Joan Garner
Morgen wirst du uns gehören Irrlicht Band 408
Kathleens Augen weiteten sich vor Furcht. Sie hielt den At...
37 downloads
390 Views
327KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Joan Garner
Morgen wirst du uns gehören Irrlicht Band 408
Kathleens Augen weiteten sich vor Furcht. Sie hielt den Atem an und war unfähig, sich zu regen. Bei der Gestalt vor dem Fenster handelte es sich um eine alte Frau. Ihr faltiges Gesicht war kalkweiß, und die schneeweißen Haare hingen ihr wirr bis zu den Schultern herab. Neben der schmalen Nase befand sich ein auffälliges Muttermal. Die Frau war in ein Totengewand gehüllt, das sich gespenstisch im Wind bewegte. Das Blut rauschte Kathleen in den Ohren, so schnell schlug ihr Herz. Sie wollte schreien. Aber kein Laut drang aus der zugeschnürten Kehle. Jetzt öffnete die unheimliche Erscheinung ihren Mund. Eine schwarze zahnlose Öffnung, umschlossen von bleichen, schmalen Lippen. Kathleen zuckte zusammen. Sie spürte, wie ihr langsam eine Gänsehaut über den Rücken kroch, als die Augen der Erscheinung plötzlich zu glühen anfingen. Kathleen glaubte, bei diesem Anblick fast wahnsinnig zu werden. Zitternd zog sie die Bettdecke Zentimeter für Zentimeter bis zu ihrem Kinn hoch…
»Der Hafen von Bristol ist seit dem Mittelalter einer der wichtigsten Binnenhäfen von Südengland«, erklärte Kathleen Truman und deutete auf das Modell des alten Hafens, wie er zur Zeit des 16. Jahrhunderts ausgesehen hatte. Die Touristengruppe, die Kathleen an diesem Nachmittag durch das Museum von Bristol führen mußte, hatte sich in einem Halbkreis um die junge attraktive Studentin versammelt. Da Kathleens Eltern beide tot waren, hatte die junge Frau den Job im Museum angenommen, um ihr Studium finanzieren zu können. Ihr Studienfach war englische Geschichte. Und weil sie es verstand, ihr Wissen lebendig und mit kleinen Anekdoten versehen den Besuchern zu vermitteln, wurden ihre Dienste von der Museumsdirektion gerne und so oft wie möglich in Anspruch genommen. »Der Reichtum der Stadt basierte damals auf dem Import von Zucker, Tabak und Wein«, fuhr Kathleen fachkundig fort. »Bristol war allerdings auch ein wichtiger Stützpunkt für den Sklavenhandel…« Kathleen stockte plötzlich in ihrem Vortrag. Sie hatte ihren Blick über die Versammelten schweifen lassen, um sich deren Aufmerksamkeit zu versichern. Die Touristen wirkten alle sehr interessiert, nur ein Mann, der allein schon wegen seiner Garderobe aus dem Rahmen fiel, schien sich für das Thema nicht erwärmen zu können. Wie Kathleen mit aufkeimendem Unwillen feststellen mußte, galt seine Aufmerksamkeit mehr der attraktiven Museumsführerin als den Ausstellungsstücken. Sein Blick war unverhohlen auf Kathleen gerichtet. Die junge Frau schätzte ihn auf Mitte Vierzig. Sein braunes Haar war stark gelichtet und bildete nur einen spärlichen Kranz um den schmalen Kopf. Er trug ein kariertes Jackett und wirkte unter den Geschäftsleuten wie ein Fremdkörper. Am sonderbarsten aber waren seine braunen tiefliegenden Augen. Aus ihnen
sprach eine unterschwellige Traurigkeit, aber auch eine strenge Entschlossenheit; eine Mischung, die Kathleen schaudern ließ. Als der Mann bemerkte, daß er Kathleens Aufmerksamkeit erregt hatte, wandte er sich rasch um und verschwand in einem Seitengang des Museums. Die Studentin runzelte die Stirn. Sie war sich plötzlich sicher, daß dieser Unbekannte nicht zu der Reisegruppe gehörte, die sie durch das Museum führen sollte. Wahrscheinlich ein einzelner Besucher, der kostenlos in den Genuß der Führung kommen wollte, überlegte Kathleen und wandte sich wieder der Reisegruppe zu. Aber warum hat er mich dann so angestarrt? Kathleen verdrängte diese Gedanken. Und sie hätte diesen kleinen Zwischenfall sicher wieder vergessen, wenn ihr der sonderbare Mann nicht noch ein zweites Mal über den Weg gelaufen wäre. Diesmal befand sie sich mit ihrer Reisegruppe gerade vor einem Schiffsmodell. Es stellte eines der zahlreichen Auswandererschiffe dar, die vor vierhundert Jahren Bristol mit dem Ziel Nordamerika verlassen hatten. Kathleen schilderte den Anwesenden in schillernden Farben das bunte Treiben, das damals im Hafen von Bristol geherrscht hatte. Doch plötzlich stockte sie wieder. Sie fühlte den brennenden Blick in ihrem Rücken fast körperlich. Unbehaglich wandte sie sich um und entdeckte den Mann in dem karierten Anzug hinter einer Säule der großen Ausstellungshalle. Wieder war sein Blick auf sie gerichtet. Als er jedoch bemerkte, daß Kathleen ihn musterte, wandte er sich rasch wieder ab und verließ die Halle mit eiligen Schritten. Die junge Studentin versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verwirrt sie war. Sie führte die Reisegruppe durch das Museum und glänzte mit ihrem umfangreichen Fachwissen über die englische Geschichte. Ein leichtes Unbehagen konnte sie dabei jedoch nicht unterdrücken. Sie ertappte sich dabei,
wie sie sich immer wieder umsah und nach dem unheimlichen Mann Ausschau hielt. Aber ein drittes Mal ließ er sich nicht blicken. Trotzdem war Kathleen froh, als sie an diesem Abend das Museum verlassen konnte. Die weiten Gänge und Hallen waren ihr plötzlich unheimlich geworden. Draußen empfing sie Regen. Die Wolken hingen tief und grau über Bristol. Mit hochgezogenen Schultern eilte Kathleen zur nahegelegenen Bushaltestelle. Sie brauchte nicht lange auf ihren Bus zu warten, und so atmete sie erleichtert auf, als sie sich in einen Sitz am Fenster sinken ließ. Doch die ersehnte Ruhe war ihr nicht vergönnt – denn plötzlich entdeckte sie den unheimlichen Fremden wieder! Er stand in einem Hauseingang und schaute dem davonfahrenden Bus hinterher. Kathleen kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihre Schultern und drückte sich tiefer in den Sitz. Als sie wenig später ihre kleine Wohnung erreicht hatte, begab sie sich als erstes unter die warme Dusche. Nach dem erfrischenden Bad ging es ihr schon wieder ein bißchen besser. Sie fönte ihr langes braunes Haar und betrachtete sich dabei zufrieden im Spiegel. Kathleen war einundzwanzig Jahre alt und hatte eine sehr gute Figur, wie ihr schon viele ihrer Freunde versichert hatten. Natürlich taten ihr die Komplimente gut, aber ernsthaftes Interesse hatte sie noch für keinen Mann gezeigt. Der Mann, in den sie sich verlieben würde, dürfte sie nicht nur wegen ihres Aussehens lieben. Sie wollte jemanden, der sie um ihrer selbst willen begehrte. Kathleen schüttelte die Gedanken ab und schlüpfte in einen bequemen Jeansanzug. Dann begab sie sich in ihre kleine Küche, um sich etwas zu essen zuzubereiten. Als sie aber den leeren Tisch und die verlassen wirkende Wohnung betrachtete, verspürte sie plötzlich keine Lust mehr, allein in ihrer
Wohnung zu essen. Auch steckte ihr der Schrecken, den die sonderbare Begegnung mit dem unbekannten Mann im Museum ausgelöst hatte, noch in den Knochen. Also setzte sie sich aufs Sofa und zog das Telefon zu sich heran. Es hätte sie nur wenige Telefonate gekostet, und sie hätte gleich mit einem ganzen Dutzend junger Männer essen gehen können. Aber Kathleen stand momentan mehr der Sinn nach einem freundschaftlichen Gespräch. Entschlossen gab Kathleen die Nummer ihrer Studienfreundin Susan Wall in die Tastatur des Apparates ein. Nach einmaligem Klingeln wurde gleich abgenommen. Susan Wall war am Apparat. Nachdem die beiden Freundinnen den neuesten Klatsch aus der Universität ausgetauscht hatten, berichtete Kathleen von der unheimlichen Begegnung im Museum. »Ich glaube, du bildest dir das alles nur ein«, versuchte Susan ihre Freundin zu beruhigen. »Was dir fehlt, ist etwas Abwechslung. Ruf einen unserer Mitstudenten an und mach dir mit ihm einen vergnüglichen Abend. Du sitzt doch die ganze Zeit zu Hause und büffelst fürs Studium. Oder du führst Leute durch die verstaubten Gänge des Museums. Da ist es doch kein Wunder, wenn du den neugierigen Blick eines Mannes gleich überbewertest und etwas Unheimliches darin vermutest.« Kathleen wollte ihre Freundin unterbrechen und ihr erklären, daß erstens die Gänge des Museums nicht verstaubt waren und daß sie sich zweitens den bohrenden Blick des sonderbaren Mannes nicht bloß eingebildet hatte, aber Susan ließ Kathleen gar nicht zu Wort kommen. »Du mußt endlich einmal aus dir herauskommen«, erklärte sie, »man fängt schon an, sich über dich Geschichten zu erzählen. Du weißt, daß ich dich nicht verletzen will, und ich finde es abscheulich, wenn jemand über andere herzieht, nur weil er sich etwas eigenwillig verhält. Aber den meisten Studenten ist das bedauernswerte Schicksal deines Vaters
bekannt. Und unter einigen jungen Männern, die du abblitzen ließt, kursiert das Gerücht, daß du mehr von dem Wesen deines Vaters geerbt hast, als dir guttut. Sie halten dich für sonderbar.« »Ich gebe nichts auf dieses Gerede!« brauste Kathleen plötzlich auf. »Und diese Gerüchte beweisen nur, daß die, die sie verbreiten, meine Freundschaft wirklich nicht verdient haben.« »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Susan versöhnlich. »Aber du solltest den anderen nicht noch mehr Stoff für Gerüchte liefern. Ich bin heute abend mit Peter zum Abendessen verabredet. Wir treffen uns in einem italienischen Restaurant ganz in deiner Nähe. Komm doch einfach mit. Dann kannst du den Jungs endlich zeigen, daß du ihnen auf jeder Ebene gewachsen bist.« Kathleen seufzte. »Vielleicht sollte ich deinen Ratschlag annehmen«, überlegte sie. »Aber ich bin wirklich nicht dazu in der Stimmung.« Susan versuchte ihre Freundin noch einmal umzustimmen. Aber Kathleen fühlte sich zu müde und abgespannt und schlug ihrer Freundin die Bitte ab.
*
Nachdem Kathleen den Hörer aufgelegt hatte, trat sie ans Fenster und sah auf die regennasse Straße hinab. Susans Bemerkung über ihren Vater hatte alte Wunden in Kathleen aufgerissen. Und plötzlich wußte sie, daß nicht ihre Müdigkeit Grund für die Absage an Susan gewesen war, sondern daß die Erwähnung ihres Vaters, Tom Truman, sie verstimmt hatte.
Ihr Blick verschleierte sich, als sie an die glückliche Zeit mit ihrem Vater zurückdachte. Ihre Mutter Marian hatte Kathleen nie kennengelernt. Sie war kurz nach Kathleens Geburt gestorben. Tom Truman hatte so zwar eine Tochter bekommen, dafür aber seine Frau verloren. Es mußte damals eine harte und entbehrungsreiche Zeit für den jungen Geschichtsprofessor gewesen sein. Aber Tom Truman hatte die Herausforderung angenommen und Kathleen allein großgezogen. Er war ein sehr liebenswerter Vater gewesen und hatte es seiner Tochter an nichts fehlen lassen. Aber nicht nur für seine geliebte Tochter Kathleen hatte Tom Truman Ungewöhnliches geleistet. Auch als Geschichtsprofessor war er erfolgreich und angesehen gewesen. Denn Tom Truman interessierte sich für eine Epoche, die von seinen Kollegen für gewöhnlich die keltische oder heidnische Zeit genannt wurde. Und mit dieser Bezeichnung hatte sich das wissenschaftliche Interesse seiner Kollegen auch schon erschöpft. Nicht so für Professor Tom Truman. Für ihn stellte die früheste Geschichte von England, die am Ende der Jungsteinzeit und mit der Errichtung von Stonehenge und Avebury Circle begann, das lohnendste Kapitel der Geschichtsforschung dar. Kathleens Vater spürte alten Sagen und Märchen nach und versuchte die Frage zu klären, seit wann die britischen Inseln besiedelt waren. Im Laufe seiner Forschungen stieß er auf viele sonderbare Geschichten und Erzählungen. Die meisten davon erzählte er seiner Tochter vor dem Einschlafen. Und Kathleen wurde nie müde, den seltsamen und oft unheimlichen Geschichten ihres Vaters zu lauschen. Bis heute hatte sie keine einzige dieser Erzählungen vergessen. Als Kathleen älter wurde, war ihr Vater oft fort. Er spürte irgendwelchen Sagen und Mythen nach und kam oft wochenlang nicht nach Hause. So kam es, daß Kathleen früh
lernen mußte, für sich selbst zu sorgen. Aber sie hatte ihrem Vater nie einen Vorwurf daraus gemacht. Doch bei seinen Kollegen geriet Tom Truman immer mehr in Verruf. Ihm wurde vorgeworfen, daß er bei seinen Forschungen unwissenschaftlich vorginge. Aber Kathleen wußte, daß dies nicht zutraf. Zwar jagte ihr Vater immer irgendwelchen zwielichtigen Erzählungen nach, aber bei seiner Vorgehensweise blieb er immer der Wissenschaft verhaftet. Viele der Sagen entpuppten sich auf diese Weise als unbegründet und wissenschaftlich nicht haltbar. Aber oft waren seine Nachforschungen auch von Erfolg gekrönt, und Tom Truman konnte der frühen englischen Geschichte wieder ein Detail hinzufügen. Doch vor drei Jahren, Kathleen war gerade im Begriff, ihren Hochschulabschluß zu machen, faßte ihr Vater den folgenschweren Entschluß, der Küste von Cornwall eine Forschungsreise zu widmen. Viel Zeit hatte er damit verbracht, Legenden über Schmuggler zu sammeln, die sich zur Zeit von König Arthur in dieser Gegend herumgetrieben haben sollten. Dabei war ihm etwas über eine Schmugglerbande zu Ohren gekommen, die angeblich heidnische Gegenstände gesammelt und zusammen mit ihrem Schatz irgendwo an der Küste von Cornwall vergraben hatte. Da sich niemand dazu bereit erklärte, Tom Truman auf dieser Reise zu begleiten, machte sich der fünfzig Jahre alte Mann allein auf den Weg. Doch der Geschichtsprofessor stürzte in den steilen Klippen der Schmugglerbucht ab. Er brach sich die Beine und war unfähig, sich zu bewegen. Doch der Sturz allein brachte ihn nicht um. Tom Truman war ein zäher und kräftiger Mann. Was ihn das Leben kostete, war der unglückliche Zufall, daß er genau in das Nest einer giftigen Kreuzotter stürzte. In England gibt es nur eine einzige giftige Schlangenart. Und sie kommt nur in diesem Landstrich vor. Ihr Biß kann tödlich sein, wenn nicht
innerhalb weniger Stunden das Gegengift gespritzt wird. Tom Truman wurde erst zwei Tage nach seinem tragischen Sturz tot zwischen den Klippen aufgefunden. Gestorben am tödlichen Gift der Kreuzotter! Kathleen wischte sich die Tränen aus den Augen. Niemand hat das Recht, schlecht über meinen Vater zu reden, dachte sie trotzig. Sie erinnerte sich an die Berge von Unterlagen und Aufzeichnungen, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte und die nun auf dem Dachboden lagerten. Eines Tages, wenn ich selbst Professorin bin, werde ich die Forschungen meines Vaters an der Stelle fortführen, an der er gezwungen wurde aufzuhören, dachte sie stolz. Kathleens Haltung straffte sich wieder. Nun war sie froh, der Einladung ihrer Freundin nicht gefolgt zu sein. Denn mit Leuten, die ihrem Vater übel nachredeten, wollte sie sich nicht abgeben. Schon wollte Kathleen sich vom Fenster abwenden. Doch in diesem Augenblick entdeckte sie in dem gegenüberliegenden Hauseingang eine Gestalt. Kathleen erstarrte. Sie kniff die Augen zusammen und spähte durch den Regen. Dann war sie sich sicher: Dort unten stand der sonderbare Mann aus dem Museum! Er schaute eindeutig zu ihrem Fenster empor. Wie lange beobachtet er mich schon? fragte sich Kathleen entsetzt. Erst jetzt wurde sie sich bewußt, daß sie eine halbe Stunde reglos dagestanden hatte und sich den traurigen Erinnerungen hingegeben hatte. Rasch zog sie die Gardine vors Fenster und löschte das Licht. Dann spähte sie durch einen Gardinenspalt auf die Straße. Genau in diesem Augenblick löste sich der Mann aus dem Hauseingang und schickte sich an, die Straße zu überqueren. Er hielt genau auf Kathleens Wohnhaus zu.
Kathleen schnürte es vor Angst fast die Kehle zu. Sie schluckte und spürte, wie ihr Pulsschlag sich erhöhte. Kommt er jetzt zu mir? fragte sie sich nervös. Kathleen stürzte zur Wohnungstür. Sie verriegelte sie und legte die Sicherheitskette vor. Danach fühlte sie sich schon ein wenig sicherer. Aufatmend lehnte sie sich gegen die Tür. Immer die Ruhe bewahren! befahl sie sich. Doch plötzlich horchte sie auf. Waren da nicht eben Schritte im Treppenhaus? Ja, nun war sie sicher. Deutlich waren die schleppenden Schritte hinter der Tür zu vernehmen! Sie kamen immer näher und verhielten schließlich genau vor Kathleens Tür. Das Schrillen der Türglocke ließ die junge Frau zusammenfahren. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß der unheimliche Mann bei ihr geklingelt hatte. Rasch schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach neun Uhr. Für den Besuch eines Fremden also nicht gerade eine schickliche Zeit. Der Mann klingelte erneut, klopfte sogar zaghaft gegen die Tür. In diesem Moment verwünschte Kathleen sich dafür, daß sie die Einladung ihrer Freundin nicht angenommen hatte. Sie könnte jetzt sicher im Kreis ihrer Bekannten sitzen. Statt dessen sah sie sich nun mit dem Besuch eines wildfremden unheimlichen Mannes konfrontiert. »Miß Truman, sind Sie da?« hörte Kathleen plötzlich die dünne Stimme des Mannes. »Ich muß Sie dringend sprechen!« Die junge Studentin überlegte fieberhaft. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vielleicht wollte der Mann wirklich etwas von ihr. Oder er suchte nur einen Vorwand, in ihre Wohnung eindringen zu können. Kathleen konnte diese Fragen nicht beantworten. Sie entschied sich aber, lieber vorsichtig zu sein.
»Was wollen Sie von mir?« fragte sie durch die Tür hindurch. »Warum verfolgen Sie mich?« »Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, ließ der Unbekannte sich vernehmen. »Es hat sehr lange gedauert, bis ich Sie gefunden habe. Und auch dann mußte ich erst sichergehen, ob ich auch die Richtige vor mir habe…« »Sie können sich Ihre Erklärungen sparen«, fuhr Kathleen dazwischen. »Wenn Sie mir meine Frage nicht eindeutig beantworten können, muß ich Sie auffordern zu gehen. Sonst werde ich die Polizei rufen!« »Das ist wirklich nicht nötig«, beeilte sich der Mann zu versichern. »Ich bin Notar und unterhalte eine kleine Kanzlei in Minehead, in der Grafschaft Somerset. Eine meiner Klienten heißt Martha Lynch. Wie es aussieht, sind Sie eine entfernte Verwandte dieser Frau. Die einzige Verwandte übrigens. Laut Testament von Martha Lynch haben Sie ein umfangreiches Anwesen in Exford geerbt!« Kathleen war sprachlos. Wenn sich dieser Mann diese Geschichte nur ausgedacht hatte, um in ihre Wohnung zu gelangen, so mußte sie ihm eine gehörige Portion Phantasie bescheinigen. »Ich habe nie von einer Martha Lynch gehört«, sagte sie der Wahrheit entsprechend. »Hören Sie«, sagte der Mann etwas ungeduldig, »es hat keinen Sinn, diese Angelegenheit auf dem Flur zu besprechen. Ich muß mich bei Ihnen für mein sonderbares Vorgehen entschuldigen. Vielleicht sollten wir einen neutralen Ort wählen, an dem wir ungestört und ohne Angst sprechen können.« Kathleen überlegte einen Augenblick. Sie mußte zugeben, daß sie die Worte des Unbekannten neugierig gemacht hatten. Vielleicht war an seiner Behauptung ja wirklich etwas dran. Schließlich hatte sie einen Einfall. »Zwei Straßen weiter gibt es ein italienisches Restaurant«, sagte sie zu dem Mann hinter
der Tür. »Wir können uns dort in einer Viertelstunde treffen. Sie müssen aber mit einem Taxi vorausfahren. Und zwar so, daß ich es vom Fenster aus beobachten kann.« Der Mann erklärte sich einverstanden. Kathleen bestellte telefonisch ein Taxi. Kurz darauf beobachtete sie vom Fenster aus, wie der Mann mit dem karierten Anzug in das Taxi stieg und davonfuhr. Kathleen atmete auf. Sie bestellte sich nun ihrerseits ein Taxi und zog sich einen Mantel über. Sie verließ ihre Wohnung jedoch erst, nachdem der Taxifahrer an ihrer Tür geklingelt hatte.
*
Als Kathleen das Restaurant betrat, wurde sie sofort von ihrer Freundin Susan Wall bemerkt. Die blonde Frau saß mit Peter und seinen Freunden, die Kathleen alle aus der Universität kannte, an einem großen runden Tisch. Sie waren schon beim Essen, und es herrschte offensichtlich eine ausgelassene Stimmung. Susan erhob sich freudestrahlend und eilte auf ihre Freundin zu. »Kathleen!« rief sie erfreut, als sie ihrer Freundin gegenüberstand. »Hast du dich also doch noch durchringen können?« Kathleen lächelte verlegen. »Es ist nicht so, wie du denkst«, gestand sie und schaute sich dabei in dem Raum um. Dann hatte sie den Mann aus dem Museum entdeckt. Er saß an einem kleinen Tisch in einer Nische des Raumes. Auffordernd winkte er Kathleen zu. »Du erinnerst dich doch an den Mann aus dem Museum, der mich so erschreckt hat«, sagte Kathleen an ihre Freundin gewandt. »Er ist mir bis zu meiner Wohnung nachgeschlichen
und wollte mir irgendeine phantastische Geschichte auftischen. Also habe ich ihn hierher bestellt. Dort hinten in der Nische sitzt er.« Susan musterte erst ihre Freundin argwöhnisch und dann den Herrn mit dem spärlichen Haarkranz und dem karierten Jackett, auf den Kathleen sie aufmerksam gemacht hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Was sind das denn nun schon wieder für Geschichten?« sagte sie tadelnd. »Habe ich dir nicht eben noch geraten, lieber nicht für mehr Gesprächsstoff zu sorgen? Und nun kreuzt du hier mit einem älteren Herrn auf! Noch dazu mit einem in vorsintflutlicher Garderobe.« Susan lächelte verschmitzt und zeigte, daß sie ihre Bemerkung nicht allzu ernst gemeint hatte. Und schon mit dem nächsten Satz bewies sie, daß sie die Absichten ihrer Freundin durchschaut und verstanden hatte. »Ich werde ein Auge auf euch werfen«, versprach sie. »Und wenn der Kerl zudringlich werden sollte, bekommt er es mit mir zu tun!« Kathleen lächelte ihre Freundin dankbar an. Dann begleitete sie Susan noch bis zu ihrem Tisch. Die jungen Studenten sahen sie mit unverhohlener Neugier an. Einer von ihnen wollte Kathleen einen Stuhl holen, damit sie zwischen ihnen Platz nehmen konnte. »Nein danke«, wehrte Kathleen jedoch etwas schnippisch ab. Sie hatte den jungen Männern immer noch nicht verziehen, daß sie über ihren Vater schlecht geredet hatten. »In Kreisen, in denen wissenschaftliche Arbeit nicht gewürdigt wird, fühle ich mich einfach nicht wohl.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und schritt auf den kleinen Tisch in der Nische zu. Sie wußte, daß sie sich mit ihrer Bemerkung nur noch mehr Ärger eingehandelt hatte. Aber sie fand, daß sie es ihrem Vater schuldig war, für seine Ehre einzutreten.
»Wie ich sehe, sind Sie eine sehr vorsichtige und umsichtige Person«, begrüßte sie der Mann mit dem karierten Anzug. Er erhob sich rasch und rückte Kathleen einen Stuhl zurecht. »Und eine äußerst hübsche noch dazu«, bemerkte er, als Kathleen Platz genommen hatte. Aber die junge Studentin ignorierte die Bemerkung. »Kommen Sie zur Sache«, sagte sie abweisend. »Ich habe Ihr Mißtrauen verdient«, gab der Mann unumwunden zu. »Zumal ich mich noch nicht einmal vorgestellt habe. Mein Name ist Ramsgate. Harry Ramsgate. Ich bin Notar, wie ich schon bemerkt habe.« Kathleen betrachtete ihr Gegenüber nun genauer. Und sie fand, daß der Mann bei Licht besehen nicht mehr ganz so unheimlich wirkte, wie es im Museum oder auf der dunklen Straße der Fall gewesen war. Seine Gesichtszüge sahen sogar recht weich und sensibel aus. Nur seine traurigen braunen Augen hatten immer noch jenen sonderbaren und ein wenig beängstigenden Ausdruck, der Kathleen schon bei ihrer ersten Begegnung im Museum aufgefallen war. Sie kündeten von einem tiefen Schmerz, den der Notar in sich begraben trug. Kathleen kannte diese Sorte von Schmerz, da sie ihn nach dem Tod ihres geliebten Vaters selbst durchgemacht hatte. Vielleicht empfinde ich diese Augen deshalb als so beängstigend, weil sie mich an meinen eigenen Schmerz erinnern, überlegte sie. Kathleen drängte ihre trübsinnigen Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. »Sie haben mich also wegen dieser Erbschaft aufgesucht«, knüpfte sie das Gespräch an dem Punkt an, an dem sie es vor ihrer Wohnungstür abgebrochen hatte. »Aber ich glaube, ich muß Sie enttäuschen. In meiner Verwandtschaft gibt es wirklich keine Martha Lynch.«
Ein Kellner kam und nahm ihre Bestellung auf. Kathleen blickte verstohlen zu Susan hinüber, die auch gerade in ihre Richtung schaute. Durch Zublinzeln gab Kathleen ihrer Freundin zu verstehen, daß bei ihr alles in Ordnung war. »Mrs. Lynch wußte bis zu ihrem Tode von Ihnen ebensowenig wie Sie heute von ihr«, behauptete Harry Ramsgate. »Sie hatte in ihrem Testament zwar eine Klausel eingebracht, nach der ein möglicher Verwandter ihren Besitz erben sollte. Aber zu Lebzeiten hat Martha Lynch fest daran geglaubt, keine Verwandten mehr zu haben.« »Wie tragisch«, bemerkte Kathleen mitfühlend. »Es muß für Mrs. Lynch quälend gewesen sein, annehmen zu müssen, daß sich nach ihrem Tod niemand um ihren Besitz kümmern würde.« Harry Ramsgate erwiderte darauf nichts. Statt dessen widmete er sich erst einmal dem Essen, das der Kellner in diesem Moment servierte. »Aber nun habe ich ja einen Erben gefunden«, behauptete er plötzlich und lenkte Kathleens Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Es hat mich fast ein Jahr Arbeit gekostet. Doch schließlich bin ich auf Sie gestoßen: Kathleen Truman!« »Und Sie sind sich ganz sicher, daß Ihnen kein Fehler unterlaufen ist?« fragte Kathleen unsicher. Ihr kam die ganze Geschichte immer noch sehr phantastisch und unglaubwürdig vor. »Ich bin mir sogar sehr sicher«, erklärte Harry Ramsgate. »Martha Lynch war eine Stieftante Ihrer Mutter. Leider sind die Dokumente nicht ganz eindeutig. Ich mußte mich auf ein paar alte Fotografien stützen. Darum wollte ich Sie auch erst in Augenschein nehmen, bevor ich Sie mit der Erbschaftsangelegenheit behelligte. Dabei bin ich etwas ungeschickt vorgegangen und habe Ihnen angst gemacht.
Aber schon auf den ersten Blick war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen. Für mich besteht kein Zweifel, daß Sie die alleinige Erbin des Vermögens von Martha Lynch sind.« Kathleen war immer noch nicht überzeugt. Die Vorgehensweise des Notars erschien ihr ein wenig zweifelhaft. »So wie Sie die Sachlage schildern, kann die Erbschaft vor Gericht angezweifelt werden«, stellte Kathleen sachlich fest. Der Notar zog einen Umschlag aus seinem karierten Jackett hervor. »Alle erforderlichen Dokumente befinden sich in diesem Umschlag«, erläuterte er. »Darunter finden Sie auch Aufnahmen des Herrenhauses und des Anwesens, das Sie erben werden. Sie können sich selbst von der Richtigkeit der Dokumente überzeugen. Als Studentin der Geschichte dürfte Ihnen dies keine Schwierigkeiten bereiten.« Nur zögernd nahm Kathleen den Umschlag entgegen. Sie mußte allerdings zugeben, daß sie sich durch die Worte des Notars herausgefordert fühlte. Sie würde die Dokumente auf Herz und Nieren prüfen. »Sehen Sie sich die Unterlagen in aller Ruhe durch«, forderte Ramsgate sie auf. Dann schrieb er ihr eine Telefonnummer auf. »Unter dieser Nummer bin ich in meinem Hotel zu erreichen. In spätestens einer Woche muß ich nach Minehead in meine Kanzlei zurückkehren. Es wäre schön, wenn Sie sich bis dahin bei mir melden würden.« Mit diesen Worten erhob sich Ramsgate. Er verabschiedete sich höflich von Kathleen und bat nochmals um Entschuldigung wegen seines ungeschickten Vorgehens. Dann verließ er das Restaurant. Kaum war Harry Ramsgate aus der Tür, eilte Susan auch schon an Kathleens Tisch. Die anderen Studenten waren bereits gegangen. Nur Peter, Susans Freund, saß noch an dem Tisch im Hintergrund.
»Ihr habt euch ja sehr angeregt unterhalten«, bemerkte Susan etwas spitz. »Was wollte dieser komische Kauz überhaupt von dir?« Kathleen sah ihre Freundin etwas verstört an. »Ich glaube, ich habe soeben eine große Erbschaft gemacht«, sagte sie. »Wie bitte?« stieß Susan hervor. Ihre Augen begannen zu leuchten. »Aber das ist ja herrlich!« »Ich traue der Sache nicht ganz«, gestand Kathleen und erhob sich. Sie verstaute den Umschlag mit den Dokumenten in ihrem Mantel und verabschiedete sich, weil sie keine Lust hatte, mit Susan über die Erbschaft zu sprechen. Verdutzt blickte die Freundin ihr hinterher, doch das war Kathleen im Moment ziemlich egal.
*
In den folgenden Tagen verwandte Kathleen viel Zeit darauf, sich mit den Dokumenten in dem Umschlag zu befassen. Die Verwandtschaftsverhältnisse ihrer Mutter stellten einen weißen Fleck in ihrer Familienchronik dar. Tom Truman hatte es immer vermieden, über die Familie ihrer Mutter zu sprechen. Kathleen wußte, daß er dafür seine Gründe hatte, denn die Eltern ihrer Mutter hatten anfangs starke Bedenken gegen die eheliche Verbindung mit Tom Truman geäußert. Er kam ihnen sonderbar und unbeständig vor – ein vorschnelles Urteil, wie Kathleen fand. Tom und Marian hatten trotzdem geheiratet und sich über den Willen der Eltern hinweggesetzt. Zwei Jahre führten sie ein glückliches und ausgefülltes Leben. Dann wurde Marian schwanger. Die beiden freuten sich sehr auf ihr Kind. Und endlich gaben Marians Eltern ihre abweisende Haltung auf.
Aber dies alles änderte sich schlagartig, als die Eltern von dem Tod ihrer Tochter erfuhren. Für sie trug allein Tom Truman die Schuld an ihrem tragischen Tod. Kathleen hatte ihre Großeltern nur selten zu Gesicht bekommen. Sie waren irgendwann zu dem Schluß gekommen, daß Kathleen mehr nach ihrem Vater schlug als nach ihrer Mutter. Seitdem hatten sie es vorgezogen, den Kontakt mit Tom und Kathleen Truman zu meiden. Diese Einstellung hatten sie bis zu ihrem Tode beibehalten. Es war nie zu einer Versöhnung gekommen. Doch nun wurde Kathleen plötzlich mit der Geschichte der Familie ihrer Mutter konfrontiert. Daß dort nicht alles in den gewöhnlichen Bahnen verlief, mußte Kathleen schnell feststellen. Kathleen überzeugte sich als erstes davon, daß die Dokumente, die Harry Ramsgate ihr ausgehändigt hatte, alle echt waren. Erst danach glaubte sie daran, daß zwischen Martha Lynch und ihr wirklich ein verwandtschaftliches Verhältnis bestand. Die Familie ihrer Mutter hatte mit Erfolg versucht, die Existenz dieser Martha Lynch zu vertuschen. Offenbar schämte man sich für die Umstände, die dazu geführt hatten, daß Martha Lynch zu ihrer Verwandtschaft gerechnet wurde. Kathleen bewunderte Harry Ramsgate dafür, daß es ihm trotzdem gelungen war, diese Verwandtschaft festzustellen und sie bis zu ihr selbst zurückzuverfolgen. Obwohl Kathleen nun davon überzeugt war, daß Martha Lynch wirklich zu ihren entfernten Verwandten gehörte, blieb sie der ganzen Sache gegenüber mißtrauisch. Sie hatte sich die Fotos des Anwesens angesehen, die sich in dem Umschlag befunden hatten. Es war ein großes Anwesen mit einem wunderschönen Herrenhaus, einsam gelegen inmitten der zauberhaften Grafschaft Somerset.
Dies alles war einfach zu schön, um wahr zu sein. Und Kathleen war sich sicher, daß es bei der Erbschaft irgendeinen Haken geben mußte. Am dritten Tag nach ihrer Begegnung mit Harry Ramsgate rief sie bei dem Notar im Hotel an. »Ich habe die Dokumente überprüft«, kam Kathleen gleich zur Sache. »Sie sind echt. Mir ist allerdings schleierhaft, warum die Familie meiner Mutter versucht hat, die Existenz dieser Martha Lynch zu verheimlichen.« »Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht eindeutig beantworten«, gestand Harry Ramsgate. »Ich muß allerdings zugeben, daß das Anwesen in Exford einen sehr schlechten Ruf genießt. Vielleicht hängt das Verhalten Ihrer Familie damit zusammen.« Kathleen stutzte. »Worauf gründet sich denn dieser schlechte Ruf?« wollte sie wissen. Am anderen Ende der Leitung blieb es einen Augenblick still. »Es ist mir etwas peinlich, darüber zu sprechen«, ließ Ramsgate sich schließlich vernehmen. »Man sollte auf die Legenden und Märchen, die die Einheimischen sich erzählen, nicht viel geben. Es sind Gerüchte, die sich im Laufe der Jahre verfälscht haben und nun dem Anwesen von Martha Lynch anhaften. Am besten, Sie kümmern sich gar nicht darum.« Bei der Erwähnung von Legenden und Märchen wurde Kathleen plötzlich hellhörig. Sie spürte, wie eine sonderbare Erregung von ihr Besitz ergriff. »Um welche Legende genau handelt es sich denn?« bohrte sie nach. Ramsgate räusperte sich vernehmlich. »Ich weiß wirklich nicht, ob…« »Wenn Sie wollen, daß ich die Erbschaft annehme, müssen Sie mich schon über alles aufklären, was damit in Zusammenhang steht«, unterbrach Kathleen ihn schroff.
»Wenn es Ihr ausdrücklicher Wunsch ist«, ließ Ramsgate sich gequält vernehmen. Ihm war deutlich anzuhören, daß er dieses Kapitel lieber ausgespart hätte. »In der Gegend von Exford erzählt man sich, daß es in dem Herrenhaus Poltergeister geben soll«, erklärte er. »Diese Meinung hat sich bei den Einheimischen so sehr festgesetzt, daß die meisten sich weigern, das Anwesen überhaupt zu betreten. Es hat in der Vergangenheit wohl irgendwelche Vorkommnisse gegeben, die die Menschen sich nicht erklären konnten. Aber ich bin der Meinung, daß alles nur auf einem Mißverständnis beruht. Am besten, Sie machen sich vor Ort selbst ein Bild von der Lage. Ich werde morgen früh wieder abreisen. Aber ich bin für Sie jederzeit in meinem Büro in Minehead erreichbar.« Kathleen fand, daß der Vorschlag des Notars etwas für sich hatte. Die Sache begann sie zu fesseln. Eine geheimnisumwobene Erbschaft – sie war sicher, daß ihr Vater keine Minute gezögert hätte, diese Herausforderung anzunehmen. »Ich werde nach Exford fahren und die Erbschaft antreten«, verkündete sie schließlich mit fester Stimme. »Es freut mich außerordentlich, dies zu hören«, sagte Harry Ramsgate. »Wir sehen uns dann in meinem Büro. Die Unterlagen können Sie so lange behalten. Vielleicht benötigen Sie sie ja noch.« Mit diesen Worten hängte er auf. Kathleen fand die letzten Worte des Notars etwas sonderbar. Aber sie dachte nicht weiter darüber nach. Vor ihrer Abreise gab es noch einiges zu erledigen, und sie wollte nun keine Zeit mehr verlieren… Ein leichter Nieselregen rieselte gegen die Windschutzscheibe des kleinen zitronengelben Jeeps, den Kathleen von einer Verleihfirma in Bristol gemietet hatte. Der nette Angestellte hatte ihr zu einem Geländewagen geraten, da die Gegend um Exford sehr hügelig war und die Straßen schlecht befestigt waren. Da es Kathleens finanzielle Lage
nicht erlaubt hatte, einen Landrover zu mieten, mußte sie mit dem kleinen Jeep vorliebnehmen. Der wendige, spritzige Wagen hatte nur den Nachteil, daß er über kein festes Dach verfügte, sondern lediglich über ein Verdeck mit Plexiglasfenstern. Der rauhe Wind, der von den Hügeln herabwehte, zerrte an dem Verdeck. Die Plane flatterte und knatterte, und überall drang kühler Wind durch die Ritzen. Kathleen fröstelte. Immer wieder warf sie einen flüchtigen Blick auf die Landkarte, die aufgeschlagen neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Eigentlich hatte Kathleen gemeinsam mit Susan Wall diese Reise unternehmen wollen. Aber im Gegensatz zu Kathleen, die es sich bei ihrem Wissensstand erlauben konnte, der Universität einige Wochen fernzubleiben, konnte Susan, die weniger fleißig gewesen war, sich diesen Luxus nicht erlauben. Also hatte Kathleen allein fahren müssen. Nach einigen Verhandlungen mit der Museumsdirektion war es ihr sogar gelungen, einen kleinen Vorschuß zu bekommen. So hatte sie sich wenigstens den Jeep und einige andere Dinge leisten können, die sie für die Reise dringend benötigte. Kathleen war sich bewußt, daß ihr Vater seine Forschungsreisen mit Sicherheit besser vorbereitet angetreten hatte. Aber Kathleen verfügte nicht über die Erfahrung ihres Vaters, und sie war der Meinung, daß es am besten war, sich einfach auf den Weg zu machen und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Kathleen trat plötzlich auf die Bremse. Vor ihr gabelte sich die schmale Straße. Die eine Abzweigung führte den Hügel hinunter, und die andere führte in steilen Serpentinen hinauf. Ratlos studierte sie die Landkarte. Diese Abzweigung war nicht verzeichnet. Kathleen zog die Unterlagen des Notars zu Rate und kam zu der Erkenntnis, daß sie den Weg einschlagen mußte, der über den Hügel führte.
Wenig später arbeitete sich der Jeep die Serpentinen bergauf. Die Straße war in einem sehr schlechten Zustand. Überall gab es Schlaglöcher, und der Fahrbahnrand wirkte brüchig und wenig vertrauenerweckend. Als Kathleen oben angekommen war, stoppte sie den Wagen und stieg aus. Sofort ergriff der kalte, schneidende Wind die junge Frau und ließ ihren Mantel und die Haare flattern. Kathleen band rasch die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und knöpfte den Mantel bis oben zu. Dann schaute sie sich in der Gegend um. Dieser südliche Landstrich der Grafschaft Somerset war durchzogen von seichten Hügeln, die zum Teil beackert oder mit wilden Wiesen bewachsen waren. In den Tälern erstreckten sich zumeist moorige Flächen oder kleine Wälder. Als Kathleen sich umsah, bemerkte sie, daß sie nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt war. In einigen Kilometern Entfernung konnte sie die Schemen eines Ortes ausmachen. Es mußte sich dabei um Exford handeln. Aber da die Dunkelheit bereits hereinbrach und der Nieselregen zusätzlich die Sicht erschwerte, konnte sie keine Einzelheiten erkennen. Auf der anderen Seite des Hügels erstreckte sich eine weite Ebene. Und in der Nähe eines kleinen Wäldchens stand ein großes weißes Haus, umgeben von einem weitläufigen Garten: das Herrenhaus von Martha Lynch! Kathleen verharrte einen Augenblick und ließ den Anblick auf sich wirken. Sie wunderte sich, warum ein so reizvolles Bauwerk einen so schlechten Ruf erhalten konnte. Wahrscheinlich behält Harry Ramsgate recht, und die ganzen Gerüchte basieren nur auf einem Mißverständnis, dachte Kathleen. Ihr Vater hatte ähnliche Erfahrungen machen müssen, wenn sich eine Sage oder eine Legende als haltlos und wissenschaftlich nicht belegbar erwies. Kathleen zuckte mit den Schultern. Sie war sich sicher, daß sie bald herausfinden würde, was es mit dem Anwesen auf sich
hatte. Entschlossen wandte sie sich ab und kehrte zu ihrem zitronengelben Jeep zurück. Als sie den Hügel hinabfuhr, spürte sie, wie aufgeregt sie war. Im stillen freute sie sich darauf, durch die verlassenen Räume des Anwesens zu streichen und seinem Geheimnis nachzuspüren. Wenn Kathleen jedoch geahnt hätte, was sie in dem Herrenhaus erwartete, wäre sie weniger zuversichtlich und unbeschwert gewesen, sondern hätte augenblicklich dem verfluchten Anwesen den Rücken gekehrt.
*
Die schmale Straße endete vor zwei Säulen, die jeweils von einem Löwen gekrönt waren. Das große eiserne Tor dazwischen stand weit offen. Rechts und links der Säulen verlief ein verzierter hoher Zaun, der auf der einen Seite sein Ende in dem kleinen Wald fand und auf der anderen abrupt mitten auf einer Wiese aufhörte. Hinter dem Tor setzte sich die Straße als ein kiesbestreuter Weg fort. Kathleen lenkte ihren Jeep auf das Grundstück und ließ den Wagen gemächlich über den Weg dahinrollen. Der weitläufige Garten machte einen halbwegs gepflegten Eindruck. Und Kathleen fragte sich mit einigem Unbehagen, wieviel Arbeit es machen würde, das ganze Anwesen in Schuß zu halten. Aber darüber konnte sie sich immer noch den Kopf zerbrechen. Jetzt wollte sie erst einmal ihren neuen Besitz in Augenschein nehmen. Kathleen ließ den zitronengelben Jeep vor dem Haus ausrollen. Sie hoffte, daß sich ein Verwalter in dem Gebäude aufhielt, denn Harry Ramsgate hatte ihr nicht gesagt, wie sie
hineingelangen konnte. Einen Schlüssel hatte er ihr nicht ausgehändigt. Dieser lag wahrscheinlich in dem Büro des Notars. Kathleen schaute sich flüchtig um, konnte aber nirgendwo ein Auto oder Fahrrad sehen. Die Fenster des Hauses waren nicht erleuchtet, die schweren Vorhänge zugezogen. Die junge Studentin atmete einmal tief durch und verließ schließlich ihren Wagen. Ein seltsames Gefühl beschlich sie, als sie die ausgetretenen Stufen der Freitreppe emporschritt. Dies alles gehört also jetzt mir, dachte sie mit gemischten Gefühlen. Als sie die halbbogenförmige Flügeltür erreicht hatte, probierte sie die Klinke. Aber das Haus war abgeschlossen. Etwas hilflos schaute sie sich um, bis sie einen Klingelknopf neben der Tür bemerkte. Da ihr im Moment nichts Besseres einfiel, betätigte sie die Klingel. Das laute Rasseln, das gleich darauf zu hören war, klang in Kathleens Ohren wie ein Mißton. Sie kam sich plötzlich wie ein Eindringling vor. Wie jemand, der die geheiligte Stille eines verlassenen Ortes störte. Kathleen wollte sich schon von der Tür abwenden, um nach einem offenen Fenster Ausschau zu halten, durch das sie in das Haus einsteigen konnte. Aber plötzlich hörte sie ein dumpfes Geräusch hinter der Tür. Kurz darauf wurde ein Schlüssel im Schloß herumgedreht, und die schwere Holztür schwang knarrend auf. »Sie wünschen?« fragte eine hochgewachsene Frau. Kathleen schätzte sie auf Anfang Vierzig. Sie hatte kurzes aschblondes Haar und einen hochmütigen Gesichtsausdruck. Abweisend musterte sie die junge Frau. Kathleen war ein wenig überrascht. Die Frau trug ein aufwendiges schwarzes Kleid. Der Schmuck, mit dem sie sich behängt hatte, wirkte kostspielig. Sah so eine Verwalterin aus?
»Ich bin die neue Besitzerin dieses Anwesens«, stellte Kathleen sich schließlich vor. »Ich bin gekommen, um mir den Besitz anzuschauen…« Kathleen brach ab. Der abweisende Gesichtsausdruck der Frau war noch um einige Nuancen feindseliger geworden. Die Frau versteifte ihre Haltung und musterte Kathleen mit stechendem Blick. »Sie scherzen wohl!« ließ die Frau sich mit spöttischem Unterton vernehmen. »Dieses Anwesen gehört mir und meinem Mann. Ich muß Sie bitten, das Grundstück unverzüglich zu verlassen!« Kathleen war wie vor den Kopf geschlagen. Sie glaubte sich verhört zu haben. Aber die unnachgiebige Haltung der Frau verriet ihr, daß es ihr mit ihrer Behauptung ernst war. »Aber dies ist doch das ehemalige Anwesen von Mrs. Martha Lynch«, sagte Kathleen verstört. »Oder habe ich mich etwa doch verfahren?« Die Frau in dem schwarzen Kleid war gerade im Begriff, Kathleen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Als sie jedoch den Namen Martha Lynch hörte, hielt sie in der Bewegung inne. »Dies ist wohl das Anwesen von Martha Lynch«, sagte sie leicht irritiert. »Dann bin ich hier also doch richtig«, stellte Kathleen erleichtert fest. »Ich bin eine entfernte Verwandte von Martha Lynch. Ihr Notar Harry Ramsgate hat mich aufgesucht und mich über die Erbschaft informiert.« In diesem Moment wurde die Frau in der Tür grob beiseite geschoben. Ein kleiner, stämmiger Mann mit kurzen braunen Haaren erschien. Sein Gesicht wirkte grob, und seine Augen strahlten die gleiche Feindseligkeit aus wie die der Frau. »Harry Ramsgate schickt Sie, sagen Sie?« fuhr er Kathleen unhöflich an. »Dieser Spitzbube macht uns nichts als
Scherereien! Wir sind die rechtmäßigen Erben des Anwesens. Martha Lynch hat keine Verwandtschaft mehr gehabt.« »Es mag für Sie unangenehm sein«, erwiderte Kathleen, wütend über die grobe und – wie sie fand – ungerechte Behandlung, »aber ich kann nachweisen, daß ich wirklich eine Verwandte von Martha Lynch bin!« Nun schob sich wieder die Frau in den Vordergrund. Ihr Gesicht drückte plötzlich Liebenswürdigkeit aus. »Wir werden die Sache schon aufklären«, meinte sie. »Kommen Sie doch erst einmal herein. Sie sind ja ganz durchnäßt.« Kathleen fand, daß diese Einladung mehr als überfällig war. Schließlich handelte es sich ja jetzt um ihr Haus. Sie hatte keine Lust, noch länger im Regen zu stehen und sich die Unverschämtheiten der beiden anhören zu müssen. Also schob sich die junge Studentin an dem seltsamen Paar vorbei und betrat die Vorhalle des Gebäudes. Mit großen Augen sah Kathleen sich um. Der Boden war mit Marmor ausgelegt. Geschnitzte Türen wiesen in die angrenzenden Zimmer. Eine breite Treppe führte in die oberen Stockwerke, und die bunten Scheiben am rückwärtigen Ende des Hauses tauchten die ganze Halle in ein schillerndes buntes Licht. Kathleen war von der Schönheit des Hauses so überwältigt, daß sie die Anwesenheit der beiden Menschen für einen Augenblick völlig vergaß. Aber sie brachten sich schnell wieder in Erinnerung. »Morgen müssen Sie aber wieder abreisen«, erklärte der Mann. Kathleen wandte sich zu ihm um. »Ich will Sie ja nicht verärgern«, sagte sie kühl, »aber wer hier abreisen muß, wird sich noch herausstellen.«
Für ihre Worte erntete Kathleen einen feindseligen Blick. Aber ehe der Mann etwas erwidern konnte, trat die Frau beschwichtigend dazwischen. »Es hat doch keinen Sinn, daß wir uns streiten«, meinte sie, nahm Kathleen beim Arm und führte sie in einen der zahlreichen Räume. Offenbar handelte es sich um das Besucherzimmer. Um einen offenen Kamin herum stand eine Sitzgruppe. Unter dem hohen Fenster befand sich ein kostbarer Tisch, auf dem mehrere Bücher lagen. An den Wänden hingen Landschaftsbilder in Öl. »Alles, was Sie hier sehen, hat einmal Martha Lynch gehört«, erklärte die Frau, als sie Kathleens neugierige und bewundernde Blicke bemerkte. »Die arme Martha ist jetzt schon fast eineinhalb Jahre tot. Wir waren sehr eng mit ihr befreundet. Es war für uns alle ein Schock, als Martha von uns schied. In ihrem Testament hat sie ausdrücklich vermerkt, daß wir, ihre einzigen Freunde, ihren Besitz erben sollen. Wir leben nun schon über ein Jahr in diesem Haus.« Kathleen setzte sich in einen der bequemen Sessel, nachdem die Frau sie dazu aufgefordert hatte. »Mein Name ist übrigens Agnes Leven«, stellte sich die Frau vor, während sie Kathleen gegenüber Platz nahm. »Und das ist mein Mann Bob.« Mit diesen Worten deutete sie auf den Mann, der mit in die Hüfte gestemmten Fäusten an eine Wand gelehnt dastand und Kathleen finster beobachtete. Nun stellte auch die junge Studentin sich vor. Und sie berichtete, wie sie von der unverhofften Erbschaft erfahren hatte. »Das sieht diesem Ramsgate ähnlich«, schnaufte Bob Leven verächtlich. »Er mischt sich in Angelegenheiten ein, die ihn überhaupt nichts angehen!« »Im Testament gibt es wirklich diese Klausel mit der Verwandtschaft«, gab Agnes zu bedenken. »Aber niemand hat
damit gerechnet, daß Martha Lynch wirklich noch einen Verwandten hatte. Daher haben wir die Erbschaft angetreten.« Agnes Leven hatte sich in eine höfliche und verständnisvolle Frau verwandelt. Von Feindseligkeit war ihr nichts mehr anzumerken. Kathleen verfluchte Harry Ramsgate im stillen, weil er sie nicht darauf hingewiesen hatte, daß das Anwesen schon bewohnt war. Sie hoffte nur, daß sie nicht noch auf weitere Überraschungen stoßen würde. Nur gut, daß sie die Dokumente vorher auf ihre Echtheit überprüft hatte. Wenigstens in dieser Beziehung schien Ramsgate ihr nichts vorgemacht zu haben. Kathleen war ein wenig verlegen. Sie starrte in den kalten Kamin und wußte nicht, was sie sagen sollte. Jetzt, wo die Feindseligkeit der beiden gewichen war, sah auch sie keine Veranlassung mehr, ärgerlich auf die Levens zu sein. »Ich werde Harry Ramsgate morgen einen Besuch in Minehead abstatten und ihn zur Rede stellen«, verkündete Kathleen. »Er hat mir verschwiegen, daß es schon einen Erben gibt und das Anwesen bewohnt ist. Als ich hierherkam, habe ich damit gerechnet, das Haus leer und verlassen vorzufinden.« »Das sieht diesem Fuchs ganz ähnlich«, ließ Bob sich wieder vernehmen. »Ihm hat es einfach nicht gepaßt, daß wir das ganze Anwesen erben sollten. Und nun versucht er alles, um uns die Erbschaft zu vermiesen. Aber ich glaube ihm kein Wort. Martha Lynch hatte keine Verwandte und wird nie eine Verwandte haben!« »Sie können sich von der Echtheit der Dokumente überzeugen«, schlug Kathleen vor. »Genau das habe ich auch vor«, erwiderte Bob Leven. »Und ich würde mich nicht wundern, wenn ich dabei auf irgendeine üble Manipulation stieße!«
Kathleen fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoß. Sie spürte, daß der Mann sie indirekt beschuldigte, mit dem Notar unter einer Decke zu stecken. Abrupt erhob sie sich aus ihrem Sessel. »Ich bin müde«, sagte sie. »Die Autofahrt war beschwerlich und anstrengend. Aber bis nach Exford werde ich es noch schaffen. Dort werde ich mir ein Zimmer nehmen. Morgen sehen wir dann weiter.« Kathleen wollte sich schon abwenden, da sprang Agnes auf und hielt die junge Studentin am Arm zurück. »Kommt nicht in Frage!« begehrte sie auf. »Bis diese Geschichte aufgeklärt ist, bleiben Sie natürlich unser Gast. Wir haben genug Platz, um eine ganze Horde potentieller Erben bei uns aufnehmen zu können.« Kathleen überhörte die spitze Bemerkung. Sie selbst war fest davon überzeugt, daß sie die rechtmäßige Erbin des Anwesens war. Sie konnte es den Levens nicht verdenken, daß sie ihr mit gemischten Gefühlen gegenübertraten. Schließlich war Kathleen im Begriff, sie um ihren schönen Besitz zu bringen. Sie nahm sich vor, Harry Ramsgate für diese schamlose Tat noch zur Rechenschaft zu ziehen. »Ich werde Ihr Angebot annehmen«, sagte sie. Ihr gefiel zwar die Rolle nicht, die sie hier spielen mußte, aber schließlich ging es um einen stolzen Besitz. Da lohnte es sich schon, dafür ein wenig zu kämpfen. Außerdem konnte sie auf diese Weise ihre geplanten Nachforschungen in dem Herrenhaus doch noch anstellen. Agnes Leven führte Kathleen über die Treppe in den ersten Stock. »Dies ist das Gästezimmer«, erklärte sie, als sie eine Tür öffnete. »Ich bin mir sicher, es wird Ihren Ansprüchen genügen. Leider verfügen wir über kein Personal. Unser Sohn treibt sich irgendwo auf dem weitläufigen Anwesen herum und verrichtet dringende Arbeiten. Sie ahnen ja nicht, wieviel Arbeit mit solch einem Besitz verbunden ist. Sie dürfen es mir
daher nicht übelnehmen, wenn ich Sie bitte, für sich selbst zu sorgen. Sie finden alles Nötige im Wäscheschrank.« Mit diesen Worten verließ Agnes Leven die junge Frau. Kathleen seufzte und ließ sich auf das weiche Bett fallen. Sie war müde und abgekämpft von der Reise, und so beschloß sie, nur noch das Gepäck aus dem Auto zu holen und sich dann gleich schlafen zu legen.
*
Als Kathleen spät in der Nacht erwachte, wußte sie erst nicht, wo sie sich befand. Benommen blinzelte sie und versuchte sich in der Finsternis zurechtzufinden. Als sich ihre Augen einigermaßen an das Dunkel gewöhnt hatten, konnte sie Einzelheiten erkennen: den herabhängenden Baldachin über dem Bett, den massiven Schrank, wo sie Bettwäsche und Handtücher vorgefunden hatte und in dem sie den Inhalt ihres Koffers verstaut hatte. Ich bin im Herrenhaus von Martha Lynch, dachte sie fröstelnd. Es war kalt in ihrem Zimmer. Ein kühler Windhauch wehte über ihr Gesicht. Verwundert drehte sie sich in ihrem Bett auf die andere Seite und schaute zum Fenster. Es stand weit offen. Der Himmel war wolkenlos. Und Kathleen konnte die Sterne blitzen sehen. Verwundert runzelte sie die Stirn. Sie erinnerte sich noch genau, daß sie das Fenster nicht geöffnet hatte. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus hatte sie sogar die Zimmertür verschlossen und sich vergewissert, daß die Fenster fest verriegelt waren. Sie glaubte zwar nicht daran, daß die Levens
ihr etwas antun würden – aber vorsichtig wollte sie trotzdem sein. Kathleen zuckte mit den Schultern. Die Fenster sind schon alt und überholungsbedürftig. Wahrscheinlich hat der Wind es aufgestoßen, dachte sie. Gerade wollte Kathleen sich anschicken, das Fenster wieder zu schließen, als sie plötzlich ein erschreckendes Geräusch vernahm. Ein hohles Stöhnen und sonderbares Scharren, das seinen Ursprung in Kathleens Zimmer zu haben schien. Kathleen erstarrte vor Schreck. Sie drückte sich tiefer in das Kissen und kniff die Augen zusammen. Wieder war das Röcheln zu hören. Es drang aus dem dunklen Winkel neben dem Fenster; dort, wo der schwere Vorhang die Sicht verdeckte. Ängstlich schaute Kathleen in diese Richtung. Vielleicht ist es eine Katze, die sich in mein Zimmer verirrt hat, versuchte sie sich einzureden. Doch plötzlich löste sich eine Gestalt aus der Dunkelheit hinter dem Vorhang. Wankend trat sie auf das offene Fenster zu und verharrte im schwachen Licht der Sterne. Kathleens Augen weiteten sich vor Furcht. Sie hielt den Atem an und war unfähig, sich zu regen. Bei der Gestalt vor dem Fenster handelte es sich um eine alte Frau. Ihr faltiges Gesicht war kalkweiß, und die schneeweißen Haare hingen ihr wirr bis zu den Schultern herab. Neben der schmalen Nase befand sich ein auffälliges Muttermal. Die Frau war in ein Totengewand gehüllt, das sich gespenstisch im Wind bewegte. Das Blut rauschte Kathleen in den Ohren, so schnell schlug ihr das Herz. Sie wollte schreien. Aber kein Laut drang aus der zugeschnürten Kehle. Jetzt öffnete die unheimliche Erscheinung ihren Mund. Eine schwarze, zahnlose Öffnung, umschlossen von bleichen, schmalen Lippen.
Kathleen zuckte zusammen. Sie spürte, wie ihr langsam eine Gänsehaut über den Rücken kroch, als die Augen der Erscheinung plötzlich zu glühen anfingen. Kathleen glaubte bei diesem Anblick fast wahnsinnig zu werden. Zitternd zog sie die Bettdecke Zentimeter für Zentimeter bis zu ihrem Kinn hoch. Aber zu Kathleens Erleichterung unternahm die schauerliche Gestalt keinen Versuch, sich ihrem Bett zu nähern. Statt dessen blieb die alte Frau in dem Totengewand schwankend vor dem offenen Fenster stehen, das schreckliche Gesicht der verängstigten jungen Frau zugewandt. »Sie haben mich ermordet«, hörte Kathleen plötzlich ein undeutliches Geflüster. Sie wußte in ihrer Angst nicht, was sie tun sollte. Eigentlich glaubte sie ja nicht an Gespenster. Aber bei dem Anblick dieser unheimlichen Gestalt vergaß sie alle vernünftigen Überlegungen. Die Angst hatte sie fest im Griff. »Agnes und Bob«, wisperte die Geistererscheinung. »Sie haben mich getötet. Verflucht seien ihre Seelen!« Noch ehe Kathleen begriff, was geschah, schwebte die Geistererscheinung plötzlich auf das Fensterbrett. Sie wandte sich von Kathleen ab und neigte sich gefährlich weit aus dem Fenster. Dann stürzte die Frau mit wehendem Totengewand wie ein Stein in die Tiefe! Kathleen starrte eine Weile fassungslos auf das offene, leere Fenster. Sie fragte sich plötzlich, ob sie Opfer eines schrecklichen Alptraums geworden war. Die Frau hatte nicht einmal einen Schrei ausgestoßen, als sie in die Tiefe stürzte. Langsam gewann Kathleen ihre Fassung wieder zurück. Entschlossen schleuderte sie die Bettdecke fort und schwang sich aus dem Bett. Sie war noch ein wenig zittrig auf den Beinen, als sie sich dem Fenster näherte. Doch schließlich beugte sie sich vorsichtig vor und schaute in die Tiefe.
Ihr Zimmer lag im ersten Stock des Gebäudes. Ein Sprung aus dieser Höhe mußte nicht unweigerlich tödlich enden – gefährlich war er jedoch schon. Aber so sehr Kathleen auch in die Dunkelheit spähte, sie konnte keine Spur von der unheimlichen Erscheinung ausmachen. Unter ihrem Fenster befand sich ein breites Blumenbeet, wo Heckenrosen angepflanzt waren. Wenn ein Mensch dort hineingesprungen wäre, hätte er dabei einige Stauden zerdrücken müssen. Aber die Pflanzen wirkten auf den ersten Blick unversehrt. Noch eine Weile ließ Kathleen den Blick über den weitläufigen Garten schweifen. Aber sie konnte nichts Verdächtiges entdecken. Die Frau in dem Totengewand war spurlos verschwunden. Zitternd schloß Kathleen das Fenster und kehrte in ihr Bett zurück. Doch sie konnte lange nicht einschlafen. Fieberhaft versuchte sie, für die unheimliche Erscheinung eine logische Erklärung zu finden. Aber so sehr sie sich auch mühte, sie konnte sich das Erscheinen der gespenstischen Frau nicht anders erklären, als daß es sich dabei wirklich um einen Geist gehandelt hatte. Für eine angehende Wissenschaftlerin war solch eine Schlußfolgerung natürlich nicht akzeptabel. Und Kathleen nahm sich vor, der Sache am nächsten Morgen auf den Grund zu gehen. Bevor Kathleen jedoch einschlief, fiel ihr eine Bemerkung von Harry Ramsgate ein. Er hatte angedeutet, daß es in dem Herrenhaus Poltergeister geben sollte. Wenigstens glaubten dies die Einheimischen. Kathleen fragte sich plötzlich, ob sie eben Zeuge eines Auftritts eines dieser Poltergeister gewesen war. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte ihr Vater ihr einmal erklärt, Poltergeister seien
der Legende nach unsichtbare Wesen, die an ein bestimmtes Haus gebunden waren und sich bemerkbar machten, indem sie Gegenstände durch die Luft schweben ließen oder unheimliche Geräusche von sich gaben. Die Erscheinung von eben war demnach wohl eher den klassischen Geistern zuzurechnen… Kathleen wurde bei diesen Gedanken ganz schwindelig. Seufzend drehte sie sich auf die andere Seite. Statt Antworten fielen ihr nur noch mehr ungelöste Fragen ein. Dieses Haus stellt wirklich eine Herausforderung für eine Geschichtsstudentin dar, dachte sie müde. Sie hoffte nur, daß sie dieser Herausforderung noch gewachsen war.
*
»Ich habe für Sie ein Frühstück bereitet«, begrüßte Agnes Leven Kathleen, als sie die Küche betrat. Kathleen hatte an diesem Morgen lange geschlafen. Trotzdem fühlte sie sich übernächtigt und zerschlagen. Ihr war nicht ganz wohl in ihrer Haut. Erst die üble Überraschung, daß das Anwesen schon von Erben bewohnt war, und nun war auch noch ein Geist aufgetaucht! Kathleen fühlte sich ein wenig überfordert, und sie bedauerte, daß ihre Freundin Susan nicht an ihrer Seite war. Kathleen nickte Agnes dankbar zu und setzte sich an den gedeckten Tisch. Sie verspürte großen Hunger und langte tüchtig zu. Agnes Leven schien an diesem Morgen sehr gesprächig zu sein. Offenbar wollte sie ihre Unhöflichkeiten des vergangenen Abends wiedergutmachen.
»Sie müssen unser schroffes Verhalten von gestern entschuldigen«, begann sie und setzte sich Kathleen gegenüber. »Aber Sie müssen verstehen, daß wir nicht sehr begeistert waren zu hören, daß es nun doch noch einen anderen Erben geben soll.« Da Kathleen den Mund noch voll hatte, nickte sie wieder nur und signalisierte damit, daß sie Agnes’ Beweggründe verstand. »Sie glauben gar nicht, wieviel Arbeit uns dieses Anwesen bisher gemacht hat. In dieser Gegend ist einfach kein Personal zu bekommen. Es ist wie verhext. Die Einheimischen weigern sich beharrlich, das Herrenhaus auch nur zu betreten. Auch von weiter außerhalb jemanden zu bekommen ist fast unmöglich. Wer hat schon Lust, in so einem abgelegenen Anwesen seine Arbeit zu verrichten? Die Zunft der Bediensteten ist in diesem Jahrhundert so gut wie ausgestorben.« Kathleen zuckte lahm mit den Schultern. Ihre Gedanken drehten sich um ganz andere Themen. Und um das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken, fragte sie: »Warum weigern sich die Einheimischen, das Herrenhaus zu betreten? Dafür muß es doch einen Grund geben.« Agnes schaute Kathleen einen Augenblick stumm an. »Diese törichten Leute glauben, daß Poltergeister im Haus ihr Unwesen treiben«, erklärte sie in spöttischem Tonfall. »Und? Gibt es hier denn Poltergeister?« fragte Kathleen unumwunden. Agnes machte eine vage Handbewegung. »Mir sind bisher keine begegnet. Obwohl manchmal sonderbare Dinge geschehen und unheimliche Geräusche zu hören sind. Aber in einem alten Haus wie diesem knacken schon mal die Balken oder löst sich ein Haken aus dem mürben Verputz. Ich kann daran nichts Übernatürliches finden.«
Diese Erklärung hatte etwas für sich, das mußte Kathleen zugeben. Aber nach dem schauerlichen Erlebnis der vergangenen Nacht war sie solch einfachen Erklärungen gegenüber mißtrauisch geworden. Vielleicht gab es für die Gerüchte, die in dieser Gegend über das Herrenhaus in Umlauf waren, ja noch einige andere Erklärungen. Wie diese Erklärungen aussehen sollten, darüber war sich Kathleen jedoch nicht im klaren. Aber sie war fest davon überzeugt, daß sie eine finden würde. Kathleen mußte sich eingestehen, daß sie es auch ein wenig enttäuschend finden würde, wenn die Sagen, die man sich in der Umgebung erzählte, auf so simple Tatsachen zurückzuführen wären wie etwa knackende Balken und lose Nägel. Kathleen schüttelte kaum merklich den Kopf. Zumindest die nächtliche Spukerscheinung ließ sich nicht durch solch einfache Phänomene erklären. »Erzählt man sich auch etwas über Gespenster, die in diesem Haus herumspuken?« fragte Kathleen. »Nicht, daß ich wüßte«, entgegnete Agnes, die das Interesse an diesem Thema schon verloren zu haben schien, denn sie erhob sich und räumte den Tisch ab. »Darf ich mich auf dem Anwesen ein wenig umschauen?« fragte Kathleen. Sie ging zwar davon aus, daß das Haus rechtmäßig ihr gehörte, trotzdem hielt sie es für angebracht, die Levens nicht allzuoft mit der Nase darauf zu stoßen. »Natürlich«, antwortete Agnes. »Solange die Erbschaftsangelegenheit nicht geklärt ist, sind Sie unser Gast. Bob ist heute morgen mit seinem alten Ford nach Minehead aufgebrochen, um mit Harry Ramsgate zu sprechen. Außerdem will er überprüfen, ob wirklich ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen und Martha Lynch besteht.« Kathleen war nur froh, daß der finstere und unhöfliche Bob nicht anwesend war. So konnte sie sich ungestört überall
umsehen. Sie bedankte sich für das Frühstück und begann dann mit ihrer Besichtigung.
*
Als erstes untersuchte Kathleen die Stelle unter ihrem Fenster. Aber sie fand die Beobachtung der Nacht nur bestätigt. Die Rosensträucher waren unversehrt. Nicht ein einziger Ast war geknickt oder abgerissen. Auch in der Erde oder auf dem Rasen waren keine Fußspuren zu entdecken. Geister hinterlassen keine Fußspuren, mußte Kathleen unwillkürlich denken. Aber sie schob diesen Gedanken schnell wieder beiseite. Als Kathleen das Haus einmal umrundete, stieß sie auf Wagenspuren, die einen schmalen Weg in den Rasen gegraben hatten. Der Weg führte in den kleinen Wald hinein. Und als Kathleen ihn bis zu seinem Ende verfolgte, stand sie plötzlich vor einem großen alten Stall. Knarrend öffnete sie eines der breiten Tore und spähte hinein. Das Sonnenlicht fiel durch die Ritzen zwischen den Holzlatten, aus denen der Stall gebaut war. Es roch nach Benzin. Aber auch nach Tieren. Nach Pferden, wie Kathleen nach einer Weile feststellte. Der ehemalige Stall diente den Levens offenbar als Garage. Ein VW-Golf war hier untergestellt, und Kathleen vermutete, daß es noch einen zweiten Wagen gab, mit dem Bob Leven nun nach Minehead unterwegs war. Im Stall war jedoch noch genug Platz für ein ganzes Dutzend Autos. Im äußersten Winkel der großen Halle bemerkte Kathleen eine leere Pferdebox. Frisches Stroh war gestreut worden. Die Trense und der Sattel, die an der Wand hingen, machten einen gepflegten Eindruck.
Wo mag das Pferd jetzt sein? fragte sich die junge Studentin. Sie stellte sich vor, welchen Spaß es machen mußte, mit einem Pferd die Umgebung zu erkunden. Aber schließlich kehrte Kathleen dem Stall den Rücken. Sie ging zurück zum Herrenhaus, um ihre Besichtigung dort fortzusetzen. Da sie Agnes’ Erlaubnis hatte, scheute sie sich nicht, in jeden Raum zu schauen. Dabei war sie überwältigt von der Fülle der kostbaren Einrichtungsgegenstände. Jedes Zimmer war stilvoll eingerichtet. Martha Lynch mußte eine sehr reiche Frau gewesen sein. In der obersten Etage entdeckte Kathleen einen Raum, der mit allerlei Gerümpel vollgestellt war. Beschädigte Stühle, alte Spiegel und dergleichen wurden hier aufgehoben. Kathleen wollte sich schon von dem Raum abwenden, als ihr plötzlich ein Gemälde auffiel, das halb hinter einem kleinen Schrank hervorragte. Irgend etwas an dem Bild beunruhigte sie. Kathleens Herz begann schneller zu schlagen, als sie sich dem Gemälde näherte und es hinter dem Schrank hervorzog. Und dann setzte ihr Herzschlag für den Bruchteil einer Sekunde aus. Auf dem Gemälde war eine Frau mit schneeweißem schulterlangem Haar dargestellt. Die wasserblauen Augen wirkten fast durchscheinend. Neben der schmalen Nase aber befand sich ein auffälliges Muttermal – genau wie bei der Geistererscheinung letzte Nacht! Kathleen taumelte entsetzt von dem Gemälde zurück, das daraufhin mit einem vernehmlichen Poltern gegen die Wand fiel. Es bestand kein Zweifel: Die Geistererscheinung und diese Frau auf dem Gemälde waren ein und dieselbe Person! Schwindelnd griff Kathleen sich an den Kopf. Plötzlich stand die nächtliche Erscheinung wieder vor ihrem inneren Auge. Sie schauderte und mußte sich zusammenreißen, um nicht schreiend aus dem Raum zu rennen.
Aber schließlich wurde Kathleen wieder ruhiger. Wie unter einem fremden Zwang beugte sie sich vor, um den Namen entziffern zu können, der auf einem schmalen Messingplättchen auf dem Rahmen vermerkt worden war. Martha Lynch stand dort in verschnörkelter Schrift geschrieben. Und als Kathleen den Namen gelesen hatte, fielen ihr wieder die gewisperten Worte ein, die die Geistererscheinung von sich gegeben hatte: »Agnes und Bob. Sie haben mich getötet. Verflucht seien ihre Seelen!«
*
Nach dem sonderbaren Fund in der Gerümpelkammer hatte Kathleen das Herrenhaus verlassen. Agnes, die immer noch in der Küche herumhantierte, hatte sie gesagt, sie wolle sich draußen ein wenig umschauen. Aber damit hatte sie nur die halbe Wahrheit gesagt. In Wirklichkeit hielt Kathleen es in dem unheimlichen Haus nicht mehr aus. Und der Verdacht, bei den Levens könnte es sich tatsächlich um Marthas Mörder handeln, trug auch nicht gerade dazu bei, daß sie sich wohler und sicherer in dem Gemäuer fühlte. Kathleen stieg daher in ihren zitronengelben Jeep und fuhr über den Hügel nach Exford. Der Ort entpuppte sich als malerisches Städtchen aus kleinen alten Häusern, die zum Teil noch mit Stroh gedeckt waren. Hier gab es alles, was man zum Leben brauchte: einen kleinen Supermarkt, eine Post, eine Polizeistation und mehrere Restaurants. Die junge Studentin streifte eine Weile ziellos durch die engen Straßen. Es tat ihr gut, unter Menschen zu sein, die
sorglos ihrer alltäglichen Arbeit nachgingen. Nach einer Stunde kamen ihr die Vorkommnisse im Herrenhaus schon nicht mehr ganz so schauerlich vor. Kathleen faßte wieder Mut. Und mit dem Mut erwachte auch wieder ihre Neugierde. Kathleen kehrte in einem der Restaurants ein. Exmoor Inn prangte in handgeschriebenen Lettern über dem Eingang. Sie hatte dieses Restaurant gewählt, weil es den Eindruck machte, als würden die Einheimischen hier gerne verkehren. Und ihr Eindruck hatte sie nicht getrogen. Im Schankraum hielten sich viele Männer und Frauen auf. Schon auf den ersten Blick erkannte Kathleen, daß sich keine Touristen unter den Gästen befanden. Die Arbeit im Museum hatte Kathleens Blick für solche Feinheiten geschärft. Die Gäste nahmen kaum Notiz von der Fremden, begegneten ihr aber auch nicht feindselig. Da das Restaurant gut besucht war, mußte Kathleen bei einigen älteren Leuten am Tisch Platz nehmen. Aber dieser Umstand kam ihrem Vorhaben nur entgegen. Sie bestellte sich etwas zu essen und knüpfte vorsichtig ein Gespräch mit den Einheimischen an. Geschickt verstand sie es, das Thema nach einer Weile auf das alte Anwesen von Martha Lynch zu lenken. Auf diesem Weg erfuhr die junge Studentin, auf welch tragische Weise Martha Lynch ums Leben gekommen war. Sie war nicht, wie Kathleen erst angenommen hatte, an Altersschwäche gestorben, sondern hatte sich aus einem Fenster im obersten Stockwerk des Herrenhauses gestürzt. Kathleen horchte erschrocken auf. Auch die Geistererscheinung war heute nacht aus dem Fenster gestürzt! »Kein Wunder«, bemerkte einer der älteren Männer geheimnisvoll. Er trug einen abgewetzten schwarzen Anzug und eine Brille mit starken Gläsern. »In dem Herrenhaus sollen Poltergeister ihr Unwesen treiben. Wahrscheinlich haben sie
der armen Frau so lange zugesetzt, bis sie sich freiwillig in den Tod stürzte. Von uns würde niemand dieses Haus betreten.« Aufmerksam lauschte Kathleen den Gesprächen und sorgte unauffällig dafür, daß der Erzählfluß der Einheimischen nicht versiegte. Die Männer und Frauen an ihrem Tisch widmeten sich nun ausschließlich den wundersamen Begebenheiten, die sich im Herrenhaus zugetragen haben sollten. Auch andere Gäste gesellten sich zu ihnen an den Tisch und gaben ihre Version der Geschichten zum besten. Kathleen bemerkte mit wachsender Freude, wie sehr ihr diese Art der »Forschungsarbeit« Spaß machte. Auch wenn ein großer Teil der Geschichten erfunden und erlogen war, so verrieten sie doch viel über die Mentalität derjenigen, die sie sich erzählten. Sie hätte den Erzählungen der Einheimischen noch stundenlang lauschen können. Irgendwie erinnerte sie die ganze Situation an die vielen Abende, die ihr Vater an ihrem Bett gesessen hatte, um ihr von den Legenden und Mythen zu berichten, die er gesammelt hatte. Aber Kathleen fand nach einer Weile, daß sie nun genug gehört hatte. Sie versuchte noch, die Einheimischen über die neuen Besitzer des Herrenhauses auszufragen. Aber in diesem Punkt wurde sie enttäuscht. Die Levens ließen sich nur selten im Ort blicken. Niemand wußte, was sie auf dem großen Anwesen trieben. Es wollte auch niemand so genau wissen. Das Herrenhaus war verrufen. Da war es besser, man kümmerte sich nicht um die Leute, die darin wohnten. Kathleen konnte auch nicht in Erfahrung bringen, ob die Levens im Verdacht standen, Martha Lynch umgebracht zu haben. Allein von dem Sohn der Levens wußten die Einheimischen etwas zu erzählen. Er war oft mit dem Pferd unterwegs und machte einen freundlichen und aufgeschlossenen Eindruck. Da er aber von seinen Eltern für alle möglichen Arbeiten
eingespannt wurde, blieb ihm nur wenig Zeit für Besuche im Ort. Und so kannten die Dorfbewohner noch nicht einmal seinen Namen. Als Kathleen das Restaurant am späten Nachmittag wieder verließ, brummte ihr der Kopf von den ganzen unheimlichen Geschichten, die sie zu hören bekommen hatte. Aber die junge Studentin war zufrieden. Und als sie in ihren Jeep stieg, nahm sie sich vor, all die Legenden und Märchen zu notieren, die ihr heute zu Ohren gekommen waren. Eine Geschichte über eine Geistererscheinung war jedoch nicht darunter gewesen. Offenbar war sie bisher die einzige, die dem Geist von Martha Lynch begegnet war. Aber sie hatte sich gehütet, den Einheimischen von ihrem unheimlichen Erlebnis zu berichten. Immerhin bestand ja noch die Möglichkeit, daß sie sich die Geistererscheinung nur eingebildet hatte…
*
Die Sonne berührte mit ihrem unteren Bogen fast die Hügelkette am Horizont, als Kathleen das Anwesen schließlich erreichte. Sie lenkte den zitronengelben Jeep durch das Tor mit den beiden steinernen Löwen und schlug dann den Weg zum ehemaligen Pferdestall ein. Rumpelnd rollte der Wagen über den schmalen Weg in den kleinen Wald hinein. Kathleen stieg aus und öffnete ein Tor, um ihren Wagen in dem Stall abzustellen. Doch da bemerkte sie, daß bereits mehrere Autos in dem Pferdestall parkten. Neben dem VW-Golf stand ein alter Ford, von dem Kathleen wußte, daß er Bob gehörte. Aber es parkten noch zwei schwarze Limousinen in dem Stall, die sehr teuer und gepflegt aussahen.
Hatten die Levens Besuch? Kathleen zuckte mit den Schultern und schloß das Tor wieder. Sie beschloß, die Levens vorher um Erlaubnis zu bitten, bevor sie ihren Wagen eigenmächtig in dem Stall abstellte. Also fuhr sie zurück und parkte den Jeep wieder neben dem Haupteingang des Herrenhauses. Da die Tür nicht verschlossen war, trat Kathleen ohne zu klingeln ein. Einen Augenblick blieb sie in der Empfangshalle stehen und lauschte. Aber es war nichts zu hören. Kein Gemurmel. Kein Lachen. Kathleen schaute in der Küche nach, die jedoch leer war. Neugierig geworden, schritt sie leise die Korridore ab und lauschte an den Türen. Sie wußte, daß es ihr Unannehmlichkeiten einbringen würde, wenn man sie beim Lauschen überraschte. Aber schließlich siegte die Neugierde, und Kathleen setzte ihren Weg fort. Ihre Befürchtungen waren jedoch unnötig. Kathleen konnte nirgendwo ein Anzeichen dafür entdecken, daß sich in einem der Räume mehrere Personen aufhielten. Im ganzen Haus war es totenstill. Fast unheimlich, wie Kathleen nun fand. Wo hat Agnes ihre Gäste nur hingeführt? fragte sich die junge Frau. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie die Kellergewölbe noch nicht besichtigt hatte. Bestimmt verfügte das Landhaus über einen großen Keller; Weinlager und Vorratsräume gab es doch in allen alten Herrenhäusern. Sofort machte sich die junge Studentin auf den Weg. Sie begab sich in die große Eingangshalle und suchte nach der Kellertür. Die meisten Räume, die hinter den Türen der Eingangshalle lagen, waren Kathleen bereits bekannt. Lediglich einige wenige Türen im hinteren Teil hatte sie noch nicht geöffnet. Dieser Bereich der sonst so prächtigen und schönen Halle war ihr unheimlich. Einer der Vorbesitzer mußte ein leidenschaftlicher Jäger gewesen sein – in Kathleens
Augen ein grausamer Sport. Aber wie es unter Jägern üblich war, hatte auch dieser eine stolze Sammlung von Trophäen angehäuft. Die Köpfe der bedauernswerten Geschöpfe zierten nun die Wände des hinteren Abschnitts der Halle. Hier waren Köpfe von Ebern ebenso vertreten wie die von Wölfen, Rehen und einem Bären. Mit einem unbehaglichen Gefühl schritt Kathleen unter den düsteren Tierköpfen dahin. Sie probierte einige der Türen, die jedoch nur in weitere Räume führten. Dann stand sie vor einer mit Schnitzereien verzierten Tür. Direkt darüber prangte der stolze Kopf eines Ebers. Der borstige Kopf war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Die Glasaugen schimmerten matt und leblos. Die gebogenen Eckzähne ragten gelb und unansehnlich aus dem Maul. Kathleen versuchte das tote Tier zu ignorieren und griff beherzt nach der Türklinke. Im selben Moment hörte sie ein seltsames Geräusch. Ein Scharren direkt über ihrem Kopf! Kathleen blickte erschrocken hoch – und starrte genau in die Glasaugen des Ebers. Aber der Kopf bewegte sich. Neigte sich langsam von der Wand weg und stürzte plötzlich in die Tiefe. Genau auf die junge Frau zu! Geistesgegenwärtig riß Kathleen die Arme in die Höhe und hielt sie schützend über ihren Kopf. Im nächsten Augenblick krachte der ausgestopfte Tierkopf auf sie herab. Unter der Wucht des Aufpralls ging Kathleen in die Knie. Ihre Arme fühlten sich plötzlich taub und leblos an. In ihrem Kopf explodierte ein wahnsinniger Schmerz. Sterne und bunte Nebel tanzten vor ihren Augen. Dann verlor sie die Besinnung. Kathleen spürte schon nicht mehr, daß sie zu Boden fiel und auf dem kalten Marmor liegenblieb…
*
Als Kathleen wieder zu sich kam, stöhnte sie gequält auf. In ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz. Unwillkürlich griff sie sich an die Stirn. Dabei bemerkte sie, daß ihr jemand einen Kopfverband angelegt hatte. Langsam kehrten ihre Erinnerungen zurück: Da war dieser schreckliche Eberkopf, der auf sie herabstürzte, als sie eine der Türen der Empfangshalle öffnen wollte… Vorsichtig öffnete Kathleen die Augen. Es war dunkel um sie herum. Durch ein Fenster zu ihrer Rechten sickerte fahles Licht Undeutlich nahm sie die Umrisse des Schrankes und des Himmelbetts wahr. Ich bin im Gästezimmer, dachte Kathleen erleichtert. Und ich liege in meinem Bett. Jemand muß mich in der Empfangshalle gefunden haben! Im gleichen Moment bemerkte sie, daß sie immer noch ihre Kleidung vom Tage trug. Vollständig bekleidet lag sie im Bett, nur mit einem weißen Leinentuch zugedeckt. Sicher war es Agnes, die mich gefunden und versorgt hat, dachte Kathleen. Sie nahm wieder eine bequeme Haltung ein und schloß die Augen. Morgen werde ich mich bei ihr bedanken! Doch kaum hatte Kathleen die Augen geschlossen, da riß sie sie auch schon wieder auf. Sie hatte ein Geräusch gehört. Ein unheimliches Geräusch, das ihr nur allzugut bekannt war. Da war es wieder, dieses schreckliche Scharren und Stöhnen! Wenn Kathleen gekonnt hätte, sie hätte sich in ihrem Bett aufgesetzt. Aber der Schmerz in ihrem Kopf verbot ihr diese heftige Bewegung. Statt dessen wandte sie ihren Kopf nur
vorsichtig in die Richtung, aus der die unheimlichen Laute kamen. Und dann sah sie die alte Frau in dem Totengewand wieder, von der sie nun wußte, daß es sich um den Geist von Martha Lynch handeln mußte. Sie stand vor dem geöffneten Fenster, das bleiche Gesicht mit dem auffälligen Muttermal neben der Nase der jungen Frau im Bett zugewandt. Kathleen stieß ein heiseres Krächzen aus, als ihr Blick auf die gleißenden, leeren Augen der Erscheinung fiel. »Was willst du von mir?« preßte sie mit heiserer Stimme hervor. »Laß mich in Ruhe!« Der Geist öffnete seinen zahnlosen Mund. »Agnes und Bob«, hörte Kathleen die Erscheinung wispern. »Sie haben mich getötet. Ich kann nicht eher ruhen, als bis diese Tat gesühnt ist. Hilf mir!« Kathleen starrte die Erscheinung mit einer Mischung aus Angst und Mitleid an. Plötzlich schwebte der Geist auf die Fensterbank. Dort verharrte er einen Augenblick und wandte sich noch einmal zu Kathleen um. »Hilf mir!« rief er hohl und gespenstisch. »Du bist meine einzige Hoffnung.« Dann stürzte der Geist vornüber aus dem Fenster und war verschwunden. Kathleen mußte den Impuls unterdrücken, sofort aufzuspringen, um zum Fenster zu eilen. Statt dessen blieb sie bewegungslos und fröstelnd im Bett liegen und starrte noch lange auf das leere Fenster. Der jungen Frau fiel es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Nachwirkungen des Unfalls waren immer noch deutlich spürbar. Aber allmählich kristallisierte sich ein Gedanke aus dem dumpfen Nebel aus Schmerz und Verwirrung heraus: Ich muß Martha Lynch helfen. Wenn Agnes und Bob sie wirklich umgebracht haben, darf diese Tat nicht ungesühnt bleiben!
Diesen Gedanken nahm sie mit hinüber in den Schlaf.
*
Am folgenden Morgen wurde Kathleen durch ein leises Klopfen an ihrer Tür geweckt. Benommen richtete sie sich in ihrem Bett auf und bemerkte erleichtert, daß der stechende Schmerz in ihrem Kopf bereits nachgelassen hatte. Trotzdem beschloß sie, noch vorsichtig zu sein und sich nicht zu hastig zu bewegen. »Herein!« rief sie schließlich und legte sich bereits ein paar Worte zurecht, mit denen sie sich bei Agnes für die Fürsorge bedanken wollte. Als sie jedoch den jungen Mann sah, der kurz darauf die Zimmertür öffnete, war sie vor lauter Überraschung sprachlos. Er war ungefähr in Kathleens Alter, hatte schwarze kräftige Haare und einen Mittelscheitel, der ihm einen kecken und lebensfrohen Ausdruck verlieh. Sein markantes gebräuntes Gesicht wirkte auf Kathleen auf den ersten Blick sympathisch. Seine großen braunen Augen musterten sie fröhlich. Etwas verlegen lächelte er sie über das Tablett hinweg an, das er in den Händen hielt. Einen Augenblick schauten die beiden sich still und offen an. Kathleen bemerkte, wie ihr Herz plötzlich kräftiger zu schlagen begann. Diesmal jedoch nicht vor Angst, sondern aus einem anderen, weitaus erfreulicheren Gefühl heraus. »Ich wollte nur kurz nach meiner Patientin sehen, bevor ich mich wieder meinen Arbeiten auf dem Anwesen widmen muß«, sagte der junge Mann schließlich. Kathleen runzelte die Stirn. Sie verstand die Worte des sympathischen Mannes nicht so recht.
»Ich habe Sie gestern abend in der Empfangshalle gefunden«, erklärte er mit blitzenden Augen und trat an Kathleens Bett. »Ich glaube, der Eberkopf ist auf Sie heruntergefallen. Und da sich niemand im Haus aufhielt, habe ich Sie ins Gästezimmer getragen und einen Verband angelegt.« »Dann habe ich also Ihnen diesen Turban zu verdanken«, meinte Kathleen scherzend und deutete auf ihren Kopf. Ihr Gegenüber lächelte verlegen und stellte das Tablett neben Kathleen auf das Bett. »Ich hoffe, es hat geholfen«, meinte er und begutachtete prüfend den Verband. »Ich fühle mich bereits völlig geheilt«, versicherte Kathleen. »Vielen Dank.« Bei diesen Worten trafen sich ihre Blicke wieder. Kathleen fühlte, wie ihr warm wurde, und plötzlich befürchtete sie, daß sie rot geworden war, und schaute verlegen auf das Tablett. »Ihr Frühstück«, erläuterte der junge Mann und deutete mit eleganter Geste auf den dampfenden Kaffeebecher, den Toast mit Schinken und das gekochte Ei. »Ich hoffe, es ist ganz nach Ihrem Geschmack.« Kathleen mußte unwillkürlich lachen. Dann schaute sie dem jungen Mann wieder ins Gesicht. »Sie müssen der Sohn von Bob und Agnes sein«, stellte sie fest. »Aber leider hat mir noch niemand gesagt, wie Sie heißen.« »Das wundert mich nicht«, entgegnete er eine Spur melancholisch. Kathleen gab dem jungen Mann zu verstehen, daß er sich auf die Bettkante setzen durfte. Und während er, wieder etwas fröhlicher, ihrer Aufforderung nachkam, stellte er sich vor: »Ich heiße Arthur. Genauso wie der berühmt-berüchtigte König, der der Begründer der Tafelrunde gewesen ist und über dessen Abenteuer unzählige Sagen und Mythen berichten.« Natürlich waren Kathleen sämtliche Legenden bekannt, die sich um den sagenumwobenen König und seine Suche nach
dem heiligen Gral rankten. Ihr Vater hatte ihr alle erzählt. Sie fühlte, daß ihr der junge Mann immer sympathischer wurde. »Agnes und Bob Leven sind nicht meine leiblichen Eltern«, fuhr Arthur fort. »Ich bin in einem Waisenhaus in London aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, haben die beiden mich adoptiert.« »Dabei haben sie keine schlechte Wahl getroffen«, bemerkte Kathleen. Arthur lächelte sie an. Doch dann seufzte er und zuckte mit den Schultern. »Ich hätte mir nur gewünscht, daß ich mir meine Eltern auch aussuchen könnte. Bob und Agnes sind nicht gerade das, was man sich unter einer harmonischen Familie vorstellt. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich ihnen irgend etwas bedeute.« Kathleen war über die Offenheit des jungen Mannes verwundert. Er mußte diese Gedanken schon sehr lange mit sich herumtragen, daß er sie gleich einer wildfremden Frau anvertraute. Aufgrund der Schilderungen der Einheimischen wußte Kathleen, daß Arthur nur wenig Kontakt zu anderen Menschen hatte. Daß dies nicht an seinem Charakter, sondern wahrscheinlich an der Tatsache lag, daß seine Adoptiveltern ihn mit zeitraubenden Arbeiten betrauten, das bewies allein schon dieses eine Gespräch. Kathleen wünschte sich, daß sie dem jungen Mann mit ebensolcher Offenheit begegnen könnte. Auch sie trug Gedanken mit sich herum, die sie allein kaum ertrug. Sie sehnte sich danach, sie mit jemandem teilen zu können. Und Arthur schien ihr genau der richtige Partner dafür zu sein. Aber sollte sie ihm etwa erzählen, daß sie nachts von Martha Lynchs Geist aufgesucht wurde, der seine Adoptiveltern des Mordes beschuldigte? Er wird mich auslachen und für verrückt und sonderbar halten, dachte sie und verdrängte die quälenden Gedanken.
»Warum verlassen Sie Ihre Eltern nicht einfach?« wollte sie statt dessen wissen. »Alt genug, Ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, sind Sie doch.« Arthurs Gesicht heiterte sich bei diesen Worten wieder auf. »Das habe ich mich auch schon oft gefragt«, gestand er. »Aber irgendwie hat sich mir noch keine Gelegenheit geboten, diesen Schritt wirklich zu tun. Ich habe immer das Gefühl, noch auf irgend etwas warten zu müssen…« Arthur erhob sich abrupt. »Apropos warten«, sagte er und lächelte entschuldigend. »Sie müssen hungrig sein, und ich halte Sie mit meinem Gerede nur auf. Wahrscheinlich sind der Toast und der Kaffee schon kalt geworden.« Kathleen zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht weiter schlimm«, sagte sie. »Trotzdem vielen Dank.« »Ich muß wieder an die Arbeit«, erklärte Arthur und wandte sich zum Gehen. Doch in der Tür drehte er sich noch einmal zu Kathleen um. »Werden Sie noch einige Tage bleiben?« fragte er. »Ich habe gehört, Sie erheben Anspruch auf die Erbschaft. Agnes und Bob sind ziemlich wütend auf Sie.« »Ich denke, ich werde noch einige Tage bleiben«, antwortete Kathleen. Dies sagte sie nicht nur, weil sie überzeugt war, die Erbschaft wirklich antreten zu können. Es gab da noch einen anderen Grund. Kathleen wußte plötzlich, daß sie dieses Anwesen erst wieder verlassen würde, wenn sie sich Gewißheit darüber verschafft hatte, ob Martha Lynch wirklich von den Levens umgebracht worden war oder nicht. »Vielleicht sehen wir uns dann noch einmal«, sagte Arthur und verließ Kathleens Zimmer. Kathleen schaute noch eine Weile verträumt auf die geschlossene Tür. Und ihr dämmerte, daß es nun noch einen dritten Grund geben würde, dieses Anwesen nicht so schnell wieder zu verlassen. Und dieser Grund hieß Arthur Leven.
Kathleen widmete sich endlich ihrem Frühstück. Der Kaffee war tatsächlich nur noch lauwarm. Aber das machte Kathleen überhaupt nichts aus. Allein der Gedanke, daß Arthur ihn für sie zubereitet hatte, ließ das Gebräu zu einem köstlichen Trunk werden.
*
Nachdem Kathleen gefrühstückt und sich frisch gemacht hatte, begab sie sich mit dem Tablett in die Küche. Den Kopfverband hatte sie abgenommen. Außer der Beule am Hinterkopf erinnerte nun nichts mehr an den seltsamen Unfall. Und wenn Kathleen sich vorsichtig bewegte, blieben sogar die Kopfschmerzen aus. Agnes und Bob hielten sich noch in der Küche auf. Auf dem Küchentisch lag der gespaltene Eberkopf. Bob war gerade damit beschäftigt, die Trophäe mit Draht und Klebstoff wieder zu flicken. »Da haben Sie aber was Schönes angerichtet!« stieß Bob vorwurfsvoll hervor, als er Kathleen bemerkte. »Der Eberkopf wird nie wieder so aussehen wie vorher.« »Ich kann nichts dafür, daß mir der scheußliche Kadaver auf den Kopf gefallen ist«, verteidigte sich Kathleen. Sie fand es äußerst unhöflich, daß Bob sich um den Eberkopf anscheinend mehr Gedanken machte als um ihr Wohlergehen. »Ihnen ist ja offensichtlich nichts zugestoßen«, bemerkte Bob. Und Kathleen kam es so vor, als klänge dabei Bedauern in seiner Stimme mit. »Wenn Sie in unserem Haus herumschnüffeln, dürfen Sie sich nicht beklagen, wenn Ihnen dabei etwas auf den Kopf fällt. Das Haus ist baufälliger, als es den Anschein hat. Nicht umsonst erzählen sich die Narren aus
dieser Gegend so viele Schauergeschichten über das Herrenhaus. Vielleicht haben sie ja sogar recht, und in diesem Haus gibt es wirklich Poltergeister. Und vielleicht sehen es diese Poltergeister nicht so gerne, wenn jemand daherkommt und den rechtmäßigen Besitzern ihr Eigentum streitig machen will.« Kathleen bemühte sich, den drohenden Unterton in Bobs Stimme zu überhören. Seine Worte hatten sie nachdenklich gestimmt. Wenn in diesem Haus Geister herumspukten, warum sollte es dann nicht auch Poltergeister geben? Eine Gänsehaut kroch der jungen Frau bei diesen Gedanken über den Rücken. »Du solltest Kathleen nicht so verängstigen«, mischte sich Agnes plötzlich ein. »Immerhin hätte ihr auch etwas Schlimmeres zustoßen können. Wir können froh sein, daß die Sache so glimpflich verlaufen ist.« »Ich verstehe darum auch gar nicht, warum sich unser Nichtsnutz so rührend um unseren Gast gekümmert hat, anstatt seiner Arbeit nachzukommen«, stichelte Bob weiter. Seine Stimme triefte nun förmlich vor Hohn. Daß er mit dem Nichtsnutz seinen Adoptivsohn Arthur gemeint hatte, war Kathleen nicht entgangen. Aber sie zog es vor, lieber zu schweigen und nicht weiter auf die Provokationen einzugehen. Sie stellte das Tablett in die Spüle und fing an, das Geschirr abzuwaschen. »Wie lange gedenken Sie eigentlich noch, unsere Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen?« meldete sich Bob nach kurzer Zeit wieder zu Wort. Kathleen wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da ergriff Agnes wieder das Wort. »Kathleen bleibt so lange unser Gast, bis die Angelegenheit mit der Erbschaft geregelt ist«, sagte sie an ihren Mann gewandt. Dann trat sie von hinten an Kathleen heran. »Harry Ramsgate ist felsenfest davon
überzeugt, in Ihnen eine Verwandte von Martha Lynch vor sich zu haben. Wir haben nun unsererseits einen Rechtsanwalt mit der Aufgabe betreut, diese Angaben zu überprüfen und uns gegebenenfalls vor Gericht zu verteidigen.« »Das ist Ihr gutes Recht«, erwiderte Kathleen, während sie das Geschirr abtrocknete. »Ich selber würde an Ihrer Stelle nicht anders handeln. Und Sie können versichert sein, daß ich über die Rolle, die ich gezwungen bin, hier zu spielen, sehr unglücklich bin.« »Warum verzichten Sie dann nicht einfach auf die Erbschaft und kehren endlich nach Bristol zurück?« schnauzte Bob sie an, wobei er nicht einmal von seiner Arbeit aufschaute. Kathleen mußte zugeben, daß ihr wirklich danach war, auf die Erbschaft zu verzichten. Aber auf der anderen Seite waren da noch der sympathische Arthur und die ungeheuerlichen Anschuldigungen, die Martha Lynchs Geist gegen die Levens erhoben hatten. Dies alles konnte sie nicht so einfach hinter sich lassen. Leider konnte sie sich in dieser Angelegenheit niemandem anvertrauen; der Polizei schon gar nicht. Denn wer würde einer jungen Frau schon glauben, die behauptete, ein Geist hätte ihr von einem Mordfall berichtet? Kathleen wußte, daß sie ganz anders an die Sache herangehen und selbst Nachforschungen anstellen mußte. Aus diesem Grund durfte sie das Anwesen nicht verlassen. Sie mußte also die Zähne zusammenbeißen und die schlechten Gewohnheiten und Manieren von Bob Leven noch länger ertragen. Kathleen nahm sich vor, ihre Zeit zu nutzen und sofort mit ihren Nachforschungen zu beginnen. Als sie mit dem Geschirr fertig war, wandte sie sich an die Levens und fragte ohne Umschweife: »Aus welchem Fenster hat sich Martha Lynch damals eigentlich gestürzt?« Agnes und Bob sahen die junge Frau einen Augenblick sprachlos an.
»Aus welchem Grund wollen Sie das wissen?« erkundigte sich Agnes. Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Mich interessiert eben das Schicksal meiner Verwandten«, behauptete sie leichthin. Bob und Agnes wechselten einen flüchtigen Blick. »Ich werde Ihnen das Zimmer zeigen«, entschied Agnes daraufhin.
*
»Aus diesem Fenster hat Martha Lynch sich eines Nachts gestürzt«, berichtete Agnes. »Uns hat ihr Ableben sehr betroffen gemacht. Martha war eine gesunde und vitale Frau. Sie hatte ihren Lebensabend noch vor sich. Aber sie war eine einsame Frau mit labiler Psyche. Niemanden hat es gewundert, daß sie den Freitod wählte.« Die beiden Frauen standen in einem der Zimmer im dritten Stock. Es war, wie alle anderen Räume auch, mit kostbaren Möbeln ausgestattet. Vom Fenster aus bot sich ein schöner Ausblick auf den Garten und den kiesbestreuten Weg. Hinter dem Tor, das von den beiden Pfosten mit den Löwen gesäumt war, schlängelte sich die schmale Straße den Hügel hinauf. »Wie lange kannten Sie Martha Lynch schon?« wollte Kathleen wissen. Sie konnte dabei den Blick von dem Fenster nicht abwenden, aus dem Martha Lynch in den Tod gestürzt war. »Ungefähr zehn Jahre«, beantwortete Agnes die Frage bereitwillig. »Wir zogen damals von London in diese Gegend. Unseren Wohnsitz bezogen wir in Minehead. Durch Zufall lernten wir Martha Lynch kennen, deren Mann damals schon
drei Jahre tot war. Sie war sehr einsam und lebte allein und verlassen auf dem großen Anwesen. Wir freundeten uns mit ihr an und besuchten sie regelmäßig. Sie wuchs uns während dieser Zeit sehr ans Herz.« Kathleen hörte Agnes interessiert zu. Allerdings fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, wie der griesgrämige Bob Freundschaft mit einer älteren Dame schließen konnte. Aber sie hütete sich, sich ihre Gedanken anmerken zu lassen. »Und wie kam es, daß Martha ausgerechnet Sie als Universalerben einsetzte?« stellte Kathleen ihre nächste Frage. Agnes musterte die junge Frau eine Weile. Sie schien zu überlegen, ob sie Kathleen diese Frage überhaupt beantworten sollte. Aber schließlich rang sie sich doch zu einer Antwort durch. »Wir waren die einzigen Freunde, die Martha hatte«, erklärte sie. »Sie hatte ja keine Verwandten mehr. Und andere Menschen, die sich um die einsame Frau kümmerten, gab es nicht. Die Freunde ihres Mannes hatten mit den Jahren das Interesse an Martha verloren oder waren selbst verstorben. Und da Martha Lynch ihren Nachlaß nicht in fremde Hände übergeben wollte, hat sie eben uns, ihre einzigen Freunde, als Erben eingesetzt.« Kathleen schwieg eine Weile. Die Antworten von Agnes Leven klangen glaubwürdig. Und den Levens zu unterstellen, daß sie Martha Lynch umgebracht hatten, um schneller an die Erbschaft heranzukommen, erschien ihr zu weit hergeholt. Wenn sie die Frau wirklich aus dem Fenster gestoßen hatten – denn so mußte es sich zugetragen haben, wollte sie den Worten der Geistererscheinung glauben –, dann mußte es dafür noch einen anderen Grund gegeben haben. »Und finden Sie es nicht auch gerecht, Kathleen, daß wir das Anwesen erben?« unterbrach Agnes in diesem Moment die Gedanken der jungen Frau. »Wir, die wir uns stets um die
arme Martha gekümmert haben? Und nun will eine wildfremde Person, die Martha zu Lebzeiten nie zu Gesicht bekommen hat, uns diese verdiente Erbschaft streitig machen. Finden Sie so etwas nicht selbst auch ungerecht?« Kathleen konnte darauf nichts erwidern. Wenn sich alles tatsächlich so zugetragen hatte, wie Agnes es geschildert hatte, konnte Kathleen ihr nur zustimmen. Aber zunächst würde sich Kathleen von der Richtigkeit ihrer Aussage überzeugen müssen. Erst dann würde sie in Erwägung ziehen, eventuell auf die Erbschaft zu verzichten. »Ich muß Sie jetzt allein lassen«, verkündete Agnes. »Auf einem großen Anwesen wie diesem fällt viel Arbeit an, die nicht auf die lange Bank geschoben werden darf.« Mit diesen Worten wandte sie sich von Kathleen ab und verließ das Zimmer. Die junge Frau blieb noch eine Weile in dem Zimmer. Sie hätte Agnes noch gerne viele andere Fragen gestellt. Zum Beispiel über ihre gestrigen Besucher, deren Limousinen sie in dem Stall gesehen hatte… Doch am liebsten hätte sie Agnes gefragt, wo Arthur sich zur Zeit aufhielt. Nur zu gerne hätte sie dem jungen Mann jetzt einen Besuch abgestattet, um sich mit ihm zu unterhalten. Aber ein unbestimmtes Gefühl sagte Kathleen, daß Agnes für solche Fragen nicht die richtige Adresse war. Schließlich wandte sie sich von dem Fenster ab und verließ den Raum. Auch auf sie wartete noch eine Menge Arbeit…
*
Am frühen Nachmittag erreichte Kathleen mit ihrem zitronengelben Jeep die Küstenstadt Minehead. Ihr erster
Besuch galt dem Notariat von Harry Ramsgate. Aber seine Sekretärin erklärte, daß Mr. Ramsgate sich in einer wichtigen Besprechung befand und Kathleen es am Abend noch einmal versuchen sollte. Also kehrte Kathleen dem Notariat den Rücken und suchte statt dessen das Zeitungsarchiv der Stadt auf. Während ihres Studiums hatte sie gelernt, wie eine effektive Recherche zu führen war und wie man am schnellsten an die gewünschten Informationen herankam. Zeitungsarchive stellten, neben den Büchern aus dem historischen Fundus der staatlichen Bibliotheken, eine der Hauptquellen dar, die für eine erfolgversprechende Recherche benutzt werden konnten. Kathleen, die vorgab, im Auftrag der Universität Bristol zu handeln, saß schon bald hinter einem der Bildschirme im Archiv und war fleißig bei der Arbeit. Fachkundig hatte sie sich gleich ein Dutzend Mikrofilme ausgesucht. Auf diesen Mikrofilmen waren die einzelnen Ausgaben der regionalen Zeitungen gespeichert. Nun erschienen die einzelnen Zeitungsseiten auf Kathleens Bildschirm. Es handelte sich um eine Zeitung, die im Raum von Exmoor herausgegeben wurde. Sie trug den Namen Exford Mirror. Nach kurzer Zeit fand sie, wonach sie gesucht hatte. Es handelte sich um Artikel, die die sonderbaren Vorkommnisse auf dem Anwesen von Martha Lynch behandelten. Während Kathleen die einzelnen Artikel überflog, machte sie sich eifrig Notizen. Zwei Stunden später schaltete sie den Bildschirm wieder aus. Die Recherche war erfolgreich beendet. Kathleen war sich allerdings nicht sicher, ob ihr das Ergebnis auch gefiel. Es waren sonderbare Tatsachen zutage getreten. Der erste Bericht über Poltergeistaktivitäten im Herrenhaus von Martha Lynch lag ungefähr zehn Jahre zurück – den Angaben von
Agnes Leven zufolge hatte die Freundschaft zwischen den Levens und Martha Lynch ebenfalls vor zehn Jahren begonnen! Vor diesem Zeitraum wurde das Anwesen nie mit unheimlichen Begebenheiten in Zusammenhang gebracht. Das Leben in dem Herrenhaus war relativ geregelt verlaufen. Die einzige Meldung aus dieser Zeit befaßte sich mit dem Ableben von Martha Lynchs Ehemann. Doch seit zehn Jahren erschienen fast regelmäßig irgendwelche Meldungen über unerklärliche Phänomene, die sich im Herrenhaus zugetragen haben sollten. Die zahlreichen Bediensteten, die Martha Lynch am Anfang noch beschäftigt hatte, kündigten einer nach dem anderen ihren Dienst, da es ihnen in dem Haus zu unheimlich war. Sie berichteten von Gegenständen, die von der Wand fielen, von sonderbaren Geräuschen in der Nacht und von vielen anderen unglaublichen Begebenheiten. »Kein Wunder, daß niemand mehr in dem Herrenhaus arbeiten will«, flüsterte Kathleen, als sie ihre Aufzeichnungen betrachtete. »Die Menschen in dieser Gegend sind sehr abergläubisch. Solche Meldungen müssen sie ja in Angst und Schrecken versetzen.« All diese Meldungen über Poltergeister und die Tatsache, daß die Vorfälle erst mit der Freundschaft zwischen den Levens und Martha Lynch begonnen hatten, stimmten Kathleen sehr nachdenklich. Noch nachdenklicher aber machte sie eine Entdeckung, auf die sie nur durch einen Zufall gestoßen war. Beim Durchblättern der Zeitungen war sie im Kulturteil auf eine Fotografie gestoßen, die ihr sofort ins Auge fiel. Es handelte sich dabei um ein Foto, das ein Journalist auf einer Galaveranstaltung im Theater von Minehead gemacht hatte. Die Begebenheit lag jetzt schon drei Jahre zurück, und Kathleen hätte dieser Meldung sicher keine Aufmerksamkeit
geschenkt, wenn ihr im Hintergrund der Fotografie nicht zwei Menschen aufgefallen wären, die sie nur allzugut kannte: Harry Ramsgate und Martha Lynch. Das auffällige Muttermal neben der schmalen Nase der Frau und ihr fast schneeweißes Haar ließen bei Kathleen keine Zweifel offen, daß es sich bei der weiblichen Begleitung des Notars wirklich um Martha Lynch handelte. Die beiden standen dicht beieinander, und Martha hatte sich bei dem Notar in vertraulicher und intimer Weise eingehakt. Sie hielten Champagnergläser in den Händen und prosteten sich zu. Der innige Blick, den sie sich dabei zuwarfen, ließ Kathleen vermuten, daß es sich bei diesem Treffen um mehr als nur um eine geschäftliche Besprechung in angenehmem Rahmen handelte. Unterhielten die beiden vielleicht eine Liebesbeziehung? überlegte Kathleen. Sie fand nichts Ungewöhnliches daran, daß zwei alleinstehende ältere Menschen sich noch einmal verliebten. Ungewöhnlich nur war, daß Harry Ramsgate sie über so viele Dinge im unklaren gelassen hatte. Kathleen wurde das Gefühl nicht los, daß der Notar sie nur für irgend etwas benutzte. Und wenn sie sich nicht selbst davon überzeugt hätte, daß es zwischen ihr und Martha Lynch wirklich ein verwandtschaftliches Verhältnis gab, dann hätte sie angenommen, einem Scharlatan aufgesessen zu sein, der sie für seine undurchsichtigen Pläne mißbrauchte. Kathleen hielt es für an der Zeit, mit dem Notar ein klärendes Gespräch zu führen.
*
Kathleen war immer noch verstimmt, als sie ihren zitronengelben Jeep über die seichten Hügel von Exmoor steuerte. Im Notariat von Harry Ramsgate hatte sie nichts erreichen können. Als sie sein Büro betrat, war nur noch seine Sekretärin anwesend. »Mr. Ramsgate mußte noch dringend einen Klienten besuchen«, vertröstete die Sekretärin Kathleen. »Aber er hat mir eine Nachricht für Sie hinterlassen. Sie sollen sich keine Sorgen wegen der Erbschaft machen. Der Rechtsanwalt, den die Levens mit diesem Fall betraut haben, beißt sich an den Familienurkunden die Zähne aus. Ihm wird es kaum gelingen, ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen und Martha Lynch ernsthaft in Frage zu stellen.« Mit diesen Worten mußte Kathleen sich vorerst zufriedengeben. Aber sie nahm sich vor, Harry Ramsgate gleich am nächsten Morgen anzurufen. Und diesmal würde sie sich nicht so einfach abwimmeln lassen. Kathleen konzentrierte sich wieder auf die kaum befahrene Straße und die schöne, malerische Landschaft. Die seichten grünen Hügel und die Wäldchen, die von kleinen Bächen durchkreuzt wurden, übten eine beruhigende Wirkung auf die junge Frau aus. Bald hatte sie ihren Groll auf den Notar vergessen, und ihre Gedanken kehrten zu den Levens zurück. Was für ein Motiv konnten die Levens gehabt haben, falls sie Martha Lynch wirklich ermordet hatten? mußte sie sich immer wieder fragen. Eine befriedigende Antwort darauf konnte sie jedoch nicht finden. Vielleicht würde ich eine Antwort auf diese Frage finden, wenn ich wüßte, wer die unbekannten Besucher in den teuren Limousinen waren, überlegte sie. Oder wenn ich wüßte, warum die Poltergeister erst auftraten, als auch die Levens in Martha Lynchs Leben traten. Kathleen seufzte. Plötzlich befürchtete sie, daß sie das Rätsel um das Herrenhaus nicht allein würde lösen können. Wenn ich
mich doch nur jemandem anvertrauen könnte! dachte sie wehmütig. Unwillkürlich mußte sie an Arthur Leven denken. Ein warmes Gefühl durchflutete augenblicklich ihren Körper. Überrascht stellte sie fest, daß sie sich nach dem charmanten jungen Mann sehnte. »Habe ich mich etwa verliebt?« murmelte sie. Aber im gleichen Moment durchfuhr sie ein eiskalter Schreck. Was war, wenn Arthur an dem Mord an Martha Lynch beteiligt gewesen war? Wenn er sich in irgendeiner Weise mitschuldig gemacht hatte? Kathleen wurde ganz kalt bei diesem Gedanken. Mit gemischten Gefühlen sah sie dem Herrenhaus entgegen, das in diesem Augenblick hinter dem Hügel zum Vorschein kam. Nachdem Kathleen ihren Jeep vor dem Portal des Herrenhauses abgestellt hatte, schlug sie den schmalen Weg ein, der zum alten Stall im Wäldchen führte. Sie hatte sich vorgenommen, den Stall noch ein zweites Mal zu untersuchen. Sie hoffte, dabei auf Spuren zu stoßen, die ihr Aufschluß über die geheimnisvollen Limousinen und ihre Besitzer geben würden. Schon als sie noch ein Stück von dem Stall entfernt war, bemerkte sie, daß irgend etwas nicht stimmte. Sie vernahm Gemurmel! Rasch verließ sie den Weg und verbarg sich hinter den dicken Baumstämmen. Vorsichtig darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, arbeitete sie sich Stück für Stück durchs Unterholz. Auf diese Weise umrundete sie den Stall und erreichte bald darauf seinen rückwärtigen Teil. Hier suchte sie sich eine geeignete Stelle. Dann preßte sie sich gegen das rauhe Holz der Bretterwand und spähte durch ein großes Astloch.
Unwillkürlich hielt sie den Atem an, als sie die Schemen der beiden schwarzen Limousinen im Stall bemerkte. Nahe bei den geschlossenen Toren standen mehrere Gestalten, die Kathleen nicht genau erkennen konnte. Angestrengt horchte Kathleen in den Stall hinein, und tatsächlich gelang es ihr schließlich, etwas von dem Gespräch zu verstehen. »Und darum müssen wir unsere Produktion für eine Weile einstellen«, hörte Kathleen eine männliche Stimme, die sie ohne Schwierigkeiten Bob Leven zuordnen konnte. »In ein paar Wochen hat die Situation sich wieder geklärt…« »Ich warne Sie«, schnitt eine befehlsgewohnte Stimme Bob das Wort ab. »Wenn es Schwierigkeiten geben sollte, stehen Sie allein da. Ich habe es von Anfang an für keine gute Idee gehalten, sich Martha Lynchs einfach so zu entledigen. In unserer Branche kann man es sich nicht leisten, durch irgendeine Unstimmigkeit aufzufallen. Da genügt schon der kleinste Verdacht, um Ihre ganze Produktion auffliegen zu lassen.« »Sie können versichert sein, daß wir alles unter Kontrolle haben.« Diesmal war es Agnes’ Stimme, die Kathleen hörte. Ihr unterwürfiger Tonfall ließ Kathleen vermuten, daß die Frau Angst vor dem anderen Mann hatte. »Das will ich auch für Sie hoffen«, ließ der dritte Sprecher sich wieder vernehmen. »Wenn die Geschichte nicht in einem Monat bereinigt wird, muß ich mich nach anderem Personal umschauen. Sie sind auf Ihrem Gebiet zwar hervorragend, unersetzlich sind Sie aber deswegen nicht!« Mit diesen Worten wandte sich der Sprecher von den Levens ab. Auch in die anderen Gestalten kam Bewegung. Sie stiegen in die Limousinen. Kurz darauf starteten die Motoren. Erschrocken wich Kathleen ins Unterholz zurück. Noch war ihr die Bedeutung des belauschten Gesprächs nicht ganz klar.
Aber instinktiv ahnte sie, daß es für sie nichts Gutes bedeuten würde, wenn man sie jetzt entdeckte. Rasch schaute sie sich um, um sich zu orientieren. Dann faßte sie einen Entschluß. So schnell sie konnte, pirschte sie sich durch das Unterholz. Die Geräusche hinter ihr verrieten ihr, daß die Limousinen den Stall noch nicht verlassen hatten. Wenige Augenblicke später hatte sie das Ende des Wäldchens erreicht. Wie geplant war sie am rückwärtigen Teil des Herrenhauses angekommen. Sie rannte über das schmale Stück Rasen, das den Wald von dem Haus trennte. Dann war sie in Sicherheit. Vom Weg aus würde man sie hier nicht mehr sehen können. Kathleen rannte zur Hintertür. Einen bangen Augenblick lang befürchtete sie, die Tür könnte verschlossen sein. Die Levens würden ihren Jeep vor dem Haus bemerken und sich fragen, ob Kathleen etwas über ihren Besuch herausgefunden hatte. Und wenn sie sie dann im Haus suchten und nicht fanden, würden sie wissen, daß Kathleen sich irgendwo draußen herumgetrieben hatte. Sie würden ihr viele unangenehme Fragen stellen – und genau das mußte Kathleen verhindern. Aber glücklicherweise war die Hintertür offen. Rasch eilte sie in die Küche und deckte in Windeseile und mit zitternden Händen den Tisch. Als Bob und Agnes Leven kurze Zeit später die Küche betraten, hatte Kathleen sich mit einigem Erfolg zur Ruhe zwingen können. Sie setzte die unschuldigste Miene auf, zu der sie fähig war, und lächelte die Levens unsicher an. »Ich habe mir die Freiheit genommen, mir etwas zum Abendbrot zuzubereiten«, sagte sie scheinheilig. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« Bob musterte die junge Frau mißmutig. In seinem Gesicht arbeitete es. Aber schließlich zwang er sich zur Beherrschung. »In Zukunft werden Sie für Ihre Verpflegung selbst
aufkommen«, bestimmte er finster. »Wie lange sind Sie eigentlich schon hier?« Die junge Frau versuchte, sich durch den bohrenden Blick des Mannes nicht einschüchtern zu lassen. »Seit etwa zehn Minuten«, log sie. »Da ich hungrig war, habe ich mich gleich in die Küche begeben. Ich habe nach Ihrer Frau gerufen. Als sich aber niemand meldete, habe ich mich eben selbst bedient.« Bob musterte sie noch einen Augenblick feindselig, doch dann wandte er sich kommentarlos ab und verließ die Küche. Agnes hatte sich unterdessen stumm am Herd zu schaffen gemacht. Sie hantierte mit Töpfen und Schüsseln. Offensichtlich war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und nicht sehr gesprächig. Kathleen atmete erleichtert auf. Die Levens hatten nicht bemerkt, daß sie beobachtet worden waren!
*
Nachdenklich saß Kathleen auf ihrem Bett. Der verzierte Leuchter an der Decke spendete ein angenehmes, gedämpftes Licht. Aber Kathleen hatte keinen Blick für die Schönheit ihres Zimmers. Ununterbrochen mußte sie an das Gespräch im Stall denken, das sie belauscht hatte. Was nur konnte der Unbekannte damit gemeint haben, als er sagte, er wäre nicht damit einverstanden gewesen, Martha Lynch einfach so zu beseitigen? Bedeuteten diese Worte etwa, daß die Levens Martha wirklich umgebracht hatten? Je mehr Kathleen darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam ihr diese Möglichkeit vor.
Außerdem hatte der Mann von Dingen gesprochen, die die Levens für ihn herstellen sollten. Um was mochte es sich dabei wohl handeln? Kathleen wußte auf diese Frage keine Antwort. Vielleicht gibt es für alles eine ganz einfache Erklärung, dachte sie. Aber vielleicht wohne ich auch mit zwei Mördern unter einem Dach! Der jungen Studentin schmerzte der Kopf. Die Auswirkungen des Unfalls machten sich aufgrund der Strapazen wieder bemerkbar. Ich schaffe es einfach nicht allein, das Geheimnis um das Herrenhaus zu lüften, dachte sie resigniert und massierte sich die Schläfen. Vielleicht sollte ich doch besser die Polizei einschalten? Kathleen zog sich aus und streifte ihr weißes Nachthemd über. Einen Augenblick blieb sie am Fenster stehen und schaute in die beginnende Nacht hinaus. In der Ferne glaubte sie so etwas wie das Wiehern eines Pferdes zu vernehmen. Aufmerksam spitzte sie die Ohren. Aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Schade, dachte sie. Wie sehr würde ich mich jetzt über einen Besuch von Arthur freuen! Kathleen wandte sich um und wollte ins Bett schlüpfen. Aber mitten in der Bewegung blieb sie wie erstarrt stehen. Ein leises Zischeln erfüllte plötzlich den Raum! Und es hatte seinen Ursprung direkt unter Kathleens Himmelbett. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Kathleen auf ihr Bett. Und dann kamen sie. Wimmelnde, schlängelnde Leiber quollen unter dem Bett hervor! Sie maßen bis zu siebzig Zentimeter, und ein dunkles Zickzackband erstreckte sich über ihren Schlangenleib. Kathleen wagte nicht, sich zu rühren. Schweiß stand plötzlich auf ihrer Stirn. Ihr Atem ging schnell und stoßweise. Sie
kannte diese Schlagen nur zu genau. Es waren schöne, aber giftige Kreuzottern. Jene Schlangen, die ihren Vater getötet hatten! Mit wachsender Panik beobachtete Kathleen, wie die Schlangen unter dem Himmelbett hervorkrochen. Sie war unfähig, ihren Blick von den Reptilien abzuwenden, so sehr war sie von ihrer Angst gefangen. Jetzt nur nicht bewegen! dachte Kathleen fieberhaft. Eine falsche Bewegung, und sie werden sich auf dich stürzen! Die Schlangen ließen zischelnd ihre Zungen hervorschnellen und schoben sich langsam auf Kathleens Füße zu. Ihre Schuppen verursachten dabei ein grauenerregendes, schabendes Geräusch. In diesem Augenblick hielt Kathleen die Belastung nicht mehr aus. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, als könnte sie damit die Kreuzottern vertreiben. Die Schlangen jedoch ließen sich dadurch nicht beeindrucken. Schon hatten sie sich über das ganze Zimmer verteilt. Es würde nur noch wenige Atemzüge dauern, bis sie Kathleen erreicht hatten…
*
Plötzlich wurde die Tür zu Kathleens Zimmer aufgestoßen. Ein junger Mann in Reitermontur mit schwarzglänzenden Stiefeln stürmte in den Raum. »Arthur, sei vorsichtig!« stieß Kathleen hervor. »Es sind giftige Kreuzottern.« Schon hatte eine der Ottern ihren nackten Fuß erreicht, ließ die spitze Zunge über Kathleens Zehen gleiten.
Arthur hatte die Situation schnell überschaut. Mit riesigen Sätzen hastete er durchs Zimmer. Daß er dabei auf einige der Schlangen trat, kümmerte ihn nicht. Für ihn zählte nur das Leben der jungen Frau. Rasch hatte er die erstarrte Kathleen erreicht. Ohne lange zu zögern, packte er sie an den Hüften und riß die junge Frau empor. Im selben Augenblick fuhr sein Stiefel mit einem gezielten Tritt auf die Schlange herab und erwischte sie genau hinter dem Kopf. Arthur lud sich Kathleen auf die Schulter und stürmte aus dem Zimmer. Erst als sie sicher im Korridor angekommen waren, setzte er die junge Studentin wieder ab. »Es tut mir leid, daß ich dich so grob behandeln mußte…«, setzte er an. Aber Kathleen preßte ihm ihre Lippen auf den Mund und brachte ihn so zum Verstummen. »Darf man erfahren, was dieser Lärm zu bedeuten hat?« wurden sie von einer Stimme unterbrochen. Nur zögernd löste sich Kathleen aus den Armen von Arthur. Im Korridor standen Bob und Agnes Leven. Sie wirkten aufgebracht und bedachten die beiden mit durchdringenden, abweisenden Blicken. »In Kathleens Zimmer wimmelt es von Schlangen«, rechtfertigte sich Arthur. »Wahrscheinlich hat sie es nur mir zu verdanken, daß sie mit dem Leben davongekommen ist!« Die Levens zeigten sich über die Rettungsaktion ihres Adoptivsohns nur wenig begeistert. Und erst als sie einen Blick in Kathleens Zimmer geworfen hatten, ließen sie sich zu einer Gefühlsregung herab. »Ich habe es doch schon immer gesagt!« schimpfte Agnes. »In diesem alten Haus ist man vor keiner Überraschung sicher. Diese Biester müssen sich in einer Mauerhöhle ihr Nest eingerichtet haben. Manchmal wünschte ich, ich hätte dieses Haus nie betreten!«
Nach einer Dreiviertelstunde hatten Bob und Arthur die Schlangenplage beseitigt. Mit äußerster Vorsicht waren sie vorgegangen und hatten die giftigen Reptilien mit Hilfe von Drahtschlingen eingefangen. Genau dreizehn Schlangen fingen sie ein und setzten sie in einer Holzkiste gefangen. Drei der schönen Geschöpfe hatten unter den Reiterstiefeln von Arthur ihr Leben lassen müssen. Agnes hatte mit ihrer Vermutung richtig gelegen. Die Kreuzottern hatten sich in einer Aushöhlung im Steinfundament des Hauses ein Nest gebaut. Und diese Höhle war nur durch einen einzigen schmalen Zugang zu erreichen gewesen. Dieser Spalt endete genau unter Kathleens Himmelbett. Kathleen bekam bei dem Gedanken, daß sie zwei Nächte lang über einem Schlangennest geschlafen hatte, noch nachträglich eine Gänsehaut. Daher weigerte sie sich auch, in das Gästezimmer zurückzukehren. Sie verlangte, in einem anderen Zimmer untergebracht zu werden. Die Levens kamen Kathleens Wunsch nach. Die junge Studentin durfte das benachbarte Zimmer beziehen. Es war ein Raum, der früher den Bediensteten als Unterkunft gedient hatte. In ihm befanden sich nur ein einfaches Holzbett, eine alte Waschschüssel und ein von Holzwürmern stark beschädigter Schrank. Arthur nahm das Zimmer auf Kathleens Bitte hin gründlich in Augenschein. Erst als er in jeden Winkel und unter jedes Möbelstück geschaut hatte, legte sich ihre Angst allmählich. Doch sie spürte, daß sie einer weiteren bösen Überraschung nicht gewachsen wäre. Sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken, sofort ihre Koffer zu packen und auf die Erbschaft zu verzichten. Aber dann sah sie Arthur einmal in seine schönen braunen Augen, und sogleich ließ sie diesen Gedanken wieder fallen.
Agnes und Bob Leven hatten sich schon längst wieder in ihren Wohnbereich zurückgezogen, als Arthur immer noch an Kathleens Bettkante saß. Die beiden hielten sich an den Händen und sprachen leise miteinander. Aber Kathleen fand immer noch nicht den Mut, Arthur von der nächtlichen Spukerscheinung zu erzählen. Statt dessen redete sie über ihr Leben in Bristol, über ihren Vater und die Universität. Interessiert und sichtlich beeindruckt hörte Arthur ihr zu. Es war bereits ein Uhr vorbei, als Arthur sich von der Bettkante erhob. Er hatte Kathleen versprochen, sie am nächsten Tag über die Ländereien des Anwesens zu führen. Und nachdem er ihr einen Kuß auf die Wange gehaucht hatte, verließ er ihr Zimmer. Kurz darauf schlief Kathleen mit einem glückseligen Gefühl ein. In dieser Nacht wurde sie nicht von dem Geist der Martha Lynch gestört. Es war beinahe, als ob die Liebe dem bösen Spuk ein Ende bereitet hätte.
*
»Flachs ist in den weiten Ebenen des Anwesens oft mein einziger Begleiter«, erläuterte Arthur und lenkte das braune Pferd mit der weißen Mähne geschickt um einen Tümpel herum. »Flachs ist ein Haflinger. Er ist sehr kräftig gebaut und kann uns beide daher ohne Mühen tragen.« Kathleen, die hinter Arthur auf dem Rücken des Pferdes saß, hatte ihre Arme um die Hüften des jungen Mannes geschlungen, um festen Halt zu finden. Da sie zu zweit auf dem Pferd reiten wollten, hatten sie auf einen Sattel verzichtet. Arthur legte auf ihrem Ritt immer wieder Pausen ein, weil er
wußte, daß für Kathleen diese ungewohnte Art des Reitens anstrengend war. Aber Kathleen genoß den Ausflug und konnte sich an der malerischen Landschaft und den seichten Hügeln gar nicht satt sehen. Auch von der Gegenwart des jungen Mannes, das fühlte sie ganz deutlich, konnte sie gar nicht genug bekommen. Kathleen hatte sich vorgenommen, ihre Sorgen wegen des Anwesens und der sonderbaren Begebenheiten im Herrenhaus für einen Tag zurückzustellen. Daher hatte sie auch darauf verzichtet, bei Harry Ramsgate anzurufen – was sie sich eigentlich vorgenommen hatte. Aber in der Gegenwart von Arthur fiel es ihr nicht schwer, all die unangenehmen und erschreckenden Dinge zu vergessen. Die Zeit verging wie im Fluge. Arthur zeigte Kathleen die kleine Schafherde, die zum Anwesen gehörte, den Wald, der sich über zwei Hügel erstreckte, und die brachliegende Moorfläche. Dies alles gehörte zu den Besitztümern des Anwesens. Kathleen bemerkte an der Art, wie Arthur ihr die Landschaft und seine Arbeit im Freien schilderte, daß er dieses Stück Land sehr lieb gewonnen hatte. Und sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie nun gekommen war, um ihm das zu nehmen, was ihm ans Herz gewachsen war. Aber Arthur schien sich mit solchen Gedanken nicht zu belasten. Er gab sich fröhlich und ausgelassen – und während mancher Pause auch sehr zärtlich. Als sie sich wieder auf dem Rückweg befanden, stieg Arthur vom Rücken des Pferdes und führte es am Halfter. Kathleen durfte oben sitzen bleiben und den Ausblick genießen. »Irgend etwas bedrückt dich«, sagte Arthur plötzlich. »Ich spüre es ganz deutlich. Hinter deiner Ausgelassenheit bist du sehr nachdenklich und verängstigt.«
Kathleen musterte Arthur erstaunt. Er war nicht nur ein charmanter, gutaussehender Mann. Er war auch noch feinfühlig und sehr aufmerksam. »Du hast recht«, gestand Kathleen seufzend, weil sie einsah, daß sie Arthur nicht länger etwas vormachen konnte. »Es ist die Erbschaft, die mich belastet, und eine sonderbare Geschichte, die deine Eltern betrifft.« Die Worte hatten Arthur neugierig gemacht. Er drängte Kathleen, ihm von ihren Sorgen zu erzählen. Froh darüber, sich endlich über die Dinge aussprechen zu können, die sie seit Tagen belasteten, faßte Kathleen den Entschluß, Arthur alles zu erzählen. Sie berichtete über die nächtliche Spukerscheinung und ihren Verdacht, Bob und Agnes könnten Martha Lynch ermordet haben. Auch von den sonderbaren schwarzen Limousinen erzählte sie. Ohne sie zu unterbrechen, hörte Arthur ihr zu. Seine Miene wurde dabei immer ernster und sorgenvoller. »Über die schwarzen Limousinen weiß ich leider auch nichts«, sagte er bedauernd, als Kathleen geendet hatte. »Bob und Agnes betrauen mich nur mit Arbeiten, die außerhalb des Hauses zu erledigen sind. Ich bin oft fort und bekomme nichts davon mit, was sich währenddessen im Herrenhaus abspielt. Nach dem Tod von Martha Lynch hatte die Polizei ermittelt, weil Harry Ramsgate angedeutet hatte, bei dem Freitod seiner Klientin könnte jemand nachgeholfen haben. Aber die Ermittlungen wurden erfolglos eingestellt. Alles deutete darauf hin, daß Martha Lynch wirklich Selbstmord begangen hatte. Ich traue meinen Adoptiveltern ja viel zu. Aber ob sie wirklich zu einem Mord fähig sind, vermag ich nicht zu beurteilen. An Gespenster und Poltergeister hingegen glaube ich mit Sicherheit nicht.« Kathleen sah Arthur bestürzt an.
»Ich glaube aber auch nicht, daß du dir dies alles nur eingebildet hast«, beeilte sich Arthur hinzuzufügen, als er Kathleens Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich würde diesem Gespenst nur gerne einmal selbst begegnen.« Bei diesen Worten hellte sich Arthurs Miene wieder auf. Offenbar hielt er diesen Gedanken für gar keine so schlechte Idee. Agnes und Bob Leven hielten sich nicht im Herrenhaus auf, als Kathleen und Arthur am späten Nachmittag dort eintrafen. Arthur, der behauptete, noch einige Arbeiten erledigen zu müssen, ließ Kathleen allein im Herrenhaus zurück, nachdem er sich mit einem leidenschaftlichen Kuß von der jungen Frau verabschiedet hatte. Kathleen versuchte nochmals, Harry Ramsgate telefonisch zu erreichen, hatte jedoch kein Glück. So widmete sie sich ihren Aufzeichnungen. Peinlich genau schrieb sie die Legenden und Geschichten nieder, die ihr im Exmoor Inn zu Ohren gekommen waren. Der Abend war schon lange hereingebrochen, als sie ihre Arbeit beendet hatte. Müde klappte sie das Notizbuch zu und überlegte, ob sie sich zu Bett begeben sollte. Doch in diesem Moment klopfte jemand an ihre Tür. Es war Arthur. Er wirkte aufgebracht und verlor keine Zeit mit langen Erklärungen. »Du mußt heute nacht wieder in dem Gästezimmer schlafen!« platzte er heraus. Kathleen sah ihn verständnislos an. »Bitte vertrau mir«, forderte er eindringlich. »Ich bin davon überzeugt, daß in diesem Haus wirklich etwas Sonderbares vorgeht. Aber ich brauche einen Beweis. Und aus diesem Grund mußt du noch einmal im Gästezimmer übernachten!« Kathleen war erstaunt über die Eindringlichkeit, mit der Arthur sprach. Die Aussicht, noch einmal in dem von
Schlangen verseuchten Zimmer übernachten zu müssen, behagte ihr ganz und gar nicht. Arthur konnte sie jedoch beschwichtigen. Er wies darauf hin, daß die Schlangen eingefangen worden waren. Außerdem versprach er, in der Nacht nicht von ihrer Seite zu weichen. Daraufhin willigte Kathleen in das Vorhaben ein, obwohl ihr immer noch schleierhaft war, was Arthur damit eigentlich bezweckte.
*
Es war kurz vor Mitternacht, als Kathleen plötzlich bemerkte, daß das Fenster zu ihrem Zimmer lautlos aufschwang. Arthur hatte sie vor einer halben Stunde geweckt und war in sein Versteck im Kleiderschrank zurückgekehrt. Seitdem lag sie wach in ihrem Bett und harrte der Dinge, die da kommen würden. Und nun war es anscheinend soweit. Zwei Minuten verstrichen, ehe sich am Fenster wieder etwas zu regen begann. Lautlos erschien draußen eine Gestalt. Sie trug ein weißes Totengewand und kletterte umständlich, aber geräuschlos über die Fensterbrüstung. Kathleen stellte sich schlafend und beobachtete die unheimliche Erscheinung durch die halb geschlossenen Augenlider. Kaum war die Gestalt ins Zimmer eingedrungen, verbarg sie sich auch schon hinter dem schweren Vorhang neben dem Fenster. Einige Atemzüge lang blieb es still. Dann war plötzlich ein seltsames Scharren und hohles Stöhnen zu vernehmen.
»Kathleen, du bist meine einzige Hoffnung«, wisperte es gespenstisch hinter dem Vorhang. Und dann schwebte die Gestalt hervor. Der Geist von Martha Lynch. Mit den schrecklichen, gleißenden Augen und dem auffälligen Muttermal neben der schmalen Nase. Die Geistererscheinung postierte sich neben dem Fenster. Sie schwankte vor und zurück und stöhnte verhalten. Kathleen hielt gebannt den Atem an. Die Furcht hielt sie in ihrem Bann, obwohl sie nun ahnte, daß sie nicht wirklich ein Gespenst vor sich hatte. Bevor das Gespenst in seiner Vorführung fortfahren konnte, wurde plötzlich die Schranktür aufgestoßen. Arthur sprang heraus und warf sich mit einem Schrei auf die Gestalt. Das Gespenst stieß einen unterdrückten Schrei aus und versuchte sich zur Wehr zu setzen. Aber Arthur hatte die Überraschung auf seiner Seite. Und so bereitete es ihm keine Anstrengung, den Geist wieder emporzuziehen, ihm dabei das Totengewand vom Leib zu reißen und ihn schließlich mit beiden Armen zu umklammern. Kathleen war unterdessen aus dem Bett gesprungen und hatte den Lichtschalter neben der Tür betätigt. Das aufflammende Licht riß das angebliche Gespenst nun ganz aus der schützenden Dunkelheit. Kathleen hob das Totengewand auf und trat mutig an den Geist heran, der von Arthur noch immer festgehalten wurde. Dann begann sie mit einem Zipfel des Totengewandes der Gestalt die Schminke aus dem Gesicht zu wischen. »Harry Ramsgate!« stieß Kathleen ungläubig hervor, als sie das Gesicht des Notars endlich erkannte. »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, mich so zu erschrecken?« »Ich… ich werde Ihnen alles erklären«, stammelte der Notar. »Aber bitte sagen Sie diesem Raufbold, daß er mich endlich loslassen soll!«
»Wie sind Sie mir überhaupt auf die Schliche gekommen?« wollte Harry Ramsgate wissen. Der Notar saß zusammengesunken auf der Kante des Himmelbetts und wischte sich mit dem Totengewand die Reste der weißen Theaterschminke aus dem Gesicht. »Nachdem Kathleen mir von der Geistererscheinung erzählt hatte, habe ich mich sehr genau umgesehen«, erklärte Arthur. »Ich habe die Manipulationen an den Fenstern entdeckt, die Sie vorgenommen hatten, um sie auch dann noch geräuschlos öffnen zu können, wenn sie jemand von innen verschlossen hatte. Das Seil, das Sie benutzten, um in Kathleens Fenster einsteigen zu können, habe ich in dem Raum gefunden, der direkt unter diesem hier liegt. Dort hinein sind Sie wahrscheinlich auch verschwunden, nachdem sie einen Sturz aus dem Fenster vorgetäuscht hatten. Ich brauchte also nur noch darauf zu lauern, daß das Gespenst wieder erscheint, um herauszufinden, wer sich hinter der Maske verbirgt…« »Aber wozu haben Sie diesen ganzen Aufwand überhaupt betrieben?« fragte Kathleen ungeduldig dazwischen. »Ich konnte es einfach nicht ertragen, daß die Mörder von Martha auch noch ihren Besitz erben sollten«, erklärte Harry Ramsgate mit verbitterter Miene. »Aber die Polizei geht doch davon aus, daß Martha Lynch wirklich Selbstmord begangen hat«, erwiderte Arthur grimmig. »Eben«, stieß der Notar hervor. »Agnes und Bob Leven ist dieser Mord nie nachgewiesen worden. Aber ich weiß genau, daß Martha nicht freiwillig aus dem Leben schied.« »Sie haben Martha geliebt. Habe ich recht?« ließ Kathleen sich vernehmen. Harry Ramsgate sah sie überrascht an, dann nickte er traurig. »Martha und ich wollten heiraten«, gestand er. »Wir beide waren selbst sehr überrascht darüber, daß wir uns in unserem fortgeschrittenen Alter noch einmal verliebt hatten. Aber es
war geschehen. Martha und ich hätten eine glückliche und ausgefüllte Zeit vor uns gehabt. Martha wollte noch vor unserer Hochzeit ihr Testament ändern lassen. Die Levens hatten Martha in ihren schwersten Stunden der Einsamkeit dazu überredet, sie als Erben für den gesamten Besitz einzusetzen. Auf diese Weise lernte ich Martha überhaupt erst kennen. Sie kam in mein Notariat, um dieses Testament aufsetzen zu lassen. Ich habe ihr damals dazu geraten, eine Klausel in das Dokument aufzunehmen, demzufolge ein Verwandter, falls noch einer gefunden werden sollte, das Anwesen erben sollte. Die Levens würden dann ihre Ansprüche verlieren. Doch nun, wo Martha ihre Liebe neu entdeckt und neue Lebensfreude gefunden hatte, wollte sie nicht länger, daß die Levens ihren Besitz erben sollten. Diesen Passus wollte sie gänzlich aus dem Testament streichen.« Harry Ramsgate legte eine Pause ein. Langsam, aber mit geschickten Händen begann er, sich die Kontaktlinsen aus den Augen zu entfernen. Sie bestanden lediglich aus einer hauchdünnen Spiegelfolie und waren verantwortlich für den schauerlichen Effekt der gleißenden Augen, der Kathleen in Angst und Schrecken versetzt hatte. »Die arme Martha hatte darauf bestanden, den Levens von ihrem Vorhaben zu erzählen«, fuhr der Notar fort. »Sie glaubte es ihnen schuldig zu sein, da sie in einer harten Zeit Martha als einzige Freunde zur Seite gestanden hätten. Sie war wirklich eine ehrliche Frau. Aber diese Ehrlichkeit wurde ihr zum Verhängnis. Denn in der Nacht, bevor Martha das Testament unwiderruflich ändern wollte, stürzte sie plötzlich aus dem Fenster.« Der Notar sah mit tränenfeuchten Augen zu Kathleen auf. »Sie müssen zugeben, daß es anhand dieser Tatsachen unsinnig ist, an einen Selbstmord zu glauben.«
Kathleen begann der Notar leid zu tun. Sie war fest davon überzeugt, daß er mit seinem Verdacht richtig lag. Bob und Agnes Leven hatten Martha Lynch wirklich umgebracht. Und dennoch hegte sie einen leichten Groll gegen den Notar. Was er ihr angetan hatte, war unverzeihlich. »Warum haben Sie mich in diese ganze Geschichte mit hineingezogen?« wollte sie wissen. Harry Ramsgate sah sie an und lächelte traurig. »Als ich begriff, daß die Levens ungeschoren davonkommen würden, setzte ich alle Hebel in Bewegung, ihnen doch noch einen Strich durch die Rechnung zu machen. Im Testament gab es immer noch die Klausel, daß ein Verwandter, wenn es denn einen geben sollte, das gesamte Vermögen von Martha Lynch erben würde. Es kostete mich über ein Jahr harte Arbeit, diesen Verwandten ausfindig zu machen. Und das sind Sie. Kathleen Truman!« Harry Ramsgate zog sich die weißhaarige Perücke vom Kopf und fuhr fort: »Bevor ich Sie über die Erbschaft informieren wollte, habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen und Sie beobachtet. Leider habe ich mich dabei so ungeschickt angestellt, daß Sie mich bemerkten. Aber die Mühe hatte sich gelohnt, denn wie es aussah, hatte ich mit Ihnen ein Glückslos gezogen. Sie sind eine engagierte Geschichtsstudentin, die für ihre sorgfältigen und wissenschaftlich fundierten Recherchen bekannt ist. Ich schöpfte Hoffnung, daß Sie den Mord an Martha Lynch doch noch aufklären könnten. Also lockte ich Sie in das Herrenhaus und erschien Ihnen nachts als der Geist von Martha Lynch, um Sie auf den Mord aufmerksam zu machen.« »Und warum haben Sie Kathleen nicht einfach von Ihrem Verdacht erzählt, anstatt sie durch Ihre Spukerei zu verängstigen?« wollte Arthur verärgert wissen und zog
demonstrativ an dem Seil, mit dessen Hilfe der Notar unbemerkt in Kathleens Zimmer gestiegen war. »Wenn die Polizei mir schon nicht glaubte, warum hätte es dann Kathleen tun sollen? Und außerdem ist es schon der Polizei nicht gelungen, die Levens zu überführen. Ich benötigte also jemanden, der den Fall auf ungewöhnliche und unbelastete Weise anging. Kathleen schien mir dafür genau die Richtige zu sein.« Die junge Studentin seufzte. »Aber leider muß ich Sie enttäuschen. Ich habe nicht sehr viel in Erfahrung bringen können, bis auf eine Bemerkung, die ein unbekannter Mann in der Anwesenheit von Bob und Agnes fallenließ. Er hat gesagt, daß er von Anfang an dagegen gewesen sei, Martha einfach so aus dem Weg zu schaffen. Außerdem habe ich herausgefunden, daß die Berichte über die Poltergeister, die in diesem Haus ihr Unwesen treiben sollen, erst erschienen, nachdem Agnes und Bob sich das Vertrauen von Martha erschlichen hatten.« »Aber das beweist doch die Richtigkeit meines Verdachts!« rief der Notar aufgeregt. »Vor Gericht wird dies kaum als Beweis anerkannt werden«, gab Arthur zu bedenken. »Einen Versuch wäre es trotzdem wert«, erwiderte Harry Ramsgate. »Wir werden Ihnen helfen, den Mord zu beweisen, wenn meine Adoptiveltern ihn wirklich begangen haben«, sagte Arthur. »Was uns fehlt, das sind handfeste Beweise…« Plötzlich erstarrten die drei. Auf dem Korridor waren eilige Schritte zu vernehmen. Kurz darauf wurde an Kathleens Tür gerüttelt. Arthur hatte sie vorher verschlossen, damit das »Gespenst« nicht durch die Tür entwischen konnte. »Kathleen, mach auf! Wir wissen, daß du da drin bist!«
Das waren die Stimmen von Bob und Agnes Leven. Kathleen, Arthur und der Notar sahen sich einen Augenblick erschrocken an. Harry Ramsgate raffte schnell seine Sachen zusammen. »Die beiden dürfen mich auf keinen Fall sehen«, flüsterte er. »Sonst ist alles verloren.« Dann huschte er zum Fenster, ergriff das Seil und war gleich darauf verschwunden. Kathleen zog rasch den Vorhang zu. Die lauten Geräusche von der Tür her ließen vermuten, daß die Levens versuchten, sie mit Gewalt aufzubrechen. Im nächsten Augenblick gab die Tür auch schon splitternd nach. Agnes und Bob Leven drangen in das Zimmer ein. Bob hielt einen Revolver in der Hand. »Was hat das Ganze zu bedeuten?« brauste Arthur auf. »Wir stören euch doch nicht etwa bei einem Schäferstündchen?« fragte Agnes höhnisch. »Ich wäre untröstlich, wenn ich euch um euer letztes Vergnügen gebracht hätte. Ihr werdet nämlich den nächsten Morgen nicht mehr erleben!« »Ihr scherzt wohl«, sagte Arthur fassungslos. Schützend stellte er sich vor Kathleen. »Durchaus nicht«, erklärte Agnes, die neben ihrem Mann stand, der den Revolver auf die beiden jungen Leute gerichtet hielt. »Gestern haben wir eine Nachricht von unserem Rechtsanwalt erhalten. Er sieht für uns keine Chance, daß wir das Anwesen behalten dürfen. Kathleen wird alles erben. Leider waren unsere ganzen Maßnahmen, mit denen wir versucht haben, Kathleen dazu zu bringen, auf die Erbschaft zu verzichten, erfolglos. Es hat Bob einige Mühe gekostet herauszufinden, auf welch tragische Weise Kathleens Vater ums Leben gekommen ist. Die Inszenierung mit den Schlangen sollte eigentlich dafür sorgen, daß Kathleen entweder am Schlangengift stirbt oder aber durch dieses Ereignis so
geschockt wird, daß sie freiwillig auf das Herrenhaus verzichtet. Nur leider bist du dazwischengekommen und hast den Helden gespielt.« Mit diesen Worten wandte sie sich an Arthur. »Wenn du Kathleen nicht gerettet hättest, würden unsere Probleme schon längst gelöst sein. Aber du mußtest dich ja auch noch in diese Frau verlieben.« Agnes’ Blick war verächtlich auf Kathleen gerichtet. »Nun werden wir der Sache eben etwas nachhelfen müssen«, fuhr Bob anstellte von Agnes fort. »Die Schlangen warten im Keller auf euch. Und diesmal wird niemand dasein, der ihr Werk verhindert.« Kaum hatte Bob ausgesprochen, ging Arthur auch schon wütend auf seinen Adoptivvater los. Aber Bob reagierte eiskalt. Ehe der junge Mann ihn erreichen konnte, drückte er den Abzug seiner Waffe durch. Der Knall des Schusses erfüllte den ganzen Raum. Arthur stürzte getroffen zu Boden. Mit einem entsetzten Aufschrei warf sich Kathleen auf den jungen Mann. Tränen schossen ihr in die Augen. Aber dann begann Arthur sich plötzlich unter ihr zu regen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah er sie an und murmelte beruhigende Worte. Seine Hand hatte er gegen die rechte Schulter gedrückt. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Kathleen atmete erleichtert auf. Arthur lebte noch. Die Kugel hatte ihn nur in die Schulter getroffen. Aber im nächsten Moment wurde Kathleen brutal in die Höhe gerissen. »Gehen wir«, sagte Agnes kalt. »Die Schlangen warten auf euch!«
*
Der Kopf des Ebers blieb diesmal an seinem Platz, als Agnes die verzierte Tür im hinteren Teil der Eingangshalle aufriß. Agnes, die Kathleens mißtrauischen Blick bemerkte, mit dem sie den Eberkopf musterte, sagte: »Den Mechanismus, der den Kopf herabsausen läßt, wenn jemand die Türklinke betätigt, haben wir ausgeschaltet. Der Eberkopf ist nur eine von vielen Abwehrmaßnahmen, die unliebsame Besucher vom Keller fernhalten sollen.« Bob dirigierte Kathleen und den verwundeten Arthur die Kellertreppe hinab, die hinter der Tür in die Tiefe führte. Arthurs Schußwunde blutete immer noch. Bob und Agnes hatten Kathleen keine Zeit gelassen, die Wunde zu versorgen. Und so tropfte etwas von Arthurs Blut auf den Boden und hinterließ eine deutliche Spur. Aber Agnes und Bob schien dies nicht zu kümmern. Sie führten die beiden jungen Leute die lange Kellertreppe hinab, bis sie endlich in dem Gewölbe angelangt waren. Während Bob die beiden mit seinem Revolver in Schach hielt, öffnete Agnes eine schwere Eisentür. Dahinter befand sich ein großer Raum, der mit Neonröhren hell erleuchtet war. Dort hinein wurden Kathleen und Arthur gestoßen. Die junge Studentin glaubte ihren Augen nicht trauen zu dürfen, als sie sich in dem großen Raum umsah. Eine große, kompliziert aussehende Druckmaschine nahm eine ganze Wand ein. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein langer Arbeitstisch, übersät mit allen möglichen Utensilien. Quer durch den Raum war eine Wäscheleine gespannt. Jemand hatte ein ganzes Dutzend Dollarnoten mit Wäscheklammern daran befestigt.
»Ihr seid Geldfälscher!« stieß Arthur verblüfft hervor. »Darum also wolltet ihr nicht, daß jemand den Keller betritt. Eure Druckerei hätte entdeckt werden können.« »Schlaues Bürschchen«, bemerkte Agnes mit schneidender Stimme. »Wir hatten immer gehofft, daß du irgendwann in unsere Fußstapfen treten würdest. Irgendwann, wenn wir uns deiner Loyalität sicher gewesen wären, hätten wir dich in dieses Geheimnis eingeweiht. Aber du mußtest dich ja in diese dumme Gans verlieben und alles verderben. Die Konsequenzen, die dir nun daraus erwachsen, hast du dir selbst zuzuschreiben!« Kathleen dämmerte allmählich, was der unbekannte Mann in der schwarzen Limousine von den Levens gewollt hatte. Es ging um die Blüten, die Bob und Agnes in ihrem Keller herstellten. Ohne es zu ahnen, war sie mitten in einen Ring von Verbrechern geraten. Sie war sich sicher, daß selbst Harry Ramsgate von den Machenschaften der Levens nichts wußte. Bei dem Gedanken an den Notar schnürte es ihr die Kehle zusammen. Er war ihre einzige Hoffnung. Aber eine äußerst schwache Hoffnung. Kathleen wußte nicht einmal, ob Harry Ramsgate irgendeinen Versuch machen würde, sie zu retten. Vielleicht befand er sich in diesem Augenblick auf dem Heimweg nach Minehead, nicht ahnend, was sich in diesen Minuten im Keller des Herrenhauses abspielte. Und selbst wenn er Hilfe herbeiholen sollte – würde diese Hilfe noch rechtzeitig eintreffen? Kathleen zweifelte daran, denn Agnes zog plötzlich eine Holzkiste unter der Arbeitsplatte hervor. Kathleen erkannte diese Kiste sofort wieder. Es war jene, in der die Kreuzottern gefangengehalten wurden. »Ihr werdet nicht lange leiden müssen«, erklärte Agnes, während sie den Deckel der Kiste öffnete. »Die Schlangen
verfügen über genügend Gift, um euch innerhalb weniger Stunden zu töten.« Arthurs Muskeln spannten sich. Er war kurz davor, sich auf Agnes zu stürzen. Aber Bob hatte den Revolver direkt auf den jungen Mann gerichtet. Und seinem entschlossenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde Bob keine Sekunde zögern, einen zweiten Schuß auf Arthur abzugeben. Auch Arthur schien dies erkannt zu haben. Er zwang sich zur Ruhe. Und an Agnes gewandt, sagte er: »Wenn ihr vor Mord nicht zurückschreckt, dann habt ihr gewiß auch die arme Martha Lynch auf dem Gewissen!« »Wir morden nur, wenn uns die Umstände dazu zwingen«, erklärte Agnes leichthin. »Und Martha Lynch hat uns dazu gezwungen, als sie den Beschluß faßte, das Anwesen nicht mehr an uns zu vererben. Schon lange suchten Bob und ich einen idealen Platz zum Arbeiten. Als wir auf dieses Anwesen stießen, wußten wir sofort, daß die Voraussetzungen nicht hätten besser sein können. Wir haben viel Arbeit darauf verwendet, das Herrenhaus in Verruf zu bringen. Aufgrund unserer Tricks kam bald das Gerücht auf, daß es hier Poltergeister geben sollte. Auf diese Art wollten wir uns neugieriges Personal und Besucher vom Hals halten – was ja auch hervorragend geklappt hat! Sollten wir dies nun alles aufgeben, nur weil Martha Lynch sich plötzlich in diesen halbglatzigen Notar verliebt hatte?« Agnes stieß ein trockenes, rauhes Lachen aus. »Und nun habt auch ihr uns dazu gezwungen, eurem Leben ein Ende zu setzen. Warum hat Kathleen sich durch unsere Tricks mit dem Eberkopf und den Kreuzottern auch nicht vertreiben lassen? Nun ist es für Reue zu spät. Und auch für dich, mein lieber Arthur, wird es keine Zukunft mehr geben. Du hast uns enttäuscht und wirst neben deiner Geliebten sterben. Stellt euch nur vor, wie rührend es sein muß, wenn man euch
irgendwo im Moor findet! Eng umschlungen und gemeinsam am Gift der tückischen Kreuzottern gestorben.« Mit diesen Worten stieß sie die Kiste um und eilte mit raschen Schritten an die Seite ihres Mannes. Bob hatte seinen Revolver immer noch auf die beiden jungen Leute gerichtet und hielt sie so in Schach. Die Kreuzottern schlängelten wütend zischelnd über den Boden. Die Gefangenschaft in der engen Kiste hatte sie aggressiv gemacht. Und während sich Bob und Agnes langsam aus dem Raum zurückzogen, näherten sich die Reptilien Kathleen und Arthur… Plötzlich entstand auf der Kellertreppe Unruhe. Stimmen waren zu hören und hastige Schritte. Bob und Agnes wirbelten herum. Aber bevor sie begriffen, was vor sich ging, hatten die Polizisten die beiden Verbrecher auch schon überrumpelt und Bob den Revolver aus der Hand gewunden. Den beiden Verliebten blieb nicht viel Gelegenheit, sich über die glückliche Wendung zu freuen. Die Schlangen stellten immer noch eine Bedrohung für sie dar. Arthur hob Kathleen kurzerhand auf seine Arme. Den Schmerz in seiner Schulter versuchte er dabei zu ignorieren, denn es galt die Frau zu retten, die er liebte. Schon hatten die ersten Schlangen seine Stiefel erreicht. Ihm gelang es noch, die erste Kreuzotter zu zertreten. Aber schon schoben sich weitere Reptilien vor, glitten raschelnd über Arthurs Schuhspitze. Eine von ihnen versuchte sogar, ihre Zähne in das Schuhleder zu bohren. Aber das Leder war zu dick, und die gifttriefenden Zähne rutschten immer wieder ab. »Du darfst dich nicht bewegen!« rief plötzlich jemand von der Tür herüber. Kathleens Blick löste sich von den Schlangen. In der Tür stand Harry Ramsgate, der Notar. In seinem Gesicht befanden sich immer noch Reste von weißer Theaterschminke.
Hastig blickte der Notar sich in dem Raum nach etwas um, womit er den beiden jungen Menschen zu Hilfe eilen konnte. Sein Blick fiel schließlich auf einen Behälter. Das Etikett wies darauf hin, daß sich eine ätzende Flüssigkeit darin befand. Agnes und Bob hatten sie für die Arbeit an der Druckmaschine benötigt. Mit fliegenden Händen öffnete Harry Ramsgate den Verschluß des Behälters und verschüttete den giftgrünen Inhalt über den Boden. Die Flüssigkeit umspülte Arthurs Schuhe. Die Schlangen, die mit der übelriechenden Säure in Berührung kamen, begannen sich wie hilflose Würmer zu winden. Arthur zögerte keine Sekunde. So schnell er konnte, rannte er aus dem Gefahrenbereich und befand sich kurz darauf mit seiner kostbaren Last in Sicherheit.
*
Ein Polizeiauto hatte Bob und Agnes Leven ins Gefängnis nach Exmoor abtransportiert. Kathleen, Arthur, der Notar und die beiden anderen Polizisten standen draußen vor dem Herrenhaus. Einer der Beamten hatte Arthurs Schulterwunde versorgt. Der junge Mann hatte Glück gehabt. Die Kugel hatte keine ernsthaften Verletzungen hervorgerufen. Sein rechter Arm hing nun in einer weißen Schlinge, mit dem anderen hielt er Kathleen umschlungen. Am Horizont kündigte sich fahl der neue Morgen an. »Als ich den Schuß vernommen habe, wußte ich sofort, daß ich keine Sekunde länger zögern durfte«, erklärte Harry Ramsgate in diesem Augenblick nicht ohne Stolz. »Mein Auto stelle ich immer in einem nahen Wald ab, wo es von niemandem gesehen werden kann. Ich bin gerannt, so schnell
meine alten Knochen es erlaubten, und habe über mein Autotelefon die Polizei in Exford alarmiert. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis die Beamten endlich erschienen. Als wir dann das Herrenhaus stürmten, ist mir sofort die Blutspur aufgefallen, die zum Keller führte. Auf diese Weise konnten wir euch doch noch rechtzeitig retten!« Kathleen und Arthur standen eng umschlungen da und betrachteten den heller werdenden Horizont. Die Worte des aufgeregten Notars nahmen sie nur am Rande wahr. Kathleen wußte, daß sie nie wieder von Arthurs Seite weichen würde. Und die kosende Hand, die ihr liebevoll durch das Haar strich, verriet ihr, daß Arthur genauso fühlte wie sie.