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Von Dean R. Koontz ebenfalls im Knaur-Programm: »... alias Mike Tucker/Mike Tucker und der Maya-Fries/ Mike Tucker auf Tauchstation« (Band 1699) »Unter Beschattung« (Band 1775) »Flüstern in der Nacht« (Band 1781)
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Vollständige Taschenbuchausgabe 1989 © 1989 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Titel der Originalausgabe »The Face of Fear« Copyright © 1977 by Brian Coffey Umschlaggestaltung Manfred Waller Umschlagfoto Mall Photodesign Satz MPM, Reitmehring Druck und Bindung Ebner Ulm Printed in Germany 5 4 3 2 1 ISBN 3-426-01779-2
Dean R. Koontz: Nackte Angst Roman
Aus dem Amerikanischen von Marcel Bieger
Knaur®
Für Barbara Norville
ERSTER TEIL FREITAG 00.01 Uhr bis 20.00 Uhr eigentlich keine Schwierigkeiten, aber er Erwarerwartete auf alles vorbereitet, als er seinen Wagen gegenüber dem dreigeschossigen Sandsteingebäude parkte. Beim Aussteigen hörte er in einer Seitenstraße die Sirene aufheulen. Sie sind hinter mir her, dachte er. Irgendwie haben sie herausgefunden, daß ich derjenige bin. Er lächelte und stieg wieder ein. So einfach würde er sich nicht ergeben und sich Handschellen anlegen lassen. Das war nicht sein Stil. Frank Bollinger ließ sich nicht leicht schrecken. Er konnte sich nicht erinnern, jemals Angst gehabt zu haben. Dafür wußte er viel zu gut, wie man sich schützte. Mit dreizehn hatte er schon eine Größe von einsachtzig erreicht, und er war immer noch weiter gewachsen, bis er einen Meter und dreiundneunzig maß. Bollinger hatte einen Stiernacken, breite Schultern und den Bizeps eines Bodybuilders. Mit seinen siebenunddreißig Jahren war er immer noch in ausgezeichneter Verfassung, unterschied sich rein äußerlich in nichts von der Zeit, als er siebenundzwanzig oder siebzehn gewesen war. Dabei hatte er nie Sport getrieben.
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Er hatte weder die Zeit gehabt noch jemals Lust verspürt, sich mit endlosen Kniebeugen, Liegestützen oder ähnlichen Übungen abzuplagen. Sein mächtiger Körper und die schweren Muskelpakete waren ein Geschenk der Natur, waren ihm einfach vererbt worden. Trotz seines guten Appetits und obwohl er sich noch nie irgendeiner Diätkur unterzogen hatte, waren ihm die Fettwülste an Hüften und Bauch erspart geblieben, gegen die so viele Männer in seinem Alter anzukämpfen hatten. Sein Arzt hatte es ihm so erklärt: Da er ständig unter extremer nervlicher Anspannung stand und sich weigerte, die Mittel einzunehmen, die seinen Zustand hätten unter Kontrolle bringen können, würde er vermutlich nicht alt werden und an Hypertonie sterben. Streß, innere Unruhe und nervliche Anspannung seien allerdings auch die Faktoren, die ihn kein Fett ansetzen ließen. Er sei aufgezogen wie ein Uhrwerk, und sein innerer Motor beschle unige auf immer höhere Touren, wodurch alles Fett gleich wie der verbrannt würde, ganz gleich, wieviel er zu sich nähme — soweit sein Arzt. Bollinger konnte dieser Diagnose allerdings nur zur Hälfte zustimmen. Nervosität: nein. Anspannung: ja. Er war noch nie nervös gewesen. Dieser Begriff existierte für ihn einfach nicht. Aber er stand permanent unter Hochspannung. Es drängte ihn nach Spannung, und er bemühte sich, sie aufzubauen, denn er hielt sie für einen Überle bensfaktor. Er war immer wachsam, immer bereit, immer unter explosiver Anspannung. War bereit für jede nur denkbare Lage. Aus diesem Grund gab es auch nichts, vor dem er sich fürchtete: Nichts auf der ganzen Welt konnte ihn überrumpeln. Als die Sirene lauter wurde, warf Bollinger einen Blick in den Rückspiegel. Einen Häuserblock entfernt pulsierte rotes Licht in der Nacht.
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Er zog die 38er aus dem Schulterhalfter, legte eine Hand auf den Türgriff und wartete auf den geeigneten Moment, die Tür aufzustoßen. Der Streifenwagen kam immer näher.. . und brauste vorüber. Zwei Straßen weiter bog er ab. Sie waren ihm also nicht auf den Fersen. Bollinger war ein wenig enttäuscht. Er steckte die Waffe wieder ein und konzentrierte sich auf die Straße. Sechs Laternen — zwei an jedem Ende des Häuserblocks und zwei in der Mitte — tauchten das Pflaster, die Fahrzeuge und die Häuser in ein unwirklich violett-weißes Licht. An der Straße ragten drei- und viergeschossige Gebäude auf, teilweise aus Sandstein und teilweise aus Ziegeln erbaut. Die meisten machten einen gepflegten Eindruck. Niemand war hinter den erleuchteten Fenstern zu erkennen. Sehr gut, dachte Bollinger, denn er wollte nicht gesehen werden. Ein paar Bäume rangen an den Rändern der Bürgersteige ums Überleben; verkrüppelte Platanen, Ahornbäume und Birken — das einzige, mit dem New York City außerhalb seiner Parks noch aufwarten konnte. Die Stämme waren verstümmelt und reckten ihre skelettartigen Äste wie verkohlte Knochen in den Mitternachtshimmel. Ein leichter, aber frostiger Januarwind wehte Papierfetzen durch die Rinnsteine. Wenn der Wind auffrischte, klapperten die Äste, als würde man mit Stöcken an einem Gatterzaun entlangstreichen. Die geparkten Wagen wirkten wie Tiere, die sich vor der Kälte verkrochen. Die Fahrzeuge waren allesamt leer. Auch auf den Bürgersteigen war niemand zu sehen. Bollinger stieg aus einem Wagen, überquerte rasch die Straße und stieg die wenigen Stufen zum Eingang eines Apartmenthauses hinauf. Das hell erleuchtete Foyer machte einen blitzsauberen
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Eindruck. In dem frisch polierten Mosaik auf dem Fußboden — eine Girlande aus verblühenden Rosen auf einem beigefarbenen Untergrund — schien nicht ein Steinchen zu fehlen. Die Tür zum Treppenhaus war verschlossen. In den beiden oberen Etagen des zweistöckigen Hauses lagen drei, im Parterre zwei Apartments. Die Wohnung >Part. A< gehörte Mr. und Mrs. Harold Nagly, den Hausbesitzern, die sich zu ihrem alljährlichen Erholungsurlaub in Miami Beach befanden. Das kleinere Apartment im hinteren Teil bewohnte Edna Mowry. Bollinger vermutete, daß Edna in diesem Moment einen Mitternachtsimbiß zu sich nahm oder sich einen Martini mixte, um sich von der langen Nachtarbeit zu erholen. Er war gekommen, um Edna einen Besuch abzustatten. Er wußte, daß sie um diese Zeit zu Hause war. Sechs Nächte hatte er sie nun schon beobachtet und dabei herausgefunden, daß sie nach einem strengen Zeitplan lebte; für seinen Geschmack etwas zu strenge Regeln für eine so junge und attraktive Frau. Sie kehrte stets gegen Mitternacht von ihrer Arbeit zurück; nur selten wurde es fünf Minuten später. Hübsche kleine Edna, dachte er. Du hast so wunderbar lange Beine. Bollinger lächelte. Er drückte die Klingel der Wohnung von Mr. und Mrs. Yardley im zweiten Stock. Eine Männerstimme ertönte blechern aus dem kleinen Lautsprecher über den Briefkästen. »Wer ist denn da?« »Ist das die Wohnung der Hutchinsons?« fragte Bollinger, obwohl er genau wußte, mit wem er verbunden war. »Da haben Sie den falschen Knopf gedrückt, Mister. Die Hutchinsons wohnen im ersten Stock. Ihr Briefkasten befindet sich direkt neben dem unseren.« »Entschuldigung«, sagte Bollinger, als Yardley die Verbindung abbrach.
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Er klingelte bei den Hutchinsons. Die Hutchinsons erwarteten offensichtlich Besuch und waren weniger vorsichtig als die Yardleys. Bollinger wurde die Tür aufgedrückt, und niemand fragte, wer er sei und was er wolle. Im Treppenhaus war es angenehm warm. Auf halbem Weg durch den braun gefliesten Korridor mit ockerfarbenen Wänden stand eine Marmorbank, über der ein Spie gel aus facettiertem Glas hing. Beide Apartmenttüren (aus dunklem Holz und mit Messingbeschlägen) befanden sich auf der rechten Seite. Bollinger blieb vor der zweiten Tür stehen und spreizte die Finger. Dann holte er die Brieftasche aus der Jacke und zog ein Messer aus dem Mantel. Als er den Knopf am Heft drückte, klappte durch Federdruck die Klinge auf. Sie war schmal, über zwanzig Zentimeter lang und so scharf wie ein Rasiermesser. Die glänzende Klinge hypnotisierte Bollinger, und vor seinem geistigen Auge tauchten grelle Bilder auf. Er liebte die Poesie von William Blake, hielt sich sogar für seelenverwandt mit dem großen Dichter. Es überraschte ihn daher nicht, daß ihm in eben diesem Moment ein paar Zeilen aus Blakes Werk einfielen, die wie Blut in den Rinnen eines Autopsietisches durch seinen Verstand strömten. Dann spürten die Bewohner dieser Städte, Wie ihre Nerven sich verwandelten in Mark Und es begannen die Knochen zu splittern Unter rasenden Qualen, Unter Schüssen, Stoßen und Mahlen An allen Gestaden; Bis, der Erschöpfung nah, Die Sinne sich ins Innere flüchteten vor den Netzen des Gifts.
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Ich sauge ihnen das Mark aus den Knochen, dachte er, so wahr ich Bollinger bin. Ich sorge dafür, daß die Bewohner dieser Stadt sich nachts hinter ihren Türen verbergen. Nur bin ich nicht das Gift, sondern die Heilung. Ich bin die Heilung für alles, was in dieser Welt schlecht ist. Er drückte auf die Klingel. Einen Augenblick später hörte er sie hinter der Tür. Er läutete ein zweites Mal. »Wer ist da?« fragte sie. Sie hatte eine angenehme, fast melodische Stimme, in der jetzt jedoch ein leichter Unterton von Furcht mitschwang. »Miß Mowry?« erkundigte er sich. »Ja.« »Polizei.« Keine Antwort. »Miß Mowry? Sind Sie noch da?« »Was gibt's denn?« »Es hat an Ihrer Arbeitsstelle Ärger gegeben.« »Ich mache nie Ärger.« »Das habe ich ja auch nicht gesagt. Der Ärger betrifft Sie nicht, zumindest nicht direkt. Aber vielleicht haben Sie etwas gesehen oder sonstwie bemerkt. Vielleicht waren Sie sogar Augenzeuge.« »Bei oder von was?« »Das läßt sich leider nicht mit ein, zwei Sätzen erklären.« »Ich kann keine Augenzeugin gewesen sein, ich nicht, denn ich trage bei der Arbeit Ohrenschützer und Augenklappen.« »Miß Mowry«, beharrte Bollinger streng, »wenn Sie sich nicht mit mir unterhalten wollen, habe ich keine andere Wahl, als Sie gerichtlich vorführen zu lassen, um von Ihnen die gewünschten Antworten zu erhalten.« »Woher soll ich wissen, ob Sie wirklich von der Polizei sind?«
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»New York«, stöhnte Bollinger in gespielter Entrüstung. »In dieser Stadt verdächtigt doch wirklich jeder jeden.« »Dazu besteht auch einiger Anlaß.« Er seufzte. »Vielleicht haben Sie recht. Hören Sie, Miß Mowry, haben Sie eine Kette an der Tür?« »Selbstverständlich.« »Selbstverständlich. Nun, dann lassen Sie doch einfach die Kette vor, und öffnen Sie die Tür. Ich zeige Ihnen dann durch den Spalt meinen Dienstausweis.« Zögernd zog sie den Riegel zurück. Durch die Kette ließ sich die Tür nur wenige Zentimeter weit öffnen. Er hielt seine aufgeklappte Brieftasche an den Spalt. »Detective Bollinger«, erklärte er. Das Messer preßte er mit der Linken gegen seinen Mantel und hielt die Spitze zu Boden gerichtet. Sie spähte durch den Spalt. Ein paar Sekunden lang studierte sie das Abzeichen, das in der Brieftasche angepinnt war, und beäugte dann noch intensiver den Lichtbildausweis, der neben dem Abzeichen steckte. Als sie wieder aufblickte und ihn ansah, bemerkte er, daß ihre Augen nicht, wie er gedacht hatte, blau waren — er hatte sie nur auf der Bühne erlebt und dabei im schummrigen Zuschauerraum gesessen —, sondern daß sie eine tiefgrüne Tönung aufwiesen. Es waren die wunderbarsten Augen, die er je bei einer Frau gesehen hatte. »Zufrieden?« fragte er. Das dicke schwarze Haar war ihr über eines der Augen gerutscht. Sie schob die Strähne rasch aus dem Gesicht. Ihre Finger waren lang und wirkten wie modelliert. Die Fingernägel waren blutrot angemalt. Wenn sie auf der Bühne stand und ins grelle Scheinwerferlicht getaucht wurde, wirkten ihre Fingernägel schwarz. »Was ist das denn für ein Ärger, von dem Sie gesprochen haben?« wollte sie nun wissen.
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»Ich muß Ihnen eine ganze Reihe von Fragen stellen, Miß Mowry. Wir sollten uns vielleicht nicht die nächsten zwanzig Minuten durch einen Türspalt unterhalten, oder?« Sie runzelte die Stirn. »Nein, vermutlich nicht. Warten Sie bitte eine Minute, damit ich mir etwas überziehen kann.« »Ich kann warten. Geduld ist der Schlüssel zur Zufriedenheit.« Sie sah ihn neugierig an. »Mohammed«, erläuterte er. »Ein Bulle, der Mohammed zitiert?« »Warum nicht?« »Sind Sie... gehören Sie dieser Religionsgemeinschaft an?« »Nein.« Er schmunzelte darüber, wie vorsichtig sie sich ausgedrückt hatte. »Es ist nur so, daß ich über einen kleinen Zitatenschatz verfüge, mit dem ich hoffentlich im geeigneten Augenblick die Menschen schockiere, die glauben, Polizisten hätten grundsätzlich einen IQ von unter Zimmertemperatur.« Sie zuckte zusammen. »Tut mir leid, Verzeihung.« Dann lächelte sie. Er hatte sie in all den Wochen, seit sie ihm aufgefallen war, noch nie lachen gesehen. Sie stand jeden Abend im Scheinwerferlicht, bewegte sich zur Musik, streifte in festgelegter Reihenfolge die Kleidungsstücke ab, streichelte und preßte ihre Brüste und betrachtete dabei das Publikum mit kalten Augen und der starren Miene einer Schlange. Ihr Lächeln jetzt war überwältigend. »Dann ziehen Sie sich etwas über, Miß Mowry.« Sie schloß die Tür. Bollinger behielt die Haustür im Auge und hoffte, nie mand würde kommen, solange er hier deutlich sichtbar stand.
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Er steckte die Brieftasche wieder ein. Das Messer ließ er in der Linken. Nach kaum einer Minute kehrte sie zurück, löste die Kette, öffnete die Tür und sagte: »Treten Sie ein.« Er machte einen Schritt an ihr vorbei in die Wohnung. Sie schloß hinter ihm die Tür und verriegelte sie wieder. Sie wandte sich zu ihm um und sagte: »Also, was hat es nun mit diesem Ärger . . .« Mit einer für einen so massigen Mann sehr raschen Bewegung schleuderte er sie gegen die Tür, nahm blitzschnell das Messer in die Rechte und drückte der Frau die Spitze an die Kehle. Ihre grünen Augen waren weit aufgerissen. Ihr stockte der Atem, und sie konnte nicht einmal schreien. »Keinen Laut«, sagte Bollinger bestimmt. »Wenn du auch nur den Versuch machen solltest, um Hilfe zu rufen, stoße ich dir dieses Fleischmesser in den Hals, bis es am Nacken wieder rauskommt! Hast du mich verstanden?« Sie starrte ihn nur an. »Ob du mich verstanden hast!« »Ja«, krächzte sie. »Willst du nun vernünftig sein?« Sie antwortete nicht. Ihr Blick wanderte von seinen Augen über seine feste Nase, die vollen Lippen und das energische Kinn bis hinab zu der Faust, die den Messergriff umklammerte. »Wenn du dich störrisch gibst, schlachte ich dich gleich hier an der Tür ab. Ich nagele dich an die verdammte Tür.« Er atmete tief und schwer. Sie bebte am ganzen Leib. Bollinger grinste. »Was wollen Sie?« »Nicht viel. Nein, eigentlich wirklich nicht viel. Nur ein wenig Zuwendung und Hingabe.«
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Sie schloß die Augen. »Sind Sie ... sind Sie er?« Ein kaum sichtbarer Blutfaden rann von der nadelfeinen Messerspitze und erreichte schließlich den Kragen ihres hellroten Morgenmantels. Bollinger betrachtete das Rinnsal wie ein Wissenschaftler eine seltene Bakterie unter dem Mikroskop. Gebannt starrte er auf ihren Hals. »Er?« fragte er. »Wer ist er? Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst.« »Sie wissen es genau«, sagte sie zitternd. »Ich fürchte, ich weiß es nicht.« »Sind Sie er?« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Sind Sie derjenige... der all die anderen Frauen aufgeschlitzt hat?« Er wandte leicht unmutig den Blick von ihrer Kehle und sah ihr ins Gesicht. »Aha, jetzt verstehe ich«, sagte er. »Jetzt weiß ich, wen du meinst. Diesen Burschen, den man den Schlächter nennt. Du denkst, ich sei der Schlächter.« »Sind Sie der Schlächter?« »Ich lese alles über ihn in den Daily News. Er schlitzt den Frauen die Kehlen auf, nicht war? Von einem Ohr zum anderen, oder?« Es begeisterte ihn außerordentlich, sie auf diese Weise zu quälen. »Manchmal schneidet er den Frauen auch die Bäuche auf und weidet sie aus, nicht wahr? Bitte berichtige mich, wenn ich mich irren sollte. Aber das macht er nur manchmal, oder . . . oder macht er das regelmäßig?« Sie senkte den Blick und schwieg. »Wenn ich mich recht entsinne, habe ich in den News gelesen, daß er einem Opfer auch noch die Ohren abgeschnitten hat. Als die Polizei die Frau gefunden hat, lagen ihre Ohren hübsch ordentlich auf dem Nachttisch neben ihrem Bett.« Ihr Zittern verstärkte sich.
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»Arme kleine Edna. Du glaubst, ich sei der Schlächter. Kein Wunder, daß du solche Angst hast.« Er tätschelte ihre Schulter und strich ihr über das lange schwarze Haar, als wollte er ein Schoßhündchen beruhigen. »Aber ich hätte auch mächtige Angst, wenn ich jetzt an deiner Stelle wäre. Gott sei Dank bin ich das ja nicht, oder? Und ich bin nicht der Bursche, den man den Schlächter nennt. Du kannst dich also wieder beruhigen.« Sie öffnete die Augen und betrachtete ihn prüfend, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sprach oder nicht. »Für was für einen Kerl hältst du mich denn, Kleines?« fragte er und tat so, als hätte ihn ihr Verdacht tief beleidigt. »Ich will dir doch nichts zuleide tun, aber ich kenne kein Erbarmen, wenn ich zur Tat schreiten muß. Ich bereite dir einige Unannehmlichkeiten, wenn du dich nicht kooperativ verhältst. Aber wenn du brav und fügsam bist, wenn du lieb zu mir bist, werde ich dich belohnen und auch lieb zu dir sein. Ich werde dich sehr glücklich machen und verlasse dich in dem Zustand, in dem ich dich angetroffen habe. Makellos und unbeschädigt. Du bist nämlich makellos. Eine richtige Schönheit. Und dein Atem riecht nach Erdbeeren. Ist das nicht hübsch? Könnten wir beide uns einen besseren Anfang wünschen? Es ist wie eine Art Begleitmusik, daß dein Atem nach Erdbeeren duftet. Hast du gerade Erdbeeren gegessen, als ich an die Tür geklopft habe?« »Sie sind wahnsinnig«, kam es leise von ihr. »Na, na, Edna, wir wollen uns doch nicht störrisch geben.Wenn wir kooperieren, wird alles wunderbar. Also, hast du gerade Erdbeeren gegessen?« Tränen rollten aus ihren Augenwinkeln. Er drückte die Messerspitze etwas fester an ihre Kehle. Sie wimmerte. »Nun?« fragte er streng.
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»Wein.« »Wie war das?« »Es war Wein.« »Erdbeerwein?« »Ja.« »Ist davon noch etwas übrig?« »Ja.« »Dann würde ich gern davon probieren.« »Ich hole Ihnen die Flasche.« »Die hole ich mir lieber selbst«, erklärte er. »Doch zuvor will ich dich ins Schlafzimmer bringen und dort ans Bett fesseln. — Na, na, davor braucht man doch keine Angst zu haben. Wenn ich dich nicht festbinde, würdest du früher oder später auf dumme, unartige Gedanken kommen und zu fliehen versuchen. Und wenn du das versuchen solltest, müßte ich dich leider töten. Du bist doch ein großes und vernünftiges Mädchen und verstehst sicher, daß ich dich nur zu deinem eigenen Besten fessele, damit ich dir nichts antun muß, nicht wahr?« Er küßte ihre kalten Lippen, hielt dabei aber immer noch die Messerspitze an ihren Hals. »Bitte nicht«, flehte sie leise. »Na, das war aber nicht nett von dir, Edna. Nun beruhige dich doch und hab Vergnügen daran.« Er löste den Gürtel. Der Morgenrock öffnete sich. Darunter war sie nackt. Er drückte sanft ihre Brüste. »Wenn du schön brav mitmachst, wird dir nichts geschehen. Und ich garantiere dir, daß du Dinge erleben wirst, die du dir nie hättest träumen lassen. Auf jeden Fall wirst du viel Spaß haben. Ich werde dich nicht töten, es sei denn, du zwingst mich dazu. Ich bin nicht der Schlächter, Edna. Ich... ich bin nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Freizeitvergewaltiger.«
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2 Harris spürte, daß es Ärger geben würde. Er Graham rutschte in seinem Sessel herum, konnte aber keine bequemere Position finden. Er warf einen Blick auf die drei Fernsehkameras und kam sich plötzlich so vor, als wäre er von intelligenten, feindseligen Robotern umzingelt. Einen Moment später hätte er beinahe über diese bizarre Vorstellung gelacht. Die Nervenanspannung rief ein leichtes Schwindelgefühl in ihm hervor. »Nervös?« erkundigte sich Anthony Prine. »Ein bißchen.« »Dazu besteht wirklich kein Anlaß.« »Sicher nicht, solange die Werbespots laufen, aber . . .« »Und auch nicht dann, wenn wir wieder auf Sendung sind«, sagte Prine. »Sie haben sich bislang recht gut gehalten.« Obwohl Prine genauso Amerikaner war wie Harris, wirkte er wie ein britischer Bilderbuch-Gentleman: etwas blasiert, leicht ermüdet, doch in Wahrheit nur gelangweilt, völlig entspannt und voller Selbstvertrauen. Prine saß in einem leichten Ledersessel mit hoher Lehne, das Pendant zu dem Möbel, in dem Harris sich eben noch so unbehaglich gefühlt hatte. »Sie sind ein hochinteressanter Gast, Mr. Harris.« »Vielen Dank. Ich kann das Kompliment nur zurückgeben. Allerdings verstehe ich nicht, wie Sie das durchstehen . . . fünf Nächte in der Woche Live-Sendungen im Fernsehen...« »Gerade der Umstand, daß live übertragen wird, macht die Sache so anregend und spannend«, antwortete Prine. »Wenn man live gesendet wird, riskiert man alles. Sogar,
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sich selbst zum Narren zu machen. Das hält die Säfte in Gang. Deswegen zögere ich ja auch, die Show an andere Stationen zu verkaufen oder sie landesweit ausstrahlen zu lassen. Dann müßte ich die Sendung nämlich aufzeichnen lassen, damit die Cutter sie von zwei Stunden oder mehr auf neunzig Minuten kürzen können. Und dann wäre es wirklich nicht mehr dasselbe.« Der Programmdirektor, ein massiger Mann in einem weißen Sweater und einer kleinkarierten Bundfaltenhose, rief: »Noch zwanzig Sekunden, Tony.« »Entspannen Sie sich«, sagte Prine zu Harris, »in fünfzehn Minuten haben Sie alles hinter sich.« Harris nickte. Prine war ein sehr zuvorkommender und freundlicher Mann. . . dennoch konnte Harris das Gefühl nicht abschütteln, daß der Abend noch eine böse Überraschung für ihn bereithielt, die ihn in sehr kurzer Zeit erwarten würde. Anthony Prine war der Talkmaster von Manhattan um Mitternacht, einer zwanglosen, zweistündigen Talkshow, die von einem lokalen New Yorker Sender ausgestrahlt wurde. Die Sendung bot die gleiche Art von Unterhaltung wie andere Talkshows auch: Filmstars, die Werbung für ihren neuesten Film machten, Schriftsteller, die ihre neuen Bücher vorstellten, Popstars, die für ihre letzten Alben kräftig auf die Werbepauke schlugen, oder Politiker, die für ihren Wahlfeldzug Publicity brauchten (natürlich unter der Vorgabe, daß sie erstmals in dieser Sendung ankündigten, sich nach langem inneren Ringen zur Kandidatur entschlossen zu haben; das bewahrte sie davor, unter das Sendezeitabkommen der Parteien zu fallen), und so weiter und so fort — doch Prines Show präsentierte darüber hinaus auch etliche Gedankenleser, Hellseher, UFOGläubige und ähnliche >Experten< (vor denen sich die meisten anderen Sender drückten). Prine selbst gehörte zu
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denen, die an solche Phänomene glaubten. Außerdem war er ein wirkliches As unter den Talkmastern. Es hieß sogar, daß ABC ihn für eine landesweite Show haben wollte. Prine war nicht ganz so schlagfertig wie der Altmeister Johnny Carson, aber auch nicht so heimelig gemütlich wie Mike Douglas. Doch niemand stellte so prägnante und bohrende Fragen wie Anthony Prine. Er war gelassen und leitete seine Show mit sicherer Hand. Und solange alles bestens lief, machte er nicht selten den Eindruck eines Nikolaus nach einer Abmagerungskur: schneeweißes Haar, ein freundliches, rundes Gesicht und fröhliche blaue Augen. Niemand hätte ihm in solchen Momenten zugetraut, auch nur ein böses Wort über die Lippen zu bringen. Dennoch gab es Momente — nicht öfter als einmal pro Show, manchmal auch nur einmal in der Woche —, in denen er einen Gast unerbittlich an den Pranger stellte. Entweder entlarvte er ihn als Lügner, oder er brachte ihn mit einer Serie von hinterhältigen, gleichwohl pointierten Fragen in Verlegenheit, machte ihn vor dem Publikum unmöglich oder demütigte ihn. Ein solcher Angriff währte nie länger als drei oder vier Minuten, doch er erfolgte ebenso erbarmungslos wie völlig unvermittelt. Manhattan um Mittemacht besaß ein großes und treues Publikum, das vor allem wegen dieser Überraschungsattacken einschaltete, die von allen als Höhepunkt der Prine-Show angesehen wurden. Wenn er jeden Gast einer solchen Behandlung ausgesetzt hätte, wäre die Show sicher rasch langweilig geworden. Aber seine Unberechenbarkeit machte ihn so faszinierend wie eine Kobra. Die Millionen New Yorker, die ihre Freizeit am liebsten vor dem Fernseher verbrachten, genossen offensichtlich diese Art von Gewalt aus zweiter Hand mehr als jede andere Art von Unterhaltung. Sie sahen gern brutale Krimiserien, in denen Menschen zusammengeschlagen, ausge-
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raubt oder ermordet wurden; und sie freuten sich auf die unerwarteten Momente, in denen Prine mit Worten wie Keulen auf einen Gast eindrosch. Prine hatte vor fünfundzwanzig Jahren als Nachtclub-Entertainer angefangen, Witze erzählt, ein paar Tricks vorgeführt und Stars parodiert. Er gehörte zu den Leuten, die es von ganz unten bis an die Spitze geschafft hatten. Der Programmdirektor gab Prine ein Zeichen. Auf einer Kamera leuchtete ein rotes Licht auf. Der Talkmaster wandte sich an sein unsichtbares Publikum: »Ich habe gerade Mr. Graham Harris zu Gast. Er kommt aus Manhattan und bezeichnet sich als . . . Hellseher Hinterlassenschaften< sind bei Mördern durchaus nicht unüblich. Gewisse Psychopathen lieben es, auf diese Weise mit der Polizei zu kommunizieren. Jack the Ripper hat für Scotland Yard gern Notizen hinterlassen. Die Man-
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son-Familie hat mit Blut kleine Nachrichten, die meist nur aus einem Wort bestanden, an die Wände geschrieben. >Ein Seil über dem Abgrund