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Hans Gustl Kernmayr
Nachtschwester Daniela
Roman Lizenzausgabe mit Genehmigung der Literarischen Agentur Albrecht ...
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Hans Gustl Kernmayr
Nachtschwester Daniela
Roman Lizenzausgabe mit Genehmigung der Literarischen Agentur Albrecht Leonhardt, Kopenhagen, für Bertelsmann, Reinhard Mohn OHG, Gütersloh den Europäischen Buch- und Phonoklub, Stuttgart und die Buchgemeinschaft Donauland, Wien Einbandentwurf G. Ulrich Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh Printed in Germany Buch-Nr. 5864/5
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I Das Bruder-Klaus-Krankenhaus liegt am Rande der Stadt Freiburg, ein modernes, langgestrecktes Gebäude, dessen große Fenster nach Westen hin den Blick über die Dächer der Stadt freigeben. Gisela Remagen, die am Telefonschrank saß, hob immer wieder den Blick, um hinauszusehen. Erst gegen fünf Uhr, beim Einbruch der Dämmerung, hörte es auf zu schneien. Die Lichter in den Häusern hoben sich golden gegen das helle Weiß ab, auch aus dem Turm des Münsters drang ein warmer Schein. Gisela Remagen erwartete, daß jetzt jede Sekunde die Glocken zu läuten beginnen würden – nicht nur vom Münster, sondern von allen Kirchen der Stadt. Es war Heiliger Abend. Vierundzwanzigster Dezember. Bald würden in den Stuben Tannenbäume angezündet werden, Kinder würden zur Bescherung gestürmt kommen, man würde sich küssen, gratulieren, Weihnachtslieder singen. Gisela Remagen wußte, daß sie nichts von alledem heute erleben würde, aber es tat ihr nicht leid. Sie hatte das Weihnachtsfest, das allen anderen Freude, ihr selber aber immer nur Enttäuschung gebracht hatte, von jeher gehaßt. Sie hatte sich geradezu darum gedrängt, heute nacht den Telefondienst im Krankenhaus zu versehen. Sie liebte ihre Eltern sehr, und deswegen kränkte es sie, daß keine Familienfeier zu Hause ohne Streit, ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe abgehen konnte. 3
Einen Augenblick durchzuckte sie Bedauern, daß Schwester Daniela heute keinen Nachtdienst hatte. Gewöhnlich fanden sie beide irgendwann Zeit, um eine Tasse Kaffee miteinander zu trinken und zu plaudern. Aber am Heiligen Abend hatte sich die Nachtschwester beurlauben lassen. Nun, die Zeit würde auch so vergehen. Gisela warf einen verlangenden Blick auf den dicken Roman, der vor ihr auf dem Tisch lag. Aber noch war es zu früh. Sicher würde sie erst nach zehn Uhr Gelegenheit finden zu lesen. – Die Kapelle des Bruder-Klaus-Krankenhauses lag im vierten Stock – ein großer, ein wenig nüchterner Raum, der heute verschwenderisch mit Tannenzweigen ausgeschmückt war. Auf der einen Seite des Altares stand eine schlank gewachsene Fichte, mit Lametta und bunten Kugeln behangen, an der elektrische Kerzen brannten, auf der anderen Seite war eine holzgeschnitzte Krippe aufgebaut. Wie jedes Jahr war die Ausschmückung der Kapelle für das Weihnachtsfest den Lehrschwestern überlassen worden, und sie hatten sich auch diesmal mit kindlicher Freude auf diese Arbeit gestürzt. Wer immer sich im Krankenhaus für diese Stunde frei machen konnte, erschien zur Weihnachtsfeier; das war Tradition. Der größte Teil des Stabes würde nach der Feier nach Hause eilen, nur wenige würden zurückbleiben, um den Krankendienst aufrechtzuerhalten. Das Grüpplein der Patienten in der Kapelle war verschwindend klein. Wer sich irgendwie auf zwei Beinen auf4
recht halten konnte, war über die Weihnachtszeit nach Hause entlassen worden, und die anderen, die schweren Fälle, waren ans Bett gefesselt. Schwester Leonie saß an der Hausorgel und intonierte »Ihr Kinderlein kommet«. Ihr klares Profil hob sich gegen das bunte Glasfenster im Hintergrund sehr eindrucksvoll ab. Eine rote Locke hatte sich unter dem Häubchen gelöst und fiel ihr in die weiße Stirn. Es war kein Wunder, daß einige der jüngeren Ärzte öfter zu Schwester Leonie hinblickten als zum Weihnachtsbaum oder zur Krippe. Jetzt erhob Schwester Leonie ihre helle Stimme zu dem alten Weihnachtslied. Professor Kortners Baß fiel dröhnend ein. Auch die anderen versuchten recht und schlecht, es ihnen gleichzutun. Das Lied war noch nicht beendet, als durch eine Seitentür hinter dem Altar der junge Dr. Georgi hereinstapfte, im roten, weißverbrämten Kapuzenmantel als Weihnachtsmann verkleidet. Er hatte sich sogar einen weißen Schnurrbart unter die Nase geklebt und weiße Watteaugenbrauen auf die Stirn, mit einem Kohlestift Fältchen um die Augen gezogen ~ dennoch wußte natürlich jeder der Anwesenden, daß es Dr. Georgi war. Er spielte schon zum drittenmal den Weihnachtsmann, und die Schwestern und Ärzte waren von ihm begeistert. Manche seiner älteren Kollegen fanden allerdings etwas an ihm auszusetzen – zum Beispiel, daß seine Spaße oft allzu weltlich waren -, aber wenn es soweit war, wagte doch niemand ihn abzulösen. 5
Der Weihnachtsmann schleppte einen riesigen Sack auf seinem Rücken in die Kapelle, setzte ihn mit einem hörbaren Aufatmen auf den Boden, wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Obwohl er seine Erschöpfung ein wenig übertrieb, wußten doch alle, daß dieser Sack tatsächlich schwer genug sein mußte. Professor Kortner, Oberschwester Notburga und die Chefsekretärin Fräulein Onau machten sich jedes Jahr die Arbeit, Geschenke für jeden der Krankenhausangestellten einzeln auszusuchen und sorgfältig zu verpacken. Alle diese Weihnachtspaketchen wanderten in den großen Sack, und wer sonst noch von den Ärzten, Schwestern oder Patienten des Krankenhauses jemandem, der an der Weihnachtsfeier teilnahm, eine Freude, ein Geschenk oder eine Überraschung machen wollte, pflegte sein Päckchen mit hineinzutun. »Ihr Kinderlein kommet« war gerade verklungen, der Weihnachtsmann hatte die Bescherung mit seinem klassischen Satz: »Na, wart ihr auch dieses Jahr alle brav?« eröffnet, als Dr. Wörgel, der diensthabende Arzt, mit raschen, lautlosen Schritten durch den mittleren Gang hinuntereilte. Niemand der Anwesenden beachtete ihn. Professor Kortner fuhr erst herum, als Dr. Wörgel ihm die Hand auf die Schulter legte. »Was zum Teufel ...!« platzte er heraus, dann mäßigte er sich und sagte: »Was ist los, Wörgel?«
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»Eine Einlieferung!« flüsterte Dr. Wörgel zurück. »Ich habe sie untersucht. Es scheint sich um einen Schädelbruch zu handeln!« Professor Kortner hob die kräftigen dunklen Augenbrauen. »Sind Sie sicher?« »Leider, Herr Professor.« »Na, dann müssen wir wohl!« Professor Kortner drehte sich um, trat auf den Gang hinaus, warf seiner Oberschwester, die ihn fragend anschaute, einen bestätigenden Blick zu und verließ auf leisen Sohlen die Kapelle, dicht gefolgt von seinem Assistenzarzt Dr. Wörgel und Oberschwester Notburga. »Ausgerechnet am Heiligen Abend!« sagte er draußen. »Daß die Leute nicht aufpassen können! Wie ist denn das passiert?« Dr. Wörgel zuckte die Achseln. »Verkehrsunfall.« »So? Na, ich bin ja immer dagegen gewesen, daß Frauen Auto fahren. Sie sind zu emotionell veranlagt, Wörgel, glauben Sie mir .. . was Schwester Notburga und die anderen Damen Ihnen auch als Gegenargument anführen mögen. Es handelt sich doch um eine Frau, wie?« »Jawohl, Herr Professor, Anfang dreißig, aber keine gute Konstitution. Wahrscheinlich . . . nun, der Polizist, der sie einlieferte, sagte mir, daß sie mit ihrem Wagen geradewegs gegen einen Pfeiler der Unterführung gerast ist.« »Aha. Unfall in Eigenproduktion. Es sieht ganz so aus, als ob ...« Der Professor vollendete seinen Satz nicht.
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Dr. Wörgel verstand ihn auch so. »Jawohl, Herr Professor. Möglicherweise war das seelische Gleichgewicht schon vor dem Unfall gestört. Gerade das befürchte ich auch.« Sie schritten den langen, spiegelblank gebohnerten Gang entlang zum Aufzug, traten in die Kabine und ließen sich ins Erdgeschoß hinunterfahren. Die Verunglückte lag auf einer Trage im Nebenraum der Notaufnahmestation. Sie hatte ein sehr schmales, längliches Gesicht mit scharfen Zügen und einer spitzen Nase, dessen grünliche Blässe sich stark gegen das kohlschwarze, wahrscheinlich nachgefärbte Haar abhob. Mit dem bloßen Auge war nicht einmal zu erkennen, daß sie atmete. Professor Kortner beugte sich über die Patientin, faßte das Gelenk der schlaff herabhängenden Hand. Der Puls ging kaum fühlbar. »Bluttransfusion«, sagte er, »so schnell wie möglich.« »Dr. Schmidt ist schon dabei, die Blutgruppe festzustellen. Im Labor ist heute leider niemand mehr!« »Schmidt? Ich dachte, er wollte so rasch wie möglich nach Hause! Nicht mal die Weihnachtsfeier .. .« Der Assistenzarzt lächelte unbewußt ein wenig schadenfroh. »Ich habe ihn gerade noch erwischen können ... zwischen Tür und Angel! Er war nicht sehr begeistert!« »Kann ich mir vorstellen!« Professor Kortner befühlte mit seinen langen, geschickten Fingern den Kopf der Patientin. »Gefällt mir nicht«, sagte er, »gefällt mir ganz und gar nicht. Ein Glück, daß Schmidt wenigstens hier 8
ist. Ohne Anästhesisten wäre die Sache nicht zu machen.« Er wandte sich an Schwester Notburga. »Sie muß sofort nach oben. Alles zur Operation vorbereiten!« Dr. Gotthold Schmidt, einen Zettel in der Hand, auf den er die Bestimmung der Blutgruppe geschrieben hatte, kam ins Zimmer. Ohne aufzusehen sagte er: »Das hätten wir. Kann ich jetzt endlich ...« Professor Kortner unterbrach ihn. »Gut, daß du da bist, alter Junge! Ich nehme an, du hast Gerinnungszeit und so weiter auch schon festgestellt, wie?« »Wollt ihr operieren?« »Was denn sonst? Du kannst die Patientin gleich in den Anästhesieraum begleiten. Je eher wir eingreifen können, desto besser.« Dr. Schmidt machte ein unglückliches Gesicht. »Ich habe so was schon auf mich zukommen sehen«, sagte er, »und dabei habe ich meiner Frau fest versprochen, heute abend pünktlich zur Bescherung zu Hause zu sein. Die Kinder .. .« »Evelyn wird mir auch was erzählen, da kannst du dich drauf verlassen!« sagte der Professor ungerührt. »Aber da gibt es nur eines . . . gar nicht hinhören!« Bernhard Kortner und Gotthold Schmidt waren Kommilitonen gewesen, und sie hatten sich diese Jugendfreundschaft über die Jahre hinweg bewahrt, wenn auch ihre trauen, die sehr verwöhnte und schwierige Evelyn und die hausbackene, ein wenig schlampige Gisela
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Schmidt, niemals einen wirklichen Kontakt zueinander hatten finden können. Zwei Sanitäter hoben die Trage mit der Schwerverletzten vorsichtig auf und balancierten sie behutsam aus dem Zimmer. Die Oberschwester und der Anästhesist folgten. Professor Kortner zündete sich eine Zigarette an. »Außer der Schädelfraktion?« fragte er. »Oberschenkelbruch«, berichtete Dr. Wörgel, »scheint auch nicht ganz einfach zu sein. Dazu verschiedene Abschürfungen und Prellungen, die sofort versorgt worden sind. Innere Verletzungen?« Er hob die Schultern, ließ sie wieder fallen. »Noch nicht abzusehen!« »Schlimm«, sagte der Professor, »sehr schlimm. Hat sie Angehörige?« »Verheiratet. Die Polizei wird ihren Mann benachrichtigen.« »Schöne Weihnachtsbescherung. Na ja, wir werden sehen, was wir machen können.« Professor Kortner drückte, wie es seine Angewohnheit war, die halb aufgerauchte Zigarette aus, sagte : »Wenn alles gut geht, brauchen wir eine Dauerwache! Schwester Daniela .. .« »... ist für heute nacht beurlaubt, Herr Professor!« Professor Kortner hob die dunklen Augenbrauen. »So? Ach, ich weiß schon. War da nicht irgend etwas mit einem Kind?« »Ja, Schwester Daniela wollte an diesem Abend mit ihrer kleinen Tochter Zusammensein!«
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»Sehr verständlich. Nur zu verständlich. Trotzdem ... tut mir leid. Sie muß her!« Als sein Assistent schwieg, fragte er ungeduldig: »Na, was ist? Paßt Ihnen das etwa nicht?« »Könnte man nicht ...«, sagte Dr. Wörgel unsicher, »ich meine, besteht nicht die Möglichkeit...« »Sie wissen sehr gut, daß wir die Zahl der diensthabenden Schwestern heute auf ein Minimum beschränkt haben. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als eine zu holen. Warum also nicht Schwester Daniela? Von ihr weiß ich, daß sie absolut zuverlässig ist.« »Ich hätte ihr das gerne erspart.« »Ich mir auch und Ihnen . . . und dem guten Gotthold Schmidt. Aber was kann man da machen? Es ist unser Beruf, und wir haben ihn freiwillig gewählt. Denken Sie an Ihren Kant!« Mit halber Ironie zitierte der Professor: »Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um unsere Pflicht zu tun!« »Ich hätte nie gedacht, daß das Leben noch einmal so schön sein könnte!« sagte Daniela Kreuzer aus vollem Herzen. Goldgelbe Kerzen brannten in den grünen Zweigen des Weihnachtsbaumes. Im Zimmer roch es nach Honig, Tannen und Backwerk. Auf dem Teppich kniete die kleine Eva und spielte mit ihrer neuen Babypuppe. Neben Daniela auf der Couch saß Harald Spielmann, der Mann, den sie liebte. Vor einer halben Stunde hatte er ihr den Verlobungsring übergestreift – einen schmalen
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Ring aus Platin mit einem schimmernden kleinen Diamanten. »Wenn wir erst in Kanada sind«, sagte er jetzt, »du wirst sehen ... es wird noch viel schöner!« »Ich brauche nicht nach Kanada zu reisen, um glücklich zu sein«, widersprach sie ihm. »Du hast ja keine Ahnung!« spottete er. »Manchmal glaube ich, du bist in deinem ganzen Leben noch nicht aus Freiburg hinausgekommen!« »Doch«, sagte sie, ohne gekränkt zu sein, »als Lehrschwester war ich in München und in meinem Sommerurlaub vor zwei Jahren sogar in Italien . . . mit einer Reisegesellschaft.« »Das meine ich ja nicht!« Harald Spielmanns Stimme klang ungeduldig. »Die Welt ... das ist doch nicht irgend so ein Badeort an der Adria ... die Welt ist etwas ganz anderes ! Amerika ... Kanada!« »Warst du schon einmal drüben?« fragte sie arglos. Er wurde rot, und sie begriff sofort, daß sie einen Fehler gemacht hatte. »Harald!« Sie strich ihm mit der Hand durch das blonde, widerspenstige Haar. »Du weißt, daß ich dich liebe. Ich meine es ja auch nur gut mit dir! Als ich dich kennenlernte ... wann war das überhaupt? Im August, nicht wahr? Es ist nun also doch noch kein halbes Jahr her ... da wolltest du nach Afrika. Du hast mir immerzu erzählt, daß Afrika das Land der Zukunft wäre! Und ich habe dir geglaubt, wie ich alles glaube, was du mir sagst. Dann war Afrika von einem Tag auf den anderen 12
vergessen. Kanada war das gelobte Land. Was soll ich davon denken?« »Daß ich ’raus will aus Europa, ganz gleich, wohin!« Ohne daß sie es bemerkt hatten, war die kleine Eva aufgestanden und legte ihre Babypuppe auf Danielas Schoß. »Mutter«, sagte sie, »Onkel Harald ... warum sprecht ihr nicht mit mir?« Harald Spielmann beugte sich vor, faßte die Kleine unter das Kinn. »Über was denn? Was sollen wir mit dir reden, Eva?« »Über meine Puppen natürlich.« Daniela lachte. »Eva hat ganz recht, Harald. Auswanderung und das alles sind keine Gespräche für den Heiligen Abend. Warum mußt du immer alles so ... so belasten? Warum kannst du nicht einfach glücklich sein wie ich?« Er stand auf. »Weil ich ein Mann bin, Daniela! Männer haben das so an sich, vorauszuschauen, sich zu sorgen. Ich denke ja immer nur an euch ... an Eva und dich. Ich möchte einfach, daß ihr beide ein glückliches und sorgloses Leben führt. « »Aber das tun wir doch!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen zärtlichen kleinen Kuß auf die Nase. »Aber jetzt unterhalte dich lieber mal ein bißchen mit Eva. Ich muß in die Küche und nachschauen . ..« »Du hast doch nicht extra etwas gekocht, Daniela?«
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»Bisher nur das Wasser. Es soll Karpfen blau geben mit Meerrettichsahne, wie es sich für einen richtigen Heiligen Abend gehört.« »Tut mir leid, Daniela«, sagte er betroffen, »tut mir entsetzlich leid.« Ihre blauen Augen wurden fast dunkel vor Enttäuschung. »Mußt du fort?« »Ja, ich war sicher, ich hätte es dir erzählt.« »Kein Wort!« »Dann muß ich es einfach vergessen haben. Weißt du, ich habe mir angewöhnt, mich dauernd in Gedanken mit dir zu unterhalten .. . deshalb kann ich gar nicht mehr genau feststellen . ..« »Weshalb mußt du fort?« »Mister Hythe ...« »Ich weiß schon. Der Freund deines Geschäftsfreundes aus Toronto! Ich dachte, der wäre schon vorgestern nach München gefahren!« »Wollte er auch. Aber dann ist ihm eingefallen, daß er in München noch gar keinen Anschluß hat und überhaupt erst nach den Feiertagen arbeiten kann. Deshalb ... es ist mir sowieso schon unangenehm genug, aber ich bin einfach verpflichtet, mich ein bißchen um ihn zu kümmern.« »Ja ... aber warum hast du ihn dann nicht mitgebracht?« »Hierher?« »Warum nicht? Ich könnte mir vorstellen, daß er ganz gerne so ein deutsches Weihnachten im Familienkreis erlebt hätte.«
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»Er schon. Da bin ich sicher. Aber mir hätte es nicht gepaßt. Ich weiß, du wirst mich jetzt auslachen, Daniela .. . aber ich kann es nicht ändern, ich bin nun einmal rasend eifersüchtig . « »Du machst Spaß«, sagte Daniela. »Hast du mir nicht erzählt, daß dieser Mister Hythe ein alter Langweiler wäre?« »Ist er auch. Für meinen Geschmack jedenfalls. Immerhin sieht er blendend aus.« »Sag mal, was hältst du eigentlich von mir?« »Ich halte dich für die Anständigkeit und Treue in Person. Leider bist du ebenso verdammt hübsch. Deshalb möchte ich einfach nicht riskieren ...« »Hast du keinen Augenblick daran gedacht, daß ich damit gerechnet haben könnte, du würdest zum Essen bleiben?« »Ich war überzeugt, ich hätte dir erzählt, daß ich fort muß!« »Harald«, bat sie eindringlich, »ist es wirklich nicht möglich, daß du den alten Knaben einfach sitzenläßt, schließlich, es könnte dir ja auch etwas zugestoßen sein, eine Panne vielleicht.« »Mit so was soll man keine Späße treiben, Daniela!« »Dann geh einfach hin und sage ihm, daß du eingeladen bist... daß du vergessen hast, es ihm zu sagen!« »Nein, das geht auch nicht. Ich kann ihn doch nicht so enttäuschen.« »Aber mich! Bei mir macht es dir gar nichts aus!« »Daniela!« Er packte sie bei den Schultern. »Bitte, nun nimm doch mal Vernunft an! Du weißt genau, wie gern 15
ich heute abend bei dir bleiben würde ! Ich würde wer weiß was darum geben, wenn es möglich sein würde! Aber es ist ausgeschlossen. Kannst du mir das nicht glauben?« »Nein«, sagte sie hartnäckig, »ich sehe das nicht ein. Gerade am Heiligen Abend gehört man zu den Menschen, die man liebt.« »Stimmt nicht«, sagte er, »am Heiligen Abend ist man mit den Menschen zusammen, zu denen man offiziell gehört. Das ist ein großer Unterschied. Offiziell gehören wir noch nicht zusammen, mein Liebes, deshalb haben wir kein Recht...« »Das sind doch Haarspaltereien! Oder ... willst du mir etwa sagen, daß der Ring ... daß dein Versprechen nichts zu bedeuten hat? Dann ...« Sie machte eine hastige Bewegung, als wenn sie den Ring abstreifen wollte. »Daniela«, sagte er heftig. »Bitte ... ich bitte dich! Natürlich gilt der Ring, und natürlich gilt, was ich dir versprochen habe. Ich liebe dich ... ich liebe dich mehr, als ich je einen Menschen geliebt habe. Wir werden heiraten, sobald es möglich ist... das ganze Leben liegt vor uns. Gerade deshalb kommt es doch nicht auf den einen Abend an. Ausgerechnet diesen Abend!« »Du hast ja recht«, sagte sie zerknirscht. »Es tut mir leid, wenn ich mich albern benommen habe, aber ... ich hatte mich schon so gefreut!« Er zog sie in seine Arme. »Jetzt bist du mir böse!«
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»Überhaupt nicht.« Sie schüttelte den Kopf, daß ihr weiches, kastanienbraunes Haar flog. »Ich weiß doch, daß du nicht gerne gehst!« »Es fällt mir weit schwerer, als du dir vorstellen kannst!« sagte er leise. »Komm her, Eva!« Daniela wandte sich um. »Gib Onkel Harald die Hand und mach einen schönen Knicks .. . bedank dich noch einmal für die herrliche Puppenküche, ja?« »Vielen Dank, Onkel Harald!« sagte Eva wohlerzogen, aber ohne jede Überzeugung. »Ich hoffe, du hast Spaß damit, Eva«, sagte er und tätschelte ihre Wange. Im Flur half Daniela ihm zärtlich in den schweren Wintermantel, band ihm den maisgelben, grobgestrickten Wollschal – ihr Weihnachtsgeschenk – um den Hals. Sie küßten sich noch einmal mit jäher Leidenschaft. Als er gegangen war, stand sie eine Sekunde wie benommen. Dann atmete sie tief, sah in den großen Flurspiegel, nahm einen Lippenstift, zog sich die Konturen ihres Mundes nach. Sie bürstete sich mit raschen Strichen über die braunen Locken, glättete mit einer kleinen Wendung das blaue Kleid über den Hüften und trat ins Zimmer zurück. Eva hatte die neue Babypuppe inzwischen vollkommen ausgezogen. »Gut, daß er weg ist«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Eva! Wie kannst du denn so reden?«
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»Ich sag’ bloß, was ich denke. Man darf doch nicht lügen!« »Du hast keinen Grund, häßlich über Onkel Harald zu sprechen. Sieh dir doch bloß mal die schöne Puppenküche an, die er dir geschenkt hat.« »Ich will sie gar nicht haben!« »Eva! Du hast sie dir doch immerzu gewünscht!« »Ja, aber vom Christkind!« »Nun sei nur nicht albern, du weißt . ..« Daniela kam nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu sprechen. Das Telefon klingelte. Als Daniela Kreuzer eine knappe Stunde später im Bruder-Klaus-Krankenhaus eintraf – sie hatte sich in aller Eile umgezogen, Eva, die gewohnt war, allein zu schlafen, ins Bett gebracht und der Nachbarin Bescheid gesagt, war dann mit einem Taxi zum Stadtrand gefahren , erwartete sie eine Überraschung. Im Schwesternzimmer der Privatstation hatte Schwester Berta, die sie heute als Nachtschwester vertrat, ein Tannenbäumchen angezündet. Darunter stapelten sich kleine, hübsch eingepackte Pakete. »Für mich?« sagte Daniela überwältigt. »Oh, nein, das hättet ihr aber nicht tun sollen!« »Es war nicht meine Idee«, sagte Schwester Berta lächelnd. »Ich habe lediglich den Auftrag bekommen, die Kerzen anzuzünden!« »Von wem?« »Darf ich nicht verraten!«
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»Bitte Berta, seien Sie doch nicht so . .. sagen Sie mir ...« »Nun ja, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen .. . also, passen Sie auf!« Schwester Berta machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Vom Weihnachtsmann!« Daniela war aus dem dunkelblauen Schwesternmantel geschlüpft, jetzt steckte sie vor dem Spiegel noch rasch ein paar widerspenstige Löckchen unter die Haube. Wie immer fand sie sich in der Tracht ganz verändert. Sie sah strenger und zugleich auch gütiger aus. »Wollen Sie die Päckchen nicht wenigstens öffnen?« fragte Berta. Daniela schüttelte lächelnd den Kopf. »Geht nicht. Leider. Ich muß sofort ins Wachzimmer.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Die Operation ist sicher schon beendet.« »Dann nehmen Sie Ihre Geschenke mit!?« Schwester Bertas Stimme klang bedauernd; sicher hätte sie selber gerne gewußt, was ihre Kollegin alles geschenkt bekommen hatte. »Lieber nicht. Möglicherweise würde das Rascheln stören.« Sie trat an den kleinen Gabentisch, pustete die Kerzen nacheinander aus. »Passen Sie nur gut darauf auf, Berta, bis morgen früh!« »Versteht sich. Wird gemacht.« Mit eiligen Schritten ging Schwester Daniela den breiten Gang entlang, an dem links und rechts die Einzelund Doppelzimmer der Privatstation lagen. Sie wußte, 19
daß nur drei Zimmer belegt waren – in Nummer sieben lag Roy Erichson, der Filmschauspieler, in Nummer neun ein Kind mit einer Blinddarmoperation, in Nummer fünfzehn, auf der anderen Seite, eine alte Dame, deren linke Niere operativ entfernt werden mußte. Daniela dachte plötzlich, ob die Patienten sich nicht freuen würden, wenn sie rasch den Kopf hineinsteckte und guten Abend sagen würde. Sie hätte gerne gewußt, wie diese armen Menschen sich heute, am Heiligen Abend, fern von ihren Angehörigen, im Krankenhaus fühlten. Sie verzichtete nicht ohne ein leises Schuldgefühl. Der Fall, dessentwegen sie in die Klinik gerufen worden war, ging vor. Das Wachzimmer lag außerhalb der Privatstation, aber nur wenige Schritte entfernt, um eine Ecke herum. Als Schwester Daniela nach kurzem Anklopfen eintrat, erhob sich Dr. Schmidt, der am Bett der Patientin gesessen hatte, sofort. »Na endlich!« sagte er erleichtert. »Ich bin erst vor einer knappen Stunde angerufen worden, Herr Doktor.« »Ich weiß, ich weiß, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Schwester! Es ist nur ... meine Familie wartet auf mich!« Er warf einen Blick auf die Patientin, die mit geschlossenen Augen dalag, mit offenem Mund schwer atmete. »Sie wissen, was Sie zu tun haben?« »Blutdruck, Puls, Atmung und Temperatur kontrollieren«, sagte Schwester Daniela. 20
»Sehr richtig. Der Fall ist höchst kritisch. Sobald Sie eine Verschlechterung des Zustandes merken, müssen Sie Doktor Wörgel informieren. Er hat heute Nachtdienst.« »Ja, danke .. . ich werde daran denken!« »In zwei Stunden sollten Sie der Patientin auf alle Fälle noch eine Blutkonserve zuführen ... sie ist sehr geschwächt.« »Wenn sie erwacht . ..« »Wahrscheinlich wird sie sich an nichts erinnern können. Möglicherweise nicht einmal an ihren Namen. Sie müssen sehr behutsam mit ihr umgehen, ja? Aber es ist gut möglich, daß sie die ganze Nacht ohne Bewußtsein bleibt.« Dr. Schmidt ging zur Tür. »Ich werde den Kollegen Wörgel bitten, sobald er Zeit hat, einmal bei Ihnen hereinzuschauen. Sie wissen, daß Sie, was auch immer geschieht, das Zimmer nicht verlassen dürfen!« »Selbstverständlich nicht, Herr Doktor!« »Also dann, gute Nacht, Schwester Daniela!« »Frohe Weihnachten, Herr Doktor!« »Wahrhaftig, das hätte ich fast vergessen! Danke, Schwester, ich wünsche Ihnen dasselbe! Hat uns sehr leid getan, daß wir Sie ausgerechnet am Heiligen Abend Ihrer kleinen Tochter entreißen mußten!« Schwester Daniela lächelte. »Halb so schlimm. Für Eva war’s sowieso schon Zeit, zu Bett zu gehen.« Schwester Daniela ging zu dem weißgedeckten Tisch, nahm den Karton mit der Fiebertabelle und dem Krankheitsbericht zur Hand, las den Namen: »Irene Spielmann« ! 21
Eine Sekunde lang war es ihr, als wenn eine kalte Hand nach ihrem Herzen griffe, dann hatte sie das kurze Entsetzen schon überwunden, mußte über sich selber lächeln. Warum sollte die Patientin nicht Spielmann heißen? Wie Harald? Es war ein Zufall, nichts als ein lächerlicher Zufall, nicht der geringste Grund, erschrocken zu sein. Hinter dem Namen stand die Diagnose – sie war in lateinischen Fachausdrücken festgehalten, aber Schwester Daniela hatte Erfahrung genug, um sofort zu wissen, um was es sich handelte. Ein komplizierter Schädelbruch – das war schlimm, sogar lebensgefährlich. Schwester Daniela sah auf das bleiche, spitze Gesicht. Ob diese Frau Kinder hatte? Unwillkürlich suchten ihre Augen die wächsernen Hände, die leblos auf der Decke lagen. Die Patientin trug keinen Ring, doch das hatte Schwester Daniela auch nicht erwartet. Schmuck pflegte vor der Operation entfernt zu werden. Aber es schien ihr, als wenn sich am Ringfinger der rechten Hand ein etwas hellerer Streifen auf der Haut abzeichnete, dort, wo ein Ring gesessen hatte, wahrscheinlich der Ehering. Daniela wußte, daß Dr. Schmidt die Routineuntersuchungen kurz vor seinem Fortgang durchgeführt hatte. Dennoch hielt sie es für richtig, sich selber ins Bild zu setzen. Sie kontrollierte Blutdruck, Puls, Atmung und Temperatur, trug die Ergebnisse auf der Tabelle ein. Mit Besorgnis stellte sie fest, daß der Zustand der Patientin sich wiederum verschlechtert zu haben schien. Alle Lebensvorgänge waren stark geschwächt. 22
Sie biß sich auf die Lippen, zögerte, überlegte, ob sie Dr. Wörgel anrufen sollte. Aber dann unterließ sie es doch. Der diensthabende Arzt mußte wissen, wie es um die Patientin stand. Sicherlich würde er innerhalb der nächsten Stunde, auch ohne daß sie ihn alarmierte, nach dem Rechten sehen. Schwester Daniela knipste die kleine Lampe mit dem runden Pergamentschirm an, drehte das Deckenlicht ab. Sie setzte sich und holte ein Buch aus der Tasche. Obwohl sie weit fort war mit ihren Gedanken, registrierte sie dennoch sofort das Geräusch, das sie vom Krankenbett her vernahm. Es war ein rasselndes Atemholen, fast ein Röcheln. Schwester Daniela stand auf, legte ihr Buch fort und trat ans Krankenbett. Der Atem der Patientin ging ganz schwach, der Puls war kaum fühlbar. Konnte sie noch länger abwarten, oder war es nicht doch besser, sich sofort mit dem diensthabenden Arzt in Verbindung zu setzen. – Sie hielt schon den Telefonhörer in der Hand, als die Doppeltüren des Krankenzimmers geöffnet wurden. Sie wußte, daß es der Arzt war, noch bevor sie hinsah. »Gut, daß Sie kommen, Herr Doktor«, sagte sie aufatmend, »die Patientin . ..« »Steht schlecht, wie?« Sie gab dem Arzt die Tabelle. »Meine letzten Messungen liegen noch tiefer«, sagte sie. »Hm!« Dr. Wörgel ließ sich am Bettrand nieder, schob das Nachthemd an der Brust auseinander, horchte die Herztöne ab. Dann richtete er sich wieder auf. »Sauerstoffdusche?« fragte Schwester Daniela. 23
Dr. Wörgel lächelte schwach. »Sie hätten Medizin studieren sollen, wie?« Daniela wurde rot. »Entschuldigen Sie, bitte!« »Da gibt es nichts zu entschuldigen, Sie haben ganz recht. Sauerstoffdusche.« Mit Hilfe des Arztes stellte Schwester Daniela den Apparat ein, legte der Patientin das Mundstück an. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie endlich mit Erleichterung bemerkten, daß die Atmung tiefer wurde, der Brustkorb sich zu heben und zu senken begann. Gerade in diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft. Dr. Wörgel knurrte ungehalten. »Soll ich ...« »Gehen Sie schon!« Noch ein zweitesmal war das Pochen zu hören, diesmal ungeduldiger und heftiger, bevor Schwester Daniela die Türen öffnen konnte. Sie trat sofort hinaus, schloß die Doppeltüren hinter sich, nicht gewillt, jemanden ins Krankenzimmer zu lassen. Sie stand mit dem Rücken zur Tür, ein wenig geblendet von dem sehr viel helleren Licht im Gang, es dauerte eine Sekunde, bis sie den unerwünschten Eindringling erkannte. Es war Harald Spielmann. II Wenn Schwester Daniela später an jene schicksalhafte nächtliche Begegnung im Krankenhaus zurückdachte, dann war sie niemals imstande zu begreifen, wie sie dies 24
hatte ertragen können, ohne ohnmächtig zu werden, ohne zu schreien, ohne in Tränen auszubrechen. Sie wußte die Wahrheit sofort, in der ersten Sekunde, als sie Harald Spielmann erkannte. Es war ihr, als täte sich ein klaffender Abgrund vor ihr auf. Der Schmerz, das Entsetzen, die Qual waren zu groß, daß sie nicht in der Lage war, ein Wort hervorzubringen. Sie stand wie versteinert und starrte ihn an. »Du?« sagte er töricht. »Aber ich dachte .. .« Er schien nichts von ihrem Entsetzen zu spüren. Sein Gesicht wirkte verblüfft, nicht verstört – eher wie das eines ertappten Schuljungen. Er strich sich mit einer verlegenen Geste über das widerspenstige Haar. »Wie geht es ihr?« Schwester Daniela war immer noch unfähig, sich zu rühren. Sie starrte ihn nur an, klammerte sich innerlich an die verzweifelt winzige Hoffnung, daß alles ein Irrtum sein möge, ein Trug. »Hör mal«, sagte er, »nun red schon! Was ist los mit ihr?« Mühsam gelang es ihr, ihre Lippen zu bewegen. »Harald ...«, sagte sie und noch einmal: »Harald.« »Tut mir leid«, sagte er nervös, »ich kann mir vorstellen, es war ein Schock für dich . . . aber schließlich ... ich habe es dir ja nur nicht erzählt, um dich zu schonen. Was hätte es für einen Sinn gehabt, dich zu beunruhigen.«
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»Sie .. . ist . . . also . . . deine Frau?« – Jedes Wort war wie ein Stein, der in einen Tümpel fiel und einen Ring nach dem anderen kreisen ließ. »Ja«, sagte er gedehnt, dann fügte er rasch hinzu: »Aber ich liebe sie nicht, Daniela. Du darfst nicht glauben, daß ich sie liebe. Sie ist mir längst gleichgültig geworden. Ich habe mir niemals etwas aus ihr gemacht.« »Sie ist verunglückt . . .«, sagte Daniela und begriff es erst ganz, als sie es aussprach, »sie ist verunglückt, während du bei mir warst!« »Na also. Du siehst, ich hatte nicht das geringste damit zu tun.« Wie sinnlos das alles ist, dachte Daniela, wie sinnlos jedes Wort, das wir miteinander wechseln. »Ich muß zurück«, sagte sie laut. »Wie geht es ihr?« fragte er noch einmal. »Schlecht. Sehr schlecht.« »Wird sie . . .« Er hielt Daniela am Arm fest. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.« »Daniela, bitte, sei doch ehrlich, du hast viel Erfahrung, du hast mir selber oft gesagt, wieviel Erfahrung du hast! Du wirst feststellen können, ob jemand . .. oder nicht .. .« Er scheute davor zurück, das letzte entscheidende Wort auszusprechen. Sie schüttelte stumm den Kopf. »Man muß warten!« »Verdammt!« Er fuhr mit der Hand in die Hosentasche, zog sie mit einem Päckchen Zigaretten zurück. »Darf man hier ...?«
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Sie deutete stumm auf einen der großen Aschenbecher, die den Gang entlang verteilt waren. Er zündete sich eine Zigarette an. »Also hör mal, Daniela«, sagte er, »nun laß uns doch mal ganz vernünftig . ..« Sie unterbrach ihn. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen, Harald.« Sie holte Luft. »Als Krankenschwester möchte ich dir mitteilen, daß deine Frau operiert worden ist, aber das weißt du wohl selber. Sie ist noch nicht aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht. Wahrscheinlich wird sie’s auch nicht so bald. Du kannst warten oder nach Hause gehen, ganz wie du willst. Auf alle Fälle wird man dich benachrichtigen, sobald sich eine entscheidende Veränderung im Krankheitsbild der Patientin ergibt.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, öffnete sie die Türen und ging ins Krankenzimmer zurück. Sie wunderte sich darüber, daß sie so flüssig und mit fester Stimme hatte reden können. Routine war das einzige, an das man sich klammern konnte, wenn alles andere schwankte. Erst als sie wieder am Bett der Schwerverletzten stand, spürte sie die übermenschliche Anstrengung, die sie die letzten Minuten gekostet hatten. Ihre Knie zitterten vor Schwäche. Sie mußte sich am Fußende des Bettes festhalten, um nicht zu stürzen. »Da sind Sie ja«, sagte Dr. Wörgel, der der Kranken die Sauerstoffmaske inzwischen wieder abgenommen und den Apparat ausgestellt hatte. »Was war los?« »Ein ... Angehöriger«, sagte Daniela mit steifen Lippen. Dr. Wörgel sah sie an, war mit wenigen Schritten bei ihr, packte sie von hinten bei den Schultern. »Schwester 27
.. . was haben Sie? Sie wollen doch nicht etwa schlappmachen, wie?« Schwester Daniela schüttelte den Kopf. »Na, sehen Sie. Ich hab’s doch gewußt. Übermüdet, wie? Das kommt davon, wenn man Nachtschwestern unausgeschlafen zum Dienst zitiert. Warten Sie mal, ich gebe Ihnen was, das wird Ihnen auf die Beine helfen!« Er holte eine Medizinpackung aus der Tasche seines weißen Kittels und drückte sie Daniela in die Hand. »Ein stärkendes Präparat ... ausgezeichnet... Sie werden sehen ...« »Danke«, sagte Schwester Daniela und lächelte mühsam, »vielen Dank, Herr Doktor!« »Angehörige«, sagte Dr. Wörgel, »das kennen wir. Wahrscheinlich der Gatte, wie? Hat verrückt gespielt, ich kann es mir vorstellen. So sind die Menschen. Solange alles gut geht, fühlen sie sich stark .. . sind sie sicher, daß es ihr Verdienst ist. Aber wenn das Schicksal mal zuschlägt .. . dann geraten sie gleich aus der Fassung. Dann sind sie sicher, daß sie das, gerade das nicht verdient haben!« Schwester Daniela schwieg. Sie genoß die Fürsorge des Arztes, war dankbar, daß er keine Erklärung oder Entschuldigung von ihr zu erwarten hatte. Er redete noch eine ganze Weile, und sie begriff, daß er sie ablenken, ihr Zeit geben wollte, sich zu erholen. »So, jetzt haben Sie wieder Farbe in die Wangen bekommen!« sagte er endlich. »Ich glaube, jetzt kann ich
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Sie wohl allein lassen, wie? Wenn irgend etwas sein sollte, Sie wissen, ich bin im Haus.« Die Nacht zum ersten Feiertag schien Daniela die längste, die sie je durchwacht hatte. Die Sekunden, die Minuten, die Stunden wollten nicht vergehen. Wenn Daniela wenigstens etwas hätte tun können, pflegen, Medikamente geben, besser noch – sprechen, trösten, im Leiden anderer neue Kräfte finden. Aber sie konnte nur sitzen und sitzen und vor sich hinstarren. Lange stand sie nachher am Fußende des Bettes und betrachtete die Kranke, versuchte sich vorzustellen, daß diese Frau jung und voller Erwartung gewesen war, als sie in Haralds Armen gelegen hatte. Aber es schien ihr undenkbar. Es gab nicht die geringste Verbindung von dieser wächsernen, blassen Frau mit den scharfen Zügen, der spitzen Nase und den allzu schwarz gefärbten Haaren, die zu dem lebensstrotzenden, unruhigen Harald hätte führen können. Und doch waren sie verheiratet gewesen. Unvorstellbar. Sie hatten die Nächte miteinander verbracht und auch die Tage. Sie waren sich so nahe gewesen, wie zwei Menschen sich nahe sein können, bis – vielleicht bis sie in Haralds Leben getreten war? Schwester Daniela schob diese Möglichkeit, noch ehe sie sie richtig gedacht hatte, schon wieder weit von sich. Nein, sie war nicht schuld an dem, was geschehen war. Von der ersten Sekunde ihrer Bekanntschaft an hatte Harald es darauf angelegt, sich als freier Mann zu geben. Frei, unbekümmert, ungebunden. Sie erinnerte sich 29
genau, daß er keinen Ehering getragen hatte. Noch bevor daran zu denken gewesen war, daß ihre Bekanntschaft sich je vertiefen könnte, hatte er ihr, halb spaßhaft, erklärt, daß er eingefleischter Junggeselle sei. Das einzige, was ihr noch übrigblieb, war, sich von ihm zu trennen – endgültig und ohne Widerruf. Es war genug an Leid und Verstrickung geschehen. Er würde von sich aus nicht die Kraft haben, sich daraus zu lösen. Es lag an ihr, den Schlußstrich zu ziehen. Als die Glocken des Münsters den ersten Weihnachtsfeiertag einläuteten, als die fahle Dämmerung eines schneeigen Wintertages das kleine Krankenzimmer erfüllte und Schwester Daniela das Licht löschen konnte, spürte sie, daß sie in dieser Nacht um Jahre gealtert, ja, um Jahre gereift war. Selbst ihr Gesicht schien ihr verändert; es hatte die weichen Rundungen verloren, war härter geworden, die Augen schienen größer, wissender. Als Schwester Lucie, ihre Ablösung, mollig und vergnügt, in Wäsche, die vor Stärke knisterte, ins Zimmer rauschte, hatte Daniela sich wieder ganz gefangen. Sie konnte sachlich den Bericht über die Nacht geben, sie konnte sogar lächeln, fröhliche Weihnachten wünschen. Dennoch war sie froh, als niemand im Schwesternzimmer war. Mit raschen Händen packte sie die Weihnachtspäckchen in ihre Tasche. Der Weg aus dem Krankenhaus glich fast einer Flucht. Dann war alles wie immer, nur ein wenig schwieriger. Der Kindergarten fiel aus, und Eva mußte zu Hause spielen. Daniela machte rasch ein weihnachtliches 30
Frühstück für sich und die Kleine, brachte das Schlafzimmer in Ordnung. Dann legte sie sich, in eine weiche wollene Decke gepackt, auf die Couch, sah zu, wie Eva ihrer Babypuppe Fläschchen gab, sie wickelte, ihr Schlaflieder sang. Die liebevolle Mütterlichkeit des Kindes rührte sie sehr. Zärtlichkeit für dieses kleine Wesen, das ganz und gar und ohne Falsch zu ihr gehörte, löste den Krampf des Herzens. Sie weinte. Sie bemühte sich lange, die Tränen zurückzuhalten, ihr Schluchzen zu dämpfen, um das Kind nicht zu beunruhigen. Aber Eva warf ihr nur einen Blick zu, fragend und wissend zugleich, wandte sich dann wieder ihrem Spiel zu. Daniela schluchzte hemmungslos, und mit jeder Träne wurde ihr Herz leichter. »Willst du, bitte, ein Taschentuch?« fragte Eva und stand plötzlich neben ihr. Daniela nickte, schluckte, rieb sich mit der Hand über die Augen. Eva kam mit einer Puppenwindel an. »Da, nimm!« Daniela schneuzte sich und wischte sich das Gesicht ab. »Es tut mir so leid, Liebling«, sagte sie. »Warum?« »Am ersten Weihnachtsfeiertag sollte man nicht weinen.« »Och, ich habe gedacht, es ist dir was kaputtgegangen. Oder hat der Onkel Doktor mit dir geschimpft?« »Ja, so ähnlich!« 31
»Und jetzt ist alles wieder gut, nicht wahr?« Sie zog das Kind in ihre Arme. »Richtig, Liebling. Woher weißt du das?« »Wenn man erst tüchtig geweint hat, ist nachher immer alles gut, daß weiß ich doch schon.« »Mein kluger Schatz. Ich habe dich sehr, sehr lieb, weißt du das?« »Lieber wie Onkel Harald?« »Viel, viel lieber.« »Das ist gut«, sagte Eva unbekümmert. »Ich habe dich auch viel lieber ... noch lieber als meine neue Puppe!« »Das ist wunderbar von dir. Hör mal, Eva . .. meinst du, daß du jetzt mal eine Zeitlang ganz still spielen kannst? Ich will nämlich versuchen, ein bißchen zu schlafen. Wenn die beiden Uhrzeiger dann auf zwölf stehen, dann weckst du mich, ja?« »Ich weiß schon Bescheid, Mutti!« Daniela drehte sich zur Wand hin. Sie versuchte an alles andere zu denken, nur nicht an Harald. Sie bemühte sich, ihre Gedanken auf Eva zu konzentrieren, auf den Augenblick, wo sie zum erstenmal in ihrem Arm gelegen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie später, erst wenige Monate alt, ihren ersten Schnupfen gehabt hatte. Kindliche, spaßhafte Bemerkungen fielen ihr ein, alles, was mit Eva zusammenhing. Wie immer taten diese Erinnerungen ihre tröstlichen Wirkungen. Sie schlief ein. Als Daniela in das Wachzimmer trat, sprang Schwester Lucie erleichtert auf und lief ihr entgegen.
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»Ich hatte schon Angst, Sie würden nicht pünktlich kommen bei diesem Schneegestöber.« Sie wurde ein wenig rot, als sie hinzufügte: »Ich habe nämlich heute abend eine Verabredung!« »Dann viel Spaß!« »Danke! Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Was die Patientin braucht, ist aufgeschrieben. Ich habe die letzte Kontrolle erst vor zehn Minuten gemacht.« Schon bei ihrem Eintritt hatte Schwester Daniela einen scheuen Blick zum Krankenbett hingeworfen. Die Schwerverletzte lag, wie sie sie heute morgen verlassen hatte, mit geschlossenen Augen und offenem Mund. »Schläft sie?« fragte sie wider ihr besseres Wissen. »Nein. Sie ist noch immer ohne Bewußtsein. Wir haben ihr vor zwei Stunden eine Infusion gegeben. Doktor Wörgel hat übrigens versprochen, einmal hereinzuschauen. Stellen Sie sich vor, er hat sich den Dienst für die ganzen Feiertage andrehen lassen! Manchmal ist es doch ein Glück, daß es Junggesellen gibt.« Daniela mußte fast lächeln. Jeder im Krankenhaus wußte, wie gerne Schwester Lucie die Schwesterntracht mit dem Ehering vertauscht hätte. Sie pflegte jedem Junggesellen, der ihr über den Weg lief, schöne Augen zu machen, begriff nicht, warum man sie nicht ernst nahm. Der Zustand der Patientin besserte sich nicht. Stunde um Stunde verging. Selbst wenn Daniela die Augen schloß, sah sie das blasse, zerquälte Gesicht der Kranken vor sich. Der geöffnete Mund schien eine Anklage
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auszustoßen, die doch nur in Danielas Herzen hörbar wurde. Kurz vor Mitternacht kam Dr. Wörgel, besuchte die Patientin, gab ihr eine Spritze mit einem herzstärkenden Mittel. »Bitte, Herr Doktor«, sagte Daniela, als er aufstand, »sagen Sie mir ganz ehrlich . . . was denken Sie?« Dr. Wörgel zuckte die Achseln. »Ist schwer zu sagen!« »Wird sie . . . leben?« »Die Operation war sehr schwer.« »War die Hirnhaut verletzt?« »Nein, das nicht. Nur eingedrückt. Auch kein Hämatom. Professor Kortner ist nicht Gehirnchirurg im eigentlichen Sinne, aber er war drei Jahre Assistent an einer neurochirurgischen Klinik, und er hat Gehirnoperationen selbständig durchgeführt. Mit Erfolg. Gerade weil er kein Routinier ist, ist er besonders gewissenhaft.« »Ja . .. aber dann . . .« »Nach allen menschlichen und ärztlichen Erfahrungen müßte die Patientin schon aus ihrer Bewußtlosigkeit erwacht sein. Aber Sie sind lange genug Krankenschwester, Daniela. Unsere menschlichen und unsere ärztlichen Erfahrungen werden nie ausreichen.« »Das habe ich auch gedacht. Gerade vorhin.« Er sah sie an. »Sie denken ein bißchen zuviel, scheint mir. Sie dürfen sich nicht jedes einzelne Schicksal ihrer Patienten so ... zu Herzen gehen lassen.« »Ich weiß wohl, aber gerade in diesem Fall.. .« »Kennen Sie die Kranke?« 34
Einen Augenblick spürte Daniela den brennenden Wunsch, die Wahrheit zu sagen, sich einem Menschen zu eröffnen. Aber es hatte keinen Sinn. Niemand konnte ihr helfen. Sie mußte es allein durchstehen. »Nein«, sagte sie, »ich kenne sie nicht!« Dr. Wörgel sah sie mit einem merkwürdigen Blick an, es schien, als wenn er noch etwas dazu sagen wollte. In diesem Augenblick stöhnte die Kranke tief. Sie fuhren beide herum und sahen, wie Irene Spielmann die Augen aufschlug – große, braune, glanzlose Augen mit einem seltsam stumpfen Blick. Sie benetzte die Lippen, schluckte trocken. »Zu trinken!« sagte Dr. Wörgel kurz. Daniela stützte den Rücken der Kranken, flößte ihr aus der Schnabeltasse vorsichtig Flüssigkeit ein. »Na, wie fühlen wir uns?« fragte Dr. Wörgel aufmunternd. Die Patientin schwieg. »Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht, liebe Frau Spielmann«, fuhr der Arzt in dem gleichen freundlichen Onkel-Doktor-Ton fort. »Sie waren ziemlich lange ohne Bewußtsein. Jetzt fühlen Sie sich schon besser, nicht wahr?« Die Patientin sprach immer noch kein Wort. Selbst ihre Augen blieben ganz und gar ausdruckslos. Möglicherweise war sie nicht imstande, ein Wort von dem, was Dr. Wörgel ihr sagte, tatsächlich zu begreifen. »Haben Sie irgendeinen Wunsch, Frau Spielmann?« versuchte Daniela es. Jetzt wandte der Blick der stumpfen Augen sich ihr zu. 35
»Das Gehör ist jedenfalls in Ordnung«, sagte Dr. Wörgel. Er beugte sich zu der Patientin, nahm ihre beiden Hände. »Bitte, Frau Spielmann, sagen Sie doch ein Wort ! Oder... nicken Sie wenigstens, damit ich weiß, ob Sie mich verstehen!« Nach einer kleinen Pause: »Haben Sie Schmerzen?« Keine Antwort. Der Arzt und die Schwester sahen sich an. »Was nun?« fragte Daniela. »Na, immerhin ist sie bei Bewußtsein, damit sind wir einen großen Schritt weiter. Möglich, daß sie immer noch unter den Nachwirkungen des Unfallschocks steht. Wir können jetzt sowieso nichts machen. Ich werde ihr eine Spritze geben, damit sie schläft... Ruhe ist oft das beste Heilmittel!« Schwester Daniela wollte etwas einwenden, aber noch rechtzeitig besann sie sich darauf, daß es ihr als Schwester nicht zustand, einem Arzt Ratschläge zu geben. Die Kranke zuckte leicht zusammen, als ihr Dr. Wörgel die Nadel in ihre Vene schob. »Na also . ..« sagte der Arzt befriedigt. »Es wird schon Wieder werden.« Er stand auf. »In ein paar Minuten wird die Patientin eingeschlafen sein. Eigentlich könnten Sie ja jetzt nach Hause gehen ...« »O nein«, sagte Daniela spontan. »Ich möchte doch . . .« »Es war mir auch nicht ernst damit. Ich wäre Ihnen ganz im Gegenteil dankbar, wenn Sie sich wachhalten könnten, Schwester. Vielleicht... es ist immerhin eine Möglichkeit... spricht die Patientin im Schlaf. Eine solche 36
Feststellung wäre für die Diagnose sehr bedeutsam. Sie werden aufpassen?« »Selbstverständlich, Herr Doktor!« Stunde um Stunde lauschte Daniela mit fast fieberhafter Aufmerksamkeit. Vergebens. Kein Ton kam über die Lippen der Kranken. III Als Schwester Daniela am nächsten Morgen nach Hause kam, fühlte sie sich wie gerädert. Sie war froh, als sie sich endlich in den kühlen Laken ihres Bettes ausstrecken durfte. Sie hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als zwei kleine Hände sie beim Arm packten und sie schüttelten. »Mutter! Mutter! Wach doch auf!« Daniela setzte sich hoch, riß die Augen auf. »Ist was passiert?« »Onkel Harald ist da.« »Ach so!« Daniela ließ sich wieder zurücksinken. »Schick ihn fort, Liebling, sag ihm, daß Mutter schläft.« »Aber das habe ich ihm ja gesagt! Er will nicht gehen!« »Du hast ihn doch nicht etwa schon in die Wohnung gelassen?« »Doch, natürlich, Mutter!« Ein wenig erschrocken fügte Eva hinzu: »Hätte ich das nicht tun sollen?«
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»Aber, Eva, ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, daß du Onkel Harald nicht hereinlassen darfst. Nie. Unter keinen Umständen!« »Ja, wenn ich allein zu Hause bin, Mutter, dann hätte ich es auch nicht getan. Aber jetzt bist ja du da!« Daniela begriff, daß es ungerecht war, Eva Vorwürfe zu machen. »Du hast recht, Schätzchen«, sagte sie, »Mutter hat es dir nicht richtig erklärt. Bitte, gib mir meinen Morgenrock und sag Onkel Harald, daß ich gleich komme.« Als sie wenige Minuten später in ihrem blauen, seidenen Morgenrock, kleine rote Lederpantoffeln an den Füßen, das Kastanienbraune Haar nur flüchtig gekämmt, ins Wohnzimmer trat, erhob sich Harald Spielmann sofort. Sie reichte ihm nicht die Hand. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte sie. »Ich weiß. Aber ich konnte nicht anders!« Ein neuer Ton in seiner Stimme machte sie aufmerksam. »Eva«, sagte sie, »willst du bitte Mutter einen Gefallen tun und für ein paar Minuten in die Küche gehen, ja? Ich glaube, Onkel Harald möchte mir etwas sagen . ..« »Was denn? Ein Geheimnis?« »Ja.« »Für meinen Geburtstag?« »Vielleicht, Liebling. Geh jetzt, bitte, in die Küche, ich rufe dich dann, wenn du wieder hereinkommen kannst,
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ja?« Sie strich ihrer kleinen Tochter zärtlich durch das lockige, verwuschelte Haar. »Ich habe mit Professor Kortner gesprochen«, sagte Harald Spielmann, kaum das Eva die Tür ins Schloß gezogen hatte. »Ja?« »Er sagt. . . ach, Daniela, es ist zu schrecklich!« Er schlug die Hände vors Gesicht, seine breiten Schultern bebten. Sie fragte nichts, wartete ab, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Ihr . . . ihr Bewußtsein ist getrübt!« sagte er endlich. Daniela zog die Augenbrauen zusammen. »Was soll das heißen?« »Sie ist wieder zu sich gekommen . ..« »Ja, das weiß ich. Gestern nacht. Ich war dabei.« »Aber ... sie ist noch nicht ganz da. Sie spricht nichts, und man weiß nicht, ob sie etwas versteht.« »Deshalb würde ich an deiner Stelle nicht so erschreckt sein, Harald«, sagte Daniela beruhigend. »Du darfst nicht vergessen, daß deine Frau einen gewaltigen Schock bekommen hat. Durch den Unfall. . . vielleicht sogar schon vorher. Es kann eine Zeit dauern, bis sie das überwunden hat.« »Das meint der Professor auch.« »Na siehst du!« »Ja, aber, ich .. . er ist nicht ganz sicher. Er sagt, es könnte sich möglicherweise auch um eine Schädigung
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des Gehirns handeln. Bitte, Daniela, sag mir ganz ehrlich, was glaubst du?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin keine Ärztin, Harald. Ich kann keine Diagnosen stellen!« »Aber du hast schon so viele Kranke gepflegt... auch Schwerverletzte nach Unfällen ! Du mußt doch ... ein Gefühl für die Sache haben!« »Weißt du, mit Gefühlen kann man in der Medizin nicht sehr viel anfangen ...« »Du weichst mir aus!« »Nein ... warum sollte ich?« »Weil du nicht die Wahrheit sagen willst.« »Ich bitte dich, Harald, werd jetzt nicht auch noch hysterisch. Die ganze Sache ist schrecklich genug. Es ist durchaus nicht nötig, gleich das Schlimmste anzunehmen.« »Aber... wenn ... wenn es doch eintrifft... daß sie nie wieder normal wird?« »Was soll ich dir darauf antworten?« »Niemand kann mir zumuten, daß ich mit einer Irrsinnigen weiter zusammenlebe !« »Mit einer Kranken, Harald.« »Es ist also wahr?« Er schrie es fast. »Bitte, Harald, nicht so laut!« sagte sie nervös. »Denk an das Kind!« Er trat auf sie zu, packte sie bei den Schultern. »Ich könnte es nicht ertragen, Daniela, glaub mir, ich könnte es nicht!«
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Sie sah sein blasses, verzerrtes Gesicht sehr nahe vor sich. »Bitte, laß mich los !« Er ließ die Hände sinken, starrte dumpf vor sich hin. »Harald«, sagte sie, »warum bist du zu mir gekommen? Was erwartest du von mir? Daß ich dich tröste?« »Daß du mir hilfst!« »Ich ... dir? Aber wie könnte ich das?« »Du weißt es.« »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie hilflos, dann stieg ein furchtbarer Verdacht in ihr auf. »Ich will dich nicht verstehen, bitte, Harald, bitte! Geh jetzt!« »Daniela«, sagte er direkt, »es liegt in deiner Hand... unser Glück! Es kann alles noch gut werden, glaub mir!« »Nein, Harald, nie! Du weißt nicht mehr, was du redest!« »Doch, Daniela. Doch. Ich weiß es ganz genau. Du mußt es tun, hörst du! Du mußt!« »Harald!« Sie wich entsetzt einen Schritt vor ihm zurück. »Wem tust du denn Unrecht, wenn du Irene von ihrem Leiden erlöst. Niemandem! Du hilfst ihr ja nur. Glaubst du, daß sie selber das Leben einer. .. einer Blöden führen möchte? Du tust es ja nur für Irene ... und für uns beide. Ich bitte dich, ich flehe dich an!« »Verlaß sofort dieses Zimmer!« »Ich soll gehen, ja! Aus deinem Leben verschwinden. Das ist es doch, was du dir wünschst?! Aber so einfach geht das nicht, meine Liebe. Hast du vergessen, wie oft du mir geschworen hast, daß du mich liebst? Jetzt auf 41
einmal soll das alles nicht mehr gelten, nur weil ich ein Opfer ... ein kleines Opfer von dir fordere?!« »Was du verlangst ist... Mord!« Sein Gesicht verfärbte sich. Sie spürte, daß sie ihn mit diesem Wort getroffen hatte. Aber schneller, als sie gedacht hatte, faßte er sich wieder. »Nenn es, wie du es willst. Es ist die einzig mögliche Lösung.« Daniela zwang sich zur Ruhe. »Du bist jetzt verstört, Harald. Du bist außer dir, sonst könntest du nicht so reden. Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, daß ich es nie tun würde! Nie und unter keinen Umständen!« »Wirklich nicht?« Ein höhnisches, verzweifeltes Lächeln verzerrte seine Züge. »Das wollen wir sehen.« Er wandte sich zur Tür. Sie wußte, er wartete jetzt, daß sie ihn zurückrufen würde. Aber seine Drohung schreckte sie nicht. Sie hatte nur den einen Wunsch, endlich von ihm allein gelassen zu werden. Aber er ging noch nicht. Zwei Schritte, bevor er die Tür erreicht hätte, drehte er sich um. »Du vergißt, daß du es bist, die an allem schuld ist«, sagte er. Sie schwieg, sah ihn nur an. »Wenn du nicht in mein Leben getreten wärst. Wenn du es nicht von Anfang an darauf angelegt hättest, mich einzufangen... all das wäre nie passiert. Ich hätte niemals daran gedacht, Irene zu verlassen. Sie wäre gesund und ich... ein glücklicher Mensch !« 42
Als Daniela an diesem Abend das Bruder-KlausKrankenhaus betrat, rief der Pförtner hinter ihr her: »Hallo Schwester. ..« Sie drehte sich um, kam die wenigen Schritte zurück. »Ja?« »Ich soll Ihnen was ausrichten, Schwester! Vom Herrn Professor. Er bittet Sie, heute nacht Dienst auf seiner Station zu machen... das Wachzimmer ist nämlich schon leer.« .»Leer?!« Daniela erschrak. »Ja, die Patientin ist auf die Privatstation übernommen worden!« »Ach so. Vielen Dank, Herr Siegel!« Daniela nickte dem Pförtner zu, dann schritt sie weiter den langen, glänzend gebohnerten Gang entlang, fuhr mit dem Lift nach oben. Schwester Berta empfing sie im Schwesternzimmer. »Ich habe gerade die Medikamente für die Nacht verteilt«, sagte sie, »es sind noch die alten Fälle, nur eine Niere ist dazugekommen, eine Frau Höger. Sie hat Schmerzen. Wenn es ihr in der Nacht sehr schlecht gehen sollte, können Sie ihr noch einmal Morphium geben. Dann haben wir natürlich den Schädelbruch, aber den kennen Sie ja schon aus dem Wachzimmer!« »Wie geht es Frau Spielmann?« fragte Daniela. »Die Oberschenkelfraktur verheilt gut, und überhaupt, das Allgemeinbefinden hat sich sehr gebessert, nur, sprechen tut sie noch immer nicht.« »Ob sie versteht?« 43
»Ich weiß nicht. Ich sage immer, wenn erst mal der Schädel kaputt gewesen ist, bleibt immer was übrig.« »Aber, Berta, wie können Sie denn ...« »Regen Sie sich nur nicht gleich auf, ich sag’s ja nur so. Schließlich bin ich kein Arzt... Gott sei Dank, kann ich nur sagen.« Schwester Daniela hatte sich ausgezogen und den Mantel über einen Bügel gehängt. »Einer wird sich ja heute freuen, daß Sie wieder da sind!« sagte Schwester Berta augenzwinkernd. »So?« Daniela steckte eine widerspenstige Locke unter das weiße Häubchen. »Sie wissen schon, wen ich meine!« »Ich gebe mir Mühe, mit allen Patienten einen guten Kontakt zu bekommen«, sagte Daniela. »Gut gesagt.« Berta lachte. »Aber mit manchen geht’s eben doch besser und mit manchen weniger. In Roy Erichson haben Sie jedenfalls einen heißen Verehrer gefunden!« »Unsinn!« sagte Schwester Daniela schärfer, als sie beabsichtigt hatte, und fügte entschuldigend hinzu: »Sie wissen, ich kann diese Art Witze schlecht vertragen.« »Es ist gar kein Witz. Mindestens fünfmal hat er mich inzwischen gelöchert, wo Sie stecken und warum Sie nicht wieder auf die Privatstation kommen!« »Und was haben Sie ihm gesagt?« »Daß Sie die Weihnachtsfeiertage beurlaubt waren. Wissen Sie, ich hielt es nicht für richtig, ihm die Sache mit der Schädeloperation auf die Nase zu binden. Manche Patienten erschreckt so etwas!« 44
»Sehr richtig. Aber gut, daß ich es jetzt weiß . .. sonst hätte es vielleicht peinlich werden können.« Während Schwester Berta sich noch hinsetzte und ihren Bericht zu Ende schrieb, ging Schwester Daniela von Zimmer zu Zimmer, um guten Abend zu sagen. Als erstes schaute sie zu dem kleinen Mädchen hinein, das zwei Tage vor dem Heiligen Abend am Blinddarm hatte operiert werden müssen. »Guten Abend, Ulli«, sagte sie freundlich. »Gut siehst du aus! Ich könnte mir denken, daß du bald wieder nach Hause darfst.« »Warum waren Sie gestern nicht da, Schwester? Sie hatten doch versprochen, mir eine schöne Geschichte zu erzählen?« »Sei mir nicht böse, heute holen wir’s nach, ja? Sobald ich Zeit habe, komme ich zu dir!« »Au fein! Wissen Sie nämlich, Schwester... gerade an Weihnachten krank zu sein, das ist gar nicht lustig.« Schwester Daniela trat ins Nebenzimmer, wo die nierenkranke Patientin lag. »Guten Abend, Frau Höger«, sagte Daniela, »ich bin die Nachtschwester. Wenn Sie einen Wunsch haben... Sie dürfen jederzeit klingeln.« »Mir geht es ganz gut«, sagte die Patientin. Ihr Blick war ein wenig verschwommen. Es war noch nicht lange her, seit sie ihre letzte Spritze bekommen hatte. »Das freut mich. Ich schaue auf alle Fälle nachher noch einmal bei Ihnen herein!« Mit freundlichem Nicken verließ Daniela das Zimmer. Draußen blieb sie vor der Tür des Filmschauspielers zögernd stehen. Dann ging sie vorbei. Es hatte sie Kraft 45
genug gekostet, für die Sorgen der Kranken aufnahmefähig zu sein, während es ihr selber so schwer ums Herz war. Den Spaßen und den Komplimenten Roy Erichsons fühlte sie sich beim besten Willen nicht gewachsen. Ganz zuletzt trat sie in das Zimmer der Patientin Irene Spielmann. Mit einem Blick stellte sie fest, daß die Schwerkranke sich gut erholt hatte. Ihre Züge wirkten entspannt, fast ein wenig voller, die Farbe war besser geworden. Aber auf ihre deutliche und freundliche Begrüßung erhielt sie keine Antwort. Schwester Daniela studierte das Krankenblatt, stellte fest, daß Puls, Atmung und Blutdruck sich fast normalisiert hatten. »Es freut mich wirklich, daß es Ihnen soviel besser geht, Frau Spielmann«, sagte sie. »Es ist ja fast ein Wunder, wie schnell Sie sich erholt haben.« Sie ließ während dieser Worte die Kranke keine Sekunde aus den Augen. Frau Spielmann sah sie nur an, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen. »Wenn Sie Schmerzen haben oder irgendeinen Wunsch ...« Daniela trat näher an das Bett, »sehen Sie, hier ist die Klingel. Sie brauchen nur darauf zu drücken, ein paar Sekunden später bin ich bei Ihnen!« Immer noch sprach Frau Spielmann kein Wort, zuckte mit keiner Wimper. Dennoch hatte Daniela plötzlich das Gefühl, daß sie sehr wohl verstand, was man zu ihr sagte. War es möglich, daß sie nicht reagieren wollte? »Hat Ihr Mann Sie schon besuchen dürfen?« fragte Daniela. 46
Ihr schien es, als wenn bei dieser Frage die Pupillen der Patientin zuckten. Aber nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte diese Wahrnehmung, dann schloß Frau Spielmann wie ermattet die Augen. »Er macht sich große Sorgen um Sie«, fuhr Daniela fort, »wie sehr wird er sich freuen, wenn er hört, daß es Ihnen soviel besser geht.« Das Gesicht der Patientin glich einer starren Maske. Daniela konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Die Tür öffnete sich unerwartet, und Schwester Berta steckte ihren Kopf ins Zimmer. »Ah, hier sind Sie! Ich habe schon Roy Erichson verdächtigt, daß er Sie versteckt hätte!« »Bitte, Berta!« Berta lachte. »Seien Sie doch nicht so empfindlich, man muß auch Spaß vertragen können!« Daniela folgte der Kollegin auf den Gang hinaus. »Schwerer Fall, wie?« fragte Berta mit einer Kopfbewegung zum Krankenzimmer hin. »Sehr merkwürdig!« sagte Daniela. »Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, daß sie. . . daß sie doch alles versteht, was man sagt?« »Könnte ich nicht behaupten. Allerdings ... ich habe gar nicht versucht, mich mit ihr zu unterhalten.« Berta übergab Daniela den Schlüssel zum Schrank mit den rezeptpflichtigen Medikamenten, dem »Giftschrank«, wie ihn die Schwestern unter sich nannten. »Die Liste liegt drinnen«, sagte sie. »Ist noch was unklar?« 47
Daniela schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Berta!« Sie hatte das Gefühl, Schwester Berta durch ihre Überempfindlichkeit verletzt zu haben und fügte versöhnlich hinzu: »Sie werden sich auch freuen, wenn wieder etwas mehr Betrieb auf der Station ist, nicht wahr? Den ganzen Tag allein zu arbeiten, das ist sicher kein Spaß.« Schwester Berta zuckte die runden Schultern. »Ach, mir macht’s nichts aus. Schließlich .. . für lange Zeit ist es sowieso nicht mehr.« »Nicht?« fragte Daniela erstaunt. »Wollen Sie etwa fort?« Berta errötete überraschend. »Ich habe nichts gesagt.« »Doch. Sie haben eine Andeutung gemacht, als ob . . .« »Na und? Haben Sie etwa vor... ewig als Schwester zu arbeiten?« Bertas Stimme hatte so gereizt geklungen, daß Daniela rasch einlenkte: »Entschuldigen Sie meine Neugier!« sagte sie, »das ist natürlich einzig und allein Ihre Sache!« Sie half Schwester Berta in den Mantel, sah nachdenklich hinter ihr her, als sie mit raschen, energischen Schritten den Gang hinunterschritt. Aber kaum daß die schwere Glastür, die die Privatstation mit dem übrigen Krankenhaus verband, hinter ihr zugefallen war, hatte Daniela schon Schwester Berta und alles, was mit ihr zusammenhing, vergessen. Ihre eigenen ungelösten Probleme nahmen sie wieder ganz gefangen. Als Schwester Daniela das Krankenzimmer – Ulli hatte sie ganz unnötigerweise gerufen – verließ, sah sie über48
rascht zwei Herren in Ärztekitteln auf dem Gang stehen. Sie erkannte Dr. Wörgel und Professor Kortner. Es war ganz ungewöhnlich, daß Professor Kortner um diese Stunde – es war fast zehn Uhr abends – noch Visite machte. Eisiger Schreck fuhr in Danielas Herz. Ob mit Frau Spielmann etwas geschehen war? Aber das hätte sie doch als erste wissen müssen. Grüßend ging sie an den beiden Herren vorbei, mußte sich zurückhalten, nichts zu fragen. Dr. Wörgel nickte ihr freundlich zu; beide beachteten sie nicht weiter. Daniela ließ die Tür des Schwesternzimmers offen und setzte sich an den Schreibtisch. Die Ärzte sprachen gedämpft – nicht ihretwegen, das wußte sie, sondern um die Patienten nicht zu stören. Niemand hätte etwas dabei gefunden, daß sie sich für das sachliche Gespräch interessierte. Dennoch fühlte sie sich wie eine unbefugte Lauscherin. »Ganz recht, Herr Professor, es wird uns nichts anderes übrigbleiben«, war das erste, was sie verstand; aber sie begriff nicht, auf was Doktor Wörgel damit anspielte. »Ich kann und kann es mir nicht erklären«, sagte der Professor, »bei der Operation ergab sich doch ein durchaus günstiges Bild. Die Schädeldecke ist gebrochen, ja, aber keineswegs gesplittert, die Dura völlig unverletzt. Mehr Sorgen als die Schädelfraktur hat mir, ehrlich gestanden, die Konstitution der Kranken gemacht. Und nun dies! Ich stehe vor einem Rätsel!«
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»Wir sind auf derartige Fälle nicht eingerichtet«, sagte Dr. Wörgel, »nur auf einer Gehirnstation ist eine wirklich genaue Diagnostizierung möglich.« »Ich weiß. Mit Hilfe von Kontrastdarstellungen käme man natürlich ein gutes Stück weiter. Nur ... ich bin doch schließlich kein Anfänger mehr! Ich muß doch wissen, was ich operiert habe, sonst müßte ich an mir selber zweifeln!« »Es gibt immer sehr außerordentliche und ganz und gar ungewöhnliche Fälle, Herr Professor.« »Wem sagen Sie das?« Professor Kortners Stimme klang ungeduldig. »Schließlich bin ich auch kein Gehirnchirurg im engeren Sinne. Ich hätte nicht einmal diese Operation durchgeführt, wenn mir nicht Eile notwendig erschienen wäre. In jedem Lehrbuch steht, daß man auch bei äußerlich günstig verlaufenen Fällen mit einer Gehirnschädigung rechnen muß. Ich weiß das alles! Aber es leuchtet mir nicht ein! Irgend etwas ist faul an dieser Sache, glauben Sie mir, Kollege. Ich spüre das. Ich rieche es förmlich, und ich habe mich bisher immer noch auf meinen Instinkt verlassen können.« »Daß ein Schock als solcher so lange andauern könnte, ist schwer denkbar«, sagte Dr. Wörgel. »Sie haben sich doch sicher mit ihrem Mann unterhalten. Was meint denn der?« Obwohl niemand sie sehen konnte, errötete Schwester Daniela, als die Rede auf Harald Spielmann kam. »Ein ganz undurchsichtiger Bursche«, sagte der Professor, »spielt den absolut Ahnungslosen und kann sich angeb50
lich nicht vorstellen, was die Frau ausgerechnet am Heiligen Abend zu dieser irrsinnigen Fahrerei veranlaßt haben könnte! Sie hat ja hundert Sachen draufgehabt, wie das polizeiliche Protokoll angibt.. . hundert Sachen, und das mitten in der Stadt. Aber dieser Herr Spielmann weiß von nichts und kann sich auch beim besten Willen keine Ursache vorstellen.« »Sie meinen, er hält etwas zurück?« »Ganz bestimmt. Daran besteht gar kein Zweifel. Die Frage ist nur, ob das, was er uns nicht sagen will, wesentlich für den Fall ist.« »Wie wär’s, wenn Sie die beiden konfrontierten?« »Habe ich auch schon dran gedacht, nur. .. ich verspreche mir nicht allzuviel davon.« »Man sollte es aber doch versuchen. Natürlich nur... könnte ein neuer Schock sich nicht vielleicht noch schädlicher auf das Befinden der Patientin auswirken?« »Nur keine Bange, Kollege! Ich würde alles begrüßen, was imstande ist, die Patientin aus ihrer Apathie zu reißen. Man kann eine Wunde nur heilen, wenn man weiß, wo sie sitzt!« Was Dr. Wörgel darauf antwortete, konnte Schwester Daniela nicht mehr verstehen, denn die beiden Ärzte entfernten sich durch die Glastür. Unwillkürlich sprang sie auf, um ihnen nachzulaufen aber im letzten Moment verließ sie der Mut. Was hätte sie fragen, was sagen sollen? Unmöglich konnte sie die Wahrheit bekennen.
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Ihr Verstand sagte ihr, daß es das Beste war, gar nichts zu tun, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sie glaubte nicht daran, daß Irene Spielmann beim Wiedersehen mit ihrem Mann ein Zeichen des Erkennens geben würde. Wahrscheinlich Würde sie schon morgen abend nicht mehr auf der Privatstation liegen, sondern in eine neurochirurgische Klinik überführt sein. War es so wirklich nicht das Beste? Wenn sie Irene Spielmann nicht mehr sah, vielleicht würde sie sie vergessen können, sie und Harald. Noch war sie jung, und das Leben lag vor ihr mit all seinen Überraschungen und Verheißungen. Ihre Liebe zu Harald war ein Irrtum gewesen. Konnte man diesen Irrtum nicht einfach ausstreichen? Noch während Daniela dies dachte, spürte sie in ihrem Herzen, daß sie nicht dazu fähig war. Sie fühlte sich für die schwerkranke Frau verantwortlich, überzeugt, daß ihre Liebe schuld am Unglück der anderen war. Aber wenn sie sich irrte? Wenn Irene Spielmann gar nichts von ihrer Existenz ahnte? Wenn ihre Liebe in keinem Zusammenhang mit jenem Unglücksfall stand? Wie elektrisiert sprang Schwester Daniela auf. Sie mußte es wissen. Sie konnte es erfahren. Jetzt. Sofort. Sie lief über den Gang in das Zimmer Irene Spielmanns, und erst, als sie die Tür schon geöffnet hatte, kam ihr der Gedanke, daß die Patientin vielleicht schlafen könnte. Aber sie tat es nicht. Irene Spielmann blickte Schwester Daniela aus großen glanzlosen Augen entgegen. 52
»Oh, ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt«, sagte Daniela und preßte unwillkürlich die Hand auf das klopfende Herz. »Es ist nur... ich muß Ihnen etwas sagen, Frau Spielmann!« Das Gesicht der Patientin blieb völlig gleichgültig. »Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Schwester Daniela!« Nach einer kleinen erwartungsvollen Pause fügte sie hinzu: »Daniela Kreuzer!« Es schien Daniela, als wenn ein flüchtiges Rot die Wangen der Kranken färbte, aber sie konnte es im ungewissen Licht der kleinen Nachttischlampe nicht genau feststellen. »Ich kenne Ihren Mann«, sagte sie, »Harald Spielmann... nicht wahr, er ist Ihr Mann. Ich habe ihn diesen Sommer kennengelernt. Im August. Aber ich schwöre Ihnen... ich wußte nicht, daß er verheiratet ist. Ich wußte es nicht!« Die Patientin öffnete die Lippen. Gespannt starrte Schwester Daniela sie an. Ein schweres Keuchen entrang sich Irene Spielmanns Brust. Dann stieß sie mit heiserer, fast krächzender Stimme hervor: »Sie lügen!« Die Anklage traf Daniela wie ein Peitschenhieb. Die Patientin drückte wild auf die Klingel. »Gehen Sie! Gehen Sie !« schrie sie. »Hinaus mit Ihnen .. . oder ich schreie um Hilfe!« »Bitte, Frau Spielmann, bitte, glauben Sie mir doch . . .« »Nein! Mir können Sie nichts vormachen! Sie sind schuld. Sie allein! Sie ... Flittchen!«
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Ganz überraschend sprang die Kranke mit beiden Beinen aus dem Bett, stürzte, die mageren Hände zu Krallen erhoben, auf Daniela zu. Die Schwester reagierte blitzschnell. Mit einem JiuJitsu-Griff zwang sie die Kranke zu Boden, unentwegt beruhigend auf sie einsprechend. Aber sie erreichte nichts damit. Zwar war die Rasende in ihrer Gewalt, sie konnte ihr jetzt nicht gefährlich werden, aber sie hörte nicht auf, sich zu wehren, versuchte zu beißen, stieß wild mit den Beinen in die Luft, schrie gellend. Daniela war verzweifelt vor Entsetzen und Ratlosigkeit. Dann fiel ihr die Spritze ein – die Spritze, die sie schon für Frau Höger mit Morphium aufgezogen und in die Tasche gesteckt hatte. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihr, die Kranke mit der linken Hand zu bändigen, mit der rechten stieß sie blitzschnell die Spritze in den nackten Oberarm. Zehn Minuten dauerte es, bis das Morphium zu wirken begann – zehn Minuten, die für Schwester Daniela zu einer Ewigkeit wurden. Die Kranke ließ nicht davon ab, sich gegen sie zu sträuben, stieß wüste Beschimpfungen aus. Dann allmählich ging es vorbei. Die Stimme der Schwerkranken wurde leiser, immer häufiger fielen ihr die Augen zu, die Befreiungsversuche wurden schwächer. Aber Daniela Wagte nicht sie loszulassen, bevor sie ganz eingeschlafen war. Sie hatte Angst, daß Irene Spielmann es mit einem Trick versuchen könnte. Sie 54
war sich darüber klargeworden, daß es in diesem Kampf um ihr Leben ging. Als sie dann endlich den schlaff gewordenen Körper der Patientin wieder betten konnte, atmete sie auf. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie war seelisch und körperlich am Ende ihrer Kräfte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Tragweite des Geschehens begriff. Sie hatte sich nicht geirrt, Irene Spielmann hatte von Haralds Liebe zu ihr erfahren. Deshalb war sie wie eine Wahnsinnige mit dem Auto durch die abendlichen Straßen gebraust. Vielleicht hatte sie sogar bewußt den Tod gesucht. Und sie – Daniela – war schuld. Ohne ganz zu wissen, was sie tat, verließ Schwester Daniela das Krankenzimmer. Sie bewegte sich auf eine seltsam gleitende, automatische Art wie eine Nachtwandlerin. Im Schwesternzimmer brach sie zusammen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Tränen der Scham und der Verzweiflung liefen ihr über die Wangen. Sie schluchzte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Schwester Daniela sich beruhigt hatte. Dann ging sie zum Waschbecken, drehte den Hahn weit auf, erfrischte Gesicht und Augen mit kaltem Wasser, bürstete sich gründlich die Hände. Sie trocknete sich ab, sah in den Spiegel – aber auf ihrer Stirn war kein Zeichen irgendeiner Schuld zu sehen. Sie wirkte ganz wie immer, eher etwas jünger, fast schulmädchenhaft mit den vom Weinen geröteten Augen, vom Waschen rosig umhauchten Wangen. 55
Kurz vor Mitternacht kam Dr. Wörgel. Er sah blaß und übernächtig aus. »Ich wäre schon eher gekommen«, sagte er fast entschuldigend, »aber es war allerhand los heute nacht!« »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee machen?« fragte Daniela. Er sah sie überrascht an. »Wahrhaftig? Das ist aber mal nett von Ihnen!« Daniela zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ich brauche Ihren Rat, Herr Doktor!« »Können Sie haben. Um was geht es?« »Es ist... ziemlich schlimm!« Daniela wußte nicht, wie sie anfangen sollte. »Hängt es mit Irene Spielmann zusammen?« »Ja!« sagte Daniela erstaunt. »Woher wissen Sie?« »Ich habe so meine kleinen Beobachtungen gemacht. Natürlich ist es auch durchaus möglich, daß ich mich getäuscht habe. Sie kennen diese Frau also doch?« »Nein, Herr Doktor. Ich habe Sie nicht belogen. Ich habe Frau Spielmann das erstemal gesehen, als sie schon im Wachzimmer lag. Aber . .. ich kenne ihren Mann.« Sie schwieg. Dr. Wörgel zündete sich, ohne sie anzusehen, eine Zigarette an. »Reden Sie weiter!« sagte er mit einer Gelassenheit, die erzwungen klang. »Ich hatte nicht gewußt, daß er verheiratet ist«, sagte Daniela. »Sie müssen mir glauben, daß ich es nicht gewußt habe!« »Was weiter?« fragte er kühl. 56
»Nun jetzt.. . begreifen Sie denn nicht, daß ich in einen entsetzlichen Konflikt geraten bin?« sagte sie verzweifelt. »Wollen Sie sagen, daß Sie sich nicht imstande fühlen, ihre Rivalin zu pflegen?« »Aber nein, Herr Doktor, was denken Sie denn?« »Oder wollen Sie einen Rat von mir haben, wie man Frau Spielmann dahin bringen kann, sich scheiden zu lassen?« »Herr Doktor!« Warmes Rot schoß Schwester Daniela in die Wangen. »Tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe.« Schwester Daniela holte tief Luft, zwang sich zur Ruhe. »Schon gut«, sagte sie mit einem gequälten Lächeln, »schweigen wir darüber.« Sie trat zu dem elektrischen Kocher, nahm den Deckel vom Topf. »Das Wasser kocht gleich, in ein paar Minuten haben Sie Ihren Kaffee!« »War das alles, was Sie mir sagen wollten?« Daniela sah ihn mit einem großen Blick ihrer sehr dunkelblauen Augen an. »Nein, ich fürchte, es ist sinnlos!« »Warum?« »Sie wissen es. Warum fragen Sie also. Ich... sehen Sie, Herr Doktor, ich stehe ganz allein auf der Welt. Außer meiner kleinen Tochter habe ich niemanden, und Eva ist jetzt erst fünf Jahre alt. Ich sage Ihnen das, damit Sie mir verzeihen, daß ich Sie mit meinen Sorgen belästigen wollte.«
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»Daniela!« Er stand auf und kam auf sie zu. »Sie sollten doch wissen, daß ich immer für Sie da bin!« »Ich hatte es geglaubt.« Daniela senkte den Kopf. »Sie glauben, daß ich Sie nicht verstehen kann, nicht wahr? Aber Sie irren sich, Schwester Daniela... ich kann alles nur zu gut verstehen. Aber... Sie müssen sich auch in meine Lage versetzen. Ich hätte niemals geglaubt, daß ausgerechnet Sie...« »Ich habe Harald Spielmann geliebt«, sagte Schwester Daniela mit fester Stimme. »Verzeihen Sie!« Dr. Wörgel strich sich nervös mit der Hand über die Stirn. »Ich weiß, ich bin ungerecht... wahrscheinlich kommt es nur daher, daß ich mich erschöpft fühle. Dies scheint mir wirklich keine günstige Stunde für ein ernsthaftes Gespräch zu sein.« »Aber Sie müssen es wissen!« sagte Daniela mit plötzlichem Entschluß. »Es geht Sie an. Nicht nur als Mensch, sondern als Arzt! Die Patientin hat mich erkannt!« »Was?« »Ja. Sie weiß, wer ich bin!« »Daniela!« Tiefe Enttäuschung klang aus Dr. Wörgels Stimme. »Sie haben doch eben behauptet, Sie hätten gar nicht gewußt...« »Das stimmt auch. Ich hatte keine Ahnung, daß er verheiratet war. Begreifen Sie doch ...« »Nein, das kann ich nicht. Was Sie mir da erzählen, klingt absolut konfus und unglaublich! Woher sollte die Patientin denn wissen, daß Sie... nein, Daniela, bei allem Verständnis, das kann ich Ihnen nicht glauben.« 58
»Ich habe es ihr gesagt!« Dr. Wörgel sah Schwester Daniela mit einem seltsamen Blick an. Es schien, als wenn er etwas sagen wollte, dann aber biß er sich nur auf die Lippen. Sie wandte sich von ihm ab, um ihm Gelegenheit zu geben, mit ihrer Mitteilung fertig zu werden. Das Wasser kochte, sie spülte die Kanne heiß aus, tat ein paar Löffel Kaffeepulver hinein, schüttete Wasser auf. Sie stellte eine Tasse für Dr. Wörgel und eine für sich selber auf den Schreibtisch, eine Schale Zucker und ein Döschen Kondensmilch dazu. »Wollen wir uns nicht setzen?« fragte sie, und zog sich einen Stuhl heran. »Trinken Sie, bitte, Herr Doktor.« Er trat näher, blieb aber dann, anstatt sich zu setzen, nahe bei ihr stehen, starrte sie an. Die Hände auf dem Rücken, fragte er: »Warum haben Sie das getan?« »Weil ich es wissen mußte!« sagte sie. »Ob die Patientin von den Beziehungen ihres Mannes zu mir etwas ahnte... verstehen Sie denn nicht, daß das ungeheuer wichtig für mich war?« »Sind Sie sicher, daß sie Sie überhaupt verstanden hat?« »O ja! Deshalb erzähle ich Ihnen ja das alles. Weil ich meine, daß Sie es wissen müßten... Sie als Arzt. Die Patientin hat mich verstanden, sie hat reagiert.« »In welcher Form?« »Sie hat zu mir gesprochen!« Mit einem gequälten Lächeln fügte Daniela hinzu: »Genauer gesagt... geschrien!«
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Dr. Wörgel ließ die Kaffeetasse unberührt stehen. Er begann mit heftigen Schritten in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. »Sie wissen hoffentlich, daß Ihr Vorgehen unverantwortlich war!« sagte er scharf. »Als Krankenschwester haben Sie die Pflicht, die Ihnen anvertrauten Patienten zu pflegen, nicht aber... sie mutwillig aufzuregen ! Ich muß jetzt sofort.. .« Er ging zur Tür. Schwester Daniela stand auf. »Wohin wollen Sie?« »Zu der Patientin natürlich!« »Nicht nötig. Ich habe ihr eine Morphiumspritze gegeben.« Als sie seinen erstaunten, fast kalten Blick sah, fügte sie hinzu: »Ich mußte es tun. Sie ... sie wurde tätlich!« »Eine feine Geschichte. Das haben Sie wahrhaftig großartig gemacht! Wie, glauben Sie nun, soll es weitergehen?« »Ich möchte kündigen«, sagte Schwester Daniela mit steifen Lippen. »Fliehen also! Sich der Verantwortung entziehen? Na, ich kann Sie nur warnen! Das wird ein feines Zeugnis, das Ihnen die Krankenhausleitung dafür geben muß!« »Ich habe nicht vor, länger als Schwester zu arbeiten.« »Nun hören Sie mal, finden Sie nicht auch, daß Sie jetzt ein bißchen übertreiben?« »Nein. Ich weiß genau, was ich tue.« »Schwester Daniela ... es scheint, Sie haben mich falsch verstanden! Möglicherweise bin ich zu grob mit Ihnen gewesen .. . das sollte mir leid tun ...«
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»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Herr Doktor .. . eigentlich stand mein Entschluß schon fest, bevor ich mit Ihnen gesprochen habe!« »Ja, warum zum Teufel, haben Sie mich dann überhaupt in diese Sache hineingezogen?« »Hineingezogen? Ich brauchte einen Menschen, mit dem ich darüber sprechen konnte ... außerdem war ich überzeugt, daß Sie als Arzt wissen sollten, wie es tatsächlich um die Patientin steht.« Sie sah, daß auf der Klingeltafel ein rotes Licht aufleuchtete. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie rasch, »das ist Frau Höger. Wahrscheinlich hat sie Schmerzen!« Sie schloß den Giftschrank auf, nahm eine Ampulle Morphium heraus, notierte es auf der Liste, schloß den Schrank wieder ab, nahm eine sterilisierte Spritze und verließ das Schwesternzimmer. Als sie nach knappen zehn Minuten zurückkam, war Dr. Wörgel gegangen. IV Schwester Daniela liebte ihren Beruf sehr. Das Gefühl, gebraucht zu werden – in einem tiefen, wahrhaft menschlichen Sinn – hatte sie immer wieder beglückt. Sie hatte geglaubt, zur Krankenschwester berufen zu sein. Die Ereignisse des heutigen Abends hatten sie an sich selbst irre werden lassen. Dr. Wörgels harte Worte taten ein Übriges. Da er sie schon verurteilte, obwohl er doch 61
nur einen Bruchteil der Wahrheit kannte – wie würde er erst über sie denken, wenn er alles gewußt hätte? Schwester Daniela war überzeugt, versagt zu haben. Sie fühlte sich nicht mehr würdig, die Schwesterntracht zu tragen. Sie glaubte, nachdem, was heute nacht geschehen war, keinem Menschen mehr ins Gesicht blicken zu können. Was sie Dr. Wörgel gesagt hatte, waren keine leeren Worte gewesen. Sie war entschlossen, zu kündigen und sich einen neuen Beruf zu suchen. Die düsteren Nachtgedanken vergingen auch nicht im fahlen Dämmerlicht des Wintermorgens. Am liebsten würde sie gleich der Krankenhausverwaltung ihren Entschluß mitgeteilt haben, aber die Büros waren morgens um sechs, als sie das Haus verließ, noch geschlossen. Eva bemerkte sofort, daß die Mutter von irgend etwas bedrückt wurde. Sie war rücksichtsvoll, fragte nichts, redete sogar weniger als sonst und dämpfte beim Spiel ihre Stimme. Wieder einmal kam Daniela schmerzlich zu Bewußtsein, daß ihre kleine Tochter reif über ihr Alter hinaus war, viel zu einsichtig und viel zu erwachsen. Sie wußte, daß es ihre Schuld war. Sie hatte Eva niemals das Gefühl von Geborgenheit vermitteln können, was ein kleines Kind notwendiger braucht als Essen und Trinken. Um Evas willen hatte sie es seit Jahren vorgezogen, bei Nacht zu arbeiten, statt bei Tag. Aber war das für Eva wirklich ein Gewinn? Wenn Daniela von ihrer Arbeit nach Hause kam, war sie erschöpft und verausgabt. Die 62
besten Stunden, die eigentlich ihrem Kind hätten gehören sollen, verschenkte sie an die Patienten. An diesem Tag überfiel Daniela zum erstenmal der Gedanke, ob es nicht doch besser gewesen wäre, ihre Ehe, die so unüberlegt geschlossen und so unüberlegt gescheitert war, aufrechtzuerhalten – um Evas willen? Wäre das Kind nicht glücklicher, sorgloser aufgewachsen in der Sicherheit einer Familie? Daniela dachte an Hans-Jörg, den sie, verliebt und unbekümmert, mit siebzehn geheiratet hatte, den Vater der kleinen Eva. Wie unbeschwert, wie sorglos hatten sie die Ringe gewechselt, wie heiter und selbstsicher hatten sie die Warnungen der Älteren in den Wind geschlagen. Katastrophenartig war die Enttäuschung über sie hereingebrochen. Spät, viel zu spät, mußten sie erkennen, daß keine einzige Voraussetzung für ihre Ehe stimmte. Sie hatten es sich so schön vorgestellt, endlich ganz beisammen zu sein, daß sie keine Sekunde daran gedacht hatten, es könnte schwierig werden, in einem einzigen möblierten Zimmer miteinander zu leben. Sie hatten nicht vorausgesehen, daß zwei Menschen, trotz aller Verliebtheit, sich gegenseitig so sehr auf die Nerven gehen können. Nach knapp sieben Monaten war ihre Ehe gescheitert. Hans-Jörg hatte sie nach einem entsetzlichen Streit verlassen und war nicht mehr zurückgekommen. Sie wußte, daß er zu seinen Eltern gegangen war, aber sie dachte nicht daran, ihn aufzusuchen und ihn zu versöhnen. Sie
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fühlte sich völlig im Recht, folgte ohne Bedenken dem Rat ihrer Wirtin und reichte die Scheidung ein. Hans-Jörg hatte niemals erfahren, daß sie ein Kind erwartete. Aus Trotz und Empörung hatte sie es ihm verschwiegen. Sie war fest entschlossen, allein für ihr Kind zu sorgen, und sie hatte es geschafft. Aber manchmal – und heute ganz besonders heftig – mußte sie denken, ob Mutterliebe einem Kind wirklich alles ersetzen kann? Familie? Den Vater? Geborgenheit? Sie sah ihre kleine Tochter immer wieder prüfend an. »Mein armer Schatz«, sagte sie mitleidig, als Eva nach dem Mittagessen ohne Aufforderung begann, den Tisch abzuräumen. »Warum bin ich arm?« »Weil du schon so tüchtig sein mußt. Andere Kinder haben es viel leichter.« Eva schüttelte energisch den Lockenkopf. »Glaub’ ich nicht, Mutti! Ich hab’ doch alles, was ich brauche!« »Aber ich habe so wenig Zeit für dich !« Eva hatte die Teller zum Spülbecken getragen, jetzt kam sie zum Tisch zurück. »Ja, das stimmt«, sagte sie, »und du bist immer so müde! Manchmal hörst du gar nicht zu, wenn ich dir etwas erzähle.« »Tut mir leid, mein armer Liebling, das mußt du mir glauben! Aber...«, Daniela zog ihre kleine Tochter näher an sich, »das soll von nun an anders werden.« »Wirklich?« fragte Eva, viel Unglauben in der Stimme. »Doch. Ganz bestimmt. Ich ... ich werde kündigen!« 64
»Mutti! Das glaub’ ich nicht!« »Aber ich sag’s dir ! Ich werde kündigen ! Ich habe es satt, als Krankenschwester zu arbeiten... noch dazu nachts, wo alle anderen Leute schlafen.« »Aber du hast mir doch immer gesagt, daß du Geld verdienen mußt!« »Da gibt’s sicher auch andere Möglichkeiten. Weißt du, Eva, ich werde versuchen, Arbeit in einem Kinderheim zu finden. . . wo du auch sein kannst. Die Wohnung hier geben wir natürlich auf ... und dann sind wir immer zusammen.« Eva machte sich von der Umarmung ihrer Mutter frei und räumte die Servietten in die Schublade. »Was ist los?« fragte Daniela. »Warum sagst du gar nichts? Würde dir das denn nicht gefallen?« »Doch, doch . ..« Evas Stimme klang gedehnt, »aber ich glaub’ nicht dran! Da wird doch nichts draus!« »Wenn ich’s dir sage! Paß nur auf, Eva, ich werde schon heute nachmittag zum Krankenhaus fahren und kündigen. Wir ziehen uns beide jetzt gleich an, ich bringe dich dann zu Rogners, da kannst du den Nachmittag mit deiner Freundin Irene spielen, und in ein oder zwei Stunden hole ich dich ab. Einverstanden?« Eva warf sich ihrer Mutter in die Arme. »O ja, Mutti, das wäre wunderbar!« Es war für Schwester Daniela ein seltsames Gefühl, das Bruder-Klaus-Krankenhaus am hellen Tag zu betreten. Es war vier Uhr nachmittags, Besuchszeit, und viele
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Angehörige nutzten die Gelegenheit, die Patienten zu besuchen. Daniela hatte absichtlich nicht ihre Schwesterntracht angelegt. Sie trug einen grauen Wintermantel mit einem kleinen Pelzbesatz am Kragen, den sie schon seit Jahren besaß, der aber immer noch sehr schick wirkte. Um die kastanienbraunen Locken hatte sie auf modische Art ein buntes Seidentuch geschlungen. Sie hatte sogar Puder und Lippenstift benutzt. Nichts an ihrem Auftreten und ihrer Kleidung erinnerte daran, daß sie Krankenschwester war. Kein Wunder, daß der Pförtner sie nicht erkannte. Daniela wollte mit einem kurzen Gruß an ihm vorbei, aber er rief sie zurück. »Ja . .. bitte?« fragte sie erstaunt. »Wohin wollen Sie?« »Zur Verwaltung!« »Sind Sie ...« Der Pförtner schüttelte den Kopf. »Nein, so etwas, Sie sind doch nicht etwa Schwester Daniela?« »Doch. Natürlich.« »Um ein Haar hätte ich Sie nicht erkannt! So etwas! Schwester Daniela in Zivil und dazu noch am hellen Tag!« »Also dann . ..« Schwester Daniela wandte sich zum Gehen. »Halt!« Der Pförtner wandte sich an ein Ehepaar, das hinter Daniela gekommen war. »Bitte, warten Sie einen Augenblick!« Zu Daniela: »Der Herr Professor hätte gerne mit Ihnen gesprochen!« »Wann?« 66
»Jetzt gleich, nehme ich an!« »Aber er kann doch gar nicht wissen, daß ich heute nachmittag hier bin!« »Egal. Hier liegt jedenfalls eine Mitteilung... Sie möchten zum Herrn Professor kommen, sobald Sie das Haus betreten.« »Na schön«, sagte Schwester Daniela. Zögernd ging Schwester Daniela den langen Gang entlang. Dann holte sie tief Luft, straffte die Schultern. Es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken. Sie mußte die Sache durchstehen. Sie wußte, daß sie sich besser fühlen würde, wenn sie erst die Vorwürfe des Professors über sich hatte ergehen lassen. Fräulein Onau, die Sekretärin, war gar nicht überrascht, als Daniela in der Anmeldung erschien. »Wenn Sie ein paar Minuten warten möchten«, sagte sie, »ich sage dem Herrn Professor sofort Bescheid!« Daniela stand in der Nähe des Schreibtisches, hörte mit an, wie Fräulein Onau Professor Kortner telefonisch ihre Anmeldung durchsagte. Dem Gesicht der Sekretärin war nichts zu entnehmen. »Setzen Sie sich bitte!« sagte Fräulein Onau freundlich und wandte sich dann wieder ihrer Schreibarbeit zu. Daniela war viel zu unruhig, um Platz zu nehmen. Aufgeregt ging sie im Zimmer hin und her. Dann klingelte das Telefon. Fräulein Onau nahm den Hörer ab. »Ja, Herr Professor!« Sie legte auf und sagte zu Daniela: »Sie können jetzt hineingehen, bitte!«
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Daniela empfand es selber als lächerlich und beschämend, aber sie konnte es nicht verhindern, daß ihr Herz bis zum Halse schlug. Der Professor saß an seinem riesigen, mit Papieren überladenen Schreibtisch, als sie eintrat. Er sah nicht einmal auf. »Machen Sie die Tür zu!« sagte er barsch, aber nicht unfreundlich. »Tür zumachen und näherkommen!« Zaghaft schritt Daniela über den mit dicken Teppichen belegten Boden, blieb einen Schritt vom Schreibtisch entfernt stehen, wartete. Der Professor kritzelte irgend etwas auf seinen Schreibblock, schien sehr beschäftigt dabei. Dann hob er plötzlich ganz unvermittelt den Kopf und sah sie an. Daniela glaubte ihren Augen nicht zu trauen, aber wahrhaftig, er verzog seinen vollen starken Mund zu einem herzlichen Lächeln. »Na, da sind Sie ja, Sie Teufelsmädel!« sagte er, stand hinter dem Schreibtisch auf, kam auf sie zu und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Nun verraten Sie mir bloß mal, wie Sie das gemacht haben!« »Was...?« »Na, wie Sie diese Frau Spielmann zur Vernunft gebracht haben ... zur Vernunft ist natürlich ein bißchen übertrieben. Sie ist ganz schön hysterisch, die Dame. Ich habe sie in die Nervenabteilung überführen lassen. Also los ... beichten Sie mal!« »Ich ... ja, hat denn Dr. Wörgel und hat die Patientin selber Ihnen nichts erzählt.. .?« 68
»Doch. Eine ganze Menge, aber alles ein bißchen durcheinander. Sie kenne ich als eine klardenkende Person. Also berichten Sie mir alles hübsch der Reihe nach. Es ist nämlich wichtig für mich, mein Mädchen. Ungeheuer wichtig!« Es blieb Daniela nichts anderes übrig. Erst unsicher, dann immer flüssiger begann sie zu erzählen, bemühte sich um jene sachliche Präzision, von der sie wußte, daß der Professor sie schätzte. Als sie bei dem Moment angelangt war, wo sie der Patientin die Spritze gegeben hatte, unterbrach er sie. »Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet ! Nur ... machen Sie so was nicht noch mal, wie! Ich weiß Ihre Initiative zu schätzen, aber die Sache hätte auch verdammt schiefgehen können. Es wäre entschieden besser gewesen, Sie hätten mich oder Dr. Wörgel vorher von Ihrer Absicht unterrichtet.« »Ich ahnte ja nicht. .. ich meine, ich habe nicht ernsthaft gedacht, daß sie überhaupt etwas sagen würde!« »Verstehe, verstehe durchaus. Es ist ja auch Quatsch, Ihnen nachträglich Vorwürfe zu machen, sowieso schon peinliche Situation für Sie. Sie ahnen ja nicht, was das Ganze für mich bedeutet. Wissen Sie, was Sie getan haben, Mädchen? Sie haben mir mein Selbstbewußtsein wiedergegeben. Ja, wahrhaftig, ich habe schon an meinem Verstand gezweifelt, hielt mich für einen schlechten Diagnostiker!« »Es weiß ja jeder, wie tüchtig Sie sind, Herr Professor!«
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»Daß die anderen es glauben, das nutzt einem nichts. Man selber muß es wissen .. . wissen, verstehen Sie, nicht etwa sich einbilden. Na ja ... eigentlich komisch, wie schnell einen etwas aus dem Konzept werfen kann.« Der Professor ging wieder um den Schreibtisch herum und nahm in seinem Sessel Platz. »Auf alle Fälle möchte ich Ihnen sagen ... ich bin sehr froh, daß wir Sie haben, Schwester Daniela!« Daniela gab sich einen Ruck. »Herr Professor«, sagte sie, »hat Ihnen Doktor Wörgel denn nicht erzählt... ich möchte kündigen!« »Nicht im Ernst!« »Doch.« Professor Kortner zog die dicken Augenbrauen zusammen. »Nun sagen Sie mal ganz ehrlich, Kindchen, was paßt Ihnen hier bei uns nicht? Ist die Behandlung schlecht? Verdienen Sie zuwenig? Was glauben Sie, werden Sie an einem anderen Krankenhaus besser finden?« »Ich will überhaupt nicht mehr als Schwester arbeiten, Herr Professor.« »Hm, so ist das also«, sagte er nachdenklich, fügte nach kurzer Pause in sachlichem Ton hinzu: »Erwarten Sie ein Kind?« »Nein!« Jähe Röte schoß in Danielas Wangen. »Nicht?« fragte Professor Kortner ungerührt. »Na, dann steh’ ich wirklich vor einem Rätsel. Das Ganze kommt mir geradezu absurd vor! Was würden Sie wohl sagen,
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wenn ich Innen plötzlich erklären wollte, daß ich meinen Beruf aufgebe?« »Unter Umständen würde ich es verstehen«, sagte Daniela. »Wirklich?« Er sah sie überrascht an. »Doch.« Sie suchte nach Worten: »Es wäre ja immerhin möglich, daß Sie sich bei... bei Mordgedanken ertappt hätten! Ich meine... Mordgedanken einem Patienten gegenüber!« »Das haben Sie also getan?« »Ja.« »Um sich Ihrer Rivalin zu entledigen?« »Nein .. . nein, das nicht! Ich weiß eigentlich selber nicht mehr, warum ich es wollte. Aber als sie mich beschimpfte, als sie mich angriff.. . da spürte ich etwas wie Panik!« Sie seufzte. »Es ist schwer zu erklären . .. hinterher, wenn man es selbst nicht mehr versteht.« »Bei aller Liebe und bei allem Verständnis«, sagte Professor Kortner ruhig. »Sie hätten es nie getan! Glauben Sie mir! Das weiß ich besser als Sie selber... Sie wären niemals dazu fähig!« »Das habe ich früher auch gedacht... aber nach dieser Nacht...« »Können Sie felsenfest überzeugt sein, daß Sie niemals imstande wären, so etwas zu tun. Was Sie gestern erlebt haben, muß mehr oder weniger jeder Mensch einmal durchmachen. Eine Versuchung ist an Sie herangetreten, nichts weiter. Es ist leicht zu sagen ... ich würde niemals stehlen, ich würde niemals töten, ich würde niemals ehebrechen.. . bevor man nicht in Versuchung geführt 71
wird. Erst dann hat man eine Gelegenheit, sich zu bewähren. Sie dürfen es sich nicht übelnehmen, Schwester Daniela, daß Sie in Versuchung geführt worden sind . .. aber Sie haben die Versuchung ja bestanden. Sie haben ihr nicht nachgegeben.« »Beinahe!« »In solchen Fällen gibt es kein Beinahe. Entweder man tut es, oder man tut es nicht. Sie haben es nicht getan, das ist das Entscheidende.« »Sie verstehen mich nicht. ..« »O doch. Sehr gut. Glauben Sie nur ja nicht, daß ich so erhaben wäre! Denken Sie nur nicht, daß an mich niemals Versuchungen herangetreten wären ... dennoch lebe ich, arbeite ich, bin sogar Arzt.« Es sah fast aus, als ob er lächelte, als er sagte: »Es tut mir leid, Schwester Daniela, ich kann Ihre Kündigung nicht annehmen.« Als Daniela das Zimmer des Professors verließ, fühlte sie sich wie betäubt. Sie war verwirrter denn je. Professor Kortner hatte sie, eigentlich ganz gegen ihren Willen, gezwungen, die Kündigung zurückzuziehen. Natürlich hätte sie darauf bestehen können. Aber sie hatte es einfach nicht gewagt. Sie wußte, wie kostbar die Zeit des Professors war. Wenn er eine ganze Stunde erübrigte, nur um mit ihr zu sprechen, dann war das eine ganz unverdiente Ehre. Das Gefühl der Dankbarkeit, der Wunsch, ihn nicht zu enttäuschen, war stärker als alles andere gewesen. Er hatte ihr deutlich gezeigt, daß er Vertrauen zu ihr hatte, mehr Vertrauen als sie zu sich selber. 72
Ganz allmählich überkam sie ein Gefühl der Erleichterung, das fast an Glück grenzte. Als Schwester Daniela bei den Nachbarn klingelte, um ihre kleine Tochter abzuholen, fiel ihr ein, daß Eva sicher sehr enttäuscht sein würde. Mit leichter Beschämung stellte sie fest, daß sie während der letzten Stunden überhaupt nicht mehr an das Kind gedacht hatte. »Eva«, begann sie vorsichtig, als sie nebeneinander die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstiegen, »es tut mir sehr leid... ich habe nicht kündigen können. Das heißt, ich habe schon gekündigt. Aber der Herr Professor hat mich nicht gehen lassen wollen.« »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Eva ganz unerschüttert. »Wieso? Wie konntest du denn das denken?« »Nur so. Weil ich es mir eben gedacht habe.« »Eva«, sagte Daniela eindringlich, »soll das heißen, ich habe dich schon so oft enttäuscht?« »Nö, aber eigentlich habe ich immer gedacht, du gehst gern ins Krankenhaus.« »Ja, das ist wahr! Das tue ich auch.« »Wenn du von den Leuten sprichst, auf die du da aufpassen mußt... und von den Ärzten und von den anderen Schwestern und alledem . . . dann bist du immer ganz vergnügt.« »Deshalb hast du gedacht, ich würde bleiben!« »Ja. Es macht mir auch gar nichts aus, Mutti. Irene war im Kinderheim, die sagt, daß es ganz lustig dort war. Wegen mir kannst du ruhig Nachtschwester bleiben, ganz bestimmt!« 73
Für die Nacht zum neuen Jahr hatte Schwester Daniela sich eigentlich freigeben lassen wollen. Sie hatte vorgehabt, mit Harald Spielmann zu feiern. Aber dies war nun zu Ende. Sie hatte ihm den Brillantring längst durch den Pförtner des Krankenhauses – seine Adresse hatte sie nie erfahren, und sie wunderte sich jetzt, daß ihr das nicht von Anfang an seltsam erschienen war – zurückgeben lassen. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört, und sie war froh darüber. Es gab für sie keinen Grund, die Silvesternacht durchzufeiern, deshalb tauschte sie ihren Dienst mit einer anderen Schwester, die an diesem Abend gerne im Kreise ihrer Familie sein wollte. Als sie ins Krankenhaus kam, steckte sie den Kopf in die Telefonzelle, um Gisela Remagen guten Abend zu sagen. »Fein, daß gerade Sie heute Nachtdienst haben«, sagte die Telefonistin erfreut, »um Punkt zwölf müssen wir unbedingt miteinander anstoßen. Ich habe eine klitzekleine Flasche Sekt mitgebracht!« »Gut, kommen Sie zu mir ins Schwesternzimmer!« »Wird gemacht!« Da auf der Station nichts weiter vorlag, fiel ihr ein, daß es vielleicht eine gute Idee wäre, den Giftschrank auszuräumen, durchzuputzen und die Medikamente wieder ordentlich einzuordnen. Sie machte sich sofort an die Arbeit, räumte erst einmal sämtliche Dosen, Schachteln und Flaschen heraus, putz74
te die Glasplatten mit einem feuchten Tuch, rieb sie trocken. Bevor sie die Medikamente wieder in den Schrank stellte, verglich sie prüfend den Bestand mit der Liste, auf der die benötigten Medikamente abgestrichen worden waren. Bei der ersten Zählung glaubte sie sich geirrt zu haben. Vierundzwanzig Ampullen Morphium – eine ganze Schachtel – fehlten! Das war doch einfach nicht möglich. Schwester Daniela begann noch einmal von vorne zu zählen, mit noch größerer Sorgfalt, und kam zu demselben Ergebnis: Es waren vierundzwanzig Ampullen Morphium zuwenig im Giftschrank! Obwohl es nichts zu zweifeln gab, war sie nicht imstande, es ganz zu fassen. Dann, als sie den ersten Schock überwunden hatte, war ihr Impuls: Meldung erstatten. Sie hatte den Telefonhörer schon in der Hand, als sie unsicher wurde. Sie hatte sich nicht erkundigt, wer heute nacht der diensthabende Arzt war. Wahrscheinlich würde es, wie meist an den Feiertagen, Dr. Wörgel sein. Schwester Daniela wagte es nicht, ihn in diese Sache hineinzuziehen. Er hatte ihr schon einmal kein Vertrauen geschenkt – vielleicht würde er glauben, daß sie selber sich an den Ampullen vergriffen hatte. Sie legte den Hörer wieder auf. Was sollte sie tun? Natürlich war es unsinnig, sich vor Dr. Wörgel zu fürchten. Sie hatte ein gutes Gewissen; er würde ihr nichts anhaben können. Daniela fühlte sich imstande, selbst ein polizeiliches Verhör mit Haltung durchzustehen. 75
Je stärker Schwester Daniela ihre Gedanken auf das vor ihr liegende Problem konzentrierte, desto klarer wurde ihr, daß als Dieb nur drei Gruppen von Menschen in Frage kamen – Krankenschwestern, Patienten oder – theoretisch -Ärzte. Niemand anderer hatte eine Möglichkeit, an den Giftschrank heranzukommen. Dabei blieb zu bedenken, daß ein Patient den Diebstahl nur mit Hilfe eines Nachschlüssels hätte ausführen können, was ziemlich kompliziert und unwahrscheinlich war. Der Kreis der Verdächtigen verengte sich. Schwester Daniela ließ alle Ärzte und Schwestern, von denen sie wußte, daß sie regelmäßig oder hin und wieder auf der Privatstation tätig waren, im Geist vor sich Revue passieren. Sie überlegte scharf, ob sie bei irgend jemandem Zeichen von Morphiumsucht gewahr geworden war. Aber sie konnte sich beim besten Willen an nichts Verdächtiges erinnern. Schwester Daniela seufzte tief. Es schien, daß sie nicht imstande war, den Fall allein zu klären. Warum wollte sie es überhaupt? Warum machte Sie nicht ihre Anzeige und ließ den Dingen ihren Lauf? Sie wußte es selber nicht. Sie schrak aus ihren Gedanken, als Dr. Georgi ins Schwesternzimmer trat. »Hallo!« sagte er munter. »Mir scheint, ich störe Sie in süßen Träumereien!« »O nein, gar nicht, nur...« Blitzschnell faßte Schwester Daniela einen Entschluß. »Ich habe etwas entdeckt, Herr Doktor ... etwas sehr Unangenehmes.«
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Statt einer Antwort zog er ein Päckchen Zigaretten aus seinem weißen Kittel, hielt es Daniela hin. »Zigarette?« .Daniela rauchte selten. »Ja, danke«, sagte sie und zog sich eine Zigarette heraus. Dr. Georgi gab ihr mit seinem »Flammenwerfer« Feuer. »Na, wo drückt der Schuh?« Schwester Daniela nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. »Die Sache ist nicht spaßig«, sagte sie, »ganz und gar nicht. Aus unserem Giftschrank ist Morphium verschwunden.« »Wahrhaftig?« Dr. Georgis Stimme klang unbeeindruckt. »Haben Sie sich nicht vielleicht verzählt?« »Um vierundzwanzig Stück?« »Ach so. Sind Sie sicher?« »Leider ja.« »Wann haben Sie’s entdeckt?« »Ich weiß nicht genau ... vielleicht vor einer halben Stunde. Nur so, ohne jeden Grund, bin ich auf den Gedanken gekommen, den Giftschrank auszuräumen und zu putzen.« »Ohne Verdacht?« »Woher sollte ich denn wissen . ..« Dr. Georgi legte seine Stirn unter dem kurzgeschnittenen Igelhaar in waagerechte Falten. »Schwester Daniela, wäre es nicht besser, wenn sie offen mit mir sprächen?« »Aber ich bin offen, Herr Doktor! Ich weiß wirklich nicht, wer die Ampullen genommen hat!« 77
»Warum haben Sie mich dann nicht sofort angerufen? Sie geben ja selber zu, daß Sie es schon vor einer halben Stunde gemerkt haben.« Sie rauchte nervös. »Sie glauben jetzt, daß ich versuche, jemanden zu schützen, Herr Doktor. Natürlich, Sie haben recht, es wäre meine Pflicht gewesen, Sie sofort zu verständigen. Ich weiß selber nicht, warum ich es nicht getan habe. Vielleicht hoffte ich immer noch, daß ich mich geirrt hätte.« Sie sah den jungen Arzt flehend an. »Bitte, versuchen Sie doch, mich zu verstehen!« »Seien Sie mir nicht böse, Schwester... aber mir scheint, daß Sie diese ganze Sache allzu persönlich nehmen. Warum eigentlich?« »Es ist schwer zu sagen. Ich weiß es selber nicht. Vielleicht . .. sehen Sie, ich habe mir alles durch den Kopf gehen lassen. Wer auch immer das Morphium genommen hat, ich muß ihn kennen. Wir beide müssen ihn kennen, Doktor Georgi. Das macht die Sache so schauderhaft.« »Verstehe schon. Aber ich fürchte, es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich muß die Polizei benachrichtigen.« »Sofort?« »Ich denke schon. Aber keine Sorge. Daß die ausgerechnet jetzt in der Silvesternacht einen Mann loshetzen, das ist nicht gerade wahrscheinlich.« »Hat es denn nicht Zeit bis morgen früh?« »Was glauben Sie, dadurch zu gewinnen?« »Vielleicht... wenn es uns nun gelänge, selber herauszubekommen, wer der Täter ist? Dann brauchten wir die 78
Polizei doch gar nicht. Denken Sie an den Ruf des Bruder-Klaus-Krankenhauses . ..« »Meine liebe Dame«, sagte Dr. Georgi ungerührt, »der ist Ihnen, glaube ich, verdammt gleichgültig. Mir können Sie nichts vormachen. Gerade weil es Ihnen nicht in den Kram paßt, halte ich es für meine Pflicht, die Polizei zu verständigen.« Er trat zum Telefon. Schwester Daniela lief hinter ihm her, legte die Hand auf seinen Arm. »Bitte, Herr Doktor, tun Sie es nicht. Warten Sie noch einen Augenblick. Glauben Sie .. . daß ich es war?« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Unwahrscheinlich«, sagte er dann. »Aber Sie nehmen an, ich weiß, wer es getan hat? Wenn ich jemanden schützen wollte, Herr Doktor... warum hätte ich Ihnen dann überhaupt von dem verschwundenen Morphium erzählen sollen? Niemand wäre darauf gekommen, jedenfalls nicht heute nacht. Vielleicht hätte es sogar noch Tage gedauert, bis der Verlust entdeckt worden wäre.« »Warum haben Sie es gesagt?« »Ich . .. weil ich hoffte, Sie würden mir helfen!« »Wie haben Sie sich das vorgestellt?« »Sie kennen doch alle Ärzte und Schwestern, die auf der Privatstation Dienst tun. Sie kennen sie besser als ich. Ich bin ja nur nachts hier. Ich dachte, vielleicht würde Ihnen etwas einfallen ...« »Ich bin kein Privatdetektiv!« unterbrach er sie. »Ich begreife gar nicht, was mit Ihnen los ist, Schwester Daniela! Ich habe Sie immer für ein vernunftbegabtes Ge79
schöpf gehalten, und nun plötzlich stecken Sie voller Gefühlsduselei. Sie haben Mitleid mit dem Täter. Ja, das ist es, selbst wenn Sie sich selber nicht darüber im klaren sind. Mitleid mit einem Verbrecher, das ist doch ganz und gar töricht.« »Jeder Mensch macht Fehler«, sagte Schwester Daniela leise. »Ja. Stimmt. Dem besten Arzt kann es passieren, daß er sich in der Diagnose irrt... eine Krankenschwester kann Medikamente verwechseln.. . oder, wenn Ihnen diese Beispiele zu sehr aus unseren Lebenskreisen gegriffen scheinen ... jeder Mensch kann sich in einen Menschen verlieben, der nicht zu ihm paßt. In solchen Fällen wäre ich auch voller Mitgefühl, verlassen Sie sich darauf. Aber Morphium zu stehlen und dazu gleich vierundzwanzig Ampullen . . .« »Sie wissen sehr genau, Herr Doktor«, sagte Schwester Daniela mit fester Stimme, »daß ein Morphiumsüchtiger nicht mehr Herr seiner Entschlüsse ist!« »Na schön. Dann gehört er schleunigst in eine Entziehungsanstalt.« »Darin bin ich völlig Ihrer Meinung. In eine Entziehungsanstalt gehört er, aber nicht ins Gefängnis. Wenn es uns gelingt, den Täter ausfindig zu machen, dann können wir die Angelegenheit in aller Stille ordnen. Dazu brauchen wir die Polizei nicht.« Dr. Georgi zog die Augenbrauen hoch. »Sie meinen allen Ernstes, wir sollen den Fall vertuschen?«
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»Keineswegs. Ich bin unbedingt dafür, daß wir die Sache Professor Kortner vortragen. Ich bin aber auch ganz gewiß, daß er Verständnis haben wird.« »So? Sind Sie das? Hoffentlich irren Sie sich da nicht. Ich kenne Professor Kortner länger als Sie. Er ist unberechenbar. « »Lassen wir es drauf ankommen«, sagte Schwester Daniela. »Na schön.« Dr. Georgi schwang sich auf den Tisch, schlug die Beine übereinander. »Sie haben recht. Im Augenblick ist nichts zu verlieren. Was wollen wir also tun?« Aber gerade da rief die Signalanlage Schwester Daniela zu der Patientin Frau Höger. Als sie in das Schwesternzimmer zurückkehrte, sah sie mit einem Blick – der Raum war leer. Auf dem Schreibtisch lag ein abgerissenes Blatt vom Tischkalender. Sie ging hin, nahm es auf, las, was Dr. Georgi in seiner großzügigen, ein wenig flüchtigen Schrift hingekritzelt hatte: »Keine Sorge! Habe noch nicht angerufen. Ich schaue gegen zwölf Uhr bei Ihnen vorbei.« Sie atmete auf. Das war gut. Es war zwar keine Rettung, aber immerhin ein Aufschub. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Elf war schon vorbei. Würde es ihr gelingen, in der kurzen Zeit, die noch blieb, sich über den Täter klarzuwerden? Merkwürdigerweise fühlte sie sich nicht mehr allein. Seit sie mit Dr. Georgi gesprochen hatte, schien es ihr, als wenn sie doch wenigstens einen Teil der Verantwor81
tung auf ihn abgeladen hätte. Auch er, dessen war sie sicher, grübelte, wenn auch getrennt von ihr, über den Fall nach. Vielleicht konnte er sich an eine Beobachtung erinnern, die sie weiterbringen würde. Ihr fiel ein, daß Gisela Remagen um Mitternacht einen Sprung ins Schwesternzimmer machen wollte. Die Gesellschaft der Telefonistin war ihr gewöhnlich sehr lieb, aber diesmal hätte sie es doch vorgezogen, mit Dr. Georgi allein zu sein. Schwester Daniela überlegte, ob sie Gisela Remagen anrufen und ausladen sollte. Aber dann unterließ sie es doch. Es hätte sehr unfreundlich gewirkt, um so mehr, als sie keinen einleuchtenden Grund angeben konnte. Sie war so in Gedanken versunken, daß sie gar nicht den Eintritt Dr. Georgis bemerkte. »Na, wie geht’s?« Sie schrak zusammen. »Ach, Sie sind es. Ist Ihnen inzwischen etwas eingefallen?« Er machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Vielleicht?« »Bitte, sagen Sie es mir. Spannen Sie mich nicht auf die Folter.« Noch zögerte Dr. Georgi, da er sich seiner Vermutungen nicht sicher war. »Es könnte sich um Roy Erichson handeln!« Daniela war ehrlich verblüfft. »Aber wieso ...« Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu sprechen. Draußen auf dem Gang wurden Schritte laut. Sie wandten sich beide der Tür zu. Gisela Remagen erschien, un-
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term Arm eine Flasche Sekt. Sie grüßte mit ein wenig übertriebener Munterkeit, wie es ihre Art war. »Hei, fein, daß Sie da sind, Herr Doktor! Ich hoffe, Sie werden mit uns feiern, ja? Im Grunde genommen gibt es ja gar nichts zu feiern, aber warum sollen wir die einzigen sein, die sich von der allgemeinen Heiterkeit ausschließen?« Sie gab Dr. Georgi die Flasche zum öffnen, sagte: »Ich bin sicher, das können Sie besser als ich!« Dann wandte sie sich an Daniela. »Gläser wird’s hier doch wohl geben, hoffe ich.« »Natürlich, ja.« Schwester Daniela nahm drei einfache Wassergläser vom Waschbecken, spülte sie gründlich aus. »Nicht gerade das Richtige für Sekt.. . aber man tut, was man kann.« Sie spürte selber, daß ihre Munterkeit gezwungen wirkte. Dr. Georgi hatte, seit Gisela Remagen ins Zimmer gekommen war, überhaupt noch kein Wort gesprochen. Die Telefonistin stutzte, sah von einem zum anderen. »Ihr macht so merkwürdige Gesichter«, sagte sie. »Störe ich etwa? Dann braucht ihr es mir nur zu sagen. Ich . ..« »Aber, Gisela, bitte, seien Sie doch nicht so empfindlich!« Daniela bemühte sich, ihrer Stimme Wärme zu geben. »Wir sprachen nur gerade über ein. .. ein medizinisches Problem. Keine sehr angenehme Sache, verstehen Sie!« »Ach so, dann...« Gisela war immer noch nicht ganz beruhigt. »Wenn ihr lieber in der Silvesternacht eure medizinischen Sorgen miteinander bekakeln wollt...«
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»Natürlich nicht. Wir sind ja froh, daß wir ein bißchen Abwechslung bekommen haben«, log Daniela. Dr. Georgi öffnete die Sektflasche elegant, ohne allzu lauten Knall. Daniela hielt ihm rasch eines der Gläser hin, um den überschäumenden Champagner aufzufangen. »Auf was wollen wir anstoßen?« fragte Gisela. »Auf was schon? Auf das neue Jahr!« sagte Dr. Georgi. Sie sahen alle drei gebannt auf die Uhr, wo der große Zeiger unaufhaltsam auf die Zwölf zukletterte. Noch bevor er sie erreicht hatte, begannen draußen die Glocken zu läuten. Leuchtraketen stiegen hoch, Knallfrösche wurden losgelassen. Gisela hob ihr Glas: »Auf daß unsere Wünsche in Erfüllung gehen!« Sie stießen an, tranken. »Ich wäre schon zufrieden, wenn es so bleibt, wie es ist«, erklärte Dr. Georgi. Er sah Daniela an. »Und Sie?« Sie zögerte mit der Antwort. »Ich bin froh, daß wieder ein Jahr vorüber ist«, sagte sie dann. »Warum haben Sie es so eilig? Wir wünschen die Zeit festzuhalten, und Sie sind froh, wenn sie vergeht.« »So hatte ich es nicht gemeint«, sagte Daniela langsam, bemüht, Dr. Georgi ihre Gedanken klarzumachen, »ich wollte nur sagen, ich bin froh, daß ich das vorige Jahr überstanden habe. Ich ...« Sie zwang sich zu lächeln. »Nun ja, ich habe eine Erfahrung gemacht.« »Eine unliebsame?« »Ja. Ich glaube übrigens, daß alle Erfahrungen unliebsam sind.« 84
»Ist noch etwas in der Flasche?« fragte Gisela Remagen. »Ich glaube ja.« Dr. Georgi schüttete ihr den Rest in das Glas. »Oh, nein, ich wollte nicht alles! Warum teilen Sie den Sekt nicht auf?« »Wir haben noch etwas zu besprechen, liebes Mädchen«, sagte er ungerührt. Gisela goß den Sekt so rasch hinunter, daß sie sich verschluckte und husten mußte. »Gute Nacht«, sagte sie eilig, »und entschuldigen Sie die Störung.« »Gisela, bitte!« rief Daniela erschrocken. Aber die Telefonistin ließ sich nicht aufhalten. Sie hastete hocherhobenen Kopfes zur Tür. »Das war nicht sehr höflich«, sagte Daniela etwas verärgert zu Dr. Georgi. »Was habe ich denn getan?« »Gisela Remagen ist ein sehr sensibler Mensch. Sie haben ihr den ganzen Abend verdorben. Sie wird jetzt dasitzen und grübeln und sich kränken.« »Ich dachte, wir hätten etwas zu besprechen!« »Das hätte wohl noch fünf Minuten Zeit gehabt. Sie haben vorhin gesagt, daß Sie Roy Erichson verdächtigen. War das Ihr Ernst? « »Ja.« Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche seines weißen Kittels, bot ihr an und bediente sich, nachdem sie mit einem Kopfschütteln abgelehnt hatte, selber.
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»Er ist sehr labil«, sagte Daniela nachdenklich. »Jetzt fällt mir auch auf, daß er öfters merkwürdig aufgekratzt war. Aber dennoch.. .« »Ich gründe meinen Verdacht nicht auf Vermutungen, Schwester«, sagte Dr. Georgi und steckte seinen »Flammenwerfer« wieder ein, »ich habe mir die Mühe gemacht, sämtliche Notizen über die Patienten der Privatstation nachzuschauen. Bei Roy Erichson ist ausdrücklich vermerkt, daß er zu einem gewissen Mißbrauch von Medikamenten neigt. Sie wissen ja, wie es zu so etwas kommt. Vielleicht hat er damit angefangen, daß er sich für seine Arbeit im Atelier auf Hochtouren bringen wollte. Die Folge davon war Schlaflosigkeit, Übermüdung und so weiter.« »Sind schon ... Entziehungsversuche gemacht worden?« »Nein. Soviel ich weiß, noch nicht. Man kann bei dem Patienten auch wohl kaum von einem Morphiumsüchtigen in fortgeschrittenem Stadium sprechen. Der körperliche Befund zeigt noch keine auffallende Veränderung.« Daniela bereute, daß sie sich nicht doch eine Zigarette genommen hatte. Das Problem belastete sie stark. »Roy Erichson ist also verdächtig«, sagte sie, »aber bringt uns das wirklich weiter?« »Doch«, sagte Dr. Georgi mit Nachdruck. »Ich habe, wie gesagt, sämtliche Notizen überprüft. Niemand anderer kommt für die Tat in Frage. Ganz abgesehen davon, daß Roy Erichson augenblicklich ... außer der Kleinen
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mit dem Blinddarm .. . der einzige Patient ist, der sein Bett verlassen kann.« »Das stimmt«, sagte Daniela, immer noch nicht ganz überzeugt, »trotzdem, ich kann mir, ehrlich gestanden, schlecht vorstellen, daß es einem Patienten gelingen sollte, unbemerkt ins Schwesternzimmer zu kommen und den Medikamentenschrank aufzuschließen, selbst gesetzt den Fall, er hätte sich schon einen Nachschlüssel beschafft.« »Tagsüber vielleicht nicht«, gab Dr. Georgi zu, »da ist ja fast immer eine Schwester im Zimmer, aber nachts . . . denken Sie mal gut nach ! Es kommt doch sicher öfters vor, daß Sie zehn oder zwanzig Minuten bei einem Patienten bleiben.« »Ja, und länger«, sagte Schwester Daniela. »Aber das besagt nichts. Wie sollte Erichson feststellen können, ob ich im Schwesternzimmer oder bei Patienten bin? Und woher sollte er wissen, wie lange ich bei den Patienten bleibe? Es stimmt, daß es manchmal eine halbe Stunde dauert, oft auch nur Minuten. Es gibt da keine Regel, und das wissen Sie.« »Aber er muß eine Möglichkeit gehabt haben«, sagte Dr. Georgi hartnäckig, »eine Möglichkeit, die wir wahrscheinlich jetzt übersehen.« »Nein!« Daniela schüttelte den Kopf. »Es gibt keine. Mit, irrsinnigem Glück hätte er vielleicht eine Chance abpassen können. Aber Voraussetzung dafür wäre doch zumindest, daß er öfter auf den Gang hinauskommt. Das
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tut er aber nie. Es gäbe auch schwerlich einen Vorwand dafür, weil er ein eigenes Badezimmer hat.« Dr. Georgi drückte seine Zigarette aus. »Was für Erichson gilt – den Sie übrigens auffallend glühend verteidigen, Schwester —, das gilt ja wohl genauso oder noch mehr für die anderen Patienten. Nun warte ich nur noch darauf, daß Sie behaupten, einer der Ärzte wäre morphiumsüchtig.« »Nein, bestimmt nicht«, sagte sie ruhig, »das habe ich mir schon genau überlegt. Auch keine der Schwestern kommt in Frage. Ich kenne einige meiner Kolleginnen zwar nur flüchtig, aber dennoch kann ich mir nicht vorstellen, daß eine von ihnen krank ist. Das müßte doch bestimmt längst aufgefallen sein, nicht wahr?« »Sehr richtig. Die Symptome von Süchtigkeit sind in Fachkreisen allzu gut bekannt. Damit sind wir wieder am Anfang unserer Überlegungen angekommen. Auf gut deutsch, wir sind genauso klug wie zuvor. Das müssen Sie doch zugeben, Schwester. Ich werde jetzt das tun, was ich gleich hätte tun sollen ... die Polizei verständigen.« »Bitte«, sagte Daniela, »bitte, tun Sie es noch nicht! Mir kommt da ein Gedanke ...« »Ja?« fragte Dr. Georgi ohne allzu große Erwartung. »Derjenige, der die Ampullen aus dem Medikamentenschrank genommen hat, hat es nicht für sich selber getan. Sicher auch nicht, um sie zu verkaufen. Das Risiko hätte sich nicht gelohnt.« Mit plötzlicher Hellsicht fügte
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sie hinzu: »Ich glaube, für einen anderen Menschen. .. für einen geliebten Menschen ! « Eine Sekunde war Dr. Georgi beeindruckt, aber dann sagte er nüchtern: »Sie wissen hoffentlich, was das bedeuten würde? Wenn Sie von dieser Annahme ausgehen, müssen wir das Privatleben sämtlicher Ärzte und Schwestern, die in den letzten zwei Wochen auf der Privatstation gearbeitet haben, durchleuchten. Also doch die Polizei!« »Nein«, sagte Schwester Daniela ungeduldig, »ich sagte Ihnen doch, ich habe eine Spur!« »Die müssen Sie mir aber doch wohl, bitte, verraten!« »Doktor Georgi«, sagte Daniela eindringlich, »ich glaube, ich weiß, wer der Täter ist. Ich glaube, ich weiß es ganz sicher. Wenn Sie mir freie Hand geben . .. nur bis morgen früh. Sagen wir. . . bis acht Uhr. .. glaube ich, kann ich die ganze Sache klären, ohne daß wir die Polizei einschalten müssen, ohne daß überhaupt jemand außer uns etwas davon erfährt.« »Das ist sehr menschenfreundlich gedacht, verehrte Schwester, aber so, wie Sie sich das vorstellen, geht es nicht. Die Krankenhausleitung und der Chef müssen es erfahren, wenn. . .« »Es handelt sich um jemanden, der sowieso in allerkürzester Zeit ausscheidet«, sagte Daniela. Dr. Georgi stutzte. »Ach so«, sagte er dann, »Sie meinen .. . nun, ich glaube, Sie haben recht. Es ist besser, keinen Namen zu nennen. Aber der Gedanke scheint gar nicht verkehrt.« 89
»Ich glaube, daß ich auf der richtigen Spur bin«, sagte Daniela, »und ich bin überzeugt, daß ich alles in Ordnung bringen kann!« Dr. Georgi erwiderte Danielas herausfordernden Blick sehr nachdenklich. »Na schön«, sagte er endlich, »versuchen Sie es. Bis acht Uhr haben Sie Zeit. Ich hoffe nur, daß Sie notfalls auch imstande sein werden, eine Niederlage zuzugeben.« »Wenn ich bis acht Uhr die Sache nicht in Ordnung gebracht habe, dürfen Sie die Polizei hinzuziehen«, sagte Schwester Daniela mit fester Stimme. Erst als sie wieder allein war, wurde ihr klar, daß sie sich sehr viel vorgenommen hatte, vielleicht mehr, als sie durchzuführen imstande war. Ihr Selbstvertrauen verließ sie. Sie war nicht einmal sicher, ob ihr Verdacht begründet war, zweifelte noch mehr daran, ob sie es fertigbringen würde, die Täterin zu einem Geständnis zu zwingen. Aber sie mußte es versuchen. Am nächsten Morgen traf als erste, einige Minuten vor sechs, Schwester Leonie auf der Privatstation ein. Sie grüßte freundlich. »Na, hat’s was gegeben heute nacht? Nein? Dachte ich mir schon.« Sie lachte. »Wir haben ja wirklich auch nur brave Patienten.« Schwester Daniela übergab den Schlüssel zum Medikamentenschrank, berichtete, daß sie Frau Höger in der Nacht noch eine Sonderspritze gegeben hatte. »Sie ahnen nicht, wie gerne ich mit Ihnen tauschen möchte«, sagte Schwester Leonie. »Sie dürfen jetzt nach 90
Hause und in die Federn. Dabei bin ich mindestens so müde wie Sie. Sie wissen ja, wie so was ist. Man nimmt sich vor, gleich nach zwölf geht man nach Hause ... und dann klappt es eben doch nicht.« »Sie sehen großartig aus«, sagte Daniela ehrlich. Tatsächlich war Schwester Leonie, deren klare weiße Haut heute fast durchsichtig vor Blässe schien, schöner als sonst. Die dunklen Schatten ließen ihre blauen Augen noch größer erscheinen, und wie immer ließ sie eine kleine Locke ihres leuchtendroten Haares unter dem Häubchen hervorquellen. Die beiden Putzfrauen kamen mit Schrubbern und klappernden Eimern auf die Station. »Ich möchte Sie nicht aufhalten«, sagte Schwester Daniela, »aber ... darf ich gleich noch ein paar Worte mit Schwester Berta sprechen?« Leonie lächelte. »Warum so feierlich? Wir sind hier ja nicht in einem Kloster, und schon gar nicht bei den Trappisten!« »Ich frage nur, weil ich Berta damit von der Arbeit abhalten werde.« »Ach, das macht nichts«, sagte Leonie, schon damit beschäftigt, die Medikamente für den Anfang des neuen Tages auf einem Tablett aufzubauen, »augenblicklich ist hier sowieso ein sanfter Betrieb. Das schaffe ich zur Not auch alleine.« »Danke.« Daniela trat auf den Gang hinaus. Sie wartete mit steigernder Nervosität. Es war sechs Uhr vorbei. Berta hätte eigentlich schon da sein müssen. 91
Was nun, wenn sie heute nicht kam? Wenn sie überhaupt nicht mehr kam? Wenn sie geflohen war? Daniela glaubte die Last der Verantwortung fast körperlich zu spüren. Sie bedauerte in diesem Augenblick, daß sie den Dingen nicht ihren Lauf gelassen hatte. Wenn Dr. Georgi noch in der Nacht die Polizei angerufen hätte, bräuchte sie sich jetzt keine Gedanken zu machen. Als die Tür mit der großen Milchglasscheibe von außen geöffnet wurde, hielt Daniela den Atem an. Es war Schwester Bertas eckige Gestalt, die sich in den Gang schob. Daniela tat einen raschen Schritt auf die Kollegin zu. »Berta . . .«, sagte sie. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe. Guten Morgen, Daniela, ich muß jetzt . . .« »Bitte, Berta, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« »Jetzt?! Von mir aus! Aber es muß rasch gehen. Ich denke, Leonie wird schon auf mich warten!« »Ich habe mit Leonie gesprochen. Sie weiß Bescheid.« Eine Sekunde lang schien etwas Angst in Bertas Augen aufzuflackern. »Über was?« »Daß ich einen Augenblick . ..« Daniela unterbrach sich. Eine der Putzfrauen kam sehr nahe an ihnen vorbei und ging in den Waschraum. »Bitte, kommen Sie mit mir hier hinein«, sagte Daniela und schob Schwester Berta mit sanfter Gewalt in ein leeres Krankenzimmer. »Warum? Was ist los? Was wollen Sie von mir?« Daniela antwortete erst, als die Tür abgeschlossen war. »Heute nacht«, begann sie zögernd, dann erschien es ihr 92
das richtigste, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen. »Ich habe festgestellt, daß vierundzwanzig Ampullen Morphium fehlen.« »Ach!« sagte Schwester Berta, nichts weiter. »Die Ampullen müssen wieder zurück. Es bleibt uns nur wenig Zeit. Bis acht Uhr. Das sind knappe zwei Stunden.« »Warum erzählen Sie mir das?« »Das wissen Sie sehr gut, Berta! Sie nützen sich nicht, indem Sie abzulenken versuchen. Es wäre besser, alle Energie darauf zu verwenden, die Ampullen zurückzubekommen.« »Das Ganze ist doch albern«, sagte Schwester Berta hastig. »Warum erzählen Sie das gerade mir? Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich mit dem Verschwinden der Ampullen etwas zu tun hätte?« »Berta«, sagte Daniela flehend. »Bitte, verstehen Sie mich doch richtig. Ich will Sie nicht in die Enge treiben .. . ich will Ihnen helfen. Begreifen Sie denn nicht, wie unangenehm es für Sie werden kann, wenn der Diebstahl aufkommt?« »Für mich? Nein. Ich habe nichts damit zu tun. Übrigens kann ich mir gar nicht vorstellen, daß die Ampullen wirklich fehlen. Wahrscheinlich haben Sie sich verrechnet.« »Nein, das habe ich nicht. Halten Sie mich denn für eine Verrückte? Die Ampullen sind gestohlen, daran besteht kein Zweifel.« »Wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, dann sollten Sie doch Meldung erstatten.« Schwester Bertas Lächeln 93
wirkte fast bösartig. »Aber Sie werden wohl gute Gründe haben, es nicht zu tun.« »Warum machen Sie nur alles so schwierig, Berta! Natürlich habe ich Meldung erstattet, was glauben Sie denn? Doktor Georgi weiß Bescheid. Gerade deshalb muß die Sache bis acht Uhr geklärt sein. Sonst erstattet er Anzeige bei der Polizei.« »Dann wird es für Sie, liebe Daniela, mindestens genauso unangenehm wie für mich!« »Nein«, sagte Daniela und mußte sich zwingen, geduldig zu bleiben. »Sie verkennen Ihre Situation. Niemand wird mich verdächtigen. Denn ich bin es, die den Diebstahl der Ampullen entdeckt hat, Tage vor der regulären Kontrolle. Ich hätte ja gar nicht Meldung zu erstatten brauchen ...« Sie unterbrach sich. »Wozu das alles! Wie können Sie von mir verlangen, daß ich mich verteidige! Sie wissen doch sehr gut, daß Sie selber die Ampullen genommen haben. Sie, und niemand anders! Ich bemühe mich, Ihnen ein polizeiliches Verhör zu ersparen ... Ihnen eine Gelegenheit zu geben, die Sache in Ordnung zu bringen, und das einzige, was ich von Ihnen dafür zu hören bekomme, sind törichte Ausflüchte.« »Ich werde mich bei Professor Kortner über Sie beschweren«, sagte Schwester Berta stur. »Na schön. Von mir aus. Wenn das Ihre Taktik ist, dann ist Ihnen nicht zu helfen.« Daniela wandte sich ab und drehte den Schlüssel im Schloß. »Wo wollen Sie hin?« Schwester Bertas Stimme klang jetzt alarmiert. 94
»Ich werde Doktor Georgi mitteilen, daß ich nichts habe ausrichten können, und dann werde ich endlich nach Hause fahren. Ich habe es ziemlich satt.« »Daniela!« Mit ein paar raschen Schritten war Schwester Berta bei ihr. »Wenn die Polizei Sie verhört .. . werden Sie sagen, daß Sie mich verdächtigen?« »Selbstverständlich.« »Das ... das, ich muß schon sagen, das finde ich sehr wenig kollegial.« Bei ihren heftigen Worten war ein fahles Rot in Schwester Bertas graue Wangen gestiegen. »Sie ahnen ja nicht, was ich durchgemacht habe.« »Für das, was Sie getan haben, gibt es keine Entschuldigung!« »Was soll ich tun? Was soll ich jetzt bloß tun?« Unwillkürlich rang Schwester Berta ihre knochigen Hände. »Zu Roy Erichson gehen und die Ampullen zurückverlangen«, sagte Daniela kalt. »Zu . .. aber wie kommen Sie darauf? Roy Erichson ... er hat mit der Sache nichts zu tun. Ganz bestimmt nicht!« »Lügen Sie doch nicht schon wieder«, sagte Daniela, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie satt ich Ihre Lügen habe. Begreifen Sie denn immer noch nicht, daß Sie das keinen Schritt weiterbringt?!« »Ich will ja für das geradestehen, was ich getan habe«, sagte Berta leise, »aber Roy Erichson . . . Sie dürfen ihn nicht hineinziehen, Daniela, das müssen Sie mir versprechen.« 95
»Er ist schon drin, und zwar ganz dick!« sagte Daniela. »Berta, bitte, nun nehmen Sie doch Vernunft an ! Sie wollen sich für einen Menschen opfern, der es gar nicht wert ist. Ich weiß nicht, was er Ihnen alles versprochen hat, aber ich bin ganz sicher, daß er nicht einen Bruchteil davon halten wird!« »Sie kennen ihn nicht . . . Sie kennen ihn nicht so gut wie ich.« »Berta! Sie haben sich in diesen Mann verliebt. Widersprechen Sie nicht, geben Sie es zu! Was ist schon weiter dabei! Es ist doch keine Schande. Erichson ist charmant ... er ist ganz besonders charmant. Von diesem Charme lebt er ja schließlich auch. Überlegen Sie doch mal ganz in Ruhe, Berta! Wenn Sie ihm wirklich etwas bedeuten, würde er Sie dann zu einem Verbrechen verleitet haben?« »Ich glaubte, er ... er wollte meine Liebe prüfen!« »Berta, wie kann eine so kluge Frau wie Sie, nur weil ihr Herz angerührt ist, plötzlich so dumm werden. Liebe prüfen! Glauben Sie wirklich, daß ein Mann wie Roy Erichson das nötig hat? Er kann so sicher sein, geliebt zu werden, und er ist es auch. Ich bin überzeugt, daß all diese Mädchen und Frauen, die ihn im Krankenhaus besuchen, ihn lieben. Vielleicht bildet sich sogar jede einzelne ein, gerade die zu sein, die er selber liebt.« »Das ist nicht wahr! Das sind bloß ... Verehrerinnen! Er muß sich um sie kümmern, weil .. .«
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»Hören Sie auf damit! Berta, ich flehe Sie an, hören Sie auf! Vergessen Sie nicht, ich habe eine schlaflose Nacht hinter mir!« »Ich liebe ihn«, sagte Schwester Berta eindringlich. »Ist das so schwer zu verstehen? Ich liebe ihn.« »Ihre Gefühle für Herrn Erichson interessieren mich überhaupt nicht«, sagte Daniela ruhig. »Behalten Sie es für sich. Ich weiß, was ich wissen wollte, und damit ist der Fall für mich erledigt. Ich nehme an, Sie haben schon gekündigt?« »Nein.« »Dann tun Sie es, bitte. Es wird besser für Sie sein, als entlassen zu werden. Für das Bruder-KlausKrankenhaus sind Sie nach dieser Geschichte nicht mehr tragbar. Aber Krankenschwestern werden ja gesucht. Bestimmt werden Sie sehr rasch anderswo etwas finden, und Sie können ein neues Leben anfangen.« »Danke für Ihre gütigen Ratschläge«, sagte Schwester Berta, und in ihren Augen funkelte es böse. »Ich habe gesagt, daß ich meinen Beruf aufgeben werde, und dabei bleibt es.« Als Schwester Daniela das Zimmer verließ, folgte ihr Berta auf dem Fuß, ließ sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Daniela begriff, daß sie sie wie eine Löwin angreifen würde, wenn sie sich dem Zimmer von Roy Erichson zuwendete. Ein Skandal war gerade das, was sie vermeiden wollte. So verließ Daniela denn mit raschen Schritten die Station, vergewisserte sich, daß ihr niemand folgte, eilte die Gänge entlang, die Treppen hi97
nunter. Der Krankenhausbetrieb lief schon auf vollen Touren. Dr. Georgi war nicht mehr in seinem Dienstzimmer. Daniela mußte ihn in seinem privaten Bereich aufsuchen. Der Assistenzarzt wohnte, wie die anderen Junggesellen, im obersten Stock des Krankenhauses. Da sie fürchtete, daß er sich schon hingelegt haben könnte, rief sie zuerst bei ihm an, um sich anzukündigen. Seine Stimme klang nicht sehr freundlich, aber immerhin schien er noch nicht geschlafen zu haben. Wenige Minuten später klopfte Daniela oben an die Tür seines Zimmers. Er öffnete im Schlafanzug, über den er sich einen weinroten Seidenmantel geworfen hatte. Unwillkürlich zuckte sie einen Schritt zurück. »Nanu?« fragte er mit unverhohlenem Spott. »Seit wann so zimperlich? Sie als Krankenschwester müssen doch gewohnt sein, Männer im Neglige zu erblicken.« Sie hatte sich schon wieder gefaßt, trat ein. »Ja, aber nur Patienten.« »Wo liegt da der Unterschied?« Sie ging nicht darauf ein. »Es tut mir leid, aber ich muß Sie bitten, sich wieder anzuziehen«, sagte sie ruhig. »In Ihrer Gegenwart?« »Sobald ich gegangen bin, Herr Doktor. Ich weiß, das alles ist sehr unangenehm, aber glauben Sie nur ja nicht, daß es für mich ein Vergnügen ist. Ich muß Sie bitten, sich anzuziehen und Schwester Berta zu sich zu rufen.« »Warum?« »Sie hat gestanden.« 98
Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er beeindruckt: »Donnerwetter ! Also, ehrlich gestanden, das hätte ich Ihnen nicht zugetraut!« »Es war schauderhaft«, sagte sie. »Ich mußte sehr energisch mit ihr sprechen. Dabei ... sie tut mir unsagbar leid.« »Blind verliebt, nicht wahr?« »Leider. Ihr Geständnis habe ich, das ist auch alles. Zur Vernunft habe ich sie nicht bringen können.« »Was soll ich jetzt mit ihr? Wollen Sie etwa, daß ich mich als Seelenarzt betätige?« »Natürlich nicht. Aber sprechen Sie mit ihr, lassen Sie sie ihre Aussage machen. Halten Sie sie auf. Ich werde inzwischen versuchen, die Ampullen zurückzubekommen!« »Ich fürchte, das dürfte keinen Sinn haben.« »O doch. Lassen Sie mich nur machen.« »Mit dem größten Vergnügen, verehrte Schwester!« Er verbeugte sich ironisch. »Da Sie mich in den letzten vierundzwanzig Stunden schon einmal entscheidend geschlagen haben, ziehe ich es vor, mich diesmal kampflos zu unterwerfen.« Sie mußte lächeln. »Danke.« Als sie sich zum Gehen wandte, hielt er sie am Arm zurück. »Daniela ...« »Ja?« »Ich werde anregen, daß man Ihnen einen Orden stiftet!« »Lieber nicht. Ich möchte die ganze Geschichte so schnell wie möglich vergessen.« 99
Ehe sie sich versah, hatte er sie in die Arme genommen und geküßt. Sie war so überrascht, daß sie sich erst eine Sekunde zu spät zur Wehr setzte. »Ein kleiner Dank des Hauses«, sagte er vergnügt, als er sie endlich losgelassen hatte. »Männer«, sagte sie mit blitzenden Augen, »einer wie der andere!« Wütend drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. Sie hörte den jungen Arzt hinter sich lachen. Eilig ging Daniela auf die Privatstation. Roy Erichson saß beim Frühstück. Er war nicht rasiert, aber die blauen Schatten auf den Wangen wirkten bei ihm nicht ungepflegt, sondern betonten eher noch seine Männlichkeit. »Hallo, Danielchen!« sagte er unbekümmert, noch ehe sie den Mund aufmachen konnte. »Immer herein mit Ihnen. Je früher der Morgen, desto schöner die Gäste!« »Ich glaube nicht, daß Sie sehr viel Freude an mir haben werden«, sagte sie ernst. »Da irren Sie sich aber! Sie zu sehen ist mir immer ein Genuß.« »Herr Erichson«, sagte Daniela und holte tief Luft. »Schwester Berta hat gestanden.« Nur den Bruchteil einer Sekunde zeigte er Betroffenheit, dann wurde sein Gesicht wieder zu einer heiteren Maske. »Was? Wovon reden Sie?« Er tat besorgt. »Ist Ihnen nicht gut? Sie wirken etwas verwirrt?!« »Sie sind ein ausgezeichneter Schauspieler, Herr Erichson«, sagte Schwester Daniela. »Absolut nicht nötig, 100
daß Sie mir eine Probe Ihrer Kunst geben, das habe ich Ihnen schon oft gesagt. Ich weiß, daß Schwester Berta die Morphiumampullen an sich genommen hat, und ich weiß auch, wem sie sie gegeben hat.« »Sehr interessant!« Er nahm, scheinbar ungerührt, einen Schluck Tee. »Aber warum erzählen Sie mir das?« »Ich dachte, Sie wären klug genug zu wissen, wann ein Spiel verloren ist, Herr Erichson.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Schwester Berta scheint Sie ganz schön hochgenommen zu haben, meine Liebe. Sie sollten doch diese verrückten alten Jungfern kennen. Weiß der Teufel, für wen sie das Morphium wirklich geklaut hat.« »Für Sie, Herr Erichson«, sagte Daniela ruhig. »Schön, wenn Sie davon überzeugt sind, dann beweisen Sie es mir!« Er wurde erregt. »Vierundzwanzig Ampullen Morphium, die kann man doch nicht so einfach verschwinden lassen ... durchsuchen Sie mein Zimmer, mein Bad, meine Koffer. Wenn Sie auch nur eine einzige finden ...« »Ich bin aus dem Alter heraus, in dem man sich für Versteckspiel begeistert«, sagte Schwester Daniela. »Den Gefallen, in Ihren Sachen herumzustöbern, tu’ ich Ihnen nicht. Ich bin gekommen, um Ihnen einen für Sie äußerst günstigen Vorschlag zu machen. Geben Sie die Ampullen zurück, und die Sache soll erledigt sein.« »Was heißt das? Glauben Sie mir etwa nicht, daß ich sie nicht habe?«
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»Sie vergessen, daß ich mit Schwester Berta gesprochen habe. Ich bin überzeugt, daß auch die Polizei in ihr eine durchaus glaubwürdige Zeugin sehen wird.« »Verdammt!« Roy Erichson wollte lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. »Diese Weiber! Sie taugen alle nichts, eine wie die andere.« »Ich sehe keinen Anlaß, mit Ihnen über den Wert oder Unwert meines Geschlechtes zu diskutieren, Herr Erichson«, sagte Daniela, »aber ich muß Ihnen doch sagen, daß Sie es sich sehr einfach machen. Sie haben Schwester Berta zu einer Tat angestiftet, zu der sie in normalem Zustand gar nicht fähig wäre. Sie ist keine Verbrecherin, deshalb können Sie auch keine Ganoventreue von ihr erwarten. Außerdem hat sie Ihnen mit ihrem Geständnis viel Unannehmlichkeiten erspart. Also geben Sie die Ampullen zurück?!« »Und wenn ich sie nun nicht mehr habe?« »Sie haben sie noch, Herr Erichson, dessen bin ich sicher!« »Bilden Sie sich etwa ein, daß ich sie mir als Andenken an die Klinik aufgehoben habe?« »Nein, aber ich halte es für unmöglich, daß ein Patient, solange er unter ärztlicher Kontrolle steht, sich unbemerkt vierundzwanzig Morphiumspritzen geben kann.« »Sehr scharfsichtig, liebe Schwester. Meine Bewunderung zu Ihnen wächst von Minute zu Minute. Nur versteh’ ich nicht recht, weshalb Sie das ganze Theater aufziehen. Nun gut, die Ampullen sind verschwunden. Das ist wahrscheinlich ein wenig peinlich ... hauptsächlich für Sie, die Sie für den Medikamentenschrank wohl ver102
antwortlich sind. Ich bin bereit, Ihnen aus der Patsche zu helfen. Eine Schachtel Morphiumampullen können schließlich nicht die Welt kosten. Ich werde sie bezahlen, und dann stimmt die Kasse wieder. Einverstanden?« Schwester Daniela schüttelte den Kopf. »Geben Sie die Ampullen zurück!« »Ich denke nicht daran. Wie schon die alten Römer so schön sagten ... wer im Besitz ist, ist im Recht.« »Nun, seit den alten Römern haben sich die Zeiten doch geändert, Herr Erichson. Ich habe Mittel, Sie zur Rückgabe der Ampullen zu zwingen.« »Wirklich? Das sollte mich aber überraschen.« »Ich werde den Fall der Polizei melden!« »Das, liebe Schwester enttäuscht mich aus Ihrem Mund. Der Vorschlag ist sehr wenig originell.« Daniela überhörte diese zynische Bemerkung. »Man wird Sie verhören, Schwester Berta wird, wie gesagt, als Zeugin fungieren. Ich nehme nicht an, daß es irgendwelche Schwierigkeiten geben wird, Sie zu überführen.« »Man kann mir nichts beweisen. Ich werde das Ganze für eine Intrige erklären . . .« »Na schön, versuchen Sie es!« Daniela nahm das leere Tablett vom Bettischchen des Patienten. »Selbst wenn man mir nicht glaubt«, fuhr Roy Erichson fort, »was soll’s. Schließlich, es handelt sich doch nur um ein Kavaliersdelikt. Ich bin nicht vorbestraft. Mehr als eine Geldstrafe kann’s in keinem Fall geben.«
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»Wenn Sie sich da nur nicht irren, lieber Herr Erichson«, sagte Schwester Daniela gelassen. »Eines ist jedenfalls sicher ... ob man Sie überführen kann oder nicht, Sie werden auf die Liste der Morphiumsüchtigen gesetzt. Ich hoffe, Sie wissen, was das bedeutet.« »Aber . . . man kann doch nicht . . .« »Doch, Herr Erichson, man wird sogar. Selbstverständlich wird alles in strengster Diskretion durchgeführt werden. Aber Sie wissen sicher besser als ich, wie hartnäckig und gerissen manche Journalisten sind, nicht wahr? Ich kann mir die Artikel direkt vorstellen. Roy Erichson morphiumsüchtig! Das wird ein Fressen für die Presse. Ihre Verehrerinnen werden ganz gewiß jubeln vor Begeisterung!« Er sah sie mit zusammengekniffenen Lippen an. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie so gemein sein können!« »Anscheinend ist es mit Ihrer Menschenkenntnis nicht so weit her, wie Sie sich eingebildet haben, Herr Erichson.« Sie stellte das Tablett auf dem Tisch an der Wand ab, ging zum Telefon. Als sie die Hand nach dem Hörer ausstreckte, versuchte er sie daran zu hindern. »Was soll das?« »Nichts weiter. Ich wollte nur Dr. Georgi anrufen und ihm mitteilen, daß meine Mission gescheitert ist. Sie wollen sich doch der Polizei stellen, nicht wahr?« »Sie sind wirklich unverschämt genug, von diesem Apparat aus ...« Ihm verschlug es die Sprache.
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»Warum nicht? Natürlich kann ich auch vom Schwesternzimmer aus telefonieren. Aber ich weiß wirklich nicht, wo da der Unterschied liegt.« Eine Sekunde lang starrten sie sich in die Augen, und mit Genugtuung spürte Schwester Daniela, wie er unter ihrem unerbittlichen Blick zusammensank. »Sie werden nichts dergleichen tun«, sagte er endlich müde. »Sie bekommen die Ampullen zurück.« »Noch heute?« »Gut. Noch heute. Gehen Sie jetzt!« Als sie erst das Tablett aufnahm, bevor sie zur Tür ging, verlor er plötzlich die Nerven. »Gehen Sie doch! Haben Sie nicht verstanden?!« schrie er, und mit überschnappender Stimme: »’raus!« Ohne ein Wort zu verlieren verließ Schwester Daniela das Zimmer und zog die Tür sacht hinter sich zu. »Ach, Sie haben mir geholfen«, sagte Schwester Leonie draußen und nahm ihr das Tablett ab. »Das ist nett von Ihnen. « »Herr Erichson fühlt sich nicht wohl. Schauen Sie doch bitte zu ihm hinein!« Schwester Leonie runzelte die weiße Stirn. »Ein Anfall?« »Nerven.« »Gut, daß Sie mir das sagen. Dann werde ich ihm gleich eine Beruhigungsspritze geben.« Das Schwesternzimmer war leer, und Daniela benutzte die Gelegenheit, Dr. Georgi anzurufen. »Ich bin’s, Schwester Daniela«, sagte sie, als er sich meldete.
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Sie sprach rasch weiter, damit er keine Fragen zu stellen brauchte, denn sie wußte, Berta war bei ihm. »Es ist alles in Ordnung. Er gibt die Ampullen zurück. Es wäre aber gut, wenn Sie ihn im Auge behielten . . . damit er nicht wieder umkippt.« »Ja, danke .. . ich danke Ihnen«, sagte Dr. Georgi. »Ich muß jetzt nach Hause«, sagte Schwester Daniela, »bitte, seien Sie so gut und besprechen die Sache mit Herrn Professor. Wenn Sie Berta noch ein paar Minuten zurückhalten könnten, bis ich das Haus verlassen habe...« »Wird gemacht. Ich danke Ihnen«, sagte Dr. Georgi noch einmal. Daniela legte den Hörer auf, zog ihren dunkelblauen Schwesternmantel über, nahm ihre große Tasche und warf im Hinausgehen einen Blick auf die Wanduhr. Es war zehn Minuten vor acht. Sie erschrak. Sie mußte spätestens um acht Uhr zurück sein. Aber es war unmöglich, das zu schaffen. Plötzlich erschien ihr alles andere nicht mehr wichtig. Ihr Herz war erfüllt von Liebe und Sorge um ihre kleine Tochter. Fast laufend verließ sie das Krankenhaus. Eisiger Winterwind schlug ihr entgegen. Unwillkürlich verhielt sie den Schritt. Kaum fünf Meter von sich entfernt sah sie Harald Spielmann. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, aber sie erkannte ihn sofort. Er stand halb gebückt und war dabei, die Tür seines Autos aufzuschließen.
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In dieser Sekunde dachte Daniela nicht an das, was zwischen ihnen geschehen war – ihre Liebe, seine Lüge, die bittere Trennung – all das schien ihr ganz unwichtig. Nur der eine Gedanke galt: Wenn Harald Spielmann sie in seinem Auto mitnahm, konnte sie rechtzeitig bei Eva sein. Sie lief zu ihm hin, faßte ihn beim Arm, sagte atemlos: »Harald, bitte ...« Er wandte sich ihr zu, und sie erschrak vor der Starrheit seines Gesichtes. »Du weißt es also?« fragte er. »Nein! Was? Wovon sprichst du?« »Irene ist tot«, sagte er mit steifen Lippen. »Sie ist heute nacht gestorben.« VI Als Daniela an diesem Morgen Eva versorgt hatte und sich hinlegen wollte, stellte sie fest, daß sie völlig überdreht war. Alles, was sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte – ihre Auseinandersetzungen mit Schwester Berta und mit Roy Erichson, ihre heißen Gespräche mit Dr. Georgi -, wirbelte wie ein buntes Kaleidoskop durch ihr Gehirn; Satzfetzen, die sich ihr eingeprägt hatten, tauchten immer wieder auf, ließen sich nicht löschen. Erst nach einer Tablette fand sie Schlaf. Als sie aufwachte, merkte sie sofort, daß es seltsam dunkel im Schlafzimmer war. Auch die zugezogenen Vorhänge pflegten sonst das Tageslicht nicht ganz auszuscheiden. Aber heute fiel nicht der leiseste helle 107
Schimmer ins Zimmer. Danielas Gehirn war noch ein wenig betäubt von dem Schlafmittel; sie begriff nicht sogleich, was das zu bedeuten hatte. Dann sah sie auf ihren Wecker, stellte fest, es war fünf Uhr vorbei. Sie hatte den Tag verschlafen. Mit einem Satz war sie aus dem Bett, riß die Tür zum Wohnzimmer auf – Eva saß friedlich unter dem Weihnachtsbaum inmitten ihrer sämtlichen Puppen. Zahlreiche Kissen waren auf dem Fußboden verstreut, dienten als Sitzgelegenheit und Lagerstätten für ihre große Familie. Das neue Puppenbaby hielt Eva in den Armen. Sie blickte auf, als die Mutter eintrat, lächelte vergnügt. »Aber, Eva«, sagte Daniela vorwurfsvoll, »warum hast du mich nicht geweckt?« »Och, hab’ ich ganz vergessen!« »Das ist doch nicht möglich! So was vergißt man doch nicht! Was hast du überhaupt gegessen? Ich habe doch nichts zu Mittag . . .« Eva fiel ihrer Mutter ins Wort. »Hähnchen war doch noch da«, sagte sie, »ich habe ein ganzes Bein abgeknabbert und ein Stück Brot dazu gegessen. Wirklich, Mutter, ich bin ganz satt.« »Aber das ist doch keine warme Mahlzeit!« Daniela ging durch den Raum in Richtung auf die Küche zu. »Warte nur, ich werde gleich etwas kochen!« Dann blieb sie erschrocken stehen. »Zu dumm! Ich muß ja schon bald wieder zum Dienst! Warum hast du mich bloß nicht geweckt?!«
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»Aber du mußt ja gar nicht«, sagte Eva und sprang hoch. »Hast du das wirklich vergessen, Mami? Heute hast du ja dienstfrei! Oder .. .«, ihr kleines Gesicht verdüsterte sich, ».. . ist wieder nichts damit?« »Oh, doch, Liebling, du hast ja recht! Heute nacht darf ich bei dir bleiben .. . herrje, mir scheint, ich werde krank, daß ich die wichtigsten Dinge vergesse.« »Ja, heute nacht und morgen den ganzen Tag und morgen nacht und übermorgen! Oh, Mutter, wie freue ich mich!« Daniela zog ihre kleine Tochter in die Arme und gab ihr einen zärtlichen Kuß auf die Nase. »Ich mich auch, mein Schatz, wir werden es uns ganz gemütlich machen, ja?« Atemlos, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen riß Daniela die Tür zum Schwesternzimmer auf, grüßte fröhlich. Aber ihre gute Laune fand kein Echo. Isolde, die jüngere der Schwestern drückte sich, ihren Gruß nur flüchtig erwidernd, aus dem Zimmer. Die sonst so fröhliche Lucie hob kaum den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Jähes Unbehagen überfiel Daniela. »Ist ... ist einem Patienten etwas zugestoßen?« fragte sie erschrocken. »Nein!« antwortete Schwester Lucie kalt. Sie stand auf, zog sich ihren Schwesternmantel an und verließ grußlos den Raum. Daniela blieb verwirrt zurück. Sie hatte noch niemals mit Lucie Streit gehabt, sie hatte sich überhaupt, solange sie denken konnte, mit keiner ihrer Kolleginnen gestrit109
ten. Warum behandelte Lucie sie jetzt so offensichtlich feindselig? Sie verstand es nicht, glaubte endlich, sich Schwester Lucies ablehnende Haltung nur eingebildet zu haben. Höchstwahrscheinlich waren die Kolleginnen durch irgend etwas verärgert, das nicht im geringsten Zusammenhang mit ihr stand. Daniela begann die Listen der Patienten durchzusehen, stellte fest, daß Ulli, das Mädchen mit der Blinddarmoperation, inzwischen entlassen worden war. Auch Roy Erichson hatte das Krankenhaus verlassen; Daniela maß dieser Tatsache keine Bedeutung bei, da es von vornherein festgestanden hatte, daß der Filmschauspieler nur über die Feiertage bleiben wollte. Fünf neue Patienten waren eingeliefert worden. Daniela studierte Namen, Beruf, Alter, bevor sie in die einzelnen Zimmer ging und sich vorstellte. Sie hatte herausgefunden, daß es entschieden leichter war, ein gutes Verhältnis zu einem Patienten zu finden, wenn man versuchte, sich auf die jeweilige Persönlichkeit einzustellen. Der erste Rundgang, bei dem sie sich Zeit ließ, dauerte fast eine Stunde. Die Berührung mit fremden Schicksalen und fremden Nöten lenkte sie von ihren eigenen Sorgen ab. Aber als sie ins Schwesternzimmer zurückkam, stellte sich, kaum daß sie über die Schwelle trat, das jähe, beklemmende Unbehagen aufs neue ein. Warum hatte Schwester Isolde so ostentativ das Zimmer verlassen, als sie eintrat? Warum hatte Lucie, die sonst immer fröhlich und zu einem kleinen Plausch geneigt war, so kurz angebunden mit ihr gesprochen? 110
Daniela war sich keiner Schuld bewußt. Sie war nicht einmal mehr geneigt, das seltsame Verhalten der beiden Kolleginnen auf sich zu beziehen. Dennoch hatte sie das Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie war drei Tage und zwei Nächte nicht mehr in der Klinik gewesen. Sie mußte wissen, was sich inzwischen abgespielt hatte. Möglicherweise hatte es einen schweren Zusammenstoß zwischen den Schwestern und einem der Ärzte gegeben. Daniela ging ans Telefon, wählte die Nummer der Telefonzentrale. Es dauerte einige Sekunden, bis Gisela Remagen sich meldete. »Hallo, Gisela«, sagte Daniela so gleichmütig, wie es ihr möglich war. »Wie geht’s? Glauben Sie, daß Sie später auf einen Sprung zu mir herüberkommen können?« Nach einem kurzen Schweigen erwiderte die Telefonistin: »Tut mir leid, Schwester Daniela, es wird nicht gehen!« »Aber warum nicht? Sie konnten doch sonst immer ...« »Ich habe keine Zeit !« Ehe Schwester Daniela noch eine weitere Frage stellen konnte, hörte sie, daß die Verbindung unterbrochen worden war. Sie stand lange nachdenklich, den Hörer in der Hand. Ihr Unbehagen hatte sich durch dieses Telefongespräch nur noch verstärkt. Es lag etwas in der Luft, das war ganz deutlich spürbar. Aber sie tappte völlig im dunkeln. Sosehr sie sich auch bemühte, sie fand nicht den 111
geringsten Zipfel einer Erklärung für die merkwürdige, ablehnende, ja, feindliche Art, mit der man sie behandelte. Nur eines war ihr schmerzhaft klar: Die Mißstimmung hatte keine allgemeine Ursache. Wenn es einen Krach in der Klinik gegeben hätte, würde Gisela Remagen ihr das sofort und ohne Rücksicht erzählt haben. Die kalte Feindschaft war auf sie selber ausgerichtet. Sie zermarterte ihr Hirn, aber ihr wollte nicht einfallen, mit was sie sich so unbeliebt hatte machen können. Ein Lichtsignal aus einem der Krankenzimmer riß Schwester Daniela aus den Grübeleien. Eine halbe Stunde später wurde Schwester Daniela wieder in eines der Krankenzimmer gerufen. Diesmal war es Fräulein Sollner, die Nierenkranke, die ihre Hilfe brauchte. Sie eilte sofort hinüber, schaltete die Alarmanlage um, trat ans Bett der Patientin. Mit einem gequälten Lächeln fragte sie: »Was haben Sie für einen Wunsch?« Fräulein Sollner sah sie aus ihren großen, tiefumschatteten Augen an. »Ich kann nicht schlafen ...« »Schmerzen?« »Eigentlich nicht.« »Ich würde Ihnen gerne helfen, Fräulein Sollner«, sagte Schwester Daniela, »aber Sie haben schon ein starkes Schlafmittel bekommen, nicht wahr? Ich glaube nicht, das es gut wäre .. .« »Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
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Schwester Daniela zögerte unmerklich. »Doch, natürlich«, sagte sie rasch. »Wollen Sie mir etwas erzählen?« Fräulein Sollner streckte ihr ihre magere, ein wenig feuchte Hand entgegen. »Sie sind ein Engel, Schwester! Wissen Sie eigentlich, daß Sie ein Engel sind?« Daniela errötete. »Nein! O nein, das dürfen Sie wirklich nicht sagen!« »Aber es stimmt. Sie haben selber Sorgen, schwere Sorgen. Und dennoch nehmen Sie sich Zeit, sich mit mir zu beschäftigen.« »Sorgen? Woher wissen Sie, daß ich . ..« Schwester Daniela brach ab. Sie spürte, daß sie schon zuviel gesagt hatte. »Ich bin eine ziemlich alte Patientin« sagte Fräulein Sollner, »Sie wissen, wie das ist. Alte Patienten haben Zeit. Wir hören manchmal sozusagen die Flöhe im Krankenhaus husten.« »Sie wollten mir etwas anderes erzählen, glaube ich«, sagte Daniela mit einem mühsamen Lächeln und spürte, wie ihr das Herz bis zum Halse klopfte. Aber Fräulein Sollner ließ sich nicht ablenken. »Natürlich sollen wir nichts erfahren. Man möchte uns verheimlichen, wenn ein Patient stirbt . . . ja, wir sollen nicht einmal wissen, wie es um uns selber steht. In Wirklichkeit aber erfahren wir alles, wenn wir nur wollen. Eine Bemerkung, ein unbedachter Satz, ja, auch nur ein Blick sagt es uns. Dann liegen wir da, Stunde um Stunde, und setzen uns all das, was wir gehört haben,
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zusammen. Auch Geduld gehört dazu und ein bißchen Phantasie, sonst nichts. Nicht einmal Intelligenz.« Daniela schwieg; denn darauf war kaum etwas zu sagen. Sie hielt die Hand der Patientin, streichelte sie. »Ich bin sicher, Schwester Daniela«, sagte Fräulein Sollner, »daß Sie an der ganzen unglückseligen Geschichte völlig schuldlos sind. Wie ich Sie kenne, haben Sie bestimmt nur das Beste gewollt. Bitte, lassen Sie sich nur nicht von den anderen einreden, daß Sie die Verantwortung tragen. Jeder Mensch ist für das, was er tut, immer nur allein verantwortlich.« »Wovon reden Sie eigentlich?« fragte Schwester Daniela. »Das wissen Sie nicht? Im Ernst? Oder versuchen Sie auch nur, mich dumm zu machen?« »Ich weiß nichts. Wirklich nichts.« »Das kann ich nicht glauben«, sagte Fräulein Sollner. »Sie wollen es mir bloß verheimlichen. Das ist Unsinn! Es ist eine schlechte Angewohnheit, uns Kranke wie die kleinen Kinder behandeln zu wollen. Wenn auch unser Körper nicht richtig funktioniert, so haben wir doch noch unsere fünf Sinne beisammen.« Sie richtete sich in ihren Kissen auf. »Oder hat man Ihnen etwa wirklich nichts gesagt?« Schwester Daniela schüttelte stumm den Kopf. »Das nenne ich eine Gemeinheit«, sagte Fräulein Sollner impulsiv. »Aber fühlen hat man’s Sie lassen, nicht wahr? Andeutungen hat man gemacht, spitze Bemerkungen!« 114
»Nein«, sagte Schwester Daniela ruhig, »nicht mal eine Andeutung.« »Sollten sie also wirklich zur Vernunft gekommen sein?« Fräulein Sollner runzelte die Stirn. »Das wäre mehr, als ich ihnen zugetraut hätte. Schwester Lucie war ja blaß vor Zorn, fast grün war sie. Ich hätte niemals für möglich gehalten . . .« »Bitte, Fräulein Sollner«, sagte Schwester Daniela mit bebender Stimme. »Bitte, dieses Gespräch ... ich glaube, es ist nicht gut für Sie. Warum sagen Sie lauter solche Sachen? Sie quälen mich damit. Wenn Sie etwas wissen, warum sprechen Sie es nicht aus?« »Schwester Berta hat einen Selbstmordversuch gemacht«, sagte Fräulein Sollner. »Was?« Daniela spürte, wie ihr alles Blut zum Herzen schoß. Unwillkürlich riß sie ihre Hand zurück und sprang auf. »Sie haben es also nicht gewußt«, sagte Fräulein Sollner wie befriedigt über diese ganz gelungene Entdeckung. »Sie ist heute früh eingeliefert worden. Man zweifelt, daß sie mit dem Leben davonkommen wird.« »Mein Gott, mein Gott!« stammelte Schwester Daniela »Warum regen Sie sich denn so auf«, sagte Fräulein Sollner. »Es ist nicht Ihre Schuld, ich bin ganz sicher!« »Ich habe es nicht gewollt, nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe ihr doch nur helfen wollen. Begreifen Sie! Helfen habe ich ihr wollen!« »Ist mir völlig klar. Mir brauchen Sie das nicht zu erklären. Den anderen übrigens auch nicht. Hören Sie, 115
Schwester Daniela, ich gebe Ihnen einen Rat . . . sprechen Sie mit niemandem über die Sache, tun Sie so, als wenn Sie nichts davon wüßten oder sich nicht dafür interessierten. Dann bringen Sie das Gerede am allerschnellsten zum Verstummen.« »Aber wie könnte ich das denn? Ich bin doch verantwortlich!« »Wofür? Etwa für Schwester Berta? Sie ist ein erwachsener Mensch, zehn Jahre älter als Sie selber.« »Aber ich habe es entdeckt ... ich habe sie gezwungen . .. bitte, Fräulein Sollner, seien Sie mir nicht böse, ich muß jetzt allein sein!« Daniela stürzte aus dem Zimmer. Es dauerte eine geraume Weile, bis Schwester Daniela sich von ihrem Schock erholt hatte und fähig war, wieder klar zu denken. Aber immer noch krampfte sich ihr Herz vor Entsetzen zusammen. Schwester Berta hatte einen Selbstmordversuch gemacht. Das war entsetzlich. Warum? Warum nur hatte sie es getan? Niemand außer ihr selber, Roy Erichson, Dr. Georgi und wahrscheinlich Professor Kortner wußten von dem Morphiumdiebstahl. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, diese Sache ohne Aufsehen beizulegen. Warum hatte Schwester Berta geglaubt, es nicht überleben zu können? Was mußte sie durchgemacht haben, bis sie zu diesem Entschluß kam, bis sie sogar nicht einmal mehr davor zurückgeschreckt war, ihn auszuführen! Schwester Danielas Herz war voller Mitleid.
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Sie nahm sich vor, sogleich nach Dienstschluß Schwester Berta aufzusuchen, und erst nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hatte, fühlte sie sich ein wenig besser. Als Daniela in der Frühe des nächsten Morgens in die Dritte-Klasse-Station hinübereilte, waren die Schwestern gerade damit beschäftigt, die Patienten zu wecken, zu waschen, die Betten und die Zimmer herzurichten. Dennoch hätte man üblicherweise ein freundliches Wort, ein Lächeln, einen Scherz für sie übriggehabt. Doch heute kümmerte sich kein Mensch um Daniela. Ihre Kolleginnen wandten ihr den Rücken zu, alle Gesichter schienen sich zu verschließen. Daniela litt nicht mehr darunter, wichtig war für sie nur noch Bertas Schicksal, die Reaktion der anderen war ihr gleichgültig. »Wo liegt Schwester Berta?« fragte sie mit fester Stimme, und als die Angesprochene, eine junge Lehrschwester, weitereilen wollte, hielt sie sie am Arm fest. »Wo Schwester Berta liegt, habe ich gefragt!« Das junge Mädchen errötete, schlug die Augen nieder. »Sie darf keinen Besuch empfangen!« »Wo sie liegt, möchte ich wissen!« »Im Einzelzimmer.« Schwester Daniela gab es einen Stich. Im Einzelzimmer, das bedeutete, daß das Leben der Kollegin immer noch in Gefahr war. Sie hatte vorgehabt, Schwester Berta zu sehen, mit ihr zu sprechen, sich zu verteidigen, aber unter diesen Umständen kam es natürlich nicht in Frage. Es war ausge117
schlossen, daß sie die Schwerkranke aufregte, um sich selber zu entlasten. Nachdenklich ging sie den Gang hinunter, blieb vor dem Einzelzimmer, das weit hinten, in der Nähe des zweiten Aufganges lag, stehen. Sie konnte sich nicht entschließen, so unverrichteterdinge nach Hause zu fahren. Sie fürchtete sich vor dem qualvollen Tag, der vor ihr lag. Schwestern liefen vorbei, wandten die Augen ab, wenn sie sie sahen, oder warfen ihr scheue, feindselige Blicke zu. Unberührt von allem, was um sie vorging, stand Schwester Daniela da, wartete und hoffte – sie wußte selber nicht, auf was. Dann ging die Tür des Einzelzimmers auf. Dr. Georgi kam heraus. Er wirkte frisch rasiert, ausgeschlafen und munter. Schwester Daniela wunderte sich eine Sekunde, wie er, nach dem, was alles geschehen war, so gänzlich unberührt aussehen konnte. »Herr Doktor«, sagte sie und machte einen raschen Schritt auf ihn zu, »Herr Doktor .. . wie geht es ihr?« Er zuckte die Schultern. »Entsprechend.« »Bitte«, sagte Daniela, »bitte, ich muß es wissen!« Er beugte sich zu ihr hinab, suchte ihren Blick. »Sie machen sich doch nicht etwa Vorwürfe?!« »Doch, natürlich ... es war meine Schuld, ich muß irgend etwas falsch gemacht haben .. .« »Wenn schon, dann war’s doch wohl unsere Schuld, wie? Wenn eine Operation mißglückt, ist in den seltensten Fällen die Schwester, fast immer der Arzt schuldig.« 118
»Wird sie . .. leben?« »Liegt Ihnen soviel daran?« »Wie können Sie so fragen?!« Dr. Georgi nahm sie beim Arm, führte sie sachte den Gang hinunter, um die Ecke. Er öffnete die Tür zu seinem Vorzimmer, das zu dieser frühen Morgenstunde noch nicht besetzt war, schob Daniela in sein eigenes Untersuchungszimmer. Er schwang sich auf den Schreibtisch, schlug die Beine übereinander, sah sie mit nachdenklichem Spott an. »Ich komme immer mehr zu dem Eindruck«, sagte er, »daß Sie Ihren Beruf verfehlt haben, Schwester!« »Heißt das ... Sie meinen, ich soll gehen?« »Nicht so hastig, Mädchen ... ich wollte nur ausdrücken, daß ich mich entschieden über Sie wundere! Sie sind nicht abgebrüht genug, Schwester. Sie sind ein sentimentales kleines Ding ... wenn Sie Ihr Herz nicht besser panzern, werden Sie in diesem Beruf nicht alt werden.« »Mitgefühl«, sagte Schwester Daniela, »Mitgefühl, Verständnis, Aufmerksamkeit .. . das ist für die meisten Patienten eine bessere Medizin als alles andere.« »Damit haben Sie sicher nicht so unrecht. Sie dürfen sich nur selber nicht dabei aufreiben, Schwester. Das war alles, was ich Ihnen sagen wollte. Wieso regen Sie sich zum Beispiel so über die Geschichte mit Schwester Berta auf? Warum liegt Ihnen so viel daran, daß Sie am Leben bleibt? Sie wissen genau ... wir beide wissen es, täglich sterben Menschen. Der Tod ist nicht aufzuhalten. Junge Menschen sterben, Kinder, Mütter, Familien119
väter, geliebte Menschen, die eine Lücke reißen. Schwester Berta steht ganz allein auf der Welt.« »Der Tod hat für jeden Menschen dieselbe Bedeutung«, sagte Schwester Daniela, »es ist ganz gleich, ob man geliebt wird oder nicht.« »Aber sie hat den Tod ja selber gewollt. Sie hat ja sterben wollen. Warum gönnen Sie ihr also nicht ihren Tod? Aus Feigheit und Schwäche? Weil Sie Angst haben, die Verantwortung dafür zu tragen?« Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche, hielt es ihr hin. Sie nahm sich eine, er bediente sich selber und gab ihr Feuer. »Nun rauchen Sie mal, überlegen Sie den Fall in aller Ruhe, nehmen Sie die Dinge doch nicht so tragisch, Schwester. Ich weiß schon, was passiert ist. Ihre lieben Kolleginnen haben Sie boykottiert. So was Ähnliches habe ich kommen sehen. Aber das hat meiner Meinung nach gar nichts mit Schwester Berta zu tun. Man hat schon lange einen gewissen Pik auf Sie gehabt, Schwester. Sie sind zu hübsch, zu beliebt bei den Patienten und – na, wollen wir das Kind beim Namen nennen – auch bei den Ärzten.« »Aber ...«, begann Schwester Daniela. Er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Wenn es den Damen mit ihrem Boykott ernst wäre, müßten sie mich ja wohl auch mit einbeziehen, wie?« »Nein«, sagte Schwester Daniela, »von der Morphiumgeschichte ahnt ja niemand etwas . . . oder doch?«
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Er ließ sich vom Schreibtisch herabgleiten. »Sie haben recht. Natürlich, das ist der springende Punkt. Sehen Sie, da haben wir ja schon die Lösung! Falls die lieben Kolleginnen nicht aufhören wollen, über Sie zu lästern, müssen wir die Morphiumgeschichte natürlich aufdecken. Dann stehen Sie rein da wie ein unschuldiges Engelchen, und alle müssen einsehen, daß der zwielichtige Charakter in der ganzen Angelegenheit doch nur Schwester Berta selbst ist. Am besten warten wir gar nicht länger ab, sondern . ..« »Nein«, sagte Daniela, »bitte nicht! Ich möchte nicht, daß man erfährt. . .« Er sah sie kopfschüttelnd an. »Sie sind zu sentimental, Mädchen ! Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen ! Wir müssen diese Geschichte aufklären ... Ihretwegen. Ganz im Ernst, wenn sie nun stirbt, dann bleibt die Sache ein für allemal an Ihnen hängen!« »Bitte, warten Sie noch«, sagte Daniela, »bitte!« Er drückte seine Zigarette aus. »Mir geht’s seltsam mit Ihnen, Daniela. Sie sind doch wahrhaftig der einzige Mensch, der imstande ist, mich zu etwas zu überreden, was ich ganz ehrlich durchaus nicht für richtig halte. Wären wir in dem Morphiumdiebstahl rücksichtslos vorgegangen .. .« »Aber wir sind es nicht!« Schwester Daniela hob den Kopf und sah den Arzt offen an. »Und trotz allem .. . was auch immer geschehen ist und geschehen wird .. . ich bin froh, daß wir es nicht getan haben. Vielleicht
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haben wir etwas falsch gemacht, aber wenigstens hatten wir den besten Willen zu helfen. Ich danke Ihnen!« »Für was?« fragte er erstaunt. Sie lächelte und wunderte sich selber, daß sie wieder lächeln konnte. »Daß Sie sich Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen. Jetzt ist mir wieder viel leichter ums Herz!« Tatsächlich gelang es Schwester Daniela, sich ihrer kleinen Tochter gegenüber ganz unbefangen zu geben. Aber sie konnte nicht verhindern, daß ihre Gedanken unaufhörlich um Schwester Berta kreisten. Am frühen Nachmittag ertrug sie die Ungewißheit nicht länger. Sie rief im Krankenhaus an, erfuhr aber nur, daß Berta immer noch keinen Besuch empfangen dürfte. Danielas Unruhe war so groß, daß sie eine halbe Stunde früher, als es nötig gewesen wäre, ihre Wohnung verließ. Vielleicht, so hoffte sie, waren jetzt am Abend die Chancen größer, Schwester Berta sprechen zu dürfen. Sie war sich darüber klar, daß die Schwestern ihr nicht helfen, ja wahrscheinlich nicht einmal eine Auskunft geben würden. Deshalb wandte sie sich sofort an den diensthabenden Arzt auf der Station. Es war Frau Dr. Baier, eine tüchtige und zuverlässige Medizinerin, die sich aber, weil sie sich kurz angebunden und zurückhaltend zu geben pflegte, keiner großen Beliebtheit bei dem Pflegepersonal und bei den Patienten erfreute. »Ah, da sind Sie ja!« sagte sie barsch, als Daniela eintrat. 122
»Ich möchte nur fragen . . .« »Weiß schon Bescheid.« Die Ärztin kramte auf ihrem Schreibtisch. »Hier. Das ist es doch!« Sie überreichte Daniela einen mit der Maschine beschriebenen Zettel. Daniela las, errötete unwillkürlich. Es war die Genehmigung, mit Schwester Berta sprechen zu dürfen. »Das ist furchtbar nett von Ihnen, Frau Doktor!« »Nichts zu danken. Dr. Georgi bat mich darum.« »Geht es Schwester Berta jetzt besser?« »Ja.« »Sie meinen, sie wird durchkommen?« »Theater!« sagte die Ärztin. »Wie bitte?« Daniela war verblüfft. »Theater habe ich gesagt, und Theater meine ich auch. Gibt’s nicht genug Leid auf der Welt? Muß man sich auch noch absichtlich selber einen Schaden zufügen?« »Sie meinen, Schwester Berta hat gar nicht wirklich sterben wollen?« »Uninteressant. Auf alle Fälle hat sie uns einen Haufen Scherereien gemacht. Kein Grund, sie als Märtyrerin zu feiern.« »Wer tut das denn?« »Das fragen Sie? Alle! Das ganze Krankenhaus steht kopf wegen einer Hysterikerin!« »Aber ich darf zu ihr?« »Tun Sie, was Sie nicht lassen können!« Damit wandte die Ärztin sich wieder ihrer Schreibarbeit zu. Daniela war entlassen. Der Flur vor Schwester Bertas Zimmer glich einem kleinen Wintergarten. Topfpflanzen standen neben 123
Schnittblumen, kleine neben großen Sträußen. Ohne zu fragen wußte Daniela, daß es sich um Geschenke von Schwestern, vielleicht auch von Ärzten handelte. Diese üppigen Blumengrüße wirkten sinnlos, weil die Patientin offensichtlich den Geruch nicht ertragen konnte und man sie deshalb vor die Tür stellen mußte. Aber Schwester Daniela fühlte deutlich, daß sie nicht nur gespendet waren, um Berta eine Freude zu machen, sondern vor allem, um sie zu verletzen. Daß man ungerecht zu ihr war, kränkte sie nicht, sondern reizte sie zum Widerstand. Sie klopfte kurz an die Tür, öffnete, bevor sie etwas von drinnen hörte. Elli, eine junge, sehr blonde Schwester, die gerade ihre Lehre beendet hatte, sprang auf, starrte sie an wie ein Gespenst. »Guten Abend«, sagte Daniela ruhig, »ich habe Erlaubnis, mit Schwester Berta zu sprechen.« »Sie . .. Sie haben . . .?« stotterte Elli. »Ja. Bitte, gehen Sie!« sagte Daniela. »Aber ... ich darf nicht. Die Oberschwester hat gesagt. . .« »Ich übernehme die Verantwortung.« Daniela schob die junge Schwester beiseite und trat zum Bett der Kranken, die sehr blaß, die Augen geschlossen, in den Kissen lag. Ihre Handgelenke waren dick verbunden, sie hatte offensichtlich versucht, sich die Pulsadern durchzuschneiden. Daniela schoß es durch den Kopf, daß dies für eine Schwester, die von Berufs wegen mit allen Giften und 124
Medikamenten vertraut war, eine sehr seltsame Art war, Selbstmord zu begehen. Aber vielleicht hatte sie zusätzlich eine Überdosis eines Schlafmittels genommen. Daniela beugte sich zu der Kranken, sagte sehr herzlich: »Berta! Wie geht es Ihnen? Ich bin’s, Daniela!« Die Kranke lag, ohne sich zu rühren. Ihr Atem ging flach, ihre Lippen waren farblos und wirkten sehr trocken. »Berta, bitte! Reden Sie doch mit mir! Sehen Sie mich an!« Danielas Stimme wurde drängender, und als die Kranke immer noch nicht reagierte, fügte sie impulsiv hinzu: »Warum haben Sie das getan?« Schwester Berta öffnete die Augen, und ihr schwarzer, funkelnder Blick war so haßerfüllt, daß Daniela unwillkürlich zusammenschrak. »Das fragen Sie?« stieß Berta mit einer zugleich heiseren und schrillen Stimme hervor. »Sie? Sie wagen es?« Sie schlug ihre Hände vors Gesicht, schluchzte auf. »Ach, warum habt ihr mir das angetan! Warum habt ihr mich nicht sterben lassen? Wenigstens sterben lassen!« Verzweifeltes Schluchzen schüttelte ihren Körper. »Gehen Sie!« sagte Schwester Elli, die das Krankenzimmer nicht verlassen hatte, sondern nahe der Tür stehengeblieben war. »Gehen Sie jetzt! Sie sehen doch, daß Sie die Patientin nur aufregen!« Aber noch war Daniela nicht bereit, aufzugeben. »Berta, bitte«, sagte sie mit zitternder Stimme, »bitte, lassen Sie mich doch erklären ...«
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»Nein!« Bertas Stimme überschlug sich. »Nein! Ich will nichts hören! Nichts mehr von Ihnen! Sie ... Sie haben alles zerstört!« »Wenn Sie jetzt nicht sofort gehen«, sagte Schwester Elli drohend, die Hand an der Klingel. Daniela richtete sich auf und wandte sich von der Kranken ab. Es war nicht die Geste der jungen Schwester, die sie erschreckte. Sie wußte, daß sie im Recht war. Sie hatte ja die Erlaubnis des Arztes, Berta zu besuchen. Ihre Kolleginnen würden nicht wagen, sie mit Gewalt aus dem Zimmer zu werfen. Aber auch in den Augen der jungen Schwester stand etwas wie Haß, Daniela glaubte das unausgesprochene Wort »Mörderin« zu lesen. »Habe ich Ihnen jemals etwas getan, Elli?« fragte sie verzweifelt. »Mir nicht!« sagte das junge Mädchen heftig. »Auch Berta nicht, Sie müssen mir glauben . ..« »Ich glaube nur, was ich sehe!« Schwester Daniela gab es auf. Sie verließ das Zimmer, trat auf den Flur hinaus. Als sie die Tür hinter sich ins Schloß drückte, überfiel sie Schwäche. Sie mußte die Augen schließen, die Knie unter ihr wurden weich, sie lehnte sich an die Mauer, holte tief Luft, versuchte sich zu beruhigen. Sie war einer Ohnmacht nahe und hörte nicht die Schritte, die sich ihr näherten. Erst als sie eine warme, junge Stimme dicht an ihrem Ohr hörte, schlug sie die Augen auf. 126
Schwester Leonie stand vor ihr, ein leichtes Lächeln um den schönen Mund, Mitgefühl in den großen blauen Augen. »Nehmen Sie’s nicht so schwer, Daniela!« sagte sie warm. Bei dieser unerwarteten freundlichen Ansprache war es mit Danielas Fassung zu Ende. Zittern überfiel ihren ganzen Körper, Tränen stiegen ihr in die Augen. »Oh, nicht! Bitte... nicht!« sagte Schwester Leonie erschrocken, legte ihren Arm um Danielas Schulter. Daniela schluckte, versuchte zu lächeln, aber sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Leonie überlegte, sah sich um, führte Daniela dann kurz entschlossen einige Schritte den Gang hinunter, öffnete eine Tür und schob sie in ein Zimmer. Blind vor Tränen, brauchte Daniela einige Sekunden Zeit, bis sie erkannte, wo sie war. Leonie hatte sie in den kleinen Operationssaal gebracht. »Setzen Sie sich erst mal«, sagte Leonie und drückte sie auf einen Behandlungssessel. »Setzen Sie sich und beruhigen Sie sich! Oder weinen Sie sich aus, vielleicht ist es das, was Ihnen guttun wird!« »Ich...« sagte Daniela und holte tief Luft, »ich fürchte . .. ich muß Ihnen schrecklich dumm vorkommen!« »Durchaus nicht. Scheußliche Situation für Sie. Ich kann es Ihnen durchaus nachfühlen.« »Wirklich?« Daniela putzte sich kräftig die Nase, brachte ein Lächeln zustande, sagte: »Sie sind so nett zu mir, Leonie!«
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»Überhaupt nicht. Sagen Sie lieber, die anderen benehmen sich wie die Verrückten. Ich möchte wirklich wissen, was denen in die Krone gefahren ist!« »Sie wissen es nicht?« sagte Daniela erstaunt. »Doch, natürlich, ich weiß schon, was man gegen Sie hat, Daniela... aber ich verstehe nicht, was man für ein Theater daraus macht. Schließlich kann man Ihnen ja keinen Vorwurf daraus machen, daß Berta sich in diesen Filmschauspieler verknallt hat!« »Roy Erichson?« fragte Daniela und versuchte die Zusammenhänge zu begreifen. »Aber ...« »Ja, seinetwegen wollte sie aus dem Leben gehen. Alle glauben, Sie sind es, die ihn ihr ausgespannt hat. Weil sie immer irgend etwas geredet hat, als sie noch nicht ganz bei sich war. Oder waren das bloß Phantasien? Stimmt es etwa gar nicht?« »Ich... ich habe ihn ihr nicht ausgespannt! Was für eine Idee!« sagte Daniela. »Es war... es war alles ganz anders, Leonie, das müssen Sie mir glauben!« »Tu ich ja. Ohne weiteres. Mir kam die ganze Sache von Anfang an spanisch vor. Aber Sie wissen wie so etwas geht. Ein Gerede kommt auf, es geht von Mund zu Mund, und plötzlich glauben alle daran.« »Es ist nicht wahr. Es ist ganz bestimmt nicht wahr!« »Gut«, sagte Leonie, schwang sich auf den Operationstisch und schlug die langen, schlanken Beine übereinander. »Ich weiß, daß Sie nicht lügen, aber eines müssen Sie mir dann doch erklären... warum hat Berta solch eine Wut auf sie. Ich habe mit ihr gesprochen, ich mußte 128
nämlich für ein paar Stunden die wachhabende Schwester vertreten, und dabei hatte ich den Eindruck, daß sie Sie haßt. Warum?« Daniela rang hilflos die Hände. »Ich kann es Ihnen nicht erklären!« »Ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen schwerfällt, aber Sie sollten es tun, Daniela. Sie müssen die Dinge richtigstellen, sonst bleibt irgend etwas an Ihnen hängen. Ich bin sicher, daß sich die Gemüter nach einiger Zeit wieder beruhigen. Aber vergessen und verzeihen wird man Ihnen diese Sache nie, wenn Sie sich nicht verteidigen.« »Ich würde es ja tun, Leonie«, sagte Daniela verzweifelt, »glauben Sie mir, ich könnte es auch. Bloß ... um Bertas willen darf ich es nicht.« Daniela überlegte, wie sie Leonie die Sache erklären konnte, ohne die Wahrheit zu enthüllen. »Ich wollte Berta ja nur helfen«, sagte sie ein wenig mühsam, »ich wollte ihr Schwierigkeiten ersparen. Ich habe es wirklich nur gut gemeint, Leonie!« »Hören Sie, Daniela, so hat es doch keinen Sinn. Wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben... ich nehme Ihnen das nicht einmal übel... beenden wir das Gespräch. Ansonsten möchte ich Sie doch bitten, mir die Wahrheit zu sagen. Ich bin weder ein Baby noch eine klatschsüchtige alte Jungfrau. Was Sie mir jetzt erzählen, bleibt in diesen vier Wänden, jedenfalls solange Sie es verlangen. Glauben Sie mir?«
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»Ja«, sagte Daniela, »ja. Natürlich. Aber, bitte... es ist nicht mein Geheimnis, es geht um Berta. Deshalb ist es so wichtig, daß nichts herauskommt.« »Schon verstanden. Also?« »Ich habe neulich nachts ... es war in der Silvesternacht.. . entdeckt, daß vierundzwanzig Ampullen Morphium aus dem Medikamentenschrank fehlten.« Daniela holte tief Luft, sie spürte, wie gut es tat, sich endlich aussprechen zu dürfen. »Ich hatte Berta im Verdacht, und das stimmte auch. Sie hatte die Ampullen genommen und Roy Erichson gegeben. Ich wollte die Sache vertuschen. .. verhindern, daß die Polizei hinzugezogen würde. Deshalb habe ich die Ampullen von Roy Erichson zurückverlangt. Das ist alles.« Schwester Leonie wickelte eine widerspenstige rote Locke, die unter ihrem Häubchen in die Stirn fiel, nachdenklich um ihren Zeigefinger und sagte: »Da sieht man’s mal wieder, es ist ein undankbares Geschäft, sich in die Angelegenheit anderer Leute zu mischen.« »Was hätte ich denn tun sollen?« sagte Daniela. »Anzeige erstatten?« »Sicher.« »Aber dann ... Berta hätte nie wieder als Schwester ...« »Na und? Das will sie ja gar nicht. Sie hat die Ampullen gestohlen, um sich Roy Erichson zu verpflichten. Wenn sie seinetwegen ins Gefängnis gewandert wäre, hätte er sich nachher um sie kümmern müssen. Das wäre ihr die Sache wahrscheinlich wert gewesen.«
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»Ach so«, sagte Daniela, »nein, so habe ich den Fall nie gesehen! Sie meinen also... aber warum hat sie dann überhaupt zugegeben, daß sie die Ampullen Roy Erichson gegeben hat?« »Wahrscheinlich haben Sie es ihr auf den Kopf zugesagt, nicht wahr? Sie war nicht kaltblütig genug. Das wird es auch sein, was Roy Erichson ihr vorgeworfen hat.« Daniela sprang auf. »Alles gut und schön, aber, bitte, Leonie, seien Sie mir nicht böse, mir kommt diese ganze Erklärung doch sehr an den Haaren herbeigezogen vor. Was will sie denn überhaupt mit Roy Erichson? Ich bin sicher, er hat sich von Anfang an nur einen Spaß aus ihr gemacht. Oder was sonst? Wenn ich mich nicht sehr irre, ist er doch verheiratet .« »Sie will ja nicht seine Frau werden«, sagte Schwester Leonie, »bewahre, wo denken Sie hin. Soweit versteift sich die gute Berta ja gar nicht. Sie will bloß um ihn herum sein dürfen, ihn bedienen, als so eine Art Haushälterin und Faktotum, das ist es, was ihr vorschwebt.« »Ja, aber was hat sie denn davon?« Leonies Gesicht wurde ernst. »Haben Sie nie den Wunsch, Daniela, der Krankenhausatmosphäre zu entrinnen? Haben Sie nie manchmal alles satt? Den Karbolgeruch, die Bett-Schüsseln, den Tratsch, dieses Ungesunde, Quälende, Ermüdende?« »Nein«, sagte Daniela ehrlich, »nie. Es ist ja mein Beruf.«
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»Schwester Berta ist sicher mehr als fünfzehn Jahre älter als wir beide. Sie können sich also ausrechnen, wie lange sie in der Krankenpflege arbeitet.« »Ja, aber das ist doch immer noch kein Grund«, sagte Daniela, »es muß doch Menschen geben, die sich um die Kranken kümmern. Niemand ist doch hilfloser und hilfsbedürftiger als ein Kranker. Natürlich ist es nicht immer ein Vergnügen ... aber es ist doch ein Beruf, der einem unbedingt Befriedigung gibt. Wenn es einem gelungen ist, einem Kranken eine körperliche Erleichterung zu verschaffen oder ihm auch nur einen seelischen Zuspruch zu geben, dann hat man wirklich etwas Nützliches getan, etwas, was gilt. Ich weiß nicht, ob Sie mich wirklich verstehen.« Daniela trat dicht auf Leonie zu. »Hören Sie«, sagte sie, »wollen Sie mir einen Gefallen tun? Ich möchte nicht mehr zu Berta hineingehen, es regt sie nur unnütz auf. Werden Sie ihr von mir ausrichten, daß ich die Sache in Ordnung bringen werde?« »In Ordnung bringen? Aber wie denn? Das ist doch ...« »Ich verspreche es ihr. Werden Sie ihr das sagen?« »Na gut. Aber ich zweifle sehr daran... aber, bitte, schließlich ist das Ihre Sache.« »Es wird sicher noch eine Weile dauern«, sagte Daniela, »sagen Sie ihr, daß sie Geduld haben muß. Bevor ich nicht dienstfrei habe, kann ich nichts machen.« »Ich verstehe.«
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»Hoffentlich«, sagte Daniela und biß sich auf die Unterlippe, »hoffentlich... ich meine, passiert ihr bis dahin nichts ! « »Nur keine Sorge. Sie kommt morgen früh in die Nervenabteilung, da ist sie sicher wie in Abrahams Schoß.« »Ich danke Ihnen, Leonie«, sagte Daniela, »und... Sie werden hin und wieder nach Berta sehen? Nicht wahr, das versprechen Sie mir?« VII Als es am nächsten Nachmittag bei Daniela schellte, wußte sie sofort, daß das Harald Spielmann war. Wenn sein Kommen sie einerseits auch verärgerte, weil sie nach ihrer erregten letzten Aussprache eine Trennung ohne Kompromisse für das richtigste hielt, so war sie andererseits doch froh und empfing ihn freundlicher, als er erwartet hatte. Nun war das Problem, wie sie am Sonntag zu Roy Erichson kommen sollte, gelöst. »Bitte, geh ins Wohnzimmer, ich koche uns rasch einen Kaffee.« Dann verschwand sie in der Küche. Schon nach ganz kurzer Zeit kam Daniela wieder, ein Tablett mit Kaffeegeschirr, Weihnachtsgebäck und der Kanne vor sich hertragend. Sie schenkte ein, setzte sich hin. »Harald«, sagte sie, bevor sie noch einen Schluck Kaffee genommen hatte, »du mußt mir einen Gefallen tun!« »Jeden«, sagte er sofort. »Was gibt’s?« 133
»Die Nacht zum Sonntag habe ich frei...« »Ach, möchtest du mit mir ins Theater gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Harald, das nicht! Ich wollte dich bitten, mich Sonntag früh nach BadenBaden zu bringen ! « »Ja, natürlich«, sagte er erstaunt, »aber was willst du da?« »Ich habe dort etwas zu erledigen.« »Sehr befriedigend ist diese Auskunft nicht.« »Na, wenn du es genau wissen willst... in Baden-Baden wohnt Roy Erichson, der Filmschauspieler, du kennst ihn sicher vom Kino her. Er hat bei uns in der Klinik gelegen und ... es gibt da noch etwas zu ordnen.« »Im Auftrag des Professors?« »Nicht direkt«, sagte sie ausweichend. »Bist du etwa in diesen Kerl verliebt? Willst du ihm nachlaufen?« »Nein, Harald, wirklich nicht«, sagte sie und ärgerte sich, daß sie rot wurde. »Davon kann keine Rede sein. Ich schwöre es dir.« »Dann verstehe ich nicht...« »Du brauchst es ja auch nicht zu verstehen, Harald. Alles, um was ich dich bitte, ist, mich nach Baden-Baden zu fahren.« Harald Spielmann war im Grunde froh, ihr einen Gefallen tun zu können. Aber was sie in Baden-Baden wollte, konnte er nicht begreifen. »Du bist früher noch nie auf die Idee gekommen, einen Sonntagsausflug nach Baden-Baden zu machen!« sagte er mißtrauisch. 134
Daniela seufzte. »Harald“, sagte sie, »kannst du nicht ein bißchen Vertrauen zu mir haben! Glaub mir doch, es ist wichtig, daß ich mit Roy Erichson spreche. Du tätest mir wirklich einen großen Gefallen, wenn du jetzt aufhören würdest, Fragen zu stellen.« »Und . .. was machen wir mit Eva? Willst du sie allein zu Hause lassen?« »Wir nehmen sie natürlich mit!« Er nahm einen Schluck Kaffee, bot ihr sein Zigarettenpäckchen an. »Gut«, sagte er, während er ihr Feuer gab, »wollen wir mal unterstellen, es hätte wirklich einen Sinn für dich, mit Roy Erichson zu sprechen. Bist du ganz sicher, daß er augenblicklich in Baden-Baden ist?« »Er hat dort sein Haus!« »Schon. Aber soviel ich weiß, sind diese Schauspieler dauernd unterwegs.« »Ich muß es riskieren.« »Findest du nicht selber, daß das ziemlich idiotisch ist?« »Nein, Harald, ganz bestimmt nicht. Wenn ich erst mal in Baden-Baden bin, werde ich auch herausbekommen, wo Roy Erichson sich aufhält. Schriftlich kann ich das nicht.« »Und wenn du’s weißt? Wirst du dann nach München fahren oder nach Berlin?« »Wenn es sein muß, ja.« »Na, dann kann ich bloß hoffen, daß dieser Herr nicht gerade einen Film in Hollywood dreht. Du bist imstande, dich als blinden Passagier auf einen Ozeandampfer zu schmuggeln.«
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Sie lachte. »Ich bin dir wirklich dankbar, Harald, ich wußte ja, du würdest mich nicht im Stich lassen.« Das Haus des Filmschauspielers Roy Erichson lag an einem Hang des Schwarzwaldes oberhalb von BadenBaden. Es war ringsum von einer hohen weißen Mauer umgeben. Die kleinen Fenster zur Straße hin waren ornamental vergittert. An demhohen schmiedeeisernen Gartentor gab es eine kupferne Klingel, aber kein Türschild. »Hier muß es sein«, sagte Daniela zu Harald und Eva, »wartet draußen auf mich, sehr lange wird es nicht dauern. Wenn es euch zu kalt wird, fahrt am besten ein bißchen spazieren.« »Bist du sicher, daß du überhaupt hineinkommst?« sagte Harald Spielmann stirnrunzelnd. »Ich muß!« sagte Daniela und drückte energisch auf die Klingel. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich etwas rührte. Dann endlich öffnete sich die Haustür. Ein junger Mann, wahrscheinlich ein Diener, kam mit raschen Schritten über den blankgefegten, gepflasterten Weg zum Gartentor, fragte, als er Daniela sah: »Sie wünschen, bitte?« »Ich möchte Herrn Erichson besuchen!« Als sie sah, daß der Diener sie mißtrauisch musterte, fügte sie rasch hinzu: »Ich binSchwester Daniela aus der Bruder-KlausKlinik ! Ich habe Herrn Erichson etwas Wichtiges auszurichten.« »Warten Sie bitte!« 136
Der Diener drehte sich um und ging ins Haus zurück. Danielas Herz klopfte bis zum Hals. Sie machte Harald und Eva, die immer noch warteten, mit der Hand ein Zeilen. Eines glaubte sie jetzt wenigstens sicher zu wissen Roy Erichson war zu Hause. Aber würde er sie auch empfangen? Wie, wenn er sie einfach nicht vorließe? Aber diese Befürchtungen waren unbegründet. Nach einigen Minuten kam der Diener zurück, öffnete das schmiedeeiserne Tor, führte Daniela zum Haus. »Herr Erichson läßt bitten«, sagte er formell. Der riesige Raum, den Daniela betrat, wirkte wie eine übermoderne Filmdekoration. Die langgestreckte Rückwand aus einer einzigen Glasfläche, die den Blick über eine Terrasse hinweg auf eine verschneite Rasenfläche und schöne alte Föhren freigab, durch deren kahle Äste man die Dächer der tief unten liegenden Stadt schimmern sah. In starkem Gegensatz zu der weißen Winterlandschaft, die fast im Raum stand, wirkte das golden lodernde Feuer in dem großen offenen Kamin, die honiggelben Kerzen, die in vielarmigen Leuchtern flackerten. Roy Erichson stand hinter der elegant geschwungenen Hausbar aus mattpoliertem Palisanderholz, ein schöngeschliffenes Kristallglas vor sich, eine Flasche mit einem bunten Etikett in der Hand, und sah Daniela ohne Lächeln entgegen. Sie fühlte sich sehr benommen, kam sich aufdringlich und unerzogen vor. »Guten Tag, Herr Erichson«, sagte
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sie leise, »es ist sehr nett von Ihnen, mich zu empfangen.« Er antwortete nicht, goß sich zwei Finger hoch von der goldbraunen Flüssigkeit in sein Glas, fragte, den Kopf zum Kamin gewandt: »Für dich auch, Liebling?« Jetzt erst sah Daniela die überschlanke junge Frau in einem Hausanzug aus Leopardenfell, die auf dem Boden vor dem Kaminfeuer hockte und aus einer langen Zigarettenspitze rauchte. Sie hatte schwarzes, kurzgeschnittenes, ein wenig zerzaustes Haar und war, was Daniela überraschte, nicht im geringsten geschminkt. Daniela erkannte sie auf den ersten Blick. Es war Yvonne Mattis, ein Pariser Mannequin, das Roy Erichson vor zwei Jahren in fünfter Ehe geheiratet hatte. Sie sah noch interessanter aus als auf den Fotografien, die Daniela in Filmzeitschriften von ihr gesehen hatte – ihre sehr dunklen, ein wenig schräg geschnittenen Augen wirkten exotisch, ihr großer blasser voller Mund war außerordentlich schön geschwungen. »Bitte, ja«, sagte Yvonne auf die Frage ihres Mannes, fügte dann sehr rasch etwas in französischer Sprache hinzu, das Daniela nicht verstehen konnte, dessen Sinn sie aber durchaus zu verstehen glaubte: »Wer ist diese Frau? Was will sie? Wie kann sie es wagen, hier einzudringen? Warum hast du sie empfangen?« »Es tut mir leid, wenn ich störe«, sagte Daniela zaghaft, »aber ich muß Sie dringend sprechen, Herr Erichson. Wirklich dringend.«
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Er antwortete nicht, sah sie nicht einmal an, sondern trug nur behutsam die beiden Gläser zum Kaminfeuer hinüber. Er überreichte das eine Yvonne und setzte sich dann in einen schwarzbezogenen Sessel, der so außerordentlich modern war, daß Daniela ihn gar nicht für eine Sitzgelegenheit gehalten hatte. Daniela wurde es siedend heiß. Sie fühlte sich in ihrem einfachen Wintermantel in dieser Umgebung fast spießbürgerlich und völlig fehl am Platz. Der Diener hatte ihr keine Gelegenheit gegeben, abzulegen. Oder lag es an ihr? Hatte sie etwas falsch gemacht? »Darf ich?« fragte sie mit plötzlichem Entschluß, schlüpfte, ehe sie noch eine Antwort bekam, aus ihrem Mantel, warf ihn über einen kastenförmigen Hocker. Mit beiden Händen fuhr sie sich ordnend durch ihr volles kastanienbraunes Haar, trat mit raschen Schritten zu dem Kamin. »Was wollen Sie von meinem Mann?« fragte Yvonne. Ihre Stimme klang eher neugierig als unfreundlich. »Woher kennen Sie ihn?« »Ich bin Schwester im Bruder-Klaus-Krankenhaus«, sagte Daniela. »Sie haben meinen Mann gepflegt?« »Ich bin Nachtschwester«, sagte Daniela und wurde noch unsicherer. Es schien so, als wenn Roy Erichson seiner Frau nichts von den Zwischenfällen seines Klinikaufenthaltes erzählt hatte. Durfte sie ihn jetzt bloßstellen? Yvonne Mattis wandte sich an ihren Mann: »Sie ist sehr hübsch«, sagte sie mit ihrem reizenden, nur eben 139
angedeuteten französischen Akzent, »warum hast du sie mir unterschlagen?« Roy Erichson antwortete nicht. Er sah versonnen in sein Glas. Fast schien es Daniela, als ob er lächelte. »Sie sehen die Situation ganz falsch, gnädige Frau«, sagte sie rasch, »ihr Gatte hat sich in keiner Weise für mich interessiert . ..« »Aber Sie für ihn?« »Auch das nicht.« »Nun... was dann? Wollen Sie nicht endlich herausrücken mit der Sprache?« »Ich fürchte . . .«, sagte Daniela zögernd. »Wenn Sie glauben, ich werde Sie jetzt mit meinem Mann allein lassen, dann haben Sie sich geirrt!« erklärte Yvonne energisch. »Ich weiß wirklich nicht...« Daniela sah unentschlossen zu Roy Erichson. Er weidete sich an ihrer Verlegenheit. »Wenn Sie es nicht wissen, wer dann?« sagte er spöttisch. »Warum sagen Sie nicht, was Sie auf dem Herzen haben. Wie ich Sie kenne, wird es sich wohl um eine kleine Erpressung handeln!« Daniela schoß das Blut ins Gesicht. »Sie sind unverschämt!« sagte sie kalt. »Sie vergessen, daß ich hier zu Hause bin!« Yvonne Mattis richtete sich auf, sah von Daniela zu ihrem Mann. »Worum geht es? Weshalb streitet ihr euch?«
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»Ungeladene Gäste«, sagte Roy Erichson, »müssen sich auch unangenehme Wahrheiten sagen lassen! Ich bin gespannt, mit was Sie mir diesmal drohen werden .. . wieder mit der Polizei? Das wird allmählich langweilig.« »Ich . .. ich habe Ihnen mit keinem Wort gedroht.« »Sie haben Ihr Gesicht nicht gesehen, als Sie hereinkamen . . . wie eine Löwin, die kurz davor steht, ihr Opfer zu zerreißen.« »Sie haben eine sehr lebhafte Phantasie, Herr Erichson«, sagte Daniela, die allmählich ihr Selbstvertrauen wiedergewann, »ich bin nicht gekommen, um Sie in irgendeiner Form unter Druck zu setzen. Ich habe nur eine Bitte ...« »Eine Bitte? Sie an mich? Ich glaube, da sind Sie an die falsche Adresse gekommen.« »Oh, ich weiß, was Sie wollen!« rief Yvonne Mattis naiv und klatschte vergnügt in die Hände. »Ein Autogramm, habe ich nicht recht?« »Sie haben Schwester Berta versprochen, sie bei sich anzustellen«, sagte Daniela. Roy Erichson zuckte die Achseln. »Habe ich das? Mag sein.« »Ich bin gekommen, um Sie zu bitten ...« Daniela trat noch einen Schritt näher, »bitte, lösen Sie Ihr Versprechen ein, Herr Erichson, bitte!« Er schwenkte die Flüssigkeit in seinem Glas. »Ich denke gar nicht daran.«
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»Was hast du versprochen?« fragte Yvonne. »Du wolltest eine Schwester zu dir nehmen? Warum?« »Bitte, Liebling, halt den Mund. Ich werde dir alles später erklären.« Yvonne schmollte ein wenig. »Es ist nicht schön, sich Sachen anzuhören, die man ganz und gar nicht versteht.« »Wenn es dir nicht paßt, dann laß uns allein, Yvonne. Ich bin dir bestimmt nicht böse.« »O nein. Ich denke nicht daran«, sagte Yvonne und streckte sich wie zur Bestätigung ihrer Worte wieder der Länge nach vor dem Kaminfeuer aus. »Schwester Berta hat mich in eine scheußliche Lage gebracht«, sagte Roy Erichson. »Das wissen Sie ganz genau. ich sehe deshalb keinen Grund, warum ich mich in irgendeiner Form um sie kümmern sollte.« »Sie hat einen Selbstmordversuch gemacht«, sagte Daniela. »Meinetwegen!« Er lachte rauh. »Das werden Sie mir nicht einreden!« »Aber es ist so. Sie hatte ihre ganze Hoffnung, aus dem Krankenhaus herauszukommen, in eine andere Atmosphäre .. . sie hat es nicht begriffen, warum Sie sie einfach haben fallenlassen wie ... wie eine heiße Kartoffel.« »Ich habe ihretwegen eine Menge Ärger gehabt«, sagte Roy Erichson unbehaglich.
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»Ihretwegen? Na, da muß ich Ihnen aber widersprechen . .. an dem Ärger, den Sie gehabt haben, sind im Grunde genommen doch nur Sie selber schuld!« Yvonne lachte belustigt auf. Er warf ihr einen verweisenden Blick zu, der sie nicht im geringsten beeindruckte. »Wenn sie jetzt tot wäre . . .«, sagte Daniela. »... müßten Sie sich Vorwürfe machen«, ergänzte Roy Erichson trocken. »Aber Sie können es anscheinend nicht lassen, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Oder hat Schwester Berta Sie etwa geschickt?« »Sie ist noch nicht außer Gefahr, Herr Erichson. Ich kann nicht glauben, daß Sie so herzlos und verantwortungslos sind, wie Sie sich geben wollen!« »Was erwarten Sie eigentlich von mir?« »Daß Sie Ihr Versprechen wahrmachen!« »Nach allem, was geschehen ist?« »Schwester Berta können Sie deswegen keinen Vorwurf machen, höchstens mir! Und ich verlange ja gar nichts von Ihnen, Herr Erichson ... nichts für mich selber, meine ich.« »Ich weiß, Sie sind ein ausnehmend bescheidenes Mädchen«, sagte er höhnisch. »Oh, langsam, ich beginne zu verstehen!« sagte Yvonne Mattis. »Roy hat versprochen, einem Mädchen namens Berta, es zum Film zu bringen! Ist es nicht so! Dieses dumme Mädchen hat nun geglaubt jedes Wort, und
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nachher, als er war fort, war sie sehr verzweifelt, nicht wahr?« »Nicht ganz, gnädige Frau«, sagte Daniela. »Herr Erichson hat einer Kollegin von mir versprochen, sie als Hausdame anzustellen, verstehen Sie? Für den Haushalt!« »Ja?« Yvonne richtete sich auf. »Warum hast du mir nichts davon erzählt, Liebling? Das ist ja wundervoll!« »Bitte, halte dich da ’raus!« sagte er unfreundlich. »Du begreifst ja gar nicht, um was es geht.« »Schwester Berta ist sehr tüchtig. Sie ist eine unserer tüchtigsten Schwestern!« erklärte Daniela und sah dabei Yvonne Mattis an. »Ich bin sicher, sie wird sich sehr rasch auf die Erfordernisse eines Privathaushaltes umstellen können.« »Ja, aber sie hat. .. nachher will sie dann doch zum Film!« »Ganz bestimmt nicht«, sagte Daniela mit Nachdruck, »Schwester Berta ist mindestens vierzig Jahre alt.« Yvonne lachte, schlug sich dann rasch mit der schmalen, sehr gepflegten Hand vor den Mund, als sie das zornige Gesicht ihres Mannes sah. »Zum Teufel, warum können Sie uns nicht endlich in Ruhe lassen?« brüllte Roy Erichson unbeherrscht. »Mich interessiert weder Schwester Berta noch sonst irgend jemand aus dem ganzen verdammten Krankenhaus.« Daniela wurde blaß, aber sie sagte mit fester Stimme: »Warum haben Sie mich dann überhaupt empfangen?« 144
»Das fragen Sie noch? Weil meine Frau darauf bestanden hat. Deshalb. Weil ich sie überzeugen wollte, daß...« Er unterbrach sich, schüttete den Rest seines Getränkes hinunter, sagte: »Stellen Sie sich doch nicht so an, Schwester! Sie wissen genau, was meine Frau bei Ihrem plötzlichen Auftauchen annehmen mußte. Es ist eine ausgesprochene Unverschämtheit von Ihnen, mich hier einfach zu überfallen. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nie erlebt. Eine Frechheit... so etwas von einer Frechheit!« »Es tut mir leid«, sagte Schwester Daniela mit zitternden Lippen, »es... es war auch für mich nicht angenehm. Aber ich mußte es tun. Ich mußte es wenigstens versuchen.« Sie war nahe daran, aufzugeben. »Wann kommt nun diese Schwester Berta zu uns?« fragte Yvonne Mattis. »Herr Erichson will sie nicht haben«, erklärte Daniela. »Nicht? Du willst nicht? Warum willst du nicht? Du weißt, wie sehr ist knapp Personal in Deutschland. Wir könnten sie beschäftigen hier in dieses Haus . . . oder auch in unserer Wohnung in Berlin.« »Schluß damit! Begreifst du denn wirklich nicht, daß diese Person ...«, er machte eine Kopfbewegung zu Daniela hin, »mich nur erpressen will?« »Ich. . . nein, jetzt versteh’ ich gar nichts mehr«, sagte Yvonne. Daniela holte tief Luft. »Herr Erichson, Sie wollen Schwester Berta nicht mehr haben, gut, das habe ich verstanden. Aber sind Sie sich darüber klar, daß sie so 145
leicht an keinem Krankenhaus mehr ankommen wird? Jetzt, nachdem sie diesen Selbstmordversuch gemacht hat?« »Ist mir völlig gleichgültig. Wenn sie so tüchtig ist, wie Sie behaupten, wird sie ja leicht anderswo eine Stellung im Haushalt finden.« »Sicher würde sie das, wenn sie überhaupt noch die Kraft dazu aufbringt, sich um etwas zu kümmern«, sagte Daniela. »Aber ich glaube, es hat keinen Zweck, Ihnen das zu erklären. Sie wollen mich nicht verstehen. Sie sind voreingenommen, und Sie hassen mich. Warum? Wem wäre geholfen gewesen, wenn ich es damals auf eine polizeiliche Untersuchung hätte ankommen lassen? Ihnen? Oder Berta? Nein, ich glaube ganz gewiß nicht. Eher im Gegenteil. Ich habe es getan, um Ihnen beiden Unannehmlichkeiten zu ersparen, Ihnen und Berta. Aber Berta haßt mich genau wie Sie. Sie glaubt, daß ich ihr Leben zerstört habe.« Daniela hatte, während sie dies sagte, an Roy Erichson vorbei ins lodernde Kaminfeuer geblickt. Jetzt hob sie die Augen, sah ihn gerade an. »Trotzdem«, sagte sie, »wenn ich noch mal in eine ähnliche Situation geraten würde, ich würde es genauso machen. Ich bin nach wie vor überzeugt, daß wir Menschen nicht nur für uns selber verantwortlich sind, sondern auch für die anderen, die uns brauchen. Auch wenn wir keinen Dank dafür ernten. Auch wenn alles schiefzugehen scheint. Man darf sich nicht drücken. Man darf es nicht.« 146
»Eigentlich«, sagte Roy Erichson, und seine Stimme klang verändert, »eigentlich müßten doch Sie uns hassen, weil wir Ihnen soviel Schwierigkeiten gemacht haben. Hassen Sie uns ? « »Nein«, sagte Schwester Daniela, und mit einem kleinen Lächeln fügte sie hinzu: »Das soll nicht heißen, daß ich nicht wütend wäre ... oh, wütend war ich oft. Ich hätte Sie und Schwester Berta mit den Köpfen gegeneinanderstoßen mögen.« »Danke. Wenigstens sind Sie ehrlich.« Schwester Daniela seufzte: »Aber nicht diplomatisch genug. Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, und statt Ihnen zu schmeicheln, wie es klug wäre, schimpfe ich mit Ihnen.« »Sie sind eine ganz gerissene kleine Hexe«, sagte Roy Erichson. »Sie wissen sehr gut, wie Sie einen Mann weich machen können. Es ist Ihnen wieder einmal prächtig gelungen, mich zu beschämen.« »Das wollte ich nicht. Oder doch. Sammeln Sie feurige Kohlen auf mein Haupt... stehen Sie jetzt zu Schwester Berta. Sie tun damit wirklich ein gutes Werk und außerdem... Ihre Gattin hat ja vollkommen recht, Schwester Berta kann Ihnen nur nützlich sein. Sie wird sicher niemals belastend wirken.« Roy Erichson stand, sein Glas in der Hand, auf und trat hinter die Hausbar. »Na schön«, sagte er, »Schwester Berta kann bei mir anfangen, sobald sie wieder gesund ist.« Er schenkte sich wieder aus der Flasche mit dem
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bunten Etikett goldgelbe Flüssigkeit in sein Glas. »Ich sehe schon, anders werde ich Sie nicht los.« »Ich wußte, daß Sie zu Ihrem Wort stehen würden!« Daniela kam ein paar Schritte näher. »Sie sind sehr viel besser, als Sie sich geben, das habe ich von Anfang an gewußt.« »Für Schmeicheleien ist es schon zu spät«, sagte er mit erhobenen Augenbrauen. »Würden Sie, bitte, ein paar Zeilen an Schwester Berta schreiben? »Schreiben? Ah, daher weht der Wind. Sie trauen mir nicht? Sie wollen’s schriftlich haben?« »O nein, das nicht!« widersprach Daniela rasch. »Nur... Berta würde sich wahnsinnig freuen, wenn Sie ...« »Nicht auch, wenn Sie ihr von meinem Entgegenkommen erzählen?« »Herr Erichson. Das ist doch nicht dasselbe!« »Habe ich auch nicht behauptet. Jedenfalls würde es genügen, finde ich.« Daniela runzelte die Stirn. »Sie wollen sich an mir rächen, Herr Erichson, das ist nicht sehr nett von Ihnen. Bitte, lassen Sie mich nicht länger zappeln. Schreiben Sie die paar Zeilen an Schwester Berta... tun Sie es jetzt gleich!« Sie sah ihn flehend an. Harald Spielmann und Eva hatten vor dem Haus gewartet, weil sie geglaubt hatten, Daniela würde sehr bald wieder erscheinen. Aber als eine Viertelstunde verging, ohne daß sich die Haustür öffnete, hatte Harald Spiel-
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mann sich dann doch entschlossen, eine kleine Spazierfahrt zu machen. Eva war nicht sehr begeistert von dieser Idee gewesen. »Bitte, warten wir doch noch einen Augenblick, Onkel Harald!« sagte sie. »Mutter wird bestimmt gleich wieder rauskommen!« »Sie hat doch selber vorgeschlagen, daß wir ein bißchen durch die Gegend fahren sollen!« »Ja, aber wenn sie gleich rauskommt und wir sind weg?« »Dann muß eben mal sie zur Abwechslung warten.« Eva merkte, daß Onkel Harald schlechter Laune war, und so wagte sie ihm nicht zu widersprechen. Sie hatte selten Gelegenheit auszufahren, und so wäre sie ganz glücklich und zufrieden gewesen, wenn sie nicht immer an ihre Mutter hätte denken müssen. Außerdem war es ihr unheimlich, mit Onkel Harald allein zu sein. Sie war noch nie allein mit ihm zusammen gewesen, außer zu Hause in ihrer Wohnung, und da hatte sie immer gewußt, daß die Mutter im Nebenzimmer war. »Willst du nicht nach vorne kommen?« fragte Harald Spielmann nach einer Weile. »Ich könnte halten und ...« »Nein!« »Was heißt denn nun wieder .. . nein! Es sitzt sich ja viel schöner vorne .. . außerdem siehst du mehr.« »Ich.. . ich sehe hier hinten ganz gut!« Eva drückte sich verängstigt ganz in die Ecke zurück. »Du bist ein verrücktes Ding!« sagte Harald Spielmann. Er hätte sich gerne mit Eva unterhalten, aber Eva ant-
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wortete nur kurz und fast unverständlich mit ja und nein. »Sollen wir zurückfahren?« fragte er, als sie etwa eine Viertelstunde durch den verschneiten Wald gefahren waren. Endlich klang Evas Stimme etwas lebhafter. »O ja, bitte!« sagte sie rasch. »Ist es nicht schön hier?« »Doch«, sagte Eva, dann fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu: »Aber ich muß immerzu an Mutter denken. Wenn sie nun auf der Straße steht und friert.« Genau daran dachte Harald Spielmann auch, aber mit anderen Gefühlen als Eva. Ihm bereitete die Vorstellung der hilflosen, frierenden, verzagten Daniela eine seltsame Genugtuung. In Gedanken ganz bei Daniela und seinen Problemen, fuhr Harald Spielmann ein wenig zu schnell und unachtsam. Erst als der Wagen ins Schleudern geriet, besann er sich. Mit Anstrengung gelang es ihm, das Fahrzeug wieder in die Gewalt zu bekommen. Eva hatte kurz erschrocken aufgeschrien. »Alles in Ordnung«, sagte er, »du brauchst keine Angst zuhaben!« »Ist es ... glatt?« fragte Eva mit ganz kleiner Stimme. »Ein bißchen. Nicht schlimm. Es ist gut gestreut. Aber wenn Schnee liegt, muß man immer aufpassen.« Er bog von der Höhenstraße auf die Privatzufahrt ab, die zu Roy Erichsons Haus führte.
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Eva lehnte sich über den leeren Vordersitz, strengte ihre Augen an – sie wollte so gerne die Mutter als erste entdecken. Aber niemand stand vor der Villa des Filmschauspielers. »Sie ist fort!« sagte Eva, maßlos enttäuscht. Harald Spielmann verlor die Nerven. »Red nicht solchen Quatsch!« fuhr er sie an. »Was heißt denn das ... fort? Wieso soll sie denn fort sein?« Eva schwieg erschrocken, sie war den Tränen nahe. Er bedauerte sofort, mit dem Kind geschrien zu haben. »Sie ist höchstens wieder hineingegangen«, sagte er. »Warte, das werden wir gleich haben.« Er drückte heftig auf die Hupe, zweimal lang, einmal kurz, zweimal lang, wie sie es sich zum Zeichen gemacht hatten. Aber nichts rührte sich. »Ich werde mal klingeln«, sagte Harald Spielmann, aber er rührte sich nicht von seinem Platz hinter dem Steuer. Er mochte nicht ins Haus gehen, weil er Angst hatte, eine schlechte Figur abzugeben, sich lächerlich zu machen. Er wußte, daß er nur den Diener hätte bitten müssen, Daniela daran zu erinnern, daß sie draußen warteten, aber auch das wollte er nicht. Daniela sollte nichts von seiner Ungeduld spüren. »Also fahren wir los!« sagte er, nachdem sie zehn Minuten vor der Haustür gewartet hatten. Er ließ den Motor an. »Bitte, nicht!« sagte Eva. »Bitte... ich will nicht! Wenn sie nun kommt!«
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So saßen sie schweigend, warteten, mit steigender Ungeduld. Er ließ den Motor laufen, um das Auto wenigstens warm zu halten. Eva preßte die Nase gegen die Fensterscheibe und blickte unentwegt zu dem großen schmiedeeisernen Tor hin, als wenn sie dadurch die Mutter zwingen könnte, endlich herauszukommen. Harald Spielmann war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden, als Eva rief: »Da ... da ist sie!« Fast in einem Atemzug schrie sie los, obwohl die Wagenfenster geschlossen waren und Daniela sie wahrscheinlich gar nicht hören konnte: »Mutter! Mutter!« Harald Spielmann hielt sich die Ohren zu. »Oh, verdammt, brüll doch nicht so!« sagte er zornig. Einen Augenblick dachte er daran, auszusteigen und Daniela die Wagentür zu öffnen, aber er unterließ es ganz bewußt. Er war wütend, und sie sollte merken, daß er wütend war. Aber Daniela war viel zu vergnügt, als daß ihr seine Ungezogenheit überhaupt auffiel. Sie riß die Wagentür auf, setzte sich neben Harald, sagte fröhlich: »Fahr los! Wir können!« Sie wandte sich zu Eva um: »War’s lustig, Liebling? Habt ihr euch viel angeguckt?« Sie tätschelte Evas Hand, sagte zu Harald Spielmann: »Wie wär’s, wenn wir jetzt in Baden-Baden mal ganz schick Mittagessen würden?« »O ja!« rief Eva, die all ihren Kummer schon vergessen hatte. »Ich hab’ einen riesigen Hunger!« »Ich, ehrlich gestanden, auch«, sagte Daniela vergnügt. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ach, Harald, ich 152
kann dir nicht sagen, wie erleichtert ich bin. Stell dir vor, es hat alles geklappt. Aber es war gar nicht so einfach.« Er blickte verbissen geradeaus. »Ihn zu verführen? Das kann dir doch nicht schwergefallen sein.« Ihr verschlug es für eine Sekunde die Sprache. »Harald!« war alles, was sie sagen konnte. »Hältst du mich tatsächlich für einen kompletten Idioten?« »Sprich nicht so zu mir ... und nicht in diesem Ton!« »Du hast mir gar keine Vorschriften zu machen. Du vergißt wohl, daß du auf mich angewiesen bist.« »Ich? Auf dich? Du mußt wahnsinnig sein, so etwas zu behaupten!« »Etwa nicht? Daß er dich hatte abholen lassen, soviel wert bist du deinem feinen Liebhaber offensichtlich nicht gewesen!« »Du weißt nicht mehr, was du redest, Harald«, sagte sie und drückte ganz fest Evas kleine Hand, die sich von hinten zu ihr hingeschoben hatte. »Hör nicht auf das, was Onkel Harald sagt, Eva. Es stimmt nicht! Kein Wort davon stimmt.« ,.! du dann mal, bitte, so freundlich sein, mir zu erklären, was du bei diesem Kerl gesucht hast?« »Warum interessiert dich das?« »Hör mal, jetzt hab’ ich aber genug!« Er schaltete so wütend, daß die Gänge knirschten. »Du hast mir gesagt, daß du etwas mit diesem Kerl zu besprechen hättest. Gut, ich habe dir geglaubt. Ich habe damit gerechnet, 153
daß du vielleicht eine Viertelstunde bei ihm bleiben würdest. Aber weißt du, wie lange du drin warst? Weißt du’s?« Sie warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. »Es tut mir leid, Harald«, sagte sie, »ich hätte die Sache gerne schneller erledigt. Es gibt doch solche Situationen. Das solltest du wissen.« »Nein«, sagte er hart. »Du tust mir unrecht, Harald, mehr kann ich dir nicht sagen. Ich habe gedacht, du würdest mich besser kennen.« »Kennen? Dich? Was weiß ich denn von dir?« »Harald, komm, jetzt hör auf damit!« »Ich denke gar nicht daran! Es muß einmal gesagt werden! Ich weiß nichts von dir, gar nichts. Du arbeitest auf der Privatstation des Professors, du pflegst Männer, reiche Männer, die für eine kleine Gefälligkeit gerne etwas springen lassen ...« Sie unterbrach ihn heftig. »Harald! Ich will kein Wort mehr von diesem Unsinn hören! Was ist denn in dich gefahren. Du sagst Dinge, die du selber nicht glaubst. .. die du nicht glauben kannst ! Willst du dich an mir rächen, weil ich dich habe warten lassen? Oder was ist los mit dir?« »Ich möchte endlich Klarheit zwischen uns schaffen«, sagte er hartnäckig. »Ich bin nicht der Meinung, daß irgendwelche Unklarheiten zwischen uns bestehen«, sagte Daniela energisch.
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»Aber wenn du glaubst, mir Szenen machen zu müssen . . . dann doch bitte nicht gerade, wenn Eva bei uns ist.« »Du hast diese Situation heraufbeschworen, nicht ich.« »Ich weiß, es war ein Fehler, mich von dir nach BadenBaden fahren zu lassen, es war überhaupt ein Fehler, nicht rigoros Schluß mit dir zu machen, und zwar ganz energisch und ohne alle Kompromisse. Aber ich habe niemals gedacht, daß du dich in der Art benehmen würdest, Harald ! Wirklich nicht! Trotz allem, was geschehen ist.« »Jetzt siehst du’s aber ein!« fragte er höhnisch. »Ich kann mir schon vorstellen, daß dein Filmschauspieler dir günstigere Angebote machen kann! Bitte, das war deine Sache! Aber mich dazu benutzen, um . ..« »Halt!« sagte sie. »Genug. Ich habe genug. Laß uns aussteigen!« Sie fuhren gerade am Theater in Baden-Baden vorbei. »Hier?« fragte Harald Spielmann verdutzt. »Ist das dein Ernst?« »Ja«, sagte Daniela sehr bestimmt. Seine Stimmung schlug sofort um. »Hör mal, Daniela, du kannst doch nicht... ich hab’s ja nicht so gemeint.. .« »Bitte, halte an! Ich habe keine Lust, mich länger von dir beschimpfen zu lassen!« »Aber, Daniela, nun hör mal. . . wenn ich dir nun verspreche, ich werde kein Wort mehr über die ganze Sache verlieren...«
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»Es wäre das erste Versprechen, das du halten würdest. Nein, ich will nicht mehr. Ich kann diese Art von Gesprächen weder mir noch Eva zumuten.« An der Ecke stand ein Schutzmann und regelte den Verkehr. Harald Spielmanns Wagen mußte warten. Daniela erfaßte blitzschnell die Situation. Sie öffnete erst Evas Tür, dann ihre eigene, sagte: »Rasch, Eva!« und sprang aus dem Wagen. Sie hatte Eva kaum zu sich auf den Bürgersteig gezogen, als der Schutzmann den Seitenverkehr stoppte und den Wagen aus der anderen Richtung Vorfahrt gab. Es blieb Harald Spielmann nichts anderes übrig, als weiterzufahren, denn hinter ihm setzte schon ein Hupkonzert ein. Daniela packte Eva bei der Hand und lief mit ihr in eine Seitengasse. Falls Harald bei der nächsten Gelegenheit parkte, um sie zu suchen, sollte er sie nicht finden. Erst als sie sich in Sicherheit fühlen konnten, blieben sie atemlos stehen. »Das war prima!« sagte Eva begeistert. »Dem sind wir fein entwischt.« »Der steht im Stall und macht muh!« tadelte Daniela lächelnd. »Entschuldige, Mutti. .. aber du weißt schon, wie ich’s meine . .. Onkel Harald. Der hat wohl ’ne Schraube locker, wie?« »Wie du redest! Wo hast du denn das gelernt?!« »Im Kindergarten natürlich, Mutti!« Daniela lachte und zog ihrer kleinen Tochter die Zipfelmütze über die Ohren, die sich bei ihrem raschen 156
Lauf verschoben hatte. »Aber bestimmt nicht von eurem Fräulein, nicht wahr?« sagte sie. »Gehen wir jetzt essen?« fragte Eva. »Ganz fein, wie du versprochen hast?« »Ja, natürlich, du hast ja Hunger!« Siedend heiß überfiel Daniela der Gedanke, ob sie auch genügend Geld eingesteckt hatte. Sie öffnete hastig ihre Handtasche, zog ihr Portemonnaie heraus. Im vorderen Fach waren nur ein paar Groschen, hinten steckte, klein zusammengefaltet, ein Zehnmarkschein. »Na, prima«, sagte Eva, die sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, um sich nichts entgehen zu lassen, »das ist doch sicher ’ne Menge . . . oder?« »Fürs Essen wäre es genug«, sagte Daniela ausweichend und begann alle Fächer ihrer Handtasche zu durchstöbern. »Los! Dann gehn wir doch!« Daniela ließ die Handtasche sinken. »Eva ... wir müssen doch auch noch heimfahren.« »Aber nicht wieder mit Onkel Harald!« »Natürlich nicht. Was denkst du denn? Den würden wir ja nicht einmal mehr finden, wenn wir wollten.« »Ich will es nicht. Ich bestimmt nicht!« »Wir müssen mit dem Zug fahren. Wenn ich bloß wüßte, wieviel eine Karte bis Freiburg kostet... du brauchst ja glücklicherweise noch nichts zu bezahlen.« Daniela sah ihre kleine Tochter nachdenklich an. »Das Beste wird sein, wir gehen erst mal zum Bahnhof. Komm!«
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Sie nahm Eva bei der Hand, und beide zogen mit großen Schritten los. Daniela hatte eine ungefähre Ahnung, wo der Bahnhof liegen mußte, sie war schon einmal in Baden-Baden gewesen. Heute, am Sonntag, war nicht viel Verkehr auf den Straßen, die übrigens hier unten in der Stadt ganz schneefrei waren. Sie kamen rasch voran, Daniela geriet nicht ein einziges Mal in Versuchung, vor einem der eleganten Läden stehenzubleiben. Sie war zu unruhig. Eva bemühte sich, mit der Mutter Schritt zu halten. Sie schien das unverhoffte Abenteuer zu genießen, plauderte unentwegt munter drauflos und ließ sich durch Danielas einsilbige Antworten gar nicht stören. Mit klopfendem Herzen eilte Daniela die Treppe zum Bahnhof hinauf. Auch hier war es sonntäglich still. Nur ein Fahrkartenschalter war besetzt. Daniela klopfte gegen die Scheibe. »Guten Tag!« sagte sie. »Bitte, ich möchte . .. wieviel kostet eine Fahrkarte nach Freiburg?« Der Schalterbeamte war jung, hatte ein glattrasiertes, sympathisches Gesicht. »Einfach?« fragte er. »Ja, ganz einfach«, sagte Daniela rasch, »Personenzug zweiter Klasse.« »Acht Mark.« Daniela atmete auf, schenkte dem Mann hinter dem Schalter ein rasches Lächeln. »Danke, das ist gut. Dann, bitte geben Sie mir eine Fahrkarte!« »Mit welchem Zug wollen Sie fahren?« »Ich weiß noch nicht. Mit dem nächsten Personenzug.« 158
Eva stand dicht neben ihr. »Wir haben uns nämlich mit Onkel Harald verzankt«, plauderte sie drauflos, »und deshalb müssen wir mit der Eisenbahn zurückfahren.« Daniela errötete. Der Schalterbeamte lachte. »Na, sowas!« sagte er amüsiert. »Du willst also auch mit nach Freiburg fahren?« »Natürlich! « sagte Eva. »Ich gehöre doch zu meiner Mutter.« »Wie alt bist du denn?« »Fünf Jahre!« »Na, dann brauchst du ja auch eine Fahrkarte!« »Nein!« sagte Daniela erschrocken. »Eva doch nicht! Sie ist ja noch so klein!« »Kinder über vier Jahre müssen auf der Bahn bezahlen. Ganz gleich, ob sie klein oder groß sind.« Er lächelte Daniela ermunternd zu. »Es kostet ja nur die Hälfte.« Daniela erschrak jetzt wirklich. »Die Hälfte?« fragte sie. »Also noch mal vier Mark? Soviel hab’ ich gar nicht.« »Ja, was machen wir denn da?« fragte der Schalterbeamte, ganz bestürzt über Danielas Situation. »Ich ... ja, ich weiß auch nicht. ..«, stotterte Daniela. Der Schalterbeamte zog nervös die Augenbrauen zusammen. Er hätte Daniela liebend gerne geholfen, ihr den Rat gegeben, Eva durchzuschwindeln, oder ihr angeboten, die Fahrkarte für sie zu bezahlen. Aber das eine verbot ihm die Pflicht, das andere wagte er einfach nicht. Daniela war inzwischen zu einem Entschluß gekommen. »Dann möchte ich gar keine Fahrkarte!« sagte sie.
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»Aber...«, begann der Schalterbeamte, der immer noch versuchte, sich zu einem Entschluß durchzuringen, zögernd. »Danke... vielen Dank!« Daniela ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. »Komm jetzt, Eva!« Hand in Hand liefen Mutter und Tochter aus dem Schalterraum hinaus. Erst auf dem Bahnhofsvorplatz blieben sie aufatmend stehen. »Was ist nun, Mutter?« fragte Eva. »Können wir gar nicht fahren?« »Nein.« »Bin ich schuld?« Eva blickte ihre Mutter ganz verstört an. »Nein, Liebling, du ganz bestimmt nicht. Du konntest ja nicht wissen ... es ist zu dumm!« »Was machen wir nun?« »Das muß ich mir auch erst überlegen. Reg dich nicht auf, Liebling, Mutter wird schon irgendwas einfallen.« »Ich hab’ solchen Hunger!« »Ich weiß. Aber jetzt können wir doch nicht essen gehen. Erst muß ich wissen... ich muß jemanden anrufen! Komm, ich muß sehen, wo ich meinen Zehnmarkschein gewechselt kriege, und dann suchen wir eine Telefonzelle.« Daniela war sich klargeworden, daß sie alleine aus dieser verzwickten Situation nicht herausfinden konnte. An wen sie sich aber um Hilfe wenden sollte, das wußte sie auch dann noch nicht, als sie schon, den Hörer in der Hand, in der Telefonzelle stand. 160
Roy Erichson? Nein, das war ganz ausgeschlossen. Außer ihm kannte sie niemanden in Baden-Baden. Also mußte sie jemanden aus Freiburg um Hilfe bitten. Aber wen? Es mußte jemand sein, der telefonisch zu erreichen war und ein Auto hatte. Die wichtigste Voraussetzung allerdings war, daß er tatsächlich eine Unbequemlichkeit auf sich nehmen würde, um ihr zu helfen. Die Nachbarn, bei denen Eva öfters spielte, waren nette Leute, aber sie hatten weder ein Telefon noch ein Auto. Also schieden sie aus. Gisela Remagen, die Telefonistin des Bruder-KlausKrankenhauses besaß zwar kein Auto, aber einen Führerschein, und Daniela wußte, daß sie, wenn sie ihren freien Tag hatte, das Auto ihres Vaters benutzen durfte. Daniela war nahe daran, sie anzurufen, aber dann tat sie es doch nicht. Ihr Verhältnis zu Gisela war in letzter Zeit nicht sehr erfreulich gewesen. Schwester Leonie! Ja, Schwester Leonie meinte es gut mit ihr, auf sie war Verlaß. Wenn sie auch selber kein Auto hatte, würde sie doch bestimmt irgend etwas in die Wege leiten, um Daniela zu helfen. Aber Schwester Leonie hatte heute, am Sonntag, keinen Dienst. Daniela wußte ihre Telefonnummer nicht auswendig, und da kein Postamt geöffnet war, wo sie ein Telefonbuch von Freiburg hätte einsehen können, mußte sie auch Schwester Leonie fallenlassen. Wer blieb also übrig? Nur jemand, der im BruderKlaus-Krankenhaus arbeitete, denn das war, wie Daniela plötzlich erkannte, die einzige Nummer, die sie aus161
wendig wußte. Dr. Wörgel hatte heute Dienst, ihn würde sie erreichen können. Aber ausgerechnet Dr. Wörgel? Er würde niemals verstehen, daß sie sich von Harald Spielmann nach Baden-Baden hatte fahren lassen. Sie verstand es ja jetzt selber nicht mehr. Nein, Dr. Wörgel kam nur im äußersten Notfall in Frage. Wen gab es dann noch? Dr. Georgi. Er hatte zwar heute dienstfrei, das wußte sie, aber er wohnte ja im Krankenhaus. Daniela sah auf ihre Armbanduhr. Es war inzwischen zwei Uhr vorbei, nicht sehr wahrscheinlich, daß sie ihn erreichte. Aber sie mußte es versuchen. Sie wählte die Vornummer von Freiburg, den Hauptanschluß des Bruder-Klaus-Krankenhauses, ließ sich mit der Nummer von Dr. Georgi verbinden. Das Freizeichen ertönte, aber niemand meldete sich. »Lieber Gott«, sagte Daniela aus tiefster Seele. »Lieber Gott, laß ihn da sein!« »Wen?« fragte Eva. »Wer soll da sein?« Daniela schüttelte den Kopf. »Bitte, Liebling, sei ganz still... es ist wirklich zu ärgerlich.« Sie wollte den Hörer gerade einhängen, als Dr. Georgi sich meldete, sehr atemlos, als wenn er gelaufen wäre. »Gut, daß Sie da sind!« sagte sie erleichtert. »Hier spricht Schwester Daniela.« »Sie? !« sagte Dr. Georgi erstaunt. »Ja, es tut mir leid, daß ich Sie ausgerechnet am Sonntag störe . . .«
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Sie hörte ihn lachen. »Macht nichts. Ein armer Junggeselle wie ich läßt sich gerne mal zu einer Tasse Kaffee einladen.« »Darum handelt es sich nicht, Herr Doktor ...« »Nicht? Na, wenn ich das gewußt hätte, wäre ich nicht gelaufen. Als ich das Telefon klingeln hörte, dachte ich ...« »Herr Doktor«, unterbrach sie ihn, »ich rufe aus BadenBaden an. Ich bin in einer sehr unangenehmen Situation.« Er schaltete sofort. »Roy Erichson?« »Ja, deshalb bin ich hier. Aber .. .« »Ist er .. . unverschämt geworden?« »Nein, das nicht, nur.. . bitte, ich werde Ihnen alles erklären, aber. .. ich sitze hier in Baden-Baden fest, am Bahnhof. Ich habe nicht genug Geld für die Heimfahrt.« Einen Augenblick sagte er gar nichts. Daniela wartete atemlos auf seine Reaktion. Plötzlich lachte er schallend. »Na, so was!« sagte er. »Das sieht Ihnen wieder mal ähnlich, Daniela. Kein Mensch außer Ihnen würde es fertigbringen .. .« »Ich bin nicht allein«, sagte sie, »meine kleine Tochter ist bei mir... ich habe heute abend Dienst. Verstehen Sie, Herr Doktor...« »Vollkommen! Wo sind Sie?« »In Baden-Baden am Bahnhof!« »Gut, ich komme ! Ich . ..« Was Dr. Georgi sonst noch sagen wollte, erfuhr Daniela nicht mehr. Die Sprechzeit war abgelaufen, die Verbin163
dung unterbrochen. Sie überlegte, ob sie noch einmal anrufen sollte, aber es hatte keinen Sinn. Dr. Georgi wußte Bescheid, er würde kommen. Das wichtigste war gesagt. »Gehen wir jetzt endlich essen?« fragte Eva. »Ja, jetzt gehen wir!« VIII Sie aßen im Bahnhofsrestaurant, Eva mit großem Appetit, während Daniela kaum etwas hinunterbrachte. Jetzt, nachdem sie Dr. Georgi angerufen hatte, verstand sie gar nicht mehr, wie sie es fertiggebracht hatte. Es war, genau überlegt, doch wirklich eine Frechheit, den Arzt an seinem freien Sonntag zu bitten, ihretwegen nach Baden-Baden zu fahren. Mit Unbehagen dachte Daniela an die Heimfahrt. Sie zerbrach sich den Kopf, was Sie Dr. Georgi sagen, wie sie die Situation erklären sollte. Daniela sah auf ihre Armbanduhr. Es war jetzt drei. Zwei Stunden würde Dr. Georgi mindestens für die Fahrt brauchen, wenn nicht noch mehr. Es war ein Warten voller Unruhe. Auch ihre Tochter konnte sie nicht ablenken. Immer wieder sah Daniela auf die Uhr und dann auf die Tür. Endlich wurde ihr Warten belohnt. »Da ist er!« sagte sie erleichtert. »Gott sei Dank!« »Wer?« fragte Eva töricht. Daniela antwortete nicht. Sie sprang auf, lief Dr. Georgi entgegen. »Noch nie!« sagte sie, »noch nie in meinem 164
ganzen Leben habe ich einen Menschen so herbeigesehnt wie Sie ! « »Soll ich das als Kompliment nehmen?« fragte er grinsend. Sie wurde rot. »Nein, natürlich nicht. Nur... es ist wirklich furchtbar nett, daß Sie gekommen sind!« »Sie machen schon Sachen! Ganz ehrlich, wenn ich nicht gekommen wäre ... was hätten Sie dann getan?« »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht einmal gewagt, daran zu denken!« Auch Eva war aufgestanden. Sie starrte Dr. Georgi aus großen Augen an. »Na«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen, »du bist wohl, wenn mich nicht alles täuscht, Gwendolina?« »Nein«, sagte sie ernsthaft, »ich heiße Eva.« »Wirklich? Du machst Witze. Ich weiß genau, daß du Gwendolina heißt!« »Das stimmt nicht!« Er drohte mit dem Finger. »Es ist eine sehr schlechte Angewohnheit, junge Dame, älteren Leuten zu widersprechen.« »Mutter, bitte, sag ihm doch ...« »Reg dich nicht auf, Eva, der Herr Doktor macht nur Witze, weißt du!« »Ha«, sagte Eva, »das ist aber eine komische Art, Witze zu machen! Dann werde ich zu Ihnen immer. . . immer . . .« Sie suchte nach einem Wort: »Onkel Mecki sagen!« platzte sie heraus.
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Er krauste die Nase, strich sich mit der Hand über seine kurzgeschnittene Igelfrisur. »Du bist nicht auf den Mund gefallen, junge Dame«, sagte er und tat so, als ob er sich ärgerte. »Also sind wir quitt, Eva.« Er wandte sich an Daniela. »Wir müssen sicher noch bezahlen, oder...« Sie lachte. »Nein. Ganz so abgebrannt war ich nicht. Bezahlt habe ich schon.« »Um so besser, dann können wir gleich.« Daniela half Eva in ihr Mäntelchen, setzte ihr die Zipfelmütze auf. Dr. Georgi hielt ihr selber den Mantel hin. Dr. Georgis kleiner Sportwagen stand auf dem Bahnhofsvorplatz. Eva schlüpfte hinter dem Vordersitz durch, Daniela setzte sich neben Dr. Georgi nach vorne. Die winterliche Dämmerung war schon eingebrochen. Es war sehr kalt, der Motor brauchte eine Zeitlang, bis er ansprang. »Hoffentlich schaffen wir’s«, sagte Dr. Georgi. »Sie meinen . ..?« fragte Daniela erschrocken. »Es waren da ein paar sehr unangenehme Stellen hinter Uffenburg, so halb getauter Schnee, wissen Sie. Wenn das gefriert, na danke.« »Aber wir müssen es schaffen. Ich habe ja heute abend Dienst!« Er sah sie von der Seite an. »Ihren Dienst zu versäumen, das wäre für Sie wohl das Schrecklichste?« »Das Schrecklichste? Nein.« sagte sie ernsthaft. »Das wäre, wenn Eva etwas zustieße, glaube ich.« »Ach ja«, sagte er, »unsere Gwendolina habe ich fast vergessen. Na, wie geht’s dir denn, Gwendolina?« 166
»Ganz gut, Onkel Mecki!« sagte sie. »Bist du müde, Liebling?« fragte Daniela. »Leg dich doch einfach hin und ruh dich etwas aus!« »Gute Idee!« stimmte Dr. Georgi ihr zu. »Da hinten liegt übrigens auch eine Decke. Soll ich halten?« »Nein«, sagte Eva, »kann ich auch so.« »Aber zieh dir bitte die Schuhe aus, wenn du dich langstreckst!« mahnte Daniela. Als Eva sich hingelegt hatte, schwiegen sie wie auf Verabredung eine ganze Weile. Dann sagte Daniela, nachdem sie einen Blick zurückgeworfen hatte, leise: »Ich glaube, jetzt schläft sie.« »Ein liebes Kind«, sagte er, »sieht übrigens Ihnen sehr ähnlich.« »Eva ist sehr brav. Wirklich, ich wüßte nicht, wie ich es mit einem anderen Kind geschafft hätte. Aber sie ist so vernünftig. Die vielen Nächte, die sie allein zu Hause ist, und nie beklagt sie sich, nie ist sie ungezogen. Manchmal denke ich, daß ich ihr zuviel aufbürde.« Sie seufzte. »Aber ich kann es nicht ändern.« »Wie wär’s mit dem Heiraten?« »Ach, das ist auch so ein Problem!« sagte Daniela ausweichend. Weil sie merkte, daß das Gespräch auf ein gefährliches Gleis zu laufen begann, lenkte sie rasch ab: »Es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen soviel Umstände gemacht habe, Herr Doktor«, sagte sie, »trotzdem bin ich froh, daß ich nach Baden-Baden gefahren bin. Ich habe mit Roy Erichson gesprochen.« »Na .. . und?« 167
»Er wird Schwester Berta zu sich nehmen.« »Zu sich? Wie denn das? Als Pflegerin?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, als Hausdame oder so irgend etwas. Ich weiß es nicht genau. Aber die beiden hatten schon was miteinander ausgemacht, dabei wird’s wohl bleiben.« »Na, ich gehe jede Wette ein, wenn Sie Berta das erzählen, macht sie einen Riesensprung aus dem Bett und ist wieder gesund.« »Glauben Sie, daß sie sich nur ... nur angestellt hat?« »Nicht direkt. Aber immerhin, körperlich könnte sie längst wieder auf dem Damm sein. Bloß . . . bisher hat einfach jeder Wille zum Gesundwerden gefehlt.« »Ich werde sehr froh sein, wenn diese Sache endlich in Ordnung ist«, sagte Schwester Daniela. »Kann ich mir vorstellen. Sie haben sich ganz schön was auf den Buckel geladen.« Sie schwieg eine Weile, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen«, sagte Schwester Daniela dann. »Die Straße ist doch wunderbar.« »Ja, die Autobahn. Aber warten Sie nur, wie es hinter Offenburg wird.« »Das klingt nicht sehr ermutigend.« »Soll’s auch nicht. Das Beste ist immer, man macht sich auf das Schlimmste gefaßt und läßt sich von einer glücklichen Wendung überraschen.« Sie konnte die Frage nicht länger zurückhalten, die ihr schon seit langem auf dem Herzen brannte. »Interessiert 168
es Sie eigentlich gar nicht«, sagte sie, »warum ... ich meine, wie alles gekommen ist? Daß ich kein Geld für die Heimfahrt hatte?« »Wahrscheinlich hatten Sie nicht genügend eingesteckt«, sagte er ungerührt, »oder Sie hatten die Rückfahrkarte verloren.« Daniela schwieg. Sie wußte nicht recht, ob sie sich erleichtert oder gekränkt fühlen sollte. Nach einer ganzen Weile fing er wieder an: »Natürlich würde es mich interessieren, Daniela. Ganz davon abgesehen, daß mich alles interessiert, was Sie betrifft, bin ich genauso neugierig wie jeder normale Mensch. Ich möchte bloß nicht, daß Sie sich verpflichtet fühlen. . . weil ich Sie abgeholt habe, verstehen Sie? Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht. . .« Daniela hatte sich inzwischen alles gründlich überlegt und einen Entschluß gefaßt. »Es macht mir aber was aus, Herr Doktor«, sagte sie ehrlich. »Die ganze Geschichte ist zu blöd. Sie würden mich auslachen oder noch was Schlimmeres.« »Ist ein Mann dabei im Spiel?« Daniela lächelte. »Ich dachte, Sie wollten es mir ersparen?« »Entschuldigen Sie bitte. Es ist mir bloß so herausgerutscht.« Als sie die Autobahn verlassen mußten, merkte Daniela sehr rasch, was Dr. Georgi gemeint hatte, als er seine Zweifel äußerte, ob sie es schaffen würden.
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Auf der Bundesstraße lag eine Schneeschicht, auf die zwar gestreut worden war, aber die in der Wärme des Mittags halb getaut, jetzt zu einer reinen Eisfläche gefroren war. Dr. Georgi mußte auf den zweiten Gang umschalten. Er fuhr äußerst vorsichtig, dennoch geriet der Wagen immer wieder leicht ins Schleudern. »Verdammt!« sagte er ärgerlich, als er beinahe die Gewalt über sein Auto verloren hätte. Sie wurden von einem anderen Auto, das in weit schnellerem Tempo fuhr, überholt. »Der hat Winterreifen!« sagte Dr. Georgi erklärend. Daniela äußerte sich nicht dazu. Es schoß ihr durch den Kopf, daß sie ihm wahrscheinlich gar nicht zugemutet hätte, sie abzuholen, wenn sie das gewußt hätte. Aber sie war ihrer Sache nicht so sicher. Was hätte sie wirklich machen sollen ohne Dr. Georgi? Jedenfalls war jetzt nicht der Zeitpunkt, ihm Vorwürfe zu machen. Sie war schuld an allem, nicht er. Sie fuhren schweigend im Dreißigkilometertempo. »Daniela«, sagte er endlich, »ich muß Ihnen etwas sagen ….« »Jetzt? Ich glaube, Sie sollten ... es ist schwer genug für Sie zu fahren!« »Darum geht es eben. Ich kann es nicht verantworten ...« »Was?« fragte sie, obwohl sie schon wußte, auf was er hinauswollte.
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»Es hat keinen Sinn. Weiter hinten wird die Strecke noch schlimmer. Ich weiß es. Wir müssen bei der nächsten Gelegenheit abbiegen und sehen, daß wir irgendein Dorf erreichen. Morgen wird’s leichter gehen. Dann ist wieder gestreut worden... morgen sind wir in einer Stunde in Freiburg. Jetzt würden wir bis Mitternacht dazu brauchen, und wer weiß, ob wir’s überhaupt schaffen würden.« Er wartete, daß sie etwas sagen würde. »Warum reden Sie nicht? Der Vorschlag paßt Ihnen nicht, wie?« »Sie sind der Fahrer, Herr Doktor!« sagte sie. »Sie haben die Verantwortung, ganz davon abgesehen, daß es Ihr Auto ist. Ich bin sicher, Sie wissen, was Sie tun!« »Und Ihr Dienst?« »Es gibt noch mehr Gründe, warum ich gerne heute nacht nach Freiburg zurück möchte. Aber Sie erwarten doch wohl nicht von mir, daß ich Ihnen die Ohren volljammere.« Dr. Georgi bog bei der nächsten Ausfahrt rechts ab. Als er die große Kurve genommen hatte, streiften die Scheinwerfer die Straßenschilder. »Nach Aapern fünf Kilometer«, sagte er, »ich glaube, das ist das Richtige!« Abseits der Autobahn waren die Straßen noch schlechter. Die Zufahrt nach Aapern war eine schmale Landstraße, links und rechts von kahlen Pappeln gesäumt. Die Fahrbahn selber, scheinbar nur oberflächlich oder gar nicht vom Schnee geräumt, bildete jetzt, nach der Wärme des Mittags, eine kristallharte Fläche, die im 171
Licht der Scheinwerfer gefährlich schimmerte. Sie kamen sehr langsam voran. Dr. Georgi fuhr fast im Schrittempo. Schwester Daniela sah ihn von der Seite an. Sein Gesicht wirkte gespannt. Er schien alle Kräfte auf die schwierige Aufgabe konzentriert zu haben, die er bewältigen mußte. Sie wagte nicht zu sprechen, um ihn nicht zu stören. Erst als die Lichter eines Dorfes vor ihnen auftauchten sie hatten für die fünf Kilometer fast eine halbe Stunde gebraucht – sagte sie zaghaft: »Vielleicht... vielleicht gibt es hier einen Bahnhof!« »Möglich.« »Dann können wir . .. ich meine, Eva und ich .. . vielleicht doch noch nach Freiburg?« »Sie wollen mich also mir nichts, dir nichts sitzenlassen?« fragte er. Sie wußte nicht, ob ihm dieser Vorwurf ernst war, oder ob er sie nur necken wollte. »Ich glaube«, sagte sie unsicher, »es wäre wirklich besser.« »So? Na, wir werden ja sehen!« Die Dorfstraße war holprig und schlecht gepflastert, aber wenigstens lag kein gefrorener Schnee auf der Fahrbahn. Dennoch fuhr Dr. Georgi immer noch langsam. Erst als ein Wirtshausschild vor ihnen auftauchte, brachte er den Wagen zum Stehen. »Goldener Anker... sieht gar nicht schlecht aus«, sagte er, »will mal sehen, ob sie Zimmer frei haben. Am besten bleiben Sie vorerst mal bei der Kleinen hier im Auto.« 172
»Bitte«, sagte Daniela, »würden Sie auch nach einem Bahnhof fragen?« Er sah sie mit einem seltsamen Blick an, lächelte dann, sagte: »Ja, selbstverständlich.« Sie sah ihm nach, wie er mit großen elastischen Schritten die steinernen Stufen hinaufging und im Flur des Wirtshauses verschwand. Es war sieben Uhr vorbei. Wenn ein Bahnhof in der Nähe war – und Schwester Daniela klammerte sich an diesen Gedanken – dann konnte sie, wenn auch mit einer beträchtlichen Verspätung, doch noch diesen Abend ihren Dienst antreten. Für Eva würde es eine Strapaze sein, aber das half nichts. Sie wollte und mußte nach Freiburg zurück. Dr. Georgi hatte den Motor abgestellt. Im Wagen begann es kalt zu werden. Daniela kuschelte sich zusammen. Sie warf über die Schulter hinweg einen Blick auf Eva. Sie lag, warm zugedeckt, unter einem karierten Reiseplaid und atmete tief und regelmäßig. Dann kam Dr. Georgi zurück. Daniela sah ihn erst, als er die Tür öffnete. »Alles in Ordnung«, sagte er vergnügt. »Die Zimmer sind sehr anständig, und nach dem Duft aus der Küche zu schließen, scheint es auch was Gutes zu essen zu geben.« »Soll das heißen. . .«, sagte Daniela erschrocken, »ich meine, gibt es keinen Bahnhof hier in der Nähe?« »Nein, erst in Kenzingen, und bis dahin sind es noch zwanzig Kilometer... zwanzig Kilometer miserabelster
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Straße. Sie wollen mir das doch nicht allen Ernstes zumuten?« Daniela biß sich auf die Lippen. »Vielleicht«, sagte sie, »vielleicht könnte man hier ein Taxi bekommen.« »Glauben Sie, daß der Taxichauffeur das leichter schaffen würde als ich?« »Nein, das nicht. Natürlich nicht. Aber ... ich möchte Sie nicht länger belasten.« »Davon kann gar keine Rede sein! Also, Daniela, machen Sie keine Geschichten. Wecken Sie Ihre Süße und steigen Sie aus. Oder kommen Sie etwa nicht darüber hinweg, daß Sie keine Zahnbürste bei sich haben?« »Herr Doktor«, sagte Daniela, »ich ... verstehen Sie denn gar nicht, wie unangenehm die Situation für mich ist?« »Wieso?« Er klopfte sich mit der Hand vor die Stirn. »Ah, jetzt geht mir ein Licht auf ! Sie fürchten, daß ich versuchen könnte, Sie zu verführen?« »Mir ist nicht zum Lachen zumute«, sagte Daniela und fühlte sich in diesem Augenblick wirklich fast den Tränen nahe. »Um acht Uhr erwartet man mich im Krankenhaus. Und Sie doch auch, Doktor Georgi! Es geht doch einfach nicht an, daß wir »Höhere Gewalt, liebe Dame! Noch nie etwas davon gehört? Na also! Kommen Sie jetzt endlich aus dem Wagen! Oder soll ich mir die Beine hier in den Leib stehen? Ich werde natürlich gleich Freiburg anrufen.« »Aber wir könnten doch mit dem Zug .. .«
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»Jetzt langt’s mir aber!« sagte er ärgerlich. »Schauen Sie doch mal auf die Uhr. Wenn Sie großes Glück haben und alles gutgeht, könnten Sie erst nach acht in Kenzingen sein. Es nützt auch nichts, wenn Sie früher dort sind, ich habe mich erkundigt, der nächste Zug geht erst gegen einundzwanzig Uhr. In Freiburg müssen Sie doch erst nach Hause fahren und Ihre kleine Tochter zu Bett bringen, nicht wahr? Also rechnen Sie sich selber an allen fünf Fingern aus, wann Sie frühestens im Krankenhaus sein könnten. Wenn alles gutgeht. Aber wenn sich herausstellt, daß Sie doch Ihr Glück allzusehr strapaziert haben sollten, dann landen Sie, und das scheint mir am wahrscheinlichsten, in kürzester Zeit im Straßengraben. Wollen Sie das wirklich Ihrer Tochter zumuten? Nur aus falschverstandenem Diensteifer?« Daniela gab nicht auf. »Herr Doktor . . . versuchen Sie es noch einmal.« Er unterbrach sie energisch. »Schluß jetzt. Genug davon. Tun Sie gefälligst das, was ich Ihnen sage. Glauben Sie etwa, mir ist die Situation angenehm? Sie werden wohl zugeben, daß ich nur Ihretwegen da hineingerasselt bin.« Mit sanftem Schütteln gelang es Schwester Daniela, ihre kleine Tochter zu wecken. Eva war verwirrt und schlaftrunken. »Wo sind wir?« fragte sie und richtete sich auf. »Sind wir schon zu Hause?« »Nein, Liebling, wir kommen auch heute nicht mehr nach Freiburg«, erklärte Daniela, »die Straßen sind so schlecht, verstehst du?« 175
»Ja, aber . . . wo werden wir denn schlafen?« »Hier ist ein Wirtshaus . .. guck mal zum Fenster hinaus, dort, wo du den goldenen Anker siehst. Doktor Georgi hat Zimmer für uns bestellt. »Wirst du bei mir schlafen, Mutti?« »Selbstverständlich, mein Liebling!« »Prima!« Mit einem Ruck setzte Eva beide Beine auf die Erde. »Das ist schick. Aber ich brauch noch nicht gleich ins Bett, oder? Ich bin kein bißchen mehr müde!« Ein junges Mädchen führte sie eine schmale Stiege hinauf in ihr Zimmer, einen großen und ungemütlichen kalten Raum, der aber sehr sauber war und fließendes Wasser hatte. »Bitte«, sagte Daniela, »könnten Sie uns vielleicht ein Stück Seife besorgen? Wir . . . wir haben nicht damit gerechnet, daß wir . . . daß wir unterwegs übernachten müssen.« »Ja«, sagte das Mädchen freundlich, »ich hole Ihnen sofort eins!« Eva schauderte vor Kälte. »Ja, es ist halt recht kalt hier«, sagte das Mädchen, »wenn ich gewußt hätte . . . ich hätte den Ofen anzünden können. Wenn die Herrschaften möchten ...« »Nein, danke, nicht nötig«, sagte Daniela rasch. »Aber vielleicht könnten Sie uns Wärmflaschen in die Betten tun!« »Freilich!« sagte das Mädchen. »Ja, freilich! Das werd’ ich tun!«
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Zehn Minuten später kamen Daniela und Eva – sie hatten sich gewaschen, gekämmt und frisch gemacht – ins Gastzimmer hinunter, einem gemütlichen, braungetäfelten Raum, in dem ein grüner riesengroßer Kachelofen eine wohltuende Wärme verbreitete. Dr. Georgi saß an einem kleinen Ecktisch. Er stand auf, als Daniela und Eva eintraten, sagte lächelnd: »Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, daß ich schon bestellt habe, aber ich konnte es vor Hunger nicht mehr aushalten. Dreimal Cordon bleu und dreimal Omelette mit Preiselbeeren ! Ist’s recht so?« »O ja!« rief Eva begeistert. »Ich habe auch Hunger .. . und Durst!« »Ein Cordon bleu wirst du niemals allein bewältigen!« sagte Daniela. »Wirklich, Herr Doktor, es hätte genügt, wenn Eva und ich zusammen ...« »Kommt nicht in Frage. Was Eva übrig läßt, vertilge ich mit Vergnügen.« Er wartete, bis Daniela und Eva sich gesetzt hatten. »Für dich, Gwendolina«, sagte er, »habe ich schwarzen Johannisbeersaft bestellt, ich hoffe, das ist dir recht?« »Jawohl, Onkel Mecki«, rief Eva vergnügt. »Und für uns beide einen offenen Rotwein.« »Herr Doktor«, sagte Daniela ernsthaft, »es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie sich so um uns kümmern . ..« Sie wurde rot. »Sobald wir in Freiburg sind, bekommen Sie natürlich alles, was Sie für uns ausgelegt haben, zurück.«
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Er lächelte. »Darüber streiten wir uns morgen. Diesen Abend möchte ich ganz friedlich und gemütlich genießen. Ich glaube, das habe ich mir verdient.« Er zog ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche, bot es ihr an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich möchte erst .. .« Sie stand auf. »Wo wollen Sie hin?« fragte er. »Telefonieren. Ich muß doch das Bruder-KlausKrankenhaus benachrichtigen.« »Ist längst erledigt.« Es gelang ihr nicht, ihren Schrecken zu verbergen. »Sie!« war alles, was sie hervorbringen konnte. »Natürlich! Wer sonst?« »Was .. . was haben Sie gesagt?« »Na, die Wahrheit natürlich. Das schien mir das Einfachste. Was machen Sie denn für ein Gesicht?« Sie war sehr blaß geworden, sah ihn aus großen Augen an. »Warum haben Sie das getan?« »Ich begreife wirklich nicht, was Sie haben. Jemand mußte doch anrufen ... ob Sie es getan hätten oder ich, wo ist denn da der Unterschied?« »Es wäre besser gewesen«, sagte sie mit erzwungener Ruhe, »wenn jeder von uns für sich selber angerufen hätte.« Sie warf einen Blick zu Eva hin. »Begreifen Sie wirklich nicht?« Er lachte herzlich und unbekümmert. »Ach, du lieber Himmel! Deshalb machen Sie sich Gedanken? Das ist doch alles Unsinn. Wer wird denn etwas dabei finden, wenn ein Arzt und eine Schwester an einem Sonntag178
nachmittag einen kleinen Ausflug machen. Noch dazu in Begleitung eines Kindes. Das ist einfach lächerlich.« Seine Unbekümmertheit beeindruckte Daniela. «Vielleicht haben Sie recht«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht sind meine ... meine Befürchtungen ganz albern.« »Sicher sind sie das. Außerdem . . . was kann es uns kümmern, wenn die lieben Kollegen mal ein bißchen schwatzen? So was kommt und vergeht! Es ist doch ohne jede Bedeutung.« Der Wirt stellte ein Tablett mit einer großen Glaskaraffe Rotwein, einer kleinen mit Johannisbeersaft und drei Gläsern auf den Tisch. Dr. Georgi schenkte Eva, Daniela und sich ein, hob sein Glas : »Auf uns drei!« sagte er. »Auf ein glückliches Ende unseres unverhofften Abenteuers.« Als Schwester Daniela am nächsten Abend das BruderKlaus-Krankenhaus betrat – schon kurz nach sieben, denn sie wollte, bevor sie ihren Dienst antrat, Schwester Berta den Brief von Roy Erichson überbringen -, begegnete sie in der großen Eingangshalle Schwester Leonie, die gerade den Lift verließ. »Hallo, Leonie!« grüßte Daniela herzlich. »Stellen Sie sich vor... Sie sollen es als erste erfahren ... es hat geklappt!« »Was?« fragte Schwester Leonie und hob die schmalen, schöngeschwungenen Augenbrauen.
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»Aber Sie wissen doch! Mit Roy Erichson! Ich war bei ihm in Baden-Baden ... er hat mir einen Brief für Schwester Berta gegeben.« »Ach so. Davon sprechen Sie.« »Ja, was dachten Sie denn?« fragte Daniela erstaunt. Schwester Leonie faßte sie beim Arm, führte sie ein wenig beiseite, sagte leise: »Wissen Sie es denn noch nicht? Ihr fehlen gestern abend hat Anlaß zu allerlei Gerüchten gegeben. Man sagt .. .« Sie unterbrach sich, biß sich auf die Lippen. »Wahrscheinlich ist es wieder so ein Unsinn, ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle.« »Was sagt man?« »Sie wären mit Dr. Georgi unterwegs gewesen.« Nur eine Sekunde zögerte Daniela, dann sagte sie: »Das stimmt.« Schwester Leonie runzelte die weiße Stirn. »Nun ja, ich will Ihnen keine Vorhaltungen machen . .. erstens habe ich kein Recht dazu, und zweitens fände ich es auch ganz blöd. Schließlich . . . jeder Mensch hat sein Privatleben. Nur eines .. . wenn Sie mit Dr. Georgi mal eine Nacht verbringen wollen, warum gerade dann, wenn Sie beide Dienst haben? Und warum haben Sie’s nicht besser kaschiert?« Daniela fühlte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. »Ich habe keine Nacht mit Doktor Georgi verbracht«, sagte sie ziemlich scharf, »und deshalb habe ich auch keinen Grund gesehen, irgend etwas zu kaschieren.«
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»Nicht? Man sagt .. . bitte, widersprechen Sie mir, wenn es nicht stimmt . . . man sagt, daß Sie beide in irgendeinem einsamen Dorf im Gasthof übernachtet hätten.« »Hören Sie, Leonie!« sagte Daniela. »Ich gebe zu, die ganze Sache sieht höchst fatal aus. Ich schwöre Ihnen ... und Sie müssen es mir glauben, wer täte es denn sonst? Ich schwöre Ihnen, es war alles ganz harmlos. Meine kleine Tochter war dabei, und . . . und überhaupt, wenn die Straßen nicht so glatt gewesen wären . . . wir hatten ja gar nicht vor, irgendwo zu übernachten.« »Lieben Sie ihn?« »Aber was für eine Frage! Muß man denn einen Mann gleich lieben, bloß weil man am Sonntagnachmittag eine kleine Autorundfahrt mit ihm gemacht hat?« »Ich lasse mir nicht gern was vormachen!« sagte Leonie. »Aber das tue ich doch gar nicht! Alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist die reine Wahrheit!« »Aber etwas haben Sie mir verschwiegen. Nämlich, daß Sie ihn sich angeln wollen.« »Ich? Aber wie können Sie denn so etwas behaupten?« »Tut mir leid. Aber das wäre meines Erachtens die einzige Entschuldigung für Sie.« »Entschuldigung! Brauche ich wirklich groß eine Entschuldigung, nur weil ich . .. « »Ja, ja, ich weiß schon«, unterbrach sie Leonie, »nur weil Sie eine harmlose Spazierfahrt mit Dr. Georgi am Sonntagnachmittag unternommen haben. Ich will Ihnen mal was sagen, Daniela. Zum Spaß sollte man mit ei181
nem Mann, der in festen Händen ist, auch nicht die harmloseste Autotour unternehmen.« »In festen Händen? Wieso?« Daniela wußte selber nicht, warum ihr diese Bemerkung das Blut zum Herzen trieb. »Ja, wußten Sie’s denn nicht? Hat er Ihnen etwa kein Wort davon erzählt?« »Nein.« »Doktor Georgi ist verlobt. So gut wie verlobt jedenfalls. Versprochen, wenn Ihnen das lieber ist.« »Woher wissen Sie das?« »Es ist kein Geheimnis. Ich hätte geschworen, daß jeder hier im Krankenhaus es wissen müßte. Berni Kortner hat ihn sich auserkoren, und die Frau Professor unterstützt diese Verbindung. Natürlich ist das die Partie für ihn.« »Aber Professor Kortners Tochter ... ich dachte ... sie ist doch in München !« »Ja, aber nur, um Schillers Ratschlag zu befolgen: Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Verstehen Sie jetzt?« »Ja«, sagte Daniela. »Sie werden also zugeben, daß es gescheiter gewesen wäre ...« »Gescheiter! Gescheiter! Man kann nicht sein ganzes Leben gescheit sein! Außerdem ... ich habe es ja nicht einmal gewußt!« »Um Himmels willen, Daniela, regen Sie sich doch nicht auf!« sagte Leonie rasch. »Ich habe es Ihnen ja nur erzählt, damit Sie Bescheid wissen. Die ganze Sache ist 182
bestimmt halb so schlimm. In ein paar Wochen, das garantiere ich Ihnen, spricht kein Mensch mehr darüber.« Schwester Daniela hatte die Eröffnung Leonies tiefer getroffen, als sie sich zugeben mochte. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, Schwester Berta den Brief Roy Erichsons zu geben, ihr glückliches, erstauntes Gesicht zu sehen – aber jetzt, als es soweit war, blieb sie innerlich ganz unbeteiligt. »Er hat mich also nicht vergessen«, sagte Schwester Berta glücklich. »Ich bin so froh!« Unnatürlich rote Flecken erschienen auf ihren grauen Wangen, Tränen traten in ihre Augen. Daniela mußte sich zwingen, freundlich zu sein. »Werden Sie nur rasch wieder gesund«, sagte sie, »ich glaube, daß er Sie sehr braucht.« Sie erhob sich vom Krankenbett. »Wollen Sie schon gehen?« fragte Berta. »Ja, leider ... der Dienst!« Berta warf einen Blick auf den kleinen Reisewecker auf ihrem Nachttisch. »Ach, da haben Sie noch gute zwanzig Minuten Zeit. Bitte, Daniela, bleiben Sie noch einen Augenblick! Ich muß mich doch noch bei Ihnen entschuldigen!« »Durchaus nicht. Es wäre sicher besser gewesen, wenn ich mich nicht eingemischt hätte.« »Wie können Sie das sagen?« fragte Schwester Berta erstaunt. »Ihnen habe ich so viel zu verdanken, und jetzt sagen Sie ...«
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»Lassen wir es gut sein. Sprechen wir nicht mehr über die Vergangenheit.« »Sie waren bei ihm?« fragte Schwester Berta. »Ja«, sagte Schwester Daniela einsilbig. »Wie sieht er aus? Was hat er gesagt? Haben Sie auch seine Frau kennengelernt?« Daniela begriff, daß Schwester Berta sie nicht dabehalten wollte, weil sie eingesehen hatte, wie unrecht sie ihr getan hatte, sondern nur, um über Roy Erichson zu reden. Eine Viertelstunde lang beantwortete Daniela Fragen, die alle um dasselbe Thema kreisten. Jedesmal, wenn es ihr gelungen war, Schwester Berta abzulenken, dauerte das nur ganz kurz. Dann kam Berta unvermeidlich wieder auf ihr geliebtes Thema zurück. Daniela war ehrlich erleichtert, als endlich die Zeit für ihren Dienstantritt gekommen war. Sie versprach Berta, sie bald wieder zu besuchen, und wußte doch schon im selben Augenblick, daß sie sie nicht wiedersehen wollte. Sie hätte sich gewünscht, Schwester Berta, Roy Erichson und die unselige Fahrt nach Baden-Baden so schnell wie möglich zu vergessen. Aber sie war ehrlich genug, sich zuzugeben, daß dieses Erlebnis wahrscheinlich noch jahrelang wie ein Dorn in ihrem Herzen stecken würde. Sie hatte sich in leuchtenden Farben ausgemalt, wie es sein würde, wenn ihre Kolleginnen zur Einsicht gekommen waren, daß sie ihr unrecht getan hatten. Jetzt mußte sie begreifen, daß sich gar nichts geändert hatte. Ein neues Unrecht war an die Stelle des alten gerückt. 184
Weiter nichts. Man betrachtete sie nach wie vor mit Mißtrauen, Neid, Verachtung. Aber mit ihr selber war eine Wandlung vorgegangen. Zu ihrem Erstaunen spürte sie, daß es ihr plötzlich ganz und gar gleichgültig war, wie die anderen über sie dachten. Es schmerzte sie nicht, es interessierte sie nicht einmal. Schlimm war nur die Erkenntnis, sich selber töricht benommen zu haben, bitter war es festzustellen, daß Dr. Georgi ihr nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sie fühlte sich sehr elend. Wenn Schwester Daniela in den nächsten Tagen zu ihrem Dienst ins Krankenhaus ging, war es wie ein Spießrutenlaufen. Sie spürte deutlich, daß hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Sie hatte mit Dr. Georgi verabredet, überhaupt nicht darauf zu reagieren. Sie tat so, als wenn sie die Welle von Gerüchten, die um sie brandete, überhaupt nicht bemerkte. Sie zuckte mit keiner Wimper, wenn man sie verspottete. Aber die Selbstbeherrschung, die sie zur Schau trug, zerrte an ihren Nerven. Zu gerne hätte sie sich verteidigt, die Wahrheit ans Licht gebracht. Doch sie sah ein, daß es besser war, stillschweigend darüber hinwegzugehen. Dann würden alle Gerüchte am ehesten wieder einschlafen. Ganz bewußt vermieden sie und der Assistenzarzt es, sich aus dem Wege zu gehen, weil man ihnen ganz gewiß auch das als schlechtes Gewissen ausgelegt hätte. Sie gaben sich Mühe, sich äußerst unbefangen zu geben, 185
sprachen miteinander wie früher. Eines Nachts kam Gisela Remagen zu ihr ins Schwesternzimmer – Daniela war gerade dabei, einen Rock für Eva zu stricken. »Guten Abend, Schwester«, sagte die Telefonistin anscheinend unbefangen. »Wie geht’s, wie steht’s? Darf man gratulieren?« »Zu was?« Gisela Remagen lachte. »Nun tun Sie doch nicht so! Wenn Sie allen anderen etwas vormachen können, mir nicht. Ich hab’ es ja schon in der Silvesternacht gemerkt.« »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« »Ach, Schwester Daniela, ich bitte Sie. Es ist doch nichts dabei, wenn man sich verliebt! Noch dazu ist Doktor Georgi ja wirklich ein gutaussehender Mann, der begehrteste Junggeselle in der ganzen Klinik.« »Sie irren sich vollkommen.« »Bitte, Daniela«, sagte Gisela eindringlich, »ich weiß, ich habe mich in dieser Geschichte mit Berta nicht sehr gut benommen. Ich dachte einfach ... ich mußte denken ... aber da wußte ich doch noch nicht, daß die Sache ganz anders war. Aber daß zwischen Ihnen und Doktor Georgi ...« »Ach, Gisela, hören Sie auf damit! Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß alles andere gar nicht stimmt?« »Warum behaupten Sie das gerade mir gegenüber? Haben Sie denn kein Vertrauen? Wenn die anderen Sie damit necken, dann widersprechen Sie doch gar nicht!«
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»Das wissen Sie also auch? Ich muß schon sagen, der Nachrichtendienst hier funktioniert wunderbar. Also jetzt hören Sie mal gut zu, Gisela«, sagte Schwester Daniela mit einem plötzlichen Entschluß, »ich widerspreche den anderen nur deshalb nicht, weil es mir gleichgültig ist, was sie denken. Deshalb möchte ich, daß Sie die Wahrheit wissen. Zwischen mir und Doktor Georgi ist nicht das geringste vorgefallen.« »Aber .. .«, sagte Gisela Remagen ehrlich verdutzt, »aber ... das ganze Krankenhaus weiß doch ... Sie sind doch damals nachts . ..« »Bitte, Gisela, bitte! Lassen Sie mich doch mal erst ausreden! Glauben Sie, wenn wir eine Nacht hatten miteinander verbringen wollen, wir wären wirklich so dumm gewesen, im Krankenhaus anzurufen und das mitzuteilen? Glauben Sie das?« »Ja«, sagte Gisela Remagen nachdenklich, »das war komisch. Das habe ich mir auch gleich gedacht.« »Na, sehen Sie. Wenn wir etwas miteinander hätten, würden wir uns doch intelligenterweise nur an unseren freien Tagen miteinander treffen, nicht wahr? Wir könnten so dicht vertraut miteinander sein, wie wir wollten, ohne daß einer im Krankenhaus hier was bemerken müßte. Aber tatsächlich ist von so etwas gar keine Rede. Es stimmt nur, daß ich mit Doktor Georgi und meiner kleinen Tochter Eva von Baden-Baden nach Freiburg gefahren bin. Auch das war kein SonntagsnachmittagsFamilienausflug. Ich war in Baden-Baden, um mit Roy Erichson über Schwester Berta zu sprechen. Das Ergebnis kennen Sie ja wahrscheinlich. Auf der Rückfahrt 187
wurden wir durch Glatteis behindert und mußten deshalb die Fahrt unterbrechen. Das ist alles. Wahr und wahrhaftig ! « »Wieso war denn gerade Doktor Georgi in BadenBaden?« fragte Gisela, immer noch mißtrauisch. »Weil er der einzige war, der wußte, was zwischen mir, Schwester Berta und Roy Erichson tatsächlich vorgefallen ist. Und jetzt will ich nicht mehr darüber sprechen. Glauben Sie mir, oder glauben Sie mir nicht, das ist ganz Ihnen überlassen. Eines steht jedenfalls fest... ich habe ein reines Gewissen, und ich bin froh darüber.« Gisela Remagen war durch Danielas Worte sichtlich beeindruckt. Sie redete noch etwas herum, entschuldigte sich für ihre Verdächtigungen und versprach, als sie ging, allen anderen zu sagen, daß sie Daniela unrecht getan hatten. IX Am nächsten Nachmittag stand Schwester Daniela in ihrer Küche und schnitt Zwiebeln für ein Eintopfgericht, das sie für die nächsten Tage vorkochte, als es an der Wohnungstür klingelte. Eva, die am Küchentisch gesessen hatte, sprang von ihrem Stuhl. »Hurra!« rief sie. »Das ist Irene!« Sie rannte zur Tür. Daniela wischte ihre Hände an der Küchenschürze ab, folgte ihrer kleinen Tochter. Ehe sie noch den Flur er-
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reicht hatte, hatte Eva die Wohnungstür schon aufgerissen. Daniela hörte eine männliche Stimme: »Guten Tag, Gwendolina!« Ihr Herz tat ein paar heftige Schläge. Eva rief: »Du bist es, Onkel Mecki!« Dr. Georgi lachte. Daniela zögerte einen Augenblick, hatte Lust, ins Badezimmer zu laufen und erst in den Spiegel zu schauen, aber sie bekämpfte diesen Wunsch. So, wie sie war, in der Küchenschürze, mit heißen Backen und zerzaustem Haar, trat sie auf den Flur hinaus. »Guten Tag, Herr Doktor«, sagte sie förmlich. »Seien Sie nicht böse, daß ich Ihnen nicht die Hand geben kann, ich bin gerade beim Zwiebelschneiden.« »Darf ich Ihnen helfen?« fragte er. Seine Munterkeit klang nicht ganz echt. »Sie dürfen mir Gesellschaft leisten, wenn Sie wollen«, entgegnete Daniela ernsthaft, »in der Küche muß ich nämlich bleiben, sonst haben wir morgen mittag nichts zu essen.« »Es tut mir leid, wenn mein Besuch Ihnen ungelegen kommt«, sagte er, ganz ungewohnt verlegen. »Ist es denn ein Besuch?« Er kratzte sich hinter dem Ohr. »Eigentlich nicht.« »Das habe ich mir gedacht.« Sie drehte sich um und ging voraus in die Küche. Eva war sehr neugierig, aber da niemand sie aufforderte mitzukommen, blieb sie im
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Wohnzimmer. Sie war ein wenig gekränkt und fühlte sich überflüssig. In der Küche wies Daniela mit einer Handbewegung zu den Stühlen hin. »Bitte, setzen Sie sich!« Er machte keine Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen, sondern blieb am Fenster stehen, die Augen auf ihre Hände gerichtet, die geschickt eine Zwiebel nach der anderen in große Würfel zerteilten. »Ich fürchte, ich habe Sie in eine scheußliche Situation gebracht«, sagte er. Sie ging nicht darauf ein, schnitt schweigend, ohne ihn anzusehen, weiter. »Sie hätten allen Grund, mir böse zu sein«, fuhr er fort; jetzt hob sie den Kopf, sah ihn aus ihren großen dunkelblauen Augen aufmerksam an. »Sind Sie gekommen, um mir das zu sagen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Bloß ... ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich anfangen soll.« Sie stellte eine Platte des elektrischen Herdes an, tat einen Topf aufs Feuer, ließ öl hineinfließen, strich die Zwiebeln mit dem Messer vom Brett in das heiße Fett. »Ich kann Ihnen leider kein Stichwort geben, Herr Doktor«, sagte sie, »ich weiß nicht, was Sie auf dem Herzen haben.« »Ich glaube, ich habe es wieder mal so blöd wie möglich angefangen«, sagte er reuevoll, »wahrscheinlich werden Sie jetzt denken, daß ich Ihnen einen Heiratsantrag machen will.« 190
»Vorläufig denke ich gar nichts«, sagte sie und rührte mit einem großen hölzernen Löffel in den Zwiebeln. »Übrigens«, er räusperte sich, »würden Sie notfalls meine Frau werden?« Sie mußte unwillkürlich lächeln. »Das käme ganz darauf an, wie groß die Not wäre«, sagte sie. »Na ja, ist ja auch wieder wahr«, sagte er. »Aber wenn ich Sie wirklich heiraten würde, könnte ich Ihnen auch gar nichts nützen. Glauben Sie, ich täte es, wenn ich Ihnen damit helfen könnte. Aber dann säßen wir beide auf der Straße.« »Sie sind sehr liebenswürdig, Doktor Georgi«, sagte Daniela, »ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« »Bitte, machen Sie sich jetzt nicht über mich lustig. Es ... die Sache ist nämlich wirklich ernst. Besonders für Sie. Ich .. . ich könnte mir den Kopf abreißen, weil es meine Schuld ist. Ich habe mich wie ein Idiot benommen. Können Sie mir verzeihen?« »Ja. Was weiter? Es wäre mir lieb, wenn Sie sich deutlicher ausdrücken würden.« »Ich habe heute morgen mit Professor Kortner gesprochen .... oder besser gesagt, er hat mit mir gesprochen. Er hat mich vorgeknöpft, um es genauer zu sagen.« »Ach«, sagte sie nur. »Ja, jemand hat ihn gegen uns aufgehetzt ... wir brauchen uns gar nicht den Kopf zu zerbrechen, wer es war. Sie wissen so gut wie ich, in einem so großen Betrieb gibt es massenhaft Leute, die ...« 191
Daniela unterbrach ihn. »Was hat Professor Kortner gesagt?« »Er wollte genau wissen, was damals passiert ist ... an jenem Abend. Wie es dazu gekommen ist und so weiter. Ich habe ihm alles gesagt. Die ganze Wahrheit. Ich dachte, es wäre das Beste.« »Ganz sicher.« »Nur, daß Sie mich aus Baden-Baden angerufen haben, habe ich ihm nicht erzählt. Ich habe so getan, als wären wir beide dorthingefahren. Ich wollte nur die Dinge nicht unnötig komplizieren, verstehen Sie?« »Ja. Sehr gut.« »Er war wütend . . . nein, das stimmt nicht einmal. Er war ... er war aufgebracht, möchte ich lieber sagen. Ich kann das verstehen. Für ihn ist die ganze Sache ja äußerst unangenehm. Schon im Hinblick auf seine Tochter.« »Hat er Ihnen geglaubt?« »Ja. Aber das ändert nichts daran, daß der Schein natürlich gegen uns ist. Irgend jemand wird es Berni sagen, und das, gerade das möchte er vermeiden.« »Ich verstehe«, sagte Daniela leise. »Seine Frau verlangt, daß Sie entlassen werden, Daniela. Das wollte ich Ihnen sagen.« »Deshalb hätten Sie nicht zu kommen brauchen«, sagte Daniela, »ich nehme an, das hätte ich auch ohne Sie früh genug erfahren.« »Ich dachte, Sie möchten das vielleicht verhindern!« »Können Sie mir raten, wie?« 192
»Nun, sehr einfach ... indem Sie zuvorkommen! Selber kündigen! Damit würden Sie doch allen Gerüchtemachern den Wind aus den Segeln nehmen!« »Raten Sie mir das im Ernst?« »Natürlich. Ich meine es gut mit Ihnen!« »Seien Sie mir nicht böse, aber das glaube ich Ihnen nicht. Ich nehme eher an, Sie möchten Professor Kortner eine Entscheidung abnehmen? Hat er Sie darum gebeten?« »Nein ... jedenfalls nicht direkt.« Dr. Georgi biß sich auf die Lippen. »Darf ich mir eine Zigarette anzünden?« »Wenn Sie sich etwas davon versprechen!« Er hielt ihr sein Päckchen auffordernd hin. »Nein, danke«, sagte Daniela, »nicht beim Kochen.« Sie füllte den Topf mit geputztem Gemüse und rohen, würfelig geschnittenen Kartoffeln, goß Brühe auf, schloß den Deckel. »Es ist nur so«, sagte Dr. Georgi nach ein paar tiefen Zügen aus der Zigarette, »wir sind ja schuld an der ganzen Situation. Wir können deshalb nicht von den anderen verlangen, daß sie etwas unternehmen, um uns herauszuhelfen. Ich habe mir das ganz genau überlegt. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie kündigen, oder wir erklären, daß wir heiraten wollen.« »Sie haben sehr wenig Phantasie!« sagte Daniela und begann Äpfel zu schälen. »Ich sehe da noch eine ganze Menge anderer Möglichkeiten. Aber ganz davon abgesehen, muß ich Sie leider enttäuschen. Ich werde nämlich nichts, gar nichts unternehmen. Da ich mir keiner 193
Schuld bewußt bin .. . und ich bin mir wahrhaftig keiner Schuld bewußt, Doktor Georgi, auch wenn selbst Sie jetzt versuchen, mir das einzureden . . . werde ich nichts unternehmen. Wenn Professor Kortner meint, daß ich nach dem, was geschehen ist, für das Bruder-KlausKrankenhaus nicht mehr tragbar bin, dann muß er sich entschließen, mich zu entlassen. Ich werde gegen diese Kündigung nicht protestieren. Das ist alles, was ich tun kann. Wenn ich aber selber kündige – wozu ich wirklich nicht den geringsten Anlaß sehe -, würde ich mich ins Unrecht setzen. Jeder würde glauben, daß ich Grund hätte zu gehen. Aber ich habe keinen Grund. Nicht den geringsten. Ich habe nichts zu verbergen, und es gibt nichts, was mir peinlich wäre. Deshalb werde ich bleiben, solange man mich nicht hinauswirft.« »Das hatte ich erwartet«, sagte er müde und schnippte seine Asche auf die Apfelschalen. »Um so besser. Das zeigt mir, daß Sie mich nicht ganz so schlecht kennen.« Ihre Stimme klang kampfbereit. »Sie und Ihr verdammter Dickkopf«, sagte er wütend. »Kommt es denn wirklich nur darauf an, was die Leute sagen? Das sollte Ihnen doch wahrhaftig gleichgültig sein!« »Warum gerade mir?« fuhr Daniela fort. »Warum nicht auch Ihnen? Oder dem Herrn Professor? Seiner Tochter?« »Sie vergessen, daß Sie diese Geschichte angerührt haben!«
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»Da, lieber Doktor Georgi, muß ich Ihnen aber energisch widersprechen. Ich schwöre Ihnen, ich hatte keine Ahnung, wie Sie mit der Tochter des Herrn Professors standen, sonst hätte ich Sie ganz gewiß nicht um Hilfe gebeten. Alles andere aber haben Sie arrangiert .. . die Übernachtung in Aapern, den Anruf ans Krankenhaus .. . und Sie haben das nicht gerade genial gemacht. Das werden Sie wohl zugeben.« »Nun, dann tut es mir leid, daß ich gekommen bin«, sagte er nach einer Pause. Aber er machte keine Anstalten zu gehen, stand da, ohne sich vom Fleck zu rühren, sah zu, wie Danielas flinke Hände die Apfelschalen in runden Kringeln entfernten. Erst als auch der letzte Apfel geschält und in vier Stücke zerschnitten war, sah sie ihn an. »Es tut mir leid«, sagte sie in verändertem Ton, »das müssen Sie mir glauben. Es tut mir sehr leid für Sie . . . das Ganze.« Er zuckte die Schultern, drückte seine Zigarette aus. »Warum sprechen Sie nicht ganz offen mit Berni Kortner? Wenn sie Sie liebt, wird sie Ihnen bestimmt glauben.« »Darauf kommt es ja nicht an.« »Nicht? Worauf denn sonst?« Daniela stellte den Topf mit den Äpfeln auf den Herd, tat einen Deckel darauf. »Das Prestige des Herrn Professors ...«, begann er. Sie unterbrach ihn. »Ach, sagen Sie doch nicht so etwas! Das können Sie doch selber nicht glauben! Ich kenne den Herrn Professor ... ich kenne ihn ziemlich
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gut. Ich halte ihn nicht für so verbohrt, so kleinlich, wie Sie ihn mir jetzt zu schildern versuchen.« »Es geht ihm um das Glück seiner Tochter«, sagte Dr. Georgi. »Na wenn schon. Was soll es seiner Tochter helfen, wenn ich die Klinik verlasse? Gar nichts. Nein, Herr Doktor, ich kann Ihnen nur einen Rat geben, fahren Sie zu Fräulein Kortner und sprechen Sie sich mit ihr aus. Daß sie zu Ihnen hält, ist jetzt für Sie beide das allerwichtigste.« Sie warf einen Blick auf sein düsteres Gesicht. Dann fügte sie hinzu: »Oder sind Sie nicht sicher, daß sie Sie liebt?« »Ich weiß es nicht . ..« Er nagte auf seiner Unterlippe, hob dann plötzlich den Kopf und sah sie offen an. »Sie werden mich nicht auslachen, wenn ich Ihnen etwas gestehe?« »Sicher nicht- « »Ich selber ...«, sagte er zögernd, »ich weiß nicht, ob ich sie wirklich liebe. Ich weiß es nicht. Sie ist ein nettes Mädchen, hübsch und gut erzogen, und ich habe sie wirklich gern ... aber ob ich sie so liebe, daß ich sie heiraten möchte, das weiß ich nicht.« »Also das«, sagte Daniela, »das hätten Sie sich wirklich früher überlegen müssen, Herr Doktor. Jetzt, wo der Herr Professor und seine Frau damit rechnen, daß Sie ...« »Ja, ich weiß. Das ist eben das Fatale. Vielleicht habe ich deshalb . . . das klingt natürlich ganz albern, aber fast kommt es mir vor, als wenn ich deshalb die ganze
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Übernachtung in Aapern nur arrangiert hätte, um . .. um wieder frei zu werden, verstehen Sie?« »Ja«, sagte sie mit einem merkwürdigen Ausdruck, »und deshalb soll ich jetzt kündigen?« »Aber nein. Doch nicht deshalb .. . nur ...«, sagte er, sichtlich aus dem Konzept gebracht. »Jetzt könnten Sie sich ja aus Ihrer Verpflichtung lösen, Herr Doktor!« sagte sie. »Warum tun Sie es nicht? Warum nutzen Sie nicht die Gelegenheit?« »Müssen Sie mich so in die Enge treiben?« »Ich will Ihnen nur helfen, sich über Ihre Gefühle klarzuwerden. Lieben Sie Fräulein Kortner? Wollen Sie sie heiraten? Ja oder nein?« »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich sie sehr gern habe, nur . . .« »Ich werde Ihnen mal was sagen, Dr. Georgi, Sie sind ein Mann so Ende dreißig, stimmt’s? Sie haben ziemlich viele Jahre Ihres Lebens als Junggeselle verbracht. Deshalb schrecken Sie vor einer festen Bindung zurück. Das ist alles. Wenn Ihnen wirklich nichts an Fräulein Kortner läge, hätten Sie die Gelegenheit benutzt, um auszuspringen. Da Sie es nicht getan haben, ist der Fall klar.« »Und .. . was soll ich tun?« »Ich glaube, ich sage es Ihnen jetzt schon zum drittenmal: Fahren Sie zu Fräulein Kortner und sprechen Sie sich mit ihr aus. Ob ich die Klinik verlasse oder nicht . . . ich bin sicher, irgend jemand wird sich finden, der ihr
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unser harmloses Abenteuer verrät. Es ist besser, sie erfährt es aus Ihrem Munde.« Seit dieser Aussprache mit Dr. Georgi, in der so vieles besprochen und doch so vieles ungesagt geblieben war, wartete Schwester Daniela täglich auf ihre Entlassung. Jeden Tag schaute sie dreimal in den Briefkasten, gefaßt, ein Schreiben von der Krankenhausverwaltung zu erhalten. Wenn sie abends das Bruder-KlausKrankenhaus betrat, erwartete sie, daß der Pförtner sie zurückhalten würde, um ihr mitzuteilen, daß sie ins Sekretariat kommen sollte. Aber nichts dergleichen geschah. Schwester Danielas Nerven waren aufs äußerste gespannt. Für sie wurde dieses Hangen und Bangen immer unerträglicher. Fast bereute sie es, daß sie so energisch abgelehnt hatte, von sich aus zu kündigen. Ein Ende mit Schrecken schien ihr sehr viel besser als ein Schrecken ohne Ende. Aber sie wollte nicht nachgeben. Sie wollte nicht. Sie hielt den Nacken steif, den Kopf hocherhoben, wenn sie das Krankenhaus betrat. Sie grüßte förmlich nach allen Seiten, versuchte keine ihrer Kolleginnen zu einem Privatgespräch zu drängen, hielt sich ganz zurück. Sie glaubte, daß alle ihr feindlich gesinnt waren, wollte sich keine Blöße geben. Nur den Patienten gegenüber war sie herzlich und voll Anteilnahme. Das Gefühl, gebraucht und geschätzt zu werden, war ihr großer Trost in dieser schweren Zeit. Je häufiger sie in der Nacht gerufen wurde, desto lieber 198
war es ihr. Am schwersten waren die Stunden, die sie, ihren trüben Gedanken ausgeliefert, wachend allein verbringen mußte. Oft überfiel sie dann ein heftiger Zorn auf Doktor Georgi. Er war schuld an dieser dummen, ausweglosen Situation, in die sie hineingeraten war. Aber statt ihr zu helfen, sich vor sie zu stellen, verlangte er, daß sie sich opfern sollte, ja, opfern, damit seinem Glück mit der Tochter des Professors nichts im Weg stand. Sie hätte ihn ohrfeigen, ihm ihre Enttäuschung und Verachtung laut ins Gesicht schreien mögen. Aber sie hatte dazu keine Gelegenheit. Dr. Georgi ließ sich an diesem Abend sowenig bei ihr sehen wie an den darauffolgenden, obwohl sie genau wußte, daß er Dienst hatte. Anscheinend glaubte er, dadurch das Gerede über sie beide zum Schweigen bringen zu können. Schwester Daniela wußte, daß er gerade durch sein verändertes Benehmen ihr gegenüber allen Gerüchten nur noch neue Nahrung gab. Eines Morgens, sie hatte sich gerade ins Bett gelegt, nachdem sie sich von Eva verabschiedet hatte, klingelte es. Das Klingeln riß Daniela aus einem verwegenen Traum. Sie fuhr hoch, riß die Augen auf, versuchte, sich zurechtzufinden. Mit unendlicher Erleichterung stellte sie fest, daß sie in ihrem Schlafzimmer lag, daß alles, was sie beängstigt hatte, nicht wirklich existierte. Es klingelte wieder. Daniela warf einen Blick auf ihren kleinen Reisewecker auf dem Nachttisch. Es war gerade 199
elf Uhr vorbei. Der Briefträger, der wußte, daß sie nachts arbeitete, pflegte nicht zu klingeln, Eva konnte es noch nicht sein ... oder doch? Wenn ihr etwas passiert war? Mit einem Satz war Daniela aus dem Bett, schlüpfte in ihre roten Lederpantöffelchen, warf sich den blauseidenen Morgenmantel um und öffnete, während sie noch den Gürtel schlang, schon die Wohnungstür. Eine elegante junge Dame in einem hellgrauen Persianermantel, das blonde, schimmernde Haar sehr modern frisiert, stand vor ihr. »Oh!« entfuhr es Daniela unwillkürlich verblüfft. »Darf ich eintreten?« fragte die junge Dame. »Natürlich! Bitte!« Daniela öffnete die Tür, überlegte krampfhaft, wo sie dieses Mädchen schon gesehen hatte; denn daß sie sie kannte, dessen war sie sich ganz sicher. »Sie kennen mich, nicht wahr?« fragte die junge Dame. »Doch, natürlich, nur . ..« »Ich bin Berni Kortner.« »Ach!« war alles, was Daniela im ersten Augenblick hervorbringen konnte, dann nahm sie sich zusammen, sagte: »Möchten Sie ablegen, Fräulein Kortner?« »Ja, bitte .. . Sie haben es ganz schön warm hier drinnen.« Daniela half der Tochter des Professors aus dem Pelzmantel, hängte ihn sorgfältig über einen Bügel. Berni Kortner strich über den Rock ihres modisch geschnitte-
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nen, azurblauen Kostüms, an dessen linkem Aufschlag eine kleine Brillantagraffe funkelte. Eine Sekunde lang sahen die beiden Frauen sich prüfend an. Daniela hatte Fräulein Kortner zuletzt gesehen, als sie noch in Freiburg auf eine Handelsschule ging. Sie hatte sich sehr verändert. Aus dem unbedeutenden, ein wenig pummeligen jungen Mädchen war eine wirkliche Schönheit geworden. »Bitte, treten Sie ein«, sagte Daniela mit einer Handbewegung zum Wohnzimmer hin. »Ich . . . entschuldigen Sie, daß ich nicht angezogen bin . . . aber als Nachtschwester .. .« »Habe ich Sie etwa im Schlaf gestört?« »Ich hätte sowieso gleich aufstehen müssen. Ich erwarte meine Tochter aus dem Kindergarten zurück.« »Ach.« Berni Kortner setzte sich in einen der Sessel bei der Stehlampe, schlug ihre langen, wohlgeformten Beine übereinander, spielte mit ihrem Handschuh auf dem Schoß. »Sie haben es nett hier«, sagte sie unsicher. Daniela begriff, daß Berni Kortner nicht wußte, wie sie einen Anfang machen sollte. »Hat Doktor Georgi mit Ihnen gesprochen?« fragte sie geradeheraus. Berni Kortner schüttelte den blonden Kopf. »Nein.« Sie öffnete ihre Handtasche, holte einen Bogen Papier heraus, überflog ihn flüchtig, reichte ihn dann an Daniela weiter. »Bitte, lesen Sie! Es ist . . . natürlich, ich weiß, daß anonyme Briefe gar nichts bedeuten, wahrscheinlich hätte ich ihn am besten sofort in den Papierkorb 201
werfen sollen, aber, sehen Sie, es ist nicht der einzige Brief. Alle paar Tage kommt wieder so ein Ding, und da . . . ich dachte, es wäre besser, die Sache zu klären.« Daniela faltete den Brief, der häßliche und sehr deutliche Anschuldigungen gegen sie und Dr. Georgi enthielt – alles in einzelnen Druckbuchstaben und ohne Unterschrift -, zusammen und gab ihn Berni Kortner zurück. Die Tochter des Professors nahm ihn nicht. »Nein, bitte, vernichten Sie ihn! Ich will ihn nicht aufbewahren.« Daniela riß den Brief entzwei, warf die Fetzen in den Papierkorb. »Warum sind Sie nicht lieber gleich zu Ihrem ... ihrem Verlobten gegangen?« »Ich bin nicht mit Dr. Georgi verlobt.« »Aber so gut wie, nicht wahr? Ich sehe da keinen Unterschied.« »Ich dachte, daß es richtiger wäre, mit Ihnen zu sprechen, sozusagen von Frau zu Frau.« Berni Kortner setzte ihre Beine nebeneinander, beugte sich vor. Eine feine Röte überzog ihr junges Gesicht. »Es ist mir nicht leichtgefallen, einfach zu Ihnen zu gehen, das müssen Sie mir glauben. Übrigens ... meine Eltern haben keine Ahnung, daß ich überhaupt in Freiburg bin. Doktor Georgi auch nicht. Ich dachte, daß es vielleicht möglich wäre . .. ohne daß jemand von ihnen etwas davon erfährt . ..« »Warum nicht?« fragte Daniela. »Warum ... was versprechen Sie sich von dieser Heimlichkeit?« Sie hatte schärfer gesprochen, als sie beabsichtigt hatte.
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Berni Kortner spürte es sofort. »Bitte, seien Sie mir nicht böse . . . bitte nicht. Das würde alles nur ... nur unnötig erschweren. Ich bin wirklich nicht gekommen, um Ihnen Vorwürfe zu machen oder eine Szene oder so etwas. Sie . .. Sie brauchen nichts von mir zu befürchten.« »Ich habe keine Angst«, sagte Daniela. »Um so besser. Ich bin auch nicht gekommen, um Ihnen Doktor Georgi wegzunehmen .. . das möchte ich gleich vorausschicken.« »Wegnehmen .. . was heißt denn das? Ich besitze ihn ja gar nicht, falls man einen Mann überhaupt besitzen kann.« »Natürlich nicht. Ich verstehe, daß er sich . . . trotz allem ... an mich gebunden fühlt. Aber . .. Sie lieben ihn doch, nicht wahr?« »Was wollen Sie eigentlich von mir wissen?« »Die Wahrheit!« Berni Kortner wies auf den Papierkorb. »Diese Wische da genügen mir nicht. Ich muß es wirklich wissen, ganz genau. Aus Ihrem Mund.« Daniela stand auf, strich sich mit beiden Händen das lockige kastanienbraune Haar aus der Stirn. »Sie verlangen ziemlich viel von mir, Fräulein Kortner!« Sie wandte sich ihrem Gast zu. »Nicht- daß ich irgend etwas zu verheimlichen hätte ... ich bin gerne bereit, offen zu Ihnen zu sein. Völlig offen. Es ist etwas anderes ... ich fürchte, Sie werden mir nicht glauben.« Als Berni Kortner etwas sagen wollte, hob sie die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Bitte, hören Sie mich erst einmal an. Um ganz ehrlich zu sein ... ich ha203
be keine Lust, Ihnen irgend etwas zu erklären. Ich habe wahrhaftig nicht die geringste Lust, weil ich weiß, daß Sie mir nicht glauben werden. Niemand glaubt mir. Nicht einmal die Menschen, die mich sehr gut kennen sollten. Sie aber haben mich nur ein- oder zweimal flüchtig gesehen, man hat mich bei Ihnen verleumdet .. . wie könnten ausgerechnet Sie mir da Glauben schenken? Sehen Sie, und deshalb hat es gar keinen Zweck, daß wir miteinander reden. Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben . .. fragen Sie Dr. Georgi!« »Gerade das möchte ich nicht«, sagte Berni Kortner. »Es hat gar keinen Sinn, daß Sie mir das noch einmal nahelegen. Ich habe meine Gründe, es nicht zu tun.« »Nun ... dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.« Berni Kortner erhob sich ebenfalls und trat auf Daniela zu. »Wenn Sie ihn lieben, warum sagen Sie es mir nicht offen? Warum kämpfen Sie nicht um ihn?« Daniela warf den Kopf zurück. »Dazu habe ich kein Recht ... dazu habe ich auch nicht den geringsten Anlaß.« Berni Kortner sah sie mit fast kindlichem Erstaunen an. »Ist das wirklich wahr?« fragte sie. »Gibt es so etwas tatsächlich? Ich dachte, so was gäbe es nur in Romanen! Daß Frauen bloß Abenteuer suchen, meine ich, ohne jede Verbindlichkeit.« »Ich habe kein Abenteuer gesucht, Fräulein Kortner, und ich habe auch kein Abenteuer erlebt. Diese anonymen Briefe, die Sie bekommen haben, sie enthalten nichts als Verleumdung.« 204
»Sie sind nicht mit ihm verreist?« »Nein!« »Das ist .. .« Berni Kortner holte Luft. »Sie werden zugeben, das ist sehr schwer zu glauben.« »Ich weiß«, sagte Daniela ruhig. »Allmählich gewöhne ich mich daran, daß niemand mir glaubt.« »Aber . .. wenn gar nichts gewesen ist, wie konnte dann überhaupt so ein Gerücht aufkommen? Ich meine . .. wie heißt es doch, wo Rauch ist, da ist auch ein Feuer!« »Am Sonntag vor zwei Wochen«, erklärte Daniela sachlich, »saß ich in Baden-Baden ohne genügend Geld, um mit der Eisenbahn heimzufahren, fest. Meine kleine Tochter Eva war bei mir. Wie es dazu gekommen ist, brauche ich Ihnen nicht zu erklären, denn es ist in diesem Zusammenhang belanglos. Ich hatte um acht Uhr abends Dienst. Eine Geldüberweisung, auch eine telegrafische, wäre sinnlos gewesen. Ich mußte also jemanden um Hilfe bitten. Die Postämter waren geschlossen. Ich hatte nur eine einzige Freiburger Telefonnummer im Kopf, die des Bruder-Klaus-Krankenhauses. Wenn ich gewußt hätte, wie alles gekommen wäre, hätte ich sicher jemand anderen um Hilfe gebeten. Tatsächlich wandte ich mich an Dr. Georgi. Weil er ein Auto hat, weil er wußte, warum ich in Baden-Baden war, weil ich ihn als einen hilfsbereiten, netten Menschen kannte. Das ist alles.« Nach einer kleinen Pause fügte sie ehrlich hinzu: »Fast alles.« »Und er brachte Sie nach Freiburg?« fragte Berni Kortner.
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»Ja, aber erst am nächsten Morgen. Die Straßen waren so schlecht ... es herrschte gefährliches Glatteis, daß Doktor Georgi darauf bestand, in einem Dorf abseits der Bundesstraße hinter Offenburg zu übernachten. Es klingt lächerlich zu sagen, daß bei dieser Übernachtung nichts geschehen ist. Ich schwöre Ihnen, daß Doktor Georgi nicht einmal angedeutet hat, auch nur einen Funken mehr Sympathie für mich zu empfinden, wie es für einen Arzt einer zuverlässigen Krankenschwester gegenüber normal ist.« »Wenn das wirklich so war«, sagte Berni Kortner und ging nachdenklich ein paar Schritte im Zimmer auf und ab, »warum haben Sie es mir nicht gleich gesagt?« »Weil ich die bittere Erfahrung gemacht habe, daß die Wahrheit unglaubhaft klingen kann. Ich fürchtete, Sie nicht überzeugen zu können ... deshalb . . .« »Ich verstehe. Ja, ich verstehe.« Berni Kortner sah alles andere als glücklich aus. »Nun . . . dann habe ich Sie umsonst belästigt. Schade, sehr schade. Bitte, seien Sie mir nicht böse!« Sie reichte Daniela ihre Hand. »Aber«, sagte Daniela verblüfft, »ich verstehe nicht .. .« »Sie hatten wohl erwartet, daß ich eifersüchtig sein würde? Ihnen eine Szene mache?« Um Berni Kortners Mund erschien ein unsicheres Lächeln. »Nein, nein . . . die Dinge liegen ganz anders. Aber ich möchte Sie jetzt wirklich nicht länger aufhalten.« »Ihre Eltern werden überrascht sein«, sagte Daniela zögernd.
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»Ich gehe nicht nach Hause, wenn Sie das meinen«, erklärte Berni Kortner. »Weil ich nichts ausrichten konnte, wird es das Beste sein, ich fliege heute noch zurück.« »Fliegen?« fragte Daniela verdutzt. »Haben Sie denn . . .« Berni Kortner lächelte jetzt wirklich. »Nein, ein eigenes Flugzeug habe ich natürlich nicht. Da überschätzen Sie die Großzügigkeit meines Vaters doch entschieden. Aber ich habe schon auf alle Fälle einen Platz bei der Lufthansa belegt, für die Maschine, die um siebzehn Uhr fünfzehn in Stuttgart startet. Dann bin ich schon kurz nach sechs Uhr in München.« »Ach so«, sagte Daniela beeindruckt. »Aber dann .. . Sie hätten doch noch Zeit, mit uns zu Mittag zu essen ... ich meine, wenn Sie nichts Besonderes vorhaben. Oder . .. wollen Sie nicht doch Doktor Georgi aufsuchen?« »Nein.« »Dann, bitte, bleiben Sie! Es gibt nur etwas ganz Einfaches ... aber gleich nachher mache ich für uns beide einen starken Kaffee, der wird Ihnen guttun.« »Sie sind sehr lieb.« _ »Sie ahnen ja nicht, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte Daniela ehrlich. »Einfach deshalb, weil Sie mir glauben. Ich .. .Sie haben ja keine Ahnung, wie einem zumute ist, wenn man von allen Seiten verdächtigt wird, ohne sich dagegen wehren zu können.« »Ich kann es mir vorstellen«, sagte Berni Kortner herzlich. »Jetzt bin ich froh, daß Sie . ..« Daniela sprach ihren Satz nicht zu Ende. 207
An der Wohnungstür wurde geklingelt, sie trat auf den Flur und öffnete. Eva war nach Hause gekommen. Ihre kleine Tochter an der Hand, trat Daniela ein wenig später ins Wohnzimmer. »Das ist meine Eva«, sagte sie, »und dies ist Fräulein Kortner. Sie wird mit uns essen. Vielleicht leistest du ihr ein bißchen Gesellschaft, Liebling, während ich in der Küche bin.« Während des Essens kamen Schwester Daniela und die Tochter des Professors nicht mehr dazu, ein ernstes Wort miteinander zu wechseln. Es war Eva, die den Hauptteil der Unterhaltung bestritt. Sie merkte gar nicht, daß die beiden Frauen beim Essen ihren eigenen Gedanken nachhingen. Als Eva sich nach dem Essen für die übliche halbe Stunde zum Ausruhen ins Bett zurückzog, wurde es plötzlich sehr still im Zimmer. Daniela stand auf. »Jetzt werde ich einen Kaffee kochen«, sagte sie, fügte zögernd hinzu. »Wenn Sie vielleicht telefonieren möchten . . .« »Nein«, sagte Berni Kortner ruhig. Sie hatte ihre Handtasche geöffnet, zog vor dem kleinen Spiegel die Konturen ihres vollen Mundes nach. »Wenn es Ihnen lieber ist«, sagte Daniela, »ich werde natürlich niemandem etwas davon sagen, daß Sie hier waren.« Berni Kortner sah Schwester Daniela über den Rand ihrer Handtasche hinweg an. »Dafür wäre ich Ihnen allerdings dankbar.«
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»Gut«, sagte Daniela, »dann ... ich bin gleich zurück!« Sie ging in die Küche, setzte das Kaffeewasser auf, kam mit einem Tablett zurück ins Zimmer und stellte das benutzte Geschirr zusammen. »Sind Sie gar nicht neugierig?« fragte Berni Kortner. Daniela sah auf. »O doch«, sagte sie und wurde ein wenig rot. »Sehr sogar. Ich . .. ich nehme mich nur zusammen.« Berni Kortner lachte. »Sie sind eigentlich sehr nett, Schwester Daniela. Warum bloß hat sich Doktor Georgi nicht in Sie verliebt?« »Hätten Sie es gewünscht?« »Um ehrlich zu sein ... ja!« Daniela sah Berni Kortner mit großen Augen an. »Sie ... lieben Sie ihn nicht? Ich dachte . . . man hat mir erzählt . . .« »Ich war verliebt«, sagte Berni Kortner, »das ist richtig. Aber es ist zwei Jahre her. Damals war ich achtzehn. Inzwischen ...« Sie stockte. »Inzwischen haben Sie einen anderen Mann kennengelernt?« fragte Daniela. »Ja. Aber Sie müssen nicht glauben, daß ich deshalb ... nein. Doktor Georgi und ich hätten niemals zueinandergepaßt.« Berni Kortner stand auf, als Daniela die Kaffeebohnen in die Mühle tat. »Seit ich ein Kind bin, habe ich nichts als Ärzte erlebt. Alle erwachsenen Menschen, die ich gekannt habe, waren Ärzte. Außer den Lehrern. Aber die waren noch schlimmer. Ich wußte ja gar nicht, daß es andere Menschen, normale Menschen überhaupt gibt.« 209
»Jetzt übertreiben Sie wohl doch ein bißchen, wie?« fragte Daniela und mußte lachen. »Ich versuche ja nur, es Ihnen deutlich zu machen. Vater und Mutter und alle hielten es immer für ganz selbstverständlich, daß ich nur einen Arzt heiraten könnte. Na, und dann, als man es mir eben genügend eingeredet hatte, glaubte ich es auch. Doktor Georgi kannte ich schon, als ich fünfzehn war. Er war so charmant und so lustig . . . na, da habe ich ihn eben angehimmelt. Als er mir dann ... na eben .. . einen Heiratsantrag machte, da war es für mich, als wenn sich ein Gott aus den Wolken zu mir armem Erdenwurm niederließe, verstehen Sie? Zu Hause nahm mich ja niemand mehr voll, weil ich ... nun eben .. . weil mir das Lernen absolut keinen Spaß machte. Eine Tochter von Professor Kortner und kein Abitur, das galt als richtige Schande. So ein Blödsinn!« Berni Kortner schüttelte ihren Kopf, daß ihr blondes, weiches Haar nur so flog. »Aber wie hätte ich mich dagegen wehren sollen ... ich war ja ganz ahnungslos! Man konnte mir einreden, was man wollte.« Während Daniela die Bohnen mahlte, war jede Unterhaltung unmöglich. Erst als sie das Kaffeemehl in den Filter schüttete, sagte sie: »Aber das alles, finde ich, spricht doch nicht gegen Doktor Georgi.« »Tut es auch nicht. Da haben Sie ganz recht. Gerade das macht die Sache ja für mich so schwierig. Weil es nichts gibt, was gegen ihn spricht. Deshalb hatte ich ja gerade gehofft, daß er und Sie ... aber darüber brauchen wir ja wohl gar nicht mehr zu reden. Es ist einfach so .. . ich 210
liebe ihn nicht. Ist Ihnen nicht schon aufgefallen, daß ich ihn nur Doktor Georgi nenne, nie beim Vornamen ... Georg? Selbst wenn ich an ihn denke, ist er für mich immer nur Doktor Georgi, Vaters Assistenzarzt.« »Vielleicht«, sagte Daniela, »vielleicht hatten Sie einfach nicht genug Möglichkeiten, mit ihm vertraut zu werden?« »Nein, das ist es nicht. Er ... er liebt mich ja auch nicht. Wenn ich nicht ausgerechnet die Tochter seines Professors wäre, er hätte mich nicht einmal angeguckt.« »Das möchte ich aber doch sehr bezweifeln«, rief Daniela. »Schauen Sie nur mal in den Spiegel .. . ein so schönes Mädchen wie Sie ...« »Er hätte sich nicht ernsthaft für mich interessiert, das wollte ich nur sagen«, war Berni Kortner bereit, ihre Behauptung einzuschränken. »Sie sollten mal die Briefe lesen, die er mir schreibt ... in schöner Regelmäßigkeit zweimal die Woche. Von Liebesbriefen kann man da wirklich nicht reden. So, stelle ich mir vor, schreibt ein sehr netter Vater oder irgendein älterer Onkel, der ernsthaft bemüht ist, sich auf den geistigen Standpunkt eines jungen Mädchens einzustellen. Die Briefe sind nicht trocken, nein, sie sind witzig und nett, und ich muß immer beim Lesen lachen .. . aber sie sind eben . . . onkelhaft. Ohne Gefühl, ohne Überschwang, ohne ... ohne . . .« Vor lauter Eifer fand Berni Kortner nicht die Worte, die sie suchte. Es war ihr anzumerken, wie wohl es ihr tat, sich einmal gründlich auszusprechen. Daniela spülte die Kaffeekanne mit heißem Wasser aus. »Und 211
der andere?« fragte sie mit einem kleinen Lächeln. »Der ist ganz anders, wie?« »Er ist wundervoll«, sagte Berni, »er ist der einzige Mann, der überhaupt für mich in Frage kommt!« »Junggeselle?« »Natürlich!« sagte Berni Kortner mit Nachdruck. »Einen verheirateten Mann hätte ich überhaupt nicht angeschaut ... einen geschiedenen auch nicht. Nein, er ist Junggeselle, und er liebt mich, genausosehr wie ich ihn ... vielleicht noch ein ganz klein bißchen mehr, und das ist gerade schön.« »Aber er hat kein Geld?« »O doch! Er verdient sehr gut. Nein, das ist es nicht ...« »Was dann?« Daniela setzte den Filter auf die Kaffeekanne, das Wasser kochte, sie überbrühte das Kaffeemehl. »Ich verstehe nicht .. .«, sagte Berni Kortner und hob die Augenbrauen, und Daniela stellte fest, daß sie äußerlich eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte. »Na, ich meine nur . .. irgendein Haar muß doch in der Suppe sein. Ich wüßte nicht, warum Sie sonst nicht einfach Ihre Eltern und Doktor Georgi von der Veränderung Ihrer Gefühle in Kenntnis setzen.« Berni Kortner schwieg, sie preßte die vollen, schöngeschwungenen Lippen zusammen, dann sagte sie mit düsterer Stimme: »Er ist kein Akademiker.« »Was?« fragte Daniela verblüfft.
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»Bitte, schauen Sie mich nicht so entsetzt an! Ich ... es ist ja ohnehin furchtbar!« »Ist das alles?« fragte Daniela erstaunt. »Ich meine ... nur weil er kein Akademiker ist?« »Nein, aber das würde schon genügen. Es ist noch schlimmer. Er hat ein offenes Geschäft. Einen Fotoladen. Verstehen Sie? So ein Geschäft, wo man Fotoapparate und Filme und Kameras und alles mögliche kaufen und sich auch fotografieren lassen kann.« »Ja, aber das ist doch herrlich!« – »Mir gefällt’s auch«, sagte Berni unsicher, »aber meine Eltern . ..« »Na, hören Sie mal! Ich glaube, da haben Sie sich etwas ganz Dummes eingeredet, Fräulein Kortner. Ich kenne doch den Herrn Professor ... ich glaube nicht, daß er in irgendeiner Form dünkelhaft ist.« »Vater vielleicht nicht, da haben Sie recht«, sagte Berni Kortner nachdenklich, »aber Mutter ist es bestimmt. Sie war schon enttäuscht, weil ich nicht studieren konnte ... ich wollte ja auch gar nicht. Wenn ich jetzt noch mit einem Schwiegersohn ankomme, der .. . wissen Sie, Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Schwester Daniela, auch meine Mutter nicht verurteilen. Aber Tatsache ist, sie kommt aus einer Familie mit lauter Akademikern. . . ihr Vater war Professor, ihr einer Bruder ist Dozent, ihr anderer ist Rechtsanwalt, ja sogar ihr Großvater . ..« »Dann finde ich«, sagte Daniela heiter, »daß es allmählich Zeit wird, daß ein Mitglied der Familie sich wieder unter die normale Menschheit mischt!«
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»Glauben Sie wirklich?« fragte Berni Kortner, nicht sehr überzeugt. »Ganz bestimmt«, sagte Schwester Daniela mit Nachdruck. »Ich kann nicht glauben, daß Ihre Eltern etwas gegen einen jungen Mann mit gutem Ruf – den hat er doch hoffentlich? – einwenden können, nur weil er kein Akademiker ist und ein Ladengeschäft besitzt. Was ist denn schon dabei?« »Sie können das vielleicht nicht so verstehen . . .« »Weil ich nur eine Krankenschwester bin?« Berni Kortner wurde rot. »Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein«, sagte Daniela, »ich verstehe Ihren Standpunkt vollkommen. Ich hab’s auch bloß zur mittleren Reife gebracht, weil damals mein Vater starb. Also mit meiner Bildung ist es nicht allzuweit her. Aber Sie dürfen nicht vergessen, wie viele Erfahrungen wir in unserem Beruf machen. Gerade deshalb liebe ich meine Arbeit ja so.« »Rudi ist wunderbar!« sagte Berni. »Wenn meine Eltern ihn kennenlernen würden . . . Sie wären bestimmt von ihm begeistert. Aber ... ich fürchte ...« »Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle täte?« fragte Daniela und stellte Tassen, ein Kännchen mit Sahne und die Zuckerdose auf das Tablett. »Ich würde nicht nach München zurückfahren, sondern zu meinen Eltern gehen und die ganze Sache in aller Ruhe mit ihnen besprechen. Was könnte denn schon passieren?« »Sehr viel«, sagte Berni Kortner, »alles. Ich kenne meine Eltern besser als Sie. Sie haben ja schon nicht er214
laubt, daß ich in Freiburg bleibe, bloß weil ich damals noch Doktor Georgi heiraten wollte. Glauben Sie denn, sie würden zulassen, daß ich weiter in München bleibe, wenn sie wissen, daß ... nein, nie im Leben. Sie würden mich sofort woandershin verfrachten ... möglicherweise nach Tübingen zu Tante Tilly oder in sonst irgendein Nest.« »Vielleicht würde man Sie nur nach Hause holen«, sagte Daniela, »und ich glaube, für ein oder zwei Monate ließe sich das schon ertragen. Bis zur Heirat, meine ich.« »Dazu würden meine Eltern ihre Erlaubnis nicht geben. Nein, ich kenne sie besser. Sie würden sofort alles in die Wege leiten, um uns zu trennen.« Der Kaffee war fertig, aber Daniela merkte es nicht. »Wie«, fragte sie interessiert, »haben Sie sich dann vorgestellt, daß es weitergehen soll? So, wie es jetzt ist, kann es doch nicht bleiben.« »Natürlich nicht. Sie haben ganz recht. Aber ich dachte ... ich hoffte ... nun, einfach, ich will versuchen, die Dinge in der Schwebe zu lassen.« »Wie lange?« – »Bis ich volljährig bin. Dann kann ich Rudi heiraten und meine Eltern und Doktor Georgi vor die vollendete Tatsache stellen.« »Ja«, gab Daniela zu, »das könnten Sie. Aber es wäre nicht sehr schön ... oder finden Sie?« »Nein. Aber was bleibt mir anderes übrig?« »Ja, ich verstehe«, sagte Daniela nachdenklich. »Das ist kein einfaches Problem!« Sie zwang sich, Berni Kortner 215
ermunternd zuzulächeln. »Na, trinken wir erst mal unseren Kaffee, dabei denkt sich’s leichter!« X Als Daniela eines Morgens nach Hause kam, fühlte sie sich endlich wieder besser als seit langer Zeit. Während sie die Treppen zu ihrer Wohnung hinauflief, summte sie vergnügt eine Melodie vor sich hin. Sie wollte gerade den Schlüssel ins Schloß stecken, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie fuhr herum. Eine Sekunde lang hielt sie das, was sie sah, für einen Traum – sie riß die Augen auf, kniff sie zusammen, öffnete sie wieder weit -, aber der Mensch, der vor ihr stand, war keine Erscheinung, er war wirklich und aus Fleisch und Blut. »Hans-Jörg .. . du?« war alles, was sie hervorbringen konnte. »Du machst ein Gesicht, als wenn ein Gespenst vor dir stünde!« Sie versuchte ein Lächeln. »Du hast mich auch ganz schön erschreckt!« »Das tut mir leid.« Sie standen einander gegenüber und sahen sich an. Schwester Daniela stellte fest, daß ihr geschiedener Mann sich in den Jahren, seit sie ihn nicht mehr gesehen hatte, sehr verändert hatte. Er schien ihr gewachsen, war breiter in den Schultern geworden, wirkte männlich und 216
sicher. Seine Haltung erinnerte kaum noch an den schüchternen und labilen jungen Mann, den sie geliebt hatte. »Du siehst glänzend aus!« sagte er in ihre Gedanken hinein. »Ich hatte gefürchtet«, er lächelte verlegen, »na ja, ich hatte mir fast gedacht, du wärst . .. ziemlich alt geworden.« »Nun ja, ich bin fast sechs Jahre älter, seit . . . na, du weißt schon.« »Sechs Jahre, ja, stimmt. Schrecklich lange Zeit, nicht wahr?« Sie straffte die Schulter, fragte ruhig: »Was möchtest du?« »Komische Frage.« »Das kann ich absolut nicht finden! Bitte, sag mir ehrlich, was willst du von mir, Hans-Jörg?« »Dich mal wiedersehen! Was ist da schon dabei?« »Warum auf einmal?« »Na, um ehrlich zu sein, weil ich geschäftlich in Freiburg zu tun habe. Aber .. . das mußt du mir glauben, ich habe oft an dich gedacht. Sehr oft sogar. Bloß ... du weißt ja selber, wie das ist.« »Ja, das weiß ich, Hans-Jörg. Ich habe dich auch nicht vergessen, wahrscheinlich werde ich es nie. Aber es ist doch alles so lange her. Es hat keinen Sinn mehr.« »Woher willst du das wissen? Ich kann mich ja .. . verändert haben.« Er faßte sie beim Arm. »Hier im Treppenhaus kann ich wirklich nicht mit dir reden. Gehen wir doch ’rein!«
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Eine fast panische Angst überfiel sie. Hans-Jörg Kreuzer wußte nicht, daß er eine Tochter hatte. Eva ahnte nicht, daß ihr Vater noch lebte. Die beiden durften sich nicht begegnen, jedenfalls keinesfalls so völlig unvorbereitet. »Nein, das geht nicht«, sagte sie rasch. Er zog die Augenbrauen hoch. »Wohnst du nicht allein?« Sie beantwortete diese Frage nicht. »Ich habe die ganze Nacht Dienst gehabt«, sagte sie, »ich bin todmüde.« »Das macht ja nichts. Dann werde ich dich eben in deinen bequemsten Sessel verfrachten, ein Frühstück machen ... du weißt ja noch, das konnte ich gut.« »Nein, Hans-Jörg, das ist gut von dir gemeint ... aber ich habe jetzt einfach keine Kraft, mit dir zu reden. Ich könnte nicht einmal zuhören. Ich bin so müde, daß ich auf der Stelle einschlafen könnte.« »Sieht man dir aber gar nicht an«, sagte er enttäuscht. »Jedenfalls bin ich es. Bitte, Hans-Jörg, laß mich jetzt allein.« »Und wann sehen wir uns?« »Wie lange bleibst du in Freiburg?« »Jedenfalls so lange, bis ich ausführlich mit dir gesprochen habe. Wie wär’s mit heute abend?« Es schien Daniela, als wenn sie drinnen in der Wohnung ein Geräusch gehört hätte. Womöglich war Eva erwacht und hörte ihre Stimmen. Wenn sie zur Tür kam . .. nein, das durfte nicht sein! »Ja, gut, heute abend!« sagte Daniela rasch.
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»Einverstanden . .. bis später, Hans-Jörg. Auf Wiedersehen!« »Willst du mir keinen Kuß geben?« »Bitte, geh jetzt, oder . . .« »Was oder?« »Ich muß glauben, daß du dich nicht im geringsten verändert hast!« Das wirkte. Hans-Jörg verabschiedete sich endgültig. Daniela sah ihm nach, bis er um die Biegung der Treppe vor ihren Augen verschwunden war. Dann erst schloß sie die Wohnungstür auf. Eva schlief fest und tief. Schwester Daniela stellte es mit Erleichterung fest. Erst als sie aufgeräumt und das Frühstück bereitet hatte, weckte sie ihre kleine Tochter und zog sie an. Beim Frühstück plauderte Eva munter drauflos. Daniela gab nur einsilbige Antworten. Ihre gute Stimmung war verflogen. Sie war sehr nachdenklich geworden. Immer wieder betrachtete sie nachdenklich ihre Tochter, suchte in Evas Zügen eine Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Sie fand keine. Je älter Eva wurde, desto mehr entwickelte sie sich zu ihrem eigenen Ebenbild. Oder sollte sie sich täuschen? Daniela fiel es auf einmal ein, daß ihre eigene Mutter ihr immer erzählt hatte, daß sie selbst ein schwieriges Kind gewesen sei, wehleidig und nörgelig. Sollte Eva ihr ausgeglichenes Temperament doch von Hans-Jörg geerbt haben? Aber war Hans-Jörg ausgeglichen? Dann mußte sie ihn von Anfang an verkannt haben. 219
Daniela schreckte aus ihren Gedanken. Eva hatte sie etwas gefragt, was sie nicht verstanden hatte. »Was ist, Evchen?« fragte sie und zwang sich, freundlich zu sein. »Ich habe nur gefragt . . . warum bist du so stumm?« »Ich? Wieso? Ach ja, natürlich«, sagte Daniela, »ich habe nur gedacht, es ist doch eigentlich schade, daß wir keinen Vater haben.« »Schade schon«, sagte Eva, »aber da kann man nichts machen.« »Natürlich hast du auch einen Vater gehabt, Eva«, fuhr Daniela tastend fort, »jedes Kind hat einen Vater, das weißt du doch.« »Ja, aber jetzt ist er im Himmel«, erklärte Eva ungerührt. Daniela seufzte. Es war schwerer, als sie sich vorgestellt hatte. »Was würdest du sagen, Eva . . . wenn ... ich meine, wenn er doch noch lebte?« »Warum ist er dann nicht bei uns?« »Es könnte doch sein«, sagte Daniela, »daß dein Vater und ich ... daß wir uns furchtbar gestritten hätten?« »Nein, das glaube ich nicht. Du streitest dich ja nicht, Mutti.« »Aber ... es könnte doch sein, daß dein Vater ... ich meine, daß er eben mit mir gestritten hätte . . .« »Wenn er solch ein Streithansl ist, dann will ich ihn gar nicht haben.« »Man kann sich seinen Vater nicht aussuchen, Eva, man muß ihn so nehmen, wie er ist.« 220
Eva schluckte energisch den Bissen Brot hinunter, den sie im Mund hatte, und fragte: »Habe ich nun einen Vater .. . odernicht?« Daniela bereute, daß sie das Thema überhaupt angeschnitten hatte. Vielleicht gelang es ihr, Hans-Jörg fortzuschicken, ohne daß er die Wahrheit erfahren mußte. Vielleicht hatte er gar kein Interesse daran, sich wirklich mit ihr zu versöhnen. Sie überlegte, fand es aber dann doch besser, Eva vorsorglich auf die Wahrheit vorzubereiten.« »Doch, Eva«, sagte sie, »dein Vater lebt!« »Dann ... dann hast du gelügt!« »Gelogen heißt es, Eva. Und außerdem darf man so etwas zu seiner Mutter nicht sagen.« »Aber wenn es doch stimmt!« Eva war richtig empört. »Hör mal, Eva«, sagte Daniela, »es gibt eben Dinge, die die ganz kleinen Kinder noch nicht verstehen können, deshalb kann man sie ihnen auch nicht erzählen. Aber jetzt bist du doch schon ein bißchen größer geworden . ..« »Ja, Mutti«, sagte Eva eifrig und reckte die Schultern, »jetzt bin ich ja schon ziemlich erwachsen!« »Siehst du, und deshalb kann ich auch versuchen, dir die Wahrheit zu erklären. Dein Vater und ich, wir haben geheiratet, als wir noch sehr jung waren . .. viel zu jung zum Heiraten, verstehst du? Deshalb haben wir uns beide gestritten. Mutter hatte genausoviel Schuld wie dein Vater. Das mußt du mir glauben. Und weil wir uns so-
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viel gestritten haben, da haben wir uns eines Tages getrennt, verstehst du?« »Nein, das versteh’ ich nicht«, sagte Eva mit großen Augen. »Irene und ich, wir streiten uns auch andauernd .. . aber deshalb wollen wir uns ganz bestimmt nicht trennen.« Daniela strich ihrer kleinen Tochter über die braunen Locken. »Bei Freundinnen, weißt du, da ist das etwas anderes. Aber wenn man verheiratet ist, dann sollte man sich nicht streiten. Natürlich, man tut das auch, aber nicht zuviel, sonst meint man plötzlich, daß man sich gar nicht mehr lieb hat.« Sie seufzte. »Ach, Eva, mach es mir nicht so schwer. Wenn ich bloß nicht davon angefangen hätte. Ich weiß gar nicht, wie ich dir das alles erklären soll.« Eva legte ihre runde Kinderstirn in tiefe Falten, sagte nachdenklich: »Ist er dir davongelaufen, Mutti?« »Ja, vielleicht kann man’s so nennen!« sagte Daniela erleichtert. »Aber es ist alles so lange her, wir brauchen uns darüber eigentlich gar keine Gedanken zu machen. Wissen sollst du bloß, daß dein Vater sicher noch lebt.« »Dann könnte er doch wenigstens mal schreiben!« »Ja, vielleicht tut er das auch .. . oder er kommt mal vorbei. Deshalb erzähl’ ich es dir ja nur, Eva, damit du dann nicht so schrecklich überrascht bist.« »Na, dann soll er bloß bald kommen«, sagte Eva energisch. »Sonst will ich gar nichts mehr von ihm wissen.« Als Eva an diesem Morgen die Wohnung verlassen hatte, um in den Kindergarten zu gehen, und Schwester 222
Daniela sich endlich hinlegen konnte, wußte sie, daß sie keinen Schlaf finden würde, obwohl sie todmüde war. Zuviel widerstrebende Empfindungen und Gedanken beunruhigten sie. Sie entschloß sich, eine Schlaftablette zu nehmen, obwohl sie wußte, daß das eine schlechte Angewohnheit war. Aber sie brauchte Schlaf, sie brauchte Entspannung, um sich über ihre Situation klarzuwerden. Das Medikament tat seine Wirkung. Schwester Daniela fiel in einen tiefen, dumpfen, traumlosen Schlaf. Sie erwachte erst, als es gegen Mittag heftig an der Wohnungstür klingelte. Es war Eva, die vom Kindergarten nach Hause gekommen war. Rasch setzte Daniela das Essen aufs Feuer, Eva half ihr beim Tischdecken. Sie war vergnügt, erzählte munter von ihren Erlebnissen im Kindergarten, und Daniela war schon überzeugt, daß sie ihr Gespräch von heute früh vergessen hatte. Aber darin hatte sie sich geirrt. Ganz unvermittelt fragte Eva: »Mutti... wozu braucht man eigentlich einen Vater?« Daniela war auf diese plötzliche Frage nicht gefaßt gewesen. »Oh, zu allem möglichen!« sagte sie. »Wozu?« bohrte Eva weiter. »Ja, weißt du«, sagte Daniela, »wenn unser Vater bei uns wäre, dann brauchte ich wahrscheinlich gar nicht arbeiten zu gehen. Ich wäre dann immer zu Hause bei dir.«
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»So?« Eva war alles andere als befriedigt. »Aber in unserem Kindergarten gibt es welche, die haben auch Väter, und die Mütter gehen doch arbeiten.« »Ja, das stimmt schon«, gab Daniela zu. »Aber .. . wenn man einen Vater hat, dann hat man eben einen, der einen beschützt . .. Väter beschützen ihre Familie, weißt du!« »Uns beschützt der liebe Gott, meine ich«, sagte Eva. »Eva«, sagte Daniela, »wenn du alles besser weißt, weshalb fragst du mich dann?« »Ich weiß eben nicht, wozu man einen Vater braucht.« »Zum Liebhaben, Eva! Und jetzt, bitte, hör auf damit! Ich will nichts mehr davon hören!« Eine ganze Weile war Eva auch tatsächlich still, aber dann – sie hatten schon ihr Mittagessen zu sich genommen – fragte sie plötzlich: »Hat mein Vater mich denn überhaupt lieb, Mutti?« Daniela seufzte. Sollte sie Eva sagen, daß Hans-Jörg gar nicht wußte, daß er eine Tochter hatte? Unmöglich. »Sicher hat er dich lieb«, sagte sie, »alle Väter haben ihre Töchter lieb.« »Aber ...«, wollte Eva zu einer neuen Frage ansetzen. Daniela schnitt ihr das Wort ab. »Schluß damit! Nimm das Küchenhandtuch, du kannst mir gleich beim Abtrocknen helfen.« »Brauche ich heute nicht zu schlafen?« »Doch. Natürlich. Sobald wir mit der Küche fertig sind.«
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Als Eva eine halbe Stunde später im Bett lag, kochte sich Daniela einen starken Kaffee. Sie fand in der Küchenschublade noch ein Päckchen mit zwei Zigaretten, zündete sich eine an, rauchte, trank Kaffee und zwang sich nachzudenken. Was sollte sie tun? Sie hatte Hans-Jörg versprochen, sich am Abend mit ihm auszusprechen, aber dabei hatte sie nicht einen Augenblick vergessen, daß sie Nachtdienst hatte. Sie hatte ihn nur vertröstet, um ihn loszuwerden. Aber sie konnte nicht riskieren, daß er kam, an der Wohnungstür klingelte, wenn sie fort war. Sicher würde Eva nicht öffnen, denn das hatte sie ihr eingeschärft. Aber es würde sie sehr erschrecken. Außerdem bestand die Gefahr, daß er bei den Nachbarn nach ihr fragte, daß er aus fremdem Munde erfuhr, daß sie eine Tochter hatte. Daniela seufzte. Das alles war so unangenehm und kompliziert. Warum war Hans-Jörg bloß auf den Gedanken gekommen, sie aufzusuchen? Jetzt mußte sie sehen, wie sie ihn mit gutem Wind wieder losbekam. Daniela war erstaunt über ihre eigene Kühle. Jahrelang nach ihrer Scheidung hatte sie immer noch voller Sehnsucht an Hans-Jörg gedacht, hatte darüber nachgegrübelt, was sie alles in ihrer jungen Ehe falsch gemacht hatte und wie sie es hätte besser machen können. Sie wäre glücklich gewesen, wenn Hans-Jörg sich wieder gemeldet hätte. Jetzt war er gekommen, und es erschreckte sie eher, als es sie erfreute. Warum nur? Warum? Hatte Sie sich in 225
Dr. Georgi verliebt? Hoffte sie darauf, daß er sie, wenn die Dinge mit Berni geregelt waren, heiraten würde? Plötzlich kam ihr zu Bewußtsein, wie töricht dieser Gedanke war. Daß ein Arzt eine Schwester heiratete, kam doch fast nur in Romanen vor. Daß ausgerechnet der gutaussehende, begabte Dr. Georgi sie, die arme Schwester Daniela, zur Frau nehmen würde, das wäre einfach hirnverbrannt. Durfte sie nur aus diesem Grund Hans-Jörg vor den Kopf stoßen? Durfte sie ihm weiter verschweigen, daß er eine Tochter hatte? Durfte sie sich aus egoistischen Gründen zwischen Eva und ihren Vater stellen? Es war zum Verzweifeln. Daniela wußte sich keinen Rat, und doch fühlte sie in ihrem Innern, daß die Antwort auf alle ihre Fragen ganz einfach war. Nur war sie nicht imstande, sie zu finden. Nach einem schweren inneren Kampf entschloß sie sich, das Bruder-Klaus-Krankenhaus anzurufen und sich für diesen Abend zu entschuldigen. Es war noch nie vorgekommen – außer jenem einen Mal, als sie mit Dr. Georgi in Aapern übernachtet hatte -, daß sie ihren Dienst versäumt hatte. Sie vermied es, eine erlogene Entschuldigung vorzubringen, sondern erklärte nur mit Nachdruck, daß es ihr aus privaten Gründen unmöglich sei, ihren Dienst anzutreten. Ehe Fräulein Onau, bei der sie sich abmeldete, noch eine Gegenfrage stellen konnte, hängte sie rasch ein. Danach fühlte sie sich schon wesentlich besser.
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Eva sagte sie nichts davon, daß sie an diesem Abend eine Verabredung hatte. Es war ihr gerade recht, HansJörg auch diesmal wieder in Schwesterntracht zu begegnen. Die strenge Kleidung würde ihr, so hoffte sie wenigstens, Halt geben. Eva merkte nicht, daß ihre Mutter etwas später als sonst die Wohnung verließ. Sie lag schon im Bett, als Daniela sich im Flur ihren dunkelblauen Schwesternmantel anzog. Daniela schloß die Wohnungstür von außen ab, gab den Schlüssel der Nachbarin, wartete unten im Hausflur auf Hans-Jörg. Er erschien pünktlich um acht Uhr und überreichte ihr einen prachtvollen Strauß dunkelroter Rosen. Damit hatte Daniela nicht gerechnet. Sie bedankte sich sehr verlegen, wußte nicht, was sie mit den Blumen machen sollte. Er deutete ihre Befangenheit falsch. »Nun schließlich«, sagte er, »wir waren doch einmal verheiratet. Da durfte ich mir wohl doch erlauben ...« »Natürlich, Hans-Jörg«, sagte sie rasch. »Du faßt es doch nicht etwa falsch auf?« »Ganz bestimmt nicht, nur ...« Sie hatte sich zu einem Entschluß durchgerungen. »Bitte, warte hier unten auf mich. Ich bringe sie rasch nach oben.« »Kann ich dich nicht begleiten?« »Lieber nicht!« »Na, hör mal, du tust geradeso, als wenn ...« »Eine alleinstehende Frau muß auf ihren Ruf achten, Hans-Jörg.« 227
»Aber ich bin doch ... ich war jedenfalls dein Mann!« »Glaubst du, daß ich das jedem einzelnen hier im Haus erzählen kann?« »Du hast schon recht«, gab er zu, »ich weiß, du warst immer ein braves Mädchen!« Sie eilte die Treppe hinauf, schloß mit dem zweiten Wohnungstürschlüssel, den sie immer bei sich hatte, auf, lief, ohne Licht zu machen, ins Badezimmer, ließ Wasser in das Becken laufen, drehte den Hahn zu, legte die Rosen hinein. Bevor sie die Wohnung verließ, trat sie noch einmal ins Schlafzimmer, um nach Eva zu sehen. Es schien ihr, als wenn der Atem des Kindes schwerer ginge als sonst, pfeifend und unregelmäßig. Sie knipste leise die kleine verhangene Nachttischlampe an. Evas Wangen glühten, sie atmete mit offenem Mund. Eine böse Ahnung fuhr in Danielas Herz. Stand Eva vielleicht im Begriff, krank zu werden? Aber dann schalt sie sich selber übertrieben besorgt. Evas Wangen waren nur rot vom Schlaf. Was war schon dabei? Wahrscheinlich hatte sie gerade einen wilden Traum. Das war doch kein Grund, an das Schlimmste zu denken. Dennoch wollte sie vorsichtshalber den Puls fühlen, als sie Schritte auf der Treppe hörte. Sie hatte, um keinen Lärm zu machen, die Wohnungstür nur angelehnt. Wenn jetzt Hans-Jörg käme! Sie erschrak, löschte schnell die Nachttischlampe aus, lief aus dem Zimmer. Tatsächlich stand Hans-Jörg schon im Wohnungsflur. 228
»Ich hatte dich doch so gebeten!« sagte sie erschrocken. Er wollte sie im Halbdunkel in die Arme nehmen, aber sie entschlüpfte ihm. »Komm, gehen wir!« sagte sie. »Du kannst hier nicht bleiben! Wirklich nicht!« »Aber nachher doch, wenn alles schläft?« Sie schob ihn mit sanftem Nachdruck ins Treppenhaus hinaus. »Warum?« fragte sie. »Was willst du bei mir?« »Nur ... eine Tasse Kaffee trinken! Was ist schon dabei?« »Sehr vieles. Aber komm jetzt!« »Du hast dich gar nicht verändert«, sagte er, »du bist immer noch so kratzbürstig, wie du warst!« »Findest du?« fragte sie kühl. »Es tut mir leid, wenn ich dich enttäusche. Aber bitte, vergiß nicht, es hat dich niemand gezwungen, hierherzukommen!« Er lachte nur und schob seinen Arm unter ihren Ellenbogen. Für einen Augenblick hatte sie das seltsame Gefühl, als wenn sie nie voneinander getrennt gewesen wären. Eva erwachte von ihrem eigenen Schrei. Sie fuhr kerzengerade im Bett hoch und schrie durchdringend. Sie glaubte in der Dunkelheit Raubtiere mit glühenden Augen lauern zu sehen, sprungbereit, nur darauf wartend, sie mit ihren scharfen Krallen zu zerfleischen, mit ihren gierigen Mäulern zu verschlingen. Sie schrie, außer sich vor Angst. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff, daß sie zu Hause war, in ihrem eigenen Bett. All das Grauenhafte, das sie erlebt hatte, war nur ein böser Traum gewesen. 229
Sie knipste das Nachttischlämpchen an, dessen warmer Schein mit einem Schlag die Gespenster der Nacht verscheuchte. Eva seufzte tief auf, spürte, daß ihre Wangen tränennaß waren, schluckte. Der Hals tat ihr entsetzlich weh, und in ihrem Kopf dröhnte es wie in einem Hammerwerk. Ihr Gesicht war ganz heiß, und trotzdem zitterte sie vor Kälte. Sie hörte, daß die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. »Mutter!« rief sie gellend. »Mutter!« Aber es war nur die Nachbarin, Frau Krüger, die, von ihrem Schrei alarmiert, herübergekommen war. »Was ist, Eva?« fragte sie besorgt. »Weshalb hast du so geschrien? Warum brennt das Licht?« »Mutter!« sagte Eva verzweifelt. »Mutter soll kommen!« »Aber Evchen ... du weißt doch genau, deine Mutter muß arbeiten. Deshalb brauchst du doch nicht zu erschrecken. Morgen früh ist sie wieder da. Wie immer.« »Ich habe Angst!« »Angst? Aber hör mal! Ein so großes, vernünftiges Mädchen wie du!« Jetzt erst war Frau Krüger nahe an Evas Bett gekommen, sah ihr glühendes Gesicht, ihre großen, unnatürlich glänzenden Augen. »Wie siehst du denn aus?« fragte sie erschrocken und legte ihre Hand auf Evas Stirn. »Du hast ja Fieber!« »Mutter! Bitte, Mutter soll kommen!« flehte Eva. »Tut dir etwas weh?« fragte Frau Krüger. Eva schluchzte nur. 230
»Warte, jetzt werden wir gleich mal Fieber messen!« »Nein!« Eva stieß nach der Nachbarin. »Ich will nicht! Mutter soll mir Fieber messen! Mutter! Mutter!« Sie begann bitterlich zu schluchzen. Frau Krüger dachte eine Sekunde nach, dann ging sie zum Telefonapparat. Auf dem Schreibblock daneben stand obenauf die Nummer des Bruder-KlausKrankenhauses. Sie rief an, verlangte eine Verbindung mit Schwester Daniela. »Tut mir leid, Schwester Daniela ist heute nicht im Dienst«, erklärte die Telefonistin sachlich. »Aber sie muß dort sein! Fräulein, bitte, verbinden Sie mich doch!« »Wenn ich Ihnen sage, daß sie nicht da ist. Ich müßte es ja wissen.« »Aber ...« »Ich kann Ihnen leider nicht helfen!« »Bitte!« rief Frau Krüger. »Bitte! Ich bin die Nachbarin von Schwester Daniela. Ihr Kind ist krank ! Bitte ... ich muß Schwester Daniela sprechen! Wissen Sie denn nicht . . .« »Einen Augenblick bitte! Ich verbinde Sie mit dem diensthabenden Arzt.« Es knackte in der Leitung, dann sagte eine männliche Stimme: »Hier spricht Dr. Georgi!« »Herr Doktor«, sagte Frau Krüger atemlos. »Ich muß .. . ich muß Schwester Daniela sprechen. Ihr Kind ist krank!« »Krank? Was hat sie denn?« 231
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls hohes Fieber.« »Wie hoch?« »Sie läßt sich nicht messen. Sie verlangt immerzu nach ihrer Mutter. Schwester Daniela muß doch im Haus sein, Herr Doktor!« »Geben Sie ihr eine halbe Tablette Pyramidon ...«, ordnete Dr. Georgi an. »Ich fürchte, sie wird es von mir nicht nehmen, Herr Doktor! Sie ist .. . ganz verstört ist sie. Ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll!« Einen Atemzug lang dachte Dr. Georgi nach, dann sagte er »Bleiben Sie bitte bei ihr! Lassen Sie sie nicht allein, hören Sie? Ich habe hier noch einige Anordnungen zu treffen, dann komme ich zu Ihnen. In etwa einer halben Stunde bin ich da!« »Danke, Herr Doktor. Vielen Dank!« Daniela und Hans-Jörg Kreuzer saßen in einer der gemütlichen, holzgetäfelten Gaststätten in der Nähe des Münsters. Sie hatten gut gegessen, tranken von dem würzigen roten Landwein, knabberten Nüsse dazu. Hans-Jörg redete fast ununterbrochen. Er schien es gar nicht zu bemerken, daß Daniela sich sehr abwartend verhielt, nur einsilbige Antworten gab, kurze Fragen einwarf. Er bemühte sich, eine Unbefangenheit zur Schau zu tragen, die Daniela nicht für echt hielt. »Ich habe mir alles inzwischen überlegt«, sagte er, »noch und noch. Es war ein Fehler von uns, damals einfach auseinanderzurennen, wir hätten Geduld miteinander haben müssen, viel mehr Geduld.« 232
»Ich glaube, es war ein Fehler, überhaupt zu heiraten«, sagte Daniela, ohne ihn anzusehen. »Nein! Warum? Ich bin nach wie vor der Meinung, daß ...« Er unterbrach sich. »Vielleicht hast du recht... in gewissem Sinne, meine ich. Wir hätten warten müssen, bis die wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben waren. Aber das ist alles leicht gesagt. Wir waren damals einfach zu verliebt . . . das heißt, ich habe dich zu sehr geliebt, Daniela!« Er nahm ihre Hand, und sie entrang sie ihm nicht. »Hans-Jörg«, sagte sie mühsam, »siehst du denn nicht, daß es keinen Sinn hat ... ich meine, alles wieder aufzuwühlen? Was vorbei ist, ist vorbei.« »Aber inzwischen hat sich doch alles geändert«, sagte er heftig. »Ich ... sieh mal, du hast doch sicher schon gemerkt, daß es mir gutgeht. Ich habe einen gutbezahlten Posten bei der Holzfaser AG. Ich rechne fest damit, im nächsten Jahre Prokura zu bekommen. Weißt du, was das bedeutet? Ich meine ... für uns beide? Ich bin überhaupt jetzt erst in der Lage, eine Frau zu ernähren! Daniela, bitte, schau mich nicht so an! Warum willst du’s nicht noch einmal mit mir versuchen? Sieh mal, es ist doch auch kein Zustand für dich – auf die Dauer, meine ich -, Nacht für Nacht arbeiten zu gehen. Ich verdiene genug für uns beide, du brauchst dich bloß um den Haushalt zu kümmern, wir könnten Kinder haben . ..« Sie schüttelte den Kopf. »Hans-Jörg«, sagte sie, »du hast dich wirklich nicht ein bißchen verändert. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Fast sechs Jahre. 233
Und du glaubst, du kannst einfach da wieder anfangen, wo wir damals aufgehört haben.« »Ja, und warum denn nicht?« »Weil wir inzwischen älter geworden sind, Hans-Jörg!« »Na, eben drum! Damals, Daniela, das wirst du doch zugeben ... damals waren wir beide einfach noch zu jung. Viel zu jung für die Ehe. Aber heute ...« »Es ist zuviel geschehen ... seit damals.« Er gab ihre Hand frei, sah sie mißtrauisch an. »Wie meinst du das?« »Genau, wie ich es sage.« »Du hast einen anderen«, sagte er böse. »Gib es doch zu!« »Und wenn es so wäre«, sagte sie ruhig, »das gibt dir kein Recht, mit mir zu schreien.« »Wie heißt er?« »Hans-Jörg! Bitte!« »Wird er dich heiraten?« »Vielleicht«, sagte Daniela, »habe ich vom Heiraten genug. Oder glaubst du etwa, daß die Erfahrungen, die ich von unserer Ehe gemacht habe, geradewegs ermutigend waren?« »Du hast mir also . .. immer noch nicht verziehen?« »Verziehen? Was gab es denn da zu verzeihen? Ich bin sicher, daß keiner von uns beiden auch nur einen Deut weniger Schuld hatte.« »Du gibst also zu, Daniela, bitte, sei doch nicht so! Was glaubst du, warum ich nach Freiburg gefahren bin? Ich weiß, Was du sagen willst .. . weil ich geschäftlich hier 234
zu tun habe. Das stimmt. Das stimmt auch. Aber das wäre doch kein Grund für mich gewesen, dich aufzusuchen, wenn ... Wenn ich nicht ehrlich Sehnsucht nach dir gehabt hätte. Daniela, du kannst mir eines glauben ... in den ganzen Jahren, in den ganzen vergangenen Jahren habe ich nicht eine Sekunde aufgehört, an dich zu denken. Warum willst du es nicht noch einmal mit mir versuchen? Versuchen, habe ich gesagt. Du brauchst dich ja nicht jetzt zu entscheiden. Gib mir eine Chance. Gib mir die Möglichkeit, dir zu beweisen, daß ich mich geändert habe, daß diesmal alles anders sein wird. Bitte, Daniela. Bitte.« »Hans-Jörg«, sagte sie, »ich habe ein Kind.« Er machte ein Gesicht, als wenn sie ihn geschlagen hätte. »Deshalb«, fuhr sie fort, »wollte ich dich auch nicht in meine Wohnung lassen . .. nur deshalb, verstehst du jetzt?« Er rang nach Luft. »Ja, aber . . . wie ist denn das passiert?« Sie lächelte. »Kannst du dir das wirklich nicht vorstellen?« »Doch, schon, im allgemeinen, meine ich. Aber bei dir . .. Daniela, wie war das möglich? Du mußt den Kerl ... sehr geliebt haben, nicht wahr? Er hat dich sitzenlassen! Hör mal, gib mir seine Adresse .. . ich werde das in Ordnung bringen. Du kannst dich auf mich verlassen.« Er stoppte, sagte, fast verlegen: »Oder ... ist er etwa verheiratet?« 235
Sie schüttelte den Kopf. »Dann gibt es für ihn überhaupt keine Entschuldigung! Sag mal, dieser Bursche muß doch wahnsinnig sein! Eine Frau wie dich sitzenzulassen, mit einem Kind! Nein, es ist wirklich unglaublich!« »Vielleicht«, sagte Daniela, »habe ich ihn sitzenlassen. Kannst du dir das nicht vorstellen?« »Nein. Das stimmt auch nicht. Wenn man von einem Mann ein Kind bekommt, dann ... dann läßt man ihn nicht so ohne weiteres laufen. So etwas gibt es gar nicht.« »Doch, Hans-Jörg. In meinem Fall schon. Und ich habe es nie bereut. Nein, das stimmt nicht genau«, verbesserte sie sich, »manchmal schon. Manchmal sind mir Bedenken gekommen. Aber ich bin nach wie vor der Meinung, daß trotz allem alles richtig war.« Sie lächelte ihn hintergründig an. »In diesem Augenblick mehr denn je. Deshalb meine ich, wir sollten es dabei belassen.« »Wie alt ist es?« »Warum fragst du?« »Nun ... es liegt doch auf der Hand, daß ich mich für dein Kind interessiere. Ist es ein Junge?« »Nein. Ein Mädchen.« »Na ja, das vereinfacht die Dinge natürlich.« »Wieso?« fragte sie erstaunt. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.« »Es heißt doch immer, daß Mädchen sehr viel einfacher zu erziehen sind, ich meine, daß sie sich leichter an einen neuen Vater gewöhnen.« 236
Sie wurde rot vor Überraschung. »So? Sagt man das? Davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Ich schon. Wann wirst du uns beide bekannt machen?« »Hans-Jörg«, sagte sie, »du übernimmst dich. Du warst immer eifersüchtig, und du bist es auch heute noch . . .« »Schon. Wenn ich glauben müßte, daß du ... daß du einen anderen liebst. Aber da es sich nur um das Kind handelt .. .« »Nur? Hans-Jörg, ich bitte dich! Glaubst du wirklich, du könntest es so leicht verwinden? Du würdest jedesmal, wenn du Eva siehst, daran erinnert werden, daß .. .« »Ich liebe dich, Daniela«, sagte er ernst. »Hast du das immer noch nicht begriffen? Ich liebe dich, und ich wünsche mir nur eines, wieder mit dir Zusammensein zu dürfen. Dafür nehme ich auch das Kind in Kauf.« Daniela war fest entschlossen gewesen, Hans-Jörg zu sagen, daß Eva seine Tochter war. Jetzt brachte sie es nicht mehr über sich. Sie spürte, daß sie sich ihm damit ausgeliefert hätte. So sicher Hans-Jörg sich seiner Gefühle zu sein glaubte, so unsicher war sie selber. Es schien ihr, als wenn sie in den Jahren, da sie getrennt gewesen waren, selber älter geworden wäre, während er noch derselbe impulsive Junge von damals geblieben war. Sie hatte nicht den Mut, ihr Schicksal in seine Hände zu legen. Sie spürte, daß er es ernst mit ihr meinte, aber sie zweifelte daran, daß er der Verantwortung gewachsen sein würde. Aber hatte er nicht ein Recht auf seine Tochter? Hatte Eva nicht ein Recht auf ihren Vater? Durfte sie sich zwi237
schen die beiden stellen? Daniela wußte es nicht. Sie wußte gar nichts mehr. »Bitte, Hans-Jörg«, sagte sie, »laß mir Zeit. Ich muß mir doch erst alles durch den Kopf gehen lassen. Ich hätte ja niemals gedacht, daß ... ich kann es immer noch nicht recht fassen, daß du hier bist!« »Ich will dich nicht überrumpeln, ganz gewiß nicht .. . nur ... das Kind. Darf ich es sehen?« »Morgen. Vielleicht.« Daniela erhob sich. »Bitte, HansJörg, bring mich jetzt nach Hause ... ich bin sehr müde.« Er ließ es sich nicht nehmen, sie wenigstens bis zur Wohnung hinauf zu begleiten. »Gute Nacht«, sagte sie und lächelte ihn an. »Bis morgen dann?« Er rührte sich nicht von der Stelle, sah zu, wie sie die Tür aufschloß. »Merkwürdig«, sagte sie. »Was ist?« »Ich hatte abgeschlossen, als ich ging ... ich weiß es ganz genau.« »Soll ich mit hineinkommen und nachschauen, ob ...«, erbot er sich sofort. In diesem Augenblick hatte Daniela die Tür aufgestoßen, und sie hörten beide von drinnen Stimmen. »Mein Gott«, sagte sie erschrocken, »es ist etwas passiert!« Ohne sich um Hans-Jörg zu kümmern, ohne auch nur noch an ihn zu denken, stürmte sie in die Wohnung. Alle Türen standen offen, im Schlafzimmer brannte Licht. »Eva!« rief Daniela, außer sich vor Entsetzen. »Eva!« 238
Dr. Georgi trat aus der Schlafzimmertür. »Zum Teufel, schreien Sie nicht so!« sagte er grob. »Was soll das für einen Sinn haben?« »Eva ist . . . was ist mit ihr?« »Sie ist sehr krank. Diphtherie. Ich habe einen Krankenwagen bestellt.« »Ich ... bitte, lassen Sie mich zu ihr!« Sie wollte an Dr. Georgi vorbei ins Schlafzimmer. Er hielt sie bei der Schulter fest. »Nehmen Sie sich zusammen, Daniela . . . jetzt ist nicht der Moment, eine Szene zumachen.« »Aber ... ich muß doch zu ihr! Ich ... ich bin doch die Mutter!« »Sie wird Sie nicht mehr erkennen, Daniela. Das Fieber ist zu hoch.« Frau Krüger drängte sich hinter dem Arzt vor. »Ein Glück, daß ich das Kind habe schreien hören«, erzählte sie aufgeregt, »ein wahres Glück. Wenn wir nicht gerade den Fernsehapparat abgeschaltet hätten, ich wüßte nicht . . .« »Daß Sie gar nichts bemerkt haben, Schwester Daniela«, sagte Dr. Georgi. »Wann haben Sie die Wohnung verlassen?« Siedend heiß fiel es Daniela aufs Gewissen, wie Eva seltsam schwer und röchelnd geatmet hatte, als sie heute abend noch einmal ins Schlafzimmer sah. Warum hatte sie sich nicht Zeit genommen, ihre Temperatur zu messen oder ihr wenigstens den Puls zu fühlen. Jede andere Mutter hätte es getan, und ausgerechnet sie, die Krankenschwester, hatte versagt. 239
»Darf ich .. . darf ich Eva begleiten?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Das wird nicht viel Sinn haben, aber natürlich ... wenn Sie darauf bestehen . ..« »Ich werde mit zum Krankenhaus fahren«, erklärte Hans-Jörg Kreuzer. Sie fuhr herum, starrte ihn an. »Ach du! Ich hatte ganz vergessen ... bitte, geh jetzt, Hans-Jörg! Geh und laß uns allein!« »Aber ich möchte doch nur . ..« »Tun Sie, was Frau Kreuzer Ihnen sagt«, sagte Dr. Georgi scharf, »sie kann in meinem Wagen mitkommen. Gehen Sie jetzt!« Er wandte sich an die Nachbarin. »Auch Sie, Frau Krüger, sollten sich jetzt hinlegen. Sie haben sehr umsichtig gehandelt, ich danke Ihnen.« Schwester Daniela beachtete es gar nicht, daß Frau Krüger und Hans-Jörg die Wohnung verließen. Sie sah Dr. Georgi aus angstgeweiteten Augen an. »Wird sie . . . wird sie leben?« »Ich habe schon im Krankenhaus angerufen, daß alles zur Operation vorbereitet wird. Ich hoffe, daß wir sie durchbringen. Ich werde mein Bestes tun. Mehr kann ich nicht versprechen!« »Ich danke Ihnen, Herr Doktor! Ich danke Ihnen!« flüsterte sie und streckte ihm unwillkürlich die Hand hin. Dr. Georgi ergriff sie nicht. Er wandte sich ab, mit ernstem, verschlossenem Gesicht trat er ins Schlafzimmer. Mit einem feinen, heftigen Schmerz traf der Gedanke Danielas Herz, daß ihr Auftauchen mitten in der Nacht 240
in Begleitung eines Mannes auf Dr. Georgi sehr sonderbar gewirkt haben mußte. Aber der flüchtige schmerzhafte Gedanke wurde sofort weggeschwemmt von der Sorge um ihre Tochter. Evas Gesichtchen war hochrot, ihre dunkelbraunen Locken schweißig-verklebt. Die Lider ihrer geschlossenen Augen flatterten, sie murmelte halblaut unverständliches, wirres Zeug vor sich hin. »Ich habe ihr eine Penicillinspritze gegeben«, sagte Dr. Georgi, »aber .. .« Sein Satz wurde vom Schrillen der Türklingel unterbrochen. »Das ist der Krankenwagen«, sagte er, »rasch, packen Sie die Kleine gut ein!« Es war nicht die erste nächtliche Operation, die Schwester Daniela miterlebte. Nie war sie von der gefährlichen, spannungsgeladenen Atmosphäre unberührt geblieben. Sie hatte die Angehörigen der Patienten im trüben Flurlicht warten sehen, ihre blassen, verzerrten Gesichter, in denen nicht nur die Angst um den Kranken sprach, sondern darüber hinaus der Schauder vor dem Tod schlechthin. Heute aber ergriff Schwester Daniela das nächtliche Drama auf eine neue, nie geahnte Weise. Es war nicht nur neutrales Mitleid, das sie erfüllte, sondern ganz unmittelbar Entsetzen. Eva, ihre kleine geliebte Tochter, lag drin auf dem Operationstisch, dem Messer des Chirurgen ausgeliefert, und sie, die Mutter, sah keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Als die Tür des Operationssaales geöffnet wurde, war dieser alltägliche Vorgang für Schwester Daniela wie ein Wunder. Ihr Herz stockte. 241
Zaghaft trat sie einen Schritt näher. Eva wurde von Schwester Gerda herausgefahren, die bei der Operation assistiert hatte. Das kleine Gesicht Evas war so weiß wie das Laken, das ihren Körper verhüllte. Eine entsetzliche Sekunde lang glaubte Daniela, daß alles vorbei war. Dann sah sie, daß die Operationsschwester ihr ermunternd zulächelte. »Ist sie ...«, stammelte Schwester Daniela, »sie ist doch nicht...« »Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte die Kollegin rasch, »der Eingriff ist ohne Komplikationen verlaufen.« Mit einem fast schwärmerischen Augenaufschlag fügte sie hinzu: »Doktor Georgi war wundervoll!« Schwester Daniela lief neben dem Fahrtisch her, den die Operationsschwester den Gang hinunter zum Lift schob. »Wohin kommt sie?« »In die Kinderabteilung«, erklärte Schwester Gerda. Sie drückte den Knopf neben dem Lift. »Schwester Agathe wird sie nach oben bringen.« Sie warteten. »Wenn Sie schon gehen wollen«, sagte Schwester Daniela, »ich ... ich werde auf die Patientin schon aufpassen.« »Das weiß ich. Ich möchte doch lieber bleiben. Sehen Sie, Sie sind heute nacht nicht im Dienst.« »Ja . .. aber .. .« Der Lift hielt im Erdgeschoß, die Tür schob sich auseinander, Schwester Agathe trat auf den Gang hinaus. 242
»Guten Abend!« sagte sie gleichmütig und packte das Kopfende des Fahrtisches, um ihn in den Lift zu ziehen. »Doktor Georgi kommt nach oben, sobald er sich die Hände gewaschen hat«, sagte Schwester Gerda, »er wird Ihnen dann noch die nötigen Anweisungen geben, Agathe.« »Gut. Danke.« Ehe die Schwester der Kinderabteilung die Tür des Liftes schließen konnte, sprang Daniela rasch hinein. »Fahren Sie mit hinauf?« fragte Schwester Agathe. »Ja. Ich ... ich bin die Mutter der Kleinen.« »Ach so.« Schwester Agathes Stimme klang alles andere als herzlich. »Hören Sie . ..«, sagte Schwester Daniela eindringlich, »ich habe heute nacht dienstfrei, das heißt, ich habe frei genommen. Könnte ich nicht bei meiner Tochter bleiben?« »Wie stellen Sie sich das vor?« »Ich möchte bei Eva wachen ... ist das so schwer zu verstehen?« »Sie wissen ganz genau, daß der Chef es prinzipiell nicht erlaubt, daß jugendliche Patienten von ihren Müttern . ..« »Aber Schwester Agathe, ich bitte Sie ... in meinem Fall ist das doch etwas anderes! Schließlich bin ich gelernte Schwester und . . .« »In diesem Fall sind Sie nur die Mutter«, erklärte Agathe mit Nachdruck.
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»Ich werde Doktor Georgi um Erlaubnis bitten«, sagte Schwester Daniela. »Tun Sie das! Aber ich glaube nicht, daß Sie damit Glück haben werden. Doktor Georgi wird Ihretwegen kaum die Anordnungen des Herrn Professors übergehen.« Daniela schwieg. Die Ablehnung Schwester Agathes war überdeutlich gewesen. Dennoch war sie nicht bereit aufzugeben. Der Lift hielt im fünften Stock. Schwester Agathe schob, ohne Daniela noch eines Blickes zu würdigen, den Fahrtisch mit dem immer noch bewußtlosen Kind hinaus, ließ ihn dann stehen, um eine der innen gepolsterten Türen zu öffnen. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte Daniela zaghaft. »Nein, danke.« »Darf ich wenigstens einen Blick ins Zimmer werfen?« »Ich kann Sie nicht daran hindern.« Schwester Daniela blieb in der Tür stehen, sah zu, wie Schwester Agathe ihre kleine Tochter umbettete. Das Krankenzimmer war ein quadratisch geschnittener, freundlicher kleiner Raum. Im Licht der Nachtbeleuchtung sah Schwester Daniela, daß noch zwei Betten hier standen, die beide mit kleinen Patienten belegt waren. Eva merkte nichts von dem, was um sie herum vor sich ging»Kommen Sie!« sagte Schwester Agathe, als alles getan war, und schob Daniela mit sanfter Gewalt aus der Tür. »Wenn sie erwacht ...« 244
»Was wollen Sie? Ich bleibe ja bei ihr.« »Und wer kümmert sich um die anderen Kinder? Wenn eines von ihnen erwacht oder ...« »Schauen Sie nur ins Schwesternzimmer, dort sitzt eine Kollegin. Wirklich, Daniela, Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Es ist für alles gesorgt. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre ... ich würde jetzt nach Hause gehen ...« »Das«, sagte Schwester Daniela energisch, »glauben Sie wohl selber nicht. Haben Sie Kinder?« Ohne Danielas Frage zu beantworten, zog sich Schwester Agathe in das Krankenzimmer zurück und schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Daniela konnte nicht verhindern, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Die Hochspannung, unter der sie in den letzten Stunden gestanden hatte, löste sich in einem krampfhaften Schluchzen. Die Sorge um ihr Kind hatte sie zermürbt. Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr imstande, gleichzeitig gegen eine feindliche Umwelt anzukämpfen. Auch als Dr. Georgi den Gang der Kinderabteilung betrat, hatte sie sich noch nicht gefaßt. Er beachtete sie gar nicht und wollte an ihr vorbei ins Krankenzimmer. Nur mit Mühe konnte sie ihr Schluchzen unterdrücken. »Herr Doktor«, sagte sie, »bitte, Herr Doktor . . .« Er wandte sich ihr zu, sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sie? Was wollen Sie denn noch hier?« »Herr Doktor . . . man läßt mich nicht zu meinem Kind!« 245
»Da gehören Sie jetzt auch nicht hin!« erklärte Dr. Georgi nachdrücklich. »Und kommen Sie mir bloß nicht damit, daß Sie die Mutter sind. Gerade deshalb haben Sie im Krankenhaus nichts zu suchen!« »Aber Sie kennen doch Eva!« rief Daniela außer sich. »Sie wissen, wie das Kind an mir hängt. Wir beide waren noch nie getrennt . . . nie, solange sie auf der Welt ist! Wenn sie aufwacht, wird sie . . .« »Um Himmels willen, nun werden Sie bitte nicht auch noch hysterisch!« sagte Dr. Georgi ungeduldig. »Das hätte uns gerade noch gefehlt. Schließlich ist Ihre Eva nicht das einzige Kind, das im Krankenhaus liegen muß. Daß ihr hier nichts geschieht, das sollten Sie als Schwester doch wirklich am allerbesten wissen!« »Bitte . . . bitte, lassen Sie mich zu ihr!« »Kommt gar nicht in Frage! Was versprechen Sie sich davon, wenn Sie den ganzen Betrieb aufhalten? Gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich aus! Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann.« »Schlafen? Glauben Sie etwa im Ernst, ich könnte schlafen?« »Mir ist es ziemlich gleichgültig, was Sie tun. Hauptsache ist, Sie stehen hier nicht länger herum. Haben Sie mich verstanden?« »Herr Doktor, aber . . . ich .. .« »Gehen Sie jetzt!« Er ließ sie stehen und öffnete die Tür zum Krankenzimmer. Daniela stand wie erstarrt.
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Am liebsten wäre sie hinter dem Arzt her zum Bett ihres Kindes gestürzt, aber seine barschen Worte hatten ihr den Mut genommen. Genausowenig aber war sie imstande, seinen Anweisungen zu folgen und nach Hause zu fahren. So blieb sie stehen, wo sie stand, und starrte verzweifelt auf die Tür, hinter der ihre Tochter vielleicht mit dem Tode rang. Als Dr. Georgi nach endlosen Minuten wieder herauskam, hatte sie sich nicht von der Stelle gerührt. Sie wollte ihn fragen, wie es um Eva stand, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. »Sie ist noch nicht erwacht«, beantwortete Dr. Georgi ihre unausgesprochene Frage. »Aber Puls und Blutdruck sind nicht schlecht.« Er packte sie am Arm und zerrte sie energisch mit sich. »Ich will nicht nach Hause!« rief Daniela. »Nein ... ich will nicht! Bitte, lassen Sie mich los!« »Sie sollen ja gar nicht nach Hause!« sagte er beruhigend. »Aber . . .« Er sah sie kopfschüttelnd mit einem kleinen belustigten Lächeln an. »Typisch Daniela, sie widerspricht, noch bevor sie weiß, was eigentlich los ist.« »Ich möchte doch nur...«, sagte Daniela hilflos. »Bitte, verstehen Sie mich doch .. .« »Ich verstehe Sie sehr gut, Daniela«, erklärte Dr. Georgi ruhig. »Daß Sie so an Ihrer Tochter hängen, entschuldigt manches. Finden Sie nicht auch, daß es besser wäre, wenn Sie sich endlich etwas zusammennähmen? Denken Sie doch mal an die unzähligen Mütter, die ihre 247
Kinder in ein wildfremdes Krankenhaus bringen müssen und dann nach Hause geschickt werden. Wieviel besser sind Sie dran, Daniela. Sie kennen doch den Betrieb. Sie sollten wissen, daß Eva nirgends besser aufgehoben sein kann als hier. Sie können wirklich ohne Sorge sein.« »Ohne Sorge! Keine Sekunde werde ich ohne Sorge sein, solange ich nicht weiß . . .« »Genug davon«, unterbrach er sie energisch. »Ich will mich nicht mit Ihnen zanken. Statt zu jammern und sich wie eine Verrückte anzustellen, sollten Sie lieber versuchen zu beten. Damit würden Sie immerhin nicht Ihrer ganzen Umgebung auf die Nerven fallen.« »Tue ich das?« fragte sie, plötzlich ernüchtert. »Na, was haben Sie denn gedacht?« Er öffnete eine Glastür zu einem anderen Trakt und zog sie mit sich. Sie versuchte sich gegen seinen Griff zu stemmen. »Wohin bringen Sie mich?« »Wohin Sie gehören . . . nämlich ins Bett. Ich denke, Sie möchten gerne so nah wie möglich bei Ihrer Tochter sein?« »Natürlich, aber ich verstehe nicht...« »Sie können heute nacht in meinem Bett schlafen .. . das heißt, natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Als Diensthabender muß ich die Nacht sowieso unten auf einem Feldbett verbringen ... bestenfalls heißt das natürlich.« In jeder anderen Situation hätte sie dieses Anerbieten als eine Zumutung aufgefaßt. Jetzt aber, in ihrer verzweifelten Angst, war sie nur dankbar.
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»Sie sind so gut«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Wenn Sie nicht gewesen wären...« Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. »Fangen Sie bloß nicht wieder an zu weinen«, unterbrach er sie grob. »Ich hab’s nicht Ihretwegen getan, sondern für Eva, damit wir klarsehen.« Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer, schob sie hinein. »Frisches Bettzeug kann ich Ihnen nicht geben«, sagte er, »aber es ist erst vor ein paar Tagen neu überzogen worden. Einen Schlafanzug werden Sie brauchen . .. warten Sie! Bitte, widersprechen Sie mir jetzt nicht wieder, ich weiß schon, was ich sage . . . Sie müssen sich völlig ausziehen, damit Sie sich entspannen können. Hier!« Er warf ihr einen noch zusammengelegten Schlafanzug aus blauer, weißpaspelierter Seide zu. »Passen wird er natürlich nicht, Sie müssen ihn umkrempeln. Haben Sie jetzt alles?« »Ja, danke«, sagte Daniela kraftlos. Er ging zur Tür, holte den Schlüssel herein, der von draußen im Schloß gesteckt hatte, gab ihn Daniela. »Schließen Sie ab, wenn ich fort bin. Es wird natürlich niemand hereinkommen, nur so zu Ihrer eigenen Beruhigung. Brauchen 5ie sonst noch etwas?« Daniela schüttelte stumm den Kopf. Er tippte sich an die Stirn. »Natürlich . .. ein Beruhigungsmittel! Das hätte ich fast vergessen .. .« Er griff mit der Hand in die Tasche seines weißen Kittels, holte ein Röhrchen hervor. »Hier ... nehmen Sie zwei Stück davon! Sie werden sehen .. .« Er hatte zwei Tabletten in 249
seine linke Hand geschüttet und wollte sie Daniela reichen, aber er hielt mitten in der Bewegung inne. »Nein, bitte, schlucken Sie das Zeug jetzt gleich. Solange ich dabei bin.« »Aber, Herr Doktor, ich . . .«, stotterte sie hilflos. »Sie sind imstande und versuchen, wach zu bleiben, Daniela, ich kenne Sie!« sagte er. »Dabei würden Sie Ihrer kleinen Tochter damit nichts nützen. Ganz im Gegenteil. Also los, Mund auf ... Augen zu!« »Aber ... ich nehme sie später ganz bestimmt!« sagte Daniela. »Haben Sie denn kein Vertrauen zu mir?« »Nicht das geringste.« Dr. Georgi ging zum Waschbecken, ließ Wasser in sein Zahnputzglas laufen, drehte den Hahn zu, kam mit dem Glas und den Tabletten wieder zu Daniela. »Also ... los jetzt!« befahl er. Daniela blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Sie nahm die Tabletten in den Mund, spülte sie mit Wasser hinunter. »So, jetzt glaube ich, kann ich Sie allein lassen. Also ... schlafen Sie gut!« Ohne ihren Gutenachtgruß abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Zimmer. Mechanisch folgte Daniela seinem Rat und schloß die Tür ab. Dann begann sie sich langsam auszuziehen. Sie war entschlossen, nicht zu schlafen, sondern sich nur auszustrecken. Wie viele Nächte hatte sie für andere gewacht, dann konnte sie es wohl auch einmal für ihr eigenes Kind tun. Aber merkwürdigerweise gelang es ihr nicht. Die Tabletten, die Dr. Georgi sie zu schlucken gezwungen hatte, 250
mußten sehr stark sein. Mitten im Gebet schlief Daniela ein und merkte es selber nicht .. . XI Daniela erwachte am nächsten Morgen davon, daß kräftig gegen die Tür gepocht wurde. Sie fuhr hoch, begriff im selben Augenblick die Situation. Eisige Angst packte sie. Dieser Lärm vor ihrer Tür konnte nur eines bedeuten .. . Eva war tot. »Nein!« schrie sie unwillkürlich. »Nein!« »Daniela, Mädchen, machen Sie keinen Unsinn«, hörte sie Dr. Georgis tiefe Stimme von draußen. »Es tut Ihnen ja niemand etwas! Ich bin es nur.« Sie schwang ihre Beine zu Boden, lief zur Tür. »Ja, was wollen Sie?« fragte sie verwirrt. »Es ist acht Uhr vorbei«, erklärte er ruhig, »also lassen Sie mich hinein. Wenn es Sie geniert, daß Sie noch im Schlafanzug sind, dann ziehen Sie sich einfach Ihren Mantel über!« Sie tat, wie er gesagt hatte. Er nickte ihr flüchtig zu, ging dann quer durchs Zimmer und zog die Vorhänge auf. »Ein neuer Tag«, sagte er, »mir scheint, Sie haben trotz allem gut geschlafen.« Es stand ihr nicht der Sinn danach, konventionelle Redensarten auszutauschen. »Wie geht es Eva?« fragte sie bang. »Ausgezeichnet. Den Umständen entsprechend, heißt das natürlich.« 251
»Darf ich jetzt zu ihr?« »Noch nicht.« Er sah das Mißtrauen in ihren Augen, fügte rasch hinzu: »Kein Grund zur Besorgnis, Daniela, es ist wirklich alles in Ordnung. Nur ... ich war eben noch bei ihr ... sie soll sowenig wie möglich sprechen, und ich möchte nicht, daß sie sich aufregt.« »Glauben Sie, es wird ihr schaden, ihre eigene Mutter zu sehen?« Er lächelte nicht. »Auch Freude kann gefährlich werden.« »Wann darf ich denn endlich ...« »Sagen wir .. . heute nachmittag. Jetzt zufrieden?« »Ich muß mich wohl fügen!« »Sehr richtig. Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben. Zigarette?« Er hatte ein leicht zerknautschtes Päckchen aus seiner Tasche gezogen. Sie griff zu. »Mir ist ganz merkwürdig im Kopf«, sagte sie, »seien Sie mir nicht böse, aber es war alles ein bißchen viel für mich!« »Kann ich mir denken!« Er gab ihr Feuer und holte dann eine elektrische Kochplatte aus dem Schrank. »Jetzt werde ich erst mal einen Kaffee brauen, der wird Ihnen bestimmt guttun.« Er stöpselte den Stecker in die Dose, füllte einen Stieltopf mit Wasser und setzte ihn auf. »Herr Doktor ...«, begann Daniela zögernd. »Ja?« »Ich weiß, es ist Ihr Zimmer, ich bin hier nur der Eindringling. Trotzdem ... wären Sie sehr böse, wenn ich 252
Sie bitten würde hinauszugehen . .. wenigstens für fünf Minuten? Damit ich mich anziehen kann.« »Ach«, sagte er sorglos, »das hat Zeit!« »Ich wette, das ganze Krankenhaus weiß, daß ich in Ihrem Zimmer übernachtet habe!« Er warf ihr einen spöttischen Seitenblick zu. »Seit wann sind Sie so auf Ihren guten Ruf bedacht?« »Immer schon.« »Sieh mal einer an! Das ist mir wirklich ganz neu an Ihnen!« »Herr Doktor«, sagte sie ernst, »ich weiß, daß ich allen Grund habe, Ihnen dankbar zu sein .. . Sie haben sich gestern großartig benommen, bestimmt haben Sie Evas Leben gerettet ...« »Hören Sie damit auf, das ist ja schließlich mein Beruf«, sagte er mit einer Handbewegung. »Stimmt. Sie geben also zu, daß das kein Grund für mich ist, mich von Ihnen beleidigen zu lassen!« »Habe ich das getan?« fragte er mit gespieltem Erstaunen. »Jawohl. Sie wissen ganz genau, wie sehr ich zweideutige Situationen hasse. Auch damals auf unserer Fahrt von Baden-Baden war nicht ich es, die . . .« »Daran habe ich gar nicht gedacht!« sagte er und tat verwundert. »Dann möchte ich wirklich wissen, worauf Ihre Anspielungen hinzielen?« Er holte zwei Kaffeetassen – eine davon war ohne Henkel – aus dem Schrank, zwei Untertassen und zwei ble-
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cherne Teelöffel dazu, stellte alles auf den Tisch mit der karierten Baumwolldecke. »Sie haben sich gestern abend vom Dienst beurlauben lassen!« sagte er. »Ja.« Da er schwieg, fügte sie nach einer Pause hinzu: »Ich hatte .. . eine private Angelegenheit zu regeln.« Scheinbar gleichmütig öffnete er eine Dose mit Kaffeepulver, tat in jede der beiden Tassen einen Löffel voll. »Ist Ihnen das gelungen?« »Nicht ganz!« Darauf hüllte er sich wieder in Schweigen, zündete sich mit betonter Umständlichkeit eine Zigarette an. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte sie zornig. »Ich? Nichts. Gar nichts.« »Das kommt mir aber doch so vor. Warum fragen Sie nicht geradeheraus, was Sie wissen wollen?« »Seien Sie doch nicht so nervös, Daniela! Sie machen ja geradezu den Eindruck, als wenn Sie ein schlechtes Gewissen hätten.« »Das habe ich auch«, sagte sie ehrlich. »Als ich gestern abend das Haus verließ, kam mir Eva schon .. . irgendwie sonderbar vor. Sie atmete so schwer, und ihr Gesicht war feuerrot ... ich hätte Fieber messen, bei ihr bleiben müssen.« Sie bemühte sich, ruhig zu atmen. »Ich werde mir das nie verzeihen!« »Der Kerl war Ihnen wichtiger, wie?« fragte er.
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Sie starrte ihn an. Tatsächlich begriff sie jetzt erst, auf was er hinauswollte. »Sie verkennen die Situation«, sagte sie. »Hoffentlich.« Sein überlegener, spöttischer Ton reizte sie bis zur Weißglut. »Ich bin nicht verpflichtet, ausgerechnet Ihnen Erklärungen abzugeben«, sagte sie wild. Er grinste. »Das stimmt. Von mir aus können Sie treiben, was Sie wollen. Ich finde es nur ein wenig kränkend, daß Sie ausgerechnet mir gegenüber so prüde sind.« »Sie sind unverschämt.« »Nur ehrlich, Daniela.« Das Wasser kochte, er ergriff den Stieltopf, schenkte beide Tassen voll, zog den Stecker aus der Dose. »Zucker?« fragte er. »Nein, danke.« Daniela drückte ihre Zigarette aus. »Ich möchte jetzt gehen.« »Niemand hindert Sie daran«, sagte er achselzuckend, tat sich einen gehäuften Löffel Zucker in seine Kaffeetasse, begann geräuschvoll umzurühren. »Sie hindern mich!« »Nicht im geringsten. Die Tür steht offen. Sie können gehen, wann Sie wollen.« »Nun gut«, sagte sie mit flammenden Augen. »Ich werde jetzt gehen. Ich lasse es auf den Skandal ankommen.« Sie ging mit großen Schritten zur Tür, riß sie auf.
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Aber da war er schon bei ihr, hielt sie zurück. Ohne sie auch nur eine Sekunde loszulassen, stieß er die Tür mit dem Fuß wieder ins Schloß. »Lassen Sie mich los!« rief sie und trommelte ihm mit den Fäusten auf die Brust. »Na, na, na!« sagte er amüsiert. »Nur nicht so wild!« So plötzlich, wie er sie gepackt hatte, ließ er sie wieder los. »Ich habe noch niemals einen Menschen erlebt, den man so leicht in Rage bringen kann wie Sie!« Sie antwortete nicht, wandte sich wütend, die Hände in den Taschen ihres Mantels zu Fäusten geballt, zum Fenster, sah blicklos hinaus. »Wollen Sie nicht doch Ihren Kaffee trinken? Er wird Ihnen guttun!« schlug er vor. Sie schwieg weiter. »Kommen Sie! Seien Sie nicht so, Daniela! Es tut mir leid, wenn ich Sie gekränkt habe, aber Sie werden zugeben, die Situation gestern abend war wirklich sehr. . . sehr merkwürdig.« Sie war entschlossen, ihm kein Wort mehr zu erwidern, preßte die Lippen fest zusammen. »Wahrscheinlich habe ich es ganz falsch angepackt.« Seine Stimme klang warm, sie spürte, daß er hinter sie getreten war. »Aber . .. können Sie wirklich nicht begreifen, daß ich eifersüchtig bin?« Jetzt war er so nah, daß sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte. »Daniela! Sprechen Sie doch ein Wort! Stehen Sie nicht einfach da ... so stumm und ablehnend !
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Ich habe Sie doch schon um Verzeihung gebeten, was kann ich mehr tun? Worauf warten Sie noch?« »Daß Sie das Zimmer verlassen, damit ich mich anziehen kann!« sagte sie kalt. Es entstand eine winzige Pause, dann sagte er mit veränderter Stimme: »Das Vergnügen werden Sie gleich haben. Ich bin nur gekommen, um meine Sachen zu packen.« Sie fuhr herum, konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. »Zu packen?« »Ja. Ich werde nach München fahren. Zu Berni Kortner.« Zwanzig Minuten später war Dr. Georgi gegangen. Daniela trank die Tasse kalten Kaffee, die immer noch auf dem Tisch stand, und kam sich sehr töricht vor. Sie hatte die Situation ganz und gar nicht gemeistert. Warum nur war sie aus der Haut gefahren, anstatt Dr. Georgi klipp und klar zu erklären, daß Hans-Jörg ihr geschiedener Mann war? Sie verstand sich selber nicht mehr. Jetzt, da Dr. Georgi das Krankenhaus verlassen hatte, sehnte sie ihn plötzlich zurück. Sie spürte, daß sie einen Menschen brauchte, bei dem sie sich aussprechen konnte; Dr. Georgi hätte sie bestimmt mit Geduld angehört. Vielleicht hätte er sogar raten können. Warum nur hatte sie nicht gesprochen? Sie fühlte sich auf eine nagende Weise deprimiert. Aber schon nach wenigen Minuten hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie öffnete weit das Fenster, zog ihren 257
Mantel aus, machte ein paar Freiübungen. Nachher fühlte sie sich sehr viel besser. Rasch zog sie sich an, räumte das Zimmer auf, schloß ab und lief zur Kinderabteilung hinüber. Der Gedanke, daß die energische Schwester Agathe inzwischen abgelöst war, machte ihr Mut. Als sie die Glastür zum anderen Trakt öffnete, lief sie fast Schwester Leonie in die Arme. »Da sind Sie ja!« sagte Leonie gar nicht überrascht. »Eigentlich hatte ich Sie schon früher erwartet.« »Wieso?« fragte Daniela erstaunt. Leonie lächelte verschmitzt. »Ich bin gewarnt worden!« sagte sie. »Von Agathe?« »Auch. Aber besonders von Dr. Georgi. Er hat mir eingeschärft, Sie nicht zu Ihrer Tochter zu lassen.« »Bitte, sagen Sie mir ganz ehrlich, Leonie ... wie geht es ihr?« »Gut. Es ist alles in Ordnung.« »Besteht keine Gefahr mehr?« Leonie sah sie kopfschüttelnd an. »Daniela, das sollten Sie doch wissen. Zwölf Stunden nach einer Operation kann man doch noch kein endgültiges Urteil abgeben.« »Bitte, lassen Sie mich Eva sehen!« »Ich darf nicht. Aber Sie sollten sich keine unnötigen Sorgen machen. Soweit ich es beurteilen kann, ist alles programmgemäß verlaufen.« »Mein armer Liebling. Sie muß schreckliche Angst gehabt haben!« 258
»Warum?« Leonie lachte. »Nun seien Sie nicht albern. Eva ist doch ein ausgesprochen vernünftiges Mädchen. Ich habe daher den Eindruck, daß sie alles furchtbar interessant findet.« »Hat sie nicht nach mir gefragt?« »Doch. Natürlich hat sie das. Ich habe ihr gesagt, daß Sie sie heute nachmittag besuchen werden.« »Warum erst dann? Warum nicht jetzt gleich? Ich ... warum wollt ihr mich alle quälen?« »Eva soll nicht aufgeregt werden und ihre Zimmergenossinnen auch nicht. Seien Sie doch vernünftig, Daniela. Wir alle müssen uns an die Anordnungen halten.« »Was tut sie jetzt?« »Nichts Besonderes. Sie ist ganz vergnügt, träumt ein bißchen vor sich hin, hört zu, wie die anderen sich unterhalten.« »Ist das wirklich wahr? Oder machen Sie mir etwas vor?« »Daniela! Ich erkenne Sie gar nicht wieder!« Daniela strich sich mit einer raschen Bewegung mit der Hand über die Stirn. »Sie haben recht. Ich bin ganz durcheinander. Ich muß mich gestern nacht . .. furchtbar aufgeführt haben. Ich dachte, jetzt hätte ich’s überwunden, aber Sie wissen nicht, wie das ist. Eva ist mein einziges Kind ... der einzige Mensch, den ich habe.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Daniela.« Leonie legte den Arm um ihre Schulter. »Ich verstehe Sie sehr gut. Aber ich denke, die paar Stunden werden Sie doch auch noch durchhalten, nicht wahr? Pünktlich um vier Uhr ist Besuchsstunde. Bis dahin passe ich auf 259
Eva auf. Sie können sich darauf verlassen, daß alles für sie getan wird.« Schweren Herzens verließ Daniela das Bruder-KlausKrankenhaus. Sie wußte, daß sie erst wieder aufatmen konnte, wenn sie Eva gesehen, wenn sie mit ihr gesprochen hatte. Ihre Wohnung erschien ihr unheimlich leer und – obwohl die Zentralheizung glühte – so kalt, daß sie schauderte. Sie räumte ein wenig auf, lustlos und gedankenabwesend. Als sie Evas zerwühltes Bett richtete, mußte sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. Sie packte einen kleinen Koffer für sich selber mit dem Notwendigsten, weil sie vorhatte, Dr. Georgis Angebot anzunehmen und in den nächsten Tagen im Krankenhaus zu schlafen. Dann setzte sie Evas neue Babypuppe in die rosa Puppentragetasche, suchte Fläschchen, Rasselchen und Schnuller und schob sie in die Seitentasche. Inzwischen war es elf Uhr geworden. Noch fünf Stunden mußten vergehen, bis sie Eva besuchen durfte, und sie wußte nicht mehr, was sie mit sich anfangen sollte. Es wurde ein quälendes Warten. Doch auch diese Stunden vergingen. Bevor sie das Haus verließ, warf sie ganz zufällig einen Blick auf die Briefkästen. Sie sah etwas Weißes hinter dem Öffnungsschlitz leuchten, kramte, in Gedanken ganz bei Eva, den Briefkastenschlüssel aus ihrer Handtasche, öffnete – was sie gesehen hatte, war eine Drucksache gewesen, eine Reklame für irgend etwas, was sie nicht im geringsten interessierte. 260
Aber dahinter lag ein länglicher steingrauer Briefumschlag, auf dem ihre Adresse mit einer betont kräftigen, ein wenig gekünstelten Handschrift geschrieben stand. Daniela nahm ihn heraus, drehte ihn herum. Es war kein Absender angegeben, und dennoch wußte sie, von wem dieser Brief kam – von Harald Spielmann. Sie kannte seine Handschrift, obwohl er ihr bisher nur zweimal eine Ansichtspostkarte geschickt hatte. Sie schloß den Briefkasten, steckte den Brief ohne Neugier in ihre Handtasche und eilte aus dem Haus. Erst eine Stunde später fiel ihr der Brief von Harald Spielmann wieder ein. Sie zögerte, ob sie ihn öffnen sollte. Am liebsten hätte sie ihn ungelesen in den Papierkorb geworfen. Die Zeit ihrer Verliebtheit in Harald Spielmann war wohl das dunkelste Kapitel in ihrem Leben gewesen. Sie hatte nur den einen Wunsch: es abzuschließen. Vollständig und für alle Zeiten. Unschlüssig hielt sie den Brief eine Weile in der Hand, aber dann öffnete sie ihn doch. Es hatte keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken, sie mußte wissen, woran sie war. Wenn Harald sie wieder an sich ziehen wollte, so würde er es nicht bei diesem Brief belassen. Aber das, was Harald Spielmann schrieb, klang ganz anders, als sie erwartet hatte. Es war ein Abschiedsbrief, und er war kühl, sachlich, ja, geschäftsmäßig gehalten. »Ich freue mich sehr, Dir mitteilen zu können, daß ich inzwischen meine Einwanderungsgenehmigung nach Kanada erhalten habe«, schrieb Harald Spielmann, und: 261
»Ich hoffe, ich bin mit Dir einig, daß es zweckmäßig sein wird, unsere persönlichen Beziehungen zu beenden.« Dann zum Schluß des kurzen Briefes stand noch: »Als Päckchen gesondert erhältst Du die Geschenke, die Du mir im Laufe unserer Freundschaft hast zukommen lassen, zur weiteren Verwendung wieder zurück.« Kopfschüttelnd las Daniela den Brief ein zweites Mal. Wie konnte man so dumm, so unnatürlich, so fremd schreiben! War das der wahre Harald Spielmann? War er immer so gewesen? Hatte nur sie etwas in ihm gesehen, was er gar nicht war? Sie mußte lächeln, wenn sie an die Geschenke dachte, von denen er schrieb. Sie würde also in den nächsten Tagen ein Päckchen mit drei Krawatten und einem Dutzend Taschentücher erhalten – wie lächerlich das alles war und wie beschämend. Energisch riß sie den Brief mittendurch und warf ihn in den Papierkorb. Wenige Minuten später hatte sie ihn völlig vergessen. Als Daniela atemlos die Kinderabteilung des BruderKlaus-Krankenhauses betrat, war es zehn Minuten vor vier. Schwester Leonie sah lächelnd auf ihre Armbanduhr. »Na«, sagte sie dann, »ausnahmsweise!« Vor der Tür zum Krankenzimmer blieb Daniela noch eine Sekunde stehen, atmete tief durch. Sie wußte, daß sie Eva auf keinen Fall etwas von ihrer großen Sorge merken lassen durfte. Sie mußte heiter, gefaßt, ja, gleichmütig erscheinen. Es kostete sie ungeheure Überwindung. 262
Schwester Leonie hatte ohne Worte begriffen, was in Daniela vorging. »Sie schaffen’s schon«, sagte sie beruhigend, »gelernt ist gelernt!« Evas Augen strahlten auf, als Daniela eintrat. Ihr Gesichtchen wirkte spitz, sie schien über Nacht abgemagert. »Na, mein Kleines«, sagte Daniela fröhlich, »du machst ja tolle Sachen! Du wolltest wohl wissen, wie ein Krankenhaus von innen aussieht, wie?« Eva öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Daniela brachte sie mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. »Nicht, Liebling, bitte nicht! Ich weiß, das Sprechen tut dir noch weh, schone dein Hälschen noch ein bißchen, ja? Ich wär’ ja schon viel eher zu dir gekommen, aber der Herr Doktor hat’s mir verboten. Weißt du, in einem Krankenhaus, da gibt es feste Besuchszeiten, an die muß man sich halten. Aber jetzt bleib’ ich bei dir und erzähl’ dir was, bis sie mich hinauswerfen! Ist das fein?« Eva nickte heftig mit dem Kopf. »Und soll ich dir ein Geheimnis verraten?« fuhr Daniela fort. »Bis du wieder ganz gesund bist.. .«, sie beugte sich zum Ohr ihrer kleinen Tochter und flüsterte: »... bleibe ich hier im Krankenhaus wohnen!« Sie richtete sich wieder auf, fügte laut hinzu: »Natürlich kann ich nicht alle nasenlang zu dir hereinschauen, da würde der Herr Doktor schön schimpfen, aber ich bin immer hier im Haus. Ganz in deiner Nähe . . . freust du dich?« Sie fühlte den Puls ihrer kleinen Tochter, er schien ihr ein wenig schwach, aber ganz regelmäßig. »Paß nur 263
auf«, sagte sie, »bald bist du wieder ganz gesund und kommst mit Mutter nach Hause. Damit du nicht allein bist ... deine Puppe leistet dir natürlich Gesellschaft!« Sie öffnete die rosa Tragtasche, holte die Babypuppe heraus, legte sie Eva in die Arme. »Doly!« flüsterte Eva heiser und preßte ihre Puppe fest ans Herz. »Meine liebe, liebe Doly!« »Na, fast könnte ich ja eifersüchtig auf dein Kindchen werden«, sagte Daniela lächelnd. Sie beugte sich über Eva und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. Sie konnte nicht verhindern, daß Tränen in ihre Augen stiegen. Eva sah sie erschrocken an. »Warum .. .« Daniela legte ihr rasch die Hand auf den Mund. »Nicht sprechen, Liebling! Ich weiß schon, was du fragen willst . . , ich muß nur weinen, weil ich so glücklich bin ... so glücklich, daß es dir besser geht!« Evas Gesundheitszustand besserte sich von Tag zu Tag. Als Schwester Daniela eines Nachmittags – inzwischen war eine knappe Woche seit Evas Einlieferung im Bruder-Klaus-Krankenhaus vergangen – die Kinderabteilung betrat, rief Leonie sie vom Schwesternzimmer her an. »Daniela! Einen Augenblick, bitte!« Daniela blieb stehen, und Schwester Leonie kam auf den Gang hinaus. »Ja? Was gibt’s?« fragte Daniela arglos. Als sie Leonies beklommenes Gesicht sah, setzte sie rasch hinzu: »Ist etwas mit .. . Eva?«
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»Nein, nein, Eva ist ganz in Ordnung«, sagte Leonie rasch, »nur ... Fräulein Onau hat eben angerufen. Sie möchten zum Professor kommen.« »Jetzt?« »Ja.« Daniela wußte sofort, daß das nichts Gutes zu bedeuten hatte. »Vielleicht dauert’s ja nur ein paar Minuten«, sagte Leonie beruhigend, »ich werde Eva schon Bescheid sagen.« »Bitte, tun Sie das!« Daniela war sehr nachdenklich geworden. »Sagen Sie ihr, daß ich auf alle Fälle noch nach ihr schauen werde.« Als sie die Tür schon in der Hand hatte, rief Schwester Leonie noch hinter ihr her: »Viel Glück, Daniela! Ich halte die Däumchen!« An der kühlen, ablehnenden Art, in der Fräulein Onau sie empfing und dem Professor meldete, erkannte Daniela deutlich, daß das Barometer tatsächlich auf Sturm stand. Was die Sekretärin von ihr hielt, wäre ihr an sich gleichgültig gewesen. Aber sie wußte, daß Fräulein Onau sie niemals so behandelt hätte, wenn nicht auch der Professor gegen sie eingestellt gewesen wäre. Aber was hatte sie denn verbrochen? Vergeblich zermarterte sich Daniela ihren Kopf. Sie war sich keiner Schuld bewußt. Daß sie mit Dr. Georgi seinerzeit auf der Rückreise nach Freiburg übernachtet hatte, das war doch nun schon viel zu lange her, als daß man annehmen konnte, Professor Kortner käme gerade 265
jetzt darauf zurück. Ob es vielleicht falsch gewesen war, daß sie Dr. Georgi geraten hatte, nach München zu Berni Kortner zu fahren? Wollte Professor Kortner ihr deswegen Vorwürfe machen? Daniela wußte es nicht, je länger sie wartete, desto verwirrter wurde sie. Endlich klingelte das Telefon. Fräulein Onau hob den Hörer ab, sagte: »Jawohl, Herr Professor! Sofort, Herr Professor!« Dann legte sie den Hörer auf, musterte Daniela kalt. »Der Herr Professor erwartet Sie ! « Daniela hatte die ganze Zeit vor dem Schreibtisch gestanden, denn Fräulein Onau hatte sie nicht aufgefordert, Platz zu nehmen. Jetzt ging sie zögernd auf die große Tür zum Arbeitszimmer des Professors zu, klopfte zaghaft an. Von drinnen kam kein Laut. Daniela blickte sich ratsuchend zu Fräulein Onau um, aber die Sekretärin war emsig beschäftigt oder gab sich doch den Anschein. Daniela faßte sich ein Herz, drückte auf die Klinke und trat ein. Professor Kortner blickte nicht auf. Er hatte die Unterschriftenmappe vor sich liegen, schrieb und blätterte um. »Guten Tag, Herr Professor!« grüßte Daniela laut und vernehmlich. Die Antwort war ein unverständliches Gebrumm. Daniela blieb nichts anderes übrig als zu warten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Professor Kortner endlich 266
aufblickte und sie über die Brille hinweg ansah. Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Was wollen Sie denn hier?« fragte er unwillig. »Herr Professor, Sie haben mich rufen lassen!« erklärte Daniela. »Ach so. Stimmt.« Professor Kortner schlug die Unterschriftenmappe zu, stand auf. Er begann mit großen Schritten, die Hände auf dem Rücken, auf und ab zu gehen, blieb nach einer Weile vor Daniela stehen, sah sie durchdringend an, räusperte sich. »Schwester Daniela«, begann er, brach ab, räusperte sich wieder, sagte dann: »Ich muß Sie entlassen. Als Schwester sind Sie für das Bruder-Klaus-Krankenhaus einfach nicht mehr tragbar!« »Ich verstehe«, sagte Daniela leise. Er sah sie verblüfft an. »So? Sie verstehen das? Na, das wird ja immer besser. Dann verstehen Sie mehr als ich!« Er trat auf sie zu, packte sie bei den Schultern, schüttelte sie: »Menschenskind, Daniela! Warum mußten Sie bloß so einen Blödsinn machen! Ausgerechnet Sie! Hätten Sie nicht mal fünf Minuten auch an mich denken können? Mich in eine solche Situation zu bringen!« »Herr Professor, ich . . . Daniela schluckte. »Es ist alles ganz anders . .. bestimmt!« Er ließ sie los, ging mit großen Schritten zum Fenster, sagte, mit dem Rücken zu ihr: »Nun erzählen Sie mir bloß nicht auch noch, daß alles ganz harmlos war. Daß Sie nur durch die Umstände gezwungen die Nacht im gleichen Hotel mit Doktor Georgi verbracht haben, daß Doktor Georgi Sie beide aus Harmlosigkeit bei Fräulein 267
Onau, der alten Klatschliese, entschuldigt hat.« Er drehte sich wieder um. »Glauben Sie denn etwa, das macht die Sache besser? Ganz im Gegenteil! Wenn es anders gewesen wäre, dann wüßten Sie jetzt wenigstens, weshalb Sie gehen müssen. Aber so! Nur wegen einer Dummheit! Niemand wird Ihnen das glauben! Niemand! Und daß Sie jetzt noch, nachdem schon langsam Gras über diese blödsinnige Geschichte gewachsen ist, die Unverfrorenheit besitzen, sich ausgerechnet in Doktor Georgis Zimmer einzunisten . . .« »Herr Professor«, unterbrach Daniela ihn heftig. »Sie wissen genau, weshalb ich das getan habe .. . um in der Nähe meines kranken Kindes zu sein! Ich bin überzeugt, jeder hier im Krankenhaus versteht es. Jeder!« »Das kann ich nicht beurteilen. Meine Frau jedenfalls versteht es nicht. Und das ist für mich ausschlaggebend. Sie werden jetzt sicher denken, daß ich ein Pantoffelheld bin . .. wahrscheinlich haben Sie damit sogar recht. Jeder Mann, dem seine häusliche Ruhe was wert ist, wird unweigerlich zum Pantoffelhelden!« »Das glaube ich Ihnen nicht!« widersprach Daniela. »Sie lassen sich von keinem Menschen beeinflussen. Da bin ich sicher.« Er starrte sie eine Sekunde lang so zornig an, daß sie fürchtete, er würde sie kurzerhand vor die Tür setzen. Aber dann sagte er erstaunlicherweise ganz ruhig: »Sie haben recht, Daniela. Natürlich haben Sie recht. Ich tu’s wegen Berni . . . wegen meiner Tochter. Das werden Sie begreifen, hoffe ich.« 268
»Ja, Herr Professor, aber .. .« »Es gibt kein Aber. Berni ist noch zu jung, um so was zu verstehen. Sie würde sich betrogen fühlen und . .. kurzum, es wäre das Ende ihres Glückes. Das will ich nicht. Ich will mein Kind glücklich sehen. Deshalb müssen Sie verschwinden.« Die widersprechendsten Gedanken schossen blitzschnell durch Danielas Kopf. »Herr Professor«, sagte sie, »wenn Sie mir nur erlauben würden, Ihrer Tochter zu erklären . . .« »Nein, das erlaube ich nicht. Auf keinen Fall. Lassen Sie meine Tochter in Frieden! Sie haben schon genug Unheil angerichtet.« Daniela schwieg. Was hätte sie auch sagen können. Daß Berni längst alles wußte? Daß ihr gar nichts an Dr. Georgis Liebe lag? Sie hatte versprochen, Professor Kortners Tochter nicht zu verraten. Aber das war noch das wenigste. Auch wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie es nicht fertiggebracht, dem Arzt, den sie trotz allem verehrte, die Wahrheit an den Kopf zu schleudern. Er tat ihr leid in seiner blinden Liebe zu Berni, aber er schien ihr nicht einen Augenblick lächerlich. Sie dachte an ihre eigene Tochter und fühlte sich dem Professor in diesem Augenblick näher denn je. Als Daniela in die Kinderabteilung zurückkehrte, rief Schwester Leonie, die gerade aus einem der Krankenzimmer kam, ihr zu: »Eva hat sich nicht gelangweilt. Sie hat Besuch bekommen!« 269
Daniela nickte gedankenabwesend; sie hatte den Sinn von Leonies Worten gar nicht erfaßt. Erst als sie die Türklinke zu Evas Zimmer schon in der Hand hielt, drangen Leonies Worte plötzlich in ihr Bewußtsein. Sie drehte sich um. »Besuch?« fragte sie erstaunt. »Ja, und dazu ein wirklich reizender junger Mann!« Daniela stutzte. »Wie sieht er aus?« »Ich glaube, ich brauche ihn nicht zu beschreiben. Sie müssen ihn gut kennen.« »Woher wissen Sie das? Hat er auf so etwas angespielt?« Schwester Leonie lachte. »Sie scheinen ja einen sehr interessanten Bekanntenkreis zu haben, Daniela! Aber nur keine Bange, er hat auf nichts angespielt. Ich dachte bloß, weil er genauso heißt wie Sie . . . Kreuzer!« »Ach so!« sagte Daniela. »Ihr Bruder?« fragte Leonie neugierig. »Nein«, erwiderte Daniela kurz. Schwester Leonie merkte, daß Daniela keine Lust hatte, sich über den unverhofften Besuch zu unterhalten. Sie zog sich zurück. Daniela stand nachdenklich, nagte an ihrer Unterlippe, dann gab sie sich innerlich einen Ruck und trat ein. Eva saß in ihrem Bett und lachte. Sie hielt die Hände vors Gesicht und gluckste förmlich vor Lachen. Ihre dunklen blauen Augen strahlten.
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Daniela wurde es bei diesem Anblick warm ums Herz. Wieder einmal wurde ihr deutlich, daß alle ihre anderen Sorgen unwesentlich waren, solange Eva nichts fehlte. Auch die anderen kleinen Patientinnen lachten laut und leise. Hans-Jörg hockte hinter dem Fußende von Evas Bett und führte mit den Händen ein Kasperletheater vor. Als er Daniela sah, bekam er einen roten Kopf und richtete sich rasch auf. »Weiterspielen!« riefen die Kinder, und Eva rief es am lautesten: »Weiterspielen!« »Tut mir leid, daß ich euch gestört habe«, sagte Daniela, »wenn ich gewußt hätte . . .« »Aber Mutti«, rief Eva, »du störst doch nicht! Nie!« Sie streckte ihre Ärmchen nach der Mutter aus, und Daniela ließ sich umarmen. »Setz dich hierher zu mir, ganz dicht, und schau zu, was der Onkel macht! Es ist zu komisch!« Hans-Jörg genierte sich sichtlich. »Seid mir nicht böse«, sagte er und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, »aber ich kann nicht mehr. Ich bin ganz außer Puste.« Daniela lachte. »Nur keine Müdigkeit vorschützen!« sagte sie. »Jetzt möchte ich auch mal etwas von deinen Kunststücken sehen! Ich habe nie geahnt, daß du so etwas überhaupt kannst.« Die Kinder baten und bettelten, und so blieb Hans-Jörg nichts anderes übrig, als seine Vorführung wirklich fortzusetzen. Das, was er machte, war sehr komisch, aber Daniela lachte nur aus Höflichkeit über seine Späße. Sie 271
war dankbar, daß sie Gelegenheit hatte, ihre Gedanken zu ordnen. Die Besuchszeit verging, ohne daß Eva Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen, die Daniela nur schwer hätte beantworten können. Als Daniela ihre kleine Tochter zum Abschied noch einmal küßte, bettelte Eva: »Aber morgen kommst du schon ganz früh, ja?« Sie fügte wichtig hinzu: »Morgen ist nämlich Sonntag. Da dürfen die Eltern schon morgens kommen.« »Morgen«, sagte Daniela, »hol’ ich dich nach Hause!« Eva hüpfte vor Freude in die Höhe. »Ist das wirklich wahr, Mutti?« rief sie. »Bin ich wieder ganz gesund?« »Na, so ganz und gar noch nicht .. . nicht zum Bäumeausreißen, meine ich«, sagte Daniela lächelnd. »Aber das Restchen, das von deiner Krankheit übriggeblieben ist, das kann ich auch zu Hause pflegen.« Als Hans-Jörg und Daniela ein wenig später Seite an Seite die Kinderabteilung verließen, waren beide etwas verlegen. Nach ein paar Schritten blieb Daniela stehen. »Ich glaube«, sagte sie, »ich muß dir einiges erklären.« Sein Gesicht leuchtete auf. »Du bist mir also nicht .. . böse?« »Weshalb sollte ich?« »Weil ich so einfach hierhergekommen bin?« »Das war dein gutes Recht. Woher wußtest du .. .« »Ach, ganz einfach. Deine Nachbarin hat mir alles erzählt. Darf ich dich zum Abendessen einladen, oder .. . hast du etwa schon bald Dienst?« 272
»Nein«, sagte sie nur. Sie hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, daß sie im Bruder-Klaus-Krankenhaus niemals mehr Dienst haben würde. »Um so besser!« sagte er. »Gehen wir also.« Eine halbe Stunde später saßen sie in demselben Lokal, in dem sie sich seinerzeit nach ihrer ersten Begegnung getroffen hatten. Sie hatten sogar denselben Tisch bekommen, und Hans-Jörg nahm das als ein gutes Omen. Er wollte gleich mit Daniela über die kleine Eva reden, aber sie lenkte ab. »Bitte, nicht, Hans-Jörg . . . warten wir bis nach dem Essen. Solche problematischen Unterhaltungen verderben leicht den Appetit!« »Aber du könntest mir doch wenigstens sagen .. .« »Später!« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, sah ihn an. »Bitte!« Er gab sich geschlagen, wechselte das Thema. Später, als sie bei einer Tasse Kaffee saßen, war Daniela es, die eine Frage stellte. »Warst du etwa die ganze Zeit in Freiburg? Warum hast du da .. .« »Nein«, sagte er, bevor sie noch aussprechen konnte. »Wo denkst du hin. Ich bin gleich am nächsten Morgen zurückgefahren. Aber ich habe dauernd an dich gedacht. An dich und an dein Kind. Sie sieht dir sehr ähnlich. Wann ist sie übrigens geboren? Ich meine . .. wirklich?« Daniela lächelte. »Weißt du das immer noch nicht?« »Sie sagt, sie wäre fünf Jahre alt, aber das kann ja nicht stimmen. Damals wären wir ja noch .. .« »Wenn du es genau wissen willst, Eva ist drei Monate nach unserer Scheidung geboren.« 273
Er sah sie entgeistert an. »Hast du es gewußt?« »Natürlich«, sagte sie. »Was glaubst du denn!? In diesem Zustand . ..« »Nein, ich meine natürlich nicht bei der Scheidung!« sagte er. »Sondern vorher, als wir uns zerstritten hatten.« »Du meinst, als du auf und davon gegangen bist . . . als du mich hast sitzenlassen?« »Daniela! Wenn ich gewußt hätte ...« »Siehst du. Eben deshalb habe ich dir nichts gesagt. Ich wollte nicht, daß du des Kindes wegen bei mir bleibst!« Er sah sie kopfschüttelnd an. »Ich habe noch nie einen so verbohrten Dickkopf kennengelernt, wie du einer bist!« Eine flüchtige Röte stieg in ihre Wangen; so etwas Ähnliches hatte auch Dr. Georgi immer von ihr behauptet. »Du brauchst deshalb nicht rot zu werden«, sagte er. »Es ist ja keine Schande, ein Dickkopf zu sein, ganz im Gegenteil . .. ich glaube, gerade deswegen liebe ich dich so!« Sie sah ihm ruhig in die Augen. »Gerade deshalb hast du mich damals verlassen!« »Kann sein«, gab er zu, »aber damals .. . weißt du, ich hatte überhaupt keine Erfahrung mit Frauen. Keine Vergleichsmöglichkeiten sozusagen. Ich konnte ja wirklich nicht ahnen, daß ich auf Anhieb ein solches Juwel gechartert hatte.« »Und jetzt, nachdem du deine Erfahrungen gemacht hast, möchtest du wieder auf mich zurückgreifen?« 274
»Wenn du das sagst«, sagte er unbehaglich, »dann klingt das so ... einfach falsch. In Wirklichkeit habe ich dich immer geliebt . . . die ganze Zeit!« »Ach, ich verstehe«, sagte sie mit unverhülltem Spott. »Du hast also nur sechs Jahre gebraucht, um dir darüber klarzuwerden?« »Daniela!« j »Entschuldige bitte, wenn ich dich schockiert habe, aber ich halte es für entschieden richtiger, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir sind schon einmal gedankenlos in eine Riesendummheit hineingestolpert. Vergiß das nicht!« »Wenn du von unserer Ehe sprichst . ..« »Ja, genau. Du hast es erraten.« »Dann muß ich dir sagen, daß ich da ganz entschieden anderer Meinung bin. Daß wir geheiratet haben, das war gut und richtig. Wir hätten nur durchhalten müssen.« »Durchhalten! In einem möblierten Zimmer mit einem Kind unterwegs!« »Andere haben es auch geschafft!« »Mag sein, daß andere Leute bessere Nerven haben. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß es lächerlich ist, mit siebzehn Jahren zu heiraten.« »Darüber möchte ich mich nicht mit dir streiten«, lenkte er ein, »obwohl ich der Ansicht bin . . . wenn wir nur durchgehalten hätten, säßen wir ja längst nicht mehr in einem möblierten Zimmer.« »Hans-Jörg! Bitte! Sei nicht so spitzfindig! Wir hätten es niemals all die Jahre durchgehalten! Niemals! Wenn 275
wir nicht damals schon auseinandergegangen wären, würde es ein Jahr später ganz bestimmt passiert sein!« »Wenn ich gewußt hätte, daß du ein Kind erwartest .. .«, sagte er. »Das hast du mir schon einmal gesagt!« »Ich weiß, und ich werde es dir immer wieder sagen. Ein Kind, Daniela, hätte unsere Ehe retten können.« »Das ist deine Meinung. Entschuldige, wenn ich sie nicht teilen kann. Kindergeschrei und Windelgeruch hättest du bestimmt nicht ertragen können.« »Nun, das wäre auf den Versuch angekommen. Ich will dir ja keine Vorwürfe machen, Daniela . .. aber ich finde doch, du hättest die Entscheidung wohl mir überlassen müssen.« »Welche Entscheidung?« »Ob ich bei dir bleiben wollte oder nicht!« »Die Entscheidung hast du getroffen, Hans-Jörg. Erinnerst du dich denn nicht mehr? Was auch immer für Fehler ich in unserer Ehe begangen habe ... du warst es, der weggelaufen ist. Ich habe dich damals immer noch geliebt, ich habe unsere Ehe ernst genommen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, Schluß zu machen. Selbst wenn du mich geprügelt hättest!« »Daniela!« sagte er. »Das habe ich ja nie geahnt.« »Ich hatte auch nicht vor, es dir zu sagen, aber weil du . .. na ja, lassen wir’s, es hat ja wirklich keinen Sinn mehr. Aber eines sollst du noch wissen, ich habe damals tagelang, wochenlang gewartet, daß du zurückkämst ...
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ja, ich habe noch am Tag der Scheidung gehofft, daß du dich versöhnen würdest.« »Aber du wußtest doch, wo ich war! Wo konnte ich schon sein? Bei meinen Eltern natürlich. Du hättest mich holen können.« »Ja, dich holen! Dich anflehen, zurückzukommen! Dir womöglich erklären, daß ich ein Kind erwartete. Nein, Hans-Jörg, für so etwas bin ich nicht der Mensch. Als ich erkannt hatte, daß ich für dich nichts war als ein Stein am Bein, als ich wußte, daß du es bereutest, mich überhaupt geheiratet zu haben, da wollte ich dir nicht länger im Weg stehen.« Sie schwieg, zog sich eine Zigarette aus dem Päckchen, das auf dem Tisch lag. Er gab ihr Feuer. Sie rauchte in tiefen Zügen, um sich zu beruhigen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie blöd ich mir vorkomme«, sagte er endlich. »Wie ein kompletter Esel.« Er ergriff ihre Hand. »Daniela! Kannst du mir verzeihen?« »Das habe ich ja längst. Ich habe nie mit Groll an dich gedacht!« »Dann ist ja alles gut. Daniela, bitte, schau mich an ! Willst du’s nicht noch einmal mit mir versuchen?« »Ich habe Angst«, sagte sie ehrlich. »Das verstehe ich. Aber du darfst dich nicht unterkriegen lassen, Daniela! Denk doch auch mal an Eva. Sie braucht ihren Vater ... und ich brauche euch beide.« »Ich kann mich nicht so von heute auf morgen entscheiden.« 277
»Das brauchst du ja auch gar nicht. Wir könnten natürlich jetzt jederzeit heiraten. Vom wirtschaftlichen Standpunkt her, meine ich. Aber ich will dich nicht drängen. Wenn ich dich zweimal im Monat am Wochenende besuchen dürfte ... « »Das geht nicht«, sagte sie rasch. »Wieso nicht?« »Nicht so, wie du dir das vorstellst, meine ich. Eva ist kein Baby mehr.« »Ich sehe das zwar nicht ein, aber . . . schon gut, du sollst recht haben, du sollst sehen, daß ich mich wirklich gebessert habe. Also, paß auf, dann mache ich dir einen anderen Vorschlag ... wir könnten den Urlaub gemeinsam verbringen. Du könntest Eva in dieser Zeit in ein Heim geben . . .« »Nein, das kommt nicht in Frage!« »Nun gut, dann nehmen wir sie eben mit. Ich denke bestimmt, daß sich das arrangieren läßt. Wann kriegst du Urlaub?« »Ich . . . ich weiß noch nicht genau«, sagte sie unsicher, fügte dann rasch hinzu: »Ich werde mich erkundigen. So schnell, wie du es dir vorstellst, geht es natürlich auf keinen Fall. Vergiß nicht, daß Eva noch nicht gesund ist.« »Ach ja, stimmt, morgen willst du sie nach Hause holen. Darf ich dir dabei helfen?« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht nötig, wirklich nicht.«
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»Aber zu einem Sonntagsnachmittagskaffee wirst du mich doch wenigstens einladen . . . oder?« XII In dieser Nacht konnte Daniela lange nicht einschlafen. Sie mußte erst mit den Ereignissen des Tages fertig werden. Professor Kortner hatte sie entlassen. Und Hans-Jörg Kreuzer wollte sie wieder heiraten. Plötzlich stellte sie fest, daß diese beiden Ereignisse sehr gut zueinander paßten. Wenn sie Hans-Jörg heiratete, dann spielte ihre Entlassung tatsächlich gar keine Rolle, dann hätte sie ja früher oder später von sich aus kündigen müssen. Wenn sie Hans-Jörg heiratete, würde Eva einen Vater haben, nein, besser noch, Eva würde ihren Vater haben. Wenn sie Hans-Jörg heiratete – aber sollte sie es wirklich tun? Mit der Plötzlichkeit eines Blitzschlages wurde ihr klar, daß sie das, was Hans-Jörg ihr bieten konnte, gar nicht suchte. Sie wollte nicht irgendwo unterkriechen, sich in ein warmes Nest kuscheln. Es lag ihr nichts daran, zu nehmen, sie wollte geben – Trost, Verständnis, Beruhigung, Wärme. Gerade weil sie dies wollte, hatte sie ihren Beruf so sehr geliebt. Wenn in diesem Augenblick eine Fee in Danielas Zimmer erschienen wäre und hätte ihr drei Wünsche freigestellt, Daniela hätte nur einen gewußt: Nachtschwester im Bruder-Klaus-Krankenhaus bleiben. Nichts weiter 279
wollte sie. Aber gerade dieser eine Wunsch wurde ihr verwehrt. Erst jetzt in der Nacht wurde ihr klar, was es für sie bedeutete, das Bruder-Klaus-Krankenhaus verlassen zu müssen, nie mehr wiederkommen zu dürfen, mit Schimpf und Schande davongejagt worden zu sein. Sie weinte bitterlich. Als Daniela am nächsten Nachmittag mit Hans-Jörg Kreuzer am schön gedeckten Kaffeetisch saß, waren die Tränen der Nacht vergessen. Sie hatte die Wohnung gründlich geputzt, rasch einen Apfelkuchen gebacken. Die Vorhänge waren zugezogen, die Stehlampe brannte, und auf dem Tisch zwischen ihr und Hans-Jörg leuchteten die Blumen, die er ihr mitgebracht hatte – Teerosen in einer schönen Porzellanvase. Eva lag nebenan gut versorgt in ihrem Bett und spielte mit ihren Puppen. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, damit sie sich nicht allein fühlte. Beim Klang ihrer kindlichen Stimme wurde es Daniela warm ums Herz. Hans-Jörg sagte, als hätte er ihre Gedanken gelesen: »So wie jetzt ... so soll es bleiben. Immer. Wenn wir erst . . .« Daniela begriff, was er sagen wollte, und unterbrach ihn rasch. »Nicht!« Sie machte eine Bewegung mit dem Kopf zur Schlafzimmertür. »Sie kann alles mithören.« »Ja, warum soll sie nicht?« »Weil ich sie erst behutsam darauf vorbereiten müßte und dann . . . weil ich mich noch gar nicht entschieden habe!« 280
»Nicht?« Seine Stimme klang maßlos enttäuscht. »Hans-Jörg! Ich habe dich gebeten, mir Zeit zu lassen!« »Die hast du ja auch gehabt! Die ganze Nacht!« Daniela mußte lachen. »Stell dir vor, die Gelegenheit habe ich verpaßt. Ich habe geschlafen!« »Mach dich nur über mich lustig«, sagte er, »aber mir ist es bitter ernst. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren.« Er steckte ein Stück Kuchen in den Mund und sagte, als er wieder sprechen konnte: »Schmeckt übrigens ausgezeichnet!« »Ja, damals ... du weißt schon wann, da konnte ich noch nicht einmal kochen ... was für ein Wahnsinn!« sagte sie. »Ich habe mir einfach gedacht, ich werde es lernen.« »Du hast es ja auch inzwischen.« »Stimmt. Aber zu spät.« »Daniela! Das ist es ja gerade, was ich dir dauernd sagen will. Es ist noch nicht zu spät. Überhaupt nicht. Wir können noch einmal ganz neu anfangen.« »Magst du noch eine Tasse Kaffee?« fragte sie, die Kanne schon in der Hand. »Ja, bitte. Aber lenk jetzt nicht ab. Ich will wissen, woran ich bin.« »Hans-Jörg«, sie sah ihn nachdenklich an, »würdest du mich auch heiraten wollen, wenn du wüßtest ... daß ich dich nicht liebe?« »Unsinn! Was soll die Frage? Du liebst mich doch. Du hast es mir ja gestern selber erzählt.« 281
»Ich habe dich geliebt, Hans-Jörg. Das ist ein Unterschied.« »Ach was! Liebe kann doch nicht einfach vergehen!« »Ich fürchte, sie kann’s!« »Na ja, vielleicht ist sie inzwischen ein bißchen schwächer geworden«, räumte er ein, »das ist ja klar, nachdem wir uns jahrelang nicht mehr gesehen haben. Aber warte nur, sie wird schon wiederkommen.« »Dessen bin ich nicht so sicher.« Er schob den Teller, auf dem ein Stück Apfelkuchen lag, von sich, wollte sich eine Zigarette anzünden. »Willst du nicht erst aufessen?« fragte sie rasch. »Ich dachte, der Kuchen schmeckt dir so gut?« »Stimmt. Aber du hast mir gründlich den Appetit verdorben.« »Das tut mir leid.« »Tu doch nicht so. Das ist ja gar nicht wahr!« sagte er ärgerlich. »Es macht dir Freude, mich zu quälen!« Sie schwieg, rührte, den Blick gesenkt, in ihrer Kaffeetasse. »Warum sagst du denn nichts?« fuhr er sie an. »Verteidige dich doch wenigstens!« »Wozu? Findest du nicht auch, es wäre besser, du würdest mich erst gar nicht angreifen?« »Du hast recht«, sagte er zerknirscht. »Bitte, verzeih!« »Schon gut. Reden wir über etwas anderes.« Sie versuchten es beide, aber die gemütliche Stimmung wollte nicht mehr aufkommen.
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Als wieder einmal eine längere Pause entstanden war, fragte er: »An was denkst du?« Sie schrak zusammen. »Oh! An nichts! An nichts Besonderes!« »Das glaube ich dir nicht. Du bist ja rot geworden.« »So? Ach, das hat nichts zu sagen. Ich werde bei den dümmsten Gelegenheiten rot. Das solltest du doch wissen!« Er nahm ihre Hand. »Komm, Daniela, sei ehrlich zu mir. Es hat doch keinen Sinn, daß wir uns was vormachen.« Sie sah ihn an. »Vielleicht hast du recht«, sagte sie zögernd, »nur ... du wirst mich wieder nicht verstehen . . .« »Lassen wir’s auf den Versuch ankommen. Also, ganz ehrlich ... an was hast du eben gedacht?« »Daß wir nicht zusammenpassen, Hans-Jörg!« Er zog seine Hand zurück. »Unsinn! Das redest du dir nur ein.« »Siehst du, ich wußte ja, daß ich dich nur kränken würde.« »Aber nur, weil es Quatsch ist ! Ausgesprochener Nonsens. Du behauptest, wir passen nicht zusammen, bloß weil wir uns ein bißchen gezankt haben. Glaubst du, es gibt irgendeine Ehe, in der die Eheleute sich überhaupt niemals in die Haare kriegen?« »Vielleicht gibt es das nicht!« sagte sie. »Aber sieh mal, wir sind noch nicht einmal verheiratet . . . oder man kann auch sagen, schon lange nicht mehr!« »Wir müssen uns erst aneinander gewöhnen«, behauptete er. 283
Sie war nicht davon überzeugt, aber sie hatte keine Lust zu streiten. Sie schwieg. »Sieh mal«, fing er wieder an, »vorhin . . . also, du mußt nicht glauben, daß ich ganz und gar borniert bin . . . vorhin, da war ich selber schuld daran. Nur ich. Ich sehe meine Fehler ein, folglich bin ich auch imstande, mich zu bessern.« »Ach, Hans-Jörg«, sagte sie ausweichend, »sprechen wir doch nicht mehr davon. Es ist ja gar nicht so wichtig.« »Du bist es ja, die so ein Theater daraus gemacht hat, nicht ich.« »Schön. Also ich bin doch schuld. Ist es das, was du hören wolltest?« »Daniela!« Aus dem Schlafzimmer klang Evas helle Stimme herüber. »Mutti! Seid ihr jetzt endlich fertig mit dem Kaffeetrinken? Ihr habt versprochen, Mensch ärgere dich nicht mit mir zu spielen.« »Das ist nicht vergessen«, rief Daniela zurück. »Wir beeilen uns schon.« Sie wandte sich an Hans-Jörg, lächelte ihn herzlich an. »Bist du fertig? Du hörst, Eva wird ungeduldig!« Er merkte ihren Willen zur Versöhnung und beeilte sich zu sagen: »Ja, sofort!« Er trank seine Kaffeetasse aus. »Kann ich dir helfen? Abräumen oder so etwas?« »Sehr lieb von dir. Aber das ist im Nu geschehen.« Daniela hatte gerade das Tablett aus der Küche geholt und war dabei, das leere Kaffeegeschirr hinaufzustellen, als es an der Wohnungstür klingelte. 284
»Das ist Irene!« rief Eva begeistert. Aber es war Frau Krüger, die Nachbarin. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe«, sagte sie, »aber ich wollte nur . . .« »Sie stören doch gar nicht, liebe Frau Krüger«, versicherte Daniela rasch. »Bitte, kommen Sie herein. Ich hatte bisher noch gar keine Gelegenheit, mich bei Ihnen zu bedanken für Ihre große Hilfe ... Sie wissen schon, in jener Nacht! Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Sie nicht ...« »Ich hätte es ganz bestimmt gehört«, versicherte Frau Krüger. »Sie hatten mir die Kleine doch anvertraut. Jedesmal, wenn Sie abends fort sind, lausche ich so mit halbem Ohr durch die Wand durch, weil ich immer daran denke, die arme Kleine ist jetzt ganz alleine. Wenn da bloß nichts passiert.« »Ja«, sagte Daniela mit einem kleinen Lächeln, »so ist das nun mal, wenn man als Mutter arbeiten gehen muß.« »Ja, ja, ich weiß, es ist nicht Ihre Schuld!« »Wollen Sie Eva guten Tag sagen?« »Ja, auch das. Aber hauptsächlich bin ich gekommen, Ihnen dieses Päckchen zu geben, der Postbote hat es schon vor ein paar Tagen bei mir abgegeben, aber da waren Sie ja nicht zu Hause.« »Sehr nett von Ihnen, Frau Krüger. Ich habe im Krankenhaus geschlafen. Erst heute früh sind wir beide wieder zurückgekommen . . . Eva und ich. Haben Sie etwas für mich ausgelegt?« 285
»Ja, dreißig Pfennige.« »Einen Augenblick, ich gebe sie Ihnen sofort!« Das Päckchen war von Harald Spielmann. Daniela wußte, was es enthielt. Sie stellte es achtlos beiseite. Frau Krüger begrüßte Hans-Jörg Kreuzer, sie plauderte fünf Minuten mit Eva, der sie eine Tafel Schokolade mitgebracht hatte. Daniela räumte inzwischen das Kaffeegeschirr fort. Sie bot Frau Krüger einen Kognak an, aber die Nachbarin wollte nicht länger bleiben. »Ich muß jetzt wieder zurück«, sagte sie, »nein, danke, sehr lieb von Ihnen, Frau Kreuzer, aber wirklich . . . mein Mann glaubt sonst ... ich hätte getratscht, und das kann er nun mal auf den Tod nicht leiden!« Als die Nachbarin gegangen war, holte Daniela das Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett und die Figürchen aus der Tischschublade, den Würfelbecher und die Würfel, trug alles ins Schlafzimmer und sagte: »So, nun können wir!« Sie schüttelte Evas Kopfkissen auf, steckte ihr noch ein zweites in den Rücken, so daß sie sitzen konnte. »Mutti«, fragte Eva, »was war denn das für ein Paket?« »Ach, nur ein Päckchen, nichts Besonderes.« »Eine Überraschung für mich?« »Wie kommst du darauf? Du hast doch keinen Geburtstag!« »Na, aber es könnte doch trotzdem sein.« »Ist es aber nicht.«
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Daniela hatte gerade das Bettischchen aufgestellt, als Hans-Jörg, das Päckchen in der Hand, ins Zimmer kam. »Schwer ist es nicht«, sagte er. »Was ist nun wirklich drin?« »Du lieber Himmel! Was seid ihr beide neugierig!« rief Daniela, halb ärgerlich, halb belustigt. »Wir wollen’s nur wissen«, sagte Hans-Jörg. »Ich begreife gar nicht, warum du so ein Theater wegen dieses Päckchens machst.« »Ich mache kein Geheimnis draus, ich versuchte euch nur klarzumachen, daß in diesem Paket nichts drin ist, was einen von euch beiden interessieren könnte. So, ich hoffe, jetzt habt ihr mich verstanden!« Sie stellte das Spielbrett auf. »Ich nehme Rot, Eva nimmt Gelb, dann mußt du Schwarz nehmen, Hans-Jörg!« »Na schön«, sagte er, »wenn du nicht darüber sprechen willst . . . aber eine Firmensendung ist es nicht!« Er zog die Augenbrauen hoch. »Es steht überhaupt kein Absender drauf!« »Weißt du denn überhaupt, was drin ist, Mutti?« fragte Eva. Daniela schwieg, schüttelte den Würfel im Becher. »Wer eine Sechs wirft, der darf anfangen!« Hans-Jörg war immer noch mit dem Paket beschäftigt. »Doch«, rief er. »Hier hinten steht ganz klein: Harald Spielmann!« »Onkel Harald?« rief Eva erstaunt. »Was schickt der dir denn, Mutti?« »Wer ist Onkel Harald?« fragte Hans-Jörg. Eva hatte das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. Sie schwieg, blickte erschrocken ihre Mutter an. 287
»Wollen wir nun spielen . . . oder nicht?« fragte Daniela. »Erst will ich wissen, wer . . .« »Hans-Jörg!« sagte sie warnend. »Schau mich nicht so an ... so ... so scheinheilig!« rief er aufgebracht. »Die Tour zieht bei mir nicht! Das kenne ich schon. Wenn man dich bei was erwischt, dann spielst du das Kräutlein Rührmichnichtan und machst ein solches Theater, daß man sich nachher wie ein Verbrecher vorkommt. Aber bei mir zieht das nicht!« Er stand auf, starrte sie wütend an. »So einfach machst du dir das also ! Aber du hast dich geirrt. Ich werde . . .« »Du wirst gar nichts«, sagte sie energisch. »Schrei nicht so herum, du bist hier nicht zu Hause. Eva jedenfalls ist solches Benehmen nicht gewöhnt!« »Eva! Das glaube ich, die ist nur an die feinen Manieren des feinen Onkel Harald gewöhnt! Jetzt sehe ich ganz klar. Du wolltest sie mir unterschieben. Jetzt weiß ich, warum du mir damals nicht gesagt hast, daß du . ..« »Genug!« In Danielas Stimme war ein so gefährlicher Ton, daß Hans-Jörg unwillkürlich zusammenzuckte. Mit flammenden Augen und erhobenen Fäusten stand sie vor ihm. »Verlaß sofort diese Wohnung! Sofort! Hörst du! Oder ich werde die Polizei anrufen!« »Entschuldige bitte«, murmelte er, jäh ernüchtert. »Komm!« Sie ging voraus ins Wohnzimmer. »Auf Wiedersehen, Eva!« sagte er kleinlaut und hielt ihr die Hand hin. Aber sie wandte den Kopf ab und erwiderte seinen Gruß nicht. 288
Mit betretenem Gesicht folgte er Daniela in den Flur hinaus. »Es tut mir so leid«, sagte er, als sie ihm den Hut reichte. »Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren war. Aber dieses Paket . . .« »Leb wohl, Hans-Jörg!« »Du darfst nicht glauben, daß ich das ernst gemeint habe .. . das, was ich da alles gesagt habe!« Er sah sie flehend an. »Du kennst mich doch, Daniela! Wenn ich solche Sachen sage, dann darfst du gar nicht hinhören!« Sie schwieg, sah ihn nur aus großen Augen an. »Bitte, sag mir, daß du mir nicht böse bist!« »Ich möchte, daß du jetzt gehst!« »Ja, ich bin doch schon dabei! Das siehst du doch! Ich kann nicht so gehen . .. erst mußt du mir sagen, daß du mir verzeihst!« »Ich bin dir nicht böse, und ich habe dir verziehen!« sagte sie. »Daniela! Darf ich wiederkommen?« »Nein!« »Daniela! Das ist doch nicht dein Ernst! Jetzt, wo ich euch endlich gefunden habe ... dich und das Kind! Da willst du . . .« »Es gibt Menschen«, sagte Daniela, »die begreifen nie, daß es aus ist.« »Aber Daniela, es hat ja erst gerade wieder angefangen. Ich verstehe schon, daß du jetzt wütend auf mich bist ... aber überschlaf es nur mal eine Nacht, dann wirst du einsehen ... du bist doch nie nachtragend gewesen, das weiß ich ganz genau!« 289
Sie öffnete die Tür zum Treppenhaus, stand abwartend da. Er beugte sich über sie, versuchte sie rasch zu küssen. Aber da sie den Kopf abwandte, traf er nur ihre Wange. »Ich komme wieder, Daniela, ich komme ganz bestimmt!« Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, blieb Daniela einen Augenblick aufatmend stehen. Aber es blieb ihr keine Zeit, ihre Gedanken zu ordnen, denn ihre kleine Tochter rief aus dem Schlafzimmer: »Mutti, Mutti! Bitte, komm doch!« Daniela ging ins Schlafzimmer zurück. »Ist er jetzt fort? So ein Brüller!« sagte Eva, eher belustigt als erschreckt. »Den wollen wir nicht mehr haben, nicht, Mutti? Aber wenn er doch noch einmal kommt, dann sage ich einfach Onkel Brüll zu ihm! Das ist der richtige Name!« Eva lachte unbekümmert. »Spielen wir jetzt endlich Mensch ärgere dich nicht?« Daniela kannte Hans-Jörg gut genug. Sie wußte, daß er hartnäckig war. Er würde wiederkommen, dessen war sie sicher. Aber sie wollte ihn nicht mehr sehen. Mit schmerzhafter Deutlichkeit war ihr klargeworden, daß Hans-Jörg sich nicht verändert hatte. Wie jener Sonntagnachmittag, der so gemütlich begonnen hatte, würden alle Tage mit ihm verlaufen, wenn sie die Dummheit begehen sollte, ihn zu heiraten. Jene Szenen, die sie längst vergessen hatte, traten wieder in ihr Be-
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wußtsein, ihre grundlosen, wilden Auseinandersetzungen, die ihr ihre junge Ehe zur Hölle gemacht hatten. Hans-Jörg würde wiederkommen, aber sie wollte ihn nicht mehr sehen. Sie wollte auch Eva nicht durch ihn beunruhigen lassen. Was sollte sie tun? Es gab nur einen Ausweg – sie mußte fort. Aber wohin? Daniela glaubte, durch einen Spaziergang ihre durch den Auftritt erregten Nerven beruhigen zu können. Eva schlief und würde auch in den nächsten Stunden nicht aufwachen. So zog sie sich an, sagte bei Frau Krüger Bescheid und bummelte anschließend durch die Straßen. Sie grübelte nach einer befriedigenden Lösung und kam doch zu keinem Ergebnis. Als sie nach einiger Zeit zurückkehrte und die Wohnungstür aufschloß, glaubte sie zuerst ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Aus dem Schlafzimmer klangen Stimmen – Evas kindliche helle und die eines Mannes. Hans-Jörg! durchzuckte sie es im ersten Schreck, aber dann, als sie wirklich hinhörte, wurde ihr klar, daß nicht Hans-Jörg der erwartete Besucher sein konnte. Es war Dr. Georgi. Rasch hing sie ihren Mantel auf und lief ins Schlafzimmer. Sie mußte sich Mühe geben, zornig zu wirken. »Dr. Georgi«, sagte sie böse, »was für eine Überraschung! Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich weiß, Eva hat Ihnen aufgemacht, sie wußte gar nicht, daß ich nicht zu Hause war. Aber Eva, wie kommst du
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dazu, die Tür zu öffnen? Wie oft habe ich dir das schon verboten!« »Aber es war ja doch nur Onkel Mecki«, sagte Eva kleinlaut. Dann strahlte sie die Mutter an. »Ich dachte, du würdest dich freuen!« »Freuen? Wenn ich nach Hause komme und fremde Leute in der Wohnung finde?« Dr. Georgi lachte. »Erstens bin ich nicht fremd, glaube ich, und zweitens ganz bestimmt kein Leut. Von Leuten völlig zu schweigen. Warum sind Sie eigentlich so aufgebracht, Daniela? Haben Sie ein schlechtes Gewissen?« »Ich? Ausgerechnet ich?« »Na, ich weiß auch nicht. Sie machen jedenfalls so den Eindruck!« »Darauf kann ich nur sagen, daß Ihr Eindruck falsch ist.« »Um so besser. Dann seien Sie ein liebes Mädchen, setzen Sie sich zu uns. Wie Sie sehen, spielen wir gerade Mensch ärgere dich nicht, aber ich fürchte, daß ich das Spiel nicht mehr recht beherrsche. Eva gewinnt jedesmal.« »Ich will aber nicht spielen«, sagte Daniela. »Ich habe etwas Wichtiges mit Eva zu besprechen.« »Fein. Das interessiert mich auch. Nur zu!« »Mit Eva. Nicht mit Ihnen!« »Ist es ein Geheimnis?« fragte Dr. Georgi mit scheinheiliger Sanftmut. »Jawohl!« behauptete Daniela.
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»Dann will ich Sie nicht drängen. Aber wenn ich Ihnen jetzt mal etwas erzählen darf ... es wird Sie ganz bestimmt interessieren.« »Das glaube ich nicht.« »Ich bin erstaunt! Ich hatte erwartet, Sie würden mich sofort mit Fragen bestürmen, was ich in meinem Urlaub erlebt habe!« »Wenn Sie das erwartet haben, kennen Sie mich sehr schlecht. Von Berni Kortner haben Sie nichts erfahren können, was ich nicht schon wußte!« »Ach, Berni Kortner«, sagte er mit einer Handbewegung. »Das ist ja gar nicht mehr interessant!« »Nicht?« sagte sie erstaunt. »Ich dachte ...« »Falsch gedacht. In Wirklichkeit war Berni Kortner nie für mich wichtig.« »Hört! Hört!« »Ganz ehrlich, Daniela .. . Sie glauben mir doch? Ich bin froh, daß ich sie mit gutem Wind los habe!« »Das erinnert mich an den Fuchs mit den sauren Trauben!« Er lachte unbekümmert. »Berni ist süß . . . wenn sie etwas ist, dann ist sie süß. Aber ich frage Sie, was soll ein unleidlicher, gräßlicher Bursche wie ich mit einem so süßen Mädchen? Nein, Daniela, eines ist mir inzwischen klargeworden ... die einzige, die mit mir altem Reibeisen auskommen könnte, wären vielleicht Sie!« »Ich?« Daniela stieg das Blut zu Kopf. »Bitte, Doktor Georgi, wenn Sie schon mit mir reden müssen, wollen wir da nicht lieber ins Wohnzimmer hinübergehen?« 293
»Wieso? Eva kann das doch ruhig mithören. Sie geht es doch am allermeisten an.« Er wandte sich Eva zu, die sich still wie ein Mäuschen verhalten hatte und mit den Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren gespielt hatte, um nur ja alles mithören zu können. »Eva! Möchtest du mich zum Vater haben?« Eva hob den Kopf, sah ihn an, sagte, wie aus der Pistole geschossen: »Ja!« »Würdest du dann auch so freundlich sein, ein gutes Wort bei deiner Mutter für mich einzulegen?« »Aber, Doktor Georgi, das ist doch . ..« »Georg heiße ich. Was hast du nun eigentlich wirklich gegen mich einzuwenden, Daniela?« »Sie können mich nicht heiraten! Was würde dann aus Ihrer Karriere werden? Professor Kortner würde es Ihnen nie verzeihen!« »Im Gegenteil. Er wird mich beneiden. Wart es nur ab! Wenn ich denke, was für einen Blödsinn ich beinahe gemacht hätte, die Tochter des Professors zu heiraten, nur um Dozent zu werden! Was Dümmeres kann es ja gar nicht geben!« »Aber«, sagte Daniela, »am Bruder-Klaus-Krankenhaus . . .« »Ach was!« unterbrach er sie. »Ich pfeife auf das Bruder-Klaus-Krankenhaus. Weißt du, was ich in meinem Urlaub gemacht habe? Zu Berni gefahren und mit ihr reinen Tisch geschaffen, das auch. Aber was wichtiger ist, ich war in Todlemoos und habe meinen alten Vater besucht. Heilfroh war der alte Herr, das kann ich dir nur 294
sagen. Ich habe versprochen, im Frühjahr seine Praxis zu übernehmen .. . und vorher wird geheiratet, Daniela, ob du willst oder nicht. Ein Landarzt braucht eine Frau, eine tüchtige Frau, eine wie du!« Er sah Eva an. »Darf ich deine Mutter jetzt mal küssen?« »Bitte«, sagte Eva höflich, dann fügte sie verschmitzt hinzu: »Mich auch!« Aber Daniela trat einen Schritt zurück. »Und Berni?« fragte sie. »Weiß sie, daß . . .« »Selbstverständlich. Wir haben uns ja ausgesprochen wie zwei erwachsene Menschen. Ich tu’ ihr ja nur einen Gefallen damit, wenn ich sie jetzt sitzenlasse. Auf diese Weise kommt sie bestimmt leichter an ihren Rudi.« Daniela wollte noch etwas fragen, aber da rief Eva vom Bett her: »Also, Mutti, nun gib ihm doch schon endlich einen Kuß!« Und sie tat es.
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