bat sie ihn, er solle gehen. »Lass mich das allein tun. Bitte.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. »Ich weiß nicht weiter. Zu viele von uns sind gestorben, und ich habe zu viele umgebracht. Ich bin wie Jeremiah. Ich muss selbst einen Ausweg finden.« Sie hoffte sehr, dass er nicht sprechen würde. Das tat er zunächst auch nicht. Dann riet er ihr streng: »Höre auf die Ranyhyn, Auserwählte. Sie sind vielfältig begabt. Vielleicht können sie bevorstehende Zeitverwerfungen spüren oder Zäsuren im Augenblick ihrer Entstehung wittern. Dann könnten sie dich warnen.« Danach ging Stave. Linden verfolgte ihn mit ihrem Gesundheitssinn, bis sie sicher wusste, dass er zu Mahrtiir und den Riesinnen zurückgekehrt war. Dann beendete sie ihr einfaches Mahl, trank noch etwas Wasser und wandte sich anderen Dingen zu. Sie brauchte eine Antwort auf Verzweiflung, die nicht ihren eigenen Tod
voraussetzte, und wusste noch immer nicht, wie sie Jeremiah helfen konnte. Linden tastete den Boden um sich herum nach einem Stein ab, den sie benutzen konnte: einen scharfkantigen oder spitzen Feuerstein. Am Himmel über ihr funkelten einsame Sterne in wundervollem Überfluss. Covenant war unterwegs, um Joan ohne sie gegenüberzutreten. Linden konnte nicht einmal erraten, was die Ranyhyn von ihr - oder für sie - wollten. Die Schlange des Weltendes war unterwegs, um das Land zu verwüsten. Falls die Sterne irgendwie empfindungsfähig waren, war ihre Trauer zu groß und komplex, um für Menschen begreifbar zu sein. Zuletzt ertasteten Lindens Finger einen geeigneten Stein. Er schien scharfkantig genug zu sein. Und er hatte eine gute Spitze. Sie krempelte den linken Ärmel hoch und begutachtete ihre blasse Haut. Aber ihr Vater hatte Selbstmord verübt, indem er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Auch nach all diesen Jahren wollte sie nichts von diesem Vermächtnis wissen. Sie zerrte am Stoff ihrer Jeans, bis sie ein Bein bis übers Knie hochgezogen hatte. Eine Antwort auf das Dunkel. Ein Mittel, ihre Verzweiflung einzudämmen, bevor sie ganz darin versank. Nach vorn zusammengekrümmt fasste Linden den Stein fester und fing an, kleine Schnitte in die empfindliche Haut über Schienbein und Wade zu machen. Das tat weh. Natürlich tat es das. Aber der Schmerz würde ihr auch helfen. Als Ärztin am Berenford Memorial Hospital hatte sie öfters Patienten behandelt, die sich selbst verstümmelten, indem sie sich Schnittwunden zufügten. Schneiden war ein häufiges Symptom, weil es so effektiv war. Freiwillig zugefügte körperliche Schmerzen unterdrückten emotionales Leid, gegen das diese Kranken hilflos waren. Patienten, die sich schnitten, fügten sich Verletzungen zu, damit die Schmerzen sie beruhigten. Das mobilisierte ihre letzten verblieben Kräfte. Manchen brachte das eine exquisite Erleichterung, die sie jubeln ließ. Vielleicht klappte das auch bei ihr. Indem sie eine Kante und die Steinspitze gebrauchte, die wie Zähne einer Säge schnitten, versuchte sie, das zufällige Muster der Grasflecken auf
ihren Jeans aus dem Gedächtnis in die Haut von Schienbein und Wade zu schneiden. Vielleicht hätte sie damit Erfolg gehabt. Sie hätte den schmerzhaften Frieden erlangen können, den sie bei ihren Patienten beobachtet hatte. Im Lauf der Zeit wäre es ihr vielleicht sogar gelungen, die Zeichen von Fruchtbarkeit und hohem Gras nachzubilden - den Beweis dafür, dass sie den Preis des Schmerzes gezahlt hatte. Aber während sie bei jedem befreienden, grausamen Schnitt stöhnte, merkte sie plötzlich, dass Hyn über ihr stand. Die Stute war kaum mehr als eine Silhouette vor dem Sternenhimmel. Auch ihre schwach leuchtende Blesse war kaum auszumachen; ihre Augen waren nur andeutungsweise zu erkennen. Trotzdem beschämte ihre Anwesenheit Linden. Kein psychisch Kranker, der sich selbst schnitt, wollte dabei beobachtet werden. Das verkehrte die ersehnte Wirkung des Schmerzes ins Gegenteil. Linden brauchte diese Wirkung. Trotzdem verdarb Hyn sie ihr. Leise stöhnend warf Linden den Stein weg. Zog das Jeansbein wieder herunter. Kam mühsam auf die Beine. Sie wollte Hyn fluchend wegschicken, aber ihr fielen keine Flüche ein - keine, die so bitter waren wie ihr Leben. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie sich tief genug geschnitten hatte, um so lange wach bleiben zu können, wie ihre verbliebenen Gefährten sie brauchten. Solange Joan lebte und ihnen Zäsuren entgegenschleudern konnte … Als die Sonne endlich aufging, färbte sich den Himmel für kurze Zeit blutrot, als hinge Staub oder Asche in der Luft: Ein böses Omen? Dann fielen Stürme über die Region her, und das rote Leuchten verschwand. Sie schien aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig hereinzubrechen und prallten mit solcher Gewalt zusammen, dass ihr Donner die Erde erzittern ließ. Wind und Regen trafen Linden mal von vorn, mal von hinten; ein Chaos aus Sturmböen und Wolkenbrüchen, die rascher wechselten, als man sie verfolgen konnte. Dies war kein gewöhnliches heftiges Unwetter; dahinter steckte jedoch auch keine bösartige Absicht. Stattdessen war dieser Konflikt von Böen und Schauern eine indirekte
Folge von zu vielen Zäsuren. Sein Aufruhr erschien wie ein Vorzeichen. Jetzt war Linden mehr denn je auf die Sinne der Ranyhyn angewiesen. Die tobenden Naturgewalten beeinträchtigten ihre eigene Wahrnehmungsgabe. Warnten Hyn oder die anderen Pferde sie nicht, würde sie eine Zäsur wahrscheinlich erst erkennen, wenn sie schon beinahe von ihr erfasst wurde. Als die Gesellschaft wieder aufbrach, ritt Linden, in die Unterlegplane der letzten Bettrolle des Eifrigen gehüllt. Sie diente als gewisser Wetterschutz und verhinderte, dass Linden ganz auskühlte. Aber sie hielt den peitschenden Regen nicht ab, der ihre ungeschützten Wangen, ihre offenen Augen traf. Auf ihre Bitte hatte Sturmvorbei Böen-Ende Jeremiah in die Decken gewickelt. Aber der Junge versuchte nicht, sie zusammenzuhalten. Ebenso wenig reagierte er auf herabplatschende dicke Regentropfen, das Heulen unregelmäßiger Scherwinde. Böen-Ende musste neben Khelen hergehen, damit sie Jeremiahs Decken hochziehen konnte, wenn sie ihm wieder einmal von den Schultern rutschten. Vielleicht brauchte er sie gar nicht. Vielleicht schützte die geerbte Erdkraft ihn vor Kälte, Nässe und Wind. So war es bei Anele gewesen. Trotzdem war Linden froh, dass Böen-Ende für den Jungen tat, was sie nur konnte. Unter diesen Umständen war Linden nicht überrascht, als sie hörte, dass Mahrtiir Covenants Fährte verloren hatte. Der Mähnenhüter schien sich deshalb Vorwürfe zu machen, aber sie fragte sich, wie selbst der beste Fährtensucher der Ramen bei diesem Wetter noch Hufspuren auf dem durchweichten Boden hätte entdecken sollen. Außerdem wusste sie bereits, wohin Covenant wollte. Und Clyme und Branl waren bei ihm: Er würde sich also nicht verirren. Noch immer weigerten die Ranyhyn sich, schneller zu laufen, als die Riesinnen gehen konnten. Als die Unwetter von allen Seiten auf Linden einstürmten, ihr Wahrnehmungsvermögen behinderten und eine Art Klaustrophobie hervorriefen, konnte sie sich nicht länger beherrschen und bat Hyn um größere Eile. Aber die Stute ignorierte sie. Alle Pferde behielten ihren leichten Trab bei, der Linden quälend langsam erschien. Trotzdem waren sie nicht müde. Linden konnte die vibrierende Kraft von
Hyns Muskeln deutlich spüren. Und die Ranyhyn litten nicht unter Futtermangel. Sie fanden in regelmäßigen Abständen ausreichend große Weideflächen für sich und Ansammlungen von Schatzbeeren für ihre Reiter. Dort machten sie jeweils halt, bis Mensch und Tier frisch gestärkt waren. Mit unerklärlicher Hartnäckigkeit ließen sie zu, dass Covenant und die Gedemütigten ihren Vorsprung immer mehr vergrößerten. Wollten sie die Wahrscheinlichkeit dafür verringern, dass die Gesellschaft in eine Zäsur geriet? Das wusste Linden nicht. Von Zeit zu Zeit wieherte Hyn oder Narunal eine Warnung. In allen diesen Fällen spürte Linden jedoch nichts außer prasselnden Regengüssen und dem ständig wechselnden heulenden Wind. Zäsuren schien es in diesem Gebiet nicht mehr zu geben. Joan konzentrierte ihre Verrücktheit anderswo, hatte sich in ihrem Zorn verausgabt oder war tot … oder Linden täuschte sich. Falls die Ranyhyn sich vor irgendeiner anderen Gefahr warnten, konnte Linden sie nicht entdecken. Selbst als sie den Stab benutzte, um die Reichweite ihrer Sinne zu vergrößern, erkannte sie keine Gefahr außer dem Unwetter und ihrer eigenen Schwäche. Was konnten die großen Pferde unter diesen Umständen befürchten, wenn sie nicht durch Zäsuren gefährdet waren? Allmählich veränderte sich das Gelände. Anfangs gab es runde Hügel, aus denen erodierte Felsblöcke wie Zahnstummel ragten, und im Regen kaum sichtbare Höhenzüge. Dann wurde das Geröll unter den Hufen der Ranyhyn zu glattem dunklem Fels, den Linden für Basalt hielt. Später gingen die sanften Hügel in eine weite Ebene über, die wie flach geklopft wirkte. Noch später durchzogen Erosionsrinnen das Land wie Risswunden und erschwerten das Vorwärtskommen. Danach folgten weitere Hügel, deren Reihen wie Barrikaden angeordnet waren, als sollte hier jeder, der aus Nordwesten kam, zum Ausweichen nach Osten gezwungen werden. Zweifellos wären die Pferde, aber auch die Riesinnen imstande gewesen, ihre Route beizubehalten. Ungezählte Jahrtausende hatten die Konturen der Hügel geglättet. Trotzdem ließen sich die Ranyhyn, auch wenn sie unwillig die Köpfe schüttelten und hörbar angewidert schnaubten, nach Osten umleiten. Erstmals waren sie nun eher östlich als südöstlich unterwegs. Zu Lord Fouls Hort. Linden wusste es nicht.
Am Spätnachmittag hörten die Stürme endlich auf, gegeneinander zu wüten: Sie wurden zu einem frischen Westwind, und der Regen hörte fast ganz auf. Wenig später rissen die Wolken hinter der Gesellschaft auf, sodass sie erstmals seit Tagesanbruch von der Sonne beschienen wurde. Die Gewitterwolken zogen nach Osten ab. Überraschend schnell wurde der Himmel wolkenlos. Aber als Linden beobachtete, wie die Wolken rasch abzogen, sah sie erschaudernd, dass der sichtbar werdende Himmel nicht blau war. Stattdessen hatte er eine graubraune Farbe angenommen, wobei das Grau rauchfarben war, als hätten die Böen eines gewaltigen Staubsturms irgendwo im Oberland unbeaufsichtigte Feuer gefunden und zu Buschfeuern angefacht. Wie zuvor die Stürme wirkte diese graubraune Färbung des Himmels nicht falsch oder Unheil verkündend. Trotzdem war sie fast greifbar unnatürlich. Das Oberland war keine Wüste: Dort konnte niemals so viel Staub aufgewirbelt werden. Und es war noch Frühjahr. Der Winterregen war zu reichlich gewesen, als dass solche Flächenbrände denkbar gewesen wären. »Stave!«, rief Linden. Der Wind riss ihr seinen Namen von den Lippen. »Was ist das?« Sie deutete mit zitternder Hand auf den Himmel. »Auserwählte, das weiß ich nicht. Die Haruchai haben keine Erfahrungen mit solchem Wetter. In alter Zeit haben die Bluthüter Übel von Osten heranstürmen gesehen - als Werk des Verächters. Aber dieser Wind ist völlig anders als die damaligen Stürme.« »Du wirst allerdings bemerken«, rief Raureif Kaltgischt, »dass diese seltsame Färbung nicht mit dem Wind weiterzieht! Sie breitet sich von Osten aus. In Bhrathairealm sind solche Himmel manchmal zu beobachten. Sie entstehen aus den namenlosen Theurgien der Großen Wüste. Nirgendwo sonst haben wir Ähnliches beobachtet!« Die Schlange, dachte Linden. O Gott! Nicht Zäsuren hatten diesen Himmel mit Staub und Asche angefüllt. Tödliche Kräfte von anderer Art begannen sich auszubreiten … Die Weigerung der Ranyhyn, ihr Tempo zu steigern, war ihr völlig unverständlich. Trotzdem zeigten die Pferde Verständnis für die körperliche Verfassung ihrer durchnässten Reiter und Gefährtinnen. Ohne Vorwarnung bog
Narunal in einen Einschnitt zwischen den Hügeln ab: eine enge Schlucht, die von einer Pflugschar hätte stammen können. Als Hyn den anderen folgte, fand Linden sich bald in einer muschelförmigen Einbuchtung unter einem Überhang auf der rechten Seite der Schlucht wieder. Dieser Unterstand en miniature war kaum lang und breit genug, um Linden, Jeremiah, Stave, Mahrtiir und acht Riesinnen Platz zu bieten. Trotzdem bot er gewissen Schutz vor dem unablässigen scharfen Wind. Als der Mähnenhüter abstieg, galoppierte Narunal sofort weg. Das tat auch Khelen, sobald Böen-Ende Jeremiah von seinem Rücken gehoben hatte. Linden glitt müde von Hyms Rücken. Sowie ihre Füße den Boden berührten, begannen die vernachlässigten Wunden am Schienbein wieder zu schmerzen. Dieser jähe Schmerz war so heftig, dass sie einen kleinen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. Es gab noch immer zu viel Wind, zu viel Kälte. Trotzdem widerstrebte es ihr, dem Stab Feuer zu entlocken. Sie wollte nicht an Flammen erinnert werden, die schwarz und betrüblich waren wie das Holz. Und sie wollte die Position der Gesellschaft nicht irgendeinem Wesen verraten, das imstande war, ihre Macht zu entdecken. Andererseits brauchten Mahrtiir und sie Wärme, auch wenn ihre Gefährtinnen - und vielleicht Jeremiah - keine zu brauchen schienen. Linden biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und entlockte ihrem Stab Feuer. Die Flamme war so dunkel, wie sie befürchtet hatte: ein undurchdringliches Ebenholzschwarz wie von Obsidian, der noch nie das Tageslicht erblickt hatte. Die Veränderung war offenbar dauerhaft. Linden konnte anscheinend nichts Reines mehr tun. Trotzdem war das Feuer warm. Seine Wirkung blieb vorteilhaft: eine spürbare Wohltat. Lindens Kälteschauder klangen wie eine ablaufende Ebbe wellenförmig ab. Um sie herum wärmten die Riesinnen sich die Hände an dem Feuer und lächelten. Schon im nächsten Augenblick zeigte sich in Mahrtiirs Verhalten wieder die vertraute Aggressivität, eine kaum bezähmbare Kampflust. Nur Stave und Jeremiah schienen nicht von ihren sanften Bemühungen zu profitieren. Trotz ihres innerlichen Widerstrebens setzte Linden weiter Erdkraft ein, bis alle äußerlichen Anzeichen dafür, dass ihre Gefährten bei dem Unwetter gelitten hatten, verschwunden waren. Erst als sie dann ihre
Flamme löschte, merkte Linden, dass auch sie selbst sich etwas besser fühlte. Das Wohlbefinden der anderen war Balsam für ihr wundes Herz. Die Finsternis steckte in ihr wie in dem Holz, nicht in den Magien, die der Stab vermochte. Trotz ihrer Sünden und ihrer Verzweiflung hatte sie die fundamentale Vitalität von Erdkraft und Gesetz nicht beschädigt. Noch nicht… Jedenfalls hatten die Rüstungen der Riesinnen erstaunlich viel Wärme gespeichert. Sie erfüllte die kleine Höhle unter dem Felsüberhang, wirkte so liebevoll zärtlich wie Lachen und Scherze. Ohne den noch immer böigen Wind, den nassen Boden und die Aussicht auf eine frostige Nacht zu beachten, begannen Rahnock und Onyx Steinmangold, Vorräte und Wasserschläuche auszupacken. Sturmvorbei Böen-Ende nahm Jeremiah die dampfenden Decken ab, wrang sie so gut wie möglich aus und legte sie ihm wieder um. Während Stave die Unterlegplane ausbreitete, damit Linden und einige andere trocken sitzen konnten, fragte sie ihn: »Wo sind wir also? Wie weit sind wir gekommen?« Er schien seine überlieferten Erinnerungen zu Rate zu ziehen. »Diese Hügel haben uns vom Landbruch zu Sarangrave-Senke hin abgedrängt. Ich schätze, dass wir hier ungefähr drei Meilen nördlich des Standorts des ehemaligen Kolosses rasten.« »Wie nahe sind wir der Sarangrave? Sind wir in Gefahr?« Weshalb hatten Hynyn und Narunal tagsüber so dringend gewiehert, obwohl es keine Zäsuren gegeben hatte? Stave antwortete sofort: »Ich schätze die Entfernung auf weniger als eine Meile. Trotzdem bringt die Nähe der Sarangrave kaum Gefahren. Dieser Teil der Ebene ist weitläufig, aber seicht, vielerorts nur morastig, jedoch mit Sümpfen durchsetzt. Der Lauerer zieht die tieferen Sümpfe im Herz der Sarangrave vor. Wegen seiner Wildheit und großen Masse braucht er tiefere Gewässer. Denkbar ist natürlich«, gestand er leidenschaftslos ein, »dass das Ungeheuer, das der Eifrige Horrim Carabal genannt hat, von unserer Anwesenheit weiß. Wir Haruchai wissen sicher, dass der Lauerer begierig darauf ist, alle Erdkraft zu verschlingen …«Er machte eine Pause und sah kurz zu Mahrtiir hinüber. »Natürlich auch die der Ranyhyn. Vermutlich hat er es auf alle Arten von Theurgie abgesehen.
Aber trotz seiner Gier reagiert er nie sehr schnell. Der Lauerer ist furchterregend und tödlich, aber anfangs ziemlich langsam, was darauf schließen lässt, dass er Erdkraft aus beträchtlicher Entfernung oder großer Tiefe wittert. Vielleicht ist der Lauerer schon auf die Anwesenheit deines Sohns aufmerksam geworden. Vielleicht ist er imstande, die Erdkraft der Ranyhyn zu wittern. Vielleicht hat er gespürt, dass du den Stab eingesetzt hast. Trotzdem ist kein Fall bekannt, in dem seine Reichweite die Grenzen der Sarangrave überschritten hätte.« »Ich bin zufrieden«, verkündete der Mähnenhüter, als Linden nicht wieder sprach. »Dass der Lauerer den Ranyhyn nachstellt, ist uns wohlbekannt. Diese Tatsache ängstigt die großen Pferde mehr als andere Gefahren. Heute waren sie offenbar mehrmals besorgt. Trotzdem hat sich keine Zäsur gezeigt. Deshalb glaube ich, dass sie ängstlich waren, weil sie den Lauerer gewittert haben. Hier sind sie jedoch wieder ganz ruhig. Daraus schließe ich, dass uns gegenwärtig keine Gefahr droht.« »Dann wollen wir essen und uns ausruhen, solange wir können«, sagte die Eisenhand. »Linden Riesenfreundins Wohltaten haben unsere Herzen aufgerichtet. Und kein Riese ist so töricht, Essen und Ruhe auszuschlagen. Vielleicht können wir sogar etwas schlafen. Zahllos sind die Stürme auf See und anderswo, in denen wir durchgeschlafen haben. Frostherz Graubrand hat sogar bei einem Sturm auf dem Seelenbeißer geschlafen …« Sie stieß ihre Kameradin an, während Spätgeborene, Rüstig Grobfaust und Zirrus Gutwind schmunzelten. »… als andere an Bord von Dires Schiff wach blieben, weil sie Gefahren fürchteten. Im Schutz der Tapferkeit und Wachsamkeit der Ranyhyn fürchten wir nichts.« Mit einem Seufzer ließ Kaltgischt sich in ihren angewärmten Brustpanzer sinken und lehnte sich an die Höhlenwand. Andere Schwertmainnir folgten ihrem Beispiel. Linden machte sich Sorgen über Dinge, die nichts mit dem Lauerer zu tun hatten. Dass die Ranyhyn darauf bestanden, die Gesellschaft tiefer in dieses von Krieg, Schlachten und anderen Übeln geprägte Gebiet hineinzuführen, schien Staves Vermutung zu bestätigen, die Pferde wollten ihren Wunsch nach Tod befriedigen. Oder Jeremias Wunsch.
Zugunsten ihres Sohns hoffte Linden, dies sei ihr Wunsch. Trotzdem fürchtete sie sich davor. Sie hatte das Gemetzel satt, war moralisch angewidert und wusste kein Mittel dagegen. Die Schnitte, die sie sieht selbst beigebracht hatte, schmerzten nicht genug. Gott, sie wünschte sich, Hyn hätte sie dabei nicht gestört. Beschämung war nicht die richtige Art Schmerz. Als erst die Abenddämmerung, dann die Nacht übers Oberland herabsanken, aßen Linden und ihre Freunde so viel von ihren schwindenden Vorräten, wie sie erübrigen konnten. Linden, die sich dabei zweifelnd auf die Unterlippe biss, entlockte ihrem Stab noch einmal ebenholzschwarzes Feuer und benutzte es dazu, den Felsboden der kleinen Höhle anzuwärmen. Darauf streckten die Riesinnen sich aus, so gut sie konnten, und schliefen allmählich ein. Mahrtiir, der neben Linden auf der Unterlegplane saß, war offenbar entschlossen, bei ihr auszuharren, bis sie sich etwas Ruhe gestattete. Aber sie hielt sich wach, indem sie mit dem feuchten Stoff ihrer Jeans ihre Schnittwunden rieb, als massierte sie ihr Bein, und Mahrtiir begann nach einiger Zeit zu dösen. Dann blieb nur mehr Stave übrig, ihr Wachsein und ihre Ängste zu teilen. Die Nacht wurde bald so finster, dass Linden nicht einmal mehr die gegenüberliegende Höhlenwand sehen konnte. Der angewärmte Fels unter ihr lullte sie ein, sodass sie spürte, wie ihre Konzentration nachließ. Linden hatte in der vorigen Nacht nicht geschlafen, und die Schnitte an Wade und Schienbein schmerzten nicht genug, um sie wach zu halten. Bevor Sturmvorbei Böen-Ende sich schlafen gelegt hatte, hatte sie Jeremiah wieder in seine Decken gewickelt und behutsam zwischen Linden und Mahrtiir auf die Plane gelegt. Wären die Augen des Jungen geschlossen gewesen, hätte Linden vielleicht auch ihre geschlossen. Aber er starrte blicklos nach oben, als hätte er kein Bedürfnis mehr, zu schlafen oder zu träumen. Linden beobachtete ihn, wie eine Mutter ihr krankes Kind beobachtet. In letzter Zeit nahmen seine schlammig trüben Augen immer mehr das Mondsteinweiß von Aneles blinden Augen an. Jeremiahs neue Erdkraft hatte diese Ähnlichkeit keineswegs verringert. Stattdessen schien sie das Schlammbraun seines Blicks zu verstärken, als hätten die Konsequenzen von Aneles Geschenk ihn tiefer in seine Gräber getrieben.
Eine Zeit lang hielten Lindens Sorgen sie trotz ihrer Müdigkeit wach. Allmählich ließ ihre Konzentration jedoch nach. Dagegen war sie machtlos. Ihre Gedanken wurden allmählich so vage, dass sie Hynyns lautes Wiehern erst erkannte, als Stave leise die Höhle verließ. Instinktiv alarmiert riss Linden den Kopf hoch und schlug sich auf die Wangen. Nach kurzem Zögern griff sie nach dem Stab und rammte sein eisenbeschlagenes Ende auf die Schnittwunden an Wade und Schienbein, bis sie wieder bluteten. Im nächsten Augenblick kam Stave zurück. »Mähnenhüter«, sagte er leise, indem er Mahrtiirs Schulter berührte. Dann stieß er die Rüstung der Eisenhand mit dem Fuß an, sprach ihren Namen etwas deutlicher. Linden hatte sich aufgerappelt. »Was gibt es?« Mahrtiir, der sofort hellwach war, sprang auf. Kaltgischt schüttelte den Kopf, als vertriebe sie Träume, und rieb sich kräftig das Gesicht, um sie endgültig zu zerstreuen. Nüchtern und ohne Vorrede verkündete Stave: »Etwas oder jemand nähert sich. Die Ranyhyn sind fort.« Fast gleichzeitig fragte Linden: »Nähert sich?«, der Mähnenhüter wiederholte: »Fort?«, und Kaltgischt wollte wissen: »Was nähert sich?« Bevor Linden auf einer Antwort bestehen konnte, stellte Mahrtiir nachdrücklich fest: »Die Ranyhyn fliehen vor keiner Gefahr.« »Sie fliehen vor keiner Gefahr«, bestätigte Stave, »aber vor dem Lauerer.« Der Lauerer?, dachte Linden, die Mühe hatte, das Gesagte zu verstehen. Hier? Aber er hat doch gesagt… Der gesamte Körper des Mähnenhüters schien vor Empörung zu zittern, aber er widersprach Stave nicht. »Schwertmainnir!«, blaffte Kaltgischt ihre Gefährtinnen an. »Wir werden gebraucht.« Dann wandte sie sich an Stave. »Ich erwarte deine Erklärung, Stave von den Haruchai.« Während die anderen Riesinnen aufwachten und sich aufrappelten, zuckte Stave mit den Schultern. »Ob wir in Gefahr sind, kann ich nicht feststellen. Ich selbst kann die Nähe des Lauerers nicht spüren. Sicher weiß ich nur, dass die Ranyhyn nicht länger über uns wachen - und dass eine kleine Gruppe von Schraten sich uns von der Sarangrave her nähert. Allerdings«, fügte er hinzu, »sind diese Wesen nicht ganz unbekannt. In
den letzten Jahrhunderten sind sie gelegentlich von Meistern beobachtet worden, die die Grenzen der Sarangrave-Senke erkundet haben. Sie scheinen einzeln oder in kleinen Gruppen durch Moor und Sumpfland zu streifen. Sie haben Menschengestalt, sind aber klein und kahlköpfig und haben große Augen, um nachts gut sehen zu können. Die Meister haben sie noch nie außerhalb der Sumpfgebiete der Sarangrave angetroffen. Wenn sie beobachtet wurden, haben sie nie erkennen lassen, dass sie die Beobachter wahrgenommen haben. Und noch etwas …« Stave machte eine Pause, schien fast zu zögern. »Den Meistern gegenüber haben sie weder Theurgien noch sonstige Kräfte erkennen lassen. Tatsächlich haben sie einen völlig harmlosen Eindruck gemacht. Aber die Schar, die sich jetzt nähert, hält eine grüne Flamme, die wie das Smaragdgrün der Skest leuchtet, in den Händen. Irgendwie ermöglicht diese Flamme ihnen den Aufenthalt außerhalb der Sümpfe ihrer Heimat.« Linden mühte sich ab - und kam doch nicht mit. Sie kam sich dumm vor, weil sie so schlaftrunken war. Was hatte Stave gesagt? Er hatte keinen Hinweis auf den Lauerer entdeckt. Aber die Ranyhyn fürchteten ihn; das hatte Mahrtiir nicht geleugnet. Und die Pferde waren fort. »0 Gott«, sagte Linden, fast ohne zu merken, dass sie laut sprach. »Kommen diese Wesen in seinem Auftrag? Als Diener des Lauerers?« Vor Jahrtausenden hatten die Skest dem uralten Ungeheuer gedient. Horrim Carabal? Diese Kreaturen aus lebender Säure hatten versucht, Covenant und Linden, Sunder und Hollian und eine kleine Gruppe von Haruchai in die Falle des Lauerers zu treiben. Ihre Suche nach dem Einholzbaum wäre dort zu Ende gewesen, wenn Covenant nicht sein Leben riskiert hätte, um den Lauerer mit Loriks Krill und wilder Magie zu verwunden. Und wenn Linden, er und die anderen nicht Riesen begegnet wären: den Riesen der Suche. Und wenn die Skest nicht Feinde gehabt hätten: die Sur-Jheherrin, ebenfalls Bewohner der Sarangrave-Senke. Jetzt kümmerten die Skest sich um Joan. Sie hatten sich auch um Jeremiah gekümmert. Wie viele von ihnen gab es? Ihre Erscheinung passte nicht zu Staves Beschreibung. Der ehemalige Meister zuckte nochmals mit den Schultern.
»Auserwählte, das weiß ich nicht. Ob sie in guter oder böser Absicht kommen, kann ich nicht erkennen. Ich bin mir nur sicher, dass unsere Anwesenheit bemerkt worden ist. Jetzt werden wir gesucht.« Die Ranyhyn hatten ihre Reiter im Stich gelassen. Hol es der Teufel! Ohne Hyn … Hatten die Riesinnen genügend Platz, konnten sie sich gegen jeden Angreifer behaupten, der den Skest ähnlich war. Aber ohne Hyn und Hynyn, Narunal und Khelen … Gott, bitte nicht. Kein weiteres Gemetzel. Während die Riesinnen sich den Schlaf aus den Augen rieben und ihre Rüstungen anlegten, kommandierte Kaltgischt: »Beeilung, Schwertmainnir! Hier sind wir zu eingeengt. Egal was kommt, wir müssen ihm in freiem Gelände entgegentreten.« »Aye«, stimmte Sturmvorbei Böen-Ende ihr zu. »Wir hören dich.« Sie hob Jeremiah auf und setzte ihn auf ihren linken Arm, um mit der rechten Hand das Schwert führen zu können. »Allerdings«, bestätigte Frostherz Graubrand grinsend. »Wenn die Eisenhand in solchen Schalmeintönen spricht, hört sie das ganze Unterland.« Graubrand duckte sich lachend, als hätte Kaltgischt nach ihr geschlagen, zog ihr Schwert und rannte aus der Höhle zu der Stelle, wo die Gesellschaft in diesen Einschnitt zwischen den Hügeln abgebogen war. Rüstig Grobfaust und Rahnock waren dicht hinter ihr. Die übrigen Schwertmainnir bildeten eine Art Eskorte für ihre kleineren Gefährten. Linden und ihre Freunde folgten Rahnock unter Führung der Eisenhand. In der geschützten Höhle hatte Linden ganz vergessen, wie stark der Wind noch war. In dem Tal zwischen dieser Hügelreihe und der nächsten traf die eisige Luft sie jedoch wie eine Flutwelle. Sie fühlte sich geschlagen und hin und her geworfen, als wäre sie in einen Wildbach gefallen. Selbst bei Nacht hätte sie ihre weiße Atemwolke sehen oder spüren müssen, wenn der Wind sie nicht sofort mitgerissen hätte. Der Boden unter ihren Stiefeln knirschte, als Linden zwischen den Riesinnen weiterging. Er war gefroren … Nach Hoch-Lord Elenas katastrophalem Gebrauch der Macht des Gebots, durch den ihr Geist in den Dienst Lord Fouls gezwungen worden war, hatte sie Bereks Stab des Gesetzes dazu benutzt, das Land in unnatürliche Winterstarre zu versetzen. Zu Füßen des Kolosses stehend,
hatte sie die Feinde des Verächters mit Eis und Schnee heimgesucht. In Andelain hatte Linden etwas Schlimmeres freigesetzt. Das verrückte Wetter dieses Tages war nur ein Vorbote eines noch wilderen Sturms. Über Lord Foul hatte Bereks Geist gesagt: Er kann nur von jemandem befreit werden, der von Zorn getrieben die Konsequenzen seines Tuns verachtet. Hatte sie das getan? Wahrhaftig? Hatte sie die Befreiung des Verächters schon bewirkt? Falls das stimmte, hatte sie alles Recht, verzweifelt zu sein. Die Kälte ließ ihr Bein schmerzen, als hätten sich die Schnitte in den Knochen eingefressen. Der Sturmwind trieb ihr Tränen in die Augen, machte sie fast blind. Kaltgischt bellte Befehle oder Warnungen, die der Wind mit sich fortriss. Zirrus Gutwind, Spätgeborene und Onyx Steinmangold schlossen sich mit Graubrand, Grobfaust und Rahnock zusammen, um eine Art Kordon zu bilden. Die Eisenhand und Sturmvorbei Böen-Ende blieben bei Linden, Stave und Mahrtiir. Jeremiahs Augen standen noch immer offen. Er schien nicht einmal zu blinzeln. Vielleicht tat er das nie. Dann würde er irgendwann erblinden. Blind werden wie Anele. Das war unvermeidlich. Stave packte Linden am Arm. »Sieh nur, Auserwählte …« Sie zitterte bereits vor Kälte. Sie kniff die Augen zusammen, wischte Tränen weg, öffnete sie wieder. Anfangs sah sie nur kleine grüne Flammen, die in der Ferne geisterhaft auf und ab tanzten. Ihre grundsätzliche Verkehrtheit war fast mit Händen zu greifen, aber sie waren so klein … Zu unbedeutend, um viel bewirken zu können. Dann fiel ihr auf, dass der Sturm die Flämmchen nicht beeinflusste. Sie hüpften und tanzten unbekümmert, als könnte ihnen kein Wind etwas anhaben. Das hätte unmöglich sein müssen. Angestrengt blinzelnd konnte sie jetzt auch die Gestalten der Schrate ausmachen. Wie Stave gesagt hatte, waren sie vage menschenähnlich. Nackt, ohne Fell oder Bekleidung. Nicht größer als Lindens Schulterhöhe. In den Händen trugen sie smaragdgrün flackernde Flämmchen, die Erinnerungen an den Weltübelstein weckten. Ihr grüner
Widerschein glitzerte wie Omina oder Versprechen in ihren großen runden Augen. Weil sie so klein waren, glichen sie Gnomen, die vor Bösartigkeit stanken. Sie rückten stetig weiter vor, jedoch nicht als Gruppe. Stattdessen schwärmten sie auf dem Talboden und teils auch über die Hügel aus: mindestens zwei Dutzend dieser Wesen, vielleicht auch dreißig. Selbst als Linden sich anstrengte, konnte sie keine Bande aus Theurgie, keine verstärkte kollektive Macht entdecken. Trotzdem war unverkennbar, dass sie mit gemeinsamer Absicht unterwegs waren. Als die vordersten Wesen noch ein Dutzend Riesen-Schritte entfernt waren, riss Raureif Kaltgischt ihr Steinschwert aus der Scheide. »Halt!«, rief sie den tanzenden Flammen, den grünen Reflektionen laut entgegen. »Freund oder Feind, wir fordern Unterhandlungen! Erklärt eure Absicht. Nennt eurer Begehr. Wir haben vor, uns zu verteidigen, wenn wir müssen!« Der Wind riss ihre Worte mit sich fort, als sollten sie nie gehört werden. Die acht oder zehn Wesen unmittelbar vor ihr machten jedoch halt. Die Übrigen gingen noch einige Schritte weiter. In einer Bewegung, die sich vom Talboden aus über die Hänge verbreitete, blieben dann auch sie nacheinander stehen. Nun war die Gesellschaft halbkreisförmig von in Händen getragenen Flammen umgeben, die dem stürmischen Wind trotzten, nicht einmal flackerten. Eines der Wesen sprach, aber Linden konnte nicht beurteilen, welches. Vielleicht sprachen alle gemeinsam mit einer einzigen Stimme. Ohne sichtbare Anstrengung und gänzlich gefühllos sagte es: »Wir sind die Feroce.« Die Stimme klang eigentümlich matschig, feucht und verschwommen: wie zwischen Zehen heraufquellender Schlamm. »Wir sind die Schwertmainnir der Riesen«, antwortete Kaltgischt. Ihre Klinge zitterte nicht im Geringsten. »Was führt euch hierher?« Die Schmerzen in Lindens Bein hatten zu brennen begonnen. Ohne sich auf den Stab zu stützen, hätte sie wahrscheinlich kaum mehr stehen können. »Unter euch«, antwortete das oder die Wesen, »ist ein machtvoller Stab.« Vielleicht waren sie alle nur Ausprägungen des selben Wesens.
»Das grausame Metall werden wir nicht berühren. Es ist uns ein Abscheu. Aber wir wollen den Stab. Unser Hoch-Gott hungert nach ihm.« Linden leise stöhnend, wie ihr der Wind den Atem raubte. Jesus, ihr Bein …! Alle Riesinnen zogen ihre Schwerter. Stave trat etwas näher an Linden heran. Mit seiner Garotte in den Händen bezog Mahrtiir Stellung bei Sturmvorbei Böen-Ende und Jeremiah. Der Wind schwoll zu einem Sturm an, der so herzlos und eisig wie das Ödland im Inneren einer Zäsur war. Wer waren die Feroce? Was waren sie? »Den Stab des Gesetzes könnt ihr nicht haben!«, erwiderte die Eisenhand laut.« Sie sprach energisch, aber nicht drohend. »Erzählt ihr uns jedoch vom Hunger eures Hoch-Gotts, finden wir vielleicht eine andere Möglichkeit, ihm zu Diensten zu sein. Wir fürchten keine Gewalt, wünschen sie andererseits auch nicht. Stattdessen ziehen wir freundschaftliches Einvernehmen in allen Dingen vor. Sprich also. Lass uns gemeinsam euer Bedürfnis ergründen.« Linden hörte Wasser platschen und Schlamm quatschen, als das Wesen antwortete: »Wir sind die Feroce. Wir haben keine Bedürfnisse.« Sah sie eine Vielzahl grüner Flammen hell auflodern, wie Pestilenz in den Himmel steigen? Nein, das war nur Einbildung. Eine Halluzination, keine Magie. Um sie herum herrschte weiter Nacht. Eine subtile Veränderung der Atmosphäre. Realitäten, die beiseite geschoben und ersetzt wurden. Vorübergehend das Gefühl, zu fallen. Ein kurzer Schwindel, als hätte sie das Gleichgewicht verloren. Aber sie fing sich wieder. Ihr Bein war belastbar. Es tat nicht weh. Es hatte nie wehgetan. Der Schmerz war verschwunden. Sie hatte ihn bereits vergessen. Nur ihre Handfläche tat weh, wo sie ihre Autoschlüssel hineingegraben hatte. Sie war in dem Farmhaus, Covenants Haus. Es ächzte und knirschte um sie herum, erbebte unter stürmischen Windstößen. Draußen zuckten Blitze herab: eine erratische Folge von Gewaltausbrüchen aus heiterem Himmel. Donnerschläge erschütterten das Holzfachwerk des alten Hauses. Balkenverbindungen knarrten unter der Gewalt des Unwetters,
bei dem seltsamerweise kein Regen fiel. Der Küchenfußboden war mit den Überresten von Covenants früherem Leben bedeckt. Blut stockte in gerinnenden Lachen. Aber sie blieb nicht dort stehen. Sie warf sich nicht herum und flüchtete. Stattdessen betrat sie den kurzen Gang, der zu den drei Türen führte. Covenants Schlafzimmer. Das Bad. Und der letzte Raum, in dem er Joan gepflegt hatte. Linden folgte Blutspritzern und dem schwachen Lichtstrahl ihrer Stablampe den Gang entlang zu dem letzten Raum. Wohin hätte sie sonst gehen sollen? Roger hatte Jeremiah. Das Gewicht ihrer Arzttasche in ihrer linken Hand stabilisierte sie. Es war ihr Anker gegen das Tosen des Sturms und Rogers Wahnsinn. Ihre einzige Waffe. Von der krampfhaft umklammerten Stablampe schmerzte die kleine Wunde in ihrer Handfläche, aber der Lichtstrahl war zu schwach, um sie beschützen zu können. Ihre Lederjacke hatte sie zu Hause gelassen. Sie hatte bewusst eine frisch gewaschene rote Flanellbluse, saubere Jeans und feste Stiefel angezogen. Sie war hierher, zur Häven Farm gefahren, obwohl sie wusste, was sie dort finden würde. Die Tür des letzten Raums stand offen. Linden roch Ozon und Blut. Das Haus zitterte. Roger hatte hier gemordet. Er hatte eine seiner Geiseln umgebracht. Linden fühlte sich beben wie Covenants verlassenes Haus. Eine merkwürdige Desorientierung setzte ihr zu. Aus irgendeinem Grund erwartete sie, verkrusteten Schmutz auf ihrer Bluse zu sehen. Flecken, Schmutz, Risse: Konsequenzen. Sie erwartete, ein präzise ausgestanztes Loch über ihrem Herzen zu sehen. Aber der Flanell war noch sauber. Die Bluse war praktisch neu. Ihre Jeans trugen keine Spur von Rogers Gemetzel. Ganz in der Nähe schlug ein Blitz ein, dann folgte sofort ein krachender Donnerschlag. Roger hatte Jeremiah entführt. Jeremiah hatte einen Holzsplitter wie einen Nagel durch ihre Hand getrieben. Der letzte Raum lag in Trümmern, war verwüstet und giftig. Das schwache Licht ihrer Stablampe zeigte ihr Sara Clint, die verblutet auf dem Einzelbett lag. Sie hatte Dutzende von Schnittwunden, viele Dutzend Wunden. Roger hatte ihre Hand- und Fußgelenke mit Gewebeband an das Bettgestell gefesselt. Dann hatte er wieder und wieder durch den weißen Stoff ihres Kittels
geschnitten und venöses Blut vergossen. Als Vorbereitung auf ein Ritual. Statische Elektrizität ließ Lindens Haar von ihrem Kopf abstehen, erzeugte einen Nimbus aus Verzweiflung. Jeremiah! Roger hatte Sara mit diesem Messer abgeschlachtet: einem großen Tranchiermesser, das jetzt neben ihrem Kopf im Kissen steckte. Als er genug gehabt hatte, hatte er das Messer in ihr Herz gestoßen, bevor er es in dem Kissen zurückgelassen hatte: eine für Linden bestimmte Präsentation, die seine Ernsthaftigkeit demonstrieren sollte. Jetzt war er fort. Er hatte Jeremiah und Joan und Sandy Eastwall mitgenommen. Zu dem Ort, an dem er Jeremiah opfern wollte. Und Sandy vermutlich auch. Unter Umständen brauchte er ihr Blut, um sich den Weg zu öffnen. Vielleicht würde er dazu sogar das Blut seiner eigenen Mutter brauchen. Linden hätte eine gewisse Zeit an Saras Leiche trauern sollen. Das hätte sie unbedingt tun müssen. Niemand konnte behaupten, Sara Clint habe nicht wenigstens dieses Mindestmaß an Anerkennung verdient. Sie war eine gute Frau gewesen, und sie war ermordet worden. Aber Linden hatte keine Zeit. Sie wusste, wohin Roger unterwegs war; wohin er mit seinen Geiseln wollte. Sie wusste auch, weshalb. Sie musste ihn einholen, bevor er … Jeremiah! Es gab etwas, an das sie sich unbedingt erinnern musste. … bevor er die Felsplatte im Wald erreichte, auf der Thomas Covenant ermordet worden war. Der Ort, an dem Jeremiah in Lord Fouls Feuer mehr als eine halbe Hand verloren hatte. Nein, es gab nichts, woran sie sich erinnern musste. Doch, es gab etwas. Ein Gesicht. Wessen Gesicht war das? Jeremiahs? Nein. Sein Gesicht hätte sie nie vergessen können? Für sie war es so wichtig wie die Nervenbahnen ihres Gehirns. Deshalb war sie hier. Dann vielleicht Liands? Aneles? Staves? Wer zum Teufel waren Liand und Anele und Stave? Und warum wollte sie an Riesen denken? Sie hatte sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen und durfte sich nicht durch Erinnerungen an alte Freundschaften ablenken lassen. Nicht jetzt.
Trotz ihrer Eile versuchte sie, Sara kurz die letzte Ehre zu erweisen. Einige Herzschläge lang um sie zu trauern. Inzwischen roch sie kein Blut mehr. Auch kein Ozon. Eigentlich waren diese Gerüche schwer genug, um sich festzusetzen. Aber die stürmischen Winde hatten sie durch eingeschlagene Fenster und Löcher in den Wänden hinausgezogen. Stattdessen roch sie Rauch, der so ölig dick war, dass er von einem Feuer hätte stammen können, das der Verächter gelegt hatte. Im Lichtstrahl ihrer Stablampe sah sie Andeutungen davon. Der Rauch erzeugte Beklemmungen. Linden rang nach Atem, schien plötzlich nicht mehr genug Luft zu bekommen. Sie musste fort. Sie hatte schon zu viel Zeit vergeudet. Augenblick! Ihre Bluse … Ihre Jeans … Nichts. Beide waren so gut wie neu. Und sie kannte Liand oder Anele oder Stave nicht, natürlich nicht, sie hatte diese Namen nie zuvor gehört. Roger hatte Jeremiah und Joan und Sandy in den Wald verschleppt. Linden wusste, wohin er wollte. Woher kam Liands Name oder Aneles, Staves oder Mahrtiirs, wenn sie ihnen nie begegnet war? Im Haus hatte ein Blitz eingeschlagen; das musste passiert sein. All das trockene Holz würde wie ein Scheiterhaufen brennen. Gott, sie hatte Halluzinationen! Ihr Sohn brauchte sie, und sie war dabei, den Verstand zu verlieren. Stave, der von den Meistern zurückgewiesen wurde. Covenants brennende Hände, die von Joans wilder Magie verstümmelt wurden. Covenant war tot. Vor zehn Jahren ermordet. Nach diesem Augenblick war nichts mehr geschehen. Linden hatte sich alles nur eingebildet. Jeden Kampf, jeden Albtraum, jeden Verlust. Liand und Anele … Stave und Mahrtiir … Pahni und Bhapa … Riesinnen. Schimären, Ausgeburten ihrer Fantasie, mit denen sie abgelenkt werden sollte. Um sie zu lähmen. Bis die Flammen sie erfassten. Damit sie Roger nicht folgen konnte. Damit sie ihren Sohn nicht retten konnte. Heisere Wut- oder Schreckensschreie, die sie nicht hören konnte, entrangen sich ihr, als sie sich ruckartig von der ermordeten Sara abwandte, aus dem Schlafzimmer auf den Gang hinausstürmte. Covenants Ehering hing an seiner Kette unter ihrer sauberen Bluse, aber Weißgold war nicht imstande, sie hier zu retten.
Roger wollte den Ring. Das hatte er selbst gesagt. Er gehört mir. Sonst hätte er sein Portal gleich hier im Haus erschaffen, Linden auf der Stelle verdammen können. Aber ihm fehlte der Ring seines Vaters. Auf dem Gang fraßen helle Flammen an den Rändern der Dielen, an den Wänden. Das ganze Haus brannte wie Zunder. Ein Windstoß wie von einem Hurrikan erschütterte das ganze Gebäude. Linden schwang ihre Tasche, schlug ein paar Flammen aus, gewann ihr Gleichgewicht zurück. Sie musste an ihnen vorbei, bevor sie ihr den Weg versperrten. Die Küche, das Wohnzimmer, die Haustür erreichen, in die Nacht entkommen. Jeremiah befreien. Aber sie war schon zu spät dran. Vor ihr flog die Tür von Covenants Zimmer nach außen - von Flammen, die wie ein Hochofen röhrten, aufgesprengt. Ein Feuermeer erfüllte den Gang. Nachtschwarzer Rauch quoll ihr entgegen, Hitze trommelte mit den Fäusten eines Wahnsinnigen auf sie sein. Gemeinsam trieben sie Linden zurück. Bald würde das Feuer so schwarz sein wie … so schwarz sein wie … Durchs Haus konnte sie nicht flüchten. Außer der Arzttasche hatte sie nichts, was ihr als Schutz gegen die Hitze dienen konnte. Sie hielt die Tasche wie einen Schild hoch, als sie in das Zimmer zurücktorkelte, in dem Sara lag. Das Saras Scheiterhaufen werden würde. Linden knallte die Tür hinter sich zu, aber sie wusste, dass sie dem Feuer nicht lange standhalten würde. Ihre Tasche war ihr einziger Schutz. Von Mord und Höhlenschraten getrieben erreichte sie das Fenster. Die Scheibe war eingeschlagen, aber im Rahmen steckten noch gezackte Splitter. Sie würden Linden in Stücke schneiden. Sie würden Galt den Tod bringen. Wer war Galt? Großer Gott! Dies alles musste aufhören. Sie musste aufhören, zu fantasieren. Roger hatte Jeremiah. Er hatte Joan und Sandy. Wenn Linden hier starb - wenn sie sich von ihren Wahnvorstellungen in die Falle locken ließ -, konnte nichts mehr ihren Sohn retten. Sie schwang ihre Tasche und brach damit Glasdolche aus dem Rahmen. Die Stablampe warf sie ins Freie. Sie wollte ihre Tasche hinterherwerfen, aber zuvor stützte sie die rechte Hand auf den Fensterrahmen. Ein Glassplitter grub sich in ihre Handfläche. Aus der Wunde quoll
sofort Blut. Ihre Tasche durfte sie nicht loslassen. Sie brauchte sie … … brauchte sie, um die Flammen zu bekämpfen. Wie der Sturm, die Flammen und das Übel kreischend nahm Linden ihre Tasche in die rechte Hand, versiegelte die blutende Wunde mit dem Griff. Unbeholfen wie ein Krüppel begann sie rückwärts aus dem Fenster zu kriechen. Stave hätte ihr geholfen, aber er existierte nicht. Keiner ihrer Freunde hatte jemals existiert. … träumen, hatte Covenant ihr einst erklärt. Wir erleben einen gemeinsamen Traum. Wenn sie nicht aufhören konnte, sich Leute und Ereignisse und Albträume auszudenken, würde Roger ihren Sohn abschlachten. Um rückwärts durchs Fenster kriechen zu können, musste sie die Schienbeine auf den Rahmen stützen. In einem Bein spürte sie ein halbes Dutzend Schnitte, ein Dutzend, viel mehr, als Splitter im Rahmen steckten. Und als Linden sich außerhalb des Hauses zu Boden fallen ließ, war sie noch immer in dem Gang zu Küche und Wohnzimmer. Rauch und Flammen rollten auf sie zu: ein Tumult, der es darauf anlegte, alles Leben zu beenden. Aber nun war der letzte Raum, Saras Todeszimmer, ebenfalls ein Inferno. Auch dort röhrten die Flammen wie im Rest des Farmhauses. Sie hätte ihre Arzttasche mit der Stablampe aus dem Fenster werfen sollen. So hatte sie die Chance eingebüßt, auf diesem Weg zu entkommen. Das Feuer griff mit langen Armen nach ihr. Pechschwarzer Rauch, der mit bitterem Orangerot und unerträglicher Hitze versetzt war, wälzte sich auf sie zu. Sie warf sich kreischend herum und flüchtete, rannte verzweifelt davon, als wäre dieser Gang der Schlund von Ihr, die nicht genannt werden darf. Sie musste sein Ende finden, bevor der Rachen des Übels sich schloss; bevor sie auf ewig in Horror und Folterqualen gefangen war. Bevor Roger Jeremiah etwas antat. Weil Linden noch immer versuchte, ihren Sohn zu retten, schlug sie Feuer und Rauch mit ihrer Tasche beiseite. Stolpernd und mit den Armen rudernd lief sie, so schnell sie nur konnte … … ohne das Ende, die letzte Wand erreichen zu können …
Pochende Schmerzen in ihrem Bein, als spritzte Blut aus Wade und Schienbein. … weil es kein Ende gab. Sie war von ihren Träumen in die Irre geführt worden. Der Flur erstreckte sich endlos weit vor ihr, und Flammen, die schneller wuchsen, als Linden sie ausschlagen konnte, verzehrten die Wände, und der hinter ihr röhrende Hochofen war zum Kern eines Vulkans geworden: das tosende Herzstück der Gier des Übels, die feurige Wildheit von Rogers fremder Hand. Woher hatte Roger diese Hand, die Lava und Qualen spucken konnte? Im Besitz solcher Kraft hätte er keine Schusswaffe oder Sara Clint oder Sandy Eastwall gebraucht. Er hätte Joan und Jeremiah entführen und nach Belieben agieren können, um sich Covenants Ring zu verschaffen. Keine Macht der Welt hätte ihn daran hindern können. Solche Macht besaß er jedoch nicht. Das Übel dagegen schon. Sie, die nicht genannt werden darf, hatte in Lindens Herz geblickt und ihr Urteil über sie gesprochen. Linden war ihre rechtmäßige Beute; sie war in einen Rachen geraten, der sie noch nicht verschlungen hatte, weil unzählige bereits verschlungene Frauen kreischten. Das Übel existierte nicht. Die Frauen gab es nicht. Linden kannte Elena nur von Hörensagen. Nur ihre Tasche voller Instrumente, Arzneifläschchen und Verbandmaterial hinderte die Flammen daran, sie zu verschlingen. Nur die blutende Wunde in ihrer Handfläche verlieh der Tasche Bedeutung; hielt sie am Leben. Ihr verletztes Bein pochte wie ein offenes Geschwür. Sie hatte es sich am Fensterrahmen aufgerissen. Sie konnte nicht mehr viel länger rennen oder um ihr Leben kämpfen; aber der Gang und die Flammen, der Rauch, die schreckliche Hitze nahmen kein Ende. Dies war der Tod. Es war die Hölle. Es war die Agonie des Endes aller Dinge, eine unabwendbare Katastrophe. Und Linden hatte sie selbst heraufbeschworen. Sie hatte sie sich durch Zorn und Torheit verdient. Wind fachte die Flammen an. Inmitten von Blitzen, die aus dem Nichts kamen und nicht mehr aufhörten, wirbelte mit Funken durchsetzter dichter Rauch in Spiralen auf. Krampfartige Schmerzen ließen ihr Bein einknicken. Sie schlug der
Länge nach auf die brennenden Dielenbretter. Linden drehte sich in verzweifelter Hast auf den Rücken. Sie schlug wie wild mit der Tasche um sich, versuchte die Flammen abzuwehren. Verdammt. Dies war unmöglich. Der Gang hatte ein Ende. Er endete an der Wand des Raums, in dem Sara gestorben war. Linden hatte bei weitem nicht genügend Glassplitter in dem Fensterrahmen zurückgelassen, um sich solche Verletzungen zuzuziehen. Aber sie hatte ihre Chance verspielt, Jeremiah zu retten. Und damit ihren Lebenszweck. Vertraue auf dich selbst. Covenant war verrückt. Tot und geisteskrank. Linden hatte nichts in sich, worauf sie hätte vertrauen können. Entscheidend war nur Macht, und ihre Abwehrkräfte ließen nach. Unterdessen war der gesamte unentbehrliche Inhalt ihrer Tasche zerschlagen. Vertraue auf dich selbst. Worauf vertrauen, du Dreckskerl? Sie hätte ihn vielleicht nicht ins Leben zurückgeholt und die Schlange aufgeweckt, wenn er nur mit ihr gesprochen hätte. In Andelain. Als ihr jedes Wort von ihm so kostbar gewesen wäre wie ihr Sohn. Sie kann das. Nein, sie konnte es nicht. Das konnte niemand. Keiner außer Covenant, der sie abgewiesen hatte. Ihr Haar zischte und stank. Ihre Wimpern brannten, versengten ihr die Augen. Flammen und Rauch füllten ihren Mund, ihre Kehle, ihre Lunge. Verkohlte Stellen wie wohlverdiente Qualen sprenkelten ihre Bluse. Nun musste sie sterben. Alles war besser, als eine Ewigkeit in dem Albtraum von Ihr, die nicht genannt werden darf, zu verbringen. Die Welt wird ihresgleichen nicht wiedersehen. Aber es gab auch Spuren an ihrem Bein, an ihren Jeans: Blutflecken unterhalb des Knies. Sie bildeten Muster. Sie wusste nicht,.was dieses Muster bedeutete. Trotzdem erkannte sie es wieder. Es konnte nicht bei ihrem Versuch, über den mit Glasdolchen besetzten Fensterrahmen zu kriechen, entstanden sein. Unter den dunkelroten Blutflecken sah sie Spuren von Grün. Ihre Augen waren versengt, fast blind. Trotzdem wirkte das Grün so fundamental wie Gras. Das Muster - falls es existierte - war eine Landkarte. Und hier auf ihrer Flanellbluse, von schwelendem Feuer und Schwärze
umgeben: ein kleines rundes Loch, präzise wie ein Einschussloch. … ihresgleichen nicht wiedersehen. Von irgendwo außerhalb des Feuers riefen Stimmen ihren Namen. Sie hatten schon lange gerufen. Allzu lange. Freunde, die sie nie kennengelernt hatte, weil sie nicht existierten, Gestalten aus ihrer Fantasie flehten sie mit Stimmen an, die so laut waren wie das Tosen der Flammen und das Krachen des einstürzenden Farmhauses. Wenn sie nicht sich selbst trauen konnte, würde sie vielleicht ihnen trauen können. Oder der Landkarte. Sie zeigte den Weg nach draußen. Wo hinaus? Wo hinein? Sie hatte keine Ahnung. Sie konnte die Karte nicht lesen. Sie konnte ihr nur folgen. Sie wusste, wie. Tue etwas Unerwartetes. Alles andere erledigt sich von selbst. Weil Linden nur eine wirkliche Waffe, nur eine Verteidigungsmöglichkeit hatte, die jedoch versagt hatte, warf sie ihre Arzttasche mitten ins Feuer. Alles ist viel einfacher, als du es darstellst. Einfacher? Lächerlich! In diesem Augenblick traf ein durchs brennende Haus zuckender Blitzstrahl ihre Brust. Seine Wucht schmetterte sie nieder, presste ihr die Luft aus der Lunge, lähmte ihre Muskeln. Aber der Schock war nur kurz. Nacht verschluckte die Flammen, löschte alles Feuer aus der Welt. Bevor ihr Herz wusste, dass sie gestorben war, schlug es wieder. Sie lag in feuchtem Gras, während Realitäten sie umwirbelten, sich zu rasend schnell drehten, um begreifbar zu sein. Als sie keuchend nach Atem rang, war die Luft wohltuend kühl. Sofort veränderten sich die Rufe. »Linden Riesenfreundin!«, rief Frostherz Graubrand aus und riss Linden in die Arme. Die Muskeln der Schwertmainnir zitterten vor unterdrückter Erregung. »Ist sie verletzt?« wollte Sturmvorbei Böen-Ende wissen. Ihre Stimme war so laut, dass sie Mahrtiirs nervöse Frage übertönte. Laut wie ein Nebelhorn plärrte Raureif Kaltgischt: »Nein! Das lasse ich nicht zu!« »Stave! Der Stab!« Linden nahm undeutlich wahr, dass sie den Stab des Gesetzes nicht mehr in den Händen hielt. Ihre Nerven erinnerten sich daran, dass sie etwas
geworfen hatte: ihre Arzttasche mit allem Inhalt. Die Nacht war von einem grünlichen Leuchten verfärbt, das so schwach war, dass es den Sternenschein kaum überstrahlte. Das gedämpfte Poltern der Schritte der Riesinnen entfernte sich. Es wurde zu einem Platschen durch zunächst seichtes Wasser, das aber mit jedem Schritt tiefer wurde. Andere Füße nahmen mit einem Spurt die Verfolgung auf. Ein weniger lautes Platschen wie von einem kleineren Körper. Stave? Lindens Herz verkrampfte sich erneut, als ein gewaltiger Wasserschwall zu hören war. Etwas, das größer als die Riesinnen war, bäumte sich um sich schlagend auf. In der Ferne jammerten entgeisterte Kinder mit sumpfartigen dünnen Stimmen. »Linden!«, sagte Graubrand eindringlich. Sie hielt Linden an ihren Brustpanzer gepresst. »Du musst sprechen! Irgendein Grauen hat dich befallen! Wieso hast du deinen Stab weggeworfen?« Irgendwie gelang es dem Mähnenhüter, sich trotz des Lärms der Riesinnen, dem lauten Platschen des Wassers und dem wilden Kampflärm verständlich zu machen. »Sie kehrt zu sich zurück! Ring-Than, höre uns! Warum hast du unsere Hilfe abgewiesen? Von welchem Wahn warst du besessen?« Linden gab keine Antwort. Sie konnte nicht sprechen. Sie hatte kaum die Kraft, den Kopf zu heben, ihren Blick scharf zu stellen. Aber sie hörte Verzweiflung, Kampfgetümmel und Angst. Sie hätte sterben müssen. Stattdessen versuchte sie zu sehen. Anfangs sah sie nur verschwommenes Dunkel. Smaragdgrüne Flämmchen gaben kaum Licht; gewöhnliches Sehvermögen war unbrauchbar. Aber mit ihrem Gesundheitssinn, einem Geschenk des Landes, konnte sie spärliches Gras auf sandigem Boden und das Ufer einer aufgewühlten Wasserfläche sehen. Weiter entfernte Einzelheiten verschwammen wieder. Umrisse lösten sich zu einem verwirrenden Bild auf: zu einem um sich schlagenden Etwas, das riesige Mengen Wasser in alle Richtungen schleuderte. Das Wasser roch modrig, nach Schlamm und Fäulnis wie ein Sumpf ohne Ablauf. Wieso hatte sie ihren Stab weggeworfen? Das musste sie herausbekommen.
Er gehörte ihr. Ihr. Sie brauchte ihn nicht in den Händen zu halten, um seine Kraft anzuwenden. Solange sie seine Gegenwart spürte … Das konnte sie nicht. Er war fort. Oder getarnt … Jesus! … durch ein dräuendes Übel, das dick wie schwarze Bäume, zahlreich wie ein Hain war. Vom Rand des Graslands aus erstreckte sich ein Sumpf weiter, als ihre Wahrnehmungsgabe reichte: ein Feuchtgebiet mit Klumpen von Fäulnis und Schlamm und Sumpfpflanzen. Zwischen kleinen Inseln aus Morast und Wurzeln lag stehendes schwarzes Wasser. Seit undenklichen Zeiten hatte es still dagelegen - aber jetzt nicht mehr. Das modrige Wasser befand sich in wildem Aufruhr, wurde zu Schaum gepeitscht und bildete Gischt und Sprühnebel. Und aus seinen Tiefen kam der Gestank von Tausenden von Leichen, die so lange im Wasser gelegen hatten, dass ihr Verwesungsgestank die Luft verpestete. Die Sarangrave, dachte Linden benommen. Die Sarangrave-Senke. Was machte sie hier? Wozu hatten ihre Gefährten sie hergebracht? Sie mussten die Gefahren doch kennen … Graubrands Körper bebte bei jedem ekelerregenden Atemzug, der sie erschaudern ließ. Mahrtiir machte würgende Geräusche. Böen-Ende bedeckte Jeremiahs Mund und Nase mit einer Hand, als hoffte sie, den Gestank mit ihren Fingern herausfiltern zu können. Hilflos würgend zwang Linden ihre Wahrnehmungsgabe dazu, noch weiter auszugreifen. Am Rand des Sumpfs standen Spätgeborene, Zirrus Gutwind und Onyx Steinmangold in knöcheltiefem Wasser, als hielten sie sich bereit, sich in einen Kampf zu stürzen. Trotzdem schienen sie noch zu zögern, als wären sie sich ihres Feindes - oder ihrer Feinde - nicht recht gewiss. Spätgeborene hielt ihr Schwert mit Blick auf das aufgewühlte Wasser zum Zustoßen bereit; suchte offenbar eine Gelegenheit zum Angriff. Im Gegensatz zu ihr kehrten Gutwind und Steinmangold dem Sumpf den Rücken zu. Gut ein Dutzend Schritte von ihnen entfernt standen zwei Schwärme der kleinen, unbehaarten Feroce, von denen einer links, der andere rechts von Graubrand und Böen-Ende, Linden, Jeremiah und Mahrtiir stand. In den Händen der Geschöpfe flackerten grüne Flämmchen. Ihr
schlammiges Heulen stieg im Gestank aus dem Sumpf auf und wurde von dem Kampflärm übertönt. Gutwind und Steinmangold schienen darauf zu warten, dass die Feroce einen Angriff versuchten. Lindens Bein schmerzte wie als Reaktion auf die angstvolle Theurgie der Geschöpfe. Wie als Antwort darauf. Aber die Feroce achteten nicht auf sie. Sie hatte ihren Stab bereits weggeworfen. Daher interessierten die Feroce sich nicht weiter für sie. Draußen im Sumpf kämpften Kaltgischt, Rahnock, Rüstig Grobfaust und Stave gegen den Lauerer der Sarangrave. 0 Gott! Linden kannte diese Bestie, kannte ihren wilden Hunger. Sie erinnerte sich daran. Vor Jahren oder Jahrtausenden hatte sie es beinahe geschafft, Linden und alle ihre Gefährten zu verschlingen. Was Kraft, Wildheit und schiere Größe betraf, stellte er selbst die Riesinnen in den Schatten. Ohne Covenant und den Krill und wilde Magie … Sie zählte drei aus dem Wasser ragende Fangarme, nein, es waren vier, jede vom Umfang einer der Schwertmainnir. Jeder hätte sich dreimal höher strecken können, als die Riesinnen groß waren. Für Linden schmeckten sie wie der Weltübelstein und das kreischende Übel der Verlorenen Tiefe; wie ein Ausfluss der größten Übeltaten der Gräuelinger und Dämondim in ihren Lehrenwerken. Sie waren fleischgewordene Korruption; jahrtausendelang hatten einsickernde Gifte, ätzend und bösartig, sich in ihnen angesammelt, bis sie von Gier getriebenes Fleisch wurden. Obwohl der Lauerer früher einmal die Skest befehligt hatte, verfügte er über keine Magien, die Linden jemals hatte wahrnehmen können. Seine Stärke und gewaltige Masse reichten aus, um ihn zu ernähren. Unter Wasser sicher verankert, teilte er Schläge aus, die Granit hätten zertrümmern können. Rahnock und Grobfaust kämpften gegen die Fangarme, versuchten, sie mit ihren Schwertern zu zerhacken, wehrten Angriffe ab und warfen sich in das hüfttiefe Wasser, um den Tentakeln auszuweichen. Anfangs sah Linden weder Stave noch die Eisenhand. Sie waren unter Wasser gezogen worden, wurden dort festgehalten … Nein, das wurden sie nicht. Die harte Unnachgiebigkeit von Staves Aura
war unverkennbar. Raureif Kaltgischts Mut schrie gegen das Dunkel an. Als Linden sich auf den ehemaligen Meister und die Eisenhand konzentrierte, entdeckte sie eine Andeutung von ihrem Stab. Ihr Bein schmerzte, als hätte jemand Salz in die Wunden gerieben. Als ob die Flecken auf den Jeans in ihre Knochen eingeätzt würden. Mit einer Säure eingeätzt, deren Farbe ein unheilvolles Grün war. Eruptionen von Wasser und Gewalt verwirrten ihre Sinne; machten es ihr unmöglich, das Gesehene richtig zu interpretieren. Aber sie hatte ihre Landkarte noch. Sie konnte ihr weiterhin folgen. Die schrankenlose Logik von Grasflecken und Qualen hatte sie zu Kaltgischt, Stave und ihrem Stab geführt. Linden hatte die beiden in dem Tumult aus Schlägen, dem verrückten Dreschen und Stechen von Fangarmen und Schwertern übersehen, weil sie nicht bei Rahnock und Grobfaust waren. Tatsächlich waren sie nicht einmal im Wasser. Geschmeidig wie Schlangen hatten die beweglichen Tentakeln des Lauerers sie gefangen. Eine hatte sich um den Oberkörper der Eisenhand gekringelt, sie in die Luft gehoben. Dort hielt der Fangarm sie fest, schüttelte sie kräftig durch und drückte zu … Trotz des starken Verwesungsgeruchs und des geräuschvollen Kampfes im Sumpf spürte Linden die gewaltigen Kräfte des Lauerers. Konnte das Ungeheuer Kaltgischt nicht Hals oder Rückgrat brechen, wollte es sie zerquetschen. Kaltgischt schlug mit ihrem Breitschwert um sich, aber die ruckartigen Bewegungen des Fangarms hinderten sie daran, ihn zu treffen. Der Lauerer war stark genug, um sie zu töten. Seine Umklammerung hätte ihr schon die Brust eindrücken müssen, sodass die Rippen Herz und Lunge durchbohrten und Blut aus Mund und Nase schießen ließen. Aber Kaltgischt wurde nicht zerquetscht. Sie lebte und kämpfte weiter. Zumindest vorläufig hielt ihr Brustpanzer dem gewaltigen Druck stand. Ein weiterer Fangarm hatte sich den Stab geschnappt. Dieser Arm, der das Holz mehrfach umwickelt hielt, hatte sich aus dem Kampf zurückgezogen. Rahnock und Grobfaust kamen nicht nahe genug heran, um ihn angreifen zu können. Andere Tentakeln hielten die Schwertmainnir in Schach. Aber Stave klammerte sich an den Stab. Obwohl der Lauerer sich
bemühte, ihn wegzuschleudern, hielt er das Ebenholz mit beiden Händen umklammert. Indem er die Füße auf die muskulösen Schlingen des Fangarms steckte, zog und zerrte er an dem Stab, um ihn an sich zu bringen. Mit schierer Kraft konnte er sich nicht gegen den Fangarm durchsetzen; nicht direkt. Im Vergleich zu dem Lauerer war er schwach wie ein Kind. Aber der Stab im Griff des Ungeheuers war winzig klein: im Vergleich zur Dicke des Fangarms kaum mehr als ein Streichholz. Stave versuchte nicht, den Griff des Lauerers aufzubrechen, sondern bemühte sich den Stab aus den Windungen des Fangarms herauszuziehen. Das gelang Stave auch. In kleinen Etappen, jeweils nicht mehr als einen Finger breit, zog er den Stab aus den Windungen des Fangarms. Versuchte das Ungeheuer, umzugreifen, würde es den Stab ganz verlieren. Trotzdem konnte Stave nicht gewinnen. Das sah Linden. Der Lauerer würde seine Taktik ändern. Ein weiterer Fangarm würde aus dem Wasser kommen, um den Haruchai wegzuschleudern. Oder er würde gepackt, in das schlammige Wasser gedrückt und ertränkt werden. Er brauchte Hilfe. Die Schwertmainnir sahen die Gefahr, in der er schwebte, so deutlich wie Linden. Mit dem Schlachtruf einer Riesin stürmte jetzt auch Spätgeborene in den Sumpf. Zu dritt gegen zwei Tentakeln kämpfend versuchten Grobfaust, Rahnock und sie eine Lücke zu schaffen, durch die eine von ihnen Stave erreichen konnte. Im nächsten Augeblick verließ auch Steinmangold ihren Wachposten gegen die Feroce, um Kaltgischt zu Hilfe zu kommen. Als Reaktion darauf erschien ein fünfter Fangarm, der in den Kampf eingriff. Linden fand das unerträglich. Covenant hatte sie mehrmals aufgefordert, auch sich selbst zu vertrauen. Sie kann das. Der Schmerz in ihrem Bein erforderte Taten, die noch namenlos waren. Sie war zu schwach, um laut zu rufen. Steinmangold, Spätgeborene und die anderen kämpften zu hitzig, um sie zu hören. Auf sich selbst zu vertrauen, bedeutete: Vertrauen zu seinen Freunden haben. Es bedeutete, Frostherz Graubrand zu vertrauen. »Sag es ihnen«, krächzte sie heiser. Ihre Kehle war wund, von Flammen
versengt, von Rauch ausgedörrt. »Rettet Kaltgischt. Ich helfe Stave.« Graubrand musste sie gehört haben. Musste ihr glauben. Mit heller Stimme wie ein Trompetenstoß übertönte die Riesin den Kampflärm. »Zur Eisenhand! Linden Riesenfreundin hilft Stave.« Alle schienen Linden zu glauben. Spätgeborene, die wie ein Berserker kämpfte, hielt mit Steinmangold auf Raureif Kaltgischt zu. Im nächsten Augenblick folgte Rüstig Grobfaust ihnen, sodass Rahnock es mit drei Fangarmen gleichzeitig aufnehmen musste. Rahnock tauchte ohne zu zögern unter die Oberfläche des trü ben, stinkenden Sumpfwassers. Dann kam sie in der Nähe einer der Tentakeln wieder hoch. Mit Schlamm und Ranken und Brocken von verwesendem Fleisch bedeckt, schwang sie ihr Schwert beidhändig; hackte in die dicken Muskeln und Sehnen des Fangarms. Ihr Schwerthieb drang tief ein. Die Feroce heulten im Chor auf, als hätte der Schlag ihnen gegolten. Lindens Bein pulsierte schmerzhaft brennend. Ein weiterer Fangarm streckte Rahnock nieder. Aber der Arm, den sie verletzt hatte, klatschte laut wie ein Schrei ins Wasser zurück. Er kam nicht wieder hoch. Stattdessen zog er sich zurück, erzeugte dabei eine Schlängelkurve auf dem Wasser. Gleichzeitig setzte Steinmangold zum Frontalangriff auf den massiven Tentakel an, der Kaltgischt zu erdrücken versuchte, und Spätgeborene legte ihr ganzes Gewicht in einen waagrechten Hieb … … und Linden griff mit Wahrnehmungsgabe und Verzweiflung nach dem Stab des Gesetzes. Er gehörte ihr. Er gehörte ihr, verdammt noch mal! Sie hatte ihn mit wilder Magie nicht nur aus Hohl und Findail, sondern auch aus ihrer eigenen Liebe und Trauer erschaffen. Nur seine eisernen Endbeschläge hatten einst Berek gehört. Und er hatte auf ihren Ruf reagiert, als sie Erdkraft gebraucht hatte, um einen todkranken Wegwahrer zu heilen. Er würde ihr auch jetzt gehorchen. Während ein Fangarm Rahnock unter Wasser drückte und ein weiterer Grobfaust mit einem Schlag zur Seite beförderte, als wäre die Schwertmainnir gewichtslos, entlockte Linden ihrem Stab Feuer. Indem sie die Sieben Worte keuchte, tat sie ihr Bestes, um Stave möglichst nicht zu verletzen. Aber sie konnte es sich nicht leisten, sich auf seine Sicherheit zu konzentrieren. Um dem Lauerer zu schaden,
brauchte sie ihre heißeste Flamme. Aus Gründen, die Linden gar nicht erst zu verstehen versuchte, begehrte das Ungeheuer ihren Stab. Es würde ihn nicht loslassen, wenn sie es nicht schmerzhaft zusammenzucken ließ. Jedes Anzeichen von Erdkraft und Gesetz machte Linden stärker. Die Sieben Wörter füllten ihren Mund. Die verlorene Reinheit ihrer Theurgie konnte sie nicht wiederherstellen, aber sie konnte dafür sorgen, dass sie wehtat. Von einem Herzschlag zum nächsten verwandelte ihre kleine Flamme sich in ein schwarzes Glühen: in rasch auflodernde komprimierte Mitternacht. Das Jammern der Feroce wurde zu kummervollem Kreischen, als Macht wie von einem Stück einer obsidianschwarzen Sonne sich in das Fleisch des Lauerers brannte. Der plötzlich schwankende Fangarm lockerte seinen Griff. Stave klammerte sich an den Stab, als das Ungeheuer sie beide in den Sumpf fallen ließ. Im Wasser erlosch Lindens Flamme sofort. Ihre Besorgnis um Stave brachte es zum Erlöschen. Ein dunkler Wind wie nach einer Implosion schien alle Spuren ihrer Macht von der Sarangrave zu tilgen. Aber sie hatte genug getan. Krampfartige Schmerzen durchliefen den Lauerer. Schmerzhaft verdrehte Fangarme schlugen im nächtlichen Dunkel um sich. Ein durch einen Schwerthieb verletzter Tentakel ließ Raureif Kaltgischt fallen. Als die Eisenhand zwischen Spätgeborener und Steinmangold ins Wasser klatschte, kam Rahnock wieder auf die Beine, durchbrach die Oberfläche und holte laut keuchend Luft. Der Fangarm, den Linden verbrannt hatte, schlängelte sich unter der schäumenden Wasseroberfläche davon. In wildem Schmerz wich das Ungeheuer blind um sich schlagend zurück. Der Sog, den die abziehende gewaltige Masse erzeugte, traf den Sumpf wie eine Eruption. Wellen, die den Riesinnen bis zur Brust reichten, breiteten sich mit einem Donnern von Fäulnis und Wasser rauschend nach allen Seiten aus. Gleichzeitig flitzten die Feroce hinter dem Lauerer her. Im Chor jammernd suchten sie hastig den Schutz der Sarangrave. Und als sie ins Sumpfwasser klatschten, erloschen ihre grünen Flammen. Im Wasser schienen sie keine speziellen Magien zu wollen oder zu brauchen.
Bevor die letzten Flammen erloschen, sah Linden noch, wie Stave im Sumpf aufstand. Schlammbrocken und kleine Teile von Leichen klebten an seiner Haut. Übel riechende Ranken und Pflanzenstängel hingen wie Kleidungsstücke von seinen Schultern herab. Aber in den Händen hielt er den Stab des Gesetzes, als wäre er gegen sein Feuer immun; als könnte ihm selbst die schwarze Wildheit, mit der Linden den Lauerer verletzt hatte, nichts anhaben. Als Linden ihn entdeckte - als sie Kaltgischt zwischen Spätgeborener und Steinmangold stehen sah, während Rahnock offenbar unverletzt war und Grobfaust energisch durch den Sumpf watete - fühlte sie Erleichterung wie eine Flutwelle in sich aufsteigen. Endlich entspannt in Graubrands Arme zurücksinkend, merkte Linden kaum, dass die Schnittwunden in Wade und Schienbein nicht mehr schmerzten.
8 Wiedergutmachung der Ranyhyn
Gegen den scharfen Wind ankämpfend schleppten sich Linden und ihre Gefährten zu der geschützten Höhle zurück, in der sie die Nacht verbringen wollten. Sobald Stave Linden den Stab zurückgab, entlockte sie dem Holz schwarzes Feuer, um die Nachwirkungen ihres schrecklichen Erlebnisses zu mildern. Sie nutze Erdkraft, um alle in ihrer Umgebung zu stärken. Die anderen waren weniger bedürftig als sie selbst. Nicht einmal Raureif Kaltgischt brauchte Heilung: Ihr Brustpanzer und ihre durchtrainierte Muskulatur hatten sie vor Verletzungen bewahrt. Und Stave war ein Haruchai. Lindens feuriger Angriff hatte auch ihn verbrannt; unter der Schlammschicht, die sie bedeckte, waren seine Handflächen und Unterarme voller Brandblasen. Aber er schien seine Schmerzen wie Wasser abzuschütteln, bis sie weg waren. Wie Zirrus Gutwind, Sturmvorbei Böen-Ende und Graubrand hatten Mähnenhüter Mahrtiir und Jeremiah nicht in den Kampf eingegriffen. Auch sie waren äußerlich unversehrt. Trotzdem behandelte Linden sie alle. Durch ihre Schuld waren sie in Gefahr geraten. Ohne es zu merken, war sie der Theurgie der Feroce erlegen. Sie verstand nicht recht, was die kleinen Wesen getan hatten, aber sie war davon überzeugt, von ihnen auf die Häven Farm zurückgeschickt worden zu sein. Auf unerklärliche Weise hatten ihre smaragdgrünen Flämmchen diesen Bruch in Lindens Realität erzeugt. Sie hatten ihre Verbindung zur Gegenwart gekappt. Und sie hatte geglaubt… Irgendwie hatte die Tatsache, dass sie sich abends selbst geschnitten hatte, sie verwundbar zurückgelassen. Von Erinnerungen getrieben hatte sie ihre Gefährten zur Sarangrave geführt oder sie angewiesen, den Weg dorthin zu nehmen, wo der Lauerer sie erreichen konnte - und ihren Stab. Jetzt versuchte sie eine gewisse Wiedergutmachung. Zumindest vorübergehend schämte sie sich nicht wegen der Farbe, die ihre Macht angenommen hatte. Betrübter war sie wegen der unmittelbaren Folgen
ihrer Schwäche. Außerdem gab es andere Fragen, die wichtiger waren. Wer oder was waren die Feroce? Welche Art Magie setzten sie ein? Weshalb dienten sie dem Lauerer? Wozu begehrte der Lauerer ihren Stab? Und wieso hatten die Ranyhyn ihre Reiter im Stich gelassen? Linden ruhte in Graubrands Armen und spürte Mahrtiirs Gegenwart in ihrer Nähe. Wegen der langen Schritte der Riesinnen musste er traben, aber diese Anstrengung passte zu seinem unterdrückten Zorn, sein stummes Aufbegehren gegen die eigene Nutzlosigkeit. Und zu seiner Empörung über das Verhalten der Ranyhyn? Jeremiah hing schlaff in Böen-Endes fürsorglichem Griff. Er starrte ins Leere, und Linden wusste nicht, ob er jemals blinzelte. Trotzdem pulsierte in seinen Adern Erdkraft. Sie war ein Teil seines Ichs geworden: Unentbehrlich und kraftvoll wie Blut - und so zweckfrei wie seine versiegelten Gedanken. Stave hatte sich von seinen Schmerzen frei gemacht, aber er war weiter von Kopf bis Fuß mit Schlamm, verwesenden Leichenteilen und Ranken bedeckt, die in dem fauligen Wasser gediehen. Kaltgischt, Rahnock und Grobfaust waren nicht sauberer. Während sie zwischen den Hügeln weiterstapften, quoll immer wieder übel riechendes Wasser aus den Öffnungen ihrer Brustpanzer. Spätgeborene und Onyx Steinmangold waren nicht ins Wasser gefallen, lediglich ihre Beine waren mit einer fauligen Schlammschicht überzogen. Trotzdem waren ihre Schritte ebenso bleiern wie die ihrer Gefährtinnen: Mit altem Tod belastet, als hätte sie die Berührung mit diesem Sumpf voller Verwesung emotional verletzt. Oder als ob sie emotionale Qualen durchlitten hätten, während Linden versucht hatte, aus dem brennenden Farmhaus zu entkommen. Wieso hast du deinen Stab weggeworfen? O Gott, was hatte sie getan? In ihrer Verwirrung hatte sie ihre Arzttasche in die Flammen geworfen. Weil Covenant ihr dazu riet, etwas Unerwartetes zu tun. Und weil die Flecken auf ihrer Jeans ihr den Weg gewiesen hatten. Aber in Wirklichkeit musste sie den Stab geworfen haben, wahrscheinlich hatte sie ihn für ihre Arzttasche gehalten.
Wieder und wieder hatte sie ihre Tasche dafür gebraucht, das Feuer zurückzuschlagen, während sie entlang des Rachens von Ihr, die nicht genannt werden darf, von Ruin zu Ruin geflüchtet war. Solche Dinge hatten die Kreaturen des Lauerers in ihrem Kopf gefunden. Irgendein Grauen hat dich befallen! Verdammt. Sie musste Stab-Feuer eingesetzt haben, um ihre Freunde abzuweisen, während sie durch den brennenden Flur in Richtung Sarangrave-Senke gelaufen war. Zum Glück waren die Riesinnen weitgehend feuerfest. Stave musste ihrer Verzweiflung ausgewichen sein. Und der Mähnenhüter musste auf Abstand geachtet haben, weil er sich seiner Hilflosigkeit bewusst war. Trotzdem war sie eine Gefahr für all ihre Gefährten gewesen. Aber Covenant hatte auch gesagt: Vertraue dir selbst. Genau das musste sie getan haben, als sie ihren Instinkten ebenso wie ihren Ängsten gehorchte. In den zufälligen Flecken aus Blut und Gras hatte sie eine Landkarte gesehen. Und sie hatte den Stab ins Herz ihrer Verzweiflung geschleudert. Andernfalls hätte der Lauerer auch sie ergriffen. Ihr von den Feroce bewirkter Realitätsverlust hätte zu spät geendet. Niemand hätte sie noch retten können. Während sie sich fragte, wie sie ihren Freunden erzählen könnte, was mit ihr geschehen war, erreichten sie den Einschnitt zwischen den Hügeln, in dem sie ursprünglich Zuflucht gefunden hatten. Als Graubrand sie in der Höhle absetzte, nahm Linden sich einen Augenblick Zeit, um sich davon zu überzeugen, dass Staves Brandwunden glatt abheilen würden; dass Kaltgischts Brustkorb, Rückgrat und Gelenke tatsächlich unversehrt waren; dass Rahnock, Spätgeborene, Grobfaust und Steinmangold keine ernsthaften Verletzungen hatten. Dann konzentrierte sie die Energien ihres Stabes auf die Felsen, von denen sie umgeben waren, und verwandelte Erdkraft und Gesetz in behagliche Wärme. Auch wenn Stave und die Schwertmainnir den Wind nicht zu spüren schienen, sollten wenigstens Jeremiah, Mahrtiir und sie es warm haben. Dann würde auch ihre Kleidung trocknen, und vielleicht ließ sich ein Teil des Schmutzes abklopfen. Wie hatten die Feroce sie so leicht in ihre Gewalt bekommen? Die Antwort darauf wusste sie. Die Schnitte, die sie sich am Bein zugefügt hatte, hatten ihre wahre Schwäche enthüllt. Ihr Abstieg in die
Verzweiflung wurde immer steiler. Du gehst Wege, die dir Fangzahns Bösartigkeit bereitet. Alles was sie tat oder fühlte, verschlimmerte ihre Verwicklung in die Pläne des Verächters. Aber diese Schnitte hatten sie auch gerettet. Im Widerspruch liegt Hoffnung. Sie hatten den Zeichen von Fruchtbarkeit und hohem Gras erst wahre Bedeutung verliehen. Ihr eigenes Blut hatte ein Skript interpretiert, das sie trug, seit sie die Grenze des Wanderns besucht hatte. Dieses üppig grüne Tal, das Wohnstätte oder Rastplatz für Ramen und Ranyhyn war. Als Linden darüber nachdachte, was sich ereignet hatte, beunruhigte das Verhalten der Ranyhyn sie immer mehr. Ihretwillen hatten die großen Pferde schon anderen Schrecken getrotzt. Weshalb hatten sie die Gesellschaft diesmal im Stich gelassen, als diese so dringend auf ihre Hilfe angewiesen war? Raureif Kaltgischt löste seufzend die Verschlüsse ihres Brustpanzers und ließ ihn zu Boden gleiten. Dann setzte sie sich und lehnte ihren Rücken an den warmen Fels. Rahnock und Rüstig Grobfaust folgten ihrem Beispiel. Die übrigen Schwertmainnir wollten offensichtlich Wache stehen. Spätgeborene und Steinmangold, die finstere Gesichter machten, rieben sich Schmutz von den Beinen. Zirrus Gutwind zog ihr Schwert und verließ die Höhle, um den Einschnitt zu überwachen. Sturmvorbei Böen-Ende trug Jeremiah weiter auf dem Arm, als wollte sie ihn nicht stören. Graubrand blieb jedoch in Lindens Nähe. Vielleicht wollte die Schwertmain sie beschützen, falls die Feroce zurückkamen. Linden lag viel daran, Mahrtiir auszufragen, denn nur er würde das Verhalten der Ranyhyn erklären können. Aber bevor sie die erste Frage formulieren konnte, war ein fernes Wiehern zu hören. Es klang wie Hynyns Stimme. Es klang zornig. Ein weiteres Wiehern, diesmal näher, erreichte ihre Ohren. Gutwind sah rasch nach links und rechts und beantwortete die stummen Fragen der anderen mit einem Kopfschütteln. Trotzdem verließ Mahrtiir die warme Höhle und ging zu der einarmigen Riesin hinaus. Linden hielt den Atem an, bis sie das leise Donnern von Hufschlägen auf hartem Untergrund spürte. Dann löste sich ihre Verkrampfung etwas. Eines der Pferde kam näher.
Im nächsten Augenblick wandte der Mähnenhüter sich nach Süden. Auch Gutwind nickte in diese Richtung. Um Respekt zu zeigen, steckte sie ihr Schwert wieder in die Scheide. Trotz des Windes hörte Linden die Hufschläge jetzt deutlicher. Wenig später erschien Hynyns stolzes Haupt am Höhleneingang, und sie sah Zorn im Auge des Hengsts blitzen. Mahrtiir warf sich sofort vor ihm zu Boden, aber Hynyn würdigte ihn keines Blickes. Der Hengst war zu zornig - oder zu beschämt, vermutete Linden. Stattdessen richtete Hynyn seine ganze Aufmerksamkeit auf Stave. Stave schien zu verstehen, was der Hengst wollte. Vielleicht hatte er einfach Vertrauen zu Hynyn, oder er hatte in Gedanken einen Wunsch formuliert, weil er zuversichtlich war, dass der Hengst ihn hören und zu ihm kommen würde. Etwas Ähnliches hatte er getan, als er mit Linden und ihren Gefährten durch eine Zäsur nach Schwelgenstein ritt. Jetzt ging er wortlos zu Hynyn hinaus und sprang mit einem Satz auf den Rücken des Pferdes. Hynyn, der Mahrtiir weiterhin ignorierte, warf sich herum und trabte davon. Während Linden und die Riesinnen zusahen, kam der Mähnenhüter wieder auf die Beine. Trotz der Augenbinde war ihm anzusehen, dass sein eigener Zorn keineswegs besänftigt war. Linden kannte ihn jedoch gut genug, um zu wissen, dass er nicht auf Hynyn zornig war. Vielmehr schien er den gekränkten Stolz des Hengsts zu teilen. »Mähnenhüter der Ramen«, fragte Kaltgischt ruhig, »verstehst du, was hier geschehen ist?« Mahrtiirs Finger zuckten und verkrampften sich, als sehnten sie sich nach seiner Garotte. Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte er: »Hynyn bietet Wiedergutmachung an. Das Handeln der Ranyhyn hat uns in Gefahr gebracht. Aber von denen, die sichtbar Schaden genommen haben, reitet nur Stave. Deshalb ist nur Stave dafür geeignet, ihre erste Buße entgegenzunehmen.« Der Mähnenhüter zuckte verbittert mit den Schultern. »Mehr ist mir nicht zu verstehen gegeben worden.« Um seine Gefühle zu schonen, verzichtete Linden darauf, ihn zu fragen, warum die Pferde sich so nahe an die Sarangrave herangewagt hatten. Stattdessen sagte sie: »Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe. Wenn die Ranyhyn den Lauerer so sehr fürchten, müssen sie einen Grund dafür
haben.« Einen sehr guten Grund. Sonst hätten sie ihre Reiter nie im Stich gelassen. »Kannst du ihn uns erklären?« »Das kann ich nicht«, knurrte Mahrtiir. »Kein Ramen hat jemals am Rösserritual teilgenommen. Wir sind nicht auf solche Weise in ihr Wissen und ihre Gedanken eingeweiht.« Linden biss sich auf die Unterlippe und bestand nicht auf einer Antwort. Stattdessen beobachtete sie den Mähnenhüter und erkannte, dass unter der Oberfläche seiner Selbstbeherrschung Leidenschaften miteinander rangen. Die Riesinnen musterten ihn schweigend. Mahrtiir konnte ihre Gesichter nicht sehen, sie nur mit seinem Gesundheitssinn wahrnehmen. Trotzdem musste er ihre Besorgnis, ihre Neugier, ihren Wunsch nach Verständnis, ihre Bereitschaft, sein Schweigen zu respektieren, gespürt haben. Einige Augenblicke lang schien er mit sich selbst zu kämpfen. Dann sackten seine Schultern langsam herab. »Aber wir stellen natürlich Vermutungen an.« Seine Stimme blieb leise. »Wie auch nicht? Sie sind die Ranyhyn. Schon die Bluthüter und Lords wussten, dass sie, die sonst jede Gefahr meistern, das Ungeheuer in der Sarangrave fürchten. Wie könnten wir da nicht versuchen, das Wesen ihrer einzigen Schwäche zu ergründen?« Er rieb sich das Gesicht, prüfte den Sitz seiner Augenbinde und begann mit seiner Erklärung. »Die Geschichte von Kelenbhrabanal, dem Vater der Pferde, ist weithin bekannt. Es ist kein Geheimnis, dass er in alter Zeit, als ein Ansturm von Kresh und weiterer Übel die Ranyhyn auszurotten drohte, versucht hat, ein Abkommen mit Fangzahn zu treffen. Aus Sorge um seine schwindende Herde hat Kelenbhrabanal ihm angeboten, sein Leben für ihres zu opfern. Auf diesen schlimmen Handel ging Fangzahn ein, weil er auf Betrug sann. So hat Kelenbhrabanal dem Feind die Kehle geboten, und sein Blut wurde bis zum letzten Tropfen vergossen - und trotzdem griffen die Kresh weiter an, bis die Ranyhyn sich nur mehr durch Flucht retten konnten. Sie verließen ihre Heimat und kehrten erst wieder zurück, als sie sich die Ramen verpflichtet hatten, für sie zu sorgen und zu kämpfen. Diese Geschichte kannten früher alle, die das Land bewohnten. Heute ist sie beinahe in Vergessenheit geraten.«
Linden hatte sie bereits gehört; die Riesinnen nicht. Sie hörten weiterhin gespannt zu. »Aber unter den Ramen«, fuhr Mahrtiir fort, »ist über Kelenbhrabanals rätselhaftes Ende ungezählte Generationen lang spekuliert worden.« Seine Stimme klang allmählich kummervoll. »Über Jahrhunderte hinweg, in denen diese Sage wieder und wieder erzählt wurde, hat uns stets die gleiche Frage bewegt: Wie ist Kelenbhrabanal umgekommen? Im Zeitalter der Lords ist uns versichert worden, Fangzahn sei ein körperloses Übel. Aye, er kann nach Belieben körperliche Substanz annehmen. Und seine Theurgien können sich zweifellos greifbar manifestieren. Trotzdem bleibt sein Wesen körperlos. Darin gleicht er den Wüterichen, die keine Gewalt ausüben können, wenn sie nicht von einem Wirt Besitz ergriffen haben. Wie wurde der Mord an Kelenbhrabanal also verübt?« Der Mähnenhüter versank in traurige Niedergeschlagenheit. Als er weitersprach, klang seine Stimme trübselig heiser. »Hätte Fangzahn eine körperliche Gestalt angenommen, um den Vater der Pferde zu töten, hätte er den Tod unter Kelenbhrabanals Hufen riskiert. Und Kelenbhrabanal war zu zaubermächtig, um den Magien zu erliegen, die Fangzahn indirekt einsetzte. Trotzdem wurde Kelenbhrabanal wirklich getötet und sein Blut vergossen. Über Generationen hinweg haben die Ramen sich gefragt: Wie? Auf welche Weise ist Kelenbhrabanal ums Leben gekommen? Welches Verbrechen - außer dem offenkundigen Betrug - sollen wir Ramen betrauern?« Mahrtiir gewann seinen Zorn zurück. Sein Tonfall wurde schärfer, und während sich seine Art veränderte, begann Linden aufmerksamer zuzuhören. Über diese Frage hatte sie nie nachgedacht, aber sie konnte sich denken, wohin sie führen würde. Beim Rösserritual hatte sie erfahren, dass die Ranyhyn Scham empfanden. Damals hatte sie verstanden, wie und warum sie sich die Schuld an Elenas Schicksal gaben. Jetzt vermutete sie jedoch, Mahrtiir habe eine tiefergehende Erklärung anzubieten. Indirekt würde er vielleicht enthüllen, weshalb Tiere, die klug und genügsam wie die großen Pferde waren, anderen ebenso selbstlos dienten, wie die Ramen ihnen dienten.
»Wir stellen nur untereinander Vermutungen an«, fuhr der Mähnenhüter fort. Er sprach leise weiter, doch sein unterschwelliger Zorn war nicht zu überhören. »Wir verstehen nichts von solchen Dingen. Aber die Angst der Ranyhyn vor dem Lauerer der Sarangrave - vor diesem Übel - ist unverkennbar. So ist für uns das Geheimnis Kelenbhrabanals eng mit der Angst der Ranyhyn verwoben. Und wir vermuten, auch wenn wir es nicht beweisen können, dass der Lauerer das Mittel war, mit dem Fangzahn den Vater der Pferde umgebracht hat. Vielleicht täuschen wir uns. Fangzahn hat stets Diener gehabt, die willig seine Aufträge ausgeführt haben. Trotzdem bleibt der Kern unserer Spekulationen erhalten. Von allen Übeln, die wir Ramen kennengelernt haben, fürchten die Ranyhyn nur den Lauerer. Und wir glauben bestimmt, dass die großen Pferde Kelenbhrabanals Tod nicht vergessen haben. Die Erinnerung daran wird bei jedem Rösserritual wieder aufgefrischt - von Geist zu Geist, über Generationen hinweg -, bis jede Stute, jeder Hengst mit Betrug und Schrecken Bescheid weiß. Aus diesem Grund, so vermuten wir, trauern sie und können ihre Angst nicht beherrschen und schämen sich.« Während Linden dem Mähnenhüter zuhörte, verstand sie seinen Zorn und vielleicht auch den Hynyns. Im Hintergrund ihres Bewusstseins brannte weiter Covenants Farmhaus; sie hatte also selbst Gründe, sich zu schämen. Aber Mahrtiirs Vermutungen warfen die Frage auf, die sie vorhin nicht gestellt hatte. Die Ranyhyn hatten den Weg bestimmt, den die Gesellschaft genommen hatte. Warum hatten sie sich für diese Annäherung an die Sarangrave-Senke entschieden? Sie hätten doch bestimmt eine andere Route durch die Barrikade aus Hügeln finden können? Welchen Zweck hatte es gehabt, die Gesellschaft - vor allem Linden und den Stab des Gesetzes - den Feroce und der Gier des Lauerers auszusetzen? Während sie eine Möglichkeit suchte, ihre Frage so zu stellen, dass sie nicht wie eine Anschuldigung klang, veränderte sich die Art des Mähnenhüters erneut. Als erwartete er eine Zurechtweisung, die er nicht einzustecken gedachte, sagte er schroff: »Ich habe geantwortet, so gut ich konnte. Nun will auch ich eine Antwort, Ring-Than. Dass die Feroce dir ein Geas aufgezwungen haben, ist offensichtlich. Trotzdem war ihre Macht nie mit der des Stabes vergleichbar. All deine Gefährten wollten
eingreifen, um dich zu retten, aber das hast du nicht zugelassen. Mit Feuer und offenkundiger Angst hast du uns abgewehrt, während du zu dem Lauerer gerannt bist. Ich bitte um einen Bericht über den Zwang, dem du erlegen bist.« Linden fuhr unwillkürlich zusammen. Sie wusste, dass sie ihren Freunden eine Erklärung schuldig war. Aber ihre Verwundbarkeit hatte nicht erst damit begonnen, dass sie sich selbst Schnitte beigebracht hatte. Sie war auch keine Folge ihrer Begegnung mit Ihr, die nicht genannt werden darf, oder von Rogers und des Croyels Verrat unter dem Melenkurion Himmelswehr. Letztlich reichten ihre Wurzeln an Sara Clint und den rauchenden Trümmern von Covenants Haus vorbei bis zu Lindens vergeblicher Liebe zu ihrem Sohn, ihrem gescheiterten Versuch, den Mord an Covenant zu verhindern, und von dort bis zu der misslichen Lage, die Tochter von Eltern zu sein, denen sie nie verziehen hatte. Sie sträubte sich dagegen, die wahren Gründe ihrer Verzweiflung zu schildern. Trotzdem konnte sie Mahrtiir die erbetene Antwort nicht verweigern. Sein Bedürfnis und der Schmerz in den Augen der Riesinnen ließen ihr keine andere Wahl. Linden musste einen Kloß im Hals hinunterschlucken und sagte unsicher: »Die Feroce … Was immer sie sind. Sie besitzen eine Art Macht, die ich noch nie gespürt habe. Eine Art Glammer.« Selbst mit ihrem Gesundheitssinn war sie nie gegen die Theurgie angekommen, mit der Roger sich tarnen oder verändern konnte. »Alles hat sich in meinem Kopf abgespielt. Sie haben …« Linden schluckte nochmals. »… meinen ganzen Kopf übernommen. Das war keine Besessenheit. Sie haben mich nicht gezwungen, ihre Gedanken zu denken. Sie haben nicht gesteuert, was ich gefühlt habe. Stattdessen haben sie mein schon existierendes Ich gegen mich selbst eingesetzt. Sie haben meine Erinnerungen verwendet, um mich glauben zu lassen …« Hier hätte sie am liebsten aufgehört. Doch Mahrtiirs Haltung forderte mehr. Die erwartungsvolle Aufmerksamkeit der Riesinnen war eine stumme Bitte. Wann würde sie anfangen, ihnen zu vertrauen? Innerlich seufzend erzählte sie ihnen, so viel sie ertragen konnte, was der
Glammer in ihr ausgelöst hatte. Roger und Jeremiah. Covenants Farmhaus. Sara Clint. Der Brand. Ihr Kampf gegen die Flammen. Sie, die nicht genannt werden darf. Immer neue Schmerzen, neues Entsetzen. Verzweifelte Flucht. Raureif Kaltgischt machte große Augen, während Linden weitererzählte. Frostherz Graubrand murmelte halblaut Riesen-Flüche. Aber Linden gestattete sich keine Pause. Sie war hier unter Freunden … Sie ließ möglichst viele Details aus, weil sie nicht alles noch einmal durchmachen wollte. Aber sie interpretierte die Wirkung der ihr aufgezwungenen Halluzinationen, wie sie sie sich selbst erklärt hatte. »Als ich mir eingebildet habe, die Flammen auszuschlagen, muss ich mich gegen euch gewehrt haben. Euch auf Distanz gehalten haben, während ich zu entkommen versuchte. Aber als ich meinen Stab weggeschleudert habe, haben die Feroce den Glammer eingestellt. An mir waren sie nicht interessiert.« Ein machtvoller Stab. Unser Hoch-Gott hungert nach ihm. »Ich hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl, eingesperrt zu sein. Das in Flammen stehende Haus ist schlagartig verschwunden, und ich war wieder hier.« Linden senkte schweigend den Kopf. Was hätte sie noch sagen können? Mähnenhüter Mahrtiir betrachtete sie einige Augenblicke lang forschend. Dann nickte er ernst. »Ring-Than, ich bin zufrieden.« Vielleicht meinte er damit, dass sie eine Last auf sich genommen hatte, die so schmerzhaft war wie die, die er selbst zu tragen hatte. Raureif Kaltgischt meinte staunend: »Vieles hast du vor uns verborgen, Linden Riesenfreundin … aye, und vieles enthüllt. Du sprichst nicht über die Gründe für die Taten des Sohns des Zeitenherrn. Trotzdem machst du klar, wie lange und unter welchen Opfern du deinen Sohn gesucht hast. Und obwohl du wenig über deine frühere Welt sprichst, hast du erkennen lassen, dass auch sie voller Gefahren ist. Mit diesen wenigen Worten - zu wenige, um gehaltvoll zu sein - deutest du die Wichtigkeit deiner Heimsuchungen an. Deshalb verneige ich mich vor dir, Ring-Than.« Sie legte sitzend beide Hände an die Brust und breitete dann die Arme weit aus, als öffnete sie ihr Herz. »Wieder einmal hast du dem Tod unser Leben abgerungen. Hättest du deinen Stab nicht…«
Die Eisenhand schüttelte verwundert den Kopf. »Ich gestehe offen ein, dass nicht einmal acht Riesinnen es mit dem Lauerer der Sarangrave aufnehmen können. Wir hätten uns verausgabt und ihm schweren Schaden zugefügt. Aber letztlich hätte das Ungeheuer uns das Leben genommen und den Stab behalten, was das Ende aller Hoffnung bedeutet hätte. In Andelain hast du den Stab hergegeben, um deinen Sohn zu retten. Indem du das auch hier getan hast, hast du dich selbst und uns gerettet. Daher«, fuhr sie ruhiger fort, »bitte ich dich, mit meinem Vorschlag einverstanden zu sein. Ich möchte verhindern, dass du dich nochmals ergeben musst. Mit deiner Erlaubnis wird Frostherz Graubrand den Stab in Verwahrung nehmen, falls die Feroce eine weitere Annäherung versuchen. Niemand kann dafür garantieren, dass ihr Verstand nicht auch durch Glammer beeinflussbar ist. Aber …« »Sicher nicht«, warf Onyx Steinmangold ein. »Du sprichst von Graubrand, deren natürliche Verwirrung andere Einflüsse ausschließt.« Einige der Riesinnen lachten leise, und Graubrand erwiderte: »Pfui, schäm dich, Steinmangold. Lebt denn auf dieser Erde irgendein Riese, der so eng mit Verwirrung vertraut ist wie du selbst?« Kaltgischt blieb jedoch ernst. »Aber der Stab gehört natürlich nicht ihr«, stellte sie nachdrücklich fest. »Sie besitzt weder Geschick noch Eignung, ihn zu gebrauchen. Sollte es den Lakaien des Lauerers gelingen, sie zu verwirren, können wir jederzeit eingreifen. Mit deiner Erlaubnis, Linden Riesenfreundin«, wiederholte sie. Linden, die eine instinktive Abneigung überwinden musste, nickte zögernd. Liand hatte sie ihren Stab mehr als einmal anvertraut. Konnte sie nicht auch Frostherz Graubrand trauen? Sollten die Feroce zurückkehren, würde ihre eigene Reaktion vermutlich daraus bestehen, sie in Stücke zu reißen, bevor sie wieder ihren Verstand manipulieren konnten. Aber das hätte weitere Gewalt bedeutet - und noch mehr Verzweiflung. Irgendwann würde sie jemanden, der es nicht verdient hatte, diese Last auf sich nehmen zu müssen, darum bitten, sie von ihren Qualen zu erlösen. Für ihren ersten fehlgeschlagenen Versuch, Jeremiah zu retten, hatten schon zu viele büßen müssen. Linden hatte letzte Nacht nicht geschlafen. Dafür tat sie es jetzt. Sie
rollte ihre Unterlegplane in der von Erdkraft erwärmten Höhle aus, streckte sich darauf aus und wickelte sich hinein. Obwohl der böige Wind weiter pfiff und heulte und trotz der für das Frühjahr unnatürlichen Kälte stolperte Linden Avery in den Schlaf, als wäre sie auf der Flucht. Für den Rest der Nacht träumte sie von Lagerfeuern und in Flammen stehenden Häusern; von einem primitiven Thron wie ein offener Rachen in der Verlorenen Tiefe; von Tausendfüßlern und intimen Belästigungen. Tief schlafend steckte sie eine Hand in die Tasche ihrer Jeans und umklammerte Jeremiahs rotes Rennauto, als wäre es ein hochwirksamer Talisman zur Abwehr von Albträumen und bösen Absichten. Linden hielt das Spielzeug noch immer umklammert, als Frostherz Graubrand sie sanft anstieß, um sie im Morgengrauen eines weiteren ungewissen Tages zu wecken. Der Sonnenaufgang füllte den Einschnitt zwischen den Hügeln mit aschfahlem Morgenlicht aus. Als Linden angestrengt blinzelte, um die Träume zu vertreiben, die ihren Blick verschwimmen ließen, und sich wie benommen starrend aufsetzte, sah sie, dass Stave zurückgekehrt war. Er war sauber. Von seiner Haut, seinem abgetragenen Wams war jegliche Andeutung von Schlamm und Unrat verschwunden. Hynyn musste ihn zu einem Bach mit klarem Wasser gebracht haben, wo Stave seine Kleidung gewaschen und so lange an einen Felsen geschlagen haben musste, bis selbst die alten Blutflecken sich gelöst hatten. Jetzt stand er zwischen Mähnenhüter Mahrtiir und Frostherz Graubrand, betrachtete Linden mit seinem verbliebenen Auge und wartete, als wäre er sein Leben lang niemals ungeduldig gewesen. Seine Sauberkeit bewog Linden dazu, ihren eigenen Zustand zu begutachten. Obwohl sie nicht selbst in der Sarangrave gewesen war, war sie von ihrem Ritt durch Wind und Regen schmutzig. Auch sie musste baden. Und was ihre Kleidung betraf… Die war unverändert. Der raue Flanell ihrer Bluse sah aus, als wäre Linden in ein Dornengestrüpp geraten. Ein kleines rundes Loch bezeichnete die Stelle, unter der ihr Herz nicht mehr hätte schlagen dürfen. Die ausgefranste Linie am Saum war alles, was noch an ihre Dankbarkeit der Mahdoubt gegenüber erinnerte. Unterhalb der Knie beider Jeansbeine erklärten grüne Linien ihre Notlage in einer Schrift, die sie nicht lesen konnte. Wo sie sich
geschnitten hatte, komplizierten Blutkleckse die Grasflecken, änderten sie ins Obskure ab oder verwandelten ihre Bedeutung. Ganz zerschlagen, als wären alle ihre Träume Kämpfe gewesen, rappelte Linden sich auf. Als sie sich von Spätgeborener einen Wasserschlauch und etwas Essen geben ließ, teilte Stave ihr mit: »Die Ranyhyn bringen uns zu einem Nebenlauf der Trümmerschwemme. Dort finden wir sauberes Wasser und Aliantha.« »Das wäre gut«, meinte Rahnock verdrießlich. »Der Schlamm der Sarangrave …« Sie verzog das Gesicht. »… klebt an einem. Den Gestank habe ich noch immer in der Nase. Das Zeug lässt sich einfach nicht abreiben.« Steinmangold und die Eisenhand nickten ebenso angewidert. »Aber ich rate zur Eile«, fügte Stave hinzu. »Auserwählte, ich kann nicht wie der Mähnenhüter mit den großen Pferden kommunizieren. Aber in Hynyn spüre ich eine neue Dringlichkeit. Die Ranyhyn scheinen jetzt Eile zu wünschen.« »Sie können sich wünschen, was sie wollen«, wehrte Kaltgischt ab. »Wir müssen uns waschen. Wir kommen schneller voran, wenn wir nicht mehr den Gestank von Fäulnis und Bösartigkeit in der Nase haben.« Eile?, hätte Linden am liebsten gefragt. Warum jetzt? Nachdem wir zwei Tage lang nur im Schritt gegangen sind? Aber sie war noch zu benommen, um Fragen zu stellen, die keiner ihrer Gefährten würde beantworten können. Stattdessen trank und kaute und schluckte sie und versuchte zu glauben, sie sei bereit. So bereit, wie sie jemals sein würde. Spätgeborene packte die schwindenden Vorräte der Gesellschaft ein und rollte die Decken zusammen. Mahrtiir und die Riesinnen hatten anscheinend schon früher gegessen - oder wollten ein Frühstück ausfallen lassen. Als Linden erst Stave, dann Mahrtiir und zuletzt Raureif Kaltgischt zunickte, brach die Gesellschaft unter Führung von Zirrus Gutwind auf, die sie südwärts durch die Hügel führte. Bei Sonnenaufgang hatte der Wind nachgelassen. Jetzt war die Luft still und erwärmte sich allmählich. Trotzdem blieb der Tag grau, der Himmel über ihnen war von Reue verfärbt, als hätte sich im Osten des Landes ein trüber Nebel aus Bedauern festgesetzt. Die mutlos wirkende Sonne konnte den Dunst kaum durchdringen.
In dem trüben Licht stieß die Gesellschaft auf Hyn, Hynyn, Narunal und Khelen, die in einem offenen Gelände auf sie warteten. Jenseits einer kleinen Ebene ragte eine weitere zerklüftete Barriere auf, dahinter noch eine. Aber Linden hatte keine Augen für die Hindernisse vor ihnen. Sie war nur froh, Hyn wiederzusehen. Sie hätte wissen müssen, dass die Stute zurückkommen würde. Was die Ranyhyn in der Nähe der Sarangrave-Senke gesucht hatten, blieb unklar, aber sie hatten ihre Reiter nicht im Stich lassen wollen. In Hyns dunklen Augen stand ein verlegener Ausdruck, als sie sich Linden näherte. Hyn blieb knapp außer Lindens Reichweite stehen, wieherte Fragen. Als Hynyn gebieterisch schnaubte, kam sie einen weiteren Schritt näher, beugte ein Bein und senkte den Kopf. Ach, lass das, dachte Linden. Ich werfe dir nichts vor. Ich weiß nicht, warum du es getan hast. Aber ihr hattet bestimmt eure Gründe. Würde ich sie verstehen, würde ich sie vielleicht sogar billigen. Mein Gott, sie sind Ranyhyn. Ihnen wird schon was einfallen. Um die Stute zu beruhigen, ging Linden zu ihr und schlang ihr die Arme um den Hals. Mähnenhüter Mahrtiir warf sich vor Narunal zu Boden. Dann sprang er auf und war mit einem Satz auf dem Rücken seines Pferdes. Als Böen-Ende Jeremiah auf Khelen setzte, blieb der Junge dort sitzen, passiv und bewegungslos, als erkennte er keinen Unterschied zwischen der Fürsorge der Schwertmain und der des jungen Hengsts. Während Linden noch bei Hyn stand, schwang Stave sich auf Hynyn, und die Riesinnen verteilten sich um die Ranyhyn. Linden blickte noch etwas länger in Hyns sanfte dunkle Augen, bis sie wusste, dass die Schuldgefühle der Stute abgeklungen waren. Dann sah sie zu Frostherz Graubrand auf. »Also gut«, sagte sie so energisch wie möglich. »Wir müssen los. Ich will so dringend baden wie ihr.« Mit liebevollem Grinsen legte Graubrand Linden ihre gewaltigen Pranken um die Taille, hob sie hoch und setzte sie sanft auf Hyns Rücken. Die Ranyhyn setzten sich in Bewegung und verfielen in leichten Trab, mit dem die Riesinnen noch Schritt halten konnten, ohne rennen zu müssen.
Die Pferde hatten sich dafür entschieden, die nächste Hügelkette von Westen her anzugehen, weiter von der Sarangrave entfernt, näher am Landbruch. Aus Lindens Perspektive wirkte die Barriere unbezwingbar, wenn auch nicht für die Riesinnen. Aber schon nach ungefähr einer halben Meile erreichten die Ranyhyn eine Art Rampe, über die sie leicht zu einer Scharte hinaufgelangten, die aussah, als fehlte dem zerklüfteten Grat ein herausgebissenes Stück. Und als sie zwischen Felsblöcken, die mit uralten Flechten bewachsen waren, die Scharte passierten, sah Linden, dass der Abstieg über die Südflanke des Grats leicht und mühelos sein würde. Die Hügelkette vor ihnen schien das letzte Hindernis zu sein, das der unsichtbare Pflüger vor den Verwüsteten Ebenen aufgehäuft hatte. In der Senke zwischen den Hügeln lenkte Stave Hynyn an Hyns linke Seite, weil rechts Frostherz Graubrand ging. Linden erwartete, dass er etwas über ihr Verhalten in der vergangenen Nacht sagen würde. Aber als er seine Position eingenommen hatte, schwieg er weiter. Offenbar begehrte er nicht mehr, als seine gewohnte Rolle als ihr Beschützer weiterspielen zu können. Ihr Blick glitt über die Gesellschaft hinweg. Sie überzeugte sich davon, dass Khelen Jeremiah mühelos tragen und die Riesinnen leicht mit den Pferden Schritt halten konnten. Dann sagte sie zu Stave, der neben ihr ritt: »Du warst nicht da, als Mahrtiir über Kelenbhrabanal gesprochen hat. Er hat uns nach besten Kräften erklärt, wieso die Ranyhyn solche Angst vor dem Lauerer haben. Aber er hat kein Wort darüber verloren, weshalb die Ranyhyn sich überhaupt so dicht an die Sarangrave herangewagt haben.« Ihre jetzige Route zeigte, dass die Pferde einen anderen Weg hätten wählen können. Der ehemalige Meister erwiderte Lindens Blick gelassen. »Auserwählte?« »Darüber weißt du vermutlich so wenig wie ich. Aber bei Kelenbhrabanals Geschichte habe ich an Kevin denken müssen.« Beide hatten sich selbst geopfert - allerdings auf unterschiedliche Weise und aus anderen Motiven. »Ich frage mich, ob du mir etwas über ihn erzählen könntest .« Wieder fragte Stave: »Auserwählte?«
Ihre Frage war zu unbestimmt. Wollte sie sich jedoch genauer ausdrücken, würde sie ihre tiefsten Ängste preisgeben müssen. Instinktiv wollte Linden den Kern ihrer emotionalen Notlage geheim halten. Trotzdem hatte die von den Feroce ausgelöste Krise sie davon überzeugt, dass sie sich mehr auf ihre Freunde verlassen musste. Tat sie das nicht, würde sie vielleicht nie ein Mittel finden, Lord Fouls Pläne zu durchkreuzen. Die Hügelkette vor ihnen sah noch immer unbezwingbar aus. Auf steilen Geröllhalden aus Schiefer, Sandstein und Schotter waren massive Granit- und Schiefervorkommen miteinander verwoben, zu steil und zerklüftet für die Pferde. Einige der Geröllfelder schienen jederzeit abrutschen zu können. Jeder Hufschlag konnte sie in Bewegung setzen. An manchen Stellen ragten Sandsteinsäulen gefährlich schief auf, als warteten sie nur darauf, umstürzen zu können. Trotzdem näherten die Ranyhyn sich diesem Hindernis, ohne ihr Tempo zu verringern. Sie trabten weiter nach Südwesten, als erwarteten sie, dass die Hügel sich vor ihnen teilen würden. Linden war vor Flammen auf einem Gang - einer Schlucht - geflüchtet, der endlos und ausweglos gewesen war. Sie hatte nur überlebt, weil sie sich dem Feuer zugewandt, die Landkarte auf ihren Jeans gelesen und ihr einziges Abwehrmittel weggeworfen hatte. Jemandem vertrauen … »Was Kevin betrifft, möchte ich etwas verstehen«, erklärte sie Stave unbeholfen, »aber ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.« In Graubrands Nähe fühlte sie sich unbehaglich. Ihrer Freundschaft mit der Schwertmain fehlte die erworbene Gewissheit ihres Bundes mit Stave. Trotzdem zwang Linden sich dazu, weiterzusprechen, als wäre sie mit Stave allein. »Seit dem Ritual der Schändung trägt er den Beinamen Landschmeißer. Dann wäre ich die Erdschmeißerin, glaube ich. Im Vergleich dazu, dass ich die Schlange geweckt habe, wirkt sein Vergehen fast unbedeutend. Ich möchte wissen, was er und ich gemeinsam haben.« Sie brauchte einen Grund, um glauben zu können, sie habe Lord Foul nicht schon den ersehnten Sieg beschert. »Ich erkenne den Unterschied zu dem, was Kelenbhrabanal getan hat. Er hat nur sich selbst geopfert. Und das hat er getan, weil er glaubte,
dadurch die Ranyhyn retten zu können. Er hat keine Entweihung beabsichtigt. Aber was ich über Kevin gehört habe, kommt meiner eigenen Gefühlslage ziemlich nahe. Wie ich mich jetzt fühle, meine ich. In Andelain war mir nicht so zumute. Natürlich war ich zu zornig, um mir Gedanken über die Konsequenzen zu machen. Aber ich hatte auch Hoffnung.« Und Bedürfnisse. »Ich wollte, dass Covenant lebt, weil ich ihn liebe. Aber ich war auch der Überzeugung, nur er könne das Land retten. Ich dachte, wenn ich ihn zurückbrächte, könnte ich mich darauf konzentrieren, Jeremiah zu retten. Um alles andere würde er sich kümmern.« Covenant hätte ihr Mittel gegen Verzweiflung sein sollen. Darauf hatte sie vertraut. Sie hätte sich niemals vorstellen können, dass er sie zurücklassen würde … »Deshalb«, schloss sie seufzend, »möchte ich wissen, was Kevin und ich gemeinsam haben.« Sie spürte Graubrands forschenden Blick von der Seite her auf sich, versuchte aber, ihn zu ignorieren. »Er hat so ziemlich alles zerstört. Ich habe mir eingebildet, alles zu retten.« Zum Glück mischte Graubrand sich nicht ein. Wenn sie Fragen hatte, war sie zu rücksichtsvoll, um sie jetzt zu stellen. Die Ranyhyn nahmen die Hügel in Angriff, als wären sie gegen Allerweltszweifel immun. Linden, die ihre Umgebung nur geistesabwesend betrachtete, hatte das Gefühl, die Geröllfelder könnten jederzeit ins Rutschen kommen. Sandsteinpfeiler flüsterten ihren Nerven zu, sie seien brüchig, viel zu schwer, um ihr eigenes Gewicht tragen zu können. Und über den Pfeilern ragten Felsklippen ohne Lücken oder Scharten auf. Trotzdem begannen Narunal und Khelen einen schrägen Aufstieg, als wären sie sich ihres Weges sicher. Und Hyn und Hynyn folgten ihnen von steinweisen Riesinnen umgeben, ohne im Geringsten zu zögern. Irgendwie hielten die Geröllfelder unter dem Gewicht der Pferde und der Schwertmainnir stand. Stave schien die potenziellen Gefahren ihres Aufstiegs nicht zu beachten. Er schwieg lange, durchsuchte vielleicht die uralten Erinnerungen der Bluthüter. Dann antwortete er: »Wenn, Auserwählte.« Graubrand nickte, als wäre ihr klar, was er meinte. Aber Linden starrte ihn an. »Das verstehe ich nicht.«
Wie ein Mann, der ein Rätsel gelöst hat, erklärte Stave ihr: »Das hast du mit Hoch-Lord Kevin Landschmeißer gemeinsam, dem seine Vorfahren jetzt verziehen haben. Wenn. Zu Verhandlungen mit oder wegen der Dämondim einbestellt, wenn er nicht seine Freunde und Mit-Lords an seiner Stelle hingeschickt hätte. Sorgenvoll um deinen Sohn trauernd, wenn du Aneles Wunsch nach dem Sonnenstein nachgegeben hättest. Du glaubst, du hättest anders handeln können - und hältst dich für schuldig, weil du es nicht getan hast. So öffnest du dein Herz der Verzweiflung, wie es einst Hoch-Lord Kevin getan hat.« Frostherz Graubrand nickte erneut, ohne ein Wort zu sagen. »Auserwählte«, fuhr Stave fort, »du hast den Meistern zu Recht Arroganz vorgeworfen. Sie haben sich als klug und vorausschauend genug eingeschätzt, um bestimmen zu können, welchen Gebrauch die Bevölkerung des Landes von ihrem Wissen machen darf. Auf seine Art war Kevin Landschmeißer ebenso arrogant. Bei seinem zerstörerischen Wenn hat er nicht berücksichtigt, dass seine Freunde und Mit-Lords ihren eigenen Pfad wählen würden. Er hat keinen von ihnen angewiesen, seinen Platz einzunehmen. Tatsächlich haben viele Mitglieder des Großrats seine Klugheit gelobt, als er darauf verzichtet hat, sein eigenes großes Wissen und den Stab des Gesetzes bei einem gefährlichen Vorhaben aufs Spiel zu setzen. Aber auf diese Stimmen hat er nicht gehört. Indem er sich die Verantwortung für das Schicksal derer, die fielen, angemaßt hat, hat er sie herabgesetzt - und die Verderbnis nicht klar erkannt. Statt den Verrat des Feindes zu entdecken, hat er die Schuld bei sich selbst gesucht und ist irrtümlich zum Ritual der Schändung gelangt, von dem es kein Zurück mehr gab. So ist es auch bei dir.« Linden hörte wie unter Schock stehend zu - als wäre die Bedeutung seiner Worte so groß, dass sich ihre Nerven weigerten, sie zu absorbieren. Nein, dachte sie kopfschüttelnd. Nein. Diese Lektion habe ich gelernt, verdammt noch mal. Ich dachte, ich hätte sie gelernt… Narunal, der die Kolonne anführte, und Khelen umrundeten den ersten Sandsteinpfeiler und stiegen etwas steiler auf, um oberhalb des nächsten Pfeilers zu bleiben. Obwohl der Himmel bewölkt war, wurde der Tag wärmer. Die Pfeiler aus porösem Gestein schienen bereits in der Hitze zu
flimmern, als könnten sie jederzeit zerplatzen. Blut und Hölle! Linden, die im Stillen eine von Covenants Verwünschungen gebrauchte, erinnerte sich daran, dass sie selbst die Frage gestellt hatte. Sie musste zumindest versuchen, die Antwort zu verstehen. »Auserwählte«, sagte Stave nochmals, nachdem er ihr Zeit gelassen hatte, zu protestieren. »Ich bezeichne die Wiedererweckung des Zweiflers nicht als Schändung. Das tun die Gedemütigten. Ich dagegen nicht. Aber dabei warst du selbst arrogant. Weil du Angst hattest, deine Gefährten würden dein Vorhaben missbilligen, hast du es vor ihnen geheim gehalten. So hast du ihnen die Freiheit geraubt, über den eigenen Weg entscheiden zu können. Aber du warst ehrlich genug, um einzugestehen, dass du keine Vergebung kennst. Und du hast auf Zweifeln bestanden. So hast du deinen Gefährten die Möglichkeit gegeben, die Extremität deiner Absichten einzuschätzen. Und wie du selbst gesagt hast, war dein Herz voller Liebe und Zorn, nicht voller Tadel. Deshalb unterscheiden deine Taten in Andelain sich wesentlich von denen, die Hoch-Lord Kevin dort verübt hat. Aber jetzt …« Der ehemalige Meister zuckte mit den Schultern. »… stehen die Dinge anders. Jetzt berücksichtigst du nicht, dass Liand aus eigenem Antrieb gehandelt hat, dass Anele den Orkrest nicht ausdrücklich oder energisch verlangt hat, oder dass du Gefährten hattest, die sich in diesem Augenblick besser um den Alten hätten kümmern können. Du berücksichtigst nicht, dass Liand durch Kastenessens Hand umgekommen ist. Stattdessen setzt du deine Freunde dadurch herab, dass du glaubst, alle Schuld liege bei dir und keiner deiner Fehler sei jemals entschuldbar. So gehst du Wege, die dir Fangzahns Bösartigkeit bereitet, wie Mähnenhüter Mahrtiir gesagt hat. Darin folgst du Hoch-Lord Kevins Beispiel. Nach dem jetzigen Stand der Dinge, Auserwählte, liegt eine Entweihung noch vor dir. Sie sitzt dir keinesfalls im Nacken.« Linden fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Hätte sie nicht auf Hyn gesessen, hätte sie leicht vom Pferd fallen können. Eine Entweihung liegt noch vor dir, hatte Stave gesagt, als meinte er: Ich nehme nur wahr, dass ihr Bedürfnis nach Tod groß ist. O Gott! Wie schlimm war das? Wie fatal war ihr persönliches Scheitern
geworden? Hatte sie nichts aus Liands Tod, aus Aneles oder Galts gelernt? Von Ihr, die nicht genannt werden darf? Oder davon, dass sie die Schlange des Weltendes geweckt hatte? Hast du mit Sunder und Hollian unter dem Sonnenübel verweilt, ohne etwas vom Untergang zu lernen? Trotzdem geriet die Welt nicht ins Wanken. Die Ranyhyn strauchelten nicht, wurden nicht unsicher. Diese Schwächen waren allein ihre. Narunal und Khelen folgten einer hohen Klippe wie einem Festungswall: massiv aufgetürmt, sichtlich unüberwindbar. Nach zwei, drei Dutzend Schritten bogen sie bergauf ab und verschwanden, als hätte der Fels sie verschluckt. Hinter ihnen winkte Raureif Kaltgischt den Rest der Gesellschaft zu sich heran. Dann verschwand auch sie. Als Hynyn und Hyn diese Stelle erreichten, stellte Linden fest, dass ihre Gefährten einen schmalen Engpass betreten hatten, der sich als Riss durch gewachsenen Fels in die Höhe zog. Der Riss war zu schmal, als dass Stave oder Graubrand neben ihr hätten bleiben können. Sie konnten nur hintereinander aufsteigen. Aber der mit Geröll bedeckte steile Anstieg behinderte die Ranyhyn nicht, und die Riesinnen waren traditionell mit Stein vertraut. Hynyn und Stave mussten diese Route letzte Nacht entdeckt haben. Eine Entweihung liegt noch vor dir. Zwischen Steilwänden eingeschlossen hätte sie nicht ausweichen können, um sich vor Steinschlag oder Speeren oder Theurgie retten zu können. Jeremiah war im Halbdunkel außer ihrer Reichweite. Rauer Fels streifte ihr linkes Knie. Zwischendurch musste sie sich zur Seite lehnen, um Felsvorsprüngen auszuweichen. Graubrands nervöse Atemzüge hallten durch den Einschnitt herauf und wurden durch Echos verstärkt. Dies symbolisierte Lindens Leben, dieser Hohlweg. An Hilfe und Unterstützung hatte es ihr eigentlich nie gefehlt. Zuletzt hatte sogar Sheriff Lytton versucht, sie zu retten. Aber sie hatte nie ausweichen können. Seit Roger damals gekommen war, um seine Mutter zu holen, war Linden zwischen unmöglichen Entscheidungen gefangen gewesen. Und jeder zwangsläufige Schritt brachte sie Lord Fouls letztlichem Triumph näher. Trotzdem war dieser Hohlweg nur ein Einschnitt im Granit, eine verhältnismäßig kurze Passage. Er hatte ein Ende. Linden konnte schon
sehen, wo er breiter wurde. Und sie spürte, dass Narunal und Khelen und jetzt auch die Eisenhand in freieres Hügelgelände hinaustraten. Als auch Hyn endlich den Einschnitt verließ, atmete Linden schwer nicht vor Anstrengung, sondern weil ihre Notlage sie von allen Seiten einzuengen schien. Eine Entweihung liegt noch vor dir. Sie konnte Staves Schlussfolgerung nicht widersprechen. Über ihnen bedeckte ein graubrauner Himmel das Unterland wie ein Vorgeschmack kommenden Unheils. Lindens Gesundheitssinn nahm jedoch keine Spur von Rauch oder Zerstörung wahr. Vielmehr schien das die natürliche Atmosphäre - ein Überbleibsel alter Kriege? - dieses von Natur aus trockenen Gebiets zu sein. Aber noch vor zwei Tagen war der Himmel blau gewesen, nicht von Omina oder Schmutz verfärbt. Linden wollte einige Augenblicke mit Stave und Frostherz Graubrand allein sein. Auf ihre Bitte hin wartete Hyn, bis Graubrand zu ihr aufgeschlossen hatte. Dann entfernte die Stute sich von Mahrtiir, Jeremiah, Kaltgischt und den ankommenden Riesinnen. Hynyn und Stave folgten ihr ohne weitere Aufforderung. Als sie außer Hörweite der anderen waren, fragte Linden Graubrand verlegen: »Was wirst du den anderen erzählen?« Sie hatte Wahrheiten preisgegeben und gehört, die sie mit Bestürzung erfüllten. Und sie war noch nicht bereit, sie mit anderen zu teilen. Graubrand legte den Kopf schief. Sie schien ein Grinsen zu unterdrücken. »Ich will dich nicht schockieren, Linden Riesenfreundin. Aber ich möchte dir versichern, dass Riesen durchaus zu Diskretion imstande sind. Deine Worte waren für Staves Ohren bestimmt, nicht für meine. Ich kann nicht behaupten, sie nicht gehört zu haben oder dass ich sie vergessen werde. Aber Riesen erzählen keine Geschichten weiter, die sie nicht hätten hören sollen.« Linden war zu erleichtert, um gleich antworten zu können. Sie nickte der Schwertmain nur dankend zu. Dann wandte sie sich an den ehemaligen Meister. Stave betrachtete sie gleichmütig, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen. Er war nicht nur ihr Freund, er war ihr bester Ratgeber. Sie hatte sich ihm anvertraut, als sie nicht gewagt hatte, anderen ihre Ängste zu
schildern. Und in der Halle der Geschenke hatte er ihr Grund gegeben, für Jeremiah zu hoffen. Sie schluckte Staub und Furcht hinunter, dann sagte sie: »Du bist ein strenger Richter.« Er hatte ihr Verderben benannt. Stave erwiderte ihren Blick. »In der Tat. Ich bin ein Haruchai.« Dann zuckte er mit den Schultern. »Aber ich kenne jetzt auch Kummer - und deshalb auch Mitgefühl. Und in deiner Gesellschaft habe ich gelernt, dass ich nach Demut streben muss.« Seine Mundwinkel hoben sich zu einem flüchtigen Lächeln. Eine Entweihung liegt noch vor dir. Riesen erzählen keine Geschichten … Indirekt hatten Stave und Graubrand Erinnerungen an Aneles lichte Momente in Schwelgenstein geweckt. Linden hatte versprochen, ihn vor den Folgen ihrer Begierden zu schützen - und er hatte ihr Anerbieten abgelehnt. Die Not des Landes geht alle jetzt Lebenden an. Ihre Kosten müssen alle tragen, die jetzt leben. Daran kannst du nichts ändern. Versuchst du es, bewirkst du womöglich nur Ruin. Jetzt verstand sie den Alten. Wenn deine Taten ins Verderben fähren, wie es unvermeidlich ist… Sie verstand auch Stave. Sie hatte so viele Jahre damit verbracht, sich um Jeremiah zu kümmern und Patienten zu versorgen, die zu krank waren, um das eigene Überleben sichern zu können, dass sie verlernt hatte, auf andere Beziehungen zu vertrauen. Sie hatte sich gestattet, nur an Covenant zu glauben - und nun zweifelte sie sogar an ihm. Blind für die Folgen ihrer Handlungsweise, hatte sie alle ihre Freunde in gewisser Weise wie Kinder oder Invaliden behandelt. Sogar Liand. Sogar Stave. Weshalb hatte sie sich sonst herabgesetzt gefühlt, wenn die anderen Herausforderungen bestanden hatten, an denen sie gescheitert war? Linden verstand noch immer nicht, weshalb die Ranyhyn es riskiert hatten, sie so dicht an die Sarangrave heranzubringen. Aber sie wusste, was dieses Erlebnis bedeutete. Es hatte sie dazu gezwungen, ihren Stab das Symbol ihrer Arroganz - wegzuwerfen. Vielleicht hatten die großen Pferde ihr unabsichtlich gezeigt, dass sie darauf vertrauen konnte, dass ihre Freunde sie und Jeremiah und das Land retten würden, selbst wenn sie es nicht konnte.
Hyn und die anderen versuchten weiter, ihr zu helfen, ihren Weg zu finden. Sie konnte sich ihre Schwächen nur verzeihen, indem sie auf die Stärke ihrer Freunde vertraute. Der weitere Aufstieg blieb mühsam, bis der Grat erreicht war. Von dort aus konnte Linden jedoch sehen, dass die Hänge nach Süden hin sanfter abfielen. Und sie hatte wieder den Landbruch im Blick. In dem merkwürdig unscharfen Tageslicht überragte er ihren gegenwärtigen Standort um über sechshundert Meter: Ein mächtiger grauer Wall, den Wind und Wetter so glatt geschliffen hatten, dass er fast unersteigbar schien. Aber sie wusste aus Erzählungen und aus eigener Erfahrung, dass der Landbruch leichter zu überwinden war, als es den Anschein hatte. Durch den Wall führten alle möglichen Auf- und Abstiege, auch wenn Linden aus dieser Entfernung keinen erkennen konnte. Sie studierte die Aussicht, ohne die Ungeduld der Ranyhyn zu beachten. Fast genau im Westen schoss ein nur scheinbar dünner Wasserstrahl über den Rand des Landbruchs. Vor dem grauen Fels glanzlos wie angelaufenes Silber, fiel er über mehrere Stufen in die Tiefe, wechselte häufig die Richtung, um Hindernisse zu umströmen und ließ Andeutungen von Wasserstaub in den kümmerlichen Sonnenschein steigen. War das der Fluss Landwanderer, der unterhalb des Wasserfalls Trümmerschwemme heißen würde? Nein, überlegte sich Linden, dazu war er zu klein. Das musste der Nebenlauf sein, von dem Stave gesprochen hatte. Am Fuß des Wasserfalls verschwand er zwischen den zerklüfteten Hügeln, die dem Landbruch vorgelagert waren. Als sein nach Osten führender gewundener Lauf wieder sichtbar wurde, war er keine Meile mehr entfernt. Dort bildete er einen kleinen See, kaum mehr als einen Tümpel, bevor er sich den Geländekonturen folgend nach Süden wandte. In diesem Tümpel musste Stave vergangene Nacht gebadet haben. Die Gesellschaft erreichte ihn, bevor ein Drittel des Vormittags verstrichen war. Einige der nach Süden abfallenden Geröllfelder waren gefährlich rutschig, über weite Strecken war der Untergrund jedoch stabil. Die erkennbar begierigen Ranyhyn steigerten ihr Tempo, und die Riesinnen begannen von der Aussicht auf reichlich frisches Wasser ermuntert zu traben. Linden behielt Jeremiah im Auge, weil sie fürchtete,
er könnte vom Pferd fallen. Doch der junge Hengst achtete darauf, dass sein Reiter durch nichts aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Jeremiah saß auf dem Ranyhyn, als bewegte Khelen sich gar nicht. Linden hatte zahlreiche Fragen, die sie den Pferden nicht stellen konnte. Wieso hatten sie riskiert, so nahe an die Sarangrave heranzukommen? Wohin waren sie mit ihr unterwegs? Und warum hatten sie es jetzt so eilig, nachdem sie zwei Tage absichtlich getrödelt hatten? Trotzdem hatte sie Gründe, dankbar zu sein. Die Fürsorge, mit der Khelen auf Jeremiahs Passivität einging, war nur einer davon. Auf Drängen Mahrtiirs badeten Linden und die Riesinnen rasch, tranken sich satt und wuschen die schlimmsten Flecken aus ihrer Kleidung. Während die Riesinnen ein hastiges Mahl aus geräuchertem Schaffleisch, altbackenem Brot und Aliantha zu sich nahmen, ging Linden mit Jeremiah an den Tümpel und säuberte seinen Pyjama. Als sie fertig war, verkündete der Mähnenhüter: »Narunal hat mir unmissverständlich klargemacht, dass die Ranyhyn ihr Tempo steigern müssen.« Das klang deutlich frustriert. »Die Zeit drängt. Ereignisse oder Gefahren sind plötzlich dringend geworden. Warum das so ist, können sie meinem Menschenverstand nicht begreiflich machen. Jedenfalls ist größte Eile geboten. Für müde Riesinnen ist ihr Tempo dann zu hoch. Trotzdem wollen sie die Schwertmainnir nicht im Stich lassen. Deshalb bleibe ich mit Narunal zurück, um die Eisenhand und ihre Gefährtinnen zu führen. Mit Stave, der Ring-Than und ihrem Sohn werden Hynyn, Hyn und Khelen versuchen, den namenlosen Zweck dieser Suche zu erfüllen. Wir folgen euch so schnell, wie die Riesinnen über längere Strecken laufen können.« Bevor Linden oder sonst jemand Einwände erheben konnte, fügte Mahrtiir grimmig hinzu: »Ring-Than, ich trenne mich nicht aus eigenem Entschluss von dir. Mehr noch: Ich schäme mich dafür, in dieser Notlage von dir getrennt zu sein. Ich gebe meinen Platz in deiner Sage nicht freiwillig auf. Aber mein Dienst an den Ranyhyn zwingt mich dazu. Ich kann nicht gegen ihren Willen handeln und ein Raman bleiben.« Auf ihre Weise waren die Ramen ebenso streng wie die Haruchai. »Teufel, Mahrtiir«, murmelte Linden, »ich will dich auch nicht verlieren. Wir haben zwei Tage lang getrödelt - und jetzt haben wir es eilig? Aber
…« »Aber«, unterbrach Raureif Kaltgischt sie energisch, »wir waren uns darüber einig, unser Schicksal den Ranyhyn anzuvertrauen. Dazu hat uns niemand gezwungen. Niemand hatte einen besseren Vorschlag. Und der Mähnenhüter wiederholt eine offenkundige Tatsache, wenn er feststellt, dass wir müde sind. Linden Riesenfreundin, uns Riesen widerstrebt es, Freunde im Stich zu lassen. Aber wir sind auch Seefahrer. Wir können uns die Winde der Welt nicht aussuchen. Wir streben nach Erfüllung unserer Wünsche, aber wir geben nicht vor, darüber zu herrschen, was unseren Segeln dargeboten wird. Bei Sturm oder Flaute erreichen wir den gewünschten Hafen - wenn wir ihn denn erreichen - mehr durch Ausdauer als durch Meisterhaftigkeit. Wir werden uns dem Willen dieser Pferde unterwerfen. Verdienen sie die Ehrfurcht, mit der Mähnenhüter Mahrtiir und die Ramen ihnen begegnen, werden sie uns nicht in die Irre führen.« »Aber«, wiederholte Linden, »ich wollte eben sagen, dass ich zu viele Entscheidungen für andere getroffen habe. Und meines Wissens haben die Ranyhyn noch nie Unrecht gehabt.« Sie mochten sich geirrt haben, als sie sie den Feroce und dem Lauerer ausgesetzt hatten, aber das war ihr jetzt egal. Wie Hyn, Hynyn und Khelen sehnte sie sich nach Geschwindigkeit. Eine Entweihung liegt noch vor dir. Linden wollte sich ihr stellen, bevor Angst oder Verzweiflung sie lähmten.»Irgendetwas hat sich verändert. Ich kann nicht erraten, was es ist, aber ich glaube, dass sie es wissen. Vielleicht haben sie also recht. Vielleicht solltet ihr mehr essen. Häufiger und länger rasten. Versuchen, wieder zu Kräften zu kommen. Narunal wird euch nicht aufhalten, wenn ihr gebraucht werdet.« Dann wandte sie sich an den Mähnenhüter. »Mahrtiir, es tut mir schrecklich leid. Ich weiß, wie dir zumute ist.« Sie hatte zusehen müssen, wie Covenant ohne sie weggeritten war. »Aber aus meiner Sicht lässt sich gar nichts mehr vernünftig erklären. Und wir sind nun einmal hier angelangt. Ohne die Ranyhyn wären wir verloren. Ich bin nur froh, dass sie noch wissen, was sie wollen.« Mahrtiir schien zusammenzuzucken. Aber seine Gefühle waren zu komplex, als dass Linden sie hätte klar deuten können. Er strahlte
Kummer, Zorn, Stolz, Empfindlichkeit aus, alles wild durcheinander. Staves Antwort bestand daraus, dass er mit einem Sprung auf Hynyns Rücken war. Auf dem Hengst sitzend verbeugte er sich ernst vor Mähnenhüter Mahrtiir, dann vor Raufreif Kaltgischt. Zum vielleicht letzten Mal setzte Graubrand Linden behutsam auf ihr Pferd. Während Sturmvorbei Böen-Ende das Gleiche bei Jeremiah tat, schien der Junge den Friedhof seiner Gedanken zu betrachten, als wären alle Gräber ihres Sinnes beraubt. Hynyn, Hyn und Khelen setzten sich in Bewegung und ließen den Tümpel hinter sich. Anfangs trabten sie nur langsam, vermutlich aus Rücksicht auf Jeremiah. Doch mit jedem Herzschlag steigerten sie ihr Tempo bis zum gestreckten Galopp. Die Riesinnen ließen die Reiter wortlos ziehen. Linden vermutete, dass sie sich nicht eingestehen wollten, dieser Abschied könnte endgültig sein. Aber Narunal wieherte ein Lebewohl. Als sein Wiehern unter aschgrauem Himmel über den unebenen Felsengrund hallte, klang es wie ein Fanfarenstoß: ein Schlachtruf oder eine Huldigung. Linden, die tief über den Pferdehals gebeugt auf Hyn saß und den Stab des Gesetzes an ihre Oberschenkel gedrückt hielt, konnte nur darum beten, dass sie keinen verhängnisvollen Fehler machte.
9 Große Not
Von dem unebenen Felsengrund südlich des kleinen Sees donnerten die Ranyhyn auf eine von der Sonne gebackene Ebene hinaus, die glatt und hart wie ein Amboss war. Obwohl es am Vortag geregnet hatte, wirbelten ihre Hufe dünnen Staub auf, der fein wie Asche war. Als Linden sich einmal umsah, zog ihre Stute eine blasse Staubfahne wie einen Wimpel hinter sich her. Der Galopp der Pferde blies ihr Wind ins Gesicht, der im Laufe des Tages wärmer wurde. Die Luft dörrte ihr die Kehle aus und ließ ihre trockenen Augen brennen. Linden glaubte, Tod auf ihrer Zunge zu spüren, aber wenn das stimmte, war der Geschmack undenklich alt. Vor ungezählten Jahrhunderten waren hier Dutzende oder Hunderte oder Tausende Opfer eines blutigen Gemetzels geworden: Menschen und Tiere, vernunftbegabt und primitiv, auch Ungeheuer, an deren Gestalt sich nicht einmal mehr die Haruchai erinnern konnten. Wie alle Arten von Vegetation, die einst hier gewachsen waren, waren sie die vergessenen Überbleibsel von Lord Fouls Kriegen. Geister, die schon so lange tot waren, dass sie jegliche Substanz verloren hatten, trauerten stumm. Von ihren Begierden und Wunden, ihren Ängsten und ihrer Wildheit blieb nichts außer einem vagen Hauch, den die Hufschläge der Ranyhyn von dem harten Boden aufwirbelten. Ohne ihren Gesundheitssinn hätte Linden glauben können, die Ranyhyn verausgabten sich völlig. Die glatt fließenden Bewegungen von Hyns Muskeln unter ihren Schenkeln versicherten ihr jedoch, dass die Stute Reserven an Kraft und Durchhaltevermögen besaß. Notfalls konnten die Pferde noch mehr leisten. Stave wirkte locker und entspannt, mehr ein Ausdruck von Hynyhns Schnelligkeit als eine Last. Im Gegensatz zu ihm hockte Jeremiah in seiner charakteristisch schlaffen Art zusammengesunken auf Khelen, vom Galopp des jungen Hengsts so wenig beeindruckt wie ein Sack Weizen. Seit seiner Rettung hatte Linden ihn noch nie blinzeln gesehen. Trotzdem waren seine Augen nicht geschädigt, als würden sie durch
irgendeine Auswirkung der Erdkraft geschützt, die er von Anele geerbt hatte. An diesem Morgen waren die Ranyhyn zunächst ungefähr nach Südosten über die hart gebackene Ebene unterwegs. Noch vor Mittag deutete Stave jedoch auf den Felsvorsprung des Kolosses weit im Westen. Er musste fast schreien, um das Donnern der Hufschläge zu übertönen, als er Linden erklärte, hinter diesem Felsvorsprung biege der Landbruch nach Süden ab. Dort stürze der Fluss Landwanderer in breiten Kaskaden zu Tal, um die Trümmerschwemme zu werden. Linden, der… in Wasser geschrieben einfiel, fragte sich, ob die Ranyhyn zu dem Fluss Trümmerschwemme wollten. Nach Staves Auskunft berührte die Trümmerschwemme die Verwüsteten Ebenen jedoch so wenig wie die Zerspellten Hügel und mündete erst viele Meilen jenseits von Fouls Hort im Meer der Sonnengeburt. Obwohl die Pferde nach Süden abbogen, sobald der Felsvorsprung passiert war, lag ihr Ziel anscheinend irgendwo zwischen Trümmerschwemme und Zerspellten Hügeln. Als von der Ebene immer mehr Hitze aufstieg, begann der Himmel einem Deckel über dem Unterland zu gleichen, grau wie geschmolzenes Blei und unmöglich anzuheben. Wie lange würden die Ranyhyn noch so galoppieren können? Sie waren sterblich. Auch für sie gab es doch sicherlich Grenzen. Lindens Nerven erschien Hyns Ausdauer so gewiss wie die Sonne. Trotzdem hatte die Stute Schaum um die Nüstern. Ihr geflecktes Fell war schweißnass. Der Schweiß durchfeuchtete Lindens Jeans, die ihr die Beine aufzureiben drohten. Immer wieder glaubte Linden zu hören, wie Hyns Atmung unregelmäßig wurde und fast stockte. Hatten die Ranyhyn es noch weit, würden sie Hilfe brauchen. Ihr Ziel konnte ein Dutzend Meilen entfernt sein, vielleicht auch zwei. Nervös blinzelnd fasste Linden ihren Stab fester und machte sich bereit, ihm schwarzes Feuer zu entlocken. Dann sah sie jedoch an dem im Dunst verschwimmenden Horizont das Ende der Ebene. Im Osten fiel sie zu niedrigerem Gelände ab. Im Westen unterbrachen niedrige Einzelhügel die Ebene wie nachträglich hinzugefügt. Sie trugen eine dünne Schicht Magergras wie einen Bettlermantel, durchlöchert und verschlissen.
Gab es dort Gras, gab es auch Wasser … Hyn und Khelen, die stumm auf Hynyns Autorität reagierten, folgten dem großen Hengst zu den Hügeln. Wenig später waren sie zwischen Erhebungen unterwegs, die kaum den Namen Hügel verdienten: niedrige Erdhaufen, die teilweise mit Gras bewachsen waren. Je tiefer die Pferde in das Hügelland galoppierten, desto üppiger wurde das Gras. Dann verringerte Hynyn sein Tempo, trabte nur noch und ging zum Schluss im Schritt. Vor ihnen sah Linden eine Erosionsrinne. Sie roch Wasser. Linden glitt sofort von Hyns Rücken, um die Stute nicht zu behindern, wenn sie an den Bach wollte. Und sie hatte es selbst eilig, an den Bach zu kommen, um sich Staub und Tod aus der Kehle zu spülen. Auch Stave stieg ab. Er zog Jeremiah sanft und ohne viele Umstände von seinem Hengst und nahm den Jungen mit, als er Linden und den Ranyhyn ans Wasser folgte. Stave erklärte Linden, dass dies der Bach sei, an dem die Gesellschaft schon einmal gerastet habe und der nun zur Trümmerschwemme fließe. Aber als sie ihn fragte, ob er sich vorstellen könne, wohin die Pferde wollten, zuckte er nur mit den Schultern. Fouls Hort liege östlich von hier. Die Ranyhyn seien nach Süden unterwegs. Mehr wisse er auch nicht. Die Pferde tranken sich gierig satt. Während Linden und Stave ihren Durst löschten, weideten sie im Gras an den Rändern des Einschnitts. Linden schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Bach und gab Jeremiah davon zu trinken. Mit ihrem Gesundheitssinn stellte sie fest, dass ihm körperlich nichts fehlte. Dann hob Stave sie auf Hyn, setzte Jeremiah auf Khelen und war selbst mit einem Satz auf Hynyns Rücken. Nach wenigen Schritten galoppierten die Ranyhyn wieder. Sie ließen die abgerundeten niedrigen Hügel zurück und donnerten weiter nach Süden. Eine Zeit lang waren sie auf verwüsteten Ebenen unterwegs. Danach folgte jedoch ein weites Feld mit Obsidian-, Basaltund Feuersteinsplittern, den nadelspitzen Überresten eines Schlackegebiets. Überall ragten schräge und senkrechte scharfe Splitter aus dem Boden, eine weitere Folge einstiger Gewalt. Linden glaubte, die Ranyhyn würden eine Route um dieses Feld herum
finden müssen. Sonst würden scharfe Steinkanten die Gabeln ihrer Hufe zerfetzen. Aber sie hatte die großen Pferde unterschätzt. Flink und gelenkig wie Bergziegen suchten sie sich ihren Weg über das Splitterfeld. Sie tanzten darüber hinweg, als führten sie eine verwickelte höfische Gavotte auf. Irgendwie gelang es ihnen, immer sicheren Boden zu finden, den Linden nicht sehen konnte, und so das Feld zu überwinden. Jenseits dieses Felds erreichten sie ein mit Runzeln bedecktes Gebiet wie ein Flussdelta, wo feurige Ströme, Bäche und Rinnsale sich brennend verzweigt und den einst fruchtbaren Boden verwüstet hatten. In grauer Vorzeit hatte irgendeine wilde Theurgie das hiesige Gestein dazu gebracht, zu schmelzen und wie Wasser zu fließen. Hier galoppierten die Ranyhyn wieder, anscheinend ohne auf einzelne eisglatte Flächen, trügerische Erdhaufen, unter denen sich Geröll verbarg, und karstigen Boden zu achten, in dem sich gefährliche Höhlen auftaten. Die auf allem lastende Hitze wirkte eher sommerlich als frühlingshaft. Die Sonne mit ihrem aschfahlen Licht schien tief über dem Unterland zu hängen. Sie warf kaum Schatten, aber ihre Hitze ließ die galoppierenden Ranyhyn so stark schwitzen, dass ihr Schweiß auf den unebenen Boden tropfte. Lindens Bluse klebte ihr am Körper; ihre Schenkel waren von Hyns feuchten Flanken wund. Auch Jeremiah lief Schweiß über das Gesicht und tropfte auf seinen verdreckten Pyjama mit den sich aufbäumenden schmuddeligen Pferden auf der Brust. Am frühen Nachmittag ließen die Ranyhyn das Flussdelta hinter sich und galoppierten nun über eine sanft gewellte Ebene mit weichem Moorboden. Von Instinkten geleitet, die zuverlässiger waren als Lindens Wahrnehmungsgabe, fanden die Ranyhin ein Aftarcr/ia-Dickicht, das eine kleine Quelle umgab, aus der Wasser wie Blut aus dem verwundeten Boden quoll. Dort rasteten sie kurz, während Stave abstieg, um Schatzbeeren zu sammeln. Linden benutzte einen Zipfel ihrer Bluse, um die Aliantha darin aufzubewahren. Mit beiden Händen voller Schatzbeeren sprang Stave hinter Jeremiah auf Kehlens Rücken. Während die Pferde weitertrabten, schob er dem Jungen eine Beere nach der anderen in den Mund, die er eifrig schluckte. Als Stave fertig war, sprang er von Khelens Rücken wieder auf den Hynyns, und die Ranyhyn galoppierten eilig nach Süden weiter.
Linden aß langsamer und genoss den frischen Geschmack der Aliantha. Doch die Hast der Ranyhyn steckte nun auch sie an. Je mehr der Tag voranschritt, desto sicherer stand für sie fest, dass sie und ihre Gefährten bald alle Kräfte brauchen würden. Sie hatte keine Ahnung davon, was vor ihnen lag. Aber sie mussten bereit sein. Zuletzt beugte sie sich tief zu Hyns Ohr hinunter und murmelte: »Ich möchte helfen, aber ich weiß nicht, wie ich um Erlaubnis bitten soll. Falls ich mich irre, verzeihst du mir hoffentlich.« Anfangs zögerlich, dann aber immer zuversichtlicher entlockte Linden ihrem Stab Erdkraft. Konzentrierte Flammen entrollten sich wie dunkle Ranken, wie die Bänder des Eifrigen, um Hyn, Hynyn und Khelen nährend zu umgeben. Hynyn warf den Kopf hoch und wieherte laut. Khelen tänzelte ein paar Schritte lang, als wollte er angeben. Hyns leises Schnauben klang liebevoll. Im nächsten Augenblick steigerten die drei ihr Tempo noch mehr, bis sie fast zu fliegen schienen. Offenbar waren die Pferde von Ra mit ihr einverstanden. Wenig später begann das Gelände sanft nach Süden und Osten abzufallen. Eine Zeit lang war der Untergrund noch ideal. Aber dann bestand der Boden wieder aus Sandstein und Schiefer, eine unsichere Oberfläche, die durch eingelagerte Felsblöcke und lose Schieferplatten noch gefährlicher wurde. Linden, deren Augen von der Geschwindigkeit tränten, zwang sich dazu, nach vorn zu sehen. In der Ferne stieg das Land wieder an. In Stufen und Terrassen baute es sich höher und höher auf, bis es von einem Grat, der einer lückenhaften Zahnreihe glich, abgeschlossen wurde. Der Anstieg war weder hoch noch steil, aber er reichte aus, um alles zu verdecken, was dahinter lag. Als sie nach oben sah, hatte sie den Eindruck, sie nähere sich dem Rand der Welt. Die Ranyhyn donnerten die letzte Schräge hinunter, überquerten eine Ebene, die der Boden eines in grauer Vorzeit ausgetrockneten Sees hätte sein können, und galoppierten den Gegenhang hinauf. Als sie sich dem Grat näherten, erkannte Linden, dass die Zähne des Horizonts keine Felsblöcke waren. Sie bestanden aus unregelmäßig verwitterten Sandsteingebilden wie Mammutknochen, die ausgefranst und zerbrochen aus dem Felsenskelett des Hügelkamms ragten.
Hier verringerten Hynyn, Hyn und Khelen endlich ihr Tempo. Obwohl sie ausgepumpt sein mussten, erweckten sie den Eindruck, sie würden nicht langsamer, weil sie müde, sondern weil sie fast am Ziel seien. Sie näherten sich dem Hügelkamm wie dem Rand einer Schlucht. Trotzdem wirkten sie keineswegs ängstlich. Stattdessen bewegten sie sich mit gemessenem Schritt. Ihre Haltung verriet trotz Schweiß und Müdigkeit Stolz oder Ehrfurcht, als näherten sie sich einem Quell von Wundern, einem Ort, der Realitäten verändern konnte. »Stave …?«, fragte Linden heiser. »Was …?« Er wusste doch bestimmt, wo sie waren. Seine Leute hatten doch bestimmt gesehen, was hinter diesen Sandsteinplatten lag. Aber der Haruchai gab keine Antwort. Nichts an seiner Art ließ auf Erkennen oder Verständnis schließen. Die stehenden Sandsteintafeln waren höher als Stave auf Hynyns Rücken; größer als jeder Riese. Sie ragten in den bedeckten Himmel auf, als wären sie einst hoch genug gewesen, um ihn zurückzuhalten, als hätten sie vor Äonen eine unüberwindliche Barriere gebildet. Jetzt traten die Ranyhyn ungehindert zwischen ihnen hindurch und machten halt. Die Reiter hatten den Rand einer runden Senke erreicht, die einem Krater, einer Caldera glich, obwohl Linden sich nicht vorstellen konnte, durch welche Art von Vulkanismus diese Formation entstanden sein sollte. Der gesamte Kraterrand war mit erodierten Sandsteinplatten wie müden Wachposten besetzt, eine verwitterte Schar von Wachen, die zu ermattet waren, um noch strammzustehen. Die Caldera selbst war so groß, dass wohl keine der Schwertmainnir einen Stein hätte hinüberwerfen können. Trotzdem war der Krater innerhalb des Ringwalls nicht sehr tief. Mit flachen Seiten und ebenem Boden glich er eher einem Becken als einem Kessel. Dies war offenbar das Ziel, dem die Ranyhyn einen ganzen Tag lang in einem Galopp zugestrebt waren, den kein gewöhnliches Pferd hätte durchhalten können. Linden, die sprachlos verblüfft war, starrte in den Krater wie eine Frau, die mit ihrer Weisheit am Ende ist. Der Boden der Caldera war mit hoch aufgetürmten Knochen bedeckt. Sie waren alt … Gott, waren sie alt! Zehntausende, Hunderttausende von Knochen lagen dort unten, als wären sie einfach weggeworfen worden, als wäre der Krater eine Müllhalde, auf der alle sonstigen Abfälle längst
zu Staub geworden waren. Oder vielleicht hatten Lord Fouls Heere sich nie die Mühe gemacht, ihre Gefallenen zu verbrennen oder zu bestatten. Unvorstellbar viele Jahreszeiten mit Sonne, Wind und Regen hatten die Knochen kalkweiß gebleicht. Unter einer helleren Sonne wären sie blendend weiß gewesen. Um ihre Bedeutung zu verstehen, betrachtete Linden sie genauer. Auf den ersten Blick hatte sie geglaubt, dies seien Menschenknochen. Das waren sie jedoch nicht. Solche Knochen hatte sie noch nie gesehen. Manche hatten Formen oder Gelenkköpfe, die unnatürlich erschienen. Andere wären selbst für Riesen viel zu groß gewesen. Wieder andere schienen die Rippen von Tieren zu sein, die größer als Ranyhyn gewesen sein mussten. Zu viele waren seltsame Gebilde, zu viele Knochen waren wie Flammen geformt; zu viele waren breite Platten wie die Schulterblätter von Hügeln oder die Seiten von Dolmen. Sie konnten nicht sein, was die Ranyhyn mit solcher Hast gesucht hatten. Das war unmöglich. Sie waren nicht nur unvorstellbar alt, sondern auch bedeutungslos. Vielleicht war dies die Grabstätte irgendeiner Tierart, die sich hier versammelt hatte, um Trost zu finden, während sie ausstarb. Oder vielleicht hatte Lord Foul aus nur ihm bekannten Gründen hier seine misslungenen oder abgeschlachteten Kreaturen abgelegt. In beiden Fällen hatten die Knochen jetzt keinen vorstellbaren Zweck mehr. Unabhängig davon, was sie einst gewesen waren, stellten sie jetzt nur Überreste aus einer längst vergangenen Zeit dar. Vielleicht waren sie so alt wie der gewachsene Fels in der Verlorenen Tiefe, aber sie waren nichts als Knochen: zerfallene Skelette. Sie erinnerten sich nur an den Tod. Linden musste sich beherrschen, um ihre Frustration über die bloße Vergeblichkeit von allem, was sie und ihre Freunde getan hatten, seit Covenant weggeritten war, nicht laut herauszuschreien. Trotzdem empfanden die Ranyhyn etwas anderes - das war unverkennbar. Nach einer langen Pause, in der Linden die Caldera absuchte und sich bemühte, ihren Kummer zu meistern, wieherten alle drei Pferde laut. Dann setzten sie sich erneut in Bewegung. Als näherten sie sich dem Sitz großer Majestät schritten sie ernst in die Senke hinunter. »Stave«, krächzte Linden. Vor nervöser Frustration hatte ihr Herz zu
jagen begonnen. »Verdammt noch mal! Was ist das hier?« »Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete er ausdruckslos. »Die Meister haben diesen Ort gesehen, aber ich weiß nichts darüber. Und in den Jahrhunderten der Bluthüter hat sich kein Lord in dieses Gebiet des Unterlands gewagt. Im Großrat der Lords war manchmal die Rede von einer Zeit vor der Ankunft der Bluthüter, in der Hoch-Lord Lorik Vorstöße in die Sarangrave-Senke und zu den Verwüsteten Ebenen gewagt hat. Aber in Hörweite der Bluthüter haben die Lords weder den Zweck noch das Ergebnis dieser Vorstöße von Lorik Übelzwinger besprochen. Und die hier aufgehäuften Knochen sind ebenfalls nie erwähnt worden.« Der Haruchai musterte Linden prüfend. »Ich möchte dich jedoch daran erinnern, dass hier selbst Mähnenhüter Mahrtiir zu Vertrauen raten würde. Die Wege der Ranyhyn sind geheimnisvoll, und ihre Wahrnehmungsgabe übertrifft unsere. Ich vermute, dass es hier zu irgendeinem Ereignis oder einer Begegnung mit einem Freund oder Feind kommen wird, die sie für nötig halten. Ganz gleich, ob Gutes oder Böses, Fluch oder Segen kommt - wir müssen an unserem Vertrauen zu den großen Pferden festhalten.« Eine Begegnung? Linden atmete zitternd durch, versuchte ihr stotternd jagendes Herz zu beruhigen. Ein Ereignis? Was sollte sich ausgerechnet hier ereignen? Sie war viele Meilen weit über freies Gelände geritten, aber ihr Leben blieb zwischen Steinmauern eingeengt, die kein Abweichen, keine Wahlmöglichkeit, kein denkbares Entkommen ermöglichten. Keine Hilfe für ihren Sohn. Stave irrte sich: Eine Entweihung lag nicht vor ihr. Sie lag hier, in diesem gewaltigen Knochenberg. Oder die Ranyhyn hatten sich Kelenbhrabanals Beispiel folgend für eine Art der Selbstopferung entschieden, die sie nicht beeinflussen konnte. Der ehemalige Meister hatte jedoch auch recht … wir müssen an unserem Vertrauen zu den großen Pferden festhalten. Was blieb ihr anderes übrig? Sie war hier, ohne Essen oder Wasser, ohne Hoffnung für Jeremiah, ohne die Chance, im Namen des Landes eine letzte Anstrengung zu unternehmen. Was hätte sie also tun können, außer darum zu beten, dass sie und ihre Freunde nicht einen verhängnisvollen Fehler gemacht hatten, als sie ihr Schicksal den Ranyhyn anvertraut
hatten? Als die Pferde den Boden der Caldera erreichten, stellte Linden fest, dass der Knochenhaufen sie nur wenig überragte. Und er war ringsum von einem zehn, zwölf Schritte breiten freien Streifen umgeben, der darauf schließen ließ, dass die Knochen aufgestapelt, und nicht einfach in den Krater geworfen worden. Irgendwann in grauer Vorzeit hatte jemand die verstreuten Skelette zu einem Haufen wie einem Grabhügel aufgetürmt. Aber wozu sich jemand diese Mühe gemacht hatte, blieb ihr unerklärlich. Die Pferde machten, den Knochen zugewandt, auf der freien Fläche halt. Ihre Muskeln zitterten vor Erschöpfung. Von ihren Flanken tropfte noch immer Schweiß. Aber sie scharrten nicht mit den Hufen oder gingen um den Knochenhügel herum. Stattdessen schienen sie bewegungslos dastehend zu warten, als rechneten sie damit, dass sich in dem Knochenhügel etwas Unbeschreibliches manifestieren werde. So ist es immer. Die Alternative ist Verzweiflung. Lindens Hand umklammerte Covenants Ring unter ihrer Bluse. Zu glauben, Verzweiflung sei nicht die bessere Wahl, fiel ihr immer schwerer. Hier hatten ihre Taten ins Verderben geführt, wie es unvermeidlich ist… Den Folgen konnte sie sich unmöglich entziehen. Sie hatte gegen die Gesetze von Leben und Tod verstoßen, um Thomas Covenant wiederzuerwecken, aber sie hatte es nicht geschafft, ihn heil zurückzuholen. Von diesem Augenblick an war es vielleicht unvermeidlich gewesen, dass er sie verlassen würde. Nur seine fatale Toleranz für die Fehler anderer hatte ihn daran gehindert, ihr schon früher den Rücken zu kehren. Sie hätte auf Mahrtiir hören sollen, als er … Ohne Vorwarnung glitt Jeremiah von Khelens Rücken, und im selben Augenblick erschien zwischen den Sandsteinplatten am Kraterrand eine grausig brodelnde und schäumende Zäsur. Jesus! Linden ließ in panischer Hast den Ring los, riss mit beiden Händen den Stab hoch und ließ ihn über ihrem Kopf kreisen. Melenkurion abathal Ihre Magennerven verkrampften sich vor Übelkeit. Hornissen umschwärmten sie. Duroc minas miW. So war sie lange keiner Zäsur mehr gegenübergetreten, jedenfalls nicht mehr, seit ihr persönliches
Absinken ins Dunkel sich verfestigt hatte. Der Fleck auf ihrer Seele schwächte sie vielleicht. Ein Teil ihres Ichs hatte gelernt, sich nach Gesetzesverstößen zu sehnen. Aber sie musste es versuchen. Harad khabaal! Auch wenn die Sieben Worte keine magische Wirkung hatten, wenn sie nicht laut gerufen wurden, trugen sie doch dazu bei, Lindens Verzweiflung zu fokussieren. Auf ihren hektischen Wunsch hin schlugen pechschwarze Flammen aus dem Stab. Schwärze kreiselte nach oben, unheilvoll und missbraucht, wie ein Kreischen, das sie von Ihr, die nicht genannt werden darf, geerbt hatte. Wild wie ein Migränesturm brandete die Zäsur in den Krater hinunter, als lenkte Joan oder der Wüterich Turiya sie geradewegs auf die Knochen zu. Irgendein Effekt von Wut oder Verrücktheit - oder vielleicht die verringerte Entfernung - ermöglichte es Joan, ihre Angriffe besser zu steuern. In seiner dissoziierten, teilnahmslosen Art ignorierte Jeremiah die Zäsur. Vielleicht nahm er sie überhaupt nicht wahr. Stattdessen ging er selbstsicher auf die aufgetürmten Skelette zu. In den Pfad der verwüsteten Zeit. Die Ranyhyn machten keine Bewegung. Auch Stave reagierte nicht. Linden wünschte sich, er würde von Hynyn springen, sich ihren Sohn schnappen, mit ihm wegrennen … Aber er blieb auf dem Hengst sitzen, als sähe er keine Gefahr. Als fürchtete er den gewaltigen Sturm nicht. Als vertraute er Linden Avery, der Auserwählten. Sie schwang ihren Stab und schickte weiß glühende Mitternacht ins brodelnde Herz der Zäsur. Ihr bekommt meinen Sohn nicht! Nur einen Augenblick, vielleicht einen halben Herzschlag lang, sah sie sich scheitern. Ihr Energieschwall schien die Zäsur sogar zu stärken - als nährte sie sich von ihrer besudelten Kraft. Aber ihre Sünden hatten weder die Natur des Stabes noch die Bedeutung von Caerroil Wildholz’ Runen verändert. Fast augenblicklich setzten sich die Grundsätze von Erdkraft und dem Gesetz durch. Sie existierten, um die organische Integrität des Lebens zu gewährleisten: Lindens
Finsternis konnte sie nicht korrumpieren. Als die Zäsur sich in den Krater hinabschlängelte, ging sie plötzlich von innen her in Flammen auf. Etwa auf halbem Weg wurde sie von einer schwarzen Feuersbrunst erfasst, die sie hungrig verzehrte. Im nächsten Augenblick begann sie zu implodieren. Der gewaltige Sog der Implosion hätte Linden fast von Hyn gerissen. Aber sie hörte nicht auf, die Zäsur in Flammen zu hüllen, und wiederholte weiter im Stillen die Sieben Worte, bis der letzte Rest ihrer Gewalt verbrannt war. Erst dann ließ sie innerlich taumelnd ihren Feuerstrom abklingen. Himmel, das war knapp gewesen … Zu knapp. »Stave«, keuchte sie. »Verdammt noch mal, Stave. Was hast du gemacht? Warum hast du Jeremiah nicht…?« Stave sah sie nicht einmal an. Mit ausdrucksloser Stimme sagte er: »Kümmere dich um deinen Sohn, Auserwählte. Du hast von solchen Dingen gesprochen.« Noch immer taumelnd, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf Jeremiah. Der Junge stand am Rand des Knochenhaufens und betrachtete ihn, als wäre nichts geschehen. Er kehrte seiner Mutter den Rücken zu. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie spürte Andeutungen von Erdkraft, die von seinen Schultern und Armen ausgingen: Erdkraft und Geistesabwesenheit - dieselbe Leere, die Linden kannte, seit sie seine Halbhand vor zehn Jahren aus Lord Fouls Feuer gerettet hatte. Jeremiah machte sich daran, einzelne Knochen aus dem Haufen zu ziehen, sie zu begutachten und neben sich abzulegen. Bei diesem Anblick war Lindens Verstand wie gelähmt. Sie konnte weder denken noch fühlen, sie konnte nicht einmal reagieren. Die Lähmung ließ ihre private Welt zum Stillstand kommen. Wörter schienen ihr wie Sternschnuppen durch den Kopf zu gehen und zu erlöschen, als wäre jegliche Form von Sprache unverständlich geworden. Sie konnte nicht ausdrücken, was sie sah. Er hatte schon fünf Knochen ausgewählt, nein sechs. Zwei hatten unweltliche Formen, schienen aber intakt zu sein. Einer erinnerte an den Mittelfußknochen eines Wesens, neben dem ein Riese zwergenhaft erschienen wäre. Die anderen fünf schienen Zehenglieder in
verschiedenen Größen zu sein. Jetzt griff er nach einem Knochen, den Linden für einen riesigen Oberschenkelknochen hielt. Der Knochen war an einem Ende offenbar gebrochen. Trotzdem hätte er für Jeremiah viel zu schwer sein müssen. Aber Äonen in der Sonnenhitze hatten seine Substanz ausgelaugt, oder er war hohl wie ein Vogelknochen … oder Jeremiah besaß jetzt übermenschliche Kräfte. Er nahm den Knochen ohne erkennbare Anstrengung von dem Haufen, wog ihn prüfend in den Händen und legte ihn dann sorgfältig ab, als wäre es wichtig, ihn genau zu platzieren. Jeremiah … Weiter kam Linden auch diesmal nicht. Er machte einen Schritt zur Seite, studierte weiter den Haufen. Wenig später fand er zwei weitere Knochen, die wie lange Kerzen aussahen, die in der Mitte erhitzt und zu unsinnigen Formen verdreht worden waren. Als Nächstes suchte er weitere Zehenglieder, noch einen Mittelfußknochen und einen massiven Klumpen wie ein Sprungbein heraus. Aus dem reichhaltigen Gewirr zog er einen weiteren Oberschenkelknochen, der zu dem ersten passte. Diesen legte er mit einem großen Schritt Abstand genau parallel zu dem ersten aus. Jeremiah … Mit demselben stetigen Mangel an Ungeduld oder Zweifel, der in seinem früheren Leben für seine Arbeit mit Legosteinen oder Tinkertoys charakteristisch gewesen war, suchte er weitere Knochen heraus. Manche fand er ganz in der Nähe. Andere entdeckte er im Inneren des Haufens versteckt. Dutzende von Zehengliedern. Fünf weitere Oberschenkelknochen, einer davon ganz, die viel zu schwer für ihn hätten seien müssen. Eine Anzahl von Mittelfußknochen. Und während er seine Auswahl vergrößerte, wurde sie auch vielseitiger: Würfelbeine und Fußwurzelknochen; mehrere Schulterblätter, die Titanen gehört haben mussten; Gelenke mit Gelenkköpfen von der Größe von Lindens oder Staves Kopf. Sie alle legte er sich am freien Rand des Knochenhaufens zurecht wie ein Handwerker, der sein Material bereitlegt. Als er zufrieden war, beugte er sich über seine Knochensammlung und machte sich daran, weitere Knochen auf ihnen zu stapeln, als sollten sie als Fundamente dienen, als errichte er Wände.
Jeremiah baute. Das ist ein angeborenes Talent. Roger hatte gewohnheitsmäßig gelogen, aber in Bezug auf Jeremiah hatte er die Wahrheit gesagt. Die richtigen Formen können Welten verändern. Sie sind wie Wörter. Linden kämpfte gegen ihre Lähmung an, bis sie glaubte, ihr Herz müsse zerspringen. Sie rang nach Atem. Sie hatte alle Wörter vergessen, die keine Gebete waren. O Gott! O Gott. Ogottogottogott. Dies war der eigentliche Grund. Dafür hatten die Ranyhyn sie hergebracht. Damit Jeremiah bauen konnte. Dein Sohn macht Türen, hatte Covenant gesagt. Alle möglichen Türen. Türen von einem Ort zum anderen. Türen durch die Zeit. Türen zwischen Realitäten. Eigentlich war alles unvorstellbar: der untrügerische Instinkt der Pferde, Jeremiahs ausdruckslose Sicherheit, seine unerklärliche Stärke. Unmöglich, dass er tun konnte, was er tat, ohne seinen Blick zu fokussieren und ohne das geringste Anzeichen dafür, dass er wusste, was seine Hände taten. Und es hätte absolut unmöglich sein müssen, dass die Knochen dort blieben, wo er sie hinlegte: Aufgetürmt, der Schwerkraft und ihren eigenen Linien trotzend. Ihre Positionen waren labil und stellten eine solche Missachtung von Gewicht und Passungen dar, dass sie hätten zusammenfallen müssen, sobald seine Hände sie losließen. Trotzdem blieben sie, wo er sie ablegte: Schulterblätter, die wie Palisaden aufrecht standen oder außermittig auf anderen Knochen balancierten; Fußwurzelknochen, die rachitisch wirkende lange Knochen trugen; Schienbeine, die wie nachträgliche Einfälle zwischen langen Fingergliedern eingeklemmt waren und die aussahen, als könnten sie jeden Augenblick umkippen. Vor allem braucht er die richtigen Materialien für die Tür, die er gerade bauen will. Genau das passende Holz oder Gestein oder Metall oder Gewebe - oder Teile einer Autorennbahn. Und die Form muss genau stimmen. Linden war wie gelähmt, während sie Jeremiah beobachtete. Staunen hielt sie mit eisernem Griff gepackt. Ihr Sohn baute. Er baute! Sie hatte ihn noch nie etwas Vergleichbares bauen gesehen. Legosteine und Tinkertoys und Autorennbahnen waren dafür konstruiert, zusammengesteckt zu werden. Die Äste und Zweige, aus denen er sein
Portal in den Melenkurion Himmelswehr gebaut hatte, waren sichtbar miteinander verflochten gewesen. Ihr Eigengewicht hatte sie an Ort und Stelle gehalten. Aber dieses Gebilde … Sie brauchte erstaunlich lange, um zu erkennen, dass seine Hände voller Erdkraft waren, wenn er die Knochen aufeinanderlegte, oder dass er jedes Fragment zu liebkosen schien, bevor er nach dem nächsten griff. Oder dass jedes neue Bauteil dann mit den bisherigen verbunden war - so untrennbar verbunden, als hätte er sie zusammengeschweißt. Er benutzte Aneles Geschenk dazu, sein Gebilde zu stabilisieren. Und er baute eindeutig Wände. Irgendetwas an seinem Gebrauch von Erdkraft kam ihr bekannt vor. Irgendwo hatte sie zusammengefügte Knochen in Form eines Ranyhyns gesehen, das sich wie die Pferde auf Jeremiahs Pyjama aufgebäumt hatte. »Auserwählte«, sagte Stave - dann schärfer: »Linden!« Alle ihre Sinne waren auf ihren Sohn konzentriert: auf die transzendentalen Möglichkeiten seines Talents und auf seine magischen Hände. So verstrichen einige Augenblicke, während irgendein unbedeutender Teil ihres Ichs Staves Stimme zu erkennen versuchte. Heranbrandende Übelkeit zwang sie dazu, auf ihn zu hören. In einem Akt der Selbstverleugnung wandte sie sich widerstrebend von Jeremiah ab … … und sah am jenseitigen Kraterrand eine weitere Zäsur wie ein Inferno toben. Sie hatte schon mehrere Sandsteinplatten zertrümmert und ihre Bruchstücke verstreut. Jetzt wälzte sie sich in die Tiefe: ein tosender Holocaust, der alles vernichtete, was ihm in den Weg kam. Sie kam von dem Jeremiah gegenüberliegenden Kraterrand. Jeden Moment würde sie anfangen, Knochen einzusaugen und in winzigen Fragmenten wieder auszuspucken. Diesmal hatte Linden keine Zeit, in Panik zu geraten - keine Zeit und keine Geduld. Sie wollte Jeremiah beobachten. Sie sollte ihren Sohn beobachten. Von Zorn und Frustration beflügelt entlockte sie ihrem Stab nochmals eine Woge von Erdkraft. Statt die Sieben Worte zu wiederholen, rief sie diesmal innerlich laut: Zum Teufel mit dir, Joan! Lass uns in Ruhe, verdammt noch mal! Wo war Covenant? Er hätte seine Exfrau inzwischen stoppen müssen.
Oder dabei den Tod gefunden haben. Lindens Empörung wegen Jeremiah vervielfachte ihre Kräfte. Ihr Stab heulte von Theurgie. Er bebte in ihren Händen, während sie die Zäsur mit schwarzen Flammenzungen bestrich. Fast ohne zu merken, was sie tat, erzwang sie ihren Rückzug und verbrannte sie dann. Die Zäsur war vernichtet. Blind vor Zorn oder Verzückung setzte sie weiter ziellos Erdkraft ein, bis Stave sie am Arm packte und von Hyns Rücken riss. Dieser Schreck genügte, um sie aufhören zu lassen. Sie hatte nicht gesehen, dass Stave abgestiegen war. Sie hatte nur Augen für Jeremiah und dann für die Zäsur gehabt. Vielleicht war er von Hynyn geglitten, als er ihren Arm gepackt hatte. Jetzt drehte er sie von Jeremiah weg und zwang sie dazu, ihn anzusehen. »Auserwählte!«, sagte er streng. »Wenn uns Gefahren drohen, darfst du nicht nur auf deinen Sohn achten. Ich gestehe ein, dass sein Tun faszinierend ist. Trotzdem darfst du dich nicht davon fesseln lassen.« Als sie endlich seinen Blick erwiderte, fügte er hinzu: »Und wir müssen es den Ranyhyn ermöglichen, sich selbst zu verteidigen. Auf ihrem Rücken sitzend behindern wir sie nur.« »Das ist deine Aufgabe«, wehrte sie unwillig ab, als hätte er sie bei einer wichtigen Beschäftigung unterbrochen. »Deine Sinne sind ohnehin schärfer als meine. Ich muss dies hier sehen.« Linden machte sich mit einem Ruck von ihm frei. Die nun reiterlosen Ranyhyn blieben weit genug hinter ihr, um nicht von ihrem Stab oder ihrem Feuer getroffen werden zu können. Zwei Schritte brachten sie näher an Jeremiahs Gebilde heran. Blind und taub gegenüber allem, was nichts mit seinem eigenen Projekt zu tun hatte, hatte er inzwischen weitergearbeitet. Sein schlammiger Blick war dabei noch ausdrucksloser geworden, bis er blind wie Anele zu sein schien. Er hatte bereits einen abgesplitterten Oberschenkelknochen stehend auf einem Schulterblatt als Grundplatte befestigt. Von Fingergliedern und Knochen gestützt, die sich windenden Schlangen glichen, überragte er den Jungen und war größer als Linden. Jetzt wählte Jeremiah einen ähnlichen Knochen, der an einem Ende zersplittert war, und stellte ihn eine Armlänge entfernt von dem ersten auf. So erinnerten die beiden Oberschenkelknochen an Türpfosten oder Fachwerkbalken
eines Hauses. Mit jedem Herzschlag verwandelte sich Lindens Zorn in Aufregung. Früher hatte sie ihm stundenlang zusehen können. Sie wusste von früher, wie machtvoll seine Gabe war. Was immer er hier baute, würde Wunder wirken können. »Stave?«, fragte sie flüsternd, als wäre ihr Zorn spurlos verflogen. »Weißt du, was das ist? Weißt du, was er macht?« Neben ihr stehend antwortete der ehemalige Meister mit gewohntem Stoizismus: »Kein Haruchai hat jemals dergleichen gesehen - außer in den Zeugnissen, die sich in der Halle der Geschenke befinden. Trotzdem glaube ich, dass dies Anundivian yanja, die Kunst des Markknetens der Ramen ist. Ihre Erinnerung daran ist stets kummervoll, denn die Geheimnisse dieser Kunst sind verloren gegangen. Wie dein Sohn zu diesem Talent gekommen sein könnte, kann ich mir nicht einmal vorstellen.« Ja, dachte Linden. In der Halle der Geschenke. Sie hätte gern geglaubt, dass schon in der Anfangsphase des Gebildes die sich ansammelnde Macht zu spüren sei, sodass Stave beeindruckt sein würde. Aber die Knochen blieben nach jedem Aufflackern von Erdkraft hartnäckig inert. Ihre Anordnung innerhalb seines Gebildes war noch zu provisorisch, um Rückschlüsse auf seine endgültige Form und seinen Zweck zuzulassen. Als Stave jedoch wieder ihren Namen sagte, reagierte sie sofort. Mit ihrem bereitgehaltenen Stab in den Händen entfernte sie sich von Jeremiah. Sie wollte wenigstens einige Schritte von ihm entfernt sein, wenn sie erneut eingreifen musste. Sie verstand jedoch nicht gleich, weshalb Stave sie gerufen hatte. Unter dem bleiernen Himmel sah sie nur das fast unerträgliche Weiß der Knochen, den um den Hügel herum frei geräumten Kreis, die schwach geneigten Kraterwände und die lückenhaften Sandsteinplatten am Rand der Caldera. Aber die Ranyhyn hatten ängstlich gescheut. Hynyn, Hyn und Khelen hatten den Knochenhügel halb umrundet und standen sichtlich unruhig auf der anderen Seite. Was gibt es? Das hätte Linden den Haruchai fragen können. Was spürst du? Dann wusste sie es plötzlich. Sie hörte Glöckchen … Mit jäh anschwellendem Glockengeläut traf Infelizitas von den Elohim
so plötzlich ein, wie ein Wirbelwind sich aus der Wüste erhebt. Stolz und majestätisch trat Infelizitas auf Linden zu. Mit Juwelen und prachtvollen Melodien geschmückt, in Seide gekleidet, die aus dem Stoff von Träumen gewoben war und wie sie glitzerte, schritt sie wie die Oberherrin der Welt einher. In dem schon nachlassenden Sonnenschein glänzte ihr Haar unwiderstehlich, und sie trug ihre grazile Schönheit wie eine Anklage zur Schau. Die Böen in ihrem Blick erinnerten Linden an Esmers Seesturmblick. »Jetzt bist du eine dreifache Schänderin, Wildgoldträgerin!« Ihre Stimme mochte ein erbittertes Keifen sein, aber jedes Wort schwang sich von Glockengeläut begleitet in perfekter Harmonie empor. »Indem du die Schlange geweckt hast, hast du alles zum Untergang verdammt, was innerhalb der Grenzen der Zeit kostbar ist. Als du dem Egger nachgegeben hast, hast du schlummernde Verwüstung geweckt, die unvorstellbare Schrecken bewirken will. Aber hier übertriffst du dich selbst.« Linden funkelte sie an. Sie hätte zweifellos eingeschüchtert sein sollen, aber das war sie nicht. Jeremiah baute etwas … Sie war begierig darauf, was er erschafften würde - zu begierig, um zurückzuzucken oder einzuknicken. »Bei allem, was deinem schäbigen Herzen heilig ist, Wildgoldträgerin!« Infelizitas’ Stimme war ein Glockenspiel von Gewalt. Sie schien Linden mit Musik und Majestät bezirzen zu wollen. Und sie hatte sich zwischen ihr und Jeremiah aufgebaut. »Den Jungen aus den Fängen des Croyels zu befreien … Das war in der Tat gut gemacht - aber nicht dein Verdienst. Ebenso war der Tod des Eggers eine Wohltat, aber auch nicht dein Verdienst. Und nun ermöglichst du den endgültigen Ruin aller Dinge, die kostbar sind. Du hättest nicht auf die Ranyhyn hören dürfen. Sie haben dich an diesen Ort des Todes gebracht, um eine schlimme Gräueltat zu ermöglichen.« Linden machte große Augen. Die offenkundige Empörung der Elohim bedeutete ihr nichts. Tod!, dachte sie, als ihr eine jähe Erleuchtung kam. Knochen. Danach war ihr Bedürfnis - nein, Jeremiahs Bedürfnis - groß gewesen. Irgendwie hatte die Insequente das vorausgesehen. Auf ihre eigene Art hatten die Ranyhyn dies erahnt. Und diese blitzartige Einsicht erlöste
Lindens Herz. Sie widerlegte die strenge Logik der Verzweiflung. Mit Musik und Bestürzung verkündete Infelizitas: »Lässt du diesen schlimmen Jungen gewähren, verursachst du unaufhörliches Leid.« Diesen schlimmen Jungen? Einer plötzlichen Eingebung folgend richtete Linden ihren Stab auf Infelizitas, um der Elohim zu zeigen, dass sie kampfbereit war. Das Bedürfnis nach Tod betraf nicht sie, sondern Jeremiah - und er lebte bereits in Gräbern. Konnte sie nichts dazu beitragen, ihn ins Leben zurückzuholen, war er vielleicht imstande, durch Knochen die eigene Auferstehung zu bewirken. »Hör mir gut zu.« Linden sprach jedes Wort so präzise aus, als akzentuierte sie die Bedeutung ihrer Liebe zu Jeremiah. »Ich warne dich nur einmal. Hebst du auch nur einen Finger gegen meinen Sohn, tue ich, was nötig ist, um dich zu stoppen.« Sie wünschte sich von ganzen Herzen, Infelizitas werde ihre Warnung ernst nehmen. »Ich beschwöre so viel Erdkraft herauf, dass ein weiterer Landbruch entsteht.« In gewisser Weise waren die Elohim eine Verkörperung von Erdkraft. Also war Infelizitas doch bestimmt durch Erdkraft verwundbar? »Und wenn das nichts nützt, gebrauche ich Covenants Ring. Ich bin nicht seine rechtmäßige Trägerin. Mir ist versichert worden, dass ich den Bogen der Zeit nicht zerstören kann. Aber ich kann dich damit verletzen. Deshalb fürchtest du wilde Magie so sehr, weil du dich nicht gegen sie wehren kannst. Lass es darauf ankommen, dann verbrenne ich dich, bis nichts mehr von dir übrig ist.« Infelizitas ballte die Fäuste. Zorniges Glockengeläut erfüllte die Caldera, bis alle Knochen zitterten - mit Ausnahme derer, die Jeremiah zusammengefügt hatte. »Und bildest du dir ein, dass ich deine Drohung fürchte? Wildgoldträgerin, du hast keinen Wunsch nach Verständnis. Du hast nach dem Schatten auf dem Herzen der Elohim gefragt, aber du hörst nicht zu, wenn man dir antwortet. Er ist daran schuld.« Ihre Handbewegung galt Jeremiah. »Was er mit uns vorhat, ist abscheulich schlimmer als unser Ende im Rachen der Schlange. Aber es ist nicht das schlimmste Übel.«
»Also gut.« Linden wich keinen Schritt zurück. Der Stab in ihren Händen zitterte nicht. »Eins nach dem anderen.« Jeremiah arbeitete weiter, ließ sich von Infelizitas so wenig stören wie von Zäsuren. Eine Wand seines Gebildes war offenbar fertiggestellt. Jetzt begann er, auf dem zweiten Knochenfundament eine weitere Wand zu errichten. Er durfte nur nicht gestört werden. »Begreife ich etwas nicht, solltest du mir helfen, es zu verstehen.« Bevor Infelizitas sie unterbrechen konnte, fuhr sie fort: »Ich weiß nicht, was Jeremiah baut, aber er braucht dafür Knochen. Aber wieso diese Knochen? Was sind sie? Woher stammen sie? Wie sind sie hierhergekommen?« Die Gewänder der Elohim zeugten von Reichtum und Empörung. »Wildgoldträgerin, das lasse ich mir nicht gefallen! Du willst die ganze Erdgeschichte hören. Ich sage nur, dass dies die Überreste von Quellvisks sind.« Unter dem bleiernen Himmel klangen ihre Glöckchen angewidert. »Dich braucht es nicht zu kümmern, dass sie einst Krieg gegen die Elohim geführt haben. Sie sind in grauer Vorzeit vernichtet worden. Ihre Knochen wurden hier im Muirwin Delenoth abgelegt, was Grabstätte des Abscheus bedeutet - ein Sinnbild unserer Verachtung für solche Kränkungen.« … vernichtet. Von Infelizitas und ihrem Volk. Linden runzelte die Stirn, als versuchte sie zu verstehen. »Das bringt nichts.« Ausgestorbene Ungeheuer interessierten sie nicht. »Vor wie langer Zeit ihr sie ausgerottet habt, ist unwichtig. Hier liegen trotzdem nur Knochen. Ich will es mit einer anderen Frage versuchen. Wieso hatten die Ranyhyn es plötzlich so eilig? Zwei Tage lang sind sie nur im Schritt gegangen. Dann haben sie plötzlich angefangen zu galoppieren. Vielleicht verstehe ich mehr, wenn du mir erklärst, was sich verändert hat.« Infelizitas ballte die Fäuste. Ihr Glockenspiel klang vorübergehend kakophon. Dann beherrschte sie sich wieder. Mit wieder melodischer Stimme antwortete sie: »Auf die kranke Gefährtin des Zeitenherrn kommt eine unerwartete Gefahr zu. In ihrem schwachen Körper hat sie sich lange darauf vorbereitet, ihm gemeinsam mit dem Wüterich Turiya Herem gegenüberzutreten. Aber jetzt rücken
Schergen des widerwärtigen Horrim Carabal, des Lauerers der Sarangrave, gegen sie vor. Ihr selbst können sie nichts anhaben, aber sie gefährden die Skest, die sie versorgen und beschützen. So soll sie geschwächt werden. Das konnten weder Turiya Herem noch die Ranyhyn voraussehen. Es ist die unerwartete Folge deiner Begegnung mit Horrim Carabal. Daher hat die Gefährtin des Zeitenherrn Angst davor, genau wie die Ranyhyn sie fürchten. Sie befindet sich in panischer Angst, und ihre Zäsuren gefährden alle, die hierzulande unterwegs sind. Darum haben die Ranyhyn sich beeilt, ihre ekelhafte Absicht zu verwirklichen.« Linden schüttelte den Kopf. Infelizitas’ Erklärung warf so viele Fragen auf, wie sie beantwortete. Die Feroce hatten es fast geschafft, dem Lauerer den Stab des Gesetzes zu bringen - und nun gingen sie gegen die Skest vor? Aber sie ließ sich nicht ablenken. Covenant lebte noch, das hatte die Elohim indirekt bestätigt. Alles andere war nebensächlich. Jeremiah war wichtiger. Er war beim unteren Teil seiner zweiten Wand, fügte die Knochen mit Erdkraft zusammen … und war noch längst nicht fertig. Vielleicht würde er noch Stunden brauchen. Aus den hier liegenden Knochen konnte er ein ganzes Schloss bauen. »Also gut«, wiederholte Linden langsam, um Zeit zu gewinnen. »Das ist ein Anfang. Machen wir also weiter. Du hast behauptet, unser Kommen ermögliche eine Gräueltat. Und Jeremiahs Absicht soll abscheulich sein. Was beabsichtigt er deiner Meinung nach? Was, glaubst du, baut er?« Sie konnte es sich denken, Roger hatte über die Elohim gesagt, dass sie für bestimmte Strukturen empfänglich seien. Wie zum Beispiel Hohl. Bestimmte Gebilde ziehen sie an. Genau die richtigen Materialien in genau der richtigen Form. Andere Strukturen wiederum stoßen sie ab oder blenden sie. So hatte der Croyel es geschafft, sich in der Verlorenen Tiefe zu verbergen. Jeremiahs Gebilde aus Knochen konnte durchaus eine Art Falle sein. Aber Linden wollte die Wahrheit von Infelizitas hören. »Hat die Halbhand dir das nicht erzählt?« Der Tönfall der Elohim war verbittert, aber eine kummervolle Note milderte die zornigen Harmonien ihrer Musik ab. »Der Junge wird uns einfangen. Er wird uns Freiheit und Lebenszweck und Hoffnung rauben.« Dein Sohn macht Türen. Türen durch die Zeit. Türen zwischen
Realitäten. Und Türen, die nirgends hinführen. Gefängnisse. Geht man durch sie hindurch, kommt man nie mehr heraus. Linden spürte den starken Drang, sich zwischen Infelizitas und Jeremiah zu stellen, aber sie zwang sich dazu, stehen zu bleiben. Zumindest solange sie es schaffte, die Aufmerksamkeit der Elohim auf sich zu ziehen … Stave, der mit verschränkten Armen dastand, musterte Infelizitas, als traute er sich zu, es mit ihr aufzunehmen. »Ich will nicht so tun, als verstünde ich das«, sagte Linden gedehnt, »obwohl mir nicht klar ist, wieso Jeremiah sich für euer Schicksal interessieren sollte. Erzähl, mir, weshalb …« »Auserwählte!«, sagte Stave plötzlich - es klang wie eine Warnung. Im nächsten Augenblick warfen die drei Ranyhyn sich herum und stoben auseinander. Wo Khelen jenseits des Knochenhaufens gestanden hatte, explodierte eine Zäsur. Sie war gefräßig wie die Skurj, unaufhaltsam wie eine Sandgorgone. Und sie war nahe Ihre Nähe erzeugte bei Linden augenblicklich starke Übelkeit. Noch drei Herzschläge, dann würde sie sich nahe genug herangewälzt haben, um Jeremiah zu verschlingen. Lärm erfüllte die Luft wie das Klirren hingeworfener Waffen, als Infelizitas verschwand. Nein! »Melenkurion abatha!« Lindens Stab spuckte schwarzes Feuer, als wäre ein Vulkan ausgebrochen. »Duroc minas mill!« Ihr ganzes Wesen stand in Flammen. Sie wehrte die Zäsur mit allen Leidenschaften ihres Lebens ab. »Harad gottverdammt khabaal!« Meinen Sohn bekommst du nicht! Ihre Abwehrmaßnahmen wurden immer geschickter, die Not verlieh ihr Flügel. Einen Moment lang schien sie im Auge des Sturms Joan kreischen zu hören. Ich bin brav gewesen! Unter Lindens Ansturm taumelte die Zäsur. Es soll aufhören! Dann wich sie zurück. Ich halt es nicht aus! Der im Kern getroffene Zeitensturm kringelte sich zusammen und implodierte. Wenige Sekunden nach seinem Erscheinen war er wieder verschwunden. Es dauert nicht mehr lange, hatte Roger seiner Mutter versprochen. Wir sorgen gemeinsam dafür, dass es aufhört.
Covenant! 0 Covenant, nimm dich in Acht. Sie wird stärker. Jeremiah arbeitete ungerührt weiter, als wäre nichts passiert. Bar jeglicher Form von Bewusstsein außer der Konzentration auf sein Gebilde fixierte er Finger- und Zehenglieder, stellte dazwischen Knochen auf, brachte ein Schulterblatt außermittig an und ließ es unerklärlich sicher in der Luft hängen. Soviel Linden mit hastigem Blick feststellen konnte, schien die zweite Wand ein exaktes Spiegelbild der ersten zu sein. Bei genauerem Hinsehen hätte ihr auffallen müssen, dass er bewusst Dutzende von kleinen Veränderungen vorgenommen hatte. Aber dafür fehlte ihr die Zeit. Infelizitas manifestierte sich von Glockenspiel angekündigt wieder zwischen Linden und Jeremiah, als wäre sie nie fort gewesen. Von einer Brise bewegt, die Linden nicht spüren konnte, schien ihr dünnes Seidengewand verächtlich und flehend zugleich zu rascheln. »Oh, gut«, keuchte Linden von eigenen Anstrengungen und der Implosion der Zäsur zitternd. »Du hast nicht aufgegeben. Ich habe noch immer Fragen.« Die Elohim erwiderte mit Verachtung in der Stimme: »Und ich beantworte sie weiter, indem ich dich anflehe, deinen Widerstand aufzugeben. Willst du mir nicht gestatten, den Jungen von seinem verderblichen Weg abzubringen, bitte ich dich inständig, seine Pläne selbst zu durchkreuzen - um des Landes und der Erde willen, nachdem du dir nichts aus den Elohim machst. Lass ihn diese Arbeit einstellen. Zerstöre, was er schon gebaut hat. Setze ihn auf sein Pferd und reite mit ihm davon. Tust du das, sorgen alle Elohim zeit ihres Lebens dafür, dass er nicht wieder unter die Herrschaft des Verächters gerät. So lässt das Schlimmste aller Übel sich noch verhindern.« »Augenblick!«, verlangte Linden. Ihr Stab war nicht mehr auf Infelizitas gerichtet, aber sie blieb abwehrbereit. »Das geht mir zu schnell. Reden wir nicht davon, dass Jeremiah sich vermutlich so wenig aus euch macht wie ich. Ich wollte fragen, wieso es schlimmer ist, hinter einer seiner Türen gefangen zu sein, als von der Schlange gefressen zu werden. Mir kommt beides gleich schlimm vor. So oder so ist man erledigt. Was macht diese Gefangenschaft schlimmer als den Tod?« Die Infelizitas umgebende Musik klang wie frustriertes Zähneknirschen. Dann antwortete die Elohim hochmütig und arrogant: »Wildgoldträgerin,
die Schlange bringt nur den Tod. Das Gefängnis, das der Junge entwirft, bedeutet ewige Hilflosigkeit - bei vollem Bewusstsein und für immer zum Scheitern verurteilt. Sie würde das Ende der Sonnen und Sterne überdauern. Welches Los würdest du wählen? Welches für deinen Sohn?« Stave stand weiter bewegungslos neben Linden - wie ein Mann, dem beim Weltuntergang keine Rolle zufällt. Hinter Infelizitas hatte Jeremiah zwei riesige Knochen dazu verwendet, das Fachwerk der zweiten Wand seines Gebildes fertigzustellen: die Seiten eines Eingangs oder der Anfang eines Flurs. Jetzt war er damit beschäftigt, die Zwischenräume mit kleineren Knochen auszufüllen. Und während er ohne Eile und ohne Zögern arbeitete, strömte unaufhörlich Erdkraft aus seinen Händen und verband die vielen Einzelteile des Gebildes fest miteinander. In dem Knochengerüst bildete sich allmählich Theurgie heraus. Sie entstand erst, war noch unsicher und vage, aber Linden spürte, dass sie bald mächtig werden würde. Seine Konstruktion begann dem numinosen Gebilde ähnlich zu sehen, mit dessen Hilfe er in die Tiefen des Melenkurion Himmelswehr gelangt war. Sie erwachte allmählich zum Leben. »Also gut«, sagte Linden zum dritten Mal. »Das will ich dir zugestehen. Das klingt vernünftig. Erzähl es mir jetzt. Ich bin bereit, es zu hören. Was ist ›das Schlimmste aller Übel‹? Wenn Gefangenschaft schlimmer ist, als von der Schlange des Weltendes gefressen zu werden, was kann dann ›das Schlimmste aller Übel‹ sein?« Infelizitas war nun ganz Zorn, ein lärmendes Läuten, das sich unmöglich ignorieren ließ. »Der Verächter«, tönte sie, »der auch a-Jeroth und Lord Foul heißt und viele weitere Namen trägt, hat dem Jungen sein Zeichen aufgedrückt. Du beanspruchst den Jungen als deinen Sohn, aber du kennst ihn nicht. Du hast noch nicht begriffen, dass es kein Limit dafür gibt, was er mit entsprechender Unterstützung erreichen kann. Der Verächter will bestimmt aus dem Bogen der Zeit entkommen - aber dafür braucht er den Jungen nicht. Insgeheim hegt er jedoch finsterere Absichten. Mit Hilfe der Talente des Jungen versucht er, nach dem Fall des Bogens ein Gefängnis für den Schöpfer zu erbauen. Das will er im Augenblick des Zusammenbrechens tun, wenn alle Dinge wandelbar
geworden sind. Weil der Verächter gelitten hat, will er die gesamte Schöpfung in endloser Leere und Traurigkeit leiden lassen. Aber das begreifst du nicht. Dein sterblicher Verstand kann sich solch absoluten Verlust nicht vorstellen. Trotzdem flehe ich dich an, mich zu erhören. Du hast nach dem Schatten auf dem Herzen der Elohim gefragt. Das fortwährende Ende der Schöpfung ist Schatten genug, um das Herz jedes Lebewesens zu verfinstern.« Linden starrte sie an und war trotz ihrer Loyalität zu Jeremiah schockiert. War das möglich? Vorstellbar? Konnte Lord Foul das tun? Mit Jeremiahs Hilfe? Das fortwährende Ende … … aber von meinen dunklen Absichten will ich nicht sprechen. Die Theurgie hinter Infelizitas begann machtvoll zu pochen. Jeremiah schien mit der zweiten Wand, der anderen Seite einer Tür oder eines Flurs, fast fertig zu sein. In wenigen Augenblicken würde er die nächste Phase seines noch rätselhaften Gebildes in Angriff nehmen. Dazu brauchte er mehr Zeit. Aber Linden war zu benommen, um klar denken zu können. Das fortwährende Ende …? In einem Punkt hatte Infelizitas recht: Diese Idee überstieg Lindens Vorstellungsvermögen. Lord Foul wollte das? Und ihr gingen die Fragen und Argumente aus. Bald würde sie ihre Gegenspielerin nur noch mit Erdkraft oder wilder Magie aufhalten können. »Trotzdem ist auch dein Verständnis fehlerhaft, Elohim«, sagte Stave unerwartet. Er stand weiter mit verschränkten Armen da, leidenschaftslos wie Jeremiah und ebenso unbeteiligt. »Ich gestehe dir zu, dass deine ewigen Gedanken tiefer sind als meine oder der Auserwählten oder sogar der Ranyhyn. Aber wenn du von dem Schatten auf eurem Herzen sprichst, widersprichst du dir selbst. In Andelain hast du behauptet, euch betrübe eine Gefahr, ›die von Lebewesen außerhalb der Zeit ausgehe. Du hast die Auserwählte und auch den Zweifler zitiert, und ich bezweifle nicht, dass auch dieser Junge einen Platz in deiner Schilderung von Finsternis hat. Deiner Beschreibung nach sind sie ›kleine und sterbliche Wesen, die aber trotzdem imstande sind, ungeheure Verwüstungen zu bewirkend« Linden erinnerte sich. Aus eigener Kraft, hatte Infelizitas damals gesagt, kann der Verächter den Bogen der Zeit nicht zerstören. Dazu braucht er deine Hilfe, Weißgoldträgerin, und die des Mannes, der einst der
Zweifler war. »Damit du zufrieden bist«, fuhr Stave fort, »will ich dir zugestehen, dass die im Land beobachtete Anwesenheit von ›Lebewesen außerhalb der Zeit‹ hauptsächlich auf den Verderber zurückgeht - wenn nicht auf ihn persönlich, dann auf die Bemühungen seiner Diener.« Infelizitas zog elegant ihre Augenbrauen hoch. Ihr eben noch zorniges Glockenspiel klang plötzlich moderater. Der Haruchai hatte offenbar ihre Aufmerksamkeit geweckt. Hinter ihr wandte Jeremiah sich von den Seiten oder Wänden seines Gebildes ab. Mit einer Kraft, die Linden erstaunte, weit mehr Kraft, als er hätte besitzen dürfen, hob er den größten der herausgesuchten Knochen auf und stemmte ihn über den Kopf hoch. Sein schlammiger Blick blieb ausdruckslos wie zuvor, als er den massiven Knochen zu seinem Gebilde trug und wie einen Türsturz quer über die Wände legte. Sobald er den Schenkelknochen fixiert hatte, wurden die Vibrationen der von ihm erzeugten Magie merklich stärker. Linden spürte sie als Summen in ihren Knochen. Wellenförmige Impulse ließen ihre Haut kribbeln, als wäre jeder Quadratzentimeter mit frisch verheilten Wunden bedeckt. Stave machte jedoch keine Pause. Er ließ sich nicht anmerken, ob er Jeremiah oder seine Theurgie wahrnahm. »Aber wie du selbst zugegeben hast«, fuhr er fort, »hatte die Auserwählte nichts mit der Befreiung des Jungen von dem Croyel zu schaffen. Er ist auch nicht durch eine Intervention des UrLords befreit worden. Und weder die Auserwählte noch der Zweifler hat das Versteck des Jungen in der Verlorenen Tiefe aufgespürt. Zudem hat uns weder die Auserwählte noch der Zweifler zu dieser Zeit an diesen Ort gebracht auch nicht ihr Sohn, sein Sohn oder seine frühere Gefährtin. Wir sind nur hier, weil die Ranyhyn es so wollten. Darin liegt dein Irrtum, Elohim. Jeden wichtigen Schritt auf dem zweckbestimmten Pfad des Jungen haben natürliche Bewohner der Erde veranlasst. Die Auserwählte und der Zweifler, vielleicht sogar auch der Sohn des Zweiflers, haben diese Schritte ermöglicht, aber nicht bewirkt. Deshalb entsprechen unsere Anwesenheit hier und die Demonstration von Lehrenwissen durch den Jungen nicht deiner Beschreibung des Schattens auf dem Herzen der Elohim. Droht uns jetzt ›das Schlimmste
aller Übel‹, liegt das nicht an der Schuld, der Absicht oder der Macht des Sohnes der Auserwählten. Somit«, stellte der Haruchai fest, als wäre seine Logik unwiderlegbar, »ist selbst uns Sterblichen klar, dass deine Einwände falsch sind. Du scheinst zu glauben, dieser Junge sei lediglich ein von anderen benutztes Werkzeug. Aber ein Werkzeug kann nicht für den Gebrauch, den andere von ihm machen, zur Rechenschaft gezogen werden. Und hier gehören die ›Hände‹, die ihn gebrauchen, den Ranyhyn und dem Egger, dem ersten neuen Steinhausener und dem verlorenen Sohn von Sunder und Hollian. Alle diese Hände gehören Sterblichen, deren Zeit endlich ist. Daraus folgt, dass du keinen Grund hast, dich gegen den Jungen zu stellen. Was er gegenwärtig tut, kann die Absichten des Verderbers nicht befördern.« Ja, dachte Linden. Ja! Es war Stave gewesen, der sie zuerst glauben gelehrt hatte, Jeremiah gehöre nicht Lord Foul. Nun hatte der ehemalige Meister alle Zweifel zerstreut, die ihren Glauben noch beeinträchtigt hatten. Außer dass ich deinen geistig behinderten Sohn in meine Gewalt gebracht habe … Er gehört Foul seit Jahren. Roger hatte sie belogen. Der Verächter hatte versucht, sie irrezuführen. Beide hatten von Anfang an versucht, sie in Verzweiflung zu treiben. Und das war ihnen gelungen. Aber Stave hatte ihnen an ihrer Stelle geantwortet. Die Ranyhyn und Anele hatten ihnen geantwortet. Jeremiah selbst antwortete ihnen jetzt. Vertrauen. Linden machte sich so unauffällig wie nur möglich daran, in Gedanken Erdkraft anzusammeln. Als ihr Sohn den Türsturz mit Finger- und Fußwurzelknochen sicherte, erreichte die in seinem Bauwerk verborgene Kraft neue Höhen. Bald fühlte sie sich wie das Knirschen dislozierter Realitäten an, wie eine Tür zwischen Welten. Im Gegensatz dazu klang die Musik der Elohim matt und glanzlos, trüb wie der bleierne Himmel. Über die Schulter hinweg warf Infelizitas dem Jungen einen wie Edelsteine funkelnden Blick zu. Dann wandte sie sich erstmals an Stave. »Du bist ein Haruchai«, sagte sie im Tonfall majestätischer Verachtung.
»Hast du vergessen, dass deine Kraft vor den Elohim zu Wasser wird und ebenso bedeutungslos ist? Trotzdem habe ich dir in der Hoffnung zugehört, dass die Weißgoldträgerin ihre Torheit bedenkt, während du Geschichten erzählst. Nun hast du genug gesagt. Mehr will ich nicht hören. Kann ein Werkzeug nicht für seinen Gebrauch verantwortlich gemacht werden, kann es andererseits nicht benutzt werden, wenn es nicht existiert. Halte dich meinetwegen für schuldlos, wenn das dein Begehr ist. Ich habe von Gefahren gesprochen, die alle Schuld übersteigen. Sie müssen um jeden Preis verhindert werden.« Mit einer wegwerfenden Geste, als verbannte sie Stave aus ihrem Sinn, wandte Infelizitas sich von ihm ab und Jeremiah zu. Linden war schon dabei, ihrem Stab Erdkraft zu entlocken, als Stave blaffte: »Auserwählte!« Eine weitere Zäsur. Bei Staves Warnruf spürte Linden bereits, wie ihre Haut brannte und ihre Magennerven sich verkrampften. Die Energie von Jeremiahs Bauwerk schien bis in den grauen Himmel auszugreifen. Er trat davon zurück, als wäre seine Arbeit getan. Indem er das Gebilde blicklos anstarrte wie ein Künstler, der sich völlig verausgabt hat, streckte er seine Halbhand wie um Bestätigung nachsuchend in Lindens Richtung aus. Aber er sah sich nicht um, veränderte auch seine Haltung nicht oder ließ sonst wie erkennen, dass er etwas von seiner Mutter wollte. Infelizitas stand davor, ihn zu vernichten. Auf irgendeine Weise würde die Elohim jede Möglichkeit, jede Hoffnung beenden. Trotzdem war die Zäsur dringender. Und Infelizitas fürchtete sie mindestens so sehr, wie Linden sie fürchtete. Die Elohim würde vielleicht zögern, solange ihr Gefahr drohte. Linden warf sich in verzweifelter Hast herum, um schwarzen Zorn in den Migränesturm aus Hornissen und Augenblicken zu schleudern. Aber sie hatte sich getäuscht. Das wurde ihr klar, sobald sie die Zäsur sah. Joan hatte ihr Ziel verfehlt. Ihre Konzentration oder die Turiya Herems - ließ nach. Tückisch wie ein Wirbelsturm brodelte die Zäsur auf dem jenseitigen Rand der Caldera. Von ihrem Standort aus hätte Linden sie nicht einmal mit einem Knochenstück treffen können. Und sie bewegte sich weg. Unbeholfen wie ein Krüppel schob sie sich als
führerloses blindes Ding über den Kraterrand nach unten. Wenn sie nicht plötzlich die Richtung änderte, würde sie außer Sicht kommen, ohne Schaden anzurichten. Falsch, falsch, falsch. Linden hatte Infelizitas eine Chance gegeben … Und Stave war machtlos gegen sie. Vor langer Zeit hatte Linden erlebt, mit welcher lockeren Lässigkeit die Elohim Brinn und Cail, Hergrom und Ceer den Zutritt zu ihrem Reich verwehrt hatten. Sie schwang ihren Stab, aus dem Erdkraft lohte, warf sich nach Jeremiah herum … … und erstarrte augenblicklich. Sie blieb wie angenagelt stehen, als wäre ihr die Fähigkeit zur Bewegung genommen. Das Blut stockte ihr in den Adern. Ihr Feuer erlosch, als wüsste sie nichts von Erdkraft und habe das Gesetz nie verstanden. Die Luft in dem Krater war voller Sterne. Sie funkelten und glänzten vor ihr, um sie herum, zwischen ihr und ihrem Sohn, unwiderstehlich und vergänglich wie Sonnenreflexe. Sie waren die Edelsteine von Infelizitas’ Gewand, die unheimlichen Juwelen ihres Glockenspiels, und sangen ein Lied von Starrheit, das den Krater erfüllte, die Knochen beherrschte. Jeremiah stand mit nach Linden ausgestrecktem rechtem Arm weiter dem Bauwerk zugekehrt da. Für ihn hatte sich nichts verändert. Aber Stave war mitten in der Bewegung erwischt worden. In unmöglicher Haltung auf einem Fuß stehend, während der andere noch in der Luft schwebte, glich er einer aus Stein gehauenen Statue. Linden wollte sich bewegen und konnte es nicht. Sie hatte vergessen, wie man atmete. Nur Infelizitas schwebte graziös wie eine Brise mit sanfter Unausweichlichkeit auf Jeremiah zu, als stünde sein Verderben seit Äonen im Material seines Bauwerks geschrieben. Die Ranyhyn trompeteten Warnungen, die unbeachtet blieben. Als Infelizitas sich Jeremiah näherte, öffnete sie die Arme zu einer verhängnisvollen Umarmung. Das alles beobachtete Linden entsetzt, als wäre Hilflosigkeit die endgültige Wahrheit ihres Lebens. Sie wusste keine Antwort darauf. Vielleicht hatte sie nie eine gewusst. Vielleicht war das die wahre Ursache ihrer Verzweiflung. Aber Stave …
Ah, Gott. Irgendwie brachte er die Willenskraft auf, zu sprechen. »Du täuschst dich, Elohim.« Seine Stimme war ein vor Anstrengung heiseres Flüstern. Sterne wie Gebote leisteten ihr Widerstand. Trotzdem verschaffte er sich Gehör. »Du hältst mich für hilflos? Ich bin ein Haruchai. Ich tue, was ich tun muss. Versuchst du, deinen Willen zum Nachteil von Linden Averys Sohn durchzusetzen, führe ich einen Schlag, der deinen Begriff von Macht verändern wird.« Glitzernde Edelsteine umwirbelten ihn wie Ausbrüche von hoheitlichem Zwang. Stave konnte sich nicht bewegen. Natürlich konnte er das nicht. Nichts außer wilder Magie wäre der Macht der Elohim gewachsen gewesen. Und trotzdem bewegte er sich. Langsam, mühevoll und unaufhaltsam ballte er die Finger seiner Rechten zu einer Faust. Infelizitas drehte sich sichtlich bestürzt um und starrte ihn an. Ihre Musik bildete Worte, die sie nicht aussprach. Nein. Das erlaube ich nicht. Das. Erlaube. Ich. Nicht. Stave ignorierte ihr Verbot. Sein Arm zitterte, als er die Faust hob. Gleichzeitig ließ der auf Linden lastende innere Druck etwas nach. Sie konnte endlich wieder atmen, und ihr Herz schien wieder zu schlagen. Stave hatte ihr etwas geschenkt, was wichtiger als Macht oder Ruhm war. Es würde nur kurz andauern. Im nächsten Augenblick würde Infelizitas auf weitere machtvolle Magie zurückgreifen, um den Haruchai niederzustrecken. Linden musste sofort handeln. Sie konnte es Stave unmöglich gleichtun. Das versuchte sie nicht einmal. Trotz der Gefahr, in der Jeremiah schwebte, ignorierte sie ihren Stab und machte keine Bewegung, um nach Covenants Ring zu greifen. Auf jeden Versuch, Theurgie einzusetzen, auf jede erkennbare Herausforderung hätte die Elohim unmittelbar reagiert. Während Infelizitas durch die geballte Macht ihrer Sterne Stave dazu zwang, den Arm sinken zu lassen, griff Linden in ihre Jeanstasche. In die Tasche, in der Jeremiahs rotes Rennauto steckte. Hilfe und Verrat. Esmer hatte das zerdrückte Spielzeug aus einem
bestimmten Grund instand gesetzt. Linden musste glauben, er habe damit keinen weiteren Verrat beabsichtigt. Ihre Weigerung, sich hilflos zu ergeben, war eine blasse Imitation von Staves Entschlossenheit, aber sie reichte aus. Während Infelizitas sich darauf konzentrierte, den letzten Rest von Staves Unnachgiebigkeit, die sein fundamentales Geburtsrecht war, zu unterdrücken, zog Linden den roten Renner aus der Tasche und warf ihn Jeremiah zu. Sterne flammten abwehrend auf. Glocken ließen Ablehnung durch den Krater hallen. Aber sie konnten die Flugbahn des Spielzeugs nicht beeinflussen. Das Rennauto glich Staves kompromissloser Unnachgiebigkeit. Es war Jeremiahs Geburtsrecht, sein Erbteil. Er stand weiter seinem Gebilde zugekehrt da, unbeweglich und teilnahmslos. Er hatte seine Mutter noch keines Blickes gewürdigt und konnte sein Spielzeug nicht einmal aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen haben. Trotzdem fing er es geschickt wie ein Taschenspieler auf. Seine Halbhand pflückte den roten Renner aus der Luft. Erst in diesem Augenblick schien er das volle Potenzial von Aneles Geschenk zu empfangen. Sein Körper wurde zu einem jubelnden Hymnus aus Erdkraft, reich wie das Glockenspiel der Elohim und ebenso profund. Mit dem Rennauto in der Hand wirkte er so mächtig wie ein Forsthüter. Der dumpfe Trommelklang seines Gebildes wehrte Sterne, Glocken und Zwang ab. Siehst du?, fragte Linden, die zu schwach war, um diese Worte laut auszusprechen. Siehst du ihn? Er ist mein Sohn. Jeremiahs Verwandlung und die laute Forderung seines Portals rissen Infelizitas von Stave weg. »Nein!«, sang, rief, kreischte sie. »Das tue ich nicht!« Rasch wie ein Wirbelwind sammelten die glitzernden Sterne und Edelsteine sich um Jeremiah. Infelizitas ließ nur genügend Macht in der Luft, um Stave und Linden zur Unbeweglichkeit zu verdammen; eben genug, um Linden daran zu hindern, den Stab oder Covenants Ring zu gebrauchen. Der gesamte Rest ihrer Musik und ihrer unbeschreiblichen
Majestät wirbelte um Jeremiah und spann ihn in einen Kokon ein. Trotz seiner neuen Macht tat er nichts. Infelizitas war zu stark für ihn. Ihr Seidengewand umwehte sie, als sie auf Jeremiah zuschritt, um ihre Absicht zu verwirklichen. Beim zweiten Schritt geriet sie jedoch in die Bahn der herangaloppierenden Ranyhyn. Infelizitas hatte die Pferde vergessen - oder sie unterschätzt. Vielleicht glaubte sie, bloße Tiere könnten sich ihren Zwängen nicht entziehen. Vielleicht glaubte sie sogar, sie würden es gar nicht erst versuchen, sondern ihre Überlegenheit anerkennen und entmutigt sein. Sie hätte es besser wissen sollen. Ihre Magien würden sie zweifellos schützen. Hynyn, Hyn und Khelen waren Ranyhyn, aber sie waren nur Ranyhyn. Infelizitas war eine Elohim. Bloße Erdkraft reichte nicht aus, um ihre Macht zu überwinden. Trotzdem nahm sie die Pferde zu spät wahr. Khelen führte sie an. Er prallte mit Infelizitas zusammen, rannte sie um, donnerte weiter und überließ es Hyn und Hynyn, sie zu zertrampeln. Aber ihre Hufe berührten sie nicht. Sie verschwand blitzschnell, um fast augenblicklich wieder hinter ihnen zu erscheinen. Während ihrer Abwesenheit verschwanden jedoch all ihre Sterne mit ihr. Diese kurze Atempause genügte Jeremiah. Mit drei raschen Schritten gelangte er auf die andere Seite seines Bauwerks. Nach zwei weiteren stand er mitten in dem Portal. Infelizitas kehrte wie ein Wirbelsturm zurück. Heulende Windstöße schleuderten Linden zu Boden, warfen Stave einige Meter weit den Hang hinauf und ließen die Ranyhyn mit den Vorderbeinen einknicken. Böen aus Wut und Entsetzen hämmerten an das Portal und gegen Jeremiah. Die schiere Verzweiflung der Elohim ließ ihn taumeln. Trotzdem schützten ihn die Magien seines Gebildes. Im Schutz seiner übernatürlichen Wände richtete Jeremiah sich auf, nahm die Schultern zurück. Sturmwinde zerrten an seinem zerschlissenen Pyjama, ohne ihn aus dem Gleichgewicht bringen zu können. Sein schmutziges Gesicht mit den schlammigen Augen wirkte völlig leer, so wenig bewusst wie ein verlassenes Farmhaus, als er nach dem Türsturz seines Portals griff. Infelizitas überschüttete ihn mit gefährlichen Wirbeln, die chaotisch wie
eine Zäsur waren, aber ihre Macht konnte ihn nicht stoppen. Er wirkte wie eine Verkörperung von Aneles blindem Wesen, zerlumpt und ausdauernd, als er sein Rennauto zwischen zwei Knochen klemmte, die den Türsturz trugen. Dort befestigte er das Spielzeug mit Erdkraft. Bevor Linden erraten konnte, was er vorhatte, begann Infelizitas wie eine Todesfee zu kreischen - und die gesamte durch Markkneten entstandene Skulptur begann so blendend weiß zu strahlen, dass Linden sie nicht ansehen konnte. Sie schlug eine Hand vor ihr Gesicht und kniff die Augen zusammen. Doch das Licht drang durch Hand und Lider, schien sich direkt in ihr Gehirn zu bohren. Sie sah die Knochen von Fingern und Handfläche wie weiß glühend leuchten. Alle Fingerglieder und Mittelhandknochen, das Kopfbein, das Kahnbein, das Hakenbein, sie alle strahlten wie von einer unerträglich hellen Sonne gezeichnet. Einige Augenblick lang fürchtete Linden, nie wieder etwas anderes sehen zu können, sondern wie Anele und Mahrtiir erblindet zu sein. Das überdeutliche Knochengerüst ihrer Hand würde alles sein, was von ihrer Welt übrig blieb. Dann spürte sie Infelizitas - noch immer kreischend - erneut verschwinden. Diesmal kehrte die Elohim nicht zurück. Sekunden oder Stunden später erlosch die gleißende Helligkeit des Portals. Nun gab es wieder nur das verschleierte Sonnenlicht. In dem Krater war nicht mehr die geringste Andeutung von übernatürlicher Macht zu spüren. Außer einen gewaltigen Knochenhügel, der so weiß wie Jeremiahs namenloser Triumph hätte sein sollen, blieb nichts als Erinnerung an Lindens verlorenes Sehvermögen oder Infelizitas’ Niederlage zurück. Aber Stave war noch da. Linden hörte, dass er ihren Namen rief. Seine Stimme war kräftig, als wäre er unverletzt. Und auch die Ranyhyn hatten überlebt. Das Donnern ihrer Hufe, als sie stolz wiehernd mehrmals um den Knochenhügel trabten, schien zu verkünden, dass sie erfolgreich gewesen waren. Linden ließ ängstlich die Hand sinken, blinzelte, öffnete die Augen und stellte fest, dass ihr Sehvermögen intakt war. In ihrem Blickfeld flackerten blendende Lichtreflexe, die alles verzerrten, aber sie konnte einigermaßen sehen. Erfahrung und ihr Gesundheitssinn sagten ihr, dass
sie bald wieder normal würde sehen können. Sie kniff die Augen zusammen und sah sich nach ihrem Sohn um. Jeremiah stand mitten in einem kruden Rechteck aus Knochenasche. Sein ganzes Bauwerk lag als Pulver zu seinen Füßen. Sogar sein Rennauto … Falls etwas von dem roten Metall übrig war, lag es unter den Überresten uralter Knochen begraben. Seine ererbte Erdkraft war in den Hintergrund zurückgewichen. Aber er sah Linden an. Er sah sie an. Seine Augen waren klar wie wolkenlose Himmel. Als Linden seinen Blick erwiderte, erschien auf seinem Gesicht ein breites Grinsen, aus dem Aufregung und Zuneigung sprachen. »Ich habe es geschafft, Mom.« Das klang, als hätte er am liebsten gekräht. »Ich habe es geschafft. Ich habe eine Tür für meinen Verstand gemacht, und sie hat sich geöffnet. Ohne Anele hätte ich das nie gekonnt.« Sein Grinsen verschwand allmählich, wurde durch erinnerten Kummer verdrängt. »Oder ohne Galt. Und Liand. Und die Ranyhyn. Stave war sensationell.« Trotzdem blieb sein vor Dankbarkeit leuchtender Blick auf Linden gerichtet. »Und ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Aber ich habe es geschafft!« Dann kam er zu ihr gerannt, um sie liebevoll stürmisch zu umarmen. In diesem Augenblick begann Linden Avery zu glauben, ihr gebrochenes Herz könnte wieder heilen. Lord Foul sagte immer die Wahrheit. Den Erfolg meiner Bemühungen wirst du zur rechten Zeit wahrnehmen. Dient dein Sohn mir, tut er es in deiner Gegenwart. Entscheide ich mich dafür, ihn abzuschlachten, tue ich es vor deinen Augen. Denk daran, wenn du ihn mir zu entreißen versuchst. Entdeckst du ihn, beschleunigt das nur sein Ende. Aber die Begierde des Verächters, seine Feinde an sich selbst verzweifeln zu sehen, war so stark, dass er nie die ganze Wahrheit sagte. Vielleicht kannte er sie nicht. Siehst du ihn? Er ist mein Sohn. Als sie Jeremiah an sich drückte, dachte Linden, diesmal könnten die Machenschaften des Verächters fehlgeschlagen sein. Vielleicht hatte er sich wie Infelizitas einer Täuschung hingegeben.
10 Die Reine und der Hohe Gott
Aus dem Einschnitt, in dem er Linden und ihre Gefährten zu-. rückgelassen hatte, ritt Thomas Covenant auf dem Streitross des Eggers nach Südosten in ein Gebiet mit kahlen Hügeln, zwischen denen mit Geröll und Schiefer bedeckte flache Täler lagen. Clyme und Branl beschützten ihn, Mharnym zu seiner Linken, Naybahn zu seiner Rechten. Und die Ranyhyn legten ein scharfes Tempo vor, ohne die körperlichen Grenzen von Covenants Pferd sonderlich zu beachten. Sein Reittier war ein schweres Schlachtross, das auf Kraft und Feurigkeit, weniger auf Ausdauer gezüchtet war. Covenant spürte jedoch, dass es sich bis zur völligen Erschöpfung verausgaben würde, um mit den Ranyhyn, die Erdkraft besaßen, Schritt zu halten. Und Mhornym und Naybahn schienen dem anderen Pferd irgendwie ihren Willen aufzuzwingen, indem sie seinen instinktiven Widerwillen gegen einen fremden Reiter unterdrückten und sein Temperament in Schnelligkeit umwandelten. So konnte es vorerst noch mit dem flüssigen Galopp der Ranyhyn mithalten. Im Schutz der Ranyhyn und der Gedemütigten ritt Covenant seiner Zukunft entgegen, als wäre er von sich selbst abwesend; als wäre er sich nur anderer Leute, anderer Orte, anderer Zeiten bewusst. Aber er war nicht etwa in eine der Spalten geraten, die seine Erinnerungen durchzogen. Auch wurde er nicht von der erschreckenden Aussicht abgelenkt, Joan und dem Wüterich Turiya und den Skest gegenübertreten zu müssen. Stattdessen war er zwischen den Hügeln unterwegs wie ein leeres Bildnis seiner selbst, weil er zu viel Kummer und Trauer empfand, um auf die Landschaft oder seine Begleiter oder den eigenen Zweck zu achten. Irgendein entfernter Teil seines Ichs war für den Sattel und die Steigbügel des Eggers, für seine Zügel dankbar. Sie gaben ihm den Halt, den er als schlechter Reiter brauchte. Außerdem war er vage froh darüber, dass Kevins Schmutz nicht auch über dem Unterland hing. Er war schon zu benommen, zu unaufmerksam, und Kastenessens
unheilvoller Nebel hätte seine Lepra noch verschlimmert. Aber solche Details konnten ihn nicht von seinem Kummer ablenken. Covenant war traurig und zornig über die Art, wie er Linden verlassen hatte; wie er sie zurückgestoßen hatte. Er wusste recht gut, wie Clyme und Branl über sie dachten, und er verstand, weshalb sie ihr misstrauten. Aber er verstand auch Lindens Misstrauen ihnen gegenüber. Und er war nicht davon überzeugt, dass sie die Meister falsch beurteilt hatte, ihre Risiken und Verschleierungstaktiken Fehler gewesen waren oder ihre Entschlossenheit, ihn wiederzuerwecken, falsch gewesen war. Im Tod wie im Leben hatte er beobachtet, wie ihre Weigerung, anderen zu verzeihen, sich zu Verzweiflung verhärtet hatte - und glaubte weiter an sie. Trotz allem liebte er sie genau so, wie sie war. Jeden Schmerz, jede Extravaganz, jede Sorgenfalte auf ihrem schönen Gesicht: Er liebte sie alle. Ohne sie wäre Linden weniger als sie selbst gewesen. Weniger die Mutter, die Jeremiah brauchte. Weniger die Frau, die Covenant für sich begehrte. Weniger die Retterin, die das Land brauchte. Trotzdem hatte er ihr die volle Wahrheit gesagt, als er sie zurückgewiesen hatte. Er hatte zu viel von sich selbst verloren. Er fürchtete, was er zu werden schien - oder was er würde werden müssen. Deswegen hatte er sich von ihr distanziert, war trotz ihrer unverkennbaren Sehnsucht abweisend geblieben und war davongeritten, ohne sich zu verabschieden. Er konnte seine Liebe nicht bekennen - oder ihre annehmen -, ohne dass sie wie ein Versprechen klang, und hatte keinen Grund zu der Annahme, dass er es würde halten können. Auch wenn Joan es nicht schaffte, ihn zu ermorden, konnte er in einem Zustand zurückkehren, in dem Linden ihn nicht wiedererkennen würde. Vielleicht würde er dann feststellen müssen, dass sie ihn - oder er sich selbst - abscheulich fand. Tatsächlich braute sich in seinem Inneren ein Sturm aus Angst zusammen. Seit seiner Wiedererweckung verkörperte sein Dilemma das des Landes und der gesamten Erde; die Not Lindens und aller, die er liebte. Er hatte Angst, weil er so viel zu verlieren hatte. Vor langer Zeit hatte er Linden erklärt: Einem Mann, der alles verloren hat, kann man nur durch eines wehtun: Man gibt ihm etwas Zerbrochenes zurück. In Andelain hatte er ihr so etwas angetan. Aber
jetzt kannte er eine tiefere Wahrheit: Sogar zerbrochene Dinge waren kostbar. Wie Jeremiah konnten sie kostbarer sein als das eigene Leben. Und trotzdem konnten sie einem weggenommen werden. Er fürchtete sich mehr davor, Linden ein Versprechen zu geben, das er nicht würde halten können, als er sich vor Joan fürchtete. Und er hatte einen weiteren Grund dafür gehabt, Linden so abweisend zu behandeln. Jedes Versprechen - selbst ein indirektes - hätte sie ermutigen können, darauf zu bestehen, ihn zu begleiten. Sich statt für ihren Sohn für ihn zu entscheiden. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn er ihr hätte erklären können, weshalb ihr Wunsch, ihm beizustehen, wenn er Joan gegenübertrat, Jeremiahs Verderben bedeutet hätte. Aber er hatte keine Erklärung. Er hatte Linden erklärt: Du hast andere Dinge zu tun - aber er wusste nicht, welche. Er wusste nur, dass sie entscheidend wichtig waren. Vielleicht sogar wichtiger als sein eigenes Bedürfnis, Joan gegenüberzutreten. Möglicherweise konnte er sich nicht an sie erinnern, weil er sie nie gekannt hatte. Selbst aus seiner Perspektive im Bogen konnte die Zukunft Undefiniert gewesen sein; weniger definitiv als für die Elohim, deren ambivalentes Verhältnis zur Zeit lineare Unterschiede verwischte. Wegen seiner Sterblichkeit konnte er leicht glauben, er habe niemals zukunftsweisende Einsichten in die Bedürfnisse des Landes besessen. Wieso war er sich dann sicher, dass Lindens Beistand gegen Joan fatale Folgen für Jeremiah - und somit auch für das Land - haben würde? Darauf wusste er keine Antwort. Und obwohl das widersprüchlich klang, war seine einzige Rechtfertigung, dass er ihr vertraute. Er hatte mehr Vertrauen zu ihr als zu sich selbst. Er vertraute auf die Konsequenzen ihrer Liebe zu ihrem Sohn. Trotzdem schien der Schmerz darüber, sie trostlos zurückgelassen zu haben, sein Herz zu verzehren. Im Bogen der Zeit war er Zeuge von so viel Verlust und Unrecht geworden, dass er sich eingebildet hatte, gegen gewöhnlichen Kummer immun zu sein. Aber nein … Ah, jetzt verstand er, dass seine Teilhabe an der Unsterblichkeit seine Wahrnehmung persönlicher menschlicher Schmerzen beeinträchtigt hatte. Über Zeitalter hinweg hatten seine Maßstäbe sich verändert und sich gewaltigeren Perspektiven angepasst. Als er Lindens Kämpfe beobachtetet hatte - erst um sich den Stab des
Gesetzes zurückzuholen, dann um Roger und den Croyel zu überleben, danach um Andelain zu erreichen -, hatte er ihren Schmerz verstanden. Aber er hatte auch in die Zukunft geblickt. Er hatte weit besser als sie gewusst, was auf dem Spiel stand und wie ihr Handeln sich auf die Erde auswirken konnte. Jetzt war er wieder ein Mensch: Er konnte nicht über die eigenen Beschränkungen hinaussehen. Wie jedes sterbliche Wesen konnte er nur in seiner beengten Gegenwart leben. Dies war die wahre Bedeutung von Sterblichkeit. Gefangen in den Zwängen der Gegenwart kam er sich vor wie in einem Grab. In seinem früheren Zustand hatte er erkannt, dass dieses Gefängnis auch die einzige brauchbare Form von Freiheit war. Zwänge ermöglichten so viel, wie sie verhinderten. Die Elohim waren ineffizient, gerade weil sie kaum Zwänge kannten. Linden dagegen war zu so viel imstande, weil ihre Unzulänglichkeiten sie auf allen Seiten einengten. Jetzt musste er an diese Auffassung jedoch einfach glauben. Aber hier gab es noch andere Wahrheiten - oder andere Aspekte einer einzigen Wahrheit. Seine Gefangenschaft stellte eigene Forderungen, auf denen sie bestand. Eine davon war sein Körper. Das Fleisch, das seinem Geist Substanz gab, war bedürftig und anspruchsvoll zugleich. Er konnte nur eine gewisse Zeit lang trauern, bevor das Rütteln und die Stöße, die er als schlechter Reiter aushalten musste, sich in den Vordergrund drängten. Die Gangart der Ranyhyn war fließend weich; die des Streitrosses war es nicht. Covenants Gelenke begannen bereits zu schmerzen. Die ersten Vorboten von Dehydrierung ließen das Blut in seinen Schläfen klopfen, und seine trockene Zunge war so geschwollen, dass er kaum noch schlucken konnte. Blinzelnd, um zu kompensieren, was vielleicht stundenlange Vernachlässigung war, sah Covenant sich um und versuchte festzustellen, wo er war. Dieses Gebiet hätte er kennen müssen. Teufel, es hatte vermutlich sogar einen Namen. Aber der gehörte zu den Myriaden von Dingen… nein, zu den unzähligen Dingen, die er vergessen hatte. Die Hügel waren verschwunden. Er hatte sie irgendwo hinter sich zurückgelassen. Zwischen Mhornym und Naybahn donnerte sein Pferd schwerfällig über rötliches Erdreich, aus dem Splitter und Dolche aus Feuerstein ragten. Die Hufe des Streitrosses waren mit Eisen beschlagen,
die gewissen Schutz boten. Aber wie die Ranyhyn es schafften, sich nicht zu verletzen … Trotzdem flössen sie mit raumgreifendem Schritt nur so dahin, als wären sie gegen die Gefahren des Bodens unter ihnen gefeit. Sein Pferd hatte schwer zu kämpfen. Irgendwann würde das Tier unvermeidlich lahmen, sogar zusammenbrechen. Dann … Was dann? Davon hatte er keine Vorstellung. Er hatte kein Wasser mitgenommen; keine Verpflegung, auch kein Futter für die Pferde. Er hatte keinen bestimmten Plan. Tatsächlich war es ihm allein darum gegangen, von Linden wegzukommen und in Richtung Joan loszureiten, bevor ihn der Mut verließ. Mein Gott, sie sind Ranyhyn. Das hatte er selbst gesagt. Ihnen wird schon was einfallen. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass Naybahn und Mhornym seinen Mangel an Voraussicht wettmachen würden. Er rieb sich die Stirn. Sie hatte zu jucken begonnen, sodass Erinnerungen an seinen Sturz aufkamen. »Höllenfeuer«, murmelte er vor sich hin. »Diese verdammte Sterblichkeit … Schlimm genug, um einen Felsblock zu demütigen.« Dass er laut gesprochen hatte, wurde ihm erst bewusst, als Branl vor dem Hintergrund donnernder Hufschläge fragte: »UrLord?« Covenant schüttelte den Kopf, blinzelte den Meister an. »Ha!« Branl ritt, als wäre er mit Naybahn verwachsen, als hätten sich die unterschiedlichen Stärken beider vereinigt. Sein ausdrucksloser Blick fixierte Covenant. »Du hast von Sterblichkeit gesprochen - und von Demütigung.« »Ach, das.« Covenant tat das Thema mit einer Handbewegung ab. Weil er erbarmungslos durchgerüttelt wurde, fiel ihm das Sprechen schwer. »Ich habe nur laut nachgedacht.« Er wollte Branl mitteilen, dass er Wasser brauche. Bevor er seine Bitte vorbringen konnte, stellte der Haruchai jedoch fest: »Aber du demonstrierst mit jedem Wort und jeder Tat, Ur-Lord, dass du weder die Meister noch die Gedemütigten verstehst.« Klasse, seufzte Covenant innerlich. Das hat uns gerade noch gefehlt. Branl und Clyme setzte offenbar etwas zu, an dem sie Anstoß genommen
hatten. Trotz seiner geschwollenen Zunge, die ihn beim Sprechen behinderte, murmelte er: »Erzähl es mir nicht. Lass mich raten. Euch gefällt nicht, wie ich euch dazu gezwungen habe, euch von Linden heilen zu lassen. Damit wart ihr nicht einverstanden.« Branl nickte knapp. »Nicht einverstanden sind wir auch mit deiner Nachsicht gegenüber Linden Avery, obwohl alles, was sie tut, in den Ruin führt. Du forderst nicht Demut von uns. Du demütigst uns. Wir sind Haruchai. Was das heißt, ist uns klar bewusst. In früheren Inkarnationen hast du nie versucht, uns herabzuwürdigen. Seit deiner Rückkehr ins Leben hast du das wiederholt getan.« Glaubt ihr nicht, hätte Covenant am liebsten geantwortet, dass es mehr als einen Grund für mein verändertes Verhalten geben könnte? Habt ihr euch schon mal überlegt, dass ihr euch vielleicht ebenso stark verändert habt wie ich? Aber er war zu durstig, um Spaß daran zu haben, sich zu streiten. Bald würde er auch zu hungrig dazu sein. Er bemühte sich, nicht sarkastisch zu klingen, als er sagte: »Dann erklär es mir. Hilf mir auf die Sprünge, wenn du glaubst, dass ich nichts verstehe.« Vielleicht würden die Rechtfertigungsversuche der Gedemütigten ihn ablenken, bis die Ranyhyn Wasser fanden. Branl nickte nochmals. »Ich will nur von der erzwungenen Heilung sprechen«, begann er. »Es hat keinen Zweck, sich mit Kränkungen aufzuhalten, die du vermutlich längst vergessen hast. Ur-Lord, wir sind die Gedemütigten. Mit Gewandtheit und durch lange Kämpfe haben wir uns die Ehre erworben, die Weigerung unseres Volkes, Demütigungen hinzunehmen, zu verkörpern. Dass wir leben und sterben, kann uns nicht demütigen. Das erfordert weder Demut noch Demütigung, weil wir kein Versagen tolerieren. Wir tun, was wir können, und akzeptieren das Ergebnis. Reichen unsere Kraft und Gewandtheit nicht aus, sind wir bereit, den Preis in Form von Schmerz und Tod zu bezahlen. Tatsächlich bildet der Preis unserer Bemühungen die Substanz unseres Lebens, und durch unsere Zufriedenheit bestätigen wir unseren Wert. Bestehst du darauf, dass wir Linden Averys Heilkunst ertragen, leugnest du unsere Akzeptanz. Du erklärst uns unseres Lebens für unwürdig.«
»Hölle und Blut«, knurrte Covenant vor sich hin. Begreift ihr noch immer nicht, dass sich nicht alles um euch dreht? Aber er biss die Zähne zusammen und versuchte, sich seine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Branl fuhr leidenschaftslos fort: »Behauptest du, dass Demut das Bekenntnis erfordert, dass wir nicht allen Dingen gewachsen sind, wie die Elohim von sich sagen, antworte ich dir, dass wir in unserer Akzeptanz in der Tat demütig sind. Mit Clyme und dem toten Galt verkörpere ich unsere fleischgewordene Demut. Behauptest du dagegen, dass Demut die Befreiung von den Konsequenzen der Tatsache bedeutet, dass wir nicht allen Dingen gewachsen sind, antwortete ich dir, dass du von Demütigung, nicht von Demut sprichst. Jede Aufhebung der Folgen unseres Tuns würdigt uns herab. Wenn du willst, Ur-Lord, kann ich die Selbstverunglimpfung schildern, mit der Cails Rückkehr in das Land verbunden war. Wegen dieses Versagens ist er von unseren Vorfahren verurteilt worden. Angeprangert haben sie nicht seine Verführung durch die Meerjungfrauen, sondern dass er sich vor den Folgen seiner Nachgiebigkeit hat bewahren lassen und noch dazu behauptet hat, jeder seiner Stammesgefährten hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt. Oder wenn du willst, kann ich von Stave sprechen …« »Nein«, wehrte Covenant barsch ab. Er hatte sich zu weit in die falsche Richtung treiben lassen. »Bitte nicht!« Er hasste die Art, wie Cail verstoßen worden war, und wollte keine Anschuldigungen gegen Stave hören. »Du und deine Leute gehen mir manchmal wirklich auf den Geist.« Wie Stave hatte Covenant einen Sohn. »Geschenke habt ihr trotzdem angenommen, nicht wahr? Von Hoch-Lord Kevin, um nur einen zu nennen. Was ist also unrecht daran, ein Geschenk von Linden anzunehmen?« »Erstens«, antwortete Branl, ohne zu zögern, »haben unsere Vorfahren kein Geschenk von dem Landschmeißer angenommen, bevor sie sich darüber im Klaren waren, wie sie sich für seine Großzügigkeit revanchieren würden: Durch den Schwur, durch den die Haruchai zu Bluthütern wurden. So haben sie sich die Wichtigkeit ihres Lebens bewahrt. Zweitens wurden ihnen seine Geschenke nicht aufgenötigt. Anders als uns ist unseren Vorfahren die Freiheit, sie abzulehnen, nicht
genommen worden.« »Das dürft ihr Linden nicht zum Vorwurf machen«, sagte Covenant. »Beklagen könnt ihr euch nur über mich, nicht über sie. Und ich habe euch nichts verweigert. Ich habe euch nur gesagt, was ich tun würde, falls ihr ablehnt. Diesen Preis hättet ihr akzeptieren können. Bringt Joan uns nicht alle um«, versprach er, »sollt ihr Gelegenheit bekommen, euch bei Linden zu revanchieren. Oder bei mir, wenn ihr mich richtet, wie ihr sie richtet.« Das Gelände zeigte sich verändert, als er mit zusammengekniffenen Augen nach vorn sah. Jenseits der mit Feuersteinen übersäten Ebene bildeten Schiefer und Sandstein niedrige Hügel wie Endmoränen. Er hatte den Eindruck, dort seien Riesenwesen beigesetzt worden. Er versuchte nicht etwa, sich an die Kräfte zu erinnern, die diese Landschaft gestaltet hatten. In dieser Vergangenheit wollte er nicht wieder versinken. Während die Pferde auf die Hügel zugaloppierten, musterte der Gedernütigte ihn gelassen. »Du verstehst uns noch immer nicht, Ur-Lord«, stellte Branl fest. »Du wirst nicht grundlos der Zweifler genannt.« Weil es ihm anscheinend widerstrebte, die Sache auf sich beruhen zu lassen, ging er das Thema neu an. »Der Eifrige hat uns versichert, die Seilträger Bhapa und Pahni seien in Schwelgenstein angelangt, wo sie versuchen wollen, die Meister umzustimmen. Aber die Meister werden nicht auf sie hören. Der Wunsch von Seilträgerin Pahni, den Steinhausener wiederzuerwecken, ist uns zuwider. Sie hat Linden Avery angefleht, seinen Tod zu entwerten, indem sie das Ergebnis seines Lebens ungeschehen macht. So ist jedes Wort, das sie spricht, mit dem Makel ihres Wunsches behaftet, den Steinhausener zu demütigen - auch wenn sie das fälschlicherweise Liebe nennt. Kein Meister würde ihn jemals so gering schätzen. Im Leben war er vorbildlich mutig. Wieso sollte ihm sein heldenhafter Tod geraubt werden? Ist das nicht eine verkehrte Ehre?« Covenant rieb sich erneut die Stirn. Verdammt! Branls Ausführungen schienen das Jucken der alten Wunde zu verstärken. Die Gedemütigten beurteilten Pahni falsch, das war unübersehbar. Kannten Branl, Clyme und sämtliche Meister vielleicht keine Toleranz gegenüber Verlust und
Misserfolg, weil sie jede Art von Trauer verweigerten? Weil sie Kummer mit Demütigung gleichsetzten? Dann konnte ihre Reaktion auf einen Todesfall natürlich nur Ablehnung sein. Aber er hatte nicht die Absicht, mit Branl und Clyme über Pahni zu diskutieren. Stattdessen gab er missmutig zu: »Das besagt das Gesetz.« Das Gesetz des Todes. Das Gesetz des Lebens. Nach dieser Norm war auch er selbst eine Abscheulichkeit, ein schwärendes Geschwür am Körper der Welt. »Das Leben hängt vom Tod ab. Aber es gilt auch noch andere Dinge zu erwägen.« Die Strenge der Gedemütigten ignorierte die Naturwunder des Landes; auch die Möglichkeit anderer Wunder. Branl fragte wieder: »Ur-Lord?« Covenant gab keine Antwort. An der Grenze zwischen Ebene und Hügelland bogen die Ranyhyn unerwartet nach Westen ab und nahmen das Streitross zwischen sich mit. Noch während Covenant sich im Sattel zu entspannen versuchte, machten die Pferde an einer in einer kleinen Senke entspringenden Quelle mit klarem Wasser halt. Ihr Tümpel hatte einen Durchmesser von knapp einer Armlänge. Von dort aus floss das Quellwasser durch ein Bett ab, das kaum mehr ein in den Boden geritzter Strich war. Auf beiden Seiten dieses Wasserlaufs wucherte jedoch üppiges Gras, zwischen dem einige AZiarcf/ia-Sträucher wuchsen. Verdammt, sagte Covenant sich leise. Wenn man von Wundern spricht … Er ließ seinen schmerzenden Körper sofort vom Pferd gleiten, taumelte, als seine Stiefel den Boden berührten, und fing sich wieder. Neben dem Kopf des Streitrosses kniend tauchte er das Gesicht ins Wasser, um zu trinken. Auch Branl und Clyme waren abgestiegen. Während Naybahn und Mhorim tranken, schöpften die Gedemütigten sich etwas Wasser in den Mund, bevor sie ein paar Schatzbeeren pflückten und aßen. Aber die Ranyhyn schienen das Gras zu verschmähen. Sie machten Platz und überließen es dem Streitross, damit seinen Hunger zu stillen. Als Covenant sich satt getrunken hatte, wusch er sich das Gesieht in dem Tümpel, schöpfte Wasser heraus und ließ es sich übers Genick laufen. Dann pflückte er genügend Beeren für sich selbst und fluchte dabei über die Unbeholfenheit seiner amputierten Finger. Als Clyme und Branl
wieder aufsaßen, zwang er sich dazu, seinen vor Schmerzen zitternden Körper in den Sattel des Schiachtrosses zu hieven. Konzentrier dich, ermahnte er sich. Wehr dich nicht dagegen. Vor langer Zeit war er von Salzherz Schaumfolger und der Suche nach Bereks Stab des Gesetzes begleitet mit Lord Mhoram durchs Land geritten. Er musste sich daran erinnern, wie man locker im Sattel saß. Als die Pferde durch die Moränenhügel nach Südosten weitergaloppierten, nahm er wieder die Herausforderung an, mit seinen Begleitern zu diskutieren. Weil ihm keine elegante Gesprächseröffnung einfiel, sagte er brüsk: »Ihr seid beide verstümmelt. Ihr habt lange und erbittert darum gekämpft, Halbhände zu werden. Wenn ich mich recht erinnere, habt ihr das getan, weil ihr wie ich werden wolltet.« Weshalb hätten die Gedemütigten sonst ihr Urteil über Linden und Jeremiah für sich behalten? Weshalb hätten sie sich sonst heilen lassen, um ihn begleiten zu können? »Was bedeutet das für euch? Wozu brauchen die Meister Halbhände?« Diesmal war es Clyme, der ihm antwortete: »Zweifler, in dir haben wir unser größtes Vorbild gefunden. Und mehr noch: Wir haben einen Gegenentwurf zu Demütigung entdeckt. Du bist zweimal gegen das Verderben angetreten und hast zweimal gesiegt. Das sind Taten, deren sich kein Haruchai rühmen kann. Andere, die das versucht haben, sind durch Selbsttäuschung ins Verderben gerannt. Also haben wir notwendigerweise darüber nachgedacht, woran es liegt, dass ein Schwacher wie du Erfolg hat, wo Starke wie wir scheitern. Und wir sind zu dem Schluss gelangt, dass deine Siege auf einem Grad oder einer Form von Akzeptanz beruhen, die ausgeprägter als die der Haruchai waren. Du akzeptierst deine Schwäche nicht nur, was allen üblichen Begriffen von Stärke und Macht widerspricht. Du akzeptierst auch die extremsten Folgen deiner Gebrechlichkeit und riskierst in deiner Entschlossenheit, dem Verderben entgegenzutreten, sogar dem Weltuntergang. Du klammerst dich an deinen Zweck, selbst wenn deine Niederlage gewiss ist. »In dir, Ur-Lord«, stellte Clyme fest, »haben wir gesehen, dass die absolute Akzeptanz deines Zwecks und deiner Schwäche eine mächtige Waffe gegen alles Übel ist. Wir haben erlebt, wie das Land zweimal gerettet wurde. Und wir streben nach derselben Bereitschaft, dem selben
Triumph. Aus dem Bewusstsein, nicht siegen zu können, sind die Haruchai die Meister des Landes geworden. Aus demselben Grund haben wir uns die Rolle der Gedemütigten erkämpft, um den hohen Auftrag unseres Volkes zu verkörpern. So antworten wir dem Verderber und allen, die uns schmähen.« Ganz entspannt auf Mhornym sitzend, nickte Branl bestätigend. Covenant fuhr innerlich zusammen. In Clymes Argumentation sah er mehr als nur einen Trugschluss. Vor allem schrieb Clyme ihm größere Verdienste zu, als er beanspruchen durfte; aber es gab noch einen weiteren. Die Meister und die Gedemütigten versuchten noch immer, sich zu beweisen - doch das würde niemals funktionieren. Nicht gegen Lord Foul. Das war der Fehler, den schon Korik, Sill und Doar gemacht hatten. Der gleiche Fehler, der die Haruchai dazu veranlasst hatte, Bluthüter zu werden. Ihre Fixierung auf Demütigung enthüllte die Wahrheit. Die Welt soll also untergehen? Lasst sie ruhig. Das Bewusstsein, dass wir die Folgen unseres Handelns akzeptiert haben, genügt uns. Wichtig ist nur, was wir von uns selbst halten. Solche Überlegungen verspeiste Lord Foul vermutlich zum Frühstück und lachte sich halb schief darüber. Zu Clyme und Branl durfte Covenant so etwas jedoch nicht sagen. Stave hätte ihn vielleicht verstanden; die Gedemütigten sicher nicht. Er ließ diesen einen Trugschluss durchgehen. Einige Augenblicke lang konzentrierte er sich darauf, seine Muskeln zu lockern, damit sein Körper sich den Bewegungen des Pferdes besser anpasste. Aber dabei grub der eingewickelte Krill sich in seinen Unterleib. Mit einem verärgerten Ruck schob er den Dolch nach links zur Hüfte. Dann machte er sich daran, den Gedemütigten zu widersprechen. »Ihr vergesst etwas. Ich habe immer Hilfe gehabt. Allein hätte ich Lord Fouls Hort nie erreicht. Schaumfolger hat mich tragen müssen.« Hätten die Jhehrrin ihn nicht gerettet… hätten Bannor und Schaumfolger Elena nicht abgelenkt… hätte eine namenlose Frau im Morinmoss ihn nicht geheilt… »Und ich wäre trotzdem unterlegen, hätte Schaumfolger mir nicht genau das gegeben, was ich brauchte …« Hätte der Letzte der Entwurzelten nicht die Courage, die reine Geistesgröße bewiesen, der
Verzweiflung ins Gesicht zu lachen. »Ohne Linden und die Erste der Suche und Pechnase hätte ich es niemals bis zum Kiril Threndor geschafft. Ohne Linden hätte ich mich nicht dazu zwingen können, mich von meinem Ring zu trennen. Ohne Hohl und Findail hätte sie keinen neuen Stab erschaffen können. Ohne die Erste und Pechnase wäre ihr Stab verloren gegangen. Klar«, sagte Covenant heiser, »Lord Foul ist besiegt worden. Zweimal. Aber das war nicht ich allein. Wir haben es geschafft. Schaumfolger und ich. Linden und ich. Die Erste und Pechnase und Sunder und Hollian. Was ist so unrecht daran«, fragte er, »Geschenke anzunehmen, die man nicht verdient hat?« Er wartete keine Antwort ab. »Jedenfalls«, murmelte er, »ist Sterben einfach. Das kann jeder. Leben ist schwierig.« Und Leben ohne Vergebung war unmöglich. In dem nun folgenden Schweigen schienen Branl und Clyme sich in Gedanken miteinander zu beraten. Covenant gestattete sich für kurze Zeit die Hoffnung, sie hätten ihn verstanden und würden seinetwegen vorübergehend ihre Abwehrhaltung aufgeben. Aber als Branl sich ihm zuwandte, glitzerte in seinen Augen unverkennbar Missbilligung. »Bist du der Überzeugung, Ur-Lord, dass wir Demütigung erdulden müssen? Dass wir uns Kräften unterwerfen müssen, die wir nicht kennen, und Entscheidungen, an denen wir nicht beteiligt waren?« Höllenfeuer!, dachte Covenant. Höllenfeuer und blutige Verdammnis. »Schon gut.« Er schluckte seinen Ärger hinunter und zuckte mit den Schultern. »Diese Diskussion bringt uns nicht weiter. Versucht mal, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Im Grund genommen lautet der Vorwurf, den ihr gegen Linden erhebt: ›Gutes lässt sich nicht mit schlimmen Mitteln erreichen.‹ Gesetzesverstöße sind ein schlimmes Mittel. Absichten geheim zu halten, ist ein schlimmes Mittel. Deshalb muss sie natürlich gestoppt werden. Die Zäsur, in der sie nach Schwelgenstein gelangt ist, konntet ihr nicht aufhalten. Ihr konntet sie nicht dazu zwingen, euch zu bekennen, was sie wirklich in Andelain wollte. Ihr konntet Stave und Mahrtiir und die Ranyhyn nicht ausschalten, als euch klar wurde, was sie wirklich vorhatte. Aber ich hätte euch nach meiner Rückkehr ins Leben erlauben sollen, sie zu stoppen.
Klar doch«, fuhr er fort, bevor die Gedemütigten sich dazu äußern konnten. »Das klingt vernünftig. Die Sache hat nur einen Haken. Es gibt immer schlimme Mittel. Niemand ist so rein, wie ihr es gern hättet. Ihr nicht - und ich auch nicht. Jeder von uns hat eine dunkle Seite. Schlimme Mittel vermeiden kann man nur durch Nichtstun. Und nichts tun unschuldig bleiben - kann nur, wer machtlos ist.« Das war die Rolle, zu der die Meister die Bewohner des Landes verdammt hatten. »Besitzt man dagegen Macht, findet sie immer eine Möglichkeit, sich auszudrücken. Irgendwie. Aber ihr seid nicht machtlos.« Er versuchte nicht, die Leidenschaft aus seiner Stimme herauszuhalten. »Das beweist praktisch alles, was ihr getan habt. Ihr beobachtet misstrauisch, wie andere Erdkraft einsetzen und das aus guten Gründen. Also habt ihr versucht, das Land unschuldig zu erhalten, indem ihr seine Bewohner zur Machtlosigkeit verdammt habt. Und das ist euch gelungen. Liand war das beste Beispiel dafür. Ich vermute sogar, dass ihr geglaubt habt, ihm damit einen Gefallen zu tun. So viel verstehe ich zumindest.« Covenants Blick blieb auf den Horizont gerichtet, als betrachtete er die Spuren früherer Verwüstungen. »Bei meinem ersten Aufenthalt im Land habe ich mit aller Gewalt versucht, unschuldig zu bleiben.« Nach allem, was er Lena angetan hatte … Die Erinnerung daran ließ ihn noch immer zusammenzucken. »Akzeptiert habe ich letztlich, nicht schwach zu sein - und bestimmt nicht, die Folgen meines Handelns zu tragen. Nein, akzeptiert habe ich schlimme Mittel. Schuld. Das Verbrechen der Macht. Aber dies alles hat einen Aspekt, den ihr offenbar nicht versteht.« Seine Stimme klang schreiend laut. »Was Erdkraft schrecklich macht, macht sie zugleich auch wundervoll. Auch wenn Unschuld gut ist, was ich bezweifle, habt ihr sie mit Unwissenheit verwechselt. Das ist an eurer Rolle als Meister des Landes falsch. Um etwas Schreckliches zu verhindern, habt ihr alles abgewürgt. Auch Dinge, die wundervoll hätten sein können. Ihr habt euch sogar selbst daran gehindert, die Art Macht zu werden, die die Welt verändern könnte. Und ihr habt dafür gesorgt, dass sonst niemand sie verändern kann. Teufel, ihr habt jedermann Entscheidungen unterworfen, die andere getroffen hatten.
Wollt ihr unschuldig bleiben, ist das euer gutes Recht. Aber ihr wart so entschlossen, einen zweiten Kevin Landschmeißer zu verhindern, dass ihr einen weiteren Berek Halbhand, einen zweiten Dameion Riesenfreund oder einen weiteren Lorik Übelzwinger ausgeschlossen habt. Höllenfeuer.« Covenant wurde allmählich ruhiger. Die Ausdruckslosigkeit der Gedemütigten schien zu besagen, dass Worte nutzlos seien. »Sunder und Hollian hätten einen neuen Großrat der Lords gründen können. Im Land hätte es weitere Mhorams, Prothalls, Callindrills und Hyrims geben können. Ihr hättet eurer Wissen nur mit den Leuten teilen müssen, statt alles geheim zu halten.« Jetzt starrten Branl und Clyme ihn durchdringend an. Covenant brauchte keinen Gesundheitssinn, um ihren Zorn zu erkennen. Die Herzen der Haruchai waren wie Zunder. Unter ihrer gespielten Leidenschaftslosigkeit standen sie in hellen Flammen. »Du setzt uns herab«, behauptete Branl, als wüsste er genau, was Covenant meinte. »Willst du unsere Begleitung ausschlagen? Begehrst du unsere Feindschaft?« »Nein, verdammt noch mal!« Covenant hätte seine Frustration am liebsten hinausgeschrien. »Ich brauche euch! Und ich respektiere euch.« Er beherrschte sich mit fast schmerzhafter Anstrengung. Die Unnachgiebigkeit der Gedemütigten erfüllte ihn mit Einsamkeit. »Ich weiß, dass man etwas anderes glauben könnte, aber ich habe einen Heidenrespekt vor euch. An eurer Stelle hätte ich schon vor langer Zeit andere Entscheidungen getroffen, aber das verhindert nicht, dass ich mir wünsche, ich könnte so sein wie ihr. Wäre ich das, hätte ich nicht so verdammt viel Angst vor meiner Exfrau.« Und vielleicht hätte er den Mut aufgebracht, Linden zu sagen, dass er sie liebte. Zu seiner Überraschung schien diese Antwort seine Begleiter zufriedenzustellen. Ihr Zorn schwand, als sie jetzt wegsahen. Sie ritten einige Sekunden lang schweigend links und rechts neben ihm her. Dann fragte Clyme, als wechselte er damit nicht das Thema: »Hast du dir schon überlegt, Ur-Lord, wie du gegen deine frühere Gefährtin vorgehen willst? Unter der Herrschaft Turiya Herems gebietet sie über Zäsuren und wilde Magie. Und wir haben Grund zu der Annahme, dass sie von
Skest beschützt wird. Außerdem macht uns Sorge, dass der Verderber weitere Kräfte zu ihrer Verteidigung mobilisieren könnte. Mit Unterstützung der Ranyhyn sind wir den Skest vielleicht gewachsen. Aber vor Zäsuren können wir dich nicht schützen. Und wir haben keine Kenntnis darüber, wie sich der Krill einsetzen ließe. Den Ring, deinen rechtmäßigen Besitz, hast du hergegeben. Wie willst du also gegen sie bestehen?« »Macht euch deswegen keine Sorgen.« Covenant wollte jetzt nicht über Joan reden. Dazu war er noch nicht bereit. Um zu verhindern, dass die Gedemütigten weiter von ihr sprachen, fügte er hinzu: »Ihr könnt etwas, das ich nicht kann. Ihr erinnert euch an alles - und könnt auf alles gleichzeitig zurückgreifen. Bei euch sieht das aus wie ein Kinderspiel. Vielleicht ist es diesmal unsere Rettung.« Die Meister schienen seine Aussage unter sich zu diskutieren, bevor Branl antwortete: »Ur-Lord, wir können auf unsere Erinnerungen zurückgreifen, weil wir das nicht allein tun. Über viele Haruc/iat-Generationen hinweg haben wir gemeinsam gelernt, ständig wachsende Erinnerungen aufrufen zu können. Aber wir können andere nicht daran teilhaben lassen. Dazu fehlt uns die Macht oder Theurgie. Dass wir die stumme Sprache der Sandgorgonen hören und beantworten können, liegt an den Überresten von Samahdi Sheol in ihrem Inneren, nicht an unseren besonderen geistigen Fähigkeiten. Wir sind uns deiner Notlage bewusst. Die Unermesslichkeit der Zeit ist größer als du. Aber wir wissen nicht, wie wir dir helfen sollten.« Unwillkürlich mit den Zähnen knirschend ermahnte Covenant sich nochmals, ruhig zu bleiben. »Macht euch deswegen keine Sorgen«, wiederholte er nachdrücklicher. »Einem von uns wird schon etwas einfallen. Und wenn nicht …« Er seufzte. »Die Ranyhyn wissen noch, was sie tun.« Das musste er glauben. Er glaubte zu wissen, wo Joan zu finden war, hatte aber keine Ahnung, was er tun würde, wenn er bei ihr anlangte. Sicher wusste er nur, dass er für sie verantwortlich war - und dass er nicht zu Linden zurückkehren konnte, bevor er eine Möglichkeit gefunden hatte, Joan von ihren Qualen zu erlösen. Moränenhügel und Geröll schienen sich unendlich weit in Covenants
Zukunft und in die Vergangenheit des Landes zu erstrecken: Ein erodiertes Ödland wie ein Schlachtfeld, auf dem unzählige Heere einander über Jahrhunderte hinweg abgeschlachtet hatten. Irgendwann ging dieses Gebiet jedoch in ein breites altes Lavafeld über. Jenseits davon lag eine von Rissen und Spalten durchzogene Trockensteppe. Trotzdem fanden Naybahn und Mhornym immer wieder Weidegras und Wasser, manchmal auch Aliantha. Gemeinsam versorgten sie Covenant und sein Streitross mit dem Lebensnotwendigen. Später erreichten sie lang gezogene Hügelketten, die den Süden - und die Route der Ranyhyn - wie ein Festungswall abriegelten. Mhornym und Naybahn überwanden die einzelnen Ketten, indem sie die weniger steilen Aufstiege im Südosten nutzten. Für Covenant stand fest, dass sie mit jedem Hügel dichter an den Rand der Sarangrave-Senke herankamen. Allmählich schwenkten die Ranyhyn wieder auf die direkte Route zum Meer der Sonnengeburt ein. Nach Clymes Auskunft folgten sie dabei dem Südrand der Sarangrave. Blieben Mhornym und Naybahn auf diesem Kurs, würden sie den Nordrand der Zerspellten Hügel streifen. Mit jeder weiteren Meile glaubte Covenant bestimmter zu wissen, wohin die Ranyhyn ihn bringen würden. Irgendwo zwischen den eingestürzten Mauern und zerklüfteten Felsen von Fouls Hort würde er Joan finden. Weshalb hätte der Eifrige sich sonst bemüht, sie alle möglichst weit in diese Richtung zu transportieren? Und wenn der Ridjeck Thome tatsächlich ihr Ziel war, hatten die Pferde die sicherste Route gewählt in diesem Fall wohl auch die schnellste. Jede andere hätte sie tiefer ins Labyrinth der Zerspellten Hügel geführt, in dem Gefahren und Hinterhalte drohten. Wie viel weiter?, fragte Covenant sich. Bei diesem Tempo? Unter der Voraussetzung, dass die Klippen im Osten überhaupt passierbar waren? Aber er verzichtete darauf, Clyme oder Branl zu fragen. Er hatte andere Sorgen. Die Gangart seines Pferdes war schwerfällig und mühsam geworden. Und als die Sonne sich dem fernen Landbruch näherte, begannen auf den Verwüsteten Ebenen Zäsuren zu erscheinen. Zu viele davon - weit mehr, als er Joan jemals zugetraut hätte, ohne dass sie daran selbst zugrunde ging. Instinktiv vermutete er, der Wüterich Turiya habe es auf ihn abgesehen.
Aber die Zäsuren waren verhältnismäßig kurz. Sie flackerten in Helldunkel-Manie, schlängelten sich eilig übers Land und erloschen bald wieder. Tatsächlich wirkten sie irgendwie unentschlossen, als hätten sie die Witterung ihrer Beute verloren. Und keine von ihnen kam nahe genug heran, um Covenant und seine Begleiter gefährden zu können. Stattdessen suchten sie das Gebiet ab, das die Ranyhyn auf der direkten Route zu Fouls Hort durchquert hätten. Als der Spätnachmittag in den Abend überging, begann Covenant leichter zu atmen. Er schaffte es, sich selbst davon zu überzeugen, dass Joan seinen Aufenthaltsort nicht kannte. Turiya Herem und sie versuchten nur, ihn zu erraten. Solange Loriks Krill nicht seine Haut berührte … Natürlich war es denkbar, dass Joan es nicht auf ihn abgesehen hatte. Diese Demonstration von Gewalt konnte sich gegen Linden und Jeremiah richten. Der Verächter - und folglich auch seine Wüteriche wusste recht gut, dass Linden und ihr Sohn mindestens so gefährlich für ihn waren wie Thomas Covenant. Aber Covenant vertraute darauf, dass die Ranyhyn sie beschützen würde. Und Linden hatte ihren Stab, mit dem sie sich und ihre Gefährten verteidigen konnte. Als die Dunkelheit über die Verwüsteten Ebenen herabsank, suchten Naybahn und Mhornym Zuflucht in einer mäandernden Schlucht. Hier gab es einen Bach mit leicht abgestandenem Wasser, der sich vage nach Norden schlängelte, sich vielleicht in die Sarangrave ergoss. An den Bachufern wuchs genug Sägezahngras für die Pferde, dazu AZianffta-Sträucher mit verkümmerten Beeren wie Rosinen. Und dazwischen gab es einen Fleck mit dem Heilkraut Amanibhavam für Covenants Streitross. Die Ranyhyn wollten die Nacht offensichtlich hier verbringen. Nach einem spärlichen Mahl aus Schatzbeeren verließ Branl die Schlucht, um Wache zu stehen, und Covenant versuchte, sich eine primitive Schlafmulde in das Geröll auf dem Boden der Schlucht zu scharren. Clyme, der ihn dabei beobachtete, merkte an, dass die vielen Zäsuren das Wetter im Unterland beeinflussen würden. Der Gedemütigte schien das Heraufziehen von Stürmen, von Wind und Regen in wildem Durcheinander zu spüren. Covenant zuckte nur mit den Schultern. Er konnte sich kaum gegen seine Erinnerungen behaupten und besaß
bestimmt keinen Einfluss auf das Wetter. Reichte die Wärme des Krill nicht aus, ihn zu stärken, würde er einfach ertragen müssen, was kam. Er döste zusammengerollt, wachte nachts mehrmals auf und wartete ungeduldig auf den Morgen. Bei Tagesanbruch zeigte sich, dass Clyme richtig vermutet hatte. Bei Sonnenaufgang war der Himmel grau von Staub oder Asche oder Rauch; bald zogen jedoch dunkle Wolken über die Ebene heran, und während die Winde aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schienen, begann es in großen Tropfen zu regnen. Bevor Covenant seinen Durst gelöscht und eine Hand voll Aliantha gegessen hatte, waren sein T-Shirt und seine Jeans klatschnass. Als er sich dann wieder in den Sattel schwang, sah er, dass das Pferd sich in kaum besserem Zustand als am Vorabend befand: Gras und etwas Amanibhavam hatten nicht ausgereicht, um es ganz wiederherzustellen. Trotzdem mühte das Streitross des Eggers sich redlich ab, wieder in seinen holprigen Galopp zu verfallen. Bei Regen und widerstreitenden Winden stürmten Covenant und die Gedemütigten weiter nach Osten. Irgendwann nachts hatten die Zäsuren aufgehört. Vermutlich waren Joans Kräfte erschöpft. Oder der Wüterich Turiya hatte ihr neue Anweisungen gegeben. Covenant weigerte sich, über sie nachzudenken. Er versuchte auch, nicht an Linden zu denken. Mit verschränkten Armen bemühte er sich, den Regen zu ignorieren, indem er nur noch an die Wärme des Krill dachte. Hätte er sich gestattet, an mehr als die gewöhnliche Wärme von Loriks magischem Dolch zu denken, hätte Joan oder der Wüterich Tariya seine Gedanken spüren und ihn vielleicht sogar orten können. Thomas Covenant, der Jeremiahs Teilnahmslosigkeit imitierte, ritt und ritt; öffnete im Regen den Mund, wenn er durstig war; aß Aliantha, wenn ihm Beeren angeboten wurden; und fand sich mit seinem Bedauern ab, wenn er in Gedanken zwischendurch flüchtig bei Linden war. Zuletzt holte ihn ein Wetterwechsel aus seiner Schläfrigkeit. Inzwischen war es später Nachmittag, und der Regen hatte aufgehört. Der Schmutz in der Luft schien aus Osten zu kommen. Gegen den Wind … Am Horizont rechts voraus konnte Covenant die ersten zerklüfteten Formationen der Zerspellten Hügel ausmachen. Und ein bis zwei Meilen
vor den Pferden stieg das Gelände über eine weite Strecke gleichmäßig an, als bereitete der Boden sich darauf vor, irgendwann über den Rand der Welt abzustürzen. Lag dort eine Felsklippe über dem Meer der Sonnengeburt? Covenant wünschte sich sehr, schon so weit gekommen zu sein, konnte aber nicht einmal abschätzen, wie viele Meilen die Gedemütigten und er zurückgelegt hatten. Und er bezweifelte, dass sein Pferd lange genug durchhalten würde, um diesen Anstieg zu bewältigen. Er selbst fühlte sich ausgepumpt und körperlich am Ende. Seine Beine zitterten, während er sich im Sattel zu halten versuchte. Aber der Zustand des Streitrosses war schlechter als seiner, viel schlechter. Im Laufe des Tages hatte er seine Kräfte gänzlich erschöpft. Jetzt schien sein Herz kaum noch imstande zu sein, holprig zu schlagen. Soviel Covenant beurteilen konnte, hielt nur das Drängen der Ranyhyn das Streitross davon ab, seinen letzten Atemzug zu tun. Im Heulen des Windes waren die Hufschläge der Pferde kaum zu hören. Sie waren auf einer Prärie mit dichtem kurzem Gras unterwegs. Dieses Gebiet des Unterlands war offenbar regenreicher als seine westlichen Ausläufer. Covenant und seine Begleiter schienen sich tatsächlich der Küste zu nähern, an der Westwinde verhältnismäßig reichliche Niederschläge mitbrachten. Hier hätte das Streitross weiden können, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen, aber es machte keinen Versuch, zu rasten oder zu weiden. Sein Lebensmut war gebrochen. Es empfand nur noch den Wunsch, ohne weitere Leiden verenden zu dürfen. Covenant musste schreien, um den heulenden Wind zu übertönen, als er die Gedemütigten fragte: »Wo sind wir?« Branl sah zu ihm hinüber. »Wir nähern uns der Klippe über dem Meer der Sonnengeburt. Dort suchen wir gegen Abend eine Unterkunft hoffentlich in einem Einschnitt, der dich vor der Kälte dieses Windes schützt.« Covenant nickte, aber er empfand keine Erleichterung. »Was machen wir, wenn mein Pferd verendet? Das arme Tier hält nicht mehr lange durch. Sobald es stehen bleibt, ist es erledigt.« Er brauchte ein Reittier. Sie waren viel zu weit nördlich; zu weit von Lord Fouls Hort entfernt. Er hatte nicht genug Zeit, um die restliche Strecke zu marschieren.
Branl zuckte mit den Schultern. »Das Tier hat sich tapfer angestrengt. Es muss in Frieden verenden dürfen.« Im nächsten Augenblick fügte er hinzu: »Mhornym kann ohne weiteres zwei Reiter tragen - Naybahn übrigens auch.« »Willst du mich beleidigen?«, knurrte Covenant, obwohl er wusste, dass der Gedemütigte das nicht beabsichtigte. »Ihr haltet eure Versprechen. Wie kommst du darauf, dass ich das nicht auch tue?« Vor langer Zeit hatte er einen Pakt mit den Ranyhyn geschlossen, an den er sich unbedingt halten wollte. Wie hätte er sonst erwarten können, dass auch sie es taten? Branl konferierte wortlos kurz mit Clyme. Dann fragte er: »Was wäre die Alternative? Wir haben kein Amanibhavam mehr gesehen?« Covenant fluchte leise. »Wie wäre es stattdessen mit Aliantha?« Branl zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Das ist keine natürliche Tiernahrung. Normalerweise fressen weder Pferde noch Ranyhyn diese Beeren.« »Und wenn schon?«, fragte Covenant. »Ein Versuch ist es wert.« Diesmal zögerte Branl keine Sekunde lang. »In der Tat, UrLord.« Clyme und Mhornym trennten sich sofort von ihnen, galoppierten auf der Suche nach Schatzbeeren davon. Zum Glück fanden sie bald, was sie suchten. Das Streitross mühte sich stolpernd ab, den Anstieg zu bewältigen. Immer wenn es einen neuen Ruck gab, die Knie durchdrückte und den nächsten Schritt machte, kam es einem Sturz näher. Seine Muskeln zitterten bei jeder Bewegung wie von einsetzenden Krämpfen. Covenant musste sich am Sattelhorn festhalten, um nicht abgeworfen zu werden. Stress klopfte in seinen Schläfen, als er beobachtete, wie Clyme abstieg, um Aliantha zu pflücken, sich dann wieder auf Mhornym schwang und zurückkam. Während das Ranyhyn auf Covenant und Branl zugaloppiert kam, teilte Clyme die Beeren geschickt mit den Fingernägeln und verstreute die Samen. Bitte, flehte Covenant Naybahn und Mhornym in der Hoffnung an, sie würden seine Gedanken verstehen. Haltet dieses Pferd am Leben. Lasst es fressen. Ich weiß, dass es genug gelitten hat, aber ich brauche es. Ich weiß nicht, was ich sonst versuchen soll. Wie als Antwort darauf wurde Naybahn langsamer und machte halt. Das
am Rand des Zusammenbruchs dahinstolpernde Streitross folgte seinem Beispiel. Es keuchte laut, als brauchte es mehr Sauerstoff, als seine Lunge fassen konnte. Unnützerweise fragte Covenant sich, weshalb die Ranyhyn nicht von Anfang an besser für sein Reittier gesorgt hatten. Aber er wusste nicht, wie er den großen Pferden eine Frage stellen sollte. Vielleicht hatten sie einen Grund für größte Eile entdeckt, der wichtiger war als solche Rücksichtnahme. Bei anderen Gelegenheiten hatte sich gezeigt, dass sie oft mehr von den laufenden Ereignissen wussten, als sie kommunizieren konnten. Oder vielleicht hatten sie seine Entschlossenheit, sein Versprechen zu halten, auf die Probe stellen wollen … Clyme sprang neben dem Kopf des Streitrosses zu Boden. Mit raschen Bewegungen lockerte er das Zaumzeug, nahm Covenant die Zügel aus den Händen und zog die Trense aus dem Pferdemaul. Indem er das Tier an der Mähne festhielt, hob er eine Hand voll Aliantha unter sein Maul. Anfangs glotzte das Streitross die Beeren nur an - zu erschöpft, um Schaum vor dem Maul zu haben, um etwas zu wittern oder etwas zu wollen. Aber Naybahn und Mhronym starrten Covenants Reittier befehlend streng an, und im nächsten Augenblick durchlief ein kleiner Schauder das Tier, als hätte es die Sporen bekommen. Mit sichtlicher Anstrengung knabberte es einige Schatzbeeren aus Clymes Hand. Covenant hätte absteigen sollen, aber er wagte keine Bewegung. Mit aller Konzentration, die er aufbringen konnte, fokussierte er seine Sinne auf den Zustand des Streitrosses: auf sein Muskelzittern, den unregelmäßigen Herzschlag, sein keuchendes Atmen. Vor Erleichterung fühlte er sich vorübergehend benommen, als das Pferd weitere Aliantha fraß. Für präzise Wahrnehmungen war sein Gesundheitssinn zu stumpf, aber er glaubte zu spüren, dass ein Hauch von neuer Vitalität in die Adern des Streitrosses sickerte. Dann ließ er sich endlich zu Boden gleiten. Seine eigenen Beine zitterten von der ungewohnten Anstrengung des zweitägigen Ritts, und sein ganzer Körper schmerzte wie nach einem Sturz vom Pferd. Wieder zu stehen, fühlte sich gut an; ein Stück weit zu gehen, war bestimmt noch besser. Während Clyme dem Streitross aufmunternd den Hals tätschelte, ritt Branl davon. Als er zurückkam brachte er eine weitere Handvoll Beeren
mit. Diese fraß das Pferd schon bereitwilliger. Die Gedemütigten nickten beide zufrieden. »Ur-Lord«, verkündete Clyme, »mit deinem Einverständnis marschieren wir das letzte Stück bis zu Klippe. Leichte Bewegung lässt Aliantha rascher wirken. Vielleicht stellt sich dann auch wieder Hunger ein. Finden wir dazu noch Wasser …« Er zuckte mit den Schultern, brachte den Gedanken jedoch nicht zu Ende. Covenant wusste, was er meinte. Vielleicht würde sein Pferd überleben. Vielleicht würde es ihn sogar wieder tragen können, wenn es eine Nacht lang gerastet hatte. Wenn. »Klar«, sagte er. »Wir können es zumindest hoffen.« Während Clyme und Mhornym bei dem Streitross zurückblieben, begann Covenant von Branl begleitet unter Naybahns Führung den langen Anstieg. Zuerst bewegte er sich steifbeinig, musste sich mit schmerzenden Muskeln zu jedem Schritt zwingen. Allmählich lockerten sich seine Glieder wieder. Das kurze Gras federte seine Schritte ab. Bald begann er rascher auszuschreiten, um die Felsklippe möglichst in der Abenddämmerung zu erreichen. Eine halbe Meile vor der Horizontlinie, hinter der das Gelände abfiel, änderte Naybahn seinen Kurs leicht nach Süden. Als Covenant näher herankam, sah er, dass der Steilabfall von Spalten durchzogen war. Manche sahen wie Erosionsrisse aus, die Kratzspuren von Wetter und unzähligen Jahrtausenden. Andere schienen tiefere Brüche und Verwerfungen im gewachsenen Fels der Klippe zu sein. Aber er roch noch immer kein Salz und hörte auch keine Brandung. Der scharfe Wind blies alle Anzeichen dafür weg, dass sie sich vielleicht dem Meer näherten. Naybahn bog noch weiter nach Süden ab. Das veranlasste Covenant dazu, unwillkürlich schneller zu marschieren. In seiner feuchten Kleidung war er bereits ausgekühlt. Er konnte nur hoffen, dass Naybahn oder Branl ihn zu einer windgeschützten Stelle führen würden. Das Ranyhyn warf den Kopf hoch und ließ ein Schnauben hören, das verächtlich klang. Aus eigenen Gründen, obwohl Branl ähnlich hätte reagieren können, stieß der Hengst Covenant leicht mit den Nüstern an. Hast du vergessen, wer ich bin? Bist du töricht genug, an uns zu
zweifeln? Dieser sanfte Stoß dirigierte Covenant zu einem Riss oder einer Spalte ungefähr hundert Schritt landeinwärts. Am Eingang der Spalte stellte er fest, dass sie für Pferde zu bewältigen und breit genug war, um einen aufgesessenen Reiter passieren zu lassen. Ihr zur Klippe hin abfallender Boden war nicht gefährlich steil. Von dort aus sah Covenant das Meer der Sonnengeburt. Unter einem bei herabsinkender Abenddämmerung bleiernen Himmel schien es falsch benannt zu sein. Vom Wind gepeitschte Wogen, die größer als Riesen und dunkel wie Gewitterwolken waren, rollten auf die Felsküste zu und verschwanden unter den Klippen. Fallwinde ließen die Wogenkämme zerstieben und rissen die Gischt nach allen Richtungen mit sich. Trotzdem rollten die Seen mit der massiven Unentrinnbarkeit von Lawinen oder kalbenden Gletschern heran. Trotz seiner Benommenheit glaubte Covenant ein schwaches Zittern zu spüren, wenn wieder ein Brecher an die Granitküste donnerte. Irgendwo weit außerhalb der Reichweite seiner Sinne wühlten Stürme, die zuvor nach Osten abgezogen waren, das Meer auf. Naybahn betrat ohne Zögern die Spalte und trug Branl hinunter. Covenant folgte den beiden vorsichtig. Auf dem Weg zu der Felsterrasse hinunter sah er mehr und mehr von der aufgewühlten See. Atavistische Schwindelgefühle begannen ihm zuzusetzen: Bis zu den Wogen war es sehr weit hinunter. Wer von dieser Terrasse fiel, würde Zeit haben, alle Missetaten seines Lebens zu bereuen, bevor er starb. Instinktiv blieb er mal links, mal rechts dicht an der Felswand, aber auch ihre uralte Dauerhaftigkeit konnte ihn nicht stabilisieren. Tu es nicht, befahl er sich. Sieh nicht hin. Aber die Tiefe lockte ihn bereits; sie drängte ihn, zu stolpern, sich herumzuwerfen und zu fallen; sein leidvolles Dasein durch einen Sturz in die Tiefe zu beenden. Er befand sich in einer Spalte, und sein Verstand war ein Labyrinth aus Rissen. Von allen Seiten riefen ihn Erinnerungen. Bald würden sie zu einem Wirbel, einem Geas werden, und das Meer oder die Vergangenheit würde ihn verschlingen. In einem anderen Leben wäre Lena ihm zu Hilfe gekommen. Schaumfolger oder Triock hätten ihm geholfen. Oder Lindens Gegenwart hätte ihm die Willenskraft verliehen, seiner
Zwangsvorstellung zu widerstehen. Aber in diesem Leben … Branl umklammerte seinen Arm mit eisernem Griff. Hinter dem Meister wartete Naybahn am Abgrund, ohne einen Sturz zu befürchten. Aber Branl war wegen Covenant zurückgekommen. Die Haruchai vergaßen nie etwas. Sie besaßen eine Stärke, eine unschätzbare Gabe, die Covenant fehlte: Sie waren in sich selbst nicht allein. Jetzt bemühte Branl sich, Covenants Impuls zu Isolation und Schwindel wettzumachen. Im sicheren Griff des Gedemütigten bewegte Covenant sich auf Nahbahn zu, ohne vom rechten Weg abzukommen. An der Kante stand das Ranyhyn zwischen ihm und dem Abgrund. Branl hielt ihn weiter am Arm fest. So beschützt bewegte Covenant sich vorsichtig nach Süden weiter. Jetzt konnte er die Brandung hören. Das Heulen der Winde, die über Granitkanten pfiffen, komplizierte das Tosen der heranrollenden Brecher, betonte ihren zeitlosen Hunger. Einige Augenblicke lang schien die Brandung eine Stimme zu besitzen, die von Sterblichkeit sang … Aller Kummer gleicht der endlosen Brandung des Meeres, Ihrem Brausen und Wogen, das keine Spuren hinterlässt, Sondern nur Sand statt zu Stein gewordener Ewigkeit. … bis er beinahe in seine fragmentierte Vergangenheit zurückstolperte. Doch die Terrasse führte um einen Felsvorsprung und wurde zum Boden einer weiteren Spalte in der verwitterten Klippe. Die Sonne ging jetzt so rasch unter, dass Covenant kaum noch etwas erkennen konnte. Diese Spalte führte ohne erkennbares Ende hinunter. Schon nach ein paar Schritten bogen Naybahn und Branl mit ihm in einen Riss in der linken Felswand ab - in eine Lücke, die breit genug war, um das Ranyhyn durchzulassen. Obwohl hier unten völlige Dunkelheit herrschte, spürte Covenant, dass er einen offenen Raum wie eine große Höhle betrat. Im ersten Augenblick glaubte er, dieser unterirdische Raum habe keinen Ausgang. Aber dann entdeckte er in Richtung See einen minimal helleren Schlitz und hörte von dort her das Rauschen der Brandung. Salz konnte er jedoch nicht riechen. Wechselnde Luftströmungen, die in die Höhle hinein- und aus ihr herausflossen, trugen den Salzgeruch des
Meeres fort. »Hier findest du Schutz, Ur-Lord«, stellte Branl nüchtern fest. »So geschützt brauchst du den Wind nicht zu fürchten, auch wenn der Stein bestimmt kalt ist. Und weiter vorn entspringt eine gute Quelle, deren Wasser an unseren Füßen vorbeifließt, bevor es über die Klippe ins Meer stürzt.« Covenant nickte, weil er darauf vertraute, dass der Gedemütigte sah, was er selbst nicht sehen konnte. »Was ist mit dem Pferd des Eggers?« »Clyme und Mhornym bringen es hierher ans Wasser«, antwortete Branl. »Anschließend verlassen die Ranyhyn und dein Pferd uns bestimmt, um oberhalb der Klippen zu weiden. Aber ich erwarte, dass sie zurückkehren, sobald sie satt sind, um hier Wärme und Ruhe zu finden. Ist das der Fall, halten Clyme und ich Wache auf beiden Seiten des Einschnitts.« Covenant nickte erneut. Er fand sich damit ab, erfrieren zu müssen, wenn drei Pferde nicht ausreichten, um die Höhle zu erwärmen. Trotzdem war er mit diesem unerwartet gut geschützten Zufluchtsort zufrieden. »Führst du mich zu einem Platz, an dem ich sitzen kann, sorge ich dafür, dass wir etwas Licht bekommen.« Und etwas Wärme? Das hoffte er zumindest. Branl, der Covenant am Arm gefasst hielt, führte ihn zu einer ebenen Stelle, an der er über den kleinen Bach steigen konnte. Jenseits des Wasserlaufs stieg der Boden bis zur Höhlenwand stufenförmig an. Dort setzte Covenant sich hin und zog den eingewickelten Krill vorsichtig aus seinem Hosenbund. Er hatte Grund zu der Annahme, Loriks Dolch könne alles zerschneiden. Vor langer Zeit hatte er ihn einmal in einen Steintisch gestoßen. So sorgfältig, wie seine tauben, verstümmelten Finger es zuließen, wickelte er die Klinge aus, ohne das Metall zu berühren. Griff und Schmuckstein ließ er noch bedeckt. Nach kurzem Zögern hob er die Arme und rammte die Spitze des Krill in den Fels zwischen seinen Füßen. Er erwartete einen Aufprall, wenn die Klinge vom Stein abrutschte. Aber die Spitze drang mühelos tief in den Fels ein. Der Krill blieb stecken und hielt unverrückbar fest. »Donnerwetter«, murmelte er überrascht. »Wenigstens das hat geklappt.«
Mit seinen Stummelfingern wickelte Covenant die restlichen Stofflagen ab und ließ den Schmuckstein in hellem Silberglanz leuchten. So glich der Krill einem Leuchtfeuer, aber er redete sich ein, Joan werde nicht darauf aufmerksam werden, wenn er den Schmuckstein nicht berühre. Die plötzlich aufflammende Helligkeit erfüllte die Höhle; sie schien nicht einmal mehr Schatten zuzulassen. Branl stand scharf hervorgehoben an einem rasch fließenden kleinen Bach, der das Licht zurückwarf und wie flüssiges Silber zu einem schmalen Schlitz wie einer Schießscharte in der Befestigung der Klippe floss. Während Naybahn aus dem Bach trank, glänzte das Fell des Hengsts wie übernatürlich, und seine sternförmige Blesse leuchtete. Die Höhle mit der schlitzförmigen Öffnung zur Außenwelt auf einer Seite und dem Felstrichter mit der Quelle auf der anderen bildete eine niedrige Kuppel. Selbst an ihrem höchsten Punkt wäre sie für einen aufrecht stehenden Riesen zu niedrig gewesen; aber die Kuppel war hoch und breit genug, um mehreren Pferden Platz zu bieten. Wände und Decke waren eigenartig glatt; das unheimliche Echo der wilden Magie des Schmucksteins ließ sie feierlich glänzend, fast geweiht erscheinen, als wäre dieser Raum in grauer Vorzeit ein primitives Heiligtum gewesen. In auffälligem Gegensatz dazu bestand der raue und unebene Boden aus anderem Gestein, das darauf zu bestehen schien, dass es nicht für Licht, sondern für Dunkelheit geschaffen sei. Wie Branl vermutet hatte, war der Fels kalt. Covenant spürte die Kälte bereits durch seine noch feuchten Jeans kriechen. Zum Glück machte sich auch schon die von Loriks Krill ausgehende gleichmäßige Wärme bemerkbar. Weißgold in den Händen seiner rechtmäßigen Besitzerin ließ den ganzen Dolch zu heiß für seine ungeschützten Hände werden. Für Covenant war dies der sichere Beweis, dass Joan noch lebte. Ohne es zu wollen, konnte sie mit ihrer reflektierten Verzweiflung die ganze Höhle wärmen. »Danke«, murmelte er, indem er Naybahn zunickte. Unabhängig davon, ob die Ranyhyn ihn verstanden, musste er seiner Dankbarkeit Ausdruck verleihen. »Diese Höhle hatte ich ganz vergessen - sofern ich überhaupt jemals von ihrer Existenz gewusst habe. Ihr seid genau zur rechten Zeit ins Land zurückgekommen. Ohne euch wäre keiner von uns jemals so
weit gekommen.« Vor allem Linden nicht. »Und wir würden nicht weiterkommen, das steht fest.« Naybahn warf leise wiehernd den Kopf hoch. Im Silberglanz schienen seine Augen stolz zu leuchten. Covenant wollte Branl fragen, wie Clyme und Mhornym mit dem Streitross des Eggers zurechtgekommen waren. Aber eine Antwort auf diese Frage hätte ihre Ankunft nicht beschleunigen, das Streitross wieder zu Kräften kommen lassen oder Covenants unterschwellige Ängste beseitigen können. Stattdessen fragte er abrupt: »Wie weit ist es noch bis zu Lord Fouls Hort?« Branl schien eine Landkarte aus seinem Gedächtnis zurate zu ziehen. »In gerader Linie liegen die Ruinen der ehemaligen Festung des Verderbers nicht weiter als fünfzehn Meilen entfernt, Ur-Lord. Aber diese Klippen sind zerklüftet und zwingen zu Umwegen. Ich schätze, dass wir mindestens zwanzig Meilen vor uns haben, wenn …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »… wenn das Vorgebirge mit dem Ridjeck Thome wirklich unser Ziel ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Liegt unser Ziel anderswo, wissen es die Ranyhyn. Die Gedemütigten jedenfalls nicht.« Covenant tat Branls Vorbehalt mit einer Handbewegung ab. »Nehmen wir einfach an, wir müssten zu Fouls Hort. Wo sollte Joan sonst sein? Diese Gegend ist einfach zu verdammt passend.« Eine Wildnis aus zersplittertem Granit zwischen dem Meer der Sonnengeburt und den Zerspellten Hügeln: genügend Trümmer, um Dutzende von Jahrtausenden zu symbolisieren. Joans Angriffe auf die Zeit brauchten eine physische Manifestation. Sie zerfetzte Augenblicke in Chaos, indem sie Steine zerschmetterte. Die Erde war die Inkarnation der Gesetze, denen sie ihre Existenz verdankte, und Joan griff sie an, indem sie der Erde schadete. Außerdem zweifelte Covenant nicht daran, dass die Trümmer von Fouls Ort noch immer von der Bösartigkeit des Verächters durchtränkt waren. Auch das Böse des Weltübelsteins klang dort noch nach. Solche Dinge würden Turiya Herems Gewalt über Joan verstärken. »Wie lange brauchen wir also bis dorthin?« Branl betrachtete ihn ausdruckslos. »Da du es vorziehst, dich in Vermutungen zu ergehen, Ur-Lord, will ich das auch tun. Kommt dein Pferd wieder so weit zu Kräften, dass es dich tragen kann, rechne ich
damit, dass die Überreste des Ridjeck Thome spätestens morgen Abend in Sicht kommen.« Ein weiterer Tag … Hölle und Blut, fluchte Covenant vor sich hin. Inzwischen war schon zu viel Zeit vergangen, und die Schlange kam unaufhaltsam vorwärts. Die Erde hatte nicht mehr lange zu leben. Aber bisher hatten er und die letzten Verteidiger des Landes außer Jeremiahs Rettung aus der Verlorenen Tiefe und vor dem Croyel nichts erreicht. Gewiss, Esmer hatte durch sie seinen Frieden gefunden: Aber seine Erlösung war ein Geschenk der Urbösen, der Wegwahrer und Staves gewesen. Covenant selbst hatte bisher wenig dafür getan, seine Rückkehr ins Leben zu rechtfertigen. Er musste Joan gegenübertreten. Und darauf musste er vorbereitet sein. Einen Misserfolg konnte er sich nicht leisten. Aber er hatte noch immer keine Ahnung, wie er auf ihre schmerzliche Verzweiflung reagieren sollte. Unbestimmte Zeit später erschien Clyme mit Mhornym und dem Streitross in der Höhle. Während die Pferde gierig ihren lange angesammelten Durst löschten, zog Branl wieder los, um auf den Hängen über der Klippe Aliantha zu suchen. Er war noch unterwegs, als Mhornym und Naybahn das Pferd des Eggers mitnahmen, um nochmals zu grasen, sodass Covenant mit Clyme und dem Krill allein zurückblieb. Eine Zeit lang schien der gleichmäßige Luftzug in der Höhle mehr Wärme abzutransportieren, als der Dolch erzeugte, sodass alle Aussicht auf Behaglichkeit durch den Schlitz in der Höhlenwand abfloss. Aber dann kam Branl mit zwei Händen voll Schatzbeeren zurück, und als Covenant sie gegessen hatte, gewährte der üppige Nährstoffgehalt der Beeren ihm einen gewissen Schutz vor der Kälte. Die Samen steckte er ein, um sie später auf fruchtbarem Boden verstreuen zu können. Später kamen die drei Pferde zurück, und Clyme ging hinaus, um am Zugang zur Höhle Wache zu halten. Mit trüben Augen und stark lahmend wirkte das Schlachtross noch immer wie ein Wrack. Kleine Muskelkrämpfe ließen es immer wieder erzittern. Trotzdem sah Covenant Anzeichen einer beginnenden Erholung. Zwei bis drei Tage Erholung und reichlich Futter hätten vermutlich ausgereicht, um sein
feuriges Temperament wiederherzustellen. Ach, hol es der Teufel, seufzte er. Ihm blieb keine andere Wahl: Er würde reiten, solange sein Pferd durchhielt. Danach würde er marschieren müssen, wenn er die Kraft dafür aufbrachte. Unter keinen Umständen würde er jedoch auf den Ranyhyn reiten. Gebrochene Versprechen konnten das Land nicht retten. Es gibt immer schlimme Mittel. Das hatte er zu den Gedemütigten gesagt. Schlimme Mittel vermeiden kann man nur durch Nichtstun. Trotzdem hatte er nicht die Absicht, weitere Versprechen zu kassieren. Er hatte schon genug Schaden angerichtet, um Lord Fouls Erwartungen zu rechtfertigen. Erst vor wenigen Tagen hatte er Elena Ihr, die nicht genannt werden darf, geopfert. Blieb ihm nichts anderes übrig, würde er Joan ermorden - ein schlimmes Mittel, wenn es je eines gegeben hatte. Und er hatte Linden wehgetan … Seine eigene Menschlichkeit würde sich gegen ihn wenden, wenn er anfing, Versprechen zu brechen. Zum Glück gaben Mhornym, Naybahn und das Schlachtross in dem beengten Raum überraschend viel Wärme ab. Gemeinsam mit dem Krill sorgten sie für fast behagliche Temperaturen. Die Luft erwärmte sich allmählich, und auch die Felswände verloren etwas von ihrer Strahlungskälte. Nach einiger Zeit konnte Covenant sogar an Schlaf denken. Er streckte sich auf einer der Stufen neben dem Krill aus, schloss die Augen und versuchte, sich treiben zu lassen. Aber statt in Schlaf und Träumen versank er in unerwünschten Erinnerungen. Aus unerklärlichen Gründen erinnerte er sich an Quellvisks. Ungeheuer größer als Riesen. Mit sechs Krallen besetzte Gliedmaßen, alle mit Muskeln und Theurgie bepackt. Ein halbes Dutzend tief in ihren Höhlen liegende Augen. Reißzähne, von denen Geifer und giftige Magien tropften. Gehirne, die Lehrenwissen aufnehmen und bitteren Ehrgeiz hegen konnten. Einst waren sie ganz andere Geschöpfe gewesen, eine Rasse von intelligenten Pflanzenfressern. Die Verwandlung, die aus solchen Wesen Quellvisks gemacht hatte, war Lord Fouls einziger gefährlicher Erfolg während seiner Jahrhunderte bei den Halbmagiern von Vidik Amar gewesen. Im Umgang mit Ungeheuern, die zu wild und zu intelligent waren, um sich beherrschen zu lassen, hatte der Verächter
ihnen ein Streben eingepflanzt, das seinen Zwecken dienen konnte. Nachdem die Quellviks die Halbmagier ausgerottet hatten, hatte Lord Foul sie davon überzeugt, sie könnten die ganze Erde beherrschen, wenn sie zuerst die Elohim ausrotteten. Dadurch, hatte der Verächter gehofft, würde die Schlange des Weltendes erwachen. Schon damals waren die Elohim zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um diese Gefahr zu erkennen. Sie stellten sich nicht zum Kampf, weil sie das für überflüssig hielten. Sie waren davon überzeugt, die Quellviks würden übereinander herfallen; sich gegenseitig ausrotten. Deshalb glaubte der Verächter, die Elohim seien reif für den Untergang. Aber sie wurden jäh aus ihrer um sich selbst kreisenden Seelenruhe gerissen, als die Quellviks in Elemesnedene eindrangen. Als die Elohim sich endlich zum ersten und letzten Mal in ihrer Geschichte zur Wehr setzten, schlugen sie enthemmt und erbarmungslos zu. Ihre stolze Überheblichkeit war bis ins Mark getroffen, und sie ließen nichts von ihren Feinden übrig als Knochen. Die Schlange des Weltendes schlief inzwischen ungestört weiter. »Ur-Lord.« Fast gegen seinen Willen erinnerte Covenant sich daran, was die Elohim mit diesen Knochen gemacht hatten. Muirwin Delenoth, Grabstätte des Abscheus. Irgendwo im Unterland westlich der Zerspellten Hügel. Als wäre das Land eine Müllkippe für alles, was die Elohim verabscheuten. »Zweifler«, sagte Branl drängender. »Du musst aufstehen.« Er rüttelte Covenant an der Schulter. »Uns droht Gefahr.« Covenant riss die Augen auf. Im ersten Moment sah er nur den Silberglanz des Krill, der seinem verschwommenen Blick hell wie ein Leuchtfeuer erschien. Als er jedoch blinzelte, nahmen die Umrisse der Höhle im Licht des Schmucksteins Formen an. Der Bach durchströmte sie weiter ungehindert, um sich aus der Scharte zu stürzen. Branl stand mit ausdrucksloser Miene über ihm und wartete darauf, dass er die Erinnerungen an seinen Traum abschüttelte. Draußen wehte weiter ein böiger Wind. Er heulte klagend, als er sich durch die Höhle zwängte. Das Streitross hatte die Beine unter den Leib gezogen, um jenseits des
Bachs zu ruhen. Das Tier schien fest zu schlafen. Aber wo waren …? Covenant stemmte sich unbeholfen hoch. Während er sich Schlaf aus den Augen rieb, fragte er heiser: »Wo sind die Ranyhyn?« »Geschöpfe sind hierher unterwegs, Ur-Lord«, antwortete Branl, »ungefähr zwei Dutzend kleiner Wesen. Als Clyme ihre Annäherung bemerkt hat, haben das auch Naybahn und Mhornym getan. Sie sind jetzt fort. Ich vermute, dass sie Clyme als Wachposten ablösen wollen, damit er stattdessen mithelfen kann, dich zu verteidigen.« Geschöpfe? Covenant schüttelte den Kopf, als könnte ihm das helfen, wieder klar zu denken. Verteidigen? Seine Befürchtungen waren so verworren wie die Stürme des vergangenen Tages. Während er sich bemühte, die Antwort des Gedemütigten zu begreifen, fragte er: »Wie spät ist es?« Branl betrachtete ihn ausdruckslos. »Die Morgendämmerung kommt erst nach den Geschöpfen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihnen bei Nacht entgegenzutreten. Und wir dürfen sie hier nicht erwarten. In dieser Höhle wären sie zwar in ihrer Bewegungsfreiheit behindert, aber wir könnten im Notfall nicht flüchten. Deshalb müssen wir sie in freiem Gelände erwarten.« Covenant begann aufzustehen. Dann setzte er sich wieder. »Augenblick noch. Darüber muss ich kurz nachdenken.« Der Krill war seine einzige Waffe - aber er konnte ihn nur eingewickelt tragen. Und er konnte ihn vermutlich nicht gebrauchen, ohne das Metall zu berühren. »Diese Geschöpfe … Wer sind sie? Was wollen sie? Woher weißt du, dass sie gefährlich sind?« Falls der Gedemütigte ungeduldig war, ließ er sich nichts davon anmerken. »Sie sind von menschenähnlicher Gestalt, aber klein, kaum bis zu deiner Schulter reichend, mit großen Augen, die bei Nacht ausgezeichnet sehen. Obwohl sie Kindern gleichen, sind sie der Witterung nackt ausgesetzt, weil sie weder Felle noch Kleidung tragen. Die Meister haben solche Geschöpfe bei mehreren Gelegenheiten zu Gesicht bekommen - immer aus großer Entfernung und stets in der Sarangrave-Senke. Tatsächlich scheinen sie in den Sümpfen der Sarangrave zu hausen. Und während wir sie bemerkt haben, haben sie nie erkennen lassen, dass sie uns wahrgenommen haben. Nun jedoch …« Branl machte eine Pause, als spräche er telepathisch mit
Clyme. »Sie sind weit von ihren heimischen Sümpfen entfernt. Und ihre Annäherung erfolgt unbeirrbar. So steht es außer Zweifel, dass sie gekommen sind, um dich aufzusuchen. Außerdem gibt es Folgendes zu bedenken: In den Händen tragen sie grüne Flammen, die auch bei Wind nicht flackern. Diese Theurgie scheint es ihnen zu ermöglichen, ihre heimischen Gewässer zu verlassen.« Branls Tonfall wurde schärfer. »Dieses Smaragdgrün hat genau die Farbe des Weltübelsteins und der Skest. Wie du dich erinnern wirst, haben die Skest früher dem Lauerer der Sarangrave gedient. Inzwischen sind sie Diener des Verderbers geworden. Diese Wesen konnten Skest in neuer Gestalt sein - vielleicht durch unheilvolles Sickerwasser aus dem Gravin Threndor mutiert. Unabhängig von ihrer Herkunft steht das Wesen ihrer Magien jedoch außer Zweifel. Sie sind grün und bösartig, fesseln ihre Herzen mit grausamen Begierden. Ihre Absichten können nur schlecht sein. Deshalb müssen wir darauf vorbereitet sein, zu kämpfen oder zu fliehen.« Covenant sah blinzelnd zu dem Gedemütigten auf. Er wollte fragen, wie Branl sich die Rettung seines schlafenden Pferdes vorstellte. Und er wollte Branl an die Sur-Jheherrin erinnern, die ihn und seine Gefährten darunter mehrere Haruchai - einst vor dem Lauerer gerettet hatten. Die Sur-Jheherrin stammten von Jheherrin ab, den weichen Kriechwesen, die Covenant und Salzherz Schaumfolger einst auf ihrem Weg zu den Zerspellten Hügeln und Lord Fouls Hort gerettet hatten. Nicht alles, was in der Sarangrave lebte, war böse. Stattdessen stellte er jedoch eine andere Frage. »Hat Clyme versucht, mit ihnen zu reden?« Im Gegensatz zu Riesen besaßen Haruchai nicht die Gabe, in Zungen zu reden. Aber die Jheherrin hatten wie Menschen sprechen können. Branls Überraschung war nicht zu übersehen. »Nein, das hat er nicht getan.« »Vielleicht sollte er das aber tun. Bevor wir in einen Kampf verwickelt werden, den wir nicht wollen.« Branl neigte den Kopf in die Richtung, in der Covenant den Gedemütigten vermutete. Im nächsten Augenblick bestätigte Branl: »Er wird es versuchen. Soweit er feststellen kann, scheinen die Lebewesen
ihre Theurgien nicht zu vereinigen. Jedes besitzt nur seine eigene Kraft. Er hält es für unwahrscheinlich, dass sie ihn überwältigen oder töten können.« Covenant widerstand dem Drang, den Atem anzuhalten. Wie lange konnte das dauern? Er hatte keine Ahnung, wie weit diese Lebewesen von Clymes Standort entfernt waren. Würden Branl und er noch Zeit haben, aus der Höhle zu entkommen? Mitsamt dem Streitross? In auffälligem Gegensatz zu dem munteren Rauschen des Bachs dehnten die Sekunden sich endlos lange. Seit die Ranyhyn fort waren, fühlte Covenant sich unbehaglich, verwundbarer. Branl wartete bewegungslos. Er ließ keine Reaktion darauf erkennen, was Clyme ihm sicher mitteilte. Dann sprach der Meister plötzlich. »Die Lebewesen nennen sich Feroce. Auf Geheiß ihres Hoch-Gottes begehren sie eine Audienz bei dem Reinen.« Covenant fuhr zusammen. Die Feroce? An sie konnte er sich erinnern. Aber der »Reine« … Ah, Schaumfolger! Höllenfeuer. An den Reinen erinnerte er sich nur allzu gut. Ohne lange zu überlegen, erklärte er Branl: »Sie meinen den Falschen.« Dann korrigierte er sich: »Nein, das kann man nicht sagen.« In den Legenden der Jheherrin war der Reine ihr versprochener Erlöser gewesen. Die Feroce täuschten sich, wenn sie glaubten, statt Salzherz Schaumfolger habe Covenant die Jheherrin vor dem Verächter, ihrem Schöpfer, gerettet. Aber dieser Irrtum konnte helfen, eine gewalttätige Auseinandersetzung zu vermeiden. »Sorgt dafür, dass sie weiterreden. Fragt sie, wozu sie eine Audienz wünschen. Worüber wollen sie reden?« Branl ließ nicht erkennen, ob er diese Wünsche an Clyme weitergab, aber Covenant hatte Vertrauen zu ihm. Schließlich war er ein Haruchai. Kurz darauf verkündete Branl: »Die Feroce schwören, dass sie nicht die Absicht haben, uns zu täuschen. Sie machen kein Hehl aus ihrer Feindseligkeit. Sie geben zu, dass sie Schaden anrichten wollten. Sie gestehen ein, ihren ersten Zweck verfehlt zu haben. In Schmerz und Verzweiflung will ihr Hoch-Gott sich jetzt mit den Reinen verbünden.« Covenant fühlte sich schwindlig, als stünde er am Rand eines Abgrunds. Schaden anrichten? Welchen Schaden? Hatten die Feroce etwa Linden angegriffen …? Zorn und Spekulationen wirbelten durcheinander;
verwirrten ihn noch mehr. Die Wesen hatten sich auf Legenden der Jheherrin berufen, die Covenant vor vielen Jahrtausenden falsch beurteilt hatten. Kannten die Feroce diese Legenden, waren sie vielleicht Nachkommen der Sur-Jheherrin - und glaubten, was die Jheherrin geglaubt hatten? Schaden anrichten? Die Feroce schienen ehrlich zu sein. Wer zum Teufel war dann ihr »Hoch-Gott«? Doch nicht etwa der Lauerer? Wenn sie in der Sarangrave lebten … Ein Bündnis mit dem Lauerer war unvorstellbar. Allein die Idee war verrückt. Andererseits war es leicht, sich potenzielle Vorteile auszumalen. Aber seine Fantasie ging mit ihm durch. Grimmig murmelte er: »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber ich kann es mir ungefähr denken. Wollen die Feroce verhandeln, sollen sie eine Delegation herschicken. Nur drei von ihnen. Die anderen müssen in sicherer Entfernung bleiben. Clyme soll entscheiden, wann sie ausreicht. Und sagt ihnen, dass ich Hoch-Lord Loriks Krill besitze. Vor langer Zeit habe ich den Lauerer damit verletzt. Fühle ich mich bedroht, werde ich nicht zögern, ihn wieder zu gebrauchen.« Wenn die Lebewesen in böser Absicht kamen. Branl, der Covenant prüfend musterte, zögerte noch. »Ur-Lord, ist das klug? Diese Höhle hat keinen weiteren Ausgang. Auch wenn die Feroce uns vielleicht nicht nach dem Leben trachten, könnten sie uns hier gefangen setzen. Das würde dich effektiv daran hindern, deine ehemalige Gefährtin aufzuspüren.« »Ja, ich weiß«, sagte Covenant seufzend. »Du hast natürlich recht. Aber ich kann die Sur-Jheherrin nicht vergessen.« Oder die Jheherrin. »Das Leben in der Sarangrave ist nicht so einfach, wie es aussieht. Wollen die Feroce mit dem Reinen sprechen, kann ich sie nicht ignorieren.« Ohne die Jheherrin wäre er in den Zerspellten Hügeln gestorben. »Erzähl Clyme einfach, was ich gesagt habe. Versuchen sie, mehr als drei zu schicken - tun sie irgendwas, das ihm nicht gefällt -, kann er dich warnen.« Branl nickte mit leicht gerunzelter Stirn. Dann setzte er sich in Bewegung, um am Höhleneingang Wache zu halten.
Das Schlachtross schlief weiter. Es war anscheinend zu erschöpft, um irgendetwas zu hören - oder sich um etwas zu kümmern. Eine halbe Minute später meldete der Gedemütigte: »Die Feroce gehorchen. Drei von ihnen nähern sich uns. Sie wirken ängstlich. Die anderen ziehen sich wie von Clyme angeordnet zurück.« Dann fügte er hinzu: »Die Ranyhyn stehen oben auf den Klippen bereit. Sie würden uns notfalls sicher zu Hilfe kommen.« »Gut«, sagte Covenant zweifelnd. Wollten Lebewesen, die Flammen von der Farbe des Weltübelsteins in den Händen trugen, ihn angreifen, konnten Mhornym und Naybahn ihn vermutlich nicht wirkungsvoll verteidigen. Trotzdem war ihre wachsame Nähe beruhigend. Er versuchte sich zu sammeln, während Erinnerungen lärmend um seine Aufmerksamkeit stritten. Die Jheherrin hatten sich selbst die Weichen genannt: Misslungene Geschöpfe aus der Zeit, als der Verächter versucht hatte, Armeen zu züchten; amorphe Kriechwesen, die nur weiterleben durften, weil Lord Foul sich an ihrem Elend ergötzte. Ihr schlammfarbenes Fleisch hatte den Eindruck erweckt, sie seien aus Ton geformt. Aber ihre Körper waren erkennbar modelliert gewesen … Kindergestalten. Schlangen. Groteske Imitationen von Höhlenschraten. Und sie hatten Sagen, die von ihren Vorfahren erzählten, aus denen Lord Foul Ungeheuer und die Jheherrin geschaffen hatte. Diesen Sagen nach waren auch ihre Vorfahren Macher gewesen. Im Gegensatz zu dem Verächter waren sie jedoch nicht impotent gewesen. Aus ihren Körpern entsprossen Junge, die heranwuchsen und wiederum Junge zeugten. Und manche von ihnen überlebten oder entkamen oder entzogen sich Lord Fouls verderblichem Einfluss. Sie lebten außerhalb seines Bereichs - weiterhin frei von dem Macher. Weiter imstande, Kinder zu zeugen. Für Covenant waren das bittere Erinnerungen. Er war damals so krank und elend gewesen … Schaumfolger und ihn hatten die Jheherrin ihre Sagen erzählt. Wenn die Zeit reif ist, wird ein Junger ohne Fehl geboren werden - ein reiner Abkömmling, gegen den Macher und seine Machenschaften immun … furchtlos sein werden. Dieser Reine wird mit Werkzeugen der Macht vor dem Hort des Machers erscheinen. Das wollte er am liebsten vergessen, aber er konnte es nicht. Er wird die Jheherrin erlösen, wenn sie sich bewähren - wenn er sie dessen wert
findet -, und dem Macher ihre Entlassung aus Angst und Schlamm abtrotzen… Aber er hatte nichts getan, um die Jheherrin zu erlösen, außer die Bürde seines Ringes zu tragen. Er war ein Leprakranker. Er würde stets einer bleiben. Ohne Fehl geboren? Er hatte nichts Reines an sich. Nein, es war Salzherz Schaumfolger gewesen, der dem Macher eine Niederlage beigebracht hatte. Von der erbarmungslosen Caamora des Glutaschenkamms gereinigt, hatte er Lord Foul ins Gesicht gelacht und war gestorben, was Covenant die Kraft verliehen hatte, den Weltübelstein zu zerstören. Er, nicht Covenant, war der Reine geworden. Dass die Sur-Jheherrin ihn noch Jahrtausende später für ihren Reinen hielten, verstärkte nur seine Trauer um Schaumfolger - und sein eigenes Unwertgefühl. Aber nun saß er hier wie ein Monarch im Exil und wartete auf Lebewesen, die eine Audienz bei dem Reinen begehrten. Um des Landes, um Lindens, sogar um Joans willen war er bereit, jedes Bündnis zu erwägen, das die Feroce ihm vielleicht irrtümlich anbieten würden. Covenant veränderte seine Haltung bewusst so, dass er mit untergeschlagenen Beinen dasitzend den Krill genau zwischen sich und dem Höhleneingang hatte. Einige Sekunden lang massierte er sein schmerzendes Kreuz. Dann zwang er sich dazu, stolz aufgerichtet wie ein Souverän dazusitzen. Ängstlich sollten die Feroce sein. Sie sollten sich demütig nähern. In dieser Höhle gefangen brauchte er jeden kleinen Vorteil, den Haltung und Selbstvertrauen ihm gewähren konnten. Er durfte sich nur nicht anmerken lassen, dass er davor zurückschreckte, Loriks Dolch zu berühren. »Ur-Lord«, sagte Branl warnend. »Drei Feroce sind auf der Terrasse angelangt. Sie werden gleich hier erscheinen.« Covenant atmete tief durch, hielt kurz den Atem an. Der Krill warf sein helles Licht in den Einschnitt, der den Zugang zur Höhle bildete. Silbern glänzendes reines Licht fiel auf die jenseitige Wand des äußeren Felsspalts. Er fixierte diese Stelle, zählte seine hämmernden Herzschläge und wartete auf Andeutungen von smaragdgrüner Bösartigkeit. Sie zeigte sich zuerst als schwache Verfärbung am Rand des Silbers: eine Nuance, die in anderem Zusammenhang frühlingshaft hätte wirken können. Dann wurde das fahle Grün von Säure und Hunger stärker. Es
überstrahlte den Krill nicht, sondern sie verfärbte das Silber, bis die Dunkelheit dahinter bedrohlich schwarz wirkte. Nacheinander betraten drei Lebewesen durch diesen Lichtstreifen die Höhle. Sie sahen aus, wie Branl sie Covenant beschrieben hatte: Schulterhoch, unbehaart und nackt, mit großen Augen, die Silber und Smaragdgrün reflektierten. Jedes von ihnen fuhr beim ersten Anblick des Krill zusammen; jedes wich so weit wie möglich vor seinem Leuchten zurück, ohne dabei Branl zu berühren. Als sie an der Lichtquelle vorbei Covenant ansahen, wirkten sie angstvoll geduckt. In ihren hohlen Händen trugen sie Flammen, die Chaos und Zerstörung zu versprechen schienen. Trotz ihrer Furchtsamkeit umgab sie eine Aura von unterdrückter oder verweigerter Bösartigkeit. Vielleicht hätten sie sich auf Covenant gestürzt, wenn sie es gewagt hätten. Er glaubte instinktiv, sie seien aus den alten Giften des Donnerbergs gezeugt worden. Sie mieden den Krill mit ihren Blicken und verharrten schweigend. Vermutlich warteten sie darauf, dass Covenant das Wort ergreifen würde. Mit finsterer Miene, als hätte er das Recht, über sie zu Gericht zu sitzen, sagte er nichts. Zuletzt erhob einer von ihnen die Stimme. »Wir sind die Feroce.« Aber er konnte nicht unterscheiden, wer gesprochen hatte: Die Worte schienen von allen oder keinem zu kommen. Und die Stimme klang eigenartig feucht und Undefiniert wie nasser Schlamm, der durch ein grobes Sich gepresst wird. Vielleicht waren ihre Kehlen nicht dafür gebaut, menschliche Laute zu erzeugen. Statt körperlich erzeugt zu werden, war ihre Sprache möglicherweise nur ein theurgischer Effekt. Covenant, der die eigene Ängstlichkeit mit Hochmut tarnte, erwiderte: »Ich habe euch gehört. Ihr begehrt eine Audienz. Dazu kommen wir noch. Erzählt mir erst etwas. Überzeugt mich davon, dass ich euch trauen kann. Ihr sagt, dass ihr versucht habt, Schaden anzurichten. Das war euer ursprünglicher Zweck. Was habt ihr getan?« Mit ihren Flammen machten die drei Feroce scheue Gesten, die vielleicht
besänftigend wirken sollten. »Unser Hoch-Gott erhält uns«, antworteten sie mit ihrer gemeinsamen Stimme. »In seiner Agonie spricht er zu uns. Er spricht durch uns. Wir gehorchen seinen Befehlen. Ohne ihn sind wir Staub. Wir können die Gewässer der Sarangrave nicht verlassen. Die Vernichtung kommt immer näher.« Sie schienen sich noch ängstlicher zu ducken. »Die Vernichtung allen Lebens. Auch du musst ihr Kommen spüren. Das ist unvermeidlich. Unser Hoch-Gott hat es gespürt. Er begehrt Leben. Er begehrt Macht. Er braucht Macht, mehr Macht und noch größere Macht, sonst geht er unter. Davor muss alle sonstige Feindschaft zurücktreten. Ein weibliches Wesen deiner Art besitzt einen Stock, der unermessliche Macht verleiht. Auch das ist dir wohlbekannt. Es muss dir bekannt sein. Unser Hoch-Gott begehrt ihn. Auf sein Geheiß haben wir versucht, ihn ihr abzunehmen, doch wir haben es nicht geschafft. Er ist verletzt worden. So kann er sein Leben nicht sichern.« Covenant fluchte innerlich. Linden …! Scharf fragte er: »Habt ihr sie verletzt? Habt ihr sie verletzt?« Die Feroce fuhren wie eingeschüchterte Kinder zusammen. Die smaragdgrünen Flammen in ihren Händen flackerten und spuckten. »Wir haben es versucht. Es ist uns nicht gelungen. Jetzt sind wir hier.« »Was, ihr?«, knurrte Covenant, um seine Erleichterung zu verbergen. »Ich meine, ihr persönlich?« Er wusste nicht, wo Linden und ihre Freunde waren, aber er vertraute darauf, dass sie viele Meilen hinter ihm war. Wie hatten die Feroce diese weite Strecke so rasch geschafft? Er konnte es sich nicht leisten, Vermutungen darüber anzustellen, wie diese Wesen versucht hatten, Linden zu überwältigen, oder was ihre Gegenwehr sie gekostet hatte. »Das verstehen wir nicht.« Silber und Smaragdgrün spiegelten sich in ihren großen Augen. Hinter ihnen hielt Branl wie ein Standbild Wache: ungerührt und unbeweglich. »Wir sind die Feroce. Wir gehorchen unserem Hoch-Gott. Was ist ›persönlich‹? Wir sind nicht einer. Wir sind viele. Sprichst du von den Feroce, die vor dir stehen? Darauf haben wir keine Antwort. Auf Geheiß unseres Hoch-Gotts sind wir dir von dem Teil der Sarangrave, der dem Meer am nächsten ist, hierhergefolgt. Das weibliche
Wesen deiner Art haben wir fern im Westen überfallen. Es gibt kein ›persönlich‹. Wir sind nur die Feroce. Wir dienen unserem Hoch-Gott an vielerlei Orten.« »Also gut.« Covenant war nicht bemüht, seine Irritation zu verbergen. Er musste weiter aufrecht sitzen; musste weiter zornig und bedrohlich wirken. »Zu euren Gunsten will ich annehmen, dass ihr nicht zu denen gehört, die diese Frau angegriffen haben.« Hatten sie dazugehört, wollte er eine bessere Erklärung; aber er wusste nicht, wie er sie einfordern sollte. »Sprecht weiter. Euer Hoch-Gott hat recht. Er kann sich nicht retten, indem er sich Feinde macht.« Die Feroce schienen zu zögern. Dann brannten ihre Flammen unter striktem Zwang jedoch heller. Furchtsam wie Speichellecker sprachen sie wieder mit ihrer gemeinsamen Stimme. »Du bist der Reine, Erlöser der Jheherrin, Verbündeter der Sur-Jheherrin. Aber du bist auch der Träger von abscheulichem Metall, das grausame Schmerzen zufügen kann. Schmerzen, wie unser Hoch-Gott sie noch niemals gespürt hatte. Wir wagen nicht, es mit dir aufzunehmen. Das dürfen wir nicht. Wir sind Staub. Unserem Hoch-Gott steht Vernichtung bevor. Er braucht Unterstützung. In seinem Namen versuchen wir jetzt, ein Bündnis zu schließen.« An dieser Stelle schwiegen die Geschöpfe, als fürchteten sie, sofort abgewiesen zu werden. Covenant machte eine kurze Pause, während er fieberhaft überlegte. So viel er beurteilen konnte, waren die Feroce aufrichtig. Und sie hatten den Namen des Reinen angerufen: Das konnte er nicht ignorieren. Aber er wusste noch nicht genug über sie. Am liebsten hätte er sich mit der Faust an die Stirn geschlagen, um die Erinnerungen zu lockern, die er brauchte; aber er widerstand dieser Versuchung. »Dazu kommen wir später«, wiederholte er. »Ich habe noch weitere Fragen. Wer oder was ist euer Hoch-Gott? Ich habe noch nie von ihm gehört.« Die Feroce holten erschrocken Luft, als wären sie völlig ver-856 wirrt; als ergäbe seine Frage in keiner ihnen bekannten Sprache einen Sinn. »Er ist der Hoch-Gott«, antworteten sie zögernd. »Er ist unser Hoch-Gott. Andere beten nicht zu ihm. Wir …« Sie verstummten abrupt, als würde ihr Verstand von einem fremdartigen
Gedanken beherrscht. Im ersten Augenblick war ihre Verwirrung so mit Händen greifbar, dass sie Covenant fast leidtaten. Aber die smaragdgrünen Flammen in ihren Händen wurden wieder heller, und der Augenblick war vorüber. »Andere«, sagten sie lauter. »Du fragst nach anderen. Das verstehen wir nicht. Aber sie sprechen unter falschem Namen von ihm, beleidigen ihn. Einen sollen wir auf sein Geheiß hier nennen.« Sie verdrehten mit fast komischem Entsetzen die Augen. »Er lautet Horrim Carabal.« Kaum war der Name gefallen, duckten sie sich erschrocken, als fürchteten sie, wegen Gotteslästerung niedergestreckt zu werden. Teufel!, dachte Covenant. Der Lauerer… Diese Vorstellung verschlug ihm fast die Sprache, obwohl die Feroce sie klar genug angedeutet hatten. Der Lauerer war für diese Geschöpfe zu einem Gott geworden? Das war etwas, woran er sich hätte erinnern können müssen … »Wie …?«, fragte er verwirrt. »Ihr betet diesen…« Dann bekam er sich wieder in den Griff; verschränkte die Arme, um sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. »Nein, schon gut. Das brauche ich nicht zu wissen. Erfahren muss ich etwas anderes: Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Und wieso lebt ihr in der Sarangrave? Seid ihr dort erschaffen worden? Oder seid ihr von anderswo zugewandert? Woher kannten sie die Geschichte des Landes gut genug, um von den Jheherrin, den Sur-Jheherrin und dem Reinen sprechen zu können? »Wir sind die Feroce«, beteuerten die Geschöpfe furchtsam. »Das muss dir bekannt sein. Es kann dir nicht unbekannt sein. Du bist der Reine. Du hast Zeichen der Macht getragen, die den Jheherrin vorausgesagt waren. Du hast den Sturz des Erschaffers und die Zerstörung seines Horts bewirkt. Du hast unsere Urväter aus Sklaverei und Grauen erlöst.« Sie nickten gemeinsam, als gehorchten sie einem unhörbaren Befehl. »Du bist der Reine«, wiederholten sie. »Du hast mit den Jheherrin gesprochen. Sie haben dir geholfen. Wir verstehen deine Frage nicht. Hast du nicht gewusst, dass unsere Vorfahren zu zahlreich waren, um jemals gezählt werden zu können? Hast du nicht gewusst, dass sie nach der Zerstörung des Horts des Erschaffers nicht den Wunsch hatten, in ihren gefährlichen unterirdischen Gängen zu bleiben? Sie waren die Weichen. Ein ganzes Zeitalter lang haben sie sich davor gefürchtet, ihre Gänge zu verlassen. Aber als das Gebiet ihrer früheren Schrecken immer
mehr von Staub und Tod bedeckt war und die verbliebene Bösartigkeit des Erschaffers abklang, haben sie beschlossen, das Wasser und den Schlamm einer freundlicheren Heimat aufzusuchen.« Während sie sprachen, nahm ihre Sprache einen komplexeren Rhythmus an. Offenbar hatten sie das Gefühl, diese Geschichte erfordere einen anderen Tonfall. »Unzählig viele von ihnen - Aussat Befylam, Fael Befylam, Roge Befylam; andere, die zu ängstlich waren, um sich vor dir sehen zu lassen; alle, die sich für das Geschenk des Lebens mit Leben bedanken wollten -, alle erduldeten den grausam mühseligen Treck nach Norden, ständig auf der Suche nach Schlamm und Wasser, nach Schlamm und Wasser in neuer Umgebung. Hast du das nicht gewusst?« »Die Sur-Jheherrin haben mir einiges erzählt«, gab Covenant widerstrebend zu. »Andere Dinge habe ich erraten. Aber damit ist meine Frage nicht beantwortet.« Wie hatten die Jheherrin in ihren vielen Formen sich in Wesen wie die Skest und die Feroce verwandelt? Warum hielten die Feroce den Lauerer für einen Gott? Die Vorstellung, einen Verbündeten wie den Lauerer zu brauchen, ließ ihn innerlich fluchen. »Du bist der Reine«, wiederholten die Wesen, als besäße dieser Name liturgische Kraft, »Träger von Metall und Verursacher von Qualen. Die Majestät, die in der Sarangrave residiert, kann dir nicht unbekannt sein. Dir kann ihre Herrschaft über Sumpf und Morast und Wasser, über alles, was schwimmt und gleitet und kriecht und gräbt und flitzt nicht unbekannt sein. Wir können nicht verstehen, wie dir unbekannt sein soll, welche Veränderungen der Herrscher schon bewirkt hat. Seine Macht ist erstaunlich. Sie hat die Weichen wundersam verändert. Sie hat sich auf die verschiedenen Befylam der Jheherrin unterschiedlich ausgewirkt aber alle sind verwandelt worden. Aus den Befylam sind die Skest hervorgegangen: Hirnlos und servil, zu leicht beeinflussbar, um unserem Hoch-Gott glaubhaft zu huldigen. Ein Zeitalter lang haben sie in der Sarangrave seine Befehle ausgeführt, keine anderen gehört. Dann sind sie zu einem neuen Dienst berufen worden. Wir Feroce verachten sie. Andere Jheherrin haben die Sur-Jheherrin gezeugt, die zu furchtsam waren, um ihrem wahren Herrn zu dienen, und zu gerissen, um seine
Aufmerksamkeit zu erregen. Auch sie verachten wir Feroce. Andere Befylam waren klüger, haben die Vereinigung mit unserem Hoch-Gott gesucht. Der Reine war nicht mehr da. In seiner Abwesenheit haben sie sich danach gesehnt, für ihre Erlösung mit Selbstaufgabe zu bezahlen. Ihr Wunsch wurde ihnen gewährt. Unser Hoch-Gott hat sie verschlungen. Sie haben zur Steigerung seiner Majestät beigetragen. Wir Feroce verehren sie. Unter den Jheherrin gab es jedoch auch einige, die eine andere Art von Lebenszweck anstrebten. Weil sie bescheiden waren, strebten sie nicht nach Vereinigung. In ihrer Dankbarkeit für ihre Erlösung begehrten sie Erniedrigung statt Kapitulation. Auch ihren Wunsch hat unser Hoch-Gott erfüllt. Aus mehreren Arten von Weichen hat er die Feroce geschaffen, damit sie seinen Befehlen gehorchten. Wir vermehren uns von Generation zu Generation zu seinen Ehren. So vervollständigen wir die Erlösung der Jheherrin.« Covenant wand sich innerlich. Er wollte lautstark protestieren; er wollte Einwände vorbringen, die so unwiderlegbar wie der Krill waren. Direkt oder indirekt machten die Feroce ihn für ihre Anbetung des Lauerers verantwortlich. Die Logik ihrer Dankbarkeit gegenüber dem Reinen hatte sie dazu bewogen, eines der bösartigsten Monster des Landes anzubeten und ihm zu dienen. Aber Covenant war nicht der Reine. Das war er nicht. Die Jheherrin und ihre Nachkommen hatten ihn von Anfang an mit Salzherz Schaumfolger verwechselt. Trotzdem war das hier irrelevant. Die Feroce glaubten. Ihr Irrtum verdammte und segnete ihn zugleich. Weil sie verwirrt waren, fürchteten sie ihn zu sehr, um sich gegen ihn zu stellen. Und der Lauerer fürchtete ihn genug, um ihm ein Bündnis vorzuschlagen. Horrim Carabal fürchtete die Schlange des Weltendes noch mehr. Covenant vermutete, dies alles sei auf Linden zurückzuführen. Irgendwie hatte ihre erfolgreiche Abwehr der Feroce den Lauerer zu der Einsicht gebracht, seine Bösartigkeit sei letztlich selbstmörderisch. Schmerzen und Sterblichkeit konnten das auslösen. Covenant, der kämpfen musste, um Schamgefühle, Zorn und Ablehnung zu unterdrücken, klammerte sich an die Vorstellung, dass Linden ihn gerettet habe. Das war nur passend. So passend wie seine Gewissheit,
Joan stehe in den Trümmern von Fouls Hort. Es gibt immer schlimme Mittel. Selbst ein Ungeheuer wie der Lauerer der Sarangrave konnte letztlich Gutes bewirken. Steif von internen Konflikten sagte Covenant mit zusammengebissenen Zähnen: »Gut, ich verstehe. Ich glaube, dass ihr die Wahrheit sagt. Nun bin ich bereit, über ein Bündnis zu sprechen.« »Ur-Lord«, warf Branl warnend ein. »Du sprichst von dem Lauerer der Sarangrave. Diese Ausgeburt des Bösen fürchten sogar die Ranyhyn.« Covenant ignorierte den Gedemütigten. »Was bietet ihr also?« Auch die Feroce ignorierten Branl. Vor Covenant oder Loriks Krill ausweichend antworteten sie: »Unser Hoch-Gott bietet allen, die gegen die Vernichtung des Lebens kämpfen, freien Durchzug durch die große Sarangrave an. Schon jetzt duldet er die Anwesenheit eines einsamen Wanderers, der mit einem Werkzeug von Macht, die nichts gegen das Chaos ausrichten kann, durch sein Reich zieht. Er ist bereit, noch mehr zu dulden. Alle, die dir helfen, sollen in der Sarangrave-Senke Freiheit und Sicherheit finden.« Ein einsamer Wanderer …? Covenant konnte sich nicht vorstellen, wer das sein könnte, und versuchte es nicht einmal. »Bitte weiter.« »Außerdem werden wir in deinem Namen die Skest bekämpfen. Die Feroce hassen sie. Unser Hoch-Gott fühlt das Ende der Welt kommen. Er spürt auch eine geringere Macht. Aus grausamem Metall bringt sie geringere Schmerzen hervor. Sie hat schon zahllose andere Agonien verursacht. Und ihr dienen die Skest. Unser Hoch-Gott befiehlt, dass kleinere Gefahren ausgeschaltet werden müssen. Sie könnten von der Erhaltung seines Lebens ablenken. Der Reine weiß, wie man eine Erlösung bewirkt. Du wirst diese kleineren Schmerzen beenden. Gelingt dir das, wirst du sogar noch mehr erreichen. Unser Hoch-Gott bietet dir die Unterstützung der Feroce an. Wir werden dir die Skest aus dem Weg räumen.« Covenant rieb sich nachdenklich seine Stirnnarbe. Aus dem Weg räumen … Das war ein Angebot, das er kaum ausschlagen konnte. Er wollte weder die Gedemütigten noch ihre Ranyhyn durch die Skest verlieren. Sondierend fragte er: »Ist das alles?« Die Flammen der Feroce wurden abrupt heller. Sie schienen ihre Leuchtkraft und Wildheit zu verdoppeln, als kündeten sie von Absichten,
die Covenant nicht identifizieren konnte. »Es gibt noch die Sache mit deinem erschöpften Pferd«, antworteten die Feroce. »Beobachte seine Verwandlung durch die Majestät unseres Hoch-Gotts.« Branl trat einen Schritt vor. Er ballte die Fäuste. Aber es gab kein Ziel für sie. Wie Covenant konnte er anscheinend keine Bedrohung erkennen. Das Streitross hob den Kopf. Es sah sich einen Moment lang verwirrt um, als fragte es sich, was aus ihm geworden sei. Dann begannen Zorn und Widerspenstigkeit in seinem Blick zu schwelen. Wütend schnaubend sprang das Pferd auf und warf sich sofort herum. Ohne die Feroce im Geringsten zu beachten, hielt es wie neugeboren auf den Höhlenausgang zu. Mit einem Satz verschwand es in Richtung Terrasse, die zu der darüber aufragenden Felsklippe führte. Das gefährliche Grün schwand allmählich, als die Flammen der Feroce kleiner wurden. »Wir haben ihm keine Kraft verliehen«, sagten die Feroce, als ängstigte es sie, ihre Grenzen eingestehen zu müssen. »Das können wir nicht. Aber wir haben dafür gesorgt, dass es sich daran erinnert, was es ist. Solange es lebt, wird es das nicht wieder vergessen.« »Das genügt«, sagte Covenant leise. »So bringt es mich hin.« Mehr konnte er nicht verlangen, nicht von Nachkommen der Jheherrin, deren Leben durch eine irrige Überzeugung verzerrt worden war. Wäre er ehrlich gewesen, hätte er ihnen die Wahrheit sagen müssen. Der Reine war bei der Zerstörung von Fouls Hort umgekommen. Aber Covenant brauchte dieses Bündnis, davon war er überzeugt. Weiter mit sich selbst ringend fragte er unsicher: »Was wollt ihr von mir? Was erwartet euer Hoch-Gott als Gegenleistung?« Die Feroce zögerten kurz, dann erwiderten sie: »Was bietet der Reine ihm an?« Hört auf, mich so zu nennen. »Lasst mich nachdenken. Ich muss mir erst Klarheit verschaffen.« Tatsächlich hatte Covenant dem Lauerer nichts anzubieten; nichts, was er hätte opfern können; keine Unterstützung, zu der er sich hätte verpflichten können. Nur der Krill und seine scheinbare Autorität hatten die Feroce hierhergeführt - diese Dinge und vermutlich die Art und Weise, wie Linden ihren Stab verteidigt hatte. Was besaß er sonst, das der Lauerer wollen konnte? Genügte ein Versprechen, dem Ungeheuer
sofort zu Hilfe zu kommen, falls es angegriffen wurde? Nein. Er hatte schon zu viele irrige Auffassungen zugelassen. Er war nicht bereit, seine Fehler durch Lügen zu verschlimmern. Starr aufrecht sitzend, als wäre er so unnachgiebig wie die Meister, antwortete er den Feroce. »Versteht mich recht. Ich kann kein Leben versprechen. Ich kann euch nicht schwören, euren Hoch-Gott am Leben zu erhalten. Dafür habe ich vielleicht nicht genug Macht. Dafür gibt es vielleicht nicht genug Macht.« Die Schlange kam - und mit ihr der Weltuntergang. Er konnte sich nicht vorstellen, ihn allein abzuwenden. »Diese geringere Macht«, der ich gegenübertreten muss, ist nicht mein einziges Problem. Es gibt auch Kastenessen. Kevins Schmutz. Sandgorgonen, Höhlenschrate und Skurj.« Ob die Wesen oder der Lauerer etwas mit diesen Namen anfangen konnten, war ihm egal. Er zählte seine Feinde und Hindernisse um seiner selbst willen auf. »Sie, die nicht genannt werden darf. Wüteriche. Mein eigener Sohn. Und der Verächter, der die Skest in seinen Dienst gepresst hat. Mit ihnen allen muss ich fertigwerden, bevor ich mich dem ›Chaos‹ zuwenden kann, das ihr fürchtet. Ich kann euch nur zwei Dinge versprechen. Ich werde unser Bündnis respektieren. Alle, die auf meiner Seite stehen, werden es respektieren. Keiner von uns wird sich gegen euren Hoch-Gott wenden. Und wir werden unser Bestes tun, um das gesamte Land zu retten. Wenn das mit dem Krill und wilder Magie und dem Stab des Gesetzes zu schaffen ist …« Und von Riesinnen und Haruchai und Ranyhyn, sowie mit etwas, was so einfach und ausdauernd wie menschliche Sturheit war… »werden wir es tun. Stirbt euer Hoch-Gott«, schloss er, als legte er einen Eid ab, »habe auch ich vermutlich nicht mehr lange zu leben. Außer ich werde schon vorher umgebracht.« Die Feroce zogen sich zitternd zurück, bis sie am Höhleneingang standen. Ihre gemeinsame Stimme wurde zu einer Art Schnattern, das wie vielstimmiges Wimmern klang. Die drei fassten sich an den Händen, bildeten einen engen kleinen Kreis und führten ihre Flammen zusammen, bis sie alles Silber ausschlossen. Nun blieb zwischen ihnen nur smaragdgrünes Feuer, das wie ein aus dem Abgrund verlorener Zeit auferwecktes altes Übel stank und pulsierte. Selbst auf Covenants fast
gefühllosen Wangen brannte die Bitterkeit ihrer Theurgie wie ein Schlag ins Gesicht. Aber es roch auch nach großer Angst. Es fühlte sich wie demütiges Bitten an. Während die Feroce sich zusammendrängten, ging Branl an ihnen vorbei und stellte sich zwischen Covenant und ihnen vor dem Krill auf, um den Dolch schnell an sich reißen zu können. Aber sie machten keine Bewegung, um den Ur-Lord oder ihn anzugreifen. Die grünen Flammen blieben innerhalb ihres Kreises. Weil keine erkennbare Gefahr drohte, fasste Branl den Dolch nicht an. Endlich sprachen die Feroce wieder. »Unser Hoch-Gott kennt Verzweiflung: Er ist mit Qualen vertraut.« Keiner von ihnen sah Covenant, Branl oder den Krill an. »Dein Angebot wird angenommen. Solange unser Hoch-Gott lebt, halten er und alle, die ihm dienen, sich an dieses Bündnis.« Dann verließen sie fluchtartig die Höhle. Sekundenschnell war jede Andeutung von Grün und Flamme verschwunden. Der Gestank des Bösen, ein Vorbote von Jammer und Unheil, hing noch für kurze Zeit in der Luft. Aber die vom Meer und aus der Schlucht kommenden böigen Winde trugen ihn rasch davon. Nun ließ Covenant endlich die Schultern hängen. Er fühlte sich leicht angewidert und niedergeschlagen, als hätte er ein Verbrechen gegen die eigentümliche Unschuld der Diener des Lauerers begangen. Aber er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen. Beistand gegen die Skest. Schutz vor weiteren Angriffen für Linden. Solche Dinge waren notwendig. Aber er hatte sie ihnen gesichert, indem er sich als jemand ausgegeben hatte, der er nicht war. Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, hatte er einmal geschrieben, Schuld und Macht seien Synonyme. Tüchtige fühlten sich schuldig, weil der Gebrauch von Macht Schuld mit sich brachte. Folglich konnten nur Schuldige tüchtig sein. Tüchtig im Guten wie im Bösen, im Guten wie im Schlechten. Nur die Verdammten konnten erlöst werden. Nach dieser Logik war auch das Leben selbst eine Art von Schuld. Damals hatte er geglaubt, was er schrieb. Jetzt konnte er nur hoffen, dass er recht behalten würde.
11 Kurash Qwellinir
Der Tagesanbruch war kaum mehr als ein fahler Grauschimmer am Höhleneingang, als Clyme hereinkam und reichlich Schatzbeeren für Thomas Covenant mitbrachte. Während Covenant sie aß - und auch ihre Samen aufbewahrte, um sie später verstreuen zu können -, berichtete der Meister, alle Feroce hätten die Flucht ergriffen, sobald ihre Unterhändler aus der Höhle zurückgekommen seien. Jetzt stünden Mhornym, Naybahn und Covenants Pferd zum Aufbruch bereit. Dann sah er zu, wie Covenant die köstlich wie ein Festmahl schmeckenden Aliantha aufaß. Kauend versuchte Covenant sich einzureden, dies sei nicht sein Henkersmahl, weil dieser Tag nicht das Ende seines erneuerten Lebens bringen werde. Das Ende von Lindens größtem Geschenk … Ah, zum Teufel! Er lebte erst seit kurzer Zeit wieder, und es gab so vieles, was er tun wollte; was er tun musste. Linden schuldete er mehr als eine Bitte um Verzeihung: Er schuldete ihr seine ganze Welt. Und er liebte diese Welt so sehr, dass er kaum wusste, wie er all diesen Druck ertragen sollte. Zweimal war ihm das Verdienst zugesprochen worden, das Land gerettet zu haben, aber in Wirklichkeit hatten das Land und seine Bewohner, ihn öfter und auf vielfältigere Weise erlöst, als er zählen konnte. Sein einziges wirkliches Verdienst war, dass er sich bemüht hatte, sich allem würdig zu erweisen: Aliantha und Heilerde, Glimmermere und Schwelgenstein und Andelain. Hoch-Lord Mhoram und Bannor von den Bluthütern, Triock und Salzherz Schaumfolger. Brinn und Cail und den Riesen der Suche. Atiaran. Memla. Sunder und Hollian. Der armen Lena und ihrer zum Untergang verurteilten Tochter Elena, die er und die Toten geopfert hatten. Linden Avery. Covenant wusste, dass Linden sich wegen vieler Dinge Vorwürfe machte. Aber damit hatte sie unrecht. Er wollte sich die Chance verdienen, ihr das zu sagen. Als er aufgegessen hatte, stand er steifbeinig auf. Nach zwei Tagen im
Sattel schienen Rücken und Beine nur noch aus schmerzenden Muskelknoten zu bestehen. Aber er war für diese Art Schmerz dankbar, der gewöhnlich und körperlich war, seiner Gefühllosigkeit entgegenwirkte. Seine Lepra war nicht die ganze Wahrheit. Solange er fühlen und sich sorgen und Widerstand leisten konnte, würde er mehr sein als die Summe seiner Schmerzen. Nach kurzem Zögern bückte er sich, um die Bänder von Aneles Kittel aufzuheben, in den er Loriks Krill eingewickelt hatte. Sobald der Dolch mit mehreren Stofflagen umhüllt war, packte er den Griff mit seiner Halbhand. In Andelain wäre es ihm nicht gelungen, die Klinge ohne Hilfe herauszuziehen - und dort hatte sie nicht in Stein, sondern nur in Holz gesteckt. Vielleicht würde ihm hier einer der Gedemütigten helfen müssen. Aber erst wollte er sehen, wozu er selbst imstande war. Diesmal jedoch bewegte er die Klinge etwas vor und zurück, bis sie ausreichend gelockert war. Der Krill schnitt Stein mit unheimlicher Leichtigkeit. Gleich beim ersten Versuch konnte Covenant die Klinge herausziehen. »Sieh mal an«, murmelte er vor sich hin. »Das hätte ich nicht erwartet.« Er betrachtete kurz den leuchtenden Schmuckstein, als versuchte er, Joan in ihm zu sehen; ihre speziellen Qualen in ihm zu entdecken. Außer dem Licht und der Hitze der Teilhabe des seltenen Steins an wilder Magie war jedoch nichts wahrzunehmen. Mit einem Schulterzucken wickelte er den Krill weiter ein, bis der ganze Dolch umhüllt und geschützt und sein Leuchten verborgen war. Dann steckte er das Bündel wieder in den Hosenbund seiner Jeans. Im Halbdunkel des beginnenden Tages, in dem der Sonnenaufgang erst zu ahnen war, ließ er sich von Branl und Clyme aus der Höhle begleiten. Unbeirrbar und trittsicher führten die Gedemütigten ihn die Spalte hinauf, bewahrten ihn auf der Terrasse vor Schwindel und wachten über ihn, als er den letzten Anstieg zum Grasland über der Felsklippe bewältigte. Dort standen die Pferde bereit. Mhornym und Naybahn begrüßten ihre Reiter lebhaft und leicht beklommen wiehernd. Das Schlachtross rollte die Augen und biss auf seine Trense, als hinderte nur die Autorität der Ranyhyn es daran, Covenant über den Haufen zu rennen und zu
zertrampeln. Covenant konnte erkennen, dass sein Pferd weiterhin schwach war, von Überanstrengung ausgelaugt, denn die Kreaturen des Lauerers hatten ihm keine Kraft gegeben. Trotzdem war seine störrische Wesensart zurückgekehrt. … wir haben dafür gesorgt, dass es sich daran erinnert, was es ist. Solange es lebt… Covenant konnte nur hoffen, dass es lange genug leben würde. Das Tier ließ widerwillig zu, dass Covenant sich in den Sattel schwang. Dann nickte er den Gedemütigten zu. »Meinetwegen kann es losgehen. Ich weiß nicht, wie wir es schaffen wollen, aber je früher wir uns daranmachen, desto besser.« Die Schlange rückte heran. Auf irgendeiner intuitiven Ebene fühlte er sie näher kommen. Oder vielleicht empfand er einfach nur Angst. Welten werden nicht in Augenblicken erschaffen. Ebenso wenig lässt sich ihre Erschaffung augenblicklich rückgängig machen. Klar, dachte er missmutig. Wunderbar. Aber was bedeutet das? Wie viele Tage würde die Schlange sich noch von Elohim ernähren und sie verschlingen, um für die Suche nach Erdblut Kraft zu sammeln? Er wünschte sich sehnlichst, er könnte sich daran erinnern … Als Branl und Clyme mit ihren Ranyhyn wendeten und auf dem leicht geneigten Hang unter dem Rand der Klippe nach Süden ritten, musste Covenant den Impuls unterdrücken, sein Pferd zum Galopp anzutreiben. Je nach Berechnungsweise lebte er seit ungefähr sieben Jahrtausenden und jetzt sollte er keine Zeit mehr haben? Mhornym und Naybahn verfielen in einen leichten Trab, den das Streitross durchhalten konnte, ohne sich vorzeitig zu verausgaben. Trotz seiner Ungeduld versuchte Covenant sich einzureden, zwanzig Meilen seien für die Ranyhyn eine Kleinigkeit - und für sein Pferd möglich. Doch noch immer lasteten Zweifel auf ihm, und die Gangart der Pferde erschien ihm träge und bleischwer. Aus Osten zog allmählich der Tag herauf. Als der Himmel heller wurde, nahm er wieder seinen aschgrauen Farbton an. In dem grauen Dunst waren für kurze Zeit einige willkommene Streifen Blau zu sehen, aber sie schlossen sich bald wieder, und das gesamte Himmelszelt glich einem Deckel aus gehämmertem Eisen, uneben und ohne Tiefe.
»Das sind üble Vorbedeutungen, Ur-Lord«, bemerkte Clyme unnötigerweise. »Die natürlichen Abläufe von Himmel, Wind und Wetter sind unterbrochen. Das lässt darauf schließen, dass gewaltsame Umwälzungen heraufziehen.« Statt zu antworten grub Covenant in seinen Taschen nach den A/iartf/ia-Samen. Während seine Begleiter und er ritten, streute er immer wieder zwei bis drei Samen aus, besäte das Grasland wie in einer Geste des Trotzes mit Schatzbeeren. Und bei jedem Wurf forderte er den Verächter heraus: Nur zu! Aber ich warne dich. Was auch passiert, du wirst es nicht mögen. Dieses Gebiet zwischen den Zerspellten Hügeln und dem Meer der Sonnengeburt war über viele Meilen hinweg eine Prärie, die nur von einzelnen Spalten in der Klippe, kahlen Erosionsrinnen und weiten Flächen, wo zerklüftetes Gestein zutage trat, unterbrochen wurde. Futter für die Pferde gab es reichlich, Wasser hingegen nicht. Am späten Vormittag kam das Gewirr aus zerklüfteten Hügeln merklich näher. Das Gras wurde spärlicher, weil es weniger fruchtbaren Boden gab. Die Geländeformationen drängten die Reiter immer näher an den Klippenrand. Irgendeine Laune der Urographie wollte es jedoch, dass Süßwasserquellen jetzt leichter zu finden waren. Dieselben Hebungskräfte, denen die Kämme und Grate der Zerspellten Hügel ihr Entstehen verdankten, hatten den Untergrund mit Rissen durchzogen. Diese Einschnitte und Spalten waren die alten Schlupfwinkel der Jheherrin gewesen. Dieselben Risse hatten den Heeren des Verächters als Marschrouten unter den Hügeln gedient. Und sie gewährten Zugang zu Wasservorräten, die so alt wie die Welt waren. Aus Gruben von der Größe abgespeckter Wale, kaum erkennbaren hauchdünnen Rissen oder primitiven Becken, die so unerwartet kamen wie Schalen mit Salböl, sprudelten Quellen. So konnten die Ranyhyn und das Streitross und ihre Reiter wenigstens ihren Durst löschen. Dann trabten die Pferde weiter, auf der Suche nach der besten Route durch die zusehends mit Hindernissen gespickte Landschaft. Covenant vermutete, sie schwenkten nach Südosten ein, um das lange Vorgebirge zu erreichen, an dessen Spitze einst Lord Fouls Hort gestanden hatte. Er hatte noch immer keine Ahnung, was er tun würde,
wenn oder falls er Joan aufspürte … Etwa ab Mittag waren die Pferde gezwungen, ihr Tempo zu drosseln. Es gab kein freies Gelände mehr. Die Hügel reichten dichter an die Klippe heran, und der schmaler werdende verbleibende Streifen war mit Gesteinsschutt übersät und von Felsen blockiert oder von Spalten und Erosionsrinnen durchzogen, die sich immer tiefer ins Innere der letzten Bastion des Unterlands gegen die See gruben. Die Ranyhyn wären vermutlich trittsicher genug gewesen, um selbst hier zu galoppieren, doch Covenants Pferd ganz sicher nicht. Und das Streitross wurde wieder schwächer. Es hatte seine über Nacht angesammelte Kraft längst verausgabt. Jetzt hielt es nur noch seine Aggressivität auf den Beinen. Wenn es verendete, würde es eingehen, weil es sein Herz überanstrengt hatte. Das war das Danaergeschenk der Feroce, vorteilhaft für Covenant, aber tödlich für das arme Pferd. Die Unschuldigen, sagte er sich verbittert, sterben immer als Erste. In jedem Kampf gegen den Verächter waren sie die ersten Opfer. Trotzdem ritt er weiter, als kennte er kein Erbarmen. Joan besaß nichts mehr außer der reinen Extremität ihres Schmerzes. Wollte er ihr gegenübertreten und mit dem Leben davonkommen, würde er zu ebenso extremen Mitteln greifen müssen. Dann drängten riesige Granitblöcke die Reiter bis auf Steinwurfweite an den Rand der letzten Klippe, und Covenant roch Salzwasser; sah das Meer der Sonnengeburt. Das Meer war so grau wie der Himmel: eine bleiern wogende See, die sich gegen den Fuß der Klippe warf, als wollte sie die Befestigung des Unterlands mit Gewalt schleifen. Kein Wind erzeugte diese Brandung; die Luft stand sogar unnatürlich still, als hielte der Himmel den Atem an. Trotzdem war die Brandung ungleichmäßig und wurde von Unterwasserfelsen und unsichtbaren Riffen mal hierhin, mal dorthin abgelenkt. Gegeneinanderprallende Wogenkämme schäumten aufgewühlt und versprühten Gischt wie salzige Ausrufezeichen. Und wohin Covenant auch sah, war das Meer mit Spritzern und kleinen Ausbrüchen gepunktet, als gingen dort Hagelschauer nieder. Er hörte eine fast unterschwellige Vibration, ein stummes massives Pochen wie von dem langsamen Puls des unter dem Meeresgrund liegenden Herzens
der See. Oder wie der schwere Schritt eines unentrinnbaren Verhängnisses. Eine Vorahnung von Schwindel erfasste Covenant und setzte seinem Magen zu. Der unregelmäßig geformte Klippenrand ragte noch zwischen ihm und einem Sturz auf, sodass er vorläufig im Gleichgewicht blieb. Die Zeit verstrich langsam, und anfangs versuchten die Pferde noch einen holperigen Trab. Doch dann zwang das mit Hindernissen übersäte Gelände sie dazu, im Schritt zu gehen. Felsblöcke mussten mühsam umgangen werden. Und mit jedem Schritt näherten sie sich dem Felsabbruch unfreiwillig weiter an. Covenant bezweifelte, dass sein Pferd noch lange durchhalten würde. Er selbst vermutlich auch nicht. Sein lange zurückliegender Treck zu Fouls Hort hatte ihm gezeigt, dass diese Hügel ein gefährliches Hindernis waren. Und sie reichten vermutlich bis an die Felsklippe heran. Jenseits der Hügel lag allerdings eine leichtere Route. Am Fuß des Vorgebirges mit dem Ridjeck Thome würden die Zerspellten Hügel von erkalteter Lava abgeschnitten, wo einst der Glutaschenkamm gebrodelt und Lavaströme zu Tal geschickt hatte. Dort hätte Covenant marschieren können. Er hatte es schon einmal getan. Hier dagegen … Es war bereits später Nachmittag und unter den hoch aufragenden Hügeln würde es frühzeitig dunkel werden. Covenant versuchte sich einzureden, dass seine Begleiter und er gut vorangekommen seien. Jedenfalls hatte sein Pferd länger als erwartet durchgehalten. Aber als er die Gedemütigten fragte, erfuhr er, dass der aus Eruptionsgestein bestehende Glutaschekamm noch zwei Meilen entfernt war. Unterdessen begann sein Pferd zu stolpern, weil es zu erschöpft war, um die Hufe weit genug von dem unebenen Boden zu heben. Und der Abstand zwischen den steil aufragenden Hügeln und dem Rand der Felsklippe war gefährlich zusammengeschrumpft. Zu Fuß hätte Covenant ihn mit vier großen Schritten überqueren können. Aus Sicherheitsgründen musste Branl auf einer Seite vor ihm und Clyme auf der anderen hinter ihm reiten. An diesen Küstenstrich konnte er sich nicht erinnern. Anscheinend war er noch nie hier gewesen. Die Jheherrin hatten ihn mit Schaumfolger aus einer anderen Richtung unter den Zerspellten Hügeln herangeführt.
Covenant und sein damals letzter Freund, der Letzte der Entwurzelten, hatten den größten Teil dieses schwierigen Labyrinths vermieden und waren erst kurz vor dem Glutaschenkamm aus dem Tunnelsystem der Weichen wieder ans Tageslicht gekommen. Andere Dinge konnte er jedoch nicht vergessen … Schaumfolger, der ihn unter größten Schmerzen über glühende Lava schleppte. Schaumfolger, der auf grausige Weise in der glutflüssigen Masse versank. Schaumfolger, der eben rechtzeitig aus seiner Caamora auftauchte, um Covenant den Weg in Fouls Hort zu bahnen. Schaumfolger, der hemmungslos fröhlich über Lord Fouls Bösartigkeit lachte. Ah, Gott, die Riesen. Jeder Einzelne von ihnen, den er gekannt hatte, ein Wunder: Pechnase und die Erste der Suche, Grimme Blankehans und Ankertau Seeträumer, die Eisenhand und ihre Schwertmainnir - sie alle waren lebende Beispiele für den Großmut und die Tapferkeit, die das Land und die Erde kostbar machten. Zu kostbar, um aufgegeben zu werden. Freude liegt in den Ohren, die hören … Jede Welt, die solche Wesen hervorbrachte, verdiente zu überleben. Jede Welt, die Menschen wie Berek Halbhand und Hoch-Lord Mhoram, Sunder und Hollian genährt hatte. Jede Welt, die so reich an Wundern war, dass sie das dunkle Wyrd der Urbösen umwandeln konnte. Diese Welt verdiente es weiterzuexistieren. Covenant schrak aus Erinnerungen und zwecklosen Selbstvorwürfen auf, als die Pferde haltmachten. Sie waren in eine Sackgasse geraten. Unmittelbar vor ihnen wurde der Weg durch einen Felsvorsprung blockiert, der höher war als zwei Riesen, von denen einer auf den Schultern des anderen stand. Er reichte von der Steilwand des Hügels bis zum Felsabbruch der Klippe dicht neben Covenant. Weil die im Westen stehende Sonne sie hier nicht mehr erreichte, waren Covenant und die Gedemütigten in düstere Schatten gehüllt. Aber jenseits der Barriere zogen sich zerklüftete Klippen und Felsspitzen in schiefer Linie aus Südosten ins schwache Licht der Spätnachmittagssonne hinaus. Sie ragten höher auf, als er sie in Erinnerung hatte. An ihrem äußersten Ende sah er eben noch die Bruchkante, wo bei der Zerstörung von Fouls Hort die Spitze der Landzunge abgebrochen war, sodass unzählige Tonnen Granit und
Obsidian und Malachit in die unersättlich gierige See gestürzt waren. Und tief unter ihm … Ein Schock wie von einem Stromschlag lief durch seinen Körper. Blutige Verdammnis! Tief unter ihm, nur einen Fehltritt und einen Sturz ins Leere entfernt, donnerte keine Brandung mehr an den Fuß der Klippe. Als er sich krampfhaft ans Sattelhorn geklammert weit nach links beugte, sah er keine Brecher mehr. Der gesamte Ozean schien verschwunden zu sein, hatte glitschige Felsen, zersplitterte Menhire und scharfkantige Felsblöcke wie das bisher unter Wasser unsichtbare Geröll alter Landrutsche zurückgelassen. Zwischen ihnen gliederten Riffe wie die Rückgrate von Krüppeln die weite Fläche auf. Graues Wasser bildete Priele, die unter dem langsamen Pochen geheimnisvoller Herzschläge bebten, als wüssten sogar Salz und die Kleinlebewesen des Meeres, was Angst bedeutete. Auch Klumpen von Kloakenschlamm, der nach Tod und Fäulnis stank, schienen angstvoll zu beben. Über das Durcheinander aus Felsen und Riffen waren lange Stränge von Seetang gebreitet, als ginge er bereits ein. Aber als Covenant den Kopf hob, seinen Blick in die Ferne richtete, sah er das Meer auf dem Rückzug. Etwa eine halbe Meile vor der Klippe brachen sich die Wogen weiter auf dem Meeresboden, aber sie ebbten dramatisch ab. Bei jedem Zyklus wichen sie weiter zurück, als würden sie abgesaugt und von den Tiefen der Erde verschlungen. Aus der Ferne nur schwach hörbar klangen sie verwundbar, erbärmlich wie eine Wehklage. Covenant verstand instinktiv, was das bedeutete. Irgendwo in der Ferne hatte ein Seebeben begonnen, einen Tsunami auszulösen. Die Reiter hielten auf einem kleinen Plateau, das wie eine Lichtung zwischen dem unpassierbaren Hügel und dem Felsvorsprung lag, der ihnen den Weg versperrte. Dort stand das Schlachtross mit gespreizten Beinen und keuchte um sein Leben. Vor und hinter ihm schnaubten Mhornym und Naybahn unruhig, warfen den Kopf hoch und scharrten mit den Hufen. Hatten sie den falschen Weg zu ihrem Ziel gewählt? War das überhaupt möglich?
Covenant, der sich vergeblich bemühte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, fragte scharf: »Geht es hier nicht weiter? Das kann nicht sein. Die Ranyhyn verlaufen sich nie.« »Ur-Lord, das tun sie nicht«, bestätigte Branl gelassen. »Unser Weg liegt hier.« Er deutete auf die Felswand hinter Covenant. Covenant drehte sich im Sattel um, folgte Branls Zeigefinger mit den Augen. Der Meister hatte recht. Ungefähr ein Dutzend Schritte hinter Clyme und Mhornym war in der Felswand ein Spalt zu sehen: ein Weg ins Labyrinth der Zerspellten Hügel. Die Ranyhyn wussten, dass er dort lag, davon war Covenant überzeugt. Sie fanden sich sogar in Zäsuren zurecht. Trotzdem waren sie an dem Spalt vorbeigegangen. Das mussten sie absichtlich getan haben. Obwohl er die Antwort fürchtete, sagte er: »Das verstehe ich nicht. Warum machen wir hier halt?« Sein Pferd war erledigt, aber er konnte noch gehen. »Ur-Lord«, antwortete Clyme ausdruckslos, »Mhornym und Naybahn haben beschlossen, hier anzuhalten. Wir sind keine Ramen. Wir können die Gedanken der Ranyhyn nicht lesen, wir stellen nur Vermutungen an. Vielleicht sind wir in der Nähe unseres Ziels angelangt. Vielleicht aber auch nicht. Entdecken können wir weder deine ehemalige Gefährtin, die wir nicht kennen, noch den schlimmen Turiya Herem, der uns gut vertraut ist. Sie befinden sich außer Reichweite unserer Sinne. Aber wir wissen nicht, wie weit der Spürsinn des Wüterichs reicht. Vielleicht nimmt der Diener des Verderbers unsere Annäherung wahr. Vielleicht tut das auch deine frühere Gefährtin. Außerdem …« Clyme schien kurz zu zögern. »… glauben wir, den Gebrauch von wilder Magie gespürt zu haben. In diesem Punkt sind wir uns nicht völlig sicher. Die Entfernung war noch zu groß. Trotzdem suggeriert das, dass wir uns deiner ehemaligen Gefährtin nähern. Aus diesem Grund vermuten wir, dass Turiya Herem und sein Opfer tatsächlich von uns …« Der Gedemütigte nickte zu Covenant hinüber. »… oder Hoch-Lord Loriks Krill wissen. Daher vermuten wir, Ur-Lord, dass die Ranyhyn einen Hinterhalt fürchten. Zwischen den Zerspellten Hügel müssten wir jeden Augenblick darauf gefasst sein, von Skest überfallen zu werden.«
»Aber hier sitzen wir in der Falle«, protestierte Covenant. Kamen aus dieser Felsspalte Skest geströmt, würden er und die Gedemütigten und die Pferde eine Felsenbarrikade hinter sich haben. Sie würden nirgendwohin flüchten können - und nicht genug Platz für eine wirkungsvolle Verteidigung haben. »Ur-Lord«, sagte Clyme, »ich wiederhole, dass wir nur Vermutungen anstellen. Wir glauben, dass die Ranyhyn vielleicht auf die Feroce warten, die ihren Bündnispflichten nachkommen sollen.« Sein nüchterner Tonfall schien anzudeuten, dass er das Wort der Kreaturen des Lauerers für wertlos hielt. »Höllenfeuer!« Covenant versuchte nicht, seine Frustration zu verbergen. »Was sollen wir inzwischen tun? Einfach hier herumstehen? Mein Pferd bricht bestimmt bald unter mir zusammen. Mich wundert, dass es nicht längst tot ist. Ich bin im Kampf gegen die Skest wertlos.« Selbst mit Loriks Dolch konnte er es immer nur mit einem Angreifer gleichzeitig aufnehmen. Und wenn er auch nur einen Spritzer Säure abbekam … »Du hast die Feroce für aufrichtig gehalten, Ur-Lord«, warf Branl ein. »Du hättest dich nicht mit ihnen verbünden müssen. Du hast dich entschlossen, auf dein Gefühl zu vertrauen und die weiterbestehende Bösartigkeit des Lauerers zu ignorieren.« Das weiß ich, dachte Covenant. Ich weiß, dass das ein Risiko war. Aber bevor er sich zu einer Antwort aufraffen konnte, setzte Branl sich ruckartig auf. »Skest rücken heran«, verkündete der Meister. »Sie sind schon nahe.« Im nächsten Augenblick ergänzte er: »Für sie scheint es keinen direkten Weg zu geben. Sie folgen dem Diktat des Labyrinths. Seine Kompliziertheit hält sie noch auf. Trotzdem kommen sie näher.« Verdammt! Covenant drehte sich im Sattel um, sah an Clyme vorbei und versuchte irgendein Anzeichen für das Kommen der Feroce zu erkennen. Aber die Sinne der Gedemütigten hätten die Kreaturen des Lauerers längst entdeckt, bevor Covenant sie hätte sehen können. Er studierte kurz den Hügel neben ihnen, aber auch dort gab es keine Hoffnung. Die Steilwand war einfach zu glatt. Blieb ihnen genügend Zeit, hätten Branl und Clyme sie vielleicht ersteigen können, er konnte das nicht.
Innerlich zusammenzuckend sah er über den Rand der Felsklippe und versuchte, sich einen Abstieg vorzustellen. Ließen sie die Ranyhyn hier zurück, blieb ihnen vielleicht Zeit zur Flucht. Dann befiel ihn Schwindel, und er schnappte nach Luft wie nach einem Magenhaken. Er sah rasch weg. »Sagt doch was!«, forderte er seine Begleiter keuchend auf. »Sagt mir, was ich tun soll. Sagt mir, was wir tun können.« Die beiden waren Haruchai. Seiner Erfahrung nach hatte kein Haruchai ihn jemals im Stich gelassen. Nicht einmal, als Bannor sich geweigert hatte, ihn zu Fouls Hort zu begleiten. Steif aufgerichtet begann Clyme: »Am besten vertrauen wir auf…« Vielleicht meinte er die Ranyhyn oder die Feroce oder Covenant selbst, aber Covenant hörte nichts mehr. Durch den Stoff, in den der Krill gewickelt war, fühlte er eine plötzliche Hitzewelle. Joan! Er fuhr unwillkürlich zusammen. Sein ganzer Körper versuchte, sich von dem Dolch wegzuschlängeln. Im nächsten Augenblick merkte er jedoch, dass die Hitzewelle weniger stark als erwartet war. Teufel! War sie nur unsicher, wo ihr Ziel sich befand? War sie zu elend, um ihre Kräfte zu fokussieren, wenn seine Hand nicht an dem Krill lag? Oder war sie wirklich schwächer geworden …? Die eigenen Fragen lenkten ihn ab. Sekunden vergingen, bevor er seine empfindlichen Hautpartien wie von Ameisen kribbeln spürte. Insekten, die beißen und stechen konnten, krochen über seine Kopfhaut, unter seiner Kleidung, in seinen Stiefeln. Ohne weitere Vorwarnung erschien eine Zäsur über und hinter dem Felsvorsprung. Sie war eher unbedeutend, ein kaum fünf Schritte breiter Schnipsel von wilder Magie und Chaos. Und sie hatte Covenant und seine Begleiter verfehlt. Daraufhin schlingerte sie sofort weiter und fräste eine Schneise durch Fels und Zeit ins Labyrinth der Zerspellten Hügel. Trotzdem wirkte sie auf die Substanz der Welt so zerstörerisch wie ein Hurrikan. Jahrhunderte oder Jahrtausende würden verwirbelt und in Stücke gerissen, bis der Fels von der sofort einsetzenden Migräne seines langsamen Lebens gesprengt wurde. Scherben und Splitter flogen nach allen Seiten wie Granatsplitter davon, messerscharf und gefährlich wie
Kugeln. Vielleicht trafen sie Covenant, durchbohrten ihn, zerfetzten ihn. Vielleicht töteten sie die Gedemütigten und die Ranyhyn und das Streitross. Aber er spürte sie nicht. Sobald er in das wüste Kaleidoskop der Zäsur blickte, verlor er innerlich den Halt und glitt… O Gott! Nicht jetzt! Nicht jetzt! … in die Trümmerlandschaft seiner Erinnerungen. Danach stand er, wo der Ridjeck Thome einst die Spitze der Landzunge beherrscht hatte, und beobachtete, wie die Zeit rückwärtslief und siebentausend Jahre Ruin Stück für Stück wieder ungeschehen machte. Zeitalter wurden in Augenblicken ausradiert. Augenblicke wurden zu Zeitaltern. Anfangs sah er nur ein schwerfälliges Anwachsen, als der Schuttberg unter dem unerbittlichen Druck des Meeres die eigene Erosion rückgängig machte. Sand verklumpte zu Steinen. Steine verloren ihre Glätte, schärften ihre Kanten, um sie herum schmolzen Riffe weg. Aber Erinnerungen waren auch schnell, flink wie Gedanken: Sie konnten schneller werden als seine Fähigkeit, sie zu verstehen. Der Trümmerhaufen schwoll an. Gleichzeitig zog seine Masse sich zusammen, während Felsblöcke so groß wie Häuser, Villen, Tempel sich aufeinandertürmten. Eine gewaltige Masse Salzwasser sank wie eine rückwärts verlaufende Eruption in sich zusammen, sodass Felsblöcke ihre Köpfe und Schultern aus der ablaufenden Flut steckten. Erst nur einzeln, dann in gewaltigem Ansturm sprangen die Steine hoch, um wieder ihre angestammten Plätze am Ende der Landzunge einzunehmen. In einer Realität, die nicht länger seine war, beobachtete Covenant, wie sein Pferd scheute. Panische Angst zehrte seine letzten Kraftreserven auf. Er spürte, wie es sich mit ihm im Sattel in den Abgrund stürzen wollte. Aber er konnte nicht reagieren. Er war kaum imstande, sich damit zu befassen. Sein Verstand lebte anderswo. Statt um sein Leben zu fürchten, verzweifelt an den Zügeln zu reißen oder um Hilfe zu rufen, sah er zu, wie um ihn herum erst die Spitze der Landzunge und dann Fouls Hort neu entstanden. Binnen weniger Augenblicke war der weitläufige Prachtbau des Verächters wieder vollständig, riesig und makellos und leer; in allen Einzelheiten untadelig und wertlos bis auf die gezackten Felsblöcke, die
Lord Fouls Thron bildeten. Covenant stand im Thronsaal des Ridjeck Thome. Der Verächter war dort. Vor ihm lag die bedrohliche Masse des smaragdgrünen Weltübelsteins. Neben dem Stein kniete Covenants später ermordetes Ich demütig und machtlos. In seiner Nähe erduldete Schaumfolger seine eigene Hilflosigkeit, den eigenen Todeskampf. Lord Foul war nur ein dunkler Schatten in der Luft, ein nach Rosenöl duftender Schatten. Aber seine Augen waren gierig wie Reißzähne. Sie schienen sich in die Seele des Knienden verbissen zu haben, um sich nichts von seiner Verzweiflung entgehen zu lassen. Hebe dich hinweg, Gespenst, sagte der Verächter in Covenants Kopf. Du hast hier nichts zu suchen. Dich gibt es gar nicht. Deine Zeit wird niemals kommen. Diese Stimme verstieß gegen Zeit und Erinnerung. Sie kam aus einer anderen Existenzebene, einer durch die Zäsur verursachten kurzen Störung. Damals hatte Lord Foul nicht gewusst, dass Covenants Geist ihn jetzt von seinem erinnerten Platz im Boden der Zeit beobachtete. Der Verächter hatte geglaubt, triumphieren zu können. Trotzdem verbannte dieser scharfe Befehl Covenant. Fouls Hort verschwand mitsamt dem Thronsaal. Er fand sich nun in der Verlorenen Tiefe wieder, weit unten in der Vergangenheit der Erde, wo er traurig die ersten Regungen von Kummer und Entsetzen beobachtete, als Sie, die nicht genannt werden darf, erkannte, dass sie überlistet und in eine Falle gelockt worden war. Dieses Entsetzen und diese Trauer würden eines Tages das tektonische Beben auslösen, das die Trennung des Oberlands vom Unterland brachte. Es würde die Spalten im Gravin Threndor zurücklassen, durch die der Seelentrostfluss sich in die Tiefen des Berges ergießen konnte. Aber so weit war es noch nicht. Vorläufig konnte Covenant nur kummervoll Zeuge sein, wie Sie, die nicht genannt werden darf, gegen ihren Verräter wütete. Das war eine in allen Einzelheiten verletzende Erinnerung voller Schmerz und Vorauswissen. Covenant empfand zugleich auch Erleichterung. Lord Foul nahm keinen Einfluss auf die Integrität dieses Bruchstücks seiner Erinnerungen. Vielleicht konnte er das nicht. Als das Schlachtross sich über den Rand der Klippe stürzte, sah
Covenant jede Spanne des grausamen Sturzes unter sich und spürte den kommenden Tod in seiner ganzen Verlockung. Er wollte die Augen schließen, aber sein Körper besaß keinen eigenen Willen, und sein Verstand war abwesend. Ein Teil seines Ichs deutete den Aufprall richtig, mit dem Branl auf der Kruppe des Streitrosses landete. Die Hände des Meisters umfassten Covenants Schultern mit eisenhartem Griff. Im selben Augenblick warf Branl sich energisch rückwärts, wobei er Covenant mitriss. Endlose Augenblicke lang erlebte Covenant ein flackerndes Hell-Dunkel aus bruchstückhaften Szenen, vergessenen Ereignissen. Er sah Brinn mit dem Wächter des Einholzbaums kämpfen und beobachtete, wie Kasreyn von dem Wirbel ein unheimliches Schwert für den Kampf gegen die Sandgorgonen schmiedete, bis er das Lehrenwissen erlangte und die Materialien fand, um das Verderben der Sandgorgonen zu perfektionieren. Hilflos und stolz verfolgte Covenant Lindens Kampf um ihr Leben - und das Leben Jeremiahs - unter dem Melenkurion Himmelswehr. Sein Pferd stürzte; alles ging viel zu schnell. Nicht einmal Branls übermenschliche Kraft reichte aus, um sie den Rand der Felsklippe wieder erreichen zu lassen. Aber Clyme war bereit. Während er ausgestreckt auf der Klippe lag, schoss seine Rechte nach unten und bekam Branls Lederwams am Rücken zu fassen. Das Hirschleder hätte reißen müssen. Das tat es jedoch nicht. Im nächsten Augenblick nahm Branl eine Hand von Covenants Schulter, um Clymes Unterarm zu packen. Gemeinsam hievten die beiden Covenant an den Rand der Klippe zurück und zerrten ihn in Sicherheit. Nun lag er mit ausgestreckten Armen und Beinen kraftlos auf dem Felsband. Zwischen Rissen und Spalten umherirrend, versuchte Covenant ein Erinnerungsfragment zu finden, das ihn retten konnte. In bedrohlichem Halbdunkel strömten unheimlich leuchtende Skest aus der Spalte. Er sah, wie der Theomach verhinderte, dass Linden und der Croyel von Roger in die Zeit der Ankunft von Dame-Ion Riesenfreund im Trümmersteingau versetzt wurden. Er hörte, wie die Elohim sich mit ihrer Nichteinmischung brüsteten. Mindestens zwei Dutzend Skest quollen aus
dem Labyrinth. Hinter ihnen tauchten weitere auf. Er sah Joan von Blitzen angekohlt auf der Landzunge von Fouls Hort erscheinen. Er beobachtete, wie der Wüterich Turiya sich auf sie, in sie stürzte; beobachtete auch, wie der Wüterich sie zwang, Roger, Linden und Jeremiah heraufzubeschwören. Weil sie in ihrem früheren Leben tot waren, würden sie dieser Realität nie entkommen können. Clyme verließ sofort Branl und Covenant. Er nahm ein paar Schritte Anlauf, dann stürzte er sich auf den Felsvorsprung, der den Weg absperrte. Irgendwie schaffte er es, ihn zu erklettern. Als er oben anlangte, setzte er sich rittlings auf die schmale Kante. Branl hob Covenant auf, warf ihn zu Clyme hinauf. Der Gedemütigte bekam einen von Covenants Armen zu fassen, hielt ihn eisern umklammert und renkte ihm dabei fast den Arm aus. Während er dafür sorgte, dass Covenant sicher neben ihm saß, kam Branl ihnen nachgeklettert. Mhornym und Naybahn standen unverteidigt den korrosiven Skest gegenüber. Aus einer Platzwunde auf Covenants Stirn pulsierte Blut. Er erinnerte sich daran, sich den Kopf an einer Tischkante angeschlagen zu haben. Das Blut lief ihm über die Wangen und tropfte vom Unterkiefer. Branl hatte einen nicht sehr tiefen Schnitt am Hals, während Clyme mit einigen Schürfwunden davongekommen war. Der Felsvorsprung musste sie vor der vollen Gewalt der Zäsur geschützt haben. Covenant mühte sich ab, eine Erinnerung zu finden, die Bezug zu ihrer jetzigen Notlage hatte. Stattdessen geriet er in Joans unmittelbare Vergangenheit - vielleicht Augenblicke vor seiner Wiedererweckung. Sie sah schlechter aus, als er sie jemals zuvor gesehen hatte: eine Wahnsinnige, ungepflegt und zerlumpt, unterernährt und mit Zahnlücken, nicht länger imstande, ihren Blick zu fokussieren; so schwach und gebrechlich, dass eine Horde von Säurewesen und viel von Turiya Herems Wildheit nötig war, um sie am Leben zu erhalten. Aus irgendeinem Grund kletterte sie zu den Granittrümmern der mit Fouls Hort abgebrochenen Landzunge hinunter. In mitleiderregenden kleinen Etappen, die schmerzlich zu beobachten waren, stieg Joan zum Meer der Sonnengeburt hinunter. Hatte sie Angst? Versuchte sie, der eigenen Zukunft zu entkommen? Glaubte sie etwa,
Turiya Herem werde zulassen, dass sie dort unten den Ertrinkungstod suchte? Oder suchte sie älteres Gestein, fundamentaleren Fels, den sie dann zertrümmern konnte, um größere Zäsuren hervorzurufen? Covenant wandte sich mit einer resignierten Grimasse ab, geriet dabei in die nächste Spalte und fand sich in Andelain wieder. Er stand neben dem Krill, neben dem verwitterten Baumstumpf, der an Caer-Caverals Hinscheiden erinnerte, gewissermaßen in einem Bild von Andelain, einem aus Erinnerungen und Symbolismus erschaffenen Faksimile. Und er war nicht allein. Berek Halbhand, Herz der Heimat und Lord-Zeuger, war bei ihm. Lorik Übelzwinger, Erschaffer des Krill. Salzherz Schaumfolger, der viel gelacht hatte, und Ankertau Seeträumer, der das nicht gekonnt hatte. Hoch-Lord Mhoram, Sohn Variols, der die spätere Generation von Lords vertrat. Cail von den Haruchai. Im Halbschatten Jerrick aus Vidik Amar, der seine Magien mit a-Jeroth geteilt und dann entsetzt zugesehen hatte, wie a-Jeroth die Quellvisks geschaffen hatte. Der Theomach, einer der Insequenten, nach seiner Niederlage gegen Brinn in Leichengewändern. Covenant erinnerte sich an diese Szene. Die Geister und er hatten sich versammelt, um zu versuchen, sich irgendeine Form von Erlösung auszudenken oder zu erfinden. Alle hatten zu ihm aufgesehen. Seine Seele war als Einzige nicht den Zwängen der Zeit unterworfen. An ihre Ratschläge konnte er sich jedoch nur bruchstückhaft erinnern. Er wusste nicht, warum die Skest noch zögerten. Aber das war ihm egal. Branl schüttelte ihn. »Ur-Lord, du musst zurückkommen! Bestimmt gibt es bald die nächste Zäsur. Davor können wir dich nicht beschützen. Und wir dürfen die Ranyhyn nicht diesem Tod ausliefern.« Der Verletzungen der Gedemütigten waren unbedeutend. Sie würden heilen. Covenants verwundeter Verstand dagegen nicht. Das ist gefährlich, hatte Berek gesagt. Unvorstellbar gefährlich. Es gilt, Gesetzesbrüche zu berücksichtigen. Und natürlich die Schlange. Ich weiß, sagte Covenant. Und Kevins Schmutz. Und Kastenessen. Und Cails Sohn. Eine Aufzählung, die schreckenerregender als jede Menge Skest war. Der Starrsinn meines Volkes, fügte Cail hinzu. Meine Leute sind stur und beharren auf ihren Fehlern. Dazu kommen die Skurj. Und die
Sandgorgonen. Kastenessen herrscht über die einen. Samadhi Sheol verführt die anderen. Mit trübem Blick und ohne zu blinzeln sah Covenant im Dämmerlicht im Schatten der Zerspellten Hügel kleine grüne Flammen leuchten. Die Feroce waren endlich gekommen. Mit sanft strahlendem Smaragdgrün in ihren Händen näherten sie sich im Rücken der Skest aus Nordwesten. Die Skest schienen abzuwarten, welche Art Bündnis sich letztlich ergeben werde. Aber glaubten sie, dass Covenant und der Lauerer der Sarangrave sich an ihre Versprechen halten würden? Oder rechneten sie damit, dass die entzweiten Abkömmlinge der Jheherrin - Skest und Feroce - sich wiedervereinigen würden? Glaubten sie, dass der Lauerer Covenant betrügen würde? Ich schließe den Riesen ein, der Verlorensohn und Langzorn genannt wird, hatte Schaumfolger gesagt. Er wird von einem Geas beherrscht, das auf einem verwerflichen Handel beruht, und kann sich nicht davon befreien. In den Tiefen des Gravin Threndor sind schreckliche Übel eingeschlossen, sagte Lorik. Auch der Weltübelstein muss bedacht werden. Branl oder Clyme hätte den Krill nehmen sollen. Sie konnten ihn gebrauchen. Aber vielleicht fürchteten sie, jede Hand, die den Griff von Loriks Dolch umfasste, könnte Joans Aufmerksamkeit erregen; eine weitere Zäsur auf sich ziehen. Eine Weißgoldträgerin ist von einem Wüterich besessen, sagte der Theomach. Allein das genügt, um endloses Unheil zu bewirken. Ich weiß, sagte Covenant noch mal. Diese ganze Diskussion hatte vor Jahren stattgefunden. Sie war nur eine Erinnerung. Aber sie hatte mehr Gewalt über ihn als jeder Aspekt seiner körperlichen Gegenwart. Er musste sich an sie erinnern. Vielleicht konnten ihn Teile davon retten. Manche Teile waren bereits unwiderruflich verloren. Mein alter Freund, sagte Hoch-Lord Mhoram. Mir fällt es zu, von deinem Sohn zu sprechen. Er besitzt nicht Esmers unergründliche Macht, aber ihm fehlen auch Esmers Selbstqualen. Er ist ein unergründlich dunkles Wesen, aus Verlassenheit geboren und von Bosheit genährt. Er wird viel tun, was Esmer nicht täte.
Außerdem gibt es, wie der Theomach gesagt hat, die Frau, die sich von dir abgewandt hat, die Mutter deines Sohns. Sie vertraut ihm, obwohl sie ihm nichts gegeben hat. Sie ist eine rechtmäßige Weißgoldträgerin, ja, und von Turiya Herem besessen. Sie wird sich dir entgegenstellen. Aber sie ist durch unsägliches Leid gebrochen. Ihr Bedürfnis nach Gnade und Barmherzigkeit ist absolut. Außerdem gibt es Linden Avery. Und ihr Kind, das sie aus eigenem Antrieb angenommen hat. Keiner von uns hier kann sagen, wer von den beiden größere Schmerzen leidet. Keiner von uns hier ist weise genug, um vorherzusagen, was sein Verlust bedeuten würde - oder wie wertvoll seine Rettung wäre. Bestimmt wissen wir nur, dass der Verächter ihn dringend für sich haben will. Wie die Brandung der nun ablaufenden See wogten die Feroce gegen die Skest heran. In Händen getragene grüne Flammen, trafen auf lebendes grünes Vitriol - ein weiteres Echo des Bösen, das dieser Stein verkörpert hatte. Ohne Laute oder Schlachtrufe, ohne äußerliche Anzeichen eines Kampfes machten sie sich daran, sich gegenseitig zu vernichten. Feroce flammten auf und wurden verzehrt. Skest schmolzen zu Lachen zusammen, die sich wie Infektionen ins Gestein fraßen. Lichtblitze und Flammenzungen erhellten die vorzeitige Abenddämmerung. Schaumfolger sah zu Seeträumer hinüber und sagte: Wir sollen Linden Avery, der Auserwählten, vertrauen. Damit sind wir zufrieden. Wir sind Riesen. Wir können nicht anders handeln. Ich habe das Geschenk ihrer Bekanntschaft erhalten, sagte der Theomach. Auch ich bin zufrieden. Sie wird die ganze Erde für ihren Sohn opfern, sagte Lorik. Und für dich, Zeitenherr, bin ich nicht zufrieden. Wir müssen einen anderen Weg suchen. Ich weiß, sagte Covenant erneut. Für Jeremiah würde sie alles tun. Auch für mich würde sie alles tun. Das ist das Risiko, das wir eingehen müssen. Du warst nie in ihrer Lage. Weißt du sicher, dass du für Kevin nicht ebenso viel getan hättest, wenn sich dir Gelegenheit dazu geboten hätte? Danach schwieg Lorik. Zwischen den Nachkommen der Jheherrin tobte ein unheimlicher
schweigender Kampf. Trotzdem starben bei jedem Zusammenprall Kreaturen des Lauerers oder des Wüterichs Turiya. Der Lauerer hielt sein Versprechen. Opferte seine Verehrer. Für Covenant. Covenant wusste nicht, wie viele Feroce gekommen waren und wie viele Skest noch in den Gängen des Labyrinths warteten. Aber er kannte die Säure der Diener Turiya Herems. Es würde nicht mehr lange dauern, bis alles Gestein zwischen dem Felsvorsprung, auf dem er saß, und den vorrückenden Feroce zerbröckelte. Löste der Rand der Klippe sich nicht ebenfalls auf, würde er unter dem Gewicht der Steinlawine abbrechen. Den Ranyhyn war ihr einziger Fluchtweg vielleicht schon abgeschnitten. Clyme und Branl würden vielleicht nicht mehr imstande sein, den in die Zerspellten Hügel führenden Einschnitt zu erreichen. Dies ist also mein Ratschlag, sagte Cail. Ich spreche als jemand, der ebenfalls einen Sohn hat, dessen Untaten ihn bekümmern. Wir müssen uns an das Urteil der Ranyhyn halten. Sie sind eine Verkörperung des Landes. Wir sind das nicht. Und sie sind von alters her mit dem Gesetz der Zeit vertraut. Solange wir uns einig sind, wird ihre Wahrnehmungsgabe uns gut führen. Die Zäsur hatte Gesteinsbrocken von dem Felsvorsprung herabprasseln lassen. Jetzt griff Branl hinter sich, fand scharfkantige Felsbrocken von dem Steinschlag. Damit bewarf er rasch und geschickt die Skest. Und das ist nicht alles, sagte Covenant. Ich habe Dinge gesehen, von denen manche von euch nichts wissen. Gewiss, die Haruchai kennen Lord Foul. Aber sie könnten euch überraschen. Sie könnten ihn überraschen. Wenn irgendjemand sie umstimmen kann, dann sind das die Ranyhyn. Oder die Ramen. Branls Treffsicherheit war unglaublich. Mit jedem Wurf ließ er einen oder mehrere Skest zerplatzen. Ihre lebenserhaltende Haut riss, sodass der flüssige Körperinhalt sich auf den Boden ergoss. Rauchendes Vitriol floss über dampfendes Gestein, zersetzte es und ließ es brüchig durchlöchert zurück. Die Ranyhyn folgten seinem Vorbild. Das Felsband zwischen ihnen und den Kämpfenden - Feroce gegen Skest - war mit Geröll und Schieferstücken bedeckt. Mhornym und Naybahn machten auf der Hinterhand kehrt und schleuderten ausschlagend Steinbrocken gegen die
Skest. Ihre Geschosse schlugen wie tödliche Raketen bei den Säurewesen ein und ließen mehrere von ihnen zerplatzen. Branl schien zu bemerken, dass er so das Abbrechen des Klippenrandes beschleunigte. Dann hätten die Ranyhyn endgültig hier festgesessen. Sie hätten ausharren müssen, wo sie jetzt standen, bis sie verendeten. Mit einer unwilligen Handbewegung stellte Branl die Angriffe ein, während Mhornym und Naybahn weitermachten. Clyme schüttelte Covenant erneut, diesmal energischer. »UrLord!« Seine Strenge war ein Schlag, den Covenant nicht spüren konnte. »Unter uns breitet sich Verderben aus. Wir müssen handeln. Wir müssen sofort handeln!« Mein Ratschlag lautet anders, sagte der Theomach. Zeit ist der Grundpfeiler des Lebens, genau wie wilde Magie der Grundpfeiler der Zeit ist. Hier ist die Zeit in Gefahr. Und der Weg zu ihrer Erhaltung führt über die Zeit. Und Berek sagte: Der Theomach war mein Führer und Lehrer. Sein Ratschlag ist auch meiner. Da!, dachte Covenant. Das ist die Lösung. Er verlor sie sofort wieder aus den Augen. In seiner Begierde, sie zu verstehen, geriet er in eine weitere Spalte. Statt in Andelain zu stehen, irrte er ziellos durchs satte Zwielicht unter dem Blätterdach des Einholdwaldes. Er erinnerte sich an das träge Summen von Insekten und den lieblichen Abendgesang von Vögeln; an all die fruchtbaren Düfte von Waldboden und Moos und Farnen, von natürlichem Verfall und üppiger Reife. Aber er büßte nicht alles ein. Joan hatte noch immer ihren Ehering. Sie setzte wilde Magie gegen das Land ein. Die ließ sich jedoch auch gegen sie gebrauchen. Clyme schlug ohne Vorwarnung zu. Sein Schlag mit der flachen Hand ließ Covenants Kopf zur Seite fliegen und schickte Schmerzsignale sein Rückgrat hinunter. Um ihn herum schienen kreisförmige kleine Wellen durch den Einholzwald zu laufen, als wären jeder Baum, jedes Blatt und jede Brise zu Wasser geworden. Baumriesen, die sich seit Hunderten von Jahren behaupteten, flimmerten wie Luftspiegelungen. Vielleicht würden die Feroce siegen. Sie schienen zahlreicher zu sein als die Skest.
Turiya Herem konnte mehr schicken. Das hatte er bestimmt schon getan. Mit großer Anstrengung, als müsste er starken Schwindel überwinden, stöhnte Covenant: »Noch mal.« Clyme zögerte keinen Augenblick. Ein zweiter Schlag traf Covenants andere Kopfseite. Covenant konnte nicht gegen die Skest kämpfen. Er konnte den Krill nicht anfassen. Noch nicht. Er musste etwas anderes versuchen. »Schlag mich noch mal.« Diesmal traf Clymes Faust die Narbe mitten auf Covenants Stirn. Höllenfeuer! Das tat weh! Während ihm frisches Blut in die Augen lief, fand Covenant den Weg zu sich selbst zurück. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und keuchte: »Das reicht! Mehr halte ich nicht aus. Nächstes Mal versuchst du es mit dem Krill.« Vielleicht konnte der die Bindung an seine Vergangenheit kappen. Aber er nahm sich nicht die Zeit, dem Gedemütigten zu danken. Sobald er wieder sehen konnte, brüllte er die Feroce an: »Einen Weg! Wir brauchen eine Schneise!« Die Diener des Lauerers mussten ihn verstanden haben und änderten ihre Taktik. Statt auf breiter Front alle Skest gleichzeitig anzugreifen, formierten sie sich jetzt zu einem Keil. In dieser Formation, in der sonst Urböse oder Wegwahrer kämpften, begannen sie unter schweren Verlusten in die Masse der Säurewesen einzudringen. »Los!«, forderte Covenant Clyme und Branl auf. »Ich habe eine Idee!« Für die Sinne der Haruchai war er fast völlig unzugänglich. Sie konnten seine Gedanken nicht lesen, konnten kaum seine Gefühle deuten. Trotzdem reagierte Branl, als verstünde er, was Covenant beabsichtigte. Er war mit einem Sprung zwischen Naybahn und Mhornym, wo das Gestein noch fest war. Im nächsten Augenblick packte Clyme Covenant um die Taille und warf ihn Branl in die Arme. Während der Meister Covenant auf die Beine stellte, sprang Clyme von dem Felsvorsprung und kam zu ihnen. Die meisten Feroce waren bereits verschwunden, von Feuer und Vitriol verzehrt. Auch viele Skest waren gefallen und verbreiteten üblen Schwefelgestank, während ihre zerfließenden Körper den Fels auflösten
und Stücke aus dem Klippenrand fraßen. Wo sie verendeten, hinterließen sie tiefe Schrunde und Gruben. »Also gut«, murmelte Covenant, als wäre er Linden. »Mal sehen, ob das funktioniert.« Er zog den Krill aus dem Bund seiner Jeans. Indem er sorgfältig darauf achtete, keinen Teil des Dolchs zu berühren, wickelte er die Stofflagen ab, bis er den Schmuckstein freigelegt hatte. Gleißende Helligkeit ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Sie drängte das abendliche Dämmerlicht zurück. Der Schmuckstein strahlte silbriges Licht aus. Auf diesem beengten Raum machte er die anbrechende Nacht unwirksam. Blinzelnd, als liefe ihm noch Blut in die Augen, sah er, wie die Skest den wenigen noch lebenden Feroce den Rücken kehrten. lüriya Herems Kreaturen kannten den Krill oder erinnerten sich zumindest an ihn. Sie oder ihre fernen Vorfahren hatten ihn in der Sarangrave fürchten gelernt. Jetzt miauten sie wie ängstliche Kätzchen. Sie duckten sich tief und wichen zurück. Dann wandten sie sich zur Flucht. Als würden sie alle von einem Gehirn gesteuert, wichen ein Dutzend Skest dicht gedrängt über das Felsband und zugleich in Richtung Labyrinth zurück. Ja. Die Feroce hatten nicht die Kraft, sie zu verfolgen. Nur fünf der Verehrer des Lauerers lebten noch. Sie klammerten sich verzweifelt an die grünen Flammen in ihren Händen und zitterten von atavistischer Angst geschüttelt. Als die Skest verschwunden waren, wankten die Feroce einige Schritte näher heran. Sie blieben auf zerfurchtem Granit stehen. Erschöpfung und das Bewusstsein ihrer Niederlage setzten den kleinen Gestalten offenbar schmerzlich zu. »Wir sind schwach«, sagten sie ängstlich, als hätten sie Strafe verdient. »Wir sind zu weit von unseren Gewässern entfernt. Entfernung zersplittert die Majestät unseres Hoch-Gotts. Die Skest sind zu viele. Wir können sie nicht bezwingen.« Branl stellte ausdruckslos fest: »Die Skest werden uns in den Tälern zwischen den Zerspellten Hügeln auflauern.« Er tätschelte Naybahns Hals. Vielleicht war das entschuldigend gemeint.
Oder trauernd. Covenant winkte mit grimmiger Miene ab. »Und sie werden den Krill weiter fürchten.« Zwischen den Meistern und den Ranyhyn stehend begutachtete er seine Lage. »Sie sind nicht das eigentliche Problem.« Er wusste, wie er Joan erreichen konnte. »Als Erstes müssen wir dort hinüber.« Mit der freien Hand deutete er auf das zerfressene Gestein zwischen sich und dem Einschnitt, dem einzigen erkennbaren Zugang zu dem Labyrinth. Der Fels dampfte und stank noch immer, weil Restsäure sich tiefer in ihn hineinfraß. »Und wir müssen eine Möglichkeit finden, die Ranyhyn zu retten.« Der Klippenrand schien zu durchlöchert zu sein, um ihn tragen zu können. Naybahn oder Mhornym natürlich erst recht nicht. Trotzdem löste Branl sich sofort von Covenants Seite. Er presste sich mit dem Rücken flach an die Felswand gegenüber dem Abgrund und schob sich vorsichtig in Richtung Einschnitt weiter. Nun erst sah Covenant, dass am Fuß des Hügels ein schmales Felsband unbeschädigt geblieben war. Für die Ranyhyn wäre es zu schmal gewesen, aber Branls Füße hatten gut darauf Platz. Als der Gedemütigte den Einschnitt erreichte, sah er hinein und nickte befriedigt, weil die Skest sich ganz zurückgezogen hatten. »Unser Weg ist frei«, meldete er Covenant. Dann fügte er stirnrunzelnd hinzu: »Für die Ranyhyn genügt er nicht.« Die im Vergleich zur Leuchtkraft des Krill blassen Flammen der Feroce flackerten schüchtern und ängstlich. Wenig später seufzten sie: »Stein lebt. Sein Leben verläuft langsam. Sein Schmerz kommt langsam. Aber er lebt. Er erinnert sich. Wir haben unseren Hoch-Gott enttäuscht. Wir müssen eine Wiedergutmachung versuchen. Wir werden den Stein auffordern, sich an seine Stärke zu erinnern. Er ist verwüstet worden. Aber so langsam, wie sein Leben verläuft, so langsam nimmt er auch angerichtete Schäden wahr. Die Erinnerung an seine Stärke ist nachhaltig.« Covenant starrte die Geschöpfe an. Was, der Stein sollte sich an seine Stärke erinnern? Auch nach seiner Zerstörung? Die angerichteten Schäden waren schwer. Und er konnte in den Feroce keine Kraft entdecken, die imstande gewesen wäre, Felsen zusammenzufügen; keine Kraft außer dem hektischen Flackern ihrer kleinen Flammen.
Die Feroce warteten jedoch keine Antwort ab. Sie drängten sich zitternd zusammen und bildeten einen engen Kreis. Ein weiteres Mal führten sie ihre Hände so zusammen, dass sich ihre Flammen vereinigten. Ihre seltsamen Magien gewannen allmählich neue Kraft. Das abscheuliche Grün des Weltübelsteins leuchtete zusehends heller. Es behauptete sich sogar gegen den heißen Silberglanz des KM. Irgendwie hatten sie es zuvor verstanden, Covenants erschöpftes Pferd an sein wahres Wesen zu erinnern. Sie hatten dem Schlachtross seinen streitlustigen Charakter zurückgegeben. Vielleicht… Covenant sah keine Veränderung. Seine Sinne waren zu wenig empfindlich, um die von den Feroce bewirkte Veränderung zu erkennen, falls sie überhaupt eine erzielten. Clyme und Branl beobachteten schweigend die Szene. Die Ranyhyn reagierten, als verstünden sie die Absicht der Feroce. Sie warfen den Kopf hoch, schüttelten ihre Mähnen und schnaubten wild. Smaragdgrün und Silber im Widerstreit spiegelten sich in weit aufgerissenen Augen. Trotzig wiehernd trabten sie mit einem Satz an. Sie schafften einen langen Schritt auf unbeschädigtem Fels … und einen zweiten kürzeren. Dann sprangen sie, so weit sie konnten, über das brüchige Gestein. Beide, wo ein Ranyhyn schon zu schwer gewesen wäre. Covenant vergaß zu atmen; er vergaß sogar zu blinzeln, obwohl aus der Platzwunde auf seiner Stirn weiter Blut sickerte. Beim Aufkommen trafen ihre Vorderhufe das von Säure zerfressene Gestein. Es bröckelte sofort und war größtenteils morsch wie verfaultes Holz. Der verbliebene Rest hatte die Verbindung zu gewachsenem Fels verloren. Trotzdem zogen Naybahn und Mhornym blitzartig die Hinterbeine an und versuchten erneut zu springen. Das gelang ihnen beinahe. Beinahe. Aber das Gestein war zu stark durchlöchert. Ein Abschnitt des Felsbands brach unter dem Gewicht der Ranyhyn ab. Kantige große Felsbrocken polterten in die Tiefe. Naybahn und Mhornym bemühten sich verzweifelt, von dem abbrechenden Fels wegzukommen. Irgendwie fanden ihre Hufe wieder
Halt. Sie warfen sich mit letzter Kraft nach vorn - auf Gestein, das ebenso morsch war wie der löchrige Fels, von dem sie mit knapper Not weggekommen waren. Hinter ihnen stiegen die Flammen der Feroce wie Schreie in die Luft auf. Ein weiterer Teil des Felsbands brach ab. Wieder polterten große Steinbrocken in die Tiefe. Aber die Ranyhyn waren schneller - oder die Magie der Feroce hatte gewirkt. Gemeinsam trabten Naybahn und Mhornym in stetig zunehmendem Tempo vor dem abbrechenden Gestein davon. Granitbrocken polterten in die Tiefe. Eine gierig wirkende Lücke tat sich hinter ihnen auf, als die Pferde sich den Geschöpfen des Lauerers näherten. Aber dort wurde das Gestein entgegen aller Wahrscheinlichkeit fester. Obwohl die Feroce dort standen, wo die meisten Skest verendet waren, besaß der Fels in diesem Bereich seine alte Festigkeit. Sobald die Ranyhyn an ihnen vorbeigetrabt waren, konnten sie in Galopp verfallen. »Verdammt!«, keuchte Covenant. »Blut und Teufel! Ich hätte nie geglaubt, dass …« Im nächsten Augenblick erreichten die Pferde wieder festen Boden. Sie bremsten sofort ab, kamen rutschend zum Stehen und wieherten dabei triumphierend. Die Feroce ließen ihre Hände los, sodass ihre spezielle Magie abklang. Ihre kleinen Gestalten sackten wie erschöpft zusammen. Als Covenant wieder zu Atem kam, wiederholte er für sich: Verdammt! Das hätte ich nie geglaubt! Trotz seiner vorübergehenden Erleichterung war ihm seine missliche Lage sehr wohl bewusst. Ein Großteil der Klippe vor ihm war abgebrochen. Am Fuß der Zerspellten Hügel erstreckte sich eine gefährlich klaffende Lücke wie ein gierig aufgerissenes Maul. Und der Abgrund zog ihn magisch an. Starker Schwindel ließ ihn erschauern. Er riss sich fluchend zusammen und rief den Feroce zu: »Richtet eurem Hoch-Gott aus, dass ich ihn retten werde, wenn das irgend möglich ist. Ich werde das Land retten. Und dankt ihm in meinem Namen. Er hat seine Versprechen gehalten!« Die Feroce wirkten erschöpft, und Covenant wartete keine Antwort ab. Stattdessen wies er die Ranyhyn an: »Versucht nicht, uns zu folgen! Sucht euch einen anderen Weg. Ich verlasse mich auf euch! Wir werden euch brauchen.«
Leise fügte er hinzu: »Wenn wir nicht vorher durch meine Schuld umkommen.« Dann wandte er sich hastig an Clyme. »Wir müssen zu Branl hinüber, aber das schaffe ich nicht allein. Ausgeschlossen!« Seine Stimme zitterte, als hätte er Fieber. »Ich kann mein verdammtes Gleichgewicht nicht halten.« Einst hatte er im Auge eines Wirbelsturms aus Möglichkeiten und Unmöglichkeiten Ruhe gefunden; das konnte er hier nicht. »Die Sache ist sogar noch schlimmer: Etwas in mir will fallen.« Sein innerer Verächter? Der heimliche Wunsch, seine Verantwortung abzuschütteln? »Könnt ihr beiden mich nicht halten, kann ich gleich springen.« Im Licht von Loriks Dolch wirkte Clymes Gesichtsausdruck leicht verächtlich. »Steck den Krill weg, Ur-Lord«, verlangte er, als wäre Covenants Besorgnis nicht der Rede wert. »Wir müssen dich an beiden Armen fassen.« »Klar.« Covenant riss sich zusammen. »Natürlich könnt ihr mich halten. Was habe ich bloß gedacht?« Mit dem Dolch vollführte er kreisende Bewegungen, sodass der Stoff von Aneles Gewand sich um den Griff wickelte und den Schmuckstein verdeckte. Schlagartig herrschte um ihn herum Dunkelheit. Der Wechsel kam so plötzlich, dass er Covenant von allem außer dem Ruf der Tiefe abschnitt. Clyme konnte er nicht einmal sehen, sondern seine Nähe nur ahnen. Dann begannen seine Augen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Der Abgrund wurde breiter, dunkler und auch verlockender. Die schwachen Flämmchen der Feroce gaben nicht genug Licht, um ihn zu beschützen. Clyme verwandelte sich in einen etwas substanzielleren Avatar der Nacht. Während sich vor Covenants Augen alles zu drehen begann, packte Clyme ihn am linken Arm und drückte ihn kräftig gegen die harte Felswand des Hügels. Instinktiv wollte er sich dagegen wehren. Schwindel lockte ihn mit Sirenengesang. Verführungen verdrehten ihm den Kopf, verkrampften ihm den Magen und ließen seine Muskeln zittern. Konnte er den Haruchai vertrauen? Er hatte immer behauptet, er vertraue ihnen unbedingt. Das musste er jetzt beweisen.
Als seine Schulter den Fels berührte, drückte er Brust und Gesicht dagegen; klammerte sich daran. Nicht diesmal!, erklärte er seinem von Schwindel erfassten Verstand - oder den Verächter. Diesmal bekommst du mich nicht. Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist. Aus dem Dunkel kam Branls Stimme: »Streck den anderen Arm aus, Ur-Lord. Wir stützen dich gemeinsam. So kannst du nicht fallen.« Klar doch, sagte Covenants ängstliche innere Stimme. Ich soll nur den Arm ausstrecken. Als ob ich das könntel Aber er tastete bereits nach der Hand des Meisters. Er war zu lange unterwegs und hatte zu viel gelernt; seine Ängste beherrschten ihn nicht. Eine Hand aus Stahl, der keine Korrosion etwas hätte anhaben können, umklammerte seine Taille. Branl und Clyme zogen und schoben ihn zwischen sich die Felswand entlang. Der Einschnitt war Hunderte von Meilen weit entfernt. Covenant, der sich am Rand einer Panik befand, würde ein Erdzeitalter brauchen, um diese Strecke zu überwinden. Aber die Gedemütigten ließen sich von der scheinbaren Unmöglichkeit ihrer Aufgabe nicht abschrecken. Ohne im Geringsten auf Covenants frenetisch stotternden Puls zu achten, bugsierten sie ihn zu dem Spalt in der Felswand, zum Eingang des Labyrinths hinüber. Als er endlich mit gewachsenem Fels unter den Stiefeln zwischen massiven Felswänden stand, taumelte er vor Erleichterung; er wäre fast auf die Knie gesunken. Aber seine Gefährten hielten ihn weiter aufrecht. Hier drinnen gab es überhaupt kein Licht mehr. Die schwächer gewordenen Flammen der Feroce reichten nicht bis in den Einschnitt hinein. Weiter nach Atem ringend keuchte Covenant: »Erinnert die Ranyhyn daran, was ich gesagt habe. Schickt sie notfalls weg. Sie dürfen uns nicht folgen. Doch später brauchen wir sie.« Dann schaffte er es, hinzuzufügen: »Danke … ich danke euch.« »Wir sind die Gedemütigten«, antwortete Branl ausdruckslos. »Meister und Haruchai. Wir brauchen keinen Dank. Auf den Ebenen von Ra haben sich die Ranyhyn vor dir aufgebäumt. Sie werden deine Wünsche respektieren.« »In diesem Fall…« Covenants Schwindel klang allmählich ab. Entsetzen und der grausige Drang, sich in den Abgrund zu stürzen, wichen Schritt
für Schritt aus seinen Nerven. Die Haruchai fürchteten Kummer. Er war ihre einzige lähmende Schwäche. Natürlich wollten sie auch keine Dankbarkeit. »Wir müssen weiter. Ich brauche eine Art Lichtung. Eine kleine freie Fläche. Vielleicht können wir eine finden, bevor die Skest wieder angreifen.« Im Hintergrund seiner Gedanken braute sich ein Sturm aus Ungeduld und bösen Vorahnungen zusammen. Aber er protestierte nicht, als Clyme und Branl unbeweglich stehen blieben. Er stand noch nicht wieder fest genug auf den Beinen, um allein gehen zu können. Die beiden warteten, bis er wieder stehen konnte, ohne gestützt zu werden, bis er ein paar Schritte tiefer in den Einschnitt machte und sich nach ihnen umdrehte. Dann fragte Clyme: »Ur-Lord, was hast du vor? Die Skest werden uns auflauern. Jeden Augenblick kann eine Zäsur über uns herfallen. Deine frühere Gefährtin ist mit unseren Sinnen nicht aufzuspüren. Wir werden dir besser dienen können, wenn wir deine Absichten verstehen.« Covenant verwünschte sich selbst. Er blieb so dicht an der Wahrheit, wie er sich traute, als er jetzt antwortete: »Ich fürchte mich davor, das laut zu sagen. Ihr habt mir gesagt, dass ihr nicht wisst, wie weit Turiya Herems Sinne reichen. Wenn er mich hört … wenn er auch nur vermutet, was ich …« Ihn durchlief ein Schauder. Wie leicht konnten seine Absichten durchkreuzt werden! »Ich werde etwas tun, das fast so verrückt ist, wie Joan selbst. Und ihr müsst mich weiter begleiten. Ihr habt mir gerade das Leben gerettet, doch ihr müsst weitermachen.« Er breitete in der Dunkelheit die Hände aus, um den Gedemütigten seine Hilflosigkeit zu demonstrieren. »Wollt ihr das nicht tun, ist das euer gutes Recht. Ich mache euch deswegen keine Vorwürfe. Aber ich brauche euch an meiner Seite.« Er hatte immer Gefährten gebraucht. Freunde. Leute, denen er etwas bedeutete und die das Land liebten. Die Gedemütigten verharrten endlose Sekunden lang unbeweglich. Vielleicht diskutierten sie miteinander; debattierten über die Anforderungen ihrer selbst gewählten Rolle. Dann schienen sie zu nicken. Clyme trat vor. »Ich übernehme die Führung, während Branl uns den Rücken freihält. Die Haruchai wissen nichts über dieses Labyrinth. Die
wenigen Bluthüter, die sich hineingewagt haben, sind nicht zurückgekehrt - außer Korik, Sill und Doar, die nichts darüber berichtet haben. Aber unsere Wahrnehmungsgabe übertrifft deine. Wir werden eine Lichtung oder freie Fläche suchen, die deinen Wünschen entspricht.« Statt den Gedemütigten nochmals zu danken, legte Covenant Clyme zur Bestätigung kurz seine Halbhand auf die Schulter. Danach folgte er ihm einfach. Joan würde versuchen, ihn zu ermorden. Ihr blieb keine andere Wahl. Vor langer Zeit hatte sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst verraten, als sie ihm den Rücken gekehrt hatte. Eine Zukunft, die ihnen beiden Platz bot, konnte es nicht geben. Der Einschnitt schien sich ziellos dahinzuschlängeln, als hätte er sich verlaufen. Über den Zerspellten Hügeln war die Nacht herabgesunken, und im Dunkel konnte Covenant kaum die Umrisse von Clymes Gestalt erkennen. Er stolperte über unebenen Boden und stieß mit den Stiefelspitzen an herumliegende Felsbrocken. Aber er wurde auf beiden Seiten von unnachgiebigen Felswänden geleitet und hatte die Gedemütigten, die über ihn wachten. Hoch über ihm bildeten die flimmernden ersten Sterne einen schwach leuchtenden Pfad, der den Weg zwischen den Felsen reproduzierte. Geriet er ins Straucheln, gewann er das Gleichgewicht wieder und marschierte stoisch weiter. In unregelmäßigen Abständen kam er an schwarzen Löchern am Fuß der Felswände vorbei, hinter denen vielleicht Höhlen lagen, die in unterirdische Gänge führten. Mit jedem Loch wuchs seine Anspannung, weil er Skest erwartete. Aber er spürte keine Andeutung von ihnen. Aus irgendeinem Grund hielt Turiya Herem sich zurück. Der Wüterich plante offensichtlich einen anderen Hinterhalt. Clyme erreichte eine Spalte, die den Einschnitt in spitzem Winkel schnitt. Links vor ihnen entdeckte Covenant eine schwache Spur von Skest, eine zurückgebliebene Andeutung ihres widerlichen Gestanks. Statt weiter dem Einschnitt zu folgen, bog Clyme nach rechts ab und bewegte sich dadurch fast rückwärts. Von Covenant und Branl gefolgt, stiefelte er mit ruhiger Gewissheit weiter ins Dunkel. Der kommende Weg war mit Hindernissen übersät: Geröllhalden, wo von den steilen Hügeln Steinschlag niedergegangen war; dazwischen
einzelne Felsblöcke und Ansammlungen von kleinerem Geröll. Hier kam Covenant langsamer voran, da er auf Hindernisse achten musste. Auf seinem Brustkorb bezeichnete ein wie Feuer brennender blutiger Fleck die Stelle mit seiner Schnittwunde. Auch seine Stirn schien zu brennen. Zum Glück entdeckte Clyme bald eine weitere Kreuzung, an der ein breiterer Spalt ihren Weg kreuzte. Der Meister schien zu erwägen, nochmals rechts abzubiegen. Dann schüttelte er leicht den Kopf und wählte die linke Abzweigung. Dunkelheit und die Höhe der Felswände beeinträchtigten Covenants ohnehin schwach ausgeprägten Orientierungssinn. Er konnte keine Sternbilder erkennen, und weiter abkühlender kalter Fels dämpfte seine rudimentäre Wahrnehmungsgabe. Er hatte keine Ahnung, ob sie sich auf die Landzunge zubewegten, auf der er Joan vermutete, oder sie tatsächlich hinter sich zurückließen. Im Hintergrund seines Bewusstseins pulsierte Ungeduld wie ständig lauter grollender Donner. Er zweifelte nicht an Clymes Entscheidungen oder Instinkten, war sich aber sicher, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Wie lange würde der Wüterich noch mit seinem nächsten Angriff zögern? Nachmittags hatten die Gedemütigten heranziehende Zäsuren gespürt. Waren Joans Kräfte erschöpft? War sie müde genug, um tatenlos seine Ankunft zu erwarten. Schlug sie jetzt zu - oder griffen die Skest an -, konnte ihn das die einzige Chance kosten, Turiya Herem und sie zu überraschen … Los, mach schon, forderte er Clyme in Gedanken auf. Finde, was ich brauche. Trotzdem schwieg er eisern weiter. Ohne die Gedemütigten hätte er nur zufällig oder mit viel Glück die freie Fläche gefunden. Wieder eine Kreuzung. Diesmal bog Clyme nach rechts in einen Felsspalt ein, der so eng war, dass er sich seitlich hineinquetschen musste. Covenant stöhnte, als er sich beeilte, dem Haruchai zu folgen. Dabei handelte er sich einen blauen Fleck auf der Backe ein und schürfte sich die Arme auf. Ein im Dunkel unsichtbarer Felsvorsprung fügte ihm eine weitere Schramme auf der Stirn zu. Seine ausgestreckten Fingerstummel konnte er nicht spüren. Die wenigen Worte, die Clyme und Branl sprachen, galten nicht ihm, sondern dienten nur ihrer Verständigung untereinander. Frustriert und keuchend gelangte er aus dem engen Felsspalt in einen
breiteren Einschnitt. An der ersten Gabelung hielt sich Clyme links. Er schritt jetzt rascher aus, als spürte er plötzlich, dass die Zeit drängte. Covenant hatte Mühe, ihm zu folgen. Nach einiger Zeit wurde der Einschnitt an einer Stelle breiter, an der mehrere Spalten und Gänge sich trafen. Dadurch entstand ein ungefähr acht mal zehn Schritte großer freier Raum. Sein Boden war mit Schutt bedeckt: altes Geröll, scharfkantige Überreste von Waffen, dazwischen brüchige Splitter, die von Knochen stammen konnten. Bei jedem Schritt stolperte Covenant über kleine Felsbrocken, stieß gegen etwas Metallisches oder zermalmte vertrocknete Splitter zu Pulver. In einer der Felswände, die den freien Raum eingrenzten, gähnte ein schwarzes Loch, offenbar ein Höhleneingang. Zwei der hier zusammenlaufenden Einschnitte wirkten breit wie Straßen. Ihr Boden war zu frei von Geröll, als dass sie auf natürliche Weise entstanden sein konnten. Vielleicht hatten sie vor langer Zeit als Passagen für Lord Fouls Heere gedient. Oder sie konnten Köder sein … Clyme machte halt und deutete auf das schwarze Loch. »Dort drinnen wimmelt es von Skest. Vorläufig halten sie sich noch zurück. Aber zweifellos werden sie bald hervorquellen.« Er nickte zu einer der breiten Passagen hinüber. »Dieser Pfad endet in einer Sackgasse. Dort wären wir einem Angriff hilflos ausgesetzt. Der andere wird von einer Horde Skest abgeriegelt. Ur-Lord, ist diese Kreuzung für deine Zwecke geeignet? Es gibt noch weitere Möglichkeiten, aber auf dem Weg dorthin können wir jederzeit überfallen werden.« Angst drohte Covenant die Sprache zu rauben. Er schluckte trocken. »Eigentlich wollte ich mehr Platz.« Hier stand zu viel auf dem Spiel. »Aber ich denke, dass wir damit auskommen müssen.« »Dann frage ich nochmals«, sagte Clyme, als spräche aus ihm die Stimme der Dunkelheit. »Was hast du vor?« »Bleibt bei mir.« Covenants Hand zitterte, als er den eingewickelten Krill aus dem Bund seiner Jeans zog. »Lasst mich hier zurück.« Verdammt! Mir fehlt der Mut für diese … »Das hängt von euch ab.« Alle seine bisherigen Entscheidungen hatten irgendwelche Katastrophen ausgelöst. Er war schon einmal ermordet worden und wollte kein weiteres Mal sterben. »Ich kann nicht mehr zurück. Hätte ich eine
bessere Idee, wären wir nicht hier. Manchmal muss man einfach alles auf eine Karte setzen …« Wie oft hatte er Linden aufgefordert, auf sich selbst zu vertrauen? Mit wütender, fast gewalttätiger Selbstbeherrschung packte er das Bündel mit der linken Faust und begann den Krill auszuwickeln. Aber er achtete darauf, den Dolch nicht zu berühren. Indem er seine Zögerlichkeit verfluchte, wickelte er hastig den Griff aus und legte den Schmuckstein frei. Gleißende Helligkeit vertrieb das nächtliche Dunkel. Sie strahlte jeden Felsbrocken, jeden Splitter, jede Spur von Ruin an. Sie erhellte die herandrängenden kahlen Hügel, die kurz davor zu sein schienen, Covenant und die Haruchai unter sich zu begraben. »Auf diese Weise«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen, »greifen die verdammten Skest uns wenigstens nicht an, bevor sie wissen, was als Nächstes passiert.« Bevor Clyme oder Branl protestieren konnte, fuhr er mit den tauben Fingern seiner Halbhand über den mit Lehrenwissen geschliffenen Schmuckstein von Loriks Dolch. Trotz der damit verbundenen Gefahr rieb er den Schmuckstein, bis er verbranntes Fleisch roch. Komm schon, verdammt noch mal! Du weißt, dass ich es bin. Kannst du mich noch in der Verlorenen Tiefe entdecken, musst du mich erst recht spüren, wenn ich so nahe bin. Und erzähl mir nicht, dass du zu müde bist. Du willst diese Konfrontation doch auch. Nur sie kann deine Leiden beenden. Branl packte seine Oberarme und drückte sie an seinen Körper. Clyme machte eine Bewegung, als wollte er ihm den Krill entreißen. »Nein!«, brüllte Covenant wütend. »Nein, verdammt noch mal! Behindert ihr mich, siegt sie! Dann siegt Lord Foul!« Clyme zögerte einige Sekunden. Dann entstand dicht vor Covenant, drei bis vier Schritte hinter Clyme, schlagartig eine Zäsur. Der Meister warf sich herum, als traute er sich zu, Covenant vor der Gewalt aus den Fugen geratener Zeit zu schützen. Branl ließ Covenants rechten Arm los. Instinktiv? Mit Absicht? Covenant war das egal. Er schaffte es, mit einem gewaltigen Ruck auch den linken zu befreien.
Die Zäsur war gigantisch, ein Tornado aus Chaos. Sie war größtenteils im Fels der Hügel entstanden. Fragmentierte Augenblicke, jeder so gefährlich wie die Schlange, versetzten jeden Moment der letzten Jahrtausende des Gesteins in Aufruhr. Die Gewalt ihrer Verrücktheit zermalmte den Fels zu Geröll und Kies und schleuderte Steintrümmer wie Sperrfeuer gen Himmel. Jeder Quadratzentimeter von Covenants Körper, der noch schmerzempfindlich war, brannte wegen der Nähe dieser Zäsur. Übelkeit und Verkehrtheit ließen seine Magennerven sich verkrampfen. Hätte er die Bauchmuskeln gelockert, hätte er sich bestimmt übergeben müssen. Auf diese Erscheinungen war er jedoch vorbereitet. Das musste er sein. Weshalb hätte er sich sonst dazu gezwungen, Linden zu verlassen? Die Fläche um ihn herum war weitgehend hindernisfrei. Er konnte sich unbehindert bewegen. Das war dein Fehler, Joan. Nicht meiner. Jetzt komme ich, um dich zu erledigen. Covenant ließ die Fetzen von Aneles Gewand fallen und umklammerte den Krill mit beiden Händen. Seine Hitze kam von Joans Wut; aber er wusste jetzt, wie sie sich ertragen ließ. Durch Übelkeit, scharfes Brennen und sengenden Schmerz in allem verankert, was er liebte, rannte er geradewegs ins Herz der Zäsur. Clyme oder Branl riefen ihm vielleicht etwas nach, aber er hörte nichts mehr. Sobald der Wirbel ihn erfasste, wurde er aus der Gegenwart gerissen.
12 Verkaufte Seelen
Covenant stolperte übergangslos auf eine gestaltlose Ebene hinaus: unendlich eintönig und so kalt, dass ihm das Blut in den Adern zu gefrieren drohte. Hätte es hier Zeit geben können, hätte ein einziger Versuch seines Herzens, stockend zu schlagen, ihn zerspringen lassen. Aber sein Herz schlug natürlich nicht, und es zersprang auch nicht, weil auf diesen frostigen Augenblick, der selbst kein wirkliches Zeitpartikel war, keine weiteren folgten. Covenant konnte stolpern und wieder ins Gleichgewicht kommen … konnte den Kopf oder den ganzen Körper drehen, um die majestätische Leere des Horizonts zu begutachten … konnte in jede Richtung gehen, die ihm beliebte, weil dieses winzige Fragment von Ursache und Wirkung das Universum geworden war. Es enthielt alles, was der Bogen der Zeit umschloss. Covenant hätte es freigestanden, sich seine Atmung mit weißen Atemwolken und frostig brennendem Einatmen vorzustellen, aber solche Dinge bedeuteten hier nichts und würden nie etwas bedeuten. Auf einer anderen Wahrnehmungsebene, in einer, die mit dem Flachland und der Kälte koexistent war, bohrten Millionen oder Myriaden von Hornissen ihre Stachel in sein Fleisch. Jeder einzelne Stich brachte Höllenqualen, als würde einem bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Jeder hätte seinen Tod bedeuten können; aber sein absoluter Schmerz blieb für immer in sich selbst gefangen. Hier gab es keinen Unterschied zwischen einem unerträglichen Schmerz und tausend einzelnen Schmerzen. Tausend Stiche und hunderttausend waren das Gleiche. Covenant ertrug sie alle aus demselben Grund, aus dem er einen ertrug: Wie sein Körper erhielt sein Verstand keine Gelegenheit, zu zerspringen. Die Chance dazu würde er nie bekommen. An diesem Ort gab es keine Chance. Auf einer wiederum anderen Wahrnehmungsebene stieß er jedoch auf Joan. Nun stand er, wo sie stand: Zwischen nassen Felsen und Klippen, die noch vor Kurzem den Boden des Meeres der Sonnengeburt gebildet hatten. Er schrie ihren Zorn und ihr Entsetzen in die unerbittliche Nacht
hinaus. Er hämmerte mit kraftlosen Fäusten auf ihr missbrauchtes Fleisch und riss ihr das Haar in Büscheln aus, was aber nicht schmerzhaft genug war, um sie zu erlösen. Und er erinnerte sich. Er erinnerte sich an ihr Leben. Ihre Erinnerungen waren seine. Sie waren gebrochen und scharfkantig, schnitten wie Messer zum Abspecken von Walen und schlitzten ihn auf, bis der letzte Rest seines Verstands weggeschnitten war. Sie hatten Joan zum Wahnsinn getrieben. Jetzt taten sie ihm das Gleiche an. Und auf der wiederum nächsten Wahrnehmungsebene erkannte er Turiya, Herem, Sippenmörder. Der Riesen-Wüterich trug Joan und ihn wie Kleidungsstücke, die man nach Belieben an- und ablegen konnte. In seinen Händen jonglierte Turiya Erinnerungen und Realitäten wie bunte Bälle. Entdeckte er zwischendurch einzelne, die ihm missfielen, wurden sie zermalmt und weggeworfen. Die restlichen Bälle blieben in der Luft, sodass jede Möglichkeit und jede Erinnerung sich an ihr wie an einem Schleifstein rieb und noch schärfer wurde. Covenant konnte der Wüterich jedoch nichts anhaben. Diese immerwährende Übelkeit nahm er kaum wahr, dafür hatte er sie schon zu oft gespürt. Die Bösartigkeit von Lord Fouls Dienern war oft nur eine Art Krankheit. Man konnte sie ertragen. Man konnte sie ignorieren. Und Turiya war lediglich der Jongleur. Er war nur eine triumphierend lachende Verkörperung des Bösen. Seine Begierde, Schaden anzurichten, veränderte nichts. Er war keine auf ewig in Frost erstarrte Ebene. Er war nicht der Hornissenschwarm aus zerstörter Zeit. Er verkörperte weder Wahnsinn noch Erinnerungen. Er war nicht Joan. Und er würde niemals Linden Avery sein. Vor einem Augenblick oder einer Ewigkeit hatte Covenant gewusst, was er tat. Er hatte sich für dieses Wagnis entschieden. Er kannte sich mit Zäsuren aus. Er hatte Äonen damit zugebracht, den Bogen der Zeit zu verteidigen und ihn nach jeder Verletzung wieder zu heilen. Er hatte gewusst, was ihm bevorstand. Natürlich würde er die Orientierung verlieren - das war unvermeidlich. Gegen das Zeiten-Inferno einer Zäsur gab es keine Verteidigung; keine lehrenweisen Urbösen, keine unerschütterlichen Ranyhyn, keinen
rechtmäßig getragenen Ehering. Keine durch Erdkraft mächtigen Gefährten. Und sein Verstand war schon von einem Netz aus Rissen durchzogen, eine weglose Wildnis, deren Klüfte und Spalten so unüberwindbar waren wie die Zerspellten Hügel - und so leicht Schwindel auslösen konnten wie die Klippe hoch über dem Meer. Natürlich würde er desorientiert sein. Aber so würde er auch Joan finden. Er hatte sie gefunden. Augenblicke oder Äonen zuvor hatte er geglaubt, sie werde sein Pfad sein. Seine Erlösung. Sein Weg ins Leben zurück. Verrückt oder nicht - sie stand im Mittelpunkt des Chaos der Zäsur. Der Wirbel aus Augenblicken umkreiste sie; kreiste um Weißgold und wilde Magie. Sie reichten aus der Vergangenheit des Landes in eine unerträgliche Zukunft, aber nur Joan hätte sie vernichtend einsetzen können. Und sie lebte noch. War noch ein Mensch. Ihr Herz schlug von Augenblick zu Augenblick mühsam weiter. Deshalb war sie zugleich die Gegenwart: ihre eigene, die Covenants und die des Landes. Sie konnte bei ablaufender Flut auf dem felsigen Meeresboden stehen, weil der Tsunami noch nicht gekommen war. Auch die Schlange nicht. Covenant hatte sich in die Zäsur gestürzt, weil Joan darin war. Sie verkörperte die einzige Straße, auf der er ins Leben zurückkehren konnte - zu Linden und den letzten notwendigen Kämpfen für das Land. Er war sich der Gefahren, der akuten Extreme seiner Verwundbarkeit bewusst gewesen. Oh, er hatte sie gut gekannt! Er hatte nie gelernt, wie man sich der Verlockungen von verlorener Zeit, des schwindelerregenden Lockrufs der Tiefe erwehrte. Deshalb hatte darauf vertraut, dass … Aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wem oder worauf er vertraut hatte. In einer unbarmherzig eisigen Wildnis allein, während Myriaden schmerzender Stiche alle Nerven bloßlegten, war er Joan. Irgendwo zwischen den multiplen Dimensionen seines Untergangs hielten seine Menschenhände weiter den Krill umklammert: Hoch-Lord Lorik Übelzwingers gewaltigstes Werk. Aber es war hier vergeudet, weil Covenant selbst hilflos war. Er konnte seinen Verstand nicht aus dem Geflecht von Joans wirren Erinnerungen befreien. Das in dem Dolch steckende Feuer konnte seine Qualen nicht lindern. Du hast deine Freiheit gegen das Elend der Liebe eingetauscht, erklärte
Turiya Herem ihm lachend. Solange du im Bogen der Zeit warst, konntest du opponieren. Du hast dem Ende der Welt Schranken gesetzt. Jetzt bist du nur noch Futter für mein Vergnügen. Hier gehört dein Leben mir. Covenant hörte den Wüterich, aber er achtete nicht auf ihn. Er war jetzt Joan. Brach der Tsunami herein, würde er sie verschlingen - und ihn mit ihr. Nur Turiya würde überleben. Falls Lord Foul beschloss, Weißgold besitzen zu wollen, würde sein Diener genau wissen, wo es zu finden war. Damit würden alle Geschichten enden, die Covenant jemals geliebt hatte. Er fragte sich nicht mehr, weshalb der alte Kerl Linden nicht vor den ihr drohenden Gefahren gewarnt hatte. Der Schöpfer hatte seine Niederlage erkannt. Er hatte die eigene Schöpfung im Stich gelassen. Joan beschäftigte sich nicht mit solchen Gedanken, also verzichtete auch Covenant darauf. Sie kannte nur Schmerz und Verrat. Sie empfand nur Zorn, wild und letztlich vergeblich. Sie wollte nur, dass es auß.örte. Früher einmal, vor vielen Jahren, hatte sie genau das Gegenteil ersehnt. Damals hatte sie sich mehr als alles andere gewünscht, ihr Leben solle ewig so weitergehen, sonnig und stets zufrieden. Mit Covenant auf der Häven Farm. Mit Roger schwanger. Inmitten ihrer geliebten Pferde, deren Vertrauen sie mit sanften Mitteln gewann und die sie allmählich dazu brachte, das zu wollen, was sie von ihnen erwartete. Glücklich. Passiv. Sie hatte sich über Covenants erste Schreibbegeisterung gefreut, ohne sie wirklich zu verstehen. Sie hatte seine Leidenschaft für ihren Körper genossen. Die Wehenschmerzen bedeuteten ihr nichts, weil ihr Mann gerade einen Bestseller geschrieben hatte und sie einen Sohn hatte und ihr Herz von Pferden umgeben höher schlug. Diese Erinnerungen schlachtete der Wüterich Turiya aus. Sie bildeten die Grundlage für alles, was später folgte. Ohne sie hätte Joan sich niemals so vollständig von Covenant verraten gefühlt. Joan hatte die Verstümmelung seiner Rechten von Anfang an gehasst. Sie entstellte ihn; in ihren Augen war er seither mit einem Makel behaftet. Trotzdem hätte sie vielleicht damit leben können, wenn es nur die Hand gewesen wäre. Aber sie konnte ihren Widerwillen gegen das, was hinter der Amputation steckte, nie überwinden.
Lepra. Ihr Ehemann war leprakrank. Sein Menschsein war weggeschnitten worden. Seine Krankheit war eine Art Verrat, weil sie Joans Zufriedenheit zerstörte. Auch sie würde sich damit anstecken. Die Lepra würde ihren kostbaren, vollkommenen Sohn in ein menschliches Wrack, in eine Abscheulichkeit verwandeln. Jedermann würde die drei Covenants meiden. Sogar die Pferde würden vielleicht vor ihr scheuen. Und damit würden sie recht tun. Lepra war mehr als ein nur körperliches Leiden. Sie war ein Urteil. Eine Verurteilung. Gewogen und für zu leicht befunden. Ihr Mann, ihr Mann würde jeden anwidern, in dessen Nähe er kam. In ihren Erinnerungen, die durch Turiyas Bösartigkeit und die eigenen Ängste entstellt waren, war Covenants Roman eine Lüge. Seine enthusiastische Schreibwut war eine Lüge. Seine Liebe war Böswilligkeit; nichts als der Wunsch, sie mit seiner Krankheit zu infizieren. Hätte sie ihn damals ermordet, hätte sie ihren Sohn und sich vielleicht schon nicht mehr retten können. Aber Joan konnte nicht morden; nicht damals schon. Diese Art von Mut hatte ihr gefehlt. Stattdessen zeigte ihr der Schock über seine Krankheit, dass sie überhaupt keinen Mut besaß. Ihr Gefühl, verletzt worden zu sein, schien keinen Boden zu haben, es kannte kein Ende. Es bohrte sich in sie hinein, bohrte immer weiter, bis es die Zerbrechlichkeit im Kern ihres ruinierten Lebens freilegte. Joan tat ihr Äußerstes, als sie Covenant verließ. Als sie sich von ihm scheiden ließ. Als sie wieder zu ihren Eltern zog, um möglichst großen Abstand zwischen sich und ihre Feigheit zu legen. Trotzdem rettete die räumliche Entfernung sie nicht. Die unbeholfene Unzulänglichkeit ihrer Eltern erst recht nicht. Sie hatte nur einmal versucht, wieder Verbindung zu Covenant aufzunehmen. Er hatte sich geweigert, mit ihr zu reden. Aus seinem Schweigen hatte sie die Wahrheit herausgehört. Ihr Mann hatte sie verraten - und sie wusste nicht, wie sie ohne ihn leben sollte. Indem sie ihn verlassen hatte, hatte sie sich selbst verlassen; hatte Sonnenschein und Zufriedenheit und dem Glück mit Pferden den Rücken gekehrt. Alle diese Dinge hatte er verfälscht - oder ihre Ängste hatten sie dazu gebracht, sie zu verfälschen. Gepeinigt und sich ihres Tuns kaum bewusst, hatte sie bereits damit begonnen, ihre Seele zu verkaufen.
Und sobald Joan es geschafft hatte, sich einzureden, sie suche Hilfe, tat sie den nächsten Schritt. Covenant, der an ihren Erinnerungen teilhatte, erlebte ihre unangebrachten Kämpfe wie eigene. Sein Verstand war willenlos; er konnte sich nicht dagegen wehren. Wie Joan, wenn auch auf andere Weise, war er zu tief gesunken, um irgendwo Widerstand zu spüren. Nackte Kälte, die so extrem war, dass sie seinen Verstand lähmte. Hornissen, die sich von allen Seiten in seinen sterblichen Leib bohrten. Und Joan. Sie alle verkörperte er jetzt. Ein Therapeut nach dem anderen versuchte zu beschwichtigen, erbot sich, bei der Rückkehr zu alter Stärke zu helfen. Manche schlugen eine Behandlung mit Medikamenten vor. Andere hielten nichts davon. Aber alle ihre Bemühungen blieben vergebens. Joan hatte nie Stärke besessen, zu der sie hätte zurückkehren können. Schwächen waren ihre einzigen Ressourcen. Passivität definierte sie. So mussten letztlich alle Therapien scheitern. Sie zwangen Joan zur Konfrontation mit ihrem weiter lebhaften Abscheu und trieben sie noch tiefer ins Elend. Und die Kirchen waren nicht besser. Eine Glaubensgemeinschaft nach der anderen versprach Erlösung; versprach Barmherzigkeit, vor der aller Horror verblassen würde. Sie verlangten keine Konfrontation. Stattdessen bestanden sie auf Reue. Auf einer weiteren Form der Selbstaufgabe: der Übergabe ihres Willens und ihres Abscheus an ihren barmherzigen Gott. Das hätte ihre Rettung sein können. Covenant, der ihr Leben durchlebte, betete darum, dass sie diesen Weg gehen würde. Aber sie konnte nicht zwischen Zerknirschung und Selbsterniedrigung, zwischen Schuldanerkenntnis und Schuldzuweisung unterscheiden. Und sie konnte ihren Horror, der ihre einzige Rechtfertigung war, nicht preisgeben. In ihr gefangen erinnerte sich Covenant genau an den Augenblick, in dem er im Hintergrund ihres Verstands erstmals Augen wie Reißzähne gesehen hatte. Diese Augen, die ihre Abwehr durchdrangen und sich tief in sie verbissen, hatten ihr versichert, es gäbe keinen Unterschied zwischen Therapie und Religion. Vergebung sei nur eine andere Methode, die durch Covenants Verrat ausgelöste Krankheit, diese geistige Lepra zu akzeptieren. Wie jede Therapie erwartete die Religion
von ihr, sein an ihr verübtes Verbrechen zu vergeben. Und die Schuld daran auf sich zu nehmen. Sie machte sich Abscheu zu eigen, weil sie ihr vertraut war. Das gefiel den Reißzähnen in ihrem Verstand. Vergebung, die ihr angeboten wurde, stieß sie erst recht in die Verlorene Tiefe ihrer Verzweiflung, von der sie definiert wurde, ihres wesentlichen und notwendigen Hasses. Weil sie sich verraten fühlte, vernachlässigte sie alles - sogar ihre Eltern, auch ihren Sohn -, bis sie die Gemeinschaft der Vergeltung für sich entdeckte. Unter diesen Gläubigen, diesen Fanatikern, schwelgte sie in Bestrafungsfantasien. Die erschienen ihr vernünftig. Sie wurde eine willfährige Beute der strengen Priester der Gemeinschaft. Sie sprach jedes Wort aus, das die Augen ihres Verstands ihr eingaben. Und als Gegenleistung erlangte sie eine Art inneren Frieden. Keinen auf Vergebung beruhenden Frieden: Die Gemeinschaft der Vergeltung verzieh nichts. Stattdessen wurde sie des Friedens der universellen Verdammung teilhaftig. Innerhalb der Gemeinschaft war sie nur tadelnswert, weil die ganze Welt es verdient hatte, angeprangert zu werden, und sie ein Teil der Welt war. In jeder anderen Beziehung - das versicherten die Gläubigen und ihre Priester ihr - war sie unschuldig, weil sie für nichts etwas konnte. Sie existierte nur; sie hatte nichts getan, nichts verursacht, nichts angerichtet. Und die Welt hatte Vergeltung verdient. Joan musste sich die Kosten ihres Leids von Covenant zurückholen. In diesem Punkt dachte sie wie er. Auf ihre eigene Art glaubte sie, Schuldgefühle seien Macht. Aber genau wie er selbst sah sie die Schuld bei ihm. Nicht etwa bei sich. Die Macht war sein. Und wenn er streng bestraft wurde, wenn er genug litt, wenn er seine Verbrechen mit dem Leben bezahlte, würden seine Todesqualen sie erlösen. Letztlich war sie deshalb auf die Häven Farm und zu ihm zurückgekehrt. Damit er versuchen würde, ihr zu helfen. Deshalb hatte sie sein Blut gekostet und ihn durch lichte Momente hoffen lassen. Durch ihre Schwäche hatte sie ihn auf genau die gleiche Weise, wie sie ein Pferd, das zu wild war, um für etwas anderes als die Schlachtbank zu taugen, irregeführt hätte, ins Verderben gelockt. Trotz ihrer Qualen und Zerbrechlichkeit kämpfte Joan weiter um
Erlösung. Alles andere - Zorn und der Wüterich, wilde Magie, Selbstmissbrauch, Blutvergießen - diente nur zur Ablenkung. Weil sie natürlich irgendwann erkannt hatte, dass sie erneut verraten worden war. Augen wie Reißzähne hatten ihr diese Erkenntnis nicht erspart. Turiya Herem hatte sie ihr nicht erspart. Covenant war die Ursache ihres Horrors. Ihre Agonie und Erniedrigung konnten nicht enden, solange er lebte. Aber ihre Bemühungen auf der Häven Farm hatten nur zum Tod seines Körpers geführt. Sein Geist florierte im Bogen der Zeit weiter. Während sie schwächer wurde, gewann er frische Kraft. Er wurde geliebt. Er wurde sogar verehrt. Nur Vergeltung konnte ihr Erleichterung verschaffen - und die blockierte er. Schlimmer noch: Er machte sie zunichte. Indem er einfach vor ihr stand, reduzierte er sie zu einem Nichts. Sein Verrat verwandelte jeden quälenden Augenblick ihrer unaufhörlichen Pein in einen grausamen Scherz. Turiya ließ sie das nie vergessen. Er herrschte verächtlich über ihre Gedanken. Er leitete sie beim Gebrauch ihres Rings an. Und erinnerte sie daran, dass ihr Sohn sie hasste. Ihr eigener Sohn, der sie hätte verschonen können; der dafür hätte sorgen können, dass es aufhörte. Das hatte Roger ihr verweigert, weil er ihre Qualen verlachte. Er war sie nur holen gekommen, um ihr weitere Brutalitäten zuzufügen. Wie zuvor sein Vater hatte er sie restlos verraten. Hätte sie in ihrem Inneren außer Schmerz und Turiya Herem etwas anderes finden können, hätte sie ganze Welten vernichtet, um ihn zu bestrafen. Sieh sie dir an!, forderte der Wüterich Covenant glucksend auf. Sein Triumph war der sauberste Stich, das klarste Eis. Sieh dir das Ergebnis deines langen Kampfes an! Sie ist dein. Du hast sie zu dem gemacht, was sie ist. Bist du deswegen nicht schuld an ihren Taten? Hätten Joans Zäsuren nicht das Gesetz der Zeit beschädigt, hätte Linden Covenant nicht wiedererwecken können. Und sie hätte die Schlange des Weltendes nicht wecken können. Sie war keine rechtmäßige Weißgoldträgerin. Sie besaß nicht genug Macht. Nein, die ursprünglichen Beschädigungen der Struktur von Leben und Tod stammten von Elena, Sunder und Caer-Caveral. Aber die Zäsuren hatten diese Wunden offen gehalten. Ohne sie wären Lindens Bemühungen fehlgeschlagen.
Nach der unerbittlichen Logik von Schuldgefühlen lag die Schuld bei Covenant. Er nickte unwillkürlich. Er hatte nicht die Kraft, Turiya Herem zu widersprechen. Wie Joan war er am Boden zerstört. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie zu tief gefallen war, um gerettet werden zu können. Er hatte sie nicht nur zu dem gemacht, was sie war. Indem er zugelassen hatte, dass er aus dem Bogen abgezogen wurde, als er sich dem Ruf aus Andelain hätte verweigern können, hatte er eine wichtige Barriere gegen ihre Verrücktheit und wilde Magie eingerissen. Insofern hatte er die armselige Zukunft ermöglicht, in der er jetzt gefangen war. Früher war Joan vielleicht selbst für ihr Tun verantwortlich gewesen. Diese Last lag jetzt auf seinen Schultern. Eiskalt und von erstarrtem Feuer brennend, erstreckte sich die leere Ebene bis zu ihren endlos weiten Horizonten. Eine unendliche Vielzahl aus den Fugen gegangener Augenblicke bohrte sich in Covenants hilfloses Fleisch. In Joans Verstand kehrte er auf die Häven Farm und zu Pferden im Sonnenschein zurück. Wie sie selbst durchlebte er wieder und wieder, was aus ihr geworden war. Sie wiederholten endlos oft den Zyklus ihrer schrecklichen Verzweiflung. Solche Dinge ließen ihn nicht los. Sie hatten ihn schon immer gefesselt, würden ihn auch zukünftig fesseln. Dieser Augenblick würde nie zu einem anderen führen, sodass er weder entkommen noch sterben konnte. Nichts würde sich jemals verändern. Trotzdem standen Branl und Clyme links und rechts neben ihm. Sie blieben genau dort, wo sie gewesen waren, als dieser spezielle Augenblick aus seinem natürlichen Kontinuum gerissen worden war. Die beiden sahen ihn nicht an. Sie hatten ihn noch nie angesehen. Sie waren sich seiner Gegenwart nicht bewusst - oder existierten ebenfalls nicht mehr. »Ur-Lord«, sagte Branl mit einer frostigen Atemwolke. »Du musst zu dir selbst zurückkehren.« »Ja, das musst du«, bestätigte Clyme. Auch er schnaubte Atemwolken. »Dort können wir dich nicht beschützen.« »Wir sind Haruchai«, sagte Branl. »Wir können uns nicht ohne Worte mit dir verständigen.« »Wir sind Haruchai«, wiederholte Clyme. »Wir tun nur, was wir
können. Sonst nichts. Wie wir es immer getan haben.« Sie standen neben Covenant. Gefährten. Er war nicht allein. Nichts veränderte sich. Hier gab es keine Chance auf Veränderung. Trotzdem legte Branl eine Hand an Covenants linken Ellbogen. Clyme fasste ihn an dem rechten. Gemeinsam drückten sie Covenants Arme hoch, bis er Loriks Krill sehen konnte, den seine gefühllosen Hände umklammert hielten. Oh, sie waren Haruchai! Sie lebten in den Gedanken des anderen. Sie konnten die Last von zu viel Zeit tragen, ohne unter ihr zusammenzubrechen. Und sie hielten sich von Joan fern. Diese Macht, diese rettende Kompromisslosigkeit besaßen sie. Sie hatte auch Stave gute Dienste geleistet. Obwohl er Lindens Seelenqualen hätte mitverfolgen können, hatte er stets auf Abstand geachtet. Covenant nahm das Leuchten des Schmucksteins nicht bewusst wahr. Seine Augen waren gefroren. Sie waren aus ihren Höhlen herausgehackt worden. Bloße Strahlkraft konnte ihn nicht so blenden, dass er nicht sah, was er sah; was er gesehen hatte; was er immer sehen würde. Sie war nur wilde Magie. Sie war keine Erlösung. Aber sie war wilde Magie, ein natürlicher, unteilbarer Aspekt des Bogens der Zeit. Sie fügte den sich überlappenden Realitäten seiner Hilflosigkeit eine neue Dimension hinzu. Während Clyme und Branl ihn stützten - während sie die Erhabenheit des Krill hochhielten -, sah Covenant mehr als nur die kahle Ebene; mehr als schwärmende Hornissen; mehr als Joans wiederholte Qualen. Zugleich sah er sie, als wäre er in ihrer Gegenwart präsent. Sie stand knöcheltief in Schlamm und Wasser zwischen zerklüfteten Felsen und grausamen Riffen. Irgendwie hatte sie sich einige Hundert Schritte weit über den Meeresboden geschleppt. Jetzt war sie unter dem Felsabbruch angelangt, wo Fouls Hort in die Tiefe gestürzt war. Unter der hohen Kuppel des Nachthimmels stand sie Covenant und den Gedemütigten gegenüber. Mit zitternden Fingern umklammerte sie ihren Ehering an seiner Kette, die um ihre Hand geschlungen war. Ihre Fingerknöchel waren aufgeschürft. Blut sickerte aus der Wunde an ihrer Schläfe, die sie sich durch ständiges Hämmern mit der Faust beigebracht hatte. In gewisser Weise entsprach diese
Selbstverstümmelung Covenants blutender Stirnwunde. Blutige Rinnsale hinterließen Spuren von Leid auf ihrer eingesunkenen Wange. Sie befleckten ihr schmutziges, vielfach zerfetztes Krankennachthemd. In ihren Augen blitzte Wut wie der Krill. Ein krampfartig starres Grinsen ließ ihre wenigen verbliebenen Zähne sehen. Auch aus dem Zahnfleisch in den Lücken sickerte Blut. Es hinterließ Spuren an ihren Lippen, als hätte sie sich von lebendem Fleisch ernährt. Aus seinem Gefängnis in ihrem Verstand sah Covenant, dass auch sie ihn sah. Sie sah die Gedemütigten und Loriks strahlende Waffe, als wären sie alle aus ihrem Wahnsinn getreten, um sich ihr entgegenzustellen. Covenant, der sich selbst und seine Gefährten beobachtete, während er zugleich Joan im Auge behielt, sah Branl und Clyme auf sie zukommen. Silbern leuchtend durchquerten sie das unergründliche Dunkel. Gemeinsam umgingen sie scharfkantige Felsblöcke, die sie hätten verwunden können, wichen Korallenfingern aus, die wie Klingen nach ihnen griffen, und platschten durch Rinnsale und Priele, die das zurückweichende Meer hinterlassen hatte. So weit das Licht des Krill reichte, erzitterten Pfützen und nach Luft japsende Fische und Wasserpflanzen im Rhythmus ferner Erschütterungen. Aber solche Dinge störten Joan nicht. Sie wollte den Tsunami. Er konnte gar nicht früh genug kommen. Durch ihre entsetzten Augen sah Covenant, wie er selbst und der Krill und die Meister wie Schreckensgestalten auf sie zukamen. Nichts von alledem war real; das wusste er natürlich. Es war nichts als eine Fata Morgana aus Bewegungsabläufen, die durch Loriks Lehrenwissen und Joans wilde Magie ermöglicht wurde; ein reines Fantasieprodukt. Nichts hatte sich verändert. Nichts konnte sich verändern. Er blieb in seiner letzten Zäsur gefangen. Sein eigener Abgrund würde ihn niemals freigeben. Aber das spielte keine Rolle. Es war irrelevant. Bedeutungslos. Weil Joan glaubte, was sie sah. Durch seine Teilhabe an ihren Gedanken wusste Covenant, dass sie glaubte, er sei gekommen, um sie zu erledigen. Sie glaubte, er wolle zu Ende bringen, was er angefangen hatte, als er sie geheiratet und verraten hatte; als er sie mit einem grausamen Sohn sitzen
lassen hatte. Der Mann, den sie von allen Menschen am meisten hasste und fürchtete: der Mann, der sie in ihren schlimmsten Albträumen verfolgte. Der Mann, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Und sie hatte keine Skest, die sie beschützen konnten. Der Wüterich hatte sie alle weggeschickt, damit sie Covenant in den Zerspellten Hügeln abfingen. Mit einem gellend lauten Schrei, der die Welt zu spalten schien, hob Joan die Faust. Als sie sich an die Schläfe schlug, löste sie eine Detonation aus, die energiereich genug war, um eine ganze Legion von Thomas Covenants und Haruchai verkohlen zu lassen. Der Krill stellte sich ihrem Angriff. Sein Schmuckstein wurde in Covenants Händen zu einer Sonne. Einen Teil von Joans Energie lenkte der Dolch unschädlich ab. Einen weiteren Teil absorbierte er einfach, bis seine Klinge scharf genug war, um die Grenzen zwischen Realitäten zu durchschneiden. Trotzdem wurde Covenant von einem Teil ihrer Wut getroffen. Sie ließ ihn nicht auf der Stelle tot umfallen, weil er nicht real war. Da er keine physische Existenz besaß, konnte er nicht aus ihren Albträumen ausgemerzt werden. Aber er war trotzdem verwundbar. Sie erschuf durch wilde Magie Zäsuren. Sie konnte beeinflussen, was in ihnen passierte. Sie konnte ihm wehtun. In den unzähligen Augenblicken gleichzeitiger Einschläge verstand Covenant endlich, weshalb Lord Foul dem Wüterich Turiya nie verboten hatte, Jeremiah durch Zäsuren zu gefährden. Ja, der Verächter brannte darauf, sich Jeremiahs besondere Talente nutzbar machen, sie kontrollieren zu können. Und Lindens Sohn wäre für immer unerreichbar gewesen, wenn er sich in einer Zäsur verirrt hätte. Und die Zerstörung des Bogens der Zeit würde auch sein Ende bedeuten. Aber wenn wilde Magie Joan dazu befähigte, in einem vorübergehenden Mahlstrom aktiv zu werden, konnte auch Turiya das durch sie tun. In der Praxis hieß das, dass Turiya Herem die Macht besaß, Jeremiah aus einem Chaos zurückzuholen. So konnte Lord Foul sich den Jungen wieder sichern, um ihn weiterhin zu benutzen. Keinem Feind des Landes würde es jedoch einfallen, Covenant zurückzuholen. Joans machtvoller Wutausbruch schleuderte ihn fort. Er warf ihn gegen Felsen und Klippen.
Die Gedemütigten machten keine Bewegung, um ihn aufzufangen. Sie standen nur totenstarr da, waren in zeitlosem Eis und Hornissen gefangen. An ihrer Passivität war Turiya schuld. Der Wüterich lebte in Joan. Er beherrschte sie. Soweit ihr Geisteszustand das zuließ, lenkte er ihre Wut. Auf ihrem Feuer reitend war er in die Zäsur eingedrungen und hatte sich Branl und Clyme Untertan gemacht. Sie waren erledigt. Sie existierten nicht. Sie hatten nie existiert. Aber … Höllenfeuer! Aber … Hölle und Blut! … Joans Ausbruch hatte weitere Wirkungen, die Herem nicht beabsichtigt hatte und nicht verhindern konnte. Er verstärkte die potenzielle Macht des Krill. Das war wichtig, weil er gebraucht wurde. Aber ihre Gewalt drängte Covenant auch aus ihrem Verstand. Sie verlagerte ihn nach außen. Weil Joan sein Leben nicht beenden konnte, während er im Chaos abwesend war, begann ihr Rachedurst ihn real zu machen. Physisch gegenwärtig. Unabsichtlich erweckte ihre Verzweiflung ihn vor ihr stehend zu neuem Leben. Und das in Loriks Klinge steckende komplexe Lehrenwissen verstärkte Covenants Manifestation. Dass er den Krill umklammert hielt, beschleunigte seinen Übergang aus der Zäsur in die Realität. Die Eiswüste franste bereits aus und schien zu verdampfen. Der Feuersturm aus vereinzelten Augenblicken hatte schon etwas von seiner Gewalt eingebüßt. Covenant war nicht länger in Joan gefangen. Schlug sie nochmals zu, würde sie ihn vollkommen präsent machen. Aber mit diesem Schlag würde sie ihn in Flammen aufgehen lassen. Mit einem weiteren silbernen Blitzstrahl würde sie sich endlich von dem Ghul befreien, der sie in ihren Qualen verfolgt hatte. Bis dahin jedoch, bis ihre Faust erneut die Schläfe traf und ihr persönliches Leid in einen Blitzstrahl umwandelte … Versuch es nur!, keuchte Covenant. Versuch es nur. Versuch doch, zu überleben. Du hast zu viele Zäsuren erzeugt. Dein Weg hierher hat dich erschöpft. Du bist so schwach, dass du kaum stehen kannst. Also nur zu!
Versuch, mich zu erledigen, ohne dir das eigene Herz herauszubrennen. Während Joan versuchte, ihre letzten Kräfte zu sammeln, hatte er einiges zu tun. Er rappelte sich von Schmerzen zitternd auf. Joan hatte ihn schwer getroffen, er war schwer gestürzt. Sein Brustkorb fühlte sich an wie ein Gewirr aus gebrochenen Rippen. Felsen und Korallen hatten Streifen aus seinen Jeans und seinem T-Shirt gerissen. Arme, Rumpf und teilweise auch die Beine waren großflächig aufgeschürft. Blut tropfte ihm von der Stirn und aus einem Dutzend weiterer Schnittwunden. Jeder Schlag seines Herzens pumpte mehr Lebenskraft aus seinem Körper. Er war kaum imstande, zu schlucken oder Luft zu holen oder sich auf den Beinen zu halten. Trotzdem stolperte er auf Joan zu - mit dem Krill in beiden Fäusten und dem eigenen Sturm, der in seinen Augen funkelte. Tut mir leid, dass du so viel leiden musstest. Das tut mir echt leid. Aber dies ist die falsche Antwort. Es ist möglich, Schmerzen zu haben, ohne sich und die ganze Welt zu hassen. Du hast kein Recht, dafür zu sorgen, dass alle sich wie du fühlen. Joan blinzelte, während sie seine taumelnde Annäherung verfolgte. Ihr wilder Blick war erkennbar verständnislos. Sie war nicht besorgt, als er mit seinem silbern glühenden Dolch näher kam. Hier gehörte alle Macht ihr, nicht ihm. Sie würde sich noch einmal an die Schläfe schlagen. Einen weiteren Strahl wilder Magie schleudern. Ihm die Haut vom Leib reißen; seine Seele ausbrennen. Sobald er nahe genug heran war. Sobald sie wieder den Arm heben konnte. Auf ihre eigene Weise hatte sie keine Angst mehr. Und die Gedemütigten konnten ihm nicht beistehen. Sie waren weiter in der Zäsur gefangen. Sie existierten in keiner definierten Zeit. Turiya sah jedoch mehr als Joan, verstand auch mehr. Er wusste, was mit Covenant passierte. Er wusste, was der Krill vermochte. Trotz seiner brennenden Verzückung lebte der Wüterich in Joans Schwäche. Durch Folter und Zwang konnte er ihre Ausbrüche lenken; aber er teilte zugleich ihre Entkräftung, ihre seit langem bestehende emotionale Auszehrung. Das war der Preis dafür, dass er sie beherrschte. Er konnte ihre Fähigkeiten nicht von innen heraus steigern. Trotzdem besaß Turiya Herem natürlich weiter seine eigene Macht. Und
er würde sie einsetzen. Sein eigener Angriff kam, als Covenant noch zehn taumelnde Schritte entfernt war. Er versuchte nicht, von Covenant Besitz zu ergreifen. Er wollte Joan jetzt nicht loslassen. Und er hatte Grund zu der Annahme, Covenant sei ihm überlegen. Covenant hatte den Verächter zweimal besiegt… Im Gegensatz zu Joan erkannte Turiya Herem jedoch, dass Covenant auf andere Weise verwundbar war. Statt zu versuchen, Covenant zu beherrschen, setzte er Covenants Wiedererweckung gegen ihn ein. Der Wüterich sorgte dafür, dass Covenants Verstand ins Stolpern geriet. Eine unsichtbare schwarze Gedankenhand ließ ihn in eine der Spalten torkeln, die seine Fähigkeit beeinträchtigte, in seiner eigenen Gegenwart zu stehen. Joan und wilde Magie und Turiya Herem und die Gedemütigten und der Krill und der Meeresgrund, von dem das Wasser abgelaufen war, büßten schlagartig ihre Wichtigkeit ein. In irgendeiner Form hielten sie alle weiter die lebendigen Augenblicke besetzt, bevor Joan die Willenskraft aufbrachte, Covenant endgültig den Rest zu geben. Branl und Clyme bemühten sich hartnäckig weiter, aus ihrer Gefangenschaft zu entkommen. Aber Covenant tat das nicht. Er konnte es nicht. Ein Wall wie seine Lepra stand zwischen ihm und seiner Sterblichkeit. Er war durchsichtig. Covenant konnte sehen, was dahinter lag. Aber er war auch unüberwindbar. Er würde Covenant einschließen, bis außer Erinnerungen nichts mehr wichtig war. Er erinnerte sich flüchtig an die Starre, in die die Elohim ihn einst versetzt hatten. Sie hatten dafür gesorgt, dass er keine Bewegung mehr machen konnte - und sich dieser Tatsache völlig bewusst war. So hatten sie ihn daran hindern wollen, den Bogen der Zeit zu beschädigen, während sie Linden manipulierten; während sie versuchten, sie zu ihrem auserwählten Werkzeug zu machen. Covenant erinnerte sich an Bhrathairealm und Kasreyn von dem Wirbel und die Sandgorgone Nom. Zum Glück hielt diese Erinnerung nicht lange an. Er fiel nochmals und kam frei. Aus seiner Starre kehrte er mit der Lässigkeit und Kraft der Jugend in den angenehmen Schatten der Überreste des Einholzwaldes zurück. Dieses Gebiet kannte er. Nach jahrhundertelangem Morden und bitteren Verlusten war der Wald hier geschrumpft und bildete nun den
Morinmoss zwischen Andelain und den Ebenen von Ra. Trotzdem hatte dieses Waldgebiet wie andere anderswo sich seine ursprüngliche Großartigkeit erhalten. Hier wuchsen Bäume, die Sonnenschein und Regen im Überfluss kannten, auf fruchtbarem Lehmboden. Die meisten von ihnen waren ehrwürdige Baumriesen, die mit Moos bewachsen und mit Ranken behangen waren: Bäume wie Eichen und Platanen und Zypressen, die ihre Wurzeln und Kronen weit ausbreiteten und alle geringere Vegetation verdrängten. Es gab aber auch Jungbäume, gewiss. Es gab umgestürzte tote Bäume, von Blitzschlag verwüstete Stämme und Baumriesen, die an Altersschwäche eingingen. Aber solche Dinge waren in Wäldern normal. Und der Waldboden war überraschend frei von Bruchholz. So konnte Covenant sich überall ungehindert bewegen. Hätte er rennen wollen oder müssen, hätte er das bei angenehmen Temperaturen im Schatten unter den Bäumen tun können. Doch er hatte es nicht eilig. Er wusste, wohin er wollte, und der Weg war nicht weit. Von den sanften Konturen der Hügel geleitet, gelangte er zu einer Lichtung mit hohem Gras und üppigem Wildblumenbestand. Den wohligen Sonnenschein genießend, trat er unter den Bäumen hervor, um ehrfürchtig zu beobachten, wie die Waldhüter sich zu ihrem Konklave versammelten. Alle ohne Ausnahme; hier versammelt. Zum ersten - und zum letzten Mal. Einige, die nicht mehr lange zu leben hatten. Andere, die seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden ausgeharrt hatten: ihren Aufgaben unter den Bäumen treu, mit wachsendem Zorn und zunehmender Verzweiflung. Alle ohne Ausnahme. Sie sangen ein Lied, das Covenant auswendig kannte. Zweige spreizen sich, Baumstämme wachsen In Regen und Hitze und Schnee und Kälte; Im grimmigen Sturmgetöse der weiten Welt, Bei Erdbeben gar und jähen Felsenstürzen. Mein Laub wird grün, und Sämlinge gedeihen. Seit uralten Tagen, als die Erde jung war Und die Zeit ihren Weg zum Untergang begann,
Verhüllt des Waldes Majestät den kahlen Fels, Verhindert staubige Brachen und somit den Tod. Ich bin die Stütze des Schöpfers des Landes: Ich nehme allen ausgeatmeten Odem in mich auf Und atme Leben aus, das zusammenfügt und heilt. Im Bogen der Zeit unsichtbar und von den Waldhütern unbemerkt, hatte Covenant diese Szene oft beobachtet. Er liebte diese Zeremonie von ganzem Herzen. Caerroil Wildholz war ebenso da wie Cav-Morin Fernhold. Dhorehold aus dem Dunkel. Einer, der Magister von Andelain hieß; ein anderer, der sich Syr Kampfbereit nannte und tat, was er konnte, um die Riesenwälder zu schützen. Und noch viele mehr. In ihrer Zeit hatten sie aufmerksam über alles gewacht, was an dem Land kostbar gewesen war: kostbar und zum Untergang verurteilt. Hier waren sie in Musik und Magie gehüllt, in die wehmütige, gewichtige Sorge ihres Kampfes, den unaufhaltsamen Mord an den Bäumen zu verlangsamen. Trotzdem beunruhigte Covenant irgendetwas an dieser Szene: Etwas, das weder Kummer noch Bedauern noch Zorn war. Gewiss, er war fasziniert; aber er war auch beunruhigt. Auf irgendeine Weise, die er nicht ergründen konnte, war dieses Konklave der Forsthüter anders, als er es in Erinnerung hatte. Es wirkte platt; zu oberflächlich, um wahr zu sein. Es erinnerte an eine von geringeren Wesen aufgeführte Maskerade: in allen Einzelheiten korrekt, aber irgendwie gehaltloser, als sie hätte sein sollen. Wären die Bäume und die Lichtung und die Waldhüter etwas anderes als eine Erinnerung gewesen, hätte Covenant daraus vielleicht geschlossen, er habe seinen Gesundheitssinn eingebüßt. Er konnte nicht in sie hineinsehen; also konnte er eigentlich gar nichts sehen. Joan war zu stark für ihn. Turiya Herem war zu stark. Gelang es ihnen nicht, ihn zu töten, würde er den Tsunami niemals überleben. Linden würde vielleicht noch ein paar Tage durchhalten, dann würde auch sie untergehen. Er hatte sie verlassen, als hätte er sie nie geliebt. Ohne Vorwarnung begannen die Waldhüter seine Erinnerung an sie zu übertreten. Sie sangen im Chor: »Nur Fels und Holz kennen die Wahrheit der Erde.
Die Wahrheit des Lebens.« »Aber Holz lebt zu kurz«, intonierte Dhorehold aus dem Dunkel. »Alle Unermesslichkeit wird vergessen.« »Ungestärkt«, antwortete der Magister von Andelain, »kann Holz sich nicht an die Sage von dem Koloss, an die Notwendigkeit erinnern, dem Übel zu steuern …« »Es gibt zu viel«, bestätigten die Waldhüter wie aus einem Mund. »Macht und Gefahr. Bösartigkeit. Ruin.« »Und zu wenig Zeit«, fügte Syr Kampfbereit an. »Die letzten Tage des Landes sind gezählt. Ohne Unterbindung bleibt zu wenig Zeit.« Wie bei einem Wechselgesang skandierten die Waldhüter: »Werdet wie Bäume, wie Baumwurzeln. Sucht gewachsenen Fels.« Nein!, protestierte Covenant. Er fühlte sich jäh verwundet; in tiefster Seele verletzt. Nein. So ist es nicht gewesen. Ich habe etwas anderes gehört. Während die letzten Noten ihrer Litanei unter den Bäumen verhallten, verließ Cav-Morin Fernhold die Reihen der anderen und baute sich direkt vor Covenant auf. Er betrachtete Covenant, der nicht da war. »Zeitenherr«, sinnierte Cav-Morin in einem Tonfall, der Covenant zutiefst anrührte, »dies ist unrecht.« Er hatte schon immer zu Covenants Favoriten unter seinen Artgenossen gehört: ein sanfteres Wesen, das auch einmal menschliche Einmischung zuließ, selbst wenn es keinen objektiven Grund dafür sah. Auf seine Weise hatte der Waldhüter die Ranyhyn geliebt, wie die Ramen sie liebten. »Deine Gegenwart ist unrecht. Kannst du das nicht erkennen? Deine Zeit liegt außerhalb unserer Erkenntnis. Du wirst dort gebraucht, nicht hier. Du wirst dort geliebt, nicht hier. Es muss Unterbindung geben. Das Ende muss durch die Wahrheiten von Stein und Holz, von Orkrest und Verweigerung aufgehalten werden.« Mit diesen Worten wandte er sich ab. In Sonnenschein wie in Musik und Glorienschein gehüllt kehrte er zu den anderen Waldhütern zurück. Covenant hatte plötzlich das Gefühl, in Flammen zu stehen. Seine Nerven brannten. Seine Muskeln ebenfalls. Sein Herz hämmerte hinter gebrochenen Rippen. Alle seine Sinne öffneten sich, und er konnte den Geruch von …
0 Gott! Geruch? Verdammnis! Er konnte Herem Sippenmörders Bösartigkeit praktisch schmecken. Sie umgab ihn auf allen Seiten: Hinter jedem Baum versteckt, unter jedem Blatt lauernd, sich wie Spott und Bosheit um jeden Zweig windend. Im Schatten getarnt brodelte sie glucksend, als wäre sie von der eigenen Hinterlist entzückt. Dies war Turiyas Werk, diese Entstellung der erinnerten Vergangenheit. Er hatte Covenant hierhergeschickt, um ihn abzulenken, bis Joan ihre noch verbleibenden Kräfte gesammelt hatte; bis sie imstande war, die Augenblicke seines Lebens wie Staub auf dem Meeresboden zu verstreuen. Aber die Macht des Wüterichs leuchtete durch den Schleier von Covenants Erinnerungsvermögen. Trotzdem war die List erfolgreich gewesen. Turiya Herem hatte eine Erinnerung gewählt, die Covenant liebte. Covenant hätte sich bis zu seinem Tod glücklich an diese Szene erinnern können. Er liebte sie - und die Waldhüter - zu sehr, um auf sein eigenes Unbehagen zu hören. Oder vielmehr hätte diese List erfolgreich sein sollen. Aber der Wüterich hatte einen Fehler gemacht. Er hatte die reine Macht und Melodie der Waldhüter unterschätzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie imstande sein könnten, seinen Einfluss zu entdecken; dass sie dagegen ansingen könnten, um Covenants Wahrnehmungsgabe zu stärken. Jetzt brannte Covenant selbst vor Abscheu; erbebte unter der eigenen stürmischen Verweigerung. Und irgendwo in ferner Zukunft, Jahrtausende nach dem Ableben des letzten Waldhüters, hielten Covenants verstümmelte Hände weiter den Krill umklammert. Der Krill war Leben. Er war das Werkzeug seiner Wiederauferstehung, wie er es zuvor schon bei Hollian gewesen war. Und Joan hatte seine Magie noch verstärkt. Covenant konnte ihn nutzen. Mit wilder Magie konnte er sich sein rechtmäßiges Erbe zurückholen. Über Jahrhunderte hinweg hatte sein Verstand sich durch den Bogen der Zeit ausgebreitet. Jetzt war er von ihm getrennt. Einsetzen würde er seine Macht nie wieder, aber er konnte sie verstehen. Er konnte das Wesen und die Folgen von Joans Theurgie erfassen. Er könnte sie indirekt heraufbeschwören. Das ermöglichte Loriks Dolch. Du bist das weiße Gold. Dank des Krill konnte er brennen, als trüge er noch einen Ehering, der dem seiner Frau
glich. Und konnte er brennen, konnte er auch zu dem Krill zurückkehren. Zu dem Augenblick, in dem seine Hand noch den Krill umklammerte. Keine Erinnerung war stark genug, um ihn daran zu hindern. Aus zahllosen Wunden blutend fand Covenant den Weg, der zu seinem gegenwärtigen Ich zurückführte. Er machte sich sofort daran, ihm zu folgen. Und während er sich aus der Vergangenheit der Erde erhob, schloss er Risse hinter sich. Er versiegelte Spalten. Mit Silberfeuer getränkt heilte er Brüche, bis keiner mehr zu sehen war. Bewusst brannte er Fragmente seines früheren Wesens aus und machte sie unzugänglich, damit er wieder ganz sein konnte. Wie ein Astralgeist, der genug gewandert war, schlüpfte Thomas Covenant wieder in seinen vor Joan stehenden Leib. Unter einem Nachthimmel, der massiv und schwer wie eine Grabplatte war, stand er unsicher zwischen Felsen und Prielen. Das einzige Licht kam von Loriks Klinge; vielleicht war es das einzige noch existierende Licht der Welt. Im Silberglanz des Schmucksteins sah der Meeresboden abstoßend, gespenstisch aus: eine durch Blitze oder Phosphoreszenz erhellte nächtliche Landschaft. Clyme und Branl standen weiter links und rechts neben ihm, aber nun glichen sie Schatten ihrer selbst - dürftig wie Gespenster oder Traumgestalten, als lebten sie in einer Dimension der Existenz, die er kaum wahrnehmen konnte. Sobald er seine Realität vervollständigte, würden sie verschwinden, zwischen den Auswirkungen von Joans Wahnsinn verloren gehen. Betrachtete man die Gegenwart, so war er nur wenige Augenblicke abwesend gewesen; so viel war offensichtlich. Joan hatte sich nicht bewegt. Wären der unsichere Griff, mit dem sie ihren Ring umklammerte, das Rasseln ihrer Atmung und das unbarmherzig über ihr Gesicht sickernde Blut nicht gewesen, hätte sie eine Tote sein können, die so wenig geliebt wurde, dass man ihr eine Bestattung verweigert hatte. Ihr trüb gewordener Blick schien Covenant kaum wahrnehmen zu können. Aber dann fachte der Wüterich ihren Lebensfunken nochmals erneut an. Ihre Augen spiegelten den Silberglanz des Krill wider; sie entdeckte ihre Wut neu. Unter der Gewalt von Turiya Herems Hass und ihres eigenen Abscheus
zitternd hob sie langsam den Arm. Covenant war noch immer zehn Schritte von ihr entfernt. Und auch er war schwach; schwer verletzt. Seine zerrissenen Sachen waren voller Blut; sie fühlten sich wie in fliegender Hast angelegte Verbände an. Er schaffte es kaum, auf den Beinen zu bleiben und den Dolch hochzuhalten. Er würde sie nicht schnell genug erreichen, um ihr in den Arm fallen zu können. Im nächsten Augenblick, im nächsten Moment würde sie sich erneut an die Schläfe schlagen. Dann würde er sterben. Vor Brustschmerzen keuchend rief er: »Joan!« Sein eigener Ablenkungsversuch. »Tu das nicht! Einer von uns muss sterben. Einer von uns muss weiterleben. Das weißt du! Du weißt auch, warum. Und ich denke, du hast schon zu viel gelitten. Joan, bitte! Lass mich leben!« Sie hörte ihn. Sie musste ihn gehört haben, denn sie zögerte. In ihrem Blick sammelten sich Überlegungen, verdichteten sich zu einem wahnwitzigen wilden Funkeln. Ihr Körper versteifte sich, als fürchtete sie, er könnte über sie herfallen. Ihre Antwort war ein gellender Schrei, der sich ihrer zugeschnürten Kehle entrang. »Aussätziger!« Mit gewaltiger Anstrengung hob sie erneut den Arm und ballte die Faust. Verdammnis, stöhnte Covenant innerlich. Seine Hände konnte er nicht benutzen. Die brauchte er, um den Krill festzuhalten. Der Dolch war sein einziges denkbares Verteidigungsmittel. Aber er würde nicht ausreichen. Covenants Lebensund Willenskraft, sogar seine Liebe schien aus zu vielen Wunden aus seinem Körper zu rinnen. Auf dem felsigen Meeresgrund taumelnd war er zu erschöpft, um mehr zu tun, als hilflos die Zähne zu fletschen. Und die Gedemütigten konnten ihm nicht helfen. Sie hatten ihm schon zuvor das große Geschenk ihrer Unterstützung gemacht. Hier besaßen sie keine Substanz. Aber er war noch nicht tot. Und manchmal geschieht ein Wunder, um uns zu erlösen. Mit dem letzten Rest Luft, die er aus seinem verletzten Brustkorb
pressen konnte, pfiff er leise, aber schrill durch die Zähne. Dann wartete er auf Tod oder Leben. Jede Verzögerung hätte tödlich sein können, aber die Antwort kam sofort: Irgendwo hinter ihm wieherten zwei Ranyhyn trotzig in die Nacht. Sobald er Mhornym und Naybahn hörte, fasste er den Krill fester und bot seine ganze Entschlossenheit auf. Auch Joan hörte sie. Sie hörte Pferde. Ohne den Arm sinken zu lassen, sah sie von Covenant weg. Im nächsten Augenblick veränderte ihr Gesichtsausdruck sich. Ihre Wut war verflogen. Sogar ihr Wahnsinn schien zu verfliegen. In ihren Augen standen Tränen, die sich mit dem Blut auf ihren Wangen, an ihrem Mund vermengten. Ihre Faust sank herab. Während Turiya Sippenmörder in ihrem Inneren spuckte und schnatterte, breitete sie die Arme aus, um Mhornym und Naybahn zu begrüßen. Trotz der Klippen und Priele trabten die beiden Ranyhyn sorglos und rasch auf sie zu. Dabei wieherten sie erneut - diesmal freundlicher, als sprächen jetzt Mitleid und Sorge aus ihren Stimmen. Gemeinsam drängten sie sich näher heran, als sehnten sie sich nach Joans Umarmung. Die Blessen auf ihren Stirnen leuchteten wie Echos von Loriks geheimnisvollem Schmuckstein, wie stumme Heilsversprechen. Covenant zögerte nicht. Er würde sich nicht mehr lange auf den Beinen halten können. Er musste handeln … Obwohl er selbst in Lebensgefahr war, opferte er einen Augenblick für die Gedemütigten. Er schwang den Krill und klatschte die Breitseite der Klinge an Clymes Brust. Diesen Vorgang wiederholte er bei Branl. Bedürftig wie ein Bittsteller berührte er beide mit den angedeuteten Möglichkeiten wilder Magie. Einen Herzschlag später setzte er sich schwerfällig in Bewegung und stolperte auf Joan zu. Der Wüterich versuchte sie zu warnen. Er heulte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen; er brüllte laut, um den Zauber der Ranyhyn zu brechen. Aber für Joan war diese Magie älter als seine Herrschaft, viel älter. Sie hatte wie gewachsener Fels unter dem Geröll ihrer Verrücktheit überdauert. Von der Gegenwart ihrer einzigen großen Liebe überwältigt,
wartete Joan mit weit ausgebreiteten Armen, während Covenant sich bemühte, sie zu erreichen. Fünf torkelnde Schritte. Sechs. Herr, steh mir bei. Sei mir gnädig, denn ich habe gesündigt. Unmittelbar bevor die Ranyhyn heran waren, um ihm seine Bürde abzunehmen, machte Thomas Covenant Joan das einzige Geschenk, das jemand ihr noch machen konnte. Fast zusammensackend stieß er ihr seine Klinge in die Brust. Mit Hoch-Lord Loriks Krill akzeptierte er ihre Schuld und befreite sie. Dann sank er auf die Knie. Als Joan starb, hörte er Mhornyn und Naybahn klagend in die Nacht hinauswiehern. Später wurde Covenant klar, dass Branl und Clyme weiter bei ihm waren. Wilde Magie und Joans Tod hatten sie aus der Zäsur geholt, bevor der Bogen der Zeit sich selbst geheilt und die beiden für immer aus ihrer wirklichen Zeit ausgeschlossen hatte. Auch die Ranyhyn waren weiter da. Dass er Joan ermordet hatte, hatte es ihnen erspart, eine Frau, die sie liebte, niedertrampeln zu müssen. Weil Covenant zu solchen Dingen imstande war, fürchteten sie ihn - und würden ihm bis zuletzt treu bleiben. Turiya Herem war fort. Covenant bildete sich nicht ein, den Wüterich ermordet zu haben. Zweifellos hätte der Krill Lord Fouls Diener töten können, wenn Turiya darauf bestanden hätte, Joan weiter zu besitzen. Aber das hatte der Wüterich nicht getan. Er hatte ihre wertlose Hülle zurückgelassen und sich auf die Suche nach einem neuen Wesen gemacht, von dem er Besitz ergreifen konnte. Covenant dachte jedoch nicht an Turiya oder die Ranyhyn oder das unwahrscheinliche Überleben der Gedemütigten. Er dachte fast gar nichts. Von der Ermordung Joans wie betäubt war ihm nicht bewusst, dass er den Krill fallen gelassen hatte; dass Branl die Waffe aufgehoben hatte; oder dass der Schmuckstein des Dolchs jetzt dunkel war, weil er wilde Magie und Leuchtkraft eingebüßt hatte. Covenant war nur dankbar dafür, nicht allein zu sein. Er hatte seine Verbrechen nie allein ertragen können. Ohne Freunde und Gefährten und Liebe, die standhafter war, als er verdiente, wäre er längst gescheitert. Als Clyme oder Branl sprach, hörte er sie nicht. Selbst konnte er nicht
sprechen. Stattdessen kroch er aus zahlreichen Wunden blutend weiter, bis er Joan erreichte. Ihre Arme waren noch immer ausgebreitet; schienen noch immer auf die Pferde zu warten. Mit der rechten Faust umklammerte sie weiter ihren Ehering. So sanft wie nur möglich bog er ihre Finger auf, bis er den Ring an sich nehmen konnte. Einige Augenblicke lang begutachtete Covenant ihn nachdenklich, als wäre er nur billiger Tand, den man wegwerfen konnte, sobald er seinen Zweck erfüllt hatte. Aber zuletzt akzeptierte er auch ihn. Er streifte sich die Kette über den Kopf, sodass der Ring auf seinem Brustbein ruhte: einem der wenigen Knochen seines Brustkorbs, der nicht wenigstens angebrochen zu sein schien. Erst dann begann er zuzuhören. »Ur-Lord«, sagte Clyme oder Branl, »wir müssen schleunigst fort. Der Tsunami kommt.« Einer von ihnen fügte hinzu: »Wir können dich nicht in Sicherheit tragen. Wir sind nicht schnell genug. Diesmal musst du reiten.« Es dauerte Sekunden, bis Covenant merkte, dass er nur ein einziges Wort ausstoßen konnte. »Niemals.« Wenn er sonst nichts leistete, das als Wiedergutmachung dienen konnte, würde er wenigstens sein den Ranyhyn gegebenes Wort halten, verdammt noch mal! Die Gedemütigten erhoben keine Einwände. Sie bestiegen rasch ihre Ranyhyn und ritten von zwei Seiten an Covenant heran, beugten sich zu ihm hinunter, packten ihn in Schulternähe an den Armen und hoben ihn zwischen sich hoch. Mhornym und Naybahn brauchten nicht angetrieben zu werden. In perfektem Gleichschritt und in exakt gleichbleibendem Abstand verfielen sie in Galopp und hielten auf das einzige Ziel zu, das Rettung versprach: die gespaltenen Klippen, auf denen Lord Fouls Hort einst hoch über dem Meer gestanden hatte. Hilflos zwischen ihnen hängend, während seine Arme vor Schmerzen weinten und gebrochene Brustknochen sich aneinanderrieben, hörte Covenant jetzt das unergründliche Grollen der Flutwelle. Obwohl die großen Pferde unbeirrbar sicher galoppierten und der Griff der
Gedemütigten eisern zuverlässig war, spürte er Schwingungen, die sich wie bevorstehende Krämpfe durch den Meeresgrund fortpflanzten. Hätte er sich umsehen können, hätte er vielleicht sehen können, wie die Katastrophe vor den kalt glitzernden Sternen, den fragilen Himmeln aufragte … Er versuchte nicht, sich umzusehen. Er achtete nicht darauf, wie klein die Ranyhyn gegenüber der unvorstellbaren Gewalt des Tsunamis waren. Er vertraute ihnen völlig und hatte nicht mehr die Kraft, sich zu fürchten. Das Grollen wurde zu einem Donnern, zu einem Aufruhr, als käme die Schlange des Weltendes geschwommen. Es löschte die Welt hinter ihm aus, machte alle Anstrengungen von Sterblichen zunichte. Gegen das Ende aller Dinge zu kämpfen war bloße Eitelkeit, tapfer und vergeblich. Wie die Schlange des Weltendes überstieg der Tsunami alles menschliche Vorstellungsvermögen. Er konnte weder akzeptiert noch bekämpft werden. Er erforderte eine andere Antwort. Trotzdem liefen die Ranyhyn wie Traumgestalten. Ihr hektischer Sturmlauf zerrte an Covenants Armen, aber sie würden die Klippen wohl niemals rechtzeitig erreichen. Dann waren sie doch schon da. Am Rand eines gewaltigen fächerförmigen Schuttfelds, das sich von der Abbruchstelle bis zum Meeresboden herabzog, machten Naybahn und Mhornym schnaubend halt. Clyme und Branl schafften es irgendwie abzusitzen, ohne Covenant loszulassen; ohne ihm die Arme auszurenken. Clyme schnappte sich ihn sofort. Während er Covenant zu dem ansteigenden Schuttfeld trug, erklärte er ihm: »Hier sind wir schneller als die Ranyhyn. Einen Weg gibt es hier nicht. Sie müssen versuchen, einen zu finden. Ist ihnen das Glück hold, überleben sie die große Welle vielleicht. Aber wir haben es eiliger.« Covenant hörte nicht, was er sagte. Das Röhren der Flutwelle übertönte alle anderen Geräusche. Es machte Nachdenken unmöglich. Der Tsunami glich einer Bergkette aus Wasser, die gegen das Festland vorrückte. Sie würde es mit der Gewalt des Erdbebens treffen, das den Melenkurion Himmelswehr gespalten hatte. Vielleicht entsprach ihre Wucht sogar der Umwälzung, die das Unterland vom Oberland getrennt hatte. Die Ranyhyn würden augenblicklich zu Brei gemacht werden.
Covenant und die Gedemütigten würden den ersten Ansturm dieser Flutwelle nicht überleben. In den vergangenen Tagen mussten viele Regionen der Erde von ähnlichen Naturkatastrophen heimgesucht worden sein: von Schocks, die brutal genug waren, um Inseln zu zerstören und Kontinente zu beschädigen. Jetzt war es so weit: Die Schlange bewegte sich alles verschlingend auf das Land zu. Covenant, der sich in Clymes Armen hilflos fühlte, versuchte »Danke!« zu sagen. Für alle Fälle. Aber er brachte keinen Laut heraus, der trotz der Annäherung von Bergen zu hören gewesen wäre. Die Haruchai gewannen übernatürlich schnell an Höhe. Covenant versuchte abzuschätzen, wie gut die Ranyhyn vorankamen, aber der Tsunami lähmte alle Nerven und alle Sinneswahrnehmungen. Er fühlte sich höher als die Klippen, höher als die un-überwindbare Barriere der Zerspellten Hügel an. Vielleicht würde er das gesamte Unterland bis zum Landbruch überfluten. Weil er nicht wusste, wo die Ranyhyn waren, betete er einfach dafür, dass Linden und ihre Gefährten früh genug gewarnt werden würden … Dann sprangen die Gedemütigten nicht mehr von Felsblock zu Felsblock höher und kletterten fast unüberwindbare Steilwände hinauf. Stattdessen rannten sie über die Grundmauern von Fouls Hort von Grat zu Grat. Auch der weitere Weg zu der verhältnismäßig ebenen Landzunge hinauf war mit Geröll bedeckt, das hier jedoch flacher wurde, sodass sie ihr Tempo steigern konnten. Covenant hätte imstande sein müssen, sich an dieses Gebiet zu erinnern. Er hätte wissen müssen, wie weit die Gedemütigten und er von dem abgekühlten Glutaschenkamm und den Zerspellten Hügeln entfernt waren. Schließlich hatte er sich nicht von den Erinnerungen an sein früheres sterbliches Leben distanziert. Aber dazu war er jetzt zu schwach. Er hatte zu viel Blut verloren; er hatte zu viele Knochenbrüche. Er hatte Joan ermordet. Selbst seine menschlichsten Erinnerungen wurden durch die sich heranwälzende Masse der Flutwelle ausradiert. Als die Haruchai stehen blieben, als sie sich umdrehten, um die Welle zu beobachten, verstand er nicht, weshalb. Ein Augenblick verging, bevor er erkannte, dass sie am Westrand der Landzunge auf alter Lava standen. Er glotzte die nur wenige Dutzend Schritte von ihm entfernte dunkle
Masse der Zerspellten Hügel an und konnte nicht begreifen, was er sah. Wie hatte Clyme ihn so weit tragen können? Weshalb lebten sie noch? Warum flüchteten sie nicht weiter? Endlich zwang er sich dazu, nach Osten zu sehen; als er das tat, donnerte der Tsunami an die Klippe. In diesem Augenblick verwandelte seine gesamte Realität sich in Tumult und Chaos, das nur mit der Zerstörung des Ridjeck Thome zu vergleichen war. Die Zeit schien stillzustehen, als wiche selbst der Bogen der Zeit erschrocken zurück. Er spürte, wie harter Fels zersplitterte und weggespült wurde. Er hörte Klippen schreien, als sie sich an ihre Grundfesten klammerten. Er sah eine ungeheure Wassermasse, deren Schaumkamm leuchtete, als wäre er voller Sterne, hoch und höher steigen. Erschütterungen ließen die Welt beben. Aber er konnte ein Detail nicht vom anderen unterscheiden. Sie waren alle eins, alle zu gewaltig für seinen Verstand, und sie schienen blitzschnell abzulaufen. Wasser brach über die Landzunge herein; es überflutete sie, lief über die Seiten ab und rauschte weiter vorwärts. Salzige Gischt brannte in seinen Augen, bis er nicht mehr sehen konnte. Sie durchnässte seine Kleidung und spülte seine vielen Wunden aus: Trotzdem blieben Branl und Clyme starr stehen, wo sie waren. Sie glaubten anscheinend, die Reichweite des Tsunamis genau richtig eingeschätzt zu haben, sodass er sie nicht mitreißen würde. Covenant, der zu schwach war, um zu protestieren, lag in Clymes Armen und erwartete das Schicksal, das die Gedemütigten ihm bestimmt hatten. Durch die Spitze der Landzunge wurde die heranbrandende Flutwelle vor ihnen aufgespalten, sodass sie schäumend an die Klippen auf beiden Seiten donnerte. Auf der Strecke zum Glutaschenkamm wurde der Tsunami durch mehrere Hindernisse aus Granit geteilt. Als seine Gewalt erlahmte, schwappte das Wasser um die Knie der Gedemütigten. Es klatschte an die Ausläufer der Hügel. Dann begann es abzulaufen. Die Unterströmung hätte jeden mitgerissen, der schwächer war als ein Haruchai. Als die Zeit wieder ihren unerbittlichen Puls aufnahm, begriff Covenant, dass er überlebt hatte. Irgendwann konnte er wieder denken - und den Blick von dem
ablaufenden Wasser wenden. Aber als er seine Gefährten betrachtete, ließ ihr nüchterner Stoizismus ihn zusammenzucken. Er erinnerte ihn daran, dass sie die Ranyhyn zurückgelassen hatten. Pfiffen die Gedemütigten, würden neue Ranyhyn kommen. Auch sie würden den Weg durch das Labyrinth kennen. Aber ihre Treue würde den Verlust von Mhornym und Naybahn nicht weniger schmerzlich machen. Auch die Notwendigkeit von Joans traurigem Ende würde sie nicht abmildern können. Allmählich gelang es Covenant wieder, flüchtige Augenblicke zu erfassen. In dem nur von Sternenschein erhellten Dunkel beobachtete er, wie die See zurückwich und zuletzt nur noch an die Steilküste brandete. Auf beiden Seiten der Landzunge hatten die Klippen wie Gletscher gekalbt. Noch immer brachen riesige Felsen von der Größe von Schwelgensteins Bug oder des Kevinsblicks ab und stürzten ins aufgewühlte Meer, das sie nicht einmal zur Kenntnis nahm. Und als die Wellenhöhe auf den Wert eines gewöhnlichen Sturms zurückging, war zu sehen, dass die Spitze der Landzunge verschwunden, durch die Gewalt des Tsunamis abgebrochen war. Jegliche Spur, jeglicher Überrest der ehemaligen Wohnstätte des Verächters war zusammengebrochen und weggespült worden, sodass nichts mehr an ihre frühere Existenz erinnerte. Clyme und Branl standen weiter wie aus Stein gehauen unbeweglich da. Covenant fragte sich eine Zeit lang, weshalb sie ausdruckslos in mürrischem Schweigen ausharrten. Dann erkannte er, dass sie auf die Ranyhyn warteten. Die beiden warteten auf Mhornym und Naybahn und weigerten sich, um sie zu trauern, bevor keine Hoffnung mehr möglich war. Selbst dann würden sie sich wahrscheinlich keinen Kummer gestatten. Sie waren Haruchai: Sie hatten getan, was sie konnten. Ihrer Auffassung nach war Trauer sogar eine Form der Respektlosigkeit. Jedes Eingeständnis eines Verlusts hätte das von den Ranyhyn gebrachte Opfer entehrt. Von dieser selbst beigebrachten Verletzung, die eine Folge von Rechtschaffenheit nach Art der Haruchai war, zunehmend irritiert, ließ Covenant sich von Clyme absetzen. Er stand breitbeinig da, hielt sich an Clymes Schulter fest und weigerte sich, zusammenzuklappen. Dann
nahm er die Hand weg und blieb aus eigener Kraft aufrecht. So viel Abstand von der Kompromisslosigkeit der Gedemütigten brauchte er mindestens. Das erforderte seine eigene stumme Klage. Allmählich wurde ihm bewusst, dass bald ein neuer Tag anbrechen würde. Die Helligkeit im Osten war noch so gering, dass er sich seiner Sache nicht sicher sein konnte. Trotzdem interpretierte sein schwacher Gesundheitssinn die Dunkelheit. Seine restlichen Nerven versicherten ihm, diese Nacht sei fast vorüber. Vielleicht würden die Gedemütigten sich bei Sonnenaufgang endlich bereitfinden, den Glutaschenkamm zu verlassen, damit er wenigstens versuchen konnte, zu Linden und Jeremiah und Stave zurückzukehren; zu Mahrtiir und den Schwertmainnir. Linden würde seine Traurigkeit und seine Sünden erkennen. Ihre Gefährten würden sie verstehen. Aber die Sonne ging nicht auf. Der Osten wurde in zögernden Etappen etwas heller. Langsam breitete sich eine übernatürliche Helligkeit über das Meer der Sonnengeburt aus, bis sie das Dunkel über dem Glutaschenkamm und den Zerspellten Hügeln ausbleichte. Die Sterne verblassten allmählich. In der Morgendämmerung oder in Schatten stehend wurden die Gedemütigten vage sichtbar. Hinter ihnen kauerten die Hügel wie Steinzeitungeheuer. Aber es gab keine Sonne. Überhaupt keine Sonne. Als Covenant den Kopf hob, sah er, dass die Sterne erloschen. Einer nach dem anderen verschwand aus der Unendlichkeit des Himmels. Einige wenige starben rasch nacheinander, andere in längeren Intervallen; aber alle waren dem Tod geweiht. Binnen weniger Tage würden sämtliche Sterne vergehen, von dem ungebremsten Hunger der Schlange des Weltendes ausgelöscht. Die Chroniken des Thomas Convenant werden fortgesetzt in: »Das letzte Dunkel« Die Chroniken von Thomas Covenant DIE MACHT DES RINGS Der Flach des Verächters, Der Siebte Kreis des Wissens und Die letzte
Walstatt DER BOGEN DER ZEIT Das verwundete Land, Der Einholzbaum und Der Ring der Kraft DIE RUNEN DER ERDE Die Runen der Erde, Die Rückkehr des Zweiflers, Die Pfade des Schicksals und Das letzte Dunkel
Glossar Abatha: eines der Sieben Worte Abendgebet: eine dem Dienst der Bewohner von Schwelgenstein an der Erde geweihte Stunde Acence: Frau aus Steinhausen Mithil, Schwester Atiarans Ahamkara: Hoerkin, »die Pforte« Ahanna: Kunstmeisterin, Tochter Hannas Aimil: Tochter Anests, Gemahlin Sunders a-Jeroth von den Sieben Höllen: Herr des Bösen; Name der Sonnengefolgschaft für Lord Foul den Verächter ak-Haru: höchster Ehrentitel bei den Haruchai Akkasri na-Mhoram-Cro: Novizin der Sonnengefolgschaft Aliantha: Schatzbeeren; nahrhafte Beeren, die im gesamten Land zu jeder Jahreszeit wachsen Alif, die Edle: eine der Meistgeliebten des Gaddhi Allholzmeister: ein Meister des Holzwissens Alt-Lords: die Lords vor dem Ritual der Schändung Amanibhavam: Heilkraut für Pferde, für Menschen giftig Amatin: ein Lord, Tochter Matins, Streitmark von Herrenhöh Amith: Frau aus Steinhausen Kristall Amok: ein geheimnisvoller Führer zu altem Wissen Amorine: Trutzwart von Herrenhöh, später Schwertmark Andelain, die Hügel von Andelain, die Andelainischen Hügel: eine Region des Landes, die Gesundheit und Schönheit verkörpert Anele: ein geistesgestörter alter Mann, Sohn Sunders und Hollians Anest: Frau aus Steinhausen Mithil, Schwester Kaiinas Ankermeister: Erster Offizier eines Riesen-Schiffs Ankertau Seeträumer: ein Riese, Bruder von Grimme Blankehans, mit der Erd-Sicht begabt Annoy: ein Landläufer Anundivianjajna: »verloren gegangene« Kunst der Ramen, auch Markkneten oder Bein-Bildwerkerei genannt Arghule/Arghuleh: wilde Eisbestien
Asuraka: Stabwissen-Weise in Schwelgenholz Atiaran: Frau aus Steinhausen Mithil, Tochter Tiarans, Gemahlin Trells, Mutter Lenas Aufstieg Wellengabe: eine Schwertmain (Riesin) Auriferenz: eine Insequente Auserwählte: ein Linden Avery beigelegter Titel Aussat Befylam: Kindgestalt der Jheherrin Baghoon der Ungezogene: Gestalt in einem Riesen-Märchen Banas Nimoram: Neumond zur Frühlingsmitte; Frühlingsfest Bann: ein Bluthüter, Lord Ttevor beigeordnet Banner des Hochlords: die blaue Standarte des Hoch-Lords Bannor: ein Bluthüter, Covenant beigeordnet Baradakas: Allholzmeister in Holzheim Hocherhaben Baumliebhaberin: Name der Gräuelinger für Linden Avery Bein-Bildwerkerei: eine alte Kunst der Ramen; Markkneten Benj, die Edle: eine der Meistgeliebten des Gaddhis Berek Halbhand: Erdfreund, Herz der Heimat, Lord-Zeuger, Erster der Alt-Lords Bern: von der Sonnengefolgschaft ermordeter Haruchai Bhapa: ein Seilträger der Ramen, Halbbruder Sahahs, Gefährte Linden Averys Bhrathair: ein Volk, dem die seefahrenden Riesen begegnen; Einwohner von Bhratairealm am Rand der Großen Wüste Bhrathairain: Stadt der Bhrathair Bhrathairealm: Land der Bhrathair Birinair: Allholzmeister, Herdwart zu Herrenhöh Bluthüter: Haruchai, ein im Westlandgebirge lebendes Volk; Leibwächter der Lords Blutschinder: ein Riesen-Wüterich, Turya-Herem Böse: Ungeheuer; Erschaffer der Dämondim Bogen der Zeit: Symbol für Existenz und Struktur der Zeit; Voraussetzung für die Existenz der Zeit Bonke Knorrigfaust: ein Riese, Vater der Ersten der Suche Borillar: Allholzmeister, Herdwart zu Herrenhöh Bornin: Haruchai, ein Meister des Landes Brabha: ein Ranyhyn, Koriks Reittier Branl: Haruchai, ein Meister des Landes, einer der Gedemütigten Brannil: Mann aus Holzheim Steinmacht Brinn: ein Führer der Haruchai, Beschützer Covenants, später Hüter des Einholzbaums Brutstätte: Aufzuchtlabor für Dämodim
Bürde der Wegwahrer: Auffassung der Wegwahrer von Pflicht, Bestimmung oder Schicksal Caamora: Feuer des Grams; feuriges Reinigungsritual der Riesen Caer-Caveral: Forsthüter zu Andelain, ehemals Hile Troy Caerroil Wildholz: Forsthüter in der Würgerkluft Cail: ein Haruchai; Beschützer Linden Averys Caitiffin: Hauptmann der Reiterei von Bhrathairealm Callindrill: Lord; Gemahl Faers Callowail: in Elemesnedene entspringender Strom Cav-Morin Fernhold: ein Forsthüter Ceer: ein Haruchai Cerrin: ein Bluthüter, Lord Shetra beigeordnet Chant: ein Elohim Char: ein Seilträger der Ramen, Bruder Sahahs Chatelaine: Hofstaat des Gaddhis Chelen: ein Ranyhyn-Hengst, Jeremiahs Reittier Ciachan: Quellgebiet des Callowail Clang: ein Landläufer Clangor: ein Landläufer Clash: ein Landläufer Clingor: stark klebriger Lederstreifen Clyme: ein Haruchai, ein Meister des Landes; einer der Gedemütigten Coercri: Stadt des Heimwehs, ehemalige Heimstatt der Riesen an der Wasserkante Corimini: ein Ältester an der Schule der Lehre Croft: Steinmeister von Steinhausen Kristall Crowl: ein Bluthüter Croyel: geheimnisvolle Schmarotzerwesen, die Macht und langes Leben versprechen Dameion Riesenfreund: Sohn Berek Halbhands, zweiter Hoch-Lord der Alt-Lords Dämondim: von dem Bösen erschaffene Kreaturen; Schöpfer der Urbösen und der Wegwahrer Dämondim-Abkömmling: ein anderer Name für Urböse und Wegwahrer, auch für Hohl Daphin: eine Elohim Derbhand: ein Riese, Ankermeister der Sternfahrers Schatz Dharmakshetra: »mutig vorm Feind«, ein Wegwahrer Dhorehold aus dem Dunkel: ein Forsthüter
Dhraga: ein Wegwahrer Dhubha: ein Wegwahrer Dhurng: ein Wegwahrer Diamondraught: starkes Riesen-Getränk Diassomer Mininderain: von der Sonnengefolgschaft propagierte Sagengestalt Din: ein Landläufer Dires Schiff: ein Riesen-Schiff Doar: ein Bluthüter Dohn: ein Mähnenhüter der Ramen Donnerberg, Gravin Threndor: Gipfel in der Mitte des Landbruchs Donnerherz: Höhle der Macht im Donnerberg, Kiril Threndor Doriendor Korischew: Ruinenstadt; der Sage nach ehemalige Hauptstadt jenes Volkes, dem Berek Halbhand entstammt Drei Pfeiler der Wahrheit: grundlegende Darstellung der von der Sonnengefolgschaft gepredigten Überzeugungen Drhami: ein Weghüter Drinishok: Schwertwissen-Weiser an der Schule der Lehre Drinny: ein Ranyhyn; Lord Mhorams Reittier, Fohlen von Hynaril Dritter Kreis: der dritte der Sieben Kreise von Hoch-Lord Kevins verborgener Lehre Dromond: ein Riesen-Schiff Dnkkha: »Opfer«, Name eines Wegwahrers Dura Flinkflanke: ein Mustang, Covenants Reittier Durhisitar: ein Wegwahrer Duroc: eines der Sieben Worte Durris: ein Haruchai Ebene von Ra: die Heimat der Ramen Egger, der: ein Insequenter Eifrige, der: ein Insequenter Einholzbaum: mystischer Baum, aus dem der Stab des Gesetzes angefertigt wurde Einholzwald: der Wald, der ehemals den größten Teil des Landes bedeckte Eisenhand: Führerin der Schwertmainnir (Riesinnen) Elemesnedene: Heimat der Elohim Elena: Tochter Lenas und Covenants, später Hoch-Lord Elohim: ein geheimnisvolles Volk, auf das die seefahrenden Riesen treffen Elohim-Fest: Versammlung von Elohim Emacrimmas Schlund: eine Region der Mittellandebenen Emereau Vrai: eine Königstochter; die Geliebte Kastenessens Entwurzelten, die: Bezeichnung der an der Wasserkante lebenden Riesen für sich selbst Erdblut: konzentrierte flüssige Erdkraft, einziges bekanntes Vorkommen unter dem Melenkurion Himmelswehr, Ursprung der Macht des Gebots Erdfreund: ein erstmals Berek Halbhand beigelegter Titel Erdkraft: die natürliche Lebenskraft; der Quell aller Kraft im Land Erd-Sicht: Riesen-Gabe, ferne Gefahren und Bedürfnisse wahrzunehmen
Erdwunde: grausige Wunde in der Erde, die einer großen Grube voller Maden gleicht Erdwurzel: See unter dem Melenkurion Himmelswehr Ernannte, der: ein Elohim, dazu bestimmt, eine Last zu tragen; Findail Erschaffer: Name der Jheherrin für Lord Foul Erschaffers Hort: Name der Jheherrin für Lord Fouls Hort Erste der Sucher: Anführerin der Riesen, die der Erd-Sicht folgen Erster Kreis von Kevins Lehre: der erste der Sieben Kreise von Hoch-Lord Kevins verborgener Lehre Erster Scharwart: dritthöchster Kommandeur des Kriegsheers von Herrenhöh Erster Verräter: Name der Sonnengefolgschaft für Berek Halbhand Erstes Holzheim: von Sunder und Hollian gegründete Siedlung Esmer: unglücklicher Sohn Cails und der Tänzerinnen der See Fael Befylam: Schlangenform der Jheherrin Faer: Gemahlin Callindrills Fähnlein: Einheit des Kriegsheers von Herrenhöh, zwanzig Krieger und ein Streitwart Fänge: die Zähne des Reißers, Bezeichnung der Ramen für Dämondim Fangzahn der Reißer: Name der Ramen für Lord Foul Fangzähne des Reißers: Name der Ramen für Dämondim Fehlbein Kielschrammer: Vater der Riesen-Drillinge, der späteren Wüteriche Feind, der: Lord Fouls Name für den Schöpfer Felsbergau: eine Region in den Mittlandebenen Fernschau: Ausguck auf der Spitze des Großmasts eines Riesen-Schiffs Feroce: Bewohner der Sümpfe der Sarangrave-Ebene Festung des na-Mhoram: Schwelgenstein Feuerlöwen: lebendiger Lavastrom des Donnerbergs Feuersteine: Glutsteine Findail: einer der Elohim; der Ernannte Flammengeister von Andelain: Lichtwesen, die beim Frühlingsfest tanzen Flusswacht: ein Gebiet nördlich des Flusses Seelentrost Fole: ein Haruchai Forsthüter: Beschützer der letzten Reste des Einholzwaldes Fostil: Mann aus Steinhausen Mithil, Vater Liands Fouls Hort: das Heim des Verächters, Ridjeck Thome
Freischüler: Erforscher von Kevins Lehre, die sich von aller Verantwortung befreit individueller Gelehrsamkeit widmen können Friedensschwur: von der Bevölkerung des Landes abgelegter Eid mit der Verpflichtung, unnötige Gewalt zu meiden Frostherz Graubrand: eine Schwertmain (Riesin) Frühlingsfest: Tanz der Flammengeister von Andelain bei Neumond in der Frühlingsmitte Frühlingswein: erfrischendes, schwach alkoholisches Getränk Gaddhi: Herrscher über Bhrathairealm GalgenbUhl: Richtplatz in der Würgerkluft Galt: Haruchai, ein Meister des Landes, einer der Gedemütigten Garth: Streitmark des Kriegsheers von Herrenhöh Gay: eine Heimständige der Ramen Geas: bindendes Gelöbnis Gedemütigten, die: drei Haruchai, die verstümmelt wurden, um Thomas Covenant zu gleichen und die Meister an ihre Beschränkungen zu erinnern Gefolgsfrau, Gefolgsmann: Angehörige der Sonnengefolgschaft Geheime Kammer der Sonnengefolgschaft: Speicher für altes Wissen Gesetz, das: die natürliche Ordnung Gesetz des Lebens: natürliche Ordnung, die Tote von den Lebenden trennt Gesetz des Todes: natürliche Ordnung, die Lebende von den Toten trennt Gesundheitssinn: die Fähigkeit, physische und emotionale Gesundheit auf den ersten Blick zu erkennen Ghohritsar: ein Wegwahrer Ghramin: ein Wegwahrer Gibbon: der na-Mhoram, Führer der Sonnengefolgschaft Gilden: ahornähnlicher Baum mit goldenen Blättern Gischtsprüher:iyrscull von Blankehans und Seeträumer Glammer: trügerischer Zauber Glimmermere: See auf der Hochebene über Schwelgenstein Glutasche: Lavastrom als Verteidigungsring um Lord Fouls Hort, Gorak Krembai Glutaschenkamm: erkalteter Lavastrom in den Zerspellten Hügeln Glutstein: Feuerstein, der mittels Steinwissen Licht und Wärme abstrahlt Glutsteinmeister: ein Meister des Steinwissens
Gorak Krembai: Glutasche; Verteidigungsring um Lord Fouls Hort Grace: eine Seilträgerin der Ramen Gräuelinger: Zeuger von Dämondim Grauer Fluss: ein Fluss des Landes, Maerl Grauer Schlächter: Lord Foul, wie das Volk des Landes ihn nennt Graue Wüste: das Gebiet südlich des Landes Grauriedstrich: ein Gebiet nördlich des Flusses Seelentrost Gravin Threndor: Donnerberg Greif: löwenähnliches geflügeltes Tier Grenze des Wanderns: Tal im Südlandrücken südöstlich von Mithil Steinhausen; Versammlungsort der nomadischen Ramen Grimme Blankehans: ein Riese, Kapitän der Stemfahrers Schatz, Bruder Ankertau Seeträumers Grimmerdhore: ein Wald des Landes Große Wüste: ein Gebiet der Erde, Heimat der Bhrathair und der Sandgorgonen Großer Mann: der Forsthüter Caerrroil Wildholz Großer Sumpf: Lebensverschlinger, eine Region des Landes Großrat: Beratungsgremium der Lords in Schwelgenstein Großrat der Lords: Beschützer des Landes Güldenblattbaum: ahornähnlicher Baum mit goldenen Blättern Güldenfahrt: das Holz des Güldenblattbaums Hafenmeister: oberster Hafenverwalter in Bhrathair Halbhand: ein Thomas Covenant (und zuvor schon Berek) beigelegter Name Halle der Geschenke: saalartige Höhle in Schwelgenstein, in der Kunstwerke des Landes aufbewahrt werden Halbmagier: Bewohner von Vidik Amar Hamako: einziger Überlebender aus dem zerstörten Steinhausen Bestand Hami: ein Mähnenhüter der Ramen Handir: ein Anführer der Haruchai, der Sprecher der Meister Harn: ein Haruchai: Beschützer Hollians Haruchai: Kriegervolk aus dem Westlandgebirge Heers, die: die Anführer eines Holzheims Hehres Holz: Lomillialor, Stab aus dem Holz des Einholzbaums Heilerin: eine Ärztin Heilerde: Lehmerde mit Heilkräften
Heilige Halle: Halle fürs Abendgebet in Schwelgenstein Heimat: ursprüngliches Zuhause der Riesen Heimständiger: unterster Rang bei den Ramen Heimtücke: Bösartigkeit; Bezeichnung für Wesen und Wirkung des Ver ächters Hengst der Erstherde: Kelenbhrabanal Herdglut: eine Riesin; Köchin der Seefahrers Schatz; Gemahlin Seesoßes Herdwart zu Herrenhöh: für Licht, Wärme und Gastfreundschaft verant wortlicher Kämmerer Herem: ein Riesen-Wüterich, Sippenmörder, Turiya Hergrom: ein Haruchai Herrenhöh: Schwelgenstein Herrufung: Thomas Covenants durch die Kraft der Lords bewirkte unfrei willige Versetzung in das Land Herz der Heimat: ein Berek Halbhand beigelegter Titel Herzensfreude: Steuerruder eines Riesen-Schiffs Hile Troy: Heerführer, später in Caer-Caveral verwandelt Hoch-Gott: Gottheit der Feroce Hochland: das Plateau oberhalb von Schwelgenstein Hoch-Lord: Vorsitzender des Großrats Hoerkin: ein Streitwart des Kriegsheers von Herrenhöh Hohl: Abkömmling von Dämondim, von Urbösen für geheime Zwecke gezüchtet Höhle der Macht: Kiril Threndor tief im Donnerberg; Donnerherz Höhlenschrate: im Donnerberg hausende böse Wesen Hollian: Tochter von Amith, Sonnenseherin von Steinhausen Kristall Holzheim: eine Heimstatt von Menschen des Lillianrill Holzheim Hocherhaben: ein Dorf des Landes Holzheim Streitmacht: ein Dorf auf den Südlichen Ebenen Holzheim Weitab: ein Dorf des Landes Holzheimer: Einwohner eines Holzheims Horrim Carabal: der Lauerer der Sarangrave Hort des Erschaffers: Name der Jheherrin für Fouls Hort Hower: ein Bluthüter, Lord Lerya beigeordnet Hrama: ein Ranyhyn-Hengst, Aneles Reittier Huryn: ein Ranyhyn, Terrels Reittier Hustin: von Kasreyn als Leibwache des Gaddhi gezüchtete halbmenschliehe Soldaten Hyn: eine Ranyhyn-Stute, Linden Averys Reittier Hynaril: ein Ranyhyn; erst Tamaranthas, dann Mhorams Reittier Hynyn: ein Ranyhyn-Hengst, Staves Reittier
Hyrim: ein Lord, Sohn Hooles Imoiran: Frau aus Steinhausen Mithil, Tochter Moirans, Gemahlin Tomais Infelizitas: regierende Herrscherin der Elohim Insel des Einholzbaums: Felsinsel, auf der der Einholzbaum steht Insequente: ein geheimnisvolles Volk, das weit westlich des Landes lebt Irin: Kriegerin des Dritten Fähnleins des Kriegsheers von Herrenhöh Jain: eine Mähnenhüterin der Ramen Jass: Haruchai, ein Meister des Landes Jehannum: ein Riesen-Wüterich, Markschänder, Moksha Jerrick: Halbmagier aus Vidik Amar Jeurquin: Mann aus Steinhausen Mithil, Gefährte Triocks Jheherrin: weiche Kriechwesen, amorphe misslungene Geschöpfe des Erschaffers Jolenid: Tochter Loerjas Jous: Mann aus Steinhausen Mithil; Sohn Prassans; Vater Nassics; Erbe des Auftrags eines Freischülers, die Erinnerung an Halbhand wachzuhalten Kaarstrain: ein Gebiet nördlich des Flusses Seelentrost Kaiina: Frau aus Steinhausen Mithil, Gemahlin Nassics, Mutter Sunders Kam: ein Mähnenhüter der Ramen Kanzel: Thron des Gaddhi Kasreyn von dem Wirbel: Thaumaturg, Wesir des Gaddhi von Bhrathairealm Kastenessen: einer der Elohim; ehemaliger Ernannter Kelenbhrabanal: in Ranyhyn-Sagen der Vater der Pferde Kenaustin Ardenol: Sagengestalt bei den Haruchai, Vorbild und Inbegriff aller Tugenden Kernholzkammer: Versammlungsraum (in einem Baumstamm) eines Holzheims Kevin Landschmeißer: letzter Hoch-Lord der Alt-Lords; Sohn Lorik Übelzwingers Kevinsblick: hoher Aussichtspunkt in der Nähe von Steinhausen Mithil Kevins Lehre: in den Sieben Kreisen des Wissens zusammengefasste Erkenntnisse Kevins Kevins Schmutz: smogartiger Dunst, der das Oberland bedeckt, von unten unsichtbar, blockiert das Gesundheitsgefühl Khabaal: eines der Sieben Worte Kiril Threndor: Höhle der Macht tief im Donnerberg; Donnerherz Klagewind: in Richtung Seelenbeißer (ein Meer) wehender Wind
Klause: Beratungsraum der Lords in Schwelgenstein Klein-Andelain: eine Region der Mittlandebenen Knolle Windsbraut: eine Riesin, Lagerverwalterin der Sternfahrers Schatz Koloss am Wasserfall: alte Steinfigur, die den Zugang zum Oberland bewacht Koral: ein Bluthüter, Lord Amatin beigeordnet Korik: ein Bluthüter Kreis: eine Teileinheit von Kevins Lehre Kreis der Ältesten: Führungsriege in Steinhausen Mithil Kresch: blutrünstige, riesige gelbe Wölfe Kriechgeschöpfe: die Jherherrin Kriegsheer: Streitmacht der Lords zu Herrenhöh Krill: von Hoch-Lord Lorik geschmiedeter Zauberdolch, von Thomas Covenant zu neuer Wirksamkeit erweckt Kurash Festellin: zerklüftete Höhen auf dem Weg nach Schwelgenstein Kurash Pienethor: einst als Trümmersteingau bezeichnete Region des Landes, jetzt Trothgard (»Wortgetreu«) genannt Kurash Qwellinir: die Zerspellten Hügel Lagerverwalter: zweiter Offizier eines Riesen-Schiffs Lal: ein Seilträger der Ramen Land, das: allgemein das auf der Karte dargestellte Gebiet; ein wichtiges Gebiet der Erde, in dem die Erdkraft einzigartig ist Landbruch: gewaltige Felsklippe zwischen Ober- und Unterland Landläufer: von der Sonnengefolgschaft mit Hilfe des Sonnenübels geschaffenes Tier Landschmeißer: ein Hoch-Lord Kevin beigelegter Titel Landwanderer: ein Fluss des Landes Lauerer der Sarangrave: Ungeheuer im Großen Sumpf Lebensverschlinger: der große Sumpf Lehrenkundiger: ein Anführer der Urbösen Lehrwart: ein Lehrer in Schwelgenholz Lena: Mädchen aus Steinhausen Mithil, Tochter Atiarans, später Mutter Elenas Lianar: machtvoller Holzstab, von Allholzmeistern gebraucht Lillianrill: das Holzwissen, ein Meister des Holzwissens Lithe: eine Mähnenhüterin
Llaura: eine Heer von Holzheim Hocherhaben Llurallin: ein Fluss des Landes Lobpreis Welterweiterung: ein Riese; Langzorn Loerja: ein Lord, Gemahlin Trevors Lomillialor: Hehres Holz, machtvoller Stab aus dem Einholzbaum Lord: jemand, der das Schwert- und Stab-Wissen aus Kevins Lehre beherrscht Lord der Niedertracht: a-Jeroth Lord-Feuer: Feuer, das die Lords aus ihren Stäben flammen lassen können Lord Foul: der Feind des Landes, der Verächter »Lord Mhorams Sieg«: Gemälde von Ahanna Lords: die hauptsächlichen Beschützer des Landes Lord-Zeuger: ein Berek Halbhand beigelegter Titel Lorik Übelzwinger: Hoch-Lord, Sohn Dameion Riesenfreunds Lor-Liarill: Güldenfahrt, ein mächtiges Holz Lucubrium: Labor eines Thaumaturgen Macht des Gebots: der Siebte Kreis von Kevins Lehre Maerl: auch Grauer Fluss genannt Mahdoubt, die: eine seltsame Alte, Dienerin in Schwelgenstein Magister von Andelain: ein Forsthüter Mähne: Bezeichnung der Ramen für ein Ranyhyn Mähnenhüter: höchster Rang bei den Ramen Mähnenweihe: Zeremonie, durch die man Mähnenhüter wird Mahrtiir: ein Mähnenhüter der Ramen, Gefährte Linden Averys Maidan: offenes Land um Elemesnedene Malliner: Heer in Holzheim Hocherhaben, Sohn Veinins Marid: Mann aus Steinhausen Mithil, Opfer des Sonnenübels Markkneten: Bein-Bildwerkerei; Anundivian jajna Markschänder: ein Riesen-Wüterich, Jehannum, Moskha Marny: ein Ranyhyn, Tuvors Reittier Meer der Sonnengeburt: ein Ozean östlich des Landes Meerjungfrauen: Tänzerinnen der See Meerschaum: eine Riesin, verstorbene Gemahlin Derbhands Mehryl: ein Ranyhyn, Hile Troys Reittier Meister: Name der Sonnengefolgschaft für Lord Foul Meister des Landes: Haruchai, die es übernommen haben, das Land vor
Verderbnis zu schützen Meister-Rukh: Eisendreizack in Schwelgenstein, der andere Rukhs nährt und abfragen kann Meistgeliebten, die: Kurtisanen des Gaddhi Melenkurion abatha: Anrufung oder Beschwörung von Macht; zwei der Sieben Worte Melenkurion Himmelswehr: ein gespaltener Gipfel im Westlandgebirge Menschenheim: hauptsächlicher Wohnort der Ramen auf den Ebenen von Ra Metheglin: ein Getränk, Met Mhoram: ein Lord, später Hoch-Lord, Sohn Variols Mhornym: ein Ranyhyn-Hengst, Clymes Reittier Mill: eines der Sieben Worte Minas: eines der Sieben Worte Mirk: eine der Papaya ähnliche Frucht, deren Fruchtfleisch einschläfernd wirkt Mithil: ein Fluss des Landes Mithils Sturz: Wasserfall am Ende des Mithil-Tals Moksha: ein Riesen-Wüterich; Jehannum; Markschänder Morgenbegrüßer: das Toppsegel am Fockmast eines Riesen-Schiffs Morgenlicht: einer der Elohim Morin: Blutmark, Oberbefehlshaber der ursprünglichen Hanic/iai-Armee Morinmoss: ein Wald des Landes Morril: ein Bluthüter, Lord Callindrill beigeordnet Muirwin Delenoth: Grabstätte des Abscheus (für die Quellvisks) Murrin: Mann aus Steinhausen Mithil, Ehemann Odonas Myrha: ein Ranyhyn, Hoch-Lord Elenas Reittier Naharahn: eine Ranyhyn-Stute, Pahnis Reittier na-Mhoram-Cro: niedrigster Rang in der Sonnengefolgschaft na-Mhoram-In: höchster Rang in der Sonnengefolgschaft na-Mhoram-In Memla: eine Gefolgsfrau der Sonnengefolgschaft na-Mhoram-In Santonin: ein Gefolgsmann der Sonnengefolgschaft na-Mhoram-Wist: mittlerer Rang in der Sonnengefolgschaft na-Mhoram-Wist Sivit: ein Gefolgsmann der Sonnengefolgschaft Narunal: ein Ranyhyn-Hengst, Mahrtiirs Reittier Nassic: Vater Sunders; Sohn von Jous; Erbe des Auftrags eines Freischülers, die Erinnerung an Halbhand wachzuhalten Naybahn: ein Ranyhyn-Hengst, Branls Reittier Nebelhorn: ein Riese, Seemann auf der Sternfahrers Schatz Nekrimah: Zauberwort, das Covenant den Beistand
Hohls sichert Nelbrin: Sohn Sunders, »Herzenskind« Nicor: großes Seeungeheuer, der Sage nach ein Abkömmling der Schlange des Weltendes Nom: eine Sandgorgone Nordlandebenen: eine Region des Landes Nordlandhöhen: eine Region des Landes Oberland: die Region des Landes westlich des Landbruchs Ödeiland: Insel vor der Küste von Elemesnedene Odona: Frau aus Steinhausen Mithil, Gemahlin Murrins Offin: ein ehemaliger na-Mhoram Omournil: eine Heer in Holzheim Hocherhaben, Tochter Mournils Onyx Steinmangold: eine Schwertmain (Riesin) Orkrest: ein Brocken vom Einstückfelsen; Sonnenstein, von einem Steinmeister gebraucht Osondrea: ein Lord, später Hoch-Lord; Tochter Sondreas Padrias: Heer in Holzheim Hocherhaben, Sohn Mills Pahni: Seilträgerin der Ramen, Cousine Sahahs, Gefährtin Linden Averys Pech: eine teerartige Steinart zur Reparatur von Stein Pechgebräu: Mixgetränk aus Diamondraught und Vitrim, von Pechnase erfunden Pechnase: ein missgestalteter Riese, Teilnehmer der Suche, Ehemann der Ersten der Sucher Pelluce-See: ausgetrockneter See in Klein-Andelain Pietten: von Lord Fouls Schergen verletztes Kind aus Holzheim Hocherhaben, Sohn Soranals Pik Feuerlöwen: Donnerberg; Gravin Threndor Porib: ein Bluthüter Pren: ein Bluthüter Prothall: ein Hoch-Lord, Sohn Dwillians Puhl: ein Seilträger der Ramen Quaan: Streitwart des Dritten Fähnleins des Kriegsheers von Herrenhöh; später Schwertwart, danach Streitmark Quellvisks: Titanen; in grauer Vorzeit von den Elohim ausgerottet Questsimoon: der Schweifherzwind; ein stetiger, günstiger Wind, vielleicht von der Jahreszeit abhängig Quirrel: Mann aus Steinhausen Mithil, Gefährte Triocks Rahnock: eine Schwertmain (Riesin) Ramen (Einzahl: Raman): Menschen, die den Ranyhyn dienen Ramen Zuflucht: Tal im Südlandrücken südlich von Steinhausen Mithil; letzter Zufluchtsort der Ramen Rant Absolain: der Gaddhi von
Bhrathairealm Ranyhyn: die großen Pferde der Ebene von Ra Raureif Kaltgischt: Führerin der Schwertmainnir (Riesinnen) Raw: ins Land der Elohim führender fjordartiger Fluss Raw-Schroffen: die Berge um Elemesnedene Reichaardsveid: eine Region in den Mittlandebenen Reine, der: Erlösergestalt in den Legenden der Jheherrin Reiterei: die menschlichen Soldaten des Gaddhis Reumut: ein Mähnenhüter der Ramen, ehemals Gay geheißen Rhadhamaerl: Steinwissen, ein Meister des Steinwissens Rhee: ein dicker Brei, Nahrung der Ramen Rhohm: ein Ranyhyn-Hengst, Liands Reittier Rhysh: eine Gemeinschaft von Wegwahrern, »Stätte« Rhyshyshim: eine Rftys/z-Versammlung; der Ort, an dem diese Versammlung stattfindet Ridjeck Thome: Lord Fouls Hort Riesen: die Entwurzelten; seit Urzeiten mit den Lords befreundet; Seefahrervolk Riesenfreund: ein erst Dameion, später Thomas Covenant beigelegter Titel Riesen-Schiff: steinernes Segelschiff der Riesen; Dromond Riesen-Straße: führt durch die Sarangrave-Senke Riesen-Wald: ein Wald des Landes Rill: ein Fluss des Landes Rülinlure: heilkräftiges Holzmehl Ring-Than: Thomas Covenant (und später Linden Avery) von den Ramen beigelegter Name Ringträger: Thomas Covenant von den Elohim beigelegter Name Rire Grist: ein Caitiffin der Reiterei des Gaddhi Ritual der Schändung: eine Verzweiflungstat, durch die Hoch-Lord Kevin die Alt-Lords vernichtete und den größten Teil des Landes verwüstete Rösserritual: eine Versammlung von Ranyhyn, bei der sie bewusstseinserweiternde Wässer trinken, um Visionen, Prophezeiungen und Ziele zu teilen Roge Befylam: Höhlenschraten ähnliche Formen der Jheherrin Ruel: ein Bluthüter, Hile Troy beigeordnet Rüstig Grobfaust: eine Schwertmain (Riesin) Rukh: Eisendreizack, mit dem Gefolgsleute die Macht des Sonnenübels ausüben Rund der Hoheit: Thronsaal des Gaddhi, die vierte Stufe der Sandbastei Rund des Reichtums: Ausstellungsräume für die Schätze des Gaddhi, die dritte Stufe der Sandbastei Runnik: ein Bluthüter Rustah: ein Seilträger
der Ramen Sahah: ein Seilträger der Ramen Salva Gildenbourne: von Sunder und Hollian gepflanzter und gehegter Güldenwald Salzherz Schaumfolger: ein Riese, der Freund Covenants Salzzahn: Felszacken im Heimathafen der Riesen Samahdi: ein Riesen-Wüterich, Satansfaust, Sheol Sandbastei: Schloss des Gaddhi von Bhrathairealm Sandgorgone: Ungeheuer in der Großen Wüste von Bhrathairealm Sandwall: der mächtige Schutzwall um Bhrathairealm Sarangrave-Senke: eine Region des Landes; der große Sumpf Satansfaust: ein Riesen-Wüterich, Sheol, Samadhi Satansherz: ein Name der Riesen für Lord Foul Schar: Einheit des Kriegsheers von Herrenhöh: zwanzig Fähnlein und ein Scharwart Scharwart: Führer einer Schar Schatzbeeren: Aliantha; nahrhafte Beeren, die zu jeder Jahreszeit überall im Land wachsen Schaumig Gischtschwall: eine Riesin, Mutter der Ersten der Sucher Schiefingen: lange felsige Steigung auf dem Weg nach Schwelgenstein Schlange des Weltendes: ein Wesen, das nach dem Glauben der Elohim die Grundfesten der Erde errichtet hat Schleierfälle: Wasserfall bei Schwelgenstein Schleierfälle-Flamme: Warnfeuer Schwelgensteins Schratgrabmal: Steinhaufen, unter dem Seibrich Felswürm verschüttet liegt Schrathöhlen: Reich der Höhlenschrate im Donnerberg; Katakomben SchrathöhlenbrUcke: Eingang zu den Katakomben unter dem Donnerberg Schrecken der Sandgorgonen: von Kasreyn geschaffener übermächtiger Sturmwirbel, um die Sandgorgonen einzukerkern Schule der Lehre: Schule in Schwelgenholz (Trothgard), an der Kevins Lehre studiert wird Schwarzer Fluss: ein Fluss des Landes Schweifherzwind: der Questsimoon Schweigeprüfung: Probe auf Integrität durch die Bevölkerung des Landes Schwelgenholz: Sitz der Schule der Lehre, von den Lords angelegte Baumstadt Schwelgenstein: Herrenhöh, von Riesen erbaute Bergfestung
Schwertältester: ältester Lehrwart für Schwertwissen an der Schule der Lehre Schwertmain, -mainnir: bewaffnete Riesinnen Schwertwart: zweithöchster Kommandeur des Kriegsheers von Herrenhöh Schwertwissen: Zweig des Studiums von Kevins Lehre Schwur: von den Haruchai geleisteter Eid als Grundlage des Diensts der Bluthüter Seelenbeißer: in der Überlieferung der Riesen ein gefährliches Meer Seelenbeißers Zähne: Riffe im Seelenbeißer Seelenpresser: ein Name der Riesen für Lord Foul Seelentrost: Fluss in Andelain Seesoße: ein Riese, Koch der Sternfahrers Schatz, Gemahl Herdgluts Segen der Freischüler: Ritual der Freisetzung unabhängiger Gelehrter Seher: ein Mitglied der Sonnengefolgschaft, das den Meister-Rukh betreut und einsetzt Seibrich Felswürm: ein Höhlenschrat, Anführer der Höhlenschrate; Finder des Weltübelsteins Seidensommer Glanzlicht: eine Riesin, die Erste der Sucher, Gemahlin Pechnases Seilträger: zweithöchster Rang bei den Ramen Seilweihe: Aufnahmezeremonie in den Kreis der Seilträger Sheol: ein Riesen-Wüterich, Satansfaust, Samahdi Shetra: ein Lord, Gemahlin Verements Shola: kleines Waldtal mit einem Bach, der sonst zwischen unbewaldeten Hügeln fließt Shull: ein Bluthüter Sieben Höllen: a-Jeroths Reich aus Wüste, Regen, Pestilenz, Fruchtbarkeit, Krieg, Barbarei und Finsternis Sieben Kreise: die Gesamtheit von Hoch-Lord Kevins Lehre Sieben Worte: Melenkurion abatha. Duroc minas mill. Harad khabaal. Sie, die nicht genannt werden darf: unterirdisches Monster; Ursprung von Kevins Schmutz Sill: ein Bluthüter, Lord Hyrim beigeordnet Sippenmörder: ein Riesen-Wüterich, Herem, Turiya Skest: Säurewesen, die dem Lauerer von Sarangrave dienen, »Säurekinder« Skurj: unheilvolle, unerklärliche Wesen Sein: Mann aus Steinhausen Mithil, Gemahl von Terass Somo: von Liand aus Steinhausen Mithil mitgenommenes Pferd Sonnenfeuer: Feuer, mit dem die
Sonnengefolgschaft das Sonnenübel zu bannen vorgibt Sonnengefolgschaft: Gemeinschaft, die das Sonnenfeuer nährt und über das Land herrscht Sonnenkundiger, Sonnenweiser: jemand, der das Sonnenübel willkürlich beeinflussen kann Sonnenseher: jemand, der einen Holzstab benützen kann, um das Sonnenübel vorauszusagen Sonnenstein: Orkrest SonnenÜbel: aus dem Verderben der Natur durch Lord Foul entstehende unheilvolle Macht Soranal: Heer in Holzheim Hocherhaben, Sohn Thillers Spätgeborene: eine Schwertmain (Riesin) Spitzen: Wachttürme an der Einfahrt zum Hafen Brathairain Stab des Gesetzes: ein Werkzeug, das Erdkraft verströmt; der erste Stab wurde von Berek aus dem Einholzbaum hergestellt und später von Thomas Covenant vernichtet; den zweiten Stab stellte Linden Avery her, indem sie Hohl und Findail durch wilde Magie verschmolz Stabwissen: Zweig des Studiums von Kevins Lehre Stadt des Heimwehs: Coercri, ehemalige Heimstatt der Riesen an der Wasserkante Starkin: einer der Elohim Stave: ein Haruchai, ein Meister des Landes, Linden Averys Gefährte Steinbruder, Steinschwester: liebevolle Anrede zwischen Menschen und Riesen Steinhausen: eine Heimstatt von Menschen des Rhadharaaerls Steinhausen Bestand: durch den Zorn des na-Mhorams zerstörtes Heimatdorf Hamakos Steinhausen Kristall: Hollians Heimatdorf Steinhausen Landrain: ein Dorf des Landes Steinhausen Mithil: ein Dorf auf den Südebenen Steinhausen Windwais: ein Dorf des Landes Steinhausener: Einwohner eines Steinhausens Steinlicht: von glühendem Stein ausgestrahltes Licht Steinmacht: ein Bruchstück des Weltübelsteins Steinmeister: jemand, der Steine benützt, um dem Sonnenübel zu steuern Stell: Haruchai, Beschützer Sunders Sternfahrers Schatz: für die Suche verwendetes Riesen-Schiff Stimme der Meister: ein Anführer der Haruchai; Sprecher der Meister als Gruppe
Streitmark: Oberbefehlshaber des Kriegsheers von Herrenhöh Streitwart: Führer eines Fähnleins Sturmvorbei Böen-Ende: eine Schwertmain (Riesin) Sturz: Bezeichnung der Haruchai für eine Zäsur Suche, die: Suche der Riesen nach der Erdwunde; später ihre Suche nach der Insel des Einholzbaums Suche nach dem Stab des Gesetzes: Versuch, den Stab des Gesetzes von Seibrich Felswürm zurückzugewinnen Sunder: Steinmeister von Steinhausen Mithil, Sohn Nassics Sur-Jheherrin: Abkömmlinge der Jheherrin, Bewohner der Sarangrave-Senke Surupamaerl: die Kunst, Bildnisse aus Steinen zu machen Swarte: ein Gefolgsmann der Sonnengefolgschaft Syr Kampfbereit: ein Forsthüter Tal der Zwei Flüsse: Standort von Schwelgenholz in Trothgard Tanz der Flammengeister: Frühlingsfest in Andelain Tänzerinnen der See: Meerjungfrauen; sagenhafte Nachkommen des Elohims Kastenessen und seiner sterblichen Geliebten Taramantha: ein Lord; Tochter Enestas; Gemahlin Variols Terass: Frau in Steinhausen Mithil, Tochter Annorias, Gemahlin Slens Terrel: ein Bluthüter, Lord Mhoram beigeordnet; Kommandeur in der ursprünglichen Haruchai-Armee. Thelma Zweifaust: eine Riesin, die Baghoon den Unerzogenen dreimal bändigte Theomach, der: siehe Kenaustin Ardenol Theurgie: von Wesir Kasreyn bewirkter Zauber Thew: ein Seilträger der Ramen Thomin: ein Bluthüter, Lord Verement beigeordnet Thronsaal: Sitz des Verächters in Lord Fouls Hort Tohrm: Glutsteinmeister Herdwart zu Herrenhöh Tomal: Kunstmeister in Steinhausen Mithil Toril: ein von der Sonnengefolgschaft ermordeter Haruchai Toten, die: Geister der Verstorbenen Trell: Glutsteinmeister in Steinhausen Mithil; Gemahl Atiarans, Vater Lenas Trevor: ein Lord, Gemahl Loeryas Triock: ein Mann aus Steinhausen Mithil; Sohn Thulers; Verehrer Lenas Trothgard: eine Region des Landes, ehemals Ttümmersteingau genannt Troy, Hile: aus Covenants Welt stammender Streitmark des Kriegsheers der Hoch-Lord Elena Trümmerschwemme: ein Fluss des Landes
Trümmersteingau: eine Region des Landes, jetzt Trothgard genannt Trutzmark: dritthöchster Befehlshaber des Kriegsheers von Herrenhöh Tull: ein Bluthüter Turiya: ein Riesen-Wüterich; Herem; Sippenmörder Tüvor: Blutmark; Kommandeur in der ursprünglichen Haruchai-Armee Tyrskull: Übungsboot der Riesen für angehende Seeleute Übel-Ender: ein Thomas Covenant beigelegter Name Ulmenhügel: Versammlungsplatz der Elohim Unheilsbotin: Riesinnen-Schiff von Kaltgischts Schwertmainnir Unterland: die Region des Landes östlich des Landbruchs Urböse: Abkömmlinge von Dämodim, abgrundtief böse Wesen Ur-Lord: ein Thomas Covenant beigelegter Titel Ussusimiel: von den Bewohnern des Landes angebaute nahrhafte Melone Vailant: ehemaliger Hoch-Lord; Vorgänger Prothalls Vale: ein Bluthüter Variol: ein Lord, später Hoch-Lord; Sohn Pentils, Gemahl Tamaranthas, Vater Mhorams Vater der Pferde: Kelenbhrabanal, sagenhafter Urvater der Ranyhyn Verächter: Name der Lords von Herrenhöh für Lord Foul Verderber: Name der Bluthüter/Haruc/iai für Lord Foul Verement: ein Lord; Gemahl Shetras Verlorene Tiefe: Werkstatt des Erschaffers; Brutstätte/Labor unter dem Donnerberg, in dem Dämondim, Wegwahrer und Urböse erschaffen werden Verlorensohn Langzorn: ein Riese Verräterschlucht: in den Donnerberg hinabführende Schlucht Verwüstung: Zeitalter des Ruins im Land als Folge des Rituals der Schändung Viancome: Versammlungsort in Schwelgenholz Victuallin Tayne: eine Region in den Mittelebenen Vidik Amar: Heimat der Halbmagier Vitrim: von Wegwahrern hergestelltes nahrhaftes Getränk Vizard, der: ein Insequenter Voure: ein Pflanzensaft, der Insekten abhält Vraith: ein Wegwahrer Wächter des Einholzbaums: mystische Gestalt, die den Zugang zum Einholzbaum bewacht; ak-Haru Kenaustin Ardenol Wächter des Wagnisses: den Dämondim ähnliche Bewacher einer
unteririschen Brücke Wagnis: von den Gräuelingern erbaute Brücke über eine unterirdische Kluft Wahrheitsprobe: Prüfung durch Lomillialor oder Okrest Wahrnehmung: Linden Averys erhöhte Sensibilität, mit der das Land sie ausgestattet hat Wahrsager: ein Seher Wahrsagung: von der Sonnengefolgschaft praktiziertes Offenbarungsritual Warnwort: ein machtvolles, zerstörerisch wirkendes Gebot Wasserglanz Stämmig: eine Schwertmain (Riesin) Wasserhulden: die weibliche Seele des Meeres, Sirenen Wasserkante: von den Entwurzelten (Riesen) bewohnte Region des Landes Wegrast: von Wegwahrern unterhaltener Rastplatz für Reisende Wegwahrer: Hüter der Wegrasten; verstoßene Abkömmlinge von Dämondim; Gegner und Verwandte der Urbösen Weißer Fluss: ein Fluss des Landes Weißgold: ein im Land nicht vorkommendes Metall von ungeheurer Macht Weißgoldträger/in: ein Thomas Covenant bzw. Linden Avery beigelegter Name Wellentänzer: ein von Bonke Knorrigfaust befehligtes Riesen-Schiff Weltübelstein: ein lange im Donnerberg begrabener mächtiger Zauberstein Wer-Menhire: Skurj Wesir: der wichtigste Ratgeber des Gaddhi; Kasreyn Wesirswacht: ein Turm als höchste Stufe des Sandwalls in Bhrathairain Whane: ein Seilträger der Ramen Whrany: ein Ranyhyn-Hengst, Bhapas Reittier wilde Magie: die Macht des Weißgolds; gilt als Schlussstein des Bogens der Zeit Wildträgerin: Weißgoldträgerin; Esmers Name für Linden Avery Windschoorn: ausgedehnte Wildnis auf dem Weg nach Schwelgenstein Wohlspeishaus: Kombüse und Speisesaal an Bord eines Riesen-Schiffs Woodenwold: bewaldetes Gebiet, das die Maidan von Elemesnedene umgibt Würgerkluft: ein Wald des Landes Wüteriche: drei altbewährte Diener Lord Fouls Wyrd der Erde: Ausdruck der Elohim, um ihr eigenes Wesen, ihren Zweck oder ihre Bestimmung zu beschreiben Zäsur: ein Sturz; ein Riss im Gewebe der Zeit Zeitenherr: Thomas Covenant nach seinem Tod von den Elohim
beigelegter Name Zerspellte Hügel: Kurash Qwellinir, Region des Unterlandes, die Lord Fouls Hort schützt Zirrus Gutwind: eine Schwertmain (Riesin) Zobelhaar Schaumherz: eine Schwertmain (Riesin) Zopfhaupt Allwetter: Mutter der Riesen-Drillinge, der späteren Wüteriche Zorn (des na-Mhorams Zorn): ein zerstörerischer Sturm, mit dem die Sonnengefolgschaft straft Zweifler: ein Name, den Thomas Covenant sich selbst beigelegt hat Zweiter Kreis: der zweite der Sieben Kreise von Hoch-Lord Kevins verborgener Lehre Zweites Rund: zweite Stufe der Sandbastei in Bhrathairain