Sabine Twork Joachim Kugler Multiple Sklerose: Krankheitsbewältigung – Therapiemotivation – Lebensqualität Erste Ergebn...
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Sabine Twork Joachim Kugler Multiple Sklerose: Krankheitsbewältigung – Therapiemotivation – Lebensqualität Erste Ergebnisse zum Coping-Training MS-Cope
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Sabine Twork Joachim Kugler Multiple Sklerose: Krankheitsbewältigung – Therapiemotivation – Lebensqualität Erste Ergebnisse zum Coping-Training MS-Cope
Sabine Twork Joachim Kugler
Multiple Sklerose: Krankheitsbewältigung – Therapiemotivation – Lebensqualität Erste Ergebnisse zum Coping-Training MS-Cope
Dr. med. Sabine Twork Lehrstuhl Gesundheitswissenschaften/ Public Health Medizinische Fakultät „Carl Gustav Carus“ TU Dresden Fetscherstr. 74 01307 Dresden
ISBN 978-3-540-72285-4
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Joachim Kugler Lehrstuhl Gesundheitswissenschaften/ Public Health Medizinische Fakultät „Carl Gustav Carus“ TU Dresden Fetscherstr. 74 01307 Dresden
Springer Medizin Verlag Heidelberg
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SPIN: 12026722
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Geleitwort
In Deutschland leiden mindestens 130.000 Menschen an Multipler Sklerose (MS), die meist im frühen Erwachsenenalter beginnt. Durch Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark können viele Körperfunktionen dauerhaft beeinträchtigt werden. Die MS ist eine Krankheit, die nicht nur den Einzelnen befällt, sondern erhebliche Auswirkungen auf die Familie, das berufliche sowie private soziale Umfeld und erhebliche sozialpolitische Konsequenzen hat. Glücklicherweise stehen wirksame Immuntherapien zur Verfügung und auch Symptome der MS werden immer besser behandelbar. Trotz aller Fortschritte ist jedoch die MS – wie viele andere chronische Erkrankungen – noch nicht heilbar. Bei sich normalisierender Lebenserwartung kommt es jetzt darauf an, die MS-Betroffenen lebenslänglich so zu begleiten, dass ihnen bei möglichst geringer Behinderung eine normale Teilhabe am sozialen Leben und eine gute Lebensqualität ermöglicht werden. Die Lebensqualität von MS-Betroffenen hängt aber ganz entscheidend davon ab, wie ein Betroffener und sein soziales Umfeld lernen, mit der Erkrankung umzugehen. Seelische Faktoren beeinflussen Immunfunktionen, Krankheitsentstehung, Schubaktivität und Lebensqualität. Eine adäquate Krankheitsverarbeitung hat damit nicht nur Einfluss auf die „Psychologie der MS“, sondern auf die „Biologie der MS“. Ein besseres Verständnis der Vernetztheit des Immunsystems mit psychologischen Faktoren wird auch zur weiteren Verbesserung der ArztPatienten-Beziehung beitragen, da Patienten oft intuitiv gespürt haben, dass die rein naturwissenschaftliche Betrachtung ihrer Erkrankung zu kurz greift und dass seelische Faktoren sehr wohl einen Einfluss auf immunologische Krankheitsaktivität und auf Symptome der MS haben. Das vorliegende Buch gibt einen aktuellen und inspirierenden Überblick über den aktuellen Stand des Wissens von Pathogenese und Immuntherapien der MS, über psychoneuroimmunologische Zusammenhänge und Daten zur realen Lebenssituation und Lebensqualität von MS-Patienten. Es werden verhaltensmedizinische Behandlungsstrategien sowie Verfahren zur Verbesserung der Krankheitsverarbeitung vorgestellt, die von den Autoren entwickelt und eva-
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Geleitwort
luiert wurden. Es wird jedem Betroffenen, Arzt und Therapeuten eine wertvolle Hilfe dabei sein, die MS und verhaltensmedizinische Therapieansätze zu verstehen und anzuwenden, zu lernen und zu vermitteln, dass es und wie es möglich ist, mit der MS ein gutes und erfülltes, ein „normales“ Leben zu führen. Ich wünsche dem Werk die ihm gebührende, weite Verbreitung. Dieter Pöhlau Asbach, Februar 2007
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Vorwort
Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Krankheitsbewältigung bei Multipler Sklerose (MS). Durch den chronischen, unvorhersehbaren Verlauf der Erkrankung gestaltet sich die Bewältigung dieser Erkrankung schwierig. So zieht die Diagnose einer MS neben körperlichen Einschränkungen oft auch tief greifende soziale und psychische Konsequenzen für die Betroffenen nach sich. Die Art und Weise, wie Krankheit individuell erlebt wird, nimmt Einfluss auf den Umgang mit der Erkrankung und hat somit auch Konsequenzen bezüglich des Krankheitsverlaufs. Zur Erleichterung der Krankheitsbewältigung (Coping) benötigt daher der Betroffene adäquate Informationen über Erkrankung und Therapie(alternativen), Anleitung zum Umgang mit den eigenen Emotionen und Überzeugungen sowie einfühlsame Ansprechpartner. Je besser das Coping gelingt, desto mehr ist der Betroffene in der Lage, selbständig, kooperativ und aktiv an Therapieentscheidungen teilzunehmen („shared decision making“). Dieses Buches möchte schwerpunktmäßig auf die Probleme in der Krankheitsbewältigung bei MS-Betroffenen, die Potentiale eines erfolgreichen Copings und die damit verbundenen Auswirkungen aufmerksam machen. Somit dient es als Anregung und Hilfe beim Umgang mit MS-Betroffenen und richtet sich insbesondere an Fachpersonal, das an der Betreuung von MS-Patienten beteiligt ist. Im ersten Teil des Buches geben Ickenstein und Höhlig einen Einblick in die historischen Hintergründe der MS, Theorien über deren Entstehung, die immunologischen Prozesse sowie den daraus resultierenden frühzeitigen Therapiebeginn. Anschließend geht Then Bergh auf die Zusammenhänge zwischen Hormonund Immunsystem ein, wobei speziell hormonelle Aspekte der Stressreaktion und damit verbundene Auswirkungen von Stress auf die MS verdeutlicht werden.
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Vorwort
Bezüglich Krankheitsbewältigung stellen Twork und Kugler in den folgenden Beiträgen eine Zusammenfassung von emotionalen, psychischen und kognitiven Problemen bei MS vor, die die Lebensqualität der Betroffenen beeinflussen. Zusätzlich wird auf gruppenbezogenen Maßnahmen der Krankheitsbewältigung im Vergleich zu einzeltherapeutischen Verfahren eingegangen, diese in Form eine Reviews zusammengefasst und bewertet. Anschließend wird das Copingtraining „MS-Cope“ vorgestellt und erste Ergebnisse aus der Pilotphase berichtet. Abschließend gehen die Autoren auf den Bedarf und die Notwendigkeit solcher Coping-Programme aus der Sicht niedergelassener Neurologen ein. Im letzten Teil des Buches stellen Voigt und Worm die Lebenssituation von MS-Betroffenen in Sachsen vor und zeigen anhand einer Befragung von Selbsthilfegruppenmitgliedern aktuelle Ergebnisse der Versorgungsforschung. Insgesamt versucht dieses Buch verschiedene Aspekte der Krankheitsbewältigung abzubilden, ohne jedoch einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Neben dem Blickwinkel von Neurologen aus Klinik, Niederlassung sowie Forschung werden auch Sichtweisen von Wissenschaftlern aus der Versorgungsforschung dargestellt. Wir hoffen, dass das vorliegende Buch zu einem größeren Verständnis sowie einer besseren Unterstützung der MS-Betroffenen in ihrer Krankheitsbewältigung beiträgt. Wir danken an dieser Stelle den beteiligten Autoren für ihre hervorragenden Beiträge, Frau Susanne Wiesmeth und Herrn Erik Ellwardt für die Korrekturvorschläge, Frau Kraplow und ihrem Team vom Springer-Verlag sowie Frau Arite Schima und Herrn Peter Amann von der Firma Serono, die maßgeblich die Verwirklichung dieses Buchprojektes unterstützt haben. S. Twork, J. Kugler Dresden, Februar 2007
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Autorenverzeichnis
Carolin Höhlig, Dipl. med. Helios-Klinikum Aue Gartenstraße 6 08280 Aue Guntram Ickenstein, Dr. med. Helios-Klinikum Aue Gartenstraße 6 08280 Aue Joachim Kugler, Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Medizinische Fakultät „Carl Gustav Carus“ TU Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden Florian Then Bergh, Dr. med. Uniklinikum Leipzig Klinik und Poliklinik für Neurologie Liebigstraße 22a 04103 Leipzig
Sabine Twork, Dr. med. Medizinische Fakultät „Carl Gustav Carus“ TU Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden Karen Voigt, Dipl.-Soz., MPH Friedrich-Hegel-Straße 25 01187 Dresden Ilse Worm, MPH Lahmannring 18A 01324 Dresden
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Inhalt
1 Pathogenetische Zusammenhänge und Therapieoptionen der Multiplen Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guntram W. Ickenstein, Carolin Höhlig Genetische Faktoren versus Umwelteinflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologische Hypothesen der MS-Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathophysiologische Grundlagen der MS-Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Benigne“ versus „maligne“ Form der Multiplen Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle des MRT und neuer bildgebender Verfahren in der MS . . . . . . . . . . . . . . Immunmodulatorische Therapiemöglichkeiten der MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Hormonelle Aspekte der Stressreaktion: Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse bei der Multiplen Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Then Bergh Multiple Sklerose: eine der häufigsten Ursachen neurologischer Behinderung bei jungen Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple Sklerose: eine entzündlich-demyelinisierende Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple Sklerose und Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunsystem und endokrines System interagieren vielfältig . . . . . . . . . . . . . Untersuchungen zur immunoendokrinen Wechselbeziehung bei Multipler Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensitive Testung der Hypophysen-Hypothalamus-NebennierenrindenAktivität mit Hilfe des kombinierten Dexamethason-CRH-Tests . . . . . . . . . . . HHN-Aktivierung korreliert zu klinischen und bildgebenden Indikatoren der Multiplen Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Normalisierung der HHN-Aktivität bei schubförmigem Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Längsschnittuntersuchungen der HHN-Aktivität bei Multipler Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mögliche pathophysiologische Bedeutung der HHN-Hyperaktivität . . . . . . .
1 3 5 7 16 17 18 21
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30 31 31 32 32 34 35 37 38 40
XI Inhalt
3 Psychische und kognitive Aspekte sowie Krankheitsbewältigung bei Multiple-Sklerose-Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Twork, Joachim Kugler Krankheitsbewältigung (Coping) bei MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss von Stress auf die MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effekte der seelischen Verfassung auf die MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depressionen und Ängste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fatigue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Dysfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Unterstützung bei MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse einer schriftlichen Befragung der Mitglieder des Sächsischen Landesverbandes der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft . . . . . . . . . . Karen Voigt, Ilse Worm Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsgeschehen und medizinische Versorgungssituation der Studienteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensqualität der Studienteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen bei MS-Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Twork, Joachim Kugler Psychotherapeutische Gruppeninterventionen bei MS-Betroffenen . . . . . . . Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen und Anregungen für künftige Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Das MS-Cope-Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Twork, Joachim Kugler Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 47 49 50 51 52 53 54 63 63 64 65 68 73
79 79 80 83 96 98 99 113 114 114 115 118
XII
Inhalt
7 Erste Ergebnisse zur Untersuchung der Effektivität des Coping-Trainings „MS-Cope“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Twork, Joachim Kugler Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Krankheitsbewältigungstrainings für MS-Betroffene: die Sicht niedergelassener Neurologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Twork, Joachim Kugler Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121 121 123 128 132
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
1 Pathogenetische Zusammenhänge und Therapieoptionen der Multiplen Sklerose Guntram W. Ickenstein, Carolin Höhlig
Einleitung und historischer Rückblick Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste erworbene Störung des Myelins beim Menschen. Die MS wird definiert als inflammatorische Erkrankung des ZNS, die im weiteren Verlauf mit einer Neurodegeneration einhergeht. Unser Verständnis der MS wächst in den letzten Jahren rapide mit dem zunehmenden Erfolg von neuen medikamentösen Strategien, die auf den Ergebnissen der Grundlagenforschung aufbauen, und neuen Standards, die sich in der Durchführung von klinisch-medikamentösen Studien etabliert haben. Jean Cruveilhier (1791–1874) erklärte „La phlebite domine toute la pathologie“ („Die Phlebitis dominierte alle Pathologie“) und beschrieb 1842 erstmals die Symptome einer schleichenden Tetraparese als Folge einer Störung des unteren Rückenmarks. Im weiteren Verlauf konstruierte er die ersten klinisch-anatomischen Korrelationen der Multiplen Sklerose [1]. Jean-Martin Charcot (1825–1893) lieferte 1868 weitere detaillierte klinischanatomische Korrelationen der MS [2] und prägte den Begriff „Sclérose en plaques“, womit er die MS als einzigartige pathologische Identität definierte. Er erkannte eine klinische Trias aus Nystagmus, Intentionstremor und Dysarthrie bei MS-Patienten.
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Kapitel 1 ∙ Pathogenetische Zusammenhänge und Therapieoptionen
Karl Rokitansky (1804–1878) beschrieb Gewebsdefekte im Gehirn, die er „die Desintegration von Gehirnverbindungen“ im MS-Gehirn nannte [3]. Friedrich Theodor v. Frerichs (1819–1885) erkannte als Pathologe die Remission der Erkrankung, den Nystagmus und die mentalen Abbauprozesse als klinische Zeichen der MS. 1849 wurde von ihm erstmals die Diagnose „Multiple Sklerose“ gestellt [4]. Pio Del Rio-Hortega beschrieb „glia de escasas radiaciones” („Glia mit strahlenförmiger Narbenbildung”) und prägte 1921 den Begriff der Oligodendroglia [5]. Zudem charakterisierte er die Mikroglia und deren Rolle in der Gehirnpathologie. James Dawson von der University of Edinburgh führte 1916 neuropathologische Untersuchungen an MS-erkranktem Gehirngewebe durch und richtete den Schwerpunkt der Erforschung auf die perivaskulären Veränderungen durch inflammatorische Zellen und die resultierenden fingerförmigen Erscheinungen von Venen und Venolen („Dawson’s fingers“) [6]. Thomas Rivers vom Rockefeller Institute in New York zeigte 1935, dass Injektionen von Hirngewebe in Versuchstieren eine experimentelle allergische (autoimmune) Enzephalomyelitis (EAE) induziert. Zudem konnte Elvin A. Kabat 1942 durch die Methode der Elektrophorese die abnorme Gammaglobulin-Produktion im Liquor von MS-Patienten nachweisen [7]. In den 60er Jahren zeigten klinische Studien mit immunsuppressiven Therapien wie z. B. Cyclophosphamid Erfolge bei der Downregulation des Immunsystems bei MS-Patienten. Diese Einblicke in den Krankheitsverlauf haben letztlich zur Einführung der Mitoxantrontherapie für MS-Patienten geführt [9, 10]. 1981 führten erste kernspintomographische Untersuchungen an MSPatienten von Ian R. Young zu einer raschen Verbreitung der MRT-Untersuchung bei MS und anderen demyelinisierenden Erkrankungen im weiteren Krankheitsverlauf [11]. Die klinischen Studien zur Optikusneuritis legten nahe, dass Methylprednisolon die Erholung der Opitikusneuritis beeinflusst, aber keinen Einfluss auf den Langzeitverlauf hat [8, 12]. 1993 konnte die Studiengruppe IFNB Multiple Sklerose berichten, dass Interferon beta-Ib eine effektive Therapiestrategie bei der frühen Form der schubförmigen MS darstellt [13]. 1996 wurde diese Therapiestrategie erweitert durch Interferon beta-1a und Glatirameracetat (Copolymer 1), wodurch weitere Therapieoptionen erreicht wurden. Die neueste Entwicklung stellen gentechnisch hergestellte Antikörper (Natalizumab) dar, die bisher in klinischen Studien die Reduktion der Schubrate bei MS zeigen konnten [14] und 2006 in Europa zur Therapie der Multiplen Sklerose zugelassen wurden.
3 G.W. Ickenstein, C. Höhlig
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Genetische Faktoren versus Umwelteinflüsse Die Multiple Sklerose ist im frühen und mittleren Erwachsenenalter die häufigste neurologische Erkrankung. Allein in Deutschland sind ca. 120.000 Menschen von dieser Autoimmunkrankheit betroffen. In Europa und den USA hat die MS eine Prävalenz von etwa 350.000 Fällen. Jedes Jahr werden ungefähr 10.000 neue Patienten mit der Diagnose einer MS konfrontiert. Mehr als 1 Mio. Patienten sind weltweit von der MS betroffen. Menschen mit einer Abstammung aus den gemäßigten Klimazonen Nordeuropas scheinen einem höheren Risiko für die Entwicklung einer MS ausgesetzt zu sein. Die höchste Inzidenz weltweit scheint im Bereich von Süd-Ost-Schottland zu existieren mit ungefähr 12,2 Fällen pro 100.000 Einwohnern [19]. Die Inzidenz von MS in Asien, Afrika, Mexiko, der Karibik oder in nördlichen Gegenden von Südamerika ist dagegen vergleichsweise niedrig [20]. Das Auftreten der MS auf den Faroe-Inseln nach der Besetzung von britischen Truppen im Jahre 1940 führte Kurtzke zu der Feststellung, dass ein Umweltfaktor auf die Insel gebracht worden ist und dass dieser verantwortlich ist für den Ausbruch der MS [21]. Vor diesem ersten Fall einer MS im Jahr 1943 war bisher kein MS-Fall auf der Insel bekannt gewesen. Aber zwei Dutzend Fälle von MS zeigten sich in den folgenden zwei Jahrzehnten. Zudem ereignete sich ein weiterer vermuteter „Ausbruch der MS“ in Island im Jahr 1945 [22]. Die Auswanderung von einem Hochrisiko- in ein Niedrigrisikogebiet für MS nach dem Alter von 15 Jahren scheint das Risiko, eine MS zu entwickeln, nicht zu mindern, d. h. das Risiko des Ursprungslandes bleibt bestehen. Wenn man dagegen vor dem 15. Lebensjahr auswandert, erhält man das Risiko des Landes, in das man eingewandert ist [23]. Diese Beobachtungen treffen zwar nicht für alle Fälle zu, aber man kann daraus ableiten, dass: ▬ hormonelle oder immunogene Faktoren (vielleicht thymusassoziiert) vor oder während der Pubertät vielleicht die Empfänglichkeit für solch eine Erkrankung unabhängig von geografischen Gegebenheiten erhöhen oder ▬ frühe Exposition mit einem Umweltfaktor, der in bestimmten geographischen Bereichen häufig auftritt, eine kritische Bedingung für die Entwicklung dieser Erkrankung sein könnte.
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Kapitel 1 ∙ Pathogenetische Zusammenhänge und Therapieoptionen
Berechnungen zeigen, dass das Risiko für Geschwister von MS-Patienten, selbst eine MS zu entwickeln, bei ungefähr 2,3–4% liegt. Aber die intensive Untersuchung dieser Kollektive mittels MRT zeigt eine erhöhte Demyelinisierung in asymptomatischen Verwandten bis zu ca. 15% [24]. Dies bedeutet, dass die tatsächlichen Zahlen unterschätzt werden. Die MS-Übereinstimmungsrate zwischen monozygoten Zwillingen beträgt ca. 20–40%, was auf das Vorhandensein von prädisponierenden polygenetischen Faktoren hinweist (kein Mendelscher Erbgang). Das Risiko für dizygote Zwillinge ist dagegen dasselbe Risiko wie für andere Geschwister, nämlich ca. 4%. Zudem ist die Rate für MS bei Ehepartnern von MS-Patienten sehr niedrig mit ca. 0,17%, was vermuten lässt, dass nur minimale Umweltfaktoren im Erwachsenenalter für die Triggerung der MS verantwortlich sind [25]. Verschiedene Individuen haben verschiedene Nukleotid- oder Basensequenzen an einem bestimmten Platz im Genom. Diese Variationen nennt man „Einzelnukleotid-Polymorphismus“ bzw. „single nucleotide polymorphisms“ (SNPs), die das einzelne Individuum wahrscheinlich empfänglich für bestimmte Krankheiten macht. Dadurch ist es vorstellbar, dass ein Individuum mit einem Polymorphismus bezüglich einer „Türöffnungsfunktion“ innerhalb der Promotorregion eines Gens, dass in die Immunantwort involviert ist, eine ausgeprägte Reaktion (z. B. gesteigerte Expression eines proinflammatorischen Gens) in Bezug auf ein bestimmtes Antigen erzeugt, was dann diesbezüglich zu einer unkontrollierten Immunzellproliferation und Autoimmunität führen kann. Allerdings scheinen diese familiären Häufungen der MS nicht von Mendelschen genetischen Faktoren abhängig zu sein [26], sodass dies einen Forschungseinsatz von komplexen genetischen Screening-Untersuchungen in Familien mit einem dichten MSGeschehen erlaubt. Auf der Suche nach den betroffenen Genen fand man durch GenomScreening die chromosomale Region 6p21 (HLA-Gensequenzen beinhaltend) als einen Lokalisationsort mit der stärksten Verbindung. Auch in anderen chromosomalen Regionen wurde man fündig, allerdings mit einer schwächeren Verbindung und ohne weitere Replizierbarkeit dieser Resultate durch andere Studien [27]. Andere Forschungsergebnisse haben eine mögliche MS-Vulnerabilität auf dem Locus 5p14–p12 vermuten lassen, eine Region, die bekannt ist für die Empfänglichkeit von EAE [28]. Obwohl bisher alle Genom-Screeningverfahren der MS nicht schlüssig verlaufen sind, mit Ausnahme der Assoziation mit der HLA-Region, kann vermutet werden,
5 G.W. Ickenstein, C. Höhlig
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dass diese Techniken durch das humane Genomprojekt zukünftig weiter verfeinert und weitere Bereiche eine genetische Verbindung zur MS zeigen werden. Obwohl von MS mehr Frauen als Männer betroffen sind (1,8:1,0), fehlt bisher jede pathophysiologische Basis für diese Unterscheidung. Dieses Verhältnis ist noch größer, nämlich 3:1, bei Patienten mit einem atypischen Krankheitsbeginn, d. h. < 15 oder > 50 Jahre, was wiederum eine hormonelle Komponente des Krankheitsprozesses zum Ausdruck bringt.
Ätiologische Hypothesen der MS-Entstehung Trotz intensiver Bemühungen, die Ursache dieser Erkrankung zu erforschen, konnte bisher kein einziger ätiologischer Vertreter als auslösende Ursache der Multiplen Sklerose identifiziert werden. Die Tatsache, dass eine retroviral assoziierte Erkrankung (HTLV-1-assoziierte Myelopathie bzw. tropische spastische Paraparese – HAM/TSP) der klinischen Präsentation der primär progressiven MS sehr nahe kommt, hat Untersucher zu der Schlussfolgerung kommen lassen, dass die MS vermutlich ein Syndrom von verschiedenen Ätiologien darstellt [29]. Vermutet wird, dass nur eine geringe Anzahl der MS-Fälle mit einem einzelnen Virus, wie dem HTLV-1-Virus, assoziiert ist und das andere Fälle vermutlich durch andere Umweltfaktoren verursacht oder getriggert werden. Es wird berichtet, dass eine von vier MS-Attacken jeweils mit einer vorübergehenden Infektion assoziiert ist. Diesbezüglich wird vermutet, dass auslösende Umweltfaktoren wie Viruserkrankungen vielleicht tatsächlich als auslösende Trigger fungieren, allerdings in einem sehr komplexen Geschehen, das auf einer Dysfunktion des Immunsystems, einer genetischen Prädisposition und einer hormonellen Gleichgewichtsstörung beruht. Im Folgenden soll ausführlicher auf eine mögliche Assoziation mit einigen Viren eingegangen werden. In den letzten 100 Jahren wurden viele Virusarten mit der Ätiologie der MS in Verbindung gebracht, wie z. B. Corona-Viren, Masernviren, Parainfluenza-Viren, Simian-Virus 5 und Epstein-Barr-Virus (EBV) [30]. In früheren Studien wurde eine Assoziation der MS mit vorangegangenen EBV-Infektionen [31] und persistierenden IgM- und IgA-Antikörpertitern gegen EBV vermutet [32]. Andere Studien zielten darauf ab, Proteinziele für oligoklonales IgG im Liquor von MS-Patienten zu finden. Es konnte
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Kapitel 1 ∙ Pathogenetische Zusammenhänge und Therapieoptionen
ein Peptid identifiziert werden, das strukturelle Homologien mit dem EBVVirus-Kernantigen teilt [33]. Die Bedeutung dieses, in einem Teil der MSPatienten gefundenen Proteins, ist bisher jedoch noch nicht schlüssig. In neuerer Zeit liegt der Fokus in der Forschung auf dem Herpesvirus Typ 6 (HHV-6), Variante A, dessen genomische DNA in peripheren Blutzellen einiger MS-Patienten [34] mit einer Vermehrung der zellulären Immunantwort gefunden werden konnte [35]. In weiteren Untersuchungen konnten latent weiter bestehende HHV-6-Infektionen des ZNS bestätigt werden [36] mit einer erhöhten Expression des Virus in aktiven MS-Läsionen [37]. Zudem lassen auch erhöhte IgM-Titer im Serum und Liquor an eine aktivierte bzw. reaktivierte kürzlich zurückliegende Infektion denken [38]. Andererseits finden sich erhöhte Antikörpertiter gegen HHV-6-Virus nicht nur in MS-Patienten. Sie wurden ebenso beim chronischen Fatigue-Syndrom berichtet. Der Nachweis von HHV-6 mittels PCR gelang bei einem Drittel der MS-Patienten mit Schüben, aber nicht bei Gesunden [39]. Da aber auch andere Herpesvirusarten wie Epstein-Barr-Virus und HSV (Herpessimplex-Virus 1) während akuter MS-Attacken reaktiviert werden können, bleibt die tatsächliche pathogenetische Signifikanz des HHV-6-Virus bei der MS unklar. HHV-6 könnte somit ein Faktor in der Pathogenese der MS sein, der prädisponierend, auslösend oder vielleicht auch nur aggravierend eine Rolle spielt [40]. Eine retrovirale Ätiologie scheint möglich, da auch andere Retrovirusarten, wie HTLV-1 beim Menschen und das Maedi-Visna-Virus bei Schafen [41], eine inflammatorische Demyelinisierung bewirken können. Dieses Phänomen ist jedoch wiederum nicht spezifisch für Retroviren, denn auch andere neurotrope Virusarten, wie z. B. das Theiler-Picornavirus, können eine Enzephalomyelitis bei der Maus bewirken. Zusammenfassend lassen bei einem Teil der MS-Patienten eine Reaktivierung von EBV [42] und HSV-1 [43] während akuter MS-Schübe sowie erhöhte Antikörpertiter von HHV-6 [38] und erhöhte Herpes-zoster-Infektionen, die in einem frühen Stadium bei MS-Patienten auftreten [43], eine Immunzelldysfunktion bei MS-Patienten durch eine initiale Infektion mit einem Virus vermuten, wobei pathogenetisch diese virale Infektion dann wiederum latent bestehen bleiben würde und in einem bestimmten Zyklus reexprimiert wird. Es ist vorstellbar, dass MS-Symptome nicht nur nach der ersten Exposition mit einem bestimmten Umweltfaktor, sondern vor allem auch während rekurrenter Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem latent vorhandenen Virus auftreten, was wiederum bei Reexpression
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des Virus auch auf einer subklinischen Ebene ablaufen könnte. Andererseits könnte natürlich auch eine antivirale Immunantwort lediglich ein Epiphänomen einer unabhängigen, durch die Erkrankung selbst initiierten Immunreaktivierung, darstellen. Alle diese Studien dienen aber den Forschern als zukünftige Grundlage für den rationalen Einsatz von antiviralen Medikamenten im Rahmen der MS-Therapie.
Pathophysiologische Grundlagen der MS-Symptome Die MS ist eine dynamische entzündliche, demyelinisierende Erkrankung des menschlichen Gehirns und des Rückenmarks. Die MS-Läsionen zeichnen sich durch perivaskuläre Infiltrate, aktivierte Monozyten und Lymphozyten aus, wobei die Erkrankung mit verschiedenen Stufen des Verlusts von Oligodendrozyten (Apoptosis) und Gliose (Narbenbildung) assoziiert ist. Im weiteren Verlauf der Erkrankung finden sich in den Läsionen Myelinabbauprodukte, die als lipidbeladene Makrophagen identifiziert werden konnten [15]. Verschiedene Stufen des axonalen Verlusts können im weiteren Verlauf auftreten und in histopathologischen und kernspintomographischen Studien nachgewiesen werden. In Post-mortem-Studien lässt sich eine große Heterogenität bzw. Variabilität der Läsionen von MS-Patienten finden. Einige Patienten hatten Läsionen mit vorwiegend Antikörper- oder Komplementablagerungen, wobei diese so genannten Antikörper/Komplement-Subtypen im akuten Schub der MS besonders von einer Plasmapherese profitieren. Andere Patienten zeigten dagegen betont Verluste von Oligodendrozyten (Apoptose oder „Dying-back-Oligodendrogliopathie“) mit oder ohne partieller Remyelinisierung [16]. Ob diese Remyelisierung auf die Aktivität der oligodendroglialen Vorläuferzellen (OPC) zurückzuführen ist oder durch weniger betroffene Oligodendrozyten stattfindet, ist zurzeit noch in der Diskussion. Hitzeeinwirkung und repetitive mechanische Belastung sind Triggerfaktoren für MS-Symptome (Utthoff-Phänomen und Lhermitte-Zeichen). Lücken in der Myelinisierung von kurzen axonalen Segmenten (RanvierSchnürringe) verursachen eine Verringerung der Kapazität entlang der axonalen Einheit und erhöhen dadurch die Disseminierung der lokalen Rekrutierung. Der Einstrom von Natrium durch die spannungsabhängigen
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Natriumkanäle in den Ranvier-Schnürringen ist verantwortlich für die saltatorische Erregungsleitung (Depolarisation) der jeweiligen elektrischen Impulse. Bei der MS sorgt die diffuse Demyelinsierung für den Verlust an Isolierung beim axonalen Fluss durch die internodalen Regionen, was zu gleichzeitigen konduktalen Blöcken in verschiedenen Axonen und letztlich zu den MS-Symptomen führt. 3,4-Diaminopyridin ist ein Medikament, dass bei abnormer Fortleitung eingesetzt wird und zu einer symptomatischen Erhöhung der Extremitätenkraft führen soll. Dieses Medikament konnte jedoch bisher keinen Einfluss auf den EDSS-Score zeigen und ist zudem mit Nebenwirkungen wie z. B. Parästhesien, abdominellem Schmerz, Verwirrtheitszuständen und in manchen Fällen epileptischen Anfällen verbunden [17]. Weitere klinische Studien mit 3,4-Diaminopyridin bei MS-Patienten müssen zeigen, ob dieses Medikament evtl. einen Einfluss auf die Lebensqualität oder Langzeiteffekte bei MS hat, insbesondere ob der zentral stimulierende Effekt eine positive Wirkung bei der Fatigue-Symptomatik entfalten kann [18]. Es ist ebenso vorstellbar, dass jegliche Alteration des axonalen Milieus (z. B. verursacht durch inflammatorische zellvermittelte Zytokine oder durch die Anwesenheit von inflammatorischen Zellen per se) eine Störung der Konduktion bewirkt, die wiederum behoben werden kann, wenn die Anwesenheit solcher inflammatorischer Zellen zurückgesetzt wird. Eine alternative Erklärung für die hitzevermittelten Symptome bei MS-Patienten könnte ein latentes infektiöses Agens darstellen, das hochsensibel auf subtile Körpertemperaturänderungen reagiert und bei Erhöhung um einige Grad schnell aktiviert und ausgeschüttet wird und so eine rasche Immunantwort triggert. Hitzesensitive Gene (wie z. B. das Heat-shock-Protein oder andere) könnten beispielsweise hochreguliert werden, was wiederum zu einer neuen Manifestation der Erkrankung führen könnte.
Inflammatorische Prozesse der MS Die Identifikation von proinflammatorischen Prozessen bei der MS kann vermutlich zur Entwicklung einer ganzen Reihe neuer Therapieansätze führen. Gesunde Individuen haben zirkulierende autoreaktive T-Zellen. Allerdings sind diese T-Zellen nicht in einem aktivierten Stadium und dadurch unfähig, eigene Antigene zu attackieren. Dieses Stadium der To-
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leranz kann hingegen aufgehoben werden und dann in eine Autoimmunität münden. Zum Beispiel kann ein körpereigenes Antigen natürlich im Körper abgebaut werden, ohne je einer immunologischen Zelle präsentiert zu werden. Später jedoch, z. B. nach einem Gewebeschaden, könnte dieses Antigen dem Immunsystem exponiert werden, wodurch sich jetzt eine sich selbst triggernde Attacke durch aktivierte T-Zellen entwickeln kann. Einmal aktiviert, kann eine T-Zelle weiter proliferieren (Teilung in multiple identische Tochterzellen mit derselben Spezifität, genannt klonale Expansion) oder sie wird zytotoxisch (z. B. Tötung der Zielzelle durch Ausschüttung von Perforinen). Verschiedene Peptide, die durch HLA-Moleküle präsentiert werden, können verschiedene Antworten der T-Zellen auslösen. Beispielsweise können T-Zell-Klone, die zunächst proliferativ und zytotoxisch waren, durch die Reaktion auf ein bestimmtes Peptid mit gleicher Größe, aber unterschiedlicher Aminosäuresequenz diese proliferative Fähigkeit, nicht aber die zytotoxische Fähigkeit, verlieren [45]. Dieser differenzierte Regulationsprozess der T-Zell-Funktion mit den ausgeprägten feinen Ausrichtungen je nach Peptid versetzt den Menschen in eine evolutionär günstige Lage, sodass das Immunsystem höchst anpassungsfähig ist und auf Umwelteinflüsse in verschiedenartiger Weise reagieren kann. Damit eine T-Zelle ein antigenes Peptid erkennen kann, muss dieses Peptid an ein HLA-Molekül auf der Oberfläche einer antigenpräsentierenden Zelle gebunden werden (meist Makrophagen, Mikrogliazellen oder B-Zellen). Wenn eine T-Zelle in Kontakt mit einem leeren HLAMolekül auf der Oberfläche einer anderen Zelle kommt, dann erkennt sie diese als eigenes Gewebe, sodass keine Aktivierung der T-Zelle auftritt. Ist dagegen das HLA-Molekül durch ein fremdes Peptid besetzt, wird es die T-Zelle als nicht eigenes Peptid erkennen und eine Attacke vorbereiten. Während dieser Autoimmunantwort können T-Zellen, aber auch Angriffe gegen eigenes Peptid, das auch durch HLA präsentiert wird, unternehmen. Dieser Vorgang ist sehr komplex und noch nicht völlig verstanden, wobei die Präsentation durch HLA-Moleküle nicht ausschließlich einen Krankheitsprozess darstellt und deshalb auch andere Faktoren eine wichtige Rolle bei der Initiierung einer Autoimmunität spielen können. Seit einigen Jahren werden die T-Helfer-Lymphozyten auf der Basis der von ihnen produzierten Zytokine (kostimulatorische Moleküle) weiter unterteilt. Während Th-1-Zellen IL-2 und IFN-γ synthetisieren, produzieren Th-2-Zellen stattdessen IL-4, -5, -6, -9 und -13. Für das Tiermodell der MS,
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die experimentelle autoimmunallergische Enzephalomyelitis (EAE), wurden Ergebnisse zur pathogenen Rolle von Th-1- und Th-2-Zellen publiziert. Einerseits wurde IL-4 als protektiv erkannt und andererseits IL-12, ein potentielles Th1-unterstützendes Zytokin und wichtigster Induktor von Th-1-Zellen, als pathogen [46]. Die B7-Familie der kostimulatorischen Moleküle auf den antigenpräsentierenden Zellen (APC) interagiert mit den CD28-Oberflächenmolekülen auf T-Zellen und vermittelt dadurch eine T-Zell-Aktivierung. Eine deutliche Expression von B7-1 und IL-12 konnte in frühen Stadien der MS-Plaques nachgewiesen werden [47]. Zudem verursacht die Interaktion zwischen Molekülen auf der Oberfläche von B- und T-Zellen, wie z. B. CD40 und CD40-Liganden, eine Erhöhung der Spiegel von IL-12 im Blutkreislauf von MS-Patienten [48]. Weiterhin konnte eine höhere IL-12-Produktion durch Immunzellen bei fortschreitendem Verlauf in MS-Patienten gezeigt werden [49]. Durch diese Ergebnisse konnte letztlich nachgewiesen werden, dass Interferon-beta eine seiner krankheitsmodifizierenden Effekte durch die Fähigkeit der Downregulation der IL-12-Produktion und die Verminderung der B7-1-Expression von Lymphozyten in vivo erzielt [50]. Aktivierte autoreaktive T-Zellen, die vermutlich körpereigene Antigene angreifen, einschließlich des myelinbasischen Proteins (MBP), werden als Hauptfaktoren der MS-Pathogenese angesehen. EAE-Versuche konnten zudem durch den Gebrauch radioaktiv markierter MBP-reaktiver T-Zellen Hinweise darauf geben, dass diese T-Zellen nicht sehr weit vom kurzfristig erreichten perivenolären Raum migrieren und bei Auftreten des eigentlichen neuen Schubes gar nicht mehr nachweisbar sind. Diese Beobachtung unterstützt das Konzept, dass diese autoreaktiven T-Zellen lediglich als ein initiales Feuerwerk der Immunantwort fungieren und nur die Ansammlung von inflammatorischen Zellen initiieren [51]. Es zeigte sich zudem, dass MS-Patienten mit einer fortlaufenden Krankheitsaktivität auch eine hohe Anzahl von MBP-reaktiven T-Zellen besitzen [52]. Nach ihrer Aktivierung exprimieren die T-Zellen Oberflächenadhäsionsmoleküle wie z. B. VLA-4, das das Eindringen durch die Blut-Hirn-Schranke unterstützt. Dieser Vorgang bietet für die neuen Therapiestrategien der MS eine große Angriffsfläche, wobei Medikamente und Antikörper diese Adhäsionsmoleküle sowie HLA-und T-Zell-Rezeptoren, proinflammatorische Zytokine oder kostimulatorische Moleküle blockieren können.
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Pathogene Invasion, molekulares Mimikry oder epitopische Ausbreitung Trotz des beginnenden Verständnisses für die Pathogenese der MS bleibt es weiterhin unklar, welche spezifischen Triggerfaktoren für die Immunzellinfiltration des Gehirngewebes verantwortlich sind. Die molekulare Mimikryhypothese postuliert, dass virale oder andere Umweltfaktoren eventuell Epitope (Aminosäureeinheiten mit ca. 10 Aminosäuren) mit Gehirnproteinen teilen, was dann in der Folge zu einer falschen Aktivierung und dadurch zu einer Akkumulation von reaktiven Immunzellen im Gewebe des Zielorgans führt. Zellen von MS-Patienten, die isoliert wurden, reagieren bekannterweise in vitro gegen Myelinproteine, wobei gezeigt werden konnte, dass diese auch virales Protein erkennen, das ähnliche Aminosäuresequenzen mit dem Myelinprotein teilt [53]. Einige Autoren glauben, dass es eine deutliche Heterogenität im Krankheitsablauf gibt und dass die verschiedenen Patienten die Krankheit MS vielleicht unter dem Einfluss von verschiedenen initialen Triggerfaktoren entwickelt haben. Dies würde die große Schwierigkeit der Forschung erklären, die nach dem bestimmten Virus oder der bestimmten Ursache für MS sucht. Das molekulare Mimikry würde auch erklären, warum Patienten verschiedenartig wiederkehrende Attacken haben, da sie nämlich einer großen Anzahl verschiedenartiger Antigene ausgesetzt sind und die genetische Ausstattung eines jeden Patienten eine spezifische Prädisposition für jedes dieser Antigene schafft. Bei einigen Patienten müsste z. B. dieser Triggerfaktor vermutlich hoch spezifisch sein (z. B. gleiche homologe Aminosäuresequenzen, die durch den T-Zell-Rezeptor erkannt werden), für andere jedoch evtl. nicht sehr spezifisch (z. B. Aktivierung des Immunsystems durch bakterielle Lipopolysaccharide oder Superantigene). Es ist noch nicht bekannt, ob dieser initiale Trigger bei der Immunzellaktivierung im Gehirn selbst stattfindet (perivenöse Entzündungsbezirke enthalten aktivierte antigenpräsentierende Zellen, wie Mikroglia oder T-Zellen) oder aber in der Peripherie (ZNSdrainierende Lymphknoten, wohin neuronale Antigene oder deren molekulare Mimiks transportiert werden) oder aber gleichzeitig an beiden Stellen. Lösliche Faktoren, wie proinflammatorische Zytokine, die von den aktivierten Immunzellen ausgeschüttet werden, könnten als rekrutierende Faktoren für die Vorbereitung eines direkten Angriffes gegen das Gehirn
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dienen, wobei eine Ansammlung von B- und T-Zellen an der Stelle der initialen Entzündungsreaktion stattfinden würde. Es ist vorstellbar, dass Zellen unter dem Einfluss dieser Zytokine oder durch einen bestimmten Aktivierungsvorgang vielleicht jetzt Viren exprimieren, die sonst latent geblieben wären (wie z. B. endogene Retroviren oder erworbene Herpesviren). Dies könnte zusätzlich die Exposition von neuen Antigenen verstärken und die Ausbreitung der Inflammation unterhalten. Bei diesem Szenario wäre der Schaden am Myelinprotein vielleicht sekundär in der Abfolge der proinflammatorischen Zytokinausschüttungskaskade zu sehen, einschließlich TNF-alpha und Gamma-Interferon, dass direkt die Oligodendrozyten schädigt. Schließlich werden die zerstörten Myelinteile von Makrophagen aufgenommen und von diesen im aktivierten Stadium als Myelinantigen den ZNS-infiltrierenden T-Lymphozyten präsentiert. In der Folge manifestiert sich durch den Myelinverlust eine geschädigte saltatorische Fortleitung der entmantelten Axone und es zeigen sich die klinischen Symptome der MS. Erhöhtes IgG-Immunglobulin im Nervenwasser, das sich in der Elektrophorese durch oligoklonale Banden zeigt, lässt eine wichtige humorale Komponente des MS-Geschehens vermuten (B-Zell-Aktivierung). Verschiedene Stadien der Infiltration durch antikörperproduzierende Plasmazellen sowie Komplementaktivierung konnten in MS-Läsionen nachgewiesen werden [54]. Im Rahmen erster B-Zell-gerichteter Therapiestrategien wird das CD20-Molekül untersucht, das vorwiegend auf B-Zellen vorkommt. Durch einen monoklonalen Antikörper gegen CD20 können alle B-Zellen in einem Patienten innerhalb weniger Tagen zerstört werden. In ersten Pilotstudien konnte gezeigt werden, dass eine solche Therapie von Patienten gut vertragen wurde und zu einer Stabilisierung der Krankheit führte [55]. Im Liquor von Patienten mit MS-Schüben fand man zudem teilweise hohe Titer an Antikörpern gegen AN2, ein Oligodendrozytenvorstufen-spezifisches Zelloberflächen-Glykoprotein [56]. Durch die Beeinflussung dieser Vorstufen der Zellintegrität, Migration und Remyelinisierung infolge AntiAN2-Antikörpern kann hypothetisch eine Rolle in der Krankheitsaktivität abgeleitet werden. Interaktion von Fas und Fas-Ligandenmolekülen an der Oberfläche von Oligodendrozyten und T-Zellen [57] werden auch als mögliche Triggerfaktoren des programmierten Zelltods von Oligodendrozyten (Apoptose) angesehen [58, 59]. Ob diese Apoptose jedoch primär (z. B. getriggert durch einen Virus oder ein Toxin) oder aber sekundär infolge
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der weitergehenden Inflammation verstanden werden muss, bleibt noch weiter zu erforschen. Diesbezüglich könnten antiapoptotische Medikamente vielleicht eine wichtige Rolle in der MS-assoziierten Neurodegeneration spielen. Beachtung findet in jüngster Zeit die Rolle der Proteasen und ihr Einfluss auf die Lymphozytenpenetration durch die Blut-Hirn-Schranke, insbesondere ihre Fähigkeit, die extrazelluläre Matrix zu verändern. Matrixmetalloproteinasen (MMPs) begünstigen den Übertritt von T-Zellen vom perivenösen Raum durch die extrazelluläre Matrix durch Degradierung von Makromolekülen, die sich in dieser Region befinden. Eine erhöhte Aktivität von MMP-9 konnte im Liquor von MS-Patienten gefunden werden [60]. Studien im EAE-Tiermodell konnten zeigen, dass die Blockade von MMP zu einer signifikanten Reduktion der Läsionen bei der experimentell induzierten Demyelinisierung führt [61].
Immunologische Biomarker und neuroendokrines System im Krankheitsprozess Das gute klinische Ansprechen auf die neuen immunmodulatorischen Therapeutika (Avonex, Betaferon, Rebif und Copaxone) legt die Vermutung nahe, dass diese Arzneimittel wenigstens teilweise ihre Wirkung über die Einflussnahme auf proinflammatorische aktivierte Immunzellphänotypen entfalten [62]. Weiterhin zeigten hohe Spiegel von löslichem ICAM-1 im Blut von MS-Patienten eine Korrelation mit dem Zeitpunkt des Beginns der BlutHirn-Schrankenstörung [63], und hohe Spiegel von löslichen ICAM-1- und TNF-Rezeptoren konnten mit schubförmigen Verläufen und fortschreitender Erkrankung korreliert werden [64], was wiederum nahe legt, dass diese Faktoren, die durch aktivierte Immunzellen ausgeschüttet werden, vielleicht zukünftig als Biomarker im Krankheitsverlauf oder Krankheitsprozess genutzt werden können. Die MS kann während der postpartalen Periode, vermutlich infolge von hormonellen Veränderungen, wieder exazerbieren [65]. Eine niedrige Rate von MS-Schüben konnte während der Schwangerschaft, insbesondere während des 3. Trimesters, nachgewiesen werden [66]. Intravenöse Immunglobulingabe führt zu einer reduzierten Schubfrequenz in der Postpartum-MS-Phase; allerdings wurden diese Studien nur an einer geringen
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Zahl von Patienten durchgeführt [73]. Es konnte nachgewiesen werden, dass mehrfach gebärende MS-kranke Frauen im Vergleich zu kinderlosen Frauen, die auch von der MS betroffen sind, kein höheres Risiko der Behinderung durch die Krankheit zeigen [74]. Eine andere Beobachtung zeigt, dass Frauen, die mit MS schwanger werden, eine etwas weniger rasche Entwicklung zur einem Behinderungsscore (EDSS) von 6 zeigen [75]. Da die Krankheitsaktivität von weiblichen MS-Patienten während oder kurz nach der Schwangerschaft moduliert erscheint und da Frauen eine höhere Inzidenz der MS besitzen, forscht man nach den hormonellen Faktoren, die eine entscheidende Rolle bei der induzierten Immunsystemdysregulation spielen. Die hypothalamisch-hypophysäre Nebennierenachse verbindet das neuroendokrine System mit dem Immunsystem. Lymphozyten können eine große Anzahl von endokrinen Faktoren und Rezeptoren exprimieren, einschließlich des Progesteronrezeptors, des schwangerschaftsspezifischen beta-1-Glycoprotein-4-Rezeptors, des Thyreotropin-Rezeptors [67], des LHRH-Rezeptors (luteinisierendes Releasing-Hormon) [68], des adrenokortikotropen (ACTH) Hormonrezeptors [69] und des Prolaktinrezeptors [70]. Es konnte gezeigt werden, dass Prolaktin die Immunantwort von Monozyten sowie T- und B-Zellen erhöht [71], sodass vermutet wird, dass dies eine Rolle bei der gesteigerten Schubfrequenz der MS in der Post-partum-Phase spielt. Zusätzlich weiß man, dass LHRH die IL-2-Rezeptorenexpression in Lymphozyten induziert [72]. Es bedarf aber weiterer Forschung, um das komplexe endokrine immunogene System mit seinen vielfältigen Interaktionen und dessen Rolle in der EAE und MS zu verstehen. Bis heute konnte durch keine hormonelle Manipulation dieses Systems beim Menschen eine Änderung des MS-Krankheitsverlaufs gezeigt werden.
Neurodegeneration und axonaler Verlust Die heutige Meinung ist, dass MS-Patienten zunächst eine klinische Schwelle erreichen, nach der dann ein kontinuierliches Fortschreiten der Erkrankung eintritt. Diese zweite Phase kann als neurodegenerative Phase der MS beschrieben werden, unterschieden von der ersten inflammatorischen Phase. Obwohl diese zwei Phasen natürlich ineinander übergehen, ist es wichtig, eine klinische Unterscheidung durchzuführen, speziell in Bezug auf neue klinische Studien. Immunmodulatorische Medikamente zeigen
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die beste Wirkung, wenn sie in der Frühphase des Krankheitsverlaufs eingesetzt werden. Der Verlust des Myelins führt vermutlich sekundär zu einem Verlust von trophischen Faktoren zur Unterstützung der Axone [76]. Auch inflammatorische Faktoren wie Zytokine, oxidativer Stress und Komplement können das Neuron negativ beeinflussen. Weitere andere Mechanismen, die zu einer Schädigung des Neurons führen, aber nicht unbedingt in Verbindung mit der Integrität des Myelins gebracht werden können, spielen im Krankheitsverlauf vermutlich ebenso eine Rolle. Diese Hypothese wird unterstützt durch die Beobachtung, dass zum einen die Immunsuppression nicht unbedingt die sekundäre Neurodegeneration der MS verhindert [77] und zum anderen bei einigen Patienten die Erkrankung seit dem ersten Auftreten ohne Anzeichen für weitere signifikante Inflammation oder Läsionsformationen im MRT bzw. weitere schubförmige Attacken fortschreitet. Wenn man diese Patienten kernspintomographisch untersucht, zeigt sich meist eine Atrophie des Gehirns, oft als Ausdünnung des Corpus callosum und Vergrößerung des 3. Ventrikels beschrieben. Zudem zeigen sich T1Hypointensitäten („T1-Löcher“), was auf einen chronischen Läsionstyp hinweist. Eine Reduktion von NAA (N-Acetylaspartat) als Marker vitalen neuronalen Gewebes zeigt sich in MS-Plaques und noch normal erscheinender weißer Substanz dieser Patienten und bestätigt die „axonale Hypothese“, die besagt, dass der axonale Schaden bzw. der Axonverlust hauptverantwortlich für die progredienten Funktionsverluste im Krankheitsverlauf der MS ist [78]. Interessanterweise zeigte eine Veröffentlichung, dass bereits abnormale NAA-Spiegel in MS-Patienten vor dem eigentlichen Beginn der klinischen Behinderung messbar sind und auf einen frühen axonalen Verlust hinweisen [79]. Die chronische Exposition der Axone zu den sie umgebenden Faktoren, die durch proinflammatorische Immunzellen ausgeschüttet werden, vermindert vermutlich ihre Fähigkeit, sich dem fortschreitenden Krankheitsprozess zu widersetzen. Zudem wird die fortschreitende Destruktion der Axone durch das sich bildende gliotische Narbengewebe in der direkten Umgebung noch verstärkt. Es ist auch denkbar, dass degenerierende Neurone ihre Oberflächen-HLA-Klasse-1-Moleküle hochregulieren [80], was eine verstärkte Erkennung durch zytotoxische CD8+-T-Zellen und somit eine verstärkte Zellschädigung zur Folge hätte. Deshalb ist der Versuch, die Atrophie bei MS zu verhindern, genau so wichtig wie die Verhinderung der klinischen Schübe. Sie stellt eine echte Herausforderung für die Entwicklung
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von klinischen Studien dar, da die Verhinderung des neuronalen Zellverlusts nicht unbedingt signifikant mit T-Zell-Infiltration im ZNS zusammenhängen muss, sodass neue Bildtechniken oder Testverfahren mit spezifischen Surrogatmarkern für neuronale Integrität oder Reparaturmechanismen des Myelins entwickelt werden müssen.
„Benigne“ versus „maligne“ Form der Multiplen Sklerose Das Konzept der „benignen“ und „malignen“ MS ist bisher nicht klar definiert und der Gebrauch dieser Begriffe wird sehr kontrovers diskutiert. Einige Kliniker gebrauchten den Begriff „benigne MS“ für Patienten mit einem EDSS-Score < 2, wenn er sich über mehrere Jahrzehnte nicht verschlechtert. Doch ist der Begriff „benigne MS“ eventuell missverständlich, da viele Patienten mit der am wenigsten aggressiven Form (z. B. geringste MS-Schubfrequenz) trotzdem ein Fortschreiten der Erkrankung in anderer Form bemerken (z. B. manifestieren sich kognitiver Verlust, Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, Störungen des räumlichen Sehens, Hypomanie, pathologisches Lachen oder Weinen) oder Zeichen der Atrophie im Gewebe des Gehirns oder Rückenmarks nachzuweisen sind. MS-Patienten mit eben diesen kognitiven Defiziten zeigen schlechte Ergebnisse insbesondere in den Testverfahren, die komplexe Aufmerksamkeit, schnelle Wiederholungen und Wortspeicherkapazität untersuchen. Zudem korrelieren diese Defizite mit regionalen Läsionen (frontoparietal), was anhand von volumetrischen MRT-Techniken untersucht wurde [83]. Da der Krankheitsverlauf für den einzelnen Patienten nicht vorhersagbar ist und da die meisten Patienten früher oder später signifikante Behinderungen über die Zeit entwickeln werden [84], sollte der prospektive Begriff einer „benignen MS“ vielleicht nicht weiter gefördert werden. Natürlich könnte man evtl. einige Patienten retrospektiv der Kategorie einer „benignen MS“ zuordnen, der prospektive Gebrauch dieses Begriffs führt aber oft zu falschen Hoffnungen bezüglich des Outcome dieser Erkrankung bzw. manchmal auch zu einer falschen Beratung hinsichtlich Copingstrategien oder zu unverantwortlichen Verzögerungen beim Einsatz der immunmodulatorischen Medikamente. Der Begriff „maligne MS“ wird manchmal für die Beschreibung derjenigen Patienten verwendet, bei denen der klinische schubförmige Prozess
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zu einem raschen Fortschreiten der Behinderung vom Krankheitsbeginn an führt (Lähmungserscheinungen, Demenz, manchmal sogar Koma oder Tod), meist fortschreitend über eine kurze Zeitdauer und typischerweise assoziiert mit einer großen Zahl Gadolinium-aufnehmender Läsionen im MRT. Die meisten Patienten mit solch einem floriden Verlauf zeigen ein schlechtes Ansprechen auf die immunmodulatorischen Medikamente. Aber einige Patienten, die diese erste Attacke überleben, kehren zu einer klassischen Form der MS mit weniger malignem, eher schubförmigem Verlauf zurück, wobei dann immunmodulatorische Medikamente wirkungsvoll erscheinen. Der Gebrauch von Chemotherapeutika im frühen Stadium der Krankheit als ein Versuch, den floriden MS-Prozess zum Stillstand zu bringen, muss weiter untersucht werden. Der heutige Gebrauch von intravenösen Kortikosteroiden als Erstmaßnahme ist oft hilfreich, aber man sollte im Hinterkopf behalten, dass die maligne Form der MS („MarburgVariante“) sich dadurch rasch weiter verschlechtern kann und zu einem frühen Tod führt und dass hier deutlich aggressivere Interventionsformen, wie z. B. Plasmapherese, Immunglobulingabe oder Cyclophosphamid, benötigt werden. Inwieweit der Einsatz von Natalizumab eine Wende bei dieser MS Form bringen wird, muss abgewartet werden.
Rolle des MRT und neuer bildgebender Verfahren in der MS Patienten sollten darauf vorbereitet werden, dass MS-Läsionen im Gehirn im weiteren Verlauf der Erkrankung fast ständig neu entstehen und dass immunmodulatorische Medikamente nur präventiv wirken und den Krankheitsverlauf verbessern, indem sie zwar die Progression verlangsamen, aber keinesfalls kurativ wirken. Dies bedeutet, dass die physische Behinderung allmählich zunehmen kann. Dieser dynamische Verlauf der Krankheitsentwicklung kann anhand von seriellen Kernspinschnittbildern demonstriert werden. Im MRT zeigen sich hochsignalintense T2-Läsionen in verschiedenen Lokalisationen der weißen Substanz des Gehirns, des Hirnstamms, des Nervus opticus oder des Rückenmarks. T2-Hyperintensitäten in der MS stellen vermutlich verschiedenartige Typen der Läsionen dar, einschließlich neuer Plaques, ablaufender Entzündungsreaktionen oder aber chronischer Läsionen. Die Hirnläsionen zeigen sich vor allem in periventikulären Ge-
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bieten oder im Corpus callosum. Gadolinium-Applikation zeigt, wo die Blut-Hirn-Schranke gestört ist, was normalerweise im Frühstadium einer Läsion auftritt [82]. Dies steht im Einklang mit histopathologischen Untersuchungen, bei denen man interstitiell oder perivaskulär ein Ödem oder Immunzellinfiltrat findet. Man kann annehmen, dass auf je 8–10 neue Läsionen im MRT nur 1–2 klinische Manifestationen der MS kommen [83]. Andererseits gibt es klinische Manifestationen, die keine MRT-Korrelate zeigen. Vermutlich handelt es sich hierbei um mikroskopisch kleine Infiltrationen von nur wenigen T-Zellen oder Monozyten, die vom MRT nicht erfasst werden, aber an geeigneten strategisch wichtigen Stellen doch zu neuen Symptomen führen können. Daher neigen MS-Experten dazu, nicht jedes klinische Symptom nur basierend auf den MRT-Daten erklären zu wollen. MS-Patienten mit schubförmigem Verlaufstyp und aktiver Erkrankung, haben im Schnitt 10–20 neue Läsionen im Jahr und 1–2 klinische Schübe. Neuere MRT-Methoden wie magnetische Transformation, flüssigkeitsgesättigte „Inversion recovery“ oder Flairsequenzen und MRT-Spektroskopie lassen auf weitere wichtige Informationen bezüglich der klinischen Heterogenität der MS, prognostische Faktoren sowie Vorhandensein der Erkrankung in sonst normal erscheinender weißer Substanz und Therapieeffekte hoffen.
Immunmodulatorische Therapiemöglichkeiten der MS Obwohl es noch einige Kontroversen bezüglich des autoimmunogenen Ursprungs der MS gibt, haben Studien doch gezeigt, dass diese ZNSErkrankung eine vorwiegend inflammatorische Komponente beinhaltet. Mehrere medikamentöse immunmodulatorische Behandlungsstrategien (Avonex, Betaferon, Rebif, Copaxone) wurden basierend auf dem heutigen Verständnis der Immunzell-Interaktion in der MS und dem gezeigten Einfluss des Zytokinungleichgewichts auf die Triggerung oder den Erhalt der Erkrankung entwickelt. Studienmedikationen mit Gamma-IFN [85] führten bei MS-Patienten dazu, dass proinflammatorische Faktoren die Krankheit noch verstärkten. Dies lässt vermuten, dass bestimmte Substanzen, die diese Faktoren ausschalten, sich auf den Krankheitsverlauf der MS-Patienten günstig auswirken könnten. Für die Interferone sind neben
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ihrer antiviralen, antiproliferativen und das Wachstum von Tumoren hemmenden Wirkungen zahlreiche Effekte auf die Zellen des Immunsystems beschrieben worden. Die Interferone, die ihren Namen der Interferenz mit Virusinfektionen in Zellkulturen verdanken, werden in zwei Klassen eingeteilt. Während Alpha-IFN und Beta-IFN zu den Klasse-I-Interferonen gehören (Chromosom-9-kodiert), werden Gamma-IFN den Klasse-II-Interferonen zugerechnet (Chromosom-12-kodiert). Alpha-IFN wird hauptsächlich von Leukozyten, Beta-IFN von Fibroblasten und Gamma-IFN von Lymphozyten gebildet [13]. Obwohl Interferone, die heutzutage in gentechnisch manipulierten Mikroorganismen produziert werden, nach parenteraler Gabe nur eine Halbwertszeit von Stunden besitzen, halten ihre biologischen Effekte deutlich länger an. Die immunmodulatorischen Beta-Interferone verdanken ihre Wirkung hauptsächlich dem Antagonismus zu Gamma-IFN und die Wiederherstellung der bei der MS gestörten Balance zwischen T-Helferund T-Suppressor-Zellfunktion. Interferon beta-1b wurde Ende 1995 zur Behandlung der schubförmig-remittierenden MS bei noch gehfähigen Patienten europaweit zugelassen. Ebenso wurde auch Interferon beta-1a 1995 sowohl in den USA als auch in Europa zur Zulassung eingereicht. In Studien zeigte sich eine dosisabhängige Wirkung beider Substanzen mit einer Reduktion der Schubrate um ca. 30% nach 2 Jahren [13], wobei die Größenordnung bis ins 5. Studienjahr erhalten blieb. Das Verträglichkeitsprofil wird im Wesentlichen durch grippeähnliche Symptome als häufigste systemische Nebenwirkungen und durch Reaktionen an den Injektionsstellen bestimmt. Sowohl die lokalen als auch die systemischen Begleiterscheinungen klingen nach einigen Monaten ab. Bei 38% der Patienten findet sich am Ende des 3. Behandlungsjahres eine neutralisierende Antikörperaktivität (NAB) gegen Interferon-beta, die den Einfluss der Behandlung auf die Schubrate deutlich reduziert [44]. Allerdings sind noch weitere Untersuchungen für eine schlüssige diagnostische Einschätzung der NAB-Titer notwendig. Copolymer 1 (COP-1), das ebenfalls 1995 zur Zulassung eingereicht wurde, ist dagegen ein Polymer auf der Basis von 4 Aminosäuren (Alanin, Glutamin, Lysin und Tyrosin) mit einem mittleren Molekulargewicht zwischen 4700 und 13.000 Dalton. COP-1 zeigte als Antigen im EAE-Tiermodell eine inhibitorische Wirkung auf den Krankheitsverlauf. Als Wirkmechanismus wird eine Interaktion mit dem trimolekularen Komplex, d. h. der Interaktion von antigenpräsentierenden Zellen und T-Lymphozyten,
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postuliert. In den klinischen Studien zeigte sich, dass die Wirkung auf die Schubrate mit einer Reduktion um 29% hauptsächlich bei Patienten mit geringen EDSS-Werten von < 2 bei insgesamt guter Verträglichkeit auftrat [81]. Nach den Empfehlungen der American Academy of Neurology (AAN) ist der Einsatz der immunmodulierenden Therapiestrategien frühzeitig anzustreben, d. h. wenn mindestens 2 Schübe in den letzten zwei Jahren diagnostiziert wurden. Auch der EDSS von 5,5 stellt nach diesen Empfehlungen keine Grenze für den Einsatz von Interferonen dar. Neue Medikamente, die nicht nur die Schubrate, sondern auch die fortschreitende Behinderung reduzieren, werden in der Behandlung der MS dringend gebraucht. Mehrere kürzlich vorgestellte hoffnungsvolle Therapieansätze haben initial zur Ernüchterung geführt, andere sind noch in der klinischen Erprobungsphase und bisher erfolgversprechend, wie z. B. Antikörper gegen Integrine. Antikörper gegen Alpha4-Beta1-Integrin („very late antigen“, VLA-4), ein Leukozytenrezeptor, der das vaskuläre Zelladhäsionsmolekül 1 (VCAM-1) an der Oberfläche von Endothelzellen bindet, reduzieren signifikant die Krankheitsaktivität im EAE-Modell und beim Menschen [86, 87]. Menschliche monoklonale Antikörper gegen Alpha4Beta1-Integrin mit dem Namen Natalizumab (Tysabri) wurden bereits in mehreren Studien bei Patienten mit MS untersucht. Die ersten Studien haben gezeigt, dass zumindest im kurzzeitigen Beobachtungszeitraum die Gabe von Tysabri zu einer statistisch signifikanten Reduktion der Anzahl von neuen MS-Läsionen führt [88]. Tysabri wurde am 27.06.2006 von der Europäischen Zulassungsbehörde (EMEA) für die krankheitsmodifizierende Monotherapie von hochaktiver schubförmig remittierender Multipler Sklerose (MS) für folgende Patientengruppen zugelassen: ▬ Patienten mit hoher Krankheitsaktivität trotz Behandlung mit einem Interferon-Beta und ▬ Patienten mit rasch fortschreitender, schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose. Aufgrund der starken immunsuppressiven Wirkung und der Gefahr der Entwicklung einer progressiven multifokalen Leukoenzephalopathie (PML) darf dieses Medikament nicht bei Patienten mit erhöhtem Risiko für opportunistische Infektionen eingesetzt und zurzeit nicht in Kombination mit Interferon-beta oder Glatirameracetat sowie bei Vorliegen aktiver Malignome verwendet werden. Mehrere Studien werden nötig sein, um das
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Ansprechen in der Langzeitgabe zu bewerten und das Sicherheitsprofil dieses neuen Ansatzes darstellen zu können. Weiterhin hat TGF-Beta viele Ansätze, die es zu einem idealen Kandidaten für die MS-Therapie machen würden. Es ist ein potenter Immunosuppressor, der die mikrogliale Aktivität und Proliferation herunterreguliert und den Effekten von Gamma-IFN entgegenwirkt (z. B. Hochregulation von HLA-Klasse-II- und Fc-Rezeptoren der Mikroglia) [89] sowie die Produktion von TNF-alpha reduziert [90]. Leider haben schwerwiegende Nebenwirkungen einschließlich Gewebsfibrose und Niereninsuffizienz die Euphorie gedämpft. Vielleicht werden geringe Manipulationen innerhalb des TGF-beta-Weges die Nebenwirkungen so reduzieren, dass es doch noch neue Möglichkeiten für diesen Behandlungspfad gibt. Es ist wichtig, Patienten daran zu erinnern, dass durch einen frühen Therapiebeginn mit den bisher möglichen Medikamenten vielleicht das Fortschreiten der progressiven Hirnatrophie, die man im MRT sieht, verhindert werden kann [91]. Es sind aber noch mehrere Studien nötig, da bisher sehr kontrovers diskutiert wird, ob die bisherigen Berichte diese definitive Interpretation zulassen und ob im Langzeitverlauf diese Substanzen wirklich den neuronalen Verlust verhindern können. Eine Studie hat gezeigt, dass bei Patienten mit progressiver MS, die einen EDSS-Score von 4 erreicht haben, das Vorhandensein von zusätzlichen Schüben das Zeitintervall bis zum Erreichen eines Behinderungsgrades von EDSS 6 nicht verkürzt [92] (im Vergleich zu Patienten mit progressiven Verlaufsformen ohne Schübe). Diese Studien legen nahe, dass es ab einem kritischen klinischen Schwellenwert nicht mehr zu einem deutlichen Benefit der krankheitsmodifizierenden Medikamente (mit deutlicher Schubratenreduktion) kommt und dass dementsprechend nur ein marginaler Benefit in der sekundären Verzögerung von Behinderungsgraden zu erwarten ist.
Schlussfolgerungen Die MS ist bekanntermaßen eine chamäleonartige Erkrankung, die Kliniker und Forscher seit mehr als einem Jahrhundert beschäftigt. Wir konnten miterleben, wie erstmalig immunmodifizierende Medikamente auf den Krankheitsverlauf Einfluss nahmen, und haben moderne Wege gefunden,
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Kapitel 1 ∙ Pathogenetische Zusammenhänge und Therapieoptionen
um den Krankheitsverlauf mit Hilfe von immunologischen, molekularbiologischen und bildgebenden Verfahren zu verfolgen. Trotz erheblicher Fortschritte im Verständnis des Immun- und Nervensystems innerhalb der letzten Jahrzehnte konnte bisher keine Einstimmigkeit bezüglich der Ätiologie der MS erreicht werden. Klinisch und pathophysiologisch bleibt diese Erkrankung sehr heterogen und zeigt ein großes Manifestationsspektrum, das vom sog. „benignen Typ“ bis zum „malignen Typ“ in ihren extremen Varianten reicht, wobei die klassische Erscheinungsform immer noch den Fällen entspricht, die von Charcot und Cruveilhier vor mehr als einem Jahrhundert beschrieben wurden. Der Einfluss von Genen sowie von Umweltfaktoren ist bekannt. Menschen mit verschiedenartigen genetischen und umweltspezifischen Abstammungen werden vielleicht typische MS-bezogene Manifestationen unter verschiedenen Triggerfaktoren und durch verschiedene immunpathologische Mechanismen entwickeln. Der Versuch einer Therapieoption verlangt ein gutes Verständnis der verschiedenartigen Konzepte, sodass kombinierte Therapieansätze und auch individuelle Konzepte der Behandlung dieser Patienten mit dem jeweiligen verschiedenartigen genetischen Hintergrund bei den zukünftigen Therapieinterventionen berücksichtigt werden müssen. Neue immunogene Interventionsmöglichkeiten werden zurzeit getestet. Ein großes Augenmerk liegt auch auf dem Einsatz von Medikamenten oder trophischen Faktoren, die helfen können, die MS-assoziierte Neurodegeneration zu verhindern. Schließlich gibt es auch eine Aussicht auf einen gesteigerten Reparaturmechanismus für Myelin, einen neuronalen Ersatz sowie einen modifizierenden Eingriff durch die Gentherapie, was sich aber erst in den nächsten Jahren bis Jahrzehnten zeigen dürfte. Es bedarf einer ausgeprägten Forschungsanstrengung, all diese Techniken für den Patienten verfügbar, sicher und weitgehend akzeptabel zu machen.
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2 Hormonelle Aspekte der Stressreaktion: Die Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse bei der Multiplen Sklerose Florian Then Bergh
Zusammenfassung Die Multiple Sklerose ist eine relativ häufige Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems. Trotz mancher methodischer Schwierigkeiten wird stressbehafteten Lebenssituationen eine gewisse Rolle bei der Auslösung von Erkrankungsschüben zugesagt. Die physiologische Stressreaktion besteht in der chronischen Phase zu einem wesentlichen Teil in erhöhter Sekretion von Glukokortikoiden. Angesichts der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen endokrinem und Immunsystem einerseits und der therapeutischen Wirksamkeit von Glukokortikoiden andererseits ist die Regulation der endogenen Glukokortikoidsekretion (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-(HHN)-System) bei Patienten mit Multipler Sklerose untersucht worden. Die Ergebnisse früherer Studien waren dabei heterogen. Mit Hilfe des kombinierten Dexamethason-CRH-Tests, der einen besonders sensitiven Funktionstest der HHN-Achse darstellt, konnte gezeigt werden, dass Patienten mit Multipler Sklerose ein hyperaktives HHN-System aufweisen. Das Ausmaß dieser Dysregulation korreliert zu klinischem Verlauf, Behinderungsgrad und kernspintomographischen Zeichen der Entzündungsdynamik bzw. Hirnatrophie. Unter der Steroidbehandlung akuter Schübe wird die Aktivität reduziert, bevor sich die ursprüngliche Hyperaktivität wieder ausbildet; dagegen normalisiert die Begleitbehandlung mit einem Anti-
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Kapitel 2 ∙ Hormonelle Aspekte der Stressreaktion
depressivum die HHN-Aktivität auch nach Absetzen der Steroidmedikation. Dauertherapie mit IFN-beta führt bei der Mehrzahl der behandelten Patienten zu einer Besserung der HHN-Aktivität, während bei unbehandelten Patienten die Aktivierung bestehen bleibt und eine chronische Stimulation der Nebenniere bestätigt. Der chronischen HHN-Aktivierung dürfte einerseits eine strukturell bedingte Disinhibition zugrunde liegen, andererseits jedoch – zumindest bei schubförmigem Verlauf – eine potentiell reversible Funktionsstörung. Eine pathogenetische Bedeutung der Regulationsstörung ist plausibel, wäre aber letztlich nur durch eine erfolgreiche Interventionsstudie zu beweisen. Die medikamentöse Normalisierung durch Antidepressiva stellt hierzu einen Ansatz dar, der der neuroendokrinologischen Untersuchung von Patienten mit Multipler Sklerose über das akademische Interesse hinaus zu praktischklinischer Bedeutung verhelfen kann.
Multiple Sklerose: eine der häufigsten Ursachen neurologischer Behinderung bei jungen Erwachsenen Die Multiple Sklerose gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen, die bereits im jungen Erwachsenenalter zu bleibenden Beeinträchtigungen führen. Sie manifestiert sich durch subakute Schübe mit Störungen zentralnervöser Funktionssysteme (Visusstörungen, Hirnstamm- und zerebelläre Syndrome, zentrale Paresen, Sensibilitäts- und Harnblasenstörungen). Spontane Rückbildung über Wochen und erneute Schübe mit anderer Symptomatik kennzeichnet den schubförmigen Verlauf, der zu Beginn der Erkrankung die Regel ist. Eine bleibende Beeinträchtigung resultiert aus der unvollständigen Rückbildung dieser Schübe, vor allem aber nach dem Übergang in den sekundär chronisch-progredienten Verlauf. Von diesem häufigsten Verlauf unterscheidet sich die primär chronisch-progrediente Form der MS durch einen schleichenden Beginn mit oft überwiegend spinaler Manifestation. Die MS ist typischerweise eine Erkrankung der dritten und vierten Dekade und betrifft Frauen etwa doppelt so häufig wie Männer; in Deutschland liegen Inzidenz und Prävalenz bei 4 bzw. 120 pro 100.000 Einwohner [1]. Das Risiko, an einer MS zu erkranken, ist bei erstgradig Verwandten etwa verdoppelt, bei eineiigen Zwillingen etwa zwanzigfach erhöht. Die Diagnose
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kann generell anhand des klinischen Verlaufs gestellt werden. Zur Quantifizierung der Beeinträchtigung wird üblicherweise der Expanded Disability Status Scale (EDSS) nach Kurtzke benutzt [2]. Apparative Diagnostik stützt die Diagnose und kann dazu beitragen, die Diagnose früher sichern zu können als nach dem klinischen Verlauf allein. Dieser Aspekt hat seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend an Bedeutung gewonnen, seit in großen klinischen Studien gezeigt werden konnte, dass immunmodulatorische Dauertherapie mit Interferon-beta oder Glatirameracetat (Copolymer-1) den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen kann.
Multiple Sklerose: eine entzündlich-demyelinisierende Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems Eine Vielzahl neuropathologischer, klinisch-immunologischer und tierexperimenteller Befunde spricht dafür, dass die MS durch einen T-Lymphozytenvermittelten Autoimmunprozess unterhalten wird, der zu Entzündung und Demyelinisierung, zusätzlich zu axonaler Schädigung zentraler Neurone führt. Dagegen ist weitgehend unklar, was die Erkrankung auslöst und unterhält. Eine Wechselbeziehung von Umweltfaktoren mit individueller Suszeptibilität ist nach epidemiologischen Daten eindeutig. Unter den Umweltfaktoren werden unspezifische, z. B. virale Infektionen vermutet, die bei genetisch empfindlichen Individuen den Autoimmunprozess anstoßen; molekulare Mimikry und andere Mechanismen sind dafür vorgeschlagen worden. Unter den endogenen Faktoren scheinen – nach genomweiten Assoziationsstudien – mehrere Regionen zu interagieren.
Multiple Sklerose und Stress Klinisch-psychologische Erfahrungsberichte und systematische Befragungen haben schon früh stressbehaftete Lebenssituationen („stressful life events“, SLE) mit akuten Schüben der Multiplen Sklerose in Zusammenhang gebracht. Bei der Wertung dieser Daten besteht ein grundlegendes methodisches Problem: Akute Schübe sind durch vermehrte Entzündung im ZNS gekennzeichnet, wodurch eine sonst beherrschbare Situation leichter als Stress empfunden werden kann. Somit kann die zeitliche Assoziation
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einerseits eine stressbedingte Schubauslösung, andererseits aber Stress im Rahmen des Erkrankungsschubes bedeuten. Eine Metaanalyse, die solche methodische Probleme bei der Auswahl der ausgewerteten Studien berücksichtigte, kam dennoch zu dem Schluss, dass SLE einen Anteil an der Schubauslösung haben können [3]. Weitere longitudinale Studien mit Einbeziehung objektiver Indikatoren der Entzündungsaktivität (etwa kernspintomographisch) sollten zur Klärung mancher der offenen Fragen beitragen [4].
Immunsystem und endokrines System interagieren vielfältig Das Immunsystem unterliegt einer effizienten intrinsischen Regulation, die zusätzlich durch andere Organsysteme, u. a. das endokrine System moduliert wird [5]. Der immunsuppressive Effekt der Glukokortikoide spielt bei der physiologischen Begrenzung der Immunreaktion eine wichtige Rolle und wird therapeutisch durch Einsatz synthetischer Glukokortikoide genutzt. Durch Effekte auf zelluläre und humorale Immunität führen Glukokortikoide zu einer Hemmung der Immunreaktion, die sich bei einem Exzess endogener Glukokortikoide (Cushing-Syndrom) und bei klinischem Einsatz in erhöhter Inzidenz verschiedener Infektionen äußert. Andererseits hat die Entzündungsreaktion vielfältige Begleitwirkungen auf das Hormonsystem [6]. So wird u. a. die Sekretion von CRH, ACTH und Glukokortikoiden erhöht. Das so genannte „sickness behaviour“, also Verhaltensweisen, die während Infektionskrankheiten beobachtet werden (vermehrtes Schlafbedürfnis, Rückzug, Appetitmangel), wird teilweise diesen hormonellen Veränderungen zugeschrieben.
Untersuchungen zur immunoendokrinen Wechselbeziehung bei Multipler Sklerose Vor dem Hintergrund einer Wechselbeziehung des Immun- mit dem endokrinen System und der möglichen Assoziation von Stress mit aktiver Erkrankung ist das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-
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(HHN-)System bei Patienten mit MS untersucht worden. Hypothalamisches Corticotropin-releasing-Hormon (CRH) stimuliert an der Hypophyse die Synthese und Sekretion von adrenokortikotropem Hormon (ACTH), das wiederum an der Nebennierenrinde Produktion und Ausschüttung von Steroidhormonen bewirkt, v. a. Cortisol (als wichtigstes Glukokortikoid). Cortisol schließt den Rückkopplungskreis, indem es Synthese und Sekretion von CRH und ACTH hemmt. Bei chronischer Aktivierung, z. B. bei chronischem Stress, sezerniert der Hypothalamus neben CRH auch Vasopressin, das an der ACTH-Stimulation mitwirkt bzw. sogar zum überwiegenden ACTHStimulus wird. Die ersten Untersuchungen der HHN-Achse bei Multipler Sklerose wurden unter der Vorstellung durchgeführt, dass ein relativer Mangel an zirkulierenden Glukokortikoiden zu einer überschießenden Immunreaktion führt. Erste Untersuchungen aus den 1950er bis 1970er Jahren schienen diese Überlegung zu bestätigen [7–9], früh wurde aber auf Heterogenitäten hingewiesen [10, 11]. Manche jener Arbeiten müssen heute kritisch betrachtet werden aufgrund der teils unzureichenden Genauigkeit der damals zur Verfügung stehenden klinisch-chemischen Analytik. Die therapeutische Verwendung von synthetischem ACTH und das dabei beobachtete unterschiedliche Ansprechen der Symptomatik markiert den Beginn systematischer Stimulationstests der HHN-Achse. ACTH bewirkte z. B. eine sehr variable Cortisol-Ausschüttung, im Mittel jedoch eine erhöhte Stimulationsschwelle [12] oder tendenziell niedrigeres Cortisol [13] im Vergleich zu gesunden Vergleichsgruppen. Andere Studien zeigten teils normale Stimulation bei interindividuellen Unterschieden (z. B. [11, 14–16]). Insulin-Hypoglykämie-Test [14, 15] oder kombinierte Anwendung mehrerer Releasing-Hormone [17], die die Hypophyse global stimulieren, wurden bei kleineren Patientengruppen durchgeführt; nach den Kriterien der endokrinologischen Diagnostik fanden sich in der Regel keine manifesten Defizienzen. Damit schien zwar teilweise die Hypothese einer defizienten HHNAktivität bei der MS bestätigt, gerade hinsichtlich der Stimulationstests waren die Ergebnisse jedoch nicht konsistent. Vielfach war aufgefallen, dass einzelne Patienten wider Erwarten überschießende endokrine Reaktion zeigten. Gleichzeitig war die Aktivierung der HHN-Achse einerseits durch entzündliche Prozesse, andererseits im Rahmen von Stressreaktionen weiter untersucht worden. Das Augenmerk weiterer endokrinologischer Untersu-
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chungen bei der Multiplen Sklerose war in der Folge eher an einer möglichen Überaktivität der HHN-Achse orientiert. In diesem Sinne zeigte VasopressinStimulation eine auffallend längere Stimulation der Cortisol-Sekretion [15]. Mittels des Dexamethason-Hemmtests fand sich unter Patienten mit Multipler Sklerose ein höherer Anteil unvollständiger Suppression [18]; dies konnte in einer späteren Untersuchung nicht bestätigt werden [19]. In einer weiteren Studie mit Stimulationstests wurde Hyperkortisolismus gezeigt bei normaler ACTH-Sekretion nach CRH-Stimulation, jedoch subnormaler ACTH-Sekretion nach Vasopressin [20]. Dies wurde als Dauerstimulation der HHN-Achse interpretiert, die primär durch Vasopressin vermittelt ist. Pathologische Untersuchungen unterstützten die daraus abgeleitete These einer chronischen Überaktivität der HHN-Achse. Die Nebennieren von Patienten mit Multipler Sklerose waren vergrößert im Vergleich zu Patienten, die an akutem Herzinfarkt bzw. an anderen chronischen ZNS-Erkrankungen verstorben waren [18]. Neuropathologisch konnte im Hypothalamus von MS-Patienten eine erhöhte Anzahl [21] und Aktivierungsgrad [22] von CRH-exprimierenden Neuronen nachgewiesen werden. Bemerkenswert war auch hier eine vermehrte Koexpression von Vasopressin und CRH in den hypothalamischen Neuronen. Eine jüngere neuropathologische Untersuchung bestätigte diese Ergebnisse, jedoch waren die Befunde mit der Hypothese einer direkten Aktivierung dieser Neurone durch nahegelegene demyelinisierende Plaques unerwarteterweise nicht vereinbar: Im Gegenteil war die Aktivierung der CRH-Neurone umso geringer, je näher sie zu aktivierten Plaques im Hypothalamus lokalisiert waren [23].
Sensitive Testung der Hypophysen-HypothalamusNebennierenrinden-Aktivität mit Hilfe des kombinierten Dexamethason-CRH-Tests Eine verfeinerte Methode zur Untersuchung der HHN-Achsen-Aktivität stellt die Kombination einer unterschwelligen Dexamethason-Hemmung mit nachfolgender CRH-Stimulation dar [24]. Dexamethason hemmt in erster Linie die CRH-stimulierte ACTH-Sekretion, während der Effekt von Vasopressin weniger beeinflusst wird. Dies erlaubt, die VasopressinKomponente, die bei chronischer Aktivierung der HHN-Achse in den Vor-
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dergrund rückt, sensitiver nachzuweisen. Dieser so genannte kombinierte Dex-CRH-Test eignet sich z. B. bei Patienten mit Depressionen dazu, die HHN-Aktivierung nachzuweisen [25] und von einem Cushing-Syndrom zu differenzieren [26]. In einer ersten Studie bei Multipler Sklerose hatte der Dex-CRH Test eine milde HHN-Achsen-Aktivierung gezeigt [27], was durch eine andere Arbeitsgruppe bestätigt werden konnte [28].
HHN-Aktivierung korreliert zu klinischen und bildgebenden Indikatoren der Multiplen Sklerose In einer weiterführenden Querschnittsuntersuchung bei 60 Patienten konnte zunächst ein Zusammenhang hergestellt werden zwischen dem Aktivierungsgrad der HHN-Achse und klinischen Charakteristika [29]. Das Ausmaß der Aktivierung war bei schubförmigem Verlauf am geringsten, bei sekundär progredientem Verlauf mäßig und bei primär progredientem Verlauf sehr stark ausgeprägt. Die HHN-Aktivierung korrelierte zwar nicht mit der Dauer der Erkrankung, jedoch mit dem Ausmaß der neurologischen Behinderung. Die Studie belegte zudem die überlegene Sensitivität des kombinierten Dexamethason-CRH-Tests gegenüber dem ACTH-Stimulationstest bzw. dem einfachen Dexamethason-Hemmtest. In einer unabhängigen Patientengruppe wurden diese Beobachtungen bestätigt [30]. Bemerkenswert war die deutlich stärkere HHN-Aktivierung bei primär chronisch-progredientem als bei den anderen Verlaufsformen. Der primär chronisch-progrediente Verlauf stellt hinsichtlich bildgebender, immungenetischer und wahrscheinlich histopathologischer Befunde eine Sondergruppe der MS dar [31]; dies scheint auch auf die HHN-Regulation zuzutreffen. Die Daten deuten darauf hin, dass der Übergang vom schubförmigen zum sekundär-progredienten Verlauf und zunehmende neurologische Beeinträchtigung mit einer Zunahme der HHN-Aktivierung einhergeht. Dies legt den Schluss nahe, dass zunehmende Schädigung des ZNS zu einer Aktivierung oder Enthemmung des HHN-Systems führt. Als Mechanismus dafür kann die Schädigung von Fasern aus anderen Hirnregionen diskutiert werden, die hemmenden Einfluss auf den Hypothalamus haben; solche Einflüsse sind allerdings bisher hypothetisch geblieben [32]. Die Alterna-
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tive, eine Koaktivierung der HHN-Achse durch CRH und Vasopressin ist wahrscheinlicher und experimentell gut belegt [33]. Der Stimulus dafür kann in chronischem allgemeinen Stress liegen, der bei chronischer Erkrankung und zumal bei zunehmender Behinderung plausibel wäre; relevante Korrelationen zu einem Depressions-Score (Hamilton) konnten allerdings nicht gezeigt werden. Ob ausgeprägtere Entzündung des ZNS mit der HHNAktivität korreliert, ist umstritten [19, 28]; in eigenen Untersuchungen konnten keine schlüssigen Korrelationen zu Cytokinkonzentrationen in Blut bzw. Liquor nachgewiesen werden [34]. Der Zusammenhang der HHN-Aktivität mit kernspintomographischen Maßen für eine Entzündung bzw. Hirnatrophie wurde in einer Gruppe von 53 MS-Patienten untersucht [35]. Dabei zeigten Patienten mit kontrastmittelanreichernden, also akut-entzündlichen Plaques eine geringere HHN-Aktivierung als Patienten ohne Kontrastmittelanreicherung. Das Volumen des 3. Ventrikels – als Maß für die Hirnatrophie – korrelierte zur HHN-Aktivität sowohl bei der gesamten Patientengruppe als auch bei separater Analyse der Patienten mit schubförmigem Verlauf. Die größere Zahl akut-entzündlicher Läsionen bei relativ geringerer HHN-Aktivierung kann als Ausdruck einer unzureichenden endogenen Immunsuppression infolge zu geringer Cortisolausschüttung interpretiert werden. Allerdings hatten auch Patienten mit KM-aufnehmenden Läsionen durchschnittlich eine höhere HHN-Aktivität als gesunde Probanden. Eine schwere Störung der neuroendokrinen Gegenregulation zur Vermeidung überschießender Immunreaktionen ist damit unwahrscheinlich. Dagegen stützt die Korrelation zur Hirnatrophie die Hypothese, dass strukturelle ZNS-Schädigung eine Ursache der HHN-Aktivierung darstellt. Dies wird weiter dadurch unterstützt, dass die Korrelation auch unter Berücksichtigung der Erkrankungsdauer (die erwartungsgemäß mit der Hirnatrophie korrelierte) und bei getrennter Analyse nur der Patienten mit schubförmigem Verlauf bestehen blieb. In die gleiche Richtung weisen zwei weitere Untersuchungen: Bei 40 Patienten konnte eine Korrelation zwischen Ausmaß der HHN-Aktivierung und kognitiven Störungen beschrieben werden [30]. Zudem existiert eine Beziehung zwischen der Fatigue-Symptomatik und dem Ausmaß der HHN-Aktivierung [36]. Es konnte gezeigt werden, dass die HHN-Aktivierung bei 15 MS-Patienten, die an Fatigue litten, signifikant stärker ausgeprägt war als bei 16 Patienten ohne Fatigue. Andererseits korrelieren kognitive Einbußen [37–39] und – mit Einschränkungen – die Fatigue-
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Symptomatik [40, 41] mit der neurologischen Beeinträchtigung bzw. bildgebenden Indikatoren der ZNS-Schädigung. Die rein statistische Korrelation erlaubt natürlich auch die umgekehrte Interpretation, dass der Hyperkortisolismus eine Ursache für die Hirnatrophie darstellt. Kurzfristige Steroidbehandlung führt zu vorübergehender Minderung der Hirnvolumens [42, 43], die Hippokampusatrophie bei chronischer Depression wird in ähnlicher Weise interpretiert, und tierexperimentelle Studien bieten mechanistische Erklärungen dafür (z. B. [44]). Zum derzeitigen Zeitpunkt ist die Diskussion darüber, ob die Hirnatrophie Ursache oder Folge des Hyperkortisolismus ist, noch offen. Neben der Kostimulation durch Vasopressin kann die Hypersekretion im kombinierten Dexamethason-CRH-Test alternativ durch mangelnde supprimierende Funktion des Glukokortikoidrezeptors (GR) in Hypothalamus bzw. Hypophyse verursacht sein. Im letzteren Fall wäre naheliegend, dass die GR-Funktion nicht nur in endokrinen Organen, sondern auch in anderen Zielorganen der Glukokortikoide gestört ist. Hinsichtlich einer Autoimmunkrankheit wie der Multiplen Sklerose richtet sich das Augenmerk dabei vor allem auf Zellen des Immunsystems. Daher wurde die Bindungspharmakologie des GR in mononukleären Zellen des peripheren Blutes untersucht [45]. Es zeigten sich bei 39 Patienten Bindungsaffinität und -kapazität, die vergleichbar waren mit den Werten bei alters- und geschlechtsentsprechenden Probanden. Die Methode erlaubt keine abschließende Aussage zur Funktion des GR bzw. der Glukokortikoide. Während bei den Probanden ein signifikanter Zusammenhang zu den Ergebnissen des DexamethasonCRH-Tests nachzuweisen war, war diese Korrelation bei den Patienten aufgehoben. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die physiologische Beziehung zwischen lymphozytärem GR und systemischer Regulation der HHN-Achse bei Patienten mit Multipler Sklerose gestört ist.
Medikamentöse Normalisierung der HHN-Aktivität bei schubförmigem Verlauf Da affektive Erkrankungen wie Depression und Angststörung deutliche Assoziationen zu gestörter Stressregulation zeigen, wurde das HHN-System bei diesen Erkrankungen ausführlich untersucht. Auch dort fand sich, recht konsistent, eine chronische Aktivierung des Systems. Familien-
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untersuchungen sprechen einerseits für eine genetische Disposition zu HHN-Hyperaktivität [46], jüngere Arbeiten konnten dazu einige Genloci eingrenzen [47, 48]; andererseits weist die Reduzierung der HHN-Aktivität parallel zur klinischen Remission auf eine funktionelle Komponente hin. Trizyklische Antidepressiva, Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer und andere Antidepressiva führen bald nach Therapiebeginn zu einer Normalisierung der HHN-Aktivität [49]. Tierexperimentell konnte gezeigt werden, dass Amitriptylin [50] und andere Trizyklika [51], oder der reversible MAO-A-Inhibitor Moclobemid [52] die Expression von Steroidrezeptoren im Hippokampus der Ratte erhöhen, was als ein Wirkmechanismus der antidepressiven Therapie vermutet wird. Um zu überprüfen, ob auch bei MS-Patienten die HHN-Aktivierung pharmakologisch beeinflusst werden kann, erhielten Patienten mit akutem Schub zusätzlich zur (oralen) Therapie mit Steroiden entweder Plazebo oder Moclobemid [53]. Nach Ende der Steroidtherapie war die HHN-Aktivität reduziert, kehrte jedoch bei den plazebobehandelten Patienten nach wenigen Wochen zur ursprünglichen Hyperaktivität zurück. Begleitbehandlung mit Moclobemid resultierte dagegen in normaler HHN-Funktion. Damit konnte gezeigt werden, dass jedenfalls bei schubförmigem Verlauf der HHN-Aktivierung eine wesentliche funktionelle Komponente zugrunde liegt.
Längsschnittuntersuchungen der HHN-Aktivität bei Multipler Sklerose Die langfristige, immunologisch orientierte Dauertherapie der MS erfolgt seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend mit den Immunmodulatoren Interferon-beta bzw. Copolymer-1. Beide verbessern nach den Ergebnissen klinischer Phase-III-Studien den Verlauf, haben jedoch partielle und vor allem interindividuell recht unterschiedliche Wirksamkeit. Die Frage, welche akuten endokrinen Effekte die Injektion von IFN-beta hat und ob mit der IFN-beta-Therapie auch eine Modulation der HHN-Aktivität einhergeht, wurde in einer kleinen, detaillierten Studie untersucht [54]. Bei acht Patien ten wurde eine ausgeprägte Sekretion von Cortisol, ACTH, Wachstumshormon und Prolaktin während einiger Stunden nach der Injektion gezeigt. Im Verlauf der Therapie schwächte sich dieser Effekt zwar deutlich ab, blieb mit verringerter Intensität jedoch erhalten, jedenfalls für Cortisol. Bis auf
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einen Patienten, bei dem in der kurzen Beobachtungszeit sowohl klinisch als auch nach den Ergebnissen der Kernspintomographien ein weiter aktiver Entzündungsprozess bestand, wurden die meisten Variablen der HHNAktivität bei den anderen Patienten reduziert. Nach den Ergebnissen einer begleitenden Untersuchung kann vermutet werden, dass in erster Linie Interleukin-6 (IL-6), IL-1 und Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) an der Hormonstimulation beteiligt sind [55]. Damit konnte zunächst gezeigt werden, dass die heute gut etablierte immunmodulatorische Dauertherapie akut, aber auch chronisch messbare neuroendokrine Begleiteffekte hat, die an der klinischen Wirksamkeit beteiligt sein können. In einer therapiebegleitenden Studie, die anhand serieller Kernspintomographie primär zeigte, dass die monatliche Infusion des synthetischen Glukokortikoids Methylprednisolon zu einer signifikanten Reduktion der inflammatorischen Aktivität führt [56], änderte sich die Aktivität der HHN-Achse bei den neun untersuchten Patienten nicht signifikant. Längerfristige Verlaufsuntersuchungen liegen bisher in geringerem Umfang vor. Bei 26 Patienten, davon je sechs mit schubförmigem bzw. primär chronisch progredientem Verlauf, wurde mittels klinischem Followup über drei Jahre gezeigt, dass die ACTH-Sekretion im DexamethasonCRH-Test bei Baseline eine prognostische Bedeutung hinsichtlich der neurologischen Beeinträchtigung haben kann [57]. Einundzwanzig Patienten konnten erneut mit dem Dex-CRH-Test untersucht werden, wobei die Ergebnisse in der Regel wenig von der Erstuntersuchung abwichen. In einer eigenen Nachuntersuchung (Manuskript in Vorbereitung) fanden wir nach durchschnittlich 28 Monaten, dass bei 21 unbehandelten Patienten die ACTH-Cortisol-Quotienten signifikant reduziert waren, wobei sowohl eine geringere ACTH-Sekretion als auch eine höhere Cortisol-Sekretion dazu beitrug. Dabei zeigte sich eine mäßig ausgeprägte inverse Korrelation zum Zeitintervall zwischen Basis- und Verlaufstest, jedoch nicht zur (geringen) Änderung des Behinderungsgrades. Bei den 40 Patienten, die unter einer immunmodulatorischen oder immunsuppressiven Therapie standen, waren die Ergebnisse des Dex-CRH-Tests nicht relevant verändert. Die Ergebnisse der unbehandelten Patienten sind am ehesten mit einer chronischen Stimulation der Nebenniere zu erklären, die im Verlauf schon bei geringerer ACTH-Konzentration zu deutlicherer Cortisol-Sekretion neigt. Die bereits erwähnte Nebennierenhypertrophie bei MS-Patienten ist mit diesem Ergebnis gut vereinbar [58].
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Mögliche pathophysiologische Bedeutung der HHN-Hyperaktivität 2
Die chronische Hyperaktivität des HHN-Systems bei Multipler Sklerose, die in den hier zusammengefassten Arbeiten dokumentiert ist, kann zur Autoimmunpathogenese der Erkrankung beitragen: Chronisch leicht erhöhte Cortisolkonzentrationen in Blut und Gewebe führen zu einer verminderten zellulären Wirkung von Glukokortikoiden durch Desensitivierung des GR [59]. Dadurch wäre die Immunsuppression durch endogene Glukokortikoide beeinträchtigt. Diese Mechanismen sind plausibel, aber bislang nicht belegt. Ergänzt werden sollten die Untersuchungen durch eine langfristig ausgerichtete prospektive Studie, die ausreichend breit angelegt ist, um Einflussgrößen wie etwa unterschiedliche immunologisch orientierte Therapien auszugleichen. Im Rahmen einer Konsensfindung wurde kürzlich auf die Bedeutung einer solchen Studie verwiesen [4]. Dies könnte dazu beitragen, die pathogenetische Bedeutung des chronischen, subklinischen Hyperkortisolismus besser einzuschätzen. Letztlich wäre allerdings nur mit einer klinischen Studie zu klären, ob die HHN-Aktivierung den Krankheitsverlauf tatsächlich beeinflusst. Denkbar wäre etwa, auf der Grundlage der Normalisierung der HHN-Aktivität durch ein Antidepressivum eine prospektive Studie mit dieser Frage zu entwickeln. In der klinischen Realität erscheinen die Aussichten dafür jedoch gegenwärtig wenig erfolgversprechend: Eine plazebokontrollierte Studie ließe sich kaum rechtfertigen, für eine Begleittherapie müsste entweder die immunologische Therapie standardisiert oder eine unrealistisch große Patientenzahl eingeschlossen werden. Auch wenn diese Studie die Frage der pathogenetischen Bedeutung der HHN-Achse für die Multiple Sklerose am überzeugendsten beantworten könnte, muss ihre Planung derzeit jedenfalls aufgeschoben werden. Danksagung. An dieser Stelle möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen
danken, die an der Durchführung der Untersuchungen beteiligt waren und dazu beigetragen haben, das Konzept der HHN-Aktivität bei der Multiplen Sklerose weiter zu entwickeln. Allen voran ist dabei Frau Dr. Tania Kümpfel zu nennen. Herrn Dr. Christoph Heesen und den dort beteiligten Koautoren danke ich für die gute Zusammenarbeit und fruchtbaren Diskussionen,
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die ihren Niederschlag gefunden haben in dem im Druck befindlichen Konsensus-Statement [4].
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Kapitel 2 ∙ Hormonelle Aspekte der Stressreaktion
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3 Psychische und kognitive Aspekte sowie Krankheitsbewältigung bei Multiple-Sklerose-Betroffenen Sabine Twork, Joachim Kugler
Einleitung Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische, demyelinisierende Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems mit Beginn um das 20. bis 40. Lebensjahr, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer [1, 2]. Die Erkrankung kann eine Reihe körperlicher Einschränkungen und psychischer Veränderungen zur Folge haben. Die Symptomatik reicht von Seh-, Gefühls-, Koordinations- und Bewegungsstörungen, Stuhlgangs- und Miktionsbeschwerden [3] über kognitive Defizite [4, 5], Affektlabilität [6, 7] bis hin zu Angst [8] und Depressionen [6, 9] in unterschiedlichsten Ausprägungen. MS ist bislang nicht heilbar, jedoch bietet die Therapie mit immunmodulierenden Medikamenten die Möglichkeit, den Verlauf günstig zu beeinflussen und die Schubrate deutlich zu reduzieren [10, 11]. Allerdings treten unter Therapie häufig unangenehme Nebenwirkungen auf [2]. Die Diagnose einer MS zieht tiefgreifende soziale und psychologische Konsequenzen für die Patienten selbst wie auch für ihr Umfeld nach sich. Gerade durch den chronischen, unvorhersehbaren und variablen Verlauf gestaltet sich die Krankheitsbewältigung oftmals schwierig [2]. Meist fällt der Erkrankungsbeginn in die Zeit von Ausbildung, Berufsausübung sowie Familien- und Karriereplanung. Die Betroffen sind einen „funktionierenden“ Körper gewohnt und müssen nun mit Defiziten rechnen, die in Frequenz,
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Ausprägung und Konsequenz nur schwer vorhersehbar sind. Ängste, Gefühle der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins sind vorprogrammiert. Zusätzlicher Druck entsteht dadurch, dass die Betroffenen niemandem zur Last fallen möchten und versucht sind, der Umwelt trotz MS etwas zu beweisen. Bis zur Diagnosestellung ist den meisten Betroffenen die Erkrankung nur vom Hörensagen bekannt. Teils bestehen sehr abstruse Vorstellungen über die MS und damit verbundene Konsequenzen (z. B. MS führe immer in den Rollstuhl). In der Bevölkerung und auch unter medizinischem Personal herrschen leider immer noch zu viele Vorurteile und falsche Ansichten bezüglich MS, die die Betroffenen zusätzlich verunsichern. Eine adäquate Aufklärung der Patienten hängt von vielen Faktoren wie z. B. dem Grad der Akzeptanz der Erkrankung sowie dem Zugang und der Qualität der angebotenen Informationen ab. Nach Akzeptanz der Erkrankung müssen die Betroffenen lernen, auszuloten, was dem eigenen Körper an Anstrengung noch zumutbar ist, ohne den nächsten Schub zu riskieren, aber trotzdem noch am gewohnten Leben mit liebgewonnenen Aktivitäten teilzunehmen. Oft wird ihnen frühzeitig geraten, sich nicht zu überanstrengen. Dies kann jedoch schnell zu Einschränkungen der körperlichen Aktivitäten führen, was wiederum negative Auswirkungen auf die Teilnahme am Sozialleben hat. Daraus können unter Umständen schon vor einer eigentlichen MS-bedingten Behinderung eine unnötige Isolation und ökonomische, körperliche sowie psychologische Probleme resultieren [11]. Schwierig sind ebenfalls die „Krankheitserwartungen“ aus dem Umfeld der Patienten und der Umgang mit sichtbaren Einschränkungen. Sind die Betroffenen beschwerdefrei oder leiden an nicht direkt sichtbaren Symptomen, treffen sie oft auf Unverständnis. So ist beispielsweise die Fatigue für Gesunde schwer nachempfindbar. Treten für die Umwelt wahrnehmbare Symptome auf (Gehprobleme, Gleichgewichtsstörungen, Miktionsprobleme) oder werden sie als für die Umwelt wahrnehmbar empfunden, können sich die Betroffenen schnell aus Angst vor peinlichen Situationen aus dem Sozialleben zurückziehen. Oftmals berichten Patienten aber auch über Unverständnis für die Erkrankung, falsche Fürsorglichkeit („Du kannst das jetzt nicht mehr machen, du hast doch MS!“) oder Distanzierung der Umwelt aufgrund der Verunsicherung, wie nun mit dem Erkrankten umzugehen ist. Als problematisch werden von Patienten ebenfalls immer wieder unbedachte und (unbewusst) verletzende Kommentare bezüglich MS geschildert, die schnell das Selbstwertgefühl negativ beeinflussen können. Zudem sind Betroffene es oftmals leid, ihre Krankheit
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ständig erklären zu müssen oder andauernd an sie erinnert zu werden („Na, wie geht’s deiner MS?“). Doch nicht nur für die Betroffenen stellt die Diagnose MS ein einschneidendes Ereignis dar. Der Effekt auf das soziale Umfeld sollte keinesfalls unterschätzt werden. Der MS-Betroffene muss in seinen Rollen und Pflichten durch andere Personen partiell oder ganz ersetzt werden, was für die Angehörigen eine enorme Investition von Beziehungs- und Zeitressourcen, emotionalen sowie ökonomischen Ressourcen bedeuten kann [12]. Ein reduzierter Sozialkontakt [13], Kommunikationsdefizite [14] und erhöhte Scheidungsraten [15] sind nicht selten.
Krankheitsbewältigung (Coping) bei MS MS-Betroffene berichten trotz teils frustrierender krankheitsassoziierter Erfahrungen immer wieder, dass die Erkrankung auch eine Reihe positiver Veränderungen mit sich gebracht hat. Positiv werden dabei z. B. das vermehrte Achten auf die eigenen Bedürfnisse, die Stärkung der familiären Bindungen und eine höhere Wertschätzung des Lebens hervorgehoben [16]. Jedoch ist die seelische Anpassung an die Bedürfnisse der Erkrankung oftmals schwierig. In der Auseinandersetzung mit der MS ist der Betroffene mit realen und phantasierten Gefährdungen konfrontiert [17]. Durch Vorurteile wie „MS führt schnell in den Rollstuhl“ werden die Betroffenen von vornherein häufig zusätzlich verunsichert. Einen großen Einfluss auf Wohlbefinden und die Anpassung an die Erkrankung nehmen die Fähigkeit zur Teilnahme an Aktivitäten des täglichen Lebens und die Möglichkeit zur Ausübung sozialer Rollen [18]. Das psychische Wohlbefinden, die wahrgenommene Lebensqualität und die Anpassung an die Erkrankung sind dabei weniger mit körperlichen Einschränkungen verbunden [19, 20]. Wahrscheinlich ist dies als Antwort auf die gesundheitlichen Herausforderungen, auf eine Verlagerung von internalen Standards und Werten sowie eine Neuordnung der Bedeutung der Lebensqualität zurückzuführen [21]. Wichtig für eine gute Krankheitsbewältigung ist eine positive Einstellung gegenüber der Erkrankung. Mandel und Keller [22] bringen dies folgendermaßen auf den Punkt: „... the manner in which an individual copes with the stressful effects of disability has a significant effect upon the extent to which a disabling condition becomes a handicapping one”. So berichten Viney et
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al. [23], dass das Annehmen der Realität der Behinderung den Patienten erlaubt, mehr persönliche Integrität zu erlangen. Wenn die Betroffenen stärker auf Fertigkeiten und Problemlösungsstrategien fokussieren, können sie trotz Behinderung das Leben gut meistern. Wassem [24] berichtet, dass in ihrer Untersuchung 51% der Varianz in der Anpassung an die MS durch den Grad der Behinderung in Kombination mit Selbsteffizienz und Outcome-Erwartungen erklärt werden können. Somit ist also enorm wichtig, wie die Betroffenen über ihre Erkrankung denken und welche Einstellung sie zu ihr haben. Eine permanente Anpassung des Verhaltens an die Erfordernisse der Erkrankung ist somit notwendig. Nach Bandura [25] ist jedoch wichtig, dass die Betroffenen nicht nur glauben, sie können ein bestimmtes Verhalten zeigen (Selbsteffizienz), sondern dass das Verhalten auch eine Veränderung im Outcome der Erkrankung bewirken kann und konstant über die Zeit eingesetzt wird. In den meisten Forschungsarbeiten zu Coping wird auf das Modell von Lazarus und Folkman zurückgegriffen, die Coping als „constantly changing cognitive and behavioural efforts to manage specific external and/or internal demands that are appraised as taxing or exceeding the resources of the person“ definieren [26]. Nach Folkman u. Lazarus [27, 28] werden in der MS-Coping-Forschung zwei grobe Strategien unterschieden: das problemorientierte und das emotionale Coping. Zu den problemorientierten Coping-Strategien gehören z. B. handlungs- oder verhaltensorientierte Strategien, wobei eine Fokussierung auf erreichbare Ziele (körperliche Aktivität realistisch auf die verbliebenen körperlichen Fähigkeiten zuschneiden, Einhaltung vereinbarter Therapien) bzw. eine Kompensation durch entsprechendes Verhalten (z. B. bewusstes Einbauen von Ruhephasen in den Tagesablauf bei Fatigue) mit einer höheren Lebensqualität verbunden sind [29, 30]. Jedoch können verhaltensorientierte Coping-Strategien auch zu massivem Frusterleben führen, insbesondere dann, wenn sie bei unlösbaren Problemen angewandt werden (z. B. der Versuch, trotz fortgeschrittener körperlicher Einschränkungen, in der körperlichen Funktionsfähigkeit wieder ein Level wie vor der MS-Erkrankung zu erreichen) [31, 32]. Dagegen können kognitive Strategien wie das kognitive Reframing (Rekonzeptualisierung eines Problems vom Status „unlösbar” in einen Status, in dem andere Coping-Strategien greifen: z. B. unbehandelbare Gedächtnisstörungen in ein Organisationsproblem umwandeln → Informationen sammeln, Planen und Zielsetzen durch Erinnerungshilfen, Terminplaner, Aufgabenlisten etc.)
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[33, 34], Informationsgewinn, bewusste Planung sowie eine realistische Zielsetzung eine bessere Anpassung an die Erkrankung erzielen [35–37]. Ähnlich wie in Studien zu anderen chronischen Erkrankungen sind speziell emotional-fokussierende Coping-Strategien (z. B. Wunschdenken, Schuldzuweisung an die eigene Person, Vermeidung) auch bei MS-Betroffenen mit einer schlechteren Anpassung und niedrigeren Lebensqualitätswerten assoziiert [35, 37–41]. Jedoch sind nicht alle emotional-fokussierenden Coping-Strategien abzulehnen. In Anbetracht der oftmals geringen Möglichkeiten, selbst effektiv auf Symptome im fortschreitenden Krankheitsverlauf einzuwirken, tragen emotional-basierte Strategien wahrscheinlich einen großen Teil zum Bewältigungserfolg bei [42]. Die Akzeptanz der Erkrankung als Bestandteil der eigenen Biographie kann somit ebenso hilfreich sein [43, 44].
Einfluss von Stress auf die MS Durch die Variabilität und Unvorhersagbarkeit von Symptomatik und Verlauf erzeugt die Erkrankung selbst eine Art Langzeitstress, der von Ängsten begleitet wird [13, 45]. Mögliche unerwünschte Rollenveränderungen durch die Erkrankung und ein nicht absehbarer eingeschränkter körperlicher Status machen eine Zukunftsplanung zum Teil schwierig [46]. Offensichtliche Einschränkungen wie Zittern, MS-bedingte Sprachauffälligkeiten, Blasenund Darmfunktionsstörungen können den Patienten mitunter zutiefst unangenehm sein und somit die Freude an sozialen Aktivitäten beeinträchtigen. Darüber hinaus sind die Betroffenen auch im normalen Alltag nicht von Stress verschont. Häufig berichten Patienten, dass Stress sich besonders negativ auf die Erkrankung auswirkt. Fall-Kontroll-Studien sowie longitudinale Beobachtungen zeigten ein erhöhtes Risiko für MS-Exazerbationen durch stresserzeugende Ereignisse [47–51]. Mohr et al. [52] beobachteten, dass vermehrter Stress durch zunehmende Konflikte, Unterbrechung der täglichen Routine sowie tägliche zwischenmenschliche Auseinandersetzungen mit neuen Hirnläsionen verbunden sein kann. Die verschiedenen Arten von Stress scheinen sich dabei auch unterschiedlich auszuwirken. Man geht davon aus, dass relativ starke Stressoren (z. B. Tod eines Familienmitglieds oder Raketenangriffe während des Krieges) besser toleriert werden und
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mit weniger Exazerbationen verbunden sind als moderater chronischer Stress (z. B. Ehe- oder berufliche Probleme, tägliche zwischenmenschliche Auseinandersetzungen, Unterbrechung der täglichen Routine, permanente Geldsorgen, Erkrankung eines Familienangehörigen) [49, 52–54]. Probleme mit der Stressbewältigung werden von den Betroffenen oftmals als noch schlimmer empfunden als MS-bedingte körperliche Symptome [55]. Da sich die Betroffenen den Stressoren oftmals nicht komplett entziehen können, ist eine Vermittlung von angemessenen Stressbewältigungstechniken sinnvoll [46]. Ein gut strukturierter Tagesablauf mit bewussten Momenten der Ruhe ist wichtig. Entspannungsverfahren wie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson [56]. Gedankenreisen, Meditationstechniken etc. können diese Phasen intensivieren. Zusätzlich müssen die Betroffenen lernen, Aufgaben zu delegieren und ihren Tagesablauf sowie zu bewältigende Aufgaben gut zu strukturieren. Hilfreich ist auch, den inneren Bewertungsmaßstab anzupassen (z. B. muss für eine Geburtstagsfeier nicht alles selbst vorbereitet werden, Gäste können z. B. mithelfen). Ein gutes Stressmanagement kann den Betroffenen helfen, wieder ein Gefühl der Eigenregie über ihr Leben zu bekommen. Gefühle der Hoffnungs- und Hilflosigkeit können so durch ein Gefühl von starker Eigenkompetenz ersetzt werden. Je besser die Betroffenen mit Stress fertig werden, umso mehr Energie können sie für angenehme Aspekte des Lebens verwenden.
Effekte der seelischen Verfassung auf die MS Es ist bekannt, dass der psychische Zustand eines Patienten über die Therapiecompliance indirekt Einfluss auf den Krankheitsprozess hat [57]. Ebenso zeigt die psychische Verfassung direkte Einflüsse auf die Erkrankung. Es gibt Hinweise, dass eine inadäquate Stressbewältigung das Risiko für neue Hirnläsionen erhöht [58] und Depressionen die MS-assoziierte Autoimmunaktivität verstärken können [59, 60]. Mohr et al. zeigten einen signifikanten Zusammenhang zwischen Veränderungen in der depressiven Grundstimmung und Veränderungen der IFN-γ-Produktion, einem Zytokin, das Exazerbationen fördern kann [59, 60, 61]. Diese Ergebnisse stehen im Einklang zur Literatur, dass die innere Einstellung und Stimmung einen starken Einfluss auf die Immunfunktion haben kann [62–64].
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Depressionen und Ängste Im Laufe ihrer Erkrankung zeigen MS-Betroffene häufig depressive Episoden. Die Punktprävalenz wird auf 14–57% geschätzt, wobei jedoch die Studienergebnisse aufgrund sehr geringer Fallzahlen und unterschiedlicher Messinstrumente vorsichtig interpretiert werden sollten [65–68]. Die Lebenszeitprävalenz einer manifesten Depression nach Diagnosestellung einer MS liegt bei etwa 50% [6, 9] und ist somit höher als bei anderen chronischen Erkrankungen [6]. Für die hohe Lebenszeitprävalenz gibt es folgende Erklärungsansätze. Es wird diskutiert, dass Depressionen nicht nur eine Reaktion auf die Erkrankung selbst sind (z. B. durch Verlust sozialer Einbindung und Rollen [29, 69, 70], inadäquates Coping [40, 35, 37]), sondern auch ein Symptom der MS sein können. Vermutet werden dabei Immundysregulationen während MS-Exazerbationen [71, 72] sowie die Entwicklung von Läsionen in bestimmten Bereichen des Zentralnervensystems (ZNS) [73, 74]. Darüber hinaus können Symptome der MS wie Fatigue, Schlafstörungen, verminderte Konzentrationsfähigkeit und psychomotorische Auffälligkeiten als Anzeichen einer Depression fehlinterpretiert werden [89]. Ebenso darf der Effekt der krankheitsmodifizierenden Medikamente, die ebenfalls Depressionen hervorrufen können, nicht unterschätzt werden [57, 76, 77]. Depressionen scheinen nicht so sehr mit dem Ausmaß an kognitiven oder körperlichen Einschränkungen zu korrelieren [78]. Jedoch sind die Wahrnehmung und Bewertung der Unsicherheit bezüglich des weiteren Erkrankungsverlaufs und der Variabilität der Erkrankung sowie die wahrgenommenen Einschränkungen durch die MS auf das tägliche Leben mit Depressionen assoziiert [79–82]. Die Art und Weise, wie ein Betroffener mit Stress und sozialen Problemen umgeht, spielt eine wichtige Rolle für den Ausprägungsgrad der Depression [37]. Vermeidungsstrategien sind dabei oftmals mit einem stärkeren Ausmaß der Depression verbunden als Strategien zum Problemlösen und kognitives Reframing, die mit einer weniger schweren Ausprägung der Depressionen einhergehen [37]. Aufgrund der starken Verunsicherung und der potentiellen Bedrohung durch die Erkrankung entstehen Ängste. Im Vergleich zur gesunden Bevölkerung scheinen MS-Patienten vermehrt unter Ängsten zu leiden [8]. Die
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Prävalenz wird dabei auf 19–34% geschätzt [83–85]. Angst kann Depressionen verstärken, wobei beide jeweils mit einer schlechteren Therapietreue in Bezug auf die medikamentöse Behandlung assoziiert sind [57, 86, 87]. 3
Fatigue Bis zu 90% der MS-Betroffenen klagen von Zeit zu Zeit über eine FatigueSymptomatik mit enormer Abgeschlagenheit und Energielosigkeit [88–90]. Dadurch sind die Betroffenen in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Durch eine Fatigue ist die Möglichkeit zur körperlichen und geistigen Betätigung eingeschränkt, was sich wiederum negativ auf tägliche Pflichten, Ausbildung oder Arbeit und die Teilnahme am sozialen Leben auswirken kann [88, 90–93]. Zuverlässige Therapiemöglichkeiten stehen bislang nicht zur Verfügung, Fatigue gilt als sehr therapierefraktär [94]. Um die Symptomatik zu minimieren, sollten die Betroffenen auf bewusste und ausreichende Ruhezeiten und kurze „Nickerchen“ achten [46]. Einige Betroffene zeigen ein gutes Ansprechen auf Amantadin [94]. Die Ursache der Fatigue ist noch immer nicht hinreichend geklärt. Ein Zusammenhang zwischen ZNS-Läsionen [95–98] oder dem Grad der Behinderung (gemessen per EDSS) [93, 98, 99] scheint nicht zu bestehen. Eine Beziehung zwischen Fatigue und Depressionen bei MS-Betroffenen wurde lange vermutet, konnte bislang jedoch nicht hinreichend empirisch nachgewiesen werden [92, 93, 99]. Die erfolgreiche Behandlung einer Fatigue ist nicht zwangsläufig mit einer Verbesserung der Depressionen verbunden [100, 101], was vermuten lässt, dass Fatigue nicht unbedingt die Ursache von Depressionen ist. Im Umkehrschluss wäre denkbar, dass Depressionen eventuell eine Fatigue begünstigen, was jedoch bislang ebenfalls noch nicht schlüssig nachgewiesen wurde [102]. Das Beziehungsgefüge zwischen Depressionen und Fatigue scheint sehr komplex zu sein. Mohr et al. [102] berichten, dass Veränderungen in der Depressivität zu einer signifikanten Veränderung in der geschilderten Schwere der Fatigue, jedoch nicht beim Gesamt-Fatigue-Score führten. Veränderungen der Fatigue waren dort eher auf Veränderungen im Gemütszustand (Traurigkeit, Pessimismus, Unzufriedenheit) als auf Veränderungen
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in vegetativen (Energiemangel, Schlaf- und Appetitveränderungen) oder psychischen Symptomen (Schuldgefühle, Wertlosigkeit) zurückzuführen. Der Einfluss des Gemütszustandes auf die Fatigue deckt sich mit Berichten über den Einfluss von negativen Gefühlen und Einstellungen auf eine erhöhte Rate an geschilderten körperlichen Symptomen [32]. Erklärbar wäre dies durch die Annahme, dass ein Leiden die interne Bewertung beeinflusst, sodass die Betroffenen zu einer schwerwiegenderen Einschätzung ihrer Symptome tendieren [102]. Nach Mohr et al. [102] wäre ebenfalls denkbar, dass es einen gemeinsamen zugrunde liegenden Mechanismus gibt, der bei MS für Depressionen wie auch Fatigue verantwortlich ist. Die MS ist durch Aktivierung des Immunsystems [103, 104] v. a. bei Schüben charakterisiert. Eine MS-Exazerbation ist häufig mit Depressionen verbunden [71, 72]. Eine Behandlung von Depressionen führte in Mohrs Studie nachweislich zu einer Reduktion proinflammatorischer Zytokine [60]. Durch diese Veränderung im Immunsystem könnten eventuell auch Prozesse beeinflusst werden, die eine Fatigue begünstigen.
Kognitive Dysfunktion Die Punktprävalenz kognitiver Störungen bei MS-Betroffenen wird zwischen 40 und 60% angegeben, wobei die Lebenszeitprävalenz wahrscheinlich noch höher ist [5, 105]. Der Grad an kognitiven Einschränkungen scheint mit dem Gesamtvolumen an MS-bedingten Hirnläsionen assoziiert zu sein [106–111]. Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration [112–115] können ebenso wie alle Bereiche der Gedächtnisfunktionen (v. a. verbales Gedächtnis, Wortfindungsstörungen) eingeschränkt sein. Schwierigkeiten im visuell-räumlichen Lernen, der visuoperzeptiven Organisation und bei visuell-räumlichen Konstruktionsaufgaben wurden ebenfalls berichtet [116]. Die Symptompalette ist somit sehr heterogen und variiert sehr stark zwischen den Betroffenen und dem zeitlichen Auftreten [117]. MS-Betroffene, die bereits im frühen Erkrankungsstadium eine Vielzahl an kognitiven Defiziten aufweisen, müssen eher mit einer schlechteren Prognose ihrer kognitiven Situation rechnen [118]. Eine Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten ist im Rahmen einer Exazerbation
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nicht selten, jedoch ist eine Rückkehr auf den Ausgangswert in den meisten Fällen zu erwarten [119]. Kognitive Defizite korrelieren nicht mit dem Level körperlicher Behinderung [120], jedoch wurden Assoziationen besonders bezüglich der Erwerbslosigkeit gefunden [4, 121–123]. Betroffene mit starken kognitiven Einschränkungen können nur schwer außer Haus arbeiten, benötigen oftmals Hilfe bei täglichen Routinetätigkeiten und verfügen über weniger soziale Unterstützung [4].
Psychologische Unterstützung bei MS Aufgrund der psychischen Belastungen und Bewältigungsprobleme, die aus der Erkrankung resultieren, ist eine psychologische Begleitung von MSPatienten sinnvoll und notwendig. Ziel sollte sein, den Betroffen adäquate Informationen und Fertigkeiten zum Selbstmanagement zu vermitteln, eigenes Fürsorgeverhalten zu stärken und Bewältigungsmöglichkeiten zu steigern, um so einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden, die allgemeine Aktivität und das Symptommanagement zu nehmen [124]. Eine Vielzahl an Interventionen von Entspannungsverfahren, Imagingtechniken [125], Programmen zur Verbesserung von Copingfähigkeiten mit Telefonbegleitung durch Gleichbetroffene [21], kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) per Telefon [126] über Gruppentreffen mit Gleichbetroffenen [127] bis hin zu individueller „Stressinokulation“ und Stress-Management-Programmen [128] wurden erfolgreich bei MS-Patienten angewandt. Die Interventionen erfolgten auf Eins-zu-Eins-Basis [129] oder in Gruppen [129]. Leider finden psychologische Aspekte der Erkrankung nach wie vor noch zu wenig Beachtung [6, 130]. Dabei können psychologische Interventionen Ängste und Depressionen, das Selbstbewusstsein, die Lebensqualität, Stresstoleranz, Krankheitsbewältigung und Therapietreue durchaus verbessern [131, 132]. Langenmayr et al. [20] sehen z. B. in der Psychotherapie für MS-Patienten eine begründete und auch auf lange Zeit Erfolg versprechende Behandlung. Sie gehen davon aus, dass insbesondere kürzlich diagnostizierte Patienten wahrscheinlich am meisten von psychologischen Interventionen profitieren dürften. Thomas et al. [2] konstatieren in ihrem aktuellen Review zum Thema psychologische Interventionen für MS-Patienten: „There is reasonable evidence that cognitive behavioural approaches are beneficial
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in the treatment of depression, and in helping people adjust to, and cope with, having MS“. Sie schlussfolgern, dass eine Vielzahl unterschiedlichster psychologischer Interventionsmöglichkeiten MS-Patienten helfen kann. Jedoch ist aufgrund der unterschiedlichen Art und Weise der Interventionen, der heterogenen Messinstrumente und Studienziele keine globale, abschließende Schlussfolgerung möglich [2].
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Kapitel 3 ∙ Psychische und kognitive Aspekte sowie Krankheitsbewältigung
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4 Lebensqualität von Multiple-SklerosePatienten Ergebnisse einer schriftlichen Befragung der Mitglieder des Sächsischen Landesverbandes der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft Karen Voigt, Ilse Worm
Einleitung Die Selbsteinschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität hat in den letzten zwei Jahrzehnten neben den etablierten Beurteilungskriterien wie klinischer Symptomatik und Lebenserwartung in der Medizin an Bedeutung gewonnen. Unter Lebensqualität wird ein multidimensionales Konzept verstanden, das körperliche, mentale, emotionale und soziale Dimensionen des individuellen Wohlbefindens umfasst [1]. Lebensqualität ist in der Gesundheitsforschung zu einem wichtigen subjektiven Indikator des Gesundheitszustands von chronisch Kranken geworden, da chronische Krankheiten oft nicht heilbar sind und die Betroffenen über eine lange Zeit hinweg in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigen. Die Art und Weise, wie Krankheit individuell erlebt wird, nimmt Einfluss auf den Umgang mit der Erkrankung. Unter der Berücksichtigung psychosomatischer Zusammenhänge bei Krankheiten ist davon auszugehen, dass die Lebensqualität den weiteren Verlauf einer chronischen Erkrankung mitbedingt. Die jeweilige Krankheitsausprägung und sich daraus ergebende psychosoziale Folgen sowie die permanente Ungewissheit über den zukünftigen Krankheitsverlauf beeinträchtigen teilweise sehr beträchtlich die Lebensqualität der Betroffenen [2, 3].
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Kapitel 4 ∙ Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
Es ist bereits nachgewiesen worden, dass Ärzte und MS-Patienten in ihrer Bewertung von Lebensqualitätsaspekten erheblich voneinander differieren können [4]. Langsam setzt sich in der MS-Forschung die Einsicht durch, dass eine patientenorientierte Sicht die klinische Betrachtungsweise ergänzen sollte, um eine optimale Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Populationsbezogene Studien zur Lebens- und Versorgungsqualität von MS-Betroffenen werden in Deutschland jedoch vergleichsweise selten publiziert [5].
Untersuchung Der Lehrstuhl Gesundheitswissenschaften/Public Health der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden führte im Zeitraum Oktober 2002 bis Januar 2003 in Zusammenarbeit mit dem Sächsischen Landesverband der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) eine schriftliche Fragebogenerhebung postalisch durch. Die Teilnahme an der Umfrage war freiwillig, anonym und ohne Honorar. Von 1242 angeschriebenen Patienten-Mitgliedern des sächsischen Landesverbandes der DSMG sandten 757 Personen verwertbare Fragebögen zurück. Damit ergab sich ein Rücklauf von 61%. Das Ziel der Untersuchung bestand in der Erfassung der Lebens- und Versorgungsqualität von MS-Patienten in Sachsen. Ein wichtiger Themenschwerpunkt lag dabei auf der Erfassung der Alltagsbewältigung der Erkrankung und der Selbsteinschätzung zur aktuellen Lebensqualität. Zur Erfassung der selbsteingeschätzten Lebensqualität wurde der Multiple Sclerosis Quality of Life-54 (MSQ0L-54) Fragebogen angewandt [6]. Er stellt eine Erweiterung des Short Form-36 Health Survey (SF-36) dar, der sich in den letzten Jahren in Europa und Nordamerika als ein Standardinstrument zur Messung der subjektiv eingeschätzten gesundheitsbezogenen Lebensqualität etabliert hat und bereits im Bundesgesundheitssurvey 1998 eingesetzt wurde [7, 8]. Um Prädiktoren für die Lebensqualität zu eruieren, wurden die erhobenen Daten mittels Statistikprogramm SPSS 11.0 erfasst und ausgewertet [9]. Neben der deskriptiven Darstellung und bivariaten Analyse wurden multiple und logistische Regressionen vorwärts schrittweise durchgeführt.
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Für die multivariate Analyse der Lebensqualitätsdaten wurde zunächst ein Grundmodell entwickelt, das potentielle Zusammenhänge zwischen sieben Gruppen von insgesamt 39 unabhängigen Variablen und den jeweiligen Zielvariablen, den MSQOL-54-Skalen, abbildete. Anschließend wurden für jede der MSQOL-54-Skalen die Zusammenhänge zwischen potentiellen Prädiktorvariablen und der Zielvariable mittels einer linearen Regression schrittweise überprüft. Als Ergebnis der Analyse wurden die signifikanten Prädiktorvariablen in das jeweilige Endmodell übernommen.
Krankheitsgeschehen und medizinische Versorgungssituation der Studienteilnehmer Das Durchschnittsalter der Studienteilnehmer lag bei 50,5 Jahren, 74% waren weiblichen und 26% männlichen Geschlechts. Bei ca. zwei Drittel der Betroffenen manifestierten sich die ersten Krankheitssymptome zwischen dem 21. und dem 40. Lebensjahr. Von den ersten Symptomen bis zur ärztlich festgestellten Diagnose vergingen im Durchschnitt sechs Jahre. Ungefähr 31% der Betroffenen litten an einer schubförmig-remittierenden MS, 46% an einer sekundär-chronischen und 23% an einer primärchronischen Verlaufsform. Die Krankheitssymptomatik war vielseitig: Von hoher Bedeutung waren Einschränkungen der Gehfähigkeit (84%) und der Bewegungskoordination (82%) sowie Sensibilitätsstörungen (77%). Drei Viertel der Betroffenen litten an Störungen ihrer Blasenfunktion. Über 60% gaben an, psychische Probleme zu haben. Reichlich die Hälfte von ihnen verwies in diesem Zusammenhang auf depressive Verstimmungen, jeweils etwa ein Fünftel auf Konzentrationsprobleme oder Gedächtnisstörungen. Ärztliche Leistungen wurden aufgrund der MS-Erkrankung von reichlich der Hälfte der Befragten (56%) sehr häufig (zehn oder mehr Arztbesuche im Jahr) in Anspruch genommen. 91% nannten dabei den Neurologen als ihren die MS hauptsächlich behandelnden Arzt. In 10% der Fälle übernahm der Allgemein- oder Hausarzt diese Funktion. Darüber hinaus wurden weitere Fachärzte, wie Augenarzt (42%), Urologe (34%) oder Orthopäde (16%) zur Behandlung von MS-Symptomen aufgesucht. Die Qualität der fachärztlichen Betreuung wurde alles in allem positiv beurteilt: Jeweils die Mehrheit der Probanden war mit den fachlichen
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Kapitel 4 ∙ Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
(68%) und den menschlichen (75%) Kompetenzen ihres hauptsächlich behandelnden Arztes zufrieden. Hinsichtlich der ärztlichen Informationen über die MS wurde auf Verbesserungspotentiale verwiesen: 40% schätzten die Informationslage als nur mittelmäßig und 11% als schlecht oder sehr schlecht ein. Nur 40% der Befragten würden bei ihrem Arzt bleiben, wenn ihnen „ein guter Arzt für MS“ empfohlen werden würde. Eine logistische Regression (Nagelkerkes R2 = 24,6%) ergab dabei, dass die Wahrscheinlichkeit des Arztwechsels insbesondere bei den Probanden erhöht war, die mit der fachlichen (ExpB = 3,464/ p = 0,003) oder der menschlichen (ExpB = 2,780/p = 0,017) Kompetenz bzw. der Informationen zur Erkrankung (ExpB = 2,891/p = 0,000) stärker unzufrieden waren. Die medikamentöse Therapie nimmt bei der Behandlung der MS einen wichtigen Stellenwert ein. Dabei ist einerseits die Akuttherapie der Schübe durch Kortikosteroide und andererseits die immunmodulatorische (z. B. Beta-Interferone, Glatiramerazetat) und immunsuppressive (z. B. Azathioprin, Mitoxantron) Therapie zur verlaufsmodifizierenden Behandlung der MS zu unterscheiden. Knapp drei Viertel (72%) der Probanden hatten im Verlauf ihrer Erkrankung Erfahrungen mit Kortikosteroiden gemacht. Bei der immunmodulatorischen Therapie wurden Beta-Interferone besonders von Betroffenen mit schubförmig-remittierendem oder sekundär chronischprogredientem Verlauf am häufigsten (45%) in Anspruch genommen. Zur Immunsuppression war Azathioprin das bisher am meisten angewandte Medikament (36%), wobei dieses vor allem von Patienten mit chronischprogredientem Verlauf genutzt wurde. Der Stand der aktuellen medikamentösen Behandlung zum Untersuchungszeitpunkt ist ⊡ Tabelle 4.1 zu entnehmen. Beim Vergleich der bisher schon einmal genutzten und der aktuell angewandten verlaufsmodifizierenden Therapien fallen insbesondere bei den Beta-Interferonen und bei Azathioprin Nutzungsdifferenzen von 15% und mehr auf. Bei der Anwendung der Beta-Interferone ist dieser Unterschied bei der Gruppe der Patienten mit schubförmig-remittierender MS noch einmal stärker ausgeprägt. 70% von ihnen gaben an, eines der Beta-Interferone schon einmal genutzt zu haben, während nur 16% aktuell eine entsprechende Therapie bestätigten. Eine ebenfalls zentrale Bedeutung kommt der nichtmedikamentösen Therapie zur symptomatischen Behandlung der MS zu. Vordergründig
67 K. Voigt, I. Worm
4
⊡ Tabelle 4.1. Aktuell angewandte medikamentöse Therapien (n = 757) Medikament
Konsumenten [%]
Kortison
12
Beta-Interferon und zwar: – Betaferone – Avonex – Rebif
30 12 6 12
Glatiramerazetat
5
Azathioprin
12
Mitoxantron
2
Sonstiges, und zwar – Spasmolytika
29 14
ist hier die Physiotherapie zu nennen, die von einem Großteil (71%) der Untersuchungsteilnehmer im Erhebungszeitraum in Anspruch genommen wurde. 39% verwiesen dabei auf eine sehr hohe Behandlungsfrequenz (mehr als zwölfmal im vorangegangenen Quartal). Körperliche Symptome, wie z. B. funktionale und Koordinationsprobleme können mittels Physiotherapie zumindest symptomatisch gelindert werden. Darüber hinaus wurde dem Physiotherapeuten in der vorliegenden Untersuchung eine zentrale Stellung bei der Krankheits- und Alltagsbewältigung zugewiesen. Etwa zwei Drittel (67%) der Untersuchungsteilnehmer, die in entsprechender Behandlung waren, gaben den Physiotherapeuten als bedeutenden Gesprächspartner hinsichtlich krankheitsbedingter Probleme, Ängste und Sorgen an. Die wichtigsten Gesprächspartner stellten in diesem Zusammenhang die Familienangehörigen (89%), der Hausarzt (78%), persönliche Freunde und die Selbsthilfegruppen (jeweils 71%). Der Psychotherapeut, als professioneller Ansprechpartner für Ängste und weitere Aspekte der Krankheitsbewältigung, wurde dabei von 32% der Befragten angegeben.
68
4
Kapitel 4 ∙ Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
Die psychotherapeutischen Angebote wurden vergleichsweise selten (32%) in Anspruch genommen. 35% der Befragten, die psychische Probleme als ein Krankheitsanzeichen ihrer MS angaben, wurden bisher schon einmal psychotherapeutisch behandelt und 58% von ihnen bestätigten, dass ihnen die Psychotherapie geholfen hatte. Allerdings wurden 48% der Befragten mit psychischen Problemen keine psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten angeboten, wobei ein Viertel von ihnen ein ausdrückliches Interesse bekundete.
Lebensqualität der Studienteilnehmer Über 90% der Studienteilnehmer wiesen ihrer MS-Erkrankung einen Einfluss auf ihren Lebensalltag zu. Die MS wirkte sich bei 80% der Befragten auf die Freizeitgestaltung aus. Darüber hinaus hatte sie einen zum Teil erheblichen Einfluss auf Freundschaften (40%), Partnerschaft (37%) und Familienplanung (27%). Die Studienteilnehmer erlebten Einschränkungen ihrer Arbeitsfähigkeit und ihres Selbstversorgungsvermögens, die mit dem Angewiesensein auf Hilfe anderer Personen verbunden waren. 91% aller befragten Personen wurden bei der Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten von Dritten unterstützt. Nur ca. 22% gingen einer Erwerbstätigkeit nach. Über 40% der Betroffenen gaben an, auf Grund der Krankheit berufliche Nachteile erlebt zu haben. 43% der erwerbslosen Betroffenen äußerten den Wunsch nach einer Erwerbstätigkeit. Im Durchschnitt erlebten die Studienteilnehmer ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität als deutlich eingeschränkt. ⊡ Tabelle 4.2 stellt die Mittelwerte für die einzelnen MSQOL-54-Skalen dar. Am stärksten berichteten die Studienteilnehmer von Einschränkungen in ihrer körperlichen Funktionsfähigkeit mit Mittelwerten um 30. Die Einschätzung der emotionalen, psychischen und kognitiven Befindlichkeit lag mit Mittelwerten zwischen 45 und 56 höher, wies aber ebenfalls auf eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität hin. Erwartungsgemäß lagen die Mittelwerte aller SF-36-Skalen altersadjustiert deutlich unter den Werten der Normstichprobe vom Bundesgesundheitssurvey 1998, die einen Querschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung darstellt [8]. Auffällig war, dass auch bei einem Vergleich mit anderen
4
69 K. Voigt, I. Worm
⊡ Tabelle 4.2. Werte der MSQOL-54-Skalen SKALA
n
Mittelwert*
Standardabweichung
KÖFU
715
33,5
31,6
KÖRO
671
28,9
37,1
SCHM
745
57,2
29,2
AGES
753
37,7
18,8
VITA
722
36,3
17,8
SOFU
740
59,6
25,7
EMRO
626
49,2
44,3
PSYC
721
56,4
20,2
GESOR
725
44,8
18,4
KOFU
729
53,6
18,3
SEFU
581
57,9
33,0
ZUSEX
557
54,7
24,9
* Skala von 0 (äußerst schlechte Lebensqualität) bis 100 (äußerst gute Lebensqualität). Abkürzungen: KÖFU körperliche Funktionsfähigkeit, KÖRO Rollenverhalten wegen körperlicher Funktionsbeeinträchtigung, SCHM Schmerzen, AGES allgemeiner Gesundheitszustand, VITA Vitalität, SOFU soziale Funktionsfähigkeit, EMRO Rollenverhalten wegen emotionaler Funktionsbeeinträchtigung, PSYC psychische Funktionsfähigkeit, KOFU kognitive Funktionsfähigkeit, SEFU sexuelle Funktionsfähigkeit, ZUSEX Zufriedenheit mit Sexualleben
Gruppen chronisch kranker Patienten [7] die Lebensqualität-Mittelwerte der Studienteilnehmer niedrig waren (⊡ Abb. 4.1).
70
Kapitel 4 ∙ Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
100 90
MS Gelenkrheuma
Behinderungen der Arme/Beine Krebs
80
4
Mittelwerte
70 60 50 40 30 20 10 0 AGES
KÖFU
SOFU
PSYCH
Lebensqualitätsdaten
⊡ Abb. 4.1. Vergleich ausgewählter Lebensqualitätsskalen. Werte der MSQOL-54-Skalen der Studienteilnehmer mit ausgewählten Patientengruppen aus der bundesdeutschen Normstichprobe von 1994
Als Ergebnis der multivariaten Analyse zeigte sich ein starker Einfluss krankheitsspezifischer Faktoren auf die Grunddimensionen gesundheitsbezogener Lebensqualität. Mit zunehmender körperlicher Behinderung erlebten die Studienteilnehmer eine Einschränkung sowohl ihres physischen, als auch ihres emotionalen und sozialen Wohlbefindens. Die Untersuchung bestätigte auch die erhebliche Bedeutung von psychischen Faktoren für die Lebensqualität von MS-Patienten. Der Einfluss soziodemographischer (vor allem Alter), sozioökonomischer (vor allem Erwerbstätigkeit) und versorgungsspezifischer Faktoren war ebenfalls deutlich, wenn auch nicht durchgängig wirksam. Mit zunehmendem Alter waren die selbst wahrgenommene physische und emotionale Rollenfunktion, das Schmerzempfinden und die allgemeine Gesundheitswahrnehmung der Betroffenen stärker beeinträchtigt.
4
71 K. Voigt, I. Worm
⊡ Tabelle 4.3. Prädiktoren einiger Dimensionen gesundheitsbezogener Lebensqualität Prädiktoren
Dimensionen der Lebensqualität KÖFU
KÖRO
SOFU
EMRO
PSYC
Soziodemographische Faktoren Alter
–0,187a
–0,153a
–0,149a –0,089b
Wohnortgröße unter 100.000 Einwohner Sozioökonomische Faktoren Erwerbstätig
0,205a
0,193a
Inanspruchnahme von Pflegeversicherungsleistungen
–0,201a
–0,122a
0,091b
Krankheitsspezifische Faktoren Rollstuhlbedürftig
–0,096b
–0,185a
–0,086b
–0,114a
Sprechstörungen Spastik
–0,169a
Blasenstörung
–0,137a
–0,11a
–0,096b –0,205a
Stuhlprobleme
-0,095b
–0,138a
Psychische Probleme
–0,169a
–0,217a
–0,318a
Therapie Psychotherapie jemals in Anspruch genommen
–0,144a
–0,115a
–0,396a
72
Kapitel 4 ∙ Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
⊡ Tabelle 4.3. Fortsetzung Prädiktoren
Dimensionen der Lebensqualität KÖFU
KÖRO
SOFU
EMRO
PSYC
Behandelnde Fachkräfte
4
–0,119a
Behandlung durch Hausarzt Behandlung durch Orthopäde
–0,072b
Behandlung durch Physiotherapeut
–0,096b
–0,091b
–0,131a
Fachkräfte-Patienten-Verhältnis –0,096b
Bereitschaft zum Arztwechsel Reden mit Physiotherapeut über MS spezifische Sorgen
–0,073b
Korrigiertes R2
0,523
a
0,293
0,34
0,234
0,191
signifikant (p < 0,01), bsignifikant (p < 0,05), adjustiertes R2 = erklärte Varianz.
Interessanterweise stand Alter in keinem signifikanten Zusammenhang zur sozialen Funktionsfähigkeit, die vorwiegend durch krankheitsspezifische Faktoren eingeschränkt war. Nicht überraschend war, dass Erwerbstätigkeit, körperliche Funktionsfähigkeit und körperliche Rollenfunktion in einem positiven Zusammenhang zueinander standen, da diese beiden Skalen auch die Leistungsfähigkeit der Betroffenen reflektieren. Erwerbstätigkeit wirkte sich aber auch positiv auf das soziale Wohlbefinden der Studienteilnehmer aus.
73 K. Voigt, I. Worm
4
In ⊡ Tabelle 4.3 werden die signifikanten Prädiktoren für einige Lebensqualitätsdimensionen zusammenfassend dargestellt. Aus dieser Analyse ergibt sich zugleich die Identifikation folgender Subgruppen von MS-Patienten, die in ihrer Lebensqualität besonders eingeschränkt waren: ▬ gehunfähige Patienten, ▬ ältere Patienten, ▬ Patienten mit Blasen- und Stuhlproblemen und ▬ Patienten mit psychischen Problemen.
Diskussion Aufgrund des hohen Rücklaufs und der breiten Datenbasis konnten durch die Studie Grundtendenzen der Lebensqualität aus der Sicht von MS-Betroffenen in Sachsen identifiziert werden. Zudem deuten die Ergebnisse auf Verbesserungspotentiale in der medizinischen Versorgung bei MSPatienten hin. Aus Sicht der MS-Betroffenen in Sachsen erscheint die MS als eine Krankheit, die mit fortschreitender Dauer ihre Lebensqualität zunehmend beeinträchtigt. Die vorliegende Untersuchung bestätigt die Ergebnisse einiger MS-Lebensqualitätsstudien, wonach mit zunehmender körperlicher Behinderung MS-Betroffene eine häufig gravierende Einschränkung sowohl ihres physischen, als auch ihres emotionalen und sozialen Wohlbefindens erleben [10–12]. Dagegen stehen diese Ergebnisse im Widerspruch zu anderen Studien, die keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Behinderungsgrad von MS-Patienten und ihrem emotionalen und sozialen Wohlbefinden nachweisen [5, 13, 14] und dies teilweise darauf zurückführen, dass Patienten, die bereits länger erkrankt waren, eine größere Chance gehabt hätten, ihren Alltag der Krankheit anzupassen [5, 14]. Angesichts des Wunsches vieler Studienteilnehmer, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und des positiven Einflusses von Erwerbstätigkeit auf ihre selbst eingeschätzte Lebensqualität, erscheint es sehr wichtig, dass MS-Patienten so lange wie möglich die Chance bekommen, ihrem Beruf trotz ihrer Krankheit nachzugehen. Die Betroffenen könnten dabei z. B. durch nachhaltige Copingtrainings in der Bewältigung und dem Umgang
74
4
Kapitel 4 ∙ Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
mit der Erkrankung unterstützt werden, um im Arbeitsalltag ohne große Probleme zu Recht zu kommen. Gerade für diejenigen Patientengruppen, deren Lebensqualität am stärksten eingeschränkt ist (ältere und gehunfähige Patienten, Patienten mit Blasen- und Stuhlproblemen, Patienten mit psychischen Problemen), ist die symptomatische Therapie, die die schweren Folgen der Krankheit mildern kann, von großer Bedeutung [15–18]. Da es sich teilweise um dieselben Patientengruppen handelt, die mit der Behandlung ihrer Krankheit stark unzufrieden sind, lassen sich hier Indizien für eine Unterversorgung schlussfolgern. Dies trifft insbesondere auf die Therapie von psychischen Symptomen zu. So befanden sich zum Studienzeitpunkt knapp drei Viertel der Befragten in physiotherapeutischer, aber nur ein knappes Drittel in psychotherapeutischer Behandlung, trotz der recht hohen Prävalenz psychischer Probleme (70%). Nur 35% der Probanden, die auf psychische Probleme verwiesen, hatten bisher schon einmal psychotherapeutische Unterstützung bekommen, wobei reichlich die Hälfte (58%) von ihnen diese Behandlung als hilfreich einschätzte. Fast der Hälfte (49%) der Patienten mit psychischen Problemen wurde ein entsprechendes psychotherapeutisches Angebot gar nicht unterbreitet. Ein Viertel von diesen Patienten bekundete aber Interesse an einer Psychotherapie. Bedenkt man zudem die vergleichsweise potentiell hohe Suizidgefährdung von MS-Patienten [19, 20] scheint es dringend erforderlich, die Diagnostik psychischer Störungen bei MS-Patienten zu verbessern und therapeutische Konzepte zu entwickeln, die auf ihren Lebensalltag und ihre Krankheitssituation ausgerichtet sind. Dies entspricht auch den Erfahrungen, auf die der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen [21] hinsichtlich der verbesserungswürdigen psychotherapeutischen Versorgungssituation chronisch Kranker generell verwiesen hat. Neuere MS-Studien weisen ebenfalls auf die Bedeutung psychotherapeutischer Interventionen hin [22, 23]. Eine Verbesserung des psychotherapeutischen Angebots könnte nicht nur der erfolgreichen Symptombehandlung, sondern auch der Verbesserung der Lebensqualität generell dienen. Ein Schwerpunkt sollte dabei auf der Krankheitsbewältigung beispielsweise durch sog. Copingtrainings liegen. Durch umfassende Aufklärung über Erkrankung und mögliche Verhaltensmuster im Umgang mit der MS werden Patienten in ihrer Krankheitsbewältigung unterstützt, was sich letztlich positiv auf die Lebensqualität auswirkt.
75 K. Voigt, I. Worm
4
Die Situation der medikamentösen Versorgung entsprach im Großen und Ganzen den Therapieempfehlungen der Multiplen Sklerose Therapie Konsensusgruppe [24] bzw. den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [15]: Die Mehrheit der Patienten (72%) hatte im Erkrankungsverlauf Erfahrungen mit Kortikosteroiden zur Behandlung akuter Schübe gemacht. Die Anwendung von Beta-Interferon-Präparaten oder Glatiramerazetat wurde insbesondere von Patienten mit schubförmig remittierendem, teils mit sekundär chronisch progredientem Verlauf angegeben, während immunsuppressive Medikamente überwiegend von Betroffenen mit primär oder sekundär chronisch progredienten Verlaufsformen der MS genutzt wurden. Auffällig aber war der Unterschied zwischen der Zahl an Betroffenen, die über Erfahrungen mit Beta-Interferonen berichteten und den aktuell tatsächlich angewandten Präparaten. Etwa 70% der Betroffenen mit schubförmig remittierender Verlaufsform bestätigten, eines der BetaInterferone bereits einmal genutzt zu haben, während nur 16% von ihnen eine entsprechend aktuelle Basistherapie angaben. Diese starke Differenz verweist auf eine hohe Rate von Therapieabbrüchen. Als Ursachen werden in der Literatur neben Medikamentenunverträglichkeiten die massiven Nebenwirkungen in den ersten Therapiemonaten und eine für den Patienten nicht unmittelbar erkennbare Wirksamkeit sowie eine mangelnde Aufklärung über diese Merkmale benannt [25]. Der in der vorliegenden Studie erfassten starken Unzufriedenheit mit den Beta-Interferonen könnten diese Merkmale zugrunde liegen und entsprechend die große Differenz zwischen bisheriger und aktueller Therapie erklären. Die detaillierten Ursachen für Medikamenten(un)zufriedenheiten und Therapieabbrüche, wie etwa Nebenwirkungen und deren Bedeutungen für den Betroffenen sowie subjektiv wahrgenommene Wirksamkeit usw., wurden in dieser Studie aber nicht thematisiert. Dies wären interessante Fragestellungen für zukünftige Untersuchungen, da sie – im Sinne der Tertiärprävention – wichtige Ansatzpunkte für ärztliches und therapeutisches Handeln zur Verbesserung von Compliance und Vermeiden von Therapieabbrüchen bieten. Für den Erhalt bzw. die Optimierung der Lebensqualität ist letztlich eine adäquate medizinische Versorgung notwendig, die den interindividuell verschiedenen Erkrankungsverläufen, Symptomausprägungen und psychosozialen Folgen gerecht wird.
76
Kapitel 4 ∙ Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
Literatur
4
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77 K. Voigt, I. Worm
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5 Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen bei MS-Betroffenen Sabine Twork, Joachim Kugler
Psychotherapeutische Gruppeninterventionen bei MS-Betroffenen Gruppeninterventionen bieten MS-Betroffenen im Gegensatz zu Einzeltherapieverfahren die Möglichkeit, sich mit Gleichbetroffenen auszutauschen und in ihren Problemen und Sorgen verstanden zu werden. Innerhalb der Gruppe können Ängste, Einstellungen und Verhaltensweisen reflektiert, analysiert und gegenübergestellt werden. Aufgrund der unterschiedlichen Charaktere, Erfahrungen und Bewältigungsstrategien können die Teilnehmer voneinander lernen [3, 15, 19]. Dabei werden zwei verschiedene Gruppenansätze unterschieden. Zum einen existieren so genannte Peer-support-Interventionen (Hilfe durch Gleichbetroffene) ohne spezifische therapeutische Anleitung (z. B. Selbsthilfegruppen der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, DMSG), zum anderen Gruppeninterventionen, die professionell geleitet werden (z. B. durch Psychologen, Ärzte, MS-Nurses). Bezüglich der Auswirkung von Peer-support-Interventionen bei MS ist relativ wenig bekannt. Schwartz et al. [17] verglichen eine Trainingsgruppe für Coping-Fertigkeiten mit MS-Betroffenen, die per Telefonunterstützung durch Gleichbetroffene regelmäßig für ein Jahr kontaktiert wurden. Letztere profitierten nur sehr wenig von der telefonischen Unterstützung,
80
5
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
gemessen an Krankheitsbewältigung, Wohlbefinden und Depressivität. Messmer-Ucelli et al. [12] berichten Ähnliches in ihrer nicht kontrollierten Studie zu einem standardisierten achtwöchigen Peer-support-Gruppenprogramm. Auch hier konnte keine Verbesserung der Lebensqualität und Depressivität nachgewiesen werden. Die Autoren stellten fest, dass besonders Teilnehmer mit anfänglich relativ stabilem mentalen Status unter Umständen sogar eine Verschlechterung der Lebensqualität und Stimmungslage durch die Teilnahme an einer Peer-support-Gruppe erfahren können. Im Gegensatz dazu deuten bereits frühe Studien zu professionell geleiteten Gruppeninterventionen bei MS-Patienten darauf hin, dass durch sie eine Steigerung des Selbstvertrauens, eine Verminderung von Depressionen, Ängsten und Somatisierungen sowie eine geringere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems resultiert [1, 2, 5, 8, 11, 16]. Auch neuere Studien, wie z. B. von Visschedijk et al. [23] oder Sinclair et al. [18], belegen eine lang anhaltende Verbesserung des psychischen Wohlbefindens, der Vitalität sowie der wahrgenommenen eigenen Gesundheitskompetenzen und eine bessere Anpassung an die Erkrankung. Leider mangelt es den genannten Arbeiten an objektiven Outcome-Parametern bzw. Kontrollgruppen. Im Folgenden wird die verfügbare Literatur zu gruppenpsychotherapeutischen Verfahren bei MS-Betroffenen durch kontrollierte Studien zusammengefasst und bezüglich deren Auswirkung auf psychische Aspekte, Krankheitsbewältigung und Wohlbefinden bewertet.
Methode Literatursuche Zur Recherche der allgemein verfügbaren Literatur zu psychotherapeutischen Gruppenverfahren bei MS-Betroffenen wurde der Inhalt der MEDLINE-Datenbank bis Mai 2006 gesichtet. Folgende Suchbegriffe wurden mit dem Term „multiple sclerosis” verknüpft: „psychological intervention*”, „group therap*”, „psychotherap*”, „behavioral therap*”, „patient education”, „counselling”, „skill* training” und „self management”.
81 S. Twork, J. Kugler
5
Daraus ergaben sich für die jeweiligen Kombinationen mit „multiple sclerosis” folgende Treffer: „psychological intervention” 40 Treffer, „group therap*” 21 Treffer, „psychotherap*” 139 Treffer, „behavioral therap*” 56 Treffer, „patient education” 133 Treffer, „counselling” 114 Treffer, „skill* training” 19 Treffer und „self management” 111 Treffer. Nach Elimination von Doppelnennungen in den verschiedenen Recherchegruppen ergaben sich 496 relevante Literaturstellen bestehend aus Reviews, randomisierten, kontrollierten Arbeiten, Briefen an den Herausgeber, deskriptiven Studien, Fallberichten, Studien ohne Kontrollgruppe etc. Anschließend wurden Studien mit Kontrollgruppen extrahiert. Qualitativ wurden dabei rein individualtherapeutische Ansätze sowie Studien zu Peer-support-Gruppen ausgeschlossen, da wir uns auf Gruppeninterventionen und professionell geleitete Programme konzentrieren wollten. Ebenso wurden Studien mit gemischten Patientengruppen (MS-Betroffene neben anderen Patienten wie z. B. mit Schlaganfall etc.) ausgeschlossen. Nicht von Belang war hingegen, welchen MS-Verlauf die Patienten in den Studien aufwiesen, wie lange ihre Erkrankungsdauer war, der Schweregrad der Behinderung, Vorhandensein bzw. Schweregrad psychischer Auffälligkeiten, die Geschlechtsverteilung der Gruppen, Gruppengröße, die Art der Intervention (basierend auf psychologisch anerkannten Theorien oder Verfahren), der Ort der Durchführung (stationär oder ambulant), das durchführende Personal (z. B. Psychologe, speziell geschulte Krankenschwester, Arzt, Public-Health-Experte) sowie Inhalt, Anzahl oder Länge der Sitzungen. Insgesamt konnten so 11 relevante Studien identifiziert werden. Durch eine parallele Suche (gleiche Suchstrategie wie in MEDLINE) in der PsycInfo-Datenbank konnte zusätzlich eine nicht MEDLINE-gelistete Arbeit (Gordon 1997 [6]) berücksichtigt werden, wodurch sich letztendlich 12 relevante Studien für das Review ergaben (Informationen zu Probanden, Ein- und Ausschlusskriterien, Interventionen und Messintervallen s. ⊡ Tabelle 5.3 im Anhang).
Beurteilung der Studienqualität Zur Bewertung der Studienqualität wurde folgende Einteilung vorgenommen (⊡ Tabelle 5.1).
82
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
⊡ Tabelle 5.1. Bewertung der Studienqualität (modifiziert nach [22])
Allokation
Bewertung
Beispiele
A
adäquat
zentrale oder unabhängige Randomisation, undurchsichtige versiegelte Umschläge
B
inadäquat
offene Zufallsnummernliste, Alternierung, Geburtsdatum oder andere Methoden, die schon vor Zuteilung absehbar sind
C
unklar
Methode nicht beschrieben oder wenn beschrieben unklar
A
adäquat
Tabelle mit Zufallsnummern, computergenerierte Zufallsnummern
B
partiell adäquat
versiegelte Umschläge, aber ohne weitere Details
C
inadäquat
Geburtsdatum, Alternation
D
unbekannt
nur Nutzung des Begriffs „randomisiert“
A
adäquat
Anzahl und Begründung für jede Gruppe angegeben
B
inadäquat
Anzahl gegeben, aber ohne Begründung oder umgekehrt
C
unbekannt
keine Details genannt
5
Randomisation
Drop-outs/ nachträglich ausgeschlossene Teilnehmer
Analyse der Studieninhalte Folgende Punkte wurden bei der Bewertung der Studien berücksichtigt: Zielgruppe, Rekrutierungsprozedere, Ein- und Ausschlusskriterien, Verlauf der Teilnehmerzahlen während der Studie (z. B. „drop outs“), Charakteris-
83 S. Twork, J. Kugler
5
tika der Interventions- und Kontrollgruppen, für beide Gruppen Beschreibung der Intervention inkl. Ort, Dauer, Frequenz, ausführende Person(en) und deren Qualifikation, ob Intervention adaptiert für MS-Betroffene, Beschreibung des Follow-up, Messparameter mit Evaluationszeitpunkt, Verblindungsversuche, Beschreibung der Randomisation und Allokation, Anzahl und Begründung für drop-outs, ob eine Intention-to-treat-Analyse vorgenommen wurde, statistische Analysemethoden, Ergebnisse.
Outcome-Parameter Um die vielen Facetten der Krankheitsbewältigung und des Wohlbefindens abzudecken, wurde zur Bewertung der Interventionseffekte bewusst die Spannweite an Outcome-Parametern nicht eingeschränkt. Es wurden jedoch bevorzugt Parameter validierter Messinstrumente in die Evaluation einbezogen (⊡ Tabelle 5.2).
Ergebnisse Neben der Studienqualität, den untersuchten Patienten und angewandten Interventionen werden die Ergebnisse der in ⊡ Tabelle 5.1 genannten Outcome-Bereiche getrennt dargestellt. Zu beachten ist dabei, dass die Studien von Hart et al. [7] und Mohr et al. 2003 [14] sich auf die Intervention von Mohr et al. 2001 [13] beziehen.
Qualität der Studien Siehe auch ⊡ Tabelle 5.2 und im Anhang ⊡ Tabelle 5.3. Die Allokation der Teilnehmer war in allen Studien mangelhaft. Im Großteil der Arbeiten wurde keine Allokationsmethode beschrieben und bleibt somit unklar (Bewertung C; Studien von Crawford 1985, 1987, Gordon, Langenmayr, Larcombe, Mohr 2001, 2003, Hart, Schwartz, Stuifbergen, Wassem) [3, 4, 6, 7, 9, 10, 13, 14, 17, 20, 24]. In der Studie von Tesar [22] war die Allokation und Randomisation inadäquat (die ersten 15 Patienten
84
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
⊡ Tabelle 5.2. Validierte Outcome-Parameter in den Studien* Bereich
Studie
Instrument
Coping/Anpassung an MS/ Selbstkonzept/ Selbsteffizienz
Schwartz [17]
WCCC (Ways of Coping Checklist)
Tesar [21]
FKV-LIS SE (Freiburg Disease Coping Questionnaire)
Wassem [24]
PAIS-SR (Psychosocial Adjustment to Illness Scale-Self-Report)
Schwartz [17]
MSSE (MS-self-efficacy)
Crawford 1985 [4]
SES (Rosenburg Self-Esteem Scale)
Gordon [6]
TSCS (Tennessee Self Concept Scale)
Gordon [6]
SEQSS (Self-Efficacy Questionnaire for Social Skills)
Stuifbergen [20]
SRAHP (Self Rated Abilities for Health Practices)
Wassem [24]
SEAB (Self-Efficacy for Adjustment Behaviours Scale)
Crawford [4]
IECS (Adult Nowicki-Strickland Internal-External Control Scale)
Schwartz [17]
MHLC (Multidimensional Health Locus of Control)
Hart [7]
MSQOL-54 (MS-related Quality of Life)
Stuifbergen [20]
SF-36 (Short-Form 36)
Hart [7]
PWB (Psychological Well-Being)
5
Kontrollüberzeugung
Lebensqualität/ Wohlbefinden
*Beschreibung der Instrumente siehe Studienliteratur.
85 S. Twork, J. Kugler
5
⊡ Tabelle 5.2. Fortsetzung* Bereich
Studie
Instrument
Lebensqualität/ Wohlbefinden
Schwartz [17]
QLI (Quality of Life Index)
Schwartz [17]
AIMS (Arthritis Impact Measurement Scales)
Schwartz [17]
RHS (Ryff Happiness Scale)
Crawford [4]
MMPI D-30 (Minnesota Multiphasic Personality Inventory Depression-30 Scale)
Larcombe [10], Mohr [13], Tesar [21]
BDI (Beck Depression Inventory)
Larcombe [10], Mohr [13]
HRSD (Hamilton Rating Scale)
Mohr [13]
SCID (Structured Clinical Interview for DSM-IV Axis 1 disorders)
Crawford [4]
ASQ (Institute for Personality and Ability Testing Anxiety Scale Questionnaire)
Tesar [21]
STAI (State Anxiety Inventory)
Stimmung
Crawford [3]
POMS (Profile of Mood States)
Interview (Hoffnung, Aggression, Angst, kognitive Probleme)
Langenmayr [9]
Inhaltsanalyse von Interviews zu verbalem Verhalten (nach Gottschalk u. Gleser) bezüglich Angst, Aggression, kognitive Einschränkungen, Hoffnung
Depressivität
Angst
*Beschreibung der Instrumente siehe Studienliteratur.
86
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
⊡ Tabelle 5.2. Fortsetzung*
5
Bereich
Studie
Instrument
Fatigue
Mohr 2003 [14]
FAI (Fatigue Assessment Instrument)
Schwartz [17]
MAF (Multidimensional Assessment of Fatigue)
Körperbild
Tesar [21]
FKB-20 (Body Image Questionnaire)
Gesundheitsförderliches Verhalten und Barrieren
Stuifbergen [20]
HPLP-II (Health Promoting Lifestyle Profile II)
Stuifbergen [20]
BHPADP (Barriers to Health Promoting Activities for Disabled Persons)
Soziale Interaktion/Rollenausübung/soziale Unterstützung
Gordon [6]
SADS (Social Avoidance and Distress Scale)
Gordon [6]
SISST (Social Interaction SelfStatement Test)
Schwartz [17]
SIP (Sickness Impact Profile)
Stuifbergen [20]
PRQ-85 (Personal Resource Questionnaire)
Langenmayr [9]
ACQ (Achievement Capacities Questionnaire)
Schwartz [17]
EDSS (Expanded Disability Status Scale)
Hart [7]
25-foot-walk
Schwartz [17]
Cognitive Battery nach Rao, Wisconsin Card Sorting Task, Trail marking Test
Körperliche Behinderung
Neuropsychologie
*Beschreibung der Instrumente siehe Studienliteratur.
87 S. Twork, J. Kugler
5
einer MS-Ambulanz wurden der Therapie- und die nächsten 15 Patienten der Kontrollgruppe zugeteilt; Bewertung B bzw. C). Eine adäquate Randomisation wurde nur in der Studie von Stuifbergen [20] durchgeführt (Tabelle mit Zufallsnummern, Bewertung A). Bei allen verbleibenden Studien war die Art der Randomisation nicht nachvollziehbar und es wurde nur der Begriff „randomisiert“ verwendet (Studien von Crawford 1985, 1987, Gordon, Langenmayr, Larcombe, Mohr 2001, 2003, Hart, Schwartz, Wassem) [3, 4, 6, 7, 9, 10, 13, 14, 17, 24]. Darüber hinaus bleibt bei Crawford [4] unklar, wie viele Patienten genau der jeweiligen Gruppe zugeordnet wurden. Bezüglich Drop-outs oder nachträglich ausgeschlossener Probanden lieferten die meisten Studien inadäquate (Bewertung B) Beschreibungen, da zwar auf deren Anzahl, aber nicht auf die Gründe des Ausschlusses eingegangen wurde (Gordon, Larcombe, Mohr 2001, Mohr 2003, Hart, Schwartz und Wassem) [6, 7, 10, 13, 14, 17, 24]. Zwei Studien machten keinerlei Angaben zu Drop-outs oder Ausschlüssen (Crawford 1985 und Langenmayr; Bewertung C) [4, 9]. In nur 3 Studien wurden adäquate Angaben (Bewertung A) zur Drop-outs und nachträglich ausgeschlossenen Probanden inkl. Begründung gemacht (Studie von Crawford 1987, Stuifbergen und Tesar) [3, 20, 21].
Eingeschlossene Patienten und Interventionen Bei den untersuchten Probanden handelt es sich grob unterteilt um depressive MS-Betroffene (Studien von Larcombe, Mohr 2001, 2003, Hart, Tesar) [7, 10, 13, 14, 21] und Probanden ohne initial bekannte Depressionen. Das Alter der Teilnehmer, das Geschlecht, der Grad der Behinderung, der MSVerlauf und die Erkrankungsdauer waren breit gefächert. Die Interventionsdauer reichte von 4 Wochen bis hin zu 1,25 Jahren. Ein Follow-up erfolgte in sieben Studien mit Abständen zur Intervention von einem Monat bis zu 4 Jahren [9, 10, 13, 17, 20, 21, 24]. Eine Vielzahl an Interventionen wurde untersucht: ▬ Stressmanagement-Programm vs. Care as usual zur Verbesserung von Depressionen, Ängsten, Aktivität und Fatigue [3], ▬ Training sozialer Fertigkeiten vs. Care as usual zur Minderung von Spannungen bei der Interaktion mit Nicht-Behinderten und Aufbau von Selbstvertrauen [6],
88
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
▬
▬
5
▬ ▬
▬ ▬
▬
▬
Training für Coping-Fertigkeiten mit anschließender Telefonbegleitung durch Gleichbetroffene vs. nondirektiver Telefonunterstützung durch Gleichbetroffene zur Steigerung der Lebensqualität (Angst- und Depressionsreduktion, Steigerung sozialer und körperlicher Aktivität, Verbesserung der Anpassung an die MS, Fatigue und Rollenkonflikte) [17], Wellness-Programm mit anschließender Telefonbetreuung vs. Warteliste zur Verbesserung gesundheitsfördernden Verhaltens und der Lebensqualität [20], Gruppenpsychotherapie vs. Care as usual zur Beeinflussung von Depressionen, Ängsten, Selbstkonzept und Kontrollüberzeugung [4], Autogenes Training und Psychotherapie vs. Warteliste zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen, der internalen Kontrollüberzeugung und des Selbstvertrauens sowie zur Angst- und Depressionsreduktion [9], kognitive Verhaltenstherapie (CBT) vs. Warteliste zur Depressionsreduktion [10], supportiv-expressive Gruppentherapie (SEG) vs. CBT vs. Antidepressivum (Sertralin) zur Bekämpfung von Depressionen [13] inkl. Fatigue [14] und zur Verbesserung der Lebensqualität und des Wohlbefindens [7], CBT mit Entspannungskomponente vs. Care as usual zur Reduktion von Ängsten und Depressionen sowie Verbesserung der Krankheitsbewältigung und des Körperbildes [21], CBT vs. Care as usual zur Verbesserung der Anpassung an die MS, des Symptommanagements, des Wohlbefindens und der Aktivität [24].
Outcome Aus den Studien wurden nur Ergebnisse als signifikant gewertet, deren Signifikanzniveau p < 0,05 betrug. Das jeweilige Messinstrument ist in Klammern zu finden.
Coping/Anpassung an MS/Selbstkonzept/Selbsteffizienz Tesar et al. [21] berichten für das Krankheitsbewältigungsverhalten (FKVLIS SE) gemessen an „depressivem Coping“, „aktivem problemorientierten Coping“, „Vermeidung/Selbstaufbau“, „Religiosität/Sinnsuche“ sowie „Ba-
89 S. Twork, J. Kugler
5
gatellisierung/Wunschdenken“ nur für den Bereich „depressives Coping“ direkt nach der Intervention, wie auch im Follow-up über eine Besserung der Interventionsgruppe im Vergleich zur Kontrolle (Berechnung mit Adaptation durch Baseline-Scores). Bei Schwartz et al. [17] zeigte die Interventionsgruppe im Laufe der Therapie eine Zunahme im Bereich „andere verantwortlich machen“ (WCCC), die sich jedoch nicht signifikant zur Kontrolle unterschied (Ergebnisse jeweils angepasst an Geschlecht und neurologisch-symptomatische Verschlechterung). Für die Parameter „Problemlösung“, „soziale Unterstützung“, „Reframing“, „Religiosität“ und „ sich selbst verantwortlich machen“ sowie „Vermeidung und Wunschdenken“ ergaben sich ebenfalls keine signifikanten Unterschiede zur Kontrolle. Wassem et al. [24] berichten bezüglich psychosozialer Adaptation an die MS gemessen am „Totalscore“ (PAIS-SR) keine Unterschiede zwischen den Gruppen (Zusammenfassung aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up). Schwartz et al. [17] zeigten bezüglich Anpassung an die MS (MSSE) eine Verschlechterung der Skala „Selbsteffizienzfunktion“ über die Zeit (inkl. Follow-up), wobei keine Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt wurden. Beim Parameter „Selbsteffizienzkontrolle“ wurden keine Veränderungen, weder über die Zeit noch zwischen den Gruppen, gemessen (Ergebnisse jeweils angepasst an Geschlecht und neurologisch-symptomatische Verschlechterung). Bezüglich Selbsteffizienz bei der Anpassungsfähigkeit an die MS (gemessen per SAEB) konnten Wassem et al. [24] keine Unterschiede zwischen den Gruppen nachweisen (zusammenfassende Analyse aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up). Auch Gordon et al. [6] berichteten keine gruppenspezifischen Unterschiede in der Selbsteffizienz bezüglich sozialer Fähigkeiten (SEQSS) direkt nach der Intervention. Die Autoren kommentierten jedoch, dass dies wohlmöglich an den bereits zu Beginn hohen Baseline-Werten liegen könnte. Gleiches gilt für den Parameter Selbstvertrauen (TSCS), was auch die Studie von Crawford et al. [4] mittels SES bestätigte. Auch hier gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen der Therapiegruppe und den anderen 2 Kontrollgruppen (Analyse unter Beachtung der Baseline-Scores als Kovariate). Nur Stuifbergen et al. [20] konnten mittels komplexem Statistikmodell (Bewertung aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up, Berücksichtigung der
90
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Baseline-Unterschiede im jeweiligen Parameter und Behinderungsgrad) für die Selbsteffizienz (SRAHP) bezüglich gesunden Verhaltens (Ernährung, körperliche Aktivität, psychisches Wohlbefinden, gesundheitsverantwortliches Handeln) deutliche Verbesserungen im Vergleich zur Kontrolle nachweisen.
Kontrollüberzeugung 5
In der dreiarmigen Studie von Crawford 1985 et al. [4] kam es in der Interventionsgruppe (Psychotherapie) wie auch in der Kontrollgruppe 1 (Diskussionsrunde zu wichtigen Ereignissen) zu einer vermehrten internalen Kontrollüberzeugung (IECS) im Gegensatz zu Kontrolle 2 ohne Behandlung (unter Beachtung der Baseline-Scores als Kovariate). Auch Schwartz et al. [17] bestätigten zeitlich durchgehend (inkl. Follow-up) eine vermehrte internale Kontrollüberzeugung (Ergebnisse jeweils angepasst an Geschlecht und neurologisch-symptomatische Verschlechterung) für die Interventionsgruppe im Gegensatz zur Kontrolle.
Lebensqualität (LQ)/Wohlbefinden Mittels komplexem Statistikmodell (Bewertung aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up mit Anpassung an Baseline-Unterschiede im jeweiligen Parameter sowie dem Behinderungsgrad) konnten Stuifbergen et al. [20] für die LQ (SF-36) in den Bereichen „Schmerzen“ und „psychisches Wohlbefinden“ signifikante Verbesserungen im Vergleich zur Kontrolle aufzeigen. Keine signifikanten Unterschiede ergaben sich für die Skalen „allgemeine Gesundheit“, „körperliche Funktionsfähigkeit“, „Rollenfunktion“ („körperlich“ sowie „emotional“), „Vitalität“ und „soziale Funktionsfähigkeit“. Hart et al. [7] wiesen bei depressiven MS-Patienten für das psychische Wohlbefinden (PWB) sowie die LQ (MSQOL-54, speziell Summenscore für „körperliche Gesundheit“, „mentale Gesundheit“ und „Gesamt-LQ“) im Verlaufe der Behandlung für alle 3 Interventionsgruppen (SEG vs. CBT vs. Antidepressivum) eine Verbesserung nach. Aufgrund fehlender signifikanter Unterschiede zwischen den Therapiegruppen kann keines der Verfahren favorisiert werden. Leider wurden die Erfolge nicht mittels Plazebokontrollgruppe verifiziert.
91 S. Twork, J. Kugler
5
Auch Schwartz et al. [17] berichteten in der Interventionsgruppe (Ergebnisse jeweils angepasst an Geschlecht und neurologisch-symptomatische Verschlechterung) über eine Steigerung der LQ (gemessen per QLI) mit deutlichen Verbesserungen im Bereich der „globalen Lebensqualität“ und „Familie“ für die Interventionsgruppe verglichen mit der Kontrolle über den Gesamtverlauf der Studie (inkl. Follow-up). Bezüglich „spiritueller Aspekte“ der LQ kam es ebenfalls für die Interventionsgruppe zu Verbesserungen im zeitlichen Verlauf (inkl. Follow-up), jedoch gab es keine Unterschiede zur Kontrollgruppe. Keine Unterschiede zwischen den Gruppen oder im Verlauf der Studie ergaben sich für „Gesundheitsaspekte“ und den „sozioökonomischen Status“. Bezüglich Wohlbefinden (gemessen per AIMS) berichteten Schwartz et al. [17] in der Interventionsgruppe über deutliche Verbesserungen „sozialer Aktivitäten“ über den Gesamtverlauf der Studie (inkl. Follow-up). Hinsichtlich „Depressivität“ und „Angst“ gab es keine Veränderungen, die sich zur Kontrollgruppe abgrenzten. Für die Bereiche „persönliches Wachstum“, „Umweltmeisterung“, „soziale Angebundenheit“ und „Selbstakzeptanz“ (RHS) konnten deutliche Verbesserungen für die Interventionsgruppe über den Verlauf der Studie hinweg (inkl. Follow-up) nachgewiesen werden, jedoch zeigten sich keine Differenzen zur Kontrollgruppe [17]. Bezüglich „Lebenssinn“ (RHS) kam es zu keinerlei Veränderungen in der Interventionsgruppe, auch nicht in Bezug auf die Kontrolle. Die Ergebnisse von Schwartz et al. [17] sind vorsichtig zu interpretieren, da mehrere Statistikverfahren parallel genutzt und nur für jeweils ein Verfahren Signifikanzen erreicht wurden.
Depressivität Eine wirkungsvolle Reduktion von MDD („major depressive disorders“; gemessen per SCID) direkt nach der Therapie konnten Mohr et al. [13] für die Depressionsbehandlung mittels CBT und Antidepressivum berichten. 40% (8/20) in der CBT-Gruppe und 38% (8/21) in der Sertraline-Gruppe entsprachen nach Therapie nicht mehr den MDD-Kriterien. Die SEGGruppe jedoch schnitt mit 9% (2/22) vergleichsweise schlecht ab (p = 0,043, Chi2-Test). Ebenso zeigten die BDI- und HRSD-Werte eine signifikante Verbesserung der Depressivität während der Behandlung in den drei Therapiegruppen, jedoch konnte keine signifikante Interaktion bezüglich Zeit mal Behandlung festgestellt werden (gemischtes Analysemodel mit Berück-
92
5
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
sichtigung der Baseline-Werte). Im Verlauf vom Interventionsende bis zum Follow-up nach 6 Monaten blieben die BDI-Werte stabil. Insgesamt schnitt die SEG-Gruppe schlechter als die Gruppen mit CBT und Sertraline ab. Der Studie mangelte es jedoch an einer Plazebokontrollgruppe. Auch bei der von Larcombe et al. [10] beschriebenen CBT-Gruppe kam es zu einer signifikanten Reduktion der BDI- und HRSD-Werte im Therapieverlauf, die sich signifikant von der Kontrollgruppe abhoben. Das Follow-up (Messung 1 Monat nach Therapieende) ist zwischen den Gruppen nicht bewertbar, da nur Messergebnisse der Interventionsgruppe vorliegen. Tesar et al. [21] konnten hingegen zwar auch eine Depressionsverbesserung (gemessen per BDI) feststellen, jedoch unterschieden sich die Werte nicht zwischen den Gruppen (Berechnung mit Adaptation durch Baseline-Scores). Crawford 1985 et al. [4] wiesen mit einem anderen Messinstrument (MMPI D-30) ebenfalls eine signifikante Reduktion der Depressionen innerhalb der Interventionsgruppe im Vergleich zu den anderen 2 Kontrollgruppen (mit Beachtung der Baseline-Scores als Kovariate) nach.
Angst Bezüglich Angst (gemessen per STAI) ergaben sich bei Tesar et al. [21] im zeitlichen Verlauf (inkl. Follow-up) sowie zwischen den Gruppen keine Unterschiede (Berechnung mit Adaptation durch Baseline-Scores). Dies bestätigten auch Crawford 1985 et al. [4] mit einem anderen Messinstrument für Angst (ASQ), wobei auch hier keine signifikanten Unterschiede zwischen der Therapiegruppe und den anderen 2 Kontrollgruppen (mit Beachtung der Baseline-Scores als Kovariate) gemessen wurden.
Stimmung Larcombe et al. [10] berichteten, dass durch Stressmanagement sich bezüglich Stimmung (POMS, nur 4 Items analysiert) die Bereiche „Angst“, „Depressionen“ und „Vitalität“ im Verlauf der Behandlung deutlich verbessert haben. Nur im Bereich „Fatigue“ kam es zu keinen Verbesserungen. Jedoch fehlen Angaben zum Vergleich zwischen Interventions- und Kontrollgruppe.
93 S. Twork, J. Kugler
5
Interviews zu Angst, Depressionen, Hoffnung und kognitiven Einschränkungen Die von Langenmayr et al. [9] durchgeführte Inhaltsanalyse bezüglich verbalen Verhaltens nach Gottschalk/Gleser zu „Angst“, „Aggressionen“, „kognitiven Einschränkungen“ und „Hoffnung“ zeigte in allen Bereichen Verbesserungen in der Interventions- und Kontrollgruppe. Unklar bleibt jedoch, ob statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen auftraten.
Fatigue Mohr 2003 [14] berichtet für den Bereich Fatigue (FAI) für alle drei Therapiegruppen im Verlauf der Depressionsbehandlung Verbesserungen im „Totalscore“, der „Fatigue-Schwere“ und der „Reaktion auf Schlaf/Ruhe“. Dabei ergaben sich keine Unterschiede zwischen den Gruppen (CBT, SEG und Antidepressivum). Für die Skalen „Fatigue-Konsequenz“ und „situationsspezifische Fatigue“ ergaben sich keine Veränderungen während der Behandlung in den drei Armen. Da eine Plazebokontrollgruppe fehlt, ist der Therapieeffekt schwer abschätzbar. Schwartz et al. [17] konnten in ihrer Studie bezüglich Fatigue (MAF) keinerlei Unterschiede im Verlauf der Zeit (inkl. Follow-up) zur Kontrollgruppe nachweisen.
Körperbild Tesar et al. [21] konnten mittels Gruppentherapie und Entspannungsübungen für die Körperbildskalen „schlechte Körperakzeptanz“ und „Vitalität/Körperdynamik“ (FKB-20) nur für letztere Skala eine Steigerung in der Therapiegruppe im Vergleich zur Kontrolle aufzeigen. Im Follow-up war der Gruppenunterschied jedoch nicht mehr nachweisbar (Berechnungen mit Adaptation durch Baseline-Scores).
Gesundheitsförderliches Verhalten und Barrieren Für gesundheitsförderliches Verhalten (HPLP-II) berichten Stuifbergen et al. [20] in allen Bereichen (Stressmanagement, Ernährung, zwischenmenschliche Beziehungen, Spiritualität, Aktivität, Gesundheitsverantwortung und
94
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Totalskala) eine deutliche Verbesserung im Vergleich zur Kontrolle. Bezüglich der Barrieren für gesundheitsförderndes Verhalten (BHPADP) konnten sie keine Gruppenunterschiede aufzeigen (komplexe Analyse mit Einschluss aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up, angepasst an BaselineWerte und Behinderungsgrad).
Soziale Interaktion/Rollenausübung/soziale Unterstützung 5
Gordon et al. [6] berichteten bezüglich Angst in Interaktionssituationen mit Nicht-Behinderten („Unbehagen“, „Vermeidungsverhalten“) gemessen am SADS keine Fortschritte bzw. Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Auch die Gedanken vor, während und nach Interaktionen zeigen zwischen den Gruppen keine Unterschiede (SISST). Laut den Autoren ist jedoch zu bedenken, dass alle Teilnehmer bereits zu Beginn der Studie unauffällige Werte aufwiesen. Die Interventionsgruppe bei Schwartz et al. [17] profitierte bezüglich Rollenausübung (SIP) deutlich von Verbesserungen in „psychosozialer“ und „körperlicher Limitierung“ (jeweils angepasst an Geschlecht und neurologisch-symptomatische Verschlechterung, Zusammenfassung aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up). Jedoch gab es keine Unterschiede zur Kontrollgruppe. Da mehrere Statistikverfahren parallel genutzt und nur für jeweils ein Verfahren Signifikanzen erreicht wurden, sollten die Ergebnisse vorsichtig interpretiert werden. Bezüglich Verbesserungen der sozialen Unterstützung (PRQ-85) konnten Stuifbergen et al. [20] keine Verbesserungen im Vergleich zur Kontrolle nachweisen (komplexe Analyse mit Einschluss aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up, angepasst an Baseline-Werte und Behinderungsgrad).
Körperliche Behinderung Langenmayr et al. [9] berichteten für die körperlichen Fähigkeiten (ACQ) eine Verbesserung in der Psychotherapiegruppe im Gegensatz zur Kontrolle bezüglich „Mobilität“ und „Blasenfunktion“ direkt nach der Intervention. Jedoch wurde eine deutliche Verschlechterung bei der „Fähigkeit zur Körperpflege“ beobachtet. Die Bereiche „Verhalten im Badezimmer“, „An- und Auskleiden“ und der „Totalscore“ unterschieden sich nicht zwischen den Gruppen.
95 S. Twork, J. Kugler
5
Hart et al. [7] konnten jedoch für die körperliche Funktion (25-footwalk) im Verlauf der Therapie keine Verbesserungen mit deutlicher Abgrenzung zur Kontrollgruppe feststellen.
Neuropsychologische Komponenten Schwartz et al. [17] stellten bezüglich der neuropsychologischen Performance (Testbatterie aus Fragebögen zu verbalem und räumlichem Gedächtnis, komplexer Aufmerksamkeit und Wortfluss) eher eine Verschlechterung aller Teilnehmer (auch der Interventionsgruppe) fest.
Sonstige Outcome-Parameter ohne validierte Fragebögen Langenmayr et al. [9] beschrieben für ihre Interventionsgruppe direkt nach der Behandlung weniger Angst, weniger düstere Gedanken, innere Spannung, Kältegefühl, Energiemangel, Kopfschmerzen und Appetitmangel. Zusätzlich werteten sie Videoaufzeichnungen von Interviews hinsichtlich der Veränderungen in der Beziehungsqualität aus. Dabei zeigte die Interventionsgruppe (Psychotherapie) im Gegensatz zur Kontrolle direkt nach der Intervention durch Eigeninitiative mehr Veränderungen im Beziehungsgefüge mit Familie, Freunden und Verwandten. Die Teilnehmer der Therapiegruppe konnten ebenfalls besser ihre Anliegen und Aggressionen gegenüber anderen Personen ausdrücken. Zusätzlich wurde für die Interventionsgruppe im Gegensatz zur Kontrolle aber auch eine höhere Instabilität der Beziehung zu Freunden festgestellt. Wassem et al. [24] berichteten bezüglich des Summenscores von drei visuellen Analogskalen (psychische, soziale, körperliche Anpassung an MS) sowie für die visuelle Analogskala zum Schmerz keine Unterschiede zwischen den Gruppen. Jedoch ergaben sich Gruppenunterschiede zugunsten der Interventionsgruppe auf den visuellen Analogskalen für Fatigue und Schlaf (Analyse aller Messzeitpunkte inkl. Follow-up).
96
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Diskussion
5
Die MS ist eine inhomogene Erkrankung, aus der neben körperlichen Einschränkungen auch verschiedenste psychische Probleme resultieren. Potentiell ist somit auch eine Vielzahl an psychologischen Interventionen denkund anwendbar. Das in den betrachteten Studien am häufigsten genutzte Verfahren war die kognitive Verhaltenstherapie zur Reduktion von Depressionen bzw. der Vermittlung von Fertigkeiten zur besseren Krankheitsbewältigung. Neben den vielfältigen Möglichkeiten an gruppentherapeutischen Interventionen für MS-Betroffene spiegelt das Review auch eine breite Palette an verwendeten Messinstrumenten, Beobachtungszeiträumen sowie die Vielfalt der Teilnehmer mit unterschiedlicher Krankheitsdauer, Verlaufsform und Grad der Behinderung wider. Zugleich ist diese Vielfalt aber auch ein limitierender Faktor für die Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse. Darüber hinaus müssen bei der Bewertung auch die geringen Fallzahlen und die teils mangelhafte Qualität der Studien beachtet werden. Trotz der inhomogenen Studienlage kann man insgesamt die Schlussfolgerung ziehen, dass MS-Betroffene von gruppenpsychologischen Interventionen (v. a. kognitive Verhaltenstherapie) in vielen Aspekten der Bewältigung des täglichen Lebens mit der MS profitieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es jedoch kaum möglich, konkrete Empfehlungen abzuleiten.
Depressive MS-Patienten Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass MS-Betroffene zur effektiven Behandlung von milden bis moderaten Depressionen von psychologischen Gruppeninterventionen profitieren [10, 13, 21]. Die mittelfristige Nachhaltigkeit der Effekte ist ebenfalls beschrieben [13]. Zu beachten ist jedoch, dass in den Studien von Mohr et al. 2001, 2003 und Hart et al. [7, 13, 14] keine Plazebokontrollgruppe gebildet wurde und sich in der Studie von Tesar et al. [21] die Depressionsreduktion in der Interventionsgruppe statistisch nicht von der Kontrolle unterschied. Als Begleiteffekt der antidepressiven Therapie konnte langfristig eine depressive Krankheitsverarbeitung vermindert werden [21]. Zusätzlich stiegen im Laufe der Behandlung die Lebensqualität im psychischen wie auch physischen Bereich sowie das Wohlbefinden [7] und die Vitalität [10, 21]. In der Arbeit von Tesar et al. [21] ist jedoch zu bedenken,
97 S. Twork, J. Kugler
5
dass die Vitalitätssteigerung nur kurzzeitig anhielt. Bezüglich Fatigue ist die Evidenz kontrovers. Mohr et al. [14] wiesen eine positivere Gesamteinschätzung der Fatigue mit besserer Reaktion auf Ruhe/Schlaf nach, was vor allem durch eine Umbewertung der Fatigueschwere gedeutet wurde. Jedoch konnten Larcombe et al. [10] keinen Effekt der antidepressiven Therapie auf die Fatigue nachweisen. Ebenso offen bleibt, ob Ängste bei depressiven MS-Patienten durch eine antidepressive Therapie reduziert werden können. Larcombe et al. [10] beschrieben eine Reduktion von Ängsten, was jedoch von Tesar [21] nicht bestätigt wurde. Bezüglich körperlicher Aspekte ist nach Hart et al. [7] bei depressiven MS-Patienten kein Effekt auf die Mobilität zu erwarten.
Nichtdepressive MS-Patienten Psychologische Gruppeninterventionen bieten auch primär nichtdepressiven MS-Betroffenen viele Vorteile für die Krankheits- und Alltagsbewältigung sowie für die Steigerung des Wohlbefindens. Im Bereich Kausalattribution berichteten Schwartz et al. eine Verlagerung in Richtung externer Zuschreibung [17]. Damit machen die Betroffenen äußere Umstände und nicht sich selbst für Widrigkeiten im MS-Verlauf verantwortlich. Zwei Studien belegen eine vermehrte internale Kontrollüberzeugung, was darauf hinweist, dass die Teilnehmer ihr Leben mehr in Eigenregie führen möchten [4, 17]. Dieser Effekt war in der Studie von Schwartz et al. auch noch nach zwei Jahren nachweisbar [17]. Für die eigene Effizienz bei der Ausübung gesundheitsbewussten Verhaltens gibt es Hinweise, dass psychologische Gruppeninterventionen eine langfristige Verbesserung erzielen können [20]. Jedoch zeigen die Ergebnisse bezüglich der Anpassungsfähigkeit an die MS oder der wahrgenommenen Kompetenz und des Selbstvertrauens in 4 Studien keine Veränderungen im Vergleich zur Kontrollgruppe [4, 6, 17, 24]. Auf jeden Fall lässt sich anhand der vorliegenden Studien ein positiver Effekt auf das Sozialleben vermuten. Es gibt Berichte über eine größere Zufriedenheit mit familiären Aspekten, weniger Einschränkungen in der Rollenausübung und vermehrten sozialen Aktivitäten, die auch langfristig (mindestens 2 Jahre) zu wirken scheinen [17]. Mehr Eigeninitiative in zwischenmenschlichen Beziehungen und bessere Ausdrucksmöglichkeiten der eigenen Bedürfnisse [9] tragen zu einer besseren Integration bei. Ob konkrete Veränderungen im sozialen Netzwerk resultieren, bliebt offen.
98
5
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Zumindest eine Studie [20] konnte keine direkten Veränderungen in diesem Bereich nachweisen. Das Wohlbefinden und die Lebensqualität konnten durch psychologische Gruppeninterventionen langfristig gesteigert werden [17], wobei neben körperlichen vor allem mentale Aspekte verbessert wurden [20]. Inwieweit Schmerzen und deren Bewertung langfristig beeinflusst werden, bleibt aufgrund gegenläufiger Studienergebnisse von Stuifbergen et al. [13, 20] und Wassem [24] offen. Ähnliches gilt für die Beeinflussung depressiver Verstimmungen, die von Crawford et al. [4] und Schwartz et al. [17] konträr geschildert wurden. Bezüglich Fatigue kann ebenfalls keine abschließende Aussage getroffen werden. Die Daten von Wassem et al. [24] deuten zwar auf einen Langzeiteffekt mit Verbesserung der Fatigue-Symptomatik hin, jedoch wird dies durch die Ergebnisse von Schwartz et al. [17] relativiert. Aufgrund der Studienlage lassen sich für psychologische Gruppeninterventionen keine direkten Effekte auf Ängste ableiten [4, 17].
Überlegungen und Anregungen für künftige Studien Bezüglich der Studienqualität ist anzumerken, dass eine Verblindung der Interventions- und Kontrollgruppe kaum möglich ist. Jedoch ist es möglich, die Auswertung von unabhängigen Personen vornehmen zu lassen. Eine gute Allokation bzw. Randomisation lässt sich für psychische Interventionen bei MS-Betroffenen nur schwer realisieren. Wird bekannt, dass Programme oder Therapien angeboten werden, möchten die Interessenten von dem Angebot profitieren. Bei der Rekrutierung von Patienten durch Überweisung, Annoncen, Rundschreiben etc. ist immer auch mit einer Verzerrung durch hohe Motivation der Probanden zu rechnen (Selektionsbias). Bezüglich Kontrollgruppen ist vom ethischen Standpunkt her abzuwägen, ob man Interessenten eine psychologische Intervention trotz offensichtlichem Bedarfs vorenthalten kann (wie z. B. bei der Studie von Mohr [13] zur Depressionsreduktion angemerkt). Einen Ausweg bietet dafür ein Wartegruppendesign. Hierbei ist jedoch unklar, inwieweit die Erwartungen auf baldige Therapie die Ergebnisse in der Wartegruppe beeinflussen. Zusätzlich sollte klar deklariert werden, an welche Zielgruppe der MS-Patienten sich die Intervention richtet und welche Erwartungen an die Intervention geknüpft werden. Ebenso sollten nur wenige ausgewählte Outcome-Parameter untersucht werden. Die Teilnehmerzahl in den Studien
99 S. Twork, J. Kugler
5
wird ein kritischer Punkt bleiben, da es rein organisatorisch (Therapeuten, Räumlichkeiten, Rekrutierung, Zeit) kaum realisierbar ist, eine Vielzahl an Patienten in einer Studie gleichzeitig adäquat psychologisch zu betreuen. Die Intervention sollte auf die Bedürfnisse der Beteiligten abgestimmt sein. Als erfolgreich haben sich Elemente aus der kognitiven Verhaltenstherapie, Entspannungstechniken, edukative Methoden und die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten erwiesen. Auf jeden Fall sollte genügend Raum für den Erfahrungsaustausch untereinander gelassen werden. Das Therapieprogramm müsste möglichst detailliert aufgezeichnet werden, um eine spätere Reproduzierbarkeit zu ermöglichen. Wichtig sind mindestens zwei Therapeuten zur Durchführung der Intervention und die Möglichkeit zur Supervision. Die Qualifikation der Therapeuten sollte vom eingesetzten Interventionsverfahren abhängig gemacht werden. Um jedem Patienten optimal Aufmerksamkeit schenken zu können, sollten die Therapiegruppen eher geringe Teilnehmerzahlen aufweisen (z. B. 8–12 Probanden). Der Einfluss der Interventionslänge auf die Nachhaltigkeit der Erfolge ist schwierig zu beurteilen. Auf jeden Fall bedürfen psychische Veränderungen gewisser Zeit. Um die Nachhaltigkeit der Therapieeffekte zu überprüfen, sollten die jeweiligen Parameter nach der Intervention in geeigneten Abständen nacherhoben werden. Messungen, die ausschließlich direkt nach einer Intervention (z. B. 4-Wochen-Therapie) erfolgen, könnten einige Veränderungen wohlmöglich noch gar nicht erfassen (z. B. Auswirkungen auf das soziale Gefüge der Beteiligten). Jedoch wird es in den meisten Fällen schwierig sein, ausreichend Personen auch noch über Jahre hinweg weiterzuverfolgen. Zu bedenken ist ebenfalls, dass sich die wechselnde Ausprägung der Erkrankung auch auf die Ergebnisse niederschlagen kann.
Anhang In ⊡ Tabelle 5.3 wird für jede der Studien in Zeile 1 die Dauer und Art der Studie, Anzahl der Gruppen und die Studienqualität dargestellt. In Zeile 2 sind die Patientencharakteristik sowie Ein- und Ausschlusskriterien zu finden. Zeile 3 gibt Auskunft über die Interventions- und Kontrollgruppen, deren Teilnehmerzahl und die Art der Intervention (inkl. Ziel, Durchführung, Ort und Personal). In Zeile 4 finden sich Angaben zum Zeitpunkt der Evaluationen (inkl. Zeitpunkt des Follow-up).
100
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
5
Crawford 1985 [4]
⊡ Tabelle 5.3. Übersicht über die im Review eingeschlossenen Studien mit allgemeinen Angaben zur Studie, Beschreibungen der Probanden, Intervention und Evaluationszeitpunkten 25 Wochen, 3 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie. Zuteilung von Dreiergruppen (gematcht nach Geschlecht, Basiswerten, Krankheitsdauer) auf die 3 Studienarme. Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: C Stationäre MS-Patienten eines großen Krankenhauses. Ausschluss: schwere mentale Defizite. 41 gescreent, 32 eingeschlossen, randomisiert und abgeschlossen (unklar, warum 32 und nicht 33 Patienten auf die 3 Studienarme aufgeteilt wurden). Durchschnittsalter 47,25 Jahre (Range 20–63), 13 m, 19 w, durchschnittliche Krankheitsdauer 17,8 Jahre (Range 2–40), alle mit moderater bis schwerer körperlicher Behinderung. Intervention (10 oder 11 analysiert): traditionelle Psychotherapie mit aktiver Ermutigung zur Konfliktkonfrontation und Verbalisierung, zur Angst- und Depressionsreduktion, Verbesserung des Selbstkonzeptes und Förderung internaler Kontrollüberzeugung. Zweimal wöchentlich 1 h für 25 Wochen. Setting Krankenhaus (Pat. 25 Wochen stationär?). Keine Information zu Therapeuten. Kontrolle 1 (10 oder 11 analysiert): Diskussion wichtiger Ereignisse: berichtenswerte Themen didaktischer oder heiterer Natur ohne Verbalisierung persönlicher oder emotionaler Themen. Dauer wie Inter ventionsgruppe. Setting Krankenhaus. Keine Information zu Therapeuten Kontrolle 2 (10 oder 11 analysiert): care as usual. Evaluation vor und direkt nach Intervention.
101 S. Twork, J. Kugler
Crawford 1987 [3]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung 13 Wochen, 2 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie. Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: A Stationäre Patienten mit MS eines großen Krakenhauses. Keine Ein- oder Ausschlusskriterien genannt. 55 gescreent und eingeschlossen, 44 abgeschlossen. Durchschnittsalter 47,29 Jahre (Range 27–67), 23 w, 21 m, durchschnittliche Erkrankungsdauer 14,95 Jahre (Range 1–41), alle mit moderater bis schwerer körperlicher Behinderung (MS Incapacity Status Scale durchschnittlich 43,29). Intervention (34 eingeschlossen, 23 analysiert): Stressmanagementprogramm mit Entspannungsübungen und Strategien aus der kognitiven Verhaltenstherapie zur Verbesserung der psychischen Anpassung an die MS mit weniger Ängsten, Depressionen, Fatigue und vermehrter Aktivität (4 Gruppen zu je 8–10 Personen). Einmal wöchentlich für 13 Wochen (genaue Dauer nicht angegeben) mit einer 6-wöchigen Pause vor den letzten 3 Sitzungen. Setting Krankenhaus. Durchführung durch zwei erfahrene Psychologen. Kontrolle (21eingeschlossen und analysiert): care as usual. Evaluation vor und direkt nach Intervention.
5
102
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Gordon 1997 [6]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung
5
8 Wochen, 2 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie. Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: B Nichtstationäre MS-Patienten einer Rehabilitationsklinik. Einschluss: Diagnose MS, keine mentale Retardierung oder psychische Erkrankungen, 18–65 Jahre alt, akzeptable kognitive Fähigkeiten (Bildungsgrad, modifizierter Mini-Mental Status) und Anwesenheit für 8 Wochen, Zuweisung durch Therapeuten, ausreichende Englischkenntnisse. 250 Betroffene kontaktiert, 42 gescreent, 26 randomisiert. Durchschnittsalter 44,65 Jahre, 19 w, 7 m. Verlaufsform und Krankheitsdauer nicht angegeben, alle außer einem Teilnehmer bedurften Gehilfen, „mehrere” waren Rollstuhlfahrer. Intervention (13 randomisiert, 11 analysiert): Trainingsprogramm für soziale Fertigkeiten zur Verbesserung der Interaktion mit NichtBehinderten, des Selbstvertrauens und der Selbsteffizienz durch Behauptungstraining, Präsentation der eigenen Person (positiver erster Eindruck, Identifikation nonverbaler Hinweise), Anerkennung der Behinderung, allgemeine Kommunikation miteinander. In jeder Sitzung Proben, Rollenspiel (mit Nicht-Behinderten), Feedback und Hausaufgaben, 2 Sitzungen für Feedback-Übungen gefilmt (zwei Gruppen zu je 6–7 Probanden). 1,5 Stunden/Woche für 8 Wochen. Durchführende Person und Setting nicht genannt. Kontrolle (13 randomisiert, 11 analysiert, 2 ohne Messungen nach der Behandlung): care as usual. Evaluation vor und direkt nach Intervention.
103 S. Twork, J. Kugler
Langenmayr 2000 [9]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung 3,25 Jahre, 2 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie. Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: C MS-Patienten, Setting unbekannt. Ein- und Ausschlusskriterien nicht benannt. 70 eingeschlossen, randomisiert und abgeschlossen. Durchschnittsalter 39,9 Jahre (SD 8,9), 74% Frauen, durchschnittliche Krankheitsdauer 5,8 Jahre (kein Range oder SD gegeben), MS-Verlauf stabil bzw. primär progressiv, keine MS-spezifische Medikation. Intervention (46 analysiert): 3 Monate autogenes Training (keine weiteren Details gegeben), danach wöchentlich für 1 Jahr Gruppenpsychotherapie (klientenzentriert, „Psychodrama“) (Gruppen bis zu 8 Personen) mit einem Therapeuten. Setting nicht angegeben, keine näheren Informationen zur Qualifikation durchführender Personen (2 Therapeuten, psychoanalytische Supervision). Verständnisorientiert mit Ermutigung, sich mit Konfliktsituationen auseinander zu setzen und zu verbalisieren, dadurch Reduktion von Ängsten und Depressionen, Verbesserung des Selbstkonzeptes und der internalen Kontrollüberzeugung. Kontrolle (24 analysiert): care as usual. Evaluation nach der Phase des autogenen Trainings: vor der Intervention, 2 während der Intervention (Zeitabstand von 3 Monaten), sofort nach der Intervention und nach 2-jährigem Follow-up.
5
104
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Larcombe 1984 [10]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung
5
12 Wochen, 2 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: B MS-Patienten mit moderaten Depressionen (Rekrutierung per MS Community Centre, MS-Spezialabteilung eines Krankenhauses und Newsletter der MS-Gesellschaft). Einschluss: 20–65 Jahre alt, selbstberichtete Depressionen seit mindestens 3 Monaten, mindestens 20 Punkte im Beck-Depressionsinventar, keine vorangegangene Behandlung mit Lithium/Tranquillanzien, Depression manifest oder wahrscheinlich (Feighner-Kriterien), keine anderen schwerwiegenden psychologischen Auffälligkeiten, niedriges Suizidrisiko (Beck-Kriterien), normaler kognitiver Status, durch Neurologen bestätigte MS-Diagnose. 54 gescreent, 20 rekrutiert, 19 abgeschlossen. Durchschnittsalter 42,5 Jahre (Range 26–61), 6 m, 13 w, Krankheitsdauer 10 Jahre (n = 8), 11–30 Jahre (n = 11), 8 Rollstuhlfahrer. AntidepressivaBehandlung: Interventionsgruppe (n = 1), Kontrollgruppe (n = 2). Intervention (10 randomisiert, 9 analysiert): kognitive Verhaltenstherapie (CBT) zur Behandlung von Depressionen. Gruppen zu 4–5 Personen. 1,5 Stunden/Woche für 6 Wochen, durchgeführt durch einen klinischen Psychologen in einem spezialisierten MS-Zentrum. Sitzung 1–2: Verhaltensstrategien basierend auf der Verhaltenstherapie bei Depressionen mit Aktivitätsprogramm und Diskussionen zu sozialen Interaktionen zur Erhöhung der Frequenz, Qualität und Spannbreite von Aktivitäten und sozialen Kontakten. Sitzung 3–6: Aufzeigen stimmungstrübender Kognitionen/Irrglauben mit kritischer Reflektion und Bewertung, Ermunterung zu positivem Denken. Monitoring von positiven und negativen Gefühlen, Wahrnehmung der Interaktion, Affekt, Kognition und Verhalten. Kontrolle (10 randomisiert und analysiert): Warteliste mit Verzögerung der CBT um 6 Wochen. Evaluation je 1 Woche vor und nach der Intervention, Follow-up 1 Monat nach Therapieende.
105 S. Twork, J. Kugler
5
Mohr 2001 [13]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung 42 Wochen, 3 parallele Gruppen, nichtverblindete Studie. Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: B MS-Patienten mit moderater Depression (Rekrutierung durch Überweisung vom Neurologen oder anderer Therapeuten und nationale MS-Gesellschaft). Einschluss: Diagnose MS nach Poser-Kriterien, schubförmiger oder sekundärprogressiver Verlauf, Diagnose einer Major Depressive Disorder, 16 oder mehr Punkte auf der Hamilton Rating Scale für Depressionen, 16 oder mehr Punkte im Beck Depressionsinventar, Verzicht auf zusätzliche psychologische oder pharmakologische antidepressive Therapien. Ausschluss: andere psychologische Auffälligkeiten, Demenz, hohe Suizidgefährdung, kürzliche Therapie mit Kortikosteroiden oder Interferon, aktuelle MS-Exazerbation, andere Störungen des ZNS, Schwangerschaft. 481 auf Depressionen gescreent, 177 nach Ein- und Ausschlusskriterien geprüft, 63 randomisiert, 52 abgeschlossen. Durchschnittsalter 43,9 Jahre (SD 10,0), 46 w, 17 m, Krankheitsdauer durchschnittlich 7,7 Jahre (Range 3 Monate bis 31,2 Jahre), mittlerer EDSS-Wert 2,4 (Range 0–8). Intervention 1 (20 (1 Drop-out) randomisiert und eingeschlossen): CBT wöchentlich für 50 min für insgesamt 16 Wochen mit individuellen Treffen mit einem Therapeuten (1 von 4 Psychologen, Setting „Forschungseinrichtung”). Veränderung von Verhalten und Kognition, Management von Symptomen und MS-assoziierten Problemen (Fatigue, mildes kognitives Defizit, Schmerzen, Stress, Intimität, Kommunikation, sexuelle Dysfunktion, soziale Probleme) zur Verbesserung der Coping-Fertigkeiten. Intervention 2 (22 (4 Drop-outs) randomisiert und analysiert): Supportivexpressive Gruppentherapie (SEG, Gruppen zu 5–9 Personen). Wöchentlich 90 min für 16 Wochen durch 2 Therapeuten (2 von 5 Psychologen, Setting „Forschungseinrichtung”). Gruppentherapie nach einem Manual für Frauen mit Brustkrebs mit Ausdrücken von MS-assozierten Gefühlen und persönlichen und sozialen Problemen, Unterstützung gruppendynamischer Prozesse ohne spezielle Diskussion zu Coping-Strategien. Ziel ist Förderung des emotionalen Ausdrückens und sozialer Unterstützung. Intervention 3 (21 (6 drop-outs) randomisiert und eingeschlossen): Therapie mit Antidepressivum Sertralin, 50–200 mg/Tag für 16 Wochen, einschließlich monatlichem Gespräch von 10–15 min zur Dosisfindung und Bewertung von Nebenwirkungen durch Psychologen und Neurologen (genaue Therapeutenanzahl nicht gegeben, Setting „Forschungseinrichtung“). Ziel aller Interventionen: Depressionsbehandlung. Evaluation vor, während (Woche 4, 8 und 12) und sofort nach der Intervention sowie nach 6-monatigem Follow-up.
106
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Mohr 2003 [14]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung
5
Gleiche Studie wie Mohr 2001 mit kleinen Abänderungen Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: B Moderat depressive MS-Patienten. Einschluss: Kriterien „Diagnose einer Major Depressive Disorder” und „16 oder mehr Punkte auf der Hamilton Rating Scale für Depressionen” nicht angewandt. Ausschluss: zusätzlich „aktuell psychologische oder pharmakologische antidepressive Therapien”. 60 abgeschlossen (22 in CBT-Gruppe, 22 in SEG-Gruppe und 16 in SertralinGruppe). Durchschnittsalter 44,6 Jahre (SD 10,3), 43w, 17 m, durchschnittliche Krankheitsdauer 8,5 Jahre (Range 3 Monate bis 31,2 Jahre), durchschnittlicher EDSS-Wert 2,45 (Range 0–8). Interventionen wie Mohr 2001, ebenfalls zur Therapie von Depressionen, aber zusätzlich auch Fatigue-Therapie.
Hart 2005 [7]
Evaluation vor und nach der Intervention. Gleiche Studie wie Mohr 2001 mit kleinen Abänderungen Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: B Einschluss: außer Kriterium „Diagnose einer Major Depressive Disorder”. Ausschluss: zusätzlich „aktuell psychologische oder pharmakologische antidepressive Therapien”. 60 abgeschlossen (21 in CBT-Gruppe, 23 in SEG-Gruppe und 16 in SertralinGruppe). Durchschnittsalter 44,8 Jahre (SD 10,3), 44 w, 16 m, durchschnittliche Krankheitsdauer 8,3 Jahre (Range 3 Monate bis 31,2 Jahre), durchschnittlicher 25-foot walk Score 18,2 (Range 3–125). Interventionen wie Mohr 2001, ebenfalls zur Therapie von Depressionen, aber zusätzlich Steigerung der Lebensqualität und des psychischen Wohlbefindens. Evaluation vor und nach der Intervention.
107 S. Twork, J. Kugler
Schwartz 1999 [17]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung 96 Wochen, 2 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie. Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: B MS-Patienten (Rekrutierung per Krankenhausregister, Annoncen in Zeitungen, Post durch die MS-Gesellschaft, Mundpropaganda und Zuweisung durch Ärzte). Einschluss: Diagnose MS durch Neurologen bestätigt, EDSS-Wert 1–8,5. Ausschluss: „auffallend psychotisch” während des Interviews. 172 interviewt, 136 randomisiert, 132 Probanden bis 2-Jahres-Follow-up verfolgt, 124 abgeschlossen, 132 analysiert (Intention-to-treat-Analyse). 42% mit chronisch progressivem Verlauf, 58% schubförmig, Durchschnittsalter 43,0 Jahre (SD 9,0), 73% w, 27% m, 30% aktuell wegen Depressionen therapiert, 11% mit kürzlicher psychiatrischer Einweisung, 24% aktuell mit emotionalen Problemen, 40% jemals wegen Depressionen behandelt, Durchschnittserkrankungsdauer 8,2 Jahre (Range 1–37), durchschnittlicher EDSS-Wert 4,7 (Range 1–8,5), 46% benötigten Gehhilfen. Intervention 1 (Anzahl Randomisierter unbekannt, 64 analysiert): Gruppe zum Erwerb von Copingfertigkeiten gefolgt von telefonischer Begleitung. 2 Stunden/Woche für 8 Wochen gefolgt von einem monatlichen Telefonanruf für 10 Monate (durch einen Partner aus der Copinggruppe). Setting Krankenhaus, durchgeführt von einem Therapeuten mit Ausbildung in Public Health und Psychologie. Themen zu emotionalen Schwierigkeiten, Zielsetzung, Umgang mit kognitiven Defiziten, Verbesserung der Kommunikation mit dem sozialen Umfeld. Teilnehmer konnten Ehepartner, guten Freund oder Verwandten in die Sitzung zum Thema soziales Netzwerk mitbringen. Ziel ist Verbesserung psychosozialer Aspekte, Anpassung an die MS und Wohlbefindens. Intervention 2 (Anzahl Randomisierter unbekannt, 64 analysiert): telefonische Unterstützung durch MS-Betroffene, die im aktiven Zuhören trainiert wurden, basierend auf der klientenzentrierten Psychotherapie nach Roger. Kein Erteilen von Ratschlägen. 1 Anruf (ca.15 min)/Monat für 1 Jahr. Anrufer wurden nach Alter, Interessenlage und Behinderungsgrad gematcht und erhielten monatliche Supervision. Evaluation vor der Intervention sowie zu den Monaten 2, 12, 18 und 24.
5
108
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Stuifbergen 2003 [21]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung
5
32 Wochen, 2 Gruppen, nicht verblindete, kontrollierte Studie. Qualität: Randomisation: A, Allokation: C, Drop-outs: A Frauen mit MS (Rekrutierung per MS Newsletter, Flyer in neurologischen Praxen, Selbsthilfegruppen, MS Fitnesstag, frühere Studienprobanden). Einschluss: weiblich, Diagnose MS durch Neurologen seit mindestens 6 Monaten, Alter 20–70 Jahre. Ausschluss: Schwangerschaft, Zusatzerkrankungen, die diätetische oder sportbezogene Veränderungen ausschließen. 142 randomisiert, 121 per Einschlusskriterien aufgenommen, 113 analysiert. Durchschnittsalter 45,79 Jahre (SD 10,09), 113 w, Durchschnittserkrankungsdauer 11,0 Jahre (SD 7), durchschnittliche Wert auf der Incapacity Status Scale 16 (SD 7). Intervention (76 randomisiert, 56 analysiert): Wellness-Programm in 2 Teilen. Teil 1: Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten für Änderungen des Lebensstils in Gruppen (8–14 Personen/Gruppe). Je 90 min über 8 Wochen. Durchgeführt von einer spezialisierten Krankenschwester und einer Person mit MS und Ausbildung in Gesundheitsförderung. Setting nicht genannt. Ziel ist die Selbsteffizienz und LQ zu steigern, Ressourcen aufzuzeigen, Frequenz gesundheitsbewussten Verhaltens zu fördern sowie empfundene Barrieren zu beseitigen. Basierend auf Konzepten des Health-Belief-Modells, des Modells zur Health Promotion nach Pender und der Selbsteffizienztheorie. Themen waren Gesundheitsförderung trotz MS, Anpassung des Lebensstils, Stressmanagement, gesunde Ernährung, körperliche Aktivitäten, Intimität und Sexualität sowie frauenspezifische Gesundheitsthemen. Zusätzlich wurden Hausaufgaben zu Zielsetzung, Selbstbewertung und Zusammenfassung des Sitzungsinhaltes verteilt. Teil 2: 2/Monat über 3 Monate Telefon-Begleitung durch die Krankenschwester. Positives Feedback zu erreichten Zielen, Teilen von Erfolgen von anderen Frauen. Ziel ist die Verbesserung der Selbsteffizienz und realistische Zielsetzung. Kontrolle (66 randomisiert, 57 analysiert): Warteliste mit Care as usual. Evaluation vor und nach der Intervention sowie 5 und 8 Monate nach Therapiebeginn.
109 S. Twork, J. Kugler
5
Tesar 2003 [22]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung 15 Wochen, 2 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie Qualität: Randomisation: C, Allokation: B, Drop-outs: A MS-Patienten (Rekrutierung ambulant). Einschluss: Diagnose MS seit mindestens 6 Monaten, EDSS 5,5, Alter 20–60 Jahre, Behandlung mit Immunmodulatoren in anerkannten Dosen (z. B. beta-Interferone). Ausschluss: aktuell Exazerbation, aktuell Kortikosteroidtherapie, psychiatrische Erkrankungen, Psychotherapie in der Anamnese. 30 randomisiert, 29 eingeschlossen und analysiert. Interventionsgruppe: Durchschnittsalter 38,2 Jahre (SD 3,2), durchschnittliche Krankheitsdauer 5,1 Jahre (SD 3,2), durchschnittlicher EDSS-Wert 3,2 (SD 1,3), 12w, 2 m. Kontrollgruppe: 13w, 2 m, Durchschnittsalter 35,7 Jahre (SD 9,9), durchschnittliche Krankheitsdauer 4,2 Jahre (SD 3,2), durchschnittlicher EDSS-Wert 2,3 (SD 0,8). 2/3 der Probanden unter antidepressiver Therapie wegen milder Depressionen. Intervention (15 randomisiert, 14 analysiert): psychologische Gruppentherapie mit CBT, körperlicher Betätigung und Entspannungsübungen. Sitzungen je 90 min/Woche für 7 Wochen in einer ambulanten Einheit, keine Informationen zu durchführenden Personen gegeben. Ziel: Senkung der Depressionen, Ängste und Etablierung adäquater Copingmuster und eines adäquaten Körperbilds. Sitzung 1: Einführung, Krankheitsverlauf und Behandlungsmöglichkeiten. Sitzung 2: psychophysiologische Konsequenzen der MS, Stress, Determination von Stressfaktoren, Planung entspannender Aktivitäten, externale und internale Ablenkungsstrategien, positives Denken in stressigen Situa tionen, Entspannung (PMR nach Jacobson, Vorstellung von Naturbildern). Sitzung 3: Diskussionen zum Thema Stress, Rollenspiele, Copingformen, Ablenkungsstrategien, Entspannung Sitzung 4: Konsequenzen der MS, Umgang mit Rollenveränderungen, negative Reaktionen aus der Umwelt, Rollenspiel, Entspannung (PMR und Wahrnehmung des eigenen Körpers). Sitzung 5: Diskussionen über Copingstrategien in Stresssituationen und über Stress durch MS, Reflektionen über neu Erlerntes, Körperwahrnehmung, Präsentation der eigenen Person (Entspannung, Konzentration auf Körper, Vorhalten eines inneren Spiegels mit anschließendem Zeichnen des Bildes). Sitzung 6: Verbesserung der Köperwahrnehmung (Visualisierung des KörperBoden-Kontaktes, von Bewegungen, dem innerem Raum und des Tastsinns). Sitzung 7: mündliche und schriftliche Evaluation. Kontrollgruppe (15 randomisiert und analysiert): keine Details beschrieben. Evaluation vor und nach der Intervention sowie Follow-up 2 Monate nach Intervention.
110
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
Wassem 2003 [25]
⊡ Tabelle 5.3. Fortsetzung
5
208 Wochen, 2 Gruppen, nicht verblindete kontrollierte Studie. Qualität: Randomisation: D, Allokation: C, Drop-outs: B MS-Patienten eines Landesverbandes (Rekrutierung per Workshop, Ärzte und MS Newsletter). Einschluss: Diagnose MS Anzahl Interessenten unbekannt, 27 randomisiert, Anzahl analysierter nicht genannt. 5 Personen im Follow-up ausgeschieden, 6 Personen nach Zuordnung zur Kontrollgruppe. MS-Verlauf nicht angegeben, Durchschnittsalter 44,0 Jahre (Range 18–54), 72% weiblich, durchschnittliche Krankheitsdauer 3,49 Jahre (Range 0,5–7), mittlerer Wert der modifizierten Disability Status Scale 3,36 (Range 0–9). Intervention (Anzahl Randomisierter und Analysierter nicht angegeben): CBT (MS-REHAB program). 2 Stunden/Woche für 4 Wochen. Leitung durch spezialisierte Krankenschwester an einer Krankenpflegeschule. Konzept aus der Literatur, Erfahrungen und anhand Banduras sozial-kognitiver Theorie mit Betonung der Eigeneffizienz entwickelt. Ziel ist Steigerung der Eigeneffizienz für Anpassungsverhalten und Outcome-Erwartungen, um so die Anpassung an die MS, Symptommanagement (Schmerz, Fatigue, Schlaf ), Wohlbefinden und Aktivität zu steigern. Unterstützung durch Überzeugung, Rollenmodellierung, Belobigung und Erfahrungen anderer. Woche 1: Krankheitsprozess, Einflussfaktoren, Stretching, medikamentöses und nichtmedikamentöses Symptommanagement, Kommunikation mit Personal im Gesundheitswesen, Stress und Entspannung. Woche 2: Entspannung, Ernährung, Management von Fatigue, Stretching, Visualisierungsübungen. Woche 3: psychosoziale Faktoren, Reaktionen anderer, Arbeit, Unterstützungsmöglichkeiten, Schlaf, Stretching, kognitive Dysfunktion. Woche 4: kognitive Dysfunktion, Gedächtnis, Einfluss der MS auf das Leben, Medikation. Hausaufgaben. Kontrolle (Anzahl Randomisierter und Analysierter nicht angegeben): Care as usual. Evaluation zu 10 Zeitpunkten: vor und direkt nach der Intervention, 3 Monate nach Intervention und aller 6 Monate über 4 weitere Jahre.
111 S. Twork, J. Kugler
5
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112
Kapitel 5 ∙ Review zu gruppenpsychotherapeutischen Ansätzen
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5
6 Das MS-Cope-Programm Sabine Twork, Joachim Kugler
Einleitung Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten von 2003 treffend formuliert [1]: „Bessere Information, Beratung und Schulung befähigt Versicherte und PatientInnen zu selbstbestimmterem Handeln, zur kritischeren Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen und führt dazu, dass Betroffene sowohl zu einem effizienteren Umgang mit Ressourcen als auch zur Verbesserung der Versorgungsqualität beitragen können. Informierte Patientinnen und Patienten sind nicht nur zufriedener, sie sind auch kooperativer. Der ‚informierte Patient’ bzw. die ‚informierte Patientin’ werden bislang unzureichend als eine wichtige Kraft zur Lösung von Problemen im Gesundheitswesen erkannt, obgleich wissenschaftliche Studien nicht nur Zufriedenheits-, sondern auch ökonomische Vorteile belegen. Noch investiert das Gesundheitssystem beinahe ausschließlich in Expertentum und technische Ausstattung und nur selten direkt in die Versicherten oder PatientInnen.“ Diese Aussage lässt sich sehr gut auf die Situation der MS-Betroffenen übertragen. Aufgrund der oft nach der Diagnose und im weiteren Verlauf herrschenden großen Verunsicherung und Verängstigung bedarf es adäquater Informationen rund um die Erkrankung. Für einen frühzeitigen optimalen Umgang mit der MS benötigen die Betroffenen die Fähigkeit
114
Kapitel 6 ∙ Das MS-Cope-Programm
zur Akzeptanz der Erkrankung, geeignete Fertigkeiten zu Krankheitsbewältigung und Stressmanagement sowie ausreichend soziale und psychologische Unterstützung. Erst dann können die Betroffenen auch aktiv und selbstbewusst an Therapieentscheidungen teilnehmen. Somit ist Hilfe zur Selbsthilfe dringend notwendig.
Ziele 6
Mit dem folgend beschriebenen Coping-Training wollten wir den Betroffenen helfen, besser mit ihrer Erkrankung zurecht zu kommen. Vor allem kürzlich diagnostizierten MS-Betroffenen (Diagnose vor maximal 2 Jahren) sollte eine Plattform zum Gedanken-, Informations- und Erfahrungsaustausch mit Gleichbetroffenen in angenehmer Atmosphäre ermöglicht werden. Darüber hinaus sollte der Kontakt der Teilnehmer untereinander gefördert und für spätere Zeiten gefestigt werden. Weitere Ziele der Intervention waren die Verbesserung der Lebensqualität, die Reduktion von Ängsten und Depressionen, eine Verbesserung der Krankheitsbewältigung und des Stressmanagements, das Aufzeigen von Ressourcen, eine Verlagerung hin zur internen Kontrollüberzeugung, Unterstützung des Reframings (Rekonzeptualisierung), Erlernen realistischer Zielsetzungen, Abbau von Gefühlen der Hilflosigkeit und Ausgegrenztheit, Verbesserung des Selbstmanagements und der Therapiecompliance, die Annahme der Krankheit als Teil der eigenen Biographie, Vermittlung einer positiven Lebenseinstellung trotz MS, die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit sowie der sozialen Unterstützung.
Allgemeine Aspekte Primär wurde das Programm für kürzlich diagnostizierte MS-Betroffene konzipiert, jedoch wurden keine Interessenten aufgrund eines längeren Krankheitsverlaufes ausgeschlossen. Auch sonst bestanden keine konkret formulierten Ein- und Ausschlusskriterien für die Trainingsteilnahme.
115 S. Twork, J. Kugler
6
Wir haben gute Erfahrungen mit einer Gruppengröße von maximal 14 Personen gemacht. Somit bestand genügend Zeit, auf jeden einzelnen Teilnehmer näher einzugehen. Als Setting der Intervention wählten wir Räume außerhalb von Krankenhäusern oder Praxen in angenehmer Umgebung, um keine Krankenhausatmosphäre oder Therapiesituation zu vermitteln. Die Sitzungen wurden von einem Trainer sowie einem Co-Trainer (teilweise auch zwei Co-Trainern) moderiert. Die fachliche Qualifikation umfasste die Bereiche Humanmedizin, Psychologie, Soziologie bzw. Public Health. Eine Supervision erfolgte jeweils nach den Sitzungen. Zusätzlich wurde eine MS-Nurse hinzugezogen, die besonders zu Fragen der Injektionstechnik und pflegerischen Aspekten Auskunft geben konnte. Der Inhalt der Sitzungen war sehr abwechslungsreich gestaltet. Dabei wechselten sich Gesprächsrunden mit Diskussionen und Erfahrungsberichten, mit Wissensvermittlung und praktischen Übungen sowie kleinen Hausaufgaben ab. Das Rekapitulieren von Gedanken zu positiven und negativen Ereignissen bis zum jeweils nächsten Gruppentreffen wurde mit Hilfe von Befindlichkeitstagebüchern (schriftliches Fixieren von Ereignissen, Reaktion darauf und Bewertung der Reaktion) ermöglicht.
Ablauf Insgesamt besteht das Coping-Training aus einer Informationsveranstaltung, sechs Gruppensitzungen und einem Follow-up von 6 Monaten mittels Internetchat (⊡ Abb. 6.1).
Informationsveranstaltung
Gruppensitzungen
Internetchats
6 Wochen
6 Monate
⊡ Abb. 6.1. Ablauf des MS-Cope-Programms
Halbjahrestreffen
116
6
Kapitel 6 ∙ Das MS-Cope-Programm
In der Informationsveranstaltung wurden die Interessenten über allgemeine Aspekte der MS sowie Ziele und Inhalte des Coping-Trainings informiert. Danach konnten sich interessierte Teilnehmer in das Programm einschreiben. Für sechs aufeinanderfolgende Wochen wurde wöchentlich jeweils 1 Sitzung à 1,5 Stunden in den frühen Abendstunden (ab 18:00 Uhr) abgehalten. Die Inhalte sind in ⊡ Tabelle 6.1 dargestellt. Anschließend folgte eine Follow-up-Phase von 6 Monaten, in denen die Teilnehmer in durchschnittlich 2-wöchentlichen Abständen mittels eineinhalbstündigem Internetchat zu einer jeweils fest vereinbarten Zeit begleitet wurden. Unter Berücksichtigung von Ferien und Feiertagen konnten so maximal 12 Chats angeboten werden. Ziel des Chats war, den Erfahrungsaustausch weiter-
⊡ Tabelle 6.1. Inhalte der sechs Gruppensitzungen Sitzung
Inhalt
1
Vorstellung des Trainingspersonals, Kennenlernen der Teilnehmer durch eine Vorstellungsrunde (Name, Alter und Zeitpunkt der Diagnosestellung), Schilderung der Gefühle und Gedanken bei Diagnosestellung („Warum gerade ich?“), Schilderung der jeweiligen Symptomatik, Umgang mit der Erkrankung im täglichen Leben, Vorstellung des Befindlichkeitstagebuchs
2
Diskussion zu Inhalten des Befindlichkeitstagebuchs, Ideensammlung und Erklärungen zur Kausalattribution bezüglich MS-Ursache und Verlauf, Diskussion von positiven und negativen Einflüssen auf den Verlauf und die Symptome, Verdeutlichung der Wichtigkeit internaler Kontrollüberzeugung
3
Ideensammlung zu Erfahrungen und Auswirkungen von Stress, Aufzeigen von Stressursachen, Stress durch eigene Katastrophenfantasien und deren Durchbrechung, Diskussion über eigene Stressbewältigungsstrategien, Vorstellung und Durchführung der Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson [2] und einer Gedankenreise (Imagination von Naturbildern) als Beispiele für Entspannungsverfahren, Tagebuchbesprechung, Hausaufgabe (Teilnehmer sollen demütigende, befremdliche Aussagen zur MS durch die Umwelt rekapitulieren)
117 S. Twork, J. Kugler
6
⊡ Tabelle 6.1. Fortsetzung Sitzung 4
Inhalt Vorstellung der Kommunikationstheorie nach Watzlawick [3], Diskussion von Erfahrungen und Reaktionen auf unangemessene Kommentare zum Thema MS (Beispiele der Teilnehmer), Vorstellung des Destruktivin-Preises (verliehen durch die Stiftung Lebensnerv für unangebrachte Kommentare zur MS), Hinweise zur Verbesserung der Kommunikation (z. B. durch Spiegeln, Ironisieren, Zurechtlegen schlagkräftiger Kommentare als Antwort), Erfahrungen zur Frage „Wem sag ich’s wie?“ (Offenbarung der MS), Tagebuchbesprechung
5
Diskussion über Notwendigkeit sozialer Unterstützung, Probleme beim Einfordern von Hilfe, Aufzeigen von Auswegen, Analyse des sozialen Netzwerkes, Belastung von Partner/Familie/Freunden, Tagebuchbesprechung, Ankündigung des Chats mit Vorstellung der Homepage www.ms-coping.de, Austausch von E-Mail-Adressen und Chatnicknamen
6
Tagebuchbesprechung, Zusammenfassung der Programminhalte und Ziele, Manöverkritik, eingehende Vorstellung der Homepage www.ms-coping.de mit Hinweisen zu Datenschutz, Anmeldung, Inhalten und Benutzung (über die Homepage können sich die Teilnehmer anmelden und Angebote wie Forum (Bekanntgaben von Terminen, Treffen, Meinungen) und Chat rund um die Uhr nutzen; die verschiedenen Teilnehmergruppen haben nur Zugriff auf die jeweils ihrer Gruppe zugeordneten Informationen)
zuführen und die Gruppenkontakte untereinander zu festigen. Der jeweils betreuende Trainer übernahm die Aufgabe der Moderation. Themen ergaben sich aus den Berichten der Teilnehmer (Tagebuch) bzw. wurden bei etwas trägem Diskussionsverlauf vorgegeben (z. B. MS und Urlaubsplanung, MS und Arbeitsplatz, MS und Rentenansprüche etc.). Nach der Phase der Chatbegleitung wurden die Teilnehmer zum Halbjahrestreffen eingeladen, um Feedback zu Effekten des Trainings und der Chats zu diskutieren.
118
Kapitel 6 ∙ Das MS-Cope-Programm
Evaluation
6
Die Evaluation des Programms (⊡ Abb. 6.2) erfolgte nach schriftlicher Einwilligung und Aufklärung zu Datenschutzaspekten mittels standardisierter, anonymer Fragebögen. Fragebogen A erhob Angaben zu soziodemographischen Daten (Alter, Geschlecht, Familienstand, Wohnsituation, Schulbildung, Erwerbstätigkeit), MS-Verlauf, Erkrankungsdauer, Zeitpunkt erster Symptome, aktuellen Symptomen (Probleme mit Sehschärfe, Lähmungen, Schwindelgefühl, Koordinationsstörungen, Sprechstörungen, Gehstörungen, Störungen der Gefühlswahrnehmung, Muskelschwäche, Spastik, Miktions- und Defäkationsprobleme, sexuelle Probleme, psychische Probleme, Rollstuhlpflicht), Schubanzahl, Begleiterkrankungen, Versorgung (medikamentöse und nichtmedikamentöse Therapie inkl. Alternativmedizin), Therapietreue, Therapeuten, stationäre Aufenthalte und Rehabilitation, Anzahl Arztbesuche und Physiotherapien/Quartal, Psychotherapie, Zufriedenheit mit Therapie und Therapeuten, Informationsquellen bzgl. MS und deren Bewertung, sozialer Rückhalt (Personen des Vertrauens), Lebensqualität (visuelle Analog-Skala von 0 bis 100, SF-36) [4], CopingVerhalten (FKV-LIS) [5], Angst und Depressivität (HADS) [6]. Zusätzlich wurde die Zufriedenheit der Teilnehmer mit dem Programm (Fragebogen B) und dem Chat (Fragebogen C) bewertet (Akzeptanz, Wohlbefinden während des Trainings, Verständlichkeit, Erfüllung von Erwartungen, Verbesserungsvorschläge). Die Evaluation mittels Fragebogen A erfolgte jeweils zu Beginn und Ende des Trainings sowie nach der sechsmonatigen Chatbegleitung. Die Evaluation mittels Fragebogen B erfolgte nach der dritten Sitzung (Abschät-
Informationsveranstaltung
Gruppensitzungen A
B
6 Wochen
Internetchats
A+B
Halbjahrestreffen A+C
6 Monate
⊡ Abb. 6.2. Zeitplan der Evaluation mittels Fragebögen
119 S. Twork, J. Kugler
6
zung, ob Adaptationen des Programms vorgenommen werden müssen) und am Ende des Trainings, unmittelbar nach der sechsten Sitzung. Fragebogen C wurde zum Halbjahrestreffen nach sechs Monaten verteilt. Danksagung. In diesem Rahmen möchten wir uns herzlich bei der Firma
Serono für das Sponsoring und die tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung des Coping-Trainings bedanken, wobei besonderer Dank Arite Schima und Dominique Freitag gilt. Dadurch konnte das Programm ohne Kosten für die Betroffenen durchgeführt werden.
Literatur 1. Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Finanzierung, Nutzerorientierung und Qualität. Bd 1. Gutachten 2003, S 220f 2. Lehrer PM. How to relax and how not to relax: a re-evaluation of the work of Edmund Jacobson I. Behav Res Ther 1982; 20(5):417–428 3. Watzlawick P, Beavin J, Jackson D. Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Huber, Bern, 2000 4. Bullinger M, KI. SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand. Handanweisung. Hogrefe, Göttingen, 1998 5. Muthny FA. FKV Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung. Beltz, Weinheim, 1989 6. Herrmann-Lingen C, Buss U, Snaith RP. HADS-D Hospital Anxiety and Depression Scale – German Version. 2nd edn. Huber, Bern, 2005
7 Erste Ergebnisse zur Untersuchung der Effektivität des Coping-Trainings „MS-Cope“ Sabine Twork, Joachim Kugler
Einleitung Das vorab beschriebene Programm zur Krankheitsbewältigung bei MS wurde bislang in einem Pilotprojekt an 42 MS-Betroffenen evaluiert. Dabei wurden die Akzeptanz des Programms und Auswirkungen auf die Lebensqualität, das Coping-Verhalten sowie auf Ängste und Depressivität untersucht.
Methode Während des Pilotprojektes wurden MS-Betroffene in den Städten Chemnitz und Leipzig per Informationsveranstaltungen, Flyern in neurologischen Schwerpunktpraxen und der MS-Ambulanz des Universitätsklinikums Leipzig bzw. per Überweisung des behandelnden Neurologen rekrutiert. In Chemnitz konnten so drei Gruppen (n = 34) und in Leipzig eine Gruppe (n = 8) gebildet werden. Aufgrund der relativ geringen Anzahl an Probanden sahen wir von einem Kontrollgruppendesign ab. In allen vier Gruppen wurde das gleiche Programm angewendet; daher wurden die Daten der Gruppen für die statistische Auswertung gepoolt. Von vier Probanden
122
7
Kapitel 7 ∙ Effektivität des Coping-Trainings „MS-COPE“
konnten keine Daten bei der Evaluation unmittelbar nach dem Training erhoben werden. Drei der Teilnehmer schieden aus emotionalen Gründen nach dem ersten Gruppentermin aus, ein anderer Teilnehmer war zum Zeitpunkt der Endevaluation nicht anwesend und auch nach mehrmaligen Kontaktversuchen nicht erreichbar. Trotzdem wurden die vorhandenen Daten in die Evaluation integriert. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 37,8 Jahren (Standardabweichung (SD) 10,4 Jahre, Range 19–60 Jahre), der Frauenanteil betrug 73,8%, die Erkrankungsdauer lag im Median bei 21 Monaten (Range 1–336 Monate). 78,6% der Teilnehmer wiesen einen schubförmigen Verlauf auf, 14,3% einen sekundär und 2,4% einen primär progredienten Verlauf. 4,8% der Probanden wussten ihren Verlauf nicht einzuordnen. Keiner der Probanden war rollstuhlpflichtig, jedoch berichteten 21,4% der Teilnehmer über Lähmungserscheinungen bzw. Spastiken, 40,5% über Muskelschwäche und 57,1% über Gehprobleme. Psychische Probleme (aus Sicht des Patienten, teils keine gesicherte Diagnose!) gaben immerhin 59,5% der Teilnehmer an. Obwohl das Programm primär für neu diagnostizierte Betroffene (Diagnose < 2 Jahre) angedacht war, haben wir aus ethischen Gründen keine MSBetroffenen mit längerem Krankheitsverlauf abgewiesen. Das Programm bestand aus 6 Sitzungen zu 1,5 h (Details s. Kapitel zum Coping-Training), gefolgt von einer halbjährigen Begleitung mittels Internetchats zu je 1,5 h (insgesamt 9–10 Termine). Die Durchführung erfolgte jeweils in den frühen Abendstunden außerhalb von Klinik- oder Praxisräumen. In den Sitzungen waren von insgesamt drei Trainern mindestens ein Trainer und ein Co-Trainer anwesend, die über Qualifikationen in Humanmedizin, Psychologie, Soziologie und Public Health verfügten. Zusätzlich war eine MS-Nurse anwesend. Nach einer Datenschutzaufklärung und Unterzeichnung der Einverständniserklärung wurden mittels anonymer Fragebögen neben soziodemographischen Daten die Lebensqualität (SF-36; Skala 0–100; hohe Werte bedeuten eine bessere Lebensqualität) [1], das Copingverhalten (FKV-LIS, 1 = gar nicht bis 5 = sehr stark) [2] und der Angst- und Depressivitätsstatus (HADS-D, Werte < 7 normal, 8–10 grenzwertig, > 10 auffällig) [3] unmittelbar vor und nach dem sechswöchigen Sitzungsblock sowie nach dem halbjährigen Follow-up untersucht. Zu beachten ist dabei, dass der HADS-D manifeste psychische Störungen (Angst und Depressivität) beschreibt, jedoch der FKV-LIS vor allem auf die Strategien der Krankheitsbewältigung abzielt.
123 S. Twork, J. Kugler
7
Zusätzlich wurden die Akzeptanz des Programms (Bewertung durch Schulnoten von 1–6) sowie Anregungen und Verbesserungsvorschläge nach dem dritten Treffen, am Ende der sechsten Sitzung und nach dem sechsmonatigen Follow-up erfasst. Zur statistischen Auswertung wurde das Programm SPSS (Version 12.0) verwendet. Neben deskriptiver Statistik wurde für den Vergleich der Werte vor und nach dem Training der t-Test für gepaarte Stichproben eingesetzt (zweiseitiges Signifikanzniveau, p < 0,05).
Ergebnisse Insgesamt haben 40,5% der Teilnehmer alle Veranstaltungen besucht, 38,1% fehlten bei einem Termin, 11,9% bei zwei Terminen und nur 9,5% bei mehr als zwei Terminen (inkl. der drei Drop-outs aufgrund emotionaler Probleme). Im Folgenden wird auf die Ergebnisse zu Lebensqualität, Ängsten/ Depressionen, Coping-Verhalten sowie die Akzeptanz eingegangen.
Lebensqualität (SF-36) [1] Im Bereich der wahrgenommenen Lebensqualität konnte nur für die Unterkategorie „soziale Funktionsfähigkeit“ nach Abschluss des Trainingsprogramms eine signifikante Verbesserung nachgewiesen werden (⊡ Tabelle 7.1). Die Kategorie „körperliche Rollenfunktion“ wies auch Verbesserungen auf, die sich jedoch nicht signifikant vom Vorwert unterschieden. Die Bereiche „allgemeine Gesundheitswahrnehmung“, „körperliche Funktionsfähigkeit“ und „Vitalität“ zeigten kaum Veränderungen. In den Kategorien „körperliche Schmerzen“, „emotionale Rollenfunktion“ und „psychisches Wohlbefinden“ kam es zu leichten, jedoch nicht signifikanten Verschlechterungen.
Coping-Verhalten (FKV-LIS) [2] Beim Coping-Verhalten zeigte sich eine signifikante Verbesserung der „depressiven Krankheitsverarbeitung“ sowie eine Abnahme von „Ablenkung“ (⊡ Tabelle 7.2). Hingegen gab es kaum Veränderungen in den Bereichen
124
Kapitel 7 ∙ Effektivität des Coping-Trainings „MS-COPE“
⊡ Tabelle 7.1. Subjektive Lebensqualität vor und nach dem Trainingsprogramm
7
Lebensqualitätsbereiche
Mittelwert vor Training (SD)
Mittelwert nach Training (SD)
Signifikanz (p)
Körperliche Funktionsfähigkeit
76,84 (25,13)
76,18 (24,36)
n.s.
Körperliche Rollenfunktion
60,14 (41,44)
65,54 (40,55)
n.s.
Körperliche Schmerzen
74,40 (28,14)
70,60 (27,78)
n.s.
Allgemeine Gesundheitswahrnehmung
57,41 (20,78)
57,22 (22,11)
n.s.
Vitalität
51,22 (18,27)
51,08 (21,70)
n.s.
Soziale Funktionsfähigkeit
73,68 (24,45)
79,93 (22,61)
0,042
Emotionale Rollenfunktion
77,63 (35,99)
72,81 (36,23)
n.s.
Psychisches Wohlbefinden
69,41 (19,12)
67,57 (19,18)
n.s.
SD Standardabweichung, p Signifikanzniveau, n.s. nicht signifikant
„aktives problemorientiertes Coping“, „Religiosität und Sinnsuche“ und „Bagatellisierung und Wunschdenken“.
Angst/Depressivität (HADS-D) [3] Im Mittel sind die Werte für Angst und Depressivität vor und nach der Intervention unauffällig (normale Werte < 7; ⊡ Tabelle 7.3). Ein Teil der Teilnehmer zeigte jedoch für Angst sowie Depressivität grenzwertige bis teils deutlich auffällige Werte (Angst: 14,2% bzw. 14,4%; Depressivität: 9,6%
7
125 S. Twork, J. Kugler
⊡ Tabelle 7.2. Coping-Verhalten vor und nach dem Trainingsprogramm Bereiche des CopingVerhaltens
Mittelwert vor Training (SD)
Mittelwert nach Training (SD)
Signifikanz (p)
Depressive Krankheitsverarbeitung
1,96 (0,75)
1,77 (0,66)
0,026
Aktives problemorientiertes Coping
3,18 (0,82)
3,21 (0,74)
n.s.
Ablenkung
3,59 (0,62)
3,35 (0,78)
0,048
Religiosität/Sinnsuche
2,57 (0,58)
2,69 (0,74)
n.s.
Bagatellisierung/ Wunschdenken
1,94 (0,82)
1,76 (0,73)
n.s.
SD Standardabweichung, p Signifikanzniveau, n.s. nicht signifikant
⊡ Tabelle 7.3. Angst und Depressivität vor und nach dem Trainingsprogramm HADS-D
Mittelwert vor Training (SD)
Mittelwert nach Training (SD)
Signifikanz (p)
Angst
6,53 (4,14)
5,13 (3,89)
0,006
Depressivität
4,68 (3,69)
4,21 (3,47)
n.s.
SD Standardabweichung, p Signifikanzniveau, n.s. nicht signifikant
bzw. 7,2%). Diese haben sich in den meisten Fällen nach dem Trainingsprogramm verbessert (Angst: jeweils 12,0%; Depressivität: 11,7% bzw. 2,4%; 9,5% (Drop outs) unklar). Eine statistisch signifikante Verbesserung konnte jedoch nur bezüglich „Angst“ nachgewiesen werden.
126
Kapitel 7 ∙ Effektivität des Coping-Trainings „MS-COPE“
Akzeptanz
7
Alle Probanden (n = 38) würden das Programm anderen MS-Betroffene weiterempfehlen (100%). Besonders positiv wurden die Atmosphäre, das Zusammensein mit anderen MS-Betroffenen, die Relevanz der vermittelten Inhalte und deren verständliche Vermittlung bewertet (⊡ Tabelle 7.4). Gruppengröße, Zeitpunkt und Anzahl der Sitzungen sowie die Räumlichkeiten wurden als angenehm empfunden. Für die Teilnehmer war das Training sehr wichtig und sie verzeichneten positive Auswirkungen auf ihr Allgemeinbefinden. Hingegen hat sich weniger die Einstellung zur MS verändert und weniger neue Informationen wurden angeboten. Zusätzlicher Bedarf bzw. der Wunsch nach Vertiefung bestand für Themen wie Partnerschaft, Familie, Arztwahl, weitere soziale Aspekte, Behörden und Unterstützungsmöglichkeiten, Informationen zu Medikamenten und anderen Therapien. Außerdem wurde ein Handbuch zum Training gewünscht. Neben der schriftlichen Evaluation sollten die Teilnehmer als Manöverkritik nochmals mündlich ihre Eindrücke zum Training schildern, von denen einige stichpunktartig genannt sind: ▬ angenehme Umgebung, da keine Krankenhausatmosphäre, ▬ Austausch mit anderen Betroffenen wertvoll, ▬ bewussterer Umgang mit dem Spritzen der Medikamente, ▬ Ansprechpartner im Training, die die Sorgen und Probleme wirklich verstehen, ▬ Aufmunterung, da es allen Teilnehmern trotz MS doch recht gut geht, ▬ von Erfahrungen Älterer profitieren, ▬ mehr Wegbewegung von Verdrängung, hin zur Verarbeitung und bewussten Auseinandersetzung sowie Akzeptanz der MS, ▬ mehr psychischer Profit anstatt neuer Informationen, ▬ Ansprechen von Problemen und Ängsten fördert das „Über-sich-Nachdenken“, ▬ ehrliches und offenes Sprechen in der Gruppe, ▬ Aufbau, Ermutigung und Verständnis untereinander, ▬ gute Tipps durch Moderatoren (z. B. durch MS-Nurse), ▬ vorher kein Kontakt zu anderen MS-Betroffenen,
7
127 S. Twork, J. Kugler
⊡ Tabelle 7.4. Evaluation zur Akzeptanz am Ende des Trainings Mittelwert (SD)
Spannweite
Atmosphäre während des Trainings
1,32 (0,471)
1–2
Informationen verständlich vermittelt
1,37 (0,589)
1–3
Training mit anderen Betroffenen hat gut getan
1,41 (0,686)
1–4
Während des Trainings wohlgefühlt
1,53 (0,647)
1–3
Ort der Sitzungen
1,63 (1,282)
1–6
Training war wichtig für mich
1,71 (0,956)
1–4
Anzahl Sitzungen gesamt
1,75 (0,439)
1–2
Dauer der Sitzungen
1,92 (0,273)
1–2
Wichtigkeit der Inhalte
1,97 (0,822)
1–4
Größe der Gruppe
2,00 (0,000)
2–2
Positive Auswirkung auf Allgemeinbefinden
2,18 (1,136)
1–6
Zeitpunkt der Sitzungen
2,21 (1,234)
1–6
Neue Informationen zur MS
2,63 (1,282)
1–6
Hat Einstellung zur MS verändert
3,32 (1,435)
1–6
SD Standardabweichung
▬ ▬ ▬ ▬
Verlust der „Angst“ vor der eigenen Krankheit, Training eher geeignet für Neubetroffene, evtl. „Behördenratgeber“ einbauen, man denkt dadurch zu viel über MS nach,
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Kapitel 7 ∙ Effektivität des Coping-Trainings „MS-COPE“
▬ ▬ ▬
mehr Ratschläge zu Rechten gegenüber Arbeitgebern, manchmal erschreckend für Betroffene mit wenig ausgeprägter Symptomatik, zu wenig Sitzungen etc.
Von einer Auswertung der Daten zu Akzeptanz, Lebensqualität, CopingVerhalten, Angst und Depressivität nach dem sechsmonatigen Follow-up haben wir derzeit abgesehen, da bislang erst Daten von 1 Gruppe (n = 14) vorliegen.
7
Diskussion Insgesamt hat das Programm in der Pilotphase bei den Teilnehmern sehr großen Zuspruch gefunden und wurde als äußerst wichtig erachtet. Ähnliches beschrieben auch Tesar et al. in ihrer Studie mit MS-Betroffenen [4]. Für viele der Betroffenen war es sehr wichtig, mit anderen MS-Erkrankten in Kontakt zu treten. Dadurch fühlten sich die Teilnehmer nicht so allein mit der Erkrankung und besser verstanden. In den Gruppen fanden die Teilnehmer den Mut, offen über ihre Sorgen und Probleme, aber auch über Erfahrungen und Erfolge zu sprechen. Die Atmosphäre war frei und locker. Es fanden unter Einbezug aller Gruppenteilnehmer rege Diskussionen statt und immer wieder erfolgten gegenseitiges Mutzusprechen und Aufmunterungen. Ähnliche Erfahrungen machten auch Landoni und Kollegen in ihren MS-Gruppen [5]. Zunehmend beobachteten wir, dass auch außerhalb der Gruppentreffen Kontakte untereinander geknüpft wurden. Neben diesen subjektiven Aspekten konnten wir trotz recht geringer Teilnehmerzahlen objektiv Verbesserungen in den Bereichen Lebensqualität, Angst und Coping-Verhalten nachweisen. Im Folgenden sollen mögliche Ursachen für die gemessenen Veränderungen diskutiert und mit der vorhandenen Literatur verglichen sowie Limitierungen des Projektes aufgezeigt werden. Die Verbesserung der Lebensqualität im Bereich „soziale Funktionsfähigkeit“ könnte folgendermaßen erklärt werden: Im Training wurden Kommunikationsstrategien vermittelt, Ressourcen im sozialen Netzwerk
129 S. Twork, J. Kugler
7
aufgezeigt, das einfache Einfordern von Hilfe angesprochen und angeregt, über die persönlichen Beziehungen intensiver nachzudenken. Eventuell konnten dadurch Berührungsängste abgebaut und die interpersonelle Kommunikation verbessert werden. Welche Gründe letzten Endes ausschlaggebend waren, bleibt jedoch spekulativ. Unsere Beobachtungen decken sich mit denen von Schwartz et al. [6], die bei ihrem Coping-Training in der Interventionsgruppe bezüglich Rollenausübung deutliche Verbesserungen in „psychosozialer“ und „körperlicher Limitierung“ nachwiesen. Jedoch unterschieden sich die Effekte statistisch nicht signifikant von der Kontrollgruppe. Bezüglich Veränderungen im sozialen Netzwerk und resultierender sozialer Unterstützung konnten wir keine Aussagen treffen, da dies kein Zielparameter der Studie war. In der Studie von Stuifbergen et al. [7], in der ein Wellness-Programm für Frauen mit MS (inkl. Entspannungsverfahren, gesundem Lebensstil, psychische Aspekte etc) angewendet wurde, gibt es jedoch Hinweise, dass es, verglichen mit der Kontrollgruppe, zu keinen Veränderungen kommt. In der Studie von Stuifbergen et al. [7] konnten bei gleichem Messinstrument (SF-36) keine Veränderungen im Bereich „soziale Funktionsfähigkeit“ nachgewiesen werden. Jedoch kam es, verglichen mit der Kontrollgruppe, zu signifikanten Verbesserungen in den Lebensqualitätsaspekten „körperliche Schmerzen“ und „psychisches Wohlbefinden“. In den anderen Lebensqualitätsbereichen konnten, wie bei unserer Studie, ebenfalls keine signifikanten Veränderungen nachgewiesen werden. Hart et al. [8] wiesen ebenfalls mittels MS-bezogenem Lebensqualitätsfragebogen positive Effekte auf die Lebensqualität (Summenscore für „körperliche Gesundheit“, „mentale Gesundheit“ und „Gesamt-Lebensqualität“) nach Gruppeninterventionen nach. Die Reduktion von Ängsten ist dadurch erklärbar, dass den Teilnehmern durch intensive Aufklärung über die Erkrankung, Hilfs- und Therapiemöglichkeiten falsche Vorstellungen genommen sowie eventuelle unberechtigte Befürchtungen, Vorurteile zur MS und Zukunftsängste korrigiert bzw. gemildert werden konnten. Die Teilnehmer konnten die Schicksale der anderen verfolgen und eigene Gedanken, Sorgen, Probleme und Erfahrungen reflektieren und analysieren. Ebenso dürften die Teilnehmer gegenseitig von möglichen Lösungsstrategien für diverse Probleme und zahlreichen Ermutigungen durch die anderen Teilnehmer profitieren. Da die Gruppen
130
7
Kapitel 7 ∙ Effektivität des Coping-Trainings „MS-COPE“
zum größeren Teil aus neu diagnostizierten Betroffenen bestanden, lässt sich streiten, ob die Erwartungen an die MS und ihren möglichen Verlauf nicht zu optimistisch gesehen werden, da „Negativbeispiele“ mit schwerem Verlauf fehlten. Auch Larcombe et al. [9] berichteten über eine Reduktion von Ängsten nach kognitiver Verhaltenstherapie in ihrer Interventionsgruppe, jedoch wurden keine Aussagen darüber gemacht, inwieweit es signifikante Unterschiede zur Kontrollgruppe gab. Hingegen konnten Tesar et al. [4] ebenfalls nach kognitiver Verhaltenstherapie in MS-Gruppen keine Veränderungen im Verlauf der Therapie (inkl. Follow-up) bzw. keine Unterschiede zur Kontrollgruppe nachweisen. Ähnliche Resultate lieferte die Studie von Crawford et al. [10]. Da jeweils unterschiedliche Messinstrumente zur Erfassung von Angst genutzt wurden, bleibt offen, inwieweit dies Einfluss auf die gemessenen Effekte hatte. Beim Coping-Verhalten wurden deutlich weniger „depressive Krankheitsverarbeitung“ und „Ablenkung“ verzeichnet. Auch dies könnte durch das Aufzeigen von Ressourcen und dem Profitieren von Erfahrungen und Strategien anderer Teilnehmer erklärbar sein. Wir versuchten den Betroffenen klarzumachen, dass die Regie für ihr Leben in ihren eigenen Händen liegt und sie für ihr eigenes Wohl selbst aktiv werden sollten. Zusätzlich könnten sich Anregungen zu positivem Denken und einer positiven Grundeinstellung zum Leben, Blockierung von Katastrophenphantasien, Konzentration auf Ressourcen sowie die Motivation, die Dinge auch aus anderen Perspektiven zu beleuchten, förderlich auf die Krankheitsverarbeitung und -akzeptanz ausgewirkt haben. Die Teilnehmer gaben zwar an, dass sich die Einstellung zur MS nicht großartig verändert hätte, jedoch berichteten viele, sich wesentlich intensiver mit der Erkrankung auseinander zu setzen. Durch die intensiven Dialoge wurde vielen Betroffenen erst bewusst, wie weit sie das Problem MS von sich geschoben hatten. Durch eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Thema fanden viele der Probanden einen besseren Zugang zur Erkrankung und waren daher wahrscheinlich empfänglicher für Lösungsmöglichkeiten. Ähnliche Auswirkungen auf die Krankheitsbewältigung beschrieben auch Tesar et al. [4]. Jedoch konnten sie bei gleichem Messinstrument (FKV-LIS) nur statistisch signifikante Verbesserungen im Bereich „depressives Coping“ nachweisen, die sich auch deutlich von der Kontrollgruppe abhoben. Dieser Effekt hielt auch noch 2 Monate nach Intervention an.
131 S. Twork, J. Kugler
7
Ähnlich wie die Werte für Angst waren auch die Werte für Depressivität zu Beginn der Intervention im Mittel normal. In einzelnen Fällen haben sich grenzwertige bzw. auffällige Werte gebessert. Insgesamt kam es jedoch zu keiner statistisch signifikanten Veränderung der Depressionswerte. Deutlichere Effekte wurden in der Literatur hingegen für initial depressive MS-Patienten beschrieben. So zeigten vor allem die Studien von Mohr et al. [11] und Larcombe et al. [9] eine deutliche Reduktion von Depressionen bei MS-Betroffenen, die sich psychologischen Gruppeninterventionen unterzogen. Ebenfalls deutliche Effekte in der Depressionsreduktion erzielten auch die Interventionen von Tesar et al. [4] und Crawford et al. [10], deren Probanden initial jedoch nicht explizit als depressiv eingestuft wurden. Da die vorgestellte Untersuchung ein Pilotprojekt im Raum Sachsen ist, sind neben den erfreulichen Ergebnissen auch Limitierungen und Verbesserungsmöglichkeiten zu diskutieren. Die Ergebnisse sollten auf jeden Fall durch eine Kontrollgruppe ohne Intervention verifiziert werden. Zusätzlich sollten noch mehr Teilnehmer eingeschlossen werden. Dadurch werden eventuell einige Effekte noch deutlicher sichtbar. Die Rekrutierung der Teilnehmer wirft das Problem des Selektionsbias auf, da wahrscheinlich besonders motivierte MS-Betroffene in die Gruppen aufgenommen wurden. Während der Informationsveranstaltungen versuchten wir mittels Fragebogen herauszufinden, welche Betroffenen sich besonders für unser Programm interessierten. Leider wollten alle Teilnehmer am Training teilnehmen, so dass keine Vergleichsgruppe mit „Nicht-Interessierten“ zustande kam. Die Ergebnisse des Follow-up nach sechsmonatiger Internetchatbegleitung bleiben noch abzuwarten, um einen mittelfristigen Effekt der Intervention abschätzen zu können. Über langfristige Effekte des Trainingsprogramms kann momentan nur spekuliert werden, da keine weiteren Nachuntersuchungen angedacht sind. Einige der Teilnehmer schlugen eine Ausweitung des Programms auf Familienangehörige vor. Ähnliche Vorschläge kommen ebenfalls aus der Fachliteratur z. B. von Landoni et al. [5], die darin die Möglichkeit der Verbesserung des Familienlebens sehen. Es bietet sich so die Möglichkeit, unter Angehörigen das Verständnis für die Erkrankung und eventuelle Reaktionen der MS-Betroffenen zu fördern und Raum zu bieten, eigene Bedürfnisse, Sorgen und Gefühle auszudrücken. Inwieweit und ob die MS-Betroffenen mit in diese Art von Programm einbezogen werden sollten, bleibt zu diskutieren.
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Kapitel 7 ∙ Effektivität des Coping-Trainings „MS-COPE“
Diese Untersuchung war als Pilotstudie angelegt worden, um das Programm sowie dessen Akzeptanz bei MS-Betroffenen zu testen. In einer zukünftigen, größeren, prospektiv und randomisiert angelegten Studie mit Wartegruppendesign muss die Wirksamkeit des Programms jedoch noch objektiviert werden.
Schlussfolgerung
7
Bereits im Rahmen des Pilotprojektes konnten günstige Auswirkungen des Coping-Trainings auf Lebensqualität, Ängste und Krankheitsbewältigungsverhalten bei sehr guter Akzeptanz nachgewiesen werden. Gerade Neudiagnostizierte scheuen oftmals aufgrund von Konfrontationsängsten mit dem möglichen Leid den Kontakt zu Betroffenen mit langer Krankheitskarriere in bereits etablierten Selbsthilfegruppen. Somit stellen Trainingsgruppen wie im vorgestellten Programm eine sinnvolle Ergänzung in der Begleitung vor allem neu diagnostizierter MS-Betroffener dar. Danksagung. An dieser Stelle sei besonders Frau Arite Schima und Frau
Dominique Freitag von der Firma Serono zu danken, durch deren finanzielle wie auch logistische Unterstützung das Projekt erst ermöglicht wurde. Ebenso danken wir Dr. med. Reinhardt Dachsel, der uns maßgeblich bei der Patientenrekrutierung half.
Literatur 1. Bullinger M, KI. SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand. Handanweisung. Hogrefe, Göttingen, 1998 2. Muthny FA. FKV Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung. Beltz, Weinheim, 1989 3. Herrmann-Lingen C, Buss U, Snaith RP. HADS-D Hospital Anxiety and Depression Scale – German Version. 2. edn. Huber, Bern 2005 4. Tesar N, Baumhackl U, Kopp M, Gunther V. Effects of psychological group therapy in patients with multiple sclerosis. Acta Neurol Scand 2003; 107(6): 394–399 5. Landoni MG, Giordano MT, Guidetti GP. Group psychotherapy experiences for people with multiple sclerosis and psychological support for families. J Neurovirol 2000; 6 Suppl 2: S168–S171
133 S. Twork, J. Kugler
7
6. Schwartz CE. Teaching coping skills enhances quality of life more than peer support: results of a randomized trial with multiple sclerosis patients. Health Psychol 1999; 18(3): 211–220 7. Stuifbergen AK, Becker H, Blozis S, Timmerman G, Kullberg V. A randomized clinical trial of a wellness intervention for women with multiple sclerosis. Arch Phys Med Rehabil 2003; 84(4): 467–476 8. Hart S, Fonareva I, Merluzzi N, Mohr DC. Treatment for depression and its relationship to improvement in quality of life and psychological well-being in multiple sclerosis patients. Qual Life Res 2005; 14(3): 695–703 9. Larcombe NA, Wilson PH. An evaluation of cognitive-behaviour therapy for depression in patients with multiple sclerosis. Br J Psychiatry 1984; 145: 366–371 10. Crawford JD, McIvor GP. Group psychotherapy: benefits in multiple sclerosis. Arch Phys Med Rehabil 1985; 66(12): 810–813 11. Mohr DC, Boudewyn AC, Goodkin DE, Bostrom A, Epstein L. Comparative outcomes for individual cognitive-behavior therapy, supportive-expressive group psychotherapy, and sertraline for the treatment of depression in multiple sclerosis. J Consult Clin Psychol 2001; 69(6): 942–949
8 Krankheitsbewältigungstrainings für MS-Betroffene: die Sicht niedergelassener Neurologen Sabine Twork, Joachim Kugler
Einleitung Aufgrund der Bewältigungsprobleme und psychischen Belastungen, die aus der Erkrankung resultieren, ist eine intensive Begleitung von Multiple-Sklerose-(MS-)Patienten sinnvoll und notwendig. Ziel ist die Hilfe zur Selbsthilfe durch adäquate Informationen, Vermittlung von Fertigkeiten zum Selbstmanagement, Stärkung eigenen Fürsorgeverhaltens und Aufzeigen von Ressourcen. Dazu bieten sich ideal Coping-Trainings auf Gruppenbasis an. Der Bedarf an Interventionen zur Krankheitsbewältigung bei MS ist in Deutschland jedoch noch groß. Bislang gibt es bei uns keine flächendeckenden Programme zur Krankheitsbewältigung bei MS, bzw. es sind nur wenige wissenschaftlich evaluiert. Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, wie niedergelassene Neurologen (Hauptansprechpartner der MS-Betroffenen) den Bedarf an Krankheitsbewältigungstrainings (KBTs) einschätzen und welche zusätzlichen compliancefördernden Maßnahmen sie in ihren Praxen derzeit bevorzugen.
136
Kapitel 8 ∙ Krankheitsbewältigungstraining für MS-Betroffene
Methodik
8
Im Jahr 2006 wurde deutschlandweit 1575 niedergelassenen Neurologen postalisch ein kurzer, standardisierter, anonymer Fragebogen zugesandt. Die Rekrutierung erfolgte über das Neurologenregister des Außendienstes der Firma Serono sowie einem Register der e-med-GmbH, da ein komplettes deutschlandweites Register an niedergelassenen Neurologen (z. B. durch den Berufsverband Deutscher Neurologen) fehlt. Die Fragen bezogen sich auf die Anzahl jährlich betreuter MS-Patienten, Erfahrungen mit KBTs, Einschätzungen über deren Bedarf, Ziele, Ort und durchführendes Personal, Kostenübernahme, Einschätzung der Compliance bezüglich immunmodulierender Therapien und compliancefördernde Maßnahmen in der Praxis. Der Rücklauf betrug 404 Fragebögen (25,7%), von denen 344 Bögen vollständig bei uns per Post oder Fax eingingen. Zur statistischen Auswertung wurden mittels Programm SPSS (Version 12.0) deskriptive Verfahren, Chi2-Test und der t-Test für unabhängige Stichproben verwendet. p-Werte < 0,05 wurden als statistisch signifikant angesehen.
Ergebnisse 66,8% (229/344) der Praxen betreuen bis 100 MS-Patienten jährlich, 29,2% (100/344) bis zu 400 MS-Patienten und 4,1% (14/344) mehr als 400 MSPatienten pro Jahr. Ein Großteil der niedergelassenen Neurologen (44,2%, 149/337) hatte bislang keinerlei Erfahrungen mit KBTs. 33,2% (112/337) gaben an, davon gelesen oder gehört zu haben und immerhin 22,6% (76/337) haben bereits Erfahrungen mit KBTs gesammelt. Ein großer Bedarf an KBTs wird v. a. bei neu diagnostizierten und psychisch auffälligen MS-Betroffenen gesehen sowie bei Angehörigen (⊡ Abb. 8.1). Einer breiten Anwendung für alle MS-Betroffenen würden etwa 30% zustimmen. Etwa 8% der niedergelassenen Neurologen sahen nur bei ausgewählten Fällen (schwerer Verlauf, starke Behinderung, große Verunsicherung, Interesse, hohe Motivation etc.) oder in Regionen ohne MS-Gruppenarbeit einen Bedarf für KBTs. Fünf Neurologen sahen keinen Bedarf an KBTs, da ihrer Meinung nach eine „individuelle Beratung ausreicht“ bzw. der „behandelnde Arzt primär Krank-
8
137 S. Twork, J. Kugler
Prozent
60
40
20
0 Neudiagnostizierte
psychisch Auffällige
Angehörige
alle MSPatienten
andere Indikation
nein
⊡ Abb. 8.1. spezielle Zielgruppen für Coping-Trainings (n = 344, Mehrfachantworten möglich)
heitsbewältigung ansprechen sollte“, „Pharmafirmen dabei zu viel Wert auf Produktwerbung legen“, „sich die Betroffenen ohnehin zu viel mit der Erkrankung beschäftigten, anstatt ihr Leben so gut wie möglich weiterzuführen“ und „zurzeit die (Pharma-)Firmen und AMSEL genug anbieten“. Als sinnvolle Ziele eines KBTs wurden v. a. Aspekte wie Bekämpfung von Ängsten und Unsicherheiten wegen der MS, Reduktion der Depressivität, Lebensqualität und Wohlbefinden steigern, Stressbewältigung, soziale Kompetenzen und Complianceförderung gewertet (⊡ Abb. 8.2). Etwas weniger Gewicht wurde dabei auf Kommunikationsfähigkeiten, allgemeine Informationsvermittlung bezüglich MS und Therapien bzw. Kontaktförderung zu anderen Betroffenen gelegt. Bezüglich des Trainingspersonals würden drei Viertel der Neurologen selbst das KBT durchführen bzw. dies einer MS-Nurse übertragen (⊡ Abb. 8.3). Etwa die Hälfte würde Psychotherapeuten befürworten. Am wenigsten schienen ihnen Psychiater oder anderen Ärzte geeignet, jedoch würde ein Viertel anderen Personen (z. B. Sozialarbeitern) diese Aufgabe übertragen. Von den Räumlichkeiten, in denen ein KBT stattfinden sollte, ziehen die Neurologen eigene Praxisräume oder ein neutrales Ambiente vor (⊡ Abb. 8.4). Weniger geeignet scheinen ihnen Krankenhäuser oder Rehabilitationseinrichtungen.
138
Kapitel 8 ∙ Krankheitsbewältigungstraining für MS-Betroffene
Kontaktförderung
Informationsvermittlung Kommunikation soziale Kompetenzen Complianceförderung Stressbewältigung Wohlbefinden Depressivität Ängste 1 2 gar nicht sinnvoll
8
3
4
5 6 sehr sinnvoll
⊡ Abb. 8.2. Einschätzung des Sinnes der Ziele eines Krankheitsbewältigungstrainings
80
Prozent
60 40 20 0 Neurologe
MS-Nurse
Psychotherapeut
Psychiater
anderer Arzt
andere akad. Ausbildung
⊡ Abb. 8.3. Personen, die ein Coping-Training durchführen sollten (Mehrfachantworten möglich)
Bezüglich der anfallenden Kosten eines KBTs stimmte die Mehrheit der Neurologen für eine Finanzierung über die gesetzliche bzw. private Krankenversicherung (⊡ Abb. 8.5). Über die Hälfte schlug aber auch eine
8
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80
Prozent
60 40 20 0
Krankenhaus
Reha-Klinik
DMSG
neutral
Praxis
⊡ Abb. 8.4. Orte, an denen ein Krankheitsbewältigungstraining durchgeführt werden sollte (Mehrfachantworten möglich)
80
Prozent
60
40 20 0 Krankenversicherung
Patient
Selbsthilfegruppen
Pharmafirmen
Sonstige
⊡ Abb. 8.5. Finanzierung eines Krankheitsbewältigungstrainings (Mehrfachantworten möglich)
Selbstbeteiligung der Patienten vor. Eine Beteiligung von Selbsthilfegruppen bzw. Pharmafirmen wurde durch ein Drittel bzw. ein Viertel der Befragten als sinnvoll erachtet. Neben KBTs gibt es aber noch weitere Möglichkeiten zur Complianceförderung (⊡ Abb. 8.6). Fast alle Befragten (99,4%; 342/344) nutzten intensive Arzt-Patienten-Gespräche, 67,7% (233/344) zogen MS-Nurses hinzu und 57,5% (198/344) Selbsthilfegruppen. Internetchats wurden nur zu
140
Kapitel 8 ∙ Krankheitsbewältigungstraining für MS-Betroffene
100
Prozent
80 60
40 20 0 Arzt-PatientenGespräch
8
MS-Nurse
Selbsthilfegruppen
Internetchats
Sonstiges
⊡ Abb. 8.6. Compliancefördernde Maßnahmen für MS-Betroffene (Mehrfachantworten möglich)
15,4% (53/344) eingesetzt und in 11,6% (40/344) sonstige Methoden der Complianceförderung: Darunter zählen z. B. Anbindung an „erfahrene“ MS-Patienten als Mentoren, Angebote von Pharmafirmen zur individuellen Beratung und Anleitung, Angehörigenberatung, spezielle eigene Schulungen, Gesprächsrunden, Informationsmaterialien oder Literaturempfehlungen (selbst zusammengestellt oder von Pharmafirmen), MSNetzwerke, Spezialambulanzen oder engmaschige Einbestellungen mit extensiver Betreuung. Insgesamt schätzten 64,1% (218/340) der Befragten die Compliance von MS-Patienten unter immunmodulierender Therapie als hoch (mehr als 75% der Patienten bleiben der Therapie > 1 Jahr treu), 32,6% (111/340) als mittel (50–75% Therapietreue über ein Jahr) und 3,2% (11/340) als niedrig (> 50% brechen vorher ab oder wechseln das Präparat) ein.
Diskussion und Schlussfolgerung Der verstärkte Einbezug des Patienten in den therapeutischen Entscheidungsprozess ist vor allem bei chronischen Erkrankungen zur Therapieoptimierung, Complianceerhöhung und Ressourcenschonung enorm wich-
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8
tig. Dazu ist es jedoch notwendig, dass der Patient hinreichend informiert ist und ausreichend Unterstützung in der Bewältigung seiner Erkrankung findet. Wie bereits in diesem Buch beschrieben, gibt es eine Vielzahl an wissenschaftlich fundierten und wirksamen Interventionen, um den Betroffenen den Umgang mit ihrer Erkrankung zu erleichtern. Jedoch war bislang nicht bekannt, wie notwendig und sinnvoll solche Interventionen von niedergelassenen Neurologen empfunden werden. Erfreulicherweise war die Beteiligungsrate an der Umfrage recht hoch und repräsentiert mit 25% einen beträchtlichen Anteil der Meinung niedergelassener Neurologen in Deutschland zum Thema KBT. Wir konzentrierten uns auf die niedergelassenen Kollegen, da diese die Hauptansprechpartner für MS-Betroffene darstellen. Darüber hinaus wird in Zukunft durch unlukrative DRGs für Krankenhäuser bei der MS-Behandlung zunehmend eine Verlagerung der Behandlung in den ambulanten Sektor stattfinden. Inwieweit und ob ein Selektionsbias unsere Ergebnisse beeinflusst, ist nicht abzuschätzen. Es bleibt unklar, ob die Neurologen, die uns nicht geantwortet haben, keinen Bedarf in KBTs sehen oder aus anderen Gründen nicht antworteten. Insgesamt wird die Compliance bzgl. immunmodulierender Therapien bei MS-Betroffenen durch niedergelassene Neurologen als mittel bis hoch eingeschätzt, was möglicherweise eine Fehleinschätzung darstellt. Schätzungen in der Literatur gehen davon aus, dass etwa 45% der MS-Patienten nicht therapieadhärent sind [1]. Durch die Niedergelassenen werden zur Complianceförderung neben den obligaten Arzt-Patienten-Gesprächen auch MS-Nurses eingebunden und Kontakte zu Selbsthilfegruppen genutzt. Wahrscheinlich besteht bezüglich Complianceförderung jedoch noch Optimierungsbedarf, wobei KBTs einen sinnvollen Beitrag leisten können. Studien, die den genauen Zusammenhang zwischen KBTs und Complianceverbesserung untersuchen, fehlen derzeit aber noch. Erstaunlicherweise hatte nahezu die Hälfte der Befragten keinerlei Erfahrungen mit KBTs. Dies mag entweder ein Hinweis darauf sein, dass das Angebot zu gering ist oder bestehende Programme zu wenig publik gemacht wurden. Ersteres würde sich mit der allgemeinen Beobachtung decken, dass die psychologische Begleitung (im weitesten Sinne gefasst) bei MS-Betroffenen noch deutliche Defizite aufweist [2–4]. Bislang gibt es nur vereinzelte, regionale Angebote zur Krankheitsbewältigung (z. B. MS-Cope des Bereichs Public Health der Medizinische Fakultät TU Dresden (www. ms-coping.de), REMUS-Programm der Klinik Bad Wildbad, Angebote
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Kapitel 8 ∙ Krankheitsbewältigungstraining für MS-Betroffene
einzelner Pharmafirmen oder die psychologische Beratung der AMSEL). Eine geringe Wahrnehmung für psychische Belange der MS scheint unter niedergelassenen Neurologen nicht vorhanden zu sein, da nach unseren Ergebnissen ein Großteil KBTs für MS-Betroffene (speziell Neudiagnostizierte oder psychisch Auffällige) begrüßen würde. Zusätzlich sehen die befragten Neurologen einen deutlichen Bedarf in der Aufklärung von Angehörigen. Positive Effekte auf die Angehörigen und die familiäre Situation sind in der Literatur beschrieben [5]. Darauf abgestimmt wäre jedoch die Entwicklung von standardisierten Interventionen mit entsprechender Evaluation notwendig. Bemerkenswert ist überdies, dass KBTs nicht konsequenterweise allen Betroffenen offeriert werden sollten. Es bleibt zu diskutieren, inwieweit nicht auch Patienten mit längerer Krankheitskarriere ein Recht auf ein an ihre Bedürfnisse adaptiertes KBT haben bzw. zu untersuchen, welche positiven Effekte für diese Betroffenen resultieren. Interessant ist, dass trotz starker Auslastung der Praxen, die meisten niedergelassenen Neurologen selbst solche Interventionen durchführen würden. Durch die Schaffung von kleineren Patientengruppen ließe sich die Zeit effektiver nutzen als bei jedem Patienten einzeln extensive Beratungsgespräche zu führen. Zusätzlich bieten Gruppeninterventionen MS-Betroffenen im Gegensatz zu Einzelgesprächen die Möglichkeit, sich mit Gleichbetroffenen auszutauschen und in ihren Problemen und Sorgen verstanden zu werden. Innerhalb der Gruppe können Ängste, Einstellungen und Verhaltensweisen reflektiert, analysiert und gegenübergestellt werden. Aufgrund der unterschiedlichen Charaktere, Erfahrungen und Bewältigungsstrategien können die Teilnehmer voneinander lernen [6–8]. Eine Unterstützung der Coping-Arbeit durch MS-Nurses und andere Professionen (z. B. Sozialarbeiter) ist unter Neurologen durchaus vorstellbar. Es müssten allerdings Strukturen geschaffen werden, die eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu CopingTrainern validierter Programme zulassen, was bislang jedoch größtenteils an der Finanzierung scheitert. Ebenso bleibt zu überlegen, inwieweit der Einsatz von pädagogisch vorgebildetem Personal sinnvoll wäre. Über das durchführende Personal liegen hinsichtlich Qualität in der Durchführung und damit verbundenes Outcome unseres Wissens nach keine Studien vor. Bezüglich der Akzeptanz edukativer Maßnahmen scheinen MS-Betroffene MS-Nurses sehr zu schätzen [9]. Psychotherapeuten oder Psychiater wurden von Neurologen seltener als Personal für Coping-Trainings vorgeschlagen.
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Vielleicht steckt dahinter die Befürchtung, dass das Coping zu stark „psychologisiert“ und die Hilfe zur Selbsthilfe vernachlässigt wird. Hinsichtlich der Räumlichkeiten präferieren die befragten Neurologen Praxisräume oder ein neutrales Ambiente. Die Nutzung von Praxisräumen wäre logistisch und finanziell gesehen am einfachsten. Jedoch bietet ein neutrales Ambiente (z. B. angemietete Räume eines Hotels) den Vorteil, keine „Therapiesituation“ durch die Praxisnähe zu erzeugen. Sinn und Zweck von KBTs liegt laut Neurologen hauptsächlich in der Reduktion von Unsicherheiten, Depressionen und Stress, Complianceförderung sowie der Verbesserung des Wohlbefindens der Betroffenen. Jedoch werden auch die Steigerung sozialer Kompetenzen und eine zusätzliche Informationsvermittlung im Rahmen von KBTs als sinnvoll erachtet. Erstaunlicherweise findet sich jedoch die Förderung von Kontakten unter den Betroffenen an letzter Stelle. Bekanntermaßen ist aber gerade dies für die Betroffenen wichtig (s. Kapitel zur Evaluation des MS-Cope-Programms durch MS-Betroffene), da sie unter ihresgleichen über Ansichten, Erfahrungen, Sorgen und Probleme sprechen können und sich dort am besten verstanden fühlen. Gerade Neudiagnostizierte scheuen oftmals den Kontakt zu bestehenden Selbsthilfegruppen, in denen vor allem ältere Patienten mit fortgeschrittenen Krankheitsstadien zu finden sind. Bezüglich der Finanzierung von KBTs sind laut Neurologen Krankenkassen wie auch die Patienten selbst zu bedenken. Ebenso wurden aber auch Selbsthilfegruppen und Pharmafirmen als potentielle Sponsoren angegeben. Um eine Finanzierung durch Krankenkassen bei der derzeitigen Ressourcenknappheit zu gewährleisten, müssen jedoch noch eindrücklichere Studiendaten zur Effektivität, Effizienz und Akzeptanz vorliegen, um auf deren Basis sinnvolle Verhandlungen führen zu können. Eine finanzielle Beteiligung von Patienten an gesundheitsfördernden oder -stabilisierenden Maßnahmen ist einerseits sinnvoll, um das Bewusstsein zu fördern, dass der Betroffene aktiv etwas selbst beitragen muss und nicht alle Leistungen für Gesundheit und Wohlbefinden kostenlos sind. Andererseits könnte dies aber die Akzeptanz und Teilnahme an solchen Interventionen beeinträchtigen und eventuell Patienten mit schlechterer Finanzlage davon ausschließen. Am realistischsten erscheint daher eine Art Mischfinanzierung, zu der auch Selbsthilfegruppen und Pharmafirmen beitragen könnten. Es besteht ein großer Bedarf an Angeboten bezüglich Krankheitsbewältigung bei MS-Betroffenen. Ein einzelnes, allen Bedürfnissen ge-
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recht werdendes KBT existiert nicht. Daher sollten sich verschiedenste Interventionen zur Vermittlung von Informationen, Kommunikationstechniken, Fähigkeiten zur Krankheits-, Alltags- und Stressbewältigung, dem Management von Symptomen und Nebenwirkungen, Erarbeitung einer positiven Grundeinstellung und dem Aufzeigen von Ressourcen (sozial wie auch psychisch) ergänzen. Insgesamt bedarf es aber auch eines größeren Angebotes an wissenschaftlich evaluierten, wirksamen und allgemein zugänglichen KBTs, verlässlichen und hochwertigen Strukturen zur Ausbildung von Coping-Trainern und einer sinnvollen Finanzierung. Bei der Entwicklung und Durchführung von KBTs bzw. der Ausbildung zum Coping-Trainer sollten neben MS-Nurses und anderen Professionen v. a. Neurologen einbezogen werden. Danksagung. An dieser Stelle sei recht herzlich Herrn K.H. Schwermer von
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der e-med GmbH für die finanzielle und logistische Unterstützung der Befragung sowie der Firma Serono gedankt.
Literatur 1. Clanet M. Motivating MS patients: the Annual Convention 2005 of the MS Forum, 22 May 2005, St Julians, Malta. Int MS J 2005; 12(3): 109 2. Voigt K, Worm I, Twork S, Klewer J, Kugler J. Lebens- und Versorgungsqualität von MS-Patienten im Freistaat Sachsen. Ergebnisse einer schriftlichen Befragung der Mitglieder des Sächsischen Landesverbandes der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft. Das Gesundheitswesen 2006 (in press) 3. Minden SL. Psychotherapy for people with multiple sclerosis. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 1992; 4(2): 198–213 4. Minden SL, Orav J, Reich P. Depression in multiple sclerosis. Gen Hosp Psychiatry 1987; 9(6): 426–434. 5. Landoni MG, Giordano MT, Guidetti GP. Group psychotherapy experiences for people with multiple sclerosis and psychological support for families. J Neurovirol 2000; 6 (Suppl 2): 168–S171 6. Paris C. [Experiences with psychosocial management of patients with multiple sclerosis in a discussion group]. Psychiatr Neurol Med Psychol (Leipz) 1990; 42(7): 426–429 7. Stuber ML, Sullivan G, Kennon TL, Nobler H. Group therapy for chronic medical illness: a multidiagnosis group. Gen Hosp Psychiatry 1988; 10(5): 360–366 8. Crawford JD, McIvor GP. Stress management for multiple sclerosis patients. Psychol Rep 1987; 61(2): 423–429 9. Embrey N. Self-management education in multiple sclerosis services. Nurs Times 2005; 101(34): 34–36
xx Sachregister
A ACTH-Sekretion 39 Alltagsbewältigung 64 Amantadin 52 Aminosäuresequenz 11 Amitriptylin 38 Analogskala, visuelle 95 Angst 51, 92, 124 Antidepressivum 91 Antikörperaktivität, neutralisierende (NAB) 19 Apoptosis 7 Autogenes Training 88 Autoimmunität 4 Autoimmunprozess 31 Axonverlust 15 Azathioprin 66 B B-Zell-Aktivierung 12 Behinderungsscore, siehe EDSSScore 14 Beta-Interferon, siehe Interferon beta 66 Bundesgesundheitssurvey 68
C Charcot, Jean-Martin 1 Chemotherapeutikum 17 Complianceförderung 139, 141 Coping emotionales 48 Fertigkeiten 88 problemorientiertes 48 Training 73, 114 Evaluation 118, 121 Verhalten 123 Copolymer 1 (COP-1) 19, 31, 38 Corpus callosum 15 Corticotropin-releasing-Hormon (CRH), hypothalamisches 33 Cortisol 33, 38 Cruveilhier, Jean 1 Cushing-Syndrom 32 Cyclophosphamid 2 Cytokin 36 D Dawson’s fingers 2 Del Rio-Hortega, Pio 2 Depolarisation 8
146
Sachregister
Depression 51, 91, 96, 124 Depressions-Score 36 Depressionsreduktion 131 Dexamethason-Hemmtest 34, 39 3,4-Diaminopyridin 8 Dying-back-Oligodendrogliopathie 7 Dysarthrie 1 Dysfunktion, kognitive 53 E EDSS-Score 8, 14, 21 Einzelnukleotid-Polymorphismus 4 Entspannungsverfahren 54 Enzephalomyelitis, experimentelle autoimmunallergische (EAE) 10 Epstein-Barr-Virus (EBV) 5 Exazerbation 50 Expansion, klonale 9 F Fatigue-Symptomatik 6, 36, 52, 93, 98 Fibroblasten 19 Frerichs, Friedrich Theodor von 2 G Gadolinium 18 Gammaglobulin-Produktion 2 Gedächtnis 53 Genom-Screening 4 Gesundheitswahrnehmung 70 Glatirameracetat 2, 20, 31, 66, 75 Gliose 7 Glukokortikoid 29, 32, 40 Gruppenintervention 79, 142 Gruppenpsychotherapie 88 kontrollierte Studien 80 H Heat-shock-Protein 8 Herpes Herpes-simplex-Virus 1 6 Herpes-zoster-Infektionen 6 Herpesvirus Typ 6 (HHV-6) 6 HHN-Hyperaktivität 38, 40
Hippokampusatrophie 37 Hirnatrophie 29, 36 Hirnläsion 17, 50 HLA-Gensequenz 4 HLA-Molekül 9 Hormon, adrenokortikotropes (ACTH) 33 HTLV-1-Virus 5 Hyperkortisolismus 34, 37, 40 Hypophyse 37 Hypothalamus 34, 37 Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-(HHN-) System 29, 32 I ICAM-1-Rezeptor 13 IgG-Immunglobulin 12 Imagingtechnik 54 Immunzellproliferation 4 Insulin-Hypoglykämie-Test 33 Integrin 20 Intention-to-treat-Analyse 83 Intentionstremor 1 Interaktion, soziale 94 Interferon (IFN) 19 beta 10, 38, 66, 75 beta-Ib 2 gamma 9 Interleukin (IL) IL-1 39 IL-2 9 IL-6 39 Internetchat 116, 139 Inversion recovery 18 K Kommunikationsstrategie 128 Kontrollüberzeugung, internale 97 Körperbild 93 Kortikosteroid 66 Krankheitsakzeptanz 46, 126 Krankheitsbewältigung (Coping) 45, 47, 74, 88, 114, 135 Krankheitsbewältigungstraining (KBT) 135
147 Sachregister
Krankheitserwartung 46 Krankheitsverarbeitung, depressive 130
Neurologe, niedergelassener 136 Nystagmus 1
L Langzeitstress 49 Lebensqualität 47, 63, 88, 98, 123, 129 Optimierung 75 Leukoenzephalopathie, progressive multifokale (PML) 20 Lhermitte-Zeichen 7 Lymphozyten 19
O Oligodendrozyten 7, 12 Optikusneuritis 2 Outcome 48, 83
M Maedi-Visna-Virus 6 Major depressive disorders (MDD) 91 Matrixmetalloproteinase (MMP) 13 Meditation 50 Methylprednisolon 39 Mikroglia 2, 11 Mimikry, molekulares 11 Mitoxantron 2, 66 Mobilität 94, 97 Moclobemid 38 MS-COPE-Programm 113 MS-Nurse 115, 137, 142 Multiple Sclerosis Quality of Life-54 (MSQ0L-54) Fragebogen 64 Multiple Sklerose (MS) Ätiologie 5 benigne/maligne Form 16 bildgebende Verfahren 16 genetische Faktoren 3 Marburg-Variante 16 Plaques 10 Schwangerschaft 13 Umwelteinflüsse 3 Myelin 15, 22 Myelinprotein 11 Myelopathie, HTLV-1-assoziierte 5 N N-Acetylaspartat 15 Natalizumab 2, 17 Neurodegeneration 14
xx
P Paraparese, tropische spastische (HAM/TSP) 5 Patientenaufklärung 46 Peer-support-Intervention 79, 81 Physiotherapie 67 Problemlösungsstrategie 48 Prolaktin 14 Protein, myelinbasisches (MBP) 10 Psychotherapie 54, 74, 88, 95 R Ranvier-Schnürring 7 Reframing 51, 114 Rekonzeptualisierung 114 Releasing-Hormon 33 Rokitansky, Karl 2 Rollenausübung 94 S Selbstakzeptanz 91 Selbsteffizienz 48, 89 Selbsthilfegruppe 79, 139 Selbstkonzept 88 Selbstmanagement 54 Selbstversorgungsvermögen 68 Sertralin 88 Sickness behaviour 32 single nucleotide polymorphisms“ (SNPs), siehe Einzelnukleotid-Polymorphismus 4 Steroid 29 Stress 49 Bewältigung 50 Inokulation 54 Management 54, 87, 92, 114 Stressful life events (SLE) 31
148
Sachregister
Supervision 99 Surrogatmarker 16 Symptommanagement 54 T T-Helfer-Lymphozyten 9 T-Zell-Klon 9 T2-Hyperintensität 17 Tagebuch 117 TGF-beta 21 Theiler-Picornavirus 6 Therapiecompliance 50, 114 Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) 39 alpha 12 Rezeptor 13 Tysabri 20 U Unterstützung, soziale 94 Utthoff-Phänomen 7
V Vasopressin 33, 34 Verhalten, gesundheitsförderliches 93 Verhaltenstherapie, kognitive (CBT) 88, 130 Versorgungsqualität 113 very late antigen 20 Vorläuferzellen, oligodendroglialen 7 W Wartegruppendesign 98, 132 Wellness-Programm 88, 129 Wohlbefinden, psychisches 80, 90, 129 Z Zelladhäsionsmolekül, vaskuläres (VCAM-1) 20 Zellen, antigenpräsentierende (APC) 10 ZNS-Läsion 52 Zytokine 12