Tatsachen 266
Peter Kaiser, Norbert Moc, Heinz-Peter Zierholz
Mord in Nowawes
Aus: Kaiser, Moc, Zierholz „Der Mörder...
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Tatsachen 266
Peter Kaiser, Norbert Moc, Heinz-Peter Zierholz
Mord in Nowawes
Aus: Kaiser, Moc, Zierholz „Der Mörder war sein bester Mann», Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1983 © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB)-Berlin, 1984 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Lektor: Helge Paulus Umschlag: Hanne Mesik Typograf: Ingeburg Zoschke Burgschmietstr. 2-4,90419 Nürnberg
Gebannt starrte das Dienstmädchen Minna Goldmann auf die Straße. »Frau Kommerzienrat«, rief sie, »das große Auto, das in der letzten Zeit schon dreimal vor der Villa von Frau Doktor Lippmann gestanden hat, ist vor ein paar Minuten drüben bei Nummer vier vorgefahren, wo der Herr General Schleicher wohnt. Fünf junge Männer sind ausgestiegen und in das Haus gegangen.« Frau Hirschfeld, von Neugier getrieben, trat ans Fenster und stellte sich neben ihr Hausmädchen. Wahrhaftig, da stand ein großer rotbrauner Personenwagen, das Verdeck halb zurückgeklappt. Am Steuer saß ein junger Mann im hellgrauen Anzug. Trotz der Sonnenbrille, die er trug, sah man, daß er den Eingang zum Haus Nummer vier scharf beobachtete. Plötzlich krachten deutlich mehrere Schüsse. Die beiden Frauen am Fenster fuhren erschreckt zusammen und starrten wie gebannt hinaus. Die Tür des gegenüberliegenden Hauses wurde aufgerissen, fünf junge Männer eilten auf die Straße und warfen sich in den wartenden Wagen; der Motor heulte auf, die Reifen radierten auf dem Pflaster. Kurz darauf herrschte in der Griebnitzstraße in Neubabelsberg wieder die gewohnte Ruhe. Unwillkürlich sah Minna Goldmann zum großen Regulator in der Zimmerecke, der mit seinem tickenden Pendel die plötzliche Stille in kleine Stücke zerschnitt: Es war 12 Uhr 35 Minuten. Man schrieb Samstag, den 30. Juni 1934. Als sich Frau Hirschfeld von ihrem Schreck erholt hatte, stürzte sie zum Telefon. Gendarmeriewachtmeister Scheele hatte sein Mittagsmahl gerade beendet, als das Telefon läutete. Er riß den Hörer von der Gabel und nannte vorschriftsmäßig Dienstgrad, Namen und Aufenthaltsort. Es knackte einige Male in der Leitung, bevor sich am anderen Ende Gendarmeriehauptwachtmeister Baumgarten meldete. »Scheele, hörst du mich?« fragte er, jegliche Dienstvorschrift außer acht lassend, »komm sofort und auf kürzestem Wege zur Wohnung des Generals von Schleicher! Er ist überfallen worden!« »Wer?« fragte Scheele ungläubig zurück. »General von Schleicher. Frag nicht lange und komm her, verdammt noch mal!«
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»Zu Befehl!« Scheele warf den Hörer auf den Apparat, legte Koppel und Schulterriemen an, setzte die Mütze auf und eilte davon. Vor der Villa Schleichers empfing ihn Hauptwachtmeister Kittendorf. »Eine schöne Bescherung am Samstag. Der General ist tot, aber seine Frau atmet noch. Es hat sie schwer erwischt. Der Krankenwagen ist eben gekommen. Vielleicht kann man sie noch retten.« Scheele nickte und ging ins Haus, wo Hauptwachtmeister Baumgarten vergeblich versuchte, von der Köchin des Generals, der dreiundfünfzig Jahre alten Marie Güntel, einiges über das Vorgefallene zu erfahren. Die Hausangestellte hockte apathisch auf der zum ersten Stock des Hauses führenden Treppe, stierte zu Boden und sagte in ihrem breiten ostpreußischen Dialekt immer wieder nur: »Mein Jott, mein Jott, einfach iber den Haufen jeschossen!« Baumgarten befahl dem Wachtmeister, ins Wohnzimmer zu gehen, wo der aus Neubabelsberg telefonisch herbeigerufene Arzt Doktor Starke die Leiche des Generals untersuchte. »Ich habe den Oberstaatsanwalt von Potsdam und die Kriminalpolizei verständigt«, erklärte Baumgarten, »und hoffe, daß die Herren bald eintreffen, um die Ermittlungen in die Hand zu nehmen. Sieht ganz nach einem geplanten Mord aus.« Als Scheele ins Wohnzimmer trat, sagte der Arzt: »Gut, daß Sie kommen, Herr Wachtmeister, Sie können mir helfen, meinen Untersuchungsbefund zu Papier zu bringen. Es ist zwar ein bißchen ungewöhnlich, aber so geht es schneller. Sind Sie bereit?« Scheele bejahte, sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, kramte aus der Uniformjacke umständlich Notizbuch und Bleistift hervor und schrieb nieder, was ihm der Arzt diktierte: »Vorläufiges ärztliches Gutachten: Der Tote liegt auf dem Rücken. Hemd und Unterhemd auf der Brust offen, ebenso der Kragen vorne offen. Krawatte ebenfalls gelöst. An der rechten Halsseite oberhalb des inneren Endes des Schlüsselbeinknochens kleine Einschußwunde. An der linken oberen Brustseite zwei Schußwunden in einer Entfernung von etwa fünf bis sechs Zentimetern, die innere etwa vier Querfinger breit unterhalb des linken Schlüsselbeinknochens, die zweite an der Grenze nach der linken Achselhöhle. Aus dem Munde des Toten fließt Blut. Eine vierte
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Schußverletzung findet sich an der rechten vorderen Achselhöhlenlinie.« Mit geschickten Bewegungen veränderte der Arzt die Lage des Toten. Dann diktierte er weiter: »Eine fünfte Schußwunde findet sich an der Rückseite des rechten Schultergelenks. Eine sechste Schußwunde am inneren Rand des rechten Schulterblattes. Eine siebte Schußwunde befindet sich an der Außenseite des rechten Oberarms, etwa in der Mitte. Den Schußverletzungen am Körper entsprechen die Durchschläge durch die Kleidungsstücke. Anzeichen für Schüsse aus allernächster Nähe sind nicht vorhanden. Inwieweit die einzelnen Schußverletzungen nun Ein- oder Ausschüssen entsprechen, kann bei der Kleinheit des Kalibers nicht entschieden werden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dürfte Unfall oder Selbstmord ausgeschlossen sein. Näheres kann nur durch eine Obduktion geklärt werden.« Scheele legte den Stift beiseite. »Abgeschossen wie ein Kaninchen auf der Treibjagd?« fragte er den Arzt. Doktor Starke nickte. »Über den Haufen geknallt wie einen räudigen Hund. Elende feige Bande!« »Waren es mehrere?« »Fünf, wie ich gehört habe. Müssen schon eine Heidenangst vor dem früheren Reichswehrminister und Reichskanzler gehabt haben, wenn sie mit solchem Aufgebot anrücken, um ihn umzubringen. Na, mir soll's egal sein. Bitte seien Sie so nett, Herr Wachtmeister, und tippen mir das Gutachten ausnahmsweise auf Ihrer Schreibmaschine ab. Ich habe noch eine Menge Hausbesuche zu machen und komme dann am Nachmittag vorbei und unterschreibe. Dann sollen die Herren von der Kriminalpolizei damit machen, was sie wollen. Bis dann.« Doktor Starke nahm seine Tasche und verließ das Zimmer. Wachtmeister Scheele faltete das Papier sorgfältig zusammen, steckte es in die Brusttasche seiner Uniformjacke und trat auf den Flur, um sich neue Aufträge vom Hauptwachtmeister Baumgarten zu holen. Baumgarten befragte gerade die Köchin Marie Güntel. Sie hatte noch immer ein unruhiges Flackern in den Augen, bemühte sich aber, die Fragen des Polizisten zu beantworten. Wachtmeister Scheele trat näher und hörte interessiert zu.
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»Fräulein Güntel, sind Sie schon lange hier im Haus tätig?« »Seit mehr als fünf Jahren bin ich Köchin bei General von Schleicher.« »Was geschah heute, Fräulein Güntel? Erzählen Sie!« Baumgarten hatte neben ihr auf der Treppe Platz genommen und kritzelte ihre stockend vorgetragenen Antworten in sein Notizbuch. »Heite? So etwa jejen die Mittagsstunde, es kann halb eins jewesen sein, hab' ich vor dem Jartentor zwei Herren beobachtet. Ein bißchen entfernt standen noch drei junge Männer an einem braunen Auto, und sie sahen direktemang zu unserm Haus herüber. Ich machte dat Fenster auf und fragte die zwei vor dem Jartentor nach ihrem Anliegen. Sie müßten unbedingt zu Herrn General von Schleicher, sagten sie.« »Haben Sie auch gefragt, was sie von ihm wollten?« »Leider nicht.« »Aber später haben sie einen Grund für ihren Besuch genannt?« »Ein paar Gründe sogar. Bloß eben falsche, wie sich bald zeigte. Ich setzte den elektrischen Türöffner der Gartenpforte in Betrieb. Die beiden Männer kamen dann zur Eingangstür der Villa, wo sie wieder klingelten. Einer der beiden Herren fragte, ob General von Schleicher zu Hause wäre.« »Haben Sie sie dann eingelassen?« »Natürlich nicht«, entgegnete Marie Güntel, entrüstet, daß man ihr so wenig Gespür zutraute. »Mir kam dat allens nich janz jeheuer vor. Der Herr General ist mit seiner Frau spazierenjejangen, sagte ich.« »Das haben sie aber wohl nicht geglaubt?« »Nee, Herr Wachtmeister, ich habe es wohl auch ohne rechte Iberzeujung jesagt. Der Streit ging noch eine Weile hin und her. Dann aber wurde der eine der Herren energisch. Richtig im Befehlston verlangte er, zum Herrn General vorjelassen zu werden. Dabei zeigte er irjendeine viereckige Blechmarke vor, bloß - jenau betrachtet hab ich sie mir nich. Ich blieb einfach in der Tür stehen. Da sagte der Herr, und seine Stimme zitterte vor Wut, wenn ich ihn noch lange belügen würde, sei ich in jrößter Gefahr.« »Da bekamen Sie es mit der Angst zu tun und ließen ihn ein?« fragte Scheele dazwischen.
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»Nicht aus freien Stücken, nee, nee. Zuerst erwiderte ich ihm, jetzt müßte ich doch mal nachsehen, vielleicht sei der Herr General doch da. Dann wollt' ich dem Herrn die Tür vor der Nase zumachen, doch er stellte seinen Fuß hinter die Schwelle, schob die Haustür wieder auf und herrschte mich an, ich soll endlich voranjehen und den Herrn General suchen. Also jing ich zum Arbeitszimmer des Herrn von Schleicher. Ich wußte ja, daß er dort war. Beiden Herren waren mir auf dem Fuße jefolgt. Voran der Mann, mit dem ich jesprochen hatte, direkt hinter ihm der andere, ein großer Blonder mit kurzgeschnittenen Haaren, fast wie bei einem Soldaten oder Offizier, verstehen Sie?« »Ja, ja, Fräulein Güntel, wir verstehen«, beeilte sich Hauptwachtmeister Baumgarten zu versichern und drängte die Köchin, in ihrem Bericht fortzufahren. Doch Marie Güntel sah wieder deutlich vor Augen, was sich eine knappe Stunde vorher zugetragen hatte. Sie brach erneut in Tränen aus, während sie stockend erzählte: »Ich trat ins Zimmer und sagte dem General, der am Tisch saß und schrieb, zwei Herren möchten ihn sprechen. Fast gleichzeitig fragte ihn der eine, ob er der General Kurt von Schleicher sei. Auf diese Frage hin, es ging ja alles so furchtbar schnell, wandte sich der General zu dem Herrn an der Tür um und bejahte. Da trat der andere junge Mann hinter dem Rücken seines Kameraden hervor, in der Hand einen kleinen Revolver. Vielleicht war es auch eine Pistole, ich kenn' mich da nicht aus. Als Herr von Schleicher diesen Mann erblickte, sah er ihn fast freudig an, so, als würde er ihn kennen und hätte ihn lange nicht jesehn, wissen Sie? Dabei rief er >Hallo, Bru ...!< Weiter kam er aber nicht, denn der Mann schoß in diesem Moment auf ihn, mehrmals hintereinander und mit janz verkrampftem Jesicht.« »Was geschah dann?« fragte Baumgarten atemlos. Marie Güntel hob bedauernd die Schultern: »Ich weiß nicht. Nichts weiß ich mehr. Nur jeschrien hab ich, laut jeschrien, vor Angst und Verzweiflung. Dann bin ich losjestürzt, aus dem Zimmer raus und durch den Flur in den Jarten. Ich könnte die Männer aber niemals beschreiben. Ich war viel zu aufjeregt und durcheinander, um mir ihre Jesichter zu merken.« »Und Frau von Schleicher?« »Erst später, als ich nach einigen Minuten wieder ins Zimmer kam,
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bemerkte ich, daß sie in einem Sessel am Radio jesessen hatte. Auch sie lag auf dem Fußboden, mit Kugeln im Leib, das arme Ding. Aber sie atmete noch. Das hat mich wieder auf die Beine jebracht. Doch als ich nach Hilfe laufen wollte, kamen Sie schon zur Tür herein. Herr Hauptwachtmeister. Nun wissen Sie alles, mehr kann nicht sagen.« Marie Güntel sah Baumgarten angsterfüllt an. Zur selben Zeit, als sich Baumgarten und Scheele bemühten, die Untersuchung in Gang zu bringen, ließ in Potsdam Oberstaatsanwalt Tetzlaff den Gerichtsassessor Doktor Grützner zu sich bitten. »Herr Oberstaatsanwalt haben mich rufen lassen?« Grützner blieb abwartend an der Tür stehen. »Ja, treten Sie näher, setzen Sie sich, es gibt Arbeit.« Der Gerichtsassessor ging zum Schreibtisch Tetzlaffs und nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Der Oberstaatsanwalt, der kurze Zeit vorher telefonisch mit Baumgarten gesprochen hatte, informierte Grützner in knappen Sätzen über die Ereignisse in Neubabelsberg. Er sprach dabei, als liege ihm eine schwere Last auf den Schultern. »Eine diffizile Sache, mein lieber Grützner. Immerhin war Schleicher ein politisch bedeutsamer Mann. Ich denke daher, wir sollten zu unserer Unterstützung schnellstens ein paar Spezialisten von der Berliner Kripo anfordern.« »Wenn Sie gestatten, Herr Oberstaatsanwalt«, wandte der Assessor ein, »ich halte das keineswegs für erforderlich.« »Wieso?« »Einfach deshalb, weil, wie Sie selbst wissen, der Leiter unserer Potsdamer Kriminalpolizei, Kriminalrat Werneburg, ein allgemein anerkannter Spezialist in Mordsachen ist und den Fall durchaus selbst übernehmen kann.« »Richtig!« räumte Tetzlaff widerwillig ein. »Daran hatte ich nicht gleich gedacht. Rufen Sie den Herrn Kriminalrat an, und bestellen Sie dann bei der Polizei einen Kraftwagen, der uns schnellstens nach Neubabelsberg bringt. Ich werde inzwischen den Leiter der Potsdamer Staatspolizeileitstelle, den Herrn Polizeipräsidenten Graf Helldorf, über den Vorfall informieren. Daß wir bloß bei dieser Geschichte keinen
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Fehler machen, Grützner!« Grützner hatte den Kriminalrat nicht erreichen können, doch Kriminalkommissar Schwenzer vom Polizeipräsidium bat darum, die Herren möchten auf dem Weg zum Tatort beim Präsidium vorbeikommen. Wenig später erschien der Kraftwagen, Grützner fuhr los. Auf dem Hof des Präsidiums traf er alle Beamten, die mit der Aufklärung des Verbrechens zu tun haben sollten: den Oberstaatsanwalt Tetzlaff sowie die Herren der Mordkommission mit Kommissar Schwenzner. Grützner fragte ungeduldig: »Fahren wir, Herr Kommissar?« Schwenzner schüttelte den Kopf. »Geht nicht.« »Wieso?« »Alarm!« »Auch das noch! Und weshalb?« Schwenzner zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: »Ich bin für solche Auskünfte nicht kompetent, Grützner! Heben Sie sich Ihre Frage für später auf. Sie ist schwer zu beantworten.« Nach etwa dreißig Minuten wurde der Alarm beendet. Die Männer der Mordkommission bestiegen die Fahrzeuge. Während der Fahrt wandte sich Grützner an Schwenzner: »Wissen Sie schon Näheres über diese merkwürdige Geschichte, Herr Kommissar?« »Nichts, was Sie nicht auch wüßten, Grützner. Kein Jota mehr.« »Aber Sie haben so Ihre eigenen Gedanken zu dem Fall?« »Und ob!« Stolz und Zurückhaltung schwangen in Schwenzners Stimme mit. »Darf man fragen, welche?« »Darf man nicht, Grützner! Ich bin doch nicht so blöd, Ihnen auf die Sprünge zu helfen. Gebrauchen Sie Ihren akademisch gebildeten Kopf! Denken Sie ein bißchen nach, Herr Assessor!« Schwenzner klopfte dem jungen Gerichtsbeamten freundschaftlich auf die Schulter. »Soll ich über General von Schleicher nachdenken, Kommissar?« »Auch.« Schwenzner nickte. »Doch das reicht nicht.« »Über wen noch?« »Denken Sie mal über das nach, was seit dem dreißigsten Januar
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vorigen Jahres schon alles in Deutschland geschehen ist«, flüsterte Schwenzner. »Ach, Grützner«, fuhr er, plötzlich lauter werdend, fort, »lassen Sie's bleiben! Sie sind so schön jung und unbekümmert. Es schadet Ihnen nur, wenn Sie sich zu tief in den Strudel der Politik wagen.« »Wir dürften, denke ich, schon mittendrin sein, Herr Kommissar. Hier ist das Haus, in dem der Mord geschah.« »Wer spricht denn von Mord?« »Das können wir ja feststellen, recht eindeutig sogar, wenn ich nicht irre.« »Tun Sie's, in Gottes Namen, Grützner! Ran an die Arbeit!« Oberstaatsanwalt Tetzlaff leitete die Untersuchung und wies die Beamten der Mordkommission Potsdam in ihre Aufgaben ein. »Was wollen Sie denn?« herrschte er fast im selben Atemzug Wachtmeister Scheele an, der sich ihm strammem den Weg stellte. »Gendarmeriewachtmeister Scheele zu Ihrer Verfügung, Herr Oberstaatsanwalt«, meldete der. »Na prima«, Tetzlaff vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, »führen Sie mich zur Leiche, und machen Sie mich mit dem untersuchenden Arzt bekannt!« »Herr Doktor Starke ist nicht mehr anwesend.« Scheele war die Korrektheit in Person. »Was soll das heißen?« »Herr Doktor Starke hat mir seinen vorläufigen Leichenbefund diktiert und ist dann abgefahren. Der Befund muß noch geschrieben und unterzeichnet werden.« »Na, denn mal los! Wenn das Gutachten fertig ist, schaffen Sie uns den Arzt zur Unterschrift ran! Und jetzt kommen Sie!« »Zu Befehl, Herr Oberstaatsanwalt!« Scheele salutierte. Gerichtsassessor Doktor Grützner hatte sich inzwischen ins Arbeitszimmer des Generals begeben und mit der Untersuchung begonnen. In einer Niederschrift, die er fast achtzehn Jahre später, am 18. Januar 1952, anfertigte, heißt es dazu: »Am Tatort angekommen,
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überließ Oberstaatsanwalt Tetzlaff mir die kriminalistischen Ermittlungen, die ich mit Rücksicht auf das vorhergegangene Gespräch mit Kriminalkommissar Schwenzner auf folgende Punkte konzentrierte: 1. Hat General von Schleicher Selbstmord begangen? 2. Liegen Anhaltspunkte vor, daß General von Schleicher sich an etwaigen hochverräterischen Unternehmungen von Röhm beteiligt hat?« Mit der zweiten Frage hatte sich der junge, tatendurstige Mann wohl doch ein zu hohes Ziel gestellt. Selbst wenn auch bis zu ihm in den Mittagsstunden schon die eine oder andere Nachricht über die große Verhaftungswelle gegen hohe SA-Führer durchgesickert war, war es vermessen, zwischen Schleicher und dem Stabschef der SA, Röhm, Verbindungen suchen zu wollen und obendrein noch zu hoffen, dokumentarisches Material für »Hochverrat« sicherstellen zu können. Vor ihm lag immerhin die Leiche eines Mannes, der über viele Jahre hinweg maßgeblich die Geschichte der Weimarer Republik mitgeschrieben hatte. Kurt von Schleicher war 1882 geboren worden. Sein Großvater war Abgeordneter des Preußischen Landtages und fanatischer Royalist, sein Vater preußischer Oberstleutnant. Schon mit siebzehn Jahren war Schleicher Leutnant im 3. Garderegiment zu Fuß, dem er elf Jahre lang angehörte. 1911 berief ihn Groener, der spätere Reichswehrminister, damals noch Chef der Eisenbahnabteilung, in den Großen Generalstab und zog ihn bald in seine unmittelbare Nähe. Bei Ausbruch des ersten Weltkriegs kam Schleicher als Leiter des Büros des Generalquartiermeisters ins Große Hauptquartier, von da ging er wieder zu Groeners Stab in die Heeresleitung. An der Front war er nur kurze Zeit, als Generalstäbler bei der 237. Infanteriedivision. Er war kein »offener« Kämpfer, sondern ein Mann, der sich lange im Hintergrund halten, der auf seine Chance warten konnte, ohne dabei allerdings untätig zu sein. Fast alle Politiker, mit denen er zu tun hatte, haben ihn unterschätzt und sind schließlich seiner Ironie und seinem Zynismus unterlegen. Zwei Regierungen hat er in den Jahren zwischen 1918 und 1933 gestürzt und neue an ihrer Stelle in den Sattel gehoben. Die Staatsgeschäfte selbst hat er in der Funktion des Reichskanzlers erst zum Schluß übernommen, wohl auch dank
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seiner guten Beziehungen zum Reichspräsidenten von Hindenburg, mit dessen Sohn er schon seit der Zeit im Garderegiment befreundet war. Sein Ziel war es immer, Deutschland zu militarisieren und »wehrhaft« zu machen, den Versailler Vertrag zu umgehen, zu rüsten, die Reichswehr zum Machtfaktor auszubauen, koste es, was es wolle. Davon zeugen verschiedene Dokumente, die im Zusammenhang mit Schleichers Namen in die Geschichte eingegangen sind. So schrieb er, damals noch Major, am 1. Dezember 1918 einen Brief an einen ungenannt gebliebenen Empfänger. Darin entwickelte er das Programm der Obersten Heeresleitung anläßlich des Einmarsches von zehn bewaffneten Divisionen am zehnten Dezember in Berlin. Vom Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, dem späteren Reichspräsidenten Ebert, forderte Schleicher in diesem Programm unter anderem, er solle in seiner Begrüßungsrede kundtun, die Truppen seien nicht vom Feind überwunden worden, sondern kehrten unbesiegt heim. Ebert hielt sich nahezu an den geforderten Wortlaut und sagte: »Kein Feind hat uns überwunden. Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben.« Zwölf Jahre später trat Schleicher mit einem reaktionären innenpolitischen Programm der Reichswehrführung auf den Plan, das zum Sturz der Hermann-Müller-Regierung führte. Dieses Programm knüpfte an frühere antirepublikanische Pläne des Imperialismus an und sah vor, die Sozialdemokratische Partei aus der Regierung auszuschließen. Es war der Ausdruck beginnender Neuorientierung der Monopolbourgeoisie von der bürgerlich-parlamentarischen zu einer totalitären Herrschaft. Im Juni 1932 überreichte Reichswehrminister von Schleicher dem Auswärtigen Amt ein Aufrüstungsprogramm der Reichswehr. Darin wurden abgestufte Wehrdienstzeit, Erhöhung der Heeresstärke, Ausrüstung der Reichswehr mit nach dem Versailler Vertrag verbotenen Waffen sowie die Aufstellung einer Miliz mit kurzer Dienstzeit gefordert. Die Deklaration fiel genau in die Zeit der Lausanner Abrüstungskonferenz. Von Anfang Dezember 1932 bis Ende Januar 1933 übernahm dann der kahlköpfige, mittelgroße General als letzter Reichskanzler der
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Weimarer Republik die Staatsgeschäfte. Seine wenn auch kurze Regierungszeit war die letzte Phase des Übergangs zur Errichtung der offenen faschistischen Diktatur der reaktionärsten und aggressivsten Kreise des deutschen Monopol- und Finanzkapitals. Der SchleicherRegierung war die Aufgabe zugedacht, die Voraussetzungen für die Übergabe der Macht durch das Monopolkapital an Hitler zu sichern den imperialistischen Kräften eine mehrwöchige »Atempause« für die Verhandlungen mit dem Naziführer zu verschaffen. Schleicher schien als exponierter politischer Vertreter der Reichswehrführung für diese Aufgabe besonders geeignet, verfügte er doch über weitreichende Verbindungen und Informationsquellen innerhalb des bürgerlichen Staatsapparates, zu Parteien und Organisationen der Weimarer Republik. In seiner Programmerklärung bedrohte Schleicher die revolutionäre Arbeiterbewegung mit unverhüllter Gewaltanwendung, was zu zunehmendem antiimperialistischem Widerstand führte. Zugleich stieß seine Regierung auf wachsenden Widerspruch In der herrschenden Klasse, vornehmlich bei den Großagrariern des Reichslandbundes, vor allem wegen einiger sozialpolitischer Zugeständnisse an die Werktätigen und des proklamierten » Arbeitsbeschaffungsprogramms «. Hinter seinem Rücken wurde dann recht schnell die Einigung mit Hitler erzielt. Schleicher geriet binnen kurzem aufs Abstellgleis. Er hatte seine Schuldigkeit getan und ging in Pension. Von seinem reaktionären Geist aber hatte der General nichts eingebüßt. Ihm fehlte nur die Macht, seine Ideen weiterhin durchzusetzen. Nun lag Schleicher tot auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers, »zwischen Schreibtisch und Schreibsessel, mit dem Kopf nach der Tür, teils auf dem Rücken, teils auf der rechten Seite«, wie Assessor Grützner in seinem Bericht vermerkt. Er ließ den Leichnam fotografieren und suchte währenddessen nach den Patronenhülsen. Er fand fünf, alle vom selben Kaliber. Da auch entsprechend viele Schußwunden im Körper des Generals waren, schloß Grützner Selbstmord aus. Bei der Beantwortung der zweiten, von ihm gestellten Frage hatte er dann allerdings schon wesentlich größere Schwierigkeiten. 18 Jahre
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später liest sich das so: »Bei der Durchsuchung des Schreibtisches und des Arbeitszimmers wurde kein Schriftmaterial gefunden, aus dem unmittelbar oder mittelbar entnommen werden konnte, daß Schleicher in irgendeiner Weise Hochverrat begangen hatte. Den einzigen Hinweis, daß Schleicher nicht mit der Regierung Hitlers einverstanden war, konnte man nur aus der Widmung eines ihm kurz vorher geschenkten Buches entnehmen, die lautete: >Auch über uns wird einmal wieder die Sonne aufgehen.< Der Name desjenigen, der General Schleicher dieses Buch geschenkt hatte, ist mir entfallen...« Bedauerlicherweise. Ein aktiver Vertreter des antifaschistischen Widerstandes war der Autor jener hoffnungsvollen Widmung auf alle Fälle nicht. General von Schleicher war kein Hitlergegner, kein Feind des herrschenden Systems, im Gegenteil, er hat diesem System tatkräftig den Weg zur Macht geebnet. Schleicher war Zeit seines Lebens ein Revanchist, ein erklärter Feind der Arbeiterklasse, immer bereit, an den Gegnern des deutschen Imperialismus im In- und Ausland Rache zu nehmen. Im Salon der Familie Schleicher befragte Oberstaatsanwalt Tetzlaff die von Hauptwachtmeister Kittendorf herbeigeholten Nachbarn nach ihren Wahrnehmungen. Mehrere Frauen erklärten übereinstimmend, die Täter seien in einem rötlichen oder braunen Auto gekommen und in der vergangenen Woche schon mehrmals in Neubabelsberg gesehen worden. Dann betrat Doktor Starke das Zimmer und legte dabei das von ihm signierte vorläufige Gutachten vor, das Tetzlaff gründlich studierte. Schließlich wandte er sich an den Mediziner: »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Doktor?« »Eigentlich nicht, doch nähere Angaben lassen sich bestimmt bei der Obduktion machen. Geben Sie die Leiche frei, Herr Oberstaatsanwalt, und ich gehe mit meinen Kollegen sogleich ans Werk.« »Das übersteigt meine Kompetenzen, Doktor, über diese Freigabe muß höheren Orts entschieden werden.« »He, Grützner!« rief Oberstaatsanwalt Tetzlaff nun schon zum
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zweiten Male, »wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken?« »Ich überlege, wie wir etwas schneller als bisher Licht in das Dunkel dieses Falles bringen können. Ich jedenfalls habe noch nicht die geringsten Anhaltspunkte für ein Motiv gefunden.« »Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Die Beratung, an der ich eben teilgenommen habe, war recht aufschlußreich. Übrigens, bevor ich es vergesse: Wir führen keine Vernehmungen mit protokollarischen Niederschriften mehr durch, sondern geben ab sofort alle Gespräche nur in Berichtsform wieder. So jedenfalls haben es Graf Helldorf und Regierungspräsident Fromm festgelegt. Ansonsten suchen Sie erst einmal weiter nach Verbindungen zwischen Schleicher und dem SAStabschef Röhm. Suchen Sie gründlich, Grützner, und hüten Sie sich vor Spekulationen. Unsere Aufgabe hier ist heikel. Mehr kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen.« Tetzlaff wollte das Zimmer verlassen, wurde jedoch von Doktor Grützner zurückgehalten. »Entschuldigen Sie, Herr Oberstaatsanwalt, aber ich habe da noch ein Problem. Immerhin erscheint mir dieser Fall, wie Sie selbst angedeutet haben, wichtig genug und ist vielleicht sogar von staatspolitischer Bedeutung. Ich hielte es daher für zweckmäßig, den Herrn Generalstaatsanwalt Doktor Jung und die Zentralstaatsanwaltschaft in Berlin zu benachrichtigen.« »Sehr gut, Grützner, tun Sie das«, sagte Tetzlaff jovial. »Es dürfte kaum schaden, die Herren zu informieren. Ich werde sicherheitshalber inzwischen auch die Gestapo in Kenntnis setzen.« Als der Assessor allein im Zimmer war, griff er hastig zum Telefon. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, den Generalstaatsanwalt im Kammergerichtsgebäude zu erreichen, gab er sein Vorhaben auf und ließ sich gegen fünfzehn Uhr durch das Fernamt mit dem preußischen Justizministerium verbinden. Dort verlangte er den Staatsanwaltschaftsrat von Haacke oder einen anderen Dezernenten der Zentralanwaltschaft dringend zu sprechen. Da außer der Justizangestellten Velder niemand zu erreichen war, ließ er ausrichten: »Teilen Sie so bald als möglich Herrn von Haacke mit, daß der Reichskanzler a. D. von Schleicher aus politischen Gründen ermordet worden ist.«
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Was war das für eine Institution, mit der sich Doktor Grützner so hartnäckig in Verbindung zu setzen versuchte? Am 24. Juni 1933 war mit einer allgemeinen Verordnung des Justizministeriums die »Zentralstaatsanwaltschaft« gebildet worden. Im wesentlichen sollte sie sich mit der »Abwehr staatsfeindlicher Angriffe« befassen. Das war allerdings ein weit gespannter Rahmen. Der Leiter der Zentralstaatsanwaltschaft war unmittelbar dem Justizminister unterstellt und hatte die Bearbeitung »politischer Strafsachen von besonderer Bedeutung« zu übernehmen - eine ebenso dehnbare Formulierung. Ihm war das Recht eingeräumt, solcherart Strafsachen an sich zu ziehen und selbst Klage zu führen. Angeblich bestand die wesentliche Aufgabe dieser Zentralstaatsanwaltschaft darin, »Willkürakte« von Funktionären der Nazipartei strafrechtlich zu verfolgen. Da die Staatsanwaltschaften sich in den meisten Fällen gegenüber Gauleitern und örtlichen Parteistellen nicht durchzusetzen vermochten, sollte nunmehr - hier trieben die Nazis die Demagogie wieder sehr weit - die dem Reichsjustizminister unterstellte Zentralstaatsanwaltschaft solche Verfahren durchführen. Dafür wurden zwei »fliegende Staatsanwälte« eingesetzt, Doktor Joel für das Gebiet westlich und von Haacke für die Gebiete östlich der Elbe. Pro forma war hier also eine Institution geschaffen worden, deren »Aufgabenstellung« sie als eine Art »überparteiliche Gerichtsbarkeit« kennzeichnen sollte. In Wirklichkeit aber sind von der Zentralstaatsanwaltschaft wohl die wenigsten »Willkürakte von Parteifunktionären«, dafür aber um so mehr »politische Strafsachen von besonderer Bedeutung« geahndet worden. Diese Institution hatte Grützner durch sein Telefonat eingeschaltet. Bevor er sich jedoch wieder seiner Arbeit zuwenden konnte, betrat der Oberstaatsanwalt, ein wenig blaß und nervös, wie Grützner schien, den Raum und bat den Assessor, ihn auf einen Sprung in den hinter der Villa gelegenen Garten zu begleiten. Sie waren schon eine Weile, die Arme auf dem Rücken verschränkt, nebeneinanderher gegangen, als Tetzlaff endlich zu sprechen begann. »Graf Helldorf und der Regierungspräsident haben mich vorhin in knappen Worten darüber informiert, daß heute im ganzen Reich eine
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große Aktion läuft, die sich gegen eine Reihe hoher SA-Führer richtet. Sie hätten, so Helldorf, einen Putschversuch gegen Reichskanzler Adolf Hitler geplant, der aber nun im Keim erstickt worden ist.« »Aber was hat General Schleicher mit der SA zu tun, Herr Oberstaatsanwalt?« fragte Grützner verblüfft. »Wenn er enge Beziehungen hatte, so wußte er vielleicht von diesem Putsch und mußte deshalb sterben, damit er nichts verrät. Dann aber waren die Männer Leute von der SA.« »Wir sollten nicht spekulieren!« »Aber wer hat ihn umgebracht?« »Was weiß ich.« »Die Reichswehr?« »Das glaube ich nicht«, wehrte Tetzlaff ab. »Die Generalität zieht höchstens mit an dem Draht gegen die SA, denn sie möchte ihr nicht zugeordnet werden, sondern die alleinige militärische Führung im Reich haben.« »Wer dann? Die Gestapo?« »Kaum.« »Die SS?« Die Stimme des Assessors sank unwillkürlich zu einem Flüsterton herab. Noch ehe der Oberstaatsanwalt antworten konnte, ließ sich vom Haus her eine herrische, befehlsgewohnte Stimme vernehmen: »Hallo, meine Herren, könnten Sie Ihren Nachmittagsspaziergang vielleicht für einige Minuten unterbrechen, ich hätte Ihnen nämlich etwas Wichtiges mitzuteilen.« Tetzlaff und Grützner wandten ihre Blicke in die Richtung, aus der die mehr höhnische als höfliche Stimme kam. In der hinteren Eingangstür des Anwesens sahen sie fünf SS-Männer stehen. »Man soll den Teufel nicht an die Wand malen«, murmelte Grützner, näherte sich jedoch der Gruppe ebenso eilig wie der Oberstaatsanwalt. Ein vierschrötiger großer Mann trat ihnen entgegen und salutierte. »Gestatten, SS-Sturmführer Meisinger. Ich und mein Kommando haben vom Reichsführer-SS den Befehl erhalten, dieses Gelände zu sichern und das Haus des Reichskanzlers a. D. General von Schleicher zu durchsuchen. Ich nehme an, daß Sie bisher die Untersuchung geleitet
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haben?« »Ihre Annahme entspricht den Tatsachen, Herr Sturmführer. Ich bin Oberstaatsanwalt in Potsdam und habe den Herrn Gerichtsassessor Doktor Grützner«, Tetzlaff deutete auf seinen Nachbarn, »mit der Leitung der Ermittlungsarbeiten hinsichtlich der Todesursache und der näheren Umstände der Tat, der General Schleicher zum Opfer gefallen ist, beauftragt.« »Aha! Und mit welchen Problemen außer Spazierengehen haben Sie sich zur Zeit befaßt, Herr Doktor?« fragte Meisinger höhnisch. Grützner neigte zum Widerspruch. Noch war er überzeugt davon, eine durch die Strafprozeßordnung gehütete Arbeit nach bestem Gewissen auszuführen. Eineinhalb Jahre Naziherrschaft hatten ihm zwar an zahlreichen Beispielen bewiesen, wie »ernst« Gesetze genommen wurden, die noch aus der Zeit der Weimarer Republik stammten, doch als Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft hielt er sich noch für die Ausnahme. Trotz warnender Blicke des Staatsanwaltes entgegnete er: »Ich werde mich jetzt daranmachen, Herr Sturmführer - obwohl Sie das kaum interessieren dürfte -, sämtliche Schriftsachen im Schreibtisch sowie im Bücherschrank des Generals von Schleicher durchzusehen, um dort eventuelle Anhaltspunkte oder Motive für die Mordtat zu finden.« »Das werden Sie schön bleiben lassen, Herr Doktor!« erwiderte Meisinger scharf und trat einen Schritt auf Grützner zu. »Und aus welchem Grunde?« »Weil wir jetzt da sind!« »Das ist doch völlig unmaßgebend. Ich leite die Ermittlungen.« »Sie haben sie geleitet, Herr Doktor! Ihrer Hilfe bedürfen wir nicht mehr.« Meisinger machte auf dem Absatz kehrt, als sei die Sache für ihn damit erledigt, doch Grützner hielt ihn zurück: »Darf ich das so verstehen, Herr Sturmführer, daß Sie vom Justizministerium mit der Weiterführung der Ermittlungen beauftragt sind?« fragte er mit schärferer Stimme. »Sie dürfen.« »Und Sie sind sicher im Besitz einer schriftlichen Bescheinigung, daß dem so ist?« »Eines Schriftstückes?« fragte Meisinger, spürbar kleinlaut.
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»Ja, eines Auftrages des Justizministers, die Ermittlungen im Mordfall Schleicher aus den Händen der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei zu nehmen und selbst weiterzuführen?« Meisinger trat den Rückzug an. »Eine solche Bescheinigung habe ich nicht.« »Sie haben also keinen Auftrag für weitere Ermittlungen?« »Nein, so direkt nicht.« »Dann, Herr Sturmführer, muß ich Sie bitten, mit Ihrem Kommando das Haus zu verlassen, da Sie unsere Ermittlungen stören.« Zähneknirschend zog sich Meisinger mit seiner Gruppe in den Vorgarten zurück. Nach der Auseinandersetzung mit dem Sturmführer bat der Gerichtsassessor den Staatsanwalt um die Erlaubnis, noch einmal bei der Zentralstaatsanwaltschaft anrufen zu dürfen, um mit dem Staatsanwaltschaftsrat von Haacke den weiteren Fortgang der Ermittlungsarbeiten im Detail zu besprechen. Jeder Fehler, der ihm jetzt unterlaufen würde, das spürte Grützner deutlich, konnte für ihn gefährlich werden. Kurz nach sechzehn Uhr dreißig läutete in einem Zimmer des Justizministeriums in Berlin das Telefon. Von Haacke war selbst am Apparat. »Hat man Ihnen meine Mitteilung ausgerichtet?« fragte Grützner. »Welche Mitteilung?« »Ich hatte darum gebeten, Ihnen auszurichten, daß der frühere Reichswehrminister und Reichskanzler General Kurt von Schleicher in seinem Haus...« »Ach, das meinen Sie«, schnitt ihm Haacke das Wort ab. »Ich bin im Bilde. Ich weiß sogar, daß Sie bisher die Ermittlungen geführt haben. Was halten Sie von der Sache, Grützner?« »Nun«, Grützner zögerte und dehnte das Wort über Gebühr aus, »ich glaube oder, besser gesagt, die von mir bis jetzt ermittelten Umstände lassen in gewissem Maße den Schluß zu, daß...« Der Staatsanwaltschaftsrat unterbrach ihn wiederum: »Um Himmels willen, Doktor, schleichen Sie doch nicht wie die Katze um den heißen
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Brei! Wir kennen uns seit mehr als zehn Jahren, da müssen Sie doch wohl nicht so übermäßig vorsichtig sein. Also, nur schlankweg heraus mit Ihren Vermutungen!« Grützner atmete vernehmbar auf, denn das, was er hatte sagen wollen, schien ihm gar nicht mehr so ungefährlich. »Ich denke, daß die Angelegenheit politische Hintergründe hat.« »Genau in dieser Richtung bin ich auch informiert«, bestätigte Haacke sofort, »alles scheint im Rahmen einer größeren Aktion zu liegen.« »Die Täter sind bestimmt in denselben Kreisen zu suchen, die die ganze Aktion ausgelöst haben«, meinte Grützner. »Ich persönlich hätte es allerdings für zweckmäßiger gehalten, wenn uns das Justizministerium rechtzeitig von der geplanten Aktion unterrichtet hätte.« »Lassen wir das, Herr Doktor Grützner!« Der Ton des Staatsanwaltschaftsrats wurde um einige Nuancen schärfer. »In welcher Form haben Sie die Ermittlungen geführt?« »In der üblichen Form, Herr von Haacke«, Grützner paßte sich dem neuen Tonfall fast mühelos an, »unter Hinzuziehung der Potsdamer Kriminalpolizei und natürlich unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit.« »Ich halte es für zwingend erforderlich, die Geheime Staatspolizei zu unterrichten, weil ich glaube, daß sie die Ermittlungen weiterführen wird.« »Das ist bereits durch Oberstaatsanwalt Tetzlaff geschehen. Kann ich Ihrer Bemerkung entnehmen, Herr Staatsanwaltschaftsrat, daß ich die Kriminalbeamten zurückziehen soll?« »Dagegen gibt es keine Bedenken, Grützner», von Haacke wurde wieder zugänglicher, »ich betrachte das im Gegenteil als empfehlenswert.« »Noch eine letzte Frage, Herr von Haacke. Kann ich die Leichen des Generals und seiner Ehefrau, die ebenfalls ihren Verletzungen erlegen ist, obduzieren lassen?« »Sind Sie des Teufels, Grützner? Selbstverständlich nicht, Sie können sie nicht einmal freigeben!« »Aber ich kann sie doch nicht ewig hier herumliegen lassen.«
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»Das sollen Sie auch nicht. Sie werden durch die Zentralstaatsanwaltschaft konkrete Weisungen erhalten. Haben wir uns verstanden?« »Ja, Herr von Haacke.« Die beiden Beamten beendeten das Gespräch, doch drei Männer legten den Hörer auf die Gabeln ihrer Telefone. Was waren nun die Hintergründe für diesen 30. Juni 1934? Welche innenpolitischen, wirtschaftlichen, sozialen oder innerparteilichen Gründe gab es dafür, an einem einzigen Tag rund tausend Menschen zu ermorden? Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung Deutschlands nach dem 30. Januar 1933: Schon nach knapp zehn Monaten fand die deutsche Großbourgeoisie all jene Erwartungen weitgehend erfüllt, die sie an die Machtübergabe an die Faschisten geknüpft hatte: Die legalen Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften waren zerschlagen, die bürgerlich-demokratischen Rechte ebenso beseitigt wie der Parlamentarismus, die Macht war zentralisiert. Das alles entsprach voll und ganz den Interessen des gesamten Monopolkapitals, insbesondere aber des Finanzkapitals. Innerhalb kurzer Zeit waren im Innern, aber auch außenpolitisch erste Voraussetzungen dafür geschaffen worden, rasch zu direkten Kriegsvorbereitungen übergehen zu können. Um die Macht der Monopolbourgeoisie weiter zu festigen, das staatsmonopolistische Herrschaftssystem zu vervollkommnen und die NSDAP fest in den Staat einzubauen, erließ die faschistische Regierung in rascher Folge eine Reihe von Gesetzen. Dazu gehörte das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat«, das die NSDAP als »Trägerin des Staatsgedankens« deklarierte und festlegte, daß der Stellvertreter des »Führers«, Rudolf Heß, und der Stabschef der SA, Ernst Röhm, Kraft ihrer Parteiämter der Regierung als Minister ohne Geschäftsbereich angehörten. Dieses Gesetz entsprach den Bedürfnissen des Monopolkapitals. Das »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« wurde erlassen, das selbst die formale Gleichstellung des Arbeiters mit dem Unternehmer als Vertragspartner abschaffte und statt dessen das System »Führer-
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Gefolgschaft« einführte, sowie das »Gesetz über den Neuaufbau des Reiches«, mit dem die Länderparlamente beseitigt, die Hoheitsrechte der Länder auf die Reichsregierung übertragen, die Reichsstatthalter dem Innenminister unterstellt wurden. Damit war der »Reichsrat«, die Vertretungskörperschaft der Länder, funktionslos geworden. Der Paragraph vier lautete: »Die Reichsregierung kann neues Verfassungsrecht setzen.« Damit fiel auch der letzte, bislang noch gebrauchte Schleier: Die faschistische Diktatur fühlte sich nicht mehr an die Verfassung gebunden. Ergänzt wurden die Gesetze auf wirtschaftlichem Gebiet durch das »Gesetz über die Vorbereitung des organischen. Aufbaus der deutschen Wirtschaft«. Es zielte darauf, die Unterordnung der gesamten Wirtschaft unter das Kommando der aggressivsten Kreise des Finanzkapitals zu sichern, und räumte dem Reichswirtschaftsminister umfassende Vollmachten ein. Allerdings konnte die straffe Gesetzgebung nicht verhindern, daß die wirtschaftlichen Schwierigkeiten größer wurden und sich Unzufriedenheit und Opposition unter den Arbeitern und im nichtnazistischen Bürgertum mehrten. Die Rüstungsausgaben waren enorm erhöht worden mit dem Ziel, die Reichswehr auf dreihunderttausend Mann zu vergrößern. Die Devisenvorräte mußten angegriffen werden, zum Ausgleich wurden die Lebensmittel-, Rohstoff- und Fertigwarenimporte gedrosselt. Die Arbeitslosenzahl ging noch immer in die Millionen, die Lohnentwicklung war rückläufig, die Ausbeutung wurde verschärft. Das rief einerseits den Widerstand der Arbeiter hervor, der von passiver Resistenz bis zum offenen Streik reichte, und führte andererseits zur wachsenden Opposition sogar in den faschistischen Betriebsorganisationen. Die Gestapo bekam immer mehr Arbeit. Zwar gelang es ihr, der illegalen KPD, die an der Spitze der Widerstandsaktionen stand und die Hitler schon Ende 1933 für »vernichtet« erklärt hatte, schwere Schläge zu versetzen, doch mußte sie gleichermaßen zugeben, »daß die kommunistische Bewegung verhältnismäßig rege ist und trotz der vielen Festnahmen ... immer wieder in der Lage zu sein scheint, die entstandenen Lücken
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aufzufüllen«. Die Faschisten hatten zwar die Arbeiterparteien zerschlagen und in die Illegalität getrieben, doch es war ihnen nicht gelungen, die Mehrheit der deutschen Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen. Es bestand die Gefahr, große Teile ihrer kleinbürgerlichen Millionengefolgschaft, die sie in den Jahren der Weltwirtschaftskrise in den städtischen Mittelschichten und in der Bauernschaft gefunden hatten, zu verlieren, denn der Haß des Kleinbürgertums richtete sich gegen das Finanzkapital, gegen die »Zinsknechtschaft«, das »raffende Kapital« und die »Warenhäuser«. Von den Kreisen des Finanzkapitals aber hatten die Nazis die Macht übertragen bekommen. Deshalb erklärte Hitler schon im Juli 1933 die »nationalsozialistische Revolution« für abgeschlossen. Das aber konnte in den Mittelschichten niemand begreifen. Kein einziges Versprechen war eingelöst, die ökonomische Lage hatte sich nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die Steuern waren genauso hoch geblieben, die Einnahmen stagnierten, die Schulden wurden nicht weniger. Enttäuschung und Unzufriedenheit breiteten sich aus. Auch die SA war enttäuscht. Ihren Angehörigen war außer sozialen Verbesserungen auch versprochen worden, sie würden dereinst zur »Armee des Dritten Reiches« werden. Statt dessen wurde aber seitens der Naziführung vom ersten Tag an die Reichswehr zum »alleinigen Waffenträger« erklärt, ja die SA-Männer, die mit brutaler Gewalt alle Gegner des Regimes niedergeknüppelt hatten, wurden sogar ihrer Funktion als »Hilfspolizei« entkleidet. All das rief auch in ihren Reihen Erbitterung und Mißstimmung hervor. Somit wurde die SA zu einem Gefahrenherd; denn sie besaß noch Waffen, die ausgereicht hätten, um zehn Infanteriedivisionen auszurüsten. Diese ökonomischen und politischen Schwierigkeiten kennzeichneten die Lage in der ersten Hälfte des Jahres 1934. Wie sollte man vorgehen, um dem strategischen Ziel, dem Krieg um die Weltmacht, schnell näher zu kommen, gleichzeitig aber auch innere Einheit und Geschlossenheit zu demonstrieren? Es kam zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Der Streit ging um die Mäßigung des Tempos der Aufrüstung im
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Interesse einer Verringerung der Massenbelastung, um Struktur und Führung des staatsmonopolistischen Lenkungsapparates, um die Verstaatlichung der Dresdner Bank und der Vereinigten Stahlwerke, für die General von Schleicher ebenso eintrat wie SA-Stabschef Ernst Röhm, um die Aufsiedlung verschuldeter Junkergüter. Und es stand die Frage zur Entscheidung, auf welcher Grundlage das geplante Massenheer aufgebaut werden sollte. Röhm wollte die SA zum Kern dieser Armee machen, sie auf der Grundlage eines Milizsystems aufbauen. Einige seiner Überlegungen fanden den Beifall alter Generale wie von Schleicher, von Bredo und von Hammerstein. Ganz anders hingegen dachte die Reichswehrführung unter Minister von Blomberg und dem Chef des Ministeramtes, von Reichenau. Beide waren erbitterte Gegner der Pläne Röhms und fest davon überzeugt, daß nur ein auf der allgemeinen Wehrpflicht basierendes Heer, von Berufsoffizieren der alten Schule geleitet, das einzig brauchbare Instrument zur Durchsetzung der imperialistischen Kriegs- und Eroberungspläne sein könne. Dieser Konflikt erhielt im Februar 1934 neue Nahrung, als Röhm bei der Regierung eine Denkschrift einbrachte. Darin forderte er die Zusammenfassung der bewaffneten Kräfte des Staates mit der SA unter einem gemeinsamen Ministerium, das er selbst zu leiten gedachte. Nur mit Mühe gelang es Blomberg, Hitler auf dem Standpunkt der Reichswehr zu fixieren. Doch dabei blieb es; Selbst als Röhm zur verstärkten Bewaffnung der SA überging, schritt Hitler nicht ein, obwohl ihn Blomberg heftig zur Einhaltung des Abkommens drängte, in dem hohe Reichswehr- und SA-Führer sich geeinigt hatten, daß die SA politische Aufgaben zu erfüllen habe, die Reichswehr aber »alleiniger Waffenträger« sein sollte. Wenig später stellte sich Hitler sogar gänzlich hinter Röhm und verkündete, er wolle ein Reichsheer aus SA und SS aufbauen. Hinzu kam, daß es in der Regierung Auseinandersetzungen darüber gab, wie der Widerstand des militärisch stärkeren Frankreichs gegen eine Wiederaufrüstung gebrochen werden sollte. Eine Gruppe war für Zugeständnisse und Vereinbarungen, die andere, gestützt von den Industriellen Schacht und Thyssen, trat dafür ein, die französische
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Ansicht zu ignorieren und dabei die Unterstützung Englands und der USA zu erwirken. Zu all diesen Problemen kamen noch Macht- und Rivalitätskämpfe innerhalb der Naziführung hinzu. Besonders Röhm hoffte, die wachsende Unzufriedenheit insbesondere unter den SA-Leuten für seine Karriere nutzen zu können. Deshalb versuchten er und die ihm nahestehenden Kreise eine Regierungsumbildung zu ihren Gunsten zu erwirken. Gleichzeitig forderten Blomberg, Schacht und Göring eine Umbildung der Regierung. Im Frühjahr 1934 erkrankte Reichspräsident von Hindenburg schwer. Das brachte Probleme hinsichtlich seines Nachfolgers. Vizekanzler Franz von Papen betrieb energisch die Wiedererrichtung der Monarchie und hoffte dabei auf Unterstützung der Reichswehrführung. Sie blieb jedoch aus. Die Generale waren viel eher bereit, Hitler als Nachfolger Hindenburgs - und damit zugleich als obersten Befehlshaber - zu akzeptieren, wenn er sich nur gegen die SA und ihren Stabschef stellte. Hitler versprach, die Forderungen der Reichswehr zu erfüllen. Anfang Juni führte er noch eine lange Unterredung mit Röhm. Dieser muß aus dem Gespräch Hitlers Willfährigkeit gegenüber seinen Forderungen entnommen haben. Er erließ am 9. Juni einen Befehl an die SA, in dem er den Monat Juli zum Urlaubsmonat bestimmte, und schloß diesen Befehl mit einer massiven Drohung an die »Feinde der SA«. Das Doppelspiel Hitlers beunruhigte vor allem die Reichswehrführung. Von Blomberg forderte ultimativ das abgesprochene Vorgehen gegen Röhm und die SA. Nun mußte Hitler handeln, denn auch der Kanonenkönig Krupp hatte ihm versichert, daß die Schwerindustrie den Schlag gegen die SA fordere, weil sie ihr zu unzuverlässig erschien und die Einhaltung der vor 1933 gegebenen Versprechungen erwarte. Röhm hielt sich Ende Juni 1934 in Bad Wiessee in Bayern zur Kur auf. Und dorthin berief Hitler für den 30. Juni eine SA-Führertagung. Dort begann in den frühen Morgenstunden die Mordaktion, der mehr als eintausend Personen zum Opfer fielen. Wochenlang war die »Aktion« von Göring, Himmler, Blomberg und Reichenau vorbereitet worden. Himmler, als Führer der SS noch Röhm unterstellt, rekrutierte aus den Reihen seiner »Elite-Truppe« die Mordkommandos, die Reichswehr
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lieferte die Waffen. Zwei volle Tage dauerte der staatlich angeordnete Massenmord. Und obwohl er sich ursprünglich nur gegen die Spitzenfunktionäre der SA richten sollte, fielen ihm auch eine Reihe anderer Personen zum Opfer. So wurden außer SA-Stabschef Ernst Röhm, SA-Obergruppenführer Karl Ernst, der an der Reichstagsbrandstiftung großen Anteil hatte, SA-Obergruppenführer Edmund Heines, ein berüchtigter Fememörder aus der Zeit der »Schwarzen Reichswehr«, und Gregor Strasser, früher Hitlers Stellvertreter, auch die Generale Kurt von Schleicher und Kurt von Bredow ermordet. Weitere Opfer waren der Ministerialdirektor Erich Klausener, Leiter der »Katholischen Aktion« in Berlin, der Oberregierungsrat Herbert von Böse und Edgar Jung, beide führende Vertreter der Konservativen Opposition um Vizekanzler Papen, und Gustav von Kahr, der 1923 abgelehnt hatte, an Hitlers Bierkeller-Putsch in Münschen teilzunehmen. Sie alle waren auf einer schon im Mai in Görings und Himmlers Auftrag durch die SS angefertigten »Reichsliste unerwünschter Personen« verzeichnet, nach der kaltblütig und systematisch vorgegangen wurde. Schon am Abend des 30. Juni rühmte sich Göring auf einer Pressekonferenz in Berlin, den »Auftrag des Führers« aus eigener Macht erweitert zu haben. Wenn die zuständigen Organe an die Aufklärung gegangen waren, sollten sie bald zu spüren bekommen, in wessen Hände die »Untersuchung« gelegt wurde. So auch im Mordfall des Generals Kurt von Schleicher. Gerichtsassessor Grützner hatte seinen Chef von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt, daß der Einsatz der Kriminalpolizei im Hause Schleicher nicht mehr erforderlich sei, da die Gestapo die weitere Arbeit übernehme. Zur selben Zeit informierte ein SS-Standartenführer den Reichsführer SS über das abgehörte Telefonat zwischen dem Potsdamer Gerichtsassessor und dem Staatsanwaltschaftsrat von Haacke. Besonders akkurat vermittelte er die Bemerkungen Grützners über die »politischen Hintergründe« beim Tode von General Schleicher, über seine »Mitwissenschaft bei der Aktion« und seine doch schon recht weit vorangeschrittenen - Ermittlungen, die nahezu mit Sicherheit auf
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»Mord« deuteten. Der SS-Führer und Inspekteur der Geheimen Staatspolizei unterrichtete eingehend den preußischen Ministerpräsidenten Göring über die Dreistigkeit eines Potsdamer Zivilisten, sich in die Angelegenheiten der Partei und der SS zu mischen und seine Vermutungen obendrein noch über das öffentliche Telefonnetz zu verkünden. So etwas gefährde die ganze Aktion, schließlich habe er aus Sicherheitsgründen seinen allerbesten Mann gerade nach Neubabelsberg geschickt. Gleichzeitig bat er darum, Göring möge den »Führer« davon in Kenntnis setzen und ihn auffordern, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, damit die laufende Aktion der SS nicht weiterhin durch solche verantwortungslosen und buchstabengetreuen Dummköpfe gestört würde. Mit welcher Kaltschnäuzigkeit und Gewissenlosigkeit die gesamte Affäre, vor allem auch der Mord an Kurt von Schleicher, in den Regierungskreisen behandelt wurde, zeigt die Reaktion des Staatssekretärs im Preußischen Innenministerium, Grauert. Als ihm erzählt wird, der General sei ermordet worden, wehrt er, wie einem Augenzeugenbericht zu entnehmen ist, »gelassen ab, als handle es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt. Das habe er schon längst bei Göring vernommen. Schleicher sei am Putsch beteiligt gewesen; bei der Verhaftung habe er sich gewehrt und sei mitsamt seiner Frau erschossen worden. Im übrigen seien das nicht die einzigen Toten«. Staatssekretär Grauert - und er wußte sich ganz bestimmt schon mit Göring einig - tat also bereits am Mittag den Mord an Schleicher als »Notwehr« ab. Kurz vorher hatte man noch mit »Selbstmord« operiert, doch diese Theorie war durch die Ermittlungsarbeit Grützners und seiner Kriminalbeamten sehr schnell ad absurdum geführt worden. So blieb es schließlich bei der Notwehr, und im »Völkischen Beobachter«, dem offiziellen Organ der NSDAP, war dann später zu lesen: »In den letzten Wochen wurde festgestellt, daß der frühere Reichswehrminister, General a. D. von Schleicher, mit den staatsfeindlichen Kreisen der SAFührung und mit auswärtigen Mächten staatsgefährdende Verbindungen unterhalten hat. Damit war bewiesen, daß er sich in Worten und Wirken gegen diesen Staat und seine Führung betätigt hat. Diese Tatsache machte seine Verhaftung im Zusammenhang mit der
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gesamten Säuberungsaktion notwendig. Bei der Verhaftung durch Kriminalbeamte widersetzte sich General a. D. von Schleicher mit der Waffe. Durch den dabei erfolgten Schußwechsel wurden er und seine dazwischengetretene Frau tödlich verletzt.« Damit war also der Kriminalpolizei, die man, kaum daß sie ihre Arbeit aufgenommen hatte, wieder von den Ermittlungen ausschloß, die Verantwortung für den Tod des Generals zugeschoben worden. Von der SS, aus deren Reihen die Mörder kamen, war jeder Makel genommen, jeder Gedanke an ihre Urheberschaft ausgeschlossen. Lange nach Kriegsende hat der ehemalige Generalsekretär der Bundeswehr Foertsch, der damals Pressereferent im Reichswehrministerium war, einmal erzählt, wie diese Meldung zustande gekommen ist. Der Text stammte nämlich aus dem Reichswehrministerium und war noch am 30. Juni abends über das Goebbelssche Propagandaministerium bekanntgegeben worden. General von Reichenau, Chef des Wehrmachtamtes im Reichswehrministerium, auf umgehende amtliche Bekanntgabe des Todes Schleichers und auch der Todesursache bedacht, hatte den Text verfaßt, und Reichswehrminister von Blomberg sowie der preußische Ministerpräsident Göring hatten ihn umgehend genehmigt. Dieser General von Reichenau war es auch - wie wir heute wissen -, der den Gegensatz Reichswehr - SA immer mehr schürte und es schließlich mit Beharrlichkeit zu der Aktion vom 30. Juni brachte, ohne die Reichswehr als Beteiligten erkennen zu lassen. Wie weit seine Brutalität und Gewissenlosigkeit gingen, zeigt allein die Tatsache, daß Reichenau dann im Krieg zu den Befehlshabern faschistischer Truppenverbände gehörte, die den berüchtigten »Kommissarbefehl« Hitlers, den Mord an den Politoffizieren der Roten Armee betreffend, durch ergänzende Festlegungen noch übertrafen. Nach der Röhmaffäre vom Juni 1934 soll er, stolz auf seine Leistung, geäußert haben, es sei »wirklich nicht so leicht gewesen, die Dinge so hinzukriegen, daß sich der dreißigste Juni als reine Parteiangelegenheit dargestellt« habe. Gegen achtzehn Uhr verließen Oberstaatsanwalt Tetzlaff und Gerichtsassessor Doktor Grützner das Haus des Generals von Schleicher
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und begaben sich zurück nach Potsdam in die Dienststelle. Das Anwesen Schleichers blieb unter dem »Schutz« des SS-Sturmführers Meisinger - der übrigens, wie Grützner später erfuhr, Abteilungsleiter im Geheimen Staatspolizeiamt war -, und seines Kommandos zurück. Kaum in der Staatsanwaltschaft angekommen, wurde Tetzlaff zu einem Ferngespräch aus Berlin ans Telefon gerufen. Staatsanwaltschaftsrat von Haacke war am Apparat, um ihm verbindlich mitzuteilen, daß die Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft und die Kriminalpolizei in Potsdam endgültig einzustellen seien, alle weiteren erforderlichen Untersuchungen werde ab sofort die Gestapo übernehmen. Tetzlaff nahm die Weisung zur Kenntnis und gab sie an Grützner weiter. Alles in allem war mit dem Anruf Haackes das Gewirr von Rechtsverletzungen kompliziert und beinahe schon undurchsichtig geworden. Die Staatsanwaltschaft in Potsdam hatte nach dem noch offiziell geltenden Recht die Pflicht einzuschreiten, nachdem sie offiziell von der Erschießung des Ehepaares Schleicher Kenntnis erhalten hatte. Sie tat dies exakt und gewissenhaft unter Einbeziehung der Kriminalpolizei, der sie weisungsbefugt war. Grundsätzlich waren die Beamten der Kripo Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft, auch wenn sie alle Ermittlungen relativ selbständig führten. Ähnliches galt für die Beamten der Geheimen Staatspolizei, die nach Paragraph 152 Absatz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes ebenfalls Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft waren. Tetzlaff hätte demnach auch der Gestapo die Ermittlungsarbeit übertragen können, ohne von seiner Verantwortung entbunden zu werden und stets mit dem Recht, jederzeit in das Verfahren eingreifen zu können. Das war ihm von der Zentralstaatsanwaltschaft aber untersagt worden. So widersinnig ihm das alles schien, Tetzlaff nahm es hin, weil er aus Erfahrung wußte, wie weit sich die Gestapo bereits von der Gesetzlichkeit entfernt hatte. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr betrat Doktor Grützner seine Wohnung. Er stand noch immer stark unter dem Eindruck des am Tage Erlebten und erzählte seiner Frau, die mit dem Abendessen auf ihn gewartet hatte, von dem Geschehen.
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»In den Zehn-Uhr-Nachrichten haben sie aber gesagt, Schleicher hätte bei der Verhaftung zur Waffe gegriffen und sei bei einem Schußwechsel getötet worden«, warf seine Frau erstaunt ein. »So, haben sie das?« fragte Grützner ein wenig erstaunt zurück. »Dann werden sie's morgen auch in der Zeitung drucken lassen. Bloß, es stimmt nicht! Es war Mord!« Draußen läutete es anhaltend. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht. Blaß vor Schreck wankte Grützner zur Tür und öffnete. Vor ihm stand Oberstaatsanwalt Tetzlaff, der sich leise und betreten für die späte Störung entschuldigte. Aber er war nicht allein. Hinter ihm konnte Grützner im trüben Licht der Treppenbeleuchtung noch sechs weitere Männer erkennen. Tetzlaff trat unvermittelt über die Schwelle in den Korridor und flüsterte dabei: »Herr Kollege, wir kommen ins Konzentrationslager«, laut sagte er dann, dem Doktor keine Zeit zum Nachdenken lassend: »Gestatten Sie, Herr Kollege Grützner, daß ich bekanntmache: Herr Staatssekretär Freisler und Herr Oberregierungsrat von Dohnanyi vom Justizministerium, Herr...« Die Namen der anderen nächtlichen Besucher gingen im Getrappel der Schritte unter. Grützner konnte lediglich noch verstehen, daß drei seiner Besucher von der Geheimen Staatspolizei waren. Er bat die Herren ins Wohnzimmer und fragte, ob er ihnen etwas zu trinken anbieten dürfe. »Wir sind zum Reden hier, nicht zum Trinken«, antwortete Freisler barsch. »Setzen Sie sich, und antworten Sie auf unsere Fragen. Schließlich können Sie sich wohl vorstellen, daß wir zu nachtschlafener Zeit nicht von Berlin nach Potsdam kommen, um mit Ihnen Domino zu spielen. Also, Sie haben heute die Ermittlungen über die Todesursache im Falle des Generals Schleicher geleitet, Herr Assessor. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?« Ein lauernder Blick traf Grützner. »Alle Untersuchungen im Fall Schleicher haben ergeben, daß der General ermordet worden ist«, antwortete Grützner mutig, obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug. Einer der Gestapomänner erhob sich drohend, doch Freisler winkte ab. »Diesen Stuß haben Sie heute schon dreimal verkündet, Herr Doktor Grützner, lauthals verkündet, sogar über einen öffentlichen
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Fernsprecher.« Freislers Stimme nahm eine gefährliche Schärfe an. Grützner versuchte sich zu rechtfertigen, war aber bei dem Mann, der später Vorsitzender des berüchtigten Volksgerichtshofes werden sollte und dessen Hauptbeschäftigung darin bestand, Todesurteile auszusprechen und in die Welt zu schreien, an einen Gegner gekommen, dem er nicht gewachsen war. »Das ist nicht nur Stuß«, brülle Freisler, »das ist Dummheit, Instinktlosigkeit, Lüge und Verrat an unserem Führer!« Unvermittelt wurde er gefährlich leise: »Hören Sie mir jetzt gut zu, Grützner, und antworten Sie nur auf das, was ich Sie frage, kurz und präzise. Sonst können wir gleich aufhören und«, er deutete auf die Gestapomänner, »diese drei Herren werden ihres Amtes walten. Verstanden?« »Ja«, erwiderte Grützner heiser. »Mit wem haben Sie über Ihre irrige Auffassung gesprochen?« »Mit niemand.« »Wem haben Sie sie angedeutet?« »Meiner Frau.« »Sonst niemandem?« »Nein.« Freister legte eine Pause ein, dann fragte er mit völlig veränderter Stimme, ruhig, höflich: »Wie, Herr Doktor Grützner, war doch gleich nach Ihrer Meinung der Reichskanzler a. D. von Schleicher zu Tode gekommen?« »Er wurde getötet, als er sich seiner Verhaftung mit Waffengewalt widersetzte.« Zäh ging dem Assessor die Lüge von den Lippen. »Fein, was Sie da ermittelt haben.« Freisler lächelte ihn freundlich an. »Damit wir aber auch dem Minister, dem Ministerpräsidenten, dem Reichsführer SS, der sich ganz besonders über Sie geärgert hat, und natürlich unserem Führer Adolf Hitler den Sachverhalt des heutigen Tages so erklären können, wie Sie ihn bis vor kurzer Zeit noch fälschlich gesehen haben, werden Sie bis morgen zehn Uhr einen schriftlichen Bericht an den Justizminister übergeben, in dem Sie den Tagesablauf exakt schildern und begründen, wie Sie zu Ihrer Auffassung gekommen sind. Irgendwie müssen Sie ja Ihre Schlampereien bei der Ermittlung begründen können! Einig?«
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»Ja, Herr Staatssekretär.« »Einen ähnlichen Bericht erwarte ich von Ihnen, Herr Oberstaatsanwalt«, wandte sich Freisler an Tetzlaff. Dann erteilte er dem Oberregierungsrat von Dohnanyi den Auftrag, zum selben Termin eine Stellungnahme vom Staatsanwaltschaftsrat Haacke einzuholen, verabschiedete sich und verließ mit seinen Begleitern befriedigt die Grütznersche Wohnung. Diese drei Berichte sind mit einigen Anlagen die einzigen Dokumente, die annähernd Auskunft geben über den Tathergang beim Mord an General von Schleicher, weil sie durch den Befehl des Justizministers Gürtner nicht ins Archiv der Zentralstaatsanwaltschaft gingen, sondern in der Personalakte des Doktor Grützner abgeheftet wurden. Alle anderen Dokumente hat die Gestapo mit Akribie vernichtet. Bei der mit den Morden vom 30. Juni 1934 erfolgten endgültigen Konsolidierung der faschistischen Diktatur war ihr nichts daran gelegen, die eigentlichen Urheber und Ausführenden der Aktion, besonders da, wo sie sich nicht gegen Angehörige der SA richtete, sondern »unerwünschte Personen« betraf, einer breiten Öffentlichkeit bekanntzumachen. Von Schleicher jedenfalls war aus mehreren Gründen auf diese Liste geraten. Zum einen hatte er sich während seiner kurzen Reichskanzlerzeit obwohl Steigbügelhalter für die nachfolgende Hitler-Regierung - in den Kreisen um Gregor Strasser, den in Ungnade gefallenen früheren Stellvertreter Hitlers, um Verbündete bemüht. Zum anderen knüpfte er für gewisse Zeit enge Verbindungen zu Röhm, ohne allerdings mit dessen Programm in jeder Hinsicht konform zu gehen. Ihre gemeinsame Absicht war es lediglich, die Umgehung des Versailler Vertrags mit den Franzosen auf »friedlichem« Wege auszuhandeln. Damit allerdings geriet Schleicher in das Schußfeld der reaktionärsten Kreise des Finanzkapitals, die eine gänzlich andere, wesentlich härtere Linie vertraten. Zum dritten aber waren mit Blomberg und Reichenau nach dem 30. Januar 1933 Generale an die Spitze der Reichswehr getreten, die während der Zeit, in der Schleicher Reichswehrminister war, nicht zu seinen engsten Vertrauten gehörten, ihn aber, obgleich im Ruhestand,
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noch für außerordentlich einflußreich hielten und damit fürchteten, zumal er die Aufrüstung der Reichswehr mit ganz anderen Mitteln und unter ganz anderen Voraussetzungen betreiben wollte als sie. So war er zwischen die Reibungsflächen unterschiedlichster Interessengebiete geraten. Seine Ermordung war damit im Geltungsbereich von Wolfsgesetzen eine logische Folge.
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