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Liebe SF-Freunde!
Entsinnen Sie sich noch, wie wir vor Jahren an dieser Stelle einmal erklärten, wir würden bestrebt sein, den Humor in der SF zu fördern, indem wir nicht nur Romane mit ernsten Themen in die Produktion aufnehmen, sondern auch Romane, bei deren Lektüre der Leser—je nach Temperament — schmunzeln oder lauthals lachen könnte? Nun, wir haben den SF-Humor nicht zu kurz kommen lassen — siehe LANCELOT BIGGS und DIE GRÜNEN TEUFEL bei den HEYNE-Taschenbüchern, oder GALAXIS AHOI; DER DIKTATOR VON TITTAKAT und ALEXANDER JONES bei TERRA, um nur einige der markantesten Titel zu nennen —, und die Mehrheit der Leser ist, wie wir wissen, sehr dafür. In Österreich z. B. verlangen Leser bei ihrem Zeitschriftenhändler den „neuesten Gucky" und meinen den neuesten „Perry Rhodan-Roman" damit — ein Zeichen, daß die lustigen Mausbiber sehr eingeschlagen haben! Aber es gibt auch Ausnahmen — und eine solche Ausnahme möchten wir heute zur Diskussion stellen. Das Schreiben stammt von Ingo G. aus Hamburg. Darin heißt es u. a.: „Sehr geehrte Herren! Wahrscheinlich werden Sie meinen Brief gleich in den Papierkorb werfen, aber ich hoffe, Sie werden ihn wenigstens zu Ende lesen. Ich lese die Perry RhodanSerie nun schon einige Jahre, ich habe alle Hefte von Nr. 1 an gelesen, aber was Sie sich bei der Nr. 189 EXPEDITION DER MAUSBIBER gedacht haben, kann ich mir nicht vorstellen. War das vielleicht für kleine Kinder gedacht oder ein Aprilscherz?" Hier unsere Antwort: „Lieber Perry Rhodan-Freund! Neugierig wie Mausbiber nun einmal sind, zog Gucky bei seinem letzten Verlagsbesuch Ihr Schreiben aus dem Papierkorb und bat uns Ihnen folgendes in seinem Namen mitzuteilen: ,Wenn Sie alle Perry Rhodan-Bände kennen, dann werden Sie sich auch daran erinnern, daß ich, Gucky, in meiner Jugend ziemlich dumme Streiche gemacht habe. Und meine Schützlinge vom Mars können schließlich das gleiche Recht für sich in Anspruch nehmen, denn sie sind noch zu jung, um das Leben ernst zu nehmen. Es sind quasi noch Lausejungen — pardon, es muß natürlich heißen „Lausebiber“ oder “Lausemausbiberjungen“ ...? — Naja, auf jeden Fall wissen Sie, was ich meine. Warten Sie nur bis Band 200, der im Jahre 2400 spielt und der Perrys Vorstoß nach Andromeda schildert, dann werden Sie sehen, daß speziell Gecko sich gut herausgemausert (oder -gebibert) hat und auch in den gefährlichen Situationen seinen Biber steht,
daß sich kein Mensch seiner zu schämen braucht. Freundliche Grüße! Ihr Gucky. Z. Zt. Mausbiber o. b. V. (ohne besondere Verwendung).’’’ Diesen Grüßen schließt sich an
Die SF-Redaktion des Moewig-Verlages Günter M. Schelwokat
Ihr nächster TERRA-Band (Nr. 402):
Gladiator des Rechts (GLADIATOR-AT-LAW) von Frederic Pohl und C. M. Kornbluth Er bekämpft das Erbe der dunklen Vergangenheit __ denn er will den Menschen eine bessere Zukunft schenken... Ein SF-Thriller aus dem 21. Jahrhundert! Schon in wenigen Tagen überall im Zeitschriftenhandel erhältlich.
TERRA-Band 401
Nemesis von den Sternen von HANS KNEIFEL
1. Der breite Strom nahm jetzt wieder jene unerklärliche Goldfärbung an. Skogamandryreiher schwammen durch den Spiegel einer flachen Bucht. Weit in der Ferne hörte man das wütende Hämmern eines Samenfressers. Die lange Dämmerung erfüllte Luft und Himmel mit einem ungewissen Licht zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Das Firmament war mit dünnen Wolken verhangen. Die Natur des Planeten lebte in dieser Dämmerung auf eine merkwürdige Art; hektisch und leidenschaftlich. Als ob sie im letzten Aufbäumen vor dem Sterben liegen würde. Gelbe Vögel wirbelten zwischen den Ranken umher, Insektenschwärme stoben vorbei. Die große Bucht öffnete sich jetzt. Grellweißer Sand, der einen fast vollkommenen Halbkreis bildete, lag vor der undurchdringlichen Mauer der niedrigen Sträucher. Ein flacher Hügel, flach wie alles auf Skogamandry, erhob sich über den Pseudowald. Der viereckige Metallwürfel glänzte matt in dem strahlenlosen und fahlen Sonnenlicht. „Alles sieht aus, als ob wir hier im Paradies wären“, sagte Orr und steuerte das Boot in eine Kurve. Dann drehte er den Motor auf, und der flache Rumpf schlitterte zwanzig Meter über den Sand, bis zu dem schwarzen Baumstumpf. „Und es ist derart unglaublich tödlich und vergiftet“, erwiderte Vance mürrisch. Die beiden Männer in den gelben Schutzanzügen zogen das Boot noch ein wenig höher und vertäuten es mit kunststoffumflochtenen Stahlketten. Sie nahmen die Instrumente aus dem wassergeschützten Raum zwischen Bug und Außenbordmotor und wandten sich zum ausgetretenen Pfad, der zum Hügel hinaufführte. Bereits auf halber Höhe traf der wütende Dämmerungswind die Männer und warf sie fast um. „Verdammt!“ knurrte Vance und stemmte sich gegen die Wucht der Naturgewalt. Die vier Schalen des Anemometers drehten sich wie rasend. Die Windfahne stand fast waagrecht. Ihre Spitze wies nach Norden, dem magnetischen Pol. Mit dem vertrauten störenden Knarren schwang der volle Windsack auf Nordnordost zurück und bewegte sich wieder in seine alte Stellung. Gräser, kleine Bäume und die Spitzen aller Gewächse bogen sich unter dem Anprall des Windes. Lange Wellenlinien fuhren über die kaum wahrnehmbaren Hügel der weiten Ebene. Stets ging der Sturm der erbarmungslosen Nacht des Planeten voraus. Ein Wind, der sich zum Orkan steigern würde. „Tröstlich, daß wir nicht im Freien arbeiten müssen“, sagte Orr und öffnete die Schiebetür des Würfels aus Aluminium.
6 Der Wind zerrte an dem zungenförmigen Überdach und den Rohren der Gestänge. Die kleine Funkanlage übertrug die gesprochenen Worte Orts und auch die Außengeräusche in Vances Schutzhelm. „Auch die Gefahr, daß jemand einbricht, ist hier denkbar gering“, erwiderte Vance und lächelte knapp. Aus dem winderfüllten Dschungel zwischen Hügel und Fluß kamen die Männer in die warme. Stille der Unterkunft. Sie waren in gelbe Anzüge gezwängt, trugen transparente Helme und lange, schwarze Handschuhe. Der geringste Kontakt mit der Pflanzenwelt Skogamandrys konnte sich tödlich auswirken. Auch die beiden Strahler, die in wasserdichten Taschen steckten, taten nichts, um die Arbeit Orrs und Vances harmlos erscheinen zu lassen. Hinter ihnen schloß sich die Tür und verbannte Wind und Geräusche nach außen. Vance fing an, sich langsam auszuziehen. Zuerst der Helm, dann die magnetischen Säume der Jacke und der Hose, dann schlüpfte er aus den kniehohen Stiefeln. Er blieb stehen und sah aus dem großen Nordfenster hinaus, direkt in die Scheibe der untergehenden Sonne hinein. „Noch vier Tage“, sagte er langsam und versuchte, sich eine Pfeife zu stopfen. „Dann hat sich unsere Arbeit erledigt. Wir waren sozusagen umsonst hier. Wo befindet sich Kirby?“ Orr antwortete nicht sofort. Er zog sich aus, ließ sich in den großen Segeltuchsessel fallen und legte die Beine auf den Tisch. „Kirby ist auf der anderen Seite des Planeten. Er wird mit seinem Schlepper länger brauchen als nur vier Tage. Du darfst dich an den Gedanken gewöhnen, noch etwas warten zu müssen.“ Orr war Deneber. Seine intensiv glühenden, grünen Augen verliehen ihm etwas Gespenstisches, Ungewöhnliches. Er war es, der Gefahren roch, noch ehe sie sich einstellten. Von der schlanken, rötlichbraunen Gestalt ging stets der Hauch von Fremdheit aus. Fremdheit — aber nicht Gefahr. Vance Carnaghan zuckte mit den Schultern und blies den Rauch vor sich hin an die Scheibe. „Jetzt sind mehr schlecht als recht zweihundert Tage vergangen“, sagte er schleppend, „es werden auch noch zehn oder fünfzehn Tage vergehen, ohne daß sich etwas ändert. Wie mich dieser Planet anwidert!“ Weit vor Carnaghans großer Gestalt verwischten sich zwei Linien; die eintönige Silhouette der leicht welligen Landschaft Skogamandrys und der blaurote Streifen, der die endlose Dämmerung anzeigte. Ein Tag auf Skogamandry dauerte zweihundertmal so lange wie auf Terra; jetzt stand die Sonne am Horizont. Die höchste sichtbare Erhebung war ein Ringkrater, den Botsaris Nova Gaurisankar genannt hatte, mit der ihm eigenen Ironie. Es war ein überwucherter Hügel, der nicht einen Zentimeter höher als vierhundert Meter war. Sonst konnte man nur die weite Ebene mit den angedeuteten Tälern, in denen breite Flüsse träge dahinflossen, und den mannshohen Urwald des Planeten erkennen. Über allem lag das Licht der Dämmerung. „Für heute machen wir Schluß“, stellte Orr abschließend fest und verlagerte sein Gewicht in dem Sessel. „Ich würde wieder einmal gern lesen“, sagte Vance und blieb am Fenster stehen. Er war ein Riese, fast zwei Meter groß und mit blondem Haar und blauen Augen. Hier auf Skogamandry wirkte er doppelt deplaziert. Eine lange Sandbank, von Millionen Flußmuscheln glitzernd, breitete sich in der Mitte der Flußkrümmung aus. Ein Zug Skogamandryreiher hielt auf dieser Sandbank Rast. Plötzlich erhoben sich die Vögel, unbeholfen und schwer, und flatterten genau auf den silbernen Würfel zu. Langsam gewannen sie an Höhe wie hoffnungs-
7 lose überbeladene Flugkörper. Das Wasser kräuselte sich unter dem Wind ihrer Schwingen — dort unten brachen die Bäume die Wucht des Sturmes, der hier oben tobte. Dann, als sich die Vögel der großen Bucht näherten, belebte eine große Unruhe die Szene. Der gesamte Himmel begann sich mit Schwingen zu füllen. Eine Wolke flatternder Vögel stieg aus dem Wald auf. Die farbigen Unterseiten der Schwingen leuchteten seltsam stumpf auf; rosa, weiß und leuchtendrot. Die Tiere fegten in wilder Hast über das grüne Ufer, während sich die Reiher stetig südwärts bewegten. Schreckliches Schreien und Kreischen erfüllte die Luft und übertönte das Heulen des Windes. Dann löste sich der riesige Schwarm auf und senkte sich wieder in den Wald. „Wir haben jetzt zweihundert Tage lang intensiv und ausschließlich versucht, die komplizierte, junge Natur dieses Planeten zu verstehen. Wir haben viel beobachtet, klassifiziert, festgestellt und beschrieben — haben wir Skogamandry verstanden?“ Carnagham hatte die Frage gestellt. Orr, der ihn und den Schein am Himmel von seinem Platz aus beobachtete, antwortete sofort in seinem bedächtigen Tonfall. Beide Männer ergänzten sich vortrefflich. „Verstanden haben wir den Planeten nicht, das ist sicher. Er wehrt sich mit jeder Wurzel und jedem einzelnen Mikroorganismus gegen jeden Eindringling. Es gibt in der Natur so etwas wie ein Kollektivbewußtsein. Hier ist es ausgeprägter als sonstwo. Sollten wir hier eine Kolonie gründen wollen, so nur mitten in der Wüste, unabhängig von Nahrungsquellen dieser Welt.“ Dann schwieg Orr Jong wieder und betrachtete Vance. Carnaghan blickte Orr aus seinen strahlendblauen Augen an, dann sprach er weiter. „Mir gefällt nicht, was wir vier Menschen machen — hier und auf unzähligen anderen Planeten, wir klettern in unsere Schiffe, in teilweise alte Kästen, denen jeder Start das Letzte abverlangt, wir fahren in Schleppern um die Planeten und suchen Gräser und Tiere und Intelligenz. Es sieht so aus, als liefe die Menschheit vor sich selbst davon.“ Orr Jong schüttelte seinen hageren, braunen Schädel und lächelte ganz leicht. „Du hast nicht recht, Vance.“ Er nahm die Beine vom Tisch und ging zu der eigentümlichen Kombination aus Kühlschrank, Herd und Vorratsbehälter hinüber. Heute hatte ihn das Los getroffen; er sorgte für das Essen. Langsam und bedächtig stellte er Teller, Tassen und Besteck auf zwei Tabletts. „Nicht ganz recht“, fuhr er fort. „Es sind selten Probleme einer Nation oder einer Rasse. Es sind Dinge, die in den einzelnen Menschen vorgehen. Ehrgeiz, Wut auf sich selbst, Flucht von der hektischen, überquellenden Erde, Suchen nach Abenteuer oder Bodenschätzen oder nach einem Häuptlingsposten eines unentwickelten Stammes. Wir vier sind hier, weil uns unsere Neigungen und unser Wissen keine andere Wahl gelassen haben.“ „Wir hätten keine andere Wahl gehabt?“ fragte Carnaghan erstaunt und hob seine blonden Brauen. „Wie das?“ „Ganz klar“, sagte Orr geduldig. „Natürlich hatten wir keine Wahl. Wir sind eine Art wissenschaftlicher Abenteurer. Wir sind Geologen, Biologen, Meteorologen und so weiter. Wir haben keine andere Aufgabe, als für unser Geld mit offizieller Unterstützung des planetaren Amtes Planeten zu untersuchen und diese Ergebnisse zu verkaufen. Sonst können wir nichts anderes — was also sollten wir sonst tun. Wir sind hier genau an der richtigen Stelle. Corvair II, Skogamandry, Nova Mars, Gizdhay ... oder irgendeiner der anderen Planeten.“
8 „Da hast du wieder recht“, antwortete Vance und wandte sich wieder dem dauernden Sonnenuntergang zu. „Es liegt etwas in der Luft“, meinte Orr schließlich. „Es kommt mir vor, als ob sich etwas ereignen würde, was nicht normal, nicht gewöhnlich ist.“ „Kirby wird zurückkommen“, sagte Vance, „das wird es sein.’’ Orr schüttelte den Kopf. „Kirby braucht noch mindestens zehn Standardtage, um hierherzukommen. Dann drei Tage, bis wir Boot, Anhänger und Haus verstaut haben, dann fünf Tage bis zur Mastodon — achtzehn Tage. Nein, das ist es nicht. Es ist etwas anderes. Wir werden sehen . . .“ Die Männer nahmen gegenüber am großen Tisch Platz und begannen mit ihrer Mahlzeit. Sie aßen langsam und still. Nachdem Orr Jong Geschirr und Gläser wieder weggeräumt hatte, verdunkelte Vance Carnaghan drei der vier langgestreckten Fenster und schaltete das kleine Leselicht neben seinem Kombinationssessel an. Dieses Möbel war gleichzeitig Bett, Stuhl und Sessel, je nach Stellung seiner beweglichen Einzelteile. Orr suchte schweigend zwischen den Stapeln von Untersuchungsberichten herum und ordnete das, was die Männer bisher über die komplizierte und junge Natur Skogamandrys herausbekommen hatten. Vance las in einem schmalen, leinengebundenen Buch. Viel hatten die Männer nicht herausgefunden. Sie hatten fast zweihundert Tage lang den Planeten vermessen und topographiert, die Pflanzenwelt versucht zu klassifizieren und in ein System zu bringen. Sie hatten über vierhundert verschiedene Mikroorganismen gefunden, und auch nicht ganz dreihundert verschiedene Tiere. Aber sie mußten kapitulieren, als sie versuchten, die Stellung der Funde im Kreis des planetaren Lebens zu schildern. Keines dieser Tiere war größer als ein irdisches Rind; es gab nur niedere Lebewesen, Fische und Vögel, aber keine Echsen und Schlangen. Nur die größeren Tiere konnten als Säugetiere bezeichnet werden. Während die Fauna noch einigermaßen klar zu schildern und einzuteilen war, hatte sich die Flora richtiggehend gewehrt, beobachtet zu werden. Sie beherrschte den Planeten. Man wußte inzwischen so viel, daß Skogamandry vor zweihundert Jahren nahezu eine Wüste gewesen war. Ein alter Planet, dessen Tage länger dauerten als zweihundert irdische. Fünfzig Tage Nacht, fünfzig Morgengrauen, Dämmerung und Frühsonne, dann fünfzig Tage heißer Tag und so fort. Skogamandry war versteppt und kalt gewesen, nur mit kümmerlichen Pflanzenresten, einigen wenigen Tieren und einer Lufthülle versehen. Seit diesen zweihundert Jahren hatte sich die Landschaft in einem hektischen Tempo entwickelt und hatte sich mit einem dichten Wald überzogen. Die Polkappen waren gewachsen und hatten den trägen Strömen Wasser geschickt, das nun hinunter zum planetaren Äquator floß und dort verdunstete. Das alles — und unzählige kleine Fakten mehr — wußten die Forscher. Aber sie hatten nicht vermocht, aus diesen kleinen Steinchen ein Mosaik zu entwerfen und so das Verständnis für die biologischen Kreise des Planeten zu erwerben. Daran scheiterte es. Bisher hatte dieses Team erfolgreich und gut zusammengearbeitet und acht verschieden geartete Planeten der irdischen Kolonisation erschlossen. Hier würden sie kapitulieren müssen. „Ziemlich mager, unsere Ergebnisse, nicht wahr?“ fragte Vance und sah kurz von seiner Lektüre auf. Orr nickte langsam. „Stimmt. Das ärgert mich, muß ich sagen, mehr als alles andere. Wir haben al-
9 les, jede einzelne Kleinigkeit, und sei sie noch so unbedeutend, hier in unseren Büchern und Heften.“ Er schlug wütend mit der flachen Hand auf den Stapel. „Aber wir haben kein Bild, keine Gesamtschau. Nicht einmal ich kann einen Punkt entdecken, an dem wir anknüpfen konnten. Nichts. Absolut nichts. Und ich kann behaupten, daß ich darauf stoßen würde, wenn es etwas gäbe.“ „Tröste dich“, lächelte Vance knapp, „wir liefern ja tadellose Arbeit ab.“ „Wir sind in der Lage eines Mannes, der einem Raumschiffkäufer eine Wagenladung voller erstklassiger Einzelteile liefert, ohne Gebrauchsanweisung, und meint, der Käufer solle sich sein Schiff selbst zusammenschrauben. So, und nicht anders ist es!“ „Du hast recht, Orr!“ sagte Vance und zuckte die Schultern. „Was sollten wir tun, um diese Gebrauchsanweisung zu finden?“ Jetzt zog Orr die Schultern hoch und sagte: „Das weiß ich auch nicht.“ „Wenn du es nicht weißt...“ Vance ließ den Schluß des Satzes offen. Orr Jong war Deneber. Seine Heimat war der Planet Deneb VIII. Diese terranische Kolonie, die erste, die volle Autarkie erlangt hatte, mußte sich volle zwei Jahrhunderte mit der heimtückischen Natur ihrer Welt auseinandersetzen. Die Geschichte der Kolonie Deneb war eine Serie von kleinen und großen Kämpfen, Mensch gegen Natur. Die neuentwickelte These des kollektiven Bewußtseins eines Planeten, eine modernisierte Art von Pantheismus, war auf Deneb entstanden. Sie hatte etwas für sich, wenn sie aller mystischen Verbrämung entkleidet war. Jeder Deneber wußte aus einem unerklärlichen Gefühl heraus mehr über biologische Vorgänge und, was wichtiger war, über ihre Hintergründe, als jeder mittelmäßige Biologe irgendeines Planeten. Nicht zuletzt aus diesem Grund paßte Orrs exotische Gestalt so gut in das Viermannteam hinein. Die letzten Stunden dieses Tages vergingen langsam und still. Das Funkgerät sprang einmal an und gab die Routinemeldung durch, die besagte, daß Roger Kirby und Gill Botsaris auf der anderen Seite Skogamandrys waren, dort umherfuhren und nach Erzen suchten und sich dabei langsam näherten. Die augenblickliche Entfernung des blauen Schleppers von dem Aluminiumwürfel betrug dreitausendfünfhundert Kilometer. Schließlich verdunkelte Orr das letzte der vier Fenster. Der viereckige, stille Raum wurde in ein natürliches Dunkel getaucht. Es sah aus wie jedes verdunkelte Zimmer; gegenüber dem fahlen Schein, der die nächsten zwölf Tage noch über diesem Teil Skogamandrys liegen würde, war jene Dunkelheit der menschlichen Psyche mehr vertraut als die endlose Dämmerung mit ihren wechselnden Lichtern. Nach diesen zwölf Tagen würde die lange, schreckliche Nacht des Planeten beginnen. Wütende Stürme, undurchdringliche Finsternis, Regenfälle und die Hagelkörner, die teilweise eigroß waren, irgendwelche Bestien, die man bisher nicht gesehen und erlegt hatte, schlichen umher, und das alles dauerte fünfzig Tage. Vorher sollte das Schiff starten. Vance schlief mit gleichmäßigen Atemzügen, während die Platten der Heizung und die elektrischen Gitter der Gebläse leise knackten. Die Filter säuberten die Luft von eventuell eingedrungenen Sporen. Draußen drehte der Sturm die Schalen des Anemometers wie rasend im Kreis. Die Aufhängung des Windsacks knarrte, das Heulen des Windes ließ nach, um Sekunden später wieder stärker zu werden. Vances riesenhafte Gestalt lag entspannt auf der flachgestellten Liege; Orr sah die Um-
10 risse des Mannes in den Ausbuchtungen des Schlafsacks. Der Deneber lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Lager und konnte nicht einschlafen. Sein kleines Leselicht brannte. Es lag etwas in der Luft, das spürte der Deneber, ohne sagen zu können, was es war. Er hatte keine Ahnung, aber schon den ganzen Tag beschlich ihn ein Gefühl, das kommenden Ärger und Aufregungen verhieß. Hätte einer der vier Männer geahnt, was auf sie zukommen würde — niemand hätte in dieser Nacht an Schlaf gedacht. Orr Jong witterte die Gefahr wie ein Tier . . . Die Leuchtziffern der großen Uhr an des Denebers Handgelenk zeigten zehn Minuten nach Mitternacht. Wie üblich, erwachte Orr zuerst. Sei unwahrscheinlich gutes Gehör hatte ein Geräusch wahrgenommen, das nicht in die Kakophonie aus Knarren, Seufzen und Heulen paßte, die sich jenseits der dünnen Aluminiumwände abspielte. Nicht weniger scharf war Orrs Sehvermögen; er war einer der wenigen Menschen, die der Natur näherstanden als der menschlichen Zivilisation. Orr öffnete die Augen, blickte von dem rechteckigen Zifferblatt der Uhr auf die Leselampe und knipste sie aus. Sein Blick bekam den leeren Ausdruck eines Menschen, der angestrengt lauschte. Dem Deneber genügten nicht ganz dreißig Sekunden. Jetzt wußte er, daß sich seine dunkle Ahnung bewahrheitet hatte. Er erhob sich geräuschlos, um Vance Carnaghan nicht zu wecken. Der blonde Riese schlief tief und traumlos wie ein Kind. Orr zog langsam den bimagnetischen Reißverschluß des Schlafsacks auf, stellte die Füße auf den schaumstoffbedeckten Boden, über dem eine dicke, bewegliche Schicht Plastik lag und schlüpfte aus dem gefütterten Sack. Wie immer, war es in der Unterkunft wärmer als nötig. Orr stieg in den gelben Stoff der enganliegenden Hose, zog die langen Stiefel an, vergewisserte sich, daß die beiden Messer im Schaft steckten und zog dann den gelben Anorak an. Dann schloß er sorgfältig die Magnetsäume und stülpte sich den Schutzhelm um. Automatisch sprang die Sauerstoffbatterie an. Zuletzt kamen die Handschuhe. Unverwüstliches Plastikmaterial, griffig wie Leder, doch von der zwanzigfachen Strapazierfähigkeit, schlossen sie eng über die Finger und Gelenke. Das elastische Band der Uhr dehnte sich etwas, als sie Orr über die Handschuhe streifte. Dann ging er lautlos durch den Raum, an den zusammengestellten Instrumentenkästen vorbei und schob die Platte der Tür zurück. Er drehte die Schultern, um seitlich durch den entstehenden Spalt nach draußen zu kommen. Dann knackte das Schloß wieder. Orr stand auf dem breiten Metallrost, der rings um den Würfel der Unterkunft lief. Er sah hinauf in den Himmel. Als er an einer der Kisten vorbeigekommen war, hatte seine Hand das Spezialglas mitgenommen. Die Okulare des schweren Feldstechers waren sonderbar geformt; sie schlossen sich eng um das Glas des Schutzhelmes. Jetzt tauchte eine Wolke, die dicht neben der Sonnenscheibe schwebte, die Landschaft in ein orangegelbes Licht. Ständig wechselte der Farbton, und Schleier wie Nordlicht überzogen Bäume und Flußoberfläche. Orrs Augen entging nichts. Im fahlen, von eiligen Wolken durchzogenen Himmel Skogamandrys entdeckte er, wonach er suchte. Das Geräusch hatte jetzt abgenommen, war aber noch vorhanden. Orr öffnete die Tür wieder, rief: „Vance — komm sofort heraus!“ und schloß sie. Eine Lichterscheinung durchzog den Himmel. Sie teilte das Firmament in zwei Hälften und kam gerade auf den Ort zu, an dem die Unterkunft stand. Das Licht rührte von der aufglühenden Hülle eines Schiffes her, das mit unvorstellbarer Ge-
11 schwindigkeit landen wollte — wollte es landen? Neben Orr schob sich die Gestalt des Geologen auf den Rost. Auch Vance war bereits in die auffällige Schutzkleidung gehüllt, obwohl seit dem Ruf des Denebers kaum hundert Sekunden verstrichen waren. „Ein Raumschiff“, stellte der Deneber leise fest. Die komplizierten Apparaturen der technischen Ausrüstung der Schutzanzüge funktionierten wartungsfrei und zuverlässig. Sie übertrugen in Dauerkontakt sowohl die Unterhaltungen, die innerhalb der Helme geführt wurden, als auch die Außengeräusche. „Warum versucht es gerade hier zu landen?“ fragte Vance mit seinem unerschütterlichen Baß. Orr zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, sagte er. „Vermutlich hat er uns geortet, obwohl ich das für sehr unwahrscheinlich halte. Die magnetische Masse unseres Kubus hier ist ziemlich gering.“ Auf dem Schiff arbeitete keine einzige Treibstoffdüse. Wie ein Meteor kam das Schiff in einem flachen Winkel herunter, weit vom Horizont bis in die Nähe der Unterkunft. Es würde, rechnete Vance überschlägig aus, etwa zehn Kilometer jenseits des Hügels landen. „Wenn er nicht auf dem Wasser landet, dann wird das Schiff in seine Bestandteile zerschmettert!“ stellte Orr weiter fest. „Viel zu schnell“, sagte Vance. Das Schiff war jetzt voll sichtbar. Die Hände des Denebers glitten mit dem Feldstecher hoch, dann vollführte Orr eine schnelle Bewegung, um den Flugkörper zu verfolgen. Heulend und kreischend zerriß die Luft vor der Maschine. Der Diskus raste knapp zwanzig Meter über der Unterkunft dahin. Dann wurde er niedriger, niedriger ... und steuerte leicht nach links. Dort lag der seeähnliche Spiegel der großen Bucht. Das Schiff schwebte über die Spitzen der letzten Bäume am Ufer dahin, sackte durch und berührte kurz die Wasseroberfläche. Dort, wo es diese berührt hatte, wolkte sofort eine Dampfsäule hoch, wurde augenblicklich vom Sturm weggerissen und löste sich auf. Wellen breiteten sich aus. „Verdammt“, sagte Vance voller Spannung. Er hielt die Fäuste geballt, ohne sich dessen bewußt zu sein. Dann schlug der Diskus ein zweites Mal auf, schlitterte wie ein schnellfahrendes Boot über das Wasser, tauchte dampfend und zischend ein, stellte sich auf den Kopf und schlug zurück. Die Kraft des Aufschlages war gebrochen, aber der Körper schwamm weiter, eine gewaltige Bugwelle aufwerfend. Dort, wo das weißglühende Metall der Hülle mit dem Wasser in Berührung kam, verdampfte das Wasser sofort. Das Schiff verlor jetzt schnell seine kinetische Energie und blieb ruhig liegen. Der Dämmerungssturm riß den weißen, orangeschimmernden Dampf weg und blies das Bild klar. Fast unbeweglich schaukelte die Scheibe im Wasser des Stromes, überglänzt vom orangefarbenen Licht der Dämmerung. „Aus“, sagte Orr leidenschaftslos. „Wenn diesen Aufprall jemand überlebt hat, werden wir ihn retten müssen. Sehen wir nach.“ Vance befand sich bereits in Bewegung. Er tauchte aus der Hütte wieder auf, ein kompliziert aussehendes Gerät in der Hand. Es war eine Ultraschallsäge, mit der die Wissenschaftler Felsen absägten, Bäume fällten und andere, schwierige Arbeiten ausführen konnten. Das dünne Blatt dieser Maschine glitt, von den unhörbaren, rasenden Schwingungen getrieben, auf dem Schmirgelstaub durch fast jedes Material. „Seile, Brechstangen und anderes ist im Boot“, sagte Vance knapp und lief den schmalen, ausgetretenen Pfad herunter. Orr schlug auf die Tasche an der Seite seiner
12 Hose, vergewisserte sich, ob die schwere Waffe sich dort befand und lief dann Vance nach. Minuten später waren die beiden Männer neben dem Boot, lösten es von dem Baumstumpf und zerrten es über den weißen Sand ins Wasser. Orr betätigte sich als Steuermann, während Vance im Bug kauerte und nach Untiefen Ausschau hielt. „Hoffentlich gibt es keine Verwundeten“, sagte Orr langsam. Für einen Moment sah ihn Vance fragend an. „Unser Medikamentenvorrat ist begrenzt.“ Wortlos nickte Carnaghan. Die Männer kannten die Bucht. Orr lenkte das Boot um einen versunkenen Baum herum, an der langen Sandbank vorbei und in die Mitte der runden Bucht. Der blauschimmernde Körper der Scheibe war jetzt nur noch zwanzig Meter entfernt. „Das ist kein irdisches Raumschiff __ noch eines einer Rasse, die wir kennen. Achtung, Vance!“ sagte Orr laut. Vance drehte sich um, ging etwas aus der Hocke heraus und wies auf das reglose Ding vor ihnen. „Du hast recht, Orr. Aber... wer immer hier notgelandet ist, er wird unsere Hilfe dankbar in Anspruch nehmen.“ „Wenn er noch dazu in der Lage ist“, sagte Orr knapp. Einige Tage später sollten sich die beiden Männer an diese Worte erinnern, in einer Weise, die mehr als ironisch war. Das Raumschiff hatte einen Durchmesser von rund zwanzig Metern, war wie ein Diskus geformt und maß an der dicksten Stelle etwa fünf Meter. Man sah keine Fenster, keine Bullaugen und auch nicht die haarfeinen Linien, die eine Schleusentür anzeigten. „Näher heran, und einmal um das Ding herum, Orr“, sagte Vance halblaut. Das Boot beschrieb einen engen Kreis, in dessen Mittelpunkt das fremde Schiff schwamm. Nicht ein einziges Zeichen war an dem Rumpf angebracht. „Ich weiß jetzt bestimmt, daß dieses Schiff einer Rasse angehört, die wir nicht kennen“, sagte Orr. „Hmm“, machte Vance. Er suchte nach der Schleuse, und er fand sie auch. Genau an der Linie, bis zu der das Schiff ins Wasser eingetaucht war, zog sich ein haarfeiner Spalt hin. Zwei ebenso dünne Linien zogen nach oben, dem Scheitel der Maschine zu, und sie waren mit einem Spalt verbunden. Kein Schloß oder Griff war zu sehen. „Unter Umständen sind hier innen sämtliche Maschinen losgerissen worden und funktionieren nicht mehr. Wir werden die Schleuse aufschneiden müssen.“ Orr steuerte mit einem raschen Ruderausschlag das Boot längsseits. Vance kramte ein Seil aus einem Fach unterhalb des Dollbords und warf das Seil ins Wasser. Eine der Schlingen, die der Geologe hineingeknotet hatte, verhedderte sich am Grund des Flusses an dem abgestorbenen Ast eines schlammbedeckten Baumes. Langsam straffte Vance die Leine, bis sie das Boot dicht neben dem Rand des Raumschiffes festhielt. Dann holte Vance aus und schlug mit der Faust mehrere Male an die Bordwand. Die Männer lauschten angespannt. Nichts geschah. Nichts rührte sich. Sie warteten eine Weile, bis Vance das Signal wiederholte. Schweigen . . . Die beiden Forscher sahen sich an und zuckten fast gleichzeitig die Schultern. Vance griff zu der Schallsäge. Orr nickte zustimmend. Vance beugte sich etwas herüber und setzte das Blatt des Instrumentes an die Bordwand. Der Motor, der den Generator antrieb, heulte auf, nachdem der Terraner ihn eingeschaltet hatte. Langsam verschwand die Spitze des Sägeblattes in der feinen Rille der Trennstelle. Vance arbeitete gründlich und methodisch, wie immer. Er stellte sich vor, daß die Klappe oben, an der dicksten Stelle des Schiffes angeschlagen sein würde und schnitt zuerst waagrecht einen breiten Spalt in die Tür. Wasser verschwand, als
13 das Raumschiff sich etwas bewegte, in der fingerbreiten Öffnung. Dann schnitt Vance die erste Senkrechte, löste die heiße Säge aus der Spalte und schnitt die zweite Bahn hinunter. Der Motor der Maschine erstarb. „Jetzt eine Axt“, sagte Vance vor sich hin, während Orr den Motor hochjagte und das Boot mit der Breitseite, durch einen geschickten Steuerschlag, an das Raumschiff drängte. Vance holte die Axt hervor, stand auf und stellte sich in Position. Dann schlug er mit der gesamten Kraft seines großen, muskulösen Körpers zu. Die Schneide des Werkzeugs aus Spezialstahl bohrte sich tief in den fingerbreiten Spalt und blieb zitternd stecken, als der Geologe den Stiel losließ. „Paß auf“, sagte er zur Orr. „Ich werde jetzt versuchen, hier die Spitze des Schiffes zu erreichen. Du wirst dann die Axt herausziehen und sie in den Querspalt treiben. Ich ziehe dann an einem Seil, das du am Axtkopf befestigst. So müßte die Schleuse zu öffnen sein.“ „Einverstanden!“ sagte Orr und sah zu, wie sich der Körper seines Kameraden spannte. Vance ergriff die Axt, stellte einen Fuß auf den Rand des Bootes und stieß sich ab. Die Leine straffte sich, aber das Boot, dessen Motor lauf aufdröhnte, blieb liegen. Vance schwang sich flach springend auf das Axtblatt, und sein Schwung ließ ihn mit einer Anzahl schneller, vorsichtiger Schritte auf der glatten Hülle kleben. Noch ehe der Schwung nachließ, hatte Vance die höchste Stelle der Scheibe erreicht und blieb dort stehen, vorsichtig balancierend. „Gut“, sagte Orr und lachte leicht. Dann stellte er den Motor ab, kroch im Boot vorwärts und zog die Axt, nicht ohne Anstrengung, wieder heraus. Der nächste Schlag ließ Schiff und Boot erzittern. Der Kopf des stählernen Werkzeuges stak jetzt in der Querrille. Orr befestigte ein Seil am Axtkopf und warf es hinauf zu Vance. Dann zog er sich zurück und löste die Waffe aus der Schutzhülle. Er blieb im Heck des Bootes sitzen und zielte auf die Schleuse. Der hundertachtzig Pfund schwere Geologe zog jetzt an dem Seil. Er stemmte sich schräg gegen die Unterlage, die aus glattem Metall bestand. Die Geländesohlen der Stiefel preßten sich gegen den Stahl. Das Seil straffte sich. Millimeterweise hob sich die Schleusentür. Normalerweise würde sie von einem Motor oder einer hydraulischen Anlage geöffnet und geschlossen; jetzt hakte sich das Blatt der Axt unter den Rand und verhinderte das Abrutschen. Die Klappe ging langsam auf. Vance zog, bis er mit den Händen nachgreifen konnte. Dann stand die Schleusenklappe wie ein rechteckiger Vogelflügel, leicht geknickt, senkrecht in die Höhe. Orr senkte die Waffe, wartete etwas und steckte sie dann ein. Er drehte das Boot auf der Stelle herum und ließ den Motor mit den beiden Druckschrauben rückwärtslaufen. Dann verband er die beiden Halteseile mit stählernen Verstrebungen der Schleuse. Vance kam vorsichtig um die äußere Schleusentür herum und ließ sich fallen, als Orr darin stand. „Das erste Hindernis ist beseitigt. Jetzt sehen wir zu, ob wir auch die innere Tür aufkriegen.“ „In Ordnung“, sagte Orr und drehte langsam an einem ovalen Rad, das scheinbar für die manuelle Öffnung dieser Tür bestimmt war. Ebenso langsam schwang die innere Tür auf. Dunkelheit war alles, was die beiden Männer bemerkten. Gleichzeitig hakten sie die schweren Lampen von der Rückseite ihrer Gürtel ab und schalteten das Licht ein. Die kalkweißen Kreise der beiden Lampen wanderten über die Apparaturen, zwischen denen ein schmaler Gang in das Innere des Schiffes führte. Nirgends glühte eine
14 Lampe, nichts war da, was funktionierte oder Leben zeigte. Rund zwei Drittel der Scheibe waren innen angefüllt mit mehr als seltsamen Maschinen und Geräten, deren Sinn die Wissenschaftler bestenfalls ahnen, keineswegs aber verstehen konnten. „Der Antriebsmechanismus kommt aus keiner Werkstatt, die nach terranischen Maßstäben arbeitet“, erklärte Orr und nahm wieder seine Waffe in die rechte Hand. Der Gang, in den sie neben der Schleuse eingetreten waren, hatte in einer Spirale immer weiter nach innen geführt. Jetzt hörte er auf, um übergangslos an einer transparenten Wand zu enden. Vance hob die Lampe und versuchte, die Wand zu durchleuchten. Er hatte keinen Erfolg; wie eine Schwarzglasscheibe saugte diese Wand das Licht auf. In Brusthöhe war ein Griff angebracht. Die Männer nickten sich zu. Orr trat einen Schritt zurück und hob die Waffe. Er schaltete seine Lampe aus, und Vance öffnete die Tür. Sie schwang geräuschlos nach innen. Schnell schwenkte der Geologe seine Lampe. Hier drohte keinerlei Gefahr. Der Pilot dieses Schiffes, was oder wer er immer sein mochte, gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. Breite Gurte fesselten ihn an einen überdimensionalen Sitz, der vor erloschenen Apparaturen und Skalen stand. Gläser waren zerbrochen, unter den Füßen Vances knirschte es, als er in die Kabine trat. Sie war überraschend groß, gemessen an der Gesamtgröße des Schiffes betrug der Durchmesser dieser runden Kanzel rund ein Drittel, also ungefähr sechs bis sieben Meter. Vor der Gestalt, die zusammengesunken in dem Sessel lag, waren erloschene Schirme angebracht. Vance sagte: „Hier ist der Pilot. Er ist zumindest bewußtlos. Komm herein — hier gibt es keine Gefahren.“ Die Lampe des Denebers sprang an, und die beiden Kreise vereinigten sich auf eine Stelle vor dem Schaltpult. Vance langte hinunter und versuchte, den Sessel zu drehen. Das schwere Stück ließ sich bewegen; es drehte sich herum und zeigte den beiden Männern seinen Inhalt. „Nemesis!“ sagte Orr. Sonst nichts. Vance blickte ihn erstaunt und verständnislos an. Orr sagte: „Später!“ Eigentlich war Kommodore Roger Kirby der Mediziner der Vierergruppe. Aber einfachere medizinische Hilfe konnte auch Orr als Biologe geben; er hatte eine Kurzschulung hinter sich. Er tastete, während Vance beide Lampen hielt, über die Schnallen der Sicherheitsgurte und löste sie vorsichtig. Der Pilot war nicht tot, aber tief bewußtlos. Er regte sich nicht, als Orr sämtliche Gurte löste und die Lehne des Sessels nach hinten klappte. Dann leuchtete Vance mit beiden Lampen in das Gesicht des Bewußtlosen. Der Geologe schnappte erschreckt nach Luft. Das, was er sah ... Ein Kopf, etwa geformt wie der eines terranischen Menschen mit zwei Augen. Faltige, dünne Häute ohne Wimpern lagen über diesen Augen. Es mußten riesige Sehorgane sein. Auch die Haut des Gesichtes war faltig und — dunkelblau. Die Andeutung einer Nase, ein breiter, fast lippenloser Mund und der Ansatz eines faltigen Halses. Nackte Zähne, messerscharf und dreieckig geformt, glänzten im Licht der Lampen. Der Schädel war hochgewölbt und haarlos. Die Haut war wie mit feinen Narben überzogen und blau. „Eine alte Legende . . .“, begann Orr und schwieg wieder. Er riß mit brutaler Kraft die Uniform des Piloten — ein weißes Gewand mit goldenen Linien — auf und tastete nach etwas, das dem menschlichen Herzen entsprach. Er fand eine wesentlich wärmere Stelle oberhalb des Gürtels, und seine Überraschenden Kenntnisse von der Natur ließen ihn vermuten, daß hier der Sitz des
15 Lebens oder des Kreislaufes sein könnte. Orr zuckte mit den Schultern. „Wir bringen ihn in die Unterkunft und versuchen dort, ihn ins Leben zurückzubringen“, sagte er. „Hier kann ich nichts tun, selbst wenn ich Bescheid wüßte.“ Vance nickte. Sie faßten an, einer unter den Schultern und der andere an den Beinen, und trugen den bewußtlosen, schweren Körper hinaus in die Schleuse. Dann ging Orr noch einmal in die Pilotenkanzel und sah sich um. Er steckte einige Gegenstände, von denen er annahm, daß sie nicht nutzlos sein könnten, in die Taschen und kam wieder hinaus. Vorsichtig verluden sie den Körper in das Boot, lösten die Schnüre und fuhren zurück an den Strand der Bucht. Der riesige Terraner ließ sich von Orr helfen. Er nahm den Körper des Bewußtlosen über die Schultern, stand langsam wieder auf und stapfte den Pfad hinauf. Orr öffnete die Tür, und Vance ließ sich auf ein Knie nieder. Gemeinsam hoben die beiden Männer den Körper auf Vances Liege. „Noch bevor wir etwas anderes tun . . .“, brummte Orr, nachdem er seinen Schutzhelm heruntergeklappt und sorgfältig auf das Wandbord gestellt hatte, und der Deneber ließ den Satz unvollendet. Statt dessen handelte er. Er ging schnell quer durch den Raum und schaltete das Funkgerät ein, den wertvollsten Besitz der beiden Männer. Er verband sie mit dem schweren Schlepper, der von Kommodore Kirby gesteuert wurde und sich ständig der Unterkunft näherte. Orr betätigte die Taste, drehte an einer Schraube und hakte das kleine Mikrophon los. Dreitausendfünfhundert Kilometer trennten die beiden Gruppen voneinander. „Hier Orr Jong... ich rufe Kirby. Ich rufe Kirby, bitte melden!“ Er legte die Empfangstaste um. Kirby antwortete sofort. Seine dunkle Stimme kam klar durch das Knistern des Gerätes. „Hier Kirby. Orr — was ist los?“ „Etwas Wichtiges. Wir konnten die Notlandung eines Raumschiffes beobachten. Wir fuhren hin und bargen den Piloten als einzigen Insassen. Erinnerst du dich an die Legende von Nemesis?“ Er legte die Taste um. Kirby schwieg einen Augenblick, dann antwortete er. „Schwach, aber immerhin. Was wollt ihr tun?“ „Wir versuchen, den Mann ins Leben zurückzubekommen und werden dann versuchen, mit ihm in Kontakt zu kommen. Es wird nicht leicht sein. Ich reime mir etwas zusammen... ob es stimmt, ist die zweite Frage. Versucht jedenfalls, so schnell wie möglich herzukommen. Zu zweit ist es etwas gefährlich. Löst euch am Steuer ab.“ Wieder klickte die Taste. Kirby verstand und sagte kurz: „Verstanden. Wir fahren sofort los. Wir lösen uns ab. Rechnet aber nicht mit weniger als neun Tagen. Eher schaffen wir es nicht.“ „In Ordnung“, sagte Orr. „Sobald sich etwas ändert, rufen wir an. Das heißt. . . Kontrollruf alle Stunden. Wenn wir nicht senden, ist etwas Entscheidendes passiert. Verstanden?“ „Verstanden“, sagte Kirby. „Seid auf der Hut. Macht’s gut, Jungens. Ende.“ „Danke, Roger. Ende.“ Die glimmende rote Lampe erlosch, und das Knacken bewies, daß auch Kommodore Kirby die Verbindung gelöst hatte. „Ich verstehe immer weniger“, sagte Vance Carnaghan. „Willst du mir nicht. . .?“ „Sofort“, versprach Orr und begann, das Gesicht des Piloten mit Alkohol abzureiben. Dann stach er die dünne Nadel einer Injektionsspritze in den Arm des Piloten, nachdem er mit einem improvisierten Hörrohr tatsächlich das Schlagen eines Herzens festgestellt hatte. Das Stärkungsmittel pulsierte jetzt mit dem Strom des hellbraunen Blutes durch die Gefäße. „Hör zu“, begann Orr hastig. „Noch ehe
16 er zu sich kommt. . . Diese Legende, von der ich sprach . .. Nemesis ... du hast das Wort gehört, ist eine alte Sage der Eingeborenen auf Deneb. Die Eingeborenen erzählen, daß vor Tausenden von Jahren einige Raumschiffe voller Wesen landeten, die ungeheuer gefährlich und kriegerisch waren. Sie versuchten, den Planeten zu unterjochen. Man kämpfte lange und hoffnungslos, bis einer der Eingeborenen einen Plan hatte. Er hatte beobachtet, wie diese Wesen vor Feuer eine unerwartete Scheu hatten. Die Eingeborenen zogen sich in Höhlen und Gruben zurück und ließen den halben Planeten in Flammen aufgehen. Nachher war zwar Deneb verwüstet, aber die Fremden waren fort. Teilweise verbrannten sie, teilweise konnten sie noch starten. Sie hinterließen die Botschaft, daß sie sich eines Tages rächen würden. Rächen in einer Weise, die schrecklicher wäre als alles, was Deneb je erlebt hatte. Ein terranischer Forscher hat diese Sage aufgezeichnet und sie mit ,Nemesis’ überschrieben . . . der Name der Rachegöttin einer irdischen Mythologie. Das hier kann, wenn ich nicht irre, ein Kundschafter der Nemesis sein . . . nennen wir ihn der Einfachheit halber so. Ein kleines Schiff, eine Notlandung, ein einzelner Mann — kein anderer Schluß möglich. Er ist blauhäutig; das waren auch die Fremden in der Vorzeit Denebs. Verstehst du jetzt meine Angst?“ Vance blickte nach der Waffe, die entsichert in der Mitte des Tisches lag, und nickte. „Noch etwas . . .“, sagte er. „Wir werden ihn, falls er angreifen sollte, in Schach halten können. Ich verstehe deine Befürchtungen nicht ganz.“ „Die Nemesis sind geschlechtslos. Sie vermehren sich durch Absonderung einer einzigen Zelle, die wächst und wächst und nach einigen Tagen ein völlig neues Individuum ergibt. Außerdem sind sie fähig, ihre Zellkerne zu kontrollieren. Weißt du, was das bedeutet?“ „Mimikry?“ Vance sah den Biologen fragend an. In seinem Blick lag etwas wie gesteigerte Unsicherheit. „Richtig.“ Orr bestätigte den Verdacht des Geologen. „Sie sind fähig, sich in alles zu verwandeln, das sie kennen. Hoffentlich nicht in Dinge, mit denen sie nur in flüchtigen Kontakt kamen — wie wir!“ Plötzlich verstand Vance Carnaghan alles. Er verstand auch die Folgerungen, die gezogen werden mußten. Was würde ein einzelner Späher einer fremden Rasse unternehmen, um nach einer Notlandung wieder von dem Planeten wegzukommen? „Ich verstehe!“ sagte Vance tonlos. Orr nickte stumm. „Wir sollten ihn hier und jetzt in Asche verwandeln. Das wäre das einzig Richtige. Aber es widerstrebt der Ethik der Terraner. Das steht dagegen. Aber...“ Orrs Stimme wurde leiser und gewann gleichzeitig an Eindringlichkeit. „... ich werde keinen Augenblick zögern, wenn dieser ... Pilot hier uns angreift: Dann gibt es nur zwei Alternativen. Wir oder er.“ Vance nickte. „Gut“, sagte er. „Ich werde mich ebenfalls danach richten. Was jetzt?“ „Warten!“ Vance begann methodisch, seine Pfeife zu stopfen, setzte sie dann mit der langen Flamme seines Feuerzeugs in Brand, und stellte sich neben den noch bewußtlosen Piloten. Orr hantierte am Kocher und bereitete Kaffee zu. Es war fast drei Uhr nachts — nach den Uhren. Draußen tobte immer noch der Sturm der Dämmerung. Noch zwölf Tage bis zur Nacht. Zwölf Tage. Bedächtig, aber wachsam und gespannt wie eine stählerne Feder begann Orr, Pulverkaffee in die beiden dicken Tassen zu schütten. Er ließ heißes Wasser darüberfließen und stellte die Büchsenmilch und den Zucker auf die Tischkante. Dann ließ
17 er sich auf seiner Liege nieder und bedeutete Vance, etwas Ähnliches zu tun. Vance setzte sich auf den Tisch, rührte in seiner Tasse und wartete. Sonst hatte er nichts zu tun. Die Szene war unwirklich und voller offener Spannung. Die Unterkunft, von drei Punktlampen erhellt, war wie eine winzige Insel inmitten des tobenden, warmen Sturmes auf Skogamandry. Drei Wesen saßen oder lagen regungslos da; ein Terraner aus Amerika, ein Terraner aus der Kolonie Deneb und ein Wesen, das man Nemesis nannte. Nemesis begann sich zu bewegen. Zuerst zuckten die Beine etwas; sie waren unter engen, weißen Hosen und weichen Halbstiefeln verborgen. Dann rührten sich die langen, viergliedrigen Finger. Sie bewegten sich wie Spinnen über den Rand des Lagers, krochen zögernd zur Brust empor und verharrten dort einen Augenblick. Sie kamen zur Ruhe. Jetzt zuckte die dünne, blaugraue Haut, die über den riesigen Augen lag. Fasziniert und beklommen sahen Orr und Vance zu. Die Haut zog sich zusammen und enthüllte die Augäpfel. Sie waren hellgrau mit einem roten Kern. Riesige Augen, die blicklos zur Decke starrten. Man konnte fühlen, wie sich das Bewußtsein langsam und abschnittweise vorschob, wie Flüssigkeit in Röhren. Der faltige blaue Kopf des Wesens Nemesis drehte sich herum, erfaßte die Gegenstände der gegenüberliegenden Wand, betrachtete sie ungefähr eine Minute lang, dann wandte Nemesis den Kopf erneut. Ein voller Blick traf Orr, wanderte dann zu Carnaghan und kehrte wieder zum Kopf des Denebers zurück. „Nemesis ist aufgewacht“, stellte Orr sachlich fest. Noch war seine Stimme fest. Was beide Männer nicht wissen konnten, und was selbst Orr nicht ahnte, waren die überragenden geistigen Fähigkeiten dieser Rasse. Abgesehen von anderen Dingen ... „Wo bin ich?“ fragte Nemesis. Orr und Vance blickten sich wortlos an. Sie ahnten etwas, ganz dunkel und fern, undeutlich. „Auf dem Planeten Skogamandry“, sagte Vance deutlich. „Skogamandry?“ „Richtig“, sagte Orr. „Genau hier. Dein Diskusschiff hat eine Bruchlandung gemacht. Erinnerst du dich?“ Nemesis nickte. Wenn er sprach, dann benutzte das fremde Wesen eine fast unbetonte Stimme, kühl und sachlich, von keiner Emotion gefärbt. Vance spürte, wie sich eine eiskalte Hand über seinen Rücken hinauftastete. „Ich erinnere mich. Ihr habt mich aus dem Schiff befreit?“ fragte Nemesis. „Ja“, sagte Orr. „Woher kennst du unsere Sprache?“ „Ich las sie, als ich wieder zu leben begann, in euren Hirnen.“ Jetzt griff lähmende Furcht nach Vance. Auch Orr, der nur in den seltensten Situationen seine Gelassenheit verlor, spürte eine tiefe Beklommenheit. „Ich habe Anlaß zu glauben, daß es nicht das einzige war, das du aus unseren Hirnen gelesen hast. Ist das richtig?“ fragte Vance, und seine Augen blitzten in plötzlich erwachender Kampfeslust auf. „Natürlich!“ sagte Nemesis und richtete sich auf. „Wir haben dein Schiff geöffnet“, sagte Orr und trank seine Tasse leer. Die rechte Hand des Denebers befand sich gefährlich nahe an der Waffentasche. „Obwohl es vermutlich überflüssig ist, dir dies alles zu erzählen, da du ja die Kunst des Gedankenlesens verstehst, werde ich es tun. Wir beherrschen diese Kunst nämlich nicht und sind auf die normalen Kommunikationsmöglichkeiten angewiesen — und bitten dich, dich ebenfalls dieser zu bedienen. Wir haben also das Schiff geöffnet und dich aus dem Sessel befreit, dann hierhergebracht und wieder zu Bewußtsein kom-
18 men lassen. Wir kennen dich nicht, und wir fragen dich, was du jetzt vorhast. Möglicherweise kollidiert es mit unseren Interessen, und genau das ist es, was wir verhindern würden.“ Die schmalen Lippen des Piloten zogen sich zu einem freudlosen, verzerrten Grinsen auseinander. Er schien sich darüber im Klaren, daß er es hier mit Vertretern einer Rasse zu tun hatte, die nicht gerade begriffsstutzig waren. „Ich werde jetzt mein Schiff untersuchen, um festzustellen, ob ich wieder starten kann. Wenn nicht, werde ich euer Schiff nehmen und starten.“ Orr lachte kurz auf. Langsam schob Vance die Waffentasche von der Mitte des Tisches näher zu sich heran. „Ich sagte bereits, daß wir genau dieses zu verhindern wissen. Du brauchst keinen Augenblick lang zu zweifeln, daß wir recht überzeugend eingreifen werden.“ Wieder grinste Nemesis. Er schien diese Art der Verhandlungen für normal zu halten. „Ihr werdet nichts tun können, wenn ich hier hinausgehe und euer Schiff nehme. Ich bin fähig, mich in alles zu verwandeln, was es gibt. Du weißt es“, die Augen des Piloten richteten sich voll auf den Deneber. „Ich weiß es“, sagte Orr ruhig und schob mit dem Daumen die Sicherung der Waffe herum. „Ich weiß aber auch — und du weißt, daß ich es weiß — daß du und deine Rasse recht allergisch gegen Hitze und Feuer seid. Hier aus dieser Waffe kommen Strahlen heraus, die nahezu jede bekannte Materie zerschmelzen. Auch dich.“ „Das weiß ich.“ Nemesis blickte auf Vance, der seine Waffe jetzt in der Hand hielt. Die schwere Tasse hatte der Geologe weggestellt. „Es geht gegen die Ethik eurer Rasse, mich einfach niederzuschießen.“ – „Hör zu“, sagte. Vance scharf. „Wir hätten dich mit deinem Schiff versinken lassen können. Wir retteten dich und brachten dich in unsere Behausung, in die Wärme. Wir brauchen unser Schiff, um hier wegzukommen. Ich kann mir nicht denken, daß Angehörige deiner Rasse in einem solchen Maße undankbar sein können.“ „Sie können es. Für uns zählt nur das Überleben“, antwortete Nemesis hart. Vance erschauerte. Hier prallten zwei Weltanschauungen aufeinander, die grundverschieden waren. Würde sich eine Übereinstimmung herstellen lassen? „Ich handle nicht gern“, sprach Orr weiter und behielt dabei Nemesis im Auge. „Aber ich versuche es. Wir können dich mit unserem Schiff von hier wegbringen, auf einen Planeten, auf dem du ein anderes Schiff findest. Wir müssen noch auf unsere Kameraden warten.“ „Das alles weiß ich. Mir liegt nichts daran.“ Nemesis sah an Orr vorbei auf das Funkgerät. „Du wirst also zuerst dein Schiff untersuchen“, sagte Orr. „Wann?“ „Sofort.“ „Gut“, sagte Orr fest. „Wir werden dich begleiten. Nachdem du dich weigerst, mit uns eine Vereinbarung zu treffen, werden wir dich wie einen Gefangenen behandeln. In dem Augenblick, in dem du zu fliehen versuchst, schießen wir dich nieder. Ist das klar?“ „Ich habe verstanden“, sagte Nemesis. „Ich würde handeln wie ihr. Aber ich bin nicht du oder er — ich werde fliehen und euer Schiff nehmen, sobald ich es kann. Ich brauche nicht zu schlafen, ich kann das Schiff erreichen, noch ehe ihr mich hindern könnt. Vielleicht ist mein Schiff intakt.“ „Das können wir jetzt gleich feststellen“, gab Orr zur Antwort. „Komm mit. Und — denke an diese Waffen!“ „Ich sehe sie“, sagte Nemesis. Zum erstenmal wagten sich die beiden Wissenschaftler ohne die Helme an die Luft Skogamandrys. Sie gingen den Pfad hinunter und behielten Nemesis zwischen
19 sich. Jeder von ihnen hatte die Waffe in der Hand. Der Bootsmotor sprang an und brachte das Wesen zum Schiff. Während Vance mit hineinging, wartete Orr draußen. Nemesis setzte sich, während Vance leuchtete, auf den Pilotensessel und versuchte, die Geräte zum Funktionieren zu bewegen. Alles, was er zuwege brachte, waren einige Lämpchen, die aufflackerten und wieder erloschen. Es dauerte nicht ganz zwanzig Minuten, dann drehte sich Nemesis um. „Nichts“, sagte er unbetont. „Das Schiff ist restlos unbrauchbar.“ „Wie kam es“, erkundigte sich Vance interessiert, „daß du notlanden mußtest?“ „Ein Defekt in der Anlage warf mich vorzeitig aus dem Hyperraum. Ich bin hier gelandet, obwohl ich eigentlich in dieser Milchstraße nicht anhalten wollte. Leider.“ „Leider — allerdings“, stimmte Vance zu. „Wir gehen!“ Er wartete, bis sich Nemesis vor ihm zur Tür hinausbewegt hatte, dann gingen der Terraner und das fremde Lebewesen die Spirale des Ganges entlang und kamen in die Schleuse. „Mir fehlen einige Dinge, die eigentlich in der Kabine liegen müßten.“ Ungerührt entgegnete Vance: „Mein Kamerad hat sie, glaube ich, eingesteckt.“ „Ich brauche sie“, erwiderte Nemesis. „Du wirst sie bekommen“, antwortete Orr vom Boot aus. Der Wind kräuselte den Spiegel des Wassers der großen Bucht. Nemesis trat auf den Rand des Bootes, und Orr ließ den Motor aufheulen. Als Vance vorsichtig, die Waffe immer noch in der Hand, hinter Nemesis ins Boot trat, stolperte der Fremde. Er ruderte mit den Armen, schwankte und fiel dann vor Orr ins Boot. Die Kunststoffschale begann zu schlingern. Nur für einen Sekundenbruchteil waren die Männer unaufmerksam. Nemesis warf sich herum, sein Stiefel traf den Lauf der Waffe von Orr und schlug sie dem Deneber aus der Hand. Der Schuß aus Vances Nadelpistole krachte, das Geschoß jaulte dicht an Orrs Kopf vorbei und detonierte im Wasser. Nemesis sprang auf. Das alles spielte sich mit solch atemberaubender Schnelligkeit ab, daß keiner der Männer richtig zu handeln imstande war. Der schlanke, weiße Körper hechtete über Orr hinweg und tauchte ins Wasser. Er schwamm mit rasenden Stößen genau hinter Orr auf das Ufer zu, tauchte plötzlich weg und war verschwunden. „Verdammt“, sagte Vance ruhig, „das ist das Ende.“ Der Motor des Bootes heulte auf, das Boot schoß dem Ufer entgegen. „Wir haben keine andere Wahl mehr“, sagte Orr hastig. „Wir müssen uns augenblicklich auf den Weg machen, um das Schiff zu erreichen. Wir müssen ganz einfach eher dort sein, sonst kommen wir alle vier um. Vorher — Proviant, Munition, Treibstoff, und ein Anruf an Kirby.“ Der Kiel schrammte über den Sand. . „Du bleibst hier“, sagte Vance. „Du stellst dich zwanzig Meter vom Ufer und dem Wald entfernt neben das Boot. Hier ... die Waffe.“ „Gut. Du weißt, was zu holen ist?“ Vance nickte und stob los. Orr blieb stehen. Er sicherte nach allen Seiten und wartete. Die Mastodon war fünf Tage Schlepperfahrt entfernt. Natürlich wußte Nemesis alles. Er hatte, falls er den Standort der schweren Rakete nicht aus den Hirnen der Wissenschaftler erfahren hatte, die Karte gesehen, die an der Wand der Unterkunft hing. Jetzt war dieses gefährliche Wesen bereits unterwegs. Fünf Tage. Das waren sechshundertneunzig Kilometer. Die Landschaft war schwieriger. Auf dem Wasserwege würde es etwas leichter gehen, auch schneller. Der Strom mit seinen Nebenflüssen führte ziemlich nahe am Stand-
20 platz vorbei, trotzdem blieben über hundert Kilometer übrig. Sechshundert Kilometer Flußfahrt mit dem Motorboot, rund gerechnet, und hundert Kilometer Fußmarsch. Und Nemesis war bereits unterwegs. Genau hier irrte Orr. Er wußte es nur noch nicht. „Vance!“ rief Orr, als der Riese auftauchte, beide Arme voller Gegenstände. Vance winkte ab und ließ die Dinge fallen. Orr rannte über den Sand, raffte zusammen, was er tragen konnte und verstaute die Gegenstände im Boot. Es waren Notrationen für zwei Mann und vier Wochen. Zwei weitere Waffen, die Magazine der Ersatzmunition und zwei Treibstoffkanister. Wieder erreichte Vance den Rand der Bucht, warf seine Last ab und drehte sich wieder um. Er kam das dritte Mal zurück. „Diese Bestie“, keuchte er und warf die Gegenstände wahllos ins Boot, dann begann er, an der Bordwand zu zerren, bis die Schale ins Wasser glitt. Orr setzte sich vor die Steuerung und warf den Motor an. Das Boot setzte sich in Bewegung. Langsam schraubte Vance den Helm auf und warf Orr den anderen zu. Genügend Sauerstoffmagazine lagen im Boot. „Was ist los?“ fragte Orr, ihm dämmerte eine furchtbare Einsicht. „Nemesis war oben, ein zweites Mal“, sagte Vance, immer noch hastig atmend. „Er hat das Funkgerät zerschmettert, die Karte verbrannt und eine unwahrscheinliche Verwüstung hinterlassen. Wir brauchen die meisten Dinge nicht mehr mitzunehmen. Glücklicherweise hat er deine und meine Aufzeichnungen und Proben nicht gesehen; sie standen unter dem Tisch. Kocher, Schrank, Ersatzpapiere und das kleine Funkgerät, die Bandspulen, einige Speisebehälter — alles hin.“ „Jetzt“, sagte Orr finster, „hat er keine Gnade mehr zu erwarten. Wir töten ihn, wenn wir ihn treffen.“ „Wenn“, sagte Vance. Mit einer schäumenden, starken Bugwelle stieß das Boot, dessen Motor laut arbeitete, den Strom aufwärts. Die weite Biegung der Bucht war bereits verschwunden. „Er kann sich in ein Tier verwandeln“, sagte Orr. „Aber — er wird hier nichts finden, weil wir die Tiere verscheucht haben. Er kann ein Fisch werden, ein großer Fisch. Ein Baum — alles. Nur, er dürfte auch begrenzte Kräfte haben.“ „Das glaube ich nicht“, sagte Vance und suchte das Wasser nach flachen Stellen ab. „Doch“, widersprach der Biologe. „Jedes Wesen hat nur eine begrenzte Leistungsfähigkeit. Jedenfalls kann Nemesis nicht knapp siebenhundert Kilometer ununterbrochen zurücklegen. Das können aber wir.“ „Wir?“ staunte Vance. „Verstehe ich nicht ganz.“ „Er ist allein, oder besser: Es ist allein, denn es handelt sich um ein Neutrum. Wir sind zu zweit. Wir können uns mindestens sechshundert Kilometer weit ablösen. Einer schläft, der andere fährt.“ „Entschuldige“, sagte Vance, „ich dachte nicht daran.“ „Aber ich“, sagte Orr und lächelte leicht. „Du kannst jetzt den Kram hier im Boot verstauen, dann lege dich hin und schlafe. Ich bin etwas zäher; ich übernehme die ersten acht Stunden.“ „Meinst du?“ fragte Vance unsicher. Orr nickte beruhigend. „Ich weiß, was ich mir zutrauen darf. Er wird uns nicht angreifen. Er ... es will nur das Schiff. Wir sind nur dann nicht gleichgültig, wenn wir ihn aufhalten.“ „Gut“, sagte Carnaghan und machte sich an die Arbeit. Unterdessen geschahen wieder verschiedene Dinge, von denen Orr und Carnaghan nichts ahnten. Aber... auch Nemesis merkte nichts davon.
21 Unaufhaltsam bewegte sich das Boot stromaufwärts. Der Wettlauf der beiden Forscher mit der Zeit hatte begonnen. Noch standen alle Chancen gleich. Nemesis hastete durch den Pseudowald, und Orr steuerte über den Strom. Vance schlief, zusammengerollt in seinem Schlafsack, und die Sonne stand immer noch halb im Horizont. Jetzt war der Himmel grün und rot; verschiedene Bänder zogen über das Firmament. Der Sturm war hier auf dem Strom nicht so stark zu merken. Wer würde den Wettlauf gewinnen? 2. Der erste Tag ... Orrs einzige Sorge war, daß der Motor Dauerbelastung durchhielt. Eine einzige kleine Verbindung, die sich lockerte, ein heißgelaufenes Lager, ein Schaden an einer der Wellen oder eine zerschlagene Schraube ... jede dieser Kleinigkeiten konnte genügen, um den Wettlauf vorzeitig zu beenden. Vorläufig sah es nicht so aus. Der Motor arbeitete brummend und zuverlässig. Orr hockte auf dem zusammengerollten Schlafsack im Heck auf dem Boden, hatte die Pinne des Außenbordes unter dem linken Arm, eine geöffnete Ration in der Hand und aß. Quer über den Knien des Denebers lag eine schwere Waffe; ein langläufiges Nadelgewehr. Um den Hals hing der Feldstecher. Vance schlief noch immer. Die Ufer des breiten Stromes waren gleich geblieben, fast völlig identisch. Die scharfen Augen des Biologen merkten an den Lücken im Baumbestand und an verschiedenen anderen Merkmalen, wie schnell das Motorboot sich fortbewegte. Orr kannte die Karte ziemlich genau; sie waren damals mit dem Schlepper fast nur am Ufer dieses Wassers entlanggefahren, vor zweihundert Standardtagen. Der Deneber warf die leere Packung der Ration ins Wasser und sah zu, wie sie von der Strömung fortgetrieben wurde. Das Boot bewegte sich weiter durch die trägen Wasser. Die Windungen des Flusses waren nicht scharf; vom Pol kommend und aus einer Anzahl kleiner Bäche und Rinnsale gespeist, hatte der Lauf nur ein geringes Gefälle zu überwinden. . Alles war verstummt. Die fernen Ufer sahen tot und wie abgestorben aus unter dem farbigen Schein der wechselnden Wolken vor der halbierten Sonnenscheibe. Todesstille schwebte über den Schilfrändern, den aufragenden Sandbänken und den Waldstücken der Ufer. Aber der Eindruck täuschte; ein Blick durch den Feldstecher genügte, um das pulsierende Leben feststellen zu können. Vance schlief noch immer, regungslos und tief. Orr wußte, daß auch er, kaum von seinem Kameraden abgelöst, schlafen würde wie tot. „Blub!“ machte es neben dem Boot. Orr griff instinktiv nach der Waffe und blickte ins Wasser. Eine weiße Masse trieb neben ihm im Fluß; sie sah aus wie ein gefüllter Leinensack. Dann drehte sie sich langsam und rief einen schwachen Strudel hervor. Ein Kopf tauchte auf, schmale, silberne Augen. Es war ein alligatorähnliches Säugetier, das hier nach Fischen suchte. Die Augen sahen Orr prüfend an, schlossen sich für einen Augenblick und blickten dann uninteressiert an dem Mann in der gelben Kleidung vorbei. Orr lächelte knapp, fuhr eine langangesetzte Kurve um eine flache, weißschimmernde Sandbank und beschleunigte dann wieder. Er kontrollierte die Geschwindigkeit und die Distanzen, die sie zurückgelegt hatten. Jetzt waren sie sechs Stunden unterwegs. Sechs Stunden zu je rund dreißig Kilometern. Hundertachtzig Kilometer. Noch
22 trennte sie ein halbes Tausend Kilometer vom Schiff. Der Motor brummte zuverlässig. Die Sonne verschleierte sich für einen Moment völlig, dann wich die Wolke wieder. Ein breiter Lichtstrahl berührte das Wasser. Zeichen von Leben wurden schlagartig sichtbar im Gegenlicht. Insekten glitten über die spiegelnde Oberfläche hin. Schwärme von Wasserkäfern und Libellen. Skogamandryreiher stelzten unvergleichlich graziös zwischen den niedrigen Büschen am Ufer hin und her und stocherten mit ihren langen Schnäbeln nach Insekten. Orr zerkaute einen ellenlangen Fluch zwischen den Lippen. Für einen Mann wie ihn war dieses Bild eine Qual; statt sich der Betrachtung und der Untersuchung widmen zu können, mußte er hinter einem erbarmungslosen Wesen herjagen. Nemesis. Der Name war bereits durch die Bedeutung gefährlich. Wie schnell kam jenes Wesen voran? Jenseits des rechten Ufers breiteten sich die Savannen Skogamandrys aus. Die Linien sahen aus wie ein Bogen; die Luftlinie bis zum Schiff war die Sehne, auf ihr bewegte sich Nemesis entlang. Die leichte Kurve war der Wasserweg und die Abkürzung zu Fuß. Diesen Weg nahmen Vance und Orr. Unaufhaltsam drehten sich die Schrauben des schweren Motors, und der helle Rumpf des Bootes schob sich weiter und weiter, immer mehr stromaufwärts. Orr hockte bewegungslos im Heck, kämpfte gegen seine Müdigkeit an und suchte die Ufer mit den Augen und dem schweren Glas ab. Er sah manches, aber nichts, was geeignet gewesen wäre, ihn zu beunruhigen. Die große Uhr am Handgelenk zertickte die Stunden. Sie war das einzige, wonach sich Orr richtete. Ein leichter Wind drang hier hinunter in das flache Tal. Die Waldstreifen der Ufer brachen den Wind und zauberten kleine, zerfurchte Inseln aus winzigen Wellen auf den Wasserspiegel. Schreie und Bewegung lenkten Orr ab; er sah nach links und wurde aufmerksam. Ein Schwarm rubinroter Vögel hatte sich erhoben. Er kreiste um einen ziemlich auffälligen Baum und ließ sich nicht wieder nieder. Dann sah Orr ungläubig durch das Glas. Der Schwarm war offensichtlich von diesem Baum aufgestiegen. Der Baum schüttelte sich. Nicht nur unter dem Ansturm des Windes, sondern von sich heraus. Dann hörten die Bewegungen auf. Schattenhaft glaubte Orr eine helle Gestalt wahrzunehmen, aber er konnte sich getäuscht haben. Vorsichtig stand der Biologe auf, nahm die Ruderpinne zwischen die Knie und richtete das Glas auf diesen Fleck. Der Vogelschwarm taumelte abwärts und wollte wieder in die Zweige einfallen. Wieder bewegte sich der Baum. Wie die Bewegungen einer Raupe drehte und bog sich der Stamm. Die Äste, Zweige und Blätter zitterten mit. Es war ein gespenstischer Anblick. Der Vogelschwarm gab es nach dem dritten Versuch auf und schwebte einige Meter weiter, zu einem anderen Baum. Dort wiederholte sich das gleiche Schauspiel. Wieder begann sich ein Baum zu rühren und zu schütteln. Es war eine Pseudoschirmtanne. Und jetzt sah es Orr deutlich. Nemesis. Er ging vorsichtig in die Hocke, zog die schwere Nadelbüchse zu sich herauf und versuchte, ruhig zu zielen. Fauchend löste sich ein Schuß. Die helle Gestalt verschwand zwischen den Büschen und tauchte nicht mehr auf. Neben einem Baum wallte weißer Nebel auf, dann kam der harte, splitternde Schlag der Detonation zurück. Sofort war Vance Carnaghan wach und blinzelte zu dem Deneber hoch. „Was ging vor, Orr?“ fragte er unterdrückt. Langsam hob Orr die schwere Waffe von der Schulter. „Ich habe auf Nemesis geschossen. Weiß allerdings nicht, ob ich getroffen habe.“
23 Vance richtete sich auf und schälte sich aus dem Schlafsack. Er schüttelte den Kopf, betrachtete aufmerksam die Umgebung und blickte wieder auf Orr. Dann sagte er: „Ich scheine ziemlich lange geschlafen zu haben, nicht wahr?“ Orr nickte stumm. Dann wies er mit dem Arm auf die Sanddünen, die beiderseits den Fluß einsäumten. „Rund hundertachtzig Kilometer . . .“ vermutete Vance. Wieder nickte der Deneber. „Du hast recht. Wir sind sechs Stunden unterwegs. Du kannst mich jetzt ablösen. Ich aß bereits eine der Rationen — und noch etwas. Ich glaube, bestimmte Dinge oder Vorgänge in der Natur wahrgenommen zu haben. Sie passen nicht ganz in unser bisheriges Konzept. Beobachte die Gegend um beide Ufer genau. Sage mir, wenn ich wieder aufwache, was du festgestellt hast. Ich werde aus diesem Grund nicht sagen, was ich gesehen habe. Wir können dann vergleichen.“ Vance begriff. „In Ordnung“, sagte er. Er ließ seinen Schlafsack liegen und balancierte vorsichtig nach hinten. Orr ließ die Steuerpinne los und ging schnell dorthin, wo Vance gelegen hatte. Er legte sich in den Schlafsack des Geologen, zog die Verschlüsse zu und war augenblicklich eingeschlafen. Während das Boot weiterfuhr, füllte Vance den Tank auf, warf den leeren Kunststoffkanister ins Wasser und blickte ihm nach, wie er mit beträchtlicher Geschwindigkeit davonglitt. Wieder heulte der Motor auf und versetzte dem Bootskörper einen Stoß. Vance fuhr jetzt fast vierzig Stundenkilometer, wie die kleine Uhr neben der Pinne anzeigte. Er war entschlossen, diese Geschwindigkeit beizubehalten. Jeder Kilometer, der sie von Nemesis trennte, der dort irgendwo links von ihnen durch den Urwald hastete, wie Vance wußte, war wichtig und konnte sich am Ziel entscheidend auswirken. Wer zuerst das Schiff betrat, überlebte. Es war ein Wettrennen mit dem Tode. Die Sanddünen blieben zurück, und ununterbrochen kreiste der Blick des Geologen umher. Er beobachtete beide Uferstreifen durch das Glas und suchte nach allem — nach Dingen, die ungewohnt waren. Weit vor dem Boot tauchte eine Insel auf; ein länglicher Sandstreifen, mit Gräsern und Büschen und einer seltenen Form von Uferlilien bewachsen. Einem fast unmerklichen Ruck folgend, glitt das Boot zur Seite. Das schäumende Kielwasser wich etwas von der Geraden ab. Die scharfen Augen des Geologen schienen das Unterholz durchdringen zu wollen. Vance arbeitete mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. Er suchte etwa zweihundert Meter des einen Ufers ab, dann wandte er den Kopf und suchte auf dem anderen Ufer nach einem markanten Punkt. Jetzt war die lange Sandinsel heran. Vance griff nach der Waffe und legte sie schußbereit auf die Oberschenkel. Die ersten Sträucher und Lilien kamen heran. Hinter dem matten Glas des Helms richteten sich die wachsamen Augen auf die Pflanzen. Und jetzt geschah etwas ... Wie die Köpfe einer Menschenmenge, die ein landendes Schiff verfolgten, drehten sich einzelne Pflanzen. Sie schienen mit unsichtbaren Augen das Boot durchsuchen zu wollen. Die grellen Blütenkelche der Lilien stellten sich etwas auf, so daß Vance in ihr Inneres blicken konnte. Ein unheimlicher Verdacht stieg in dem Geologen hoch. Das Boot glitt brummend und schnell vorbei; die Wellen der Bugspur schlugen über den Sand und die weißen, abgerundeten Kiesel. Die Blumenkelche und kleine, hellgrüne Zweigspitzen erstarrten und sahen dem Boot nach. Es war, als nähme Vance eine lautlose Parade ab. Bis er an der Insel vorbeige-
24 fahren war, wiederholte sich das merkwürdige Schauspiel. Die langgestreckte Insel blieb zurück und wurde hinter dem Heck rasch kleiner. Ein entwurzelter Baum trieb mit der schwachen Strömung heran, rechts am Boot vorbei und drehte sich still in den Wirbeln. Die Blätter und Äste des Baumes waren weiß und leblos. Ein großes Insekt saß auf einem der Zweige und flog auf, als es das Boot sah. Vance kramte in der offenen Proviantkiste und zog die Ration hervor. Er löste den Verschluß seines Helmes und stellte die Glaskugel neben sich ins Boot. Dann begann er zu essen. Fünf Stunden vergingen in eintönigem Lauf. Ganz unmerklich wurden die Ufer enger und schoben sich näher an die Fahrrinne heran. Das Grün der Uferstreifen leuchtete in den Spielen farbiger Wolken, die sich vor die Sonne schoben und vorbeiglitten. Es war wie ein gigantisches Kaleidoskop, ein Spiel aber, das mit Verzweiflung und Tod enden konnte. Vance saß auf des Denebers Schlafsack, lehnte sich an die geschwungene Fläche des Hecks, tastete ab und zu nach seiner Waffe und beobachtete die Ufer und die darunterliegenden Hügel, soweit er sie sehen konnte. Ein schneller Blick auf den stillen Fluß vor sich, sonst nur der vergrößernde Ausschnitt des Feldstechers und das leise Zischen der Sauerstoffbatterie — das war alles, was Vance Carnaghan bemerkte. Jetzt machte der Fluß eine große Schleife, den Anfang eines Mäanders mit vier Krümmungen. Vance beschleunigte wieder und versuchte, eine annähernd gerade Linie zu fahren, indem er quer von dem einen zum anderen Ufer steuerte. Und wieder geschah etwas Seltsames. Die riesige Gestalt des Geologen erhob sich und versuchte, im Gleichgewicht zu bleiben. Vance Carnaghan hatte zwischen den windgeschüttelten Bäumen des linken Ufers eine Bewegung wahrgenommen. Das Glas schwenkte herum und erstarrte in der Bewegung. Ein kleiner Fingerdruck genügte, um die Optik schärfer einzustellen. Zwischen zwei Pseudotannen stand eine grüne Gestalt, grün wie die Zweige und Blätter. Noch während Vance sich niederbeugte, um zu der Nadelbüchse zu greifen, geschah das Unfaßbare: Die Bäume veränderten ihre Farbe. Aus den Zellen der Blätter und Blüten verschwand das Chlorophyll und wurde offensichtlich aufgesaugt. Der gelbe Farbstoff Karotin blieb in den Blättern und färbte sie gelb und rötlich — Herbstfarben auf Skogamandry. Jetzt wurde Nemesis deutlicher und klarer. Mimikry! Das fremde Wesen hatte versucht, durch Kontrolle über seine Zellkerne sich unsichtbar zu machen wie eine Ellritze oder ein Chamäleon. Die Natur Skogamandrys, die Flora, wehrte sich gegen diesen Eindringling. Jetzt hatte Carnaghan die stählerne Schäftung der Büchse an der Schulter. Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs bewegte sich millimeterweise. Vance erkannte, daß Nemesis sich ducken wollte. Mit dem Daumen der rechten Hand bewegte der Geologe blitzschnell den kleinen Hebel. Die Waffe wurde aus der Punktschaltung auf Dauerfeuer umgestellt. Dann krümmte sich der Zeigefinger um den Auslöser. Acht Schüsse verließen fauchend mit einer grellen Flammenbahn den Lauf; Während der Rückstoß das Boot schwanken ließ, bewegte Vance den Lauf abwärts und dann nach rechts und links. Zwischen den beiden Bäumen verwandelte sich eine kreisförmige Zone in ein Inferno von hochgeschleuderten Grasfetzen, zersplitterten Ästen und aufgewühlter Erde. Der harte Donner der Explosionen schallte über den Fluß und traf die Trommelfelle der beiden Männer. Eine schmale Rauchwolke verließ den fast glühendheißen Lauf und wurde
25 von dem leichten Wind nach hinten geblasen. Dichte Nebel entstanden über der Zone der Verwüstung. Der Blick wurde unklar, die Szene verwischt. Langsam senkte Vance die Büchse und blickte Orr an. „Vorsicht“, sagte der Deneber schnell. „Das Boot!“ Vance griff nach der Pinne und steuerte wieder vom Ufer weg, dessen Bruchsteine bedrohlich nahe gekommen waren. Die weiße Schale glitt in unverminderter Fahrt weiter und erreichte das Ende des weit auseinandergezogenen letzten Mäanders. „Dasselbe wie vorhin?“ fragte der Deneber ruhig. Vance nickte grimmig. „Ich habe allerdings ein volles Magazin zwischen zwei Bäume hineingeschossen“, sagte er. „Ich weiß nicht, wie schnell sich ein Wesen wie Nemesis erholen kann — aber ich muß ihn wirklich schwer getroffen haben. Ich wage nicht daran zu denken, ihn vielleicht endgültig beseitigt zu haben.“ „Vermutlich nicht“, gab Orr zu. „Wie lange schlief ich?“ Vance und er blickten gleichzeitig auf die Chronometer. „Mehr als sieben Stunden.“ „Über dreihundert Kilometer — rund die Hälfte“, sagte Orr und blickte sich um. „Ablösung!“ „Moment“, meinte Vance und schob bedächtig ein neues Magazin von Nadelgeschossen in die Büchse. „Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber ich bemerkte folgendes.“ Er berichtete knapp, aber keine Einzelheit auslassend von den Gewächsen, die ihn von der Insel aus beobachtet hatten und von der rapiden Farbänderung der beiden Bäume, zwischen denen er Nemesis gesehen hatte. „Warum dieser Pilot unserem Weg folgt?“ fragte sich Vance laut. „Vermutlich hat er das Bild der Karte nicht genau im Kopf. Obwohl ich das nicht glauben kann, denn dieses Wesen scheint mir alles andere als nachlässig in einer seiner Aktionen zu sein. Eher glaube ich, daß er kontrolliert, wie schnell wir sind, oder wo wir uns gerade befinden.“ „Das ist die wahrscheinlichere Deutung“, warf Vance ein. „Stelle dir vor: grün! Nemesis tarnte sich, um nicht aufzufallen.“ Orr riß eine weitere Essenspackung auf und warf die Hülle des Würfels ins Wasser. Er kaute eine Weile, dann sagte er bedächtig: „Ich sah, wie sich ein Baum schüttelte, um einen Schwarm roter Skogamandryeisvögel aufzuscheuchen. Diese Vögel verrieten mir, wo sich Nemesis befand. Als ich immer noch stutzte, wiederholte die Flora diesen Vorgang. Sie wehrt sich gegen Nemesis.“ „Aber sie wehrt sich nicht gegen mich und dich“, sagte Vance verblüfft. „Wie kommt das?“ „Sollten wir zuerst an der Mastodon sein“, versprach Orr knapp, „so werde ich mich darum kümmern. Jetzt dürften andere Überlegungen am Platz sein.“ „Ein Baum, der Vögel aufscheucht, ein anderer, der dieses Spiel wiederholt, Pflanzen, die einen zu betrachten und zu verfolgen scheinen, Bäume, die ihr Chlorophyll verlieren, Brände, die sich durch Wasser selbst löschen ...hier scheint eine etwas höhere Intelligenz am Werk zu sein, als wir vermuten können. Ich glaube, Orr, wir sind einem entscheidenden Gedanken auf der Spur. Aus den Tausenden kleiner Mosaiksteinchen kann immer noch ein Bild entstehen!“ „Du sagst“, stimmte der Deneber zu, „was ich seit einem Tag dachte. Nur war ich nicht überzeugt, bin es immer noch nicht. Aber du hast völlig recht. Wir sind unserem Problem schon etwas nähergekommen.“ Während sich Vance mit einer frischen Sauerstoffbatterie versorgte und die alte
26 in einem hohen Bogen auf die Steine des Ufers schmetterte, wechselte Orr mit dem Terraner die Plätze. Wie die Figuren eines Schachspiels, dessen Sieger mit dem Leben belohnt würde, schoben sich die beiden Punkte durch die Landschaft. In gerader Linie Nemesis, auf dem gekrümmten Fluß die beiden Wissenschaftler. Vierundzwanzig Standardstunden waren vergangen, fast auf die Minute. Wer würde siegen? 3. Der zweite Tag . . . Seit vierundzwanzig Stunden hastete die schmale, grüne Gestalt durch die flachen Urwälder Skogamandrys. Ununterbrochen lief Nemesis, wie ein seelenloser Automat. Die Energiereserven, die in dem zähen Körper steckten, hatten diesen Lauf gestattet. Nach dem ersten Schuß, der vom Fluß abgefeuert wurde, hatte Nemesis angehalten. Es dauerte nicht ganz zehn Minuten, bis der komplizierte Metabolismus genügend Nährflüssigkeit an den Ort der Verletzungen transportiert hatte. Dort begannen die Zellen, ihrem eigenen Lebensprozeß folgend, zu wuchern und sich zu teilen. All das geschah in rasender Eile. Neue, bereits grüngefärbte Haut wuchs über die verbrannten Stellen. Während dies geschah, entledigte sich das Wesen der weißen Kleidung. Sie fiel nur auf. Der Grund, weshalb Nemesis immer noch in Sichtweite der Ufer dahinrannte, war einfach. Zwar hatte Nemesis die große, von ihm verbrannte Karte lückenlos in seinem hochentwickelten Gedächtnis, aber er mußte kontrollieren, wo sich die Gegner befanden. Es war ungeheuer wichtig, das Schiff zuerst zu erreichen. Das Wissen, das Nemesis mit sich trug, würde die Invasion zu einem Kinderspiel machen — andernfalls scheiterte sie hoffnungslos. Das war es. Aber dieses Wesen spürte, daß es hier ein mehr als unerwünschter Gast war. Jeder Grashalm, der die Haut über den Stiefeln ritzte, war giftig. Jeder Dorn, der sich an den dünnen Fingern verhakte und lange Kratzer riß, war vergiftet. Jedes Tier, jeder Mensch wären daran zugrunde gegangen. Nicht so Nemesis. Die blitzschnelle Analyse der zahlreich verteilten Testzellen ergab binnen einiger Sekunden die Formel für ein Gegengift. Besonders eingerichtete Zellen übernahmen die Aufgabe, das Gegengift herzustellen. Die Lebensflüssigkeit transportierte die Wirkstoffe in die Hautzellen. Diese Zellen lagerten sie ein. Die Dornen, die peitschenden Ranken, die Halmkanten und die tückischen Äste, deren Rinde klebrig war und an den Gliedern haftete — sie alle waren unwirksam geworden für Nemesis. Die Verwundung zehrte an der Grundsubstanz, die arbeitenden Zellen ebenfalls. Sie bauten die Nahrungsmittelreserven ab, die zwischen den Bindegeweben eingelagert waren und verdauten die Nährstoffe. Auch die Anstrengungen des rasenden Laufes gingen nicht vorbei; sie blieben existent und belasteten die Reserven. Fast dreihundert terranische Kilometer — Nemesis hatte dieses Maß in den Hirnen seiner Retter gefunden — hatte das Wesen in einem einzigen, gewaltigen Schwung laufend und springend zurückgelegt. Jetzt brauchte es eine Pause. Einige Stunden jenes todähnlichen Zustandes, nach dem man erfrischt war, etwas Wasser und ein kleines bißchen Nahrung, gleich welcher Art. Das war es, was Nemesis dringend benötigte. Sonst würde er die Anstrengungen des restlichen Weges nicht mehr überstehen. Noch wußte er genau, wie weit er
27 sich vorwagen konnte. Vorwagen in das Gebiet, da er gezwungen sein würde, seine eigenen Zellen als Nahrung zu betrachten. Die zweite Überraschung war wesentlich unangenehmer und härter. Die acht Schüsse, die dicht um und neben Nemesis einschlugen und die Landschaft um ihn herum in eine kochende Wildnis verwandelten, hatten fast vier Zehntel seiner Haut verbrannt und zwei der biegsamen Knochen zerfetzt. Jetzt mußte Nemesis liegenbleiben und warten. Die völlige Wiederherstellung dauerte mehr als drei Stunden irdischen Maßes. Skogamandrys Natur versuchte, sich des fremden Eindringlings zu entledigen! Das war die Feststellung, die jetzt unumstößliche Gewißheit wurde. Während Nemesis auf einem schmalen Sandstreifen lag und sich still verhielt, wuchs die verbrannte Haut wieder zu ledernen, grünen Falten zusammen. Die Knochenzellen verhärteten sich und schoben sich über die Splitterzellen. Gefäßwände, die durchtrennt worden waren, verklebten miteinander und erweiterten sich dann wieder zu Schläuchen und kleinsten Gängen und Verästelungen. Nemesis betrachtete den farbigen Himmel, während er sich erholte. Er lag auf dem Rücken, und die Glieder waren in dem warmen Sand ausgestreckt. Über den Sandstreifen wehte der Sturm und erfüllte die Luft mit seinem hohlen Brausen. Unmerklich begannen sich Dinge zu rühren und krochen näher. Es waren die Ausläufer einer Lianengruppe, die sich in einem mächtigen Baum verkrochen hatte und dort neben den Wurzeln dahinvegetierte. Die beweglichen Pflanzen teilten die Grashalme, glitten geräuschlos und ganz langsam über Moospolster und erreichten den Rand der unbewachsenen Fläche. Sie schienen von unhörbaren Kommandos dirigiert zu werden. Jetzt verharrten sie einen Augenblick bewegungslos, dann schoben sie sich weiter. Jenes grüne Wesen, das nicht zu ihnen gehörte, hatte sich geregt. Immer noch schien es in den Wunden des Fremden zu kochen und zu wuchern. Die Falten der harten Haut bildeten sich neu, wurden straffer und flossen ineinander über. Eines der muskulösen, dünnen Beine war bereits fertig; unter der Haut vollendeten sich die letzten Prozesse. Wieder bewegten sich die Lianen. Sie krochen heran wie Schlangen, die sich ihrem Opfer näherten. Es war unmöglich, daß Pflanzen eine Intelligenz entwickelten, dachte Nemesis, aber er war damit beschäftigt, den Vorgängen in seinem Innern zu lauschen und sich einen Weg auszudenken, auf dem er zu Nahrung gelangte. Er verwarf einen Gedanken und ging einem anderen nach. Das Geräusch des Bootes war schon seit zwei Stunden nicht mehr zu hören; das bedeutete verdoppelte Anstrengungen, den Vorsprung der beiden Männer, wieder aufzuholen. Irgendein Gefühl sagte Nemesis, daß er die Gegner nicht unterschätzen durfte. Sie waren von der gleichen Angst beflügelt wie er. Auch sie mußten, um zu überleben, das Schiff haben. Die beiden Wissenschaftler waren keine Männer, mit denen man spielen konnte oder durfte. Sie waren hart und zäh, und sie würden jeden Funken ihres Geistes benutzen, wenn sie gegen Nemesis vorgingen. Noch war es nicht soweit, noch sah man das Schiff nicht, und die Männer waren auf dem Fluß. Ohne eine Spur von Bedauern dachte Nemesis an den Planeten, den seine Rasse überfallen und unterjochen würde. Er war bevölkert, gewiß, aber es gab nichts, das Nemesis weniger störte. Man brauchte Sklaven. Auch diese Menschen — ja, das war der richtige Begriff — waren Brüder dieser beiden Männer dort unten. Des blonden, blauäugigen Riesen und des kleineren, zäheren Grünäugigen. Hier schlug Skogamandry zu.
28 Die Ranken hoben sich und schnellten wie eine zustoßende Kobra vor. Sie ringelten sich um die vier Gliedmaßen des grünen Wesens und strafften sich. Millionen kleiner, spitzer Dornen gruben sich in die Haut, verhinderten ein Abrutschen. Wie eine Katze bäumte sich Nemesis auf. Er erfaßte den Zusammenhang des Angriffs völlig. Er war sich im Bruchteil einer Sekunde darüber im klaren, daß es hier um sein Leben und um die Invasion seiner Rasse ging. Nemesis spürte den würgenden Griff einer Schlingpflanze, die sich mit drei Windungen um den faltigen Hals geschlungen hatte. Der lebensnotwendige Sauerstoff blieb aus, und einige Zellen des komplizierten Körpers begannen bereits unter dem Mangel zu leiden. Nemesis gab einen dringenden Befehl, und aus den Fingern der rechten Hand wurden Hornplatten. Innerhalb von Sekunden veränderten Zellwände ihre Gestalt, flossen zusammen und verhärteten sich. Aus dem Handgelenk wuchs eine sichelförmige Schneide: Horn, messerscharf und weißschimmernd, mit verstärkenden Adern durchzogen. Nemesis holte mit dem Arm aus und kappte mit einem einzigen wuchtigen Hieb die Liane, die sich um den Hals geschlungen hatte und den Körper an sich zog, indem sie sich in Schleifen legte. Die großen Augen des Wesens erfaßten die Falle. Es war eine riesige, lilienähnliche Pflanze, die sich hungrig geöffnet hatte. Sie würde ihn verdauen wie ein Insekt. Das wäre sein Ende. Die Windungen der Liane ringelten sich auf und fielen ab. Der nächste Schlag riß, in einem schier unmöglichen Winkel geführt, die Fessel des rechten Armes ab, dann die des linken. Die Pflanzenfasern zerrten und zogen. Es war ein lautloser, erbitterter Kampf. Nemesis wurde über die Sandfläche gerissen, rutschte über das weiche, nasse Moos und auf den hungrigen Riesenmund der Schwarzlilie zu. Dann gelang es ihm, auch die beiden letzten Seile durchzuschlagen, und er sprang auf. Keuchend wölbte sich der Brustkorb. Stoßweise verließ die Luft die Lungen. Das Wesen federte auf die Sandfläche zurück. Nemesis blieb stehen. Er wußte, was das hier bedeutet hatte. Niemals würde die Natur gestatten, daß er schlafen konnte. Sie würde ihm alles verweigern, was er haben wollte; Früchte, Beeren oder Pilze. Vielleicht gelang es ihm, auf dem weiteren rasenden Lauf eine Frucht abzureißen, noch ehe sie abfiel oder vergiftet wurde. Vielleicht. Nemesis orientierte sich nach der Sonne und lief weiter. Vier Stunden lang raste ein grünes, schlankes Wesen durch die hohen Halme und Büsche, vorbei an den etwas übermannsgroßen Bäumen, ängstlich jeder möglichen Falle ausweichend. Vier Stunden lang aktivierte der unwahrscheinliche Körper die Energien, verzehrte die Inhalte der letzten Speicherzellen und warf sie in die Schlacht. Vier Stunden lang sprang Nemesis über schmale Wassergräben, schoß über Lichtungen und griff nach Früchten, die golden und einladend an den Ästen hingen. Es gelang ihm, eine der kopfgroßen Früchte abzureißen; Nemesis verzehrte sie im Laufen. Dann kam er an die große Düne. Er blickte sich um. Die großen Augen des Wesens erfaßten, daß hier endlich die Gelegenheit gekommen war, einige Zeit auszuruhen. Weit und breit war kein Pflanzenwuchs zu sehen, der Grüngürtel verlief weit im Kreis um den hellen Sand. Nemesis lief bis in die Mitte der flachen Düne, die gegen den Fluß hin abriß. Er blickte sich noch einmal aufmerksam um; unter Umständen konnten sein Leben und sein wichtiger Auftrag davon abhängen, ob ihn hier die Pflanzenwelt wieder überfiel. Das Wesen ließ sich erleichtert nieder, grub sich etwas in den warmen Sand ein und legte den schmalen Schädel auf die
29 verschränkten Unterarme. Nemesis war fast augenblicklich eingeschlafen. Unmerklich verstrich die Zeit. In dem tödlichen Schachspiel zog jetzt die weiße Figur vorwärts und ließ eine unentschiedene Stellung hinter sich zurück. Die Chancen für den Sieg wurden wieder verschoben... Die Herde ruhte jetzt auf der kleinen Lichtung. Hier zwischen den Bäumen und dem dichten Wall der schützenden Hecken, fühlten sich die Tiere wohl. Sie standen mit herunterhängenden Köpfen da und schienen zu schlafen. Das Leittier, ein Bulle mit scharfgewetzten Stoßzähnen, bewegte sich vorsichtig und witternd um seine Schützlinge herum. Die Weibchen hatten Junge; sie waren besonders unruhig. Eine fremde Witterung kam mit dem Wind mit. Sie trug den beißenden Geruch von Pflanzenausscheidungen mit sich. Ausscheidungen, die giftig waren und den Tod brachten. Der alte Bulle warf den Kopf mit der wuchtigen Knochenplatte hoch und zog die Luft tief ein. Er schnaubte warnend; Köpfe fuhren hoch, und die Läufe scharrten unruhig den Boden. Bewegung bedeutete Tod. Bewegten sich die Büsche und die hohen Gräser, dann verbarg sich dahinter der Gegner, der die Kälber riß und tiefe Wunden schlug, wenn er sprang. Die Augen des Bullen durchforschten das Gelände und suchten nach Bewegung. Ein raschelndes Geräusch kam über den Wind; Gefahr! Das Rascheln kam näher, und die Büsche bewegten sich leise. Nicht nur der Wind, sondern auch eine Bewegung ganz unten am Stamm. Es war der Gegner, der sich näherte. Wie eine Schlangenlinie entstand und verebbte die Bewegung der Büsche und Halme. Der Bulle riß den mächtigen Schädel hoch und schrie. Es klang wie ein Fanfarenstoß. Die Herde kam in Bewegung. Die vordersten Tiere, die dem Ausgang der Lichtung näher standen, scharten sich um den Anführer. Auch von der Seite schienen sich die Bestien heranzuschleichen; die Halme zitterten entgegen der Windbewegung. Der Bulle schrie ein zweites Mal. Jetzt war der Ruf das Signal zur Flucht. Die Klauen der Tiere zerstampften den Boden, und die dreißig Tiere rannten los. Rechts und links und hinter ihnen bewegten sich Bäume, Büsche und Blätter. Es gab nur eine Richtung. Die Herde donnerte los, schneller und schneller wurde der Lauf. Sie rannte entlang einer Gasse, die nur in der Ferne einen Ausgang haben konnte. Hinunter zum Wasser. Dorthin folgten die Bestien nicht. Krachend und stoßend brachen die Tiere durch das Unterholz, rammten Baumstämme und zerfetzten die kleinen Büsche, die sich im Weg befanden. Dreißig Tierleiber, so groß wie terranische Rinder, galoppierten davon. Die Flora Skogamandrys steuerte die Richtung des Vorstoßes. Dreihundert Meter weit reichte der Wald. Er wurde von der Düne begrenzt; dann begann die niedrige Savanne, die bis zum Ufer reichte. Die Herde prallte aus einem Tor, das sich aus zwei zitternden Bäumen gebildet hatte, auf den Sand zu. Ohne zu zögern, tobte der Leitbulle weiter, die Stoßzähne angriffsbereit gesenkt. Hinter ihm drängte sich eine Masse schwarzer Leiber. Weiße Hauer blinkten in der Dämmerung. Der Sturm wirbelte den aufgeworfenen Dreck hinter der Herde herum und schleuderte ihn dann seitwärts weg. Als Nemesis von der Erschütterung des Sandes erwachte, war es fast zu spät. Er flog hoch, in einer Wolke stäubenden Sandes. Das war es, was den Bullen aufmerksam machte. Hier war ein Gegner. Eine kleine, schmale grüne Gestalt, die breitbeinig dastand und der Herde entgegenblickte. Nemesis wandte sich zur Flucht. Drei Meter hinter ihm fegte die Phalanx stoßender und rennender Leiber vorbei —
30 aber einer der Bullen hatte ihn bemerkt. Der Leitbulle führte die Herde weiter zum Fluß. Der hochgeschleuderte Sand verdunkelte das Geschehen. Mit einigen weiten Sätzen stob Nemesis über die Düne, stolperte und fing sich wieder. Aus der Wolke schoß ein schwarzer Schatten, warf den Kopf suchend hin und her und grollte dumpf. Nemesis wandte sich um, sah die Gefahr und schätzte die Entfernungen ab. Das Tier kam in einer geraden Linie auf ihn zu. Der Bulle rannte schneller als das Wesen. Er holte Nemesis ein, senkte den Kopf, so daß die Schnauze den Boden berührte und holte aus. Nemesis sprang zur Seite, ließ den Koloß an sich vorbeischießen und hob dann den Arm. Noch immer glänzte die Hornsichel anstelle der Finger, und sie fuhr wie ein lautloser Blitz nieder. Auf dem Hals des jungen Bullen zeichnete sich eine tiefe, blutende Spur ab. Er hielt mitten im Lauf und warf sich herum. Vierhundert Pfund Muskeln, Knochen und schwarzes Fell warfen sich mit einem Riesensatz auf Nemesis. Der Fremde spürte, wie einer der Stoßzähne schneidend durch den Leib glitt, dann stieß er sich von dem Knochenschild ab und prallte auf den Sand. Der Bulle stieß ein zweites Mal zu, aber der Stoß ging neben dem Körper Nemesis in den Grund. Nemesis wälzte sich rasend schnell zur Seite, rollte über den Sand und verschwand in einer Pflanzenansammlung. Noch ehe sich Dornen in den Leib bohren konnten, war er wieder auf den Beinen und bemerkte, wie sich die Zellen an die Arbeit machten. Der Bulle nahm einen neuen Anlauf und galoppierte auf Nemesis zu. Das Wesen wartete den Angriff ab, und als das Tier heran war, trat der Fremde zur Seite und rammte das Horn tief in eines der Augen. Das von einem haarfeinen Kanal herangeführte Gift setzte sich in der Wunde fest; Sekunden später war der Bulle tot. Nemesis verfluchte den Planeten, die Flora und das Versagen des Hyperraumantriebs. Er wartete einen Moment, bis sich seine Finger rückgebildet hatten und ging dann langsam weiter, immer etwas links der Sonne entgegen. Dort würde das Raumschiff stehen. Der kurze Schlaf hatte ihn zwar erfrischt, aber der Hunger tobte schneidend in seinen Eingeweiden. Der Kampf und die Flucht hatten jetzt auch die letzten Reserven Nemesis aufgezehrt. Nemesis ging weiter, bis er einen Bach fand. Er warf sich auf die Kiesel und trank in langen Zügen. Er spürte, wie die Magenhautzellen gierig die Flüssigkeit aufsaugten und verwerteten. Jetzt brauchte er nur noch Nahrung. Das würde ein Problem werden. Nemesis beschloß, weiterzulaufen. Wieder bewegte sich der grüne Schatten weiter durch die Dämmerung. Jetzt rannte er nicht mehr so schnell. Weitere vierundzwanzig Stunden waren vergangen. * Der dritte Tag … Die Geräusche des Motors waren verklungen. Das Boot lag leer und verlassen hoch auf dem Ufer, mit Steinbrocken beschwert. Leise knackten die Kühlrippen der beiden Zylinder. Die beiden Männer fehlten, die Waffen und einige Rationspackungen. Ferner waren weniger Sauerstoffbatterien in den Fächern, der Feldstecher fehlte und einige andere Dinge. Zwei Spuren führten über die lange Schneise das Ufer hinauf und in den Wald. Vance und Orr stapften hintereinander einen kaum erkennbaren Wildwechsel entlang. Hinter dem Glas der Helme waren die Gesichter zu erkennen. Jetzt begannen sich bereits die Spuren der Anstrengungen abzuzeichnen. Die Bärte wucherten, und die Augen waren müde und blutunterlaufen. Jeder der Männer trug seine Büchse über der Schul-
31 ter und die Waffe in der Tasche. Am Gürtel waren Ersatzmagazine befestigt, Taschenlampen und die Wasserflaschen. In den Reservetaschen der Hosen und der Ärmel staken die Rationspäckchen; und in einer Art Rucksack verbargen sich die Sauerstoffbatterien. Wortlos und schnell marschierten die Wissenschaftler ihrem Ziel entgegen. Sie hatten geschätzt, daß sie drei Tage brauchen würden, um das Schiff zu erreichen. „Wenn Nemesis seine Geschwindigkeit der ersten Tage beibehält, sind wir verloren“, sagte Orr düster und beschleunigte seine Schritte um eine Kleinigkeit. „Ich denke pausenlos daran, Orr“, sagte Vance und bemühte sich, Orr nicht in sich hineinlaufen zu lassen. Sieben Kilometer trennten sie vom Strom. Auf der Kuppe des nächsten Hügels angelangt, blieb Orr stehen. Er nahm das Glas an die Augen und suchte systematisch die Landschaft zwischen sich und dem weit in der Ferne liegenden Standort der Unterkunft ab. Langsam bewegte sich der Oberkörper des Mannes; die Optik wanderte über Hügel, blickte in die kleinen Täler, fuhr die Linien der windgebeugten Gräser ab und glitt dann hoch. Etwas schien das Interesse des Biologen zu fesseln. „Siehst du etwas?“ fragte Vance ruhig. Er saß auf der Erde und sah erwartungsvoll auf Orr. Orr nickte langsam. „Ich sehe einen der seltenen Grünreiher“, kamen die Worte aus dem Helmlautsprecher Vances. „Er dürfte eigentlich jetzt nicht mehr in der Luft sein; unseren Erfahrungen zufolge brüten die Tiere jetzt. Aber er zieht Kreise.“ „Du meinst“, antwortete Vance voll neu erwachender Hoffnung, „daß sich die Natur nicht nur gegen Nemesis wehrt, sondern gleichzeitig uns hilft?“ „Genau das meine ich“, erwiderte Orr. Er lächelte etwas verloren. „Nur habe ich noch keine Beweise dafür. Dieser Grünreiher — er kreist vermutlich über dem Standort Nemesis. Das sind rund vierzig Kilometer, denn ich kann den Vogel kaum noch erkennen. Ich habe nur die Flugsilhouette erkannt.“ „Trotzdem“, sagte Vance kurz und stand wieder auf. „Gehen wir weiter. Jetzt können wir uns nicht mehr ablösen.“ Die beiden Männer liefen, gingen und kletterten in einer einzigen, langen Anstrengung dreißig Kilometer. Sie kontrollierten den Weg an Hand der Notizbuchskizzen, die sie beim ersten Überfliegen und bei der Fahrt vom Schiff bis zum Standort der Unterkunft gemacht hatten. Dreißig Kilometer lang ging es über Hügel, durch Täler und kleine Moorflächen. Manchmal bemerkten sie Blumen, die sie betrachteten oder zu betrachten schienen. Sie bemühten sich, keine Pflanzen niederzutreten oder umzuschlagen. Vance wurde den Verdacht nicht los, daß sich Dornenhecken vor ihnen auseinanderflochten, daß sich Büsche teilten und Gänge in den Grassavannen entstanden. Noch zweimal kontrollierte Orr mit dem Feldstecher, ob der Vogel seinen Standort verändert hatte. Statt des einen Vogels schwebte beim zweiten Versuch, die Lage Nemesis festzustellen, ein Vogelschwarm über der Stelle. Sie war wieder rund vierzig Kilometer entfernt. Die Sonnenscheibe war die letzten drei Tage um einige Grade weiter hinter den Horizont gekrochen. Die Dämmerung war etwas dunkler; nur eine Spur. Die langen Schatten aller Gewächse und die farbigen, nicht enden wollenden Wolkenspiele warfen einen merkwürdigen Eindruck auf; als ob die Landschaft im Sterben liegen würde. Daß es nicht so war, wußten die Männer. Eis und Hagel würden alles zudecken, genau fünfzig Tage lang. Dann tauchte die Sonne auf der anderen Seite wieder auf, und die großen Überschwemmungen begannen.
32 Fünfunddreißig Kilometer. Orr blieb stehen. „Nach meiner Rechnung“, sagte er verbissen und leise, „haben wir genau ein Drittel des Fußmarsches hinter uns. Ich schlage vor, wir essen, trinken und legen uns zwei Stunden lang schlafen. Auf keinen Fall länger — die Folgen wären unausdenkbar. Nemesis kann uns jetzt nicht mehr beobachten. Jetzt sind wir die Aktiven dieser Hetzjagd.“ „Und nach meiner Rechnung bin ich ziemlich erledigt“, sagte Vance mürrisch. Die beiden Männer nahmen die Helme ab. Orr beobachtete etwas Seltsames. Als er die beiden Handschuhe ausgezogen und die Schutzhülle von der Ration gerissen hatte, fiel ihm der Würfel aus der Hand. Orr griff schnell zu. Der Würfel fiel in eine Dornenranke. Die Hand des Biologen wollte sich wieder zurückziehen, als sich die dornigen Zweige auseinanderzogen und auswichen. Der Würfel lag auf einem Moospolster. Orr hob ihn auf und sah Vance an, der alles beobachtet hatte. „Das, mein Freund, sagte Carnaghan ernst, „dürfte der endgültige Beweis sein. Ich persönlich ziehe es für die nächsten Tage vor, ohne Helm und künstlichen Sauerstoff durch die Landschaft zu rennen. Der Schweiß trocknet besser, weißt du!“ „Ich zögere noch“, bekannte Orr. „Ich weiß nicht recht. . .“ „Ich probiere es aus“, sagte Vance knapp und entschieden. Er stand auf und trat auf eine Ranke zu, die sich in spiraligen Windungen um den rauhen Stamm einer Skogamandrypinie ringelte. Seine bloße Hand griff an den Stamm, bewegte sich leicht über die Dornen hin und verharrte über einem der giftigen Blatteile. Der Dorn krümmte sich unter der Handfläche weg, und als Vance den Daumenballen daraufpreßte, wurde der sonst eisenharte Dorn weich und ließ sich zusammendrücken. Diesen Versuch wiederholte Vance dreimal; jedesmal reagierten die Pflanzen auf dieselbe Weise. „Überzeugt?“ fragte Vance lachend. Orrs bärtiges, hageres Gesicht verzog sich zu einem zustimmenden Grinsen. „Überzeugt — restlos!“ sagte er. Zwei Stunden lang hielten sich die Männer auf. Sie banden die Helme an einen Ast, zogen die engen gelben Hosen aus und badeten die schmerzenden Füße in einer Quelle. Sie aßen, tranken und schliefen. Nach nicht ganz zwei Stunden weckte Orr eine Pflanze, die sanft, aber beharrlich über sein Gesicht strich und ihn kitzelte. „Verdammt“, sagte er, nichts anders als verwundert, „das ist doch eine Überraschung. Vance — ich glaube, wir gewinnen.“ Auch die Sauerstoffbatterien blieben unter dem Baum liegen. Die beiden Männer machten sich wieder auf den Weg. Sie schafften an diesem Tag noch weitere zehn Kilometer. 4. Der vierte Tag. . . Die sichelförmige Silhouette des kreisenden Vogels wich nicht vom Himmel. Gegen den sirupfarbenen, braunen Glanz des Firmaments hoben sich die roten Schwingen des Vogels deutlich ab. Er zog Kreise; langsam und unbeirrbar. In der Systematik dieser Bewegungen lag eine offene Drohung. . . die Drohung Skogamandrys gegenüber dem fremden Wesen. Nemesis taumelte weiter. Seit zwei Tagen meldete die Flora seinen genauen Standort, indem sie Vögel aufscheuchte und verhinderte, daß sie sich wieder niederließen. Jetzt drehte bereits der siebente oder achte Vogel seine Runden. Verzweifelt wünschte sich Nemesis, daß er noch vor seiner Flucht den Energiespender und die kleine Waffe mitgenommen hätte.
33 Seit vierundzwanzig Stunden lief Nemesis durch die Landschaft und war unwiderruflich am Ende seiner Kräfte. Er hatte lange nichts mehr getrunken und nicht mehr als zwei kleine Früchte erreichen können; eine davon war ungenießbar gewesen. Die wenigen Wegweiser der Landschaft deckten sich mit dem Wissen, das Nemesis über die Karte in seinem Hirn fand. Er war nicht weniger als sechzig Kilometer vom Schiff entfernt. Er wußte es genau. Aber er wußte auch, daß die beiden Männer jetzt schon den Strom verlassen haben mußten. Wo sich die Gegner befanden, wußte Nemesis nicht. Sechzig Kilometer ... Zehn Stunden noch zu je sechs Kilometer. Unter normalen Umständen würde Nemesis diese Strecke in einem Anlauf schaffen. Nicht jetzt. Er war zum Tod verurteilt, falls nicht etwas Entscheidendes geschah. Die ausgezehrte, zitternde Gestalt glitt weiter zwischen den Bäumen entlang, grün zwischen grünen Pflanzen. Nemesis begann zu taumeln. In einem Winkel seines unablässig arbeitenden Verstandes ahnte er, daß er verloren war, wenn er sich jetzt zu Boden sinken ließ. Das Unglaubliche geschah. Ein Bachlauf gabelte sich. In der Mitte zwischen den beiden Wasserläufen wurde eine kleine Insel sichtbar. Ringsum umgab hüfttiefes Wasser die wuchernden Pflanzen und den Kies. Ein Baum hing voller reifer Früchte, und nirgends zeigte sich eine Verbindung zwischen den Pflanzen der Landschaft und denen der Insel. Nemesis blieb kurz am Ufer stehen und sah sich um. Noch immer begleitete ihn die Sichel am Himmel; der Vogel wachte mit scharfen Augen über den Fremden. Das Wesen sprang in die aufspritzenden Wellen. Er schwamm mit einigen schnellen Stößen zu der Insel hinüber. Essen . . . Schlaf… Wasser und Ruhe vor der drohenden Flora. Das war dort, jenseits des Ufers. Triefend kroch Nemesis mit letzter Kraft zu dem Baum und riß die Früchte herunter. Er warf sie auf eines der weichen Moospolster und begann sofort zu essen. Er aß sich satt und fühlte mit jedem Bissen, wie das Leben und die Energie in seinen ausgehungerten, ausgezehrten Körper zurückkehrten. Er blieb eine Weile auf dem weichen Moos sitzen und trank dann von dem langsam vorbeifließenden Wasser. Um die Zellen in ihrer Arbeit zu unterstützen, legte sich Nemesis in den Bach und fühlte voller Behagen, wie sich die Hautzellen voller Flüssigkeit sogen. Der schnellfunktionierende Stoffwechsel, in der ungefähren Form ungeheuer beschleunigter Osmosevorgänge aufgebaut, erfüllte binnen kürzester Zeit jede einzelne Körperzelle mit den nötigen Aufbaustoffen. Die Zellsäfte kreisten und gaben die Überschüsse an die Nachbarzellen weiter. Eine Stunde irdischer Rechnung reichte völlig aus, um Nemesis wieder vollständig zu dem zu machen, das er bei der Landung verkörpert hatte: Ein eiskaltes Wesen, angefüllt mit Wissen und Kenntnissen, ein Späher einer Rasse, die den Begriff Moral nicht kannte. Was nach einer halben Stunde Schlaf auf der anderen Seite aus dem Wasser sprang, hatte nichts mehr mit dem grünen Wrack gemeinsam, das vor drei halben Stunden auf der anderen Seite auf die Insel geschwommen war. Hier blickte eine Vernichtungsmaschine um sich, griff nach einem großen Stein und zog sich ans Land. Nemesis begann sich schnell und schneller zu bewegen, bis sein Lauf dem eines verschwommenen Schattens glich, der sich zwischen den Pflanzen Skogamandrys fortschlängelte. Das Ziel näherte sich. Ein mittelgroßes, zerschrammtes Raumschiff. Die Entfernung schrumpfte zusammen. Achtundfünf-
34 zig Kilometer, siebenundfünfzig, sechsund . . . Nemesis wußte, daß er es in zehn Stunden erreicht haben würde. In jeder Stunde legte dieses Wesen sechs Kilometer zurück. Die Jagd ging über Hügel, entlang kleiner Wasseradern, durch Grasebenen und in den merkwürdigen, abgerundeten Tälern zwischen den kleinen Hügeln weiter. Nemesis rannte durch die unwegsame Natur in der Dämmerung des Planeten und vorbei an der ständigen Drohung durch die Flora. Irgendwie ahnte der Fremde, daß die Flora noch nicht alle ihre Möglichkeiten ausgespielt hatte. Fallen würden sich ihm entgegenstellen, Gefahren, von denen er nichts ahnte. Über ihm schlug der grüne Vogel einige Male mit den Schwingen und zog einen weiteren Kreis. Er würde die grüne Bewegung tief unter sich nicht aus den Augen lassen, bis das Schiff am Horizont auftauchte. Noch fünfzig Kilometer. Eine Stunde war Nemesis durch den Dschungel gehastet und hatte ohne Regung registriert, daß die Flora ihn nicht aufgehalten hatte. Zwar zerrissen die gierigen Dornen weiterhin die Haut und beschäftigten die Zellen, die das Neutralisationsgift herstellten, zwar schnitten die Halmränder tiefe Wunden in die ungeschützten Glieder, aber damit wurde der Metabolismus des Fremden fertig. Nemesis bewegte sich wie ein terranischer Panther weiter. Schnell, geräuschlos und unsichtbar. Bis auf den Vogel, der stets über ihm blieb, konnte man den Fremden nicht wahrnehmen. * Der letzte Tag brach an . . . Orr erwachte plötzlich aus der Tiefe seines von panischen Träumen erfüllten Schlafes. Über sich erkannte er verschwommen den starken Bart und die strahlenden Augen des blonden Terraners. Einen Augenblick lang verbanden sich diese beiden Dinge — Alptraum und Gesicht — zu einem einzigen Eindruck, dann konnte sie der Deneber trennen. Vances Gesichtsausdruck war beherrscht wie stets, aber dahinter flackerte die erste Panik. „Los“, sagte er drängend und packte Orr unter den Schultern. „Wir müssen weiter. Wir haben noch mindestens zwanzig Kilometer.“ Der Biologe rieb sich die Augen und kam stolpernd auf die Beine. Die letzten zwei Tage hatten die Männer auf eine kräfteverzehrende Art verbracht, die ihnen die letzten Reserven nahm. Sechs Stunden fast laufend, dann eine halbe Stunde und keine Minute mehr Rast, dann wieder ein Gewaltmarsch, der die Energie aufzehrte wie ein Schwamm das Wasser, eine Stunde Schlaf und Essen und so fort, ohne Pause, ohne Aussicht auf einen Erfolg. Nur der Vogel, der zwischen ihnen und Sonnenaufgang kreiste. „Ja“, sagte Orr und nahm einen hastigen Schluck aus der Feldflasche. „Ich laufe ja schon.“ Das Wasser lief ihm aus den Mundwinkeln und versickerte zwischen Anorak und Kragen. Die Männer waren verschwitzt, schmutzig und abgerissen. Sie taumelten mehr, als sie gingen. Wie ein Metronom bewegte sich der riesige Körper des Geologen. Vance Carnaghan mobilisierte seine allerletzten Kraftreserven und schritt voraus. Er machte riesige Schritte. Wie ein Automat hoben und senkten sich die Beine in den beschmutzten Stiefeln und den längst nicht mehr gelben Hosen. „Mann“, sagte Orr laut, um gegen das Sausen des Sturms anzukommen, „hast du ein unwahrscheinliches Tempo.“ Orr war bemüht, Schritt zu halten. Er war zwar um einiges zäher als Vance, aber auch kleiner. Seine Schritte waren schneller als die des Terraners. Dann schwiegen die Männer wieder. Sie liefen, gingen und
35 stolperten eine Stunde lang durch die Wildnis. Vor ihnen öffneten sich Gassen in Schilfmooren, bogen sich Büsche zurück und legten sich Grashalme zur Seite. Nach weiteren zehn Minuten erreichten die Männer eine Hügelkuppe. Orr blieb stehen, während sich Vance der Länge nach ins Gras fallen ließ und sofort einschlief. Orr suchte gründlich und lange die Hügel und Täler ab, und den Luftraum darüber. Er machte nach einigen vergeblichen Versuchen auch die dunkle Silhouette des wachsamen Vogels aus, der etwa zwanzig Kilometer von ihrem Standort entfernt kreiste. Orr schätzte die Schwierigkeiten des Geländes ab, das zwischen dem Vogel und ihnen lag und erschauerte. „Die Geologen sind heute auch nicht mehr, was sie einst waren“, knurrte er in einem Anflug von Galgenhumor und trat Vance vorsichtig gegen den Oberschenkel. Auf diese Art war der Mann nicht aufzuwecken, ohne daß Orr ihn schmerzhaft traf. Er hängte sich das Glas um den Hals, rückte die schwere Büchse zurecht und bückte sich. Er mußte lange rütteln, bis Vance wach wurde. „Verdammt“, sagte Orr. „Los, hoch! Die Bestie ist nur noch zwanzig Kilometer hinter uns. Wenn nichts geschieht, verlieren wir mit hundert Metern Rückstand. Das ist das Schlimmste, das uns passieren kann.“ Noch während sie den Hügel hinunterliefen, kontrollierte Vance an Hand seiner Notizen die Entfernungen. „Wir hören nicht eher zu laufen auf, bis wir das Schiff erreicht haben“, sagte er über die Schulter. Hinter ihm federte Orr über ein meterbreites Rinnsal, holte auf und setzte sich an die Seite des Geologen. „Warum das?“ fragte er schweratmend. „Weil wir nur noch fünfzehn Kilometer bis zum Raumschiff haben. Dort sind wir in Sicherheit — und was wichtiger ist: Dort kann uns Nemesis nicht mehr erreichen. Dort erst ist das Rennen entschieden.“ „Gut“, sagte Orr zweifelnd. „Die letzten Kilometer wirst du mich tragen müssen.“ „Wenn es nicht mehr ist“, grinste Vance mühsam. Sie hasteten weiter. Die Lungen hoben und senkten sich schnell, und die Seiten begannen zu stechen. Die Füße waren längst gefühllos geworden. Sie mußten von Blasen und wunden Stellen übersät sein. Die seit sechs Tagen nicht gewaschene Haut juckte zum Verzweifeln, und die Augen fielen bereits während des Laufens zu. Die Männer hielten sich verzweifelt wach und hatten Mühe, vorwärtszukommen. Die schweren Waffen zogen die Männer zu Boden. Wenn alles zurückgelassen werden durfte, nicht die Waffen. Sie würden es sein, die man während der letzten Phase des Rennens dringend brauchen würde. Es war, als ob Ameisen sich über lockeren Boden fortbewegten. Die Männer behielten ein gleichmäßiges Tempo bei, das nicht sehr hoch war. Vielleicht vier, fünf Kilometer in der Stunde. Und sie wußten gleichzeitig, daß Nemesis eine wesentlich höhere Geschwindigkeit erreichen konnte. Der Spielraum, den sie hatten, würde immer mehr zusammenschrumpfen, bis er schließlich verschwunden war. „Eine Stunde braucht auch der schnellste Pilot, um das Schiff startfertig zu machen. Schneller geht es beim besten Willen nicht. Auch Nemesis, falls er das Schiff vor uns erreichen sollte, wird es nicht schneller schaffen!“ sagte Orr in die Gedanken des Geologen hinein, die sich ungefähr in den gleichen Bahnen bewegten. „Diese Stunde können wir dazu benutzen, um uns einen Weg ins Schiff zu schmelzen und Nemesis zu vernichten, wenn es soweit ist. Wir dürfen diese Zeit
36 nicht als Reserve betrachten“, betonte Vance. Wieder auf einem Hügel, blieb Orr stehen. Als Vance Anstalten machte, sich hinzusetzen, brüllte ihn Orr an. „Du bleibst stehen — sonst bekomme ich dich nicht mehr wach!“ Vance nickte resignierend. „Du hast vollkommen recht“, sagte er und blickte Orr an. „Entschuldige.“ „Schon gut“, erwiderte Orr und sah durch sein Glas. Dieses Mal blickte er nach der entgegengesetzten Richtung. Die starke Vergrößerung zeigte ihm die von der Dämmerung erfüllten und vom Sturm in Bewegung gehaltenen Wipfel der Bäume und die Wellenlinien des Grases. Und darüber schob sich der Kamm eines unbewachsenen Hügels, und dahinter... das Schiff. „Hier“, sagte Orr scharf. „Vielleicht hält dich dieser Anblick aufrecht.“ Er reichte Vance das Glas und deutete in die Richtung, in die Vance sehen sollte. Der Geologe blickte durch die Optik; die Männer hatten die Gummihülle der Okulare entfernt, da sie nicht mehr notwendig war. Die Mastodon stand da, schwarzsilbern und aufrecht, wie ein stählerner Turm über der Wildnis. Die Schleuse war den Männern zugewandt und noch verschlossen. Um das Schiff herum war Sand, er leuchtete bis hierher. Der Anblick war tröstend und anspornend zugleich. „Wieviel?“ fragte Vance, während er hindurchsah, „ich schätze acht bis neun Kilometer?“ „Sechs“, sagte Orr. „Sechs Kilometer.“ „Es gibt Grenzen für das, was man an Spannung aushalten kann“, sagte Vance. „Und selbst wenn ich einen Herzschaden davontragen sollte — ich werde jetzt loslaufen und nicht eher anhalten, bis ich zusammenbreche oder die Hydraulik der Landestützen in den Händen halte. Einverstanden, Orr?“ Orr lachte grimmig. „Einverstanden“, sagte er und schlug Vance leicht in die Seite. „Ich werde dir beweisen, daß ein Denebkolonist wesentlich besser ist als ein lumpiger Terraner.“ „Das“, sagte Vance und grinste breit, „kannst du immerhin versuchen. Ich weiß allerdings, daß ich früher ankommen werde. Los!“ Die Männer liefen los. Nicht besonders schnell, aber in einer Geschwindigkeit, die ihnen gestatten würde, die sechs Kilometer beizubehalten. Sie hofften es wenigstens. Die beiden verdreckten, schwitzenden und stummen Gestalten liefen den Abhang hinunter, stemmten sich seitwärts gegen den Sturm und liefen, liefen. Endlich erlebten sie den Augenblick, in dem sie die Spitze der Mastodon mit eigenen Augen sahen. Sie liefen neben einer Baumgruppe durch ein kleines Tal, und als sich der Blick öffnete, ragte hinter der nächsten Hügelkuppe der mattblinkende Turm auf. „Da ist sie!“ brüllte Vance und schien in diesem Augenblick doppelte Kräfte zu erlangen. Er stob los und schien alles vergessen zu haben, die Erschöpfung und die schmerzenden Gliedmaßen. Wie die Männer diese grauenhafte Tortur schafften, wußten sie nicht. Sie hatten aufgehört, klar zu denken. Sie dachten nicht an die Risiken, die sie auf sich nahmen, als sie in federnden Sätzen über die Rinnsale sprangen, durch die Büsche brachen und vorwärtsstürmten. Sie hätten bei normalem Verstand nie gewagt, in dieser Weise den Dschungel zu durchqueren — aber was war schon normal an dieser Hetzjagd über die Ebenen Skogamandrys. Die keuchenden Gestalten liefen die vier Kilometer in einem einzigen wilden Ansturm. Sie schlitterten über Sandflächen, prallten in die dichten Büsche, die nicht schnell genug ausweichen konnten und liefen durch das Gras der Savannenflecken. Dann hörte der Pflanzenwuchs auf. Drei-
37 hundert Meter vor Vance und Orr stand das Raumschiff. Es stand inmitten einer Sandfläche, die unter dem grauen Dämmerungslicht lag und von der kleine Fahnen aufgeweht und wieder abgelagert wurden. Orr stürzte und fiel in den weichen Untergrund. Er riß sich wieder hoch und lief weiter, langsamer jetzt. Hinter ihm, nicht ganz zwei Meter, hinterließen die Stiefel des Geologen tiefe Spuren. Er half Orr wieder ganz auf die Füße. Jetzt gingen die Männer ruhig weiter; ihr Verstand begann sich zu klären. Sie sahen, daß im Sand vor ihnen keine Spuren zu sehen waren, aber das bedeutete nicht viel. Der Sturm konnte sie inzwischen weggeweht haben. „Gott sei Dank“, sagte Vance gepreßt. Er schien kleiner zu werden; die mächtigen Schultern sanken nach vorn, und der Körper schüttelte sich in einem lautlosen Krampf. Orr blickte ihn von der Seite an und legte dann den Arm des Geologen um seine Schulter. Einträchtig stapften die Männer zum Schiff. „Wir müssen noch hinein“, sagte Orr. „Wirst du es schaffen?“ Wortlos nickte Vance Carnaghan. Der Deneber machte sich daran, die Sprossen der ausgefahrenen Leiter zu erklettern, die aus den Vertiefungen des Rumpfes hervorsahen. Langsam und mit den unwiderruflich letzten Reserven zogen sich die Männer die Stahlbügel hinauf, mit einer müden Bewegung drückte Orr den Kontakt, der die Schleusentür aufschwingen ließ. Das wuchtige Tor öffnete sich knirschend nach oben; Sand schien in die Fugen eingedrungen zu sein. Sand lag auch auf dem Boden der Schleuse. „Keine Spuren“, murmelte Orr. Er drehte sich von der Leiter und ließ den Metallbügel los. Er streckte einen Arm aus und half Vance in die Schleuse. Dann winselte der schlechtgeschmierte Servomotor auf und schloß die Stahlplatte wieder. Die Bügel der Leiter zogen sich in die Schiffswand zurück. Die Männer schalteten die Innenbeleuchtung an und tasteten sich die enge Treppe nach oben in die Passagierräume empor. Dort entfaltete Orr eine fieberhafte Beschäftigung. Er riß die Klappe des Medizinschränkchens auf und holte die Preßluftanlage hervor. Während sich Vance matt und fast teilnahmslos auszog, füllte Orr die Injektionsspritze mit dem Pervitinpräparat. Er ging langsam zu Vance hinüber und preßte die Druckfläche gegen dessen Ellenbeuge. Dann fauchte der Apparat auf und jagte das Präparat in den Blutkreislauf des Geologen. Orr wiederholte den Vorgang, nachdem er sich den schweren Anorak ausgezogen und den Hemdsärmel hochgekrempelt hatte. Dann legte er den Apparat achtlos neben sich auf eine Tischplatte. Hier war alles voller Staub; aber nichts bewies, daß Nemesis schon eingedrungen war. „Kaffee, ein warmes Bad, neue Kleider, etwas zu essen — möglichst flüssig“, ordnete Orr an, und er konnte beobachten, wie sich die Gestalt seines Freundes wieder straffte und ein gewisses Leuchten in die Augen trat; die Wirkung des Medikamentes zeigte sich bereits. Auch bei sich spürte Orr, daß das Präparat wirkte. Minuten später stand Vance unter der Dusche, und Orr setzte die Kaffeemaschine in Betrieb. Er rasierte sich, während das Wasser zu kochen begann, und als er den Apparat aus der Hand legte, dampfte der Kaffee bereits. „Die Gefahr ist noch nicht vorbei“, sagte Vance, der aus der Duschkabine kam und sich abtrocknete. Um seine bloßen, wundgeriebenen Füße bildeten sich in dem gelben Sand kleine Wasserlachen. Orr drehte sich um. „Du kannst dich jetzt anziehen und für dein leibliches Wohl sorgen. In einer Viertelstunde sind wir wieder draußen vor dem Schiff.“
38 Vance nickte und zog sich ein frisches Hemd über. „Ich verstehe“, sagte er und zündete sich während des Anziehens eine Zigarette an. „Du willst diese Bestie für alle Zeiten unschädlich machen!“ „Genau das“, sagte Orr und stellte sich unter die Dusche. Er spürte das warme Wasser aus dem Durchlauferhitzer über seinen Körper laufen, seifte sich schnell ab und duschte dann eiskalt nach. Langsam, Schritt für Schritt, kehrten jetzt die bisher außerachtgelassenen Empfindungen wieder zurück — und auch die Schmerzen. Wieder fünf Minuten später. Die Männer saßen sich in den schweren Raumschiffsesseln gegenüber und rauchten. Die Kaffeetassen waren leer, und nur der Geruch des Getränks hing noch in dem kleinen Raum. Auch die Spezialkonserven mit der Kraftbrühe waren leer. Die Männer waren vollständig angezogen. Sie trugen dicke Wollsocken, leichte Mokassins und dünne Pullover über den Hemden. Vor ihnen lagen die Waffen, geladen. „Nemesis kann sich in alles verwandeln, was er kennt. Wir können uns darauf verlassen, daß er kaum in seiner eigenen Gestalt erscheinen wird. Er weiß genausowenig wie wir vorher, ob wir schon im Schiff sind. Wir werden hier auf der Lauer liegen und unsere Munition verwenden. Ich persönlich muß überzeugt sein, daß keine einzige Zelle dieser Bestie mehr übrigbleibt.“ Vance schnallte den Gurt mit der Pistole fester und schob die Ersatzmagazine in die Taschen. Er nickte zustimmend. „Ich bin kein Biologe, aber ich vermute, daß sich ein einziger Zellverband selbständig fortpflanzen kann. Es ist also notwendig, daß wir Nemesis restlos vernichten.“ „Auch hierzu fällt mir noch etwas ein“, sagte Orr und stand auf. Rasiert und gewaschen, sah er wieder schmal und sehnig aus, und sehr beherrscht, voller gespannter Energie und Wachsamkeit. Seine grünen Augen funkelten unternehmungslustig. Er ging hinüber zur Schaltung und begann methodisch, Verbindung zu trennen. Kunstfaserumsponnene Kupferleiter wurden aus Fassungen gezogen, Schalter wurden herumgelegt und Sicherungen hinausgeschraubt. Als ein ansehnlicher Haufen Draht und kleiner Metallstücke auf der Platte lag, fegte sie die Hand des Denebers in eine Kiste, die hinter der eisernen Platte eines Wandschranks verschlossen wurde. „Wir werden etwas Arbeit damit haben, aber das ist noch das wenigste an Aufwand, was wir in Kauf nehmen können, wenn es um das Schiff geht.“ Die Männer bewegten sich die Wendeltreppe hinunter und ließen die Leiter ausfahren. Dann stiegen sie vorsichtig hinunter und teilten ihre Plätze auf. „Ich gehe dort zwischen die Pseudopinien“, sagte Orr leise, als fürchte er, Nemesis könnte sie hören. „Du weißt also, wohin du keineswegs schießen darfst. Dir würde ich vorschlagen . . .“ Vance hob die Hand. Er wirkte restlos erfrischt und ausgeruht. Die Falten und Linien unter den Augen waren verschwunden. „Ich weiß es bereits. Ich bin dort unter der Hecke zu finden, die den Sand von den Ausläufern des Waldes trennt. Wo ist der Vogel?“ „Etwa drei Kilometer entfernt“, sagte Orr und ging langsam dort hinüber, wo er sich auf die Lauer legen wollte. „Ich sah oben aus der Luke, ehe wir hinunterkletterten“,, rief er leise. Vance nickte und lief schnell über den Sand. Binnen einiger Sekunden hatte der wütende Wind die Spuren eingeebnet und mit Sand zugeweht. Wieder breitete sich die Stelle um das Schiff aus. Orr legte sich zurecht. Er sah noch einmal das Magazin der Waffe nach, schaltete den Mechanismus auf Dauerfeuer um und entsicherte die Nadelbüchse. Jetzt warteten zwölf der schweren Projektile darauf, einen
39 Teil der Landschaft in eine kochende Hölle zu verwandeln. Die Nadelpistole lag, ebenfalls geladen und entsichert, direkt neben Orrs Gesicht auf einem großen, blaugrünen Moosfleck. Der Deneber streckte sich aus und befreite die Auflagefläche der Büchse von abgestorbenen Blättern und einem dürren Ast. Dann schob er den Lauf der Waffe vor sich aus dem Gras hinaus. Er wartete. Die Minuten vergingen jetzt genauso schleichend wie vor kurzer Zeit die Stunden. Orr, noch immer unter der Wirkung des Medikamentes stehend, wartete. Er fühlte jeden Zoll seines Körpers. Jeder Muskel schmerzte, als ob man ihn mit Knüppeln geschlagen hätte. Tief unter der Haut rebellierten Nervenzellen und begannen zu kitzeln. Das juckende Gefühl breitete sich aus und machte das Liegen zu einer Qual. Der Deneber Orr Jong lag auf dem Gras und den Moospolstern und wartete. Dicht über seinem Kopf fuhr der Sturm durch die Bäume, aber Orr hörte das brausende Geräusch bald nicht mehr. Jeder Ton, der eine gewisse Zeit lang gehört wird, wird vom Hirn abgeschwächt und ignoriert. Orr wandte mühsam den Kopf und sah den Koloß der Mastodon vor sich aufragen. Ein rasches Empfinden ergriff von dem Deneber Besitz; er begann die Szene mit anderen Augen zu sehen. Die Farben verschwammen und verschoben ihre Lage im Spektrum. Orr schüttelte den Kopf und drehte den Körper; sein Blick normalisierte sich wieder. Er fühlte, daß er nur noch eine einzige Sekunde lang hätte warten müssen, um etwas zu erleben, um den Pulsschlag dieser Welt zu spüren. Ohne daß er es merkte, schoben sich die Ranken einer kriechenden Staude über das Fleisch, das zwischen den Socken und der Hose bloßlag. Ein einziger Augenblick, nicht länger . . . Natürlich hatte Orr Fieber und war entkräftet. Das Medikament hatte diese Sperre beseitigt, die Empfindungen betrogen. Eine Maschine, die längst zerfallen war, begann wieder zu laufen. Orr fühlte, wie der Raumbegriff und das Zeitempfinden von ihm abfielen wie die Blätter einer aufblühenden Knospe. Er lag nicht hier, nicht an einem genau zu bestimmenden Ort, sondern überall, im Herzen Skogamandrys. Ein Rest des funktionierenden Verstandes wollte die Unmöglichkeit der Situation und der Eindrücke verneinen und annullieren, aber etwas lähmte ihn. Orr war nicht jetzt hier, sondern am Schnittpunkt der unendlichen Zeiteinheiten des Universums. Alle voneinander getrennten Augenblicke liefen hier zusammen wie mikroskopische feine Nervenstränge. Vielleicht war er einige Sekunden wirklich bewußtlos. Eine blendende Leichtigkeit durchfuhr den Körper des Denebers wie ein elektrischer Schlag und warf ihn in eine andere Welt. Ein überwältigendes Gefühl bemächtigte sich der Psyche. War es Wahnsinn? Er wurde gesättigt von der Ordnung und der Regelmäßigkeit der Vorgänge um ihn herum, derjenigen Dinge, von denen er ein Teil war. Ein Teil und dennoch ein Ganzes. Alle Dinge dieses Traumes waren von einer merkwürdigen, überscharfen Zeichnung. Jede Zelle, jeder Vorgang und jedes Stäubchen waren wunderbar genau und unfaßbar exakt. Wie ein dichtgesponnenes Netz überzog das Empfinden Orrs den Planeten Skogamandry. Nicht wie ein Netz; es war ein Netz. Es waren die milliardenfachen Verbindungen, die zwischen den einzelnen Pflanzen bestanden. Jede Pflanze war eine einzige Zelle. Hülle, Blätter und Stengel waren die Bestandteile dieser Zelle, und alle Zellen hingen miteinander zusammen. Flüchtig bemerkte Orr, wie sich ein blaulackierter Schlepper über die Halme und
40 den Kies einer fremd aussehenden Ebene bewegte und sie teilte wie ein Pflug. Undeutlich fühlte der Mann einen feinen Schmerz, fast jenseits der Wahrnehmungsgrenze, als die Raupen einige Zellen zerquetschten. Aber was machte es aus. Dieses Ganze war aus so unglaublich vielen Einzelzellen zusammengesetzt, daß es nicht störte. Orr bewegte eine seiner Gliedmaßen, und die Halme zogen sich vor den Schlepperwalzen zurück. Der Schmerz wurde nichtexistent. Warum habe ich dieses Gefühl? fragte sich eine Zelle in ihm. Und eine andere Zelle, ein anderer Teil seines eigenen Selbst antwortete ihm. Du hast dieses Gefühl, weil du eins bist mit uns, mit den Pflanzen Skogamandrys. Ich liebe diesen Namen. Du hast mir ihn gegeben in deinem Bewußtsein. Jetzt bist du ich, und ich bin du. Wir gehören zusammen, bis die Verbindung gelöst ist. Der Vogel? Ich habe das Wesen Nemesis beobachtet und seine Gedanken gelesen, sagte ein Teil der Flora. Ich fand nur Vernichtung und Kälte in diesen Gedanken. Dieses Wesen ist nicht wert, daß es lebt. Wir werden es ausrotten, wenn du es willst. Ich will es. Jetzt wußte Orr alles. Noch während er dachte, fühlte er, wie sein Wissen und seine Gedanken über den Planeten wanderten in einer weltweiten, lautlosen und blitzschnellen Kommunikation. Er wußte, daß entweder diese Zellen, auf seinen eigenen Befehl, tödliche Gifte aussonderten oder sich zurückziehen konnten. Ihre Sinnesorgane waren Tasthärchen und lichtempfindliche Augen… Du weißt, daß ich euch sehen konnte. Ich kann auch Nemesis sehen. Willst du? Ja. Ein Teil von Orr verwandelte sich in einen Wald. Er bestand jetzt aus Gräsern, Stämmen und Ästen, und die lichtempfindlichen Zellen übertrugen tausendfältige Eindrücke in sein Bewußtsein. Hier huschte ein grünes, schlankes Wesen von hundertsiebzig Zentimetern Größe durch die Büsche, federte über einen Strauch und glitt weiter, schneller als Orr und Vance es konnten. Vance? Hier bin ich. Ich sehe Nemesis kommen. Noch drei Kilometer hat er zu überwinden, dann ist er hier. Eine Falle? Orr korrespondierte blitzschnell mit Vance, der wie er ein Teil des Riesenorganismus war. Wir werden eine Falle herstellen. Wo ist dafür Platz? Die jahrhundertealte Erfahrung der Flora antwortete. Hier ist ein geeigneter Platz. Wir werden ihn verdauen, wie meine fleischfressenden Zellen ein Insekt oder einen Käfer. Viele Pflanzenaugen beobachteten einen Sandkessel, der trichterförmig zulief. Nasser Sand bildete über einer Höhle einen Korken, der durch eine geringe Erschütterung durchbrochen werden konnte. Die Höhle war nicht groß, vielleicht einen Kubikmeter. Es ist Platz genug, daß sich das Wesen nicht mehr entfernen kann. Es war die Stimme Carnaghans, aber sie teilte ihr Wissen nicht nur Orr mit. Jeder einzelne Grashalm erfuhr davon. Orr versuchte, sich die Falle vorzustellen. Sie mußte unsichtbar sein und dennoch von dem Wesen betreten werden. Noch während er einen Plan entwarf, sah er, daß seine Glieder bereits ausführten, was er dachte. Kollektives Bewußtsein einer dominierenden Form. Das war die Intelligenz, die Skogamandry hervorgebracht hatte . . . Ja. Hier liegt das Wissen von Jahrtausenden versteckt, antwortete die Gesamtheit. Vance war ein Teil und konnte selbständig denken. Aber indem er dachte, blieb er inmitten dieser riesigen Zellenan-
41 Sammlung. Nichts blieb ihm verborgen, nichts konnte er verbergen. Der Plan wurde bereits ausgeführt. Unregelmäßig und nicht im geringsten verdächtig aussehend, schoben sich Dornenbüsche, Hecken und Ranken übereinander und bildeten entlang des Weges, den Nemesis kommen mußte, eine Gasse. Hier würde die Bestie entlanglaufen. Die Sandfläche überzog sich mit einem dichten Netz von Lianen, darüber schoben sich Kletterpflanzen, Halme und losgerissene Moospolster, die von den Ranken umwickelt wurden. Innerhalb von einigen Sekunden sah die Fläche aus wie eine natürliche Senke. Ein Trichter . . . Ameisenlöwe? So ähnlich. Nemesis wurde von dem Flugsand in das Zentrum des Kessels herabgezogen werden. Dort brach der Pfropfen, und die Lianen ergriffen das Wesen und zerrten es, an sämtlichen Gliedern gefesselt, zu dem hungrigen Maul einer Schwarzlilie. Sie würde die ätzende Säure ausscheiden und die ledernen Blätter schließen. Gut so. So wird es gehen. Aber ich muß rasch zupacken, denn schon einmal ist mir die Bestie entkommen. Ich weiß, das war kurz nach meinen Schüssen, sagte Orr. Etwas in ihm wußte genau über die Vorgänge Bescheid. Nemesis hatte nur noch hundert Meter bis zu der Falle zurückzulegen. Der Sturm, dessen Anprall Orr und Vance an allen ihren Gliedern spürten, tobte über die freie Grasfläche und preßte die Halme an den Boden. Der grüne Schatten Nemesis sprang aus dem Wäldchen hervor und überquerte die Grasfläche. Atemlos warteten Vance und Orr, und bewegungslos wartete die Flora Skogamandrys auf das kommende Geschehen. Nemesis rannte jetzt in den Anfang der grünen Gasse hinein. Neun, zehn Sekunden dauerte es, bis die Pflanzenreihen in den überwucherten Trichter mündeten. Der Fremde lief aus den beiden Kolonnen heraus und zögerte nicht einen Augenblick. Er stürmte weiter. Er trat achtlos über das Gras und die Moosstücke, warf sich dem Sturm entgegen und lief über die Ränder des Trichters. Dann war er genau über dem Mittelpunkt. Mit einem einzigen, wilden Ruck zogen sich die Lianen zurück und schnellten wie Peitschenschnüre in die Luft. Nemesis geriet ins Stolpern. * Achthundert Meter vor dem Schiff . . . Nur einen einzigen, langen Blick warf Nemesis auf den Stahlturm, der vor ihm über die Hügel aufragte. Er wußte, daß es nur noch Minuten dauern konnte, bis er die untersten Griffe der Leiter in den langen Fingern spürte. Er fühlte sich frisch und immer noch ausgeruht, und er sah einen Kampf kommen. Die Männer! Waren sie bereits vor ihm angelangt, würden sie auf ihn warten. Sie würden versuchen, ihn zu treffen, mit den furchtbaren Hitzewaffen. Nemesis konnte sich ausrechnen, daß sie sich nicht weit vom schützenden Stahlkörper des Schiffes entfernen würden. Nemesis stolperte und fiel. In demselben Augenblick erfaßten seine gespannten Sinne, daß dies hier eine Falle der Natur Skogamandrys war. Nemesis versuchte hochzukommen, aber der nachrutschende Sand begrub den grünen Körper halb, zog ihn in das Zentrum des Trichters hinein. Abgerissene Gräser und lose Moospolster gerieten ins Rutschen — dann brach der Sandpfropfen. Die Arme des Wesens wurden nach vorn gerissen, griffen um Lianen und in Dornen hinein. Sekundenlang betäubte ein neues Gift den Körper des Piloten. Immer noch rutschte der Sand dem Trichter zu. In einer verzweifelten Anstrengung, noch während ein Gedanke entstand, bewegte Nemesis seine Füße und
42 kam ein kleines Stück höher. Dann war die Umwandlung beendet. Mitten in dieser Bewegung zerfloß der Körper des Fremden. Binnen einer Sekunde wurde daraus eine Schlange, die einen dünnen und gegabelten Schwanz hochringelte und dann schleuderte. Wie ein Seil pfiff der Körper durch die Luft und klatschte gegen einen zehn Meter entfernten Baumstamm. Ein Zittern ging durch den Baum, aber es war bereits zu spät, als sich der Stamm nach hinten bog. Mit einer fließenden Bewegung zog sich Nemesis aus dem Trichter. Vergebens folgten die Schnüre der zähen Lianen; sie richteten nichts mehr aus, als die grüne Schlange durch das Gras davonglitt. Losgerissene Blätter, Moos und Gräser blieben auf der rutschenden Sandfläche zurück und taumelten lautlos ins Zentrum, verschwanden in dem dunklen Loch. Nemesis verharrte einen Moment entlang einer Hecke und orientierte sich. Diese Runde hatte Skogamandry verloren, sagte er sich. Aber es war noch nicht alles zu Ende. Offensichtlich unterstützte die Flora die beiden Männer, seine Gegner. Eiskalte Überlegung erfüllte Nemesis. Die umheimliche Verwandlung blieb bestehen. Jetzt konnten auch die scharfen Augen eines Vogels die Schlange nur noch sehen, wenn sie sich über offene Stellen wagte. Klug und genau den Weg beobachtend, drehte und wand sich der Pilot entlang einer Reihe von Wurzeln, versteckte sich unter einer Hecke und bewegte sich mit peitschenden Schlägen durch ein kleines Schilffeld. In einer großen Kurve umging die grüne Schlange das Sandfeld, in dessen Mitte das Schiff stand. Dann ging der Pflanzenwuchs in die freie Sandfläche über. Nemesis begann zu überlegen. Die Schlange würde zu lange brauchen, um das Schiff zu erreichen. Konnte die andere Gestalt mehr erreichen? Natürlich! Nemesis verwandelte sich. Es dauerte drei Sekunden, dann lag wieder der schmale, sehnige Körper da, faltig und voller verhaltener Kraft. Die großen Augen suchten die Gegend ab, und sie vergaßen keinen Zentimeter. Sie erfaßten nichts; kein Zeichen, ob die Männer lauerten oder noch durch den Dschungel hasteten. Aber während das fremde, unerwünschte und gehetzte Wesen überlegte, holte die Natur zu ihrem Schlag aus. Er war nicht vorbereitet, aber ... In der fünfzig Tage währenden Nacht dieses Landstrichs fielen Schnee und Eis. Die Flora verschloß ihre Blüten und dämmerte unter der warmen, weißen Decke dahin. Nur ein einziges Tier blieb wach, während die eisigen Stürme rasten — die Nachtbestie. Sie erwachte beim ersten Kälteeinbruch. Oder, wenn man sie aufscheuchte. Und genau das geschah jetzt. Neben einem flachen Bachufer war eine Höhle. Sie war mit Gräsern und Moos ausgepolstert und mit einem dicken Wall aus vertrockneten Pflanzen abgeschirmt. Es geschah alles in beängstigender Schnelligkeit; die Natur des Planeten mobilisierte ihre Zellen, die Gräser, die Büsche, die Wurzeln und die Stämme der Bäume . . . alles. Ein harmonisches und schnelles Zusammenspiel erfolgte, an dessen Ende sich der Bach aufstaute. Der Wasserspiegel stieg hoher und hoher, leckte zuerst an den vertrockneten Blättern, schwemmte sie weg. Ein schmales Rinnsal erst, dann immer mehr Wasser ergoß sich in das Innere der kleinen Höhle. Die Nachtbestie lag im kalten Wasser. Sie schreckte auf und riß den Raubtierkopf hoch. Gefahr! Taumelnd kam die Bestie auf die Füße, schüttelte sich und erwachte völlig. Sie schoß in einem geschmeidigen Satz aus der
43 Höhle, stürzte sich kopfüber ins Wasser und kam prustend und fauchend wieder hoch. Ein weiterer Satz brachte die schwarze Gestalt des Raubtieres auf den Uferrand. Gelbe, böse glimmende Augen blickten sich um und suchten nach einem Gegner, nach Bewegung. Den Bauch flach an den Boden gepreßt, kroch das Raubtier am Bachrand vorbei, durch einen schmalen Schilfstreifen und über eine Grasfläche. Ein Baum bewegte sich leicht und schüttelte seine Krone. Daneben geriet ein Strauch in Bewegung. Etwas mußte sich an den Stämmen schaben. Das Raubtier riß den Rachen auf, entblößte die vier weißen Giftzähne und fauchte leise. Dann kroch es weiter, unhörbar und von niemandem gesehen. Wieder bewegten sich Gräser. Die Halmspitzen zitterten mehr und mehr. Lautlos griff die Nachtbestie an, lautlos waren ihre Bewegungen. Dreißig Meter legte der schwarze, schlanke Fellkörper zurück, verhielt und orientierte sich erneut. Wieder Bewegung. Hier schlich das tödlichste Wesen dieses Planeten entlang. Da — wieder zitterten Halme. Die Richtung des Vorstoßes änderte sich geringfügig. Dann schlug dem Raubtier der Geruch in die Nasenlöcher. Ein strenger, fremder und abstoßender Geruch, hinter dem sich Fleisch verbarg und Blut, Kampf und Sieg. Bewegungslos verhoffte die Katze. Die gelben Augen sahen, wie sich eine grüne Gestalt aufrichtete und umsah. Der Kopf wandte sich nach der anderen Richtung. Nicht ganz drei Sprünge trennten die beiden Raubtiere voneinander. Die Nachtbestie spannte die Muskeln, fauchte lautlos gegen den Sturm und federte hoch. Der erste Sprung, der zweite, und wie ein abgeschossener Pfeil flog die Bestie durch die Luft und vergrub die Fangzähne in den Nacken Nemesis. Ein furchtbarer Schmerz durchtobte das Wesen. Nemesis ließ sich wieder in den Sand fallen, und aus seinen Fingern wuchsen Klauen mit Giftkanälen. Eine Sekunde lang war Nemesis gelähmt und unfähig, zu denken oder zu handeln. Dann war das Gift neutralisiert, und die beiden Gegner wälzten sich über den Sand. Sie waren einander ebenbürtig. Die Klauen Nemesis rissen das schwarze Fell auf, und die Nachtbestie wurde rasend vor Schmerz. Sie ließ den Nacken des Wesens los, warf sich herum und vergrub die Fänge in die Schulter des grünen Wesens. Der stinkende Raubtieratem schlug Nemesis entgegen, und die Pranken der vier Läufe zerfetzten die faltige Haut. Dunkelrotes und braunes Blut vermischten sich und wurden vom Sand aufgesaugt. Endlich gelang es Nemesis, seinen Gegner auf einem Auge zu blenden. Das Tier kreischte voller irrsinniger Wut auf, zerfleischte den Hals und die Schulter seines Opfers, zerriß die Oberarme und suchte die Hauptschlagader. Wie die inkarnierte Besessenheit drehten und verkrampften sich die Gegner dieses furchtbaren Kampfes. Sie zerfleischten sich solange, bis auch das andere Auge der Nachtbestie zerstört war und sich der Griff der Zähne und die Umklammerung der Pranken löste. Fast tot, aber immer noch röchelnd und zuckend, griff die Nachtbestie blind nach Nemesis. Trotz des Sprunges, mit dem sich die blutende Gestalt in Sicherheit zu bringen versuchte, packte die Bestie einen Fuß. Knirschend durchtrennte der mächtige Kiefer den Fußknochen, zerbiß die Muskeln und röchelte haßerfüllt. Aus dem verstümmelten Handgelenk des Fremden wuchs eine schwere Hornplatte. Sie schimmerte auf, als der Arm mit letzter Kraft niederzuckte und den Schädel der Nachtbestie vom Rumpf trennte. Gurgelnd verendete das Raubtier. Nemesis stand zitternd auf der Sandfläche, die von den Spuren des Kampfes
44 übersät war. Tiefe Rillen, Hautfetzen, Blut und wieder Blut, Fehlstücke und Klumpen von undefinierbarem Aussehen zeigten die elementare Wildheit des Kampfes an. Nemesis hatte erneut gesiegt. Dieses Wesen war härter als alles Bekannte. Langsam setzte sich der Regenerationsprozeß in Gang. Dringende Befehle veranlaßten die Zellgruppen, ihr wunderbar harmonisches Zusammenspiel zu beginnen. Die Hautfalten wucherten und wuchsen gegeneinander. Sekunden vergingen in quälender Ungewißheit. Die Gedanken des Fremden beschäftigten sich mit den beiden Männern. Wo waren sie? Jetzt war Nemesis nahezu hilflos. Die riesigen Augen gingen von rechts nach links und suchten die Gegend ab. Nirgends zeigten sich Spuren, Bewegungen, keine Geräusche waren zu hören. * Wie durch ein eigentümliches Filter, wie durch feinen Stoff hindurch bemerkten die beiden Terraner, wie die Flora Skogamandrys ihre Kräfte einsetzte, um Nemesis unschädlich zu machen. Zwei fürchterliche Gewalten prallten gegeneinander. Vance und Orr waren mit den handelnden und zusehenden Zellen dieses gigantischen Organismus zu einer einheitlichen Sphäre verschmolzen. Sie sahen zu, wie die Trichterfalle von dem unglaublichen Wesen überwunden wurde, und s bemerkten das Anschleichen der aufgeweckten Nachtbestie. Sie verfolgten durch die Tausen de der lichtempfindlichen Zellen den erbitterten und grausamen Kampf des grünen Wesens mit dem schwarzen Raubtier — und die Niederlage des Tieres. Jetzt müßt ihr eingreifen, sagte die wortlose Stimme der Flora. Meine Hilfe ist wertlos gewor den. Ihr habt andere Waffen. Die Männer versuchten, ihr Bewußtsein aus dieser lautlosen Umschlingung zu lösen. Sie wurden wieder zu zwei Persönlichkeiten, die eine schwere Aufgabe vor sich hatten. Eine Pflanze handelte und löste die beiden Ranken vom Fleisch der Männer. Die Kontakte rissen ab. Mit brutaler Deutlichkeit kehrte die Bedrohung durch Nemesis zurück. Orr stand auf und lie sich sofort wieder fallen, als er die Gestalt des grünen Wesens bemerkte. Sie stand hundert Meter vom Schiff entfernt und blickte jetzt genau in Orrs Richtung. Auch Vance konnte seinen Verstand und seine Gedanken wieder frei bewegen; er griff nach der Waffe und blickte durch die Zieleinrichtung. Nemesis war im Begriff, sich wieder zu erholen. Vance zielte sorgfältig und preßte die Waffe gegen seine Schulter. Fauchend löste sic der erste Schuß. Unter der Rauchwolke hindurch blickte der Geologe über die Lichtung; auch Orr hatte gefeuert. Nemesis wurde herumgerissen, und die beiden Glutbälle breiteten sich aus. Stinkender Qual wolkte hoch und wurde vom Wind weggetrieben. Wieder pfiffen zwei Schüsse los. Das Wesen sprang senkrecht in die Höhe, drehte sich im Sprung und rannte dann über den Sand, hin ein in die schützenden Wälder. Orr federte hoch und schlug rennend einen weiten Bogen. Er versuchte, Nemesis zwischen sich und Vance zu bekommen. „Hierher!“ schrie er. Vance kam hoch, lief hundert Meter über den Sand, unter den Tragflächen des Schiffes entlang und weiter, durch die Lücke, die Nemesis gerissen hatte und hinei in die grüne Wildnis. Die schmale Spur vor ihm sagte deutlich, wohin er sich wenden mußte Natürlich half ihnen die Natur des Planeten. Fieberhafte Bewegung folgte dem Weg des fremden Wesens. Die Baumkronen schüttelten sich entgegen dem Sturm, und
45 Blätter fielen und segelten davon. Wieder blieb Vance stehen und zielte. Der Lauf der Nadelbüchse bewegte sich millimeterweise. Der Rückstoß des Schusses erschütterte den Mann. Zwischen den Büschen flammte eine Feuerkugel auf, daneben eine zweite; Orr hatte gezielt und geschossen. Es war nicht die Furcht, das Schiff zu spät zu erreichen, die beide Männer zu diesen Aktionen drängte. Es war die berechtigte und wohlfundierte Überlegung, daß jeder Rest dieses Wesens für sich allein weiterexistieren konnte. Frühestens das erste Siedlerschiff würde zur Beute von Nemesis werden. Also verfolgten sie den Piloten, oder das, worin er sich verwandelt hatte. Nemesis war zweimal getroffen worden, das war sicher. Trotzdem lebte er noch, und wie sich herausstellte, war er noch sehr lebendig. Er bewegte sich zwischen den beiden lauernden Männern seitwärts weg. Dort in der Richtung zum Strom, der nicht ganz hundert Kilometer entfernt war, befand sich ein Moorgebiet, in das ihm niemand folgen konnte. Das wußten zwar die beiden Männer, aber Nemesis konnte es nicht wissen. Oder doch? Hatte er auch das in ihren Gedanken gelesen, hatte er gesehen, woran sie damals in der Unterkunft nicht gedacht hatten. Besaß er sämtliches Wissen der Terraner. Als sich Vance die Konsequenz dieser Überlegung vor Augen hielt, erbleichte er. Die Daten über sämtliche Kolonien. .. Nemesis mußte sterben. Wie ein Schnelläufer rannte der mächtige Geologe weiter und versuchte, zwischen die sich bewegende Linie und das Moorgebiet zu gelangen. Nach dreihundert Metern erschöpfenden Rennens hatte er es geschafft. Er blieb auf einem kleinen Kieswall stehen und hielt die Büchse schußbereit. Unter ihm, etwa dreißig Meter Luftlinie in einem ganz flachen Winkel, bewegten sich die Sträucher. Nicht weit dahinter erkannte Vance die Gestalt Orrs, der sich unaufhaltsam näherte. Der grüne Schatten blieb stehen und verschmolz fast mit dem Hintergrund und den schützenden Zweigen. Zweimal schoß Vance, und er war hundertprozentig sicher, daß er zweimal getroffen hatte. Qualm und Rauch versperrten die Sicht. In geradlinigem Vorstoß bewegte sich Orr auf die Stelle der Explosionen zu und erreichte sie. Er warf das Gewehr über die Schultern und hatte die Nadelpistole in der Hand. Vance sah deutlich, wie die Waffe in der Hand des denebischen Biologen aufruckte, und wie sich die langen Feuerstrahlen aus dem Lauf lösten und auf etwas deutete, was sich seiner Sicht entzog. Drei, vier, fünf Schüsse donnerten auf. Der Schall kam eine halbe Sekunde später zu Vance, gleichzeitig mit den Böen des Windes. „Hierher!“ brüllte Orr laut und winkte mit einer Hand. Vance nahm die Pistole in die Hand und stürmte den kleinen Hang hinunter. Binnen zwanzig Sekunden hatte er die Stelle erreicht, an der es schwelte und rauchte und stank. Zwischen Orr und ihm befand sich unter den Dächern einiger Bäume eine Zone schwarzen, versengten Erdreichs. Gras kohlte und brannte mit gelben Flammen. Die Nachbarpflanzen schwitzten Wasser aus und erstickten die Flammen schnell und wirkungsvoll. In der Mitte des fast kreisrunden Fleckens lag etwas, das früher einmal Nemesis gewesen sein konnte. Verbrannt, zusammengeschrumpft auf ein Drittel der ursprünglichen Größe, schwarz und sehr unschön anzusehen. Noch mal feuerte Orr. Zwischen den Männern explodierte der blaugelbe Blitz; die Feuerkugel breitete sich aus. Wieder begann stinkender, blaugefärbter Rauch das Bild zu verschleiern. Nachher
46 war Ruhe. Die Schuhe der Männer traten die Reste auseinander. „Das wäre es gewesen“, sagte Orr mit einer seltsam schwachen Stimme. Vance blickte zwischen dem Kameraden und den schwelenden Resten hin und her. „Sechs Tage lang haben wir diese Bestie über den Planeten verfolgt, und jetzt wäre sie uns beinahe noch entkommen. Meinst du, daß wir die Gefahr endgültig beseitigt haben?“ Orr steckte die Waffe ein und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte er müde und schlaff, „wirklich nicht.“ „Was geschieht jetzt?“ fragte Vance. Die Männer gingen nebeneinander auf den Koloß des Schiffes zu. Die Wirkung des aufputschenden Medikaments ließ schlagartig nach, und ebenso schnell verloren die Männer an Kraft und Ausdauer. Es war ein erschreckendes Gefühl, den Verfall der Kräfte am eigenen Körper beobachten zu müssen. „Jetzt werden wir zuerst Kommodore Kirby anfunken und ihm sagen, was zu tun ist. Dann können wir schlafen. Ich wette, wir schlafen vierundzwanzig Stunden lang.“ „Ich fürchte es auch“, sagte Vance. Nach zwanzig Minuten kamen sie an derselben Stelle wieder auf den Sand heraus, an der Vance hinter Nemesis hergerannt war. Zwischen ihnen und dem Schiff war eine Stelle im Sand, die nicht wiederzuerkennen war. Schwarz, violett und in einem merkwürdigen Blau war der Sand verkrustet, durchfurcht und zusammengeschmolzen. Die gräßliche Hitze aus den explodierenden Nadelgeschossen hatte hier den Sand zu einer gläsernen Masse zusammengebacken und ihn mit einem schillernden Überzug glasiert. „Und das alles hat dieses Wesen überstanden“, knurrte Orr und wandte sich ab. Die Männer kletterten die Leiter zur Schleuse wieder hinauf, ließen die Stahlplatte aufschwingen und tappten in den Aufenthaltsraum hinein. Hier war es ungemütlich kalt und feucht; vor einer Stunde hatten sie es nicht gemerkt. Mit Orrs Hilfe stellte Vance die komplizierten Verbindungen zwischen den einzelnen Schaltern und Maschinen wieder her, und nicht ganz eine halbe Stunde später begannen die Heizplatten zu knacken und Wärme abzustrahlen. „Orr . . .“, sagte Vance und zündete sich eine weitere Zigarette an, „ich weiß vieles, aber eines ist mir nicht ganz klar. Was war es, das dieses merkwürdige Wesen derartig zähe und widerstandsfähig gemacht hat?“ Orr saß ausgestreckt in einem der schweren Sessel und hatte die bloßen Füße über die Armlehnen dicht an eine der Heizplatten gepreßt. Er drehte den Kopf herum und blickte Vance an. „Das ist einfach und doch ungeheuer kompliziert. Die Natur von Nemesis folgte dem universellen Schema der Zellen. Jede Zelle hat einen Kern, der das Plasma kontrolliert und für sämtliche Lebensvorgänge verantwortlich ist. Ich weiß es nicht genau, aber bereits eine einzige Zelle dieses Fremden ist seine komplette Persönlichkeit. Sie beinhaltet alles, was er ist, besitzt, kann und denkt.“ „Eine einzige Zelle?“ fragte Vance entgeistert. Orr nickte schwer. „Die Tatsache, daß sich Nemesis vor unseren Augen in eine Schlange verwandeln konnte, die Vermutung, daß er jederzeit in der Lage ist, sich zu regenerieren, brachten mich auf diese Gedanken. Er stellte seine Haut neu her, er reparierte die zerfetzten Knochen innerhalb weniger Sekunden. Ich schätze, daß sich Nemesis in alles verwandeln kann, das er kennt. Schlangen, Nachtbestien, Fische . . .“ „Und wenn er sich jetzt, nach meinem ersten Schuß, in einen oder in mehrere
47 Würmer verwandelt hat, die außerhalb der Kontrolle von unserer neugewonnenen Freundin leben und auf eine günstige Gelegenheit warten?“ „Dieses Risiko sind wir soeben eingegangen, Vance“, bestätigte Orr. „Ich kann mir aber nicht denken, daß Nemesis die ungeheure Hitze der Geschosse vertragen und sich vorher noch verwandelt hat.“ „Wäre es denkbar?“ fragte Vance beunruhigt. „Natürlich“, antwortete Orr. „Aber, lasse mich jetzt Kirby anrufen. Ich werde ihm schnell erzählen, was alles geschehen ist und daß er bei der Unterkunft warten soll. Heute haben wir den Abend des sechsten Tages; er wird in drei Tagen dort sein können.“ „Gut“, sagte Vance und erhob sich ächzend. „Ich besorge in der Zwischenzeit unsere Lager. Hast du sonst noch eine Idee, die uns davon abhält, endlich auszuruhen?“ Orr lächelte knapp. Dann sagte er: „Gewiß. Ich werde sicherheitshalber die Außenhülle des Schiffes elektrisch aufladen.“ Orr machte sich an den Knöpfen des schweren Schiffsfunkgerätes zu schaffen. Er schaltete die Vorwärmstufe an, drehte die Frequenz ein und wartete geduldig, bis sich die Richtantennenschale aus der Schiffswand ausgefahren hatte. Dann nahm Orr das Mikrophon auf, schaltete auf Gegenspruch und rief: „Hier Orr Jong im Raumschiff . . . ich rufe Kommodore Kirby. Kirby — bitte melden. . . hallo, Kirby, bitte melden!“ Drei Sekunden später ertönte die Stimme Gill Botsaris’ durch den Lautsprecher. Trotz der erheblichen Müdigkeit war Gill aufgeregt und sprach laut und aufgeregt. „Hier Botsaris im Schlepper. Orr — ihr lebt noch? Wir haben pausenlos versucht, euch anzufunken. Ist euer Gerät zerstört?“ „Ja“, sagte Orr kurz. „Wir befinden uns im Schiff.“ „In der Mastodon?“ „Natürlich — wo sonst.“ „Kommodore Kirby schläft“, sagte Botsaris. „Was ist geschehen?“ „Allerhand“, erwiderte Orr und stellte das Mikrophon vor sich auf die Platte des Funktisches. „Höre genau zu. Du kannst nach diesem Funkspruch die Motoren abschalten und dich ebenfalls hinlegen. Die unmittelbaren Gefahren sind beseitigt.“ „Wie ist die Sache mit Nemesis ausgegangen?“ fragte Gill aufgeregt. „Ziemlich einseitig“, antwortete Orr trocken. „Unser uneingeladener Gast liegt jetzt verbrannt und hoffentlich endgültig tot zwischen drei Bäumen. Die Gefahr ist vermutlich endgültig beseitigt. Wir brachten Nemesis zu seinem Schiff, das sich aber als flugunfähig herausstellte. Dann erklärte uns die Bestie in normalem Unterhaltungston, daß sie unser Schiff nehmen und damit starten würde — die Folgen für uns kannst du dir mühelos ausmalen. Es gab keine Alternative. Nemesis floh von seinem Schiff aus, und wir machten uns auf den Weg. Vorher zerstörte Nemesis noch das Funkgerät, die Karten und einige andere Dinge. Wir starteten, lösten uns im Boot ab und liefen uns die Füße wund. Eineinhalb Stunden vor dem Fremden erreichten wir die Mastodon. Dort warteten wir und konnten ihn schließlich stellen. Wir sind fast nicht mehr in der Lage, gerade auf unseren eigenen Füßen zu stehen. Wir werden uns jetzt niederlegen und möchten vierundzwanzig Stunden lang nicht gestört werden. Ihr tut zweckmäßiger das gleiche. Sobald wir wieder einigermaßen über klare Überlegungen verfügen, rufen wir euch wieder. Es ist möglich, daß Nemesis noch lebt, aber das Schiff ist uns sicher. Wir schließen die Außenhülle an den Generator an, so daß wirklich nichts geschehen kann. Verstanden, Gill?“ Botsaris antwortete mit müder Stimme.
48 Trotzdem konnte man deutlich die grenzenlose Erleichterung heraushören. „Verstanden, Orr. Ich lege mich jetzt hin und werde ebenfalls den Schlepper absichern. Ende.“ „Gut so, Gill — Ende!“ Die Verbindungen wurden getrennt, und der Biologe schaltete das Gerät aus. Er betätigte einige Schalter, die den Strom aus dem anlaufenden Schiffsmeiler in die Außenhülle leiteten. Keine organische Substanz konnte diese Spannung aushalten, ohne langsam zu verkohlen und abzusterben. Orr wuchtete sich aus dem Sessel und nahm die Beine vom Heizkörper. Er ging in einen der beiden Räume hinüber, aus dem Licht kam. Dort standen zwei Betten nebeneinander, durch einen schmalen Gang getrennt. Vance Carnaghan war mitten in der Arbeit des Umziehens von einem elementaren Schlafbedürfnis überfallen und besiegt worden. Er lag fast quer über seinem hergerichteten Lager und hatte sich halb ausgezogen. Er schlief regungslos. Orr bückte sich stöhnend, hob die Beine des Geologen auf das Bett und zog die Socken herunter. Dann setzte er sich auf den Rand seines Lagers, zog sich rasch um und ließ sich nach hinten fallen. Genau zehn Sekunden später drehte er den Kopf zur Seite, löschte die winzige Lampe und schlief ein. Nemesis und alle möglichen Folgerungen waren vergessen worden. Mindestens vierundzwanzig Stunden lang . . . 5. Fünf Tage vor dem Anbruch der Nacht. . . Alles schien vorbei. Die Gefahren lagen hinter den Männern. Die Steuerkabine war hell erleuchtet, ein Band lief auf dem Wiedergabegerät, und der Tisch war voller Getränke und Speisen. Vance und Orr saßen sich gegenüber und aßen. Der Kaffee war heiß, die aus den Tiefkühlfächern geholten, aufgetauten und erhitzten Speisen rochen angenehm, und beide Männer waren ausgeschlafen, frisch geduscht und umgezogen. Sie befanden sich in bester Verfassung; bis auf die Muskeln. Sie schmerzten dumpf und anhaltend, auch die eiskalten Duschen hatten die Erschöpfungszustände nicht völlig vertreiben können. Vance drückte den Zigarettenrest aus und schob die Tasse von sich weg. „Hmm“, sagte er. „Jetzt hätten wir das meiste glücklich überstanden.“ „Es scheint so“, erwiderte Orr und ließ seine grünen Augen über Vances Gesicht gleiten. „Du siehst richtiggehend blühend aus.“ „Danke“, sagte Vance. „Der lange Schlaf...“ „Kirby wird warten, denke ich“, warf Orr ein. „Wir sollten ihn anrufen und ihm erzählen, was alles geschehen ist und was wir vorhaben.“ „Das sollten wir tun“, sagte Vance. „Nachdem du ein bemerkenswertes Geschick in der Bedienung von Funkgeräten besitzt und außerdem ich viel zu faul bin, um aufzustehen — mach du’s!“ „Ich hätte Geologe werden sollen“, knurrte der Deneber und schwang seinen Sessel herum. Er bremste den Schwung ab, indem er beide Füße auf den Boden stellte. „Ich hätte dann einen gutbezahlten Beruf ohne viel Arbeit.“ „Dein Tadel beschämt mich“, grinste Vance, „aber deswegen bleibe ich trotzdem sitzen und höre zu.“ „Meinetwegen“, sagte Orr und machte das Gerät sendefertig. Er wartete, bis die Kontaktlampe aufleuchtete, dann sagte er: „Hier wieder Orr in der Mastodon. Bitte melden . . . Kirby!“ Kommodore Kirbys Stimme erklang. Sie war frisch und voller Unternehmungsgeist, wie ihr Besitzer. Die gute Laune des Team-
49 chefs schien durch nichts zerstört werden zu können. „Hier Kirby. Heil und ausgeschlafen. Was gibt es, Männer?“ „Wärest du an unserer Stelle, dann würdest du weniger laut trompeten, hoher Chef. Wir sind gerade dabei, unsere einzelnen Knochen zu sammeln. Fein, deine Stimme zu hören.“ „Danke — ebenfalls, Orr“, sagte Kirby. „Wir fahren augenblicklich wieder und sind in zwei Tagen an der Unterkunft. Ich halte es vor Spannung kaum mehr aus. Wie konnte dies alles geschehen?“ „Das konnte geschehen“, sagte Orr langsam und unbetont, „weil hier Vertreter der irdischen Rasse auf ein Wesen stießen, das jederzeit in der Lage ist, ein gewaltiges biologisches Labor zu ersetzen. Diese Wesen, denen man den Namen Nemesis gegeben hat, sind praktisch unzerstörbar.“ „Ich denke, es ist euch gelungen...“, fragte Kirby mißtrauisch. „Ich denke es auch, weiß es aber nicht. Wissenschaftliche Arbeiter sollten nicht Voraussetzungen verwenden, sondern Beweise. Und solche Beweise stehen noch aus.“ „Danke für den Hinweis“, sagte Kirby. „Also — was ging dort vor?“ „Wir stellten schließlich dieses Wesen. Es hatte sich in ein grünes Ding verwandelt, das sich mit großer Geschwindigkeit durch den Dschungel fortbewegte. Wir beschossen es unterwegs zweimal und trafen auch; es hielt sich nicht lange auf. Die Distanzen waren mehr als knapp. Wir erreichten das Schiff eineinhalb Stunden vor Nemesis. Es wäre gestartet, mit unserem gesamten Wissen. Alles, was in unseren Köpfen war, hätte dieser Pilot mitgenommen. Kannst du dir die Konsequenzen vorstellen?“ Kirby schwieg eine Weile, dann sagte er leise und erschüttert: „Tatsächlich. Es wäre ziemlich übel gewesen, wobei ,übel’ noch die schwächste Bezeichnung ist. Wie habt ihr das erfahren?“ „Wir fanden Kontakte; davon später. Nachdem wir ungefähr fünfzehn Schuß Nadelmunition um Nemesis herum zur Explosion gebracht hatten, sahen wir den Rest. Ein Ding in den Umrissen des Piloten, das schwarz, verkohlt und unansehnlich war. Daß dieser Rest nicht mehr Leben enthielt als ein Bachkiesel, dafür stehe ich ein. Aber wir wissen nicht, ob sich nicht Sekundenbruchteile vorher einige Zellen abgespaltet und selbständig gemacht haben. Sie könnten sich in den Boden vergraben haben, weggelaufen sein, ins Wasser gefallen oder geworfen...“ „Das heißt“, unterbrach Roger, „daß wir jederzeit damit rechnen können, dieses Wesen in ausgewachsener Gestalt vor uns zu erblicken. Es braucht nur Nahrung und etwas Zeit, etwas Wasser und Wärme...“ „Das ist richtig. Die Gefahr ist sekundär geworden. Nicht mehr unser Leben, sondern die Existenz der menschlichen Rasse steht auf dem Spiel. Denke an den Planeten der alten Deneber, der verwüstet worden ist. Seitdem sind zweitausend Jahre vergangen.“ „Also bleibt das Problem, dieses Wesen zu beseitigen. Was ist zu tun, daß wir auf diesem Planeten, wo außer uns keinerlei intelligentes Leben herrscht, die Bestie fangen und vernichten können — falls sie noch lebt?“ fragte Kirby mit steigender Besorgnis. „Das ist die erfreulichere Seite unseres Problems“, sagte Orr und drehte sich zu Vance um, der ruhig dasaß und sich einen frischen Kaffee aufgoß. „Wir sind durch einen jener unglaublichen Zufälle daraufgestoßen, daß uns die Flora Skogamandrys wesentlich geholfen hat. Sie ist hochintelligent. Die These, daß hier keinerlei Intelligenz lebt, ist also falsch.“
50 „Ach!“ sagte Kirby erschüttert. „Berichte!“ „Wir legten uns vor dem Schiff auf die Lauer, schwerbewaffnet“, sagte Orr. „Plötzlich stellte sich bei uns beiden ein Zustand ein, der an einen Wachtraum erinnerte. Wir blickten plötzlich in das innere Gefüge dieser weltweiten Gemeinschaft der Pflanzen, und kurz darauf waren wir in diese Einheit eingeschlossen. Augen und Tastzellen, die über die gesamte Weltkugel verstreut waren. Bis auf Inseln oder Inselchen inmitten von Bachläufen oder Strömen — und hier können ebenfalls Verbindungen existieren — sind alle Pflanzen des Planeten miteinander verbunden und kommunizieren ständig.“ „Du bist wahnsinnig . . .“, flüsterte Kirby. „Das kann nicht stimmen!“ „Es stimmt, Wort für Wort“, sagte Orr eindringlich. „Niemand von uns hier phantasiert. Wir wurden also in diese Gemeinschaft mit einbezogen, und wir sprachen mit der Flora, wortlos, direkt durch Kontakte mit den Hirnnerven. Wir bereiteten zusammen eine Falle vor, in die Nemesis gehen sollte; er befreite sich daraus. Dann weckten wir ein Raubtier, das ihn anfiel; es wurde getötet. Dann löste sich die Verbindung, und wir griffen mit den Nadelgeschossen ein. Die Verbindung kann jederzeit wiederaufgenommen werden.“ „Das ist eine phantastische Sache, Orr. Wie stellt sich die Flora zur Kolonisation?“ fragte Kirby gefaßt. „Ich weiß es noch nicht. Wir hatten sie Wichtigeres zu fragen“, antwortete Orr. „Könnt ihr das nachholen?“ „Natürlich“, sagte Orr. „Aber es besteht kein Grund, warum du es nicht auch selbst machen könntest. Es ist nicht im geringsten gefährlich oder riskant.“ „Ich scheue mich davor — eine dumme Sache, aber ich werde sie überwinden. Das ist die größte Erkenntnis, die wir je auf unseren Flügen hatten. Eine denkende Pflanzenwelt!“ „Mit den Erfahrungen und dem gespeicherten Wissen von Jahrtausenden, wenn nicht länger“, sagte Orr. „Und ob das etwas ist.“ „Gut“, sagte Kirby. „Verschieben wir alle diese Gedanken auf die Zeit, in der wir wieder vollzählig und beieinander sind. Was werdet ihr jetzt tun?“ Orr überlegte kurz, dann antwortete er. „Wir werden uns jetzt mit der Flora kurz unterhalten, und dann werden wir die Maschinen anwerfen und starten. Zuerst holen wir das Boot ab, das wir irgendwo am Ufer liegengelassen haben, dann starten wir zu der Unterkunft. Dort werden wir auf euch warten.“ „Oder wir auf euch, je nachdem, wer eher dort ist.“ „Gut“, sagte Orr zu Kirby. „Wir können dann und dort beratschlagen, was weiter zu tun ist. Ich persönlich würde vorschlagen, daß wir so rasch wie möglich starten, um nicht in die Nacht Skogamandrys hineinzukommen.“ „Noch haben wir vier oder fünf Tage bis zu dem Zeitpunkt“, sagte der Kommodore. „Wir treffen uns alle an der Unterkunft. Verstanden?“ „Verstanden, Kirby. Ende.“ Die rote Lampe erlosch, und Orr schwang seinen Sessel herum. „Alles verstanden?“ „Langer Rede kurzer Sinn; die Prämie, die wir für einen vollkommen entschlüsselten Planeten erhalten können, wird etwas höher sein, als wir bisher annahmen.“ Vance Carnaghan grinste über das ganze Gesicht. Seine blauen Augen leuchteten auf. Orr lachte ebenfalls. Er nickte. „Du hast recht. Als einzige Kontakter mit der Flora können wir einen schönen Betrag verlangen. Außerdem haben wir einige zehn Kisten voller Berichte, Analysen und Klassifikationen unserer Fähigkeiten. Wir sind erfolgreich gewesen, wenn wir auf Terra landen.“ Orr sagte leise und etwas versonnen:
51 „Zuerst werden wir hinuntergehen und die Kontakte mit der Flora etwas verstärken. Ich habe da einige Fragen, deren Beantwortung mir am Herzen liegt. Viele Dinge können davon abhängen.“ „Ich komme mit“, sagte Vance. Orr zuckte zusammen. „Nein!“ sagte er scharf. Wieder stutzte Vance. „Warum?“ fragte er. „Einer von uns muß das Schiff bewachen. Noch immer ist nicht sicher, daß Nemesis restlos vernichtet ist. Du wirst in dem Moment, wo ich die letzte Sprosse losgelassen habe, den Strom wieder einschalten.“ „Das ist natürlich einzusehen“, sagte Vance und stand auf. „Gehst du sofort?“ Orr nickte und schnallte sich den Waffengurt um. Er verließ die Steuerkabine und ging schnell die Wendeltreppe zur Schleusenkammer hinunter. Er wußte, daß Lichtsignale und Summer anzeigten, ob oder wann er die verschiedenen Verschlüsse und Riegel betätigte. Die innere Schleusentür schloß sich, während die Stahlplatte knarrend aufschwang. Orr tastete sich die Leiter hinunter, blieb stehen und winkte nach oben. Er wußte, daß in diesem Moment Vance wieder den tödlichen Strom einschaltete. Dann bewegte sich der Deneber schnell und zielbewußt über den Sand, ging einige Meter in eine Grasfläche hinein und setzte sich, mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt. Er nahm eine Ranke in die Hand und legte seine andere Hand über ein Grasbüschel. Zum zweitenmal trat Orr die Reise in die unwirkliche Welt der Pflanzengemeinschaft an. Er wurde aufgesaugt wie Sonnenstrahlen oder Wasser, und er wurde eins mit der Flora des Planeten. Ich grüße dich, sagte eine Stimme. Du bist also noch einmal zurückgekehrt. Orr antwortete, und erfühlte leicht schauernd, wie er mit sich selbst korrespondierte und sprach, auf eine seltsam intensive, lautlose Art, von Hirn zu Hirn. Selbstverständlich. Noch viele Fragen sind offen, sagte er. Ich werde sie beantworten, wenn ich kann. Wie geht es dir? Mein Kamerad und ich haben uns wieder erholt. Wir schliefen, aßen und fühlen uns jetzt recht wohl. Die Flora schien sich auf eine nicht zu beschreibende Art zu freuen, daß Orr wieder mit ihr Kontakt aufnahm. Orr stellte seine erste Frage, und er wollte wissen, ob die Pflanzen etwas von Nemesis gesehen oder gemerkt hätten. Nein. Er fragte, ob die Flora der Meinung sei, daß Nemesis vernichtet sei, endgültig. Nein. Warum nicht? fragte Orr und bewegte sich. Ich habe das fremde, bösartige Wesen nicht mehr gesehen, seit eure Waffen feuerten. Ich kann mir aber vorstellen, daß Nemesis unterhalb der Wurzeln im Erdreich steckt, sich ausruht und dort auf Nahrung wartet. Du mußt wissen, daß auch viele Tiere im Boden leben. Ich glau-be, daß in nicht allzu langer Zeit das fremde Wesen wieder stark und mächtig wird, und versucht, euch zu überfallen. Orr stellte eine andere Frage. Du weißt, was ich denke. Du hast es erfahren, indem du einfach in Verbindung mit mir tratest. Du warst auch — kurze Zeit — mit Nemesis in direkter Verbindung. Haben deine Zellen etwas erfahren? Alles! Was wollte Nemesis hier? Sein Schiff hatte Maschinenschaden. Er mußte landen, dachte aber nicht, daß diese Welt ziemlich leer sei. Er war sehr froh, als er merkte, daß ihr ihn aus dem Schiff holtet. Er war wach, noch ehe wir ihn zu unserem Haus gebracht haben? Völlig. Er las die ganze Zeit über in euren Hirnen und
52 erfuhr alles. Das ist furchtbar, sagte Orr. Dann weiß er über alles genau Bescheid? Ich fürchte, ja. Was war Nemesis? fragte Orr. Er war ein Späher seiner Rasse. Er hatte einen Planeten entdeckt, auf dem Männer wie du und dein Freund Vance lebten. Mit vielen Häusern und Frauen und Maschinen und Kindern. Er wollte den Standort und die Zahlen zu seinen Führern bringen, damit sie den Planeten überfallen konnten. Und das alles war in seinen Gedanken? fragte Orr beharrlich. Ja. Und noch mehr. Er kannte viele Dinge nicht, die euch auszeichnen. Moral, Ethik, Recht auf Leben, Gebote des Zusammenlebens, Rücksichtnahme... es ist eine harte Rasse. Und sehr beharrlich. Sie kennen keine Resignation, keine Aufgabe einer Idee. Solange Nemesis lebt, wird er versuchen, euch zu überfallen und das Schiff zu stehlen. Also besteht nicht nur für uns, sondern auch für eine Kolonie unserer Rasse Gefahr. Orr schwieg wieder und hörte, was die Flora zu sagen hatte. Ihr seid Männer, die Welten untersuchen und dann vorschlagen, eine Kolonie zu gründen? Wir sind solche Männer, bestätigte Orr. Soll auch auf Skogamandry eine solche Kolonie gegründet werden? Zuerst, antwortete Orr, dachten wir daran, die Menschen zu warnen. Deine Pflanzen waren giftig und die Früchte ungenießbar. Wir fürchteten, daß sich menschliches Leben nur in den Wüsten halten würde, nicht hier. Jetzt kennen wir das Gegenteil. Willst du eine terranische Kolonie dulden? Grundsätzlich ja. Eure Brüder müssen sich nur verpflichten, die Pflanzen nicht mutwillig zu vernichten oder auszurotten. Der Schmerz, der der Gesamtheit zugefügt wird, ist dann zu groß. Es kann alles geregelt werden; es ist Platz für viele, nicht nur für mich. Ich glaube, wir können einen Kompromiß schließen, sagte Orr und versuchte einen Vorschlag anzubringen. Wie soll er aussehen, wie lautet er? Jeder Mensch, der sich hier niederläßt, muß zuerst mit dir in direkten Kontakt treten, so wie ich es tue und augenblicklich mit dir zusammengeschmolzen bin. So wird sich feststellen lassen, was verboten und gestattet ist. Du bist sehr klug, sagte das Etwas, das die grüne Welt des Planeten darstellte. Es gibt weitaus Klügere, schränkte Orr ein. Ich werde jetzt die Verbindung lösen und zum Schiff zurückgehen. Wir werden von hier abfliegen, das zurückgelassene Boot einholen und dann zu unserer Unterkunft zurückfliegen. Dort warten wir auf unsere beiden Kameraden. Sie werden ebenfalls mit dir Kontakt aufnehmen, wenn es an der Zeit ist. Ich werde darauf warten, nach so viel Jahrtausenden endlich jemand, der mit mir spricht und der mich versteht. Sie werden viel fragen, schränkte Orr ein. Ich werde antworten, denn ich weiß viel. Ich hatte genügend Zeit, über alles nachzudenken, obwohl ich eigentlich nicht denken kann. Ich möchte, sagte Orr nachdenklich, daß du mir ein Versprechen gibst? Welches? Daß du, sobald Nemesis sich bemerkbar macht oder sobald du siehst, daß Nemesis
53 sich bewegt, uns ein Zeichen gibst. Kann ich dessen sicher sein? Mein Abscheu gegen dieses Wesen ist so groß, daß ich alles tun werde. Ich sehe nicht gern Wesen, die gleich mir aus der Schöpfung hervorgegangen sind, sterben, aber diese Bestie verdient den Tod. Ich werde euch ein Zeichen geben. Ich danke dir. Ich gehe jetzt wieder in unser Schiff zurück. Gut. Orr hob, nicht ohne Mühe, die Hand vom Graspolster und ließ die Ranke los. Der Zweig hing noch einen Moment bewegungslos in der Luft, dann sank er schlaff zusammen. Der Kontakt war unterbrochen; Orr Jong stand auf. Einen Augenblick lang stand die sehnige, schmale Gestalt des dunkelhäutigen Denebers bewegungslos da und blickte auf das grüne Gewirr zu seinen Füßen. Die grünen Augen schlossen sich und blieben für einige Sekunden unter den schweren Lidern verborgen. „Stets entdeckt der Mensch etwas. Entweder wird er mit der brutalen Wildheit einer Rasse wie Nemesis konfrontiert, oder er schließt Freundschaft mit der Flora Skogamandrys. Es ist mehr als rätselhaft. Aber vielleicht ist das alles innerhalb des großen Bogens der Dinge, die aus einer einzigen Konzeption hervorgegangen sind. Mitten unter ihnen: Der Mensch. Wozu?“ Das Murmeln des Selbstgespräches hörte auf. Orr Jong öffnete die Augen. Sie bekamen wieder ihren nachdenklichen und entschlossenen Blick, als der Biologe sich zum Schiff wandte und mit schnellen Schritten auf die Tragflächen und die Stoßdämpfer zuging. Er sah nicht mehr, als er in die Schleuse schlüpfte, wie hinter ihm eine Baumgruppe sich verzweifelt schüttelte. Als ob sie etwas sagen wollte, etwas Dringendes. Und als ob sie verzweifelte, daß er sie nicht bemerkte. Die Schleuse wurde geschlossen. Die Bäume hörten auf, sich zu bewegen. Nur der ewige Sturm der Dämmerung, die etwas tiefer geworden war, fegte über die Pflanzen und Gräser hinweg, staute sich an den Windseiten der Hügel und riß die Rauchschleier weg, die aus den Düsen des Schiffes kamen. Die Vorwärmer liefen an; Vance hatte sie gezündet. Zwanzig Minuten später bewegte sich das Schiff in einer Rauchwolke brüllend aufwärts. Der Lärm, den die Düsen vollführten, konkurrierte mit dem Brausen des Sturmes, der jetzt über die leere Sandfläche tobte. Einhundert Kilometer; ein Raumschiff ist andere Entfernungen gewohnt. In einer vollkommenen ballistischen Kurve flog das Schiff über die leicht hügelige Ebene, huschte über das Moor und landete in einer anderen Rauchwolke am Ufer des Stromes. Noch ehe die Schleuse sich geöffnet hatte, war Vance an den Halterungen des schweren Schiffskrans, der auch den Schlepper ausgebootet hatte. Während Orr die Hydraulik der Stoßdämpfer kontrollierte, die sich immer tiefer in den Kies und das Geröll der Uferlandschaft preßten, betätigte Vance die Maschinen des Krans. Ein Haken schwebte nach unten, und Vance stand mit einem Fuß darauf, in der Hand die kleine Schaltautomatik der Fernsteuerung. Der Arm der Maschine legte etwas aus, verharrte dann in der Bewegung, und der Haken berührte den Boden. Vance ließ noch zwei Meter des Stahlseils ablaufen, dann hielt er die Seiltrommel an. Das Boot war innerhalb von fünf Minuten von den eingelegten Steinen befreit und in der Schlinge des Seils befestigt. Vance ließ die Maschine wieder anlaufen und sah zu, wie sich oben der Deneber um das Boot kümmerte. Kaum schwebte der Haken wieder über dem freien Boden, fiel er hinunter und wurde eine Handbreit über dem Kies aufgehalten. Vance stellte sich in die Beuge des Hakens und ließ sich hochwinden.
54 Dann schloß sich die Schleuse wieder. Das Schiff, dessen Maschinen wieder abgestellt worden waren, startete über die Distanz von sechshundert Kilometern. Vance sah zu, wie der Deneber an den Hebeln und Rädern der Handsteuerung hantierte. Orr ließ das Schiff aufsteigen, legte es dann in die Horizontale um und ließ die Raketen losbrüllen. Eine schwarze Fahne zerteilte sich rasch im Sturm, wurde abgeschnitten, und das Schiff segelte auf den überdimensionierten Tragflächen in einer flachen Kurve dem Erdboden entgegen. Der Schnittpunkt dieser Kurve verlief genau neben der Unterkunft mit der Bodenlinie. Orr landete das Schiff, indem er es durch Stöße aus den Korrekturdüsen aufrichtete und mit dem Heck voran niedersinken ließ. Die Flammen in den Düsen erloschen, als sich die Dämpfer breit und knirschend in den weichen Grund bohrten. Das Schiff stand. „Wie teilen wir jetzt die Zweimann-Mannschaft“, fragte Orr ironisch und drehte den Sessel von der Steuerung weg. „Einer könnte unten die Vorräte, die wissenschaftliche Ausbeute unserer zweihundert Wandertage und die nicht mehr notwendigen Teile der Unterkunft zusammenstellen und an Bord schaffen. Einer bewacht das Schiff.“ „Knobeln wir!“ schlug Vance lässig vor. „Ich warte lieber auf freiwillige Meldungen“, erwiderte Orr lachend. Vance stand auf. „Gut“, sagte er, „ich gehe hinunter. Hoffentlich packe ich nicht zufällig eine Kiste namens Nemesis ein.“ Orr biß sich nachdenklich auf die Handknöchel. Dann sagte er: „Ich werde inzwischen etwas basteln, was Nemesis nachhaltig fernhalten sollte. Mir schwebt ein Gitter aus Stahldraht vor, das unter dem Kranhaken in der verschlossenen Schleuse angebracht und mit Hochspannung geladen ist. Jede Last wird darauf abgestellt; alle unsere Dinge und Vorräte sind dementsprechend verpackt. Sie nehmen keinen Schaden, aber dieses Wesen wird zumindest reagieren. Ich stehe mit schußbereiter Waffe daneben. Einverstanden?“ „Das könnte funktionieren“, sagte Vance. „In Ordnung. Bastle!“ Eine Stunde später. Vance, in normaler Kleidung, aber in einem winddichten Anorak und mit ledernen Handschuhen über den Fingern, schichtete die Dinge neben dem Schiff auf, die er zusammengestellt hatte. Das zerstörte Funkgerät, von dem noch die Montageplatte und die Kunststoffknöpfe zu verwenden waren. Die Klappstühle und den Feldtisch, die Kisten mit den Büchern und Heften, die Fotorollen und die Kameras. Die Pakete mit den Rationen — alles bildete einen bunten, aber ordentlich übereinandergestapelten Haufen. „Ein Netz!“ schrie er gegen den Sturm zu Orr hinauf, der dreißig Meter höher in Bügel festhielt. Orr winkte. „Verstanden!“ kam seine Stimme. Vance hatte die entsicherte Pistole, neu geladen und durchgesehen, am Gürtel stecken. Ohne Waffe würden sich die Männer bis auf weiteres keinen Meter weit trauen. Der Kranhaken, an den ein weitmaschiges Fangnetz gebunden war, schwebte herunter. Vance trat unter die Last der Maschine, band das Netz los und breitete es auf dem Boden aus. Er legte zuerst die gesamten Vorräte und Sauerstoffbatterien hinein, dann zog er die vier Kanten zusammen und hängte sie ein. „Auf!“ brüllte er aus voller Lunge. Orr winkte, und sofort schwebte alles nach oben. Orr stand neben der Bedienungsplatte, schaltete die Neigung des Kranarmes höher und ließ das Seil nach. Die Last fiel auf die geladene Gitterkonstruktion, blieb ruhig liegen und wurde vom Strom durchflossen. Nichts geschah. Orr verstaute sie rasch in einer Kammer
55 der Lasträume und ließ am Haken wieder Ausrüstungsgegenstände herauf, bunt hintereinander von der Kaffeemaschine bis zum Theodoliten, alle wurden unter Strom gesetzt und verpackt. Dann waren nur noch die leere Hütte unten und Vance Carnaghan. „Alles einwandfrei“, sagte sich Orr halblaut, dann ging er zum Rand der Plattform und blickte hinunter. Dort stand Vance und sah mit offenem Munde zu ihm hinauf. „Jeder Gegenstand ist getestet und einwandfrei. Komm’ herauf!“ schrie Orr. Vance nickte. Orr ließ dreißig Meter Seil ab und sah zu, wie Vance in den Haken stieg und sich am Seil festhielt. Dann ruckte die Maschine an, Zahnräder griffen ineinander und drehten das Seil hoch. Einen halben Meter über der jetzt abgeschalteten Drahtkonstruktion ließ Orr den Haken anhalten. „Du wirst selbstverständlich auch getestet“, versprach er, ohne einen Muskel zu verziehen. Vance blickte ihn ungläubig an, riß die Augen auf und fing dann zu schreien an. „Bist du irrsinnig — du bringst mich um! Diese Spannung hält nicht einmal Nemesis aus, ich erst recht nicht. Hör auf, du verdammter Biologe. Du hast keine Ahnung, was du anrichtest.“ „Wenn du auf dem Gitter stehst, mußt du blitzschnell den Haken loslassen“, gab Orr ungerührt zurück. „Nemesis kann sich auch in dich verwandeln.“ „Ahhhh!“ brüllte Vance. „Höre sofort auf.“ Langsam senkte sich der Haken, zentimeterweise ließ Orr die Maschine ablaufen. Vance belegte ihn mit einer Serie unheimlicher Ausdrücke, verlegte sich dann aufs Bitten und wurde still, als der Haken die Gitter berührte. Dann rötete sich sein Gesicht und er warf sich vorwärts, über das Gitter hinweg auf Orr. „Du verdammter Bio .. .“, knurrte er und blieb vor Orr stehen. „Mann“, sagte er schweratmend, „du hast mir einen Schrecken eingejagt. Eines Tages werde ich dir diesen Streich spielen.“ Sie lachten, verschlossen den Laderaum und die Schleuse und schalteten die elektrische Sperre wieder an. Dann zogen sie sich in der Pilotenkabine aus und tranken etwas. Das Funkgerät sprang an. „Vance“, sagte Orr sehr ernst und ging langsam zum Funkgerät hinüber, „du wirst mir jetzt glauben müssen, wenn ich dir erkläre, daß die Sache mit dem Gitter tatsächlich ein Test war.“ „Tatsächlich — ohne Strom?“ fragte Vance verblüfft. „Ja. Ich kenne dich sehr genau. In dieser Panik hätte Nemesis anders reagiert als du. Ich weiß nicht wie, aber ich war entschlossen, zu schießen, wenn etwas sich verändert hätte. Dein Fluchen hat mich überzeugt. So wie du schimpfst, kann nicht einmal Nemesis schimpfen. Ein solch guter Schauspieler ist dieses Wesen nicht.“ Er nahm das Mikrophon ab und hörte noch, wie Vance, sich im Nacken kratzend, sagte: „Du hast recht gehabt. Stelle dir vor, an meiner Stelle wäre Nemesis eingedrungen. Um Gottes ...“ Aus dem Funkgerät kam die Stimme des Kommodores. „Hier Kirby. Ich habe eure Flugbahn durch das Glas beobachtet. Seid ihr bei der Unterkunft gelandet?“ „Hier Orr. Wir stehen zwanzig Meter neben Vances Feldbett. Die gesamte Ausrüstung ist an Bord. Wir haben jeden einzelnen Gegenstand mit hochgespannten Strom getestet und gefunden, daß keine Imitation von Nemesis versucht worden ist. Der Schiffsrumpf steht ebenfalls unter Spannung.“ „Gut. Wir haben eben geortet. Wir können in gut zwanzig Stunden bei euch sein. Hat diese merkwürdige Flora schon gesagt, daß Nemesis unterwegs ist?“
56 „Sie hat gesagt, daß sie uns warnen würde, wenn sie etwas bemerkt. Frage sie doch selbst!“ „Keine Zeit“, sagte Kirby vorwurfsvoll. „Ich muß fahren. Botsaris schläft.“ „Gut — sonst nichts Besonderes. Wir warten am Schiff. Funkkontakt, wenn du angekommen bist und eingeholt werden willst. Ende?“ „Geht in Ordnung. Was ist mit dem Schiff dieses Burschen Nemesis?“ Orr stutzte etwas, dann lächelte er. „Wir können es untersuchen, wenn ihr hier seid. Vorher hat es wenig Zweck; auch muß einer von uns ständig das Schiff bewachen.“ „Klar. Ende, Orr!“ „Ende.“ Orr legte den Schalter um. Zwanzig Stunden mußten sie jetzt warten. Demonstrativ gähnte Vance Carnaghan. „Ich bin nicht wirklich müde“, sagte er. „Aber ich werde mich hinlegen, um morgen frisch zu sein, wenn die Hütte abgebaut werden muß. Außerdem sollen wir noch den Schlepper einholen und das Schiff untersuchen.“ „Möglicherweise“, sagte Orr nachdenklich geworden, „fallen dabei einige bemerkenswerte technische Einsichten in unsere Hände. Wir werden abschrauben und abschneiden, was wir können. Das allerdings wird eine Aufgabe für die terranischen Techniker der Kolonisationstruppe werden.“ „Fein“, sagte Vance, tatsächlich schläfrig geworden, „ob Nemesis noch lebt?“ Orr zuckte die Schulter. * Dreieinhalb Tage vor Anbruch der Nacht. . . „Zwei terranische Wissenschaftler und Traktorfahrer wollen endlich einmal wieder den Komfort ihres Schiffes genießen. Wir sind durchgerüttelt und sehen nur noch jedes Ding wie durch eine Schlepperscheibe. Laßt ihr uns ins Schiff?“ Botsaris Stimme kam aus dem Lautsprecher, während Orr davorhockte und nachdenklich auf seine bloßen Zehen starrte. „Muß das unbedingt jetzt sein?“ fragte er. „Ich bin noch nicht vorschriftsmäßig angekleidet.“ „Keine Ausflüchte. Wir lassen den Schlepper stehen.“ „Gut. Wir holen euch hinauf.“ Es dauerte fünf Minuten, bis die Schleuse offen und der schwere Haken unterwegs war. Kirby und Botsaris klammerten sich an das Seil, Kirby winkte: „Fertig!“, und Vance ließ die Trommel anlaufen. Die Männer sprangen auf den Schleusenboden und schüttelten Orr und Vance die Hände. „Ich muß sagen“, dröhnte die Stimme Kirbys durch den Metallraum, „ihr habt allerhand hinter euch. Wir werden duschen, unsere Bärte abschneiden und dann eine Flasche aufbohren. Und dann werdet ihr haargenau erzählen, was alles vorgefallen ist.“ Sie kletterten hintereinander die Treppe in die oberen Räume hinauf. Für einen außenstehenden Betrachter wirkte Kirby laut und polternd; er war einer der fähigsten Männer, die sich ein Sucherteam wünschen konnte. Hinter dem runden Gesicht verbarg sich ein blitzschneller Verstand, dessen hervorragendste Eigenschaft es war, ebenso schnell Wesentliches von unwesentlichen Dingen scheiden zu können. Eine Stunde später saßen die vier Männer hinter blauen, zylinderförmigen Gläsern um den Tisch, und jeder lag mehr, als er saß, in einem der lederüberzogenen Sessel. Gill Botsaris, der Jüngste der Mannschaft, Navigator des Schiffes und Hydrobiologe, beugte sich vor und sah Orr in die Augen. „Und dieses Wesen besitzt eine derartige Resistenz?“ fragte er. Orr nickte und trank sein Glas leer. Kir-
57 bys behaarte Hand griff nach der Flasche und schüttelte das Glas wieder halbvoll. „Wenn du mittels einer kräftigen Eisenstange ein Funkgerät zertrümmerst, dann funktioniert es nicht mehr. Bei Säugetieren genügt es, wenn die Hirnzellen einige Zeit ohne Sauerstoff sind, um den biologisch vollendeten Tod herbeizuführen. Dieses Wesen Nemesis kann weiterleben, wenn noch eine einzige, lebensfähige Zelle übrigbleibt. Sie verdaut Nahrung, vergrößert und teilt sich, dann übernehmen beide Zellen, die entstanden sind, diese Aufgabe. Und so geht es fort. Zwei, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig — weiter in mathematischer Progression. Es dauert nicht lange, und das komplette Wesen ist wiedererstanden.“ Orr breitete die Hände aus, als wolle er andeuten, daß er für diese Laune der Natur nicht verantwortlich sei. Kirby hatte eine Frage. „Aber... die Hirnzellen als Sitz des Wissens und sämtlicher geistigen Fähigkeiten, die speziellen Zellverbände des Herzens, der Knochen und der übrigen Organe?“ „Es sind alles nur Variationen einer einzigen Zellenart. Sonst wäre Nemesis schon längst tot und zerstört. Aber keiner von uns beiden kann garantieren, daß wir den Piloten restlos vernichtet haben. Es kann eine Zelle übriggeblieben sein — nicht mehr; aber sie genügt, um binnen einer gewissen Zeit das Wesen wieder neu zu schaffen.’’ „Das ist ziemlich schwierig. Spätestens das erste Schiff, das nach uns landet, wird von Nemesis gekapert. Übrigens . . ... Schiff?!“ „Ja?“ fragte Vance. „Ich schlage vor, wir reißen zuerst die Hütte ab, laden den Schlepper ein und gehen dann zu dritt hinunter in die Bucht; vielleicht ist der Diskus noch dort. Sehen wir uns an, was wir brauchen können. Wir nehmen die Ultraschallsäge mit und schneiden heraus, was verwendet werden kann.’’ Kirby trank sein Glas leer, steckte sich eine seiner langen Zigaretten an und kehrte eine Minute später zurück, Handschuhe und die Waffe in den Händen. „Bringen wir es schnell hinter uns“, sagte er. „Je eher wir starten können, desto besser.“ Gill Botsaris blieb an Bord. Orr zeigte ihm die elektrisch aufzuladenden Gitter und die Handgriffe, die an der Motorwinde zu tun waren, um die Platten der Unterkunft und schließlich den Schlepper hochzukurbeln. Dann hängten sie sich an den Kranhaken, der sich langsam nach unten bewegte. Sie achteten eine Stunde lang auf nichts anderes als darauf, die sechs schweren Bauelemente der Unterkunft auseinanderzuschrauben und einzeln hochzuschaffen. Dann wurden an den Spezialflanschen des Schleppers die vier Stahlseile befestigt und über einen Flaschenzug geführt. Auf einige gebrüllte Kommandos hin ließ Gill langsam die untersetzte Winde anlaufen, und der blaue Koloß bewegte sich zentimeterweise nach oben. Eine Stunde später war alles vorbei, und die Männer schnallten die Waffen wieder an. Kirby hob den Ultraschallschneider auf, sah Orr und Vance an und sagte: „Hinunter zum Schiff. Hoffentlich ist es nicht zu weit abgetrieben.“ Während Orr den Kopf drehte, um Kirby anzusehen, bemerkte er etwas, das ihm bisher entgangen war, restlos entgangen. Sie hatten sich zu sehr um das Hochhieven des Schleppers kümmern müssen. Der ihnen am nächsten stehende Baum schüttelte sich, als ob er mit der Axt bearbeitet würde. Orr sagte: „Einen Augenblick, Kirby“, und ging schnell die sechs Meter bis zu der Pseudopinie. Er griff mit einer Hand in die Zweige über seinem Kopf und legte die andere um den Stamm. Sofort wurde er wieder in die unfaßbare Einheit der Pflanzen aufgenommen. Ich warte schon seit zwei Tagen auf einen
58 Kontakt mit einem von euch Planetensuchern, sagte die Flora Skogamandrys. Warum? Nemesis hat sich, als ihr ihn mit euren Flammen fast getötet hattet, in den Erdboden vergraben. Ich merkte es nicht, aber später, als ich es merkte, war er bereits ein großer Fisch und schwamm den Bach hinunter. Dann verlor ich ihn aus den Augen. Und wo ist es jetzt, dieses merkwürdige Wesen, fragte Orr. Es muß den Strom hinunter geschwommen sein, antwortete die Flora. Und...? Es ist seit über zwanzig Stunden im Schiff und arbeitet dort. Die Pflanzen, die am Ufer wachsen, spüren die Erschütterungen. Wir werden jetzt hinuntergehen und versuchen, das Wesen restlos zu vernichten, sagte Orr, wirst du uns helfen? Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. Gut — ich danke dir. Orr löste die Verbindungen und trat unter dem Baum hervor. „Nemesis ist unten in seinem Schiff und arbeitet etwas. Und wir Idioten haben ihm fast drei Tage Zeit gelassen. Schnell, die Nadelbüchsen!“ Sie brüllten so lange, bis Gill an der Schleusenkante erschien und ihnen die drei schweren Büchsen und einige Magazine Ersatzmunition hinunterließ. Dann stürmten die drei Männer den fast wieder überwachsenen Pfad hinunter zur Bucht. Orr hielt an und warf sich zurück, als die Männer den Halbkreis von Sand und Wassergräsern erreichten, der den Strom und das dahinterliegende Land trennte. Das Schiff lag nicht mehr in der Bucht. . . „Dorthin — es muß abgetrieben worden sein“, sagte Orr nicht sehr laut. Vance und Kirby drehten sich halb herum und begannen, in scharfem Tempo flußabwärts zu laufen. Orr lief dicht am Wasser entlang und lief schnell und mit langen, weitausholenden Schritten. Dann sahen sie alle drei das flache, scheibenförmige Schiff. Es war den Strom heruntergetrieben und auf einer Sandbank aufgelaufen. Halb hing es im Wasser, halb auf dem Sand. Die Schleusentür ragte noch immer senkrecht hoch und führte auf die lange Sandzunge hinaus. Leichte Schläge und ein hohes, dünnes Sirren drangen aus dem Schiftsinnern. Nemesis war unzweifelhaft gefährlich. Aber die drei Männer, die schnell und ohne überflüssige Geräusche vordrangen, waren weitaus gefährlicher. Jeder von ihnen verfügte über zwei Waffen, die das Schiff und die nähere Umgebung in Schlacke verwandeln konnten. Orr rannte die zweihundert Meter halb im Wasser, warf sich kopfüber in den Strom und tauchte weg. Unter Wasser zog er sich mit mächtigen Stößen weiter, tauchte zwanzig Meter vom Ufer entfernt auf und robbte auf den Sandstreifen. Er ließ das Wasser aus den Läufen der beiden Waffen rinnen, drückte die Sicherungen herum und schaltete die Nadelbüchse auf Dauerfeuer. Hier würde jetzt nur noch rohe Gewalt helfen, kein gezieltes Punktfeuer mehr. Von rechts kamen Vance und Kirby. Sie liefen, ohne auf das Wasser und die nasse Kleidung zu achten, in den Strom und erreichten die Sandbank von der anderen Seite, der Seite, von der man in die Schleuse hineinsehen konnte. Der Deneber ging langsam und vorsichtig um das Schiff herum. Er stand bis zu den Oberschenkeln im Wasser und suchte nach einer Klappe, nach einer Öffnung, durch die Nemesis entwischen konnte, wenn er sich des anderen Fluchtweges beraubt sah. Orr fand nichts. Als er aus dem Wasser glitt, bemerkte er einen Knäuel von Wasserschlangen. Sie bildeten einen dichten Kreis um den Mann und schienen zu warten.
59 Das war die versprochene Hilfe Skogamandrys. Am Ufer erhoben sich Reiher und strichen ab. Sie machten den Wasserlilien Platz, die sich wie ein Zaun um die gesamte Szene aufrichteten und mit hungrigen, schwarzen Blüten auf die Insel blickten. Neben Orr platschte ein Stein ins Wasser, Orr blickte hoch. Vance stand vierzig Meter von ihm entfernt im Sand, dreckbespritzt und naß, und er hielt die schwere Waffe in Hüfthöhe. Er winkte. Es war eine Frage. Orr bedeutete ihm, daß hier kein Weg ins Freie führte, und daß hinter ihm im Wasser etwas lauerte, das gefährlicher war als alles andere. Wortlos wies Kirby, der auf der anderen Seite der Insel stand, zum Strand. Dort kauerten einige Tiere; Nachtbestien, die mit großen, gelben Augen zum Wasser sahen und die drei Wesen auf der Insel beobachteten. Einen Augenblick lang ließ der Summton nach, um dann wieder heller und schärfer zu werden. Der Sturm des Planeten war hier unten nicht schlimm, und man hörte ihn kaum. Orr senkte den Arm. Vance schoß. Der Blitz detonierte in der kleinen Schleuse des Schiffes und entfesselte ein Inferno. Dann warteten die Männer. Es war ein spitzes Dreieck; Vance und Kirby und das Schiff bildeten die Eckpunkte. Der Deneber stand fünfzehn Meter seitwärts davon. Hinter ihm schoben sich kleine, glänzende Tiere aus dem Wasser. Nemesis kam aus dem Rauch, der in der Schleuse hochwehte. Das Wesen war wieder einhundertsiebzig Zentimeter groß und grün. Die Augen blickten haßerfüllt auf die beiden Männer, und von den dreieckigen Zähnen zogen sich die fleischlosen Lippen zurück, in einer wütenden, bleckenden Grimasse. In den beiden Händen hielt Nemesis einen Gegenstand, der einem irdischen Gewehr nicht unähnlich sah. In einigen weiten, federnden Sätzen kam eine der Nachtbestien über den Sand gesprungen. Sie bewegte sich rasend schnell, sobald sie das Wasser verlassen hatte. Sie glich fast einem schwarzen Schatten, der durch die Dämmerung huschte. Der Anprall fand nicht statt. Nemesis hatte die Gefahr erkannt, und die Waffe in seinen Händen spuckte einen Feuerstrahl aus. Orr blieb wachsam und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Er war am Ausgang des Kampfes interessiert, nicht am Kampf selbst. Er hatte sich zur Aufgabe gestellt, nicht eine einzige Zelle dieses Wesens entkommen zu lassen. Wieder schoß Vance, diesmal eine Serie. Nemesis wurde von den Geschossen getroffen, und die Waffe fiel verbogen und teilweise schmelzend in den Sand. Das Wesen drehte sich um, sprang in die Schleuse, und Orr erkannte, wie sehr es getroffen worden war. Die gesamte Seite war eine einzige Brandwunde. Die zweite Nachtbestie raste über den Sand daher, federte los und krachte mit voller Wucht in die Schleuse. Eine halbe Sekunde später kollerten beide wieder heraus. Fauchend und knurrend, voller nicht mehr zu beschreibender Wildheit, schlugen, bissen und rissen die beiden Bestien um sich. Diesen Kampf beendete ein langer Feuerstoß aus Kommodore Kirbys Waffe. Der Sand wurde in einer kreisrunden Fläche von mindestens drei Metern Durchmesser geschmolzen und mit einem steinharten, glühenden Überzug versehen. Orr blickte einen Augenblick lang weg, lange genug, um nicht von der Lichterscheinung geblendet zu werden. Dann sah er, worauf er die ganze Zeit über gelauert hatte. Ein winziges Tier lief aus der Schleuse hervor, blieb im Schatten des Schiffes und huschte aufs Wasser zu. Es kam nicht weit. Was immer es sein mochte, etwa maus-
60 groß — es waren Zellen von Nemesis. Orr vernichtete dieses Tier. Nemesis blickte wild um sich; er sah Orr und fauchte haßerfüllt. Jetzt griffen gleichzeitig zwei Nachtbestien an und verwandelten die Fläche glasierten Sandes in eine Arena der Gewalt und der Wildheit. Orr blickte sich wachsam um, behielt die Unterkante der Schleuse im Auge und schwang sich ins Schiff. Er spürte durch die Handschuhe hindurch die Hitze des Schiffsrumpfes. Er duckte sich, als ein schwarzer Schatten über seinen Kopf huschte und nach oben flatterte. Einen einzigen Fehler hatte Nemesis gemacht. Er hatte die Tiere, oder die Tierimitationen, die einige der lebensnotwendigen Zellen enthielten, zu spät losgelassen. Er hatte vergessen, den Tieren den Sinn für Gefahren mitzugeben. Jetzt flogen oder liefen sie fort — zu spät. Mit drei Schüssen holte Orr den Pseudovogel herunter. Er fiel zwischen Nemesis, der sich mit zwei Nachtbestien herumschlug und tiefe Wunden erhielt, und Vance. Carnaghan schien schnell zu schalten; er lief einige Meter vor und äscherte den Vogel ein. Das Tier versuchte noch in einer Art gallertähnlicher Masse davonzufließen und sich in den feuchten Sand zu verkriechen, aber Vance kam ihm zuvor. Nur noch rauchender, farbenschillernder Sand blieb zurück. Orr nahm das Gewehr an die Hüfte, legte seinen Zeigefinger um den Abzug und schoß einmal vor sich in die Dunkelheit hinein. Kein Tier floh mehr; es schienen nur zwei Exemplare gewesen zu sein. Orr ging die Spirale entlang, bis er in den Pilotenraum kam. Hier war eine Werkstatt entstanden, in der verschiedene Dinge standen und leuchteten, hell und weiß. Hier war nichts Lebendes mehr. Orr ging zurück und blieb in der Schleuse stehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war bekannt. Eine Nachtbestie war tot; der Schädel war gespalten. Nemesis lag unter dem anderen Raubtier und wehrte sich verzweifelt. Endlich hatte die Hornklaue ihr Werk vollendet, und das grüne Wesen, jetzt nur noch eineinhalb Meter groß, sprang auf die Füße. Orr beachtete nicht das Wesen, sondern das, was um Nemesis herum geschah. Wieder verwandelte eine Schußserie den Körper des Piloten in ein Flammenmeer. Orr sah genau hin und bemerkte, wie sich aus einem der Beine des Wesens ein Ding abzuspalten begann, wie ein kleiner, blauschimmernder Aal. Orr wartete, bis sich die Flammen verzogen hatten, dann sah er es deutlich. Der dritte Versuch des Überlebens ... Als das schwarze Ding sich fortschlängelte, um sich in den Sand zu bohren, schoß Orr wieder. Er traf das Ding mitten in der Bewegung, und fünftausend Grad konzentrierter Hitze in einem Ball von sechzig Zentimeter Durchmesser verwandelten den Wurm in Asche. Dann schoß Vance wieder, wurde von Kirby abgelöst, und beide Männer näherten sich schrittweise. Nemesis begann zusammenzuschrumpfen. Im Tode löste er sich auf. Er versuchte, gleichzeitig nach allen Richtungen auseinanderzufließen und wurde von Orr daran gehindert. Die Fläche stahlhart zusammengeschmolzenen Sandes wurde immer größer, und eine unerträgliche Hitze begann sich auszubreiten. Die Ausläufer des fremden Wesens taumelten wie flüssiges Wachs über die glühende Sandfläche, wurden von den gezielten Blitzen aus der schweren Waffe Orrs restlos zerstört. Wie eine Statue aus Wachs schmolz Nemesis dahin und wurde immer kleiner. Erbarmungslos schoß Orr, wieder und immer wieder. Er stand einen Meter über dem Geschehen und konnte alles beobachten. Klick! Das Magazin der Waffe war leer. Orr
61 warf die Büchse weg und riß die Pistole hervor. Er sorgte dafür, daß nicht eine einzige der fliehenden Zellen den schützenden Sand erreichte. Immer näher kamen Vance und Roger. Sie feuerten unablässig, während sie sich näherten. Mit jedem ihrer Schritte verkleinerte sich die aktive Masse des Fremden, immer weniger Wachs floß über die glühende Platte und wurde in Asche verwandelt. Dann war plötzlich alles zu Ende. Es stank, qualmte und brannte mit kleinen Flammen. „Noch einige Schüsse!“ schrie Orr, dessen zweites Magazin ebenfalls leergeschossen war. Er zog sich in das Innere des Schiffes zurück, während die Männer draußen ihre Waffen über den Sandkreis leerten. Die Hitzewälle schlugen nach allen Seiten, und der Sand außerhalb des Kreises begann zu rauchen. Die darin enthaltene Feuchtigkeit verdampfte in der ungeheuren Hitze. Während die anderen beiden Männer darauf warteten, bis der Wind die Hitze und den Rauch zur Seite gedrängt hatte, sah sich Orr in der zentralen Kabine des Schiffes um. Er hatte die Pistole nachgeladen und suchte jeden erreichbaren Winkel ab, um vielleicht doch noch lebendige Spuren des fremden Wesens zu finden. Vergebens… Hier aber standen Geräte herum, deren Verwendungszweck nicht zu erraten war. Fremdartiger als jede andere Technik, die Orr zeit seines Lebens gesehen und gehandhabt hatte, hatten sie fremde Formen und ein Aussehen, das ihnen etwas Gefährliches verlieh. Die Maschinen mochten bekannten Zwecken dienen, aber sie waren nicht zu entschlüsseln. Nicht hier und nicht von den vier Männern. Das war Arbeit für die Labors der Forschungsabteilungen auf Terra. Orr verließ diesen Raum und ging die spiraligen Windungen des Ganges bis in die Schleuse. Hier stieß er auf Vance und Roger, die sich gerade ins Schiff geschwungen hatten. „Das ist endgültig der letzte Akt?“ fragte Vance und blickte auf die geschwärzten Spuren der Zerstörung, die hier sichtbar waren. „Nemesis ist vernichtet, verdampft unter der Glut unserer Geschosse, erledigt, nicht mehr existent. . .“, murmelte Roger Kirby und warf seine Büchse neben das Gewehr von Orr. „Dieses Mal bin sogar ich überzeugt“, sagte Orr. „Gut, daß du den abstürzenden Vogel bemerkt hast!“ „Ich dachte gleich daran, daß du ihn heruntergeholt haben mußtest!“ sagte der Terraner. „Auch dort habe ich nichts mehr übriggelassen.“ Kirby schüttelte immer noch fassungslos den Kopf. Das Team bestand aus Wissenschaftlern, die lieber resignierten, als daß sie zerstörten, was nicht mehr zu retten war. Hier aber war es um den Fortbestand einer terranischen Kolonie gegangen, und hier war jedes Gefühl Verschwendung. „Das wird mir ewig unvergessen bleiben“, sagte der Kommodore. „Wie sich dieses Wesen verteidigte, wie es kämpfte und um sich schlug. Wie ein Rasender.“ „Moral oder Resignation gab es scheinbar in seiner Rasse nicht. Es dürfte unmöglich sein, eines dieser Wesen zur Aufgabe zu zwingen. Sie werden kämpfen und versuchen, davonzukommen — selbst wenn alles aussichtslos ist.“ Orr deutete auf den verschmolzenen Fleck vor dem Schiff. Er glühte in allen Farben, und die Schleier der farbigen Dämmerung verursachten noch einen zusätzlichen Eindruck, der einen Schleier des Geheimnisvollen, des scheinbar Unmöglichen über die Sandinsel legte. „Hat dir die Flora versprochen, uns zu helfen?“ fragte Vance den Biologen. Orr nickte schwer. „Sie setzte Schwarzlilien ein, Pseudo-
62 piranhas, Nachtbestien und noch andere Tiere, die wir nicht gesehen haben. Dieses Mal wäre Nemesis auf keinen Fall entkommen. Was tun wir jetzt?“ „Wir landen das Schiff hier auf der Insel und verladen, was wir mitnehmen wollen. Am besten, wir haken den gesamten Diskus ein und ziehen ihn auf. Wird das gehen?“ Vance Carnaghan schüttelte den Kopf. „Dazu sind unsere Laderäume zu klein. Wir werden die Säge nehmen und den Antrieb abschneiden, die technische Einrichtung der Pilotenkabine und andere Dinge. Die Hülle lassen wir hier und sprengen sie in die Luft. Keine Denkmäler für Nemesis auf diesem Planeten.“ „Gut!“ sagte Kirby. * Eine Stunde später . . . Das Schiff stand etwas schief auf der langen Sandbank. Die Füße der Stoßdämpfer hatten sic einen Meter tief in den weichen Untergrund gepreßt und sanken immer noch ein, langsam, aber ungefährlich. Die Luke zum großen Laderaum war offen, und oben turnten Gill und Kirby herum. Sie stapelten mit Hilfe des kleinen Laufkrans die Teile, die Vance und Orr aus dem Schiff herausschnitten und an den Kranhaken befestigten. Zwei Stunden brauchten die beiden Männer, bis sie das kleine Diskusschiff restlos zerschnitten hatten. Die schweren Maschinen und Blöcke, die Instrumentenschränke und die vielen Geräte, von denen man nicht wußte, was sie in Wirklichkeit bedeuteten — alles verschwand in den halbleeren Laderäumen der Mastodon. „Fertig?“ schrie Kirby von oben herunter. „Restlos“, gab Orr zur Antwort und klappte die Sicherheitsspange des Hakens über dem Bügel des Ultraschallgerätes zusammen. Die Maschine verschwand in die Höhe. „Wir lassen den Sprengstoff herunter, Vorsicht!“ schrie Kirby wieder. Zwei längliche Pakete kamen herunter und wurden von dem Deneber vorsichtig in die Mitte des Haufens getragen, der aus der löcherigen Schiffshülle, einigen Metallstreben und Teilen der Inneneinrichtung bestand. Die beiden Männer zogen sich bis an das äußerste Ende der Sandbank zurück, während Kommodore Kirby die Sprengformel funkte. In der Mitte des Schiffes breitete sich grell eine weiße Flamme aus, wuchs über die Kanten der Träger, zerschmolz die Metallteile, griff über die Hülle hinaus und hatte nach nicht ganz einer Minute einen flachen, verkrusteten und funkensprühenden Kuchen hinterlassen. Niemand konnte mehr erkennen, daß dies die Reste eines Nemesis-Späherschiffes waren. Binnen einiger Monate würde die Natur des Planeten den Schrott überwuchert haben. „Schluß“, sagte Vance. Orr schüttelte den Kopf und ging durch das flache Wasser ans Ufer. Dort griff er nach dem Stengel einer sonst giftigen Schwarzlilie und bettete sein Bewußtsein in die Einheit der Pflanzenwelt ein. Das Gefühl der unbedingten Geborgenheit schlug über ihm zusammen. Wir werden jetzt starten, sagte Orr langsam. Wir kommen nicht mehr wieder. Unsere Arbeit auf dieser Welt ist getan. Du hast recht. Nicht eine Zelle unseres Feindes ist geblieben. Ich habe nichts gesehen. Das ist gut. Wann werden deine Brüder und Schwestern kommen? Ich weiß es nicht genau. Vermutlich dann, wenn die Nacht vorüber ist. Aber das ist nicht gewiß. Sie können schon vorher kommen, aber auch eine ganze Zeit später. Wirst du warten können?
63 Sicher. Ich habe schon lange gewartet. Wir werden hier eine Kolonie der Erde gründen. Bist du damit einverstanden? fragte Orr ausdrücklich. Die Gesamtheit der Pflanzen wartete etwas mit der Antwort. Ich bin einverstanden, sagte sie schließlich, unter den Bedingungen, die du schon kennst. Keine nutzlose Zerstörung, Austausch von Informationen und echte Partnerschaft. Ich bin tolerant — aber du hast erlebt, was ich zu tun in der Lage bin. Der Planet Skogamandry wird sich in eine abweisende, giftige Wildnis verwandeln, sobald die Gebote überschritten werden. Ich bin sicher, sagte Orr abschließend, daß die Kolonisten mit dir hervorragend zusammenarbeiten werden. Ich hoffe es, antwortete die Flora, ehe sich Orr von ihr löste. Der Deneber wartete etwas, umfing das vertraute Bild mit einem langen Blick und drehte sich dann zum Schiff. Über den Sand der Insel führte eine einzige Spur, sie brach ab, als Orr die unterste Stufe der Leiter ergriff und sich hochzog. Die Spur führte nicht mehr zurück. Aus den Düsen der Mastodon kamen leichte Rauchwolken. Jetzt konnte die lange Nacht des Planeten beginnen. Die Männer hatten ihre Arbeit vollendet. Das Schiff startete.
ENDE Terra-Sonderband 97 Das Mittelalter findet nicht statt (LEST DARKNESS FALL) von L. Sprague de Camp Jetzt überall im Zeitschriftenhandel erhältlich Preis 1,— DM Der Moewig-Verlag in München ist Mitglied der Selbstkontrolle deutscher Romanheft-Verlage
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