OTTO ZIERER
BILD D E R JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
ENTFESSELTE GEWALTEN Unter ...
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OTTO ZIERER
BILD D E R JAHRHUNDERTE EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
ENTFESSELTE GEWALTEN Unter diesem Titel ist der Doppelband 29/30 der neuen Weltgeschichte erschienen. Der Doppelband behandelt das 17. Jahrhundert n. Chr. In Stücke gebrochen liegt die alte Einheit des Abendlandes. Die aufgespaltenen Nationen kämpfen um Vormacht und Handelsplätze. Sternförmig führen die Wege der neuen Wissenschaften vom Altar der Gottheit fort in die Grenzenlosigkeit desAlls. Entfesselte Gewalten erschüttern Glaube, Sitte und überkommene Ordnung. Die Beunruhigung der Völker ist tief und fortdauernd.Der kontinentweite Dreißigjährige Krieg pflügt alle bisherigen Verhältnisse um — an seinem Ende ist das Reich als Herz Mitteleuropas zerschlagen. Ein französisches Jahrhundert hebt an.
Auch dieser Doppelband ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Er kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM6.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert (Einzelbände 1—18 je DM 3.60.) Prospekt kostenlos vom VERLAG SEBASTIAN LUX - MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK
KLEINE
B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U L T U R K U N D L I C H E
Robert
Jungk
MOUNT PALOMAR Reise ans Ende der Welt
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VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU-MÜNCHEN-INNSBRUCK
HEFTE
Auf einer Höhe in Kalifornien, dem Mount Palomar, erhebt sich die riesenhafte Kuppel des Palomar-Observatoriums. Sie birgt das größte Teleskop der Welt, das fünf Meter Durchmesser hat. Mit seiner Hilfe erobern sich die Astronomen, unter ihnen der deutsche Prof. Baade, neue, großartige Ausblicke in den Makrokosmos. Hier, auf dem Mount Palomar, war der Verfasser dieses Lesebogens, Robert Jungk, dessen Buch „Die Zukunft hat schon begonnen" großes Aufsehen erregte, lange Zeit zu Gast. Mit den Astronomen „reiste" er bis „ans Ende der Welt", das neueste Forschungen ein bis zwei Milliarden Lichtjahre weit hinausgeschoben haben.
Friedliche Eroberer An der Wand meines engen kalifornischen Arbeitszimmers hängt seit ein paar Tagen neben der großen Weltkarte, auf der die meisten Flugrouten eingezeichnet sind, der folgende „Fahrplan", den ich von einem Besuch der berühmten Sternwarte auf dem Mount Palomar mitgebracht habe: Ein Raumschiff, das .mit Lichtgeschwindigkeit (300 000 Kilometer in der Sekunde) fliegt, braucht folgende Zeiten: Sphärel — Sonnensystem Von Los Angeles nach Berlin eine Dreißigstelsekunde; zum Mond ein und eine Viertelsekunde; zur Sonne acht Minuten; zum Planeten 2
Pluto fünfeinhalb Stunden; von zum anderen elf Stunden.
einem Ende des Sonnensystems
S p h ä r e II' — M i l c h s t r a ß e Zum nächsten der Sonne benachbarten Stern viereinhalb Jahre; von einem Ende der Milchstraße zum anderen hunderttausend Jahre. S p h ä r e III — U n i v e r s u m Zum nächsten Sternensystem (Andromedanebel) eine Million Jahre; zu der Galaxe „Messier 8 1 " drei Millionen Jahre; an die äußerste Sichtgrenze des 200-Zoll-Fernrohrs auf Mount Palomar mehr als eine Milliarde Jahre. („Galaxe" ist das aus dem Griechischen stammende, in der Astronomie übliche Wort für die Milchstraße. Es gibt außerhalb der unseren zahlreiche solche Systeme, die im Teleskop deutlich als „Spiralnebel" erscheinen.) Für Raumschiffe zu weit Immer, wenn ich wieder einen der jetzt so oft erscheinenden Aufsätze finde, in denen über Mond und Mars hinaus von einer „Eroberung des Weltalls" phantasiert wird, schaue ich auf diesen „Fahrplan". Wie jämmerlich sind selbst die schnellsten Raumraketen, gemessen an solchen Distanzen! Ein Mensch, der bei Beginn der letzten Eiszeit unseren Planeten verlassen hätte und mit Lichtgeschwindigkeit in Richtung auf den Andromedanebel, das uns nächstliegende Milchstraßensystem, losgeflogen wäre, hätte bisher erst ein Fünfzigstel seines Weges Zurückgelegt! Versuchte gar jemand mit einem der heute für herstellbar erklärten Weltraumschiffe eine solche Reise zu unternehmen, so würde er wohl bei Lebzeiten die Planeten unseres Sonnensystems erreichen, aber nie die Millionen und Millionen anderer Galaxen jenseits unserer Milchstraße. Phantasievolle Schreiber haben sich vorgestellt, daß vielleicht auf einem solchen Raumschiff Generation um Generation geboren werden könnte, bis schließlich ein später Enkel die Grenze des Andromedanebels erreichen würde. Aber inzwischen wäre der Ausgangspunkt der Reise, diese unsere Erde, vermutlich schon von der stsrbenden Sonne geschluckt und mit ihr e x p l o d i e r t . . . Vergessener Kosmos Es gibt keine bessere Schule der Bescheidenheit als den Umgang mit den Sternen. Und doch wiederum kaum eine Sache, die den Stolz auf des Menschen Geist so sehr fördern könnte. Als ich eine» 3
Abends über die Unmöglichkeit nachdachte, auch nur die Grenzen unseres eigenen Sternensystems je körperlich zu erreichen, wurde mir plötzlich klar, wie erstaunlich weit und schnell wir dagegen geistig reisen können. Diese vernachlässigte Binsenwahrheit ging mir auf, als ich einen illustrierten Sonderdruck aus dem „Astrophysical Journal" zu verstehen versuchte, den mir der auf dem Mount Palomar arbeitende Westfale Dr. Walter Baade mitgegeben hatte. Hier wurde etwa mitgeteilt, daß „die Mittelregion des Spiralnebels ,Messier 32' vollständig ausgebrannt" ist oder daß der„Andromedanebel bis zu seinem Kern aus Sternen besteht". Wie kann ein Gelehrter mit solcher Genauigkeit, mit so vielen Einzelheiten über eine Region berichten, die eine Million Lichtjahre und noch mehr von der Erde entfernt ist? Nun — er kann es, weil er nicht auf körperliche Eroberung dieser fernen Sterneninseln ausgegangen ist, sondern sich damit begnügt hatte, sie zu betrachten und über sie nachzudenken. Hier war einer jener erstaunlichen Siege des Geistes über Zeit und Raum, an denen ich durch Wort- und Bilddarstellung teilhaben' durfte. Meine Bewunderung für die von keinem Machtgedanken angetriebenen Pioniere der modernen Astronomie stieg noch mehr, als ich erfuhr, wie gewaltig sie im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts den menschlichen Horizont erweitert haben. Wir haben in diesen Jahren unsere Augen zu starr auf marschierende Heere gerichtet. Aber während sich unser Blick nach dem Sudetenland, nach Danzig, Polen, Frankreich, Nordafrika, Rußland, dem Rhein und schließlich Korea richtete, hat eine Handvoll Gelehrter, deren Namen meist nicht weit über einen Fachkreis hinaus bekannt sind, den Raum des bekannten Universums millionenfach erweitert. Noch ist es nicht einmal eine Generation her, seit wir wissen, daß jenseits unserer Milchstraße weitere andere „Milchstraßen" existieren. Noch 1924 vermuteten wir, daß die Grenze des uns sichtbaren Universums nicht weiter als hunderttausend Lichtjahre entfernt liege. Heute aber sehen wir eine Milliarde — nach neuesten Vermutungen des an der Universität Harvard arbeitenden Astronomen Shapley — 60gar zwei Milliarden Lichtjahre weit in den Weltenraum hinein. Der oberste „Feldherr" dieser friedlichen „Eroberer" ist der heute 63jährige Amerikaner Edwin P. Hubble, ein breitgebauter, glattrasierter Mann mit den sicheren, schnellen Bewegungen eines aktiven Sportlers, der selbst, wenn er an einem der großen Teleskope sitzt, die Pfeife im Mund behält. Es war Hubble, der durch seine Beobachtungen am 100-Zoll-Spiegelteleskop auf dem Mount Wilson über Los Angeles einwandfrei feststellte, daß der 1
Andromedanebel nicht innerhalb, sondern weit außerhalb unserer Milchstraße läge. Seither haben Hubble und seine Mitarbeiter, die Amerikaner Humason, Slipher und Wilson, der aus Deutschland stammende Walter Baade, der aus der Schweiz kommende Fritz Zwicky und der zu der berühmten polnischen Gelehrtenfamilie gehörende Rudolph Minkowski zusammen mit Mitarbeitern aller Nationen die vorher unbekannte Welt jenseits der Milchstraße erforscht. Sie entdeckten nicht nur zahlreiche neue Sternensysteme, die früher entweder nur als „Nebel" angesehen worden oder noch nicht einmal gesichtet worden waren, sondern haben darüber hinaus ganz neue Theorien über die Natur und das Gefüge unseres Universums formulieren können.
Fahrt zum „Berg der T a u b e " „Als ich mich vor vierzig Jahren entschloß, die Astronomie zu meinem Forschungsgebiet zu machen, rieten mir fast alle meine Studienkollegen ab. Das Studium des Himmels schien keine großen neuen Entdeckungen zu bieten", erzählte mir Professor Dr. Baade. „Und heute präsentieren sich uns so viele neue Himmelserscheinungen, so viele erst unvollkommen gelöste Probleme und ungenügend bewiesene Theorien über das Weltall, daß man wünschte, der Tag hätte 48 Stunden." Das geistige „Raumschiff", auf dem Hubble und seine Gefährten ihre Vorstöße ins All unternehmen, liegt auf einem nicht ganz zweitausend Meter hohen Berg in der Südwestecke der Vereinigten Staaten. Die spanischen Eroberer nannten dieses Hochplateau „Palomar", den „Berg der Taube". Ich erreichte Mount Palomar an einem jener seltenen Tage, da die Gipfel Südkaliforniens sich mit Schnee krönen. Wir hatten Los Angeles am Morgen auf einer der großen neuen „freeways" verlassen, einer Autobahn, die kühn und schön über Brücken und erhöhte Rampen durch das abenteuerliche Zufallsgewirr dieser Millionenstadt hindurchschnitt. Bald öffnete sich hinter den blühenden Orangenhainen ein weiter Blick auf den Pazifischen Ozean, an dessen Horizont harmlos und klein wie ein Spielzeug in der Badewanne ein Kriegsschiff dem nahegelegenen Hafen San Diego zudampfte. Dann wandte sich die Route wieder landeinwärts. Der Turm einer spanischen Missionskirche, Indianer der nahegelegenen Reservation auf dem Spielplatz einer modernen Schule und nun ein Wegzeichen, das die Aufschrift trägt: „Highway to the stgrs". Wir waren auf der Straße zu den Sternen! 5
E r s t s p ä t e r h a b e ich e r f a h r e n , d a ß P r o f e s s o r H e i n z H a b e r , d e r M a n n a m S t e u e r u n s e r e s W a g e n s , auf d i e s e r R e i s e nach M o u n t P a l o m a r nicht n u r die v i e l f a r b i g e k a l i f o r n i s c h e A u t o k a r t e m i t g e n o m m e n h a t t e , s o n d e r n auch — ein F o t o d e s A n d r o m e d a n e b e l s . E s ist schon recht a b g e g r i f f e n , dieses Bild u n s e r e r s c h i m m e r n d e n N a c h b a r - G a l a x e , d e n n sein B e s i t z e r , ein g e b ü r t i g e r M a n n h e i m e r , h a t es in d e n l e t z t e n z e h n J a h r e n fast s t e t s an s e i n e r B r u s t m i t sich g e t r a g e n . Dieses l a n g e l e u c h t e n d e O v a l , a u s M i l l i o n e n S t e r n e n bes t e h e n d , w a r m i t H a b e r i n d e n W i r r s a l e n des russischen W i n t e r f e l d zuges u n d i n d e n B o m b e n n ä c h t e n d e s d e u t s c h e n Z u s a m m e n b r u c h s . E r h a t e s m i t g e n o m m e n , als i h n d i e A m e r i k a n e r z u s a m m e n m i t a n d e r e n d e u t s c h e n W i s s e n s c h a f t l e r n nach K r i e g s e n d e nach S a n A n t o n i e b r a c h t e n , w o e r e i n e n n e u e n F o r s c h u n g s z w e i g , die s o g e n a n n t e „ W e l t r a u m - M e d i z i n " , g r ü n d e n half. Ich e r w ä h n e d i e s e T a t s a c h e n u r d e s h a l b , weil H a b e r , wie zahlreiche d e r zeitgenössische n w i s s e n s c h a f t l i c h e n P i o n i e r e , m i r e i n e n n e u e n F o r s c h e r t y p d a r z u s t e l l e n scheint, d e r L e b e n u n d W i s s e n n i c h t als zwei gänzlich v o n e i n a n d e r a b g e s c h l o s s e n e G e b i e t e a n s i e h t . D i e W e i t e des W e l t a l l s l ä ß t M ä n n e r w i e H a b e r u n s e r Z e i t g e s c h e h e n i n a n d e r e r , g e r e c h t e r e r Sicht s e h e n . O b j e k t i v i t ä t u n d W a h r h e i t s l i e b e , Sinn für die wirklichen Wertverhältnisse, die Fähigkeit, über die Unz u l ä n g l i c h k e i t des A u g e n b l i c k s h i n a u s z u s c h a u e n — all das scheint m i r i n d i e s e r k l e i n e n Geschichte v o m M a n n e , d e r d a s F o t o des A n d r o m e d a n e b e l s ü b e r s e i n e m H e r z e n d u r c h d a s chaotische G e g e n w a r t s schicksal h i n d u r c h t r ä g t , a u s g e d r ü c k t z u sein. „ W e n n w i r oben sind, m ü s s e n Sie B a a d e f r a g e n , o b d e r A n d r o m e d a n e b e l w i e d e r g r ö ß e r g e w o r d e n s e i " , u n t e r r i c h t e t e mich H a b e r , d e r d e n g r o ß e n A s t r o n o m e n seit l a n g e m k e n n t . „ J e d e s m a l , w e n n ich i h n sehe, sagt e r : ,Die M i l c h s t r a ß e ist schon w i e d e r g e s c h r u m p f t u n d d e r A n d r o m e d a n e b e l schon w i e d e r g e w a c h s e n ' . E r m e i n t d a m i t natürlich, daß schärfere u n d empfindlichere Beobachtung ihm i m m e r m e h r E i n z e l h e i t e n ü b e r diese , e i n s t u n t e r s c h ä t z t e n N a c h b a r n u n s e r e r Milchstraße' vermitteln." M i t r a s e n d e m T e m p o ins All Während unser Wagen Kurve um Kurve der Straße zum Palomar n a h m , u n t e r h i e l t ich mich m i t H a b e r ü b e r d e n W a n d e l des W e l t b i l d e s . I m m e r k l e i n e r ist d e r Mensch g e w o r d e n , i m m e r m e h r r ü c k t e e r a u s d e m M i t t e l p u n k t w e g ! D i e Ä g y p t e r h a t t e n noch i h r N i l t a l f ü r d a s Z e n t r u m des U n i v e r s u m s g e h a l t e n u n d d i e S t e r n e n u r als e i n e A r t v o n h ä n g e n d e n L a m p e n a n g e s e h e n , d i e i h n e n d i e N a c h t verschönen sollten. D a s M i t t e l a l t e r h a t t e d i e g a n z e E r d e , K e p l e r schon diese Weisung. Sie versteckten ihre Beute am frühen Morgen in den Rillen des Kupferdachs und pickten dann mit beträchtlichem Lärm tagsüber darauf herum. Erst als das Dach mit einem für die Vogelwelt weniger anziehenden Belag neu gedeckt worden war, kamen die nervös gemachten Astronomen wieder zu ihrer verdienten Ruhe. Es ist für den Laien, wenn er mit diesen Menschen spricht, zunächst etwas erstaunlich, daß sie für die Romantik des Sternenhimmels, für die Poesie ihrer einzigartigen Tätigkeit eigentlich sehr wenig Empfindung haben. Für sie sind die meisten Sterne'Punkte, Zahlen, große und kleine, helle oder dunkle Objekte einer kühlen, wie es mir anfangs erscheinen wollte, zu kühlen Betrachtungsweise. Ich sprach mit Dr. Baade darüber. Er meinte, genau so müsse es aber sein. „Sehen Sie, da ist eine strebsame und sogar tüchtige Astronomin, deren Arbeit ich seit Jahren verfolgte'*, sagte er. „Aber sie kommt wissenschaftlich nicht recht weiter. Lange wußte ich nicht weshalb. Dann schickte sie mir unlängst ihr neuestes Buch. Jetzt weiß ich, was nicht stimmt: sie ist viel zu gefühlsbetont. Das steht einem klaren und sauberen Denken im Weg." Miß S. sortiert Sonnen Ich muß bei dieser Gelegenheit besonders an die feine Miß S. denken, der ich in einem Arbeitszimmer des zu den Sternwarten von Mount Wilson und Mount Palomar gehörenden Institutes in Pasadena bei der Arbeit über die Schulter schauen durfte. Sie hatte eine Himmelsphotographie vor sich, die wie ein Röntgenfoto vor eine Lichtquelle gespannt war, und brachte ein wenig Ordnung in eine Ecke des Universums. Sie versuchte die verschiedenen kleinen schwarzen Kleckse, die sie da vor sich hatte, nach ihrer Größe einzuteilen. Keine einfache Sache, wenn man mit Dingerchen zu tun hat, die meist nicht viel größer sind als der Punkt am Ende dieses Satzes. Jeder Stern, denn das stellten die nadelkopf- bis sandkörnchengroßen Abbilder dar, wurde dann schön nach Dimension und Position in einen Katalog eingetragen. Manche erhielten einen Kreis. Das waren, wie sich bei mühseligem Vergleich mit einem 27
zu anderer Zeit aufgenommenen Foto der gleichen Region zeigte, die „Wandelbaren", die „Außenseiter", die an Licht zugenommen oder abgenommen hatten. Dem Astronomen sind diese räudigen Schafe meist lieber als die braven himmlischen Herdentiere, weil er aus ihrem besonderen Verhalten mehr über die Natur ihrer Umgebung erfährt. Als Arbeit ist ein solches Sortieren nicht amüsanter oder gar anregender als das Verlesen von Erbsen. Ich fragte Miß S., ob sie eigentlich wenigstens manchmal daran denke, daß jedes dieser infusoriengroßen Objekte eine Sonne sei, manche davon ungleich größer als unsere Sonne. Sie dachte nach. Doch, manchmal sei es schon so, aber immer seien solche Gedanken natürlich nicht möglich. Sie lenkten nur ab. Vermutlich stumpft der berufsmäßige Umgang mit dem Kosmos auf die Dauer genau so ab wie der Umgang mit Kranken. Mir, dem Laien, schien es zum Beispiel irgendwie traurig, daß die zahllosen Sterne, die mit den neuen Instrumenten der kalifornischen Observatorien entdeckt werden, meist gar keine Namen mehr bekommen. Sie sind eben nur Punkte in einem mathematischen Koordinatensystem: eine Nummer, ein griechischer Buchstabe — das ist das Höchste, was man ihnen zubilligt. Findet man einen geduldigen Führer durch die scheinbar so karge Welt der astronomischen Fachveröffentlichungen, einen Dolmetscher, der die mathematischen Verschlüsselungen auflöst, so erfaßt einen die Ahnung ganz großartiger neuer Visionen, wie sie zeitgenössischen Dichtern und Denkern während des letzten Vierteljahrhunderts kaum gelungen sind. Da erscheint dann das prosaische Registrieren von dunklen Stäubchen, die in Wahrheit blaue Riesensonnen oder rote Feuerbälle oder weißgelb sprühende Alchimistenwerkstätten sind, in denen sich die Materie verwandelt, mit einem Male unentbehrlich als der Grundstein gewaltiger kosmologischer Vorstellungsbilder.
Modelle des Weltalls Denn seit Einstein im Jahre 1915 seine allgemeine Theorie der Relativität der Öffentlichkeit übergab, sind die Astronomen, Astrophysiker und „Kosmologen" wieder dabei, die einst so leidenschaftlich debattierten Fragen über Entstehung, Sein und mögliches Ende der Schöpfung auf Grund neuer am Himmel entdeckter Tatsachen zu diskutieren, 28
Ist das Weltall endlich? Ist es grenzenlos? Ist es zu einem vorausberechenbaren Tod verurteilt? Wird es sich immer wieder erneuern und ewig währen? Regiert der Zufall oder ein großes allgemeingültiges Gesetz, das alle Erscheinungen von der Millionen
Ein Lichtpunkt, scheinbar zwischen den Sternen der Milchstraße, wird durch das Auge des PalomarRiesen selber zu einer Milchstraße, die Millionen Lichtjahre entfernt ist und Millionen Sterne in sich sammelt. Sonnen umfassenden Galaxe unter Millionen andern Spiralnebeln bis zu den Vorgängen im Atom erklären könnte? „Ich glaube nicht, daß Gott mit dem Kosmos Würfel spielt" hat Einstein, ein tiefreligiöser Mensch, unlängst erklärt, als er am 30. März 1953 (ein Datum, das unsere fernen Nachfahren sich vermutlich länger merken werden als den 11. November 1918 und den 8. Mai 1945) die vierte Ausgabe seines Werkes „Die Bedeutung der Relativität" erscheinen ließ. Demgegenüber steht die Schule, die das All als uneinheitlich, unsicher und unendlich ansieht. Welcher Auffassung mehr Wahrscheinlichkeit zukommt — das wird unter anderm durch die langwierige statistische Auswertung der durch die großen kalifornischen Teleskope gewonnenen Beobachtungen am Himmel über uns entschieden werden. • Die modernen kosmologischen Theorien, die seit noch nicht vierzig Jahren entwickelt wurden, sind oft Gedankengebäude von großer Schönheit oder erstaunlicher Klugheit. Da gibt es „Modelle", die das Universum in fortwährender Vermehrung und Vergrößerung zeigen, fortschreitend von der am Weltenbeginn vor etwa drei bis vier Milliarden Jahren stehenden Explosion eines „Überatoms" bis zu heute und vielleicht für immer verborgen bleibenden, immer weiterstürmenden Vorhuten einer fortwährenden Schöpfung, die niemals mehr halten wird. 29
Da gibt es den Entwurf des „asymptotischen Weltalls", das sich in einer allerdings nur theoretisch faßbaren Zukunft einem Endzustand der Vollendung nähert. Da ist — erinnernd an die alten indischen Legenden vom Gotte Brahma, der durch die Bewegung seiner Nüstern von Äon zu Äon das Universum einatmet und ausatmet — die Auffassung, daß sich der Kosmos wechselnd ausweitet und wieder zusammenzieht und abermals weitet und abermals konzentriert bis in Zeiten und Zeiten. Was ist hier Wahrheit? Was Vermutung, die widerlegt werden kann? Ein Mann, der stundenlang über den Spektrogrammen fernster „Nebel" gebeugt sitzt und die sogenannte „Rotverschiebung" in immer weiter entfernteren Sternensystemen konstatiert wie der berühmte Astrophysiker Dr. Milton L. Humason, mag darauf die Antwort finden. Heißt dieses stärkere Auftauchen von Spektrallinien am roten Ende des Spektrums wirklich, daß sich jedes Sterngebilde der Schöpfung von dem anderen mit gewaltiger Geschwindigkeit wegbewegt? Hat Dr. Hubble, der zuerst diese Theorie des sich „ausdehnenden Universums" entwickelte, die Daten richtig ausgelegt? Oder ist das Licht, das aus den fernsten Fernen zu uns kommt, vielleicht einfach „ermüdet" und bewirkt dadurch die „Rotverschiebung"? Oder aber handelt es sich hier um eine noch ganz andere Naturerscheinung, deren wirkliche Bedeutung wir noch nicht erfassen? Das Universum dehnt sich aus Es kann aber auch sein, daß einer jener geduldigen Statistiker wie Miß S. einen entscheidenden Beitrag zur Klärung dieser Fragen stiftet. Sollte es sich durch Vergleich von Bildern des 100-ZollFernrohres und des 200-Zoll-Fernrohres aus der gleichen Region herausstellen, daß die Verteilung des Sternensystems eine gewisse Gleichmäßigkeit besitzt, daß zum Beispiel dem achtmal größeren Raum, den das „200 Zöller" gegenüber dem „100 Zöller" einfängt, auch eine ungefähr achtmal so große Anzahl von Sternensystemen entspricht, so würden die Anhänger des „endlichen Universums" dies als entscheidenden Beweis für ihre Theorie ansehen können. Vielleicht aber ist es überhaupt so, wie Dr. Baade behauptet, daß die Zeit für den Entwurf großartiger Modelle des Kosmos so lange nicht gekommen sei, wie Größeneinheiten und Maße, die von den Astronomen verwendet werden, nicht wirklich sicher sind. Er selbst hat ja durch seine Entdeckung, daß es zwei grundverschiedene „Sternenbevölkerungen" gibt, so manche bis dahin als „sicher" angesehene Auffassung wieder in Frage gestellt.
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r Was bist du, Mensch? Faßt man den Stand der Weltallforschung zusammen, so ist der Eindruck für den Außenstehenden recht verwirrend. Wie in unserem näheren Bereich, so ist auch hier vieles, vielleicht alles unsicher geworden. Die Kosmologie spiegelt die Krise des modernen Geistes wider. Nichts ist mehr wirklich fest, wirklich sicher, wirklich endgültig. Die Himmelsforschung kann vielleicht schon in naher Zukunft ein alles ordnendes und erklärendes System wie das von Albert Einstein durch ihre Beobachtungen bestätigen und damit nach Jahren der Krise wieder ein „festes Dach" über den Kosmos spannen. Die so gewonnene neue Sicherheit wäre um so größer, als sie auf dem Wege über die Vernunft und die dem Menschen wahrnehmbare Wahrheit wieder jedermann, selbst dem größten Zweifler, eine Art „göttlicher Vernunft" glaubhaft machen würde. Aber es ist ebenso möglich, daß neue Entdeckungen und neue darauf basierte Ideen abermals das Einsteinsche „Gewand der Schöpfung" auftrennen, bis es dann nochmals in veränderter Form entsteht. Schon eine Sternwarte auf dem Mond, die außerhalb des Staubes der Atmosphäre arbeiten würde, könnte zum Beispiel alle bisherigen Beobachtungen und Theorien umwerfen. Warum, so kann man sich fragen, warum denn eigentlich dieses scheinbar nie endende „Spiel"? Weshalb dieses emsige Forschen, die Geburt immer anderer Gedankenwelten, die doch wohl wieder einmal widerlegt, vergehen und sterben werden wie die Menschen? Es gibt darauf eine Antwort, die der Franzose Andre Malraux vor Jahren formulierte: „Das größte Geheimnis" so schrieb er, „ist es nicht, daß wir zufällig zwischen der Ausbreitung von Materie und der Ausbreitung von Sternen ins Leben geworfen wurden, sondern daß wir in diesem Gefängnis imstande sind, Bilder zu entwerfen, die mächtig genug sind, unsere Unbedeutendheit zu verneinen." Das ist wohl der Sinn dessen, was auf Mount Palomar und auf zahlreichen anderen Sternwarten in aller Welt geschieht, obwohl den meisten Sternenforschern selbst viel nähere, greifbarere und endgültigere Ziele vorschweben mögen. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 157 ( A s t r o n o m i e ) H e f t p r e i s 2 5 Pfg. Natur- und kulturkundlidle Hefte — Bestellungen (vierteliäbrl. 6 Hefte DM1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murna», München, Innsbruck — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg 31
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